Garry Disher
Flugrausch
s&p 08/2006
Auf dem Nationalparkschild stand »Bushrangers Bay 2,6 km«. Die Vegetation färbte ...
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Garry Disher
Flugrausch
s&p 08/2006
Auf dem Nationalparkschild stand »Bushrangers Bay 2,6 km«. Die Vegetation färbte sich an diesem Ostersamstagnachmittag im Frühherbst rot und gelb. Bushranger. Das klang nach Gewaltverbrechen und Romantik. Durchaus zutreffend, denn Challis war wegen eines Mordes und wegen der Liebe schon einmal hier gewesen. ISBN: 3-293-00352-4 Original: Kittyhawk Down Aus dem Englischen von Peter Torberg Verlag: Unionsverlag Erscheinungsjahr: 2005
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Buch Als eine männliche Leiche, versenkt mit einem Anker, aus dem Meer gefischt wird, würde Detective Inspector Hal Challis am liebsten den Fall jemand anderem überlassen. Er ist frustriert wegen seiner Liebesbeziehung und zudem genervt von seinen Kollegen bei der Polizei, die er unsauberer Geschäfte verdächtigt. Immer öfter zieht er sich in einen Hangar zurück, wo er an seinem alten Flugzeug herumbastelt und wo auch seine Flugplatzbekanntschaft Kitty arbeitet. Doch dann entdeckt Challis seltsame Luftaufnahmen, die Kitty mit Drogengeschäften und Mord in Verbindung bringen. Der melancholische Hal Challis zögert, ist hin- und hergerissen, bis ihm keine Wahl mehr bleibt: Um weiteres Unglück zu verhindern, muss er eingreifen.
Autor
Garry Disher, 1949 geboren, wuchs im ländlichen Südaustralien auf und lebt an der Südküste in der Nähe von Victoria. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und besonders erfolgreich Kriminalromane und Kinderbücher. Sein Roman »The Sunken Road« wurde für den Booker-Preis vorgeschlagen, »Drachenmann« war auf der Auswahlliste für den wichtigsten australischen Krimipreis, den Ned Kelly Award. Disher gewann zudem zweimal den Deutschen Krimi Preis.
Für Gordon und Pat
Ich möchte mich bei den Kriminalpolizisten und bei der uniformierten Polizei von Victoria bedanken, die viel Zeit für mich hatten, als ich Hintergrundinformationen für dieses Buch sammelte. Jede Abweichung von der üblichen polizeilichen Vorgehensweise (wie zum Beispiel die Einführung eines örtlichen Inspectors der Mordkommission) geht ganz allein auf mein Konto.
1 Auf dem Nationalparkschild stand »Bushrangers Bay 2,6 km« und »Cape Schank 5,4 km«. Hal Challis zwängte sich durch die Schranke, die die Mountainbiker abhalten sollte, und ging den Pfad entlang; das Buschland war warm, die Vegetation färbte sich an diesem Ostersamstagnachmittag im Frühherbst rot und gelb. Bushranger. Das klang nach Gewaltverbrechen und Romantik. Durchaus zutreffend, denn Challis war wegen eines Mordes und wegen der Liebe schon einmal hier gewesen. Herbst. »Fall«, wie die Amis sagen. Besser ließ sich diese Jahreszeit und sein jetziges Leben nicht beschreiben. »Fall.« Ringsherum waren schon die ersten Blätter von den Bäumen gefallen. Seit dem gestrigen Karfreitag war sein Lebensmut in den Keller gefallen, und in der Liebe war alles falsch gelaufen. Und er dachte an die Leiche, die fiel, die durchs Wasser fiel. Im Weitergehen scheuchte Challis eine kleine Schlange auf. Challis war groß, schlank, aber grobknochig und wirkte ein wenig altmodisch in Jeans, abgewetzter Fliegerjacke und Lederschuhen. Die Sonnenbrille war nicht modisches Accessoire, sondern schützte einfach seine Augen. Er hatte noch nie ein T-Shirt als Unterhemd getragen oder das Haus in Trainingshose verlassen. Er hatte noch nie ein Paar Laufschuhe besessen. Seine Haare waren glatt, dunkel und bewegten sich ein wenig im Wind. Einmal im Monat ließ er sie sich von einer jungen Frau schneiden, die bei ihrem Vater in einem Frisiersalon in Waterloo arbeitete. Sie schnitt gut und war aufmerksam, und für zehn Dollar schickte sie ihn mit einem säuberlich frisierten Kopf wieder hinaus in die Welt. An diesem Tag also fiel Challis äußerlich nicht auf, und er nickte den 6
Menschen, die ihm auf dem Wanderpfad entgegenkamen, ernst und höflich zu. Ostersamstag, 17 Uhr 30. Zu dieser späten Uhrzeit strömten die Paare und Familien zum Parkplatz zurück. Nur Challis ging in die andere Richtung. Er war froh, die Straßen der Halbinsel hinter sich lassen zu können, die vermutlich mit Urlaubern verstopft waren. Nur sehr wenigen fiel auf, wie angespannt er war, so als hüte er ein Gewirr aus Gefühlen, und die Sonnenbrille verbarg den schon gewohnheitsmäßig müden, unbeeindruckten und zweiflerischen Ausdruck auf seinem Gesicht. Challis hätte auch was Besseres mit seiner Zeit anfangen können. Er hätte mit Tessa Kane eine Osterwanderung entlang den Stränden der Halbinsel machen können, doch gestern hatte er einen Rückzieher machen müssen, und damit war seine Stimmung in den freien Fall geraten. Er hätte daheim sitzen und lesen oder die Blätter zusammenharken können, doch am frühen Nachmittag hatte er sich dabei ertappt, wie er darauf wartete, dass das Telefon klingelte und ihm weitere schlechte Nachrichten aus dem Frauengefängnis brachte, wo seine Frau acht Jahre abzusitzen hatte. Also hatte er das Haus verlassen. Er hätte auch Freunde besuchen können, doch die hatten alle Kinder, und Ostern war eine Zeit familiärer Verbundenheit und Streiterei, und niemand wollte einen vierzigjährigen Single bei sich herumhängen haben. Also dachte er an Mord. Als der für die Halbinsel zuständige Inspector der Homicide Squad war es sein Job, an Mord zu denken. Tatsächlich gab es davon zwei, beide relativ lange her, beide ungelöst. Beim ersten gab es noch nicht mal eine Leiche, nur einen dringenden Verdacht. Vor zehn Monaten – im Juni des vergangenen Jahres – war die zweijährige Jasmine Tully verschwunden. Sie lebte mit ihrer Mutter Lisa und deren Lebensgefährten in einer heruntergekommenen Fischerhütte am Stadtrand von Waterloo. Das CIB in Waterloo verdächtigte Bradley Pike, den Lebensgefährten. Als es ihnen nicht gelang, 7
Pikes Alibi zu erschüttern oder irgendwelche Beweise aufzuspüren, hatten sie Challis hinzugezogen. Challis hatte Brad Pike ebenfalls im Verdacht, und er hatte Stunden vergeblich damit zugebracht, sein Alibi zu erschüttern. Fälle, bei denen es um Kinder ging, waren die schlimmsten. Challis hasste so etwas. Am Ende fühlte er sich immer müde und nutzlos. An der Bushrangers Bay war er allerdings wegen des anderen Mordes. Und wegen der Liebe. Wenn Tessa Kane sich an den Zeitplan hielt, den sie sich vorgenommen hatten, dann würde sie etwa um diese Zeit von Cape Schank aus den Weg antreten. Vielleicht würde er ihr begegnen. Vielleicht würde sie mit ihm reden wollen. Vielleicht auch nicht. Beim zweiten Mord gab es eine Leiche; Tessa Kane hatte sie auf der Titelseite ihrer Zeitung die »Ankerleiche von Flinders« genannt. Unglücklicherweise war dieser Name allen im Gedächtnis geblieben, und nun nannte selbst Challis sie so. Sie war vor etwa sechs Monaten von einem Fischer aus Flinders gefunden worden. Als der Fischer seinen Anker einholen wollte, fiel ihm das ungewöhnliche Gewicht auf. Er hievte ihn weiter an Bord und entdeckte einen zweiten Anker, der sich in den Flügeln seines eigenen Ankers verfangen hatte. Doch der allein machte noch nicht das zusätzliche Gewicht aus. An diesem zweiten Anker hing eine Leiche – sie war angegurtet, ein Unfall war das also nicht. Der Fischer rief über Handy die Polizei an und dümpelte eine Stunde lang im Meer vor der Bushrangers Bay, bis eine Polizeibarkasse eintraf und den Fall übernahm. Keiner kannte den Toten. Challis sah die Leiche, bevor der Rechtsmediziner an ihr herumsägte. Das Fleisch war schwammig, aufgedunsen und fiel wie bei einem gekochten Huhn fast von den Knochen. Nur die Fingerspitzen des rechten Daumens und Zeigefingers waren noch brauchbar, zwar 8
aufgeweicht und schrumplig, doch das Labor hatte Flüssigkeit unter die Haut spritzen und sie so weit dehnen können, dass man brauchbare Fingerabdrücke nehmen konnte. Keinerlei Übereinstimmung mit dem nationalen Register. Als sich der Eindruck verstärkte, dass die Zähne möglicherweise im Ausland behandelt worden waren, hatte Challis es über Interpol versucht, über den Home Office National Computer in Großbritannien und übers FBI. Nichts. Die Kleidung – Jeans, T-Shirt, Unterwäsche und Nikes – war in asiatischen Billiglohnbetrieben für den australischen Markt hergestellt worden. Zu kaufen gab es sie an jeder Straßenecke. Der Mann war Mitte dreißig gewesen. Jemand hatte ihm den Schädel eingeschlagen, bevor er ins Wasser geworfen worden war; mehr wusste Challis nicht. Der Mann wies zudem Stichwunden in der Bauchgegend auf, aber die Todesursache war Ertrinken, wie der Rechtsmediziner feststellte, dem das viele Salzwasser in der Lunge auffiel. Der Schlag gegen den Kopf? Möglicherweise sollte der das Opfer betäuben. Die Stichwunden? Vielleicht, um so dafür zu sorgen, dass die Verwesungsgase entwichen und die Leiche unter Wasser blieb. Der Schlag war möglicherweise mit eben jenem Anker ausgeführt worden, mit dem die Leiche auf den Grund sank, vermerkte der Rechtsmediziner in seinem Bericht, nachdem er die Form des Abdrucks im Schädel mit dem Ankerschaft verglichen hatte. Mit dem Anker sollte der Körper unter Wasser gehalten werden, bis die Fische die Knochen sauber geputzt hatten. Glücklicherweise war der Fischer zwei oder drei Tage später an der Stelle vorbeigekommen. Oder auch unglücklicherweise, denn das Opfer zu identifizieren und mögliche Täter zu finden bereitete Challis massive Kopfschmerzen. Zumindest der Anker verriet Challis ein paar Dinge: Die Leiche war versenkt, nicht über eine Klippe geworfen worden, und das ersparte ihm die Mühe, die mögliche Abdrift der Leiche 9
aufgrund der Gezeiten und der Küstenlinie schätzen zu müssen. Und da war noch etwas. Das Opfer trug eine Rolex Oyster. Silber, mit Gliederarmband. Nicht gerade die teuerste Rolex, aber echt, keine Fälschung aus Singapur oder Bangkok für zehn Dollar. Falls die Rolex auf ein gewisses gesellschaftliches oder finanzielles Niveau hindeutete, dann war dies der einzige Hinweis darauf. An der Kleidung und an den Nikes war dies jedenfalls nicht abzulesen. Challis marschierte weiter, und die Ankerleiche ging ihm im Kopf herum wie eine schimmernde Erscheinung, die sich eines Tages klar zeigen, Stofflichkeit annehmen und ihm die Geschichte ihrer letzten Tage und Minuten erzählen würde, bevor sie zum Sterben ins Wasser geworfen worden war. Auf dem grasbewachsenen Hang oberhalb des Pfades konnte Challis Kängurus grasen sehen. Er nickte einer jungen Familie zu, trat beiseite, um ihnen Platz zu machen, und fragte sich, wie er sich entscheiden sollte, wenn er an der Weggabelung an der Spitze der Klippe oberhalb der Bucht angekommen war. Zum Strand hinuntergehen und mit den Elementen plaudern, in der Hoffnung, den Fall zu lösen? Weiter in Richtung Cape Schank gehen und darauf hoffen, Tessa zu begegnen? Langsam setzte die Abenddämmerung ein. Challis konnte Lichter auf dem Wasser und die Lichter von Phillip Island am Horizont erkennen. Vom Meer her kam ein kühler Herbstwind. Challis zog den Reißverschluss seiner Windjacke zu. Er war hungrig, müde, verfroren, deprimiert – und all dies wegen eines einzigen Telefonanrufs. Jeder normale Durchschnittsmensch wäre vielleicht nicht um sieben Uhr früh am Karfreitag ans Telefon gegangen. Aber Challis war Inspector bei der Homicide Squad und ging immer ans Telefon. Also bekam er zu hören, wie seine Frau, die im Gefängnis ihre Telefonkarte benutzte, ankündigte, sie wolle sich das Leben nehmen. Ihr Mut sank immer zu den Feiertagen. Ihr Mut befand sich im 10
Fall. Challis war zwanzig Minuten lang am Telefon geblieben und hatte sie reden lassen, damit sich ihre Depression wieder löste. Aber dann war es doch geschehen. Er lag gerade mit Tessa im Bett, als der Anruf kam, und eine Stunde später – als die Stimmung zur Liebe verflogen war und er sich gerade mit Tessa darauf vorbereitete, zu einer zweitägigen Wanderung entlang den Stränden der Halbinsel aufzubrechen – riefen Challis’ Schwiegereltern an und teilten ihm mit, ihre Tochter habe die Telefonkarte durchgebrochen und versucht, sich damit die Pulsadern aufzutrennen, und läge nun im Gefängniskrankenhaus. Sie schwebe nicht mehr in Lebensgefahr, doch Challis’ Anwesenheit würde ihr vielleicht gut tun, und ob er wohl … falls er nicht gerade anderweitig … Challis hatte eingewilligt. »Es ist an der Zeit loszulassen, Hal«, hatte Tessa gesagt, ihm dann mitgeteilt, dass sie allein losmarschieren würde, und war losgefahren. Als Challis am Nachmittag von dem Besuch bei seiner Frau zurückgekehrt war, hätte er sich beinahe doch noch auf den Weg gemacht. Vielleicht hätte er das wirklich tun sollen. Er war nicht besonders gut darin, solche Dinge einzuschätzen, aber im Nachhinein fand er, dass das wohl besser gewesen wäre als jetzt, einen Tag danach, wo das alles in Tessa weitergegärt und sie in Gedanken und im Herzen nur noch mehr gegen ihn aufgebracht hatte. Völlig verunsichert machte er plötzlich kehrt und ging zurück zu seinem Wagen. Fast 18 Uhr … Auf der Heimfahrt hörte er Nachrichten. Zwei Asylbewerber waren aus dem neuen Internierungslager in der Nähe von Waterloo ausgebrochen. Challis schüttelte den Kopf, als er sich den Ärger vorstellte, die Streitereien, die Mehrarbeit für Ellen Destry und ihre Detectives im CIB. 11
2 Ellen Destry wäre Ostersamstagabend lieber daheim geblieben, doch sie war Detective Sergeant auf dem Revier in Waterloo, und sie konnte den Hunger spüren, der in Dwayne Venn aufstieg. Venn fuhr gern zu drei, vier der beliebten lauschigen Knutschplätze auf der Halbinsel, parkte im Dickicht der Bäume neben der Straße und griff dann die Pärchen in ihren Autos an. Im wässrig grünen Licht der Nachtsichtferngläser sah er genauso aus wie so ein herumschleichender Irrer in einem Slasherfilm aus Hollywood, doch bei den beiden letzten Malen, als das CIB ihm auf den Fersen blieb, hatte er nur zugeschaut. Bisher hatte er noch nicht mal seinen kleinen Kumpel zum Spielen hervorgeholt. Ellen zweifelte langsam am Wahrheitsgehalt von Pam Murphys Information. »Vielleicht hat Ihr Informant uns nur einen Voyeur geliefert, keinen Vergewaltiger«, hatte sie letzte Woche zu der jungen uniformierten Polizistin gesagt, nachdem sie wieder mal drei Stunden in der Dunkelheit auf der Lauer gelegen hatten. Aber Venn war ein übler Bursche, und im Spätsommer hatte es bereits zwei Vergewaltigungen mit Messern gegeben, die auf unkontrollierte Gewalt hindeuteten. Und nun begann Tessa Kane, Challis’ Zeitungsfreundin, in ihrem Blatt Fragen zu stellen, also würde Ellen diesen Burschen so lange unter Beobachtung halten, wie es das Budget erlaubte. Senior Sergeant Kellock hatte sich am Nachmittag die Zahlen einmal ein bisschen genauer angeschaut und ihr gesagt: »Zwei Constables, Murphy und Tankard, mehr kann ich nicht abstellen, jetzt, wo diese Fanatiker aus dem Internierungslager ausgebrochen sind.« 12
Fanatiker? Als Nächstes würde er sie »Windelköppe« oder »Sandnigger« schimpfen, wie irgend so ein Redneck im Film. Der Lagerdirektion zufolge handelte es sich um zwei Iraker, einen Ingenieur und einen Taxifahrer. Aber deren Flucht sollte nicht Ellens Sorge sein – noch nicht. Ihr Augenmerk lag darauf, Venn zu ertappen. Also lag sie wieder im Unterholz, wo man sie nicht sah, von wo aus sie aber den Zivilstreifenwagen des Reviers, einen blauen Falcon, als Umriss in der Dunkelheit erkennen konnte. Im Gebüsch auf der anderen Seite befand sich John Tankard, einer der beiden Polizisten. Pam Murphy saß zusammen mit dem Detective Constable Scobie Sutton auf dem Rücksitz des Falcon. Sie mimten das Liebespaar. Sie trugen weder Hemd noch Bluse. Pams BH war schwarz, was aus irgendeinem Grunde auf Leidenschaft und Hingabe deutete, wenn man der Werbung glauben wollte. Alle vier waren bewaffnet und standen per Ohrhörer und Mikro in Funkkontakt miteinander. Dem flüchtigen Auge durften die Mikros, die Sutton und Murphy trugen, wie aufeinander abgestimmte Halsketten erscheinen. »Destry in Position«, sagte Ellen leise. Scobie murmelte ihr ins Ohr: »Sutton in Position.« »Murphy in Position.« »Tankard ebenfalls.« Man konnte sich darauf verlassen, dass Tankard es stets anders machte als alle anderen. Dann warteten sie. Sie befanden sich hundert Meter von der Touristenstraße entfernt, die den Zugang zu dem Beobachtungsposten freigab. Es herrschte nur wenig Ortsverkehr – an diesem Ostersamstagabend waren alle unten an der Flachküste, strömten herdenweise zu Partys, in Pubs, Restaurants und ins Kino. In diesem Augenblick kam ein Van angefahren. Er blieb eine halbe Stunde stehen, man konnte leise Musik hören, und als der Wagen wieder davonklapperte, hinterließ er eine Marihuanawolke. Auf der Port Phillip Bay waren Lichter zu 13
erkennen, und jenseits des schwarzen Wassers glomm der ferne Horizont über den Vororten Melbournes. Federwolken verdeckten Sterne und Mond. Ellens Aufmerksamkeit schweifte ab. Zu Hause in Penzance Beach feierte ihre Tochter eine Party. Ellen machte sich Sorgen. Es war Larraynes siebzehnter Geburtstag, und Ellen wollte feiern, dass es ihrer Tochter nun besser ging. Vor etwas mehr als einem Jahr war Larrayne von einem Mann entführt worden, der zuvor schon drei Frauen verschleppt und ermordet hatte. Vor der Entführung war sie ein Bündel von pubertären nervösen Stimmungsschwankungen gewesen, doch seitdem war sie ruhiger und fleißiger geworden und blieb lieber zu Hause. Mit der Party wollte Ellen auch die Tatsache feiern, dass Larrayne das Gesindel abgeschüttelt hatte, mit dem sie in der Schule rumgehangen hatte, und neue Freundschaften pflegte. Die neuen Freunde waren anständige Kinder, aber neben all dem anderen Mist, der in letzter Zeit des Nachts auf der Halbinsel vorgefallen war, hatte es auch Fälle von Partycrashing gegeben, die in Gewalt endeten. »Wir könnten die Party bei der Polizei anmelden«, hatte Ellen vorgeschlagen. »Sweetheart«, hatte ihr Mann entgegnet, »wir sind die Polizei.« Alan Destry war Senior Constable bei der Verkehrspolizei. Seine Karriereaussichten waren trübe. Er hatte das Examen zum Sergeant versiebt und war mit einer Detective Sergeant verheiratet, die auf der Karriereleiter davonkletterte. Wenn er sie bei irgendwas schlagen konnte, ganz gleich, wie trivial, fühlte er sich gleich ein wenig besser. Heute verdiente er sich ein paar Zusatzpunkte, indem er zu Hause blieb und eine Horde feiernder Teenager beaufsichtigte. Ellen konnte sich seine mürrische Präsenz an der Haustür durchaus vorstellen, wenn sie eintrafen, wie er sie beäugte, ihre Jackentaschen, Handtaschen und Backpacks nach Alkohol und 14
Drogen filzte. Alkohol war durchaus erlaubt. Allerdings nicht so viel, dass Larraynes Freunde sich besaufen und unangenehm werden konnten. Ganz anders stand es mit Drogen. Es gab Beweise dafür, dass ein größeres Netzwerk die Halbinsel überzogen hatte: eine steigende Zahl von Verhaftungen wegen Besitz und Handel, vermehrte Überdosen, Berichte von Ecstasy und Amphetaminen, die auf Rave-Partys verhökert wurden. Die Rave-Szene machte Ellen Angst. Der Eintritt war billig, etwa fünfzehn Dollar, um den DJ zu bezahlen und eine Reihe von Dixi-Klos zu mieten, und die Partys fanden häufig in abseits gelegenen Fabrikanlagen statt, in denen es an den einfachsten Sicherheitsvorkehrungen, wie zum Beispiel Sprinkleranlagen, fehlte. Die Kids erzählten sich die Orte untereinander weiter, ihnen gefiel das Zusammengehörigkeitsgefühl, das durch die Musik, die Drogen, die Geheimnistuerei, durch den Anstrich, sich außerhalb des Etablierten zu befinden, noch verstärkt wurde. Die Drogen waren zudem billig und leicht zu haben, Ecstasy wurde für fünfzig Dollar die Pille verhökert, und die Wirkung hielt stundenlang an. Die Kids hielten Ecstasy für harmlos und liebten den Kick, die Fähigkeit, die ganze Nacht durchzutanzen und sich unbesiegbar zu fühlen. Sie hegten einen rührenden Glauben an die Reinheit des Stoffs, ohne zu ahnen, dass er wahrscheinlich von einer Bikerbande in irgendeiner Hinterhofgarage zusammengepanscht wurde und Heroin enthielt, Speed und die Pferdedroge Ketamin, alles mit Traubenzucker oder Koffein gestreckt. Das Risiko einer Vergiftung war groß, auf längere Sicht konnte es zu Hirnschäden kommen, und auf den Partys selbst vergaßen die Kids zu trinken, trockneten aus, gingen ein tödliches Risiko ein. Larrayne war auf einem solchen Rave gewesen. Er war gut organisiert und öffentlich angekündigt gewesen, aber die Dealer seien auch dort gewesen, erzählte sie. 15
Ellen sah auf die Uhr. Viertel vor elf. Wo blieb Venn? Angenommen, Venn war tatsächlich der Vergewaltiger, dann zog er gern ein Messer aus dem Stiefel, riss die Wagentür auf, scheuchte das Liebespaar auf und verlangte Geld. Dann drohte er, der Frau Stücke aus dem Fleisch zu säbeln, wenn sie sich nicht ganz entkleidete, ihrem Freund Handschellen anlegte und ihm einen blies. Schließlich schob er der Frau den Messergriff in die Vagina und verschwand, nachdem er ihr büschelweise Schamhaare abgeschnitten und alles Geld eingesackt hatte, das das Pärchen bei sich hatte. Ellen wollte Venn um alles in der Welt aus dem Verkehr ziehen. Dann sah sie ihn. »Er ist da«, murmelte sie. Sie hatte den Motor gehört und zuerst geglaubt, es würde sich um ein vorbeifahrendes Fahrzeug handeln, doch dann tauchte ein tiefer gelegter schwarzer Pick-up mit Überrollbügeln in ihrem Fernglas auf, bremste an der Zufahrt, wendete, kam erneut vorbei und ließ ihr gute Sicht auf beide Nummernschilder. Dann sah sie, wie der Wagen endlich abbog, an dem Falcon der Polizei vorbeischlich und ein Stück weiter mit der Schnauze zur Ausfahrt stehen blieb. Der Pick-up sah schnell und hart aus, genau wie sein Fahrer. Ein Zugriff würde auf jeden Fall erfolgen. Glotzte Venn nur, um zu sehen, was Sutton und Murphy so trieben, würden sie ihn wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses drankriegen und ihn so lange bearbeiten, bis er die Vergewaltigungen gestand. Doch Ellen wollte ihn möglichst auf frischer Tat ertappen, um ihm Bedrohung, unrechtmäßigen Einsatz von Handschellen und Vergewaltigung vorzuhalten und eine sichere Verurteilung zu gewährleisten, ohne ihre Leute zu gefährden. Venn öffnete die Fahrertür. Ellen nahm den Feldstecher von den Augen und sah nichts; Venn hatte die Innenbeleuchtung ausgeschaltet. Ellen hielt das Fernglas wieder vor die Augen und sah, dass Venn dunkle Jeans trug, dunkles T-Shirt und leichte 16
Stiefel aus dem Armeeladen. Eine Kapuzenmütze schmiegte sich wie ein Pelz kurzer schwarzer Haare an seinen Schädel. Venn war groß, aber leichtfüßig. Ellen begriff, welche Angst er anderen einflößen konnte, einer gegen zwei. »Er nähert sich dem Ford von hinten, Scobie«, murmelte sie in ihr Mikro. »Verstanden.« Die Bestätigung war nur ein Flüstern. Ellen sah, wie Venn an den Falcon trat und damit verschmolz, als er sein Gesicht an die Scheibe presste und Sutton und Murphy halb nackt vor sich sah. Dann sah Ellen, wie er einen Schritt zurückging, schnell in seinen rechten Stiefel griff, sich dann aufrichtete, den Hosenschlitz öffnete und seinen Penis hervorholte. »Achtung.« Venn brüllte nicht. Zeugen seiner früheren Überfalle berichteten, dass er stets leise und mit ruhiger, aber vor Drohung geradezu knisternder Stimme sprach. Ellen Destry sah, wie er die Tür an Pam Murphys Seite öffnete, und hörte ihn sagen: »Fröhliche Ostern! Siehst du die Klinge, du Hengst? Damit schneid ich deiner Freundin die Kehle durch, wenn du mir Ärger machst. Kuck dir das hier mal an, Süße. Den schieb ich dir in Fotze, Arsch und Mund, und dein Freund wird verdammt nochmal zuschauen.« »Tun Sie ihr nicht weh«, sagte Sutton mit Furcht in der Stimme. Venn hält Pam das Messer an die Kehle, dachte Ellen. Und er hat sich entblößt. Sie konnte seinen Rücken in der offenen Tür sehen. Dann sah sie, wie seine Hand, die wohl den Penis gehalten hatte, plötzlich in die Gesäßtasche seiner Jeans glitt. Handschellen. »Siehst du die, Süße? Mach damit deinem Hengst die Hände hinterm Rücken fest. Na los! Zackig, sonst stech ich dich ab.« »Tun Sie ihr nicht weh.« »Schnauze. Also, Süße, lass mal sehen, was du zu bieten 17
hast.« Er tat einen Schritt zurück, schlitzte in derselben Bewegung Pams Rock auf, und Ellen sagte: »Los, los, los.« John Tankard war der Erste. Er donnerte seinen Schlagstock auf Venns Arm. Das Messer fiel zu Boden. Venn stöhnte, presste sich den Arm an die Brust und wimmerte. In diesem Augenblick traf ihn Pam Murphys Fuß zwischen den Beinen. Das machte Venns kleinen Spielkameraden nicht sonderlich glücklich.
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3 Nachdem Dwayne Venn festgenommen und in Untersuchungshaft gebracht worden war, streckte sich Pam Murphy auf der Bank im Spindraum aus, so ausgepowert war sie. Sie war allein, was ihr nur recht war, aber sie wusste, das würde nicht lange so bleiben. Immer trat jemand seine Schicht an oder machte Feierabend, holte oder verstaute was. Es gab zwar getrennte Duschen und Umkleideräume, aber der Spindraum in Waterloo war für Männer und Frauen gleichermaßen. Er war Treffpunkt, Schauplatz, Brunftstätte für sexhungrige junge Männer und Frauen, und normalerweise mied sie ihn wie die Pest, doch jetzt war es ihr egal, müde wie sie war. Die Tür zischte an ihrem pneumatischen Öffner auf, und John Tankard kam herein. Ihm hatte schon vorhin die Zunge herausgehangen. Es lag an dem schwarzen BH. An ihrem nackten Oberkörper, als sie vor zwei Stunden hinten in den Falcon stieg, um Dwayne Venn zu überfuhren. »Gutes Resultat heute«, sagte er. Sie beobachtete ihn aus müden, schweren Augen. Er machte den Gürtel an seiner Uniformjacke auf und löste den Revolver, die Handschellen und all den anderen Dienstkrempel, der an einem baumelte und den Rücken belastete. »Ja«, murmelte sie. Und das stimmte auch. Zweifellos würde irgendein Klugscheißer von Anwalt Venn auf Kaution herausholen, aber eine Anklage wegen Vergewaltigung, versuchter Vergewaltigung, Freiheitsberaubung, Angriff mit einer tödlichen Waffe und allem anderen, was ihm sonst noch vorgehalten werden konnte, war ihm sicher. Außerdem würde er auf der Liste der Sexualstraftäter landen, was ihm lebenslang offizielles 19
Augenmerk einbrachte, wann immer es auf der Halbinsel auch nur den Anschein eines Sexualverbrechens gab. Pam ging im Geiste Venns Profil durch: zweiundzwanzig Jahre alt, fit trotz einer Grundernährung aus Bier, Hamburgern und Amphetaminen, arm, mangelhafte Bildung, Gesicht wie eine Kinderzeichnung. Er würde noch vor Erreichen des Durchschnittsalters sterben – an Alkohol, schlechter Gesundheit, Arbeitsunfall, Autounfall. Tausende wie er lebten in schäbigen Mietblocks. Seine Eltern hatten es nicht besser gewusst, er wusste es nicht besser, seine Kinder würden es nicht besser wissen. Junge Männer und Frauen wie Dwayne Venn verbrachten ihr Leben in Gerichtssälen, Gefängnissen, Mietshäusern, auf Sozialämtern. Sie zogen nie fort aus ihrer Gegend. Ihre Freunde kannten sie schon seit der Schule – Freundschaften beruhten auf Nähe, Vertrautheit und gemeinsam erlittenen Benachteiligungen. Kinder bekamen sie mit sechzehn oder siebzehn. Sie waren verschwiegen, gewalttätig, der Albtraum eines jeden Polizisten. Als Pam auf die Peninsula kam, überraschten sie die vielen Querverbindungen. Waterloo war zwar die größte Stadt im östlichen Bereich der Halbinsel, wirkte aber im Vergleich zu ihrer Heimatgegend, den ruhelosen inneren Vororten von Melbourne, eher wie ein großes Dorf. Nur ein Beispiel: Venn lebte mit Donna Tully zusammen. Donna war die Schwester von Lisa Tully. Lisa hatte mit Bradley Pike zusammengelebt, bevor dieser ihre kleine Tochter umbrachte und die Leiche verschwinden ließ – falls er es gewesen war; Brad Pike war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der behauptete, es nicht gewesen zu sein. Nun lebte Lisa bei Donna und Venn. Sie wollte nichts mehr mit Brad Pike zu tun haben, hatte sie gesagt, und sie hatte sogar eine Verfügung erwirkt, dass er nicht in ihre Nähe kommen durfte, doch erst kürzlich hatte Pam Brad Pike in der Gesellschaft von Venn und den Tully-Schwestern gesehen. Im Pub, um genau zu sein. Das stelle sich einer vor. Sie waren 20
alle zusammen in die Schule gegangen. Vielleicht reichte das schon als Bindung. Pam kapierte das einfach nicht. Dabei war es Pike gewesen, der Venn verpfiffen hatte. Pike hatte sie eines Tages auf der Straße angehalten und ihr eine hanebüchene Geschichte erzählt, dass er verfolgt werde, und gefragt, was man dagegen unternehmen könne, und plötzlich hatte er ihr gesagt, Venn sei der Liebespärchenvergewaltiger. Nein, er wollte nicht ins offizielle Verzeichnis der Informanten. Er wollte auch seinen Namen vor ihren Bossen geheim halten. Sie respektierte das, aber ehrlich gesagt war er seltsam, sie alle zusammen waren seltsam. O nein. John Tankard setzt sich ans andere Ende der Bank neben ihre ausgestreckten Füße. Die Holzbeine und die gepolsterte Sitzfläche bogen sich zitternd unter Tankards Gewicht. Pam hatte ihre Schuhe ausgezogen, und nun wischte sein massiver Oberschenkel kurz über ihre Fußsohlen, Polyester, von seinem fleischigen Körper von innen erwärmt. Hastig zog sie die Beine an. Himmel. Sie war zu müde für so etwas. »Soll ich dir die Füße massieren?« »Nein danke, Tankard.« »Oder soll ich mich ans andere Ende setzen und dich mit geschälten Trauben futtern?« »Was willst du, Tank?« »Nur ein wenig Konversation treiben.« »Lass es bleiben.« Nach einer Weile sagte er: »Das war gut, heute Abend. Sonst wischen wir samstagnachts nur die Kotze aus dem Streifenwagen.« »Ja.« Tankard verstummte. Er machte winzige Bewegungen, die durch die Bank zu Pam übertragen wurden wie Verschiebungen tief im Erdinnern. Sie war fast eingeschlafen, als sie ein geöltes Klicken und ein leises, gut geschmiertes Sirren hörte. 21
Tankard hatte seinen Dienstrevolver gezogen. »Steck ihn weg, Tank«, sagte sie und bedauerte es sofort. Schließlich war er der König der zweideutigen Anspielungen. Aber er fragte nicht, was er denn wegstecken solle, und auch nicht, wohin er es denn stecken solle. Stattdessen machte er »Peng, peng«, und der Revolver klickte trocken. Die Kammer war leer. Entsetzt setzte sie sich auf. Er hatte den Revolver auf ihren Bauch gerichtet, mit dem wirren, verschwollenen Blick eines Mannes, den der Anblick nackter Haut erregt. »Richte das Ding woandershin!«, brüllte sie und rutschte von ihm fort. Klick. »Man richtet nie zum Spaß eine Waffe auf jemanden, das weißt du.« Klick. »Hör auf damit«, sagte sie. Klick. Völlig erschüttert sprang sie von der Bank auf und schrie: »Du Arschloch!« Tankard schien wie aus einer Trance zu erwachen – Erregung? Macht? Die Waffe selbst? Vielleicht eine Mischung aus allem. Was immer es auch war, er löste sich davon und sagte verärgert. »Beruhige dich, sie ist nicht mal geladen.« »Eines Tages wird sie es sein«, entgegnete Pam, ohne das Zittern in ihrer Stimme unterdrücken zu können. John Tankard wohnte im hinteren Teil eines Blocks aus vier ähnlichen Bauabschnitten in der Salmon Street. Von seiner Wohnung aus konnte er einen Hinterhof sehen, eine stumpfrote Backsteinmauer und gammelige Fallrohre aus PVC. Die Vorderwohnungen gingen auf unkrautüberwucherten Rasen, einen Radweg und Jachten im Trockendock hinter einem von Maschendraht umzäunten und verschlossenen Hof hinaus, aber 22
dafür war die Miete höher. Außerdem war seine Hinterwohnung wie ein toter Winkel in der Welt, ein Versteck vor all dem Scheiß da draußen. Er schaltete den Fernseher ein und ließ sich aufs Sofa sinken, auf die übliche Stelle an der rechten Armlehne, neben einem kleinen Flohmarktschränkchen, auf dem das Telefon inmitten von kreisrunden Bierdosenspuren stand. Auch das Sofa war vom Flohmarkt; er hatte beides gekauft, als er in diese Wohnung gezogen war. Er hatte das Vinyl mit einem Klebeband repariert, das farblich halbwegs dazu passte, aber das Band löste sich an manchen Stellen, und man konnte sehen, wo der Spalt im Bezug war. Spalten sind ein Sinnbild meines Lebens. Woher zum Teufel war das denn jetzt auf einmal gekommen? Er war doch noch nicht mal besoffen, hatte seit dem Mittag kein Bier mehr getrunken. Aber solch ein Spalt hatte sich doch vorhin im Spindraum geöffnet, oder nicht? Als er mit seiner Waffe auf Pam Murphy zielte und leer abdrückte. Lieber hätte er ihren anderen Spalt gesehen, ha, ha. Er hatte schon vor einer Weile aufgehört, sie für eine Lesbe zu halten. Sie hockten Tag für Tag zusammen im Streifenwagen, und er genoss ihre körperliche Nähe. Wenn sie nicht hinschaute, begutachtete er ihre Figur in der unvorteilhaften Uniform. Ihre bloßen Arme im Sommer und Frühherbst. Ein-, zweimal hatte er aus dem Augenwinkel mitbekommen, wie sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr. Das war entweder unbewusst geschehen und hatte mit ihm nichts zu tun, oder es war eine unbewusste Reaktion auf seine Nähe, denn schließlich waren ihre Schenkel kaum einen Meter von ihm entfernt. Oder sie wollte ihn anmachen. Tankard blätterte durch die ungeöffnete Post der Woche. Ein paar Rechnungen und Kreditkartenabrechnungen und die neueste Ausgabe der Sidearm News aus den USA. Als er nach 23
Informationen über die Glock 17 gesucht hatte, war er beim Surfen im Internet auf eine Werbung für dieses Magazin gestoßen, hatte es abonniert und sich leise gefragt, ob das Ganze nicht eine Abzocke war und er eines Tages feststellen musste, dass sein Girokonto leer gefegt worden war, doch das Ganze war völlig einwandfrei, und nun trudelte das Magazin regelmäßig ein und wirkte als Gegenmittel gegen all den Mist, mit dem er sich bei der Arbeit herumschlagen musste. Über das Magazin hatte er sich andere Sachen mit der Post kommen lassen. Hirschlederhalfter, Nachtsichtfernglas, Wadenhalfter für einen Dolch; Sprühdosen mit Mace. Pistolennachbildungen: eine Uzi, eine Sig Sauer, eine Heckler & Koch. Dazu noch eine Südstaatenfahne – und verdammt wollte er sein, wenn er nicht in den letzten sechs Monaten sechs Südstaatenfahnen gesehen hatte, normalerweise in irgendeiner verratteten Junkiewohnung. Heute Abend zum Beispiel war er mit Pam zu dem heruntergekommenen Schindelhaus gefahren, in dem Dwayne Venn mit den Tully-Schwestern wohnte, und dort im Wohnzimmer hing an einer Wand eine Südstaatenfahne, an den anderen Wänden hingen Fotos von Sitting Bull und Cochise, hier und da lagen Indianerperlenketten, Decken und anderer Ethnoplunder herum. Die Welt war voller Versager, deren Leben ein solcher Mist war, dass sie sich in eine Zeit und ein Leben hineinträumten, wo es Mut gab, absolute Gewissheiten, etwas Reines und Nobles. Und ich? Ich hol mir das von einer Waffe in der Hand, dachte Tankard. Wie heute Abend. Es gab da eine heiße, dunkle Stelle in seinem Kopf – und davon kribbelte es ihn im Schritt –, wo er sich vorstellte, Pam Murphy niederzuschießen. Er stellte sich vor, dass es spritzte, wie bei einer Ejakulation. Nicht notwendigerweise zerstörerisch – auch wenn das dazugehörte. Eher eine Art von Gefühlsstau. Tankard war nicht länger ein fetter, verschwitzter, 24
unappetitlicher müder Cop mit krummem Rücken, sondern so groß, taff, drahtig und undurchschaubar wie der Indianerhäuptling, der General Custer am Little Big Horn ausradiert hatte. Dabei habe ich im Dienst noch nie eine Kugel abgefeuert, dachte er, die meisten Cops haben das nicht, und die meisten werden es auch nie tun. Verdammt, sein Rücken tat ihm weh. Er legte sich auf den Fußboden, stellte sich seine Wirbelsäule als eine Reihe von Knoten in einem Seil vor und versuchte, einen nach dem anderen wieder zu lösen. Er schlief ein und wachte vor Kälte um drei Uhr früh auf.
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4 Es war elf Uhr nachts, Challis hockte vor der Glotze und dachte daran, ins Bett zu gehen, als Tessa Kane, noch in voller Montur, an seine Tür klopfte. Wanderstiefel, Jeans, gefütterte Jacke. Sie sah nicht wütend aus, aber sie lächelte auch nicht, und ihr Gesicht wirkte unter der lebhaften Intelligenz, die sich dort stets aufhielt, ein wenig traurig, so als hätten sich die Enttäuschungen, die sich seit gestern früh aufgestaut hatten, bis an die Oberfläche vorgearbeitet. Er machte ihr einen Scotch, ging wie auf Eiern, versuchte sie zu verstehen. Aber Tessa verlor kein Wort darüber, dass er sie enttäuscht hatte, als er zu seiner durchgeknallten Frau eilte, statt mit ihr auf die Wanderung zu gehen. Der Wind war eisig geworden, als Challis von der Bushrangers Bay zurückkehrte, deshalb hatte er Feuer gemacht, und nun war das Haus warm und bot Schutz vor der windigen Nacht. Er wusste nicht, was er zu ihr sagen sollte. Ab und zu nippte sie an ihrem Scotch, blieb ganz still und stumm, doch schließlich vertrieb sie mit einem Grinsen die trübe Stimmung und wühlte in ihrem Rucksack herum. »Ich bin auf dem Weg hierher noch schnell im Büro vorbei«, sagte sie. »Hab noch einen Haufen Briefe und Mitteilungen durchzuforsten.« Das war schon besser. Bei manchen ihrer Besuche las sie ihm alles Mögliche vor. Schon bald war ihr Schoß voller Umschläge, E-Mail-Ausdrucke und Textauszüge. Sie blätterte geistesabwesend durchs Papier, und er schaute ihr zu. »Irgendwelche Post vom Einmischer?«, fragte er leichthin. Tessa hatte ihm von dem Mann erzählt, der sie mit anonymen Briefen und Anrufen bombardierte. »Der Einmischer« war ein passender Name: Er pochte geradezu krankhaft obsessiv auf gute Manieren, Recht und Ordnung und den gesunden 26
Menschenverstand. Er meldete gern schlechte Autofahrer, Müllsünder, faule Kommunalarbeiter, lahmarschige Bürokraten, Wandalen, Grundstückseigentümer, die im Frühling vergaßen, den Rasen zu mähen. Unglücklicherweise musste man ihm in den meisten Fällen einfach Recht geben. Letzten Sommer zum Beispiel wollte er wissen, welche Leuchte – »die Anspielung ist beabsichtigt« – das kontrollierte Abfackeln des Naturreservates an der Penzance Beach Road angeordnet hatte, als für den nächsten Tag heiße Nordwinde vorhergesagt worden waren. Das daraus resultierende Buschfeuer hatte das halbe Reservat niedergebrannt, Grasland und Zäune, und hatte erst ein paar hundert Meter vor einem Schindelhaus Halt gemacht. »Diesmal Müll am Straßenrand«, sagte Tessa, ohne Challis eines Blickes zu würdigen. »O nein«, stöhnte er. Sie wedelte mit einem Brief in der Faust. »Müllsäcke auf der Five Furlong Road, um genau zu sein. Er hat doch tatsächlich in den Müllsäcken gekramt und einen Brief gefunden, den er netterweise beigefügt hat.« Sie rümpfte die Nase. »Stinkt nach vergammeltem Fisch. Er stammt vom Amt für öffentliche Sicherheit und ist adressiert an eine gewisse Donna Tully; darin wird nach dem Status ihres Zusammenlebens mit einem gewissen Dwayne Andrew Venn gefragt. Der Einmischer will, dass ich Venn und Ms. Tully im Progress als Müllsünder anprangere. Er schreibt auch, er habe eine Kopie an den Bezirk geschickt in der Hoffnung, dass der Anklage erhebt.« Challis nickte. Zumindest redete Tessa wieder mit ihm. Er fragte sich, ob ihr die Bedeutung des Namens Tully aufgefallen war. Bestimmt. Sie hatte ausführlich über das Verschwinden von Lisa Tullys Kind berichtet und ihren Lesern gegenüber keinen Zweifel daran gelassen, dass sie glaubte, Bradley Pike würde dahinter stecken. Was Dwayne Venn anging, so überlegte Challis, ob er ihr von 27
Ellen Destrys Observierung erzählen sollte. Nein. »Der Einmischer regt sich einfach über alles auf«, sagte Tessa. »Über das Genie, das an der Kreuzung Coolart Road und Myers Road ›Vorfahrt beachten‹-Schilder hat aufstellen lassen statt Stoppschildern. Die Frau auf Peninsula FM, die immer ›Jaah‹ sagt statt ›Jahr‹ und ›sonst‹ statt ›ansonsten‹. Über die Bewohner der Upper Peninsula, die keine geteerten Straßen oder Wasseranschlüsse wollen und sich für was Besseres halten. Er lebt anscheinend in einem Zustand dauernder Rage.« Was ihr aber egal sein konnte. Die wöchentlichen Briefe des Einmischers waren im Progress schon zu einer Institution geworden und lockten weitere Leserbriefe an. Tessa neigte zu der Ansicht, wenn etwas funktionierte, sollte man auch nichts daran ändern. Challis schaute zu, wie sie weiter die Papiere auf ihrem Schoß durchging, und während er von der anderen Seite des Kaminfeuers hinübersah, entspannte sich ihr nachdenkliches, kluges, flinkes Gesicht und ließ ein schüchternes, hübsches Lächeln erkennen. »Was gibts?«, fragte er. Vielleicht blieb sie über Nacht. Vielleicht auch nicht. Sie wedelte mit einem Blatt. »Das ist die Korrekturfahne der Kolumne vom kommenden Dienstag.« Er ging am Kamin vorbei, ließ seine Finger über ihre Hand streichen, nahm ihr das Blatt ab und kehrte wieder zu seinem Sessel zurück. Tessa schrieb eine wöchentliche Kolumne für den Progress. Diesmal hatte sie sich auf die abgedrehten Typen, die Spinner gestürzt. Wenn man den Spinner und dessen kunstvolle Art eingehend würdigen und zwischen einem richtigen und einem Gelegenheitsirren unterscheiden will, dann sollte man das am besten gemeinsam mit einem engen, gleich gesinnten Freund tun. Erst kürzlich ging ich mit einem solchen Freund in Rosebud 28
shoppen, und wir begegneten dort einem Mann, der ein Frettchen an der Leine führte. Unsere Reaktion kam spontan und simultan. Wir schauten uns an und murmelten: »Spinner.« Doch die Begriffe ändern sich. Früher mal war ein Mann mit einem riesigen Schlüsselbund am Gürtel ein Spinner. Heute hängen nur noch ein paar Handwerker und fehlgeleitete alte Schwuchteln Schlüsselbunde an ihren Gürtel. Challis grinste. Er war der »gleich gesinnte Freund« gewesen. »Nett«, sagte er und bemühte sich, wieder gleich gesinnt zu sein. Tessa machte sofort ein mürrisches Gesicht, und ihre Züge verhärteten sich. Sie setzte sich aufrecht hin, schlug die Arme übereinander und sah ihn direkt an. »Wie gings der werten Gattin?« »Sei nicht so«, sagte Challis, der sich sofort verdrießlich und klein fühlte. »Wie denn?« Er wandte sein Gesicht zu den Flammen im Kamin. Tessa setzte nach: »Großer Notfall, oder? Besteht der Hauch einer Chance, dass sie auf der Intensivstation liegt?« Challis wurde vor Zorn ganz rot. »Sie hat sich die Pulsadern aufgeschnitten, wenn du es unbedingt wissen willst.« »Ja, aber in welchem Umfang und womit?« Er zögerte mit einer Antwort. »Kaum ein Kratzer?« Er zuckte mit den Schultern. »Also kein ernsthafter Versuch. Kein vernünftiger tiefer Schnitt am Handgelenk.« Challis seufzte. »Nein.« »Ein Hilfeschrei?« Challis schnappte: »Irgend so was.« Tessas Stimme wurde sanft. »Es ist langsam an der Zeit loszulassen, Hal.« Challis ging durchs Zimmer zur Whiskyflasche. »So einfach 29
ist das nicht.« »Natürlich ist es das. Deine Frau zieht an der Strippe, und du kommst. Sie sagt: ›Spring‹, und du fragst: ›Wie hoch?‹« »Das zweite Mal hat sie mich gar nicht angerufen, sondern ihre Eltern. Also halt doch einfach den Mund, verdammt.« Das »verdammt« klang einfach nicht richtig. Es sorgte für einen Misston, klang eher gezwungen, unehrlich. Challis sah den Schmerz, den er verursacht hatte: Tessa wandte sich von ihm ab, starrte einsam und verärgert in die dunklen Schatten in den Zimmerwinkeln. Als sie wieder sprach, klang ihre Stimme tief und hohl. »Ich hatte mich so auf unsere Wanderung gefreut. Nahezu perfektes Wetter, der richtige Begleiter. Aber das wissen wir ja, stimmts?« Challis erwiderte nichts. Er nippte trübselig an seinem Scotch und wanderte in Gedanken all die Jahre an einen Ort in einer Zeit zurück, die ihn nicht mehr losließ. Er war damals einer von vier CIB-Detectives in einer Stadt in der alten Goldminengegend nördlich von Melbourne. Seine ruhelose und schnell gelangweilte Frau hatte sich mit einem seiner Kollegen eingelassen. Der Kollege verliebte sich in sie, lockte Challis an einen verlassenen Ort und versuchte ihn umzubringen. Nun schlurfte der Kollege mit einem von einer Kugel zerschmetterten Oberschenkelknochen auf einem Gefängnishof herum, und Challis’ Frau saß acht Jahre ab, versuchter Mord. Ab und zu rief sie an und sagte, dass es ihr Leid täte, dann, dass es ihr nicht Leid täte und sie es jederzeit wieder versuchen würde. Sie brauchte ihn, sie hasste ihn. Er war zu gut für sie, er war nur ein Haufen Mist. Die meiste Zeit verzehrte sie sich nach ihm und was er repräsentierte und nach den gemeinsamen Zeiten, bevor alles schief ging. Challis wollte sie nicht zurück, er liebte sie nicht mehr, aber er fühlte sich verantwortlich, so als hätte er ein besserer Mann sein sollen, zumindest die Art von Mann, bei dem sie ihren Liebhaber nicht hätte bitten müssen, ihn umzubringen. Wie Tessa Kane immer wieder sagte, es war 30
an der Zeit, sie abzuschütteln. Endlich Zeit, sich scheiden zu lassen. »Und ihre Eltern waren auch da, nehme ich an?« »Ja.« Eigentlich mochte Challis die Eltern seiner Frau. Sie waren verwirrt, entschuldigten sich ständig, quälten sich so wie er damit herum, sie seien irgendwie verantwortlich für alles, und es tat ihnen Leid, dass ihre Tochter einem derart netten Mann so etwas hatte antun wollen. Tessa schnaubte. Challis fand nicht, dass es verächtlich klang, sondern eher nach dumpfem Schmerz und Neid, so als habe sie das Gefühl, keinerlei Ansprüche auf ihn zu haben. Er stellte seinen Scotch hin. »Tess …« »Unterwegs ist mir was Komisches passiert. Willst du es hören?« Sie sah ihn an und blinzelte sich lächelnd die Tränen aus den Augen. Erleichterung durchflutete ihn. »Natürlich.« »Heute Nachmittag bin ich über einen menschenleeren Strandabschnitt bei Flinders gelaufen. Jede Menge Seegras und Tang am Strand, starker Wind, Wellen, na, du weißt ja, wie windig es heute war.« Challis nickte. Hatte sie ihn gesehen? Nein. »Ich geh so vor mich hin, da kommt ein Allrad direkt über den Sand auf mich zu.« Challis’ Nerven begannen zu kribbeln. »Erzähl weiter.« »Ein Toyota-Pick-up, weiß, um genau zu sein. Zwei Männer. Der Fahrer brüllt mich an. Was ich hier mache, wer noch bei mir ist, ob ich irgendwelche Kisten am Strand gefunden habe, ob ich sie vielleicht versteckt habe. Er war ziemlich aggressiv. Dann donnerte er weiter den Strand entlang. Ich war viel zu überrascht, um mir das Nummernschild zu merken.« »Drogenlieferung«, sagte Challis knapp. »Würde ich auch so sehen.« 31
Challis war bei der Mordkommission, nicht bei der Drogenfahndung, aber der Handel mit Drogen führte oft zu Mord, also interessierte ihn das durchaus. »Es hat gestern Nacht einen Sturm gegeben«, sagte er. Tessa nickte. »Entweder war der Stoff an einer Boje festgemacht und hat sich losgerissen, oder er wurde von einem Schiff oder einer Jacht über Bord geworfen oder weggespült.« »Oder die Lieferung wurde gestohlen.« »Auch das. Oder die ganze Geschichte war völlig harmlos. Aber sie kam mir nicht ganz sauber vor, weißt du, was ich meine?« Das Gefühl, dass etwas nicht ganz sauber war, hatten Polizisten und Journalisten gemeinsam, dachte Challis. »Wie sahen sie aus?« Tessa zuckte mit den Schultern. »Ich konnte nur den Fahrer richtig sehen. Typischer männlicher Bewohner der Halbinsel, Ende dreißig, Kapuzensweatshirt, Sonnenbrille, Trainingsanzug, braucht eine Rasur. Genauer gehts nicht.« »Trotzdem, das solltest du der Polizei melden. Unsere Computerspezialisten können das ja mal checken.« Tessa salutierte. »Jawohl, Sir.« Stille breitete sich aus. Challis erkannte, dass sie nicht miteinander schlafen würden und dass er sich vorgemacht hatte, ihr Beisammensein könne nach allem, was er ihr angetan hatte – so wie sie es sah –, leidenschaftlich ausfallen. Wenn er jetzt die Hand ausstreckte und sie berührte, würde sie nur zusammenzucken und sagen: »So einfach ist das nicht, Hal.« Sie schien seine Verwirrung und seinen Kummer zu erkennen und stand auf. »Ich gehe jetzt lieber.« Beinahe hätte sie ihn einfach so sitzen lassen, doch im letzten Augenblick blieb sie stehen und strich ihm kurz über die Wange. Den Scotch ließ sie stehen.
