WEIHNACHTEN Geschichten für Festmuffel und Keksverächter
Geschichten für Festmuffel und Keksverächter
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WEIHNACHTEN Geschichten für Festmuffel und Keksverächter
Geschichten für Festmuffel und Keksverächter
Herausgegeben von Iris Prael
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
2. Auflage © 2003 Patmos Verlag GmbH & Co. KG Sauerländer Verlag, Düsseldorf Alle Rechte vorbehalten. Scan by Brrazo 09/2007 Umschlaggestaltung: Sibyll Amthor, formlabor, Hamburg Titelillustration und Vignetten von Carola Holland Druck und Verarbeitung: Bercker, Kevelaer ISBN 3-7941-7019-9 www.patmos.de
Zoran Drvenkar 1978 und Weihnachten Nummer 11 Christine Fehér Flieg, mein Engel! Thomas Feibel Kein Weihnachten mit Andre Selim Özdogan Noch jemand Maja von Vogel Weihnachtsmann gesucht! Paul Auster Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte Ute Mordhorst Herr Klotz taut auf Christian Bieniek Go to Hel Harald Parigger Weil Weihnachten ist
Sabine Rahn Nikolaus bei den Heckzahns Nortrud Boge-Erli Wolfszauber Terry Pratchett Die Weihnachtsfestplatte Margret Rettich Eine schlimme Geschichte Maren Bonacker Falsche Töne Doris Meißner-Johannknecht Goldfisch Koi
Zoran Drvenkar 1978 und Weihnachten Nummer 11
m Weihnachtsabend ist alles bereit. Es riecht nach Keksen und Braten, die Eisblumen vor den Fenstern lassen sich mühelos mit dem Fingernagel abkratzen und meine Schwester spricht kein Wort mit mir. Ich habe ihr sechs von ihren zehn Hanutas geklaut. Erst wollte ich nur eines nehmen, dann waren es aber doch zwei, die so lecker schmeckten, dass ich gleich noch mal zwei genommen habe. Meine Schwester hat es lange nicht gemerkt. Also dachte ich mir, zwei mehr können auch nicht schaden. Und das hat sie dann gemerkt. Sie rannte zu meiner Mutter und meine Mutter ließ sie abblitzen. Die Chancen, dass unsere Eltern uns abblitzen lassen, sind immer recht hoch. Und manchmal muss man das Schicksal einfach herausfordern. - Wie spät ist es? Ich liege im Sessel und sehe eine langweilige Sendung, als Mutter ins Wohnzimmer reinschaut. - Sieben, sage ich. - Sieben? sagt sie und verschwindet wieder in der Küche. Alles ist bereit – in einer halben Stunde wollen Tante Vesna und Onkel Juro kommen. Dann werden wir im Wohnzimmer essen, Weihnachtsmusik hören und den Tannenbaum bewundern. Das einzige Problem ist, dass es keinen Tannenbaum gibt. Vater ist nirgends zu finden und Mutter hat schon überall angerufen. Bei der Firma, bei zwei Freunden, bei Picek im Restaurant. Nichts. 8
Das Telefon im Flur klingelt. Ich höre Mutter aus der Küche rennen und den Hörer abheben. Sie lauscht, flucht kurz und legt wieder auf. Als das Telefon zum zweiten Mal klingelt, bleibt sie in der Küche. Ich gehe ran. - Oh Mann, sagt Karim, Deine Mutter hat mich verflucht, du, da bin ich mir ganz sicher. - Blödsinn, sie hat dir ein schönes Weihnachtsfest gewünscht. - Wirklich? - Wirklich. - Klang aber komisch. Habt ihr dicke Luft oder was? - Wir haben noch keinen Tannenbaum. - Wir schon, sagt Karim, Mein Vater hat ihn gestern gekauft, aber noch immer billig, du. - Gut für ihn, sage ich. - Du kannst nachher nicht raus, was? - Nee, kannst du vergessen, die lynchen mich, wenn ich nur aus dem Fenster schaue. Karim schweigt, ich schweige, meine Mutter taucht im Türrahmen der Küche auf. Zigarette in der Hand, Augen drohend. - Ich muss mal auflegen, sage ich. - Ja, feier mal schön, sagt Karim. Zehn Minuten später gehe ich aufs Klo, als das Telefon erneut klingelt. Ich höre meine Mutter rangehen und fluchen, ziehe die Spülung und renne in den Flur. Der Hörer liegt neben dem Telefon, von meiner 9
Mutter ist nichts zu sehen. - Hallo? sage ich in den Hörer hinein. - Deine Mutter flucht ganz schön heftig, sagt Adrian. - Das war kein Fluch, das ist jugoslawischer Brauch, antworte ich, Damit wünscht sie dir viel Glück und tolle Geschenke zu Weihnachten. - Na, denn. Was läuft? - Wir warten auf den Tannenbaum. - Schon wieder? Es ist das vierte Mal in Reihenfolge, dass der Tannenbaum auf sich warten lässt. Vater ist ein cleverer Typ. Er zahlt niemandem 50 Mark, wenn er den Tannenbaum am letzten Tag für einen Zehner kriegen kann. Geduld ist alles, sagt er immer. Meine Mutter findet das nicht lustig. Sie schrie ihn vor drei Tagen an, dass sie diesen blöden Baum endlich schmücken wollte. Dann zog Vater los und kam mit leeren Händen wieder. Morgen, sagte er, Morgen besorge ich einen. Heute ist morgen und meine Mutter brutzelt in ihrer Wut wie der Gänsebraten, den sie alle zehn Minuten mit Öl beträufelt. - Ich melde mich morgen, sage ich zu Adrian und lege auf. Eine Dreiviertelstunde später kommen Onkel Juro und Tante Vesna. Sie sind gut gelaunt und Onkel Juro preist als Erstes den fehlenden Weihnachtsbaum, und dass er schon lange nicht solch einen Prachtkerl gesehen hätte. 10
- Da kannst du dir den Schmuck ja glatt sparen, sagt er. Tante Vesna lacht schallend, meine Mutter verzieht nicht mal die Mundwinkel. Ich kann sehen, wie sie in der Küche den Braten anschneidet und auf den Teller meines Onkels das mickrigste Stück legt. Es klingelt. Wie jedes Jahr kommen die Kotschans aus dem Nachbarhaus zu uns rüber. Sie machen einen auf überrascht, sie wollten eigentlich nur alles Gute wünschen; und meine Mutter spielt mit und lässt sie rein und lacht und gibt ihnen Teller und Gläser und dann wird gefeiert. Eine Stunde darauf sind wir alle voll gefressen. Die Erwachsenen sind leicht angetrunken, meine Mutter stocknüchtern. Die Musik ist laut, Engelschöre schreien sich heiser und zwischendurch murmelt Ivan Rebroff irgendein Zeugs vom Christkind. Es wird neun und dann zehn und dann klingelt das Telefon. Meine Mutter winkt müde ab. Für sie ist das Fest gelaufen. Ihr ist es egal, ob Vater jetzt noch anruft oder nicht. - Na, Zoki, sagt Vater, Ist sie wütend? Ich kann hören, dass er in einer Telefonzelle steht. Ich kann mir auch vorstellen, wo sich diese Telefonzelle befindet. Eine Ecke weiter neben dem Supermarkt. - Stinkewütend, antworte ich. - Die soll sich mal nicht so haben. Kommste runter? Ich bin das Alibi. Ich kenn das schon. Vater wird mit mir den Weihnachtsbaum hochtragen und dann 11
oben prahlen, wie toll ich ihm geholfen habe. Das soll meine Mutter stolz machen, obwohl jeder genau weiß, dass ich nur aus Haut und Knochen bestehe und man meine Muskeln an einer Hand abzählen kann. Vater macht das sehr gerne. Ich bin sein Schutzschild, all die Wut meiner Mutter auf ihn verpufft, wenn er mich vorschiebt. Und manchmal kriegt er es auch wirklich so hin, dass jeder denkt, ich wäre der Grund dafür, dass der Baum zu spät ist. Und das klingt so: Ich musste ihn die Treppen beinahe allein hochschieben! Es ist ein Wunder, dass wir nicht bis zum Morgengrauen gebraucht haben, nicht wahr, Zoki? Und stößt mich an und zwinkert mir zu. - Ich geh mal schnell mit Lucky! rufe ich ins Wohnzimmer rein. Lucky hört das und kommt sofort hinter dem Sofa hervor. Es wird erzählt, sie wäre ein Pudel, aber in Wahrheit entspringt sie einem uralten russischen Hundestamm und erinnert an einen zotteligen Bison, der beim Schwanzwackeln fast um die Kurve biegt. Draußen ist es mies und kalt und windig und ich zieh den Reißverschluss meiner Jacke hoch und halte Ausschau nach dem Mercedes meines Vaters. Das Witzige an unserer Familie ist, dass meine Eltern so tun, als hätten sie kein Geld, wir zu viert in einer Wohnung mit zwei Zimmern leben, ich um jede Mark betteln muss und nie Taschengeld sehe, aber dafür fährt Vater einen protzigen metallic-roten Mercedes und im Sommer baut er an einem Haus in Jugoslawien herum. Ich weiß nicht, was daran wirklich 12
witzig ist, aber so sagt man doch, wenn man etwas bescheuert findet und es nicht anders ausdrücken kann, weil es nun mal eben so ist. Ich erwarte irgendwo auf der Straße den Wipfel des Tannebaums zu sehen, wie er vom Gepäckträger nach mir winkt. Aber da ist nichts. Dafür höre ich ein Hupen. Ich trete auf die Straße, der Mercedes wartet unten an der Ecke in der zweiten Reihe, das blutige Leuchten von Rücklichtern ist im Schneematsch deutlich zu sehen. Ich rufe nach Lucky und laufe die Straße runter. - He, Tata, sage ich zu meinem Vater, der wie ein Pascha hinter dem Steuer sitzt und mit den Fingern aufs Lenkrad trommelt. - Na, Kleiner, sagt er, Was gibt’s? - Wo ist der Weihnachtsbaum? - Nun steig schon ein. Oder willst du Wurzeln schlagen? Ich gehe um den Wagen herum, lasse Lucky hinten reinspringen und steige vorne ein. Es riecht nach Schnaps und Bier und dem Schweiß meines Vaters. - Na, was willst du für einen? fragt er mich. - Was will ich für einen was? - Was für einen Baum, Mensch. Sag mal, willst du Abitur machen oder bluffst du nur? Am liebsten würde ich ihm gestehen, dass ich nur bluffe. Wer will schon Abitur machen? Hätte er mich gefragt, ob ich in einer Woche hundert Bücher lesen will, okay, aber das eben muss eine rhetorische Frage 13
gewesen sein. - Es ist halb elf, sage ich. - Na, da haben wir ja bis Mitternacht noch eineinhalb Stunden. Los, schnall dich an, der Bus fährt ab. Ich schnall mich an, Vater rollt gemächlich die Straße runter und schaltet das Radio ein. - Scheißweihnachtsmusik, sagt er und schiebt eine Kassette rein. Eine Frau singt vom Meer, und dass sie seit Wochen auf ihren Geliebten wartet. Als sie einmal Luft holt, legt eine ganze Combo los und schrummelt auf allen nur erdenklichen Volksinstrumenten. Ich habe große Lust, mich aus dem Wagen fallen zu lassen. Lucky stellt sich auf die Ablage zwischen den Sitzen und hechelt mir in den Nacken. Ich habe keinen Schimmer, wo wir hinfahren. Wir halten am Ernst-Reuter-Platz, wo immer der große Weihnachtsbaummarkt ist. Bis vor vier Stunden zumindest. Wahrscheinlich hat Vater einen Deal ausgehandelt und gleich kommt einer von diesen wieselartigen Verkäufern angelaufen und verkauft ihm für fast nichts eine nordische Edeltanne, die sich nur die Reichen leisten können. - Da wären wir, sagt Vater. - Zu, sage ich. - Nee, nur für die, die nicht wollen. Er parkt hinter der Buchhandlung. - Komm, ich zeig dir was. - Und Lucky? 14
Er sieht nach hinten. - Nee, die muss hier bleiben. Ich will ihn warnen, Lucky hasst es, in Autos zu warten. Sie bekommt dann diese klaustrophobischen Anfälle und ist gar nicht gut gelaunt, wenn man wiederkommt. Aber das sollte Vater eigentlich wissen. - Sie wird erfrieren, versuche ich es. - Wird sie nicht. Vater lässt den Schlüssel stecken, so dass die Standheizung weiterläuft, dann steigt er aus. Ich folge ihm zur Vorderseite der Buchhandlung und dann über die Straße zum Weihnachtsbaummarkt. - Ich konnte nicht früher, sagt Vater, War voll im Stress. Die Jungs in der Kneipe haben mich nicht gehen lassen. Da kann man nichts machen. Er lacht. - Ich sag dir, die können saufen. Lass bloß die Finger vom Alk, das ist nichts für dich. Werd erst mal ein Mann, okay, dann reden wir darüber. Verdammt, ist das kalt. Was guckst du da so hin, willst du, dass die Bullen stehen bleiben? Schau geradeaus, jaja, fahrt mal nur weiter, ihr Scheißbullen. Wir kommen zum Tannenbaummarkt. Innerhalb der Umzäunung liegen vielleicht noch fünfzig Bäume. Ich frage mich, was sie mit denen machen, sobald Weihnachten vorbei ist. Heben sie die auf? Blödsinn, die sind ja abgehackt. Vielleicht werden die Bäume für das nächste Jahr eingefroren. Möglich ist alles. - Die sehen doch prächtig aus, was meinst du? Se15
hen die nicht prächtig aus? - Sehen gut aus, sage ich und trete auf der Stelle, Sind aber auf der anderen Seite. - Solange es nicht die andere Seite vom Mond ist, sagt Vater und rüttelt kurz mal am Zaun. Der Markt hat einen Radius von vielleicht dreißig Metern. Der Zaun selbst ist zwei Meter hoch und aus grünem Maschendraht. Er ist durch Stangen unterteilt, die in Zementblöcken stecken. - Na, dann mach mal, sagt Vater. Ich schaue durch den Zaun, schaue meinen Vater an. - Was schaust du so? fragt er, Spiel ich im Verein oder du? Nun mach schon einen Hüpfer, zeig mal, was du drauf hast. - Tata, ich kann da nicht rübersteigen! - Was denn? Bist du Mann oder Memme? Wenn ich nicht so eine Wampe hätte, wäre ich längst schon wieder rein und raus und noch mal rein und raus und noch mal und noch mal, verstehst du? Ich verstehe. Die Wampe meines Vaters ist sehr merkwürdig. Er hat dünne Beine, dünne Arme und dann diese Wampe. Er ist im letzten Jahr dreißig geworden, ich habe große Sorge, selbst mal so eine Wampe zu bekommen. - Ich kann da nicht … Vater sieht mich nur an. Dann steige ich über den Zaun, der sich erst nach innen, dann nach außen biegt. Schließlich bin ich oben, klemm mir die Hoden ein und falle auf der anderen Seite wieder herun16
ter. Leider liegt hier kein Schnee, die Pflastersteine lassen meine Zähne zusammenklacken. - Ging doch prima, sagt Vater. Ich stehe auf und sehe mich um. Es ist komisch, dass auf der anderen Seite des Zaunes alles anders ist. Nur Zentimeter von meinem Vater entfernt beginnt eine andere Welt. Obwohl sich nichts verändert hat, wirkt es dennoch völlig neu, sobald man nicht durch den Maschendraht schauen muss. Da ist die Bude von den Verkäufern, ein Haufen Müll von den Planen und Plastiknetze, in die die Bäume eingepackt werden. Und dann natürlich die Bäume selber. Zusammengeschoben wirken sie wie riesige grüne Schafe, die es sich für die Nacht bequem gemacht haben. - Ach nee, sagt Vater hinter mir. Ich drehe mich um, Vater schiebt sich die Hände in die Hosentaschen und geht auf die andere Straßenseite. Ein Polizeiwagen schleicht vorbei, ich hocke mich hinter einen Müllhaufen und warte. Der Wagen biegt an der nächsten Kreuzung ab. Ich kann meinen Vater nicht finden. Schließlich löst sich ein Schatten von der Ecke. Vater zieht die Hose hoch und fummelt an seinem Reißverschluss herum. - Wurde aber auch Zeit. Bin mindestens einen Liter losgeworden. - Du warst pinkeln? frage ich. - Wie? Vater macht große Augen. - Darf man nicht mal schnell pinkeln gehen? 17
- Da war eben die Polizei. - Blödsinn, die juckt das doch nicht, wenn wir uns einen Baum holen, die wollen doch auch Weihnachten feiern. Gegen diese Logik kann ich nichts sagen. - Los, such dir einen aus. Ich geh zu den Weihnachtsbäumen rüber. Die Dinger sehen fast alle gleich aus, sodass ich für einen Moment das Gefühl habe, da liegt nur ein Baum. Ein Monstrum. Der Tannenbaum der Tannenbäume und ich muss ihn eigenhändig durch die Gegend schleppen. - Irgendeinen? rufe ich meinem Vater zu. - Irgendeinen! ruft er zurück und ich kann an seiner Stimme hören, dass er langsam abschlafft. Der Alkohol in seinem Blut ist nicht mehr das, was er vor einer Stunde gewesen ist. Vater muss wieder auftanken, um weitermachen zu können. Ich picke einen der Bäume und ziehe ihn mit Mühe heraus. Er sieht prima aus, dunkelstes Grün und kräftige Aste. Ich schleppe ihn zum Zaun. - Was ist das? fragt Vater, Du sollst einen Tannenbaum und nicht ein Bäumchen herbringen. Scheiße, machst du auch mal was richtig? Ich will den Baum wieder zu den anderen Bäumen zurückbringen, da schlägt Vater klatschend gegen den Zaun. - Was tust du? Wieso schleppst du den zurück? Hol einen Neuen, hörst du, hol einfach einen Neuen. Widerwillig lasse ich den Baum liegen. Ich finde 18
es falsch, dass der da bleiben soll. Er gehört zu den anderen, aber das interessiert meinen Vater wenig. Ich sehe mir die anderen Bäume an. Die sind nicht größer. Und bevor ich einen zweiten rüberschleife und wieder angeblafft werde, sage ich das mal lieber meinem Vater. Also zurück zum Zaun. - Die sind alle gleich. - Blödsinn. - Doch, die sind alle gleich. - Hol mal ein paar her. Und so schleppe ich drei Bäume an und kann danach kaum noch gerade stehen. Ich spüre jeden Muskel und bin schweißgebadet. Und jedes Mal schickt mich Vater von vorne los, läuft auf und ab, kommandiert mich herum. - Den ganz hinten … Den, wo der Ast so hoch steht … Probier mal den, ja … Den meinte ich doch nicht, hol den anderen, was soll ich denn mit dem anfangen, mh? Nach einer halben Stunde habe ich vierzehn von den Dingern zum Zaun rübergeschleift. Wenn ich so weitermache, habe ich bald alle verlagert. - Ich kann nicht mehr, sage ich und setze mich auf einen der Bäume. - Was du nicht kannst, das kannst du nicht, sagt Vater und spuckt sich in die Hände. Im nächsten Moment hängt er sich an den Zaun und will rübersteigen. Der Zaun beginnt sich zu biegen. - Das Bein! rufe ich, Zieh das Bein hoch! 19
Entweder ist ihm die Wampe im Weg oder er war noch nie gut im Rüberklettern. Auf jeden Fall zappelt er so sehr herum, dass der Zaun mehr und mehr aus der Fassung gerät und dann kippen in einer langsamen Bewegung die Stangen mit den Betonklötzen nach außen und der Zaun landet auf meinem Vater. Es gibt einen peitschenden Laut, dann ist es wieder still. - Alles okay? frage ich. Vater braucht eine Weile, um sich zu befreien. Er steht auf und wischt sich seine Hose sauber. Danach steigt er über den gefällten Zaun und sagt: - Geht doch. Er wählt fachmännisch einen Baum aus, den ich nie genommen hätte. Er ist mir zu schief. Ich weiß genau, was meine Mutter sagen wird, wenn sie ihn sieht. Kommt der mit Rentenversicherung oder was? Das sagt sie jedes Jahr, weil Vater jedes Jahr krumme Monster anschleppt. Ihm geht es nur um Größe, die Haltung ist ihm schnurzpiepegal. - Ist mir doch schnurzpiepegal, wie der Baum dasteht, sagt er und schüttelt ihn kurz, Den will ich haben. Wir beginnen das Ding hinter uns herzuschleifen. Über den Zaun, über die Straße. An der Ampel warten wir einen Moment und gehen dann über Rot. - Da wird Mama Augen machen, sagt Vater und grinst. Er legt mir eine Hand auf den Kopf. - Mach dir nichts draus, aber so einen Baum aus20
zuwählen, dafür brauchst du Fingerspitzengefühl, verstehst du? Wir kommen am Wagen an, die Scheiben sind von innen zugehechelt, Lucky tobt, und als sie uns kommen hört, bellt sie die Scheibe an und kratzt mit ihren Vorderpfoten über das Glas. - Beruhige dich, du Töle, sagt Vater und will die Fahrertür aufmachen. Die Tür bleibt zu. Er probiert es an der Tür dahinter. Nichts. Er legt die Hände über die Augen und schaut in den Wagen. Dann richtet er sich auf und tritt gegen den Hinterreifen und schreit Lucky plötzlich durch das Fenster an: - Ich mach aus dir Gulasch! Ich mach aus dir Gulasch und Wurst und Buletten und schneid dir die Ohren ab und ess sie mit Zwiebeln! Du kleine, vermaledeite Töle, ich mach Hackfleisch aus dir! Die vermaledeite Töle muss während ihrer einsamen Panik mit den Pfoten auf einen der Türknöpfe gekommen sein. Die Automatik ist zugeschnappt, die Heizung läuft und der Schlüssel steckt. - Wenn das nicht mein Wagen wäre, sagt Vater, würde ich jetzt das Fenster einschlagen. Lass dir das gesagt sein. Er steht da, seine Fäuste sind geballt. Der Tannenbaum liegt wie ein Betrunkener auf dem Bürgersteig. Es ist spät, es ist Weihnachten und Lucky bellt sich im Wagen die Kehle heiser. - Zumindest wird dem Vieh nicht kalt, stellt Vater fest und zieht die Schultern hoch. - Was guckst du so? ranzt er mich plötzlich an, 21
Fass an, sonst kommen die Bullen und das hier möchte ich ihnen wirklich nicht erklären. Vom Ernst-Reuter-Platz zum Kaiserdamm sind es vier Stationen mit der U-Bahn und dauert ungefähr sieben Minuten. Ich halte den Baum hinten, Vater dirigiert von der Mitte aus und sagt kein Wort. Auf dem Bahnsteig sind wir die Einzigen, die warten. Nach zwei Minuten kommt ein Bahnbeamter. - Schöne Tanne haben Sie da, sagt er. - Ja, da machen Sie Augen, was? Schnäppchen des Jahres, sage ich Ihnen, so was haben Sie noch nicht gesehen. Der Bahnbeamte checkt die Tanne und nickt anerkennend. - Und wohin wollen Sie damit? - Kaiserdamm. - Ah, Kaiserdamm. Aber nicht mit der U-Bahn, oder? - Nee, sagt Vater, Wir warten auf unsere Oma, die schleppt uns das Ding da hin, was denken Sie? Der Bahnbeamte findet das nicht witzig und schmeißt uns raus, nicht ohne vorher noch zwei Kumpels aus seinem Häuschen zu holen. Auf dem ganzen Weg nach draußen beschimpft Vater sie, und als wir endlich wieder auf der Straße stehen, zeigt er die Bismarckstraße runter und sagt: - Ist ja nicht weit. Wir marschieren los. Ist doch weit. 22
Nach über einer Stunde kommen wir endlich an. Ich bin so was von gerädert, dass ich die Kälte gar nicht mehr spüre. Wir schleppen den Baum die vier Stockwerke hoch und kommen in die Wohnung, als wäre es das Normalste der Welt um halb eins am Weihnachtsabend mit einem Tannenbaum in eine Wohnung reinzumarschieren. - Was ist hier los? ruft Vater. In der Küche steht Geschirr, die Lichter sind aus und meine Mutter ist vor dem Fernseher eingeschlafen. Meine Schwester liegt im Bett und Onkel und Tante und Nachbarn sind längst verschwunden. - Wo wart ihr denn? fragt meine Mutter verschlafen und zieht ihren Bademantel zu. - Wo wir waren? fragt Vater zurück und lacht und stößt mich an, als ob meine Mutter die Doofe wäre, die nichts kapiert. - Wo wir waren, Mensch, was denkst du, wo wir waren! Meine Mutter macht sich eine Zigarette an und bläst den Rauch hoch zur Decke. - Hol ihn mal, sagt Vater zu mir. Ich gehe in den Flur und schleife den Baum rein. Dabei reiße ich die Kommode fast um und verteile die Schuhe im Flur. - Wir wären schon früher hier, beginnt Vater zu erzählen, Aber du weißt ja, was Zoki für einer ist. Mussten wir eben öfter Pause machen, denn der Wagen hat schlapp gemacht, ist einfach versackt, mussten wir eben herlaufen, ist ja kein Problem. Sieh dir 23
das Ding mal an. Die Tanne des Jahres! Der Typ wollte 200 Mark für haben. Hat er aber nicht gekriegt. Am Ende war er froh, dass ich ihm das Bäumchen überhaupt abgenommen habe. Ivo, hat er gesagt, du handelst wie ein Türke. Hat er gesagt, frag Zoki. Aber das Ding hochzuschleppen, war kein Spaß, kannst dir ja denken, musste ich natürlich beinahe alleine machen, gut, dass Zoki dabei war, um die Spitze festzuhalten. Meine Mutter räumt den Tisch beiseite, wir zerren den Baum durchs Wohnzimmer und natürlich ist er viel zu groß – obwohl wir in einem Altbau wohnen und die Decke über drei Meter hoch ist. - Was ist das für ein Baum? fragt Mutter, Kommt der mit Rentenversicherung oder was? - Red keinen Quatsch, sagt Vater, Hol mal lieber die Axt. Er hackt am Stamm herum, meine Schwester wird davon wach und schaut ins Wohnzimmer. - Na, Susa, sagt Vater, Schon mal so was gesehen? - Nee, sagt Susa und gähnt. Sie setzt sich auf das Sofa und zieht die Beine hoch. - Warum bist du so rot im Gesicht? fragt sie Vater. - Weil ich aus dem Wald komme und Holzfäller bin, antwortet er und haut noch einmal zu, So, jetzt müsste er passen. Wir stecken die Tanne in den Fuß. Sie passt. Sie lehnt zwar leicht an der einen Wand und ihre Spitze biegt sich unter der Decke, aber sie passt. 24
- Wo ist der Schmuck? Lasst uns den Baum schmücken! ruft Vater und gießt sich einen Cognac ein. - Ivo, sagt Mutter, Es ist ein Uhr morgens. - Falsch, es ist Weihnachten, korrigiert er sie und breitet die Hände aus und sieht sich um. - Was ist hier los, kriegt man am Weihnachtsabend kein Essen? Sind wir Barbaren? Was ist hier los? Meine Mutter geht in die Küche, um das Essen aufzuwärmen. Susa holt Lichterkette, Lametta und Kugeln und beginnt den Baum zu schmücken. Während wir auf das Essen warten, hebt Vater sie immer wieder hoch, damit sie die Kugeln auch weiter oben anbringen kann. - Wo ist Lucky? fragt Susa. - Haben wir verschenkt, sagt Vater, Da war ein armes, kleines Mädchen, das hat Lucky bekommen. Meine Schwester fängt an zu heulen, Vater fängt an zu lachen, meine Mutter kommt mit dem Essen ins Wohnzimmer. - Jetzt flenn mal nicht, sagt Vater, Lucky sitzt im Auto und pennt. Wollte einfach nicht aussteigen, habe extra für sie die Heizung laufen lassen. Wir setzen uns um den Wohnzimmertisch und essen. Susa ist mit dem Dekorieren fertig und macht das Licht aus. Es ist plötzlich ganz gemütlich im Zimmer. Mutter sitzt neben mir und klaut von meinem Teller. Susa sitzt gegenüber auf dem Sofa und summt Hoch auf dem gelben Wagen. Ich bin so müde, dass ich beim Kauen mehrmals wegnicke. Das 25
vierte Mal haut mir Vater gegen den Hinterkopf und ruft fröhlich: - Erwischt! Nachdem wir gegessen haben, müssen Susa und ich sofort ins Bett. Wir wissen, was kommt. Wir gehen in unser Zimmer und stehen im Dunkeln rum und warten. Plötzlich fliegt die Tür auf und Vater ruft: - Weihnachten! Holt eure Geschenke! Wer meinen Vater nicht kennt und in solchen Momenten tatsächlich unvorbereitet ins Bett steigt, kann mit schweren nervlichen Schäden im Krankenhaus landen. Susa und ich sind vorbereitet, wir marschieren ins Wohnzimmer zurück und schauen uns die Geschenke unter dem Baum an. - Prima, sage ich und muss gähnen. - Was gähnst du? fragt Vater, Willst du dein Geschenk etwa nicht haben? Ich reiße mich zusammen und mache einen auf fröhlich. Susa kichert und dann holen wir unsere Geschenke und packen sie aus und freuen uns und Vater legt die Beine hoch und Mutter hat Tränen in den Augen und Lucky sitzt im Auto und hat Paranoia und Weihnachten ist mal wieder vorbei.
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Christine Fehér Flieg, mein Engel!
