Lena Blaudez
Farbfilter
s&c 11/2007
»Hier geht die Zeit anders. Man improvisiert. Passt sich den Gegebenheiten an. Ho...
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Lena Blaudez
Farbfilter
s&c 11/2007
»Hier geht die Zeit anders. Man improvisiert. Passt sich den Gegebenheiten an. Hofft auf ein Wunder oder begräbt seine Hoffnung, lebt von einem Tag auf den anderen. Überlebt wie in Trance. Manche suchen Rat bei den Alten, die wissen, was geschehen wird. Dieses Singen in der Luft, sind das nicht die Mythen und Sagen dieses weltvergessenen Landstrichs, gewispert von Ahnen oder Geistern? Und dann dieser Himmel. Ein überwältigender Himmel, der hier einfach weiter ist als anderswo. Blau, unendlich, in Bann schlagend. Der mecklenburgische Himmel.« ISBN: 978-3-293-00357-6 Verlag: Unionsverlag Erscheinungsjahr: 2006 Umschlaggestaltung: Theres Rütschi, Zürich
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Buch Die Fotografin Ada Simon ist aus Afrika zu einer Tagung über Tropenholz nach Mecklenburg gereist. In einem halb verfallenen Schloss treffen sich internationale Geschäftsleute, um nicht nur über Holzgeschälte zu reden. Ada sieht sich dort in der maroden Idylle mit einem unheimlichen Mann konfrontiert, der in Kamerun immer wieder ihren Weg gekreuzt hat. Denn in Kamerun hat alles angefangen: mit einem toten polnischen Missionar, den Vila ermordet haben soll. Weil die kamerunische Polizei ihr deswegen die Ausreise verweigert, muss Ada Simon eigene Nachforschungen aufnehmen und gerät mitten in einen knallharten Kampf um Holz, Kunst und um den begehrtesten Rohstoff des Handy-Zeitalters: Coltan. Im Regenwald, bei den Pygmäen, in Douala, der wichtigen westafrikanischen Hafenstadt, scheint der geheimnisvolle Mann eine Blutspur zu hinterlassen. Aber was will er in den mecklenburgischen Wäldern?
Autor Lena Blaudez wurde 1958 in Mecklenburg geboren, studierte Volkswirtschaft in Berlin-Ost und lebt seit 1985 im Westen. Viele Jahre verbrachte sie in Afrika, durchquerte mehrfach die Sahara und arbeitete für Entwicklungshilfeprojekte in Benin, Niger und Zaire. Heute wohnt sie als freie Journalistin und Autorin mit ihrer Familie in Berlin.
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Ivenack Das Gebäude sieht verwahrlost aus. So, als hätten es die letzten Bewohner schon vor Jahren erleichtert verlassen. Schmale Gänge führen zu kleinen stickigen Zellen mit winzigen Fenstern. Verliese. Enge und Düsternis legen sich beklemmend auf die Brust und verursachen Atemnot. Ada stellt sich an eins der winzigen niedrigen Fenster und rüttelt an dem Griff. Erfolglos. Draußen zieht ein Adler seine Kreise über dem weiten, hügeligen Land. Auf der Suche nach Beute, jederzeit bereit, herabzustoßen. Die Landschaft glüht in der Sonne, verschwenderisch leuchten gelbe Blüten, dunkelrote Erde. Ada ahnt den Duft. Der Kontrast von draußen und drinnen hätte nicht stärker sein können. Sie starrt auf die halb verfallene Wand gegenüber, auf die teilweise zugemauerten oder vergitterten Fenster. Das erste Mal fällt ihr ein. Wie sie vor Jahren hierher kam und fasziniert war. Fremd war sie, das sagte ihr jeder Blick aus den Augen der Einheimischen, und doch fühlte sie sich, als wäre sie angekommen. Wie an einem Platz, den sie schon lange gesucht hatte. Unten am silbrig glänzenden Wasser hatte sie auf die Geräusche der Tiere gelauscht, glucksend tauchten sie auf, rumorten irgendwo in den Wäldern, die endlos waren. Hier geht die Zeit anders. Vergeht zwar, aber ändert nichts. Man improvisiert. Passt sich den Gegebenheiten an. Hofft auf ein Wunder oder begräbt seine Hoffnung, lebt von einem Tag auf den anderen. Überlebt wie in Trance. Manche suchen Rat bei den Alten, die wissen, was geschehen wird. Dieses Singen in der Luft, sind das nicht die Mythen und Sagen dieses 4
weltvergessenen Landstrichs, gewispert von Ahnen oder Geistern? Und dann dieser Himmel. Ein überwältigender Himmel, der hier einfach weiter ist als anderswo. Blau, unendlich, in Bann schlagend. Der mecklenburgische Himmel. Ada reißt sich von ihren Gedanken los, öffnet eine der niedrigen Türen. Wirft die Tür wieder zu. Holt tief Luft und öffnet sie langsam wieder. Harte Musik knallt ihr entgegen. Grateful Dead? Eine unglaublich fette Alte, das rote Spitzennachthemd über dem riesigen Busen bedrohlich gespannt, hält ein hauchdünnes Teetässchen mit abgespreiztem kleinem Finger in der einen Pranke. Sie lächelt Ada an und winkt sie mit der anderen herein. Die herabhängenden Wülste an den Oberarmen schlackern wie Wackelpudding. Den großen roten Kopf zieren nur noch wenige graue Strähnchen. Grelle Abziehbilder, Püppchen und Pilze, Mickey Mouse und Märchenfiguren, Rennautos, Pin-up-Girls und Muskelmänner bedecken jeden Flecken der schrägen Wände des winzigen Kämmerchens. »Willst du einen Keks, Schätzchen?«, kreischt sie durch den Gitarrenlärm und zeigt auf einen Teller mit durchbrochenem Rand, auf dem sechs kleine Gebäckstücke im Kreis angeordnet liegen. Ada will. Dann sucht sie höflich dankend das Weite. Sie sieht sich schnell um und wirft den Keks mit schlechtem Gewissen in einen Blecheimer am Ende des Flurs. Wandert weiter. Plötzlich führen die bedrückenden Flure zu prunkvollen, stuckverzierten Treppenhäusern. Sie kommt in lichtdurchflutete Hallen, in weite Räume mit verglasten Erkern zum See hin. In einem lang gestreckten Saal blicken von holzgetäfelten Wänden halb vermoderte Hirschköpfe verwundert auf sie hinab.
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Ada betrachtet bunte Bilder, hingepfuschte Landschaftsaquarelle, die über uralten Wandmalereien an unbekümmert hineingedroschenen riesigen Nägeln hängen. »Was suchen Sie denn hier?« Eine merkwürdige Stimme hinter ihr. »Ich arbeite.« »So?« Hohn trieft mit einem dünnen Speichelfaden aus den abwärts gerichteten Mundwinkeln. »Können Sie sich ausweisen?« »Ich bin Fotografin und mache Aufnahmen von dem Schloss. Ich dachte, das Behindertenheim wäre schon umgezogen. Aber oben sind die Zimmer ja noch bewohnt!« »Nu, ein paar von denen sind halt noch da. Wüsste wirklich nicht, was Sie das angeht. Werden Sie fertig mit Ihrer Knipserei und stören Sie hier nicht länger!« Das lange, birnenförmige Wesen, vermutlich männlich, mit hängenden Schultern und ebensolchem Bauch schlurft davon. Die Arme baumeln an ihm herab, als sei deren übliche Funktion in Vergessenheit geraten. Wirr steht gelbes Kraushaar vom Kopf ab. Das Licht ist einmalig. Sie fotografiert die Hirschköpfe an der Wand, sonnengelbe Räume, ein Funkeln im zersplitterten Kronleuchter. Dann den Essraum: Sprelakattische auf Linoleum – entsprechend sind die Ausdünstungen, gemischt mit dem Gestank nach abgestandenem Kantinenessen, der in den Wänden hängt. In der Tür zittert hin und wieder ein birnenförmiger Schatten. Sie geht weiter durch leere Zimmer. Über einhundert Räume sind durch schmale Gänge in geradezu aberwitziger Anordnung verbunden, dazu verwirren oft schräge Wände. Als sie auf die andere Schlossseite gelangt, erinnern sie deren niedrige Decken daran, dass diese Hälfte ein Stockwerk mehr besitzt als die gegenüberliegende. Das Schloss ist unkonventionell durch 6
Einzug einer Zwischendecke um viele Zimmer erweitert worden. Sie ist schon eine ganze Weile keiner Menschenseele mehr begegnet. Steigt weiter nach oben. Plötzlich ist sie sicher, nie wieder herauszufinden. Da gellen schrille Pfiffe durch die leeren Räume. Marder. Sie steigt die Treppe ganz hinauf ins riesige Dachgebälk. In der sommerlichen Wärme duftet das Holz, feucht, alt und anheimelnd. Der Dachboden ist angefüllt mit Koffern. Es müssen tausende sein, die sich hier stapeln. Verstauben seit Jahrzehnten. Alte Presspappkoffer, billige Dinger zumeist, aber auch verschimmelte edle Lederkoffer mit Aufklebern von mondänen Badeorten und weit entfernten exotischen Großstädten. Koffer, die mit ihren betuchten Besitzern ehemals in vornehmen Hotels residierten. Koffer, die von weiß behandschuhten Dienern sorgfältig hinauf- und hinuntergetragen zu werden gewohnt waren. Nach dem letzten Krieg kampierten hier hunderte Flüchtlinge jeweils für ein paar Wochen. Sie zogen weiter. Die Koffer aber blieben. Später kamen die Pappkoffer mit den wenigen hineingestopften Habseligkeiten der Bewohner des inzwischen zum Behindertenheim gewordenen Schlosses dazu, die hier ihr Leben beendet hatten. Staub wirbelt auf, als sie einen Kofferdeckel hochklappt. Er ist leer. Sie fotografiert in dem diffusen Licht, das schräg durch eine kleine Dachluke fällt. Ein greller Schrei. Die Marder jagen durchs Gebälk. Ada saugt noch einmal den Geruch aus vermodertem Holz und staubigen Pappkoffern ein, bevor sie sich auf die Suche nach dem Ausgang macht, die ihr – notorische Orientierungsschwierigkeiten liegen ihr sozusagen in den Genen – zunehmend Sorge bereitet. Abwärts. Das zumindest muss richtig sein.
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Eine obskur aussehende Tür führt zu einer steilen Treppe. Ein enger Gang zieht um düstere Ecken, spärlich beleuchtet von flackerndem Neonlicht. Sie zieht den Kopf ein, denn an einem Balken über ihr baumeln lose Stromkabel, die zu einem lebensgefährlichen Gewirr offener Drähte zusammenlaufen. Das Ganze endet in einem zerborstenen Kasten, aus dem rote, blaue und schwarze Drähte quellen wie Eingeweide aus einem frisch gemordeten Schaf. Ein leises Pochen durchläuft die Gänge, wie der Herzschlag des Schlosses. Die Heizungsanlage? Plötzlich gibt die Neonröhre ihren Geist auf, was angesichts der Kabellage wenig verwundert. Die Dunkelheit ist absolut. Sie tastet sich an der rauen Wand entlang. Die Treppe muss doch wieder zu finden sein. Fast ist ihr, als hätte sie es im Innersten erwartet, als sich eine schwere Hand auf ihre Schulter legt. Schnaufender Atem bläst ihr in den Nacken. »Hab ’ne Taschenlampe! Mo … mentchen«, nuschelt es an ihrem Hals. Ein harter, greller Strahl fährt ihr ins Gesicht. Sie packt die Hand, die die Lampe hält. Die fühlt sich weich, fast pappig an. Sie dreht sie, sodass die Lampe dem Schnaufer ins Gesicht leuchtet. Einen tiefen Atemzug lang braucht sie, um die Beherrschung nicht zu verlieren. Bis zur Unkenntlichkeit ist das, was einmal ein Gesicht war, verunstaltet. Knappe, vornehme Verbeugung. »Darf ich mich vorstellen? Ich bin Herr Pompöse!« Seine teigige Hand fuchtelt dazu in der Luft herum, als wolle sie etwaige Zweifel an seiner wunderbaren, geheimnisvollen Herkunft von vornherein verscheuchen. Dann landet sie über der entstellten Gesichtshälfte, als wäre er sich ihrer gerade bewusst geworden. Er lugt durch seine dicken Finger zu Ada und lächelt schüchtern.
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»Können Sie mir den Ausgang zeigen, Herr Pompöse? Ich habe mich verlaufen.« »Aber gern, mein Fräulein! Immer folgen, bitte!« Er schlenkert gewandt seinen großen Körper vor ihr durch die engen Gänge. Im Nu sind sie draußen, der Weg ist verblüffend kurz. »Auf Wiedersehen, mein Fräulein! Besuchen Sie mich bald wieder!« Herr Pompöse verschwindet in den Tiefen des Kellergewölbes. Es dämmert bereits. Im letzten Moment, bevor sie dagegen stößt, bemerkt sie ein qualmendes Rohr, das mitten aus der Schlosswand ragt. Für den Auspuff des Notstromaggregates ist einfach ein Loch durch die Schlossmauer geschlagen worden. Sie macht ein Foto. Wieder eine dieser unfreiwilligen Grotesken, wie sie die letzte Diktatur hervorgebracht hat. Als sei Ästhetik ein natürlicher Feind des Klassenkampfes. Sie läuft über die Wiese, macht Aufnahmen vom Schloss unter einer schweren Wolke. Der Park ist wunderschön, eine harmonische Anordnung alter Bäume. Anmut und Leichtigkeit. Hier hat jemand mit lockerer Hand und Überblick gewirkt. Am See schickt sich eine dunkelrote Sonne an, postkartenreif ins Wasser zu tauchen. Eine einsame Wildgans fliegt niedrig über ihr entlang und schreit nach ihrem Liebsten. Morgen beginnt die Konferenz, von der Ada befürchtet, dass sie ziemlich langweilig wird. Ökologie in der Waldwirtschaft. Immerhin sollen ein paar interessante Beiträge dabei sein. Tropenholz ist ihr Thema. In Westafrika hat sie darüber Fotoreportagen im Regenwald und auf Plantagen gemacht.
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Sie entschließt sich, etwas zu essen und dann in ihre Pension zurückzugehen, um am nächsten Tag wenigstens gut ausgeschlafen zu sein. In der Kneipe am Dorfausgang können am Tresen nicht nur Zeitungen, Zigaretten und Süßigkeiten erstanden werden, sondern auch Haarshampoo und Seife. Ada holt sich die regionale Tageszeitung. »Toni«, weist gerade die robuste Kellnerin den Verschüchterten mit der beschlagenen Brille unter der runden Haartolle zurecht, »hier gibts nur halbe Liter! Hats hier immer nur gegeben, und ändern tut sich hier nichts!« Das hat Ada schon lange geahnt. Toni trinkt den halben Liter Bier halb aus, verbeugt sich höflich altmodisch und schreitet von dannen. Die Kellnerin nähert sich mit drohend erhobener Flasche den dreien am Nachbartisch, die eigentlich schon genug haben. »Na, noch ’nen Schnäppercken die Herren?« Ada beeilt sich, mit ihrem Schnitzel und dem obligatorischen Rotkohl-Weißkohlsalat fertig zu werden. Als sie, den blinkenden Himmel so nah über sich, als wollten ihr die Sterne gleich auf den Kopf fallen, den Weg zu ihrer Pension entlanggeht, hallen ihre einsamen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Sie genießt die klare, kühle Luft in der windstillen Nacht. Da nähert sich im milchigen Licht der Straßenlaternen ein Mann in eigentümlich gebückter Haltung, mit einer Plastiktüte in der Hand. Kurz vor Ada stockt er und stiert sie verbissen an. Dann stürzt er nach vorne gekrümmt weiter, das Gewicht der Tüte scheint ihn unweigerlich rechts hinüberzuziehen. Schräg kreuzt er die Straße, seine Schritte werden immer schneller, am Ende läuft er fast. Gestoppt wird er von einem metallenen Papierkorb, vor dem er in die Knie geht, 10
wie ein reuiger Sünder. Wieder hochzukommen übersteigt sichtlich seine Kräfte. Mit schauerlichen Geräuschen führt er den Papierkorb einer nicht vorgesehenen Nutzung zu.
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2 Das alte Schloss sieht im aufsteigenden Dunst verwunschen aus. Gelber Putz bröckelt und lagert in Häufchen wie verharschter Schnee. An seltenen Baumarten des heruntergekommenen, ehemals nach englischem Vorbild angelegten Gartens ranken schlangenartige Gewächse, wuchert Efeu. Das ist doch glatt ein, na, wie heißt er noch? Martin Sonntag legt den sorgfältig frisierten Kopf in den Nacken und begutachtet einen der uralten Bäume. Er ist zufrieden mit seiner Frisur. Sieht immer so aus wie von zärtlicher Hand verwuschelt und doch irgendwie seriös. Der Duft des frisch gemähten Grases steigt ihm dabei in die Nase – das hat er gleich in Auftrag gegeben. Oh ja, da lässt sich was draus machen. Das ist ihm sofort klar gewesen, beim ersten Blick schon. Nicht umsonst sagt man ihm eine einmalige Nase für originelle Örtlichkeiten nach. Und nicht nur das. Er hat beste Beziehungen zu Leuten aus Wirtschaft und Politik und zu den Medien. Zu den Entscheidern. Sein Kommunikationstalent, das Händchen für die richtigen Leute und wie sie anzupacken sind, das gestehen ihm selbst seine Neider zu. Unbewusst reibt er sich die Hände und setzt sein schräges Lächeln auf, das nicht nur Frauen unwiderstehlich finden. Aufgeräumt läuft er einmal um das große Schlossgebäude herum. Der schmale Weg unter dem mild grün schimmernden Lindendach endet an einem kleinen See, in dessen Mitte eine Insel im Sonnenlicht verschwimmt. Eins der seltenen Seeadlerpärchen soll dort seinen Horst haben. Sagt man. Er beschließt, dass dem so ist. In seinem linken Augenwinkel blitzt etwas auf, und er fährt herum, als hätte er wegen solch einer winzigen Ungenauigkeit ein schlechtes Gewissen. 12
»Ah! Hallo! Frau Simon, wenn ich nicht irre. Wie schön, dass Sie kommen konnten! Martin Sonntag. Ich bin der Organisator der Konferenz.« Er schüttelt Ada so begeistert die Hand, als wäre sie sein lang ersehnter Ehrengast, von dem bis zur letzten Minute nicht klar war, ob er auch die Zeit opfern könnte. »Sie kennen mich?« »Aber sicher, von Ihren Fotos – und von Fotos von Ihnen. Ich seh mir schon an, wen ich einlade!« Er lacht und betrachtet sie wohlgefällig: Diese Haltung. Ziemlich eigenwillig. Lange Beine und nette Rundungen weiter oben. Die rostbraunen Haare knapp über die Schultern. Ein etwas durchscheinender Teint mit Sommersprossen, leicht gekrümmte Nase. Die Augen grünlich wie ein Teich im Wald. Der Blick ironisch. Mund viel versprechend, aber das kann täuschen. Die Hände ständig in Bewegung, als sei sie eine Pantomimin. Und dazu der schlaksige Gang. Provokant. Er liebt Herausforderungen. Und diese hat sich ihm geradezu aufgedrängt. »Sie kommen direkt aus Afrika, nicht wahr? Scheint Ihnen ja nicht so viel auszumachen, die Tropen, so wie Sie aussehen, wenn ich mal so sagen darf. Andere erzählen da immer so schlimme Geschichten. Malaria und Raubüberfälle, Skorpione und Bürgerkriege, was weiß ich nicht alles für Scheußlichkeiten. Die wollen sich vielleicht auch nur wichtig machen, hmm? Na, man steckt ja nicht drin.« Immerfort lächelnd nimmt er sie am Arm, weist auf die kleine, verwucherte Insel. »Eins der seltenen Seeadlerpärchen hat dort seinen Horst. Es gibt nur noch dreihundert in ganz Deutschland. Zwei vierzig Spannbreite, die Flügel. Wunderbarer Anblick. Erhebend. Tja, die Natur!« Er führt sie durch die lange, schmale Lindenallee am Teehaus vorbei. »Spätklassizistisch mit Wandsäulengängen am See, ist im neunzehnten Jahrhundert entstanden. Können Sie kaufen.« Pappelblätter rauschen. Selbstvergessene Pärchen lagern im hellgrünen Licht und spucken Kirschsteine im hohen Bogen ins 13
Wasser. Vor dem Tattersaal, einem roten Backsteingebäude, toben Staub aufwirbelnd Pferde. »Hier, der Marstall. Im Halbkreis gebaut. Teilweise noch bewohnt. Ehemalige Arbeiter der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft.« Er lässt die Worte mokant abtropfen. »Unkündbar. Ganz schlecht, wenn man Investoren finden will.« Beige Tünche blättert, das Ziegeldach ist in der Mitte eingefallen. Die Luft flirrt vor Hitze und Schwalben. »Wieso haben Sie gerade dieses alte Schloss für die Konferenz ausgesucht? Ich kenne es von früher.« »Nun, meine liebe, geschätzte Ada, wenn ich Sie so nennen darf, die Konferenzen, die ich organisiere, finden ja schon seit Jahren an ganz ausgewählten Orten statt.« Seine himmelblauen Augen blitzen, und er beugt sich ein wenig zu Ada hinunter. Nicht, dass sie klein wäre. Aber seine stolz gereckte Körperlänge beträgt einhundertzweiundneunzig Zentimeter, die meisten davon recht ansehnlich angeordnet. »Hier in Mecklenburg, wo landesweit die allerhöchste Arbeitslosigkeit herrscht, sollen die Potenziale aufgedeckt werden, die besonders in der ökologischen Land- und Forstwirtschaft liegen. Und im sanften Tourismus. Außerdem«, er zwinkert ihr verschwörerisch zu und lächelt sein verführerisches Lächeln, »und außerdem ist dieses herrliche Schloss doch einmalig schön. Und völlig verrückt. Neorenaissance übrigens. Es steht auf den Grundmauern eines 1252 gestifteten ZisterzienserNonnenklosters. Man sieht förmlich jede Epoche der Geschichte hier verewigt. Das alte Adelsgeschlecht derer von Karzow hat immer dann weitergebaut, wenn es gerade mal Geld hatte. Dazwischen lagen ganze Epochen. In den letzten Jahrzehnten ist hier dann allerdings gar nichts mehr passiert. Sie sehen ja selbst, wie heruntergekommen es inzwischen ist. Heute sind die 14
unteren Räume nur so weit wiederhergestellt, dass sie als Versammlungsraum dienen können. Die anderen Zimmer sind leer und verkommen, seit das Heim für geistig Behinderte eine neue, hoffentlich passendere Stätte gefunden hat.« »Aber«, entgegnet Ada, »ist nicht gerade dieses verschachtelte Gebäude absolut passend? Eigentlich ist das doch genau das Richtige für Geister, die sich der Realität entzogen haben.« »Ah, das Auge der Fotografin! Und der fantasievolle Geist dahinter. Ja, natürlich. Wenn man es so betrachtet, haben Sie sicher Recht. Wie sagten Sie, der Realität entzogene Geister, das ist gut! Tja, was die erleben? Nun, man steckt ja nicht drin.« »Ökologie in der Waldwirtschaft … Wer wird denn teilnehmen, wen haben Sie eingeladen?« »Nun, wie immer, Leute aus ganz unterschiedlichen Berufsgruppen, die doch zusammenhängen. Manager aus der Holz verarbeitenden Industrie, Mitglieder diverser europäischer Umweltorganisationen, Förster, Politiker, Verwaltungsbeamte, PR-Leute und Journalisten verschiedener Zeitungen. Deutsche und englische Gastredner von internationalem Ruf haben zugesagt. Und da sind sie ja auch schon!« Eine Gruppe ins Gespräch vertiefter, sommerlich salopp und doch gut angezogener Leute schlendert näher. Ein älterer Herr in hellem Anzug und mit einem tief in die Stirn gezogenen Strohhut, eine ausladende Dame in einem weiten gelben Kleid mit einer großen roten Handtasche und einer dicken roten Korallenkette, ein wendiger kleiner Mann in einem hellgrünen Anzug. Mittelpunkt der Gruppe aber ist eine zierliche Schwarze mit einer aufwändigen Flechtfrisur. Sie ist die Einzige, die sich aufs Zuhören beschränkt. Trotzdem oder gerade deshalb scheinen sich alle auf sie zu beziehen. Ada fragt sich, wer das sein könnte. Martin Sonntag läuft umher und begrüßt seine Gäste, die nun in stetem Fluss in ansehnlichen Karossen mit und ohne Fahrer, 15
in Taxis und als Gruppe in einem kleinen Bus ankommen. Der Kies auf dem Schlossplatz knirscht unter den schweren Limousinen, Türen klappen gedämpft, hier und da ein leises Lachen, ein lautes Hallo. In seinem sandfarbenen weiten Sommeranzug, alle überragend und jedem mühelos das Gefühl vermittelnd, er sei der Wichtigste aller Gäste, auf jeden Fall der, über dessen Anwesenheit er sich am meisten freut, gelingt es Sonntag, schnell eine lockere, aber erwartungsfroh gespannte Stimmung zu schaffen. Als alle in der rau verputzten Eingangshalle auf gut gepolsterten Stühlen Platz genommen haben, läuft er mit elastischen Schritten nach vorn, hebt kurz Ruhe heischend den Arm und erläutert in wenigen Sätzen das Anliegen des Treffens: Der schöne Wald, die reiche Ressource, Zertifikate für ökologische Bewirtschaftung, Zertifikate auch für eingeführte Tropenhölzer, die sichern sollen, dass das Holz aus nachhaltigem Anbau stammt und die Arbeitsbedingungen den sozialen Mindestanforderungen in Bezug auf Lohn und Gesundheit entsprechen. Der Wald weltweit. Noch ein Scherz und Applaus, der erste Redner tritt nach vorn. Alles läuft nach Wunsch, freut sich Martin Sonntag, reibt sich die Hände und lässt sich die nächsten Schritte durch den Kopf gehen. Er denkt an Ada Simon, spürt, wie ein grüblerisches Stirnrunzeln aufzieht und verscheucht es schnell. Lässt sein allgegenwärtiges Lächeln aufblitzen und wendet sich seiner kultivierten Nachbarin mit der aufwändigen Frisur zu. Sehr elegantes Kostüm, vornehme Gesten, rundum sein Typ. Ein teures Parfüm steigt ihm in die Nase. Er berührt sie vorsichtig am Ärmel. »Meine liebe Madame Gado, hätten Sie vielleicht Lust, uns heute Abend in ein Restaurant zu begleiten?« Sie verzieht ihren breiten, fantasieanregenden Mund, als plagten sie plötzlich Zahnschmerzen. 16
»Wozu ich heute Abend Lust habe«, ihr Blick gleitet an ihm hinunter, dass ihm ganz heiß wird, »entscheide ich heute Abend.« Sie schnipst seine Finger von ihrem Ärmel wie ein Ekel erregendes Insekt. Martin Sonntag ist sogleich vollkommen absorbiert von der Rede des britischen Experten. Er rückt ein Stück von ihr ab.
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3 Ada spürt ein Ziehen im Rücken. Als sie sich umdreht, sieht sie aber nur Zuhörer, die dezent elegante Kleidung und fachkundige Gesichter tragen. Etwas beunruhigt Ada. Sie kommt nicht darauf, was es sein kann, aber es verursacht ihr einen eisigen Klumpen im Magen. Sie wendet ihre Aufmerksamkeit dem Sprecher zu, einem breitschultrigen Mann mit Schnauzer und einem angenehmen Bariton, der oft lächelt. Ein englischer Spezialist, controlling and evaluation. Ada wartet auf sein Lächeln, fast nach jedem Satz kommt es. Seine grünen Augen scheinen direkt auf sie gerichtet. Sie versucht, sich auf seinen Text zu konzentrieren, aber er spricht enorm schnell, und sein Englisch ist mit Fachausdrücken gespickt. Ada wird schläfrig. Im Dämmer der gleich bleibenden Stimme … monitoring, ecological certificate … schließt sie halb die Augen. Herr Pompöse gestern im Keller. Ich werde mich nach ihm erkundigen, beschließt sie. Was wird wohl aus der GratefulDead-Liebhaberin werden? Bis das Klatschen sie aus ihren Träumereien reißt. Der Applaus für den Engländer ist verhalten. Höflich werden die Handflächen aneinander geschlagen, während ein Gemurmel und Getuschel beginnt, und die Ersten, Stühle scharrend, aufstehen und dem Ausgang zustreben. In der Pause – »eine halbe Stunde bitte nur«, wie der smarte Martin Sonntag verkündet – werden Häppchen gereicht. Lachs auf winzigen Toaststücken. Klitzekleine Kaviarhäppchen verschwinden in großen Mündern. Ada grübelt, wer eigentlich die Konferenz finanziert hat.
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Martin Sonntag schiebt sich durch die Leute, lässt hier und da eine durchweg mit wohlwollendem Nicken aufgenommene Bemerkung fallen und tritt dann zu ihr. »Nun, wie gefällt es Ihnen hier? Interessant genug? Wenn Sie heut Abend noch nichts vorhaben, würde ich Sie gerne mit ein paar Leuten aus der Holzwirtschaft bekannt machen. Auch einige ausgewählte Journalisten werden dabei sein. Sicher ganz nützlich für Sie, hm? Ich kenne ein ausgezeichnetes Restaurant hier in der Nähe. Tatsächlich ein Spitzenkoch, etwas ganz Besonderes, vor allem hier in der Gegend. Wenn Sie einverstanden sind, treffe ich Sie nach Ende der Veranstaltung in der Halle?« Er nickt, nimmt wie selbstverständlich ihr Einverständnis vorweg. Dann gesellt er sich wieder unter die Leute, lächelt und redet unablässig. »Dreisprachig ist man hier in Mecklenburg«, hört sie ihn tönen. »Hochdütsch, plattdütsch und över anne Lütt!« Was er sich von den Umstehenden mit beifälligem Gelächter quittieren lässt. Es ist noch Zeit bis zum nächsten Programmpunkt. Auf einmal packt sie das dringende Bedürfnis nach frischer Luft. Erleichtert lässt sie das abschwellende Stimmengemurmel hinter sich und tritt hinaus auf den Schlossplatz. Ein älterer Mann in blauem Arbeitsanzug fegt den Vorplatz. Ada geht zu ihm und stellt erstaunt fest, dass seine Augen genauso blau sind wie sein Anzug. »Sagen Sie, wissen Sie etwas über Herrn Pompöse?« Er lässt das Fegen sein, stützt sich auf den Besenstiel und sieht sie an, als hätte sie etwas Anstößiges gesagt. »Den kennen Sie?« »Ich habe ihn hier im Keller getroffen.« »Ja, da lebt der. Der war in seinem Leben noch nie nich woanders. Genau wie seine Mutter, die hat hier früher in der Küche ausgeholfen. Ist aber schon lange tot. Das war hier ja bis vor kurzem noch ’n Heim für die Bekloppten. Herr Pompöse, 19
haha! Der heißt wirklich so. Und wehe, du hast ihn nich so genannt, da war der stinksauer. Nich mal seine Mutter durfte Theobald zu ihm sagen. Na, das kam alles von wegen der Gasflaschengeschichte.« Seine Äuglein blitzen vor Freude. Eine, der er was erzählen kann. »Gasflaschengeschichte?« »Durch den ganzen Speisesaal ist der geflogen! Mit seiner Mutter. Tatsächlich. Haben Sie nich sein Gesicht gesehen? Die haben sich nich viel Mühe gemacht damals mit ihm. Sieht gar nich gut aus, ne, die vernarbten Brandwunden. Hat leidenschaftlich gern gebastelt. Nu, das war dann auch vorbei. Jetzt sitzt er nur noch im stockfinsteren Keller rum, liebt die Dunkelheit. Der ist bestimmt da unten schon blind wie ’n Maulwurf. Jemand stellt ihm immer Essen hin. Muss einer aus dem Dorf sein. Keiner weiß, wer. Holt der sich immer nachts. Man sieht ihn nie. Da unten«, er beugt sich verschwörerisch zu Ada hin, »da führen unterirdische Gänge vom Schlosskeller kilometerweit. Stammt alles noch von den Betschwestern, war doch mal ’nen Kloster hier. Na, was die so getrieben haben? Das sind Gewölbe, ganze Welten da unten. Soll sogar von hier bis zu der unterirdischen Raketenabschussbasis in Rosenow führen. Hat noch keiner ganz erkundet. Wer da zu weit geht, der kommt nich mehr wieder. Vielleicht holt sich die Herr Pompöse?« Er beginnt wieder zu fegen, eifrig, ohne sie weiter zu beachten, so als würde er mit seiner Sauberkeit die andere, erfreulich ordentliche Seite des Lebens verkörpern. Eine Kastanienallee führt in den Park. Ada geht die Kopfsteinstraße entlang und atmet den Duft des frisch gemähten Grases ein, genießt die milde Stimmung. Wie anders, wie abgemildert und gedämpft ist doch das europäische Klima. Langsamer geht sie die schattige Allee weiter. Am Horizont das 20
sanft wellige Hügelland, Kraniche und die Weite des Himmels über sich. Davor einer der fast unberührten Wälder mit urwüchsigem Baumbestand. Seit Jahrhunderten umzäuntes Jagdrevier der wechselnden Herrscher. Umweltschonend sind hier nur müde Sechsender und zahme Keiler den alten Herren vor die Flinten getrieben worden. Hirsch und Wildschwein für die Mächtigen. Schmale Treppenstufen führen einen Hügel hinab und enden in verwildertem Gebüsch. Vielleicht beginnt hier ein Teil der unterirdischen Gänge, das Reich des Herrn Pompöse? In der uralten kleinen Kirche mit dem Holzturm sind die Wände voller Malereien. Manchmal reisen Kenner nur deswegen hierher. Daneben, in einem windschiefen Häuschen, wohnt die alte Frieda. Wer bei den Ärzten keine Hilfe findet oder etwas über seine Zukunft wissen will, geht zu ihr, der Spökenkiekerin. Drei rau verputzte Reihenhäuser stehen nebeneinander am Straßenrand. Ada sieht braune Hosenbeine in Augenhöhe hinter dem Wohnzimmerfenster. Gleich darauf rauscht etwas schwer zu Boden. Hat hier einer endgültig aufgegeben? Oder war das nur der missglückte Versuch, eine Gardine aufzuhängen? Stets ein Anlass zur Freude, wenn man wieder hier ist, findet Ada. Dass man hier nicht leben muss. Nicht nur, dass alles langsamer geht als woanders, immer meint sie, den Mief der vergangenen Epoche zu riechen. Vor dem kleinen Laden steht die Verkäuferin und raucht eine Zigarette. »Ach, wollen Sie was?«, fragt sie Ada verwundert, als sie grüßend an ihr vorbei durch die Tür tritt. »Ja, allerdings. Oder haben Sie geschlossen?« »Nee, ist den ganzen Tag offen. Hab aber nicht gedacht, dass heut einer kommt. Zahltag ist doch erst morgen.« Sie erstickt die Kippe unter ihren Gummilatschen und betrachtet Ada mit kritischem Blick: »Ach so, Sie gehören wohl zu den Leuten von 21
der Konferenz im Schloss! Na, dass einer von denen hierher kommt, hab ich ja nu nicht gedacht! Die haben doch da feinste Köche, nur Kaviar und so was, und alles vergoldet, selbst die Wasserhähne. Ist es nicht so?« Die hagere Frau sucht die gewünschten Äpfel, die Schokolade und die Tageszeitung zusammen. Während sie die Sachen in eine Tüte packt, klärt sie Ada kategorisch über die Aussichten in punkto Wetter und des auf der Titelseite prangenden Lokalpolitikers auf. Beides äußerst unzuverlässig. Mit einem karierten Geschirrtuch malträtiert die Frau den Ladentisch, als sich Ada beim Verabschieden nach ihr umdreht. Die Papiertüte mit ihren Einkäufen in der Hand, geht sie die schmale Kopfsteinstraße weiter in Richtung Park. Ein dunkler Wagen ist lautlos näher gekommen. Erst als er wenige Meter von ihr entfernt stoppt, entdeckt sie ihn. Die Frontscheibe reflektiert die Sonne, die heute aus einem wolkenlosen Himmel ihr Bestes gibt. Zu erkennen ist im Innern niemand. Unbewusst tritt Ada zwei Schritte zurück, in den Schatten einer breitkronigen Kastanie. Ihr Puls geht schneller. Sie weiß nicht, was geschehen könnte. Nur, dass das hier keine normale Situation ist. Dabei ist es ein lauer Nachmittag im Sommer. Was sollte harmloser sein? Wenn man einmal von den haarlosen Typen absieht, die mit ihrem Opel, aus dem ohrenbetäubend Technohämmer dröhnen, gerade an ihr vorbeidonnern. Am Rückspiegel baumelt ein erdrosseltes Plüschäffchen. Der schwarze Mercedes steht da wie ein glänzendes Insekt. Unbeweglich und lautlos. Oder wie ein Gecko, der versteinert wartet, bis sich die Gelegenheit zum Zuschnappen ergibt. Jetzt fällt ihr ein, was ihr vorhin diesen eisigen Klumpen im Magen verursacht hat. Ein kleiner, silberner Gecko, der am Revers eines eleganten, hellgrünen Anzugs steckte. Sie liebt diese harmlosen Tiere, die in Afrika ihre ständigen Begleiter sind. 22
Aber dieses silberne Tierchen verkörperte nichts Harmloses. Ein Firmenlogo, das ihr in Kamerun zum ersten Mal begegnet ist. Schlagartig ist ihr jetzt klar, wer hinter dem Steuer sitzt. Seit Wochen fürchtet sie sich vor diesem Moment. Wenigstens ist das jetzt vorbei. Allerdings hat sie das, was sie nun erwartet, selbst heraufbeschworen. Die ganze Geschichte in Gang gebracht. Jetzt hätte sie es sogar vorgezogen, die Glatzen hätten neben ihr gehalten, obwohl sie die sonst fürchtet. Sie hat immer gedacht: Hirnlose Brutalität, kann etwas schlimmer sein? Ja, findet sie nun. Es kann.
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Douala, Kamerun Das Monstrum kreist direkt über ihr. Gleichgültig und todbringend. Mit einem leisen Zischen zerschneiden die dünn geschliffenen Stahlklingen die Luft. Ada kann die Augen nicht von ihnen lassen. Ihr Kreisen wirft monströse Schatten an die Wand und über Adas Gesicht. Eine perfide Tötungsmaschine, die immer größer wird. Jedes Detail brennt sich überdeutlich in die Netzhaut. Als sie sieht, dass die Ränder der Klingen rotbraun sind, wird ihr übel. Eine scheußliche Farbe, getrocknetes Blut. Langsam und unausweichlich sinken sie tiefer. Monoton, gelangweilt, mörderisch. Sie weiß, was kommt: Millimeterweises Abfetzen von Haut. Aufreißen von Fleisch. Zerschmettern von Knochen. Sie will schreien, lallt nur. Unerträglicher Durst. Der Mund völlig ausgedörrt, die Zunge ein ekelhaft pelziger Wulst, der sich nicht bewegen lässt. Sie erstickt an dem Ding. Hechelt nach einem winzigen Hauch Luft. Etwas presst ihr den Kopf zusammen und legt sich um den Körper wie ein Mantel aus Blei. Nicht einmal mehr die Augen lassen sich bewegen. Starre. Die Klingen rotieren jetzt so nah über ihr, dass sie deutlich den Luftzug spürt. Sie berühren die Haare, ratsch, ratsch. Gleich kommt er, der mörderische Schmerz, mit nichts zu vergleichen. Ratsch – ratsch. Ada japste stoßweise nach Luft, riss die verklebten Augen auf. Ratsch. Jemand mähte vor dem Fenster mit der Machete das Gras. Ratsch. Die Ventilatorenflügel drehten sich oben an der Decke, wie es sich gehörte. Sie kreisten knarzend, als hofften sie mit jeder Drehung aufs Neue darauf, einen der blutgierigen 24
Überträger der Malaria tropica zu erwischen. Krrrzt. Wieder vergeblich. Krrrzt. Die Mücken lachten sich krumm. Ihr war klar, dass es sie längst erwischt hatte. Der Schweißgeruch war eindeutig. Süßlich, intensiv, aus allen Poren. Das war der Gestank des Fiebers. Jeder einzelne Muskel, jeder Knochen ein quälender Schmerz. Die Augen brannten, der Kopf dröhnte, hinter der Stirn kreischten Bohrer, die gnadenlos in ihr Hirn drangen. Alles drehte und drehte sich, bis sie vor Übelkeit weder ein noch aus wusste. Sie fror. Wenn nur dieses scheußliche Geräusch endlich aufhören würde, ihren Ohren wehzutun. Es dauerte, bis ihr klar wurde, dass es das Klappern ihrer Zähne war. Als sich das Drehen etwas verlangsamte und der Brechreiz weniger würgte, konzentrierte sie sich auf die Leichen ihrer erschlagenen Feinde. Die hellblaue Wand war verklebt mit Moskitos, was deren Artgenossen aber nicht im Geringsten davon abhielt, sich weiter an Ada gütlich zu tun. Das Mittel, das dritte, das sie jetzt ausprobierte, schien endlich anzuschlagen. Das Fieber sank, und sie schwitzte so stark, dass sie in ihrem Bett zu schwimmen begann. Das Laken war dunkel vor Feuchtigkeit. Mühsam setzte sie sich auf. Sie stolperte zu dem kleinen fleckigen Spiegel an der Wand. Ihr Gesicht war ein dünn mit gelbem Pergament überspannter Totenkopf. Sehr attraktiv. Sie nickte ihrem Spiegelbild zu und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der außer einem altersschwachen Tisch und dem Bett das ganze Mobiliar des Zimmers stellte, und griff sich ihre braune Tasche. Das vertraute glatte Leder in ihren Fingern hatte etwas Tröstliches, obwohl sich ein mehliger Ausschlag von den Rändern her schmarotzend über die Tasche hermachte. Leder passte wirklich nicht zu diesem Klima, aber sie hing nun einmal an dem alten Stück, das sie seit Jahren immer bei sich trug. Die Tasche war groß genug, dass alles Lebensnotwendige darin Platz hatte. Die Ausrüstung, mit der sie ihr Geld verdiente: ihre Leica mit Wechselobjektiven und die Filme in luftdichten Plastikdosen. Ein Buch aus ihrer großen Reisebibliothek, in das 25
sie sich bei Bedarf verkriechen konnte, Die toten Seelen. Wer weiß, warum ihr ausgerechnet hier in den Tropen immer die Russen in die Hände fielen. Daneben Chloroquin, Chinin und andere Malariapräparate, Breitbandantibiotika und ein starkes Schmerzmittel, für alle Fälle. Ein Kamm, Creme und ein bordeauxroter Lippenstift. Zigaretten gehörten zur Zeit nicht dazu. Mit weit ausgestrecktem Arm machte sie ein Porträt von sich. Noch eins mit gebleckten Zähnen: Wenn schon, denn schon. Nahaufnahme des rostigen Ventilators als Utensil aus Grube und Pendel, Großaufnahme der blutverschmierten Stellen an der Wand mitsamt den zerquetschten Moskitos. Auch Malaria hatte interessante fotografische Aspekte. Sie war ja einiges gewohnt. Die linksseitige Schwerhörigkeit als Folge der Chininmengen zum Beispiel. Die gelegentlichen Stirnhöhlenvereiterungen und die Pilze an verschiedenen Körperstellen war sie immer wieder losgeworden. Sie hatte ja ihre Medikamente. Das hatte sie den meisten ihrer Mitmenschen hier voraus. Wer dieses Privileg nicht hatte, aber die Malaria tropica, starb. Schnell. Die kleine Herberge der Mission Catholique in der Rue Franqueville, wo sie sich – wie immer, wenn sie in Douala war – ein Zimmer genommen hatte, war beschattet von hohen Kapokbäumen. Hier war es angenehm, preiswert und sicher. Ein aufgekratzter Schnösel in weißem Anzug sprang in einen passend weißen Peugeot, den er soeben von langhaarigen Wüstenfahrern erstanden hatte. Er preschte los und setzte das Gefährt sofort krachend an einen der dicken Stämme. Gejohle der Verkäufer. Wie ein begossener Pudel kletterte der schnieke Sohn der Oberschicht aus der zerbeulten Kiste. Was wohl der Papi dazu sagen wird? Ada feixte.
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Sie setzte sich in den Schatten auf der Terrasse und genoss die vergleichsweise frische Luft. Nach den vielen Tagen im stickigen Zimmer war das eine Wohltat. Mala aria, schlechte Luft, hatte sie jetzt hinreichend ausgekostet. Sie streckte die Beine und freute sich. Immerhin, das schaffte keine Diät: So schlank war sie schon lange nicht mehr gewesen. Sie versuchte, etwas von dem Fufu zu essen, das die Straßenköchin mit einem mitleidigen Blick vor sie hingestellt hatte. Nein, das klappte noch nicht. Der Magen protestierte energisch. Nur trinken. Sie schüttelte sich die rötlich braunen Haare aus dem Gesicht und fühlte die Energie zurückkehren. Allerdings sehr langsam. Und nur im Sitzen. Ihr wurde so schwindlig beim Aufstehen, dass sie sich erst einmal zurückfallen ließ. Zurück in die Waagerechte. Alles andere morgen … Douala. Laut. Schrill. Hektisch. Die Stadt schmerzte ihr in den Ohren. Unerträgliche Gerüche. Farben, die den Augen wehtaten. Sie schleppte sich den Boulevard de la Liberté entlang, um ein paar Lebensmittel einzukaufen. Hier im Stadtteil Akwa drängten sich die kleinen, voll gestopften Läden, aus denen kreischende Musik quoll. Rücksichtslose Passanten rannten Ada gnadenlos über den Haufen, Moped- und Autofahrer machten sich einen Spaß daraus, sie zu jagen. Händler bedrohten sie mit Bügeleisen und Regenschirmen. Ada setzte sich kurz in ein Café, um Kraft zum Überqueren der Straße zu sammeln. Nachdem sie etwas getrunken hatte, breitete sich langsam Hoffnung in ihr aus. Ein Überleben schien wieder vorstellbar. Die Gerüche wurden erträglicher, der Lärm gedämpfter, die Menschen freundlicher. Sie sah den Leuten zu, wie sie bei der Straßenköchin stehen blieben, redeten, lachten, den letzten Augenblick Tageslicht genossen, der die Farben aufleuchten ließ, bevor die Dunkelheit herabfiel wie ein schwarzer Vorhang. Nicht nur Ada liebte diese Minuten des Übergangs, in denen alles milder wurde, Atem schöpfte, wieder 27
zu leben begann nach dem gnadenlosen Brennen. Die kleinen Vampire warteten ebenso auf diesen Moment. Um sich auf sie zu stürzen. Ada kapitulierte und machte sich auf den Heimweg. Nicht schon wieder einen Schub. Jede Bewegung, jedes Vorhaben erforderte unglaubliche Energie. Alle Willensreste mussten zusammengekratzt werden, um solch übermenschliche Anstrengungen auf sich zu nehmen wie Aufstehen, Gehen, etwas Wollen – außer zu liegen. Am nächsten Morgen raffte sie sich auf. Sie musste weg hier und wieder arbeiten. Nicht, weil die Zeitschriften Druck machten. Für ihre Fotoreportagen über den Tropenwald hatte sie ausreichend Zeit. Aber nur so, wusste sie, kam sie wieder zu Kräften. Sie packte ihre Tasche und leistete sich ein Taxi zum Busbahnhof.
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Bamenda, Kamerun Was für eine Wohltat, in Bamenda zu sein. Vor allem, wenn man aus Douala kam. Das Klima der hoch gelegenen Stadt war milder, zumindest am Morgen. Ringsum in den Bergen rauschten Wasserfälle ins Tal. Vielleicht würde sie die Kunsthandwerker entlang der Ringroad des Graslandes fotografieren. Ada hatte noch die Müdigkeit der Tagesreise in den Knochen und beschloss, es ruhig angehen zu lassen. Außerdem hatte sie noch vor, jemanden ausfindig zu machen. Pierre Bernard. Elise hatte Ada dringlich geraten, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Niemand kannte sich in Kamerun so gut aus wie er. Er hatte Freunde unter den Pygmäen, er konnte ihr die für ihre Reportagen wichtigen Leute vermitteln, die Papiere besorgen, er kannte die Termine der entscheidenden Rituale, alle Traditionen und Tabus, die Jäger, die Händler, die Zauberer. Es schien, als ob ohne Pierre Bernard in dieser Ecke gar nichts ging. Ada kannte ihn nur aus einer Sendung, die ihre Freundin, Elise de Souza, auf TV Bénin moderiert hatte. Es war eine sehr erfolgreiche Sendung, von vielen Seiten kamen Glückwünsche. Andere schäumten vor Wut. Pierre Bernards Art, die Skrupellosigkeit bestimmter Holzhandelsfirmen bloßzulegen, war gefürchtet. Also machte sich Ada auf die Suche. Einen Versuch war es immerhin wert. Eigentlich sollte es ganz einfach sein. Schließlich war er ein attraktiver Typ, groß, dunkelhaarig, riesige Nase im schmalen Gesicht, ungefähr dreißig. Ein Weißer. So einer musste hier auffallen. Ada fragte jeden, der ihr 29
über den Weg lief. Ein engagierter Umweltschützer, ein Regenwaldexperte. Ein Freund der Waldmenschen. Einer, der gerne große Reden schwang. Ein passionierter Biertrinker. Ein Frauenschwarm. Womanizer. Ada kicherte, als ihr die Bezeichnung einfiel. Aber sie hatte kein Glück. Er war nirgends zu finden. Vom Erdboden verschluckt. In Bamenda kennt ihn jeder, meinte Elise, er wäre oft dort. Von wegen. Niemand kannte ihn. Nie gehört, den Namen, hieß es immer wieder. Dann lass ichs halt, dachte Ada, wird schon irgendwann auftauchen, der Typ. So bedeutsam konnte der ja nun auch wieder nicht sein, dass sie nicht auch ohne ihn klarkäme. Seit sie als Kind ihre Eltern bei einem Autounfall verloren hatte, war sie mehr oder weniger auf sich gestellt gewesen. Und war gut klargekommen. Mehr oder weniger. Sie ging zurück, in Richtung der einfachen Pension, in der sie sich ein Zimmer genommen hatte. Die Straße war wie leer gefegt in der weißglühend schmetternden Mittagssonne. Trinken, hinlegen, viel mehr Gedanken hatten kaum Platz. Da saß eine Frau im Schatten, die so aussah, als ob sie mit Sicherheit alles wusste, was ringsum geschah. Ihre Fülle fand in dem Rattansessel vor ihrem Häuschen kaum Platz. Sie ist die Letzte, die ich frage, beschloss Ada. Nachdem die Frau Ada mit schräg gelegtem Kopf von oben bis unten begutachtet hatte, ächzte sie und entgegnete mit tief aus dem Bauch hervorrollender Stimme: »Geh mal rauf zu den Oblaten, Kindchen. Uuuufff.« Erschöpft wedelte sie sich Luft zu und ließ sich zurücksinken, als hätte sie Übermenschliches geleistet. Weit war es nicht zu der Missionsstation des polnischen Ordens der Oblaten. Eine halbe Stunde Fußmarsch. Sie schaute zurück auf die Stadt weiter unten. Machte Fotos. Die Wellblechdächer 30
zwischen den dunkelgrünen Baumkronen blitzten in der Sonne wie Silber. Auf dem roten Lateritweg waren nur wenige Leute unterwegs. Zwei Kinder in beigefarbenen Schuluniformen starrten sie an und rannten dann weg. Eine junge Frau in langem blauem Gewand schwebte an ihr vorbei wie eine Königin. Auf den schwarzen Locken trug sie eine gewaltige glänzende Machete. »Pierre Bernard!« Pater Stanisław Kalinowski sah sich um, als ob er ihn unter dem Tisch oder hinter dem Holzkohleherd vermutete. Als sei es durchaus möglich, dass sich der Gesuchte unter der schmuddeligen Decke, die das eiserne Bettgestell überzog, versteckt hielt und gleich albern kichernd hervorkriechen würde. Der Pater sah um sich, als hätte er die Ärmlichkeit seiner kleinen Hütte im kamerunischen Bergland nicht jeden Tag vor Augen. »Ist er also nicht zurückgekommen«, murmelte er, schenkte sich aus einer Flasche ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit voll und kippte es in einem Zug hinunter. Entgegen allen guten Sitten, die sie hier gewohnt war, bot er ihr nichts zu trinken an. »Seit vierzig Jahren lebe ich hier«, stieß er hervor, wie ein Geständnis. Als glaubte er, Ada sei eigens für diese Information aus Deutschland angereist. »Vierzig Jahre!« Schwer zu sagen, ob er das als Grund für eine bevorstehende Heiligsprechung oder für eine baldige Einweisung in die Klapsmühle betrachtete. Eher Letzteres, vermutete Ada, die darauf bei einem Kirchenmann nicht gefasst war, als sie sein ausgemergeltes, zerknittertes Gesicht betrachtete. Wie vertrocknet vor Entbehrung, Einsamkeit und Enttäuschung. Seine Augenlider flatterten. Ada meinte, die Resignation förmlich mit Händen greifen zu können. Ein Geruch von Fäulnis und Verwesung stieg ihr in die Nase. Rings um die Hütte des polnischen 31
Missionars wucherte der Dschungel. Plötzlich klangen die kreischenden Papageien und kehligen Schreie – waren es wirklich Affen? – Furcht einflößend. Der Pater wollte sie loswerden, das spürte sie. Fingerte mit dunklen Nagelrändern an seinem Glas, das er neu gefüllt hatte, sah sie nicht an und kippte es wieder in einem Zug. Er zwinkerte mit den Augen, kleine Schweißbäche mäanderten die Stirn entlang, stürzten an den Nasenflügeln vorbei und fielen an den Mundwinkeln in scharfe Kummerfalten. Eigentlich sah er aus, als wolle er sich umgehend eine Kugel in den Kopf jagen. »Wenn Sie unbedingt etwas über Pierre Bernard wissen wollen, dann fragen Sie am besten Sandre. Zu empfehlen ist das aber nicht.« Ein Hustenanfall schüttelte den dürren Körper. Er winkte sie mit der Hand hinweg, scheuchte sie raus. Ada machte sich lustlos auf den Rückweg. Sie fühlte sich matt und wattig in den Knien, stöhnte leise vor sich hin. Das hatte sich gelohnt. Wahrlich erschöpfende Auskünfte: »Fragen Sie Sandre.« Der kurze Weg zurück wurde lang. Zog sich endlos. Drückende Schwüle nahm ihr den Atem. Als ob aller Sauerstoff vor ihrem Mund weggesogen würde und nur stickig heiße Ausdünstungen einer Urwaldkreatur dumpfig aufstiegen. Es stach in der Kehle und brannte in den Augen. Endlich wieder in Bamenda, hängte sich ein kleiner Junge in einer lumpigen Turnhose an Ada: »Give me fifty! Give me fifty!« Sie fischte eine CFA-Münze aus der Tasche, und der Kleine lachte begeistert. Durstig bestellte sie in der ersten Straßenkneipe am Weg eine Cola. Lächelte der Bardame zu, die ihr mit wildem Augenzwinkern und hektischen Kopfbewegungen etwas klar machen wollte, was sie beim besten Willen nicht kapierte. Vielleicht meinte sie ja die angetrunkenen Typen, die sie zu sich an den Tisch locken wollten. Lachten und winkten. Sie schüttel32
te den Kopf, stürzte die Cola herunter. Rhythmisch zuckten und wippten die Gäste mit allen beweglichen Teilen zu der dröhnenden Musik, die aus dem Radio schallte: »Zaminamina héhé, Waka waka héhé, Zaminamina Zangalewa, Ana wa ha ha …« Als wäre dies das Zeichen für ihren Auftritt, traten zwei verschwitzte Uniformierte ein, und das Klima änderte sich augenblicklich. Eine plötzliche Vereisung zog über die Gesichter. Das Radio verstummte in vorauseilendem Gehorsam. Die Bardame hatte plötzlich dringend ganz hinten etwas zu tun. »Wo kommen Sie her?«, herrschte der eine, groß und dick, Ada an. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, die Äuglein verschwanden hinter dicken Fleischwülsten. »Deutschland«, antwortete sie abweisend. »Nein! Jetzt, gerade jetzt!«, dröhnte die Stimme. »Machen Sie keine Scherze mit uns. Sie kommen mit!« Einfach ein rasend erfolgreicher Tag heute. Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren. Beim Weggehen hörte sie, dass das Radio wieder lief: »Django Django héhé, Django Django héhé, Zaminamina Zangalewa, Ana wa ha ha.« Sie ging zwischen den beiden Typen, ärgerte sich vor allem über den Zeitverlust. Sie hatte sich aufs Fotografieren gefreut. In ein paar Tagen wollte sie wieder los, nach Yaoundé, das Visum musste verlängert werden. Das Ganze wird sich schnell als Missverständnis erweisen, sie werden irgendetwas von Kontrolle schwafeln, dann würde sie wieder gehen können. Ermüdend, diese Bürokratie. Ein kleiner Mann in Zivil empfing sie im winzigen Zimmer des Kommissariats. Steif, als wäre er in ein zu enges Korsett geschnürt, wies er ihr mit militärisch knapper Geste seines festen Kinns einen Stuhl an. Wut des zu kurz Geratenen brodelte unter der verkniffenen Oberfläche, vermutete Ada. Befehlsgewohnt, untersetzt und energisch. Skrupellos. Das krauslockige Haar über der Stirn scharfkantig geschnitten, ging er geschäftig 33
hin und her. Schaute schweigend aus dem Fenster, als erwarte er noch jemanden. Dann kam er auf sie zu, blieb knapp vor ihr stehen, funkelte sie an und kreischte plötzlich mit verblüffend hoher Stimme: »Weshalb haben Sie Pater Kalinowski erschossen?«
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Douala Nie hätte sie gedacht, dass Töten so einfach ist. Das einzig Unangenehme sind die Folgen. Die Leichen liegen herum und verbreiten eine ungemütliche Atmosphäre. Manchmal gelingt es, sie mühelos zu entfernen, schnell verschwinden zu lassen. Doch da taucht schon die nächste auf. Wieder ungeplant und ungewollt. Obendrein drängt jetzt die Zeit, Besucher haben sich angesagt. Da klopfen sie schon an die Tür, pochen und rufen. »Aufmachen!« Schweißgebadet und verwirrt erwachte Ada. Schon wieder standen zwei Herren in Uniform vor ihrer Tür in der Pension. Mal kamen sie in Uniform, mal waren sie in Zivil. Bald wusste sie nicht mehr, wer zu welcher Behörde gehörte. Warum sie sie ausfragen durften. Und ob überhaupt. Ada war durch eine zufällige Verkettung der Umstände die Letzte gewesen, die Pater Stanisław Kalinowski lebend gesehen hatte. Nein, die Vorletzte. Irgendjemand war kurz nach ihr da gewesen. Der unangenehme kleine Verhörer in Bamenda hatte sie nach ein paar Stunden wieder gehen lassen und ihr versprochen, dass die Polizei in Douala sich um sie kümmern werde. Sie durfte Kamerun nicht verlassen. Strengste Ausweiskontrollen an allen Grenzen, auf dem Flughafen, am Hafen. Und keinen Ausreisestempel im Pass. Ein nutzloses Papier. Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen, zitierte sie leise vor sich hin und folgte den beiden Herren in eine kleine Bar in der Nähe. Sie lümmelten sich in den altersschwachen Sesseln, ließen literwei35
se Bier in sich hineinlaufen und genossen die Situation. »Jopajo nennt man das Bier hier: Jour par jour.« »Woher kannten Sie den Pater? Was wollten Sie denn von ihm?« Anzügliches Glotzen. »Einem Mann der Kirche!« Die Fragen wurden immer blöder und peinlicher. »Wie hieß der noch mal? Irgendwas mit diesem Russen da. Stalin? Stalinowski! Wieso haben Sie den denn nun abgeknallt?« Ada starrte ihn nur an. »So eine wie Sie in unseren Gefängnissen, oh je, das ist hart. Bei der Überbelegung können wir uns um nicht allzu viel da drinnen kümmern. Da geht es zu, sage ich Ihnen! Haben Sie denn wenigstens jemanden, der Ihnen Essen bringen kann? Oder glauben Sie etwa, wir verköstigen die ganzen Verbrecher auch noch? Und die vielen Krankheiten! Keine Hygiene, und ich meine, wirklich keine. Da breitet sich schnell mal was aus. Einmal haben wir einen an Malaria Verstorbenen erst Wochen später entdeckt.« Sie war nicht ängstlich. Aber klaustrophob. Ihr brach der kalte Schweiß aus. Sein Begleiter spielte die andere Rolle: »Sie haben nichts zu befürchten. Mein Freund hier ist ein wenig grob. Sagen Sie uns einfach, was Sie über den Pater wissen, wer Sie zu ihm gebracht hat, was Sie von ihm wollten, was genau seine letzten Worte waren, und Sie können schon morgen abreisen. Sie bekommen Ihr Visum zur Weiterreise sofort.« »Ich kann Ihnen da nun mal nicht weiterhelfen. Ich habe in Bamenda nur eine Fotoreportage über die Grasland-Leute gemacht. Und Pater Stanisław Kalinowski lebte seit vierzig Jahren dort und kannte sich aus. Er konnte mir viel über die Geschichte des Landes und über die Leute erzählen. Er konnte sehr lebhaft erzählen.« Der Erste wieherte los, als hätte sie einen Witz gerissen, den er noch nicht kannte. Er schlug sich auf die Schenkel und 36
wiederholte mit vor Lachen erstickter Stimme: »Er konnte sehr lebhaft erzählen!« Sein Bierbauch hüpfte. Er wischte sich die Augen und zündete sich eine stinkende Zigarre an. Dann fragte er nuschelnd: »Haben Sie schon mal was von Elektroschocks gehört? Das sind so Methoden in den Gefängnissen. Wenn nicht gerade Stromausfall ist, natürlich. Ich halte ja nicht so viel davon, aber es gibt doch Befürworter dieser Methode. Wahrheitsschock nennen die das. Also, nun mal los, was wollten Sie von Stalinowski?« »Sie wollen das also noch einmal hören?« Ihr Instinkt riet ihr, den Namen Pierre Bernard nicht zu erwähnen. Ada ließ die Arme über die Rücklehne baumeln, wippte mit dem Stuhl und fixierte die Männer mit milder Langeweile. Den Schein zu wahren, war immerhin besser als nichts. Sie verlor sich eine Weile in unangenehmen Erinnerungen an Erlebnisse aus früheren Zeiten in anderen Erdteilen, die ihr eine chronische Uniformallergie eingehandelt hatten, während die Herren neues Jopajo orderten und sich in ihrer Sprache, Douala, austauschten. Irgendwann quälten sich die beiden Typen aus den Sesseln hoch, schüttelten ihr die Hand, lachten, lärmten. Und zogen ab. Zwei Tage später. Ein stiernackiger Militär sprach Ada auf der Straße an, als wolle er damit beweisen, dass sie sie überall unter Kontrolle hatten. »Sie werden erwartet.« Im Kommissariat saß sie kurz darauf dem kleinen Mann mit der tuntigen Fistelstimme aus Bamenda gegenüber. War er extra zum Verhör nach Douala gekommen? Oder war er neulich nur besuchsweise in Bamenda gewesen? Ganz zufällig, als der Mord passierte? Oder hatte der Pater nicht eher Selbstmord begangen? So ausgesehen hatte er eigentlich. Auch Fistelstimme war dazu übergegangen, von »Stalinowski« zu reden. Eine sehr eigene Art von Humor. Unvermittelt kreischte er: »Pierre Bernard war also 37
ein Freund von Ihnen, ja? Warum haben Sie nicht gesagt, dass Sie den gesucht haben? Der Monsieur Bernard! Hat für viel Unruhe gesorgt, der Mann.« Ada beunruhigte es jetzt, dass er von Pierre Bernard nur in der Vergangenheit sprach. Sie blieb stur dabei, ihn weder zu kennen, was ja stimmte, noch je nach ihm gesucht zu haben. Unvermittelt und als wäre es ein netter, unverbindlicher Plausch gewesen, beendete Fistelstimme das Verhör. In der Nacht spielte sich fast immer das Gleiche ab. Gummiknüppel sausen durch die Luft, verharren kurz vor ihrer Wange. Ein grinsendes gelbliches Gesicht beugt sich nah zu ihr und zischt: »Deine Mutter ist eine Hure! Du bist auch eine Hure.« Somogy. Ende einer Reise. Ein Weg unter Birken, Kinder, die am Fluss Fußball spielen. Herren in Zivil. Gefängnis in Ungarn. Eine Zigarettenspitze glüht, kurz vor ihrem Handgelenk. »Gib doch endlich zu, dass du fliehen wolltest! Meine Familie wartet auf mich. Es ist mitten in der Nacht. Ich muss auch mal nach Hause.« Sie ist bleich vor Wut. »Ich wusste nicht mal, dass das ein Grenzfluss ist. Ich muss auf die Toilette.« Ein Riese mit Kalaschnikow stellt sich breitbeinig in die offene Toilettentür, grinst. »Na, los!« Zurück in die Zelle. Widerliches Zeug im Blechnapf, braune Brühe mit undefinierbaren Klumpen, wird schabend über den Zementboden geschoben. Kakerlaken fallen von den Wänden. Sie fiebert. Sieht Gestalten. Ihre Großmutter in dem kleinen Haus, vor dem Koniferen wuchern, beschattet von einer Blautanne und einer alten Kastanie. Eine leise Stimme. Ein sanftmütiges Gesicht. Ein Mann bietet ihr eine Zigarette an. »Beruhige dich. Es wird dir nichts 38
geschehen. Unterschreib bitte nur hier, dass du mit meinen Dolmetscherdiensten einverstanden bist.« Lächeln. Legt ein Blatt, auf Ungarisch geschrieben, vor sie hin. Drückt ihr einen Kugelschreiber in die Hand. Sie wirft den Stift an die Wand. Das Lächeln verzerrt sich zur Grimasse: »Glück gehabt, kluges Fräulein. Das war dein Geständnis.« Immer diese Erinnerungen. Horrorszenen. Gefängnisträume. Jede Nacht. Die Polizisten nahe der ungarisch-jugoslawischen Grenze bekamen damals Kopfgeld. Das erklärte die Situation. Was wollten die hier? Dass ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, sie hätte den Pater umgebracht, konnte sie sich nicht vorstellen. Was wollten die von ihr wissen? Von Pierre Bernard fehlte jede Spur. »Fragen Sie Sandre«, hatte der Pater gesagt. Wer war Sandre? Die Luft vermischte sich mit dem Schmutz, der überall herumwirbelte, und verschmierte als öliger Belag auf dem Gesicht bei dem Versuch, den Schweiß abzuwischen. Die Luftfeuchtigkeit lag bei achtundneunzig Prozent, die Temperatur konsequent bei zweiunddreißig Grad Celsius. Der Schweiß sammelte sich in allen Vertiefungen und vereinigte sich zu kleinen Sturzbächen. Der Himmel musste irgendwo hinter dieser dicht abschließenden grauen Käseglocke sein. Ada kämpfte sich durch die lärmende Innenstadt, den Stadtteil Bonanjo mit Justizpalast, Rathaus und luxuriösen Hotels. Sie fotografierte die Büroklötze, die sich in den braunen Wassern des Wouri spiegelten. Weiter, ins AkwaViertel. Der Kleinhandel, die Quelle des täglichen Überlebens, spielte sich an jeder Ecke und mitten auf der Kreuzung ab. Bananen, Rasierapparate, Mangos und Telefone, alles, was möglicherweise verkauft werden konnte, wurde ständig hin- und hertransportiert. Vornehmlich auf den Köpfen der Frauen.
