R. L. Stine
Jagdfieber Denn er weiß nicht, was er tut
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke
ISBN 3-7...
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R. L. Stine
Jagdfieber Denn er weiß nicht, was er tut
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke
ISBN 3-7855-4651-3 – 1. Auflage 2003 Titel der Originalausgabe: : Partysummer Copyright © 1991 Parachute Press, Inc. Alle Rechte vorbehalten inklusive des Rechts zur vollständigen oder teilweise!! Wiedergabe in jedweder Form. Veröffentlicht mit Genehmigung des Originalverlags, Pocket Books, New York. Fear Street ist ein Warenzeichen von Parachute Press. © für die deutsche Ausgabe 2003 Loewe Verlag GmbH, Bindlach Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Tandetzke Umschlagillustration: Sivlia Christoph Umschlaggestaltung: Pro Design, Klaus Kögler Gesamtherstellung: GGP Media , Pößneck Printed in Germany
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Kapitel 1 Es regnete in Strömen. Die Tropfen prasselten wie ein unablässiger Trommelwirbel auf das Dach. Der böige Wind peitschte einen dürren Zweig gegen das Fenster des Dachbodens – tapp, tapp, tapp – wie knochige Finger, die Einlass verlangten. In einiger Entfernung heulte eine Sirene, deren schriller Klang durch die schwere Regenwand gedämpft wurde. Jan schloss die Augen und versuchte, alle Geräusche zu ignorieren. „Keine Ablenkungen", dachte sie und schleuderte ihre schwarzen Haare mit einer schnellen Kopfbewegung über die Schulter. Mit geschlossenen Augen und konzentriertem Gesicht versuchte sie, die Außenwelt auszublenden. Das Dröhnen des Regens wurde zu einem leisen Summen und verstummte schließlich ganz. Der tobende Wind legte sich und schien einzuschlafen. Die heulende Sirene verklang in einiger Entfernung. Während sie dort auf den Dielen des Dachbodens kniete, bemerkte Jan einen säuerlichen, muffigen Geruch – eine Mischung aus Schimmel, alten Zeitungen, Feuchtigkeit und Staub. Er drang in ihre Nase und setzte sich in ihrem Hals fest. „Ich muss diesen Geruch auch ausblenden", dachte sie und hielt die Luft an. „Ich muss meinen Kopf ganz leer machen und mich konzentrieren." Der Regen hämmerte direkt über Jans Kopf auf das Dach. Sie hörte das Platschen des Wassers, das die Regenrinne überflutete. Jan blickte über die Schulter zur Bodentreppe. „Wie viel man hört, obwohl die Tür geschlossen ist!", dachte sie. „Auch wenn man sich total anstrengt, ist es gar nicht so leicht, die Welt auszublenden." Sie kniete sich wieder hin und konzentrierte sich mit neu erwachter Entschlossenheit. Nach einer Weile beugte sie sich vor und fuhr mit den Fingern die Umrisse des Pentagramms nach, das sie mit Kreide auf die Holzdielen des Dachbodens gezeichnet hatte. Zuerst den fünfzackigen Stern und dann den Kreis darum.
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Das Holz unter ihren Fingern fühlte sich warm an. Immer wieder fuhr sie mit ihrer Hand den Kreis entlang. Das Licht, das durchs Fenster fiel, wurde schwächer. Jan blickte zum Himmel auf, der eine seltsame grüngraue Farbe hatte. „Ein geisterhafter Himmel", dachte sie. „Sehr viel versprechend." Der Boden unter ihren Fingern schien sich immer stärker aufzuheizen. Ohne zu blinzeln, blickte Jan in den Himmel, bis sie das Gefühl überkam, von ihm aufgesogen zu werden, sich ganz darin zu verlieren. Dann schloss sie die Augen. Das Rauschen des Regens begann zu verblassen. Der Zweig hörte auf, gegen die staubige Fensterscheibe zu klopfen. Jan konzentrierte sich angestrengt und versuchte, sich an all die Bücher zu erinnern, die sie gelesen hatte, sich all die Berichte ins Gedächtnis zu rufen, über denen sie so viele Stunden gebrütet, die sie studiert und verschlungen hatte – bis sie bereit war. Bereit für ihre eigene Begegnung mit dem Übernatürlichen. Ihre Hand fuhr unablässig die mit Kreide gezeichneten Umrisse des Pentagramms nach, langsam zuerst und dann zunehmend schneller, bis ihre Fingerspitzen brannten. Die Holzdielen schienen eine immer stärkere Wärme auszustrahlen. Die laute, reale Welt um sie herum war nun verschwunden. Und die Welt der Geister kam näher und näher. Jan konnte es deutlich spüren, während sie wie in Trance den Kreidekreis nachfuhr, bis sie das Gefühl hatte zu schweben. Der Geist war jetzt ganz nahe. Der Geist, den sie von der anderen Seite gerufen hatte. Ein kalter Schauer lief ihr über den Körper und ließ sie frösteln. Geschafft! Es hatte funktioniert. Jan konnte die Anwesenheit eines Geistes spüren. Spürte, wie er über ihr schwebte und sie wie ein dunkler, schweigender Falke umkreiste. Sie konnte ihn wahrnehmen, ohne ihn zu sehen, fühlte, dass er sie beobachtete und sich darauf vorbereitete, mit ihr in Kontakt zu treten. Der Geist war nun hinter ihr. Sie spürte die Wärme in ihrem Rücken und merkte, wie sich ihre dunklen Haare elektrisch aufluden. „Ich weiß, dass du hier bist", flüsterte Jan mit zitternder Stimme. „Ich weiß es genau." 10
Stille. Zu aufgeregt, um zu atmen, und ganz benommen von der Macht, die sie gerufen hatte, öffnete Jan die Augen. Langsam und erwartungsvoll wandte sie den Kopf. „Was macht ihr denn hier?", rief sie aus.
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Kapitel 2 Cari stand sprachlos auf der obersten Stufe der Dachbodentreppe. Vor Überraschung war ihr der Unterkiefer heruntergeklappt. Eric dagegen lachte lauthals und klatschte mit Craig ab. „Was macht ihr denn hier?", wiederholte Jan wütend, erhob sich hastig aus ihrer knienden Haltung und klopfte sich mit beiden Händen den Staub von ihrer Jeans. Sie warf die schwarzen Haare über die Schulter und schaute ihre drei Freunde mit blitzenden Augen an. Cari, Eric und Craig machten keine Anstalten, sich von der Treppe wegzubewegen. Im ersten Moment hatte Cari die Szene erschreckt, die sie und die beiden Jungen auf dem Dachboden vorgefunden hatten. Doch jetzt erschreckte sie vor allem Jans wütende Reaktion darauf, dass sie sie überrascht hatten. „Ich wusste ja gar nicht, dass du eine Hexe bist", sagte Craig mit ausdrucksloser Miene, die nicht verriet, ob er es ernst meinte oder nicht. Eric lachte unbehaglich. „Klar wussten wir das", witzelte er. „Hast du das nicht an den spitzen Hüten gemerkt, die sie immer trägt?" Er und Craig brachen in ein lautes Gelächter aus, das durch den niedrigen, engen Dachboden schallte. „Ich finde das überhaupt nicht komisch", murmelte Jan, deren Gesichtsausdruck nun von Wut zu Verletztheit wechselte. „Ihr hattet kein Recht, euch hier hochzuschleichen und ... und mir nachzuspionieren." Ihre Stimme zitterte, und sie blinzelte mehrmals, als müsste sie die Tränen zurückhalten. „Es tut mir Leid", sagte Cari, die endlich aus ihrer Erstarrung erwachte. „Wirklich, Jan. Deine Mutter hat uns gesagt, du wärst hier oben." „Das stimmt", warf Eric hastig ein und zupfte an seinem kurzen Pferdeschwanz herum. „Wir haben sie gefragt, ob wir rauf gehen können, und sie hat Ja gesagt." Ein heftiger Windstoß peitschte gegen das Haus. Das Dachbodenfenster klapperte, und ein Ast schlug krachend gegen die Scheibe. 12
Die vier Teenager fuhren erschrocken zusammen und schauten zum Fenster. Als Cari Jan einen verstohlenen Blick zuwarf, stellte sie fest, dass ihre Freundin sich offenbar wieder beruhigt hatte. „Ich ... ich habe gar nicht gehört, dass ihr raufgekommen seid", sagte Jan und wickelte sich nervös eine Haarsträhne um den Finger. „Ich versteh nicht, wie du das nicht mitgekriegt hast. Die Treppenstufen knarren doch wie verrückt", meinte Craig. „Ich habe mich konzentriert", knurrte Jan, während sie stirnrunzelnd auf das verschmierte Pentagramm aus Kreide hinunterblickte. „Wir werden auch niemandem erzählen, dass du durchgedreht bist", sagte Eric grinsend. „Ich bin nicht durchgedreht!", fauchte Jan, deren Wut jetzt zurückkehrte. „Es hätte bestimmt geklappt, wenn ihr nicht..." „Was hätte fast geklappt?", fragte Cari. Sie setzte sich auf das verstaubte Polster des altmodischen Fenstersitzes und schlug ihre schlanken Beine unter. „Ach, ist nicht so wichtig", murmelte Jan. „Nun sag schon", drängte Cari. „Was hast du da gemacht?" „Ich habe einen Geist gerufen", sagte Jan. Eric und Craig prusteten los. Jan sah Cari an. „Sagt mal, was wollt ihr drei überhaupt hier?" „Wir sind gekommen, um dir zu sagen, dass wir fahren können", antwortete sie. „Nach Piney Island?" In dem grauen Licht, das durchs Fenster hereinfiel, leuchteten Jans dunkle Augen auf. „Genau", sagte Cari. „Kannst du dir das vorstellen? Meine Eltern haben es tatsächlich erlaubt." „Das ist ja toll!", rief Jan aufgeregt und vergaß vorübergehend ihren Ärger. „Da wird sich meine Tante Rose aber freuen. Ich muss sie sofort anrufen und es ihr erzählen." Sie drehte sich zu den beiden Jungen um, die immer noch an der Treppe standen. „Aber vielleicht solltet ihr beiden lieber nicht mitkommen." „Was?", stieß Craig verblüfft hervor. „Wie meinst du das?", fragte Eric genauso überrascht. „Na ja, in diesen alten Hotels in New England spukt es überall, wisst ihr", sagte Jan. 13
„Ach? Was du nicht sagst", erwiderte Eric und stützte sich lässig auf Craigs Schulter. „Wir glauben nicht an so einen Quatsch", fügte Craig grinsend hinzu und warf einen viel sagenden Blick auf die verschmierten Überreste von Jans Pentagramm auf dem Boden. „Genau das ist der Punkt", sagte Jan mit fast bedrohlicher Miene. „Die Geister in alten Hotels haben normalerweise eine Menge Geschichten zu erzählen. Grausame, blutige Geschichten. Und sie können es überhaupt nicht leiden, wenn man über sie lacht." Während sie sprach, sah sie Eric mit brennendem Blick an. Aber der schaute weg und betrachtete seine Schuhspitzen. „Du meinst...", begann Craig unsicher. „Ich meine, euch könnte etwas zustoßen", sagte Jan hitzig. „Wenn ihr euch über sie genauso lustig macht wie über mich, könnte euch durchaus etwas passieren." Cari fröstelte plötzlich und sprang vom Fenstersitz auf. Trotz der Hitze auf dem Dachboden jagte ihr irgendetwas in Jans Stimme einen kalten Schauer über den Rücken.
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Kapitel 3 Cari konnte kaum glauben, dass der große Tag endlich gekommen war. Sie würde mit ihren Freunden und Jans Tante Rose auf eine Insel fahren, auf der es nichts gab als ein Hotel, und in eben jenem Hotel würden sie arbeiten. Es war nicht leicht gewesen, ihre Eltern dazu zu bewegen, sie den ganzen Sommer wegfahren zu lassen. Mr und Mrs Taylor hätten ihre Tochter am liebsten in Watte gepackt. So jedenfalls sah es Cari. „Wir haben dich eben gerne in unserer Nähe", sagte ihr Vater. „Du bist doch unser Sonnenschein." „Lass das, Dad", antwortete Cari und verzog genervt das Gesicht. Er sagte ständig solche peinlichen Dinge. „Caris Augen schimmern so blau wie das Meer", zum Beispiel. Oder: „Caris Haar ist so weich und golden wie das Licht an einem Frühlingstag." „Dad – red keinen Quatsch!", protestierte sie dann immer. Trotz der Tatsache, dass sie gertenschlank und so hübsch wie ein Fotomodell war, bildete Cari sich nicht viel auf ihr Aussehen ein. Sie fand sich selbst viel zu dünn, ihr Lächeln zu schief und ihre Haare zu fein. Obwohl sie schon sechzehn war, hatte sie noch nie einen Freund gehabt. Bis jetzt war sie kaum mit Jungen ausgegangen und hatte noch nie einen getroffen, für den sie sich ernsthaft interessiert hätte. Sie war zwar ein paarmal verknallt gewesen, aber das war auch schon alles. „Die Jungen haben Angst vor dir", hatte ihr Vater einmal gesagt, unfähig, ein stolzes Lächeln zu unterdrücken. „Du bist einfach zu schön." „Auf welchem Planeten lebst du eigentlich?", hatte Cari spöttisch gefragt. Sie wünschte sich sehnlichst, er würde endlich aufhören, solche blöden Bemerkungen zu machen. Cari fand, dass Jan viel besser aussah als sie. Ihre beste Freundin war eher der dunkle, geheimnisvolle Typ. Sie hatte lockige, schwarze Haare, die ihr in einer wilden Mähne über den Rücken fielen, blitzende, olivfarbene Augen, hohe Wangenknochen, volle Lippen
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und einen schönen Körper mit weiblichen Rundungen. Im Vergleich zu ihr kam Cari sich vor wie eine dürre Bohnenstange. „Neben Jan wirke ich so blass und farblos, dass ich fast unsichtbar bin", dachte sie seufzend und fuhr sich ein letztes Mal mit der Bürste durch die Haare, bevor sie sich vom Spiegel abwandte. Dann zupfte sie sich ihr pfirsichfarbenes, langärmliges T-Shirt zurecht, strich mit beiden Händen ihre weißen Shorts glatt und stürmte gerade die Treppe hinunter, als es an der Tür klingelte. „Sie sind da!", rief sie. „Wo ist deine Tasche?", fragte ihr Vater, der auf der Treppe an ihr vorbeihastete und allgemeine Hektik verbreitete. „Hast du alles gepackt? Bist du fertig?" Cari lachte. „Ja, ich bin fertig. Will denn nicht mal jemand die Tür aufmachen?" „Hast du an deine Zahnbürste gedacht?" Jetzt tauchte auch noch ihre Mutter am Fuß der Treppe auf. Sie schien genauso fertig mit den Nerven zu sein wie ihr Mann. „Es hat geklingelt. Irgendwer müsste mal die Tür aufmachen", wiederholte Cari. Sie schob sich an ihrem Vater vorbei, überholte ihre Mutter und kam mit quietschenden Sohlen zum Stehen, während sie bereits die Haustür aufriss. „Hi", sagte Jan und warf Cari einen Blick zu, der besagte: „Was ist denn bei euch los?" „Sie müssen Jans Tante Rose sein", begrüßte Cari die attraktive Frau mittleren Alters, die neben ihrer Freundin stand. Sie hielt ihren Besuchern die Tür auf und bemerkte, dass es ein so strahlend schöner Junitag war, dass sogar die Fear Street heiter und sommerlich wirkte. „Ich freue mich, dich endlich kennen zu lernen", sagte Rose, trat ein und schüttelte Cari kräftig die Hand. Sie trug weiße, weit geschnittene Hosen und einen weißen, kurzärmligen Baumwollpullover, der ihre tiefe Bräune unterstrich. Sie hatte dunkle, lockige Haare wie Jan, nur nicht ganz so lang. „Wir haben uns am Telefon schon so oft unterhalten, und Jan hat mir so viel von dir erzählt, dass es mir vorkommt, als würde ich dich längst kennen", fügte sie freundlich hinzu.
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Caris Vater hatte inzwischen ihre Reisetasche geholt und in den Flur geschleppt. Die ganze Familie redete aufgeregt durcheinander. „Was? Nur eine Tasche?", fragte Jan Cari überrascht. „Allein für mein Make-up brauche ich einen Koffer in dieser Größe!" Cari lachte nicht. So, wie sie Jan kannte, war das wahrscheinlich nicht mal übertrieben. Ihre Freundin trug ein bauchfreies Top, das ihre aufregende Figur betonte, und knallenge, weiße Radlershorts. „Na ja, Jan war schon immer ein auffälliger Typ", dachte Cari. Aber gerade das mochte sie an ihr. Sie war mutig und nicht so zurückhaltend wie Cari. Einige Wochen zuvor, als Jans Tante gefragt hatte, ob sie und einige ihrer Freunde nicht Lust hätten, auf Piney Island zu arbeiten, war Jan sofort damit herausgeplatzt, worauf es ihr in diesem Sommer ankam – tolle, neue Typen kennen lernen und Partys feiern bis zum Abwinken. „Das wird ein echter Partysommer!" Der Spruch stammte von ihr. Außer Cari hatte sie noch Eric und Craig, ihre beiden ältesten Freunde, eingeladen mitzukommen, und die beiden waren gleich begeistert gewesen. „Partysommer!", hatten sie aufgekratzt gegrölt, und es war nicht zu übersehen gewesen, wie Eric Cari dabei angeschaut hatte. Partysommer... Und jetzt, vier Wochen später, ging es tatsächlich los. Alle umarmten sich, und ein paar Tränen flössen. Sie stammten hauptsächlich von Mrs Taylor, die sich immer noch nicht mit der Vorstellung anfreunden konnte, dass Cari so viele Wochen weg sein würde. Und dann verabschiedeten sich alle noch einmal, und Tante Rose versicherte den Taylors zum x-ten Mal, dass sie ein wachsames Auge auf die vier haben würde. Schließlich holperte der schwer beladene Kombi die Auffahrt hinunter. Cari winkte ihrer Familie zu und verabschiedete sich im Stillen von der Fear Street und dem langweiligen Sommer, den sie gehabt hätte, wenn sie hier geblieben wäre. Die beiden Jungen warteten bei Eric, der in einem weitläufigen, ranchähnlichen Haus in North Hills, dem vornehmeren Teil von Shadyside, lebte. Wie üblich war Eric noch nicht ganz fertig. Die Hälfte seiner Klamotten, die zum größten Teil aus abgeschnittenen, 17
ausgebleichten Jeans und Heavy-Metal-T-Shirts bestanden, stapelte sich noch im Wohnzimmer. Unter den Blicken von Craig, Cari und Jan packte Eric seine Sachen hektisch in eine Segeltuchtasche, die viel zu klein für alles war. „Mein Walkman! Wo ist mein Walkman?", rief Eric aufgeregt und suchte mit den Augen das Zimmer ab, während er weiter Klamotten in seine Tasche stopfte. „Er hängt um deinen Hals", sagte Craig trocken und schnitt eine Grimasse. „Na, logo. Wo sollte er auch sonst sein?" Alle lachten. „Hey, was hast du denn da um den Hals?", wollte Eric von Jan wissen. Jan griff unwillkürlich an den großen, weißen Anhänger, den sie an einer Silberkette trug. „Ach, nichts. Nur einen Totenkopf aus Elfenbein. Er soll angeblich das Böse abwehren." Sie hielt ihm das Amulett entgegen. „Also, halt lieber Abstand!" „Oh, Mann." Eric verdrehte die Augen. „Glaubst du etwa wirklich, dass es in diesem Hotel spukt?" „Wenn nicht, wäre ich jedenfalls sehr enttäuscht", gab Jan zu. Eric schüttelte verständnislos den Kopf und schaffte es schließlich doch noch, alles in seine Tasche zu stopfen und den Reißverschluss zuzumachen. Craig hatte zum Glück schon am Abend vorher alles gepackt und seinen Kram zu Eric rübergebracht, damit Rose nicht noch extra bei ihm vorbeifahren musste. „Die Jungen sind genauso verschieden wie Jan und ich", dachte Cari, während sie zusah, wie die beiden ihre Sachen in Rose' Kombi luden. Sie sahen auch ganz verschieden aus. Eric war klein und dünn. Seine dunkelbraunen Haare waren zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er hatte einen Diamantstecker in einem Ohr und trug eine Nickelbrille. „Er ist ein richtig netter Typ", dachte Cari. „Auch wenn er meistens einen auf cool macht." Eric hatte ihr schon immer ziemlich gut gefallen. Seit der Junior High School waren sie dick befreundet, aber sie waren noch nie zusammen ausgegangen. Craig wirkte eher lässig als cool. Sein braunes Haar mit den blonden Strähnen war kurz geschnitten und hatte einen ordentlichen 18
Seitenscheitel. Er war immer anständig und ein bisschen spießig gekleidet. Heute trug er zum Beispiel khakifarbene Baumwollshorts mit Aufschlag und ein weißes Polohemd, aber Cari hatte den Eindruck, dass es ihm eigentlich ziemlich egal war, was er für Klamotten anhatte. „Er ist einfach er selbst. Irgendwie scheint ihn überhaupt nichts aufzuregen", dachte Cari. In gewisser Weise beneidete sie ihn. Wahrscheinlich bekam er nie kalte, schweißfeuchte Hände oder war furchtbar aufgeregt vor einem Test oder einer Verabredung. Als sie endlich mit dem Beladen des Wagens fertig waren, stapelte sich das Gepäck bis unter die Decke des Kombis, und zwei Taschen waren sogar auf dem Dach festgezurrt. „Wir sollten jetzt besser mal aufbrechen", sagte Rose nach einem Blick auf ihre Uhr. „Sonst ist der Sommer fast vorbei!" Jan setzte sich vorne neben ihre Tante, und Cari quetschte sich zwischen die Jungen auf den Rücksitz. „Der Wagen hat auf der Hinterachse so viel Gewicht, dass die Vorderräder bestimmt gleich abheben", sagte Jan besorgt. „Hey, das wäre cool!", rief Eric. „Habt ihr genug Platz da hinten?", fragte Rose und ließ den Motor an. „Genug Platz wofür?", gab Cari schelmisch zurück. Alle lachten. „Ich habe schon von deinem Sinn für Humor gehört", sagte Rose und setzte blind aus der Einfahrt zurück, weil das Fenster der Heckklappe mit Gepäck zugestellt war. „Hey – wir sind unterwegs!", rief Eric und kurbelte die Scheibe hinunter. „Tschüss, Shadyside", brüllte er aus voller Kehle. „Partysommer – wir kommen!" „Wartet bloß, bis ihr den Strand seht", sagte Rose und bog in die River Road ein, die entlang des Cononka River aus der Stadt führte. „Ich bin zwar nicht mehr da gewesen, seit ich in eurem Alter war ..." „Also vor fünf Jahren?", unterbrach Craig sie. „Du bist mir vielleicht ein Charmeur!", erwiderte Rose lachend. „Es ist schon ein wenig länger her, aber ich kann mich noch gut an den Strand erinnern. Dort gab es den feinsten und weißesten Sand, den ich je gesehen habe. Kurz vor der Insel liegt eine Sandbank, an der sich 19
die Wellen brechen, sodass die Brandung nicht so stark ist. Ideal zum Schwimmen. Allerdings ist die Insel ziemlich klein, man ist recht schnell von einem Ende am anderen." „Hauptsache, es ist genug Platz für all die sagenhaften Miezen, die ich treffen werde", erwiderte Eric. „Ich schätze, du wirst dich wohl den ganzen Tag am Pool rumtreiben, was", sagte Craig trocken. „Genau. Vielleicht kann ich ja Manager für den Freizeitbereich werden oder so was in der Art", meinte Eric grinsend. „Manager für den Freizeitbereich? Nennt man das heute etwa so?", fragte Jan und verdrehte die Augen. „Erzählen Sie uns mehr über das Hotel, Rose", bat Cari und wechselte geschickt das Thema. „Ja, bitte! Wie ist es eigentlich zu seinem Namen gekommen? Hotel zum heulenden Wolf?", fragte Jan. „Ich weiß nicht", antwortete Rose und fädelte sich auf die Schnellstraße ein. Der schwer beladene Kombi hatte Schwierigkeiten beim Beschleunigen. „Wir werden Simon fragen müssen, wenn wir da sind. Ich kann mich nur daran erinnern, dass es sehr groß ist. Und sehr schön. Ich weiß noch, dass es nach hinten hinaus eine ganz bezaubernde Terrasse gibt." „Wo sich die tollen Miezen sonnen", warf Eric ein. „Eric, lass doch den Quatsch!", schnaubte Cari. „Ihr scheint zu vergessen, dass ihr zwischendurch auch mal arbeiten müsst, Leute", ermahnte Rose sie scherzhaft. „Partysommer!", rief Craig ungerührt. „Partysommer!", nahm Eric den Spruch auf. Während die Landschaft draußen an ihnen vorbeirollte, redeten sie über das Hotel, die Insel, den Strand und über all das, was sie in den Ferien tun wollten. Cari merkte plötzlich, dass sie noch nie in ihrem Leben so aufgeregt gewesen war und sich noch nie so sehr auf einen Sommer gefreut hatte. Sie würde volle zwei Monate weit weg von ihrer Familie sein – und sie war mit ihren besten Freunden auf dem Weg zu einem wunderschönen, luxuriösen Hotel auf einer einsamen Insel.
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Die drei anderen schienen genauso aufgeregt und glücklich zu sein wie sie. Während sie mit heruntergekurbelten Scheiben auf Cape Cod zurollten, trällerten sie die Songs im Radio mit oder unterhielten sich. Ihre aufgekratzte Stimmung hielt an, bis sie das Kap erreicht hatten und schon auf halber Strecke zwischen Wellfleet und Provincetown waren. Dann passierte es.
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Kapitel 4 „Autsch!" Der Kombi machte einen Schlenker nach rechts und holperte über den schmalen Seitenstreifen. „Tante Rose – was ist mit dir?", rief Jan und beugte sich mit besorgtem Gesicht zu ihrer Tante hinüber. „Mein Magen ...", stöhnte Rose. Sie versuchte, den Wagen auf den Seitenstreifen zu lenken, aber dort war einfach nicht genug Platz zum Anhalten. „Oh, es tut so weh!" Sie bremste auf fünfzig Stundenkilometer ab und schaffte es irgendwie, den Kombi auf der Straße zu halten. „Bestimmt kommt gleich eine Haltebucht, Tante Rose", sagte Jan und starrte angestrengt durch die Windschutzscheibe. „Was ist denn los?", fragte Cari. Alle waren still geworden. Jan beugte sich vor und machte das Radio aus. Rose stöhnte auf und hielt sich die linke Seite. „Es ist so ein stechender Schmerz. Er hat eben gerade eingesetzt. Ganz plötzlich." Sie stöhnte noch einmal, zwang sich jedoch, den Wagen in der Spur zu halten. Sie hielt das Steuer mit beiden Händen fest umklammert. „Solche Schmerzen hatte ich noch nie", flüsterte sie tonlos. „Fahr rüber. Da vorne kommt ein Feld", sagte Jan mit zitternder Stimme und deutete nach rechts. Rose bog von der Straße ab, hielt direkt vor einem Schild mit der Aufschrift „Route 6" und machte den Motor aus. „Vielleicht wird es besser, wenn ich mich ein bisschen bewege", sagte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht. Cari fiel auf, dass sie leichenblass war und dicke Schweißtropfen auf ihrer Stirn standen. Rose stieß die Autotür auf. Die anderen stiegen aus, um ihr zu helfen. Auf der schmalen Bundesstraße reihte sich ein Wagen an den anderen. Die meisten waren voll beladen mit Koffern, Fahrrädern und allen möglichen Strandutensilien. Rose lehnte sich gegen den Kotflügel. 22
„Geht es Ihnen schon etwas besser?", erkundigte sich Craig. „Nicht so richtig." Sie zwang sich zu einem Lächeln, aber ihr war deutlich anzusehen, wie schlecht es ihr ging. „Ich werde fahren", verkündete Jan entschlossen. „Seit wann hast du denn deinen Führerschein?", fragte Rose und rang nach Luft. „Erst seit letzter Woche", räumte Jan ein. „Aber ich schaffe das schon. Wir müssen dich ins Krankenhaus bringen." „Nein!", rief Rose, deren Augen sich mit Tränen füllten. „Nicht ins Krankenhaus." „Aber, Tante Rose", sagte Jan beschwörend, „du siehst ernsthaft krank aus." „Es ist doch nur ... nur dieser Schmerz", wehrte Rose ab. „Aua!" Wieder hielt sie sich die Seite. „Ist es der Blinddarm?", fragte Eric. „Der ist doch rechts", erklärte ihm Cari leise. „Vielleicht hat sie einen Herzanfall", flüsterte Craig, der plötzlich sehr besorgt aussah. „Strahlt der Schmerz in den linken Arm aus?", fragte er Rose. „Nein. Er sitzt im Magen und zieht sich bis hier in die Seite", antwortete sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Zwei Motorräder donnerten an ihnen vorbei, gefolgt von einem riesigen Bierlaster. „Lass uns einen Arzt oder ein Krankenhaus suchen", beharrte Jan und versuchte, ihre Tante auf die Beifahrerseite zu bugsieren. „Hier direkt an der Straße ist es zu gefährlich." „Nein. Von Krankenhäusern halte ich überhaupt nichts", protestierte Rose und wand sich aus Jans Griff. „Und ich will auch nicht zum Arzt. Bringt mich zu Alleen." „Tante Aileen?" „Ja. Zu meiner Schwester. Sie ist Krankenpflegerin", sagte Rose und wischte sich mit dem Handrücken den kalten Schweiß von der Stirn. „Aileen hat kurz vor Provincetown ein Haus, direkt an der Küstenstraße. Bringt mich dorthin. Ich muss mich nur ein bisschen ausruhen, dann bin ich wieder ganz okay." Jan und Craig halfen Rose auf den Beifahrersitz. Sie legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Dann rutschte Jan hinters Steuer, und 23
Craig setzte sich wieder zu Eric und Cari auf den Rücksitz. „Wann geht denn das Motorboot nach Piney Island?", fragte Eric. „Erst heute Abend um sechs", sagte Rose, deren Stimme schwach und gepresst klang. „Macht euch keine Sorgen. Bis dahin bin ich längst wieder auf den Beinen." „Im Moment siehst du aber nicht danach aus", sagte Jan streng und warf ihrer Tante einen prüfenden Seitenblick zu. „Du zitterst ja richtig." „Ich friere nur ein bisschen", erwiderte Rose. „Mir geht's bald wieder gut. Bestimmt. Aileen wohnt nur ein paar Minuten von hier." „Wollen die mich vielleicht mal wieder reinlassen?", knurrte Jan ungeduldig, als ein Wagen nach dem anderen in einem stetigen, endlosen Strom an ihnen vorbeirollte. Die schmale Straße war mit Autos regelrecht verstopft. Sie brauchten fast eine Dreiviertelstunde bis zu Aileens Haus, einem großen, scheunenähnlichen Gebäude mit Blick über die Bucht. Jan hielt an der Rückseite des Hauses. „Vorhin waren wir alle noch so glücklich", dachte Cari. „Und jetzt..." Sie stieg aus dem Wagen und half Rose durch das hohe Gras zum Haus. „Geht es Ihnen schon ein bisschen besser?", fragte sie besorgt. „Nicht so richtig", hauchte Rose, die inzwischen noch bleicher aussah. Ihre Lippen waren jetzt ganz weiß. „Ist jemand zu Hause?", rief Jan. „Aileen? Bist du da?" Die Hintertür stand offen, aber es war niemand zu sehen. Plötzlich erschien eine hoch gewachsene Frau in der Türöffnung. „Tante Aileen!", rief Jan. Aileen, die wie Rose und Jan ein dunkler, exotischer Typ war, öffnete die Fliegengittertür und stürzte mit überraschtem Gesicht zu ihnen hinaus. Kurz darauf lag Rose auf der kastanienbraunen Ledercouch im Wohnzimmer. Aileen flitzte in der winzigen Küche hin und her und machte eine Kleinigkeit zu essen und Eistee für alle. Cari sah immer wieder auf die Uhr und fragte sich, ob Rose sich wohl noch rechtzeitig erholen würde, um nach Provincetown zu fahren. Das Motorboot nach Piney Island fuhr nur einmal am Tag. Wenn sie also bis um sechs nicht da waren ...
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Um halb sechs lag Rose noch immer auf der Couch. „Ich fühle mich schon viel besser", sagte sie mit einem tapferen Lächeln, hielt sich aber im nächsten Moment vor Schmerz die Seite. „Es wird langsam spät", sagte Aileen und blickte auf die kupferne Wanduhr über dem Kamin. „Hört mal – ihr habt noch genug Zeit, um rechtzeitig nach Provincetown zu kommen und das Boot zu erreichen", ächzte Rose und veränderte vorsichtig ihre Lage auf der Couch. „Fahrt einfach ohne mich. Ich werde Simon anrufen und ihm alles erklären." „Was?", rief Jan, verblüfft über diese Idee. Cari sah, dass Eric und Craig genauso überrascht waren. Darauf war keiner von ihnen gekommen. „Fahrt ohne mich mit dem Motorboot auf die Insel und lebt euch schon mal ein. Simon wird sich gut um euch kümmern. Außerdem verlässt er sich darauf, dass ihr morgen anfangt zu arbeiten. Ich finde es nicht fair, ihn im Stich zu lassen", sagte Rose, deren Stimme inzwischen kaum mehr als ein Flüstern war. „Aber was ist mit dir?", fragte Jan. „Ich werde schon wieder gesund", versicherte ihr Rose und zwang sich zu einem Lächeln. „Erst mal bleibe ich noch ein bisschen bei Aileen. Wir haben uns eh schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Und morgen komme ich dann mit dem Motorboot nach." Plötzlich fingen alle auf einmal an zu reden. Jan wollte Rose nicht alleine lassen. Cari versuchte, Jan zu beruhigen, und Craig und Eric hielten es für eine gute Idee, ohne sie vorzufahren. Aber schließlich gelang es Aileen, ihre Nichte davon zu überzeugen, dass sie sich gut um Rose kümmern würde. Nach einer langatmigen Abschiedsszene kletterten sie in den Kombi, und Aileen fuhr sie durch Provincetown, dessen enge Hauptstraße vor Touristen fast aus den Nähten platzte, zum Anleger des Motorboots. Auf einem handgeschriebenen Schild am Ende des Kais stand: Touren nach Piney Island. „Seid ihr meine Passagiere?", fragte der lächelnde junge Mann, der an Deck des kleinen Motorbootes auftauchte und nach ihrem Gepäck griff. Er hatte stoppelige blonde Haare und trug ein Sweatshirt mit dem Aufdruck Uni Boston und weiße Shorts.