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5 Nachdem Dwayne Venn verhört und ins Untersuchungsgefängnis gebracht worden war und Ellen Destry, die noch immer die weite Cargohose und die Baumwollwindjacke von der Observierung trug, den Großteil des Papierkrams erledigt hatte, packte sie gegen ein Uhr früh zusammen und fuhr nach Hause. Das Haus der Destrys war ein einfaches eternitgedecktes Ferienhaus auf Stelzen in einer Senke zwischen Strand und hügeligem Farmland. Penzance Beach lag nur etwa fünfzehn Autominuten entfernt, war aber eine völlig andere Welt als Waterloo mit seinen heruntergekommenen Anwesen und der darniederliegenden Leichtindustrie. Im Sommer wimmelte es in Penzance Beach nur so von Allradfahrzeugen und den deutschen Limousinen der betuchten Melbourner Familien, deren Märchenhäuser und gestylte Bunker eines Tages die einfachen Familienhütten wie jene der Destrys vertreiben würden. Melbourne lag nur eine Autostunde entfernt, deshalb wimmelte es auch zu Ostern nur so von Fremden. Ellen fuhr langsamer und suchte nach einem Parkplatz. Die Straße war zugeparkt mit den Fahrzeugen der Urlauberfamilien und der Jugendlichen, die auf Larraynes Party waren. Sie fuhr zwei Nebenstraßen ab, bevor sie eine Lücke fand, die für ihren Magna groß genug war, und ging das Stück zurück zu Fuß. Prima: Die Party näherte sich ihrem Ende. Man hörte Abschiedsrufe, die Jugendlichen verließen das Haus und machten sich auf den Heimweg. Sie ging hinein und stieß auf einen Ehemann mit starren Gesichtszügen und eine tränenüberströmte Tochter. »Was ist passiert?« Alans fieser Blick besagte, sie sei fort gewesen und habe ihren 33
Spaß gehabt, während er zu Hause habe hocken müssen, um bei dreißig Teenagern für Ordnung zu sorgen. Ellen ging nicht darauf ein und nahm Larraynes Gesicht in die Hände. »Schätzchen?« Larrayne hatte im Laufe des letzten Jahres an Gewicht verloren. Davor war sie pummelig gewesen und hatte leicht unproportioniert gewirkt, so als seien Rumpf und Arme gewachsen, nicht aber Beine oder Hals. Nun war alles an ihr perfekt: groß, drahtig, und wenn ihr Gesicht nicht mehr so aufgedunsen sein würde und die Flecken auf den Wangen im Laufe des nächsten Jahres oder so verschwanden, dann würde sie wahrscheinlich richtig toll aussehen. Larrayne hob ihr feuchtes, fleckiges Gesicht. »Jemand hat Wodka und Ecstasy mitgebracht, Ma«, sagte sie verwirrt und beleidigt. Ellen nahm ihre Tochter in die Arme und warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu. Der reagierte genervt. »Komm mir ja nicht so. Gib mir nicht die Schuld dafür. Was sollte ich denn machen, ich bin nur einer, keine ganze Horde von Sicherheitsleuten.« Ein Schwarm Teenager beäugte sie vorsichtig, verabschiedete sich bedrückt und schob sich im Flur an ihnen vorbei. Dann waren die Destrys allein im Haus, die Haustür schützte sie vor der Nacht, der letzte Wagen fuhr durch die schlummernden Straßen davon. »Es tut mir wirklich Leid«, sagte Ellen. »Ich habe versucht, früh nach Hause zu kommen, aber wir waren bei einer Observierung und haben eine Verhaftung vorgenommen, und das Ganze hat eine Weile gedauert.« Sie nahm eine Hand von den Schulterblättern ihrer Tochter und griff nach dem Arm ihres Mannes. »Alan, Liebling …« Seine Anspannung ließ ein wenig nach. Alan trug Jeans und TShirt, er sah ungeheuer müde aus, und er rieb sich mit beiden Händen über das kräftige Kinn. »Eines der Kids muss wohl Alkohol und Pillen über den Hinterzaun geworfen haben. Ich 34
habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich mitgekriegt habe, dass die eine Hälfte der Leute high war und die andere den ganzen Abend zum Hinterhof raus- und wieder reingegangen ist.« Er lachte bitter. »Und ich dachte, die gehen nur an die frische Luft.« »Wissen wir, wer es war?« Larrayne löste sich von Ellen und schüttelte traurig den Kopf. »Ich hab zu allen gesagt, kein Alkohol, keine Drogen. Alle wissen, dass ihr beide bei der Polizei seid. Wie können die mir nur so was antun?« »Wir suchen lieber mal den Hinterhof ab«, sagte Ellen. Falls sie die Reste fand, ließen sich vielleicht brauchbare Fingerabdrücke nehmen, die sie zum Lieferanten führen könnten. Den wollte sie, nicht das Kind. Wenn sie einen Teenager verhaftete, würde nur der Name ihrer Tochter durch den Schmutz gezogen werden. Sie nahm die Taschenlampe von dem Wandhaken neben der Hintertür, trat auf die Veranda, die auf den Hof hinausging, und suchte im Schein der Lampe die Schatten unter sich ab. Jede Menge Flaschen und Dosen. Eine Windjacke. Zerknüllte Zigarettenschachteln. Und, halb vom Gebüsch verborgen, ein paar dürre Beine in Jeans und Turnschuhen. »Himmel«, rief Alan neben ihr und stürzte die Stufen hinunter quer über den verdorrten Rasen. Ellen folgte ihm. Hinter ihr jammerte Larrayne: »Das ist Skip.« Skip Lister. Ein schlanker, übernervöser, aber netter Bursche, der stets darum bemüht war, allen zu gefallen, ohne sich einzuschmeicheln, Student auf dem Frankston Campus der Monash University, fuhr einen alten Holden komplett mit Surfbordträgern. Er wohnte in einer exklusiven Gegend der Halbinsel, abseits der Five Furlong Road in Upper Penzance. Ellen sah hinauf in die Nacht, vorbei an der dunklen Masse des 35
hügeligen Farmlandes am Rande von Penzance Beach in Richtung Upper Penzance, so als könne sie die Lichter im Haus der Listers sehen. Zu spät, zu dunkel, zu weit weg. Larrayne drückte sich an ihr vorbei, kniete neben Alan und streckte die Hand nach Skips Gesicht aus, doch sie zuckte zusammen, als Erbrochenes über ihre Hand spritzte. »Igitt«, sagte sie. »Ist ja ekelhaft.« »Dreh ihn auf die Seite«, sagte Ellen ruhig. Ihr Mann fuhr sie an: »Das weiß ich, ich bin bei der Verkehrspolizei, schon vergessen? Ich weiß, was ich tun muss.« Er drehte den Jungen auf die Seite, wischte ihm das Erbrochene aus dem schlaffen Mund und prüfte die Atmung. Skip wäre an seinem eigenen Erbrochenen erstickt, wenn wir ihn nicht gefunden hätten, dachte Ellen. Plötzlich wurde sie wütend. Sie konnte darauf wetten, dass Skip Listers Eltern keine Ahnung hatten, wo ihr Sohn war oder was er so trieb. Die Polizei bekam so etwas die ganze Zeit zu sehen, und andauernd musste sie die Scherben aufsammeln: Streitigkeiten, Raubüberfälle, Autos, die gegen Bäume gefahren waren, und die daraus resultierenden Verletzten und Toten. Und die Eltern hatten nie eine Ahnung. Die meisten waren entsetzt darüber, was ihre Kinder angestellt hatten. Manchen war es scheißegal. Wütend stapfte Ellen ins Haus, schlug die Telefonnummer von Carl Lister in Upper Penzance nach und wählte. Es war halb zwei Uhr morgens, aber schon nach dem ersten Klingeln hob jemand ab. »Hallo.« Selber Hallo, dachte Ellen. »Mr. Lister?« Der Ton der Stimme änderte sich, so als sei dies nicht der Anruf, auf den Carl Lister gewartet hatte. »Ja.« »Hier spricht Ellen Destry.« Stille, dann: »Tut mir Leid, kenne ich Sie?« 36
Ein Anflug von Akzent in der Stimme. Südafrikanisch, genau. »Ihr Sohn war heute Abend auf der Geburtstagsparty meiner Tochter.« »Mhm.« »Nun, er liegt im Hinterhof in einer Lache von Erbrochenem.« Ein leichtes kumpelhaftes Lachen. »Kleiner Schwerenöter.« Ellen biss die Zähne zusammen. »Mr. Lister? Ich sagte, Ihr Sohn liegt da …« »Hören Sie, geben Sie ihm einen Kaffee, setzen Sie ihn ins Auto, und schicken Sie ihn heim. Ich werde ihn schon zurechtstutzen, wenn er hier ist.« »Das kann ich nicht. Er hat getrunken.« »Nun, offenbar, schließlich war er ja auf einer Party, oder nicht?« »Mr. Lister, er könnte einen Unfall bauen und sich dabei umbringen. Oder noch schlimmer, er könnte jemand anderen verletzen oder umbringen.« Carl Lister klang verärgert. »Ich weiß nicht, was ich damit zu tun haben soll.« »Sie sind doch sein Vater, oder nicht?« »Er ist alt genug, um auf sich selbst aufzupassen. Alt genug, um hinter sich sauber zu machen.« »Er ist kaum neunzehn.« »Na und? Als ich achtzehn war, hab ich –« »Mr. Lister, holen Sie bitte Ihren Sohn ab.« »Kann er den Rausch denn nicht bei Ihnen ausschlafen? Damit er morgen früh selber heimfahren kann?« »Ich führe kein Hotel.« »Herr im Himmel, im Augenblick passt es mir nicht.« Ellen wurde eisig. Sie spielte nicht gern die Cop-Karte aus, aber manchmal war das nötig, und normalerweise erzielte sie damit Ergebnisse. »Ich weiß, was wir tun können«, sagte sie. »Ich rufe auf der Polizeiwache in Waterloo an und sage zum Dienst habenden 37
Officer: ›Hier spricht Detective Sergeant Destry. Schicken Sie mir einen Wagen nach Hause, ich habe hier einen Übernachtungsgast für die Zelle auf der Wache.‹« In die darauf folgende Stille hinein fügte sie an: »Wie wäre das, Mr. Lister? Sie können am Morgen zur Wache kommen und Ihren Sohn holen. Auf diese Weise werden damit nur ein paar Streifenpolizisten behelligt, die sowieso Dienst haben.« Carl Lister fauchte: »Geben Sie mir Ihre Adresse. Ich fahre sofort los.« Ellen lächelte, aber es lag keinerlei Wärme darin.
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6 Ostersonntagnachmittag. Mostyn Pearce fütterte sein Frettchen Blur, dann machte er seine Runde, wie jeden Tag, eine Stunde lang, zählte dabei Autos, Tore und Schlaglöcher. Auf seiner Runde kam er jedes Mal über die Five Furlong Road. Ian Munros Felder lagen links bis hinunter zum Penzance Beach, und etwas höher zur Rechten befand sich Upper Penzance, eine Enklave von zwanzig, dreißig Häusern auf hektargroßen Grundstücken, jedes einzelne zum Preis von vierhunderttausend bis siebenhundertfünfzigtausend Dollar. Herangekarrte Palmen und andere exotische Gewächse, ungeteerte Straßen, alles vermittelte den Eindruck, dass man den Pöbel ausschließen wolle. Mostyn Pearce, mit anderen Worten, da unten in seinem schäbigen neuen Siedlungsbungalow am Fuße des Hügels. Was Pearce so aufregte – und was er auch der Redakteurin des Progress geschrieben hatte –, war der Anstrich von Privilegiertheit, so als gebe es eigens Gesetze für die Bewohner von Upper Penzance und andere Gesetze für Menschen wie ihn. Das war so was von dumm. Sie waren gegen Wasserleitungen und beharrten darauf, dass alle Haushalte Wasser aus Tanks benutzten. Sie wollten keine geteerten Straßen, nur laubbedeckte Schotterwege. Sie bauten sogar die Straßenschilder ab, um Tagesausflügler fern zu halten. Pearce hatte in einem seiner Briefe an den Progress darauf hingewiesen: »Was, wenn ein Haus oder das Buschland in Upper Penzance brennt? Die Zugangsstraßen sind mit Bäumen verstopft, die Wege sind voller Schlaglöcher, es steht sehr wenig Wasser zur Verfügung, vom Wasserdruck ganz zu schweigen.« Die Redakteurin hatte den Brief abgedruckt. Sie brachte nicht alles, was er einsandte, wie zum Beispiel seine Befürwortung des Internierungslagers und den Brief über die Notwendigkeit, 39
Kolonnenspringer aus dem Verkehr zu ziehen, aber angesichts der Tatsache, dass er ihr mehrere Briefe in der Woche schrieb und die Zeitung nur einmal wöchentlich erschien, gab es immer etwas, das sie brauchen konnte. Vor etwa einem halben Jahr hatte sie begonnen, ihn den Einmischer zu nennen. Erst war er beleidigt – es klang so abfällig –, aber nun mochte er den Spitznamen. Außerdem gab es nach jeder Kolumne mit dem Einmischer eine Menge positiver Post für die Leserbriefspalte. Wenn auch keinen Muckser von den Bewohnern von Upper Penzance nach seinem neuesten Buschfeuerbrief. Er fand immer etwas, worüber er schreiben konnte. Wie letzte Woche Donnerstag, als er an einem der Häuser an der Five Furlong Road vorbeigekommen war und gesehen hatte, dass sie sich einen amerikanischen Briefkasten ans Tor gemacht hatten, so einen mit einer kleinen roten Metallflagge an der Seite. Sofort hatte ihn die Knallwut gepackt. Am liebsten hätte er sich den Kerl geschnappt und ihm ein paar Ohrfeigen verpasst und ihn gefragt, wozu er einen amerikanischen Briefkasten aufstellte, wo sie doch gar nicht in Amerika waren. Und was um alles in der Welt soll das kleine Fähnchen denn anzeigen? Soll der Briefträger es vielleicht jedes Mal hochklappen, wenn er dir Post in den Kasten steckt? Wenn das hier Amerika ist, dann müsstest du es selbst hochklappen, um anzuzeigen, dass der Briefträger Post abholen kann – aber das hier ist eben nicht Amerika. Und selbst wenn der Briefträger sich überhaupt dafür interessieren würde, wie kommst du dann darauf, dass er die Zeit oder die Energie oder den Wunsch hat, das bescheuerte Fähnchen hochzuklappen? Das Fähnchen war heute wieder oben. Pearce klappte es nach unten. Er ging weiter, kam an Ian Munros Zaun und zu dem Blechschild mit der Aufschrift: »Brennholzdiebstahl verboten. Zuwiderhandelnde werden strafrechtlich verfolgt.« Die Worte »strafrechtlich verfolgt« waren übersprüht und durch das Wort 40
»erschossen« ersetzt worden. Da sah er die Schafe. Not leidende Schafe, ein ganzes Dutzend, die Rippen zeichneten sich ab, vor Erschöpfung hingen die Rücken durch, die Köpfe hingen matt nach unten. Angebackener Lehm unter den Hufen. Kein Wasser im Trog, nur ein grünlicher Schlamm am Grund. Ein Wagen kam auf der Straße an ihm vorbei, eine Frau am Steuer, und er wandte sich ihr zu, wies mit einer Bewegung seiner rechten Hand auf den traurigen Anblick der Schafe und lud sie ein, an seiner Wut teilzuhaben. Doch die Fahrerin fuhr unbekümmert weiter in Richtung Upper Penzance, also ging Mostyn Pearce nach Hause und rief sofort anonym bei der RSPCA an, dem Tierschutzverein. Dann sah er auf die Uhr. Hoppla. Halb vier, um vier musste er bei der Arbeit sein. Höchste Zeit. Er programmierte den Videorekorder auf die heutige Sendung von »International Most Wanted«, einer True-Crime-Serie auf einem Pay-TV-Sender, gab seiner Frau und seiner Tochter noch einen Kuss und machte sich auf den Weg. Als Ellen Destry an dem komischen Kauz vorbeikam, der am Zaun stand und sich ein paar müde Schafe ansah, bremste sie ein wenig, um ihn sich genauer anzuschauen. Verkniffenes, unglückliches Gesicht, Michael-Jackson-Näschen, Schädel unregelmäßig kahlrasiert. Aber harmlos; also fuhr sie weiter über die Five Furlong Road nach Upper Penzance. Sie war todmüde nach letzter Nacht, nach der Geschichte mit Skip Lister und seinem Vater, nach dem morgendlichen Reinemachen. Aber sie war noch nicht fertig. Auf dem Sitz neben ihr lag eine Lederjacke. Sie gehörte Skip Lister; sie hatte sie kurz vor dem Mittagessen hinter einem Sofakissen gefunden. Sie hatte den ganzen Vormittag gebraucht, bis das Haus wieder halbwegs bewohnbar war. Der Zigarettenqualm hing in den Vorhängen und Polstern. An den unmöglichsten Stellen war sie auf 41
Erbrochenes gestoßen. Der Teppich war von verschüttetem Bier und Schnaps ganz feucht – Gott sei Dank kein Rotwein. Brandspuren von Zigaretten auf dem Kaminsims. Ein Schlüpfer – nicht sonderlich sauber – unter einem Liegestuhl auf der Seitenveranda. Ein paar Kondome unter den Kajeputbäumen hinter dem Haus. Alan arbeitete von acht bis sechzehn Uhr, sonst wäre sie wohl ausgeflippt und hätte ihn angebrüllt: »Hast du letzte Nacht eigentlich überhaupt ein Auge auf sie gehabt?« Ellen warf einen Blick auf die Uhr. Vier Uhr nachmittags. Alan war wohl auf dem Heimweg. Sie seufzte: Sie war einfach zu müde und abgekämpft, um weiter darüber nachzudenken, sich später mit ihm zu streiten. Außerdem war er in gewisser Weise ja sowieso nicht da, sondern hatte sich im Esszimmer eingeschlossen, um erneut für die Sergeant-Prüfung zu büffeln. Sex gab es nur noch unregelmäßig, und er verlief kompliziert. Manchmal stießen ihre Lebenswege wütend aufeinander, doch meist lebten sie allein vor sich hin. Ellen fuhr weiter. Sie hätte auch genauso gut bei den Listers anrufen und Skip sagen können, er solle seine Jacke holen kommen, doch sie wollte sehen, wo er wohnte. Upper Penzance. Man konnte die Gegend von ihrem Hintergarten in Penzance Beach aus sehen, wie sie über der Five Furlong Road schwebte, die über den Hügelkamm oberhalb des Farmlandes lief, das Upper Penzance von Penzance Beach trennte. Upper Penzance, das hieß nach den Vorstellungen der meisten Bewohner der Halbinsel Geld und eine Art starrsinniger, aber dummer Exklusivität. Es hatte vor Jahren im Progress den Leserbrief einer Bewohnerin gegeben, die damit angab, ihr Gatte und sie hätten »eine Menge Geld« ausgegeben, um ihren Besitz anzulegen, und wollten ihn »nicht durch Asphaltstraßen, Bulldozer, die Abwasserleitungen verbuddeln, und das Abholzen weiterer prächtiger Kiefernalleen auf der Halbinsel« verschandelt sehen. 42
Hier also lebte Skip Lister, in einem Haus für eine halbe Million mit einer fantastischen Aussicht auf Phillip Island, und dorthin hatte ihn sein Vater letzte Nacht gebracht. Skips Vater war in Begleitung eines zweiten Mannes erschienen. Er hatte sich nicht vorgestellt, war aus Carl Listers Mercedes gestiegen, glitt durch das wolkengedämpfte Mondlicht zu Skips Wagen und fuhr davon. Skips Vater hatte die Wagentür des Mercedes ganz geschäftsmännisch geschlossen, ihr die Hand geschüttelt, seinen Sohn mild gescholten und sich ganz wie der verantwortungsbewusste Vater aufgeführt. Keine Spur mehr von der Gleichgültigkeit, die Ellen so aufgeregt hatte, als sie ihn anrief. Sie hatte einen Blick auf Carl Lister geworfen und sofort eine Antipathie gegen ihn entwickelt. Das war der Grund, warum sie die Lederjacke seines Sohnes an die Haustür brachte, statt darum zu bitten, dass jemand sie holen kam. Es lag nicht an Listers Benehmen, an seinem hochglanzpolierten Mercedes oder seiner Adresse in Upper Penzance. Es lag auch nicht daran, dass er verschlagen war oder sie ihn in irgendeiner kriminellen Hinsicht nicht riechen konnte, denn das stimmte nicht. Er war auch nicht wie so manche dieser Südafrikaner, die sie kennen gelernt hatte und die jeden spüren ließen, dass sie die Asiaten am liebsten ausräuchern würden oder bedauerten, dass sie kein farbiges Personal mehr hatten, das sie schikanieren konnten. Nein, es lag an seiner Energie, seinem Selbstbewusstsein und seiner aalglatten Art zu jener unchristlich frühen Morgenstunde. Sie hatte gesehen, wie er von seinem Wagen herüberstolziert kam, seinem Sohn einen Arm streng, aber zugleich aufmunternd um die Schultern legte und die Kontrolle über die Situation übernahm, sodass sie sich überflüssig und allzu beiläufig wahrgenommen vorkam. Auch Skip hatte diesen Arm nicht gemocht. Sie hatte bemerkt, wie er sich unter dem Gewicht und der Kumpelhaftigkeit krümmte. Vielleicht schauderte sie – und auch Skip – vor dem Aussehen 43
des Mannes zurück. Lister hatte irgendwann einmal schwere Verbrennungen im Gesicht und an den Händen erlitten. Sie entstellten ihn nicht sonderlich, aber sein Kopf wirkte leicht verdreht, so als könne er seinen Hals nicht mehr richtig bewegen, und eine Hand war zu einer Kralle verkrümmt. Bei jedem anderen hätten solche Verbrennungen Mitleid ausgelöst. Bei Carl Lister vermittelten sie eine Spur von Grausamkeit, die durch sein Grinsen noch verstärkt wurde, bei dem er sich fast das Gesicht verrenkte. Ellen hielt ihn für einen Mann, der große Anforderungen an seinen Sohn stellte. Von Liebe war da nicht viel zu spüren, fand Ellen, als sie die Five Furlong Road verließ und sich über eine schmale schlaglochübersäte Fahrrinne vorwärts kämpfte, die sich durch Pittosporen, Eukalyptus und Akazien schlängelte. Links und rechts der Fahrspur lagen weitab große Anwesen. Die meisten waren zweigeschossig, architektonische Ergüsse, mit ausgefallenen Betonflächen, rostigem Eisen oder radial gesägten Schindeln hier und da an den rechteckigen Wänden. Zumindest lebten die Listers in einem normal aussehenden Haus, auch wenn es eher nach Toorak oder Brighton gehörte als an die Küste. Der Baustil war georgianisch, glaubte sie, gedrungen und viereckig, und man erreichte es über eine Zufahrt, die hinter einer Allee goldener Zypressen einen grasigen Hang hinaufführte. Die Worte »Costa del Sol« standen in Mosaikbuchstaben auf einer Tafel am Eingangstor. »Costa eine Stange Geld«, dachte Ellen. Das Eingangstor war versperrt. Keine Antwort, als sie an der Gegensprechanlage klingelte. Sie stopfte Skips Jacke in den Briefkasten und ging dann am Zaun entlang, bis sie einen Blick auf die Rückseite des Hauses werfen konnte. Große Rasenflächen, kurz getrimmt, ordentlich geschnittene Sträucher, Gartenhäuser, zwei riesige weiße Regenwassertanks aus Beton, die teilweise in den Hang hineingebaut waren, dazu noch weitere ausgefallene 44
Landschaftsarchitektur, um den Hang zu terrassieren. Ellen schnüffelte. Auf dem Land roch es immer wieder mal unangenehm. Unkrautvernichtungsmittel, Schafsdung, Teeröl. Zehn Minuten später fuhr Ellen wieder nach Waterloo zurück. Als sie vom Sattel der Five Furlong Road an die Stelle kam, wo die Straße offene Weiden von einer schäbigen neuen Siedlung in der Mitte von Nirgendwo trennte, glaubte sie den Mann zu sehen, der sich zuvor die Schafe angeschaut hatte. Er stand vor einem neuen, unfertig aussehenden Klinkerhaus, trug irgendeine Art von Uniform und drängte ein kleines Kind, ein rattenhaftes Geschöpf an einer Leine zu streicheln. Challis’ Ostersonntagsmenü hatte aus einem Schinkensandwich mit saurer Gurke bestanden, das er mit Pfefferminztee hinuntergespült hatte. Er ließ sich noch ein wenig Zeit und nahm dann einen Eimer, um das Fallobst unter den Birnbäumen einzusammeln, doch an den Früchten labten sich bereits wütende Bienen, und trotz der eintönigen Bewegung seiner Arme konnte er seine Gedanken nicht beruhigen, also ging er zum Vordertor, um nach einer anderen Ablenkung zu suchen: seine ausgewaschene Einfahrt. Challis wohnte an einer unbefestigten Straße. Die oberste Erdschicht war schon seit langem weggewaschen, übrig blieben nur Sand und Schotter, der ebenfalls zur Seite gedrückt wurde, wann immer der Straßenhobel des kommunalen Straßenbauamts bei seiner flüchtigen Arbeit die Oberkanten der Auswaschungen abschabte und dabei nur noch mehr Sand und Schotter produzierte. Zudem stieg die Straße ab Challis’ Vordertor an und war mit nadelwerfenden Fichten und sich immer wieder abschälenden Eukalyptusbäumen gesäumt. Wann immer es stark regnete, vermischten sich Rinde und Nadeln mit Sand und Wasser zu einer dichten, klumpigen Masse, die die offenen Seitengräben füllte und das Abflussrohr aus Beton verstopfte, das unter der Einfahrt lag. Also suchten sich die Wassermassen neue Betten 45
und wuschen schließlich tiefe Gräben in Einfahrt und Straße. In den Büros der Kommunalverwaltung in Waterloo schien niemand zu wissen, wer für das verstopfte Rohr und die blockierten Gräben verantwortlich war. Ganz bestimmt würde auch niemand die Verantwortung dafür übernehmen. Er würde wohl den verbackenen Sand selbst herausschaufeln müssen. Doch wohin damit? Am liebsten würde er ihn als Tempofalle auf die Straße häufen und dann den zuständigen Kommunalbeamten und den Bürgermeister zu einem Besuch einladen. Langsam, aber sicher kam er sich schon vor wie Tessa Kanes Einmischer. Die Nachbarn waren da keine Hilfe. »Sie sind doch Polizist«, meinte einer von ihnen. »Dann nutzen Sie das auch. Bringen Sie die Mistkerle dazu zuzuhören.« Dabei hatte der Nachbar das Wort »Mistkerle« ausgesprochen, als befürchte er, wegen Fluchens verhaftet zu werden. Challis wusste, dass er sich nicht auf seinen Job berufen konnte, denn die Polizei war auf die Kommunalbeamten angewiesen, wenn sie Amtshilfe bei ihren Nachforschungen auf der Halbinsel benötigte. Er machte sich an die Arbeit. Erst schaufelte er den Schlick aus dem Graben und verteilte ihn unter den Bäumen, dann füllte er die Auswaschungen mit Sand auf. Ab und an, wenn ein Auto vorbeirollte, hielt er inne und nickte seinen Nachbarn zu. Endlich ließen die rhythmischen Bewegungen der Arbeit seine Verärgerungen verschwinden, und die Gedanken an Frau und Geliebte drängten sich nicht mehr in den Vordergrund. Im Laufe des Nachmittags wurde er mit den Ausbesserungen fertig. Er hatte Blasen an den Händen. Sein Kopf pochte. Doch die Sonne schien mild und träge, kein Lüftchen rührte sich, und die Schwatzvögel meldeten sich. Challis hörte ein lautes Rasseln wie von einem Häcksler über sich und sah auf. Es handelte sich um eine 1942er Kittyhawk. Challis kannte das Jagdflugzeug, und er kannte die Frau, die die Maschine restauriert hatte. Er 46
schaute zu, wie das Flugzeug wendete und nach Südosten abdrehte, wahrscheinlich in Richtung des kleinen Flugplatzes von Waterloo. Challis beschloss, seine Sonntagnachmittagsbeschäftigung zu beenden und ebenfalls zum Flugplatz zu fahren. Damit geriet er ins Zentrum der Ereignisse in diesem Herbst.
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7 Challis duschte, zog sich an und machte sich in seinem klapprigen Triumph auf den Weg. Er kurvte über die Rinnen und Schlaglöcher der Straße, die an seinem Haus entlangführte. Am Old Peninsula Highway bog er in Richtung Waterloo ab, kam durch eine Gegend voller Obst- und Weingärten und Straußenfarmen, die einer Reihe von Gewächshäusern und Reitschulen wichen, welche wiederum den heruntergekommenen Siedlungen, Autohöfen, Möbelmärkten, Pumpenlieferanten und Schnellimbissen Platz machten, die am Ortsrand von Waterloo standen. Kurz vor dem Polizeirevier bog er rechts ab und fuhr noch fünf Kilometer bis zum Flugplatz; als er hineinfuhr, kam er an einem Landrover vorbei, der auf der Straße vor dem Eingangstor stand. Kittys Mercedes stand hinter dem Haupthangar. Challis stellte seinen Wagen daneben und stieg aus. Als er näher kam, gab eine Cessna auf dem Runway Gas, hob schließlich vom Boden ab und krallte sich himmelwärts. Challis hatte noch die Worte »Peninsula Aerial Photography Services« auf dem Rumpf entziffern können, was bedeutete, dass Kitty die Kittyhawk abgestellt und in ihrer Cessna davongeflogen war. Sie verdiente ihren Unterhalt mit den Kameras, die an der Unterseite der Cessna festgemacht waren und mit denen sie aus niedriger Höhe die Farmhäuser fotografierte – die Bilder konnten später laminiert und an die Wand gehängt werden –, mit Aufnahmen aus großer Höhe für die Kommunalplaner und die Landvermesser und mit Bildern von der Küste, die auf Postkarten und in Kalendern Verwendung fanden. Challis betrat den Hangar und ging in einen abgetrennten Bereich, der für die Restaurierung alter Flugzeuge reserviert war. Seine Dragon Rapide von 1935 stand ganz hinten. Challis 48
musste an einer havarierten Wirraway vorbei, Kittys neuestem Projekt, um zu seiner Maschine zu gelangen. Kitty wurde von allen so genannt, eben wegen der Kittyhawk, dabei hieß sie in Wahrheit Janet Casement; Challis kam zwar gut mit ihr aus, aber sie standen sich nicht sonderlich nahe. Kitty wirkte wie eine Einzelgängerin. Wohl recht unwahrscheinlich, wo sie doch erst vor sechs Monaten geheiratet hatte. Vielleicht projizierte er ja seine eigene Einsamkeit auf sie. Er zog einen Overall an, suchte einen Sender in dem verschmierten Transistorradio, das an einem rostigen Haken an der Wand baumelte, und machte sich an die Arbeit. Es störte ihn nicht, allein zu arbeiten. Er war hier der eigentliche Einzelgänger. Vor sechs Jahren hatte er die Rapide in Einzelteile zerlegt in einer Scheune nördlich von Toowoomba gefunden, gekauft und sie nach Waterloo verfrachten lassen. Bisher hatte er die zersplitterten, verrotteten und wurmstichigen Teile des Rumpfes ersetzt und einen der Motoren wieder aufgebaut. Er hatte nur wenig Gelegenheit, an der Dragon zu arbeiten, aber Zeit spielte seiner Ansicht nach keine Rolle, wenn man etwas Schönes restaurierte. Challis bewunderte die Dragon, wie sie mit ihren dünnen ausgestreckten oberen und unteren Flügeln und der suchenden runden Schnauze dastand, die prüfend die Luft schnüffelte. Heute wollte er im Cockpit arbeiten. Die meisten Instrumente mussten ersetzt oder neu kalibriert werden. Das war besser als Gartenarbeit oder Straßengräben säubern; im Geiste ging er das Chaos seines Lebens durch, brachte wieder so etwas wie Ordnung hinein, und nach einer Weile landete er erneut bei der Ankerleiche. Vor allem bei der Rolex, die um zehn Uhr am Zweiten des Monats stehen geblieben war. Morgens oder abends? Challis, den Schraubenzieher in der Hand, hielt plötzlich inne. Warum hatte er ständig mit Fragen nach der Zeit zu tun? Vielleicht 49
sollte er über die Uhr selbst Nachforschungen anstellen. Wie selten war die Rolex? Konnte man sie zurückverfolgen? Während Challis noch darüber nachdachte, schraubte er die Rückseite des Luftgeschwindigkeitsanzeigers ab, um ihn zu reparieren und das kaputte Glas zu ersetzen, und während er noch dabei war, nahm er zwei deutlich unterscheidbare Geräusche außerhalb des Hangars wahr: Ein Flugzeug im Landeanflug drosselte die Geschwindigkeit, und ein lärmendes Fahrzeug war auf den Flugplatz gefahren und röhrte an den Hangars vorbei auf die Landebahn zu. Dann hörte er einen Schrei, Hupen und Reifenquietschen. Challis stürmte hinaus. Der Landrover, der auf der Straße außerhalb des Zauns gestanden hatte, befand sich nun am hinteren Ende der Landebahn, nahm Fahrt auf und raste direkt auf Kittys Cessna zu, die gerade aufgesetzt hatte. Challis schaute ebenso hilflos zu wie eine Hand voll Wochenendpiloten, Mechaniker und Flugplatzangestellte. Kitty scherte nach links aus. Der Landrover schlitterte ebenfalls herum und schnitt ihr den Weg ab. Kitty scherte nach rechts aus; der Landrover änderte ebenfalls die Richtung, kam gefährlich ins Schlingern und hinterließ Gummikommas auf der Landebahn. Schließlich nahm Kitty den einzigen Weg, der ihr noch offen stand: Sie gab Gas, hob ab und hüpfte über den Landrover, den sie noch mit ihrem Heckrad streifte. Allerdings hatte die Maschine nicht genügend Geschwindigkeit, um aufzusteigen, setzte wieder auf die Landebahn auf, das Heckrad brach weg und ließ die Cessna an einer Reihe von Maschinen des Aero Club vorbeischlittern, die auf einem Asphaltabschnitt zwischen einem Hangar und dem Umgrenzungszaun parkten. Schließlich machte die Cessna kehrt, blieb stehen, legte sich zur Seite, und Kitty stieg zitternd aus. Sie beugte sich einen Augenblick vor und stützte die Hände auf die Knie, so als japse sie nach Luft. Dann richtete sie sich auf, sah zu Challis und den anderen hinüber und reckte einen Daumen in die Höhe. Ein schwacher Hochruf wehte übers 50
Flugfeld. Challis drehte sich um und schaute dem Landrover hinterher. Der Fahrer war nur ein Schatten hinter dunklem Glas; er gab schlitternd Gas in Richtung Ausfahrtstor. Schlammverschmierte Seiten. Schlammbedecktes hinteres Nummernschild.
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8 »Er muss betrunken gewesen sein oder so was.« Jetzt, nachdem Kitty ihre Cessna nach dem Unfall zweimal umrundet und die Schäden begutachtet hatte, schien sie auf einmal völlig erledigt, die Pupillen wirkten wässrig, ihr Gesicht war blass, Hände und Stimme zitterten leicht. Sie schob beide Fäuste in die Taschen der alten Wildlederjacke, die sie immer beim Fliegen trug, und schlug mit dem Oberschenkel gegen den Flugzeugrumpf. Dann schreckte sie wieder auf und zog eine Filmkassette aus der in der Schnauze montierten Kamera. »Kitty«, sagte Challis mit leicht scharfer Stimme, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Eine Gruppe von Piloten und Mechanikern näherte sich ihnen. »Kitty«, sagte er, »hast du eine Ahnung, wer das war?« Kitty versank in ihrer Jacke. »Nicht die geringste.« »Konntest du das Fahrzeug oder den Fahrer genau sehen?« »Nicht besonders gut.« »Kennst du den Wagen von irgendwoher?« »Nein.« »Kitty, ich finde, das hat nach Absicht ausgesehen. Gibt es irgendjemanden, den du …« Doch dann wurden sie von den anderen umringt, die die Köpfe schüttelten, lärmten und ihre Neugier befriedigen wollten. Sie dominierten das Geschehen, drehten die Cessna herum, hängten sie an eine Zugmaschine und zogen sie von der Landebahn, bevor Challis noch daran denken konnte, ihnen zu sagen, dass sie einen Tatort ruinierten. Bei weiterem Nachdenken fand er, dass es egal war. Sie alle hatten gesehen, was passiert war. Er schrieb nacheinander ihre Namen auf und fragte: »Wissen Sie, wer das war?« Alle verneinten. 52
»Wüssten Sie irgendeinen Grund, warum jemand Kitty etwas antun will?« Wieder verneinten alle. Und spielten Echo: »Der Kerl muss betrunken gewesen sein.« Dann führte Challis Kitty zum Hangar und bedeutete ihr, sie solle sich auf eine Packkiste neben ihre Werkbank setzen. »Tee? Kaffee?« »Unter der Spüle steht eine Schuhschachtel voller MinibarFläschchen, Hal.« Challis warf ihr ein kurzes schiefes Grinsen zu und wühlte in der Dunkelheit nach dem Schuhkarton, der aufgeweicht und verzogen war und ihm unter den Händen zerfiel, als er ihn heraushob. »Also, da haben wir Scotch, Brandy, Gin.« »Brandy. Trink einen mit mir.« »Scotch.« Sie tranken aus dünnen Plastikbechern, die aus der Kaffeemaschine stammten. Der Brandy schien durch die angespannten Muskeln zu brennen, die Kittys Gesichtszüge in eine unnachgiebige Maske gepresst hatten, und gab ihr wieder Farbe und Nervenkraft. Ihre Augen, die sich vor Erschöpfung, Trauer oder Furcht ein wenig verdunkelt und geweitet hatten, blitzten wieder. »Ich hätte dabei draufgehen können.« »Erzähl mir, was passiert ist«, sagte Challis. »Also, ich hab eine Runde mit Rita gedreht« – Rita für Rita Hayworth, denn ihre langen Beine und ihr Name waren von einem amerikanischen Piloten, der 1942 in Darwin stationiert gewesen war, auf die Nase der Kittyhawk gemalt worden – »dann bin ich zurückgekommen, habe die Kameras in der Cessna bestückt und bin wieder losgeflogen«, erzählte Kitty. Sie warf ihm einen Blick zu. »Eine Immobilienfirma in Red Hill hat mich angeheuert, um ein paar Aufnahmen zu machen.« Challis nickte. »Weiter.« »Den Rest kennst du. Ich hab den Auftrag ausgeführt, wollte landen, und dann kommt dieser …« Sie sah ihn forschend an. 53
»Ein Landrover«, sagte er. »Kommt dieser Landrover von der leeren Straße hereingerast und hält direkt auf mich zu. Hat das Fahrwerk und einen Teil des Rumpfs gestreift.« Sie erstarrte und wirkte in sich versunken. Challis wusste, wann man Geduld haben musste. Sie war immer noch nicht ganz gefasst. Kitty war ein ziemlich passender Name für sie, auch wenn Janet ebenfalls gut zu ihr passte. Ihre Bewegungen waren langsam, sparsam, beinah schläfrig – wie bei einer Katze –, verrieten aber eine nur mühsam unterdrückte Energie. Er sah zu, wie sie sich mit beiden Händen durch die Haare fuhr, die Strähnen hinter die Ohren schob und dann blinzelte, um sich wieder auf ihn zu konzentrieren. »Tut mir Leid, Hal, aber ich bin völlig geschafft. Ich möchte gern meinen Mann anrufen, wenn es dir nichts ausmacht.« Dann hob sie beide Hände und sah sie verwundert an. »Schau nur, wie ich zittere.« »Ich ruf ihn für dich an«, sagte Challis und zog sein Handy aus der Tasche. »Wie heißt er?« »Rex.« »Ist er zu Hause?« Kitty nickte. »Er ist immer zu Hause. Am liebsten ist er zu Hause und spekuliert übers Internet an der Börse.« Sie wirkte ein wenig peinlich berührt, so als sollte ein Ehemann einen Beruf haben, bei dem er mehr herumkam. »Ich habe ihm das Fliegen beigebracht, aber er ist nicht wirklich daran interessiert.« Sie plapperte, ein Zeichen von nervlicher Erschütterung, also lächelte Challis und bat sie freundlich und bestimmt um die Telefonnummer und wählte dann. Es klingelte fünfmal, dann sprang der Anrufbeantworter an. Rex Casements Stimme, starker englischer Akzent: »Dies ist der Anschluss von Rex und Janet Casement. Sie können nach dem 54
Signalton eine Nachricht hinterlassen.« »Mr. Casement, hier spricht Detective Inspector Challis. Erschrecken Sie nicht, Ihrer Frau geht es gut, aber es hat auf dem Flugplatz Waterloo einen Zwischenfall gegeben, und Ihre Frau möchte gern abgeholt werden. Rufen Sie mich bitte zurück«, sagte er und nannte seine Handynummer. »Nicht da?«, fragte Kitty. »Nein.« »Ich wette doch. Er surft und kümmert sich nicht ums Telefon. Nach einer Weile wird er den Anrufbeantworter abhören.« Sie warteten und nippten an ihren Drinks. Kitty wirkte plötzlich verloren, so als sei sie sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst geworden. Bei jedem Geräusch draußen blickte sie auf, so als rechne sie damit, dass ihr Mann auftauchte. Challis wollte schon vorschlagen, noch einmal anzurufen und zu hinterlassen, dass er sie nach Hause bringen würde, als das Handy in Kittys Tasche klingelte. Sie riss es heraus. »Ja … ja, Liebling, es geht mir gut. Nein, nichts dergleichen … Ja, aber ich fühle mich ein wenig mitgenommen …« Sie lachte zärtlich. »Ich wusste doch, dass du im Internet bist. Klar, ich bin hier. Bye.« Sie klappte das Handy zu. »Er kommt sofort. Du brauchst nicht länger zu warten, Hal.« »Ist schon in Ordnung.« Sie lächelte dankbar, wollte aber offenkundig nicht reden. Challis setzte sich und sah sich im Hangar um, so als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Ersatzteile, Werkzeug, Werkbänke, die Dragon Rapide, die er restaurierte, ein mit schäbigem Segeltuch bespannter Regiestuhl, Kittys Arbeitsecke mit der Pinnwand, die wie angeknabbert aussah, ein Aktenschrank, Mappen, aus denen Briefe und Rechnungen quollen, auf einem Regal Bücher mit Luftfahrtbestimmungen und Navigationstafeln. An die Pinnwand gezwickt Geschäftskarten, 55
Luftaufnahmen und die Fluglizenz. Plötzlich sagte Challis: »Schuldest du jemandem Geld?« Kitty schaute erst überrascht, dann beleidigt: »Bestimmt nicht.« »Der Geschäftsaufbau muss eine ganz schöne Stange Geld gekostet haben.« »Mein eigenes«, erwiderte sie kühl. Challis sagte nichts, zeigte keinerlei Regung. Diese Taktik hatte er sich im Laufe der Jahre angeeignet, um Reaktionen zu erzwingen; war das in diesem Fall fair? Er fühlte sich zu Kitty hingezogen. Sie teilten sich den Platz im Hangar und unterstützten einander mit Arbeitszeit, Kontakten und freundschaftlichem Smalltalk am Ende der langen Nachmittage. Freunde. Aber das hatte sich im Laufe der letzten Stunde verändert, ohne dass er es bemerkt hatte. Da war der Ärger mit Tessa Kane und mit seiner Frau, und nun war er auch noch Zeuge eines Mordversuchs an Kitty geworden. Sie war erschüttert, verletzlich, brauchte Trost. Und doch war er kurz davor, sie mit all diesen Fragen nach Feinden und Schulden zu drangsalieren. Wo genau stand er eigentlich? Was war er hier und jetzt – Polizist oder Freund? Blödsinn. Sie war verheiratet. Sie wollte, sie brauchte ihren Mann, keinen neugierigen Bullen. In Challis fiel eine Tür zu. Sanft sagte er: »Hat dein Mann irgendwelche Feinde?« »Rex hockt in seinem Büro, handelt übers Internet mit Aktien und verdient damit eine Menge Geld. Nein, nein, er hat keine Feinde.« Doch in ihrer Stimme lag ein Hauch von Vernachlässigung, und Challis dachte an die einsamen Stunden, die sie wohl verbrachte, wenn der Ehemann sich zurückzog. Challis entschied, die Angelegenheit fallen zu lassen. Er berührte sie am Oberarm. »Routinefragen«, versicherte er ihr. »Vergiss, dass ich überhaupt gefragt habe. Wir werden versuchen, den Landrover 56
und den Fahrer zu finden, und mit ein wenig Glück hast du Recht, und er war betrunken oder high.« Kitty hielt den Kopf gesenkt. Sie murmelte etwas und fing an zu zittern. Challis stand auf, ging über das verschmierte Stück Beton, stellte sich neben sie. Sie lehnte sich mit der Schulter an seine Hüfte, und er legte ihr eine Hand besänftigend auf den Kopf. Sie befanden sich noch immer in dieser Position, als ihr Ehemann voller Sorge hereingestürmt kam. Challis war es peinlich, und er erstarrte, doch Rex Casement warf ihm ein kurzes, schüchternes Lächeln voller Dankbarkeit zu und murmelte: »Es ist alles in Ordnung, ich bin ja da, es ist alles in Ordnung.« Kitty stand auf und warf sich in seine Arme. Casement trug eine alte Kordhose mit Gürtel, ein blaues Polohemd, die Sonnenbrille steckte in den schütteren roten, langsam grau werdenden Haaren auf seinem Kopf. Challis nickte kurz und zog sich zurück, und Casement bedankte sich bei ihm mit einem erleichterten Lächeln über die Schultern seiner Frau hinweg.
