GOLDMANNS WELTRAUM TASCHENBÜCHER Band 0100 Lloyd Biggle • Fanfaren der Freiheit
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GOLDMANNS WELTRAUM TASCHENBÜCHER Band 0100 Lloyd Biggle • Fanfaren der Freiheit
Von Lloyd Biggle sind bisher erschienen: Fanfaren der Freiheit Für Menschen verboten Spiralen aus dem Dunkel Verbrechen in der Zukunft
Dieses Buch wird unter der Bedingung verkauft, daß es ohne Zustimmung des Verlages weder in Leihbibliotheken eingestellt noch gewerbsmäßig weiterverkauft. vermietet oder auf ähnliche Weise genutzt wird. Die vom Verlag gewählte Ausstattung darf weder durch einen festen Einband noch durch einen besonderen Umschlag noch in sonstiger Weise verändert werden.
LLOYD BIGGLE
Fanfaren der Freiheit Utopisch-technischer Abenteuerroman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
6092 • Ungekürzte Ausgabe • Made in Germany • I © 1968 by Lloyd Biggle, Jr. © 1969 by Wilhelm Goldmann Verlag, München. Titel des englischen Originals: The still, small Voice of Trumpets. Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr. Herausgegeben von Dr. Herbert W. Franke. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Umschlagentwurf von Eyke Volkmer. Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: PresseDruckund Verlags-GmbH. Augsburg. WTB 0100 • ak/Sch
1 Hinter ihm öffnete und schloß sich eine Tür. Jeff Forson achtete nur auf die Gemälde, die eine Wand des Raumes ausfüllten, vom Boden bis zur Decke. Herrliche Gemälde. Als erstes würde er einen Chemiker beauftragen, sich mit diesen Farben zu befassen, dachte er. So etwas hatte er noch nie gesehen. Die Farben waren herrlich, die Landschaft verblüffte ihn. In den Händen großer Künstler, und die meisten hier vertretenen Bilder stammten von großen Künstlern, schufen sie eine vieldimensionale Wirkung, die ihm den Atem benahm. Kein Wunder, daß das Amt für Interplanetarische Beziehungen dringend um Entsendung eines Spezialisten aus dem Institut für Kulturforschung gebeten hatte! Personal, das bei der einfachen Aufgabe versagte, Türschilder zu beschriften, und das für die Büros eine Farbgestaltung wählte, die einem düsteren Mausoleum angemessen gewesen wäre, erschien für den Umgang mit Kunstwerken denkbar ungeeignet. Die Leute hatten ja nicht einmal eine Ahnung davon, wie man Bilder hängen mußte! Aus dem Lautsprecher krächzte eine Stimme; die Sekretärin sagte eisig: »Der Koordinator hat jetzt Zeit für Sie, Sir.« Forson stand auf, warf einen letzten, prüfenden Blick auf die Gemälde und folgte ihr. Er liebte seine Arbeit, aber er haßte die bürokratischen Formalitäten, denen er sich dabei unterwerfen mußte. Außerdem haßte er wohlgeformte junge Damen, die Männeruniformen trugen und überlegen lächelten. Das Lächeln dieser jungen Dame verschwand schlagartig, und Forson entdeckte betroffen, daß er sie böse angefunkelt hatte. Eigentlich mußte er sich bei ihr entschuldigen. Ihr überlegenes Lächeln war vielleicht das einzige, worüber sie verfügte, und die Uniform hatte sie sich vermutlich nicht selbst ausgesucht. Jedenfalls hoffte er es. »Trägt die Stützpunktbesatzung auch mal die Kleidung der Einheimischen?« fragte er. »Wie bitte?« Der Gedanke erschreckte sie so, daß ihr die Tür aus der Hand glitt
und vor Forsons Nase zufiel. Sie öffnete sie wieder, und er folgte ihr durch einen Korridor, wo er die Beschriftung an den Türen las >Zentrale Stab A<, >Zentrale Stab B< — bis er an eine unbeschriftete Tür kam. Vielleicht war dieses Zimmer für sein Büro bestimmt. Das Schild dafür gedachte er jedenfalls selbst anzufertigen. Bislang hatte er noch nie unter einer anderen Regierungsbehörde direkt arbeiten müssen, und mit jedem Schritt, der ihn dem Koordinator näher brachte, gefiel ihm diese Vorstellung weniger. »Es ist aber doch nicht verboten, oder?« fragte er das Mädchen. »Wie bitte?« »Das Tragen einheimischer Kleidung«, meinte Forson beharrlich und betrachtete mit tiefempfundener männlicher Mißbilligung ihren Männerhaarschnitt. »Nein, Sir. Der Koordinator wünscht es aber nicht.« Forsons Vorbehalte gegen diesen Koordinator verdichteten sich zu echter Abneigung. Er konnte es dem Mann nicht verübeln, daß er nicht mitten in der Nacht aufgestanden war, um ihn einzuweisen, aber es gab keine Entschuldigung dafür, daß er Forson am Morgen danach über eine Stunde warten ließ. Forson hatte das zwar der Gemälde wegen nichts ausgemacht, aber er wußte, daß es unnötig war. Bewußter Unhöflichkeit auf Seiten eines leitenden Beamten der Interplanetarischen Verwaltung war schwer genug zu begegnen: Unhöflichkeit, gepaart mit Neigung zur Willkür, erschien unerträglich. In den meisten Stützpunkten trug das Personal mit Freuden die Kleidung der Einheimischen. Aber das ging ihn nichts an. Er gedachte, die Formalitäten so schnell wie möglich zu erledigen und sich dann unter die Einheimischen zu mischen, wo er sich hingehörig fühlte. Die Sekretärin führte ihn zu einer weiteren Tür, nickte ihm schnippisch zu und ließ ihn allein. Eine zweite junge Dame von ebenso strengem Aussehen führte ihn in ein Arbeitszimmer. Forson schlenderte gelassen auf Wem Rastadt, den Koordinator des Amts für Interplanetarische Beziehungen auf dem Planeten Gurnil, zu. »Forson zur Stelle«, sagte er. Die Worte riefen auf dem Gesicht von Koordinator Rastadt keine erkennbare Freude hervor. Schlaff, von tiefen Falten durchzogen, mit
einem mürrisch herabhängenden Mund, war es kein Gesicht, das Freude auszudrücken vermochte. Die Augen funkelten zwar lebendig, waren aber mit dicken Tränensäcken gepolstert. Ein Haarkünstler hatte den tapferen Versuch unternommen, aus dem spärlichen weißen Haar einen strengen militärischen Haarschnitt zu machen, dabei aber nur weite Flächen rötlicher Kopfhaut bloßgelegt. Nur das Kinn des Koordinators besaß Charakter: es stand weit hervor, wie eine unpassende Erhebung in tristem Brachland. Seine dicken, weißen Hände stützte er mit den Handflächen nach unten vor sich auf den Schreibtisch, als wolle er Forson anspringen. Offensichtlich war er im Dienst alt und fett geworden, hatte auf die freiwillige Versetzung in den Ruhestand verzichtet und sich auf eine Pfründe zurückgezogen, aus der ihn, abgesehen von einem kolossalen Schnitzer und einer Sonderuntersuchung, nur der Tod vertreiben konnte. Forson richtete seinen Blick auf den gerahmten Wahlspruch an der Wand hinter dem Koordinator - >Demokratie, von außen aufgezwungen, ist die schlimmste Form der Diktatur< - und unterdrückte ein Lächeln. Das war heute das fünftemal, daß er ihm begegnete. Abrupt ballten sich Rastadts Hände zu Fäusten. »Die Kulturforschung bringt ihren Leuten wohl nicht bei, wie man sich bei einem Vorgesetzten zu melden hat!« herrschte er ihn an. »Überlegenheit ist ein Mythos«, meinte Forson ruhig. »Das hat die Kulturforschung längst bewiesen.« Rastadts Fäuste hieben auf den Schreibtisch. Er sprang auf, warf seinen Stuhl um, beugte sich über den Schreibtisch und schrie: »Sie unterstehen jetzt meinem Befehl und werden sich entsprechend verhalten! Verschwinden Sie, kommen Sie wieder herein und melden Sie sich vorschriftsmäßig!« Alter und Stellung des Mannes erheischten ein gewisses Mindestmaß an Respekt, wenn auch durchaus nicht sein Verhalten. Forson warf als Antwort seine Papiere auf den Schreibtisch. Der Koordinator prüfte sie schweigend. Als er das Wort wieder ergriff, klang seine Stimme überaus gedämpft. »Sie - Sie sind — Sektorinspizient - der Kulturforschung?« »So lautet die Bezeichnung.«
Der Koordinator drehte sich um, stellte seinen Sessel wieder auf die Beine und ließ sich schwerfällig nieder. Forson hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so schnell und so gründlich auf sein wahres Maß zurückgeführt worden war. Rastadt starrte Forson ungläubig an. Forson wog in aller Ruhe die Porträtqualitäten der aufgeschwemmten Züge ab und stufte sie gering ein. Ein Porträtmaler, der aus diesem trostlosen Gesicht Charakter zutage fördern sollte, wäre zur Verzweiflung getrieben worden. Ein Karikaturist dagegen hätte erstklassiges Material vorgefunden. »Sie sind jung«, meinte Rastadt plötzlich. »Das passiert jedem einmal.« »Kann ich, bitte, Ihre Instruktionen haben.« »Mir wurde gesagt, daß ich sie hier bekomme.« »Hier?« Rastadts Kopf zuckte, und das schwammige Fleisch zog sich zusammen und machte argwöhnische Schlitze aus seinen Augen. »Ich habe keine Instruktionen für Sie.« Er schwieg einen Augenblick. »Sie wissen also nicht, warum Sie hier sind?« »Warum bin ich überhaupt im Dienst? Um Kulturforschung zu betreiben.« »Nein.« Der Koordinator schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Gurnil ist immer noch als feindseliger Planet eingestuft. Auf feindseligen Planeten darf Kulturforschung nicht betrieben werden, wie Sie wissen sollten.« »Meine Zentrale hat mich auf diesen Planeten beordert«, sagte Forson langsam. »Das Amt für Interplanetarische Beziehungen hat die Order bestätigt, mir erste Priorität zugesprochen und sogar veranlaßt, daß ein Raumkreuzer einen Umweg von mehreren Lichtjahren machte, um mich an Ihrer Türschwelle abzusetzen. Wollen Sie mir etwa jetzt einreden, daß ich mich verirrt habe?« Rastadt schob Forson die Ausweispapiere hin. »Als einzige Information habe ich die kurze Nachricht erhalten, daß ein IK-Mann zum Dienst auf diesem Planeten abgeordnet und dem Amt unterstellt worden sei. Um welchen Dienst es sich handelt oder welchen Rang der Mann bekleidet, erwähnte die Nachricht nicht, aber ich bin überzeugt, daß es mit Kulturforschung nichts zu tun haben kann. Sie sind kein IK-Mann mehr, sondern IPB, sonst wären Sie nicht
hier. Immerhin merkwürdig, daß Sie keine Instruktionen haben.« »Ich finde es noch seltsamer, daß meine Instruktionen nicht eingetroffen sind.« »Durchaus nicht seltsam. Wir stehen kurz vor einem Versorgungskontakt. Sie werden sich zweifellos in der normalen Post finden. Sie selbst sind früher eingetroffen, weil Sie mit einem Raumkreuzer kamen. Normalerweise stellt das IPB-Amt eine Durchschrift der Instruktionen für die Meldung zum Dienstantritt zur Verfügung, da Sie aber von einer anderen Organisation kommen, hat es wohl eine Panne gegeben.« Er drehte sich zur Seite und sprach zerstreut ins Leere. »Wie Ihr Auftrag auch lauten mag, Sie müssen eingewiesen werden.« »Nein«, sagte Forson ruhig, »aber Sie. Betrachten IPB-Beamte ihre Vorgesetzten grundsätzlich als einen Haufen von Nichtswissern? Nur ein Trottel würde einen Mann, der in einem winzigen Ausschnitt eines komplizierten Wissensgebietes zum Spezialisten ausgebildet wurde, abziehen und mit etwas anderem beschäftigen. Ihre Vorgesetzten sind keine Trottel, und sie haben das nicht getan. Das IPB-Amt würde nicht einen Kulturforscher anfordern, wenn es nicht eine Aufgabe für ihn hätte, die nur ein Mann mit gerade dieser Ausbildung bewältigen kann.« »Wenn Ihre Instruktionen eintreffen, wird sich zeigen -« »Ich brauche keine Instruktionen, um zu wissen, was ich zu tun habe.« Forson setzte sich auf die Schreibtischkante und hob die Stimme. »In Ihrem Empfangsraum hängt eine Anzahl einheimischer Gemälde. Es handelt sich um großartige Kunstwerke, die irgendein Tölpel mit Cellex an der Wand befestigt hat, was sie praktisch zu einem festen Bestandteil des Gebäudes macht. Vielleicht bringe ich den Betreffenden um, falls ich ihn finde. Eines der Gemälde ist das Porträt eines Musikers. Wissen Sie, welches ich meine?« »Ich scheine mich erinnern zu können -« »Gut. Das Musikinstrument ist ein gezupftes Saiteninstrument, das ich mangels einer besseren Bezeichnung eine Harfe nenne - obwohl es mit keiner Harfe, die mir je zu Gesicht gekommen ist, Ähnlichkeit besitzt. Es verfügt über einen wunderschönen, geschnitzten Rahmen, und die Saiten erstrecken sich vom Umkreis eines kugelförmigen Tonträgers zu einer Art Drachenschädel, der die Spitze des Instruments
ziert.« Er machte eine Pause. Der Koordinator starrte ihn mit großen Augen an. »Ich möchte folgendes wissen: Welche Tonleiter ist dem Instrument zugrunde gelegt?« »Ich -« Der Hals des Koordinators schwoll an, als er krampfhaft schluckte. »Ich habe leider keine Ahnung.« »Das dachte ich mir. Würden Sie eine Auswahl von Schallaufzeichnungen und die dazugehörige Abspielapparatur in mein Quartier schicken?« » Aufzeichnungen ?« »Von der Musik dieses Instruments. Die besitzen Sie doch, oder?« »Ich — nein, leider nicht.« »Aha. Dann fertige ich sie selbst an. Können Sie die Apparatur dafür und ein paar Musiker beschaffen, oder muß ich das selbst tun?« »Aber das ist -« Die Stimme des Koordinators versagte. »Nichts ist unmöglich«, erklärte Forson mit eiserner Ruhe. »Dieses Gemälde interessiert mich auch sonst. Ich brauche die chemische Analyse der Grundfarben und ein paar Proben davon zum Experimentieren.« Der Koordinator war sprachlos. »Keine chemische Analyse?« meinte Forson resigniert. »Nicht daß ich wüßte.« »Es kann nicht schwer sein, sie anzufertigen. Sie haben doch ein Labor hier, nicht? Geben Sie mir ein bißchen Farbe, dann analysiere ich sie selbst.« »Leider -« »Kein Labor?« »Keine Farbe.« »Das kann kein Problem sein. Besorgen Sie sie. Noch besser - laden Sie ein paar Maler ein. Ich möchte sie bei der Arbeit beobachten.« »Aber das ist unmöglich! Sehen Sie —« »Ich sehe nur, warum man es für nötig gehalten hat, Ihnen einen Kulturforscher zu schicken.« Das Gesicht des Koordinators hatte sich gerötet; sein steigender Blutdruck schien auf Kollisionskurs mit seiner abnehmenden Selbstbeherrschung zu sein, aber als er zu sprechen begann, geschah das im Tonfall eines bekümmerten Menschen.
»Sie sehen gar nichts. Bis Ihre Instruktionen eintreffen, können wir nicht viel tun, aber ich werde meinen Assistenten bitten, Sie einzuweisen. Sind Sie mit Ihrem Quartier zufrieden? Gut, dann - guten Morgen, Forson. Sektorinspizient Forson, meine ich natürlich.« Er stand auf und salutierte. Forson erwiderte den militärischen Gruß verblüfft und zog sich mit dem beunruhigenden Gefühl zurück, daß er eine Schlacht verloren hatte. Er kehrte in den Empfangsraum zurück und setzte sich, um die Gemälde noch einmal zu betrachten. Er mußte eine Analyse der Farbe haben. Er mußte die Musik aufnehmen. Der bloße Anblick dieses seltsamen Instruments rief berückende Phantasievorstellungen perlender Klänge hervor. Die Sekretärin betrachtete ihn feindselig, als verdächtigte sie ihn, von einer der übleren Ungezieferarten dieses Planeten befallen zu sein. »Sie wissen wohl nicht zufällig, welche Art von Tonleiter bei diesem Instrument Verwendung findet?« erkundigte er sich. Ihre Feindseligkeit verschwand. Einen peinlichen Augenblick lang wurde, was vorher ein recht anziehendes Gesicht gewesen war, von einer totalen, abstoßenden Verblüffung überzogen. Sie antwortete nichts, und Forson, dem alles Abstoßende zuwider war, wandte sich ab. Schönheit liebte er um ihrer selbst willen; Häßlichkeit, die oft eine Form umgedrehter Schönheit war, faszinierte ihn. Das Leben bot von beidem viel zuwenig und dafür viel zuviel erschrekkende Mittelmäßigkeit, die er scheußlich fand. Aber dieser Planet Gurnil besaß eine Kultur von nahezu unfaßbarem Reichtum. Die Gemälde zeigten verlockende Hinweise auf andere Künste, die der Malerei gleichkommen oder sie übertreffen mochten: das Musikinstrument; seinen meisterlich geformten Rahmen, der hohe Fertigkeiten auf dem Gebiet der bildenden Kunst verriet; die eindrucksvolle Architektur. Gebäude mit Wänden, die von einem schmalen Fundament her auseinanderstrebten und mit ihren gewölbten Dächern und herrlichen Farben wie strahlende, rechteckige Pilze aussahen. Wenn das zu Erwartende auf einer ähnlichen Ebene stand, mußte der Planet Gurnil jene Welt sein, die sich jeder Kulturforscher erträumte, ohne ihr jedoch zu begegnen. Forsons Begeisterung wurde von einer bösen Vorahnung jedoch
erheblich gedämpft. Das IPB-Amt hätte beliebig viele Kulturforscher anfordern können, auch ohne einen leitenden Beamten des Instituts beizuziehen, würde aber, wenn es sich doch dazu veranlaßt sah, seine Instruktionen keinesfalls mit einem langsamen Frachtschiff geschickt haben. Die Sekretärin sah ihn immer noch feindselig an. Er warf ihr einen fragenden Blick zu; sie erwiderte ihn finster. Er sah sich noch einmal das schimmernde Porträt einer wunderschönen jungen Dame Gurnils an, die ihr Haar in langen, wallenden Flechten trug und deren glanzvolle Kleidung ihre wohlgeformte Gestalt verbarg, ohne sie zu entstellen. Die Schultern des Uniformrocks der Sekretärin waren zu kantigen Rechtecken ausgestopft, obwohl jeder Fachmann wissen mußte, daß man die natürliche Schönheit der Rundungen nicht durch scharfe Kanten entstellen durfte. Die knielange Hose erwies sich, wenn möglich, als noch größerer Irrtum. Ihre Farbe erinnerte Forson an erstarrten Schlamm, und das gesunde Fleisch selbst der wohlgeformten Beine nahm daneben eine totenähnliche Färbung an. Der Gegensatz war so auffällig und störend, daß Forson die Gemälde auf der Stelle im Stich ließ und zu seinem Quartier marschierte, wo er in Ruhe versuchen konnte, das Rätsel zu lösen. Er spürte die unangenehme Gewißheit, daß ihm die Lösung nicht gefallen würde.
2 Die Wände von Forsons beiden kleinen, spartanisch eingerichteten Räumen waren triste Flächen verblaßten grauen Kunststoffs. Als einzige Zierde gab es in jedem Zimmer den schwarzgerahmten Wahlspruch des IPB-Amts: >Demokratie, von außen aufgezwungen, ist die schlimmste Form der Diktatur.< Die Fenster gingen auf den stillen, tiefen See eines riesigen Vulkankraters hinaus. Jenseits des Kraterrandes reckten gewaltige Berge ihre nebelumhüllten Gipfel in atemberaubender Schönheit. Inmitten dieser Naturschönheiten hatte das IPB-Amt ein gigantisches, eigenschaftsloses Gebäude errichtet und es mit einer Wüstenei von Lagerschuppen, Landefeld, Hangars und hektargroßen Brachflächen umgeben. Forson betrachtete angewidert die verunstaltete Landschaft und dachte mitfühlend an den legendären Vogel im Weltraum, der sich die Flügel an einem Vakuum gebrochen hatte. Der IPB-Stützpunkt war ein Kulturvakuum. Forson betrachtete die sterile Häßlichkeit und fühlte sich flügellahm. Bedrückt von der Trostlosigkeit im Innern, angewidert von der Aussicht, die ihm die Fenster boten, verbrachte Forson einige Minuten damit, zornig im Zimmer hin und her zu wandern, bevor er hinausstürzte, um einen ersten Besichtigungsgang durch das Gebäude zu unternehmen. Der Gedanke, daß für eine solch riesige Einrichtung erstaunlich wenige Menschen unterwegs waren, hatte sich schon einmal eingestellt. Das H-förmige Gebäude bestand aus zwei doppelstöckigen Wohnflügeln, verbunden durch ein langes, einstöckiges Mittelstück, in dem die Verwaltungs- und Versorgungsräume untergebracht waren. Forson ging am Empfangsraum vorbei, ohne darauf einen Blick zu verschwenden, und durchwanderte den ganzen langen Korridor des Wohntrakts gegenüber. Als er umkehrte, spürte er Musik. Spürte sie mehr, als er sie hörte. Der Klang war so sanft, so zart, so unbeschreiblich zerbrechlich, daß keine einzelne Sinnesempfindung bei der Wahrnehmung eine Rolle zu spielen schien. Er stand wie angewurzelt und atemlos vor einer Tür. Lange nachdem
die Töne verklungen waren, glaubte er sie immer noch zu hören. Er wartete. Als die Musik nicht mehr aufgenommen wurde, klopfte er schüchtern. Die Tür ging auf, und ein Mädchen stand vor ihm — ein Mädchen, das ganz ursprünglich war, langes, goldenes Haar, in eine Robe aus satten Farben gekleidet, die in strahlendem Gegensatz zu dem strengen Zimmer hinter ihr standen. »Verzeihung«, sagte Forson. »Ich wußte nicht, daß hier die Frauen untergebracht sind. Ich hörte die Musik und. wurde neugierig.« Zu seinem Erstaunen schaute sie hastig nach links und rechts, zog ihn schnell ins Zimmer und schloß die Tür. Wie durch ein Wunder stahl sich ein Lächeln über ihr zuerst streng wirkendes Gesicht. Er setzte sich auf den Stuhl, den sie ihm anbot, und erst als sich das Lächeln verstärkte, begriff er, daß er sie angestarrt hatte. »Verzeihung«, sagte er noch einmal. »Alle Frauen, die ich bisher hier gesehen habe, spielten Soldat.« Ihr Lachen erinnerte ihn entfernt an die Musik, die er gehört hatte, aber als sie zu sprechen begann, tat sie es nur im Flüsterton. »Sie gehören zum Stützpunktpersonal. Sie müssen sich soldatisch geben. Ich bin beim Stab B.« »Stab B?« wiederholte er, ebenfalls flüsternd. »In Erholung«, fuhr sie fort. »Ich habe einen Virus erwischt.« Plötzlich bemerkte er das Instrument auf einem niedrigen Tisch neben ihrem Feldbett. Es besaß Ähnlichkeit mit dem Instrument auf dem Gemälde, war aber nur sechzig Zentimeter hoch und sah eher wie ein Spielzeug aus denn wie ein Instrument für hohe Kunst. Der Holzrahmen war ohne Verzierung, aber zu strahlendem Schimmer poliert. »Es ist so klein!« entfuhr es Forson. »Das auf dem Bild war riesengroß!« Ihr Finger an den Lippen erinnerte ihn daran, daß er die Stimme erhoben hatte. »Sie meinen ein Torril«, sagte sie leise. »Ein Instrument für Männer. Ein Instrument für öffentliche Konzerte. Der Rahmen wird geschnitzt und genau auf die Größe des Musikers abgestimmt. Wenn der junge Torrilspieler aufwächst, muß er jedes Jahr ein neues Instrument
bekommen. Das hier ist ein Torru, ein Fraueninstrument. Der Ton paßt sehr gut zu kleinen Räumen, würde aber bei Konzerten viel zu zart sein.« »Ein wunderbarer, flüsternder Ton«, sagte Forson. Er stand auf und beugte sich über das Torru. Die zarten Saiten bestanden aus einer ein wenig gezwirbelten Faser, weiß und — jede fünfte Saite - schwarz. Er zupfte vorsichtig an ihnen. »Eine modulierte Fünftonleiter!« sagte er. »Primitiv und gleichzeitig höchst raffiniert. Merkwürdig.« Das Mädchen lächelte ihn wieder an. »Ich habe mich immer gefragt, wie IK-Leute sein mögen. Jetzt weiß ich es. Sie hören Musik!« Sie machte sich vielleicht über ihn lustig, aber Forson gab ernsthaft Antwort. »>Kultur< ist ein so weiter Begriff, daß das Institut mehr Spezialgebiete kennt, als Sie sich vorstellen. Meine eigene Spezialität sind Künste und Kunsthandwerk, und ich bin Könner des Einmaligen in allen diesen Bereichen. Aber das Instrument hier - die kreisförmige Anordnung der Saiten. Wissen Sie, daß sich das nirgends einordnen läßt?« »Daran habe ich noch nie gedacht. Es ist wunderbar zu spielen.« »Spielen Sie doch etwas«, schlug Forson vor. Er beobachtete ihre geschickten Finger und lauschte gebannt und hingerissen, bis die letzten perlenden, flüsternden Töne verklungen waren. »Erstaunlich«, sagte er begeistert. »Die Technik ist grandios. Sie haben alle Saiten direkt unter den Fingern, während bei den Harfen -« Er verstummte. Im Korridor waren Schritte vernehmbar geworden, und sie horchte erschrocken auf. »Es muß Mittagszeit sein«, meinte er. »Kommen Sie mit?« Sie schüttelte ernsthaft den Kopf. »Es ist besser, wenn niemand erfährt, daß wir miteinander gesprochen haben. Bitte erwähnen Sie es also nirgends.« Sie führte ihn hastig zur Tür, öffnete sie vorsichtig und schaute hinaus. »Kommen Sie nicht mehr hierher«, flüsterte sie. »Ich versuche Sie zu sehen, bevor ich fortgehe.«
Er stand plötzlich wieder im Korridor, setzte sich in Bewegung, und ihre Tür schloß sich lautlos. Er war um die Ecke gebogen, bevor ihm einfiel, daß sie ihm ihren Namen nicht gesagt hatte. Der Essensduft lockte ihn in den Speisesaal, wo sich ihm auf dem Weg zur Ausgabe eine der uniformierten Damen des Koordinators in den Weg stellte. »Offiziere werden in ihren Quartieren bedient«, erklärte sie. »Sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Forson. »Ich ziehe es aber vor, hier zu essen.« Sie wurde vor Verwirrung rot, wich und wankte aber nicht. »Der Koordinator hat verfügt —« »Sagen Sie ihm, daß der Sektorinspizient Hunger hatte«, murmelte Forson. Er ging um sie herum, bediente sich und trug sein Tablett zu einem langen Tisch, an dem eine Anzahl von jungen Frauen in Uniform und jungen Männern in Arbeitskleidung schon aßen. Er wurde schweigend aufgenommen, die anderen wichen seinen Blicken aus und reagierten einsilbig, als er ein Gespräch in Gang zu bringen versuchte. Der Reihe nach verschwanden sie, und es dauerte nicht lange, bis Forson allein am Tisch saß. Er kehrte nach dem Essen in sein Quartier zurück, wo er auf dem Arbeitstisch ein opulentes Mahl vorfand. Angeekelt leerte er das abgestandene Essen in den Schlucker. Während er mürrisch die trübe Aussicht betrachtete, klopfte es an seine Tür. Er beurteilte seinen Besucher mit einem schnellen Blick. Das muß einfach der stellvertretende Koordinator sein, dachte er. Der Mann stand stramm und salutierte. »Unterkoordinator Wheeler zur Stelle.« Forson bat ihn, das sein zu lassen, hereinzukommen und sich zu setzen. Als er darauf: »Jawohl, Sir«, sagte, ersuchte Forson ihn, auch das bleiben zu lassen. »Ich heiße Jeff. Haben Sie einen Vornamen?« »Blagdon.« Wheeler lächelte albern. »Meine Freunde nennen mich Blag.« »Also gut. >Unterkoordinator Wheeler< ist mir zu anstrengend.« Wheeler grinste wieder, überreichte Forson ein dickes Buch und
machte es sich in einem Sessel bequem. Forson grinste zurück. Nachdem er Koordinator Rastadt kennengelernt hatte, hätte er blind seinen Vertreter erkennen können, einen großen, jovialen, sympathisch wirkenden Mann, dessen wichtigste Aufgabe im Stützpunkt darin bestand, die von seinem brüsken Vorgesetzten aufgestörten Wogen wieder zu glätten. Wheelers Grinsen verschwand, und Forson entdeckte zu seiner Verblüffung, daß der Mann zwei Gesichter hatte, ein tragisches und ein komisches, und daß er vermutlich selbst nicht wußte, ob er nun ein weinender Clown oder ein lachender Tragöde war. Forson wog das Buch in der Hand. »Was ist das?« »Dienstvorschrift 1048 K. Das wichtigste Handbuch des IPB- Amts. Es erklärt Ihnen alles, also wahrscheinlich viel mehr, als Sie wissen wollen.« Forson schob es weg. »Sie sollen mich einweisen.« »Ja«, bestätigte Wheeler. »Aber zuerst — wir haben Ihre Instruktionen gefunden.« »Sie haben sie gefunden?« Wheeler nickte unglücklich. Selbst im traurigsten Zustand schien sich auf seinem runden, freundlichen Gesicht Lachen ausbreiten zu wollen. Welche Fähigkeiten der Mann auch sonst haben mochte, er schien dazu verurteilt zu sein, sein ganzes Leben hindurch an zweiter Stelle zu stehen. Bei jeder Krise in seiner Laufbahn würde der Clown in seinem Charakter das feixende Haupt erheben und seine Vorgesetzten davon überzeugen, dass dies kein Mensch war, den man ernst nehmen durfte. »Jemand aus der Nachrichtenabteilung hat gepfuscht«, sagte Wheeler. »Eigentlich kann er ja nichts dafür. Die Instruktionen waren für jemanden bestimmt, von dem er noch nie gehört hatte. Er wußte, daß es auf Gurnil keinen Jeff Forson gab und auch im Umkreis von Lichtjahren keinen Sektorinspizienten. Er nahm natürlich an, die Instruktionen seien versehentlich nach Gurnil gelangt, registrierte sie und bat um Bestätigung. Beim Relaisverkehr im Weltraum kann alles mögliche passieren, so daß die Bestätigung nie eintraf und Ihre
Instruktionen im Archiv verblieben. Aber Schaden ist ja nicht angerichtet worden. Sie sind hier, und Ihre Instruktionen sind hier. Ich lasse gerade Kopien anfertigen. Sie sollen den Stab B übernehmen.« Forson starrte ihn an. »Ein Kulturforscher als Kommandeur eines Einsatzstabes des IPBAmts? Die Instruktionen stecken Sie mal schnell wieder weg und fordern eine neuerliche Bestätigung an.« »Das habe ich schon getan«, erwiderte Wheeler. »Ich habe um Bestätigung gebeten, meine ich; das ist so üblich. Ich glaube nicht, daß ein Irrtum vorliegt.« »Dann hat in der Chefzentrale des IPB-Amts jemand den Verstand verloren.« Zur Abwechslung verriet Wheelers Lächeln diesmal nur Wehmut. »Darauf warte ich schon seit Jahren, aber unabhängig vom Geisteszustand der maßgebenden Personen bleiben Instruktionen eben Instruktionen. Der Stab B steht zu Ihrer Verfügung.« »Wozu?« »Hm - ja. Ein bißchen Gurnil-Geschichte dürfte nützlich für Sie sein.« »Nützlich wäre so ungefähr alles.« »Gewiß. Ich vergesse immer wieder, daß Sie - daß Sie nicht -« Er grinste traurig und überlegte einen Augenblick. »Wie Sie zweifellos wissen, wirkt das Amt für Interplanetarische Beziehungen in der Hauptsache außerhalb der Grenzen der Föderation Unabhängiger Welten. Dem Wachstum der Föderation entsprechend bildet IPB die Vorhut und bereitet ihr den Weg. Es stößt durch den Weltraum vor und erforscht und untersucht die Planeten. Wird intelligentes Leben entdeckt, dann setzt es einen Koordinator ein, der einen IPB-Stützpunkt errichtet, eine Klassifikationsprüfung durchführt und die notwendigen Stäbe aufbaut, um den Planeten zur Mitgliedschaft in der Föderation zu geleiten. Findet sich kein intelligentes Leben, dann geschehen andere Dinge, die uns hier aber nichts angehen, weil Gurnil bei der ersten Inspektion vor vierhundert Jahren schon zwei blühende humantypische Zivilisationen besaß. Wissen Sie etwas über das Vorgehen des IPB?« Forson schüttelte den Kopf. »Woher? Man läßt das IK ja erst zu, sobald man einen Planeten als
nicht-feindselig eingestuft hat, und das tut man erst, wenn die Arbeit beendet ist und der Planet bereits Antragauf Zulassung zur Föderation gestellt hat.« »Wir können uns nicht auf das Risiko einlassen, daß unsere Arbeit behindert wird«, meinte Wheeler. »Danke«, sagte Forson trocken. »Inzwischen pfuschen Sie uns ins Handwerk.« Wheeler zeigte wieder sein tragisches Grinsen. »Wir haben neben der Kultur auch noch anderes zu bedenken. Es ist oft sehr heikel, einen Planeten bis zur Mitgliedschaft in der Föderation zu steuern. Vor allem muß eine demokratische, sich über den ganzen Planeten erstreckende, vom Volk ohne erkennbare äußere Einflüsse selbst eingesetzte Regierung vorhanden sein. Wir werden von einem riesigen Vorschriftenkomplex eingeengt.« »Demokratie, von außen aufgezwungen —« murmelte Forson. »Die oberste Richtschnur des Amtes. Wir finden selten eine Globalregierung, geschweige denn eine Demokratie. Deshalb führen wir kleinere politische Einheiten zur demokratischen Regierungsform, steuern sie dann zum Zusammenschluß in größere Gebilde und gelangen so schließlich zu einer weltweiten Demokratie. Natürlich muß das alles so geschehen, daß die Leute von uns nichts bemerken. Manchmal dauert es Jahrhunderte.« »Und deshalb sind die Kulturen ausnahmslos angekränkelt, bis wir anfangen dürfen.« »Das läßt sich nicht vermeiden.« »Weshalb bin ich dann jetzt auf Gurnil?« »Das weiß ich nicht«, gab Wheeler offen zu. »Ich versuche Ihnen nur zu erklären, was IPB hier macht. Gurnil ist bi-kontinental, und als wir kamen, waren beide Kontinente von absoluten Monarchien kontrollierte politische Einheiten. Der Klassifizierungsstab des Amtes rechnete damit, daß unsere Arbeit fünfzig Jahre in Anspruch nehmen würde.« »Und das war vor vierhundert Jahren?« Wheeler nickte. »Der Stab A hier in Larnor hatte sofort Erfolg. Binnen einem Dutzend Jahre war die Monarchie von einer blühenden Demokratie
abgelöst worden. Sie blüht heute noch. Man kann sie praktisch als Modellausgabe bezeichnen. Der Stab B hatte drüben in Kurr dagegen keinerlei Erfolg. Nach vierhundert Jahren ist Kurr von einer Demokratisierung noch ebenso weit entfernt wie bei der Entdeckung des Planeten. Im Gegenteil - die Lage verschlimmert sich immer mehr. Jeder Nachfolgemonarch konsolidiert seine Macht stärker. So stehen die Dinge im Augenblick.« »Ich soll also das Kommando von Stab B übernehmen und habe den Auftrag, Kurr in eine Demokratie zu verwandeln.« »Ohne erkennbar äußere Einflüsse«, fügte Wheeler grinsend hinzu. »Sie werden sich das Archiv vom Stab B ansehen müssen, damit Sie wissen, was schon alles versucht worden ist, bevor Sie eigene Pläne entwerfen.« »Sie sagten, das Problem bestehe schon seit vierhundert Jahren.« »Ja —« »In vierhundert Jahren kann man allerhand versuchen.« »Das Archiv vom Stab B füllt einen ganzen Raum«, sagte Wheeler fröhlich. »Außerdem wird das IPB-Amt, dem das Problem Ärger, wenn nicht sogar große Verlegenheit bereiten dürfte, im Laufe der Jahre einige seiner besten Leute dort eingesetzt haben, die ohne Zweifel jeden Trick und jedes Manöver angewandt haben, die nur denkbar waren. Alle versagten, und deshalb gibt IPB den Auftrag nun an einen IK-Mann weiter. Ein reichlich verzweifelter Schachzug, selbst wenn wir Irrsinn als Motiv ausscheiden.« »In der Chefzentrale ist man verzweifelt«, gab Wheeler zu. »Die Föderationsgrenze kann nicht in Schnörkeln und Arabesken verlaufen. Ebensowenig darf es innerhalb der Grenze eine Enklave geben, die Beschränkungen unterliegen müßte. Ein Planet wie Gurnil kann die Aufnahme eines ganzen Sektors von Welten verzögern und die Ausbreitung der Föderation zum Stillstand bringen.« »Wie kommt es, daß Larnor so leicht zu beeinflussen war, wenn Kurr derartige Schwierigkeiten macht?« »Larnor ist ein armer Kontinent, der einen unglaublich dummen König hatte. Die Rohstoffquellen sind vernachlässigt worden. Die Bewohner lebten in tiefster Armut, so daß nicht viel nötig war, um sie
zur Revolution anzustacheln. Der König wurde ermutigt, immer neue Steuern zu erheben, während man seine Untertanen anspornte, sich endlich dagegen zur Wehr zu setzen.« »Und das alles geschah ohne Einflußnahme von außen, versteht sich.« »Ohne erkennbare Einflußnahme von außen. Das ist nicht ganz dasselbe.« »Und bei Kurr?« »Ein Kontinent von immensem Reichtum, dessen Herrscher geradezu genial begabt sind. Es sind Despoten, mit den üblichen Lastern von Despoten, aber sie wissen stets haargenau, wie weit sie gehen können, ohne ihre Untertanen gegen sich aufzubringen. Irgendein verfeinerter Instinkt scheint ihre naturgegebene Habgier im Zaum zu halten, und sie können soviel Reichtum scheffeln, wie sie für nötig halten, ohne bedrückende Steuerlasten aufzuerlegen, weil ihr Imperium so begütert ist. Sie sind sogar klug genug, ihre Grausamkeit zu zügeln. Der König kann sich jedes Mädchen nehmen, das ihm gefällt, aber Vater oder Ehemann werden stets belohnt, ebenso das Mädchen selbst, wenn er genug von ihm hat. Was ein unerträglicher Akt der Willkür sein könnte, wird so zu einer einträglichen Ehre. Wenn ihn ein Untertan beleidigt, kann ihm der König den linken Arm am Ellbogen abtrennen lassen - ein Lieblingsvergnügen des derzeitigen Königs Rovva -, aber das Opfer bekommt danach eine Pension. Außerdem handelt es sich dabei meist um Leute, die sich am Hof herumtreiben, so daß die Bevölkerung keinen Grund zur Aufregung hat. Abgesehen davon ist den Bewohnern seit Generationen Achtung vor dem König eingeimpft.« »Und die Beziehungen zwischen Kurr und Larnor?« »Seit der Revolution auf Larnor gibt es keine offiziellen Beziehungen mehr. Die Könige von Kurr hatten Verstand genug, um einzusehen, daß die larnorischen Ideen gefährlich waren. Inoffiziell pflegten die Larnorier Missionare zu entsenden, die sowohl ihre Religion als auch die Demokratie verbreiten sollten, aber diese verschwanden stets spurlos. Wahrscheinlich landeten sie in den Einhand-Dörfern des Königs. Beide Kontinente sind auf der Techno-
logiestufe zwanzig, und der Seeverkehr ist von unglaublicher Primitivität. Es fiel Kurr nicht schwer, praktisch jeden Kontakt zu unterbinden.« »Sie sagten, das IPB-Amt sei durch komplizierte Vorschriften behindert. Wie sehen sie aus?« Wheeler wies auf das Handbuch 1048 K. Forson zog es zu sich heran und blätterte darin. Auf dem Titelblatt wie über jedem Kapitel war der Wahlspruch und die oberste Richtschnur des IPB-Amtes abgedruckt: >Demokratie, von außen aufgezwungen, ist die schlimmste Form der Diktatur.< Fettgedruckt sprang ins Auge, was das Amt für Perlen konzentrierter Weisheit zu halten schien. >Das Amt schafft keine Revolution. Es schafft die Notwendig keit dafür. Sobald die Notwendigkeit gegeben ist, ist die einheimische Bevölkerung durchaus fähig, die Revolution selbst durchzuführen. Demokratie ist keine Regierungsform, sondern eine Denkweise. Man kann Menschen nicht willkürlich eine Denkweise aufzwingen. Die >Regel des einzigem war ein meisterliches Zugeständnis, weil es nichts zugestand. Unfähige Spezialisten forderten den Ersatz der Intelligenz durch Technologie. Sie bekamen die Technologie - auf eine Weise, die sie von der Intelligenz völlig abhängig machte. Ein Maßstab für die Dringlichkeit der Revolution ist die Freiheit, die die Menschen haben, verglichen mit der Freiheit, die sie wollen.< Forson klappte das Buch zu. »Hepp«, sagte er und warf es Wheeler zu, der es ungeschickt auffing, das Gesicht vor Verwirrung entstellt. Er war der Tragöde, dessen echtes Pathos unbegreifliches Lachen erregt hatte. »Was — was werden Sie tun?« »Wie lange braucht ein IPB-Mann, um das durchzuarbeiten?« »Drei Jahre.« »Es war sicher nicht die Absicht Ihrer Vorgesetzten, daß ich drei Jahre damit zubringe, die Dienstvorschrift 1048 K zu beherrschen.« Er stand auf und trat an ein Fenster. Je öfter er den tristen Stützpunkt sah, desto mehr ärgerte er sich darüber. Er fragte sich, ob das IPB-Personal nie über die Mauern hinausblickte, nie die Verschandelung der Großartigkeit des Kraters bemerkte. Ein IK-Stützpunkt wäre von soviel
Schönheit umgeben gewesen, wie fleißige Hände und gehorsame Maschinen aus der Umgebung nur hervorzaubern konnten. Er drehte sich um. »Diese Gemälde im Empfangsraum. Stammen sie aus Kurr?« Wheeler zögerte. »Die meisten sicher. Ich habe mich noch nie erkundigt.« »Wenn einige, dann alle«, sagte Forson. »Weit voneinander entfernte Kontinente mit geringen Kontakten entwickeln nicht identische Kunststile und -techniken.« Er hätte nicht zu fragen brauchen. Das Mädchen mit dem Torru gehörte zum Stab B, war also von Kurr, und das Torru war eine Miniaturversion des Instruments auf dem Gemälde. »Und die Bewohner wissen nicht, daß ihr hier seid«, meinte Forson nachdenklich. »Kein Wunder, daß der Koordinator die Fassung verlor, als ich ihn bat, ein paar Musiker und Maler einzuladen. Aber wie können Sie die Leute zur Demokratie führen, wenn Sie keinen Kontakt mit ihnen haben?« »Den haben wir doch!« protestierte Wheeler. »Jeder Mitarbeiter des Stabes hat eine Rolle unter den Einheimischen. Sie brauchen auch eine, bevor Sie Ihr Kommando übernehmen können.« »Verstehe. Mit anderen Worten, so etwas wie eine Verkleidung.« »Keine Verkleidung. Eine Identität.« »Wenn Sie es so nennen wollen. Langsam geht mir ein Licht auf. Das Amt hat in Kurr ein Dauerproblem vor sich. Kurr hat offensichtlich auf kulturellem Gebiet Unglaubliches geleistet. Nach vierhundert Jahren ist das jemandem im Amt endlich aufgefallen, und der Betreffende hat sich gefragt, ob nicht vielleicht ein Kulturforscher von Nutzen sein könnte. Nun gut. Ich bin an die Spitze von Stab B gestellt worden. Ich werde nach Kurr gehen und mit dem Stab Kulturforschung betreiben.« »Kultur -« - Wheeler atmete tief ein und schloß mit Fistelstimme - »forschung?« »Dafür bin ich ausgebildet. Es wäre sinnlos für mich, mit der Dienstvorschrift 1048 K zu beginnen. Damit wäre ich in drei Jahren erst so weit wie ein IPB-Mann nach Abschluß seiner Lehrzeit - und das auch nur, wenn ich fleißig studiere. Da gegenteilige Instruktionen nicht
vorhanden sind, kann ich nur unterstellen, daß das IPB-Amt jene Lücken in seinem Wissen ausfüllen will, die auf meinem Spezialgebiet noch vorhanden sind, und daß ich angefordert wurde, um diese Aufgabe zu erfüllen. Haben Sie vielleicht eine bessere Erklärung für meinen Auftrag?« Wheeler schwieg. »Ich brauche einen Blitz-Sprachkurs«, sagte Forson. »Gewiß. Ich lasse die Apparaturen bringen. Außerdem lasse ich prüfen, welche Identität für Sie geeignet erscheint.« »Ich möchte ein paar Leute vom Stab B kennenlernen«, sagte Forson und dachte an das Mädchen mit dem Torru. Wheeler zog die Brauen zusammen. »Wenn Sie wollen. Es dürfte aber ein bißchen schwierig sein. Sie sind alle in Kurr und können nicht immer nach Wunsch zurückkehren. Sie müssen ihre Stellungen behaupten, sonst war die ganze Arbeit umsonst. Wir könnten jeweils einen oder zwei zurückholen, aber es würde eine ganze Ewigkeit dauern, wenn Sie wirklich eine größere Anzahl von ihnen kennenlernen wollten. Da würde es sich dann schon eher empfehlen, sie in Kurr aufzusuchen.« »Ist denn vom Stab B niemand hier im Stützpunkt?« »Nein«, sagte Wheeler. »Der Stab hatte früher hier eine Zentrale, aber jetzt befinden sich nur noch die Archive hier. Sie werden vom Stützpunktpersonal betreut. Der gesamte Stab B ist in Kurr. Wir können Sie hinfliegen, sobald Sie soweit sind.« Er nickte freundlich und verließ das Zimmer. Forson wäre am liebsten sofort zum Frauenquartier geeilt, verzichtete aber bei schärferem Nachdenken darauf. Das Mädchen mochte an die Schicklichkeit gedacht haben, als sie ihn gebeten hatte, nicht mehr in ihr Zimmer zu kommen. Es konnte aber auch eine Warnung gewesen sein.