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„Ich denke schon", sagte Jan und mühte sich ab, ihm ihre großen Koffer zu reichen. Cari und die beiden Jungen zogen ihre Reisetaschen über den schmalen Holzsteg hinter sich her. Der grau-grüne Ozean plätscherte sanft gegen die Pfähle, und das kleine Motorboot wiegte sich leicht im Wasser. Hinter ihnen lärmten die Möwen im Sand und pickten an irgendwelchen Abfällen herum. Nachdem ihr Gepäck wenige Minuten später in der Kabine verstaut war, verabschiedeten sich die vier Freunde von Aileen und setzten sich auf die Bank an Deck. Der junge Mann löste die Leinen, und das Boot begann, sich mit laut dröhnendem Motor vom Anleger zu entfernen. Cari lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand der Kabine. Die aufspritzende Gischt fühlte sich kühl und erfrischend an. Als das Boot plötzlich mit einem heftigen Ruck nach vorne schoss, verloren die Passagiere das Gleichgewicht und purzelten auf der Bank übereinander. Alle brachen in nervöses Gelächter aus. „Endlich allein!", brüllte Eric gegen das Dröhnen des Motors an und warf Cari dabei einen Blick zu. „Partysommer!", rief Craig gellend. Cari lachte. Sie war gleichzeitig aufgeregt, nervös, glücklich und besorgt. Es war schon komisch, so ganz allein, ohne einen Erwachsenen, zu einem abgelegenen Hotel auf einer Insel unterwegs zu sein. Wenn ihre Eltern das wüssten, würden sie garantiert einen Anfall bekommen! Aber was sollte ihnen schon passieren?
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Kapitel 5 „Es tut mir Leid wegen der unruhigen Überfahrt", entschuldigte sich der junge Mann und half Cari auf den Steg. „Normalerweise ist das Wasser nicht so bewegt." „Na, wenigstens war etwas geboten", sagte Cari trocken. Obwohl sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, spürte sie immer noch das Rucken und Schlingern des Bootes. „Das war irre!", rief Craig begeistert. „Besser als jede Achterbahnfahrt!" „Ich bin klatschnass", jammerte Jan und schleifte ihre Koffer auf den Steg. Craig half dem jungen Mann, das restliche Gepäck auszuladen. Cari ließ ihren Blick über die Umgebung schweifen. „Es ist niemand zu sehen", murmelte sie erstaunt und strich sich ihre Haare hinter die Ohren, die sich salzverkrustet und feucht anfühlten. Ihr durchnässtes T-Shirt klebte unangenehm auf der Haut. „Rose meinte doch, Simon würde jemanden vom Hotel schicken, um uns abzuholen", sagte Jan verwundert. „Das verstehe ich nicht. Ob sie vergessen hat, ihn anzurufen und ihm zu sagen, dass wir unterwegs sind?" Eine plötzliche Windbö wirbelte den Sand zu beiden Seiten des Anlegers auf. „Wahrscheinlich sind sie nur ein bisschen zu spät dran", meinte Eric und setzte sich auf seine prall gefüllte Segeltuchtasche. „Piney Island ist eine verdammt hübsche Insel", sagte der Fahrer des Motorbootes. Cari schaute sich um. Er hatte Recht. Im frühen Abendlicht war sie so schön, dass es einem fast unwirklich vorkam. Das funkelnde Meer reflektierte das zarte Rosa des Himmels, und die Wellen klatschten rhythmisch auf den weißen Sand, der bereits von langen, blauen Schatten überzogen wurde. Der Strand erstreckte sich vom Steg aus zu beiden Seiten über die gesamte Länge der Insel. Eine schmale Straße schlängelte sich vom Anleger aus einen steil ansteigenden Hügel hinauf, der dicht mit hohen Kiefern bewachsen 27
war. „Wo ist denn das Hotel?", fragte Cari. Mit einem unterdrückten Stöhnen hievte der junge Mann die letzte Tasche auf den Steg und wischte sich mit dem Ärmel seines Sweatshirts über die Stirn. „Da oben", sagte er und zeigte den Hügel hinauf. „Ihr müsst einfach nur der Straße folgen." Er begann die Leinen loszumachen. „Zuerst kommt ihr an einem Torhaus vorbei. Das Hotel ist nämlich vollständig eingezäunt. Von dort aus ist es nicht mehr weit. Man kann es gar nicht verfehlen." Er ließ die Leine aufs Deck fallen und legte hastig vom Steg ab, so, als könnte er es kaum erwarten zu verschwinden. „Gibt es hier vielleicht so etwas wie einen Zubringerbus?", rief Eric ihm nach. Aber das Boot hatte sich mit laut dröhnendem Motor schon zu weit entfernt. Der Fahrer winkte ihnen kurz zu und brauste dann davon, ohne sich noch einmal umzusehen. „Wo ist denn nun unser Empfangskomitee?", fragte Craig ungeduldig. „Vielleicht haben sie uns vergessen", meinte Jan. „Tja, dann werden wir wohl laufen müssen", sagte Cari seufzend. „Tolle Begrüßung!", murmelte Craig und folgte mit seinem Blick der Straße, die vom Anleger wegführte. „Wie kommt es eigentlich, dass wir die Einzigen auf dem Boot waren?", fragte Eric, der mal wieder an seinem Pferdeschwanz herumzupfte. „Wo sind die Hotelgäste?" „Also, ich hatte vorhin das Gefühl, als ob das Meer uns wegdrängen wollte", sagte Jan, deren Gesicht plötzlich im Schatten lag. „Auf dem Boot kam es mir so vor, als ob es uns davon abhalten wollte herzukommen." „Huu-huu", heulte Eric mit unheimlicher Stimme. „Hör auf damit", bat Cari. „Ich krieg sonst noch eine Gänsehaut." „Überlegt doch mal – zuerst ist Tante Rose krank geworden, und dann hatten wir diese stürmische Überfahrt, obwohl das Meer sonst meistens ruhig ist. Das sind schlechte Omen", beharrte Jan und fummelte nervös an ihrem Totenkopfanhänger herum. „Könntest du vielleicht mal für 'ne Weile mit diesem Quatsch über Omen und Geister aufhören?", fragte Craig. „Jetzt ist Sommer – und 28
nicht Halloween." „Genau. Lass uns damit in Ruhe", brummelte Eric zustimmend. „Wollen wir jetzt losgehen oder auf Erics Zubringerbus warten?", wechselte Cari hastig das Thema. Jan lachte spöttisch. „Warum rufen wir nicht einfach ein Taxi, Eric?" „Wieso hacken eigentlich immer alle auf mir rum?", quäkte er mit einer übertriebenen Kleine-Jungen-Stimme. „Wahrscheinlich ist es gar nicht so weit", meinte Cari optimistisch und griff nach ihrer Reisetasche. „Deine Tante hat gesagt, die Insel wäre nicht besonders groß." „Aber sie hat nichts davon gesagt, dass es bergauf geht!", protestierte Jan und stöhnte laut auf, als sie ihre beiden voll gepackten Koffer anhob. Eric wollte sich lässig seine Segeltuchtasche über die Schulter schwingen, aber dabei verfing sich der Riemen in seinem Pferdeschwanz. „Er strengt sich mächtig an, cool zu wirken", dachte Cari. „Leider klappt es nicht immer. Aber trotzdem ist er irgendwie süß." Eric grinste sie verlegen an, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Die vier verließen den Steg und trabten im Schatten der Bäume die Straße entlang. „Toller Partysommer!", murmelte Eric kaum hörbar. „Hör auf rumzumeckern!", fuhr Jan ihn an. „Wir sind immerhin hier und nicht in Shadyside, wo wir uns jetzt den Kopf darüber zerbrechen würden, was wir heute Abend machen sollen, und uns zu Tode langweilen würden." „Ich finde, Jan hat Recht", sagte Cari hastig. „Wir sind hier und nicht in Shadyside. Und es ist niemand da, der uns vorschreibt, was wir zu tun und zu lassen ..." „Ich hoffe, Tante Rose geht es gut", unterbrach Jan sie. „Du kannst sie doch anrufen, sobald wir im Hotel sind", schlug Cari vor. Kurz darauf kam ein kleines, steinernes Torhaus in Sicht. Dahinter umschloss ein hoher, schmiedeeiserner Zaun das Hotelgelände. Sie gingen bis zum Torhäuschen, das offenbar verlassen war, und lasen das grünweiße Schild am Zaun: 29
HOTEL ZUM HEULENDEN WOLF PRIVATEIGENTUM
„Wenn das Tor abgeschlossen ist, haben wir ein echtes Problem", sagte Craig. „Mach dich nicht lächerlich", fauchte Jan. „Natürlich ist es nicht abgeschlossen." Ihre Worte klangen zuversichtlich, aber ihre Stimme verriet ihre Nervosität. „Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden", meinte Eric und versetzte dem Tor einen Stoß. Es bewegte sich nicht. „Dreh doch mal an dem Knauf da", sagte Craig und zeigte darauf. „Stimmt", erwiderte Eric. „Da hätte ich auch selber drauf kommen können." Er drehte den Knauf und drückte gleichzeitig gegen das Tor. Es bewegte sich immer noch nicht. „Abgeschlossen", stöhnte Jan. „Ich glaub's nicht!" Sie ließ ihre Koffer zu Boden fallen und seufzte dramatisch. „Immer mit der Ruhe. Im Torhäuschen ist ein Telefon", sagte Cari, die gerade durchs Fenster schaute. „Seht doch mal. Damit können wir oben im Hotel anrufen." „Hey, stark!", rief Jan sichtlich erleichtert. „Hier wird es aber ganz schön früh dunkel", sagte Craig und betrachtete den Himmel. „Das sind nur die Bäume", widersprach Cari. „Die halten die Sonne ab." Sie öffnete die schmale Glastür, betrat das Torhäuschen und griff zum Hörer. „Komisch, da ist kein Freizeichen!", rief sie den anderen zu. Eric steckte seinen Kopf hinein. „Das ist wahrscheinlich so eine Art Gegensprechanlage, die direkt mit dem Hotel verbunden ist", sagte er. „Aber es ist überhaupt nichts zu hören", murmelte Cari, den Hörer immer noch ans Ohr gepresst. „Ich würde sagen, es ist nicht angeschlossen." Sie legte den Hörer wieder auf und trat aus dem winzigen Torhaus. „Das heißt also, wir sind ausgesperrt", seufzte Eric.
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„Na und?", rief Cari mit einem seltsamen Lächeln. Sie hatte plötzlich eine Idee. „Wir können die Nacht doch am Strand verbringen!" „Wow! Eine Strandparty. Das wird super!", quietschte Jan, die diese Aussicht etwas aufzuheitern schien. „Und was sollen wir essen?", fragte Eric düster. „Das Tor ist offen", sagte Craig. „Was?" Cari glaubte zuerst, sie hätte sich verhört. „Das Tor ist offen", wiederholte Craig mit einem breiten Grinsen. „Da unten war ein Riegel", sagte er und zeigte darauf. „Man musste ihn nur wegschieben." „Ich hab doch schon immer gesagt, dass Craig ein technisches Genie ist", meinte Eric. „Na, dann mal los!", rief Jan erleichtert und griff nach ihren Koffern. „Ich würde aber trotzdem gerne die Nacht am Strand verbringen", sagte Cari schmollend. „Dafür haben wir noch den ganzen Sommer Zeit", winkte Craig ab. Alle vier redeten aufgeregt durcheinander, als sie zwischen den Bäumen hindurch den steil ansteigenden Hügel hinaufkraxelten. Um sie herum zwitscherten die Vögel, und ein winziger Hase rannte mitten über den Weg. Dann kam plötzlich das Hotel zum heulenden Wolf in Sicht. „Wow!", rief Cari aus. Es sah aus wie ein elegantes Hotel aus einem Hollywoodfilm – riesig und weiß, mit einem steilen, rotgedeckten Dach. Es lag etwas zurückgesetzt auf einer ausgedehnten Rasenfläche, die den Eindruck machte, als wäre sie mit der Nagelschere geschnitten worden. An das Hauptgebäude mit seiner breiten, verglasten Veranda schlössen sich zwei Seitenflügel an, und die rote Eingangstür wurde von zwei imposanten Säulen flankiert. Als Cari und ihre Freunde näher kamen, erblickten sie die Bucht hinter dem Hotel. Eine steile Holztreppe führte zu einem Privatstrand, wo mehrere Kanus an einem schmalen Steg befestigt waren. „Ich glaub's nicht! Seht euch bloß mal den Strand an!", rief Eric begeistert. „Er ist perfekt", hauchte Cari bewundernd. „Einfach perfekt."
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„Das ist ja noch toller, als Tante Rose es uns beschrieben hat", stieß Jan atemlos hervor. „Da hinten ist der Pool", sagte Craig und zeigte darauf. „Mann, der ist ja riesig. Und das dahinter muss ein Poolhaus sein." „Aber wo sind bloß die Leute?", fragte Cari plötzlich. „Was?", fragte Jan, die ihren Blick nicht von dem majestätischen alten Hotel losreißen konnte, das sich endlos vor ihnen zu erstrecken schien. „Es ist niemand im Pool", sagte Cari. „Vielleicht sind sie alle beim Abendessen", warf Eric ein. „Da wäre ich jetzt jedenfalls gerne." „Aber hinter den Fenstern ist kein Licht", widersprach Cari. „Es ist niemand am Strand. Es läuft niemand auf dem Gelände herum. Und es sitzt auch niemand auf der Veranda." „Sie hat Recht", murmelte Jan. Cari fröstelte plötzlich. „Kommt", sagte Jan entschlossen und marschierte den großzügig angelegten Weg zum Haus entlang, die Veranda hinauf und direkt auf die riesige, rote Doppeltür zu, die offenbar der Haupteingang war. Sie versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie bewegte sich nicht. Also drückte sie auf die Klingel. Cari hörte, wie es irgendwo drinnen im Hotel läutete. Sie warteten ein oder zwei Minuten, dann klingelte Jan noch einmal. Kurz darauf wurde die Tür ein kleines Stück geöffnet. Ein sehr blasser Mann mittleren Alters, dem die schwarzen Haare in widerspenstigen Büscheln vom Kopf abstanden und der eine strenge, unfreundliche Miene zur Schau trug, steckte seinen Kopf durch den Spalt. „Verschwindet, wir haben geschlossen", knurrte er und knallte ihnen die Tür vor der Nase zu.
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Kapitel 6 „Tolle Begrüßung", sagte Cari düster und starrte die rote Tür an. „Hat er eben gesagt, sie hätten geschlossen?", fragte Eric, die Augen hinter den Gläsern seiner Nickelbrille ungläubig aufgerissen. „Vielleicht ist es das falsche Hotel", warf Craig grinsend ein. Cari zeigte wortlos auf eine neben der Tür angebrachte Bronzeplakette, auf der die Worte: HOTEL ZUM HEULENDEN WOLF GEGRÜNDET 1853
eingraviert waren. „Na klar", sagte sie. „Wahrscheinlich gibt es zwei Hotels mit demselben Namen auf dieser Insel. Jetzt müssen wir nur noch das andere finden." Jan, die bis jetzt noch gar nichts gesagt hatte, seufzte und versetzte ihrem Koffer einen Tritt. „Ich versteh das nicht", murmelte sie. „Ich weiß genau, dass Tante Rose mehrmals mit dem Besitzer gesprochen hat und ..." „Aber es ist niemand hier!", rief Eric. „Das Hotel hat geschlossen. Genau wie der Mann gesagt hat." „Puh", meinte Craig und schüttelte den Kopf. „Das ist wirklich eine sehr hilfreiche Bemerkung", sagte Cari ironisch. Aber sie bereute es sofort, als sie seine verletzte Miene sah. „Mann, war der Typ unhöflich", schnaubte Craig. „Vielleicht arbeitet er in seinem Kellerlabor an einem Monster und will es heute Nacht zum Leben erwecken. Da passt es ihm natürlich überhaupt nicht in den Kram, wenn vier Teenager seine Pläne durchkreuzen", warf Jan ein. „Huu-huu!" Eric stieß wieder sein unheimliches Heulen aus. „Willkommen auf Schloss Frankenstein!" „Lass den Quatsch!", sagte Cari und seufzte. In diesem Moment wurde die Eingangstür aufgerissen. „Hoppla!", rief Eric überrascht und stolperte rückwärts die Treppen der Veranda 33
hinunter. Ein großer, vornehm aussehender Mann mit welligen, weißen Haaren und einem vollen, weißen Schnurrbart erschien vor ihnen im Türrahmen. Er trug eine khakifarbene Safarijacke über eleganten weißen Hosen mit Bügelfalte. Als er sie anlächelte, schienen seine dunklen Augen zu funkeln. „Guten Abend", sagte er mit einer tiefen, voll tönenden Stimme und sah sie, immer noch lächelnd, der Reihe nach an, als suchte er nach einem bekannten Gesicht. „Guten Abend", antwortete Jan und begann, eine Erklärung zu stammeln. Aber der Mann unterbrach sie. „Ich hoffe, ihr akzeptiert meine Entschuldigung für das Verhalten meines Angestellten. Eure Ankunft hat Martin ein wenig unvorbereitet getroffen, fürchte ich, und der arme Mann kann mit Überraschungen nicht besonders gut umgehen." Er stieß ein warmes, verschwörerisches Lachen aus. „Ich bin allerdings selbst auch ein wenig erstaunt, euch hier zu sehen", fügte er hinzu und schaute Jan dabei an. „Wo ist Rose? Ich hatte sie so verstanden, dass sie euch begleiten wollte." „Meine Tante ist kurz vor Provincetown krank geworden", erklärte Jan. „Sie meinte, wir sollten schon mal vorfahren, sie würde dann mit dem nächsten Motorboot nachkommen. Hat sie nicht mit Ihnen telefoniert?" „Du musst Jan sein", sagte der Mann, ohne ihre Frage zu beantworten, und schüttelte ihr kräftig die Hand. „Ja. Ja. Die Ähnlichkeit ist nicht zu übersehen." „Äh ... danke", murmelte Jan unsicher und schaffte es schließlich, ihm ihre Hand wieder zu entziehen. „Bitte verzeiht mir. Ich bin genauso unhöflich wie Martin", sagte der Mann, öffnete die Tür ein Stück weiter und machte ihnen ein Zeichen einzutreten. „Erlaubt, dass ich mich vorstelle. Mein Name ist Simon Fear. Simon Fear, der Dritte, um genau zu sein. Ich bin der Besitzer dieser bescheidenen Herberge." „Simon Fear?", platzte Cari heraus. „Ich wohne in der Fear Street. Zu Hause in Shadyside. Ein Stück die Straße hinunter steht eine alte, ausgebrannte Villa ..." „Die hat meinem Großonkel gehört", unterbrach Simon sie. „Er war ein sehr geheimnisvoller Mann. Ich bin seit vielen Jahren nicht mehr 34
in Shadyside gewesen, genauer gesagt, seitdem ich mich entschlossen habe, das ganze Jahr über hier auf der Insel zu leben. Hat sich die Stadt sehr verändert?" „Ich glaube nicht", murmelte Cari, die nicht sicher war, wie sie antworten sollte. Während sie ihr Gepäck in die Hotelhalle schleppten, sahen sich die Freunde neugierig um. Der Raum war riesig, aber sparsam möbliert, mit dunklen Holzpaneelen an den Wänden und einer hohen Decke mit freiliegenden Holzbalken. Die Sessel und Tische, die zu kleinen Sitzgruppen zusammengestellt waren, wirkten schwer und behäbig. Viel dunkles Holz, Plüsch und Lederpolster – nicht gerade das, was Cari von einem Badehotel erwartet hatte, in dem man den Sommer verbrachte. „Es sieht eher wie in einer Jagdhütte aus", dachte sie. „Lasst eure Taschen einfach hier stehen", sagte Simon Fear. „Martin bereitet wahrscheinlich schon eure Zimmer vor. Wenn er fertig ist, kann er euer Gepäck gleich dorthin bringen." „Wo sind denn die ganzen Gäste?", fragte Jan und ließ ihren Blick über die Hotelhalle wandern, die leer und verlassen dalag. „Nun ja, wir haben geschlossen", antwortete Simon, der an seinem weißen Schnurrbart herumzupfte und sie bei seiner Antwort aufmerksam beobachtete. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Tante meinen Brief nicht bekommen hat." „Einen Brief?" „Ja. Unser Telefon war die ganze letzte Woche außer Betrieb. Deshalb habe ich Rose einen Eilbrief geschickt. Sie wusste von der Renovierung und dass wir den Speisesaal und einige der Zimmer im alten Flügel neu tapezieren und streichen lassen wollten. Ich bin davon ausgegangen, dass die Arbeiten bis zu den Sommerferien abgeschlossen sein würden. Aber die Arbeiter haben sich einfach mittendrin aus dem Staub gemacht. In meinem Brief habe ich Rose gebeten, dass ihr zwei oder drei Wochen später kommen sollt, wenn die Renovierung abgeschlossen ist und das Hotel wieder geöffnet hat." „Tante Rose hat den Brief offenbar nicht bekommen", sagte Jan betreten. „Also haben wir den ganzen Weg umsonst gemacht." „Ich quartiere euch mit Vergnügen bei mir ein, bis morgen Abend das Boot aus Provincetown kommt", bot Simon an. „Martin ist ein 35
hervorragender Koch. Und während ihr wartet, könnt ihr gerne den Pool und den Strand nutzen." „Das war's dann wohl", dachte Cari, überrascht, wie unglücklich und enttäuscht sie war. „Keine nächtlichen Picknicks am Strand, keine neuen Leute, kein Schwimmen im Meer – kein heißer Partysommer weit weg von zu Hause. „Habt ihr schon zu Abend gegessen?", fragte Simon. „Nein", antwortete Eric wie aus der Pistole geschossen. Alle lachten, weil es so sehnsüchtig geklungen hatte. „Na, dann kommt mal mit in den Speisesaal", forderte Simon sie auf und ging mit großen, weit ausgreifenden Schritten voran. „Ich werde Martin bitten, etwas für uns zuzubereiten." Cari und Jan tauschten einen Blick, während sie Simon Fear folgten. Jan sah genauso enttäuscht aus, wie Cari sich fühlte. „Wie schade. Hier ist es wirklich toll", flüsterte Jan ihr zu. Cari nickte und schaute unauffällig zu den Jungen hinüber. Eric wirkte angespannt und unglücklich, aber Craig trug seine übliche gelassene Miene zur Schau. Er schien sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen. „Da wären wir", sagte Simon mit einer weit ausholenden Geste, als sie den großen, mit Teppich ausgelegten Speisesaal betraten. Er knipste mehrere tief hängende Kronleuchter an, die den Raum schlagartig erhellten. Vor den hohen Fenstern an der Rückwand des Raums waren zwei lange Tische mit Porzellan und Besteck ein-gedeckt. Auf den restlichen Tischen waren die Stühle hochgestellt. Vor der Wand zur Linken stand eine Art Gerüst, von dem eine fleckige Abdeckplane aus Segeltuch herabhing. Dahinter war ein Teil der Tapete abgezogen worden, und man hatte einige der Deckenleisten entfernt. „Das Werk meiner Arbeiter", sagte Simon verstimmt und zeigte auf die verschandelte Wand. „Sie waren ganze drei Wochen hier, dann bekamen sie einen Anruf, dass sie das Haus irgendeines steinreichen Psychiaters in Wellfleet renovieren sollten. Und schon waren sie verschwunden. Weiß der Himmel, wann sie zurückkommen." Cari und Eric gingen zu den riesigen Fenstern hinüber, die praktisch die gesamte Rückwand des Speisesaals einnahmen. „Was für ein Blick!", rief Cari aus. 36
Die Sonne ging gerade unter. Von hier aus konnte man die hintere Terrasse sehen, auf der mehrere Liegestühle und Sonnenschirme standen. Dahinter hoben sich der Strand des Hotels und die Bucht silbergrau von dem dämmrigen Himmel ab. Das Wasser hatte einen unwirklichen Glanz – es sah aus, als hätte ein Künstler eine perfekte Strandszene gemalt. „Ich hoffe doch sehr, dass deine Tante nicht ernsthaft erkrankt ist", wandte Simon sich an Jan. „Sie hat sich geweigert, zum Arzt zu gehen", seufzte Jan. „Rose ist furchtbar dickköpfig. Könnte ich sie vielleicht von hier aus anrufen?" „Natürlich kannst du das, aber erst morgen Früh. Die Leitungen sind zwar repariert, aber die Telefonzentrale funktioniert noch nicht wieder", sagte Simon. „Ich fürchte, wir können im Moment nicht nach draußen telefonieren. Morgen soll jemand vom Festland kommen, um die Anlage wieder in Gang zu bringen." In diesem Moment betrat Martin laut hustend den Saal. Alle wandten sich vom Fenster ab und drehten sich zu ihm um. Er war klein und dünn und trug ein gestärktes, kurzärmliges weißes Hemd über einer schwarzen Hose. Sein dunkles Haar war zerzaust und sah aus, als hätte er vergessen, es zu kämmen. Die kleinen, grauen Augen standen über einer langen, spitzen Nase dicht zusammen. Sein Mund war zu einer geraden Linie zusammen-gepresst, was seinem schmalen Gesicht einen missbilligenden Ausdruck verlieh. „Das ist Martin", sagte Simon lächelnd. „Ihr habt euch ja schon kennen gelernt ... flüchtig zumindest." Wieder lachte er herzlich. Martin errötete, aber seine Miene veränderte sich nicht. „Unsere unerwarteten Gäste sind hungrig. Was hat die Küche denn so zu bieten?", fragte ihn Simon. „Da wäre noch etwas gegrilltes Hähnchen", antwortete Martin mit einer dünnen, schnarrenden Stimme, die in einem auffallenden Kontrast zu Simons tiefem, dröhnendem Bass stand. „Und dazu könnte ich einen Salat machen." Er sagte das mit solchem Widerwillen, als wäre es so ziemlich das Letzte auf der Welt, zu dem er Lust hatte. „Ausgezeichnet", erwiderte Simon, der sein unhöfliches Verhalten ignorierte und ihn mit einem Wink seiner großen Hand davonscheuchte. Martin senkte den Kopf und eilte mit schnellen 37
Schritten, ohne sich noch einmal umzusehen, zu der Schwingtür, die in die Küche führte. „Setzt euch doch", sagte Simon und deutete auf einen der gedeckten Tische. „Lasst uns ein bisschen plaudern. Es ist so einsam hier, seitdem wir geschlossen haben. Mir ist es lieber, wenn das Hotel voller junger Leute ist." „Mir auch", dachte Cari mit einer gewissen Bitterkeit. Sie nahm zusammen mit den anderen Platz und betrachtete den verlassenen Speisesaal. Der riesige Raum mit den leeren Tischen und den umgedrehten Stühlen kam ihr irgendwie traurig vor. Dieser traumhafte Blick, der wunderschöne Strand – und niemand, der da war, um beides zu bewundern. „Wir hoffen, dass wir das Hotel Ende Juli wieder eröffnen können", sagte Simon. „Vielleicht auch eher, falls meine Arbeiter sich doch noch entschließen sollten zurückzukommen. Mein Bruder Edward und ich wollten die Renovierung eigentlich schon im März in Angriff nehmen. Pünktlich zum Beginn der Sommersaison sollte alles fertig sein. Aber vielleicht war das Ganze ein großer Fehler." „Es war zweifellos ein Fehler", dachte Cari. Sie war so in ihr Selbstmitleid versunken, dass sie kaum Appetit hatte, als Martin mit dem Essen wieder auftauchte. Sie beteiligte sich nicht an der Unterhaltung und sagte nur etwas, wenn Simon ihr eine Frage stellte. „Er ist richtig nett", dachte Cari. „So warmherzig und freundlich. Es gefällt mir, wie seine dunklen Augen im Licht funkeln – sie scheinen immer zu lachen. Mich würde ja mal interessieren, warum er sich mit diesem sauertöpfischen Martin abgibt." „Mein Bruder Edward ist ziemlich melancholisch und deprimiert", sagte Simon gerade. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich, und ihm traten die Tränen in die Augen. „Regelrecht depressiv. Es ist wirklich ein Jammer. Er weigert sich, nach unten zu kommen, wenn jemand hier ist. Ich habe die Renovierung hauptsächlich deswegen in Angriff genommen, um ihn ein wenig aufzuheitern. Was das Geschäft betrifft, war es eine schlechte Entscheidung, aber wir sind zum Glück nicht auf das Geld angewiesen. Es geht mir nur darum, Edward zu helfen. Er mag es nämlich, wenn wir irgendwelche Projekte starten..."
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„Hey, ich habe eine großartige Idee!", unterbrach ihn Eric und schluckte hastig hinunter. „Wissen Sie, Craig und ich sind handwerklich ziemlich begabt." „Ja, das stimmt", bestätigte Craig und schaufelte sich noch mehr Salat auf seinen Teller. „Was halten Sie davon, wenn wir hier bleiben und Ihnen einfach beim Renovieren helfen?", sprudelte Eric hervor. „Die Idee ist super!", rief Cari, deren Laune sich augenblicklich besserte. „Jan und ich könnten auch mithelfen." „Während Sie darauf warten, dass die Arbeiter zurückkommen, könnten wir schon eine Menge erledigen", schlug Eric vor. „Und wir würden es gut machen. Bestimmt!", versicherte ihm Jan. Simon Fear lachte. „Wisst ihr, das ist vielleicht gar keine so schlechte Idee." „Ich würde eher davon abraten", sagte eine leise Stimme von der Küchentür her. Als alle sich umdrehten, fiel ihr Blick auf Martin, der dort mit einem großen Tablett in der Hand stand. „Solche Arbeiten sollten von Fachleuten ausgeführt werden", fügte er in scharfem Ton und mit missbilligender Miene hinzu. „Es geht doch nur darum, die Deckenleisten abzuschmirgeln", hielt Simon dagegen. „Und ein paar Tapeten abzureißen. Ich denke, die vier könnten das durchaus schaffen. Wahrscheinlich machen sie ihre Sache besser als diese Clowns, die ich engagiert hatte." Er lachte dröhnend. Martin fiel nicht in sein Lachen ein. Seine Miene wurde eher noch verkniffener. „Es ist nicht sicher", sagte er und schaute Cari dabei direkt an. Ein eiskalter Schauer überlief sie. So, wie Martin diesen Satz betont hatte, klang es nicht, als wäre er um ihre Sicherheit besorgt, sondern mehr wie eine Drohung. „Ich halte es für besser, wenn die jungen Leute uns mit dem nächsten Boot wieder verlassen", sagte Martin steif. „Da kann ich Ihnen nicht zustimmen, Martin. Vielleicht tut es Edward gut, wenn ein bisschen Leben im Haus ist", erwiderte Simon nachdenklich und blickte aus dem Fenster in den mittlerweile dunklen Abendhimmel.
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„Es wäre besser, wenn sie wieder fahren würden", beharrte Martin und sprach jedes Wort so langsam und betont aus, als würde er mit einem kleinen Kind reden. „Für mich wäre es ebenfalls angenehm, ein paar junge Leute hier zu haben", sagte Simon, der den herablassenden Tonfall seines Angestellten einfach ignorierte. „Wenn wir wieder geöffnet haben, wird es hier vor jungen Leuten nur so wimmeln", protestierte Martin scharf und gab sich keine Mühe, seinen Unwillen zu verbergen. „Wir sind richtig harte Arbeiter", versicherte Eric Simon. „Und wir werden uns mächtig Mühe geben", bekräftigte Craig. „Dann ist es also abgemacht", sagte Simon und zupfte wieder an seinem Schnurrbart. „Ihr bleibt hier und helft bei der Renovierung." Cari blickte zu Martin hinüber, um zu sehen, wie er den Entschluss aufnahm. Doch er zeigte überhaupt keine Reaktion. Sein Gesicht wirkte völlig ausdruckslos. Nur seine kleinen, grauen Augen schienen für einen Moment ganz glasig zu werden. Er stand stocksteif da und hob dann das Tablett. „Darf ich abräumen?", fragte er tonlos, als ob die Meinungsverschiedenheit zwischen ihm und seinem Arbeitgeber nie stattgefunden hätte. Cari drehte sich wieder zu ihren Freunden um, die Simons Entscheidung bejubelten und beklatschten, und stimmte glücklich in ihre Begeisterungsrufe ein. Alle redeten aufgeregt durcheinander, bis Simon die Hand hob und um Ruhe bat. „Natürlich erwarte ich nicht, dass ihr die ganze Zeit nur arbeitet", sagte er mit einem breiten Grinsen. „Zwischendurch solltet ihr auch mal in den Pool springen oder euch an den Strand legen. Ein bisschen in der Sonne braten – ich glaube, so nennt ihr jungen Leute das doch, oder?" Alle lachten. „Partysommer!", riefen Eric und Craig einstimmig. „Ja, genau. Das meinte ich damit. Ich hoffe, ihr habt eine schöne Zeit im Hotel zum heulenden Wolf. So wie die meisten unserer Gäste." Lächelnd schob Simon seinen Stuhl zurück, stand auf und fuhr sich mit einer Hand durch das dichte, silbern schimmernde Haar. „Wir werden versuchen, morgen mit deiner Tante Rose Kontakt aufzunehmen", sagte er zu Jan. „Ich bedaure es sehr, dass sie nicht hier 40
ist, aber ich bin sicher, dass es ihr inzwischen schon wieder besser geht." „Aileen ist eine gute Krankenschwester", erwiderte Jan. „Aber ich würde Tante Rose trotzdem gerne anrufen, um mich zu erkundigen, wie es ihr geht." „Martin, würdest du den jungen Leuten jetzt bitte ihre Zimmer zeigen", bat Simon. Martin hörte auf, die Teller abzuräumen und ließ das Tablett mit einem unnötig lauten Knall auf den Tisch fallen. „Hast du unsere Gäste im neuen Teil des Hotels untergebracht?", fragte Simon. Den Blick fest auf den Boden geheftet, schüttelte Martin den Kopf. „Nein, im alten Flügel." Im ersten Moment wirkte Simon überrascht, doch sein Lächeln kehrte schnell zurück. „Nun, dann wünsche ich euch noch einen angenehmen Abend. Wir sehen uns morgen Früh, wenn ihr mit der Arbeit beginnt." Cari und ihre Freunde dankten ihm. Und während sie immer noch aufgeregt durcheinander redeten, folgten sie Martin durch den Speisesaal und einen schwach erleuchteten Korridor entlang, in dem es durchdringend nach Mottenkugeln und Reinigungsmitteln roch. Der Weg führte durch mehrere lange Korridore mit geschlossenen Türen zu beiden Seiten und immer noch weiter. „Wir sind doch jetzt schon kilometerweit gelaufen", dachte Cari. „Wo will er bloß mit uns hin?" Endlich blieb Martin vor einer angelehnten Tür stehen. Die bronzene Zimmernummer darauf lautete 123 C. „Ich habe die nächsten vier Zimmer für euch hergerichtet", knurrte er. „Ihr könnt euch überlegen, wer welches nimmt." „Vielen Dank", sagte Jan mit weicher Stimme. „Ihr solltet aber besser wieder abreisen", erwiderte Martin abweisend. „Wie bitte?" „Du hast mich genau verstanden", antwortete er in scharfem Ton. „Ich bin der Meinung, dass ihr nicht hier bleiben solltet. Es könnte gefährlich werden." „Was könnte gefährlich werden?", fragte Cari. 41
„Die Renovierungsarbeiten natürlich", antwortete Martin und blickte ihr starr in die Augen. „Es ist wesentlich mehr zu tun, als Simon denkt, und es ist nicht ganz einfach." „Aber wir sind bereit, richtig hart zu arbeiten", beteuerte Eric. „Ich glaube nicht, dass ihr euren Aufenthalt hier genießen werdet", fügte Martin hinzu. „In diesem alten Hotel ist es ziemlich langweilig, wenn keine Gäste da sind." „Machen Sie sich keine Sorgen. Wir kommen schon zurecht", versicherte ihm Jan. „Da wäre ich mir nicht so sicher", sagte er geheimnisvoll. „Es gibt da noch ... andere Dinge. Und es ist besser für euch, wenn ihr nichts davon wisst." Während er sprach, senkte er seine Stimme zu einem unheimlichen Flüstern. „Sie meinen, in diesem Hotel spukt es?", fragte Jan aufgeregt. „Hier gibt es Geister?" Ihre Frage überraschte Martin offenbar. Er schaute sie nachdenklich an und schien zu überlegen, wie viel er ihr verraten sollte. „Ich muss euch warnen ...", begann er. „Also, gibt es nun welche?", unterbrach Jan ihn ungeduldig. „Haben Sie hier schon Geister gesehen?" Eine ganze Weile schwieg er. „Ich habe merkwürdige Dinge beobachtet", sagte er dann widerstrebend. „Hier im alten Flügel." Sein Ton klang seltsam, irgendwie unbeteiligt. Cari hatte fast das Gefühl, als wollte er sie auf den Arm nehmen. Ein merkwürdiges Lächeln umspielte seinen schmallippigen Mund, der wie der Rest seines Gesichts halb im Schatten lag. „Ihr glaubt doch nicht an Geister, oder?", flüsterte er. „Nein", riefen Eric und Craig gleichzeitig. „Doch", sagte Jan. „Bitte, erzählen Sie uns, was Sie gesehen haben!" „Verlasst diesen Ort. Fahrt morgen zurück", schnarrte Martin und ignorierte ihre Bitte. Sein Gesicht lag jetzt ganz im Schatten. Cari konnte seine Miene nicht erkennen, aber bei seinen Worten lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Martin wandte sich abrupt ab und verschwand ohne ein weiteres Wort und beinahe lautlos den dunklen, leeren Korridor entlang.