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9 Ostermontag. Zwei Tage waren seit der Verhaftung am Knutschplatz und der Party ihrer Tochter vergangen, doch Ellen Destry war immer noch steinmüde. Eigentlich musste sie heute nicht arbeiten, aber sie hatte Papierkram zu erledigen, also war sie nach dem Frühstück nach Waterloo gefahren, was sie nun bedauerte. Über Carl Lister fand sie nichts, nur dass er neu auf der Halbinsel war. Ellen drehte sich auf ihrem ergonomischen Stuhl und blätterte lustlos durch ein paar neue Fälle. Ein gefährlicher Zwischenfall mit einem Fahrzeug auf dem Flugplatz von Waterloo, in den eine Freundin von Hal Challis verwickelt war. Ein Einbruch in einem Laden für Kettensägen und Rasentraktoren draußen im Industriegebiet. Und eine Flut von Zwischenfällen im Zusammenhang mit dem neuen Internierungslager: zwei Entflohene auf der Flucht, ein Angriff auf zwei malaysische Studenten am helllichten Tag, die aufgesprühten Worte »Bombt die Moslems in die Steinzeit« quer über das »Betreten verboten« -Schild am Stacheldrahtzaun rings um das Lager. Ellen seufzte und schob die Akten auf die andere Seite des Schreibtischs. Flüchtlinge, Asylbewerber, Schmarotzer, Fanatiker, Terroristen: Die Insassen des Internierungslagers wurden mit allen möglichen Namen belegt, und sie waren gehasst und gefürchtet, doch auf Ellen wirkten sie wie ausgehungerte, seelisch gebrechliche arme Teufel. Die braven Bürger waren zornentbrannt, als die alten Navykasernen umgewandelt wurden; nur die Handelskammer begrüßte das Geld aus der Staatskasse und die neue Bestimmung der wertlosen alten Gebäude auf dem Marschland neben dem Mangrovensumpf an der Westernport Bay. Soweit Ellen das feststellen konnte, hatte das Lager den Ansässigen nur ein 58
halbes Dutzend Arbeitsplätze gebracht, die Taschen der amerikanischen Firma gefüllt, die das Lager führte, und die ortsansässigen Eiferer auf die Palme gebracht. Freude hatte mit dem Lager niemand. Den Vormittag über arbeitete sie halbherzig vor sich hin und machte dann eine Kaffeepause; dazu nahm sie Challis’ Espressokanne und ging an seinen Lavazza-Vorrat. Jede Menge Einbrüche, ein paar Überfälle an Geldautomaten; all das ließ sich auf Drogen zurück führen, auf das Geld, das man als Junkie brauchte, und die Zahl der Verbrechen stieg an. Für Ellen ein weiteres Indiz dafür, dass der Drogenkonsum auf der Halbinsel zunahm. Sie machte sich Notizen, auch wenn sie sich fragte, ob sie die wohl jemals brauchen konnte. So hatten EcstasyTabletten zum Beispiel Markennamen, bevorzugte Sorte war der Euro-Dollar, und alle sagten, der Snoopy tauge nichts. Gegen Mittag ging sie entmutigt hinunter über die Eisenbahnschienen zu den Läden auf der High Street und suchte nach etwas Essbarem. Die meisten Geschäfte waren über die Osterfeiertage geschlossen. Wieder gab es ein, zwei leere Schaufenster mehr, auf deren Scheiben der Aufkleber zu lesen war: »Kaufen Sie bei Ihrem örtlichen Händler.« Ein neuer Ramschladen hatte aufgemacht, der dritte auf einer Länge von zwei Straßenblocks. Das Café Laconic war geöffnet, drei Frauen, die an einem der Tische draußen saßen, unterhielten sich lautstark über das Geschrei und das Genörgele von einem halben Dutzend Kleinkinder und Babys hinweg. Als Ellen an ihnen vorbeikam, kletterte ein Zweijähriger seiner Mutter auf den Schoß, knöpfte ihr die Bluse auf und hängte sich an eine ihrer Brüste. Die Mutter rutschte ganz automatisch herum, um besseren Zugang zur Brustwarze zu ermöglichen, und redete weiter, ohne groß Notiz von dem Kind zu nehmen. Ellen ging über die Straße. Die Bäckerei hatte geöffnet. Neben einem Mülleimer stand eine Bank aus Holz und Eisen, auf der 59
ein Schwarm von Teenagermädchen hockte, die Fritten aßen. In diesem Augenblick kroch ein tiefer gelegter Valiant voller Halbwüchsiger vorbei, und die Headbanger-Musik dröhnte Ellen in den Ohren. Der Wagen hielt an. Die Jungs drückten ein Pornoheft gegen die hintere Seitenscheibe, eine gynäkologische Nahaufnahme. Die Mädchen kicherten, verbargen ihr Grinsen hinter Fäusten voller Fritten und riefen den Jungs etwas zu. Kein hübscher Anblick. Die Mädchen würden sich mit siebzehn von solchen hoffnungslosen Fällen wie Brad Pike schwängern lassen und im Elend enden wie Lisa Tully oder wie schlampige Kühe auf der Hauptstraße herumhocken. Ellen seufzte. Sie war ungerecht. Was war nur mit ihr los? Was war mit der Halbinsel los? Vielleicht bedrückte sie die Erinnerung an Lisa Tullys vermisste Tochter. Manche Fälle nahmen einen stärker mit als andere. Wenn es um ein kleines Kind ging, höhlte das einen ganz schön aus. Man konnte es nicht vergessen, ganz unerwartet fiel es einem wieder ein – im Auto, beim Essen, wenn das eigene Kind dabei war, vor dem Fernseher. Wird ein Kind vergewaltigt oder umgebracht, dann wird alles auf den Kopf gestellt. All das Gute ist dahin. Man hört schon fast auf, überhaupt noch an das Gute zu glauben. Scobie Sutton saß an diesem Tag mit Beth und Roslyn zu Hause und kämmte Nissen aus Roslyns Haaren. Der Fernseher lief, um seine Tochter ein wenig von der Prozedur abzulenken. Am besten nahm man Conditioner, trug ihn dick auf wie Wagenschmiere, fuhr dann mit einem besonderen Nissenkamm durchs Haar und wischte den Schmier an Küchenpapier ab. Das musste man mehrmals machen. Man wollte ja schließlich nicht nur die Läuse selbst erwischen, sondern auch die Eier, die an den Haarwurzeln klebten, vor allem hinter den Ohren oder im Nacken. Roslyn hatte sich schon vier Mal Läuse geholt. Das bedeutete, 60
dass Scobie und seine Frau jedes Mal alles waschen und behandeln mussten – Handtücher, Bettzeug, Kleidung, ihre eigenen Haare. Sie hatten genug davon. Sie taten das Richtige, sie behandelten ihr Kind, schickten es nicht in die Schule, wenn sie irgendwelche Zweifel hatten, und dennoch steckte sie sich an. Roslyn steckte sich an, weil die anderen Eltern einfach nicht glauben konnten, dass ihre Lieblinge Nissen haben könnten, nicht glauben konnten, dass saubere, anständige Familien wie sie selbst Nissen haben könnten. Dreckige Menschen hatten Läuse, ja, aber sie doch nicht. Da hab ich Neuigkeiten für euch, dachte Scobie und wischte den Kamm an einem durchgeweichten Küchenpapier ab. Bei Mädchen war es noch schlimmer. Sie hatten lange Haare, beugten sich gern über ihre kleinen Schultische in den Klassenzimmern und ließen die Köpfe freundschaftlich aneinander ruhen, und die Läuse sprangen lustig von einem kleinen Kopf auf den nächsten. Scobie fragte sich, woher sich seine Tochter immer wieder Läuse holte. Von irgendjemandem aus einer schlampigen, schwierigen oder dummen Familie. Die junge Pearce oder das jüngste Kind der Munros. Roslyn spielte in der Schule mit ihnen, teilte sich einen Tisch mit ihnen, lud sie nach der Schule ein. Merkwürdige, bedrängt wirkende Kinder. Das MunroMädchen, Tochter eines grobschlächtigen Kerls, wohnte auf einer Farm. Vater Pearce wiederum hielt ein Frettchen. Irgendwie hatte Sutton den Eindruck, dass in beiden Fällen das familiäre Umfeld auf Vernachlässigung und Kopfläuse hindeutete. Er machte eine kurze Pause und schaute sich einen Zeichentrickfilm im Fernsehen an. Wieso war das britische Kinderfernsehen geradezu besessen von sprechenden Fahrzeugen und erwachsenen Figuren wie Bob der Baumeister, Postman Pat und Feuerwehrmann Sam? Und was hatte dieser langweilig korrekte Mittelschichtston, der nach einer netten 61
Tasse Tee und Socken in Sandalen klang, mit der Kindheit zu tun? »Dad? Daddy?« »Hmhm?« »Daddy?« »Hmhm?« »Daddy?« »Ich sagte doch schon Ja.« »Nein, hast du nicht.« Scobie atmete schwer aus. »Süße, was möchtest du mir sagen?« »Für wen bist du?« Scobie verstand die Frage nicht. »Was?« »Jessie Pearce ist für die Bombers«, antwortete seine Tochter. Ihre Stimme klang vor Besorgnis höher. »Ich weiß nicht, für wen ich sein soll. Für wen bist du denn?« Sie redet über Football, ging Scobie auf. Er verachtete Football, hatte keine Ahnung von dem Spiel, war erleichtert, als er eine Tochter, keinen Sohn bekam. Und nun das. »Wenn Jessie für die Bombers ist«, sagte er, »dann kannst du das auch ruhig sein.« Roslyn dachte darüber nach. Die Antwort stellte sie nicht zufrieden, so als wollte sie seine führende Hand, nicht die von Jessie Pearce. »Kann Jessie zum Spielen kommen?« Scobie dachte an das merkwürdige, stille Kind des Frettchenkerls und sagte: »Tut mir Leid, Liebling, heute nicht.« Ostermontag, und John Tankard musste Streife fahren. Über Ostern hatten sie nicht genügend Leute, also klapperte er, steif und wund, wie er sich fühlte, allein die Straßen von Waterloo ab und warf den Ortsluden vom Fahrersitz des Polizeivans aus böse Blicke zu. Er machte kurze Ausflüge in die Siedlungen und das Industriegebiet und die High Street entlang – wo er Sergeant 62
Destry sah; also, die hatte ein paar richtig hübsche Titten –, aber die meiste Zeit hielt er sich in der Nähe des Fiddler’s Creek Pub auf, (a) weil er mit dem Schnapsladenbesitzer eine Vereinbarung über eine bestimmte Menge Bier die Woche getroffen hatte und (b) weil er Bradley Pikes Wagen auf dem Parkplatz hatte stehen sehen. Er versuchte, sich die Szene bildhaft vorzustellen, aber das konnte er nicht. Alle hassten Pike: Wer würde sich schon mit ihm hinsetzen und einen trinken wollen? Alle wussten, dass er das Kind seiner Freundin abgemurkst und die Leiche verbuddelt hatte. Wahrscheinlich hatte er das arme kleine Balg auch noch vergewaltigt. Tankard hatte vor, Pike zu verfolgen, wenn er aus dem Pub kam; er wollte sich den ganzen Tag über hart an dessen Fersen heften und den Mistkerl derart verunsichern, dass er einen Fehler machte, gegen das Gesetz verstieß und eingebuchtet werden konnte. Doch als er das nächste Mal am Pub vorbeikam, war Pikes Wagen verschwunden. Und im Schnapsladen arbeitete ein anderer Typ. Verdammte Scheiße. Tankard hämmerte vor Enttäuschung mit der Faust aufs Armaturenbrett. In solchen Augenblicken wusste er, warum Männer mit einer Waffe in der Hand ausrasteten. Als er eine ausgefahrene Straße hinter dem Industriegelände nahm, entdeckte er einen Landrover mit offenen Türen und getönten Scheiben, unterm Armaturenbrett baumelten lose Kabel. Pam Murphy hatte den Ostermontag für sich allein. Sie hätte zum Point Leo gehen und surfen können, aber die Busse fuhren wegen des Feiertages nur unregelmäßig, und am Strand würde es nur so von Irren wimmeln; da blieb sie lieber in Penzance Beach. Außerdem gefiel ihr der Himmel nicht. Böiger Wind, dunkle Wolken, auf dem Wasser würde es ziemlich kabbelig 63
sein. Mit ein wenig Glück würde morgen der Scheck der Lister Financial Services eingelöst werden, und sie würde über dreißigtausend Dollar verfügen. Einer der Detectives in Waterloo verkaufte einen Subaru Forester mit Dachständer, Klimaanlage, Servolenkung, reale fünfzigtausend Kilometer auf der Uhr. Nie mehr mit dem Bus zu den Surferstränden. Mit Geld hatte sie allerdings ein Problem. Ein Problem damit, es zusammenzuhalten. Die Gewerkschaftsbank der Polizei hatte ihren Kreditantrag abgelehnt, eine ganze Reihe anderer Banken ebenfalls, also war sie zu Lister Financial Services gegangen und hatte sich dreißig Riesen geliehen. Fünfzehn Prozent Zinsen statt der üblichen zehn Prozent, die eine Bank für einen Privatkredit berechnet hätte, also gar nicht mal so übel, hätte schlimmer sein können. Das Problem war nur, dass sie sich auf wöchentliche Ratenzahlungen eingelassen hatte, und obwohl der Kreditscheck noch nicht eingelöst war, war die erste Rate bald fällig, denn die Formulare hatte sie letzten Dienstag unterschrieben. Höchste Zeit, sich zusammenzureißen. Sie könnte zum Beispiel kürzer treten und nicht jedes Mal, wenn sie zu Ikea oder Freedom ging, etwas mitnehmen, im Urlaub mal nicht nach Bali oder so fliegen, eine Weile mal keine CDs und Bücher kaufen. Mostyn Pearce, der Einmischer, ging an Ian Munros Zaun entlang, um nachzuschauen, ob die Not leidenden Schafe immer noch da waren. Ja. Er hoffte, die RSPCA würde bald mal antraben. Nur weil Ostern war, sollte sie das ja nicht von ihren Nachforschungen abhalten. Er wollte weitergehen, doch zwei Dinge hielten ihn davon ab. Erstens knallte die elektronische Vogelscheuchkanone alle zwei Minuten in dem Obstgarten am Fuße von Ian Munros Besitz, und das ging ihm auf die Nerven. Zweitens parkte ein kleines Auto am Straßenrand, und ein Mann und eine Frau gingen mit 64
gesenkten Köpfen unter den Kiefern links und rechts der Straße entlang. Sie waren Zugewanderte. Irgendwo aus Europa, nach Gesichtszügen und Schädelform zu urteilen. Plötzlich beugte sich die Frau vor, zog ein Messer und erhob sich mit einem Edelreizker in der Hand, den sie in den Korb fallen ließ. Das sagte alles. Also machte Munro kehrt und ging zurück zur Five Furlong Road, kam an der Siedlung vorbei, in der er wohnte, und ging zu einer Kreuzung, wo die Five Furlong Road auf vier weitere Straßen stieß. Eine schlängelte sich hügelab nach Penzance Beach, eine zweite führte nach Waterloo, eine nach Mornington, und die letzte war eine Lehmpiste, die das Farmland umkurvte und einen rückwärtigen Zugang nach Upper Penzance bot. Die Kreuzung war schlimm. Dort musste ein Kreisverkehr hin. Pearce stand dort ab und zu ganz gern und schaute zu, wie die Idioten sich durch rücksichtsloses Fahren oder das Übersehen der »Vorfahrt beachten« -Schilder in Gefahr brachten. Er wartete fünf Minuten, als ein Wagen, der die Straße von Upper Penzance herunterkam, ins Schleudern geriet und ohne zu bremsen das Vorfahrtsschild traf, es am Boden umknickte und direkt darüber hinwegrollte, wobei das Schild gegen den Unterboden des Wagens schlug und daran entlangkratzte. Dann bremste der Wagen heftig, und ein Mann, den Pearce von einem der großen Häuser in Upper Penzance wiedererkannte, stolperte hinaus und strich sich aufgeregt die Kleidung glatt. Der Einmischer stand nah genug, um die Spinne davonfliegen und im Gras landen zu sehen. Eine ziemlich große Spinne. Hatte wahrscheinlich hinter der Sonnenblende gehockt und war dem Fahrer auf den Schoß gepurzelt. Dann fuhr der Mann wieder davon, und Pearce zog seinen Notizblock aus der Tasche, notierte Uhrzeit, Datum, Autokennzeichen und andere Einzelheiten. Er würde zu dem großen Haus gehen und den Namen des Kerls am Briefkasten ablesen oder gleich auf der Post selbst. Dann würde er der 65
Kommune einen Brief schreiben – die doch sicherlich Tausende Dollar an Steuergeldern jedes Jahr dafür ausgeben musste, dachte er, Schilder zu ersetzen, weil man ja nie herausbekam, wer für den Schaden zur Rechenschaft gezogen werden konnte. Pearce war wieder auf dem Heimweg, doch immer noch ging ihm das Gesicht des Fahrers im Kopf herum. Er war sicher, es vor kurzem schon einmal in einem anderen Zusammenhang gesehen zu haben. Das Gesicht hatte ein wenig anders ausgesehen, und es hatte mit etwas Dunklem, Unangenehmem in Verbindung gestanden. Dann fiel es ihm wieder ein. In der Sendung, die er aus dem Pay-TV aufgezeichnet hatte: »International Most Wanted«. Ein Ostermontagnachmittag im Herbst. Frühherbst. Challis schaute zu, wie sich ein rotes Persimonenblatt ins Gras fallen ließ wie ein tollpatschiger Schmetterling. Am Baum leuchteten sie wie gemalt, aber am Boden oder an seinen Gummistiefeln klebend, sahen sie einfach nur tot aus. Er blickte sich in seinem Hof um. Weiches Sonnenlicht, träge, stille Luft, aber es braute sich ein Herbstgewitter zusammen, und als er am Morgen zum Briefkasten gegangen war, um die Zeitung zu holen, hatte er überall auf der Straße Rindenstücke liegen sehen. Er stellte den Rechen beiseite. Dann fuhr er zum Flugplatz nach Waterloo und fragte sich, welche Motivation ihn dazu trieb. Kitty war nicht da. Als er an der Instrumententafel der Dragon arbeitete, kamen ein Mann und ein Teenager herein und fragten, wo sie denn »die Dame, die Vergnügungsflüge macht«, finden könnten. »Wir waren verabredet«, sagte der Mann, der ein glänzend hartes, stures Gesicht hatte. »Meine Tochter wird heute sechzehn.« »Tut mir Leid«, sagte Challis, »aber sie hat gestern einen 66
ziemlichen Schrecken überstanden, und das Flugzeug ist beschädigt. Heute kommt sie wahrscheinlich nicht mehr.« Kein erschrockenes Luftholen. Kein »Ist alles in Ordnung mit ihr?«. Nur Verärgerung. »Aber ich habe eine Anzahlung geleistet. Ich will mein Geld zurück.« »Rufen Sie doch nächste Woche mal an.« »Wir sind extra aus Dandenong hergekommen«, sagte der Mann. Challis zuckte mit den Schultern und wischte sich die Hände an einem Lumpen ab. »Tut mir Leid.« Der Mann machte ein wütendes Gesicht. Nach einer Weile zog er seine Brieftasche hervor und sagte: »Hier ist meine Karte. Könnten Sie ihr die bitte geben und sagen, sie soll mich anrufen?« Challis wollte nicht aus dem Cockpit der Dragon klettern, also nickte er mit dem Kopf in Richtung von Kittys Werkbank am anderen Ende des Hangars. »Legen Sie sie dort hin«, sagte er und machte sich wieder an die Arbeit. Als er das nächste Mal aufblickte, war er wieder allein; die Visitenkarte des Mannes war auf den ölverschmierten Boden gefallen. Challis seufzte, kletterte hinunter und hob die Karte auf. Kitty steckte immer ihre Rechnungen, Visitenkarten, Broschüren und Fotografien an die Pinnwand über ihrer Werkbank. Challis suchte nach einer freien Reißzwecke, doch sein Blick fiel auf eine Anzahl von Luftaufnahmen, die Kitty für einen ihrer Kunden gemacht hatte. Sie waren wellig, verstaubt, die Ausschnitte schlecht gewählt. Wahrscheinlich hatte der Kunde sie abgelehnt. Bei einem Foto jedoch schaute Challis etwas genauer hin. Darauf war ein Flickenteppich aus Kiefernschonungen, offenem Farmland, Damm und Weinanbau zu sehen, zusammengehalten von Straßen und Wegen. Eigentlich eine typische Landschaftsaufnahme der Peninsula. 67
Abgesehen von den Cannabispflanzen, die sich satt dunkelgrün unter einem graubraunen Blätterdach von Eukalyptusbäumen abzeichneten.
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10 Dienstag. Für die meisten Menschen bedeutete das wieder Schule und Arbeit. Die morgendliche Fahrt zur Schule erinnerte Scobie Sutton wieder daran, dass er noch etwas anderes war als CIB-Detective, und das bot ihm Halt. Er war nur einer unter anderen Vätern, ein Bürger des Bezirks und vor allem Roslyns Papa. Auf der Fahrt sang er mit ihr zu einer Kassette der Kiddieband Hi-5, begleitete sie dann zum Klassenzimmer I (I wie Inger, Roslyns Lehrerin), schwatzte mit den anderen Eltern, vergewisserte sich, dass Roslyn den Haken für ihren blauen, viel zu großen Rucksack fand, drückte sie, gab ihr einen Kuss und sagte den anderen Eltern herzlich Auf Wiedersehen, bevor er wieder zu seinem Wagen zurückging und nach Waterloo fuhr. Die anderen Eltern. Meistens Mütter. Noch immer beäugten sie ihn argwöhnisch. Scobie zwang sie dazu, ihn wahrzunehmen. Er merkte sich ihre Namen, vergewisserte sich, dass sie seinen wussten (aber nicht, dass er Bulle war), schaute ihnen in die Augen, verwickelte sie in Gespräche. Er konnte es in ihren Gesichtern lesen. Sind Sie allein erziehender Vater? Wenn ja, warum? Warum sind Sie nicht bei der Arbeit? Sind Sie arbeitslos? Ein Vater allein mit einer Tochter. Ist es ungefährlich, meine Tochter in Ihrem Haus nach der Schule mit Ihrer Tochter spielen zu lassen? Eines Morgens war er in die Schule gekommen, und eine Schulfreundin von Roslyn hatte gesagt: »Schauen Sie mal, ein Koala.« Also waren sie gemeinsam über den rot gepflasterten Weg zwischen den Bauminseln, Sträuchern, Eukalyptusbäumen und Klassenzimmern gegangen, bis zu einem einzeln stehenden Eukalyptusbaum neben dem Aufenthaltsraum der Tageskinder. Am Fuß des Baumes lag ein rosafarbenes Haargummi, auf einem Fichtenzaun in der Nähe hing eine taufeuchte Windjacke 69
in den Schulfarben. Scobie hatte nach oben geschaut, und tatsächlich, auf halber Höhe hockte ein Koala im Baum. Und natürlich tauchte bald die Mutter des anderen Kindes auf und beäugte ihn misstrauisch, so als ob er das Kind fortlocken wolle. Scobie wollte sie schon anblaffen: Gibt es ein Problem?, aber das kam ihm doch zu kleingeistig und gemein vor. Die Mutter – jede Mutter – hatte ja Recht mit ihrer Sorge. Dennoch hatte er es nicht sonderlich eilig damit, den anderen Eltern zu sagen, dass er verheiratet war und dass sich seine Frau gern mit ihm den Schulweg geteilt hätte, wenn sie nicht einen Job in der Stadt hätte, um halb acht aus dem Haus müsste und erst gegen halb sechs abends nach Hause käme. Normalerweise gab es keine anderen Väter, die den Schulweg übernahmen, doch an diesem Morgen war noch einer da, Mostyn Pearce, ein dürrer, schmalgesichtiger, aufgewühlt wirkender Mann in Jeans, Sportschuhen und einer Footballjacke der Collingwood Magpies. Jessie, seine Tochter, blass, hochgeschossen, unterernährt wirkend, stand da, klammerte sich an das Bein ihres Vaters und sah weg, als Scobie ihr in die Augen schaute. Bei jedem anderen Kind hätte das wie eine attraktiv schüchterne Geste gewirkt, doch bei Jessie Pearce wirkte es völlig unattraktiv. An das andere Bein des Mannes drückte sich ein Frettchen an der Leine. Kind und Frettchen waren perfekte Abziehbilder des Mannes: dürr, nervös, verschlagen, schnell, ein Bündel von blank liegenden Nerven. Die anderen Kinder fühlten sich von dem Frettchen angezogen, hatten aber Angst und standen grüppchenweise in gehörigem Abstand. Scobie hörte, wie Pearce sagte: »Ist schon in Ordnung, es beißt nicht.« Er klang ungeduldig, so als verbringe er sein ganzes Leben damit, Menschen, die schwer von Begriff, dumm oder gedankenlos waren, alles erklären zu müssen. Sein Blick kreuzte huschend den von Scobie, 70
registrierte alles, ruhte nirgendwo. Scobie stand ein paar Minuten allein da, lächelte und nickte den Müttern zu, die mit ihren Kindern kamen. Ein halbes Dutzend Mal sagte er heiter Hallo, doch keine von ihnen kam auf ihn zu. Zehn Minuten vor neun … Inger würde bald das Klassenzimmer aufschließen. Ältere Kinder rannten schreiend vorbei. Die Schule war fröhlich und vielseitig, aber es gab keinerlei schwarze oder asiatische, keine verschleierten Gesichter, und dem Stil der wöchentlichen Mitteilungen und anderen Zettel für daheim war zu entnehmen, dass es noch keinerlei Anzeichen für eine irgend geartete feministische Sichtweise hier im Süden gab. Sutton lauschte den Unterhaltungen ringsumher. Waren Sie über Ostern fort? Bald ist wieder Footballsaison. Die Kinder haben heute Morgen ganz schön getrödelt. Was würde der vermaledeite Bürgermeister wohl dazu sagen, wenn man ihm ein Internierungslager direkt vor die Nase setzt, das möchte ich mal gern wissen … Und dann sah Scobie Aileen Munro. Sie schien sich hineinzuschleichen und hielt sich abseits, eine massige Erscheinung auf dem sich schlängelnden Weg zum Klassenzimmer I. Scobie schaute zu, wie sie den beiden älteren Kindern einen Abschiedskuss gab, ihnen nachsah, wie sie zu ihren jeweiligen Klassenzimmern rannten, und dann mit der jüngsten Tochter stehen blieb. Offenbar bemerkte sie seine Neugier, blickte auf und sah Scobie schmerzlich und flehend an. Sie wusste, wer er war. Seit achtzehn Monaten wusste sie, dass er Polizist war und in Waterloo arbeitete. Es war ihr peinlich, ihn zu kennen, peinlich, dass er Grund dazu hatte, sie in ihrer Farmersküche an der Five Furlong Road aufzusuchen und zu befragen. Ian Munro, ihr Mann, wurde verdächtigt, einem Bankangestellten in Waterloo einen gefütterten Umschlag mit einer Patrone Kaliber .303 geschickt zu haben. Die Bank hatte 71
zuvor damit gedroht, einen Kredit zu kündigen, den Munro bei ihnen hatte. Die Angelegenheit wurde fallen gelassen, als Munro ein Stück Land verkaufte, um den Kredit zurückzuzahlen, doch seitdem hatte es noch eine Reihe von Zwischenfällen gegeben. Munro hatte offenbar mit der Waffe auf Inkassoleute gezielt, war dem Bezirkssheriff mit den Reifen seines Pick-ups über die Zehen gefahren und hatte einen Gerichtsboten niedergeschlagen, der versucht hatte, ein offizielles Dokument zuzustellen. Munro hatte Kommunalbeamte beschimpft und stand unter dem Verdacht, Plastiksprengstoff auf dem Fahrersitz des Wagens des für die Kreditvergabe zuständigen Bankangestellten deponiert zu haben. Scobie hatte die Untersuchungen durchgeführt und einige Leute gedrängt, Anzeige zu erstatten, doch Munro war ein kräftiger, kaltschnäuziger und uneinsichtiger Rüpel; die Ortsansässigen wussten schon, warum sie sich nicht trauten. Scobie schaute zu, wie Aileen Munro sich einen Weg durch die Eltern bahnte, bis sie ihm ins Ohr flüstern konnte: »Ich mache mir Sorgen um Ian.« Scobie machte eine abrupte Kopfbewegung. Sie entfernten sich von den neugierigen Ohren. »Erzählen Sie mir davon«, sagte er. Aileen sah ihn mit ihrem sorgenzerfurchten Gesicht an. »Er ist total aufgedreht. So als ob er gleich explodiert.« Aileens Tochter klammerte sich an die trockenen, knochigen Finger ihrer Mutter und sah zu Scobie hinauf. An der Nase hatte sie eine Wunde, unter einem Auge war noch die Spur eines blauen Flecks zu sehen. Dann kratzte sie sich am Kopf, Scobies Blick wanderte zu ihrem Haar, und er schauderte bei dem Gedanken an die Läuse, die dort herumkrabbelten. Er wandte sich Aileen zu. »Hat Ian Ihnen oder den Kindern irgendetwas getan?« »Ian? Nein, nie.« »Wie hat sich Shannon im Gesicht verletzt?« 72
»Ist vom Trampolin gefallen«, entgegnete sie mit einem Ton in der Stimme, der besagte, dass sei die Version, an die sie sich halten würde. »Schon gut«, seufzte Scobie. »Also, was ist mit Ian los?« »Wie ich schon sagte, er ist total aufgedreht.« »Wegen irgendwas Speziellem?« »Geld. Es geht immer ums Geld. Es war alles in Ordnung, bis er diesen Kredit bekam. Jetzt steckt er zu tief drin und zahlt die Rechnungen nicht mehr. Die Behörden wollen dieses, die Behörden wollen jenes. Die Farm geht vor die Hunde.« »Ich dachte, er hätte den Kredit zurückgezahlt.« »Das ist ein neuer Kredit.« Die Banken hatten selbst so einiges auf dem Kerbholz, dachte Scobie. »Ich sehe im Augenblick nicht, was die Polizei da unternehmen kann«, sagte er. »Wenn Sie wollen, kann ich ja mal mit ihm reden, aber …« »Oh nein«, entgegnete Aileen entsetzt. »Er hat sich schon mit einem Mann von der RSPCA gestritten. Er würde vollkommen ausrasten, wenn er denkt, ich hätte hinter seinem Rücken mit der Polizei über ihn geredet.« »Haben Sie mit der Bank gesprochen? Dort könnte man die Rückzahlungen genau so zurechtschneidern, dass sie zu den Einkünften passen.« »Na ja, stimmt schon, aber Sie wissen ja, was er von Banken hält.« »Dann weiß ich nicht, was ich da tun kann.« »Ich wollte es Ihnen nur sagen, mehr nicht. Damit Sie das im Auge behalten oder so«, sagte Aileen Munro, gerade als die Schulglocke zum Unterrichtsbeginn rief. Sie hielt inne. »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte. Er ist bewaffnet, müssen Sie wissen.«
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11 Challis schlief schlecht und wachte am Dienstagmorgen zeitig auf. Um einen klaren Kopf zu bekommen, ging er eine Stunde lang spazieren, ruderte dabei mit den Armen und legte ein ziemliches Tempo vor, um sein träges Blut in Gang zu bringen. Das schien zu funktionieren, und gegen halb acht duschte er, zog sich an und trank einen Kaffee auf der Veranda, auf die die heilsame Sonne schien, die durch die sich verfärbenden Blätter lugte. Gegen zehn vor acht fuhr er nach Waterloo, wo ihm zehn Monate zuvor ein Büro zugewiesen worden war, als er die Untersuchungen über das Verschwinden der kleinen TullyTochter leitete. Der Fall hatte sich hingezogen, und nach einer Weile musste er sich drängenderen, aber weniger interessanten Morden – meist häuslichen Konflikten – anderswo auf der Halbinsel widmen; doch dann war die Ankerleiche aufgetaucht, und Challis kehrte nach Waterloo zurück, wo das kleine Büro auf ihn wartete. Dann war auch dieser Fall ins Leere gelaufen, aber diesmal blieb er in Waterloo und entschied, die Stadt zur Basis seiner Untersuchungen zu machen. Eine kürzlich ausgerufene Initiative der Polizeiführung hatte jeder der großen Regionen außerhalb der Metropole einen dienstälteren Kollegen der Mordkommission zugewiesen. Das alte System, ein Team von Detectives aus Melbourne auch über größere Entfernungen hinweg in entlegene Gebiete zu entsenden, hatte sich als ineffektiv erwiesen und nur örtliche Ressentiments geweckt. Challis mochte Waterloo. Die Mitarbeiter waren unkompliziert, und er hatte es nicht so weit bis nach Hause. Challis parkte den Triumph, betrat das Gebäude durch den Hintereingang und ging hinauf in das Büro des CIB, ein Großraumbüro mit abgetrennten Einzelkabinen an den Wänden. Sein Büro lag in einer Ecke und 74
ging auf den Parkplatz hinaus. Er sah gerade zum Fenster hinaus, als Ellen Destry ihren Wagen abstellte und ins Gebäude ging. Keine Spur von Scobie Sutton. Auf seinem Schreibtisch lagen ein paar Notizen. Man hatte einen Landrover gefunden. Er wies Dellen und Kratzer an der Beifahrerseite auf. Die Besitzerin hatte ihn zu dem Zeitpunkt als gestohlen gemeldet, als Constable Tankard ihn auf Streife gefunden hatte. Challis starrte das Telefon an. Er streckte die Hand aus, ließ sie aber wieder auf den Schreibtisch sinken. Er wollte nicht im Gefängnis anrufen, um festzustellen, wie es seiner Frau ging; es war auch nicht gut, dafür die Dienstzeit und das Diensttelefon zu nutzen. Doch ein Anruf von der Arbeit war für ihn nicht so persönlich und klang nicht so teilnahmsvoll wie ein Anruf von zu Hause. Er rief an. Seine Frau war wieder in der Zelle und stand wegen Selbstmordgefahr unter strenger Beobachtung. Wollte der Inspector mit ihr sprechen? Das könnte vielleicht hilfreich sein. Nein, entgegnete Challis. Sagen Sie ihr, ich hätte angerufen. Dann ging er in die Teeküche, kochte sich einen Kaffee und fragte sich, wer wohl an seiner Packung Lavazza gewesen war. Er hatte schon vor längerem gelernt, sich seinen eigenen Tee und Kaffee mitzubringen. Der Kaffee auf dem Polizeirevier kam zumeist aus einer Dose Maxwell House von der Größe eines Ölfasses, und von dünnem Tee, geschweige denn Pfefferminztee, hatte noch nie jemand was gehört. Schließlich setzte er sich mit einer Tasse Kaffee an den Schreibtisch und schlug den allerneuesten Progress auf, der über Nacht gedruckt worden war. Da war der Brief des Einmischers und Tessas Kolumne über den Spinner mit dem Frettchen, daneben ihre schärferen, kontroverseren Bemerkungen über Asylbewerber und das Internierungslager. Er konnte sie regelrecht wettern hören, als sie schrieb, sie fände es nötig, den braven Bürgern von Waterloo mal deutlich zu sagen, dass ihre 75
Einwände gegen das Lager sich nicht auf dieses Lager auf diesem Flecken Land beschränkten, sondern von der Vorstellung gespeist seien, Asylbewerber überhaupt einzusperren. Sicherlich würde sie nun ein paar Geschäftsanzeigen weniger bekommen, und die Polizisten auf dem Revier würden ihn scheel ansehen und sich Gedanken über seine Beziehung zu dieser Schlampe, dieser linken, rosaroten Redakteurin des Lokalblättchens machen. Er warf die Zeitung in den Papierkorb und nahm sich die Ankerleichenakte vor. Nicht zum ersten Mal wunderte er sich über die vielen Personen, die jedes Jahr verschwanden, ungemeldet und offenbar ungeliebt und unauffindbar. Aber irgendjemand musste sie doch geliebt haben. Jemand musste sich doch an sie erinnern. Hier war ein Mann, der wohlhabend genug war, eine Rolex zu besitzen: Er musste doch irgendwo Spuren hinterlassen haben. Aus einem Impuls heraus nahm Challis die Gelben Seiten und fand über die Rubrik »Uhrmacher« eine junge Frau, die ihm erklärte, dass es sich bei den Zahlen, die in das Gehäuse der Rolex eingeritzt waren, um Reparaturmarken handelte. Sie schrieb sich die Zahlen auf und versprach, ein paar Telefonate zu führen und ihm in ein, zwei Tagen Bescheid zu geben, wer die Uhr repariert hatte. Fortschritte, immerhin. Als Nächstes begutachtete Challis Kitty Casements Luftaufnahme des Cannabisfeldes. An der Wand hing eine topografische Karte der Halbinsel, aber er konnte den winzigen Abschnitt der Küste auf der Fotografie nicht auf der Karte wiederfinden. Ein Job für das CIB und danach für die Drogenfahndung, also machte er sich auf die Suche nach Ellen Destry. Sie war nicht in ihrem Büroabteil. Er ging die Treppe hinunter und landete in einer Meute Polizisten in Uniform und in Zivil, von denen sich manche Frühstückshamburger aus dem Schnellimbiss auf der anderen Straßenseite in die Münder schoben. 76
Challis schauderte. Er entdeckte Pam Murphy und bahnte sich einen Weg zu ihr. »Was ist los?« Pam wurde ein wenig rot, so als sei sie überrascht, dass er sie kannte und ansprach. Tatsächlich schätzte Challis ihre polizeilichen Fähigkeiten hoch ein und wusste, dass sie die Uniform ablegen wollte. »Der Montagsvortrag, nur diesmal am Dienstag.« Sie wies auf eine maschinenschriftliche Notiz an der Wand im Flur. Challis las, dass Senior Sergeant Kellock seinen Leuten von neun Uhr bis neun Uhr fünfundvierzig etwas über »Autoselektion und kriminelle Denkweisen« erzählen wollte. Kellock hatte darunter gekritzelt: »Die Anwesenheit aller ist dringend erwünscht.« Nichts für mich, dachte Challis, doch dann betrat Ellen den Flur und zupfte ihn am Ärmel. »Na, kommen Sie, Hal, vielleicht lernen Sie noch was.« Er ließ sich von ihr in den Konferenzraum führen, lehnte sich neben sie an die Wand und schaute über ein Meer von Köpfen hinweg zu einem Tisch und einer Präsentationstafel am anderen Ende des Raumes. »Scobie ist noch nicht da?« Ellen schüttelte den Kopf. »Bringt seine Tochter in die Schule.« Kellock war eine stattliche Erscheinung. Mit seiner massigen Brust, den breiten Schultern und dicken Muskeln unter einem dichten Pelz wirkte er wie ein Ochse. Waterloo war sein Revier. Kellock führte ein strenges Regiment. Er sagte zwar andauernd, seine Tür stünde jederzeit offen, doch letztes Jahr hatte jemand den Schlüssel zum Drogensafe geklaut, und seitdem waren diese Worte eher rhetorisch denn wörtlich gemeint. »Wie Sie wissen«, sagte Kellock und bewegte den massigen Kopf hin und her, »war ich mit einem Churchill Fellowship in den Staaten und in Europa.« »Und ich bin ungeheuer eingebildet deswegen«, murmelte 77
Ellen Challis ins Ohr. Challis grinste. »Das Thema des heutigen Gesprächs ist eine sehr nützliche Erkenntnis, die Kriminologen in Großbritannien gewonnen haben«, sagte Kellock. »Dabei handelt es sich um etwas derart Offenkundiges und Simples, dass man darüber nur verwundert den Kopf schütteln kann.« Er sah sie erwartungsvoll an und wartete, dass sie anbissen, doch die Luft in dem Raum war dafür zu warm, zu abgestanden, zu sehr erfüllt vom Gähnen, Magengrummeln und Aftershave, von parfümierter Seife und Shampoo. »Kurz gesagt«, fuhr Kellock fort, »unser böser Bube selektiert sich selbst aus.« Er wartete. Nichts. »Was meine ich damit? Also, unser böser Bube neigt dazu, sich nicht von den Regeln des Alltags und den Konventionen einengen zu lassen. Zum Beispiel parkt er falsch. Es kümmert ihn nicht im Geringsten, zu schnell zu fahren, über eine rote Ampel zu rasen, einen nicht registrierten und verkehrsuntauglichen Wagen zu fahren und so weiter. Es gibt einen Serienmörder in den Staaten, der nur deswegen in die Fänge der Polizei geriet, weil er wegen abgefahrener Reifen angehalten wurde. Als sie den Kofferraum öffneten, lag darin das letzte Opfer.« Wie alle anderen auch sah Challis ihn aufmerksam an und fragte sich, worauf Kellock hinauswollte. Kellock, dem die Enttäuschung anzuhören war, sagte: »Einer der besten Orte, einen Kriminellen aufzuspüren, ist der Behindertenparkplatz vor Ihrem örtlichen Supermarkt.« Er zitierte aus seinen Unterlagen. »In einer sechsmonatigen Studie in Huddersfield im Norden Englands stellte man fest, dass ein Drittel aller Falschparker eine Polizeiakte hatten, die Hälfte bereits wegen Verfehlungen im Straßenverkehr belangt worden waren und ein Fünftel im Zusammenhang mit 78
ungeklärten Fällen für die Polizei von sofortigem Interesse waren.« Sein massiger Schädel drehte sich wieder in der Runde. »Das sind signifikante Werte, meine Damen und Herren. Des Weiteren war jedes zehnte Fahrzeug verkehrsuntauglich, und ein Fünftel stand direkt oder indirekt im Zusammenhang mit verschiedenen Verbrechen: Fluchtfahrzeug, Transport von gestohlenen Gegenständen und so weiter und so weiter.« Das Publikum rutschte murmelnd hin und her. »Und was sollen wir jetzt machen, jeden Behindertenparkplatz abklappern?«, flüsterte Ellen zu Challis. »Ich möchte«, sagte Kellock, »dass Sie im normalen Verlauf Ihres Dienstes eine sofortige Überprüfung der Kfz-Kennzeichen aller Fahrzeuge durchführen, die falsch parken. Ich möchte die Huddersfield-Studie hier auf der Halbinsel überprüfen. Und wenn ich nicht ganz falsch liege, werden sich die HuddersfieldResultate wiederholen. Noch Fragen?« John Tankard schaute missmutig. »Warum kann das nicht die kommunale Verkehrsüberwachung machen, Sergeant? Wir haben doch schon mehr als genug zu tun.« »Weil die Verkehrsüberwachung niemanden verhaften kann und auch nicht über die Möglichkeiten verfügt, die Kennzeichen per Computer abzufragen. Nächste Frage?« Es gab noch ein paar halbherzige Fragen, jemand rief noch in die Runde, niemand habe jemals behauptet, der kleine Durchschnittskriminelle sei eine Intelligenzbestie, dann wurde die Versammlung aufgehoben.