3 In einer Hinsicht hatte Forson nützliche Informationen erhalten. Das Amt für Interplanetarische Beziehungen war immer mehr wie ein Geheimorden statt wie eine Regierungsbehörde betrieben worden. Wenige Menschen außerhalb des Amtes wußten über seine Funktion Bescheid, aber jeder, der an den vorgeschobenen Linien im Weltraum arbeitete und reiste, spürte schnell, daß dort das Amt nahezu unbegrenzte Machtbefugnis besaß. Man sprach sogar davon, daß die Admiräle der Raumflotte beim IPB-Amt um Genehmigung nachsuchten, wenn sie beim Manöver die Grenzen der Föderation überschreiten wollten. Forson begriff jetzt, warum. Das Amt hatte die Aufgabe, Welten zur Mitgliedschaft in der Föderation zu führen, und zwar so, daß diese Welten nichts davon bemerkten. Es war klar, daß das nicht möglich sein würde, wenn Händler, Forscher, Wissenschaftler, Beamte und Schiffbrüchige wahllos aus dem Weltraum herbeiströmen konnten. Das Amt hatte deshalb die Grenzen zu überwachen. Auf Gurnil gab es einen Kontinent, Kurr, der immer noch von einem Monarchen regiert wurde. Die Zulassung benachbarter, allen Bedingungen entsprechender Welten zur Föderation hatte sich lange verzögert; das Amt befand sich in Verlegenheit. Man konnte verstehen, daß die Lage nach drastischen Mitteln verlangte, aber in der Chefzentrale des Amtes muß jemand die Notbremse gezogen haben. Ein Sektorinspizient des Instituts für Kulturforschung als Leiter des Arbeitsstabes auf Kurr? Das war genauso, als hätte man einen IPBMann mit der Leitung eines Kulturforschungsprojekts beauftragt, und Forson wußte, wohin das geführt hätte - er brauchte nur daran zu denken, wie man hier der Kunst gegenüberstand. Da er nicht wußte, was man von ihm erwartete, beschloß er, dem Amt zu liefern, was seinen Fähigkeiten entsprach: eine Kulturforschungsstudie. Er bereitete entsprechende Formulare vor und übergab sie Rastadts Sekretärin mit der Bitte, zunächst je tausend Abzüge herstellen zu lassen. Einen Tag später lagen die Muster immer noch unberührt auf ihrem Schreibtisch. Forson beschwerte sich bei Wheeler, der fröhliche Tränen weinte und ihm versprach, sie selbst zu
vervielfältigen. Forson widmete sich dem Sprachkurs und lernte fast ohne Unterbrechung, weil er sonst nichts zu tun hatte, aber seine Gedanken befaßten sich immer wieder mit dem Mädchen, das Torru gespielt hatte, mit der Angehörigen des Stabes B, die es, laut Wheeler, gar nicht gab. Er fragte sich, ob er sie wohl je wiedersehen würde. Sie kam in der Nacht. Forson, der von einer kühlen Hand und ihrem Flüstern aus unruhigem Schlaf geweckt wurde, setzte sich hastig auf und tastete nach Licht. »Kein Licht!« flüsterte sie. Er hörte das leise Rascheln ihres Gewandes, ihre schnellen Atemzüge, fing den Duft eines unbekannten Parfüms auf, konnte sie aber nicht sehen. »Ich fliege morgen zurück«, sagte sie. »Bei Tag? Ich dachte, die Einheimischen dürfen nicht wissen, daß das IPB hier ist.« »In Kurr wird Nacht sein.« »Natürlich. Wußten Sie schon, daß ich der neue Leiter von Stab B bin? Vielleicht sollte ich mitkommen?« »Nein!« sagte sie schnell. Dann wiederholte sie ungläubig: »Der neue - Leiter von Stab B?« »So lauten meine Instruktionen.« »Sehr interessant.« Er versuchte ihr Bild aus der undurchdringlichen Dunkelheit des Zimmers heraufzubeschwören. An ihr Gesicht erinnerte er sich genau die glatte Wölbung ihrer Wange und die zarte Vollkommenheit der Nase, als sie sich konzentriert über das Torru gebeugt hatte. »Sie dürfen nicht mit mir zurückfliegen«, sagte sie. »Es ist besser, wenn sie nicht erfahren, daß wir uns kennen.« »Kennen wir uns denn? Ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind.« »Ann Cory. Offiziell Gurnil B 627.« »Gut, Gurnil B 627. Welche Aufgabe haben Sie im Stab B?« »Unter anderem bin ich Musiklehrerin in Kurra, der Hauptstadt von Kurr. Ich gebe den begabten und weniger begabten Töchtern der Elite Musikstunden.«
»Wie groß ist der Stab?« »Ungefähr zweihundert Personen.« »Zweihundert? Ich hätte keine Ahnung, daß es so viele sind. Alle als Einheimische maskiert, wie?« »Die Angehörigen eines IPB-Stabes maskieren sich nicht«, sagte sie kühl. »Wir sind Einheimische - wenn wir in Kurr sind.« »Verstehe. Zweihundert. Über das ganze Land verteilt, sind das wahrscheinlich nicht sehr viele.« »Hat Sie der Koordinator denn nicht informiert?« »Wheeler hat mir ein Handbuch gegeben, das ich ihm sofort wieder in die Hand drückte. Er erläuterte mir die Lage ein bißchen. Ich habe daraus entnommen, daß die Leute von Kurr mit dem gegebenen Zustand nicht völlig zufrieden sind, sonst hätte man sich bei IPB nicht vierhundert Jahre umsonst bemüht. Außerdem erfuhr ich, daß sich ihr König Rovva beharrlich weigert, etwas zu unternehmen, das bei ihnen Unzufriedenheit hervorrufen würde. Meine eigenen Vorstellungen sind vom IK geprägt und werden Ihnen vermutlich wie Hochverrat vorkommen, aber ich finde, wenn ein Volk glücklich und zufrieden ist - und das sind die Kurranier, nach ihrer Kunst zu urteilen -, hat das IPB-Amt keine Berechtigung, den Umsturz seiner Regierung zu betreiben.« »Was Sie in Kurr vor allem sehen müssen, sind die Einhand-Dörfer«, sagte sie leise. »Es gibt mehrere davon, ausschließlich von Männern und Frauen bewohnt, die dem König missfallen haben. Dafür büßten sie den linken Arm am Ellbogen ein. Eine nette, kleine Zerstreuung, mit welcher der König sich und seinen Hof belustigt. Ein Diener, der niest, wenn der König Schweigen befohlen hat, ein anderer, der ein Tablett fallen läßt — aber immun ist niemand, auch der höchste Minister des Königs nicht. Es gibt gute und schlechte Könige, und wir arbeiten manchmal daran, einen König abzusetzen, der ein gütiger, friedfertiger Monarch ist und den wir persönlich mögen und bewundern. Das Böse liegt im System. Der ideale Monarch kann ein Ungeheuer als Nachfolger haben.« »Gut. Das System ist schlecht und muß geändert werden, aber vom Volk selbst. Demokratie, von außen aufgezwungen —« Er verstummte. Ihr Kleid raschelte leise, als sie sich bewegte, aber
sie blieb quälend unsichtbar. »Ich befasse mich mit der Sprache«, sagte er. »Noch ein Tag, und ich beherrsche sie ziemlich gut, noch zwei, und ich kann sie fließend sprechen. Eine leichte Sprache — viel leichter, als in dem verflixten Priesterkostüm gehen zu lernen, das Ihre Leute für mich ausgesucht haben. Die schreckliche künstliche Nase passt mir auch nicht, aber wenn die Kurranier gewaltige Gesichtserker tragen, würde ich ohne ihn wohl sehr auffallen.« Er wagte es nicht auszusprechen, aber zu den unerfreulichsten Seiten seines Auftrages gehörte die Aussicht, daß ihn Ann Cory mit einer entstellenden Kurranier-Nase sehen würde. »Was für ein Priesterkostüm?« fragte sie. Forson seufzte. »Ich soll so eine Art wandernder Heiliger sein. Rastadt behauptet, daß sie in Kurr sehr häufig seien. Die Rolle biete überdies absolute Sicherheit, weil kein Einheimischer es wagen würde, mich zweimal anzusehen, geschweige denn anzusprechen. Aber Sie wissen ja sicher genau Bescheid darüber.« »Eigentlich nicht. In Kurra sieht man sie nicht oft.« »Stimmt. Sie meiden die Städte, die sie als Lasterhöhlen der Ungläubigen bezeichnen. Bevor ich nach Kurra komme, brauche ich noch eine Wechselidentität. Haben Sie so etwas?« »Selbstverständlich. Jeder Mitarbeiter des Stabes hat mehrere.« »Sehr ermutigend. Dann werde ich diese verflixte Robe doch einmal los, wenn ich auch die Nase tragen muß, solange ich in Kurr bin.« »Ich möchte hören, wie gut Sie die Sprache sprechen«, sagte sie. Er begrüßte sie mit: »Seid gegrüßt, Bürgerin«, und sprach ausführlich vom Wetter, der kommenden Ernte und dem bevorstehenden Eintreffen des Steuereinnehmers. Als er fertig war, blieb sie stumm. »Was ist los?« fragte er. »Schlechte Aussprache?« »Nein, sehr gut sogar. Bemerkenswert, wenn man die kurze Zeit bedenkt. Ich schlage vor, daß Sie drei Tage warten und dann darum bitten, nach Kurr gebracht zu werden.« »Warum drei Tage?« »Eine Vorsichtsmaßnahme. Das gibt uns Zeit, alles für Sie vorzu-
bereiten.« »Der Stab B weiß, daß ich komme. Ich soll an einer entlegenen Station abgesetzt werden, wo es keine heiligen Orte gibt, die mich zwingen könnten, eine religiöse Funktion zu erfüllen, und nur sehr wenige Einheimische zum Segnen, selbst wenn ich gütig gestimmt sein sollte, was ich nicht bin. Ich kann mit der Arbeit nicht anfangen, bis meine Fragebögen fertig sind, werde aber an Ort und Stelle wahrscheinlich viel schneller zu Informationen kommen als hier.« »Was für Fragebögen?« erkundigte sie sich. »Für mein Kulturforschungsprojekt.« Wieder Stille, gestört nur vom leisen Rascheln ihres Kleids. »Warten Sie drei Tage«, sagte sie schließlich. »Sagen Sie niemandem, daß Sie mit mir gesprochen haben. Wir sehen uns in Kurr.« Sie war verschwunden. Er hörte nicht einmal die Tür hinter ihr zufallen. Am nächsten Tag blieb er in seinem Quartier und konzentrierte sich ganz auf die Sprache. Von Zeit zu Zeit brachte ihm eine uniformierte junge Dame ein schwer beladenes Tablett und entfernte sich mit ungeziemender Eile, die nur aus der Angst herrühren konnte, er sei imstande, anstelle des Essens sie selbst zu verschlingen. Am Morgen danach schlenderte er zum Verwaltungsbereich hinunter. Die Sekretärin betrachtete ihn argwöhnisch. Forson beachtete sie nicht. Er gewöhnte sich bereits an derartige Blicke. Er ging direkt zum Büro des Koordinators, wo ihm die junge Dame eisig erklärte, der Koordinator fühle sich nicht wohl. »Unterkoordinator Wheeler?« fragte Forson. »Er ist heute unterwegs.« »Stab A oder Stab B?« Sie zuckte die Achseln. Forson ging zu dem Raum mit der Aufschrift >Zentrale Stab B<, öffnete die Tür und schaute hinein. Die vom Boden bis zur Decke reichenden Regale waren vollgestopft mit Archivbänden. Runde Karteischränke drängten sich in der Mitte. Auf ihnen waren Schachteln gestapelt. Ein Mahnmal für vier Jahrhunderte des Misserfolgs. Forson schloß die Tür wieder. Er dachte ebensowenig daran, Zeit mit den Fehlern der Vergangenheit zu vergeuden, wie Jahre auf das
Studium des Handbuchs zu verschwenden. Im Empfangsraum studierte er nachdenklich die Gemälde. Auch sie waren alt, und ohne die gefilterte Luft und kontrollierte Feuchtigkeit des Gebäudes hätte er seine Arbeit auf Gurnil vielleicht damit beginnen müssen, die Kunstsammlung des IPB-Amtes mühsam zu restaurieren. »Wie lange sind diese Bilder schon hier?« fragte er die Sekretärin. Sie sah ihn verständnislos an. »Ich habe keine Ahnung.« »Was für einen Sinn hat dieser Stützpunkt, wenn das Personal so wenig über Gurnil weiß und sich noch weniger dafür interessiert?« meinte Forson. »Der Stützpunkt dient als Versorgungsdepot und Archiv«, sagte die Sekretärin geziert. »Interessant«, sagte Forson, ohne den Blick von den Gemälden abzuwenden. »Dann muß es sehr wenig zu tun geben, vor allem für eine Empfangsdame. Die Mitarbeiter der Stäbe kommen ja nur sehr selten hierher. Die Einheimischen wissen vermutlich nicht, daß der Stützpunkt existiert, also besuchen sie ihn nicht. Versorgungskontakte und Besuche von höheren Stellen werden frühzeitig angekündigt. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wozu der Stützpunkt eine Empfangsdame braucht.« Er drehte sich um und lächelte sie liebenswürdig an. »Besteht die Möglichkeit, daß Sie den Auftrag haben, mich im Auge zu behalten?« Ihre Reaktion mußte unerfreulich ausfallen, deshalb sagte Forson über die Schulter: »Unterrichten Sie mich, sobald der Koordinator zu sprechen ist«, und kehrte in sein Quartier zurück. Einige Zeit später ließ ihn Rastadt holen, begrüßte ihn mit finsterer Miene, sprang aber plötzlich auf, um zu salutieren. »Sie wollten mich sprechen?« »Können Sie veranlassen, daß ich übermorgen nach Kurr gebracht werde?« fragte Forson. »Nach Kurr? Warum?« »Um die Leitung des Stabes zu übernehmen. Ich möchte hier nicht mehr Zeit verlieren, als unbedingt nötig.« »Sie können den Stab von hier aus führen«, erwiderte Rastadt. »Es
gibt keinen Grund, warum Sie nach Kurr fliegen sollten. Überhaupt keinen. Außerdem wäre es gefährlich.« »Merkwürdig, daß Sie das sagen«, meinte Forson. »Erst vor drei Tagen haben Sie mich die Rolle eines kurranischen Priesters üben lassen.« »Das war nur eine Vorführung. Ich lasse Sie in Kurr nicht herumlaufen, bis Sie alles kennen, was ein kurranischer Priester wissen muß. Bei der ersten Gelegenheit holen wir einen Mitarbeiter zurück, der in dieser Rolle schon Erfahrungen gesammelt hat. Bis er mich davon überzeugt hat, daß Sie alles beherrschen, müssen Sie Stab B von hier aus kommandieren.« »Das ist doch Unsinn«, wandte Forson ein. »Ich wäre nur zwischen der Landestelle und der Stabstation gefährdet, und außerdem ist es dunkel. Wheeler sagte, das Kostüm sei nur eine Vorsichtsmaßnahme.« »Sie genügt aber nicht. Die Arbeitsstäbe verdanken ihre Erfolge der Tatsache, daß nichts dem Zufall überlassen bleibt. Ich kann nicht zulassen, daß Sie ein solches Risiko eingehen.« »Das dürfte meiner Entscheidung überlassen bleiben, Koordinator«, sagte Forson kalt. »Durchaus nicht. Sie stehen zwar vier Dienstgrade über mir, aber der Koordinator eines Planeten trägt die volle Verantwortung für die Sicherheit des gesamten IPB-Personals, gleichgültig, welchen Ranges.« »Ist Wheeler schon zurück?« »Ich glaube, ja. Warum?« »Rufen Sie ihn.« Rastadt fauchte ungeduldig in sein Sprechgerät. Einen Augenblick später kam Wheeler herein, nickte Forson freundlich zu und fragte: »Was gibt es denn?« Rastadt funkelte ihn an. »Wissen Sie nicht, wie man sich bei einem Sektorinspizienten meldet?« Wheeler schoß das Blut ins Gesicht. Er murmelte eine Entschuldigung und salutierte. Forson war zu verlegen, um widersprechen zu können. »Kein Wunder, daß auf diesem Planeten nichts klappt«, knurrte
Rastadt. »Niemand macht hier etwas richtig.« Forson wandte sich an Wheeler. »Haben Sie mir gesagt, daß ich nach Kurr gehen kann, sobald ich bereit bin, oder haben Sie es nicht?« »Ich — ja -« »Ich bin soweit.« Der Koordinator beugte sich vor. »Unterkoordinator Wheeler, würden Sie mir freundlicherweise die Vorschrift nennen, nach der Sie meine Befehlsgewalt übernommen haben?« »Aber ich habe Sie doch gefragt, Sir, und Sie sagten -« »Ich sagte, der Inspizient könne nach Kurr gehen — sobald er völlig vorbereitet sei. Ich habe nicht gesagt, daß er gehen kann, wenn er glaubt, dazu imstande zu sein. Ein Neuling aus einer anderen Organisation besitzt ohne Rücksicht auf seinen Rang einfach nicht die Kompetenz, derartige Entscheidungen zu treffen. Ein IPB-Mann darf erst in den Einsatz, wenn er gründlich ausgebildet und vorbereitet ist, und wenn Sie das immer noch nicht wissen, braucht Gurnil dringend einen neuen Unterkoordinator. Was bilden Sie sich ein — wollen Sie den Planeten abschreiben?« Wheeler, dessen breitflächiges Gesicht ganz weiß war und übersät mit Schweißtropfen, öffnete lautlos den Mund, schloß ihn aber sofort wieder. »Koordinator, ich glaube, es ist an der Zeit, die Chefzentrale um Klarstellung der Befehlsgewalten zu bitten«, sagte Forson. »Sprechen Sie die Bitte aus, oder soll ich es tun?« Rastadt sprang auf, schien einen Augenblick lang über Forson herfallen zu wollen - und sank in sich zusammen. »Ich - ich werde es tun«, murmelte er. »Danke.« Forson erwiderte ihre Ehrenbezeigungen und verließ das Zimmer. Wheeler holte ihn im Korridor vor seinem Quartier keuchend ein. »Alles in Ordnung«, japste er. »Transportmittel steht bereit, wann Sie es wünschen.« »Übermorgen?« »Wenn Sie wollen.«
»Warum plötzlich der Umschwung?« Wheeler wischte sich nervös die Stirn und sagte: »Gehen wir hinein, damit wir uns unterhalten können.« Forson führte ihn in sein Quartier, bot ihm einen Sessel an und meinte: »Sie brauchen etwas zu trinken. Schade, daß ich Ihnen nichts anbieten kann.« Wheeler wischte sich wieder die Stirn. »Ist im Stützpunkt nicht erlaubt, Befehl des Koordinators.« Er sah Forson wie ein verwundetes Reh an, dann brachen sie beide in Gelächter aus. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten«, sagte Wheeler plötzlich. »Ein Einsatzstab ist autonom, aber der Leiter arbeitet unter der Aufsicht des Koordinators. Das führt zu einer unangenehmen Streitfrage. Sie sind auf diesem Planeten der Ranghöchste. Andererseits machen Sie die Vorschriften der Organisation zum Untergebenen des Koordinators, weil Sie einen Einsatzstab befehligen. Eine einzigartige Situation. Ihre Instruktionen schaffen hier keine Klarheit, wie Sie bemerkt haben.« »Was schlagen Sie vor?« »Daß Sie sich nicht darauf versteifen. Halten Sie sich an die traditionelle Hierarchie und legen Sie Ihre Pläne dem Koordinator zur Genehmigung vor, wie es jeder Stableiter tun würde. Der Koordinator wird sie widerspruchslos genehmigen, davon bin ich überzeugt. Es schadet doch nichts, ihm soweit nachzugeben, nicht wahr? In Wirklichkeit ist er ein feiner alter Herr, der eine große Karriere hinter sich hat. Es war einfach ein Mißgeschick, daß er diesen unmöglichen Posten erwischt hat.« »Mir scheint, daß er seinen Zorn einfach nicht bändigen kann.« »Man kann verstehen, daß er sich ärgert. Kurr hat schon viele Koordinatoren verschlissen, und er will eben seine Laufbahn nicht mit einem Mißerfolg beschließen.« »Da ich die Vorschriften des Amtes nicht kenne, finde ich es nicht unvernünftig, wenn jemand, der sich gut damit auskennt, meine Pläne sorgfältig prüft«, meinte Forson höflich. »Ausgezeichnet!« Schlagartig war Wheeler wieder der Clown. »Ich bestehe aber darauf, von diesem Stützpunkt wegzukommen«,
fuhr Forson fort. »Hier kann ich nichts Brauchbares leisten. Außerdem gibt es eine Verschwörung, mich vom Speisesaal fernzuhalten, und Ihr Personal weigert sich, mit mir zu sprechen.« Wheelers Hand flatterte hoch. »Wahrscheinlich haben die Leute Angst vor Ihnen. Sie sind der ranghöchste Spezialist, den die meisten je zu Gesicht bekommen haben. Also übermorgen. Mitnehmen können Sie allerdings nichts.« »Gar nichts?« »Nichts«, sagte Wheeler mit Entschiedenheit. »Sie dürfen nichts bei sich tragen, was ein kurranischer Priester nicht hätte, und die haben nahezu nichts. Für die Verbindung mit Kurr verwenden wir besondere Flugzeuge. Sie sind nicht sehr schnell, aber praktisch lautlos. Wir müssen unsere Leute an dünn besiedelten Küstenstrichen absetzen, wo wenig Gefahr besteht, dass wir Anlaß zu abergläubischen Vorstellungen geben. Absetzen und nichts wie weg - es gibt nachts ausfahrende Fischer, die nahe bei der Küste arbeiten. Von denen darf natürlich keiner das Flugzeug zu Gesicht bekommen. Der Koordinator verständigt eben den Stab B, damit jemand zur Stelle ist. Nur eins noch. Er möchte nicht, daß Sie hinfliegen, aber wenn Sie darauf bestehen, will er Sie begleiten.« »Daran kann man doch nichts aussetzen, oder?« »Eigentlich nicht.« »Warum sollte der Koordinator nicht nach Kurr fliegen?« setzte Forson nach. »Einen bestimmten Grund gibt es nicht. Mir wäre wohler, wenn Sie einen erfahrenen Mann bei sich hätten. Eigentlich wollte ich selbst mitkommen. Ich gehörte früher zum Stab B und kenne Kurr. Aber darauf kommt es nicht an. Sie werden in unmittelbarer Nähe einer Stabsstation abgesetzt und in Empfang genommen. Außerdem bleibt Koordinator Rastadt dabei, daß er die Verantwortung zu tragen hat.« »So ist es ja auch, nicht wahr?« meinte Forson höflich. »Mag sein. Sie dürfen aber eines nicht vergessen — er ist noch nie in Kurr gewesen.«
4 Sie näherten sich im Tiefflug der Küste und begannen zu kreisen. Die abendliche Brise hatte sich gelegt; langsam dahintreibende Wolken verhüllten immer wieder Gurnils winzigen Mond, und zuerst wirkte das Land unter ihnen erschreckend dunkel und feindselig. Sie beschrieben einen zweiten Kreis, und als sie wieder auf das Meer hinausflogen, entdeckte Forson bei einem Blick über die Schulter ein einzelnes Licht und - in einem Tal dahinter - den schwachen Lichtschimmer eines nebelumhüllten Ortes. Rastadt hatte sich leise mit dem Piloten unterhalten. »Sieht normal aus«, erklärte er. »Landen.« Sie sanken senkrecht hinab, setzten auf, kamen zur Ruhe. Forson sprang hinaus und sah einen schmalen Streifen Sandstrand vor sich. Die Wellen brachen sich in gleichmäßigem Rhythmus und liefen am Strand hinauf. Rastadt kletterte neben ihm herunter, mit flatternder Robe, pfeifend durch die nach oben gebogene, entstellende Kunstnase atmend. »Die Flut steigt nicht hoch«, sagte er. »Nur so weit, daß verdächtige Spuren verwischt werden.« Er entfernte sich ein paar Schritte vom Flugzeug und stieß einen leisen Ruf aus. »Jemand müßte uns abholen«, murmelte er. Er trabte am Strand entlang, drehte sich um, trabte zurück. Sein weißes Gewand fing das trübe Mondlicht auf und machte ein fahles Gespenst aus ihm. »Wir haben uns verfrüht, aber sie müßten trotzdem hier sein«, meinte er. »Verdammt! Hoffentlich kommt kein Fischer vorbei.« Er besprach sich kurz mit dem Piloten und wandte sich mit einer ungeduldigen Geste ab. »Kommen Sie«, sagte er zu Forson. Ein niedriges Steilufer überragte den Strand. Rastadt murmelte etwas von einem Pfad, stolperte durch die Dunkelheit und begann schließlich unsicher emporzusteigen. Forson raffte seine Robe zusammen und folgte ihm. Rastadt wartete keuchend oben, bis Forson ihn eingeholt hatte. Vor ihnen lag die noch tiefere Düsternis eines dichten Waldes, aber dahinter, hoch auf einem fernen Hügel, brannte immer noch das
Licht. »Bauernhaus«, sagte Rastadt. »Stabsstation. Man hätte uns in Empfang nehmen müssen.« Forson betrachtete prüfend das Licht. Bei Nacht konnte man Entfernungen schwer schätzen; er rechnete mit zwei, höchstens drei Meilen und hoffte, daß es keinesfalls mehr als vier waren. Hinter sich konnte er undeutlich den leeren Strand ausmachen. Das Flugzeug war lautlos verschwunden. »Fliegen Sie denn nicht zurück?« fragte er erstaunt. »Ich wollte zwar, kann aber einen verflixten Neuling nicht allein in einem fremden Land herumwandern lassen. Man hätte uns abholen sollen. Verdammt!« Er keuchte immer noch und stieß die Worte abgehackt hervor. »Das Flugzeug kommt morgen nacht wieder. Es kann ja nicht so schwer sein, das Haus zu finden. Es ist das einzige zwischen hier und dem Ort, außerdem sehen wir das Licht. Gehen wir.« Forson setzte sich in Bewegung, trat auf sein Gewand und stolperte. »Lassen Sie das!« fauchte Rastadt. »Tut mir leid«, sagte Forson. »Sie brauchen nichts zu tun, als mit entrückter Miene umherzugehen, dann wird niemand Ihre Anwesenheit in Frage stellen. Wenn Sie sich aber benehmen, als hätten Sie noch nie eine Robe getragen -« »Ich komme schon zurecht«, meinte Forson. »Also los. Wahrscheinlich begegnen wir ihnen unterwegs.« Er drehte sich um, stolperte über seine eigene Robe und schritt stumm weiter. Sie tappten blindlings zwischen den Bäumen hindurch, bis sie endlich eine schmale Lichtung und die Furchen einer Straße erreichten. Das ferne Licht war von dichtem Laub verhüllt, und Forson konnte überhaupt nichts sehen. »Von jetzt an können wir der Straße folgen«, sagte Rastadt. »Wenn Sie sehen, wohin sie führt, dann tun Sie es nur«, erwiderte Forson. Während sie noch zögerten, brach es aus dem Unterholz hervor, unsichtbare Hände griffen nach Forson, und ein massiver Gegenstand streifte seinen Kopf und prallte von der Schulter ab. Instinktiv warf
sich Forson herum, packte einen der Angreifer und schleuderte ihn den anderen entgegen. Rufe wurden laut, ein Schmerzensschrei. Eine Stimme brüllte etwas, das ein Befehl sein mochte. Forson entwand sich tastenden Händen, sprang zur Seite und zog sich in den Wald zurück. Hinter ihm Tumult. Eine Fackel flammte plötzlich auf, und in ihrem flackernden Licht sah er uniformierte Männer in knielangen Umhängen. Er hastete davon, so schnell es ging und verfluchte das Knacken und Krachen im Unterholz. Er glaubte sich jeder Mutprobe gewachsen, aber der Überfall eines ganzen Regiments in der Dunkelheit aus dem Hinterhalt auf zwei Männer bot keine Situation, in der Mut den Ausgang beeinflussen konnte. Forson ergriff die Flucht in gerader Richtung zur Stabsstation, soweit das der dichte Wald erlaubte. Wenn Rastadt entkam, würde er sicher dasselbe tun; wenn er gefangengenommen wurde, mußte der Stab sofort unterrichtet werden. Die Mitarbeiter mußten gewarnt werden, bevor sie in die gleiche Falle gingen. Die Laute in der Nacht waren vielfältig. Bäume seufzten hörbar bei der leisesten Berührung des Windes, seltsam musikalische Insekten ließen sich in Abständen im Chor vernehmen, und ein Nachtvogel stieß einen beinahe menschlichen Entsetzensschrei aus. Forson stürmte in verzweifelter Hast vorwärts und ließ die Verfolger bald weit zurück. Der Wald endete schlagartig. Forson bog ab, fand die Straße wieder und begann zu laufen. Der Mond kam heraus und brachte seine weiße Robe zum Leuchten. Nicht gewillt, auch nur so lange stehenzubleiben, daß er sie ausziehen konnte, raffte er sie eng um sich und rannte weiter. Zu seiner Rechten befand sich ein bestelltes Feld, zur Linken eine Wiese mit einem einfachen Holzzaun, der an der Straße entlangführte. Er lief mit kurzen Schritten, immer wieder über die Furchen stolpernd, lief, bis er nicht mehr konnte und sich doch vorwärtsmühte, keuchend, schluchzend. Er eilte die letzte, lange Steigung zur Station hinauf und konnte schon den dunklen Umriß des Hauses auf dem Hügel erkennen, als das Licht plötzlich ausging. Auf der Kuppe blieb er taumelnd stehen und sah sich besorgt um. Im Tal funkelten noch ein paar Lichter geisterhaft durch den Bodennebel. Das Bauernhaus stand nur wenige Schritte von der Straße entfernt, dunkel und unheimlich sogar in den huschenden Augenblicken, wenn sich der Mond zeigte, aber seine Form beruhigte Forson. Er erkannte
den eigenartigen Baustil nach den Gemälden wieder, die er im Stützpunkt gesehen hatte: die nach außen gewölbten Wände, das Buckeldach. Er ging entschlossen darauf zu, stolperte zwei Stufen hinunter, die zu einem tiefliegenden Eingang führten, amtete tief ein und klopfte. Augenblicklich verstummten die Insekten, ein Vogel ließ seinen Schrei verklingen und flatterte vom Dach. Unheimliche Stille umschloß ihn. Er klopfte wieder. Die Tür ging auf. Ein Mann stand vor ihm, eine brennende Kerze hoch erhoben. Er trug nur ein rockähnliches Kleidungsstück. Das flackernde Licht spiegelte sich fahl auf seiner nackten Brust und den Armen wider. Einen spannungsvollen Augenblick lang starrte er Forson ungläubig an, dann warf er die freie Hand hoch, wie um sich zu schützen, stieß einen lauten Schrei aus und ließ die Kerze fallen. Forson, der nur an die Verfolger dachte, sprang hinein, hob die knisternde Kerze auf, schloß die Tür und verriegelte sie. Zuerst in galaktischer, dann in kurranischer Sprache fragte er: »Wer hat hier das Kommando?« Der Mann wich langsam zurück, das Gesicht starr vor Entsetzen, unverständliche Laute gurgelnd. Eine Frau, die ein Kind auf den Armen trug, sprang vor. Sie sank mit einem Schrei zu Boden und hob flehend die Hand. Das Kind hatte die Augen weit aufgerissen und fügte seinen piepsenden Schrei hinzu. Hilflos sah sich Forson in dem Raum um und vergeudete wertvolle Sekunden mit dem verzweifelten Versuch, Sinn in einer völlig unbegreiflichen Lage zu erkennen. Die wilden Anstrengungen seines Denkens schleuderten eine Vermutung nach der anderen an die Oberfläche, und jede schmetterte ihn stärker nieder als die vorhergehende. Hier gab es keine Stabsstation. Dieser Mann verstand ihn nicht. Er erinnerte sich plötzlich, daß bei dem Überfall Befehle gebrüllt worden waren. Auch er hatte sie nicht verstanden. Diese Leute besaßen Nasen, die ebenso normal geformt waren wie die seine. Er war nicht in Kurr.
Sein entsetzter Blick glitt wieder durch den Raum und blieb an der Rückwand haften, wo das flackernde Licht die Umrisse mehrerer Bilder undeutlich erkennen ließ. Er hob die Kerze und trat näher. Großartige Gemälde. Er war in Kurr. Die Einheimischen verstanden ihn nicht, noch er sie; die Sprache, die er beherrschte, war nicht Kurranisch. Mit einer blitzartigen Eingebung erkannte er die verdammenswerte Ungeheuerlichkeit von Rastadts Verrat. Der Koordinator hatte Forson die falsche Sprache geliefert, ihn in eine fremde Tracht gehüllt, die alle Einheimischen in Schrecken versetzen mußte, ihn mit einer künstlichen Nase ausgerüstet, für den Fall, daß die anderen Merkmale noch nicht genügen sollten, ihn in einen Hinterhalt gelockt und sich dann lautlos empfohlen. Ohne das zufällige Zusammenwirken von Dunkelheit und Verwirrung wäre Forson in diesem Augenblick bereits auf dem Weg in die unfreiwillige Abgeschiedenheit eines der Einhand-Dörfer König Rovvas. Er konnte nicht bleiben, wo er war, die Verfolger im Nacken. Es gab keinen Ort, wohin er sich wenden konnte. Die Augen des Mannes waren wie gebannt auf Forsons Gesicht gerichtet, auf das Schandmal von künstlicher Nase. Die Frau starrte sein Gewand an. Er erkannte ihren Ausdruck. Er hatte ihn oft gesehen, in Kunstausstellungen, bei Konzerten - eine verzückte Bewunderung des Schönen. Das Gewand war wunderschön. Schimmernde Goldfäden durchzogen den cremig-weißen Stoff. Die wunderbare Weichheit besaß einen Glanz, der einen funkelnden Schein im trübsten Licht widerspiegelte. Forson riß sich die riesige Nase aus dem Gesicht, warf sie zu Boden, versuchte sie mit dem Absatz zu zertreten, zu zerstampfen. Sie behielt ihre Form. Betroffen hob er sie wieder auf und warf sie in die glühende Asche einer metallenen Kohlenpfanne auf dem Tisch. Die Nase brannte nicht, zerschmolz aber augenblicklich zu einer formlosen Masse. Er packte eine Kohlenzange und harkte Asche darüber. Dann steckte er die Kerze in einen Wandhalter und zog in Ruhe seine Robe aus.
Die Frau beobachtete ihn mit offenem Mund, der Mann gurgelte immer noch hysterisch. Forson faltete das Gewand zu einem Bündel zusammen, trat auf die Frau zu und verbeugte sich tief. »Hier«, sagte er grimmig. »Es gefällt Ihnen? Sie können es haben.« Sie rührte sich nicht und starrte ihn verständnislos an. Er legte ihr das Bündel zu Füßen und trat zurück. Er trug nur das knielange Unterhemd, das man ihm gegeben hatte. Er fröstelte und kam sich lächerlich vor. Der Mann betrachtete die Robe, als habe er sie eben erst bemerkt. Er sagte etwas. Die Frau gab Antwort und setzte das Kind auf den Boden, um schüchtern eine Hand ausstrecken und den herrlichen Stoff streicheln zu können. Der Mann rückte näher, und sie begannen aufgeregt miteinander zu sprechen. Vor der Haustür wurden plötzlich Stimmen laut. Jemand klopfte dreimal heftig an die Tür. Der Mann und die Frau sahen einander an und richteten dann den Blick auf Forson. Wieder wurde an die Tür geklopft und eine laute Stimme schrie einen Befehl. Die Frau raffte die Robe vom Boden. Sie zischte dem Mann etwas zu, der die Arme hob, als wolle er widersprechen. Sie eilte davon, das Gewand wie ein schlafendes Kind haltend. Dann drehte sie sich um, zischte Forson an und gestikulierte. Er ging um das Kind herum und sprang ihr nach. Im nächsten Raum deutete sie an einer senkrechten Leiter hinauf und folgte ihm schwerfällig, mit einer Hand die Robe festhaltend. Hinter ihnen hatte der Mann die Tür einem lauten Chor zorniger Stimmen geöffnet. Forson tauchte in der Dunkelheit unter, machte vorsichtig ein paar Schritte, zögerte. Die Frau zwängte sich an ihm vorbei und zischte ihm Drängendes zu. Er stolperte über einen Strohsack, gewann das Gleichgewicht wieder und ging ihr nach. Ein leises Knarren wurde hörbar, dann stieß sie ihn vorwärts. Er stieß sich den Kopf an und trat gebückt durch eine niedrige Öffnung. Wieder hörte er das Knarren. Er tastete blindlings um sich. Er befand sich in einem engen Raum direkt unter dem gewölbten Dach. Er konnte weder aufrecht stehen noch liegen und ließ sich deshalb im Schneidersitz nieder, lehnte sich
an eine Wand und wartete. Die verkrampfte Haltung verursachte ihm bald Schmerzen, aber in der tröstenden Hülle der Dunkelheit löste sich seine Nervenspannung. Die Stimmen unter ihm klangen zu fern, um drohend zu wirken, und schließlich brachte die zufallende Tür Stille. Er überließ sich der Erschöpfung und schlief ein. Er erwachte mit gefühllosen Gliedern und schmerzenden Muskeln, durchfroren und hungrig, aber all das bemerkte er kaum. Unbezähmbarer Zorn überwältigte ihn - Zorn auf Rastadt, Wheeler, Ann Cory, Gurnil B 627, das IPB-Amt und den Kontinent Kurr. Sein Versteck wurde durch ein breites, umgekehrtes V in der Wand schwach erhellt. Auf den Gemälden hatte er solche Merkmale mit Ornamenten verwechselt, aber das V hier hatte eine Funktion: es sollte Luft und Licht hereinlassen, den Regen aber fernhalten. Er schob sich auf die Knie und schaute hinaus. Er sah nur eine ganz gewöhnliche Landschaft, magere Äcker zwischen steilen, unfruchtbaren Bergen und der Küste. »Und das soll das fabelhaft reiche Kurr sein?« entfuhr es ihm. Er wandte seine Aufmerksamkeit der näheren Umgebung zu. Er befand sich in einer winzigen Kammer, an drei Seiten von geraden Wänden, an der vierten von der stark gewölbten Außenwand des Hauses umgeben. Das Dach wölbte sich unmittelbar über seinem Kopf. Die Wände schienen massiv zu sein, und er fand keinen Hinweis darauf, wie er hereingelangt war, bis er an der Grundlinie einer Innenwand entlangtastete und entdeckte, daß eine breite Diele auf einem Drehbolzen angebracht war. Sie wurde durch ihr eigenes Gewicht an Ort und Stelle gehalten, und Druck vom anderen Raum aus würde sie nicht bewegen können, es sei denn, hoch oben an der Wand. Alles recht interessant, aber nicht gerade nützlich. Er hatte immer noch Hunger, Schmerzen — und eine heillose Wut. Die Zeit verging. Er versenkte sich in eine sorgfältige Betrachtung aller Ereignisse seit seinem Eintreffen auf Gurnil, aber keine Tatsache, an die er sich zu erinnern vermochte, warf Licht auf die unfaßbare Lage, in der er sich befand: die Station, die nicht existierte, die Kurranier, die weder die richtige Sprache noch die passenden Nasen besaßen, das Rätsel seiner Priesterrobe, das Verhalten des Koordinators.
Das Brett knarrte und kippte sofort mit dumpfem Schlag wieder an seinen Platz. Eine tiefe, zylindrische Schale war in sein Versteck geschoben worden. Oben ragte ein einzelnes, gabelförmiges Esswerkzeug heraus. Forson schnupperte hungrig, stieß das Gerät in die Schale und spießte etwas auf. Es war eine kleine Brotkugel mit dicker Kruste. Die nächsten Versuche förderten Fleischstücke und Gemüse zutage. Dazu schlürfte er die dicke, dampfende Sauce. Sie schmeckte auf seltsame Weise süßsauer, aber er verzehrte alles mit Genuß. Als er fertig war, drückte er auf das Brett und kroch hinaus. Das Obergeschoß war durch eine breite Trennwand, die Schränke und neben der Außenwand - sein Versteck enthielt, in zwei Räume geteilt. Forson wanderte an den Wänden entlang und starrte durch die VSchlitze. Der Ort, friedlich unten im Tal liegend, sah verlassen aus, ebenso die Straße, auf der er in der Nacht gerannt war. Undeutliche, überwachsene Fahrspuren. Ein Nebengebäude, winziges Abbild des Hauses, stand in einiger Entfernung. Ein merkwürdig aussehendes Tier legte seinen großen, häßlichen Schädel auf ein Gatter und sah friedlich in die wenig bemerkenswerte Landschaft. Alles sah ruhig und uninteressant aus. Die Frau hörte ihn herumgehen und kam erschrocken die Leiter heraufgeklettert. Es folgte eine mühsame Pantomime, in der Forson nutzlos an seinem Hemd zupfte und zu verstehen geben wollte, daß er Kleidung benötigte. Anfangs beobachtete ihn die Frau verständnislos, und selbst als er überzeugt war, daß sie ihn verstand, blieb sie mürrisch. Schließlich trat sie widerwillig an die Wand, gegenüber seinem Versteck, hob ein Wandbrett und bot ihm - seine Robe an. Er wies sie mit lautem Protest zurück und ruderte verzweifelt mit den Armen, bis ihr Mann die Leiter heraufkam. Er trug ein knielanges, ärmelloses Hemd mit großem, weichem Kragen, der wie ein Umhang seine Arme bedeckte. Unter dem Hemd trug er einen knöchellangen Rock. Forson zupfte an seiner Kleidung und fuhr in seiner Pantomime fort, bis sie ihn endlich verstanden und Kleidung brachten. Sie ließen ihn allein. Er zog sich an und kauerte auf dem Boden nieder, um durch einen der Schlitze den Ort zu beobachten. Über eine Stunde lang stellte er sich den Realitäten seiner Lage, aber als er fertig war, hatte er nichts erreicht. Er konnte nicht bleiben, wo er war, er wußte immer noch nicht, wohin er sich wenden sollte, und es fiel ihm
auch nichts ein. Vorsichtig stieg er die Leiter hinunter. Das unbekleidete Kind spielte in einem an der Decke hängenden Netz. Es war ein Mädchen, das ihn mit kokettem Charme anblickte und vor sich hinkrähte, als er Grimassen schnitt. Die Frau arbeitete auf einem Feld und trieb das Tier mit einem Ackergerät vor sich her. Der Mann war nirgends zu sehen. Die Gemälde gerieten in Forsons Blick. Er trug einen Schemel in die Ecke und setzte sich, um sie genau betrachten zu können. Kunst von dieser Qualität in einem Bauernhaus! Es waren nur sieben Bilder. Eines davon, das Porträt eines Paares, war sehr alt und dringend der Restaurierung bedürftig. Ein anderes, ein Landschaftsbild mit dem nun schon vertrauten Pilzhaus, war vermutlich eine alte Darstellung dieses Bauernhofes. Die übrigen waren Porträts und Familiengruppen; das neueste, von Forsons Gastgeber und dessen Frau, schien erst vor so kurzer Zeit fertiggestellt worden zu sein, daß die Farben kaum getrocknet waren. Die Farben waren mit flotter, aber entschieden minderer Technik aufgetragen, was Forson befürchten ließ, daß die hohe Kunstfertigkeit der Kurranier, der die älteren Bilder zu verdanken waren, nachgelassen hatte oder von despotischen Monarchen unterdrückt worden sein mochte. Aber solche Gemälde in einem solchen Haus! Forson bedachte fassungslos die Konsequenzen einer Kultur, wo jeder Bauer seine eigene Kunstsammlung besaß. Die Zeit verging; ein fernes Knarren störte ihn aus seiner Nachdenklichkeit auf. Das Kind beobachtete ihn still. Nach dem Stand der Sonne war es später Nachmittag. Er hatte mehrere Stunden an sieben Gemälde verschwendet! Verdrossen widmete er ihnen einen letzten, forschenden Blick, um festzustellen, ob er seine unerklärliche Flucht aus der Wirklichkeit nicht doch auf irgendeine Weise rechtfertigen konnte, und rief: »Die Nasen!« Die Nasen auf den Porträts waren normal geformt. Ebenso die Nasen auf den Bildern im Stützpunkt. Er wußte, daß die Gemälde aus Kurr stammten, hatte sich aber trotzdem dazu überreden lassen, eine ungeschlachte Nase aufzusetzen, damit er wie ein Kurranier aussah. »Der Koordinator hat mich als den Narren eingeschätzt, der ich bin«,
murmelte er betroffen. Das Knarren wurde lauter. Forson ging an den Fenstern entlang, konnte die Ursache aber nicht entdecken. Er stieg ins Obergeschoß hinauf und sah eine Gruppe von Soldaten vom Ort her den Hügel heraufkommen, einen Karren begleitend, der von einem Tier derselben Gattung gezogen wurde, wie es die Bauern besaßen. Das laute Knarren stammte von den hölzernen Achsen des Karrens. Als sie näher kamen, sah Forson, daß der Karren zwei Personen beförderte. Die eine, ein Mann, lag ausgestreckt und regungslos auf dem Karrenboden. Die andere, steif auf einem Sitzbrett an der Vorderseite des Karrens, war eine dicke Frau mit rotem Gesicht. Beide trugen bäuerliche Kleidung. Sie schienen keinen zweiten Blick wert zu sein, aber Forson betrachtete sie trotzdem genau, weil er sich sagte, daß Bauern, die von Militär eskortiert wurden, keine gewöhnlichen Bauern sein konnten. Sie waren es auch nicht. Den Mann hatte er noch nie gesehen, aber die Frau zeigte, als sie nahe genug war, eine hübsche, kleine Nase und eine zarte Wölbung der Wange, die keine Maske vor einem auf Schönheit von Linie und Form trainierten Blick verbergen konnte. Es war Ann Cory, Gurnil B 627, und Forsons Zusammenzucken warf mehrere Einzelstücke in dem großen Puzzlespiel an ihren Platz. Offensichtlich hatten zwei Angehörige von Stab B versucht, ihn zu treffen, waren aber demselben Verrat zum Opfer gefallen, der Forson beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Ann war an Händen und Füßen gefesselt, ebenso ihr Begleiter. Forson schlich von Schlitz zu Schlitz und beobachtete den Karren, bis er im fernen Wald verschwand. Als er nicht mehr zu sehen war, wußte er wenig mehr über die Situation als am Morgen, aber wenigstens stand fest, was er zu tun hatte. Er wanderte unruhig durch die unteren Räume und verlor wertvolle Sekunden, bis er das Gesuchte entdeckte - ein Messer. Zweifellos gab es noch andere Dinge, die ihm nützlich gewesen wären, aber er konnte nur an Anns Fesseln denken. Die halbmondförmige Metallsichel wirkte primitiv, die Schneide war aber sehr scharf. Zu seiner Verblüffung stellte er fest, daß er keine Taschen hatte. Er wickelte das Messer deshalb in seinen Umhang.
Er schnitt zum Abschied für das Kind noch eine Grimasse und hoffte nur, daß sein kurzer Besuch es nicht zur Waise machen würde. Dann warf er einen letzten Blick auf die Gemälde und floh aus dem Haus. Instinktiv war ihm klar, daß jeder Fremde, der an diesem Tag die Straße benützte, verdächtig erscheinen würde – warum sonst waren zwei erfahrene Mitarbeiter des Stabes gefangengenommen worden? -, aber er wagte nicht, auf die Dunkelheit zu warten. Die schlecht erkennbare Straße mochte plötzliche Biegungen und Abzweigungen aufweisen, die ihn vor unlösbare Probleme stellen mußten, und da die Sicherheit Ann Corys und ihres Begleiters auf dem Spiel standen, konnte er sich nur bemühen, den Karren in Sichtweite zu behalten und das Risiko außer acht zu lassen. Er rannte. Als er den Wald erreichte, blieb er stehen, um Atem zu schöpfen und zu lauschen. Der knarrende Wagen war bereits außer Hörweite, und der Wald wirkte drohend und still. Kein Lüftchen bewegte sich. Die großen, runden Blätter der Bäume hingen reglos herab. Forson schaute zu ihnen hinauf und machte eine Entdeckung. Jeder Baumstamm wuchs bis zu einer Höhe von etwa drei Metern kerzengerade empor und folgte dann einer stets gleichen Wölbung. Er hatte die Grundidee für die nach außen gewölbten Wände der kurranischen Architektur und das technische Mittel für die Erzielung dieses Effektes gefunden. Er wußte kein besseres Beispiel für den direkten Einfluß eines Baumaterials auf den Architekturstil. Tatsächlich Der Karren. Entweder hatte er länger gebraucht, als ihm zum Bewußtsein gekommen war, oder der Wagen war stehengeblieben. Er verließ die Straße und kämpfte sich langsam durch das Unterholz voran. Er mußte mit quälender Vorsicht darauf achten, die undurchdringliche Stille nicht zu stören. Immer weiter voran, schwitzend, angestrengt, das Unterholz mit Bedacht teilend und häufig stehenbleibend, um nach dem Wagen zu fahnden. Schließlich überzeugt, daß er ihn mit diesem Tempo nie einholen würde, wollte er gerade wieder zur Straße zurück, als er in der Ferne einen Ruf hörte. Wenige Schritte brachten ihn zum Waldrand.
Er warf sich zu Boden, teilte einen Strauch und schaute hinaus. Auf dem Hang vor ihm war ein Militärlager errichtet worden, wo mehrere Wagen standen, Zugtiere im Schatten weideten, ein Kochfeuer brannte, Strohhaufen zu sehen waren, die vermutlich als Nachtlager dienten. Er zählte elf Soldaten um das Feuer. Sie schienen auf ihre Portionen zu warten. Von Ann Cory und ihrem Begleiter war nichts zu sehen. Das Lager sah aus, als bestehe es schon seit einigen Tagen. Vom Flugzeug aus hatte er kein Lagerfeuer entdecken können, aber Soldaten, die an kühle Nächte gewöhnt waren und im warmen Stroh schliefen, verzichteten nachts wohl auf ein Feuer. Widerstrebend mußte er zugeben, daß der Hinterhalt auf einem Zufall beruhen konnte, daß sie nur versehentlich auf eine Abteilung der Soldaten gestoßen waren. Wo war dann aber der Koordinator? Er war genauso ausgerüstet wie ich, dachte Forson. Nase, Gewand, Sprache. Vielleicht gibt es in Kurr mehrere Sprachen, und wir sind in der falschen Gegend gelandet. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für die Lösung von Rätseln. Wo war Ann? Sie sind nicht zu den Bergen gezogen, sonst wären sie noch zu sehen, überlegte er. Wahrscheinlich ist das ihre Eskorte, die auf ihre Verpflegung wartet, und die Ablösung hat den Wagen auf der Küstenstraße nach Norden fortgeführt. In diesem Fall muß ich schleunigst nach Norden. Er konnte das Lager auf der Landseite nicht ohne zeitraubenden und gefährlichen Umweg umgehen. Er wandte sich dem Meer zu, stieg das Steilufer hinunter, an dem er mit Rastadt hinaufgeklettert war, und lief an dem schmalen Strand entlang, bis er das Lager weit hinter sich hatte. Das Steilufer hatte an Höhe zugenommen. Er plagte sich weiter und suchte eine Stelle, wo er es zu erklettern vermochte. Als er endlich oben stand und wieder die Straße erreicht hatte, begann es zu dunkeln. Die Straße war aus einer weiteren dichten Waldung herausgekommen und lief an einem schmalen, steinigen Sims an den Bergen entlang, die hier bis zum Meer reichten. Er konnte weit an der Küste entlangsehen, bis zu einem Punkt, wo, das Steilufer langsam abflachte und die Straße sich hinabschlängelte, um über reiches Ackerland zu
ziehen. Der Karren war nicht zu sehen. Forson sagte sich zuversichtlich, daß der schwerfällige Gang des Zugtieres ihn nicht bis über den Horizont hinaus gezogen haben konnte. Er kehrte um, betrat den schon dunklen Wald und zwängte sich in dichtes Unterholz, um zu warten. Bald hörte er den Wagen, dessen Knarren immer lauter wurde. Durch eine Lücke im Laub sah er undeutlich den sabbernden Kopf des Zugtieres und die wallenden Umhänge von drei dahintrottenden Soldaten. Nur drei. Sekundenlang fühlte sich Forson ermutigt, aber als der Zug aus dem Wald in die Abenddämmerung hinausgetreten war, zählte er eine Eskorte von sieben Mann. Ann saß immer noch aufrecht vorne am Karren. Ihr Begleiter blieb, wenn er überhaupt dabei war, durch den Aufbau verborgen. Forson setzte sich an den Waldrand und beobachtete den Wagen, bis er in der schnell hereinbrechenden Dunkelheit verschwunden war. Dann nahm er die Verfolgung auf. Als ihn die Dunkelheit einhüllte, sah er weit vor sich auf der Straße ein Licht aufschimmern. Er begann zu laufen und hatte den Wagen fast schon eingeholt, bevor er sah, daß einer der Soldaten mit einer Fackel vorausging. Die anderen stapften neben dem Karren her, drei auf jeder Seite, vage Silhouetten im trüben Licht. Der kleine Mond war ein Funke am Meereshorizont, zu tief am Himmel, als daß sein schwaches Leuchten nützlich gewesen wäre. Forson verfolgte den Wagen, und während er einen Angriffsplan zu entwerfen versuchte, stolperte sein Fuß über die Waffe, die er brauchte. Ein Stein. Augenblicklich war ihm die Strategie klar. Die Soldaten waren von der Dunkelheit, der flackernden Fackel, dem gleichmäßigen, ohrenbetäubenden Knarren des Wagens, der tödlichen Monotonie dieses Auftrags gebannt, der sieben Bewacher zu zwei gefesselten Gefangenen gesellte. Unfähig, auch nur miteinander zu sprechen, ohne aus voller Lunge zu brüllen, marschierten sie mechanisch dahin, den Blick starr vorausgerichtet, die Gedanken irgendwo, aber nicht auf der dunklen Straße hinter ihnen. Ein Soldat war so in Gedanken verloren, daß er etwas hinter dem Wagen zurückblieb. Forson schlich sich kühn heran, hieb ihm auf den
Hinterkopf und bückte sich über ihn, um noch einmal zuzuschlagen, wenn er sich bewegen sollte. Die anderen marschierten weiter. Selbst wenn sie wachsam gewesen wären, hätten sie bei dem Knarren und Quietschen nichts hören und ebensowenig in der Dunkelheit etwas sehen können; dabei waren sie nicht wachsam. Forson riß die Riemen von den Sandalen seines Opfers und fesselte den Soldaten an Händen und Füßen. Er rollte ihn von der Straße in ein Gebüsch. Dann holte er den Wagen wieder ein, wählte das nächste Opfer und ließ es gefesselt und bewusstlos zurück. Es schien beinahe verdächtig einfach zu sein. Als er vier Mann von der Eskorte ausgeschaltet hatte, war er schweißnaß und halb von Sinnen vor Angst, daß ihn seine Nervosität kurz vor dem Erfolg daran hindern würde, sein Ziel zu erreichen. Die verbleibenden Soldaten marschierten in der Nähe des Lichts, und er bezweifelte, daß er einen davon überfallen konnte, ohne die anderen aufmerksam zu machen. Er schwang den Stein; der Soldat sank in sich zusammen. Forson wartete mit Herzklopfen, bis der Wagen an ihm vorbeigeknarrt war, dann tastete er nach den Riemen. Als er nur noch zwei Gegner hatte, wurde Forson übermütig, brachte nur einen Streifschlag an und mußte ein zweitesmal zuschlagen, als sein Opfer taumelte und sich nach ihm umdrehte. Der Soldat mit der Fackel war aber ebenso hypnotisiert wie seine Kameraden; er schaute sich nicht um. Im entscheidenden Augenblick mochte er es vielleicht doch tun. Forson hangelte sich von hinten in den Wagen, kroch an dem liegenden Mann vorbei und preßte sein Messer an Anns Handfesseln. Wenn er bei dem letzten Soldaten einen Fehler machte, sollte Ann wenigstens die Flucht ergreifen können. Sie zeigte keine Überraschung, sondern lehnte sich nur zurück und flüsterte ihm ins Ohr: »Wer ist da?« »Forson«, hauchte er zurück. »Forson?« Ihre Hände waren frei. Er griff um sie herum und durchtrennte die Fußfessel, dann beugte er sich über ihren Begleiter. Der Mann atmete so flach, daß Forson ihn zuerst für tot hielt. Er bewegte sich nicht, als Forson seine Fesseln durchschnitt.
Ann preßte die Lippen an sein Ohr und sagte ein einziges Wort. »Schnell!« Forson ließ sich heruntergleiten und marschierte nach vorn, um seinen, wie er hoffte, letzten Schlag auszuteilen. Der Soldat stürzte zu Boden, die Fackel auch, das Zugtier blieb stehen. Das Knarren verstummte so plötzlich, daß die Stille in Forsons Ohren hallte. »Die Fackel nicht ausgehen lassen«, rief Ann. Er steckte sie in den Boden, bevor er den Soldaten fesselte. Dann trat er zu Ann. Sie gab bereits mit einem Funkgerät, das sie aus einer versteckten Höhlung im Karrenboden genommen hatte, Signale. »Sechs—Zwei—Sieben. Dringend«, sagte sie. »Sprechen Sie, Sechs-Zwei-Sieben.« »Ich habe das Paket. Dringend Arztkontakt.« »Das Paket ist —« »Nicht das Paket.« »Verstehe. Ich bin hier allein. Wie ernst ist es?« »Kritisch«, sagte sie tonlos. »Bis morgen abend hat es nicht Zeit.« »Suchen Sie einen Landeplatz. Ich bin unterwegs.« Der falsche Boden des Wagens förderte einen Verbandskasten und eine Flasche Wasser zutage. Ann schnitt blutverkrustete Kleidung weg und wusch und verband eine klaffende Wunde in der Hüfte des Mannes. »Was ist passiert?« fragte Forson. »Ein Soldat hat ihm eine Lanze in den Leib gestoßen. Er braucht eine Blutübertragung, aber im Augenblick können wir nicht mehr für ihn tun.« Sie trat vom Wagen zurück und sah sich stirnrunzelnd um. Sie sah aus und benahm sich wie eine energische Bauersfrau. Forson, der sich an ihre zerbrechliche Weiblichkeit im Stützpunkt erinnerte, starrte sie entgeistert an. »Es ist nicht klug, das Flugzeug so nah bei Siedlungen offen landen zu lassen«, meinte sie. »Wir müssen umkehren.« »Siedlungen?« Er hatte sie gar nicht bemerkt, so vertieft war er in seine Aufgabe gewesen. Sie hatten fruchtbares Land erreicht, und nicht weit von ihnen entfernt schimmerte das Licht eines Bauernhauses.