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Kinderscharen rannten Ada nach und riefen: »Bic! Donne-moi un bid« Kugelschreiber. Wie das zu ihrem Leidwesen so ihre Art war, verlief sie sich wieder einmal und fragte einen vielleicht fünfzehnjährigen Jungen nach dem Weg zum Akwa Palace. Wenn Freunde oder Kollegen in der Stadt waren, traf sie die mit Sicherheit dort. Der Junge nutzte die Chance, hängte sich an sie und war nicht mehr abzuschütteln. Wie üblich, wenn sie sich auf ein Gespräch einließ, ging auch er umgehend auf die Kernfragen los. Der Sinn des Lebens. Die Werte. Arbeit. Geld und Güter. Lebensfreude. Solidarität. »Du«, fasste er seine Überlegungen vorläufig zusammen, »bist weiß. Ich bin schwarz.« Er sah sie an und nickte ernst. »Aber das Blut ist immer rot.« Ada gab ihm Recht und reichte ihm die Hand zum Abschied. »Bis zum nächsten Mal!« Selbst in dieser großen Stadt war sie als Weiße so auffällig, dass jeder sie immer und überall wieder erkannte. Bei der nächsten Gelegenheit würde er sie in den Fortgang seiner Gedanken einweihen. Auf der Terrasse des Akwa Palace war es vergleichsweise ruhig, ein kleiner Springbrunnen plätscherte und vermittelte die Illusion von Frische. Aber dann ging die Musik los. Der Rhythmus, in dem Manu Dibangos Stimme aus den Lautsprechern knallte, ging in die Beine. Wie ein Derwisch sprang ein Tänzer auf den freien Platz in der Mitte und bewegte sich schlangengleich auf Ada zu. Er trug nichts außer einem roten Tuch um den gelenkigen Unterleib. Ein Schrei ließ sie herumfahren. Emma Kayuma! Sie stürzte auf Ada zu und umarmte sie stürmisch. »He, Ada! Du bist hier!« Sie lachten vor Freude. Emma sah umwerfend aus. Sie trug einen moosgrünen hautengen Overall, Stöckel und auffälligen Silberschmuck, der an Ohren, Hals, Hand- und Fußgelenken klapperte. Einhundertachtzig Zentimeter mit der Biegsamkeit 40
einer Raubkatze. Die Frau aus dem Kongo konnte keine drei ihrer ausgreifenden Schritte tun, ohne dass ihr alles, was Augen im Kopf hatte, hinterhergaffte. Wenn sie ihren Mund öffnete, kamen neben einem beneidenswerten Gebiss gelegentlich die unflätigsten Bemerkungen zum Vorschein, die Ada je gehört hatte. »He, seit wann bist du denn in Kamerun? Wie lange bleibst du? So eine Überraschung! Wunderbar! Ich freu mich! Komm, ich bin mit einem Freund da. Bruno, ein schräger Vogel, ein bisschen gaga. Aber sonst ganz amüsant. Und furchtbar engagiert. Er rettet gerade wieder ein paar Gorillas vor dem Geräuchertwerden. Falls er die Zeit findet, wird er noch ganz Afrika retten. Und dich gleich mit, wie ich ihn kenne. Vor Liebesmangel.« Sie lachte heiser und schnalzte mit der Zunge, was so klang wie ein Peitschenhieb. Bruno saß am Tisch auf der Terrasse des Akwa Palace. Wirre schwarze Mähne, brennende dunkle Augen, lang, dünn, nervös. Die schlanken Finger trommelten einen Marsch auf der Tischplatte, dass die Kaffeetassen hüpften. »Bruno Roth aus der Schweiz, Mitarbeiter von Contra. Ada Simon, Fotografin aus Berlin und Freundin.« Bruno nickte und starrte Ada an. »Contra wen oder was?« »CJD, Contra-Jungle-Destruction, falls du schon mal davon gehört haben solltest. International tätig. Hauptsitz ist Bern – und meine Heimatstadt auch.« »Das trifft sich aber gut. Ich bin auf der Suche nach jemandem, den du dann sicher kennst. Pierre Bernard, in deiner Sparte unterwegs.« »Ja, klar kenn ich den. Ein ganz verrückter Kerl. Aber nicht nur du suchst ihn. Hat sich mal wieder eine Ewigkeit nicht gemeldet. Gerade haben wir über unsere Tour in den Wald gesprochen, die wir machen wollen. Pierre ist zuletzt bei den 41
Pygmäen gewesen, vielleicht erfahren wir da etwas über ihn. Emma schreibt über die Leute.« Bruno löste seinen Ansaugblick von Ada und sah bewundernd Emma an. Ein wenig wirkte es wie Besitzerstolz. Aha. »Komm doch mit! Wie wär das?« Emma griff sich Adas Arm und drückte ihn kräftig. »Na los! Das passt doch ideal. Wir arbeiten zusammen.« Ada wiegte zweifelnd den Kopf. Das wäre eine gute Gelegenheit für sie. Der Regenwald war schließlich einer der Gründe ihres Aufenthaltes in Kamerun. Wenn sie nur ihre Passgeschichte endlich geregelt bekäme. Verdammt. »Was ist los?« Emma sah sie an. »Hast du Probleme?«, insistierte sie. Ada erzählte ihnen die Geschichte von Pater Kalinowski und der Visumfrage. »Okay, lass mich nur machen!« Emma verzog viel sagend das Gesicht. »Ich kenn da so ein paar Figuren, kleine Wichser vom Amt. Du kriegst dein Visum.« Ada fragte sich belustigt, über welche und wie viele Ecken sie die Sache anging. Emma war eine anerkannte Expertin im Spiel über die Bande. Bruno wandte wieder keins seiner glühenden Augen von Ada. Er drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand. »Wenn du in Yaoundé bist, schau mal rein. Wir werden sicher bald etwas von Pierre Bernard erfahren.« Emma stand hinter ihm, nickte mit einem Hab-ichs-nichtgesagt-Ausdruck und grinste anzüglich. Bonabéri, das große Industrieviertel von Douala auf der anderen Seite des Wouri. Gigantische Hafenanlagen, ein kilometerlanger Kai. Einer der größten westafrikanischen Häfen. Ada sah beim Beladen der Schiffe zu und versuchte, heimlich zu fotografieren. Wie bei allen öffentlichen Gebäuden im Lande herrschte auch hier striktes Fotografierverbot. Unglaubliche Baumstämme, gewaltige Urwaldriesen, wurden auf Frachter 42
verladen. Sie lief näher an das Hafenbecken heran, um den Namen des Schiffes lesen zu können. Anna lief unter mexikanischer Flagge, die Besatzung sah jedoch eindeutig asiatisch aus. Wohin ging die Fahrt? Plötzlich spürte sie eine Hand auf der Schulter und einen heißen Atem im Genick. »Was suchen Sie denn hier?« Sie fuhr herum. Eine Bierfahne schlug ihr ins Gesicht. Das dunkle Gesicht war zernarbt. »Nichts«, antwortete sie, »ich sehe mich nur um.« »So, so. Sie sehen sich um.« Der Tonfall triefte vor Sarkasmus. »Sie sehen … Sie hören …« Sie betrachtete den muskulösen Mann, der ein fieses Lächeln aufgesetzt hatte. An seinem schwarzen Hemd steckte ein kleiner silberner Gecko. Wollte er sie wegen der Fotos verwarnen? Sie drehte ihm demonstrativ den Rücken zu und beschloss, das Hafengelände zu verlassen. Ein Ruck, sie spürte einen scharfen Schmerz in der rechten Kniekehle und fand sich dicht am Beckenrand wieder. Unten schwappte öliges Wasser, in dem undefinierbarer Abfall schwamm. Der Flaschenhals einer Bierflasche wippte vorüber. Ein Gemisch aus Diesel, Fisch und Verwesungsgestank stieg ihr in die Nase. Der Typ hielt sie am Genick, wie ein erlegtes Stück Wild. Jetzt war seine Stimme scharf wie ein Rasiermesser: »Da! Sehen Sie sich um! Wollen Sie Ihr Leben dort beenden? Kann leicht passieren. Ein Unfall. Bedauerlich! Die Deutsche Botschaft übernimmt den Transport der Leiche in Ihre Heimat, Madame Simon. Kein Problem! Vergessen Sie nie: Reden kann tödlich sein. Denken Sie immer an Pater Kalinowski.« Er ließ sie so plötzlich los, dass sie nur dank ihrer antrainierten Reaktionsgeschwindigkeit in der Lage war, sich vor einem Fall in das trübe Wasser des Hafenbeckens zu bewahren. 43
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Bukavu, Kongo Zander wusste, dass es das letzte Mal sein würde. Ein dunkler Klang, am Ende heller werdend, zog wie eine melodische Frage durch die tiefschwarze Nacht. Der Nachtwächter blies in das lange, geschwungene Horn. Vom anderen Ende des Grundstücks antwortete ein anderes Horn wie ein beruhigender Seufzer. »Alles in Ordnung. Alles wie immer.« Seit dem achtzehnten Jahrhundert trieben die Banyamulenge ihre Zeburinder, die schönen braunen Tiere mit dem Höcker auf dem Rücken, über die fruchtbaren Weiden um den Kivu-See. Ihrem Horn entlockten die Wächter die tiefen Töne. Doch das Weideland wurde immer knapper. Was tun, wenn es schon längst nicht einmal mehr genügend Ackerland für die Menschen gab? Der Nachtwächter blies noch einmal tief und lang anhaltend in das Horn. Jetzt klang es wie eine Frage, auf die niemand eine Antwort wusste. Bald würden die ersten Vögel mit ihrem immer lauter werdenden Konzert beginnen. Zander stand auf der von wilden Lilien umwucherten Terrasse vor dem Haus, das von hohen Avocadobäumen beschattet war. Die Nachtwächter verabschiedeten sich mit dem üblichen »A demain« und räumten den Platz für den Tagwächter. Er mochte den Klang ihrer Hörner. Hatte so etwas Beruhigendes. Vielleicht, weil es sonst nichts Beruhigendes gab. Ganz im Gegenteil. Dort, in dem Dschungel, auf dem über dreitausenddreihundert Meter hohen Kahuzi-Biega, hatten die seltenen Berggorillas gelebt, der alte Silberrücken mit seiner Sippe. Einmal hatte er 44
ihn gesehen, ganz nah vor sich gehabt. Wie er in den Bäumen turnte, dass es krachte. Seine zweihundertfünfzig Kilo durch die Äste schwang und sich dabei die Früchte herunterriss, die er besonders zu lieben schien. Faszinierende Laute hatte er ausgestoßen. Und später, wie im Bewusstsein seiner Rolle als Mittelpunkt einer Show, auf seine breite Brust getrommelt. Aber das war schon lange her. Zander glaubte nicht, dass der alte Silberrücken noch lebte. Seit die Rebellen den KahuziBiega-Nationalpark kontrollierten, war alles, was sich bewegte, längst aufgegessen. Von ihnen, den Flüchtlingen, oder von den tausenden von Minenarbeitern. Die waren in die Gegend eingefallen wie ein Heuschreckenschwarm. Sie warfen Stollen auf und gruben wie die Verrückten. Zwanzig Dollar für ein Kilo schwarzen bröckligen Sand. Wo hat es so was je gegeben? Also gruben sie und verkauften das Zeug an die Rebellen. Wenn sie nicht vorher unter einem ihrer ungesicherten Stollen begraben wurden. Der Tod war allgegenwärtig. Der Tod hatte ihm das Einzige gestohlen, was jemals für ihn wirklich wichtig war. Vor ihm lief ein Sandweg schnurgerade den Hügel hinunter, vorbei an endlosen Bananenhainen. Dahinter verschwammen die aufsteigenden Bergketten im morgendlichen Dunst, zum Horizont hin stufenweise heller werdend. Nebelschwaden zogen durch das Tal. Vereinzelte Rauchsäulen der Frühstücksfeuer stiegen kerzengerade zum Himmel auf. Es roch würzig. Nach Sandelholz, Holzkohlefeuer, frischen Blättern. Bis auf das Vogelkonzert und die Grillen war es still hier oben, auf eintausendachthundert Meter Höhe. Das hier war einmal ein Paradies gewesen. Die großen Seen, die hohen Vulkane, der artenreiche Dschungel, die seltene Tierwelt. Die Menschen aufgeschlossen und freundlich. Die Böden fruchtbar, das Klima angenehm.
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Von hier aus war kaum zu erkennen, dass jede Handbreit Boden bebaut war. Bananen, Kassava, Baumwolle, Kaffee. Breite Erosionsrillen rissen tiefe Wunden in die steilen Hänge. Urwälder hatten hier gestanden. Jetzt, wo alles abgeholzt war, rutschte der fruchtbare Boden unhaltbar talwärts. Trotzdem wurde noch auf dem steilsten Hang angebaut. Der tödliche Sturz in die Tiefe beim Maniokpflanzen war kein Einzelfall. Stangenbohnen hatten da findige Entwicklungsleute vorgeschlagen, die sich hier damals gerne niedergelassen hatten. Luftkurort Bukavu. Die Schweiz Afrikas. Sie wohnten in den Villen der Belgier am See und machten sich Gedanken. Die Villen waren weiß, solide aus guten Hölzern gearbeitet, es duftete nach Bougainvillea. Laut quakten die Riesenfrösche. Von den reizvollen Wassergrundstücken in die Stadt war es nicht weit. Gleich über die staubige Piste, ein paar Meter, und schon war man mitten im übervölkerten Viertel Katutu. Erstaunlich, wie man mittendrin sein konnte – und doch so weit ab. Realität war eben eine Frage der Perspektive. Zander stellte sie sich als geschliffenen Diamanten mit tausenden Facetten vor. Versuchte man das Ganze zu erfassen, reflektierte immer irgendeine Seite das Licht, und bei der leichtesten Drehung entstand ein anderes Bild. Die eigenen Interessen blendeten und verdeckten die der anderen. Das konnte gefährlich werden. Aber er hatte es im Griff. Bei dem Treffen mit Charles, dem Belgier, würde er sich nicht blenden lassen. Den Diamantenhändler würde er in Katutu treffen. Unsichtbar war man da, wo einen viele sahen. In der Menschenmenge. Und wenn es sonst kaum etwas gab in Katutu, das gab es: Menschen in Mengen. Zander ging an seine Lieblingsstelle am Kivu-See. Nachdem dieser Landstrich eine Gegend der bösen Geister geworden war, kam er nur noch selten hierher. Die Villen am Ufer waren 46
ausgeräumt, zerstört, verbrannt. Heute konnte man sich die Lebensfreude, die hier früher herrschte, kaum noch vorstellen. Die Frauen mit ihren Holzlasten auf dem Rücken, die sie mit einem Lederriemen über der Stirn schleppten, hatten abgehärmte, traurige Gesichter. Der See leuchtete. Ein Flamboyant am Ufer glühte in der Morgensonne rot auf, wie ein Signal. Die Insel schwamm im Zwielicht. Früher wohnten da nur Frauen. Alle Unverheirateten waren dorthin gebracht worden. Die Witwen, die Hässlichen, die keiner wollte, und die Jungfrauen. Heiratswillige fuhren dann mit dem Boot hinüber und suchten sich eine aus. Er hatte seine Frau mit weniger Aufwand gefunden. Unvermutet war sie ihm begegnet. Am Ufer des Sees. Nathalie. Seine Liebe. Sie arbeitete damals als Assistentin für einen Belgier, der einen fast perfekten Job hatte. Gut bezahlt und absolut nichts zu tun. Das Gleiche galt für Nathalie. Sie mussten nur darauf achten, dass nichts geschah. Das war ihre Arbeit. In der belgischen Zementfabrik hatte schon seit fünfzehn Jahren niemand mehr gearbeitet. Das Zementwerk war längst verrottet und verrostet. Die Förderbänder waren grau und rostbraun erstarrt auf ihrem Weg ins Nichts. Zwischen den Schutthaufen und zerfallenen Mischmaschinen köchelten sich die Arbeiter auf ihren Holzfeuern mittags ihr Essen. Nathalie ging immer zur Bank, um das Geld für die Löhne abzuholen. Später war die Inflation so rasant, dass ihr der Belgier den Wäschekorb mit den Scheinen tragen helfen musste. Ein kleiner Kerl war bei der Bank nur für das Zählen zuständig. Und er brauchte lange. Obwohl immer mehr Nullstellen auf den Scheinen neben dem Konterfei des Mannes mit der Leopardenfellmütze standen, kam die Münchener Druckerei kaum nach. Ein Trockenfisch kostete damals fünfhunderttausend Zaire. Später wurde das Zementwerk geschlossen. Es war vermutlich aus steuerlichen Gründen günstig gewesen, es existieren zu lassen. Später war es 47
anscheinend lukrativer, es zu schließen. Der Belgier fuhr nach zwanzig Jahren Kongo wieder nach Hause. Nathalie hatte in dieser Zeit nebenher ihr Studium abgeschlossen, wozu sie oft nach Walikale an die Universität gefahren war. Wirtschaft und Politikwissenschaften. Sie hatte große Pläne. Alles hatte hier begonnen. Zanders Job als Manager eines großen Pharmakonzerns in Deutschland hatte ihn nach Bukavu in den Kongo geführt. Chinin zur Behandlung der Malaria wurde aus Chinarinde hergestellt, und deren Gewinnung hatte hier Zukunft. Als er ankam, stellte er schnell fest, dass es in der Region außer Chinarinde noch andere Rohstoffe gab. Und die waren wesentlich gewinnträchtiger. Gold und Diamanten. Zander entschloss sich zu bleiben. Er war ein umsichtiger Geschäftsmann und er hatte bald gute Freunde. Es dauerte nicht lange, da hatte er nicht nur gute, sondern auch wichtige Freunde. Und sehr schnell war er inmitten eines Kreises ausgesprochen mächtiger Leute. Sein Aufstieg war kometenhaft. Er dehnte seine Handelsbeziehungen auf die wichtigsten Rohstoffvorkommen des Kontinents aus. Er war ganz oben. Wenn auch einer, der immer im Hintergrund blieb. Er verhandelte mit Wirtschaftsleuten weltweit. Und dann hatte er Nathalie getroffen. Er war zum ersten Mal im Leben wirklich glücklich. Wenig später hatte alles eine unerwartete Wendung genommen. Zander sah noch immer über die weite Wasserfläche. Früher war er abends oft geschwommen. Leise glucksend waren Methangasblasen um ihn her an die stille Oberfläche gestiegen und zerplatzt. Er erinnerte sich daran, dass er sie als bedrohlich empfunden hatte. Wie Anzeichen bevorstehender gewalttätiger Eruptionen. Seine Vorahnung hatte nicht getrogen. Manchmal konnte er den stumpfen Kegel des viertausendfünfhundert Meter hohen Nyiragongo-Vulkans im diesigen Licht schimmern sehen. Der Dunst bedeckte die weite Wasserfläche 48
fast vollständig. Jetzt konnte er auch die Insel nicht mehr erkennen. Bukavu, die Stadt am Kivu-See. Eine Massenkundgebung war gerade nicht im Gange. Auch wenn es so aussah. Normalzustand. Kilometerweit Menschen, gedrängt. Menschen unterwegs, immer zu Fuß, immer dicht an dicht. Wellblechhütten aneinander gepresst, Holz- und Lehmhütten. Alles war verrammelt, dicke Schlösser sollten das Verschwinden des letzten Kochtopfs verhindern. Diebstahl war zur fast einzigen Einnahmequelle geworden. Märkte existierten kaum noch, es gab ja nichts mehr. Ein Konvoi von vier Militärjeeps mit schwer bewaffneten Gestalten donnerte vorüber und hüllte alles in Staub. Zander konnte die Militärs längst nicht mehr den einzelnen Richtungen zuordnen. Ein roter Staubschleier, von den vielen Füßen ständig aufgewirbelt, legte sich auf sein Gesicht, drang in jede Hautfalte. Er quetschte sich in dem Gewühl an den glühend heißen Blechhütten entlang. Jedes freie Plätzchen war bepflanzt, auch hier, mitten in der Stadt. Neben halb verfallenen ehemaligen Kolonialhäusern, auf geländerlosen Balkonen und zwischen den Gleisen der längst eingestellten Eisenbahn wuchsen Tomaten, Bohnen, Maniok und andere stärkehaltige Knollen. Charles trug einen albernen runden Stoffhut über der Glatze. Sein Gesicht war rot verbrannt. Eine dicke goldene Kette glänzte durch das verklebte schweißnasse Brusthaar. Das grellbunt gemusterte Hemd zu den knielangen Khaki-Shorts machte die Sache auch nicht besser. Ein Papagei mit Pilotenbrille. Zander und Charles gingen zu einem cabaret, einem der winzigen, mit zerfaserten Bananenblättern gedeckten Stände, die an jeder Ecke zu finden waren. Eine Frau reichte jedem einen Holzkrug mit schäumender säuerlicher Flüssigkeit. 49
Kasiksi. Bananenbier. Die Krüge waren kunstvoll aus einem ausgehöhlten Stück Urwaldholz geschnitzt, mit winzigen Holzteilchen geflickt und von vollendeter Schönheit. Sie waren nicht die Einzigen, ab mittags saßen und standen hier die Männer herum und tranken. »Wie immer.« Die Stimme kam quäkend aus dem gedrungenen Körper. »Unser Mann in Antwerpen übernimmt das.« Die Übergabe des kleinen Stoffsäckchens war in dem Menschengewühl nicht zu bemerken. Charles wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und ging davon, ohne sich umzusehen. Lief durch das Viertel, vorbei an der Post, die manchmal geöffnet hatte, aber bei der niemand so verwegen war, anzunehmen, dass irgendetwas, was man da hinbrachte, je dort ankam, wo es hin sollte. Die Telefone funktionierten schon ewig nicht mehr. Er ging eine holprige Piste entlang. Hügel an Hügel zog sich die Vorstadt endlos hin. Kleine Häuschen aus Bananenblättern und Bambus. Auf den anliegenden kleinen Feldern wuchsen vereinzelt Taro- und Tanjapflanzen, ein paar Sojahalme und wenige Sonnenblumen. Die Straße endete, wie so viele, unvermutet im Nichts. Der Dschungel hatte sie sich zurückgeholt. Nicht, dass das bewaffnete Horden, die sich als Beamte der Staatsmacht ausgaben, davon abhalten würde, taxe zu erheben. Straßengebühren. Er ging weiter, umhüllt von grünem Licht eines Bananenhains, an einer der Rundhütten vorbei, die aussahen wie der Skalp geköpfter Pagen. Oder wie riesige Perücken. Es war still hier. Die Frauen auf dem Maniokfeld, die Männer beim Kasiksikrug. Vielleicht war es auch eine der Hütten, die keine Bewohner mehr hatten. Ihn interessierte das nicht. Charles wollte zu dem Mann, mit dem er die weiteren Geschäfte zu besprechen hatte. Ein gelber Plastikkanister, wie sie für das Kasiksi benutzt werden, war das Letzte, was er im Leben zu sehen bekam. Das 50
Geräusch der niederfahrenden Machete ähnelte dem Pfeifen einer durch die Luft schwingenden Peitsche. Sie traf den Hals seitlich von rechts oben. Die Wucht des Schlages trennte den Kopf mit einem einzigen Hieb vom Körper. Der gelbe Kanister war jetzt rot gesprenkelt. Zander trat auf die Terrasse. Der Koffer mit den wenigen Sachen, die er noch brauchte, stand im Salon des leer geräumten Hauses. Die Luft war schwer vom Blütenduft. Jasmin. Grillen zirpten lautstark. Trommelgeräusche wehten vom Tal herauf. Die Luft knisterte vor Spannung. Am Horizont begann ein faszinierendes Schauspiel. Wetterleuchten erhellte die Finsternis. Blitze zuckten um die Spitze des Kahuzi-Biega. Sekundenlang geblendet, sah er immer neue scharfe Strahlen vom Himmel in die Berge fahren. Man hörte keinen Donner. Nur der tiefe Klang des Horns vom Zeburind tönte durch die Nacht. Vom anderen Ende des Grundstücks kam ruhig die Antwort. »Alles in Ordnung. Alles wie immer.«
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Douala Die morgendlich kühle Luft verflüchtigte sich schnell. Ada kaute Kolanüsse. Gut gegen Hunger, Durst und Kraftlosigkeit, versicherte die Verkäuferin, als sie die kastanienähnlichen Dinger aus einem zweifelhaft wirkenden Tuch wickelte. Ada stand auf der offenen Terrasse des Flughafens von Douala. Heute wollte Tom ankommen. Er sollte für seine Londoner Zeitung berichten; die Wahlen in Kamerun, also der allseits prognostizierte Wahlbetrug, standen kurz bevor. Sie hatten sich in einem Cotonouer Restaurant kennen gelernt. Vom ersten Moment an war eine Vertrautheit und Anziehung zwischen ihnen, die sich auf nichts Konkretes gründete, die einfach da war. Was keinen von beiden dazu bewegen konnte, auch nur eine Handbreit seiner Unabhängigkeit aufzugeben. Ihre Termine lagen einfach immer zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort. Ada war gespannt, wie es weitergehen würde. Wenn es weiterging. Seit Jahren war sie gespannt darauf, und daran hatte sich noch immer nichts geändert. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit trafen sie sich, irgendwo, wohin ihre Arbeit oder der Zufall sie nun gerade verschlagen hatte. Kurz darauf waren sie schon wieder getrennt. Auf ungewisse Zeit. Dröhnend rollte die Maschine der Air France an. Plötzlich wusste sie mit Gewissheit, er würde nicht aussteigen, er würde nie wieder zu ihr nach Afrika kommen. Seine Frau in dem netten, ruhigen Londoner Vorort wartete mit den drei süßen Kinderlein. Hatte er vergessen, ihr davon zu erzählen? Nun, jetzt hatte er einen gut bezahlten Job im Politikressort – Inland. Aber 52
er hatte noch ein Telegramm geschickt: »Sorry, kann nicht mehr kommen. War schön mit dir! In Liebe dein Tom.« Nein, es war nicht wahr. Ihr Herz begann einen wilden Trommelwirbel, als sie seine helle, schmale Gestalt die Gangway herunterkommen sah. Sie sah seine braunen Haare, sein fein geschnittenes Gesicht. Er entdeckte sie und winkte. Als er endlich die Kontrollen hinter sich hatte, rannten sie aufeinander zu. Sie sog gierig den Duft ein, diesen herrlichen Geruch am Hals, spürte seinen Rücken unter dem dünnen Hemd, zog ihn an sich. Er lachte leise, nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie voll auf den Mund. Sie fühlte sich so leicht, dass sie meinte, vom nächsten Windhauch davongeweht zu werden. Er lachte, lachte die ganze Zeit, und ihr ging es genauso. Immer wieder mussten sie sich anfassen, von ihrer Echtheit überzeugen. Sie eilten zu ihrer kleinen Herberge. Das Leben war ein rauschendes Fest. Am Abend fuhren sie ins Village Bantu. Das war ein Stadtteil ganz in der Nähe, aber nach Einbruch der Dunkelheit würde es niemandem einfallen, sich zu Fuß durch die Straßen zu wagen. Douala, die Kreuzung Afrikas, war ein heißes Pflaster für reiche Weiße. Bis weit ins Land zogen sich die Bidonvilles, hausten tausende auf engstem Raum in Wellblechhütten ohne Strom und Wasser. Hunderte verschiedene Kulturen und Sprachen knallten hier aufeinander. Christen und Moslems, Magier und Heiler, Fetischeure und Marabuts. Fulbe und Haussa kamen aus dem Norden, Bamiléké und Bamoun aus dem Westen, Hirten und Händler und die Bauern, die hofften, der Armut ihres kargen Subsistenzdaseins auf dem Dorf zu entkommen. Prostitution war neben Schmuggel und Kleinhandel die verlässlichste Einnahmemöglichkeit. Tom wehrte, so gut er konnte, die Handgreiflichkeiten der großen und kräftigen Damen ab, die vor dem Lokal ihre Liebeskünste unaufgefordert praktisch zur Anwendung zu bringen versuchten. 53
Sie bestellten Ndolè, Blätter mit gerösteten Krabben und Fisch mit Zwiebeln, Erdnuss und Ingwer. Natürlich ausreichend PiliPili, bis einem die Luft wegblieb. Dazu Süßkartoffeln und Batons de Manioc, Maniokteigröllchen in frischen Bananenblättern. Die kleinen Stäbchen waren elastisch und durchscheinend. Geschmackssache, fand Ada. Beim Milchkaffee am nächsten Morgen erzählte sie ihm von Pater Kalinowski, dem Hinweis auf Sandre und dem Hafenbeckenwerfer. Tom war nun gar nicht mehr zum Lachen zumute. »Geht das schon wieder los! Hast du nicht genug von Typen wie John Johnson, der dich in Benin beinahe erledigt hätte?« Seine Stimme klang heiser. Er ließ sich in allen Einzelheiten berichten. »Ich habe hier einen Freund.« Tom hatte überall mindestens einen. »Ich werde über Pater Kalinowski und Pierre Bernard alles in Erfahrung bringen, was mir möglich ist. Aber nur unter einer Bedingung: Du hältst dich aus allem, was irgendwie gefährlich werden könnte, raus. Und verlässt das Land, sobald dein Visum da ist. Schwör!« Sie schwor. Kreuzte zwei Finger hinter dem Rücken und lachte ihn an. Tom sah ihr eindringlich in die Augen. »Ich brauche dich schließlich noch!« Sie lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen. Das klang doch ganz gut. Und eines Tages, eines schönen Tages, schon bald, sicherlich, würden sie zusammenbleiben. Dann richtete sie sich ruckartig auf. Denn Tom sagte gerade: »… muss ich Dienstag in Kigali sein.« Schwupps, die schöne bunte Seifenblase zerplatzte. Er hatte keine Zeit. Er hatte nie Zeit. Ada seufzte und begleitete ihn am Dienstag nicht zum Flughafen. Zu scheußlich, diese Abschiede. Sie hasste es. 54
Tom hatte ihr erzählt, was er erfahren konnte. Pierre Bernards Spuren endeten im Campo-Reservat. Er hatte dort eine Aktion geplant, die sich gegen den Tropenholzabbau richtete. Er hatte Ärger mit einem juju-man aus Nigeria, einem Zauberer der schwarzen Variante des Vodou. Er war oft bei Pater Kalinowski in Bamenda gewesen. Der Pater war depressiv und alkoholkrank. Er hatte sonst zu niemandem mehr Kontakt. Pierre Bernard war seine einzige Verbindung zum Leben gewesen. Die Regenzeit hatte gerade begonnen. Donnersalven erschütterten die Luft. Ada watete durch knietiefe Pfützen und betrat schlammverschmutzt und nass das Postgebäude an der Rue Joffre. In dem abrissreifen Haus zerbröselten Geländer für Selbstmordkandidaten an einer Treppe, auf der sich eine lange Schlange Wartender murrend staute. Ein kleiner Mann zückte einen Schlüssel und schloss die Tür vor einer Reihe TelefonKabuffs mit der Miene eines Magiers auf, hob aber gebieterisch die Hand. Brav warteten die Leute in gebührendem Abstand. Der Kleine lief vor ihnen auf und ab, prüfte angelegentlich seine Fingernägel und hob dann mit misstrauischer Miene einen Fuß. Klebte da etwa ein Kaugummi? Die Leute gingen mit, ahhh, tatsächlich. Er schnalzte mit der Zunge und schüttelte den Kopf voller Abscheu. Unglaublich. Er entfernte den Kaugummi durch Schaben und Kratzen an der Türschwelle. So. Er erhob wieder die Hand. Atemlose Spannung. Jetzt. Die Kabinen waren freigegeben. Alles stürzte sich darauf, als ginge es um Leben und Tod. Ada wartete. Und wartete. Endlich gelang es ihr, eine zu ergattern. Eine höfliche, effiziente und unnahbare Stimme am anderen Ende der Telefonleitung beim Deutschen Konsulat in Yaoundé wies sie gnadenlos ab. Als sei sie so eine Touristin, die ihr Geld auf den Kopf gehauen hat und nun das Ticket für die Rückreise schnorren wollte. Keine Chance. 55
Ada hatte nicht vor, sich noch unnötig lange mit den uniformierten Herren auseinander zu setzen. Sie wollte weg aus Kamerun. Nur noch ein paar Serien, die seltenen Bäume im Regenwald und die berühmten Weberinnen von Kribi. Letzteres gehörte zu ihrem Buchprojekt, das sie seit Jahren verfolgte. Porträts von Frauen in Afrika, ihren alltäglichen Arbeiten und seltenen Tätigkeiten, alles, was sie unternahmen, um durchzukommen und das Überleben ihrer Familien zu sichern. Die Bäuerinnen und Töpferinnen, Korbflechterinnen und Hebammen. Die Heilerinnen, die mit den uralten Methoden der Heilpflanzenkunde praktizierten. Die Vodoupriesterinnen, Huren, Bananenbierherstellerinnen, Händlerinnen, Straßenköchinnen und Musikerinnen. Sie lief durch die Straßen Doualas, hoffte, dass Emma ihren Einfluss, der sich offenbar bis zu den Visabehörden erstreckte, Gewinn bringend einsetzen konnte. Und dass sie auch ein paar gute Freunde unter den Uniformträgern hatte. Pierre Bernard hatte die Holzhandelsfirmen angegriffen. Mehr als die Hälfte der kostbaren Stämme, Sipo und Iroko, wurden illegal geschlagen, aus dem Land geschafft und glänzten als poliertes Furnier in edlen Villen in Berlin, Zürich oder Paris. Das geschah effektiv und äußerst gewinnbringend. Seit Jahren. Hatte Pierre Bernard dem im Weg gestanden? Unangenehme Menschen wollten sie mit massiven Drohungen dazu bringen, dass sie etwas sagte. Das Hafenbecken sollte ihre letzte Ruhestätte werden, wenn sie etwas sagte. Sehr seltsam. Sie stieß an einer Straßenecke fast mit einem Mädchen zusammen, das einen Handkarren mit kleinen Kalebassen und Eimern schob. »Madame, Bananenbier. Wollen Sie?« »Nein danke, nicht vor achtzehn Uhr«, meinte Ada und machte drei Torkelschritte.
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Die Kleine lachte, und ihre dünnen Zöpfe zappelten wie winzige neugierige Schlangen. Fotografieren ließ sie sich gern. Ada steckte die Leica ein und sah hoch. An der grauen Wand hing ein Straßenschild. Rue Kitchener. Sie war unweit des Hafens. Ein unübersehbarer Hinweis auf einer Tafel darunter verwies auf eine Firma: Timber Society International, TIMS, Rue Kitchener 41. Wäre interessant, mal einen Blick in die Welt des Holzhandels zu werfen. Was der rote Pfeil auf dem Schild sollte, vielleicht ein Firmenlogo? Ohne weiter darüber nachzudenken, betrat Ada das Haus. Im Erdgeschoss des zweistöckigen Gebäudes verzierten diverse Schimmelpilze malerisch die Wände. Ein leichter Luftzug vom Meer bewegte die schräg vor den Fenstern hängenden Holzjalousien. Ein riesiger Ventilator zog an der Decke stoisch seine Runden. An einem schmalen Schreibtisch saß ein älterer Mann, schwitzte vor sich hin und blickte Ada mit dem Ausdruck eines Menschen entgegen, dem nicht mal ein einziges Stündchen Ruhe und Frieden gegönnt wurde. »Was wollen Sie denn?«, stöhnte er. »Keinesfalls Ihre wohlverdiente Mittagsruhe stören.« Diese Einleitung wurde mit einem erleichterten Lächeln aufgenommen, das kurz darauf von einem langsam aufdämmernden Misstrauen abgelöst wurde. »Ich suche jemanden, der im Wald verschollen ist. Ob Sie mir da weiterhelfen können? Ein Freund hat Ihre Firma empfohlen.« Was nun sein knittriges Gesicht überzog, war das Wetterleuchten eines sich nähernden Gewitters. »Ein Freund?« Sie grinste ihn nur an. Das Gewitter stand nun kurz vor seiner Entladung. »Name?« Die Stimme krächzte ungeduldig. Einer Eingebung folgend, erwiderte sie: »Sandre«.
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Seine rechte Hand zuckte und verschwand unter dem Schreibtisch. Ada fragte sich, ob sie ihre Methode des Munterdrauflos-Recherchierens nicht einmal einer ernsthaften Revision unterziehen sollte. Schade, dass einem die richtig guten Ideen immer ein wenig zu spät kommen. Der Alte hatte bereits einen recht ansehnlichen Revolver auf sie gerichtet, der in seiner Hand zitterte. Sein linkes Augenlid zuckte hektisch. Die Spannung in seinem Gesicht entwich so urplötzlich, als wäre das entsprechende Ventil geöffnet worden. Ada drehte sich um. Hinter ihr stand ein Mann, der inmitten des bunten Lebens Doualas ziemlich unpassend aussah. Komplett farblos. Ein weißer Strohhut. Darunter fahle, rötlich geäderte Haut, das Gesicht eine weiße Maske aus Pappmaschee. Augen und Mund rot hineingeschnittene Löcher, wimpernlose Augenlider. Zu allem Überfluss trug er eine weiße Hose zu einem weißen Hemd. Sein Körper hatte etwas Ungeschlachtes, Unförmiges, ein eckiger Kasten. Eisig, der Mann. Selbst bei dieser unerträglichen Hitze wurde ihr bei seinem Anblick kühl. Es gab angenehmere Arten von Erfrischungen. »Wenn ich irgendwie behilflich sein kann?« Die Stimme schmatzte, als ob sich ein Aal durch Morast winde. Sein Französisch war perfekt. »Wenn Sie diesen Herrn dazu bewegen könnten, das gefährliche Ding da aus der Hand zu legen, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Was befürchten Sie denn hier? Überfall auf die Kasse?« Er schmatzte etwas in einer ihr unverständlichen Sprache. Kurz darauf war der Revolver wieder in der Schublade verschwunden, und der Alte sah aus dem Fenster. »Nett von Ihnen! Eigentlich wollte ich mich nur nach ein paar Details für meinen Artikel erkundigen. Ich bin Fotoreporterin und gerade auf Recherchetour für eine Reportage über Tropenholz. Vielleicht könnten Sie mir ja weiterhelfen? Außerdem 58
suche ich einen Freund, der angeblich zuletzt in einem Naturreservat gesehen wurde.« An der Wand hing ein Kalender mit einem riesenhaften Baumstamm, darunter prangten kleine Abbildungen edler Möbel. Sipo. Firma TIMS. Links oben zierte ein schlanker Gecko das Kalenderblatt. »Aber sehr gern.« Der rote Strich unter der Nase klaffte auf. Der Mann lächelte. »Jetzt bin ich allerdings in Eile. Wenn Sie einverstanden sind, treffen wir uns am Sonntag Mittag im Restaurant Edelweiß am Place du Gouvernement?« Er deutete eine leichte Verbeugung an, drehte sich eckig um und verschwand so schnell und lautlos, wie er erschienen war. Ada sah immer noch auf die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. Ein Tausendfüßler machte sich davon. »Wer war denn das?« Ada herrschte den Mann hinter dem Schreibtisch förmlich an. Der starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Sein Mund ging auf, und der Unterkiefer klappte herunter. »Kennen Sie ihn denn nicht?« »Wie bitte?« Der Alte sah aus, als hätte er etwas Scheußliches gegessen und überlege, ob er sofort spucken sollte oder es sich noch verkneifen konnte. »Wieso sollte ich ihn denn kennen. Also, wer war das?« Mühsam beherrschte sie sich. Was für ein Typ! Der Alte schluckte. Er hatte sich entschieden, trotz aller Widerwärtigkeit durchzuhalten, und verschloss seine Miene, als hätte er ein Rollo heruntergelassen. Er sah aus dem Fenster und verfiel in Apathie. Der Wind klapperte mit den schief herabhängenden Jalousien.
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Yaoundé, Kamerun Nicht, dass die Konsulatsmitarbeiterin vor Eifer vom Stuhl aufsprang, als Ada endlich in Yaoundé vorsprechen durfte, aber sie sah kurz von ihrer Lektüre auf und wies sie an, draußen zu warten. Nach einer kleinen Weile konnte Ada mit dem Konsul sprechen. Wenn man das so nennen wollte. Dr. Fronmüller lachte. Unerschütterlich lachte er, auch wenn es genau genommen nichts zu lachen gab. Klein von Wuchs, ein wohliges Bäuchlein, blondes Stoppelhaar, himmelblaue Äuglein und eine wolkenlos glatte Stirn, hinter der ganz sicher keine schweren Gedanken die Stimmung verdarben. So sah ein Mann aus, dem ein gesundes Mittagsschläfchen über alles ging. Bis ins fortgeschrittene Alter hinein hatte er sich sein blühendes Aussehen und seine rosigen Bäckchen bewahrt. Die zitterten ein wenig vor Wohlbehagen, als er Ada von seinem jüngsten Erfolg, dem unvorstellbar preiswerten Kauf einer antiken Statue – oben im Norden – erzählte. Er interessierte sich sehr für Kunst. Auch für Masken, die sammelte seine Frau. Teuer waren die allerdings, sehr teuer. Ada versuchte immer wieder, das Gespräch auf ihr Visum zu bringen. Aber Dr. Fronmüller war von unvermuteter Konsequenz. »Ich suche bestimmte Masken, Darstellungen von Gottheiten. Und Köpfe. Bronzen aus Benin. Die berühmte Darstellung der Königinmutter, eine verschollene Plastik.« Er beugte sich verschwörerisch zu ihr hinüber und flüsterte fast. »Sie kennen 60
nicht zufällig jemanden in der Branche? Händler echter antiker Kunstwerke? Jemanden, mit dem man reden kann, wegen der Preise. Nein?« Er stupste zierlich seine Zigarre in den blau-kristallenen Aschenbecher und öffnete die Schreibtischschublade, entnahm ihr ein Bonbon, das er sorgfältig auswickelte und sich in den Mund schob. Eukalyptus, stellte Ada angewidert fest, seufzte und unternahm noch mal einen Versuch, die verfahrene Situation zu erläutern. »Ein polnischer Pater ist erschossen aufgefunden worden, kurz nachdem ich ihn besucht habe. Ich kannte ihn vorher gar nicht.« Fronmüllers Bubigesicht verzog sich unwillig und gequält. »Die Polizei macht mir die Hölle heiß und geht davon aus, dass ich damit zu tun habe. Sie geben mir kein Visum zur Weiterreise, bis meine Unschuld endgültig geklärt ist. Oder der tatsächliche Mörder gefunden ist. Oder sein Selbstmord bewiesen wurde, was weiß ich. Sie drohen mir mit ihren schauderhaften Gefängnissen. Sie scheinen davon auszugehen, dass der Pater mir etwas Wichtiges mitgeteilt hat. Aber er hat nichts gesagt. Ich habe Fotoaufträge für verschiedene deutsche und französische Zeitschriften, dringende Termine. Es ist eine Katastrophe, wenn ich noch viel länger in Kamerun festgehalten werde.« Sie holte Luft. Dr. Fronmüller blies ihr einen Schwall Eukalyptusatem ins Gesicht. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen des Visums. Ich regle das schon.« Er wälzte das Eukalyptusbonbon von einer Backe in die andere. »Erklären Sie die ganze Geschichte nochmal meiner Sekretärin. Im Zweifelsfall sagen Sie dann der Polizei mal lieber die Wahrheit. So schlimm wird das alles schon nicht sein. Wissen Sie eigentlich, dass im fünfzehnten Jahrhundert, der Blütezeit des Königreiches Benin, heute übrigens Nigeria, ganz bedeutende Kunstwerke entstanden sind? 61
Bronzen und Elfenbeinschnitzereien von unermesslichem Wert. Und die Gelbgussköpfe! Ein Territorium galt nämlich erst dann als erobert, wenn dem König der Kopf abgeschlagen worden war. Die Gelbgießergilde machte dann von dem Kopf einen Abdruck. Sind jetzt in Museen in Paris, London und Berlin. Aber wenn Sie meine Sammlung sehen könnten, da wäre manches Museum neidisch! Hier interessiert sich doch niemand dafür. Und es würde selbstverständlich alles längst verramscht, kaputt, verloren sein, wenns hier bleiben würde. Gucken Sie sich nur mal das Museum hier in Yaoundé an. Lächerlich. Wir tun etwas für den Erhalt der Kunst. Jawohl.« Er nickte sich bestätigend zu und stand auf. Über seinem mit afrikanischen Nippes versehenen Schreibtisch hing eine Galerie von Fotos, die allesamt ihn als Mittelpunkt hatten, ausgerüstet mit notwendigen Accessoires wie Sektglas, Golfschläger und großäugigen schwarzen Kindern. Geschickt aufgenommen, erschien der kurzbeinige Konsul immer größer und wichtiger als die ihn umgebenden Staatsoberhäupter und Prominenten aus Politik und Wirtschaft. Auf einem Foto fiel ihr jemand im Hintergrund auf, den sie kannte. Einer, der in diesem Rahmen eher unpassend wirkte. Dr. Fronmüller begleitete Ada zur Tür, bot ihr sein rosa Pfötchen und wackelte höchst zufrieden mit sich zu seinem Schreibtisch zurück. Verblüfft starrte Ada dem Mann nach. Blieb nur zu hoffen, dass die Mitarbeiterin des Konsuls genauso effizient war, wie die Stimme am Telefon versprochen hatte. Es könne nicht lange dauern, eine Woche vielleicht, dann hätte Ada ihr Visum. Meinte sie. Möglich, dass ja Bruno inzwischen mehr Informationen über ihr Reisehindernis erfahren hatte. Sie freute sich, den wirbelnden, engagierten Freund von Emma wieder zu sehen. Sein Büro war in der Rue Nachtigal, ganz in der Nähe des Deutschen Konsulats. Wie angenehm war das Klima hier auf dem 62
Hochplateau, im Gegensatz zu Douala. Ringsum nichts als Berge. Und der Urwald. Als wären sie aus ebendiesem geradewegs aufgetaucht, standen zwei kleine Menschen vor ihr, so groß wie vielleicht achtjährige Kinder. Beide trugen zerlumpte, viel zu weite Jacken aus verschossenem blauem Stoff und schwarze zerfranste Shorts, die um die Knie schlotterten. Caps beschatteten einen Teil ihrer dunkelbraunen knittrigen Gesichter. Sie hielten sich am Arm wie ein altes Ehepaar und lächelten Ada an, sodass sie lilafarbenes Zahnfleisch bewundern konnte. Zähne waren da nicht. Unpassenderweise, wie Ada fand, trug der eine einen nagelneuen braunen Lederkoffer in der Hand. Ihr war, als zwinkere er ihr zu. Sie zwinkerte jedenfalls zurück. Dann liefen beide eilig weiter. Kerzengerade, mit winzigen Schritten bewegten sie sich in enormem Tempo, so, als würden sie kaum den Boden berühren. Ihr schien das ein gutes Omen zu sein. Ein großer, breitschultriger Mann, in dessen tiefschwarzem Gesicht die Augen warm leuchteten, öffnete die Tür der Organisation Contra. Er trug ein rotes Hemd und Jeans, führte Ada mit dem elastischen Gang eines Profisportlers ins Büro und vermittelte ihr das Gefühl, ihm beruhigt aber auch jede Sorge anvertrauen zu können. Bruno saß in einem weißen kurzärmeligen Hemd am Schreibtisch, auf dem sich Papierberge türmten. Seine lockigen schwarzen Haare wanden sich in alle Himmelsrichtungen, das Kinn hatte viele Tage lang keinen Rasierer mehr gesehen, unter den rot geäderten Augen lagen tiefe schwarze Schatten. Als er sie sah, warf er seinen Kugelschreiber auf den Schreibtisch, streckte den Rücken und die Arme weit aus, als wolle er sie begeistert umarmen. Zur Begrüßung rief er: »He!« Sie lächelte. »Willst du mich nicht bekannt machen?« »Aber ja doch!« Er sprang auf und legte einen Arm um Adas Schultern: »Ada Simon, Fotografin aus Deutschland, unterwegs 63
in Afrika seit vielen Jahren. Und Dieudonné Bulu. Mein Mitarbeiter.« Dieudonné hatte eine Art zu lächeln, die das ganze Gesicht überzog. »Wir grübeln gerade über die geplante Aktion von Pierre Bernard im Campo-Naturreservat. Er wollte den Holzeinschlag im Randgebiet des Parks verhindern, damit die nachfolgenden Wilderer und Siedler nicht die letzten der Flachlandgorillas niedermachen. Nur, wo er jetzt steckt, das weiß kein Mensch.« Seine Stimme schien von irgendwo ganz tief im Brustkorb hervorzukollern. »Genau den sucht auch diese nette Dame! Wie siehts aus bei euch, Hunger, so wie ich? Also, lasst uns etwas essen gehen!« Bruno sprach schnell und war wie eine dünne, bis zum Äußersten gespannte Sprungfeder mit einem Satz an der Tür. Ada amüsierte sich über die Gegensätzlichkeit der beiden. Sie liefen die Rue Nachtigal entlang. »Weißt du, was Yaoundé eigentlich bedeutet?« Dieudonné sah Ada prüfend von der Seite an. Sie schüttelte fröhlich den Kopf. »Der Name ist eine Verballhornung von Erdnussesser, wie die ersten Deutschen, die von Kribi aus hier ankamen, die Bewohner tituliert hatten.« Er grinste. »Gustav Nachtigal hatte im Auftrag Bismarcks die Schutzverträge 1884 mit King Bell gemacht. Verträge zum Schutz der Interessen deutscher Firmen an Kameruns Reichtümern. Kostbare Hölzer, Gold, Titan. Das Kameruner Grasland im Westen, an der nigerianischen Grenze, fiel dann mit dem Versailler Vertrag unter Britisches Mandat, mitverwaltet von Nigeria. Die restlichen achtzig Prozent wurden Frankreich zugesprochen. Deswegen sprechen wir hier Französisch und Englisch, neben den über zweihundert Landessprachen.« Bruno lief neben ihnen her und hörte nicht zu. Entweder blickte er Ada an wie eine Erscheinung, die er gerade erfreut, 64
aber erstaunt zur Kenntnis nahm, oder aber er sah sich mit finsterer Miene um, als erwarte er, ein bedrohliches Gefolge vorzufinden, das an seinen Fersen klebte. Sie ließen das Zentrum mit seinen seltsam anmutenden avantgardistischen Gebilden aus Beton und Glas links liegen, liefen die Avenue John F. Kennedy entlang und wurden verschluckt von dem Gewühl der Passanten zwischen kleinen Cafés, tausenden winzigen Läden, Kinos und dem Centre Artisanal. Bruno führte sie zuerst zum Markt, der vor unglaublichen Gerüchen zu bersten schien. »Zehn Dollar«, schrie einer der Händler und hielt Ada zwei geräucherte Gorillahände vor das Gesicht. Sie wich zurück. »Ein ganzer Gorilla für nur fünfzig Dollar!«, schrie sie der Händler unbeeindruckt weiter an. Bruno nickte empört, als müsse er sie überzeugen: Da siehst du mal, wie es hier zugeht! Sie setzten sich auf rote, glutheiße Plastikstühle. Zaire-Musik schepperte aus den altersschwachen Lautsprechern, sodass sie sich mit der aufreizenden Schönheit, die Bruno viel versprechende Blicke zuwarf, nur gegen die kreischenden Gitarren anrufend oder in Zeichensprache verständigen konnten. »Wasser, Cola, Kaffee.« Unklar blieb, was nun eigentlich zu haben war. Außer ihr. Bruno starrte der Kellnerin hinterher. »Was wusste Pater Kalinowski? Warum war dieses Wissen so riskant? Für wen und warum? Was hatte er mit Pierre Bernard zu tun?« Ada musste sich anstrengen, die Musik zu übertönen. Sie griff sich an den Hals, betrachtete dann ihr klebrig wirkendes Getränk, das schwungvoll vor ihr auf dem Tisch landete, und runzelte angewidert die Stirn. »Pierre Bernard, der Franzose von Terre Libre, war auf den Spuren illegaler Holzhändler, bevor er verschwand«, brüllte Dieudonné zurück und gestikulierte zu der Kellnerin, sie solle 65
die Musik leiser stellen. Sie wurde mitten im furiosen Trommelwirbel abgewürgt. »Sagt euch«, schrie Ada und stellte ihre Stimme etwas verspätet leiser, »sagt euch der Name TIMS etwas, in Bezug auf illegale Geschäfte?« »TIMS ist bekannt, die Firma hat eine blütenweiße Weste. Sie holzt ganz legal den Tropenwald ab. Hier und im Kongo.« Bruno konnte wunderbar herablassend aussehen. Er bestellte Kpem, junge Maniokblätter in Palmnussöl, und geschmorten Kürbisbrei in Bananenblättern, Nnam ngon. »Kein Fleisch?«, provozierte Ada. »Nie! Ich bin seit Jahren Vegetarier. Vielleicht willst du ja ein wenig Buschfleisch essen? Affenhirn oder süße kleine Gorillababys in leckerer Soße? Oder gerösteten Elefantenrüssel? Lass dich nicht abhalten!« »Wenns das gibt!« Ada verzog ihr Gesicht zu einem gieriggenüsslichen Grinsen, leckte sich die Lippen und bestellte Stachelschwein in Erdnusssoße. Bruno enttäuschte sie nicht und sah schockiert aus. Dieudonné ließ sich Nnam owondo, Erdnusspaste in Bananenblättern und geschmorten Fisch bringen und amüsierte sich still. »Hier in Yaoundé kommen mehr als neunzig Tonnen Buschfleisch jeden Monat auf den Markt. Gorilla und Schimpanse, Python und Elefant sind nur halb so teuer wie Rind oder Schwein. Entlang der Holzfällerpisten wird alles geräuchert, was irgendwie in die Falle kommt.« »Und nun? Wie geht es weiter?« »Heute Abend?« Bruno legte den Kopf schief und lächelte sie versonnen an. Ada lachte. »Mit der Suche nach Pierre Bernard.« »Wir werden dich auf dem Laufenden halten, wenn es irgendetwas Neues gibt. Ich lass es dich dann über Emma 66
wissen, okay? Was wird aus unserer Tour? Die Pygmäen, der Regenwald? Noch Interesse?« »Aber sicher. Ich komme mit. Hoffe nur, dass sich meine vermaledeiten Passangelegenheiten bald klären!« Dass sie diesen Ärger am Hals hatte, war lästig. Der Wunsch nach einer Zigarette wurde fast übermächtig. Aber die Frage des Visumstempels beschäftigte sie gerade weniger als dieser seltsame weiße Mann, der ihr bei TIMS begegnet war. Dieudonné beobachtete sie aufmerksam. Ihr wurde bewusst, dass sie ihre Gesichtsmuskeln nicht ganz unter Kontrolle hatte, und sie riss sich zusammen. Sie verabschiedete sich von Bruno, der ihre Hand nicht mehr loslassen wollte und sie hingerissen anträumte, und von Dieudonné, der sie herzlich umarmte. Sie lief in ihr Hotel. Am nächsten Morgen musste sie zurück nach Douala, da wollte sie einigermaßen ausgeschlafen sein. Ada steckte das Moskitonetz um sich herum fest und nahm sich vor, sofort einzuschlafen. Die Idee war gut. Die Umsetzung unmöglich. Sie warf sich in der stehenden Hitze des Hotelzimmers hin und her. Die zwei Pygmäen mit dem Lederkoffer erschienen vor ihren Augen und lächelten geheimnisvoll. Was hatten sie in dem Koffer? Ihr war, als hätten sie ihr etwas sagen wollen. War Bruno so ein Hektiker, wie es den Anschein hatte, oder was war mit ihm los? Hatte er Angst? Wovor? Eine innere Unruhe hatte sie gepackt. Sie steckte sich den Amethysten wieder an den Finger, den sie auf den Nachttisch gelegt hatte, ein Geschenk ihrer Großmutter, ein uraltes Erbstück. Schützt vor Trunkenheit und Verführung. Daran bestand nun gerade kein Bedarf. Aber er beflügelt auch den Verstand und vertreibt böse Geister. Schon besser. Wie auf einer Perlenkette zogen die Bilder an ihr vorbei, die sie aufgenommen hatte. Sie sehnte sich danach, sie zu entwickeln, als könnten die ihr Aufschluss geben über das, was hier geschah. Es hätte sie wenigstens beruhigt. Die Abgeschiedenheit des Labors, die Stille, der säuerliche Geruch der Entwicklerlösung, ein wunderbares Gefühl von Ausgeglichenheit. 67
Ihr Universum. Die Wahl der Materialien, weiches oder hartes Papier, ein wenig wedeln, um dort oder da mehr oder weniger Licht zuzulassen. Und dann der Moment, wenn das Bild langsam in der Schale zum Leben erwachte, sich Formen herauslösten aus dem Grau. Die leise, vielstimmige Sprache der Bilder. Wie ein beruhigendes Säuseln lullten diese Gedanken sie ein. Bilder tanzten licht und leicht vorbei. Dann ein anderes Foto. Der Mann im Hintergrund auf Fronmüllers Foto, ganz in Weiß. Mit seinen fischigen Händen wies er nacheinander auf die Umstehenden. Zuletzt zeigte er auf den kurzbeinigen Mann, der immer lachte. »Alles tote Seelen!«, quoll es aus seinem blutigen Mund in dem fahlen Gesicht. Zwei abgehackte Gorillahände legten sich um Adas Hals. Sie wachte von ihrem eigenen Schrei auf. Diesmal, beschloss sie, wird ein Teil des Reisebudgets für zwei Sitzplätze ausgegeben, die beiden Plätze vorne auf dem Beifahrersitz des klapprigen Peugeot familiale. Die Fahrt war wie immer – heiß, staubig und von nur einem Gedanken beherrscht: Was hat das alles für einen Sinn? Wozu existieren wir, mühen uns ab, quälen und ärgern uns? Nur, um dann an einem riesigen Baum zu zerschellen, dessen Namen wir nicht einmal kennen? Temporeduzierung, ganz gleich aus welch zwingend erscheinendem Grund, musste in diesem Kulturkreis eine absolute Schande sein. Total unmännlich, möglicherweise. Ob von vorne riesenhafte Lastwagen mit Holzstämmen beladen auftauchten oder Ziegen kurzentschlossen die Chance zum sicheren Selbstmord wahrnahmen und sich vors Taxi warfen, der Fahrer grinste, als würden Reklamefotos für Zahnpasta gemacht, und überholte wahlweise rechts oder links, schleuderte das Lenkrad herum, wirbelte durch den Staub und fing nebenher eine Konversation über das Wetter an. Sie klammerte sich am schnell schweißnassen Haltegriff über ihr fest und betete zu allen Göttern, von denen sie je im Leben etwas gehört hatte. Einer war wohl darunter, der gerade ein offenes Ohr für sie hatte. 68
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Douala Das Restaurant Edelweiß war eins von der Sorte, die Ada freiwillig niemals von innen gesehen hätte. Ein korpulenter Weißer verschlang eine fettglänzende Schweinshaxe, als fürchte er, jemand würde ihm noch in letzter Minute das wabbelige Stück von der Gabel stehlen. Misstrauisch wetzten die Äuglein unter den Fettwülsten von links nach rechts. Der Schweiß tropfte ihm von der Halbglatze ins Sauerkraut. Sein Kumpel ließ sich darüber aus, warum der gesamte Kontinent in Elend und Barbarei versinken werde. »Weil die Neger nichts als Vögeln und Saufen im Kopf haben. So ist es doch!« Er knallte sein leeres Glas auf den Tresen, brüllte nach der Kellnerin und kniff ihr, als sie mit abweisendem Gesicht erschien, heftig ins Gesäß. Ada floh auf die Terrasse mit den blau-weiß gestreiften Deckchen und Kissen unter der blau-weißen Markise und bestellte ein Glas Mineralwasser. Sie wartete auf den weißen Mann. Er hatte etwas ganz Spezielles, etwas Eigentümliches ausgestrahlt, neulich bei TIMS. Ada brannte darauf, zu erfahren, was es war, dahinterzukommen, was er wusste. Sie musste ihn sprechen. Er ließ auf sich warten. Ada nahm sich ihren Gogol vor, den sie in der Umhängetasche immer bei sich hatte, und folgte dem habgierigen Staatsbeamten Tschischikow bei seinen eigentümlichen Geschäften. Nach knapp zwei Stunden gab sie auf. Es hatte wohl keinen Sinn mehr zu warten. Sie zahlte und ging zur Rue Kitchener. Vielleicht traf sie ihn ja noch einmal bei TIMS. 69
Die Jalousien klapperten monoton. Keine Reaktion auf ihr Klopfen. Sie schlug enttäuscht zum Abschied mit der flachen Hand gegen die Tür und wandte sich um. Es quietschte in ihrem Rücken. Die Tür war aufgeschwungen. Der Mann, der sich so ungern stören ließ, träumte mit offenen Augen vor sich hin. Wie letztens hing sein Unterkiefer staunend herab. »Hallo, Sie!« Ada runzelte die Stirn über so viel Apathie: Man kann es auch übertreiben. Sie ging zu ihm hinüber, fasste seine Schulter und schüttelte ihn leicht. Sein Kopf kippte nach links, als wolle er dieser Belästigung unwirsch ausweichen. Dann sank er langsam nach vorn. Sachte legte er die linke Wange auf die ordentlich leere Schreibtischplatte. Als wolle er nun endlich schlafen. Ein Windstoß fuhr unter die Jalousien, dass sie knallten wie ein Schuss. Es war aber kein Schuss, der den armen Mann getötet hatte. Es war Kwifon. Einen anderen Schluss ließ sein plötzliches Ende offensichtlich nicht zu. So sahen es jedenfalls die Leute, die bald das Büro füllten, als wäre die Todesmeldung per Lautsprecher verkündet worden. Eric, so hatte er geheißen, stammte aus Oku, dem Königreich im Kameruner Grasland, oben im Norden. Wenn einer so stirbt, war er mit Hexen oder Teufeln im Bunde. Dann war er vom Geheimbund der Kwifon bestraft worden. Und die hatten so ihre Mittel. Bad Medicine. In dem Gedränge schob sich Ada rückwärts aus dem Büro. Sie stolperte hinaus ins Sonnenlicht. Eine Ratte von geradezu anstößigen Ausmaßen rannte zwischen ihren Beinen hindurch. »He! Konnten Sie die denn nicht aufhalten?« Ein Bursche mit einer Keule in der Hand schrie sie erbost an und jagte weiter hinter dem Vieh her. Draußen herrschte das übliche Tohuwabohu von Mopeds und Autos, die sich kreuz und quer 70
ohne allzu große Blechschäden durch die ungepflasterte Straße vorwärts zu manövrieren versuchten. Eine kleine Garküche am Hafen mit ein paar Hockern unter einem improvisierten Dach aus Raphiapalmwedeln bot gerade Avocado in allen möglichen Varianten an, gekocht und roh, süß, sauer oder scharf zubereitet. Ada bestellte eine Limonade, die trotz des laut brummenden, an einen Generator angeschlossenen Kühlschranks warm war. Bad Medicine. Die einstimmige und unangefochtene Feststellung der Todesursache durch die Neugierigen und Gaffer ging ihr nicht aus dem Sinn. Der Mann ohne Farbe war nicht erschienen. Neulich war er aufgetaucht und verschwunden wie ein weißer Geist. Der arme Eric, der nun nie wieder Störungen befürchten musste, war der Meinung, sie kannte ihn. Warum? Weil sie Sandre als Referenz genannt hatte! Weil sie ihn kennen musste. Den kennen musste, der gleich darauf zur Tür hereinspaziert war. Sandre. Als sie Bruno endlich am Telefon hatte, kam nach einem erfreuten Aufschrei erst einmal nichts. »Das hängt alles zusammen«, murmelte er immer wieder. »Sandre? Nein, nie gehört, sagt mir gar nichts, der Name.« Dann gab er ihr die Adresse einer belgischen Transportfirma, Sotrans, sie könne doch da einmal nachforschen, Pierre Bernards Aktivitäten hätten sich gegen die ganze Holzmafia gerichtet. Seiner Meinung nach ging auch die Ermordung des Paters auf deren Konto. Ada schüttelte den Kopf. Hysterischer Verschwörungstheoretiker! Womöglich wurde jeder ermordet, nach dem sie sich wegen Pierre Bernard oder Sandre erkundigte? Schwachsinn. Wäre es nicht trotzdem gesünder, die Finger von all dem zu lassen? Aber der fehlende Visumstempel kettete sie an die ganze Geschichte. Sie unterdrückte den Wunsch nach einer Zigarette und telefonierte weiter. 71
Ein Anruf beim Deutschen Konsulat ließ sie ahnen, dass es um die Effizienz der Mitarbeiterin doch nicht so gut bestellt war. Bisher kein Visum in Aussicht. So eine dumme Geschichte. Ich muss dem Bonbonlutscher auf die Füße treten, beschloss Ada. Jetzt wird Dr. Fronmüller belästigt. Dr. Fronmüller ist nicht in seinem Büro, beschied man sie. Wohl auf der Jagd nach Kunstbeute – oben im Norden. Bei der Gelegenheit erhielt sie die höfliche Einladung zur feierlichen Eröffnung eines Vorzeigeprojektes, das mit Unterstützung der Deutschen Botschaft entstanden war. Mit großem Tamtam sollte am nächsten Wochenende das Projekt zur Förderung handwerklicher Tätigkeiten von Frauen eingeweiht werden. Als symbolischer Auftakt für viele große Vorhaben waren zu dem Ereignis alle möglichen Honoratioren angesagt, und Ada wäre als Fotoreporterin sehr willkommen. Warum auch nicht. Öffentlichkeitsarbeit gegen Visum, das wäre doch was. Solange, beschloss sie, forsche ich noch ein wenig auf eigene Faust. Sotrans, Société de Transport, Niederlassungen in Douala und Brüssel. Die grün umwucherte Villa stand ein wenig zurückgesetzt unter Palmen auf einem kleinen Hügel. Das Panoramafenster bot einen weiten Blick über das chaotische Treiben der Stadt, das von hier aus fast sinnvoll geordnet wirkte. Herr Schneider stand augenblicklich zu ihrer Verfügung, nachdem die Vorzimmerdame sie mit ausgesuchter Höflichkeit hineinkomplimentiert hatte. Groß, hager, mit Adlernase und der kerzengeraden Haltung eines alten Militärs, schüttelte er ihr knapp und schmerzhaft die Hand, schob den Stuhl bereit, orderte Kaffee, schichtete drei Hefter übereinander, blitzte sie aus wasserblauen Augen an und verblüffte mit ruckartigen Bewegungen seines Kopfes, auf dem sich noch wenige kurz gehaltene, stahlgraue Strähnen gegen den endgültigen Kahlschlag behaupteten. Ein kleines widerborstiges Haarbüschel stand vom Hinterkopf ab, als wolle es dem geschniegelten Rest 72
des Mannes widersprechen. Ada erwartete unwillkürlich, dass er die Hacken zusammenklappte und salutierte. Aber er nahm nur den Telefonhörer ab, denn ein Lämpchen blinkte diskret. Mit gerunzelter Stirn und einem prüfenden Blick in Adas Richtung klemmte er sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr, während er einen Notizblock zückte und seinem Gesprächspartner ein paar Happen zuwarf: »6.30 Uhr Abfahrt Hôtel du Lac in Bujumbura, Termin mit unseren Partnern bestätigen, Abflugzeiten nach Djakarta checken …« Schneider schickte den armen Teufel am anderen Ende der Leitung auf einen Amoklauf durch Termine, Hoteladressen, Ablaufpläne. Währenddessen nickte Schneider Ada zu und überließ ihr großzügig mit einer weit ausholenden Armgeste sein Büro zur Verfügung. Sie beschied sich mit der Betrachtung des Kalenders an der Wand. Sipo, das wertvolle Holz in edlen Fotos zur Geltung gebracht. Firma TIMS wirbt. Ah ja. Schneider legte endlich nach einem weiteren Terminschwall und einem munteren »Sie schaffen das schon!« auf. Sein Kopf zuckte wieder heftig nach rechts hinten, als werfe er sich eine lästige Haarsträhne aus der Stirn. Er ließ seine hellen Augen auf Ada ruhen, begutachtete sie, als schätze er ihren aktuellen Verkaufswert ab. Wie so oft trug sie dünne Baumwollhosen, heute dazu ein buntes T-Shirt und etwas Schmuck, den sie in Mali von Tuareg gekauft hatte. Das Ergebnis seiner stillen Betrachtungen schien ihn zu erheitern. Seine stahlgraue rechte Augenbraue formte ein arrogantes Dreieck. Er lächelte schmallippig. »Ich fürchte, ich werde Ihnen da auch nicht weiterhelfen können! Wenn es illegale Geschäfte geben sollte in diesem Bereich, was ich selbstverständlich nicht ausschließen kann, dann ist mir jedenfalls noch nichts davon zu Ohren gekommen. Wie Sie vielleicht wissen, bin ich nicht nur Geschäftsführer von Sotrans, sondern auch als Berater für verschiedene Firmen tätig, übrigens nicht nur hier in Afrika, sondern auch häufig im Amazonasgebiet und in Indonesien. 73
Dort allerdings stammt tatsächlich der größte Teil des Tropenholzes aus illegalen Quellen, denn da …« »Pardon, aber das interessiert mich jetzt nicht. Es geht um einen Mord, der möglicherweise mit illegalen Geschäften gewisser Holzfirmen hier zu tun hat. Das müsste Ihnen doch bekannt sein«, klopfte Ada auf den Busch. »Mord!« Erstaunlich, was der Tonfall an Hohn hergeben konnte. »Das sind aber ganz abenteuerliche Theorien! Sicher, dieser überdrehte Umweltschützer ist verschwunden. Davon habe ich gehört. Gut. Natürlich nicht gut, für ihn. Vielleicht aber doch: Wenn er sich mit ein wenig Geld irgendwo abgesetzt hat! Und hier fehlt er meines Wissens niemandem. Von Mord kann doch keine Rede sein!« Er drückte seine Zigarette aus und steckte sich eine neue an. Schlug die Beine übereinander und kniff in der Qualmwolke die Augen zusammen. »Oder meinen Sie etwa den alkoholkranken Pater, der seinem Elend ein Ende bereitet hat? Das war ein männlicher Entschluss. Alles andere sind Hirngespinste, absurde Spekulationen, die sich irgendwer zunutze machen will. Passen Sie nur auf, dass Sie sich nichts von diesen ultralinken Freaks einflüstern lassen! Oder gibt es noch andere Leichen in irgendeinem Keller?« Er fand sich offenbar humorvoll. »Mehr kann ich dazu auch nicht sagen. Hier hat die Firma TIMS die meisten Konzessionen, auch die, die an zwei Naturparks grenzen, wo sich die Herren Umweltschützer immer so gern aufspielen. Eine deutsch-schweizerische Firma, die in vielen afrikanischen Ländern wie Kongo, Gabun und Liberia sehr aktiv ist. TIMS ist die europäische Holzfirma in Afrika, sie hat auch die effektivste Logistik überhaupt. Die haben astreine Geschäftspraktiken, da ist nichts illegal, alles genau kontrolliert. Ich kenne die Leute, habe da persönliche Freunde.« Ah so. »Schöner Kalender. Sipo. Das holt man ja hier raus.« »Ja, Sipo ist eine der wenigen Holzarten, die sich wirklich lohnen. Tropenholz ist schließlich auf dem Markt völlig 74
unterbewertet, die Preise haben bedenklich nachgelassen. Auch ein Ergebnis verfehlter linker Propaganda. Damit tut man den Leuten hier keinen Gefallen.« Er runzelte die Stirn und betrachtete mitleidig sein naives Gegenüber. »Wenn man, wie im Kongo, die Stämme zweihundert Kilometer durch den Dschungel schaffen muss … da lohnt sich nur, was preismäßig auch etwas bringt. Sie wissen, dass der Transport das eigentliche Problem ist? Der Straßenbau ist extrem teuer. Das amortisiert sich in den meisten Fällen einfach nicht. Außerdem gibt es nur wenige Tiefseehäfen, die meisten Schiffe liegen auf Reede. Und die Häfen sind der Flaschenhals, da ist die Kontrolle leicht. Die Binnenmärkte sind in Afrika vernachlässigbar. Hier lohnt sich nur, was besonders wertvoll ist und dann nach Europa und China geht.« Das Telefonlämpchen leuchtete rot auf, und Schneider verabschiedete Ada mit einem herablassenden: »Das ganze Trara um illegalen Handel. Ach wissen Sie!« Er tastete nach seinen Zigaretten und widmete seine Aufmerksamkeit dem Telefon. Ada ging zur Tür. Da spürte sie etwas Unbehagliches im Rücken. Sie fuhr herum. Direkt hinter ihr stand Schneider. Er hatte schon wieder aufgehört zu telefonieren. Sein Kopf zuckte scharf. Mit einem unangenehmen leisen Tonfall zischte er ihr zu: »Illegal, legal – ist das nicht alles nur eine Frage der Definition? Wenn Sie so scharf auf illegale Machenschaften sind, fragen Sie am besten Zander!« Und schob sie zur Tür hinaus. »Es gibt nichts Illegales, nicht bei TIMS. Der Sotrans-Mann weiß das ganz genau. Zumal das seine Freunde sind. Dass der Störenfried weg ist, ist dagegen sehr erleichternd.« Bruno lachte über Adas Beschreibung ihres Besuchs bei Sotrans. »Selbstverständlich stecken die unter einer Decke! Und 75
außerdem: Legal, illegal, scheißegal. Es geht doch einzig und allein darum, die Richtigen zu schmieren.« »Hm. Alles eine Frage der Definition.« Einen Zander kannte Bruno auch nicht. Aber, durchfuhr es Ada, als sie wieder in ihrer Pension ankam: Der Pater hatte zu ihr gesagt: »Demandez à Sandre.« Hatte Schneider nicht den gleichen Tipp, nur übersetzt? »Fragen Sie Zander!«
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11 Er sprach deutsch. Und über Deutschland. Fast nur. »Wir …«, betonte Dr. Fronmüller und lachte unmotiviert, wie das so seine Art war. »Wir finanzieren weltweit Entwicklungen, die sonst nicht realisierbar wären. Wir helfen anderen, aus der Misere ihres Landes Stück für Stück herauszukommen. Denn Deutschland ist ein weit entwickeltes Land mit wunderbaren technischen Errungenschaften, wissenschaftlichem Fortschritt, klugen Menschen mit einer hohen Bildung. Wir fördern die Entwicklung Afrikas. Afrika, das wissen wir von Gustav Nachtigal, hat viele schöne Landschaften und nicht nur wunderbare Musik, nein, auch herrliche Kunstwerke geschaffen. Statuen und Masken von unschätzbarem Wert.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Dank Gustav Nachtigal haben wir einen Bezug zu diesem Land und wissen von Kamerun. Wir weihen heute das erste einer Reihe von förderungsfähigen Projekten in Douala feierlich ein. Wir unterstützen die Arbeit dieser Frauen hier, weil wir mit diesem Projekt die handwerklichen Fähigkeiten der Bamiheke-Frauen fördern wollen. In der Hoffnung, dass auch die Bamikeleke-Frauen als Handwerkerinnen in Zukunft wirtschaftlich tätig werden, etwas schaffen können, etwas leisten für ihre Familien, hat Deutschland diese große Summe Geldes zur Verfügung gestellt. Also«, endete er erleichtert, »wir wünschen den BamilehekeleFrauen alles, alles Gute!« Die Gäste schauten höflich unbeteiligt. Der Übersetzer übertrug sehr frei und schliff das Gröbste ab, so gut es ging. Ada überlegte, wie es möglich sei, sich bei den Bamiléké-Frauen angemessen zu entschuldigen. Emma fing wütend an, mit den Füßen zu scharren. Sie warf ihren Kopf herum und starrte Dr. Fronmüller an, als ob sie ihn vierteilen wollte. Aber der 77
zupfte behäbig seine braune Weste zurecht und lehnte eine angebotene Zigarre mit entsetztem Gesichtsausdruck ab. »Oh nein, ich rauche doch nicht!« Sein Atem wehte gesunden Eukalyptusdunst in die Gegend. Seine Frau stand mit kritischem Gesichtsausdruck neben ihm. Ah ja. Der kamerunische Industrieminister tat, als wäre alles ganz normal, und bedankte sich überschwänglich. Er hielt eine geistreiche und witzige Rede, die mit Zwischenapplaus und Gelächter quittiert wurde. Endlich löste sich alles in gläserklirrendem Geplauder auf, das von Tanzdarbietungen und Musikeinlagen unterbrochen wurde. Ada fotografierte die Frauen, die unbeeindruckt und selbstbewusst ihre Arbeit präsentierten. Sie produzierten in Gemeinschaftsarbeit Verpackungsmaterialien aus Naturstoffen für Lebensmittel. Ihr Plan, ein Transportsystem für Händlerinnen auf die Beine zu stellen, überzeugte Ada. Sie alberte mit ihnen herum und versprach, den Fortgang ihres Projektes zu dokumentieren. Der große Innenhof des Ausbildungszentrums für Frauen, in dem das Ereignis zelebriert wurde, war voll lebhafter, festlich gekleideter Leute. Die sengende Hitze wurde durch den dunklen Himmel, der einen schweren Regenguss ankündigte, in keiner Weise beeinträchtigt. Aber wie immer, wenn sie sich der Arbeit hingab, tat sie es ganz. Vergaß alles andere. Die kleine Leica lag leicht in ihrer Hand. Das Schnurren, wenn sie den Film weitertransportierte, das sanfte Klacken des Auslösers, Geräusche, die sie liebte. Sie war voll konzentriert und fühlte sich gleichzeitig vollkommen entspannt. Ada machte den Tänzer aus dem Akwa Palace aus, der wieder beweisen wollte, dass seine Knochen aus einem ganz besonders biegsamen Material waren. »Dieser Kerl ist eine widerliche Pflaume. Schau nur, wie er da herumschwänzelt, dieser Kotzbrocken! So ein Arschloch!« Ada riss sich ungern von dem Anblick des perfekten schwarz glänzenden Körpers los. Nur noch ein Foto. Emma zermalmte gerade den Zigarettenstummel mit dem Absatz ihrer spitzen 78
Sandalette, als hätte sie Fronmüllers Patschhand darunter. »Kannst du denn seine so genannte Rede nicht wortwörtlich in einer deutschen Zeitung unterbringen? Wär das nicht gut?« »Meinst du, da merkt einer was?« »Ach, das ist doch alles zum Würgen. Diesen dickärschigen Idioten müsste man mit einer Peitsche nackt durch die Stadt jagen und aus ihr heraus. Gemeingefährliche Ignoranten wie den da kann ich einfach nicht mehr ertragen.« Emmas große Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Sie holten sich an einem Stand ein paar Fleischspießchen und etwas zu trinken. »Ich hab nochmal mit Bruno über unsere Tour zu den Pygmäen gesprochen. Wir können Montag los. Ab in den Urwald! Ist das drin bei dir?« Emma schlug ihre Zähne in das Fleisch. »Aber sicher. An der Passgeschichte kann ich ja zurzeit sowieso nichts ändern. Für wen machst du den Artikel eigentlich?« »Les Miracles Du Monde, schöner großer Auftrag. Der Raubbau an Tropenholz zerstört schließlich die Lebensgrundlagen der Ureinwohner. Das ist ein Thema! Und mit der Afrika-Fotografin steht ja der Expedition nichts mehr im Wege. Also dann: Montag früh am Busbahnhof Richtung Kribi. Pack so, dass du alles Nötige für eine mehrtägige Reise mit Buschtaxis und für eine Fußwanderung durch den Dschungel dabei hast. Also Lippenstift, Spitzendessous und Highheels!« Ada behielt Fronmüller im Auge, um ihn abzupassen. Wenn einer bei den kamerunischen Behörden ihre Visumfrage lösen konnte, dann er. Wenn er wollte. Oder halt seine Sekretärin. Aber Fronmüller schritt wie ein Gockel an der Seite seiner asiatischen Frau durch das Gewühl und wurde an allen Fronten durch seine Lakaien vom Volke abgeschirmt. Vermutlich, damit 79
er nicht noch mehr Unheil anrichtete. Ada hielt ihre Leica immer bereit und nahm die Szene auf. Sie grinste, als ihr ein Foto des selbstgefälligen Dickwanstes gelang, während er sein Händchen gönnerisch den Bamiléké-Frauen wie zum Handkuss darreichte. Dann drängte sie sich entschlossen zu ihm durch. »Hallo, Dr. Fronmüller, guten Tag. Erinnern Sie sich noch an mich?« »Aber ja, die Fotografin! Wie schön, dass Sie dieses Ereignis dokumentieren. Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen, Valerie Dao. Valerie, dies ist, äh …« »Ada Simon.« »Ganz recht.« Valerie Dao musterte mit ihren nussbraunen Augen Ada gleichgültig. Man hätte sie gut aussehend nennen können, wäre da nicht diese Ausstrahlung von schierem Pragmatismus, die aus jeder Pore zu sickern schien. Sie beendete die Begutachtung Adas mit der missbilligenden Betrachtung ihrer lose über die Schulter fallenden Haare, als wolle sie ihr einen vernünftigen Friseur empfehlen, und wandte sich ihrem Gatten zu. »Der Minister wartet, Alfred!« Ihr Gang verriet Zielsicherheit ohne Wankelmut. Diese Frau wusste, was sie wollte. Und tat, was ihr nutzte. Das Paar entschwand. »Wie stehts mit meinem Visum?«, rief Ada Fronmüller noch nach. Der lachte speckig und winkte mit der Hand. Was so viel heißen konnte wie: Alles im Griff. Oder auch nicht. Auf der Post wartete ein Brief von Tom aus Kigali. Er hoffte, in der nächsten Woche wieder nach Douala kommen zu können. Und dass sie ihr Visum endlich hätte. Und dass sie die Finger von allen Nachforschungen über Pierre Bernard und Pater Kalinowski lassen würde. Er hatte neue Informationen. Könne er aber nur mündlich mitteilen. Zu riskant. 80
Auf dem Platz, der als Busbahnhof bezeichnet wurde, kamen die Besitzer von schrottreifen Kisten, alten Peugeots familiales, Kleinbussen oder auch Pick-ups zwischen qualmenden Abfällen mit Leuten, die irgendwohin fahren mussten, ins Geschäft. Jungs brüllten die Fahrziele durch die Gegend und schleppten ihre Opfer zu den Chefs. »Kribi, Kribi, Kribi!« Ein Bengel packte Ada am Arm, damit sie nicht an die Konkurrenz verloren ging, als sie ihre Bereitschaft signalisierte. Er zerrte sie durch die Menge der Händlerinnen und Händler von Kochbananen und Mangos, von Holzkohlebügeleisen und Ventilatoren. Keiner, der nicht die anderen an werbewirksamer Phonstärke zu überbieten versuchte. Jungensbanden machten sich gegenseitig die Bewachung der Fahrzeuge streitig, wenn der Fahrer einen trinken ging. Die Mamans mit ihren kleinen Garküchen grillten Fleischteile, über deren einstige Daseinsform man nur spekulieren konnte. Die Ausdünstungen der qualmenden Abfallhaufen mischten sich mit Dieseldämpfen und dem Rauch der kleinen Holzkohlegrills. »Jacques! Ihr Fahrer heißt Jacques!« Der Kleine schubste sie in Richtung eines unbeteiligt dreinschauenden Mannes, der groß und hager am Kühler eines Busses lehnte, und ging weiter auf Kundenfang. Emma begrüßte Ada gut gelaunt und überschwänglich. Heute in klassischen schwarzen Jeans und schwarzem T-Shirt. Nur wenig Silberschmuck, eng anliegende Halskette und muschelförmige Ohrgehänge. Wie immer sehenswert. Bruno hob noch verschlafen die Schultern und rieb sich die müden Augen. »Jetzt versteh ich endlich, was mit dem Begriff Morgen-Grauen gemeint ist«, brummelte er. Dann steckte er sich eine Zigarette an. Wie schön, dass ich nicht mehr rauchen muss, dachte sich Ada.