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12 Als Challis und Destry die Treppe hinaufkamen, stießen sie auf Scobie Sutton, der am Wasserspender stand und mit traurigem, nachdenklichem Gesichtsausdruck ein Loch in die Luft starrte. »Ein Penny für Ihre Gedanken«, sagte Ellen. Sutton riss sich zusammen. »Es ist nur … Manchmal wird man daran erinnert, wie kostbar und verletzlich Kinder sind, wie labil das alles ist und wie schwer für manche Menschen.« Sutton konnte manchmal zutiefst sentimental sein, aber das war wahrscheinlich gar nicht mal so schlecht, dachte Challis. Deswegen war Sutton noch kein schlechterer Polizist – eher im Gegenteil. Tatsächlich glaubte Challis, dass ihm seine eigene Sentimentalität langsam abhanden kam, und er fragte sich, ob er seinen Job wohl aufgeben musste, wenn es mal so weit war. Challis sagte dazu gar nichts. Scobie Sutton konnte einem ein Ohr abschwatzen, wenn es um seine kleine Tochter ging. Um das zu verhindern, warf Challis ein: »Kann ich mit Ihnen beiden sprechen?« »Klar, Chef«, erwiderte Sutton. Ellen zog ihre Jacke aus. »Was gibts?« »Zwei Sachen, haben mit ein und derselben Person zu tun.« Er brachte sie in sein Büro und schloss die Tür. Die papierdünne Wand wackelte. »Eine Frau namens Janet Casement hat ein kleines Flugunternehmen draußen auf dem Flugplatz. Charterflüge, Luftaufnahmen, Rundflüge …« »Die, die Sie Kitty nennen?« »Genau.« »Jemand hat am Wochenende ihre Maschine gerammt«, sagte Ellen. »Ja.« 80
Die beiden sahen Challis erwartungsvoll an. »John Tankard hat gestern auf seiner Streife den Landrover gefunden. Ich möchte ganz gern den Besitzer befragen.« Er streckte ihnen die Handfläche entgegen, so als wolle er irgendwelche Einwände abwehren. »Ich weiß, genau betrachtet ist das nicht mein Gebiet, aber vielleicht war es versuchter Mord. Außerdem kenne ich Kitty, und ich habe den Zwischenfall beobachtet, ich bin also involviert.« Ellen sah Scobie an. Der nickte einwilligend, und sie sagte: »Geht in Ordnung, Hal.« »Nächster Punkt.« Er zeigte ihnen Kitty Casements Luftaufnahme. »Die habe ich in dem Hangar, in dem Kitty arbeitet, an ihrer Pinnwand gefunden.« Er schaute zu, wie die beiden sich vorbeugten und das Bild betrachteten. Scobies Haar wurde schütter, stellte Challis fest. Ellens Haar war akkurat gescheitelt, kurze blonde Haare standen hier und da zwischen den längeren; Challis überkam eine absurde Zuneigung zu ihr, er erinnerte sich an seine Kindheit und wie er mit seiner Schwester auf dem Boden im Wohnzimmer gespielt hatte. »Und was gibt es da zu sehen?«, fragte Scobie. Ellen wusste es. Mit einem langen, schlanken Zeigefinger klopfte sie auf den Bereich mit dem dunklen Grün unter den ausgewaschen wirkenden Eukalyptusschattierungen. »Marihuana«, sagte sie. »Große Pflanzen, erntereif, so wie es aussieht.« Ihr Finger glitt weiter. »Bewässerungsrohre hier und hier, von diesem Damm herunter. Pumpenhaus. Das könnte der Trockenschuppen sein.« Sie sah zu Challis auf. »Wo ist das aufgenommen worden?« Challis zuckte mit den Schultern. »Hat sie was damit zu tun?«, fragte Scobie. »Ich weiß es nicht«, antwortete Challis. »Sie hat ständig irgendwelche Aufträge von Leuten. Wir können nicht sicher sein, ob sie tatsächlich weiß, was auf diesem Bild zu sehen ist.« 81
»Weiß sie, dass Sie bei der Polizei sind?« »Ja.« »Dann wäre sie ja schön blöd, das Bild herumliegen zu lassen, wo Sie es sehen können, oder?« »Das dachte ich auch«, sagte Challis. »So oder so«, sagte Ellen, »reden müssen wir mit ihr. Wir müssen zumindest herausfinden, wo sich dieser Ort befindet.« »Ich komme mit«, sagte Challis. Aus einem Anflug von Schuldgefühl heraus rief er das Verwaltungsbüro des Flughafens an und erfuhr, dass Kitty zur Arbeit gekommen war. Sie habe sich mit den zuständigen Beamten der Luftsicherheitsbehörde verabredet, die ihre beschädigte Cessna untersuchen wollten. Ob er eine Nachricht hinterlassen wolle? »Nein, danke, ist schon in Ordnung.« Er wandte sich an die beiden. »Auf gehts.« Sutton fuhr den Zivilwagen des CIB, Ellen saß auf dem Beifahrersitz, Challis hinter ihr. Sutton fuhr meistens, und nicht zum ersten Mal fragte sich Challis, warum sie ihn chauffieren ließen. Sutton neigte dazu, unaufmerksam und ruhelos zu sein, er rutschte auf seinem Platz herum, seufzte, nahm plötzlich einen Schluck aus einer Wasserflasche und blieb fast stehen, wenn er sich an der Unterhaltung beteiligte. Ellen meinte, Scobie Sutton sei die hibbeligste Person, die sie je kennen gelernt hatte. Sutton steuerte den Wagen an einer Siedlung vorbei, durch Marschland und eine Obstplantage, in der die Birnbäume verwachsen und dürr aussahen, während der Wind die absterbenden Blätter davonriss, dann drehte er sich zu Challis um. »In Kalifornien gilt Marihuana als die lukrativste Anbaupflanze nach Mais.« »Um Himmels willen, Scobie, achten Sie auf die Straße«, sagte Ellen. Scobie drehte sich schnell nach vorn und umklammerte den 82
Lenker. »Ich habe letztens was über Sinsemilla gelesen. Wurde in Kalifornien gezüchtet. Dazu reißt man die männliche Pflanze aus und zwingt so die weibliche Pflanze dazu, mehr und größere Blüten zu treiben, um bestäubt zu werden. Die Pflanzen werden bis zu dreieinhalb Meter hoch und haben sechzig Blütenstände. Worauf ich hinauswill«, fügte er hastig an, so als spüre er ihre Ungeduld, »große Cannabisernten können auch Sprengfallen und rivalisierende Banden bedeuten.« Challis nickte und fühlte sich auf der einen Seite an die Sprengfallen erinnert, auf die er gestoßen war, als er vor ein paar Jahren eine Weile bei der Drogenfahndung arbeitete – Stolperdrähte an Schrotflinten in Kniehöhe, Stahldrahtschlingen, Angelhaken und Granaten voller Schrapnell –, auf der anderen Seite dachte er, ob der Flugplatzzwischenfall nicht etwas mit der Drogenernte auf dem Foto zu tun haben könnte. »Und wie gehen wir vor?«, fragte Ellen. »Sie übernehmen das«, antwortete Challis. »Konzentrieren Sie sich auf das Foto, nicht so sehr auf den Zwischenfall. Wenn das Foto etwas damit zu tun hat, werde ich ihr ein paar Fragen stellen. Bis dahin beobachte ich einfach nur. Ich möchte sie nur erst beruhigen, okay?« Ellen nickte. Sie trafen noch rechtzeitig ein, um mitzubekommen, wie ein kleiner Mobilkran den Rumpf der Cessna von einem grasbewachsenen Teil des Flugfelds in einen der Hangars transportierte. Die Flügel – von denen einer schwer beschädigt war – waren vom Rumpf abmontiert worden und warteten im Gras darauf, dass der Kranwagen zurückkam. Kitty war im Hangar und beaufsichtigte das Absetzen des Rumpfes. Daneben wartete eine Hand voll Mechaniker und Männer mit Klemmbrettern. Sie war so beschäftigt, dass sie erschrak, als Challis ihr ins Ohr flüsterte: »Können wir dich mal kurz sprechen?« Sie sah ihn an, warf Ellen Destry und Scobie Sutton einen 83
Blick zu und betrachtete dann wieder den Torso ihrer Cessna. »Es ist sehr ungünstig im Augenblick«, sagte sie leicht ungehalten. »Ich glaube auch nicht, dass ich dem, was ich dir schon gesagt habe, noch etwas hinzufügen kann.« »Wir haben neue Anhaltspunkte, Mrs. Casement«, sagte Ellen. Kitty blinzelte sie zerstreut an, wollte höflich bleiben, fühlte sich aber für ihr Flugzeug verantwortlich, das in den Haltegurten hängend sanft auf dem Betonboden aufkam. Challis machte einen Schritt auf sie zu, berührte sie am Oberarm, um wieder ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, stellte Ellen und Scobie vor und fügte an: »Wir machen es so kurz wie möglich.« »Zeit ist Geld, Hal. Ich muss so schnell wie möglich wieder in die Luft.« »Ich verstehe.« Kitty seufzte. »Also gut, wo sollen wir hingehen?« »Deine Arbeitsecke ist okay.« Sie führte sie zu ihrer Werkbank in dem Hangar, in dem auch Challis seine Dragon Rapide restaurierte. Ellen war schon einmal hier gewesen, aber Sutton nicht. Der sah sich um und pfiff leise. »Nicht schlecht.« Sie überhörten ihn. Kitty lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Werkbank und sah Challis leicht missbilligend an, der Ellen zunickte, sie könne beginnen. Ellen zog das Foto aus einer Aktenmappe. »Mrs. Casement, ist das eines Ihrer Fotos?« Kitty machte eine schüchterne Handbewegung. »Nennen Sie mich Kitty. Das tun alle.« Sie beugte sich vor. »Ja, das habe ich gemacht. Eigentlich …«, sagte sie und warf einen Blick auf ihre Pinnwand, »eigentlich hing das genau da. Woher haben Sie …« »Können Sie uns sagen, wann Sie es geschossen haben?« Kitty zuckte mit den Schultern. »Das ist von einem Job übrig geblieben, den ich für jemanden ausgeführt habe.« »Und wann haben Sie die Aufnahme gemacht?« 84
»Vor einem Jahr? Sechs Monaten? Ich weiß nicht mehr.« »Vor einem Jahr bestimmt nicht«, sagte Scobie. »Schauen Sie mal die Obstbäume in der oberen rechten Ecke. An den Bäumen ist noch das ganze Laub.« »Ich weiß wirklich nicht mehr wann.« »Und von wem stammte der Auftrag?« Kitty nahm das Foto und sah es sich genau an, dann ließ sie den Blick in die Ferne schweifen. Einen Augenblick später hellte sich ihr Gesicht auf, und Challis war sicher, dass dieser Wandel nicht gespielt war, sondern echt. »Jetzt fällt es mir wieder ein«, sagte sie und hielt dann inne. »Und?«, gab ihr Ellen das Stichwort. »Das war so eine Werbegeschichte.« »Eine Werbegeschichte?«, fragte Scobie. »Ich wollte Aufträge reinbekommen, verstehen Sie?«, sagte Kitty. »Ich bin ein paar Tage lang über die Halbinsel geflogen – ganz bestimmte Gegenden wie Red Hill, Merricks North, Flinders – und habe Aufnahmen gemacht. Ein paar davon waren einfach Küstenbilder aus mittlerer Höhe, andere waren aus niedriger Höhe aufgenommene Privatgrundstücke, Häuser, Gärten, Weiden, all so was. Ich weiß noch, ich habe jede einzelne Aufnahme mit einer Nummer auf einer topografischen Karte vermerkt, um sie einzelnen Adressen zuordnen zu können, und dann habe ich an Türen geklopft und versucht, Fotos zu verkaufen.« »Und?« »Lief ganz gut. Die Leute waren fasziniert und geschmeichelt. Ich habe ihnen ein paar Beispiele für Größen gezeigt, matt und glänzend, und habe Bestellungen entgegengenommen. Oder ich habe ihnen die Aufnahmen gleich an Ort und Stelle verkauft.« Die drei Polizisten beobachteten Kitty. Challis glaubte ihr, und er spürte, dass die anderen beiden es auch taten. Ellen wies auf das Bild in Kittys Hand und sagte: »Vielleicht könnten Sie in Ihren Unterlagen nachschauen und uns sagen, welcher Teil der 85
Halbinsel hier abgebildet ist.« Kitty nahm das Bild hoch und betrachtete es eingehend. »Warum? Was gibt es denn da zu sehen?« Challis fragte sich, was Ellen nun sagen würde. Es gab gute Gründe dafür, nicht allzu viel preiszugeben, aber er war durchaus froh, als sie erwiderte: »Man sieht darauf eine Marihuanaplantage.« Alle drei beobachteten Kitty ganz genau, um ihre Reaktion abzuschätzen. »Um Gottes willen. Wo?« Ellen zeigte es ihr. »Da.« Kitty schaute zweifelnd hin. »Also, für mich könnte das alles Mögliche sein. Ich würde noch nicht mal eine Marihuanapflanze erkennen, wenn man mich mit der Nase darauf stoßen würde.« »Wenn Sie mal in Ihren Unterlagen schauen könnten …?« Kitty ging zu ihrem Aktenschrank, vier Schubladen aus verschmiertem und verbeultem grauem Metall, zog eine Karte hervor und breitete sie auf ihrer Werkbank aus. Challis konnte Namen und Zahlen erkennen, die entlang der Küstenlinie eingetragen waren. Er hörte Kitty vor sich hin murmeln und dann mit dem Zeigefinger auf die Karte tippen. »Hier.« Sie sahen hin. Eine Farm an der Five Furlong Road, kurz unterhalb der teuren Häuser von Upper Penzance, dazu ein hingekritzelter Name: Ian Munro. Ellen nickte kurz und unauffällig zu Challis hinüber, und der machte weiter: »Erinnerst du dich noch daran, auf der MunroFarm gewesen zu sein?« »Nein. Aber ich war bestimmt da.« »Aber du erinnerst dich nicht daran? War jemand zu Hause? Musstest du noch einmal vorbeigehen? Hast du Munro selbst gesehen oder sonst jemanden, der dort wohnt? Haben sie das Foto gekauft? Wenn nicht, warum hast du dann einen Abzug?« Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite. »Das sind ja furchtbar 86
viele Fragen. Da muss ich nachschauen, ich hab das hier alles irgendwo. Ich habe deswegen noch einen Abzug, weil ich manchmal mehrere Aufnahmen an einem Ort mache. Mal gibt es einen Wolkenschatten, mal kommt die Sonne im falschen Augenblick durch. Oder ein Auto fährt durchs Bild.« Challis nickte. Als sie an den Aktenschrank zurückging und eine andere Akte herausnahm, wirkte sie beunruhigt. »Ich schreibe mir auf, wo und wann ich jedes Foto aufgenommen habe«, sagte sie, »und als ich letztes Jahr die Runde gemacht habe, habe ich mir notiert, wo ich nochmal hinmusste und wer was gekauft hat. Hier. Ich habe mit Ian und Aileen Munro gesprochen. Sie haben zwei Bilder gekauft. Eine Nahaufnahme vom Haus und eine Landschaftsaufnahme wie diese da. Oh«, sagte sie mit wachsender Besorgnis in der Stimme, »sein Scheck ist geplatzt.« Challis war plötzlich hellwach. »Hast du nachgehakt?« Kitty schüttelte den Kopf. »Hatte doch keinen Sinn. Ich hasse Ärger, und ich hatte nicht die Zeit und die Möglichkeiten, irgendetwas zu unternehmen. Ich habe die Bankgebühr bezahlt und die Sache auf sich beruhen lassen. Die Fotos kosteten nur fünfzig Dollar, das war die Mühe nicht wert. Außerdem war das Ganze eh nur reine Spekulation. Es haben sowieso nur etwa ein Drittel der Leute was gekauft, bei denen ich geklopft habe, also war das kein großer Verlust.« »Und Sie haben nicht nachgesetzt«, fragte Ellen, »haben keine weiteren Bilder zu anderen Jahreszeiten angeboten? Haben nicht mit den Munros über dieses Foto gesprochen?« »Nicht soweit ich mich erinnere.« Kitty wurde blass. »Du glaubst doch nicht, dass er es war, oder? In dem Landrover?« Challis sah sie ruhig an und sagte. »Wir haben vor, das herauszufinden.«
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13 Pam Murphy saß diesmal hinterm Steuer, aber nur weil sie schneller an die Wagenschlüssel und die Fahrertür gekommen war als Tank. In einem Winkel – zugegebenermaßen einem nicht besonders kleinen Winkel – seines Verstandes hegte John Tankard die Ansicht, dass Frauen nicht ans Steuer gehörten und sowieso nicht gut fahren konnten. Pam achtete auf die Straße, und Tankard neben ihr trat auf eine imaginäre Bremse und stemmte seine Pranken gegen das Armaturenbrett. Sie gab Gas und jagte den Van durch die Kurven der Straße, die zum Waterloo Hospital führte. Tankard musste wohl vergessen haben, dass sie auf ihrem letzten Revier die Streifenwagen auf Verfolgungsjagden gefahren und alle Profi-Fahrkurse bestanden hatte. Dann verließen sie die Hauptstraße und kamen auf Routen, die eng und kurvig waren, also fuhr sie etwas gemächlicher, um nicht Gefahr zu laufen, John Tankard endgültig auf die Palme zu bringen. Sie spürte, wie er sich entspannte. Dann ruhte sein überhitzter Blick auf ihr. »Du hast heute deinen spitzen BH an.« »Dann pass nur auf, du könntest dich sonst dekapitieren.« Dekapitieren. Das Wort gefiel ihm nicht. Er wusste ungefähr, was es bedeutete, es war kein gebräuchliches Wort, und sie wusste, dass er das als versteckten Angriff auf seinen Intellekt verstand. »Ach, lass mich doch in Ruhe«, raunzte er. Schweigend fuhren sie weiter. Sie spürte, wie sein Verstand Überstunden machte und nach einer Möglichkeit suchte, ihr zu schmeicheln, sie rumzukriegen, sie einzubeziehen. Um ihn abzulenken, fragte sie: »Glaubst du, Kellock hat Recht?« »Womit?« Sie konnte sich gerade noch beherrschen, um nicht zu sagen: 88
Was er uns vor fünf Minuten erzählt hat, und sagte stattdessen: »Werden die bösen Jungs von selbst auffällig?« »Für mich hörte sich das wie Blödsinn an.« »Ich glaube, er hat Recht«, sagte Pam. Auf der einen Straßenseite lag eine Grundschule, auf der anderen eine Kirche. Pam verlangsamte vor einer Bremsschwelle und dem Schulübergang. »Ich meine«, fuhr sie fort, »wenn du jemanden wegen eines kaputten Bremslichts anhältst, stehen die Chancen zehn zu eins, dass der Kerl betrunken ist oder bis oben hin voll gedopt, oder er hat keinen Führerschein, sein Fahrzeug ist nicht verkehrstauglich, oder er hat eine Latte an Knöllchen nicht bezahlt. Was ihn betrifft, gelten Geschwindigkeitsbegrenzungen und Warnleuchten nicht.« »Ja«, sagte Tankard. »Er ist blöd.« »Ich glaube, da steckt noch mehr dahinter«, fuhr Pam fort, doch bevor sie sich darüber auslassen konnte, streckte sich Tankard ausgiebig und ließ seinen Arm auf ihrer Rückenlehne landen. Fast so, als würde er sie umarmen. Sie konnte seinen Arm dort spüren, einen rosigen, haarigen Brocken Fleisch, Millimeter von Hals und Schultern entfernt. »Nicht«, sagte sie böse. »Was denn?«, tat er unschuldig, nahm aber seinen Arm fort und machte daraus eine ganze Pantomime des Wohlbefindens. »Schon besser.« »Was denn?« Sie wechselte das Thema. »Weißt du irgendwas über diesen Munro?« Tankard zuckte mit den Schultern. »Nö.« Pam konnte sich nie sicher sein, wie viel John Tankard während der Einweisungen zu Beginn der Schicht tatsächlich mitbekam. Sergeant van Alphen zufolge hatte ein Inspekteur der RSPCA eine Meldung über Not leidende Schafe auf einer Farm in der Nähe von Upper Penzance überprüft. Es bestand der 89
Verdacht, dass der Farmer, ein gewisser Ian Munro, den Inspekteur angegriffen und krankenhausreif geprügelt hatte. »Überprüfen Sie die Geschichte dieses Inspekteurs«, hatte van Alphen gesagt, »finden Sie raus, ob er Anklage erheben will, und dann reden Sie mal ein Wörtchen mit diesem Munro.« Sie hatten keine Zeit mehr gehabt, Munros Namen durch den Computer zu jagen, aber ein paar Uniformierte im Einweisungsraum kannten Munro offenbar und hatten mit gespielt düsterer Stimme zu Pam gesagt: »Viel Glück«, so als würde sie mehr als nur Glück auf ihrer Seite brauchen. »Ein undankbarer Job«, sagte sie. »Polizist?« »Na ja, das auch, aber ich meinte, es muss wohl ein ziemlich undankbarer Job sein, als RSPCA-Inspekteur.« »Wieso?« Warum ließ sich John Tankard nie auf ein Thema ein? Warum dachte er jetzt nicht über ihre Bemerkung nach? Denk doch mal drüber nach, wollte sie zu ihm sagen, aber sie waren vor der Einfahrt zum Krankenhaus angekommen, und sie musste wegen eines alten Mannes in einem klapprigen Holden bremsen, von dem man nicht mehr sah als Hut und Hände, die sich an den Lenker klammerten, während der Wagen genau zwischen den beiden Torsäulen stand und der Fahrer sich den nächsten Schritt überlegte. »Alter Döskopp«, schimpfte sie und wollte, dass Tankard sich vorstellte, selbst eines Tages als alter Döskopp zu enden. Tankard erwiderte nichts. Dann sagte er, als müsse er seine Männlichkeit beweisen: »Nächsten Samstag fängt wieder die Footballsaison an.« Pam wusste, dass er für Essendon war und eine sturköpfige Zuneigung zu dem Spiel hegte. Sie auch, aber für Hawthorn natürlich, wo sie mehr oder weniger aufgewachsen war. Dass sie Football mochte, verdankte sie auch der Tatsache, dass sie in einer Familie voller zurückgezogener Universitätsintellektueller 90
groß geworden war, die keine Zeit für körperliche Leistungen hatten – ihre, Pams Leistungen, in gewisser Hinsicht. Ihr Vater wurde besonders bissig, wenn es um »Footballprofessoren« ging, vor allem Professoren für australische Geschichte, die gern glaubten, eins mit dem gemeinen Volk zu sein, tatsächlich aber nur Weicheier waren. Sie schüttelte die Erinnerung ab – sie zumindest liebte Football – und ließ sich auf einen lebhaften Austausch mit John Tankard ein. Dann waren sie auf dem Krankenhausgelände, stellten ihren Van auf einem für »Gastchirurgen« reservierten Platz ab und traten durch die Glastüren, wo es nach frischer Farbe, neuem Teppichboden, Beton und Stahl roch. Eine Frau am Empfang wies sie nach oben zu einer Abteilung, die auf den Parkplatz hinausging. Hier war die Luft heiß, abgestanden, roch eben nach Krankenhaus, und Pam wollte sich am liebsten zusammenrollen und schlafen. Clive Fenwick lag niedergeschlagen da und starrte die pinkfarbene Jalousie vor seinem sonnendurchglühten Fenster an. Es gab keine Karten, keine Blumen, nichts, was ihn oder seine Krankenschwester oder die ihn besuchenden Polizisten aufmuntern konnte. Fenwick drehte steif den Kopf, sah durch eine Brille, die viel zu groß für seinen Kopf war, die Uniformen, schloss die Augen und öffnete sie wieder. Das missbilligende Gesicht eines geborenen Inspekteurs, fand Pam. Vom vielen Liegen auf dem Krankenhauskissen war sein Haar ganz verdrückt, und er wirkte zutiefst verletzt und enttäuscht. Pam stellte Tankard und sich selbst vor und sagte: »Wir möchten Ihnen nur ein paar Fragen im Zusammenhang mit dem Zwischenfall auf Ian Munros Farm stellen, Mr. Fenwick.« Fenwick schloss die Augen. Seine Stirn war mit Schnittwunden und blauen Flecken übersät, ein Arm und ein Knöchel waren in Gips. Ein breiter Streifen Mull lugte über seinen Pyjamakragen hinaus, so als seien die Rippen eng verbunden worden. 91
»Munro hat Ihnen ordentlich einen verpasst, alter Knabe«, stellte Tankard fest. Fenwick schüttelte den Kopf und krächzte: »Nein.« »Nein?« »Unfall.« »Wachen Sie auf, Mann«, sagte Tankard und ignorierte Pam, die ihn wütend anstarrte, er solle sich etwas mäßigen. »Sie wollten nach den hungernden Schafen von dem Typen sehen, und er hat sie platt gehauen.« »Hatte einen Autounfall.« Parti legte ihren Kopf zweifelnd zur Seite und sah Fenwick an. »Dem behandelnden Arzt haben Sie aber erzählt, Sie seien verprügelt worden.« »Missverständnis.« »Na klar«, sagte Tankard. »Munro ist in die Luft gegangen, stimmts?« Fenwick schloss die Augen. Wenn sein Gesicht nicht so verquollen und wund gewesen wäre, dachte Pam, dann hätte er den Mund wohl missmutig verzogen. »Mr. Fenwick, erzählen Sie uns, was geschehen ist. Von Anfang an.« »Anonymer Anruf«, sagte Fenwick. »Hungernde Schafe, kein Wasser auf der Weide. Ich fuhr zu der angegebenen Adresse. Es war ein Grenzfall. Die Schafe waren geschoren, deshalb sahen sie so dürr aus. Wasser hatten sie auch, in einem Trog am hinteren Ende, der von der Straße aus nicht gut zu sehen war. Die Weide fällt ein wenig ab«, erläuterte er und sah dabei Pam zum ersten Mal direkt an. »Aber ich war nicht wirklich glücklich damit. Die Schafe waren hungrig, aber man konnte sehen, dass ihnen ein paar Tage zuvor Heu ausgestreut worden war.« »Was haben Sie dann gemacht?« »Bin zum Haus gegangen, hab gesagt, wer ich bin …« »Mit wem haben Sie gesprochen?« »Mrs. Munro.« 92
»Und?« »Na, dann kam ihr Mann aus einem der Schuppen gestürmt und hat mich beschimpft. Er hielt mich wohl für jemanden von seiner Bank oder von der Verwaltung oder so was.« »Erzählen Sie weiter.« »Als ich sagte, ich sei von der RSPCA, da ist das Fass wohl übergelaufen«, sagte Fenwick, der ein wenig aufgeregt wirkte. »Ich hab ja schon so manches zu hören bekommen, aber das war schockierend, absolut schockierend. Offen gesagt, die Frau tut mir Leid.« »Mr. Fenwick«, sagte Pam, »woher haben Sie die Verletzungen?« Fenwick schaute weg. »Unfall.« »Wie?« »Am Fuß des Hügels hat sich mein Wagen überschlagen.« »Mr. Munro hat Sie also nicht angerührt?« Mit kaum noch hörbarer Stimme sagte er: »Hat mich getreten.« »Getreten?« Fenwick wollte sie nicht anschauen. »Gegen meinen Hosenboden«, sagte er, so als bringe er es nicht über sich, »in den Hintern« zu sagen, oder als wolle er den Zwischenfall herunterspielen. »Also hat er Sie angegriffen«, hielt Tankard fest. »Aber ich will keine Anzeige erstatten«, warf Fenwick schnell ein. Pam sah ihn an. Vor ihrem geistigen Auge spielte sich die Szene ab, die Ereignisse, die zu Clive Fenwicks Einlieferung ins Waterloo Hospital führten: die Visite auf dem Grundstück. Munro außer sich vor Wut über das Eindringen eines weiteren Bürokraten. Noch schlimmer, eines Bürokraten, der seine Arbeit auf der Farm kontrollieren will, alles nur wegen eines anonymen Anrufs. Fenwick, der mit einem Arschtritt davongejagt wird, den er sich in gewisser Weise verdient hat, weil er nun mal ein 93
Arschloch war. Fenwick fährt völlig panisch davon und schmeißt seinen Wagen um. Kommt ins Krankenhaus. Verängstigt, wütend, beschämt erklärt er, seine Verletzungen seien das Ergebnis eines tätlichen Angriffs. Dann überlegt er es sich anders, weil er nicht will, dass ein Kerl wie Munro hinter ihm her ist und ihn niederschießt. Er sagt die Wahrheit, dachte Pam – zum Teil jedenfalls, und lässt nur die panische Fahrt den Hügel hinunter und den Unfall in der ersten Kurve aus. Trotzdem, mit Munro mussten sie mal ein ernstes Wörtchen reden, bevor er noch jemandem ernstlich was antat.
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14 Heute wurde der Einmischer von noch größerem Missmut angetrieben als sonst. Nicht dass der Tag schlecht begonnen hätte. Diese Woche hatte er die Schicht von sechzehn Uhr bis Mitternacht, also konnte er Jessica in die Schule bringen, und gestern und heute hatte er beschlossen, das Frettchen mitzunehmen und den Kindern zuzuschauen, wie sie sich nervös herandrängten, es streicheln wollten, aber Angst vor den spitzen Zähnen hatten. Er forderte sie sogar ein wenig heraus. Das machte ihm Spaß – ihre Angst, seine Andersartigkeit im Vergleich zu den anderen Eltern: Schmarotzer, die meisten von ihnen. Dann war er an der Bäckerei vorbei nach Hause gegangen, hatte Milch, eine Schnecke und den Progress gekauft, hatte es sich mit einem Milchkaffee auf der vorderen Veranda gemütlich gemacht, von der aus man auf Adlerfarne und Brombeerstecken blickte und hinüber zu den toten Eukalyptusbäumen an der Five Furlong Road. Hatte seinen Kaffee getrunken, die Schnecke gegessen – leicht trocken, wahrscheinlich vom Vortag – und durch die Zeitung geblättert, hatte seinen wöchentlichen Brief unter der Überschrift »Bericht des Einmischers« gelesen, der seinen allgemeinen Zorn wieder aufflammen ließ. Hatte sich dann Tessa Kanes eigener wöchentlicher Kolumne zugewandt, die direkt neben seinem Brief stand. Hatte ein paar Zeilen gelesen. Und dann hatte sich eine ungeheuer große Scham seiner bemächtigt. So etwas war ihm sein Lebtag noch nicht passiert. Die Schlampe hatte ihn damals in Rosebud mit dem Frettchen spazieren gehen sehen, und nun schrieb sie darüber und nannte ihn einen Spinner. Am Morgen hatte er schon das Gefühl gehabt, komisch angegafft zu werden. Offenbar hatten ein paar Leute den Artikel gelesen und eins und eins zusammengezählt. 95
Allgemeine Belustigung, auf seine Kosten. Hinter seinem Rücken mit dem Finger auf ihn zeigen: Spinner. Mostyn Pearce fieberte. »Spinner.« »Einmischer.« Seine Haut glühte vor Scham, und er bekam kaum noch Luft. Er stolperte aus dem Haus, ging die Crescent, dann die Five Furlong Road entlang, wo er wie ein Zombie weiterlief, brennend, brennend. Was konnte er nur gegen diese Verachtung tun, wie sie entschärfen? Mit dem Frettchen konnte er sich jedenfalls nicht mehr sehen lassen. Verdammt, wie er sich diese Schlampe von Kane mal vorknöpfen wollte. Was war das überhaupt für ein Name, Kane? Jüdisch? Verdammt, diese Schlampe. Einerseits hatte er immer gewollt, dass sie wusste, wer er war, wie er wirklich hieß, dieser Mann, den sie den Einmischer nannte und dessen Briefe sie jede Woche abdruckte. Aber wenn er sich jetzt outete, dann würde sie in ihm den Mann mit dem Frettchen wiedererkennen, den Spinner, und sein allwöchentlicher Zorn auf die kommunale Unfähigkeit und auf eigensüchtige Mitbürger würde alle Kraft verlieren. Sie würde kichern, mit dem Finger auf ihn zeigen, sagen: »Sie sind der Einmischer?«, und nie wieder etwas von ihm drucken. Er stapfte mitten auf der Straße weiter und kam sich hilflos vor. Die toten Eukalyptusbäume bildeten über seinem Kopf ein Gewirr aus knorrigen grauen Fingern. Auf der anderen Seite des von Brombeeren überwucherten Zaunes lag eine alte Wiese mit Obstbäumen, deren Blätter sich verfärbten. Einen halben Kilometer weiter lag Upper Penzance wie eine ummauerte Siedlung ohne Mauer hochnäsig auf der Anhöhe. Links lag Ian Munros Farm. Keine Spur von den geschundenen Schafen zu sehen. Hatte die RSPCA Untersuchungen angestellt? Wetten, dass nicht? Heutzutage kümmerte sich doch niemand mehr um irgendwas. Pearce kam an dem amerikanischen Briefkasten vorbei. 96
Unfassbar. Die kleine rote Fahne war oben. Pearce klappte sie herunter. In diesem Augenblick hörte er einen leisen Motor hinter sich brummen, das Knirschen von Reifen und dann das kurze Bellen einer Hupe. Pearce trat von der Straße ins tote Gras. Ein Polizeivan, eine Polizistin auf dem Beifahrersitz sah ihn böse an, so als glaube sie, dass er nichts Gutes im Schilde führte, nur weil er zu Fuß ging und kein Bulle war. Leck mich doch, dachte er. Vielleicht interessiert es dich ja zu erfahren, dass ich auch für das Gesetz arbeite, schon immer gearbeitet habe. So was Ähnliches jedenfalls. Pearce war jahrelang Sportlehrer gewesen und achtete auf strenge Disziplin, bis zu jener einen Sache, wo behauptet wurde, er sei zu grob gewesen. Nun war er Angestellter im Strafvollzug bei Ameri-Pen, der Firma, die den Auftrag für das Internierungslager Westernport an Land ziehen konnte. Das Lager war für fünfhundert Internierte ausgelegt, doch nun waren es fast achthundert, und ständig wurden es mehr. Vier bis sechs Mann teilten sich eine Zwei-Mann-Zelle. Diese Überbelegung war ein Problem. Da fielen einem sofort die unnatürlichen Praktiken ein, die die Araber angeblich so bevorzugten. Außerdem waren die Hälfte von ihnen potenzielle Terroristen. Sie kauerten da herum, beobachteten einen aus wässrigen dunklen Augen und schnüffelten mit ihren Habichtnasen hinter einem her. Die andere Hälfte war einfach nur depressiv. Sie schlugen mit den Köpfen gegen die Ziegelwände, wiegten sich, kauerten da, jammerten vor sich hin und heulten untröstlich. Was hatten sie denn erwartet? Das hätten sie sich vorher überlegen sollen, bevor sie versuchten, illegal einzuwandern. Schickt sie doch zurück nach Afghanistan, Iran, Irak, Pakistan, wohin auch immer. Außerdem war das Wetter in diesem Teil Australiens überhaupt nicht wie im Nahen Osten. Pearce bezweifelte, dass die Flüchtigen es draußen lange machen würden. Feucht, kühl – die waren doch an trockene Hitze und 97
Sandwüsten gewöhnt. Um die Disziplin aufrechtzuerhalten, hatte Ameri-Pen alle Zellentüren ausgebaut und lichtdichte schwarze Plastikfolie vor die Fenster gehängt. Um zehn hatten alle zu schlafen, und die Zellen- und Flurbeleuchtung brannte die ganze Nacht. Es durfte niemals dunkel sein. Sonst heckten die noch weiß Gott was aus. Zum Teil deswegen, zum Teil aus Schutz vor Selbstmorden, zum Teil, um sie weiter zu desorientieren, machte man nachts alle halbe Stunde die Runde, zog Decken und Laken weg und funzelte ihnen mit der Taschenlampe ins Gesicht. Darin lag etwas Befriedigendes. So ähnlich, wie den Kindern in Jessies Schule mit dem Frettchen einen Schrecken einzujagen. Das Frettchen. Mostyn Pearce brannte vor Scham. Im Kopf kehrte er zu der schlaflosen Nacht zurück, als er gedankenverloren an die Schlafzimmerdecke gestarrt hatte, während seine Frau neben ihm leise schnarchte. Bevor er ins Bett gegangen war, hatte er sich noch einmal das Video mit der Sendung von »International Most Wanted« angeschaut und sich gratuliert, Pay-TV zu haben. Und ja, er erkannte das Gesicht. Eine grobkörnige Schwarz-Weiß-Aufnahme, vor einiger Zeit gemacht, das Haar länger und dichter, aber immer noch erkennbar das Gesicht eines Mannes, der nicht unendlich weit von hier wohnte. Vor ihm lag eine Zufahrt. Sie bahnte sich den Weg durch einen bewaldeten Hang zu einem Schindelhaus, das nur aus Giebeln, Türmchen und hölzernen Verzierungen über den Dachfenstern bestand, das Werk eines Architekten aus Mornington. Man sah seine Arbeiten auf der ganzen Halbinsel verstreut herumstehen, von Pfefferkuchenhäuschen bis hin zu Cape-Cod-Anwesen mit Tiroler Einschlag. Pearce hasste diese Häuser und suchte nach einer Möglichkeit, diesen Hass in seine Einmischer-Kolumne im Progress einfließen zu lassen. Das alles erinnerte ihn an seine Scham vom Vormittag, und als das ältere Ehepaar in seinem Audi aus der Zufahrt kam – 98
typisch, ein importiertes Auto mit Klasse, aber nicht allzu übertrieben – und ihm einen verwunderten und konsternierten Blick zuwarf, als es in Richtung Waterloo Gas gab, verzehnfachte sich seine Verbitterung noch. Er glaubte, den Blick auf ihren blöden alten Gesichtern erkannt zu haben. Er besagte: »Ach herrje, wer ist dieser Mann, und warum wandert er allein die Straße entlang, und was, wenn er unser Haus leer räumt, während wir einkaufen sind?« Also beobachtete Pearce, wie der Audi über der ersten Kuppe verschwand – wobei der dumme alte Kerl schmerzhaft langsam fuhr und sich fast den Hals verrenkte, um weiter in den Rückspiegel zu schauen –, und versteckte sich dann hinter einer großen Fichte neben der Straße. Zwanzig zu eins, dass die alten Leutchen ganz unruhig werden, umdrehen und zu ihrem Haus zurückfahren, so als hätten sie was vergessen. Sie würden wieder über der Kuppe auftauchen, ihn nirgendwo entdecken können und noch nervöser werden. Und tatsächlich, dreißig Sekunden später tauchte der Audi wieder auf. Pearce kauerte sich hinter den Baumstamm und spürte tief in sich eine verbitterte Befriedigung. Sie würden sich fragen, wohin er verschwunden war. Sie würden sich aneinander klammern und faseln: »Ach herrje, er muss auf unserem Grundstück sein, was sollen wir nur tun?« Während all diese Gedanken durch sein Hirn schossen, hörte er hinter sich einen Wagen, der von Upper Penzance herunterkam. Dieser Bullenvan schon wieder. Er wusste nicht, ob er entdeckt worden war oder nicht, und es war ihm auch egal. Er hatte seinen Spaß daran, dem Audi zuzuschauen – alles an dessen Fahrweise verriet Furcht und Besorgnis –, der in die Zufahrt bog. Dieser neue Schwung half ihm dabei, sich ganz genau zu überlegen, was er wegen des steckbrieflich Gesuchten aus dem Video unternehmen wollte. Höchste Zeit, von seiner 99
Wachsamkeit zu profitieren. Diesmal würde er handeln, keine Briefe mehr an die Verwaltung. Er würde sich den Burschen mal vorknöpfen, würde vorsichtshalber die Schrotflinte mitnehmen, ein kleines bisschen mehr Druck machen.
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15 »Deine Haare sind immer noch ziemlich blond vom Sommer«, sagte John Tankard. Sie mühten sich die gewundene Straße von Penzance Beach hoch durch das Farmland zu Ian Munros Hof; diesmal fuhr Tankard. Pam kümmerte sich nicht um ihn, schaute hinaus auf die staubigen Brombeeren und Adlerfarne, die den Boden zwischen den Eukalyptusbäumen und den Fichten überwucherten. Kein besonders guter Wanderweg, dachte sie und sah den Mann an, der vom Schotter auf den grasbewachsenen Hang gestiegen war, um den Van vorbeizulassen. Aber wahrscheinlich gab es hier eh nicht viel Verkehr, also konnte man mitten auf der Straße gehen und die Aussicht über Ian Munros Weiden hinaus aufs Meer und auf Phillip Island genießen. Aber was war mit Schlangen? Schlangen im Gras, dachte sie und fragte sich warum. Vielleicht musste sie bei dem Mann, der da im Gras stand, an Schlangen denken. Irgendwas Schnelles, Huschendes war an ihm. Eine Andeutung von Schlange in der Art, wie seine Zungenspitze an der Oberlippe lag und wie sein glatt rasierter Schädel sie beobachtet hatte. Und wo war der Hund? Irgendwie erwartete man einen Hund, wenn man eine einsame Gestalt auf einer unbefestigten Straße gehen sah. »Mir ist aufgefallen, wie deine Haare von der Sonne heller werden«, versuchte es Tankard erneut. Pam wollte ihn schon fragen, ob er denn nie aufgebe, aber dann fand sie, dass jede Reaktion ihn nur noch zu einem weiteren grobschlächtigen Annäherungsversuch ermuntern würde. Es war heiß im Van. Der eiskalte Wind zu Ostern war einem Indian Summer gewichen. Achtundzwanzig Grad Celsius sollten es heute werden. Sie kurbelte das Fenster herunter. 101
Grasgeruch, Staub und Hitze schlugen ihr entgegen. Eine Strähne löste sich aus ihrer Haarklammer und blieb an ihrem feuchten Hals kleben. So wie Tankard in letzter Zeit über ihr Haar sprach, stellte er sich wohl vor, dass es wie ein Fächer auf seinen fleischigen Oberschenkeln und seinem Bauch lag. Kotz, würg. Zu dumm, dass er sie bei der Observierung Samstagnacht in dem schwarzen BH gesehen hatte. Seitdem war er die ganze Zeit rollig. »Hast wohl ’ne Menge Zeit am Strand verbracht diesen Sommer«, fuhr Tankard fort. Das konnte sie zu ihrem Vorteil ausnutzen. »Surfen«, entgegnete sie und fügte an: »Mit meinem Freund.« Tankard ließ sich auf seinen Fahrersitz zurücksinken und verstummte gnädigerweise. Ihr Freund. Der Bursche, der ihr bei Point Leo das Surfen beigebracht hatte, um genau zu sein. Achtzehn Jahre alt. Siebzehn im Vergleich zu ihren siebenundzwanzig, als sie das erste Mal miteinander schliefen. Jung genug, um bei vielen Leuten für Stirnrunzeln zu sorgen. Vielleicht sogar für ein Disziplinarverfahren. Also hatte sie den Mund gehalten, weil sie wusste, dass das nicht lange gut gehen konnte – was es auch nicht tat. Plötzlich zeigte sie auf etwas. »Da. Nach links.« Der Name Munro war in großen runden Buchstaben in ein fleckiges Fichtenbrett geschnitzt worden. Eine Zufahrt mit weiß gestrichenen Wagenrädern, jeweils drei links und drei rechts neben einer Viehrampe. Tankard bog auf einen schmalen Schotterpfad, der zwischen Zäunen, an einem Damm und einer alten Apfelplantage vorbei zu einer Lichtung und einem Schindelhaus führte, das stumm und dunkel unter riesigen Fichten stand. Jemand hatte das Haus vor langer Zeit weiß gestrichen, doch Pollen, Seeluft, Luftfeuchtigkeit und fehlende Sonne hatten die Bretter grünlich schwarz werden lassen. Die Regenrinnen waren schon seit einer 102
Weile nicht mehr gesäubert worden, hatten Rost angesetzt, und Gras wuchs aus ihnen heraus. Fichtennadeln bedeckten den Boden. Pam stieg aus und spürte, wie beengt alles wirkte. Das Licht war trüb, und die Fichtennadeln dämpften ihre Schritte. Selbst das pinkfarbene Barbie-Fahrrad, das an einem Verandapfosten lehnte, wirkte freudlos. »Hier lang«, sagte Tankard und ging auf eine Tür auf der mit Fliegengitterwänden umschlossenen Veranda zu. »Bitte«, sagte plötzlich eine Stimme, »lassen Sie uns in Ruhe.« In der Tür stand eine Frau. Pam hatte Scobie Sutton auf dem Parkplatz getroffen und ihm von Munro erzählt, und er hatte Munros Frau als verhärmt beschrieben. Mehr als das, dachte Pam und betrachtete die Frau durch das verdreckte Fliegengitter. Geschlagen. Sie wartete auf das Unvermeidliche, wie immer das auch aussah. »Mrs. Munro?«, sagte Tankard. »Wir müssen mit Ihrem Mann sprechen.« Ihre Stimme war farblos. »Können Sie uns nicht in Ruhe lassen?« »Nur kurz.« »Er hat im Augenblick ziemlich viel zu tun.« »Es dauert nicht lange.« Die Stimme veränderte sich, wurde schrill und anklagend. »Ihr könnt es einfach nicht lassen, stimmts? Ihr schubst einen rum, streitet es ab und beruft euch auf diese Vorschrift und jene Vorschrift, bis man einfach alles verloren hat, selbst die eigene Würde.« Pam fragte sich, ob dies Aileen Munros eigene Worte waren oder die ihres Mannes. »Wir werden Mr. Munro nicht lange aufhalten«, sagte sie. »Nur ein paar kurze Fragen.« »Wenn es um diesen Inspekteur von der RSPCA geht …« »Es sind Anschuldigungen erhoben worden«, sagte Tankard. »Das kennen Sie ja schon: Ersparen Sie sich weiteren Kummer, und sagen Sie uns nur, wo er ist.« 103
Pam legte ihm eine Hand mahnend auf den Arm. Kurze Ärmel. Seine Haut war feucht. Sie zuckte zurück und sagte: »Vielleicht könnten Sie ihn bitten, auf dem Revier in Waterloo vorbeizuschauen?« »Ist schon in Ordnung, Liebes, ich rede mit ihnen.« Ian Munro hatte die ganze Zeit im Dunkeln hinter seiner Frau gestanden. Gesicht, Hände und Hemd waren feucht, so als ob er gerade zur morgendlichen Teepause hereingekommen wäre und sich mit ein paar Hand voll Wasser den Farmdreck abgespült hätte. Auf den ersten Blick wirkte er nicht unbedingt wie die Art von Mann, der man besser nicht den Rücken zukehrte. Er hatte ein freundliches, vierzig Jahre altes, wettergegerbtes Farmergesicht, sah erheblich gesünder aus und schien den Umständen besser angepasst als seine Frau. Sein Körper war ein kräftiges Bündel aus Muskeln und Sehnen, er wirkte zurückhaltend, fit und gut aussehend, wie ein großer, schlanker Hund. Pam fühlte sich angezogen und abgestoßen zugleich. Er hatte sich sorgfältig rasiert und saubere Koteletten geschnitten, die am Ohrläppchen endeten. Er trug eine Lesebrille mit einem dicken, angekaut wirkenden Gestell, die Gläser ein wenig zerkratzt oder versengt, so als trage er sie bei der Arbeit, wenn er zum Beispiel mit der Schmierpistole unter einem Farmgerät lag oder ein Eisentor schweißte. Er starrte Pam über die Gläser hinweg an, und in seinem Blick war deutlich eine Spur von Irrsinn zu erkennen – starke, kaum verhohlene Feindseligkeit, Bereitschaft, sich angegriffen zu fühlen, Verachtung für alles Offizielle. Es blitzte nur kurz auf und war schon wieder verschwunden, so als habe Pam sich das nur eingebildet. »Dürfen wir hereinkommen, Sir?« »Nein.« »Vielleicht können wir hier draußen miteinander reden«, schlug Pam vor. »Na gut.« 104
Er trat aus dem Haus, kam ganz nah an Pam vorbei, sodass sie ihn riechen konnte, eine nicht unangenehme Mischung aus Shampoo und Rasiercreme, Schweiß, Dieseldämpfen und etwas anderem, vertraut, aber schwerer zu erkennen. Irgendein Öl? Pam erstarrte. Waffenöl. »Worum geht es?«, fragte Ian Munro sanft. »Ein Inspekteur der RSPCA namens Clive Fenwick behauptet, Sie hätten ihn angegriffen«, sagte Tankard. »Nein, tut er nicht. Hab ich auch nicht«, erwiderte Munro. Dann lächelte er, ein abwertendes halbes Lächeln, eher ein Zähneblecken, und er wartete, als habe er alle Zeit der Welt. »Aber Sie haben ihn bedroht?«, fragte Pam. »Seine Aussage gegen meine. Kleiner aufgeblasener Sesselpupser.« »Sie haben ihn getreten«, sagte Tankard. »Hören Sie«, sagte Munro und sah auf die Uhr. »Ich habe zu tun. Wenn sonst nichts …« »Haben ihm einen Tritt in den Hintern verpasst.« »Das hat er zugegeben? Ein erwachsener Mann?« So kamen sie keinen Schritt weiter. »Sir«, sagte Pam, »ein Tritt ist ein Tritt. Das könnte als Angriff gewertet werden. Haben Sie …« »Hat der Blödmann Anzeige erstattet?« »Nun ja, nein, aber darum geht es auch nicht. Haben –« »Guten Tag«, fiel Munro ihr ins Wort, zog sich in aller Ruhe durch die Fliegentür zurück und verschwand in der Dunkelheit im Haus. Die beiden Polizisten fuhren nach Waterloo zurück und kamen unterwegs wieder an der Schlange im Gras vorbei. Diesmal schien der Mann an einen Baum zu pinkeln. Dann quakte das Funkgerät. Irgendwas von wegen Bücherei und Pornografie und ob sie sich mal darum kümmern könnten.