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Kapitel 7 „Reich mir doch mal die Sonnenmilch", sagte Cari und streckte mit einer trägen Bewegung die Hand aus. „Welche? Die mit Kokosnuss oder die mit Bananengeschmack?", fragte Eric, setzte sich auf und durchwühlte Caris geflochtene Strandtasche aus Stroh. „Der Geschmack ist mir total egal", antwortete Cari lachend und beschattete ihre Augen mit der Hand, um einen Blick auf Eric zu werfen, der in seinen ausgeblichenen Jeansshorts neben ihr auf dem gelben Strandhandtuch kniete. „Was für einen Sonnenschutzfaktor hat die mit Kokosnuss?" „Acht", sagte Eric, öffnete die Kappe und verrieb etwas von der Lotion auf seinen bleichen Schultern. „Das ist gut", meinte Cari. „Ich möchte zwar braun werden, aber mir nicht gleich einen Sonnenbrand holen." Eric reichte ihr die Flasche. Immer noch flach auf dem Rücken liegend, verteilte sie die Sonnenmilch auf Armen und Bauch. „Wo ist Jan?", fragte Cari. „Keine Ahnung", antwortete Eric. Er beobachtete gerade Craig, der in quietschgrünen, weit geschnittenen Bermudas am Wasser stand und sich die sanften Wellen um die Knöchel spülen ließ. „Sie ist weder zum Frühstück noch zum Mittagessen aufgetaucht. Ich habe sie den ganzen Tag noch nicht gesehen", sagte Cari leicht beunruhigt. „Wahrscheinlich treibt sie sich irgendwo auf der Suche nach Geistern und Kobolden rum", meinte Eric kichernd. „Oder sie hat sich in eine tiefe Trance versetzt und versucht, das Hotelgespenst herbeizurufen." „Ich mag Jan total gern, aber was diese Geister angeht, ist sie echt komisch", sagte Cari seufzend. „Das habe ich genau gehört!", ertönte eine Stimme direkt hinter ihr. Cari setzte sich erschrocken auf. Jan, im pinkfarbenen Bikini und mit einer Strandtasche über der Schulter, beugte sich mit wütender Miene über sie. 44
„Jan – wir haben uns gerade gefragt, wo du bist", rief Cari. „Ich weiß. Schließlich habe ich euer Gespräch mitbekommen", fauchte Jan. „Du hältst mich also für komisch?" „Jan, ich ...", begann Cari. „Ihr glaubt, ich bin verrückt, was? Ihr haltet mein Interesse für das Übernatürliche doch für einen einzigen, großen Witz, oder?" „Ja, irgendwie schon", gab Eric zu, dem es nicht gelang, ernst zu bleiben. Jan warf ihm einen finsteren Blick zu. „Setz dich", sagte Cari und klopfte neben sich auf die Decke. Sie gab Eric einen Schubs. „Rutsch rüber. Na los, mach mal Platz! Und hör auf, Jan zu ärgern." Sie sah zu ihrer Freundin auf. „Es ist so ein wunderschöner Tag. Viel zu schön zum Rumstreiten." „Ich kann es nicht ausstehen, wenn man sich über mich lustig macht", maulte Jan und ließ sich widerstrebend auf der Decke nieder. „Tut mir Leid. Echt", sagte Eric, aber sein breites Grinsen machte seine Worte nicht gerade glaubwürdig. Er rückte seine verspiegelte Sonnenbrille zurecht und blickte aufs Wasser. „Wo bist du gewesen?", fragte Cari. „Ich habe lange geschlafen", antwortete Jan und zog zwei Handtücher aus ihrer riesigen Tasche hervor. „Dann habe ich mich ein bisschen umgesehen und versucht, Tante Rose anzurufen, aber es ist niemand rangegangen. Simon glaubt, dass sie heute nachkommt. Er wird nachher zum Anleger runterfahren, um zu sehen, ob sie auf dem Motorboot ist. Ich hoffe es sehr." „Ich auch", sagte Cari leise. „Ist das nicht irre hier?", rief Eric und streckte sich neben Jan aus, die immer noch in ihrer Tasche herumkramte. Das blau-grüne Wasser funkelte im Sonnenlicht, während es in sanften Wellen auf den weißen Sand plätscherte. Rechts von Craig, der noch immer am Meeressaum stand, hüpften zwei kleine Kanus, die an einem niedrigen Holzsteg festgebunden waren, in der Dünung auf und ab. Hinter einer steil aufragenden Düne erstreckte sich das Hotel wie eine lang gezogene, weiße Festung. Die überdimensionalen Fenster des Speisesaals fingen das goldene Nachmittagslicht ein. Das Hotel wurde zu beiden Seiten von einem dichten Wald aus hohen, 45
duftenden, blaugrünen Kiefern eingerahmt, die sich sanft in der warmen Brise wiegten, die vom Wasser heraufwehte. „Ich kann's einfach nicht glauben. Das gehört alles uns!", rief Cari, von einem plötzlichen Glücksgefühl erfüllt. „Es ist so wunderschön! Bin ich froh, dass außer uns niemand da ist." „Stimmt, es ist gar nicht so übel", meinte Jan und drehte sich auf den Bauch. „Nicht übel?", rief Cari. „Es ist das Paradies!" „Fehlt nur noch, dass Robinson und Freitag hinter den Bäumen hervorkommen", sagte Eric grinsend. „Ich wusste ja gar nicht, dass du solche anspruchsvollen Bücher liest", zog Cari ihn auf. Blitzschnell schleuderte er eine Hand voll Sand auf ihre Beine. „Hey, du bist ganz schön frech!", quietschte Cari erschrocken. „Ich weiß", meinte Eric, offenbar sehr zufrieden mit sich. „Mit seiner verspiegelten Sonnenbrille und den abgeschnittenen Jeans sieht er richtig süß aus", dachte Cari. „Und sein Pferdeschwanz gefällt mir auch." Sie wunderte sich über sich selbst. Bis jetzt hatte sie in Eric nie mehr als einen guten Freund gesehen, aber auf einmal betrachtete sie ihn mit anderen Augen. „Das ist sicher nur meine tolle Stimmung", dachte sie. „Heute würde ich wahrscheinlich auf jeden abfahren." „Es war echt nett von Simon, uns erst mal einen Tag freizugeben", sagte Jan. „Stimmt, der Knabe ist schwer in Ordnung", meinte Eric anerkennend. „Ein richtig cooler Typ. Und er sieht so vornehm aus. Wie ein Botschafter oder so." „Ja, es war wirklich klasse von ihm, dass er uns erlaubt hat zu bleiben", sagte Cari nachdenklich. „Aber was ist mit diesem komischen Martin?" „Habt ihr heute beim Frühstück sein Gesicht gesehen? So verkniffen wie eine verschrumpelte Backpflaume!", rief Eric lachend. „Was ist bloß mit dem Kerl los?", fragte Cari, während sie mit der Hand durch den warmen Sand fuhr. „Hattet ihr nicht auch das Gefühl, dass er gestern Abend versucht hat, uns Angst einzujagen?" „Sehr geschickt hat er es aber nicht angefangen", meinte Cari kichernd. 46
„Auf jeden Fall wollte er uns nichts von dem Geist erzählen", sagte Jan und stützte sich auf einen Ellbogen. „Oh, bitte – fang bloß nicht wieder mit diesen Gespenstern an", stöhnte Eric. Jans Miene verdüsterte sich. „Ich hab's satt, dass ihr euch immer über mich lustig macht! Ihr glaubt wohl, ihr habt die Weisheit mit Löffeln gefressen, was?", erwiderte sie scharf. „Diese Insel war während der Kolonialzeit wahrscheinlich bewohnt, also vor ungefähr dreihundertfünfzig Jahren. Ganz Neuengland ist voll mit alten Häusern, Gasthöfen und Hotels, die von Geistern aus dieser Zeit bevölkert sind. Ich glaube nicht, dass Martin uns gestern Abend angelogen hat oder versucht hat, uns zu erschrecken. Ich glaube, er wollte uns warnen." „Irgendjemand hätte uns besser vor dir warnen sollen", neckte Eric sie mit einem breiten Grinsen. Jan setzte sich wütend auf. „Wie war's, wenn du einfach mal die Klappe hältst, okay?" Cari spürte, dass ihre Freundin richtig sauer über Erics Sticheleien war, aber er schien das nicht zu merken. Er stand auf, näherte sich Jan mit weit aufgerissenen Augen und ausgestreckten Händen und stieß ein schauriges Heulen aus. Jan funkelte ihn wütend an und wich vor ihm zurück. „Ich mein's ernst, Eric ..." Sie sprang auf und lief weg, aber er verfolgte sie mit den ungelenken Bewegungen des Frankensteinmonsters und aus voller Kehle heulend. Jan stürmte die Düne hinauf, die zum Hotel führte, Eric dicht auf den Fersen. Am Rand der Rasenfläche blieb er stehen und ließ die Arme sinken. Aber Jan rannte mit großen Schritten weiter, das Gesicht vor Wut rot angelaufen. „Hey, Jan", rief Eric ihr hinterher. „Komm zurück." Sie ignorierte seine Rufe und verschwand im Hotel. „Was ist denn mit der los? Ich hab sie doch bloß ein bisschen auf den Arm genommen", sagte Eric kleinlaut, nachdem er zu Cari zurückgejoggt war. Cari zuckte mit den Achseln. „Ich glaube, wenn es um Geister geht, versteht sie keinen Spaß", sagte sie. 47
„Vielleicht ist sie auch wegen ihrer Tante gestresst", murmelte Eric und blickte hinauf zum Hotel. „Vielleicht", erwiderte Cari. „Na, wie war's mit einer kleinen Abkühlung?" Sie schauten zum Wasser hinunter und sahen, dass Craig ihnen etwas zurief, die Hände wie einen Trichter um den Mund gelegt. „Kommt her!", brüllte er und winkte sie zu sich heran. „Ich bin so weit", meinte Eric und nahm die Sonnenbrille ab. Als er Cari hochhalf, spürte sie seine warmen Hände auf ihren Armen. Er ließ sie nicht sofort wieder los. Ihre Blicke trafen sich, und sie lächelte ihn schüchtern an. „Komm, testen wir mal das Wasser!", sagte Eric mit belegter Stimme. Als die Sonne an diesem Abend hinter den Kiefern unterging und die Wolkenfetzen purpurrot färbte, versammelten sich die vier Freunde wieder am Strand. Ein bleicher Vollmond zeigte sich am Himmel. Eric hatte sich bei Jan entschuldigt, und sie hatte seine Entschuldigung widerwillig angenommen. Inzwischen hatten sie sich Shorts und T-Shirts übergezogen. Die kühle Abendluft kribbelte auf ihrer sonnenverbrannten Haut. „Wow! Was für ein Sonnenuntergang!", rief Craig, der auf dem Rücken im Sand lag, begeistert. Cari stand neben Eric und betrachtete die Farben des Himmels, die sich im Wasser spiegelten. „Ich habe das Gefühl, an einem verzauberten Ort zu sein", sagte sie leise. „Hier ist es sogar noch schöner als in Shadyside", witzelte Eric. Er stand ganz dicht neben ihr, und sie lächelte zu ihm auf. „Könnte mir vielleicht mal jemand mit diesem Ungetüm hier helfen?", bat Jan, die sich mit einer großen, gestreiften Stranddecke abmühte. Cari flitzte zu ihr hinüber und half ihr, sie auf dem Sand auszubreiten. Dann sicherten sie die Decke mit den beiden großen Picknickkörben, die sie mitgebracht hatten. „Ich sterbe vor Hunger", stöhnte Craig und öffnete den ersten Korb. „Na, was hat Martin denn Schönes für uns eingepackt?" „Warte, lass mich raten", sagte Cari. „Sandwiches mit Tunfisch?"
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„Rate lieber nochmal", forderte Craig sie auf, während er eine elegante Servierplatte herausfischte. „Kalter Hummer. Wow!" „Und was ist in diesem Korb?", fragte Eric und öffnete den Deckel. „Hey – kein Wunder, dass er so schwer war. Es ist eine große Terrine mit Muschelsuppe drin." Nachdem er sie herausgeholt hatte, förderte er auch noch eine Schüssel Salat und zwei lange Baguettes zu Tage, die sogar noch warm waren. „Was für ein Festessen!", rief Jan begeistert. Sie packten das feine Porzellan, das Besteck und die Stoffservietten aus, die Martin ihnen mitgegeben hatte, und verteilten alles auf der Decke. Dann zündeten sie die beiden Kerzen an, die sie ganz unten im Korb gefunden hatten. Der Himmel verfärbte sich zu einem dunklen Purpurrot, als die Sonne hinter den Bäumen versank, und der Mond leuchtete, als sie mit dem Abendessen begannen. Das sanfte Plätschern der Meereswellen lieferte die unaufdringliche Hintergrundmusik für ihre elegante Strandparty. „Ich komme mir vor wie im Film", murmelte Jan. „So einen guten Film habe ich noch nie gesehen!", rief Cari aus. Sie blickte hinauf zum Hotel, dessen Umrisse sich scharf gegen die Dunkelheit abzeichneten. Nur zwei Fenster im ersten Stock waren hell erleuchtet und schienen wie zwei gelbe Katzenaugen auf sie herunterzuschauen. „Wie wär's, wenn wir nach dem Abendessen ein kleines Bad nehmen?", schlug Eric mit einem durchtriebenen Grinsen auf dem Gesicht vor. „Wir haben unsere Badesachen doch gar nicht mit", meinte Craig. „Was du nicht sagst", antwortete Eric, dessen Grinsen jetzt noch breiter wurde. „Ich hatte früher einen immer wiederkehrenden Traum, in dem ich nachts bei Vollmond schwimmen gegangen bin", erzählte Cari. „Das klingt nach einem sehr interessanten Traum", sagte Eric. „Du solltest dich wirklich schämen", fügte Craig mit gespielter Strenge hinzu. „Haltet doch endlich mal die Klappe", fauchte Jan. „Ihr beiden seid unmöglich!" „Hey, seht doch mal!", rief Cari plötzlich und starrte zur Spitze der Düne hinauf. „Da oben ist jemand!" 49
Alle fuhren herum und entdeckten eine große Gestalt, die in der Dunkelheit wie ein Schatten wirkte. Reglos wie eine Statue stand sie über ihnen auf der Düne. „Wer ist das?", fragte Cari ängstlich.
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Kapitel 8 Die hoch gewachsene Gestalt trat aus dem Schatten ins Mondlicht hinaus. „Simon!", rief Jan erleichtert. Er winkte ihnen kurz zu, blieb jedoch oben auf der Düne stehen. Sein strahlend weißer Leinenanzug schimmerte im Mondlicht. Cari ertappte sich bei dem Gedanken, dass er aussah wie ein Geist. Sie musste erst einmal den Schreck verdauen, dass er so plötzlich aus der Dunkelheit aufgetaucht war. Jetzt, im hellen Licht des Mondes, schien Simon in seinem weißen Anzug, den mit Pomade zurückgekämmten silbernen Haaren und dem weißen Schnurrbart von innen heraus zu leuchten. „Kommen Sie doch zu uns herunter!", rief Jan ihm zu. „Ja, leisten Sie uns Gesellschaft!", rief auch Cari. Simon kam die Düne hinunter und bewegte sich dabei mit überraschender Behändigkeit. Er blieb vor ihnen stehen und ließ seinen Blick über die Decke schweifen. Cari fiel auf, dass er eine Weinflasche und ein Weinglas aus Kristall in der Hand hatte. „Ist Tante Rose angekommen?", fragte Jan besorgt. „War sie auf dem Motorboot?" „Nein, leider nicht", sagte Simon bedauernd. „Aber mach dir keine Sorgen. Ich bin sicher, es geht ihr gut. Sie hat wahrscheinlich beschlossen, noch ein bisschen bei ihrer Schwester in Provincetown zu bleiben." „Warum hat sie dann nicht angerufen?", fragte Jan. „Wahrscheinlich hat sie es heute Morgen versucht, bevor unsere Telefonanlage repariert worden ist. Das wird es sein. Ich finde, wir sollten sie heute nicht mehr stören – gönnen wir ihr noch ein bisschen Erholung. Aber morgen Früh werden wir gleich als Erstes mit ihr telefonieren. Alles wird wieder in Ordnung sein. Da bin ich mir sicher." Bevor Jan etwas darauf erwidern konnte, wechselte er das Thema. „Wie ich sehe, hat Martin euch mit einem kleinen Imbiss versorgt", sagte er und betrachtete die Überreste des luxuriösen Abendessens. 51
Alle lachten. „Das war etwas mehr als ein kleiner Imbiss", widersprach Cari und machte ihm ein Zeichen, sich zu ihnen zu setzen. „Marta, unsere Köchin, kommt nicht vor Freitag zurück", sagte Simon lächelnd. „Martin beschwert sich natürlich. Aber ich glaube, in Wirklichkeit genießt er es, dass er die Gelegenheit hat, sich in der Küche kreativ zu betätigen." „Es war gigantisch, aber jetzt sind wir leider viel zu voll gestopft, um morgen zu arbeiten", witzelte Eric. „Ja, ich glaube, ich habe zehn Pfund zugenommen", stöhnte Cari. „Das werdet ihr morgen schon wieder abtrainieren. Keine Angst", erwiderte Simon lächelnd. Er ließ sich schwungvoll auf der Decke nieder und schenkte sich ein Glas Wein ein. „Einen Toast auf euch alle", rief er und prostete ihnen zu, bevor er einen tiefen Schluck nahm. Dann wurde seine Miene plötzlich ernst. „Ich wünschte, Edward hätte sich zu uns gesellt", sagte er. „Ich habe ihn gebeten, mit hinunterzukommen, aber er kann manchmal sehr stur sein." „Ist Ihr Bruder krank?", fragte Jan, den Mund voller Baguette. Die Frage schien Simon zu überraschen. „Krank? Nein", sagte er nachdenklich. „Er ist nur ausgesprochen schwermütig." Sein Gesicht hellte sich etwas auf. „Wir Fears haben manchmal seltsame Launen, wisst ihr?" „Wir haben alle schon Geschichten über Ihre Familie gehört", platzte Cari heraus. „Ich meine natürlich, über Ihre Vorfahren." „Cari kann in Shadyside von ihrem Fenster aus sogar die alte Fear-Villa sehen", erklärte Jan Simon. „Genau", sagte Cari. „Vom ersten Stock aus." Simon schloss für einen Moment die Augen, als versuche er, sich die Villa ins Gedächtnis zu rufen. „Ja, ja. Über dieses Haus gibt es in der Tat eine Menge Geschichten. Und über meine Familie auch." Er öffnete die Augen wieder und schaute Cari an. „War Simon Fear ihr Großvater?", wollte Jan wissen. Simon trank noch einen Schluck Wein. „Nein. Er war der Bruder meines Großvaters. Also mein Großonkel." „Aber Sie wurden doch nach ihm benannt, oder?", fragte Jan weiter.
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„Nicht wirklich." Ein seltsames, schiefes Lächeln huschte über sein Gesicht, das jetzt halb im Schatten lag. „Mein Vater hieß ebenfalls Simon." Irgendwo im Wald begann ein Tier zu heulen – ein trauriges, klagendes Geräusch. „Erzählen Sie uns von dem ersten Simon Fear", bat Jan und beugte sich gespannt vor. „Und von der Villa in der Fear Street. Was ist dort passiert?" Cari schämte sich für ihre Freundin. „Jan ist ziemlich unhöflich", dachte sie. Aber Simon schien das nichts auszumachen. „Ich weiß auch nicht so viel darüber", sagte er. „Ich meine, das war lange, bevor ich geboren wurde. Und was ich gehört habe, ist ... nun ja – gelinde gesagt – lückenhaft." Er ließ seinen Blick zu dem alten Hotel hinauf wandern. „Ich wünschte, Edward wäre hier. Er könnte die Geschichte sicher besser erzählen als ich." „Oh, bitte!", drängte Jan. „Wie kam es, dass die Villa abgebrannt ist? Ist an den Gerüchten über Simon Fear etwas dran?" Simon lachte glucksend und setzte sein Weinglas ab. Alle beugten sich in gespannter Erwartung vor. Die Kerzen flackerten heftig, gingen aber nicht aus. „Wie ihr sicher wisst, war Simon Fear, mein Großonkel, einer der ersten Siedler in Shadyside", begann er. „Er war sehr reich. Jedenfalls nach den Überlieferungen unserer Familie. Als er in Shadyside ankam, war er bereits sehr vermögend, aber niemand wusste, woher sein Reichtum kam. Und wo wir gerade bei diesem Thema sind, es schien auch niemand zu wissen, woher Simon kam." „Wie sah er denn aus?", fragte Jan neugierig. „So wie Sie?" Simon zuckte mit den Achseln. „Keiner weiß, wie er ausgesehen hat. Es gibt zwar eine Menge Fotos vom Rest der Familie, aber kein einziges von ihm. Das ist eins der vielen Geheimnisse." Er hob sein Glas, trank noch einen Schluck Wein, leckte sich über die Lippen und fuhr fort: „Und es ist ebenfalls ein Geheimnis, warum er sein fantastisches Haus so weit von der Stadt entfernt gebaut hat. Wie ihr euch sicher denken könnt, gab es zu dieser Zeit noch keine Fear Street. Genauer gesagt, gab es in diesem Teil der Stadt, der damals noch unbebaut war, überhaupt keine Straßen. Simon Fear ließ seine riesige Villa draußen in den Wäldern errichten. Sie lag so 53
abgeschieden, dass man sie nur erreichen konnte, wenn man einem schmalen, unbefestigten Weg folgte, der sich zwischen den Bäumen hindurchschlängelte." „Wahrscheinlich war er gern allein", vermutete Jan. „Nun ja, allein war er eigentlich selten", widersprach Simon ihr vorsichtig. „Jedenfalls nicht zu Anfang. Als er nach Shadyside zog, waren er und seine schöne, junge Frau Angelica überall gern gesehene und gefeierte Gäste. Ihre Villa war zwar abgelegen, aber es heißt, dass dort ständig die Lichter brannten. Simon und Angelica feierten üppige Feste, und das Haus war immer voller Gäste. Die Fears waren ausgesprochen beliebt und überall gut angesehen, nicht zuletzt, weil sie eine Menge für die Stadt getan haben. Simon hat mit seinem Geld die Bibliothek erbaut und sich an der Errichtung von Shadysides erstem Krankenhaus beteiligt." Er legte eine Pause ein und trank noch einen Schluck Wein. Das flackernde Kerzenlicht warf einen warmen, orangefarbenen Schein auf sein Gesicht. Cari schaute zu Jan hinüber, die ein enttäuschtes Gesicht machte. Zumindest bis jetzt war das nicht die Art von Geschichte, die sie erwartet hatte. „Er und Angelica hatten zwei entzückende kleine Töchter", erzählte er weiter. „Simon war ganz vernarrt in die beiden. Zu vernarrt vielleicht, denn er behandelte sie nicht wie normale Kinder. Zum Beispiel ließ er sie nicht zur Schule gehen, sondern stellte einen Privatlehrer für sie ein. Er kaufte ihnen alles, was sie wollten – und noch mehr. Einmal, so erzählt man sich, hat er sogar einen ganzen Zirkus aus Europa kommen lassen – mit Tieren und allem Drum und Dran – nur für eine Vorstellung am Geburtstag eines der Mädchen." „Das ist ja cool", sagte Eric. „Pssst! Unterbrich ihn nicht", zischte Jan ihm zu. Simon schaute hinaus auf das dunkle Meer. Als er fortfuhr, schwang ein Unheil verkündender Ton in seiner Stimme mit. „Doch eines Tages gingen Simons kleine Mädchen zum Spielen in den Wald und kehrten nicht zurück. Am gleichen Abend begann eine verzweifelte Suche, die sich bis zum nächsten Morgen hinzog. Man erzählt sich, dass ihre Leichen erst eine Woche später im Wald gefunden wurden. Genauer gesagt, ihre Körper -aber nicht ihre Knochen. Ihr Skelett war komplett entfernt worden." 54
„Igitt! Das kann doch nicht wahr sein!", keuchte Cari entsetzt, die versuchte, sich zwei kleine Mädchen ohne Knochen vorzustellen. Simon zuckte mit den Achseln. Sein Gesicht wirkte im Kerzenschein völlig ausdruckslos. „Ich erzähle euch nur die Geschichten, die man mir auch erzählt hat." „Wie schrecklich! Hat die Polizei den Mörder gefunden?", fragte Jan mit weit aufgerissenen Augen. „Ich weiß nicht, ob man sie überhaupt in die Suche einbezogen hat", erwiderte Simon geheimnisvoll. „Jedenfalls gingen danach die Lichter in der weitläufigen Villa aus, und alles änderte sich. Angelica ließ sich nie wieder in der Öffentlichkeit blicken. Es hieß, sie sei wahnsinnig geworden, hätte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und sei nie wieder herausgekommen. Nachts soll man ihre Schreie und ein unheimliches Heulen bis in die Stadt gehört haben. Und Simon? Sein Leben schien ebenfalls zu Ende zu sein. Er verlor sein ganzes Geld, oder vielleicht verschleuderte er es auch nur. Jedenfalls wurden nach und nach die wertvollen Gemälde und Skulpturen im Haus verkauft und verschwanden spurlos. Auch Simon wurde nie wieder in der Stadt gesehen. Und dann brannte das Haus unter mysteriösen Umständen ab." „Hat Simon das Feuer gelegt?", fragte Jan. „Das weiß ich nicht. Aber ich glaube nicht, dass es Brandstiftung war, auch wenn einige behaupten, Angelica hätte die Villa in ihrem Wahnsinn angesteckt, um Simon dafür zu bestrafen, dass er sie an diesen Ort gebracht hat. Andere sagen, es sei Simon gewesen, der gleichzeitig sein Haus und seine Frau loswerden wollte. Es existiert eine schriftliche Zeugenaussage von ihrem nächsten Nachbarn, der zu diesem Zeitpunkt zufällig im Wald war. Dieser Mann will gesehen haben, wie die Villa in Flammen aufging, die angeblich stundenlang loderten, bis das Gebäude schließlich niederbrannte. ,Höllenfeuer' hat er es genannt. Nach seinem Bericht wagte sich kaum noch jemand in die Nähe der Ruine." Simon machte eine Pause, schwieg eine ganze Weile und starrte hinaus auf die Bucht. „Was ist mit Simon und Angelica passiert?", fragte Jan leise. „Angelica ist bei dem Brand umgekommen", antwortete Simon. „Sie ist auf dem Fear-Street-Friedhof in einem anonymen Grab 55
beigesetzt worden. Und Simon?" Er zuckte mit den Achseln. „Von ihm hat man nie wieder etwas gesehen oder gehört." Die Kerzen flackerten plötzlich, obwohl kein Wind ging, und Cari überlief ein eiskalter Schauer. „Ich werde mal eben zum Hotel laufen und mir ein Sweatshirt holen", verkündete Jan und sprang auf. „Soll ich dir auch eins mitbringen, Cari?" „Ja, bitte", antwortete sie. „Erzählen Sie bloß nicht weiter, bevor ich zurück bin", bat Jan Simon. Dann verschwand sie die dunkle Düne hinauf in Richtung Hotel. „Was für eine furchtbare Geschichte", sagte Cari zu Simon und schüttelte den Kopf. „In Shadyside erzählt man sich ganz andere Dinge über Simon Fear." „Stimmt. Ich habe immer gehört, er wäre so was Ähnliches wie ein Vampir", platzte Eric heraus. Simon, dessen Gesicht nun völlig im Schatten lag, lachte glucksend. Sein weißer Anzug schien in der Dunkelheit zu schweben. „Na, ich weiß nicht", sagte er mit amüsierter Stimme. „Dann wäre ich ja auch ein Vampir, oder?" Daraufhin trat für eine Weile Stille ein. Cari hatte die Arme um die Knie geschlungen und betrachtete wie hypnotisiert die flackernden Kerzen. Sie musste die ganze Zeit an die Fear-Mädchen denken, und wie ihre Leichen ohne Knochen gefunden worden waren. Nach einer Weile durchbrach Simon das Schweigen. „Es wird langsam kühl", sagte er. „Vielleicht sollten wir ..." Ein schriller Entsetzensschrei schnitt ihm das Wort ab. Alle sprangen erschrocken auf. Ein zweiter Schrei gellte durch die Nacht. „Das kommt vom Hotel!", rief Eric. „Und es klingt wie Jan!", fügte Cari tonlos hinzu.