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Sie quetschten sich wie die anderen in den jetzt schon aufgeheizten Bus. Jacques sammelte das Fahrgeld ein und musste nun erst einmal tanken fahren. Die ganze Fuhre schaukelte durch den Ort. Langsam glucksend wurde das rosafarbene billigere Schwarzbenzin aus Glasflaschen in den Tank gekippt. Jacques nutzte die Zeit und kippte ein schwarzes Bier. Guinness. Neun Uhr dreißig. Sie schaukelten los. Die Fahrt begann schweigend. Nur ein paar Hühner gackerten, ein Säugling jammerte, und eine Ziege meckerte. Und natürlich plärrte das Radio extrem laut, rauschend und schrill. Sie holperten durch die endlosen Vororte Doualas. Jacques musste öfter nachtanken. Guinness. Bevor er einkehrte, schloss er den Bus immer ab. Wahrscheinlich, damit seine Fahrgäste ihm nicht abhanden kamen. Alle nahmen es hin. Ada schob das Hühnerbündel, drei an den Füßen zusammengebundene picksüchtige Federviecher, ein wenig von sich weg und stöhnte. Emma hatte sich bei Beginn der Fahrt in Trance versetzt, und Bruno lächelte Ada kläglich zu. Die Temperatur im Bus stieg stetig. Jacques hielt inzwischen an der nächsten Kneipe. Fassungslos beobachtete Ada, wie er die Türen wieder sorgfältig abschloss. Langsam, aber sicher lud sich die Atmosphäre auf. Als wenn Luft in einen kurz vor dem Platzen stehenden Ballon gepumpt würde. Jetzt begann einer der Fahrgäste zu skandieren: »Jacques, Jacques, Jacques.« Einer hatte den Einfall und rief: »Jacques Chirac!« Begeistert griffen das die anderen auf. Erst zwei, dann drei, dann begannen alle zu schreien, zu brüllen: »Jacques, Jacques – Jacques Chirac.« Der Bus schwankte im Rhythmus. »Jacques, Jacques – Jacques Chirac.« Ada sah nur noch schwarze Gesichter, offene Münder, weiße Zähne. Der Sprechchor wurde immer lauter, drohender. Sie begann sich zu fragen, ob und wie sie hier je wieder herauskommen sollte. Es konnte nur in Mord und Totschlag enden. In ihren Ohren dröhnte es: »Jacques, Jacques – Jacques Chirac!« Da stellte sie erstaunt fest, dass sich alle bestens amüsierten. Das Ganze war 82
offenbar total witzig. Sie lachten, der Schalk blitzte aus den Augenwinkeln, manche schlugen sich auf die Schenkel. »Jacques, Jacques – Jacques Chirac.« Der kam gemächlich schlendernd an, schloss auf und schwang sich auf den Fahrersitz. Dass er jetzt schon mehrere Guinness intus hatte, am Beginn der Fahrt, schien ihm nichts weiter auszumachen. Nun verließen sie endlich die Dörfer und ratterten durch hohen Wald. »Die Kneipendichte lässt jetzt hoffentlich nach«, bemerkte Bruno resigniert. Sie rasten auf einem roten Lateritweg an grünen Wänden entlang. Der Dschungel schien dicht am Straßenrand abzuschließen und an der anderen Seite genauso undurchdringlich weiterzugehen. Ada war wie betäubt von der Hitze. Sie döste ein. Selbst die Hühner schienen einer Ohnmacht nahe. Sie hatten es aufgegeben, nach ihren Knöcheln zu hacken. Ab und zu riss es sie schmerzhaft hoch, wenn der ungefederte Bus in ein besonders tiefes Schlagloch rumste. Sie betrachtete die verschiedenen Nuancen von Grün in der Welt draußen und sackte wieder weg. Da knallte es. Sie schlingerten, als hätte sich Jacques schon fünfzehn Guinness genehmigt. Erstaunlicherweise kamen sie ohne größere Probleme zum Stehen. Reifenpanne. Kein Ersatzreifen. Einer, der kein Geld für Benzin hat, hat erst recht keines für solche Nebensächlichkeiten, dachte Ada. So weit man gelegentlich bis ins wabernd kochende Hirn vordringende Gedankenbruchstücke bei um die vierzig Grad Celsius als Denken bezeichnen konnte. Seit zwei Stunden waren sie unterwegs, standen irgendwo im Dschungel. Sie stiegen aus. Ein junger Typ erklärte, einen Ersatzreifen organisieren zu wollen. Der Einfall wurde benickt. Der Retter machte sich zu Fuß auf, zurück zu dem letzten Ort, den sie durchfahren hatten. Das war schon ein Weilchen her. Er wolle trampen, verkündete er. Nur kam hier anscheinend niemand vorbei. Ada hatte auf der Strecke schon ewig kein Auto mehr gesehen. Eine überfahrene 83
Schlange im roten Staub war das einzige Zeichen dafür, dass hier immerhin schon mal jemand Motorisiertes durchgekommen sein musste. Jacques hatte sehr rote Augen. Er schwieg. Die Leute hockten sich hin oder lagerten sich irgendwie, entspannt und scheinbar unempfindlich gegen Hitze, Fliegen und Ungewissheit, als ob sie sich in eine Art Kollektivhypnose versetzten. Das Atmen fiel schwer in der glutheißen Luft. Es pfiff, kicherte und kreischte aus der grünen Wand. »Für ein Fleckchen Schatten und was Kaltes zum Trinken würde ich meine Mutter verkaufen!«, gestand Bruno. »So?« Emma grinste ihn an. »Sie weilt schon lange da, wo die Ahnen sind. Aber wie wir wissen, kommen die ja ab und an vorbei, helfen dir oder machen Stress. Also, Mütterlein, ich nehms zurück!« Er hockte sich neben Emma an den Wegrand und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. Ada setzte sich dazu. »Wir müssen einfach warten. Vielleicht kommt der Typ ja zurück. Sonst werden wir weitersehen.« Emma betrachtete Ada prüfend, war offenbar zufrieden, dass sie noch keine Anzeichen von Hitze- oder Urwaldkoller aufwies, und seufzte beruhigt. Sie zog die Beine an, schlang die Arme darum und lockerte den Körper. Über den Kopf legte sie sich eine pagne. Ada tat es ihr nach. Über Weiteres nachzudenken, wollte sie verschieben. Bis die Hitze etwas nachließ. Sie zog ihr Buch aus der abgewetzten Tasche und vertiefte sich in ihren Gogol. Eigentlich eine gute Gelegenheit, ihrer Sucht zu frönen. Die Hölle stellte sie sich als buchlosen Ort vor. Wann der Mann, der sich auf den Weg gemacht hatte, zurückkommen würde, war schwer zu schätzen. Und ob überhaupt.
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Kivuregion, Kongo – Bujumbura, Burundi Im letzten Moment sprang Zander hinten auf die Ladefläche des gerade anfahrenden Lasters. Hilfreiche Hände streckten sich ihm entgegen, zogen ihn herauf. Mitten durch und über die vielen scharrenden gelben Plastikkanister, in denen Bananenbier und Palmöl gluckerte. Die eng an eng stehenden Menschen rückten ein Stückchen näher zusammen, obwohl das unmöglich schien. Der alte Lastwagen raste die unbefestigte Piste an den Hängen der Ruzizi-Schlucht entlang. Tief unten toste der Fluss. Hunderte Leichen, sagte der Mann, der neben Zander stand, sind in seinem Wasser in Richtung Tanganjikasee geschwemmt worden. Der Fluss muss rot gewesen sein. Festzuhalten brauchte Zander sich nicht. Im Gleichklang wurden sie hin und her gerüttelt, wenn der Fahrer die rostige Kiste durch die Schlaglöcher jagte. Niemand sprach. Irgendwer murmelte nur leise ein Gebet. Zander dachte darüber nach, warum er noch einmal hatte hierher kommen müssen. Hals über Kopf. Dass Schneider persönlich hier auftauchte und sich mit seinen Geschäftspartnern traf, war eine einmalige Chance. Der Fahrer fuhr den Hang jetzt immer langsamer hinauf. Bis der Lastwagen stand. Auf den Punkt. Denn ab jetzt ging es abwärts. Zwei Männer sprangen ab wie die Wiesel. Der schwere Wagen begann zu rollen, und sie warfen blitzschnell große Steine vor die Vorderreifen. Der Laster stand wieder. Sie klaubten die Steine weg, und der Wagen rollte ein Stück. Die beiden Männer rannten nebenher, warfen wieder die Steine vor
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die Reifen. Der Lastwagen stand. Und so fort. Zander bewunderte ihre Geschicklichkeit. Endlich begann wieder eine gerade Strecke. Nicht zu früh. Eben fiel die Nacht über sie her. Einer der Beifahrer hielt als einzige Beleuchtung des Gefährtes eine Taschenlampe nach vorn wie eine Entschuldigung. Immerhin behinderte keine Windschutzscheibe seine beruhigenden Versuche, Gott weiß wem mit dem winzigen Lichtchen etwas zu signalisieren. Ein Lastwagen donnerte ihnen entgegen und haarscharf an ihnen vorbei. Sein Scheinwerferlicht schnitt scharfe Streifen aus der Dunkelheit, erfasste am Straßenrand Hände, die blitzschnell das Quäntchen Licht nutzten, ein paar Dinge ihres Nachtmarktes zu ordnen. Eine Emailleschüssel mit kleinen gesalzenen Fischen. Ein Baumwolltuch auf dem Boden ausgebreitet, darauf, fein säuberlich nebeneinander, winzige Häufchen Maniokmehl. Sie ratterten vorüber. Nach einer Weile machten sie Halt, um auf die Morgendämmerung zu warten. Alle kletterten steif von der Ladefläche, und einige begannen, am schmalen Rand der Piste ein kleines Feuer zu entzünden. Wer etwas dabei hatte, aß und trank. Die Leute wickelten sich in Decken. Es war hier in den Bergen jetzt empfindlich kalt geworden. Plötzlich hörten sie das Knirschen von Schritten. Im flackernden Schein des Feuers näherten sich Frauen mit Stühlen und Tischen auf den Köpfen. Sie waren seit zwei Tagen zu einem der wenigen noch existierenden Märkte unterwegs, erzählten sie. Die Frauen stellten die Tische und Stühle ab, setzten sich darauf und wärmten sich die Hände am Feuer. Eine von ihnen trug einen riesenhaften Fisch. Einen Barsch aus dem Viktoriasee wahrscheinlich oder einen Capitaine aus dem Tanganjikasee. Zander wusste es nicht. Nach einer Weile luden sie sich die Lasten wieder auf die Köpfe und wanderten schweigend weiter. Zander döste ein. 86
Morgen war Schneider in Bujumbura. Schneider war gewieft. Aber er kannte Zander nicht. Nicht gut genug. Zander schreckte hoch. Wieder Schritte. Alle fürchteten die Militärs. Betrunken und schwer bewaffnet. Und nicht zögerlich, wenn sich eine Gelegenheit zum Schießen ergab. Aber es waren nur zwei der Mitreisenden, die sich wieder ans Feuer setzten. Leise unterhielten sie sich. Der eine erzählte von seinem Job als Tagelöhner auf einer belgischen Teeplantage. Für ein Glas Salz am Tag und für ein winziges Eckchen Boden, auf dem er etwas für sich selbst anbauen konnte. Er wohnte mit seiner Familie in einer Blätterhütte im eigenen Bananenhain. Leben konnten sie davon längst nicht mehr. Früher war der Hain dreimal so groß. Den größten Teil hatten sie verkauft, um Medikamente für seine Frau und einen der Söhne zu bezahlen. Nein, geholfen haben sie nicht. Beide sind gestorben. Sie sprachen dann mashi, das Zander nur wenig verstand. Er hörte dem Murmeln der Gespräche nicht mehr zu. Er dachte an Näherliegendes. Er dachte daran, was im Kivu-Boden steckte. Nahe der Grenze zu Burundi kamen sie an einem monströsen Denkmal vorbei. Überlebensgroße menschliche Figuren. Sie waren mit schwarzen Tüchern verhüllt und verschnürt, gefesselt und geknebelt. Sollte es restauriert werden? Die Gruppe stand im Halbkreis vor einer grün getünchten Mauer, auf der in bunten Farben Soldaten vorwärts stürmten. Blau. Blau, wohin man sah. Die voll gepferchten Lager aus blauen Plastikplanen dehnten sich rings um das Stadtgebiet von Bujumbura aus. Die Hitze lastete dumpf, als sie ankamen. Eine Schar Bettler drängte sich um sie. Hatte hier jemand etwas zu vergeben? Die Loggia des Hôtel Royal war sicher früher einmal etwas Vornehmes gewesen. Huren hingen am Tresen herum. Kein Geschäft heute. Zander kippte ein Primus aus einem Plastikbecher. Sah sich um. Winkte den Damen müde ab. Schneider und 87
Co. Binnen kurzem würden sie erfahren, dass er hier war. Er trank sein Bier aus, warf ein paar Münzen auf den Tresen und ging auf die Straße, wo die sengende Sonne ihn mit einem harten Schlag auf den Schädel begrüßte. Die Kindersoldaten an der Kreuzung warfen ihr auf ein schwenkbares Gestell montiertes Maschinengewehr in seine Richtung und grölten. Apathische Gestalten hockten am Straßenrand. Er lief an mit Brettern vernagelten, verwüsteten Geschäften vorbei. Libanesische Händler boten auf primitiven Schildern gute Preise für Diamanten und Gold. Im Hôtel du Lac trank auch Schneider ein Primus. Er sah über die glatte Fläche des Tanganjikasees hinüber zu den MitumbaBergen. Die verschwommenen Umrisse eines Dampfers leuchteten unwirklich irgendwo zwischen Himmel und Erde. Vielleicht war es ja die Liembe, das dienstälteste Schiff, von dem er je gehört hatte. Früher hieß es Graf Götzen und wurde als Louisa in African Queen weltberühmt. Als diese Ecke hier, Burundi und Ruanda, noch zu DeutschOstafrika gehörte und Gustav Adolph Graf von Götzen Gouverneur war, da hätte man noch was machen können. 1916. Eigentlich war Schneider in die falsche Epoche geboren. Er liebte die Übersichtlichkeit. Und seh sich jetzt einer dieses Chaos an! Sieben Armeen und ein Vielfaches an Rebellengruppen bekriegten sich gegenseitig, und es war kein Ende abzusehen. Es gab ein paar Tugenden, die zu Recht als deutsch bezeichnet wurden. Er konnte sich damit identifizieren. Disziplin und Ordnung, ja natürlich. Und Fleiß. Er betrachtete angewidert, wie Pascal einen zerlumpten Bettler, der nur noch Beinstümpfe besaß, mit einem Knüppel vertrieb. Pascal war schon seit Jahrzehnten Kellner hier und wusste, was sich gehörte. Der Bettler rutschte auf seinem Karton davon. Schneider steckte sich ein Zigarillo an. Sinnlos Zeit zu vergeuden, war nicht seine Art. Er hätte jetzt gern wenigstens einen Skat 88
gespielt. Als er noch bei den Fallschirmjägern war, konnte er seine Fähigkeiten vernünftig zur Geltung bringen. Aber der Flug mit der ehemaligen Honnecker-Maschine hätte ihn um ein Haar das Leben gekostet. Bruchlandung. Er war heute noch sicher, dass es ein Anschlag auf ihn war. Seine Ausmusterung war empörend: Angeblich aus gesundheitlichen Gründen. Sein Kopf zuckte heftig nach rechts hinten bei dem Gedanken. Immerhin hatten sie ihm eine angemessene Pension bewilligt. Aber ihm ging es nicht ums Geld. Es ging ihm ums Prinzip. Er hatte Sinn für einen vernünftigen Umgang mit den vorhandenen Mitteln. Sonst wäre er auch nicht da, wo er jetzt wieder war. General Schneider a.D. Seine Firma operierte weltweit. Heute wurden die Karten neu gemischt. Einen Trumpf hatte er im Ärmel. Er orderte mit einer herrischen Bewegung ein frisches Primus, als Pascal dienstbeflissen erschien. Karl-Heinz war noch nicht gekommen. Karl-Heinz der Clevere. Ging ihm mehr als einmal auf die Nerven mit seiner Cleverness. Als ob er seinen Machiavelli mit Löffeln gefressen hätte. Aber er hatte nun mal im Kivu die Hand drauf beim zurzeit lukrativsten Geschäft überhaupt. Da lagerten schließlich die weltweit größten Ressourcen von einem der zukunftsträchtigsten Erze. Der deutsche Geschäftsmann war schon seit vielen Jahren im Kivu ansässig und kannte sich aus. Vielleicht war er sogar bald der neue Besitzer der CongoMines? Schneider seufzte. Ein wichtiger Geschäftspartner, ansonsten aber ziemlich überflüssig. Dafür erschien jetzt mit eiligem Schritt ein untersetzter Mann in Tarnuniform, die AK 47 lässig über der Schulter. Setzte sich und nickte Schneider zu. »Klappt es mit unserem Treffen? Hat Madame K. zugesagt?« »Sicher.« Der Mann lehnte seine Kalaschnikow an den Tisch. »Zander ist hier.«
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»Zander?« Schneider grinste, als wolle er mit seinem gelblichen Gebiss zuschnappen. »Umso besser. Dann können wir das Problem gleich beheben. Übernehmen Sie das? Egal wie, Hauptsache, einen Kopf kürzer. So was könnt ihr doch hier.« Knappes Nicken. Schneider lehnte sich auf dem Stuhl zurück, streckte seine langen Beine aus und beschrieb eine weit ausholende Geste mit dem Arm, das Zigarillo zwischen den Fingerspitzen. »Wunderbar, diese Gegend. Und diese gute Luft!« Sein Gegenüber starrte ihn nur an, ohne eine Miene zu verziehen. Kenn sich einer aus mit den Schwarzen, dachte Schneider. Genau wie Zander vermutet hatte, saßen die Herrschaften bald darauf alle einträchtig zusammen. Schneider führte gerade das Wort. Er sprach auf Madame K. ein. Die machte nicht den Eindruck, als würde ihr sein Gerede sonderlich imponieren. Als gäbe es kaum etwas, das, geschweige denn jemanden, der ihr sonderlich imponieren konnte. Ihre Mimik war ein beachtenswertes Schauspiel unterschiedlicher Facetten der Verachtung. Ihre Augenbrauen rutschten während Schneiders Ausführungen in die Höhe und verharrten dort. Als Schneider geendet hatte, sah er sie abwartend an. Madame K. schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Sie wissen, dass ich alles, aber auch alles über die Grenze bringen kann! Egal ob Gold, Elfenbein, Diamanten, Waffen oder Zigaretten. Glauben Sie im Ernst, dass mir jemand reinpfuschen könnte?« Schneider widersprach: »Diese Firma von Robert aus den USA hat ihren Mann im Kivu sitzen. Als Manager der Kongolesischen Mineralien-Gesellschaft, der Congo-Mines. Washington wird Ruanda den Geldhahn abdrehen, wenn sie nicht an das Zeug kommen.« 90
Madame K. schlenkerte wegwerfend ihr Handgelenk. »Niemand kann das Fleisch eines ganzen Elefanten essen. Außerdem ist der Ost-Kongo in der Hand der RCD-Milizen, der Kongolesischen Sammlung für Demokratie. Und die wird von Kagame kontrolliert. Die haben die Erzgräber unter Kontrolle. Und ich organisiere den Export. Ich schaffe das Zeug nach Kigali bis in den Laderaum der üblichen Linie. Alles andere ist Ihre Sache.« »Sotrans kann das garantieren. Wir gehen über Südafrika via Thailand nach Brüssel.« Karl-Heinz nickte und sagte ruhig und leise: »Wir haben jetzt übrigens einen Draht nach Mosambik. Das neue Ursprungsland. Ausgezeichnete Papiere.« »Jeder weiß, dass es in Mosambik keine Coltan-Vorkommen gibt.« Madame K. funkelte ihn an. »Natürlich.« Karl-Heinz sah gelangweilt aus. »Und? Interessiert das irgendwen?« »Nun gut, das ist Ihre Sache.« Madame K. klatschte die Handflächen auf die Tischplatte. »Wir sind dann wohl so weit, meine Herren. Ich gehe davon aus, dass die Bezahlung erfolgt wie abgesprochen.« Karl-Heinz nickte ergeben, und Madame K. schritt von dannen. Von weitem nur eine kleine, unscheinbare Frau in traditionellem afrikanischem Gewand. Man hätte meinen können, sie gehe zurück zu ihrem Kasiksistand. »Die haben wir im Boot, was will man mehr. Man nennt sie die Schmuggelkönigin.« Karl-Heinz sprach mit unverhohlener Bewunderung in der Stimme. »Hoffe nur, dass sie nicht mit gezinkten Karten spielt.« Schneiders stahlgraue Augenbrauen zogen sich in der Mitte zweifelnd zusammen. »Madame K. gehört dieser extremistischen Hutu-Bewegung an, Todfeinden der ruandischen Führung 91
und ihrer Milizen im Kongo. Wenn sie die linkt, können wir auch einpacken.« Er musste sichergehen, dass er keine Luschen auf der Hand hatte. Das hier war kein Null ouvert, wo man die Karten auf den Tisch legt. Karl-Heinz entgegnete auf seine gelangweilte Art: »Und? Wenn die Dame knallharte Extremistin ist und das die Herren Patrioten nicht stört, warum sollte es uns interessieren? Diese so ungemein clevere Geschäftsfrau aus Bukavu organisiert den Verkauf, und Ruanda kassiert. Was meinst du denn, wie die sonst ihre Feldzüge finanzieren könnten? Schließlich kontrollieren sie inzwischen eine Fläche, die um ein Vielfaches größer ist als Ruanda selbst. Weißt du, wie man Kagame und seinen ugandischen Konterpart, Museveni, nennt? ›Die Paten‹.«
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13 Zander spazierte an der Mündung des Lukuga entlang. Dichtes Gebüsch wucherte am Ufer und ins Wasser hinein. Er war sicher, dass Pascal seinen Job machen würde. Wer hatte schon etwas gegen ein kleines Zubrot? Kellner im Hôtel du Lac war nicht allzu einträglich. Zander würde erfahren, mit wem sich Schneider getroffen hatte. Und weil Schneider inzwischen bekannt sein dürfte, dass er hier war, würden sie über ihn reden. Wenn alles gut ging mit der kleinen Abhöranlage, würde er alles erfahren. Auch, wer ihn beseitigen sollte. Die riesigen Baumstämme, die beschaulich in der Strömung trieben, entpuppten sich bei näherem Hinsehen als die größten Exemplare ihrer Art. Die Krokodile hatten die beachtliche Länge von etwa sechs Metern. Zander war innerlich ganz ruhig. Er wusste genau, was er wollte. Ihm war völlig klar, was kommen musste. Er fühlte sich gut. Zander näherte sich drei Fischern, die in der Flussmündung standen. Mit nichts als kurzen Hosen bekleidet, warfen sie in dem seichten Wasser ihre Netze aus. »He, Sie! Hallo! Guten Tag!« Zander winkte mit der Hand. Die Fischer grüßten zurück. »Hier kommen aber ziemliche Ungeheuer vorbei!« »C’est ça«, antwortete einer gleichmütig. »Schnappen die sich nicht ab und zu mal einen von Ihnen?« Zander betrachtete die Männer, die sich in ihrer Tätigkeit nicht stören ließen. »C’est ça«, entgegnete derselbe und zog mit gleichförmigen Bewegungen sein Netz ein. »Von Zeit zu Zeit.«
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Der Moment schien gekommen. Als Zander beim Hôtel du Lac eintraf, waren Schneider und Karl-Heinz anscheinend gerade dabei, die Einzelheiten durchzugehen. Sie waren sehr vertieft. Die Dunkelheit war inzwischen von vollendeter Schwärze. Dank der allgemeinen Verknappung flackerten auch hier nur vereinzelte Petroleumlämpchen. Kein Problem, sich günstig zu positionieren. Das Geschäft wirst du nicht mehr beenden, mein Freund. Zanders Hass war kalt. Er saß so fest, als gehöre er bereits zu ihm. Wie ein alter Furunkel, allerdings an einer ungünstigen Stelle. Er schmerzte bei Berührung. Doch selbst daran hatte er sich gewöhnt. Er fragte sich beiläufig, wie es sich anfühlen würde, wenn seine Mission beendet war. Aber im Grunde war ihm das gleich. Zander hatte nur immer ein Bild vor Augen. Und das war nicht Schneider. Er hatte die 9-mm-Luger in seiner Segeltuchtasche. Im Schutz einer Hecke packte er sie ruhig aus. Als er auf Schneiders Kopf zielte, zitterten seine Hände kein bisschen. Auch seine Augen waren in einem tadellosen Zustand. Selbst bei diesem Licht war es kein Problem für ihn, sein Ziel genau zu fixieren. Jetzt musste er sich nur noch näher heranpirschen. Günstigerweise war die Sturmlaterne auf Schneiders Tisch hoch aufgedreht und leuchtete hell. Er hielt inne. Schritte näherten sich. Nackte Füße scharrten auf Zement. Zander steckte die Luger vorn in sein Hemd und spähte ins Dunkel hinter sich. Ein Junge von vielleicht vierzehn Jahren kam auf ihn zu. »Mzungu, bonsoir.« Er flüsterte, als wäre er in Zanders Pläne eingeweiht. »Monsieur, wollen Sie meine Schwester kennen lernen? Ein schönes Mädchen. Ganz jung! Monsieur?« Zander zischte ihn an: »Verschwinde!« Wie hatte der ihn denn entdeckt? Der Junge schlurfte weiter. Er näherte sich Schneiders Tisch. Sprach die beiden an. Von Zanders Standpunkt sah es so aus, als 94
wenn sie ins Geschäft kämen. Der Junge ging dann eilig los, als wolle er seine junge Schwester gleich holen. Zander bewegte sich lautlos näher heran, sog scharf die Luft durch die Nase ein. Er packte die Luger, zielte, hielt kurz die Luft an und drückte ab. Schneiders Kopf flog nach rechts. Und wieder zurück. In der nächsten Sekunde hatte er seine Pistole gezogen und feuerte gleich mehrere Schüsse in Zanders Richtung ab. Schneider sah sich erzürnt um. Wo war sein Mann? Und wo war Karl-Heinz? Der hatte geschwind unter dem Tisch Deckung gesucht. Jetzt streckte er auf allen vieren kriechend den Kopf heraus. Und knallte an die Tischplatte. Fluchend kroch er ganz hervor. Sah sich vorsichtig mit hochgezogenen Schultern um. Und betrachtete die Glaswand hinter dem Tisch, die den Wind von der Seeseite abhalten sollte. Sie wies ein winziges Einschussloch direkt da auf, wo Schneiders Kopf gewesen war. »Perfekt«, murmelte Karl-Heinz und rieb sich die schmerzende Stelle am Hinterkopf. »Fast«, widersprach Schneider. Zander wich das Blut aus dem Gesicht vor Zorn. Er hatte Schneiders Macke vergessen. Das hätte nicht passieren dürfen. Dass ausgerechnet in dem Augenblick das scharfe Zucken einsetzte, konnte man nur als verdammtes Pech bezeichnen. Inzwischen hatte sich eine aufgeregte Schar auf der Terrasse eingefunden. Zander schnappte seine Segeltuchtasche, sprang mit einem Satz über die Hecke und rannte los. Gut, dass er sich hier auskannte, fast genauso gut wie im Kivu. Er nahm eine Seitenstraße und hielt sich eng an den Häuserwänden. Jetzt einer dieser voll gedröhnten Patrouillen in die Arme zu laufen, fehlte noch. Das Übertreten der Ausgangssperre ab 19 Uhr konnte tödliche Folgen haben. Er hetzte durch die dunkle Straße. Drückte sich an eine Hauswand und schöpfte Luft. Als das 95
Quietschen der Ledersohlen von Militärstiefeln an sein Ohr drang, wurde ihm klar, dass er sich etwas einfallen lassen musste. Der Zoo. Zwei kleine Seitenstraßen, ein freier Platz. Ungünstig. Er warf sich in das Gebüsch am Straßenrand und robbte vorwärts, um den Platz rechts herum. Er setzte über den wackligen Metallzaun wie eine ausbrechende Impala. Duckte sich und wartete ab. Nichts. Ruhe. Kein Laut. Er verschnaufte erleichtert. Konnte sich schon denken, wen Schneider auf ihn angesetzt hatte. Ohrenzerfetzendes Kreischen. Er hatte die Affen vergessen. Die meisten Tiere waren längst weg. Gegessen, ausgebrochen, verhungert, wer weiß. Offensichtlich hausten hier noch ein paar in wilder Anarchie. Es herrschte pechschwarze Finsternis. Zander stand auf und tastete sich mehr oder weniger vorwärts. Ein hohes verrostetes Gitter hielt ihn auf. Wo lang jetzt? Das Einzige, was er fürchtete, waren die Giftschlangen. Früher schon in recht zweifelhaften Käfigen gehalten, krochen die bestimmt nun überall frei herum. Er ging am Gitterzaun entlang. Bestialischer Gestank schlug ihm entgegen. Plötzlich blickte er direkt in große schwarze Augen, die wenige Zentimeter vor ihm glänzten. Ein monströser Kopf schaukelte hin und her. Schlug dumpf gegen das Gitter, dass es klapperte und donnerte. Wieder und wieder knallte der verzweifelte Gorilla seinen riesenhaften Schädel gegen den maroden Zaun. Streckte dann auch noch seine großen, ledrigen Hände durch die Stäbe nach ihm aus. Zander fiel der Silberrücken vom Kahuzi-Biega ein. Sein alter Kumpel, der sicher längst in eine Falle getappt war. Er fand die Tür, fummelte an dem rostigen Schloss herum, bis es aufschnappte, und riss das Tor auf. Dann machte er, dass er wegkam. Unverrichteter Dinge wieder abzureisen, kam nicht in Frage. Am nächsten Morgen ging Zander am Ufer des Tanganjikasees 96
entlang und wartete auf Schneiders Mann. Das Tonband von Pascal hatte er am vereinbarten Ort gefunden. Er marschierte in Richtung der Lukuga-Mündung. Die Mangroven bildeten eine grüne Masse, verzweigt, verknotet, Wurzeln wie die miteinander ringenden Arme von Riesen. Er hatte seine Sensoren auf Hochempfindlichkeit gestellt und peilte permanent in alle Richtungen. Als es so weit war, sprang Zander blitzartig hinter eine der Luftwurzeln. Der Schuss peitschte ins Wasser und verjagte aufkreischende Wasservögel. Er robbte in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Dann sah er ihn. Der untersetzte Kerl in seiner Tarnuniform war buchstäblich mit dem Baum am Flussufer verwachsen. Kein Thema für Zanders Adlerblick. Er verharrte. Nach alter Trappermanier nahm er dann ein Stöckchen und warf es ein Stück weg von sich ins Wasser. Brav fiel der Dummkopf darauf herein und entfernte sich kurz vom schützenden Baumstamm. Zander sprang auf, hechtete auf ihn zu und packte den Mann, der mit seiner AK 47 beschäftigt war, von hinten. Kurz darauf wälzte er sich mit ihm im Schlamm. Drückte sein Gesicht nach unten in den Matsch, bis ihm die Luft knapp wurde. Dann wuchtete Zander den Kerl mit einem Satz und kraftvollem Schwung ins Wasser, setzte mit dem Fuß nach. Nur ein Stoß. Lautlos und mit hoher Geschwindigkeit kam einer der hungrigen Riesenkawenzmänner herangeglitten. Die Tarnuniform verschmolz mit dem braunen Flusswasser, als das Vieh ihn in die Tiefe zog. Schneiders Mann hatte nicht mal mehr die Zeit gefunden, einen Schrei auszustoßen.
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Kribi, Kamerun Was, fragte sich Ada, passiert, wenn der Mann ohne Ersatzreifen oder gar nicht zurückkommt? Oder vielleicht ist die Frage so falsch gestellt. Was geschieht zuerst? »Gibt es denn niemanden, der sich auskennt? Einen Pfad durch den Urwald? Das ist doch einfach nur idiotisch, im Dschungel zu hocken und langsam auf kleiner Flamme gebraten zu werden!« Sie saßen hier seit über drei Stunden in der extremen Hitze, und absolut nichts geschah. »He, Emma, wie weit ist es bis zur nächsten Ortschaft?« »Zu weit.« Bruno, der die ganze Zeit, den Kopf auf den Armen, apathisch herumgesessen hatte, sprang plötzlich auf. Er warf die Arme in die Luft, als mache er jemanden da oben verantwortlich, und kreischte: »Wir werden alle sterben! Wir werden alle sterben!« Als nütze es etwas, beim Sterben sein Gepäck dabei zu haben, kletterte er wie ein Äffchen auf das Dach des Busses. Die Ladung aus Stoffbündeln, Säcken und Käfigen mit noch lebenden Tieren türmte sich darauf wie ein Gebirge. Er riss und zerrte an seiner fest verzurrten Tasche, knotete hektisch und schrie immer wieder: »Wir werden alle sterben!« Die ringsum lagernden Leute betrachteten interessiert sein Krakeelen. So was aber auch. Einer der hier recht selten vorkommenden Weißen, und verliert dermaßen die Kontrolle. Einige begannen zu kichern. Dann zu lachen. Dann lachten alle, lachten, bis ihnen die Tränen die Backen hinunterliefen. Gegen 98
ihren Willen musste Ada mitlachen. Zum Teufel mit der Loyalität, sie konnte nicht mehr vor Lachen. Plötzlich hielt mit quietschenden Reifen ein klappriger alter Peugeot ohne Windschutzscheibe. Strahlend sprang ihr Mitreisender, der Held, heraus. Er zerrte einen Ersatzreifen hervor. Jetzt ging plötzlich alles ganz schnell. Nach gar nicht langer Weiterfahrt erschien, wie bestellt, mitten im Urwald eine Kneipe. Am Eingang flatterte ein mitgenommenes rotes Fähnchen. Guinness is good for you. Ada fragte den jungen Kneipenwirt, der ein ebenso leuchtend rotes T-Shirt trug, was er zu trinken da habe. »Alles«, antwortete er und zeigte sein Gebiss inklusive Weisheitszähne. Mit weit ausholender Armgebärde wiederholte er: »Alles«, und schüttelte den Kopf, als könne er diesen sagenhaften Überfluss selbst nicht begreifen. »Wasser, eine Flasche bitte«, bestellte Ada mit vor Durst am Gaumen klebender Zunge. »Gibts nicht«, meinte er und schüttelte heftig den Kopf. Gerade das hatte er nun nicht. »Lemon«, schlug Ada vor. »Gibts nicht«, erklärte der Mann mit Würde. Nun schon ganz schwach, bettelte Ada: »Cola.« »Gibts nicht«, sagte er nun, als hätte sie etwas ziemlich Unanständiges verlangt. »Was gibt es denn?«, stöhnte sie. »Guinness«, entgegnete er entnervt auf diese dumme Frage. Ada trank zwei Flaschen. Jetzt legte sich ein mildernder Schleier über alles Ungemach. Klappernde Weiterfahrt voller Staub, der sich buchstäblich 99
überall einnistete. Schmerzhaft bohrten die Zuckerrohrstangen der Nachbarin zur Rechten bei jedem tieferen Schlagloch. Der Geist flüchtete in Apathie. Der Körper hing vornüber. Ruckartiger Stillstand. Eine Kneipe? Sie waren in Kribi. Lärmender Ausstieg. Die drei Hühner waren hinüber. Ein kleiner Junge hängte sich an Ada, gib mir Geld, gib mir Geld. Ein Rasierapparateverkäufer hatte sich ausgerechnet auf Ada eingeschworen. Er erklärte ihr alle Vorzüge des elektrischen Rasierers und wurde immer wütender über ihre Versuche, ihn abzuwimmeln. Chez Amélie, eine einfache Herberge in Kribi. Ein kleines, heißes Zimmer. Ada fiel fast augenblicklich in einen dumpfen Schlaf. Nach einer Stunde wurde sie wach. Von draußen drangen Vogelstimmen und das Rauschen des Meeres herein. Die weiße dünne Baumwollgardine blähte sich im leichten Wind wie ein Spinnakersegel, und auf der hellblauen Wand tanzten filigrane Lichtreflexe. Direkt vor dem Fenster hörte sie eine Frauenstimme, die ein erstauntes »Ah!« rief und dann in ein kehliges Lachen ausbrach. Schnelle Schritte trappten auf dem Kies, dann juchzte ein Kind. Ada spritzte sich Wasser aus der Kalebasse in der Zimmerecke ins Gesicht und ging nach draußen. Die warme Atlantikluft umfing sie wie ein geliebter, wohl riechender Körper, der sich an sie schmiegte. Was sollte ihr je geschehen? Ein paar wacklige Stühle versanken vor Chez Amélie fast im Sand, die Wand strahlte Hitze ab, als glühten in ihr verborgene Heizungsröhren. In einem Rattanschaukelstuhl knarrte ein alter Mann hin und her. Der verwegene Panamahut war ihm über ein Auge gerutscht, und seine bloßen Füße, die aus den zerfransten Hosen herausragten, sahen unverhältnismäßig groß aus. Ein grün schimmernder Pfad unter hohen, breitkronigen Bäumen führte ans Meer. Palmen neigten sich über weißem Sand, berührten fast die schaumgekrönten Atlantikwellen. Hochherrschaftliche Villen, grün umwuchert, standen am malerischen Strand. Die geräumigen Terrassen waren von hohen Säulen 100
begrenzt. Aber aus den schwarzen Fensterhöhlen schaute schon lange niemand mehr auf das blaue Meer. Wellen leckten am gesprungenen Beton. Die Zeit der Kolonialherren war lange vorbei. Jetzt herrschte hier die Natur. Und sonst nur noch bitterer Mangel und Malaria tropica. Ada setzte sich in den Sand. Hinter ihr begann der dichte Tropenwald. Ob sie wirklich bei den Pygmäen auf Hinweise über Pierre Bernard stießen? Und wenn, brachte sie das weiter? Was hatte das alles mit dem Pater zu tun? Zander musste vieles wissen. Warum hatte er sich mit ihr im Edelweiß verabredet? Und warum war er dann nicht gekommen? Die Wellen rollten tiefblau heran, wie ein geheimes Versprechen, überschlugen sich krachend und zogen sich dann bedrohlich zischend zurück, um zum nächsten Schlag auszuholen. Sie dachte an die Weberinnen mit ihren ungewöhnlichen Arbeitsmethoden. Sie würde morgen bei ihnen sein, ihr Dorf war nicht weit von Kribi entfernt. Eine Fotoserie, die ziemlich weit oben stand auf ihrer Prioritätenliste. Die Frauen benutzten seltene Pflanzen zum Färben und Techniken, die eng mit mythischen Riten verbunden waren. Ein magerer Junge mit kurzen Hosen, die er mit einem Strick dort festgeknotet hatte, wo sie ungefähr hingehörten, stand auf einmal neben ihr. Sein Gesicht bestand fast nur aus Augen. »Wie gehts, Madame?« Er grinste, und ein pfiffiges Grübchen erschien auf seiner Wange. »Woher kommst du?« »Aus Deutschland.« Er lachte, nahm ihre Hand und zog sie ein Stück. »Aha, du willst sehen, was deine Leute hier gemacht haben. Ihr Deutschen seid sehr fleißig.« Er zeigte ihr die Kirche und den Leuchtturm am Strand. »Habt alles ihr gebaut. Ich mag euch Deutsche.« 101
Stolz fügte er drei Worte auf Deutsch hinzu: »Hart, aber gerecht.« Der Hafen an der Flussmündung des Kienké sah verschlafen aus. Aber weiter draußen lag ein Frachter auf Reede. Baumstämme wurden dorthin geflößt. Ada nahm ihre Leica. Natürlich verboten. »Guten Tag, Madame«, grüßte ein schwitzender dicker Mensch, der sie die ganze Zeit schon beobachtet hatte und jetzt herangeschlendert kam. »Sehr heiß heute, nicht wahr?« Sie nickte höflich und war nicht weiter auf Kommunikation aus. Machte keinen übermäßig Vertrauen erweckenden Eindruck, der Mann. Ob das an seinem schmierigen Grinsen lag oder an dem Zurschaustellen seines dicken Goldschmucks an Fingern und Hals, konnte sie nicht entscheiden. Vermutlich war es doch eher die Art, wie er ihren kleinen Deutschlandfan davonjagte. Herrisch, mit ein paar bösen Worten, wie einen lästigen Straßenköter. »Lassen Sie gefälligst den Jungen zufrieden. Er ist mein Führer«, schnauzte sie ihn an. Aber der Kleine lief schon davon. »Dass ihr Deutschen immer einen Führer braucht.« Er lachte heiser. »Sie sind eine Hafenliebhaberin, ja?« Ada stutzte. Woher wusste er eigentlich, dass sie Deutsche war? Der Akzent? Und was sollte das jetzt? Ihr fiel der Hafenbeckenwerfer ein. Der silberne Gecko an seinem Hemd passte nicht zu seinem Goldschmuck. Das Kreischen einer Kreissäge gellte auf. »Sie sind vom Sägewerk, ja?« Er hielt es nicht für nötig, auf ihre Frage zu antworten, starrte sie nur unfreundlich an. »Sie halten wohl nicht viel von Ratschlägen, die Ihnen andere geben, Madame?« Mit einer knappen Kopfbewegung wies er auf ein Schild, auf dem auf das 102
Fotografierverbot hingewiesen wurde. »Kümmern Sie sich lieber um Ihre eigenen Angelegenheiten.« Er ließ seine Augen unverschämt an ihr von oben nach unten gleiten. »Ich denke, damit haben Sie genug zu tun! Nur ein kleiner Tipp. Auf Wiedersehen, Madame.« Er drehte sich um und ging mit dem Gang eines Mannes, der niemals zögert zu tun, was zu tun ist, davon. Ada schüttelte den Kopf. Haben ihre Aufpasser, die Holzleute. Ihr hatte der Tonfall warnender geklungen, als es nötig wäre, wenn man unwissende Touristen mit den Sitten und Gebräuchen vertraut machen möchte. Sie schlug den Weg zum Chez Amélie ein. Hoffte sie. Das Städtchen schien nur aus Wellblech zu bestehen. Die Hütten glänzten im Sonnenlicht wie Silber. Eine junge Frau hatte eine kleine Schneiderei aufgemacht. Stolz ließ sie Aufnahmen von sich und ihrer Werkstatt unter freiem Himmel machen. Sie habe sogar schon eine Angestellte, sagte sie, lächelte Ada an, trat die alte Singer-Nähmaschine und zog den weißen seidigen Stoff unter der Nadel entlang, als käme sie mit jedem Tritt einer großen Zukunft ein Stück näher. Im Schein der Petroleumlampe saß Ada mit Emma und Bruno auf der Terrasse der Herberge. Der kleine Lichtkegel beleuchtete nur schwach ihre Gestalten. Ringsum herrschte durch nichts unterbrochene Dunkelheit. Ada war schläfrig und lauschte dem Gequake und Gesirre und dem leisen rhythmischen Wellenschlag. Nachtfalter torkelten an das Lampenglas. Emma hatte mit Hilfe einer Unmenge kleiner Kämme aus ihrer Mähne ein fantasievolles Gebilde getürmt. In ihrer schwarzen Jeans und enger knallgelber Bluse saß sie mit aufgestützten Ellenbogen am Tisch und starrte Löcher in die Nacht. Der junge Kellner, der mit unsicherer Hand Bierflaschen vor ihnen abstellte, konnte die Augen kaum abwenden. Bruno hockte so angespannt auf der Stuhlkante, als erwäge er, im Schlusssprung 103
über den Tisch zu setzen. Er kam gerade aus der Dusche, seine Locken lagen artig am Kopf an, und sein Gesicht glänzte. Ada fand, er würde glatt als Gigolo durchgehen. »Wie lange wird es dauern, bis wir bei den Pygmäen sind?« Die Frage, wie weit es sei, war von nachrangiger Bedeutung. »Zuerst haben wir eine lange Pistenfahrt vor uns, morgen. Es hat viel geregnet, kann sein, dass es etwas schwierig wird.« Bruno klang belegt, er räusperte sich kurz. »Dann eine längere Wanderung durch den Dschungel. Ein, zwei Tage, alles in allem. In etwa. Hängt davon ab, ob die Brücke in Bipindi noch steht.« Er zerlegte einen Bierdeckel in tausend Einzelteile, die er dann mit einer aggressiv wirkenden Bewegung vom Tisch fegte. Sein Blick blieb an Ada kleben, so als hielte er innere Zwiesprache über sie. Dann hob er die Augenbrauen und knitterte eine Filterlose aus seiner Zigarettenpackung. Die übergroße Stichflamme seines Feuerzeuges ließ ihn zurückfahren. Ada fiel ein, wie er oben auf dem Bus herumgetobt hatte. Vielleicht spürte Bruno, woran sie dachte. Sein Blick wurde giftig. Er inhalierte, als wäre es lebenswichtig, dass kein einziges Qualmwölkchen ungenutzt verpuffte. »Wir fahren bis Lolodorf, von dort aus sind es noch ein paar Stunden durch den Dschungel zu den Jagdlagern. Die Jäger wechseln ihren Standort so alle zwei Monate, damit sich der Wald und das Wild wieder von ihnen erholen können. Mit Glück schaffen wir es morgen bis Lolodorf. Mit noch mehr Glück wartet da Dieudonné schon auf uns.« Dass er zu ihnen stoßen würde, beruhigte Ada. Ein kräftiger Gegenpol zu Bruno. Und sie mochte ihn. »Mir ist vorhin ein unangenehmer Vogel über den Weg gelaufen, einer vom Sägewerk, der faselte etwas, von wegen ›nur um eigene Angelegenheiten kümmern‹. Klang fast so, als hätte er etwas Bestimmtes im Auge.«
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Bruno sah Ada an, als berichte sie beiläufig von herumfliegenden Untertassen. Ada musste die Begegnung in allen Einzelheiten beschreiben. Er trommelte derweil den Radetzkymarsch auf der Tischplatte. »Ich sag euch was. Das sind die Leute von der Holzmafia. Die haben viel zu verbergen. Wir müssen verdammt vorsichtig sein!«, zischte Bruno. »Wir sind hier nah dran, glaubt mir, wir finden hier etwas, was uns weiterbringt mit Pierre Bernard. Ich weiß es.« Er sprang auf. »Ich geh noch mal ein Stück ans Meer.« Im nächsten Augenblick war er von der Dunkelheit verschluckt. »Meine Güte! Was hat er nur?« Ada sah Emma an. Aber die hatte ihre Frage offenbar gar nicht gehört. Ada betrachtete ihr melancholisches Gesicht. Emmas riesige Augen waren irgendwohin gerichtet. Emma. Immer in Aktion. Immer engagiert. Niemand machte sie sich freiwillig zur Feindin. Nur manchmal hatte sie, wie jetzt, Phasen von Abwesenheit und Traurigkeit. Dann kam auch Ada nicht an Emma heran. Eine gläserne Wand umgab dann ihre sonst so temperamentvolle Freundin. »Wo bist du? He!« Emma schien von weit her zurückzukommen. Sie konzentrierte ihren Blick auf Ada, als wenn sie sie eben gerade entdeckte. »Ich frag mich einfach nur, was das alles soll. Was wollen wir hier? Der Auftrag, okay. Aber diese ganze Geschichte gefällt mir nicht. Hier stinkts zum Himmel. Wozu schlägt man sich mit all diesen Schweinereien rum? Riskiert seinen Arsch, um irgendwelchen Drecksäcken auf die Spur zu kommen. Damit gelangweilte Redakteurheinis sich dann an einer Formulierung stoßen. Interessiert doch alles keine Sau. Ändert mein Artikel irgendetwas? Ist nicht alles, was wir machen, völlig belanglos?«
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Kigali, Ruanda – Bukavu, Kongo Es muss wohl an der Haltung gelegen haben. Lässig zurückgelehnt, die rötlich braunen Haare über der Schulter, die langen Beine ausgestreckt. Und dann dieser Blick voll provozierender Direktheit. Augen wie Gletscherseen. Um den Mund ein Lächeln. Tom wartete in Kigali am Flughafen und dachte an seine erste Begegnung mit Ada. Wie viele Jahre war das jetzt her? Sie saß am Tisch im La Verdure in Cotonou mit ein paar Freunden. Sie lachte gerade über irgendetwas, als er sich, nicht ganz unabsichtlich, an den Nebentisch setzte. Vertieft in eine lebhafte Diskussion war sie, aber, so kam es ihm vor, immer mit einem gewissen Raum um sich herum, der so leicht nicht zu überbrücken war. Dieser erste Eindruck sollte sich später noch oft genug bestätigen. Ada. Ein unsteter Geist. Ständig unterwegs und ständig in dubiose Geschichten verwickelt, als ziehe sie die an. Und er selbst? Für seine Londoner Zeitung raste er als Afrikakorrespondent von Wahlbetrug zu Bürgerkrieg, von Hungersnot zu Politikergipfel. Und das mit seiner heftigen Abneigung gegen Katastrophenjournalismus. Leicht war es nicht, bei den sich immer überschlagenden Ereignissen das unterzubringen, über das er gern schrieb. Er liebte das afrikanische Leben. Er betrachtete eine junge Frau, die die Wartezeit nutzte, um ihrer Tochter eine kunstvolle Frisur zu flechten. Sparsamkeit und Eleganz der Bewegungen. Er bewunderte alle, die ihr Handwerk richtig beherrschten, auch bei ganz alltäglichen Tätigkeiten.
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Eine Iljuschin setzte zur Landung an. Soweit er wusste, musste Igor darin sitzen. Der Mann, der bei Bedarf jede Menge Professionen hatte und ebenso viele Pässe. Kein Wunder, dass er auftauchte, bei den neuen Rohstofffunden. Hier war viel zu holen. Und das peitschte den Bürgerkrieg immer wieder an. Ein Fluch – kein Segen, diese so reiche Erde. Jetzt beobachtete Tom einen Mann, der ihm durch seine Farblosigkeit ins Auge fiel. Weißhaarig und bleichhäutig. Er lief irgendwie steif in der Halle herum, als hätte er einen Hüftschaden. Als er kurz seine Sonnenbrille abnahm, fiel Tom auf, dass seine Augen rot schimmerten. Seine Segeltuchtasche unter den Arm geklemmt, ging er jetzt in Richtung Schalter. Aus Gewohnheit beobachtete Tom genau. Douala, der Mann besorgte sich ein Ticket. Wieder fiel Tom Ada ein. Er musste sie dringend davon abhalten, sich weiter mit diesem unseligen Umweltschützer Pierre Bernard zu befassen. Von einem Freund aus den besten Kreisen der Gesellschaft von Kigali hatte er die Information, dass der von allen möglichen Geheimdiensten gesucht wurde. Doch jetzt sah er endlich Igor. Der vierschrötige Ukrainer mit dem blonden, nach hinten gekämmten Haar über der breiten Stirn war unverwechselbar. Er schob sich zwischen den Geschäftsleuten aus Indien, dem Libanon, Pakistan, zwischen Afrikanern und Europäern hindurch. Einige eilten gleich zu ihren gepanzerten Limousinen weiter, wohl gefüllte Aktenköfferchen in der Hand. Igor und der Albino begrüßten sich. Schau an. Sie verließen gemeinsam das Flughafengebäude. Zu gerne wäre er den beiden gefolgt. Doch zuerst musste er die Maschine aus Daressalam abwarten, mit der ein Kollege anreiste, dem er Unterlagen für die Londoner Redaktion mitgeben musste. Er seufzte. Diese Begegnung hätte er sich gerne erspart, aber es half ja nichts. Da sah er Shaw schon aus der Absperrung kommen. Der schwergewichtige Mann schob sich misstrauisch in die Halle. Sein quadratischer roter Schädel mit den stoppligen grauen 107
Haaren bewegte sich auf dem kurzen Hals wie ein Radarschirm, der die Gegend nach feindlichen Geschützen abscannte. Die tiefen Falten unter seiner monströsen Sonnenbrille schienen heute noch weniger als sonst der Schwerkraft widerstehen zu wollen. Lärmend begrüßte er Tom mit kräftigem Schulterschlag. Wie er das hasste. Aber um ein Glas mit dem leutseligen Shaw kam er nicht herum. Sie sprachen über Igor. »Zurzeit reist er mit israelischem Pass und handelt mit Schnellfeuerwaffen aus den alten Beständen der Sowjetarmee. Nicht zu schweres Gerät für die Kindersoldaten. Dreißig Dollar kostet eine Kalaschnikow.« Shaw gluckste, als fände er, das sei ein Witz. Er kippte sein Primus auf einen Satz. Das Bier schien sofort aus allen Poren wieder auszutreten. Sein hellblaues Hemd bekam dunkle Schweißflecken, und von der Stirn perlte es herunter. »Ich treff mich nachher mit einem engen Vertrauten von Kagame. Mal seine Variante der neuesten Entwicklungen hören. Und wer jetzt wieder zuschlägt, bei dem zurzeit begehrtesten Rohstoff der Welt. Ruanda soll ja letztes Jahr allein durch dieses Tantal, das in dem Coltan aus dem Ost-Kongo steckt, zweihundertfünfzig Millionen US-Dollar gemacht haben. Nicht übel, was?« Von seinen Lippen troff weißer Schaum, als er sie herablassend verzog. Daraus, dass er mit allen möglichen hohen Tieren so vertraut war, pflegte er kein Geheimnis zu machen. Und ihm war es egal, ob die ihre Macht dazu nutzten, sich als Menschenfreund oder als Massenmörder zu profilieren. Shaw hob in der für ihn typischen Geste die schweißigen Handflächen, er wusste mit all denen umzugehen. Er scannte schon wieder die Gegend ab. Schien eine Gewohnheit zu sein. Tom schob dringliche Termine vor, übergab seine Mappe mit den Unterlagen und verabschiedete sich. Beim Hinausgehen wischte er sich die Hand, die Shaw in seiner Pranke zu zerquetschen versucht hatte, an der Hose ab.