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16 Scobie fuhr vom Flugplatz zurück nach Waterloo. »Was jetzt?« »Jetzt durchsuchen wir Munros Farm«, sagte Ellen. »Alles – Weiden, Schuppen, Haus, Fahrzeuge, einfach alles.« Scobie nickte. »Mit bewaffneter Unterstützung.« Challis beugte sich von hinten durch die Lücke zwischen den beiden Vordersitzen. »Warum? Kennen wir ihn?« Scobie nickte. »Bedrohliches Verhalten, ein paar kleinere Angriffe, hat zumeist Leute von der Bank und Inspekteure der Kommune mit einer Waffe bedroht.« »Was für eine Waffe?« »Schrotgewehr.« Sie verstummten. Ellen nahm ihr Handy und rief auf dem Revier an, um den Papierkram für einen Durchsuchungsbefehl in die Wege zu leiten. Als Letztes informierte sie Kellock. Sie unterhielten sich lange, und Challis hörte weg, bis Ellen schließlich das Handy wütend zuklappte, einsteckte und sagte: »Aufgeblasener Kerl.« »Was hat er gesagt?« »Er kann uns vielleicht Tankard und Murphy überlassen. Er fragt, wann wir bei Munro vorbeischauen wollen. Ich sage, sobald der Durchsuchungsbeschluss da ist und wir einen Plan ausgearbeitet haben. Er fragt, wie lang das wohl dauert. Ich sage, so schnell wie möglich – ein, zwei Stunden. Er sagt, Tankard und Murphy sind im Augenblick unterwegs und machen heute um vier Feierabend. Ich sage, ist denn heute kein anderer da, der länger als vier Uhr arbeitet? Nein, sagt er. Ich sage, wir werden versuchen, vor vier Uhr fertig zu sein. Er sagt, und ich zitiere: ›Es wäre meinen Leuten gegenüber nur fair, wenn Sie das täten.‹ Seinen Detectives. Die können ihn nicht ausstehen.« Sie schwieg. »Tankard und Murphy waren gerade 106
eben erst bei Munro, hat er gesagt. Irgendwas von wegen Angriff auf einen Inspekteur der RSPCA.« Sie warf Scobie einen Blick zu. »Das passt ja gut zu dem, was du uns gesagt hast.« »Wollen wir nur hoffen, dass sie Munro nicht auf die Palme gebracht haben«, sagte Challis. »Wissen wir, wo sie gerade stecken?« »In der Bücherei.« »In der Bücherei?« »Jemand hat sich von dort aus auf Pornoseiten eingeloggt.« Challis sah, wie Scobie den Kopf schüttelte. Er ahnte, was der jetzt dachte: An jeder Ecke lauern Fallstricke auf die Kinder, wie soll man nur gegen all das gefeit sein? Challis gähnte. Im Dienstfahrzeug war es warm, der Wagen rollte dahin, er schaute schläfrig zum Fenster hinaus und ließ die Gedanken treiben. In der Entfernung erkannte er die Schornsteine von BHP, ein paar Möbelmärkte und Auspuffwerkstätten. In Waterloo stolperte man andauernd über solche Gegensätze. Auf der Hauptstraße gab es einen großstädtisch wirkenden Delikatessenladen, und gerade jetzt kamen sie an einem Ladenlokal vorbei mit wunderschön gearbeiteten Tischen, Stühlen und Anrichten aus Grenadill, Teak, Jarrahholz und Steineibe. Erst letzte Woche hatte er einen Mann kennen gelernt, der solarbeheizte Swimmingpools installierte und in ganz Australien gefragt war. Also, wer hatte denn nun versucht, Kitty umzubringen, und warum? Wenn man davon ausging, dass es versuchter Mord war und kein Betrunkener oder Junkie oder Irrer, der im Affekt gehandelt hatte. Zu Beginn seiner Karriere hatte Challis es immer ganz unglaublich gefunden, wie zwei, drei Detectives unbewusst in ähnlichen Bahnen oder gar an dasselbe dachten. Doch nun hielt er das für ganz selbstverständlich und war nicht überrascht, als er Scobie sagen hörte: »Wenn Munro die Casement umbringen 107
wollte, warum hat er dann die ganze Zeit damit gewartet?« Challis war auch nicht überrascht, als er Ellen etwas darauf erwidern hörte, so als habe sie auf die Frage gewartet: »Er hat ein Foto von ihr gekauft, also hat er vielleicht angenommen, er habe den einzigen Abzug. Dann hat er herausgefunden, dass sie noch eine zweite Kopie davon hatte, oder er fragte sich, was, wenn sie noch einen Abzug hat.« »Woher sollte er denn wissen, dass sie einen Abzug hatte, wenn er ihn nicht an der Pinnwand gesehen hat? Und wenn, warum hat er ihn nicht mitgenommen und verbrannt? Es sei denn, er hatte Angst, dadurch Aufmerksamkeit zu erregen.« »Also, ich weiß nicht«, antwortete Ellen. »Ist Munro ein Typ, der einen Flugplatz aufsucht?« Scobie schüttelte den Kopf. »Nicht der Munro, den ich kenne.« Ellen drehte sich um und sah Challis zwischen den Sitzen an. »Hal? Irgendwelche Ideen?« »Vielleicht hat er letztes Jahr das Foto von ihr gekauft, weil man den Cannabis darauf erkennen kann und er nicht wollte, dass das jemand anderes sah. Kitty schien keine Ahnung zu haben, was auf dem Foto war, also wiegte er sich in Sicherheit. Dann hatte er doch Bedenken. Fragte sich, was, wenn sie die Negative für Kunden aufhob, die weitere Abzüge wollten, zum Beispiel.« »Sie deswegen umbringen zu wollen ist doch wohl ziemlich drastisch, es sei denn, er hatte von ihr wirklich etwas zu befürchten.« Challis nickte. »Ich weiß. Wir können nicht ausschließen, dass sie entdeckt hat, was auf dem Bild ist, und ihn darauf angesprochen hat oder dass sie es schon die ganze Zeit gewusst und ihm damit gedroht hat.« »Erpressung?« Challis zuckte mit den Schultern. »Oder sie wollte eine Beteiligung.« 108
»Sie ist doch eine Freundin von Ihnen, Hal.« »Und?« »Wollen Sie weiter dranbleiben?« »Im Augenblick ist das Ihr Fall, Ellen.« »Oder aber«, überlegte sie weiter, »jemand anderes hat versucht, sie umzubringen. Wenn es denn ein Mordversuch war.« Sie waren eine Weile still, dann sagte Challis zögerlich: »Scobie, könnte ein gewöhnlicher Farmer wie Munro Marihuana anbauen, ernten, trocknen, verpacken, transportieren und unter die Leute bringen?« Sutton schüttelte den Kopf. »Nicht der Munro, den ich kenne. Aber er steckt in finanziellen Schwierigkeiten und war vielleicht empfänglich für die Idee, Marihuana anzubauen. Damit ist viel Geld zu verdienen. Eine Pflanze in Hydrokultur bringt fünfhundert Gramm Cannabis im Wert von viertausend Dollar oder mehr. Zehn Pflanzen, drei bis vier Ernten im Jahr, das bringt bis zu hundertsechzigtausend.« Challis nickte. Er kannte die verschiedenen Täterprofile: Da gab es die »Wilden«, die irgendwo im Freien ein paar Pflanzen für den Eigenbedarf zogen; die etwas besser organisierten, die bis zu hundert Pflanzen pro Saison ernteten, um ihr Einkommen aufzubessern; Großpflanzer, die das Einkommen dazu verwendeten, um legale Unternehmen zu finanzieren; und sich abstrampelnde, ehemalige Grundstücksbesitzer, die größere Flächen bewirtschafteten, um die schlechten landwirtschaftlichen Einkünfte aufzubessern. »Munro ist doch sicher in der Gegend viel zu bekannt, um das Zeug hier zu verkaufen«, sagte Challis, »also, wer hilft ihm dann? Und liefert er weiter weg, bis nach Melbourne, zum Beispiel? Hat er dort Kontakte? Und was, wenn die Pflanzen kränkeln? Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ein Pflanzer sich der Hilfe eines ehemaligen Botanikers des Landwirtschaftsministeriums bedient, um einen Ernteverlust zu 109
verhindern. Das sind ein paar der Fragen, auf die wir Antworten suchen.« »Stimmt.« Challis warf Ellen einen Blick zu. »Tut mir Leid, wenn ich mich in Ihre Arbeit einmische.« Ellen zuckte leichthin mit den Schultern. »Macht mir nichts aus. Je mehr Köpfe darüber nachdenken, umso besser, finde ich. Anhaltspunkte für steigende Drogenaktivität gibt es genug, wenn auch nicht notwendigerweise Marihuana. Daran ist meiner Meinung nach South Australia schuld.« Challis wusste, worauf sie anspielte. Aufgrund der dort herrschenden laxen Marihuana-Gesetzgebung war South Australia zu einem Mekka der Marihuana-Hydrokultur geworden. Dies bedeutete allerdings auch intensiven Lieferverkehr von dort nach Victoria und New South Wales, per Auto, Bus, Flugzeug und Lastwagen. Die Polizei kontrollierte in der Zwischenzeit auf den Interstate-Highways stärker und bedrohte so die Versorgungsrouten, was die Dealer in Victoria und New South Wales zwang, stärker auf örtliche Anbieter auszuweichen. So sah es aus. Sie grübelten noch einen weiteren Kilometer, als Ellen plötzlich in ihrem Sitz erstarrte. »Da ist Venn. Läuft quietschvergnügt in der Gegend herum.« »Der Liebespärchenvergewaltiger?«, fragte Challis. »Genau der.« Challis schaute sich die Gruppe der Leute genauer an, die den McDonald’s am Kreisverkehr am Ende der High Street betrat. Nach einer Weile entdeckte er Dwayne Venn und die TullySchwestern. »Ich hab gehört, er ist auf Kaution freigekommen.« Voller Verachtung meinte Ellen: »Die hätten den Schlüssel lieber wegwerfen sollen.« »Ach, seien Sie doch nicht so hart zu ihm, Ellen«, sagte Challis. »Er ist doch nur ein ganz normaler, seiner Illusionen 110
beraubter Bursche, der mal einen Fehler gemacht hat, wie wir alle. Dafür sollten wir ihn nicht gleich verdammen.« »Nach modernen Maßstäben geradezu ein Musterbürger«, ahmte Scobie Sutton Challis nach. Challis zeigte mit dem Finger auf Ellen. »Er hat doch nur drei schutzlose Frauen vergewaltigt, angegriffen und zu Tode erschreckt. Wie können Sie es da wagen, den armen Kerl zu verurteilen und zu belästigen und ihn wie einen Kriminellen zu behandeln?« »Ist ja nicht so, als hätte er jemanden umgebracht«, warf Scobie ein. »Und selbst wenn«, meinte Challis, »dann hat er bestimmt einen guten Grund dafür gehabt.« Ellen grinste. »Und welchen?« »Na, vielleicht hat sich jemand über ihn lustig gemacht, als er noch klein war.« Ellen schaute weg und seufzte. Challis wurde wieder ernst. »Wer hat ihn verpfiffen?« »Pam Murphy hat da was flüstern hören und es mir gemeldet. Sie zögert, ihre Quelle preiszugeben.« »Gute Polizistin«, sagte Challis. »Ja.« Auf dem Parkplatz hinter dem Polizeirevier von Waterloo sagte Challis: »Jetzt ist es ein Uhr. Wir treffen uns um halb drei wieder hier. Das sollte für den Papierkram und die Einweisung von Murphy und Tankard reichen, und ich habe genug Zeit, um mit dem Halter des Landrovers zu sprechen.«
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17 Diesmal fuhren Pam und Tankard einen Zivilwagen, nicht den Polizeivan, und sie trugen T-Shirts und Jeans, keine Uniform; für diese Observierung in der Bücherei hatten sie sich schnell in Zivil geworfen. Doch als Erstes bat Pam Tankard darum, am Bankautomaten vor der Commonwealth Bank in der Main Street zu halten. Prima, die dreißig Riesen von Lister Financial Services waren da. Sie konnte immer noch nicht glauben, dass ihr Antrag genehmigt worden war. Doch Carl Lister hatte keine weiteren Fragen mehr gestellt. »Sie sind bei der Polizei? Kein Problem, Mädchen.« Mädchen. Sie war fast dreißig, aber hundertmal am Tag bekam sie dieses »Mädchen« zu hören, von Arbeitskollegen, Mitbürgern, sogar von ihrem eigenen Vater. Vielleicht würden sie damit aufhören, sie andauernd »Mädchen« zu nennen, wenn sie sich erst mal ein Auto gekauft hatte und nicht mehr mit dem Bus fuhr. Für dich immer noch Constable Murphy, du Arschloch, dachte sie. Ein wenig Kleingeld wäre kein Fehler. Sie zog sich hundert Dollar, und während der Bankautomat noch arbeitete, schaute sie auf die Uhr. Hatte sie noch genügend Zeit, den Wagen zu bezahlen und später abzuholen? Morgen vielleicht oder Mittwoch. Aber dann war Donnerstag, und die erste Rate war fällig, Gehalt gab es aber erst am Donnerstag in vierzehn Tagen. Sie spürte die ersten Anzeichen von Panik in sich aufsteigen und kehrte zum Wagen zurück. John Tankard schaute zu, wie der Sicherheitsgurt ihre Brüste in dem »Riptide« -T-Shirt teilte und hervorhob. »Na, befriedigt, Tank?« »Nie«, erwiderte Tankard auf seine rosige, träge, bierbäuchige, 112
leicht dümmliche Art. Ohne zu blinken, reihte er sich in den fließenden Verkehr ein, fuhr zur Bücherei und parkte knapp neben der Buchsbaumhecke. »So kann ich nicht aussteigen«, sagte Pam. Doch Tankard ging bereits zur Eingangstreppe der Bücherei. Pam glitt über den Fahrersitz – den Tank unangenehm angewärmt hatte; sie stellte sich seinen behaarten Hintern vor und schauderte –, stieg aus und verriegelte den Wagen. Von der Bucht wehte eine Brise herein. Auf der Grasfläche am Ufer stand ein kleiner Zirkus, der noch von den Osterfeiertagen übrig geblieben war. Pam ging die Stufen hinauf und betrat die Bücherei. Offenbar hatten die Bibliothekarinnen nicht mit Perverslingen gerechnet, als sie online gingen, denn sie hatten nicht sonderlich darüber nachgedacht, wo die Computer aufgestellt werden sollten, und auch die moralische Verderbtheit der Leserschaft nicht mit einkalkuliert. Sergeant van Alphen zufolge, der sie kurz eingewiesen hatte, bevor sie losgefahren waren, hatte jemand Kinderpornografie auf die Festplatte heruntergeladen. Jemand anderes hatte ein Album voller Fellatio-Miniansichten auf dem Bildschirm stehen gelassen. Die Bibliothekarinnen konnten unmöglich alle überwachen, also hatten sie die Polizei gerufen. »Sergeant, ich kenne mich mit dem Internet nicht aus«, hatte Tankard bei der Einweisung gejammert. »Keine große Sache«, hatte van Alphen erwidert. »Setzen Sie sich hin, lesen Sie was, schlendern Sie ein wenig herum, stöbern Sie in den Regalen, aber behalten Sie im Auge, wer sich einloggt und was heruntergeladen wird, ohne dass Sie dabei auffallen. Und lassen Sie die Funkgeräte im Wagen. Benutzen Sie im Notfall das Telefon in der Bücherei.« Pam hatte sich ein Grinsen gerade noch verkneifen können: John Tankard in einer Bücherei! »Ein paar gebundene Bücher stemmen, gute Übung für den Bierarm, Tank.« »Es reicht, Constable«, hatte van Alphen gesagt. 113
Als Pam an die Tür zur Bücherei kam, glitt diese auf, und Tankard stürzte heraus. Er war wie in einem Freudentaumel, strahlte mit zuckenden Mundwinkeln und schlug die Faust in die Handfläche. »Fall gelöst«, frohlockte er. »Wie bitte?« »Brad Pike.« Pam schaute an Tankards breitem Oberkörper vorbei, doch Pike verbarg sich hinter den inneren Türen, der Ausleihtheke und den zweitausend Quadratmetern Bücherregalen. »Und was macht er?« »Sitzt vor einem Computer.« »Ja, Tank, aber was macht er?« »Dreimal darfst du raten.« Also zog Pam ihre Schlussfolgerungen und verknüpfte im Geiste Internet-Pornografie mit jenem Tag vor zehn Monaten, als Bradley Pike, zweiundzwanzig, arbeitslos und nicht vermittelbar, bei Jasmine Tully, der zweijährigen Tochter seiner Lebensgefährtin, den Babysitter spielte. Es war ein Samstag gewesen, und damit Jasmine ihren Mittagsschlaf machte, hatte er sie herumgefahren. Als sie eingeschlafen war, war er in eine Milchbar gegangen, um sich Zigaretten zu holen. »Ich war fünf Minuten weg«, hatte er gesagt. »Nein, drei Minuten. Drei Minuten höchstens.« Als er zurückkehrte, war das Kind verschwunden. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, den Wagen zu verriegeln. Die kriminologische Untersuchung des Wagens hatte keinerlei Spuren ergeben, mit Ausnahme jener, die man in einem Auto von Leuten wie Bradley Pike und Lisa Tully erwarten konnte. Sie waren jung, arm, ungebildet, nachlässig und dumm. Lisa Tully war an jenem Tag mit ihrer Schwester Donna mit dem Zug nach Frankston gefahren, und als sie, nach Parfümproben stinkend und vor geklauten Spraydosen nur so klappernd, nach Waterloo zurückkehrte und zu hören bekam, dass ihr Kind verschwunden sei, da hatte sie vor Wut 114
geschäumt und geschrien. »Das warst du, Brad, ich weiß, dass dus warst.« Die Polizei war da ganz ihrer Ansicht und hatte Haus und Garten durchsucht. Nichts. Sie hatten Pike tagelang unter Druck gesetzt, Suchmannschaften hatten die Halbinsel abgesucht: Abflusskanäle, Felsteiche, Farngestrüppe, Müllhalden und Farmland. Das Kind wurde nie gefunden. Pike wurde nie vor Gericht gestellt. Wie der reinste Schwachkopf, fand Pam, war Pike einfach in Waterloo geblieben. Und als Beweis dafür, wie kaputt manche Menschen waren, sah man ihn ab und an in Begleitung von Lisa, auch wenn der Rest des Distrikts nichts mit ihm zu tun haben wollte. »Ist doch klar, oder nicht?«, meinte Tankard. »Niemand will mehr mit ihm pennen, also holt er sich zu Pornos einen runter.« Gut möglich, dachte Pam. Das Neueste in der immer wieder aufflammenden Beziehung Pikes zu Lisa Tully war die einstweilige Verfügung, die Lisa gegen ihn erwirkt hatte; sie behauptete, er würde sie belästigen. Davor hatte sie einen Sinneswandel gehabt und gesagt, sie glaube nicht mehr, dass Pike hinter dem Verschwinden ihrer Tochter stecke. Davor wiederum war sie genau davon felsenfest überzeugt gewesen. Pam wusste, dass die einstweilige Verfügung nicht viel zu bedeuten hatte. Zumindest sorgte sie dafür, dass Lisa und Donna Tully weiterhin im Blickfeld der Öffentlichkeit standen. »Am liebsten würd ich den kleinen Mistkerl platt machen«, sagte Tankard und ballte die Faust. Pam nickte geistesabwesend. Sie mussten unbeobachtet in die Bücherei kommen und herausfinden, was Pike am Computer machte. Das war ihre Hauptsorge. Unglücklicherweise kannte Pike ihre Gesichter. Schließlich hatten sie in den letzten zehn Monaten häufiger miteinander zu tun gehabt. Er war ein paarmal zusammengeschlagen worden. Dann war da noch die Nacht, als er mit leichten Verbrennungen ins Krankenhaus gebracht wurde, 115
nachdem er den Treibstoff aus einem verlassenen Wagen abgepumpt und ein Feuerzeug angemacht hatte, um besser sehen zu können. Ein anderes Mal war er wutentbrannt auf die Wache gekommen, weil ihm die Marihuanapflanze, die er in einem Blumentopf auf der hinteren Veranda zog, geklaut worden war. Und gerade erst neulich, als sie ihn auf der Straße getroffen und er ihr erzählt hatte, Venn sei der Liebespärchenvergewaltiger, behauptete er, jemand stelle ihm nach. Pam schüttelte den Kopf. Nicht besonders helle, unser Bradley. »Und wie gehen wir vor?« »Wir müssen davon ausgehen, dass er nur was über seinen Wagen nachschaut und keine Kinderpornos herunterlädt.« Pike fuhr einen verkehrsuntauglichen Torana. »Ganz einfach. Wir gehen zu ihm hin und stören ihn. Ich freu mich schon drauf. Vielleicht haben wir ja Glück.« Pam wusste genau, wie sich Tankard einem Verbrechen näherte: Mögliche Täter und Verdächtige piesacken, bis sie ein Verbrechen gestanden, dann einbuchten. Sie zuckte mit den Schultern. »Na, dann mal los.« Sie gingen hinein, und Tankard stürmte wie ein brünstiger Stier durch den Raum zu einer abgeteilten Ecke. Pam folgte ihm, bahnte sich einen Weg durch die Tischreihen, an denen Zwölftklässler saßen und Studienarbeiten schrieben, vorbei an älteren Männern in Lehnsesseln, die Tageszeitungen lasen, einem Fotokopierer und einer mobilen Pinnwand, an die Poster zur Brustkrebsvorsorge geheftet waren. Sie traf noch gerade rechtzeitig bei den Computern ein, um mitzubekommen, wie Pikes Bildschirm sich leerte, als Tankard sich – zu spät – Pikes Maushand griff Pike, der ganz erzürnt tat, rief: »Lasst mich in Ruhe, ich werde verfolgt, okay? Ich suche nur was darüber, okay?« »Ach, das lässt dich wohl nicht los, Brad?«, sagte Pam, legte den Kopf zur Seite und betrachtete das ausgemergelte Gesicht, die Hühnerbrust und die ungewaschene Vokuhila-Matte. Weiß 116
der Himmel, was Lisa Tully jemals an ihm gefunden hatte. In diesem Augenblick kam eine Bibliothekarin vorbei. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie, »Sie werden am Telefon verlangt«, und beäugte Pike mit einer Mischung aus Besorgnis und Schadenfreude. Pam ging ans Telefon. Es war Sergeant Destry, die sagte, sie sollten alles stehen und liegen lassen, das CIB brauche sie und Tank, um bei einer Durchsuchung der Farm von Ian Munro behilflich zu sein. »Ich sehe Sie beide in fünf Minuten auf der Wache zur Einweisung.« »Verstanden, Sergeant«, sagte Pam. »Dein Glückstag heute, Bradley«, sagte sie zu Pike, als sie gingen.
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18 Es war nervenaufreibend, sicher, gleichzeitig aber auch befreiend. Der alte Einmischer hätte einen anonymen Anruf gemacht, hätte der Polizei einen Tipp gegeben, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, hätte sich aber keinerlei Ruhm erworben und auch sonst in keiner Weise davon profitiert. Profit, bar auf die Hand. Mostyn Pearce, den der Artikel über den »Spinner mit dem Frettchen« schmerzte, schüttelte den alten Einmischer ab. Kein Kriechen durchs Unterholz mehr, kein selbstloses Beiseitestehen. Die Elenden werden das Land erben? Das ist doch ein Witz. Die Starken werden das Land erben. Die Starken nehmen die Sache in die Hand. Die Starken nehmen sich einfach, was sie wollen. Bevor er zur Arbeit ging, schnappte sich Pearce seine Schrotflinte, ganz legal, keine Probleme mit dem Papierkram, schließlich arbeitete er für die Justiz, und klopfte bei dem Typen an die Tür. Der Typ öffnete, bemerkte die Waffe, und der Einmischer sah etwas in den Augen von dem Typen aufblitzen. Angst? Eingeständnis, dass man sich mit dem Einmischer besser nicht anlegte? Resignation? Von allem etwas. Jedenfalls hatte er das sofortige Interesse des Typen geweckt und sagte rundheraus: »Ich weiß, wer Sie sind.« Der Typ erwiderte darauf nichts. »In Wahrheit heißen Sie Michael Trigg.« Keine Reaktion. »Ich dachte da an eine einmalige Zahlung von hundert Riesen«, sagte der Einmischer. Nichts. »Kommen Sie rein«, sagte der Typ schließlich. 118
Nach dem Zwischenfall mit den Bullen in der Bücherei ging Bradley Pike wieder die High Street entlang und kam bei Coolart Computers vorbei. Letzte Woche hatten sie einen PC aus zweiter Hand dagehabt. Fünfhundert Dollar für einen Rechner mit Monitor, internem Modem, Soundkarte, Lautsprecher, Tastatur und zig Gigabyte auf der Festplatte. Noch nie war es leichter, von zu Hause aus durchs Web zu surfen. Auf jeden Fall besser, als wenn irgendeine Plunze, die sich gleich aufregt, einem in der Bücherei über die Schulter glotzt und die Bullen holt. Er hatte allerdings keine fünfhundert Piepen. Er ging trotzdem an dem Laden vorbei und stellte fest, dass der Rechner schon verkauft worden war und sie keinen zweiten mehr hatten. »Aber schauen Sie doch immer mal wieder vorbei«, teilte man ihm mit. Zumindest der junge Bursche, der ihn bediente. Er konnte Brad Pike offenbar nicht von einem Stück Seife unterscheiden. Aber der Geschäftsführer erkannte Pike, und Pike konnte an seinem Blick erkennen, dass dieser, wie alle anderen guten Bürger von Waterloo auch, glaubte, dass Bradley Pike Lisa Tullys kleines Mädchen umgebracht hatte. Als er den Laden verließ, blieb Pike direkt vor dem Geschäftsführer stehen und sagte: »Die Anklage wurde fallen gelassen, okay?« Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, entgegnete der Geschäftsführer: »Das heißt noch lange nicht, dass man auch unschuldig ist, nicht wahr?« Das traf Pike, und als er die High Street entlangging, schlug er sich mit der Faust in die Handfläche. Und dann sah er Dwayne Venn und die Tully-Schwestern auf der anderen Straßenseite. Sein erster Gedanke war, davonzulaufen und sich zu verstecken. Doch das würde wohl 119
einen schlechten Eindruck machen. Er musste da durch, so wie er die letzten Monate in dieser Stadt hatte durchstehen müssen, all das Getuschel und Gerede und die Verleumdungen, die er hatte ertragen müssen. Außerdem würde es verdächtig wirken, wenn er jetzt wegrannte. Schließlich hatte er dieser Polizistin Murphy den Tipp mit Venn und den Liebespärchenüberfällen gegeben. Venn war im Haus der Tully-Schwestern bis an die Haarwurzeln zugeknallt gewesen, hatte mit dieser Plunze geprahlt, die er sich in einer Nacht auf dem Parkplatz Stony Point vorgenommen hatte, und eine Streichholzschachtel voller Schamhaare herumgezeigt. Echt blond noch dazu. Die beiden Tully-Schwestern – die genauso zugeknallt waren und rumkicherten – turnte es richtig an, sich anzuhören, wie dieser kranke Kerl rumtönte. Mal lief was zwischen Lisa Tully und ihm, mal wieder nicht. Manchmal durfte er sie besuchen, andere Male schrie sie ihn an: »Ich weiß, dass du mein Baby umgebracht hast, du Mistkerl!«, und ließ ihn nicht wieder hinaus. Also noch ein Grund, warum er nicht einfach weglaufen konnte. Er wollte auf gutem Fuß mit ihr bleiben. Er ging locker über die Straße, sagte Hallo und versuchte in ihren Gesichtern zu erkennen, ob er einen Riesenfehler gemacht hatte oder nicht. »Also schneide ich ihr die Fingernägel meistens im Schlaf«, sagte Scobie Sutton. »Hm-hm.« »Ich meine, sie steht auf Klamotten und Haare und Make-up, auf traditionellen Frauenkram, da sollte man doch meinen, dass sie sich auch für Fingernägel interessiert und sie mich ihr die Nägel schneiden lässt, aber nichts da. Bei den Fußnägeln ist es noch viel schlimmer.« Sie erklommen gerade die Stufen zum CIB; Ellen neben ihm 120
hatte den Arm voller Akten. »War Larrayne als Kind auch so?« »Wie?« »An Klamotten und Haaren interessiert«, sagte Sutton. »Nicht besonders.« »Und heute?« Ellen war mit ihren Gedanken woanders gewesen, doch als der Name ihrer Tochter fiel, kam sie wieder zu sich. »Sie hat einen Freund, also ja, sie steht auf Klamotten, Haare und Make-up.« Das erinnerte Scobie an einen anderen Charakterzug seiner Tochter, und er sagte lachend: »Offenbar ist Roslyn die Großdealerin für Ohrklipps in der Schule.« »Hm-hm.« Scobie Sutton wusste, dass er die anderen manchmal mit den Geschichten von seiner Tochter langweilte. Sie war das Beste, was ihm je widerfahren war, und sie überraschte ihn immer wieder, eine Offenbarung. Er spürte, wie Ellen wieder in Gedanken versank, also versuchte er es mit einer anderen Masche und bat sie um Rat. »Ich weiß nicht, wie ich ihr dabei helfen soll, mit dieser Dreiecksbeziehung fertig zu werden, die sie mit zwei anderen Mädchen hat«, erzählte er. »Sie erträgt es nicht, von ihnen getrennt zu sein, obwohl sie sich manchmal gegen sie verbünden.« Doch Ellens Handy klingelte, als sie das Büro des CIB betraten, und sie schickte ihn fort und ging in ihr eigenes Büro, um den Anruf entgegenzunehmen. »Sergeant Destry.« »Mrs. Destry?«, sagte eine Jungenstimme. »Ja.« »Ich bins, Skip.« »Hallo, Skip.« »Ich wollte mich nur bedanken, dass Sie meine Jacke zurückgebracht haben. Tut mir Leid, dass ich nicht zu Hause 121
war.« »Schon in Ordnung, Skip.« Er hielt inne und sagte dann langsam. »Es tut mir Leid, dass ich mich übergeben hab und so weiter.« »So was kommt vor«, sagte Ellen, die ihn am liebsten nach Ecstasy-Tabletten und Amphetaminen ausgefragt hätte und was er sonst noch auf Larraynes Party eingeworfen hatte oder ob er das Zeug auch an ihre Freunde verhökerte. »Und falls Sie mein Vater genervt hat, dann tut mir das auch Leid.« Skip schien es ehrlich zu meinen, und Larrayne mochte ihn; Ellen hätte ihm am liebsten gesagt, er solle sich nicht mit Schuldgefühlen für etwas belasten, was sein Vater getan hatte. Stattdessen fragte sie ihn, ob er nicht zum Abendessen kommen wollte. Es gab eine kurze Pause, dann sagte Skip eilig ja und legte auf. Ellen seufzte, goss sich einen Kaffee ein und rief an, um herauszufinden, ob der Durchsuchungsbefehl für Ian Munros Farm schon fertig war. Tessa Kane hatte gesehen, wie der Zivilstreifenwagen den Flugplatz Waterloo verlassen hatte, Challis auf dem Rücksitz, Ellen Destry und Scobie Sutton vorn. Sie hatten sich angeregt unterhalten, sie nicht bemerkt und ihr Auto nicht erkannt. Es war ein merkwürdiges Gefühl für sie, Challis so unerwartet mit Kollegen über die Arbeit sprechen zu sehen. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte er sich keineswegs so angeregt unterhalten, sondern bekümmert gewirkt. Ihr Fehler, irgendwie. Und eigentlich auch wieder nicht. Es war nicht so, dass sie bei ihm einziehen wollte oder so was. Sie übte keinen Druck auf ihn aus. Sie hatte einfach nur genug von dem Gepäck, das er mit sich herumschleppte, das war alles. Irgendwie war er deswegen distanzierter als nötig, wenn sie zusammen waren, und davon hatte sie einfach genug. Es war weiß Gott kein leichtes Gepäck, 122
das er mit sich herumschleppte. Schließlich hatte sich seine eigene Frau mit ihrem Geliebten zusammengetan, um ihn umzubringen, und beinahe hätte es ja auch geklappt. Er versuchte, diese Geschichte endlich abzuschütteln, aber das dauerte wohl noch eine Weile. Sie war gewillt zu warten, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Irgendwie kam sie sich an diesem Tag ausgenutzt vor. Kurz bevor sie das Büro verlassen wollte, hatte es einen wütenden Anrufer gegeben, der sagte, er sei der Mann mit dem Frettchen und bis dato ein loyaler Freund des Progress gewesen, doch nun sei Schluss damit, und sie solle besser aufpassen. Es könnte jederzeit geschehen, Tag oder Nacht, aber es würde geschehen, und es würde nicht schön werden. Sie hatte den Hörer fallen lassen, als hätte er sie gebissen. Und dann noch der Ärger wegen des Artikels über Asylbewerber. Sie hatte unter anderem über die Macht von Etiketten gesprochen, mit denen die öffentliche Meinung gemacht und manipuliert wurde. Wenn ein »Asylbewerber« zum »Terroristen« wurde, zum »Eindringling«, »illegalen Einwanderer« oder »Fanatiker«, dann suchte er kein Asyl mehr, sondern nach einer Gelegenheit zu Zerstörung, Unterminierung oder Betrug. Er verdiente kein Mitleid, sondern löste Furcht und Hass aus. Nun bekam sie diese Etikettierung aus erster Hand mit. Noch vor wenigen Wochen war sie die bewunderte Kritikerin der Behörden gewesen, weil diese unfähig waren, Bradley Pike zu fassen. Eine »Wahrheitssuchende«, »Vorbild« der Halbinsel. Nun war sie eine »Verräterin«, eine »gefühlsduselige Schlampe«, eine »Lesbe«, eine »verdammte Intellektuelle«, deren Schuhe ihr ein paar Nummern zu groß waren. Immerhin hatten ein paar Freunde – wenn auch nicht Challis, noch nicht – angerufen und gesagt, sie sei furchtlos, immerhin schon was, auch wenn Furchtlosigkeit damit gar nichts zu tun 123
hatte. Sie tat einfach nur das, was richtig war, mehr nicht. Doch als sie den Flugplatz hinter sich ließ, wandten sich ihre Gedanken in eine andere Richtung, auf die sie während ihres mitgeschnittenen Interviews mit Janet Casement gestoßen war. Sie war auf eine simple Human-Interest-Story über eine Ortsansässige aus gewesen, deren Flugzeug unerklärlicherweise von einem besoffenen Idioten gerammt worden war, wodurch das Leben besagter Frau in Gefahr geriet, doch am Ende stand nun aus heiterem Himmel die Bemerkung: »Dabei kenne ich diesen Munro noch nicht einmal.« Danach hatte Janet Casement kein Wort mehr gesagt. Anne Jeffries lebte auf einem zehntausend Quadratmeter großen Grundstück voller Hundezwinger an einer Seitenstraße landeinwärts von Penzance Beach. Challis brauchte zehn Minuten, um vom Revier in Waterloo dorthin zu gelangen, und er fand sich in vertrauter Umgebung wieder, eine unbefestigte Straße voller Schlaglöcher und freigewaschenen Baumwurzeln. Selbst bei geschlossenen Fenstern konnte er die Hunde in ihren Zwingern hören, ein ununterbrochenes Kläffen und tieferes Bellen. Er hielt neben einer Buchsbaumhecke und stieg aus. Das Grundstück lag in einer stickigen Senke, und der Geruch von eingesperrten Hunden hing schwer in der Luft. Challis reckte sich. Er konnte in der Entfernung die Anhöhe sehen, die Upper Penzance darstellte, in mittlerer Entfernung Obstgärten, Weinstöcke und weidendes Vieh. Im Vordergrund stand Anne Jeffries, die durch ein altes, vielfach gestrichenes Maschendrahttor in der Hecke trat. »Sie müssen Inspector Challis sein.« Sie gaben sich die Hand. Anne Jeffries war um die sechzig, wettergegerbt, weißhaarig, in Overall, Gummistiefeln und einem alten Armeehut. Challis konnte ihre Augen nicht sehen, denn sie trug eine vom Anti-Cancer Council empfohlene RundumSonnenbrille mit sehr dunklen, fast schwarzen Gläsern. So als habe sie seine Gedanken gelesen, nahm sie die Brille 124
ab, wischte sich die rot umrandeten wässrigen Augen mit einem Taschentuch und setzte die Brille wieder auf. »Kummer mit den alten Augen«, sagte sie. »Ertrage kein helles Licht mehr.« Challis nickte. Nun wusste er, warum die Scheiben des Landrovers ringsum so dunkel getönt waren. Wie geschaffen für die Person, die Kittys Cessna gerammt hatte, fand Challis. Es gab keine Möglichkeit, herauszufinden, ob es sich um einen Mann oder eine Frau oder um jemanden gehandelt hatte, den Kitty kannte. Challis kam sofort zur Sache. Es dauerte nicht lange. Anne Jeffries schloss ihren Landrover nie ab. »Ich meine, das hier ist schließlich die Halbinsel«, erklärte sie. Challis wollte ihr sagen, dass die alten Zeiten schon lange vorüber waren. Sie war Samstagabend zu Bett gegangen und hatte nichts gehört. Als sie aufstand, war der Landrover fort. Sie hatte erst nichts gemeldet, weil sie dazu neigte, Sachen zu vergessen. Vielleicht hatte sie ihn irgendwo stehen gelassen und war mit dem Taxi heimgefahren. Wäre nicht das erste Mal gewesen. Letzten Monat hatte sie ihn an der Bahnstation Bittern abgestellt und war mit dem Zug nach Frankston gefahren und von da in die Stadt, auf dem Rückweg war sie dann in Frankston ausgestiegen und hatte den Bus nach Hause genommen. »Ich bin eine dumme alte Kuh«, sagte sie. »Mein Kurzzeitgedächtnis reicht von zwölf bis Mittag.« »Und die Hunde haben Sie nicht geweckt?« Sie legte den Kopf zur Seite und sah Challis amüsiert an, so als wollte sie sagen, er solle mal seinen Verstand gebrauchen. »Die vermaledeiten Köter bellen rund um die Uhr«, erklärte sie. Das war alles. Challis fuhr zurück nach Waterloo.
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19 Das hier war doch kein Mord, was also machte Challis hier? Diesen Gedanken konnte Ellen Destry auf den Gesichtern von Pam Murphy und John Tankard lesen, als die beiden Polizeifahrzeuge sich am Eingang zu Ian Munros Farm trafen. Die beiden waren nur uniformierte Constables, also war das keine Frage, die Ellen beantworten musste, aber für sie war das eine nützliche Erinnerung, dass dies ihr Fall war und Challis nur mitfuhr. Die Zufahrt, eine schmale Fahrrinne zwischen eingezäunten Weideflächen, führte zu einer breiten, flachen Ebene mit Eukalyptusbäumen, Hecken und Schuppen. Das Farmhaus selbst stand etwas zurückgesetzt im feuchten, trüben Schatten riesiger Fichten. Die Zufahrt war der einzige erkennbare Ausgang, und Ellen wies Tankard an, den Weg mit dem Polizeivan zu versperren. Scobie Sutton klopfte an die Fliegentür. Der Mann, der öffnete, wirkte so angespannt wie viele Männer, wenn sie sich in die Ecke gedrängt fühlen. Er beäugte sie abschätzig, sein Blick glitt von einem zum anderen, bis er auf Challis als dem vermeintlichen Vorgesetzten liegen blieb. »Was wollen Sie und wozu die Armee?« Ellen sah, wie Challis den Kopf schüttelte und zur Seite trat. Sie übernahm. »Ian Munro?« Munro ignorierte sie. Er wandte sich an Pam Murphy und John Tankard und sagte: »Lasst mich raten – ihr beiden habts versiebt, also mussten nun eure Chefs mitkommen und euch zeigen, wies geht.« »Sind Sie Ian Munro?« Er schaute Ellen voller Müdigkeit und Verachtung für ihr Geschlecht an. »Und wenn?« 126
»Ich habe hier einen Durchsuchungsbefehl für Ihr Grundstück. Dazu gehören alle …« Er riss ihr das Formular aus der Hand, zerknüllte es und warf den Ball mit der Hand von unten zu John Tankard. »Fang, Fettie.« Ellen erstarrte. Sie konnte nicht zulassen, dass Munro die Kontrolle übernahm oder sie ablenkte. »Ich habe Ihnen ordnungsgemäß eine Kopie des Durchsuchungsbefehls überreicht, und nun werden meine Detectives und ich Ihren Besitz durchsuchen. Haben Sie das verstanden?« Doch sie spürte, wie sie innerlich verkrampfte, die anderen vielleicht auch, denn Munro war geschmeidig und voller kaum zu bändigender Energie. Seine Augen funkelten, suchten nach ihrem Innersten und taten es verächtlich ab. Sie erkannte eine Art animalischer Intelligenz an ihm, wusste, sie konnte ihm nicht trauen, brauchte gar nicht erst zu versuchen, ihm zuvorzukommen. Munro grinste. Und grinsend trat er ins Haus zurück und knallte die Tür zu. Ellen wandte sich sofort an die anderen. »Ziehen Sie Ihre Waffen. Vielleicht hat er ein Gewehr im Haus. Pam, Sie bleiben hier mit Inspector Challis. Tank, hinters Haus. Scobie, Sie kommen mit mir.« Sie öffnete die Tür. Im Inneren des Hauses wirkte alles beengt; die Luft war abgestanden. Keine Sonne drang durch die Fenster, und die Wände und Linoleumfußböden wirkten schmuddelig. Nirgendwo Staub, nur eine Atmosphäre freudloser Abnutzung und Enttäuschung. Kein Spielzeug, keine aufgehängten Kinderzeichnungen, obwohl hier Kinder lebten, das wusste Ellen. Sie kontrollierte das Vorderzimmer rechts, Scobie links, und sie trafen sich im Flur wieder, nickten sich kurz zu und gingen dann im dämmrigen Licht in die anderen leeren Zimmer. In der Küche stießen sie auf eine müde wirkende Frau, die wie ein Sack Kieselsteine am Tisch hockte, trübselig mit einer Tasse 127
und einer Zigarette im Aschenbecher spielte. Sie bemerkte sie kaum. »Mrs. Munro, wohin ist Ihr Mann verschwunden?« Die Frau antwortete nicht. Sie war abgemagert und mürrisch und starrte zum Fenster über der Spüle hinaus. Unter der Arbeitsplatte stand unpassend weiß und glänzend ein funkelnagelneuer Miele-Geschirrspüler. Die Platte war ein dunkles, gekörntes Laminat, welches man in dem schwachen Licht, das durchs Fenster über der Spüle fiel, kaum erkennen konnte. Hier und dort hingen Kiefernnadeln im Fliegengitter. »Wir wissen, dass er hier irgendwo ist. Ist er bewaffnet?« Dann hörte Ellen einen Schrei von draußen hinterm Haus. Das Haus war alt; Ellen fühlte sich an ihre Kindheit erinnert. Die Hintertür ging auf eine mit Fliegengittern verhängte Veranda hinaus, links und rechts lagen luftige Schlafzimmer hinter Eternitwänden. Eine Fliegengittertür mit Rückholfeder führte auf eine Reihe von bemoosten Betonstufen hinaus, dahinter lag ein Hinterhof, der mit Oleanderbüschen überwuchert war: die Art von abgelegenem Farmhaus, das mal einen Bulldozer brauchte, die Halbinsel war voll davon. Doch jetzt zählte nur John Tankard. Er lag zusammengerollt auf dem Boden und japste nach Luft. Ellen kauerte sich mit Scobie vor ihn hin. »Tank? Alles in Ordnung?« »Der Mistkerl ist mit der Flinte auf mich los. Hab ihn nicht mal kommen sehen.« »Hat er geschossen?« »Hat mir damit in den Unterleib gedroschen.« Ellen sah auf und über den Hof und suchte nach Munro. Ein windschiefer Heuschober, ein Werkzeugschuppen, zersplitterte Paletten, Ziegelsteine, leere Apfelkisten, ein Festbrennstoffofen, zwei dürre Kettenhunde, die sich ihr an den Ketten entgegenwarfen, die über dem verwahrlosten Hof hingen. Ihr Blick kehrte zum Werkzeugschuppen zurück und zu der 128
Andeutung einer Bewegung im dunklen Inneren. Ein Anlasser leierte einmal, zweimal, dann sprang ein schwerer Motor an. Ein bullig wirkender Toyota-Pick-up schoss schlingernd aus dem Schuppen, die schwere Stahlwanne schwang hin und her, und die großen Reifen fraßen sich in den Boden. Auf der Ladefläche tanzte ein leeres Fass umher und fiel herunter, und während Ellen zuschaute, hätte sie um ein Haar ihr Leben verloren, denn Munro streckte mit einer Hand die Flinte aus dem offenen Seitenfenster und schoss auf sie. Sie konnten nichts unternehmen. Der Toyota verschwand vor dem Haus, sie hörten ein Knirschen und Krachen, dann ein zweites Mal, und als Ellen vor dem Haus stand und sich im Geiste schon auf die Verbrecherjagd vorbereitete, stellte sie fest, dass der Polizeivan gerammt und gegen den Zaun gedrückt worden war.
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20 Ellen kam erst spät nach Hause; das Essen stand zum Warmhalten auf einem zugedeckten Teller im Ofen. Ihr Mann hatte sich mit seinen Büchern und Notizen zurückgezogen, und Skip Lister und ihre Tochter saßen an entgegengesetzten Enden des Sofas, so als seien sie auseinander gesprungen, als sie ihren Wagen in der Einfahrt hörten. Der Fernseher lief. Nach einer Weile erkannte Ellen, dass sie sich die Movie Show auf SBS anschauten. In diesem Haushalt war das eine Premiere. Ellen stand eine Weile da und schaute von der Tür aus zu, und das Essen auf dem Küchentisch hinter ihr wurde kalt. Skip, der ihr Interesse bemerkte, sagte entschuldigend: »Ich wollte nur mal sehen, was die über den neuesten Todd Solondz erzählen.« Nie von ihm gehört, dachte Ellen. Sie holte ihren Teller mit dem kalt gewordenen Brathähnchen und Gemüse, dazu ein Glas Weißwein, und setzte sich auf den Sessel neben dem Sofa. Skip und Larrayne waren wieder näher zueinander gerückt, wie Ellen bemerkte. Gut, sie wollte ja auch nicht, dass sie vor ihr Angst hatten. »Bist du so ein Filmfreak, Skip?« »Und ob, Ma«, sagte Larrayne mit warmer Stimme. »Bist du doch, oder?«, sagte sie, drehte ihre Knie zu Skip und berührte ihn leicht am Handgelenk. Na los, drängte Ellen in Gedanken, kuschel dich an ihn, ist mir gleich. Dann sah sie, dass Skip eine kurze Cargo-Hose trug, sodass man seine Schienbeine mit den vielen blauen Flecken sah. Gestolpert? Hingefallen? Zugedröhnt oder besoffen umgefallen? Vielleicht vom Vater geschlagen worden? Die Movie Show lenkte ihn zumindest ab und dämmte seine übliche Nervosität ein wenig ein. Skip beugte sich vor, den 130
Mund leicht geöffnet, und Ellen ertappte sich bei dem Gedanken, dass Larrayne durchaus einen Freund brauchte, der eine Leidenschaft für etwas hegte. Sie beobachtete ihn weiter und grübelte: Skip, ich hoffe, du bringst das in Ordnung; ich hoffe, du enttäuschst sie nicht und führst sie nicht auf die schiefe Bahn. Als die Movie Show vorbei war und Skip den Fernseher ausgeschaltet hatte, erzählte sie ihnen von Ian Munro und der Ankunft der Special Operations Police aus der Stadt. »Das ist nun deren Sache.« Skip schloss kurz die Augen. Ellen verspürte das abstruse Gefühl, das arme, mutterlose Kind an sich zu drücken und alles besser machen zu wollen, was immer es auch war. Wo war übrigens die Mutter? Sie bekam schneller eine Antwort darauf, als sie erwartet hatte. Auslöser war eine unschuldige Frage. »Ein paar Leute von der Arbeit wollen zum Football-Eröffnungsspiel«, sagte sie. »Ich kann Karten besorgen, wenn ihr wollt. Skip?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Ich hasse das Spiel.« Und dann platzte es aus ihm heraus, ein heiß geliebter älterer Bruder läuft mit einem unentdeckten Herzfehler herum und stirbt beim Football. »Ma gab Pa die Schuld, Pa gab Ma die Schuld, sie kamen sowieso nicht besonders gut miteinander aus, also hat sie uns sitzen lassen.« Da war er neun. »Ich seh sie ein-, zweimal im Jahr.« Und er glaubte offenbar wirklich, dass sie ihn im Stich gelassen hatte. Larrayne, die ganz überwältigt war und die Geschichte zum ersten Mal zu hören bekam, rutschte übers Sofa und drückte ihn an sich. Ein Gedanke schlich sich bei Ellen ein: Sind Skip und Larrayne so enge Freunde, weil sie sich vernachlässigt fühlen, keine Beachtung finden, nur gedankenlos geliebt werden? Um das Thema zu wechseln, schenkte sie beiden ein Glas Wein ein und fragte Skip so beiläufig wie möglich, was er denn 131
werden wolle, wenn er mit der Schule fertig sei. Chemiker, antwortete er mit plötzlich hellwachen Augen, so als habe sie ihm das richtige Stichwort gegeben. Schon bald redeten sie über Drogen, und sie erzählte ihnen ein paar alte Anekdoten über Fälle, an denen sie gearbeitet hatte, bei denen es um Drogen gegangen war. Skip war ganz Ohr, ein guter Zuhörer, voller Fragen, und er schien die sanfte Warnung zu überhören, die sie jeder ihrer Bemerkungen mitzugeben versuchte: Nichts kaufen, nichts verkaufen, nichts nehmen. »Auf den besseren Rave-Partys«, hörte sie sich sagen, »gibt es wenigstens genug Wasser zu trinken.« »Ja, Ma«, sagte Larrayne verächtlich, »für drei Dollar die Flasche. Manche können sich das nicht leisten, und wenn sie voll auf Ecstasy sind, fühlen sie sich so toll, dass sie sowieso das Trinken vergessen.« Ellen warf Skip einen Blick aus den Augenwinkeln zu und fragte sich, ob solche Rave-Partys wohl mal seine Szene gewesen waren, die er nun hinter sich ließ. Das schloss sie aus der Art, wie er weise nickte, während Larrayne redete und sich richtig aufregte. »Und die Unterhaltungen, Gott, die sind so was von banal«, sagte sie. Sie nahm Haltung und Sprachfall eines Junkies an und sagte: »Ich bin ja so fertig … Ja, ich auch, ich bin so, so total platt irgendwie …« Sie lachten. Ermutigt fuhr Larrayne fort: »Eine in der Schule, also, ein Dealer hat ihr fünfhundert Dollar geboten, wenn sie für ihn das Ecstasy auf eine Rave-Party schmuggelt – und stell dir vor wie: im Schlüpfer.« Wieder mussten sie lachen. Der Wein war mild und die Außenwelt weit weg. Ellen hatte die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet, und im dämmrigen Schein der Stehlampe schaute sie ihrer Tochter zu, die sagte: »Die Wachleute wollten den Dealer nicht reinlassen, und er war schon ganz verzweifelt, wo 132
doch alle seine Kunden schon auf ihn warteten.« »Und was hat deine Freundin gemacht?« »Nein gesagt.« Ellen machte sich Gedanken über all die anderen, die Ja sagten, und all die Wachleute, die wegschauten.
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21 Als Pam Murphy am Mittwochmorgen gegen acht Uhr zur Arbeit kam, war die Luft wie elektrisiert vor Entschlossenheit. Die Männer der Special Operations aus Melbourne, unkommunikativ und ein wenig lächerlich wirkend in ihrer kantigen Grimmigkeit und den energisch stampfenden Stiefeln, waren noch am Dienstagabend eingetroffen – fast so, fand sie, wie in einem Mel-Gibson-Film. Als sie durchs Revier ging, kam sie an einer Gruppe von ihnen vorbei und fragte sich, wie die das wohl machten. Hatte sich der Kollege, der für die Ausstattung der verschiedenen Abteilungen bei der Polizei zuständig war, den neuesten Hollywood-Copstreifen angeschaut, um sich dort die Ideen zu holen? »Was wir brauchen, Sir, sind diese coolen Baseballmützen und …« Sie nahm am morgendlichen Appell teil und erfuhr, dass man Tank und sie bei der Jagd auf Ian Munro nicht brauchte. Sie waren letzte Nacht brüsk vom Commander der Special Operations befragt worden, doch nun war allen klar, dass die örtliche Polizei sich wieder um ihre üblichen kleinstädtischen, hinterwäldlerischen Dinge kümmern sollte. Wir melden uns schon, wenn wir was brauchen. Also setzte sie Sergeant van Alphen ans Telefon, und Tank sollte seine Runden im Streifenwagen drehen. Zuerst jedoch ging sie in die Kantine, fand den Typen, der den Subaru verkaufte, und zahlte tausend Dollar an. Eine neue Batterie, ein Riss in der Windschutzscheibe, der noch gerichtet werden musste, und schon sollte der Wagen ihr gehören. Vielleicht im Laufe des Tages, okay? Dann ab ans Telefon. Der erste Anruf kam um zehn Uhr. »Waterloo Police. Constable Murphy am Apparat.« 134
»Ist da das Revier?« Pam wiederholte: »Waterloo Police. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ich hab grade meine Frau erschossen, und jetzt bring ich mich selber um.« Pam griff nach dem Schalter für die digitale Sprachaufzeichnung. Die Stimme hatte erst fiebrig geklungen, nun klang sie manisch. »Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Ich habe meine Frau erschossen, und jetzt bringe ich mich selber um.« Als sie die Aufnahme später abspielten, war Pam Murphys Pause deutlich zu hören. Man muss ja seine Möglichkeiten abwägen. Wenn man dem Typen sagt, er soll sich beruhigen, regt man ihn möglicherweise nur noch mehr auf. Geht man ganz nach Vorschrift vor und fragt erst nach Namen und Anschrift, ebenfalls. Tut man so, als sei das ein Juxanruf, ebenfalls. Also versuchte Pam es mit allen drei Ansätzen auf einmal und sagte: »Na kommen Sie, Sir, immer mit der Ruhe, sagen Sie mir, wer Sie sind, und wir regeln die Angelegenheit.« Es funktionierte. »Pearce, okay? Ich wohne in der Siedlung in der Nähe von Upper Penzance. Gleich an der Five Furlong Road.« Er nannte ihr Straße und Hausnummer. Pam kritzelte wild mit, schrieb »mögliche Schießerei« daneben und reichte den Zettel einem anderen Telefonisten. Dann fragte sie: »Sir, Mr. Pearce, die Waffe. Wo ist die jetzt?« »In meiner Hand. Was glauben Sie denn, zum Teufel?« »Sir, legen Sie sie doch einfach irgendwo hin. Am besten Sie bringen sie raus, gehen wieder ins Haus und warten. Es kommt gleich jemand bei Ihnen vorbei. Haben Sie Freunde oder Verwandte, die Sie anrufen können?« Als sie sich die Aufzeichnung später anhörten, bemerkte jemand, wie beherrscht Pearce war, wo man doch mit 135
plötzlichen Stimmungsschwankungen hätte rechnen müssen. Außerdem war die Liste der Klagen viel zu offenkundig: »Scheiße! Meine Frau hat gesagt, sie wird mich verlassen, sie hat alle meine Ersparnisse verplempert, ich hab ’n Scheißjob. Ich hab einfach die Schnauze voll.« »Überstürzen Sie nichts, Mr. Pearce. Also, wie schwer ist Ihre Frau verletzt? Braucht sie einen Krankenwagen?« Die Stimme klang ungläubig. »Einen Krankenwagen? Schätzchen, ich hab ihr gerade den Schädel weggepustet.« Dann war die Leitung tot. Danach lag die Angelegenheit nicht mehr in ihren Händen. Das CIB kümmerte sich darum – Challis, Sutton und Destry. Pam nahm noch ein paar Anrufe entgegen – eine verlorene Brieftasche, Kinder, die auf den Eisenbahngleisen spielten –, machte eine Teepause und träumte von ihrem neuen Auto. Sie hoffte, sich die Raten leisten zu können. Der zweite Anruf kam um zwanzig nach elf. Eine gebrechlich klingende ältere Frauenstimme. »Ist dort die Polizei?« »Ja. Kann ich Ihnen behilflich sein?« Pam spürte eine gewisse Verlegenheit. »Ich weiß, es klingt absurd, aber ich habe gerade ein merkwürdiges Gespräch mit einem kleinen Mädchen geführt.« Pam, die sofort an Exhibitionist oder »freundlicher Onkel« dachte, sagte bedächtig: »Ich verstehe.« »Am Telefon«, sagte die Frau. »Vor etwa anderthalb Stunden.« »Am Telefon. Ich verstehe nicht …« »Ich wollte erst nichts sagen«, fuhr die alte Frau fort, »aber je länger ich darüber nachdachte, umso mehr hatte ich den Eindruck, dass da etwas nicht stimmte.« »Noch mal ganz von vorn«, sagte Pam und klopfte mit der Spitze ihres Stiftes auf den Schreibtisch. »Nun, wie schon gesagt, kurz vor zehn Uhr heute Morgen 136
klingelte das Telefon. Ich hob ab, und eine kleine Stimme sagte: ›Hi, Omi, ich bins, Clare.‹ Und dann redete und redete sie.« »Und?« »Ich habe kein Enkelkind namens Clare.« »Nein?« »Nein. Diese kleine Stimme sagt: ›Danke für das Geburtstagsgeschenk, Omi, ich freu mich schon auf die Geburtstagsparty am Samstag, aber erst hab ich Ballett, kommst du und schaust mir zu?‹ Und immer so weiter, das arme kleine Ding.« »Also, ich finde, das hört sich wie ein ganz unschuldiges Versehen an«, sagte Pam. »Sie hat einfach nur die falsche Nummer gewählt, mehr nicht. Hat Ihre Stimme gehört und gedacht, Sie seien die Oma.« Die Stimme der Anruferin klang nun etwas ungeduldig. »Lassen Sie mich doch ausreden. Sie lassen mich nicht ausreden. Das Kind erzählte weiter und sagte, wenn ihr Vater sich nur endlich beeilen und aufstehen würde. Sie sei mehrmals ins Schlafzimmer gegangen und habe ihn gerüttelt, aber er wolle einfach nicht aufwachen. Dann sagte sie, sie glaube, er brauche wohl einen Arzt, denn da sei Blut auf dem Kopfkissen.« Pams Aufmerksamkeit war geweckt. »Warum haben Sie das nicht sofort gemeldet?« »Weil das Kind nicht beunruhigt schien und ich dachte, es gibt doch alle möglichen Gründe, warum ihr Vater im Bett liegt und sich Blut auf dem Kissen befindet. Vielleicht ist er betrunken und war in einen Streit verwickelt und ist ohnmächtig geworden.« Die Frau verstummte. »Aber Sie haben Recht, ich hätte früher anrufen sollen.« »Na, jetzt haben Sie es ja getan«, sagte Pam freundlich, »das ist die Hauptsache. Haben Sie gefragt, ob die Mutter da ist?« »Ja. Wenigstens so weit hatte ich noch alle meine Murmeln beisammen. Sie sagte, ihre Mutter ginge immer früh zur Arbeit und bleibe manchmal über Nacht fort. Vielleicht arbeitet sie in 137
der Stadt. Das tun ja viele. Pendeln jeden Tag hin und her.« »Ja. Was können Sie mir noch berichten? Irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte, das Haus zu finden oder herauszubekommen, wer diese Leute sind.« »Tut mir Leid, das ist alles.« »Wenn Sie mir vielleicht Ihre Telefonnummer geben …« Die Frau nannte sie ihr, und Pam kritzelte sie auf ihren Block. »Das ist ja in Penzance Beach«, stellte sie fest. »Da wohne ich.« »Ach wirklich? Dann sind Sie eine der wenigen jungen Leute hier. Sonst wohnen hier nur so alte Hennen wie ich.« »Das Kind hat wahrscheinlich ein paar Zahlen vertauscht oder auf eine falsche Taste gedrückt«, sagte Pam. »Ich werde mal ein paar Telefonnummern ausprobieren. Vielleicht habe ich Glück.« Die alte Frau kicherte. »Hauptsache, Sie rufen nicht wieder bei mir an. Ich drücke Ihnen die Daumen, dass Sie schnell fündig werden.« Pam hatte eine halbe Stunde und neunzehn Anrufe später tatsächlich Glück. Eine andere zittrige großmütterliche Stimme bestätigte ihr, dass sie eine Enkeltochter namens Clare habe, und wollte wissen, worum es eigentlich ging.