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Kapitel 9 Die Kerzen verloschen mit einem letzten Aufflackern. Cari rannte die Düne hinauf, dicht gefolgt von Eric und Craig. Die Schreie waren verstummt. Jetzt war nur noch das Hämmern ihrer Turnschuhe auf dem sandigen Boden und das leise Plätschern der Wellen zu hören. „Bitte, bitte lass ihr nichts passiert sein!", dachte Cari beim Laufen. Sie war sicher, dass sie diese Schreie ihr ganzes Leben lang nicht vergessen würde. Immer wieder gellten sie in ihren Ohren und ließen sie vor Entsetzen erschauern. Bitte, lass ihr nichts passiert sein! Die drei stürmten am Poolhaus und dem dunklen Rechteck des Swimmingpools vorbei und rannten über die Terrasse zur Rückseite des Hotel, das dunkel vor ihnen aufragte. Cari warf einen Blick über die Schulter. Ein ganzes Stück hinter ihnen kämpfte Simon sich gerade die Düne hinauf. Cari war nur noch wenige Meter vom Hintereingang entfernt, als sie sah, wie eine dunkle Gestalt aus dem Hotel stürzte und auf sie zukam. Sie hatte den Mund schon geöffnet, um zu schreien, als sie merkte, dass es Jan war. Erleichtert lief sie auf ihre Freundin zu und umarmte sie ganz fest. „Jan, bist du okay?" „Ich ... ich habe sie gesehen!", stotterte Jan, offenbar ganz benommen. „Was ist passiert?", stießen Eric und Craig keuchend hervor. „Was ist denn das hier für ein Aufruhr?", ertönte plötzlich Martins Stimme, der unvermutet aus der Dunkelheit auftauchte und eher verärgert als besorgt klang. Cari wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie und die beiden Jungen bildeten einen schützenden Kreis um Jan. In diesem Moment kam Simon über die Terrasse gehetzt. Sein weißes Jackett flatterte hinter ihm her. Martin ging ihm eilig entgegen. „Ich ... ich habe einen Geist gesehen!", stammelte Jan. Eric stöhnte auf. „Ich glaub's nicht", murmelte er genervt. 57
„Er war wirklich hier. Ich hab es genau gesehen", beharrte Jan, deren Stimme ganz schrill vor Aufregung klang. Sie fuhr sich mit beiden Händen nervös durchs Haar. „Diese Schreie ...", keuchte Simon und presste sich eine Hand aufs Herz. „Das tut mir Leid", entschuldigte sich Jan. „Ich konnte einfach nicht anders." „Ich denke, wir sollten jetzt alle hineingehen", knurrte Martin ungeduldig. Er nahm Simon am Ellbogen und führte ihn zur Tür. Cari und die anderen folgten ihm. Eine Minute später versammelten sich alle in der Hotelhalle. Jan, angespannt und offensichtlich ganz durcheinander, ließ sich auf eines der großen Ledersofas fallen. Simon, der immer noch nach Luft rang, setzte sich neben sie. „Es war ein Stück den Flur hinunter", begann Jan und zeigte auf den Korridor, der sich links vom Anmeldetresen erstreckte. „Da habe ich den Geist gesehen. Es war eine Frau. Sie schien direkt aus der Wand zu kommen." „Wie sah sie denn aus?", fragte Martin spöttisch. Seine Stimme ließ Cari erschrocken zusammenfahren. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er direkt neben ihr stand. „Irgendwie altmodisch", sagte Jan nachdenklich. „Sie trug ein weißes Kleid. Vielleicht war es auch ein Nachthemd. Ihr Haar war zu einem langen Zopf geflochten, der ihr über den Rücken hing. Sie war jung, und ich glaube, ziemlich hübsch." Jan rutschte unbehaglich auf dem Sofa hin und her, während sie wie hypnotisiert die Wand anstarrte. „An ihre Augen kann ich mich am besten erinnern", fuhr sie leise fort. „Ihr Gesicht war ganz bleich ... richtig totenblass. Und ihre großen, schwarzen Augen wirkten darin wie zwei Kohlestückchen. Wie die Augen eines Schneemanns." Sie wollte noch etwas sagen, aber ihr versagte die Stimme. „Beruhige dich erst mal ein wenig", sagte Simon sanft und tätschelte ihr die Hand. „Martin, warum machst du Jan nicht eine Tasse Tee?" „Sehr wohl, Sir", erwiderte Martin steif, machte aber keine Anstalten, in die Küche zu gehen. „Sie hat mich einfach nur mit ihren kohlschwarzen Augen angestarrt", berichtete Jan weiter. „Ihr Blick war so kalt, so – gemein. Ich glaube, sie hat versucht, mir Angst einzujagen. Plötzlich wurde die 58
Luft um mich herum eiskalt, und als ich geschrien habe, ist sie wieder in der Wand verschwunden. Einfach verschwunden. Da muss ich dann wohl nochmal geschrien haben." Jan saß jetzt ganz ruhig da und zwirbelte gedankenverloren eine Haarsträhne um den Finger. Eric und Craig tauschten einen Blick. Cari fragte sich, was sie wohl dachten. Aber was hielt sie selbst eigentlich von der ganzen Sache? Irgendwer – oder irgendetwas – hatte Jan furchtbar erschreckt. Konnte es tatsächlich ein Geist gewesen sein? „Fühlst du dich jetzt wieder besser?", fragte sie Jan besorgt. Doch ihre Freundin schien sie nicht zu hören. Sie war offenbar mit ihren Gedanken ganz weit weg. „In diesen alten Hotels gibt es so einige Geheimnisse", murmelte Simon und warf Martin einen viel sagenden Blick zu. „Der Geist ... sie wird zurückkommen", flüsterte Jan. „Ich kann es ganz deutlich spüren." Cari konnte nicht schlafen. Sie stopfte sich das weiche Daunenkissen in den Rücken und betrachtete die Schatten, die über die Decke ihres Zimmers huschten. Der rabenschwarze Himmel vor dem Fenster war sternenklar, und ein sanft schimmernder Vollmond schwebte über der Bucht. Überrascht stellte sie fest, dass sie an Eric dachte. Er war so süß. Inzwischen störte sie nicht mal mehr sein Diamantstecker im Ohr, den sie zuerst total affig gefunden hatte. Aber er schien auch an sie zu denken. Das spürte sie. So, wie er sie beim Abendessen immer angeschaut hatte. Und so, wie er sie anlächelte. Doch schließlich musste Cari sich eingestehen, dass sie es nur vermeiden wollte, über Jan nachzudenken. Und über den Geist, den ihre Freundin gesehen hatte. Vielleicht war er in diesem Moment in ihrem Zimmer -bereit, aus der Wand hervorzutreten und sie aus kohlrabenschwarzen Augen anzustarren. „So werde ich nie einschlafen", dachte sie seufzend, setzte sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Der Mond schien direkt vor ihrem Fenster zu schweben. Sein silbernes Licht warf ein großes Rechteck auf den Fußboden. 59
Cari stand auf und griff nach ihrem Bademantel. Sie beschloss, hinunter in die Küche zu gehen, um sich etwas zu trinken zu holen. Langsam öffnete sie die Tür und trat in den schmalen Flur, der nach Teppichreiniger und Desinfektionsmittel roch. Die schummrige Nachtbeleuchtung, die entlang der Fußleisten angebracht war, spendete das einzige Licht. Cari zog den Gürtel ihres Bademantels enger und ging den langen Flur hinunter. Die Gummisohlen ihrer Badelatschen machten kein Geräusch auf dem Teppich. Sie bog um die Ecke und ging den nächsten Flur entlang, der dem anderen vom Geruch, von der Dunkelheit und von der Stille her aufs Haar glich. Es war unnatürlich ruhig. Als würde sie sich in einem Traum bewegen. Und dann plötzlich ein Geräusch. Cari blieb stehen und hielt die Luft an. Es war bestimmt nur der Boden, der geknarrt hatte. Es musste der Boden gewesen sein. Wieder ertönte ein lautes Knarren, gefolgt von einem Rasseln. Dem Rasseln einer Kette? „Sei nicht albern", schimpfte sie mit sich selbst. Das rasselnde Geräusch wurde lauter und kam näher. Plötzlich hörte es auf, und stattdessen ertönte ein Stöhnen. Ein leises Stöhnen, das beinahe menschlich klang. Und dann hörte sie das Flüstern. „ Cari." „Alles nur Einbildung. Das ist bestimmt der Wind. Niemand flüstert meinen Namen", redete sie sich gut zu. „Carrri." Wieder dieses Flüstern! Eine körperlose Stimme – die Stimme eines jungen Mädchens – direkt hinter ihr rief sie beim Namen. „Nein!", schrie sie auf, ohne dass es ihr bewusst wurde. In ihren Badelatschen rannte sie unbeholfen den Flur hinunter, bog um eine Ecke und hastete den nächsten dunklen Flur entlang. , Carrri." Ohne nachzudenken, hetzte sie um die nächste Ecke und merkte nicht einmal, dass es das blanke Entsetzen war, das sie vorwärts trieb.
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Sie wusste nur, dass sie diesem geisterhaften Flüstern entkommen musste. Als sie Stimmen hörte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Es waren laute, eindeutig menschliche Stimmen, die aus einem Zimmer ohne Nummer an der Tür kamen. Während Cari versuchte, wieder zu Atem zu kommen, sah sie sich um und wusste zunächst nicht, wo sie war. Ein dünner Lichtstrahl drang unter der geschlossenen Tür hervor. Vorsichtig trat sie näher und lauschte. Es war Simon! Sie erkannte seine Stimme sofort. Er schien in einen hitzigen Streit verwickelt zu sein. Cari wurde klar, dass sie offenbar vor seinem Zimmer stand. Ja. Das konnte hinkommen. Es war das erste Zimmer auf dem Gang und befand sich neben der breiten Treppe, die zur Hotelhalle und zum Büro führte. „Hör mir gefälligst zu!", brüllte Simon gerade. „Nein, das werde ich nicht", antwortete eine Stimme, die genauso laut und wütend klang. Die Stimme einer Frau! Cari blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. „Bitte, Simon, ich flehe dich an!", hörte sie die Frau schreien. „Kein Fest! Bitte nicht!"
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Kapitel 10 Cari stand wie erstarrt vor der Tür. Sie lauschte angestrengt, aber die Stimmen wurden immer leiser, als ob die Sprecher in einen anderen Raum gegangen wären. Worüber hatten sie sich gestritten? Und wer war diese Frau? Konnte sie der Geist sein? In diesem Moment hörte sie, wie jemand im Zimmer auf die Tür zuging. Hastig wirbelte sie herum und rannte den Flur hinunter. Während sie über die Frau, den Streit und dieses mysteriöse Fest nachdachte, irrte Cari durch die Gänge, bis sie endlich ihr Zimmer wieder gefunden hatte. Ihr war klar, dass sie jetzt nicht einfach ins Bett gehen konnte. Sie musste Jan unbedingt von dem unheimlichen Flüstern und den Stimmen erzählen. Also ging sie an ihrem eigenen Zimmer vorbei und klopfte an die Tür ihrer Freundin. Jan, in Jeans und Sweatshirt, öffnete nach dem zweiten Klopfen. Es war offensichtlich, dass sie noch nicht im Bett gewesen war. „Cari, was ist denn los?", fragte Jan und zog sie ins Zimmer. Alle Lampen brannten, und Bücher und Zeitschriften lagen verstreut auf dem ungemachten Bett. „Der Geist", platzte Cari heraus. „Ich glaube, ich habe ihn gehört. Ich meine, er hat mich gerufen." Jan wirkte nicht sehr überrascht. Sie räumte eine Ecke des Betts frei, bat Cari, noch einmal ganz von vorne anzufangen, und ließ sich alles berichten, was ihre Freundin gesehen und gehört hatte. „Wir müssen von hier verschwinden", sagte Cari, nachdem sie fertig war. „Weg aus diesem Hotel und nach Hause!" „Kommt nicht in Frage!", protestierte Jan. „Das ist doch alles viel zu aufregend hier. Komm mit." Sie zog Cari vom Bett hoch und hinter sich her in den Flur. „Lass uns nach Spuren von dem Geist suchen." Cari fühlte sich plötzlich sehr ängstlich und sehr müde. Sie wollte nicht in diesen unheimlichen, dunklen Korridoren herumschleichen
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und nach einem Geist suchen. Für eine Nacht hatte sie mehr als genug Aufregung gehabt. Sie gähnte. „Es ist bestimmt schon drei Uhr, Jan. Wir sollten versuchen, noch ein bisschen Schlaf zu bekommen." Cari griff nach der Klinke ihrer Zimmertür und zog die Hand hastig wieder weg. „Iiih, das ist ja ganz klebrig!" „Lass mich mal sehen", flüsterte Jan und kniete sich hin, um die Klinke in dem schwachen Flurlicht zu untersuchen. Sie fuhr mit den Fingern darüber und betrachtete sie eingehend. „Habe ich's mir doch gedacht", murmelte sie, während sich ein befriedigtes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete. „Was ist das?", fragte Cari. „Wie du schon sagst, ziemlich klebriges Zeug. MUSS eine Art Protoplasma sein. Geister hinterlassen bekanntlich solche Substanzen, nachdem sie Gestalt angenommen haben." „Du meinst, so wie in Ghostbusters?", fragte Cari. „Genau", antwortete Jan und beugte sich ganz dicht zu ihr. „Aber das hier ist kein Film." Es war ein schöner, kühler Morgen. Goldener Sonnenschein fiel durch die großen Fenster des Speisesaals, die auf die Bucht hinausgingen. Der Himmel war wolkenlos und von einem so unglaublichen Blau, als wäre die Farbe mit einem einzigen gigantischen Pinselstrich aufgetragen worden. Beim Frühstück, während sie ihre frischen Blaubeermuffins mit Butter bestrichen, erzählten Jan und Cari den Jungen von ihrem nächtlichen Abenteuer. „Glaubst du jetzt etwa auch schon an diesen Kram?", fragte Eric und verzog das Gesicht. „Ich weiß doch, was ich gehört habe", antwortete Cari heftig. „Dieses Flüstern habe ich mir nicht eingebildet." „Aber die Frau in Simons Zimmer könnte doch die Köchin gewesen sein", gab Craig zu bedenken. „Nein, könnte sie nicht", fauchte Cari ihn an. „Schon vergessen? Simon hat uns erzählt, dass sie erst Freitag zurückkommt." „Darum hat Martin ja auch unser Luxuspicknick zubereitet", fügte Jan hinzu. „Diese Frau muss ebenfalls ein Geist gewesen sein. Vielleicht sind Simon und sie ein Paar, und sie lieben sich schon seit 63
Hunderten von Jahren. Simon ist möglicherweise wirklich ein Vampir, und sie ..." Bevor Jan ihre Geschichte weiter ausspinnen konnte, tauchte Martin auf – wie üblich mit düsterer Miene. Er hatte einen roten Werkzeugkasten aus Metall in der Hand. „Bereit, mit der Arbeit anzufangen?", fragte er, während er sie missmutig ansah und zur anderen Seite des Speisesaals wies. „Sagen Sie, Martin, hält sich zur Zeit eine Frau in diesem Hotel auf?", erkundigte sich Jan. Die Frage schien Martin zu verblüffen. Er schreckte zurück, als hätte er sich verbrannt. Aber er fing sich schnell wieder und setzte umgehend seine säuerliche Miene auf. „Nein", sagte er ausdruckslos. „Hier gibt es keine Frau." „Hat Simon vielleicht Damenbesuch?" Martin warf ihr einen bitteren Blick zu. „Seit Greta gestorben ist, hat Simons Zimmer keine Frau mehr betreten. Greta war seine Ehefrau." Dann drehte er sich um und schleppte den Werkzeugkasten zur anderen Seite des Raums. Jan warf Cari einen erstaunten Blick zu, bohrte aber nicht weiter nach. „Ich möchte, dass ihr hier anfangt", kommandierte Martin und nahm ein riesiges Ölgemälde ab, das den größten Teil der Wand bedeckte. „Schmirgelt zuerst die Deckenleisten ab, dann könnt ihr hier in diesem Bereich die Tapeten abreißen." Sie arbeiteten den ganzen Vormittag und entfernten die alte Farbe von den Deckenleisten. Im Speisesaal wurde es zusehends heißer, und dicker, brauner Schmirgelstaub lag in der Luft. Es war harte Arbeit. Auf den alten Leisten befanden sich mehrere Schichten Farbe, die durch die Seeluft Feuchtigkeit gezogen hatten und nur schwer zu entfernen waren. „Mittagspause!", verkündete Jan gegen halb zwölf. „Lasst uns was zu trinken holen. Und dann versuche ich nochmal, meine Tante anzurufen. Bis jetzt ist noch niemand rangegangen." Eric sprang von der Leiter und folgte Jan und Craig durch den Speisesaal zur Küche. „Ich Schmirgel nur noch diese eine Stelle hier zu Ende", rief Cari ihnen hinterher.
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Sie drehte sich auf der Leiter um und machte sich wieder an die Arbeit. Ihre Armmuskeln schmerzten, weil sie die Hand die ganze Zeit über den Kopf halten musste. „Mein Haar ist bestimmt voller Farbstaub", dachte sie seufzend. „Aber es ist ja schon fast Mittag. Wenn wir mit der Arbeit fertig sind, können wir in den Pool springen oder uns an den Strand legen. Eigentlich gar kein schlechtes Leben." Bei diesem Gedanken ging sie mit neuem Schwung an die Arbeit. Nachdem ungefähr zehn oder fünfzehn Minuten vergangen waren, hörte sie, wie sich Schritte näherten. „Eric? Bist du das?" Leicht aus dem Gleichgewicht gebracht, schaute sie nach unten und erblickte einige Meter entfernt einen Fremden. Einen Fremden, der ihr seltsam bekannt vorkam. Er hatte nämlich Simons weißes Haar, seinen buschigen Schnurrbart und den gleichen rötlichen Teint. Aber damit endete die Ähnlichkeit auch schon. Während Simon hoch gewachsen, gepflegt und elegant war, ging dieser Mann vornübergebeugt und machte einen leicht verwahrlosten Eindruck. Sein zerzaustes Haar stand am Hinterkopf hoch, und ein Zipfel seines grauen Sporthemds hing über den Bund einer ausge-beulten, ungebügelten Baumwollhose, die Flecken am Knie hatte. Sein rechtes Auge bedeckte eine schwarze Augenklappe, und sein mürrischer Gesichtsausdruck wirkte wie eingemeißelt. Über dem zerknitterten grauen Sporthemd trug er eine locker sitzende Safarijacke mit verschiedenen Taschen, die offenbar alle mit zusammengefalteten Zetteln, Stiften und Taschentüchern gefüllt waren. In der rechten Hand hielt er eine Jagdflinte, die er am Lauf angefasst hatte und als Spazierstock benutzte. Der Gewehrschaft klopfte auf den harten Boden, als er sich Cari näherte. „Hallo", sagte Cari und lächelte ihn von der Leiter herab an. Der Mann grunzte eine unverständliche Antwort und starrte mit seinem einen dunklen Auge zu ihr hinauf, ohne dass sich seine mürrische Miene veränderte. „Ich bin Cari Taylor." Sie wartete darauf, dass er sich ebenfalls vorstellte, aber er starrte sie einfach nur an. Also sagte sie: „Sie müssen Edward sein." 65
„Edward Fear wie er leibt und lebt", knurrte er und stützte sich auf den Schaft seiner Flinte. Seine Stimme klang nicht tief und sanft wie die seines Bruders, sondern genauso schroff, wie auch ihr Besitzer wirkte. „Wie können zwei Brüder nur so unterschiedlich sein?", fragte sich Cari und schaute unbehaglich auf ihn hinunter. Während er sie mit kaltem Blick musterte, kratzte er sich mit der freien Hand durch das Hemd die Brust. „Meine Freunde und ich ... wir arbeiten hier. Ich meine, wir ... wir wohnen eine Weile hier", stotterte Cari, die immer verlegener wurde. Wenn er sie doch wenigstens ein bisschen freundlicher anschauen würde. „Habe ich gehört", sagte er kurz angebunden und ging, auf sein Gewehr gestützt, hinüber zum Panoramafenster. Das grelle Sonnenlicht betonte die Schäbigkeit seiner Kleidung. Cari fiel auf, dass sie nicht nur zerknittert, sondern auch schmutzig war. Ihr fiel wieder ein, dass Simon gesagt hatte, sein Bruder sei schwermütig. Wahrscheinlich legte er deswegen keinen großen Wert auf sein Äußeres. „Was für ein herrlicher Tag", sagte sie laut. „Es ist so schön hier." Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie von der Leiter klettern und zu ihm hinübergehen oder ob sie einfach weiterschmirgeln sollte. „Es ist viel zu heiß", verbesserte er sie in scharfem Ton und starrte weiter aufs Meer, während er den Lauf seines Gewehrs langsam um sich selbst drehte. „Hier drinnen ist es wirklich sehr heiß", stimmte Cari ihm höflich zu. Edward erwiderte nichts darauf, und Cari spürte, wie ihr Gesicht langsam rot anlief. Versuchte er mit Absicht, sie zu verunsichern? Warum kamen die anderen eigentlich nicht zurück? Wo waren sie überhaupt? „Wo sind deine Freunde?", fragte Edward, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Sie ... sie holen sich was zu trinken", stammelte Cari. „Ich wollte nur noch diese Ecke hier fertig machen." Sie zeigte darauf, aber Edward sah nicht mal hin. „Ganz schön ruhig hier", sagte er mit einem Anflug von Traurigkeit in der Stimme.
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„Das kann man wohl sagen", erwiderte Cari. „Dieses Hotel ist so riesig. Es ist ein komisches Gefühl, es nur mit fünf oder sechs Leuten zu bewohnen." Ihre Antwort schien ihn zu verärgern. Mit finsterem Gesicht schlurfte er zur Leiter zurück. Erschrocken hielt Cari die Luft an. Sie hatte das Gefühl, er würde ihr im nächsten Moment hinterherklettern oder ihre Beine packen. Aber er blieb am Fuß der Leiter stehen und starrte zur Deckenleiste hinauf. Dann zog er ein Taschentuch aus einer der ausgebeulten Taschen seiner Safarijacke und putzte sich lautstark die Nase. „Hast du meinen Bruder gesehen?", fragte er und ließ seinen Blick durch den leeren Speisesaal schweifen. „Nein. Heute Morgen noch nicht. Er war nicht beim Frühstück", antwortete Cari. „Ich muss ihn sehen", murmelte Edward abwesend. Er schien in Gedanken jetzt mit ganz anderen Dingen beschäftigt zu sein. „Falls er hierher kommt, werde ich ihm sagen, dass Sie nach ihm suchen", meinte Cari. „Du und deine Freunde, ihr werdet doch zu meinem Fest hier sein?", fragte er unvermittelt. Zu seinem Fest? Cari überfiel ein plötzliches Panikgefühl. Edwards Worte erinnerten sie an die Frau in Simons Zimmer, die ihn angefleht hatte: „Bitte – kein Fest!" Sie hatte so verzweifelt und verängstigt geklungen. „Was denn für ein Fest?" „Ich bestehe darauf, dass ihr kommt. Plant auf gar keinen Fall, vorher abzureisen", sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen, und verließ den Raum. „Soll ich, oder soll ich nicht?", ging es Cari immer wieder durch den Kopf. Als Eric sie gefragt hatte, ob sie mit ihm einen Mitternachtsspaziergang am Strand machen wollte, hatte sie gezögert. Sie war nicht sicher, ob sie wollte, dass sich aus ihrer langjährigen Freundschaft mehr entwickelte. „Aber Eric sieht so süß aus", dachte Cari. „Sein Gesicht ist jetzt schon ganz braun, und seine langen Haare riechen wie die Seeluft. In 67
seinem ärmellosen blauen T-Shirt und den ausgeblichenen Jeansshorts sieht er aus wie ein richtiger Beachboy." „Wo sind denn Jan und Craig?", fragte sie ihn und versuchte immer noch, sich zu entscheiden, ob sie nun mit ihm spazieren gehen sollte oder nicht. „Die beiden sind fix und fertig", sagte Eric grinsend. „Sie sind in ihre Zimmer verschwunden." „Beim Abendessen schienen alle ziemlich erschöpft zu sein", meinte Cari. „Simon auch. Er hat kaum drei Worte gesagt." „Wo war eigentlich sein Bruder Edward?", fragte Eric. „Du bist bis jetzt die Einzige, die ihn zu Gesicht bekommen hat. Merkwürdig!" „Ich weiß", sagte Cari. „Jan hält Edward natürlich für einen Geist." „Na, und? Jan hält mich auch für einen Geist", witzelte Eric. „Übrigens hat Jan den ganzen Tag versucht, bei Aileen anzurufen", wechselte Cari das Thema. „Aber das Telefon klingelt nur endlos, und niemand geht ran. Rose hätte inzwischen längst hier sein müssen. Wo ist sie bloß? Und warum ruft sie nicht an?" „Merkwürdig", wiederholte Eric. „Aber was ist jetzt mit unserem Spaziergang? Nur du und ich. Was sagst du dazu?" Er war so süß. Wie konnte sie da widerstehen? Und was sollte schon falsch daran sein, vor dem Schlafengehen einen netten, kleinen Spaziergang an einem wunderschönen, mondbeschienenen Strand zu machen? Der Strand war wirklich traumhaft schön. Während sie mit Eric Händchen hielt, blickte sie auf das Spiegelbild des Vollmonds, das sich sachte auf der ruhigen Meeresoberfläche kräuselte. „Ich mag das Gefühl von nassem Sand zwischen meinen Zehen", sagte Eric. „Du weißt schon - dieses kalte, matschige Gefühl." „Du bist heute Nacht ja richtig poetisch", zog Cari ihn auf. Sie waren am Meeressaum stehen geblieben, und er hatte ihre Hand immer noch nicht losgelassen. Es war, als ob das blasse Licht des Mondes alles weicher machen würde, sogar die Dunkelheit. Und auf einmal küsste Eric sie – wie aus heiterem Himmel. Er presste seine Lippen fest auf ihren Mund. „Nein", dachte Cari im ersten Moment. „Das wollte ich nicht – oder? Doch, es ist okay." Und dann erwiderte sie seinen Kuss. 68
Eric hatte seine Hände auf ihre nackten Schultern gelegt. Sie fühlten sich wunderbar warm an und gaben ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Ihr Kuss schien endlos zu dauern. Erst ein scharrendes Geräusch, das von den Felsen in der Nähe des kleinen Stegs kam, ließ sie auseinander fahren. „Was war das?", fragte Cari erschrocken. Beobachtete sie etwa jemand? „Ich glaube, das waren nur die Wellen, die gegen die Felsen geschlagen sind", sagte Eric, sein Gesicht immer noch ganz nah an ihrem. „Lass uns wieder nach drinnen gehen", sagte sie und fröstelte plötzlich. „Na klar. Kein Problem." Er nahm ihre Hand, und sie gingen zusammen zurück zum Hotel. Oben auf der Düne angekommen, blieb Cari stehen, um noch einen Blick auf die Felsen zu werfen. Aber dort war niemand zu sehen. Die einzigen Geräusche waren jetzt nur noch das beständige Plätschern der Wellen und das Flüstern des Windes, der durch das Gras in den Dünen fuhr. Warum wurde sie dann das unheimliche Gefühl nicht los, dass sie und Eric nicht alleine waren? „Geister", dachte sie. „Sie sind überall." Erics Hand immer noch fest umklammert, lief Cari den Rest des Weges, ohne sich noch einmal umzublicken. Sie fühlte sich erst sicher, als sie wieder in ihrem Zimmer war und die Tür fest verriegelt hatte.
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Kapitel 11 „Na, dann wollen wir uns mal an die Arbeit machen", sagte Eric, stand vom Tisch auf und reckte sich. Er betrachtete den Himmel vor dem Fenster. „Wenn die Sonne sich hinter den Wolken versteckt, wird es heute wenigstens nicht so heiß werden." Cari stopfte sich den Rest ihres Blaubeermuffins in den Mund und folgte ihren Freunden ans andere Ende des Speisesaals. Dort stand das Baugerüst, das die Arbeiter dagelassen hatten. „Na los, Leute", sagte sie. „Wer klettert als Erster rauf?" Sie warf einen Blick an die Decke, wo sie inzwischen auf einer Länge von mehreren Metern die Farbe von den Leisten entfernt hatten. Aber allein auf dieser Seite des Speisesaals fehlte noch ein großes Stück. „Auf dem Gerüst ist nur Platz für zwei", sagte Eric. „Was haltet ihr davon, wenn Craig und ich anfangen, und ihr beiden löst uns ab, wenn unsere Arme müde werden. Oder eine von euch beiden nimmt die Leiter." Cari nickte zustimmend und half Eric, die schwere elektrische Schleifmaschine auf das Querbrett des Gerüsts zu hieven. Dabei berührten sich ihre Hände. Er blickte ihr in die Augen. Cari wusste, dass sie in diesem Moment beide an ihren Strandspaziergang von letzter Nacht dachten. Und an ihren Kuss. Eric wurde rot und drehte sich hastig zu Craig um. „Okay, Alter, dann mal los." Er kletterte auf das Gerüst und half seinem Freund hinauf. „Hey, dieses Ding wackelt aber ganz schön", sagte Craig und schaute hinunter zu Cari. „Nein, du bist derjenige, der wackelt!", widersprach Eric. Er stemmte die Schleifmaschine über seinen Kopf und drückte auf den Schalter. „Mist, das Ding ist kaputt." „Es hat nur keinen Saft", sagte Craig grinsend und deutete auf den Stecker, der neben der Steckdose auf dem Boden lag. „Hallo, Leute." Jan war mit besorgter Miene hinter Cari aufgetaucht. „Hast du deine Tante erreicht?"
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„Nein. Es geht niemand ran", antwortete Jan und schnitt eine Grimasse. „Es klingelt und klingelt, aber keiner hebt den Hörer ab. Ich versteh das einfach nicht." „Wird Simon nach Provincetown fahren, um nachzusehen, was los ist?" Jan zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, habe ich ihn gesucht, aber ich konnte ihn nirgendwo finden." Sie fügte noch etwas hinzu, aber Cari konnte sie nicht verstehen. Eric hatte die elektrische Schleifmaschine angeworfen, und ihr ohrenbetäubendes Jaulen übertönte Jans Worte. Die beiden Mädchen wichen einen Schritt zurück. Farbstaub wirbelte in dichten Schwaden durch die Luft. Cari griff in den Werkzeugkasten und holte zwei Atemschutzmasken heraus. Sie hielt Jan gerade eine hin, als Craig laut rief: „Hey! Passt auf!" Als sie erschrocken aufblickten, sahen sie, wie das Gerüst langsam von rechts nach links schwankte. Im nächsten Moment brach es mit einem knackenden Geräusch zusammen. Es ging alles so schnell, dass Cari im ersten Moment das Gefühl hatte, sie würde sich das nur einbilden. Eric, den Mund vor Schreck weit aufgerissen, klammerte sich an die laut aufjaulende Schleifmaschine. Craig, der aus voller Kehle schrie, krallte sich an die Tapete, als wollte er versuchen, sich daran festzuhalten. Das Gerüst und die beiden Jungen landeten mit einem lauten Krachen auf dem Boden. Eric knallte auf den Rücken und ließ dabei die Schleifmaschine los, die noch ein Stück weiterschlitterte und dann vor Caris Füßen liegen blieb. Craig hatte es irgendwie geschafft, auf den Füßen zu landen, wirkte aber völlig benommen. Im Fallen hatte er einen Teil der geblümten Tapete abgerissen. „Seid ihr okay?", riefen Jan und Cari besorgt. Die Jungen nickten langsam. „Ja. Ich glaube, es ist noch alles dran", antwortete Eric, rappelte sich auf und betastete seine rechte Schulter. „Mir ist auch nichts passiert. Aber seht euch das mal an", sagte Craig verblüfft. Er starrte auf die Holztür in der Wand, die hinter der abgerissenen Tapetenbahn zum Vorschein gekommen war. „Irgendjemand hat die Tür übertapeziert!" 71
„Komische Sache", murmelte Eric, der immer noch seine Schultermuskeln bewegte. Er ging zur Tür und riss noch mehr von der Tapete ab. „Warum hat man das wohl gemacht?", fragte Cari und trat näher. „Geh nicht näher ran", sagte Jan und verblüffte die anderen mit der Dringlichkeit, die in ihrer Stimme lag. „Sie ist bestimmt aus gutem Grund versteckt worden." „Jetzt hör aber auf, Jan", stöhnte Eric genervt. „Fasst auf keinen Fall die Tür an! Ich warne euch", flüsterte Jan, die sehr bleich und erschrocken aussah. „Da ist etwas Böses. Ich kann es spüren." Eric lachte. Craig lachte auch, aber es klang unsicher. Er wich unwillkürlich einen Schritt zurück. „Wenn Jan sich so sicher ist, sollten wir die Tür vielleicht lieber in Ruhe lassen", sagte Cari zu den Jungen. „Ja, vielleicht", stimmte Craig ihr zu. Aber Eric ignorierte sie einfach und begann, die restliche Tapete abzureißen. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte er die gesamte Tür freigelegt. Das Holz war glatt und glänzend und wirkte beinahe wie neu – wahrscheinlich, weil es nicht der feuchten Seeluft ausgesetzt gewesen war. „Na, dann wollen wir doch mal sehen, was sich dahinter verbirgt!", rief Eric aufgeregt. Es gab keinen Türknauf, aber an der Stelle, wo er früher einmal befestigt gewesen sein musste, befand sich eine kleine Öffnung. Während er Cari über die Schulter provozierend angrinste, steckte Eric einen Finger hinein und zog. „Tu's nicht!", warnte ihn Jan, aber Eric beachtete sie gar nicht. Die Tür ließ sich ganz leicht öffnen. „Bitte nicht!", wimmerte Jan. „Dahinter ist so eine Art Gang", sagte Eric ungerührt und steckte den Kopf durch die Türöffnung. „Was? Ein Gang?" Die anderen drei traten ein Stück vor, um einen Blick in den dunklen Tunnel zu werfen. Und dann sprang sie mit einem schrecklichen, markerschütternden Schrei etwas aus der Dunkelheit an.