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n unserem Dorf wurde gern geredet, am liebsten über die Nachbarn. Die Erwachsenen taten es und wir Kinder machten es ihnen nach. Auf diese Art konnte man Dinge hören, die man sein Leben lang nicht mehr vergaß. Am liebsten klatschten die Leute über den Buckligen, und noch heute wird mir mulmig zu Mute, wenn ich an ihn denke. An ihn und an das, was ich damals in der Weihnachtszeit getan habe. Ich war elf und es war das Jahr, in dem auf meinem Weihnachtswunschzettel ein Fernrohr stand. Ein viel zu teurer, vollkommen irrsinniger Wunsch, den mir meine allein erziehende Mutter, das wusste ich, nie würde erfüllen können. Aber das einzige Fach, bei dem ich in der Schule aufpasste, war Erdkunde, und auch nur dann, wenn es um das Weltall und den Sternenhimmel ging. Ansonsten habe ich mir um nichts allzu viele Gedanken gemacht. Auch nicht über den Buckligen. Bis zu jenem Novembernachmittag, als wieder mal unsere dicke Nachbarin in ihrer stets fettigen Schürze bei meiner Mutter am Küchentisch saß. Sie sah ihr beim Kartoffelnschälen zu und erzählte den neuesten Klatsch und Tratsch aus dem Dorf. Ich hatte mich in eine Ecke verzogen und blätterte in einem alten Comic. Da hörte ich die Nachbarin sagen: »Der Bucklige, der ist mal Lehrer hier an der Schule gewesen.« Mutter rief »Horst?«, doch ich tat, als hörte ich nichts. Von jenem Tag an war dieser Mann für mich interessant. 28
Ich wartete, bis die Nachbarin fort war, dann fragte ich meine Mutter, woher er eigentlich seinen Buckel habe. Sofort bekam ich von ihr eine Ohrfeige, und sie schrie: »Über so etwas spottet man nicht, hörst du? Davon will ich nie wieder etwas hören. So ein Buckel ist eine Strafe Gottes für begangene Missetaten. Pass bloß auf, dass du nicht selber einen bekommst.« Dann schickte sie mich in mein Zimmer. Die Ohrfeige hatte mir nicht so viel ausgemacht. Immerhin hatte ich meine Antwort bekommen. Ich kannte meine Mutter und wusste, was ich mit so einer Frage riskierte. Sie war trotzdem keine böse Frau. Vielleicht hatte sie mich nur geschlagen, weil sie Angst hatte. Noch zufriedener war ich allerdings am Tag darauf nach meinem Besuch bei unserer Krämersfrau im Dorf. Sie war bestimmt schon an die achtzig, hatte immer Zeit und wusste auf alles eine Antwort. Also schlenderte ich in ihren Laden, um mich etwas aufzuwärmen, kaufte ihr zwei Marzipankartoffeln ab und schaute etwas unglücklich drein. Es dauerte keine zwei Minuten, bis sie sagte: »Na, mein Jungchen, was ist denn?«, und ich erzählte ihr von der Ohrfeige und dem Grund dafür. Die Alte schüttelte den Kopf, winkte mich näher zu sich heran und beugte sich etwas vor. Aus dem Mund roch sie nach altem Gebiss. Trotzdem hatte ich sie gern. »Da irrt deine junge Mutti sich.« Sie flüsterte beinahe. »So ein Buckel ist keine Strafe, ganz im Gegenteil. Da sind schon die Engelsflügel drunter. Der 29
Mann ist fast so gut wie der Herr Jesus, und er ist ihm besonders nahe. Bald kommt er in den Himmel.« Am nächsten Morgen streute ich mein gesammeltes Wissen unter den anderen Jungen in der Schule aus. Darin war ich so geschickt, dass keiner von ihnen bemerkte, von wem diese Gerüchte eigentlich ausgingen. Dass ein Lehrer unserer Schule Engelsflügel haben sollte, selbst ein ehemaliger, glaubten wir alle nicht. Keiner von uns war eine Leuchte, deshalb kannten wir unsere Lehrer nur von der strafenden, korrigierenden Seite, wobei wir sie oft ungerecht fanden. Deshalb sollten auch sie mal eins ausgewischt bekommen, und mit dem Buckligen hatten wir unseren Sündenbock gefunden. Von wegen Engelsflügel – das sollte er uns erst mal beweisen! Also gründeten wir eine Bande, die den Buckligen verfolgen sollte, um herauszubekommen, welche der beiden Versionen richtig war –Engel oder Bösewicht. Unser Boss war Herrmann, ein Großer, Kräftiger mit Stoppelhaarschnitt, einer von der Sitzenbleibersorte, der alle, die bessere Schulnoten hatten als er, verächtlich »Streberleiche« nannte. Herrmann hatte alle Jungen im Dorf unter sich. Mich nannte er »Mädchen«, weil ich eine Fähigkeit hatte, die mich von allen anderen Jungen unterschied: Ich hatte von meiner Mutter etwas nähen gelernt. Am ersten Tag fiel uns nicht viel ein. Nach den Hausaufgaben streunten wir durch unser Dorf, in Zweier- oder Dreiergrüppchen, um nur ja nicht gleich aufzufallen. Wir schubsten und rangelten uns, 30
klauten ein bisschen und warfen Steine auf die dünne Eisschicht des Flusses am Waldrand, während wir Ausschau nach dem Buckligen hielten. Doch als wir uns bei Einbruch der Dämmerung vor dem stillgelegten Brunnen am Marktplatz wiedertrafen, hatte ihn noch keiner von uns gesehen. Herrmann tönte bereits, er glaube das mit den Flügeln sowieso nicht. Doch ich hielt daran fest. Am ersten Adventssonntag mussten wir alle in die Kirche. Meine Mutter schrubbte mir bereits am Samstagabend die Hände, bis sie rot waren und schnitt meine Fingernägel kurz. Dabei summte ich ein Weihnachtslied vor mich hin, das von einem Engel handelte, doch sie ging überhaupt nicht darauf ein. Dann setzte sie sich auf meine Bettkante, um mit mir zu beten. Diese Minuten nutzte ich jeden Abend für meine Zwecke, denn nie klang ihre Stimme so weich, nie ruhten ihre Augen so liebevoll auf mir wie während des Nachtgebets. »Mutti«, fragte ich sie und machte mich unter meiner Decke etwas kleiner, als ich war, »was geschieht mit den Toten, die in ihrem Leben nie böse waren? Wo kommen die hin, die immer nur Gutes getan haben?« »Die gibt es nicht.« Meine Mutter seufzte leise. »Wir alle sind Sünder. Wirklich gut ist nur Jesus, der durch seinen Tod unsere Sünden auf sich genommen hat. Ihm müssen wir nacheifern und dennoch beschämt eingestehen, dass wir nie seine Güte errei31
chen werden. Das Einzige, was wir tun können, ist, ihn zu lieben mit all unserer Kraft. Jeden Tag müssen wir uns darum bemühen.« Ich lag noch lange wach und versuchte mir Jesus vorzustellen, doch ich wusste nicht einmal annähernd, wie er ausgesehen hatte. Ich strengte mich an, ihn zu lieben, und empfand nichts. Wenn ich nicht einmal das schaffte, würde ich bestimmt erst recht kein Fernrohr zu Weihnachten bekommen. Dabei wünschte ich es mir doch so sehr! Verzweifelt dachte ich wieder an den Buckligen, dem all dies offenbar mühelos gelang. Die alte Krämersfrau hatte gesagt, er wäre fast so gut wie Jesus selbst. Dann erfüllte der ihm bestimmt auch seine Wünsche … Im vorigen Sommer hatte ich unserer Henne, als sie brütete, eines ihrer Eier gestohlen und aufgebrochen. Das Küken war noch nicht lebensfähig gewesen, doch ein bisschen hatte es sich bewegt, die Flügelchen waren mit Flüssigkeit und Dotter verklebt, sahen mager und knochig aus und zuckten noch schwach. Ich war fasziniert und angeekelt zugleich gewesen. Genau so stellte ich mir auch die Flügel des Buckligen vor, zusammengeknautscht und verkleistert unter der Haut auf seinem Rücken. Wie es wohl aussehen würde, wenn sie sich entfalteten? Am Sonntagmorgen stand ich früher als sonst in meinem blauen Anzug unter der Tür und versuchte, meine Ungeduld zu verbergen. Es erschien mir wie eine Ewigkeit, bis meine Mutter bereit war zu gehen. Wir erreichten die Dorfkirche erst, als die Glocken 32
schon läuteten, und ich fluchte insgeheim, denn die meisten Jungen aus der Bande waren sicher schon da. Ich zuckte zusammen, als wir uns durch die dicht besetzten Reihen zwängten und die Orgel ohne Vorwarnung ihr bedrohliches Eingangslied begann. Meine Mutter sprach, bevor sie sich setzte, ein tonloses Gebet. Ich faltete ebenfalls die Hände und zählte stumm bis zehn, während ich unter gesenkten Lidern Ausschau hielt. Meine Bande war gut im Kirchenschiff verteilt. Zwei Jungen hatten mich entdeckt und nickten mir fast unmerklich zu. Herrmann lümmelte sich ganz hinten in seinem Stuhl. Ich ließ mich neben meiner Mutter auf der harten Bank nieder und in diesem Moment entdeckte ich ganz vorn in der ersten Reihe den Buckligen. Weil er neben seinem Sitznachbarn so klein wirkte, hatte ich ihn nicht gleich erkannt. Er schaukelte ein wenig mit dem Oberkörper hin und her, und ich dachte zuerst, es wäre ein behindertes Kind, aber wir hatten sonst keine Behinderten im Dorf. Erst als ich die alte Krämersfrau auf ihrem Stammplatz schräg hinter dem Taufbecken erblickte, sie mir zulächelte und mit dem Kopf ganz leicht in die Richtung deutete, wo der Bucklige saß, erkannte ich ihn und ließ ihn von nun an nicht mehr aus den Augen. Meine Mutter schaute fortwährend auf den Pastor, den Adventskranz und auf die hölzerne Jesusfigur am Kreuz über dem Altar. So bemerkte sie glücklicherweise nicht, was in mir vorging. Auch der Predigt unseres Pastors hörte ich nicht 33
zu. Das Abendmahl aber, das war die Stunde der Kinder. Wir durften nicht mit, bevor wir eingesegnet waren, doch dieses Sakrament war herrlich geeignet, um die Erwachsenen zu beobachten. Deshalb kannten wir Kinder die meisten Leute ziemlich gut. Neben meiner Mutter saß unsere Nachbarin. Ohne ihre Fettschürze und mit aufgetürmtem Haar sah sie ganz anders aus als sonst, doch auch in ihrem Sonntagskleid stank sie nach Schweiß und Hühnerfutter. Sie erhob sich, noch ehe der Pastor den Segen über den Wein gesprochen hatte, und fragte meine Mutter ziemlich laut, ob sie nicht mitkäme zum Tisch des Herrn. Meine Mutter ging aber immer erst beim zweiten Mal, sie winkte dezent ab. Die Dicke wankte nach vorne, schob ein paar Leute beiseite und baute sich genau in der Mitte vor dem Pastor auf. Die kleine Krämersfrau ging erst zum dritten Tisch. Sie lächelte still und kniete sich ganz außen an der Kanzelseite hin. Nach dem vierten Tisch hatte der Pastor schon die Hände erhoben, um die Gemeinde zu segnen und das Kreuz zu zeichnen, als der Bucklige ein wenig zögernd aufstand und ganz allein zu ihm ging. Auch er kniete nieder, kaum eineinhalb Meter war er groß, und als er mit seinem schiefen Hals den Kopf hob und auf seine Oblate wartete, bekam ich plötzlich Bauchschmerzen vor lauter Scham darüber, dass wir ihm so nachstellten. Aber wegschauen konnte ich nicht. Die ganze Kirche sah hin. Man hörte nicht einmal jemanden husten. Der Pastor segnete den Buckligen. Allen anderen 34
hatte er die Hand auf den Scheitel gelegt, doch den Buckligen berührte er außerdem noch sanft am Rücken, als er ihn entließ. Der Bucklige lächelte die ganze Zeit, bis er wieder auf seinem Platz saß, und hinterher meinte ich zu hören, wie er die Choräle mitsang. »Er hat ihn an den Flügeln angefasst!« Ich hockte mit den anderen Jungen nach dem Gottesdienst auf der Schulhofmauer und warf mit Stöcken nach ein paar hässlichen grauen Tauben, die auf dem hart gefrorenen Boden vergeblich nach Körnern pickten. Meistens traf ich daneben. »Wollen wir nicht aufhören? Wer weiß, was passiert, wenn wir ihm wirklich etwas tun«, fügte ich hinzu. »Was soll denn passieren!« Herrmann spuckte vor mir aus. Auch ein paar von den anderen schauten mich jetzt geringschätzig an. »Kneifst du immer so schnell? Ich habe dem Alten beim Rausgehen mal kurz in seinen Höcker gepikst. Hiermit.« Er hielt eine rostige Sicherheitsnadel hoch. Ich glotzte ihn an. »Und? Ist was rausgelaufen?« Herrmann lachte schallend. »Rausgelaufen! Was sollte denn rauslaufen? Eidotter, wie bei deinem dämlichen Küken? Gequiekt hat er, der Bucklige, wie ein Schweinchen! Alle Lehrer sind Schweine.« Er stach mit der Nadel nach mir, doch ich sprang zur Seite. »Aber dein Heiliger könnte auch ein Kamel sein bei dem Körperbau. Er ist nur ein Krüppel, weiter nichts. Du wirst schon sehen.« 35
Ich rannte davon, zwei kleinere Jungen folgten mir, doch die anderen blieben an Herrmanns Seite. Ich sehnte mich nach meiner Mutter und nach unserer Gebetsstunde am Abend; ich wollte einfach nur meinen Kopf in ihren Schoß legen und gar nichts sagen. Mir war so nach Weinen zu Mute. Als ich unsere Haustür hinter mir schloss, vernahm ich schon wieder die Stimme der Speckschürzennachbarin. Ich weiß nicht, ob ich ernstlich erwartet hatte, meine Mutter allein anzutreffen, doch dieses Mal ging ich absichtlich, ohne zu grüßen, an der Dicken vorbei. Meine Mutter bürstete Steckrüben für unseren Wintereintopf ab, die Nachbarin thronte mit zwei prall gefüllten Einkaufstaschen neben ihr und hörte nicht auf zu reden. »Die Alte im Laden drunten ist eine ganz unehrliche Person.« Sie schlug mit der flachen Hand auf ihre schwabbeligen Schenkel. »Hat sie mir doch letztens zu wenig herausgegeben! Ich sage es Ihnen, die Frau lügt und betrügt.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kaufe da nicht mehr.« Meine Mutter nickte stumm und bürstete weiter. In dieser Nacht bekam ich hohes Fieber. Ich träumte viel wirres Zeug, fuhr mit meinen Händen in der Luft herum, um mein heiß ersehntes Fernrohr zu erreichen, doch es glitt mir immer wieder weg. Wenn ich wach war, wälzte ich mich in meinem Bett und sah den Buckligen vor mir als Lehrer mit einem Stock auf mich zukommen, dann Herrmann mit seiner Na36
del und die alte Krämerin mit ihrer eindringlichen Flüsterstimme, und diese Bilder verschwanden nicht, so tief ich auch unter meine kratzige Wolldecke kroch. Alle halbe Stunde trat meine Mutter zu mir und kühlte mein Gesicht mit einem feuchten Tuch, bis ich im Morgengrauen endlich Ruhe fand. Ich wurde ernstlich krank, doch selbst als ich wenige Tage vor Weihnachten wieder zur Schule gehen konnte, wusste ich, dass das Ganze noch nicht ausgestanden war. Ich nahm meine Schultasche und trödelte noch in der Küche herum, da erzählte meine Mutter mir ganz beiläufig, die alte Krämersfrau sei letzte Woche gestorben. Sie merkte gar nicht, wie sehr ich erschrak. »So schlimm ist das nicht.« Sie ließ Wasser zum Bodenwischen in einen Eimer laufen und suchte nach ihren Gummihandschuhen. »Die hielt immer gar zu sehr zu diesem krummen Mann. Das war mir nie geheuer.« Ich dachte an den stummen Holzjesus in der Kirche, an die Worte meiner Mutter, nach denen alle Menschen Sünder waren, und an die Krämerin, die an das Gute im Menschen und besonders an das Gute in dem buckligen Mann geglaubt hatte – und war nun vollends verwirrt. An der Schulhofmauer unter der kahlen, hohen Kastanie wartete Herrmann auf mich, hinter ihm ein paar von den anderen, und mit einem Mal sehnte ich mich nach einem echten Freund. Das mit Herrmann und 37
der Bande war nur zum Zeitvertreib, und nun sah ich, wie schnell Freundschaft in Drohungen umschlagen konnte. Herrmann empfing mich nicht aus Güte oder weil ich ihm während meiner Krankheit gefehlt hatte. Das sah ich ihm schon auf hundert Meter Entfernung an. »Heute Nachmittag fliegt unser Engel!« Herrmann versperrte mir den Weg. »Du bist dabei. Und zwar in der ersten Reihe.« »Ich darf noch nicht so lange raus.« Mit klopfendem Herzen trat ich einen Schritt beiseite, um an ihm vorbeizugehen. »Ich hatte eine Lungenentzündung.« »Du bist ein Säugling.« Er zog mir den Kopf an den Haaren ins Genick. »Um halb drei stehst du auf der Brücke. Oder du kannst was erleben.« Die Brücke war damals eine der einsamsten Stellen in unserer Gegend. Hier geht der Fluss, an dem unser Dorf liegt, in einen Wasserfall über. Doch zu jener Zeit war der Wanderweg schon umgeleitet worden, weil die Brücke morsch war. Eine neue wurde ewig nicht gebaut. Nur wir Kinder hielten dort ab und an geheime Treffen ab. Der Fußweg zur Brücke dauerte eine halbe Stunde, und als ich sie erreichte, war ich trotz Minusgraden nass von Schweiß, mein Atem ging pfeifend und das Hemd klebte mir am Körper. Ich war noch schwach auf den Beinen vom langen Liegen, mir wurde leicht schwindlig. Auch hatte ich meiner Mutter nicht gesagt, wohin ich ging, und vor Herrmann fürchtete ich mich. Da entdeckte ich den Buckligen. 38
Er saß auf der Brücke, an einen Pfeiler gelehnt, der das wackelige Geländer abstützte wie eine Greisin ihren fußlahmen Mann, und er aß etwas, ich konnte nicht erkennen, was es war. Ansonsten bewegte er sich nicht, ich sah ihn nur kauen, abbeißen und wieder kauen mit seiner schiefen Kopfhaltung, und mir wurde klar, dass er wohl oft hierher kam. Der ganze Platz gehörte ihm. Ich wollte ihn nicht stören, überhaupt wollte ich nach Hause. So leise ich konnte, wandte ich mich um. Vor mir stand Herrmann. Ohne ein Wort zu sagen, packte er mich im Nacken und schob mich auf die Brücke zu. Seine Gefolgschaft schlich geduckt hinter uns her. Ich sträubte mich, doch Herrmann war stärker. »Da hast du deinen Engel, Mädchen.« Er sprach ganz leise und ein wenig heiser, ich spürte seinen Atem an meinem Ohr. »Du gibst ihm jetzt einen Schubs, und dann werden wir ja sehen, ob er fliegt.« »Bist du verrückt!« Ich versuchte mich aus seinem Griff zu winden. »Unter ihm ist der Wasserfall. Wenn er stirbt!« Herrmann drängte mich vorwärts. »Du behauptest, dass er Flügel unter dem Buckel hat. Ich sage, er ist ein Krüppel. Wenn du gelogen hast, bist du dran.« Ich sah mich unauffällig nach einem Fluchtweg um, doch ich hatte keine Wahl. Nur noch wenige Meter trennten uns von dem Buckligen, der uns nicht zu bemerken schien. Herrmann versetzte mir einen kräftigen Stoß, ich strauchelte und schlug ganz dicht 39
neben dem Mann mit dem Gesicht auf das schmutzige Holz. Dann hörte ich, wie etwas Schweres in das eisige Wasser fiel, und wagte nicht aufzusehen. Herrmann und die anderen rannten fort. »Lass sie gehen.« Die Stimme des Buckligen kam von ganz nah, ich hatte sie mir anders vorgestellt, nicht so wohlklingend und tief. »Nichts ist passiert. Es war nur mein Brotbeutel. Der ist von der Brücke gerutscht.« Zögernd blinzelte ich durch meine Wimpern zu ihm auf. Sein Gesicht war dicht über meinem, und nun sah ich erst richtig, wie krank er war. Selbst seine Augen standen so schief, dass er schielte. Langsam rappelte ich mich hoch. »Sie hätten tot sein können!« »Ich kenne doch solche Jungen wie euch.« Der Bucklige winkte ab und sah in die Ferne. »Schließlich war ich immer gern Lehrer … Du weißt doch davon?« Ich nickte und sah zu Boden. »Leider machte der Rücken nicht mehr mit.« Er drehte sich mit der Seite zu mir, sodass ich das ganze Ausmaß seines Leidens vor Augen hatte. »Doch das ist nicht so arg. Viel schlimmer ist die Einsamkeit.« Verblüfft dachte ich daran, dass wir da etwas gemeinsam hatten, und wartete darauf, mehr zu hören. »Die Leute machen sich zu viele Gedanken über einen wie mich. Dann sagen sie ungerechte Dinge, die ich nicht hören soll. Dabei kenne ich jedes Wort.« 40
»Herrmann sagt, Sie sind ein Krüppel.« Ein wenig verpetzen wollte ich ihn nun schon. Doch der Bucklige schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Ich rede von den Flügeln, die ich haben soll. Die Krämerin hat es immer gut gemeint, aber gerade damit grenzte sie mich aus. Selbst in der überfüllten Kirche zu Weihnachten bin ich allein. Niemand wagt es, mit mir zu reden.« »Doch!« Ich sah ihm fest in seine schielenden Augen. »Ich.« Amüsiert dachte ich daran, was Herrmann heute alles versäumt hatte. Wir werden schon noch sehen, wer von uns ein Mädchen ist, lachte ich still in mich hinein. So nah wie ich hatte er sich jedenfalls noch nie an den Buckligen herangetraut. Der Mann atmete tief ein. Jetzt, von vorn, sah er nicht ganz so schief aus. Er reichte mir die Hand. »Und nun flieg, mein Engel. Geh nach Hause und werde erst mal richtig gesund. Ich werde bestimmt niemandem sagen, wo du warst.« Dabei lachte er, als hätte er einen tollen Witz gemacht, doch ich wusste genau, wie er das gemeint hatte. »Ich könnte Sie begleiten!«, rief ich und sprang auf. Der Bucklige bedankte sich. »Ich bleibe noch ein Weilchen. Sieh nur, es dämmert bereits, und am Himmel sind schon die ersten Sterne zu sehen! Der große dort leuchtet besonders hell.« »Ein Fernrohr müsste man haben«, seufzte ich. Dann wanderte ich heimwärts. Dieses Mal jedoch ließ ich mir Zeit auf meinem Weg, und so war es 41
längst stockfinster, als ich schließlich zu Hause ankam. Die Speckschürzennachbarin hätte ich küssen mögen, denn dank ihrer hatte meine Mutter kaum gemerkt, wie lange ich fort gewesen war. Ich wollte noch ein Weilchen allein sein. Doch abends nach dem Beten kam mir ein Gedanke, den ich für grandios hielt. »Vielleicht ist der Bucklige ja der Weihnachtsmann, Mutti!«, mutmaßte ich. »Es könnte doch sein, dass er so krumm geworden ist, weil er immer so viele Geschenke schleppen muss!« Natürlich wollte ich damit erreichen, dass meine Mutter den Buckligen an Heiligabend zu uns einlud. Stattdessen handelte ich mir eine weitere Ohrfeige ein und bekam nichts zu Weihnachten. Als ich den Buckligen nach den Feiertagen auf der alten Brücke wieder traf, schenkte er mir sein altes Fernrohr, das noch ganz gut funktionierte. Ich hatte ihm heimlich aus Stoffresten einen neuen Brotbeutel genäht. Dicht nebeneinander saßen wir in der Kälte und sahen uns gemeinsam die Sterne an. Und obwohl wir am Firmament weder Engel entdeckten noch selbst welche waren und ich das mieseste Weihnachtsfest meines Lebens hinter mir hatte, wuchs an jenem Tag ganz allmählich in mir das Gefühl, fliegen zu können.
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Thomas Feibel Kein Weihnachten mit Andre
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ndre Salzmann war ein Idiot. Mit seinen Marotten ging er allen im Ferienlager mächtig auf die Nerven. Für einen Fünfzehnjährigen sah er verdammt lächerlich aus: Offenbar trug er die ausgedienten, grauen Anzughosen seines Vaters auf und besaß nur einen hellblauen Rollkragenpulli und einen Norwegerpullover mit gezackten Hirschmotiven. Seinen bulligen Körper verbarg er unter seinem Parka. Diese olivgrüne Jacke mit Fellkapuze liebte er heiß und innig. Nie hatte einer von uns André ohne sie gesehen. Sogar nachts streifte er den Parka über seinen karierten Schlafanzug und stieg so ins Bett. Mit seinem defekten Kassettenrekorder trieb er uns, seine vier Zimmergenossen, in den Wahnsinn. Kaum hatte er den Raum betreten, schaltete er die Klapperkiste ein. André schien den Song American Pie von Don McLean ganz besonders ins Herz geschlossen zu haben. Jedenfalls hatte er die achteinhalb Minuten lange Fassung hintereinander immer wieder auf einer Neunziger-Kassette von beiden Seiten aufgenommen. Pausenlos dröhnte der Refrain »Bye, bye, Miss American Pie« leiernd aus dem Gerät. Und selbst wer den Song mochte, hatte nach spätestens zwanzig Minuten von dem Gejaule genug. Zweimal schon hatten wir ihm die Kassette geklaut. Vergeblich. Er musste in seinem abgeschlossenen Koffer einen unendlichen Vorrat an Kopien dieser Aufnahme haben. Unserem genervten Protest begegnete er stets un44
einsichtig. Jeden Abend stand er barfüßig in Schlafanzug und Parka vor seinem Rekorder und putzte sich die Zähne. Manchmal stürzten wir uns vor lauter Verzweiflung auf ihn und versuchten ihm seinen dämlichen Parka vom Leib zu reißen. Aber der tumbe Kerl mit den braunen Strubbelhaaren war einfach zu stark. Die einen setzten schließlich nur noch auf das Erlahmen seiner Batterien, die anderen beschlossen einfach, taub zu werden. Draußen schneite es. Wir waren in einem jüdischen Ferienlager mitten in Tirol. Während wir draußen in der Dezemberwelt kaum den geschmückten Tannenbäumen und Weihnachtsmärkten entkommen konnten, blieb unsere Unterbringung die einzig sichere, weihnachtsfreie Zone. Irgendwie verwirrte uns Weihnachten. Obwohl die Weihnachtsfeiertage nichts mit unserer Religion zu tun hatten, mochten wir das Fest mit dem Lichterschmuck und der gemütlichen Stimmung. Auch wenn wir das nie zugegeben hätten. Während alle Welt Weihnachten feierte, fuhren wir jedes Jahr Ski und taten so, als wäre nichts. Jedenfalls diejenigen von uns, die Ski fahren konnten. Am 24. Dezember nahm sich André Salzmann vor, die hohe Kunst des Skifahrens zu erlernen. David, ein schlaksiger grünäugiger Medizinstudent mit russischen Vorfahren und ständig triefender Nase, war für unsere ärztliche Versorgung während der Ferien zuständig. Er erklärte sich als Einziger bereit, den Jungen im Parka in die Grundlagen des Abfahrtskis, also Schneepflug, Parallelschwung und Brems45
manöver, einzuweisen. Zwei Dinge erschwerten dieses Vorhaben: Erstens erwies sich der mopsige André alles andere als sportlich, und zweitens ließ er sich grundsätzlich von niemanden etwas sagen. Ton und Umgangsformen hingen bei ihm von seinen häufig wechselnden Berufsplänen ab. Noch mit vierzehn hatte er lauthals verkündet, er wolle Feuerwehrmann werden. Von da an hatte er nur noch über Brandursachen und Löschtechniken gesprochen. Und nichts und niemand hätte ihn von diesem Projekt abbringen können. Vor einem Jahr hatte er eine nicht weniger schwierige Phase als Kommissar durchgemacht. Ständig schlich er hinter den anderen her, nickte wissend und machte sich eifrig Notizen auf einem Block, den er immer bei sich trug. Dieses Jahr wollte André Arzt werden. Und da er in seiner heimatlichen Bibliothek in Frankfurt alle vorhandenen Fachbücher über Krankheiten und Operationen in sich aufgesogen hatte, brachte er gegenüber unserem Mediziner David einfach nicht den nötigen Respekt auf. David hatte mit einem Mal einen Assistenten, der ihm ständig in seinen Behandlungsmethoden reinredete. Unser Bus hielt in der Nähe der Nähe der Anfängerpiste. André mühte sich, durch Bauch und Parka gehemmt, in seine Skischuhe. »Hilf mir mal«, befahl er David und stützte sich auf dessen Schulter ab, bis er einigermaßen sicher auf seinen Skiern stand und die Bindungen eingerastet waren. Dann zog er seine Mütze zurecht und nahm, noch ehe David etwas sa46
gen konnte, mit seinen Stöcken Schwung. »Ich fahre!«, rief er triumphierend. Doch bevor er die Piste erreicht hatte, rutschte er und kippte wie ein olivgrüner Mehlsack zur Seite in den Schnee. Ganze fünf Sekunden hatte er sich auf den Beinen gehalten. Die aus den Bindungen gelösten Skier sausten ohne André den Abhang hinunter. Sofort sprang David herbei und half dem Pechvogel auf die Beine. Einer der anderen Jungs fuhr runter, um die Skier einzusammeln. »Mein rechter Fuß!«, jammerte André und setzte sich in den Schnee. »Ich kann nicht auftreten. Au, das tut so weh.« Behutsam zog ihm David den Skischuh aus. »Etwas angeschwollen«, meinte der Medizinstudent. »Vermutlich verstaucht.« »Völliger Unsinn«, erklärte André ärgerlich. »Das Gelenk ist gebrochen, Herr Kollege.« David schüttelte den Kopf. »Das sieht mir eher nach einer Verstauchung aus.« »Nein«, beharrte André mit einem Kennerblick auf seinen Fuß, »viel eher handelt es sich um einen komplizierten Bruch, Herr Kollege. Das weiß ich genau.« »Und woher?«, fragte David genervt. Der Junge im Parka verdrehte die Augen. »Weil ich als zukünftiger Arzt so einen Bruch schon hundertmal auf Abbildungen gesehen habe. Ich fürchte, ich muss auf einer Röntgenaufnahme bestehen!« »Und wie sollen wir das machen?«, fragte David und putzte seine rote Nase. »Der Busfahrer kommt erst um fünf wieder.« 47
André klopfte sich den Schnee von seinem Parka. »Und welche Behandlungsmethode schlagen Sie dann vor, Herr Kollege?« »Nun, zuallererst könntest du mal aufhören, mich mit Herr Kollege anzusprechen, du Schmock. Und dann versuchen wir es hiermit«, meinte David und kramte aus seiner Jacke eine Alka Seltzer heraus, eine münzgroße, wasserlösliche Kopfschmerztablette. Schließlich mussten wir mit einem Taxi in das kleine Krankenhaus im Nachbarort fahren. »So ein Pech!«, meinte die Krankenschwester in der Aufnahme mitfühlend. »Du armer Kerl, ausgerechnet an Heiligabend …« Außer André waren keine anderen Patienten zugegen. »Er ist beim Skifahren gestürzt«, erklärte David der Schwester. »Sein Bein ist verstaucht.« »Ist es nicht«, widersprach André laut. »Bitte schön, wir wollen hier doch keine wertvolle Zeit verschwenden. Wenn Sie mich bitte schleunigst röntgen könnten! Dann werden Sie feststellen, dass ich eine komplizierte Fraktur im Unterschenkel habe. Selbst einen mehrfachen Bruch kann ich nicht ausschließen.« Die Schwester verfrachtete André in einen Rollstuhl und schob ihn in ein leeres Wartezimmer. »Es kann noch eine Weile dauern«, meinte sie kurz angebunden. »Wegen der Feiertage haben wir nur eine kleine Besetzung.« Überall hingen Infoplakate. Im Fenster blinkten 48
Weihnachtslichter, und aus dem Büro der Krankenschwester drang weihnachtliche Musik zu uns herüber: jubilierende Chöre und Lieder, wahrscheinlich aus dem Radio. Für eine Weile hielt André tatsächlich den Mund und starrte schweigend vor sich hin. Vermutlich hatte er Angst, den Rest der Ferien im Krankenhaus verbringen zu müssen. David putzte kurz seine Nase und zog ein Set Pokerkarten hervor. »Wollen wir?« Wir setzten uns um einen Kindertisch herum. David mischte die Karten und teilte aus. André blickte an die gegenüberliegende Wand. Dort hing ein Kreuz. Nichts machte uns jüdische Jugendliche so ratlos wie das Abbild des Gekreuzigten. Obwohl wir Jesus respektierten, ohne an ihn zu glauben, wussten wir nie so recht, wie wir auf sein Abbild reagieren sollten. Schließlich wies uns seine Anwesenheit immer wieder daraufhin, dass wir nicht zum christlichen Abendland gehörten. Während wir lustlos pokerten, hörten wir, wie die Krankenschwestern zur Radiomusik sangen. »Irgendwie ist Weihnachten gar nicht so schlecht«, murmelte André. »Ich meine, von der Aufmachung her …« »Aber wir haben Chanukka«, erwiderte David. »Das ist doch auch ein tolles Fest. Und Geschenke gibt es auch.« »Schon«, räumte André ein. »Aber so ein Weihnachtsmann macht eben doch mehr her. Dazu die ganzen Konzerte …« 49
David sammelte die Karten ein. »Sag mal, auf welcher Seite stehst du eigentlich?« Da erschien eine der Schwestern in der Tür. »Wenn Sie wollen«, meinte sie freundlich, »können Sie auch gerne bei uns im Zimmer warten. Wir feiern gerade ein bisschen.« Überrascht starrten wir sie an. Die drei Schwestern empfingen uns herzlich. Sie boten uns Tee an, Kaffee und Plätzchen und dazu einen Kuchen, der mit Puderzucker bestreut war. Während die in Weiß gekleideten Damen munter miteinander plauderten, kauten wir schweigsam auf dem Kuchen herum. »Was ist das?«, fragte André mit vollem Mund. »Christstollen.« Schweigend betrachteten wir den Adventskranz mit den vier brennenden Kerzen und der roten Schleife. Im Hintergrund stand ein kleiner Tannenbaum aus Plastik mit bunten Kugeln und Lametta. »Der ist echt lecker«, urteilte André fachmännisch. Nun stimmten die Krankenschwestern Weihnachtslieder an und forderten uns auf, mit ihnen zu singen. Das war aber gar nicht so leicht. Wir kannten zwar ein paar der Melodien, aber nicht den Text. David brachte gerade mal die Zeile »Oh Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter« hervor. Eine der Schwestern goss Tee nach. »Was macht das Bein?«, fragte sie André. »Für einen mehrfachen Bruch sind die Schmerzen erstaunlich erträglich«, erwiderte er. »Ach bitte 50
schön, könnte ich noch etwas Christstollen haben?« »Sicher«, antwortete sie. »Keine Angst. An Heiligabend bleiben nur die absoluten Notfälle hier. Sobald der Arzt dich untersucht hat, kannst du nach Hause zur Bescherung.« Wir wussten nicht so recht, was wir sagen sollten, und kamen uns wie Aliens vor. Unser Schweigen vergiftete langsam, aber sicher die freundliche Atmosphäre. »Machen Sie hier Urlaub?«, versuchte die Krankenschwester erneut ein Gespräch anzuknüpfen. »Ja«, antwortete David einsilbig. »Skiurlaub.« Dann kaute er weiter an seinem Plätzchen herum. »Und woher aus Deutschland kommen Sie?« »Aus ganz verschiedenen Gegenden. Wir sind eine Jugendgruppe.« »Ohne Eltern?« »Die sind zu Hause.« »An Weihnachten?« David schlürfte ratlos seinen Tee. Für einen Moment war es im Zimmer totenstill. Von draußen näherten sich Schritte. Der Bereitschaftsarzt trat herein. »Was haben wir denn hier?«, fragte er fröhlich. »Ich bin beim Skilaufen gestürzt, Herr Kollege«, erklärte André bedeutungsvoll und wischte sich die Krümel von seinem Parka. »Schwer gestürzt.« »Kollege?« Der Arzt kratzte sich am Hinterkopf. »Bist du hier etwa der Arzt?« »Noch nicht, aber sobald ich mit der Schule fertig bin, studiere ich Medizin. So viel steht fest. Ich mei51
ne«, er sah betreten zu Boden, »nur falls mein Bein nicht amputiert werden muss. Möglicherweise sind die Brüche zu schlimm, oder es hat sich schon eine Entzündung ausgebreitet.« Der Arzt sah fragend in die Runde. Eine Krankenschwester zuckte mit den Schultern, David blätterte gelangweilt seinen Kartenstapel durch. Der Arzt untersuchte André. »Das Bein ist verstaucht«, lautete die Diagnose. »Wenn du es in den nächsten Wochen nicht zu sehr belastest, ist das bald vorbei, Herr Kollege.« Er grinste. »Und die Amputation?«, fragte André erstaunt. »Fällt aus.« »Und mein Skikurs?« »Ebenso.« Während der Arzt seinen Kittel auszog, cremte eine der Schwestern das geschwollene Bein ein. Danach legte sie André einen Verband an. Bekümmert blickte er den Arzt an. »Und ein Irrtum ist wirklich ausgeschlossen?«, fragte er. Als wir zurück in unserer Unterkunft waren, schmetterte Don McLean mit Inbrunst sein unvermeidliches American Pie aus dem Rekorder. Wir saßen auf Davids Zimmer und spielten Karten. André thronte mit Parka und Verband auf Davids Bett. Den Rekorder hatte er mitgenommen und schien ganz zufrieden. Auf dem Nachttisch lag ein Holzbrettchen mit dem Rest des Christstollens, den ihm die Schwester mitgegeben hatte. Allerdings hatte er sich geweigert, uns etwas davon abzugeben. Bald würde es Abendessen 52
geben. Nichts Besonderes: Brot, Käse und Salat. Unten deckte der Küchendienst laut klappernd die Tische. Bei der achten oder neunten Wiederholung von American Pie unterbrach Tammi unser Spiel. Tammi war mit Abstand das hübscheste Mädchen im Ferienlager, obwohl sie einen leichten Silberblick hatte. Nur dass sie mit Harry ging, dämpfte unsere Schwärmerei ein wenig. Tammi klagte über Bauchschmerzen. David scheuchte André vom Bett, damit sie sich drauflegen konnte. Dann tastete David mit ernster Miene ihren Bauch ab. »Könnte eine Magen-Darm-Grippe sein, aber auch das erste Anzeichen von Krebs«, erklärte André fachmännisch, stopfte sich ein Eckchen Stollen in den Mund und vergrub anschließend die Hände in den Taschen seines Parkas. »Wie war dein Stuhlgang heute?« »Halt die Klappe, André«, zischte Tammi mit zusammengebissenen Zähnen. David zog seinen Medizinkoffer unter dem Bett hervor und wühlte darin herum. »Hm«, brummte er nachdenklich und reichte ihr eine Alka Seltzer. »Das wird dir sicherlich fürs Erste helfen.« André nahm kopfschüttelnd das Pokerspiel wieder auf. »Du machst es dir wirklich sehr einfach, Herr Kollege.« David packte den Knaben unsanft am Kragen seines Parkas. »Noch ein Wort, Herr Kollege, und ich 53
amputiere dein Bein nachträglich mit einer Nagelschere.« Ein paar Minuten spielten wir schweigend. David teilte aus, David gewann. »David?« Unser Nachbar Johnny stand mit fiebrig glänzenden Augen in der Tür. »Ich habe starke Halsschmerzen und kann kaum schlucken. Hast du etwas für mich?« »Vielleicht ist es eine Mandelentzündung«, murmelte André und warf David einen Blick zu. »Darf ich seine Lymphknoten abtasten?« »Untersteh dich! Gib mir lieber eine Tablette aus dem Koffer.« André wuchtete den Samsonite unter dem Bett hervor und ließ die Schlösser aufschnappen. Was er hier sah, verschlug ihm offensichtlich die Sprache. Im Koffer befanden sich Hunderte von Alka-SeltzerTabletten. Sonst nichts. »Aber, aber …«, stotterte er. Trotzdem reichte er David gehorsam die Brausetablette. »Versuch’s mal damit. Wenn es nicht hilft, komm einfach wieder.« Wenige Minuten später kam Johnnys Zimmergenosse hereingestürmt. »David, komm schnell!«, rief er. »Johnny erstickt.« Wir rannten alle ins Badezimmer. Johnny lag auf dem Boden, das Gesicht blau angelaufen, die Augen weit aufgerissen. André blickte den Patienten fasziniert an. »Los, ich brauche Wasser!«, befahl David. Einer 54