»Hoffentlich können sich die gefesselten Soldaten nicht befreien und ihren Rachegelüsten nachgeben«, sagte Forson. »Wir müssen sie freilassen«, erklärte sie. »Freilassen -« »Auf dieser Straße herrscht kaum Verkehr. Wenn wir es nicht tun, werden sie nie gefunden, und wenn man sie findet, kommen sie sofort ins nächste Einhand-Dorf. König Rovva findet genug Opfer, ohne daß ihm der Stab dabei auch noch helfen muß.« »Wenn Sie es für ungefährlich halten.« »Sie werden sofort in Richtung Süden flüchten«, sagte sie zuversichtlich. »Dort gibt es einen Dschungel, wo sich Flüchtige verstecken können, bis ihre angeblichen Missetaten vergessen sind. Der Stab hat dort einen Mitarbeiter, der ihnen hilft. Je mehr Flüchtlinge, desto besser für uns.« Sie trat vor den Wagen und schlug dem Tier auf die Flanke. »Das ist ein Esg. Nachts bewegt es sich nur, wenn jemand mit Licht vorausgeht.« Sie wendeten den Wagen in engem Kreis. Forson befreite den letzten Soldaten, der noch bewußtlos war, von seinen Fesseln und marschierte dann mit der Fackel voraus, den Straßenrand nach seinen Opfern absuchend. Bis auf zwei waren alle noch bewußtlos, und diese beiden entfernten sich auf ein paar kurranische Worte Anns hin Richtung Süden, so schnell es ihre unsicheren Beine erlaubten. Als sie das Meer erreichten, suchte Ann eine passende Stelle am Strand aus, bevor sie alle versteckten Ausrüstungsgegenstände aus dem Karren holten. Forson ließ Ann bei dem Verwundeten zurück, führte das Esg in den Wald, trieb es mit dem Wagen so weit wie möglich zwischen die Bäume und ließ es frei. Bei Tagesanbruch würde es umherwandern, bis irgendein Bauer davon Besitz ergriff. Er kehrte im Laufschritt zum Strand zurück, wo das Flugzeug schon wartete. Der Verwundete war bereits an Bord gebracht. Sie starteten sofort und flogen in niedriger Höhe über dem Meer dahin. Die Küste zeigte sich als langer, dunkler Strich, wo das Phosphoreszieren des Wassers aufhörte. Ann wandte sich ihm plötzlich zu. »Wie sind Sie entkommen?«
»Indem ich mich nicht gefangennehmen ließ«, antwortete er. Sie starrte ihn ungläubig an. »Die Sprache, die Sie gelernt haben, war Larnorisch. Sie trugen das Gewand eines larnorischen Priesters, und larnorische Priester spielen in allen kurranischen Märchen die Rolle des Schwarzen Mannes. Sie hatten eine larnorische Nase. Selbst wenn die Gegend nicht voller Soldaten gewesen wäre, hätten Sie sich keine Stunde halten können. Woher haben Sie die Bauernkleidung?« »Eingetauscht gegen meine Robe.« »Was?« »Eingetauscht -« »Ausgeschlossen! Kein Kurranier würde sie anrühren. Wenn die Schergen des Königs einen Bauern mit der Robe eines larnorischen Priesters fänden, würden sie ihm mehr abtrennen als einen Arm. Das wissen die Bauern. Woher haben Sie die Kleidung?« »Ich sagte es doch eben. Haben Sie den Koordinator gesehen?« »Rastadt?« Forson nickte. »Es ist soviel passiert, daß ich ihn fast vergessen hatte. Wir waren zusammen, als uns die Soldaten überfielen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Zuerst dachte ich, er hätte mich in eine Falle gelockt, bin mir aber nicht mehr so sicher. Er war genauso gekleidet wie ich.« »Ich habe nichts von ihm gesehen«, erwiderte sie kalt. »Ebensowenig jemand anders.« »Merkwürdig.« »Vermutlich hat er seine Robe gegen eine Uniform eingetauscht und sich König Rovvas Armee angeschlossen«, meinte sie sarkastisch. »Woher haben Sie die Kleidung?« Er antwortete nicht, und sie kam nicht mehr darauf zurück. Forson schlief ein und erwachte plötzlich, als sich der Summton des Flugzeugs veränderte. Eine lange, schmale Halbinsel schob sich unter ihnen ins Meer. Unten blinkte ein Licht, sie kreisten, wurden langsamer und sanken schnell hinunter. Der Boden öffnete sich, um sie aufzunehmen. Sie kamen in einem unterirdischen Hangar zum Stillstand. Eifrige Hände streckten sich herein, um den Verwundeten herauszuheben,
dann sprang Ann hinunter. Forson folgte ihr und blinzelte in die grellen Lichter des Hangars. »Das ist also der Sektorinspizient«, sagte ein junger Mann und schüttelte Forson die Hand. »Sagt er«, erklärte Ann kalt. Der junge Mann zog die Brauen hoch. »Sagt er?« »Er hat verschiedene Dinge verschwiegen, und manche Äußerungen bedürfen dringend einer Erklärung. Ich wünsche, daß er eingesperrt wird, bis Paul zurückkommt — für alle Fälle.«
5 Paul Leblanc war ein Mann, der so viele Gesichter angenommen hatte, daß er kein eigenes mehr besaß. Im Augenblick war er ein wohlhabender Bauer, der zufrieden einen Becher dampfenden Cril schlürfte und die stillen Freuden eines häuslichen Abends in seinem großartigen Gutshaus genoß. Andere Momente, andere Gesichter, und nicht einmal Leblanc hätte sagen können, welches er selbst war. Aber in diesem Augenblick war er ein Bauer. Als er milde sagte: »Wir haben eine ziemlich hektische Zeit hinter uns, Inspizient«, klang das, als spreche er von einer Landwirtschaftskrise. Forson riskierte ebenfalls einen Schluck Cril. Er hatte einen angenehmen, scharf-würzigen Geschmack und war so heiß, dass er sich beinahe die Zunge verbrannt hätte. Er stellte die Tasse ab und sagte knapp: »Ich ebenfalls.« Leblanc lächelte. Gewöhnlich machte es Forson Spaß, Gesichter zu analysieren, aber bei Leblanc sah er sich vor ein unlösbares Problem gestellt. Sein Gesicht hatte eine verwirrende Beweglichkeit, ja, Formbarkeit des Ausdrucks. Gemeinsam mit Leblancs schlanker, zarter Gestalt führte das zu dem Eindruck, als befinde er sich ständig in Verwandlung. »Ann war ein bißchen zu hitzig«, gab Leblanc zu. »Ich wüßte einen besseren Ausdruck dafür.« »Hitzig«, sagte Leblanc entschieden. »Ich habe sie gerügt, aber nicht streng. Sie machte sich natürlich Sorgen. Mitarbeiter von Stab B machen meistens keine Fehler. Wenn sie es täten, gäbe es keinen Stab B. Wir haben hier einen Fehler gemacht, für den ich genauso verantwortlich bin, aber der Fall ist abgeschlossen. Im Stab B lernen wir aus unseren Fehlern, aber wir grübeln nicht darüber nach, vor allem dann nicht, wenn sie gut ausgehen. Ich nahm an, Sie seien unterwegs zu einer der hübschen kleinen Vergnügungen König Rovvas, und als ich hörte, daß Sie in Sicherheit seien, und hierher zurückeilte, um Ihre Retter zu beglückwünschen, erfuhr ich von ihnen, daß Sie es waren, der sie gerettet hat. Ich kann Anns Gefühle verstehen. Es war nicht nur seltsam, sondern unglaublich.« »Mich einzusperren, schien aber ein merkwürdiger Ausdruck ihrer
Dankbarkeit zu sein.« »Eingesperrt kann man ja nicht sagen«, wandte Leblanc ein. »Ich verstehe Ihren Ärger, aber Sie können sich gar nicht vorstellen, wie unmöglich das alles erscheint. Rastadt hat Sie die larnorische Sprache erlernen lassen, Sie als larnorischen Priester verkleidet und sogar mit der ausgefallensten aller larnorischen Nasen ausgerüstet, alles in der bösen Absicht, Sie so auffällig wie möglich zu machen, ungefähr wie ein Pferd in einer Schafherde - ein alter kurranischer Ausspruch, wenn auch die kurranischen Pferde keine Pferde und ihre Schafe alles andere als Schafe sind, aber für den Vergleich genügt es. Für den kurranischen Bauern ist ein larnorischer Priester -« »Ich weiß. Jetzt weiß ich es. Der Schwarze Mann.« »Schlimmer. Ein Teufel, mit dem einzigen Bestreben, ihn dorthin zu schleppen, wo er sich eine Hölle vorstellt. Vor langer Zeit versuchten die Priester Larnors, in Kurr zu missionieren. Die Könige von Kurr reagierten nicht erfreut auf den Versuch, ihnen religiöse Vorrechte abzunehmen, und sie legten ein festes Fundament für eine reiche Sagenwelt über die Niedertracht larnorischer Priester. Mit diesem Gewand, dieser Sprache und dieser Nase waren Sie vom ersten Augenblick an verraten.« »Das weiß ich«, sagte Forson. »Ich begreife nur nicht, warum Rastadt das wollte. Ich verstehe ebensowenig, warum Ihre Ann Cory, B 627, mich praktisch noch in die Falle gebeten hat, als sie in der Lage gewesen wäre, mich zu warnen.« »Es gab zwei Fallen«, erklärte Leblanc. »Die eine, die Rastadt für Sie aufbaute, und eine andere, die wir für Rastadt vorbereiteten. Wenn sie Ihnen von der einen erzählt hätte, wäre Rastadt nicht in die andere gegangen - und es bestand die große Gefahr, daß er eine schnellere und wirksamere Methode, Sie zu beseitigen, finden würde. Rastadt - aber heute abend möchte ich lieber nicht über Rastadt sprechen. Sie sind in Sicherheit. Sie haben das Leben eines vielversprechenden jungen Mitarbeiters gerettet und Ann vielleicht davor bewahrt, gefoltert und verunstaltet zu werden, und wenn sie die Schmach, von einem IKMann gerettet worden zu sein, überwunden hat, wird sie sich auch bedanken. Der Cril schmeckt — dieses Gebiet erzeugt den besten Wein in ganz Kurr —, also sprechen wir von angenehmeren Dingen und überlassen wir Rastadt dem kalten Licht des Tages.«
»Ich möchte lieber jetzt von ihm reden. Was ist aus ihm geworden?« »Er hat mir eben eine Nachricht geschickt.« »Dann - ist er also nicht gefangengenommen worden?« »Offenbar nicht. Die Nachricht kam vom Stützpunkt.« »Er sagte, das Flugzeug werde ihn in der nächsten Nacht abholen. Ich kenne mich mit der Zeit nicht mehr aus.« Auf Leblancs Gesicht bildete sich ein schmales, eisiges Lächeln. »Seine Nachricht erwähnt seinen Besuch in Kurr nicht. Darin wird nur gefragt, warum der Stab B den Befehl, Sektorinspizient Jeff Forson zur Landezeit vorgestern nacht am Koordinatenschnittpunkt N 457-W 614 abzuholen, nicht bestätigt habe, und gleichzeitig wird gefordert, mitzuteilen, daß der Kontakt, wie befohlen, stattgefunden habe. Ein solcher Befehl ist aber nicht eingetroffen.« »Ah! Deshalb hat uns also niemand abgeholt.« »Ich gehe noch einen Schritt weiter. Ein solcher Befehl ist niemals abgeschickt worden.« »Je mehr ich über die Sache weiß, desto weniger verstehe ich davon«, meinte Forson langsam. »Rastadt war gekleidet wie ich. Er trug die larnorische Nase. Warum sollte er mir eine Falle stellen und dann selbst mit hineinlaufen?« »Das ist eine lange Geschichte. Wollen Sie nicht doch lieber bis morgen warten? Nun gut -« Er leerte seinen Becher und schob ihn beiseite. »Vierhundert Jahre lang haben wir versucht, Kurr in eine Demokratie zu verwandeln. Während dieser Zeit hat Gurnil einige besonders tüchtige Koordinatoren und ein oder zwei schrecklich unfähige gehabt. Allen blieb der Erfolg versagt. Vor sieben Jahren übernahm Rastadt das Kommando. Er hatte eine ausgezeichnete Vergangenheit und genoß den Ruf, ein einfallsreicher Mann zu sein. Er ordnete sofort eine Reihe tollkühner Maßnahmen an, und als seine Pläne ohne Erfolg blieben, beschuldigte er den Stab B, seine Befehle nicht ausgeführt zu haben. Er begann damit, selbst ausgewählte Leute ohne ausreichende Ausbildung einzuschleusen. Er errichtete innerhalb des Stabes praktisch ein unabhängiges Kommando, was beinahe zu einer Katastrophe geführt hätte. Um es offen zu sagen, er war nahe daran, das ganze Projekt zum Platzen zu bringen. Wissen Sie, was das bedeutet hätte?«
»Nicht genau.« »Das IPB-Amt hätte sich völlig zurückziehen müssen, und vier Jahrhunderte Arbeit wären umsonst gewesen. Das ist das Allerschlimmste überhaupt - etwas, das in allen Alpträumen der IPB-Beamten auftaucht. Sobald eine Planetenbevölkerung unsere Anwesenheit entdeckt, müssen wir abziehen. Wir können nicht zurückkommen, bis die Bewohner vergessen haben, dass wir dagewesen sind, und das kann ein Jahrtausend oder länger dauern. Wenn eine solche Idee in Aberglauben und Dichtung übertragen wird, kann sie sich ewig halten. Rastadt war nahe daran, Gurnil zu ruinieren, und nachdem er den Stab B in die größte Krise seiner Geschichte getrieben hatte, wollte er nicht einmal herkommen, um uns zu helfen. Sein Stellvertreter rettete uns. Soviel ich Rastadt kenne, hatte er sich bei dem Mann nicht einmal bedankt.« »War das Unterkoordinator Wheeler?« Leblanc nickte. »Er sagte mir, daß er früher zum Stab B gehört habe.« »Er sprang für uns ein. Zwanzig Mitarbeiter befanden sich in den Händen von König Rovvas Foltertrupps, und miteinander wußten sie genug, um den ganzen Stab zu kompromittieren. Wheeler hat sie alle gerettet.« »Wie ein Held sieht er aber nicht aus.« »In einer solchen Lage zählt Phantasie mehr als Heldentum. Er bestach und bluffte, betrog und wirkte nebenbei vielleicht auch ein paar kleine Wunder, aber er rettete alle. Dann überredete er Rastadt dazu, seine Novizen zurückzuziehen und Kurr dem Stab B zu überlassen. Diese Leistung schätze ich genauso hoch ein. Seither hat Rastadt überhaupt nichts mehr unternommen und auch uns daran gehindert, etwas zu tun. Alle von mir eingereichten Pläne wurden zurückgewiesen. Zum Beispiel —« Forson hob die Hand. »Überspringen wir das, wenn es Ihnen nichts ausmacht, und kommen wir zu meinem Auftreten.« »Bitte. Vor einem Jahr starb mein Bruder, wodurch ich ziemlich komplizierte Familienangelegenheiten zu regeln hatte. Ich nahm Urlaub. Auf dem Rückweg suchte ich die Chefzentrale auf und las Rastadts Berichte. Alle waren gefälscht. Er beschrieb die
ausgezeichneten Fortschritte, die er erzielt haben wollte, und erwähnte das Fiasko, das uns beinahe den Planeten gekostet hätte, überhaupt nicht. Ich hätte Anzeige erstatten können, aber vom Standpunkt der Chefzentrale aus hätte Aussage gegen Aussage gestanden, bis jemand die Zeit gefunden hätte, an Ort und Stelle nachzusehen, und so etwas zieht sich endlos hin. Ich argwöhnte außerdem, daß mehr als nur ein Schwindel dahintersteckte. Aus diesem Grund führte ich eine offene, inoffizielle Unterhaltung mit einem alten Freund, der Erster Sekretär im Planungsstab ist. Ich überzeugte ihn davon, daß ein hochstehender Kulturforscher nach Gurnil geschickt werden mußte.« »Warum?« »Wir brauchten hier etwas völlig Neues. Wir vom IPB-Amt haben unsere Techniken, die sicher sehr gut sind, in Kurr aber offensichtlich erfolglos bleiben. Wegen des eindrucksvollen Kulturniveaus bestand die Möglichkeit, daß uns ein Kulturforscher helfen konnte. Ich wollte einen IK-Mann von höchstem Rang und mit Einsatzerfahrung. Er sollte in diesem Rang zum IPB-Amt versetzt und Gurnil als Chefkoordinator zugeteilt werden. Das war nicht leicht zu bewerkstelligen, aber mein Freund hatte den erforderlichen Einfluß, um es durchzusetzen.« »Chefkoordinator?« fragte Forson erstaunt. »Im Stützpunkt wurde mir erklärt, daß ich den Stab B leiten solle.« Leblancs Stimme nahm eine verlegene Färbung an. »Ich habe Ihnen gesagt, daß wir für Rastadt eine Falle aufgestellt hatten, Inspizient. Sie müssen verzeihen, aber — der Köder waren Sie. Als Chefkoordinator hätte auch ein IK-Mann nicht lange gebraucht, um zu sehen, daß mit der IPB-Organisation auf diesem Planeten nicht alles stimmt, und das wusste Rastadt. Sobald er erfahren hatte, daß Sie ohne Instruktionen eingetroffen waren und von Ihrem Auftrag nichts wußten, fälschte er Instruktionen für Sie. Dann sorgte er dafür, daß Sie ohne das Wissen von Stab B in einem entlegenen Gebiet Kurrs abgesetzt wurden, ausgerüstet mit einer Sprache und mit Äußerlichkeiten, die Ihre sofortige Festnahme garantierten. Im Augenblick wird er einen bedauernden Bericht für die Chefzentrale abfassen und erklären, daß Sie darauf bestanden hätten, Kurr allein und ohne die
richtige Unterweisung zu besuchen, weshalb er das Amt nur davor warnen könne, jemals wieder einen IK-Mann mit einer Aufgabe im Rahmen des IPB-Amtes zu betrauen.« »Er wollte verhindern, daß ich nach Kurr gehe«, wandte Forson ein. »Er sagte, es sei zu gefährlich.« »Natürlich mußte er eine glaubhafte Vorstellung geben und dafür sorgen, daß Sie vor Zeugen auf Ihrer Absicht bestanden.« »Aber er ist doch mitgekommen! Wheeler wollte das übernehmen, aber Rastadt bestand darauf, mich selbst zu begleiten.« »Freut mich, das zu hören. Wheeler ist ein tüchtiger Mann, aber ein Stellvertreter hat es sehr schwer, wenn sein Vorgesetzter auf den falschen Weg gerät. Ich glaube, daß Wheeler tut, was er kann, und ich vermute, daß er für Ihr sicheres Eintreffen sorgen wollte. Rastadt ahnte das und beschloß, Sie selbst zu begleiten.« »Er begleitete mich und geriet mit mir in den Hinterhalt«, sagte Forson langsam. »Und dann marschierte er wieder aus der Falle hinaus. Passen Sie auf. Wir haben Sie nicht ohne jede erdenkliche Vorsichtsmaßnahme als Köder benützt. Ich schickte unter verschiedenen Vorwänden immer wieder Mitarbeiter zum Stützpunkt zurück, damit jemand an Ort und Stelle war, sobald Sie eintrafen. Als Ann erfuhr, daß Sie gefälschte Instruktionen und die larnorische Ausrüstung erhalten hatten, wußten wir, was Rastadt beabsichtigte. In der Nacht, als Sie kamen, schickte er ein Flugzeug herüber. Wir orteten es und glaubten, es suche einen passenden Landeplatz für Sie. Dort wartete eine Gruppe von unseren Leuten. Das Flugzeug landete aber nicht. Während es unsere Aufmerksamkeit beanspruchte, schleuste Rastadt Ihre Maschine im Tiefflug heimlich ein und landete weit im Süden. Dort wimmelte es von Soldaten und Ruffs - das sind ziemlich unheimliche Burschen, so etwas wie Geheimagenten -, und die wenigen Leute, die an Ort und Stelle waren, um Ihnen zu helfen, wurden sofort gefaßt. Das kann nur eines bedeuten: Auf irgendeine Weise steht Rastadt in direktem Kontakt mit König Rovva. Er unterrichtete den König davon, daß Sie unterwegs waren, und führte Sie dann persönlich in die Falle, vermutlich, um Wheeler zuvorzukommen. Das Flugzeug kam noch in derselben Nacht zurück, um ihn wieder aufzunehmen. Sie haben uns
den Beweis geliefert, Forson. Rastadt ist nicht nur des Betrugs, sondern des Verrats schuldig.« »Was könnte er damit gewinnen?« fragte Forson. Leblanc schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Der Mann muß geisteskrank sein.« »Was wollen Sie tun?« »Nichts. Rastadt kontrolliert die Nachrichtenverbindungen. Eine Beschwerde an die Chefzentrale würde nicht abgeschickt werden. Was immer er auch beabsichtigt, die Mehrheit des Stützpunktpersonals hält zu ihm. Das ist für ihn auch nötig. Wenn ich mich mit Wheeler in Verbindung setzten könnte, wäre es vielleicht möglich, ihn dazu zu überreden, daß er eine Nachricht hinausschmuggelt, aber wie Ihnen aufgefallen ist, hält Rastadt Wheeler von Kurr fern.« »Ich bin Chefkoordinator, sagten Sie. Was muß ich da tun?« »Nichts. Sie haben die erste Aufgabe, die ich Ihnen zudachte, schon erfüllt. Ich brauchte Beweise, was Rastadt anging, und die habe ich jetzt. Die nächste Planeteninspektion ist in zwei Jahren fällig und wird ihm den Garaus machen. Ich warte, bis er Zeit genug gehabt hat, seinen Bericht abzuschicken, dann teile ich ihm mit, daß Sie sicher angekommen sind. Es wird interessant sein, zu sehen, wie er reagiert. Inzwischen sind Sie Chefkoordinator, was bedeutet, daß Sie mein Vorgesetzter sind und der Stab B zu Ihrer Verfügung steht. Ich hoffe, daß Sie in der Lage sein werden, die völlig neue Methode zu entwickeln, die wir brauchen. Der Stab ist mit Freuden bereit, alles zu versuchen, was Ihnen im Hinblick auf die Kultur einfällt.« Er füllte seinen Becher von neuem. »IK-Leute sind viel einfallsreicher, als ich je für möglich gehalten hätte«, meinte er nachdenklich. »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber auf einer fremden Welt zu arbeiten, ist kein Kinderspiel, selbst wenn man dafür ausgebildet ist. Unter den gegebenen Umständen hätte ich Ihnen knapp zehn Minuten als freier Mann zugebilligt, statt dessen tauchen Sie in der folgenden Nacht auf, retten zwei meiner Mitarbeiter und erledigen auch das tadellos. Wie haben Sie es nun wirklich angestellt?« »Er weiß es selbst nicht«, sagte Ann Cory trocken. Forson hatte sie nicht hereinkommen hören; er widerstand der Versuchung, sie grimmig anzufunkeln.
»Ich schaffte es, weil ich einer Frau begegnete, die schöne Dinge liebt, wie ich. Ich verstand ihre Sprache nicht, aber die Schönheit macht sich auf eigene Weise verständlich. Wir verstanden sie beide. Sind die Leute in diesem Gebiet ungewöhnlich arm?« »Das ist die ärmlichste Gegend Kurrs«, sagte Leblanc. »Ich vermute, daß sie vor Jahrhunderten vom Schmuggel gut lebte, aber nach der larnorischen Revolution gaben sich die Könige von Kurr alle Mühe, jeden Kontakt mit Larnor zu unterbinden. Die Bevölkerung mußte wieder zur Landwirtschaft zurückkehren, aber der Boden ist wenig fruchtbar.« »Der Schmuggel würde mein Versteck erklären. Jedenfalls hungerte diese Frau nach Schönheit, wie man nach Nahrung hungern kann. Sie versteckte mich, wie ich meine, weil sie meine Robe an die Soldaten verloren hätte, wenn ich ihnen in die Hände gefallen wäre. Wie groß die Gefahr auch gewesen sein mochte, in ihrem Leben ist Schönheit etwas so Rares, daß sie das Risiko auf sich nimmt. Sie kennt eine Sprache, die Sie nicht verstehen.« »Ich lebe seit dreißig Jahren in Kurr, Inspizient«, sagte Leblanc gutmütig. »Ich habe Kurr und seine Bewohner so gründlich studiert, wie das nur möglich war, wie Sie - nun, eben die Schönheit. Wenn es eine Sprache geben sollte, die zwar die Leute von Kurr verstehen, nicht aber ich, dann würde ich mich sehr wundern.« Forson ergriff eine Kerze und ging zum anderen Ende des langen Raumes, gefolgt von Leblanc und Ann. Gemälde wurden lebendig, als das Licht sie traf, lange Reihen von Bildern, vom Boden bis zur Decke. »Sind Sie Kunstkenner?« fragte Forson. »Nicht mehr, als jeder Haushaltsvorstand in Kurr«, erwiderte Leblanc. »Diese Bilder sind keine Kunst. Das ist einfach ein Album von ehrbaren Vorfahren und Familienszenen, wie es jedes Haus hat.« »Sogar im verarmten Süden«, meinte Forson. »Natürlich. In einem armen Haus gibt es aber weniger Gemälde, und sie sind von weniger tüchtigen Künstlern angefertigt, die bereit sind, ein niedrigeres Honorar anzunehmen.« »Das ist interessant. Beruhigend, sollte ich vielleicht sagen«, erklärte Forson und bewegte die Kerze an den Bildern entlang. »Die Kunst Kurrs ist nicht verfallen, nur der Finanzstatus dieser
einen Familie. Die Vorfahren konnten sich bessere Künstler leisten.« »Von den Dargestellten gehört niemand zu meinen Vorfahren, wenn auch die Halbinsel vor mir von einem anderen Mitarbeiter des Stabes bestellt wurde, und vor diesem wieder von einem anderen. Wenn aber der Besitzer eines so begüterten landwirtschaftlichen Hofes nicht ein umfangreiches Familienalbum wie dieses zur Schau stellen würde, fiele das auf. Die Mitarbeiter des Stabes B überleben dadurch, daß sie nie etwas Auffallendes tun.« »Diese Landschaften zeigen wohl Ansichten Ihrer Ländereien?« »Selbstverständlich. Was sollte ein Bauer in Kurr mit den Landschaften anderer Gegenden anfangen? Wanderkünstler kommen alle paar Tage vorbei und bitten um Aufträge. Ich lasse jedes Jahr eine neue Landschaft malen, und wenn ich unter ihren Arbeitsproben ein Porträt finde, das auch nur ein bisschen Ähnlichkeit mit meinen PseudoVorfahren zeigt, kaufe ich es und hänge es als weiteren Verwandten auf.« »Das ist aber sehr gefährlich.« »Das glaube ich nicht. Jeder Kurranier würde dasselbe tun, wenn er unter den Bildern des Künstlers das Porträt eines Verwandten entdeckt.« »Gefährlich für Sie, meine ich. Haben Sie Ihr eigenes Porträt malen lassen? Ja, ich sehe es. Der Künstler hat Ihr Wesen erfaßt. Listig und beherrschend. Warum haben Sie diesen Künstler gewählt?« »Seine Arbeitsweise gefiel mir.« »Haben Sie viele Besucher aus dem Kreis der Einheimischen?« »Nein. Ich gebe jedes Jahr ein Fest, was man von mir erwartet, aber sonst bekomme ich überhaupt keine Besuche. Ich spiele die Rolle eines jovialen Mannes im Ort, und niemand findet es verwunderlich, daß ein Junggeselle zu Hause keine Empfänge gibt. Das ist ein Glück, weil es zu gefährlich wäre, wenn unerwartet Nachbarn hereinschneiten, wo doch ständig Mitarbeiter kommen und gehen. Der kurranische Bauer hält überhaupt nicht viel vom geselligen Leben, es sei denn bei Erntefesten.« »Findet Ihr Fest im Freien statt?« »Ja.« »Sie haben mehr Glück, als Sie ahnen. Ein Blick auf dieses
Familienalbum, und jeder scharfsichtige Kurranier würde auf den Gedanken kommen, Sie eigenartig zu finden.« Leblanc nahm die Kerze und wich langsam zurück, die Gemälde entgeistert anstarrend. Ann hielt den Blick auf Forson gerichtet. »Was stimmt an meinem Familienalbum nicht?« fragte Leblanc. »Ich behaupte, daß die Bewohner Kurrs Gemälde vor allem deshalb zeigen, weil sie die Kunst lieben und genießen, und kein Kunstliebhaber würde seine hochgeschätzte Sammlung in diese Ecke verbannen. Die Beleuchtung ist miserabel. Sie haben nicht einmal Kerzenhalter an den Wänden, und bei Tag befindet sich das einzige ordentliche Licht an der anderen Seite des Zimmers. Sie könnten die Bilder genausogut in einen Schrank hängen.« »Ursprünglich befanden sie sich an der anderen Seite, aber ich hatte es schon vor Jahren satt, sie dort zu sehen. Glauben Sie wirklich -« »Allerdings«, sagte Forson. »Noch etwas. Eine private Kunstsammlung zeigt gewöhnlich, was dem Besitzer besonders gefällt Ihre Sammlung verrät so viele verschiedene Geschmäcker, dass sie darauf hindeutet, Sie besäßen überhaupt keinen, was ja auch zutrifft. Wenn Sie Kunst wirklich so gesetzt und konservativ mögen, wie Ihr Porträt andeutet, dürften Sie etwas so Ausgefallenes wie das Porträt daneben oder die Landschaftsszenen ganz rechts nicht dulden können. Ich sehe hier fünf verschiedene Stilrichtungen, und ich habe das Gefühl, daß der Kurranier, der irgendeinen davon bewundert, mindestens zwei von den anderen hassen wird.« Er wandte sich an Ann. »Sagen Sie, haben Sie jemals mehr als drei von diesen Stilrichtungen in einer Sammlung vertreten gesehen?« »Auf Stile habe ich nie geachtet«, gestand sie. »Es gibt fünf Ortschaften, die alle Künstler in Kurr hervorbringen, so dass sich die fünf Stilrichtungen erklären lassen, aber ich habe nie darüber nach-gedacht, ob jemand den einen oder anderen mag oder nicht mag. Für mich sind sie alle, nun - eben Bilder.« »Haben Sie die Farbe chemisch analysieren lassen?« erkundigte sich Forson bei Leblanc. »Nein —« »Haben Sie Torrilmusik zum Studium aufzeichnen lassen?« »Das habe ich nie für nötig gehalten. Wenn jemand sie studieren
wollte, konnte er sie ja jederzeit hören.« »Gibt es eine Liedliteratur?« »Die Bewohner singen, ja, aber -« »Aber Sie haben sich nie darum gekümmert«, sagte Forson resigniert. »Es kommt selten vor, daß man ein ganzes Volk mit naturgegebener Leidenschaft für das Schöne findet, aber die Kurranier scheinen sie zu besitzen. Ich vermute, daß diese Schemel ganz normale Möbel sind, aber sie sind herrlich. Sehen Sie, wie sorgfältig das gearbeitet ist, um die Maserung besonders zur Geltung zu bringen. Bei allen dieselbe Grundform, aber jeder einzelne eine eigene Schöpfung. Die Person, die sie hergestellt hat, war künstlerisch ebenso begabt wie der Maler Ihres Porträts. Wollen Sie behaupten, daß der Stab B seit vierhundert Jahren dahingelebt hat, umgeben von Kunst und Kunsthandwerk dieser Qualität, ohne es überhaupt zu bemerken?« Leblanc schwieg. Forson ergriff die Kerze und bückte sich, um die Steinfliesen am Boden zu betrachten. Keine zwei Fliesen waren von derselben Größe oder Form, und doch hatte der Maurer sie makellos miteinander verfugt und wunderbare Muster geschaffen. Er wandte seine Aufmerksamkeit einem Tisch zu, dessen Spiralbeine eine herrliche Höhenillusion erzeugten, dann richtete er den Blick bewundernd auf die grandiose Schlichtheit der Deckenbalken. »Rastadt überlasse ich Ihnen«, sagte er zu Leblanc. »Ich wüßte sowieso nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Setzen Sie sich mit Wheeler in Verbindung, wenn Sie können, oder versuchen Sie auf andere Weise eine Nachricht hinauszubringen. Die Sache eilt ja offenbar nicht. Rastadt kann dem Stab nichts anhaben, wenn Sie seine Anweisungen mißachten, wozu ich meine Erlaubnis gebe. Außerdem wird ihm die Planeteninspektion auf jeden Fall den Hals brechen. Die Zustände in Kurr liegen seit vierhundert Jahren im argen, also spielen zwei Jahre mehr auch keine Rolle. Was mich angeht - ich brauche Sprachunterricht. Haben Sie die nötige Apparatur?« »Wir unterziehen Sie dem Grundkurs, den alle neuen Mitarbeiter erhalten. Er nimmt zehn Tage in Anspruch. Was haben Sie vor?« »Ich wollte eine umfassende Kulturstudie durchführen, aber das
scheidet aus. Für eine Person ist das zuviel, und vom Stab B kann ich offensichtlich wenig Unterstützung erwarten.« »Wir leisten Ihnen jede Hilfe«, protestierte Leblanc. Forson schüttelte den Kopf. »Eine Kulturstudie ist nicht mit einer Landwirtschaftsstatistik zu vergleichen. Sie erfordert sowohl eine besondere Ausbildung wie eine sehr ungewöhnliche Eignung, und über beides verfügt Ihr Stab nicht. Ann spielt das Torru, und das sehr gut, aber wie gut kann sie hören? Wie viele Stile der Torrilmusik gibt es?« Sie schwieg. »Ich habe vor, diese kurranische Leidenschaft für das Schöne zu erforschen.« »Glauben Sie, damit einen Hebel zu finden, mit dem wir König Rovva stürzen können?« fragte Leblanc. Forson lächelte. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich untersuche die kurranische Leidenschaft für das Schöne, weil sie mich interessiert.«
6 Lange bevor Forson die Sprache beherrschte, wollte er fort. Die anderen Mitarbeiter gingen ihren Angelegenheiten nach und ließen ihn mit Leblanc allein, und obwohl er mit jedem Blick in dem alten Bauernhaus unerwartete Schönheiten entdeckte, langweilte ihn der Leiter des Stabes. Leblanc lebte inmitten von schönen Dingen und sah sie nicht. Das Erlebnis mit der Bäuerin und dem Gewand des larnorischen Priesters hatte ihn tief verstört. »Aber warum?« pflegte er zu fragen, verwirrt die Brauen zusammenziehend. »Sie kann es weder tragen noch andere Kleidungsstücke daraus anfertigen!« Stunden später drehte er sich dann plötzlich um, verschüttete den Glühwein in seinem Becher und protestierte: »Sie kann es nicht einmal einer Freundin zeigen. Sobald offenkundig würde, daß sie einen larnorischen Priester beherbergt hatte, besäße sie keine einzige Freundin mehr!« Forson erschöpfte seinen Vorrat an Zitaten über das Schöne und verstummte. Zwanzig Tage nach seiner Ankunft erschien ein neuer Mitarbeiter, ein stämmiger, braungebrannter, jovialer Mann namens Hance Ultman. Er war Produktenhändler, und sein Beruf erlaubte es ihm, frei durch die Zentralbezirke Kurrs zu ziehen. »Haben Sie Platz für einen Fahrgast?« fragte ihn Forson. Ultman zeigte sein ansteckendes Grinsen. »Wenn der Fahrgast nichts dagegen hat, zu Fuß zu gehen!« Leblanc erhob keine Einwände. Ultmans Beruf war völlig legitim, Forson würde bei ihm ungefährdet sein, und eine gemächliche Wanderung dieser Art würde die ideale Einführung für Kurr und seine Bewohner bieten. »Machen Sie die Runde«, sagte Leblanc. »Sie treffen unterwegs und in Kurra andere Mitarbeiter. Vielleicht kann ich Sie dort auch treffen. Oder Sie können hierher zurückkommen. Und wenn Ihnen etwas einfällt -« Forson nickte ungeduldig. Leblanc war in letzter Zeit auf den Gedan-
ken verfallen, daß die merkwürdige Leidenschaft der Kurranier für das Schöne in eine Leidenschaft für die Demokratie umgewandelt werden mochte, aber Forson gedachte die Methode für sich zu behalten, wenn sie ihm wirklich einfallen sollte. Zwei Tage später machten sie sich auf den Weg. Ultman hatte sechs schwere Wagen, von denen jeder von einem Paar sanfter und gehorsamer Esgs gezogen wurde. Ultman marschierte neben dem Führungsgespann her; die anderen waren an die Karren vor ihnen gebunden, setzten sich mit ihnen in Bewegung und blieben mit ihnen stehen. Forson wanderte auf der anderen Seite der Wagen, und sie unterhielten sich mit lauten Zurufen trotz unablässigen Knarrens der Fahrzeuge. »Warum schmieren Sie die Dinger nicht?« schrie Forson. »Die Erste Regel«, rief Ultman fröhlich. »Die eigentlich Regel des Nichts heißen müßte. Wenn ich die Räder schmiere, mache ich mich der Einführung einer technischen Neuerung schuldig. In Wirklichkeit hätten die Kurranier längst daran gedacht, wenn das Holz nicht so haltbar wäre, daß es auch ohne Schmierung ewig verwendbar bleibt.« »Das Holz mag schon haltbar sein, aber wie steht es mit den Trommelfellen?« Ultman grinste und blieb stumm. Forson brachte die nächste Stunde damit zu, die Liebe zur Musik der Einheimischen mit ihrer Widerstandsfähigkeit gegen Lärm in Einklang zu bringen. Ultman war auf eine Luxusspeise spezialisiert, eine bestimmte Art von Knolle, die wenige Bauern zogen. Er kaufte immer bei denselben Quellen, die weit über das mittlere Kurr verstreut waren. Sie zogen langsam auf schmalen Landstraßen dahin, von Ort zu Ort, von Bauernhof zu Bauernhof. Für Forson war es eine Reise durchs Wunderland. Sie besuchten ein Künstlerdorf, in dem es hübsche, quadratische Pilzhäuser und einen malerischen, träg dahinziehenden Fluß gab. Alle männlichen Kinder, vom kleinsten, das gerade laufen konnte, bis zu Halbwüchsigen, standen draußen im hellen Sonnenschein und malten den Fluß, die Häuser, die Landschaft, ihre jüngeren Schwestern oder einander. Männliche Erwachsene waren nicht zu sehen; während des Jahres zogen sie weit umher und malten für die Privatgalerien, die
jedes Heim in Kurr zierten, Porträts und örtliche Szenen. Ultman erklärte sich gutmütig bereit, so lange in dem Ort zu bleiben, bis Forsons Porträt von einem Jungen gemalt worden war, dessen Technik Forson interessierte, aber die Aufregung über den ersten Auftrag brachte den Jungen so durcheinander, daß das Ergebnis über Mittelmäßigkeit nicht hinauskam. Die Geheimnisse von Künsten und handwerklichen Fertigkeiten wurden eifersüchtig gehütet und vom Vater auf den Sohn vererbt, und auf ihrem langsamen, einer Spiralenbahn folgenden Weg zur Hauptstadt trafen sie auf ein Holzschnitzerdorf, ein Bildhauerdorf, ja sogar auf ein Dichterdorf, von denen jedes ein Denkmal für Kurrs unersättlichen Drang nach Kunst war und betonte, welchen Reichtum daran zu verschwenden das Land bereit war. Sie besuchten ein Musikerdorf an einem Feiertag, und die Dorfstraße war Schauplatz für Dutzende von Darbietungen. Forson ging von Gruppe zu Gruppe und sah fasziniert zu, als Straßenjungen mit glühenden Gesichtern zum erstenmal mit kleinen, hochgestimmten Torrils öffentlich auftraten und junge Männer um die Zwanzig auf originalgroßen Instrumenten mit hallenden Baßtönen meisterlich spielten. Frauen und Kinder in farbenfroher Feiertagskleidung lauschten begierig und stampften auf den bemalten Pflastersteinen begeistert Beifall. Forson wanderte in einem schwindelerregenden Freudenrausch umher, bis ihn plötzlich Gewissensbisse plagten, weil er kein Gerät zur Aufzeichnung mitgebracht hatte. Ultman, der offensichtlich sehr erfreut war, einen Gesprächspartner zu haben, redete unaufhörlich. Vieles ging im pausenlosen Quietschen seiner Karren unter, aber Forson vermochte an Information herauszufiltern, was ihm wertvoll erschien. Ultman kam schließlich auf die Mißerfolge von Stab B zu sprechen und verbreitete sich stundenlang darüber. Forson dachte an die vollgestopften Archive im Stützpunkt und wappnete sich gegen gähnende Langeweile. »Frauen«, schrie Ultman. Forson nickte. Die Stimmkraft Ultmans konnte er nur bestaunen. »Das war auch ein Ansatzpunkt. Die kurranische Frau ist nicht viel mehr als ein Haustier, wenn auch ein glückliches, geachtetes, gut versorgtes Haustier.« »Tatsächlich?« schrie Forson zurück. Er erinnerte sich daran, wie
schnell die Bäuerin ihren Mann zum Schweigen gebracht hatte, als es um seine Robe gegangen war. »Mir ist aufgefallen, daß sie in den Künsten keine große Rolle spielen.« Ultmann brachte das erste Gespann mit einem klatschenden Schlag zum Stehen und griff in den Wagen, um den Weinkrug herauszuholen. Er trank in großen Schlucken und reichte ihn dann an Forson weiter. »Auch sonst nirgends«, sagte er, seine Worte in die ungewohnte Stille dröhnend. Er lachte fröhlich und senkte die Stimme. »Ein paar Töchter von Musikern geben den Töchtern der reichen Leute Musikstunden, aber das ist alles.« Forson verstaute den Krug wieder und wollte weitergehen, aber Ultman war in redseliger Stimmung. Er hockte sich auf den Karrenrand, als bereite er sich auf eine Rede vor. »Der Stab B hat einmal jahrelang versucht, durch eine Bewegung für die Gleichberechtigung der Frauen eine Revolution herbeizuführen, vermochte aber nicht eine einzige Frau davon zu überzeugen, daß es ihr an Gleichberechtigung mangele. Dann die Religion. In Kurr verkörpert der König die Religion. Nicht direkt ein Gott, aber zumindest ein allerhöchster Priester. Vielleicht kommt daher die besondere Empfindlichkeit gegen Missionare aus Larnor - er will nicht, daß andere in seinem Revier arbeiten, sozusagen. Jedenfalls hat man in puncto Religion Dutzende von Variationen ausprobiert.« »Und in puncto Kultur?« fragte Forson. »Jemand muß es versucht haben. In Kurr ist alles versucht worden.« Er überlegte einen Augenblick. »Jemand hat mal einen Bezirksgouverneur dazu überredet, auf Gemälde eine Steuer zu erheben. Das ging nur so lange, bis König Rovva davon erfuhr. Er hob die Steuer auf und schickte den Gouverneur in ein EinhandDorf. Der alte Rovva ist viel zu schlau, um sich von einem Steuertrick übertölpeln zu lassen.« »Wenn die Angewohnheit des Königs, achtbare Bürger in EinhandDörfer zu schicken, überall verbreitet werden würde, müßte seine Beliebtheit doch leiden. Warum gründet man keine Zeitung?« »Sie könnte den König nicht kritisieren, wenn sie am Leben bleiben wollte. Außerdem ist der Druck noch nicht erfunden.« »Macht doch Kurr ein Geschenk damit.«
Ultman lachte schallend und hieb auf die Karrenwand, bis seine erschrockenen Tiere sich in Bewegung setzten. Er sprang herunter, um sie anzuhalten. »Macht Kurr ein Geschenk damit!« japste er. »>Die Regel des einzigem —« »Sooft ich etwas vorschlage, zitiert jemand die >Regel des einzigen<, aber noch niemand hat sich die Mühe gemacht, mir zu erklären, worin sie besteht.« »Vor Jahrhunderten wollte ein tüchtiger junger Mitarbeiter eine Revolution fördern, indem er den Aufständischen eine primitive Schußwaffe zu geben gedachte. Man hielt das für eine alberne Bitte, weil das Amt alle technischen Neuerungen mit einem strikten Verbot belegt hatte, aber entgegen allen Erwartungen wies die Chefzentrale das Ersuchen nicht rundweg zurück. Stattdessen wurde die >Regel des einzigem formuliert. Die Mitarbeiter des Amtes erhielten die Erlaubnis, eine einzige technische Neuerung pro Planet einzuführen, aber wirklich nur eine. Der junge Mitarbeiter war glücklich — bis er erfuhr, daß die Ziffer wörtlich zu nehmen war, während in dem Gewehr allein mindestens tausend Neuerungen waren, von der Munition gar nicht zu reden. Er machte sich hoffnungslos lächerlich, und seitdem hat niemand mehr versucht, sich der Technologie zu bedienen. >Die Regel des einzigem gilt aber immer noch.« »Dann könnten wir die Lettern einführen, aber nicht die Druckerpressen. Oder die Presse, aber nicht die Lettern.« »Auch so einfach ist es nicht. Sowohl in der Presse als auch in den Lettern stecken Dutzende von Neuerungen, und mindestens noch einmal so viele, bevor Sie im erforderlichen Umfang Papier herstellen könnten. Aber um wieder auf die Kultur zu kommen. Die größte Aussicht haben Sie, wenn Sie sich das Archivmaterial zeigen lassen. Die Mädchen im Stützpunkt haben sowieso nichts zu tun, und es würde nicht lange dauern, das Register durch eine Maschine laufen zu lassen und die Hinweise herauszuziehen, die Sie interessieren.« Er griff wieder nach dem Weinkrug. »Leblanc und sein Glühwein. Ich mag ihn kalt, und das läßt sich in Kurr kaum erreichen.« »Wickeln Sie feuchte Tücher um den Krug«, schlug Forson vor.
»Kann ich nicht«, erwiderte Ultman traurig. »Dadurch mache ich mich vielleicht schuldig, eine technologische Neuerung beigesteuert zu haben.« Er hob bedauernd die Hände. »Das einzige, was mir abgeht. Ein kalter Trunk. Im Winter wird es einfach nicht kalt genug, daß man etwas einfrieren könnte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das letztemal Eis zu Gesicht bekommen habe. Ansonsten ist es hier angenehm zu arbeiten.« Er sprang herunter und schlug dem Führungsgespann auf die Flanken. Das Knarren und Quietschen begann von neuem, und Forson nahm pflichtgemäß seinen Platz neben den dahintrottenden Tieren ein. Ein herrliches Land, dieses Kurr. Sie kamen an Getreidefeldern vorbei, die wie Blumenbeete in geometrischen Mustern angelegt waren. Ein Feld, hoch oben auf einem Hügel, wo seine schimmernde Schönheit meilenweit zu sehen war, zeigte sich als gekräuselter See aus vielfarbigen Blumen. »Wozu werden die Blumen gezüchtet?« schrie Forson. »Honig? Parfüm?« Ultman schüttelte den Kopf. »Honigsammelnde Insekten gibt es hier nicht. Zucker wird aus den Blättern eines Zuckerstrauchs gewonnen, und ihre Duftstofle ziehen sie aus Wurzeln. Die Blumen sieht man überall, meist auf Hügelkuppen. Ich habe mich oft gefragt, warum sie sie nicht unterpflügen und etwas Nützliches anpflanzen.« »Zum Beispiel Knollengewächse?« meinte Forson lächelnd. Das Amt würde genau das tun, wie es auch diese gefestigte Gesellschaft und ihre glückliche, wohlhabende, schönheitsliebende Bevölkerung mit der scharfen Schar der Revolution umpflügen würde. Forson fragte sich, ob die Regierung durch das Volk nicht eine Form schöpferischen Ausdrucks sein mochte, die hier ewig zum Mißerfolg verurteilt war, weil die Bewohner ihre schöpferische Energie an so unpraktische Dinge wie Malerei, Musik, Dichtung - und Blumenfelder verschwendeten. Wie Leblanc war auch Ultman nicht im seelischen Einklang mit der Schönheit, die ihn umgab. Kunstwerke waren Gegenstände, wie die Knollengewächse, mit denen er handelte, und sie waren ohne Zweifel auch zu etwas gut, aber er würde nie in die Gefahr kommen, sich bei
dem einen oder anderen mit dem Gefühl zu engagieren. Was bewegte ihn also? Der Auftrag des Stabes? Auch darüber machte er sich keine großen Gedanken. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und er erfüllte sie - er zog durch die Zentralbezirke, pflegte seine Kontakte, gab Nachrichten weiter, sammelte Informationen. Gefährlich? Er konnte sich nicht erinnern, wann der Stab zuletzt einen Mann verloren hatte. Vor einigen Jahren waren mehrere Mitarbeiter in der Klemme gewesen, aber das hatte jemand bereinigt. Dafür gab es immer jemanden. Um den Auftrag von Stab B sollten sich die hochgestellten Persönlichkeiten den Kopf zerbrechen, und wenn eine von ihnen glaubte, Ultman könne etwas Nützliches leisten, dann würde sie es sagen, und Ultman würde es tun. Forson sagte sich, daß jeder, der daran interessiert war, das Problem des IPB-Amtes auf Kurr zu lösen, zuerst vermutlich das Problem des Stabes B zu bewältigen hatte. Trotz ihres mangelnden Interesses für die Kunst waren seine Angehörigen Künstler, die jedoch mehr darauf achteten, ihre Rollen richtig zu spielen, als sie zu irgendeinem Zweck zu gebrauchen. Sie zogen auf friedlichen Landstraßen dahin, an denen die malerischen Orte mit ihren wunderlichen, vielfarbigen Häusern wie glänzende, in großen Abständen auftauchende Perlen auf einem grünen Faden aufgereiht waren. Von Zeit zu Zeit besuchten sie eine Dorfschenke, einen allen Leuten zugänglichen Raum in einem gewöhnlichen Privathaus, und kosteten vom neuen Wein. Gasthöfe im strengen Sinn des Wortes gab es nicht. In diesem sanften, freundlichen und wohlhabenden Land fehlte es dem Reisenden, der einen dicken Umhang besaß, an nichts. Er schlief im Freien. Jede Frau mit einem Topf voll Essen verköstigte gerne jeden hungrigen Fremden, und wenn die Fremden dafür Knollengewächse anboten, servierte sie fürstliche Portionen und fügte süße Kuchen aus dem Bestand hinzu, den sie für den nächsten Feiertag aufbewahrte. Gelegentlich stießen sie auf Mitarbeiter des Stabes. Zwei von ihnen, ein Schenkenbesitzer und seine Frau, luden Ultman und Forson zum Übernachten ein und vereitelten dann Forsons langersehntes Wiedersehen mit einem Bett, indem sie ihn fast die ganze Nacht mit ihren und Ultmans Erinnerungen wachhielten. Ein Weinhändler, ein reisender Händler, ein Wolleinkäufer – sie
tauchten unerwartet auf und gingen an Ultmans Wagenzug ohne ein Kopfnicken vorbei. Ein Bauer, bei dem Ultman Knollengewächse kaufte. Ein anderer Bauer, der eine Schenke betrat, in der sie saßen, langsam einen Becher Wein trank und sich wieder entfernte, ohne ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben. »Wir hatten nichts zu besprechen, sonst hätte ich ein Zusammentreffen unter vier Augen vereinbart«, erklärte Ultman. »Er ist nur hereingekommen, weil er Sie aus der Nähe sehen wollte. Eines Tages werden Sie vielleicht froh darüber sein, daß er weiß, wer Sie sind.« Ultmans sechs Wagen waren hochbeladen mit süßriechenden Knollen, als sie endlich eine der Hauptstraßen nach Kurra erreichten. Sie war breit genug für zweispurigen Verkehr und wurde von so vielen Karren und Wagen benützt, die Landwirtschaftserzeugnisse zur Hauptstadt brachten, daß sie eine Stunde auf eine Lücke warteten, die für Ultmans Wagenzug groß genug war. Später an diesem Tag, als Kurra bereits am Horizont auftauchte, kam der Verkehr vor ihnen zum Stehen. Ultman trieb seine Tiere hastig von der Straße und hielt an. Ein einzelner Fußwanderer näherte sich ihnen. Er trug eine helle, schon verstaubte Uniform und schlurfte müde dahin, den Blick auf den Staub gerichtet, den seine Füße aufwirbelten. Die Leute wichen auf die Felder aus oder wandten sich ab und blieben stehen, bis er vorbeigegangen war. Der linke Ärmel flatterte leer an seiner Seite. »Ein Diener des Königs«, flüsterte Ultman. »Er hat Seiner Majestät mißfallen und ist deshalb unterwegs zu einem Einhand- Dorf. Bis er es erreicht, ist er ein Ausgestoßener. Die Leute geben ihm zu essen, sprechen aber nicht mit ihm, und in jedem Haus bekommt er nur einmal zu essen.« Der Einarmige verschwand in der Ferne, und hinter ihm begann sich der Zug wieder in Bewegung zu setzen. Kurr war wieder schön und friedlich, aber der Schatten des eben Erlebten hing noch lange über Forson. Sie verbrachten die Nacht bei dem Bauern, der Ultmans Wagen und Zugtiere versorgte, wenn er sie nicht benützte. Am nächsten Morgen zogen sie sehr früh in die von einer Mauer umgebene Stadt Kurra, mit nur einem Wagen, gezogen von einem einzelnen Esg.