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Kapitel 12 „Hilfe! Es ist eine Fledermaus!" Alle vier schrien auf und duckten sich. Cari hörte die klatschenden Flügelschläge und spürte einen kalten Luftzug an ihrer Wange, als das Tier durch die Türöffnung segelte und sie nur knapp verfehlte. „Es ist alles okay. Sie ist aus dem Fenster geflogen", rief Craig, der sehr erleichtert klang. „Ich hasse Fledermäuse!", verkündete Cari. „Fledermäuse und Spinnen." Sie schüttelte sich. „Da könnten noch mehr von diesen Viechern drin sein", murmelte Jan mit leichenblassem Gesicht. „Lasst uns die Tür einfach wieder zumachen und so tun, als würde sie gar nicht existieren." „Hey, jetzt komm schon, Jan", sagte Cari ungeduldig. „Findest du das nicht irre? Eine versteckte Tür und ein Geheimgang. Das ist doch genau dein Ding, oder?" Jan antwortete nicht, sondern starrte einfach nur in die Dunkelheit hinter der offenen Tür. „Das sieht dir gar nicht ähnlich", fuhr Cari fort. „Eigentlich müsstest du diejenige sein, die uns drängelt, den Geheimgang zu erforschen." „Ich habe nun mal ein schlechtes Gefühl dabei", sagte Jan und schüttelte den Kopf. „Eine Art Vorahnung. Habt ihr so was noch nie erlebt?" Sie griff nach dem Totenkopf an der Kette um ihren Hals und drückte ihn kräftig. „Manchmal schon", gab Cari zu. „Aber jetzt stell dich nicht so an. Es könnte doch ganz lustig werden. Vielleicht kriegen wir sogar raus, wo dein Geist sich versteckt, Jan." Cari warf einen Blick in den Gang, bei dem es sich um einen niedrigen, engen Tunnel handelte. Die Wände schienen verputzt zu sein, und der Boden bestand aus festgestampftem Lehm. In einiger Entfernung war ein schwacher, gelblicher Lichtschein zu sehen. „Im Werkzeugkasten sind zwei Taschenlampen", sagte Cari zu Eric. „Ich glaube, die werden wir brauchen." Eric holte sie heraus und reichte ihr eine davon. „Und was ist, wenn Simon reinkommt?", fragte er. 73
„Dann werden wir ihm sagen, dass wir eine Pause gemacht haben, um auf Entdeckungstour zu gehen", antwortete Cari ungerührt. „Ob er wohl von diesem Geheimgang weiß? Und was ist mit Martin? Immerhin hat er uns gesagt, dass wir in dieser Ecke anfangen sollen, wisst ihr noch?" Sie drehte sich zu Jan um, die vorsichtig durch die Türöffnung getreten war und jetzt direkt hinter ihr stand. „Bist du okay?" „Ja. Alles bestens", antwortete Jan kühl. „Hast du immer noch deine Vorahnung?", wollte Cari wissen. „Das schon. Aber ich fange langsam an, mich für die Sache zu erwärmen", gab Jan zu. Die beiden Taschenlampen warfen helle Lichtkegel vor ihnen auf den Boden, als sie den dunklen, leeren Tunnel entlanggingen. Hier drinnen war es kalt und sehr feucht. Cari streckte die Hand aus und strich über die Wand. Sie war nass. Nach einer Weile machte der Tunnel eine Biegung nach rechts und fiel dann leicht ab. Sie gingen langsam und vorsichtig weiter und leuchteten mit den Taschenlampen voraus. Dann kamen sie zu einer Gabelung, an der sich der Gang in zwei Richtungen teilte. „Wir gehen weiter", entschied Eric. „Ich wette, dass einer dieser Gänge durch die Dünen direkt zum Meer führt." „Ich wüsste gerne, warum er gebaut wurde", sagte Craig, der sich dicht hinter Eric hielt, als sie dem Gang zur Rechten folgten. „Wahrscheinlich als Fluchtweg", antwortete Eric. „Flucht wovor?", fragte Cari. „Hier in dieser Gegend soll früher viel geschmuggelt worden sein", erklärte ihnen Jan. „Vielleicht haben die Schmuggler ihre Ware durch diesen Tunnel vom Strand direkt ins Hotel gebracht, ohne gesehen zu werden. Und für den Fall, dass sie verfolgt wurden, haben sie ihn mit jeder Menge Verzweigungen und Kurven angelegt – wie eine Art Labyrinth." Sie folgten der Biegung des Tunnels, der sich kurz darauf in zwei weitere Gänge teilte. „Wohin jetzt, Captain Kidd?", fragte Craig Jan. „Nehmen wir den rechten", antwortete sie. Nach einigen weiteren Windungen kamen sie zu einer Holztür, die in die verputzte Wand eingelassen war. Sie stand ein paar Zentimeter offen, und dahinter war es pechschwarz. 74
„Irgendwer da?" Jan klopfte an die Tür. Das dumpfe Geräusch hallte unheimlich in dem leeren Gang wider. „Ist da jemand?", rief Jan noch einmal. „Worauf wartest du noch?", fragte Cari ungeduldig. Sie drängte sich an Jan vorbei und stieß kurz entschlossen die Tür auf, die sich mit einem protestierenden Quietschen öffnete. Cari warf einen Blick in den Raum dahinter. „Das glaub ich nicht!", japste sie. Es war ein kleines Zimmer, gerade groß genug, dass sich alle vier hineinquetschen konnten, und bis auf einen kleinen Holztisch mit Bänken, der in der Mitte stand, völlig leer. Die Wände leuchteten im Strahl der Taschenlampen seltsam dunkelrot, als ob Blut an ihnen hinuntergelaufen wäre. „Oh!", schrie Eric auf, als der Lichtkegel einen Gegenstand streifte, der auf dem Tisch lag. Es war ein Totenkopf, ein menschlicher Schädel. „Lasst uns von hier verschwinden", keuchte Craig, der richtig erschrocken klang. Jan streckte mutig die Hand aus und hob den Totenkopf hoch. „Er ist echt", sagte sie. „Hoffentlich ist es niemand, den wir kennen", witzelte Eric. Jan setzte den bleichen Schädel wieder ab. „Hey – meine Finger. Seht doch mal!" Sie streckte den anderen ihre Hände entgegen. Eric leuchtete mit der Taschenlampe darauf. „Was ist denn das für ein klebriges Zeug?", fragte er verblüfft. „Das ist Protoplasma. Es stammt von einem Geist", erklärte Jan, die sich ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen konnte. „Du meinst ...?" Zum ersten Mal schien Eric seine Skepsis verloren zu haben. „Vielleicht glaubt ihr mir jetzt endlich", sagte Jan, während sie ihre klebrigen Finger betrachtete. „Das ist ein bekanntes übernatürliches Phänomen. In diesem Raum hat sich vor kurzem ein Geist materialisiert." Der Totenkopf rollte plötzlich ein Stück zurück und starrte mit seinen leeren Augenhöhlen zu ihnen auf. „Ich will hier raus!", brüllte Eric. Die anderen drei stürmten bereits zur Tür. 75
Als sie wieder in dem dunklen Tunnel waren, rannten sie, so schnell sie konnten. Der Strahl ihrer Taschenlampen tanzte wild über den Boden und die Wände. Sie hörten nicht auf zu rennen, bis sie die Tür erreicht hatten, die zum Speisesaal führte. Keuchend drückte Cari dagegen. Sie bewegte sich nicht. Sie drückte noch einmal – kräftiger diesmal. Aber die Tür rührte sich kein Stück. „Sie muss sich verklemmt haben", sagte sie zu den anderen. „Lass mich mal", meinte Eric. Cari trat zurück, aber Eric hatte auch nicht mehr Erfolg als sie. „Merkwürdig", murmelte er besorgt. Er versuchte es noch einmal. Dann stellte sich Craig neben ihn, und sie drückten gemeinsam gegen die Tür. „Sie scheint irgendwie von außen blockiert zu sein", sagte Eric, der in dem harten, weißen Licht der Taschenlampe sehr beunruhigt aussah. „Wir sind hier drinnen gefangen."
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Kapitel 13 „Lasst uns raus!", schrie Cari und hämmerte mit beiden Fäusten auf die massive Holztür ein. „Hört uns denn niemand?" Eric kam ihr zu Hilfe und hämmerte ebenfalls auf die Tür ein. „Lasst uns raus! Lasst uns raus!", riefen alle vier im Chor. Dann verstummten sie, um zu lauschen. Von der anderen Seite der Tür drang kein Laut zu ihnen hinein. „Ob uns jemand eingesperrt hat?", fragte Jan plötzlich mit zitternder, angsterfüllter Stimme. Eric wandte sich von der Tür ab. „Es muss noch einen anderen Weg hier raus geben", sagte er. „Lasst uns zurückgehen und dem Tunnel folgen, bis wir ihn gefunden haben." „Nein", protestierte Cari furchtsam. „Wir haben keine andere Wahl", sagte Eric mit leiser Stimme. „Durch diese Tür kommen wir nicht raus. Es gibt bestimmt noch einen anderen Ausgang. Wir müssen ihn nur suchen." Cari wurde drei zu eins überstimmt und gab widerstrebend nach. Eng aneinander gedrängt, gingen die Freunde durch den dunklen Tunnel zurück. Als sie diesmal an die Gabelung kamen, nahmen sie den linken Gang. „Was war das?", rief Cari, die merkte, wie irgendetwas über ihre Füße huschte. Oder hatte sie sich das nur eingebildet? Sie wurde von plötzlicher Panik gepackt und rang keuchend nach Luft. Ihr Herz klopfte wie verrückt. „Stopp!", rief sie. Erschrocken von der panischen Angst in ihrer Stimme, blieben die anderen drei stehen. Craig und Eric richteten die Taschenlampen an die Decke, damit der Strahl reflektiert wurde. In dem schwachen Lichtschein sah Cari ihre eigene Furcht auf den schattenhaften Gesichtern ihrer Freunde widergespiegelt. „Es tut mir Leid", sagte sie. „Ich werde versuchen, mich zusammenzureißen. Wir werden hier schon irgendwie rausfinden. Ich weiß, dass wir es schaffen."
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Eric legte ihr den Arm um die Schultern, und sie gingen mit schnellen Schritten weiter. Wieder teilte sich der Gang. „Hier entlang", sagte Jan und wandte sich nach rechts. Sie bogen in den neuen Tunnel ein und dann in den nächsten, der einen lang gezogenen Bogen beschrieb. Wasser tropfte von der Decke auf den Betonboden. Wieder mussten sie sich entscheiden und bogen diesmal nach links ab, in einen Gang voller Spinnen und Spinnweben. „Diese Tunnel scheinen nirgendwo hinzuführen", seufzte Cari entmutigt. „Es muss doch irgendwo eine Tür oder eine Öffnung geben", sagte Craig, dessen Stimme nur noch ein angstvolles Flüstern war. „Ich glaube, hier sind wir schon mal vorbeigekommen", krächzte Jan, die dunklen Augen vor Angst weit aufgerissen. „Dieser komische Spalt in der Wand kommt mir so bekannt vor. Vielleicht laufen wir immer nur im Kreis." „Wir sind verloren", murmelte Eric und ließ verzweifelt die Taschenlampe sinken. „Das war's dann wohl", sagte Craig mehr zu sich selbst. „Vielleicht ist das Ganze so eine Art Falle", überlegte Jan laut. „Sieht ganz danach aus. Aber nimm's nicht so schwer", sagte Eric ironisch. Jan ging nicht auf seinen Ton ein. „Diese verdammten Tunnel sehen alle gleich aus und ziehen sich endlos hin. Wir werden hier nie wieder rausfinden", rief sie verzweifelt.
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Kapitel 14 „Uns bleibt keine andere Wahl. Wir müssen so lange weitergehen, bis wir irgendwo einen Weg nach draußen finden", sagte Cari. Sie hatte die Arme um den Körper geschlungen, um sich vor der kühlen Feuchtigkeit des Gangs zu schützen. Sie bogen um eine Ecke und betraten einen anderen Ausläufer des Tunnels, der scharf nach oben führte. „Inzwischen ist wahrscheinlich Mittagszeit", sagte Craig, in das schwankende Licht der Taschenlampe getaucht, das tiefe Schatten auf sein Gesicht warf. „Martin wird schon nach uns suchen." „Vielleicht könnte er uns das Mittagessen hier servieren", sagte Eric. „Das ist nicht witzig", murmelte Cari. „Ich versuch doch nur, die Sache locker anzugehen", verteidigte sich Eric. In dem Moment, als er das sagte, wurde es im Gang plötzlich heller, und zwei schmale Schlitze Tageslicht tauchten direkt vor ihnen auf. Alle vier rannten gleichzeitig darauf zu. Cari sah mit einem Blick, dass der Ausgang eine Art Luke war. Mit aller Kraft drückte sie die hölzerne Klappe auf und krabbelte als Erste aus dem Tunnel. Sie blinzelte in das grelle Sonnenlicht und musste eine Hand schützend über die Augen legen. „Wir sind am Strand!", rief Jan überglücklich. „Ich hatte Recht!" Die Tunnelöffnung lag auf der Rückseite einer hohen Düne, sodass sie vom Strand aus nicht sichtbar war. „Riecht die frische Luft nicht herrlich?", rief Cari aus. „Ich war noch nie so froh, draußen zu sein", seufzte Craig und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen. „Wir können hier nicht rumstehen und uns sonnen", sagte Eric. „Lasst uns lieber zurückgehen." Lachend und scherzend schlenderten sie über den Strand, überquerten die Terrasse neben dem verlassenen Swimmingpool und betraten das Hotel durch die gläsernen Schiebetüren des Speisesaals. Ihr Gelächter verstummte abrupt, als sie sich dem Eingang des Geheimgangs näherten. 79
„Das Gerüst... seht doch nur!", rief Craig fassungslos. Seine Bemerkung war überflüssig, denn alle starrten es an. Das Gerüst stand direkt vor der Tür. Deswegen war sie also nicht aufgegangen. Irgendjemand hatte sie absichtlich im Geheimgang eingesperrt. Die vier verbrachten den Nachmittag am Strand und versuchten, sich zu entspannen, aber es gelang ihnen nicht, zu verdrängen, dass ihnen jemand absichtlich den Rückweg abgeschnitten hatte. Aber wer war es gewesen? Edward? Martin? „Wir müssen Simon heute beim Abendessen alles erzählen", sagte Cari, und die anderen pflichteten ihr bei. Dummerweise tauchte Simon zum Abendessen nicht auf. Als Cari gerade ihre Suppentasse zur Seite gestellt hatte und Eric die Schüssel mit dem Krabbensalat reichte, kam Edward lautstark in den Raum gehinkt. Das zornrote Gesicht wurde von seinem langen, weißen Haar eingerahmt, das ungekämmt in alle Richtungen abstand. Er hatte dieselbe Safarijacke an, die er auch bei der ersten Begegnung mit Cari getragen hatte. Sie stand offen und enthüllte ein hellgelbes Sporthemd, an dem zwei Knöpfe fehlten. „Äh, hallo Edward ... ich glaube, Sie haben meine Freunde noch nicht kennen gelernt", stammelte Cari verlegen und spürte, wie sie rot wurde. Edward schaute sie an, als würde er sie ebenfalls nicht kennen. Hastig stellte Cari ihm Jan, Eric und Craig vor. Zur Begrüßung warf er ihnen einen finsteren Blick zu und murmelte etwas Unverständliches. Dann stellte er das Gewehr neben sich ab, setzte sich auf Simons üblichen Platz und begann, geräuschvoll eine Schale mit Muschelsuppe auszuschlürfen. Die Unterhaltung verstummte. Alle starrten Edward an, der seine Suppe in weniger als einer Minute weggeputzt hatte und hinterher mit verkniffener Miene gabelweise Salat in sich hineinschaufelte. „Kommt ... kommt Simon nicht zum Essen?", durchbrach Cari schließlich die peinliche Stille. Edward kaute eine Weile vor sich hin und ließ sie dabei nicht aus den Augen. „Nein", sagte er endlich. „Simon ist nicht hier." Er schob sich noch eine Gabel Salat in den Mund. 80
„Er ist nicht im Hotel?", fragte Cari erstaunt. Edward nickte und kaute geräuschvoll. „Simon ist aufs Festland gefahren", sagte er dann. „Nach Provincetown." „Um nach meiner Tante zu sehen?", fragte Jan eifrig. Edward blinzelte sie mit seinem gesunden Auge an. „Genau. Wegen deiner Tante." „Seitdem er da ist, scheint die Temperatur im Raum gesunken zu sein", dachte Cari. „Er macht nicht den kleinsten Versuch, höflich oder freundlich zu sein. Er ignoriert uns total." Sie stieß einen unterdrückten Seufzer der Erleichterung aus, als Edward abrupt aufstand, nach seiner Jagdflinte griff und ohne ein weiteres Wort hinausstolzierte. „Der Typ ist ja eine echte Stimmungskanone", schnaubte Eric. „Simon meint, er wäre depressiv", sagte Jan nachdenklich. „Mich hat er jedenfalls deprimiert!", witzelte Cari. Alle vier fingen gleichzeitig an, über Edward herzuziehen, und Craig machte ihn wunderbar nach, wie er hastig seine Suppe in sich hineinschlürfte. Sie lachten immer noch, als Martin plötzlich aus der Küche kam und einen noch abweisenderen Eindruck machte als sonst. „Ihr müsst mir zuhören!", sagte er mit einem gepressten Flüstern. „Es ist nicht mehr viel Zeit. Bitte – ihr müsst von hier verschwinden!" „Was? Hier aus dem Speisesaal?", platzte Eric heraus. Auch die anderen verwirrte Martins Bemerkung. „Ihr versteht mich nicht", sagte Martin, immer noch flüsternd. Er wollte noch etwas hinzufügen, brach dann aber ab und starrte mit weit aufgerissenen Augen zur Tür. Als Cari sich hastig umdrehte, entdeckte sie Edward, der, auf seine Flinte gestützt, mit raschen Schritten zurück in den Speisesaal kam. „Schwingst du mal wieder große Reden, Martin?" Martin sah aus, als wäre er am liebsten im Erdboden versunken. Seine Schultern sackten herab, und er zog den Kopf ein. „Nein, Sir." Edward starrte Martin stumm an. Den anderen kam es vor wie eine Ewigkeit, bis Edward endlich die gespannte Stille durchbrach. „Vielleicht solltest du lieber zu deinen Küchenpflichten
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zurückkehren", sagte er kalt. Dabei trat er von einem Fuß auf den anderen und stützte sich schwer auf den Kolben seines Jagdgewehrs. „Ja, Sir." Martin drehte sich hastig um und flitzte wie eine erschrockene Maus in die Küche zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte ein zufriedenes Lächeln über Edwards Gesicht. Es war das erste Mal, dass Cari ihn lächeln sah. „Er hat es richtig genossen, Martin Angst einzujagen", dachte sie. „Aber warum hat der Mann so Angst vor ihm?" Eigentlich hatte Cari den Eindruck, dass Martin genauso kalt und hart war wie Edward. Es passte überhaupt nicht zu ihm, den ergebenen Diener zu spielen und sich wie ein Feigling unter dem strengen Blick seines Herrn zu ducken. Aber Martin hatte eindeutig gekuscht. Edwards befriedigtes Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war, dann nahm sein Gesicht wieder den vertrauten mürrischen Ausdruck an, und er verließ ohne ein weiteres Wort den Speisesaal. „Ist das langweilig!", stöhnte Cari. Sie spielten jetzt schon seit einer Stunde im Aufenthaltsraum Scrabble. „Abgelascht? Was soll das denn für ein Wort sein?", protestierte Jan. „Na, du weißt schon", sagte Eric. „Edward hat Martin heute Abend richtig abgelascht." Er lachte. „So ein Quatsch!", rief Jan und warf eine Hand voll Buchstaben nach Eric, der vor Überraschung vom Hocker purzelte. Alle vier bewarfen sich gerade laut kreischend mit Spielsteinen, als eine hoch gewachsene Gestalt im Türrahmen auftauchte. „Was für ein bemerkenswertes Scrabble-Spiel", sagte Simon mit einem leisen, glucksenden Lachen und trat in die Mitte des Raums. Wie üblich war er ganz in Weiß gekleidet und trug einen langärmligen Pullover zu seinen eleganten Leinenhosen. Cari und die anderen hielten in ihrer wilden Buchstabenschlacht inne. „Ich war in Provincetown", wandte Simon sich an Jan. „Ja, Edward hat es uns erzählt", sagte Jan mit besorgter Miene. „Tante Rose ... ist sie ...?" 82
„Es geht ihr gut", beteuerte Simon und lächelte sie beruhigend an. „Offenbar hat sie hier angerufen und mit Edward gesprochen, ohne dass er es mir erzählt hat. Nachdem er ihr unsere momentane Situation geschildert hat, hat Aileen Rose überredet, für ein, zwei Tage mit ihr in einen Badeort zu fahren. Ich muss mich für Edward entschuldigen. Mein armer Bruder vergisst neuerdings ständig etwas." „Und sie fühlt sich wirklich wieder besser?", fragte Jan. „Aber ja. Sie ist munter wie ein Fisch im Wasser", erwiderte Simon und fügte hinzu: „Ich schätze, dieser Ausdruck klingt ziemlich altmodisch, was?" Er schnitt eine Grimasse. „Wie dem auch sei, Rose wird jedenfalls in einigen Tagen herkommen. Am Donnerstag nimmt sie das Motorboot von Provincetown." „Das ist ja wunderbar", sagte Jan erleichtert. „Vielen Dank, dass Sie sich die Mühe gemacht haben." „Das war doch keine Mühe", wehrte Simon bescheiden ab. „Nicht im Geringsten, meine Liebe. Schließlich war ich wegen Rose auch beunruhigt. Aber jetzt brauchen wir uns keine Sorgen mehr zu machen." „Von wegen", dachte Cari. „Da wäre zum Beispiel noch Martin. Und Edward. Und der Geheimgang mit dem gruseligen Raum. Und der Geist ... Jede Menge Dinge, über die man sich Sorgen machen kann." „Simon ...", setzte Cari an, um ihm von all den seltsamen Dingen zu erzählen, die sie erlebt hatten. Aber er war schon aus dem Speisesaal verschwunden. Die Augen fest geschlossen und das Gesicht zu einer Maske der Konzentration erstarrt, saß Jan in ihrem seidigen grünen Pyjama vor ihrem Bett. Während sie leise vor sich hinsummte, beugte sie sich vor und fuhr mit ihren Fingerspitzen das Pentagramm nach, das sie mit Kreide auf den Fußboden gezeichnet hatte. Weil es im Zimmer durchdringend nach Mottenkugeln roch, hatte sie das Fenster weit geöffnet, um die frische, würzige Luft hineinzulassen. Doch jetzt störte die ohrenbetäubende Symphonie der Grillen und Laubfrösche ihre Konzentration.
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Während Jan mit den Fingerspitzen über das uralte Symbol fuhr, ließ sie sich einfach treiben, weg von den zirpenden Grillen, dem böigen Nachtwind und dem feuchten, muffigen Geruch des alten Hotels. Sie schwebte nun durch die Dunkelheit, still und leise. Und trotzdem fuhr sie immer noch das Kreidepentagramm nach – spürte, wie ihre Finger immer wärmer wurden und der Boden unter ihren Fingern lebendig zu werden schien. Ganz allein schwebte sie durch die stille Dunkelheit. Und dann wusste sie plötzlich, dass sie nicht länger alleine war. Sie konnte die Anwesenheit des Geistes spüren. Er war ganz in der Nähe und schwebte auf sie zu. „Ich werde vom Übernatürlichen angezogen, weil ich es überall um mich herum spüren kann. Ich habe starke geistige Kräfte", dachte Jan, während sie über das Pentagramm fuhr und ihre Hand wie Feuer pochte – ein lebendiges, pulsierendes Gefühl. „Komm zu mir", dachte sie. „Ich kann deine Anwesenheit spüren." „Zeige dich, Geist!", rief sie laut. Ein heftiges Klopfen an der Tür ließ sie erschrocken aufspringen, mit weit aufgerissenen Augen und wild pochendem Herzen. Nicht vor Angst, sondern vor Erwartung. „Ich weiß, dass du da bist. Ich kann dich fühlen", dachte sie triumphierend. In ihrer Hand pulsierte eine geheimnisvolle Kraft. Sie durchströmte ihren Körper und erfüllte sie mit der Energie der Geister ringsumher. Ohne zu zögern, öffnete sie die Tür. Und schrie auf.
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Kapitel 15 Jan kam am nächsten Morgen nicht zum Frühstück, aber das war nicht weiter ungewöhnlich. Sie schlief gerne lange, ließ das Frühstück ausfallen und kam erst angeschlurft, wenn die anderen schon mit der Arbeit angefangen hatten. „Das waren ja gute Neuigkeiten von Jans Tante", sagte Craig und häufte sich noch eine Portion Rührei mit Speck auf den Teller. „Jan war mächtig erleichtert." „Stimmt", meinte Cari mit einem komischen Gefühl im Bauch. Eric lächelte sie an und schaute dann an ihr vorbei zu den großen Fenstern des Speisesaals. „Kein Strandwetter heute", sagte er und strich sich mit der flachen Hand über sein Grateful-Dead-T-Shirt. Der Himmel war grau und voller tief hängender Wolken. Es nieselte die ganze Zeit, und der Wind beugte das Gras auf den Dünen tief zur Erde. „Bäh!", sagte Cari nach einem Blick aus dem Fenster und wandte sich wieder ihrer Schale mit Cornflakes zu. „Dann schaffen wir heute wenigstens richtig was", sagte Eric gut gelaunt. „Vielleicht können wir die Tapete auf der einen Seite zu Ende abreißen und werden auch noch mit den Deckenleisten fertig." „Na, alle bereit für ein neues Tunnelabenteuer?", fragte Craig grinsend. Eric und Cari verzogen missbilligend das Gesicht und machten sich nicht die Mühe, ihm zu antworten. Sie arbeiteten den ganzen Vormittag durch und legten erst um halb zwei eine Mittagspause ein. „Wo bleibt Jan denn bloß?", fragte Cari, als sie sich in der großen Stahlspüle in der Küche die Hände wuschen. „So lange schläft sie doch sonst auch nicht." „Du hast Recht", sagte Eric und schaute sich in der Küche um, als erwartete er, dass sie jeden Moment auftauchte. „Sie ist wahrscheinlich mit Simon oder Edward unterwegs", überlegte Craig laut. „Von den beiden haben wir heute auch noch keinen zu Gesicht bekommen." 85
„Stimmt. Vielleicht sind Jan und Simon mit dem Schlauchboot nach Provincetown gefahren, um nach Rose zu sehen", meinte Eric und trocknete sich die Hände an den Beinen seiner Jeans ab. „Ich glaube, sie hätte es uns gesagt, wenn sie irgendwo hingefahren wäre", widersprach Cari. Martin, der sich seit dem Frühstück nicht mehr hatte blicken lassen, hatte ihnen Sandwiches und Getränke in den Kühlschrank gelegt. Sie aßen hastig in dem grauen Licht, das den höhlenartigen Speisesaal erfüllte. Draußen donnerte es, und das stetige Nieseln hörte für eine Weile auf. Sie arbeiteten den ganzen Nachmittag und rissen die alten Tapeten ab. Die Tür zu dem verborgenen Gang war jetzt vollständig freigelegt, aber keiner der drei Freunde verspürte auch nur das geringste Bedürfnis, sie zu öffnen oder sich noch einmal in die dunklen, gewundenen Tunnel zu begeben. Um halb fünf legten sie das Werkzeug weg, schoben das Gerüst an die Wand und gingen nach oben, um zu duschen. Als Cari an Jans Zimmer vorbeikam, blieb sie stehen und klopfte an. Stille. Sie drückte auf die Klinke und öffnete die Tür. Das Licht brannte. Jans Bett war nicht gemacht, und ihre Klamotten lagen auf dem Sessel und über das Bett verstreut. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Aber keine Spur von ihrer Freundin. „Wo bist du, Jan?", rief Cari laut. Doch die einzige Antwort war ein leises Knarren vom Flur her, wo das Holz des alten Hotels arbeitete. Als sie im Speisesaal beim Abendessen saßen, hörten sie, wie Simon durch den Haupteingang kam. Verblüfft sahen sie ihm hinterher, als er mit schnellen Schritten an der offenen Tür vorbeiging, ohne auch nur einen Blick zu ihnen hineinzuwerfen. „Simon?", rief Cari. Sie wollte ihn fragen, ob er wusste, wo Jan war. Aber er schien sie nicht zu hören und ging schnurstracks die Treppe hinauf in sein Zimmer. „Wisst ihr was? Ich mache mir schreckliche Sorgen um Jan", gab Cari endlich zu. 86
Wie aufs Stichwort kam Martin mit einem Tablett in der Hand aus der Küche. „Wo ist denn die Dunkelhaarige?", fragte er. „Haben Sie sie nicht gesehen?", entgegnete Cari. Martin schüttelte den Kopf. „Wir dachten, sie sei mit Simon unterwegs", sagte Craig. „Er war doch in Provincetown, oder?" Wieder schüttelte Martin den Kopf. „Simon hat sich mit den Arbeitern getroffen, um herauszufinden, wann sie planen zurückzukommen. Ich habe eure Freundin auch nicht gesehen." Martins Worte jagten Cari einen Angstschauer über den Rücken. Sie folgte ihm mit den Augen, als er sich umdrehte und zurück in die Küche ging. „Wir müssen nach Jan suchen", sagte Cari, der plötzlich eiskalt geworden war. „Sollen wir uns aufteilen oder zusammenbleiben?" „Zusammenbleiben", antwortete Eric hastig. „Wir fangen am besten oben an." „Wo kann sie nur sein?", murmelte Eric kopfschüttelnd. „Vielleicht hat der Geist sie erwischt", sagte Cari. Eric warf ihr einen forschenden Blick zu und schüttelte den Kopf. „Derjenige, der das Gerüst vor die Tür geschoben hat, war kein Geist", schnaubte er hitzig. „Eric hat Recht", stimmte Craig ihm zu. „Es muss Martin gewesen sein – oder Edward. Vergessen wir doch mal diese ganzen Geister." „Lasst uns einfach nur Jan finden", sagte Cari. Sie begannen in ihrem Zimmer mit der Suche, aber dort gab es keine Hinweise. All ihre Sachen schienen da zu sein. Und es war unmöglich zu sagen, ob sie in ihrem Bett geschlafen hatte oder nicht. Am Fußende des Bettes befand sich ein verschmiertes Pentagramm aus Kreide auf dem Fußboden. Cari entdeckte es zuerst und machte die Jungen darauf aufmerksam. „Wenn sie nun diesen Geist gerufen hat, und der hat sie irgendwohin verschleppt...", begann sie. Aber Craig und Eric gingen nicht auf ihre Bemerkung ein. „Ob sie Angst haben, es könnte tatsächlich einen Geist geben?", fragte sich Cari, als sie zusammen mit den beiden Jungen Jans Zimmer verließ und leise die Tür hinter sich zumachte. Erfolglos durchsuchten sie alle Zimmer im alten Flügel des Hotels und nahmen sich dann die Eingangshalle und den angrenzenden 87
Aufenthaltsraum vor. Sie schauten sogar im Büro nach, das dunkel und still dalag. Mit Taschenlampen bewaffnet, wagten sie sich auch auf die Terrasse hinaus. Der Regen hatte aufgehört, aber der Himmel war immer noch mit dichten Wolken bedeckt. Die Luft war warm und feucht, und Cari hatte das Gefühl, sich in einem riesigen Dampfbad zu befinden. „Jan – wo bist du?", rief sie, während sie am Pool vorbeigingen, der durch den Regen bis zur Oberkante des Beckens gefüllt war. Nirgendwo eine Spur von ihrer Freundin. „Das ist ganz schön unheimlich", wisperte Cari und nahm Erics Hand. Trotz der Schwüle der Nacht war sie eiskalt. „Wir müssen Simon Bescheid sagen, dass sie verschwunden ist", meinte Eric. „Und wir sollten die Polizei auf Willow Island verständigen", fügte Cari hinzu. Die Insel war um einiges größer als Piney Island und mit dem Motorboot nur zehn Minuten entfernt. „Weißt du, wo Simons Zimmer ist?", fragte Craig, während sie mit schnellen Schritten zurück zum Hotel gingen und die Lichtkegel ihrer Taschenlampen über den feuchten, sandigen Boden huschten. „Ich glaube, ich würde es wiederfinden", sagte Cari. Aber dann konnte sie sich nicht länger beherrschen. „Wo kann Jan bloß sein? Ich hab solche Angst um sie!", rief sie mit hoher Kleinmädchenstimme. „Wir wollten diesen Sommer jede Menge Spaß haben, und stattdessen sind wir in diesem unheimlichen, verlassenen Hotel gelandet – mit Geistern und gruseligen Geheimgängen und Totenköpfen voll mit klebrigem Glibber. Ich will nur noch weg hier!" Eric legte ihr beruhigend einen Arm um die Schulter. „Wir werden Jan schon finden", sagte er mit weicher Stimme. „Simon weiß bestimmt, wo sie ist." Seine Worte klangen tröstlich, aber in seinen Augen sah Cari ihre eigene Angst gespiegelt. „Ich hoffe, Simon ist noch nicht ins Bett gegangen", sagte Craig. „Sogar der supercoole Craig hat Angst", dachte Cari mit einem Seitenblick auf sein angespanntes Gesicht. „Es ist noch gar nicht so spät", meinte Cari nach einem Blick auf ihre Uhr. „Gerade mal halb neun." Sie blieb vor der Tür am Ende der Treppe stehen, der Tür ohne Zimmernummer. „Hier ist es." 88
Sie hob ihre Hand, um zu klopfen. Doch ein lauter Schrei, der aus dem Zimmer drang, ließ sie zurückzucken. Alle drei gingen dichter an die Tür, um zu lauschen. Noch ein Schrei war zu hören. Und die Stimme eines Mannes, der aus voller Kehle brüllte. Dort drinnen war offenbar ein hitziger Streit im Gange. Erschrocken zog Cari Eric und Craig ein paar Schritte zurück. Simon brüllte Edward an, und Edward antwortete ihm mit barscher Stimme. Und dann war eine Frauenstimme zu hören, die beide lauthals beschimpfte. Cari umklammerte Erics Hand ganz fest. „Hörst du sie auch?", flüsterte sie ihm zu. Eric nickte und erwiderte den Druck ihrer Hand. „Du bist ja verrückt!", rief die Frau mit gellender Stimme. „Man sollte dich besser einsperren!" „Wen nennst du hier verrückt?", fragte Edward mit einem drohenden Unterton. „Ich warne dich ..." „Lass sie in Ruhe!", war Simons erschrockene Stimme zu hören. „Du jagst uns keine Angst ein, Edward!", schnaubte die Frau trotzig. „Hey!", rief Simon plötzlich. „Tu das nicht!" Cari packte Erics Arm. Artete der Streit auf der anderen Seite der Tür jetzt in einen richtigen Kampf aus? „Ich werde auf keinen Fall zu deinem Fest bleiben", rief die Frau. „Dir bleibt gar keine andere Wahl", brüllte Edward mit rauer, böser Stimme. „Du solltest tun, was er sagt", seufzte Simon. „Ich habe ihn wieder und wieder gebeten, aber vergebens. Edward, wenn du schon nicht auf unsere Argumente hören willst..." „Du hältst dich da raus!", schrie Edward aus voller Kehle. „Ich habe dich gewarnt!" „Edward, bitte ...", kreischte die Frau. „Nein! Nicht! Leg das weg!" „Sei nicht albern", rief Simon alarmiert. „Lasst uns in unsere Zimmer zurückgehen. Ich habe richtig Angst", flüsterte Cari und versuchte, die beiden Jungen wegzuziehen.
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„Pscht! Nur noch eine Minute", protestierte Eric, der gebannt den Streit auf der anderen Seite der Tür verfolgte. „Edward – hör auf!", bat die Frau flehentlich. „Nein! Ich bitte dich!", rief Simon, offensichtlich in Panik. „Ich flehe dich an, als dein Bruder! Bitte – Edward – tu's nicht!" „Na los, kommt doch endlich!", drängte Cari. In diesem Moment hörten sie Simon schreien. Und eine Sekunde später fiel ein Schuss, der, selbst durch die schwere Holztür gedämpft, ohrenbetäubend laut klang. Dann herrschte Stille.