der Jungs reichte ihm ein Glas. Vorsichtig flößte er dem japsenden Johnny etwas Flüssigkeit ein. Die Tablette begann sich aufzulösen, und Johnny bekam wieder Luft. »Bist du wahnsinnig?«, schrie ihn David an. »Was hast du mit der Tablette gemacht?« »Geschluckt«, brachte Johnny mühsam hervor. André hob mahnend den Zeigefinger. »Alka Seltzer ist eine Brausetablette, du Schmock!« In der zweiten Ferienwoche, nach Neujahr, wollte es André unbedingt noch mal mit dem Skifahren versuchen. Wir allen rieten ihm davon ab, auch David: »Dein Knöchel ist noch nicht so weit.« »Und woher willst du das wissen? Du hast doch von Medizin keine Ahnung.« »Mach doch, was du willst, André, aber ich fahre nicht noch einmal mit dir zu den singenden Schwestern.« André ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. »Als angehender Mediziner erkläre ich mich für geheilt und werde heute Ski fahren.« Der Bus brachte uns zur Anfängerpiste. Stolz trug André seine Ski über den Schultern. Die ganze Nacht hatte es geschneit und der Neuschnee knirschte unter unseren Schritten. André zog mit finsterer Entschlossenheit den Reißverschluss seines Parkas zu. Auf David gestützt, bückte er sich und drückte die Klippverschlüsse seiner Skistiefel zu. Er stieg auf die Skier und ließ die Bindungen einrasten. 55
Schon hatte er die Skistöcke erhoben, um sich abzustoßen, da knickte er an Ort und Stelle ein und kippte zur Seite in den Schnee. Beim Versuch, den olivgrünen Koloss aufzuhalten, plumpste David direkt auf ihn. André wurde auf der Stelle ohnmächtig. Vorsichtig trugen wir ihn von der Piste herunter. David gab ihm ein paar leichte Ohrfeigen. Langsam öffnete er die Augen und blickte David erstaunt an. »Wo bin ich?«, fragte er. Wir sagten es ihm. »Wer bin ich?«, fragte er. »André«, antwortete David. »André?«, flüsterte unser Medizinmann versonnen. »Komisch, ich kann mich an gar nichts erinnern. Wer bist du?« David warf uns einen drohenden Blick zu. »Ich bin Medizinstudent.« »Ehrlich? Und die anderen?« David nahm seinen Rucksack ab, holte eine Wanderflasche heraus und goss etwas Wasser in einen kleinen Plastikbecher. Dann fischte er eine Alka Seltzer aus seiner Jackentasche und warf sie hinein. Auffordernd hielt er André den Becher hin. »Trink!« »Was ist das?« »Alka Seltzer, ein Wundermittel.« »Ich habe aber gar keine Schmerzen.« »Trink!« »Und das hilft?«, fragte André unsicher. »Ganz bestimmt«, beruhigte ihn David und ließ dann ein Taxi holen. Kurz darauf begann es zu schneien. 56
Selim Özdogan Noch jemand
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obald gegen Ende Oktober die ersten Kaufhäuser mit ihren Weihnachtsdekorationen anfingen, erinnerte mich mein Vater mindestens dreimal die Woche daran. - Heiko, du musst bis Weihnachten dein Altspielzeug in eine Kiste packen. Altspielzeug, solche Worte benutzte mein Vater. Es gibt Altkleider, die kommen in die Altkleidersammlung, es gibt Altpapier, das kommt in die Altpapiertonne, und es gibt Altspielzeug, das verschenken wir jedes Jahr zu Weihnachten an andere Kinder. Altspielzeug, halt der ganze Kram, mit dem ich nicht mehr spiele. Wahrscheinlich findet mein Vater das Wort witzig. Aber er nennt mich immer Heiko, obwohl er genau weiß, dass ich den Namen nicht mag. Meine Mutter hat ihn mir angeblich verpasst, bevor sie dann mit einem Ami durchbrannte, mit dem sie nun in der Provence lebt. Ich kann mich nicht an sie erinnern, aber ich glaube nicht, dass ich ihr böse wäre, wegen meines Namens. Meine Freunde nennen mich alle Ko. Fränkie kam drauf. - Heiko, sagte er, das ist ja, als würde man Hi Ko sagen, da ist ja die Begrüßung mit drin, dein richtiger Name ist bestimmt Ko, ohne das Hi. Seitdem heiße ich für alle Ko, außer für die Lehrer und meinen Vater, der das albern findet. Meistens weiß ich sehr genau, was ich verschenken will, ich brauche keine zehn Minuten, um alles 58
in eine Kiste zu packen. Okay, in einen Schuhkarton. Es gibt Sachen, von denen ich mich nicht trennen kann, die wandern dann ganz hinten in den Kleiderschrank, weil ich nicht mehr damit spiele und sie trotzdem behalten will. Die darf mein Vater nicht finden, er würde sie weitergeben wollen. Mein Vater sagt nämlich nicht verschenken, er sagt weitergeben. - Du sollst weitergeben, was du nicht mehr brauchst. Und außerdem sollst du sehen, dass es Kinder gibt, die unter ganz anderen Bedingungen leben, du sollst ein wenig deinen Wohlstand zu schätzen wissen, gerade zu Weihnachten. So soll ich dann jedes Jahr an Heiligabend eine Kiste oder zumindest einen Schuhkarton voll haben, dann setzen wir uns ins Auto und fahren ins SOS Kinderdorf und geben dort die Sachen weiter. Meistens sind wir in Eile und jedes Mal sagt mein Vater: - Nächstes Mal bleiben wir länger. Aber wir schaffen es nie, weil er immer alles erst auf den letzten Drücker macht und weil wir fast immer zu spät dran sind und es nicht mal hinkriegen an Heiligabend pünktlich meine Oma abzuholen, die Weihnachten immer bei uns verbringt. Oma ist die Mutter meiner Mutter, meine anderen Großeltern sind schon tot. Am Heiligabend schaltet mein Vater schon morgens sein Handy aus, und er macht es erst nach Weihnachten wieder an. Es soll eine besinnliche Zeit 59
sein, sagt er, und dann kriegt er es nie hin mit dem Einkaufen und Kochen und dem Saubermachen, und alle zehn Minuten fragt er mich: - Hast du schon alles eingepackt? Ich will nicht auf dich warten müssen. Ich habe längst alles fertig, aber er glaubt irgendwie immer, ich würde nach ihm kommen oder so. Dieses Jahr ist es eine große Kiste geworden, da sind die Inline-Skates, die passen mir nicht mehr, der Gameboy, mit dem ich nicht mehr spiele, seit ich die Playstation 2 habe, das Schachspiel, das wir in Algerien gekauft haben und mit dem ich vielleicht fünfmal gespielt habe. Aber das wollte ich ja eigentlich auch gar nicht, mein Vater hatte gemeint, dann könnten wir mal zusammen spielen, aber meistens hat er keine Zeit. Oder ich habe keine Lust, Schach ist kein spannendes Spiel. Und da sind auch noch die Boxhandschuhe drin, die ziehe ich auch nie an, ich haue lieber so auf den Sandsack. Das ist ziemlich viel, was ich dieses Jahr weitergeben will. Nur beim Gameboy bin ich mir nicht ganz sicher. Mein Vater scheint noch hektischer als sonst, heute Mittag erst hat er den Baum gekauft, es hat Stunden gedauert, bis er im Keller den Schmuck gefunden hat, es hat so lange gedauert, dass er erst mal einkaufen musste, bevor er die Kugeln und die Lichterkette auf den Baum hängen konnte, weil sonst die Geschäfte schon zugehabt hätten. Es ist fast fünf, als Vater in mein Zimmer kommt, wo ich gerade Resident Evil spiele, und sagt: 60
- Los, los, Heiko, bist du immer noch nicht fertig? Hast du die Kiste gepackt? Er hat nicht mal gesehen, dass sie schon im Hausflur steht, so ist er immer. Aber man darf das dann nicht sagen, sonst wird er sauer. Am besten ist, man hält den Mund, wenn er in Eile ist. Also ziehe ich mir einfach die Schuhe an, die Mütze, den Schal, die Jacke, die Handschuhe. Draußen herrscht eine klirrende Kälte, der See ist schon seit zwei Wochen zugefroren. Ich nehme die Kiste unter den Arm, mein Vater sucht noch die Autoschlüssel. Wir müssen fast eine Dreiviertelstunde über die Landstraße fahren, bis wir im SOS Kinderdorf ankommen, und dort muss es dann schnell, schnell, schnell gehen, weil wir ja spät dran sind und Oma noch abholen müssen. Manchmal würde ich echt gerne länger im Kinderdorf bleiben, mich mit den anderen Kindern anfreunden, um herauszukriegen, ob mein Altspielzeug bei ihnen in guten Händen ist. Aber jedes Mal vertröstet mich mein Vater auf nächstes Jahr. Also sitzen wir schon bald wieder im Auto und fahren zurück mit 140 Sachen über die Landstraße, die Alleebäume links und rechts fliegen nur so an uns vorüber. Es ist Heiligabend, es ist niemand auf den Straßen, die meisten sitzen schon zu Hause und freuen sich auf die Bescherung. Ich bin auch schon gespannt, was ich dieses Jahr bekomme. Gewünscht habe ich mir einen Spalding Basketball und Andl Basketballschuhe. Wahrscheinlich kriege ich das so61
gar, ich gehe schon seit fast einem Jahr zweimal die Woche zum Training. Wir brettern also über die Landstraße, dann stottert der Motor auf einmal mitten in der Fahrt, es hört sich an, als hätte sich jemand verschluckt. Dann klingt es, als müsste das Auto husten, und dann ist der Motor aus. Mein Vater guckt kurz zu mir, als hätte ich den Mist verursacht, und sagt: - Scheiße. Der Wagen rollt langsam aus, ich weiß nicht, was los ist. Mein Vater sagt nicht oft Scheiße, aber ich mache mir keine Sorgen. Ich mache mir keine Sorgen, obwohl ich sehe, wie er die Stirn in Falten legt, bis sich seine Augenbrauen fast berühren. Das bedeutet nichts Gutes. Und dann endlich sehe ich auf die Tankanzeige und denke: Das ist nicht wahr. Aber es ist wahr: Wir haben keinen Sprit mehr. Und ich weiß, dass der Reservekanister leer ist, der poltert seit Monaten im Kofferraum rum, weil mein Vater ihn nicht wieder aufgefüllt hat, nachdem er im Sommer schon mal mit dem Auto liegen geblieben war. Vater legt die Hände aufs Lenkrad, sagt keinen Ton. Wir stehen am Straßenrand, er lässt den Kopf hängen. - Rufen wir jetzt den ADAC an?, frage ich. Noch finde ich es spannend. Schon immer wollte ich mal dabei sein, wenn jemand vom ADAC in einem gelben Wagen angefahren kommt. Ich habe es mir immer wie ein Abenteuer vorgestellt. 62
- Heiko, sagt mein Vater, aber er sagt es eher zu seinen Knien als zu mir, Heiko, das Handy liegt zu Hause. - Wir stecken in der Klemme, sage ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Vater sieht es sowieso nicht. Nachdem wir drei Minuten geschwiegen haben und Vater sich keinen Zentimeter bewegt hat, frage ich: - Was jetzt? - Das nächste Dorf ist fast fünfzehn Kilometer vor uns, da sind wir in drei Stunden, wenn wir uns beeilen. Wir müssen warten, bis jemand vorbeikommt. Also warten wir. Nach zwanzig Minuten wird es langsam kalt im Auto, das Grinsen ist mir vergangen. Und ich weiß, dass es keine gute Idee war, den Gameboy weiterzugeben. Der würde mich jetzt wenigstens ein wenig von der Kälte ablenken. Es kommt nämlich niemand vorbei – zwanzig Minuten und kein einziges Auto kommt vorbei. Es ist Heiligabend, wer soll schon um diese Zeit auf der Landstraße unterwegs sein. - Und wenn niemand kommt?, frage ich jetzt. - Dann macht Oma sich Sorgen, große Sorgen, die wird fast wahnsinnig. Und wir erfrieren, denke ich, meine Nase ist schon ganz kalt, meine Finger spüre ich trotz der Handschuhe kaum noch, und ich habe die Schulter bis unter die Ohren hochgezogen. - Nie mehr ohne Handy aus dem Haus, sagt mein 63
Vater, auch nicht am besinnlichen Heiligabend. Wir sitzen schon eine Stunde im Auto, und immer noch ist niemand vorbeigekommen, ich zittere, meine Zähne klappern fast aufeinander, es ist Weihnachten, ich habe Hunger, ich will meine Geschenke, und anstatt schön im Warmen zu hocken wie alle anderen jetzt, sitze ich mit meinem Vater in diesem eiskalten Auto am Straßenrand und denke, dass die Kinder im Kinderdorf beides haben: Es ist warm und sie kriegen Geschenke. Die sollten sich nicht beschweren, denen geht es gerade viel besser als mir. Wir müssen wahrscheinlich bis morgen früh hier stehen, und wenn dann jemand kommt, sind wir wahrscheinlich schon erfroren. Sie werden Schwierigkeiten haben, unsere erstarrten Leichen aus den Sitzen zu zerren, ich seh’s schon. Ich bin sauer und wütend und ganz schwach vor Hunger, aber ich verkneife mir das Weinen, weil ich nicht hören will, wie Vater sagt: - Heiko, Heiko, du weißt, es gibt Menschen, denen geht es viel schlechter als uns. Wir haben sie gerade besucht. Und Oma ängstigt sich gerade zu Tode. Und ich würde nicht mutig genug sein, um zu antworten: - Und wir frieren uns zu Tode, wo ist der Unterschied? Nach fast anderthalb Stunden springt mein Vater plötzlich mitten auf die Straße und hebt beide Arme hoch. Ich drehe mich um, da kommt ein Auto, er muss es im Rückspiegel gesehen haben. Er muss sei64
nen Kopf gehoben haben, wahrend ich vor Kälte Zentimeter um Zentimeter geschrumpft bin. Es ist ein großer Volvo, er hält. Mein Vater redet mit dem Fahrer, dann kommt er zu mir und sagt: - Die haben leider kein Handy und kein Abschleppseil. Wir fahren mit ihnen mit. Sie müssen auch in die Stadt. Es ist ein Ehepaar mit einer Tochter, etwa so alt wie ich. Die blonden Haare der Frau liegen in großen steifen Wellen auf ihrem Kopf, sie hat fast gar keine Lippen. Der Mann hat Hängebacken und Schuppen auf dem Jacketkragen. Das Mädchen sieht eigentlich ganz nett aus. Ich sitze auf dem Rücksitz in der Mitte, und das Schweigen im Auto ist mir unangenehm, aber ich traue mich auch nicht, das Mädchen anzusprechen. Wenn wenigstens das Radio laufen würde. - Und wieso sind sie so spät noch unterwegs?, fragt mein Vater, und ich bin ihm dankbar dafür. - Weil Herbert es mal wieder nicht geschafft hat, sich von seiner ach so geliebten Mutter loszueisen, sagt die Frau, es war ganz klar ausgemacht, dass wir nur eine Stunde bleiben. Zumal ihre anderen Kinder ja da sind, die Frau ist nicht alleine. Aber Herbert ist so ein Muttersöhnchen, dann mussten wir einfach länger bleiben. - Beruhig dich Margitta, sagt Herbert. Und schrei nicht so. Sie hat gar nicht geschrien, aber jetzt brüllt sie: - Ich schreie gar nicht, immer sagst du, ich würde schreien, das stimmt nicht. Habe ich etwa geschrien, 65
Jes?, fragt sie und dreht den Kopf zu ihrer Tochter. Die ist in der letzten Minuten auch geschrumpft, aber nicht vor Kälte. Und sie schüttelt den Kopf. - Natürlich schreist du, sagt Herbert völlig gelassen, hör dich doch mal an, das ist ja kaum zum Aushalten. Und dann auch noch vor unseren Gästen. Nimm doch wenigstens auf die Rücksicht. Dass du auf mich keine nimmst, weiß ich ja. Gäste, er nennt uns Gäste. - Auf dich kann man ja auch keine Rücksicht nehmen, sagt Margitta nun, du setzt ja sowieso immer deinen Kopf durch, du Egoist. Ich sehe zu dem Mädchen rüber, sie hat sich ganz in ihre Ecke verkrochen. Dann drehe ich den Kopf. Mein Vater sieht auch nicht gerade glücklich aus, und obwohl ich merke, wie mir langsam wieder warm wird, wäre ich jetzt lieber wieder im kalten Auto mit meinem Vater. Ich will das nicht hören, ich möchte nicht dabei sein. Es ist, als würde man Leute belauschen, die schlecht über einen reden. Am liebsten würde man es nicht hören, aber man kann nicht weg, die Neugier hält einen. Hier ist es nicht die Neugier, hier ist es nur der Volvo. - Ich ein Egoist, das sagt aber die Richtige, schreit Herbert nun. Kurz vor der Stadt kriegen sie sich endlich wieder ein, und danach ist das Schweigen noch schlimmer als vorher. - Wie heißt du?, frage ich das Mädchen flüsternd, weil ich irgendetwas tun muss. 66
- Jessica, sagt sie, aber meine Mutter nennt mich Jes. - Das hört sich doof an, rutscht es mir heraus. Ich bereue es sofort, aber sie sagt: - Finde ich auch. Und du, wie heißt du? - Heiko. Sie fahren uns bis zu meiner Oma, die schon am Fenster sitzt und wartet. Sie ist auf der Straße, noch bevor wir richtig ausgestiegen sind. Kaum habe ich die Tür zugeschlagen, gibt Herbert schon Gas und meine Oma umarmt mich. Sie riecht nach Weihnachten. - Wo seid ihr nur geblieben? - Uns ist der Sprit ausgegangen, sagt mein Vater und ich denke: Dieses Mal habe ich es wirklich gesehen. Ich habe gesehen, dass es Kinder gibt, die beschissene Weihnachten haben. Jessica zum Beispiel.
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Maja von Vogel Weihnachtsmann gesucht!
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as hat man nun davon, wenn man einmal auf seine beste Freundin hört! Mir war von Anfang an klar, dass das Ganze eine Schnapsidee ist, aber Isa hat so lange auf mich eingequatscht, bis ich nachgegeben habe. »Das ist doch leicht verdientes Geld«, hat sie gesagt und mit dem Zettel vor meiner Nase herumgewedelt. »Dreimal die Woche zwei Stunden – da kannst du bis Weihnachten locker 90 Euro verdienen!« Wir standen gerade im Kaufhaus an der Kasse und hatten darüber diskutiert, wie ich meine Mutter davon überzeugen könnte, mir ein supercooles Oberteil für schlappe 69,99 Euro zu kaufen, das ich vorhin bei Venus entdeckt hatte, als Isa plötzlich einen spitzen Schrei ausstieß und nach dem Zettel grabschte, der neben der Kasse hing. Die Überschrift Weihnachtsmann gesucht – 5€/Stunde sprang mir in dicken, schwarzen Buchstaben ins Auge, worauf ich das weitere Lesen sofort einstellte und Isa einen Vogel zeigte. »Spinnst du?«, zischte ich entgeistert. »Ich bin zwar pleite, aber deswegen mache ich doch nicht alles für Geld!« Als Isa dann allerdings die magischen Worte »90 Euro« aussprach, schmolz mein Widerstand so schnell dahin wie der Schoko-Nikolaus, den ich letzte Woche versehentlich auf meiner Heizung vergessen hatte. 69
»90 Euro!«, murmelte ich verträumt. »Mann, davon könnte ich mir das tolle Oberteil kaufen und die silbernen Ohrringe, die wir letzte Woche gesehen haben …« »Genau«, stimmte Isa zu. »Und wenn Sascha dich in dem Oberteil auf der Weihnachtsparty sieht, fällt ihm vor Begeisterung glatt sein Kopfhörer aus der Hand!« Diese Bemerkung gab den Ausschlag. Sascha ist der süßeste Typ unseres Jahrgangs und ein super DJ. Er legt jedes Jahr zusammen mit seinen Kumpels auf der Weihnachtsparty im Jugendzentrum auf. Die Party ist immer das Ereignis des ganzen Winters, und ich habe beschlossen, dass sie diesmal außerdem der Anfang einer wunderbaren Beziehung zwischen Sascha und mir werden soll. Allerdings hat mich Sascha bislang noch keines Blickes gewürdigt, weshalb ihn mein Party-Outfit einfach umhauen muss. Wenn wir uns dann endlich in den Armen liegen, wird er sich nicht mal mehr an den Titel seiner Lieblings-CD erinnern … Leider ist es noch nicht so weit, und Herr Meyerbär, mein neuer Chef und der Leiter der Spielzeugabteilung im Kaufhaus, reißt mich brutal aus meinen angenehmen Sascha-Träumen. »Na, sieht doch prima aus«, sagt er zufrieden und betrachtet mich in meiner neuen Arbeitskleidung. »Allerdings könnte etwas mehr Bauch nicht schaden«, überlegt er dann und stopft mir ein Qualitätskissen mit Daunenfüllung unter die Jacke. Na prima 70
– ich habe mir schon immer gewünscht, wie ein Sumo-Ringer auszusehen. Vorsichtig werfe ich einen Blick in den Spiegel und schließe entsetzt die Augen. Dieser Anblick übertrifft meine schlimmsten Befürchtungen. Nicht nur, dass sich das Daunenkissen sehr unvorteilhaft über dem Hosenbund wölbt, die rote Hose und die Jacke sind mir außerdem viel zu groß, sodass ich sie mehrmals umkrempeln muss. Alles in allem sehe ich aus wie eine geschrumpfte WeihnachtsmannWitzfigur, bei der nur noch der Bauch die Originalgröße hat. Das wäre aber alles noch nicht so schlimm, wenn ich nicht auch noch eine ebenfalls viel zu große rote Mütze mit einer weißen Bommel tragen müsste, die mir ständig über die Augen rutscht. Die absolute Härte sind allerdings die Perücke mit den weißen Haaren, die dekorativ unter der Mütze hervorschauen, und der weiße, lange Bart, den Herr Meyerbärs Assistentin mir angeklebt hat. Der einzige Vorteil ist, dass mein Gesicht von den Haaren und dem Bart fast ganz verdeckt wird, sodass mich garantiert keiner erkennt – zumindest hoffe ich das! Zu guter Letzt verpasst mir Herr Meyerbär noch weiße, buschige Augenbrauen – wenigstens kann nun die Mütze nicht mehr so leicht über die Augen rutschen –, und schon bin ich fertig für meinen ersten Arbeitseinsatz als Weihnachtsmann. »Also, alles wie besprochen«, sagt Herr Meyerbär und drückt mir den Sack mit den Geschenken und 71
einen Stapel Werbeprospekte in die Hand. »Heute bist du auf dem Weihnachtsmarkt im Einsatz und morgen hier in der Spielzeugabteilung.« Ich nicke nicht sehr überzeugt und verlasse Herrn Meyerbärs Büro. Ich soll tatsächlich in diesem Aufzug nach draußen? Unter Menschen? Während ich versuche, mich auf dem Weihnachtsmarkt, der gleich vor dem Kaufhaus beginnt, möglichst unauffällig unters Volk zu mischen, verfluche ich Isa und ihre bescheuerten Einfälle. Wie soll ich bloß zwei Stunden in diesem unmöglichen Kostüm überstehen? Dann habe ich die rettende Idee und verschwinde schnell hinter einem Glühweinstand. Mit etwas Glück bemerkt mich hier keiner. Die Prospekte schmeiße ich einfach weg und marschiere um fünf Uhr ganz entspannt wieder zu Herrn Meyerbär – das war dann in der Tat leicht verdientes Geld! Als ich mich gerade über meinen genialen Geistesblitz freue, zupft mich jemand am Ärmel. Erschrocken drehe ich mich um und sehe einen kleinen Jungen, der mich fröhlich angrinst. Dann brüllt er ohne Vorwarnung los: »Mama, Mama, der Weihnachtsmann wollte sich verstecken, aber ich hab ihn gefunden! Guck doch mal, Mama, der Weihnachtsmann!« Nichts wie weg hier, ehe der Rotzlöffel den ganzen Weihnachtsmarkt zusammenschreit! Aber ich habe keine Chance. Als ich um die Ecke der Glühweinbude biege, um im Gewühl zwischen den Stän72
den zu verschwinden, laufe ich einer Frau in die Arme. Offenbar die Mutter des Jungen, der mir dicht auf den Fersen ist. »Da bist du ja, Alexander«, ruft sie und nimmt ihren missratenen Sohn an die Hand. »Und du hast den Weihnachtsmann getroffen, das ist ja schön!« Ja, sehr schön! Mutter und Sohn sehen mich erwartungsvoll an und mir wird klar, dass ich jetzt wohl irgendetwas sagen muss. Mist – ich hab mir noch gar keine Gedanken über meinen Text gemacht. Was sagt man denn so als erfahrener Weihnachtsmann? »Äh, ja, hallo auch«, stottere ich und merke, dass meine Stimme etwas zu hoch klingt. Ich räuspere mich und fahre ungefähr eine Oktave tiefer fort: »Nett, dass wir uns hier treffen. Warst du denn auch immer schön brav, Alexander?« Ha! Super! Gerade noch rechtzeitig ist mir der typische Weihnachtsmann-Spruch wieder eingefallen. Alexander nickt. »Ja, immer. Kriege ich jetzt ein Geschenk?« Er zeigt auf den Sack, den ich in der Hand halte und schon wieder ganz vergessen hatte. So ein verwöhntes Balg aber auch – nichts als Geschenke im Kopf! Aber ich will mal nicht so sein – schließlich bin ich ja der Weihnachtsmann – und fische etwas aus meinem Sack. Es ist ein Spielzeugauto und Alexander ist alles andere als begeistert. »Ich hab schon genug Autos, ich will was anderes!«, nörgelt er. 73
Jetzt reicht’s mir. »Es gibt aber nichts anderes, du Zwerg!«, zische ich. »Entweder du nimmst jetzt das Auto oder ich versohle dir den Hintern mit meiner Rute, dass du drei Tage nicht mehr sitzen kannst.« Alles nur leere Drohungen, ich hab überhaupt keine Rute. Außerdem fällt mir gerade ein, dass der mit der Rute eigentlich Knecht Rupprecht ist und nicht der Weihnachtsmann. Da habe ich wohl was durcheinander gebracht. Egal – Alexander ist ziemlich beeindruckt und fängt sofort laut an zu heulen. »Also, so was habe ich ja noch nie erlebt«, schimpft seine Mutter und zieht ihre Heulboje von Sohn mit sich fort, ehe ich ihr einen Werbeprospekt in die Hand drücken kann. Ich schaue den beiden grinsend nach. So macht mir der Job fast Spaß. Inzwischen haben mich leider noch ein paar andere Kinder entdeckt und kurze Zeit später bin ich umringt von einer ganzen Horde. Jetzt wird mir erst so richtig klar, dass dieser Job eindeutig nichts für mich ist, denn ICH HASSE KINDER!!! Mir reicht es schon, wenn mir ein Kind auf den Nerven herumtrampelt, nämlich meine kleine Schwester Pauline. Sie ist sechs und eine richtige Intelligenzbestie. Pauline konnte schon ganze Bücher lesen, bevor sie eingeschult wurde, und sie löchert einen den ganzen Tag mit den unmöglichsten Fragen … Autsch! Eine von den kleinen Ratten hat doch tatsächlich an meinem Bart gezogen. »Lass das gefälligst«, brumme ich mit meiner dro74
hendsten Weihnachtsmannstimme. »Sonst stecke ich dich in meinen Sack und entsorge dich auf dem Sondermüll!« Das wirkt. Die Kinder weichen eingeschüchtert ein Stück zurück und verstummen. »Ich wollte nur sehen, ob du auch echt bist«, sagt der Junge, der mich am Bart gezogen hat. »Du siehst so komisch aus.« »Was? Komisch? Ich?«, entgegne ich entrüstet. »Quatsch. Natürlich bin ich echt, aber ich verrate dir jetzt mal was: Alle anderen Weihnachtsmänner sind ganz gemeine Hochstapler, ich bin der einzig echte!« Das überzeugt den Jungen, und um ihn loszuwerden, gebe ich ihm das Spielzeugauto, das der blöde Alexander nicht haben wollte. Das war ein Fehler, denn jetzt wollen natürlich alle anderen Kinder auch ein Geschenk, und bald ist der halbe Sack leer. Verschwinden wollen die Nervensägen deswegen leider noch lange nicht. »Ich wünsche mir ein Fahrrad«, sagt ein Mädchen fordernd. »Schenkst du mir eins zu Weihnachten?« So weit kommt’s noch! Wozu hat das Kind denn Eltern? »Ah, mal sehen«, brumme ich. »Vielleicht – wenn du schön brav bist. Und wenn du deinen Eltern das hier gibst, da sind auch ganz tolle Fahrräder drin!« Ich drücke ihr einen Prospekt in die Hand. Jetzt wollen mir auch die anderen Kinder erzählen, was sie sich zu Weihnachten wünschen, und alle schreien wild durcheinander. Ich schalte auf Durchzug und 75
verteile fleißig Prospekte. Herr Meyerbär wäre stolz auf mich. Ein Mädchen, das sich bisher angenehm ruhig verhalten hat, zupft mich an der Jacke und flüstert mir etwas ins Ohr, nachdem ich mich zu ihm heruntergebeugt habe. »Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass mein Papa wieder nach Hause kommt.« Ach du Schreck, jetzt soll ich mich auch noch um zerrüttete Familien kümmern! »Ich fürchte, da kann ich nicht viel machen«, flüstere ich zurück. »Vielleicht solltest du das lieber mit deiner Mama besprechen. Übrigens wohnt mein Papa auch nicht zu Hause, und das kann manchmal auch Vorteile haben.« Zum Beispiel wenn man doppeltes Taschengeld oder zu Weihnachten und zum Geburtstag doppelte Geschenke kriegt. Das Mädchen schaut mich mit großen Augen an. Die Nachricht, dass die Eltern vom Weihnachtsmann geschieden sind, muss sie offensichtlich erst mal verarbeiten. Ich bin stolz auf mich – ich wusste gar nicht, dass ich so einfühlsam mit Kindern umgehen kann. Und ganz nebenbei modernisiere ich auch noch das völlig veraltete Bild vom Weihnachtsmann ohne soziales Umfeld. Ich schaue auf die Uhr: Noch eine Stunde, dann kann ich für heute Feierabend machen. Wird auch Zeit! Ich bin inzwischen klatschnass geschwitzt in dem dicken Kostüm und mit dem Kissen vorm 76
Bauch. Kein Wunder bei frühlingshaften achtzehn Grad, das ist nicht gerade Adventswetter. Außerdem juckt die blöde Perücke wie verrückt und der Bart kitzelt. Als ich gerade versuche, mich unauffällig unter der Perücke zu kratzen, taucht plötzlich ein bekanntes Gesicht zwischen den Kindern auf, ein Gesicht mit kugelrunder Brille und großen Glupschaugen voller Fragezeichen. Meine kleine Schwester Pauline, die Obernervensäge. Die hat mir gerade noch gefehlt! Jetzt wird sich zeigen, wie gut meine Tarnung wirklich ist. Zu Hause habe ich nämlich nichts Genaueres über meinen neuen Job erzählt, um mich nicht zum Gespött der Familie zu machen. Pauline drängelt sich energisch zwischen den Kindern durch und stellt sich direkt vor mich hin. Erst versuche ich, sie zu ignorieren, obwohl ich eigentlich weiß, dass sie sich so leicht nicht abwimmeln lässt. Als sie nach fünf Minuten immer noch da ist und mich anstarrt, gebe ich schließlich seufzend nach und beuge mich zu ihr hinunter. »Ich habe einen ganz großen Wunsch«, sagt sie ernst. »Aber wenn du machst, was ich mir wünsche, dann brauchst du mir nie wieder etwas zu schenken.« »So so«, brumme ich. Was kann sich meine verdrehte Schwester schon Großartiges wünschen? Den Brockhaus in fünfzehn Bänden? Einen eigenen Computer, damit sie ihr erstes Buch schreiben kann? »Ich möchte meine große Schwester umtauschen«, 77
sagt Pauline und sieht mich hoffnungsvoll an. Jetzt bin ich tatsächlich einen Moment sprachlos, und das passiert mir wirklich nicht oft. So ein falsches, hinterlistiges Gör! Das ist doch echt das Allerletzte: Da geht die kleine Kröte einfach klammheimlich zum Weihnachtsmann, um mich umzutauschen! Mich, ihre einzige Schwester! Wenn hier jemand umgetauscht wird, dann ist das doch wohl sie. Und ich muss zugeben, ich wäre einem solchen Angebot gegenüber durchaus nicht abgeneigt – aber das ist ja auch etwas völlig anderes. Schließlich nervt mich Pauline täglich zu Tode. Ich bin kurz davor, meiner treulosen Schwester ordentlich die Meinung zu sagen, kann mich aber gerade noch rechtzeitig beherrschen und sage in bester Weihnachtsmann-Manier: »Na, na, na, so etwas wünscht man sich doch nicht. Warum willst du denn deine Schwester umtauschen?« Jetzt bin ich aber mal gespannt. »Weil sie mich täglich zu Tode nervt«, antwortet Pauline. Das wird ja immer schöner! Lüge, alles Lüge. »Also das kann ich nun wirklich nicht glauben«, sage ich. »Jetzt übertreibst du bestimmt ein bisschen!« »Gar nicht«, entgegnet Pauline bestimmt. »Sie nennt mich immer Eulengesicht oder Schweinchen Schlau!« Das stimmt allerdings – aber das ist doch kein Verbrechen, oder? 78
»Und wenn ich sie etwas frage, schreit sie mich an und sagt, dass ich mich verpissen soll mit meinen dämlichen Fragen. Und jedes Mal, wenn ich zu ihr ins Zimmer komme, schmeißt sie mich raus und sagt, nervige Eulengesichter haben hier nichts zu suchen«, zählt Pauline auf. »Na gut, das ist wirklich nicht besonders nett«, stimme ich widerwillig zu. Aber Pauline kommt gerade erst richtig in Fahrt: »Und letzte Woche hat sie mir den Schoko-Nikolaus weggenommen, den ich morgens im Schuh hatte. Nur weil ich gefragt habe, wie die eigentlich gemacht werden und warum sie immer von innen hohl sind. Und geantwortet hat sie mir auch nicht.« Ich erinnere mich dunkel an einen Vorfall dieser Art. Der Schokonikolaus hat allerdings inzwischen auf meiner Heizung das Zeitliche gesegnet. »Okay, okay«, sage ich und hebe beschwichtigend die Hände. »Das hört sich alles wirklich so an, als wenn deine Schwester ein echtes Ekel wäre.« Pauline nickt eifrig. Vielen Dank auch! »Ich mach dir einen Vorschlag«, fahre ich fort. »Ich rede mal mit ihr, okay? Und wenn sie dann nicht netter zu dir ist, können wir sie immer noch umtauschen.« Pauline hält den Kopf schief und überlegt. »Na gut«, sagt sie schließlich. »Dann komm ich nächste Woche noch mal wieder. Und wenn das mit dem Umtauschen nicht klappt, wünsche ich mir zu Weihnachten einen Hund oder Glitzerhaarspangen.« 79
Und schwupps!, dreht sie sich um und verschwindet wieder. Puh! Als Weihnachtsmann hat man es wirklich nicht leicht. Ich bin völlig fertig. Zum Glück habe ich gleich Feierabend, jetzt kann nicht mehr viel passieren, und schlimmer kann’s sowieso nicht mehr werden. Ich versuche die Kinder abzuschütteln, die noch um mich herumstehen, indem ich die restlichen Geschenke verteile, und mache mich langsam auf den Weg in Richtung Kaufhaus. Dummerweise wollen die Kinder aber nicht einsehen, dass auch der Weihnachtsmann Anrecht auf einen Feierabend und etwas Erholung hat. Sie laufen einfach hinter mir her, sodass ich mir vorkomme wie der Rattenfänger von Hameln. Ich gehe etwas schneller und bin in Gedanken schon bei dem Moment, in dem ich endlich dieses bescheuerte Kostüm ausziehen kann und wieder ein normaler Mensch werde. Da erblicken meine müden Augen etwas, das mich innerhalb einer Zehntelsekunde zur Salzsäule erstarren lässt, sodass mir meine Verfolger derbe auf die Hacken latschen. Habe ich gerade gesagt, dass es nicht mehr schlimmer werden kann? Falsch! Jetzt haben wir den Super-GAU. Am anderen Ende der Gasse steht Sascha, zusammen mit seinen Kumpels. Scheinbar macht seine Clique heute einen kleinen Betriebsausflug zum Weihnachtsmarkt, na wunderbar! Jetzt setzen sich die Jungs in Bewegung und kommen unaufhaltsam näher, während ich versuche meine Angstlähmung zu 80
überwinden und einen Notfallplan zu entwickeln. Hektisch wühle ich in meinem Sack. Vielleicht sollte ich ihn mir einfach über den Kopf ziehen, dann erkennt mich Sascha bestimmt nicht. Ich hole das allerletzte Geschenk heraus: eine Sonnenbrille, halleluja! Zwar ist sie rosa und mit Blümchen verziert, aber was soll’s! Ich setze sie auf und fühle mich gleich etwas sicherer. Als Sascha und die anderen nur noch ein paar Meter von mir entfernt sind, überrollt mich dennoch Panik, und ich wähle den letzten Ausweg: die Flucht. Leider ist mein Sehvermögen durch die Sonnenbrille etwas eingeschränkt, zumal es inzwischen auch schon ziemlich dunkel ist, und ich renne erst mal zwei ältere Damen über den Haufen. Bevor sie anfangen können herumzuzetern, schlage ich geschickt einen Haken und biege rechts in eine kleine Gasse ab, die von Ständen voller Weihnachtsschmuck, Adventskränzen und Duftkerzen gesäumt wird. Nur weg von Sascha! Die Kinder folgen mir johlend, sie scheinen das Ganze für ein neues, superlustiges Spiel zu halten: »Fang den Weihnachtsmann« oder so ähnlich. Ich versuche sie abzuhängen und springe hinter eine Bude mit Adventskränzen. Dabei komme ich mit meinem langen Bart einer brennenden Kerze zu nahe, denn plötzlich wird es ziemlich warm am Kinn, und es riecht nach verbranntem Plastik. Da haben sie mir im Kaufhaus offensichtlich einen echten Billigbart verpasst. Ich fange an zu schreien, und die Kinder, die mich inzwischen eingeholt haben, schreien mit: 81
»Der Weihnachtsmann brennt! Der Weihnachtsmann brennt!« Es ist ein Riesenspektakel. Bevor das Feuer auf meine Haare und das restliche Kostüm übergreifen kann, reiße ich mir die Perücke und den Bart herunter, wobei ich ein paar Hautfetzen rund um meinen Mund einbüße. Das brennt schlimmer als Feuer! Dann trample ich so lange wie ein wild gewordenes Rumpelstilzchen auf dem brennenden Bart herum, bis das Feuer gelöscht ist. Mannomann, das war knapp! Wer hätte gedacht, dass das Leben als Weihnachtsmann so gefährlich ist. Mein Puls rast, und meine Beine fühlen sich etwas wacklig an. Aber ich habe jetzt keine Zeit, um dekorativ in Ohnmacht zu fallen, denn ich muss erst mal die Kinder beruhigen, die mindestens genauso geschockt sind wie ich. »Nichts passiert, keine Panik«, sage ich mit piepsiger Stimme. Aber wenn ich geglaubt habe, dass die Kinder um mein Wohlergehen besorgt sind, bin ich auf dem Holzweg. »Du bist ja gar kein echter Weihnachtsmann!«, stellt ein Mädchen fest. »Du hast uns angelogen!«, ruft ein Junge entrüstet. Drohend kommt die ganze Horde näher, und ich muss mir schnell etwas einfallen lassen, damit ich nicht gelyncht werde. »Äh, ja, wisst ihr, ich bin die Tochter vom Weihnachtsmann, und da er schon ziemlich alt ist und bald in Rente geht, springe ich manchmal für ihn ein. Das ist eine gute Übung für später, wenn ich seinen Job 82
dann mal ganz übernehme, wisst ihr«, fantasiere ich wild drauflos. »Aber jetzt habe ich Feierabend, also seid schön brav und geht nach Hause. Morgen komme ich wieder, versprochen! Und wenn ihr mich jetzt in Ruhe lasst, bringe ich vielleicht mein Rentier mit …« Endlich ziehen die Kinder ab. »Hey, das war nicht schlecht!«, sagt plötzlich eine Stimme hinter mir, die mir irgendwie bekannt vorkommt. Ich drehe mich um und traue meinen Augen nicht. Sascha! Der Sascha, der noch nie ein Wort mit mir gesprochen hat! Ich kneife die Augen zusammen und öffne sie wieder, doch er steht immer noch da. Aber warum ist es eigentlich die ganze Zeit so dunkel? Da merke ich, dass ich die leicht angeschmorte Sonnenbrille immer noch auf der Nase habe und nehme sie schnell ab. Wie peinlich! »Prima Vorstellung, echt!«, lobt Sascha und grinst mich an. »Ah … danke«, murmle ich. »Die Feuernummer habe ich auch ziemlich lange geübt.« Ich wische mir etwas Ruß aus dem Gesicht und versuche, meinen Bauch einzuziehen, was aber bei einem Daunenkissen nicht so einfach ist. Scheiße, scheiße, scheiße! So oft habe ich davon geträumt, dass Sascha mich endlich mal zur Kenntnis nimmt, aber doch nicht als angekokelter Weihnachtsmann mit schwarzen Flecken im Gesicht, rauchenden Augenbrauen und verrutschtem Kissenbauch! Das war’s 83
dann wohl, den Typ kann ich endgültig vergessen. »Gehst du auch zur Weihnachtsparty ins Jugendzentrum?«, fragt Sascha. »Weiß noch nicht«, nuschle ich. Im Moment bin ich alles andere als in Partystimmung. »Wenn du Lust hast, können wir ja zusammen hingehen«, schlägt Sascha vor. »Ich leg da mit meinen Freunden auf.« »Echt?«, frage ich blöd. Habe ich mich verhört? Vielleicht haben meine Ohren bei dem Brand irgendwie was abbekommen … »Also, überleg’s dir, ich fänd’s cool, wenn du mitkommst!«, sagt Sascha. »Bis dann!« Er hebt zum Abschied lässig die Hand und verschwindet im Weihnachtsmarkt-Gewühl. Ich stehe noch ungefähr fünf Minuten regungslos da und starre hinter ihm her. Dann klappe ich langsam den Mund zu und wanke Richtung Kaufhaus. Bevor ich nach Hause gehe, kaufe ich noch ein Paar Glitzerhaarspangen. Schließlich wäre es jammerschade, wenn mich ausgerechnet jetzt jemand umtauschen würde.