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Natürlich war von Igor und Co nichts mehr zu sehen, als er aus der Flughafenhalle in die Hitze trat. Tom sah sich in dem Gewühl der Taxifahrer, Gepäckträger, Bettler und Händler, die sich auf die Ankommenden stürzten, vergeblich um. Über dem Platz hing eine beißende Qualmwolke aus Abgasen. Später, als Tom durch das Land der tausend Hügel nach Kibuye am Kivu-See fuhr, fielen ihm die Gefangenen in ihrer rosa Kleidung auf, die die Straße in Ordnung brachten. Flamingos nannten sie die Leute. Wieder musste er an diese Stille in der Kirche denken. Er sah die Macheten vor sich, die aufgestapelten menschlichen Schädel, die Knochen. Diese Stille nach dem entsetzlichen Lärm. Dem Brüllen aus dem Radio: »Töten! Töten! Töten! Befreit euch von den Kakerlaken!« Die Endlösung. Kam ihm bekannt vor. Kakerlaken! Der Begriff ging ihm nicht aus dem Kopf: Insecticide. Die französische Operation Insecticide. Die Waffenlieferungen und Militärexperten Mitterands hatten das Regime der Mörder ausgerüstet und angeleitet. Er hatte darüber geschrieben. Aber irgendwie gehen diese Meldungen immer unter. Werden ausgeblendet. Das G-Wort durfte damals in der UNO nicht ausgesprochen werden. Genozid. Las das denn niemand, was er schrieb? Warum schrieb er dann? Er war ein Voyeur, kein Journalist. Hätte er wenigstens einem einzigen Menschen das Leben gerettet! Aber er war nur ganz kurz da gewesen. Er konnte doch nichts machen! Verlotterte Militärs hockten an der Kreuzung um ein Feuer, ein abgezehrtes Gesicht beugte sich ans Autofenster. Müde Augen durchforsteten das Innere des Autos, dann winkte ihn der Mann durch. Ordentliche Straßen, mit einer deutschen Bushaltestelle ab und zu. Er schüttelte den Kopf. Absurd, das alles. Der Urwald war fast überall von Eukalyptusplantagen abgelöst worden. Auf den grünen Hängen wuchs Tee. Terrassenkulturen, wohin man auch sah. Sie waren bis in die höchsten Berge hinauf angelegt. Hin und wieder begegneten ihm langwüchsige Hirten, 109
den Stab über dem Nacken quer gelegt, die ihre Rinder vor sich hertrieben. Er hatte es dringend nötig, mal kurz zwischen den Büschen zu verschwinden, aber ganz gleich wo, überall standen, liefen, hockten Menschen. Unter den Bäumen, an der Straße, einfach überall. Kein einziges Fleckchen ohne Menschen. Ausgemergelt, zerlumpt starrten sie dem Auto nach. Kinder mit aufgetriebenen Bäuchen, barfuß und mit stumpfen Augen. Selten, nur in den größeren Orten, ein Laden oder eine Straßenküche. Es wurde Abend, als er in Kibuye ankam. Der gewaltige Kegel des Nyiragongo war von Nebelschwaden umgeben. Dunkelrot fächerten sich darüber die Wolken. Leicht kräuselte ein Abendwind die Oberfläche des Kivu-Sees. Von den hochherrschaftlichen Villen am Ufer standen nur noch die angekohlten Grundmauern. Die lila Blüten der Jakarandabäume davor erschienen ihm wie ein Hohn. Morgen sollte er den General interviewen. Er entschloss sich, von hier aus das Schiff zu nehmen. Die Strecke am Seeufer entlang war schlecht in Schuss. Als Tom am frühen Morgen den alten, verrosteten Dampfer bestieg, fragte er sich allerdings, ob die Entscheidung so gut war. Er war beileibe nicht der Einzige, der diese Idee gehabt hatte. Menschenmassen drängten sich zwischen den Stoffballen, Töpfen, Maniokschüsseln und Bananenstauden. An den Füßen zusammengebundene Ziegen, Hühner und Schweine lagen dazwischen herum und hofften, dass ihnen niemand auf den Bauch trat. Frauen köchelten Tee, säugten Babys, schwatzten und grillten Affen und Waldantilopen. Es stank scharf versengt. Die Tiere wurden im Ganzen geräuchert, von Kopf bis Fuß und mit Fell. Tom fand ein freies Eckchen an Deck und sah über die still daliegende Wasserfläche, hinüber zu den bergigen Ufern, auf denen die Bananenhaine grün leuchteten. Das Wasser des Kivu-Sees 110
schwappte an den Bug, und die Sonne schlug erbarmungslos zu. Er zündete sich eine Zigarette an und sog gierig den Rauch ein. Von weitem sah er zwei, drei weißhäutige Gesichter. Sicher Geschäftsleute. Wer sonst nahm die Strapazen in der noch immer unsicheren Gegend schon auf sich. Sie fuhren an der Idjwi-Insel entlang. Das Schiff steuerte sie an, um einige Passagiere abzusetzen. Ein Weißer mit hellem Strohhut sprang ungelenk an Land, nur eine kleine Tasche unter dem Arm, und verschwand schnell unter den Eukalyptusbäumen. Der Albino? Was wollte er nur, da gab es doch nichts zu holen. Ein paar Stunden später durchzitterte ein Rums den Schiffskörper. Sie hatten angelegt. Tom ließ sich vom Strom der Hinausdrängenden mittragen. Zwei, drei Helfer hatten zugepackt und die Taue des Bootsmanns aufgefangen, um sie an den Zementpollern am Ufer festzuzurren. Unerfindlich, wozu ein drittes straff gespanntes Seil ins Wasser hing. Tom beugte sich über die Reling. Die Tiefe schimmerte dunkelgrün, und er fragte sich, was für eine Tierwelt dort unten regierte. Er hatte von einhundert Kilo schweren Fischen gehört. Das Seil führte geradewegs nach unten. Hatten sie ein Fischernetz festgemacht? Eigentlich egal, sagte sich Tom, aber irgendwie ließ es ihm keine Ruhe, berufsbedingte Neugierde. Er fragte nach dem Kapitän. Endlich hatte er sich zu ihm durchgekämpft. »Akili, grüß dich, du bist es! Lange nicht gesehen, wie geht es dir?« Tom lachte laut, wie es sich hier gehörte, wenn man einen Freund wieder sieht. Er hatte ihn kennen gelernt, als er noch davon träumte, Kapitän zu werden. Akili stimmte in das Gelächter ein. Er ergriff Toms Hand mit beiden Händen und schüttelte sie. »Wie schön, dich wieder zu sehen!« Tom wies auf das Seil. »Zieht ihr ein Schleppnetz mit, oder was bedeutet das hier?« 111
Akili schürzte die Lippen. »Keine Ahnung. Schaun wir es uns mal an.« Gemeinsam zogen sie langsam und mühevoll Stück für Stück das Seil hoch. Tatsächlich tauchte ein Fischernetz an der Wasseroberfläche auf. Nur, dass keine Fische darin waren. Stattdessen starrten Igors aufgerissene Augen durch die Maschen. Tom wurde übel. Igor war sorgfältig in Einzelstücke zerteilt worden. Eines davon, eine Hand, umklammerte eine Kalaschnikow. Hier war es so üblich, den Toten eine Erinnerung an ihren Berufsstand mitzugeben, wenn sie sich zu den anderen Ufern aufmachten.
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Kribi »Das Auto ist in einem tadellosen Zustand. Vier Reifen, schöne Ledersitze, manchmal geht sogar das Licht. Wenn es will. Das Auto hat Charakter.« Der Autohändler schlug bekräftigend gegen die Tür, und Ada fragte sich besorgt, wie die das wohl aufnehmen würde. Sie blieb standhaft. Das Gefährt sah verlottert aus. Die beschriebenen Bestandteile wies es allerdings auf. Ada schlug vor, nachzusehen, ob ein Motor unter der verbeulten Haube steckte. Das hatte er nicht erwähnt. Bruno, der das Auto organisiert hatte, saß angespannt hinter dem Steuer, seine schwarze Mähne stand wirr um den Kopf. Er musste seinen persönlichen Rekord im Zigarettenkonsum im Auge haben. Dass er den Zündschlüssel herumdrehte, hatte außer einem unguten Knirschen keinerlei Folgen. Der Händler grinste, kratzte sich am Kopf, öffnete mit Mühe die Motorhaube und versenkte seinen Oberkörper. Er bastelte herum, sein schwerer Bauch hing über den Kühler. Ächzend zog er Besorgnis erregend viele Teile heraus, die sich seiner Meinung nach als überflüssig erwiesen hatten. Sie warteten. Ungeduld zu zeigen, wäre wenig hilfreich in einer Gegend, wo jede Form von Hektik als lächerlicher Unfug angesehen wurde. Der Mann klappte mit einem befriedigten Gesichtsausdruck die Motorhaube zu, dass es nur so schepperte. »C’est ça!« Er wischte sich die Hände an einem Lappen ab und gab Bruno wohlgemut mit seinem Doppelkinn ein Zeichen, den Motor anzulassen. Er lief anstandslos mit einem tief brummelnden, 113
beruhigenden Ton. Sie kauften dem jetzt sehr gut gelaunten Autohändler noch zahlreiche Ersatzteile ab, inklusive Werkzeugkasten. »Lässt sich in Yaoundé problemlos wieder verkaufen«, meinte Bruno optimistisch. Volltanken, auch den Ersatzkanister. Ada fühlte sich an ihre Saharadurchquerungen erinnert. Der zufriedene Händler winkte ihnen lange nach, als sie losratterten. Bruno äugte ständig besorgt umher, so wie das Ada schon aus Yaoundé gewohnt war. Das Auto stampfte anstandslos die vielen Hügel hinauf und in Täler hinunter. Sanfte Landschaft. Der Weg führte durch grüne Bananenhaine. Dann wechselten sich Kaffee- und Kakaoplantagen mit Buschland ab. An jedem der Polizeiposten, die, wie üblich, recht häufig auftraten, streckte Emma ihren imposanten Kopf heraus und sagte nur einen Satz. Die Uniformierten waren zufrieden, winkten sie äußerst höflich, fast ehrerbietig durch und verlangten nicht einmal den überall gängigen Obolus. »Was sagst du denn? Eine Zauberformel?« »So könnte man es nennen. Wir sind auf dem Weg zu meinem Schwager.« »Bitte?« »Der Name ist der des gefürchtetsten Juju-Mannes der ganzen Region.« »Meinst du, das kann man sich bei so einem Typen leisten? Womöglich rächt er sich«, gab Ada zu bedenken. »Ich bin nicht von hier. Über mich hat er keine Macht.« Das kleine Dorf der Weberinnen lag wie ausgestorben da. Sie begegneten keiner Menschenseele. Erst am Ende des Ortes stießen sie auf einen alten Mann, der auf einer Bank vor seiner 114
Holzhütte saß. Sie grüßten ehrerbietig, wie es sich einem Menschen seines Alters gegenüber gehört. Bruno erging sich in wohlformulierten Höflichkeiten, die der Alte würdevoll erwiderte. Ja, er fühlt sich hier prächtig. Er sitzt vor seinem eigenen Haus, hat Tabak und genießt die wunderbare Nachmittagsstimmung. Er ergötzt sich an dem Vogelkonzert, und bald kommt eine seiner Töchter und wird ihm etwas gebratenen Affen oder Kröte bringen. Denn heute ist ein besonderer Tag. Ein Enkelkind ist geboren, und alle sind bei der jungen Mutter und bringen ihr Geschenke. Seife oder Stoffe. Ihnen geht es gut. Nein, die Anzahl seiner Kinder kennt er nicht so genau. Da müsste man seine Frau fragen, jedes Jahr hat sie ihm eins geboren, viele Jahre. Zahlen sind nicht seine Sache. Er lachte. Aber seine Frau lebt schon lange nicht mehr. »Die Weberinnen sind nicht mehr da«, erklärte er dann auf Adas Nachfragen. »Ihre Kunst hängt von dem Zauber ab, der in dem Wald herrschte. Und seit es den Wald nicht mehr gibt, ist auch der Zauber gegangen.« »Wo sind sie jetzt hin?« »Dahin, wo der Zauber ist.« Sie fuhren durch weitläufige Kakaoplantagen. Die Piste war passierbar. Gerade so. Bipindi, ein winziger Ort, aber eine Straßenküche. Die schweigsame Köchin hob den Deckel eines riesigen schwarzen Kessels, aus dem Dampfwolken und ein strenger Geruch aufstiegen. Es gab keine große Auswahl. In einer dunklen Soße schmorte Krokodilfleisch. »Friss oder werde gefressen«, meinte Emma. Bruno knabberte einen Zwieback und sah grämlich aus. Um den Hals baumelte sein speckiger Lederbeutel, der Kostbarkeiten bergen musste. Er legte ihn jedenfalls nie ab. Schon seit Jahren nicht, befürchtete Ada, nach dem Zustand des schmuddeligen Dings zu urteilen.
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Die Hitze lastete dumpf, schnürte den Atem ab, fesselte die Kräfte mit bleiernen Stricken. Als sie über eine Brücke holperten, die nur noch aus längs verlaufenden Eisenträgern bestand, sackten sie ruckartig ab. Stillstand. Sie stiegen aus dem Auto. Es sah nicht gut aus. Die beiden Vorderreifen waren bis zur Hälfte zwischen die Metallstangen gerutscht, die sie umklammert hielten. Eine stahlharte Falle. Der Motor jaulte, lief heiß. Und gab auf. Schieben, vorwärts, rückwärts. Nichts ging. Sie holten sich starke Äste, setzten an und hebelten. Wirkungslos. Seltsamerweise hielten sich die Leute aus dem Dorf fern. Selbst die sonst immer und überall neugierigen Kinder kamen nicht angerannt. Sie sahen sich verwundert an. Emma ging los, um jemanden um Hilfe zu bitten. Ein Kronenkranich hatte sich am Ufer niedergelassen. Er hob majestätisch sein Haupt und sah verächtlich herüber. Es dauerte nicht lang, da war Emma wieder da. Allein. »Da vorne, vor der Brücke, ist ein Stein mit deutscher Inschrift: Erbaut 1909. Vielleicht sehen sie es als eine Sache an, die ihr unter euch abmachen müsst.« Bruno grinste hämisch. »Nun, meine liebe Ada, du hast doch sonst immer so schlaue Ideen. Also, raus damit, was machen wir jetzt?« »Lass mal Luft ab!« »Musst du eigentlich immer so zickig sein?« »Luft, nicht Dampf.« Sie öffneten die Ventile, und Bruno meinte, dass er das ohnehin gerade machen wollte. Sie hebelten vorn und hievten an, klemmten sich hinter das Auto und schoben. Nach einer ewigen Plackerei rumpelten sie endlich über die heißen Eisenstangen von der Brücke herunter. Die Sonne sackte ab und verschwand schleunigst. 116
Vor ihnen dehnte sich ein grünes welliges Meer. Der schmale Pistenstreifen war kaum noch zu erkennen. Es roch nach modriger Erde, nach Laub und nach Verwesung. Die heißfeuchte Luft waberte in Schwaden um sie herum. Die Kleidung klebte nass am Leib. Ada fühlte sich wie hineingeworfen in einen alles verschlingenden Organismus. Als griffen die fasrigen Lianenarme nach ihr, um sie zu fesseln und Fleisch fressenden Pflanzen als Opfer darzubieten. Sie suchten sich eine glatte und trockene Stelle in der Nähe des Flussufers und schlugen das Zelt auf. Im fahlen Mondlicht leuchteten weiße Stämme. Irgendwelche Nachtvögel machten einen höllischen Lärm. Auf einmal wurde es ganz still, als hätten sie sich geeinigt. Ada war, als laste ein schwerer nasser Sack auf ihrer Brust. Sie wünschte, sie wären schon in Lolodorf. Ohne diese verfluchte Brücke hätten sie es heute wie geplant geschafft. Die Geräusche der Nacht waren undefinierbar. Irgendwo wurden Trommeln geschlagen. Sie klangen nicht festlich und schon gar nicht beruhigend. Sie klangen bedrohlich. Dann fielen hohe Stimmen ein. Der Gesang schwoll an und kam näher. »Die Zeremonie eines Geheimbundes«, meinte Emma und verzog sich ins Zelt. »Ich nehm die schönen Ledersitze. Wünsche eine angenehme Nachtruhe!« Bruno klappte die Vorderbank herunter und ließ die Tür ins Schloss knallen. Ada blieb noch eine Weile draußen sitzen. Die Frauen mussten direkt vor ihr den Weg entlangziehen. Sehen konnte sie nichts in der absoluten Finsternis, sie hörte nur das Auf- und Abschwellen der schrillen Stimmen. Im Gras blinkten die rötlichen Augen von Alligatoren, die sich langsam, aber stetig näherten. Wahrscheinlich wollten sie ihre kürzlich verzehrten
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Artgenossen rächen. Sie seufzte. Es versprach, alles andere als eine angenehme Nacht zu werden. Sie krabbelte zu Emma ins Zelt. Die drehte sich hin und her und stöhnte leise im Traum. Ada rollte sich am Eingang des kleinen Zeltes zusammen, sie konnte die Enge nicht ertragen. Es ließ sich schwer atmen. An Schlaf war nicht zu denken. Irgendwann fiel sie in einen unruhigen Halbdämmer, aus dem sie plötzlich hochfuhr. Ihr war, als hätte sie etwas gehört. Aber nur der Herzschlag pochte ihr rauschend in den Ohren. Dann findet sie sich mitten im Wald wieder, unter einem gewaltigen Baum, ohne zu wissen, wie sie dahin gekommen ist. Sie spürt, dass sie nicht allein ist. Der Mond schickt ein fahles, gespenstisches Licht in Streifen durch das Dickicht der hohen Baumkronen. Es löst sich ganz in der Nähe jemand von einem umfangreichen Stamm, an dem er gelehnt haben musste, ein Schatten, und kommt mit langsamen Schritten auf sie zu. Ada will wegrennen, schreien. Sie steht wie festgewurzelt. Die vollkommene Lautlosigkeit hat etwas Erstickendes. Das Gesicht ist im Mondlicht noch ausgeblichener als bei Tag, so, als sei der Mann eine lebende Leiche, ein Zombie. Mit einer enormen Kraft- und Willensanstrengung gelingt es ihr, ihre Kiefermuskeln zu lösen, die vor Anspannung ineinander verkrampft sind. »Was wollen Sie, Zander?« Das Sprechen bereitet ihr eine unendliche Mühe, aber die Tatsache, dass es ihr gelingt, erleichtert sie sehr. Jetzt hat sie die Situation in der Hand, wird ihr klar. Der Mann antwortet nicht. Hat nur ein höhnisches Grinsen im Gesicht. Ein paar Stunden musste sie doch geschlafen haben. Es dämmerte. Sie fühlte sich noch erschlagener als am Abend zuvor. Als sie ihren Kopf aus dem Zelt steckte, stieß sie gegen ein unappetitliches Bündel, das am Eingang baumelte. Sie fuhr 118
zurück. Ein stechender Geruch stieg ihr in die Nase. Knochen, an denen Hautfetzen klebten. Teile eines Skorpions, ein Hauer, vielleicht der Zahn eines Löwen, eine blutverkrustete Feder. Vodou kannte sie aus Benin. Das hier war kein Gris-Gris eines wohlwollenden Unbekannten. Das hier war schwärzester JujuZauber. Ada fuhr sich über das Gesicht. Das hatte sie in der Nacht also gehört. Abgesandte der Vodougesellschaft. Sie beobachtete Bruno, der mit konzentriertem Gesichtsausdruck versuchte, den kleinen Gaskocher in Gang zu bringen. »Die ganze Zeit ist doch schon irgendetwas faul. Was geht hier vor?« Bruno antwortete nicht. Nur die Urwaldvögel keckerten, kicherten und pfiffen. Der Kaffee war schwarz, heiß und süß. Sie pumpten die Reifen auf. Ada riss eins der monströsen Farnblätter aus und packte damit das Juju-Bündel, schleuderte es in Richtung Fluss, auf dass sich die Krokodile daran den Magen verdarben. Wenige Kilometer hinter Bipindi begann dichter Urwald. Der Wald war undurchdringlich, schloss sich gleich neben dem schmalen Weg wie eine Mauer. Manchmal kamen sie an kleinen Ortschaften vorbei. Wenige Häuschen aus Bambusstangen und Lehm mit Blättern gedeckt. Manchmal sahen sie deren kleine Bewohner mit den feinen Gesichtszügen. Ada fotografierte. Die Stimmung war seltsam traumhaft und schön. Nach wenigen Kilometern gabelte sich die Piste, und sie bogen scharf links ab. Richtung Lolodorf, da war sich Bruno sicher. Offensichtlich war dies auch eine Strecke der Holzhändler nach Kribi. Auf der breiten Schneise jagten Maschinen wie Ozeandampfer entlang. Sie hatten übermannsgroße Ballonreifen, die ihre Kiste mühelos zerquetschen konnten wie eine Waldameise. Der ohrenbetäubende Krach dröhnte ihnen schon von weitem entgegen. Kein Problem, rechtzeitig ganz an den 119
Rand auszuweichen. Baumstämme von enormem Umfang wurden geschleppt. »Da sieht mans mal wieder … Hier wird schnell rausgeholt, was irgendwie Wert hat, bevor es andere tun. Sipo und Sapelli, die wertvollen afrikanischen Mahagoniarten, Iroko, Bongossi. Sieh mal da!« Bruno drehte sich zu Ada um und wies auf eine Gruppe Bäume mit breit gefächerter Krone hin. »Das sind Schirmbäume, man nennt sie Musanga. So genannter Sekundärwald. Der wächst, nachdem die ursprüngliche Vegetation zerstört worden ist.« Eine kleine Waldlichtung öffnete sich vor ihnen. Niedrige runde Blatthütten waren so angepasst an ihre Umgebung, dass man sie von weitem gar nicht vom Wald unterscheiden konnte. Auf winzigen Flächen um die Hütten herum wurden Maniok und Bananen angebaut. Sie hielten und stiegen aus. Ein zarter, kaum einsvierzig großer Mann kam ihnen lächelnd entgegen. Mit einer Geste lud er sie in seine Hütte ein. Im Halbdunkel erkannte Ada die Konstruktion von Lianen und Ruten, an denen große Blätter befestigt waren. Ein Bett aus zusammengebundenen Ästen war mit Baumrinde und Gras bedeckt. Über einer kleinen Feuerstelle in der Ecke hingen Töpfe, eine Pfanne und getrocknete Früchte. Nach der Besichtigung setzten sie sich vor die Hütte auf eine schmale Holzbank. Ada betrachtete das scharf geschnittene Gesicht ihres Gastgebers. Er gestattete Ada mit würdiger Kopfbewegung, Aufnahmen zu machen. Ein Speer und Pfeil und Bogen lehnten an der Wand. Auf dem Boden lagen meterlange engmaschige Netze aus Lianenfasern. Ada musste unwillkürlich nach Luft schnappen. Wer da drin festsaß, war nicht zu beneiden. Der Jäger bemerkte Adas Blick und wickelte eins der Netze auseinander. Es war rund einen Meter breit und um die fünfzig Meter lang. Bei der Treibjagd wurden zwanzig oder dreißig Netze an Haken im Unterholz befestigt, sodass große Halbkreise entstanden. Frauen und Kinder trieben das Wild durch den Lärm, den sie mit ihren 120
Stöcken veranstalteten, in die Netze. Die Männer warteten, mit Speeren bewaffnet. Am Ende der Jagd wurde das erlegte Wild unter den beteiligten Familien aufgeteilt. Emma erklärte, was er vorführte. Bruno bot Tabak an, und alle außer Ada stopften sich ein Pfeifchen oder drehten sich eine Zigarette und qualmten. Ada saß neben dem kleinen Mann, und sie sahen sich freundlich an. Dann erhoben sie sich, lächelten und nickten sich zu, als wären sie nach langer und ergiebiger Diskussion zu einer fruchtbaren Schlussfolgerung gelangt, und verabschiedeten sich voneinander. Sie waren erst eine kurze Strecke gefahren, da entdeckten sie frisch geschlagene Giganten. Die Stämme, zwei Meter dick, hatten beim Umfallen viele kleinere Bäume mitgerissen. Ada stoppte und nahm ihre Leica. »Um die siebenhundert Jahre alt«, stellte Bruno fest. Dann fuhren sie weiter. Wieder dröhnte ein Timberjack heran. Gewaltig türmte sich das Ungetüm zwischen den Bäumen auf. Ada lenkte scharf an den Wegrand und ging auf die Bremse. Mit unverminderter Geschwindigkeit raste der Laster ihnen entgegen. »Sind die wahnsinnig?«, schrie Emma. Als die Maschine kurz vor ihnen den Himmel verdunkelte, ließ Ada ruckartig die Kupplung los. Der Wagen schoss mit einem gewaltigen Satz zwischen zwei Stämmen hindurch. Krachend landeten sie an einer großen Brettwurzel. Unbeeindruckt fauchte der Holztransporter weiter und war schnell verschwunden.
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17 »Sipo«, meinte Bruno sarkastisch und sah an dem hohen Stamm empor, als sie sich aus der verbeulten Kiste gequält hatten. Ada hatte es erst einmal die Sprache verschlagen. Emma nicht. »Solche Idioten! Die wollten uns wohl umbringen. Haben die uns denn nicht gesehen?« »Wenn sie uns nicht gesehen hätten, hätten sie uns wohl kaum umbringen wollen.« Ada sah verblüfft Bruno an. »Du glaubst doch nicht im Ernst …« »Was denn sonst? Die scherzen hier nicht, sag ich dir!« Bruno betrachtete das Autowrack, dessen vorderer Teil böse zerquetscht war. Es hatte sich in den Wurzeln verkeilt, so, als hätte der Baum sich das Auto einverleiben wollen. Die Affen veranstalteten einen höllischen Spektakel. Es klang wie ein wahnsinniges Gelächter, als hätten sie lange nicht so etwas Lustiges gesehen. Schnell bildete sich eine Öllache, die an der Wurzel entlangkroch. Es war vorbei. Sie saßen mitten im Dschungel fest. Emma mühte sich, den Kofferraum zu öffnen, und holte die Rucksäcke heraus. Sie verstauten ihre Utensilien und luden sie sich auf den Rücken. Bruno packte den Wasserkanister, und los ging es, immer die schmale Piste entlang. »Eins steht fest«, sinnierte Bruno, »die wussten doch schon längst, dass wir hierher kommen. Das hängt mit Pierre Bernard zusammen. Autounfall, es gibt schließlich keine Zeugen. Die hoffen bestimmt, dass wir uns das Genick gebrochen haben.« Ada versuchte, in Emmas Miene zu lesen. Neigte sie auch zu dieser abenteuerlichen Variante ihres verfolgungswahnsinnigen 122
Begleiters? Aber ihr Gesicht verriet nichts. Schön und klar war es, wie das einer antiken Statue. Sie wirkte unanfechtbar, als könnten ihr solche Winzigkeiten nun wirklich nichts anhaben. Emma betrachtete mit kritischem Blick das kleine Stück Himmel über ihnen, das zwischen den Baumwipfeln hindurchschien. Aus dem hellen Blau wurde ein dunkles Grau, dann ein tiefes Schwarz. Die kreischenden Tiere des Waldes verstummten so plötzlich, als hätte jemand den Ton abgedreht. Kurz darauf zerriss ein Trommelwirbel die Luft, als säßen sie in unmittelbarer Nähe einer Big Band. Ada ging fast in die Knie vor Schreck, denn sie hatte sich gerade in die Verschwörungsfantasien und Mordtheorien von Bruno versenkt. Grelle Blitze zuckten über ihnen. Unmittelbar darauf brach der Himmel unter dem Gewicht der Wassermassen zusammen. Es regnete nicht. Donnernd kam eine Flutwelle herabgestürzt. Sie flüchteten sich unter eine breit ausladende Baumkrone und warteten ab. Die krachenden Donnerschläge erschütterten ihr Trommelfell. In einer Unwetterpause pfiffen unbekannte Waldbewohner gellend. Ada hatte noch die besorgte Stimme ihrer Großmutter im Ohr, als sie das letzte Mal mit ihr telefoniert hatte. »Pass auf dich auf, mein Liebes! Ich hab so ein dummes Gefühl. Neulich Nacht hab ich vom Dschungel geträumt und von einem bösartigen Zwerg. Ich bin mit dem Gedanken aufgewacht, dass du diesmal nicht so glimpflich davonkommst. Lass diese Reise nach Kamerun ausfallen. Komm nach Hause. Man soll auf Vorahnungen immer hören!« Aber Ada hatte nur gelächelt und es auf die Ängste ihrer Großmutter geschoben, ihr einziges Enkelkind auf dem ihr unbekannten Kontinent zu verlieren. Schon lange wollte Ada sie einmal auf eine Reise mitnehmen, ihr das Afrika zeigen, das sie kannte. Eins ganz ohne bösartige Zwerge. Sie musste nur noch ein paar lukrative Aufträge an Land ziehen. Wenn ihre Großmutter erst einmal hier war, diese Landschaften und Gerüche kennen gelernt, die fantastische tropische Flora, die sie so liebte, erst einmal in Natura gesehen, und wenn sie, wie das bei ihr 123
überall der Fall war, erst einmal Freunde gefunden hatte, mit denen sie stundenlang diskutieren konnte, dann würden sich ihre bösen Vorahnungen verflüchtigen. Ada sah wieder den Laster auf sich zujagen. Oder hätte sie vielleicht doch auf die Großmutter hören sollen? Ein neuerlicher Knall, der einen Baum in der Nähe gespalten haben musste, riss sie aus ihren Träumen. Einfach viel zu spät, sich auf Vorahnungen zu besinnen. Wenig später stiegen Dampfschwaden von den feuchten Blättern auf, und sie liefen weiter. Wieder schwor Bruno, dass links lang richtig wäre, als die Schneise der Holzfäller von einer kleinen Piste gekreuzt wurde. Er richtete sich nun mal wie jeder ordentliche Pfadfinder nach der Sonne, und Lolodorf lag im Osten. Allerdings wurde die Piste mit der Zeit immer schmaler. Es wurde langsam schwierig zu entscheiden, ob das ein Weg war, der irgendwohin führte, oder ob er nicht plötzlich von der brodelnden Vegetation einfach verschluckt wurde. Ada schmerzte der Rücken unter dem Gewicht ihres Rucksacks, jeder Schritt wurde mühseliger. Vor ihnen turnte eine muntere Gruppe Meerkatzen in den Zweigen. Sie schienen sich über die ungelenken Zweibeiner lustig zu machen. Inzwischen waren sie in dichtem Regenwald angekommen, dessen Blätterdach nur noch höchstens ein Hundertstel des Sonnenlichtes durchscheinen ließ. Alles tropfte, duftete und wucherte in geradezu unanständiger Manier. Die feuchte Wärme provozierte gewaltige Ausmaße alles Pflanzlichen. Ada stand unter Riesenfarnen und blickte an den von Flechten und Moosen überwucherten Brettwurzeln eines der Urwaldbäume empor. Dickicht und brüllende Affen, ein Chamäleon auf einer Stelzwurzel. Ada wurde das beklemmende Gefühl nicht los, sich im Kreis zu bewegen. Immer nur diese wabernde Vegetation, die sich wie ein Lebewesen enger und enger um sie zusammenzuziehen schien. Die grüne Masse schloss sich über ihren Köpfen, ein undurchdringliches Gewirr aus Lianen, Zweigen und Blättern. Ada hatte das unwirkliche Gefühl eines 124
intensiven Traumes. Sie ging in einem lebendigen Tunnel voller unbekannter Pflanzen und Tiere. Dass hier die Geisterwelt höchstselbst zugegen war, lag nahe. Das wilde Kreischen der Affen verdichtete sich zu einem bedrohlichen Geheule. »Wenn diese Affenhorden sich zusammentun und uns angreifen, haben wir keine Chance«, stellte Ada fest. »Wollen wir hoffen, dass sie das nicht wissen!«, bemerkte Emma. »Kann nicht mehr weit sein bis Lolodorf«, glaubte Bruno. Da stieß Emma einen Schrei aus, der in den Ohren wehtat. Vor ihnen, an einem der dicken Äste, der über den Weg ragte, baumelte ein großer dunkler Körper. Leicht schwang er hin und her, als hätte sich jemand den Scherz erlaubt, einen frisch Erhängten umherzutrudeln. Bruno betrachtete den Gorilla. »Verfluchte Wilddiebe!«, wütete er. »Glaub kaum, dass das Wilderer waren.« Emmas Stimme klang rau. Sie wies auf den Hals des dicken Tiers. Eine Schlinge, wie das ordentlich vorbereitete Seil eines Selbstmörders, lag ihm um den Hals. Stundenlanger, quälend langsamer Marsch brachte nichts weiter als die Erkenntnis, dass ihnen wieder eine Nacht im Dschungel bevorstand. Ada tanzten kleine schwarze Flecken vor den Augen wie ein aufdringlicher Fliegenschwarm. Die Kehle war ausgedörrt. Die Kleidung dafür zum Auswringen. Die Schultern ein Bündel Nervenstränge, von denen die Schmerzen in Intervallen in alle übrigen Körperteile schossen. Die Füße brannten. Nur immer vorwärts, einen Schritt, noch einen. Alles um sie herum schien mehr und mehr zu verblassen. Wurde mit der Zeit unwichtig. Eine fast heitere Gelassenheit stellte sich ein. Eine Folge des Juju-Bündels? Jetzt waberten weiße Wölkchen durchs Bild. Sie stolperte über eins, landete der Länge nach auf 125
dem Bauch und überlegte, ob sie nicht einfach so liegen bleiben könnte. Eine große schwarze Gestalt vor ihr winkte mit langen Armen und rief etwas mit Emmas Stimme. Ada rappelte sich auf und wankte weiter. Sie stiefelte durch das Dickicht. Nur hartes und faseriges Gestrüpp. Plötzlich riss es ihr die Füße weg. Sie flog nach hinten, knallte mit dem Kopf gegen einen Stein. Es ging abwärts. Nachrutschendes Geröll prasselte auf sie nieder, als sie kurz von einem Baumstumpf aufgehalten wurde. Dann wurde der Abhang steiler, der Fall immer schneller. Mit rasender Geschwindigkeit ging es durch Dornengebüsch. Sie sah schwarz. Pochende Kopfschmerzen, Übelkeit. Sie torkelte durch das All, in Kreiselbewegungen. Kurz kam ihre Großmutter vorbeigesegelt, dann erkannte sie Tom. Nein, niemand da. Nichts als Finsternis. Ein Heulen und Schreien um sie herum. Dann stand sie oben auf einem Gipfel im Schnee, über sich wolkenlos blauer Himmel. Die Luft würzig und klar, ihr Körper leicht wie eine Feder. Zum Abheben. Sie stürzte vornüber ins Nichts. Ein Summen und Singen. Könnte das Jenseits sein. Nein, die schmerzenden Knochen sprachen dagegen. Auch ein Wimmern und Schluchzen passte irgendwie nicht ins Bild. Wo war sie gelandet? Ada bekam endlich die Augenlider auseinander, hievte sich hoch und sah sich um. Nicht weit von ihr entfernt saß Bruno auf der Erde, die Hände vors Gesicht geschlagen, und heulte, fassungslos, wie ein Kind. Emma kam zu ihr, ganz fahl im Gesicht. »Bist du okay?« »Ja, ja, bin wieder da. Was ist mit Bruno passiert?« »Nichts. Mit ihm nichts.« Nicht weit von Bruno entfernt hing ein großer, gekrümmter Körper. Das, was einmal ein Mensch gewesen war, steckte in einem engmaschigen Netz aus Lianen, umschlungen, 126
umwuchert, wie eingewachsen. Die Füße waren von eisernen Klauen umklammert. Wer weiß, wie lange er so festgesessen hatte, ehe er starb. Es musste schon einige Wochen her sein. Verschiedene Tiere hatten ihn inzwischen teilweise vereinnahmt. Ein abscheulicher Geruch ging von dem halb verwesten Leichnam aus. Das Gesicht war so entstellt, dass man unmöglich seine ursprüngliche Form ausmachen konnte. Reptilien, Insekten und allerlei wirbelloses Volk ergingen sich in einem danse macabre. Ada stöhnte. Sie hatte nie im Leben etwas annähernd Grässliches gesehen. »Eine eiserne Gorillafalle. Da kann keiner raus, schafft nicht mal ein Elefant.« Emma hauchte es nur leise.
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Yaoundé Dr. Fronmüller stand vor seinem Schreibtisch und sah voller Befriedigung auf die Fotos, die an der Wand darüber aufgereiht waren. Seine Laufbahn. Er konnte zufrieden sein. Besonders dieses eine Foto, auf dem er mit dem Staatschef Kameruns posierte, hatte es ihm angetan. Im Hintergrund einige wichtige Politiker und Wirtschaftsleute. Er ging ein Stück näher heran. Dieser eine Weißhaarige, woher kannte er den denn eigentlich? In seinem Rücken öffnete sich die Tür. Amanda, seine Sekretärin, wie oft hatte er ihr schon gesagt, sie solle anklopfen? Tausende Male. Gereizt fuhr er herum. »Entschuldigen Sie mein unerhörtes Eindringen, Dr. Fronmüller. Aber ungewöhnliche Umstände erfordern nun mal ungewöhnliche Maßnahmen.« Genau der, den er eben auf dem Foto grüblerisch betrachtet hatte, stand in einem weißen Anzug und mit weißem Strohhut vor ihm. Er musste eine ganz besondere Vorliebe für Weiß haben. Konsequent, der Mann, fuhr es Fronmüller durch den Kopf. Als Albino. Nur die Luger war schwarz. Sie zielte auf Fronmüllers nicht unbeträchtlichen Bauch. »Was soll das? Was wollen Sie von mir?« Dicke Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn, und er schnaufte, während er sich mögliche Fluchtwege durch den Kopf gehen ließ. Schreien? Wo war Amanda? Wenn man sie brauchte, war sie nie da. Sag ich doch … Er musste sich zusammenreißen. Zander hatte die Tür in seinem Rücken leise wieder geschlossen. Höflich fuhr er fort: »Ich schlage vor, wir beide 128
verlassen jetzt dieses Büro, setzen uns in mein Auto und fahren zu einem kleinen Gespräch ins Grüne. Und bitte: Bewahren Sie Contenance. Ich werde sonst nervös, und dann zuckt mein Zeigefinger manchmal ganz unkontrolliert.« Fronmüller begann völlig unvernünftig zu hoffen, er befände sich in einem Albtraum. Aber der Schweiß, der ihm jetzt von den Achselhöhlen herabfloss, und das unangenehme Gefühl des klitschnassen Hemdes, das ihm auf der Haut klebte, belehrten ihn eines Besseren. Er nickte. Er konnte gar nicht mehr aufhören zu nicken. Als sie durch das leere Vorzimmer gingen, fiel ihm ein, dass Amanda ja mittags immer nach Hause ging. Zittrig nahm er in dem Wagen, der vor dem Büro geparkt stand, Platz. Zander lenkte ausgesprochen geschickt und beherrscht durch den gnadenlos wilden Straßenverkehr. Er nahm eine der Ausfallstraßen, und schon bald befanden sie sich außerhalb Yaoundés mitten in den bewaldeten Bergen. Zander schien sich hier gut auszukennen, denn er fuhr schnell einen kleinen Sandweg entlang, der immer mehr anstieg. Sie waren jetzt im Wald, und die Sonne hatte kaum eine Chance, durch das Blätterdach hindurchzukommen. Der Weg endete an einem ummauerten Gelände, in dessen Innerem sich eine geräumige Villa und mehrere kleine Nebengebäude, die von rankenden Pflanzen fast vollständig bedeckt waren, zu einem harmonischen Ganzen gruppierten. Als sie das Eisentor passiert hatten, Fronmüller ausgestiegen war und sich zwei bewaffneten schwarzen Hünen gegenübersah, gestand er sich ein, dass kein Albtraum die Szenerie so vollkommen zuwege gebracht hätte. Zwei jaulende Köter von erstaunlichen Ausmaßen bleckten die Gebisse und hatten offenbar noch nicht gefrühstückt. Fronmüller wurde sich bewusst, dass er immerzu den Kopf schüttelte, und bemühte sich, das abzustellen. Zander hatte die Luger weggesteckt und forderte ihn mit einer Kopfbewegung auf, einzutreten. Die beiden Riesen nahmen ihn in die Mitte, und er kam sich noch kleiner vor, als er ohnehin schon war. 129
Im Haus herrschte Dämmerlicht, das durch die vielen Pflanzen vor dem Fenster grün gefiltert wurde. Einer der beiden Muskelmänner schnappte ihn, verfrachtete ihn auf einen Stuhl, packte seine willenlosen Handgelenke und band sie auf seinem Rücken zusammen. Fronmüller registrierte vage, dass er sich gerade in die Hosen machte. Sein Kinn schlotterte. Zander wirkte völlig unwirklich auf ihn, mit seinem weißen Anzug in dem grünlichen Licht. »Ihnen wird nichts geschehen. Wenn Sie keine Dummheiten machen. Ich habe Ihnen nur einen Vorschlag zu unterbreiten, und dazu brauche ich nun mal Ihre ganze Aufmerksamkeit.« Fronmüller brachte nur ein undefiniertes Stottern zuwege. »Der Name Pierre Bernard ist Ihnen ja sicher schon zu Ohren gekommen. Ein Typ, der seine große Nase in Dinge gesteckt hat, die ihn eigentlich nichts angehen. Können Sie mir so weit folgen, Dr. Fronmüller?« Fronmüller konnte nicht. Er kapierte überhaupt nichts. Denn sein Verstand war voll damit beschäftigt, die ganze Situation als irreal zu klassifizieren. Da weder seine unbequeme Sitzhaltung noch die nassen Hosen zu dieser Annahme passten, musste sich sein Restverstand gewaltig anstrengen. Er entschied sich, einfach alles zu ignorieren. Und zu nicken. Der Kopf nickte also. »Nun, nehmen wir einmal an, ebenjener hätte Beweise gefunden, dass gewisse Firmen nicht nur hier in Kamerun in illegalen Tropenholzhandel, sondern auch in ganz bestimmte Rohstoffgeschäfte im Kivu verstrickt sind, was wiederum mit Waffenhandel zusammenhängt und so weiter und so weiter. Offenbar weiß er alles, die Transaktionen, die Namen, die Hintermänner. Verstehen Sie, was ich meine?« Nicken. »Aber nun ist er verschwunden. Einfach weg. Nehmen wir weiter an, jemand anderes hätte jetzt dieses Material von Pierre 130
Bernard. Nennen wir ihn der Einfachheit halber mal B. Folgen Sie mir, Herr Fronmüller?« Nicken. »B. will verkaufen. Das tut man gewöhnlich an den Meistbietenden. Und es gibt einige Interessenten, die sich das gerne etwas kosten lassen würden. Unter anderem sogar in Regierungskreisen. Das zu erklären, führt zu weit. Nun wollen Sie mich sicher fragen, wie konnte eigentlich Pierre Bernard an derart interessante Informationen gelangen? Eine gute Frage.« Fronmüller nickte unaufgefordert. »Es gibt bedauerlicherweise eine undichte Stelle. Einen Trumpf, den B. ebenfalls auszuspielen gedenkt. Jemand in einer wichtigen Position, klar. Schwächliche Charaktere, käuflich halt oder irgendwo zu knacken. Gibt es mehr, als man denkt. Stimmts, Fronmüller?« Heftiges Nicken. Die stufenweise Änderung der Anrede drang verschwommen zu Fronmüller durch, und er horchte auf. Sein Kinn, das ihm schon auf die Brust gerutscht war, ruckelte hoch. Er blinzelte durch all den Schweiß zu Zander hinüber. »Also, rekapitulieren wir: B. kann mit seinen Informationen einigen Leuten ziemliche Ungelegenheiten bereiten. Variante eins: Er tut es. Dann zieht das Kreise, dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Manche Firmen gehen pleite, manche Leute ins Gefängnis. Möglicherweise sogar deine werte Gattin. Variante zwei: Er sieht davon ab. Doch dafür will er was haben. B. will mehr als nur Geld. Er will ins große Geschäft einsteigen. So, und jetzt aufgepasst, Fronmüller, jetzt kommst du ins Spiel: Deine Gemahlin ist die Chefin einer großen Holzhandelsfirma und hat diverse Geschäftspartner. Du wirst deren Namen notieren und die Verträge, die sie mit denen abgeschlossen hat, einsammeln. Ohne dass sie etwas bemerkt, versteht sich. Wir treffen uns dann in der Rue Kitchener 39 in Douala. Den Ort kennst du ja. Dort warte ich auf dich, sagen wir in zwei Tagen. 131
Heute ist Dienstag, also Donnerstag, um Mitternacht. Im Gegenzug biete ich dir Schweigen an. Schweigen über deinen Kunstdiebstahl, den du mit Eric organisiert hast. Die kostbaren Kultgegenstände aus dem Kameruner Grasland.« Zander war nahe an Fronmüller herangetreten. »Ja, er hat mir alles erzählt, der gute Eric. Also du machst, was ich gesagt habe. Ganz einfach. Und dann vergisst du alles. Vor allem mich. Alles klar, Fronmüller? Ansonsten …«, Zander sah ihn verächtlich an. »Nun ja. Alles klar.« Er bedeutete seinen Leuten, ihn loszubinden. Valerie Dao stand vor dem zwei Meter hohen Spiegel und zog sich die Lippen nach. Als sie sich eine Perlenkette um den Hals legte, beugte sie ihr Gesicht näher zum Spiegel hin. Zeigte sich da ein Fältchen? Sie ging mit dem Wattebausch noch einmal darüber. Alfred hatte sich mal wieder verspätet. Sie würde ohne ihn gehen. Vielleicht sollte sie Amanda mal anrufen, was ihr Gatte wieder trieb. Aber ohne ihn kam sie viel besser zurecht, musste nicht ständig auf der Hut sein, seinen Patzern zuvorkommen. Sicher kommt er dann verspätet dort angetrippelt und strahlt über sein ganzes rundes Vollmondgesicht. Ihre Nasenflügel blähten sich verachtungsvoll. Das stand ihr gut. Zornig sah sie immer am besten aus. Sie bog den Kopf zurück, betrachtete sich noch einmal und war zufrieden. Dann versteinerten ihre Gesichtszüge. Die Lippen bogen sich nach unten, die Stirn zerfurchte, das Make-up war ruiniert. Im Spiegel kam ihr Alfred entgegengewankt. Er war offenbar restlos blau. Und das heute, wo sie extrem wichtige Leute treffen mussten. Sie fuhr herum. Seltsamerweise kam ihr ein Satz in den Sinn, den sie selbst nicht ganz verstand. »Wir steuern geradewegs in den Abgrund.« Merkwürdig. Hatte sie das irgendwo gelesen, oder hatte es jemand gesagt? Und dann: Wieso steuern? Solange man das Ruder in der Hand hat, steuert man doch wohl in eine andere Richtung. Vielleicht war es ja das. Sie hatte das unge132
wohnte Gefühl, das Ruder nicht mehr in der Hand zu haben. Ihre wie üblich schnell arbeitenden Aufnahmeorgane hatten blitzschnell alles Ungewöhnliche registriert. Und reagierten also entsprechend. Erstens: Ihr Gatte hatte sich unübersehbar die Hosen voll gemacht. Zweitens: Er war nicht mehr Herr seiner Sinne, denn er sabberte und brabbelte unverständliches Zeug. Drittens: Er war nicht nur nicht repräsentabel, er war schlichtweg unmöglich. Viertens: Er ging ihr schon lange mehr als auf den Geist. Die Heirat mit dem Diplomaten hatte unter anderem die erhofften Geschäftskontakte zur Folge, sicher. Aber jetzt war er drauf und dran, alles wieder zu verderben. Energisch griff sie sich das Ruder und brachte das Schiff auf Kurs. Schnappte Fronmüller und setzte ihn auf ihren Stuhl vor dem Spiegel, was er willenlos mit sich geschehen ließ. Sie ahnte nicht, dass sie heute schon die Zweite war, die so mit ihm verfuhr. Dann griff sie sein Kinn, bog das Gesicht zu sich empor und verhörte ihn nach Strich und Faden. Er spuckte alles in ungeordneter Reihenfolge aus. Valerie Dao hatte verstanden, lange bevor er fertig wurde. Sie spendierte ihm ein großes Glas Whiskey und dachte kurz nach. Dann schickte sie ihn unter die Dusche.
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Lolodorf, Kamerun Er war sehr klein, sah zäh aus und lächelte immer. Emma begann eine rege Unterhaltung, von der Ada kein einziges Wort verstand außer »Hallo! Wie geht es Ihnen?« Und seinen Namen. Herr Tonko. »Wir sind hier in diesem berüchtigten Mbilebekon gelandet. Angeblich eine Schlucht, die mit einem Tabu belegt ist. Niemand wagt sich je hierher. Es sei denn, er guckt nicht hin und rauscht runter, so wie wir. Von einer Leiche weiß er nichts. Dass hier auch Gorillafallen sind, hält er für unmöglich. Das ist schließlich ein heiliger Ort. Ein Tabu auch für Wilderer. Er ist der Wächter des Ortes. Wir hätten das riesige Glück, dass er uns getroffen hat. Er kann uns von hier wegbringen. Klingt alles sehr abenteuerlich, was er so sagt. Möglicherweise ist er einfach nur verrückt. Vielleicht sollten wir ihn erst einmal dahin zurückführen.« Bruno ächzte: »Nur das nicht. Mach du das, wenn du magst.« Sie waren nach dem rasanten Absturz in den Abgrund voller Dornengestrüpp schon eine Weile herumgeirrt, bevor der lächelnde Herr Tonko plötzlich vor ihnen aufgetaucht war wie ein Waldgeist. Ada erlebte alles wie von ferne. Sie war völlig erschöpft, jeder einzelne Knochen machte sich bemerkbar, der Kopf dröhnte, als wären Presslufthämmer hinter der Stirn im Einsatz. Vor ihren Augen wurde der Leichnam weiter von Würmern perforiert. Sie stöhnte vor sich hin. Glücklicherweise setzte sich ein Fuß mehr oder weniger automatisch vor den anderen. Emma war von der Idee, den Tabuwächter mit der 134
Leiche in der Gorillafalle zu konfrontieren, wieder abgekommen. Sie wollten einfach nur noch so schnell wie möglich weg hier. »Nach Lolodorf müssten wir es in ein, zwei Stunden schaffen, meint Herr Tonko. Und er begleitet uns. Also los jetzt!«, kommandierte Emma. Herr Tonko kommentierte alles, was entlang des Weges kroch, hüpfte, flog, schlängelte oder schlich. Er kannte jeden Baum, jeden der schillernden, krummschnäbligen oder riesengroßen Vögel beim Vornamen. Jede Wanderameise und jedes Chamäleon. Jeder schrille Schrei aus einer der vierzig oder fünfzig Meter hohen Baumkronen wurde übersetzt. Nicht, dass das Ada jetzt wirklich interessierte. Abgesehen davon verstand sie kein Wort. Aber das war Herrn Tonko offenbar egal. Die feuchte Hitze staute sich unter dem dichten Blätterdach, sodass ihre Kleidung wie nasse Lappen an ihnen hing. Ein dicker Oberpavian hangelte herum und erinnerte Ada vage an jemanden, den sie kannte. Sie kam nur nicht darauf, an wen. Herr Tonko lächelte. Jetzt entdeckte er eine goldglänzende leere Konservendose am Wegrand, barg sie in seinem Hemd und lachte leise und glücklich vor sich hin. Der Pfad führte durch verschlungenes Dickicht, und Herr Tonko schlug mit seinem Buschmesser ab und zu ein Teil des Gestrüpps vor ihnen weg. Auf einmal raste er seitwärts in die Büsche. Als er wieder auftauchte, streichelte er zärtlich über die glatte Haut einer Python, die er sich um den Hals gehängt hatte wie eine Stola. Er strahlte selig. »Schmeckt am besten in klein geschnittenen Zwiebeln geröstet mit Tomatensoße«, übersetzte Emma Herrn Tonkos Rezeptvorschlag. Ada nickte. Sie stolperten weiter. Die Zeit hatte, wie der Wald, kein Ende und keinen Anfang. Sie stiefelte hinter den anderen her, ohne noch auf irgendetwas anderes zu achten, als nicht allzu 135
weit zurückzubleiben. An einer kleinen Lichtung machten sie kurz Rast, und Ada registrierte nebenher große Freude bei Herrn Tonko: Gleich zwei leere Konservenbüchsen mit bunten Etiketten, die er gefunden hatte. Ganz offensichtlich hatte er einen Riecher für diese Dinger. Eine Weile sang er nun leise vor sich hin. Als bei Einsetzen der Dunkelheit Holzhäuser im Busch auftauchten, wollte Ada ihren Augen nicht trauen. Aber es war Lolodorf. Sie hatten es geschafft. Dieudonné stand vor einer der Hütten und wartete. Er stand da, als stünde er seit geraumer Zeit so herum und könne das auch mühelos noch drei weitere Wochen tun. Als sei Warten kein Zeitverlust, sondern eine Daseinsform, die durchaus ihre Vorzüge hatte. Und als wäre es ihm schließlich völlig klar gewesen, dass sie eines Abends im milden blauen Licht in Begleitung eines kleinen, immer lächelnden Konservenbüchsenliebhabers, nach knapp überlebtem Mordanschlag geradewegs von tabubelegten Abgründen mit Leiche auftauchend, herangeschlendert kämen. Dieudonné umarmte sie. Ada lehnte sich einen Augenblick länger an ihn, als nötig gewesen wäre, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Aber er roch so gut. Nach Holzkohlefeuer mit viel Sandelholzanteil. Sie vergaß völlig, dass ihr Geruch sicher weniger angenehm war. Hier verabschiedete sich Herr Tonko. Entrüstet lehnte er das Geld ab, das ihm Emma aufdrängen wollte. Ada schüttelte ihm die Hand und dankte ihm. Aber er war jetzt ganz weit weg. Liebevoll betrachtete er seine Konservenbüchsen, die er im Arm trug wie ein Baby, und antwortete nur: »Hallo! Wie geht es Ihnen?«
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Ada fährt in einem altersschwachen, nur spärlich erleuchteten Fahrstuhl nach oben. Höher und höher. Er hält nirgends, was auch kein Wunder ist, denn es gibt hier keine Etagen. Dieser Fahrstuhl fährt, nun immer schneller werdend, einem unbekannten Ziel entgegen. Dann ein ruckartiger Stillstand. Mit einem Knall öffnet sich die Tür. Sie steht in einem engen Flur mit bunt gemusterter Tapete. Über jeder Zimmertür glüht ein rotes Lämpchen. Nummer 41, in diesem Zimmer wartet jemand auf sie. Die Tür öffnet sich von allein. Sie tritt ein und sieht schemenhaft einen maskierten Mann am Fenster, der einen Koffer in der Hand hält. Der Trick, erinnert sie sich plötzlich, besteht darin, keinen Blickkontakt zu haben. Sieht sie ihn nicht an, kann ihr nichts passieren, denn das ist der Beweis, dass sie nichts weiß. Sie kann aber nicht anders, sieht ihn an. Auch er starrt ihr in die Augen. Seine sind blutunterlaufen. Ada erwachte schweißgebadet. Auf dem Holzdach der Pension trommelte eine wütende Riesenfaust herum. Irgendwo musste die Taschenlampe stecken. Ada durchwühlte ihre Sachen, die sie am Abend achtlos auf einen Stuhl geworfen hatte. Ergebnislos. Ihr fiel ein, dass das wohl einer dieser irrwitzigen Regengüsse sein musste, der so laut prasselte. Die Taschenlampe lag auf dem Nachttischchen neben ihr. Sie hatte Durst und ging hinaus, suchte schlaftrunken die Küche. Am Ende des schmalen Flurs fand sie die blau gestrichene Tür, auf die jemand in geschwungenen weißen Buchstaben cuisine gemalt hatte. Feuchter, schimmlig riechender Dunst schlug ihr entgegen. Die rauen Dielen kratzten an ihren Sohlen, als sie nach den Wasserflaschen suchte. Etwas war hinter ihr. Sie griff ihre winzige Taschenlampe fester und fuhr herum. Der schmale Lichtstreifen fiel auf eine große dunkle Gestalt, die den Rahmen der Küchentür fast ausfüllte. Seine Stimme rollte tief aus dem Brustkorb hervor: »Na, kannst du auch nicht schlafen?« 137
Dieudonné nahm sich einen Stuhl und setzte sich rittlings an den Tisch. Das Licht streifte kurz seine Hände auf der Stuhllehne. Schöne Hände. »Nein. Das heißt, ich konnte, hatte aber Albträume von einem Menschen mit roten Augen. Die plagen mich schon länger. Zander. Wer glaubst du, war die Leiche?« »Ich glaube nichts. Ich weiß es ziemlich sicher. Pierre Bernard. Bruno hat ihn sofort erkannt.« »Ach. Ja? Er hat nichts davon gesagt.« Dieudonnés Augen glitzerten in der Dunkelheit. Er strahlte eine Stärke aus, die fast zum Greifen war. Der Regen trommelte laut und anheimelnd. Durch das offene Fenster strömte ein würziger Geruch nach Grün. »Wie ist er denn nach Mbilebekon gekommen? Er kannte doch mit Sicherheit das Tabu. Er kannte sich doch aus, kannte die Pygmäen, alle Regeln. Der stolpert doch nicht einfach in eine Gorillafalle.« »Selbstverständlich, Mbilebekon kennt hier jeder. Das war kein Unfall, das war hundertprozentig Mord. Es gibt genügend Leute, die sich vor ihm gefürchtet haben, er hat schlichtweg zu viel gewusst.« Ada sah wieder den fast verwesten Leichnam vor sich. Das Grauen sprang sie an, das die ganze Zeit im Hintergrund gelauert hatte. Dieudonné legte ihr die Hand auf den Arm. Sie atmete tief durch. »Was war so wichtig? Was soll er denn gewusst haben?« »Illegaler Tropenholzhandel, die Beteiligten, die gefälschten Konzessionen, die Schmiergelder und ihre Empfänger. Da gibts genügend, was zu wissen sich lohnt. Beziehungsweise, sich absolut nicht lohnt. Da steckt ein Schweinegeld drin. Verfluchte mörderische Geschichte.«
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Dieudonné hatte eine Kerze, die auf dem Tisch stand, angezündet und eine Flasche Whiskey hervorgezaubert. Er fand zwei Wassergläser und goss ihnen ein. »Dieses Holzgeschäft ist mir schleierhaft. Wie kriegen die denn diese Stämme weggeschafft, das sind doch keine Diamanten, die man im Necessaire über die Grenze schmuggeln kann.« Ada stieß mit ihm an und spürte es heiß die Kehle hinunter brennen. Sie wollte das Bild von Pierre Bernard wegätzen. »Auf die Ausfuhrpapiere lässt sich vieles schreiben. Ada, hier herrscht eine Mafia, die reicht durch alle Kreise und über alle Ebenen. Und über die Grenzen hinweg. Letztendlich lässt sich nichts mehr kontrollieren, wenn die Stämme erst mal auf dem Schiff sind. Die Herkunft wird verschleiert. Selbst Ökosiegel sind gekauft oder gefälscht. Und die Importländer sind nicht sonderlich an Aufklärung interessiert, die kaschieren fleißig mit. Das ist ein zu gutes Geschäft. Es gibt keine einzige Regierung auf der Welt, die klare rechtliche Regelungen in dieser Beziehung hätte. Der ganze internationale Holzhandel ist faktisch ein rechtsfreier Raum.« Es gefiel Ada, wie er ihren Namen aussprach, kurz und ein wenig rau. Ada betrachtete das großflächige Gesicht Dieudonnés, die warmen Augen und die vielen Fältchen drum herum. Ein Mann, dem man unbedingt vertrauen musste. Nicht ungefährlich. Das Licht der Kerze flackerte, und ein Schatten fiel über den Tisch. Ein kurzer heftiger Schlag, dem ein Scheppern folgte. Das Fenster war zugeschlagen, eine Scheibe krachend zu Bruch gegangen. Ada sprang mit einem Satz auf die Beine, der Boden war übersät mit winzigen Scherben. »Vorsicht!« Dieudonné war im nächsten Augenblick bei ihr und fasste sie am Arm, zog sie zurück. »Du bist doch barfuß.« Ein Windstoß ließ das Fenster wieder aufspringen. Dieudonné ging knirschend über die Scherben und machte es fest zu. Ada 139
erfasste ein intensives Déjà-vu-Gefühl. Sie schloss kurz die Augen. Dann hielt sie ihm ihr leeres Glas hin, und er schenkte großzügig nach. Sein Bein an ihrem Bein. Alles andere als unangenehm. »Nun, gehen wir schlafen?« Dieudonné berührte sie leicht am Arm. »Ich kann nicht.« »Was ist denn los?« »Mein Bett ist total durchgeweicht. Das Dach hat genau darüber ein Leck, es hat wie verrückt hereingeregnet.« Dieudonné lächelte weise. Er wusste natürlich, dass das eine Lüge war. Sein Bett war trocken und sehr schmal. Aber das war nicht schlimm.
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Douala Am nächsten Morgen waren sie sich schnell einig, dass sie ihre Tour abbrechen wollten. Niemandem stand mehr der Sinn danach. Ada hatte einige gute Fotos im Kasten, Emma immerhin einen Waldbewohner interviewt, und Bruno hatte gefunden, was er gesucht hatte. Pierre Bernard. Sie waren froh, dass Dieudonné mit dem Auto da war und sie zurück nach Douala fahren konnte. Benommen von der Hitze und mit schmerzendem Kopf dämmerte Ada vor sich hin, während Dieudonné den Jeep über die rote Piste nach Douala jagte. Sie nickte immer wieder kurz ein. Wenn sie aufwachte, sah sie die kräftigen Hände Dieudonnés am Lenkrad und schlief beruhigt wieder ein. Etwas nagte an ihr, wollte an die Oberfläche. Aber die Müdigkeit ließ es nicht zu, es rutschte weg, bevor es Gestalt angenommen hatte. Schon schlief sie wieder. Emma und Bruno hatten einträchtig ihre Schultern aneinander gelehnt und schliefen unbeeindruckt von den Schlaglöchern. Als sich alle vier am Abend wieder im Akwa Palace zum Essen trafen, wies Bruno auf einen Tisch in der Ecke des Edelrestaurants. Fronmüller speiste dort nebst Gattin. Sein brauner Hundeblick hing an Valerie Daos Lippen. Sie dozierte irgendetwas und zerlegte dabei gekonnt einen Hummer, mit gierig glitzernden Augen in dem hübschen Puppengesicht. Fronmüller führte sich bescheidene, mit Käse überbackene Nudeln zu Gemüte. Leutselig winkte er ihnen zu. Etwas stimmte nicht mit ihm, fiel Ada 141
auf. Er sah sich unsicher um, seine dreiste Selbstsicherheit hatte einen feinen Knacks bekommen. »Madame residiert hier in ihrer eigenen Villa, und er darf manchmal am Wochenende kommen. Ab und zu beehrt sie den Herrn Konsul auch in seiner Dienstvilla in Yaoundé. Nebenbei bemerkt auch keine armselige Hütte«, lästerte Bruno. Emma war heute in ein enges, leuchtend rotes Kleid gewandet, dazu krönte ein ebenso roter Turban ihr Haupt. Ihre Augen wirkten übergroß. Dicke goldene Reifen hingen schwer an Ohren und Armen. Dass sie wie immer Aufsehen erregte, schien sie nicht zu bemerken. Murmelnd drehten sich die Gäste nach ihr um, als sie mit königlichem Gebaren durch das Restaurant schritt. Auf der Suche nach einem freien Tisch kamen sie notgedrungen bei Fronmüller vorbei und grüßten kurz. Nach einigem höflichen Hin- und Hergeplänkel nahmen sie dann doch an dem runden Tisch mit Platz, der für sechs Leute wie geschaffen war. Eine knallrote Kerze flackerte in der Mitte des Tisches und verteilte kleine rote Wachströpfchen auf dem weißen Leinentuch. Leise plätscherte im Hintergrund Mozarts Kleine Nachtmusik, und Ada stellte fest, dass der größte Teil der Gäste weiß war. Sie bestellten. Ada nur einen Toast, ihr schlug die Atmosphäre auf den Magen. »Croque-Madame, s’il vous plaît«, sagte sie zu dem Kellner, der in seinem lilafarbenen, bestickten asiatischen Seidenanzug herangeglitten kam wie ein großer sanfter Schmetterling. Sehr schlank, knappe zwei Meter, mit einer hellbraunen, matt schimmernden Haut, mandelförmigen langwimprigen Augen und schwarzem geflochtenem Zopf, der ihm bis auf die Hüfte fiel. Er blickte Ada tief in die Augen und entgegnete mit samtener Stimme: »Sind Sie ganz sicher, dass Sie nicht doch ein Croque-Monsieur wollen?« Mit einem gelben Fächer in seinen langen, zartgliedrigen Fingern wedelte er unsichtbare Krümel vor ihr hinweg. 142
Frau Dao war mit ihrem Hummer fertig geworden und bedachte Ada mit dem gewohnten Blick, der irgendwo zwischen kritischem Argwohn und Langeweile lag. Ada hielt die Beschreibung von ihrem Fund in der Gorillafalle knapp und sachlich. »Was sagt man nur dazu. Pierre Bernard, tot in der Falle. So was Schreck-lich-es.« Fronmüller klebte noch ein dünner gelber Faden des zerlassenen Käses am Kinn, der jetzt entrüstet zitterte. Seine blassen Augen wurden noch wässriger, und er sah plötzlich gealtert aus. Dicke Tränensäcke lagen um die Augen wie Jahresringe. Sein Gesicht nahm eine ungesunde Gelbfärbung an. Irritiert nahm Ada wahr, dass er vor sich hinmurmelte. Dann fuhr er hoch, vielleicht hatte ihm seine Gattin unter dem Tisch einen Fußtritt versetzt. »Bbb … Bruno heißen Sie? Bbbeee wie Bruno?« Ada war fasziniert von Valerie Daos kalten Augen, in denen es hin und wieder verächtlich blitzte. »Nennen wir ihn B.« Fronmüller krähte los, kicherte, schnappte nach Luft und wischte sich die tränenden Augen. Er war stockblau. Emmas Augen waren Schlitze, sie war hochexplosiv. Bruno fummelte an dem Tischtuch herum. Das Kerzenwachs gerann in der Mitte zu einer Blutlache. Fronmüller starrte darauf, und der Käsefaden am Kinn hörte nicht mehr auf zu zittern. Frau Dao blies zum Abmarsch. Sie erhob sich, ihr blaues Kostümchen saß perfekt, so wie jeder Händedruck und jeder Blick, als sie sich verabschiedete. Die Absätze klackten unter den kurzen harten Schritten. Fronmüller dackelte hinterdrein. Überraschend fiel Sarah Vaughan lautstark über die Gäste her. What Is This Thing Called Love? Der asiatische Mulatte hinter dem Tresen sah zu Ada herüber, formte einen Kussmund und fuhr sich langsam mit der Zunge über die Lippen.