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Kapitel 16 Cari erstarrte. Vor Schreck stockte ihr der Atem. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie fest sie Erics Hand gedrückt hatte, bis er sie mit einem unterdrückten Schmerzenslaut wegzog. „Lasst uns von hier verschwinden", stieß Eric mit bleichem Gesicht und vor Angst weit aufgerissenen Augen hervor. Aber er machte keine Anstalten, sich zu bewegen. Craig starrte mit offenem Mund auf die Tür und atmete laut keuchend. In Simons Zimmer herrschte immer noch Stille. Tödliche Stille. Einige Sekunden später wurde die Tür aufgerissen, und Edward taumelte heraus, das noch qualmende Gewehr auf Armeslänge von sich weggestreckt und das gesunde Auge Schreck geweitet. Er trug wie üblich seine Safarijacke, ein unordentliches Sporthemd und zerknitterte Hosen. Das weiße Haar stand ihm wirr vom Kopf ab. Cari und die beiden Jungen wichen erschrocken ein Stück zurück. Edward wirkte verwirrt und schien sich nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Er starrte die drei Jugendlichen an, als könnte er ihre Anwesenheit nicht fassen. „Ein Unfall!", rief er, seine sonst so heisere Stimme vor Erregung unnatürlich hoch. „Mein Bruder Simon hat einen schrecklichen Unfall gehabt!" Cari hörte schnelle Schritte auf der Treppe, und einige Sekunden später tauchte Martin auf, in dunklem Bademantel, ledernen Hausschuhen und mit ungekämmten Haaren. „Was ist denn hier los?", fragte er. Edward, der mit unsicheren Schritten auf und ab ging und dabei immer wieder gegen die Wand prallte, stieß einen lauten Verzweiflungsschrei aus. „Ein Unfall", sagte er zu Martin. „Simon hat einen schrecklichen Unfall gehabt." Martins sonst so steinernes Gesicht schien förmlich in sich zusammenzufallen. Ihm klappte der Unterkiefer herunter, und seine grauen Augen wurden für einen Moment glasig, bevor sie sich vor Angst weiteten. „Einen Unfall?" 91
„Rufen Sie einen Arzt!", rief Cari. „Er hat Simon niedergeschossen. Rufen Sie doch endlich einen Arzt!" Sie lief durch den Flur und wollte die Tür zu Simons Zimmer öffnen. „Weg da!", kreischte Martin. Cari war so erschrocken über seine unbeherrschte Reaktion, dass sie beinahe stolperte. „Aber Simon liegt verletzt da drinnen!", protestierte Eric. „Und außerdem ist dort noch eine Frau. Wir haben sie gehört!" „Verschwindet!", rief Martin und stürzte los, um die Tür zu blockieren. „Ein schrecklicher, schrecklicher Unfall", murmelte Edward vor sich hin, der jetzt nur noch von einem Fuß auf den anderen trat und offenbar völlig unzurechnungsfähig war. „Rufen Sie einen Arzt!", wiederholte Cari. „Wie können Sie hier einfach so rumstehen?" „Es ist zu spät für einen Arzt", knurrte Edward, der eher wütend als zerknirscht wirkte. „Was?", rief Martin. Trotz der schwachen Flurbeleuchtung sah man, dass sein Gesicht dunkelrot angelaufen war. „Es ist zu spät. Mein Bruder ist tot." „Wie konntest du nur? Wie konntest du Simon töten?", schrie Martin mit überschnappender, schriller Stimme. „Ich habe doch gesagt, dass es ein Unfall war", fauchte Edward ihn an. Martin schüttelte den Kopf und atmete tief durch. „Edward, du weißt genau, dass es kein Unfall war." Aber Edward reagierte nicht. „Gib's zu", sagte Martin wütend. „Gib zu, dass du Simon erschossen hast." „Das kann nicht wahr sein", dachte Cari, während sie Edward anstarrte und auf eine Reaktion von ihm wartete. „Warum geht denn niemand in das Zimmer? Was ist mit Simon? Und was ist mit dieser Frau?" „Gib es zu", wiederholte Martin, jetzt lauter und mit fester Stimme. Edward starrte ihn nur schweigend und mit wildem Blick an. „Das reicht jetzt", sagte er schließlich. Er setzte die Jagdflinte an die Schulter und zielte damit auf Martin. „Oh, nein!", schrie Cari auf. 92
Kapitel 17 „Nimm die Waffe runter", sagte Martin. Seine Stimme klang ruhig, aber er zitterte am ganzen Körper. Edward rührte sich nicht. Der Lauf des Gewehrs war genau auf Martins Brust gerichtet, der weniger als einen Meter vor ihm stand. Viel zu verängstigt, um sich zu bewegen, presste Cari sich mit dem Rücken an die Wand. Würde Edward schießen? Sein Gesicht lag jetzt halb im Schatten. Es kam ihr so vor, als würde er eine Maske tragen – die eine Seite wirkte dunkel und Furcht erregend, die andere blass, unsicher und erschrocken. „Leg die Waffe weg! Du weißt genau, dass du nicht auf mich schießen wirst", sagte Martin. Obwohl er am ganzen Leib zitterte, rührte er sich nicht vom Fleck. Er sah Edward, ohne zu blinzeln, in die Augen und sprach mit leiser, beruhigender Stimme auf ihn ein. Aber Edward antwortete nicht. Cari fand sein Schweigen bedrohlicher als seine unkontrollierte Wut. Hörte er Martin überhaupt zu? Würde er das Gewehr sinken lassen, oder würde er schießen? „Lass uns nach unten gehen", sagte Martin ganz ruhig und bewegte sich keinen Zentimeter von der offenen Tür fort. „Lass uns nach unten gehen und über die ganze Sache reden, Edward. Wir haben doch bis jetzt auch immer alles miteinander besprechen können." „Wird Edward auf ihn hören?", fragte sich Cari angstvoll. Sie lehnte sich gegen Eric und merkte dabei, dass er genau wie sie den Atem anhielt. Sie holte tief Luft und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Komm schon, Edward", drängte Martin, dem jetzt der Schweiß über die Stirn lief. „Du hältst unsere Gäste vom Schlafen ab. Es ist schon spät." „Schon spät", wiederholte Edward langsam. Es kam Cari vor, als wären es seine ersten Worte seit einer Ewigkeit. „Lass sie in ihre Zimmer zurückgehen. Du und ich, wir setzen uns unten hin und unterhalten uns ein bisschen." Eine endlose Stille folgte. 93
Dann senkte Edward den Gewehrlauf, stellte ihn auf den Boden und stützte sich auf den Schaft. Sichtlich erleichtert trat Martin vor und nahm Edward am Arm. „Und ihr verschwindet jetzt in eure Zimmer und bleibt von der Tür weg. Verstanden? Ich kümmere mich um alles", herrschte er die drei an und führte Edward die Treppe hinunter. Cari stieß einen lauten Seufzer aus und sank auf die Knie. Der Flur begann sich um sie zu drehen. Sie schloss die Augen und versuchte, das Schwindelgefühl zu vertreiben. „Wir müssen von hier verschwinden", sagte Craig und ließ sich gegen die Wand sinken. „Er ist total verrückt." „Was ist mit Simon?", fragte Cari. „Vielleicht ... vielleicht ist er ja noch am Leben." „Und was ist mit der Frau passiert?", fügte Eric hinzu. „Sie kann doch nicht einfach verschwunden sein – wie ein Geist, oder?" „Oh, nein!", rief Cari, viel zu verängstigt, um einen klaren Gedanken fassen zu können. „Hat Edward sie etwa auch umgebracht?" „Kommt mit. Es ist mir egal, was Martin sagt. Lasst uns in Simons Zimmer nachsehen", kommandierte Eric entschlossen und half Cari hoch. Nachdem sie ein paarmal tief durchgeatmet hatte, ging es ihr schon etwas besser. Wenigstens tanzten die Wände jetzt nicht mehr vor ihren Augen herum. Eric ging voraus, gefolgt von Cari und Craig, der blass aussah und heftig schluckte. „Ich habe noch nie einen Toten gesehen", sagte er mit gepresster Stimme. Die drei betraten ein großes Wohnzimmer, das mit viel weißem Leder und Chrom eingerichtet war. Eine lange, stromlinienförmige Couch wurde von zwei Sesseln eingerahmt, die ebenfalls weiß und sehr modern waren. Auf dem niedrigen Couchtisch aus Glas standen eine silberne Teekanne und mehrere zur Hälfte gefüllte Tassen aus zartem Porzellan. In der Wand hinter dem Sofa befand sich ein Einbauschreibtisch. Rechts und links davon führten zwei Türen in weitere Zimmer. „Das ist ja eine richtige Suite", sagte Eric, der seinen Blick bewundernd durch den großzügigen Raum schweifen ließ. „Vielleicht wohnen Simon, Edward und diese Frau zusammen hier." 94
„Aber wo ist Simon?", fragte Cari, die immer noch gegen das heftige Schwindelgefühl ankämpfte. Sie hielt sich an der Rückenlehne der weißen Couch fest. Das kühle, glatte Leder unter ihren Händen half ihr, ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. „Sie müssen hier im vorderen Zimmer gewesen sein", sagte Eric. „Wir haben sie doch streiten hören." „Vielleicht hat sich Simon in einen der hinteren Räume geschleppt", gab Cari zu bedenken. „Aber hier ist nirgendwo Blut zu sehen", widersprach Craig. „Und keine Spuren eines Kampfes. Keine Spuren von irgendwas!" „Sehen wir uns mal die anderen Räume an", sagte Eric, der genauso verwirrt war wie die anderen. Ohne auf sie zu warten, marschierte er auf die linke Tür zu. Cari folgte ihm widerstrebend. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und die Angst lahmte jede ihrer Bewegungen. Sie konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Cari atmete tief ein und zwang sich, durch die Tür zu treten, die in ein kleines, voll gestopftes Zimmer führte. Eine Nachttischlampe tauchte den Raum in ein warmes Licht. Ein ungemachtes Bett, die Decke am Fußende zusammengeknüllt, stand an der einen Wand. Stapel von Büchern, Zeitschriften und alten Zeitungen türmten sich an der anderen Wand. Überall auf dem Fußboden lagen zerknitterte, getragene Kleidungsstücke herum. „Das muss Edwards Zimmer sein", dachte Cari. „Hier ist Simon auch nicht", murmelte Eric und schüttelte den Kopf. „Merkwürdig." Sie gingen zurück in den Wohnraum und probierten es mit der Tür zur Rechten. Sie führte in ein anderes, etwas größeres Schlafzimmer, das Craig sofort unter die Lupe nahm. Cari fiel auf, dass dieser Raum ordentlich und in tadellosem Zustand war. Das Bett war gemacht und mit einem wunderschönen alten Quill bedeckt. „Hier drin ist er auch nicht", meinte Craig achselzuckend. „Kein Simon und keine Frau", seufzte er und ließ sich auf die Bettkante sinken. „Aber das ist unmöglich!", rief Eric. „Wir haben sie doch gehört..." Er brach mitten im Satz ab und wandte sich mit verwirrter Miene an Cari. „Eine Leiche kann sich doch nicht einfach in Luft auflösen, oder?"
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Kapitel 18 „Vielleicht passieren hier wirklich übernatürliche Dinge", murmelte Cari und ließ sich neben Craig auf den Quilt plumpsen. „Wartet mal. Wartet doch mal einen Moment", sagte Eric, der hektisch vor ihnen auf und ab lief. „Wir machen da irgendwo einen Denkfehler. Wir müssen uns erst mal wieder beruhigen und dann alles nochmal durchgehen. „Eric – bitte", stöhnte Cari. „Du machst mich noch nervöser, als ich sowieso schon bin, wenn du so hin und her tigerst." „Ich muss klar denken", murmelte er stirnrunzelnd und ignorierte ihre Bemerkung. „Wir haben den Streit vom Flur aus gehört. Alle drei haben sich gestritten, nicht wahr? Dann fiel der Schuss, und Edward kam rausgerannt." „Er muss die Leiche irgendwo hingeschleppt haben", sagte Craig und rutschte unbehaglich auf dem Bett hin und her. „Eric hat Recht. Wir machen offenbar einen Denkfehler. Die Leiche muss hier irgendwo sein." „Lasst uns nochmal gründlich suchen", schlug Eric vor. „Ihr wisst schon – unter den Betten und in den Schränken nachsehen." „Komm nicht in Frage! Wir müssen von hier verschwinden", widersprach Craig, den Blick auf die Tür gerichtet. „Wenn Edward zurückkommt und uns hier beim Rumschnüffeln erwischt ... ich meine, er hat immer noch sein Gewehr. Und er hat es schon einmal benutzt." „Wir werden uns beeilen", sagte Eric. „Na, kommt schon. Wir teilen uns auf. Ich übernehme das unordentliche Schlafzimmer, das wahrscheinlich Edward gehört." „Aber, Eric ...", protestierte Cari. Zu spät. Er war bereits aus der Tür geflitzt. „Na gut, dann durchsuche ich eben das Wohnzimmer", sagte Cari widerstrebend. „Aber ich glaube nicht, dass ich irgendwas finden werde." „Okay, und ich sehe mich mal in diesem Zimmer um", meinte Craig. „So aufgeräumt, wie es hier ist, gehört es bestimmt Simon." Er ließ 96
sich auf den Boden fallen und hob den Quilt an, damit er unter das Bett gucken konnte. „Ich versteh einfach nicht, warum ..." Erics lauter Schrei aus dem Nebenraum schnitt ihm das Wort ab. „Hey – ich hab was gefunden!" Bei diesen Worten durchfuhr es Cari eiskalt. Hatte Eric Simons Leiche entdeckt? Vor ihren Augen schien alles zu verschwimmen, als sie mit Craig im Schlepptau hinüber in Edwards Zimmer lief. „Seht euch das mal an!", rief Eric aufgeregt, als sie hereinkamen. Er hielt ein großes Fotoalbum in der Hand. „Das ist echt interessant." Die beiden traten näher, damit sie besser sehen konnten. „Ein Haufen alter Schnappschüsse", sagte Cari verdattert. „Die sind ja ganz vergilbt. Wetten, das Album ist bestimmt schon hundert Jahre alt?" „Nicht ganz. Schau mal, wen wir hier haben", sagte Eric. Das schwere Album auf einem Knie balancierend, zeigte er auf ein Foto, das rechts oben auf der Seite klebte. Cari erkannte darauf die Vorderfront des Hotels, die sich kein bisschen verändert hatte, obwohl der große Straßenkreuzer, der vor dem Haupteingang parkte, aus den fünfziger Jahren zu stammen schien. Ein junger Mann und eine junge Frau standen an das schicke Auto gelehnt da. „Mensch, ist das nicht Simon?", rief Cari. „Mit schwarzen Haaren hätte ich ihn kaum erkannt." „Stimmt, bis auf die Haare sieht er genauso aus wie heute", meinte Eric. „Und jetzt schaut mal, wer das neben ihm ist." „Das ist doch Jans Tante Rose!", rief Cari erstaunt. „Lass mal sehen, was da steht." Sie zog Eric das Buch weg, damit sie die Bildunterschrift lesen konnte, die jemand mit dicker, schwarzer Tinte hingekritzelt hatte. „Meine entfernte Cousine Rose. Ich wünschte, wir wären uns näher." „Entfernte Cousine?" Caris Gesicht nahm einen ungläubigen Ausdruck an, als sie Eric das schwere Fotoalbum zurückreichte. „Rose und Simon Fear sind also verwandt", sagte Eric. Die drei dachten ein paar Sekunden über diese Tatsache nach. „Das bedeutet, dass Rose und Edward ebenfalls Cousin und Cousine sind",
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murmelte Cari nachdenklich. Sie schaute von den Fotos auf. „Ihr glaubt doch nicht etwa ..." „... dass Rose wusste, was hier vorgeht?", beendete Eric den Satz für sie. „Dass sie wusste, was für ein unheimlicher Ort das hier ist?" „Vielleicht war sie gar nicht richtig krank, sondern steckt mit Edward und Martin unter einer Decke", fügte Craig aufgeregt hinzu. „Vielleicht hat sie uns aus irgendeinem Grund hierher gelockt." „Deswegen hat Jan sie auch nicht erreicht", warf Eric ein. „Und deshalb hat Rose nicht angerufen. Weil sie über dieses Hotel Bescheid wusste. Wahrscheinlich arbeitet sie mit Edward zusammen, um ..." „Hey, Mann! Krieg dich wieder ein! Wir müssen aufpassen, dass unsere Fantasie nicht mit uns durchgeht. Es gibt keinen Grund, Rose zu verdächtigen." „Aber warum hat sie nie erwähnt, dass sie eine Fear ist?", fragte Craig. „Sie hat uns bestimmt absichtlich nicht erzählt, dass sie mit den Fear-Brüdern verwandt ist", sagte Eric. „Das heißt ja, dass Jan auch mit ihnen verwandt ist!", ging Cari plötzlich ein Licht auf. „Kein Wunder, dass sie so an Geistern und übernatürlichen Phänomenen interessiert ist", murmelte Craig vor sich hin. „Vielleicht ist Jan auch an dem Plan beteiligt", sagte Eric nachdenklich. „Vielleicht haben sie und ihre Tante uns gemeinsam hierher gelockt." „Aber warum?", fragte Cari. „Ich kann mir nicht vorstellen, aus welchem Grund ..." Als plötzlich ein Geräusch auf dem Flur ertönte, zuckte Eric zusammen und ließ das Fotoalbum fallen, das mit einem lauten Knall auf dem Fußboden landete. Cari blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Sie erstarrten mitten in der Bewegung und lauschten. Aber niemand kam herein. „Wir müssen endlich von hier verschwinden!", drängte Craig. „Er hat Recht. Wenn wir nur in einem alten Fotoalbum blättern, kommen wir auch nicht weiter", sagte Cari zu Eric. „Wir müssen die Polizei auf Willow Island verständigen. Sollen die doch die Zimmer durchsuchen." 98
„Vielleicht gibt es hier drin irgendwo eine Falltür", murmelte Eric vor sich hin, ohne ihr zuzuhören. „Edward könnte Simon erschossen, die Falltür geöffnet und ihn hinuntergestoßen haben." „Aber hier ist nirgendwo Blut", wandte Craig ein. „Nicht das kleinste bisschen." „Also, was ist jetzt?", fragte Cari genervt. „Wir müssen dringend hier weg. Eric, kommst du?" „Nur noch eine Sekunde", sagte er, klopfte hastig die Wände ab, drehte die Lampen um und drückte auf die Griffe der Kommode. „Was machst du da?", fragte Cari entgeistert. „Ich versuche rauszufinden, wie man die Falltür öffnet." Er drückte auf den Lichtschalter neben der Tür. „Mensch! Das gibt's ja nicht!" Die Bücherregale an der Wand begannen sich wie auf einer Drehscheibe zu bewegen. Sie glitten zur Seite und gaben den Blick auf einen Schreibtisch frei, der sich dahinter verbarg. Als Eric noch einmal auf den Schalter drückte, hielt die Drehscheibe mitten in der Bewegung an. Für einen Moment waren alle vor Überraschung wie erstarrt. „Seht mal, ein verborgener Raum!", rief Eric fasziniert. Er quetschte sich durch den Spalt zwischen Wand und Schreibtisch. „Sieht aus wie ein geheimes Arbeitszimmer." „Ist die Leiche da drin?", rief Cari, die von draußen nichts erkennen konnte. „Nein. Nichts zu sehen", antwortete Eric. Er nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und kam zurück ins Zimmer. Nachdem er den Text überflogen hatte, wurde er bleich und riss ungläubig die Augen auf. „Eric, was ist denn?", fragte Cari beunruhigt. Er reichte ihr wortlos das Blatt Papier. Es war ein Brief, mit blauer Tinte von Hand geschrieben. „Er ist an Jans Tante gerichtet", sagte Cari verwundert. „Hört mal zu. Ich lese ihn euch vor." Sie fing an, mit normaler, gleichmäßiger Stimme zu lesen, die jedoch von Satz zu Satz immer mehr zitterte. „Liebe Rose", begann der Brief. „Es tut mir unendlich Leid, dir Folgendes mitteilen zu müssen. Deine Nichte Jan und ihre drei Freunde sind spurlos und ohne eine Erklärung verschwunden. Ich bin 99
völlig verzweifelt und von Trauer, Sorge und Reue gequält. Die Polizei von Willow Island hat jeden Winkel der Insel durchkämmt, aber leider ohne Erfolg. Sie haben nicht die kleinste Spur gefunden. Ich habe Tag und Nacht versucht, dich zu erreichen, aber du bist nicht ans Telefon gegangen. Deswegen sende ich dir diesen Brief per Eilboten. Ich bin zutiefst betrübt und hoffe immer noch, dass die vier jungen Leute unversehrt wieder auftauchen. Aber die Polizei hat uns nicht sehr viele Hoffnungen gemacht. Sei versichert, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um herauszufinden, was mit ihnen geschehen ist. Ich werde nicht ruhen, bis das Rätsel ihres Verschwindens gelöst ist. Ich bete, dass sie noch am Leben sind – obwohl alles dagegen spricht –, und ich weiß, dass du mit mir beten wirst.“ Der Brief war unterschrieben mit Edward Fear.
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Kapitel 19 „Wir müssen sofort von hier weg!", schrie Cari und ließ den Brief fallen. „Er hat vor, uns umzubringen!" „Er ist verrückt! Total verrückt!", keuchte Eric. Er hob den Brief auf und überflog ihn noch einmal, weil er einfach nicht glauben konnte, was dort stand. „Das ist sicher nur ein schlechter Witz", meinte Craig. „Träum doch nicht", schnaubte Eric. „Das ist kein Witz. Simon hat er schließlich auch umgebracht." „Oh, mein Gott! Und Jan!", rief Cari und presste verzweifelt die Hände an die Wangen. „Müsste die Polizei nicht bald mal hier sein?", fragte Craig, der immer noch die blaue Schrift auf dem Briefbogen anstarrte. „Vielleicht hat Martin sie gar nicht gerufen, weil er genau weiß, was Edward mit uns vorhat. Würde mich nicht wundern, wenn die beiden unter einer Decke stecken", sagte Eric nachdenklich. „Wir können nicht hier bleiben und weiter rumdiskutieren", drängte Cari und deutete mit dem Kinn in Richtung Tür. „Lasst uns so schnell wie möglich abhauen – solange es noch geht." „Wir könnten uns doch zum Anleger runterschleichen und mit Simons Boot zurück nach Provincetown fahren", schlug Eric vor. „Irgendwie muss er ja aufs Festland gekommen sein, um nach Jans Tante zu sehen." „Ich weiß gar nicht, wie man so was fährt!", rief Cari. „Aber ich", sagte Craig ruhig. „Mein Vater und ich fahren beide gerne Motorboot. Wenn wir auf Simons Boot kommen, könnte ich es bestimmt steuern." „Aber was ist mit Jan?", fragte Cari. „Wir können sie doch nicht einfach hier lassen." „Uns bleibt nichts anderes übrig", drängte Eric und zog sie in Richtung Tür. „Wir wissen ja nicht mal, wo sie ist. Es ist besser, wenn wir Hilfe holen. Wir werden die Polizei verständigen und sie bitten, mit uns zurückzukommen und nach Jan zu suchen. Aber wir müssen verschwinden, bevor Edward und Martin merken, dass wir 101
rausbekommen haben, was sie planen." Wenige Sekunden später war Cari in ihrem Zimmer. Sie riss die Schubladen auf, zerrte hektisch ihre Klamotten heraus und stopfte sie in ihre Reisetasche. Dann kniete sie sich hin, um den Reißverschluss der Tasche zuzuziehen. In diesem Moment packte sie jemand von hinten an der Schulter. Cari schrie erschrocken auf. „Oh, entschuldige", sagte Eric und machte ein verlegenes Gesicht. Sie sah mit klopfendem Herzen zu ihm auf. „Entschuldige", wiederholte er. „Ich wollte dich wirklich nicht erschrecken." Cari zog den Reißverschluss ganz zu und stand auf. Eric legte ihr beide Hände auf die Schultern und küsste sie. Es war ein kurzer KUSS, dem man seine Anspannung deutlich anmerkte. „Der soll dir Glück bringen", flüsterte er. „Ich glaube, das können wir brauchen", seufzte Cari. „Wo ist Craig?" Bevor Eric darauf antworten konnte, stürmte Craig herein. Er trug dieselbe Jacke wie bei ihrer Ankunft und schleppte seine Segeltuchtasche hinter sich her. „Gehen wir", flüsterte er. Cari wandte sich von Eric ab und hob ihre Tasche auf. „Ist Edward zwischendurch schon wieder oben gewesen?", fragte Craig. „Keine Ahnung. Ich habe nichts gehört", antwortete Cari. „Ich auch nicht", meinte Eric und warf einen Blick in den Flur. „Wir sollten es lieber nicht riskieren, an seinem Zimmer vorbeizugehen", sagte Craig. „Aber die Treppe ...", begann Cari. „Craig hat Recht", schnitt Eric ihr das Wort ab. „Wir nehmen einen anderen Weg. Es muss irgendwo eine Hintertreppe geben. Sobald wir draußen sind, laufen wir einfach um das Gebäude herum." „Ich finde, wir sollten die Polizei anrufen, bevor wir verschwinden", meinte Craig. „Also, ich ... ich würde mich eine ganze Ecke sicherer fühlen, wenn ich wüsste, dass die Polizei von Willow Island unterwegs ist." „Nein, lass uns so schnell wie möglich verschwinden", drängelte 102
Eric ungeduldig. „Ich glaube, Craig hat Recht", sagte Cari und schaute nervös zur Tür. „Wir könnten ihnen von Jan berichten. Was machen wir, wenn wir auf der Flucht erwischt werden? Wenn Martin oder Edward uns aufhalten? Es könnte uns das Leben retten, wenn wir ihnen sagen, dass wir die Polizei gerufen haben." „Aber das nächste Telefon ist in der Eingangshalle", protestierte Eric. „Neben der Küche ist auch noch eins", sagte Craig und nahm seine Segeltuchtasche in die andere Hand. „Wenn wir über die Hintertreppe gehen, können wir von dort aus anrufen. Es dauert doch nur eine Minute." „Okay, okay", gab Eric widerstrebend nach. „Aber lasst uns jetzt endlich aufbrechen. Bis wir alles durchdiskutiert haben, ist Edward längst wieder hier oben." Ohne ein weiteres Wort schlichen sie hinaus in den schwach beleuchteten Flur. Cari atmete tief ein. Es war so heiß und stickig, dass sie kaum richtig Luft bekam. Oder lag es daran, dass sie solche Angst hatte? Sie musste sich zwingen, ihre Beine zu bewegen, und jedes Knarren, jeder huschende Schatten an der Wand jagte ihr einen Schauer des Entsetzens das Rückgrat hinauf. Ein Stück vor Simons Zimmer bogen sie in einen langen Korridor ein, der zur Rückseite des Hotels führte. Da hier nur ein Teil der Nachtbeleuchtung brannte, wirkte er noch düsterer als der letzte. „Sind wir hier auch richtig?", flüsterte Craig. „Pssst!", zischte Cari zurück. Sie blieb wie angewurzelt stehen und warf einen Blick über die Schulter. Sie hatte auf einmal das Gefühl, dass sie verfolgt wurden. „Cari, was ist los?", flüsterte Eric ihr zu. „Nichts, entschuldige bitte", flüsterte sie zurück. Es war niemand zu sehen. Sie zuckte mit den Achseln und folgte Eric. Sie bogen um die Ecke und kamen in den nächsten muffig riechenden Korridor. „Wir werden hier nie rauskommen", dachte Cari. „Wir werden ewig in diesem Labyrinth aus dunklen Fluren herumirren."
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„Hey, seht doch mal", sagte Eric mit gedämpfter Stimme und deutete nach vorne. Am Ende des Korridors stand eine Tür halb offen, und aus dem Zimmer fiel Licht. War dieser Raum bewohnt? Die drei blieben stehen und lauschten, aber das einzige Geräusch war ihr eigener Atem. Vorsichtig schlichen sie weiter. „Ich glaube, hier bin ich noch nie gewesen", flüsterte Cari Eric zu. Kurz vor der offenen Tür hielten sie an und lauschten wieder. Stille. „Vielleicht gibt es da drinnen ein Telefon, mit dem wir die Polizei anrufen können", flüsterte Craig. Cari nahm all ihren Mut zusammen, trat auf die Tür zu und steckte ihren Kopf in das Zimmer. Ihre Augen brauchten einen Moment, bis sie sich an das helle Licht gewöhnt hatten. „Wow!", murmelte sie mit unterdrückter Stimme. „Was gibt's denn da zu sehen?", fragte Eric neugierig. Er trat neben sie und riskierte ebenfalls einen Blick. „Es ist so eine Art Trophäenzimmer", sagte Cari. Vorsichtig betraten sie den hell erleuchteten Raum und sahen sich immer wieder nervös um. „Stimmt, sieht aus wie Jagdtrophäen", meinte Eric und nahm einen silbernen Pokal hoch. Auf einer Seite waren ein Jäger und ein Jagdhund eingraviert. „Ich sehe nirgends ein Telefon", sagte Craig enttäuscht. „Nein, ich ...", begann Cari, brach jedoch abrupt ab. Sie blieb mit offenem Mund stehen und keuchte entsetzt auf. „Da ...", kreischte sie mit schriller Stimme. Sie starrte an der Vitrine vorbei auf die hintere Wand. Dort hingen, präpariert wie die Schädel von Elchen oder Hirschen, vier Köpfe. Vier Menschenköpfe.
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Kapitel 20 Cari rannte mit den beiden Jungen durch das hohe Gras an der Rückfront des Hotels. Dabei nahm sie alles überdeutlich wahr, als wären ihre Sinne unnatürlich geschärft. Sie konnte jeden einzelnen Grashalm sehen und jedes Sandklümpchen zu ihren Füßen. Sie hörte das schabende Geräusch der Grillen, den leichten Wind, der vom Ozean herüberwehte, und das schwere Atmen der Jungen. Sie konnte das Salzwasser riechen und sogar den Tau auf dem Gras, das beim Laufen gegen ihre Beine peitschte. Und sie spürte die Angst. Die Angst, die sie beim Anblick dieser schaurigen Trophäen erfasst hatte. Sie waren blindlings die Treppe hinuntergerannt, durch den schmalen Hinterausgang neben der Speisekammer gestürzt und immer weitergelaufen, ohne sich auch nur einmal umzusehen. Obwohl Caris Tasche immer schwerer wurde, verlangsamte sie ihr Tempo nicht. Keiner von ihnen tat das. Laut keuchend rannten sie an der Vorderfront des Hotelgebäudes vorbei und den steil abfallenden Hügel hinunter, bis sie den schmalen Privatweg erreichten, der sich durch den Wald zum Wasser schlängelte. „Autsch! Ich habe einen Stein im Schuh!" Craig blieb stehen, ließ seine große Tasche auf die Straße fallen und setzte sich darauf. Schwer atmend schlüpfte er aus seinem Turnschuh und schüttelte ihn aus. Cari, die japsend nach Luft schnappte, war dankbar für die kurze Pause. Sie drehte sich um und schaute den Hügel hinauf zum Hotel, das bis auf zwei Fenster im ersten Stock im Dunkeln lag. Immer noch sah sie die vier ausgestopften Köpfe vor sich. Sie schienen sie zu verfolgen und sie zu beobachten, wie sie durch die Nacht rannte. „Diese Köpfe ...", sagte sie leise. „Versuch, nicht daran zu denken", unterbrach Eric sie und drückte sanft ihre Schulter. „Lauf einfach weiter."
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Wenige Minuten später kam der hohe, schmiedeeiserne Zaun in Sicht. „Wir sind schon fast am Anleger!", rief Cari erleichtert. Für einen Moment vergaß sie ihren schmerzenden Arm, das Gewicht ihrer Tasche und das angstvolle Pochen ihres Herzens. Eric erreichte das Tor als Erster. Er griff nach dem Riegel, zog daran und stieß einen schweren Seufzer aus. Craig und Cari hatten ihn jetzt eingeholt. Cari bemerkte sofort die Verzweiflung auf seinem Gesicht. „Das Tor ist mit einem Vorhängeschloss gesichert", stieß er keuchend hervor. Er zerrte eine Weile vergeblich an dem Schloss und knallte schließlich frustriert seine Tasche gegen das Tor. „Wir sind eingeschlossen. Jetzt kommen wir nicht zum Anleger", sagte er tonlos. „Wir könnten doch über den Zaun klettern", schlug Cari vor. Aber als sie nach oben blickte, sah sie nicht nur, wie hoch er war, sondern auch die scharfen Spitzen darauf. „Kommt nicht in Frage", murmelte Craig und ließ seine Tasche auf den Asphalt fallen. „Warte!", unterbrach ihn Cari. Sie hatte eine Idee. „Wir können doch zurück zum Hotel gehen ..." „Was?", rief Eric. „Spinnst du? Edward und Martin haben inzwischen garantiert gemerkt, dass wir verschwunden sind. Wahrscheinlich suchen sie schon nach uns." „Lass mich doch erst mal ausreden", sagte Cari mit schriller Stimme, unfähig, ihre Ungeduld zu verbergen. Sie wusste, dass ihre Idee gut war. „Ich meine doch nicht, zurück ins Hotel. Aber wir können daran entlang und zum Strand laufen. Dort liegen doch diese Kanus am Hotelsteg. Ihr wisst schon, welche ich meine. Die können wir benutzen, um zu fliehen." „Aber mit den Kanus schaffen wir es nie zum Festland. Das ist viel zu weit", schnaubte Eric. „Stimmt", sagte Cari. „Aber bis nach Willow Island kommen wir damit. Es ist so nah, dass du es vom Strand des Hotels aus sehen kannst. Wir könnten rüberpaddeln und die Polizei holen." „Hey, das ist eine tolle Idee", rief Eric begeistert.
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„Ich glaube auch", sagte Craig. „Nur bei dem Gedanken, wieder zurück zum Hotel zu gehen, wird mir ganz schlecht." „Wir bleiben einfach zwischen den Bäumen und halten möglichst viel Abstand zum Hotel", erwiderte Cari, schnappte sich ihre Tasche und ging voran. „Da draußen ist es stockdunkel. Sie werden uns bestimmt nicht sehen." Ihr Optimismus war ansteckend. Mit neuer Energie stapften sie den Hügel wieder hinauf. Der blasse Vollmond spendete gerade genug Licht, dass sie den Weg erkennen konnten. Wieder hatte Cari das seltsame Gefühl, dass sie alles um sich herum mit unnatürlicher Klarheit wahrnahm. Die Lichter im ersten Stock waren nun auch gelöscht worden, und das Hotel lag in völliger Dunkelheit da. Seine klobigen, schwarzen Umrisse ragten vor ihnen auf und zeichneten sich vor dem blau-schwarzen Himmel ab. Kurz darauf hatten sie die große Düne erreicht, die zum Meer hin abfiel. Sie konnten das leise Plätschern der Wellen hören, und dann kam die Bucht in Sicht, auf deren ruhiger Wasseroberfläche sich das Mondlicht spiegelte. Die drei blieben ein Stück unter dem Kamm der Düne stehen, sodass man sie vom Hotel aus nicht sehen konnte. Cari blickte in Richtung des kleinen Stegs, an dem die Kanus lagen. Und schnappte ungläubig nach Luft. Die Kanus waren verschwunden! Sie kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin. Vielleicht waren sie in der Dunkelheit nur nicht zu erkennen. Aber nein. Sie waren verschwunden. „Wir sitzen in der Falle", sagte sie leise und griff nach Erics Hand, die eiskalt war. „Wir kommen nicht von der Insel weg."