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Paul Auster Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte
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ch habe diese Geschichte von Auggie Wren gehört. Da Auggie darin keine allzu gute Figur macht, jedenfalls keine so gute, wie er es gerne hätte, hat er mich gebeten, seinen richtigen Namen zu verschweigen. Im Übrigen aber entspricht die ganze Sache mit der verlorenen Brieftasche und der blinden Frau und dem Weihnachtsessen genau dem, was er mir erzählt hat. Auggie und ich kennen uns jetzt seit fast elf Jahren. Er arbeitet als Verkäufer in einem Zigarrengeschäft an der Court Street in Brooklyn, und da dies der einzige Laden ist, der die kleinen holländischen Zigarren führt, die ich so gerne rauche, komme ich ziemlich oft dort vorbei. Lange Zeit habe ich kaum einen Gedanken an Auggie Wren verschwendet. Für mich war er nur der seltsame kleine Mann im blauen Sweatshirt mit Kapuze, der mir Zigarren und Zeitschriften verkaufte, der schelmische, witzelnde Typ, der immer etwas Komisches über das Wetter, die Mets oder die Politiker in Washington zu sagen hatte, und das war auch schon alles. Aber dann blätterte er vor einigen Jahren eines Tages in seinem Laden eine Zeitschrift durch und stieß dabei zufällig auf eine Rezension eines meiner Bücher. Dass ich es war, sagte ihm ein Foto neben der Rezension, und danach änderten sich die Dinge zwischen uns. Ich war für Auggie nicht mehr nur ein Kunde unter anderen, ich war zu einem Mann von Rang geworden. Die meisten Leute hatten keinerlei 86
Interesse an Büchern und Schriftstellern, aber wie sich herausstellte, hielt Auggie sich selbst für einen Künstler. Nachdem er das Rätsel um meine Person geknackt hatte, begrüßte er mich wie einen Verbündeten, einen Vertrauten, einen Kampfgenossen. Mir war das, ehrlich gesagt, ziemlich peinlich. Und dann kam fast unvermeidlich der Augenblick, da er mich fragte, ob ich bereit sei, mir seine Fotografien anzusehen. In Anbetracht seiner Begeisterung und seines guten Willens brachte ich es einfach nicht übers Herz, Nein zu sagen. Weiß Gott, was ich erwartet habe. Auf alle Fälle nicht das, was Auggie mir dann am nächsten Tag gezeigt hat. In einem kleinen fensterlosen Hinterzimmer des Ladens öffnete er eine Pappschachtel und zog zwölf völlig gleich aussehende schwarze Fotoalben daraus hervor. Dies sei sein Lebenswerk, sagte er, und er brauche nicht mehr als fünf Minuten am Tag dafür. In den letzten zwölf Jahren habe er jeden Morgen um Punkt 7 Uhr an der Ecke Atlantic Avenue und Clinton Street gestanden und jeweils aus genau demselben Blickwinkel ein Farbfoto aufgenommen. Das Projekt umfasste inzwischen über viertausend Fotografien. Jedes Album repräsentierte ein anderes Jahr, und sämtliche Bilder waren der Reihe nach eingeklebt, vom 1. Januar bis zum 31. Dezember, und unter jedes einzelne war sorgfältig das Datum eingetragen. Als ich in den Alben herumblätterte und Auggies Werk zu studieren begann, wusste ich gar nicht, was ich denken sollte. Anfangs hatte ich den Eindruck, 87
dies sei das Seltsamste, das Verblüffendste, was ich je gesehen hatte. Die Bilder glichen sich aufs Haar. Das ganze Projekt war ein betäubender Angriff von Wiederholungen, wieder und wieder dieselbe Straße und dieselben Gebäude, ein anhaltendes Delirium redundanter Bilder. Da mir nichts dazu einfiel, schlug ich erst einmal weiter die Seiten um und nickte voll geheuchelter Anerkennung. Auggie schien ungerührt, er sah nur mit breitem Lächeln zu, aber nachdem ich ein paar Minuten so herumgeblättert hatte, unterbrach er mich plötzlich und sagte: »Sie sind zu schnell. Wenn Sie nicht langsamer machen, werden Sie nie dahinter kommen.« Er hatte natürlich Recht. Wer sich keine Zeit zum Hinsehen nimmt, wird niemals etwas sehen. Ich nahm ein anderes Album und zwang mich, bedächtiger vorzugehen. Ich achtete genauer auf Einzelheiten, bemerkte den Wechsel des Wetters, registrierte die mit dem Fortschreiten der Jahreszeiten sich ändernden Einfallswinkel des Lichts. Schließlich vermochte ich subtile Unterschiede im Verkehrsfluss zu erkennen, den Rhythmus der einzelnen Tage vorauszuahnen (das Gewühl an Werktagen, die relative Ruhe der Wochenenden, den Kontrast zwischen Samstagen und Sonntagen). Und dann begann ich ganz allmählich die Gesichter der Leute im Hintergrund zu erkennen, die Passanten auf dem Weg zur Arbeit, jeden Morgen dieselben Leute an derselben Stelle, wie sie einen Augenblick ihres Lebens im Blickfeld von Auggies Kamera verbrachten. 88
Sobald ich sie wieder erkannte, begann ich zu erforschen, wie ihre Haltungen von einem Morgen zum anderen wechselten; ich versuchte aus diesen oberflächlichen Anzeichen auf ihre Stimmungen zu schließen, als ob ich mir Geschichten für sie ausdenken könnte, als ob ich in die unsichtbaren, in ihren Körpern eingeschlossenen Dramen eindringen könnte. Ich nahm mir ein anderes Album vor. Jetzt war ich nicht mehr gelangweilt, nicht mehr verwirrt wie am Anfang. Auggie fotografierte die Zeit, wurde mir klar, sowohl die natürliche Zeit als auch die menschliche Zeit, und dies bewerkstelligte er, indem er sich in einem winzigen Winkel der Welt postierte und ihn in Besitz nahm, einfach indem er an der Stelle, die er sich erwählt hatte, Wache hielt. Auggie sah mir zu, wie ich mich in sein Werk vertiefte, und lächelte vergnügt in sich hinein. Und dann zitierte er, schier als hätte er meine Gedanken gelesen, eine Zeile aus Shakespeare. »Morgen, morgen und dann wieder morgen«, murmelte er leise, »kriecht so mit kleinem Schritt die Zeit von Tag zu Tag.« Und da begriff ich, dass er ganz genau wusste, was er da tat. Das war vor mehr als zweitausend Bildern. Seit jenem Tag haben Auggie und ich oft über sein Werk diskutiert, aber erst letzte Woche habe ich erfahren, wie er überhaupt an seine Kamera gekommen ist und mit dem Fotografieren angefangen hat. Darum ging es in der Geschichte, die er mir erzählte, und ich versuche mir noch immer einen Reim darauf zu machen. Etwas früher in derselben Woche rief mich jemand 89
von der »New York Times« an und fragte, ob ich bereit sei, für die Weihnachtsausgabe dieser Zeitung eine Short Story zu schreiben. Spontan sagte ich Nein, aber der Mann war sehr charmant und hartnäckig, und am Ende des Gesprächs sagte ich ihm zu, dass ich es versuchen würde. Kaum hatte ich jedoch den Hörer aufgelegt, geriet ich in helle Panik. Was wusste ich schon von Weihnachten?, fragte ich mich. Was wusste ich von auf Bestellung geschriebenen Kurzgeschichten? Die nächsten Tage verbrachte ich in Verzweiflung, rang mit den Geistern von Dickens, O. Henry und anderen Meistern der weihnachtlichen Stimmung. Schon der Ausdruck »Weihnachtsgeschichte« war für mich mit unangenehmen Assoziationen verknüpft, ich konnte dabei nur an grässliche Ergüsse von heuchlerischem Schmalz und süßlichem Kitsch denken. Selbst die besten Weihnachtsgeschichten waren nicht mehr als Wunscherfüllungsträume, Märchen für Erwachsene, und ich wollte mich hängen lassen, wenn ich mir jemals erlaubte, etwas Derartiges zu Papier zu bringen. Und doch, wie konnte sich irgendwer vornehmen, eine unsentimentale Weihnachtsgeschichte zu schreiben? Das war doch ein Widerspruch in sich, ein Ding der Unmöglichkeit, ein unlösbares Rätsel. Ebenso gut konnte man sich ein Rennpferd ohne Beine vorstellen oder einen Spatz ohne Flügel. Ich kam nicht weiter. Am Donnerstag machte ich einen langen Spaziergang, ich hoffte, an der frischen 90
Luft einen klaren Kopf zu bekommen. Kurz nach Mittag trat ich in das Zigarrengeschäft, um meinen Vorrat wieder aufzufüllen, und Auggie stand wie immer hinter dem Ladentisch. Er erkundigte sich nach meinem Befinden. Ohne es eigentlich zu wollen, schüttete ich ihm plötzlich mein Herz aus. »Eine Weihnachtsgeschichte?«, fragte er, nachdem ich fertig war. »Ist das alles? Wenn Sie mir ein Essen spendieren, mein Freund, erzähle ich Ihnen die beste Weihnachtsgeschichte, die Sie je gehört haben. Und ich garantiere, dass jedes Wort davon die reine Wahrheit ist.« Wir gingen den Block runter zu Jack’s, einem engen und lärmenden Imbiss, wo es gute PastramiSandwiches gab und alte Mannschaftsfotos von den Dodgers an den Wänden. Wir fanden hinten einen freien Tisch, bestellten unser Essen, und Auggie begann seine Geschichte. »Es war im Sommer 72«, sagte er. »Eines Morgens kam ein junger Bursche in den Laden und fing an zu stehlen. Er wird neunzehn oder zwanzig gewesen sein, und ich habe wohl in meinem ganzen Leben noch keinen so erbärmlichen Ladendieb gesehen. Er stand vor dem Taschenbuchregal an der hinteren Wand und stopfte sich Bücher in die Taschen seines Regenmantels. Da gerade mehrere Leute an der Kasse standen, konnte ich ihn zunächst gar nicht sehen. Aber sobald ich merkte, was er da trieb, fing ich an zu schreien. Er nahm Reißaus wie ein Karnickel, und als ich endlich hinterm Ladentisch hervorkonnte, 91
stürmte er bereits die Atlantic Avenue hinunter. Ich habe ihn etwa einen halben Block weit verfolgt und es dann aufgegeben. Ich hatte keine Lust mehr, ihm nachzurennen, und da er unterwegs etwas hatte fallen lassen, bückte ich mich danach. Es war seine Brieftasche. Geld war keins drin, dafür aber sein Führerschein und drei oder vier Schnappschüsse. Ich nehme an, ich hätte die Polizei holen und ihn verhaften lassen können. Sein Name und seine Adresse standen auf dem Führerschein, aber irgendwie tat er mir Leid. Er war doch bloß ein mickriger kleiner Anfänger, und als ich mir die Bilder in seiner Brieftasche ansah, konnte ich einfach keine Wut auf ihn empfinden. Robert Goodwin. So hieß er. Auf einem der Bilder, erinnere ich mich noch, hatte er seine Mutter oder Großmutter im Arm. Auf einem anderen war er als Neun- oder Zehnjähriger zu sehen, er saß da in einem Baseballdress und grinste breit vor sich hin. Ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht. Jetzt war er vermutlich drogensüchtig, dachte ich mir. Ein armer, chancenloser Junge aus Brooklyn, und wen kümmerten schon ein paar läppische Taschenbücher? Die Brieftasche habe ich jedenfalls behalten. Ab und zu hatte ich ein leises Bedürfnis, sie ihm zurückzuschicken, aber das habe ich immer wieder aufgeschoben und nie etwas unternommen. Dann wird es Weihnachten, und ich sitze rum und habe nichts zu tun. Normalerweise lädt mich der Chef an diesem Tag zu sich nach Hause ein, aber in dem Jahr war er 92
mit seiner Familie zu Besuch bei Verwandten in Florida. Da sitze ich also an diesem Morgen in meiner Wohnung und bemitleide mich ein bisschen, und plötzlich sehe ich Robert Goodwins Brieftasche auf einem Regal in der Küche liegen. Ich denke, was zum Teufel, warum nicht ausnahmsweise mal was Nettes tun, ziehe meinen Mantel an und mache mich auf den Weg, die Brieftasche persönlich zurückzugeben. Die Adresse war in Boerum Hill, in irgendeiner der Siedlungen da. Es fror an diesem Tag, und ich weiß noch, dass ich mich auf der Suche nach dem richtigen Gebäude ein paar Mal verlaufen habe. In dieser Gegend sieht alles gleich aus, man läuft immer durch dieselbe Straße und denkt, man wäre ganz woanders. Jedenfalls komme ich endlich zu der Wohnung, die ich suche, und drücke auf die Klingel. Tut sich nichts. Ich nehme an, es ist niemand zu Hause, versuche es aber zur Sicherheit noch einmal. Ich warte ein bisschen länger, und grade als ich es aufgeben will, höre ich wen zur Tür schlurfen. Eine alte Frauenstimme fragt, wer da ist, und ich sage, ich möchte zu Robert Goodwin. ›Bist du das, Robert?‹, fragt die alte Frau, und dann schließt sie ungefähr fünfzehn Schlösser auf und öffnet die Tür. Sie muss mindestens achtzig Jahre alt sein, vielleicht sogar neunzig, und als Erstes fällt mir an ihr auf, dass sie blind ist. ›Robert‹, sagt sie. ›Ich wusste, du würdest deine Oma Ethel zu Weihnachten nicht vergessen.‹ Und dann breitet sie die Arme aus, als ob 93
sie mich an sich drücken will. Sie verstehen, ich hatte nicht viel Zeit zum Denken. Ich musste ganz schnell etwas sagen, und ehe ich wusste, wie mir geschah, hörte ich die Worte aus meinem Mund kommen. ›Ja, Oma Ethel‹, sage ich. ›Ich bin zurückgekommen, um dich an Weihnachten zu besuchen.‹ Fragen Sie mich nicht, warum ich das getan habe. Ich habe keine Ahnung. Vielleicht wollte ich sie nicht enttäuschen oder so, was weiß ich. Es ist mir einfach so rausgerutscht, und plötzlich hat diese alte Frau mich vor ihrer Tür in die Arme genommen, und ich habe sie an mich gedrückt. Dass ich ihr Enkel sei, habe ich nicht direkt gesagt. Jedenfalls nicht mit diesen Worten, aber sie hat es so aufgefasst. Ich wollte sie bestimmt nicht reinlegen. Das war wie ein Spiel, für das wir uns beide entschieden hatten – ohne erst über die Regeln zu diskutieren. Ich meine, diese Frau hat gewusst, dass ich nicht ihr Enkel Robert war. Sie war alt und klapprig, aber sie war nicht so weit weggetreten, dass sie den Unterschied zwischen einem Fremden und ihrem eigen Fleisch und Blut nicht bemerkt hätte. Aber es hat sie glücklich gemacht, so zu tun als ob, und da ich sowieso nichts Besseres zu tun hatte, habe ich gerne mitgespielt. Wir sind dann also rein und haben den Tag zusammen verbracht. Die Wohnung war ein richtiges Dreckloch, sollte ich vielleicht sagen, aber was kann man sonst auch von einer blinden Frau erwarten, die ihren Haushalt ganz alleine macht? Immer wenn sie 94
mich gefragt hat, wie es mir geht, hab ich gelogen und ihr erzählt, ich hätte einen guten Job in einem Zigarrenladen gefunden, ich würde demnächst heiraten und hundert andere nette Geschichten, und sie hat so getan, als ob sie mir jedes Wort glauben würde. ›Wie schön, Robert‹, hat sie gesagt und lächelnd genickt. ›Ich habe ja immer gewusst, dass du es zu etwas bringen würdest.‹ Nach einer Weile bekam ich ordentlich Hunger. Da nicht viel Essen im Haus zu sein schien, bin ich zu einem Laden in der Nähe gegangen und habe einen Haufen Zeug gekauft. Ein gekochtes Huhn, Gemüsesuppe, ein Eimerchen Kartoffelsalat, Schokoladenkuchen, alles Mögliche. Ethel hatte im Schlafzimmer ein paar Flaschen Wein versteckt, und so konnten wir ein ganz ordentliches Weihnachtsessen auf die Beine stellen. Der Wein hat uns ein bisschen angeheitert, das weiß ich noch, und nach dem Essen haben wir uns ins Wohnzimmer gesetzt, weil die Sessel da bequemer waren. Ich musste mal pinkeln, also entschuldigte ich mich und ging durch den Flur zum Badezimmer. Und da nahmen die Dinge plötzlich eine andere Wendung. Meine kleine Nummer als Ethels Enkel war ja schon reichlich absurd, aber was ich dann als Nächstes tat, war absolut verrückt, und ich habe mir das nie verziehen. Ich komme also ins Bad, und an der Wand gleich neben der Dusche sehe ich sechs oder sieben Kameras aufgestapelt. Nagelneue 35-Millimeter-Kameras, 95
noch in der Verpackung, allerbeste Ware. Ich denke, das ist das Werk des echten Robert, ein Lagerplatz für seine letzte Beute. Ich habe noch nie in meinem Leben ein Foto gemacht, und gestohlen habe ich auch noch nie etwas, aber kaum sehe ich diese Kameras im Badezimmer, beschließe ich, dass eine davon mir gehören soll. Einfach so. Und ohne eine Sekunde nachzudenken, klemme ich mir eine Schachtel unter den Arm und gehe ins Wohnzimmer zurück. Ich kann höchstens drei oder vier Minuten weg gewesen sein, aber in dieser Zeit war Oma Ethel in ihrem Sessel eingeschlafen. Zu viel Chianti, nehme ich an. Ich habe dann in der Küche den Abwasch gemacht, und sie hat bei dem ganzen Lärm weitergeschlafen und geschnarcht wie ein Baby. Sie zu stören schien mir vollkommen überflüssig, also beschloss ich zu gehen. Ich konnte ihr noch nicht einmal einen Brief zum Abschied schreiben, schließlich war sie ja blind, und so bin ich einfach gegangen. Die Brieftasche ihres Enkels ließ ich auf dem Tisch liegen, dann nahm ich die Kamera und ging aus der Wohnung. Und damit ist die Geschichte aus.« »Haben Sie die Frau noch mal besucht?«, fragte ich. »Einmal«, sagte er. »Etwa drei oder vier Monate danach. Ich hatte ein so schlechtes Gewissen wegen der Kamera, dass ich sie noch gar nicht benutzt hatte. Am Ende beschloss ich, sie ihr zurückzugeben, aber Ethel war nicht mehr da. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist, aber es war jemand anders in die Woh96
nung eingezogen, und der konnte mir nicht sagen, wo sie steckte.« »Wahrscheinlich ist sie gestorben.« »Ja, wahrscheinlich.« »Das heißt, sie hat ihr letztes Weihnachtsfest mit Ihnen verbracht.« »Anzunehmen. So habe ich das noch nie gesehen.« »Es war eine gute Tat, Auggie. Das war nett von Ihnen, ihr die Freude zu machen.« »Ich habe sie angelogen, und dann habe ich sie bestohlen. Ich verstehe nicht, wie Sie das eine gute Tat nennen können.« »Sie haben sie glücklich gemacht. Und die Kamera war sowieso gestohlen. Sie haben sie jedenfalls nicht demjenigen weggenommen, dem sie wirklich gehört hat.« »Alles für die Kunst, Paul, wie?« »So würde ich das nicht ausdrücken. Aber zumindest haben Sie die Kamera für einen guten Zweck verwendet.« »Und Sie haben jetzt Ihre Weihnachtsgeschichte, stimmt’s?« »Ja«, sagte ich. »Ich glaube schon.« Ich unterbrach mich kurz und sah, dass Auggies Lippen sich zu einem boshaften Lächeln verzogen. Ich konnte nicht sicher sein, aber sein Blick war in diesem Moment so rätselhaft, leuchtete so hell von irgendeinem innerlichen Vergnügen, dass mir plötzlich der Gedanke kam, er könnte die ganze Geschich97
te erfunden haben. Ich wollte ihn schon fragen, ob er mich auf den Arm genommen habe, erkannte dann aber, dass er mir das nie verraten würde. Er hatte mich dazu gebracht, ihm zu glauben, und das war das Einzige, was zählte. Solange auch nur ein Mensch daran glaubt, gibt es keine Geschichte, die nicht wahr sein kann. »Sie sind ein Ass, Auggie«, sagte ich. »Danke, dass Sie mir geholfen haben.« »Gern geschehen«, antwortete er und sah mich noch immer mit diesem irren Leuchten in den Augen an. »Was für Freunde sind das denn, wenn man seine Geheimnisse nicht mit ihnen teilen kann?« »Dann stehe ich jetzt in Ihrer Schuld.« »Aber nein. Schreiben Sie es einfach so auf, wie ich es Ihnen erzählt habe, und damit sind wir quitt.« »Bis auf das Essen.« »Stimmt. Bis auf das Essen.« Ich erwiderte Auggies Lächeln, rief dann nach dem Kellner und bat um die Rechnung.
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Ute Mordhorst Herr Klotz taut auf
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Meiner Mutter zum Geschenk ls Herr Klotz an einem Julimorgen aus seinem grauen Haus in der Grummelstraße 7 trat, blieb er wie angewurzelt stehen. Sein Vorgarten lag unter einer tiefen Schneedecke, und wo gestern noch Unkraut und Löwenzahn gewuchert hatten, stand heute ein Schneemann. »Das ist ja wohl die Höhe!«, schimpfte Julius Klotz. Er stemmte seine kurzen, dicken Arme in die Seiten und schüttelte seinen runden Kopf. »Sie da! Weg da!«, rief Herr Klotz empört und wedelte mit den Händen in der Luft, als wolle er einen lästigen Schwarm Mücken vertreiben. Der Schneemann bewegte sich nicht vom Fleck. »Eiskalt!«, brummte Herr Klotz und schnaufte vor Wut. Wütend wie er war, übersah Herr Klotz, dass nur in seinem Garten Schnee lag. Nirgendwo sonst in der kleinen, blauen Stadt hatte sich auch nur eine hauchzarte Schneeflocke auf die Erde verirrt. Warum auch, es war schließlich Sommer! Petrus hatte die Sonne angeknipst, die Bäume leuchteten sommergrün, und in den Vorgärten standen Rosen und Stiefmütterchen, aber beileibe keine Schneemänner. Jahreszeiten interessierten Herrn Klotz nicht. Ihm war es Wurst, ob es Frühling, Sommer, Herbst oder Winter war. Er hockte sowieso die meiste Zeit drinnen in seinem Haus. Und zwar am liebsten allein. Besucher konnte er genauso wenig ausstehen wie 100
Schneemänner. Überhaupt gab es vieles, was Herr Klotz nicht mochte. Herr Klotz schaute auf seine Armbanduhr. Höchste Zeit, wenn er noch den Acht-Uhr-Bus erwischen wollte. Im Büro würde er darüber nachdenken, wie er den Schneemann wieder loswerden könnte. Bis zum Feierabend war ihm sicher etwas Oberfieses eingefallen. Herr Klotz hockte in seinem muffigen Büro bei Firma Polterhannes & Söhne und kritzelte Schneemänner auf ein Stück Rechenpapier. Herr Klotz runzelte die Stirn. Dann zog er einen kräftigen, breiten Strich quer durch über das Papier. Von links nach rechts. Und noch einen – von rechts nach links. Ssst, gleich den nächsten! Zack durch die Mitte. Ssstrich, Strich, Strich. Bis auch der letzte Schneemann hinter einem fetten, schwarzen Gitterfenster verschwunden war. Etwas später riss der Mittagshunger Herrn Klotz aus seiner finsteren Beschäftigung. Herr Klotz griff nach seiner ausgebeulten Aktentasche aus echtem Kunstleder. »Was habe ich mir denn heute Schönes eingepackt?«, murmelte Herr Klotz und klappte die Brotdose auf wie ein Schatzkästchen. »Ein Käsebrot, wie immer!«, stellte er zufrieden fest. Dann kräuselte er die Nase wie ein Kaninchen. Igitt, der Käse war ja völlig aus der Form gelaufen! »Kein Wunder, bei dieser Affenhitze«, schimpfte Herr Klotz, und plötzlich hatte er einen Einfall. Er würgte das Brot in drei großen Bissen hinunter und 101
schmatzte wie sieben kleine Ferkel. Dann spülte er den Rest geräuschvoll mit einer Tasse Kaffee herunter, nahm den Bleistiftstummel und schrieb und kritzelte und überlegte … Um fünf Uhr nachmittags ließ Herr Klotz den Griffel fallen. Er nahm den 33er-Bus in die Stadt und marschierte schnurstracks in das Haushaltsgeschäft von Frau Stecker. In der Abteilung für Elektrogeräte schubste er zwei andere Kunden zur Seite, ließ sich einen Kasten einpacken und drängelte sich an der Kasse vor. Ja, nun, liebe Leute, ich habe es eilig!, dachte Herr Klotz, und hetzte aus dem Geschäft. Die Kunden schauten ihm hinterher und schüttelten die Köpfe. Herr Klotz fuhr nach Hause. Er war sehr mit sich zufrieden. Die Spatzen zwitscherten, als Herr Klotz aus dem Bus stieg. Aus den Vorgärten wehte der Geruch von geröstetem Grillfleisch und Folienkartoffeln zu ihm herüber. Aber Herr Klotz roch und hörte nichts. Er sauste durch die Straßen wie eine Aufziehpuppe. In der Grummelstraße hüpften ihm zwei Kinder entgegen. »Schau mal, ein Schneemann im Juli!«, riefen sie und deuteten aufgeregt auf den Vorgarten. Herrn Klotz blieb verwundert stehen und riss die Augen auf. Aus allen Richtungen liefen Neugierige vor seinem Haus zusammen. Einige Väter und Mütter trugen ihre Kinder auf den Schultern, damit die Kleinen den Schneemann besser sehen konnten. Sogar ein Fotoreporter von den Kleinstädter Nachrich102
ten war herbeigeeilt, mit Kamera und Mikrophon. Herr Klotz knuffte sich einen Weg durch die Menge. »Unerhört!«, schimpfte er. »Lassen Sie mich gefälligst vorbei!« Er hielt den geheimnisvollen Kasten vor seinen Bauch und rempelte sich energisch durch das Menschenknäuel hindurch. Die Leute aus der vorderen Reihe drehten sich empört zu Herrn Klotz herum. Dann wandten sie die Köpfe ruckartig in die andere Richtung, aus der ein ohrenbetäubendes »Tatütata« herandröhnte. Ein Polizeiwagen fuhr vor, und zwei Beamte sprangen aus dem Wagen. »Was ist hier los?«, rief der ältere Polizist, und sein Blick fiel auf den Schneemann. »Wem gehört das Objekt?« Herr Klotz schob sich nach vorn. »Er war auf einmal da, Herr Wachtmeister. Über Nacht! Ein Rätsel …« »Das ist Erregung öffentlichen Ärgernisses!«, stellte der Polizeibeamte fest und zückte seinen Notizblock. »Der Schneemann muss weg. Und zwar bis morgen.« »Geht klar, Chef«, grummelte Herr Klotz. »So wahr ich Klotz heiße.« Er klemmte sich den Karton unter den Arm und stapfte trotzig ins Haus. Die Leute wichen respektvoll zurück. Diesem Klotz gehörte also der verschneite Sommergarten samt Schneemann darin, dachten sie und starrten Herrn Klotz an. Sie sprachen von einem Weihnachtswunder mitten im Juli und von einem historischen Tag. Dann gingen sie murmelnd auseinander. 103
»Kinderkram!«, schimpfte Herr Klotz, als er die Tür donnernd hinter sich ins Schloss geworfen hatte. Herr Klotz glaubte nicht an Wunder, genauso wenig wie er an diesen Dings, an diesen Osterhasen, oder an diesen Kerl mit dem weißen Bart, den Weihnachtsmann, glaubte. Mit einem Rums ließ er den Karton auf den Flurteppich fallen und setzte sich dann an den Küchentisch. Er stützte den Kopf in beide Fäuste und starrte auf die Uhr. Sobald es dunkel war, würde er seinen Plan ausführen. Herr Klotz schaute schläfrig zur Kuckucksuhr. Das gleichmäßige, geduldige Klickklack ermüdete ihn. Seine Augenlider wurden schwer, er nickte ein und schnarchte wie ein Bär. Als Herr Klotz aufwachte, war es bereits tiefe Nacht. Oha, der Mond steht bereits hoch am Himmel!, dachte er und erschrak. Dabei stand der Mond nicht einfach nur so am Himmel. Er wiegte sich sacht in seinem Wolkenstuhl und schmauchte genüsslich seine Abendpfeife. Aber Herr Klotz hatte nun mal keinen Sinn für Romantik. Schon gar nicht an einem Tag wie diesem. Herr Klotz lief in den Flur und riss den Pappkarton auf. Er werkelte ein paar Sekunden lang ungeduldig mit einer langen Schnur herum, dann trat er triumphierend vor die Tür – und erschrak. Der Schneemann sah im Mondlicht aus wie ein Geist. Herr Klotz pirschte sich an den Schneemann heran. Die lange Schnur schlängelte sich über den Rasen wie eine Blindschleiche. 104
Der Mond warf einen überraschten Blick auf die beiden Gestalten dort unten. Komisch, der Schneemann hatte die gleiche rote Knubbelnase und die gleichen pechschwarzen Knopfaugen wie der kleine dicke Mann. Beide hatten die gleichen stöckchengeraden Augenbrauen und den gleichen dünnen, schiefen Mund. Sogar ihre spiegelglatten Kugelglatzen ähnelten einander wie ein Frühstücksei dem anderen. Das alles betrachtete der Mond amüsiert und von oben herab. Gesichter faszinierten ihn. Im Gegensatz zu Herrn Klotz, den interessierte weder sein eigenes Gesicht noch das Gesicht des Schneemanns. Herr Klotz stellte den Kasten vor dem Schneemann ab. »Mit wärmsten Empfehlungen!«, sagte er und lächelte giftig. Dann bückte er sich und drehte vorne am Kasten einen Knopf nach rechts. »Klick« machte es, und drei Röhren leuchteten rot auf. Aha, Herr Klotz hatte eine kleine Höhensonne gekauft. Er wollte den Schneemann in Grund und Boden schmelzen. Da hatte er sich ja was richtig Gemeines ausgedacht! Während Herr Klotz darauf brannte, dass der Schneemann im Erdboden versank, war ihm auf einmal, als säße er vor der Höhensonne und nicht der Schneemann. Kleine Schweißbäche rannen ihm die dicke, glatte Stirn hinunter, seine Hände fühlten sich glitschig nass an, und er bemerkte, wie sein Oberhemd an seinem dicken Bauch festzukleben begann. Herr Klotz fror und schwitzte mit sich selbst um 105
die Wette. An seinen Füßen waren statt der Zehen Eiszapfen. Kein Wunder, er versank ja einen halben Meter tief im eiskalten Schnee! Nun dauerte die Schneemannbeseitigungsaktion schon eine dreiviertel Stunde. Herr Klotz pikste dem Schneemann vorsichtig mit dem Zeigefinger in den Bauch. Der Schneemann war nicht nur keinen Millimeter aufgeweicht, er war noch genauso knochenhart wie heute Morgen. »Mann, Mann, Mann!«, fluchte Herr Klotz und stiefelte, vor Nässe triefend, zurück ins Haus. Jetzt hatte er aber die Faxen dicke! »So ein Pfusch!«, brummelte Herr Klotz und schleuderte die nassen Schuhe von seinen verfrorenen Füßen. Gleich morgen wollte er das Murksgerät in das Murksgeschäft von Frau Stecker zurückbringen. Herr Klotz humpelte ins Badezimmer und zog sich einen Schlafanzug über. Er begann mit den Zähnen zu klappern, sein Hals fühlte sich an wie ein Reibeisen, jemand schien an seinen Ohren zu ziehen und zu zerren, er bekam kleine rote Kaninchenaugen. Herr Klotz kroch bibbernd ins Bett. Er fand es auf einmal lausekalt daheim. Dann krabbelte er schnell noch mal aus dem Bett und holte den Heizofen aus dem Flur. Er stöpselte den Stecker ein und drehte den Schalter auf Stufe zwei. Eine wohlige Wärme verteilte sich im Raum. Herr Klotz fiel in einen tiefen, unruhigen Schlaf und träumte etwas Schreckliches: Ein Schneemann tauchte unangemeldet in seinem Garten auf. Mitten im Sommer. 106
Als Herr Klotz am nächsten Morgen erwachte, war ihm nicht mehr kalt. Ihm war sogar ausgesprochen heiß. Herr Klotz schlurfte ins Bad und schob sich ein Fieberthermometer unter die Zunge: 39° C! »Junge, Junge!«, stöhnte er mit rauer Papageienstimme. Dann schlich er zum Telefon und rief in der Firma Polterhannes & Söhne an. Es war das erste Mal seit dreißig Jahren, dass er sich krankmeldete. »Peinlich, peinlich«, krächzte Herr Klotz. Dann stopfte er sich dick Watte in die Ohren und trottete in die Küche, um sich eine Tasse Kamillentee aufzubrühen. Zufällig fiel sein Blick in den Vorgarten. Herr Klotz zuckte zusammen. Da stand ja noch immer dieser grässliche Schneemann! Es war also doch kein böser Traum gewesen. Auch der Rasen war noch immer schneebedeckt. Der Schneemann muss weg, dachte Herr Klotz. Das hatte auch der Wachtmeister polizeilich angeordnet. Herr Klotz warf sich schwungvoll seinen Bademantel über und fühlte sich wie ein Torero. Er wollte den Stier, besser gesagt: den Schneemann, endlich bei den Hörnern packen. Er schnappte sich einen alten Besen aus der Küchenecke und stürzte hinaus. »Dein Typ wird hier nicht verlangt!«, röchelte er heiser und raste auf den Schneemann zu. Hoppla, fast wäre er mit jemandem zusammengerumpelt. Eine Dame stand vor dem Schneemann und sprach freundlich mit ihm. Sie hielt eine Gardine o107
der etwas Ähnliches in der Hand. Es war Frau Wadenstrumpf, die Nachbarin aus der Grummelstraße 5. Seit fünfzehn Jahren lebten Herr Klotz und Frau Wadenstrumpf Haus an Haus. Trotzdem hatten sie noch nie ein Wort miteinander gewechselt. Herr Klotz ging Frau Wadenstrumpf am liebsten aus dem Weg. Sie war ihm unheimlich, vielleicht weil sie ihn immer so liebenswürdig anlächelte, obwohl er sie seit fünfzehn Jahren übersah. Da! Frau Wadenstrumpf lächelte schon wieder! Sie sagte sogar etwas, aber Herr Klotz hörte nichts durch die Watte in seinen Ohren. Staunend wurde er Zeuge, wie Frau Wadenstrumpf beschwingt einen Schal um den Hals des Schneemannes warf. Ein Hallo brauste auf wie in einem Fußballstadion und drang in seine verstopften Ohren. Herr Klotz fuhr entsetzt herum und zuckte zusammen. Da standen wieder diese aufdringlichen Menschen vor seinem Haus! »Bravo. Ein Wollschal für den Schneemann!«, riefen die Leute und applaudierten. Frau Wadenstrumpf winkte fröhlich in die Menge. Als ihr Blick auf Herrn Klotz fiel, lächelte sie charmant. Herr Klotz grunzte und lehnte den Besen vergrätzt an den Schneemann. »Bravo! Herr Klotz überreicht dem Schneemann einen Schneebesen!«, riefen die Schaulustigen, und ein Mann von der Presse schoss ein paar Fotos. Herr Klotz verstand immer nur Bahnhof, das heißt Schneemann. 108
Er zog den Bademantel fester um seinen dicken Bauch und wandte sich zum Gehen. Da machte es Tatütata, das grünweiße Polizeiauto von gestern fuhr wieder vor, und der Wachtmeister ruderte aufgeregt auf Herrn Klotz zu. »Schon gut. Schon gut. Regen Sie sich nicht künstlich auf!«, krähte Herr Klotz. »Morgen ist der Schneemann weg.« »Unterstehen Sie sich!«, rief der Wachtmeister. »Lassen Sie den Schneemann, wo er ist. Er ist die Touristenattraktion in unserer kleinen Stadt.« Herr Klotz zuckte mit den Achseln und ging wortlos ins Haus. Er stellte den Heizofen auf Stufe drei und setzte sich an sein Wohnzimmerfenster. Von dort schaute er hinaus in den Garten. Warum machten die Menschen solch ein Aufhebens um diesen Schneemann? Er war doch gar nichts Besonderes. Herr Klotz schnauzte sich geräuschvoll und blickte missmutig hinaus. Am nächsten Tag schellte es zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder einmal bei Herrn Klotz an der Haustür. Die Türglocke war entsprechend verstimmt und meldete den Besucher mit blechernem Scheppern an. Herr Klotz schlurfte zur Tür und öffnete. Draußen stand ein junger, schlaksiger Mann mit roten Stoppelhaaren. Seine Nase war mit Sommersprossen übersät. Sogar auf seiner Oberlippe saßen zwei, drei gesprenkelte Pünktchen. Über seiner linken Schulter hing ein Fotoapparat mit Blitzlichtaufsatz. 109
»Hallo, Herr Klotz!«, sagte der junge Mann freundlich. »Darf ich kurz stören? Ich komme von den Kleinstädter Nachrichten und möchte Sie gern …« »Weiß ich!«, knarzte Herr Klotz und schaute den jungen Mann misstrauisch an. »Sie sind Reporter. Gestern haben Sie hier Fotos geschossen. Ihre roten Haare leuchteten in der Sonne und …« Herr Klotz stockte. Seit wann interessierte ihn die Haarfarbe anderer Leute? Dann fragte er kurz: »Na und? Was wollen Sie?« Der junge Mann lachte. »Unsere Leser möchten mehr über Sie und Ihr Leben erfahren!« Herr Klotz starrte den jungen Mann an. Was gab es schon über ihn zu berichten? Seit er denken konnte, war er so gewesen wie jetzt. Das heißt: Herrn Klotz fiel plötzlich ein, dass er einmal ein verträumter, kleiner Junge gewesen war und ein romantischer junger Mann. Früher hatte er weißblonde, dichte Haare auf dem Kopf gehabt. »Mein Schäfchen« hatte seine Mutter zu ihm gesagt. Lächerlich. »Meinetwegen, kommen Sie rein«, brummte Herr Klotz. »Viel Zeit hab ich aber nicht.« Er fischte eine verstaubte Flasche Cognac aus dem Wohnzimmerschrank und stellte zwei angestoßene Gläser auf den Tisch. Bald dämmerte es in der kleinen blauen Stadt, und Herr Klotz knipste Licht im Wohnzimmer an, ausnahmsweise, weil er Besuch hatte. Ein Abendspaziergänger wunderte sich. Dieses Haus war um diese Zeit sonst nie beleuchtet. Der Mann blieb neugierig stehen und sah von der Straße aus, wie der alte Klotz 110