»Das ist Gesetz«, erklärte Ultman. »Sogar vernünftig, wie die meisten Gesetze König Rovvas. Ein Zug von sechs Wagen würde hier Stockungen verursachen, die man sehen muß, um sie für möglich halten zu können. Wahrscheinlich gab es das einmal, und der König geriet hinein. Nachdem er alle Beteiligten in ein Einhand-Dorf geschickt hatte, erließ er ein Gesetz, das eine Wiederholung ausschloß.« Die alten Gebäude waren - Forson riß vor Verblüffung den Mund auf — aus Stein gebaut, aber mit den gleichen, nach außen gewölbten Wänden, die er an Holzbauten auf dem Land gesehen hatte. Sogar die hohe Steinmauer um die Stadt wölbte sich an der Krone nach außen. »Ich würde am liebsten eines abtragen, um zu sehen, wie sie das machen«, sagte er zu Ultman, der nur die Achseln zuckte und zu verstehen gab, er ziehe Mauern massiv und stehend vor und wolle sie auch in diesem Zustand belassen. Die gewölbten Dächer der ländlichen Gebäude waren direkt auf die Mauern aufgesetzt gewesen; die Steinhäuser Kurras besaßen Obergeschosse mit lotrechten Wänden. Wegen der sich verjüngenden Mauern darunter reichten diese weit über die gewundenen Straßen hinaus. Über den engen Nebenstraßen trafen sie sich und bildeten Tunnels. Kurra war eine Stadt der Tunnels, und nur die großen Durchfahrtsstraßen hatten freien Himmel über sich. Während die Dörfer Künstler beherbergten, gab es in der Stadt Handwerker. Ihre Läden und einfache, kleine Fabriken für Handarbeiter säumten die Straßen. Kurz hinter dem Stadttor führte ihr Weg sie an einem großen Marktplatz vorbei, einem tollen Durcheinander von farbigen Kostümen, aufgehäuften Nahrungsmitteln, handgefertigten Erzeugnissen aller Art, Künstlern mit Arbeitsproben, die mit möglichen Kunden die Preise besprachen oder Porträts malten, und, in der Mitte des Platzes, vom Lärm karrender Wagen am weitesten entfernt, auftretende Torrilspieler, umgeben von Zuhörern. Ein Gewirr von Lauten - die Rufe der Händler, die spöttischen Antworten ihrer Kunden, das Ineinanderfließen der Torrilmelodien, der grandiose, lachende Überschwang glücklicher Wesen, und darüber das Quietschen und Knarren vorbeiziehender Karren. Sie drangen tief in die Stadt vor und blieben an einer übertunnelten Seitenstraße stehen, bis Ultman vorausgeeilt war, um sich zu vergewissern, daß nicht von der anderen Seite her ein Wagen kam und
ihnen den Weg versperrte. Sie bogen ein, steuerten den Wagen durch einen kleineren Tunnel in einen Innenhof und lenkten ihn rückwärts über eine Rampe zu einem Kellereingang hinunter. »Zu Hause!« verkündete Ultman. Forson half ihm beim Abladen, dann brachten sie den Karren und das Esg zum Bauernhof zurück und holten den nächsten beladenen Karren. Es wurde Abend, bis der letzte Wagen entladen und zum Bauernhof zurückgebracht war. Sie mußten rennen, um das Stadttor zu erreichen, bevor es geschlossen wurde. Ultman pflegte seine Knollengewächse mit einem Handwagen in den Tunnelstraßen und Höfen Kurras zu verkaufen, und bis er sie alle an den Mann gebracht hatte, war die neue Ernte bereit. Diesem Ablauf folgte er schon seit Jahren. Er war überall bekannt, konnte kommen und gehen, wie es ihm beliebte, und wenn er von Zeit zu Zeit verschwand, fand das niemand ungewöhnlich. Forson schien, daß Ultman für einen Mitarbeiter des Stabes den idealen Beruf hatte, aber Ultmans düsterer Keller gefiel ihm nicht. Diesem ebensowenig. »Er hat aber seine Vorteile«, meinte er. »Der kluge Stabsangehörige verfügt immer über einen Fluchtweg. Selbst wenn Hilfe in der Nähe wäre, müssen die anderen Mitarbeiter doch ihr eigenes Leben führen. Sie können nicht herumstehen und zusehen, für den Fall, daß man in Schwierigkeiten geraten sollte. Man muß sie wissen lassen, daß man Hilfe braucht, und das geht nicht, falls man in einer Wohnung festsitzt, die nur einen Ausgang hat. In einer neuen Unterkunft grabe ich als erstes einen Fluchttunnel. Hier führt er zu Ersatzlagerverschlägen, die ich im Nachbarhaus gemietet habe. Von einem Obergeschoß aus kann man keine Tunnels graben. Man muß Gänge bauen, und dazu braucht man Baumaterial, was immer ein Risiko bedeutet. Außerdem muß man die Wohnung daneben unter Kontrolle haben, was bei weitem nicht so einfach ist, wie die Ecke eines Kellers zu mieten. Ich wohne lieber dort, wo ich graben kann. Und jetzt bestelle ich zur Feier meiner Heimkehr bei meiner Wirtin eine Mahlzeit, und dann sehen wir uns Kurras Nachtleben an«. Nachttod, dachte Forson, als sie sich durch die dunklen Straßen auf
den Weg machten. Die eng zusammengerückten Gebäude verstärkten die Düsternis noch; es gab keinen Fahrzeugverkehr, und die daher rührende unheimliche Stille führte zu einer Atmosphäre, die ebenso angespannt wie trist war. In wenigen Fenstern ohne Läden in den Obergeschossen zeigte sich düsteres Kerzenlicht, aber den Passanten in den höhlenartigen Straßen unten nützte das wenig. In unregelmäßigen Abständen loderte eine Fackel in einem Halter hoch über den Köpfen der Fußgänger. »Schenken«, erklärte Ultman. »Solange sie offen sind, müssen die Fackeln brennen. Wollen wir es einmal versuchen?« Sie marschierten eine lange Steinrampe zu einem Kellereingang hinunter. Der Besitzer stieß einen Schrei aus, als er Ultman sah, und sprang auf sie zu, um sie zu begrüßen. Er versetzte Ultman einen kräftigen Stoß, den kurranischen Händedruck. Ultman revanchierte sich gehörig, sie lachten beide, und Ultman erklärte, sie hätten für ein, zwei Gläser Zeit. Das erstaunte Forson. In Kurr hatte er keine Trinkgefäße aus Glas gesehen. Die Gläser dienten als Zeitmaß, Halbkugeln aus klarem Glas, in einem Holzrahmen, unten mit einer engen Öffnung versehen. Sie setzten sich an einen runden Tisch, in den eine tiefe Schale voll Flüssigkeit eingelassen war. Der Schenk füllte ihre Gläser. Der Inhalt tropfte langsam in den großen Behälter, und sie konnten trinken, bis ihre Gläser leer waren. Sie füllten ihre eigenen Schalen, Forson probierte vorsichtig einen Schluck und verzog den Mund. Es war ein überaus bitteres Bier. »Ich dachte mir schon, daß es Ihnen nicht schmecken wird«, meinte Ultman, »aber Sie müssen alles probieren, zu Ihrer Sicherheit. Sonst kommen Sie vielleicht einmal in eine Lage, wo Sie das Zeug einen ganzen Abend lang in sich hineintrinken müssen.« »Schmeckt es Ihnen?« Ultman hob die Schultern. »Ich bin daran gewöhnt.« Er begann mit dem Mann am Nebentisch ein Gespräch. Auch dieser war Produktenhändler. Forson begann seine Umgebung zu studieren. Im Gegensatz zu Ultmans feuchtem Keller war dieser hier luxuriös eingerichtet. Säulen aus behauenen Baumstämmen trugen gewaltige
Querbalken, die wiederum die schmaleren Deckenbalken stützten. Forson vergewisserte sich hastig, daß das Gebäude nicht in Gefahr war einzustürzen, war sich aber nicht so sicher, was das wirtschaftliche Gefüge des städtischen Schankbetriebes anging. Ein paar schnelle Trinker konnten einen Schenk an einem einzigen Abend ruinieren. Aber diese Gäste waren keine Trinker. Sie schlürften während der Unterhaltung nur unregelmäßig oder starrten, wenn sie allein waren, wie gebannt auf ihre Gläser oder den zuckenden Widerschein der Wandkerzen in den Tiefen von Wein oder Bier. Der Schenk ging gnadenlos umher, bereit, sofort hinzuspringen, sobald sich ein Glas völlig geleert hatte. Er tippte dem Gast auf die Schulter, der Gast leerte seine Schale mit einem Schluck, starrte den Schenk mißgestimmt an und zahlte dann für ein neues Glas oder entfernte sich. Ein Torrilspieler, vom Abstieg mit seinem schweren Instrument keuchend, spielte ein kurzes Lied, sah sich erwartungsvoll um und schulterte sein Torril wieder. »Niemand hat ihn bezahlt«, erläuterte Ultman. »Dann werde ich ihn bezahlen«, sagte Forson und wollte aufstehen. »Lieber nicht. Er kann nicht besonders gut sein, sonst würde ihm der Schenk ein Glas anbieten.« Ein Maler wanderte mit einem Arm voll Bildern durch das Lokal und traf Verabredungen für den nächsten Tag. Ein zweiter Torrilspieler kam herein. Jemand warf ihm, als er fertig war, eine kleine Münze zu, aber er warf sie verächtlich zurück und gingAls sie ihre Gläser zum drittenmal geleert hatten, wies Ultman mit einer Kopfbewegung zur Tür. Nach einer kurzen Strecke mündete die Straße in eine breitere, wo in beiden Richtungen überall Fackeln loderten. »Die Straße der Schenken«, sagte Ultman. »Sie finden sie in der ganzen Stadt, aber hier gibt es mehr als sonstwo. Versuchen wir es mit einer anderen?« Sie besuchten kurz hintereinander vier Schenken und probierten ein Dutzend verschiedener Wein- und Biersorten. Torrilspieler kamen und gingen; schließlich blieb einer, offensichtlich ein Meister seines Faches, und spielte unter einem Hagel von Münzen eine Melodie nach
der anderen. Als er eine Pause einlegte, bemerkte Forson, daß er in der Nähe einer Gruppe von Leuten saß, die sich über die Vorzüge verschiedener Torrilberühmtheiten ausließen. Er lauschte begeistert und stellte dann zu seiner Enttäuschung fest, daß Ultman zufällig wieder auf einen Händler gestoßen war und sich über – Knollengewächse unterhielt. Der Musiker kehrte zu seinem Instrument zurück und spielte, bis die Fackel vor der Schenke niedergebrannt war. Der Wirt widerstand allen Bitten, eine neue anzuzünden, und warf die Gäste hinaus Die meisten Schenken waren schon geschlossen. Sie tasteten sich in fast völliger Dunkelheit zu Ultmans Keller zurück, Forson in der Ungewißheit, ob sein Schwindelgefühl vom Wein oder von der Torrilmusik herrührte. »Ich dachte eigentlich, Sie würden mich mit Leuten von Stab B bekannt machen, als wir am Abend weggingen«, meinte er, als sie sich die Rampe hinuntertasteten. Ultman blieb stehen. »Was dachten Sie, mit wem wir den ganzen Abend zusammen gewesen sind? Sie haben mindestens ein Dutzend Mitarbeiter kennengelernt.« »Oh«, sagte Forson betroffen. »Von den höheren Rängen wollen einige mit Ihnen sprechen, aber das eilt nicht. Wahrscheinlich möchten sie wissen, ob Ihnen irgendwelche Ideen gekommen sind.« Forson lachte in sich hinein. »Dazu, wie sich Kurr in eine Demokratie verwandeln läßt?« »Vermutlich. Es ist ihr Beruf, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Aber - Sie sind schließlich Sektorinspizient, und da wird es Ihnen nicht anders gehen.« Forson hatte Verantwortlichkeit bislang nie in diesem Licht gesehen, nämlich als Verpflichtung, sich Sorgen zu machen. Er schlief bei weitem nicht so schnell ein, wie er angenommen hatte.
7 Knollen, die dumpfen Trommelschlägen gleich in Ultmans Handkarren fielen, weckten Forson in der Morgendämmerung. Er preßte die Hände an den schmerzenden Kopf und stöhnte: »Muß das sein?« »Man muß tun, was natürlich aussieht«, erwiderte Ultman mit abstoßend guter Laune. »Ein Händler, der eben mit frischer Ware zurückgekommen ist, liegt nicht auf der faulen Haut, bis das Zeug verfault. Ich muß heute früh meine besten Kunden besuchen.« Forson drehte sich grollend auf die andere Seite und bedeckte seine Ohren. Ultman belud seinen Karren, verräucherte den schlecht gelüfteten Raum, als er sich einen Krug voll Cril braute, erklärte Forson schließlich, daß er sich bis zu seiner Rückkehr draußen nicht zeigen solle, und karrte die Rampe hinauf. Forson hatte nicht die Absicht, sich bei irgend jemandem zu zeigen. Später mochte er den Gedanken überprüfen, daß das normale Verhalten eines Mitarbeiters auch nicht wegen des Katers eines Sektorinspizienten um ein Jota abgeändert werden durfte, aber im Augenblick begnügte er sich damit, die Stille zu genießen und Schlaf zu suchen. Er döste mit der Überlegung ein, daß der getarnte Zugang zum Fluchttunnel nur eine Armlänge entfernt war und er trotzdem nie die Zeit haben würde, ihn zu benützen. An der Tür gab es kein Schloß, und wenn die Ruffs des Königs eindrangen, würde er gefangen sein, bevor er richtig wach war. Selbst wenn er durch ein Wunder in den Tunnel gelangte, wußte er nicht, wohin er sich wenden sollte, sobald er das andere Ende erreicht hatte. Als er wieder aufwachte, war Ultman mit heißem Fleischkuchen zurück, die Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt, und der Tag sah selbst in Ultmans tiefem Keller viel strahlender aus. »Es gibt Neuigkeiten«, triumphierte Ultman. »Der König hat ein Fest befohlen.« »Was für ein Fest?« »Eine öffentliche Unterhaltung. Gesang, Tanz, Musik – mit allem Drum und Dran. Jeder männliche Bürger, der den Eintrittspreis aufbringen kann, ist willkommen. Der König zitiert die besten Künstler herbei, das Publikum amüsiert sich, und Seine Majestät wird einen
hübschen Profit einstreichen. Wollen Sie hingehen?« »Etwas anderes kommt gar nicht in Betracht«, sagte Forson würdig. »Dann gehen wir. Beim Essen erkläre ich Ihnen, wie Sie sich in den Straßen Kurras zu benehmen haben.« »Haben Sie alle guten Kunden besucht?« »Genug«, meinte Ultman grinsend. »In diesem Geschäft ist das der Schlüssel des Erfolgs. Wenn man oft genug tut, was von einem erwartet wird, nehmen die Leute von selbst an, daß es immer so ist.« Sie verbrachten den Nachmittag damit, durch die Tunnelstraßen Kurras zu wandern und sich in kleinen Läden umzusehen, sooft Forson etwas Interessantes sah. Sie kauften nichts, obwohl Ultman, als Forson sich von einer herrlich ziselierten Trinkschale aus Silber fasziniert zeigte, mit dem Silberschmied ein grandioses Feilschen begann, zuerst um den Preis in Rohsilber, dann in Kupfermünzen und schließlich, als der Kauf getätigt zu sein schien, um die Menge an Knollen, die der Schmied im Tauschhandel anzunehmen bereit sein würde. Passanten blieben stehen, um belustigt zuzuhören oder beim Feilschen mitzutun, und plötzlich ergab sich eine Versteigerung, bei der Zuhörer den von Ultman mühsam heruntergehandelten Preis wieder hochtrieben. Die Schale fiel an einen gutgekleideten Fremden, der nur einmal mitbot das letztemal. Der Schmied offerierte eine andere Schale, aber Forson fand, daß sie lange nicht so schön war wie die erste, und sie zogen weiter. »Das liegt eher auf Ihrer Linie, wie?« fragte Ultman. Bei Tag konnten sie in den Straßen Kurras relativ gefahrlos Galaktisch sprechen. Bei dem Kreischen der Karren und Wagen, dem Geschrei der Bettler, Händler und Käufer bestand kaum die Möglichkeit, daß man sie belauschte. Sie hatten es schwer, sich einander verständlich zu machen. »Möchten Sie so einen Laden führen?« fragte Ultman ernsthaft. »Ich glaube nicht.« »Na gut, aber achten Sie auf Dinge, die Sie interessieren. Sie brauchen mehrere Berufe.« »Mehrere?« »Ja. Dann haben Sie eine Zuflucht, wenn irgend etwas schief geht.« »Wie kann man mehrere Berufe gleichzeitig haben?«
»Das muß nur richtig geplant werden. Ich kaufe und verkaufe Knollen, helfe aber auch in einer Schenke auf der anderen Seite der Stadt mit. Manchmal schlafe ich dort ein paar Nächte, erledige, was der Schenk mir aufträgt, nehme, was er mir geben will. Wichtig ist, daß ich dort bekannt bin und jederzeit unerwartet auftauchen kann, ohne unwillkommen zu sein. Außerdem haben mich zwei Mitarbeiter, die Geschäfte betreiben, als Gehilfen eingetragen, und ich lasse mich dort ab und zu sehen, damit mich ihre Kunden kennen. Natürlich spiele ich überall eine andere Rolle.« »Sie überlassen nicht viel dem Zufall.« Ultman grinste. »Sobald ein Mitarbeiter des Stabes sich in Sicherheit fühlt, wird es gefährlich, pflegt Leblanc zu sagen.« »Wie sicher bin ich als Ihr Gehilfe?« »Nicht sehr sicher. Produktenhändler haben normalerweise keine Gehilfen, und wenn die Landbevölkerung auch beim erstenmal nicht besonders darauf achtet, daß Sie dabei sind – Sie könnten ja jemand sein, der zufällig denselben Weg hat -, würde man aufmerksam werden, wenn ich Sie bei der nächsten Reise wieder mitbrächte. Niemand wird sich besonders darum kümmern, wenn Sie mit in einem Keller wohnen, aber wenn Sie sich länger ohne sichtbaren Brotberuf herumtreiben, werden sich meine Nachbarn über Sie Gedanken machen, und in Kurr geschieht das nicht lange, bevor auch die Ruffs des Königs aufmerksam werden.« »Ein Museum, das einen Direktor braucht, wird es wohl nicht geben . ..« Ultman lachte. »Sicher nicht.« »Bis jetzt habe ich noch keinen Beruf gesehen, der mir gefällt, aber ich werde mich weiter umsehen. Gehen wir etwas trinken.« »Kein anständiger Kurranier trinkt vor Sonnenuntergang«, erklärte Ultman streng. »Nicht in Kurra. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Die Schenken öffnen erst, wenn es so dunkel ist, daß das Anzünden einer Fackel gerechtfertigt erscheint.« »Ist das auch eines der vernünftigen Gesetze von König Rovva?« fragte Forson in dem beleidigten Tonfall eines Durstigen.
»Es hält die Bürger nüchtern bei der Arbeit.« »Und erspart dem König die Kosten einer Straßenbeleuchtung. Ich nehme alles zurück. Die Kurranier haben Grund genug zur Revolte, und zwar je früher, desto besser.« Sie gingen bis zum Zentrum der Stadt, wo das Schloß des Königs wie ein gewaltiger steinerner Pilz in der Mitte eines offenen Platzes stand. Über dem Haupteingang war die Festproklamation entrollt und verkündete in großen Lettern die freudige Nachricht. Als sie schließlich in Ultmans Keller zurückkehrten, fanden sie, daß jemand ein Paket überbracht hatte - die ziselierte Trinkschale. »Sie meinen — die Person, die sie gekauft hat, war —«, stammelte Forson verwirrt. »Ein Mitarbeiter des Stabes. Bettler wie wir könnten sich niemals so etwas leisten, aber er dachte, Sie wollten sie unbedingt. Ein Bettler oder Hausierer darf zwar feilschen, aber er tut gut daran, sich zurückzuziehen, sobald geboten wird, vor allem, wenn die Ruffs in der Nähe sind, und das waren sie. Sie kommen sonst auf den Gedanken, sich zu fragen, woher ein Hausierer soviel Geld hat. Es wäre auch nicht gut, die Schale hierzubehalten. Auf dem Weg zum Fest bringe ich sie Lweyn und bitte ihn, sie für Sie ins Loch zu tun, bis Sie eine eigene Unterkunft haben.« In der Abenddämmerung stellten sie sich in die lange Reihe und traten zur Begleitmusik klirrender Münzen durch eigene Zugänge in der Stadtmauer, um in das königliche Amphitheater zu gelangen. Lange, gebogene Steingalerien waren in den steilen Hang einer natür-lichen Vertiefung- eingebaut worden. Unten, in der Mitte einer Arena, stand ein kleines, pilzförmiges Haus mit vielen Fenstern. »Die Privatloge des Königs«, flüsterte Ultman. Sie nahmen ihre Plätze ganz hinten ein - Ultman murmelte, daß es nicht gut sei, zu viel Leute zwischen sich und dem Ausgang zu wissen - und beobachteten, wie sich das Amphitheater mit Besuchern füllte. Die langsam niedersinkende Dunkelheit verwischte sogar die schattenhaften Gestalten ihrer Nachbarn, aber immer noch erschienen Zuschauer und stolperten auf der Suche nach Plätzen herum. Schließlich marschierten der König und sein Gefolge in einem imposanten Fackelzug den Hang zum Haus hinunter. Rings um die
Arena wurden Fackeln entzündet, und die Vorstellung begann. Vorübergehend konzentrierte sich Forsons Interesse auf den König, aber bei dieser Entfernung und im flackernden Licht der Fackeln sah er nichts als eine breite Gestalt in einer Robe. Enttäuscht wandte er seine Aufmerksamkeit den Darbietungen zu. Der erste Eindruck war chaotisch. An jeder Seite der Arena arbeitete ein Maler an einer großen Leinwand. »Der König spricht dem Bild, das ihm am besten gefällt, einen Preis zu«, erläuterte Ultman. Ein Dichter rezitierte sein neuestes Werk; die akustischen Bedingungen waren ideal, aber viele Anspielungen blieben Forson unverständlich. Eine Gruppe von Tänzern umschritt die Arena mit langsamen, schwerfälligen Bewegungen, die Körper aber zu den erstaunlichsten Verenkungen zwingend. Ein Trupp Soldaten stand in enger Formation und schien überhaupt nichts zu tun, aber schließlich bemerkte Forson, daß sich die inneren Reihen langsam verschoben und die Form einer Blume annahmen, deren Kelch sich langsam weitete und zu entfalten begann. Die Blume verschwand in einer langen Reihe sich verwandelnder geometrischer Muster. Schlagartig war der Bühnenraum leer bis auf die Maler. Ein uniformierter Diener trug ein wunderbar geschnitztes Torril herein, und das Publikum, bis zu diesem Augenblick schweigende Hochachtung bekundend, begrüßte den Musiker mit stampfendem Applaus. »Sie nennen ihn Tor«, flüsterte Ultman, als sich der Lärm gelegt hatte. »Das heißt, daß er praktisch mit seinem Instrument namensgleich ist. Er ist wirklich der Beste, aber noch ein relativ junger Mann.« Tor setzte sich vor das Instrument und berührte die Saiten mit den Händen. Forson sah scharf hin und machte eine Entdeckung. Die Höhe des Torrils entsprach der Größe des Musikers, aber die Größe des kugeligen Tonkopfes entsprach seinem Können. Je größer die Kugel, desto größer die Anzahl der Saiten, die man daran befestigen konnte, und desto größer die Vielseitigkeit des Instruments und die Anforderungen, die an den Musiker gestellt wurden. Tors Instrument besaß eine riesige Kugel, und der Ton besaß, von den hallenden Baßsaiten bis zu den glockenähnlichen Diskantsaiten, eine reiche Resonanz, mit der verglichen die in den Schenken gespielten Instrumente wie Spielzeug wirkten. Mit Händen, die sich
kaum zu bewegen schienen, erzeugte Tor Töne in unglaublicher Schnelligkeit. Die Musik sang jubilierend, sank zu gedämpftem Trauergesang herab, flüsterte von liedhafter Schönheit und steigerte sich zu einem Crescendo kriegerischer Brillanz. Das Publikum sprang auf, um mit den Füßen zu stampfen und zu jubeln. Auch Forson gestikulierte begeistert. »So etwas habe ich noch nie gehört«, vertraute er Ultman an, als sich der Tumult gelegt hatte. Tor begann ein zweites Werk zu spielen. Der perlende, drängende Ansturm auf die Saiten setzte im Baßregister ein und schwebte in komplizierten Tonfolgen durch alle Oktaven. Er endete mit einer solchen Plötzlichkeit, daß das Gehör zweifelte und vertrauensvoll die Stille nach der verflogenen Musik durchforschte. Tor erhob sich und trat mit gesenktem Kopf dem Mittelfenster des kleinen Hauses gegenüber. Eine in eine Robe gehüllte Gestalt hatte sich vorgebeugt; offenbar ergriff der König das Wort, wenngleich seine Stimme nicht bis hin zum Publikum drang. Forson hielt den Atem an, bis er zu ersticken drohte. Ultmans verschattetes Gesicht zeigte Betroffenheit. In einer Stille, die grabesartig war, starrten Tausende von Zuschauern in die Arena. Wachen umringten Tor und entblößten ihn bis zu den Hüften. Und dann war es vorbei, bevor Forson das Entsetzliche zu begreifen vermochte, so schnell spielte es sich ab - das blitzende Schwert, der Schmerzensschrei, ein Arzt, um den Armstumpf bemüht, aus dem das Blut quoll. Forson wußte gar nicht, dass er aufgesprungen war, bis Ultman ihn grob auf seinen Platz drückte und ihm zuzischte: »Vorsicht, Vorsicht —« Die Menge verharrte wie von dem eigenen Schweigen hypnotisiert, als Tor, wieder angekleidet, mit verbundenem Arm davontaumelte. Der Diener trug das Torril hinaus, und wo noch Augenblicke zuvor große Musik entstanden war, blieben nur der blutbefleckte Staub und der Unterarm eines Mannes. Der Arm lag während der weiteren Vorführungen unberührt auf dem Boden. Die Auftretenden mieden ihn nervös. »Warum?« stieß Forson hervor. »Warum? Er ist ein großer Musiker.« Ultman gebot mit einer Handbewegung Schweigen.
»Das war er«, flüsterte er unverblümt. Es gab eindrucksvollen Gesang, Tänzer, die zum Rhythmus kleiner Trommeln Erstaunliches vorführten, Akrobaten in einem schwierigen Spiel, zu dem das Hochwerfen brennender Fackeln in der verdunkelten Arena gehörte, hell klingende Glocken, hallende Gongs, Lyrik, Gesang, Tanz - alles hätte in Bann schlagen müssen, aber Forsons betäubtes Gehirn wollte sich nicht mehr onzentrieren. Starke Übelkeit quälte ihn. Er wollte fort, wusste aber, ohne fragen zu müssen, daß es schlimme Folgen haben würde, wenn jemand das Fest des Königs vor dem Finale verließ. Das Publikum war durch den Schock seiner Begeisterung beraubt worden; die Künstler bewegten sich, wie von Angst gepeitscht. Die Vorstellung zog sich noch eine schreckliche Stunde lang hin, bevor der König und sein Gefolge schließlich abzogen und die Zuschauer langsam das Amphitheater verlassen konnten. Ultman schwieg, bis sie in eine Nebenstraße eingebogen waren und die Menge hinter sich gelassen hatten. »Es heißt, daß das die ganze Zeit über vorkommt«, meinte er nachdenklich, »aber ich habe noch nie gehört, daß es in der Öffentlichkeit geschieht, und bei einem berühmten Mann wie Tor nicht einmal im geheimen. Der alte Rovva muß sich über irgend etwas aufgeregt haben. Vielleicht tut ihm wieder ein Zahn weh. Beim letztenmal soll die Hälfte des Hofstaats betroffen gewesen sein.« Das Bild des abgetrennten Unterarms glühte schmerzhaft in Forsons Gedächtnis. »Dieser Mann wäre überall als großer Künstler anerkannt worden«, sagte er tonlos. »Er war mehr als das. Diese Musiker kommen viel herum, und Tor war der Beste. Sie würden ihn vielleicht einen Nationalhelden nennen. Der König muß nicht bei Sinnen gewesen sein.« Sie gingen durch die winkligen, dunklen Straßen. Forson folgte stumm Ultmans Spuren und fragte sich, ob er den Rückweg zum Keller alleine wohl gefunden hätte. In diesem Stadtteil gab es wenige Schenken, und das einzige Licht war ein gelegentlicher Schimmer, der durch die Ritzen eines Fensterladens drang. In der Dunkelheit erschien Forson alles anders, und erst als sie viel weiter gelaufen waren, als
nötig erschien, begriff er, daß wirklich alles anders war. »Wir nehmen einen anderen Weg, nicht wahr?« fragte er. »Ja«, sagte Ultman kurz. Sie erreichten einen offenen Platz, der durch die Kreuzung mehrerer Straßen gebildet wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite brannte eine Schenkenfackel. Ultman zog Forson zurück in die Dunkelheit und flüsterte: »Sehen Sie das Fenster?« Forson starrte ins Dunkel und beugte sich vor, um an dem Überbau des Hauses vorbeizusehen. »Ich weiß nicht -« »Bei Tag stehen Blumen in diesem Fenster. Bei Nacht brennt dort Licht.« »Ich sehe kein Licht«, wandte Forson ein. »Eben.« Sie hasteten weiter, und Forson bemerkte plötzlich, daß sich Ultman wiederholt umsah. »Solche Zeichen haben wir in ganz Kurra«, erklärte er. »Wir machen es uns zur Gewohnheit, so oft wie möglich darauf zu achten. Das ist heute nacht schon das dritte Fenster, in dem Licht brennen soll und nicht brennt. Das bedeutet, daß der Stab in Bedrängnis ist.« »Was tun wir?« »Ich weiß es noch nicht.« »Beim Institut hat es so etwas nie gegeben«, murmelte Forson. Er begann die vorbeikommenden Fußgänger argwöhnisch zu betrachten. Sie marschierten eine längere Strecke, wobei sie sich meist in den Häuserschatten hielten, bis Ultman unter einer Schenkenfackel stehenblieb, seinen Umhang abnahm und ihn über den Arm warf. Einen Augenblick später kam eine gebückte, alte Frau aus einem Hauseingang und humpelte auf sie zu. Sie bleckte vor Forson ihr Gebiß, wechselte rasch ein paar Schimpfworte mit Ultman und zischte ihm im Vorbeigehen zu: »Sturm drei.« Sie verschwand um eine Ecke, die beiden Männer schlugen die entgegengesetzte Richtung ein, und Ultman führte Forson nach einem langen, mühsamen Marsch zu einer verwahrlosten Schenke hinunter.
Die wenigen Gäste betrachteten sie gleichgültig und beschlossen, sie zu ignorieren. Sie wählten den einsamsten Tisch und entrichteten ihre Münzen. Als der dicke Schenk ihre Gläser füllte, wisperte er: »Es hat einen großen Einbruch gegeben, aber sie haben niemanden erwischt, glaube ich.« »Braucht ihr Hilfe?« flüsterte Ultman. »Ich glaube nicht. Meine Gruppe ist bis jetzt nicht betroffen. Trinkt und meldet euch dann oben. Ich verbreite inzwischen, dass ihr hier seid. Alle haben euch gesucht.« Ultman goß ruhig Bier in seine Trinkschale, Forson schaute sich besorgt in der Schenke um, aber niemand schien sie zu beachten. »Joe ist tüchtig«, sagte Ultman. »Trinken Sie Bier. Die alte Frau ist auch zuverlässig. Haben Sie sie erkannt?« Forson füllte seine Schale, schlürfte das Bier und verbarg seine Grimasse hinter vorgehaltener Hand. »Nein. Hätte ich sie erkennen sollen?« »Ich dachte, Sie kennen sie. Ann Cory. In Kurra läuft sie fast immer als alte Frau herum. Für ein Mädchen ist es in der Nähe von Rovvas Hof zu gefährlich, jung und hübsch zu sein. Trinken Sie weiter.« Forson tat es und fragte sich, ob im Handbuch auch etwas über Geduld stand. Oder darüber, daß man in einer Schenke vor einer Schale Bier seine Zeit vertrödelte, während man in Lebensgefahr schwebte, nur weil es zu auffällig gewesen wäre, eilig zu verschwinden. Er zollte Ultman größeren Respekt als vorher, war aber der Meinung, daß ein Bier ausreichender Beweis für Normalität gewesen wäre. Ultman legte jedoch noch einmal Münzen auf den Tisch und ließ sich nachfüllen. Als sie sich endlich erhoben, richteten sich alle Blicke auf sie, folgten ihnen zur Tür und wandten sich ab. Der Schenk entfernte sich, um einen anderen Zecher zu bedienen. Sie stiegen die Rampe hinauf, betraten das Haus durch den Seiteneingang und stießen auf einen muskulösen Wachtposten, der sie angrinste, Ultman die Hand drückte und mit einer Kopfbewegung zur Treppe wies. In einem Zimmer des Obergeschosses fanden sie einen ältlichen Mann in verblaßtem
Gewand, der neben einem Weinkrug an einem Tisch saß. Er betrachtete Forson mit blind starrenden, wässerigen Augen, die vom grauen Star befallen waren, und lud ihn ein, es sich bequem zu machen. »Wie schlimm ist es?« fragte Ultman. »Ihre Gruppe ist enttarnt. Ihr Haus wird bewacht. Wir haben alle Zugänge beobachtet, damit Sie nicht in die Falle laufen.« »Ich vergewissere mich stets«, sagte Ultman trocken. Der alte Mann hob die Schultern. »Um Sie haben wir uns auch keine Sorgen gemacht. Was Ihre Frage betrifft - der Kommandeur ist unterwegs, und das bedeutet, daß es kaum schlimmer sein könnte.« »Paul? Er kommt hierher?« »Mit dem Flugzeug«, sagte der alte Mann leise. »Und Sie wissen, daß Paul Leblanc auch bei Nacht nicht nach Kurra oder überhaupt ins Innere des Landes fliegen würde, wenn es nicht schon zu spät wäre, so daß es keine Rolle mehr spielt. Es gibt nur eine Erklärung: Unser Koordinator hat einmal zu oft gepfuscht und den ganzen Planeten auf dem Gewissen. Jetzt bleibt uns nur noch, alle Leute abzuziehen — und das schnellstens.«
8 »Ich bin Sev Rawner«, sagte der alte Mann. »Gurnil B Drei-EinsAcht. Setzen Sie sich, Inspizient. Sie brauchen etwas zu trinken.« Er füllte eine Trinkschale mit fester Hand und Augen, die sein Alter und die scheinbare Blindheit Lügen straften. »Ich habe eben getrunken«, protestierte Forson. »So etwas bekommen Sie in keiner Schenke. Versuchen Sie mal.« Forson probierte vorsichtig und trank dann einen großen Schluck. »Was ist das?« »Das verbotene Elixier«, sagte Rawner grinsend. »Eine Art Whisky, hergestellt aus dem Samen des Wulln, das ist ein kurranischer Baum. Wenn man Sie damit ertappt, ist Ihnen ein Marsch zu einem EinhandDorf sicher, ohne Rückkehr.« »Was kann der König gegen Whisky haben?« »Gar nichts. Er besitzt einen Privatkeller, um den man ihn auf jedem Planeten dieses Sektors beneiden würde. Er hat nur etwas dagegen, daß seine Untertanen Whisky trinken. Vermutlich legt er Wert auf nüchterne, arbeitsame Bürger. Oder er will alles für sich behalten.« Forson griff wieder nach der Schale. »Dieser Stoff ist verboten, und Sie haben keine Revolution entfesseln können?« »Er ist rar. Der Mann von der Straße könnte ihn sich selbst dann nicht leisten, wenn er erlaubt wäre. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Wulln-Bäumen.« »Dann pflanzt einfach mehr.« »Es dauert vierzig Jahre, bis ein Baum Früchte liefert.« »Der Stab hat Zeit genug.« »Nein.« Rawner schüttelte betrübt den Kopf. »Die Zeit des Stabes ist abgelaufen. Man kann keinen Bedarf nach einem Produkt wecken, bis man es überall so in Umlauf gesetzt hat, dass die Leute es kennen. Von diesem Whisky wird es nie genug geben, um das zu erreichen. Sobald die Ruffs des Königs außerhalb der königlichen Reservate einen Wulln-Baum entdecken, fällen sie ihn. Genießen Sie Ihr Quantum und lassen Sie sich als Beweggrund für eine Revolution etwas anderes einfallen. Brauchen Sie etwas, Hance?«
Ultman füllte seine Schale mit Whisky und leerte sie langsam. »Jetzt nicht mehr.« »Geld?« Rawner warf einen Beutel voll Münzen auf den Tisch, und Ultman bediente sich. »Was wird aus dem Inspizienten?« fragte Ultman. »Wir kümmern uns um ihn.« »Sagt mir Bescheid, wann es soweit ist. Bis bald, Inspizient.« Ultman drückte Forson die Hand, öffnete eine Tür in der Wand und verschwand in dem dunklen Gang dahinter. Die Wand erschien wieder fugenlos. »Wir werden bald alle unterwegs sein«, meinte Rawner. »Joe glaubt zwar, seine Gruppe sei nicht betroffen, aber das liegt wohl nur daran, daß die Ruffs noch nicht soweit fortgeschritten sind. Wie fühlt man sich, wenn man gesucht wird?« »Ganz eigenartig. Für Sie ist das sicher nichts Neues.« »Doch. Ganz neu. König Rovva hatte schon immer ein wachsames Auge auf umstürzlerische Elemente, aber diesmal hat er es unzweifelhaft auf den Stab B abgesehen. Von der Existenz dieser Organisation dürfte er aber überhaupt nichts wissen. Was halten Sie davon?« Er zeigte ihm ein kleines Gemälde - ein Porträt Jeff Forsons. Forson betrachtete es kritisch. »Vom künstlerischen Standpunkt aus sehr wenig. Mäßige Arbeit. Perspektive völlig falsch.« »Aber die Ähnlichkeit ist beachtlich«, erklärte Rawner, hielt das Bild ans Licht und studierte es nachdenklich. »Künstlerische Vollkommenheit kann man nicht erwarten, wenn ein Maler mit großer Schnelligkeit eine ungewohnte Vorlage zu kopieren hat.. Erkennen Sie es nicht?« »Mein Ausweisfoto!« entfuhr es Forson. »Woher haben Sie das?« »Ein Ruff hat damit Erkundigungen eingezogen. König Rovva läßt es wahrscheinlich von jedem zweiten Maler in Kurra herstellen, aber das ist das erste, das wir in die Hand bekommen haben. Ein Ausweisfoto des Amtes -« Er schüttelt» den Kopf. »Kein Zweifel, der Planet ist ruiniert. Wir müssen Sie schnellstens
wegschaffen. Abgezogen werden müssen alle, aber Sie zuerst. Jeder Ruff in Kurra sucht Sie, und Sie besitzen keine Zweitrolle, in die Sie sich zurückziehen könnten.« »Ich habe nicht einmal eine Erstrolle.« »Richtig. Sie hatten keine Zeit, sich etwas zurechtzulegen. Paul kommt mit dem Flugzeug. Vermutlich wird er mit Ihnen sofort zurückfliegen wollen.« Der Wachtposten rief von unten herauf: »Wir bekommen Besuch. Joe ist auf dem Weg nach oben.« »Gut«, antwortete Rawner. »Alles unter Kontrolle? Kommen Sie herauf und trinken Sie einen Schluck. Den Ruffs wollen wir auch nichts schenken.« Er füllte Forsons Schale und eine zweite für Joe, den dicken Schankwirt, der durch die Wandtür hereinkam. Der Schenk leerte seine Schale auf einen Zug, wischte sich den Mund und sagte: »Eigentlich habe ich mich hier wohl gefühlt.« Er ging in das Nebenzimmer und kam Augenblicke später zurück, wie durch ein Wunder schlank geworden, in anderer Kleidung, eine Perücke in der Hand. »Brauchen Sie Geld?« fragte Rawner. »Ich habe genug«, sagte der Schenk und setzte die Perücke auf. »Del möchte wissen, ob noch Requisiten gebraucht werden. Er will zusperren.« »Nein. Dort, wo wir hinkommen, gibt es genug davon. Sagen Sie ihm, er soll das Dichtungsmittel mitbringen. Er weiß schon, was er zu tun hat. Noch einen Schluck, Inspizient?« Er füllte Forsons Schale und goß den Rest in seine eigene. »Trinken Sie aus, dann machen wir uns auf den Weg.« Sie leerten ihre Gefäße. Rawner stand auf und schlug ein paarmal die rechte Faust in die linke Handfläche. »Da verpufft gute Arbeit«, meinte er. Er öffnete die Wandtür. Der Mann, den sie Del nannten, stand schon mit einer Sprühpistole bereit. »Dieses Dichtungsmittel ist prima«, meinte Rawner. »In dreißig Sekunden wird diese Tür ein nicht zu unterscheidender Bestandteil der Wand sein. Ich würde es nicht verwenden, wenn die Aussicht
bestünde, daß wir das Haus hier noch einmal benützen könnten.« Joe, jetzt ehemaliger Schankwirt, ging mit einer brennenden Kerze voran. Forson folgte, andere Mitarbeiter aus dem Nebenraum und dem Untergeschoß gesellten sich dazu, und im Gänsemarsch zogen sie durch den dunklen Gang ins Obergeschoß des Nachbargebäudes. Eine Stunde lang folgten sie einem komplizierten Weg hinab in Tunnelstraßen, hinauf zu Korridoren, die durch fremde Häuser führten. Ihr Ziel war eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung in einem versteckten Tiefkeller. An einem Tisch wartete dort ein Mann, der bedrückt in eine halbvolle Trinkschale starrte. Paul Leblanc. »Fertig?« fragte er Forson. Forson setzte sich müde und schüttelte den Kopf, als ihm Leblanc eine Trinkschale hinschob. Er schloß die Augen und lehnte sich schlaff zurück. Seit jenem schicksalshaften Augenblick bei der Festvorstellung, als Tors Musik verstummt war, hatte er nicht zur Ruhe kommen können. Die langen Stunden der nervlichen Belastung forderten ihren Zoll. Er war erschöpft, empfand aber gleichzeitig einen kaum zu unterdrückenden Grimm. Unterwegs war ihm plötzlich eingefallen, daß er auf diesem Planeten der ranghöchste Beamte war, daß alle Ereignisse hier letztlich unter seine Verantwortung fielen und daß er seine Autorität schwächlich an Untergebene abgetreten hatte, die ihn mit einer süßlichen Besorgtheit umhegten, wie sie verirrten Vollwaisen besser anstand. »Darf der Chefkoordinator fragen, was sich abspielt?« murmelte er. »Das Flugzeug wartet auf dem Dach. Wir haben später Zeit genug, das zu besprechen.« Forson richtete sich abrupt auf. »Wir besprechen es jetzt«, knurrte er. »Ich habe das Gefühl, daß wir Rastadt genau in die Hände arbeiten.« »Vielleicht. Es bleibt uns aber keine andere Wahl. Der Planet muß geräumt werden.« »Wer behauptet das?« »Rastadt -« Leblanc verstummte und starrte Forson an. »Haben Sie ihn gesehen?« Leblanc schüttelte den Kopf. »Die Nachricht wurde aufgezeichnet, als ich unterwegs war: >Planet
ruiniert, sofort räumen<.« »Bei einer so entscheidenden Frage könnte man doch erwarten, daß der Koordinator seinen Befehl persönlich überbringt und bei der Ausführung mithilft. Wo ist er?« Leblanc schwieg. »Er hat den Planeten selbst auf dem Gewissen«, sagte Forson. »Er hat das Fiasko mit Absicht herbeigeführt und weiß, daß wir es wissen. Wer hat den warmen Empfang in Kurr für mich vorbereitet? Wer dem König die Verstecke von Stab B verraten? Und wer hat mein Ausweisfoto zur Anfertigung von Kopien geliefert?« »Sie haben recht«, sagte Leblanc müde. »Wir haben aber keine andere Wahl. Wenn ein Planet ruiniert ist, müssen wir ihn räumen. Es kommt dabei nicht darauf an, wie, von wem oder zu welchem Zweck. Hier dreht es sich um ein Grundprinzip der Existenz des Amtes.« »Was hat Rastadt dabei zu gewinnen?« »Nichts.« »Überlegen Sie noch einmal. Hier haben wir einen Koordinator, der in seinem Kommando versagt und der Chefzentrale gefälschte Berichte geliefert hat, um nicht in Bedrängnis zu kommen. Die Chefzentrale schöpft Verdacht und schickt einen Überwacher. Rastadt beschwindelt ihn ohne Schwierigkeiten, lockt ihn in einen Hinterhalt und fliegt in der Meinung nach Hause, sein Problem sei gelöst. Plötzlich erhält er die Mitteilung, dass der Chefkoordinator ungefährdet den Stab B erreicht hat. Wann haben Sie diese Nachricht übermittelt?« »Erst vor drei Tagen.« Forson nickte grimmig. »Da haben Sie's. Rastadt ist kein Dummkopf, und er weiß, daß er in Ihnen keine Dummköpfe vor sich hat. Der einzige Weg, auf dem er sich noch retten kann, ist der, daß er alle beseitigt, die von seinem Verrat wissen, und das bedeutet, daß er den gesamten Stab B beseitigen muß. Den gesamten, weil inzwischen jeder Mitarbeiter von dem für mich gelegten Hinterhalt erfahren haben wird. Er hat den Planeten absichtlich ruiniert, um die gegen ihn vorliegenden Beweise zu vernichten.« »Ich war auf meiner Routinefahrt durch den Norden. Ich habe einen
Reiseplan für das Archiv übermittelt. Wahrscheinlich hätte ich das nicht tun sollen, aber man tut das eben automatisch, weil man es so gewohnt ist. Rastadt wußte, daß ich mindestens eine Woche lang keine Verbindung mit meiner Zentrale haben würde. Im Norden tat sich so wenig, daß ich fünf Tage zu früh zurückkam - und seine Nachricht vorfand.« Er drehte sich um. Die anderen hatten sich um den Tisch versammelt und lauschten aufmerksam. »Da er wußte, daß ich nicht anwesend sein würde, um die Nachricht entgegenzunehmen, hat er sie nur abgeschickt, um später gedeckt zu sein. Er wird sie benützen, um zu beweisen, daß er die Lage genau verfolgte und uns rechtzeitig warnte.« »Jeder Ort, wo die Ruffs aufgetaucht sind, war den Kerlen bekannt, die uns Rastadt vor ein paar Jahren aufgedrängt hat«, sagte Sev Rawner leise. »Alle Orte und Rollen, von denen sie nichts wußten, sind noch ungefährdet.« Leblanc nickte. »Der Planet ist aber leider trotzdem ruiniert. Wir müssen ihn räumen. Ich habe vor, den Stützpunkt zu besetzen und Rastadt und seinen Stab zu verhaften, bis eine offizielle Untersuchung stattfindet.« »Sind Sie bereit, sich auf einen Kampf einzulassen?« fragte Rawner. »Sie wissen, daß sie langjährige Haftstrafen zu erwarten haben. Sie werden Widerstand leisten.« »Wir sind ihnen um das Vierfache überlegen. Außerdem könnte Stab B mit jeder Stützpunktbesatzung fertig werden, selbst wenn das Verhältnis umgekehrt wäre. Wir stehen nur vor dem Problem, den Stab mit unserem einzigen Flugzeug hinzuschaffen. Wir finden schon eine Möglichkeit.« »Wie viele Empfänger besitzt der Stab B?« fragte Forson. »Nur einen. Warum?« »Tun wir so, als hätten wir Rastadts Mitteilung nicht erhalten.« »Er wird sie wiederholen, sobald wir mit dem Stützpunkt Kontakt aufnehmen.« »Das unterlassen wir.« »Er wird die Chefzentrale verständigt haben. Ein Raumschiff zu unserer Evakuierung dürfte schon unterwegs sein.« »Dann melden wir uns eben nicht zur Evakuierung.«
Leblanc starrte ihn verblüfft an. »Worauf wollen Sie hinaus?« »Ich sage, wir haben Rastadts Wort dafür, daß der Planet geräumt werden muß, und das gilt nicht viel. Für mich jedenfalls nicht. Was würde geschehen, wenn der Stab B alle Verbindungen zum Stützpunkt unterbricht?« »Rastadt würde annehmen, daß wir ausgelöscht worden sind.« »Dann soll er es glauben.« »Das Amt nimmt den Verlust eines ganzen Einsatzstabes nicht ohne Nachprüfung hin.« »Auf einem geräumten Planeten?« »Die Chefzentrale würde ermitteln«, sagte Leblanc langsam. »Sie müßte annehmen, daß Überlebende da sind, und würde natürlich alles versuchen, um sie herauszuholen. Allerdings mit größter Vorsicht.« »In welcher Verfassung ist Stab B jetzt?« »Unter Druck. Wir würden es aber scharfen. Wir alle haben Ersatzrollen. Wir können uns halten, solange es nötig ist. Es wäre ein geordneter Rückzug, keine vernichtende Niederlage.« »Wir räumen nicht«, erklärte Forson. Er starrte in die entgeisterten Gesichter. Ein wenig unsicher wiederholte er: »Wir ziehen uns nicht zurück.« »Sie sind der Chefkoordinator, aber niemand hat das Recht, sich gegen die Grundprinzipien des Amtes zu stellen«, wandte Leblanc ein. »In welchem Augenblick ist ein Planet zu räumen?« »Sobald die Bewohner -« »Wie viele Kurranier wissen, daß der Stab B in Kurr arbeitet?« Alle schwiegen. »Es gibt keinen Zweifel daran, daß Rastadt mit dem König unter einer Decke steckt«, sagte Forson. »Verrat scheint ein unfaßbares Mittel zur Beibehaltung des Koordinatorpostens zu sein, aber wir haben jetzt keine Zeit, seine Motive zu untersuchen. Der König weiß, daß wir hier sind, aber wie viele Bewohner wissen es sonst? Hat der König öffentlich verkünden lassen, daß Invasoren aus dem Weltraum in Kurr gelandet sind?« »Ich glaube nicht, daß er seine Untertanen davon unterrichten will«, gab Leblanc zu.