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Kapitel 21 Der Regen setzte ohne Vorwarnung ein, ein heftiger Schauer, der Cari und die Jungen überraschte. Als es donnerte, blickte sie zum pechschwarzen Himmel auf. Der Mond war hinter tief hängenden Regenwolken verschwunden, und ein gleißend heller Blitz zuckte über die Bucht. „Ich bin klatschnass!", rief Cari über den dröhnenden Donner hinweg. „Wir müssen erst mal raus aus dem Regen", erwiderte Craig. „Aber wo sollen wir hin? Meint ihr, wenn wir immer am Strand entlanglaufen, kommen wir auf der anderen Seite der Insel am Anleger wieder heraus?" Der nächste Blitz erleuchtete die anrollenden Wellen taghell. Als Cari sich das nasse Haar mit beiden Händen zurückstrich, rollten ihr große Regentropfen übers Gesicht und trübten ihre Sicht. „Nein, das ist zu weit und bei diesem Wetter viel zu gefährlich", sagte Eric, der an seinem durchweichten T-Shirt herumzupfte, nach einem prüfenden Blick zum Himmel. „Das Gewitter kommt immer näher." Der nächste Donnerschlag ließ die Düne erzittern. Im grellen Licht des kurz darauf folgenden Blitzes sah Cari, wie das hohe Gras unheimlich im Wind wogte – als versuchte es, dem Gewitter zu entkommen. „Was ist mit dem Poolhaus?", fragte Cari. In dem lang gestreckten, niedrigen Gebäude hinter dem Swimmingpool wurden Sonnenschirme, Liegen und alle möglichen Reinigungsutensilien aufbewahrt. Dort drin würde es ziemlich eng werden, aber sie wären wenigstens aus dem strömenden Regen heraus und hätten ein Dach über dem Kopf. „Gute Idee", sagte Eric, und sie rannten los. Zum Glück war das Poolhaus nicht verschlossen. Eric riss die Tür auf, und sie huschten gebückt hinein. Dann drückte Eric auf den Lichtschalter, und die Neonleuchten unter der Decke gingen mit einem Flackern an. 108
„Nein! Mach es aus!", rief Cari alarmiert. „Edward – er könnte das Licht sehen und ..." „Es kann überhaupt nichts passieren", sagte Eric beruhigend. „Hier drin gibt's keine Fenster, schon vergessen?" „Wie sollen wir bloß von dieser Insel wegkommen?", fragte Craig. Die Verzweiflung war seiner Stimme deutlich anzuhören. „Edward hat anscheinend das Tor verschlossen und die Kanus versteckt." „Warum sollte ich das tun?", ertönte plötzlich eine barsche Stimme hinter ihnen. Craig schrie heiser auf, aber Cari blieb der Schrei vor Schreck in der Kehle stecken. Als sie herumwirbelte, sah sie Edward in der Tür des Poolhauses stehen, sein Jagdgewehr in der einen, einen Regenschirm in der anderen Hand. Er trug eine lange, gelbe Öljacke, die ihm bis zu den Knöcheln reichte. Er warf seinen Regenschirm achtlos auf den Boden und trat schnell und entschlossen in die Mitte des Raums. Im Neonlicht wirkte sein Gesicht bleigrau, und sein weißes Haar, das noch zerzauster war als sonst, stand ihm wild vom Kopf ab. Er starrte die drei mit seinem gesunden Auge an, den Mund zu einem seltsam befriedigten Lächeln verzogen. „Was habt ihr in einer solchen Nacht hier draußen zu suchen?" Keiner antwortete. „Wie hat er uns nur gefunden?", fragte sich Cari. „Woher wusste er, dass wir hier sind?" „Also?", knurrte er, und sein Lächeln verschwand von einer Sekunde zur anderen. Ein greller Blitz und ein lauter Donnerschlag ließen Cari erschrocken aufkeuchen. „Wir wollten weg", platzte sie heraus. „Weg?" Ihre Antwort schien Edward zu überraschen. Mit einer Hand kratzte er sich nachdenklich das stoppelige Kinn. „Ja, wir wollten die Insel verlassen", sagte Eric, der jetzt die Sprache wiedergefunden hatte. „Aber ihr könnt doch nicht einfach so gehen", protestierte Edward. Er klang beinahe verletzt. „Wir müssen", sagte Cari mit fester Stimme. Edward hatte die Tür offen gelassen. Hinter ihm zuckten Blitze über den Himmel, unmittelbar gefolgt von dröhnendem Donner, und 109
es regnete immer noch in Strömen. Edward schwieg einen Moment und starrte sie nur an, ohne sich von der Stelle zu rühren. „Ihr könnt die Insel jetzt nicht verlassen", sagte er schließlich mit drohender Stimme. „Ich lade euch hiermit in aller Form zu unserem Fest ein." „Was?", ächzte Cari, die spürte, wie sich ihr Magen vor Angst verkrampfte. „Das Fest wird bald beginnen", schnarrte Edward. Er starrte sie unverwandt an und machte ein paar Schritte auf sie zu. Cari versuchte zurückzuweichen, aber sie stand bereits mit dem Rücken an der Wand. „Martin und ich können es kaum noch erwarten", sagte Edward, dessen seltsames Lächeln jetzt zurückgekehrt war. „Ratet mal, was es für ein Fest ist." „Bitte – wir wollen einfach nur weg von hier!", rief Cari, kurz davor, in Tränen auszubrechen. „Wir werden auch niemandem von Simon erzählen. Das verspreche ich Ihnen. Wir wollen nur nach Hause." „Ratet, was für ein Fest es ist!", wiederholte Edward, ohne auf Caris Bitte einzugehen. Doch gleich darauf platzte er atemlos heraus: „Ihr gebt auf? Nun gut, es ist ein Jagdfest!" Er lachte laut gackernd. „Und jetzt ratet mal, auf wen Martin und ich in dieser Saison Jagd machen." Wieder stieß er dieses unheimliche, meckernde Lachen aus. Cari durchfuhr ein eiskalter Schauer. „Nein!", schrie sie auf, als sie plötzlich wieder die vier präparierten Köpfe vor sich sah, die in dem Raum mit den Jagdtrophäen hingen. Ihr war klar, was Edward meinte. Und den Jungen auch. Sie wussten genau, von was für einer Art Jagdfest Edward sprach. Und sie hatten genau verstanden, dass sie die Beute waren. „Das ist ja verrückt!", rief Cari mit schriller Stimme. „Sie sind verrückt!" Die Worte sprudelten einfach so aus ihr heraus. Mit zornrotem Gesicht hob Edward seine Waffe und zielte auf sie. Cari schrie auf und versuchte, ihm auszuweichen. Aber sie konnte sich nirgendwo verstecken. „Das hättest du nicht sagen sollen", knurrte Edward wütend. „Immerhin habe ich euch zu einem Fest eingeladen. Ihr solltet mich nicht beleidigen." „Lassen Sie uns gehen!", forderte Eric.
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„Ich bin nicht verrückt", sagte Edward und ignorierte ihn. Mit erhobenem Gewehr ging er zwei Schritte auf Cari zu. „Nein ... bitte ...", rief Cari. Ohne nachzudenken, stürzte sie sich auf Edward und schlug den Lauf der Waffe beiseite. Das Gewehr ging mit einem lauten Knall los. Edward schrie auf, stolperte und taumelte rückwärts. Im Fallen schlug er mit dem Kopf gegen die Armlehne eines Liegestuhls. Cari und die beiden Jungen warteten nicht ab, bis er sich wieder aufgerappelt hatte. Sie ließen ihre Taschen zurück, rannten an ihm vorbei zur Tür und hinaus in den strömenden Regen.
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Kapitel 22 „Hier lang!", schrie Eric. Cari, die mit ihren Turnschuhen immer wieder auf dem nassen Sand ausrutschte, folgte ihm dicht auf den Fersen. „Beeil dich!", zischte sie Craig zu und kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit das Poolhaus erkennen zu können. Edward war immer noch nicht aufgetaucht. Sie rannten in den sicheren Wald und verlangsamten ihr Tempo nur wenig, als sie dem gewundenen Pfad zwischen den Bäumen folgten. Der Regen war inzwischen in ein leichtes Nieseln übergegangen, aber jedes Mal, wenn der Wind durch die Bäume fuhr, prasselte ein Schauer großer, kalter Tropfen auf sie nieder. „Wie Gewehrkugeln, die auf uns herabhageln", dachte Cari. In diesem Moment rissen die Wolken auf, und ein bleicher Mond erschien zwischen den Baumwipfeln. Sein fahles Licht tauchte den Wald in einen silbrigen, geisterhaften Schimmer, und feuchte Nebelfetzen waberten um sie herum. Die drei liefen noch ein Stück tiefer in den Wald hinein, bis der Pfad plötzlich endete. Vor ihnen ragten Dornensträucher bedrohlich in die Höhe und versperrten ihnen den Weg. „Wo wollen wir eigentlich hin?", wiederholte Craig mit einem leicht panischen Unterton in der Stimme. „Jetzt bleibt doch endlich mal stehen!" Sie hielten an und kauerten sich unter einer Kiefer mit weit ausladenden Zweigen zusammen. Cari merkte, dass der Boden hier trocken war. Das Geäst war offenbar so dicht, dass es den Regen abhielt. Keuchend rang sie nach Luft. „Kommt er?", fragte Craig, beide Hände gegen die raue Rinde des Baums gepresst. Sie lauschten angestrengt. Doch die einzigen Geräusche im Wald waren das unheimliche Geflüster des Windes und ihr eigener keuchender Atem. „Er wird uns hetzen und aufstöbern", platzte Cari heraus. „Wie Tiere." 112
Wieder sah sie die vier Köpfe im Trophäenraum vor sich, die Gesichter zu einer Maske des Entsetzens erstarrt. Ob sie wohl die Opfer von Edwards letztem Jagdfest waren? „Craig hat Recht", sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel ihres T-Shirts den Schweiß von der Stirn. „Wir brauchen einen Plan." „Wir müssen irgendwie von dieser Insel weg", sagte Craig, der sich mit ängstlichem Gesicht umblickte. „Das haben wir doch schon versucht", schnaubte Eric ungeduldig und zupfte an seinem Pferdeschwanz herum. Er schlug nach einer Mücke auf seinem Arm. „Ohne Boot können wir die Insel nicht verlassen." „Wir könnten doch ein Kanu aus Rinde bauen oder so", schlug Cari vor. „Haben die Indianer das nicht auch so gemacht?" „Tolle Idee", murmelte Eric und musste trotz seiner Angst grinsen. „Du hast echt einen schrägen Sinn für Humor." „Ich versuche nur, mich zusammenzureißen", sagte Cari. „Wir müssen irgendwie die Polizei verständigen", meinte Eric. „Willow Island ist nur zehn Minuten entfernt. Wenn wir doch nur ..." Seine Stimme wurde immer leiser, bis er schließlich ganz verstummte. „Aber alle Telefone sind oben im Hotel", erinnerte ihn Cari und erschlug eine Mücke auf ihrem Knie. „Dann müssen wir wohl dorthin zurück", sagte Eric trocken. „Das ist doch nicht dein Ernst!", rief Craig aus. „Und ob. Wir schleichen uns ins Hotel und rufen von dort aus die Polizei an." „Aber was ist, wenn Edward oder Martin ...", setzte Craig an. „Das ist so ziemlich der letzte Ort, wo sie nach uns suchen werden", unterbrach ihn Eric. „Da wäre ich mir nicht so sicher", murmelte Cari und rieb sich über den Mückenstich auf ihrem Knie, der langsam anschwoll. „Schließlich wissen wir nicht, wo Martin ist, oder?" „Wahrscheinlich sind sie beide hinter uns her, um uns zur Strecke zu bringen", sagte Craig mit zitternder Stimme. „Okay, kehren wir also um, schleichen uns ins Hotel und rufen die Polizei", sagte Eric. „Und dann müssen wir uns bloß noch verstecken, bis sie kommen." „Wo denn?", fragte Craig skeptisch. 113
„Ich weiß auch nicht. Im Hotel vielleicht", antwortete Eric ungeduldig. „Ich glaube, im Wald ist es sicherer", widersprach Craig. „Aber für wie lange?", fragte Eric. „Stimmt", sagte Cari. „Wir können uns nicht ewig verstecken. Wir müssen irgendwas unternehmen, um uns und Jan zu retten und von diesem schrecklichen Ort zu verschwinden. Wenn wir zum Hotel zurückgehen, haben wir wenigstens die Möglichkeit, jemanden anzurufen und Hilfe zu holen." Nachdem sie noch einige Minuten flüsternd weiterdiskutiert hatten, stimmten alle diesem Plan zu. „Auf dem Rückweg sollten wir lieber nicht auf dem Pfad gehen", sagte Cari, als sie mit schnellen Schritten in Richtung Hotel aufbrachen. Wieder ließ eine Windbö einen Tropfenhagel auf sie niederregnen. Und dann hörten sie den Gewehrschuss. Und sahen Edward, der direkt vor ihnen zwischen zwei niedrigen Bäumen stand. Die Jagdflinte auf sie gerichtet und bereit zum nächsten Schuss.
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Kapitel 23 Der zweite Schuss hallte von den Bäumen wider. Er schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Cari schaffte es irgendwie, einen Aufschrei zu unterdrücken. Sie duckte sich, ließ sich auf die Knie fallen und krabbelte mit ihren Freunden ins Unterholz. Ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln, sprangen sie nach wenigen Metern wieder auf und rannten los, rannten, so schnell sie konnten, und schlugen mit beiden Händen die Zweige beiseite, die ihnen den Weg versperrten. Noch ein Schuss. Dicht hinter ihnen. Gefolgt von lautem, rauem Gelächter – verrücktem Gelächter. „Hey, Craig und Eric – seht doch mal, wo wir sind!", rief Cari, die ihre gepresste, atemlose Stimme kaum wiedererkannte. Sie waren durch den Wald zum Meer gerannt. Hohe Wellen, deren Umrisse im Mondlicht golden glänzten, schlugen mit Wucht auf den von blauen Schatten überzogenen Strand. Die drei blieben stehen und starrten auf das Wasser. Der Strand war an dieser Stelle flach und sehr schmal. Es gab keine Dünen, hinter denen man sich hätte verstecken können. „Hier können wir nicht bleiben", sagte Cari. „Du hast Recht. Es ist zu ungeschützt", stimmte Eric ihr zu. Während sie dastanden und keuchend nach Luft schnappten, lauschten sie auf Edward und den nächsten Gewehrschuss. „Was jetzt?", fragte Craig, dem der Schweiß in Strömen über die Stirn lief. „Wir sollten uns an unseren Plan halten und zum Hotel zurückgehen", sagte Cari. „Das finde ich auch", meinte Eric, dessen T-Shirt völlig durchnässt war. „Hier draußen sind wir ein leichtes Ziel." Vorsichtig liefen sie weiter. Als sie am Poolhaus vorbeikamen, fiel Cari plötzlich auf, dass die Tür immer noch offen stand, aber das Licht jetzt aus war. Wie überall auf dem ganzen Gelände. Edward feierte seine Jagdfeste 115
anscheinend lieber im Dunkeln. Ein lautes Krachen ganz in ihrer Nähe ließ Cari leise aufschreien. Sie hatte das Gefühl, als würde ihre Brust gleich explodieren. Für einen Moment wurde alles um sie herum weiß, und sie rang mühsam nach Luft. „Es war nur ein Liegestuhl", dachte sie. „Nur ein Liegestuhl, der vom Wind umgeworfen worden ist." Alle drei waren neben dem Swimmingpool zur Salzsäule erstarrt und lauschten angestrengt. Hatte das laute Krachen die Aufmerksamkeit von Edward oder Martin auf sich gezogen? Sie warteten. Und horchten. Kurz darauf wurde der nächste Liegestuhl von dem heftigen Wind umgeweht. Aber im Hotel rührte sich nichts. Von ihren Jägern keine Spur. „Gehen wir." Eric machte ihnen ein Zeichen, ihm zu folgen. Cari holte tief Luft und huschte über die Terrasse zur Tür des Speisesaals. Ein paar Sekunden später waren sie in dem dunklen Saal. Aus irgendeinem Grund schien die Luft hier drinnen kühler zu sein. Leise schlichen sie an dem Gerüst und ihrer unvollendeten Arbeit vorbei auf die Doppeltür zu, die zur Hotelhalle führte. „Es ist niemand hier", flüsterte Craig, der direkt hinter Cari war. „Wahrscheinlich sind sie draußen im Wald", erwiderte Eric flüsternd. „Hoffen wir's", murmelte Cari und stellte fest, dass sie die Finger gekreuzt hatte. Schließlich hatten sie die Hotelhalle erreicht, und Craig flüsterte ihnen zu: „Wir können das Telefon am Empfang benutzen." Cari presste den Hörer ans Ohr. Es klickte ein paarmal. Als plötzlich das Freizeichen ertönte, stieß sie einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. „Es funktioniert", sagte sie zu Eric. „Schnell ...", drängte er, eine Hand auf ihre Schulter gelegt. „Lass dich mit der Polizei von Willow Island verbinden." Er ließ seinen Blick nervös durch die dunkle Hotelhalle schweifen. „Telefonvermittlung", meldete sich eine nasale Männerstimme. „Die Polizei auf Willow Island, bitte", sagte Cari mit zittriger Stimme.
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„Handelt es sich um einen Notfall?", fragte der Mann beinahe misstrauisch. „Ja", stieß Cari hervor. „Bitte beeilen Sie sich." „Einen Moment." Eine ganze Zeit lang herrschte Stille, dann klingelte es am anderen Ende. Während sie wartete, blickte Cari zum Haupteingang. „Wenn die Tür aufgeht und Edward reinkommt, ducke ich mich unter den Empfangstresen", dachte sie. Aber würde sie dort sicher sein? Nicht für lange wahrscheinlich ... „Polizei." Die Stimme war überraschend tief und schreckte Cari aus ihren Gedanken auf. „Äh, hallo ... wir brauchen Hilfe. Sofort!" „Beruhigen Sie sich, Miss. Was kann ich für Sie tun?" „Sie müssen einige Männer herschicken. Jemand macht Jagd auf uns. Wir sind hier gefangen und ..." Cari merkte, dass ihre Worte keinen Sinn ergaben. Vor lauter Angst konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen, geschweige denn, sich verständlich ausdrücken. „Wo sind Sie?", fragte die tiefe Stimme mit professioneller Ruhe. „Im ... im ... Hotel zum heulenden Wolf... auf Piney Island. Bitte - Sie müssen sofort kommen! Wir sind wirklich in Gefahr. Er wird uns alle töten!" „Zum heulenden Wolf?“ Es klang, als würde er sich langsam den Namen notieren. „Bitte beeilen Sie sich!", wiederholte Cari mit schriller, angstvoller Stimme. „Versuchen Sie, Ruhe zu bewahren. Wir werden in zwanzig Minuten da sein. Vielleicht auch schneller." Er legte auf. Die Verbindung war unterbrochen. „Sie kommen", sagte Cari zu den Jungen. „Und wie lange werden sie brauchen?", fragte Craig aufgeregt. „Zwanzig Minuten", antwortete Cari. „Vielleicht weniger." „Wir müssen es also nur schaffen, uns zwanzig Minuten vor Edward und Martin zu verstecken", sagte Eric, dem die Erleichterung deutlich anzuhören war. „Dann sind wir in Sicherheit und kommen endlich von dieser verdammten Insel runter." 117
„Wo sollen wir uns denn verstecken?", fragte Craig. Doch bevor die beiden anderen darauf antworten konnten, flammten die Lichter in der Hotelhalle auf. Die Tür zum Büro am anderen Ende des langen Empfangstresens öffnete sich und eine lächelnde Gestalt trat heraus. „Nein!", kreischte Cari. Die Jungen schnappten erschrocken nach Luft. „Das muss ein Geist sein", schoss es Cari durch den Kopf. Denn am anderen Ende des Empfangstresens stand Simon Fear.
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Kapitel 24 Simon, wie üblich im weißen Anzug, ein rotes Halstuch lässig um den Hals geschlungen, blinzelte in dem hellen Licht. Er machte einen verwirrten Eindruck. „Er ist genauso erschrocken, uns zu sehen, wie wir ihn", dachte Cari. Ein paar Sekunden sagte niemand ein Wort. „Simon! Sie sind am Leben!", rief Cari schließlich und durchbrach die Stille. „Was?" Er griff Halt suchend nach dem Empfangstresen und wirkte noch verwirrter. „Am Leben?" Cari und die Jungen stürmten aufgeregt auf ihn zu. „Wir sind ja so froh, Sie zu sehen!", stieß sie hervor. Simon war ihr einziger Freund hier im Hotel. Der Einzige, der sie freundlich willkommen geheißen hatte, nett zu ihnen gewesen war und nicht versucht hatte, ihnen einen Schrecken einzujagen oder sie wieder loszuwerden. Und jetzt stand er vor ihnen – lebendig. Zurückgekehrt von den Toten. „Ich ... ich hatte nicht erwartet, euch hier zu treffen", stammelte Simon und zupfte nervös an seinem weißen Schnurrbart. „Wir haben auch nicht erwartet, Sie zu treffen!", rief Cari. Die Jungen stießen ein nervöses Lachen aus. „Geht es Ihnen gut?", fragte Craig mit besorgter Stimme. „Bestens, danke." Die Frage schien ihn zu überraschen. „Warum sollte es mir nicht gut gehen? Was ist hier eigentlich los?" „Na ja ...", begann Craig. Aber Simon unterbrach ihn mit weiteren Fragen. „Warum seid ihr so spät überhaupt noch auf? Warum seid ihr nicht in euren Zimmern? Seht euch doch nur mal an. Ihr seid ja völlig durchnässt. Was um alles in der Welt habt ihr bloß gemacht?" „Sie müssen uns helfen", platzte Cari heraus, unfähig, ihre Angst zu verbergen. „Wir haben schon die Polizei gerufen, aber ..." Simon betrachtete sie misstrauisch. „Die Polizei?" „Es ist wegen Edward. Wegen Edward und Martin", sagte Cari. 119
„Was? Wo sind sie überhaupt?", fragte Simon. „Was führt mein Herr Bruder denn nun wieder im Schilde?" „Jan ist verschwunden", mischte Eric sich ein. „Wir können sie nirgendwo finden. Und Martin und Edward machen Jagd auf uns. Edward hat uns im Wald verfolgt und auf uns geschossen." Der verwirrte Ausdruck auf Simons Gesicht verschwand langsam. Er rieb sich nachdenklich das Kinn und schaute Cari durchdringend an. „Ist das etwa schon wieder eines seiner Jagdfeste?", wollte er wissen. „Ja. So hat er es jedenfalls genannt", antwortete Cari. „Können Sie uns nicht helfen?" „Sie müssen uns helfen!", rief Craig flehentlich. „Sie müssen die beiden aufhalten!" „Sie aufhalten?" Ein merkwürdiges Lächeln huschte über Simons Gesicht. Er trat einen Schritt zurück und musterte sie spöttisch. „Ja. Edward und Martin wollen uns töten. Sie meinen es ernst!", beteuerte Cari. „Aber vielleicht können Sie ..." Sie brach ab, als sie die Veränderung bemerkte, die mit Simon vor sich ging. Was hatte dieses eigenartige, kalte Grinsen zu bedeuten? Es verzerrte seine Gesichtszüge und ließ ihn ganz fremd aussehen. „Sie aufhalten?" Das Grinsen verschwand und machte einer drohenden Miene Platz. „Warum sollte ich sie aufhalten?" Er griff mit beiden Händen in sein weißes Haar und zerzauste es, bis es nach allen Seiten wild abstand. Dann riss er sich das rote Tuch vom Hals und warf es zu Boden. Cari und ihre Freunde sahen ungläubig zu, wie Simon den obersten Hemdknopf öffnete. „Hey, was ist los? Was machen Sie denn da?", rief Craig. Ohne ihn zu beachten, zog Simon die weiße Anzugjacke aus und warf sie dann achtlos über den Empfangstresen. Entsetzt und verwirrt sahen sie zu, wie sich seine Haltung veränderte. Seine Schultern sackten nach vorne und er stützte sich gebückt auf den Tresen. „Simon, bitte sagen Sie uns doch, was los ist!", drängte Cari und fragte sich erstaunt, was er da aus seiner Hosentasche zog.
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Sie brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass es eine schwarze Augenklappe war. Simons Hände zitterten vor Aufregung, als er sie über dem rechten Auge befestigte. „Ja! Ja! Eine Jagdgesellschaft!", rief er mit Edwards Stimme. „Ich kann doch unmöglich ein Jagdfest absagen!" Cari keuchte laut auf. Keiner von ihnen bewegte sich. Wie gelähmt vor Entsetzen, standen sie da und starrten die grinsende Gestalt vor ihnen an. Alle drei hatten die verblüffend schnelle Verwandlung mit eigenen Augen gesehen. Und jetzt wurde ihnen mit einem Schlag klar, dass Simon und Edward dieselbe Person waren!
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Kapitel 25 „Die Jagdgesellschaft absagen?" Jetzt war es Edward, der ihnen gegenüberstand. Der freundliche, kultivierte Simon Fear war völlig verschwunden. Edward machte einen Schritt auf sie zu, warf den Kopf zurück und lachte. „Ihr bittet mich, die Jagd zu stoppen?" „Simon ... ich meine, Edward ... bitte!", flehte Cari. Edward drehte sich um und ging mit raschen Schritten zu einem der bequemen Sessel gegenüber vom Empfangstresen. Er beugte sich hinunter und griff nach seinem Gewehr, das er an die Seite gelehnt hatte. „Jetzt hat er uns", dachte Cari. „Es ist aus." Edward hob die Flinte hoch, betrachtete sie und strich mit der freien Hand über den dunklen Holzschaft. Verzweifelt suchte Cari den Raum nach einer Fluchtmöglichkeit ab. Sie und ihre Freunde standen mit dem Rücken zum Empfangstresen. Die Türen zum Speisesaal waren offen, aber sie mussten an Edward vorbei, um dorthin zu gelangen. Der Haupteingang lag auf der anderen Seite der Hotelhalle und war nicht nur noch weiter entfernt, sondern wahrscheinlich auch abgeschlossen. „Wir sitzen in der Falle", dachte sie. „Das Jagdfest ist zu Ende." Wieder sah sie die vier Köpfe im Trophäenraum vor sich. Bald würden drei neue dazukommen. Sie schüttelte kräftig den Kopf, um das entsetzliche Bild zu vertreiben. Edward hob das Gewehr. „Sie werden uns ... Sie werden uns doch nicht erschießen", begann Cari. Er senkte seine Waffe. „Oh. Ist es das, was euch Kopfzerbrechen bereitet?" Er murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und öffnete ruckartig noch ein paar weitere Knöpfe an seinem Hemd. Dann kratzte er sich mit einer Hand die Brust, während er sich mit der anderen auf das Gewehr stützte und sie mit seinem einen Auge unverwandt anstarrte.
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„Keine Angst", sagte er und schüttelte den Kopf. „Ich werde euch doch nicht hier in der Hotelhalle erschießen. Das wäre nicht sehr sportlich, oder?" „Gott sei Dank!", stöhnte Cari auf. „Ich gebe euch eine Stunde Vorsprung", fügte Edward hinzu. Cari starrte ihn an. „Sie tun was!" „Ich gebe euch eine Stunde Vorsprung", wiederholte Edward und schaute auf seine Armbanduhr. „Wenn die Stunde um ist, werde ich euch verfolgen." „Aber ...", setzte Cari an. „Das ist nur fair", sagte Edward unbekümmert. „Martin und ich sind nämlich zwei echte Sportsmänner." „Wo ist Martin eigentlich?", fragte Cari, den Blick auf die Eingangstür gerichtet. Wo blieb denn nur die Polizei? Edward schaute wieder auf die Uhr. Dann lief sein Gesicht ohne Vorwarnung vor Wut rot an, und er schrie aus voller Kehle: „Nun rennt schon! Die Zeit läuft!" „Edward ... bitte ...", jammerte Cari und wich vor ihm zurück. In seiner blinden Wut setzte Edward das Gewehr an die Schulter, fuhr herum und feuerte zweimal hintereinander auf die Wand der Hotelhalle. Der Knall war ohrenbetäubend. „Die Jagd ist eröffnet!", brüllte er, während weißer Rauch aus dem Doppellauf seiner Flinte aufstieg. Cari und die beiden Jungen wichen vom Empfangstresen zurück und rannten an dem schreienden, wild gestikulierenden Edward vorbei durch die offenen Türen in den Speisesaal.
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Kapitel 26 Wieder auf der Flucht, wieder rannten sie um ihr Leben. Als Cari in den Speisesaal stolperte, umgab sie tiefe Dunkelheit. Sie hatte das Gefühl zu ersticken - an der schweren, feuchten Luft und der beklemmenden Angst, vor der sie nicht davonlaufen konnte. Die drei blieben mitten im Raum stehen. Durch die Fenster konnten sie den sternenlosen Nachthimmel sehen, der beinahe so dunkel war wie der Speisesaal. Sollten sie wieder nach draußen gehen? Zurück in den Wald? Dort gehörte gejagtes Wild doch hin, oder nicht? Diese Gedanken gingen Cari durch den Kopf, und ihre panische Angst mischte sich mit Bitterkeit. „Wohin jetzt?", flüsterte Craig. Cari blickte zur Tür, um zu sehen, ob Edward ihnen folgte. Aber von ihm war nichts zu sehen. Noch nicht. „Was ist mit dem Geheimgang?", fragte Eric. „Ja", sagte Cari hastig. „Dort können wir uns verstecken, bis die Polizei kommt." Die Polizei. Wo blieb sie nur? Seit sie angerufen hatte, waren inzwischen bestimmt mehr als zwanzig Minuten vergangen. „Wahrscheinlich ist es im Geheimgang am sichersten", krächzte Craig, der total verängstigt klang. Angetrieben von ihrer Angst, rannten sie durch die Dunkelheit. Cari schlüpfe als Erste unter dem Gerüst hindurch und griff nach der Tür. „Beeilt euch!", drängte sie. „Wenn Edward oder Martin uns sehen..." Sie beendete ihren Satz nicht. Ein knarrendes Geräusch, das von der anderen Seite des Raums kam, ließ alle drei erstarren. War Edward schon hinter ihnen her? Fieberhaft versuchte Cari mit ihren Blicken die Dunkelheit zu durchdringen. Nachdem ihre Augen sich ein wenig auf die Finsternis eingestellt hatten, konnte sie die Umrisse von Tischen und Stühlen erkennen. Sonst war nichts zu sehen. 124
„Das war sicher nur wieder der Boden, der geknarrt hat", flüsterte sie. Die drei schlüpften schnell in den Gang und zogen die Tür vorsichtig hinter sich zu. Im Tunnel war es heiß und feucht. Ein durchdringender Geruch nach Schimmel und Fäulnis lag in der Luft. „Können wir die Polizei von hier aus überhaupt hören?", fragte Craig. „Mist, wahrscheinlich nicht", flüsterte Cari. „Wir brauchen eine Taschenlampe", meinte Craig, als sie den langen, schmalen Tunnel entlanggingen und sich dabei dicht an der Wand hielten. „Vielleicht solltest du rauf in dein Zimmer laufen und eine holen", spottete Cari. Eng an die Wand gepresst und ohne ein Wort zu wechseln, folgten sie dem Tunnel und lauschten auf die Schritte von Martin oder Edward. Jeden Atemzug, jedes noch so kleine Geräusch nahm Cari überdeutlich wahr, als hätte jemand einen Lautstärkeregler in ihrem Kopf hochgedreht. „Hey – hier ist eine Tür – und sie geht auf!", hörte sie Eric plötzlich mit einem lauten Flüstern sagen. Vorsichtig betraten sie den Raum, den Eric entdeckt hatte. Als er probeweise den Lichtschalter neben der Tür anknipste, glimmte eine schwache gelbe Glühbirne auf, die von der Decke hing. Der Raum war klein, aber nicht so kahl wie der, in dem sie den Totenkopf gefunden hatten. Caris Blick fiel auf ein Doppelbett, einen Nachttisch, eine Frisierkommode mit zwei Schubladen und - ein Telefon! „Seht doch mal!", rief sie aufgeregt. „Ist es angeschlossen?", fragte Craig, der ihrem Blick gefolgt war. Cari rannte hin und hob gespannt den Hörer ab. „Die Leitung ist tot", sagte sie frustriert. „So tot wie wir", fügte sie im Stillen hinzu. „Natürlich ist sie das", schnaubte Craig. „Die Telefone des Hotels laufen doch alle über die Zentrale, wisst ihr nicht mehr?" „Was?", rief Eric.
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In diesem Moment wurde allen dreien gleichzeitig klar, wie dumm sie gewesen waren. „Natürlich! Die Telefonzentrale im Büro", sagte Eric tonlos. „Alle Anrufe laufen über diese Schaltstelle", murmelte Cari, den Hörer immer noch in der Hand. „Unser Gespräch mit der Polizei in Willow Island eingeschlossen." Sie legte den Hörer auf und ließ sich mutlos aufs Bett sinken. „Erinnert ihr euch noch an Simons merkwürdiges Lächeln, als er aus dem Büro gekommen ist?", fragte Craig mit bedrückter Stimme. „Jetzt hab ich's kapiert", seufzte Cari und schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich habe gar nicht mit der Polizei gesprochen, sondern die ganze Zeit mit Simon telefoniert." „Das heißt, es wird niemand kommen, um uns zu retten", sagte Eric und ließ sich neben Cari aufs Bett plumpsen. „Wir sind ganz auf uns gestellt", flüsterte Craig und schaute nervös zur Tür. „Tante Rose", murmelte Cari und starrte an die Decke. „Was ist mit ihr?", fragte Eric. „Jan hat doch so oft versucht, sie zu erreichen. Da muss Simon auch schon in der Telefonzentrale gesessen haben. Ich wette, er hat die Anrufe zu ihrer Tante nicht durchgestellt. Deswegen haben Rose und ihre Schwester sich auch nie gemeldet. Er wollte Rose nicht hier haben. Wahrscheinlich war er froh, dass sie krank geworden ist. Denn dadurch konnte sie ihm bei ... bei seinem Jagdfest nicht dazwischenfunken." „Lasst uns weitergehen", wurde sie von Eric unterbrochen, der im Türrahmen stand und mit den Augen den Flur absuchte. „Ich habe kein gutes Gefühl dabei, dass wir immer noch so nah am Speisesaal sind." „Wo sollen wir denn hin?", fragte Cari niedergeschlagen. „Vielleicht schaffen wir es bis runter zum Strand", antwortete Eric. „Das haben wir doch schon mal gemacht." „Uns bleibt ja wohl keine andere Wahl", seufzte Cari. Sie machte das Licht aus, als sie hinter den beiden das Zimmer verließ. Der Tunnel kam ihr jetzt noch heißer und dunkler vor. Ein säuerlicher Fäulnisgeruch lag in der Luft. „Schaut mal...", flüsterte Eric und zeigte nach vorne. 126
Cari sah es sofort – ein schmaler Lichtstreifen, der unter einer geschlossenen Tür in einigen Metern Entfernung hervorsickerte. Sie blieben wie angewurzelt stehen und starrten die dünne, gelbe Linie an. Cari hörte Geräusche von der anderen Seite. Schritte. Dann ein Husten. „Es ist der Geist!", rief sie, die Augen vor Angst weit aufgerissen.