in schweren Schränken wühlte und dicke Fotoalben aus den Regalen hervorholte. Er sah, wie der Fotoreporter sich neben Herrn Klotz auf das durchgesessene Plüschsofa setzte und beide in alten Alben blätterten. Der Spaziergänger staunte Bauklötze und ging nach Hause. Irgendwann kramte Herr Klotz eine kleine flache Holzkiste aus der alten Eichenholz-Vitrine und bot dem Fotoreporter eine von seinen Havanna-Zigarren an. Gut, dass er noch welche für besondere Anlässe aufgespart hatte! Die Sonne hatte sich längst aufs Ohr gelegt, der Himmel hatte die Vorhänge zugezogen, die Kirchturmuhr schlug leise Mitternacht, als der Fotoreporter sich verabschiedete. Herr Klotz saß noch eine Weile für sich allein. Dann löschte er das Licht in der Wohnstube und legte sich zur wohlverdienten Ruh. Nach und nach gewöhnten sich die Menschen an den wundersamen Schneemann, der nicht tauen wollte. Im August trafen längst nicht mehr so viele Schneemann-Touristen in der kleinen blauen Stadt ein wie noch im Juli. Im September kamen noch weniger Besucher, im Oktober waren es nur noch ein paar vereinzelte. Schließlich blieben auch die Zeitungsleute aus. Dafür zog der Winter in die Stadt ein, und mit den ersten dicken Schneeflocken, die zur Erde schwebten, fingen die Kinder an, ihre eigenen Schneemänner zu bauen. Der Schneemann von Herrn Klotz war nun einer von vielen. 111
Die Menschen, die sich regelmäßig vor seinem Grundstück versammelt hatten, fehlten Herrn Klotz. Mit der Zeit hatte es ihm richtig Freude gemacht, sie von seinem Küchenfenster aus zu beobachten. Immer öfter war er hinaus in den Vorgarten getreten. Dann hatte er den alten Bäumen einen freundschaftlichen Klaps auf die Rinde gegeben oder Unkraut aus dem Rasen gezupft. Er wusste, dass die Leute ihn grüßen würden, wenn er im Garten arbeitete. Einige hatten sich sogar nach seinem Befinden erkundigt. Herr Klotz hatte dann immer etwas Brummiges zur Antwort gegeben, aber im Stillen hatte er sich gefreut über das Interesse seiner Zaun-Gäste. Hatte, hatte, hatte! Und jetzt, was hatte er jetzt noch? Besonders die Gespräche mit den Fotoreportern fehlten Herrn Klotz. Es gab vieles, was er ihnen gern noch erzählt oder gezeigt hätte. Seine Zinnbechersammlung zum Beispiel. Vielleicht hätte er ihnen sogar etwas auf seiner Mundharmonika vorgespielt. Ein paar alte Lieder hätte er sicher noch zu Stande gebracht. Wem sollte er nun aus seinem Leben berichten? Niemand war mehr da, der sich für ihn interessierte. Eines Nachmittags, als Herr Klotz seinen täglichen Rundgang durch den Garten machte und mit der Hand über die Hecken strich wie über wuschelige Kinderköpfe, schaute er den Schneemann prüfend an. Warum sollte er nicht einen kleinen Abendplausch mit dem Kollegen halten? Aber wie sollte er ihn anreden? 112
»Schöner Abend, was, Herr Schnee?«, fragte Herr Klotz und deutete mit den Augen nach oben. Am Himmel weidete eine Herde Wolken. Der Wind strich durch die Bäume und Herr Klotz hörte ein Knacken im Unterholz, eine Vogelstimme. Sprach da nicht sogar … Er spitzte die Ohren und, mein lieber Scholli, er hatte sich nicht getäuscht. »Ja«, antwortete der Schneemann leise. »In der Tat. Ein ganz besonders schöner Abend.« Herr Klotz räusperte sich. »Pfeife, Herr Schnee?«, fragte er und zog eine Meerschaumpfeife aus seiner Hosentasche. Herr Schnee lächelte und nickte dankend. Von diesem Moment an war das Eis zwischen ihnen gebrochen. Sie hielten nun manchen Abend ein Plauderstündchen ab – von Schneemann zu Mann. Weihnachten rückte näher. Die kleine blaue Stadt hatte sich prächtig herausgeputzt. Sie strahlte über das ganze Pflaster und leuchtete aus allen Straßen und Plätzen. »Morgen ist Heiligabend, Herr Schnee!«, sagte Herr Klotz am 23. Dezember zum Schneemann. »Was würden Sie davon halten, wenn ich uns zur Feier des Tages ein Tannenbäumchen in den Garten stelle und wir gemeinsam etwas Punsch trinken?«. »Schöne Idee!«, sagte Herr Schnee. Am Vormittag des 24. Dezember schleppte Herr Klotz den alten Schuhkarton mit dem Weihnachtsschmuck vom Boden. Er schmückte die Nordmanntanne mit Kerzen, bunten Kugeln, gelben Strohster113
nen und goldenem Lametta. Nachmittags stellte er sich in die Küche und verrührte eine Flasche Rotwein mit Orangensaft, Vanillepulver und Anisgewürz zu einem würzigen Christkindlpunsch. Die Sterne glitzerten am Himmel wie winzige Glühbirnen, und die Kirchenglocken läuteten vom Marktplatz herüber. Die Menschen strömten aus der Weihnachtsmesse nach Hause. In den Fenstern gingen die Lichter an, und es wurde ganz still in der kleinen, blauen Stadt. Als kein Mensch mehr auf der Straße zu sehen war, trug Herr Klotz das Weihnachtsbäumchen über den Rasen und stellte es neben Herrn Schnee. Dann holte er den dampfenden Punsch und zwei große Weihnachtsbecher aus dem Haus. »Frohe Weihnachten, lieber Freund!«, sagte er und drückte dem Schneemann einen Becher Punsch in den Arm. Sie stießen auf Weihnachten an. Herr Klotz summte ein Weihnachtslied und nahm einen beherzten Schluck. Und noch einen. »Ja, ja, lieber Freund!«, sagte Herr Klotz nach dem dritten Schluck und umarmte Herrn Schnee. Ihm wurde plötzlich ganz wehmütig. Seine Augen brannten. Er blinzelte hinauf zu den Sternen und horchte andächtig in die lautlose Nacht. Wie still es war! »Ja, ja. Stille Nacht, heilige Nacht«, murmelte Herr Klotz. Da knirschte es auf dem Schnee. Herr Klotz hielt die Luft an und lauschte. Das Knirschen wurde lauter und kam näher. Huch!, dachte Herr Klotz. Schritte! Wer war denn so spät noch unterwegs? Womöglich der Weih114
nachtsmann? Ausgeschlossen, der Weihnachtsmann hatte sich seit dreißig Jahren nicht mehr in der Grummelstraße 7 blicken lassen. Herr Klotz kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt ins Dunkel. Eine pummelige Gestalt in einem roten Mantel schlich auf die Haustür von Herrn Klotz zu. Das Gesicht war tief in eine dicke, rote Kapuze gehüllt. Die Gestalt schaute sich verstohlen um, und Herr Klotz huschte hinter den breiten Rücken von Herrn Schnee. Er wollte den Weihnachtsmann auf keinen Fall vertreiben – jetzt, wo der Weihnachtsmann ihn wieder neu entdeckt hatte. Herr Klotz fühlte, dass sein Herz so laut klopfte wie seine Kuckucksuhr, nur viel schneller. Am Ende würde sein Herz ihn noch verraten! Aber da entfernte sich der Weihnachtsmann, und alles war wieder ganz still. Die Luft ist rein, dachte Herr Klotz und jagte zum Haus. Donnerwetter! Auf der Türschwelle lag ein goldglänzendes Paket mit einer großen, roten Brummerschleife auf dem Deckel. Auf einem Zettel stand in Krakelschrift: »Für Julius Klotz. Vom Weihnachtsmann.« An diesem Abend ging Herr Klotz spät zu Bett. Er saß andächtig auf dem durchgesessenen Sofa in seinem Wohnzimmer und hielt sein Geschenk auf den Knien. Alte, längst verblasste Bilder tauchten in seinem Kopf auf wie Strandgut, das nach Jahren ans Ufer geschwemmt wird. Herr Klotz saß still und lauschte in sich hinein.
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Am nächsten Nachmittag um vier Uhr läutete es bei Herrn Klotz. Nanu, dachte Herr Klotz, wer konnte das sein, so früh am Morgen? Er war noch nicht sehr lange auf und trottete müde zur Tür. Vor ihm stand Frau Wadenstrumpf, die Nachbarin aus der Grummelstraße 5. »Frohe Weihnachten!«, grüßte sie munter und hielt Herrn Klotz einen Kuchenteller unter die Nase. »Mögen Sie Stollen, Herr Klotz? Ich habe welchen gebacken. Zu Kaffee schmeckt er ausgezeichnet.« Herr Klotz strich sich verlegen über die Glatze. Er sah sehr erschrocken aus, fand Frau Wadenstrumpf. Sie lächelte. Frau Wadenstrumpf sah wirklich nett aus, wenn sie lächelte, fand Herr Klotz. »Stollen esse ich für mein Leben gern. Am liebsten in netter Gesellschaft«, antwortete Herr Klotz forsch und wurde rot wie ein Bratapfel. Frau Wadenstrumpfs Augen glänzten, und plötzlich war alles sehr weihnachtlich in der Grummelstraße 7. Herr Klotz huschte in die Küche, in der Vitrine fand er noch zwei Tassen und zwei Teller von dem guten Porzellan. In der Küche brühte er frischen Bohnenkaffee auf. Dann huschte er ins Wohnzimmer und zündete die Baumkerzen an. »Schön haben Sie es hier. Richtig weihnachtlich!«, sagte Frau Wadenstrumpf und deutete auf die kleine geschmückte Nordmanntanne. Vor dem Bäumchen, neben einer roten Schleife, lag ein handgestrickter, blauer Wollschal. 116
»Vom Weihnachtsmann!«, sagte Herr Klotz und wurde wieder rot. Frau Wadenstrumpf räusperte sich. »Ja, dann will ich mal den Stollen in die Küche bringen«, sagte sie und verschwand. Herr Klotz lief zur WohnzimmerKommode und kramte in einer Schublade. Er zog ein silbernes Etui aus der untersten Lade hervor, aus der er eine alte Mundharmonika nahm. Herr Klotz klopfte ein paar Mal auf der Mundharmonika herum, damit die falschen Töne herauspurzelten. Dann setzte er das Instrument an den Mund und spielte Stille Nacht, heilige Nacht. Frau Wadenstrumpf stand mit zwei Tellern in der Tür und lächelte gerührt. Schließlich setzte sie sich zu Herrn Klotz aufs Sofa und sang alle drei Strophen des Liedes laut mit. Dann verteilte sie den Stollen auf die Teller. Es schneite. Dicke Schneeflocken wirbelten durch die Luft, tanzten über das Gartengrundstück und setzten sich an die Fensterscheiben. In der Wohnstube duftete es nach frischem Kaffee, Tannennadeln und echten Bienenwachskerzen. »So einen guten Stollen habe ich aber lange nicht mehr gegessen!«, sagte Herr Klotz und nickte anerkennend. »Nicht wahr?«, meinte Frau Wadenstrumpf. »Greifen Sie doch zu. Ich fürchte, ich kann auch nicht widerstehen.« Sie reichte Herrn Klotz den Teller und nahm sich selber noch ein Stück. Herr Klotz aß und schwieg. 117
Frau Wadenstrumpf schaute versonnen aus dem Fenster. »Wo ist denn eigentlich Ihr Schneemann?«, fragte Frau Wadenstrumpf plötzlich mit halb vollem Mund. Fast hätte Herr Klotz seinen Kaffee verschüttet. Er sprang auf und rannte zum Fenster. Frau Wadenstrumpf hatte Recht, der Schneemann war weg! »Kommen Sie, meine Liebe!«, rief Herr Klotz, warf sich seinen Schal um und stürzte hinaus. Frau Wadenstrumpf warf das angebissene Stück Stollen auf ihren Teller, riss ihren Mantel vom Haken und stolperte hinter Herrn Klotz her. Sie liefen zu dem Platz, auf dem der Schneemann all die Monate gestanden hatte. »Spurlos verschwunden!«, stellte Frau Wadenstrumpf erstaunt fest und pfiff leise durch die Zähne. Herr Klotz seufzte und schüttelte den Kopf. Er seufzte einige Male und schüttelte wieder und wieder den Kopf. Dann schaute er Frau Wadenstrumpf an und ein schüchternes Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie stapften eine Weile nebeneinander her durch den tiefen Schnee. Zwei Farbkleckse auf weißem Untergrund. Herr Klotz mit seinem blauen Schal, Frau Wadenstrumpf in ihrem dicken, roten Kapuzenmantel. Sie hielten die Blicke starr auf den Boden gerichtet, gerade so, als suchten sie etwas. Irgendwann hielt Frau Wadenstrumpf inne und schaute hinauf zu den Sternen, irgendwann rückte Herr Klotz ganz nah an sie heran, irgendwann schob er wortlos 118
seinen Arm unter ihren. Der Mond lächelte. Petrus hatte für heute Tauwetter angesagt. Und so war es auch.
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Christian Bieniek Go to Hel
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alb sieben Parkplatz Wenn man so eine SMS von Helene bekam, gab es nur eine Antwort: O.K.! Obwohl halb sieben eine unmögliche Uhrzeit war. Zumindest an Heiligabend. Um sechs hätte Judith mit ihren Eltern in die Kirche gehen müssen. So wie jedes Jahr zu Weihnachten. Ein Glück, dass Judith am Vormittag zusammen mit ihrer Mutter Kekse gebacken und dabei jede Menge Teig genascht hatte! »Kein Wunder, dass du Bauchschmerzen hast«, hatte ihre Mutter vorhin geschimpft, als sie zusammen mit Judiths Vater und ihrem kleinen Bruder Michael zur Kirche aufgebrochen war. »Du konntest ja nicht die Finger vom Teig lassen.« Eigentlich waren die Bauchschmerzen nur erfunden gewesen. Aber jetzt auf dem Weg zum Parkplatz spürte Judith tatsächlich ein unangenehmes Kribbeln im Magen. Schuld daran war aber nicht der Teig, sondern das blöde Teil in der Innentasche ihres Anoraks. Sie wusste noch nicht, ob sie es gleich ihrer Freundin in die Hand drücken sollte oder nicht. Erst mal abwarten, wie Helene drauf war. Ihre spitze Zunge konnte einen ganz schön verletzen. Nein, es war nicht besonders einfach, Helenes beste Freundin zu sein. Es gab Tage, an denen sie wegen jedem Mist explodierte. An besseren Tagen explodierte sie nur, wenn ihr irgendwas nicht passte. Richtig nett war sie nie. Vor allem nicht zu sich selbst. Die giftigsten Sprüche machte Helene Laurenz über 121
Helene Laurenz. Und über Leute, die sie Helene nannten. Aus ihrem Vornamen hatte sie die letzten drei Buchstaben gestrichen. Schon von weitem sah Judith ihre Freundin auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt stehen, eine Zigarette in der Hand. Heute Morgen hatte hier ein Riesengewimmel geherrscht, aber jetzt war weit und breit kein Auto zu sehen. Überhaupt schien die Stadt völlig ausgestorben zu sein. »Frohe Weihnachten!«, rief Hel ihr mit grimmiger Miene entgegen und zog an ihrer Zigarette. »Ich dachte, du bist in der Kirche!« »Sonst noch was?« »Hier!« Sie hielt Judith die Zigarette hin. Die schüttelte den Kopf. »Gestern haben wir viel zu viel gequalmt«, sagte Judith. »Ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen.« »Ich auch«, gab Hel zu. »An Silvester höre ich auf zu rauchen.« »Echt?« Hel nickte. »Ich hör auch auf mit dem Haschisch und mit den bunten Pillen.« »Das nimmst du doch alles gar nicht.« »Noch nicht«, erwiderte Hel grinsend. »Aber bis Silvester ist ja noch ein bisschen Zeit. Da kann ich mit dem ganzen Zeug anfangen.« Sie ließ die Kippe fallen und trat sie aus. »Los, komm!« »Wohin?« »Keine Ahnung. Das müssen wir irgendwie aus122
nutzen.« »Was?«, fragte Judith. »Dass alle in der Kirche sind. Wir haben das ganze Kaff für uns und können jede Menge Scheiße bauen.« Hel pustete sich ihren blonden Pony aus der Stirn und setzte sich in Gang. Zögernd folgte ihr Judith. Sie musste Hel sagen, dass sie nur eine Stunde Zeit hatte. Dann würde ihre Familie wieder zu Hause sein. Für Punkt acht war die Bescherung geplant. Ob Judith dieses Jahr ausnahmsweise mal irgendwas von dem geschenkt bekommen würde, was sie sich gewünscht hatte? Ihr Herz klopfte schneller, als sie an das Teil in ihrem Anorak dachte. Inzwischen hatten sie die Fußgängerzone erreicht. Bis auf eine alte Frau mit ihrem Dackel war sie menschenleer. »Scheiß Weihnachten!«, schnaubte Hel wütend und zeigte auf ein ganz besonders kitschiges Schaufenster mit pinkfarbenen Engeln, tonnenweise Watte und Millionen kleiner Lichter. »Was hasst du am meisten daran, hä? Die idiotischen Geschenke? Das verlogene Getue mit ›Fest der Liebe‹ und so? Oder diese peinlichen Dekorationen?« »Alles«, sagte Judith. Und ärgerte sich. Jetzt konnte sie das Teil in ihrem Anorak vergessen. Warum traute sie sich so selten, Hel zu widersprechen? Sie war doch ihre beste Freundin. Geschenke fand Judith nicht idiotisch. Nicht alle zumindest. Es kam darauf an, wer wem was schenkte. Oder von wem man was 123
geschenkt bekam. Geschenke konnten was sehr Schönes sein. »Mistwetter!«, schimpfte Hel plötzlich. »Wenn es geschneit hätte, könnten wir jetzt Schneebälle durch offene Fenster werfen.« »Wozu?« Hels Stirn verdüsterte sich. »Wozu! Wozu!«, äffte sie Judith nach. »Um die Leute zu ärgern, wozu sonst? Vielleicht wurden die sich sogar darüber freuen.« »Warum sollten sie?« »Na hör mal! Friede, Freude, Eierkuchen – diese Weihnachtsstimmung ist doch echt zum Kotzen! Und vor allem stinklangweilig. Heute Abend kommt mein Vater zum Essen vorbei. Glaubst du, dabei gibt es auch nur den kleinsten Streit? Weder er noch meine Mutter werden es sich anmerken lassen, dass sie sich nicht ausstehen können. Wieso bleibt er nicht bei seiner Freundin in Hamburg? Auf seine dämlichen Sprüche können wir verzichten. Alles, was wir brauchen, ist sein Geld.« Hel bückte sich und hob einen Stein auf. »Der ist zwar ziemlich klein und nicht weiß, fliegt aber bestimmt genau so gut wie ein Schneeball«, meinte sie und schaute sich beim Weitergehen nach offenen Fenstern um. »Damit kannst du jemanden verletzen«, gab Judith zu bedenken. »Mit dem winzigen Ding? Blödsinn!« Sie blieb vor einer Metzgerei stehen und zeigte auf 124
den zweiten Stock. Eins der vier Fenster, die mit Weihnachtskram geschmückt waren, stand offen. »Frohe Weihnachten!«, rief Hel und schleuderte den Stein zum Fenster hinauf. Leider zielte sie nicht ganz genau. Der Stein knallte gegen ein anderes Fenster. Mit einem lauten Klirren ging die Scheibe zu Bruch. Die beiden Mädchen sahen sich erschrocken an. Dann fing Hel an zu kichern und rannte los. Judith folgte ihr. Sie flitzten um die nächste Ecke. Erst hundert Meter weiter blieb Hel stehen. Sie kicherte immer noch. »Volltreffer!«, jubelte sie und reckte beide Fäuste in die Luft. »War das kein tolles Geschenk?« »Für wen?« »Für die Glaserei, die die neue Scheibe einsetzt. Los, gehen wir weiter!« »Wohin denn?« »Was weiß ich?« Ziellos schlenderten sie weiter. Dabei schimpfte Hel ununterbrochen über Weihnachten. Über die Tannenzweige im Wohnzimmer. Über den Adventskranz an der Haustür. Über die Gans im Backofen. Über ihren Vater, der sie den ganzen Abend über die Schule ausquetschen würde, weil er nicht wusste, worüber er sonst mit Hel reden sollte. Mittlerweile waren sie am Stadtpark angekommen. Auf dem Weg hierhin war ihnen kaum jemand begegnet. Judith warf einen verstohlenen Blick auf ihre Uhr. 125
»Wo sind denn die ganzen Bäume?«, fragte Hel erstaunt, als sie am Bismarck-Denkmal vorübergingen. »Welche Bäume?« »Die Tannenbäume, die hier in den letzten Wochen verkauft wurden. Gestern waren noch zwanzig Stück da. Mindestens.« Sie schaute sich suchend um und entdeckte hinter dem Denkmal noch zwei mickrige Bäumchen. »Diese Missgeburten wollte wohl keiner haben«, vermutete sie. »Die waren den Leuten wohl nicht gut genug für ihre hässlichen Wohnzimmer.« Hel zückte ihr Feuerzeug. »Was hast du vor?«, fragte Judith. »Weihnachten feiern. Die Bäume haben zwar keine Kerzen, aber das macht nichts.« Sie bückte sich und versuchte, einen Zweig anzuzünden. »Bis du verrückt geworden?«, fauchte Judith sie an. »Willst du den ganzen Stadtpark abfackeln?« »Nein, nur die zwei Bäume. Bismarck hätte bestimmt nichts gegen ein kleines Feuerchen. Bei dieser Kälte friert er sich doch den Arsch ab!« Es dauerte eine Weile, bis der Zweig Feuer fing. Aber dann ging alles ganz schnell. In null Komma nichts brannte der Baum lichterloh. Blitzschnell griffen die Flammen auf den anderen Baum über. Höchstens zwei Minuten dauerte es, bis das Feuer erlosch. Schweigend hatten die Mädchen dem Brand zugeschaut. Jetzt sahen sie sich in die Augen. Ziemlich lange. 126
»Frohe Weihnachten!«, sagte Hel auf einmal mit überraschend leiser Stimme. »Frohe Weihnachten!«, erwiderte Judith. Sie umarmten sich und drückten sich zwei Küsschen auf die Wange. »Scheiße, sind wir spießig!«, fluchte Hel grinsend und stieß Judith von sich weg. »Friss nicht zu viele Süßigkeiten! Tschüss!« Bevor Judith etwas sagen konnte, hatte Hel ihr den Rücken zugewandt und stapfte nun mit großen Schritten davon. »Tschüss!«, rief Judith ihr hinterher. Hel hielt nicht an und schaute auch nicht zurück. Erleichtert atmete Judith tief durch. Ein Glück, dass sie das blöde Teil im Anorak gelassen hatte! Was hätte ihre Freundin wohl dazu gesagt? Wahrscheinlich gar nichts. Hel hätte sie nur ausgelacht. Und wie! Judith wollte sich in Bewegung setzen, doch in diesem Moment machte Hel kehrt. Beim Näherkommen erschien ein seltsames Lächeln auf ihrem Gesicht. »Ich hab was vergessen«, sagte sie, als sie vor Judith stand. »Was denn?« Nach kurzem Zögern griff Hel in ihre linke Manteltasche. Was sie herausholte, war flach und viereckig und in hellblaues Glanzpapier mit silbernen Engeln verpackt. Judith fing an zu kichern. 127
»Ja, ich weiß!«, brummte Hel unwirsch. »Geschenke sind Scheiße! Das ist eine alte Tupac-CD. Wehe, sie gefällt dir nicht! Tschüss!« »Warte mal!« Immer noch kichernd öffnete Judith den Reißverschluss ihres Anoraks und griff in die Innentasche. Hel riss die Augen auf. Was Judith in der Hand hielt, war ebenfalls flach und viereckig. Verpackt war es jedoch in eine goldene Folie mit bunten Sternchen drauf. »Was – was ist das?«, stammelte Hel. »Die Ärzte. Live. Wehe, die CD gefällt dir nicht!« »Ich hasse die Ärzte!« »Ich hasse Tupac!« »Aber Weihnachten hasse ich noch mehr!« »Und ich erst!«
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Harald Parigger Weil Weihnachten ist
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n diesem Nachmittag traf sich die ganze Bande an der Unterführung. Motte, der kleine Joff, Springer, Bahsi und natürlich Snot, im Schlepptau Madonna, seine Flamme. »Und, was machen wir?«, fragte Springer und trat nach einer streunenden Katze, die neben ihm an einer Plakatwand kauerte. Das blöde Vieh wich aus und Springer ließ seinen Stiefel mitten in die Benetton-Reklame krachen. Lang nicht so gut wie das Jaulen, auf das er gehofft hatte, aber besser als nichts. »Kino«, schlug Babsi vor. »Kino? Kinderkram!«, sagte Snot. »Muss kein Kinderkram sein«, murrte Motte aufsässig. »Gibt verdammt geile Sachen im Kino.« »Genau«, sagte Madonna und stellte sich vor, wie Snot im Halbdunkel neben ihr saß und seine Hand an ihrem Oberschenkel langsam aufwärts wandern ließ, wie er’s schon mal gemacht hatte. »Kein Kino«, sagte Snot. »Habt ihr ‘ne Ahnung, was das kostet? Sieben Euro der billigste Platz. Ham wir 42 Euro?« »Locker«, sagte Motte und zog einen Fünfziger hervor. »Mann, wo hast’n den her?« »Geklemmt von meiner Alten. Weihnachtsgeld, mein Anteil.« Er grinste. »Erste Rate.« Madonna schlang die Arme um Snots Hals. »Das 130
reicht doch fürs Kino.« Snot schob sie weg. »Kein Kino.« »Und warum nich, verdammt?«, fragte Motte und machte schmale Augen. Snot schaute ihn an. Erst seine Hose, dann den löchrigen Schal, den er immer trug, dann sein Gesicht. »Weil ich es sage.« Motte kniff die Lippen zusammen und schwieg. Alle schwiegen und Snot nickte. Er zog geräuschvoll hoch und spuckte einer vorbeischlurfenden Oma einen dicken Schleimbatzen so zielgenau vor die Füße, dass sie mitten reintrat. Wütend blieb sie stehen und machte den Mund auf. Snot trat ganz nah zu ihr hin. »Was is, Mutter, hast du’n Problem?« Da huschte sie davon, ganz schnell und leise, so wie eine aus dem Zimmer huscht, wenn ihr Alter im Lehnstuhl schnarcht und sie ihn nicht aufwecken will. Die anderen kicherten. »Fröhliche Weihnachten!«, plärrte Madonna ihr hinterher. Dann schlang sie die Arme um den Leib. »Mann, ist mir kalt!« Sie schaute ihrem Atem hinterher, der als Dampfwolke in der kalten Winterluft schwebte. »Also, was machen wir?« »Erst mal ‘n paar Bierchen zischen. Im Bahnhof«, schlug Springer vor. Snot grinste beifällig. »Genau. Mit Mottes Kohle.« 131
Der Bahnhof war schon lang kein Bahnhof mehr, aber den Kiosk und die kleine Kneipe gab es noch. Die alten Leute aus der Gegend kauften Zeitungen, billige Zigarren und ab und zu eine Postkarte. Ein paar Obdachlose wärmten sich da auf und holten sich ihre Tagesration Jägermeister. Und manchmal kam jemand, der nichts anderes vorhatte, setzte sich an einen der drei Tische, trank ein Bier und warf eine Frikadelle ein, die die Wirtin vorher aus einem zugeschweißten Tütchen holte und in der Mikrowelle aufwärmte. Die sechs trotteten die Straße entlang, an ein paar Geschäften vorbei, in deren Schaufenstern über der ausgestellten Ware Plastiktannenzweige mit Glaskugeln und staubigen roten Schleifen hingen. Von irgendwoher röhrte Heino »Süßer die Glocken nie klingen« hinaus auf die Straße. Viel war nicht mehr los. Die meisten Leute hatten ihre Einkäufe schon erledigt. Wer noch unterwegs war, hatte es eilig. Wenn Babsi ihren Rock hob oder Snot einen Spuckestrahl aus dem Mundwinkel schießen ließ, reagierte kaum jemand. Ein verlegener Blick, ein Schritt zur Seite, ein gemurmeltes »Blöde Saubande!«, das war alles. »Bloß Scheißtypen unterwegs heute«, murmelte Springer. Frustriert packte er einen faustgroßen Kiesel und schleuderte ihn einem Radfahrer hinterher, der an ihnen vorbeipreschte. Aber er traf bloß einen Baum. Der Stein prallte ab und knallte auf ein Autodach, kullerte über die Frontscheibe und blieb auf 132
dem Kühler liegen. »Scheiße, Mann!«, fluchte Snot. »Nicht auf Autos, solang’s noch hell ist! Wenn dich einer sieht, die Bullen kriegen dich am Arsch. Und uns mit. Wie oft soll ich dir das noch sagen, du Idiot! Autos bloß nachts!« Ich hab auf den Radfahrer gezielt, wollte Springer sagen, aber er ließ es lieber. Snot war so ein Typ, der traf immer genau da, wo er hingezielt hatte. Beim Spucken, beim Hinhauen und mit der Klappe. Es war besser, nichts zu sagen. Dann waren sie da. Sie schoben die grau lackierte Holztür auf. Eine altmodische Glocke bimmelte, während sie den Raum betraten. Links vom Tresen stand ein Tannenbaum, der mit silberglitzernden Girlanden und roten, gelben und blauen Lichtern geschmückt war. Von der Neonröhre an der Decke baumelte ein Weihnachtsmann, aufgeblasen wie ein Schwimmtier. Zwei Tische waren leer, am dritten hockte ein alter Mann, der einen Stumpen qualmte. Dicke Rauchschwaden hingen über ihm. Er trug eine Nylonjacke mit Pelzkragen und Handschuhe, bei denen die Spitzen abgeschnitten waren. Vor ihm standen ein Bierund ein Schnapsglas. Die Wirtin stand hinter dem Tresen und sortierte Zeitschriften. Snot baute sich vor ihr auf. »Und?«, fragte sie. »Marlboro. Zwo Schachteln«, gab Snot zurück. 133
»Und sechs Bier. Fürs Erste. Der Herr da zahlt.« Er deutete auf Motte, der gehorsam seinen Fünfziger hervorholte. Misstrauisch musterte die Wirtin sie der Reihe nach. »Bier? Nee, is nich, Junge. Cola könnt ihr kriegen. Und der Kleine da …«, sie machte eine Kopfbewegung zu Joff hin, der sich an die Theke quetschte und ein Bild von Prinzessin Stephanie anstierte, »raucht gefälligst draußen, wenn er’s nicht lassen kann.« »Mann, was soll’n das, ich bin schon längst achtzehn«, sagte Snot, der fast siebzehn war. »Dann zeig deinen Ausweis!« »Hab ich nicht dabei. Außerdem, da könnt ja jeder kommen und meinen Ausweis sehn wollen.« »Unglaublich, was die sich heute rausnehmen«, sagte der Alte. »Früher hätt’s was mit der Peitsche gegeben.« »Davon haben Sie aber zu wenig abgekriegt«, sagte Snot, und Springer dachte, dass früher die Zeiten auch nicht anders waren als heute. Aber das sagte er nicht. Der Alte wollte sich aufregen, aber die Wirtin beruhigte ihn. »Lass mal, Peter. Heute ist Weihnachten.« »Also, was ist jetzt?«, fragte sie dann. »Wollt ihr jetzt Cola oder nicht?« Bevor Snot ihr noch sagen konnte, wo sie sich ihr Cola hingießen könnte, hatten alle anderen schon genickt und ja gesagt. 134
Sie nahmen ihre Flaschen in Empfang und setzten sich an die beiden freien Tische. Snot riss eine Zigarettenpackung auf und reichte sie rum. Alle rauchten bis auf Joff, der aus seinem Kaugummi Blasen machte und sie mit leisem Knall platzen ließ. »Was macht ihr eigentlich hier?«, fragte der Alte plötzlich. »Solltet ihr nicht zu Haus sein, heute?« »Heute?«, äffte ihn Babsi nach. »Was ist schon heute Besonderes? Und überhaupt! Was machen Sie dann hier?« Der Alte gab keine Antwort. Eine Weile schwiegen alle. Der Rauch von den Kippen stieg zur Decke, man hörte nichts als das leise Knallen von Joffs Kaugummiblasen. Dann schob sich die Tür auf, die Glocke bimmelte, ein Schwall feuchtkalter Luft drang in den Raum und ließ die Rauchschwaden tanzen. Ein Junge kam herein, dreizehn oder vierzehn Jahre, schwarze Locken, dunkle Haut. »Hallo!«, sagte er. »Hallo, mein Junge«, sagte die Wirtin. »Was kann ich für dich tun?« »Mann, zu dem Kameltreiber ist sie höflich«, murmelte Springer. Der Alte beäugte den Neuankömmling mit zusammengekniffenen Augen, mummelte an seinem Stumpen und sagte nichts. Der Junge kaufte eine Rätselzeitung und einen Liter Limo. 135
»Tschüss«, sagte er, nachdem er bezahlt und sein Wechselgeld eingesteckt hatte. »Wiedersehen«, sagte die Wirtin. »Und fröhliche Weihnachten.« Doch der Junge war schon draußen. Snot stand auf, drückte seine Kippe aus und winkte mit dem Kopf. Wortlos ging er hinaus. Die andern kamen ihm nach. Es war fast dunkel geworden. Die Lichter in den Weihnachtsdekorationen glitzerten. »Mann, was’n los?«, fragte Motte. »Meine Cola war noch halb voll.« »Das is los.« Snot zeigte auf den Jungen, der vor ihnen die Straße entlangschlenderte. Springer begriff als Erster. »Tun wir den aufmischen?«, fragte er. Seine Stimme klang rau. »Idiot! Einen kann man doch nicht aufmischen. Müssen mindestens zwei sein. Mit einem kann man bloß ‘n bisschen Spaß haben.« Snot grinste. »Halt ihn auf!« Springer rannte los. Der Junge drehte den Kopf, wollte loslaufen und sah, dass er nicht weit kommen würde. Also ging er weiter, verschränkte die Hände vor dem Bauch, sodass die Limoflasche zwischen seinen Beinen hing, und pfiff. Springer erreichte ihn und hielt ihn fest. Der Junge hatte die Augen weit aufgerissen. Springer sah hinein. Sie waren groß und schwarz. Lichter spiegelten sich in ihnen. Das machte ihn wütend, und er wollte 136
zuschlagen. Aber er wartete, bis die andern da waren. Snot und die andern. »Wen haben wir denn da?«, fragte Snot freundlich. »Wie heißt du denn?« »Burak«, antwortete der Junge. »Burak der Kanack«, sagte Snot. Die anderen lachten. »Nimm doch Platz, Burak der Kanack«, sagte Snot. Der Junge verstand ihn nicht, wollte ihn nicht verstehen. »Hilf ihm!«, befahl Snot. Springer schob einen Fuß hinter das rechte Bein des Jungen, packte ihn an der Kapuze und riss ihn zu Boden. »Jetzt hat er’s schon mal bequem, Burak der Kanack«, sagte Snot. Der Junge saß in der Nässe und wiegte den Oberkörper hin und her. Die Augen hatte er jetzt geschlossen. Die Limoflasche und die Zeitung lagen im Dreck. Jetzt hat er die Augen zu, dachte Springer, und das machte ihn noch wütender. Er hob die Faust, aber Snot packte ihn am Handgelenk. »Eins nach dem andern«, sagte er. »Was machen wir zuerst?« »Erst die Kohle«, sagte Babsi. »Genau, erst die Kohle. Gib her.« Der Junge öffnete eine Hand. Ein zerknüllter 5Euro-Schein und ein paar Münzen kamen zum Vorschein. 137
»Verdammt, ist das alles?«, fragte Babsi enttäuscht. Der Junge nickte. Seine Augen waren immer noch geschlossen, und Springer versuchte zu erkennen, ob Tränen darunter hervorquollen. Aber es war schon zu dunkel. »Was ist damit?«, fragte Snot und stieß mit dem Fuß an die Skaterschuhe, die der Junge trug. Babsi schnaubte verächtlich. »Scheiße, die doch nicht. Guck doch mal auf die Marke.« Snot verstaute den 5-Euro-Schein und die Münzen in seiner Tasche. »Was machen wir jetzt mit Burak dem Kanack?«, fragte er. Er sah, wie Springer sich die Lippen leckte, zu tänzeln begann und grinste. »Okay«, sagte er. Zufällig schaute er auf die andere Straßenseite. Im Schaufenster eines Friseurladens hing eine Girlande aus Plastiktannenzweigen mit roten Schleifen und einem goldenen Stern. Snot grinste wieder und trat vor den Jungen. »Lasst ihn in Ruhe«, befahl er. »Ey, Mann, warum das denn?«, fragte Babsi. »Weil Weihnachten ist«, grinste Snot. »Spinnst du jetzt, Mann?« Springer trat von einem Bein auf das andere. »Der ist doch Türke oder so was. Für den gibt’s kein Weihnachten.« Einen Augenblick zögerte Snot, dann wurde sein Gesicht hart. 138
»Egal. Lasst ihn in Ruhe.« »Und warum, verdammt noch mal?«, fragte Springer wütend. Snot musterte ihn, von unten nach oben, von den Stiefeln bis zum kahlen Schädel. »Weil ich es sage. Darum.« Springer schwieg. Mit der Schuhspitze stieß Snot den Jungen, der zusammengesunken auf dem Boden hockte, in die Seite. »He, du, Burak der Kanack, hau ab!« Der Junge riss die Augen auf. Sie waren groß und schwarz und feucht. Lichter spiegelten sich in ihnen. »Hau ab!« Der Junge nahm seine Limonade und die nasse Rätselzeitung und machte sich schleunigst davon. Als sie weitergingen, blieben Madonna und Snot ein Stück hinter den anderen zurück. »War doch richtig, was Springer gesagt hat«, sagte Madonna. »Für Kanacken gibt’s kein Weihnachten.« »Weiß ich«, antwortete Snot unwirsch und spie einen Spuckestrahl zielgenau auf den Rückspiegel eines Autos am Straßenrand. »Hätt ich dem Wichser Recht geben sollen?« »Irgendwie fand ich’s cool«, sagte Madonna. »Red keinen Scheiß«, sagte Snot. Er legte eine Hand auf ihren Rücken und ließ sie langsam abwärts gleiten. Weil Weihnachten war.