»Eben. Der Planet ist noch nicht ruiniert, und ich bezweifle, daß Rastadt Eile hat, der Chefzentrale das Gegenteil mitzuteilen. Da es ihm darauf ankommt, den Stab B aus dem Weg zu räumen, wird er keine Untersuchung wünschen, bis er überzeugt ist, Erfolg gehabt zu haben. Inzwischen — nun, haben wir Zeit gewonnen.« »Zeit wofür?« »Zeit, um den Auftrag für Stab B zu erfüllen.« »Zu erfüllen -« Leblanc starrte ihn an. »Ah!« rief er, plötzlich strahlend. »Sie haben einen Plan. Ausgezeichnet!« »Nun ja, ich -« Leblanc sprang auf. »Wir schließen alle Stationen, die Rastadts Leute gekannt haben, und sorgen dafür, daß jeder Mitarbeiter, von dem sie wissen, die Rolle wechselt. Da Rastadt mithören könnte, darf bis auf weiteres kein Funkverkehr stattfinden. Wir können das Flugzeug dazu benützen, Kuriere in die entlegenen Bezirke zu bringen. Sie werden den Ruffs des Königs um Tage voraus sein.« »Rastadts Leute wissen von diesem Versteck«, sagte Rawner. »Wir geben es sofort auf. Ich bin mit dem Chefkoordinator bei Ann. Sie schicken die Kuriere hinaus, Sev, und melden sich dann bei mir.« Er ergriff Forsons Hand und schüttelte sie begeistert. »Das nenne ich positives Denken. Machen Sie der Chefzentrale eine Demokratie in Kurr zum Geschenk, und kein Mensch wird sich mehr dafür interessieren, ob der Planet ruiniert war, und kein Mensch wird eine offizielle Untersuchung verlangen.« Am frühen Morgen saßen sie in Ann Corys Wohnung, einem kleinen Raum mit einem einzigen Fenster hoch über der Stadtmauer. Leblanc war da, Sev Rawner, dessen blind starrende Augen Forson immer noch störten, und Karl Trom, ein breitschultriger Mann, der nach Sägemehl roch, armlange Lederhandschuhe und eine Jacke trug, die vorne wie eine Schürze weit herabhing. Ann Cory, immer noch in der Maske einer alten Hexe, trat leichtfüßig ins Zimmer, schaute sich überrascht um und rief Forson zu: »Sie haben mich nicht erkannt!« »Das lag an der schlechten Beleuchtung«, erwiderte Forson. »Bei Tag würde ich Ihre kecke Nase immer erkennen, gleichgültig, wie
viele Runzeln Sie sich zulegen.« Es mochte ihm nur so erschienen sein, aber er hatte das Gefühl, daß sie errötete. Sie trat hinter einen Wandschirm und kam als robuste, rotbackige Matrone wieder hervor. »Es läuft also darauf hinaus, daß Sie gar keinen Plan haben«, sagte Leblanc. Aus jedem Wort sprach herbe Enttäuschung. »Darauf läuft es hinaus«, gab Forson zu. »Ich habe wohl zuviel erwartet. Sie sind ja wirklich noch nicht lange genug hier, um festgestellt zu haben, wo der Kern des Problems liegt, aber ich dachte, daß vielleicht ein völlig anderer Blickwinkel —« Forson schob seinen Stuhl zurück und trat ans Fenster. Seinen Augen bot sich ein großartiger Sonnenaufgang, den er eine Weile beobachtete, völlig verzückt und abwesend, bis er das verlegene Schweigen hinter sich bemerkte. Die anderen betrachteten ihn verwirrt. Er trat zur Seite und hob großzügig die Hand. »Ich bin gerne bereit, ihn mit Ihnen zu teilen.« »Wen zu teilen?« fragte Leblanc. »Den Sonnenaufgang.« Sie bewegten sich betroffen. »Kommen Sie her und sehen Sie sich das an«, sagte Forson. »Ich verstehe wirklich nicht -« »Sehen Sie sich das an!« Jeder trat einmal ans Fenster, zuckte die Achseln, kehrte an seinen Platz zurück. Ann verweilte am längsten, abwechselnd den Sonnenaufgang betrachtend und Forson von der Seite her forschende Blicke zuwerfend. Sie drehte sich schließlich um, und Forson sagte scharf: »Das genügt nicht. Sie haben hingesehen, aber keiner von Ihnen hat ihn bewundert.« »Hängt das mit dem Plan zusammen, den Sie noch nicht haben?« fragte Leblanc. »Es hängt mit dem Grund zusammen, warum noch kein Plan von Stab B erfolgreich war. Der Stab versteht die Bewohner Kurrs nicht. Er wird sie auch so lange nicht verstehen, bis sich die Mitarbeiter gelegentlich die Zeit nehmen, einen Sonnenaufgang zu bewundern.« »Ich sollte Sie wohl um eine Erläuterung dazu bitten, aber wir haben wirklich Wichtigeres zu tun, als uns mit Rätselspielen abzugeben.«
»Ich erläutere es trotzdem«, sagte Forson. »Von meinem Platz aus kann ich eine ganze Kompanie von Wachen sehen, die auf der Mauer steht - und den Sonnenaufgang bewundert. Wenn die Bewohner sich so stark für etwas engagieren, ist der Stab verpflichtet, darauf zu achten. In jedem Fenster, das man von hier aus sehen kann, sind Gesichter dem Sonnenaufgang zugewandt. Wie viele Mitarbeiter sind gestern bei der Festvorstellung des Königs gewesen?« »Es sind stets mehrere.« »Als Berichterstatter, um Ihnen mitzuteilen, ob etwas Besonderes vorgefallen ist«, sagte Forson spöttisch. »Wie viele nehmen teil, weil sie Gefallen an den Vorstellungen finden?« »Beobachtung ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit«, wandte Leblanc ein. »Gestern abend erfuhren wir binnen Minuten nach dem Ende des Festes, was mit Tor geschehen war. Es war, soweit die Erinnerung aller reicht, das erstemal, daß ein König von Kurr vor aller Öffentlichkeit eine unkluge Handlung begangen hat, und es bedeutete, daß König Rovva außergewöhnlich schlechter Stimmung war, selbst für seine Verhältnisse. Sev ahnte etwas und schlug sofort Alarm. Aus diesem Grund haben wir nicht einen einzigen Mitarbeiter verloren.« »Haben Sie gehört, warum der König so unklug vorging?« erkundigte sich Ann. Leblanc sah sie fragend an. »Vorgestern nacht ist ein Flugzeug aus Larnor hierhergeflogen. Wace hat es geortet. Wir sind eben verständigt worden.« »Hierher? Nach Kurra?« »Es ist in der Nähe gelandet. Vermutlich im königlichen Reservat.« »Rastadt«, murmelte Leblanc. »Er ist hier, um den König auf uns zu hetzen.« »Der König war auf dem Rückweg von seinem Schloß am Meer«, fuhr Ann fort. »Er erreichte Kurra erst am späten Nachmittag. Das war der Anlaß für das Fest — um seine Rückkehr zu feiern. Kurz nach seinem Eintreffen begannen die Ruffs mit dem Porträt des Chefkoordinators Erkundigungen einzuziehen. Am späten Abend war der König immer noch so zornig, daß er vor der Öffentlichkeit den Kopf verlor und Kurrs größten Torrilspieler in ein Einhand-Dorf schickte. Tut mir leid, Chefkoordinator.« Sie lächelte süßlich. »Sie
sagten eben, Stab B verstehe die Bewohner Kurrs nicht?« Forson kam sich sehr lächerlich vor und schwieg. »Aber Sie verstehen sie«, fuhr Ann liebenswürdig fort. »Ich bin auf Ihren Plan neugierig. Wie lange brauchen Sie, um ihn auszuarbeiten?« »Ich habe keine Ahnung.« »Die erste Frage ist vor allem, wo er ihn ausarbeitet«, meinte Leblanc. »Er hat jetzt keine Zeit, eine Rolle zu übernehmen. Nicht, solange die Ruffs unterwegs sind. Wir könnten ihn an einen sicheren Ort schaffen, aber das hieße praktisch, ihn einzusperren. Er könnte nicht oft aus einem Fenster sehen, gleichgültig, wie sehr er Sonnenaufgänge bewundert. Nicht in Kurra, und auf dem Land wäre die Gefahr wohl noch größer, weil Fremde dort mehr auffallen. Außer — Kulturforschung. Können Sie malen? Ein Künstler kann überall hingehen, ohne befragt zu werden.« »Ich kann malen«, sagte Forson, »aber meine Technik kann sich mit der hier üblichen nicht messen. Außerdem kostete es Übung, bis ich die hiesigen Farben verwenden könnte. Meine ersten Versuche würden mit einem Fiasko enden.« »Ihre ersten Versuche müßten eben gelingen. Was bleibt sonst? Könnten Sie ein Torril spielen?« »Etwa so wie die Kinder im Musikerdorf — aber nur, wenn ich Zeit zum Üben hätte und ein ganz kleines Kind zum Vergleich herangezogen wird.« »Es sieht so aus, als müßten Sie in Kurra bleiben«, meinte Leblanc resigniert. »Das gefällt mir nicht. Wenn Haus für Haus durchsucht wird, müßten Sie ständig unterwegs sein, und gleichgültig, wie vorsichtig wir sind, besteht dann immer die Gefahr eines Fehlers.« »Müssen wir ständig mit ihm in Verbindung sein?« fragte Ann. »Nein. Nicht, wenn er an einem sicheren Ort ist. Es müsste aber eine Situation sein, wo sein Nichtstun kein Aufsehen erregt - wenn er schon nichts tun kann.« Forson zuckte zusammen. »Außerdem braucht er viel Muße, um seinen Plan auszuarbeiten«, fuhr Leblanc bitter fort. »Ich weiß genau den richtigen Ort«, sagte Ann. »Wir schicken ihn in ein Einhand-Dorf.« »Sehr komisch«, brummte Forson. »Und wenn da alles besetzt ist, hat König Rovva sicher noch ein freies Gästezimmer in seinem
Schloß.« Aber Leblanc nickte gedankenvoll. »Genau das Richtige. Einen sichereren Ort könnte man in ganz Kurr nicht finden. Sie würden ihn aber vielleicht zu einer Arbeit einteilen, und was kann er schon?« »Geben Sie ihm einen Beruf, mit dem das Dorf nichts anfangen kann.« Leblanc schnippte mit den Fingern. »Kammerdiener. In einem Einhand-Dorf kann kein großer Bedarf an Kammerdienern bestehen, und der Uniformrock hat Ärmel. Außerdem werden den königlichen Dienern die Köpfe rasiert. Das würde ihm als Verkleidung genügen. Er war Kammerdiener bei Hof und — wartet mal - und er hat eine Schüssel Sullux verschüttet. Jeder weiß, daß Sullux das Lieblingsgericht des Königs ist, und es zu verschütten, garantiert die sofortige Aufnahme in den Klub der Einhänder. Wenn das Dorf darauf besteht, daß er arbeitet, hat er eine Rechtfertigung dafür, daß er einen neuen Beruf lernen muß. Von den Obliegenheiten eines Kammerdieners muß er aber etwas verstehen. Wer könnte ihm das schnell beibringen?« »Clyde?« schlug Ann vor. »Holt ihn her. Wenn das - sagen wir - gestern nacht, gleich nach dem Fest, passiert wäre, könnte er sich praktisch heute am späten Nachmittag auf den Weg gemacht haben. Wir schicken ihn durch das Südtor. Die Wachen werden ihm den Rücken zudrehen. Ein EinhandDorf ist die ideale Umgebung für die Ausarbeitung seines Plans. Es ist praktisch Kurr in einer Nussschale. Kurr, in dem die Zeit still steht. Es gibt Leute aus allen Klassen, darun-ter eine große Anzahl, die persönlichen Kontakt mit König Rovva hatten. Der Chefkoordinator kann von ihnen lernen und seine Einfälle gleich ausprobieren.« »Vergeßt die Uniform nicht«, meinte Ann. »Versteht sich. Der Rock muß Übergröße haben. Sie tragen den linken Arm innerhalb des Rocks, und an die Schulter schnallen wir einen falschen halben Arm. Chefkoordinator, am besten fangen Sie gleich damit an, alles mit der rechten Hand zu tun.«
9 Forson nahm den gebückten, unsicheren Gang der Verbannten an und schlich bedrückt durch die halbdunklen Straßen. Es fiel ihm nicht schwer, so aufzutreten; er fühlte sich bedrückt und unsicher. Passanten wandten ihm den Rücken zu, Karren blieben stehen, bis er vorbeigegangen war, sogar die Kinder versteckten sich, wenn auch die Vorwitzigsten aus den Hauseingängen lugten. Ann Cory, wieder als alte Hexe verkleidet, humpelte vor ihm her, um ihm den Weg zu zeigen. Ab und zu sah er vertraute Gesichter auftauchen. Man hatte alle Mitarbeiter aufgeboten, um ihn sicher aus der Stadt zu geleiten, aber er hob den Blick nur, um Anns Spur zu folgen, und sah nur wenige von ihnen. Am Stadttor trat ein Wachtposten auf ihn zu, bemerkte den leer flatternden Ärmel und drehte sich verächtlich auf dem Absatz um. Forson schlurfte durch das Tor und die staubige Straße in Richtung Süden entlang. Methodisch setzte er einen Fuß vor den anderen und hielt den Blick auf den hochgewirbelten Staub geheftet. Er begegnete niemandem. Der Verkehr verließ die Straße und wartete sein Vorbeigehen ab. Wer ihn überholte, tat das auf den Feldern und schaute sich nicht um. Unter der Wärme der Spätnachmittagssonne wurde seine scharlachrote Livree feucht vom Schweiß und legte sich einen Überzug aus Staub zu. Die erzwungene Steifheit seines linken Arms quälte ihn. Sein rasierter Kopf juckte unbarmherzig. So harmlos diese Ablenkungen auch waren, er verfluchte sie, weil sie ihn an der Konzentration hinderten. Er hatte Stoff genug zum Nachdenken. Die Einhand-Dörfer waren kleine, isolierte Gemeinschaften, vom kurranischen Leben so wirksam abgetrennt, daß der Stab B mit ihnen nie etwas hatte anfangen können. Sie waren deshalb auch nie systematisch untersucht worden. Die IPB-Mitarbeiter sammelten zwar alle einlaufenden Informationen, wußten aber über das Leben in einem Einhand-Dorf nahezu nichts. Man wollte Forson im Auge behalten, bis er sein Ziel erreicht hatte, aber dort würde er auf sich selbst gestellt sein, in einer völlig fremdartigen Gesellschaft - als gesuchter Mann, auf
dessen Kopf eine Belohnung ausgesetzt war. Das einzige, wovon Forson etwas verstand, war die Kultur, und wie um alles in der Welt konnte man um der Kultur willen eine Revolution anzetteln? Malerei? Der Gouverneur mit seiner Gemäldesteuer war umgehend in ein Dorf verschickt worden. Musik? Die Kurranier waren ganz offensichtlich ein überaus musikbegeistertes Volk. Sie liebten die Musik leidenschaftlich, sie sangen herrlich, sie brachten großartige Interpreten hervor, aber - eine Revolution? Die kurranische Dichtkunst wirkte gekünstelt und degeneriert vielleicht das unvermeidliche Resultat eines Systems, in dem nur der Sohn eines Dichters wieder Dichter werden konnte, aber unter demselben starren System blieb die Malerei auf einsamer Höhe, hatten die Musiker den Gipfel schöpferischer Ausdruckskraft erreicht. Die einzigen Gedichte, die ihm zu Ohren gekommen waren, befaßten sich mit der Lobpreisung des Königs oder der Natur. Würde es ihm gelingen, einen Dichter zur Abfassung satirischer Verse zu überreden, in denen die Bösartigkeit des Königs gefeiert wurde? Vermutlich nicht, und die augenblickliche Verbannung des ersten Dichters dieser Gattung in ein Einhand-Dorf würde Nachahmer sicherlich nicht ermutigen. Die Antwort mochte bei den Liedern liegen. Ein Lied, das wirklich populär wurde, konnte mehr Schaden anrichten, als ein Dutzend ungerechter Steuern, aber er hatte keine Ahnung, wie er Lieder beschaffen sollte, die sich dafür eigneten. Kein Kurranier würde sie zu schreiben wagen, und Forson bezweifelte, ob er selbst dazu fähig sein würde. Verärgert versuchte er seine Phantasie anzustacheln. Eine Karikatur des Königs, wie er den Arm eines Mannes abhackte? So etwas mußte hervorragende Arbeit sein, wenn es sich mit den übrigen Erzeugnissen der Künste messen wollte, und um genügend Kopien für wirksame Verbreitung zu beschaffen, mußten sie in Massen hergestellt werden. Die Regel des einzigen. Verdammt! Eine plötzliche Ahnung brachte Forson zum Stehen. Ein Wagen näherte sich von hinten, verließ aber im Gegensatz zu allen anderen nicht die Straße, um ihn zu überholen.
Er wagte sich nicht umzusehen. Er setzte sich wieder in Bewegung, beschleunigte den Schritt, aber das Knarren und Quietschen des Fahrzeugs wurde immer lauter. Das häßliche Esg überholte ihn, und Forson trat zur Seite. In diesem Augenblick hielt der Wagen. Forson drehte sich langsam um. Es war ein typisch kurranischer Wagen mit zwei Rädern und einem aus zusammengefügten Brettern geformten Kutschbock. Der Fahrer saß auf einem Brett, den Führstrick in der Rechten, die Augen auf die Straße gerichtet. Im Karren lag ein einzelner Gegenstand, reichgeschnitzt und poliert, mit Gold verziert. Ein Torril. Forson sah sprachlos vom Torril zum Fahrer und entdeckte dann erst den leeren linken Ärmel, der in der Brise flatterte. Mühsam auf die Rechte gestützt, stieg Forson in den Karren. Tor, abends zuvor ein großer Musiker, jetzt ein elender Ausgestoßener, zerrte am Führstrick. Das Esg setzte sich in Bewegung. Drei Tage und Nächte zogen sie dahin. Bei Nacht gingen sie abwechselnd vor dem Esg mit einer brennenden Fackel her, der eine gehend, der andere dösend, bis das erschöpfte Tier in den Sielen einschlief. Forson übernahm mehr als seinen Anteil beim Fußmarsch nachts und lenkte tagsüber die meiste Zeit den Karren. Tor verbrachte die wachen Stunden von Schmerzen gepeinigt. Er beklagte sich nicht, aber sein erschreckend blasses Gesicht, seine verkrampften Glieder und zusammengebissenen Zähne verrieten unbeschreibliche Qualen, und im fiebrigen Schlaf stöhnte und wimmerte er ununterbrochen. Sie bekamen Nahrung und Wasser, wenn sie danach verlangten. Dazu brauchten sie nur an einem Bauernhaus oder auf einer Dorfstraße stehenzubleiben. Nach kurzer Zeit stellte man Korb und Krug in ihren Karren. Der Spender eilte sofort wieder davon. Während der langen, mühsamen Fahrt sprach niemand mit ihnen, und auch sie sprachen mit keinem, nicht einmal miteinander. Am Nachmittag des vierten Tages näherten sie sich einer der Garnisonen des Königs. Die hohen Steingebäude, in der ländlichen Umgebung fehl am Platz erscheinend, waren an den Hauptstraßen errichtet worden, je eine Tagesreise voneinander entfernt. Jedesmal hatte sich die Wache bei ihrem Erscheinen umgedreht, aber dieser Mann trat auf die Straße hinaus und hob weisend die Hand. Sie
verließen die staubige Landstraße und folgten undeutlichen Fahrspuren, die sich in eine Gebirgsgegend schlängelten. In der Abenddämmerung sahen sie auf ein Märchenbuchdorf hinunter, das friedlich in einem tiefen Tal lag. Auf den Hängen grasten Tiere, Obstgärten zierten die Landschaft, und der ebene Talboden war in Gärten und Getreidefelder aufgeteilt. Die Häuser bestanden im Gegensatz zu denen anderer Dörfer aus behauenen Steinen. Die glatten, weißen Flächen schimmerten sogar in der Düsternis. Blumen rahmten Straßen und Wege ein. Der Anblick war faszinierend, und Forson betrachtete ihn voll Entsetzen. Der Ort war so groß. Erst später fiel ihm ein, daß dieses Dorf nur eines von vielen war. Auf der anderen Seite des Tals stand eine Reihe von Gebäuden hoch oben am Hang, den Ort überblickend. Ein weiteres, einzeln stehendes Gebäude erhob sich direkt vor ihnen, wo die Fahrspur ins Tal hinunterführte. Tor brachte den Karren zum Stehen, und sie warteten, bis das Esg zu stampfen und ungeduldig zu schnauben begann. Schließlich tauchte ein Mann auf. Sie wandten die Blicke ab, während er sie betrachtete, angeekelt erklärte: »Ein Musiker, ein Kammerdiener«, und sie vorwärtswinkte. Erst als er sich abgewandt hatte, wagte Forson einen Blick hinterherzuschicken. Sein erster Eindruck hatte nicht getrogen: Dieser Mann besaß noch beide Hände. Als sie sich dem Ort näherten, hinkte ihnen ein älterer Mann entgegen, ein Einarmiger, der sie stumm nickend begrüßte und durch die Dorfstraßen führte. Auf der anderen Seite des Ortes hielten sie vor einem neuen Haus. Dahinter wurde schon wieder ein Gebäude errichtet. Das Dorf breitete sich aus. Sie stiegen von dem Wagen. Das Gebäude war typisch kurranisch, besaß aber an der Straßenseite eine lange Reihe von Türen. Ihr Begleiter öffnete eine davon und zeigte hinein. Forson betrat den kleinen Raum, der mit Strohsack, Stuhl, Tisch und einem Satz handgeschnitzter Eß- und Trinkschalen ausgestattet war. Zum erstenmal ergriff der alte Mann das Wort. »Muß Ihr Arm behandelt werden? Wir haben einen Arzt.« »Er braucht keine Behandlung«, sagte Forson.
»Sie haben Glück. Gewöhnlich heilt ein Arm nicht so schnell.« Forson gab zu, daß er sich glücklich schätzen durfte. Die Dorfgouverneure wünschten ihn zu begrüßen, sobald er sich in der Lage fühle, sie zu empfangen, erklärte der alte Mann. Forson dachte ernsthaft nach und erwiderte, daß er sie empfangen wolle, wann sie Lust hätten. Der alte Mann bedankte sich und betrat das Nebenzimmer, um mit Tor zu sprechen. Kurze Zeit später erschien eine Gruppe von Dorfältesten, um ihn im Namen des Ortes willkommen zu heißen. Sie erklärten bedauernd, daß ein Kammerdiener, selbst ein solcher des Königs, in einem Einhand-Dorf seinen Beruf nicht ausfüllen könne. Es gebe Beschäftigungen mannigfaltiger Art, die jedem offenstünden. Man brauche Leute, die den Maurern an dem neuen Gebäude Material zutrügen. Jene, die Felder bestellten oder sich um die Herden kümmerten, könnten stets Hilfe gebrauchen. Es gebe Handwerker, die ihn vielleicht als Anlernling aufnehmen würden, und manchmal brauchten auch Künstler Gehilfen für niedrige Arbeiten, wenngleich ihr Eid es ihnen verbiete, das Geheimnis ihrer Fertigkeiten an Außenseiter zu verraten. Forson habe die Wahl, sich für irgendeine Arbeit zu entschließen, er brauche aber nichts zu tun, wenn er nicht wolle. Niemand werde sich einmischen, und das einzige Gesetz des Dorfes schreibe vor, daß auch er sich nirgends einmischen dürfe. Der Große König liefere in seiner edlen Großmut alles, was dem Dorf mangele. Die Überschüsse von Feldern und Herden und alles, was die Handwerker herstellten und was nicht im Ort gebraucht würde, verkaufe der König, und ein Teil des Geldes fließe ans Dorf zurück, damit man sich auch Luxus leisten könne. Es sei ein gutes Leben, erklärten sie feierlich, als müßten sie sich selbst überzeugen. Forson könne zwar untätig bleiben, man meine aber doch, daß er glücklicher sein werde, wenn er sich beschäftige. Forson bedankte sich für ihren Rat. Im Nebenraum war der Arzt bei Tor, und sie schienen den qualvollen Schreien ebenso gern zu entrinnen, wie Forson sie gehen sah. Sie beschrieben kurz den Ablauf des Lebens im Dorf und entfernten sich. Forson folgte ihren Anweisungen und ließ sich als erstes Kleidung
aushändigen. Er untersuchte sie besorgt, aber die Oberkleidung war lose genug, um seinen Arm zu verbergen, so dass seine Verkleidung ausreichte. Die Gewänder bewiesen, daß der Große König zwar großzügig sein mochte, aber mit Stoff nicht verschwenderisch umging: die linken Ärmel waren alle halblang. In der Gemeinschaftsküche in der Mitte des Ortes füllte eine einarmige Frau stumm Forsons Eß- und Trinkschalen. Er trug sie zu seiner Unterkunft zurück und aß langsam. Das Gesetz der Nichteinmischung ließ Gutes für seine Sicherheit erhoffen, und das Recht auf Faulheit garantierte ihm die Zeit, die er für die Ausarbeitung seiner Pläne brauchte. Die entscheidende Frage schien nur zu sein, ob er in diesem Dorf der lebenden Toten Pläne hervorbringen konnte, die unter den Lebenden von Wert waren. Die Gebäude hoch am Berg waren Schlafhäuser, und in der Morgendämmerung kam ein langer Zug einarmiger Frauen herunter, um in der Küche zu arbeiten. Zweimal täglich gaben sie Essen aus, und die Männer trugen es in ihre Unterkünfte. Gesellschaftlichen Kontakt zwischen Frauen und Männern schien es überhaupt nicht, solchen zwischen Männern nur selten zu geben. Handwerker arbeiteten paarweise, wenn eine Aufgabe zwei Hände verlangte, aber ihr Gespräch blieb auf Worte der Unterweisung, eine gemurmelte Frage, einen bestätigenden Blick beschränkt. Es war ein Ort stummer Gespanntheit. Eine Versammlung der Namenlosen. Namen gehörten der Vergangenheit an, und die Vergangenheit lag im Innern der Bewohner verschlossen. Forsons Entschluß, sich sofort an die Arbeit zu machen, bestritt einen kurzen, aber ungleichen Kampf mit seiner Neugierde und unterlag. Mehrere Tage lang wanderte er von Werkstatt zu Werkstatt und beobachtete die stummen Handwerker. Begabte Metallschmiede formten wunderbar ziselierte Gegenstände aus glänzendem Kupfer und Silber für den Handel des Königs. Weber, zu zweit an einem Webstuhl, stellten schöne Teppiche und Stoffe her. Jedes Muster war eine eigene Schöpfung. Andere flochten aus Stroh elegant geformte Körbe und Matten. Es gab Holzschnitzer und Schuster und Töpfer und Schreiner und Maurer.
Nur die Arbeit der Künstler enttäuschte, was Forson lange Zeit unbegreiflich blieb. Er schloß endlich, daß die kurranische Kunst eine Kunst von vertrauten Bildern und Leuten war, wofür es in einem Einhand-Dorf keinen Platz gab. Bildliche Darstellungen von dem trostlosen Leben, das zu führen sie gezwungen waren, hätten die Bewohner nicht ertragen können. Sie lebten mit ihren Erinnerungen, und kein Künstler vermochte die Erinnerungen eines anderen Menschen wiederzugeben. Von allen Häusern Kurrs waren nur die weißgekalkten Wände der Einhand-Dörfer bar jeder Kunst. Ein älterer Maler hatte die Wände seines Arbeitsraumes mit Bild um Bild immer desselben kleinen, blumenverzierten Häuschens geschmückt. Einmal im Sommer, dann im Winter oder im Frühling, immer dasselbe Haus. Einen Markt für solche Werke gab es nicht. Bürger, die Gemälde über ihre eigene lebendige Gegenwart kaufen konnten, interessierten sich nicht für Mementos an die tote Vergangenheit irgendeines Mannes. Als Kunstkritiker fand Forson die Bilder enttäuschend, als menschliches Wesen rührte ihn ihre Tragik zu Tränen. Am stärksten interessierte sich Forson für seinen Nachbarn Tor, der ebenfalls nicht arbeitete. Das Torril stand in der Mitte seines winzigen Zimmers. Tor saß in der Nähe auf einem hölzernen Hocker, unauslöschliches Leid in seinem jungen, gutaussehenden Gesicht eingegraben. Mehrmals glaubte Forson den Klang einer gezupften Saite zu hören, aber er konnte sich nie vergewissern. Ein Maler konnte auch dann noch malen, wenn man ihm den linken Arm nahm. Ein Sänger konnte singen, ein Dichter Worte aneinanderfügen. Ein einarmiger Handwerker vermochte gute Arbeit zu leisten. Von der größten Tragödie war Tor betroffen. Es mußte möglich sein, auch mit einer Hand Torril zu spielen, Musik einfacher Art und Melodieführung, aber für einen Virtuosen von Tors Rang mußte das weitaus schlimmer sein, als gar keine Musik hervorzubringen. Als Forson bemerkte, daß Tor nicht regelmäßig aß, verstieß er gegen das Grundgesetz des Dorfes und mischte sich ein. Er holte Tors Schale,
wenn er zur Küche ging. Tor nahm das Essen mit dankendem Nicken entgegen, verzehrte aber wenig. Zum erstenmal sprachen sie miteinander, als Forson, einem plötzlichen Einfall folgend, um Musikstunden bat. »Könnten Sie mir das Spielen beibringen?« fragte er. In Tors Gesicht flackerte Interesse auf, um sofort wieder zu erlöschen. »Nein«, erwiderte er knapp. »Ich könnte Ihnen gegenübersitzen«, sagte Forson. »Ihre Hand auf der einen, meine auf der anderen Seite. Wir könnten gemeinsam spielen.« »Das wäre unmöglich.« Selbst in einem Dorf der lebenden Toten blieb Tor seinem Musikereid treu. Ein junger Holzschnitzer formte eine große Trinkschale. Am Innenrand schnitzte er Trauben von Kwim-Beeren, einer Frucht, us der man einen der süßen, leichten Weine Kurrs preßte. Jeden Tag entstand eine Beere mehr aus dem glatten Holz. Ein Tag, eine Beere. Ein Blatt dauerte viel länger. In einer Traube gab es zehn bis fünfzehn Beeren, und am Ende würden an der Innenseite mindestens zehn von Blättern umgebene Trauben zu sehen sein. Vielleicht würde er auch am Boden und an der Außenfläche schnitzen. Forson schätzte, daß der Schnitzer mit der Schale zwei Jahre oder länger beschäftigt sein würde und entfernte sich kopfschüttelnd. So wurde in einem Einhand-Dorf die Zeit gemessen. Eine Beere am Tag im Halbrelief an einer Trinkschale. Oder, auf einem Gemälde, eine Blume an der Fassade eines Gebäudes, mit beinahe mikroskopisch winzigen Pinselstrichen zum Leben erweckt, das jedes Blütenblatt unter Tautropfen erzittern ließ. Eine Zeile Lyrik, für die tausend Wörter nach ihrem Sinn gemessen, gewogen und verworfen wurden. Tag für Tag versuchte Forson sich diese Menschen, vor allem die außerhalb der Einhand-Dörfer wohnenden, als Revolutionäre vorzustellen, aber es wollte ihm nicht gelingen. Er verwarf eine Idee nach der anderen und kehrte schließlich wieder zu dem Gedanken von einem allseits beliebten Lied zurück. Das Schicksal hatte ihn mit einem großen Musiker zusammengeführt.
Vermochte Tor die Musik zu einem satirischen Lied zu schreiben? Ein Versuch erschien lohnend. Nach mühsamer Arbeit sah Forson ein, daß er die Dichter nicht von ihren halb vergessenen Sonnenuntergängen und verblassten Blumen abbringen konnte. Er mußte den Text selbst verfassen. Dieser sah so aus: Es war einmal ein braver Mann, den kam gar schnell das Niesen an. Nichts Böses hatte er gewollt, jedoch: >Sein Arm, der rollt!< schrie König Rovva dann spontan. Er schrieb die Zeilen auf einen Fetzen Pergament und brachte sie Tor. »Haben Sie schon Musik für ein Lied geschrieben?« fragte er. Tor riß seinen Blick aus einem bodenlosen Abgrund seiner Seele und starrte Forson mürrisch an. »Ich habe ein paar Zeilen hier, die ich singen lassen möchte«, sagte Forson. »Könnten Sie eine Melodie dazu komponieren?« Tor griff mit der rechten Hand nach dem Pergament. Er las langsam den Text, während ihn Forson nervös beobachtete, Plötzlich zuckte Tors Kopf nach hinten. Er starrte Forson mit weit aufgerissenen Augen an. »Hochverrat!« stieß er hervor. Forson nahm das Pergament hastig an sich und kehrte in seine Unterkunft zurück, wo er es verbrannte und die Asche zu Pulver zerrieb. Wie kann man ein Land zur Revolution treiben, wo selbst die Opfer der brutalen Grausamkeit des Königs beim ersten Hauch von Hochverrat erbleichen? dachte er. In der Dunkelheit pflegte er sein Zimmer zu verlassen und durch die Landschaft zu stolpern, zu dem winzigen Mond hinaufzustarren und vergeblich nach einer Eingebung zu suchen, nach einer Idee, einer Tatsache, nach irgend etwas, woraus sich ein Plan entwickeln konnte. Mit jedem Tag entstand an der Trinkschale des Holzschnitzers eine neue Beere, mit jedem Tag schienen wieder ein paar Haare an Forsons Schläfen grau zu werden.
Jeden Augenblick konnte die Nachricht eintreffen, daß sich der Stab B reorganisiert hatte. Er hatte keinen Plan, und eine brauchbare Eingebung schien so fern zu sein wie der kleine Mond von Kurr.
10 Sie kamen einzeln und paarweise, die meisten zu Fuß, betäubten Ausdrucks, erschöpft, vom Schmerz verkrampft. Neuankömmlinge. Als das letzte Zimmer eines Schlafhauses besetzt war, stand ein neues Gebäude bereit und für das nächste war das Fundament gelegt. Eines entsetzlichen Tages kamen zehn Personen auf einmal. Die Dorfältesten empfingen sie ungerührt und beschleunigten die Arbeiten am nächsten Neubau. Forson hielt sich einen kurranischen Monat, siebenunddreißig Tage, im Ort auf, bevor er eine Frau eintreffen sah. Ein Ältester empfing sie mit dem gewohnten stummen Mitgefühl und wies ihren Karren zur Frauenunterkunft am Berg. Als sie an Forson vorüberkamen, stellte er fest, daß sie mittleren Alters war, ein vom Wein verwüstetes Gesicht hatte und schließlich eine kleine Stupsnase besaß, deren Form er nie hatte vergessen wollen. Ann Cory, B 627, warf ihm heimlich einen Blick zu und blinzelte ihn an. Forson folgte in einiger Entfernung und beobachtete den Ältesten, als er ihr ein Quartier anwies. Er traf sich mit ihr nach Einbruch der Dunkelheit. Sie gingen miteinander im schwachen Mondschein auf einen Hügel, setzten sich auf den Boden und schauten auf das tief verschattete Tal und den Ort hinunter. Im Haus des königlichen Beauftragten, des zweihändigen Mannes mit dem verschlagenen Gesicht, der Tor und Forson so angewidert empfangen hatte, brannte eine Kerze, aber sein Haus am anderen Ende des Tals war weit vom Ort entfernt und wandte ihm die Rückseite zu, wie auch der Beauftragte selbst, außer am Abrechnungstag, wenn er die Verladung der Überschüsse beaufsichtigte. Im Ort sah man selten Lichter, und wenn sie bis spät in die Nacht brannten, verkündeten sie gewöhnlich Krankheit oder Tod. »Ein düsteres Bild«, meinte Ann. »Ein entsetzlicher Ort«, sagte Forson. »Wenigstens haben Sie die Befriedigung vor sich, diesem Treiben ein Ende machen zu können.« Verwirrt wechselte Forson das Thema. »Wie steht es draußen?« fragte er unsicher.
»Unklar. Rastadt wußte mehr, als wir dachten, und es hätte beinahe ein paar Katastrophen gegeben, aber wir haben uns durchgemogelt. Paul fügt die Bruchstücke wieder zusammen. In Kurra werden wir bald wieder aktionsbereit sein, aber in den ländlichen Bezirken dauert es länger. Der König hat überall seine Ruffs auf die Jagd geschickt, und jeder Fremde ist automatisch verdächtig. Nur in einem Einhand-Dorf nicht.« »Haben Sie von Rastadt direkt gehört?« »Nein. Wir haben, Ihrem Rat folgend, alle Verbindungen unterbrochen. Er weiß natürlich, daß wir in den Untergrund gegangen sind, und er weiß auch, daß der König nicht einen einzigen Mitarbeiter gefaßt hat - wenn der König das zugibt. Selbst wenn er es tut, glaubt ihm Rastadt vielleicht nicht, und da der Rat des Koordinators das ganze Land in Aufruhr versetzt hat, ohne greifbare Ergebnisse zu bringen, wird der König möglicherweise auch Rastadt keinen Glauben mehr schenken. Eine einmalige Situation. Die beiden sind einander würdig. Was haben Sie für uns?« »Nicht viel«, gab Forson zu. Er berichtete von seiner Idee mit dem Lied und von Tors Reaktion. »Das hätte sowieso nicht geklappt«, erklärte sie sofort. »So etwas entsteht spontan, wenn die Leute dafür reif sind. Selbst wenn Sie so ein Lied produzieren könnten, würde jeder Zuhörer sofort nach den Häschern rufen. Zuerst müssen wir aus der Revolution eine Notwendigkeit machen. Sobald wir das erreicht haben, werden die Leute beim Gedanken an Hochverrat nicht mehr schockiert sein.« »Verstehe«, sagte Forson bedrückt. »Das neunte Gesetz des Amtes, nehme ich an.« Er betrachtete ihr Profil und dachte wehmütig an das schöne, junge Mädchen, das sie im Stützpunkt gewesen war. Sie schien seine Mißbilligung zu spüren. »Eine schreckliche Maske«, sagte sie. »Meine Schultern wirken zu breit, und ich muß dauernd gegen die Versuchung ankämpfen, die Linke zu bewegen. Um ein Haar hätte man mir den Kopf rasiert. Im letzten Augenblick ermittelte Sev, daß eine Aufwartefrau im Schloß nicht rasiert wird, sondern die Haare nur ganz kurz geschnitten
bekommt. Ich kam mit einer Perücke davon. Sie ist unbequem, und auf eine Rauferei, bei der an den Haaren gezogen wird, kann ich mich nicht einlassen, aber wenn ich hier weggehe, brauche ich mich wenigstens nicht zu verstecken, bis meine Haare wieder nachgewachsen sind. So oder so, hier bin ich.« Er küßte sie — küßte eigentlich die Erinnerung an ein Mädchen mit goldenem Haar, raschelndem Kleid und seltsam exotischem Duft, aber das war Ann Cory, B 627, eine IPB-Mitarbeiterin im Dienst. Ihre weichen Lippen erwiderten seinen Kuß einen Augenblick, dann riß sie sich los. »Ich soll Ihre Pläne mit Ihnen besprechen und Ihnen erklären, was möglich ist und was nicht«, sagte sie brüsk. »Was haben Sie vorzuschlagen?« »Nun - ich habe mir über Tor Gedanken gemacht«, sagte er stockend. »Was ist mit ihm?« »Er war der größte Torrilspieler in Kurr - eine Art Nationalheld, hat jemand gesagt.« »Ja. Das war er.« »Und der König beging den folgenschwersten Fehler, der jemals einem König unterlaufen ist, seit der Stab B hier eingegriffen hat, als er ihm in aller Öffentlichkeit den Arm abschlagen ließ.« »Mhm - vielleicht. Ich möchte mich nicht für alle vierhundert Jahre der Stabsgeschichte verbürgen, aber für König Rovvas Verhältnisse war das außerordentlich dumm.« »Gibt es nicht eine Möglichkeit, Tor zum Symbol all dessen zu machen, was am Regime des Königs übel ist?« »Zu spät. Ein Musiker kann Nationalheld sein, solange er spielt, aber man vergißt ihn schnell, sobald er aufhört. Es gibt andere Torrilspieler, die fast ebenso gut sind wie Tor, und einige könnten ihn vielleicht sogar übertreffen. Am Tag nach dem Vorfall hätte eine geringe Möglichkeit bestanden, die Leute aufzuwiegeln, wenn Tor mitgemacht hätte, was ich bezweifle. Jetzt gibt es einen neuen Tor.« »Aha. Wir haben es hier mit einem Volk zu tun, das so leidenschaftlich ästhetisch ist, daß es moralischer Häßlichkeit gegenüber blind bleibt. Die Handlungen des Königs sind häßlich. Seine Regierung
und die Art, wie er sie ausübt, sind häßlich, aber die künstlerische Schönheit blüht, und das ist es, was die Leute wollen.«' »Ein bißchen zu hoch für mich, aber es wird wohl richtig sein.« »Hat man sich beim Stab je überlegt, warum der König diese Einhand-Dörfer eingerichtet hat?« »Die Dörfer sind schon älter als der Stab, König Rovva hält nur die Tradition hoch, wenn auch mit besonderem Eifer. Unter seiner Herrschaft hat sich die Zahl ihrer Bewohner um ein Vielfaches vergrößert.« »Die bloße Tatsache, daß er sie so großzügig unterhält, beweist schon, daß er verwundbar ist«, meinte Forson. »In Wirklichkeit dienen die Dörfer nämlich als Verstecke für die Opfer der Häßlichkeit des Königs.« »Das stimmt. Befaßt sich der Plan damit? Will er die Häßlichkeit offen zeigen?« »Ich bezweifle, ob die Leute sie sehen würden. Sie haben eine geistige Sperre. Tatsächlich war sie ja immer für jeden, der sie sehen wollte, offen zu erkennen. Wenn die Bürger wirklich über die Zahl der einarmigen Opfer nachdächten, die zu den Dörfern pilgern, müßten sie zu bedeutsamen Schlußfolgerungen kommen. Sie wenden sich aber nur ab. Andererseits sind sie bereit, dem König zu trotzen, wenn er sich gegen ihre Liebe zur Schönheit vergeht.« »Woraus schließen Sie das?« »Aus dem Verhalten der Frau, die mich versteckte, als ich in Kurr ankam. Ich gab ihr die Robe des Priesters. Weil sie schön war, trotzte sie den Gesetzen des Königs, um sie behalten zu können - auch unter Gefahr, ihr Leben dabei zu verlieren. Als Arbeitshypothese: Wenn die Häßlichkeit des Königs mit der Liebe eines Bürgers zur Schönheit in Widerstreit tritt, wird der Bürger dem König die Stirn bieten.« »Was sollen wir tun? Eine Million Priestergewänder bestellen?« Forson schwieg. »Ich habe die Pointe leider nicht begriffen«, sagte sie. »Ich vielleicht auch nicht. Mir ist eben klargeworden, daß ich wirklich eine Idee habe, aber ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Gibt es in Kurr ein Musikinstrument, das man mit einer Hand spielen kann?«
»Mir fällt keines ein. Wozu brauchen Sie es?« »Für Tor. Der Mann ist ein musikalisches Genie, und der Verlust der Musik zermürbt ihn. Ich möchte ein Instrument finden, das er spielen kann.« »Ich glaube nicht, daß es dergleichen gibt. Nicht auf künstlerischem Niveau jedenfalls. Worauf haben Sie es abgesehen?« »Vorerst noch auf gar nichts. Ich möchte Tor einfach ein Instrument zum Spielen geben. Was dann passiert, hängt davon ab, was er damit anfängt.« »Und das nimmt ihre Zeit in Anspruch?« fragte sie scharf. »Ein Instrument für Tor?« Die Vehemenz ihrer Frage überraschte ihn. »Nicht direkt«, erwiderte er. »Ich möchte aber gerne herausfinden -« »Sie möchten wissen, ob er anpassungsfähig ist, ein anderes Instrument zu erlernen?« »Das müßte ich wissen, bevor ich —« »Für so unwichtig halten Sie die Aufgabe von Stab B? Männer und Frauen haben täglich ihr Leben riskiert, nur um zu gegebener Zeit Ihre Pläne ausführen zu können. Paul arbeitet wie ein Wahnsinniger an einem neuen Nachrichtensystem, damit wir schnell handeln können, sobald Sie das Zeichen geben. Der Stab hat Besseres von Ihnen verdient, als dieses - dieses Grübeln über den seelischen Zustand eines ehemaligen Musikers. Ein edles, menschliches Gefühl, sicher, aber was bedeutet Tor dem Stab?« Sie stand plötzlich auf, ging ein Stück den Hang hinunter und schaute auf das Tal hinab. »Alles - glaube ich«, antwortete er ruhig. »Verzeihen Sie«, sagte sie. »Ihre Ausbildung war anders als die unsrige. Sie sehen natürlich die Dinge auch anders. Wir hätten erkennen müssen - das Amt hätte erkennen müssen -, was das bedeutet, aber Sie wirkten so wach, so phantasievoll, und aus Ihren Reden entnahmen wir -« »Ann!« entfuhr es Forson. »Ich werde die >Regel des einzigem in Anspruch nehmen!« Sie fuhr herum und starrte ihn an.
»Das können Sie nicht!« sagte sie erschrocken. »Nicht so ohne weiteres. Sie müssen der Chefzentrale den Vorschlag unterbreiten, genau erklären, was Sie vorhaben und warum es für Ihren Plan unerläßlich ist, warum es auf andere Weise nicht geht und welche technologischen Auswirkungen es vermutlich haben dürfte. Die Chefzentrale wird das Ersuchen gründlich prüfen und vielleicht ein Dutzend ergänzender Berichte anfordern, um es dann auf ein paar Jahre zu den Akten zu legen. Bis es sich dazu entschließt, Ihre Bitte abzulehnen, ist Ihnen eine bessere Methode eingefallen, die das unnötig macht. Noch nie hat jemand die Regel beansprucht!« »Ich bin von der Chefzentrale abgeschnitten«, sagte Forson. »Ich kann meinen Vorschlag nicht zur Genehmigung vorlegen, aber da ich hier das Kommando führe, bin ich verpflichtet, Notmaßnahmen zu ergreifen, wenn ich es für erforderlich halte, und im Augenblick ist es das Dringendste, für Tor ein Instrument zu finden. Ich werde ihm eine Fanfare geben.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Sie Narr! Haben Sie nicht wenigstens eine vage Ahnung davon, welche Zahl von technologischen Neuerungen eine Fanfare bedingen würde?« »Eine primitive Fanfare«, sagte Forson geduldig. »Eine einfache Fanfare, nicht eine Trompete mit Ventilen. In irgendeiner Entwicklungsstufe ihrer Musik bringen die meisten Welten eine Variante davon hervor, und sie kann ein großartiges Instrument für künstlerische Zwecke sein. Man braucht nur ein Metallrohr in die richtige Form zu bringen. Wenn die kurranischen Metallhandwerker wissen, wie man ein Rohr herstellt, würde ich keine Neuerung bringen, sondern nur einen neuen Verwendungszweck für etwas, das sie schon besitzen.« Er machte eine Pause. »Vom Mundstück vielleicht abgesehen. Es ist das Mundstück, das ein primitives Lärminstrument zu einem künstlerischen Instrument macht. Merkwürdig, daß die Kurrianer keine Blasinstrumente besitzen. Trotzdem - Fanfare und Trompete entwickeln sieh aus dem Horn, und die ersten Hörner sind meist Tierhörner. Alle Tiere, die ich auf diesem Planeten gesehen habe, sind hornlos. Manche primitiven Völker haben aber eine Muscheltrompete. Gibt es auf Gurnil Lebewesen mit einer Schale, die man zu
musikalischen Zwecken gebrauchen könnte?« »Leben Sie wohl«, sagte sie. »Mit der Rückkehr eilt es nicht. In einem Einhand-Dorf wird nicht kontrolliert, wann man zu Bett geht. Wenn wir nachts umherlaufen wollen, ist das unsere Sache. Dieses Gesetz der Nichteinmischung ist sehr nützlich.« »Ich gehe. Ich bin nur hergekommen, um Sie zu sehen — um mir Ihre großartigen Pläne abzuholen. Ich werde Paul sagen, dass Sie zu angestrengt damit beschäftigt sind, einen deprimierten Musiker zu pflegen, um für etwas anderes Zeit zu haben. Wenn ich schnell laufe, kann ich vor dem Hellwerden die nächste Station erreichen. Wir vom IPB-Amt müssen nämlich arbeiten. Leben Sie wohl.« »Warten Sie doch!« drang Forson in sie. »Die Geschichte mit Tor -« »Ist sehr interessant, sicher. Sie werden Zeit genug für sie haben, weil es sehr lange dauern wird, bis wir Ihnen eine sichere Rolle verschaffen können. Inzwischen kann Ihnen hier ja nichts passieren.« Sie verschwand in der Nacht, und er sah ihr lange Zeit nach. Schließlich kehrte er in seine Unterkunft zurück. Die restlichen Stunden der Nacht verbrachte er sitzend auf dem Strohsack, in Gedanken verloren, und als es hell genug war, um arbeiten zu können, suchte er in den Abfallkörben nach Pergamentfetzen. Er saß den ganzen Vormittag über seinen Entwürfen. Als er einen angefertigt hatte, der ihn befriedigte, trug er ihn zu den Metallschmieden: die Zeichnung einer Fanfare.
11 Sie versammelten sich um ihn und studierten verwirrt den Entwurf. Im Hintergrund fauchten Blasebälge, klirrte Metall auf Metall, strömten Schmelztiegel Hitze und Rauch aus. Forson führte die Männer ins Freie, wo er sich wenigstens verständlich machen konnte. »Musikinstrument?« wiederholte einer von ihnen zweifelnd, als er mit seiner Erklärung fertig war. Das Rohr verstanden sie. Ja — an diesem Ende schmal und vorne größer werdend. Und von einer bestimmten Größe. Das begriffen sie alles. Aber - ein Musikinstrument? Wo waren die Saiten? Sie waren sofort bereit, den Versuch zu unternehmen. Der Entwurf war interessant, vor allem die sich verjüngende Röhre, und das war Grund genug, eines dieser merkwürdigen Dinge herzustellen. Wenn es fertig war, konnte er es benützen, wozu er wollte. Ihretwegen durfte er sogar Musik damit machen, wenn sie auch nicht einsahen, wie er das bewerkstelligen wollte. Sie machten sich also daran, eine Fanfare herzustellen. Drei Tage später besichtigte Forson das Ergebnis und war entsetzt. Sie hatten Verzierungen und Schnörkel angebracht, die allen Berechnungen Forsons über Länge und Verjüngung des Instruments Hohn sprachen. Da sie von der akustischen Funktion des Schallstücks nichts verstanden, hatten sie vorne eine massive, wunderbar polierte Scheibe angebracht. Ihr Mundstück war herrlich geformt, aber der Luftkanal fehlte. Forson verlangte mehrere grundsätzliche Änderungen, die sie sofort vornahmen, aber wieder so, daß er seinen Entwurf nicht wiedererkannte. Das fertige Instrument hatte kaum Ähnlichkeit mit seiner Vorstellung von einer Fanfare. Trotzdem glaubte er, sie könne genügen. Nachdem man sie vom Mundstück bis zum Schallstück mit zahlreichen Ziselierungen versehen hatte, trennte man sich widerstrebend von der Kostbarkeit. Alle Beteiligten gingen hinter ihm her, als er sie zu Tors Unterkunft trug. Tor, der über den Besuch nicht erfreut war, weigerte sich zunächst
eigensinnig, das Instrument anzurühren. Als er sich schließlich dazu bereit fand, hielt er es ungeschickt in der Hand, dachte eine Weile vergeblich über den Sinn nach und gab es achselzuckend zurück. Forson setzte es an die Lippen und blies. Der Ton war eigenartig weich - ob das an der seltsamen Form oder an dem unwissenschaftlich hergestellten Mundstück lag, konnte Forson nicht entscheiden —, aber das Instrument ließ sich mit verblüffender Leichtigkeit blasen. Forson, ein ausgesprochener Anfänger auf dem Gebiet der Musik, brachte ohne Schwierigkeiten eine Reihe von Tönen hervor, die man als Musik bezeichnen konnte. Tor lauschte verwundert. Er griff wieder nach der Fanfare, blies ein paarmal vergeblich hinein und brachte schließlich einen Ton zustande. Sein Gesicht hellte sich auf. Er blies von neuem, immer wieder. Mit rotem Gesicht produzierte er eine Reihe hoher Töne, entdeckte endlich die unteren Oktaven und begann nach einer Tonleiter zu suchen. Forson zog sich unauffällig zurück. Auf der Straße draußen kratzte sich einer der Metallschmiede am Kopf und starrte Forson mit unverhohlener Bewunderung an. »Wissen Sie«, sagte er, »so etwas möchte ich für mich auch haben.« In den Tagen danach trieben Tors Bemühungen, das Instrument zu meistern, Forson auf lange Wanderungen, damit er den abrupten, kreischenden Mißtönen entrann. Sie verursachten Gemurmel im ganzen Ort und brachten schließlich die Gouverneure zu Tors Schwelle. Das geheiligte Gesetz der Nichteinmischung schien an jammernden Fanfarenstößen zu zerschellen und Tor mit seinem Instrument in die Berge verbannen zu müssen. Diese Krise wurde vermieden, als Tors erstaunliche Fortschritte seine Kritiker zu begeisterten Bewunderern machten. Seine scharfen, keuchenden Töne wurden weich und lieblich, bildeten sanfte, vielgestaltige Melodienbögen, und Forson, der sich über die mögliche Korruption der Technologie Kurrs durch das Instrument keine Gedanken gemacht hatte, empfand tiefe Besorgnis für die unvermeidlichen Auswirkungen auf die kurranische Musik. Zuerst bemühte sich der Torrilspieler unablässig, die Fanfarentöne in die umgekehrte Fünftonleiter seines Torril zu pressen. Das Instrument weigerte sich jedoch hartnäckig, eine Reihe natürlicher Obertöne
hervorzubringen. Als Tor es jedoch zu beherrschen begann, kämpfte er nicht mehr gegen seine Eigenheiten an, sondern machte sie sich zunutze und erfand eine erstaunlich arteigene Musik für seine Fanfare. Er schrieb sie in einer rätselhaften Notenschrift nieder, die Forson auch dann nicht verstand, wenn er gleichzeitig den Tönen lauschte. Die Metallschmiede bauten Fanfaren für sich selbst, für ihre Nachbarn, für jeden, der sie haben wollte, und bald gab es ein halbes Hundert begeisterter Fanfarenbläser, die aus allen Teilen des Dorfes ohrenbetäubende Töne schmetterten. Die Schmiede konnten der Nachfrage kaum gerecht werden. Die lautstarke Kakophonie drang bis zum Haus des königlichen Beauftragten, der einen seiner seltenen Besuche im Dorf unternahm, um zu erkunden, was sich dort abspielte. Seine ursprüngliche Verwirrung machte dem Widerwillen Platz, als er die Zahl der Bewohner sah, die produktive Arbeit für Fanfarenblasen hingegeben hatte, und schließlich dem Zorn, als ihm einfiel, daß wertvolles Metall für diese Instrumente vergeudet wurde. Forson, der Schwierigkeiten befürchtete, stellte besorgt Erkundigungen an, aber die Ältesten versicherten ihm, das Dorf könne sein Metall verwenden, wie es wolle. Er begann Pläne für eine Fanfarenkapelle zu schmieden. Gemeinsame Musik war den Bewohnern Kurrs fremd, aber das Institut für Kulturforschung mußte in Kauf nehmen, die Tradition hier bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Fast ein Monat verging, bevor das Verschwinden Ann Corys im Ort Aufsehen erregte. Wegen der strikt beachteten Nichteinmischung dauerte es lange, bis man überhaupt bemerkte, daß sie nicht zugegen war. Schließlich besuchte man ihr Quartier, zog Erkundigungen ein und kam endlich zu dem Schluß, daß der letzte weibliche Neuzugang verschwunden war. Das gesamte Dorf machte sich auf die Suche in der nahen Umgebung. Ein Dorfältester erklärte Forson traurig, die meisten Einarmigen seien in der Lage, das Leben in einem Einhand-Dorf zu akzeptieren und mit der Zeit dort sogar glücklich zu werden. Es komme aber auch mal vor, daß der Verlust eines Arms schlimmere Wunden hinterließ, und ein schwaches Wesen sehe dann
im Tod die einzige Heilung. Außerdem bestehe natürlich immer die Möglichkeit, daß die Frau einen Unfall gehabt habe. Forson beteiligte sich gewissenhaft an der Suche. Als man nach mehreren Tagen von der Verschwundenen keine Spur gefunden hatte, kehrten die Gouverneure zu ihren Ratsversammlungen zurück, und das Leben im Dorf ging weiter wie bisher — mit Fanfaren. Unzählige Generationen hindurch waren die Künste in Kurr Monopol der Familien gewesen. Nur der Sohn eines Malers durfte die Malerei erlernen; nur der Sohn eines Musikers konnte Musik studieren. Forson hatte nicht voll begriffen, was eine solche Tradition für ein leidenschaftlich künstlerisches Volk an Entbehrungen bedeuten konnte, und der flammende Eifer, mit dem die Dorfbewohner zu den Fanfaren griffen, erstaunte ihn. Hier war ein neues Instrument, das keiner Familientradition unterlag. Jeder konnte es spielen! Man brauchte nur einen Lehrer, und Tor, ein großer Musiker, gierte nach Schülern. Das gesamte Dorf folgte dem Ruf. Die Arbeit wurde vernachlässigt. Die Schmiede stellten nur noch Fanfaren her. Beim nächsten Abrechnungstag war der Bestand an handwerklichen Erzeugnissen so gering, daß viele Wagen leer abfahren mußten. Der Beauftragte des Königs führte mit den Dorfgouverneuren eine stürmische Besprechung. Diese achtbaren Männer blieben eigensinnig dabei, daß die Dorfbewohner ein Recht auf Unabhängigkeit hatten, aber Forson wurde nachdenklich. »Wir wollen uns nicht den Unwillen des Beauftragten zuziehen«, sagte er zu Tor. »Nur die besten Musiker sollen sich während der Arbeitszeit mit Musik beschäftigen. Die anderen müssen ihren gewohnten Pflichten nachgehen und dürfen erst musizieren, wenn sie damit fertig sind.« »Der Beauftragte hat kein Recht, sich einzumischen, aber wir wollen auch nicht ohne Not seinen Zorn auf uns ziehen«, gab Tor zu. »Ich sorge dafür, daß sich nur die besten Musiker mit Musik beschäftigen.« »Ihre besten Musiker erreichen schon eine erstaunliche Fertigkeit. Was werden Sie mit ihnen anfangen?« »Sie werden weiterhin musizieren. Was sollen sie sonst tun?« »Musik ist da, um gehört zu werden«, sagte Forson. »Wenn Ihre
Bläser genügend Können und Selbstvertrauen besitzen, müssen Sie sie nach Kurra bringen.« Tor erhob entsetzt die rechte Hand. »Das würden wir nie wagen!« »Es ist nicht verboten«, meinte Forson ruhig. »Es gibt kein Gesetz, das uns auf ein Einhand-Dorf beschränkt. Wir sind nur hier, weil wir sonst nirgends arbeiten könnten. Bei den Bläsern wäre das anders. Die Musikliebhaber würden sie willkommen heißen, und ganz Kurr liebt die Musik.« »Niemand würde uns anhören!« »Kann jemand vermeiden, zuzuhören, wenn Musik für ihn gespielt wird? Diese wunderbare neue Musik soll nicht ungehört in einem Einhand-Dorf verhallen. Sie müssen nachKurra gehen!« »Das könnten wir nicht wagen.« »Ihren linken Arm können Sie nicht zweimal verlieren«, sagte Forson. »Nein. Wir können es nicht wagen.« Forson unterschätzte die Gefahren nicht, die den Fanfarenbläsern in Kurra bevorstanden. König Rovva war zu Neuerungen durchaus fähig, wenn sie ihn bei schlechter Laune erwischten. Diejenigen, die bereits einen Arm verloren hatten, mochten leicht auch ihre Köpfe dreingeben müssen. Trotzdem mußte das Risiko eingegangen werden, wenn die Infamie mit den Einarmigen ein Ende finden sollte. Er nahm sich vor, Tor wieder zu bedrängen. Die meisten Musikaspiranten kehrten zu ihren Pflichten zurück. Der Beauftragte des Königs war aber nicht zufrieden. Er wanderte immer wieder durch das Dorf und entdeckte bald, wer für die neue Plage verantwortlich war. Er sprach nie mit Forson, aber Forson begegnete ihm so oft, daß er sich bespitzelt fühlte. Schließlich dämmerte es Forson, daß die Aufmerksamkeit des Beauftragten durch seine Untätigkeit erregt worden war. Andere Bewohner arbeiteten auch nicht, aber sie blieben für sich und stolzierten nicht dort herum, wo sie die Fleißigen verderben konnten. Forson war nicht nur auffällig, sondern mit unerträglicher Begeisterung untätig. Er genoß es, anderen bei der Arbeit zuzuschauen, er störte sie mit Fragen, er lenkte sie mit Arbeiten eigener Erfindung ab und drohte
so, den Gewinn des Beauftragten zu schmälern. Jeden Abend, wenn Forson bei Tor saß, erklärte er dem Musiker: »Musik ist da, um gehört zu werden.« Und Tor erwiderte stets: »Wir können es nicht wagen.« Forson fühlte sich von dem Beauftragten so bedrängt, daß er bei einem Tischler Arbeit nahm, aber am dritten Tag verlor er die Stellung wieder. Er bewunderte die Maserung eines Tisches und geriet mit der rechten Hand in den Weg eines Hobels. Die Wunde war zwar harmlos, aber der Tischler erschrak furchtbar. In einem Einhand-Dorf wollte niemand die Schuld an der Verletzung einer Hand tragen müssen. Forson trug einige Tage lang einen Verband, aber als die Wunde verheilt war, schien der Tischler keine Arbeit mehr für ihn finden zu können. Forson ging zu den Schmieden. Seine Freunde hatten die Nachfrage befriedigen können und stellten keine Fanfaren mehr her, schienen aber auf ein neues Projekt zu warten. Er sah ihnen bei der Arbeit zu und half, wo es ging, damit er beschäftigt erschien, sobald der Beauftragte des Königs auftauchte. Und jeden Abend sprach er mit Tor. »Musik ist da, um gehört zu werden.« »Wir würden es nicht wagen!« Es war später Vormittag. Die Schmiede hatten eben ein paar Schalen angefertigt, und Forson trug sie zum Regal, bevor er auf die Straße hinaustrat, um sich kurz bei Musik zu entspannen und die Ausdauer der Musiker zu bewundern. Man probte bei Tor schon die dritte Stunde. Die Komposition war neu; Tor hatte die Fanfare entdeckt und brillierte mit ihr. Forson fürchtete nicht mehr für die musikalische Tradition Kurrs. Die Fanfare zerstörte sie nicht, sondern eröffnete eine neue Dimension. Die Torrilspieler würden die Fanfarenmusik unbeachtet lassen, davon war Forson überzeugt. Diese neue Musik, die Tor schuf, in einem fremden musikalischen System und für ein fremdartiges Instrument, war ebenso unverwechselbar kurranisch. Eine neue musikalische Tradition entstand, eine Tradition einarmiger Fanfarenbläser. Tor hatte schon einige seiner Musiker zu anderen Einhand-Dörfern geschickt, um dort den Gebrauch der Fanfaren einzuführen. Das paßte in Forsons Pläne, aber mit seiner Behauptung,
Fanfarenmusik müsse allen gehören, wenngleich Fanfarenblasen ein Monopol der Einarmigen sein dürfe, drang er nicht durch. Die Musik verstummte abrupt. Erstaunt ging Forson die Straße hinunter zum Dorfplatz. Der Beauftragte des Königs unterhielt sich dort leise mit den Gouverneuren. In der Nähe stand eine ganze Kompanie königlicher Soldaten. Die Konferenz löste sich schnell auf, und die Dorfältesten eilten durch den Ort, um alle Bewohner zum Dorfplatz zu holen. »Was will er?« fragte Forson einen der Bewohner. »Eine Rede halten«, erwiderte dieser gleichgültig. »Wegen der Arbeitsleistung? Er weiß doch, daß beim nächstenmal alle Wagen vollbeladen sein werden.« »Worum es geht, weiß ich nicht.« Die Bewohner versammelten sich langsam. Forson fand ihre Gleichgültigkeit verwunderlich. Der Beauftragte stand auf einem Karren und starrte grimmig über die wachsende Menge hinweg. Er schwitzte unter der heißen Sonne und zog schließlich sein Übergewand aus. Forson schwitzte ebenfalls, aber er wagte das seine nicht abzulegen. Schließlich gaben die Gouverneure zu verstehen, daß alle Bewohner versammelt seien. »Im Vollmond vor drei Monaten kam eine Frau ins Dorf«, rief der Beauftragte. »Sie kam und verschwand wieder. Kennt sie jemand von euch oder weiß jemand, wohin sie gegangen ist?« Die Menge blieb stumm. »Wir haben die Archive des Königs geprüft und festgestellt, daß seit dem zweiten Monat der alten Ernte keine Frau Bestrafung verdient hat«, fuhr der Beauftragte fort. »Keine Frau hat einen Arm verloren, keine Frau wurde in dieses Dorf geschickt, und doch traf eine Einarmige hier ein. Ihr werdet aufgefordert, zu sprechen, wenn ihr von ihr etwas wißt.« Er machte eine Pause und sah forschend in die Menge. Forsons Gedanken kreisten nur um ein einziges Wort. Archiv. Der Stab hatte nicht gewußt, daß der König über seine Bestrafungen Buch führen ließ.