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22 Zwei Streifenpolizisten hatten den Mord-Selbstmord-Anruf überprüft und meldeten atemlos, dass es zwei Leichen gab, massive Verletzungen, jede Menge Blut, und nun stand Challis in der Wohnzimmertür eines kleinen Hauses, in dem es metallisch nach dem Blut roch, durchsetzt mit dem Geruch von verbranntem Kordit und noch etwas, was sich tiefer festgesetzt hatte, so als würde es im Haus Tiere geben. Noch nach Jahren in diesem Beruf beunruhigte ihn der Tatort eines Mordes zutiefst. Er stopfte sich den Schlips ins Hemd – es wäre nicht das erste Mal, dass er auf seine Krawatte kotzte – und trat ein. Zwei Leichen. Die Frau klemmte zwischen Sofa und Beistelltisch, Gesicht und Schultern lagen auf einem Magazin, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag, die Knie auf dem Teppich. Sie hatte eine Ladung in den Hinterkopf bekommen. Blut, Knochen und Hirnmasse hatten sich vor ihr auf dem Tisch und darüber hinaus auf dem Boden verteilt. Der Mann saß in einem Lehnsessel der Frau gegenüber, den Zwillingslauf einer Schrotflinte unters Kinn geklemmt. Er hatte anscheinend die rechte Hand ausgestreckt und mit dem Daumen abgedrückt. Der Großteil seines Kopfes fehlte. »Man muss schon ziemlich entschlossen sein, um so was zu tun«, sagte Sutton. Challis überhörte ihn. Eine Art geheime, vibrierende Befriedigung hatte ihn erfasst. Dies hier war ein Doppelmord, und die einzigen Regeln, die nun galten, lauteten: Nichts ist sicher, niemandem ist zu trauen, alles ist zu überprüfen. Er führte Sutton wortlos aus dem Haus und sagte dem uniformierten Constable am Vordertor: »Ich möchte, dass das Haus abgeriegelt wird. Zutritt nur für Befugte und in Tatortausrüstung.« 139
Damit meinte er sterile Overalls, Überschuhe, Handschuhe und Mützen. Davon gab es ein paar Sätze im CIB-Falcon; Sutton und Challis zogen sich eilig an und kehrten ins Wohnzimmer zurück. Als Erstes umkreiste Challis die Leichen in einiger Entfernung, kauerte sich ab und zu hin und prüfte den Blickwinkel. Weil es sich hier um einen Tatort handelte, musste ein Entfernungsradius festgelegt werden, vor allem im Hinblick auf die Medien und die Reichweite ihrer Linsen und Mikrofone; dazu mussten Zugangs- und Abfahrtsweg des Täters festgestellt werden, denn dabei handelte es sich um sekundäre Tatorte. In der Zwischenzeit würde das Zimmer von Kriminaltechnikern kartografiert, gefilmt und fotografiert werden, und der Rechtsmediziner würde eine erste Untersuchung zur offenkundigen Todesursache und zum möglichen Zeitpunkt des Todes durchführen und bestimmen, ob irgendwelche erkennbaren Verletzungen den Opfern vor oder nach dem Tode zugefügt worden waren. Außerdem sollten mögliche Spurenquellen am Tatort von vornherein festgestellt werden: Verdächtige, das Wetter, Verwandte der Opfer, Tiere (da war wieder dieser Geruch) und offizielle Personen – er selbst, andere Polizisten, Rettungssanitäter, der Rechtsmediziner. Doch jetzt erledigte Challis seinen Job, besah sich eingehend den Tatort und machte sich ein Bild. Dann kauerte er sich hin und tastete die Taschen des Mannes ab. Schlüsselbund in der linken Tasche. Er verglich die beiden Hände des Mannes miteinander, ohne sie zu berühren. Die rechte Hand wies weniger alltägliche Schnitte, Kratzer und Schwielen auf als die linke, und sie war ein wenig kleiner. Challis erhob sich und sagte: »Ich möchte, dass das Zimmer und die Leichen nach Fingerabdrücken untersucht und die Hände eingepackt werden.« »Chef?«, fragte Scobie stirnrunzelnd. »Vielleicht haben sie den Killer gekratzt. Vielleicht hat der 140
Killer sie berührt.« »Aber das ist ein Mord mit anschließendem Selbstmord. Sie haben doch das Band abgehört.« »Erstens«, sagte Challis, »ist der Mann Linkshänder, nicht Rechtshänder«, und er erzählte ihm von den Schlüsseln in der Tasche und den Abnutzungsspuren an den Händen. Scobie nickte bedächtig und konzentrierte sich dann auf das Zimmer. Challis bemerkte das und wartete. Schließlich zeigte Scobie auf etwas. »Auf dem Hosenaufschlag von dem Mann klebt ein wenig Blut und Hirnmasse. Von ihm stammt es nicht, der tödliche Schuss ging nach oben, also muss es von seiner Frau stammen. Wenn er hinter ihr steht und ihr in den Hinterkopf schießt, bevor er sich hinsetzt und sich erschießt, wie kommt dann ihr Blut an seine Hose? Also muss sie jemand anderes erschossen haben, während er dort saß. Vielleicht ist er sogar als Erster erschossen worden. Ich bezweifle, dass er einfach dasitzen und zuschauen würde, wie seine Frau erschossen wird.« Du würdest dich wundern, dachte Challis. So mancher Mann würde angesichts des Todes liebend gern jemand anderem den Vortritt lassen. Doch Challis verlor darüber kein Wort. »Wir brauchen einen toxikologischen Befund«, sagte er, »für den Fall, dass man sie unter Drogen gesetzt hat. Aber ich wette, sie wurden erst niedergeschlagen. Mit ein wenig Glück wird der Rechtsmediziner noch was finden, es sei denn, die Schüsse haben alle Beweise vernichtet.« Dann drehte er sich um und betrachtete die Leichen. »Was die Schrotflinte betrifft, da müssen wir wissen, ob sie ins Haus gehört oder hergeschafft worden ist.« »Wieso hat eigentlich niemand was gehört?«, fragte Scobie nachdenklich. Challis zuckte mit den Schultern. »Es ist das letzte Haus, die Nachbarn sind zur Arbeit, und die elektronische 141
Vogelscheuchkanone in den Weinbergen knallt ununterbrochen.« Dann trafen die Kriminaltechniker ein und machten sich an die ihre Aufgabe. Challis trat an die Tür zurück und schaute eine Weile zu. Sie puderten die größeren Oberflächen ab, um Fingerabdrücke zu nehmen, machten ab und zu ein Bild mit einer Polaroid CU-5 mit fester Brennweite, bevor sie Abdrücke nahmen, die möglicherweise bei der Sicherung vernichtet wurden. Challis ging nicht davon aus, dass sie Abdrücke vom Täter finden würden. Er – oder sie – hatte sicherlich Handschuhe getragen. Und er bezweifelte, dass man Abdrücke an den Leichen finden würde, selbst wenn der Täter bei den Morden keine Handschuhe getragen hatte. Fingerabdrücke auf lebender Haut halten sich nicht länger als neunzig Minuten. Abdrücke auf einer Leiche unterliegen den Witterungsbedingungen, dem Zustand der Haut und anderen Faktoren. Sutton flüsterte ihm ins Ohr: »Und wer hat dann den Anruf getätigt? Ist der Mann vielleicht dazu gezwungen worden?« Challis hatte sich die Aufnahme angehört, bevor sie das Revier verließen. Er versuchte sich jetzt daran zu erinnern. Hatte die Stimme verängstigt geklungen, so als sei der Mann gezwungen worden, gegen seinen Willen zu handeln? Eigentlich nicht. Aufgeregt. Künstlich aufgeregt. »Der Killer«, antwortete er. Challis betrachtete das Telefon, und als es nach Fingerabdrücken untersucht worden war, hob er den Hörer ab und drückte die Wiederwahltaste. Er hörte es achtmal piepsen, dann sagte eine Frauenstimme: »Waterloo Police, Constable …« Challis legte auf. An der Wand neben dem Telefon war eine Karte festgezwickt. Die örtlichen Notrufnummern. Der Killer hatte die Nummer von der Karte abgelesen. Jeder andere hätte in der Aufregung einfach den Notruf gewählt. Challis seufzte und ging wieder in den Hausflur. Wo 142
blieb der Rechtsmediziner? Er hörte Scobie Sutton in der Küche rumoren. Ellen Destry kam aus einem Zimmer etwas weiter den Flur entlang. »Ich habe mal das Büro durchsucht«, sagte sie. »Und?« »Der Mann heißt Mostyn Pearce, seine Frau Karen. Sie haben ein Schulkind namens Jessica – die noch in der Schule sein könnte, hier ist sie jedenfalls nicht.« Sutton hörte das. Er gesellte sich zu ihnen und sagte: »Meine Tochter geht mit einer Jessie Pearce in die Schule.« Ellen zeigte ihm eine Fotografie in einem Zinnrahmen. »Sind das die Eltern?« Scobie nickte. »Himmel, wer sagt es dem Kind?« »Im Büro steht eine Adresskartei. Vielleicht stehen die Großeltern da drin.« Challis sah ihr über die Schulter. »Ist das ein Frettchen?« »Ja. Im Augenblick ist es im Hinterhof angeleint.« Challis betrachtete ein Porträt der Familie vor einer Hecke, ein Frettchen zu ihren Füßen im Gras. Er konzentrierte sich auf das Gesicht des Mannes. Keine Sonnenbrille. Der Mann, den er mit dem Frettchen in Rosebud gesehen hatte, hatte eine Sonnenbrille getragen. Aber es war wohl derselbe. Sutton sagte: »Pearce hat im Internierungslager gearbeitet. Die Leute haben sich vor ihm gegruselt. Wann immer er sein Kind in die Schule gebracht hat, hatte er das Frettchen dabei. Hat es an der Leine geführt wie einen Hund.« Challis dachte an Tessa Kane und ihren Artikel über den Spinner und dass sie gemeinsam darüber gelacht hatten. Pearce war zwar ein komischer Kauz gewesen, aber einen solchen Tod hatte er nicht verdient. »Was wissen wir über die Pearces?« Die Routinefragen bei solchen Fällen: Opfer, Täter, Motiv, Beweis, Tatwaffe. Sie hatten die Opfer und die Waffe – es sei denn, dass noch irgendwo ein stumpfer Gegenstand herumlag. 143
Sie hatten ein paar Hinweise, aber möglicherweise nicht genug, um den Täter zu identifizieren. Und ein Motiv hatten sie auch nicht. »Im Büro gibt es ein sehr interessantes Notizbuch«, sagte Ellen. Sie folgten ihr ins »Büro«. Dort standen ein winziger, übermalter Bücherschrank, ein Schreibtisch mit einem PC und einem Drucker, in einer Ecke eine Nähmaschine, in der anderen ein Trimmrad. Das Notizbuch lag im Bücherschrank. Ellen brachte es zum Schreibtisch und schlug es auf, und Challis las die aus dem Progress ausgeschnittenen Briefe des Einmischers, daneben handschriftliche Entwürfe erboster Briefe an Kommunalbeamte, die Polizei, die Straßenmeisterei von Victoria, den Bürgermeister, an Bundes- und Landesparlamentarier, alles säuberlich mit Datum und Anmerkungen versehen. »Pearce ist der Einmischer?« »Sieht so aus.« Challis stöhnte. »Ein Mann, der in den letzten zwei Jahren dutzende von Menschen gegen sich aufgebracht hat.« Ellen blätterte durch das Buch. »Hier ist ein Brief, den er gestern entworfen hat.« Challis las ein, zwei Zeilen: »Ostersonntag rief ich an und meldete vernachlässigte Schafe auf dem Grundstück von Ian Munro …« Er las nicht weiter, sondern warf Ellen einen fragenden Blick zu. »Munros Land liegt nur etwa einen Kilometer von hier entfernt«, sagte sie. »Ich habe Pearce neulich dort vorbeigehen sehen – wenn man davon ausgeht, dass er gern Leute bei den Behörden anschwärzte, könnte es sein, dass er in der Vergangenheit an Munro geraten ist, und vielleicht hat Munro beschlossen, es ihm heimzuzahlen.« »Bisschen heftig«, bemerkte Sutton. »Nun ja, Munro ist durchgeknallt.« 144
»Stimmt.« Challis starrte an ihnen vorbei ein Loch in die Luft und überdachte das Ganze. Bei Morduntersuchungen gab es natürlich Zufälle, ebenso Dinge, die nur schwer zu glauben waren, aber er war erfahren genug, um als Erstes nach der einfachen, der wahrscheinlichsten Antwort zu suchen. Pearce hatte jemanden beleidigt. Munro? Würde Munro etwas derart Ausgefeiltes inszenieren – würde er nicht einfach zur Tür hereinspazieren und feuern? Wenn er denn überhaupt so etwas vollkommen Durchgeknalltes tun würde. »Überprüfen Sie das«, sagte er. »Außerdem hat Munro sich mit Bankdirektoren, Anwälten und Kommunalbeamten angelegt. Wir sollten lieber eine Liste anfertigen und sie warnen. Ich muss außerdem wissen, ob die Pearces eine Schrotflinte hatten oder nicht. Es könnte natürlich Munros Waffe sein – seine Frau meinte, es würden zwei Schrotflinten und ein Gewehr fehlen.« Dann rief ihn Pam Murphy auf seinem Handy an und teilte ihm mit, dass noch ein zweiter Mord auf ihn warte.
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23 Pam Murphy stand in einem Haus in Tyabb und schaute der Rechtsmedizinerin benommen zu. Inspector Challis und seine Leute waren gekommen und wieder verschwunden; Challis hatte den Kopf geschüttelt und gesagt: »Sieht so aus, als sei unser Bursche beschäftigt gewesen.« Offenbar hatten Challis, Scobie Sutton und Sergeant Destry den Vormittag am Tatort einer anderen Schießerei verbracht, ein Ehepaar, das drüben bei Upper Penzance erschossen worden war, und nun das hier. Ian Munro hatte noch ein paar Rechnungen zu begleichen, hieß es. Challis hatte sie dafür gelobt, dass sie die Geschichte der alten Frau überprüft und die Leiche gefunden hatte. »Gute Detektivarbeit«, sagte er. Pam war keine Kriminalbeamtin, nur eine uniformierte Polizistin, und sie freute sich über dieses Lob. Jetzt musste sie wieder an den alltäglichen Kram denken, den man bei der Polizeiarbeit zu Gesicht bekam. Eine Schießerei mit einer Schrotflinte. Ihre erste. Gott sei Dank hatte das Kind nichts davon mitbekommen – und war nicht selbst erschossen worden. John Tankard hatte Pam vor dem Polizeirevier aufgegabelt und sie zu dem Haus gefahren. Die richtige Großmutter traf genau in dem Augenblick ein, als sie aus dem Wagen stiegen. Sie hieß Margaret Seigert; sie hatte an die Haustür geklopft, und das Kind, ein sehr gefasstes und ordentliches kleines Mädchen, hatte schon sehr genau gewusst, dass ihr Papi nicht mehr aufwachen würde und dass da ein wenig Blut auf seinem Kissen war. Ein wenig Blut. John Tankard, das Kind und die Großmutter blieben im Flur. Pam ging hinein und sah den Toten, der auf dem Rücken im Bett lag, die Decke bis ans Kinn hochgezogen. Zum Glück hatte das Kind nicht die Decke weggezogen und die Brust ihres Vaters gesehen: massive Schrotschusswunde, der 146
Leib ein einziger Brei, die Matratze blutdurchtränkt. Tank wollte selbst einmal schauen, und Pam nahm seinen Platz im Flur ein. Als er wieder herauskam, wirkte er geschockt, blass, verschwitzt, so als würde ihm zum ersten Mal im Leben bewusst werden, was eine Schrotflinte anrichten konnte, als würde er erst jetzt klar erkennen, dass er gestern vor Ian Munros Hintertür ungeheures Glück gehabt hatte. Das CIB war davon überzeugt, dass Munro dahinter steckte. Einer dicken Briefmappe zufolge, die sich in einem Aktenschrank fand, hatte David Seigert, das Opfer, Ian Munro in verschiedenen Straf- und Zivilangelegenheiten vertreten, darunter bei einem Auftritt vor Gericht aufgrund einer Anklage wegen Tätlichkeiten, die Munro eine Strafe von achthundertfünfundsiebzig Dollar eingebracht hatte. Seigert hatte eine Frau, doch die unterrichtete an einer Uni in der Stadt und blieb häufig über Nacht fort. Pam hatte sie angerufen, der schlimmste Anruf, den sie je hatte machen müssen, und die Frau war sofort nach Hause zurückgekehrt und hatte, die Großmutter im Schlepptau, das Kind von dort weggebracht. Mord mit einer Schrotflinte. Allerdings gab es am Tatort keine Waffe. Inspector Challis zufolge handelte es sich bei den zwei anderen Toten ebenfalls um Mord, doch war das Ganze so inszeniert worden, dass es nach Mord mit anschließendem Selbstmord aussah. Bei Seigert, so sagte er, sei die Sache anders. Keine Waffe, keine Hülse. Pam wusste, dass die Waffe ihm nicht viel verraten würde, selbst wenn er sie fand. Angesichts der Tatsache, dass eine Schrotflinte Körner verschoss und kein einzelnes Geschoss und dass das Laufinnere eines Schrotgewehrs keine Züge hat, ist es so gut wie unmöglich, die Schrotladung eines Opfers mit einem bestimmten Gewehr in Verbindung zu bringen – es sei denn, man findet die Hülse am Tatort, denn die weist charakteristische 147
Spuren vom Einlegen und Abdrücken auf. Manchmal hilft auch die industriell gefertigte Füllung (Papier oder Plastik), den Hersteller der Patrone zu finden, doch dieses Wissen bringt einen kaum auf die Spur des Killers. Manchmal füllen die Schrotflintenbesitzer ihre eigenen Hülsen, doch ob dies im Fall der Ermordung Seigerts der Fall war, ließ sich nicht feststellen. Es gab keine Waffe und keine leere Hülse. Nun war die Rechtsmedizinerin am Werk. Offenbar war sie direkt von Challis’ Doppelmord hergekommen. Freya Berg hieß sie, und sie trug einen weißen Overall, Papierüberschuhe und ein Haarnetz. Sie hatte ein schmales, ausdrucksvolles Gesicht und lange, flinke Finger. Pam erinnerte sich an sie von einem früheren Fall, an dem Challis gearbeitet hatte. Ein Fall, bei dem Pam ebenfalls Initiative gezeigt hatte und von ihm gelobt worden war. Es war interessant, der Frau bei der Arbeit zuzuschauen. Tankard sollte sich das mal ansehen, dachte Pam. Aber Tankard war draußen, angeblich, um Gaffer vom Haus fern zu halten, in Wirklichkeit aber, um seine Nerven wieder zu beruhigen. »Was für eine Art zu sterben«, hatte er mehr als einmal gesagt. Dr. Berg wollte später im Leichenschauhaus eine Autopsie vornehmen, doch im Augenblick untersuchte sie die Leiche vor Ort und sprach dabei in ein Diktafon. »Offenbare Todesursache ist eine massive Brustwunde, möglicherweise verursacht durch eine aus kurzer Entfernung abgefeuerte Schrotflinte. Material, das in der Wunde gefunden wurde, lässt darauf schießen, dass das Gewehr gegen die Tagesdecke gedrückt und abgefeuert wurde.« Sie drückte auf die Pausentaste und warf Pam einen Blick zu. »Wenn, dann wahrscheinlich, um den Knall zu dämpfen.« Pam nickte. Sie schaute zu, wie Dr. Berg die Pausentaste wieder löste, jeden Fuß einzeln in die Hand nahm und die Knöchel bewegte, bevor sie das Bein anhob und die Knie bewegte. Nachdem sie die Beine wieder auf die durchgeweichte 148
Matratze gelegt hatte, drückte sie auf den Unterleib und schien die Hautoberfläche des Ermordeten eingehend zu untersuchen. »Zimmertemperatur achtzehn Grad Celsius, etwas kühler als die Außentemperatur von zweiundzwanzig Grad Celsius. Die Extremitäten lassen sich noch gut bewegen, doch der Bauchraum zeigt bereits erste Anzeichen von Leichenstarre.« Pam wusste von ihren Lehrgängen, dass der Körper nach Todeseintritt um drei Grad pro Stunde abkühlt. Später setzt sich die Abkühlung mit einem Grad oder noch weniger pro Stunde fort. Die Leichenstarre beginnt am Kopf und zieht vom Rumpf in die Gliedmaßen, also würde Dr. Berg wohl als Letztes den Kopf überprüfen. Tatsächlich setzte sich Dr. Berg aufs Bett, bewegte sich so, dass sie am Kopfende war und auf die Leiche herunterschaute, dann hob sie den Schädel vorsichtig vom Kissen und versuchte ihn zu bewegen. »Der Kopf ist schon recht fest«, sagte sie. Schließlich drückte Dr. Berg mit der Spitze ihres Kugelschreibers in den Unterleib und wiederholte dies von der Achselhöhle bis zur Taille. »Keine Ausbleichung, das Blut scheint vollständig geronnen.« Dann stand sie wieder auf, zog ihre Latexhandschuhe aus und sagte: »Der Verstorbene ist seit sechs bis acht Stunden tot.« Pam sah auf die Uhr. Es war Mittag. Das Kind und das Opfer hatten noch in tiefem Schlaf gelegen, als Ian Munro in der Früh hereinkam und feuerte. Die Nacht war totenstill, hätte sie beinahe gesagt. Die Rechtsmedizinerin sprach mit ihr. »Constable?« »Entschuldigung, ja?« »Wenn Sie das bitte Inspector Challis mitteilen würden?« »Was bitte?« Ein Ton sanfter Geduld. »Es ist nie leicht; und das wird es auch nie, Pam.« Berg hielt inne. »Sagen Sie dem Inspector bitte, dass ich versuche, die Autopsie heute Nachmittag 149
durchzuführen, spätestens morgen früh als Erstes. Sagen Sie ihm, ich setze den Zeitpunkt des Todes auf zwischen vier Uhr und sechs Uhr heute Morgen fest, okay?« Pam nickte. »Wo ist er eigentlich? Er ist doch sonst immer dabei.« Pam versuchte sich zu räuspern. »Wir glauben, dass die Person, die das hier getan hat, auch die anderen Personen in der Nähe der Five Furlong Road erschossen hat, und im Augenblick führt Inspector Challis ein Gespräch mit dem Leiter der Special Operations darüber.« »Wenn, dann kommts gleich knüppeldick«, sagte die Rechtsmedizinerin, packte ihre Tasche und ließ Pam mit ihren Gedanken und dem Geruch von Blut allein zurück.
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24 Special Operations und ihre Spürhunde suchten das offene Land in der Nähe der beiden Tatorte ab, die Uniformierten aus Waterloo klopften bei den Nachbarn, und Scobie Sutton war zur Farm der Munros zurückgefahren. Blieb für Challis und Ellen noch Upper Penzance. Die Anwohner mussten gewarnt werden. Vielleicht hatten sie ja etwas gesehen. Schließlich lag die hässliche Siedlung, in der die Pearces erschossen worden waren, keine zwei Kilometer unterhalb von Upper Penzance. Ellen saß am Steuer. Als sie sich Upper Penzance näherten, sagte sie: »Larrayne geht mit einem Jungen aus, der hier oben wohnt.« Challis rutschte auf seinem Sitz herum. Ellen wollte sich ein wenig unterhalten, und dies erforderte eine Reaktion. »Wie geht es ihr seit dem …« Seit dem Erlebnis letztes Jahr, als sie entführt worden war, wollte er sagen. Ellen wusste, was er meinte. »Gut, danke«, erwiderte sie. »Sie ist erheblich stiller geworden seitdem, geht die Dinge ernsthafter an.« Challis hörte das Zögern in Ellens Stimme und schalt sich selbst dafür, dass er geglaubt hatte, sie wolle nur ein wenig plaudern. Da gab es etwas, das sie sagen wollte, also gab er ihr das Stichwort: »Aber …?« Ellen warf ihm einen kurzen Blick zu und schaute dann wieder auf die gewundene Straße hinaus. »Der Junge, mit dem sie sich trifft, heißt Skip Lister, eigentlich Simon. Sein Vater heißt Carl.« Ellens Stimme klang fragend. Challis schüttelte den Kopf. »Der Name sagt mir nichts.« »Es gibt nichts über ihn«, sagte sie, womit sie meinte, dass sie 151
im landesweiten Computer nachgeschaut und herumgefragt hatte, ohne Ergebnis. »Aber Ihre Antennen stehen auf Empfang«, sagte Challis. »Meine Antennen stehen auf Empfang.« Challis sah sie an und wartete. Schotter spritzte gegen den Unterboden des Wagens, und Ellen bremste ein paarmal wegen einer Taube, die ihr aus dem Königsfarn links und rechts von der Straße vors Auto flatterte. Sie war eine gute Fahrerin, rechnete vor uneinsehbaren Ecken mit Gegenverkehr, ihr Blick wanderte zwischen Rückspiegel und Windschutzscheibe hin und her, und sie sah ihn nur selten direkt an. Schließlich sagte sie: »Zunächst mal ist Carl Lister ein Rüpel. Nicht körperlich, meine ich, sondern in seinem Benehmen. Es scheint ihm ziemlich egal zu sein, was Skip anstellt. Bei Larraynes Party letztes Wochenende ist Skip im Hinterhof ohnmächtig geworden. Er hätte an seinem eigenen Erbrochenen ersticken können, wenn wir ihn nicht gefunden hätten. Ich habe seinen Vater angerufen, der mir indirekt mitteilte, dass das doch nicht sein Problem sei.« Ellen verstummte. »Noch etwas?«, fragte Challis, der wusste, dass da noch was kommen musste. Vor ihnen lag die erste Zufahrt, eine Steinmauer mit einem verschlossenen Tor, daneben das Gitter einer Gegensprechanlage an einer steinernen Säule. Ellen bremste, verließ die Straße und sagte: »Er ist die Art von Mann, der auf die Frage, womit er denn sein Geld verdient, antwortet: ›Geschäfte‹, und wenn man fragt, welche Geschäfte, sagt er ›Dies und das‹ oder ›An- und Verkauf‹. Nie kriegt man eine klare Antwort, da fragt man sich doch, warum nicht.« »Ein krummer Hund, glauben Sie?« »Ja.« Ellen schaltete in den Leerlauf und stieg aus, um sich über die Gegensprechanlage zu melden. Als sie keine Antwort erhielt, zog sie eine Visitenkarte aus der Tasche, schrieb etwas auf die 152
Rückseite und steckte sie so in das Tor, dass man sie sehen konnte. Dann setzte sie sich wieder hinters Lenkrad, schnallte sich an und seufzte. »Die Freuden des Türenabklapperns. Wenn es sich nicht um ein Wochenendhaus handelt, das sowieso unbewohnt ist, dann sind die Bewohner zur Arbeit.« Challis nickte. »Vielleicht ist dieser Lister ja zu Hause, dann kann ich ihn mir ja mal ansehen.« »Ihr berühmter Instinkt bei der Arbeit.« »Genau.« Auch bei den nächsten beiden Häusern öffnete niemand; danach kamen sie zu den zwei Ziegelsäulen und dem Namen »Costa del Sol« auf einer Tafel in Buchstaben aus buntem Glas und Keramik, und Ellen sagte: »Das Haus der Listers, Vater und Sohn.« »Die Mutter?« »Wohnt nicht mehr hier.« Ellen stieg aus und betätigte die Gegensprechanlage. Challis hörte eine krächzende Stimme, und ein paar Minuten später tauchte aus dem weit entfernten Haus ein Junge auf und kam die Zufahrt zu ihnen hinunter. Ellen drehte sich zu Challis um und formte mit den Lippen: »Skip.« Challis stieg aus und stellte sich auf die andere Seite, er wollte beobachten und zuhören. Die Nachmittagssonne hatte noch herbstliche Kraft, und während er dastand, kam eine Brise vom Meer auf, raschelte in den Blättern und verwehte einige der Gerüche, die er unterbewusst hatte zuordnen wollen: verrottende Vegetation, Fleisch und Knochen von einer nahe gelegenen Farm oder einem Garten, und noch etwas Leichteres, Flüchtigeres, das nun verschwunden war, noch bevor er es hatte deuten können. »Hallo, Skip.« »Mrs. Destry.« Der Junge war dürr, nervös, unordentlich, unrasiert, also 153
keinen Deut anders als hunderttausend andere Studenten um die zwanzig. Cargohose, breite Schuhe, kurzärmliges Hemd über der Hose, alles in Schwarz. Fransige kurze Haare mit blonden Spitzen. Nikotinfinger. Eingefallene Wangen, leichte Hautunreinheiten, ruhelos: vielleicht die Gene, vielleicht die Nachwirkung längeren Ecstasymissbrauchs. Vielleicht macht er sich auch nur Sorgen um seine Uniarbeiten, dachte Challis. Und er erinnerte sich an seine eigene Zeit mit zwanzig, an den gegenseitigen Argwohn, das Taxieren zwischen ihm und den Eltern der jungen Frauen, mit denen er ausging. Noch schlimmer wäre es gewesen, wenn unter den Eltern auch noch ein Polizist gewesen wäre. Der arme Skip Lister musste sich gleich mit zweien davon herumplagen, da war ein wenig Nervosität durchaus verständlich. »Stimmt was nicht?«, hörte Challis ihn fragen. »Ich fürchte ja«, antwortete Ellen, und der Junge erstarrte. »Hat nichts mit dir zu tun«, fügte sie schnell hinzu. »Ist dein Vater zu Hause?« Das schien es nur noch schlimmer zu machen. »Ähm, nein, er ist arbeiten.« Also erzählte Ellen Skip von Ian Munro. »Ruf deinen Vater an, und sag ihm Bescheid«, sagte sie. »Ich bin sicher, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen, aber lass niemanden ins Haus, und ruf die Polizei an, wenn du jemanden herumschleichen siehst oder bemerkst, dass in eines der Nebengebäude eingebrochen worden ist. Am besten schließt du die Türen Tag und Nacht ab.« Skip Listers Gesicht hellte sich wieder auf, so als sei eine Last von seinen mageren Schultern genommen worden. »Kein Drama«, sagte er. »Wir passen eh schon auf – Sie wissen schon, die Flüchtlinge aus dem Lager.« Dann zog er sich wieder zurück, winkte noch einmal, drehte sich um und eilte ins Haus zurück. »Eigentlich ein ganz netter Kerl«, meinte Ellen einen 154
Augenblick später, als sie sich anschnallte. »Er kommt ein paarmal die Woche vorbei, bleibt meistens zum Essen. Einsam, würde ich sagen.« Sie saß mit einer Hand am Zündschlüssel da. »Pearce hat im Internierungslager gearbeitet. Wissen wir, wie er die Insassen behandelt hat?« »Ein Schläger, meinen Sie? Mord aus Rache?« Ellen nickte. »Das müssen wir natürlich überprüfen, aber sehr wahrscheinlich ist das wohl nicht.« »Sehe ich auch so. Aber sobald die Medien anfangen, eins und eins zusammenzuzählen – Pearce’ Arbeit, zwei noch immer flüchtige Lagerinsassen –, werden die Spekulationen blühen, und alle werden in Panik ausbrechen.« Challis wusste, sie meinte nicht Tessa Kane. »Ich werde mal ein Wörtchen mit unseren PR-Leuten reden«, sagte er. Die nächsten beiden Grundstücke waren unbewohnt, dann kamen sie an eine Zufahrt, neben der eine Milchkanne mit dem Namen »Casement« stand. Keine Mauer, kein verschlossenes Tor, keine Gegensprechanlage. »Kittys Haus«, sagte Ellen, warf Challis einen Blick zu und hielt an. Challis nickte. »Sie möchten nicht, dass sie in irgendwas hineingezogen wird«, fuhr sie fort. Das war eine Feststellung, keine Frage. »Stellen Sie mein Urteil in Frage?« Ellen lächelte und schüttelte den Kopf. Sie zögerte, auf das Grundstück zu fahren, ließ den Motor aber laufen. Dann sagte sie leichthin: »Kennen Sie den Ehemann?« »Ja.« Challis las viele Dinge aus der Frage und dem Ton ihrer Stimme heraus. Ellen interessierte sich ganz normal für sein Liebesleben – oder dessen Fehlen –, aber sie machte sich auch ihre Gedanken und wünschte ihm Glück. Die unausgesprochene Frage lautete: Haben Sie ein Auge auf Kitty Casement geworfen? Weil Sie sich mit Tessa Kane gestritten haben? Hält 155
Ihre verrückte Frau sie davor zurück, sich wirklich zu binden? Interessieren Sie sich für Kitty Casement, weil das eine sichere Sache wäre, weil sie verheiratet und also unerreichbar ist, und trotzdem sind Sie nicht in der Lage, sich darauf einzulassen? Challis sah, wie Ellen auf ihrem Sitz herumrutschte. Sie schauten sich lange und viel sagend an, ein Blick, in dem all diese Fragen lagen und der ihnen gleichzeitig auswich. Sie seufzte und fuhr langsam über die Zufahrt. »Hal, wir werden wegen ihrer Verbindung zu Munro ein wenig mehr Druck auf sie ausüben müssen.« »Ja.« »Es macht Ihnen doch nichts aus?« »Das ist unser Job«, antwortete Challis. Die Casements wohnten in einem alten, aber gut hergerichteten Schindelfarmhaus. Challis nahm an, dass es sich um eines der ursprünglichen Häuser auf der Anhöhe über Penzance Beach handelte. Es war strahlend weiß gestrichen und lag inmitten von Trauerweiden, Aralien und kleinen blühenden Eukalyptusbäumen. Sie parkten hinter Kittys Mercedes und stiegen aus. Ein gewundener Bruchsteinpfad, der von Kräutern und Lavendel gesäumt war, führte sie zu einer glänzend blauen Eingangstür und einem polierten Messingtürklopfer, Kitty kam an die Tür. Sie schien überrascht und ein wenig nervös, sie zu sehen, doch dann trat sie lächelnd zurück und bat sie in eine riesige, frisch renovierte Küche: Edelstahlarbeitsflächen und geräte, gewachste Hartholzdielen, ein alter frei stehender Hackklotz, Töpfe und Pfannen mit Kupferböden hingen an Haken. Die Nachmittagssonne schien herein und erhellte den Raum, vergoldete Kittys Haarschopf und die Härchen auf ihren Unterarmen, und einen Augenblick überkam Challis der erschreckende Wunsch, die Hand auszustrecken und über ihre Haut zu streichen. »Tee? Kaffee? Was Stärkeres? Bier? Gin Tonic?« Die Atmosphäre in der hellen Küche war freundlich. Challis 156
lächelte entwaffnend und sagte: »Ich glaube, wir könnten einen Gin Tonic vertragen.« Ellen warf ihm einen amüsierten Blick zu und sagte: »Hört sich gut an.« Kitty ging hinaus und kehrte mit ihrem Gatten und einer Flasche Gin zurück. Rex Casement sah verschlafen und verwirrt aus, und er streckte sich erst mal gewaltig, bevor er ihnen die Hand gab und sich zu ihnen an den Tisch setzte. Er trug einen Trainingsanzug und Nike-Joggingschuhe, war aber ansonsten gut gekämmt und glatt rasiert; so manch anderer, der sich den ganzen Tag zu Hause vor dem Monitor einschloss, hätte sich vielleicht nicht darum gekümmert, sich groß zu kämmen oder zu rasieren. »Ich war im Internet«, sagte er. »Manchmal vergesse ich dabei die Zeit.« »Oder den Tag«, sagte Kitty. »Das auch.« Challis betrachtete Kitty eingehend. Ihr Gesicht und ihr Verhalten waren neutral: Weder erkannte er das nachsichtige Lächeln der angestrengten, aber liebenden Gattin noch den verächtlichen Blick der vernachlässigten Frau. Er wendete den Blick ab. Als die Drinks fertig waren, sagte Kitty: »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen noch mehr mitteilen kann als das, was ich schon gesagt habe.« Ellen warf Challis einen Blick zu. Der nickte ihr zu. »Das ist eigentlich nur einer der Gründe, warum wir hier sind«, sagte sie und berichtete Kitty und ihrem Mann kurz von den Morden und dem Zwischenfall auf Munros Farm. Challis schaute zu und sah, wie Kitty alarmiert die Augen aufriss und die Hände vors Gesicht schlug. »Oh nein.« Rex Casement schluckte und schaute betroffen. Er drehte sich zu Kitty um und strich über ihren Rücken, sodass man seine Handfläche deutlich über den Stoff ihrer Bluse reiben hörte. »Ist 157
schon gut, mein Schatz«, sagte er lahm. »Ist er hinter mir her?« Ellen legte den Kopf zur Seite. »Glauben Sie das?« Kittys Gesten wirkten ausladend. Sie reckte die Hände in die Höhe. »Woher soll ich das wissen? Ich bin dem Mann nur ein einziges Mal begegnet. Ich hatte seitdem nichts mehr mit ihm zu tun. Haben Sie ihn nach dem Marihuana gefragt?« »Ja.« »Marihuana?«, fragte ihr Mann. Kitty warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Eine komplizierte Geschichte. Du warst am Computer, da bin ich nicht dazu gekommen, dir davon zu erzählen.« »Was zu erzählen?« Sie legte ihre Hand auf die seine, warm, aber fest. »Das erzähl ich dir gleich«, sagte sie und sah dann Challis an. »Glaubt Munro, ich habe Ihnen von dem Marihuana erzählt? Ist er hinter mir her?« »Das wissen wir nicht. Er ist schwer bewaffnet und hat mit einer Schrotflinte auf uns geschossen.« »Mit einer Schrotflinte«, wiederholte Rex Casement, schaute ungläubig auf den Tisch und schüttelte den Kopf. Eine gesunde Dosis Realität nach einem Tag im Internet ist genau das, was du brauchst, dachte Challis. Ein kleingeistiger, unfeiner Gedanke, aber er zog ihn nicht zurück. »Also halten Sie Ihre Türen bitte geschlossen und die Augen offen«, sagte Ellen. »Mein Schatz, was für Marihuana?«, fragte Casement. Kitty erzählte es ihm. »Oh.« Er dachte darüber nach und schaute dann Challis und Ellen über den Tisch hinweg an. »Und Sie glauben, der Kerl versucht sie zum Schweigen zu bringen, indem er erst ihr Flugzeug rammt, und nun will er sie erschießen, weil er glaubt, sie sei bei der Polizei gewesen?« Challis zuckte mit den Schultern. »Wir schließen keine 158
Möglichkeit aus. Wir wissen nicht, was er denkt oder was er vorhat.« Casement saß kopfschüttelnd da.
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25 Tessa Kane hatte sich bemüht, den Direktor und den Stab des Internierungslagers zu interviewen, um Material über Mostyn Pearce zu erhalten – war etwas dran an dem Gerücht, dass Pearce die Insassen drangsalierte? –, kam aber gar nicht erst durchs Tor, und als sie sich im Fiddler’s Creek einem Tisch mit Wachen von Ameri-Pen näherte, wurde sie rausgeworfen. Als sie zu ihrem Wagen ging, hörte sie eilige Schritte hinter sich. Eine Frau, die, wie sie sagte, in der Aufnahme des Lagers arbeitete, erklärte ihr: »Ich muss mich beeilen, die denken, ich bin auf dem Klo. Wenn die Insassen jemanden umbringen wollten, dann sicher nicht Pearce. Er war ein komischer Kerl, aber kein Rüpel wie so mancher andere. Ich glaube nicht, dass da was dran ist.« Tessa bedankte sich bei der Frau und fuhr zu der heruntergekommenen Wohnsiedlung, in der Pearce gewohnt hatte. Wie so oft folgte sie Hal Challis’ Spuren. Sie verfügte über nicht allzu viele Reporter, und dies war eine große Geschichte, zwei verschiedene Morde, kaum dass die Suche nach Ian Munro eröffnet worden war – war er vielleicht der Täter? –, also klapperte sie in der hässlichen, mondsichelförmig angelegten Straße, in der die Pearces gewohnt hatten, alle Türen ab und traf andauernd auf Leute, die schon von der Polizei befragt worden waren und den groß gewachsenen, dunkelhaarigen Inspector mit dem traurigen Gesicht hatten kommen und gehen sehen. Sie klopfte an dem Haus direkt gegenüber. Eine flotte, aber gequält wirkende Frau mit grauen Haaren öffnete, hörte sich Tessa an und sagte: »Ich war gerade beschäftigt, aber kommen Sie rein, wir unterhalten uns in der Küche.« Tessa folgte ihr durch einen kurzen Flur in eine Küche, die nur 160
so blitzte und hell war, ganz anders als jene, die sie erst vor ein paar Stunden durch ein schmieriges Fenster gesehen hatte – Aileen Munros Küche; Aileen hatte sie aufgefordert, das Grundstück zu verlassen, und genau in diesem Augenblick hatte Tessas Handy geklingelt und die Telefonzentrale beim Progress hatte ihr von den Morden berichtet. »Tee?« Tatsächlich wollte Tessa nichts lieber als das. »Danke. Dünn, ohne Milch.« Nach der Zeitschaltuhr am Elektroherd war es eins. Ein grauhaariger Mann kam in die Küche geschlurft, sah sie verwundert an, warf seiner Frau einen leicht zornigen Blick zu und fragte mürrisch: »Was gibts zu essen?« Die Frau, die in einem Hängeschrank nach den Teebeuteln griff, warf Tessa einen Blick zu und wandte sich an ihren Mann. »Wasser«, sagte sie und wies auf den Wasserhahn in der Spüle. Dann auf den Brotkorb: »Weißbrot in Scheiben.« Und den Kühlschrank: »Käse, Schinken, Gurken, Tomaten.« Sein Gesicht verdüsterte sich. Er trug Slipper, ein weißes Businesshemd und eine graue Anzughose. »Und wenn du schon dabei bist«, fuhr die Frau fort, »mach mir auch gleich eins. Und vielleicht möchte unsere junge Besucherin …?« Tessa lächelte. »Nein, danke.« »Oder aber«, sagte die Frau zu ihrem Mann, »du könntest mich hübsch zum Essen ausfuhren.« Grummelnd verzog sich der Mann in einen anderen Teil des Hauses. »Er ist gerade in den Ruhestand getreten«, erklärte die Frau, »und weiß nichts mit seiner Zeit anzufangen. Hat noch nie was für sich selbst machen müssen. In fünf Jahren ist er unter der Erde«, fügte sie voller Verzweiflung und Kummer hinzu. Tessa ertappte sich dabei, wie sie an Hal Challis dachte und daran, wie er wohl im Ruhestand sein würde. Himmel, bis dahin waren es noch fünfundzwanzig Jahre. Würde sie dann auch noch 161
da sein? Zumindest konnte er für sich selbst sorgen, und er hatte außerhäusliche Interessen, sein vermaledeites Flugzeug. Das beruhigte sie auf merkwürdige Weise; sie war einfach nicht in der Lage, sich Challis alt oder gebrechlich vorzustellen, sondern für immer jung und agil. Dann begann sie, die Frau nach dem Paar zu befragen, das auf der anderen Straßenseite gelebt hatte, und nach dessen furchtbarem Tod. Tessa erfuhr nicht viel, doch der Tee munterte sie wieder auf, und die Frau bot ihr kluge, ironische Unterhaltung. »Er arbeitete im Internierungslager, müssen Sie wissen.« Tessa erstarrte inwendig. »Ja.« »Mein Mann glaubt, dass die Flüchtigen Mr. Pearce und seine Frau erschossen haben.« »Ich verstehe.« Die Frau betrachtete Tessa und legte den Kopf zur Seite. Tessa rechnete schon mit einer Tirade hässlicher Bemerkungen, aber die Frau sagte nur: »Das ist natürlich vollkommener Blödsinn.« Sie beugte sich über den kleinen Küchentisch und packte Tessa beim Handgelenk. »Lassen Sie ja nicht in Ihrer guten Arbeit nach, meine Liebe. Wir sind eine Gemeinde von Kleingeistern mit leeren Herzen und leeren Taschen, wenn es um die Asylbewerber geht.« Als Tessa wieder ging, fand sie, dass doch nicht alles auf der Welt nur schlecht war, und was für ein toller Satz das war mit den Kleingeistern, den Herzen und den Taschen; den wollte sie verwenden und so der Frau mit den grauen Haaren Anerkennung zollen und Dank sagen.