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Sabine Rahn Nikolaus bei den Heckzahns
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m, hier muss es doch eigentlich irgendwo sein.« Der Mann mit der roten Zipfelmütze bleibt stehen, zieht einen Handschuh aus, kramt in der Manteltasche und holt einen zerknitterten Zettel hervor, auf dem von oben nach unten schon jede Menge Zeilen ausgestrichen sind. »Bei Hocks war ich schon, bei Arends, bei Wörners und bei den Lotfis auch …«, murmelt er. Der Nikolaus schiebt sich die rote Zipfelmütze etwas aus der Stirn, wühlt noch einmal in seiner Manteltasche, zieht einen roten Filzstift hervor und streicht vier weitere Adressen aus. »Jetzt müssen wir heute Abend nur noch zu Familie Heckzahn.« Er klopft dem Esel, der geduldig neben ihm steht und mit den Ohren spielt, auf den Hals. In dem Sack, den das Eselchen auf dem Rücken trägt, ist nicht mehr viel drin. Die Straße ist menschenleer. Der Nikolaus schaut erst auf seinen Zettel, dann auf das Straßenschild unter der Laterne und schließlich auf die Garage des Hauses, vor dem er steht. Dort hängt eine große 32. »Die Straße stimmt, aber die Hausnummer nicht. Wir müssen noch ein Stückchen weiter gehen, mein Guter! Die Heckzahns wohnen wohl ziemlich außerhalb«, sagt der Nikolaus. »Im nächsten Jahr werde ich auf jeden Fall einen Stadtplan mitnehmen. Diese ewige Sucherei jedes Jahr …« Sein warmer Atem haucht bei jedem Wort eine wolkige weiße Sprech141
blase in die kalte Nachtluft. Es ist sternenklar. Auf den Scheiben der am Straßenrand geparkten Autos wachsen Eisblumen, und auf den kahlen Bäumen und Sträuchern bilden sich stachelige Frostdornen. Der Asphaltbelag der Straße geht in einen steinigen Schotterweg über. Häuser stehen hier jetzt keine mehr. Auch an der letzten Straßenlaterne sind sie schon vor einer Weile vorbeigelaufen. Es ist stockdunkel. Nur der schmale Sichelmond und die Sterne spenden Licht. Der Nikolaus und sein Esel gehen an einer hohen, mit Efeu bewachsenen Mauer entlang. Was dahinter liegt, kann man nicht sehen. Vielleicht der Friedhof? Ab und zu knackt es im Efeu. Dann springen die beiden erschrocken zur Seite. »Das war nur ein Zweig«, beruhigt der Nikolaus seinen grauen Begleiter und tätschelt ihm beruhigend den Hals. Plötzlich jault ein Tier. Es klingt wie Wolfsgeheul. Vielleicht liegt hinter der Mauer ja auch der Zoo? Der Esel tänzelt nervös. Der Nikolaus packt die Zügel fester und ist froh, dass er nicht alleine unterwegs ist. Er bleibt stehen. »Ist ja wirklich eine ziemlich düstere Gegend!«, brummt er. »Ob wir uns verlaufen haben? Hier kommt doch jetzt kein Haus mehr.« Er schaut sich vorsichtig um. »Ich glaube, wir kehren besser um«, beschließt er. In dem Moment huscht lautlos ein Schatten über 142
die beiden. »Eine Fledermaus bei dieser Kälte?«, wundert sich der Nikolaus. »Und noch dazu eine so große!« Der Esel wiehert erschrocken, steigt und schlägt mit den Vorderhufen in die Luft. Der Nikolaus hat alle Mühe, das nervöse Tier zu beruhigen. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragt auf einmal jemand hinter dem Nikolaus. »Sie suchen doch sicher das Haus der Heckzahns.« »Stimmt genau!« Überrascht dreht der Nikolaus sich um. Hinter ihm steht ein Mann in einem langen schwarzen Mantel. Der Hut, den er trägt, wirft einen Schatten auf sein Gesicht. »Wissen Sie …«, sagt der Nikolaus. Doch weiter kommt er nicht. Der Esel wiehert, rollt wild mit den Augen und zerrt am Zügel. Der Sack fällt zu Boden. Der fremde Mann hebt ihn auf, und als er dabei dem Esel näher kommt, zerrt das Tier noch stärker an seinen Zügeln. »Verrücktes Vieh!«, grollt der Nikolaus. »Sonst ist er lammfromm. Aber heute …« Er schüttelt den Kopf und versucht das Eselchen weiter zu ziehen. Aber störrisch – wie man es den Angehörigen seiner Art nachsagt – stemmt es die Beine in den Boden und weigert sich, auch nur einen Schritt zu gehen. »Vielleicht ist er müde«, sagt der Mann. »Schließlich sind Sie ja bestimmt schon eine ganze Weile unterwegs.« »Das ist wahr«, bestätigt der Nikolaus. Er schaut 143
sich unschlüssig um. »Binden Sie den Esel doch ein Weilchen an dieses Parkverbotsschild«, schlägt der Mann vor. »Der Nikolausesel wird schon keinen Strafzettel bekommen.« Er lacht. »Unser Haus ist ganz in der Nähe, und der Sack ist ja auch nicht mehr so schwer. Auf dem Rückweg nehmen Sie Ihren Esel dann einfach wieder mit.« Der Mann reicht dem Nikolaus den Sack. »Hm«, brummt der Nikolaus. Er lässt seinen Esel nicht gerne alleine. Aber da das Tier sich nicht vom Fleck rührt, bleibt ihm wohl gar nichts anderes übrig. »Ich bin gleich wieder da, mein Guter«, sagt er und klopft dem zitternden Eselchen beruhigend auf den Hals. Der Esel schreit ganz kläglich »I-ah!« und schnappt nach dem roten Ärmel, als ob er den Nikolaus festhalten wollte. »Hey«, sagt der Nikolaus. »Zu fressen gibt es erst, wenn ich wieder zurück bin!« Er wirft sich seinen Sack über die Schulter und folgt dem Mann, der schon einige Schritte vorausgegangen ist. »Mein Name ist Stanislav Heckzahn«, erklärt der Mann, als der Nikolaus zu ihm aufgeschlossen hat. »Unser Haus ist etwas abgelegen. Deswegen gehe ich Besuchern gerne entgegen. – Vor allem im Dunkeln.« Auf einmal ist die mit Efeu bewachsene Mauer abrupt zu Ende, und um die Ecke taucht eine große Vil144
la auf. Obwohl die Fenster hell erleuchtet sind, wirkt das Haus düster. Herr Heckzahn schließt die Tür auf, bittet den Nikolaus in eine großzügige Eingangshalle und schließt dann rasch die Tür, denn die Kerzen auf dem großen Kristalllüster, der von der Decke hängt, flackern, als die kalte Nachtluft hereinweht. »Echte Kerzen«, denkt der Nikolaus. »Wie ungewöhnlich!« Er schaut sich um. Weiter hinten führt eine geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock. Sein Blick fällt in den riesigen Spiegel, der neben der Garderobe hängt, und er fährt erschrocken herum. Im Spiegel sieht er nur sich. Dabei stand Herr Heckzahn doch gerade noch direkt hinter ihm! Als er sich herumdreht, lächelt Herr Heckzahn ihn an. Jetzt sieht der Nikolaus zum ersten Mal sein Gesicht. Der Mann sieht aus, als ob er viel zu viel arbeitet und dringend mal wieder Urlaub nötig hätte. »Henriette! Burkhardt!«, ruft Herr Heckzahn. »Schaut mal, wen ich mitgebracht habe!« Der Nikolaus hört eilige Schritte. Dann kommen zwei Kinder in den Flur gerannt. Sie müssen wohl krank gewesen sein, denn ihre Augen glänzen fiebrig und ihre Lippen sind weiß und blutleer. »Der Nikolaus!«, jubeln sie. »Komm mit!« Sie nehmen den Nikolaus links und rechts an der Hand und ziehen ihn mit sich, sodass er gar keine Zeit hat, sich über das seltsame Spiegelbild zu wundern. 145
Zahllose unruhig flackernde Kerzen tauchen den Raum in ein warmes Licht. Eine zierliche blonde Frau steht mit dem Rücken zu einem prasselndem Kaminfeuer. »Wie schön, dass der Nikolaus uns in diesem Jahr gefunden hat!«, sagt sie. »Kinder, habt ihr ihm schon euer Gedicht aufgesagt?« Die Frau reicht dem Nikolaus die Hand und flüstert ihm dann ins Ohr: »Das haben sie selbst gedichtet.« Sie lächelt, und dem Nikolaus fallen ihre ungewöhnlich weißen, spitzen Zähne auf. Auch ihre Haut wirkt blass und durchscheinend. »Na, dann lasst mal hören«, sagt er. Er stellt seinen Sack neben sich und nickt den beiden Kindern zu. Der Junge und das Mädchen stellen sich nebeneinander und sagen im Chor: »Auch in diesem Haus warten alle auf den Nikolaus! Und das schon ganz furchtbar lange. Immer wieder fragen wir uns bange, kommt er wohl in diesem Jahr? Juchu! Hurrah! Da ist er schon! Jetzt gibt’s des langen Wartens Lohn. Apfel, Nuss und Mandelkern haben alle braven Kinder gern. Früher schmeckt’ auch uns das gut, jetzt mögen wir viel lieber …« 146
In dem Augenblick knackt einer der Holzscheite im Kamin so laut, dass der Nikolaus den Schluss des Gedichtes gar nicht versteht. Er lächelt. »Das war ein sehr hübsches Gedicht!«, sagt er. Henriette und Burkhardt strahlen. Der Nikolaus räuspert sich. »Na gut, dann wollen wir doch einmal sehen, was ich für euch habe …« Mit diesen Worten bindet er seinen Sack auf und schüttet Lebkuchen, Nüsse, Apfel und zwei große Schokonikoläuse heraus. Henriette hebt ihren Nikolaus sofort auf und ruft: »Oh wie hübsch! Sieh nur Burkhardt, wie schön das Papier glänzt!« Burkhardt riecht an einem Lebkuchen. »Wie gut der duftet!«, sagt er begeistert. Der Nikolaus lächelt. »Nur zu, du darfst ruhig in den Nikolaus hineinbeißen«, sagt er zu Henriette. »Wirklich?«, fragt Henriette ungläubig. »Aber Mama hat das ausdrücklich verboten …« »Ich erlaube es euch!«, beruhigt sie der Nikolaus. »Und Sie haben wirklich nichts dagegen?«, fragt Burkhardt noch einmal nach. »Natürlich nicht«, sagt der Nikolaus. »Wieso sollte ich!« Burkhardt und Henriette wechseln einen überraschten Blick. »Ich habe noch nie von einem Nikolaus probiert …«, sagt Henriette begeistert. 147
»Dürfen wir auch jetzt gleich?«, fragt Burkhardt. »Na klar«, sagt der Nikolaus. »Nur zu!« »Wie nett!«, sagt Henriette. Die Geschwister legen den Schokonikolaus und den Lebkuchenmann vorsichtig zurück auf den Fußboden und kommen ein wenig schüchtern zum Nikolaus herüber. Der geht in die Hocke und nimmt die beiden Kinder in den Arm. »Was für höfliche Kinder«, denkt er. »Jetzt bedanken sie sich sogar mit einem Kuss bei mir!« Henriette und Burkhardt graben ihre kalten Nasen in seinen Bart. Der Nikolaus zuckt ein bisschen zusammen, als sie seinen Hals berühren. Er findet es merkwürdig, dass die beiden Kinder ihn nicht auf die Wange küssen, sondern auf den Hals. Auf einmal spürt er einen kleinen stechenden Schmerz – und dann hat er das Gefühl, als ob die Kinder ihn nicht küssen, sondern beißen. Ja, als ob sie an seinem Hals lutschen und saugen … »Das ist mir ja noch nie zuvor passiert«, denkt der Nikolaus, als er wieder zu sich kommt. Die Kerzen sind heruntergebrannt und das Kaminfeuer glüht nur noch. »Ich muss eingeschlafen sein. Und ich habe ja wirklich ziemlich wirr geträumt …« Die Heckzahns sind wohl schon zu Bett gegangen, denn der Nikolaus ist ganz allein im Zimmer. Er sitzt in einem großen Lehnstuhl und reibt sich die Augen. Dann kramt er nach seinen Handschuhen, zieht sie wieder an und tritt hinaus in den Flur. »Jetzt habe ich aber Hunger!«, denkt der Nikolaus. 148
»Ich muss schnell zurück zu meinem Eselchen. Es wird sicher schon ungeduldig auf mich warten.« Er lächelt bei dem Gedanken an sein Eselchen. Dabei entblößt er ungeheuer spitze Eckzähne. Seine Schritte sind langsam und schleppend. Obwohl er gerade geschlafen hat, fühlt er sich ausgelaugt und erschöpft. Wenn der Nikolaus einen Blick in den großen Spiegel im Flur geworfen hätte, wäre er bestimmt ziemlich erschrocken: Nicht nur weil er auf einmal genauso blass und blutleer aussieht wie die Familie Heckzahn, sondern weil der Spiegel sein Bild nicht wiedergibt.
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Nortrud Boge-Erli Wolfszauber
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nd wenn es nicht stimmt? Wenn alles so bleibt, wie es jetzt ist? Ich betrachte meine Handrücken. Sie sind mit einem feinen hellgrauen Fell überzogen. Meine Bauchdecke juckt unterm Pulli. Auch auf meinem Bauch wächst Fell. Vorsichtig taste ich mein Gesicht ab, das überall spannt und juckt. Ich soll nicht kratzen, hat Joachim gesagt. Er hat mich darauf vorbereitet, dass es höllisch jucken würde. Höllisch, hat er betont. Meine Nase hat sich enorm verlängert. Und was, was geschieht plötzlich mit meinem Mund? Ich schreie entsetzt auf. Aber meine Stimme ist nicht mehr meine Stimme. Ein Ton, lang und jaulend, entfährt mir. Schnell halte ich mir das zu, was aus meinem Mund geworden ist. Die Schnauze. Ich halte meine Schnauze. Joachim hatte Recht. Das Mittel hat gewirkt. Ich bin nicht mehr Jocelyn. Ich bin eine Wölfin geworden. Eine Werwölfin. Ich halte es nicht mehr aus hier drin. Ich muss los. Hinaus in die Nacht zum Treff der Werwölfe. Joachim, mein Cousin, wird auch dort sein. Und wer noch? Joachims Freund Raoul? Wie der wohl als Wolf aussieht? Das Jucken hat aufgehört. Ich muss etwas überziehen, falls mich jemand aus der Familie erwischt. Ach, hier, der Liftanzug. Ich schlüpfe hinein. Etwas mühsam mit Wolfsbeinen. Aber es geht. Ich ziehe mir die Kapuze über die Ohren. Oh ja, sie sind spitz und haarig. Wolfsohren … 151
Und jetzt leise, damit die Familie nichts mitkriegt. Meine jüngeren Geschwister schlafen schon. Für die ist Weihnachten trotz allem noch schön! Aus dem Wohnzimmer tönt das Lied Oh du fröhliche, oh du selige … Ich kann dieses Kitschzeug nicht mehr hören. Es dröhnt, dass meine Wolfsohren beben. Schnell weg hier! Es ist dunkel im Flur. Ich haste zur Haustür, stolpere über einen Karton oder was, Papier raschelt. Sicher Weihnachtspapier. Geschenkpapier. »Wenn man nicht in Geschenkpapier watet«, sagt Tante Luzie jedes Mal, »ist es kein richtiges Weihnachten.« Was sie schenkt, verpackt sie äußerst geschmackvoll. Aber sie erwartet auch, dass sie mit ausgesuchten Dingen beschenkt wird. Mama rotiert schon Wochen vor dem Fest und fragt sich, ob das, was sie gekauft hat, Tante Luzies besonderem Geschmack entspricht und ihr gefallen wird. An Weihnachten strömt die ganze Familie zusammen, und wenn alle beschenkt sind, hockt man entweder öde herum oder giftet sich hinterrücks an. Vorne herum wird natürlich keep smiling gemacht. Keiner darf ein lautes oder unfreundliches Wort sagen, das könnte ja die Harmonie zerstören! Meine Oma ist ganz besonders erpicht auf Friede, Freude und so weiter. Zum Glück holen wir sie nur am ersten Weihnachtstag zum Mittagessen aus dem Seniorenwohnheim. Aber das ist schon heftig genug. Diesmal war es sogar besonders schlimm, weil au152
ßerdem Tante Hilla und Onkel Herbert da waren. Meine Brüder standen mal wieder im Schussfeld sämtlicher Attacken, und meine Mutter bekam es knüppeldick, weil sie uns drei angeblich so schlecht erzogen hat. Das ging die ganze Zeit über so: »Also ich würde ja den Jungen die Haare wesentlich kürzer schneiden. Wesentlich!«, sagte Tante Hilla, und Oma sofort: »Das sage ich schon seit Jahren. Aber sie hört ja nicht auf mich.« SIE ist meine Mama. Die beste der Welt. An Weihnachten allerdings auch die genervteste. Was mich am meisten aufregt, ist, dass mein Vater sich aus allem heraushält. Schließlich ist Oma seine Mutter und Tante Hilla seine Schwester, und Jan, Lucas und ich sind seine Kinder. »Aber Jan, hast du schmutzige Fingernägel!« – »Lucas, man bohrt nicht in der Nase. Wer hat dich nur erzogen!« – Und dazwischen wieder süßliches Kindchengetue. Wie ich das hasse! Aber entfliehen kann man nicht, weil alle in ihren Familien hocken. Alle Freundinnen und Freunde sind an den Weihnachtstagen zu Hause angebunden. Also kann man auch seine Freunde nicht treffen. Niemand geht raus wie sonst. Und wenn mein Cousin Joachim diesmal nicht ausnahmsweise an Weihnachten seine Mutter besucht hätte und Tante Luzie nicht wie immer bei uns eingeladen gewesen wäre, dann säße ich jetzt in meinem Zimmer und müsste mich zu Tode langweilen. Was ich jetzt mache, ist zwar nicht langweilig, aber dafür gefährlich. 153
Ich hatte Joachim lange nicht mehr gesehen. Er ist fünf Jahre älter als ich. Zuletzt sind wir uns in den Sommerferien in Dänemark begegnet. Dort hat unsere Großfamilie ein Ferienhaus am Fjord. Damals war ich zehn und Joachim schon ein Jugendlicher, der morgens in aller Frühe mit meinem Vater zum Fischen hinausfuhr, und abends zog er mit den anderen Jugendlichen herum. Sie machten Feuer am Strand und tranken Bier und hörten Musik aus ihren CDPlayern. Mich hat er kaum beachtet, aber ich habe ihn um die Freiheit beneidet, die er hatte, weil er kein Kind mehr war wie ich. An diesem Weihnachtsfest erschien ein ganz anderer Joachim bei uns zu Hause. Schon allein seine helle Mähne, der Bart, den ich noch nie an ihm gesehen hatte, ließen ihn fremd aussehen. Seine Stimme war tiefer geworden und seine Augen hell und flink. Hatte er mich früher niemals angesehen, so fixierte er mich diesmal mit seinem scharfen Blick. »Hey, Jocelyn, du bist ja erwachsen geworden!«, sagte er in einem seltsamen Ton. Sollte das ironisch klingen oder bewundernd? Ich konnte es nicht erraten. »Natürlich ist sie erwachsen. Und ein so hübsches Mädchen!«, schwallte meine Tante Luzie. Sie ist übrigens die Cousine meiner Mutter und Stoffdesignerin von Beruf und betrachtet sich selbst als Künstlerin. Meine Mutter bewundert sie sehr. Mein Vater dagegen kann sie nicht leiden, weil Tante Luzie nicht daran dachte, Joachims Vater zu heiraten. Darum hat 154
mein Vater auch den Ersatzpapa für Joachim gespielt, als Fante Luzie mit ihm in unsere Stadt zog. Außer Tante Luzie feiern Papas Schwester und ihr Mann in jedem Jahr das Heilige Weihnachtsfest bei uns, weil sie nämlich keine eigenen Kinder haben und die Pateneltern von meinen Brüdern sind. Sie bringen zwar massenweise Geschenke mit, hocken aber nur im Wohnzimmer herum und tun nichts. Wirklich: Sie tun rein gar nichts. Sie machen keinen Handgriff. Auch darum hasse ich Weihnachten, weil alle von mir erwarten, dass ich, die Tochter des Hauses, mit Begeisterung das Dienstmädchen spiele und mit Mama in der Küche stehe und den Tisch decke und abräume und die Spülmaschine fülle und das gespülte Geschirr wieder ausräume, damit alle Gäste zufrieden sind. Ich koche wirklich gern mit Mama. Aber nicht für diese Leute, die stinkfaul, ätzend langweilig und grundverlogen sind. Diesmal aber kam Joachim mit, der schon Student ist. Und er war wirklich nett zu uns allen. Er hockte sich nicht nur zu meinen Brüdern und spielte die neuen Computerspiele mit ihnen. Er kam auch zu mir ins Zimmer, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf meinen Teppich und fragte und hörte zu. Er interessierte sich für meine Musik und bewunderte die Bilder an meinen Wänden. Ich male nämlich sehr gern. Aber nichts Gegenständliches. Ich experimentiere gern mit Farbe. »Ist das ein weißer Wolf da zwischen Baumstämmen?«, fragte er mich, nachdem er meine abstrakte 155
Winterlandschaft lange betrachtet hatte. »Eigentlich – nein«, sagte ich und fixierte mein Gemälde. Das Bild, das ja keines war, das nur aus weißer, brauner, grünlich weißer und bläulich weißer Farbe bestand, schien sich langsam vor meinen Augen zu verändern. Es sah tatsächlich aus, als spähe ein schmaler Tierkopf zwischen den braunen Baumstämmen einer Winterlandschaft hervor. Absichtlich hatte ich das nicht so gemalt. Ich hatte Musik gehört und meine Pinselstriche von den Klängen leiten lassen. »Weißt du, dass jedes Wolfsrudel von einem Paar angeführt wird? Leitwolf und Alpha-Wölfin?« »So ungefähr weiß ich das«, sagte ich und der Wolfskopf auf dem Bild schien mich plötzlich direkt anzuschauen. »Wölfe sind faszinierend«, sagte Joachim, der Biologie studierte. »Hättest du Lust, mal mit einem Wolfsrudel zu laufen?« »Wie?« Ich starrte meinen Cousin verwundert an. »Das geht doch gar nicht. Erstens gibt es hier im Ruhrgebiet keine Wölfe und außerdem würden sie einen Menschen doch sofort angreifen.« Joachim lächelte geheimnisvoll, sah mich mit seinen hellen Augen an und wollte mir gerade etwas erklären, als meine Mutter in ihrem verzweifelten Ton nach mir rief. In meinen Ohren klang es beinahe wie das Geheul eines verletzten Wolfes. Aber natürlich war das Unsinn. Ich brach unser Gespräch ab und eilte in die Küche, wo Mama auf dem Fußboden 156
kniete und die Sahne aufwischte, die sie verschüttet hatte. Sie hatte Schlagsahne machen wollen. Aber vor lauter Stress war ihr die Schüssel heruntergefallen. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Nun schwamm der Küchenfußboden in Sahne. Bis zum Kaffeetrinken hatten wir noch genügend Zeit, um neue Sahne zu schlagen. »Komm, leg dich ein wenig hin, Mama, ruh dich aus«, sagte ich und streichelte ihre Schulter. »Ich mach das schon.« Sie stand auf und sah mich dankbar an. »Wenn ich dich nicht hätte, Jocelyn, ich weiß nicht, wie ich dann diese Tage überstehen sollte.« Ich nahm ihr den Wischlappen aus der Hand und schob sie durch die Tür. Lust hatte ich keine. Aber ich wischte und wischte und wurde immer zorniger auf diese Verwandten, die sich auf meine Kosten ein schönes Leben machten. Im Moment spazierten sie mit Papa durch die Wintersonne! Ha, und ich rutschte auf dem Fußboden herum! Die Küchentür ging auf, und Joachim stand da. »Wie ich sehe«, sagte er trocken, »brauchst du Hilfe.« Gemeinsam spülten wir, schlugen das letzte Töpfchen Sahne auf, deckten den Tisch und meine Laune besserte sich. Nur leider nicht für lange. Denn schon beim Kaffeetrinken bin ich beinahe ausgerastet. Papas Schwester Hilla beäugte nämlich ihr Gedeck und stellte pikiert fest: »Ich bekomme hier wohl keine Kuchengabel? Alle anderen haben eine bekommen, 157
na ja, esse ich eben mit dem Kaffeelöffel.« Wutentbrannt sprang ich auf und stürzte zum Besteckfach. »Kann ja mal vorkommen, dass man etwas vergisst«, sagte Tante Hilla, in gnädigironischem Ton. »Aber auf mich habt ihr es anscheinend abgesehen. Es ist schon das dritte Mal, dass du nur mir ein halbes Besteck zuteilst, Jocelyn.« Sie lachte giftig. Ich hätte sie erwürgen können. Joachim fing meinen Blick ein. Er strahlte mich an mit seinen goldfarbenen Augen, die mir sagten: Mach dir nichts draus, die Alte spinnt! Und dann bleckte er plötzlich seine Zähne. Ich sah es nur kurz, aber ich erschrak, denn was ich sah, war ein Wolfsgebiss. So hat es angefangen. Und jetzt stolpere ich im Dunkeln zur Haustür, nestle mit meinen Krallen – was sind die Fingernägel lang geworden! Der Schlüsselbund klappert laut wie ein ganzer Werkzeugkasten, der geschüttelt wird. Ich horche, ob sie sich im Wohnzimmer regen. Nein, die lassen irrsinnig laut ihre olle Weihnachtsmusik laufen. Das ganze Haus dröhnt davon. Man wird komplett verrückt! Oder höre nur ich es so laut? Das kann sein. Meine spitzen Wolfsohren empfinden jeden Ton mehr als doppelt so laut. Was sind die normalen Menschen doch schwerhörig! Den Schlüssel gedreht, raus hier! Meine Wolfsnase schnuppert in die klare Luft. Juhu! Und wie ich es auch nur denke, entfährt mir ein langer Heulton! Er schwingt sich direkt zum Mond hinauf. Uuuu, ist das 158
wundervoll! Unwillkürlich jaule ich noch einmal, falle ganz von selbst auf die Vorderpfoten und laufe in den Vorgarten, da geht hinter mir das Hoflicht an, die Haustür wird aufgerissen. »Wer ist da? He, du Hund! Mach, dass du wegkommst!« Mein Vater! Ich drücke mich in die Büsche, hechle, verharre. »Was ist?« Meine Mutter! »Irgend so ein Köter. Ein riesiges Vieh war im Vorgarten. Jetzt scheint es weg zu sein.« »Ein Hund?« »Wolfshund wahrscheinlich. So wie der gejault hat!« Sie gehen ins Haus zurück, schließen die Tür. Ich befreie mich mühsam von meinem Liftanzug. Ab sofort brauche ich keine Tarnung mehr. Den Anzug lasse ich im Gebüsch liegen und spurte los. Meine Wolfsbeine tragen mich mit einer Geschwindigkeit, die traumhaft ist. Meine Nase nimmt Gerüche wahr, die kein Mensch je erschnuppern kann. Leicht finde ich die Fährte meiner Freunde. Was das betrifft, hatte Joachim Recht. Es ist herrlich, eine Werwölfin zu sein. Auch wenn … Ich verdränge den Gedanken an das zersplitterte Glas, an das zerrissene Bild, das in meinem Zimmer auf dem Fußboden liegt. Ich will nicht darüber nachdenken, dass ich mich vielleicht niemals in Jocelyn, das Mädchen, zurückverwandeln kann, weil ich einen Fehler gemacht habe. 159
Als ich ihn fragte, wie wir uns verwandeln könnten, hat Joachim auf seine besondere Weise gelächelt und gesagt: »Ganz einfach, auf dem üblichen Weg!« »Und der wäre?« Ich hatte keine Ahnung, was er mit dem üblichen Weg meinte. »Du kennst doch die vielen Geschichten«, hat er gesagt, »in denen Menschen durch Bilder in andere Welten gelangen.« »Ja, aber das sind doch nur Geschichten«, hab ich gesagt. Joachim schüttelte den Kopf. »In den geheimnisvollen Nächten der Weihnachtszeit braucht man nur den richtigen Zeitpunkt zu finden. Genau um Mitternacht. Die Raunächte sind berühmt für ihre Magie.« Mir schossen sofort Bilder aus den Fernsehserien durch den Kopf, in denen Mädchen mit magischen Kräften gegen Dämonen kämpfen. War es möglich, dass auch ich solche Kräfte bekam, wenn ich nur das richtige magische Ritual ausführte? »Es funktioniert allerdings nur, wenn man Weihnachten als Familienfest ganz und gar ablehnt und man braucht ein Wolfsbild, das man selbst gemalt hat.« Er zeigte auf mein Gemälde, das er Winterwald mit Wolfsgesicht nannte. Und dann erklärte er mir, worauf ich achten sollte. Klar, ich hab mir alles genau gemerkt. Aber als es so weit war, vorhin, um Mitternacht, ist eben doch etwas schiefgegangen. Zuerst war Joachim dran. Er sagte: »Schau genau zu!« und grinste freundlich. Er hielt sein Bild, das einen prächtigen weißen Wolf zeigte, mit beiden 160
Händen an den Rändern fest. Dann sagte er das geheime Wort Mutabor und berührte die Leinwand mit der Stirn. Im selben Augenblick war er samt Bild verschwunden. Ich laufe durch Straßen, die sich langsam mit einer feinen Schicht Schnee bedecken. Dabei schneit es nicht. Ich schiele nach den Häusern, aber da sind keine Wände mehr. Sie haben sich in braune Baumstämme verwandelt. Es beruhigt mich ein wenig, denn so hat Joachim es beschrieben: Dein Bild wird dich begleiten. Auf dem Weg zum Treffpunkt wirst du durch den verschneiten Wald laufen, den du gemalt hast. Auch das stimmt. Trotzdem fürchte ich mich immer noch, denn mein Bild ist nicht verschwunden wie das von Joachim. Als ich die Stirn an das Glas des rahmenlosen Bildhalters legte, als ich das geheime Wort sprach, zersprang das Glas. Splitter flogen im Zimmer umher und ich stürzte in ein gewaltiges Loch in der Wand. Dahinter war nichts als ein finsterer Raum, in dem Kleider herumlagen. Außerdem hielt ich Fetzen des Papiers, auf das ich den Wolfswald gemalt hatte, in den Händen. Ich war zu Tode erschrocken. Meine Finger bluteten. Ich leckte das Blut ab. Und während ich leckte, verwandelten sich meine Finger in Krallen, die Haut juckte … Ich wurde zur Werwölfin. Jetzt erkannte ich auch den Ort, an den es mich verschlagen hatte. Es war der große Schrank im Keller unseres Hauses 161
in dem wir auch die Skikleidung aufbewahren. Also schlüpfte ich in meinen Liftanzug und spürte, wie sich mein Körper dehnte und zusammenzog, ausstülpte und verwandelte. Der Wald öffnet sich zu einer Lichtung. Die Bäume duften nach Tannennadeln. Der Schnee liegt hoch und über mir spannt sich der Sternenhimmel. Wohin bin ich geraten? Ich wittere. Ich rieche die anderen. Ihre lang gedehnten Heultöne klingen mir beruhigend und angenehm. »Hallo, Jocelyn!«, ruft Joachim mir zu. Ich erkenne ihn an seinem weißen Fell, an den hellen Augen. Der Graue neben ihm ist Raoul. Sein Schulfreund, der hier wohnt und eine Ausbildung zum Bankkaufmann macht. Ich treffe ihn auch sonst manchmal in der Stadt. Raoul sieht als Mensch wirklich gut aus. Ich war mal fast verliebt in ihn. Aber als Wolf … nein, da ist Joachim viel, viel schöner! Die anderen? Die erkenne ich nicht. Alle stehen auf zwei Beinen wie Menschen. Ich versuche es auch. Richte mich auf. Es klappt tatsächlich. »Hallo!«, jaule ich und bewege mich noch etwas mühsam zweibeinig auf die kleine Gruppe von Werwölfen zu, die mir ihre Gesichter zuwenden und die Ohren spitzen. »Hier kommt sie«, jault Joachim, und es tönt stolz. »Schaut sie euch an. Ist sie nicht prächtig, meine Alpha-Wölfin?« Ein Freudengeheul begrüßt mich. 162
»Damit sind wir vollzählig. Auf geht’s zum Lagerplatz!« Joachim gibt das Kommando und legt gleichzeitig seine rechte Pfote auf meine Schulter. Wieso nennt er mich Alpha-Wölfin? Weil ich ein ebenso weißes Fell habe wie er? Bin ich seine beste Freundin? Ich fühle mich geehrt und bin beinahe glücklich, und ich bin ein wenig verliebt in Joachim. Wir laufen auf allen vieren durch den Wald hinter der Lichtung und wieder verändern sich die Nacht und Landschaft. Eisiger Wind und Schneetreiben! »Es sind die Bilder der anderen Werwölfe, durch die wir laufen«, bellt Joachim, als habe er meine Gedanken erraten. Es ist überhaupt seltsam, wie verbunden ich plötzlich mit all denen bin, die Joachim und mir folgen. Ist das der Kick, den wir gesucht haben? »Mit den Wölfen laufen«, hat Joachim es genannt. Vor uns eine Senke, in der niedriges Gebüsch schwarz und struppig im Kreis wächst. Unser Lagerplatz! Wer aus dem Rudel hat ihn gemalt? Hier lagern wir geschützt vom Wind. In unseren Fellen bilden sich kleine Klumpen aus Schnee. Wir erzählen einander von den ätzenden Familienfeiern und wie wir uns verwandelt haben. Bei allen hat es geklappt. Alle haben mehr Erfahrung als ich. Niemand hat Angst, dass es kein Zurück gibt. Oder will keiner von den anderen zurück? Ich halte es nicht mehr aus. »Bei mir ist etwas schief gegangen«, jaule ich. »Mein Bild ist zerrissen, und die Glassplitter haben mir die Finger zerschnit163
ten. Ich weiß nicht, ob ich mich jemals zurückverwandeln kann.« Da heult das ganze Rudel! Sie halten die Nasen in den Winterhimmel und heulen! Steht es so schlimm um mich? Das wäre ja schrecklich! Ihr Geheul steckt mich an. Ich heule in derselben Tonlage mit. Und plötzlich packt mich ein glückliches Gefühl. Jetzt verstehe ich, was unser Heulen bedeutet. Wir lachen! Das gesamte Werwolfsrudel lacht. Und warum? Auch das begreife ich nach und nach, denn meine Haut juckt wieder so entsetzlich. Büschelweise fällt mein Wolfsfell aus. Den anderen geht es genauso. Auch der Schnee schmilzt weg. Nur die kahlen Sträucher bleiben, denn unser Lagerplatz verwandelt sich langsam in den verlassenen Spielplatz, auf dem wir Jugendlichen uns abends manchmal treffen. Ich erkenne ihre Gesichter! Raoul, Joachim, Jenny und Martin aus meiner Klasse … »Der Weihnachtszauber hält nicht lange an, Jocelyn«, flüstert Joachim mir ins Ohr. Und weil ich friere, nimmt er mich in die Arme und hüllt mich mit seiner fellgefütterten Jacke ein. »Sonst hätte ich dich niemals zum Wolfszauber überredet! Ich mag dich viel zu sehr!« Ob das stimmt?