»Nun gut«, fuhr der Beauftragte fort. »Wir haben die Archive des Königs und die Unterlagen aller Einhand-Dörfer überprüft und dabei festgestellt, daß eines einen Mann beherbergt, der keine Bestrafung verdient hatte. Wenn er hier ist, befehle ich ihm, vorzutreten.« Wieder sah er die Dorfbewohner forschend an. »Also gut«, knurrte er. »Alle, die zwischen den Erntezeiten im Dorf angekommen sind, haben vorzutreten.« Zurückzubleiben wäre Wahnsinn gewesen. Forson ließ sich von den anderen mit nach vorne stoßen. Sie wurden von den Soldaten umringt. »Durchsucht sie!« befahl der Beauftragte. Forson konnte nicht mehr reagieren. Es geschah zu schnell - sein Übergewand wurde heruntergerissen, der Soldat stieß einen überraschten Schrei aus, als der künstliche Armstummel mit abfiel, Forson stand nackt bis zu den Hüften da, man sah seinen gesunden linken Arm. Der Beauftragte sprang vom Wagen und schritt auf ihn zu. Er starrte Forson an, fuhr mit der Hand über seinen rasierten Kopf, starrte ihn wieder an und zog schließlich ein Porträt aus seiner Kleidung. Er verglich Forsons Profil mit seiner Kopie des Ausweisfotos und brummte zufrieden. »Aha!« sagte er. »Sie wollen also in einem Einhand-Dorf leben!« Er warf den Kopf zurück und lachte dröhnend. In seinen Augen funkelte Habgier. Zweifellos war die auf Forsons Kopf ausgesetzte Belohnung beträchtlich. »Sie wollen also in einem Einhand-Dorf leben«, wiederholte er. »Ich verspreche Ihnen, daß der König Ihren Wunsch erfüllen wird - sobald er gewisse Dinge mit Ihnen besprochen hat.« Forson wurde in den Wagen gehoben. Schon begannen sich die Dorfbewohner zu entfernen, aber als sich der Wagen in Bewegung setzte, konnte er einen Blick auffangen. »Tor, Musik ist dazu da, gehört zu werden«, schrie er. Wenige Minuten später lag das Dorf hinter ihnen, und der Karren holperte über den Weg, der aus dem Tal hinausführte. Über dem Knarren glaubte Forson Musik zu hören. Er schaute zum Dorfplatz hinunter und konnte die Sonne auf langen Reihen erhobener Fanfaren blinken sehen. Die Musiker waren zu ihrer Probe zurückgekehrt.
12 Sie zogen bis zur Garnison, wo über dem Wagen hastig ein zeltähnlicher Aufbau errichtet wurde. Forson daß darunter, an Händen und Füßen gefesselt, wie Ann Cory vor ihrer Rettung durch ihn. Er überlegte, daß man ihm Geduld beibringen würde. Die Zeit verging, der Karren rührte sich nicht, und unter der Plane wurde es unerträglich heiß. Der Berater des Königs und der Garnisonskommandeur hatten sich zurückgezogen und stritten heftig miteinander. Schließlich rollte der Wagen an, und das Knarren übertönte ihre Stimmen. Viel später, als Forson eine Ruhepause bewilligt bekam, sah er, daß beide mit finsteren Gesichtern neben der Eskorte hermarschierten. »Kopf hoch!« sagte er. »Vielleicht reicht die Belohnung für beide.« Sie funkelten ihn böse an. Er bat sie, zur Lüftung eine Zeltklappe offenzulassen, aber sie schnürten das Zelt verächtlich zu, und der Wagen holperte und knarrte durch den zur Neige gehenden Nachmittag dahin. Die Nacht brachte Kühlung und Lichtschimmer von der Fackel des vor dem Esg marschierenden Soldaten. Forson ließ sich nach hinten fallen und versuchte sich auszuruhen; daß die holprige Straße und das unablässige Quietschen und Knarren Schlaf nicht erlaubten, wußte er bereits. Gegen Morgen erreichten sie die nächste Garnison, wo er kurze Zeit losgebunden wurde und etwas essen durfte. Die Morgendämmerung kam, eine Flut von Sonnenlicht mit ihr, und immer noch erlaubten sie ihm keine Luftzufuhr. »Warum nicht?« fragte er, bekam aber keine Antwort. Er kannte sie aber. Der König fürchtete den Stab B und vermutete, daß die überall postierten Mitarbeiter aufmerksam werden und für seine Freilassung sorgen würden, wenn er Forson offen nach Kurra bringen ließ. Der König war klüger, als man dachte. Der Stab war von Forsons Sicherheit so überzeugt gewesen, daß er ihn isoliert zurückgelassen hatte. Bis man nun versuchen konnte, wieder Kontakt mit ihm aufzunehmen, würde Jeff Forson weit außer Reichweite jeder Unterstützung sein, die ihm der Stab bieten konnte.
Der Karren holperte und knarrte dahin, Stunde um Stunde, Tag für Tag, und Forson lernte Geduld. Er wußte, wann sie Kurra erreicht hatten, weil sie über Pflastersteine ruckten. Nach einiger Zeit kam der Karren zum Stehen, und in die plötzliche Stille hinein klang das Krachen eines zufallenden Tores. Ein Soldat griff in den Wagen, um Forsons Fesseln zu lösen. Dieser versuchte herauszusteigen, aber seine gefühllosen Gliedmaßen gehorchten ihm nicht. Vor einem Sturz wurde er nur durch das erschrockene Zugreifen des Soldaten bewahrt. Forson unterdrückte ein Lächeln. Für den Augenblick zumindest sorgte sich jemand um sein Wohlbefinden. Flankiert von Soldaten, die ihn stützten, wenn seine Beine einknickten, wurde Forson schnell durch ein Labyrinth von Korridoren und Rampen geführt, wohin niemals Tageslicht drang. In Wandhalter gesteckte Fackeln gaben kümmerliches Licht. In den oberen Bereichen des Schlosses kamen sie vor einer breiten Tür zum Stehen. Ein Trupp Wachen in den Uniformen der königlichen Palastgarde übernahm Forson, durchsuchte ihn gründlich und marschierte mit ihm in den Raum. Der Beauftragte, der Garnisonskommandeur und Forsons Eskorte blieben enttäuscht vor der Tür zurück. Forsons Beine wurden wieder durchblutet. Er konnte mit festem Schritt vorangehen, aber als sie durch den Saal marschiert waren, spürte er niederdrückende Enttäuschung. Während der mühsamen Fahrt hatte er sich nur auf eines gefreut - auf die Konfrontation mit König Rovva, aber der Mann auf der hohen Estrade war nicht der König. Die Wachen verbeugten sich auf komplizierte Weise, linker Fuß vorn, das Knie gebeugt, und als sie sich aufrichteten, wandten sie sich Forson empört zu. »Verbeugt Euch vor dem Minister Eures Königs!« »Er ist nicht der Minister meines Königs«, erwiderte Forson gelassen. Schwerter wurden gezogen; Forson blieb aufrecht stehen. »Setzt ihn hin!« befahl der Minister. Forson wurde an einen Stuhl gefesselt, die Wachen verbeugten sich wieder und zogen sich in die hintere Hälfte des Saales zurück. Was hier
gesprochen wurde, war nicht für die Ohren von Untergebenen bestimmt. Das bedeutete, daß König Rovva seinen Untertanen immer noch vorenthielt, daß es den Stab B gab. Der Minister sah mit steinernem Gesicht auf ihn hinunter. Ein schlanker Mann mit verhärmtem, jung - altem Gesicht, trug er die gewöhnliche Straßenkleidung besserer Bürger Kurrs. Zu tief unter dem Adel, um königliche Roben tragen zu dürfen, aber von so hohem Rang, daß es keine Uniform dafür gab, war er hoch genug gestiegen, um tief fallen zu können, und das schien er zu wissen. »Jeff Forson?« herrschte er ihn an. »Das ist mein Name«, erwiderte Forson. »Wer sind Sie?« »Gasq, Erster Minister des Königs.« »Welche Ehre.« Gasq starrte ihn verblüfft an. »Wirklich?« »Ist eine Audienz beim Ersten Minister des Königs in Kurr keine Ehre?« Gasq zog die Brauen zusammen. »Wo ist Paul Leblanc?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Das Gesicht des Ministers verfinsterte sich. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« So verzweifelt Forsons Lage auch sein mochte, der Komik entbehrte sie nicht. König Rovva hatte monatelang angestrengt nach dem Mann suchen lassen, den er für den gefährlichsten Fremden in Kurr hielt, dabei wußte Forson vom Stab B weniger als jeder IPB-Rekrut. Aus diesem Grunde beschloß Forson, die Wahrheit zu sagen, soweit ihm das vertretbar erschien, bis seine Gegner von seiner Ehrlichkeit so überzeugt schienen, daß er wirksam zu lügen vermochte. »Ich habe Leblanc zuletzt gesehen, bevor ich Kurra verließ — bevor ich mich zu dem Einhand-Dorf begab.« »Wo haben Sie ihn gesehen?« »Ich kenne die Stadt nicht gut genug, um Ihnen das erklären zu können. Es war in einer großen Wohnung im Obergeschoß eines Hauses. Von den Fenstern aus konnte man über die Stadtmauer sehen.« »In welcher Richtung?« Forson tat so, als müsse er nachdenken.
»Das weiß ich nicht«, erklärte er schließlich. »Für mich sieht die Aussicht in allen Richtungen ziemlich gleich aus.« »Könnten Sie dieses Haus wiederfinden?« »Das bezweifle ich. Ich suchte es nachts auf und verließ es, in einem Karren versteckt. Beide Male konnte ich nicht viel sehen, außerdem ist es schon lange her.« »Wo ist Sev Rawner?« »Keine Ahnung.« »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Gleichzeitig mit Paul Leblanc. Halt!« Gasq beugte sich erwartungsvoll vor. »Ich sah ihn, als ich Kurra verließ, als ich durch die Straßen zum Tor ging. Ich sah ihn aus einiger Entfernung. Er überquerte eine Seitenstraße.« Gasq brauchte einige Sekunden, um seine Enttäuschung zu überwinden. »Wohin ging er?« »Keine Ahnung.« »Wer war die Frau, die Sie im Einhand-Dorf besucht hat?« »Ich kannte Sie unter dem Namen Ann Cory.« »Sie hat auch andere Namen?« »Alle Mitarbeiter vom Stab B haben verschiedene Rollen.« »Wo ist Ann Cory jetzt?« »Das weiß ich nicht.« »Wie viele Mitarbeiter gibt es?« »Ich habe nie eine Liste zu Gesicht bekommen.« »Sie sind Chefkoordinator dieses Planeten und wissen nicht, wie viele Leute für Sie arbeiten?« »Kennen Sie die Pflichten eines Chefkoordinators?« fragte Forson kühl. »Nein.« »Ich auch nicht.« Gasq ging in die Falle. Er ließ das Thema fallen - was hieß, daß Rastadt ihn über Sektorinspizient Jeff Forson von der Kulturforschung ausgiebig unterrichtet hatte. »Was taten Sie in diesem Einhand-Dorf?«
»Ich versteckte mich«, antwortete Forson. »Bis der Stab eine Möglichkeit fand, mich aus Kurr herauszuschaffen.« »Warum hat Ann Cory Sie besucht?« »Um mir zu sagen, daß ich noch länger bleiben mußte.« Es ging weiter. Forson identifizierte bereitwillig die wenigen Mitarbeiter, die er kannte, und beschrieb im einzelnen, was sie getan hatten, als er ihnen begegnet war. Er wußte, daß Rastadt solche Informationen schon geliefert haben mußte, außerdem waren alle in andere Rollen geschlüpft, und sogar ihre Ausweisfotos würden Gasq von geringem Nutzen sein. Schließlich gab Gasq den Wachen einen Wink. Sie banden Forson los, und er stand lässig auf. »Ihre Antworten befriedigen nicht«, erklärte Gasq. »Unter den treuen Dienern des Königs gibt es viele, die große Erfahrung darin besitzen, Gefangene zum Sprechen zu bringen. Beim nächstenmal werden Sie sie kennenlernen.« Als Forson sich umdrehte, entdeckte er hoch oben an der Wand ein Fenster, von dem aus man in den Saal hinabsehen konnte. Dort saß eine rundliche, in üppige Gewänder gehüllte Gestalt - König Rovva. Einen Augenblick lang sahen sie sich an. Forson erwiderte den Blick des Königs offen. Die Wachen vollführten wieder ihre Verbeugung und führten Forson fort. Der Beauftragte und der Garnisonskommandeur standen immer noch vor der Tür. »Sehr schade«, murmelte Forson mit gespielter Betrübtheit. »Sie hätten Ihre Belohnung vor diesem Gespräch kassieren sollen.« Wieder führte man ihn durch das Labyrinth der dunklen Gänge und in sein Quartier. Er hatte ein Verlies erwartet, bekam aber ein Zimmer, das eher einem Ehrengast als einem Gefangenen entsprach, groß, luxuriös eingerichtet, aber dennoch eine Zelle. Die schwere Tür fiel krachend zu, ein Riegel wurde vorgeschoben, und man ließ ihn allein. Die Fensterschlitze des Zimmers gingen auf einen umschlossenen Hof tief unten hinaus. Er untersuchte sie und überzeugte sich schnell davon, daß keine Hungerkur einem Erwachsenen je gestatten würde, auf diesem Weg zu entfliehen. Er wandte sich dem Zick-Zack-Schlitz
in der Tür zu, aber sein Blick begegnete dem eines Bewachers, und weitere Wachen hockten daneben, in der drollig kauernden Haltung, die in Kurr als militärisch galt. Es wurde dunkel. Eine Weile vertrieb sich Forson die Zeit damit, die Wachen bei ihrem Rundgang im Innenhof zu beobachten. Jeder Mann trug eine Fackel; die Lichter marschierten aufeinander zu, machten kehrt, strebten anderen Lichtern zu. Die Paradierordnung schien sehr kompliziert zu sein. Forson streckte sich auf seinem Bett aus und dachte über König Rovva nach. Das war keine Null, die durch Geburtsrecht zur Krone gekommen war. Die Mitarbeiter des Stabes hatten Forson das Bild eines verschlagenen, grausamen, launenhaften egoistischen Mannes gezeichnet, der aber auch einen verfeinerten Instinkt besaß, mit dessen Hilfe jeder böse Trieb vor dem Ausschlag ins Extrem bewahrt wurde, das seine Untertanen gegen ihn aufbringen konnte. Forson sah seinen Charakter anders. Dies war ein alter Mann, und wenn er nicht mit Weisheit gesegnet worden war, dann hatte er sie sich erworben, und nun war er tief verstört. Seine heile Welt war durcheinandergeraten. Er war das schlechte Produkt eines schlechten Systems, aber Forson rief sich in Erinnerung, daß die Kurranier im Grunde anständige Wesen waren - und König Rovva war ein Kurranier. Was er tat, geschah nicht aus angeborener Grausamkeit, sondern als Ausübung eines Rechts, das den Königen von Kurr seit altersher zustand. Bevor der Stab das Volk gegen den König aufbringen konnte, mußte es ihn gegen sich selbst aufbringen. Das Gewissen des Königs zu packen - das war das Problem. Und der Stab hatte es völlig mißverstanden, weil niemand von den Mitarbeitern glaubte, daß der Konig ein Gewissen besaß. Der Insasse des Nachbarzimmers begann zu stöhnen und zu wimmern. Forson trat an die Fensterschlitze und versuchte mit Zischund Flüsterlauten seine Aufmerksamkeit zu erregen, bekam aber keine Antwort. Er kehrte zu seinem Bett zurück. Das Stöhnen und Schluchzen ging weiter, aber die lange Reise hatte Forson erschöpft, so daß er bald einschlief. Es war später Morgen, als er erwachte. Er bekam zu essen, und
danach blieb ihm nichts anderes übrig, als an den Fensterschlitzen zu stehen und die Wachen im Hof zu beobachten. Offenbar sollten die Lektionen in Geduld weitergehen. Das Stöhnen und Jammern im Nebenzimmer begann von neuem. Forson trat an die Tür und rief einem Bewacher zu: »Was ist mit der Person nebenan los?« Der Wachtposten zuckte die Achseln und schwieg. Forson war mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt worden, aber seine Wachen sprachen nicht mit ihm. »Ich möchte ein anderes Zimmer«, sagte Forson. »Der Lärm stört mich.« Der Bewacher hob wieder die Schultern, aber einen Augenblick später wurde nebenan an die Tür gepoltert und ein Befehl gebrüllt. Das Schluchzen hörte auf. Später wurde Forson wieder in den Audienzsaal gebracht. Wieder schritt er mit festen Schritten voraus, verbeugte sich aber diesmal mit Grandezza. Gasq starrte ihn an. »Sie verbeugen sich? Warum?« »Euer Exzellenz«, sagte Forson, »ich habe einen Fehler begangen. Die Verbeugung ist bei Ihnen Brauch, und es war unhöflich von mir, ihn nicht zu respektieren. Ein höflicher Besucher hat sich den Sitten seiner Gastgeber anzupassen. Ich bitte für meinen Fehler um Entschuldigung und korrigiere ihn.« Gasq gab zerstreut einen Wink. Forson wurde wieder an einen Stuhl gefesselt, dann zogen sich die Wachen zurück. »Warum verläßt der Stab B nicht unser Land?« fragte Gasq plötzlich. »Warum sollte er?« fragte Forson, zum König gewandt, der regungslos an seinem Beobachtungsfenster saß. »Seine eigenen Vorschriften verlangen es«, erklärte Gasq. »Seine Zentrale hat es befohlen. Warum zieht er nicht ab?« Forson hielt den Blick auf den König gerichtet. »Euer Majestät sind besser informiert als ich. Ich weiß wenig über die Vorschriften des Stabes und nichts über seine Anweisungen.« »Hat die Frau Sie nicht darüber aufgeklärt, als sie Sie im Einhand-
Dorf besuchte?« wollte Gasq wissen. »Nein.« »Sie sind der Chefkoordinator. Sie haben die Macht, dem Stab B zu befehlen, daß er Kurr verläßt.« »Gewiß«, bestätigte Forson. »Warum tun Sie es nicht?« »Ich weiß nicht, wo der Stab ist, und in meiner augenblicklichen Lage muß ich Befehle entgegennehmen, statt sie zu erteilen.« Lächelnd erwiderte er offen den Blick des Königs. Rovva schien überaus verwirrt zu sein. Er hatte zwar den Flüchtling, den er so verzweifelt gesucht hatte, aber er wußte nicht, was er mit ihm anfangen sollte. Ein zweitesmal wog er alles ab und blieb unentschlossen. Gasq stellte noch einmal alle Fragen vom vorigen Tag, Forson gab dieselben Antworten, und schließlich wurde er entlassen. Das unablässige Wimmern seines Nachbarn hielt Forson in dieser Nacht wach, aber er zögerte vor einer neuerlichen Beschwerde. Er mußte immer wieder an Tors Qualen denken. Schließlich glitt er in einen unruhigen Schlaf, aber mitten in der Nacht rissen ihn die Wachen aus dem Bett. König Rovva hatte seine Entscheidung getroffen. Die Wachen zerrten Forson grob aus dem Zimmer. Er ließ sich widerstandslos mitnehmen und stolperte schläfrig dahin. Als sie auf den Korridor hinaustraten, zerriß ein schriller Schrei die Stille. »Forson!« Die Wachen schleppten ihn fort, aber nicht, bevor er Gelegenheit gehabt hatte, zu den Türschlitzen des Nachbarzimmers zu blicken. Ein Gesicht starrte ihm dort entgegen, gespenstisch bleich im flackernden Licht der Kerzen. Sein winselnder Nachbar war Koordinator Rastadt gewesen.
13 Diesmal war es ein Verlies. Aus der alles verhüllenden Dunkelheit drangen Schreie, Stöhnen und ein ekelerregender Geruch. Der Bewacher stieß Forson grob an und ließ eine Strickleiter in eine riesige, kreisrunde Grube. Von einer Lanze bedroht, begann Forson gehorsam hinunterzusteigen. Er hangelte sich Hand für Hand hinunter, bis er nach wenigen Metern von der untersten Sprosse baumelte. Gerade als er sich auf einen tiefen Sturz gefaßt machte, berührten seine Füße den Boden. Die Leiter wurde hochgezerrt, und Forson stand in undurchdringlicher Dunkelheit. Er schaute nach oben, und der Atem stockte ihm. Die hohe Decke wurde von gewaltigen Säulen getragen, die sich wie die Außenwände der Häuser bogen. Säulen, Wände, Decke - überall, wo das Licht von den Fackeln der Wachen aufgefangen wurde, schimmerte ein grandioses Farbenspiel. Nicht in den wildesten Träumen hätte er sich ein Verlies wie dieses vorstellen können. Die grenzenlose Schönheit überwältigte ihn. In unregelmäßigen Abständen schlenderten Wachen vorbei, und das Licht ihrer Fackeln erhellte kurz die Grube. Forson konnte andere Gefangene auf feuchten, modrigen Strohhaufen ausmachen. Winzige, bösartig aussehende Nagetiere liefen ungestört umher, und ihre großen, glühenden Augen leuchteten rot auf, sobald sie das Licht traf. Forson sammelte loses Stroh, ballte es zusammen und setzte sich bedrückt darauf, um seine stinkende Umgebung zu betrachten. Er wollte über Rastadt nachdenken, konnte sich aber nicht konzentrieren. Das unaufhörliche Stöhnen und Weinen der Gefangenen wurde nur von plötzlichen Schreien und dem entnervenden, zitternden Klagen der an den Nachwirkungen von Folterungen Leidenden übertönt. Die Nagetiere liefen über Forsons Füße. Sooft er unbedacht durch die Nase atmete, verursachte ihm der unbeschreibliche Gestank Übelkeit. Rastadts bleiches, flehendes Gesicht verfolgte ihn. Offenbar hatte die Uneinigkeit zwischen Bösewichtern ihn in die Hand des Königs gebracht. Stab B mußte verständigt werden. Wenn Rastadt den Stütz-
punkt nicht mehr in seiner Hand hatte, galt es, eine neue Strategie zu entwickeln. Und Rastadt Er konnte sich nicht konzentrieren. Er konnte auch nicht schlafen. Aus der Grubenwand drang Wasser; das Stroh war so feucht, daß es seine Kleidung durchnäßte, wo er es berührte. Er raffle sich auf und ging in engem Kreis um seinen Strohhaufen herum. Er sprach einen vorbeigehenden Bewacher an, aber die einzige Reaktion war ein Lanzenstoß, der ihn an der Schulter verwundete. Sobald ein Nachbar aus seinem Alptraum hochschreckte, versuchte Forson mit ihm zu reden, aber augenblicklich war ein Bewacher zur Stelle und begoß sie mit Abwasser. Die Morgendämmerung brachte schließlich Lichtsäulen, die durch Schlitze hoch oben an der Wand herabfielen. Die Wirkung war atemberaubend. Wände und Decke waren mit einem eigenartigen, kristallinen Stein bedeckt, der das Licht in Myriaden von Farbtönen brach. Nicht einmal ein Volk, das von der Schönheit so besessen war wie dieses, würde soviel davon an ein Verlies verschwenden. Vielleicht war hier einmal das königliche Schwimmbad gewesen, ein Raum mit glitzernden Schwimmbecken, in denen sich der König mit seinem Harem vergnügte.Jetzt waren die Becken stinkende Gruben, und wenige Augen sahen die Schönheit über ihnen. Die Gefangenen kehrten widerwillig aus ihren quälenden Träumen in die furchtbare Wirklichkeit zurück. Ein Wachtposten kam vorbei und kippte Nahrung in die Grube. Forson beobachtete entsetzt, wie Gefangene und Nagetiere sich darauf stürzten. Der Wachhabende, ein gutaussehender, weibisch wirkender Mann mit den graziösen Bewegungen eines Ballettänzers erschien zur Mittagszeit, um die Gefangenen zu verspotten. Er blieb stehen und grinste auf Forson herunter. »Schon wieder einer, der den Mund nicht aufmachen will.« »Ich bin einer, der nichts zu sagen hat«, erwiderte Forson. »Du wirst genug plaudern, wenn du an die Reihe kommst. Hast du den schwarzen Kasten schon kennengelernt?« »Das Vergnügen hatte ich, glaube ich, noch nicht.« Der Wachhabende lachte schrill.
»Vergnügen? Der schwarze Kasten wird dir schon Vergnügen machen, wenn du es so nennen willst. Zuerst reißt er dir die Nägel aus der linken Hand - jeden Tag einen, damit das Vergnügen länger dauert. Wenn du immer noch nichts zu sagen hast, macht er sich über deine Finger her — aber immer nur ein Glied. Der Kasten hat es nicht eilig. Er arbeitet nicht schnell und schneidet vor allem nicht. Er zieht nur heraus - Fingernägel, Fingergelenke, Hand, Unterarm. Er ist auch vielseitig. Wenn du dann immer noch nicht sprichst, kann er mit deinem rechten Arm dasselbe tun - aber dann stünden wir vor einem Problem. Darf jemand, dem beide Arme fehlen, noch in einem Einhand-Dorf wohnen? Ich kann das nicht entscheiden, habe mir die Frage aber oft vorgelegt. Zum Glück kommt es selten vor. Nach ein paar Fingergliedern sind die meisten überzeugt. Sie erzählen gerne, was sie wissen, damit die Sache mit einem Schwert schnell beendet wird. Hör auf meinen Rat. Je früher du auspackst und dich auf den Weg zu einem Einhand-Dorf machst, desto besser ist es für dich.« »Das bezweifle ich«, sagte Forson. »Ich komme nämlich gerade aus einem Einhand-Dorf, wissen Sie.« Der Wachhabende starrte ihn sprachlos an und sah mehrmals von einer Hand Forsons zur anderen. Er stapfte davon. Einen Augenblick später kam ein Bewacher und leerte einen Kübel mit Schmutzwasser genau über Forson aus. Dann begannen sie die Gefangenen abzuholen. Während des ganzen schrecklichen Tages schleppte man die armseligen Gestalten der Reihe nach fort. Sie kamen bewußtlos oder krampfhaft schluchzend zurück, während das Blut unter den Lumpen hervordrang, die ihre verunstalteten linken Hände einhüllten. Als die Dunkelheit den Grausamkeiten schließlich ein Ende machte, überließ sich Forson nervöser Erschöpfung und schlief ein paar Stunden lang. Am Morgen des zweiten Tages holten die Wachen ihn. Er fühlte nicht so sehr Angst als Empörung. In jedem Volk gab es moralisch Verkrüppelte, die sich einen Beruf wählten, der Befriedigung ihrer sadistischen Triebe versprach. Die Verliesbewacher und die
gefühllosen Leute, die den >schwarzen Kasten< bedienten, waren vielleicht nur der Abschaum einer sonst völlig gesunden Gesellschaft. Oder auch mehr, und in diesem Fall war Forsons Hoffnung, das Gewissen des Königs wachzurütteln, eine naive Illusion. In einem Raum neben dem Verlies überschütteten die Wachen Forson mit frischem Wasser und warfen ihm andere Kleidung zu. »Seid ihr zu penibel, euch mit einem schmutzigen Gefangenen abzugeben?« fragte Forson. Er zog sich um. Man trieb ihn in den Hof hinaus, fesselte ihn an Händen und Füßen und hob ihn in einen geschlossenen Wagen, der sofort losfuhr und durch die Straßen von Kurra holperte. Sie rollten durch ein Stadttor, knarrten eine Weile auf einer Landstraße dahin und hielten. Nach einer endlosen Wartezeit wurde die Plane entfernt, der Karren gedreht, und Forson fuhr durch das Tor zurück in die Stadt. Allen Blicken preisgegeben. Zunächst war Forson völlig verblüfft, aber er fand die Erklärung bald. Es war eine Falle. Bevor der >schwarze Kasten< des Königs Forsons linken Arm Stück für Stück abriß, so daß man ihn der Öffentlichkeit nicht mehr vorführen konnte, wurde er als Köder benutzt. Wenn er derart langsam durch die Straßen gezogen wurde, scheinbar ohne Bewachung, mußte ihn jemand vom Stab B sehen, einen Rettungsversuch unternehmen - und die Ruffs des Königs brauchten nur zuzugreifen. Sie waren überall, in Zivil gekleidet, zwischen den Passanten, sahen aus Fenstern, standen an wichtigen Kreuzungen. Er konnte sie nicht erkennen, wußte aber, daß sie da waren. Seine sichtbare Eskorte bestand nur aus vier Mann in den Uniformen der königlichen Stallknechte, aber die Fußgänger, die so auffällig mit dem Wagen Schritt hielten, mußten Ruffs sein, und direkt davor und dahinter fuhren Karren, unter deren Planen sich zweifellos Passagiere verbargen. Sie rollten durch schmale Nebenstraßen, die leicht blockiert werden konnten. Vor ihnen hielten die Ruffs den Weg für den Karren frei. Forson saß unbeweglich auf seinem Platz, schwitzend, kraftlos vor
Besorgnis und Zorn, suchte die überfüllten Straßen nach bekannten Gesichtern ab und hoffte verzweifelt, sie nicht zu finden. Ein schlanker Händler hob gleichgültig den Kopf und sah dem Karren nach. Joe Sornel, der ehemalige Schenk? Forson wandte sich schnell ab. Ein stämmiger Passant starrte Forson einen Augenblick an und verschwand dann eilig um eine Ecke. Hance Ultman? Forson versuchte sein Gesicht in dem wallenden Umhang zu verstecken, der seine Fesseln verbarg. Nichts geschah. Sie drangen in die Innenstadt vor, langsam, zögernd. Ein Stallknecht führte das Esg. Forson entdeckte einen Bürger, der ein Haus betrat. Er sah aus wie Leblanc. In diesen schlimmen Zeiten durfte Leblanc nicht wie Leblanc aussehen, aber bei diesem Mann war es der Fall gewesen. Ein gebückter, alter Mann schlurfte vor ihnen auf die Straße, sah sich unter der Nase des Esg und humpelte erschrocken davon. Sev Rawner ohne den grauen Star? Und die Frau, die sich aus einem Fenster beugte, um einem Nachbarn etwas zuzurufen — besaß sie Ann Corys Nase? Überall sah er seine Mitarbeiter. Sie bogen um eine Ecke, und weit voraus öffnete sich die schmale Straße auf den riesigen Platz vor dem Schloß. Der Stallknecht, der das Esg führte, hatte zu gute Arbeit geleistet; sie blieben hinter dem vorausfahrenden Wagen zurück, und plötzlich schob sich ein Karren aus einem Hof und versperrte ihnen den Weg. Ein Stallknecht sprang mit wütendem Schrei darauf zu, und Forsons Wagen kam zum Stehen. Forson drehte sich seitwärts, stieß sich mit den Füßen ab und fiel aus dem Wagen. Er fiel auf einen Stallknecht, der ihn verzweifelt umklammerte. Die anderen Stallknechte eilten herzu, und aus allen Richtungen stürzten Ruffs herbei. Der Stallknecht hielt Forson eisern umfaßt, als gelte es sein Leben. Vermutlich stand es wirklich auf dem Spiel. Die Ruffs schoben hierhin und dorthin; der Karrenführer versuchte zurückzufahren und fand den Weg auch hier blockiert. Die Ruffs befahlen ihm, umzukehren, befahlen ihm, vorwärts zu fahren. Er hob verwirrt die Hände. Sie packten ihn und schleppten ihn fort. Forson wurde unsanft in den Karren zurückgeworfen, wo sich zwei Stallknechte auf ihn setzten. Zum erstenmal wagte er aufzuatmen. Er
hatte niemanden vom Stab B gesehen, und die Falle des Königs war nicht zugeschnappt. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung, aber Forson mußte flach am Boden liegenbleiben, bis sie den Platz überquert hatten und das Schloßportal hinter ihnen zugefallen war. Im Schloßhof standen Soldaten in Reih und Glied. Man führte Forson sofort zu Gasq. Der König an seinem Fenster schien seit der letzten Begegnung gealtert zu sein. Auch Gasq machte diesen Eindruck. Er ließ Forson keine Zeit, sich zu verbeugen, bevor er hervorstieß: »Warum haben Sie sich aus dem Wagen fallen lassen?« Forson hob die Schultern. »Ich hatte eine lange Fahrt hinter mir, zur Hälfte in einem stickigen Wagen, und seit drei Tagen hatte ich nichts zu essen. Mir war schwindlig. Vielleicht bin ich ohnmächtig geworden.« Der König war eine vielschichtigere Persönlichkeit, als er oder seine Mitarbeiter vermutet hatten, dachte Forson. Dieser Mißerfolg eines sorgfältig entworfenen Plans hätte die gleiche Wut hervorrufen können, die Tor getroffen hatte, aber das war nicht der Fall. Statt dessen schien er gelassen zu reagieren und andere Pläne vorzubereiten. »Haben Sie jemanden vom Stab B gesehen?« fragte Gasq. »Ich glaubte es«, erwiderte Forson, den König beobachtend. »Sie glaubten es?« Forson lächelte. »Ich weiß nämlich nicht, wie die Mitarbeiter vom Stab B aussehen, verstehen Sie.« Gasq riß die Augen auf. »Sie wissen nicht -« »Ich weiß, wie sie aussahen, als ich zuletzt in Kurra war, aber sie haben sich äußerlich verändert. Darin sind sie sehr begabt.« »Aber Sie glaubten, einige von ihnen gesehen zu haben?« »Ich sah zwei Männer, die Mitarbeitern des Stabes ähnlich sahen, denen ich begegnet bin, aber das war sicherlich nur ein Zufall. In meiner Verfassung habe ich vielleicht nicht einmal deutlich sehen können. Wie gesagt, habe ich seit drei Tagen nichts zu essen bekommen. Außerdem werden die wenigen Mitglieder des Stabes, die ich kannte, wenn sie es nicht schon längst getan haben, dann wenigstens jetzt ihr Aussehen verändert haben. Als Sie mich durch die
Straßen fuhren, haben Sie dem Stab B gezeigt, daß ich ein Gefangener bin. Jeder, der Kontakt mit mir gehabt hat, wird in eine andere Rolle schlüpfen. Jeder Ort, wo ich sie getroffen habe, wird aufgegeben werden. Das war ein schwerer Fehler von Ihnen, mich so durch die Stadt zu führen. Jetzt kann ich Ihnen nicht mehr nützlich sein.« Offensichtlich ging der Fehler, wenn es einer war, zu Gasqs Lasten, und er kannte das Schicksal von Ministern, die bei Fehlern ertappt wurden, sehr gut. Sein Gesicht wurde bleich. »Ich werde Sie schon dazu bringen, nützlich zu sein!« fuhr er Forson an. Als er den Wachen einen Wink gab, tönte die Stimme des Königs herunter, hallend und verzerrt. »Warum hat er seit drei Tagen nichts mehr gegessen?« Gasq machte ein entsetztes Gesicht und schwieg. »Bringt Nahrung«, befahl der König. Diener eilten in den Saal und deckten für Forson einen Tisch. Dann trat eine Verzögerung ein; der plötzliche Befehl hatte die Küche überrascht. Der König verließ sein Fenster, und als die Diener schließlich das Essen brachten, folgte er ihnen in den Saal und blieb am Tisch stehen, während jeder Diener sich tief verbeugte und sein Tablett zur Begutachtung vorwies. »Setzen Sie sich und essen Sie«, sagte der König zu Forson. Forson verbeugte sich und nahm Platz. Der König verbannte Gasq mit einer Handbewegung ans andere Ende des Saales und setzte sich gelassen Forson gegenüber. Forson probierte verlegen ein rundes Stück Brot, entdeckte dabei, daß er so hungrig war, wie er behauptet hatte, und begann zu essen. Immer neue Schüsseln wurden gebracht. Eine Festmahlzeit begann. Erst als Forson seinen Hunger völlig gestillt hatte, ergriff der König das Wort. »Sie sagten, Sie wollten Kurr verlassen«, sagte er leise, beinahe im Verschwörerton. »Würden Sie das in meiner Lage nicht wollen?« »Sie können fort, wenn Sie den Stab B mitnehmen«, erklärte der König. »Der Stab ist über ganz Kurr verstreut«, meinte Forson. »Ich habe
keine Ahnung, wie ich mich mit den Leuten in Verbindung setzen könnte.« »Könnten Sie es, wenn Sie frei wären?« »Nein. Aber wenn ich wirklich frei wäre, würde sich der Stab vielleicht mit mir in Verbindung setzen.« »Und - dann würden Sie fortgehen und den Stab B mitnehmen?« Forson zögerte. Er fürchtete, daß man eine Lüge nicht glauben würde, während die Wahrheit zerstören mußte, was er an Fortschritten erzielt hatte. »Ich frage mich, ob der Stab meinen Befehl, Kurr zu verlassen, befolgen würde«, sagte er, als der König eine ungeduldige Bewegung machte. »Der Stab B hat in Kurr eine eigene Mission, die auf einem Eid beruht. Kennen Sie sie?« Der König schwieg. »Es wäre schwierig, sie zu Ihrer Zufriedenheit zu erläutern«, fuhr Forson fort, »aber Sie könnten sie wesentlich leichter verstehen, wenn Sie sich zu einer ganz bestimmten Handlung entschließen könnten.« »Was wäre das?« »Verbringen Sie einige Tage in Ihrem Verlies als Gefangener.« Der Wutanfall, den Forson befürchtet hatte, blieb aus. Der König betrachtete Chefkoordinator Forson offenbar als Rätsel, das er lösen wollte, nicht als Gefangenen, der bestraft werden mußte. Er legte den Kopf etwas auf die Seite und betrachtete Forson mit einem Ausdruck tiefer Verstörtheit. Plötzlich sprang er auf und starrte zu den Fensterschlitzen hinüber. Hinter Forson ließ ein Diener ein Tablett fallen, ohne daß irgend jemand darauf geachtet hätte. Die Wachen ließen ihre Waffen sinken, drehten die Köpfe, starrten mit offenen Mündern. Am fernen Ende des Saales verzichtete Gasq auf seine wütenden Blicke in Forsons Richtung und hastete verwundert zum nächstbesten Fensterschlitz. Über die Stadt hinweg schwebte laut und hell der Klang von Fanfaren, tausend hallende Echos weckend.
14 Stundenlang tönte die Fanfarenmusik über die Dächer Kurras, aber in dem Raum, wohin man Forson hastig gebracht hatte, als König Rovva ihn mit abwesender Geste aus Gegenwart und Denken verbannt hatte, war sie nur undeutlich zu hören. Die Fensterschlitze erlaubten Einblick in denselben Innenhof, den er von seinem ersten Zimmer im Schloß aus gesehen hatte, aber von höherer Warte aus. Immer noch standen dort Soldaten in Reih und Glied, offenbar, um einen Befreiungsversuch zugunsten Forsons vereiteln zu können. Der König hatte sie vergessen, obwohl seine Falle noch aufgestellt und mit einem Köder versehen war. Tors Fanfarenbläser hatten von ihrer Ausdauer nichts eingebüßt. Sie spielten bis in den späten Nachmittag hinein, und erst lange nach dem Verstummen der Musik kehrte wieder normales Leben im Schloß ein, hörte man in den Korridoren das gewohnte Kommen und Gehen, fuhren beladene Wagen in den Hof, wurden die Soldaten weggeschickt, erinnerte sich schließlich jemand an Forson und brachte ihm zu essen. Es wurde dunkel. Forson beobachtete die wandernden Fackeln, bis ihn Langeweile und Erschöpfung von den schlaflosen Nächten im Verlies und dem langen, spannungsgeladenen Tag ins Bett trieben. Er wurde von einer drängenden Hand und einer geflüsterten Frage geweckt. »Chefkoordinator?« Er brummte schläfrig. »Kommen Sie! Schnell!« Er zuckte hoch. Seine Tür stand offen und ließ das Licht einer im Wandhalter steckenden Kerze hereindringen. Die über sein Bett gebeugte Gestalt warf einen riesigen Schatten. »Wer sind Sie?« flüsterte Forson. »Ultman. Konnten Sie lange nicht finden, sind spät dran, los.« Er zischte in ein Funkgerät: »Ich habe ihn, weg hier.« Dann setzte er sich in Bewegung. Forson raffte sich auf und eilte ihm nach. Auf dem Boden des Korridors lagen zwei bewußtlose Wachen.
Forson betrachtete sie mitfühlend, als er über sie hinwegstieg. Vor Morgengrauen würden sie im Verlies sein und einer Begegnung mit dem >schwarzen Kasten< entgegensehen. Ultman hastete den düsteren Korridor entlang, und Forson mußte laufen, um Schritt zu halten. An der ersten Kreuzung stießen sie auf drei weitere Wachen, die am Boden lagen. »Wir müssen uns beeilen«, keuchte Ultman. »Die Ladung war nur schwach.« Sie erreichten eine nach unten führende Rampe und rannten hinunter. Ultman blieb plötzlich stehen, winkte Forson an die dunkle Wand und trat vor, um um eine Ecke zu lugen. Er trug eine Uniform, die Forson nicht kannte, mit einer Kapuze, die sein Gesicht halb verbarg, und sein Gesicht Forson starrte ihn an, starrte ein altes, runzliges Gesicht mit entstellenden Schwellungen an. »Sieht ganz gut aus«, murmelte Ultman. »Ich hätte Ihnen gerne einen Mantel mitgebracht, konnte es aber nicht riskieren. Die Wachen sind heute zu argwöhnisch. Wir müssen es wagen. Los.« Forson rührte sich nicht. »Der Koordinator«, sagte er. »Was ist mit ihm?« »Ich glaube, daß er in diesem Stockwerk ist.« »Mit ihm geben wir uns später ab. Kommen Sie.« »Er ist Gefangener!« »Rastadt?« Forson nickte. »Zuerst war ich in diesem Stockwerk. Ich glaube es jedenfalls. Rastadt war im Nebenzimmer.« »Das ist etwas anderes.« Ultman schob seine Kapuze zurück und fuhr sich durch die Haare. »Versuchen muß ich es wohl. Ab morgen kommt monatelang niemand heraus oder hinein. Kommen Sie.« Sie gingen nebeneinander zurück. An der ersten Biegung blieb Ultman stehen und sah sich nachdenklich um. »Wissen Sie, wie wir ihn finden können?« Forson schüttelte den Kopf. »Für mich sehen diese Korridore alle gleich aus. Ich weiß nur, daß
man auf den Hof hinaussehen konnte.« »Auf welchen Hof?« »Ich wußte nicht, daß es mehr als einen gibt.« »Es gibt vier. Ich mache das besser alleine.« Er öffnete vorsichtig eine Tür und schaute hinein. »Vorratsraum. Warten Sie hier. Wenn ich nicht wiederkomme, nehmen Sie das.« Er gab Forson ein zusammengerolltes Seil. »Sie müssen sich dann allein durchschlagen. Versuchen Sie ein größeres Fenster zu finden, das an der Außenseite ist. Wenn Sie es bis zum Boden schaffen, erwartet Sie Hilfe.« Die Tür schloß sich, und Forson blieb in der Dunkelheit zurück. Eine Ewigkeit schien zu vergehen; nervös begann er das Seil zu betasten. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. »Schnell!« zischte Ultman. Rastadt wankte den Korridor entlang, leise stöhnend, die ausgezehrte Gestalt von einem schwarzen Mantel umhüllt. »Vielleicht können Sie ihn zum Schweigen bringen«, flüsterte Ultman gereizt. Forson ging Rastadt entgegen, legte den Arm um ihn, versuchte, ihn zu schnellerem Gehen zu bewegen. Ultman eilte voraus, sicherte den Weg und kam von Zeit zu Zeit zurück, um vergeblich größeres Tempo und mehr Ruhe zu verlangen. Rastadt wankte mühsam dahin und war auch nicht von seinem Stöhnen abzubringen, das neugierige Wachen wie ein Magnet anzog. Sie kamen nur stockend vorwärts. Ultman zog immer wieder eine seltsame, zischende Waffe und hinterließ auf ihrem Weg eine Reihe von bewußtlosen Wachen. Rastadts geschwächte Beine versagten vollends. Forson stützte ihn, so gut er konnte, und trieb ihn vorwärts, aber schließlich weigerte sich der Koordinator, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er lag schlaff in Forsons Armen, das Gesicht tränennaß, und schluchzte: »Geht fort. Laßt mich allein.« »Wir sind fast da«, zischte Ultman. Er drehte sich um, schlug Rastadt ins Gesicht und knurrte: »Weiter!« Der Koordinator taumelte vorwärts. Sie bogen um eine Ecke; Ultman schickte wieder eine Wache zu Boden und begann leise zu fluchen, als der Mann sich am Boden wälzte und aufzustehen versuchte. »Ladung verbraucht«, erklärte er und schlug dem Wachtposten den Kolben der Waffe an die Schläfe, bevor er eine Tür aufriß.