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Kapitel 27 „Es ist der Geist", wiederholte Cari atemlos. Ihr fiel das heisere Flüstern wieder ein, das ihr den Gang hinunter gefolgt war, die unheimliche Stimme. Die drei Freunde starrten den schmalen Lichtstreifen unter der Tür an. „Geister husten doch nicht", sagte Craig, dem es nicht gelang, die Furcht in seiner Stimme zu verbergen. „Vielleicht ist es Martin", rätselte Eric. „Aber es klang wie das Husten einer Frau", widersprach Craig flüsternd. „Die Frau in Simons Zimmer!", rief Eric. „Worauf warten wir noch, öffnen wir die Tür!" Er marschierte entschlossen los. „Halt, Eric – warte!", rief Cari alarmiert. „Wir müssen zusammenbleiben." Aber Eric ignorierte sie und ging weiter. Craig und Cari folgten ihm widerstrebend. Plötzlich hörte sie einen Schrei und blieb wie erstarrt stehen. „Eric?" Cari wirbelte herum. Er stand nicht vor der Tür. Waren sie irgendwie an ihm vorbeigelaufen? „Eric?", rief sie noch einmal. Cari schnappte erschrocken nach Luft, als sie erneut Schritte auf der anderen Seite der Tür hörte. „Das gefällt mir nicht", flüsterte Craig, der direkt hinter ihr war. „Wo ist Eric denn bloß?" Cari griff Halt suchend nach seinem Arm. „Er ... er ist verschwunden", stieß sie mit gepresster Stimme hervor.
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Kapitel 28 „Er hat sich in Luft aufgelöst", sagte Craig mit Panik in der Stimme. „Na los, wir müssen irgendwas tun!" „Aber was ...", begann Cari, wurde jedoch von einer vertrauten Stimme unterbrochen. „Helft mir!" „Eric?", rief Cari verblüfft. „Holt mich hier raus!" Ja, es war Erics Stimme. Es klang, als würde sie aus dem Boden kommen. „Wo bist du?", fragte Cari. „Seid vorsichtig. Da ist ein großes Loch im Boden", rief Eric warnend. „So eine Art Falle." Cari und Craig drehten sich um und entdeckten eine schmale Grube, die sich dicht an der Wand befand. „Scheint so eine Art Belüftungsöffnung zu sein", meinte Craig, der sich hingekniet hatte. „Jemand hat den Deckel offen gelassen." „Ist mir doch egal, was es ist", knurrte Eric. „Holt mich gefälligst hier raus!" Cari und Craig beugten sich über die Grube, packten seine Hände und zogen kräftig. Kurz darauf stand er wieder neben ihnen. „Hey, Kleiner, du bist ganz schön schwer", brummelte Craig. Eric wollte gerade etwas erwidern, als eine Stimme aus dem erleuchteten Raum drang. „Ist da draußen jemand?" Es war die Stimme einer Frau, die gedämpft und weit entfernt klang, obwohl sie direkt hinter der geschlossenen Tür hervorkam. „Ja. Wir sind hier!", rief Cari. „Bitte, helft uns!", rief die Stimme. Mit einigen schnellen Schritten war Eric an der Tür und rüttelte an der Klinke. „Es ist abgeschlossen." Craig stellte sich neben ihn und drückte mit beiden Händen gegen die Tür. Sie schien ein wenig nachzugeben. „Wir könnten sie aufbrechen", meinte Craig. 129
Eric warf ihm einen zweifelnden Blick zu. „Das Holz ist feucht und morsch. Wenn wir uns mit der Schulter dagegenwerfen, müsste sie eigentlich aufspringen", sagte Craig. Eric blickte über die Schulter zu Cari. „Na, dann bereite dich schon mal darauf vor, deinem Geist zu begegnen", sagte er in scherzhaftem Ton. Eric und Craig nahmen ein paar Schritte Anlauf und warfen sich dann gleichzeitig mit voller Wucht gegen die Tür, die sofort nachgab. Alle drei schrien überrascht auf, als sie sahen, wer sich in dem winzigen Raum befand.
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Kapitel 29 Jan stürmte auf sie zu, schlang ihre Arme um Cari und erdrückte sie fast. „Jan! Du bist hier?", rief Cari. „Ich glaub's einfach nicht!" Dann bemerkte sie eine Bewegung im Hintergrund des kleinen Raums. Eine völlig überraschte und glückliche Tante Rose trat aus dem Schatten. „Rose! Sie sind auch hier?" „Wie habt ihr uns bloß gefunden?", rief Jan, die vor Erleichterung strahlte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. „Die Frage ist ja wohl eher, was ihr hier macht", meinte Eric, der genauso überrascht und durcheinander aussah wie alle anderen im Raum. „Das ist eine ziemlich lange Geschichte", sagte Rose kopfschüttelnd und umarmte ihre Retter einen nach dem anderen. „Wann sind Sie denn auf die Insel gekommen?", fragte Cari. „Einen Tag nach euch", antwortete Rose, während sie versuchte, ihr Haar zu glätten, das offensichtlich längere Zeit nicht gekämmt worden war. „Mir ging es schon wieder viel besser, also bin ich mit dem Motorboot zur Insel gefahren. Simon hat mich am Anleger abgeholt und zum Hotel gebracht. Aber dann ... dann hat er ..." „Er hat sie gezwungen, in den Tunnel zu gehen, und sie in diesem Zimmer eingesperrt", sprang Jan ein, die merkte, dass ihre Tante stockte. „Nur, dass es gar nicht Simon war, sondern Edward." „Ich dachte, es wäre Simon, aber ich hatte ihn natürlich lange nicht gesehen", sagte Rose unsicher. „Und ich wusste auch gar nicht, dass er einen Bruder hat. Seltsam eigentlich. Er und ich sind nämlich entfernte Verwandte." „Das wissen wir schon", sagte Eric ungeduldig und schaute über die Schulter zur Tür. „Und das bedeutet, dass ich ebenfalls mit den Fears verwandt bin", erklärte Jan. „Das wissen wir auch", meinte Eric kurz angebunden. „Hört mal, es ist eine Menge passiert. Simon und Edward sind ein und dieselbe 131
Person." „Was?", rief Jan und legte ihrer Tante die Hand auf die Schulter, als ob sie sich auf sie stützen wollte. „Er hat eine gespaltene Persönlichkeit", erklärte Cari. „Hat er mich deswegen hier unten eingesperrt?", fragte Rose. „Wir haben jetzt wirklich nicht die Zeit, Ihnen alles zu erklären", sagte Eric nervös. „Und Sie sind tatsächlich die ganze Zeit hier unten gewesen?", wollte Craig von Rose wissen. „Sie waren also nicht die Frau in Simons Zimmer, die sich mit Edward über das Fest gestritten hat?" „Welche Frau? Und welches Fest?" Rose wirkte jetzt noch verwirrter. „Jan, wie kommt es eigentlich, dass du auch hier eingesperrt bist?", fragte Cari. „Ich ... äh ... Edward hat mich beobachtet. Im Geheimgang. Und weil er Angst hatte, dass ich Rose entdecken könnte, ist er spät in der Nacht in mein Zimmer gekommen, hat mich gepackt, mich zu diesem Raum geschleppt und mich hier zusammen mit ihr eingesperrt." „Was hast du denn im Geheimgang gemacht?", wollte Cari wissen. Jans Gesicht lief knallrot an. Sie sah plötzlich schrecklich verlegen aus. „Ich ... äh ... ich glaube, ich muss mich bei euch entschuldigen, Leute", sagte sie leise. Sie warteten gespannt auf ihre Erklärung. „Also, das war so", begann Jan. „Ich wusste vor euch von dem Tunnel. Am Abend zuvor hatte ich nämlich einen anderen Eingang gefunden." „Aber warum hast du uns nichts davon erzählt?", unterbrach Cari sie. „Ich wollte euch einen Schreck einjagen", gab Jan zu. „Ihr wisst schon – der Totenkopf mit dem klebrigen Protoplasma in dem kleinen Raum." „Was? Du warst das?" Jan nickte beschämt. „Ich habe den Totenkopf im Tunnel gefunden und wollte euch einen kleinen Streich spielen. Und als wir dann zufällig auf den anderen Eingang gestoßen sind, hat es mich irgendwie gepackt. Ich hab mir auch die Sache mit den Geistern ausgedacht. An dem Abend, als wir unser Picknick am Strand hatten, habe ich nur so 132
getan, als wäre mir ein Geist erschienen, und ich war auch diejenige, die Cari durch den Flur gefolgt ist und ihren Namen geflüstert hat. Nicht zu vergessen, das klebrige Zeug auf ihrer Türklinke." Jan trat vor und umarmte Cari noch einmal. „Es tut mir echt Leid. Das war total blöd von mir." „Aber warum?", fragte Cari. „Warum hast du das alles getan? Ich verstehe das nicht, Jan." Jan wich ihrem Blick aus. „Ich wollte doch nur, dass ihr mir das mit den Geistern glaubt. Ich hatte es so satt, dass ihr die ganze Zeit über mich gelacht und mich damit aufgezogen habt. Ihr habt immer so cool getan, aber ich war mir hundertprozentig sicher, dass ich euch vom Gegenteil überzeugen konnte." Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Und eine Zeit lang habt ihr es mir auch abgenommen. Gebt's zu." „Kommt endlich, Leute", drängelte Eric, der schon an der Tür stand. „Wir müssen von hier verschwinden. Das Aufbrechen der Tür hat ganz schön Lärm gemacht. Wenn Edward oder Martin uns gehört haben, werden sie jeden Moment hier sein." „Ja, wir müssen runter zum Strand", stimmt Cari ihm zu. „Nichts lieber als das. Ich kann's kaum erwarten, aus diesem stickigen, kleinen Raum rauszukommen", sagte Rose und machte ein paar Schritte in Richtung Tür. Dann wurde sie plötzlich ganz blass und sank zu Boden. Jan konnte sie gerade noch auffangen. „Tante Rose?", rief sie besorgt. „Wahrscheinlich ist sie vor Hunger umgekippt", sagte Jan. „Edward hat uns nur eine Mahlzeit am Tag gebracht." „So wird sie nie den ganzen Weg durch den Tunnel schaffen", meinte Cari stirnrunzelnd. „Wir müssen ihr etwas zu essen besorgen." „Dann gehen wir eben zur Küche zurück", seufzte Craig und stiefelte zur Tür. „Aber wenn Martin oder Edward ...", setzte Eric an. „Das müssen wir riskieren", unterbrach ihn Jan. „Wir schnappen uns nur schnell etwas zu essen und verschwinden dann durch den Hintereingang." Zusammen mit Rose, die von den beiden Mädchen gestützt wurde, tasteten sie sich schnell, aber vorsichtig durch den dunklen Tunnel zurück. 133
„Wir werden uns in dieser Dunkelheit noch verirren", dachte Cari, während sie Rose stützte. Aber zu ihrer Überraschung tauchte die Tür, die zum Speisesaal führte, nach kurzer Zeit auf. Eric öffnete sie einen Spalt weit und lauschte. „Niemand da", flüsterte er. „Kommt." Sie machten die Tür gerade so weit auf, das s sie hindurchschlüpfen konnten, und schlichen lautlos an der Wand des Speisesaals entlang bis zur Küche. „Und jetzt?", flüsterte Craig. „Es ist zu dunkel hier. Wir müssen ein bisschen Licht machen", flüsterte Cari zurück. Es dauerte eine Weile, bis Eric die Lichtschalter gefunden und eine der langen Neonröhren angeknipst hatte. Die Küche war sauber und aufgeräumt. Die Arbeitsflächen aus rostfreiem Stahl glänzten, und über dem riesigen Herd hingen Kupferpfannen in allen möglichen Größen. Caris Blick war auf die Küchentür gerichtet. Ob Martin und Simon jetzt wohl im Wald waren, um sie zu jagen? Wenn ja, waren sie hier für eine Weile sicher. Aber wenn die beiden zurückkamen, würden sie das Licht in der Küche sehen. Und dann ... Was dann passieren würde, wollte Cari sich lieber gar nicht vorstellen. Cari und Jan führten Rose zu einem schmalen, rechteckigen Tisch an der Rückwand der Küche, an dem sonst vermutlich das Personal aß. Nachdem sie sich versichert hatte, dass Rose bequem saß, eilte Cari zum Kühlschrank. „Wie war's mit Tunfischsalat?", fragte sie und nahm eine große Schüssel heraus. „Danke, du bist ein Schatz", sagte Rose, die immer noch blass und abgespannt aussah, dankbar. Cari trug die Schüssel zum Tisch, stellte sie vor Rose hin und holte ihr eine Gabel. Rose begann, hungrig zu essen. Cari und ihre Freunde standen wartend daneben. Während sie ihr zusahen, horchten sie auf jedes Geräusch aus dem Speisesaal.
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„Wir müssen hier raus, hier raus, hier raus." Die Worte hallten die ganze Zeit in Caris Kopf wider. Nach ein paar Minuten legte Rose die Gabel weg. Sie wirkte schon etwas kräftiger und hatte bereits wieder ein bisschen Farbe im Gesicht. „Könntet ihr mir jetzt bitte mal erklären, was hier vor sich geht?", bat sie. Cari wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, aber ihr blieb vor Schreck das Wort im Hals stecken. Entsetzt starrte sie zur Tür. Als die anderen ihrem Blick folgten, sahen sie, wie Martin die Küche betrat.
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Kapitel 30 „Nein! Verschwinden Sie!", schrie Cari, ohne dass es ihr bewusst wurde. Martin, dessen schwarzes Haar seinen Kopf wie ein zerzauster Heiligenschein einrahmte, starrte sie drohend an. „Bitte!", rief Cari. „Lassen Sie uns gehen!" Martins Miene wurde weicher. Obwohl er Cari immer noch anstarrte, wirkte er plötzlich eher verwirrt als bedrohlich. Als sein Blick auf Rose fiel, weiteten sich seine grauen Augen ungläubig. „Rose, sind Sie das? Was machen Sie denn hier?", rief er. „Martin, ich konnte es kaum glauben, als ich hörte, dass sie immer noch bei Simon sind", sagte Rose. „Was geht hier vor? Warum hat er mich eingeschlossen? Und warum haben die Kinder so schreckliche Angst?" Martin seufzte. Sein ganzer Körper schien zu schrumpfen, und es sah aus, als würde er gleich zusammenbrechen. Zu ihrer großen Erleichterung bemerkte Cari, dass er keine Waffe trug. „Simon hat sich nicht mehr ganz unter Kontrolle", sagte er, zuckte mit den Schultern und hob mit einer resignierten Geste die Hände. „Nicht mehr ganz unter Kontrolle? Das ist ja wohl leicht untertrieben! Er hat mich völlig ungepflegt und verwahrlost am Anleger empfangen. Und dann hat er mich hier in einem stinkenden, kleinen Raum in einem dunklen Tunnel eingesperrt!" Martin schüttelte den Kopf. „Das tut mir wirklich Leid, davon wusste ich nichts. Das müssen Sie mir glauben." Hastig durchquerte er die Küche, nahm ihre Hand und drückte sie. Er wirkte aufrichtig betroffen. „Was geht hier eigentlich vor?", fragte sich Cari, die die Szene angespannt beobachtete – immer noch voller Angst vor Martin und bereit, jeden Moment loszurennen. „Wir haben keinen Grund, ihm zu trauen", dachte sie. „Warum ist Rose bloß so gutgläubig?"
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„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er Sie gefangen gehalten hat", sagte Martin und schüttelte traurig den Kopf. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Nun ja, ich fürchte, ich kann es mir doch vorstellen." Er ließ Rose' Hand los und sank kraftlos auf eine Küchenbank. Wie er in seinem schwarzen Anzug so zusammengesunken dasaß, erinnerte er Cari irgendwie an einen platten Reifen. Trotz Martins reuevollem Anblick ertappte Cari sich dabei, dass sie sich unauffällig in Richtung Küchentür bewegte. Sie schaute zu Eric hinüber, der mitten im Raum neben Jan und Craig stand. Er hatte die Hände tief in die Taschen geschoben und beäugte Martin misstrauisch. „Sie kennen Simon doch besser als jeder andere", sagte Rose gerade. „Über dreißig Jahre", bestätigte Martin mit erstickter Stimme. „So lange bin ich jetzt schon bei der Familie Fear beschäftigt. Die letzten fünfzehn Jahre habe ich ausschließlich für Simon gearbeitet. Manchmal ist er für mich mehr ein Bruder als ein Arbeitgeber gewesen." Er seufzte und fügte dann schnell hinzu: „Ein sehr kranker Bruder." „Wo ist er jetzt?", fragte Rose vorsichtig. „Draußen im Wald, glaube ich", antwortete Martin und warf Cari einen kurzen Seitenblick zu. „Im Wald?", fragte Rose. „Mitten in der Nacht?" „Ich dachte, ich hätte Simon im Griff, sagte Martin traurig, ohne auf Rose' Fragen einzugehen. Die Hände hatte er nervös vor der Brust zusammengekrampft. „Aber ich habe mich geirrt." Er schwieg eine Weile, ganz in Gedanken versunken. Dann fuhr er mit seinem Bericht fort. „Ich dachte, Simon würde sich wieder erholen. Er war völlig begeistert von der Aussicht, das Hotel zu renovieren. Außerdem geht er regelmäßig zu einem Psychiater auf Cape Cod, und ich nahm an, er würde gute Fortschritte machen. Aber so, wie es aussieht, ist es eher schlimmer geworden." „Als ich Simon das letzte Mal gesehen habe, war er völlig normal", sagte Rose. „Ich hätte doch niemals vorgeschlagen herzukommen, wenn ich geahnt hätte ..." „Von dieser Vereinbarung wusste ich nichts", unterbrach Martin sie. „Und ich habe getan, was ich konnte, um die vier dazu zu bewegen, 137
die Insel wieder zu verlassen." Er sah Jan an und sprach dann weiter. „Ich habe beobachtet, wie sie in den Tunneln des Geheimgangs herumgeschnüffelt hat. Dadurch bin ich auf die Idee gekommen, die Kinder für eine Weile dort drinnen einzusperren. Ich dachte, das würde ihnen einen solchen Schrecken einjagen, dass sie verschwinden würden. Dass Sie auch dort unten waren, hätte ich mir nie träumen lassen, Rose!" Martin seufzte und schüttelte traurig den Kopf. „Das geht nun schon seit Gretas Tod so", sagte er mit leiser Stimme. „Simon ist von dem Gedanken besessen, Menschen zu jagen. Zuerst dachte ich, es wäre einer seiner makabren Witze. Er hatte schon immer einen sehr seltsamen Sinn für Humor. Aber seine Jagdbesessenheit war beim besten Willen kein Scherz. Und ich habe dummerweise auch noch mitgemacht. Sogar als er die Wachsköpfe für seinen Trophäenraum gekauft hat. Ich dachte, es wäre alles nur ein Spiel. Krankhaft ... das ist wirklich krankhaft." Cari stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Menschenköpfe an der Wand waren also nur aus Wachs. Doch dann ging ihr sofort etwas anderes durch den Kopf. „Wir sollten seine erste richtige Beute sein. Seine ersten echten Trophäen." „Warum ist Simon denn so besessen von der Jagd?", fragte Rose. „Sie wissen sicherlich, dass Greta vor einer Weile bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen ist", sagte Martin und sprach dabei so leise, dass Cari sich anstrengen musste, um ihn zu verstehen. „Seitdem geht das so. Nachdem Greta getötet wurde, hat Simon den Verstand verloren. Man darf nicht vergessen, dass sie erst kurze Zeit verheiratet waren. Der Verlust war einfach zu viel für Simon. Und da er nicht alleine damit fertig werden konnte, hat er sich in verschiedene Persönlichkeiten aufgespalten. Um seine Trauer zu teilen, wie ich annehme." „Er ist eine gespaltene Persönlichkeit?", fragte Rose fassungslos. Martin nickte. „Wenn er ungepflegt und wild ausgesehen hat, als er sie am Anleger abholte, dann war er nicht Simon, sondern hatte die Rolle von Edward angenommen", erklärte er. „Ich verstehe", sagte Rose ruhig. Cari machte es schrecklich nervös, in der offenen Küche zu stehen. Sie fühlte sich hier sehr verwundbar. „Sind Sie sicher, dass Simon 138
draußen im Wald ist?", wandte sie sich an Martin und warf einen Blick in den dunklen Speisesaal. „Ziemlich sicher", antwortete er ausweichend. „Sollten wir nicht lieber irgendwo anders hingehen?", drängte Cari. „Das hat sowieso keinen Zeck", sagte Martin. „Haben Sie schon die Polizei gerufen?", fragte Cari. „Nein, er hat wieder die Leitungen zerschnitten. Ich habe versucht, nach Cape Cod zu kommen, um die Polizei und seinen Psychiater zu benachrichtigen, aber Simon hat das Schlauchboot versteckt", sagte Martin. „Ich war die letzten Stunden draußen und habe überall danach gesucht." „Und?", fragte Cari, obwohl sie die Antwort an seinem niedergeschlagenen Gesicht ablesen konnte. „Ich habe es nicht gefunden." „Was gefunden? Fehlt irgendetwas?", rief plötzlich eine dröhnende Stimme von der Küchentür her. Cari keuchte laut auf, als Simon Fear mit seinem Jagdgewehr in der Hand in den Raum stürmte.
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Kapitel 31 Simon war wie Edward gekleidet, er trug die Augenklappe, und die Haare standen ihm unordentlich vom Kopf ab. Seine weiße Hose und die Safarijacke waren zerknittert und voller Schmutzflecke – Spuren seiner langen Jagd durch den Wald. Nachdem er den Raum betreten und die Tür geschlossen hatte, legte er den Riegel vor und sperrte sie alle ein. Seine Augen wanderten unruhig von Gesicht zu Gesicht, seine Miene wirkte wild und bedrohlich. „Simon ...", rief Rose. Sie sprang auf, musste sich jedoch mit einer Hand an der Wand abstützen. „Simon ist verschwunden", brüllte Edward. „Er findet keinen Geschmack an der Jagd." „Geh, und hol Simon! Sofort", befahl Rose. „Ich möchte mit ihm sprechen." Ihre Stimme klang fest und selbstsicher, nur ihre Augen verrieten ihre Angst. Simon stutzte einen Moment und starrte sie finster an. „Geh, und hol Simon – sofort!", wiederholte Rose. Er starrte sie noch einige Sekunden an und wandte sich dann an Martin. „Was machst du denn hier?", fragte er misstrauisch. „Simon ...", begann Martin mit sanfter Stimme. „Ich bin Edward^', brüllte Simon wütend. „Geh, und hol ihn!", sagte Rose noch einmal. Doch Simon hatte offensichtlich beschlossen, sie zu ignorieren. Er nahm sein Gewehr in die andere Hand und setzte es an die Schulter. „Nein! Leg es weg!", schrie Martin und stürmte quer durch den Raum auf Simon zu. Der riss mit einem lauten, ärgerlichen Aufschrei die Flinte hoch, schwang den Arm zurück und ließ den hölzernen Schaft gegen Martins Schläfe sausen. Martin stöhnte erschrocken auf, verdrehte die Augen und sank auf den Küchenboden. Sein Kopf knallte mit einem dumpfen Schlag auf die Fliesen.
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Während Simon noch auf Martins reglosen Körper hinunterblickte, stürzten Cari und ihre Freunde zur Küchentür. „Zieh am Riegel! Nein – du musst drücken!", schrie Jan in blinder Panik. Aber der Riegel bewegte sich nicht.
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Kapitel 32 Cari kam es so vor, als liefe alles in Zeitlupe ab. Sie hatte das Gefühl, sich außerhalb ihres eigenen Körpers zu befinden und die Szene in der Küche von oben zu betrachten. Sie war nur eine Beobachterin, die zusah, wie sie und ihre Freunde es aufgaben, den Riegel zur Seite zu schieben, und sich zu Simon umdrehten. Und sie beobachtete, wie Rose sich gegen die Wand presste, das Gesicht vor Schock und Entsetzen verzerrt. Sobald Simon sich vergewissert hatte, dass niemand entkommen konnte, blickte er wieder auf Martin hinab, der zusammengekrümmt und mit weit aufgerissenen Augen zu seinen Füßen lag. „Das war ja vielleicht eine Geschichte, die du ihnen erzählt hast", sagte er schwer atmend, die Flinte immer noch fest umklammert. „Eine wirklich interessante Geschichte." Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Cari und ihre Gefährten. „Nur schade, dass nichts davon stimmt", schnaubte er hitzig und wandte sich dann wieder seinem bewusstlosen Diener zu. „Du solltest auf einem Jagdfest keine Lügen erzählen, Martin." „Öffne die Tür, Edward!", rief Rose ihm von der Wand aus zu. „Mach endlich die Küchentür auf, und lass uns raus." Nachdem Simon Martin noch einen Tritt versetzt hatte, schien er ihn einfach zu vergessen und marschierte mit schnellen Schritten auf die vier Teenager zu, die sich um die Küchentür geschart hatten. Cari landete unsanft wieder in der Realität und war nun nicht länger eine außenstehende Beobachterin. Die Angst machte ihren Körper bleischwer, und sie war sich nicht sicher, ob sie sich überhaupt vom Fleck rühren konnte. „Martin hat es mir wirklich leicht gemacht", sagte Simon mit Edwards ruppiger Stimme, und ein böses Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Cari starrte auf das Gewehr. „Fast zu leicht", fügte er hinzu, und sein Lächeln wurde breiter. Cari schaute weiter wie hypnotisiert das Gewehr an, als Simon es nun an die Schulter setzte. 142
Das Gewehr, mit dem er im Wald auf sie gefeuert hatte. Und in der Hotelhalle. Cari konnte ihren Blick nicht davon losreißen. „Nein – schießen Sie nicht! Simon ... ich meine, Edward ... nicht schießen!" Sie hörte Rose' entsetzten Aufschrei, aber er schien von weit her zu kommen. Cari starrte auf das Gewehr, bis es vor ihren Augen zu verschwimmen begann. „Nein, bitte nicht ... ich flehe dich an! Schieß nicht!", kreischte Rose. Simon zielte zuerst auf Eric, dann auf Craig und schwenkte dann wieder zu Eric. Den Blick fest auf den Lauf der Waffe gerichtet, trat Cari vor. „Erschießen Sie mich zuerst, Edward", sagte sie mit überraschend ruhiger Stimme.
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Kapitel 33 Simon zögerte einen kurzen Moment und richtete das Gewehr dann auf Cari. „Das ist viel zu einfach", stieß er mit einem trockenen Lachen hervor. „Das ist schon fast nicht mehr sportlich. Aber ich habe euch eine faire Chance gegeben." „Erschießen Sie mich zuerst", wiederholte Cari und machte noch einen Schritt auf ihn zu. Simon visierte sie an und ließ das Gewehr dann ein kleines Stück sinken. Er wirkte plötzlich verunsichert. „Cari, bist du verrückt?", rief Eric. Er stürmte vorwärts und versuchte, sie zurückzuziehen. Sie wand sich aus seinem Griff und trat, den Blick starr auf die Waffe gerichtet, noch einen Schritt vor. „Geben Sie mir das Gewehr, Simon", sagte sie mit sanfter Stimme und griff danach. „Ich bin nicht Simon. Ich bin Edward", sagte er tonlos, ohne jede Gefühlsregung. „Das Gewehr", forderte sie sanft, aber bestimmt. Er runzelte die Stirn und machte ein verwirrtes Gesicht. Dann setzte er die Waffe wieder an die Schulter. „Cari – hör auf! Er wird schießen!", schrie Eric. „Nun gut", sagte Cari und schaute starr geradeaus. „Dann tun Sie's. Erschießen Sie mich als Erste." Simon zielte und feuerte zweimal hintereinander. Alle schrien gleichzeitig auf. Aber ihre Schreie waren nicht laut genug, um das tödliche Dröhnen des Gewehrfeuers zu übertönen.
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Kapitel 34 „Geben Sie mir das Gewehr", sagte Cari. Ihre Stimme zitterte nur ganz wenig. Simon riss ungläubig die Augen auf und ließ beinahe die Flinte fallen. „Cari ...", rief Eric entgeistert. „Das Gewehr, geben Sie es mir", wiederholte sie. Mit immer noch völlig verdutzter Miene setzte Simon die Waffe an die Schulter und feuerte noch einmal auf Cari. Wieder schrien alle auf, und Rose sackte kraftlos auf der Küchenbank hinter dem Tisch zusammen. Obwohl aus den Gewehrläufen weißer Rauch an die Decke stieg, schien Cari nicht getroffen zu sein. „Du ... du bist ein Geist!", kreischte Simon und wich vor ihr zurück. „Du bist ein verdammter Geist!" „Das Gewehr!", beharrte Cari. „Nein!", rief Simon. „Wenn du ein Geist bist, muss ich eben einen von den anderen erschießen." Er trat noch einen Schritt zurück und zielte auf Craig. „Nein, Edward. Hör auf damit!", rief plötzlich eine Frauenstimme. Zuerst dachte Cari, es wäre Rose, aber die saß wie betäubt da und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. „Ich werde schießen, wann ich will!", brüllte Simon mit Edwards rauer Stimme. „Du hältst dich da raus, Greta! Das hier ist mein Jagdfest!" „Dein Jagdfest ist vorbei", widersprach die Frau. Und Cari merkte plötzlich, dass diese Stimme ebenfalls von Simon kam. „Leg die Waffe weg, Edward", sagte die Frauenstimme. „Das Fest ist zu Ende." „Nein, Greta!", war jetzt wieder Edwards barsche, heisere Stimme zu hören. „Sag mir nicht, was ich zu tun habe. Ich bin Simon losgeworden, und ich kann auch dich loswerden!"
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„Edward, du stellst meine Geduld auf eine harte Probe", erwiderte sie. Cari fiel auf, dass es die Stimme der Frau aus Simons Zimmer war. Es gab also gar keine geheimnisvolle Unbekannte im Hotel. Es war nur eine weitere von Simons Persönlichkeiten gewesen - Greta, seine verstorbene Frau. Bei dem Streit, den sie belauscht hatten - hatten alle drei Stimmen Simon gehört! „Verschwinde von hier! Lass mich in Ruhe!", schrie Edward. „Nicht, bevor du das Jagdfest für beendet erklärst", antwortete Greta entschlossen. Während Simon mit sich selbst herumstritt und drei erregte Stimmen sich miteinander abwechselten, ertappte Cari sich dabei, dass sie immer noch das Gewehr anschaute. Sie atmete tief durch und stürzte sich mit einem verzweifelten, unbeholfenen Sprung auf Simon. Wie durch ein Wunder und zu ihrer eigenen Überraschung konnte sie ihm die Waffe mühelos aus der Hand reißen. Mit dem Gewehr in der Hand rannte Cari ans andere Ende der Küche. Simon war zuerst wie erstarrt, aber dann wurde er wütend. Er stürmte hinter ihr her und ... stolperte dabei über Martin. Wüst fluchend ging er zu Boden. Martin bewegte sich und blinzelte verwirrt. Simon stöhnte auf und umklammerte mit beiden Händen sein Bein. „Mein Knie. Ich habe mich am Knie verletzt." Eric und Craig liefen hastig zu ihm und hielten ihn an den Armen fest, während Martin sich schwankend aufrappelte. „Was ist passiert?", fragte er und fuhr vorsichtig über die dicke, blaue Beule, die sich an seiner Schläfe gebildet hatte. „Ja, das würde ich auch gerne wissen", sagte Simon, der plötzlich wieder mit seiner eigenen Stimme sprach. „Warum haltet ihr mich fest? Und wo ist Edward? Ich wette, mein lieber Bruder ist für dieses ganze Durcheinander hier verantwortlich." Simon setzte sich auf, aber Craig und Eric hielten ihn sicherheitshalber an der Schulter fest. „Ist die Küche geöffnet?", fragte er. „Ich sterbe vor Hunger. Kann man hier vielleicht irgendwo ein Sandwich bekommen?" 146
Das große Schlauchboot tanzte im Licht des frühen Morgens auf den Wellen. Der Motor sprang stotternd an und begann dann, gleichmäßig zu knattern. Martin steuerte das Boot ans Festland. Eric saß hinten, den Arm um Cari gelegt. Jan und Craig hatten sich ans vordere Ende neben Martin und Rose gehockt. Nur Simon, die Hände auf dem Rücken gefesselt, saß mit ausgestreckten Beinen alleine in der Mitte des Schlauchboots und starrte auf den Boden. Cari atmete in tiefen Zügen die frische, salzige Luft ein und warf dann über die Schulter einen letzten wehmütigen Blick auf Piney Island. „Wie hast du das bloß gemacht?", fragte Eric dicht an ihrem Ohr, um das laute Dröhnen des Motors und das Klatschen der Wellen gegen den Rumpf zu übertönen. „Was gemacht?", fragte sie mit gespielter Ahnungslosigkeit und kuschelte sich an ihn. „Na, du weißt schon. Die Sache mit dem Gewehr." „Als ich dastand und das Gewehr anstarrte, hatte ich so eine Art Geistesblitz", erklärte Cari. „Mir fiel auf einmal ein, dass Simon im Wald ganz dicht an uns herangekommen ist und mehrmals gefeuert hat. Aber er hat uns nicht getroffen. Er hat überhaupt nichts getroffen." „Ach, ja?" „Jedenfalls habe ich mir gedacht, dass er kein derartig schlechter Schütze sein kann." „Aber das erklärt noch lange nicht..." „Lass mich doch erst mal zu Ende erzählen", protestierte Cari und versetzte ihm einen leichten Klaps auf die Schulter. „Als Nächstes musste ich an die Hotelhalle denken. Erinnerst du dich noch, dass er da zweimal gefeuert hat? Aber es ist nichts zu Bruch gegangen, es waren keine Einschusslöcher in den Wänden zu sehen, und es gab auch keine Querschläger. Nichts. In diesem Moment wurde mir klar, dass Simons Waffe mit Platzpatronen geladen sein musste." „Verrückt", sagte Eric kopfschüttelnd. „Total verrückt." Cari wusste, dass das ein Ausdruck seiner Bewunderung war. ..Simon hat Edward Platzpatronen gegeben. Er konnte die Jagdfeste ja nicht leiden. Na ja, das habe ich wenigstens gehofft." Eric wurde blass. „Du warst dir nicht sicher?" 147
„Ziemlich sicher", erwiderte Cari lächelnd und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange. „Hey, Partysommer, Leute!", rief Craig ihnen von vorne zu. Alle lachten. „Na ja, so ein richtiger Partysommer war das bis jetzt nicht gerade", schnaubte Cari. „Aber denkt doch nur mal daran, was für super Aufsätze wir zum Thema ,Mein schönstes Ferienerlebnis4 schreiben können." Eric grinste sie an. „Du bist echt verrückt", sagte er. „Danke für das Kompliment", antwortete sie. „Du aber auch." Und dann streckte sie ihm das Gesicht zu einem richtigen Kuss entgegen.
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