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Bruno tobte: »Der will mich anschwärzen, der Hundesohn. Was soll denn das heißen? B. wie Bruno, nennen wir ihn B.? Was will der Scheißkerl denn damit behaupten?« »Schwachkopf.« Emma gähnte ungeniert. Alle Zähne waren in tadellosem Zustand. Unklar, wen sie jetzt eigentlich meinte. Dann sah Emma zu Bruno herüber, und Ada fiel zum ersten Mal auf, dass Emma ihn nicht mit einem ihrer üblicherweise spöttischen Blicke bedachte. Was sie überrascht in Emmas Augen las, war reinste Skepsis. Dieudonné hatte Adas Hand genommen und hielt sie einfach fest. Auch mit seinen Augen hielt er sie fest. Die Lachfältchen gruben sich noch etwas tiefer ein. An seinen breiten Schultern prallte unbeeindruckt aller Irrsinn ab. Später, im Hotel, mühte er sich redlich, den Ehering vom Finger zu kriegen. Ewig wollte er nicht. Rücksichtsvoll legte er ihn dann unter das breite Armband seiner Uhr. Ada überlegte, ob sie jetzt lachen sollte. Dann schaltete sie ihr Hirn ab und schmiegte sich an seinen warmen Körper, der so wunderbar nach Holz duftete. In einer kleinen Croissanterie aßen sie zum Kaffee warmes Baguette mit Kirschmarmelade. Die Morgensonne schaffte es wie üblich nicht, durch die Abgasschicht zu ihnen durchzudringen. Dieudonné tunkte sein Baguette in den Milchkaffee. »Ich muss wieder nach Yaoundé.« »Wäre schön, wenn wir uns wieder sehen.« Ada lächelte ihm zu. Dieudonné sah sie nachdenklich an. »Sicher. Ruf mal an, ja?« Als Ada beim Konsulat anrief, wurde sie wie üblich vertröstet: Morgen noch mal nachfragen. Oder nächste Woche. Fronmüller wirkte derzeit nicht so, als könnte er bei der Visumsbeschaffung 144
behilflich sein. Aber genau genommen war er das ja noch nie gewesen. Auf ein neuerliches Geplänkel mit Fistelstimme im Kommissariat konnte sie gerne verzichten. Sie musste hier weg. Blieb der mysteriöse Mord an Pierre Bernard, der Tod von Pater Kalinowski. Der weiße Zander. Was hing womit zusammen? Was konnte sie tun? Sie ging durch die Mittagsglut. Rue Kitchener, das Haus mit der großen Werbetafel der Firma TIMS, war leicht zu finden. Die Tür war verschlossen. Sie wollte den Laden unter die Lupe nehmen. Hier hatte sie immerhin Zander getroffen. Empirische Untersuchungen während der letzten rund dreißig Lebensjahre hatten ergeben, dass es viel bringt, auf spontane Eingebungen zu hören. Sie sah sich das Schloss an. Es war ein simples Ding. Seit sie vor ewigen Zeiten – eigentlich war es eher in einem vorherigen Leben – eine Wohnung besetzt hatte, hing noch immer der dafür notwendige Dietrich an ihrem Schlüsselbund. Für sie war er so etwas wie ein Gris-Gris oder ein Symbol. Ein Türöffner eben. Die Räume wirkten so verlassen, als hätte hier jemand schon vor Jahren seine Zelte abgebrochen, aber der alte Schreibtisch, der Kalender an der Wand und die Schimmelflecken waren die gleichen. Es war ruhig hier drinnen, nur gedämpft drangen die Straßengeräusche herein. Welche Bad Medicine hatte Erics Leben beendet? Sie ging ans Fenster und hatte wieder die unangenehme Schmatzstimme Zanders im Ohr. Ein rasselndes Knattern hallte durch den Raum. Sie fuhr zusammen. Das altertümliche Bakelit-Telefon auf dem Schreibtisch gab Lebenszeichen. Sie nahm den Hörer auf. »Hallo.« »Wer ist dort? Was haben Sie denn da verloren?« Die Stimme am anderen Ende lud nicht zu einem Plauderstündchen ein. Sie antwortete lieber nicht. Rauschen im Hörer wie aus fernen Galaxien. Knack, man hatte aufgelegt. Ende des netten Telefonats. Gedankenverloren sah sie hinaus. Im Haus gegenüber stand ein Mann am Fenster. Er sah zu ihr herüber. Als sie ihn 145
ansah, trat er zurück. Jetzt hörte sie ein leises Flüstern. Es dauerte ein Weilchen, bis ihr klar wurde, dass die Stimme aus dem Hörer kam, den sie noch immer in der Hand hielt. Sie klemmte ihn sich ans Ohr und horchte angestrengt. Satzfetzen drangen durch. Offenbar war am anderen Ende der Hörer nicht richtig aufgelegt, sodass die Verbindung aufrechterhalten blieb. »… Telefonnummer von seinem Treffpunkt überprüfen … trifft sich da mit ihm, 23 Uhr … Geschäftspartner … B. weiß alles … will verkaufen …« Ada bemühte sich, mehr zu verstehen. Aber da krachte es im Hörer, und jetzt war die Verbindung tatsächlich beendet. Ada durchforstete das Büro, öffnete die Schreibtischschubladen. Außer ein paar Staubflocken und emsigen Ameisen war nichts zu finden. Sorgsam schloss sie die Tür wieder hinter sich ab. Der Himmel über Douala lastete bleiern. Auf einmal fiel ihr auf, dass die Telefonstimme deutsch gesprochen hatte. Vor dem Haus sah sie sich noch einmal das Firmenschild an. TIMS, Timber Society International, Rue Kitchener 41. Der rote Pfeil auf dem Schild wies geradeaus. Kein Firmenlogo, wie sie vermutet hatte. Er wies schlicht und einfach in die Richtung, in der sich die Firma befand. Sie sah an dem Haus hoch, aus dem sie gerade gekommen war. Nummer 39. Großartig! Wessen Büro hatte sie denn geknackt? Als sie wie immer in ihrer Herberge nach Nachrichten fragte, hatte sie endlich doch eine, von Tom. In einer Woche wollte er nach Douala kommen. Dazu die gleiche Warnung wie beim letzten Mal: alles, was mit Pierre Bernard zusammenhing, dringend zu meiden. Gute Idee! Und er berichtete von einem Albino mit Hüftschaden. Offenbar ein Killer, schrieb er.
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21 Wie lange lebte sie jetzt schon in Hotels, Pensionen, Hütten oder Zelten? Ewig. Ihr gefiel das. Bis auf einige Bücherkisten, die sie im Hühnerstall ihrer Großmutter untergestellt hatte, besaß sie sowieso nichts, was sie um sich herum hätte aufbauen können, womit sie eine Wohnung hätte füllen können – oder wollen. Improvisation allerorten. Keine Konstanten außer der Fotografie. Eigentlich war das schon immer so. Internate, ständige Wechsel. Sie hatte sich angewöhnt, das als Chance auszulegen. Im Vorbeilaufen beobachtete sie ein paar Jungen, die dabei waren, frisch gebrannte Ziegel zu schleppen, um bei dem Wiederaufbau einer der Lehmhütten zu helfen, von der die Regenmassen ein paar Teile weggerissen hatten. Und die, heute aufgebaut, morgen oder spätestens übermorgen wieder einstürzen würde. Improvisation auch hier. Immerhin war dafür die geistige Welt ausgesprochen stabil. Alles war beseelt, jeder Stein barg geheimnisvolles Leben. Die Menschen pflegten lebhafte Kommunikation mit den Ahnen und bemühten sich um gute Beziehungen zu den Geistern. Das hatte Bestand. Auch in ihrer eigenen geistigen Welt wähnte sie zumeist alles ganz in Ordnung. Wenn auch nicht immer logisch nachvollziehbar. Sie vertraute auf ihre Intuitionen. Offenbar zu Recht, sonst hätte sie nicht dieses Gespräch mitgehört. Die Flüsterstimme aus dem Telefon war ein Schlüssel für die Aufklärung der ganzen mysteriösen Geschichte. Fehlte noch die Tür mit dem passenden Schloss für den Schlüssel. Nein, grübelte Ada, die fehlte ja gar nicht: Sie befand sich in der Rue Kitchener 39. Heute 23 Uhr würde sich da jemand treffen. Nur wer? Sie dachte an den Leitsatz ihrer Großmutter: »Man muss den Dingen immer auf den Grund gehen.«
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Wen könnte sie mitnehmen? Polizei kam ihr nur als alberne Abwegigkeit in den Sinn. Bruno? Irgendwie keine gute Idee. Emma? Wo steckte die bloß? Es war 16.30 Uhr. Sie erinnerte sich, als sie in der Nähe des Akwa Palace eine nette Straßenkneipe sah, dass die Bruno einmal als sein Stammlokal bezeichnet hatte. Chez nous. Auf dem Bürgersteig standen ein paar Hocker an Holztischen herum. Ada bestellte bei dem dünnen, hurtigen Mann, der sich in den schmalen Gängen zwischen den Tischen gerade so hindurchschlängeln konnte, einen Espresso. Er wieselte davon, und Ada bemerkte die beeindruckende Gestalt der Wirtin im halbdunklen Inneren der Kneipe, die ihren Körper an einer überdimensionalen Tiefkühltruhe abstützte. Sie hatte offensichtlich ihre Familie generalstabsmäßig organisiert. Ein paar Kinder und ihr dünner Mann lasen ihr die Wünsche von den Lippen ab und balancierten mit Gläsern beladene Tabletts, ohne zu zittern. Ada trank den schwarzen, zuckersüßen Espresso, der ihr wie etwas Hochprozentiges durch die Adern rauschte, und ließ sich von der hitzigen Diskussion am Nachbartisch gefangen nehmen. Rhetorik war eine Kunst, der hier mit Hingabe gehuldigt wurde und die Ada ausgefeilter selten erlebt hatte. Begeistert wurde mit Argumenten aufgewartet, um sie dann ins Unermessliche zu treiben, weitschweifig zu begründen und mit großartigen Gesten zu untermauern. Eine bewegliche Gesichtsmuskulatur unterstützte den Vortrag des gewandten Schnellsprechers, der Ada am nächsten saß. Jetzt zitierte er Sartre. Der Mensch ist in seinem Wesen nicht festgelegt, sondern zunächst nur da, um sich selbst zu entwerfen. Er trug einen edlen, mattsilbrig schimmernden Anzug und versäumte nicht, seine Wirkung auf Ada mit ein paar Seitenblicken zu kontrollieren. Das Palaver endete in schönstem Einvernehmen, und alle klopften sich lachend auf Schenkel oder andere erreichbare Körperteile. Harmonie musste eine der Lebensgrundlagen schlechthin sein. Dass üblicherweise eine Entscheidung erst dann gefällt wurde, 148
wenn jeder irgendwie Beteiligte mit allen Details restlos einverstanden war, hatte Ada schon oft verblüfft. Es schien ihr eine gute, wenn auch ausgesprochen zeitraubende Methode zu sein. Ihr wurde bewusst, dass sie mal wieder als Weiße dachte. Es war doch genau umgekehrt. Die Zeit wurde nicht geraubt, sondern geschaffen: Um zu palavern. Sie war eine freundliche, freigiebige Erscheinung, die von den Menschen genutzt wurde, wenn man ihrer bedurfte. Nur leider wurde Ada das fatale Gefühl nicht los, dass sie selbst die Zeit nicht so nutzte, wie es von Nöten war. Bis 23 Uhr war es nicht mehr lange hin. Eine Hand legte sich auf Adas Schulter. »Madame, schön sind Sie, wie der junge Morgen!« Bruno sah dagegen viel mehr nach sehr spätem Abend aus. Schwarze Schatten unter den heute tiefer als je liegenden Augen und flatterige Gesten ließen ihn wie einen Morphinisten im Endstadium wirken. »Bruno! Setz dich, iss etwas. Willst du einen Kaffee?« Adas mütterliche Instinkte, von denen sie bis dato nicht allzu viele hatte ausleben können, schlugen durch. Er ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen, als wäre er andernfalls augenblicklich zusammengebrochen. »Alles höllisch anstrengend zurzeit. Ein furchtbares Durcheinander seit diesem Mord.« »Irgendeine Idee, wer dahinter steckt?« »Zu viele. Das ist ja das Schlimme. Pierre Bernard war bei den Holzhändlern verhasst, die Beamten aus den Ministerien fürchteten ihn, Politiker wollten ihn mundtot machen, Journalisten konnten ihn nicht leiden. Ich bin so müde, Ada. Ich kann nicht mehr schlafen. Immer träume ich, ich selbst würde in dieser scheußlichen Falle festsitzen. Stell dir nur vor, wie lange er möglicherweise da drin gefangen war, lebendig. Bis er starb. Es ist zu grauenvoll!« Bruno legte die Hände vors Gesicht und wiegte sich hin und her.
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Irgendwie kam ihr alles, was er sagte, so falsch vor, gekünstelt, auf jeden Fall unvollständig. Dass es einem immer nur vergönnt ist, die hauchdünne Oberfläche zu sehen. Die zerkratzte, mitgenommene, aufpolierte, angemalte, abgeplatzte, verwaschene, wie auch immer geartete Oberfläche. Aber eben nur die Oberfläche. Ada fühlte sich in ungeheurem Maße ahnungslos. »Bruno, wenn du nicht sofort im Klartext ausspuckst, was du weißt, dann stehe ich jetzt sofort auf, gehe und rede nie wieder auch nur ein Sterbenswörtchen mit dir.« Sie holte tief Luft. Gerade war es für übliche Verhältnisse relativ still. Urplötzlich schepperte und klirrte es. Ein Glas zerschellte auf dem Betonboden. Bruno blickte kindlich erstaunt auf. »Es gibt nichts. Ada, versteh doch. Bitte. Es ist nichts.« Der unübliche Mutterinstinkt verstärkte sich, sie hatte das dringende Gefühl, ihn irgendwovor bewahren zu müssen. »Bist du sicher?« »Ich muss los, hab noch ne Verabredung. Wollte nur schnell hallo sagen, wo ich dich schon mal hier treffe.« »Nein! Tu es nicht. Egal was. Geh nicht hin. Geh heute einfach nirgends mehr hin. Bruno, hör jetzt auf mich und mach, was ich dir sage.« Die Gefahr, dass sie sich aufführte wie ihre vorahnungsgeplagte Großmutter, nahm sie in Kauf. »Bruno, hier ist mein Zimmerschlüssel von der Mission Catholique. Zimmer 41. Geh hin. Leg dich ins Bett und schlaf dich aus. Vor morgen lass dich nicht mehr blicken! Alles klar?« Gehorsam nahm Bruno den Schlüssel. Er wankte vor Müdigkeit, als er sich ein Taxi organisierte. Sein Rücken strahlte Resignation aus, als er da so stand, am Straßenrand. Um ihn herum toste der Verkehr. Ada stellte sich vor, dass er nichts hörte, nichts sah. Sie wartete, bis ihn ein Taxi mitgenommen hatte. Dann winkte sie dem dünnen Mann, um zu bezahlen. 150
Als sie ihren Stuhl zurückschob, entdeckte sie, dass Bruno etwas vergessen hatte. Sie hob das schmuddelige Teil mit spitzen Fingern an. Angewidert betrachtete sie es. Schwarz verkrustete Federn, halb verweste Hautstücke und Knochenteile, ein fauler Zahn. Ihrer Meinung nach sah es dem ekelhaften JujuTeil, das sie im Urwald den Krokodilen zum Fraß vorgeworfen hatte, zum Verwechseln ähnlich. Sie ließ es in den Aschenbecher fallen, den Bruno in der kurzen Zeit mit erstaunlich vielen Zigarettenstummeln gefüllt hatte, und wischte sich die Finger an einem Papiertaschentuch ab. Es war kaum zu glauben. Das Telefon tat, wozu es einst erfunden wurde. Sie erreichte Dieudonné ohne tausendfache Fehlversuche. Ada sah ihn vor sich, wie er da saß, in dem Büro, mit seiner Ausstrahlung, die ringsum jeden Normalbürger zum Plattfisch mutieren ließ. Leuchtende Augen, lockere Haltung, eine harmonische Gesamterscheinung, voller Würde und Gelassenheit. Es klang, als freue er sich wirklich, sie zu hören. »Ada, lass die Finger davon. Geh nirgends hin.« Hatte sie den gleichen Satz nicht eben zu Bruno gesagt? Kurze Pause. »Warte wenigstens, bis ich da bin.« So weit hatte er sie doch schon kennen gelernt, dass er die Wirkung seiner Empfehlung einschätzen konnte. »Mein Lieber, bis 23 Uhr hierher, das schaffst du bestimmt nicht. Stell dir einfach mal vor, was wir möglicherweise erfahren können, über die Hintergründe, über Pierre Bernards elendes Ende. Ich muss zugeben, dass mich auch ganz egoistische Motive antreiben. Wenn die ganze Geschichte mit Pater Kalinowski zusammenhängt und wenn alles endlich irgendwie ein Ende findet, eine Aufklärung, dann komme ich ja wohl hoffentlich an mein Visum und damit an die Möglichkeit, weiterhin auf legale Weise meine Brötchen zu verdienen. Zum
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Beispiel mit dem Auftrag für Cinéma, über das Filmfestival in Ouagadougou.« »Weiß nicht so genau, ob ich das gut finden soll, wenn du abreist.« Sie hörte sein Lächeln durch den Hörer. »Im Ernst, Ada, diese Geschichte ist viel zu heikel. Lass es! Okay? Hast du was von Bruno gehört?« »Hoffe, er schläft ruhig in meinem Bett.« Irritiertes Schweigen. Sie erzählte von dem übernächtigten Hektiker mit dem ungewöhnlichen Talisman. »Ich komme, sobald ich hier weg kann. Wir können uns morgen am Nachmittag treffen. In der Croissanterie von neulich, sagen wir 16 Uhr, einverstanden?« »Gut! Bis morgen!« »Ich umarme dich!« Es war 18 Uhr, die Sonne hatte sich irgendwo dort hinter der Dunstglocke verabschiedet, und ein Blauschimmer hing zwischen den Häusern, wie ein Traum von klarer frischer Luft. Ada wälzte alle Informationen hin und her. Noch einmal klang das mitgehörte Telefongespräch nach. Die Stimme hatte stark nach Fronmüllers Gattin geklungen. »Will verkaufen … B.«
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22 Ada konnte sich nicht daran gewöhnen. Dass die Farbe alles ausmachte, die entscheidende Determinante war, sie weit von dem hinweghob, was sie eigentlich war, sie in den Augen der anderen zu etwas werden ließ, was gar nichts mit ihr zu tun hatte. Die Farbe Weiß. »Guten Appetit!«, rief ihr eine junge Frau vom Nebentisch zu, und sie fühlte sich wieder etwas versöhnt. Und aß weiter, höllisch scharfes Hühnchen mit Reis. An der Reaktion der übrigen Gäste des kleinen Restaurants erkannte sie, dass Emma auftrat. »Endlich, Ada! Gute Idee, eine Nachricht zu hinterlassen. Woher wusstest du, dass ich in deinem Hotel nachfrage?« »Kleine Probe meiner Kunst. Hast du was gefunden?« »Und ob!« Mit einem Knall ließ Emma einen ordentlich verschnürten Packen Papiere auf den blauen Plastiktisch fallen. »Alle Achtung! Viel ist es ja.« »Ja – und es steht sogar was drin. Vitamin B. Sonst kannst du hier doch alles vergessen.« Sie zwinkerte ihr zu und entknotete den Packen. »Und, was ist nun mit Bruno?« Ada erzählte, ließ keine Vermutung aus. »Jetzt ist es 19 Uhr. Was meinst du?« »Bruno. Der Heini hat sich ziemlich blöde aufgeführt, das ist wahr. Irgendwas stimmt nicht mit ihm. Aber so ein Ding? Hmm. Kann mir auch einfach nicht vorstellen, dass die, die sich dort treffen, etwas mit unseren Problemen zu tun haben. Aber wenn dein Instinkt es dir sagt …« Ada grinste über ihren sarkastischen Tonfall. »Vielleicht kann ich Boniface erwischen. Er ist Abhörexperte. Technisch perfekt, der Typ – und arbeitet bei der Post. Mal sehen, was sich machen lässt. Bin gleich zurück.«
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Ada aß gedankenverloren weiter. Vielleicht konnte sie Elise erreichen. TV Bénin hatte ja diese Sendung mit Pierre Bernard ausgestrahlt, direkt danach war er verschwunden und vermutlich ermordet worden. Jedes Mosaikteilchen konnte etwas nutzen. Das Hühnchen war extrem scharf. Emma war wieder da, wiegte viel sagend das Haupt. »Wir treffen uns nachher bei Boniface. Schauen wir erst mal nach, was es mit diesem Laden auf sich hat.« Sie beugte den dichten Haarschopf über die Papiere und las dann mit leicht singender Stimme Teile des Textes vor oder fasste nur kurz zusammen: »Firma TIMS, Timber Society International, Rue Kitchener 41. Existiert bereits seit fünfzehn Jahren und macht hervorragende Geschäfte in aller Welt. Europa, USA, China. Hauptgeschäftsführer ist ein Deutscher, Hermann Kanzer, aus Hamburg. Aus dem Tropenholzhandel mit Liberia haben sie sich zurückgezogen, seit die Gewaltorgien von Charles Taylor Schlagzeilen gemacht haben. Bevorzugte Gebiete Amazonas und Kongobecken. Neuerdings ganz groß als Verfechter ökologischer Waldwirtschaft. Setzen sich für das TWS-Siegel ein. Ich zitiere: ›Der Timbers-Worldwide-Saving-Council vergibt das Siegel nach strengen Kriterien, die sichern, dass das Holz aus nachhaltiger Bewirtschaftung unter sozial verträglichen, das heißt den Mindestanforderungen von Lohnhöhe und Arbeitsbedingungen entsprechend, produziert wurde.‹ Aha. Das also zu TIMS. Rundum tipptopp, der Laden.« »Plausibel.« »Magst du noch wissen, was ›nachhaltig‹ eigentlich ist? Und wie die Firma ihren Auftrag in Bezug auf die entwicklungspolitische Zusammenarbeit sieht?« »Danke, nicht heute. Lass uns lieber etwas Vernünftiges tun. Ich frag mich, ob wir nicht doch einmal in der Rue Kitchener nach dem Rechten sehen sollten.«
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»Irgendwie wäre mir wohler, wenn wir mal nach Bruno sehen würden. Ob er schön schläft.« Als sie bei der Mission Catholique ankamen, taten die Zikaden so, als hätten sie den Auftrag, schnellstmöglich alle Nervenstränge in der Mitte durchzusägen. Ada fühlte sich an ihre Malaria erinnert, als sie die spärlich beleuchteten stickigen Flure entlanggingen. Dieser süßliche Geruch schien in Schwaden aus den zahlreichen Rissen in der Wand hervorzukriechen, die zu verputzen sich niemand die Mühe gemacht hatte. Fast sah es aus, als könnte das ganze Gemäuer demnächst beweglich werden, sich dehnen oder unvermutet einstürzen. Beinahe wäre sie mit einem Mann zusammengestoßen, der an ihnen vorbeistürzte. Klein, gelglänzende Locken, tiefschwarzes Gesicht, schneeweißer Arbeitsanzug, zärtlich im Arm eine Bohrmaschine. Eine Parfümwolke wehte hinter ihm her, als wolle er, wie ein Hund, eine Markierung hinterlassen. Ada drehte sich nach ihm um. Zimmer Nummer 41. Die Tür war verschlossen, nichts war zu hören. Sie sahen sich besorgt an. Vor der Pension schnarchte der Nachtwächter zusammengesunken auf seinem Stuhl. Er war sich ganz sicher, als er endlich zu sich kam: Bruno war angekommen und schlief wahrscheinlich, jedenfalls sei er nicht wieder weggegangen. Ein durchdringender Geruch ging von dem Nachtwächter aus. Ada tippte auf Palmschnaps. Er hatte den Satz noch gar nicht richtig beendet, da sackte sein grau gelockter Kopf schon wieder zur Seite. »Na, dann können wir nur hoffen, dass Bruno so gut schläft wie der hier. Lass uns mal sehen, ob uns Boniface weiterhelfen kann. Auch wenn ich beim besten Willen nicht glaube, dass an deiner so genannten Ahnung irgendetwas dran ist.« Emma war bei dem Schritt, den sie vorlegte, kaum einzuholen. Ganz schön
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schnell, fand Ada, für jemanden, der nicht glaubt, dass die Aktion etwas einbringt. Boniface steckte nach Emmas Ruf den Kopf aus der Tür und bat sie mit großartiger Geste einzutreten. Er hatte ein schmales, kluges Gesicht, eine arrogante Miene und einen kleinen Knopf im Ohr, Seine schnellen Finger stöpselten Verbindungen, drückten Knöpfe, prüften Kontakte. Dann wurden seine dunklen Augen schmale Schlitze, er beugte den Kopf zur Seite, horchte angestrengt. »Bin gleich so weit.« »Was hast du gemacht? Erklär mal schnell, für unwissende Laien.« Er sah gelangweilt aus. Unwissenden Laien etwas erklären zu müssen, lag ihm nicht. Sein linker Mundwinkel zuckte, und die Stirn kräuselte sich. »Lithium-UHF-Sender, neuntausend Megahertz. Neuestes Modell. Alles klar? Klappt allerdings nicht. Reichweite haut nicht hin. Also Plan B.« Emma grinste: »Los, spucks aus, du elender Angeber, was hast du da gemacht? Rue Kitchener.« »Angeber« schien ihn keinesfalls zu kränken. Vielleicht hatten die beiden einen speziellen Code. Er grinste jedenfalls. »Tür war leicht zu öffnen, der Raum leer, bis auf ein uraltes, aber funktionierendes Telefon auf einem mindestens ebenso alten Schreibtisch. Jedenfalls habe ich ein ganz normales Aufnahmegerät da festgemacht. GMS-Raumüberwachung konnte ich auf die Schnelle nicht auftreiben. Sonst noch was?« »Wie spät ist es?« »21.40 Uhr.« Sein Gesicht bekam wieder einen angespannten Ausdruck. Ada erzählte Boniface von den Stimmen aus dem Hörer. »Sicher, das kann passieren. Ist aber ein eher seltener Zufall.«
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»Braucht ihr all diese Technik bei der Post? Oder bist du nicht eher beim Geheimdienst?« »Mit der Post hat das nichts zu tun. Das ist nur in bestimmten Fällen ganz hilfreich. Erspart mühselige Arbeitswege. Ansonsten arbeite ich mal für den und mal für jenen. So, wie jetzt für euch.« »Er arbeitet immer für den, der am besten zahlt oder ihm am meisten nutzt. Hat sehr gute Freunde in Frankreich. Und immer das schickste Gerät. Stimmts, du alter Opportunist?« Der alte Opportunist amüsierte sich. Ada fächelte sich mit einer zerfledderten Werbebroschüre Luft zu. Wenn man die dicke Brühe, die im Raum hing, so bezeichnen konnte. Ihr schien der Dunst dem flüssigen Aggregatzustand näher als dem gasförmigen zu sein. In den Zimmerecken stapelten sich alte Zeitungen, ein paar leere Bierkästen staubten vor sich hin. Von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne herunter, und die schmutzig bräunlichen Gardinen waren farblich perfekt auf die schmutzig gräuliche Wandfarbe abgestimmt. Eindeutig das geeignete Ambiente, um chronisch gut Gelaunte auf das normale Maß eines Depressiven herunterzuschrauben. Emma und Boniface unterhielten sich weiterhin bestens, indem sie sich Nettigkeiten vom Schlage »Korrupter Sack« und »Zicke« an den Kopf warfen. Die Hitze und die Müdigkeit ließen Ada immer benommener werden. Sie stellte sich vor, in ihrem Hotel – oder wo auch immer – wären diese Lauschgeräte für sie aufgestellt. Auf einmal glaubte sie, dass niemand etwas hören würde. Weil sie eigentlich gar nicht da war. Dass alles, was sie ausmachte, nur auf einem Irrtum beruhte, der mehr oder weniger aus Bequemlichkeit oder aus Gewöhnung ihrer Umgebung so fortgeschrieben wurde. Sie überlegte, wo sie ihre Negative, ihre Fotos, ihre Aufzeichnungen überall gelagert hatte. Bei ihrer Großmutter, einer alten Freundin in Berlin, bei der sie ein 157
Zimmer hatte, wenn sie dorthin kam, und bei einem Kollegen in Paris. Einzige Beweise ihrer Existenz. Die Zeit tröpfelte und dehnte sich, als wäre sie aus zähem Leim. Erst als Emma, die von ihrem Busenfeind ein kleines Knöpfchen ins Ohr gedrückt bekommen hatte, plötzlich schmerzhaft Adas Arm quetschte, wusste sie sofort wieder, dass sie sehr wohl existierte. »Hallo Ada, bist du noch da? Lass uns doch einfach mal in der Rue Kitchener nachschauen gehn!«
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23 Fronmüller bemerkte gar nicht, dass er lächelte. Das Licht der Scheinwerfer zerschnitt die Dunkelheit wie zwei Fangarme, die ins Niemandsland vorstießen, rücksichtslos und kalt. Ihm lief der Schweiß von der Stirn in die Augen. Er fuhr ruhig und sicher, wie er es von sich nicht unbedingt gewohnt war. Er hatte Valerie von Zanders Erpressung erzählt. Und von seinem Termin mit ihm, heute Nacht in der Rue Kitchener 39. Er hatte ihr die Telefonnummer gegeben, falls sie Zander sprechen wollte. Das war so eine Idee von ihm gewesen. Er würde immer zu ihr stehen. Nie hätte er etwas hinter ihrem Rücken tun können, wie Zander sich das gedacht hatte. Valerie hatte ihm die Namensliste und einen dicken Ordner gegeben. Allerdings hatte er noch nie erlebt, dass sie etwas tat, ohne damit ein Ziel zu verfolgen. Er ahnte auch, welches. Sie würde kommen und jemanden mitbringen, der Zander die Leviten las. Oder Valerie würde ihm ein Geschäft vorschlagen, mit ihm gemeinsame Sache machen, um B. auszuschalten. Oder ihn bestechen. Etwas in der Art musste sie vorhaben. Fronmüller steckte sich eine Zigarette an. Nie wieder Eukalyptusbonbons. Valerie hatte ihn immer unterschätzt. Aber was hatte er nur getan, dass sie ihn so sehr verachtete? Nichts hatte er getan, das war ja das Schlimme. Achtundfünfzig Jahre schlichtweg vertan. Ein ungelebtes Leben, ein falsch gelebtes, ein feiges, ein dummes Leben. Er lenkte in Richtung Hafen. Gleich 22 Uhr. Was für eine Albernheit, dieses nächtliche Treffen mit Zander, wie im Kino. Seltsam nur, dass ihm so leicht war. Als wären Zentnerlasten unvermutet von ihm abgefallen. Als er am Hafen angekommen war, schaltete er die Scheinwerfer aus und saß eine Weile im Dunkeln. 159
Dann stieg er aus. Die brennende Zigarette in den Fingern, den Ordner unter dem Arm, steuerte er geradewegs auf das Hafengelände zu. Er wollte diesen Geruch aus Tang, Diesel, Abfällen, Holz und Wasser noch einmal in sich aufnehmen. Die Lichter auf dem tintenschwarzen Wasser tanzten, zitterten und verschwammen, das leichte Schwappen der kleinen Wellen an den schweren Bootskörpern erfüllte ihn mit Frieden. Es war doch erstaunlich: Da entpuppte sich diese abartige Zäsur in den Bergen tatsächlich als Erleichterung. Fast hätte er vor sich hin gepfiffen. Er hätte nie gedacht, dass es ihm vergönnt sein würde, einmal so zu empfinden: ganz Herr seiner selbst zu sein. Es klatschte ganz schön, als der schwere Ordner auf der Wasseroberfläche auftraf. Kurz schwamm er, als wolle er nicht untergehen, sondern irgendwohin treiben, wo er nutzbringend wirken könnte. Dann gluckste es leise, und die linke Seite tauchte ab. Einen Augenblick später war von den ach so wertvollen Papieren nichts mehr zu sehen. Fronmüller steckte sich gleich noch eine Zigarette an und paffte. Rue Kitchener 39. Drei Seitenstraßen vom Hafen, das fand er mühelos auch im Finsteren. Die Fenster lagen in vollkommener Dunkelheit. War er der Erste? Die Zementstufen knirschten leise unter den Schritten, aus dem Flur schlug ihm ein Schwall abgestandener Luft entgegen. Er schloss vorsichtig die wohlbekannte Tür auf. Eric hatte immer hier gesessen. Eric, der gute Kerl, nicht mit übermäßiger Intelligenz gesegnet, aber zuverlässig. Fronmüller setzte sich auf den Fußboden, den Rücken an die Wand gelehnt. Er war nicht mal bei Erics Familie gewesen, nach seinem Tod. Ihm schien die Zeit, die er so im Finstern saß und an Eric dachte, wie eine Ewigkeit. Das war das Schlimmste: Es war seine Schuld. Seine Schuld, dass Eric tot war. Eric hatte also alles ausgeplaudert über ihre Deals mit den wertvollen Kult- und Kunstgegenständen, Zander alle Einzelheiten gesteckt. Deshalb hatte Zander ihn jetzt in der Hand. Aber das war ihm inzwischen völlig gleichgültig. Wahrscheinlich 160
hatte Zander Eric auf dem Gewissen. Warum nur hatte er ihn getötet? Um ihn, Fronmüller, zu warnen? Dass ihm das Gleiche blühte, wenn er Zander nicht die Unterlagen von Valerie gab? Fronmüller brummte der Kopf. Nie im Leben hatte er sich mit solchen Problemen herumschlagen müssen. Er steckte sich wieder eine Zigarette an und genoss den Rauch, den er tief einsog. Er hatte immer alles stillschweigend hingenommen, sich den Bedingungen, wie er sie nun mal angetroffen hatte, unterworfen. Seinen Vorgesetzten. Valerie. Dem Primat der Ökonomie. Er musste husten, hatte den Rauch zu tief inhaliert. Wäre er es nicht gewesen, hätte es ein anderer getan. Sonst würde hier alles ja doch nur der kleinen Kleptokratenschicht von Politikern und ihren Clans zufallen. Also! Ja, er hatte immer gut profitiert, hatte seine Kunstsammlung. Aber im Grunde hatte er alles immer nur für Valerie getan. Die Feuchtigkeit der schimmligen Wand zog langsam seinen Rücken hoch. Er musste sich erst völlig erniedrigen lassen, bevor ihm die Augen aufgegangen waren. Dass er die Papiere von Valerie ins Hafenbecken geschmissen hatte, war nur der erste Schritt. Er würde jetzt mit Valerie reden und sie vor dem Gefängnis bewahren. Und dann würden sie beide noch einmal ganz von vorne anfangen! Fronmüller hörte sie. 22.45 Uhr, wie die Leuchtziffern seiner Armbanduhr anzeigten. Eine Viertelstunde zu früh. Inzwischen hatte er sich hinter der Tür an die Wand gelehnt. Dass seine geschäftstüchtige Angetraute pünktlich sein würde, war ihm klar. Deshalb hatte er Valerie auch die Zeit seines Treffens mit Zander um eine Stunde zu früh angegeben. Zu viele auf einmal wollte er sich auch nicht zumuten. Sie blieb unter dem Fenster stehen. Leises Hüsteln. Das war nicht Valerie! Stille. Etwas später fuhr ein Auto vor, Bremsen quietschten, die Tür fiel ins Schloss. Kurze harte Schritte auf dem Zement. Auf die Tür zu. 161
»Meine Güte, Schneider, haben Sie mich erschreckt! Was soll das Versteckspiel, gibt es kein Licht hier? Ist Fronmüller schon da?« Ihre Stimme war nach sekundenlangem Schwanken wieder ruhig und sicher wie immer. Jetzt kamen sie herein. Schneider tastete nach dem Lichtschalter. Als er ihn endlich gefunden hatte, musste er feststellen, dass das Licht tatsächlich nicht funktionierte. Der übliche Stromausfall. Oder hatte jemand die Sicherung herausgedreht? »Nein, es ist noch niemand gekommen.« Schneider ahnte die kleine drahtige Frau neben sich mehr, als dass er sie sah. Ein süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase, zu süß für seinen Geschmack. Wie ein Strauß Jasmin, der nachts intensiv seinen Duft verströmt. »Dieser B. weiß alles.« Sie stieß es hervor, wie ein Zischen, als müsse sie es schnell ausspucken, bevor sie sich daran den Mund verbrannte. »Was? Was alles?« Nicht so dringlich, ruhig. Schneider tastete nach seinen Zigaretten. »Alles über die Transaktionen meiner Firma. Und Ihrer. B. weiß alles, was dieser verdammte Pierre Bernard rausgefunden hat, und will jetzt selbst ins Geschäft einsteigen. Offenbar will er alles übernehmen. B., wer kann das sein, verflucht? Bruno Roth? Dieudonné Bulu? Oder nicht eher dieser Südafrikaner, von dem jetzt öfter die Rede ist, Ben? B. jedenfalls kennt sogar unsere Leute im Ministerium. Er kennt eine undichte Stelle, Schneider.« Er hätte nichts gegen ein »Herr Schneider« einzuwenden gehabt. Dieses misstrauische Zischeln. Dieser Frau war nicht zu trauen. Eine Persönlichkeit wie ein Blumenstrauß, ein wunderbar drapierter Blumenstrauß. Hübsch anzusehen und mit durchsichtiger, aber undurchdringlicher Folie überzogen. Nette Geschenkverpackung, ungefähr so nett wie eine Briefbombe. Schneider grinste. Dass seine poetische Ader sich wieder Gehör 162
verschaffte, schien ihm ein gutes Zeichen. Nach Zanders Attentat auf ihn in Bujumbura und dem Verschwinden seines Mannes dort hatte er ein wenig an Humor eingebüßt. »B. müssen wir einfach finden und ausschalten.« Die Frau war eiskalt und hochintelligent. Er sollte unbedingt seine Geschäfte mit ihr weiterführen, das konnte enorme Fortschritte bringen. Und diese Kontakte, die sie hatte, da kam er sonst nie dran. Schneider schmeichelte: »Hervorragende Arbeit, dass der Vertrag mit unseren chinesischen Freunden steht! Dank Ihres Geschicks mit den kamerunischen Behörden. Das läuft doch alles wie geschmiert.« Valerie Dao lächelte jetzt sicher. Schneider konnte es in der Dunkelheit nicht ausmachen, aber »geschmiert« traf es schließlich auf den Punkt. »Fronmüller wird Zander bestätigt haben, dass er meine Unterlagen hat. Sobald Zander da ist, nehmen Sie sich ihn vor. Ich kümmere mich um Fronmüller.« »Selbstverständlich.« »Und denken Sie ja nicht, Schneider, dass Sie mich irgendwie übervorteilen können. Alles steht in meinen Unterlagen. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt? Alles. Wenn B. mir zu nahe kommt, sind Sie genauso dran.« Schneider sah förmlich die arrogant hochgezogenen, fein gezupften Augenbrauen vor sich, ahnte den schmallippigen Mund. Diese asiatische Schlange! Er konnte Schlangen nicht ausstehen. Und Jasmin fand er schon immer grauenhaft. Schnell dachte er an ein hervorragendes Skatblatt, Grand mit Vieren, eine bewährte Methode, um sich zu beruhigen. »Sie können mir vertrauen.« Wieso sagte er jetzt so was? Das machte ihn höchstens verdächtig. Schneider fasste sich an die Stirn. Der Jasmingeruch ging ihm zunehmend auf die Nerven. Er hatte Kopfschmerzen. Auf einmal tauchte ein Gedanke auf und ließ ihn nicht mehr los: Sie würde versuchen, ihn zu linken. Ihn über
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die Klinge springen lassen und gemeinsame Sache mit diesem B. machen. Wie kam er da heil heraus? Valerie Dao atmete etwas hastiger als üblich, schien ihm. Es war auch so schwül hier drinnen. Er sollte ein Fenster öffnen. Schneider spürte ihre Hand auf seinem Arm. »Sie sind ein Mann mit Format, Schneider. Das habe ich von Anfang an an Ihnen geschätzt. Wir beide sind ein gutes Team! Sie glauben doch nicht etwa, mit diesem B. könnten Sie bessere Geschäfte machen?« Der Druck ihrer Hand verstärkte sich, und Schneider wurde der Jasmingeruch unerträglich. Kratzen auf Zement. Eine Ratte? Ein greller Lichtstrahl, ein dumpfer, unerträglicher Schmerz, der Fronmüller den Atem nahm. Einen Augenblick lang fürchtete er, sein ganzes schrecklich ödes Leben noch mal an sich vorbeiziehen sehen zu müssen. Peinlich und langweilig. Aber nein, am Schluss hatte sich das Blatt gewendet. Nein, er hatte es gewendet. Fronmüller lächelte selig. Alles um ihn herum wurde hell und klar. Schneider hätte nie gedacht, dass es ihm eines Tages die Sprache verschlagen würde. Aber heute sollte wohl dieser Tag sein. Mit einer Geschwindigkeit, die er diesem unbeholfenen dicken Kerl niemals zugetraut hätte, hatte Fronmüller sich hervorgeworfen. Hatte den Schuss mitten in die Stirn bekommen, der seiner Gattin – oder ihm, Schneider – zugedacht war. Valerie Dao war sofort nach dem Schuss verschwunden, mit kreischender Kupplung losgejagt. Schneider hatte auch keinen Grund gesehen, sich hier noch länger aufzuhalten. Mit einem Satz war
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er nach draußen gehechtet und hatte sich in Sicherheit gebracht. Was für eine verfluchte Sauerei! Ähnliches dachte Zander, als er sich über Fronmüllers Leiche beugte. Ein dünner roter Faden lief von der Stirn über das runde Gesicht bis zum Mundwinkel. Nachdenklich betrachtete Zander das verklärte Lächeln.
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Hamburg Die Aussicht war verhangen. Nebel, Grauschleier, Regenschauer. Hamburg im Sommer ist auch nicht mehr das, was es mal war. Hermann Kanzer seufzte. Wie zur Antwort hupte ein Schubboot unten, trist und lang anhaltend. Der Gedanke an eine Dienstreise ließ seine Laune auch nicht steigen. Er kannte Douala. Als im Fahrstuhl eine junge Mitarbeiterin des Anwaltbüros eine Etage tiefer zustieg, betrachtete er ihre Gesichtszüge. Sie war sehr attraktiv. Vollbusig und rothaarig. Er mochte das. Kanzer hatte eine für sein Alter ausgesprochen sportliche Figur, er war nicht groß, aber schlank und wendig. Die Bräune stand ihm gut, das grau melierte Haar sehr ordentlich füllig. Irgendeine kleine Hexe hat ihn mal mit diesem Schauspieler, der in den Chabrol-Filmen immer den Mörder spielte, verglichen. Sicher nur wegen seiner Warze am Kinn. Er liebte ChabrolFilme. Die Rote stieg aus, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Als er nach einem Kaffee im Bistro unten in sein Büro im vierzehnten Stock zurückkam, ging er seine E-Mails durch. Er wollte wissen, wie sich die Lage in Douala entwickelte. Die Nachrichten waren unangenehm. Wie das Wetter. Er hoffte auf Besserung. Aber ihm war klar, dass er nachhelfen musste. Er wählte die lange Nummer vom Sotrans-Büro in Douala. Als er Schneider zuhörte, wusste er, dass die Schwermut, die ihn beim Lesen der E-Mails erfasst hatte, berechtigt war. Krisensitzung war angesagt. Die Geschichte lief aus dem Ruder. Schneider wurde unzuverlässig. Jetzt musste er sich darum 166
kümmern. Kanzer seufzte wieder und nahm sich noch einmal seine Notizen vor. Seine Firma, TIMS, hatte im letzten Jahr Tropenholz allein aus Kamerun für dreißig Millionen Euro importiert. Sipo, Sapelli, Iroko. Und Bongossi. Bongossi war allerdings der Renner, ein extrem hartes Holz, für den Außenbereich ideal. Wurde gerne für Häfen genommen. Abachi für Fenster und Türen diverser öffentlicher Prestigebauten. Auch zunehmend Merbau, dunkles Parkett war derzeit angesagt. Er jedenfalls war auf der sicheren Seite, mit seinem neuen Öko-Programm. Die Zertifizierung war genau die richtige Methode. Eine gute Entscheidung. Sie arbeiteten mit der lokalen Umweltschutzorganisation Hand in Hand. Er drückte eine Taste und sprach in das Gerät vor ihm: »Verbinden Sie mich mit IronConsult.« Iron-Consult, das war sein Freund Max, eine Beraterfirma mit der Nase im Wind der Zeit. Entwicklungszusammenarbeit – wie man das heute nannte – und Ökologie auf der Fahne. Sie verstanden sich ohne viel Worte. So was gefiel ihm. Max war Meister im image-making. Fing mit politics of outfit an und endete bei der Sprachregelung für die Öffentlichkeit. Kanzer schätzte es, seinen Zusammenfassungen zuzuhören, weil er genau die richtigen Worte benutzte, die die Zuhörer in Sicherheit wiegten. Das Übliche eben, Weltverbesserung in den gerade angesagten pc-Begriffen. Sie pflegten ausgezeichnete Geschäftsbeziehungen. Er drückte noch mal auf den Verbindungsknopf zu seiner Sekretärin, Gott sei Dank nur die Urlaubsvertretung, die flachbrüstig und unterwürfig war, und herrschte sie an: »Die Verbindung zu Iron-Consult, hab ich gesagt!« Es brachte ihn auf die Palme, dass diese uncoole Tussi sofort ängstlich antwortete: »Schon in der Leitung, Herr Dr. Kanzer!« Gerne hätte er die 167
Rote von vorhin aus dem Lift im Vorzimmer. Kanzer lehnte sich in seinem Sessel zurück und drehte ihn ein wenig, sodass er die Aussicht auf die Elbe ins Blickfeld bekam. Noch ein paar Jahre Stress mit hin und wieder Tropenwahnsinn und dann Ruhe im Schiff. Machen, wonach einem der Sinn steht. Er spielte mit seinem Feuerzeug. Aber jetzt war Max am Apparat. »Grüß dich, Hermann! Nett, dass du dich mal wieder meldest. Was macht der Tennisarm? Gehts um Kamerun?« »Hallo Max, mein Lieber! Wie geht es der werten Gattin? Ja, Kamerun. Ich muss jetzt schneller nach Douala als geplant. Wieder Ärger da unten. Hast du Neuigkeiten über die ContraLeute? Was ist bei dem ganzen Schlamassel um Pierre Bernard rausgekommen?« »Nichts Neues bisher. Außer, dass da auch so eine Fotografin für Wirbel sorgt. Ada Simon. Die hängt mit den Contra-Leuten rum. Vielleicht ergeben sich über die noch ein paar interessante Informationen, kannst ja mal schaun. Also dann! Viel Spaß mit den Freunden der Umwelt. Sei schön empört und vergiss nicht, die Menschenrechte der Pygmäen zu erwähnen!«
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Douala Sie waren schnell dort. Und wussten noch schneller, dass sie viel zu spät gekommen waren. Das Gebäude brannte. Schon von weitem wehte der ätzende Geruch herüber. Eine orangefarbene Säule erhellte den Himmel. Boniface sagte nur lakonisch: »So weit zu diesem Thema. Das Gerät geht auf eure Rechnung. Komm vorbei, Emma, wenn du wieder was brauchst. Ich geh dann mal, hab noch was vor.« »Merde«, stellte Emma fest. Schweißüberströmte Männer trugen ein rußverschmutztes Bündel in Menschengröße hinaus. Ada sah Emma an. Sie fühlte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. Auch Emma war aschfahl geworden. Eine Weile später entnahmen sie den Gesprächen der zahlreichen Voyeure, dass in der Nähe das Auto des deutschen Konsuls gefunden worden war. Leer. Ada war schlagartig so erschöpft, dass sie fast umfiel vor Müdigkeit. Ein Abwehrmechanismus, den sie gut kannte. »Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?« »Aber sicher.« Am Morgen lag ein Fax von Elise de Souza aus Cotonou im Postfach der Mission Catholique. Auch vor und nach der Fernsehsendung mit Pierre Bernard, die Elise damals moderiert hatte, war zwar über Tropenholzhandel debattiert worden, aber er hatte weder Namen genannt noch eindeutige Hinweise auf Illegales gegeben. Sein Umgangston war wie immer – bissig. Zwar konnte man seinen Sätzen entnehmen, dass er sehr viel 169
mehr wusste, als er sagte, doch hielt er sich durchaus üblicherweise bedeckt, solange ihm die Beweise fehlten. Schlichtweg nichts hatte auf etwas Ungewöhnliches hingewiesen. Alle waren furchtbar erschüttert über die Umstände seines Todes. Niemand glaubte, dass es ein Unfall war. Wenn sie etwas beitragen könne, was irgendwie weiterhilft, würde sie das sehr gern tun. Am besten wäre es, wenn Ada mal wieder bei ihr vorbeikäme. Sie hätte da nämlich eine Sache, die sie Ada gern mündlich mitteilen würde. Ada faltete den dünnen Zettel zusammen und steckte ihn in ihre Umhängetasche. Sie klopfte an die Tür zu ihrem Zimmer. Keine Reaktion. Es war nicht abgeschlossen, stellte sie fest und ging hinein. Das Bett war zerwühlt, Bruno nicht da. Akkurat gefaltet auf dem Stuhl lag ein frisches weißes Hemd. Schwarz glänzende Schuhe standen darunter. Sah alles nagelneu aus. Da entdeckte sie auf dem Fußboden Brunos speckigen Brustbeutel, den er sonst niemals ablegte. Er lag da, leer, wie es schien, und hingeworfen, als passe er nun wirklich nicht mehr zu dem penibel ordentlichen neuen Outfit. »Bruno?« Keine Antwort. Sie öffnete die Tür zum Badezimmer. Es tropfte aus der Dusche auf die Fliesen. Lauter als sonst. Vielleicht, weil alles ringsum so still war. Dann sah sie ihn. Ahnte ihn vielmehr durch den milchigen Duschvorhang. Er saß auf den Fliesen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, den schwarzen Haarschopf zur Seite gekippt. Sie riss den Vorhang weg. Er fuhr hoch. »Meine Güte, Ada! Bist du wahnsinnig. Soll ich einen Herzschlag kriegen?« »Ich dachte fast, den hättest du schon hinter dir.« Erleichtert ließ sie sich auf den Klodeckel fallen. »Was sitzt du denn auch hier rum, ist ja wie bei Hitchcock!«
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Er sprang auf und stieg in seine Jeans, die er sich hastig vom Stuhl in der Nähe angelte. »Ich bin halt ein Durchschnittsdussel, unter der Dusche hab ich immer die besten Ideen. Und dann musste ich weiterbrüten.« »Erzähl!« Sie hatte Klodeckel mit Stuhl vertauscht, und Bruno warf sich auf ihr Bett und fläzte sich darauf herum, hatte sich dort offenbar recht gut eingelebt. Er starrte an die Decke, als überprüfe er deren zweifelhafte Stabilität. »Das sind die Fakten: Pierre Bernard wird ermordet. Er war vorher bei Pater Kalinowski. Der bringt sich um, angeblich. Du wirst unter Druck gesetzt und kriegst kein Visum, weil du die letzte Besucherin bei dem Pater warst, also etwas wissen könntest. Etwas über Pierre Bernard, das jemanden brennend interessiert. Andere interessiert mindestens ebenso brennend, dass genau das niemand erfährt. Sie bedrohen dich. Mehrmals, denk an den Kerl in Kribi. Das sind die Leute der mafia forestière. Im Dschungel gelingt es ihnen fast, uns über den Haufen zu fahren. Sie wollten dich ausschalten. Dass wir die Überreste von Pierre Bernard gefunden haben, war ein Zufall. Fronmüller erfährt von seinem Tod und dreht durch. Hypothese: Pierre hatte Informationen, die er Kalinowski mitgeteilt hat. Beide werden zum Schweigen gebracht. Fronmüller hat Angst. Jetzt, wo Pierre ermordet wurde, muss er fürchten, er sei der Nächste. Weil er etwas weiß. Er brabbelt was von einem B. Das ist der Mann, der hinter den Morden steckt. Weil man vermutet, du weißt das Gleiche wie die beiden, folgt: Fronmüller und du, ihr seid die Nächsten.« »Grausig wahr, deine Schlussfolgerungen. Wenigstens zum Teil. Zurzeit. Das Büro in der Rue Kitchener, in dem Erics Leben sein mysteriöses Ende gefunden hat, ist gestern bis auf die Grundmauern abgebrannt. Aus den Trümmern haben sie einen verkohlten Leichnam geholt. Fronmüller wird vermisst. Tom, er ist gerade in Kigali und im Kivu, warnt mich vor diesem Zander und vor der ganzen Sache um Pierre Bernard. 171
Eric kannte Zander, denn der war es, der neulich in das Büro kam. Valerie Dao hat mit jemandem eine Übereinkunft getroffen, die mit B. zusammenhängt. Dieses Büro in der Rue Kitchener diente als Treffpunkt. Offenbar ist Fronmüller auch dorthin gekommen. Weil er etwas wusste oder weil er dorthin bestellt wurde? Meine Hypothese: Zander ist der Hintermann. B. ist nur der Mitwisser. Er hat die Infos von Pierre Bernard und will sie verkaufen. Wenn er dazu kommt und nicht, wie das in diesem Geschäft so üblich zu sein scheint, vorher umgebracht wird. Nicht ich folge nach Fronmüller, sondern B.! B. wie Bruno?« Er hüpfte vom Bett. »Bist du verrückt geworden? Wieso denn ich? Was soll das? Weil Contra mit Pierre Bernard und seiner Organisation Terre Libre zusammengearbeitet hat und viele Insider-Informationen von ihm hatte, muss ja nicht ich unbedingt auch diese brisanten Dinge erfahren haben. Und verkaufen wollen! Du traust mir wohl alles zu?« »Nein, alles nicht.« Sie grinste ihn an. »Aber mit wem sonst hätte Pierre Bernard denn noch sein Wissen teilen können? Wer kommt denn noch in Frage?« »Woher soll ich denn das wissen? Dieser verrückte Fronmüller setzt da irgendwas in die Welt – meinst du allen Ernstes, er ist umgebracht worden? Das glaube ich nicht! Wir müssen das sofort in Erfahrung bringen. Irgendwer wird es wissen.« Emma wusste es. Wie auch sonst fast jeder in Douala. Der Weg in die Innenstadt führte am Ibis vorbei. Ein großer, hässlicher Betonklotz – aber immerhin eine Möglichkeit für Ada, sich in dem Straßenlabyrinth zu orientieren. Der Stadtplan war hoffnungslos veraltet, und es waren nur selten Straßen zu finden, die auch einen Namen trugen. Da entdeckte sie ihn. Schneider kam aus dem Hotel und sah sie auf sich zukommen, allerdings, ohne ein Erkennen zu signalisieren. Vielmehr war das Zusammentreffen offenbar ein Umstand, der ihn alles andere 172
als amüsierte. Seine Gesichtszüge hatte er auch schon mal besser unter Kontrolle. Sein Gang wirkte ein wenig ziellos. Das lange harte Gesicht mit den Metallaugen unter den grauen Borstenbrauen war etwas faltiger geworden. Unkontrolliert zuckten Nervenstränge. Seine Hand fuhr in die Innentasche des hellen Jacketts, zog ein kleines, schwarzes Ding heraus. Er hob den Arm und zielte auf sie. Ada duckte sich blitzschnell weg, verschwand hinter einem Lieferwagen. Und holte tief Luft. War also doch was dran, an Brunos Theorie. Dass Schneider sie auf offener Straße abschießen wollte, ging allerdings zu weit. Ist der jetzt durchgedreht? Drehen sie jetzt hier alle durch? Oder hatte er nur in herzlicher Begrüßungsgeste den Arm gehoben? Sich vorsichtig umblickend, hielt sie nach ihm Ausschau. Doch von Schneider war nichts mehr zu sehen. Ada ließ sich von der gläsernen Drehtür ins wohlklimatisierte Innere des Ibis schleusen und betrachtete die Frau an der Rezeption. Eine Weiße. Leicht vorgebeugte Kopfhaltung, die Haare fielen über das Gesicht. Als die Frau sie bemerkte, produzierte sie ein gewinnendes Lächeln. »Mein Freund, er war eben hier, hat etwas liegen lassen. Ist es Ihnen zufällig aufgefallen? Ein kleines Mäppchen mit Papieren?« Das Lächeln erfror. Sie schob den Unterkiefer vor. »Nein.« Ada hob die Brauen, legte alle Herrschsucht und Arroganz in Blick und Stimme, die sie in irgendwelchen Ecken finden konnte. »Vielleicht hat es ein Kollege von Ihnen? Ist ja möglicherweise bei Ihrem Chef abgegeben worden! Kann ich ihn sprechen?« Der Unterkiefer flutschte zurück, die Empfangsdame schüttelte sich die Haare wieder vors Gesicht. »Vielleicht liegt es ja dort in der Telefonkabine, in der er gerade war? Nummer zwei.« Ihr Stimmchen rutschte um drei Etagen höher.
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»Okay.« Ada sah noch einmal streng drein und ging in die Kabine. So war das also, er rechnete damit, abgehört zu werden. Oder wurde es schon. »Das knackt so komisch im Hörer. Kommen Sie doch mal, hier stimmt was nicht!« Während die junge Frau in die Kabine kam und mit angestrengtem Gesicht pflichtschuldigst in den Hörer horchte, schlüpfte Ada schnell hinter die Rezeption und riss den obersten Zettel vom Ringblock, auf dem die Nummern der zuletzt vermittelten Telefongespräche notiert waren. Und verschwand ohne Dank.
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26 Schneider hatte in der klimatisierten Halle des Ibis gesessen und auf den Rückruf gewartet. War er schon so weit, dass er Gespenster sah? Diese verfluchte Telefonanlage, auf die er immer so stolz war, erschien ihm jetzt wie eine selbst geschaffene Fallgrube. Er hatte Geräusche gehört. Er hatte ein verzögertes Beginnen des Rufzeichens festgestellt. Alles Zeichen fürs Abhören. Da wollte ihm jemand ans Leder. Gerade jetzt, wo sein neues Geschäft so gut anlief! Vielleicht ja gerade deshalb? Das war ein Milliardending. Er musste seine Nerven etwas schonen, durfte die anderen nur nicht überschätzen. Allerdings auch nicht unterschätzen. Seine Landsleute nicht und schon gar nicht die Hiesigen, die »neuen Führer Afrikas«. Er kicherte in sich hinein. Da wurde sein Gespräch aufgerufen. »Es gibt Neuigkeiten!«, knurrte Karl-Heinz. Keine guten, das war klar. Schneiders Geschäftspartner rief aus Kigali zurück. »Die belgische Fluglinie hat den Transport verweigert. Zu viel Öffentlichkeit, verdammt. Die haben schwer mitverdient, aber jetzt wird wohl der Imageschaden langfristig teurer. Wir müssen schleunigst Ersatz beschaffen.« »Mist!«, entfuhr es Schneider. Zum Glück fiel ihm dieser Ukrainer ein, dem ein paar der Fluggesellschaften gehörten. »Wir müssen uns mit Igor in Verbindung setzen. Der schafft die Kongo-Diamanten nach Dubai, Tel Aviv und Johannesburg. Vielleicht kann er uns ja zwischenzeitlich ein paar von den Lear-Jets überlassen. Neuerdings fliegen übrigens diverse russische Antonovs von Europa nach Kigali. Das wär auch was für uns. Auf dem Hinweg weiterhin Waffen und auf dem Rückweg Coltan, das ist dann wenigstens mal eine vernünftige 175
Auslastung. Die Russen sind doch sowieso zuverlässiger als die Belgier.« »Okay, ich werd sehen«, hörte Schneider die unwirsche Stimme von Karl-Heinz. Gleich darauf hatte er grußlos aufgelegt. Als sein zweites Gespräch aufgerufen wurde, schritt Schneider ruhig und kerzengerade zu der Kabine Nummer zwei, die ihm zugewiesen worden war. Er hielt große Stücke auf die Einheit von Körper und Geist. Sein Gesprächspartner würde ihm eine gewisse Unruhe, die ihn nun nicht mehr losließ, nicht anmerken. Er legte seine knarzigste Stimme auf. Diese Kommunikationsmöglichkeiten der modernen Technik machte ihn noch kirre. Woher wussten denn die in Deutschland nun schon wieder von den hiesigen Entwicklungen? Er hatte doch nur ganz vorsichtige Andeutungen losgelassen. Die Schwachstelle! Er musste sie finden. Er kniff in dem grellen Sonnenlicht die Augen zusammen, als er auf die Straße trat. Aus den Augenwinkeln begutachtete er eine große Frau mit schulterlangen rotbraunen Haaren und einem eigenwilligen Ausdruck um den Mund, die sich ihm mit ausgreifenden Schritten näherte. Er mochte Frauen nicht, die so wenig Wert auf elegante Kleidung legten. Sie fielen aus der Rolle, die ihnen zustand. Als er den Arm mit der Fernbedienung hob und die elektronische Wegfahrsperre außer Kraft setzte, signalisierte der Wagen mit kurzem Blinzeln ein Erkennen. Klackend löste sich die Verriegelung der Mercedestüren. Gleichzeitig erinnerte er sich, dass die Frau Ada Simon war, die Fotografin, die ihn über die Firma TIMS und illegalen Handel auszuforschen versucht hatte. Wo war sie jetzt? Er sah sich verdutzt um. Sie war in dem
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Augenblick hinter einem großen roten Lieferwagen verschwunden, in dem er die Fernbedienung gehoben hatte. Merkwürdig. An seinem Außenspiegel baumelte etwas Schmutziges. Er entfernte es genervt. Diese Kinder! Als er es in den Dreck der offenen Kanalisation neben der Straße fallen ließ, fiel ihm auf, dass es so aussah wie das Hinterteil eines Skorpions mit Gebissteilen und Schlangenhaut. Er konnte Schlangen nicht ertragen. Sie waren praktisch die einzigen Lebewesen, die ihn mit solchem Abscheu und Ekel erfüllten, dass ihm geradezu schlecht wurde. Man konnte es auch panische Angst nennen. Vielleicht ein Kindheitstrauma, die Begegnung mit einer Schlange? Wieder fiel ihm der ganze Ärger mit Valerie Dao ein. Diese malaysische Schlange! Er musste sich etwas einfallen lassen. Noch nie war er so entschlussunfreudig gewesen. Nur nicht nervös machen lassen. Er musste seine Gedanken auf das Wesentliche konzentrieren. Immer noch entschied er die wesentlichen Dinge und hin und wieder auch über die Lebensdauer von Reptilien. General Schneider a. D.. Er plumpste auf die schwarzen Ledersitze. Weit kam er nicht. Stau. Die Ampel stand endlos auf Rot. Was war denn heute los, dass sich Leute für die Verkehrsordnung interessierten? Wegen einer roten Ampel ließ sich doch sonst keiner aufhalten. Zwei kleine Männer, Arm in Arm, sahen zum Fenster herein und öffneten ihren Mund wie Exhibitionisten ihren Mantel, fand er. Er wollte dieses lila Zahnfleisch nicht sehen. Schwule Eingeborene, als wenn Pygmäe allein nicht schon reichte! Ihm brach der Schweiß aus. Als er anfuhr, sah er immer noch dieses widerliche zahnlose Grinsen. Misstrauisch betrachtete er den glänzenden, teuer aussehenden Lederkoffer, den der eine der armseligen Waldmenschen mit den verschossenen blauen Jacken in der Hand hielt. Bestimmt geklaut. Was für eine Welt! 177
27 Weiß war seine Lieblingsfarbe. So viel stand fest. Ada betrachtete den Mann ihrer Albträume, dessen Name ihr so gut zu ihm zu passen schien. Zander. Ein silbrig grauer, schlanker, räuberisch lebender Barsch in Süßwasser und Brackgewässern. In Europa, aber auch in Asien. Nicht in Afrika? Speisefisch. Zander hatte derweil einen Stuhl herangezogen und sich mit einem: »Ich darf doch?«, das keine Antwort erforderte, darauf niedergelassen. Wie hatte er sie hier aufgestöbert? Und vor allem, warum? Jetzt fiel ihr auf, dass sein eckiger Körper massiger und schwerer war, als sie vermutet hatte. Seine rötlichen Augen waren starr auf sie gerichtet. Aus seinem Mund schoss die spitze Zunge eines Geckos. Er befeuchtete kurz seinen linken Mundwinkel und brachte es fertig, mit ansonsten vollkommen unbewegtem Gesicht zu grinsen. Überhaupt war das ein Mann, der ausgesprochen mit Gestik geizte. Vielleicht wollte er bei der Hitze schweißtreibende Tätigkeiten grundsätzlich vermeiden. Ada konnte ihre Augen nicht von den fischigen Händen wenden, von denen die eine die andere auf der Tischplatte festhielt, als könnten sie gegenseitig nicht füreinander garantieren. Ihr war, als würde der übliche Straßenlärm, eine Mischung aus Gehupe, den lauten Rufen der Händler und Schuhputzer, den überall aus Boxen schrillenden Musikfetzen, durch ihr Gegenüber gedämpft. Als würde die schmatzende Stimme oder sogar das Zischeln der Zunge im Mundwinkel alles andere übertönen. »Tut mir Leid, Frau Simon, unser Rendezvous im Edelweiß neulich konnte ich nicht wahrnehmen, so gern ich es auch getan hätte. Dringende geschäftliche Angelegenheiten. Hoffentlich hat Ihnen dieser Zeitverlust nicht allzu viele Ungelegenheiten 178
bereitet? Denn davon haben Sie ja schon genug, nicht wahr? Kein Visum, immer wieder Verhöre, man weiß nicht, wie das ausgehen wird, das ist unangenehm. Dass Sie keine depressiven Kirchenmänner zu erschießen pflegen, ich glaube, darüber ist man sich im Klaren, auch bei der Polizei. Den, den Sie gesucht haben, haben Sie ja inzwischen gefunden. Wenn er auch nicht mehr ganz vollständig war. Nun sind auch noch die Räume, in denen wir uns das erste Mal begegnet sind, abgebrannt. Wie man hört, ist ein deutscher Diplomat dabei umgekommen. Fronmüller. Wussten Sie, dass das seine Außenstelle für illegalen Kunsthandel war? Nicht sehr freundlich seinem Gastland gegenüber, nicht wahr? Übrigens ist er in diesem Punkt nicht der Einzige. Sagt Ihnen der Name Schneider etwas?« Er machte eine kurze Pause. Er ließ weder erkennen, dass er sich für eine Antwort interessierte, noch ließ er sich zu irgendwelchen spontanen Bewegungen hinreißen. »Ich könnte Ihnen, wenn Sie nichts dagegen haben sollten, bei Ihren Problemen behilflich sein. Dafür müssen wir nur ein paar Dinge klären. Also: Was sind die wahren Hintergründe dafür, dass Ihr Aufenthalt hier in die Verlängerung geht? Hm? Keine Ahnung? Lieben Sie Fußball? Nein? Die Kameruner sind eine Fußballnation, hervorragende Spieler. Es gibt nichts in Kamerun, was wichtiger sein könnte als Fußball. Eine der vielen Religionen hier, wenn nicht sogar die bedeutendste. Aber ich rede und rede und lasse Ihnen keine Gelegenheit zum Antworten. Eine unangenehme Eigenschaft von mir, ich weiß.« Zander schüttelte bekümmert den Kopf. Vorsichtig, als könne sonst etwas von dem kostbaren Inhalt überschwappen. Ein Falter, braungrau mottig, flatterte unentschieden zwischen ihnen hin und her. Zander war das kein Hinwegwedeln wert. Der Falter setzte sich auf seine weiße Hemdbrust wie ein dekorativer Orden.