»Wenn draußen jetzt nicht alles im Eimer ist —« Forson drängte Rastadt in den Raum und schloß die Tür. Ultman war an ein schmales Fenster geeilt. Er ließ ein Licht aufblitzen; aus der Dunkelheit drang Lichtschein herauf. »Das Seil!« zischte Ultman. »Wir müssen uns hinuntergleiten lassen.« Er warf es hinunter, befestigte es am Fenster und wandte sich Rastadt zu. »Sie zuerst, Koordinator. Glauben Sie, daß Sie es schaffen?« Rastadt gab einen ächzenden Laut von sich. »Ich kann nicht!« Ultman richtete das Licht auf ihn. Rastadt schob seinen Mantel beiseite und hob beide Arme. Er hatte keine Hände mehr. Wortlos ergriff Forson das Seil und knüpfte es um Rastadts Brust, unter den Armen. Gemeinsam ließen sie den Koordinator hinuntergleiten. Wenn man seine frühere Beleibtheit bedachte, wirkte er erstaunlich leicht, aber das Seil war dünn und verbrannte ihnen die Handflächen, so oft es durchrutschte. Endlich erschlaffte es. Ultman stieß Forson an, der durch das Fenster kletterte. Das Seil glühte an seinen Händen, als er hinabsauste, mit den Beinen mühsam abbremsend. Er prallte so stark am Boden auf, daß er hinfiel; Ultman kam unmittelbar hinterher und stürzte auf ihn. Eifrige Hände hoben sie auf, und Ultman vollführte mit dem Seil einen Zaubertrick, riß es los und rollte es zusammen, während sie davoneilten. Hoch über ihnen wurde es an allen Fenstern hell. Die Jagd begann. Rastadt war schon weggetragen worden. Eine sichere Hand leitete Forson durch die Nacht, um die leblosen Gestalten der Wachen herum. Sie überquerten den riesigen Platz und überholten die Leute, die den Koordinator trugen, und erreichten eine Reihe von Gebäuden auf der gegenüberliegenden Seite. Eine Tür öffnete und schloß sich lautlos. Jemand schob Forson in ein erhelltes Zimmer und schlug ihm begeistert auf die Schulter. Die Stimme gehörte Joe Sornel, dem früheren Schenk; das häßliche Gesicht war unkenntlich, aber jedes Gesicht, zu dem diese Stimme gehörte, war für Forson ein Ausdruck überirdischer Schönheit.
»Wir haben es geschafft!« triumphierte Joe. »Ultmans Waffe ist genau das Richtige«, meinte Forson. Joe nickte. »Eine Betäubungspistole. Wir benützen sie nicht gerne, aber das war wohl ein Notfall.« »Sie haben gar keine Ahnung, was für ein Notfall!« »Wollen wir wetten?« fragte Joe grimmig. »Was, zum Teufel, ist schiefgegangen? Wir dachten, Sie verbringen einen ruhigen, angenehmen Urlaub, und plötzlich platzt Hance mit der Nachricht herein, daß Sie dem König in die Hände gefallen sind.« Forson sank auf einen Stuhl und ließ sich einen Becher Cril geben. Als er zu Atem gekommen war und den Becher geleert hatte, beschrieb er den durch Anns Verschwinden verursachten Aufruhr. Joe hob betroffen die Hände. »Weiber! Sie sollte bei Ihnen bleiben und Ihnen beim Ausarbeiten der Pläne helfen. Stattdessen kommt sie zurück, erklärt, daß Sie keinen Plan haben und nie einen haben werden. Sie wollten nur auf den Wiesen herumstrolchen und an den hübschen Blumen riechen. So ein Quatsch! Aber vielleicht war es doch ganz gut. Wir haben Rastadt!« »Wo ist er?« fragte Forson. »Sie haben ihn durch den Tunnel hinausgebracht. Es geht ihm schlecht, und da er getragen werden muß, hielten wir es für das beste, ihn so weit wie möglich fortzuschaffen, bevor die Ruffs auftauchen. Wir können uns ja verkrümeln, wenn es sein muß.« »Ist Leblanc in der Nähe?« »Er hat Rastadt begleitet. Du meine Güte - für die Hände müssen wir etwas tun. Haben Sie auf dem ganzen Weg hierher so geblutet? Lon, der Chefkoordinator hat eine Blutspur hinterlassen!« Lon eilte davon, um nachzusehen. Joe bestrich Forsons Hände mit kühlender Salbe und verband sie, dann lehnte er sich grinsend zurück und fragte: »Was ist mit den Fanfaren?« »Hat Ann nichts davon erzählt?« »Nein. Wir wußten überhaupt nichts, bis gestern Nachmittag auf dem südlichen Markt ein Haufen Einarmiger aufmarschierte. Alle Leute verdrückten sich, aber sie kamen sofort wieder, als sie zu spielen anfingen. Was bezwecken Sie damit?«
Forson betrachtete nachdenklich und schweigend seine bandagierten Hände. »Wir waren viel zu beschäftigt, Sie herauszuholen, um über die Fanfarenbläser nachdenken zu können, aber, wie ich zu Paul sagte, als sie zu spielen anfingen, wenn man Fanfaren braucht, um Kurr eine Demokratie zu geben, wundert mich nicht, daß das IPB-Amt hier keine Fortschritte gemacht hat. Es würde viertausend Jahre dauern, bis von den IPB-Leuten einer an Fanfaren denkt. Hast du etwas gefunden, Lon?« »Nein«, sagte der andere IPB-Mitarbeiter. »Viel kann er nicht geblutet haben. Aber sie kommen mit Fackeln. In alle Richtungen schwärmen sie aus. Sie werden jedes Haus durchsuchen.« Joe schnitt eine Grimasse. »Sie warten nicht, bis es hell wird. Nehmen Sie Ihren Becher mit, Chefkoordinator. Lon möchte nicht, daß die Ruffs etwas von einem Besucher merken. Sie können ihn im Tunnel lassen Viel Glück, Lon. Bis morgen - vielleicht.« Er führte Forson zum Tunnel hinunter. Sie folgten einer verwirrenden Route, die Forson an die Nacht vor der Katastrophe erinnerte. Als er aus dem fünften Tunnel auftauchte, sagte er staunend: »Haben sie den Koordinator hier überall hindurchgeschleppt?« »Hilfe gab es genug«, antwortete Joe. »Wir haben auch Abkürzungen, aber mit dem Koordinator konnten sie die natürlich nicht benützen. Die Ruffs werden heute alle Rekorde brechen. Sie müssen auch den Straßen fernbleiben, bis Ihre Hände wieder heil sind.« »Und meine Haare gewachsen sind?« meinte Forson. »Dafür genügt eine Perücke. Sie können sich unter hundert Frisuren etwas aussuchen.« Leblanc erwartete sie an ihrem Ziel, einem weiteren Tiefkeller mit verstecktem Zugang. Der Kommandeur des Stabes war nicht länger ein älterer Gutsbesitzer. Er hatte dichteres, dunkleres Haar, trug die Kleidung eines einfachen Arbeiters und genau den passenden Gesichtsausdruck dazu. Er ergriff geistesabwesend Forsons verbundene Hände, entschuldigte sich erschrocken und untersuchte sie besorgt.
»Es ist eine Freude, Sie zu sehen«, sagte er. »Wir haben einen schweren Fehler gemacht und uns ernsthaft verrechnet. Ich bin froh, daß es nicht schlimmer ausgegangen ist.« »Wie geht es dem Koordinator?« fragte Forson. »Schlecht. Er ist seelisch und körperlich schwer krank.« Er seufzte. »So etwas kommt vor. Ich weiß, daß ich in diesem Fall nicht verantwortlich bin, aber ich denke immer daran, wie leicht es zu verhüten gewesen wäre. Er möchte Sie sprechen. Angenehm wird es nicht sein. Fühlen Sie sich dem gewachsen?« Forson nickte. Leblanc Öffnete eine Tür und trat zur Seite. Forson ging auf den Strohsack zu, auf dem der Koordinator lag. Lange Zeit nahm ihn Rastadt nicht wahr. Schließlich drehte er den Kopf zur Seite und begegnete Forsons Blick. »Danke«, sagte er und brach in Tränen aus. Leblanc zog Forson mit hinaus. Im Nebenraum drückte er ihn auf einen Stuhl, füllte eine Schale mit Wein für ihn und sagte ernst: »Wir haben einen ungeheuerlichen Fehler gemacht.« »In welcher Beziehung?« erkundigte sich Forson. »Rastadt war Gefangener, seit Sie mit ihm in Kurr gelandet sind.« »Sie meinen - der Hinterhalt an der Küste -« Leblanc nickte. »Er wurde gefangengenommen, insgeheim nach Kurra gebracht und seitdem streng bewacht. Man hat ihn gefoltert. Auf entsetzliche Weise.« »Aber Sie bekamen doch eine Nachricht von ihm, nachdem -« Forson richtete sich plötzlich auf und verschüttete Wein. »Wheeler!« »Ja. Wheeler, verdammt soll er sein. Er war es, der Ihnen die falsche Sprache gegeben, Sie beide in larnorische Kostüme gekleidet, einen Landeplatz ausgesucht hat, wo der Stab B die geringste Möglichkeit hatte, einzugreifen — und der die Leute des Königs von Ihrem Kommen verständigte. Nachdem Sie beide gefangen waren - wie er annahm -, riß er im Stützpunkt die Macht an sich und zeichnete seine Mitteilungen mit Rastadts Namen. Als er schließlich erfuhr, daß Sie sich in Sicherheit befanden, versuchte er den ganzen Stab zu vernichten, um seinen Verrat zu verheimlichen.«
»Ich verstehe.« »Rastadt war einfach ein verbrauchter, alter Mann, der die Zügel nicht mehr halten konnte. Wheeler war viele Jahre sein Vertreter gewesen, Ein guter Vertreter - zu gut. Er schuf Rastadts Ruf, und Rastadt verließ sich blind auf ihn. Ich nehme an, daß es weh tat, die Arbeit zu leisten, für die ein anderer die Ehren einheimste, aber das ist keine ausreichende Erklärung.« Er schüttelte den Kopf. »Es war Wheeler, der sich - in Rastadts Namen - in die Angelegenheiten des Einsatzstabes einmischte. Der Koordinator wußte überhaupt nichts davon. Er wußte nahezu nichts über Kurr und sehr wenig von Larnor. Das war der Grund, warum Wheeler ihn so düpieren konnte. Sie natürlich auch.« »Wheeler muß aber einen Großteil des Stützpunktpersonals korrumpiert haben.« »Das fürchte ich auch.« »Aber warum? Bei Wheeler ist es ebensowenig verständlich wie bei Rastadt.« Leblanc sagte langsam: »Ich weiß es nicht. Ich - weiß - es - nicht.« »Sie haben versucht, Rastadt zum Sprechen zu bringen«, sagte Forson. »Er hätte Ihnen selbst dann nichts sagen können, wenn er gewollt hätte, weil er so wenig wußte. Deshalb ist er auch gefoltert worden.« Leblanc nickte, mit gequältem, bleichem Gesicht. »Und das erklärt das seltsame Verhalten des Königs mir gegenüber«, fuhr Forson fort. »Die Folterung hatte Rastadt nicht zum Sprechen gebracht. Wahrscheinlich ist das in der ganzen Geschichte Kurrs noch nicht vorgekommen. Als ich behauptete, nichts zu wissen, wurde der König nachdenklich. Er hatte schon einen hohen Beamten des IPB dem >schwarzen Kasten< ausgesetzt und nur einen verstümmelten Gefangenen dafür erhalten. Es lohnte sich nicht, mich ebenso zu behandeln, wenn das Ergebnis nicht anders ausfiel. Er versuchte, sich für mich etwas Besseres auszudenken.« »Und hat dadurch Ihre Rettung ermöglicht«, sagte Leblanc mit einem schwachen Lächeln. »Wenn er seine Ruffs nicht hinausgeschickt und Sie durch die Straßen geführt hätte, wäre er in der Lage gewesen,
Sie beliebig lange festzuhalten, ohne daß wir etwas gewußt hätten.« »Und wenn der Koordinator nicht seine Hände verloren hätte, dann ich die meinigen.« Leblanc zuckte die Achseln. »Was geschehen ist, war seine eigene Schuld, aber ich empfinde trotzdem Mitleid mit ihm. Er hat für eine so kleine Sünde wie das Festhalten am Amt, obwohl er es nicht mehr ausfüllen konnte, bitter bezahlen müssen. Sehr bitter. Aber es ist nun einmal geschehen.« Er straffte die Schultern. »Erzählen Sie mir von den Fanfaren.« »Was wollen Sie wegen Wheeler unternehmen?« »Nichts. Wir bleiben bei dem Plan, den Sie vorgeschlagen haben, als wir Rastadt für den Schuldigen hielten. Wir ignorieren ihn.« »Hatten Sie Verbindung mit dem Stützpunkt?« »Seit der Mitteilung, die uns den Rückzug befahl, nicht mehr. Wir haben einfach alles abgeschaltet.« Er hob die Schultern. »Wheeler interessiert uns nicht. Er kann uns nichts tun. Wie ist das mit den Fanfaren?« Forson lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Kulturforscher, aber mir kam es so vor, als spielten sie großartig«, meinte Leblanc. »Die Kurranier scheinen überaus musikalisch zu sein.« »Sie lieben jedenfalls Fanfarenmusik. Als die Bläser eintrafen, zog sich alles zurück. Die Läden schlossen, die Bauern warfen ihre Erzeugnisse wieder auf die Karren, die Bürger rannten weg, um sich zu verstecken, und die Fanfarenbläser standen unschuldig dabei, als hätten sie nichts damit zu tun. Dann begannen sie zu spielen, und als sie mit dem ersten Stück fertig waren, hatte sich der Platz zum Bersten gefüllt. Die Leute tobten und warfen wie verrückt mit dem Geld herum. Noch ein paar Wochen so, und Ihre Musiker werden steinreich. Ich muß zugeben, daß ich nicht begreife, worauf Sie hinauswollen.« »Das soll ein wissenschaftliches Experiment sein«, erwiderte Forson. »Die alte Geschichte mit der unwiderstehlichen Kraft.« »Ich verstehe aber immer noch nicht -« »Das kann auch gar nicht sein«, sagte Forson. »Ich verstehe es selbst nicht. Ich fürchte, daß meine unwiderstehliche Kraft in die falsche Richtung zielt, kann aber nichts dagegen tun, weil ich die richtige nicht
kenne.«
15 Es gab in Kurra keinen freien Platz, der groß genug gewesen wäre, um alle diejenigen aufzunehmen, die sich die Fanfarenmusik anhören wollten, so daß Tor am zweiten Tag seine Musiker in fünf Gruppen aufteilte - vier für die Marktplätze, und die fünfte und zugleich größte für den Platz vor dem Schloß. Forson schaute von einem Fenster über dem Südmarkt aus zu und entdeckte zu seiner Verblüffung, daß Tor auf irgendeine Weise die visuellen Möglichkeiten der Fanfarenmusik erfasst hatte. Seine Musiker trugen wallende, scharlachrote Umhänge - der Beauftragte hätte mit den Zähnen geknirscht, angesichts dieser Vergeudung wertvoller Stoffe und standen hochaufgereckt da, die Fanfaren steil erhoben. Beim Spielen vollführten sie mit ihren funkelnden Instrumenten ein synchron abgestimmtes Bewegungsballett. Die Wirkung auf das Auge war so überwältigend wie die Musik. Die dichtgedrängte Menge auf dem Marktplatz brach nach jedem Stück in ekstatischen Jubel aus, und Forson mußte trotz der Entfernung seine Stimme erheben, um sich verständlich zu machen. »Haben sich die Ruffs nicht mit ihnen befaßt?« fragte er. Joe Sornel grinste vergnügt. »Die Ruffs haben heute besseres zu tun. Sie suchen alle nach Ihnen. Es heißt, daß fünfzehn Mann von der Palastwache auf dem Weg zu einem Einhand-Dorf sind, und wenn die Ruffs Sie nicht finden, und zwar umgehend, bekommen die Einhänder Gesellschaft. Beruhigen Sie sich. Ihr Fanfarentrick hat wirklich Erfolg, denn die Ruffs finden keine Zeit, um sich einzumischen.« »Er hat zuviel Erfolg«, sagte Forson bedrückt. Leblanc stürmte aufgeregt ins Zimmer. Die Menschenmenge war wieder in einen Beifallssturm ausgebrochen, und er wartete händereibend, bis der Lärm nachließ. »Ich glaube, langsam begreife ich, wohin der Hase läuft«, erklärte er zufrieden. »Ich fange an, zu verstehen. Sie werden mir wohl nicht erklären wollen -« »Was soll ich Ihnen erklären?« »Lassen Sie nur. Der König hat ein eigenes Festspiel angeordnet,
dessen Hauptattraktion Ihre Fanfarenbläser sein sollen.« Forson starrte ihn ungläubig an. »Der König hat was getan?« »Ein Festspiel angeordnet. Gehen wir hinunter, damit wir uns unterhalten können.« Forson begleitete ihn gehorsam in den Keller, wo Musik und Applaus nur noch gedämpft zu hören waren. »Der König hat ein Fest befohlen«, wiederholte Leblanc. »Für heute abend. Ihre Fanfarenbläser werden die Stars sein. Vermutlich locken sie eine Rekordzahl von Zuschauern an. Wirklich schade, daß Sie nicht hingehen können.« »Es ist wohl besser, wenn ich es Ihnen gleich sage«, meinte Forson resigniert. »Mein Plan ist gescheitert.« »Was haben Sie denn erwartet?« »Nicht das. Wieviel Zeit haben wir, bis uns die Chefzentrale hier herausholt?« »Keine Ahnung. Vielleicht eine Ewigkeit. Seit ich weiß, dass Wheeler für die ganze Geschichte verantwortlich ist, bezweifle ich, ob die Chefzentrale überhaupt etwas erfahren hat. Seine Mitteilung, daß der Planet geräumt werden müsse, war nur ein Trick, um den Einsatzstab in eine Falle zu locken. Ich vermute, daß er sich nicht getraut, einen Bericht vorzulegen, weil die Chefzentrale früher oder später Streitkräfte schicken würde, um das gesamte IPB-Personal, ihn eingeschlossen, abzuholen. Darauf können Sie sich verlassen. Und was danach käme, wäre für Unterkoordinator Blagdon Wheeler sicher nicht erfreulich.« »Er hat vielleicht die Möglichkeit, das abzuwehren.« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Einer der Gründe, warum Wheeler so gefährlich ist, liegt darin, daß man ihn so leicht unterschätzt«, sagte Forson, Leblancs Blick erwidernd. »Wenn er eine Methode weiß, das abzuwehren, hat er den Bericht vermutlich eingereicht. Und das bedeutet, daß wir nur ganz wenig Zeit haben.« »Wieviel Zeit brauchen Sie?« »Genügend Zeit, um mir etwas Neues einfallen zu lassen und von vorne anzufangen.« Leblanc riß die Augen auf.
»Ist es das Fest, das Ihren Plan zunichte gemacht hat? Was haben Sie erwartet? König Rovva liebt Musik und alle Künste ebensosehr wie seine Untertanen.« »Noch viel mehr«, meinte Forson trocken. »Und damit habe ich nicht gerechnet.« Ann Cory brachte ihr Mittagessen. Sie war als junge, kurranische Hausfrau maskiert, ein gewaltiger Fortschritt gegenüber ihren früheren Rollen. Sie nickte, ohne ihn anzusehen, gab ihm eine Schüssel mit kurranischem Eintopf und erklärte schüchtern, daß die Fanfarenmusik sehr hübsch sei. »Was tun Sie jetzt?« erkundigte sich Forson. »Nichts«, sagte sie. Sie zerteilte Brot für sie, füllte ihre Cril-Becher, häufte Obst in eine Schale und eilte davon. Leblanc entfernte sich gleich nach dem Essen, und als er gegangen war, sagte Joe lächelnd: »Ann hat ein schlechtes Gewissen. Außerdem hat sie von Paul einen argen Rüffel dafür bekommen, daß sie Sie im Stich gelassen hat. Wenn sie sich an die Anweisungen gehalten hätte und dort geblieben wäre, hätte niemand zu zählen angefangen, und Sie wären unbehelligt geblieben. Ihre Unvernunft hätte Sie einen Arm oder mehr kosten können. Das belastet ihr Gewissen. Außerdem hat Paul sie von ihren Pflichten entbunden und dem Küchendienst zugeteilt.« »Dafür ist sie eine zu wertvolle Mitarbeiterin.« »Sicher. Aber auch ein guter Mitarbeiter muß sich an die Befehle halten, sonst erreichen wir gar nichts. Aber Sie brauchen ihr ja nur einen Auftrag zu erteilen, wenn es Sie stört. Sie sind hier der Chef.« »Ich wüßte keinen Auftrag«, sagte Forson. »Aber sie soll sich den Abend freinehmen und das Fest besuchen. Alle anderen Leute werden es auch tun.« Joe grinste und ging hinaus, um ihr die Nachricht zu überbringen. Als er zurückkam, machte er ein grimmiges Gesicht. »Weiber! Nein danke, hat sie gesagt, die Fanfaren hätte sie schon gehört. Wollen Sie einen Befehl daraus machen?« Forson schüttelte den Kopf. »Gehen Sie zum Fest?« »Nein. Paul sagte, Sie dürften unter keinen Umständen allein gelassen werden, und die Wahl ist auf mich gefallen. Außerdem habe ich die
Fanfaren ja auch schon gehört.« Forson blieb mit Joe auf und wartete, immer noch in der vagen Erwartung, daß aus dem Debakel irgendein Nutzen zu ziehen sein könnte, aber die Festbesucher kehrten um Mitternacht zurück und berichteten, daß Tors Musiker einen grandiosen Erfolg erzielt hatten. Sie durften das Programm eröffnen, und als die Zuhörer sie nicht abtreten ließen, spielten sie den ganzen Abend hindurch. »In ganz Kurra wird nur noch von Fanfarenmusik gesprochen«, sagte Leblanc. »Eine solche Aufregung habe ich noch nicht erlebt. Wenn Sie an eine Aktion denken, ist jetzt die Zeit dafür. Eines der Stadttore war heute abend unbewacht. Die Posten müssen weggelaufen sein, um sich die Musik anzuhören. Was wollen Sie unternehmen?« »Nichts«, sagte Forson. »Ich habe es Ihnen doch schon erklärt - es hat nicht funktioniert. Haben Sie einen Plan?« »Ich?« Leblanc sah ihn verblüfft an. »Dann liegt es also an mir«, meinte Forson resigniert. »Und wir wissen überhaupt nicht, wieviel Zeit uns bleibt. Ich werde es überschlafen, und morgen halten wir eine Besprechung ab, um festzustellen, ob vielleicht jemand eine Idee hat.« Er schlief lange. Gegen Mittag platzte Leblanc in sein Zimmer. Forson war schlagartig hellwach und stürzte zu einem Notausgang. Leblanc hielt ihn zurück. »Sie Genie!« keuchte er. »Was ist denn jetzt passiert?« fragte Forson entgeistert. »Der König hat eben eine Proklamation erlassen. Keine Fanfarenmusik mehr. Alle Fanfarenbläser haben den Befehl erhalten, sofort in ihre Einhand-Dörfer zurückzukehren. Jedem, der an einem öffentlichen Platz eine Fanfare hören läßt, hat die schlimmsten Konsequenzen zu erwarten. Ebenso jeder Zuhörer. Das wollten Sie doch, nicht wahr?« Forson nickte. »Aber, wie zum Teufel - warum hat der König - und gestern abend ehrte er sie noch mit einem festlichen Auftritt!« Leblanc wedelte aufgeregt mit den Armen. »Wie geht es weiter?« »Schicken Sie Tor eine Nachricht«, sagte Forson. »Senden Sie Grüße
vom Erschaffer der Fanfaren. Sagen Sie ihm, er soll mit seinen Leuten durch die Straßen zum Schloß marschieren und dem König eine Bittschrift vorlegen.« Der Baustil eines Gebäudes veränderte sich für Forson auf subtile Weise, sobald er es einmal betreten hatte, aber der massige Steinpalast in Kurra blieb einfach massig. Tatsächlich bestand das Schloß aus mehreren, miteinander verbundenen Gebäuden, und als Forson es von der anderen Seite des Platzes aus betrachtete, kam ihm plötzlich eine Erleuchtung. Er sah an der kurranischen Architektur etwas, das ihn von Anfang an beschäftigt hatte. Es war eine erstarrte Kunst. Sie hatte sich von gebogenen Bäumen zu gebogenen Holzwänden und schließlich zu einer starren Norm entwickelt, die auch Steinbauten mit ausladenden Wänden erzwang. In einem Schloß dienten sie natürlichen Verteidigungszwecken, aber das erklärte kaum ihre allgemeine Verwendung in Kurr. Die politische Situation im Land war Jahrhunderte hindurch stabil gewesen, die Bevölkerung auf dem gleichen Stand, die Technologie undynamisch. Die Arbeitsqualität war so hoch, dass die Gebäude nahezu ewig hielten. Demzufolge wurden kaum neue Bauten errichtet, und diese wenigen waren genaue Kopien der alten, mit zusätzlichen Verzierungen. Das Problem der kurranischen Architektur war, daß es keine Architekten gab. Man hatte keine Arbeit für sie. »Sehen Sie da drüben etwas?« fragte Leblanc. »Nein«, antwortete Forson, ohne den Blick vom Schloß abzuwenden. »Ich habe nur eine Entdeckung gemacht, was die kurranische Architektur betrifft. Es gibt keine kurranischen Architekten - nur Baumeister.« Er drehte sich um und entdeckte sich als Zielscheibe verblüffter Blicke. »Wie können Sie in einem solchen Augenblick über Architektur nachdenken?« brauste Leblanc auf. »Wie können Sie ein Gebäude betrachten, ohne an die Architektur zu denken?« erwiderte Forson. Der Platz begann sich bereits zu füllen. Mindestens ein Viertel davon waren erstaunlicherweise Frauen, und in der Stadt hieß es sogar, am
vergangenen Abend hätten einige Frauen, als Männer verkleidet, das Fest besucht. Forsons Fanfaren schienen eine Nebenrevolution hervorzurufen, mit der er nicht gerechnet hatte. Von allen Seiten gafften Kinder, viele aus Fenstern, die meisten aber auf den Dächern, wo sie in Kurra zu Hause waren. Zum Glück gab es auf dem Platz selbst keine Kinder. Forson rechnete mit allem und hoffte nur, daß dabei keine Kinder zu Schaden kommen würden. Die Nachricht, daß der König die Fanfarenbläser verbannt hatte und daß sie auf dem Weg zum Schloß waren, hatte sich mit Windeseile in der Stadt verbreitet. Die Bewohner hatten sich zuerst zurückgezogen, waren dann jedoch plötzlich auf die Straßen geeilt, um das Geschehene zu bereden. Der Stab B hatte überall Gerüchte ausgestreut, aber die geringe Zahl der Mitarbeiter wäre nie in der Lage gewesen, eine solche Menge auf die Beine zu bringen. Der einzige Grund, warum sich nicht ganz Kurra versammelt hatte, war der, daß der Platz nicht groß genug war. Die Menschenmenge reichte bis weit in die dort zusammenlaufenden Straßen hinein, und alle versuchten vergeblich, sich noch auf den Platz zu drängen. Die Menschenmenge war seltsam still. Forson betrachtete sie zweifelnd von seinem Fenster aus und kam sich vor wie ein Amateurchemiker, der nach Belieben ein paar Chemikalien zusammengemischt und eine Zündschnur angeschlossen hatte. Jetzt glomm die Lunte, aber er wußte nicht, ob die Mischung explodieren oder harmlos verpuffen würde. »Ich habe nur einmal eine Menge erlebt, die sich so verhalten hat, und das war auf einem anderen Planeten, beim Begräbnis eines Nationalhelden«, sagte Leblanc leise. »Betrauern sie wirklich den Tod der Fanfarenmusik?« »Sie sind neugierig«, meinte Ann. »Aber warum sind sie so still?« fragte Leblanc. »Das richtige Wort dürfte >scheu< sein«, sagte Ann. »Wann hat in Kurr das letztemal jemand eine Petition an den König gerichtet? Ich sage, sie sind verschüchtert - und neugierig.« »Falsch«, sagte Forson. »Sie sind fassungslos - das hoffe ich wenigstens.« »Fassungslos, daß jemand wagt, sich an den König zu wenden?«
»Fassungslos darüber, daß der König die Fanfarenbläser verbannt hat. Sie wollen es nicht glauben.« »Hoffen Sie«, sagte Ann trocken. Forson nickte. »Hoffe ich.« Ferner Jubel drang zu ihnen. Hell schimmerte es auf dem Platz auf, als sich jedermann umdrehte. Die Musiker erschienen. Sie näherten sich mit quälender Langsamkeit. Die Leute schoben und drängten zurück, um eine schmale Gasse zu bilden, die sich augenblicklich schloß, sobald sie hindurch waren. Sie gingen zu zweit nebeneinander, mit flatternden, roten Umhängen, die schimmernden Instrumente hoch erhoben. Man bejubelte sie auf dem ganzen Weg über den Platz, aber obwohl ihnen Raum gemacht wurde, wurden sie immer langsamer, je mehr sie sich dem Schloß näherten. Sie blieben vor der imposanten Fassade stehen. Von der Ferne wirkten sie wie ein scharlachroter Streifen in einem Meer vielfältiger Farben. Die Menge verstummte völlig. Leblanc schaute durch ein Fernglas und flüsterte: »Ich sehe den König. An dem großen Mittelfenster. Das ist sein Beobachtungsplatz bei großen Festen.« Sie hörten nichts von Tors Petition - nur ein anschwellendes Gemurmel der Zustimmung der Menge, als er geendigt hatte. Der König gab offenbar eine kurze Antwort, aber davon drang nichts über den Platz. Die Musiker kehrten um und zwängten sich wieder durch die Menge. Die Lunte war abgebrannt, und Forson konnte buchstäblich das enttäuschende Zischen hören. »Ein Blindgänger«, sagte er resigniert. »Blindgänger?« rief Leblanc. »Ist Ihnen klar, daß wir zum erstenmal seit vierhundert Jahren eine öffentliche Demonstration zustande gebracht haben? Was kommt jetzt?« »Ich weiß nicht. Es sei denn -« Forson beugte sich weit aus dem Fenster und schrie, so laut er konnte: »Musik!« Leblanc fiel sofort ein und brüllte Forson das Wort so plötzlich ins Ohr, dass jener beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Gemeinsam brüllten sie: »Musik! Musik!« Die Menge unter ihnen nahm den Ruf auf, und binnen Sekun-den war er zu einem donnernden, rhythmischen Schrei ange-schwollen, der
über den Platz hinwegbrauste. »Musik! Musik!« Die Musiker hatten die Mitte des Platzes erreicht und trugen ihre Instrumente immer noch über den Köpfen. Forson beobachtete sie gebannt. Würden sie dem König trotzen und spielen? Sie mußten es, wenn die Demonstration zu einem Erfolg werden sollte. Schwankten sie? Würde Tor es wagen? Auf der anderen Seite des Platzes öffnete sich das große Tor des Schlosses, und die Ruffs des Königs stürmten heraus. Sie hieben mit Schwertern und Lanzen um sich und arbeiteten sich durch die Menge vor. Einen Augenblick lang wichen die erstaunten Bürger zurück, dann wandten sie sich mit einem Aufschrei gegen sie, drängten in Wellen heran, ergriffen die Ruffs, schleuderten sie zu Boden, trampelten sie nieder. Erbeutete Waffen wurden trotzig gegen die Schloßfenster geworfen. Die Menge schlug wie eine Flutwelle an das Portal, brach es auf und strömte hindurch. Vom Platz her, von den Straßen dahinter rückte die zornige Bevölkerung unaufhaltsam gegen das Schloß an. Für kurze Zeit standen Tors Musiker wie eine scharlachrote Insel in der Flut und sahen die Bewohner vorbeiströmen. Dann senkten sie ihre Instrumente, und über dem pulsierenden Aufschrei der Menge schwebte der triumphierende Klang der Fanfaren. Forson sah sich allein im Zimmer. Dies war der Augenblick, auf den der Stab B vierhundert Jahre gewartet hatte, die Krise, die zu nutzen er vorzüglich ausgerüstet war. Leblanc tauchte schon in der Menge auf und begann die Leute anzustacheln. Unmittelbar unter Forsons Fenster ruderte Joe wild mit den Armen und schrie sich heiser, aber kein Wort drang zu Forson herauf. Der Lärm war so ohrenbetäubend geworden, daß sogar die Fanfaren untergingen. Tors Musiker ließen die Instrumente sinken und beobachteten wie betäubt die tobenden Massen. Auf der anderen Seite hatte sich der Schloßhof mit der aufgebrachten Vorhut gefüllt. Forson bezweifelte, ob sie die massiven Türen allein mit den Leibern aufzusprengen vermochte, aber das war Leblancs Problem. Er hatte den Aufstand, den er sich wünschte; er würde wissen, wie man ihn verwerten mußte. Forson drehte sich um und sah Ann neben sich
stehen. Ihre Lippen bewegten sich, aber er konnte nichts hören. Er schüttelte den Kopf, sie lächelten einander an, und dann nahm er sie in die Arme. Plötzlich glitt ein Schatten über den Platz, und im selben Augenblick erstarrten die Leute und verstummten, während sich Tausende blasser Gesichter nach oben hoben. Forson ließ Ann los. Sie standen am Fenster und schauten entgeistert auf die Menschenmassen hinunter, die so schlagartig verstummt waren. Der Schatten kehrte zurück. Ein Flugzeug schwebte in niedriger Höhe über den Platz, eines der lautlosen Flugzeuge, die das IPB-Amt für seine Kontakte mit Kurr benützte. Nicht einmal ein gedämpftes Surren erreichte Forsons Ohr, als die Maschine über dem Haus schwebte. Einen Augenblick später kam sie zurück und stieg langsam höher. Sie kreiste über dem Schloß und setzte zum Sturzflug an. Die Menge floh in panischer Angst. Eine Masse, die sich in Stunden angesammelt hatte, verschwand in Minuten. Die schon in den Schloßhof eingedrungenen Leute waren mit dem Niederbrechen der Türen zu sehr beschäftigt gewesen, um das Flugzeug zu bemerken, aber sie spürten plötzlich die fehlende Unterstützung der Menschenmassen, schwankten und wurden von den Ruffs durch das Tor zurückgetrieben. Das Flugzeug stürzte wieder herab, und sie flohen entsetzt in die engen Straßen. Die Ruffs hatten ebensoviel Angst wie die Bürger; sie flüchteten Hals über Kopf auf das Schloß zu. Wie von einer Zauberhand berührt, lag der Platz plötzlich verlassen da, abgesehen von denjenigen, die bei der Flucht gestrauchelt waren. Sie lagen regungslos auf dem Boden, und niemand kam zurück, um sie zu holen. Das Flugzeug kreiste und stieß herab, immer wieder, und lange, nachdem der Platz leer war, konnte man es über der Stadt schweben und immer wieder herabstürzen sehen, wo es die Kurranier bis zu ihren Häusern verfolgte. Schließlich schoß es empor, wackelte mit den Tragflächen und flog davon. Leblanc kam atemlos ins Zimmer, die Kleidung zerfetzt, das Gesicht von einem Bluterguß entstellt. »Wheeler!« keuchte er. »Entweder ist er im Schloß, oder er hat dort jemanden postiert.« Er rang nach Atem. »Wheeler —« »Sind die Musiker ungeschoren entkommen?« fragte Forson.
»Ich denke schon. Wheeler —« »Mehr Sorgen macht sich IPB um die Menschen nicht?« fuhr ihn Forson an. »Sind sie nur Figuren, die auf dem Schachbrett hin- und hergeschoben und weggeworfen werden, wenn das Spiel beendet ist? Ihr braucht diese Musiker vielleicht noch einmal!« »Natürlich machen wir uns Sorgen«, sagte Leblanc betroffen. »Ich habe jemanden geschickt, um festzustellen, ob sie entkommen sind. Aber Wheeler -« Seine Stimme versagte. Andere waren eingetroffen - Joe, Hance Ultman, Sev Rawner. Alle waren verletzt, hatten aber noch nichts davon bemerkt. Sie trugen die entsetzten Gesichter von Menschen, vor deren Augen eine Welt untergegangen ist. Die IPB-Welt. Nach vier Jahrhunderten klugen Versteckspiels hatte ein verräterischer IPB-Beamter schlagartig und unwiderruflich die Anwesenheit des IPB-Amtes aufgedeckt, bei Tag, über der Hauptstadt von Kurr, vor den entsetzten Augen der gesamten Einwohnerschaft. »Tut mir leid«, sagte Forson. »Ich habe übereilt gesprochen. Fanfaren können jetzt nicht mehr helfen. Kurr ist nicht mehr zu retten. Wenn der König von Wheeler mit Flugzeugen unterstützt wird, kann hier keine Revolution gelingen.«
16 Nacht fiel über eine tote Stadt. Hance Ultman, zum Spähdienst abgeordnet, sah in den finsteren Straßen niemanden und entdeckte nicht eine einzige brennende Schenkenfackel. Die Stadttore waren unbewacht. In den Häusern sah man kein Licht. Außer im Schloß des Königs, wo die oberen Stockwerke hell erstrahlten, kauerten die Bewohner Kurras zitternd im Dunkeln. Einige Angehörige des Einsatzstabes versammelten sich im Tiefkeller und schrieben Berichte und verglichen Beobachtungen, aber nicht einmal diese Demonstration eiserner Disziplin konnte die Tatsache verbergen, daß sie alle tief betroffen waren. »Was ist mit den Musikern?« fragte Forson. »Alles in Ordnung«, erwiderte Leblanc. »Ein paar Prellungen, ein paar demolierte Instrumente, nichts Ernstes. Haben Sie eine Nachricht für sie?« »Sagen Sie Tor, sie sollen weiterspielen.« »König Rovva ist kein Dummkopf, wie ich vielleicht schon erwähnt habe. Er wird denselben Fehler nicht zweimal begehen. Er wird die Fanfarenbläser spielen lassen.« »Ich fürchte, Sie haben recht«, meinte Forson. »Ich habe noch nie eine Revolution erlebt, die so schnell erstickt wurde, aber - ich habe auch noch nie vom Verrat eines IPB-Beamten gehört. Wenn Sie noch etwas im Hinterhalt haben, müssen Sie es herausrücken, bevor die Katastrophe endgültig ist.« Forson, auf den erwartungsvoll alle Blicke gerichtet waren, konnte nur die Achseln zucken und wiederholen: »Sagen Sie Tor, er soll weiterspielen.« Händler vom Land, die am Vortag nicht in Kurra gewesen waren, zogen in der Morgendämmerung durch die unbewachten Stadttore und stellten sich auf den Marktplätzen auf – ohne Kunden zu finden. Als die Sonne immer höher stieg und der riesige Todesvogel mit dem häßlichen, schnellen Schatten nicht zurückkam, faßten die Bewohner jedoch wieder Mut und wagten sich aus ihren Häusern. Sie versammelten sich nicht im Freien, sondern in den Tunnelstraßen und Läden, um furchtsam zu besprechen, was sie erlebt hatten. Die Händler zogen sich mit ihren Waren
unter die schützenden Vorbauten zurück, und die Bürger kauften hastig ein, was sie brauchten, ohne lange zu handeln. Mittags marschierten Gruppen von Musikern auf die Marktplätze. Während sie trotzig spielten, suchten sie angstvoll den Himmel nach dem Todesvogel ab und die angrenzenden Straßen nach Ruffs. Sie spielten nicht gut und zogen auch nicht die Zuhörermassen an, die sie gewöhnt waren. Leblanc sagte zum zehntenmal zu Forson: »Wenn Sie noch irgend etwas vorbereitet haben -« »Setzen Sie Ihre Nachrichtenverbindungen wieder in Betrieb«, sagte Forson. »Wir können es nicht riskieren. Wir wüßten nie, wann Wheeler mithört.« »Das rechtzeitige Eintreffen des Flugzeuges kann kein Zufall gewesen sein. Wheeler scheint sich auch so zu verständigen. Wie wäre es, wenn wir ihn belauschen würden?« Leblanc schlug sich an die Stirn und lief murmelnd hinaus. Forson suchte Joe Sornel. »Ich habe Rastadt beinahe vergessen«, sagte er. »Wie geht es ihm?« »Er ist immer noch im Delirium. Wir mußten ihn in ein schalldichtes Zimmer bringen. Wenn er aufwacht, brüllt er etwas von einem schwarzen Kasten.« »Verständlich. Er weiß vermutlich nichts, was uns weiterhelfen könnte, aber ich möchte mit ihm sprechen, sobald er dazu fähig ist.« »Ich sage Ann Bescheid«, versprach Joe. »Sie pflegt ihn. Sonst noch etwas?« »Sagen Sie ihr -« Forson unterbrach sich. »Lassen Sie nur.« Joe grinste mitfühend. »Weiber! Mensch, das war wirklich eine feine Revolution, die Sie da ausgelöst hatten. Ich hätte nie geglaubt, daß ich in Kurr so etwas erlebe. Wir haben uns darüber unterhalten, verstehen aber immer noch nicht, wie Sie das geschafft haben.« Joe schüttelte gutmütig den Kopf. »Spaß hat es jedenfalls gemacht, wenn auch nicht lange. Ich spreche mit Ann.« Er verließ das Zimmer und stieß beinahe mit Leblanc zusammen, der
um ihn herumging, sich betont langsam niederließ und Forson fragte: »Sind Sie auf eine Überraschung gefaßt?« »Seit ich hier gelandet bin, komme ich nicht aus ihnen heraus«, erwiderte Forson. »Wheeler möchte mit Ihnen sprechen.« »Wirklich? Über Funk?« »Persönlich. Er sandte ein automatisches Rufsignal und wollte auf Kanal Eins Nachricht von Ihnen haben. Ich rief auf Kanal Eins an, erreichte seinen Funker und bekam Wheeler nach einer Minute in die Leitung. Er will persönlich mit Ihnen sprechen.« »Sehr selbstsicher, wie? Oder sagen wir lieber >tollkühn« »Ich habe ihn so lange festgehalten, daß wir orten konnten. Er ist im Schloß - was natürlich keinen überrascht. Ich sagte ihm, Sie seien nicht sofort erreichbar, aber ich würde Sie verständigen, sobald Sie kämen. Er wartet auf Ihre Antwort. Er besteht darauf, daß das Treffen nicht später als heute nacht stattfindet. Er hält es wahrscheinlich für ein Ultimatum.« »Wo will er mich sprechen?« »Er gab sich höflich und unverbindlich, garantiert aber Ihre Sicherheit am Treffpunkt und freies Geleit hin und zurück.« »Auf Ehrenwort?« fragte Forson und grinste. Leblanc nickte grimmig. »Ich hoffte, daß Sie es so sehen würden. Jetzt kann ich ihm sagen, was ich von ihm halte.« »Warten Sie. Ich möchte wissen, was er will, aber nicht so dringend, daß ich meine Hände dafür in einen schwarzen Kasten stecken würde. Könnten wir nicht seine Sicherheit garantieren?« »Ja —« »Machen wir es lieber so. Er wird sich auf unser Ehrenwort verlassen müssen, weil König Rovva keine so kleinen Münzen herstellen läßt, daß man das seine damit bewerten könnte. Sagen Sie ihm das.« Leblanc machte sich mit skeptischer Miene auf den Weg und kam breit lächelnd zurück. »Er will Sie wirklich sprechen.« »Sie haben das Treffen vereinbart?« Leblanc nickte.
»Für heute abend. Und ich habe ihm erklärt, daß die Garantie ungültig wird, sobald wir auch nur einen einzigen Ruff sehen.« »Das ist aber nicht fair«, wandte Forson ein. »Für alle Ruffs des Königs kann er doch gar nicht die Verantwortung übernehmen.« »So, das kann er nicht? Er hat nicht einmal Luft geholt, bevor er akzeptierte. Entweder ist König Rovva einverstanden, oder Wheeler hat bei ihm mehr Einfluß, als ich für möglich gehalten hätte. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen – falls das eine Falle ist, möchte ich sicherstellen, daß sie auf der richtigen Seite zuschnappt.« Forson sah durch einen Fensterschlitz Wheeler über den Platz schlendern und in eine Seitenstraße einbiegen. Der Unterkoordinator sah immer noch aus wie ein Clown - in kurranischer Kleidung so grotesk kostümiert, daß Forson, wenn er es nicht besser gewußt hätte, der Meinung gewesen wäre, der Mann sei bewußt so verkleidet worden, um einen Lacherfolg zu erzielen. Hance Ultman trat aus einem Hauseingang und marschierte neben ihm her. Die beiden bogen um eine Ecke und verschwanden. Leblanc beobachtete die Passanten mit dem Fernglas. »Sieht alles normal aus«, sagte er. »Wir halten uns aber trotzdem an den Plan. Sobald es dunkel ist, bekommt er eine Binde vor die Augen und wird durch Kurra geführt, unter Benützung einiger Tunnels. Danach bringen sie ihn hierher zurück. Vermutlich eine unnötige Vorsichtsmaßnahme, aber es könnte ja sein, daß der lange Marsch seine Arroganz ein wenig dämpft.« Es war fast Mitternacht, als Wheeler schließlich eintraf, begleitet von Ultman und Joe Sornel. Forson verdächtigte sie, boshafterweise den Marsch länger ausgedehnt zu haben, als Leblanc vorgeschlagen hatte. Wheeler, der stark schwitzte, riß sich die Binde von den Augen und fragte zornig: »War das nötig?« »Kurr ist in dieser Zeit sehr gefährlich«, meinte Joe freundlich. »Man kann nicht vorsichtig genug sein.« Wheeler nickte Leblanc kühl zu und rief plötzlich: »Ah! Forson!« Er schritt mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, aber Forson sah darüber hinweg. »Sie wollten mich sprechen«, sagte er. »Fangen Sie an.« »Allein«, sagte Wheeler.