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26 Am Mittwoch war die Einsatzzentrale für die Suche nach Munro bereitgestellt worden, also trafen sich Donnerstagmorgen Challis, Scobie, Ellen und ein paar weitere CIB-Leute in einem kleinen Konferenzzimmer. Keine zusätzlichen Computer, Telefone oder Leute. »Wir sind auf uns gestellt«, sagte Challis. »Im Prinzip bekommen wir allerdings Unterstützung durch die Uniformierten.« Die Polizisten grinsten sich ironisch an. Sie konnten sich Kellocks ungefällige, streng den Regeln entsprechende Antwort auf Challis’ Anfrage bildhaft vorstellen. »Also«, fuhr er fort, »wir haben drei Leichen an zwei verschiedenen Orten: einen Anwalt namens Seigert, der offenbar in den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages im Schlaf erschossen wurde, und ein Ehepaar, Mostyn und Karen Pearce, die später umkamen.« Challis seufzte und berührte in einer plötzlichen Geste der Erschöpfung mit den Fingern die Schläfe. »Beide Fälle werden durch die Suche nach Ian Munro noch verkompliziert. Seigert war früher mal sein Anwalt, die Pearces seine Nachbarn, und es gibt Beweise dafür, dass Pearce ihn bei der RSPCA wegen des Zustandes einiger Schafe angeschwärzt hat. Der Tierschutzinspekteur, der der Sache nachging, wurde von Munro bedroht, also statteten ihm zwei Constables einen Besuch ab. Munro ist ein Mann, dem schnell die Sicherung durchknallt, der chronisch verschuldet ist und offenbar Marihuana angebaut hat, und als er am selben Tag gleich zweimal Besuch von der Polizei bekommt, diesmal mit einem Durchsuchungsbefehl, rastet er aus.« Challis hielt inne und fasste die Einzelheiten seines Berichts 163
zusammen. »Man könnte folgern, dass er sich dann auf den Weg machte, um alte Rechnungen zu begleichen – erst der Anwalt …« »Warum der, Chef?«, fragte einer der Detectives. »Er vertrat Munro vor ein paar Jahren gegen die Banken und die Kommune. Munro beschuldigte ihn, zu nachgiebig gewesen zu sein.« Der Detective nickte befriedigt. »Dann stürzte sich Munro anscheinend auf Pearce, der ihn vielleicht schon seit Jahren piesackte und ihn wegen allem Möglichen bei den Behörden anschwärzte. Wir haben herausgefunden, dass Pearce dafür berüchtigt war. Außerdem«, fuhr Challis fort, »besitzt Munro mindestens zwei Schrotflinten und ein Gewehr, soweit wir wissen, und er hat mit einer Schrotflinte auf uns geschossen, als wir mit dem Durchsuchungsbefehl bei ihm aufgetaucht sind. Es kann also gut sein, dass Munro für alle drei Morde in Frage kommt.« »Aber«, sagte Ellen Destry trocken. »Aber«, pflichtete ihr Challis bei. Er hielt inne und dachte kurz darüber nach, wie er seine nächsten Überlegungen am besten präsentierte. »Ich habe heute Morgen mit Superintendent McQuarrie gesprochen und ihm meine Bedenken mitgeteilt, dass es derart massive Unterschiede zwischen den beiden Tatorten gibt, dass von zwei Tätern ausgegangen werden muss. Ich komme gleich noch darauf zu sprechen. Der Superintendent gab mir darauf eine gute, solide Standardantwort aus der Polizeischule: Warum nach einer komplizierten Antwort suchen, wenn es schon eine vollkommen einfache und logische Erklärung gibt?« Challis schaute alle nacheinander an. »Also, halten Sie Ihre Augen offen. Das sollte die erste Regel bei der Polizeiarbeit sein. Wir sammeln Beweise, analysieren sie und folgen der Spur, die sie uns aufzeigen. Nun zu den Unterschieden zwischen den beiden Morden. Der 164
Anwalt lag gegen vier Uhr früh im Bett, als jemand hereinkam und ihn aus nächster Nähe erschoss. Die einzige andere anwesende Person war ein kleines Kind, das vermutlich tief schlief, aber sowieso nicht viel gehört hätte, weil der Schuss gedämpft wurde und das Kind am anderen Ende des Hauses lag.« Challis hielt inne. »Nehmen wir mal an, es war Munro. Nach einer Zeitspanne von mehreren Stunden spaziert er bei den Pearces herein, die nur einen Kilometer von seinem Wohnhaus entfernt leben, wo er am Abend zuvor auf die Polizei geschossen hat – und wo die Polizei immer noch nach Beweisen für seinen Marihuanaanbau sucht. Die Pearces sind allein, ihr Kind ist in der Schule. Munro bringt sie ins Wohnzimmer und zieht dem Mann eins über die Rübe.« Scobie Sutton platzte dazwischen. »Wissen Sie das genau?« »Die Rechtsmedizinerin hat das bestätigt. Sie hat Schädelfragmente gefunden, die eine Vertiefung aufweisen, wie sie von einem schweren Schlag, mit einem Schürhaken zum Beispiel, entstehen.« Ellen runzelte die Stirn. »Und was macht die Frau die ganze Zeit?« Challis zuckte mit den Schultern. »Starr vor Angst? Eine Waffe, die auf sie gerichtet war? Jedenfalls muss sie sich aufs Sofa setzen, der Killer tritt hinter sie und schießt ihr in den Hinterkopf – mit Mostyn Pearce’ eigener Schrotflinte, wie wir wissen. Schließlich erschießt er den Mann in der Hoffnung, dass die Schrotkugeln alle Beweise vernichten, dass er mit dem Schürhaken niedergeschlagen worden ist, und inszeniert dann einen Selbstmord, bevor er uns als Letztes anruft und einen Mord mit anschließendem Selbstmord meldet.« Challis machte eine Pause und beugte sich, die Handflächen auf den Tisch gestützt, nach vorn. »Ziemlich viel Aufwand für einen Mann, der auf einem Rachefeldzug ist und gerade eben erst einfach in ein Haus spaziert ist und ohne viel Federlesen 165
einen Mann in dessen Bett erschossen hat. Warum dann die Mühe, den Mord an den Pearces zu vertuschen?« »Und was hat er zwischen vier Uhr und zehn Uhr früh gemacht?«, fragte Ellen. »Genau«, sagte Challis. Er richtete sich wieder auf, trat einen Schritt zurück und ging dann auf und ab. »Wir behandeln also beide Fälle getrennt und tun so, als würde Ian Munro nicht existieren. Wenn wir Beweise finden, die ihn mit einem oder beiden Morden in Verbindung bringen – ein Augenzeuge wäre toll, ein Fingerabdruck, ein Geständnis –, dann wäre alles in bester Ordnung, doch in der Zwischenzeit möchte ich, dass Sie alle Möglichkeiten erwägen, in beiden Gegenden weiter Klinken putzen, Bankkonten überprüfen, Schreibtische und Computer durchsuchen, herausfinden, ob sie Feinde oder zwielichtige Bekanntschaften hatten. Pearce hat im Internierungslager gearbeitet. Wenn er ein Schinder war, hat ihn vielleicht ein Entflohener umgebracht. Sie wissen also, was zu tun ist.« »Da wäre noch was«, warf Ellen ein. »Ist allerdings etwas weit hergeholt.« Challis legte den Kopf zur Seite und sah sie an. »Dwayne Venn«, sagte sie. »Gewalttätig genug wäre er.« »Erläutern Sie das.« »Venn und die Tully-Schwestern haben offenbar an der Five Furlong Road Müll abgeladen, gleich in der Nähe der Siedlung, wo die Pearces wohnten. Irgendjemand – vielleicht Pearce – hat den Müll entdeckt, ist ihn durchgegangen und hat einen Brief gefunden, der an Dwayne Venn und Donna Tully adressiert war. Die Kommune wurde verständigt, es fand eine Untersuchung statt, und Venn bekam einen Strafzettel wegen Umweltverschmutzung. Er drohte dem Mann, der ihm den Beschluss überbrachte, ihn umzubringen.« »Aber woher sollte Venn wissen, dass Pearce ihn hingehängt hatte?«, fragte Sutton. »Und wo wir schon mal dabei sind, 166
woher sollte Ian Munro wissen, dass Pearce ihn bei der RSPCA angeschwärzt hat?« Challis lächelte ihn an. »Genau. Vielleicht wusste er das gar nicht. Vielleicht hat Pearce noch jemand anderen gegen den Strich gebürstet.« Einen Augenblick saßen sie grübelnd da. Ellen sagte: »Dann ist da noch die Sache mit Janet Casement.« Challis hob die Hände, so als wollte er sie bremsen. »Lassen Sie uns das im Augenblick mal ein wenig beiseite schieben.« »Aber sie ist gewarnt worden, dass Munro unterwegs ist?«, fragte Scobie. »Ja. Wir haben alle gewarnt, die uns einfielen. Und nun zur Ankerleiche. Scobie, Sie haben doch den Anruf von dem Juwelier für mich entgegengenommen?« Sutton warf einen Blick auf seinen Notizblock. »Die Rolex wurde repariert von einer Firma namens Timepiece in der Collins Street in der City.« Challis nickte. »Ich werde da mal einen Besuch abstatten.« »Noch was, Chef. Der Anker, mit dem die Leiche beschwert gewesen war, ist aus der Asservatenkammer verschwunden.« Jemand hatte flinke Finger gehabt, jemand hatte nicht aufgepasst. »Klasse«, sagte Challis. »Na, Sie wissen ja, das Übliche – Rundruf bei den Trödlern, Krempelhändlern, Antiquitätenläden …« »Alles klar, Chef.« Am späten Vormittag ging Challis bei Seigerts Witwe vorbei. Sie hatte rote, verheulte Augen, ihr Kummer war noch frisch. Eigentlich war er gekommen, um ihr ein paar vorsichtige Fragen zu stellen, aber er erfuhr nichts Neues und hatte auch nicht damit gerechnet; die Trauernden zu besuchen und Trost zu spenden gehörte ebenfalls zur Untersuchung eines Mordfalls. Ein einzelner Mord kann Schockwellen aus Leid und Wut 167
auslösen und eine ganze Familie und deren Freunde überschwemmen. Challis repräsentierte die Ordnung. Wenn den Trauernden alles unter den Händen zerfiel, war er kompetent, professionell, konzentriert, und er war vertraut mit einem für die Hinterbliebenen verwirrenden System. Manchmal hielten die Beziehungen zu trauernden Familien und Einzelpersonen über Jahre. An seiner Schulter konnte man sich ausweinen; er stellte eine Verbindung zu dem geliebten Opfer dar; er repräsentierte die Untersuchung selbst und bot so Hoffnung und Gerechtigkeit. Er gab ihnen seine Telefonnummer und redete manchmal zu nachtschlafender Stunde ruhig und geduldig mit den Trauernden, stattete ihnen ab und zu einen Besuch ab, brachte jene, die fast alle Hoffnung verloren hatten, mit ins Dienstzimmer und zeigte ihnen die Schreibtische, die Computer, die Fotosammlungen – und vermittelte ihnen ein Gefühl davon, dass die Gerechtigkeit am Werk war. Das bedeutete den Menschen manchmal sehr viel, und diese Bedeutung beruhte auf Gegenseitigkeit, denn wenn die Hinterbliebenen die Ermutigung und Wertschätzung spürten, dann tat er es auch. Danach kehrte er nach Waterloo zurück und las die Zeugenaussagen. Insgeheim war er davon überzeugt, dass Munro Seigert erschossen hatte und eine unbekannte Person (oder mehrere) den Einmischer und seine Frau. Weiter kam er nicht mehr mit seinen Gedanken, denn eine Büroangestellte trat herein und gab ihm eine Notiz und ein Fax, bei dessen Anblick Challis murmelte: »Dass es so was noch gibt.« »Bitte?«, fragte die Angestellte. Er lächelte sie an. »Nichts. Ich hab nur laut gedacht, mehr nicht.« Die Frau ging wieder. Das Fax war vom Home Office in London. Der HOLMES-Computer hatte keinerlei Verbindung zwischen der Ankerleiche von Flinders und irgendeiner Person feststellen können, die den Behörden in Großbritannien bekannt 168
war. Die Notiz war von Tessa Kane. Sie schrieb für die nächste Ausgabe der Zeitung über die Morde und wollte ein Interview mit ihm. Sie könne zu ihm kommen oder er zu ihr, oder sie könnten einen neutralen Ort wählen, wie immer es ihm am liebsten wäre. Challis rief sie an. »Komm hierher.« »Hier«, das war ein kleines Besprechungszimmer neben der Eingangstheke des Diensthabenden. Durch das doppelverglaste Fenster sah man einen Eukalyptusbaum, dessen Rinde sich schälte; die beiden saßen an einem massiven Metalltisch, tranken Kaffee und ließen den angeschlagenen Teller mit alten Keksen unberührt. »Schieß los«, sagte Challis. Tessa schlug mit ihren kleinen Fäusten auf den Tisch und sagte: »Hal.« »Was denn?«, entgegnete er – obwohl er es schon wusste. Sie hatte die Katastrophe mit dem Osterspaziergang abgehakt, wollte, dass wieder Herzlichkeit zwischen ihnen herrschte, und nun tat er so kurz angebunden und geschäftsmäßig. »Komm runter«, sagte sie. Er sah sie an, wollte nicht unhöflich sein, aber er stellte fest, dass die alte Tessa Kane nicht mehr da war. Es hatte mal Zeiten gegeben – Jahre her, wie es schien –, als sie einfach ungebeten in seinen Gedanken erschien und er erregt war und sie unbedingt wollte. Er stellte sie sich dann nackt vor und ließ ihr Liebesspiel vor seinem geistigen Auge ablaufen. Nun saß sie ihm gegenüber wie eine Fremde, die er von irgendwoher kannte, und er wollte sie nicht. Warum nicht? Weil er sie nicht haben konnte, solange seine durchgeknallte Frau sich immer wieder zwischen sie drängte? Weil ihm nun Kitty Casement durch den Kopf ging? »Tut mir Leid«, entschuldigte er sich, legte Herzlichkeit in Stimme und Gesichtsausdruck und verspürte echte Zuneigung 169
zu Tessa. Er sah Dankbarkeit und Verlangen aufblitzen. War es so einfach? War er launisch? Bedeuteten seine Zuneigungen und Wünsche etwas, oder hatte das, was seine Frau ihm angetan hatte, ihn so verkorkst? Er streckte die Hand aus und legte sie auf ihre. Tessas Fingerknöchel zuckten, als hüte Challis ein warmes kleines Geschöpf. »Ich habe dich seit Tagen nicht mehr gesehen«, sagte sie. Das war ihre Art, ihm mitzuteilen, dass er ihr gegenüber nicht hätte kühl und distanziert sein müssen, dass sie eine Weile sauer auf ihn gewesen war, diese Missstimmung aber nun wieder verflogen sei, wie so etwas bei ihr immer verflog, und dass er das doch von ihr schon kennen müsse oder zumindest hätte annehmen können. Challis nickte, drückte fest ihre Finger und begehrte sie. »Anstand wahren«, sagte Tessa, die die Botschaft in seinen Augen las, und entzog ihm die Hand. Dann ihre Fragen: Wer hatte in beiden Fällen die Leichen gefunden? Gab es Ähnlichkeiten bei den Morden? Unterschiede? Hatte die Polizei einen Verdächtigen? Hatten die Morde irgendetwas mit der Suche nach Ian Munro zu tun? Wie lief die Suche? Ging man davon aus, dass Munro sich immer noch in der Gegend von Westernport versteckte? Für wie glaubwürdig hielt Challis die Angaben, Munro sei schon in Geelong, Sydney und an der Gold Coast gesichtet worden? Häufig konnte Challis nur leise lächeln, den Kopf schütteln und sagen: »Du weißt, dass ich diese Art von Informationen nicht weitergeben kann.« Und je länger sie ihn befragte, umso mehr hörte sie auf, Tessa Kane, seine zeitweilige Bettgefährtin, zu sein, und seine Gedanken schweiften erneut ab.
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27 Immer dasselbe beim Klinkenputzen. In der einen Hälfte war niemand zu Hause und man musste noch mal hin, bei der anderen Hälfte kamen die Bewohner an die Tür und zeigten Anzeichen von Argwohn, Schuld, Angst – ein Abbild dessen, was ihnen in diesem Augenblick gerade durch den Kopf ging. Nirgends Unschuld oder Herzlichkeit. Natürlich hatte niemand etwas gesehen oder gewusst. Doch sobald ihnen klar wurde, dass der Besuch an der Tür nicht ihnen galt, waren sie alle hilfsbereit und quollen schier über vor nutzlosen Informationen. Dass sie die Polizei nicht mochten, konnte man an ihren Gesichtern ablesen. Ein Ausdruck, der besagte, dass das ja nun das Problem der Polizei sei und man sich schleichen solle. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf klopfte Pam Murphy an jenem Donnerstag in den Nachbarstraßen von Anwalt Seigerts Haus und fragte, ob jemand irgendetwas über den Mord wusste. Doch niemand hatte irgendeine Ahnung, und nach einer Weile wurde das Klopfen, die Hand voll Fragen, die höfliche Verabschiedung und der kurze Gang zum nächsten Haus zum Automatismus, und ihre Gedanken kehrten zu dem zurück, was ihr durch den Kopf ging. Geld. Oder vielmehr die Tatsache, dass der Kredit über dreißigtausend Dollar ihr nicht den Freiraum gegeben hatte, den sie sich davon versprochen hatte. »Das wird Ihnen Luft verschaffen«, hatte Carl Lister versichert, als er den Kreditvertrag gegenzeichnete und sein schmieriges Lächeln aufsetzte, doch sie hatte nicht an die vierteljährlichen Rechnungen gedacht – Telefon, Strom, Gas – und an die laufenden Kosten für den Subaru. Dann war da noch die Miete, die alle vierzehn Tage zu zahlen war, und sie hatte eine 171
Dummheit gemacht und eine Reise nach Bali gebucht, für ihren Urlaub im September. Sie hatte mit dem Geld um sich geschmissen, als hätte sie haufenweise davon. Jetzt erkannte sie, dass die Dreißigtausend nicht ihr Geld waren. Es war geliehen. Es musste zurückgezahlt werden, und zwar nicht, wenn ihr gerade danach war, sondern in wöchentlichen Raten. Sie hätte monatliche Raten ausmachen sollen. Und nun war das Geld futsch. Alles verplant. Und die wöchentliche Rate war fällig, aber ihr Gehalt bekam sie noch nicht. Erst nächste Woche. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Vielleicht sollte sie noch mal hingehen und den Kredit neu verhandeln. Ihn für eine gewisse Zeit aussetzen lassen oder niedrigere Raten vereinbaren oder Monatsraten, vielleicht sogar Dreimonatsraten. Doch Lister hatte sie gewarnt und gesagt, dass es sich um einen hochzinsigen Kredit mit sehr engen Vorgaben handelte. »Ich lege vor meinen Klienten die Karten auf den Tisch, offen und fair, damit keine Missverständnisse aufkommen«, hatte er gesagt. Wobei seine Worte und sein Gehabe implizierten, dass sie von Glück reden konnte, den Kredit überhaupt zu bekommen, und dass sie ihn besser nicht platzen lassen sollte. »Bitte?« Pam blinzelte. Sie stellte fest, dass sie auf einer Vorderveranda stand und mit sich selbst sprach, während der Hausbesitzer, ein älterer Mann mit Gießkanne, sie von einer Gruppe von Topffarnen aus beobachtete. »Ich heiße Constable Murphy«, spulte sie herunter, »und ich untersuche …« John Tankard putzte im Fall Pearce Klinken, fuhr die Siedlung ab und zog immer weitere Kreise, bis hin zu den Nebenstraßen unterhalb von Upper Penzance. Seine Gedanken kreisten um den Nachbau einer Sig Sauer, für die er eine Anzeige in den Sidearm News gesehen hatte. Er fuhr voll auf diese Internetgeschichte ab. Erst neulich hatte 172
er sich dabei ertappt, wie er bei Coolart Computers fünfhundert Mäuse für einen gebrauchten PC hinblätterte. Die boten ihm auch gleich einen lokalen Provider an, und letzte Nacht war er im Web rumgesurft und hatte ein paar ausgezeichnete Websites für Handfeuerwaffen, Gewehre und Zubehör gefunden. Gestochen scharfe Abbildungen, Beschreibungen, Preislisten. Die Amerikaner redeten nicht lang um den heißen Brei herum. Die wussten, wozu eine Handfeuerwaffe gut war – um sich zu schützen, um zurückzuschießen. Vergiss das Geballer auf Pappkameraden. Eine Site hatte sogar einen Übungslink. Einmal angeklickt, und man befand sich auf einer Cyberstraße, Gangbangers, Straßenräuber und Terroristen mit Palästinenserfeudel hinter jeder Mülltonne und jedem Strommast. »Peng«, machte Tankard, und er hielt eine virtuelle Sig Sauer oder eine Glock in klassischer zweihändiger Pose hoch und feuerte. Feuerte auf Ian Munro. Immer auf Munros verächtlich grinsendes Gesicht da auf dem Monitor von John Tankards Computer. Verpasste Munro einen direkt zwischen die Augen. Blut, Knochen und Hirnmasse spritzten hinten aus Munros Schädel; diesmal entwischte er ihm nicht. »Na, wenn das nicht Bradley Pike is.« Brad Pike stand vor der Haustür der Tully-Schwestern und beobachtete Donna Tullys Gesicht. Sie machte keinerlei Anstalten, ihn hineinzulassen. »Lisa zu Hause?«, fragte er. Donna zuckte mit den Schultern. Hinter ihr rief Lisa: »Wer is da?« Donna kreischte nach hinten: »Dein Lover.« Einen Augenblick lang blieb es still, dann stand Lisa neben Donna. »Hi.« »Hi«, erwiderte Pike. 173
Er wartete, dann kehrten ihm die Schwestern den Rücken zu und verschwanden, ließen aber die Tür offen, also folgte er ihnen. Er gesellte sich im Wohnzimmer dazu, Donna hockte schon auf dem Sofa und zündete sich eine Zigarette an, Lisa saß neben ihr und blätterte durch einen Versandhauskatalog. Offensichtlich hatte ihnen niemand gute Manieren beigebracht, und Pike spürte, wie die Verärgerung ihn wie ein Blitz durchfuhr. Er schluckte sie runter. »Kann ich mir ’ne Kippe von dir schnorren?« Donna zuckte mit den Schultern, ließ die Schachtel aber auf dem Glastischchen liegen, also bediente er sich. Sie streckte ihre Hand nicht aus, um die seine wegzuschlagen, das war ja immerhin schon ein Fortschritt. Vor ein paar Wochen hätten sie ihn nicht mal durch die Tür gelassen. »Is Dwayne da?« Wieder dieses Schulterzucken. Lisa ignorierte ihn und nickte mit dem Kopf plötzlich in Richtung Katalog. »Null Prozent Zins für die ersten sechs Monate«, sagte sie. »Für was?«, fragte Donna, die endlich den Mund aufmachte. »DVD und Fernseher zusammen«, sagte Lisa. »Lass mal sehen«, sagte Pike, der es auch wissen wollte, und kauerte sich neben sie. Der Teppich klebte. Sein Arm streifte den ihren. Sie zuckte vor der Berührung nicht zurück. Gemeinsam schauten sie in den Katalog, und er sagte: »Wenn du willst, kauf ich ’n dir.« Er pustete den Qualm aus dem Mundwinkel und traute sich, Lisa ins Gesicht zu schauen. Ihre Gesichtszüge wurden weicher. »Ach Brad, das ist so süß«, sagte sie. Brad Pike grinste. Mit Speck fängt man Mäuse. Er wusste nicht, wovon er das hätte bezahlen sollen. Er wusste nicht mal, ob er das überhaupt musste. Er stand mit Lisa wieder auf gutem Fuß, und wenn sie von Fernseher und DVD anfing, konnte er ihre Gedanken immer wieder auf etwas anderes 174
lenken. Als Ellen an diesem Abend nach Hause kam, war Skip Lister ebenfalls da. Das war schon das dritte Mal seit Ostern. Offenbar waren Skip und Larrayne um sechzehn Uhr im Kino in Rosebud gewesen. Ellen schaute ihm wie jedes Mal genau ins Gesicht, beobachtete seine Bewegungen und hörte genau hin. Sie wusste nicht, ob er an dem Abend von Larraynes Party bis oben hin zugedröhnt gewesen war oder vielleicht nur betrunken, aber seitdem war er sauber. »Hallo, Mrs. Destry.« »Hallo, Skip.« Larrayne hing an Skips Arm. Glücklicherweise wirkte diese Geste nicht kitschig, albern oder rührend, also grinste Ellen die beiden an und sagte, sie wolle schnell was zu essen zusammenschustern. »Sparen Sie sich die Mühe, Mrs. Destry«, sagte Skip. »Ist schon alles fertig.« »Du hast gekocht?« »Ja«, antwortete er stolz. Er trug einen dritten Ring im Ohr. Ellen fragte sich, wann er sich den hatte stechen lassen. »Das ist sehr nett von dir.« Sie schnüffelte. »Ich hatte gleich den Eindruck, hier würde es lecker riechen, als ich reinkam.« »Kannst gleich essen, Ma«, sagte Larrayne, und Ellen sah die beiden in all ihrer unaffektierten Liebe und Jugendlichkeit und fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn sich herausstellte, dass Skips Vater Dreck am Stecken hatte, und sie ihn verhaften musste. Scobie Sutton kam noch rechtzeitig nach Hause, um Roslyn vor dem Schlafengehen zu baden. Weich und duftend machte sie es 175
sich hinterher im Schlafanzug auf seinem Schoß bequem. Scobie war überwältigt: Es gierte ihn nach dieser Nähe, und er ertappte sich dabei, wie er seine Nase in den Spalt zwischen Kragen und Hals steckte, ihren Duft einatmete und die makellosen Windungen in ihrem Ohr begutachtete. Als Nächstes suchten sie sich gegenseitig die Finger nach Splittern ab; glücklicherweise hatte er tatsächlich einen im rechten Daumen, den er sich bei der Suche nach Ian Munros Marihuanaplantage geholt hatte, und Roslyn holte eine Pinzette und zog ihn raus. Dann war es Zeit für die Gutenachtgeschichte, und schließlich ließ er sich aufs Sofa fallen, Abendbrot auf dem Schoß, ein Glas Bier auf dem Beistelltischchen. »Du siehst müde aus«, stellte seine Frau mit ein paar Stecknadeln im Mund fest. Sie saß in ihrem Lehnsessel, und eine Schwanenhalslampe warf einen grellen Lichtkegel auf einen Schoß voller durchgescheuerter Säume. Scobie erkannte ein paar von Roslyns Kleidern und seine alte Kordhose. »Bin ich auch«, erwiderte er. »Es sind diese Morde«, und er berichtete ihr von seinem Arbeitstag. Er erzählte ihr alles. Das hatte er schon immer getan. Eine Vorschrift besagte, dass man seinen Angehörigen nichts erzählen sollte, denn es gab geschwätzige Angehörige und verständnislose Angehörige; Scobie Suttons Frau war weder das eine noch das andere. »Am schlimmsten war es heute Morgen«, sagte er und berichtete vom Schulweg. Aileen Munro und ihre Kinder waren nicht dort gewesen. Er bezweifelte, dass er sie jemals wiedersehen würde. Die Schule war wie ein kleines Dorf, in dem jeder mit dem Finger auf andere zeigte. Und das Kind der Pearces war natürlich auch nicht da gewesen. Sergeant Kellock hatte die Großeltern aufgetrieben, die das Kind abgeholt hatten. Auch dieses Kind würde er wohl in der Schule nie wiedersehen. »Stell dir nur mal ihren Schmerz vor.« Seine Frau schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. 176
So etwas konnte sie sich nicht vorstellen. Er schon, er stellte sich anderer Leute Schmerz vor, und das war der Grund, warum er niemals die Karriereleiter erklimmen würde. Scobie hatte damit gerechnet, dass die Anforderungen seiner Arbeit ihn verändern würden, denn so war es bei jedem Polizisten, den er kannte. Aber bei ihm war das anders. Er schluckte. Er versuchte die Tränen zu unterdrücken, versuchte nicht daran zu denken, wie Roslyn ganz allein in der Welt dastünde, aber wie konnte denn ein anständiger Mensch solche Bilder abschütteln, wenn sie sich erst mal im Kopf festgesetzt hatten?
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28 Donnerstagnacht wurde Munros verbeulter Toyota auf dem Parkplatz eines Pubs gefunden, von dem ein Ford-F100-Pick-up gestohlen worden war, also machten sich am Freitagmorgen Challis und Sutton auf den Weg zur Farm, um Aileen Munro zu befragen. Challis hatte Sutton ein wenig über, aber Sutton kannte Aileen Munro; seine Anwesenheit dort würde die mit Sicherheit angespannte Situation ein wenig entschärfen. Aileen führte sie ins Wohnzimmer, dessen Teppich und Möbelstoffe in einem bedrückenden Blümchenmuster gehalten waren, das sich nur noch in abgelegenen Farmhäusern finden ließ. Ein kleiner Streifen schmieriges Sonnenlicht erhellte eine Ecke des Bodens, ansonsten war es dämmrig. Hier und da fanden sich unzusammenhängende Einzelheiten: In einer Ecke stand die Unterhaltungselektronik, bestehend aus einem Fernseher mit Flachbildschirm, einem Videorekorder und einer Soundanlage; unter einem Satz von Tischen lugte der Torso einer Barbiepuppe hervor. Als sich Challis auf das Sofa sinken ließ, knackte hinter dem Polster eine CD-Hülle. Er fischte sie hervor. Titel und Interpretin, Strawberry Kisses von Nikki Webster, sagten ihm nichts, verrieten ihm aber, dass die MunroKinder sich offenbar um ein Leben jenseits dieses leblosen Hauses bemühten. Aileen Munro ließ sich schwer in einen Lehnsessel fallen, der Challis gegenüberstand. Scobie Sutton setzte sich neben ihn. Challis gefiel diese Sitzordnung nicht, die das Gefühl von zwei gegen eine noch verstärkte, doch nun war es zu spät, daran etwas zu ändern. Er entspannte sich, bemühte sich, nicht wie ein Eindringling zu wirken, und ließ Sutton den Vortritt. »Aileen, lassen Sie mich als Erstes nur sagen, dass es mir wirklich Leid tut, dass es so weit gekommen ist.« 178
Aileen Munro ließ den Blick von Sutton zu Challis und zurück wandern. Sie öffnete und schloss den Mund, als wolle sie ihn anfeuchten. »Danke«, murmelte sie. »Es muss hart für Sie sein.« »Ja.« Ein kaum hörbares Flüstern. »Vergessen Sie nicht, wenn ich irgendwas für Sie tun kann …« Diesmal lag eine Spur von Hysterie in ihrer Stimme. »Sie könnten die Reporter verscheuchen, die mir auf die Pelle rücken!« John Tankard hatte vor dem Haupttor Posten gestanden, als Challis und Sutton eintrafen. Er war dort abgestellt worden, um die Medien vom Haus fern zu halten, und machte ein sauertöpfisches Gesicht deswegen. »Die werden nach einer Weile das Interesse schon wieder verlieren«, versicherte ihr Sutton. Tessa Kane hatte nicht zu den Medienleuten gehört, jedenfalls hatte Challis sie nicht gesehen. Sie hatte ihn bisher noch nicht um weitere Informationen gebeten, würde dies aber sicher noch tun. In der Zwischenzeit hatte sie bestimmt ein Foto von Munro, eins, das vor zwei Jahren aufgenommen worden war, als man ihn wegen tätlichen Angriffs verhaftet hatte, und nun von der Presseabteilung der Polizei verbreitet wurde. »Allerdings müssen wir Ihnen ein paar Fragen stellen, fürchte ich«, sagte Sutton freundlich. Ein kurzes Nicken. »Erstens, hatten Sie Gelegenheit, mal darüber nachzudenken, wo Ihr Mann sich wohl aufhalten könnte?« »Nein.« »Irgendwelche Gebäude oder Buschland auf der Halbinsel, das er gut kannte, mal besessen hat oder gern aufsuchte?« Ihre Stimme klang schrill, als sie sprach. »Sie haben doch gesagt, er hat drei Menschen erschossen. Glauben Sie wirklich, er würde hier in der Gegend bleiben? Der ist längst über alle 179
Berge.« »Aber wohin, Mrs. Munro?«, warf Challis ein. Er redete leise und ruhig, aber Aileen Munro war immer noch ganz aufgeregt. »Woher soll ich das wissen? Wir sind nie irgendwohin gegangen. Wir sind immer zu Hause geblieben – ich zumindest. Woher soll ich also wissen, wo er hin ist?« Challis nickte. Sutton sagte: »Wie Sie wissen, gehen wir davon aus, dass Ian am hintersten Ende des Grundstücks letztes Jahr Marihuana angebaut hat. Es wachsen dort zwar keine Pflanzen mehr, und wir haben auch in dem Schuppen nichts gefunden, was auf einen Anbau hinweist – keine trocknenden Pflanzen, keine Büschel trockener Blätter –, aber vielleicht können Sie uns sagen, wem er …« Sie ließ ihre Fäuste schwer in ihren Schoß fallen. »Ich weiß von überhaupt nichts. Warum hören Sie mir nicht zu?« Challis glaubte ihr. Sie wirkte zutiefst überrascht. »Hatte Ian irgendetwas mit den Pearces zu tun, Aileen?« »Nein. Soweit ich weiß, kannte er sie nicht, hat auch nie mit ihnen gesprochen.« »Und er hat nie davon gesprochen, es Pearce heimzuzahlen, dass er ihn bei der RSPCA angeschwärzt hatte?« Aileen Munro schnappte nach Luft. »Der war das?« »Wir haben Grund zu der Annahme, dass er einen anonymen Anruf getätigt hat.« »Aber woher sollte Ian denn wissen, dass Pearce ihn verpfiffen hat, wenn es anonym war?« Da ist was dran, dachte Challis. »Und der Anwalt?«, fragte er sanft. Aileen machte ein mürrisches Gesicht und schaute weg. »Ian hatte in der Vergangenheit mal mit ihm zu tun. Hat ihn gehasst. Er hat öfter mal davon gesprochen, es ihm heimzuzahlen, weil er ihn so hat hängen lassen.« Sie schwiegen. Challis bemerkte jetzt erst, dass Aileen Munros Strickjacke falsch zugeknöpft war und die Knöpfe nicht dieselbe 180
Farbe und Form hatten. Scobie räusperte sich. »Sonst noch jemand, den Ihr Mann nicht leiden konnte, Aileen?« Sie sah ihn voller Verachtung an – sie verachtete die Situation, nicht Sutton – und sagte: »Nennen Sie mir einen Namen, irgendeinen. Zehn zu eins, dass mein Mann was gegen ihn hatte. Im Hassen war er gut. Ist er gut.« »Um noch mal auf das Marihuana zurückzukommen, Aileen, ich …« »Ich hab Ihnen doch schon gesagt, ich weiß nichts. Ich könnte einen Marihuanastrauch nicht erkennen, und wenn ich über ihn stolpere.« »Ich glaube Ihnen«, sagte Challis. »Aber vermutlich hat Ihr Mann das Zeug geerntet und verkauft. Von wem hatte er die Samen oder Setzlinge? Wer hat die Ernte gekauft? Gab es irgendwann mal ungewöhnlichen Besuch? Anrufe? Briefe? Rätselhafte Reisen?« Sie zuckte mit den Schultern. »Niemand kommt zu Besuch.« Ihre Stimme klang ganz hohl. »Früher mal, da haben uns die Leute besucht. Aber jetzt nicht mehr.« Sie schaute in Richtung Haupttor und der dort versammelten Reporter. »Jetzt haben wir Hunderte von Besuchern, aber nicht die, die man will. Verdammte Blutsauger, ich halt das bald nicht mehr aus.« Challis fiel auf, wie leise es im Haus war. »Wo sind denn Ihre Kinder, Mrs. Munro?« Sie sah ihn erstaunt an. »In ihren Zimmern. Die Kinder in der Schule …« Sie verhärmte sichtlich. »Sie werden ihnen keine Fragen stellen. Unter gar keinen Umständen.« »Nein, nein«, versicherte Challis. Er hielt inne. »Wissen die Kinder, was passiert ist?« »Lassen Sie sie in Ruhe.« »Sie sind sehr still«, sagte Challis und erstarrte. Er warf Sutton einen Blick zu, stand auf und verließ schnell das Zimmer. Hinter sich hörte er Aileen jammern: »Wo geht er hin?« 181
»Er kommt sofort wieder, Aileen«, sagte Sutton beruhigend. Challis fand die Kinder in einem großen Zimmer, in dem drei Betten an den Wänden standen. Die beiden älteren spielten still am Computer, man hörte nur ihre Atemzüge und das Klappern der Tastatur. Das jüngste Kind saß ruhig da und malte. Das Mädchen zuckte zusammen und schaute auf, als er zur Tür hereinkam. Wer schlug sie, fragte sich Challis. Hatte sie einen Augenblick lang geglaubt, ihr Vater stünde in der Tür? Challis wurde sich seiner Körpergröße bewusst, ging zu dem kleinen Mädchen, setzte sich aufs Bett und bemühte sich zu lächeln. »Hallo. Ich heiße Hal. Kennst du Mt. Sutton? Scobie? Er ist Roslyns Papa. Roslyn ist bei dit in der Klasse, oder?« Das Mädchen nickte. »Ich seh ihn immer am Morgen«, sagte sie mit dünnem Stimmchen. »Genau. Ich bin mit ihm zusammen gekommen. Wir unterhalten uns gerade mit deiner Ma.« Das Mädchen suchte in ihren Buntstiften herum. Die meisten waren nur noch dreckige Stummel, manche waren abgekaut. Sie suchte sich einen aus und fuhr damit lustlos über das Blatt auf ihrem Zeichenblock. »Ist dein Papa zu Hause?«, fragte Challis. Nach einer Weile schüttelte das Mädchen mit dem Kopf. Sie hörte auf zu zeichnen, ihr Kinn sank auf die Brust, und Challis spürte Scham und Verwirrung. Eine Frage noch: »Ist dein Papa nach Hause gekommen, um nach dir zu sehen?« »Er ist weggelaufen«, antwortete das Mädchen.
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29 Tankard gab nicht auf. Vielleicht sollte er Pam eifersüchtig machen? Also erzählte er ihr eine nicht ganz wahre Geschichte von einer Party, auf der er gewesen war, damals auf der Polizeiakademie. »Ich mach mich an diese Perle ran, die Geschichte wird langsam ernst, ich fahr sie nach Hause, und sie meint: ›Leg mal deine Fetzen ab‹, also zieh ich mich langsam aus, und dann sagt sie –« »Halt mal an!« Verdutzt trat er fest auf die Bremse. Sie fuhren gerade am hinteren Ende der High Street Patrouille. Läden gab es hier nicht mehr viele, eine Bank, ein Pub, ein Immobilienmakler, ein anonym wirkendes zweigeschossiges Gebäude mit der Aufschrift »Lister Financial Services« auf den Fenstern. Obwohl es Freitag war, waren nicht viele Menschen unterwegs. »Was ist denn?«, fragte Tankard und schaute auf der Suche nach Schwierigkeiten die Straße hinauf und hinunter. Nichts zu sehen. »Was hast du denn für ’ne Hummel im Schlüpfer? Oder nennst du die Höschen? Tangas?« »Ich muss mal kurz weg«, sagte Pam. »Zu wem?« »Irgendwem«, raunzte sie. »Bin in fünf Minuten wieder da.« Dann stieg sie aus und ließ ihn in der zweiten Reihe stehen. Er schaute zu, wie sie über die Straße eilte und bei Lister Financial Services verschwand. Tankard ließ sich in seinen Sitz sinken. An einer Straßenlaterne baumelte zerschlissene und von der Sonne ausgeblichene Weihnachtsdekoration. Es ging ein sandiger, staubiger Wind. Die Suche nach Ian Munro war nun seit drei Tagen im Gange, doch niemand in Waterloo schien sich 183
deswegen Gedanken zu machen. Ein alter Mann kam auf einem Fahrrad vorbei, das mit Netztaschen voller Plastiktüten behängt war. Zwei Teenager lümmelten rauchend auf einer Bank vor einem heruntergekommenen Schallplattenladen, auf dessen Schaufensterscheibe eine Notiz hing: »Geschäft zu verkaufen. Im Laden fragen.« Ein kleiner roter Golf mit einer älteren Frau am Steuer, Behindertenparkerlaubnis an der Windschutzscheibe, umkurvte vorsichtig den Streifenwagen. Tankard sah, wie sie bremste und offenkundig sehnsüchtig nach der Behindertenparkbucht vor der Bank linste. Der Platz war besetzt. »Echt Pech, meine Liebe«, murmelte Tankard und knackte vor Langeweile mit den Fingerknöcheln. Irgendetwas nagte an ihm, irgendwo in einer Ecke seines Unterbewusstseins … Tankard schaute wieder zur Bank hinüber. Das Fahrzeug auf dem Behindertenparkplatz war ein ziemlich kräftig wirkender Ford-Pickup. An dem Wagen war nichts besonders Auffälliges, nur dass er ihm aus irgendeinem Grunde fehl am Platz vorkam. Dann wusste er es: Ein Behinderter fuhr normalerweise was Leichteres, Zahmeres, einen kleinen Japaner oder einen Golf. Genauso gut könnte ein Behinderter auch einen Laster fahren. Überprüfen Sie die Behindertenparkplätze, hatte Kellock gesagt, und John Tankard, der damals die Nase gerümpft hatte, fand nun, dass vielleicht doch was dran war an Kellocks Theorie vom Verbrecher, der selbst auf sich aufmerksam macht. Er setzte zurück, wartete darauf, dass ein anderer Wagen abfuhr, und parkte den Polizeivan direkt neben dem F100. Erst später ging ihm auf, dass das ein Fehler gewesen war. Es wäre allen viel Ärger erspart geblieben, wenn er so viel Verstand besessen hätte, den Van hinter den F100 zu stellen, um ihn so zu blockieren. Er stieg aus, schlenderte zur Rückseite des großen Pick-ups und notierte sich das Kennzeichen. Dann ging er nach vorn und 184
schaute an der Windschutzscheibe nach. Keine Behindertenparkerlaubnis. »Hab ich dich erwischt, Kumpel«, murmelte er zufrieden und wollte gerade zum Van zurück, um das Kennzeichen durchzugeben, als er in dem Pick-up eine Bewegung bemerkte. Er blieb stehen, machte kehrt, um genauer hinzuschauen, und sah, was er zuvor wegen der hohen Seiten der Fahrerkabine nicht gesehen hatte: Ein Mann streckte sich über den Sitz aus und zog etwas aus dem Beifahrerfußraum. Die Scheibe stand einen Spalt offen. Tankard kam näher und klopfte ans Glas. »Sir? Entschuldigen Sie bitte, Sir?« Der Mann erstarrte. Was zum Teufel tat der da? Sein Rücken, sein ausgestreckter Arm, der wuchtige Vorbau des Armaturenbretts, Tankard konnte nichts erkennen. Vielleicht war er tatsächlich behindert. Vielleicht war ihm seine Krücke vom Sitz gefallen. »Sir, ich bin Constable Tankard, und ich möchte gern mal mit Ihnen sprechen wegen …« Da sah er ein metallisches Funkeln, ein verirrter herbstlicher Sonnenstrahl, der sich kalt auf dem Doppellauf einer Schrotflinte spiegelte. Tankard schnappte nach Luft, trat zurück und versuchte zu denken. Er konnte nicht denken. Er hatte gelernt, in solchen Situationen zu denken. Er hatte gelernt, sich einem bewaffneten Verdächtigen zu nähern, seine Waffe zu zücken, zwei Schuss abzufeuern und die Waffe wieder in das Halfter zu schieben. Er hatte gelernt, rückwärts zu gehen, sich hinzuknien, umzudrehen und zu feuern, ohne zu zielen, erst mit der rechten Hand, dann mit der linken. Er hatte gelernt, auf den Körper zu zielen: Leib, Schultern, Kopf. Der erste Schuss konnte der letzte sein, also sollte er lieber Wirkung zeigen. Draußen auf dem Schießstand hatte Tankard regelmäßig siebenundzwanzig, achtundzwanzig Treffer bei dreißig Schuss hingelegt. Da kamen nicht allzu viele 185
Kollegen mit. Er hatte auch gelernt, zumindest den Revolver aus dem Halfter zu ziehen Himmel. Die Sekunden verrannen; Hände und Verstand funktionierten nicht. Der Mund wurde ihm trocken. Ob er erst einen Warnruf abgeben sollte? Schließlich fanden seine Hände zu dem Lederband, das den Revolver im Halfter festhielt. Seine Finger verweigerten den Dienst, fummelten herum, bis er tatsächlich hinschauen musste, was er da tat. Als seine nervösen Finger den Knauf endlich umschlossen und Tankard wieder zu dem Mann in dem F100 schaute, war der Doppellauf bereits auf sein Gesicht gerichtet, und er starrte in die ruhigen Augen von Ian Munro. Er hatte noch nicht mal seine eigene Waffe gezückt. »Raus damit«, sagte Munro. »Was?« Tankards Stimme war trocken, ein Krächzen. Er versuchte es noch einmal. »Was?« »Deine Waffe, raus damit, mit zwei Fingern, und gib sie mir.« Tankard schluckte. Er tat wie befohlen und ließ seine Waffe durch den Fensterspalt fallen wie eine tote Maus. »Die Schlüssel.« »Was?« »Geh rückwärts zu deinem Van, greif rein, zieh die Schlüssel ab, oder ich puste dir den verdammten Schädel weg.« Tankard tat es. Er hatte keine andere Wahl, als der verächtlichen, peitschenden Stimme des Mannes zu gehorchen. Ihm war schlecht, und er wusste, dass er jetzt sterben würde. »Gib sie mir«, sagte Munro und schnippte mit den Fingern. Tankard wurde bockig. »Nein«, sagte er und ließ die Schlüssel durch einen Gullydeckel fallen. Munro lachte. »Du Idiot, ich wollte den Van gar nicht.« Wieder lachte er, warf den F100 an und legte den Rückwärtsgang ein. Die Reifen quietschten kurz auf, und schon war er verschwunden. 186
Tankard nahm an, dass der Pick-up gestohlen war, aber er brauchte eine Weile, bevor er sich auf dem Revier melden und das herausfinden konnte; in der Zwischenzeit musste er sich eine Weile im Pub aufs Klo hocken, und als Pam Murphy wieder auftauchte, brachte er kein vernünftiges Wort heraus. Pam musste in die Bank gehen, wo sie schon mit einem Blutbad rechnete. Da gab es aber keins: Munro hatte sich mit dem Direktor dort angelegt, aber Tankard war offenbar gerade in dem Augenblick aufgetaucht, als er reingehen und um sich schießen wollte. Pam war es auch, die Tankard fragte, wo denn sein Dienstrevolver sei. Erst da ging ihm wirklich auf, welche Schmach er gerade erlitten hatte.