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»Was wollen Sie, Herr Zander?«, fragte Ada und wurde sich im selben Moment bewusst, dass dies die Frage war, die sie ihm bereits im Traum gestellt hatte. »Ihnen helfen, wie gesagt. Ich habe Freunde. Auch bei der Konsularabteilung. Wann wollen Sie abreisen?« »Morgen.« »Wenn wir uns auf übermorgen einigen, lässt sich vielleicht etwas machen. Kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Wer hat ein Interesse daran, dass Sie im Lande bleiben, und warum? Hatten Sie Pater Kalinowski nach Pierre Bernard gefragt? Sicherlich. Deshalb waren Sie doch bei ihm. Wissen Sie auch, warum es in Bamenda unmöglich war, jemanden außer dem Pater zu finden, der zugegeben hätte, ihn zu kennen? Pierre Bernard hatte sich mit einem Juju-Mann angelegt. Da wollte sich niemand mit hineinziehen lassen. Wenn beispielsweise ein Bündel mit Federn, Zähnen, Haut oder Knochen über der Tür hängt, dann hat das etwas ganz Bestimmtes zu bedeuten, Sie kennen das. Aber kennen Sie auch die entscheidenden Unterschiede? Alles hängt von der Anordnung dieser Dinge ab. Pierre Bernard brachte sie den Tod. Hätte ich Sie neulich im Edelweiß treffen können, hätte ich Sie gewarnt.« »Aber Sie hatten ja keine Zeit, hatten in Kigali zu tun. Und im Kivu.« Die Überraschung war gelungen. Er starrte sie an. Stumm. Er blinzelte nicht mal mit den Augen. Wie lange hatte er geübt, bis er so weit gekommen war? »Wovor gewarnt? Dem Bündel verwester Tierteile? Oder wovor sonst?« »Gewarnt, sich mit Leuten zu befassen, die sich mit Juju einlassen. Wenn Sie vorhaben, unbehelligt weiterzureisen, dann befolgen Sie den Rat eines älteren, erfahrenen Afrikakenners. Sie sind die Person, die zuletzt mit Pater Kalinowski gesprochen hat, der wiederum zuletzt mit Pierre Bernard gesprochen hat. Wussten Sie das? Eine unselige Kette. Fronmüller zum Beispiel wollte nicht auf mich hören. Schneider, der Geschäftsführer von 180
Sotrans, dieser Transport- und Logistikfirma, fragen Sie doch mal den, wer hinter den auffällig vielen Verblichenen der letzten Zeit steht. Natürlich wird er nicht antworten. Er hat Angst. Nicht unbegründet übrigens. Ich habe einen Tipp für Sie, eine ganz einfache Sache. Und alle Probleme lösen sich in Luft auf.« Sein Gesichtsausdruck ließ so etwas wie eine Spur innerer Beteiligung erkennen. »Wenn Sie bereit wären, auszusagen, dass Pater Kalinowski Ihnen mitgeteilt hat, dass Schneider Pierre Bernard bedroht hat, weil er hinter gewisse Geschäftspraktiken gekommen ist, dass Schneider – und seine Freunde mit den JujuMethoden – ihn mit dem Tod bedroht haben, dann gibt es keine weiteren Fragen mehr an Sie. Verstehen Sie?« »Ich glaube, ja, langsam verstehe ich. Glaube aber nicht, dass wir beide ins Geschäft kommen.« »Denken Sie lieber noch einmal darüber nach. Was Kalinowski auch gesagt haben mag, niemand außer Ihnen kann das wissen. Niemand kann je etwas anderes beweisen. Schneider, sagen Sie einfach, Kalinowski hat Sie auf Schneider hingewiesen. Andernfalls finden Sie hier keine Ruhe. Es gibt Menschen und Mächte, die hier herrschen, die sich durch absolut nichts abschrecken lassen, wenn sie ein bestimmtes Ziel verfolgen. Das Juju-Bündel wird eines Tages noch bei Ihnen auftauchen. Und dann wird es ziemlich kritisch. Sind Sie nicht schon oft genug gewarnt worden?« »Eben.« »Glauben Sie ernstlich, Sie haben Alternativen? Eine Wahl? Ja? Welche denn? Ringen Sie sich zu einer kleinen Notlüge durch. Es kann Ihnen nicht schaden, nur nutzen! Glauben Sie mir!« Ada versuchte sich an einem verächtlichen Knurren. »Schade. Sehr schade. Sie tun sich selbst keinen Gefallen damit. Vielleicht überlegen Sie es sich doch noch? Falls Sie mich zu sprechen wünschen, werden Sie mich sicherlich finden. 181
Sie wissen ja anscheinend immer, wo ich mich aufhalte. In jedem Fall werden wir uns wieder sehen, Frau Simon.« Seine Hände lösten sich voneinander und stützten sich an der Tischkante ab, als er sich schwerfällig erhob. Er ging, ohne sie noch einmal anzusehen. Die weißen Arme hingen schlaff herab, als wären sie sich einer Niederlage bewusst. Dieudonné war um 16 Uhr in der Croissanterie, wie verabredet. Ada umarmte ihn, was er ein wenig förmlich hinnahm. Sein beruhigender Anblick tat ihr gut. Seine Augen wirkten wieder so schön hypnotisch, als wisse er alles und als wäre nichts wirklich ein Problem. »Bruno ist ja völlig aus dem Häuschen. Diese Geschichte mit Fronmüllers Tod und dem berüchtigten B.! Weißt du, Ada, ich habe mit Emma gesprochen, wir versuchen es jetzt auf eigene Faust. Boniface hört Sotrans ab. Bisher gibt es aber nichts Verdächtiges.« »Gut! Aber auch kein Wunder. Boniface muss diese Nummer überprüfen, die Schneider vom Ibis aus angewählt hat.« Sie holte den Zettel vom Ringblock aus ihrer Handtasche. Die Geschichte, wie sie an die Nummer gekommen war, faszinierte Dieudonné. Gleichzeitig war er beunruhigt. »So schnell hat Schneider also reagiert. Fragt sich, ob Boniface so perfekt ist, wie Emma ihn immer darstellt.« Als er von Zanders Idee hörte, wurde er schweigsam. »Ich bin gespannt, was Tom Neues weiß über Zander.« »Wer ist Tom?« Gute Frage. »Ein Freund.« »Dein Freund?« »Mein Freund.« »Wann kommt er?«
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»Vermutlich morgen. Wenn nicht mal wieder etwas dazwischenkommt.« »Ach so, ich soll dich von Emma grüßen. Sie versucht etwas für dich zu erreichen, in Yaoundé. Sieht selbst für sie momentan schwierig aus. Da haben andere die Hand drauf, mit deinem Visum, meint sie. Du musst selbst auch noch mal einen Antrag stellen.« Ada stöhnte. Langsam reichte es ihr. Sie sah das Juju-Bündel wieder vor sich, das Bruno vergessen hatte, und fragte Dieudonné danach. »Juju – da kann ich dir nur raten, lass die Finger davon, Ada. Fass es nicht an. Meide allen Kontakt. Erklären kann man es nicht. Das sind Mächte, die verheerende Wirkungen haben können. Es gibt Dinge, über die sollte man nicht einmal reden.« Da hatte er Recht. Ein Gedanke, den sie schon oft hin und her gewälzt hatte. Unter Umständen war sie deshalb sogar Fotografin geworden. Und ging deswegen gewissen, die Zukunft betreffenden Gesprächen mit Tom lieber aus dem Weg. »He? He!« Dieudonnés Augen waren ganz dicht vor ihrem Gesicht. Spontan küsste sie seine schönen Lippen. Er fuhr zurück. »Ada! Wir sind hier in der Öffentlichkeit. Wenn mich hier jemand sieht. Ich habe erst vor wenigen Wochen geheiratet.« Er grinste schräg. »Wenn meine Frau davon erfährt, macht sie mir die Hölle heiß! Sie ist schrecklich eifersüchtig. Sie würde mir alles um die Ohren hauen, mich vor Anwälte zerren, mich komplett ruinieren vor Wut. Ist ja auch verständlich, aus ihrer Sicht. Dann kann ich zu all den anderen unter die Brücke ziehen.« »Ach Herrje!« »Sehen wir uns morgen Abend? Ich fahre erst in zwei Tagen nach Yaoundé zurück.« 183
»Ich weiß noch nicht«, erwiderte sie wahrheitsgemäß. In der Abteilung für Visaangelegenheiten hatte man noch nie etwas von ihrem Fall gehört. Wieso sie ihr Visum nicht längst verlängert habe. Das sei ein unentschuldbares Verhalten. Brächte sie in größte Schwierigkeiten. Darüber müsse sie sich doch wohl im Klaren sein. Was sie denn denke, wo sie hier sei. Wo jeder macht, was ihm beliebt? Was sie überhaupt hier tue. Journalistin? Was sie denn da recherchiere. Wer sie geschickt habe und warum. Fotografie? Machte keinen guten Eindruck, wenn sie anfinge, sich selbst zu widersprechen. Dass sie ihre Aufnahmen vorweisen solle. Ja, alle Filme. Nichtbereitschaft zur Kooperation könne sie in Verdacht bringen. Ob sie etwas gegen die Regierung habe. Ob sie wüsste, dass sie sich in immer größere Schwierigkeiten manövriere. Dass es noch einiges zu prüfen gäbe. Die Deutsche Botschaft sei überhaupt nicht informiert worden. Mit Drohungen würde sie allerdings das Gegenteil ihrer Ziele erreichen. Sie solle doch einmal versuchen, als Kamerunerin ohne gültige Papiere in einer deutschen Behörde ein Visum zu erhalten. Sie könne sich zu den üblichen Öffnungszeiten an die und die Stelle wenden, einen Antrag auf ein neues Visum abholen. Dann würde man weitersehen. Und sie habe unverschämtes Glück gehabt, an einen so verständnisvollen und entgegenkommenden Beamten geraten zu sein. Als sie dann endlich zur rechten Zeit am richtigen Ort eintraf und dem mürrischen Beamten gegenüberstand, hatte der gerade etwas Wichtiges mit seinem Nachbarn zu klären. Sie sprach ihn an. Er strafte solch respektloses Tun mit Nichtbeachtung. Endlich hatte sie ihn so weit, dass er ihr einen Stapel Formulare herüberschob. Es war so eine Art Antrag auf einen Antrag, den sie in dreifacher Ausfertigung auszufüllen hatte. Natürlich musste sie sich dann wieder am Ende der Schlange einreihen. Bevor sie jedoch dazu kam, ihre Papiere wieder abzugeben, wurde der Schalter geschlossen. 184
Als sie Dieudonné vor der Pension sah, wusste sie sofort, dass er sie nicht zu einem romantischen Rendezvous einladen wollte. »Gut, dass du gerade kommst, Ada, ich wollte dich abholen. Wir müssen in die Polyclinique Bonanjo. Habe gehört, dass Bruno krank ist. Er ist dort. Gehen wir!« Der Krankenhaussaal, eine große, schlecht belüftete Halle, war angefüllt mit Betten, die nur durch kleine Stellwände aus schmutzig grauem Stoff getrennt waren. Viele Leute, sicher Familienangehörige, drängten sich dazwischen, brachten in Tüchern Fufu oder geschmortes Gemüse in bunten Emailleschüsseln. Es stank gotterbärmlich, nach zu vielen Ausdünstungen, Desinfektionsmitteln, Schmutz. Ada schwindelte. Sie hasteten durch die Reihen. Überall lagen Männer, Frauen und Kinder auf schmalen Eisengestellen. Stöhnende Kranke, apathische, ausgemergelte Gestalten, sich im Fieber windende Malariapatienten, Aids-Kranke. Hinter jeder der halbhohen Stellwände erwarteten sie Bruno. Sie fanden ihn nicht. Endlich konnten sie einen Arzt stoppen, der sie nicht sofort schulterzuckend stehen ließ. Der völlig überarbeitete Mann unterrichtete sie im Stehen, das gutmütige Gesicht mitleidig verzogen: »Sie sehen ja selbst, wie es hier zugeht. Es ging alles sehr schnell, jede Hilfe kam zu spät. Melden Sie sich bitte im Büro, dort am Ende des Saals, auf der linken Seite, wegen der Sachen und der Formalitäten.« Er hastete mit fliegendem Kittel weiter. Brunos neues weißes Hemd, die schwarzen glänzenden Schuhe, die blauen Jeans, sein Lederbeutel lagen zu einem Stapel gepackt auf dem Tisch. Nichts, fand Ada, könnte je trauriger aussehen. »Die Todesursache? Da müssen Sie den behandelnden Arzt fragen. Das gehört nicht zu meinen Aufgaben.« Die Krankenschwester, die ihnen einige Formulare zuschob, trug eine weiße
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Bluse mit Rüschen. Ada wusste nicht, warum, aber irgendwie erschien ihr das ein wenig tröstlich. »Ein schwaches Herz.« Der Arzt hatte sich endlich zu einer kurzen Gesprächsrunde überreden lassen und sackte erschöpft auf einem Stuhl in dem kleinen, stickigen Büro zusammen. »Wissen Sie vielleicht, ob er schon lange daran gelitten hat?« Ada schüttelte benommen den Kopf. Der Mann sinnierte weiter: »Vielleicht hat er es immer für sich behalten? Hat sich trotzdem nie geschont? So ein Leichtsinn! Natürlich, hm, es gibt auch Gifte, die ähnliche Symptome hervorrufen. Hundsgiftgewächse, Gelber Oleander oder Wüstenrose. Bewirken Lähmungserscheinungen mit anschließendem Atemstillstand und Herzversagen. Aber bei den tausenden von Giften, die verwendet werden, da ist ein Nachweis schlichtweg unmöglich. Todesursache ist und bleibt jedenfalls Herzversagen.« Dieudonné brachte die »afrikanische Pistole« zur Sprache. »Kann man nicht ausschließen. Eine hochwirksame Sache. Manchmal werden bei der Obduktion in den verschiedensten Organen Rasierklingen oder Nägel gefunden. Kein Mensch weiß, wie die da hineingekommen sind. Das ist ein beliebtes Mittel der Schwarzen Magie. Mit wissenschaftlichen Methoden kommt man da nicht ran.« Mit durchdringendem Blick fixierte der Arzt Dieudonné, als verdächtige er ihn der Hexerei. Er wiegte versonnen den Kopf und wiederholte: »Die afrikanische Pistole.«
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28 Kanzer erhob sich, die blauseidene Weste über dem kurzärmligen weißen Hemd glänzte. Sein gesamter Aufzug verkündete saturiertes Dasein, dessen er sich grundsätzlich von morgens bis abends zu erfreuen gewohnt war. Das fand er wichtig. Er war der Meinung, viel von der Psyche zu verstehen, speziell der afrikanischen. Ein Auftreten, das die Hierarchie manifestierte, gehörte für ihn mit an oberste Stelle. »Wird höchste Zeit, dass Sie auch endlich die neue Technik nutzen, seien Sie nicht so altmodisch! Dann müssen Sie wenigstens nicht mehr extra ins Ibis, wenn Sie telefonieren wollen!« Schneider fixierte ihn misstrauisch. Schlich sich da nicht ein hämischer Unterton ein? Und prompt kam die Bestätigung. »Sind Sie eigentlich sicher, dass es nicht doch ein wenig Paranoia sein kann, Ihre Abhörangst? Nun, wie dem auch sei. Hier habe ich ein Handy für Sie, ein gutes, die taugen wirklich was.« Kanzer setzte sich lässig auf die Schreibtischkante und baumelte mit einem Bein. Dann ließ er ein kleines schwarzes Mobiltelefon über die Tischplatte schlittern. Schneider fing es auf wie John Wayne das Whiskeyglas und besah es sich. Von wegen Paranoia! »Gut, damit halten wir dann Kontakt. Ich reise die Tage noch einmal nach Kigali. Probleme mit der Fluglinie. Zum Glück kenne ich jemanden, dem ein paar Maschinen gehören.« »Na, Sie werden doch hoffentlich nicht Igor meinen. Der steht nicht mehr zur Verfügung. Ist eliminiert worden, wie man hört, wohl von seiner Konkurrenz.« Kanzer runzelte die Stirn und schüttelte mit leisem Tadel den Kopf.
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Schneider wurde immer unbehaglicher zumute. Manche Menschen, ging es ihm durch den Sinn, waren in der Lage, aus anderen das herauszuholen, was normalerweise tief in ihnen versteckt blieb. Manche das Beste. Manche das Schlimmste. Kanzer gehörte ganz zweifellos zu der zweiten Sorte. »Überhaupt, Ihre Geschäfte in Kigali müssen warten. Wir haben hier genug Probleme. Kümmern Sie sich erst einmal darum! Denken Sie immer daran: Ohne TIMS säße Sotrans ziemlich auf dem Trockenen.« Nicht mehr lange, dachte Schneider. Wenn erst mal der Coltan-Handel richtig anläuft, jag ich dich zum Teufel! Kanzer fuhr fort: »Madame Dao spielt ein doppeltes Spiel. Das hätten Sie viel früher merken müssen. Schneider, Sie lassen nach. Jetzt muss unser China-Deal repariert werden. Malaysia wird zum Problem. Die kaufen alles, aus Indonesien und aus dem Kongobecken. Da läuft die perfekte Holzwäsche. Die deklarieren gnadenlos um, verkaufen dann einwandfrei zertifiziertes Holz. Diese südostasiatischen Firmenübernahmen, das nimmt wirklich überhand.« Er fixierte Schneider mit seinen flinken Augen. »Damals hat die Kolonialverwaltung die Wälder geschützt, es hat sich ja keiner zuständig gefühlt. Heute gehören sie dem Staat, der die Nutzungsrechte verkauft. Aber eben nicht nur an uns. Und schon steht wieder neuer Ärger an, haben Sie gehört? Jetzt laufen internationale Verhandlungen, der Bevölkerung Nutzungsrechte zu übertragen. Was für ein Wahnsinn! Da können die doch gleich alles abfackeln! Tja, das sind sie, die negativen Folgen der Globalisierung. Ein Glück nur, dass diese ganzen monströsen Organisationen außer ihren realitätsfernen Ideen meist nicht viel auf die Reihe kriegen. Die Gesetzgebung ist ja überall derart schwammig, da kann jeder, der will, machen was er will. Und das neue Forstgesetz hier!« Er gluckste. »Konfusion in Reinkultur. Alte Lizenzen werden einfach erneuert. Allerdings gibts nicht mehr so viele, die es sich leisten können, mitzuspielen. Diese Schmiergeldzahlungen 188
gehen langsam ins Bodenlose. Und verkauft wird in rasender Geschwindigkeit. Bald gibt es nur noch Kiefern- und Eukalyptusplantagen und was es mehr an schnell wachsendem Zeug gibt. Aber finanzstarke Kunden bevorzugen Massivplatten und Konstruktionsholz, Furnierwaren. Wir brauchen gerade, gleichmäßige Stämme aus alten Wäldern. Wir müssen hier die Hand draufhalten, Schneider! Also, viel Glück dann!« Er brachte Schneider zur Tür. Dann rief er noch: »Ach übrigens, wie gehts jetzt weiter mit Frau Dao?« Aber Schneider war schon im Aufzug verschwunden. Die Türen schnappten mit saugendem Schmatzen zu. Schneider kam sich auf einmal vor, wie in der Falle. Natürlich hatte er die Frage noch gehört. Aber er hätte sie nicht beantworten können. Valerie Dao hatte nichts mehr von sich hören lassen. Jetzt stand Schadensbegrenzung im Vordergrund. Als Schneider die Verriegelung der Autotüren klackern ließ, wusste er, was er zu tun hatte. Nachdem die Klimaanlage das Wageninnere auf eine Temperatur gebracht hatte, die ein Überleben möglich machte, nahm er das Handy aus der Tasche. Er betrachtete liebevoll das kleine, leichte, pechschwarze Ding in seiner Hand. Schon ein starkes Stück: Ohne Coltan würde es das nicht geben. Und er wickelte das Geschäft ab! Zumindest machte er mit. Ihn überfiel eine Art Ehrfurcht vor sich selbst. Auch wenn er sich oft genug über diese ganze moderne Technik ärgerte. Gleich sein erster Anruf mit diesem Ding würde Ordnung schaffen. Ordnung muss sein. Er wählte die Nummer, die er noch nie irgendwo aufgeschrieben hatte. Der Mann war sofort dran, als hätte er gerade damit gerechnet, dass seine Fähigkeiten mal wieder benötigt wurden. Schneider gab ihm sehr präzise Anordnungen hinsichtlich des Wer und Wo und Wann. Das Wie konnte er unbesorgt ihm überlassen. Der wusste selbst, ob Juju angebracht war oder eher konventionelle Waffen.
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29 Madame Dao öffnete nicht selbst. Ein gelangweiltes Dienstmädchen mit weißem Schürzchen über schwarzem Kleid führte Ada über dunkles Merbau-Parkett in den Patio, wo ein Springbrunnen plätscherte, und weiter durch einen von Rankengewächsen überquellenden Gang in den weitläufigen Garten. Dschungelgleich wucherte es über weiße Mauern, die verhinderten, dass jemand von der Straße aus hineinsah. Aber hier waren sowieso nur Dienstboten unterwegs, die Luxus bei ihren Arbeitgebern gewohnt waren. Malvenhecken mit scharlachroten Blüten, rosarote Hibiskussträucher und kirschrote Korallenbüsche waren nur einige der zahllosen Rotvarianten zwischen saftigen Grüntönen und goldgelber Pracht. Es rankte und kletterte wie ein Rausch. Blüten, in Trauben oder einzeln, flaumig, behaart oder fleischig, winzig bis riesig, fast immer wohl riechend, hingen darin oder ragten aufrecht heraus. Dazwischen schimmerte hellblau die weite Fläche des Pools. Hier verstand jemand sein Handwerk. Ada hatte angerufen und sofort einen Termin bekommen. »Ich bitte Sie!« Das Lächeln, mit dem Valerie Dao sie bedachte, war kälter als die Eiswürfel im Orangensaft. »Ein scheußlicher Unfall. Ich habe keine Ahnung, was mein Mann zu nachtschlafender Zeit dort getrieben haben mag. Er war in letzter Zeit sowieso ein wenig, nun ja, wie soll ich sagen, aus der Fassung geraten. Im übertragenen Sinne, natürlich. Er hatte begonnen zu trinken. Unter uns, ich war bereits so weit, einen befreundeten Psychiater zu Rate zu ziehen. Er war verwirrt. Sehr verwirrt.« »Was könnte er im Restaurant des Akwa Palace gemeint haben, mit: ›Nennen wir ihn B‹. Und ›B. wie Bruno‹? Sie 190
wissen ja sicherlich, dass Bruno Roth völlig überraschend verstorben ist. Die Ursache konnte nicht sicher geklärt werden.« Valerie Dao sah Ada ausnahmsweise einmal sehr aufmerksam an. »Ja, ich weiß. B. – offenbar ging es wohl um brisante Informationen, die ein gewisser B. hatte oder hat. Die PierreBernard-Geschichte, Sie wissen schon. Wenn Roth die gehabt hätte, hätte man ihn ja nicht – nun, wer weiß.« »Wollen Sie damit andeuten, er wäre ermordet worden?« »Ich will gar nichts andeuten. Woher soll ich das wissen? Ich gehe nur einfach von verschiedenen Hypothesen aus. Diese Umweltorganisationen arbeiten doch sehr eng zusammen, wie man hört, und lassen wichtige Informationen nicht nach draußen. Aber auch da gibt es sicher Leute, die aus Insiderwissen Kapital schlagen wollen. Ich habe meine Erkundigungen eingezogen, das ist ja schließlich nur verständlich, nicht wahr? Mir ist dieser Dieudonné Bulu übrigens suspekt. Ein höflicher und gebildeter Mensch, aber undurchschaubar. Wie ich hörte, hat er kürzlich geheiratet. Man munkelt etwas von Schulden und finanziellen Problemen, in denen die Familie der Frau steckt. Er braucht offenbar Geld. B. wie Bulu? Haben Sie daran schon mal gedacht?« Das ein wenig somnambule Dienstmädchen kam heran und meldete in schleppendem Tonfall einen weiteren Besucher. Valerie Dao sah sich das Kärtchen an, das ihr das Mädchen hinhielt, entschuldigte sich gesittet, und ihre Holzsandaletten klackten eilig über die italienischen Marmorfliesen. Ada schlenderte in dem üppigen Garten umher. Sie wünschte, der Besucher wäre Tom, der tatsächlich wie verabredet heute angekommen wäre und sie einer Eingebung folgend hier suchte. Am Beckenrand wartete reglos ein Gecko auf seine Stunde. Gerne wäre sie jetzt ins kühle Poolwasser gesprungen. Was für einen Hinweis hatte sie sich nur von Valerie Dao erhofft? Aber wer weiß, vielleicht erfuhr sie ja doch noch etwas. Was spielte 191
Fronmüllers eisige Witwe für ein Spiel? Sie hockte sich an den Beckenrand und tauchte die Hand in das Wasser. Der Gecko ließ sich nicht beeindrucken. Kurz schnellte seine spitze Zunge vor. Das Logo von TIMS, der Gecko. Als Nächstes würde sie das richtige Büro aufsuchen. Sie setzte sich an den Rand des Pools, streifte die Sandalen ab und ließ die Füße im Wasser kühlen. Sie war überzeugt, dass Bruno ein Opfer dieser undurchsichtigen Machenschaften geworden war. Er war in letzter Zeit so nervös, fast hysterisch gewesen, als hätte er gewusst, dass ihm jemand auf den Fersen war. Es hatte nicht gestimmt: B. wie Bruno. B. – wie wer? Hoffentlich hatte Tom brauchbare Hinweise. Und wieder stellte sie sich sehnlichst vor, das müde Dienstmädchen hätte gemeldet: »Ein Tom Baines für Sie, Madame.« Sie seufzte. Aber dann wäre Frau Dao wohl schon längst mit ihm aufgetaucht. Die ließ auf sich warten. Ada verlor die Geduld und machte sich auf die Suche. Sie ging durch die angrenzenden Räume, den Flur. Weder von Valerie Dao noch von dem schläfrigen Mädchen eine Spur. Die Haustür stand offen. Ada ging hinaus in den von dichten Hecken umgebenen Vorgarten. Sie lag zwischen zwei mannshohen Euphorbiasträuchern. Die Zweige krümmten sich schlangenartig um den ausgestreckten Körper. Sie waren mit langen, schwarzbraunen Dornen bewachsen. Vermutlich wurde der Strauch deshalb Christusdorn genannt. Der Wind hatte einige der bordeauxroten Blüten abgeschüttelt und auf dem tiefblauen Rock und dem hellblauen Seidentop drapiert. Nach einer Weile wurde Ada klar, dass Valerie Dao tot war. Und dass sie neben ihr stand. Es war schon das zweite Mal in ihrem Leben, dass sie eine Leiche im Garten fand. Von Gewöhnung konnte trotzdem keine Rede sein. Sie rannte den Kiesweg entlang, auf die hohe schmiedeeiserne Gartenpforte zu. Ihr war, als wäre sie ewig unterwegs, ohne so recht von der Stelle zu kommen. Die 192
Gartenpforte vor Augen wie eine lockende Fata Morgana, die sich mit jedem Schritt genauso weit entzog. Dafür näherte sich der Kies ihrem Gesicht. Sie stürzte. Als sie sich aufrappelte, blutete ihr Knie. Vor dem Haus führte eine schmale asphaltierte Straße vorbei. Dahinter stieg in sanften Schwüngen eine Wiese an. Unter hohen, Schatten spendenden Gummibäumen träumten alte, vornehme Villen vor sich hin. Als Ada auf die Straße lief, erstarrte sie. Die Wiese war voller Menschen. Überall im Gras kauerten kleine schlanke Männer mit schwarzen kurzen Haaren, in weißen Hemden und schwarzen Hosen. Sie hatten alle kleine weiße Schälchen in der Hand. Mit der anderen führten sie in unwahrscheinlicher Geschwindigkeit Stäbchen mit Reiskörnern von der Schüssel zum Mund. Japaner? Sie schrie einen von ihnen an. Ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen, schüttelte dieser freundlich, aber sehr bestimmt den Kopf. Sie versuchte es auf Englisch. Das Ergebnis blieb das Gleiche. Am Straßenrand stand ein zweistöckiger, silbern glänzender Reisebus, auf dem in großen roten Buchstaben Adventures Tours gemalt war. Ada ging ins Haus zurück. Als sie die Haustür wieder aufstieß, entdeckte sie das Dienstmädchen. Es saß auf einem Stuhl. Wie bei ihrer ehemaligen Arbeitgeberin wies der Kopf eine Drehung auf, die nicht auf natürliche Weise zustande gekommen sein konnte. In Adas Ohren rauschte es, als wäre das Meer in unmittelbarer Nähe. Sie musste sich auf die Treppenstufen vor dem Haus setzen. Durch all das zierende oder nützliche tropische Pflanzengut fiel das Abendlicht und schnitt die Welt in helle und dunkle Streifen.
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30 Tom hatte das Flugzeug verpasst. Die Linie hatte den Flugplan geändert, und er musste mit einer späteren Verbindung vorlieb nehmen. In all dem Durcheinander hatte er es nicht mehr geschafft, Ada seine Ankunftszeit in Douala zu faxen. Als er in dem Taxi saß, das ihn vom Flughafen in die Innenstadt bringen sollte, steckten sie einmal mehr im Stau fest. Er beobachtete zwei kleine Männer, die verloren am Straßenrand standen, sich wie Kinder, die sich verlaufen hatten, bei den Händen hielten und vergessen zu haben schienen, wo sie eigentlich hin wollten und warum. Sie trugen alte, verwaschene blaue Leinenjacken, einer hatte einen braunen Lederkoffer bei sich. Die Augen lagen im Schatten der Caps, die den größten Teil der Gesichter bedeckten. Trotzdem schien es Tom so, als sei ihr Blick in verlockende Ferne gerichtet, die zu erreichen sie aber längst aufgeben mussten. Tom bedrückte der Anblick. Er erinnerte ihn an all seine unerfüllten Versprechen, all die Dinge, die er vorgehabt hatte und dann aus Rücksicht auf vermeintlich Wichtigeres nicht getan hatte. Weil er glaubte, keine Zeit dazu zu haben. Er seufzte und fragte sich, ob er etwas davon wieder gutmachen, Enttäuschungen, die er Freunden bereitet hatte, je wieder reparieren konnte. Die beiden kleinen Männer erschienen ihm wie eine Mahnung, seine Prioritäten zu überdenken. Er steckte sich eine Zigarette an. Als er wieder hinsah, waren sie verschwunden. Schneider fuhr los. Unruhig sah er öfter in den Rückspiegel. Ein hellgrüner Renault hing die ganze Zeit hinter ihm. Auch, als er auf dem Weg zum Flughafen im Stau stand. Schneider sah aus dem Fenster und betrachtete einen Weißen im Taxi auf der gegenüberliegenden Fahrbahn, der sich in Gedanken versunken 194
eine Zigarette ansteckte. Als das Taxi dann den Blick auf den Straßenrand freigab, entdeckte er die diebischen Zwerge, die beiden schwulen Eingeborenen in den blauen Jacken, die sich hüpfend fortbewegten und dabei Händchen hielten. Jetzt wurde ihm klar, dass ihn diese Typen an etwas erinnerten. Etwas, das er lieber vergessen hätte. Einen Fehler, dessen Folgen ihn bis heute verfolgten. Schneider sah die beiden wieder vor sich. Seinen Geschäftspartner und die kleine Nutte, die sich an ihn gehängt hatte. Immer hatten sie albern Händchen gehalten, wie die Kinder. Der Mann war ganz verrückt nach ihr. Er wollte partout nicht mitbekommen, dass sie ihn nur ausnutzte. Als Schneider sie eines Abends allein im Haus antraf, hatte er sie zu einem Spaziergang am See eingeladen. Dort unten, unter den hohen Bäumen, hatte er sie an sich gepresst und geküsst. Sie war schon ein verdammt scharfes Weib. Aber sie hatte nur gelacht, ihn abgewehrt und ausgelacht. Was bildete sich diese Schlampe ein? Machte mit jedem rum, und ihn, ausgerechnet ihn, Schneider, wollte sie abblitzen lassen! Der erste Schlag hatte sie ins Gras geworfen. Sie hatte sich kräftig gewehrt. Er hatte ihr das Kleid zerrissen. Ein gelbes Kleid mit rotem Muster. Er hatte immer weiter geschlagen. Geschlagen, bis sie sich nicht mehr bewegte. Es war ein ziemlich windiger Abend gewesen. Der Kivu-See war aufgewühlt. Um die Vulkangipfel zuckten weiße scharfe Blitze. Orgelklänge. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er das Autoradio angestellt hatte. Die Musik bewirkte wohl, dass er auf einmal einen Friedhof vor sich sah. Nebelschwaden waberten zwischen hohen Rhododendronbüschen. Er sah Totengräber sich einen Sarg auf die Schultern wuchten. Einer trug ein schwarzes Käppi mit einem roten Stern, eine Filterlose im Mundwinkel und ein unverschämtes Grinsen. Der Mann stolperte, rutschte aus, flog 195
der Länge nach hin. Der Sarg auf den drei verbliebenen Schultern schwankte kurz und entschied sich dann für rechts. Der Weg war regennass und abschüssig. Als hätte er es jetzt ziemlich eilig, schlitterte der Sarg auf die vorbereitete Grube zu. Und er war es, der da drin lag, in der Holzkiste durch die Gegend schoss, er, General Schneider a. D.. Er schüttelte sich, es wurde langsam kritisch mit seinem Nervenkostüm. Seine Kaltblütigkeit hatte einen Sprung. Woran lag das nur? Da fiel ihm wieder dieses Schmutzbündel am Außenspiegel ein. Juju-Zauber? Das fehlte noch. Verfluchter Vodou. Und auch noch mit Schlangenteilen! Kurz grübelte er, ob er sich für eine christliche Beerdigung entscheiden sollte. Er hatte sich komplett verfahren. Landete in einem Viertel, das er noch nie gesehen hatte. Fuhr an den Rand der schlaglochübersäten Piste, Kinder klebten am Autofenster. Er fühlte sich heute zu schwach, sie zu verjagen. Er fröstelte und schwitzte gleichzeitig. Der hellgrüne Renault hatte nur ein paar Schritte entfernt gehalten. Auf einmal wusste er mit Sicherheit, dass es aus war. Ausgespielt. Falsch ausgespielt, das hatte er, denn sein Blatt war doch eigentlich gar nicht so schlecht gewesen. Ihm dämmerte, dass er selbst nur eine Karte im Spiel war. Im Spiel der anderen. Eine Lusche, in Wahrheit. Zittrig griff er nach dem Handy. Schneider, nach Punkten. Besser noch: Schwarz. Wie das Ende. Er wählte die Nummer von Kanzer. Der musste ihm helfen! Im Rückspiegel sah er, dass sich die Fahrertür des Renaults geöffnet hatte. Als Zander ausstieg, stoben die Kinder davon, als wäre ein weißer Geist erschienen. Die eben noch von wuselnden Leuten gefüllte Straße war auf einmal leer gefegt. Schneider versuchte, den Wagen zu starten. Die Fehlzündungen knallten wie Böllerschüsse bei einem Staatsbegräbnis. Er ließ die Zentralverriegelung herunter. Endlich kam die Verbindung zustande. Mailbox. Plötzlich wurde Schneider klar, dass Kanzer ihm nicht 196
mal geholfen hätte, wenn es ihm möglich gewesen wäre. Im Gegenteil. Vermutlich passte es Kanzer sogar ganz gut ins Geschäft, wenn er raus war. Die Scheibe splitterte. Zander hatte mit einem einzigen kräftigen Schlag einer kurzen Eisenstange das Fenster neben dem Fahrersitz zertrümmert. Schneider keuchte. Zander öffnete die Verriegelung und dann die Fahrertür. Seine langsamen Bewegungen hatten etwas Lähmendes. Schneider war außer Stande, auch nur einen Finger zu krümmen. Im nächsten Augenblick klackten Handschellen um sein linkes Handgelenk, und ein schmerzhafter Ruck riss ihn nach unten. Die Handschelle umklammerte seinen linken Knöchel. Der Kopf knallte aufs Lenkrad. Der Schmerz brachte ihn zur Besinnung. Entschieden zu spät. Verzweifelt versuchte er, den eisenharten Griff Zanders abzuwehren. Unbeeindruckt fesselte der Schneiders Rechte ans Lenkrad. Schneider ächzte. Zander hob einen kleinen geflochtenen Korb, dessen Deckel mit einer Schlaufe penibel befestigt war, und stellte ihn auf den Kühler. Er löste langsam die Schlaufe, den Deckel ließ er lose auf dem Korb liegen. Er öffnete die Beifahrertür und stellte ihn auf den Sitz. Dann schob er eine Kassette ins Fach und drückte auf Play. »Nathalie …«, röhrte Gilbert Bécaud aus dem Kasten. »Bitte …«, flehte Schneider, ohne den Satz beenden zu können. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Mit vor Anspannung hochrotem Gesicht bewegte er den Kopf so weit, dass er den kleinen Korb neben sich ins Blickfeld bekam. Der Deckel bewegte sich ein wenig. Was Schneider nun sah, überstieg seine scheußlichsten Albträume. Der widerwärtige Kopf einer Schlange schob sich hervor. Der Korbdeckel wurde vom gleitenden Schlangenkörper ganz zur Seite geschoben und das lange Vorderteil sichtbar. Es richtete sich senkrecht auf. Zwischen den Schuppen im Nacken konnte Schneider nun die brillenähnliche Zeichnung sehen. Endlich löste sich sein Schrei. Er schrie wie ein Tier. 197
Als er geendet hatte, sagte Zander mit seiner öligen Stimme: »Brillenschlange, auch Naja Naja genannt. Tödliche Dosis fünfzehn Milligramm. Giftmenge je Biss zweihundertzehn Milligramm. Erschrecken Sie sie nicht.« Dann ging er. Schneider begann leise zu wimmern. Unter seinem riesenhaften bunten Regenschirm, dessen zerfetzten Teil der alte Mann immer nach hinten drehte, wenn er spazieren ging, war die Welt regenbogenfarben. Vielleicht musste er deshalb immer lächeln. Allerdings war die Sonne, deren Licht sein Schirm so wunderbar filterte und damit die Umgebung seinen Träumen anglich, gerade untergegangen. Das störte ihn nicht. Den Schritt seinen gemächlichen Gedanken angepasst, wanderte er durch die abendlichen Straßen. Ein schwarzer Mercedes war in dieser Gegend ein ausgesprochen ungewöhnliches Fahrzeug. Der Mann am Steuer hatte den Kopf mit den stahlgrauen Haaren auf dem Lenkrad abgelegt und träumte vor sich hin. Von der Kassette dudelte es endlos: »Nathalie …« Ein schönes Lied, wenn auch ein wenig traurig. Wenn einer Träumer verstand, dachte der alte Mann, dann ich, und nickte lächelnd vor sich hin. Er war Spezialist für Träume. Aber der hier? Er schüttelte den Kopf mit den schlohweißen Haaren. Les blancs! Immer mussten sie übertreiben. Es war nicht sehr viel später, als Kanzer die Nachricht von der Mailbox abhörte. Wunderbar, diese Technik. Und noch ein Wunder: Da nahm ihm doch glatt einer die Arbeit ab. Wie im Märchen. Ihm entging kein Laut.
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31 Emma kam im Taxi. Beige weite Hosen bis zur Wade. Enges silbriges Top, das im aufflammenden Licht der Bewegungsmelder changierte. Atemberaubend. Ada hatte nie ein Gesicht gesehen, das so viele Ausdrücke in einem verbinden konnte. Liebevoll, das als Allererstes. Besorgt. Mitleidig. Klug. Gewitzt. Sprühend vor Lebhaftigkeit. Sie fielen sich in die Arme. Emma besah sich die Bescherung. »Wir sollten einfach rucki-zucki verschwinden. Hier gibts ja auch nichts mehr zu tun. Genickbruch. Bekannte Handschrift. Berüchtigter Killer. Komm, komm, ich hab dem Fahrer gesagt, er soll warten.« Als sie durch das eiserne Gartentor liefen, staunte Ada nicht schlecht. Sämtliche Japaner waren verschwunden. Wie ein Spuk. Mitsamt Reisebus. Neuen Abenteuern entgegen. Ordentliche Menschen. Sie hatten nicht ein einziges Stäbchen zurückgelassen. Die Wiese lag im sanften Licht der Straßenbeleuchtung, als wäre nie jemand da gewesen. »Heute schläfst du bei mir, und morgen bringe ich dich an einen sicheren Ort. Denn den hast du langsam nötig!« »Meinst du nicht, das ist etwas übertrieben?« Ada sah ihre Freundin zweifelnd an, nachdem sie höchst konspirativ in eine von einem hohen Bretterzaun umgebene Ansammlung kleiner Hütten am rechten Ufer des Wouri-Deltas geführt worden war. »Ha! Träumerchen. Noch nicht genug passiert? Lass dir mal von Boniface erzählen, was es sonst noch so alles Neues gibt! Er kommt nachher hierher. Und dein süßer Tom ist da. Ist ja ein knackiges Kerlchen. Ich hab ihm Bescheid gesagt, wo er dich finden kann.«
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»Jemine! Du bist wirklich ein Organisationsgenie! Wie hast du das alles derart schnell hingekriegt?« Völlig unvorbereitet stürzten Emma die Tränen aus den großen Augen. »So hat Bruno mich auch immer genannt. Organisationsgenie.« Sie schluchzte. Dann schnäuzte sie in ein großes Taschentuch, was klang wie ein Trompetenstoß. Als wenn sich dadurch auch der Schock bei Ada löste, fiel die Härte in der Magengegend auseinander wie aufgelöst. »Ich muss schon zugeben, ich habe ihn lange verdächtigt. Er hat sich schließlich auch recht ungewöhnlich benommen. Schneider scheidet jedenfalls als sein Mörder aus. Weil er selbst ermordet wurde. Wie Madame Dao. Das greift zurzeit um sich, scheints.« Emma nestelte an ihrer Zigarettenpackung. »Schneider ist tot?« Ada vergaß alle Grundsätze und steckte sich auch eine an. Ein angenehmer Schwindel ergriff sie. »Ja. Mausetot. Man sagt, eine Giftschlange hätte sich in sein Auto verirrt. So ein Biest, was? Allerdings war ein Autofenster zertrümmert und er ans Lenkrad gefesselt.« »Meine Güte! Woher weißt du das alles?« »Hab mich doch vorhin auf der Straße mit einem Typen unterhalten, als wir gerade los wollten. Ein Kollege, fixer Junge, der hats mir gesteckt. Er war gestern mit der Polizei am Ort des Geschehens. Was glaubst du, wer war so hässlich?« Jemand klatschte vor dem Zaun, und ein Borsalino schwebte über den Latten. »Karibu!«, rief Emma ihren Willkommensgruß auf Suaheli. Boniface schob den langen dünnen Körper durch die Pforte. Heute im weißen Anzug und mit Sonnenbrille. Geheimdienstler im mächtig verdeckten Einsatz. Oder der Pate in Afrika. Ada konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er hob in großer Geste den Arm, als begrüße er seine Fans und fände gleichzeitig diese 200
ewige Verehrung ein wenig lästig. Über der Schulter trug er ein schwarzes Täschchen, sicher mit seiner unentbehrlichen ultramodernen Spionageausrüstung aus Frankreich. Er schüttelte ihnen die Hände, zwinkerte ihnen zu wie alten Verschwörungskumpels und setzte sich zu ihnen. »Junge, Junge, hier gehts ja ab. Da kann ich meine Krimis wegschmeißen. Ich schreib jetzt lieber selber welche. Brauch ja im Grunde nur meine Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Nee, nee, keine Bange. Ich bin vom Fach. Würde nie was aufschreiben, klar, Ladys.« Seine aufmerksamen Augen wanderten das Gelände ab. Hinten im Hof spielten zwei kleine nackte Kinder im Sand. Abseits, am Rand, saß eine Gruppe Halbwüchsiger im Kreis und qualmte. Dicke Rauchschwaden hingen über ihren Köpfen. »Kennst du die gut hier?« Emma nickte. »Logisch, du aufgeblasener Pinkel.« Er lächelte geschmeichelt. Ging das wieder los mit den beiden. »Bist du heute Lady Di oder was?« Abschätzig fuhr sein Blick auf Emmas schicker Garderobe herum. »Könntest du dich vielleicht zwischen Robert De Niro und Pierce Brosnan entscheiden? Der Hut passt einfach nicht.« Sie ließ ihr wunderbares Beißwerkzeug aufblitzen. »Wenn ihr noch lange so weitermacht, geh ich eine Runde schlafen! Emma meint, du hättest was erfahren?« Ada drückte energisch die erste Zigarette nach drei Monaten aus. »Jaaa. Und endlich mal was Brauchbares. Also, pass mal auf.« Er lehnte sich genüsslich zurück. Ada rollte die Augen. »Schneider hat mächtig viel mit einem Menschen in Deutschland konferiert. Heißt Kanzer. Holzgeschäfte. Bongossi. Hafen an der Weser, wo die Ware umgeschlagen wird. Alles harmloses Zeug. Ging viel um irgendwelche Kennzeichnungen und Papiere. Aber jetzt kommts: Ada, über dich wurde geredet!« 201
Er warf die Lippen auf und schlitzte die Augen, als müsse er sich besonders konzentrieren, »Diese deutsche Fotografin, Ada Simon, da müssen wir was machen. Oder so. Hat Kanzer gesagt. War auch schon bei mir, wollte mich über Pierre Bernard aushorchen. Scheint was zu wissen. Hat Schneider gesagt. Hängt mit Bulu zusammen, scheint mit dem eine Affäre zu haben …« Emma prustete los. Ada blitzte sie an. Boniface lachte meckernd. »Neee, hab nur auf den Busch geklopft. Scheint wohl was dran zu sein, hä? Also gesagt hat Schneider: Hängt mit Bruno und Bulu zusammen. Diejenigen, welche. B.« Ada sah ihn fragend an. »Und? Weiter!« »Nichts weiter. Das wars.« »Puh!« Emma stöhnte. »Du musst verschwinden. Da gibts kein Wenn und Aber. Du bist sonst auch noch dran. Das liegt auf der Hand. Kein Pardon, Ada. Und keine Widerrede. Ich besorg dir eins von den Schmuggelschiffen nach Lagos. Oder gleich weiter nach Cotonou. Oder ab über die grüne Grenze. Mal sehn, was sich machen lässt. Flughafen können wir vergessen. Du kommst hier nicht raus. Nicht, bevor diese ganze Mordserie aufgeklärt ist, so viel weiß ich mit Sicherheit. Die murksen dich ab, sag ich dir. Alle, die in diesem Geschäft irgendwie drinhängen, scheinen ja draufzugehen. Du bleibst so lange hier, bis ich weiß, wie wir dich heimlich wegkriegen können. Hier bist du sicher.« Sie sah sich Bestätigung heischend auf dem Gehöft um. Der Wind drückte die Rauchwolke der Kettenraucher in der Ecke herüber. Intensiver süßlicher Marihuanageruch. Einer der Jungs stand unsicher auf und ging an ihnen vorbei. Die Augen glasig, ein debiles Grinsen im Gesicht. »Das sind Fulbe-Jungs aus dem Norden. Ihre Eltern waren Nomaden und sind nach den letzten Dürren immer zahlreicher 202
auf Arbeitssuche nach Douala gekommen. Natürlich ohne Aussicht auf irgendwelche Jobs. Ihre Kids hängen hier rum und dröhnen sich zu. Das ganze Stadtviertel Nylon ist voll von Leuten aus allen Ecken, die absolut nichts mehr zu verlieren haben. Einer baut seine Lehmhütte neben der anderen. Wer sich ein Wellblechdach leisten kann, gilt als privilegiert. Feuchtes Sumpfgebiet ohne jede Infrastruktur. Die Weltgesundheitsorganisation hat die ganze Siedlung zu unbewohnbarem Gelände erklärt.« »Mit wem hat Schneider in Deutschland verhandelt? Zu wem gehört die Nummer, die er vom Ibis aus angewählt hat?« »Erfahre ich schon noch!« Boniface legte sein hochmütiges Gesicht auf. Emma rief einen der noch halbwegs klar aussehenden Jungs heran und drückte ihm ein paar CFA in die Hand, etwas zu essen zu besorgen. Und Bier. »33er?« Er sah Emma fragend an, die nickte. »Beaufort ist besser«, mischte sich Boniface ein. »Oder versuch doch mal Gala zu kriegen!« »Kriegste hier nicht. Also Jopajo?« Boniface nickte gnädig, und der Junge verschwand. Die anderen Jungs beobachteten den Geldtransfer und witterten eine Party. Sie schlenderten heran und ließen sich im Halbkreis bei ihnen nieder. »He, schmeiß doch mal einer Makossa-Musik rein! Dina Bell oder Tokoto Ashanty. Von mir aus Manu Dibango.« »Nee, lieber Makassi, Sam Fan Thomas oder Johnny Tézano.« »Das ist doch Soukouss.« »Vergiss es. Grausam. Die Einzigen, die echt geil sind, sind die Têtes brulées. Die sind genial!« »Die Blödmänner!« 203
»Die sind super. Mit den rasierten Schädeln, den verrückten Klamotten und den geilen bunten Zeichnungen auf der Haut!« »Echt wahr. Die sind voll heiß. Bikutsi ist das Größte! Balafon plus E-Gitarre. Cool!« »Quatsch! Ali Baba und Sanda Oumarou, das sind unsere Leute! Pop in Fulfulde. Das einzig Wahre!« »Kennt doch keine Sau.« »He, he, he!«, mischte sich Boniface ein. »Gibts noch was anderes außer Musik? Lest ihr auch mal ein Buch?« Gelächter. Der Junge hatte jede Menge Jour par jour mitgebracht und die Kronenkorken fluppten. Inzwischen hatte einer Musik aufgelegt und ordentlich laut gedreht. Einer der Musikfans nickte begeistert. »Das isses!« Er sprang auf, machte ein paar langsame Tanzbewegungen und versuchte sich an einer Pantomime, wobei er aber nur mit den Armen herumfuchtelte und irre Grimassen schnitt. »Ich bin Kankan! Der größte Komiker Kameruns!« Die Jungs grölten. So schnell gab Boniface aber nicht auf. »Na, Francis Bebey werdet ihr doch wohl kennen?« »Logisch. Der ist Musiker.« »Hat auch geschrieben. Los, du, sag mal, hast du schon mal was gelesen, he?« Der so Angesprochene zog sich schüchtern zurück. »Klar, Fotoromane hab ich schon gelesen.« In gespielter Verzweiflung hob Boniface die Arme gen Himmel. »Sagt mir bitte nicht, dass ihr den größten Autor Kameruns nicht kennt? Mongo Béri? Alias Alexandre Biyidi? Ein Béri, sind doch auch ein paar von euch, oder?« »Hat’n der geschrieben?«
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Boniface gabs auf. Er sprang auf und rief emphatisch: »Was wird aus uns, wenn die Jugend sich nicht für Literatur interessiert? Wie wollt ihr unsere Werte erhalten, unsere Traditionen, unsere Kultur? Wie wollt ihr gegen Diktatur und Frankofonie ankämpfen, wenn ihr von nichts und wieder nichts eine Ahnung habt? Wie wollt ihr die Errungenschaften der modernen Zeit nutzen können? Wie wollt ihr Altes und Neues verbinden, um ein selbstbestimmtes Land aufzubauen? Wollt ihr nur saufen und kiffen? Den Schwanz einziehen vor der Sûreté Nationale? Oh ja: ›Afrika wird von drei großen Geißeln zugrunde gerichtet: Von der Diktatur, dem Alkoholismus und von der französischen Sprache, wenn das nicht sogar drei Seiten ein und desselben Übels sind.‹ Zitat Béti, übrigens. Aus Perpétue und die Gewöhnung ans Unglück. Aids war da noch kein Thema, sonst hätte er vier Geißeln gesagt.« Emmas linker Mundwinkel ging spöttisch in die Höhe. Die Jungs sahen Boniface verständnislos und gelangweilt an. Boniface schob sich den letzten Bissen Esubaka in den Mund, den Brei aus gestampften Taro-Knollen, setzte seinen tollen Hut auf und verabschiedete sich formvollendet. »Ich lasse Sie allein, Mesdames, Messieurs. Bis morgen! Meine französischen Gönner warten.« Noch ein Blinzeln, und weg war er. Wieder begannen dichte Wolken süßlichen Rauchs über ihnen aufzusteigen. Von weitem musste es aussehen, als wenn es hier brannte. Hin und wieder kamen Männer und Frauen vorbei und verzogen sich mit einem der Jungs in eine Ecke. Dann begann ein eifriges Gefeilsche, und Geld wechselte gegen in Zeitungspapier eingewickelte Kügelchen. Oft wurde das gerade Erstandene gleich vor Ort aufgeraucht, und die Dunstwolke entwickelte gigantische Ausmaße. Ada fühlte sich allein davon komplett stoned. Dankend lehnte sie immer wieder angebotene Züge aus den Tütchen ab. »Wie hast du Tom gefunden? Wann will er vorbeikommen?« 205
»Er war bei der Mission Catholique, wo ich dich auch gerade gesucht habe. Zum Glück hattest du ja die Eingebung, deine Nachricht von der Dao dort in der Pension zu hinterlegen. Telepathie ist halt die beste, schnellste und sicherste Form der Kommunikation. Obendrein auch noch die billigste. Was war denn nun mit dem hübschen Dieudonné? Na, raus mit der Sprache? Los, los, los, sonst erzähl ich alles Tom! Du bist mir eine! Übrigens, kannst du dich an den scharfen Tänzer aus dem Akwa Palace erinnern? So was Schnuckliges. Hab ihn mir neulich gegönnt. Göttlicher Liebhaber. Einzigartig!« »Wer?« Ada hatte gerade nicht richtig zugehört. Sie war müde und halb ohnmächtig von der Haschischdröhnung, die sich immer mehr in der Luft zusammenballte. Um sie wallte inzwischen ein dichter Drogennebel. Kleine schwarze Schweine purzelten quiekend durch die Gegend. Vermutlich waren sie völlig high. Es wurde dunkel, und Emma stellte eine kleine Sturmlaterne auf den Tisch. Da klatschte wieder jemand vor dem Zaun, und Adas Herz machte einen kleinen Hüpfer. Ja, er wars. Diese Augen! Sie atmete seinen Duft und schmiegte sich an ihn. Tom hielt sie ganz fest. »He, meine Ada. Duuu. Jetzt hab ich mir aber Sorgen gemacht. Da war ja John Johnson in Cotonou noch ein Kinderspiel. Du musst mir alles haarklein erzählen. Ich hab auch ein paar Neuigkeiten.« »Lass uns ein Stück laufen. Ans Wasser gehen. Bist du nachher noch da, Emma? Wo sollen wir schlafen?« »Ich verzieh mich. Hier, komm mal mit.« Emma zog sie in eine der Hütten aus Rohrgeflecht. Zwei schmale Betten standen darin, sonst nichts, soweit man das bei der Finsternis ausmachen konnte. Die Hitze war barbarisch.
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»Ich komme morgen früh, bringe Frühstück mit. Du kannst einen der Jungs losschicken, zum Waschwasser holen. Keinesfalls trinken, klar? Also, gute Nacht, ihr beiden!«
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32 Die Brücke über den Wouri war lang und dunkel. Ada war es ein wenig unheimlich, in dieser gefährlichen Gegend nachts spazieren zu gehen. Macht doch kein vernünftiger Mensch. Aber was war schon vernünftig? Sie musste dringend einen klaren Kopf bekommen, aus den Rauchwolken hinaus, und mit Tom ganz allein sein. Eng umschlungen liefen sie über die Brücke, hörten auf das Klatschen der kleinen Wellen, die gegen die Brückenpolier plätscherten, und genossen den leichten Wind, der den Geruch von Diesel, Tang und Wasser mit sich führte. Am Ufer glitzerten die Lichter der Wohnhäuser und flackerten kleine Feuer. Als Tom Ada umarmte, ganz nah an sich zog und sie sich küssten, schloss sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete, näherten sich die Silhouetten von drei Männern auf der Brücke. Einer hielt eine Schaufel hoch über den Kopf erhoben. »Verdammt, ein Überfall«, flüsterte sie Tom ins Ohr, dessen Rücken den drei Gestalten zugewandt war. Er fuhr herum, ohne sie loszulassen. Jetzt standen die Kerle direkt vor ihnen, die drohend erhobene Schaufel schwankte bedenklich. Ada hielt den Atem an, als könne das etwas nutzen. »Guten Abend, haben Sie jemanden weglaufen sehen? Wir suchen einen Dieb. Er hat ihm hier das Geld gestohlen.« Der Sprecher wies auf einen von ihnen, dessen grimmiges Gesicht ihn klar als den vom Unglück Getroffenen auswies. »Den ganzen Lohn, den er in einer Woche Schlepperei am Hafen verdient hat. Wenn wir das Schwein erwischen … Der wird so was nie mehr wieder tun!« »Wir haben hier niemanden gesehen.«
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»Na dann. Schönen Abend noch. Und seien Sie vorsichtig, hier laufen ganz schön zwielichtige Gestalten rum. Aber solange wir in der Nähe sind, haben Sie nichts zu befürchten.« Die drei entfernten sich und diskutierten aufgeregt miteinander. Die Romantik hatte nun einen Knacks. Der Weg zurück war nicht so einfach zu finden und teilweise von undefinierbaren Abwässern überflutet. Natürlich patschten sie hinein. Kurz gingen Ada allerlei mögliche Erkrankungen und Infektionen durch den Kopf, von Bilharziose bis zu Saugwürmern. Vor ihrem derzeitigen Wohnort standen die Männer mit der Schaufel. Jetzt hatten sich noch zwei Verfolger dazugesellt. »Wie siehts aus, haben Sie den Dieb gefunden?«, erkundigte sich Ada. »Nein! Er ist entwischt. Aber wir haben uns stattdessen um Ihre Sicherheit gekümmert. Sie sind heil wieder hier angekommen. Und das ist gut so.« Die anderen murmelten Bestätigung. Berechtigterweise stolz, was sie durch Körperhaltung und Mimik erkennen ließen. Daraufhin eine Runde Bier zu schmeißen, war unumgänglich. Einer der kiffenden Bewohner war noch fähig, einen entsprechenden Vorrat Jour par jour zu organisieren. Die anderen hingen apathisch herum. Den entgleisten Gesichtszügen nach musste das Dope mit allen möglichen und unmöglichen Zutaten gestreckt oder verstärkt worden sein. Es wurde ein ziemlich feuchter Abend. Ada und Tom wussten jetzt sehr viel vom Leben eines Gelegenheitsarbeiters, von Moral und Anstand. Sie hatten obendrein Freunde fürs Leben gefunden. Als sie sich kichernd und ein wenig unsicher in ihre Rohrhütte aufmachten, bemerkten sie wenigstens die schwere Gluthitze im Inneren nicht mehr so stark. Erstaunlich war, dass das Rohrgeflecht nicht einen winzigen Luftzug hindurchließ. Dafür konnte man das Räuspern eines Schlaflosen drei Hütten weiter hören, als stünde er neben ihnen. Brav legten sie sich jeder auf seine harte Matratze aus ungleichmäßig gestopftem Seegras. 209
»Ein Dieb hätte uns nie so viel aus der Tasche ziehen können, wie wir jetzt fürs Bier hingelegt haben«, bemerkte Tom noch. Das war so witzig, dass sie vor Lachen kaum noch Luft bekamen. Dann fielen sie in Schlaf, wie Steine auf den Grund des Wouri. Emma brachte nicht nur Weißbrot und Kaffee, sondern auch D. Hammett den Jüngeren mit. »Der dünne Mann«, stellte ihn Emma dementsprechend vor. Boniface grinste. »Nun denn: Auf zur Bluternte.« Beim Frühstück brachten sie Tom auf den Stand der Dinge. Schon jetzt zogen wieder die wohl bekannten Rauchschwaden auf, und ein reger Strom von Traumsüchtigen versorgte sich mit der Tagesration. Wieder bewunderte Ada das Geschick ihrer Freundin. Sie in dieser Räuberhöhle zu verstecken, war genial. Keiner der zahlreichen Kunden würde je etwas über andere Besucher des Drogenumschlagplatzes verlauten lassen, um sich nicht selbst damit in Verbindung zu bringen. Keiner wunderte sich über die Anwesenheit der Weißen. Weil sie sie schlichtweg nicht wahrzunehmen beliebten. Dankend vergalten Ada und Tom dafür Gleiches mit Gleichem. Und die Dealer selbst waren schon gar keine Gefahr. Zumal sie längst gute Freunde waren. Tom legte los: »Ich habe einen Typen in vielen Teilen aus dem Wasser gezogen. Waffenhändler und Besitzer mehrerer privater Fluglinien, ein Ukrainer, Igor. War ein schwerreicher Geschäftsmann mit besten Verbindungen bis hin zu Regierungskreisen. Ein belgischer Diamantenhändler ist in Bukavu geköpft worden. Das hat Hintergründe, die vielleicht für uns interessant sind. Chaosmächte herrschen im Kongo. Diverse Rebellengruppierungen, Warlords, ausländische Invasionsgruppen, Killer, Stammesmilizen, Söldner, Räuberhorden, Geheimbünde, Regierungsarmeen und jede Menge Kindersoldaten, die sie zu 210
Tötungsmaschinen gemacht haben. Die kämpfen um die Gebiete, wo es Gold und Diamanten oder seit einiger Zeit Coltan zu holen gibt. Zwischen den einzelnen Gruppen wechseln obendrein ständig die Koalitionen. Dem Ausland wird das ganze Elend als Stammesfehden verkauft. Tutsi und Hutu, Hemu und Lendu. Natürlich sind das Rohstoffkriege, aber weil im Ausland kräftig mitkassiert wird, kommt das nicht so gut. Da quatscht man lieber von dem knappen Ackerland und den Wiesen und Weiden, um die sich Bauern und Viehzüchter streiten. Falsch! Hier gehts um Milliarden Dollar, aber nicht für die Bäuerlein. Die sind sowieso jetzt alle Schürfer, so genannte Manganos. Laut UNO sind seit 98 zwei oder auch drei, manche sagen sogar vier Millionen Menschen in der Region umgekommen. So genau weiß man das nicht. Ein Diplomat meinte, Tote zählt man in Afrika überhaupt erst ab fünfhundert. Der Optimist!« Ach, mein lieber Tom, dachte Ada und verliebte sich aufs Neue. »Aber eigentlich wollte ich euch von Zander erzählen. Also: Zander ist bekannt als seriöser Wirtschaftsexperte in den so genannten besten Kreisen Kameruns, Gabuns und der DR Kongo. Er hat Freunde in Antwerpen, Tel Aviv, New York, Brüssel. Und nicht irgendwen. Er hat auch Verbindungen zu der Barrick Gold Corporation. Die haben zurzeit die Rechte für fast das ganze Gebiet der Okimo, der Goldminengesellschaft Office des Mines d’Or von Kilo-Moto, man schätzt die Vorkommen da auf mehr als hundert Tonnen Gold. Ist die Nummer zwei auf dem Weltmarkt, nach Anglo American aus Südafrika. Im Aufsichtsrat sollen unter anderem George Bush senior, KarlOtto Pöhl, ehemaliger Leiter der Bundesbank, und Brian Dingsbums, der kanadische Ex-Premierminister, sitzen. Allerdings kursieren Gerüchte, dass Zander jetzt in echten Schwierigkeiten steckt. Alles in allem«, schloss Tom vorläufig,
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»ein Mensch, dem man aus dem Weg gehen sollte.« Er seufzte und sah Ada an. »Diese Verbindungen müssen doch transparent gemacht werden. Stell dir nur mal vor, wir könnten nachweisen, wer alles seine Finger in diesem schmutzigen Spiel hat! Wir sind doch nahe dran. Schon gut, schon gut. Ich weiß.« Ada klopfte auf Toms Oberschenkel. »Also eins steht doch mal fest«, ließ sich Boniface vernehmen, »Schneider, also diese Sotrans-Firma, hängt tief drin in diesen dubiosen Geschäften. Ebenso diese malaysische Holzfirma von der Dao. Wer profitiert davon, wenn die nicht mehr existieren? Wenn wir nur diesen einen kleinen Schritt machen, herauszufinden, wen Schneider vom Ibis aus angerufen hat, dann haben wir doch die Verbindung nach Deutschland und wissen es womöglich. Allerdings habe ich das immer noch nicht geschafft. Ist eine Handynummer, nicht registriert. Aber wir, wir sind doch das geniale Team. Emma und Tom schreiben, Ada fotografiert, ich höre alles, und Elise de Souza in Cotonou bringts in ihrer Talkshow. Dann fliegt alles auf. Eine Bombe!« Seine Augen glänzten und glitzerten vor Begeisterung. »Du glaubst doch nicht im Ernst, dass irgendwer von uns da lebend rauskäme, wenn wir das täten. Wenn die sich schon gegenseitig zu Kleinteilen verarbeiten, werden sie bei uns erst recht nicht lange fackeln.« »So ist es.« Tom wurde ernst und sehr wortkarg. Ein Anzeichen, dass es mit ihm kritisch wurde und der Verhandlungsspielraum schrumpfte. »Welche Möglichkeiten gibt es denn, Emma, hier ohne Papiere das Land zu verlassen?« »Nach allem, was ich bis jetzt rausgefunden habe, ist es zurzeit die sicherste Methode, wenn wir nach Limbe fahren und von dort aus ein Boot zum nächsten nigerianischen Ort mit Anlegemöglichkeit nehmen.« »Genau so machen wir das«, bestimmte Tom und sah Ada an. 212
»Na, mal schauen«, meinte sie.