»Habt ihr ihn durchsucht?« fragte Leblanc. »Und wie«, antwortete Joe grinsend. »Also gut, Wheeler. Ich traue Ihnen aber nicht, wenn Sie mit dem Chefkoordinator allein sind. Wir benützen den großen Raum unten. Sie können in der Ecke so vertraulich reden, wie Sie es für nötig halten, aber wir anderen bleiben da und beobachten Sie.« »Das ist aber nicht sehr schmeichelhaft für Sie, Inspizient«, meinte Wheeler listig. »Für Sie auch nicht.« Wheeler grinste betrübt. »Ich mag Sie, Forson. Ich habe Sie von Anfang an gut leiden können.« »Und wie steht es mit dem Koordinator - mögen Sie den auch?« »Rastadt ist ein feiger Schreihals«, sagte Wheeler sachlich. »Ich hasse ihn.« »Wenigstens kann Ihnen bei Ihrem Verrat niemand Parteilichkeit vorwerfen. Sie verraten jemanden, den Sie mögen, genauso bereitwillig, wie jemanden, der Ihnen mißfällt. Bringen wir es hinter uns.« Sie setzten sich in die entlegenste Ecke des großen Zimmers. Wheeler schaute sich argwöhnisch um. »Woher weiß ich, daß Leblanc nicht abhört?« fragte er. »Wozu sollte er sich die Mühe machen?« meinte Forson. »Sobald Sie fort sind, erzähle ich ihm ja alles, was Sie gesagt haben.« »Aber werden Sie das wirklich tun? Das wird sich noch herausstellen. Werden Sie ihm — alles sagen? Er kann also ein Abhörgerät aufgestellt haben.« »Wheeler glaubt, daß Sie mithören«, rief Forson zu Leblanc hinüber, der mit Sornel und Ultman wachsam an der Tür saß. Leblanc verneinte wütend. »Ich werfe das Ihretwegen auf, Inspizient«, sagte Wheeler leise. »Vielleicht werden Sie ihm nicht alles sagen wollen.« »Trotz beachtlicher Lektionen König Rovvas in der Kunst, Geduld zu üben, stelle ich fest, daß sie bei mir immer mehr abnimmt. Haben Sie mir etwas zu sagen? Dann heraus damit.« Er betrachtete Wheeler prüfend und suchte nach dem tragischen Clown, der ihm in Erinnerung war, aber dieser Mann hatte sich
verändert, oder vielleicht erkannte Forson jetzt erst seinen wahren Charakter. Hinter der Clownmaske steckte eine abstoßende, bösartige Verschlagenheit. Der ewige Untergebene der Mann, dessen Schicksal es war, sein Leben als Assistent zu verbringen, weil niemand ihn ernst nehmen wollte, hatte plötzlich die Spitze erklommen und frohlockte darüber. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte er selbstsicher. »Ich tausche den Stützpunkt gegen Kurr.« Forson klappte der Kiefer herunter. »Während Sie den Stab B aus Kurr abziehen, verlege ich das Stützpunktpersonal nach Kurr - diejenigen, die mitkommen wollen«, fuhr Wheeler fort. »Wer vom Stab zu mir kommen möchte, ist willkommen. Sobald jeder, der den Planeten verlassen will, im Stützpunkt ist, und jeder, der in Kurr bleiben möchte, hier, können Sie der Chefzentrale mitteilen, daß der Planet geräumt werden muß und um Evakuierung bitten.« »Und Sie in Kurr lassen? Machen Sie sich nicht lächerlich. Haben Sie sich denn nicht überlegt, was die Chefzentrale mit Ihnen anstellen wird?« Wheeler lachte. »Sehr gründlich sogar. Die Chefzentrale wird - nichts tun! Inzwischen werde ich nämlich König von Kurr sein, und die Vorschriften des IPB-Amtes lassen nicht zu, daß gegen einen herrschenden Monarchen direkt vorgegangen wird. Eingreifen dürfte nur das Volk selbst, und die IPB-Leute können nicht hierbleiben und zur Revolution anstacheln. Wenn man etwas unternähme, würde man eine üble Situation nur noch verschlimmern. Die Chefzentrale wird deshalb evakuieren und mir Gurnil überlassen.« »Jetzt aber mal langsam«, sagte Forson entgeistert. »Sie haben den Planeten absichtlich ruiniert, damit das IPB-Personal abziehen muß, und Sie glauben, Sie —« »Ich glaube nicht, ich weiß!« trumpfte Wheeler auf. »Ich plane das schon seit Jahren. Tut mir leid, daß Sie davon betroffen wurden, aber Sie sind in einem kritischen Augenblick hereingeschneit, und ich konnte mich nicht auf das Risiko einlassen, daß Sie alles verdarben. Wie sich herausstellte, haben Sie mir sehr geholfen - meine Pläne um ein volles
Jahr beschleunigt. Ich werde Kurr binnen Tagen übernehmen.« »Wieso habe ich Ihnen geholfen?« fragte Forson verblüfft. »Durch den Aufstand, den Sie inszeniert haben. Er hat König Rovva heillose Angst eingejagt. Ich bekam dadurch Gelegenheit zum Eingreifen, und jetzt ist er ganz von mir abhängig. Er unternimmt nichts, ohne mich zu konsultieren. Wie, zum Teufel, haben Sie das geschafft?« »Das Institut für Kulturforschung besitzt seine eigenen Geheimnisse.« »Ich neige fast dazu, Ihnen zu glauben. Es wäre interessant gewesen, zu verfolgen, wie weit das gegangen wäre, aber ich durfte die Kontrolle nicht verlieren. Eine totalitäre Regierung zu übernehmen, ist verhältnismäßig einfach. Wenn die nötigen Vorarbeiten geleistet sind und man genügend viele Leute in Schlüsselpositionen für sich gewonnen hat, braucht man nur an die Stelle des Königs zu treten, und alles läuft weiter wie vorher. Wenn das Volk aber den König stürzen und eine andere Regierungsform einführen würde, könnte ich auf unabsehbare Zeit aus dem Feld geschlagen werden. Deshalb mußte ich der Sache ein Ende machen.« »Sie glauben also wirklich, daß Sie König von Kurr werden können und daß die Chefzentrale -« »Hören Sie zu«, sagte Wheeler ernsthaft. »Sie haben das IPBHandbuch gelesen. Von den geheiligten Grundsätzen haben Sie sicher soviel begriffen, um einzusehen, daß nicht ein einziger davon verletzt werden kann, ohne das ganze Fundament zu zerstören. Wenn die Bewohner eines Planeten die Anwesenheit der IPB-Leute auch nur ahnen, müssen diese sich zurückziehen. Um gegen mich und das mir ergebene IPB-Personal vorgehen zu können, müßte das Amt einen regulären militärischen Feldzug eröffnen, und die Wirkung auf die Bewohner wäre so verheerend, daß sie vielleicht nie in Vergessenheit geriete. In der Praxis verlöre das Amt Gurnil für immer. Das Risiko kann es nicht auf sich nehmen, und deshalb wird es mich ignorieren und den Planeten evakuieren.« »Und was gewinnen Sie dabei?« fragte Forson rundheraus. »Eine Welt!« sagte Wheeler. Seine Augen glänzten. »Nachdem ich mein Leben damit verbracht habe, mich für unfähige Koordinatoren abzurackern und sie geehrt und befördert zu sehen, während ich die
Arbeit geleistet hatte, werde ich absoluter Herr einer ganzen Welt sein. Sobald ich Kurr fest in der Hand habe, werde ich Larnor erobern. Ich besitze genug technologische Ausrüstung für eine beachtliche militärische Invasion, aber das wird gar nicht nötig sein. Mit meinem IPBWissen und ohne die albernen Beschränkungen des Amtes wird es mir nicht schwerfallen, das Land zu unterwandern. Und sobald diese Welt mein ist, werde ich dafür sorgen, daß es so bleibt. Ich werde meine Leute dazu abrichten, daß sie auf IPB-Spione achten. Wenn ich es richtig anstelle - und ich weiß, wie man das macht -, kann ich Gurnil für Generationen gegen das IPB-Amt immun machen und den Thron für meine Nachkommen sichern.« »Nachkommen ?« Wheeler grinste. »Im Stützpunkt gibt es eine Reihe hübscher Mädchen, die nichts dagegen hätten, Königin zu werden. Ich werde genug Nachkommen haben. Passen Sie auf. Für Sie ist hier auch Platz. Ich brauche fähige Verwaltungsfachleute für beide Kontinente. Sie scheinen diese Leute zu verstehen. Bleiben Sie bei mir, und ich mache Sie zum Generalgouverneur von Kurr.« »Nein.« »Wie steht es dann mit dem Tauschgeschäft - Kurr gegen den IPBStützpunkt?« »Nein. Sie haben mir einen zusätzlichen Antrieb gegeben, den Einsatzstab hierzubehalten und die Revolution herbeizuführen, bevor Sie die Macht übernehmen können.« »Dazu haben Sie keine Zeit mehr.« »Es dauert nicht lange. Sie wissen nicht, wie schnell ich die erste herbeigeführt hatte, als ich mir erst einmal im klaren war, wie ich es anstellen mußte. Wenn ich zu spät komme, um König Rovva zu stürzen, kann ich ebensoleicht gegen Sie eine Revolte anführen, und mit viel größerer Befriedigung dazu. In gewissem Sinn ist der König ein Opfer der Umstände, aber ich kann mir leicht einreden, daß Sie nichts anderes verdient haben.« »Ich bin auf kulturellem Gebiet nicht ganz so naiv, wie Sie glauben«, knurrte Wheeler. »Ich weiß, daß es diese blöden Fanfarenbläser waren, die den Aufstand verursachten. Ich verstehe zwar nicht, wie und warum,
aber ich weiß, daß es so ist.« »Stimmt. Und ich will Ihnen auch sagen, warum, weil weder Sie noch sonst jemand etwas dagegen tun kann. Das Volk von Kurr besitzt eine ungewöhnliche Musikleidenschaft, und Fanfarenmusik erweckt seine kriegerischen Instinkte.« »Dagegen kann ich etwas tun.« »Gegen die Empfänglichkeit für Musik können Sie gar nichts tun. Tatsächlich sind die Bewohner von Kurr für alle Formen der Schönheit empfänglich, und sie besitzen einen angeborenen Widerwillen gegen alles Häßliche. Deshalb prophezeie ich Ihnen ein schlimmes Ende, wenn Sie König werden.« Wheeler sah ihn verständnislos an. »Ein schlimmes Ende - wieso?« »Weil Sie nicht schön sind.« Forson wandte sich ab. »Paul, ich habe es satt, mir sein unschönes Gesicht anzusehen. Habe ich als Chefkoordinator auf diesem Planeten die Befugnis, Beförderungen und Degradierungen auszusprechen?« »Mit Prüfungsmöglichkeit durch höhere Dienststellen«, sagte Leblanc. »Machen Sie einen offiziellen Eintrag. Wheeler wird zum niedrigsten IPB-Dienstgrad herabgestuft, der Insubordination oder des Verrats beschuldigt, je nach den entsprechenden Vorschriften. Außerdem bekommt er ab sofort Hausarrest im Stützpunkt.« Wheeler schüttelte sich vor Lachen. »Schafft ihn weg«, sagte Forson. Joe Sornel und Hance Ultman banden Wheeler das Tuch vor die Augen und führten ihn in die Nacht hinaus. Leblanc durchquerte das Zimmer und setzte sich zu Forson. »Das IPB-Amt sitzt schön in der Patsche«, meinte Forson. »Ich habe jedes Wort gehört.« »Sie haben gelogen!« Leblanc schüttelte den Kopf. »Man kann mithören, ohne Geräte anzuschließen. Die Akustik in diesem Raum ist sehr eigenartig, und ihr habt nicht gerade geflüstert. Aber Sie haben recht. Das ist unzweifelhaft die schlimmste Schweinerei in der ganzen IPB-Geschichte.«
»Wenigstens wissen wir jetzt, worum es geht.« »Offensichtlich war Wheeler ein sehr guter Unterkoordinator«, meinte Leblanc nachdenklich. »Ein Koordinator wie Rastadt neigt natürlich dazu, sich völlig auf seinen Vertreter zu verlassen, so daß Wheeler in Rastadts Namen seit Jahren Gurnil befehligt hat. Sein Trieb, ein großer Mann zu sein, führte ihn dazu, in Kurr herumzupfuschen, und bei dem folgenden Debakel wurde er mit einer Anzahl anderer Leute von den Ruffs gefangengenommen. Wir glaubten, er sei entkommen und habe die anderen durch seine großartige Geschicklichkeit gerettet, aber wahrscheinlich hat er sich die Unterstützung des Königs dadurch erkauft, daß er vorgab, den Denunzianten zu spielen – obwohl er ihm nie mehr verriet, als seinen Absichten dienlich war. Die volle Stärke und Organisation vom Stab B gab er nie preis, bis es sein mußte, weil er ihn beseitigen wollte. Der König war dann so erbost, daß er die Beherrschung verlor und Tor in aller Öffentlichkeit den Arm abhauen ließ.« »Er ist ein ausgezeichneter Schauspieler«, meinte Forson. »Das heißt bei mir hat er gut gespielt. Ich lief in die Falle, ohne den geringsten Verdacht zu hegen. Rastadt auch.« »Wir sind alle gute Schauspieler«, sagte Leblanc trocken. »Wir benützen unsere Begabung nur zu edleren Zwecken. Wheeler ist auch sehr wendig. Bedenken Sie, wie er reagierte, als er erfuhr, daß für den Planeten ein Chefkoordinator eingesetzt worden war. Er unterschlug einfach Ihre Instruktionen und wartete die Entwicklung ab. Als Sie ohne Instruktionen eintrafen, fälschte er sofort die entsprechenden Unterlagen, mit denen er Sie loswerden und gleichzeitig seine Beziehungen zu König Rovva verbessern konnte.« »Und als ich eine Revolution inszenierte, benützte er sie, um sich wieder die Gunst des Königs zu erringen.« »Genau.« »Wenigstens wissen wir, daß er die Chefzentrale nicht verständigt hat. Wir haben also noch Zeit. Die Frage ist nur, Zeit wozu?« »Sollen wir abziehen? Wir schreiben das Haus hier endgültig ab, für den Fall, daß es Wheeler gelungen sein sollte, sich beschatten zu lassen. Was alles andere betrifft — Sie sind der ranghöchste Mann auf Gurnil. Das Debakel haben Sie nicht verursacht, aber es unterliegt Ihrer Verantwortung. Sagen Sie mir Bescheid, wann Sie entschieden haben,
was geschehen soll.« Sie kehrten auf Umwegen zur Wohnung zurück. Es war früher Morgen, als sie ankamen. Die Stadttore waren geöffnet, und Karren und Wagen mit landwirtschaftlichen Produkten knarrten durch die Straßen. Leblanc bestellte Frühstück, und wenige Minuten später kam Ann herein, um es zu servieren. »Da wird ein Talent verschwendet«, meinte Forson, als sie sich zurückgezogen hatte. »Wird es nicht Zeit, daß Sie ihr etwas anderes zu tun geben?« »Ja«, sagte Leblanc. »Reine Verschwendung. Wüßten Sie etwas Geeigneteres?« Forson schwieg. »Wie geht es Ihren Händen?« »Sie heilen. Ich brauche die Verbände eigentlich gar nicht.« »Dann nehmen Sie sie ab. Sie sind sehr auffällig.« Er wickelte sie selbst auf und erklärte Forson für gesund, so lange er in nächster Zeit davon absehe, an Seilen herunterzurutschen. Sie frühstückten, dann suchte Forson nach Ann, um zu erfahren, ob Rastadt bereits sprechen konnte. »Es scheint ihm besser zu gehen«, sagte sie. »Er hat eine ruhige Nacht hinter sich, schläft aber vielleicht noch. Ich sehe nach.« Sie ging auf Zehenspitzen in Rastadts Zimmer und stürmte einen Augenblick später heraus und zur Treppe. Forson schaute durch die offene Tür; das Zimmer war leer. Er eilte ihr nach. Sie stand vor Leblanc und stammelte unzusammenhängende Worte. »Der Koordinator -«, brachte sie schließlich heraus. »Was ist mit ihm?« fragte Leblanc scharf. »Er ist verschwunden!«
17 Leblanc schlug Alarm. Er erklärte kurz die Lage, und die verfügbaren Mitarbeiter machten sich auf den Weg, unter ihnen Forson. Leblanc holte ihn an der Tür ein. »Das ist keine Beschäftigung für Sie!« fuhr er ihn an. Er zwängte sich an ihm vorbei und hastete davon, sich durch das Gewühl auf dem Marktplatz schlängelnd. Forson trat zu Ann, die an den Fensterschlitzen stand und verzweifelt den Markt mit einem Fernglas absuchte. »Ich glaubte, daß er eine ruhige Nacht hatte«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Deshalb habe ich mich schlafen gelegt.« »Niemand kann etwas dafür«, meinte Forson. »Das heißt, die Schuld tragen wir - Leblanc und ich. Wir hätten ihm einen Pfleger geben müssen, statt Leute mit anderen Pflichten in ihrer freien Zeit nach ihm sehen zu lassen. Ich glaube, daß Leblanc einen weiteren Fehler gemacht hat, als er alle hinterherschickte. Eine solche Suche ist gar keine Suche. Wohin könnte er gegangen sein?« Sie schüttelte den Kopf. »Während seiner Gefangenschaft hat er von der Sprache soviel gelernt, daß er sich mit seinen Wachen verständigen konnte«, meinte Forson, »und da er altgedienter IPB-Mann ist, wird ihm das Ausgesetztsein unter fremden Wesen nichts Neues sein. Er ist vielleicht gar nicht so hilflos, wie wir annehmen. Wie war er gekleidet?« »Er trug nur ein Untergewand.« »Ein Ohnhänder in einem Untergewand. Er sollte nicht schwer zu finden sein, wenn ihn die Ruffs nicht zuerst entdecken. Ohnhänder müssen in Kurra ein sehr seltener Anblick sein.« »Das ist schon ein Einarmiger. Die einzigen, die die Leute sehen, sind stets dabei, die Stadt auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Außer -« Sie starrten einander an. »Die Fanfarenbläser!« stieß Forson hervor. »Wahrscheinlich wird man ihn für einen Einarmigen halten«, sagte Ann, »und wenn er immer noch unverständliches Zeug redet, werden die Leute glauben, daß er ein Fanfarenbläser ist, der krank wurde oder
zuviel getrunken hat.« »Und sie würden ihn zu den anderen Musikern bringen?« »Vielleicht. Auf jeden Fall werden sie sich um ihn kümmern Die Fanfarenbläser gelten im Augenblick als Helden.« »Wissen Sie, wo sie sich aufhalten?« Sie nickte. »Gehen wir!« »Warten Sie!« sagte sie. Sie kam kurze Zeit später zurück, wie durch ein Wunder in eine ältere kurranische Frau verwandelt. Es war kein Wunder, das Forson billigte, wenn er die Notwendigkeit auch einsehen mußte. Sie gab ihm einen Umhang mit Kapuze, und sie machten sich auf den Weg. An diesem zweiten Tag nach dem erschreckenden Besuch des Todesvogels schien das Leben in Kurra wieder seinen normalen Gang zu gehen. Die Straßen waren mit Passanten überfüllt, und das Quietschen und Knarren der Fahrzeuge gellte in den Ohren. Sie kämpften sich kurze Zeit gegen den zum Markt strömenden Verkehr voran, dann bog Ann in eine Seitenstraße ein und führte ihn auf einem vielfach gewundenen Weg durch die Stadt. Sie traten auf eine andere Durchfahrtsstraße hinaus, wo sie auf das Gebäude zeigte, in dem die Musiker untergebracht waren. Sie hasteten darauf zu. Plötzlich packte sie seinen Arm. »Abwenden!« Sie eilten an dem Haus vorbei zur nächsten Kreuzung und bogen um die Ecke. »Was ist los?« fragte er. »Haben Sie nichts bemerkt? Die Straße ist voll von Ruffs. Einer hat Sie argwöhnisch gemustert.« »Habe ich etwas falsch gemacht?« »Die Kapuze ist Ihnen heruntergerutscht. Vielleicht erinnert er sich von den Bildern her an Ihr Gesicht.« »Aha. Dann tauche ich lieber unter. Sie müssen alleine hingehen.« »Paul würde mich in Stücke reißen, wenn ich Sie hier allein ließe. Außerdem gibt es ein dringenderes Problem. Warum ist die Straße vor dem Haus der Musiker voll Ruffs?«
Sie kehrten um und überquerten langsam die Straße, versteckte Blicke zu dem Gebäude hinüberwerfend, während sie dem Verkehr auswichen. Vor dem Haus stand ein Wagen, dessen Esg ungeduldig stampfte; als sie die andere Straßenseite erreichten, kamen vier Männer mit einem langen, umwickelten Bündel heraus, das sie in den Wagen hoben. Hinter ihnen mühten sich zwei Männer mit einem anderen Bündel ab. Der Stoff war schwer; die vier Männer transportierten ihn ohne Schwierigkeiten, aber die beiden wankten unter dem Gewicht, bis andere herbeieilten, um ihnen zu helfen. Forson und Ann gingen noch ein Stück die Straße entlang, blieben plötzlich stehen und sahen einander an. »Was ist das?« fragte Forson. »Ich weiß nicht.« »Form und Gewicht verraten genug. Denken Sie dasselbe wie ich?« »Ja. Die Ruffs haben zugegriffen und werden die Fanfarenbläser der Reihe nach fortschleppen.« Forson hastete mit ihr zur Kreuzung zurück. »Wir zwei können sie nicht aufhalten«, protestierte sie. »Wir müssen Paul Bescheid sagen - Hilfe holen —« »Wir wissen ja gar nicht, wo er ist. Kommen Sie!« An der Ecke zögerten sie. Ein zweiter Wagen kam knarrend hinter dem ersten zum Stehen und wartete; Ruffs wankten mit einem neuen Bündel heraus, und Forson glaubte unter dem Stoff Bewegungen wahrzunehmen. Die Fußgängerscharen achteten nicht darauf. Wagen, die be- oder entladen wurden, waren in den Straßen Kurras ein gewohnter Anblick. Forson hielt einen jungen Mann auf und schrie ihm ins Ohr: »Sie verschleppen die Fanfarenbläser!« Der junge Mann fuhr herum und riß ungläubig die Augen auf. Die Ruffs hoben das Bündel hinauf, das Esg setzte sich in Bewegung, der Karren rollte davon. Forson trat einem anderen Passanten in den Weg. »Sie verschleppen die Fanfarenbläser!« schrie er. »In diesem Wagen sie verschleppen die Musiker!« »Fanfarenbläser!« brüllte der junge Mann. »Fanfarenbläser!« schrie Forson. »In dem Wagen — Fanfarenbläser!«
Wie die Instrumente war auch das Wort den Kurraniern fremd gewesen. Forson hatte es im Einhand-Dorf unüberlegt verwendet, ohne sich einen gebräuchlichen Ausdruck dafür einfallen zu lassen. Tors Leute hatten ihn mit nach Kurra gebracht, und die Bewohner hatten ihn zusammen mit der Musik ins Herz geschlossen. An diesem Tag war es ein Zauberwort. Es brachte alle zum Stehen, die es hörten. Fanfarenbläser? Wo? Hinter Forson kam der Verkehr zum Stocken und ergoß sich in die Nebenstraßen. Passanten versuchten auszuweichen, hörten das Wort >Fanfarenbläser< und blieben stehen. Als das dahintrottende Esg die Ecke erreichte, wurde es von einer dichten Mauer von Fußgängern aufgehalten. Das Wort raste die Straße entlang, bildete neue Barrikaden, und augenblicklich kam der gesamte Verkehr zum Stillstand. In die merkwürdige Stille hinein, die darauf folgte, schrie Forson aus Leibeskräften: »Sie verschleppen die Fanfarenbläser! Sie sind in dem Wagen, in Stoffbündel verschnürt! Der König läßt sie gefangennehmen!« »Der König verschleppt die Fanfarenbläser!« kreischte Ann. Forson holte tief Luft. »Die Fanfarenbläser -« Ein Tuch wurde über seinen Kopf geworfen und zugeschnürt. Kräftige Arme umfaßten ihn, er wurde hochgehoben und weggetragen, während er vergeblich in den erstickenden Stoff hineinschrie und sich verzweifelt wehrte. Augenblicke später wurde er gefesselt in einen Wagen geworfen. Der Wagen rollte davon, und sein Knarren übertönte den Aufschrei, der hinter ihm zu hören war. Er wußte nicht einmal, daß sie auch Ann überwältigt hatten, bis geraume Zeit später das Schloßportal hinter ihnen zufiel und die Tücher entfernt wurden. »Jetzt habe ich es geschafft«, sagte er bedrückt. »Still! Es mußte sein.« »Ich hätte Sie nicht mit hineinzuziehen brauchen. Ich hätte wissen müssen, daß die Ruffs auf Störenfriede achten würden.« Ein Bewacher fuhr sie an, und sie warteten stumm. Im Schloßhof wimmelte es von Soldaten, die offenbar mit den Wagenladungen von Fanfarenbläsern fertig werden sollten und nun nicht zu wissen schienen, was sie mit zwei harmlos aussehenden
Zivilisten anfangen sollten. Ein Offizier näherte sich, um den Fahrer zu fragen, welchen Vergehens sich Forson und Ann schuldig gemacht haben sollten. Man führte sie schließlich durch die düsteren Schlosskorridore und über steile Rampen zum Audienzsaal hinauf. Forson schien es, als sei er in Wirklichkeit gar nicht in Freiheit gewesen. Die verblüfften Wachen an der Tür erkannten ihn und eilten mit den beiden durch den großen Saal zu der hohen Empore, auf der zwei Männer saßen. Einer von ihnen, Gasq, lächelte Forson triumphierend an. Der andere war Wheeler. »Sie Narr!« sagte er in galaktischer Sprache. »Sie hätten sich nie auf die Straße wagen dürfen. Jetzt kann ich Sie nicht mehr brauchen. Überhaupt nicht mehr brauchen. Was Sie betrifft -« Sein Gesicht hellte sich auf. »Ann, nicht wahr? Ein unerwartetes Vergnügen. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß Sie mein Königreich verschönern würden.« »Darauf würde ich auch jetzt nicht zählen«, fuhr sie ihn an. »Aber gewiß doch«, sagte er ruhig. »Ich werde gar nicht versuchen, Forson zu retten. König Rovva ist wütend, hat außerdem eine Heidenangst und muß besänftigt werden. Er kann Forson haben. Aber nicht Sie. Das wäre Verschwendung.« Gasq begann sich halblaut zu beschweren, und Wheeler sprach in Kurranisch weiter. »Wir haben kein Geheimnis vor Ihnen, Freund Gasq«, protestierte er. »Es ist nur bequemer für uns, die eigene Sprache zu gebrauchen. Sie erinnern sich doch an Inspizient Forson, nicht wahr? Er mußte ja auf der Straße spielen und sich in Dinge einmischen, die ihn nichts angehen, deshalb bekommen Sie ihn zurück. Die Frau hatte sicherlich nichts damit zu tun. Wir müssen die Männer, die sie hergebracht haben, rügen. Das heißt nein. Ich würde sie noch nicht freilassen. Jetzt noch nicht.« Er lachte. »Ich finde vielleicht eine Verwendung für sie. Was gibt es denn?« Gasq sprang auf und eilte zu den Fensterschlitzen. »Sie sind wieder da!« entfuhr es ihm. Wheeler hastete ihm nach. Er schaute kurz hinaus, zuckte mit den Achseln und meinte lässig: »Sie haben ein schlechteres Gedächtnis, als ich annahm.« Forson stieß Ann an. Sie gingen zu den Fensterschlitzen. Die
Bewacher ließen sie gewähren. Sie folgten ihnen und schauten ebenfalls neugierig hinaus. Weit über den Platz hinaus wimmelte es in allen Straßen von Kurraniern. Forson beobachtete sie und überlegte sich, daß es viele Arten von Revolutionen geben mußte: die Explosion, die Flutwelle diese hier strömte mit der trägen Unerbittlichkeit der steigenden Flut heran. Die Leute schienen sich kaum zu bewegen. Aber es war eine Revolution. Der erste Vorfall war eine improvisierte Versammlung gewesen, die sich zufällig zu einem Aufstand ausgeweitet hatte. Diese Menschenmassen marschierten zielbewußt. Die überfüllten Straßen und Gassen spien eine unübersehbare Masse von Kurraniern auf den Platz vor dem Schloß - und der Zustrom schien nicht aufzuhören. Die Flut näherte sich, und kein nüchterner Beobachter konnte daran zweifeln, daß sie unaufhaltbar vorrücken würde, bjs sie die Hochwassermarke erreicht hatte - sei diese das Schloßdach oder der kurranische Mond. Als die Masse näher kam, konnte man in ihr verschiedene Strömungen erkennen. Sie schoben kühne Ausläufer vor und beeilten sich, diese einzuholen. Die Stille, die Forson merkwürdig gefunden hatte, als er von der anderen Seite her zugesehen hatte, wirkte hier drohend und unheimlich. Man sah weniger Frauen als beim erstenmal, und nicht ein Kind als Zuschauer. »Was wollen sie?« König Rovva war unbemerkt eingetreten. Ein Blick auf den Platz, und er zuckte zurück. Entsetzt? Zornig? Verwirrt? Forson wußte es nicht. Die Wachen, Gasq, Wheeler vollführten die höfische Verbeugung, und der König schrie noch einmal: »Was wollen sie?« Wie als Antwort rief jemand in der Menge ein Wort. » Fanfarenbläser!« Andere nahmen den Ruf auf, und bald hallte und dröhnte er auf dem ganzen Platz. Nicht geschrien. Gefordert. »Wo sind die Musiker?« fragte der König scharf. Gasqs Blick setzte einen Bewacher in Trab. Er kam zurück und hob die Schultern. »Laßt sie frei!« befahl der König. »Sie sind nicht hier!« wandte Gasq klagend ein.
»Sollten sie nicht hierhergebracht werden?« »Doch -« »Wo sind sie dann?« Niemand wußte es. Die kunstvoll betriebene Entführung der Musiker war irgendwo in den Straßen Kurras steckengeblieben. Forson warf Ann von der Seite einen Blick zu und sah, daß sie ein Lächeln unterdrückte. Das Gerücht hatte die versuchte Entführung zur Tatsache gemacht, und die Bürger waren augenblicklich zum Schloß marschiert, um die Freilassung der Fanfarenbläser zu erzwingen, die der König nicht hatte. Der König wandte sich zornig an Wheeler. »Sie sagten doch, sie würden nicht wiederkommen!« Wheeler zuckte mit den Achseln. »Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, sie würden kommen, wenn Sie gegen diese blöden Fanfarenbläser nichts unternehmen. Offensichtlich haben Ihre Leute die Sache verpfuscht, und das ist das Ergebnis. Beruhigen Sie sich. Ich erledige das. Und wenn Sie wieder etwas wünschen, fragen Sie mich vorher.« Er schritt davon. Die Massen forderten unablässig: »Fanfarenbläser!« Ann packte Forsons Arm. Unmittelbar unter ihnen hatte man einen Mann auf die Schultern gehoben. Rastadt. Irgendwo hatte er ein langes kurranisches Hemd ergattert, das er über dem Untergewand trug. Der Riesenkragen war offen, und er bewegte trotzig seine Armstummel. Wahrscheinlich schrie er, aber der zornige Chor übertönte ihn. Ann stieß Forson wieder an. Der König hatte Rastadt gesehen. Er taumelte, als sei ihm plötzlich ein Racheengel gegenübergetreten, und suchte schließlich Zuflucht in einem Sessel hoch auf der Empore. Zum erstenmal bemerkte er Forson. »Kommen Sie her«, rief er. Es klang mehr wie Flehen, denn wie ein Befehl. Forson trat vor ihn, gefolgt von den Wachen, und verbeugte sich. »Sie haben ihnen die Fanfaren gegeben. Warum?« »Das ist nur eine harmlose Ablenkung, Eure Majestät«, sagte Forson. »Die Leute in den Einhand-Dörfern hatten sie dringend nötig.«
»Harmlos!« krächzte der König. Er wies auf die Fensterschlitze. »Können Sie erreichen, daß sie sich entfernen?« »Nein, Majestät. Sie wollen die Fanfarenbläser.« »Sie sind nicht hier!« »Sie haben veranlaßt, daß man sie hierherbringen sollte«, erklärte Forson kühn. »Ihre Schuld ist in den Augen Ihres Volks um nichts geringer, weil es mißlungen ist.« »Der große Vogel wird sie verscheuchen!« murmelte der König. Er entließ Forson mit einer Geste. Forson verbeugte sich wieder und kehrte zu Ann zurück. »Wheeler hat das Flugzeug angefordert«, sagte er. »Ich weiß.« Sie schauten hinunter und warteten, suchten den Himmel nach dem Flugzeug ab. Wheeler kam zurück. Der König sprang auf und stieß hervor: »Wann kommt er?« »Es wird ein bißchen dauern«, erwiderte Wheeler. »Dauern!« »Immer mit der Ruhe«, sagte Wheeler grinsend. »Wir haben alles unter Kontrolle. Ich bin da. Aber was ich nicht verstehen kann, ist, warum sie keine Angst haben«, fuhr er fort. »Vor zwei Tagen hat sie der große Vogel halb verrückt gemacht. Forson! Sie behaupten doch, daß Sie die Leute von Kurr verstehen. Warum haben sie keine Angst? Begreifen sie nicht, daß eine solche Demonstration nur den Vogel zurückbringt?« »Ja, ja - warum haben sie keine Angst?« fiel der König ein. Forson verbeugte sich. »Es ist zwei Tage her, Majestät. Die Bevölkerung hatte Zeit zum Nachdenken, und sie ist vielleicht auf den Gedanken gekommen, daß der Todesvogel eigentlich keinen Schaden angerichtet hat, so schrecklich er auch erschienen sein mag. Manche wurden verletzt, einige sogar getötet, aber das rührte nicht vom Vogel her. Die anderen Vögel Kurrs tun den Bewohnern nichts. Warum sollte dieser es tun?« Er fuhr nachdenklich fort: »Ich habe mich gefragt, warum sie ihn so nennen - Todesvogel. Sie wissen doch sicher, daß er vom König kommt, und doch – vom König sollte nichts
Schlimmes, sollte nicht der Tod kommen. Vielleicht ist das ein Grund dafür, warum sie so zornig sind, und wenn der Vogel erscheint, wird ihre Wut noch zunehmen.« »Noch - zunehmen?« murmelte der König. Wheeler lachte. »Wenn das stimmt, was ich bezweifle, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Der Vogel kommt nicht.« »Er kommt — nicht?« »Der blöde Pilot ist gestern nacht zum Stützpunkt zurückgeflogen, um zu tanken. Er ist jetzt auf dem Rückweg, aber vor zwei Stunden kann er nicht hier sein - und das ist zu spät für uns. Vielleicht schadet es gar nichts. Wenn Sie recht haben und die Leute tatsächlich glauben, daß der Vogel ihnen nichts tut, wird es Zeit, daß sie etwas anderes kennenlernen.« Er zeigte zwei Betäubungspistolen vor und steckte sie wieder ein. »Ich gehe zum Portal und mache dem Unsinn ein Ende.« Er drehte sich um. »Halt!« schrie der König. Er hatte in den letzten Tagen an Gewicht verloren. Seine Wangen hingen schlaff herunter, sein Gesicht war fahl und runzlig. Nun hatte er auch noch seine Würde verloren. Er sprang in die Höhe und schaute wild um sich. »Sie!« Er deutete mit zitternder Hand auf Wheeler. »Sie haben den Vogel herbeigeholt, den das Volk jetzt dem König anlastet!« »Und Ihren fetten Hals damit gerettet!« sagte Wheeler gelassen. »Sie sagten, die Fanfarenbläser könnten insgeheim gefangengenommen werden! Sie haben den Plan entworfen! Sie sagten, sie müßten unschädlich gemacht werden!« »So ist es auch. Ihre Fanfaren wecken — wie nannten Sie das, Forson? - >die kriegerischen Instinkte des Volkes<. Man muß sie beseitigen, und das wäre auch gelungen, wenn Ihre Leute nicht versagt hätten. Beim nächstenmal kümmere ich mich selbst darum. Und jetzt - « Die weitausholende Armbewegung des Königs schloß die unten auf dem Platz entstehende Revolution mit ein. »Sie sind schuld!« Er zischte ein Wort. Die Wachen stürzten sich auf Wheeler. Er versuchte seine Pistolen herauszureißen, aber es gelang ihm nicht
mehr ganz. Forson trat einen Schritt vor, aber ein Dutzend Palastwachen hielt ihn zurück. Ann wandte sich stumm ab. Wheeler wehrte sich. Was immer er sein mochte, er hatte Mut. Er wehrte sich, während man ihm die Kleidung vom Leibe riß, er zerrte, stieß und kratzte mit der rechten Hand, während man seine Linke ausstreckte. Er gab keinen Laut von sich, nicht einmal, als das Schwert aufblitzte. Dann überwältigten ihn die Schmerzen, und er brüllte wie ein Wahnsinniger, schlug und hackte auf den Arzt ein, der seinen Armstumpf zu verbinden suchte. Schließlich überwältigte man ihn und schleppte ihn hinaus. Bleiche Wachen säuberten den Boden und hasteten davon. Das Geschrei der Massen war lauter geworden; die Vorhut drängte an das Portal vor. Der König war auf seinem Stuhl zusammengesunken und starrte vor sich hin. »Gibt es eine Möglichkeit, sie aufzuhalten?« rief er Forson zu. Forson hatte nicht gewußt, wie erschüttert er war, bis er zu sprechen versuchte. Er stammelte: »Ich kenne keine.« »Was soll ich tun?« »In letzter Zeit hatten Majestät wenig Nutzen von Ratgebern«, sagte Forson höflich. »Sie sollten diese Entscheidung selbst treffen.« Der König stand auf und stieg herunter, um auf Forson zuzugehen. »Ich scheine recht alt zu werden«, sagte er leise. »Ich brauche einen Feind, der mich daran erinnert, daß ich König bin. Sie sind ein seltsames Wesen. Schwer zu glauben, daß Sie und Blagdon derselben Rasse angehören. Der Unterschied liegt wohl daran, daß Sie nichts für sich selbst begehren. Wem dienen Sie?« »Ihrem Volk, Majestät.« »Und - könnten Sie nicht auch mir dienen?« »Nur soweit Sie auch zu Ihrem Volk gehören, Majestät.« »Ich - gehöre — zu — meinem - Volk«, sagte der König nachdenklich. »Und was meinem Volk dient, dient mir. Wir müssen uns noch einmal unterhalten. Gasq!« Gasq eilte herbei. »Ich verlasse das Schloß. Auf der Stelle.« Er wies auf Forson und Ann. »Nehmt sie mit. Bereitet einen schnellen Marsch vor.
Ich spreche mit dem Ersten Offizier der Palastwache. Sobald wir fort sind, sollen die Tore geöffnet werden. Mein Volk soll sich davon überzeugen können, daß die Fanfarenbläser, die es sucht, nicht hier sind.« Er verließ den Saal. »Warum hat er sich gegen Wheeler gewandt und nicht gegen mich?« sagte Forson verwundert. »Sie haben ihn gehört«, erwiderte Ann. »Sie wollen nichts für sich selbst. Außerdem haben Sie nicht den Fehler gemacht, ihm zu sagen, was er tun soll.« Die königlichen Wagen waren Wunderwerke der Kunsttischlerei, aber sie holperten so stark und knarrten so laut wie jene, mit denen Ultman Knollengewächse transportiert hatte. Der Wagenzug verließ das Schloß durch einen Hinterausgang. Jeder Wagen wurde von drei hintereinander geschirrten Esgs gezogen. Zu Forsons Überraschung begannen die Tiere zu traben. Zu beiden Seiten liefen lange Reihen von Soldaten. Die Bewohner Kurras, die ihren Abzug beobachteten, verhielten sich gleichgültig. Sie waren zu weit weg, um zu wissen, was vor dem Schloß geschah, und schienen nicht zu ahnen, daß der König die Flucht ergriff. Die Wagen rollten schnell durch verlassene Straßen, durch ein Stadttor, wo die Wachen geduckt Habt-Acht-Stellung einnahmen, und auf einer Landstraße dahin, Staubwolken hinter sich herziehend. Ann vermutete, daß sie unterwegs zu dem königlichen Reservat waren, wo der König einen Landsitz besaß und eine große Garnison stationiert hatte. Die Königin und ihre jungen Söhne hatte er schon nach dem ersten Aufstand vorausgeschickt. Die Esgs konnten das schnelle Tempo nicht lange halten. Sie verfielen in ihren gewohnten Trott, und die Wagen rollten langsam durch die grüne Landschaft Kurrs. Mittags erreichten sie ein Dorf und eine Straßenkreuzung. Der König nahm oft diesen Weg, und die Dorfbewohner hatten seinen Zug kommen sehen und erwiesen pflichtgemäß ihre Dienstleistungen. Man brachte Nahrung und Getränke, und die schwitzenden Soldaten eilten umher und kauften Wein. Der König ließ Gasq zu seinem Wagen rufen und besprach sich mit ihm, während die anderen in Ruhe ihre Mahlzeit einnahmen. Die Zeit verging. Staubbedeckte Truppen marschierten von Süden
heran und zerstreuten sich, um auf Befehle zu warten. Eine andere, viel kleinere Gruppe traf im Eilmarsch von Westen her ein. »Er hat schnelle Boten ausgeschickt«, meinte Ann. »Bis morgen wird sich die Truppe verdoppelt haben, und wenn er noch eine Woche Zeit hat, wird sie sich wieder verdoppeln.« Als der König schließlich die Weiterfahrt befahl, rollten sie nur eine kurze Strecke in das hügelige Land südlich des Dorfes. Auf einem langen Hügelkamm postierte er seine Armee – nicht in Schlachtordnung, sondern in Ruhe, im Schatten vereinzelter Bäume. Nach einiger Zeit trafen aus dem Süden Karren mit Getränken und Proviant ein, und während sich seine Truppen erfrischten, ging der König von Gruppe zu Gruppe und erteilte seine Befehle. Unter der heißen Sonne umherwandernd, hatte er seine königlichen Gewänder abgelegt, und mit ihnen ein Leben der Trägheit. Er ging mit festem Schritt, seine Stimme verriet neue Autorität, seine Augen waren hell und wachsam. Trotzdem wirkte er traurig. Er kam schließlich zu Ann und Forson, die, von Wachen umringt, auf einem Wagen saßen. »Glauben Sie, daß Ihr Volk Sie verfolgen wird?« fragte Forson. »Sie kommen«, sagte der König. »Sie werden bald hier sein. Meine Untertanen.« Er sah ruhig zum Horizont. »Ich habe ihnen Boten entgegengeschickt, um ihnen zu sagen, daß die Fanfarenbläser nicht hier sind - daß sie sich ungefährdet in Kurra befinden, oder wenn nicht, daß man sie finden und ihnen die Freiheit, zu spielen, wiedergeben wird. Aber mein Volk verfolgt mich trotzdem. Ich befürchte ernsthaft, daß ich es in der Schlacht besiegen muß, bevor ich ihm vergeben kann.« Er entfernte sich. »Ein langer Kampf wird es nicht werden«, sagte Forson. »Seine Truppen sind bewaffnet, ausgeruht und auf einem Kampffeld angetreten, das er für sie ausgesucht hat. Das ist ein steiler Hügel für eine unbewaffnete und durstige Menge nach einem langen Marsch. Ich glaube, der König wird Gelegenheit haben, seine Versöhnlichkeit zu beweisen.« Ann schwieg, und Forson behielt den Gedanken für sich, dass König Rovva nach diesem Tag ein besseres Wesen und ein viel besserer König
sein mochte. Sie hörten die Verfolger lange bevor sie zu sehen waren - hörten sie als fernes Gewirr von Lauten, aus denen sich von Zeit zu Zeit ein Wort erhob: »Fanfarenbläser!« Als die Menge die Kuppe des letzten Hügels erklommen hatte, ließ der König seine Truppen in Schlachtordnung antreten. »Schau!« flüsterte Ann. »Rastadt!« Der Koordinator, immer noch auf den Schultern der Kurranier, schwebte einen Augenblick vor dem Himmel, dann begann die Menge ins Tal hinunterzuströmen. Sie bewegte sich mit derselben langsamen Entschlossenheit, mit der sie über den Schloßplatz vorgedrungen war. Das Tal füllte sich; die Vorhut, die Rastadt in der ersten Reihe mittrug, begann den steilen Aufstieg, den Soldaten Rovvas entgegen, langsam, unbeirrt, wie die Flut. Dahinter strömte die Menge weiter über den Hügel und hinunter ins Tal. Obwohl man die Jagdbeute gesichtet hatte, wurde wenig geschrien. Die müden Kurranier schritten langsam weiter, lautlos, zu Tausenden. Und wenn sie weitergingen, mochten sie sogar den Sieg davontragen, dachte Forson. Keine Truppe konnte eine heranrollende Flut aufhalten, hinter der ein Ozean nachströmte. Näher und näher kamen die Massen, und Forson und Ann suchten in den Gesichtern nach den Mitarbeitern des Stabes, die unter ihnen sein mußten, warteten atemlos auf den Schock des Zusammenpralls. Alles erstarrte. Gesichter wandten sich nach oben, heisere Schreie stiegen von beiden Seiten empor, und ein Flugzeug stürzte herab, setzte hüpfend auf, kam wenige Meter vor dem König zum Stehen. Wheeler stieg aus, ein leichenblasses Gespenst, den Stumpf des linken Armes mit einem blutdurchtränkten Verband umwickelt. Er wankte auf den König zu, und als Wachen dazwischensprangen, um ihn aufzuhalten, richtete er sich auf und vollführte eine Verbeugung. Der König schickte die Soldaten mit einer Handbewegung fort. Wheeler gestikulierte mit der Rechten und deutete. Seine Stimme war deutlich zu vernehmen; er erbot sich, die Menge zu zerstreuen. Der König lachte ihn aus. Hoch aufgerichtet, mit straffen Schultern, den Kopf erhoben, die
Arme gestreckt, hatte König Rovvas rundliche Gestalt einen Augenblick lang wirklich etwas Majestätisches. »Mein Volk wird sich vor mir verantworten«, sagte er. »Und ich vor ihm.« Im nächsten Augenblick war er tot. Wheelers rechte Hand hob eine Waffe, es gab einen Blitz, aber kein Geräusch, und der König brach zusammen. Wheeler wandte sich mit Hassverzerrtem Gesicht Gasq und der kleinen Gruppe der Berater zu, die starr vor Entsetzen waren. Die Wachen, die Soldaten, die riesige Menge, alle schienen wie gelähmt zu sein. Ann zerrte an Forsons Arm. Der Wagen knarrte leise, als sie ausstiegen; niemand bemerkte es. Sie gingen ungehindert an ihren Wachen vorbei, durch die Reihe der Soldaten, den Hügel hinunter. Eine vertraute Gestalt trat ihnen entgegen. Hance Ultman. Er grinste, drückte ihre Hände, zog sie in die Menge. »Auf die Knie vor eurem König!« brüllte Wheeler. Die zitternden Minister knieten. Wheeler lachte meckernd und wandte sich den in der Nähe stehenden Soldaten zu. »Verbeugt euch vor eurem König!« schrie er. »Verbeugt euch vor König Blag!« Die Soldaten verneigten sich. »Er ist wahnsinnig!« flüsterte Ann. »Was ist mit ihm passiert?« fragte Ultman. Ann berichtete und fügte hinzu: »Er hatte ein Funkgerät im Palast. Nachdem er seinen Arm verloren hatte, muß er das Flugzeug zu sich dirigiert haben, und er wartete den Augenblick ab, zu dem ihn der König am dringendsten brauchen würde – aber der König wollte nichts mit ihm zu tun haben.« »Wahnsinnig«, bestätigte Ultman. »Und gefährlich.« Wheeler war an den gebeugten Soldaten vorbeigegangen. Er blieb am Rand des Hügelkamms stehen und schaute auf die Menge hinunter. »Geht nach Hause!« brüllte er plötzlich. »Euer König befiehlt es. Geht nach Hause!« Unerträglich spannungsvolle Minuten vergingen, während er zornig auf die stummen, regungslosen Massen hinunterschaute.Er drehte sich
abrupt um, sagte etwas zu Gasq und schlenderte zu seinem Flugzeug zurück. Er stieg hinein, die Maschine hob sich vom Boden ab, schwebte über das Tal hinaus, kreiste und kam im Sturzflug zurück. Die Menge blieb regungslos stehen. Die Gesichter starrten nach oben. Wheeler beugte sich aus einem Fenster. »Er schießt!« stöhnte Ann. Das Flugzeug schwebte langsam durch das Tal, und hinter ihm fielen die Kurranier, wie gemähtes Getreide. Die Maschine wendete, um die nächste Schwade zu fällen. Und die nächste. Ultman lachte leise, trat aus der Menge, kniete nieder und zielte mit seiner Pistole auf das heranschwebende Flugzeug. Wheeler, der nur auf die fallenden Leiber achtete, bemerkte ihn überhaupt nicht. Ultmans Waffe zischte; die Schwade endete abrupt. Das Flugzeug beschleunigte, schoß vorwärts und fegte gerade noch über den Hügel hinweg, von dem die Truppen des Königs stoben. Mit voller Geschwindigkeit raste es ins nächste Tal hinunter und verschwand. Sie hörten einen fernen Donnerschlag und sahen eine Rauchsäule aufsteigen. Als die betäubten Kurranier endlich Mut faßten und sich vorwärts bewegten, war der Hügel leer. Die Soldaten des Königs befanden sich in wilder Flucht. Ann und Forson gingen gemeinsam zu dem Wrack, wo Leblanc sie fand. Sie versuchten die beiden Leiber aus den Überresten der zerschellten Maschine zu zerren. Wheeler und ein Stützpunktpilot. Wheelers Rechte hielt immer noch die Betäubungspistole umklammert. »Sie hätten nicht abstürzen dürfen«, sagte Leblanc. »Dieses Flugzeug kann überhaupt nicht abstürzen, und wenn es doch abstürzt, müßten sie ungefährdet herauskatapultiert worden sein. Aber sie mußten die Sicherheitsschaltung unterbrechen, um so niedrig fliegen zu können, daß sie die Pistole gebrauchen konnten.« »Wheeler ist wenigstens glücklich gestorben«, sagte Forson. »Fünf Minuten lang war er König von Kurr. Sind die Fanfarenbläser in Sicherheit?« Leblanc nickte. »Die Massen haben sie befreit. Dann verbreitete sich das Gerücht, der König habe sie festgesetzt, und ich wollte natürlich nicht alles verderben
und sie ein Konzert geben lassen, wo doch der Aufstand gerade interessant zu werden versprach. Ich habe Joe damit beauftragt, sie fernzuhalten.« Er lachte leise. »Das wird er mir nie verzeihen. Wir haben endlich eine erfolgreiche Revolution, und er sitzt in einem Keller. Wir haben uns Sorgen um euch gemacht. Tor sagte, ein Mann und eine Frau hätten mit dem Geschrei, daß der König die Fanfarenbläser gefangennehme, das Volk aufgewiegelt, aber er wußte nicht, was aus ihnen geworden war.« »Gar nichts«, sagte Forson, »aber diese Stunden werde ich mein Leben lang nicht vergessen.« Zahlreiche Kurranier versammelten sich schweigend um das Wrack des Flugzeugs, und wenig später wurde Rastadt herangetragen. Er bat, abgesetzt zu werden, und stand lange vor Wheelers Leiche. »Ich wollte nicht, daß er stirbt«, sagte er schließlich. »Ich wollte ihn vor einem Kriegsgericht stehen und sich winden sehen.« »Er hat gelitten - ein wenig -, wie Sie gelitten haben«, sagte Forson. Rastadt schüttelte den Kopf. »Nein. Ich mußte für wenig viel leiden. Schlechte Urteilsfähigkeit habe ich mir mehr zuschulden kommen lassen? Das und das Alter. Und ich habe bezahlt dafür.« Er bewegte seine Armstümpfe. »O ja. Ich habe bezahlt.« »Wheeler auch«, sagte Forson. »Nein. Nicht genug. Es war nicht schlimm genug für ihn, nicht schrittweise, Tag für Tag, mit dem schwarzen Kasten. Ich wollte nicht, daß er stirbt. Ich wollte sehen, wie er sich windet.« Tränen liefen über sein Gesicht. Er drehte sich um und stolperte davon. Die Kurranier eilten ihm nach, um ihn zu beschützen. Ann hatte mit ihnen gesprochen. »Der Koordinator glaubt, daß er alles alleine geschafft hat«, meinte sie leise. »Was geschafft?« fragte Leblanc. »Den König gestürzt und das Ziel vom Stab B erreicht. Er kam auf den Platz getaumelt, als die Leute auf das Schloß marschierten. Er war schwach und halb im Delirium, und sie trugen ihn, damit er sich nicht weh tat. Er ritt auf ihren Schultern an der Spitze, und mit der Zeit betrachteten sie ihn als Symbol für das, was sie erreichen wollten. Und
er schaute sich ständig um, sah die riesige Menge hinter sich und glaubte, eine Revolution zu führen. In gewissem Sinn tat er das auch. Und jetzt meint er, alles sei sein Werk gewesen.« »Lassen wir ihn dabei«, sagte Forson. Leblanc nickte ernst. »Er wird hochgeehrt in den Ruhestand treten. Wenn das Amt für Interplanetarische Beziehungen den Schlußstrich unter ein vierhundert Jahre altes Problem ziehen kann, bleibt Ruhm genug für alle. Und jetzt « Er lächelte. »Ein seltsames Gefühl, wenn man nichts mehr zu tun hat. Die Soldaten und die Ruffs des Königs müssen entwaffnet und unschädlich gemacht werden, und vielleicht müssen wir den Kurraniern von Zeit zu Zeit helfen, um dafür zu sorgen, daß sie nicht den Fehler begehen, sich noch einmal einen König aufdrängen zu lassen. Aber im Augenblick gehört Kurr dem Volk. Ich bin neugierig, was sie damit anfangen werden.«
18 Sektorinspizient Jeff Forson und Ann Cory, Gurnil B 627, wurden auf Leblancs Besitz getraut. Tor und seine Fanfarenbläser lieferten die Musik, alle zweihundertsieben Mitarbeiter vom Stab B nahmen als Gäste teil. Direktor Smine vom Amt für Interplanetarische Beziehungen erschien rechtzeitig zur Trauung. Als sie vorüber war, nahm er Forson und Ann beiseite und winkte Leblanc heran. »Verzeihen Sie, daß ich bei einer so festlichen Angelegenheit von beruflichen Dingen spreche, Administrator«, sagte er gewichtig. »Ah wußten Sie, daß wir Sie befördert haben? Das haben wir. Die Chefzentrale hat Ihren Bericht geprüft und ist der Meinung, daß einige Punkte zusätzlicher Erläuterung bedürfen. Ich bin gebeten worden, mich persönlich damit zu befassen. Ich gebe zu, daß das nicht der passende Augenblick ist, aber in drei Tagen muß ich auf Purrok sein, und wenn ich jetzt nicht mit Ihnen spreche —« »Schon gut«, sagte Forson zerstreut. »Welche Punkte meinen Sie?« Er hatte nur Augen für Ann, eine wunderschöne Braut in kurranischer Tracht, dunkle Farben, die das Gold ihrer Haare strahlender glänzen ließen. Er hatte sich vorgenommen, ihr nie mehr zu erlauben, daß sie sich in eine alte Frau verwandelte — nicht einmal dann, wenn sie älter wurde. »Offen gestanden, alle«, sagte Smine. »Die Chefzentrale kann sich einfach nicht vorstellen, wie Sie Fanfaren dazu benützt haben, eine Revolution herbeizuführen. Sicher, die Musik ist überwältigend, das sehe ich ein, aber eine Revolution -« »Es war eigentlich gar nicht schwierig, Sir«, erwiderte Forson. »Wir hatten ein Volk vor uns, das eine gewaltige künstlerische Begabung besaß, und einen König, der vergessen hatte, daß er über ein Gewissen verfügte.« Ann betrachtete ihn voll Stolz. Leblanc grinste. »Leblanc, verstehen Sie das?« fragte der Direktor scharf. »Nein, Sir.« »Dann wundert es mich nicht, daß man in der Chefzentrale verwirrt
ist. Man holte sogar jemanden von der Kulturforschung, der das erklären sollte, aber er konnte nicht. Vielleicht fangen Sie ganz von vorne an.« »Das habe ich getan«, sagte Forson. »Wir hatten ein einmalig künstlerisches und musikalisches Volk, mit echter Leidenschaft für das Schöne. Wir hatten einen König, der sein Gewissen vergessen hatte, und Sie müssen sich daran erinnern, daß der König ein typischer Kurranier mit ebensoviel Leidenschaft für das Schöne gewesen ist. Darauf kommt es an.« »Gut«, sagte Smine trocken. »Ich werde daran denken. Weiter.« »Die unaussprechlichen Grausamkeiten des Königs wurden nur an wenigen Untertanen verübt. In seiner Gegenwart geschahen sie selten, und die Schreie aus den Folterkammern waren in den Gemächern des Königs nicht zu hören. Seine Opfer sah er nicht wieder. Er hatte vergessen, daß er ein Gewissen besaß, weil es nie geprüft wurde. Und das Volk war bereit, seine Taten zu übersehen, solange er ihm die Schönheit gab, die es sich wünschte. Erst als er versuchte, sie daran zu hindern, rebellierten sie.« »An diesen Punkt erinnere ich mich«, sagte Smine. »Die Frau und die Priesterrobe. Ich kann es zwar nicht verstehen, aber ich akzeptiere es.« »Es kam nur darauf an, das Gewissen des Königs mit der Leidenschaft des Volkes für die Schönheit in Konflikt zu bringen, und deshalb gab ich den Einhand-Dörfern die Fanfare. Die Kurranier verliebten sich sofort in die Musik. Warum auch nicht? Ein paar armselige Töne aus einem völlig neuen Instrument hätten sie bereits fasziniert, doch Tors Bläser spielten großartig. Der König war so hingerissen wie seine Untertanen. An dem Tag, als die Fanfarenbläser kamen, schob er alles beiseite, sogar die Bedrohung durch den Stab B. Er saß den ganzen Nachmittag am Fenster und lauschte der Musik. Und er ahnte nicht, daß die Fanfarenbläser seine einarmigen Opfer waren. Er sah sie nur von weitem, ihre Umhänge verbargen ihre verkrüppelten Glieder, und niemand, der zu ihm Zugang hatte, wagte es, ihm zu sagen, wer sie waren. Als guter König, der seinem Volk gab, was es und er selbst
wünschten, befahl er eine Festvorstellung, bei der die Fanfarenbläser die Hauptattraktion darstellten. Erst als er sie, von der königlichen Loge aus, ganz nah sah, entdeckte er, daß sie einarmig waren. Diese Erkenntnis verwirrte ihn so, daß er wie versteinert dasaß und sie stundenlang spielen ließ. Als aber die Vorstellung vorbei war, mußte er etwas tun, und zwar schnell. Er war so sehr daran gewöhnt, seine Opfer außer Sichtweite und aus dem Gedächtnis verbannt zu haben, daß er die Aussicht nicht ertragen konnte, sie überall sehen zu müssen, wohin er auch ging, musizierend und von begeisterten Massen umgeben. Es war unvermeidlich, daß er die Fanfarenmusik verbot und die Bläser in ihre Einhand-Dörfer zurückschickte. Das brachte sein Gewissen in direkten Konflikt mit der nationalen Leidenschaft für das Schöne. Die Musik war hinreißend, das Volk sah nichts Böses darin, und ebenso unvermeidlich weigerte es sich, die Fanfarenbläser ziehen zu lassen. Der gute König war plötzlich nicht mehr gut, und je mehr das Volk seine vergangenen Taten im Licht der behinderten Leidenschaft für Fanfarenmusik sah, desto mehr mißfielen sie ihm. Als der König einen unheimlichen Todesvogel herbeirief, der sie angreifen sollte, gingen sie in ihrer Logik einen Schritt weiter und begannen den König als etwas Böses zu betrachten. Das war eigentlich alles: Ein Volk mit überwältigender Leidenschaft für das Schöne, ein König mit vernachlässigtem Gewissen, und ein großer Musiker, der die beiden miteinander konfrontierte. Dazu alle Raffinessen, die sich der Stab B ausdenken konnte, versteht sich. Genügt das als Erklärung?« »Tja —« Der Direktor zog die Brauen zusammen. »Was ich brauche, Administrator, ist das Grundprinzip der ganzen Sache. Etwas Allgemeingültiges, das man auch anders anwenden könnte.« Forson nickte verständnisvoll. Das IPB-Amt wünschte einen Slogan, den es fettgedruckt in das Handbuch 1048 K einrücken konnte, so etwas wie >Demokratie, von außen aufgezwungen und so weiter. »Betrachten Sie es so«, sagte er. »Nicht einmal der gewissenloseste König kann das Gewissen ignorieren, das durch Fanfaren spricht.« ENDE
LLOYD BIGGLE ist ein amerikanischer Autor. Er hat Musikwissenschaft studiert und auf diesem Fachgebiet den Doktorgrad erworben. Danach begann er Science Fiction zu schreiben. Mehrere Erzählungen von ihm wurden in amerikanischen Zeitschriften abgedruckt. 1963 erschien dann sein erstes Buch. - In der Reihe Goldmanns WELTRAUM Taschenbücher wurden bisher die beiden Romane >Für Menschen verboten< (Band 048) und >Spiralen aus dem Dunkel< (Band 096) sowie eine Auswahl der besten Erzählungen des Autors, >Verbrechen in der Zukunft (Band 098), veröffentlicht. Mit dem vorliegenden neuesten Buch von Lloyd Biggle bringt der Wilhelm Goldmann Verlag als 100. Band seiner WELTRAUM Taschenbücher einen utopisch-technischen Abenteuerroman von ganz besonderer Qualität. Die packende Darstellung, eine ungewöhnlich einfallsreiche Handlung und die faszinierende Spannung machen den Roman zu einer mitreißenden Lektüre für jeden Leser.
Goldmanns WELTRAUM Taschenbücher