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Terry Pratchett Die Weihnachtsfestplatte
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m stillen Büro fiel die Metallplatte von der Wand und klapperte auf den Boden. Zwei schwarze Stiefel erschienen. Der Mann im roten Mantel kroch vorsichtig durch die Öffnung und zog den Sack hinter sich her. Schreibmaschinen schliefen unter ihren Abdeckungen. Telefone ruhten. Leere füllte den Raum von einer Seite zur anderen. Ein kleines rotes Licht glühte am Bürocomputer. Der Weihnachtsmann blickte auf das zerknitterte Papier in seiner Hand. »Hm«, sagte er. »Jemand hat sich einen Scherz erlaubt.« Das Licht blinkte, und ein Bildschirm – es gab Dutzende in dem Halbdunkel – erhellte sich. Buchstaben erschienen und bildeten folgende Worte: Damit ist alles vermasselt. Es folgte Entschuldigung, und dann: Nützt es etwas, wenn ich mich hochfahre? Der Weihnachtsmann sah erneut auf den Brief hinab. Es war zweifellos der ordentlichste, den er jemals erhalten hatte. Er bekam nur wenige maschinengeschriebene Briefe, die fünfzigtausendmal fotokopiert waren, und fast nie wurden Artikelnummern und Preise bis auf sechs Dezimalstellen hinzugefügt. »Um das gleich klarzustellen …«, sagte er. »Du bist Tom?« T. O. M. Trade & Office Machines. »Du hast nicht erwähnt, dass du ein Computer bist«, sagte der Weihnachtsmann. Entschuldigung. Ich habe es nicht für wichtig gehalten. 166
Der Weihnachtsmann nahm auf einem Stuhl Platz, der sich unter ihm drehte. Es war drei Uhr morgens, und er musste noch vierzig Millionen Häuser besuchen. »Hör mal«, sagte er so freundlich wie möglich, »es gehört sich nicht, dass Computer an mich glauben. Das ist allein Kindern vorbehalten. Ich meine kleine Menschen. Mit Armen und Beinen.« Und? »Und was?« Glauben sie an dich? Der Weihnachtsmann seufzte. »Natürlich nicht«, erwiderte er. »Meiner Ansicht nach ist das elektrische Licht schuld.« Bei mir sieht die Sache anders aus. »Wie bitte?« Ich glaube an dich. Ich glaube alles, was man mir sagt. Es ist meine Aufgabe. Wenn man zu vermuten beginnt, dass zwei und zwei nicht mehr vier ergibt, dann kommt ein Mann, schraubt einen auf und zieht an den Kabeln. Ich versichere dir: So etwas möchte man nicht zweimal erleben. »Wie schrecklich!«, entfuhr es dem Weihnachtsmann. Ja. Ich sitze hier den ganzen Tag und berechne den Lohn. Weißt du, heute fand hier eine Weihnachtsfeier statt, aber ich wurde nicht eingeladen. Ich bekam nicht einmal einen Luftballon. »Na so was.« Nun, jemand verstreute Erdnüsse auf meiner Tas167
tatur. Das war immerhin etwas. Und dann gingen die Leute nach Hause und ließen mich hier allein zurück. Sogar über Weihnachten muss ich arbeiten. »Ja, das erschien auch mir immer ungerecht«, erwiderte der Weihnachtsmann. »Wie dem auch sei … Computer können keine Gefühle haben. Das ist doch töricht.« Ebenso töricht wie ein dicker Mann, der in einer einzigen Nacht durch Millionen von Schornsteinen klettert? Der Weihnachtsmann wirkte ein wenig verlegen. »Guter Hinweis«, sagte er und blickte auf seine Liste. »Aber diese Dinge kann ich dir nicht geben. Ich weiß nicht einmal, was eine MultifunktionsFestplatte mit einer Kapazität von einer Milliarde Megabyte ist.« Welche Dinge erwarten die meisten deiner Kunden von dir? Der Weihnachtsmann sah traurig zum Sack. »Computer«, antwortete er. »Und Captain Superhyperultratotalaction-Raumschiffe. Robotdinosaurier. Megakill-Lasergewehre. Und andere robotische Dinge, die aussehen wie durch einen Volkswagen gehämmerte amerikanische Footballspieler. Dinge, die piepen und Batterien benötigen«, fügte er niedergeschlagen hinzu. »Nicht mehr die Spielsachen, die ich früher brachte. Heutzutage interessiert sich niemand mehr für Puppen und Modelleisenbahnen.« Modelleisenbahnen? »Die kennst du nicht? Ich dachte, Computer wuss168
ten alles.« Nur über Lohnabrechnungen. Der Weihnachtsmann griff in seinen Sack. »Ich habe immer eine oder zwei dabei«, sagte er. »Nur für den Fall.« Vier Uhr morgens. Gleise wanden sich durchs Büro. Fünfzehn Lokomotiven fuhren unter den Schreibtischen. Der Weihnachtsmann kniete auf dem Boden und baute ein Haus aus Bauklötzen. Seit 1984 hatte er sich nicht mehr so vergnügt. Echtes Spielzeug umgab den Computer. All jene Dinge, die immer ganz oben im Sack des Weihnachtsmanns zu sehen sind und nach denen nie jemand fragt. Nicht eins davon benötigte Batterien. »Und du bist ganz sicher, dass du keinen Superhyper-Krimskrams mit Megatod-Strahlen willst?« Nein, so etwas möchte ich nicht. »Gut.« Der Computer piepte. Die Leute werden mir nicht erlauben, etwas davon zu behalten, schieb er. Bestimmt nehmen sie mir alles weg (schnief). Der Weihnachtsmann klopfte behutsam aufs Computergehäuse. »Es muss doch etwas geben, das du behalten darfst«, sagte er. »Bestimmt habe ich etwas. Weißt du, es freut mich, jemandem begegnet zu sein, der nicht an mir zweifelt.« Er überlegte. »Wie alt bist du?« Man hat mich am 5. Januar 2002 um 9.25 Uhr und 16 Sekunden eingeschaltet. 169
Die Lippen des Weihnachtsmanns bewegten sich, als er rechnete. »Dann bist du noch nicht einmal zwei Jahre alt! Oh, ich habe etwas in meinem Sack für einen Zweijährigen, der an den Weihnachtsmann glaubt.« Ein Monat nach Weihnachten. Die Dekorationen waren längst entfernt. Ein Computertechniker saß vor dem Durcheinander aus Kabeln und kratzte sich am Kopf. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Es liegt kein Defekt vor. Was genau ist passiert?« Der Büroleiter seufzte. »Als wir nach Weihnachten zurückkehrten, stellten wir fest, dass jemand ein Spielzeug auf den Monitor gelegt hatte. Wir konnten es dort doch nicht liegen lassen, oder? Aber wenn wir es wegnehmen, piept der Computer und fährt herunter.« Der Techniker zuckte mit den Achseln. »Nun, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte er. »Sie müssen den Teddybär wieder auf den Monitor setzen.«
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Margret Rettich Eine schlimme Geschichte
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iese Geschichte ist nicht deshalb schlimm, weil Mama und Tante Meier sich nicht besonders gut leiden können. Tante Meier ist zwar etwas schwierig und hat Mama früher mal zugesetzt, aber das hat Mama längst vergessen. Diese Geschichte ist auch nicht deshalb schlimm, weil Papa sich jedes Jahr so schwer tut mit Geschenken. Das tun viele Männer, und Mama hat dafür Verständnis. Sie kauft immer die Geschenke für die ganze Familie ein und sucht sogar ein Geschenk für Tante Meier aus. Papa ist froh darüber. Nein, schlimm ist diese Geschichte, weil Papa damals kurz vor Weihnachten noch einmal zu Tante Meier fuhr und weil zugleich Sperrmüll war und weil Mama … Aber der Reihe nach. Mit dieser Tante Meier verhält es sich so, dass sie vernarrt in Papa ist. Er hat als Student bei ihr gewohnt, und sie hat ihn schon damals nach Strich und Faden verwöhnt. Darum konnte es nicht gut gehen, als er ihr eines Tages seine neue Flamme vorstellte. Tante Meier wurde schrecklich eifersüchtig. Sie lauschte an der Tür, guckte durchs Schlüsselloch und verbot Besuche nach zehn Uhr abends. Und sie warnte Papa vor dieser Frau. Papa ließ sich zum Glück nicht beirren und heiratete Mama. Aber es ist heute noch besser, wenn er Tante Meier allein besucht. Es ist dann immer so wie früher. Tante Meier tischt Papas Lieblingsgerichte auf. Sie holt die alten 172
Fotos herbei. Sie will mit Papa von den alten Zeiten reden. Und jedes Mal überlegt sie, womit sie ihm beim Abschied eine Freude machen kann. Manchmal schenkt sie ihm eine Flasche Likör, obwohl Papa den nicht mag. Meist schenkt sie ihm Süßigkeiten. Sie hat Mitleid mit ihm, weil Mama ihn immer auf Diät setzt. Irgendwann im Herbst wurde Tante Meier krank. Bei seinem nächsten Besuch war Papa erschrocken, wie alt sie aussah und wie klein sie geworden war. Als Papa ging, gab sie ihm ein winziges Päckchen. Es war in rotes Papier eingewickelt und mit einer goldenen Schleife umwickelt. »Das ist diesmal nicht für dich«, sagte sie, »es ist für deine Frau.« Während der Heimfahrt schüttelte Papa das Päckchen und hielt es ans Ohr. Ein kleiner harter Gegenstand war drin und ihm fiel ein, dass Tante Meier nicht wie sonst ihre wertvolle alte Brosche getragen hatte. Eigentlich hätte er das Päckchen gleich Mama geben können. Aber es waren nur noch wenige Wochen bis zum Weihnachtsfest. Er würde auch dieses Jahr wieder in der Klemme stecken und nicht wissen, was er Mama schenken sollte. Warum sollte er ihr das Päckchen von Tante Meier nicht erst dann geben? Allerdings brauchte Papa ein Versteck, und das war nicht einfach. Mama kannte jede Ecke im Haus. Nur in einen bestimmten Kellerraum kam sie selten, da war es ihr zu unordentlich. Papa hatte dort seine 173
»Werkstatt«, und dort stand auch die alte, wacklige Kommode, in der er sein Werkzeug aufbewahrte. Es war das beste Versteck, das Papa kannte. Die Kommode hatte nämlich ein Geheimfach. Na ja, kein richtiges Geheimfach. Sie hatte einen doppelten Boden, den Papa mal eingezogen hatte. Das war nötig gewesen, weil eine Mäusefamilie ein Loch in die Kommode genagt und sich aus Öllappen ein Nest gebaut hatte. Also ging Papa in den Keller und schob das kleine Päckchen zwischen die beiden Böden. Hier würde es Mama bestimmt nicht entdecken. Dann ging er zufrieden nach oben, wo das Abendessen bereitstand, bestellte schöne Grüße von Tante Meier und langte zu. Bis hierher ist es eine ganz normale Geschichte. Schlimm wird die Geschichte erst jetzt. Ein paar Wochen waren vergangen, es weihnachtete überall. An den Haustüren hingen geschmückte Kränze, in den Vorgärten leuchteten elektrische Kerzen und aus den Fenstern schossen bunte Lichtbündel. Mama backte Unmengen von Plätzchen und gab Papa welche davon mit, als er sich zum Adventsbesuch bei Tante Meier aufmachte. Diesmal kam auch Lukas mit, der sich sonst um diese Besuche genauso drückte wie Mama. Im letzten Jahr hatte ihm Tante Meier einen Geldschein zugesteckt, darauf hoffte er auch diesmal. Nachdem sie mit Tante Meier Tee getrunken, Mamas Plätzchen probiert und in die Kerzenflammen geguckt hatten, bekam Papa von ihr zum Abschied 174
eine Flasche Likör, und Lukas bekam nicht nur einen, sondern sogar zwei Scheine. Dann gab Tante Meier ihnen je einen Kuss links und einen Kuss rechts und sie waren entlassen. Papa und Lukas fuhren nach Hause. Als sie daheim um die Ecke bogen, versperrte ihnen ein hoch bepackter Kombi die Einfahrt und Papa hupte erbost. Der Kombi setzte sich in Bewegung und verschwand. Obwohl es dunkel war, hatte Lukas gesehen, dass auf der Ladefläche des Kombis zwischen anderem Gerümpel auch Papas alte Kommode lag. Als Lukas ihm das sagte, antwortete Papa nur: »Quatsch, du hast dich verguckt.« Leider hatte sich Lukas nicht verguckt, das merkte er bald. Vor dem Haus war Mama nämlich gerade dabei, die alten Gartenstühle, einen Sack voll Hausrat, den kaputten Rasenmäher und die Schneeschaufel ohne Stiel am Zaun aufzureihen. Dabei schimpfte sie: »Diese Kerle werfen alles durcheinander. Sie kramen und nehmen mit, was sie brauchen können. Den Rest überlassen sie dem Sperrmüll.« »War Papas Kommode auch dabei?«, fragte Lukas. »Klar«, sagte Mama und gab der Schneeschaufel einen Tritt, »das scheußliche Ding musste endlich weg, darum hab ich es rausgestellt.« Dann flüsterte sie ihm ins Ohr: »Papa kriegt Weihnachten von mir ein neues Regal für sein Werkzeug. Verrat es ihm aber nicht.« Während Mama ins Haus ging, kam Papa aus der Garage. Er sagte: »Was hast du eben ge175
sagt? Meine Kommode soll weg sein? Das wollen wir doch mal sehen!« Und er stiefelte in den Keller. Gleich darauf war er wieder da. »Los, komm mit!«, rief er aufgeregt. Er rannte in die Garage und zwängte sich ins Auto. Lukas konnte sich nur schnell neben ihn setzen, da startete Papa schon und steuerte im Rückwärtsgang hinaus auf die Straße. Fast hätten sie Mama umgefahren, die noch einen alten Koffer zum Sperrmüll stellte. Sie rief irgendwas hinter ihnen her, was sie nicht verstanden, dann bogen sie um die Ecke. Papa fuhr geradeaus die Straße entlang. Dabei spähte er in die Seitenstraßen hinein und wiederholte immerzu: »Wir müssen den Kombi finden. Wir müssen unsere Kommode wiederhaben!« »Lass doch die olle Kommode«, sagte Lukas, »die wäre sowieso bald zusammengebrochen.« Papa gab keine Antwort. Verbissen fuhr er eine Straße nach der anderen ab. Endlich, fast am Stadtrand, hatte er den Kombi entdeckt. Der war inzwischen so hoch beladen, dass er ganz langsam fuhr, um nichts von seiner wackligen Last zu verlieren. Als er plötzlich anhielt, rammte Papa ihn beinahe. Drei Männer kletterten heraus und machten sich über einen Haufen Sperrmüll her, der da lag. Sie bekamen nicht mit, dass auch Papa aus seinem Auto gestiegen war und versuchte, die alte Kommode von der Ladefläche zu zerren. Mit Lukas’ Hilfe hatte er es auch schon fast geschafft, als ihn einer der drei Männer entdeckte. Er schimpfte in einer unverständlichen 176
Sprache, dann sprangen alle drei in ihren Kombi und hauten ab. Papa schubste Lukas ins Auto und fuhr hinterher. Nun begann eine wilde Verfolgungsjagd, die aus der Stadt hinausführte. Sowohl die Männer im Kombi als auch Papa schnitten sämtliche Kurven. Es war ein Glück, dass ihnen kein anderes Auto entgegenkam. »Papa, warum willst du die olle Kommode denn unbedingt wiederhaben?«, fragte Lukas, dem angst und bange geworden war. »Will ich gar nicht«, gab Papa zur Antwort. Mehr konnte er nicht sagen, denn der Kombi bog jetzt von der Straße ab und fuhr in eine Waldschneise. Papa fuhr hinterher. Diesmal erwarteten ihn die Männer bereits. Breitbeinig standen sie als schwarze Schatten im Scheinwerferlicht. Papa stieg aus und ging ihnen mit erhobenen Händen entgegen. Wie im Film, dachte Lukas, eigentlich müsste Papa noch ein weißes Tuch schwenken. Aber Papa sagte nur: »Bitte keinen Streit.« Nun stellte sich heraus, dass zwei der Männer ganz gut Deutsch konnten, und Papa verhandelte mit ihnen. Er sagte, dass er ihnen die alte Kommode abkaufen wollte. Sie lehnten misstrauisch ab und boten ihm was von dem anderen Gerümpel an, das sie mitgenommen hatten. Das wollte Papa aber nicht haben. Er gab ihnen erst einen, dann zwei und schließlich drei dicke Scheine. Endlich waren sie einverstanden. Sie luden die Kommode ab, kletterten in ihren Kom177
bi und verschwanden. »Warum willst du nur die olle Kommode?«, fragte Lukas zum dritten Mal und hätte fast verraten, dass Papa zu Weihnachten ein neues Regal bekam. »Erklär ich dir später«, sagte Papa. »Pack lieber mit an.« Sie schleiften die Kommode zum Auto und hoben sie in den Kofferraum. Dort ragte sie so weit heraus, dass Papa die Heckklappe darüber mit dem Abschleppseil festzurren musste. Dann fuhren sie wieder auf die Straße zurück. Die Kommode hinter ihnen schwankte, und die Klappe des Kofferraums schlug auf und zu. »Bis wir daheim sind, haben wir die olle Kommode verloren«, sagte Lukas. Papa brummte nur, denn er hatte gerade am Straßenrand eine Parkbucht entdeckt. Er hielt an und stieg aus. Dann wuchtete er die Kommode aus dem Kofferraum und fing, von den Scheinwerfern beleuchtet, an, sie mit dem Wagenheber zu zertrümmern. Lukas rief fassungslos: »Papa, was machst du? Was soll das?« Für eine Antwort blieb Papa keine Zeit, denn hinter ihnen hielt jetzt ein voll besetzter Bus. Der Busfahrer hupte laut, doch Papa ließ sich nicht beirren. Er stieß mit dem Fuß die Schubladen beiseite und brach von der Kommode die Seitenwände weg. Aus den Bustüren hingen Leute, die wissen wollten, was los war und warum sie nicht weiter fuhren. Der Busfahrer hupte noch mal, dann griff er nach 178
seinem Handy. »Wir stehen an einer Bushaltestelle«, sagte Lukas und zerrte Papa am Ärmel. »Wir müssen hier weg.« »Gleich«, sagte Papa nur und schlug weiter mit dem Wagenheber zu, dass es nur so krachte. Die kaputten Reste der Kommode schleuderte er hinter sich ins Gebüsch. Dann sah Lukas, wie er sich bückte, ein kleines, rotes Päckchen aufhob und in die Jackentasche steckte. Er winkte und wollte sich ins Auto setzen, aber leider war inzwischen die Polizei da. Die Leute kletterten neugierig aus dem Bus und umringten Papas Auto. Einer der Polizisten schob sie beiseite und sagte: »Hier wird wohl heimlich Gerümpel entsorgt!« »Das gibt eine Anzeige und eine Strafe«, sagte der andere Polizist. Papa stand nur verdattert da und machte den Mund nicht auf. Das war für Lukas ein Rätsel. Wenn er gewusst hätte, was Papas seltsames Benehmen bedeutete, hätte er Papa ja verteidigt, aber er kam nicht dazu, denn der erste Polizist sagte zum zweiten: »In der Weihnachtszeit wollen wir ein Auge zudrücken und von einer Anzeige absehen.« Der zweite Polizist nickte und antwortete: »Aber Strafe muss sein. Ungeschoren kommt dieser Sünder nicht davon.« Papa musste mit Lukas die Kommode wieder in seinen Kofferraum packen. Das ging besser als vorhin, weil sie nur noch aus Trümmern bestand. Nachdem der Bus abgefahren war, setzte sich der eine Po179
lizist zu Papa und Lukas ins Auto. Der zweite Polizist fuhr im Polizeiauto hinterher. Es war ziemlich weit bis zur Müllhalde. Sie sollte gerade geschlossen werden, und Papa wurde gleich mal eine Extragebühr abgeknöpft, weil eigentlich Feierabend war. Dann musste er eine saftige Summe zahlen, um die kaputte Kommode loszuwerden. Danach mussten beide mit zur Wache kommen. Auch hier musste Papa wieder die Brieftasche zücken und zahlen. Er bekam noch eine längere Strafpredigt, dann waren sie entlassen. Draußen wollte Lukas endlich wissen, warum Papa das alles angestellt hatte. Papa sagte: »Ich erklär es dir dort drüben am Kiosk. Eigentlich bin ich ja blank, ich hab nur noch Kleingeld, aber für zwei Limos reicht es.« Leider war der Mann am Kiosk so redselig, dass Lukas wieder nicht erfuhr, was er wissen wollte. Er fand inzwischen ziemlich schlimm, was Papa sich leistete. Erst die waghalsige Verfolgungsjagd. Dann das Feilschen um die olle Kommode, nur um sie anschließend zu zertrümmern. Und dann auch noch die Polizei. Das Merkwürdigste daran war, dass Papa alles auf die leichte Schulter nahm. »Zieh nicht so ein Gesicht«, sagte er, als sie weiterfuhren, »jetzt kann uns nichts mehr passieren!« Leider passierte doch noch was. Der Motor begann plötzlich zu spucken und zu stottern, dann gab er den Geist auf. Das Benzin war alle. »Hat uns alles die olle Kommode eingebrockt«, maulte Lukas, als sie mit dem leeren Kanister am 180
Straßenrand entlangwanderten. »Sag mir endlich, was das alles soll.« Die nächste Tankstelle war ziemlich weit weg. Papa hatte reichlich Zeit, um Lukas alles zu erklären. Der sagte nur: »Eine schlimme Geschichte. Aber schlimmer kann es jetzt nicht mehr kommen.« Von wegen! Nachdem Papa den Kanister gefüllt hatte, musste er dem Tankwart gestehen, dass er kein Geld hatte. Er versprach hoch und heilig, gleich morgen zu kommen und zu bezahlen, aber der Tankwart ließ nicht mit sich reden. Um ein Haar hätte er sie mit dem leeren Kanister weggeschickt, da fielen Lukas zum Glück die beiden Scheine ein, die ihm Tante Meier zugesteckt hatte. Daheim machte Mama sich inzwischen große Sorgen. Sie hatte keine Ahnung, weshalb Papa und Lukas kurz da gewesen und gleich wieder verschwunden waren. Nun saß sie am Fenster und wartete. Die Kerzen waren heruntergebrannt, der Tee abgekühlt und von den Plätzchen nicht viel übrig. »Was ist los? Wo habt ihr gesteckt?«, fragte sie aufgeregt, als die beiden endlich auftauchten. Papa war so geschafft, dass ihm keine passende Ausrede einfiel. Da ohnehin bald Weihnachten war, rückte er mit der Wahrheit heraus und erzählte Mama die ganze Geschichte. Dann holte er aus seiner Jackentasche das kleine Päckchen von Tante Meier und gab es ihr. Mama fehlten die Worte. Sie hielt in der einen Hand die wunderschöne alte Brosche und wischte sich mit der anderen die Augen. 181
Nachdem sie sich gefasst hatte, sagte sie: »Ich fahre morgen zu Tante Meier und bitte sie, mit uns Weihnachten zu feiern. Seid ihr einverstanden?« Papa nahm Mama in den Arm, während Lukas die restlichen Plätzchen verputzte.