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33 »Die berüchtigte Kongo-Abteilung des ruandischen Auslandsgeheimdienstes soll da die Hand drauf haben.« Toms Stimme klang trügerisch beiläufig. »Die unterstützen die RCD, die den Osten des Kongo beherrscht, ausgerüstet mit bestem amerikanischem Kriegsgerät. Die Rassemblement Congolais pour la Démocratie finanziert sich großenteils durch das Coltan. Wenn man bedenkt, dass achtzig Prozent der bekannten weltweiten Coltan-Ressourcen im Kongo lagern, da ist es kein Wunder, dass die reinste Anarchie herrscht. Das Pentagon hat Coltan nicht umsonst als strategischen Rohstoff eingestuft. Colombo-Tantalit, also Coltan, enthält das seltene Metall Tantal, das extrem hitze- und säureresistent und einfach zu verarbeiten ist. Das Edelmetall ist für die Produktion von Kondensatoren für Handys unerlässlich. An der Londoner Metallbörse ist der Tantalpreis von fünfundsiebzig auf knapp vierhundert Dollar pro Kilo geschnellt. Die Manganos kriegen zehn Dollar für das Kilo. Bei fünfzehn Tonnen die Woche, die via Brüssel vor allem nach Deutschland gehen, rechnet sich das. Willst du die Geschichte von Felix hören?« Ada wollte. Sie hatten sich aus ihrem Versteck getraut und liefen über den Friedhof in Douala. Ada hatte eine Vorliebe für solch verwunschene Orte und hatte Tom überredet, aus ihrem Ghetto zu entweichen und in diesem verwachsenen Gelände, das einem Niemandsland außerhalb der Zeit glich, spazieren zu gehen, um zu reden. Die verwitterten Grabsteine mit afrikanischen Namen wechselten mit denen deutscher Offiziere. Für Kaiser und Vaterland hatten sie gemeint, sich von Malaria, Cholera oder wehrhaften Einheimischen das Lebenslicht ausblasen lassen zu müssen. Jetzt machten sie dem »Grab des
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weißen Mannes« alle Ehre. Pflichterfüllung nach Vorstellung von Leuten wie Bismarck und Co. »Felix ist ein Schuljunge. War ein Schuljunge, jetzt ist er Mangano. Zwölf Jahre und ein helles Köpfchen. Einer von denen, die im Kahuzi-Biega schürfen. Wie seine Schulkameraden und seine Lehrer. Die bekannte Hochschule von Walikale mit sechs Fakultäten hat derzeit noch vierunddreißig Studenten. Alle anderen sind Manganos geworden. Der Kahuzi-BiegaNationalpark, Weltkulturerbe mit einzigartiger Vegetation und Tierwelt, zum Beispiel den berühmten Berggorillas, ist bereits teilweise verwüstet. Gorillas im Nebel könnte man heute nicht mehr drehen. Manche Ecken dort bestehen nur noch aus Kratern. Von den Bewohnern des Urwalds gar nicht zu reden. Wie meinte der Herr Honorarkonsul neulich so schön: ›Herrgott, regen Sie sich doch nicht so auf über die Menschenrechte von den paar Pygmäen, das ist doch lächerlich.‹ Gerade habe ich hier zwei gesehen, ach Mensch … Was zum Teufel ist denn eigentlich wirklich wichtig?« Tom hob in abwehrender Geste die Arme, als müsse er sich vor sich selbst schützen. »Das Wasser muss umgeleitet werden, das ist das größte Problem. Die Gruben sind zum Teil sechs Meter tief und vollkommen ungesichert. Stürzen oft ein. Das begehrte Erz begräbt die Leute. Alt und Jung krabbelt nackt da rum, Plastiktüten in der Hand, extreme Hitze und Feuchtigkeit, in den Gruben das schlammige Wasser, Krankheiten, Vergewaltigungen, Kindesmissbrauch, Alkohol. Jetzt werden die Kinder nicht nur zu Killermaschinen gemacht, sondern entführt und zur Minenarbeit gezwungen. Alles ist aus den Fugen. Wenn man das gesehen hat … Erinnert an Gemälde von Brueghel.« Tom zog heftig an der Zigarette. »Wer dann das Zeug rausgeholt hat, verdient einen Dollar, wenn das Coltan minderwertig ist, und vier, wenns mehr taugt. Pro Plastikflasche, das ist die Maßeinheit. Häufig werden sie dann von schwer bewaffneten Rebellen, Räubern, wem auch 215
immer, überfallen, beraubt, und viele werden erschossen. Einer pro Woche wird umgebracht, meinte Felix, da wo er gerade ist. Bei den Erdrutschen gehen hunderte drauf. Die Frauen sind die Einzigen, die noch auf Feldern arbeiten, um etwas anzubauen. Aber das meiste an Lebensmitteln wird in den Coltanminen verkauft, die einheimischen Märkte existieren nicht mehr.« Tom blieb nachdenklich vor einem Grabstein stehen. »Felix hat gehört, dass es seit dieser Coltan-Geschichte unerklärlich viele Missbildungen in der Region gibt. Hasenscharte und Gehirnschwund bei Neugeborenen, alles Mögliche. Vermutlich sind das Schäden durch Radioaktivität, weiß man alles nicht so genau. Die Hölle auf Erden halt. Dafür gibt es die weltweit einzigartige Behörde mit dem Titel Büro zum Schutz der öffentlichen Einnahmen. Das ist die Finanzbehörde der RCD, die die Abgaben erpresst. Immerhin haben jetzt auch die Herren aus Belgien und Deutschland mit erheblichen so genannten Steuernachzahlungen zu kämpfen. Die Hutu-Power und die Mayi-Mayi-Milizen wollen natürlich auch ihren Anteil. Jedenfalls, das Geschäft läuft. Perfekt. Die neuesten UNOBerichte sind topsecret.« Tom hob resigniert die Schultern. »Ist ja nichts Neues: Gut organisierte Mafiakreise aus einheimischen Politikern, ausländischen Militärs und internationalen Unternehmen haben das in der Hand. Man spricht von so genannten Elitenetzwerken. Felix hofft, dass er nicht bei einem der Erdrutsche begraben wird. Er glaubt, dass er in wenigen Jahren bestimmt ein reicher Mann ist, heiratet, ein großes Haus und ein tolles Auto hat. Und dann kümmert er sich um Landwirtschaft, Viehzucht und darum, dass alle Menschen so leben können, wie es ihnen gefällt.« »Coltan oder dieses Tantal, wie sieht das aus?« »Blaugrau. Platingrau triffts vielleicht besser. Ein hartes, sehr zähes Material.«
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»Komisch. So wie Schneider, eigentlich. Der Mann, der die Verhältnisse offenbar falsch eingeschätzt hat. Und was machen wir nun?« Ada kaute auf einem Grashalm herum und grübelte. »Wir verdünnisieren uns. Von Deutschland oder England aus können wir weiterdenken.« »Vorher will ich noch eine Sache klären.« Ada steckte sich eine Zigarette an. Tom hatte die Marke aus Bukavu dabei. Sportsman. »Ich will wissen, wen Schneider angerufen hat. Ich will mehr Informationen über Zander. Ich will Dieudonné treffen.« »Das sind jetzt aber drei Sachen. Wer ist Dieudonné?« »Ein Freund. Arbeitet für Contra. Diese Umweltorganisation, in der auch Bruno Roth aktiv war. Die Zusammenhänge müssen wir wissen. Dao, Schneider und Zander. Der mysteriöse B.« »Okay, Ada. Wir, ich sage und meine wir, versuchen herauszufinden, was gelaufen ist. Wir reden mit Dieudonné. Aber alles nur in vertretbaren Maßen. Drei Tage. Was da geht, geht. Was nicht, muss warten. Okay? Drei Tage, und dann gehst du nach Limbe und außer Landes. Können wir uns darauf einigen?« Er zog sie an sich. »Gut. Und dann sehen wir weiter.« »Sicher. Von einer anderen Ecke aus.« Er umarmte sie heftiger. Dann liefen sie Hand in Hand zum Friedhofsausgang. Tom stopfte sich ein paar Blätter in die Tasche. Ein Sammler aus Leidenschaft. Ada hatte entdeckt, dass er jedes Papierfitzelchen, auf dem sie ihm ein paar Worte geschrieben hatte, ein Erinnerungsstück an jeden Spaziergang, den sie unternommen hatten, an jedes Restaurant, in dem sie einmal gegessen, und jedes Hotel, in dem sie einmal übernachtet hatten, aufhob. Vielleicht sein Dokumentationstrieb. Vielleicht, weil ihre Liebe zu großen Teilen aus Erinnerungen, Gedanken, bestenfalls Telefonaten oder Briefen und Faxen bestand. Vielleicht auch die Ahnung, dass das eines Tages alles sein würde, was blieb? Trockene 217
Blätter, vergilbtes Papier, verschimmelte Brotkrümel in einem Schuhkarton, auf dem »Ada« stand? Puh, vielleicht war ein Friedhof doch nicht der ideale Ort, um mit seinem Liebsten zu reden? Regentropfen klatschten auf die Grabsteine. Ein schiefes Steinkreuz berichtete von der treuen Pflichterfüllung, die Fritz Schröder im Alter von achtundzwanzig Lenzen ehrenvoll dahingerafft hatte. Es begann wunderbar zu duften. Nach Laub und frischem Grün. Der Regen wurde stärker, und kühle Tropfen liefen den Nacken hinunter. Ada wurde ganz leicht und glücklich zumute. Alles würde gut werden. Erstaunt stellte sie da fest, dass Tom missmutig neben ihr lief, als sei der Regen eine persönliche Beleidigung. Schnell fanden sie ein Taxi. Die Brücke über den Wouri war komplett verstopft. Ada trug ein Kopftuch und Sonnenbrille und war auf ihrem Sitz so tief wie nur möglich gerutscht. Tom alberte herum, wollte sich einen falschen Schnurrbart ankleben. Unfug. Wenn Zander sie finden wollte, würde ihm das gelingen, ganz gleich, wie und wo. Ada hatte noch seine ölige Stimme im Ohr: »Wir werden uns wieder sehen.« »Endlich! Fürchterlich mit den Verliebten, vergessen alle Zeit.« Mit über den Augen zusammengerutschten Brauen tadelte Emma sie. Ihr Kleid mit den Spagettiträgern war sehr mini und sehr orangefarben, sodass es vor den Augen nur so flimmerte. Dieudonné kippelte mit seinem Stuhl und sah sorgenvoll aus. »Es gibt Neuigkeiten«, brummte er und musterte neugierig Tom. Der sah auch recht interessiert drein. Kurze Vorstellung durch Moderatorin Emma, die sich an gewandtem Smalltalk selbst übertraf. Wie üblich war jeder Atemzug ein ordentlicher Hieb Rauschmittel unbekannter Zusammensetzung. Heute war es eher scharf und kratzte in der Kehle. Zwei Jungs qualmten mit, die 218
sicher nicht mal das schulfähige Alter erreicht hatten. Wo waren nur die Mädchen? Ada hatte sie alle hier einzeln und in Gruppen, ernst, lachend, tobend, müde und bekifft fotografiert. In den Augen Erfahrungen von hundert Jahren mindestens. »Nun schieß schon los!«, forderte Emma Dieudonné auf. »Firma TIMS, hochanständige Holzhandelsfirma mit Sitz in Douala, Rue Kitchener 41, in Basel und in Hamburg, hat mit Sotrans zusammengearbeitet, als Auftraggeber. Muss nicht so viel zu sagen haben, aber bekannt ist inzwischen, dass Schneider nicht nur mit Holz gedealt hat, sondern auch beim Coltanschmuggel aus dem Kivu seine Finger im schmutzigen Spiel hatte. Firma TIMS ist inzwischen ganz groß in der Ökologie zugange.« »Das wissen wir. Viel interessanter ist doch, welche Verbindungen genau zu Sotrans bestehen, warum Schneider aus dem Weg geräumt wurde und wer der Dao den Hals umgedreht hat beziehungsweise in wessen Auftrag.« Dieudonné fuhr unbeeindruckt fort: »Hermann Kanzer aus Hamburg, der TIMS-Geschäftsführer, ist gerade hier aufgetaucht. Wie es das Schicksal will, hat er mit Contra zu tun, weil er einen Teil seiner Konzessionen nach ökologischen Kriterien zertifìzieren lassen will. Ich werde mich mit ihm treffen. Vielleicht kann ich ihm ja ein wenig auf den Zahn fühlen. Sicherheitshalber beschatten ihn Freunde von mir. Und jetzt kommts: Er wird verfolgt. Ein berüchtigter Killer, John Johnson aus Lagos, ist hinter ihm her. Seine Spezialität ist Genickbruch. Außerdem arbeitet er mit Juju-Kräften. Er hat es geschafft, dass ihm bisher so gut wie nichts nachgewiesen werden konnte. Soviel ich gehört habe, dein alter Freund aus Cotonou, Ada.« »Er ist also immer noch im Geschäft! John Johnson hat damals nur ganze sechs Monate im Knast gesessen. Trotz des eindeutigen Beweisfotos. Offenbar ist nichts zu machen bei dem Hund.« 219
»Die Dao hat eine Holzfirma mit Hauptsitz in Kuala Lumpur geführt. Ihre Firma hat kurz vor dem spektakulären Hinscheiden der Eheleute Fronmüller-Dao mit einer chinesischen Firma fusioniert. Sotrans wollte mitspielen und ist gelinkt worden. Soviel ich gehört habe, musste der Ex-General nach einem Flugzeugabsturz wegen Unzurechnungsfähigkeit aus der Bundeswehr ausscheiden. Vermutlich war er nun auch für hiesige Geschäfte nicht mehr brauchbar.« »Gibts was Neues vom weißen Fisch?« »Zander? Der hat Ärger am Hals. Man bringt ihn mit allen möglichen Todesfällen in Zusammenhang. Alles in allem hat es den Anschein, dass Zander wahllos niedermacht, wer irgendwie seine Wege kreuzt. Läuft er Amok? Oder hat er es darauf abgesehen, möglichst viele Nationalitäten in seiner Opfer-Liste zu führen? Vielleicht will er ja damit ins Guinness-Buch der Rekorde. Mal sehn, was haben wir denn bisher für Nationen? Einen Belgier – den Diamantenhändler –, einen Ukrainer – den Waffenhändler –, einen Kameruner, nämlich Eric, und, falls Zander Schneider gekillt hat, einen Deutschen. Wenn Brunos Tod auf seine Rechnung geht, einen Schweizer. Und mit der Dao haben wir noch eine Malaysierin plus eine Beninerin, das Hausmädchen nämlich. So. Damit wäre ja Ada aus dem Schneider. Deutschland hat er schon. Aber für Tom wirds brenzlig. Engländer!« Emma stöhnte herzzerreißend. »Mein lieber, guter Dieudonné, du bist komplett high von dem Zeug hier in der Luft!« Sie machte eine Pause. »Andererseits … Pater Kalinowski war Pole. Ha! Und Pierre Bernard Franzose! Oh je! Deine Verrücktheit muss ansteckend sein.« Da mischte sich Tom ein: »Fronmüller habt ihr vergessen. Auch ein Deutscher. Die Theorie hinkt.« Boniface erschien heute wohl als Philip M. In einer Hand eine Flasche Whiskey, die er zur Begrüßung schwenkte. Unterm Arm 220
einen Stapel seiner zerlesenen Bücher. Mit geradezu missionarischem Eifer versuchte er zuallererst die Jungs zu überreden, sich seiner ausgewählten Lektüre zu widmen. Von Chandler über Hammett bis zu seinem verehrten Mongo Béri hatte er Exemplare dabei. »Tam-Tam für den König, das ist so saustark!« Die machten gute Miene. Nette Jungs. Einer der kleinen Fulbe, sehr gewitzt und wortreich, den Ada besonders ins Herz geschlossen hatte, kam angerannt und überreichte ihr ein in Zeitungspapier gewickeltes Etwas. »Hat mir Maman Benz gegeben für die Weiße hier.« »Wer ist Maman Benz?« »Eine nigerianische Händlerin, die mit allem handelt, was es gibt. Sie steht in dem Ruf, eine Hexe zu sein, die sich nachts in eine Eule verwandelt. Das hat sie reich gemacht.« Emma war angespannt, wie ihre Stimme verriet. »Unser Versteck ist wohl längst keins mehr. Lass mich raten. Unappetitliche Tierteile?« Ada klappte die Zeitungsseiten auseinander und versuchte, sich auf den Inhalt des Artikels zu konzentrieren. Offensichtlich ein regierungstreues Blatt. Was herunterfiel, entsprach haargenau Emmas Vorhersage. »Mit schönen Grüßen von Zander und seinen Freunden?« »Du musst sofort verschwinden. Das ist Juju – kein Scherz.« Dieudonnés Stimme war eindringlich geworden. Boniface gesellte sich zu ihnen und schenkte Whiskey ein. »Das Sotrans-Büro ist aufgelöst. Nix mehr drin mit Abhören.« »Es ist überhaupt nichts mehr drin. Nur noch Verschwinden ist drin. Ada sollte Zander und den Juju-Männern nicht noch einmal über den Weg laufen. Emma, gibts was Neues von der heiligen Seefahrt?« Tom war nicht zum Späßen zumute. 221
»Benzinschmuggler sind ständig zwischen einem kleinen Dorf in der Nähe von Limbe und Nigeria unterwegs. Die nehmen Ada mit, ich hab eine Empfehlung. Von dort aus gehts weiter mit einem Frachter, ein Cousin von einem Freund ist der Kapitän. Tat schwer geheimnisvoll, aber die Fracht interessiert uns in diesem Fall mal nicht. Er läuft nämlich Cotonou an. Elise freut sich schon auf deinen Besuch, Ada! Und dann besorgt sie dir ein Ticket nach Deutschland, okay?« »Fabelhaft!«, fand Tom. »Ich muss morgen nach London. Über Elise können wir Verbindung halten und uns dann in Europa treffen, wo immer du halt ankommst. Und dann hat der Spuk ein Ende.« »Ich begleite dich bis Cotonou. Vielleicht bleib ich auch mal ein Weilchen dort. Und Zander hat hoffentlich hier noch genug zu tun.« Emma sah kritisch drein. »Übrigens«, Dieudonné stand auf und brummelte, »Gerüchten zufolge war Zander im Kivu mit einer kongolesischen Intellektuellen liiert. Nathalie Masumbuko. Die hat man ermordet. Keiner weiß, wer. Sie war eine Tutsi. Die HutuMilizen? Oder doch jemand ganz anders? Was hatte sie mit einem Kerl wie Zander zu schaffen? Was geht die Liebe doch für seltsame Wege.« Er sah Ada an. »Meldet euch, wenn ihr in Sicherheit seid, ja?«
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Limbe, Kamerun, 4° 0’ N, 9° 12’ E – Calabar, Nigeria Der Kleinbus fuhr durch weite Kaffee-, Kakao-, Tee- und Kautschukplantagen, unterbrochen von dem saftigen Grün der Wälder. Diese Gegend gehörte zu den regenreichsten Gebieten der Erde. Heute schien jedoch die Sonne. Wie üblich hüllte sich das Massiv des höchsten Gipfels Westafrikas, des Monte Kamerun, in Nebelschwaden. Emma qualmte eine nach der anderen und sah ständig nach hinten. Kein weißer Mann in Sichtweite. Überall wehten knallrote Guinness-Fähnchen. »Die hängen hier wegen des berühmten Guinness-Bergrennens. Die besten Bergläufer brauchen weniger als vier Stunden für die ganze Strecke, dreitausend Höhenmeter ab Buea, hinauf und hinunter.« Emmas touristische Erläuterungen waren auch schon mal enthusiastischer gewesen. In Tiko zweigte die Straße rechts nach Buea ab, und sie mussten umsteigen, um nach Limbe zu kommen. Hier wehte eine frische Brise, nach der schweißtreibenden Feuchte von Douala eine Wohltat. Ada fühlte sich von Hitze und Hektik des Aufbruchs schwach. Wenn sie an die mysteriösen Vodouteile dachte, wiederholte sie für sich Emmas Ausspruch von neulich: »Ich bin nicht von hier. Mir kann das nichts anhaben.« Sokolo war ein kleines Fischerdorf in der Nähe von Limbe. Tiefschwarzer Sand, Vulkangestein. Links von ihnen führten die bewaldeten Hügel hin zum Monte Kamerun. Urgetüme von Tropenbäumen standen direkt am Strand. In ihrem Schatten 223
schufteten breitschultrige Männer und bauten Fischerboote. Es roch nach frisch gesägtem Holz, Teer und Fisch. Die Männer begrüßten Ada und Emma freundlich lächelnd und ließen sich nicht weiter stören. Etwas entfernt in den Mangrovensümpfen sollte am Abend das Boot auf sie warten. Sie beobachteten die geschickten Handgriffe der Bootskonstrukteure. Ada war in ihrem Element und nahm eine ganze Fotoserie auf. Ernste Gesichter, schweißüberströmte Muskelpakete, leicht aussehendes Einpassen und Verfugen der Planken. Hier hatten Generationen ihr Handwerk vervollkommnet. Kinder tobten um sie herum und ergänzten das Bild zeitloser Landidylle. Ein paar Wochen Urlaub in einer Strandhütte … Ada schloss die Augen und dachte an Tom. Der Abschied war nach ihrem Geschmack gewesen. Unsentimental und kurz. Eine Weile später stellte sie fest, dass es Dieudonnés Augen waren, die sie vor sich sah. Ada hatte den größten Teil ihres Gepäcks Tom mitgegeben. Nur mit kleinen Reisetaschen beschwert, liefen die beiden Frauen bei Sonnenuntergang den Strand entlang. »Muss doch allen Leuten, die uns so sehen, klar sein, was wir vorhaben.« »Sicher«, bestätigte Emma. Das kleine Holzboot sah alles andere als Vertrauen erweckend aus. Von gar zu vielen Schmuggelfahrten ramponiert, hatte es neben morsch aussehenden Planken eine unangenehm niedrige Bordwand. Ada sah kritisch auf die Wellen. Der Bootseigentümer sah aus wie Humphrey Bogart auf der African Queen, allerdings im Jetzt-Zeitalter. Wann war dieser Film noch gedreht worden? Die grauen Haare unter einer mehr oder weniger zerfallenen Kapitänsmütze, eine sicher historisch wertvolle Steinpfeife im Mundwinkel, begrüßte er sie knapp und forderte 224
sie mit einladender Gebärde auf, auf seinem Luxusdampfer Platz zu nehmen. Die Augen waren von den vielen reflektierten Sonnenstrahlen ausgeblichen. Vielleicht konnte er schlecht sehen? Seine Bewegungen waren allerdings sicher und fest. Sie warfen ihre Taschen hinein und überließen sich ihrem Schicksal. Geschickt stakte sie der schweigsame Mann über die Brandung und warf dann einen kleinen Außenbordmotor an. Wohl wegen der Zollstation in Idenau fuhr er recht weit hinaus auf das tintenschwarze Meer. Dann stellte er den Motor ab. Ada sah ihn verdutzt an. »Was wird das jetzt?« Der Alte entkorkte eine Flasche Akri, den »African Gin«, eine Art Palmschnaps, der ihm einen scharfen Atem bescherte. Nach drei tiefen Zügen, einer Pause und drei weiteren tiefen Zügen, in der Ada und Emma die Stille der Nacht, das leise Plätschern der Wellen in Konkurrenz zum Glucksen aus Flasche und Hals und das Kreuz des Südens am Himmel bewundern konnten, bequemte er sich zu einer Antwort. »Idenau ist schon eine Weile das reinste Kriegsgebiet. Die schießen auf alles, was ihnen vor die Knarre kommt. Kämpfe um Cap Bakassi. Die sollen hier Öl gefunden haben, seitdem schlagen sich die Nigerianer mit Kamerun drum.« Unerfindlicherweise fand er das erheiternd und kicherte. »Das Motorengeräusch schallt viel zu weit über das Wasser. Wir lassen uns von der Strömung treiben.« »Ach, und die führt netterweise zum nächsten nigerianischen Hafen?« »Wir werden sehen«, murmelte der alte Mann weise und nahm einen Schluck. Seine Stimme war heiser von zu vielem Palmschnaps oder zu vielen Erklärungen für dumme Touristen. Seine Miene verhieß, dass es ihm mit Letzterem auf jeden Fall jetzt reichte. Als Ada spürte, dass ihre Füße nass wurden, war der Mond hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden und vom Ufer 225
nichts zu sehen. Bogey war auf der Rückbank zusammengesunken, schlief fest und schnarchte. Sie trieben dahin. Dank der Dunkelheit waren wenigstens keine Haifischflossen zu sehen. Der Himmel weinte über all ihr Unglück. Doch die Nässe im Boot kam nicht nur von oben. Emma, wie immer praktisch bis zum Äußersten, hatte schon eine rostige Konservenbüchse gefunden und schöpfte unermüdlich. Ada löste sie ab. Es gab nur eine Büchse. Das Boot sank langsam tiefer, aber noch hatte das Wasser die Bordwand nicht erreicht. Bogey erwachte, als hätte sein innerer Wecker geklingelt, war übergangslos hellwach und munter. Er hielt seine Nase in die Luft, schnupperte, tauchte eine Hand ins Wasser und ließ durch seinen Gesichtsausdruck erkennen, dass er ein alter Seebär mit untrüglichen Instinkten war. Bedenklich wiegte er den Kopf. »Die Strömung … Sehr ungewöhnlich. Mit diesen Schwierigkeiten war nicht zu rechnen.« Die Stirn umwölkte sich. Er versuchte, den Motor zu starten. Fünfmal, sechsmal. Vergeblich. »Was können wir tun?« »Ich fürchte, das wird ein bisschen teurer. Sie müssen mehr bezahlen, bei all dem hier. Dauert viel länger als geplant.« »Wie viel?« Als sie sich einig geworden waren, gab der Motor ein erstickendes Gurgeln von sich. Dann sprang er an. Ada hielt vergeblich nach einem Benzinkanister Ausschau. Braucht man wohl nicht, bei der Strömung. Mit der Dämmerung am Horizont stieg die Hoffnung. Der Alte stand schwankend auf, verhinderte mit einer geschickten Gewichtsverlagerung in letzter Sekunde ein Kentern und griff sich die lange Stakstange. Hinter Nebelschwaden hatte sich das Ufer versteckt und zeigte jetzt überraschend hier und da Teile seiner Existenz. Nigeria? Sicher brachte er sie über die Brandung. Gut gelaunt schwang er sich über die jetzt praktischerweise direkt auf Meeresspiegel226
höhe angelangte Bordwand, ließ sich ins Wasser gleiten und zog knirschend das Boot an den Strand. Eine letzte Welle zog kühl und zischend über sie, ein frischer Morgengruß. Bogey ruderte mit dem Arm herum, als Emma ihm die vereinbarten Scheinchen überreichen wollte. Alles andere hatte er glänzend und mühelos gemeistert. Jetzt, im trüben Morgenlicht, erkannte Ada, dass seine Pupillen von einer dicken gelblichen Hornhautschicht bedeckt waren. Wie zwei Seejungfrauen, gerade dem Meer entstiegen, klatschnass und übernächtigt, mit Ringen unter den Augen, stiefelten sie durch den Sand. Vor ihnen schwebte ein roter Feuerball durch die Nebelwand. Die Reisetaschen hinterließen eine Tropfspur im Sand. Die Fotoausrüstung in der Umhängetasche – Ada hatte sie ganz kurz gebunden – schnürte am Hals, war aber trocken geblieben. Wie das kleine Dorf hieß, in dem sie nun ankamen, sollten sie nie erfahren. Eine Kolonne Männer mit Spaten auf den Schultern marschierte im Morgendunst den Straßenrand entlang, schweigend und mit ernsten Gesichtern. Mit quietschenden Reifen hielt ein weißer Peugeot 504 neben ihnen. Ein junger, forscher Typ steckte seinen hübsch frisierten Kopf aus dem Fenster und informierte sie in wildem Pidgin-Englisch, dass Weiße hier ihres Lebens nicht sehr sicher waren. Raubüberfälle seien eine beliebte Einnahmequelle. Er empfehle, sofort und ohne Diskussion alles Wertvolle freiwillig herauszugeben. Und sich zu ihm in sein Taxi zu setzen. Nach Calabar nur hundert Dollar. Als sie bei zwanzig angelangt waren, fuhren sie los. Warum er die ganze Zeit Good Bye Mama trällerte, wurde Ada klar, als sie auf seine Tachonadel schielte. Sie zitterte um die einhundertfünfzig. Auf der schön asphaltierten vierspurigen Autobahn beschleunigte er. Den tiefen Schlaglöchern wusste er 227
knapp auszuweichen, ohne die von vorn heranrasenden und links und rechts vorbeischießenden Autos aus den Augen zu verlieren. Erst als ein Laster mit einer von schwer bewaffneten Militärs gut gefüllten Ladefläche die Straße blockierte, verlangsamte er. Zwei der offenbar volltrunkenen Kerle sprangen herunter, entsicherten ihre MPis, und hielten die Mündung ans Autofenster. Einer kreischte: »Get out, Ladies!« »Give them money!«, stöhnte ihr Fahrer sichtlich nervös und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Emma reichte einen druckfrischen Schein durch das geöffnete Fenster, wie die Queen persönlich ein Almosen verteilen würde, wenn sie es denn täte. Verblüfft betrachteten die Typen das Papier, wendeten es hin und her und rochen daran. Der Fahrer gab Gas. Durch das Rückfenster sahen sie die Soldaten wild winken und die Uzis schwenken. Sie winkten nicht zurück. In Calabar am Hafen gab es in einer kleinen Wellblechhütte eiskalte Bitter Lemon. Der Cousin von dem Freund oder der Freund von dem Cousin, Emma wusste es auch nicht mehr so genau, nannte sich Modeste, meinte sie. Nach einigem Suchen fanden sie ihn in einer kleinen Hafenbar. Er trug ehemals weiße Hosen, ein buntes Hawaiihemd über dem fetten Bauch, schweres Gold und graue Stoppeln auf den aufgeschwemmten Wangen. Adas Vermutung nach mussten die vorhergegangenen Generationen aus Nordafrika und Indien stammen. Sein schönes, hochseetüchtiges Schiff hieße Reine d’Afrique. Er hob schwärmerisch die Augenbrauen, als spräche er von seiner Braut. War allerdings in Reparatur. Nur ein kleines Leck, beschwichtigte er. Würde sicher nicht lange dauern. »Wie können wir sonst noch weiter?«, erkundigte sich Ada.
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»Gar nicht.« Emma war sich sicher. »Die Grenzer sind wilde Burschen, da hilft nicht mal Geld. Ohne Papiere kommen wir auf dem Landweg nicht raus. Wir müssen halt warten.« Modeste machte nicht den Eindruck, als hätte er es sonderlich eilig. Eine laute Dame mit Formen, die seine Augen freudig aufblitzen ließen, machte es sich auf seinem linken Knie bequem. Es schien ihm nichts auszumachen, er war recht kräftig. Sie wollte Bier. »Kommt morgen noch mal vorbei. Ich hab jetzt zu tun.« Modeste schnipste nach dem Barkeeper. Im Seaman’s Corner gab es preiswerte Zimmer und eine Wirtin, die zugunsten von ein paar Dollar auf die Einsicht in die Einreisepapiere verzichten konnte. Schweren Herzens, aber na ja, sie war kein Unmensch. Und auch einmal jung gewesen. Und so schön. Was sie für Männer hatte, damals. Ihr imposanter Oberkörper bebte bei der Erinnerung, und ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust. Aber nicht nur Männer hätten schließlich ihre Vorzüge. Sie blinzelte ihnen zu. Die Zimmer hatten dünne Lehmwände, ein Dach aus Stroh und massenhaft mehrfüßige kleine Bewohner auf den Laken, dem Fußboden und den Wänden. Ada hatte noch nie so große Kakerlaken gesehen. Auch noch nie so viele auf einmal. Auf einem handgeschriebenen Zettel wurde darum gebeten, die gebrauchten Utensilien in den dafür vorgesehenen Abfalleimer zu platzieren. Der Eimer fehlte. Fortlaufend nummeriert und durch einen rosa gestrichenen, überdachten Außengang miteinander verbunden, hatten die Damen keine Mühe, ihre Freier in die kleinen engen Kämmerchen abzuschleppen. Als Liebesgeflüster konnte man die Geräuschkulisse auch beim allerbesten Willen nicht mehr bezeichnen. Ada und Emma setzten sich draußen in die Nacht und tranken Bier. Erst gegen Morgen wurde es ruhiger, und sie wälzten sich in der stehenden Hitze der Kammer trotz der vergangenen schlaflosen Nacht unruhig herum und erschlugen 229
so viele der beißwütigen Wanzen, die plötzlich von überall her auftauchten, wie sie erwischen konnten. Der nächste Morgen strafte ihr leichtsinniges Tun mit bösartigen Kopfschmerzen. Das Kameruner Bier war besser verträglich, da waren sie sich einig. Überall juckten dunkelrot anschwellende Stellen. Der Name Modeste passte heute besser zu ihm. Er schlich auf dem Hafengelände umher, die Hände in den ausgebeulten Hosentaschen, und blickte sie aus umflorten Augen über den stoppligen Wangen trübsinnig an. »Leben«, stöhnte er vor sich hin, »was ist das, Leben? Ein ewiges Suchen. Nur wonach?« Er kam offenbar heute damit auch nicht weiter. Am Abend ginge es los, ließ er sie zu ihrer Überraschung wissen. Für die Preisverhandlungen schlug er die Bar von gestern vor.
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Douala Im Rückspiegel beobachtete Kanzer diesen Kerl. Er stand wieder vor seinem Hotel. Lang und knochig mit überdimensionaler Sonnenbrille und einem tief in die Stirn gezogenen Hut. Jetzt rang er sich zum Handeln durch. Er schlenderte auf Kanzers Wagen zu und klopfte mit einem dürren schwarzen Finger an die Scheibe. Kanzer betätigte den automatischen Heber. Den Ellenbogen auf das Autodach gestützt, beugte sich der Dünne zum Fenster hinunter. Das, was von dem Gesicht zu sehen war, verhieß nichts Gutes. Die Stimme war wie das Klima in Douala, schwül und schwer zu ertragen. »Sie haben was Wichtiges vergessen.« Kanzer starrte ihn an. »Wovon reden Sie denn bitte?« »Von Geld. Die malaysische Dame. Ihr Partner war es, der mich beauftragt hat.« Kanzer stockte der Atem. Den hatte Schneider also engagiert! Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Er blickte arrogant, versuchsweise. »Ich habe nichts damit zu schaffen. Wenden Sie sich an Ihren Auftraggeber, wenn Sie Probleme mit ihm haben.« »Sie wissen ganz genau, dass es den nicht mehr gibt. Ich will mein Geld, und Sie werden zahlen.« Die Betonung verriet eine beängstigende Sicherheit. Woher nahm er die?
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»Berufsrisiko, wenn Ihr Auftraggeber nicht mehr existiert. Suchen Sie sich einen neuen Job, wenn Sie Geld brauchen. An Aufträgen wird es ja nicht mangeln.« »Morgen Mittag haben Sie das Geld. Und zwar hier.« »Ich denke nicht daran.« Er schloss das Fenster und fuhr davon. Kanzer hatte gelogen. Von nun an dachte er ständig daran. Der war Profi. Er würde ihm nicht entkommen. Er aß, ohne zu sehen, was. Die klimatisierte Halle des Ibis war nur spärlich besetzt. Das war ja eine miese Klemme, in die ihn dieser Killer brachte. Das Geld spielte dabei nicht die entscheidende Rolle. Das war leicht aufzubringen. Kurz ging er in Gedanken seine Konten durch und den Weg zur nächstgelegenen Bank. Aber wenn er für den Mord an der Dao zahlte, führte eine Blutspur von Schneider zu ihm. Wenn er zahlte, zeigte er Schwäche. Wer Schwäche zeigt, sitzt schon in der Falle. Das erinnerte ihn an Pierre Bernard. Und nun traf er sich mit Dieudonné Bulu, diesem Freund von Bernard. Der war ihm am Telefon gestern so hintergründig vorgekommen. Als wüsste der etwas. Oder wollte etwas Bestimmtes. Er würde Bulu auf den Zahn fühlen. Jemand stand unvermittelt vor ihm. Irritiert biss er auf eine Haselnuss, und seine Jacketkrone brach. Verflucht, er hätte in Hamburg doch noch einmal zum Zahnarzt gehen sollen. Jetzt sollte es ja diese Zahnimplantate aus Titan geben, die im Kieferknochen einwuchsen. Vielleicht war das ja was für ihn. Oder war es Tantal? Schneiders Coltan-Geschichte machte ihn noch ganz nervös. Was hatte der Mann für einen Mist gebaut! Wenn ihre Verbindungen auffliegen sollten, sah er ganz schön alt aus. Kanzer sah hoch. »Ist alles in Ordnung?« Die tiefe Stimme hatte etwas äußerst Beruhigendes. Kanzer versuchte, sein schmerzverzerrtes Gesicht unter Kontrolle zu bringen und bat Dieudonné Bulu höflich, Platz zu nehmen. 232
Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke. B. – B. wie Bulu? Hatte er diese ominösen Beweise in der Hand? Jetzt wurde ihm klar, was für einen grandiosen Fehler Schneider da wieder gemacht hatte: Er hatte mit Bruno den Falschen erwischt! »Was trinken Sie?« »Nur ein Glas Wasser.« Kanzer winkte dem Kellner und tastete mit der Zunge nach dem Zahnstumpf. Die Krone hatte er auch noch verschluckt. Er nahm einen tüchtigen Schluck Wein zum Nachspülen. »Schön, dass Sie sich für die ökologische Nutzung unserer Wälder so engagieren. Das ist auch dringend nötig. Wenn nicht bald etwas geschieht, wird unkontrolliert alles abgeholzt, was irgendwie Wert hat. Und unser Land hat noch nicht einmal etwas davon. Nur den Schaden.« Kanzer war zunächst nicht klar, wovon er eigentlich redete. Wer hatte den Schaden? Vorsichtshalber nickte er. »Dieser Raubbau an den Wäldern ist mit den Jahren immer schlimmer geworden. Der reinste Raubtierkapitalismus.« Raubtierkapitalismus! Kanzer öffnete den Mund. Er hub an zu lachen, überlegte es sich aber in letzter Sekunde anders. Wollte der ihn verarschen? »Unserer Firma ist sehr am Erhalt der Tropenwälder gelegen. Die Ökologie in die Holzwirtschaft zu integrieren, ist eins der herausragenden Prinzipien unserer Arbeit. Wesentlicher Teil unserer corporate identity. Unser Logo ist schließlich nicht zufällig der Gecko. Eine Echsenart, die sich unter anderem durch ihre Haftzehen auszeichnet. Die kommen überall hoch.« Er lachte schallend. Bulus Gesicht versteinerte. Schnell fuhr Kanzer fort: »Ich meine selbstverständlich, das ist ein Logo, das sehr schön symbolisiert, dass die Natur uns am Herzen liegt.« Verflucht, er eierte vielleicht herum. Der so würdevoll dasitzende Kerl verunsicherte ihn. »Die Konzession am Waza-Nationalpark ist ja nur der Anfang der Zertifizierungen. Wir arbeiten an einer Vergrößerung der 233
Gebiete, die viel versprechend sind. Unrentable Zweige unserer Branche konnten wir outsourcen, wir bieten unseren Aktionären Sicherheit. Shareholder value, Sie verstehen? Wir wollen unseren Kunden hochwertiges Holz bieten und gleichzeitig sicherstellen, dass sie auch noch ruhigen Gewissens in ihren schönen Tropenholzbetten schlafen können. Holz aus – na, was solls. Sie muss ich ja nicht mehr agitieren.« Aus einem plötzlichen Impuls heraus, die unüberbrückbare Entfernung zu dem Mann am Tisch wenigstens zu verkleinern, wollte er Bulu auf die Schulter klopfen. Vielleicht war es auch das Gefühl der Ohnmacht, das ihn in seiner Gegenwart überfiel. Der daraus resultierende Wunsch, ihn zu schlagen? Jedenfalls wich Bulu instinktiv aus und Kanzer traf schwungvoll die Blumenvase, die scheppernd auf dem Marmorboden zu Bruch ging. Das lauwarme Blumenwasser ergoss sich in seinen Schoß. Undeutlich stieg die Erinnerung an ein peinliches Ereignis aus Kindheitstagen in ihm auf. Dass die Kellnerin, die mit einem trockenen Tuch heraneilte und auf seinem Schoß herumzurubbeln begann, war vollends unsäglich. Wütend jagte er sie davon. Jetzt erschien ein seriöser Herr des Hotels, offenbar aus den höheren Chargen. Er beugte sich zu Kanzer hinunter und raunte: »Monsieur Kanzer? Jemand für Sie am Telefon. Ein Mister Johnson. Er sagt, es gehe um die Rechnung.« Das letzte Wort sprach er aus wie eine Obszönität. Der Herr zog ein wenig pikiert die Augenbrauen hoch, ob der Indiskretion seiner Mitteilung. Er würde schweigen, drückte seine Miene aus. Wie ein Grab, dachte Kanzer. Und er auch, bald, in einem ebensolchen. Eins war sicher: Heute war nicht sein Tag. Er eilte durch die Halle zu der Telefonkabine. Alle starrten auf seinen nassen Hosenlatz. Zwei elegante Damen tuschelten und sahen zu ihm herüber. Überlaut klirrte ihm ein Kichern in den Ohren. Leise fluchend riss er die Tür zur Kabine auf und stürzte hinein. Am anderen Ende der Leitung war niemand. 234
An der Bar stürzte er einen Whiskey pur herunter. Lässig schlenderte er zu Bulu an den Tisch zurück. »Wissen Sie eigentlich Näheres über die Ermordung Ihres Kollegen, Pierre Bernard? Was für eine furchtbare Geschichte! Er soll in eine Falle geraten sein?« »Ja«, erwiderte Bulu ruhig und leise. »Das kommt hier bei uns öfter vor. Dass Leute in Fallen geraten.« Kanzer fand, es sei nun Zeit zu gehen. Aber sie mussten ja noch über die bevorstehende Zertifizierung reden. »Morgen fährt das Expertenteam zu der Konzession und stellt die Unterlagen zusammen, nicht wahr? Werden Sie auch dabei sein?« Wieder guckte Bulu so undurchdringlich. »Wissen Sie, ich kenne das alles dort gut genug. Und ich habe hier so viel zu tun. Sie werden dann über die Ergebnisse informiert. Schriftlich. Wissen Sie, dass sinnvolles Handeln leicht an der Absurdität der Welt scheitern kann? Unserer schönen und grimmigen Welt? Aber wenn wir die Fruchtlosigkeit unseres Handelns zugeben, haben wir schon verloren. Wenn wir jedoch die Absurdität akzeptieren, können wir sie vielleicht überwinden. Zu anderen Menschen finden und gemeinsam handeln. Oder um es kurz mit Camus zu sagen: ›Ich empöre mich, also bin ich.‹ Der Weg zur Wahrheit ist der Weg zu sich selbst. Der Weg zur Verwirklichung der Ideale ist der Weg zur Freiheit. Waren Sie schon einmal in einem Urwald und haben an den meterhohen Wurzeln vorbei zu den sechzig Meter hohen Baumkronen hinaufgesehen? Wissen Sie, wie viele Pflanzen- und Tierarten auf einem einzigen dieser Bäume leben? Einzigartige, wunderbare Pflanzen und Tiere? Haben Sie schon einmal erlebt, dass Schönheit und Vollkommenheit traurig machen kann?« Freiheit? Wahrheit? Schönheit? Gar Traurigkeit? Kanzers Zahnschmerzen nahmen zu. Da brachte der Kellner den Nachtisch. Kirschkuchen mit Sahne. Er wurde auf einem Teller 235
mit Zwiebelmuster serviert. Kanzer bestellte noch einen doppelten Whiskey dazu. Bulu hatte sich bereits verabschiedet. Auf dem Weg zum Hotel fuhr Kanzer schnell, bevor er es sich anders überlegen konnte, an der Bank vorbei und löste drei Schecks ein.
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Calabar, Nigeria, 4° 50’ N, 8° 18’ E – Cotonou, Benin, 6° 18’ N, 2° 27’ E Das Einzige, was an Modestes schwärmerischer Beschreibung seines Schiffes stimmte, war der Name. Von Hochseetüchtigkeit konnte keine Rede sein. Am Bug des rostigen Frachtschiffs war Reine d’Afrique gerade noch so zu entziffern. Außer Kapitän Modeste war nur noch sein Steuermann dabei. Adolpho. Ein vollbärtiger Zweimetermann mit enormen Schultern und Muskeln. Arme und Hals mit allerlei Amuletten behängt. Passagiere hatten sich außer Ada und Emma keine eingefunden. Ada hatte ein ungutes Gefühl. Ihre innere Stimme sagte unüberhörbar nur einen Satz: »Runter von dem Kahn!« Aber es war schon zu spät. Mit einer den Himmel schwärzenden Wolke dampfte die Reine d’Afrique los. Adolpho hatte alles im eisenharten Griff seiner großen Fäuste. Modeste zog sich mit einer Buddel voll Rum unter ein zerfetztes Sonnensegel am Bug zurück. Adolpho stand hinter dem Steuerrad, Ada und Emma ließen sich bei ihm nieder. »Wo sind Sie her?«, erkundigte sich Emma. »Kongo, Brazzaville.« Adolpho wiegte den Kopf, als wäre er unsicher, wie sie auf diese Intimität reagieren würden. »Was transportieren Sie eigentlich? Ist ja nichts zu sehen. Und was machen Sie in Cotonou?« »Kein Kommentar. Sagt der Chef auch immer.«
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»Der hört doch nichts da vorn!« Ada bot ihm eine Flasche Bier an. Er riss den Kronenkorken mit den Zähnen herunter und spuckte ihn über Bord. »Mal dies, mal das.« Adolpho klopfte sich auf seine breite, schweißnasse Brust, dass die vielen Kettchen und Amulette aus Silber, Leder und Muscheln nur so bebten. »Ich bin immer gut. Ich mache keine bösen Sachen. Niemals.« Sein Blick flatterte wild unter den zusammengewachsenen Brauen. Ada gab ihrer Überzeugung Ausdruck, dass daran kein Zweifel bestehen könne. Das monotone Stampfen des schweren Dieselmotors, das Zischen des Wassers am Heck, die extreme Temperatur und die hohe Luftfeuchtigkeit machten dösig. Sie begann zu erzählen. Erzählte Adolpho von ihrer Arbeit, von Deutschland, von ihrer Großmutter. Adolpho war ungemein interessiert. Er hatte von einem Freund gehört, dass in Deutschland die Straßen so verrückt gebaut seien, dass man niemals mehr dort ankäme, wo man eigentlich hin wollte, wenn man nur einmal eine Abfahrt verpasst. Er fand das recht bedenklich. Außerdem hätten dort die Menschen nicht mal mehr Zeit, um gemeinsam am Morgen Fufu zu essen, weil sie mit nichts als mit Geldverdienen beschäftigt waren. Es sei bitterkalt, und lachen würde dort auch niemand. Alles in allem keine Gegend, in der er gerne leben würde. Er verstand gut, dass Ada ihre meiste Zeit in Afrika verbrachte. Wie zur Untermalung seiner Rede stellte Adolpho laut Zaire-Musik ein. Schlagartig stieg die Stimmung, und die nächste Runde Bier wurde jedem zahnärztlichen Rat zuwider geöffnet. Der Horizont verschwamm in der blauen Dämmerung. Ein Blick in die Kabine genügte, um sich für einen Schlafplatz auf Deck zu entscheiden. Sie betteten sich auf Decken und ließen sich von den Sternen beleuchten. Beruhigend plätscherten die Wellen an den Bootskörper. Die Reine d’Afrique stampfte vorwärts, und Ada begann zu hoffen, dass ihre Vorahnung sie 238
getäuscht hatte. Wenn alles gut ging, waren sie übermorgen in Cotonou. Am nächsten Tag glitzerte die Sonne auf den Atlantikwellen, Adolpho pfiff zuversichtlich vor sich hin, und Ada setzte sich mit den letzten Seiten von Gogols Toten Seelen in den Schatten. Als Adolpho ein, zwei Bier gefrühstückt hatte, schilderte Ada ihm das Juju-Bündel und fragte ihn, was er davon hielt. Er schwieg eine ganze Weile betroffen. Dann wand er sich ein wenig und gestand schließlich, dass er sie niemals mitgenommen hätte, wenn er das vorher gewusst hätte. Oder dass er nicht mitgefahren wäre. Er fingerte an seinen diversen Gris-Gris herum und begann, in einer ihnen unbekannten Sprache Gebete oder Beschwörungen zu murmeln. Rhythmisch wiegte er den Oberkörper hin und her. Ada tat es Leid, dass sie davon angefangen hatte. Sie hätte es besser wissen müssen. Sein Blick war zutiefst verstört. »Wir werden Cotonou niemals erreichen.« Er sah zum Himmel, als erwarte er, dass unverzüglich Blitze auf sie niederfuhren. »Vielleicht gibt es ja ein Gegenmittel«, schlug Emma vor. »Es ist zu spät«, fürchtete Adolpho. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. »Das ist das stärkste Juju, das ich kenne. Ganz großer Zauber. Wir werden sterben.« Ada beschwor Emma mit den Augen, etwas zu unternehmen. Sie verstand. »Ich kenne einen Mann in Cotonou. Einen der größten Zauberer Afrikas. Wir geben ein Gegen-Juju in Auftrag. Gleich, wenn wir ankommen.« Adolpho war nicht zu überzeugen. Das war natürlich viel zu spät. Ada zuckte zusammen und griff nach Emmas Arm. Ein großer, schlanker Körper hatte sich aus dem Wasser erhoben und flog fast fünfzig Meter weit neben ihnen her. Die Brustflossen sahen aus wie Flügel. Dann tauchte er unter und 239
erschien kurz darauf wieder. Flog eine lange Strecke neben ihnen. »Ein Wunder. Jetzt glaube ich es. Es wird klappen.« Der Fliegende Fisch war das gute Omen, das Adolpho endlich umstimmen konnte. Er schüttelte seinen riesenhaften langhaarigen Kopf, dass die Locken nur so flogen. »Oiiijoiijoii, ihr macht Sachen mit mir. Ich habe gerade meine arme alte Mutter vor mir gesehen. Ich habe ihr schon angekündigt, dass ich bald bei ihr sein werde. Sie ist vor ungefähr zwanzig Jahren gestorben.« Er versank in tiefes Nachdenken. Das Wasser glänzte silbrig grau wie Tantal. Das erinnerte Ada an Schneider und Zander. An die Geschichte von Felix. Sie erzählte ihnen von Felix’ Träumen. »Ich habe auch einen Sohn, er ist fünfzehn und lebt in Brazzaville. Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen.« Adolpho grübelte, und seine Augen schimmerten zärtlich. Vom Vorderdeck drang das Schnarchen von Modeste auf- und abschwellend durch das Motorengebrumm. »Wenn das Wetter so bleibt und keine Piraten auftauchen, kommen wir morgen früh in Cotonou an.« »Polizei? Zoll? Wie geht das in Cotonou? Wie kommen wir aus dem Hafen?« »Modeste hat seine Beziehungen. Kein Problem.« Eine leere Bierflasche machte sich selbstständig. Sie rollte los und knallte gegen die Bordwand, wo sie schepperte und immer wieder und wieder dagegenstieß, als könne sie nicht glauben, dass es da nicht mehr weiter ging. Wie im Herdentrieb machten sich ein Plastikkanister mit Diesel, ein zusammengerolltes Tau und ein schwappender Wasserbehälter auf und rutschten hinterher. »Verflucht, das Leck. Die Kerle in Calabar haben gepfuscht!«
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Adolpho riss die Augen auf und quetschte das Steuer, dass es in seinen riesenhaften Fäusten knackte. Modeste war wohl auch von seinem Schlafplatz gerutscht. Er stand neben ihnen und pustete ihnen seine Schnapsfahne ins Gesicht. »Was machst du denn?«, herrschte er seinen Steuermann an. »Ich doch nicht, Chef. Das ist das Leck. Wir laufen voll. Oder ist die Ladung verrutscht?« »Scheiße! Ladung! Alles, was wir an Ladung haben, steht hier neben uns.« »Juju, das Juju«, wimmerte Adolpho. »Kann man das Loch nicht irgendwie verstopfen?« Emma machte sich auf, um nachzusehen. Ada folgte ihr, aber am Eingang zum Laderaum stockte sie. Das entsprach so ganz ihren fürchterlichsten Horrorvorstellungen. Ein enger geschlossener Raum, der möglicherweise in Kürze voll Wasser lief. Ihr trat der Schweiß auf die Stirn. Emma tauchte schon wieder auf. »Stockfinster da unten. Nichts zu machen.« Der Strahl ihrer kleinen Taschenlampe konnte nicht viel ausrichten. Weinte da ein Kind? Nein, es plätscherte. Sie stiegen wieder nach oben. »Lagos? Sind wir nicht auf der Höhe von Lagos? Können wir das nicht anlaufen?« »Nee, nee. Wir schaffen das schon.« Woher Modeste seinen Optimismus nahm, war nicht ersichtlich. Die Schlagseite nahm weiter zu. »Rettungsboot?« Emma würde sich nie geschlagen geben. Modeste grinste nur schräg. Adolpho betete und knurrte, beschwor und summte. »Wenn wir das überstehen, wenn wir hier lebend durchkommen, dann mach ich Schluss, Chef. Keine Geschäfte mehr mit mir. Ich geh zurück nach Brazzaville. Ich will meinen Sohn noch einmal sehen. Ich werde ihn suchen gehen. Ich nehme ihn zu mir. Wenn 241
wir die Kinder an Bord haben, muss ich immer an ihn denken. Ich mach das nicht mehr, Chef. Das ist zu riskant. Und die Kleinen …« »Halt die Klappe.« Modeste winkte ab. »Denkt nicht, wir machen krumme Sachen. Wir haben Kinder zu Verwandten nach Nigeria gebracht. Da haben die es besser.« »Quatsch. Die sind jetzt Haussklaven bei reichen Leuten. Wir haben meistens Mädchen an Bord. Kaum zehn Jahre alt. Völlig verängstigt, die jungen Dinger. Maman Gentille hat denen was von den netten Onkeln und Tanten erzählt, zu denen sie kommen. Die schicken sie doch in Wahrheit auf den Markt oder lassen sie mit den Waren auf dem Kopf rumlaufen und verkaufen. Les bassines qui marchent. Achtzehn Stunden am Tag müssen die schuften. So ist das doch. Die kleinen Menschen.« »Maman Gentille hat mir versichert, dass alles in Ordnung ist. Sie hat es mit den Eltern abgesprochen. Fast jede Familie gibt ein paar der Kinder zu Verwandten, wo sie erzogen werden. Das ist so üblich.« »Mach, was du willst, Chef. Ich mach da jedenfalls nicht mehr mit.« »Ist jemand da unten?« Emmas Tonfall ließ Modeste herumfahren. Adolpho verschwand. Wenig später tauchte er mit einem kleinen, verschüchterten Mädchen in seinen Armen wieder auf. Er setzte sie ab und rollte wütend die Augen. »Hab ichs nicht gesagt?« Die Kleine, vielleicht acht Jahre alt, in einem pitschnassen Kleidchen, fror und schlug die Arme um ihren dünnen Körper. Sie fieberte. Verweint und ängstlich klammerte sie sich an Emma. Die wickelte ein paar Tücher um sie und streichelte sie. Geheimnisvollerweise nahm die Schlagseite nicht weiter zu. 242
Als Ada aufwachte, liefen sie in den Hafen von Cotonou ein. Ihr Herz tat wilde Trommelschläge. Sie liebte diese Stadt. Adolpho umarmte sie, Tränen in den Augen. »Wir haben es geschafft. Das Leck ist von alleine wieder zugegangen. Wir haben es geschafft!« Er schüttelte sie und machte sich dann über Emma her. Die befreite sich lachend aus seinen Pranken. »Ich hab doch gesagt, der Fliegende Fisch war ein Zeichen. Der Gegenzauber hat schon angefangen.« »So muss es sein!« Adolpho lachte und lachte. Er holte sich seine Sachen und meinte nur: »Ich geh dann mal, Chef. Und du solltest das auch sein lassen. Das war eine Warnung. Wenn du nicht aufhörst mit dem Kindertransport, dann wirst du untergehen. Ich weiß das.« Seine Augen funkelten wild. Modeste sah unruhig aus. »Vielleicht, vielleicht hast du Recht. Aber ich hab ja nichts Schlimmes gemacht. Andere haben die kranken Kinder immer über Bord geschmissen. So was hab ich nie gemacht.« Er brummelte vor sich hin und suchte mit den Augen nach seiner Flasche. Aber die war längst leer und hing mit allen anderen unbefestigten Dingen an der Backbordseite seines Kahns. Der Hafen von Cotonou. Modeste hatte hervorragende Beziehungen. Schnell waren sie draußen. Sprangen in ein Taxi und sausten den Boulevard de la Marina entlang. Der typische Geruch hing in der Luft, diese irre Mischung aus Holzkohlefeuer, Abgasen und Meer. Sie war in Cotonou. Ada war selig. Das Mädchen blieb an Emma geklammert, ließ sie nicht los. Elise de Souza empfing sie in ihrem Studio. Sie war völlig ausgelassen vor Freude, Ada zu sehen, sie in Sicherheit zu 243
wissen. Sie umarmten sich und lachten und weinten ein wenig durcheinander. Elise drückte das Mädchen an sich. »Wir bringen die Kleine zu einem Hilfsprojekt für Straßenkinder, die kümmern sich um sie und versuchen, die Eltern ausfindig zu machen. Aber erst mal muss sie was Trockenes anziehen, etwas essen und zum Arzt.« Sie holte eine Freundin, die die Kleine auf den Arm nahm und beruhigend auf sie einredete. Endlich jemand, der die gleiche Sprache wie sie sprach. Das Mädchen lebte sichtlich auf. Dann ließ sich Elise alles in groben Zügen erzählen. Ihre Augen blitzten zornig. »Die Reine d’Afrique! Den Kahn kenn ich. Eins der Schiffe, die Arbeitssklaven schmuggeln. Gehört zu dem Kinderhändlerring, den Maman Gentille organisiert. Ich warte schon lange auf eine Gelegenheit, denen das Handwerk zu legen. Wir werden darüber berichten.« Ein Mann mit Kopfhörern um den Hals öffnete die Tür und klopfte auf seine Armbanduhr. »Ich geh auf Sendung, aber ich hab noch was für dich, Ada. Später«, versprach sie, während sie Emma und Ada nach draußen schob. »Wir sehen uns heute Abend. Diallo besorgt das Ticket und bringt dich ins Flugzeug, kein Problem. Morgen schon. Bis nachher im Maquis Akwaba, okay?« Sie drückte die beiden noch einmal und winkte kurz mit der Hand. Elegant, sicher, gewandt, lebhaft. »Wer ist denn Diallo? Der soll dich ohne Papiere ins Flugzeug kriegen?« »Ihr Mann, inzwischen Landwirtschaftsminister, wie ich gehört habe. Er hat noch was gutzumachen, das wird schon funktionieren. Außerdem, wenn Elise das in die Hand nimmt …« Ada grinste Emma an. »Ihr beide habt gewisse Ähnlichkeiten.« 244
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Cotonou – Moskau – Berlin »Der Albino, Zander, oh ja, der ist bekannt. Soweit ich weiß, ist er gestern hier angekommen. Ein höchst undurchsichtiger Geschäftsmann. Wir haben immer ein Auge auf ihn. Selten jemanden getroffen, der weniger auffällig wäre.« Diallo lachte. Sein kühles, regelmäßiges Gesicht mit dem fein ausrasierten Backenbart wies alle Anzeichen äußerst aufmerksamer Pflege auf. Matt schimmerte die sorgfältig geölte hellbraune Haut. Der schwere Siegelring glänzte an den fein manikürten Fingern. Was Elise nur an ihm fand? Die Liebe geht doch seltsame Wege. Ada kam Dieudonnés Wendung in den Sinn, die er beim Abschied zu ihr gesagt hatte. Was hatte er damit gemeint? »Das ist ja nicht zu fassen! Bleibt nur die Frage, ob er wegen Ada hier ist. Oder soll das ein Zufall sein?« Emma sah Diallo kritisch an und ergänzte spöttisch: »Geschäftsmann! Serienkiller triffts wohl besser.« »Wie dem auch sei. Du hast nichts zu befürchten, Ada. Ihr beide schlaft heute Nacht bei uns. Und morgen geht dein Flug nach Moskau. Von da aus kommst du am nächsten Tag nach Berlin.« Elise lachte sie an und fasste sie bei der Hand. »Und jetzt wird gefeiert, ich lade euch ein. Was wollt ihr essen?« Das Maquis Akwaba war eins der besten afrikanischen Spezialitätenrestaurants, in denen Ada je gegessen hatte. Die Entscheidung war nicht leicht. Sie nahm dann aus romantischer Erinnerung heraus Aguti in scharfer Erdnusssoße mit Süßkartoffeln. »Ich hatte dir ja noch eine Überraschung versprochen, Ada.« 245
Elise winkte jemandem zu. Ein attraktiver Mann sah sich von der Tür aus suchend im Restaurant um. Dann entdeckte er sie und kam an ihren Tisch. Die schwarze weiche Hose und das gelbe Oberhemd waren ausgesprochen edel. Das Gesicht fein geschnitten, sein Ausdruck lebhaft. Ada sprang überrascht auf, als sie Jean-Claude Boya erkannte. »Wir haben uns ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen! Geht es Ihnen gut, Madame Simon? Ich habe durch Elise öfter mal von Ihnen gehört.« Er drückte ihre Hand und küsste sie auf die Wangen. »Kommissar Boya! Das ist ja eine Überraschung! Arbeiten Sie wieder in Cotonou?« Über Jean-Claude Boyas Gesicht huschte ein Schatten, während er Platz nahm. »Gott sei Dank, ja. Schrecklich lange war ich in den Norden versetzt, das war eine harte Zeit. Unser zweites Baby war schon drei Jahre, als ich endlich zurückberufen wurde. Aber nun zu Ihnen. Es scheint, als wären Sie in eine böse Sache geraten. Ich kann Ihnen natürlich nichts Näheres sagen, aber so viel schon: Das interessiert uns. Und damit meine ich nicht nur die Cotonouer Polizei, sondern auch andere Dienste. Wir arbeiten mit den entsprechenden Stellen in Kamerun zusammen, um diese Mordserie aufzuklären. D’acorrrd?« Ada erinnerte sich, dass ihr Jean-Claude Boyas Angewohnheit, alles mit einem »D’acorrrd!« zu ergänzen, schon damals in Cotonou aufgefallen war. Immer mit rollendem R, wie ein Zug, der über Schienen rumpelt. Die Bedienung kam vorbei, und Boya bestellte sich ein Bier. Aufmerksam betrachtete er Adas Gesicht. Dann sprach er weiter. »Als Pierre Bernard von Elise de Souza« – Boya sah lächelnd Elise an und nickte ihr zu – »interviewt worden war und der dann später ermordet wurde, hat sie mit mir darüber gesprochen. Bald darauf begannen die Ermittlungen wegen der Morde an dem deutschen Konsul Fronmüller und dem Geschäftsführer von 246
Sotrans, Schneider. Die Kameruner Behörden hatten sich mit uns in Verbindung gesetzt, weil wir hier schon einschlägige Erfahrungen mit einem der Tatverdächtigen haben. Ich dürfte Ihnen das alles eigentlich gar nicht erzählen. Aber ich zähle auf Ihre Diskretion, und ich brauche wirklich Ihre Hilfe. Können Sie mir bitte alles mitteilen, was Sie darüber wissen? Ganz inoffiziell natürlich, d’acorrrd?« »Sicher. Sie sind also wieder hinter John Johnson her?« Ada kannte Kommissar Boya von der Cotonouer Polizei. Er hatte ihr einmal das Leben gerettet. In letzter Sekunde. Sie mochte ihn und vertraute ihm. Damals hatte sie ihn allerdings zuerst für korrupt gehalten. Ada fasste ihre Geschichte, so gut sie konnte, zusammen, immer wieder ergänzt von Emma. »Und«, endete sie, »meinen Sie, man kann diesmal John Johnson das Handwerk legen?« »Nur, wenn wir ihm endlich einmal etwas beweisen können. ›Denn ein Haifisch ist kein Haifisch, wenn mans nicht beweisen kann.‹« »Und der Zander ist ein Zander. Was können Sie uns denn über diesen Herrn sagen, Monsieur Boya?« Emma zog die Stirn in krause Falten. »Offenbar eine Kontaktperson zwischen einflussreichen Händlern, die in Mafiastrukturen organisiert sind. Aber das wissen Sie ja sicher auch schon. D’acorrrd!« Boya erhob sich. »Ich danke Ihnen, Ada. Vielleicht sehen wir uns ja bald wieder.« Ada drückte seine Hand. »Das würde mich freuen. Auf Wiedersehen, Monsieur Boya! Und alles Gute!« Dieser Abschied war weder kurz noch unsentimental. Tränen flossen. Ada sah zu, dass sie wegkam. Sie hasste diese ewigen Abschiede. Was machte sie nur falsch, dass die sich so häuften? Die Aeroflot hatte was. Nicht nur die Stewardessen waren sichtlich überfordert. Die Fluggäste waren noch mürrischer. 247
Hektik, Chaos. Und Entsetzen. Zumindest angesichts der aufgetragenen Merkwürdigkeiten, die als Speisen bezeichnet wurden. Die Sitzreihen mussten die engsten der Welt sein. Sie sah auf den entschwindenden Kontinent unter sich. In Moskau war der Flughafen wie ausgestorben. Auf einigen Bänken kauerten graugesichtige Menschen, als hätten sie schon vor langer Zeit aufgegeben, je noch irgendwohin gelangen zu können. Überlaute russische Volksmusik ließ die Szene noch gespenstischer erscheinen. In sechs Stunden sollte der Flieger nach Berlin-Schönefeld gehen. Ada ließ sich erschöpft auf einen der grauen Plastikstühle fallen. Sie dämmerte vor sich hin. Als der Hunger sich übermächtig meldete, suchte sie nach einem Imbiss. Alles geschlossen. Endlich entdeckte sie einen fahrbaren Stand, hinter dem ein Wesen mit grauem Strubbelhaar und blauer Kittelschürze herschlurfte. Ada nahm ein Fischbrötchen. Die laute Musik, Kalinka, verstummte mitten im Ka-ka-lin. Hinter ihr klackte es laut und unrhythmisch. Sie sah sich um. Eine Gruppe blinder Menschen klackerte sich mit Stöckchen durch die Halle. Sie waren in ein eifriges Gespräch vertieft. Ada konnte nicht herausfinden, in welcher Sprache. Finnisch? Ein Mann in weißem Anzug und mit weißem Hut bog um die Ecke. Ihr Herz begann schmerzhaft gegen die Rippen zu pochen. Sie machte sich auf die Suche nach Gate 9. Als sie auf dem Abflugsteig ankam, traute sie ihren Augen kaum. Eine Menschenmasse drängte sich vor einem Kabuff, in das sich ein Flughafenbeamter gerade noch retten konnte. Er knallte die Tür hinter sich zu. Die Menschen wogten gegen die Tür. Den aufgeregten Schreien entnahm sie, dass es sich um die Abflugzeit ihres Flugzeuges handeln musste. Der Flug war auf unbestimmte Zeit verschoben? Die Tür öffnete sich einen Spalt breit. Das verängstigte Gesicht des Angestellten erschien. Mit einem Schrei stürzte sich einer der Passagiere auf ihn und begann, auf ihm herumzutrommeln.
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»Wann … wann … wann …«, brüllte er im Rhythmus seiner Fäuste. Besonnenere Fluggäste bändigten ihn. Er kauerte dann in einer Ecke und schluchzte vor sich hin. Ein altes Ehepaar keifte sich an. Der faltige Gatte stammelte: »Ich denke …« »Wenn du damit schon anfängst …« Der Flug ging planmäßig. In Berlin wurden die dunkelhäutigen Mitreisenden besonders sorgfältig unter die Lupe genommen. Ein auffällig gekleideter Afrikaner, er trug zum Nadelstreifenanzug einen Marlboro-Hut und eine goldgefasste Sonnenbrille, wurde von den Beamten des Bundesgrenzschutzes ehrerbietig begrüßt und gleich zum Ausgang durchgebeten. Hinter der Glasscheibe winkte aufgeregt eine Schar Leute. Darunter fiel das kantige Gesicht mit der Topffrisur eines für seine abstrusen Ideen bekannten Politikers auf. Ada musste viel erklären. Schließlich kam sie durch die Sperre. Gerade nahm das hochrangige Begrüßungskomitee einen unscheinbaren Schwarzen in Empfang, der lange an der Abfertigung hatte warten müssen, und entschuldigte sich bei ihm wortreich. Offenbar hatte jemand bei der protokollarischen Vorbereitung einen Fehler gemacht. Im Vorbeigehen hörte Ada, dass es sich bei dem nun richtig identifizierten Ehrengast um den Beniner Innenminister handelte.