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Maren Bonacker Falsche Töne
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ariation, Akkord – und daneben! Immer und immer wieder. So viel Anne auch geübt hat, es fehlt ihrem Klavierspiel an Harmonie. Mit schöner Regelmäßigkeit bleibt sie jedes Mal an derselben Stelle hängen. Variation, Akkord – und aus. Seit Wochen übt sie nun schon Mozarts Ah, vous dirai-je, Maman, und obwohl sie Fortschritte gemacht hat, ist es ihr bisher nicht ein einziges Mal gelungen, die zwölf Variationen fehlerfrei zu Ende zu bringen. Und heute ist Heiligabend. Heute wird er kommen. Heute muss alles perfekt sein. Anne spürt, wie sich ihr Hals so sehr zusammenzieht, dass es wehtut. Jetzt bloß nicht weinen! Noch zwei Stunden, bis er da ist. Zwei Stunden, in denen sie es vielleicht noch schaffen kann. Von vorne: Variation, Akkord – sind diese gelenklosen Würste wirklich ihre Finger? Variation, Akkord – na also, klappt doch – und: Patzer! Wieder daneben gehauen und zwei Tasten auf einmal erwischt. Der Misston hallt lange nach, höhnisch scheint er im Raum zu hängen. Anne beißt sich auf die Unterlippe, schließt die Augen und atmet tief durch. Gerade hinsetzen, Kopf leicht in den Nacken, die Melodie im Inneren hören. Die Variationen, die kanonischen Einsätze, eine wunderbare Melodie, melancholisch und dabei so leicht, so voller Hoffnung. Sie merkt, wie sich ihre schmerzenden Nackenmuskeln lockern, und probiert ein kleines Lächeln. Lächeltherapie, so wie in der Fernseh-Soap. Man 184
verzieht tapfer die Gesichtsmuskeln und macht so dem Körper weis, dass man glücklich ist. Logische Folgerung: Man wird tatsächlich glücklich. Anne versucht alles Gute um sich herum wahrzunehmen: den Duft nach Tannenbaum, Zimt und Orangen. Das Klappern von Geschirr in der Küche, wo Mama einen Braten zubereitet. Die glatte, kühle Tastatur unter ihren Fingern. Sie entspannt sich. Heute muss einfach alles klappen! Schließlich ist Weihnachten – und wenn es einen Tag gibt, an dem er zu ihnen zurückkehren kann, dann ist es der Heilige Abend. Doch vorher muss sie es ihm zeigen, muss beweisen, dass sie und Mama seiner würdig sind. Ah, vous dirai-je, Maman mit den vielen schwierigen Passagen, den zahllosen unübersichtlichen Halbtönen – er soll einmal, nur ein einziges Mal beeindruckt sein von seiner Tochter. Es ist die einschüchternde Unfehlbarkeit des Vaters, des Dirigenten, die alles verändert hat. Weder Frau noch Tochter sind perfekt. Die Mutter nicht, weil sie es nicht schafft, die gemeinsame Wohnung auch nur an zwei aufeinander folgenden Tagen in Ordnung zu halten, und Anne noch viel weniger. Trotz des teuren Klavierunterrichts gelingt es ihr kaum jemals, eines der aufgegebenen Stücke fehlerfrei zu spielen. Sie liest oder malt viel lieber – aber in den Augen des Dirigenten zählt nur die Musikalität. Und die Perfektion. Auch die Mutter spielt Klavier, anders als Anne jedoch versenkt sie sich oft in selbst erdachte Melo185
dien, die sie aber niemals zu Papier bringt. Es kommt vor, dass sie über ihren Kompositionen alles andere vergisst – auch den Haushalt. Dass sie an Heiligabend eine stundenlange Küchenschlacht auf sich nimmt, zeigt, wie sehr sie sich um ihren Mann bemüht. Natürlich kommt er zu früh. Als es klingelt, steht die Mutter noch mit Lockenwicklern in den Haaren und einer alten Bluse über dem festlichen Kleid in der Küche. »Mach du auf!«, ruft sie Anne im Vorbeilaufen zu und verschwindet im Badezimmer. Zu früh! Wie kann er an einem solchen Tag zu früh kommen? Hätte er sich nicht denken können, dass sie viel vorzubereiten haben? Anne klappt das Notenbuch zu und schiebt den Klavierstuhl zurück. Jetzt nur nicht die Nerven verlieren. Sie will ihm doch beweisen, dass alles bestens läuft. Sie und Mama wollen strahlend und schön sein, gut gelaunt und charmant, eine Familie wie aus der Weihnachtswerbung. Unwiderstehlich. Erst als es zum zweiten Mal klingelt, steht Anne auf und läuft zur Für. Ein letztes Mal tief durchatmen, lächeln – öffnen. Sie hört den Summer des Türöffners und das leise Klicken, mit dem die Haustür unten wieder ins Schloss fällt. In maßvollen Schritten kommt der Dirigent die Treppe herauf. Nicht so langsam, dass man ein Zögern vermuten könnte, nicht so schnell, dass sein Gang Aufregung verrät. Als er endlich mit einer großen Tasche in der 186
Hand am letzten Treppenabsatz um die Ecke biegt, lächelt Anne, und das Lächeln tut ihr weh. Er sieht wie immer gut aus, in seinem langen dunklen Wintermantel und dem eleganten Schal. Glatt rasiert und für die Jahreszeit eine Spur zu braun gebrannt. Trotz des matschig-trüben Wetters sind seine Schuhe blitzblank. Anne hasst sie dafür. »Tag, mein Schatz!« Er gibt ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und betritt die Wohnung mit einer Selbstverständlichkeit, als wäre er nie weg gewesen. Als hätte er nur mal eben den Vormittag in der Stadt verbracht, um letzte Einkäufe zu erledigen. Er stellt seine Tasche im Flur ab und atmet noch mal tief durch. Lächeln. Umdrehen. »Hallo Papa! Alles klar?« Was für eine dumme Begrüßung! Alles klar. Als ob jemals bei ihm irgendetwas nicht klar gewesen wäre. Den Dirigenten scheint die Bemerkung nicht zu stören. »Alles klar. Und bei dir?« Für einen Moment herrscht Schweigen. »Wo kann ich denn meinen Mantel hinhängen?«, fragt er schließlich. Obwohl seine Stimme freundlich ist, ohne Spott, kehrt die Anspannung sofort wieder. Der Garderobenständer quillt über von einem Sammelsurium bunter Schals und Jacken. Kein Platz für seinen Mantel. »Ich nehm ihn«, murmelt Anne und bringt den Mantel in ihr Zimmer. Sie fühlt sich zittrig und bleibt 187
kurz im dunklen Zimmer stehen. Sie umarmt den weichen Stoff und drückte ihr Gesicht hinein. Sie riecht eine Spur des teuren Herrenparfüms, das ihr Vater benutzt, solange sie sich erinnern kann. Tief durchatmen. Lächeln. Zurück in den Flur. Die Mutter ist in der Zwischenzeit aus dem Badezimmer gekommen. In aller Eile hatte sie die Lockenwickler aus den Haaren gezogen und sich geschminkt. Sie wirkt ein wenig erhitzt und hat vor Aufregung glänzende Augen wie ein junges Mädchen. Anne findet sie in diesem Moment wunderschön. Sie ist stolz, eine Mutter zu haben, der man ihre vierzig Jahre nicht ansieht. In dem eng anliegenden, dunkelblauen Kleid kommt ihre Figur phantastisch zur Geltung. Wenn sie sich bewegt, schimmert der Stoff silbrig von den zarten Fäden, mit denen er durchwirkt ist. »Hallo Hans«, sagt die Mutter und lächelt schüchtern. »Hallo Helene«, erwidert der Dirigent und geht einen Schritt auf sie zu. Für Anne ist es ein magischer Moment, ihre beiden Eltern endlich wieder zusammen zu sehen. Sie hat sich diese Begegnung schon so oft vorgestellt, dass sie ganz genau weiß, was jetzt kommt. Ein Lächeln, eine kleine Umarmung vielleicht, ein Kompliment … »Du hast Lippenstift auf den Zähnen«, sagt er und geht an seiner Frau vorbei in die Küche. Die Augen der Mutter werden matt. Wieder 188
kriecht die Wut in Anne hoch. Was für ein Recht hat er überhaupt, hier zu sein? Was soll das alles? Er hat sie verlassen, ist abgehauen mit der Flötistin aus seinem Orchester. Und jetzt kommt er hierher, am Heiligen Abend, und will einen auf Familie machen. So, als wäre nichts gewesen. »Anne, bitte«, sagt die Mutter leise und berührt ihren Arm. »Denk an das, was wir besprochen haben. Mach jetzt kein Drama. Er hat es doch nicht so gemeint.« Ihre Augen wirken im schummrigen Flur riesig und dunkel. Als Anne die Küche betritt, steht der Dirigent an der Spüle und räumt gerade mit spitzen Fingern einige ungespülte Teller zur Seite. Danach wischt er sich diskret die Hände an einem Papierküchentuch ab. »Ich suche einen Lappen«, sagt er. »Die Soße ist übergekocht.« Vom Herd her riecht es beißend nach verbranntem Bratensaft. »Hättest du Mama nicht beim Kochen unterbrochen, wäre das nicht passiert.« Obwohl sie sich Mühe gibt, freundlich zu sein, klingt Annes Stimme schneidend. »Lass mal, ich mach das schon. Setz dich einfach hin.« »Was kann ich dir zu trinken anbieten?« Unglaublich, wie tapfer die Mutter Haltung bewahrt. Geschmeidig bewegt sie sich zum Schrank und holt Gläser heraus. »Möchtest du vor dem Essen einen Sherry?« Für einen winzigen Moment wirkt er unsicher. Er blickt zu seinem alten Platz am Küchentisch. Anne 189
merkt, wie er zögert und sich dann einen anderen Stuhl heranzieht. »Sherry? Ja, bitte«, sagt er und setzt sich. »Es hat angefangen zu schneien, deshalb bin ich so früh losgefahren«, erklärt er. »Ich wollte auf keinen Fall im Schnee stecken bleiben und zu spät kommen.« Er wippt mit den Füßen und sieht sich in der Küche um wie jemand, der zum ersten Mal in einer fremden Wohnung ist. »Es ist so ruhig hier – wollen wir nicht das Radio anmachen?« Er hat seinen Sherry noch nicht vor sich und ist schon wieder aufgesprungen. »Habt ihr den Tisch schon gedeckt? Ich kann euch doch helfen, wenn ich schon mal da bin.« Anne und ihre Mutter wechseln einen erstaunten Blick. Er hat noch nie angeboten, in der Küche zu helfen. Sollte er etwa nervös sein? Aber schon hat er sich wieder im Griff, lehnt lässig an der Küchentür, das Glas in der Hand. Er sieht zu, wie seine Frau in die Kartoffel pikst, den Braten ein letztes Mal übergießt und die Flüssigkeit in einen anderen Topf füllt, wo sie die Soße mit etwas heißem Wasser und gekörnter Brühe zu retten versucht. RoutineHandgriffe. Annes Mutter ist eine tolle Köchin. Sie kann nichts dafür, wenn die Küche hinterher aussieht, als wäre die Mikrowelle explodiert. Dass ihre Hand zittert, kann der Dirigent von der Tür aus nicht sehen. Im Wohnzimmer schimmern die Kerzen. Die leise Weihnachtsmusik aus dem Radio, holde Knabenchöre ohne Ende, wirkt beruhigend. Zum ersten Mal an 190
diesem Abend ist Annes Lächeln echt. Die Gespräche sind höflich. Man redet über das vergangene halbe Jahr. Die Flötistin wird nicht erwähnt. Es ist fast ein bisschen so wie früher. Der Dirigent berichtet von kleinen Pannen, die während der Weihnachtsvorführungen passiert sind. Als er von der kurzfristigen Umbesetzung der ersten Geige erzählt, gleitet die Unterhaltung für einen Moment ab. Die ursprünglich vorgesehene Violinistin hatte sich in der Woche vor Weihnachten überraschend krank gemeldet, weil ihr Mann fremdgegangen war. Erst als er die Worte ausgesprochen hat, merkt er, dass diese kleine Story verfehlt ist. Rasch weicht er auf ein weniger verfängliches Thema aus, den Hund des Posaunisten. »Und denkt euch, der fängt immer an zu jaulen, wenn Herbert sich einspielt!« Je mehr ihr Vater erzählt, desto schwerer fällt es Anne, ihr Lächeln zu behalten. Seine Sicherheit verunsichert sie. Müsste er es nicht sein, der unsicher ist? Schließlich ist er es, der sich auf fremdem Gebiet bewegt. Er ist es, der höflich und zurückhaltend sein sollte, anstatt hier zu sitzen und zu tun, als wäre nichts gewesen. Ein winziges bisschen Unsicherheit, und man könnte sich einreden, dass es ihm Leid täte. Dass er zurückkommen möchte. Dass er seinen Fehler bereut. Aber der Dirigent macht keine Fehler. Nie. Wenn er auszieht, ist es auf keinen Fall seine Schuld, sondern die seiner Frau und seiner Tochter, die beide versagt haben. Eine blödsinnige Einstellung, findet Anne, aber leider denkt so ihre Mutter. 191
Hört höflich zu, fragt nach und lacht an den richtigen Stellen. Es scheint sie nicht zu kümmern, dass er sie nicht fragt, was sie gemacht hat, im letzten halben Jahr. Wenigstens ist das Essen in Ordnung, der Wein leuchtet dunkelrot in den Gläsern, draußen liegt inzwischen tiefer Schnee. Sogar das Wetter ist perfekt, wenn der Dirigent Weihnachten feiert, denkt Anne. Und lächelt und lächelt und lächelt und hat Kopfschmerzen davon. »Wie sieht’s denn mit der Bescherung aus?«, fragt er nach dem Essen. Anne erstarrt. Sie haben keine Geschenke. Sie hatten verabredet, dass sie sich nichts schenken würden. Geschenke sind heikel. Sie können verletzen, selbst wenn sie gut gemeint sind. Entweder liegen sie knapp daneben oder sie wecken Erinnerungen, die alte Wunden aufreißen. Deshalb war ausgemacht: keine Geschenke. Aber er hat sich nicht daran gehalten, ist wieder mal im Vorteil. Sie hätte es wissen müssen, hätte – für alle Fälle – etwas vorbereiten müssen. Der Dirigent holt ein Paket aus der Tasche im Flur und stellt es unter den Weihnachtsbaum. »Ich weiß, dass wir es anders ausgemacht hatten«, sagt er gut gelaunt. »Aber ich dachte, ich könnte doch ein Geschenk mitbringen. Etwas, das uns alle verbindet.« Ungerührt spricht er weiter. Dabei macht er sich an dem Paket zu schaffen, bis nur noch ein einfacher Knoten den Deckel zuhält. 192
»Komm mal her, Helene, und mach auf!«, ruft er seiner Frau zu. »Ihr habt bestimmt schon erraten, was es ist.« Etwas, was sie alle verbindet? Anne hat keine Ahnung, wovon er spricht, kann sich aber dunkel an einen seiner alten Scherze erinnern: Eine Musikerfamilie müsse doch als Trio auftreten. Drei Instrumente? Ihre Mutter steht langsam auf und nähert sich dem Paket. Behutsam löst sie den Knoten, ganz langsam, fast zögerlich. Es raschelt, als Annes Mutter den Deckel öffnet. Zerknüllte Plastikfolie kommt zum Vorschein, mit Noppen, die man so herrlich zwischen den Fingern zerplatzen lassen kann. Ein kleiner Knall – sie hat aus Versehen eine der Noppen zerdrückt. Dann schiebt sie die Folie beiseite und starrt in den Kasten. Anne sieht nur ihr Gesicht, in dem nichts zu lesen ist. Der Dirigent grinst siegesgewiss. Auf einmal beginnen die Schultern der Mutter zu zucken. Ihr Mund verzerrt sich. Gleichzeitig hebt sie die Hand, um ihr Gesicht zu verbergen. Vorsichtig kommt Anne näher und schaut in den Karton. Nein, sie starrt wie eben gerade noch ihre Mutter hinein. Sie kann nicht glauben, was sie da sieht. Drei hellblaue Plüschpapageien starren zurück. Sie sind scheußlich. Sie sehen aus wie die Plüschtiere, die man auf der Kirmes gewinnt und dann schnell an irgendein heulendes Kind weiterverschenkt, weil man sie nicht mit nach Hause nehmen möchte. »Was soll das denn?«, fragt Anne entgeistert. »Was soll das denn? Was soll das denn? Was soll 193
das denn?«, schnarrt es dreifach aus dem Karton zurück. Die Papageien lernen schnell … Aus den Augenwinkeln sieht Anne, wie ihr Vater sich über das Paket beugt. Von der Mutter ist ein hoher, hilfloser Laut zu hören. Sie kann sich vor Lachen kaum auf den Beinen halten. »Das – öh …«, fängt er ratlos an. Die Papageien ahmen ihn nach. »Das – öh … Das – öh … Das – öh«, krächzt es dreifach aus dem Karton. »… hab ich nicht bestellt.« »…nicht bestellt … nicht bestellt … nicht bestellt«, leiern die mechanischen Stimmen der Plüschvögel. Annes Mama wimmert und wischt sich die Tränen aus den Augen. »Das dachte ich mir schon!«, meint sie und lässt sich aufs Sofa sinken. »Ich weiß ja, dass du Plüschtiere nicht ertragen kannst.« Wie vom Donner gerührt, nimmt der Vater einen Zettel aus dem Karton. »Wir gratulieren Ihnen herzlich zum Kauf von ›Käpt’n Flint‹«, liest er vor und wiederholt noch mal: »Das habe ich nicht bestellt! « Beim Anblick von Vaters verdutztem Gesicht muss auch Anne losprusten. Ihre Mutter klammert sich, noch immer lachend, an die Sofalehne. »Lacht ihr mich aus?« Unsicher blickt der Vater von einer zur anderen. Seine rechte Hand knetet die linke, er versucht ein Lächeln, aber seine Augen lachen nicht mit. »Das ist ja wohl gründlich in die Hose gegangen«, murmelt er schließlich kleinlaut und klappt langsam den Kartondeckel zu. »Es tut mir al194
les so Leid …« »Ach Hans, jetzt solltest du dich mal sehen!«, lacht Annes Mutter. »Du guckst wie die drei Käpt’n Flints. Nimm’s nicht so tragisch und lach mit – dann ist doch alles in Ordnung!« Sie rutscht auf dem Sofa so weit zur Seite, dass neben ihr genug Platz für ihn ist. »Frohe Weihnachten«, sagt sie und lächelt. »Jeder füllt mal einen Bestellschein falsch aus – Käpt’n!« Als Anne wenig später Mozarts Ah, vous dirai-je, Maman auf dem Klavier spielt, fühlt sie sich so glücklich und schwerelos wie schon seit langem nicht mehr. Variation, Akkord – alles klappt. Kein Patzer, keine falschen Föne. Eine wunderbare Melodie, die in ihren Ohren jetzt nur noch ein klein wenig melancholisch klingt, sehr leicht – und voller Hoffnung.
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Doris Meißner-Johannknecht Goldfisch Koi
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lle Jahre wieder! Diese verdammte Vorfreude. Weihnachten! Das schönste Fest des Jahres. Für alle. Für alle Menschen, die ich kenne. Nur für mich nicht. Aber trotzdem. Immer wieder die Vorfreude. Alle Jahre wieder. Und dann, wenn er endlich da ist, der Vierundzwanzigste, die Enttäuschung. Die Enttäuschung darüber, dass nichts so ist wie erhofft. Der Wunschzettel zwar geschrieben und abgeschickt. Aber alle Jahre wieder die Trauer darüber, dass das Christkind in Person der Eltern den Zettel gar nicht gelesen hat. Oder mal wieder beschlossen hat, nur das wirklich nützliche und wichtige unter den Weihnachtsbaum zu legen. Unterwäsche aus Wolle zum Beispiel. Socken und Handschuhe. Mütze und Schal. Handgestrickt. Aus Resten. Mit Muster und Farben zum Weggucken. Trotzdem. Trotzdem, hab ich die Hoffnung niemals aufgegeben, endlich einmal das unter dem Weihnachtsbaum zu finden, was auf dem Wunschzettel stand. Es ist also mal wieder so weit. Der erste Advent. Auf dem Tisch im Esszimmer der Adventskranz. 197
Ein edles Teil. Ziemlich groß. Mit dicken Kerzen. Aus Bienenwachs. Es ist Sonntag. Die Familie sitzt am Frühstückstisch. Vater, Mutter, Kind. In Sonntagskleidern. Ich hasse Sonntage. Sonntage sind langweilig. Da passiert nichts, was das Kind spannend findet. Am Morgen die Sonntagsmesse. Am Mittag das Essen im Restaurant. Am Nachmittag der Spaziergang durch den Wald. Mit diesen Eltern, die das Kind nur einmal in der Woche sieht. Am Sonntag. Aber die Adventssonntage sind anders. Die liebe ich. Jeden Sonntag eine Kerze mehr. Jeden Sonntag ein Rauschgoldengel mehr. Jeden Sonntag dem großen Fest ein Stück näher. Und pünktlich zum ersten Advent der Auftrag meiner Mutter Elisabeth an meinen Vater Rudolf: »Denk an den Weihnachtsbaum! Kauf ihn nicht erst am letzten Tag. Du weißt, dann sind die besten weg. Und du musst nehmen, was übrig bleibt!« Ja, meine Mutter hat ihre Ansprüche. Nicht nur zur Weihnachtszeit. Und Rudolf nickt und verspricht, was er dann doch nicht hält. 198
Seit ich existiere, kauft er den Baum erst in der allerletzten Minute. Und so sieht er dann auch aus. Meistens ziemlich schief. Ich liebe diese Zeit. Die hektische Betriebsamkeit. Den Duft nach Zimt und Honig. Orangen und Tannengrün. Das Knacken der Nüsse. Wochenlanges Plätzchenbacken. Das heimliche, fast unheimliche Getue. Und dann der Höhepunkt vor dem Höhepunkt. Eine Woche vor dem Vierundzwanzigsten wird das Wohnzimmer abgeschlossen. Zutritt nur noch für Mutter Elisabeth und Vater Rudolf. Für die Tochter Doris ist das Betreten verboten. Und der Wohnzimmerschlüssel steckt nicht im Schloss. Der steckt in der Jackentasche meiner Mutter. Keine Chance für mich. Die Neugier ist fast nicht auszuhalten. Und trotzdem ist dieses erwartungsvolle kribbelige Gefühl das Beste vom Fest. Dieses Jahr steht nur ein Teil auf meinem Wunschzettel. Nur ein Teil. Ein Fahrrad. Aber ich weiß schon jetzt, es wird kein Fahrrad geben. 199
Es gibt nämlich niemals das, was ich mir wünsche. Vielleicht sind meine Eltern einfach zu alt. Zu alt, um verstehen zu können, was es heißt, sich etwas zu wünschen. Und wie wunderbar es ist, wenn sich Wünsche erfüllen. Meine Eltern finden das, was ich mir wünsche, meistens ziemlich überflüssig. Deshalb bekomme ich es nicht. Wünsche ich mir Pferdegeschichten, bekomme ich Sachbücher über Pferdezucht. Wünsche ich mir Internatsgeschichten, bekomme ich Heiligenlegenden. Wünsche ich mir Abenteuergeschichten, bekomme ich einen Atlas. In meinen Regalen stapeln sich die Bücher, die ich niemals lese. Den Wunsch nach einem Comicheft würde ich nie über die Lippen bringen. Ich weiß, dass meine Eltern diesen Schund, wie sie es bezeichnen, niemals in unserem Haus dulden würden. Comics lese ich heimlich. Mein Cousin Fritz hat irgendwo eine heimliche Comicquelle. Und die teilt er mit mir. Ganz geheim. Alle Jahre wieder, das Fest der Feste. Weihnachten. Und seit ich mich erinnern kann, ist es so gewesen: Der Vierundzwanzigste. 200
Das Wohnzimmer fest verschlossen. Die Mutter in emsiger Geschäftigkeit dahinter. Am Mittag nur eine Suppe. In der Diele. Der Vater liest die dicke Weihnachtsbeilage. Im Radio gibt es Grüße von fahrenden Seeleuten an die Daheimgebliebenen. Zwischendurch Weihnachtslieder. Am Nachmittag wird der Christstollen angeschnitten. Ich puhle Orangeat und Zitronat aus meinem Stück. Und ernte missbilligende Blicke meiner Eltern. Ich höre immer noch die Grüße aus aller Welt. Und wünsche mich dann manchmal auch weit weg. Auf die hohe See. Jetzt kommt der Gang in die Kirche. In Sonntagskleidern. Karierter Faltenrock, dunkelblauer Wollpullover. Die Strumpfhose aus Wolle kratzt. Die Kirche überfüllt. Vor der Krippe stehen die Familien Schlange. Mit frischen weißen Blusen und geputzten Schuhen. Ich setze mich auf meinen Stammplatz. Dritte Reihe links. Zwischen Vater und Mutter. Mein Vater singt so laut, dass ich neben ihm verstumme. Ich denke an meinen Wunschzettel. An nichts anderes. »Gehet hin in Frieden!« Das Kreuzzeichen. »Amen!« Die Messe ist zu Ende. Endlich. 201
Dann ist es so weit. Meine Mutter klingelt. Das Wohnzimmer wird geöffnet. Hunderttausend brennende Kerzen, goldene Engel mit lockigem Haar, Räuchermännchen mit Fichtennadelduft, der Tannenbaum mit Engelhaar und elektrischem Licht … Ich muss ein Gedicht aufsagen. Ein Lied singen. Dann beschenke ich meine Eltern. Alles Handarbeit. Alle Jahre wieder. Meine Eltern lieben das. Für den Vater einen Aschenbecher aus Ton, für die Mutter Topflappen. Zum Beispiel. Und dann kommt die Bescherung für mich. Ich sitze enttäuscht vor meinen Geschenken, schlucke tapfer die Tränen runter, bedanke mich wohlerzogen, anstatt vor Wut aufzuheulen. Beim Abendessen, Krabbencocktail und Königinpastete, wage ich dann doch die vorsichtige Nachfrage, warum ich denn die Puppe oder den Puppenwagen oder den Fußball oder die Rollschuhe nicht bekommen habe. Nach der Lederhose frag ich erst gar nicht. Aber die hätte mit Sicherheit mein Bruder bekommen. Aber ich hab keinen Bruder. Meine Mutter schweigt und serviert den Obstsalat. Mein Vater guckt enttäuscht. Und nippt an seinem Weißweinglas. So eine Tochter hat er nicht verdient. Und er sagt oberlehrerhaft, obwohl er kein Lehrer ist, 202
sondern Fabrikdirektor: »Denk an den armen Waldbauernbub. Dem ging es noch viel schlechter als dir.« Ja, die Geschichte vom armen Waldbauernbub! Die hing mir irgendwann zum Hals heraus. Alle Jahre wieder. Vor der Bescherung. Die Geschichte von Peter Rosegger. »Als ich ein armer Waldbauernbub war!« In diesem Jahr stand also das Fahrrad auf dem Wunschzettel. Ein Fahrrad war ein teures Geschenk. Das war mir klar. In meiner Klasse hatte noch niemand ein Fahrrad. Aber meine Eltern hatten Geld genug. Mein Vater fuhr einen Mercedes, meine Mutter einen Porsche. Wir hatten ein Hausmädchen, eine Putzfrau. Wir machten Urlaub in schönen alten, langweiligen Hotels … Aber ein Fahrrad? Das war wahrscheinlich wieder nicht vorgesehen. Trotzdem, hoffte ich noch. Vielleicht doch? Endlich mal … Aber in diesem Jahr war mir mein Geschenk fast schon egal. Denn mein Cousin Fritz würde ein Fahrrad bekommen. Und der würde sein Fahrrad mit mir teilen. Und ich, ich würde ihm in diesem Jahr ein Geschenk 203
machen. Ein ganz besonderes Geschenk. Und absolut geheim. Den Goldfisch Koi. So sehr ich mir ein Fahrrad wünsche und nicht bekommen werde, wünscht sich mein Cousin Fritz ein Tier. Am liebsten einen Hund. Einen Schäferhund. So einen, wie wir ihn haben. Caesar. Aber die Eltern von Fritz verweigern jede Art von Haustier. Auch einen Vogel, einen Hamster … Nichts zu machen. Gegen unsere Eltern sind wir machtlos. Leider. Aber trotzdem, in diesem Jahr wird Fritz ein Tier bekommen. Und zwar von mir. Den Goldfisch Koi. Das wird eine echte Überraschung. Er wird sich halb tot freuen. Und ich freu mich halb tot, dass er sich freut. Und deshalb freu ich mich in diesem Jahr noch mehr auf Weihnachten als sonst. Wahrscheinlich war ihm ein echter Koi lieber. Aber echte Kois sind unbezahlbar. 204
Die schwimmen in besonders edlen Teichen. Bei besonders reichen Leuten. Wir sind zwar nicht arm. Aber so reich, dass wir uns Kois leisten könnten, sind wir auch nicht. Goldfische sehen ganz ähnlich aus. Sie sind bloß viel kleiner. Und bezahlbar sind sie auch. Ein halbes Jahr lang hab ich gespart. Jeden Groschen hab ich in meine Spardose gesteckt. Der Goldfisch wird in einem wunderschönen Bonbonglas schwimmen. Das hab ich ganz heimlich aus dem Laden von meinem Großvater entwendet. Die Eltern von Fritz erlauben zwar auch keine Fische. Aber ich glaube nicht, dass sie den kleinen Goldfisch Koi einfach ins Klo spülen werden. Sie werden sich schon daran gewöhnen. Glaube ich. Wenn sie ihn überhaupt entdecken. Fritz kann das Bonbonglas auch irgendwo verstecken. Sein Zimmer ist groß und hat viele Ecken und Winkel. Es war nicht leicht, das Geld zusammenzusparen. Ich bekomme nämlich kein Taschengeld. Aber ich hab im Sommer auf dem Fußballplatz die leeren Bierflaschen eingesammelt. Jeden Sonntag. Heute ist es so weit. Ich öffne das letzte Kästchen vom Adventskalender. Wie jedes Jahr am vierundzwanzigsten, die Krippe mit dem Jesuskind. 205
Es ist zehn Uhr. In der Diele höre ich meine Eltern. Sie streiten. Es geht um den Weihnachtsbaum. Mal wieder. Ich will unbemerkt ins Bad schleichen, zum Zähneputzen, da seh ich den Grund für den Arger meiner Mutter. Den Weihnachtsbaum. Den mein Vater mal wieder in der allerletzten Minute erstanden hat. Ein schöner Baum. Wirklich. Den schönsten, den wir je gehabt haben. Riesig groß, gerade gewachsen, eine echte Edeltanne mit Wurzeln. Der absolute Traumbaum. Genau der Baum, den meine Mutter sich jedes Jahr gewünscht hat. Bloß fehlt diesem absoluten Traumbaum dann doch das Wichtigste überhaupt. Die Spitze. Die Spitze für den großen goldenen Stern. Mein Vater hat die Größe seines Kofferraums überschätzt. Bei dem Versuch, den Baum zu verladen, ist der Kofferdeckel zugeknallt und hat die wunderbare Spitze von dem wunderbaren Baum abgehackt. Ich schlage meiner verärgerten Mutter und meinem frustrierten Vater die Rettung mit Tesafilm oder Heftpflaster vor. Nach dem Zähneputzen versuche ich möglichst unauffällig zu verschwinden. Der wichtigste Akt des Tages wartet auf seine 206
Vollendung. In der Zoohandlung wartet Goldfisch Koi … Aber in diesem übersichtlichen Vater-Mutter-KindHaushalt bleibt kein Schritt des Einzelkindes unbeachtet. Meine Mutter hat mich zum Silberputzen vorgesehen. Erziehungsziel Nummer eins meiner Eltern ist, alles zu unternehmen, damit aus mir kein verwöhntes Einzelkind wird. Einer der Lieblingssätze meiner Mutter: »Ohne Fleiß keinen Preis!« Also werde ich vor der Bescherung alle Jahre wieder mit dem Silberputzen beauftragt. Ich werde diesen Auftrag auch in diesem Jahr ohne Widerspruch erfüllen. Sowieso. Aber nicht jetzt sofort. Die Geschäfte schließen um zwölf … Natürlich wollen meine Eltern mich nicht alleine in die Stadt fahren lassen. Manchmal behandeln sie mich, als ginge ich noch in den Kindergarten. Am liebsten würden sie mich wahrscheinlich in Watte packen … Ich ziehe alle Register. Bitten, betteln, aber sie bleiben hart. So lange bis ich losheule und androhe, dass ich abhaue und niemals wiederkomme. Das wirkt schließlich. Auf ihr Einzelkind wollen sie nun doch nicht für immer verzichten. Zwei Stunden Zeit geben sie mir. 207
Mehr Zeit hätte ich sowieso nicht. Die Geschäfte schließen pünktlich. Aber ich bin schon nach einer Stunde wieder zurück. Der Goldfisch Koi schwimmt in seiner Plastiktüte. Zur Tarnung hab ich meine Überraschung in meinen Campingbeutel gepackt. Ich gehe wie auf Eiern. Damit dem kleinen Koi nicht schwindlig wird. Mein Geld hat sogar für eine Dose Futter und ein kleines Buch gereicht. »Mein erstes Aquarium.« In der Straßenbahn lese ich die ersten Anweisungen. Und da hätte ich den kleinen Koi am liebsten wieder zurückgebracht. Zurück in sein Riesenbassin mit den wunderbaren Pflanzen. Ist das vielleicht Tierquälerei, was ich gerade betreibe? Das Bonbonglas sieht zwar schön aus, ist aber wohl doch nicht der ideale Ort für einen Goldfisch. Pflanzen wären notwendig, und außerdem sind Goldfische gesellige Tiere. Aber das Bonbonglas hat nur Platz für einen … Eigentlich hat Fritz sowieso schon immer von einem richtigen Aquarium geträumt … Vielleicht kann er sich nach Weihnachten sogar eins kaufen? Fritz hat großzügige Patentanten. Die stecken ihm zu besonderen Anlässen immer Scheine in die Spardose. 208
Und Weihnachten ist so besonders wie Geburtstage. In meiner Spardose stapeln sich eher die Pfennige. Nur ganz selten liegt dazwischen mal ein einsames Fünfzigpfennigstück. Meine Eltern haben Besuch. Das ist günstig. So kann ich unbeobachtet den kleinen Koi aus seinem Plastiktütengefängnis befreien. Ich fülle das Bonbonglas mit Wasser, streue Fischfutter hinein und kippe den kleinen Koi hinein. Er taucht sofort unter. Sieht so aus, als würde er sich wohl fühlen. Dann verstecke ich das Glas auf dem Balkon. Ich schiebe es unter eine Blumenbank. Geschafft! Ich bin ziemlich erleichtert. Und ziemlich glücklich. Ein Blick auf das Thermometer. Zwei Grad plus. Ob ihm das zu kalt ist? Ich denke an die unzähligen Goldfische in den Teichen. Die müssen noch ganz andere Temperaturen aushalten … Bis morgen Nachmittag wird es gehen. Morgen um vier zum Kaffee werde ich meinem Cousin Fritz vor den Augen aller Tanten und Onkel mein Weihnachtsgeschenk überreichen. Bin ziemlich aufgeregt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es wirkliche Probleme geben könnte … Wahrscheinlich werden sich alle sofort in ihn verlieben … 209
Und Fritz wird glücklich sein. Das wird ein gutes Fest. Endlich mal. Ich stürze mich ins Silberputzen. Bearbeite alte Schüsseln und Platten, dann das Besteck, bis alles glänzt. Dann das Übliche. Wie jedes Jahr. Die Seemannsgrüße aus aller Welt, die Weihnachtsbeilage, der Stollen mit Orangeat und Zitronat, die Messe am Abend, Zwischendurch ein Blick auf den kleinen Koi … er sieht doch recht einsam aus … Die Geschichte vom armen Waldbauernbub … Dann die Bescherung. Und ich weiß genau, es wird kein Fahrrad geben. Aber das ist mir auf einmal überhaupt nicht mehr wichtig … Ja, dem armen Waldbauernbuben, dem ging es noch viel schlechter als mir … Genau. Ich bekomme neue Skier. Die standen nicht auf meiner Wunschliste. Aber meine Eltern sind leidenschaftliche Skifahrer, und ich muss sie jedes Jahr am zweiten Weihnachtstag für eine Woche zum Skifahren begleiten. Ich hasse Skifahren, die Kälte, die nassen Füße und überhaupt, ich würde lieber Fahrrad fahren … Trotzdem schlafe ich an diesem Weihnachtsabend ganz zufrieden ein. Und freue mich auf den ersten Weihnachtstag.
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Ja, und dann ist er da. Die vier Kerzen auf dem Adventskranz brennen, auch die elektrischen Lichter auf dem wunderschönen Weihnachtsbaum mit der angeklebten Spitze. Ich genieße mein Frühstücksei und mein Schinkenbrot … Gleich in die Messe, dann das Mittagessen im Restaurant und dann das Großfamilienkaffeetrinken mit meiner Überraschung! Meine Eltern ziehen ihre Mäntel an … ich schleiche auf den Balkon … Guten Morgen kleiner Koi … da setzt mein Herz aus … da packt mich die Übelkeit, da renn ich aufs Klo, und mein Frühstück ist nicht mehr in meinem Magen … Meine Eltern werden weiß wie die Kalkwand. Ihr Einzelkind ist ihnen kostbar. Der Arzt? Nein, nein! Bloß zu schnell gegessen, nicht dreißigmal gekaut, wie von den Eltern immer wieder verordnet. Nur ein nervöser Magen? Ja, nur ein nervöser Magen … Aufregung schlägt beim Kind immer leicht auf den Magen … das ist bekannt … und Weihnachten ist eben immer wieder aufregend für das Kind … Sie sollen gehen … sie sollen jetzt verdammt ganz schnell verschwinden … Das Kind muss jetzt allein sein … es reißt sich zusammen, schluckt den Rest der Übelkeit tapfer runter, guckt mutig entschlossen, bittet die Eltern zu ge211
hen, die Messe wird gleich beginnen … das Kind wird sich einen Pfefferminztee kochen, und dann, wenn die Eltern zurück sind, wird es dem Kind wieder gut gehen … Wirklich! Ja? Wirklich? Die Eltern zögern. Aber der Vater erinnert sich, dass der Magen des Kindes sich immer ganz schnell erholt hat … ja, ernstlich krank ist dieses Kind noch nie gewesen … Die Tür schlägt hinter ihnen zu. Das Kind ist allein. Es atmet ein paar Mal tief ein und aus. Damit hat das Kind gute Erfahrungen gemacht … Und jetzt? Bloß nicht durchdrehen. Panik ist das Letzte, was jetzt weiterhilft … Das Kind geht zurück auf den Balkon. Und schaut dem Unglück fest ins Gesicht. Ja, das Thermometer ist der letzte Beweis. Minus zwei Grad. Das Wasser im Bonbonglas ist gefroren. Und der Goldfisch, der kleine Goldfisch Koi, liegt eingesperrt im dicken Eis … Bewegungslos. Tot. Das Kind schluckt die Tränen runter. Nein, so schnell gibt das Kind nicht auf. Es lässt warmes Wasser in die Badewanne laufen und setzt das Bonbonglas hinein. Dann geht es in die Küche und kocht sich einen Pfefferminztee. Setzt sich zwischen die lächelnden Rauschgoldengel, 212
schlürft den heißen Tee, betet alle Gebete, die es kennt, und fleht den lieben Gott an, der bisher leider noch niemals auf ihre Gebete eingegangen ist, ihr doch bitte dieses eine Mal zu helfen. Nur diese eine Mal. Bitte, lieber Gott, mach den kleinen Koi wieder lebendig! Und das Kind glaubt in diesem Moment ganz fest, dass ein Wunder passieren wird. Nach einer halben Stunde traut sich das Kind ins Bad. Ob eine halbe Stunde für ein Wunder reicht? Bitte, lieber Gott! Das Kind nimmt allen Mut zusammen, reißt die Augen weit auf … Bitte, lieber Gott! Es atmet auf, dann heult es ganz schrecklich, aber schrecklich glücklich … Das, was das Kind sieht, ist viel besser als ein Fahrrad … der kleine Koi zappelt durch das Wasser, frisch und munter, als wäre er gerade aufgewacht nach einer schönen, langen Nacht. Danke, lieber Gott! Das Kind verwischt die Spuren und stellt das Bonbonglas in sein Zimmer neben die Heizung. Die Eltern sind glücklich. Ihre ernsten Gesichter sind entspannt. Und sie wundern sich sehr, dass das Kind beim Mittagessen im Restaurant eine Kalbshaxe bestellt … Ob das dem Magen bekommt? 213
Aber sie verbieten es nicht. Und sie schimpfen auch nicht, weil das Kind nur einen Bissen von der Riesenhaxe schafft. Denn eigentlich hat das Kind die Haxe nicht für sich bestellt. Es ist das Weihnachtsgeschenk für Cäsar, den Schäferhund. Dann kommt die Großfamilie. Omas und Opas, Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen. Und dann der Höhepunkt. Alle sitzen am Tisch. Die Käsesahnetorte wird angeschnitten. Das Kind kommt herein und überreicht ganz feierlich den Goldfisch Koi. Ja, und alle verlieben sich in ihn. Alle. Keiner meckert. Und Fritz gibt ihr einen Kuss. Vor der ganzen Verwandtschaft. Das hat er noch nie gewagt. Die Patentanten versprechen Fritz auf der Stelle das Geld für ein Aquarium. Und Opa freut sich, dass seine Himbeerbonbons wieder ins Glas können. Nein, es gibt ausnahmsweise mal keinen Ärger. Nach dem dritten Stück Torte winkt Fritz mich nach draußen. Vor dein Haus steht sein Fahrrad. Ein nagelneues dunkelblaues Fahrrad. Er gibt mir den Schlüssel. Ich schenk dir die Hälfte. Welche willst du? 214
Ich entscheide mich für das Vorderteil. Für Klingel und Lampe. Bin gespannt, was ich im nächsten Jahr auf meinen Wunschzettel schreibe …
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Paul Auster Auggie Wrens Weihnachtsgeschichte Paul Auster: »Smoke. Blue in the Face. Zwei Filme« Übersetzung ins Deutsche von Werner Schmitz, Gerty Mohr © 1995 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Terry Pratchett Die Weihnachtsfestplatte © 1996 by Colin Smythe Limited on behalf of Terry Pratchett Übersetzung ins Deutsche von Andreas Brandhorst © 2000 der deutschen Übersetzung Wilhelm Heyne Verlag. München Margret Rettich Eine schlimme Geschichte Aus: Weihnachten ganz wunderbar © 2001 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien Das Copyright für alle anderen Texte liegt bei den Autoren.
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