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Ivenack Der schwarzglänzende Mercedes steht da wie lauernd. Ada wartet im Schatten der Kastanien, und ihr Atem geht flach. Nicht nur, dass sie weiß, wer darin sitzt, ihr ist auch ziemlich klar, was er vorhat. Sie hat damit gerechnet. Nur dass es in Deutschland geschehen würde und nicht in Kamerun oder Benin, das hat sie nicht erwartet. Für seine Stunde der Abrechnung hat er sich einen romantischen Ort ausgesucht. Sie atmet tief ein und aus. Die Wagentür öffnet sich, und der, den sie erwartet hat, steigt aus. Der Mann hat kein bisschen Farbe am Leib. Weiß und bleich von Kopf bis Fuß. Als er sich aus dem Wagen hievt und zu Ada umdreht, fällt ihr wieder diese für ihn charakteristische Art auf, den ganzen Oberkörper mit dem Kopf mitzudrehen. Zander kommt auf sie zu und lächelt. Seine Augen bleiben dabei hart wie Kieselsteine. »Haben Sie etwa auf mich gewartet, Frau Simon? Ich schlage vor, wir halten uns nicht weiter mit unnötigen Höflichkeiten auf. Steigen Sie ein!« Er hält ihr die Wagentür auf. Wollte er sie irgendwohin fahren, wo er sie in aller Ruhe erledigen und gefahrlos entsorgen konnte? Anzunehmen. Schnell sieht sie sich um. Eine Frau undefinierbaren Alters in blauer Kittelschürze jätet unweit ihren Vorgarten. Kurz richtet sie sich auf, legt die Hand stöhnend ins Kreuz und betrachtet mit verbissenem Mund den teuren Wagen. Wieder einer dieser Reichen, die das Schloss kaufen wollen, denkt sie vielleicht. Dann bückt sie sich und macht sich missmutig weiter über das 250
Unkraut her. Reißt und rupft, als versuche sie, ihre eigene Hoffnungslosigkeit aus dem Boden zu reißen. Der graue Plattenbau daneben sieht auch nicht so aus, als sei von dort Hilfe zu erwarten. Ein graues Gesicht lugt kurz hinter der zur Seite geschobenen Spitzengardine hervor. Ada schöpft Hoffnung, als sich das Fenster öffnet. Aber es wird nur ein übervoller Aschenbecher entleert. Dann schließt es sich wieder. Gegenüber auf einer Parkbank sitzt ein Mensch in geripptem Baumwollunterhemd mit einer Bierbüchse in der Hand. Er stiert vor sich hin. Dann rülpst er laut. Ada steigt ein. Zander betrachtet sie kurz von der Seite, fährt langsam an, in Richtung Park, wie sie feststellt, und sagt: »Gut, wenn man Kontakte hat. Sonst hätte es womöglich noch ewig gedauert, bis wir uns endlich einmal in Ruhe unterhalten können.« Er lächelt fein. Welche Art Kontakt ihn zu ihr geführt hat, lässt er natürlich nicht durchblicken. Er fährt im Schatten alter Eichen auf einen Parkplatz. »Gehen wir ein Stück in den Park?« Er steigt bereits aus. Schon wieder einer, der mein Einverständnis einfach voraussetzt, denkt Ada verschwommen. Sie fragt sich kurz, was sie mit ihrer Einkaufstüte anfangen soll, als sie aussteigt, und beschließt, sie mitzunehmen. Durch ein knarrendes altes Holzkreuz drehen sie sich in das Parkgelände. Die Waldwege sind menschenleer. »Ich hatte Ihnen ja versprochen, dass wir uns wieder sehen.« Zander geht so konzentriert neben ihr, als zähle er seine Schritte. Zack zack zack, marschiert er. Sie hat Mühe, mitzuhalten, obwohl sie mit ihren weit ausholenden Schritten normalerweise allen anderen zu schnell läuft. Auf der Weide vor ihnen jagen zwei Pferde in gestrecktem Galopp auf eine Baumgruppe zu und weichen erst knapp davor elegant aus. 251
»Pferde sind intelligente Wesen«, sinniert er. »Klug und sensibel. Eigenschaften, die man bei Menschen viel zu selten findet. Von hier stammt übrigens Herodot, das Lieblingspferd von Napoleon. Es gehörte zu einer ehemals sehr berühmten Zucht gelber Pferde. Meine Familie hat hier ihre Wurzeln, wissen Sie.« Sein Blick verliert sich in der Weite der Lichtung vor ihm, während er weiter den Parkweg entlangmarschiert. »Manche von ihnen sind sogar hierher zurückgekehrt.« Er sieht sie prüfend an, als hielte er es für angebracht, dass sie seine Familienchronik kennt. Ada kennt den Mann neben ihr gut genug, um zu wissen, dass er so kaltblütig ist, sie abzuknallen, ohne mit der Wimper zu zucken. Fast hätte sie über ihr unpassendes Bild gelacht, denn seine Lider hängen ja wimpernlos halb über den rötlichen Augen. Die Angewohnheit, seine lange, spitze Zunge herausschießen zu lassen und kurz die Mundwinkel zu berühren, erfüllt sie mit Ekel. »Stanisław Kalinowski. Wissen Sie noch? All diese Geschehnisse. Nie aufgeklärt. Ich denke, ich habe ein paar Neuigkeiten für Sie.« Neuigkeiten? Langsam dringt das zu ihr durch. Zander marschiert neben ihr wie eine Maschine. Als sie vor einer der umfangreichen tausendjährigen Eichen stehen bleiben, mustert sie ihn noch einmal gründlich. Zander, der Mann ohne Farbe, der undurchsichtige Geschäftsmann, der Serienkiller, der Geliebte der Intellektuellen aus dem Kongo, der Mann auf Rekordkurs, die meisten Nationalitäten unter seinen Opfern zu haben. Wer ist Zander wirklich? Nein, kein Speisefisch in Süßwasser und Brackgewässern aus der Familie der Barsche. Wenn schon Barsch, dann eher Barrakuda. Raubfisch der tropischen Meere mit kräftigen Zähnen. Zander grinst. Seine Zähne sind spitz und sehen gefährlich aus. »Sie stehen ganz oben auf der Abschussliste, ist Ihnen das wenigstens klar? Und das ist Ihre eigene Schuld. Man muss nun 252
mal gewissen Regeln folgen. Sie folgen diesen Regeln nicht. Machen einfach, was Ihnen gerade einfällt. Das kann ja nicht gut gehen.« Zander sieht sie an und fährt sich mit seiner spitzen Zunge an den linken Mundwinkel. »Was wollen Sie denn, Herr Zander? Mich hier im Park inmitten der Spaziergänger einfach abknallen? Und wieso bitte stehe ich ganz oben auf Ihrer so genannten Abschussliste? Das sollten Sie mir schon noch vorher erklären!« Ada wählt kurz entschlossen die Flucht nach vorn. »Doch nicht auf meiner Abschussliste! Sind Sie nicht mit Juju gewarnt worden? Ich arbeite nicht mit Juju. Nur in Ausnahmefällen jedenfalls. Professionell macht das John Johnson. Ein Auftragskiller – und so einen brauche ich nicht. Er hat für Schneider gearbeitet. Sie stehen jetzt auf der Liste seines Chefs. Ich wollte immer nur das Gegenteil. Ich wollte Sie beschützen. Wissen Sie noch, in Douala hab ich Sie schon gewarnt. Aber leider machen Sie ja immer nur, was Sie wollen. Ich wollte, dass Sie mit dem kleinen Trick, Schneider für Pater Kalinowskis Tod verantwortlich zu machen, aus dem Schussfeld kommen und abreisen. Ich habe nämlich was anderes mit Ihnen vor. Deshalb habe ich es so eingefädelt, dass Sie hierher eingeladen wurden. Sie und ich zusammen, wir geben ein gutes Team ab. Glauben Sie mir. Wollen wir uns nicht setzen?« Unter der größten Eiche steht eine Parkbank, und Ada setzt sich neben ihn. Wie üblich ist ihm weder an einer Antwort noch an eigenständigen Aktionen ihrerseits gelegen. Sie stellt die Papiertüte mit ihren Einkäufen neben sich. »Offenbar sind Sie ja im Nebenberuf Serienkiller. Lassen Sie mich da raus. Teamarbeit liegt mir nicht, ich folge meinen eigenen Regeln. Sie sind im falschen Film. Was soll das alles, Zander? Erzählen Sie mir erst mal, womit das alles eigentlich zusammenhängt!«
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Zander betrachtet sie. Interessiert. Belustigt geradezu. Wenn man seine äußerst sparsame Mimik so interpretieren wollte. Seine Antwort überrascht sie wirklich. »Alles hängt mit Liebe zusammen.« Ein paar Damhirsche weiden vor ihnen in dem Freilandgehege. Einer hebt den Kopf und schaut sie mit seinen runden Augen erstaunt an. »Wie ja sicher auch bis zu Ihnen gedrungen ist, bin ich ein Geschäftsmann mit den besten Beziehungen. Weltweit. Und ich übertreibe nicht. Wissen Sie, was das Grundprinzip der Geschäftswelt ist? Sie steht über den Regeln. Über den Gesetzen, die für Normalsterbliche gelten. Sie folgt einem höheren Prinzip. Alles hängt schließlich von der Wirtschaft ab, nicht wahr? Arbeitsplätze, Wohlstand, selbst die Ökologie. Ohne effiziente Wirtschaft kein Leben, primitiv ausgedrückt. Das Wirtschaftsleben muss funktionieren, abgesichert sein. Dazu braucht es immer mehr und neue Rohstoffe, logisch. Und wo sind die besten und reichsten Rohstoffvorkommen, deren Ausbeute noch verhandelbar ist?« Er sieht sie von der Seite an, wobei sich wieder sein ganzer Oberkörper mitwendet. »Richtig. In Afrika. Ein weit unterschätzter Kontinent. Ich habe mitgespielt und war ganz oben. Dann …«, seine Stimme versickert, wozu die wie üblich herausfahrende Zunge die Begleitmusik schmatzt. Es klingt, als wenn jemand brabbelnd im Moor versackt. »Keine Sorge, ich erkläre Ihnen auch noch, was das alles mit Ihnen zu tun hat. Geduld bitte. Ist eine seltene Tugend, ich weiß.« Jetzt krächzt er. Ada vermutet, er lacht. Zander steckt sich eine Zigarette an. Sportsman. Die Marke aus Bukavu. Seine Bewegungen sind steif. Wahrscheinlich sind in seinem Kastenkörper nichts als Drähte und Scharniere, lange nicht geölt. Eine Maschine, bei der man auch noch die Farbe gespart hat. Seine Pausen werden immer länger. 254
»Dann habe ich Nathalie kennen gelernt. Am Ufer des KivuSees. Wir waren glücklich. Durch sie ist mir klar geworden, was das Leben eigentlich sein kann. Wir hatten zusammen sehr viel vor.« Er schnauft heftig. »Sie ist ermordet worden. Von Schneider, diesem Sotrans-Manager, meinem Geschäftspartner. Das hat alles geändert. Alles! Kurz gesagt: Durch Nathalies Tod habe ich zu mir gefunden. Erst den Verstand gewonnen. Ich habe viel begriffen. Leute wie Schneider wollen sich Afrikas Ressourcen aneignen. Okay. Aber alle Ressourcen, einschließlich der Frauen – zumindest meiner Frau –, das geht zu weit. Ich habe am eigenen Leib erfahren, was das bedeuten kann. So darf es einfach nicht weitergehen! Immer muss die Wahl der Mittel im Verhältnis zu ihrem Ergebnis stehen. Und das ist bei deren Geschäftspraktiken nicht mehr gewahrt. Diese Leute gehen über Leichen. Die müssen weg, die Leute. Dann kann und muss von vorn begonnen werden, aber erst dann. Ich hab meinen Job geschmissen. Mir war klar geworden: Der Tod ist mein Beruf. Sie irren also, nicht mein Nebenberuf. Hauptberuf und Hobby gleichzeitig. Und – ich muss zugeben, ich bin Perfektionist.« Zander lacht jetzt laut, Sandpapier aneinander gerieben unter dem Verstärker. Es schüttelt seinen Körper. Zuckungen, die langsam verebben. »Waffenhändler, Gold- und Diamantenhändler, Holzhändler und Erzschmuggler. Man muss sie alle abschießen, köpfen, zerstückeln. Zerhacken, bis nichts mehr von ihnen übrig ist.« Er kichert atemlos. »Also, innerhalb Ihrer Logik ist mir jetzt klar, warum Sie Leute wie diesen Waffenhändler aus der Ukraine getötet haben. Aber warum mussten Pierre Bernard und Bruno Roth sterben?« »Warum die sterben mussten? Pierre Bernard hatte Beweise für die Schiebereien und Betrügereien mit Holz und Coltan und allem Möglichen. Aber, glauben Sie mir, den habe ich nicht getötet. Warum sollte ich?« Er schnipst seine Kippe ins Eichenlaub. 255
»John Johnson war das, in Schneiders Auftrag, wie gesagt. Pierre Bernards Material hat er natürlich vernichtet.« »Aber, Moment mal, dieser ominöse B. hatte doch sein Material! Und wollte es verkaufen!« »Na ja, Sie waren schon ganz gut in Ihren Ermittlungen. Aber so gut auch wieder nicht.« »Also was ist? Wer ist B.?« Zander lässt ein Glucksen hören. »B! Es gibt keinen B. War Ihnen das nicht klar? B., die ›undichte Stelle‹, alles nur, um diese Leute nervös zu machen. Hat hervorragend geklappt. Die sind irregeworden daran. Einer hat den anderen verdächtigt – und gelegentlich sogar umgebracht. Wunderbar. Fronmüller hat seinen Auftrag perfekt erfüllt, er hat so funktioniert, wie ichs wollte, und die Geschichte überall verbreitet. Hab mir die Mühe, ihn zu entführen, nicht umsonst gemacht.« Er kichert wieder vor sich hin. »Und dass Bruno Roth vergiftet wurde, weil Schneider bei ihm die angeblichen Beweise vermutet hat, Sie … Zander, mir war immer klar, dass Sie ein widerlicher, aasfressender Raubfisch sind. Und Dieudonné Bulu … Sie haben alle in Verdacht gebracht mit ihrem verfluchten B.« Er rückt ganz nah an sie heran und züngelt ein wenig. »Sinnlose Opfer gibt es nun mal. Es geht hier um Wichtigeres. Finden Sie nicht, dass das die höchste Kunst ist: Wenn man die anderen so manipuliert, dass sie sich selbst ausrotten? Einen Teil der Arbeit muss man als vernünftiger Geschäftsmann auch delegieren können.« »Man sollte Sie zu Zander-Filet verarbeiten, zu Fischstäbchen!« »Paniertes mag ich nicht. Und nun hören Sie schon auf mit Ihrem Genörgele. Wir beide haben einen gemeinsamen Auftrag. Das ist mir in dem Moment klar geworden, als ich Sie zum ersten Mal gesehen habe. Uns hat das Schicksal zusammenge256
fügt. Und weil wir beide sehr clever sind, haben wir uns getroffen. Genau im richtigen Augenblick. Als wir beide hinter Fronmüller her waren.« Hinter Fronmüller her? Ada muss an seine Formulierung denken, was mit ihm nach Nathalies Tod geschehen ist. »Den Verstand gewonnen«. Natürlich hat er den Verstand verloren. Er ist verrückt. Aber was weiß er? Und was hat er sich alles zusammengereimt? »Warum erzählen Sie mir das alles?« »Ich hoffe, Sie wissen meine Offenheit zu schätzen. Sie sollen alles wissen, denn ich möchte, das Sie etwas tun.« Er starrt zu Ada hinüber. »Keine Angst, das Töten kann ich allein. Also gut, zu meinem Vorschlag. Ich habe Informationen, die ausreichen, um die ganze Organisation auffliegen zu lassen. Alle ihrer gerechten Strafe zuzuführen, das schaffe ich einfach nicht. Die Herren von den Behörden und Gerichten sollen ja auch was tun. Schneider hatte sich in Bujumbura mit den entscheidenden Leuten, die den Coltan-Handel organisieren, getroffen. Ich hatte die Möglichkeit, ein Band mitlaufen zu lassen. Da ist alles drauf, die Namen, die Schmuggelwege, wer hier in Deutschland mit drinhängt und so weiter. Zusammen mit den Kontakten aus meiner früheren Tätigkeit kommen eine ganze Menge Leute zusammen. Und nun zu Ihnen: Sie haben die Möglichkeiten, diese Informationen publik zu machen. Alle diese Leute hochgehen zu lassen. Wenn es so weit ist. Kommen Sie, kommen Sie. Sie werden alles begreifen.« Eilig steht er auf, als müsste jetzt jede Minute genutzt werden. Plötzlich bleibt er ruckartig stehen. »Eins müssen Sie mir verraten, Frau Simon. Wie haben Sie nur den geheimen Treffpunkt von Fronmüller und Eric aufgestöbert? Ich war Fronmüller auf den Fersen. Wollte über ihn an die Unterlagen der Dao kommen, wollte ihre Kontaktleute wissen. Dadurch bekam ich den Kunstraub von Eric und Fronmüller mit. Das konnte ich natürlich nicht dulden. Tja, so kommt immer eins 257
zum anderen. In meinem Job gibts keinen Feierabend.« Er macht eine Pause. »Aber wie konnten Sie wissen, dass Fronmüller dort krummen Geschäften nachgeht? Ich habe das einfach nicht herausgefunden. Vermutlich wollten Sie ihn erpressen, wegen des Visums? Ziemlich clever! Als ich Sie dort traf, ist mir klar geworden, dass ich mit Ihnen zu rechnen habe. Dass ich Sie auf meine Seite bringen muss. Wie auch immer. Also habe ich mich drangemacht, Ihnen auf Ihren Wegen zu folgen. Ich weiß inzwischen viel über Sie. Wir beide haben das gleiche Ziel. Als Sie dann noch wussten, dass ich in Kigali und im Kivu war, da war ich restlos überzeugt, dass Sie extrem clever sind und über fantastische Verbindungen verfügen. Das Schicksal hat uns in der Rue Kitchener zusammengeführt. Also, wie kamen Sie denn nun dorthin?« Rue Kitchener 39, mit der Werbetafel von TIMS. Die vermeintliche Rue Kitchener 41. Komisch, immer in ihrem Leben spielt diese Zahl eine entscheidende Rolle. Die 41. Die magische Zahl des Vodou. Ihre Zimmernummer in fast allen Hotels. Immer wieder die 41. »Die Antwort ist 41.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich habe mich in der Hausnummer geirrt.« Jetzt war Zander sprachlos. Als er sich wieder gefangen hatte, sagte er nur: »Nun kommen Sie schon!« »Moment noch, Herr Zander. Sie können nicht einfach annehmen, dass ich mit Ihnen durch die Gegend ziehe und Ihre Assistentin spiele. Also, was haben Sie vor?« »Was ich vorhabe? Ich werde Kanzer erledigen, Schneiders Auftraggeber bei seinen Geschäften und bei seinen Morden. Wenn er das Zeitliche gesegnet hat, gebe ich Ihnen meine Informationen, und Sie veröffentlichen die. Und vorher werden Sie mir helfen.« »Warum sollte ich?« 258
»Weil Sie das gleiche Ziel haben wie ich. Sie mögen diese Geschäftemacher doch auch nicht. Wir können Ihnen gemeinsam das Handwerk legen!« Zander betrachtet Ada abwartend. Dann sagt er: »Übrigens, beinahe hätte ichs vergessen. Ich soll Sie schön grüßen! Von Ihrer Großmutter. Ich war neulich bei ihr. Sie macht sich wirklich Sorgen um Sie. Dass Ihnen nichts passiert. Eine liebe Frau. Dabei müsste man sich doch eher Sorgen um sie machen, finden Sie nicht? So eine alte, gebrechliche Dame. Ein falscher Schritt auf der Kellertreppe, knacks, und schon ist Schluss!« »Sie sind ein Schwein, Zander!« »Gott, bemühen Sie nicht die ganze Tierwelt. Wollen Sie jetzt Koteletts aus mir machen?« »In Ordnung. Sie haben gewonnen.« »Sie wissen, was Sie von mir zu halten haben, und das ist gut so. Es hat Vorteile, wir können uns alle Förmlichkeiten sparen. Sie werden das Ergebnis später, wenn alles vorbei ist, ganz sicher zu schätzen wissen. Alles Schlechte hat auch sein Gutes!« Woher hat er auch noch den Spruch ihrer Großmutter? Ist er wirklich bei ihr gewesen? Als Ada und Zander durch den Park laufen, taucht der kleine Ort Ivenack vor ihnen auf, eine märchenhafte Gegend, weit entfernt von der Wirklichkeit, traumverloren. Eine schmale schattige Kastanienallee mit Kopfsteinpflaster führt in das Dorf. Unter Buchen und Erlen ducken sich kleine, reetgedeckte Häuschen. Die glatte Wasserfläche des Sees spiegelt das alte Schloss, dahinter ragt die Kirchturmspitze empor. Nicht zu dem poetischen Bild passen die vielen grünen Männer, die wie ungelenke Marsmännchen in schusssicheren Westen das Schloss umstellen.
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Zander biegt schnell in den Wald ab und räumt ein paar Äste und Gestrüpp beiseite. Ein verwittertes Mäuerchen tritt zutage, in dem ein rostiges Eisengitter eingelassen ist. Dahinter gähnt ein schwarzes Loch. Der Beginn der unterirdischen Gänge. Das Reich von Herrn Pompöse. Sie verschwinden in der Unterwelt. Zander versteckt den Eingang schnell wieder hinter dem Gestrüpp. Das ist genau nach ihrem Geschmack: an der Seite eines Mörders in engen dunklen Gängen, gegen deren niedrige Decke sie schmerzhaft mit dem Kopf stößt, sich einer höchst ungewissen Zukunft entgegenzutasten. Zanders Atem geht rasselnd. Er raucht zu viel. »Vorwärts«, ordnet er sinnloserweise an. Sie hat auch gerade nichts anderes vor. So gehen, krabbeln und kriechen sie eine Weile. Ada versucht, nicht daran zu denken, dass die Gemäuer alt und morsch sind und jeden Augenblick zusammenbrechen können. Den Ausgang versperren. Sie lebendig begraben. Die Ratten, die über ihre Füße huschen, machen ihr nichts aus. »Ich habe Ihnen ja erzählt, dass meine Familie von hier stammt. Verarmter Adel. Hier habe ich als Kind gespielt, kenne jeden Stein.« Er blüht geradezu auf. »Nicht mehr weit. Ich zeig Ihnen was. Sie werden staunen.« Ada fragt sich, ob sie dazu noch in der Lage ist. »Achtung!« Aber sie hängt schon mit dem Hals in einer Schlinge. Vorsichtig, fast zärtlich, befreit sie Zander daraus. »Nur ein loses Stromkabel.« Ach so. Weiter gehts. Sie zählt weder Beulen noch Schrammen, das würde zu weit führen. Mit zusammengebissenen Zähnen kriecht sie vor dem Kerl in einem schlauchartigen Gang auf wegrutschendem Geröll langsam höher. Der Gang wird 260
enger und enger. Als Ada klar ist, dass ihre Klaustrophobie keinen weiteren Zentimeter mehr zulässt, stößt sie gegen eine Holzplatte. Zander öffnet die Luke. Licht. Luft. Leben. Ada wischt sich den Schweiß vom Gesicht, sie ist klatschnass. »Hier ist der Raum, der immer als Besprechungszimmer gedient hat. Damals. Hat mir mal einer aus meiner adligen Verwandtschaft gezeigt. Wette, dass das jetzt auch wieder so ist. Ein schön verstecktes, abgeschirmtes Zimmer. Kanzer wird sich mit seinen Leuten hierher zurückgezogen haben. Sie planen natürlich meine Ermordung. Aber ich werde schneller sein. Wir werden schneller sein.« Vorsichtig klettern sie in einen Raum, in dem überall abgeschlagener Putz liegt. Tapetenfetzen hängen von den Wänden. Das Linoleum hat tiefe Löcher, als hätte da jemand nach Gold gegraben. Mit dem Finger auf den Lippen bleibt Zander stehen. Kein Laut. Doch. Etwas klirrt. Dann hören sie jemanden sprechen. »Die Folgen können wir noch gar nicht ermessen. Der Konzern ist einer der Weltmarktführer auf diesem Gebiet. Und die Kigali-Connection führt direkt dorthin. Wir müssen das alles noch absprechen. Was meinen Sie, Madame Gado, wenn die Zander-Affäre wirklich solche Kreise zieht, müssen wir da nicht sofort den Innenminister informieren?« »Wir werden zuerst die Aktion Mahagoni beenden. Dann können wir ihn immer noch informieren und die weiteren Schritte koordinieren.« »D’acorrrd!« Ein R wie eine Kalaschnikow im Einsatz. Schlagartig wird Ada klar, dass Jean-Claude Boya da ist. Sie atmet einmal tief ein und aus. Zander zerrt heftig an ihrem Arm. Er gestikuliert, will 261
weg. In geduckter Haltung huschen grün Uniformierte am Fenster vorbei.
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39 Atemlos keucht Zander, als sie wieder in den düsteren Gang abgetaucht sind. »Sag ich doch. Sie sind mir auf den Fersen. Kanzer und seine Leute. Also hängt auch der Innenminister mit drin! Das übersteigt wirklich meine Möglichkeiten. Irgendwann muss auch Schluss sein. Das gehört dann alles mit zu Ihren Aufgaben. Sie müssen das publik machen! Ich will Kanzer. Dann ziehe ich mich aus dem aktiven Berufsleben zurück. Ich werde in Südafrika eine Straußenfarm aufmachen. In Ruhe leben, ich habe getan, was ich konnte. Ich trete ab und überlasse den Rest der jüngeren Generation. Ihnen, unter anderem. Kanzer schnapp ich mir noch. Aber dafür müssen wir warten, bis es dunkel ist.« »Was machen nur all die Grünen hier?« »Ist halt eine Ökologiekonferenz.« Zander ist zum Scherzen aufgelegt. Er hat es sich auf einem Steinhäufchen bequem gemacht und lehnt den Kopf an die Mauer. Die Luke hat er einen Spalt offen gelassen, und ein Lichtstreif fällt von oben herein. Staub flimmert darin. Fast sieht es aus, als bilde er einen schmuddeligen Heiligenschein über seinem bleichen Kopf. »Wieso sollen wir warten bis es dunkel ist? Hier unten ist es doch dunkel genug. Was haben Sie denn jetzt Schönes vor? Wie wollen Sie Kanzer erwischen? Wenn wir auf Teamwork machen, müssen Sie mich schon einweihen.« »Geduld scheint ja nicht gerade zu Ihren Tugenden zu zählen.« Wo er Recht hat, hat er Recht. Trotzdem hat Ada langsam genug. »Lassen Sie mich doch in Ruhe! Ich gehe jetzt.« Sie steht auf und versucht, die Luke zu öffnen. 263
»Nein. Wir warten, bis es dunkel ist. Oder muss ich erst wieder von der lieben Oma anfangen?« »Okay. Okay. Und was machen wir so lange? Uns Witze erzählen?« »Gute Idee. Kennen Sie einen?« Sie schüttelt entnervt den Kopf. »Na gut. Dann erzähl ich einen. Aber Sie müssen sagen, wenn Sie ihn schon kennen.« Er flüstert jetzt. »Der Teufel kommt zum Anwalt. Kennen Sie den? Nein? Also: Der Teufel kommt zum Anwalt und sagt: ›Wollen Sie der berühmteste Anwalt der Stadt werden?‹ Der Anwalt nickt. Klar, will er. ›Ach was‹, sagt der Teufel, ›wollen Sie der berühmteste Anwalt des ganzen Landes werden?‹ Der Anwalt nickt: Gut! ›Nein‹, sagt der Teufel, ›wollen Sie nicht lieber der berühmteste und reichste Anwalt der ganzen Welt werden?‹ Aber ja. Der Anwalt ist begeistert. Der reichste Anwalt der Welt! ›Aber‹, der Teufel grinst heimtückisch, ›Ihre Frau und die Kinder gehören mir. Sie müssen bis zum jüngsten Tag im Höllenfeuer schmoren.‹ Der Anwalt guckt den Teufel ungläubig an: ›Ich, der berühmteste und reichste Anwalt der Welt. Meine Frau und die Kinder schmoren in der Hölle. Wo ist der Haken?‹« Zander wiehert vor Lachen. Die Luke wird von oben geöffnet. »Na, amüsieren Sie sich gut da unten?« Ein angespanntes Gesicht beugt sich hinunter. Der Mann sieht verschwitzt aus, ein öliger Film liegt auf seiner Haut. Ada hat ihn noch nie gesehen. Er öffnet die Luke ganz. »Soll ich zu Ihnen hinunterkommen, oder wollen Sie raufkommen?« Er beugt sich näher zu ihnen. Seine Pistole ist auf sie gerichtet. »Alte Bauernregel: Wer die Waffe hat, darf entscheiden«, erläutert Zander sanft. Schnell schnappt er den Arm des Mannes und schlägt ihn krachend auf den Lukenrand. Der stöhnt auf vor 264
Schmerz und Überraschung. Die Pistole fällt Ada in den Schoß. Wenn einem schon mal was in den Schoß fällt. Sie hat genug von Witzen, genug von Überraschungen, über die sie staunen soll, genug von Rächern und von Verschwörungen. »Demnach darf ich ja jetzt entscheiden«, stellt sie fest. »Ich bin für oben.« Gehorsam klettert Zander aus der Luke, und der Mann weicht ein Stück zurück. »An die Wand!« Wie sie darauf kommt, weiß sie auch nicht. Muss sie in irgendeinem Krimi gesehen haben. Brav stellen sich die beiden mit dem Rücken zur Wand. Was nun? Wie ging der Film weiter? Keine Ahnung. Schlimm, wenn man so vergesslich ist. Rückwärts macht sie ein paar Schritte in Richtung Tür. Auf einmal sieht sie nur noch die gelb gestrichene Decke. Ein Arm hat sich eng um ihren Hals gelegt und sie auf den Boden gezwungen. Wer? Sie sieht es nicht. Ein Schuss löst sich aus ihrer Waffe. Von der Decke bröckelt Putz. Sie springt auf und stößt den zur Seite, der sie gerade am Hals gepackt hatte. Sie bemerkt, dass sie rennt. Ein Flur, ein großer Saal. Vage erinnert sie sich daran, wie sie hier fotografiert hat. Wo lang jetzt? Sie stürmt in einen holzgetäfelten Saal mit halb vermoderten Hirschköpfen an der Wand. Die Vertäfelung gerät in Bewegung, Holzlatten innerhalb eines Eichenblattreliefs verschieben sich, eine schmale Öffnung entsteht. Eine Hand greift nach ihrem Arm. Zieht sie ins Dunkle, eine Treppe hinunter. Sie stolpert. Keucht. »Keine Angst, mein Fräulein. Ich habe Sie erwartet.« Im Dämmerlicht erkennt sie das verunstaltete Gesicht von Herrn Pompöse. Der freut sich. »Ich habe selten Besuch. Eigentlich nie. Außer gestern von Ihnen.« Seine Stimme klingt kratzig und rau, sicher 265
selten benutzt. »Alle haben Angst vor mir. Ekel. Aber Sie sind höflich. Freundlich und höflich. Als wäre ich ein ganz normaler Mensch. War ein schöner Tag. Gestern. Ich nenne ihn meinen zweiten Geburtstag.« Geschwind wieselt er durch die engen Gänge, winkt ihr, ihm zu folgen. Sein unförmiger Körper stößt nirgends an, sein Kopf senkt sich an den erforderlichen Stellen immer rechtzeitig. Im Gegensatz zu ihrem. Ein schneller und gewandter Läufer, der sich obendrein in der Finsternis hervorragend orientieren kann. »Hier gehts lang. Ich kenne mich hier aus, hab mein ganzes Leben hier unten verbracht. Manchmal steige ich nach oben, sehe nach, obs eine mondlose Nacht ist. Dann geh ich durchs Dorf, seh in die Fenster, hol mir was von den Feldern. Frau Kruse stellt mir immer Essen an den einen Eingang und manchmal Taschenlampenbatterien. Ein guter Mensch. Ich zeig mich ihr nie. Ich zeig mich niemandem mehr. Sie kannte meine Mutter noch. Ja. Es ist seltsam zu reden. So ungewohnt. Aber es geht.« Er schüttelt den Kopf mit den spärlichen Haaren und lacht scheppernd. »Sehen Sie, dahinten?« Sie sieht gar nichts. Es ist ziemlich dunkel hier unten. »Die Treppe nach oben führt zu der linken Schlosshälfte. Ich weiß alles, was da vor sich geht. Niemand kennt meine geheimen Gänge. Die versteckten Türen. Ich kann jeden Raum belauschen, im Erdgeschoss aber nur. Diese Gesellschaft da oben ist gefährlich. Nichts für Sie. Ich bringe Sie hier weg. Es gibt Gänge bis Rosenow und Daberkow, Briggow und Ritzerow, wir können nach Flotow oder Metschow. In jedes Dorf der Umgebung.« »Aber einen gibts, der sich hier unten auch gut auskennt. Er hat früher hier gelebt.«
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Herr Pompöse bleibt abrupt stehen. »Nein, nein, nein. Niemanden.« Er dreht sich zu Ada um und sieht sie erschrocken an. »Früher? Nein.« Er schüttelt aufgeregt den Kopf. »Jetzt ist er da. Nicht früher!« Er sieht sie verschwörerisch an. »Ich hab alles gehört.« Er senkt die Stimme. »Ein Verbrecher.« »Was haben Sie gehört?« Herr Pompöse steht dicht vor ihr. Atmet schnaufend. »Bitte folgen!« Seufzend ergibt sie sich seiner Forderung. Der Raum ist klein, niedrig und düster. Mit Inventar aus der ExIrrenanstalt ausstaffiert. Ein Sprelakattisch, auf dem Plastikgeschirr steht. Ein Eisenbett. Ein Sessel und ein Stuhl. Hier also lebt Herr Pompöse. Er zündet eine Kerze an und lässt sich auf den Plastikrohrstuhl fallen, nachdem er sie höflich auf den bequemeren Korbsessel gebeten hat. Herr Pompöse sitzt sehr aufrecht, und seine unversehrte Gesichtshälfte bebt. »Einer ist hier, der ist sehr gefährlich. Ein wichtiger Mann mit einer wichtigen Stimme. Ich hab zugehört, als er telefoniert hat. Ich weiß alles. Wie heißt er noch mal? Ich komm grad nicht drauf. Dabei kann man sich den Namen so gut merken, es gibt eine Eselsbrücke. Ein Begriff? Ein Tier? Ein Monat? Als ich Sie kennen gelernt hab, gestern, da wusste ich, jetzt passiert was. Sie sind anders. Deswegen bin ich immer in Ihrer Nähe geblieben. Kurz hatte ich Sie verloren, aber dann, als ich den Schuss gehört habe, wusste ich, es geht um Sie.« »Ich danke Ihnen sehr, Herr Pompöse! Ein Fisch übrigens.« »Was ist mit einem Fisch?« »Die Eselsbrücke. Ein Fisch. Zander.«
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Herr Pompöse schüttelt ärgerlich den Kopf. »Kein Fisch. Wovon reden Sie überhaupt? Hier geht es um Mord. Er plant einen Mord.« »Zander will Kanzer ermorden.« »Nein, nein, nein. Kein Fisch namens Zander. Wie war nur der Name? Es hat etwas mit meiner Kindheit zu tun. Was Feines. Herrgott, ich komm nicht drauf!« »Versuchen Sie, nicht daran zu denken, dann wirds Ihnen schon wieder einfallen! Ich muss jetzt los. Ich kann nicht mehr warten.« »Sie müssen! Ist gefährlich da oben. Ich mach Ihnen einen Vorschlag. Sie bleiben hier, und ich seh mal nach dem Rechten. Es dauert nicht lang. Dann hol ich Sie!« »Aber ich habe keine Zeit. Wir müssen etwas unternehmen. Zander ist verdammt gefährlich.« »Zeit, mein Fräuleinchen, ist noch das geringste Problem. Zeit ist endlos. Wenn es ein Problem mit der Zeit gibt, dann eben höchstens das: Dass sie kein Ende hat.« Herr Pompöse verschwindet in der Dunkelheit. Ada wartet nicht. Sie läuft durch die Gänge und sucht den Ausgang. Endlich findet sie die Luke wieder, durch die sie mit Zander eingestiegen ist, und klettert nach oben. Sie blinzelt in dem plötzlich so hellen Licht und sieht durch die hohen Fenster den See blinken. Als sie Schritte hört, fährt sie herum. »Da sind Sie ja! Wo um alles in der Welt haben Sie gesteckt? Bei der ersten Rede auf der Konferenz waren Sie doch noch da! Madame Gado hat es mir erzählt.« Jean-Claude Boya lächelt Ada an. Er atmet auf, ist erleichtert, sie zu sehen. »Ich hab mir schon fast Sorgen gemacht.« Er nimmt sie am Arm und drückt ihn leicht.
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»Ich hatte Ihnen ja gesagt, dass wir uns bald wieder sehen werden.« Dann wendet er sich seiner Begleiterin zu. »Das ist Ada Simon.« Madame Gado geht auf Ada zu und streckt ihr die Hand zur Begrüßung hin. »Ich bin Jacqueline Gado aus Cotonou. Einsatzleiterin der Aktion Mahagoni, von der Task Force Tropenholz der europäisch-afrikanischen Krisenpräventionsstelle, Abteilung Wirtschaftskriminalität.« Ada schwirrt der Kopf. Boya erklärt: »Wir waren schon lange einigen Leuten auf der Spur. Tropenholzhändlern wie TIMS, Sotrans und auch den ruandisch-kongolesischen Erzschmugglerkreisen. Allerdings haben sich Komplikationen durch die Zander-Affäre ergeben. Der Mann war mit dabei, aber er rechnet nun offenbar auf eigene Faust mit seiner Konkurrenz ab. Sie sollten sich vorsehen, Zander ist hier.« »Stimmt«, meint Ada und erzählt Jean-Claude Boya von ihrer Begegnung. »Aber wie ist er ins Land gekommen, wenn er von Ihnen allen gesucht wird? Und wieso haben Sie ihn nicht längst verhaftet? Er will Kanzer erschießen, weil er ihn für den Kopf einer kriminellen Gruppe hält.« »Womit er nicht Unrecht hat. Aber wir können Kanzer nichts anhaben, er hat sich offenbar nach allen Seiten abgesichert. Und Zander ist so gut eingebunden, dass er auf Grund seiner Beziehungen überall durchkommt. Er mag verrückt sein, aber er ist clever.« Ungeduldig unterbricht Madame Gado ihn: »Ich muss die Einsatzkräfte draußen koordinieren.« Sie verlässt eilig den Raum. Eine zierliche Frau mit einem gar nicht zierlichen Ehrgeiz, denkt Ada.
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40 Jean-Claude Boya ist jetzt allein. Gut, dass er Ada Simon überreden konnte, vorläufig in einem der Schlosszimmer zu bleiben. Sie ist zu unberechenbar. Dieser weiße Mann! Zander. Ein Mann wie ein Zombie. Taucht auf aus dem Untergrund und tötet. Ein Weißer mit der Magie im Bunde? Weiß ist die Farbe des Todes. Und er ist ein sehr weißer und dabei ein sehr düsterer Mensch. Einer, der alles durchkreuzen kann. Boyas Schritte hallen in dem leeren Raum, als er an den verglasten Erker tritt. Gedankenverloren wischt er den Schmutz von seinen Schuhen mit einem Ende der auf den Parkettboden wallenden Vorhänge ab. Boya sieht hinaus. Der kleine See glitzert in der Sonne. Vor dem Fenster sieht er die Polizeieinheit Stellung beziehen. Sie sind mit geordnetem Ausschwärmen beschäftigt. Rennen einzeln, treffen dann zusammen, bilden einen Pulk, marschieren in Linie. Was ist hier nur schief gelaufen, empört er sich. Dieser Einsatz ist doch eine einzige Katastrophe! Sie hätten zwei, drei fähige Leute schicken sollen. Und da senden sie eine Hundertschaft aus! Und die verdeckten Ermittler, die Zander finden sollten, lassen sich auch noch entwaffnen und von Ada Simon mit ihrer eigenen Waffe in Schach halten! »D’accorrrd«, murmelt er vor sich. Jetzt kommt Bewegung in die Linien der Grünen. Irgendetwas ist wohl vorgefallen. Sie stürmen alle los, in eine Richtung. Weg vom Schloss. Ein Stück entfernt, unter den hellgrünen Linden, steht friedlich das Restaurant Zum Hirsch. Wie ein Magnet zieht es ringförmig die Uniformierten an. Jetzt stürmen sie das Haus mit vorgehaltenen Waffen. Kommen kopfschüttelnd wieder heraus. Schwitzend keucht ein dicker Mann am Fenster vor Boya vorbei, brabbelt in 270
sein Handy: »Wir haben uns im Haus geirrt. Eine Fehlinformation.« Wütend starrt er das Handy in seiner Hand an, als hätte es Unflätiges von sich gegeben. Brüllt jetzt rein: »Nein! Keiner da. Verflucht!« Er dreht sich um sich selbst, läuft im Kreis. Schreit einen an: »Wo ist der Chef?« Ein Schuss dröhnt aus dem Wald. Boya muss an die Großwildjagd denken. Die großen Tiere. Die Jagd ist eröffnet. Unvermittelt dreht er sich seitwärts aus seiner erstarrten Haltung am Fenster heraus und läuft in Richtung Tür. Er rennt in den Park, in die Richtung, aus der der Schuss gekommen ist. Auf der Bank unter der umfangreichen tausendjährigen Eiche sitzen grauhaarige Rentner still wie Statuen, Boya sprintet an ihnen vorbei. Vermutlich halten sie ihn für einen Jogger. Und dann sieht er ihn. Zander läuft eckig und ungelenk. Unverkennbar, die weiße Gestalt zwischen den satten Grüntönen. Als er über die Lichtung läuft, knallt noch ein Schuss. Einer der Ermittler verfolgt ihn. Zanders Vorsprung wird geringer. Unter den dicken Eichen grasen gemütlich Hirschkühe mit ihren Kälbern. Große, elegante Tiere, rotbraun mit weißlicher Fleckung. Das Schaufelgeweih der Damhirsche ist gewaltig. Ärgerlich blicken sie auf und verschwinden in langen anmutigen Sprüngen, als Boya zwischen ihnen hindurchrast. Zanders Lauf ist weniger anmutig, dafür taktisch geschickt. Wie ein Hase schlägt er Haken, ist urplötzlich hinter den massiven Stämmen verschwunden. Hinter der Lichtung beginnt ein wild wuchernder Mischwald voller Unterholz. Buchen und Eschen, alte Kiefern. Hier und da ragen knorrige Wurzeln umgestürzter Eichen aus dem hohen Gras. Gebilde wie ausgefuchste Kunst abstrakter Bildhauer. Surreal. Gespenstisch. Das Licht unter dem Blätterdach der Bäume wird diffus. Dunstschleier verzerren das Bild. Sonnenlicht, ahornblättrig gefiltert, verwischt die Konturen. Boya rennt. 271
Dichter werdender Dunst steigt auf. Der See in der Nähe und das feuchtigkeitsgetränkte Gras schicken langsam aufsteigende Wölkchen über die Wiesen und das Gestrüpp. Stämme verschwinden am Boden, wachsen dann aus dem Nichts. Boya scheint es, als wenn der Bodennebel auch die Geräusche verschluckte. Er bleibt stehen. Zander ist verschwunden. Boya hat ihn verloren. Langsam, aufmerksam alles absuchend, geht er weiter. Vor seinen Augen der undurchdringliche Wald, durch den Dunstfetzen wabern. Er starrt, ohne zu sehen, und spürt, dass gerade etwas klar werden will in ihm. Herauftaucht aus dem Unterbewussten, das aufgerührt wurde. Alles wirbelt noch durcheinander, ist trübe. Gleich werden die dunklen Teilchen absinken, und dann wird klar die Erkenntnis aufsteigen. Er trifft den Mann, der Zander verfolgt hatte. Der steht mit hängenden Armen vor ihm. »Tja, der Kerl ist abgetaucht. Eigentlich unmöglich. Keine Spur. Das Einsatzkommando mit den Hunden muss gleich da sein. Dann schnappen wir ihn uns.« Boya sagt nichts. Er läuft wieder los. »Bleiben Sie stehn! Der Kerl ist gefährlich. Ein Killer. Überlassen Sie das uns!« Boya hört nichts. Er rennt. Abgetaucht, genau, das war es, was sich gerade an die Oberfläche arbeiten wollte! Boya hatte irgendwann, bevor er hierher reiste, etwas über eine unterirdische Raketenabschussbasis in der Nähe des Schlosses gelesen. Er wusste auch, dass das Schloss auf den Grundmauern eines Zisterzienser-Nonnenklosters erbaut worden ist, dessen ehemalige unterirdische Gänge verschüttet seien. Zanders Familie stammt von hier. Zander, der Mann, der immer im Dunkeln bleibt. Taucht auf aus dem Untergrund und tötet. Die Puzzleteile fügen sich zusammen. Er ist wieder abgetaucht, dorthin, in den Untergrund, in die Unterwelt des Schlosses. Der Eingang muss in unmittelbarer Nähe sein, denn Zander ist blitzartig verschwunden. Boya läuft durchs Unterholz. Zweige 272
peitschen ihm ins Gesicht. Dornenranken verhaken sich in seiner grauen, seidig glänzenden Hose. Er spürt es nicht. Er ahnt, dass es noch einen Toten mehr geben wird. Nicht, dass ihm vor Mitleid das Herz brechen würde. Plötzlich steht er auf einer kleinen Lichtung unter Erlen. Rings um ihn nichts als umwucherte Stämme, Büsche, hohe Farne. Er atmet gleichmäßig ein und aus, konzentriert sich. Es muss einen Hinweis geben. Ein keckerndes Lachen zerreißt direkt über ihm die Stille des Waldes. Er sieht an dem Baum hinauf. Auf einem ausladenden Ast der Erle vor ihm sitzt eine Krähe und legt spöttisch den Kopf schief. Die Rabenvögel! Sie sind mit dem Teufel im Bunde, sind Hexen oder Zauberer. Boya tastet nach dem GrisGris, das er immer um den Hals trägt. Ansonsten ist Totenstille. Keine Tiergeräusche, kein Hecheln der Suchhunde des Einsatzkommandos, keine Schüsse, die Zander durch den Wald jagen. Nur dieses gehässige Kichern über ihm. Ist Zander ein Hexer? Sicher ist, dass etwas Besonderes an diesem Ort vorgeht, er kann es spüren wie einen leisen Hauch, einen leichten Wind, der ihn frösteln lässt. Ein Kälteschauer fährt ihm durch den Körper. Wie kann man überhaupt in diesem Klima überleben? Er sieht nach, was da im Gras wieselt, etwas schien sich bewegt zu haben, der kühle Luftzug von dort zu kommen. Die Halme sind heruntergebogen. Oder heruntergetreten? Schlagartig wird ihm klar, dass er gefunden hat, wonach er gesucht hatte. Der Eingang zur Unterwelt ist perfekt getarnt. Hinter dem großen Findling, inmitten blühenden Weißdorns, ragt die Wurzel eines umgestürzten Baumriesen aus dem Gras. Efeu und Knöterich ranken sich durch das Holz, Buschwindröschen blühen, Brennnesseln versperren den Weg. Ein kleines zugeranktes Gatter aus Wurzelzeug lässt sich knarzend öffnen 273
und schließen, sodass der Eingang sogleich wieder unerkennbar verschwindet. Aus dem Gang schlägt ihm ein unangenehm modriger Geruch entgegen. Nässe, Kälte, Dunkelheit. Vorsichtig tastet er sich vorwärts. Glücklicherweise verbreitert sich der Gang. Nicht nach seinem Geschmack, das hier unten. Er horcht angestrengt. Nur seine Schritte knirschen. Ruckartig bleibt er stehen. Irgendwo vor ihm blitzt ein Lichtstrahl auf. Er biegt um die Ecke und erstarrt. Kanzer und Zander stehen sich gegenüber. Eine flackernde Neonröhre wirft grell aufzuckendes Licht über die Wände. Der Knall des Schusses hallt in dem Gewölbe nach. Es klingt wie ein Donnerschlag bei einem Tropengewitter.
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41 Ada hat es nicht lange ausgehalten, tatenlos herumzusitzen. Wo steckt Boya? Sie läuft die schattige Kastanienallee entlang, in der Nase den Geruch nach frisch gemähtem Gras. Auf der Wiese dampfen die schweren Körper der Mecklenburger Kaltblüter. Als sie wieder beim Schloss ankommt, sieht sie, dass Aufruhr herrscht. Herumlaufende Polizisten verbreiten Chaos unter den Konferenzteilnehmern. Dazwischen, alle überragend, Martin Sonntag in seinem lässigen Sommeranzug und der schwarzen, sorgfältig hergerichteten Mähne. Er hebt in gespielt hilfloser Gebärde beide Arme, bemüht, alle zu beruhigen, und lächelt sein charmantestes Lächeln. »Beruhigen Sie sich doch. Ein Mann ist hier aufgetaucht, der von der Polizei gesucht wird. Unsere Freunde und Helfer haben alles im Griff. Sie werden ihn fassen. Am besten, wir gehen jetzt alle mal rein ins Schloss, stärken uns ein wenig und überlassen der Polizei das Feld.« Plötzlich taucht Herr Pompöse im Laufschritt auf. Er rennt zu Ada. Gerade fährt ein weißer Lieferwagen auf den Schlossplatz. Der Mann mit dem blauen Arbeitsanzug und den genauso blauen Augen winkt ihn ein. »Perfektes Timing!«, ruft Sonntag. »Da kommt die Lieferung fürs Buffet. Getränke, Amuse Gueules, Obst und Kuchen. Also, wenn ich jetzt bitten darf, meine Damen und Herren!« »Kuchen!«, stößt Herr Pompöse atemlos aus. Ada sieht ihn erstaunt an. Das ist wohl das erste Mal seit vielen Jahren, dass er sich bei Tageslicht zeigt, und dann gleich so vielen Menschen. Hat er Appetit auf Kuchen? »Was Feines! Ich sags doch! Genau!« Aufgeregt zappelt er herum. 275
»Was meinen Sie denn?« »Das wars! Nicht ein Monat! Und auch kein Tier! Diese Vergesslichkeit. Das ist das Alter. Dabei hab ich keine Ahnung, wie alt ich bin. Die Jahre vergehen da unten, man weiß ja nicht mal, wann Tag und wann Nacht ist.« Jetzt lacht Herr Pompöse. »Kuchen?«, hakt Ada nach. »Na, Kuchen gabs damals für die Insassen. Aber nur manchmal. Immer nur an einem Tag in der Woche. Meine Mutter hat mir immer ein Stück davon aufgehoben.« »Sie gehen jetzt lieber! Hier kanns gefährlich werden.« Einer der Polizisten schnarrt autoritär. Er verstummt und starrt entgeistert Herrn Pompöse an. Der nimmt diesmal nicht die Hand vors Gesicht. »Ist es schon, mein Herr. Ist es schon längst. Schnappen Sie sich endlich den Montag. Pardon. Freitag. Nein, nein, nein …« Der Mann wischt sich zu Ada hin vor dem Kopf herum. »Sind noch einige Bewohner aus der Anstalt hier. Wir haben da oben gerade so eine«, er zögert kurz, »Dame gefunden. Musikliebhaberin, wenn man so sagen will. Die will partout nicht aus ihrer Kammer raus! Na, das ist sowieso das reinste Irrenhaus hier.« Er zieht ab. Herr Pompöse ist sich sicher, dass es nur sonntags Kuchen gab. Leider nicht jeden Sonntag. Ada sieht die schattige Kastanienallee hinunter. Zwei Gestalten kommen die Kopfsteinstraße entlang. Sie sehen eigenartig aus. Der eine hat eine seltsam verkrampfte Körperhaltung. Er ist ganz in Weiß gekleidet. Jean-Claude Boya hat Zander die Hände auf dem Rücken gefesselt. Vor dem Schloss übergibt er ihn den Einsatzkräften der Polizei.
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»Er hat Kanzer erschossen. Ich kam gerade dazu. Zander war so überrascht, dass ich ihn ziemlich schnell überwältigen konnte.« »Da ist noch was ungeklärt, Kommissar Boya.« Ada stellt ihm Herrn Pompöse vor. Der legt los: »Sonntag heißt der Mann, der immer über die Geschäfte geredet hat. Und er hat einen Mord geplant. Ich weiß es ganz genau. Ich hab alles gehört!« Der Raum, in dem die Abschlussveranstaltung der Ökologiekonferenz stattfindet, ist inzwischen gut gefüllt. Leise summendes Stimmengewirr erfüllt die Luft. Martin Sonntag läuft gewohnt locker in seinem hellen Anzug nach vorn und lächelt auf seine unnachahmliche Art. »Nach all diesen von der Veranstaltungsleitung nicht geplanten Aufregungen«, er macht eine kleine Pause, damit die nette Formulierung auch angemessen gewürdigt werden kann, »freue ich mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass unsere Kampagne die ersten Erfolge vorzuweisen hat. Hermann Kanzer, die meisten von Ihnen kennen ihn als Geschäftsführer von TIMS, Timber Society International, Hamburg, ist ein Vorreiter, möchte ich mal sagen. Er hat seine Konzessionen in Kamerun nach dem Öko-Siegel TWS zertifizieren lassen.« Applaus unterbricht seine Rede. In der Pause stehen alle vor dem Schloss herum und tauschen Gerüchte aus. Jemand hat gesehen, dass ein Mann abgeführt worden sei. Jemand hat gehört, Herr Kanzer sei tot. Martin Sonntag ist beunruhigt. Er läuft aufgescheucht hin und her. Ada holt ihr Handy aus der Tasche. Und die Nummer, die sie im Hotel Ibis in Douala vom Ringblock an der Rezeption geklaut 277
hatte. Die geheimnisvolle Nummer, die Schneider gewählt hatte. Gemeinsam mit Boya beobachtet sie, wie Martin Sonntag seine Jacketttaschen abklopft, bis er sein kleines schwarzes Handy findet. Sein Gesichtsausdruck wirkt ziemlich besorgt, als er es ans Ohr hält. »Hallo, Herr Sonntag, hier spricht Ada Simon. Wie wäre es, wenn Sie uns ein wenig von Ihren Geschäften mit TIMS, Sotrans und den anderen erzählen würden? Ist doch eine passende Gelegenheit, finden Sie nicht?« Sonntag drückt ein wenig hektisch auf den Ausknopf und starrt zu ihnen hinüber. Ausnahmsweise wortlos. Langsam gehen Ada, Kommissar Boya und Herr Pompöse auf ihn zu. »Wochentage kann man ja mal verwechseln. Aber auf mein Gehör kann ich mich verlassen, Herr Sonntag. Wirklich Wichtiges verwechsele ich nie. Ich weiß alles!« Ganz nah tritt Herr Pompöse an ihn heran. So nah, dass Sonntag ungewollt drei Schritte zurückweicht. Sein Herzensbrechergesicht verzieht sich ziemlich unschön. »Du kommst auch noch dahin, wo du hingehörst.« Der Mund bildet einen unguten Bogen abwärts. Herr Pompöse schreitet unbeeindruckt davon. Verschwindet in den Gängen unter dem Schloss. »Können Sie uns das bitte erklären!«, fordert Boya ihn auf. Martin Sonntag fängt sich sofort. »Was denn bitte? Wie Frau Simon an meine Handynummer geraten ist? Ich gestehe alles, Herr Kommissar, bevor Sie mich verhaften! Ich habe sie ihr gegeben. Irgendwie schwebte mir ein Spaziergang im Mondenschein vor, ich liebe nun einmal Rothaarige, die haben was. Und was der Verrückte herumfaselt, nun, das kann man ja wirklich nicht ernst nehmen.« »Wir sehen uns noch!«, verspricht Boya und sieht Sonntag mit einem Ausdruck in die Augen, den der nicht so leicht vergessen wird.
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Martin Sonntag zischelt an Adas Ohr. »Da haben Sie ja was Feines angezettelt, meine liebe Ada Simon. Ach, was ich noch fragen wollte: Ich darf Sie doch zu meiner nächsten Konferenz einladen? Das Thema wird Gerechtigkeit im Welthandel sein. Ich setze Sie auf meine Liste, falls Sie das interessiert. Und falls Sie dann noch am – ich meine – verfügbar sind.« »Schaun Sie mal da, ein Seeadler!« Ada zeigt nach oben. Martin Sonntag wirft den sorgsam frisierten Kopf in den Nacken und beschirmt mit einer Hand die Augen. Sie winkelt blitzschnell das Knie an, rammt es ihm mit aller Kraft zwischen die Beine und wendet dabei den einzigen Judogriff an, den sie je gelernt hat. Mit Schwung saust der Mann im hellen Sommeranzug in den Matsch. Die Konferenzteilnehmer beobachten ungläubig einen im Dreck kriechenden Martin Sonntag mit schmerzverzerrtem Gesicht. Ada geht los. Dann dreht sie sich noch einmal um und hebt die Brauen. »Was machen Sie denn da? Eine Art teilnehmende Beobachtung in Sachen Mangano? Verstehen durch Nachempfinden? Für den Anfang gar nicht übel!«
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Lena Blaudez Lena Blaudez wurde 1958 in Mecklenburg geboren. Sie studierte Volkswirtschaft in Berlin-Ost, arbeitete aber anschließend nur sehr kurzzeitig in diesem Beruf. Stattdessen verdingte sie sich als Korrektorin beim Aufbau-Verlag, kassierte Wetten auf der Pferderennbahn, betreute alte Menschen und jobbte als Kellnerin. 1985 konnte sie dank der Hilfsbereitschaft eines Franzosen, der sie für eine Weile heiratete, die DDR verlassen. Sie absolvierte in Berlin-West ein entwicklungspolitisches Aufbaustudium und schloss später eine Ausbildung zur Fachjournalistin an. Viele Jahre lebte und reiste sie in Afrika und durchquerte mehrfach die Sahara. Unter anderem leitete sie vier Jahre den Verein »Sahelhilfe«, der Tuaregfamilien im Nord-Niger unterstützte, und war zwei Jahre Landeskoordinatorin für Gender-Projekte in Benin. Sie arbeitete über die Arbeits- und Lebensbedingungen im damaligen Zaire, das sie dann über Nacht wegen der Unruhen verlassen musste. Für das EU-Projekt »Nahrungsmittelhilfe Russland« koordinierte sie einige Zeit lang das deutsche Team in St. Petersburg. Heute arbeitet sie als freie Journalistin und Autorin und lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Berlin.
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»Das Verbrechen ist nicht der Sonderfall, sondern die Norm.« Interview mit Lena Blaudez Kerstin Schoof: Ihre Heldin Ada Simon bereist Afrika beruflich als Fotografin. Welche Rolle spielte das Medium für Sie selbst in Ihrer Annäherung an Afrika? Lena Blaudez: Obwohl ich die Fotografie nie hauptberuflich betrieben habe, habe ich immer sehr viel fotografiert und auch Fotos aus Afrika ausgestellt. Das Medium fasziniert mich – Bilder können sehr viel aussagen, sie erfassen Stimmungen und zeigen im Nachhinein Dinge, die man in der Situation selbst gar nicht wahrnehmen konnte. Das Fotografieren ist allerdings auch eine sensible Angelegenheit, während meiner Zeit in Zaire waren insbesondere die Menschen auf dem Land überzeugt, man stehle ihre Seele, indem man sie aufnimmt. In der Sahelzone hingegen war ich einmal allein in einem Slumgebiet mit der Kamera unterwegs, und die Leute waren begeistert: Sie haben sich darüber gefreut, dass jemand ihr Leben dokumentiert. Meine Ankunft hatte sich sofort herumgesprochen, und ich wurde schon empfangen mit einem: »Da kommt sie ja!« Beim Schreiben habe ich auch viele Fotos im Kopf gehabt und mich auf diese Weise erinnert. Sogar wenn die Filme selbst nicht mehr vorhanden sind – nach dem Fotografieren einer Baumwollernte beispielsweise wurde mir die Tasche mit sämtlichen Fotos geklaut –, bleibt die Erinnerung bestehen, weil ich mich an die Momente des Aufnehmens erinnere und so die Bilder vor Augen habe.
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In Spiegelreflex vollzieht die Heldin Ada Simon eine persönliche Entwicklung von einer anfänglichen Unverbindlichkeit gegenüber ihrer Umwelt hin zu einer stärkeren Anteilnahme. Die Fotografie scheint ambivalente Funktionen zu haben: Durch das Objektiv betrachtet, kann die Welt auf Distanz gehalten werden, das Bildermachen ist jedoch auch eine wichtige Form der Kontaktaufnahme zu anderen Menschen und ein Hilfsmittel, den Fall zu lösen. Ja, das macht die Person Ada Simon aus, sie filtert alles durch den Apparat und hält es somit von sich weg. Ohne das bewusst so angelegt zu haben, blickt man als Leser letztlich mit ihr durch den Sucher, manchmal nah dran wie durch ein Teleobjektiv, dann wieder bietet sich ein Weitwinkel-Panorama. Ada ist anfangs ganz Beobachterin, dokumentiert das Geschehen und merkt im Laufe der Zeit, dass sie ihre Haltung verändern, sich einlassen muss. Symbolisch gesehen, muss Ada Simon feststellen, dass Bilder nicht immer stimmen. Charaktere, die sie auf eine bestimmte Art wahrgenommen hat, kippen in ihr Gegenteil. Nichts ist so, wie es scheint: das Bild kann trügen, und was hinter der Oberfläche ist, muss sie erst noch herausfinden. Ada Simon ist wie die meisten Ermittler im Kriminalroman allein – sie verfügt über ein Netzwerk an Kontakten, bleibt aber ohne feste Bindung. Ist Einsamkeit oder zumindest emotionale Unabhängigkeit eine Voraussetzung für detektivische Erkenntnis? Nein, ich glaube, das entsteht andersherum, aus dem Charakter: Die Hauptfigur ist eine Nomadin, die sich nicht festsetzen will, nirgendwo wirklich dazugehört, auch nicht in ihrer eigentlichen Heimat in Europa. Der Mann, den sie trifft, ist ein ähnlicher 282
Typ, der die Arbeit an erster Stelle sieht. Ada Simon ist einfach kein Typ zum Heiraten, nicht in dieser Phase zumindest. Die Plots Ihrer Romane entwickeln sich anhand einer Dynamik aus zufälligen Ereignissen und Begegnungen: Jemand taucht unvorhergesehen irgendwo auf, Vodou-Praktiken spielen in die Handlung hinein. Entspricht es Ihrer Einstellung, dass Sachen eher auf diese Art ablaufen als kausallogisch? Gehören Vodou und Zufall zusammen? Es wäre zu einfach zu sagen, es gebe überhaupt keinen Zufall, aber die Handlungsabläufe der Romane sind in der Tat von Ereignissen bestimmt, die zwar zufällig geschehen, die sich aber ergeben, weil die Hauptfigur sich darauf zubewegt und ihr Augenmerk auf bestimmte Dinge richtet. Deshalb kommt der Zufall nicht aus dem Blauen heraus, sondern hat eine gewisse Schicksalhaftigkeit. Vodou wiederum hat viel zu tun mit Psychologie und Wissen, mit der Verbindung von Persönlichkeit, Gesellschaft und Umfeld, das ist ja keine Hexerei in dem Sinne. Im Laufe der Zeit, die ich in Afrika gelebt und ganz selbstverständlich mit Vodou zu tun hatte, wurde mein Respekt immer größer. Vodou ist nicht überall dasselbe und daher schwer auf einen Nenner zu bringen. Es handelt sich um eine pragmatische Struktur, die das soziale Leben aufrechterhält und bestimmte Hierarchien funktionieren lässt. Auch das soziale Umfeld funktioniert, wenn zum Beispiel ein Dieb in der Gemeinschaft mit Vodou ganz schnell gefasst wird, weil dessen Priester einfach große Psychologen sind, die sich die Leute angucken, merken, was läuft, und außerdem mit diesem Wissen umgehen können. Vodoupriester sind oftmals ganz beeindruckende Persönlichkeiten mit einer enorm starken Ausstrahlung. Natürlich gibt es wie überall Scharlatane … 283
In Ihren Romanen herrscht ein sehr undogmatischer Umgang mit den Traditionen des Vodou: Ohne sich in ihrem Glauben an bestimmte Praktiken wirklich festzulegen, machen Ada und ihre Bekannten Gebrauch davon, wenn es ihnen angebracht erscheint. Die Koexistenz der Religionen bringt eine der Figuren auf den Punkt: »Für den Markt bin ich Muslim, wie alle Händler. Abends bete ich zu Gott, sicherheitshalber. Wenn es wirklich schnell gehen muss, hilft nur der Vodou.« Wirklich erstaunlich und wunderbar in Benin ist diese enorme Toleranz. Es gibt alle möglichen Religionen und Sekten und durchaus Kämpfe untereinander, aber gleichzeitig ein gegenseitiges Bestehenlassen, ein fröhliches Nebeneinander in der Existenz. Der zitierte Spruch ist übrigens authentisch, den hat mir ein junger Typ wirklich mal erzählt. Ada geht genauso undogmatisch mit dem Vodou um, wie es im Land eben üblich ist. Ich bin auch selbst einmal zu einem Vodoupriester gegangen, einfach, weil ich mehr über den Vodou erfahren wollte. Der Priester bestand aber darauf, dass ich ein Anliegen haben müsse, sonst könne er nicht mit mir sprechen. Also bat ich ihn darum, mir das Rauchen abzugewöhnen. Es hat auch ein paar Jahre gehalten! Und er hat natürlich gesehen: Das ist eine Weiße mit Geld, und hat mir einen gepfefferten Preis gemacht … Es ist eben auch viel Schalk und Witz dabei, und natürlich Pragmatismus: Gibst du mir was, geb ich dir was. Eine Flasche Gin für die Geister und Ahnen, dann klappt das schon mit dem neuen Job. Ein Handel wie im realen Leben, kleine Bestechungen der Götter hier und da. Andererseits gibt es bestimmte Kulte, die sehr frauenfeindlich sind, Manifestationen einer Männergesellschaft, die mit Geheimbünden und Drohgebärden die Frauen immer wieder zurückdrängen, obwohl es die Frauen sind, die in erster Linie das Überleben 284
sichern. Aber nach außen muss die Männerherrschaft funktionieren – und auch dafür wird Vodou gebraucht. Bestimmte Grenzen, zum Beispiel zwischen Mensch und Tier, scheinen in dieser Lebensauffassung durchlässiger zu sein als im europäischen Denken … Es sind ganz andere Grundgedanken bezüglich des Universums und dessen, was uns umgibt. Die Grenzen zwischen den Lebewesen sind in der Tat durchlässiger, und alles ist beseelt, jeder Baum und jeder Stein. Immer war ich darüber verblüfft, dass der Glaube an den Vodou wirklich durch alle Schichten geht und dieses Lebensgefühl eine Selbstverständlichkeit darstellt. Ob es sich nun um einen Menschen auf dem Land handelt, der nie aus seinem Dorf herausgekommen ist, oder um einen Intellektuellen, der in Paris studiert hat: Beide sind ganz klar der Meinung, dass Vodou existiert und in allem Leben steckt. Warum haben Sie für die Verarbeitung Ihrer Erfahrungen in Afrika das Genre Krimi gewählt? Das Sujet wählt die Form, letztendlich. Und das Genre ist so vielseitig: Man kann knallharte Realität mit Mitteln der Fiktion unterhaltsam und spannend darstellen, es gibt immer den roten Faden des Falls, der einen dranbleiben lässt. Und es macht auch einfach Spaß beim Schreiben, hat man schlechte Laune, kann man die richtigen Leute über die Klinge springen lassen: zack, kurzer Prozess, einfache Lösung … Ist der Krimi also die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln? 285
Ich möchte im Krimi darüber erzählen, dass Kriminelles immer passiert: im riesigen Umfang der Rohstoffkriminalität weltweit beispielsweise, speziell was die Ressourcen in Afrika und den Tropenholzhandel betrifft. Das Verbrechen ist nicht der Sonderfall, sondern die Norm, und wir alle stecken über wirtschaftliche Interessen mit drin. Insofern schreibe ich durchaus gegen die Augenwischerei der Entwicklungshilfe und verbreitete Mediendarstellungen an, die beispielsweise behaupten, der Kontinent sei nur arm aufgrund von Stammeskriegen. Es herrscht hier trotz allen guten Willens eine tief verwurzelte Sichtweise, an der sich in den letzten fünfhundert Jahren nicht viel geändert hat – eine Mischung aus Eigennutz, Desinteresse und latentem Rassismus. Von daher würde ich sagen, Krimi als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln – ja, warum nicht. Würden Sie sich einen stärker politischen Kriminalroman – ähnlich der Traditionen, die dieser in Frankreich oder Schweden hat- auch in Deutschland wünschen? Der Kriminalroman ist meiner Meinung nach immer politisch. Schließlich mischt er sich ein, egal ob psychologische, soziale, wirtschaftliche oder kulturelle Aspekte im Vordergrund stehen. Mord ist immer gesellschaftlich relevant. Romane von Eric Ambler, Graham Greene und Ross Thomas beispielsweise zeigen das nur in besonderem Maße. Ich halte die Verknüpfung von Fiktionalität mit politischen und gesellschaftlichen Grundlagen im Krimi für entscheidend. Man kann letztlich damit spielen, aber es gibt auch in meinem Roman einen Kern, der hundertprozentig stimmt: Die wirtschaftlichen Zusammenhänge, der Vodou, die Kultur- das war mir immer sehr wichtig. Alles andere ist Fantasie. © 2005 Kerstin Schoof 286