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30 Tankard war erst von den Männern der Special Operations befragt worden, was bedeutete, dass der Nachmittag fast um war, als Challis sich endlich mit ihm unterhalten hatte. Challis fuhr nach Hause; der Tag neigte sich dem Ende entgegen, und als ihn eine innere Unruhe ergriff, harkte er Laub zusammen. Sein Amberbaum trug im Frühling und Sommer schönes grünes Laub, aber auch im Herbst war er sehr schön, wenn sich die Blätter rot und golden färbten, doch nun fielen sie ab und bildeten auf dem Gras eine stumpfgelbe Matte. Ein ganzer Monat Laubharken lag vor ihm. Erst umkurvte er den Baum im Uhrzeigersinn auf seinem Rasentraktor und ließ die Blätter von den Scherblättern zusammensammeln und in den Fangkorb werfen, bis er Gefahr lief, dass sich die Blätter festsetzten. Dann harkte er die Blätter zu kleinen Haufen zusammen. Schließlich fuhr er das Laub schubkarrenweise zum Komposthaufen hinterm Haus und fluchte, als die obersten Schichten von der Schubkarre rutschten und eine Spur über den Rasen und die Schotterzufahrt legten. Plötzlich hatte er einen Einfall: Er könnte doch Kitty Casement fragen, ob sie mit ihm morgen zur Eröffnung der Footballsaison gehen wollte, die Tigers gegen die West Coast Eagles im Melbourne Cricket Ground. Sie hatte mal erwähnt, dass ihr Mann nur selten mit ihr ausging und eigentlich ständig vor dem Bildschirm hockte. Doch Challis ließ diesen Gedanken sofort wieder fallen. Kitty würde sowieso nicht mitkommen. Sie würde sich fragen, warum er überhaupt gefragt hatte, seine Absichten würden jedem sofort ins Auge springen, und der Ehemann würde sich sofort fragen: Was läuft denn hier ab? Besser, er rief Tessa an. Wenn er so weitermachte, würde er sie noch verlieren. 188
Dann dachte er an die lange Fahrt und den dichten Verkehr, und er fragte sich, ob er wirklich zum Football gehen wollte. Früher hatte es mal eine Zeit gegeben, als es noch was bedeutete, woher man kam. Man war für die Tigers, weil man aus dem Tigerland stammte, genau wie die Spieler. Aber damit war Schluss. Die Spieler liefen dem Geld hinterher, und eigentlich war man nur noch für künstlich zusammengeschusterte Teams. Außerdem wusste Challis, dass er beim Football sowieso kein guter Begleiter war. Das hatte teilweise damit zu tun, dass er den Herdentrieb verabscheute, aber vor allem damit, dass seine Gedanken abschweiften und er sich in alten oder aktuellen Mordfällen verlor. In diesem gedankenversunkenen Zustand hatte er sogar schon ein, zwei Fälle gelöst, aber das machte ihn nicht gerade zu einem gesprächigen Begleiter. Er hörte das Telefon an der Küchenwand leise fünfmal klingeln, bis der Anrufbeantworter ansprang. Er ging nicht ran, sondern wartete, und prompt vibrierte eine Minute später sein Handy in der Tasche. »Challis.« »Hal? Ich bins, Marg.« Marg Quinlan, seine Schwiegermutter. »Hallo, Marg«, sagte er zögernd. »Es ist wegen Angela.« »Das hab ich mir schon gedacht.« »Es geht ihr nicht gut.« Challis sagte nichts, obwohl er wusste, dass er es seiner Schwiegermutter, die das eigentlich nicht verdient hatte, dadurch nicht leichter machte, aber er konnte nicht anders. »Ich glaube, es würde sie aufmuntern, wenn du sie besuchen würdest«, sagte Marg verzweifelt. »Na gut«, willigte Challis mürrisch ein, wie immer. »Ach Hal, danke, ich weiß, wie schwer das für dich ist, aber Bob und ich wissen das wirklich zu schätzen.« 189
»Schon in Ordnung, Marg.« »Wir könnten uns dort treffen.« Sie hoffte darauf, dass er nein sagen würde, lieber ginge er allein, doch Challis musste sie enttäuschen. »Danke, das wäre sehr lieb.« »Oh. Würde es dir morgen passen?« »Am Nachmittag.« »Nachmittag. Ja. Gut. Gegen zwei?« Also traf sich Challis am nächsten Tag gegen zwei Uhr, als gerade das Spiel der Tigers gegen die West Coast Eagles angepfiffen wurde, mit seinen Schwiegereltern im Warteraum des Frauengefängnisses am Rande der Stadt. Er fand es dort deprimierend. Die wenigen Ehemänner oder Freunde sahen alle aus wie Männer, die mit Kindern und Verantwortungen belastet waren, die sie am liebsten abschütteln wollten. Wie üblich warteten auch ein paar junge Frauen draußen – Schwestern, Freundinnen, Lebensgefährtinnen. Dazu noch ein, zwei ältere Leute, Großeltern vielleicht, und Paare wie Marg und Bob, Mitte fünfzig, Mitte sechzig, Eltern der Insassinnen. Nicht viel Freude. Jede Menge Hoffnungslosigkeit. Und wie es schien, wussten alle dort, wer er war, oder sahen ihm den Bullen an der Nasenspitze an. Marg umarmte und küsste ihn. Sie war eine groß gewachsene, grobknochige Frau mit einer komischen Frisur. Challis war sie immer vorgekommen wie ein nachlässig gebautes Nest, so als würde Marg es schön finden und ihre Haare absichtlich so toupieren. Sie trug Hose und Strickjacke über einer Bluse, deren Kragen unter einem Ohr mit Make-up verschmiert war. Sie sah ein wenig unordentlich aus, aber sie war ein Fels in der Brandung, voller Liebe und Güte. Bob passte in Größe, Körperbau und Schlichtheit zu ihr. Nach und nach verlor er Haar und Gehör, und am liebsten stand er leicht abseits und schaute freundlich zu, wenn sich die anderen rings um ihn unterhielten. Ab und zu legte er sich eine Hand 190
hinters Ohr und fragte: »Wie bitte?« In den ersten Jahren der Haftstrafe seiner Tochter hatte er sich geweigert, sie zu besuchen, doch er war im Laufe der Zeit sanftmütiger geworden. Er schüttelte Challis die Hand und machte daraus eine gefühlsbetonte Geste, indem er Challis’ Finger eine Ewigkeit lang festhielt. Die beiden liebten ihn, und sie liebten ihre Tochter, und sie waren schier zerfressen vor lauter Schuldgefühlen. Dann kreischten Kinder und junge Frauen ihre Hallos. Die Insassinnen betraten den Raum. In Challis’ Augen schien seine Frau seit Karfreitag dahinzusiechen. Sie hatte die Körpergröße und die groben Knochen ihrer Eltern, aber in der Zwischenzeit waren die Knochen krumm und fleischlos geworden, und sie wirkte kleiner, leerer, trauriger. Sie stand stumm da, als einer nach dem anderen sie küsste, doch als Challis sich von ihr lösen wollte, klammerte sie sich fest an ihn. »Na komm, Angela«, sagte er sanft, »setzen wir uns.« Manchmal gab es Gewaltausbrüche, deshalb waren Tische und Stühle aus Plastik. Challis hörte die Stühle unter dem Gewicht seiner Schwiegereltern ächzen. Das Erste, was seiner Frau über die Lippen kam, war: »Ich wollte nur Hal«, und ihre Unterlippe kräuselte sich schmollend. Marg und Bob zuckten angesichts dieses Satzes sichtlich zusammen. »Aber, meine Liebe …«, stammelten sie. Angela verschränkte die Arme. »Na gut, dann sag ich eben nichts mehr.« Sie war so bockig wie ein Kind, und vielleicht fühlten sich ihre Eltern an das Kind von früher erinnert, denn sie seufzten gemeinsam und verließen nach einigem Räuspern und Hüsteln den Raum. »Was möchtest du, Angela?« »Sei doch nicht so, so kalt.« »Hör mal, ich habe einen weiten Weg hinter mir.« 191
In einem jämmerlichen Schauspiel aus Schüchternheit und Koketterie rutschte seine Frau auf dem Stuhl nach vorn, streckte die Hände unter dem Tisch aus und legte sie auf seinen Oberschenkel. »Hal, du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich hier drin vermisse. Wenn ich dich nur berühre, werd ich schon ganz feucht.« »Hör auf damit«, sagte Challis. Sie legte den Kopf zur Seite, grinste und verengte die Augen zu Schlitzen, um ihn eingehend zu betrachten, und er sah, wie nah sie dem Wahnsinn war. Ein zweites Mal sagte er: »Hör auf damit«, und diesmal lag das Verbot deutlich in Stimme und Gesicht, ein eisiger Wind von einem Hochplateau, das wirkte wie eine Ohrfeige. Angela sank in sich zusammen, legte die Hände vors Gesicht und fing an zu flennen. Challis schaute ihr eine Weile dabei zu. Die Angst, dass er vielleicht mit dafür verantwortlich war, dass sie sich hier befand, lag wie ein Stein in seiner Brust, und solange er sich nicht davon lösen konnte, würde er weiter der verständige Mann sein, der ihr zuhörte, damit sie sich selbst half und ihre Strafe absitzen konnte. Aber er liebte sie nicht und wollte sie auch nicht zurück, und es war durchaus möglich, dass sie sich hier drin das Leben nahm. Das wollte er nicht, aber wenn es dazu kam, würde er dann Schuldgefühle bekommen, oder würde er erleichtert sein? Wieder draußen, fühlte er sich angespannt und nervös, und die lange Heimfahrt war da kein Gegenmittel. So fuhr er stattdessen in die Stadt in ein Parkhochhaus in der Flinders Lane, von wo es nur ein kurzes Stück zu Fuß war bis zum oberen Ende der Collins Street. Timepiece war ein vor Glas und Messing glitzerndes Ladenlokal zwischen einem Buchladen und einer Boutique. Der Boden unter Challis’ Füßen vibrierte von einer vorbeifahrenden Straßenbahn, er schob die schwere Tür auf, trat ein, und im 192
selben Augenblick schlug eine Standuhr vier. Rings um ihn tickten, schwirrten und flüsterten Uhren. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« Ein Mann mit ausgemergeltem Gesicht schaute mürrisch, wie Challis zu ihm kam und in der Innentasche nach seinem CIBAusweis griff. »Detective Inspector Challis. Sind Sie Mr. Jelbart?« »Bin ich.« »Sie erinnern sich bestimmt daran, dass einer meiner Detectives, DC Sutton, bei Ihnen angerufen hat, um …« »Ich erinnere mich. Wie ich schon sagte, ich brauche etwas mehr als nur jemandes Wort am Telefon.« »Nun haben Sie ja meinen Ausweis gesehen«, sagte Challis verärgert. Schnüffel. »Das ist nun nicht ganz dasselbe wie ein Durchsuchungsbefehl.« »Verzeihen Sie, Sir, aber es geht hier um Mord. Ich interessiere mich nicht für irgendwelche anderen Unterlagen oder Aktivitäten Ihrerseits, ich interessiere mich nur für die Rolex, die wir bei dem Opfer gefunden haben.« Jelbart starrte ihn an. Challis hätte ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst. »Na gut.« »Ich danke Ihnen.« Jelbart schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Einzelheiten.« Challis starrte den Mann an. »Die haben wir Ihnen zugefaxt.« »Ich kann unmöglich alles aufheben, was mir auf den Schreibtisch flattert.« Challis ging insgeheim davon aus, dass Jelbart in Wahrheit alles aufhob, seufzte, blätterte durch seinen Notizblock und teilte ihm die Seriennummer mit, die auf der Rolex gefunden worden war. »Warten Sie hier.« »Wird es lange dauern?« 193
»Das habe ich im Computer«, sagte Jelbart, so als ob Challis in der Steinzeit leben würde. Challis wartete, hasste den Klang der Uhren, und fünf Minuten später kam Jelbart mit einem Zettel wieder zurück. »Hab ihn gefunden.« »Toll«, seufzte Challis erleichtert. Er besah sich den Namen, den Jelbart ihm aufgeschrieben hatte. »Ich habe mir schon gedacht, dass die Sache aussichtslos ist.« Jelbart verschwand in den Schatten zwischen seinen Uhren, und Challis verließ den Laden und fragte sich, warum Trevor Hubble aus St. Kilda, falls er denn die Ankerleiche war, niemals auf der Liste der vermissten Personen aufgetaucht war.
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31 Kaum war Dwayne Venn auf Kaution freigekommen, da schlug er schon wieder zu. Zumindest glaubte Ellen Destry, dass es Venn gewesen war. Der Tathergang war etwas anders: Freitagnacht hatte ein vierzigjähriger verheirateter Architekt Sex gehabt mit seiner achtzehnjährigen Sekretärin auf dem Rücksitz seines Wagens an einer abgelegenen Seitenstraße in der Nähe des Devil-Bend-Staudamms, als sie von einem Mann gestört wurden, der ein Kapuzensweatshirt mit Reißverschluss trug, Baseballschuhe und sonst nichts. Er hatte sie gezwungen, sich gegenseitig oral zu befriedigen, während er zuschaute und in ein Kondom onanierte; dann hatte er sie ausgeraubt und den Autoschlüssel des Architekten weggeworfen. Ellen hatte die beiden in getrennten Befragungsräumen auf dem Revier untergebracht. Es ist Samstag, beschwerten sie sich, Sie haben kein Recht … Doch Ellen blieb hart und bekam heraus, dass sie tatsächlich kurz darauf ein Fahrzeug davonfahren hörten, aber nicht wussten, was für eins oder wo es gestanden hatte. Nein, sie hatten den Wagen nicht kommen hören – wie denn auch, wo sie doch so beschäftigt gewesen waren, dachte Ellen. Nein, keine besonderen Merkmale. Ein ganz normaler männlicher Unterleib. Beine? Spindeldürr, sagte der Architekt. Kräftig, sagte seine Sekretärin. Penis? Der Architekt hatte ein mürrisches Gesicht gemacht, die Frau war rot geworden, beide hatten mit den Schultern gezuckt. »Nun, manchmal sind sie tätowiert oder tragen einen Ring durch die Vorhaut«, sagte Ellen, um es dem glücklichen Pärchen noch ein wenig peinlicher zu machen. Gesicht? Es war zu dunkel, sagten sie. Die Kapuze hat alles verdeckt. 195
Hat er ejakuliert? Ja. Hat er das Kondom wieder abgestreift? Ja, mit einem Taschentuch. Hat dann alles in die Tasche gestopft. Wie hatte er sie bedroht? Hauptsächlich durch sein Verhalten. Ziemlich bedrohlich. Hatte er ein Messer? Nein. Eine Eisenstange, ein Montiereisen vielleicht. Hat er irgendwelche Andenken mitgenommen? Häh? Kleidungsstücke, Haarsträhnen, etwas in der Art? Nur unser Geld. Die Einzelheiten deuteten darauf hin, dass es sich um jemand anderen als Venn handelte. Trotzdem musste sein Alibi überprüft werden. Ellen ließ den Architekten und seine Sekretärin nach Hause gehen und befragte die beiden TullySchwestern. »Er war die ganze Zeit bei Ihnen? Sind Sie sich sicher?« Lisa nickte. Sie waren in einem der Befragungsräume in dem Flur hinter der Dienstkantine, Ellen stellte die Fragen, Scobie beobachtete regungslos Lisa Tully. Donna Tully wartete zwei Türen weiter und trank Tee, während sie von einem anderen CIB-Detective bewacht wurde. Die beiden Schwestern waren eisern: Dwayne Venn war letzte Nacht bei ihnen zu Hause gewesen. Ellen fragte sich, ob er mit beiden schlief. »In welcher Beziehung stehen Sie zu Dwayne?« »Was meinen Sie damit?« »Ist er ein Bekannter? Ein Freund? Ihr Verlobter? Untermieter?« »Er ist der Freund von meiner Schwester. Für was halten Sie mich?« 196
»Verstehen Sie sich gut mit Ihrer Schwester?« »Sie ist meine Schwester.« »Würden Sie für sie lügen?« »Was meinen Sie damit?« »Wenn Sie sie bitten würde, vor der Polizei eine Falschaussage zu machen, um ihr zu helfen oder sie zu schützen«, formulierte Ellen gewichtig, »würden Sie das tun?« Und wenn du noch einmal »Was meinen Sie damit?« zu mir sagst, dann kipp ich dich vom Stuhl. »Was ist denn das für eine Frage?«, wollte Lisa wissen. »Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe. Ich bin hier das Opfer.« Das war Lisa Tullys feststehende Antwort in den letzten zehn oder elf Monaten gewesen: Ich bin hier das Opfer. Stimmt schon, dachte Ellen, Opfer ist sie. Ihre zweijährige Tochter wurde vermisst, und wahrscheinlich war das Kind tot. Aber das war letztes Jahr gewesen und hatte nichts mit Dwayne Venns nächtlichen Unternehmungen an den Knutschplätzen der Halbinsel zu tun. »Lisa, versuchen Sie Ihre Schwester zu schützen? Vielleicht hat ihr Dwayne befohlen, ihm für letzte Nacht ein Alibi zu verschaffen, und dann hat sie Sie gebeten, das Alibi zu bestätigen. Das wäre eigentlich keine Lüge. Ihnen liegt doch nur Ihre Schwester am Herzen.« Lisa Tully runzelte argwöhnisch die Stirn und starrte über das schrundige Laminat auf dem Tisch, so als habe Ellen einen gerissenen Plan entwickelt, der von ihr ein Maß an Konzentration verlangte, das sie nur schwer aufbringen konnte. »Weiß nicht, was Sie meinen.« »Dwayne war also die ganze Nacht bei Ihnen. Er ist nicht mal zum Zigarettenkaufen oder für ein Sechserpack Bier hinausgegangen? Hat sich nicht für ’ne Stunde mit seinen Kumpeln im Pub getroffen?« »Er ist zu Hause geblieben, hab ich Ihnen doch schon gesagt.« »Und was haben Sie alle gemacht?« 197
Schulterzucken. »Ham uns ’n paar Hamburger zum Essen geholt und dann ’ne Weile in die Glotze gestiert.« »Sind Sie irgendwann vor dem Fernseher eingeschlafen.« »Nö.« »Und was lief?« »Football.« »Und für wen sind Sie?« »Collingwood.« »Ich auch«, sagte Ellen herzlich. »Und welches Spiel haben sie gestern gezeigt?« Schulterzucken. »Weiß nich. Ich war in der Küche.« »In der Küche? Und was haben Sie da gemacht?« »Brad war vorbeigekommen.« »Brad Pike?« Streitsüchtig. »Na und? Er darf das.« »Also sind Sie wieder Freunde?« Schulterzucken. »Und Sie glauben nicht mehr, dass er für das Verschwinden Ihrer Tochter verantwortlich ist?« Schulterzucken. »Sie waren also in der Küche mit Bradley Pike. Wo waren Donna und Dwayne?« »Hab ich Ihnen doch schon gesagt. Im Wohnzimmer. Ham in die Glotze geguckt.« »Haben Brad und Sie denn nicht mitgeschaut?« Schulterzucken. »Ach, wissen Sie, Brad und Dwayne …« »Die kommen nicht gut miteinander aus?« »Weiß nich.« »Wie lange waren Sie in der Küche mit Brad?« »’ne Weile. Weiß nich.« »Und was haben Sie da gemacht?« Lisa rutschte auf ihrem Stuhl herum; das Neonlicht enthüllte gnadenlos ihr kränkliches Gesicht, das zottelige, blondierte Haar und den gepiercten Hals – das Piercing war noch frisch, 198
entzündet, nässend. Ellen nahm an, dass Brad Pike aus alter Freundschaft ein paar Joints mitgebracht hatte, die sie sich geteilt hatten. »Nur unterhalten«, sagte Lisa schließlich. »Worüber?« »Alles Mögliche.« Ellen dachte, warum nicht das Verschwinden von Jasmine Tully im letzten Jahr gleich mit untersuchen, nicht nur Dwayne Venns Alibi von letzter Nacht? »Mögen Sie Brad?«, fragte sie. Schulterzucken. »Ist er vor oder nach Dwayne wieder gegangen?« »Davor.« »Also ist Dwayne irgendwann gegangen?« »Nein, ich meine, Dwayne ist die ganze Zeit da gewesen. Brad war nur ’ne Weile da.« »Wann ist Dwayne gegangen?« Lisa Tully verkrampfte und sagte: »Ich werd sowieso nich sagen, dass er letzte Nacht weg war, also probiern Sies erst gar nich.« »Wann ist Brad gegangen?« »Weiß nich. Neun? Zehn? Nee, später.« Der Architekt und seine Sekretärin waren gegen elf Uhr nachts überfallen worden, also würde Brad Pike nicht sagen können, ob Venn weggegangen war oder nicht. Ellen würde ihn trotzdem befragen, aber sie wusste, dass sie in eine Sackgasse geraten war. Mit Donna Tully erging es ihr nicht besser. Sie war gerissener als ihre jüngere Schwester, und sie klapperte mit langen roten Fingernägeln auf dem Tisch, während sie alles leugnete und Ellens Fragen aussaß. Die Polizei konnte Venn also wegen des österlichen Überfalls drankriegen, aber nicht wegen früherer Straftaten und auch nicht wegen letzter Nacht. Auch der Tathergang war anders, aber Ellen wusste in ihrem Innersten, dass es Venn gewesen war. Sie 199
hätte auch ganz gern gewusst, wer ihnen den Tipp mit Venn überhaupt gegeben hatte. Sie fand Pam Murphy unten in der Kantine und sagte: »Ich muss mal kurz mit Ihnen reden, trinken Sie aber erst mal Ihren Kaffee aus.« Fünf Minuten später saß Pam Murphy auf dem harten Stuhl vor Ellens Schreibtisch in dem abgeteilten Büro im ersten Stock. Murphy hielt Ellens Blick stand. »Wir ermutigen unsere Detectives, sich Informanten zu suchen«, fing Ellen an. Pam nickte misstrauisch. »Aber es gibt Vorschriften.« »Das weiß ich, Sergeant.« »Wir möchten gern, dass die Informanten registriert werden.« »Ja, Sergeant.« »Sie kümmern sich um Ihren eigenen Informanten, aber nur, solange ein dienstälterer Kollege als Kontrolle, als Rückendeckung oder Berater bereitsteht.« »Jawohl, Sergeant.« »Es sei denn, es handelt sich um einen einmaligen Tipp von jemandem, der nicht in der Position ist, uns in regelmäßigen Abständen Informationen zu liefern.« Pam wurde ganz still. »Sergeant, geht es um Dwayne Venn?« »Ja.« Und dann, ohne Aufforderung oder Zwang, fügte Pam Murphy hinzu: »Brad Pike hat mir von Venn erzählt.« »Verdammt«, murmelte Ellen. Was heißen sollte, obwohl Bradley Pike Informationen geliefert hatte, die gut genug waren, um Venn mit dem Ostersamstag in Verbindung zu bringen, war er nicht vertrauenswürdig genug. Und wenn es um Venn und dessen Beziehung zu den TullySchwestern ging, stand für ihn selbst zu viel auf dem Spiel. »Verdammt.« »Ja, Sergeant«, sagte Pam, so als sei sie ebenfalls enttäuscht. 200
32 »Ich habe versucht, Sie auf dem Revier zu erreichen«, sagte Carl Lister am Montagmorgen. »Man sagte mir, Sie hätten heute frei.« »Nicht ganz«, entgegnete Pam Murphy. »Ich hatte am Wochenende Dienst, da habe ich heute erst um sechzehn Uhr Schicht.« Sie schnallte gerade ihr Surfbrett an den Dachgepäckträger ihres neuen Subaru, drückte das Handy ans Ohr, und während sie ihm zuhörte, nahmen ihre Sorgen zu. Lister fuhr im Plauderton fort: »Allerdings kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, wie irgendjemand Ihnen im Augenblick freigeben kann. Haben Sie denn Munro oder diese Entflohenen schon geschnappt?« Lister verfügte über ein breites Lächelrepertoire: fröhlich, kumpelhaft, blinzelnd, verschwörerisch. Pam konnte sich sein Grinsen genau ausmalen: wahrscheinlich wie ein Hai und ohne jeden Bezug zu dem, was er sagte. »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen.« Lister lachte. Übers Handy hörte es sich ein wenig schroff an. »Also, Pam, da wär noch eine Sache, die Ihnen bei all der Sucherei und den Morden vielleicht entgangen sein mag.« Pam warf einen schuldbewussten Blick auf ihr neues Auto. Sie wusste, was Lister wollte. An dem Tag, als Munro Tankard vor die Flinte bekommen hatte, war sie in sein Büro gegangen, um ihre Lage zu schildern, doch Lister hatte einen Klienten gehabt. Sie hatte fast zehn Minuten gewartet und war dann wieder gegangen, ohne ihn zu Gesicht bekommen zu haben. Dennoch sagte sie mit einer Stimme, die verwirrt klingen sollte: »Ach?« »Die unbedeutende Angelegenheit Ihrer ersten wöchentlichen Ratenzahlung. Die war letzten Donnerstag fällig.« 201
»Oh.« »Oh ja. Ich muss darauf bestehen, dass Sie noch im Laufe des heutigen Geschäftstages zahlen, verstehen Sie?« Es war zehn Uhr früh an einem schönen herbstlichen Montagmorgen, die Brandung war gut, und sie war pleite. Sie begann zu stottern, doch Lister unterbrach sie. »Wenn Sie die Zahlungen nicht leisten können, sollten wir noch mal über die Rahmenbedingungen Ihres Kredits reden, um es Ihnen leichter zu machen. Ich bin ja kein Unmensch, und schließlich sind Sie Polizistin, und ich habe großen Respekt vor der Polizei. Hatte ich schon immer.« Das war noch so ein Satz, den sie immer wieder zu hören bekam. Wenn sie mal kein »Mädchen« war, dann wurde sie respektiert, weil sie Bulle war. Das hörte sie von ihrem Vermieter, von Ladenbesitzern und nun auch noch von Lister. Wenn es nach denen ging, konnte sie genauso gut korrupt sein, eine laute Mieterin, eine schlechte Autofahrerin, eine chronische Ladendiebin. Ihre Finanzen bekam sie jedenfalls nicht in den Griff. »Wann?«, fragte Pam. Sie besah sich liebevoll die gewachste Oberfläche ihres Surfbretts. »Jetzt passt es mir gerade bestens.« Also packte sie das Surfbrett wieder in den Flur hinter ihrer Eingangstür und fuhr nach Waterloo; sie stellte den Wagen dort ab, wo Lister sie nicht kommen oder wegfahren sehen konnte. Sie wusste nicht, wie einsichtig er war. Vielleicht nahm er ihr den Subaru weg, auch wenn sie bezweifelte, dass er dazu das Recht hatte. Aber auch so konnte er ihr das Leben schwer machen, ein Wörtchen zu Senior Sergeant Kellock, zum Beispiel – sie konnten gut und gerne im selben Rotary Club sein –, oder ein anonymer Anruf bei der Dienstaufsicht. Am Straßeneingang zu Listers Gebäude warf sie einen Blick hinüber zur Bank, vor der Tank auf Munro gestoßen war. Wie hätte sie sich dabei verhalten? So wie sie sich jetzt fühlte, mit 202
diesem nervösen Kribbeln im Bauch, hätte sie sich wohl in die Hose gemacht. Sie drückte die Tür mit der Aufschrift »Lister Financial Services« auf und ging die Treppe hoch. Dieselbe Sekretärin saß da, eine Blondine mit aufgedonnertem Haar und riesigen roten Fingernägelkrallen. Keine Ahnung, wie sie eine Tastatur oder das Telefon bediente. »Ja bitte?«, fragte die Sekretärin und starrte Pam an, so als habe sie sie noch nie zuvor gesehen. »Mr. Lister erwartet mich.« »Und Sie sind …?« »Der Weihnachtsmann«, fauchte Pam und stapfte an ihr vorbei in Listers Büro. Sie rechnete schon mit Protest, doch die Frau blieb stumm. Listers Büro ging auf die Straße hinaus. Lister selbst saß mit dem Rücken zum Fenster; die Sonne, die streifig zwischen den Lamellen der Jalousie hereinfiel, umstrahlte ihn an Kopf und Schultern und blendete Pam, sodass sie ihn nicht gut erkennen konnte. Sofort verlor sie ein wenig von ihrer Entschlossenheit. Lister erhob sich nicht, sondern wedelte nur nonchalant mit der Hand: »Setzen Sie sich, Pam.« Der einzige andere Platz war direkt vor dem Schreibtisch. Pam beschirmte die Augen mit der Hand und beobachtete ihn in der Hoffnung, er würde den Wink verstehen. »Also, Ihre Ratenzahlung«, sagte Lister. »Ich hatte eine Menge um die Ohren«, sagte Pam. »Die Sache mit Munro, die Mor …« Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Tut mir Leid, meine Liebe, aber das tut nichts zur Sache. Sie sind eine Verpflichtung eingegangen, und …« »Aber ich bin doch sicher nicht die Erste, die mit den Ratenzahlungen hinterherhinkt?« Seit sie den Kredit aufgenommen hatte, hatte sie eine Menge über Lister gehört. Dass er sich auf diejenigen stürzte, die 203
schwer zu kämpfen hatten, dass er hoffnungslosen Fällen Geld lieh und ihnen dann Auto und Haus pfändete; dass er Schecks nach Gutdünken änderte, aber saftige Prozente verlangte. Kein Kredithai, keine Gerüchte, dass er mit dem Baseballschläger Schulden eintrieb, nichts, weswegen die Polizei hätte einschreiten müssen, und dennoch machte Lister den unverkennbaren Eindruck eines Aasgeiers. »Nein, Pam, Sie sind nicht die Erste, die eine Zahlungsfrist versäumt. Und Sie werden wohl auch nicht die Letzte sein. Allerdings muss ich …« »Ich bekomme am Donnerstag mein Gehalt.« »Ach ja?«, sagte er von oben herab. »Allerdings sind Sie bis dahin eine Woche im Verzug und müssen zwei Raten tilgen, abgesehen von der Strafgebühr.« »Strafgebühr«, sagte Pam betäubt. »Das steht schwarz auf weiß im Kreditvertrag. Den haben Sie doch gelesen?« Pam murmelte etwas. Sie hatte den Vertrag nicht gelesen, und das wusste sie auch. Ganz unerwartet schossen ihr Tränen in die Augen. Sie hätte genauso gut wieder ein Kind sein können, das ins Zimmer ihres Vaters gerufen wird. Ihre Brüder waren nie in Vaters Zimmer gerufen worden. Die waren alle was geworden und unterrichteten an der Uni, genau wie der Vater. Pam war gut in Sport gewesen, aber in allen anderen Fächern hatte sie versagt, und oft genug fand sie sich in Vaters Zimmer wieder, und der putzte sie mit leiser, vernünftig klingender Stimme auf ganz subtile Art und Weise herunter. »Pam, ich bin ja kein Unmensch«, sagte Lister. »Ich möchte ja nicht, dass Sie in Schwierigkeiten geraten.« Pam schluckte und nickte, zwang die Tränen fort und hoffte, dass Lister bei all den Sonnenstreifen auf ihrem Gesicht die Feuchtigkeit nicht bemerkt hatte. »Wir werden schon zu einer Übereinkunft kommen.« »Danke«, sagte sie. »Welcher Art von Übereinkunft?« 204
»Würde es Ihnen helfen, monatliche Zahlungen zu leisten?« »Ich weiß nicht …« Sie wusste es tatsächlich nicht. Als sie den Kredit beantragt hatte, waren ihr die monatlichen Raten riesig erschienen, die wöchentlichen Zahlungen aber machbar. Und nun schaffte sie nicht mal die … »Oder Sie zahlen weniger.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Über längere Zeit, meinen Sie?« Sie glaubte schon, dass sie das schaffen könnte, aber die Vorstellung, jahrelang an Carl Lister gebunden zu sein, war schrecklich. »Quid pro quo«, sagte Lister und verschränkte die Hände über der Brust. »Ich verstehe nicht.« »Eine Hand wäscht die andere.« Pam setzte sich auf. »Ich werde nicht mit Ihnen schlafen.« Lister wirkte völlig überrascht. »Himmel, nein, tut mir Leid, das meinte ich überhaupt nicht.« Es war ihr zutiefst peinlich, ihn beleidigt zu haben. »Oh. Tut mir Leid.« »Nein, worauf ich hinauswill, ist, ich bin doch Geschäftsmann, richtig? Ich habe meine Finger in allen möglichen Geschäften, ich verleihe Geld an Personen aus allen Schichten, ich leiste meinen Beitrag zur Gesellschaft. Worauf es am Ende hinausläuft: Ich bin verwundbar.« Pam verstand nicht recht. Lister zeigte ihr eine strahlende Lächelvariante, die nur wegen seiner Gesichtsverbrennung ein wenig schief wirkte. »Sagen wir mal, ich leihe einem jungen Malermeister zehntausend Dollar, um ihm über eine Geschäftsflaute hinwegzuhelfen. Doch der verwendet die zehntausend, um … ach, ich weiß nicht, Hehlerware zu kaufen oder einen Drogendeal zu finanzieren. Was ist mit meinem Geld, wenn er erwischt wird? Ich hätte offenbar mehr über den jungen Mann wissen müssen, bevor ich ihm das Geld leihe.« 205
»Das könnte ein Privatdetektiv besser als ich.« Lister schüttelte den Kopf. »Ich müsste wissen, ob sich die Polizei für meinen imaginären jungen Mann interessiert.« Einen Augenblick lang stand die Welt still. Pam Murphy, Petze, Maulwurf, Spionin, Informantin. Sie hüstelte und sagte: »Ich weiß nicht, ob ich das tun kann.« Lister machte eine Handbewegung und spielte das Ganze herunter. »Nichts leichter als das, Pam. Ist doch nichts dabei. Ich bin sehr diskret. Ich werde diese Information nicht weiterverwenden, ich werde nicht sagen, von wem ich sie habe, ich werde nichts schriftlich festhalten.« Mit leiser Stimme fragte sie: »Was muss ich tun?« »Halten Sie mich einfach auf dem Laufenden. An wem die Polizei interessiert ist, wo eine Razzia geplant ist, so was in der Art.« Pam war perplex. »Hört sich eher so an, als wollten Sie ziemlich viel wissen.« Lister schüttelte den Kopf. »Nur wenn es um Drogen geht. Das ist meine Hauptsorge bei der Kreditvergabe. Ich möchte gern wissen, wofür mein Geld verwendet wird. Informieren Sie mich einfach nur, auf wen die Polizei ein Auge hat. Es soll sich für Sie lohnen.« »Und wie?« »Sagen wir mal, die Raten fürs erste Jahr betragen fünfzig Dollar die Woche. Glauben Sie, Sie schaffen das?« Pam nickte. Fünfzig? Kinderleicht. Sie war zutiefst erleichtert.
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33 Eine Durchsicht der Einreiseunterlagen und Passagierlisten der Fluglinien am Montagmorgen ergab, dass ein gewisser Trevor Hubble, der im Besitz eines britischen Passes war, eine Woche vor dem Fund der Ankerleiche in Australien eingetroffen war. Er war in Großbritannien nicht als vermisst gemeldet worden und war weder bei Interpol noch bei Scotland Yard bekannt. Nicht sonderlich bemerkenswert. Bemerkenswert war allerdings die Tatsache, dass Trevor Hubble Kreditkartenspuren in Australien hinterlassen und vor seinem Tod mindestens ein Jahr lang Einkäufe per Kreditkarte getätigt hatte – in Australien, obwohl er offenkundig in England gelebt hatte. Seit dem Fund der Ankerleiche gab es allerdings keine Transaktionen mehr. Challis hatte am Dienstagmorgen gerade die Unterlagen auf den neuesten Stand gebracht, als das Telefon klingelte und Superintendent McQuarrie sagte: »Sie stehen im Rampenlicht, Hal.« Warum musste McQuarrie immer so ins Telefon bellen? Challis hielt den Hörer vom Ohr weg. »Jawohl, Sir.« »Munro erschießt drei Menschen«, fuhr McQuarrie fort, »und klaut einem Polizisten die Dienstwaffe – der will uns wohl verarschen.« »Sir«, wies Challis hin, »ich habe nichts mit der Fahndung zu tun. Ich kümmere mich um die Morde.« »Ist doch ein und dasselbe, Hal, ein und dasselbe.« Nun ja, nein, das war es nicht, und es war auch nicht Challis’ Aufgabe, seinen Superintendent zu besänftigen. »Sir, ich glaube nicht, dass die Morde miteinander zu tun haben.« »Müssen sie aber. Müssen sie. Was sagt die Kriminaltechnik?« »Das ist sehr schwierig bei Schrotflinten, Sir.« Aber wusste McQuarrie das nicht selbst? Normalerweise war 207
Kriminaltechnik für den das Größte. Nach Challis’ Erfahrung waren die Ergebnisse allerdings oft ungenau und die Kriminaltechniker häufig nicht versiert genug, hatten manchmal wenig oder gar keine Erfahrung oder versuchten, dem CIB ins Handwerk zu pfuschen. Nichts von alledem sagte er McQuarrie, sondern lenkte ihn ab und erwähnte, er habe ihn am Abend zuvor im Fernsehen gesehen: »Ich fand, Sie haben sich gut geschlagen, Sir. Beeindruckend. Haben den richtigen Ton gefunden.« Und vor seinem geistigen Auge sah er, wie der Mann am anderen Ende der Leitung sich in die Brust warf und strahlte. Doch Challis spürte, dass ein gewisser Erfolgsdruck auf ihm lastete, und berief eine Sitzung ein. Der Leiter der Special Operations berichtete als Erster kurz und knapp, so als sei er ein vielbeschäftigter Mann und wolle endlich zu Potte kommen, um nach Melbourne zurückzukehren, wo es nicht nach Fischern und Obstbauern roch. »Munro wurde in letzter Zeit nicht mehr gesichtet, dafür haben wir die Illegalen aufgespürt«, sagte er zufrieden. »Die haben an der Landspitze campiert.« Er sagte es so, als habe er nichts anderes erwartet, und Challis war erfreut, in den Gesichtern von Ellen, Scobie und ein paar anderen so etwas wie Abscheu zu erkennen. Als der Mann gegangen war, bat Challis die Detectives des CIB, die mit den Morden zu tun hatten, um den letzten Stand der Ermittlungen. »Scobie?« Suttons hageres, trauriges Gesicht wurde noch trauriger. »Ich habe mich auf Pearces Korrespondenz mit dem Progress und der Kommunalverwaltung konzentriert. Beide haben seine Briefe abgeheftet, und ich habe mich mit den Leuten in Verbindung gesetzt, die er wegen Müllabladen und so weiter und so fort gemeldet hat. Alle waren überrascht und sagten: ›Woher wissen Sie das?‹, oder: ›Ach, hab ich schon ganz vergessen.‹ Keiner schien sauer genug zu sein, Pearce 208
umbringen zu wollen.« »Hat irgendjemand gesagt, Pearce habe sich mit ihnen direkt in Verbindung gesetzt, bevor er sie verpfiffen hat?« »Nein, Hal. Das scheint nicht sein Stil gewesen zu sein.« »Schon, aber wenn er sich darüber aufgeregt hat, wie lange die Behörden brauchen, um etwas zu unternehmen, ist er möglicherweise doch direkter geworden. Bleiben Sie weiter in Kontakt, falls noch Briefe von ihm in der Post sind.« »Alles klar.« »Und überprüfen Sie seine Telefonate.« »Alles klar.« »Und seine Frau. Vielleicht war sie das Ziel.« Sutton nickte mürrisch. Challis wandte sich an Ellen Destry. Sie sah müde aus. Sie hatte mal auf dem Parkplatz angedeutet, dass es häusliche Probleme gab. Die Tochter, der Freund der Tochter, der Gatte, dachte Challis. Oder alles zusammen. »Ellen?«, fragte er. »Ich möchte nie wieder Anwaltsakten wälzen«, sagte sie. »Seigert nahm Testamente auf, Eigentumsübertragungen, kleinere Geschäftsverträge. Alles todlangweilig, alles nach Schema F, nichts, was Mordgelüste wecken könnte. Es sei denn bei jemandem wie Ian Munro. Es gibt eine dicke Akte mit Korrespondenz, in der Munro letztlich zum Ausdruck bringt, dass Seigert ihn verkauft habe, dass alle Anwälte Mistkerle wären und dass Seigert eines Tages schon noch sein Fett abbekäme, wenn er am wenigsten damit rechnen würde.« »Eine Morddrohung?« »Mehr oder weniger«, sagte Ellen. »Keine Zeugen? Niemand, der Munro oder sein Fahrzeug gesehen hat?« »Nichts.« Challis sah von Ellen zu Scobie. »Was ist mit der Post, die Pearce bekommen hat? Im Haus irgendwas gefunden?« Scobie zuckte mit den Schultern. »Seine Mutter hat manchmal 209
geschrieben, ein paar Rechnungen, Quittungen, Werbung, Kontoauszüge.« »Irgendwelche ungewöhnlichen Zahlungsein- oder -ausgänge?« »Nein.« »Das ist alles?« »Abgesehen von seinem Album«, warf Ellen ein und sah Scobie an, der murmelte: »Das haben Sie doch gesehen, Hal, an dem Tag, als wir die Leichen fanden, die ganzen Einmischerbriefe und Zeitungsausschnitte.« Bildete sich Challis das nur ein, oder liefen Sutton und Destry wie auf rohen Eiern, wenn es um Tessa Kane ging? Sie wussten von seiner Beziehung zu ihr. Wahrscheinlich fragten sie sich, welcher Art sie war: eher sexuell? Die große Liebe? Oder benutzte Challis sie nur, um ihr Informationen zu geben und dafür andere zu erhalten? Dann fing sein Herz zu rasen an: Er hatte Tessa nichts davon erzählt, dass Mostyn Pearce der Einmischer war. Das war er ihr schuldig. Jetzt wollte er nur noch, dass Ellen und Scobie sein Büro so schnell wie möglich wieder verließen, und er fragte: »Sonst noch was in dem Haus, das uns interessiert?« »Nur das vermaledeite Frettchen«, sagte Ellen. »Das übrigens entlaufen ist.« »Und die Kassetten«, sagte Scobie. »Was für Kassetten?« »Videos.« Challis erinnerte sich. Fernsehprogramme, Filme, Dokumentarsendungen, Football-Endspiele … Nichts, was einem das Herz höher schlagen ließ. »Irgendwas Persönliches auf den Bändern?« »Die Hochzeit.« »Meine müden Knochen«, sagte Challis, womit er andeuten wollte, dass es an der Zeit sei, sich wieder an die undankbare Arbeit zu machen. Als die Detectives gegangen waren, rief er Tessa an. »Ich 210
bins.« Eine Pause, dann ein fröhliches: »Hallo, ›Ich‹.« Er wollte nicht lange herumscherzen. »Ich dachte, das solltest du wissen – Mostyn Pearce war der Einmischer.« Diesmal sprach die Pause Bände, und als sie wieder sprach, klang sie recht angestrengt. »Und das erzählst du mir erst jetzt? Das ist doch schon Tage her. Bist du sicher? Nein, vergiss, dass ich das gesagt habe, natürlich bist du sicher – aber findest du nicht, dass ich wichtig genug bin, um mich sofort darüber zu informieren?« Die Leitung war tot, bevor er noch hinzufügen konnte, dass die flüchtigen Asylbewerber aufgestöbert worden waren. Ihm wurde klar, dass er sie nicht verlieren wollte.
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34 Als Carl Lister sagte, er wolle informiert werden, hatte er nicht erwähnt, dass sie das jeden verdammten Tag tun sollte. Doch Dienstag früh stand er vor ihrer Tür. Pam gähnte. »Ich hatte bis Mitternacht Dienst. Heute Abend bin ich wieder dran. Wenn ich meinen Schlaf nicht kriege, bin ich nicht zu gebrauchen.« Er schob sich an ihr vorbei, und ehe sie sichs versah, brühte sie ihm in der Küche einen Instantkaffee auf. Die Herbstsonne strömte herein, und normalerweise hätte sie nichts lieber getan, als noch im Halbschlaf da am Tisch über einer Tasse dampfenden Kaffees in der warmen Sonne zu sitzen. »Ich habe nichts für Sie«, sagte sie. »Irgendwas müssen Sie haben. Dealer, Pusher, Boten, Importeure, Süchtige, den regionalen großen Fisch. Wer beliefert die Schulkinder, die Clubs? Wer dealt in der Mall? Wer baut an, wer stellt es her? Das sind die Leute, die sich vielleicht bei mir Geld leihen. Ich muss schon vorher wissen, ob sie bei der Polizei bekannt sind.« Sie erzählte ihm von Ian Munros Marihuana-Anbau. Lister wischte Munro mit einer Handbewegung beiseite. »Das weiß doch jeder. Was gibts noch?« Auf dem Polizeirevier Waterloo wimmelte es nur so von Namen im Zusammenhang mit Drogen: Besitz, Besitz zum Zwecke des Weiterverkaufs, alles Kleinkram. Sie ließ Lister gegenüber ein paar Namen fallen. »Dwayne Venn«, sagte sie. »Brad Pike.« »Pike? Ein Stück Scheiße«, knurrte Lister. Er schaute Pam in die Augen. »Glauben Sie, dass er dafür verantwortlich ist?« Pam sah ihn verwirrt an. Bradley Pike war doch sicher kein großer Fisch im örtlichen Drogenteich? 212
»Die Tochter seiner Freundin umgebracht zu haben«, erläuterte Lister gereizt. »Oh. Ja. Schuldig wie sonst was.« »Glaub ich auch. Noch andere Namen?« »Nein.« Lister stand auf, ohne den Kaffee angerührt zu haben. »Ich brauche mehr, Mädchen. Sonst könnte ich Ihren Kredit auf die althergebrachte Art eintreiben.« Was meinte er damit? Justiz? Gerichtsvollzieher? Ein Schuss ins Knie? John Tankard war im Dienst, aber die halbe Zeit war ihm so jämmerlich zumute, dass er am liebsten geflennt hätte. Er war völlig erledigt, konnte aber nicht schlafen. Und sein Urteilsvermögen war völlig im Eimer. Also verdrückte er sich im Polizeivan nach Penzance Beach und ließ vor Pam Murphys Wohnung die Sirene zum Spaß kurz aufheulen. Vielleicht würde sie ihn hereinbitten, oder er konnte sie überreden, später mit ihm ins Fiddler’s Creek auf ein Glas Gerstensaft zu gehen. Aber nein. Sie spuckte Gift und Galle, als sie ihn sah, und raunzte, sie habe Nachtdienst gehabt und müsse schlafen, er solle verschwinden und sie in Ruhe lassen. »Du bist schon mein zweiter Besucher heute Morgen«, knurrte sie. »Was zum Teufel willst du?« Und wer war der erste Besucher? »Sei doch nicht so«, sagte Tankard. »Wie, so? Du tauchst hier am helllichten Tag mit jaulender Sirene auf, wenn ich gerade versuche zu schlafen, und du glaubst, ich finde das witzig? Weiß der Himmel, was die Nachbarn denken.« Sie lachte auf. »Wahrscheinlich werfen die einen Blick hinaus, sehen, wer den Lärm veranstaltet, und denken sich: ›Typisch, der SA-Mann.‹« Letztes Jahr war jemand herumgegangen und hatte anonyme 213
Zettel unter die Scheibenwischer geklemmt und sich über John Tankards Nazitaktiken mokiert. Er errötete. »Kann ich reinkommen?« »Nein. Wozu?« »Pammy, bitte, ich geh vor die Hunde.« Irgendetwas in seinem Gesicht und an seinem Benehmen musste sie wohl überzeugt haben, denn sie warf ihm einen kurzen verständnisvollen Blick zu, machte einen Schritt zurück und gab ihm den Weg ins Haus frei. Sie trug einen Schlafanzug. Eine Hälfte von ihm dachte: Herrje, ich will ein Stück von dem Kuchen, die andere Hälfte wollte sich einfach nur an sie klammern und sich die Augen ausheulen. »Höchstens fünf Minuten, okay?«, verlangte Pam. »Okay«, murmelte Tankard und schaute ihr nach, wie sie im Schlafzimmer verschwand und in einem Morgenmantel wieder zurückkehrte, der einem garantiert jede Lust nahm. Also redete er von Kumpel zu Kumpel mit ihr über seine Verwirrung, seine Scham, sein verlorenes Durchhaltevermögen und dass das alles auf Ian Munro zurückzuführen war. Und sie hörte von Kumpel zu Kumpel zu. Diesmal war Dwayne da, als Brad Pike reinschneite, um Lisa Tully einen Besuch abzustatten. »Na, wenn das nicht der kleine Bradley ist.« »Hi.« »Komm rein, Junge, komm rein.« Es war erst zwei Uhr nachmittags an einem Dienstag, und schon waren alle im Haus zugedröhnt, die Vorhänge zugezogen, die Luft stickig, Lisa und Donna, beide high bis oben hin, lümmelten auf dem Boden herum. Brad hatte jede Menge nachzuholen, hatte seit gestern schon nichts mehr gehabt; er beäugte die Schüssel auf dem Beistelltisch. Da gabs Speed, ein paar selbst gedrehte Joints, ja sogar ein Tütchen Koks, wenn er nicht irrte, und Heroin in 214
einem Stückchen Alufolie. Dazu noch ein paar Flaschen Southern Comfort. Irgendwie passte alles zusammen. Alles wirkte wie aus einem Guss, zusammen mit den Indianerpostern, der Konföderiertenfahne und Dwaynes Harley-Davidson im Hausflur. »Haste was zum Entspannen für mich?«, fragte Pike. »Und ob«, erwiderte Venn, und nach und nach kam Brad Pike im Laufe der nächsten ein, zwei Stunden runter, redete und war gut drauf. Das letzte Mal, dass ihm jemand ungeteilte Aufmerksamkeit hatte zuteil werden lassen, war, als die Bullen ihn wegen Lisas Kind in die Mangel genommen hatten. Nach dem Mittagessen rief Ellen bei ihrem Mann an und sagte: »Alan, es tut mir Leid, ich hätte das nicht sagen dürfen.« Er gab keine Antwort, und sie stellte sich vor, wie er mit verkniffenem Gesicht in der Küche hockte und für die Prüfungen zum Sergeant büffelte. Nicht dass sie sich bei ihm hätte entschuldigen müssen. Es war nur hilfreich, sich zu entschuldigen. Ellen fand, wenn sie bis nach der Prüfung zu Hause für gute Stimmung sorgte, dann würde Alan wahrscheinlich besser durchkommen, und für das weitere Zusammenleben wäre allen damit gedient. Dann hüstelte er und sagte: »Okay.« Kein »Danke«, kein »War alles meine Schuld«, nur »Okay«, also legte sie mehr Fröhlichkeit in ihre Stimme und fragte: »Hat Skip angerufen?« »Nein.« Wie es schien, hatte Skip Larrayne den Laufpass gegeben. Er hatte nicht angerufen, war am Wochenende nicht mit ihr ausgegangen, hatte nicht auf die Nachrichten geantwortet, die Larrayne auf dem Anrufbeantworter der Listers hinterlassen hatte. Larrayne war verzweifelt. »Was hab ich falsch gemacht?«, flennte sie. »Hat er eine andere?« Sätze wie aus einem Groschenroman und dennoch von Herzen kommend und voller 215
Verzweiflung. »Okay, wollte nur mal hören, hoffe, heute läuft alles«, plapperte Ellen, spielte weiter die Schuldbewusste und legte auf, hätte aber am liebsten den Hörer auf die Gabel geknallt. Und nun war es Nachmittag, und sie musste mal ein Wörtchen mit Aileen Munro reden. Sie kam gerade noch rechtzeitig auf der Farm an, um zu sehen, wie Carl Lister versuchte, eine Hand voll Journalisten abzuschütteln. Lister saß in seinem Wagen und sah so aus, als würde er sie gleich voller Wut rammen, doch dann erkannte er sie und rief: »Ellen, können Sie nicht was unternehmen?« Sie stieg aus ihrem Wagen und ging auf die Leute zu. »Na kommt schon, lasst den Mann durch.« »Aber was macht der hier«, wollten sie wissen. »Ist er ein Freund der Familie? Weiß er, wo Munro ist?« Gute Fragen, dachte Ellen. Sie bahnte Lister einen Weg und wollte ihn gerade fragen, wie es Skip gehe, ob er weggefahren sei, und ihm sagen, dass sich Larrayne freuen würde, wenn er anriefe, doch Lister raste davon, bevor sie noch den Mund aufmachen konnte. Sie zuckte den Journalisten gegenüber mit den Schultern und wurde freundschaftlich von ihnen bedrängt. »Sergeant Destry, gibts was Neues von Munro?« »Könnten wir ein Interview kriegen, Sergeant?« »Gibt es einen Grund, warum Sie ausgerechnet jetzt zu Mrs. Munro wollen?« Und so weiter. Sie grinste und wandte sich ab. Dabei fand sie sich direkt Tessa Kane gegenüber. Ellen nickte. »Tessa.« »Ellen.« Es gab eine Pause; dann sagte Ellen, um Tessa wissen zu lassen, dass sie mit ihrer Position zu den Asylbewerbern sympathisierte: »Haben Sie schon gehört? Die armen Iraker sind an der Landspitze aufgespürt worden.« Tessa lächelte aus Dankbarkeit schwach. »Sie kommen in 216
Einzelhaft und werden abgeschoben.« Ellen wusste nicht warum, doch plötzlich sagte sie: »Ich weiß nicht, wo Hal heute ist. Er folgt wohl einer Spur.« Tessa zuckte mit den Schultern. Es schien sie nicht zu interessieren. Stattdessen fragte sie: »Wer war denn der Mann in dem Wagen da gerade?« Ellen dachte über die Frage nach. Es konnte wohl keinen Schaden anrichten zu sagen: »Carl Lister. Nachbar, mehr oder weniger. Warum?« »Ach, nur so«, antwortete Tessa Kane, und da wusste Ellen sofort, dass es einen sehr guten Grund für diese Frage gab.
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35 Challis arbeitete am Dienstagnachmittag bis gegen vier Uhr und fuhr dann zum Flugplatz, um dort für ein paar Stunden am Cockpit der Dragon zu arbeiten, bevor er nach Hause ging. Zu Hause, das hieß früh- oder spätabendliche Dunkelheit, ein Anrufbeantworter voller hysterischer Anrufe seiner Frau, ein trostloses Fertiggericht – denn meistens war er zu müde, um sich noch ums Kochen zu kümmern – und ein kaum erholsamer Schlaf, bevor er an einem kalten Morgen aufwachte, an dem die Sonne nur noch schwach durch die kahlen Bäume im Hinterhof fiel. Zu Hause, das konnte auch Tessas Haus heißen. Die Möglichkeit bestand durchaus, doch noch immer fühlte er sich ihr irgendwie entfremdet. Im Progress von heute hatte sie über die willkürliche Hysterie der Gemeinde gelästert, die sich auf die Asylbewerber konzentrierte, den wirklichen Problemen des Ortes gegenüber aber blind war, wie zum Beispiel dem zunehmenden Drogenhandel. Tessa war auf dem Kriegspfad, und wenn sie so war und die Welt nur in Schwarz und Weiß sah, dann hatte er das Gefühl, sie würde seinen mangelnden Enthusiasmus sofort bemerken und enttäuscht sein. Merkwürdigerweise hatte sie auch den »Einmischer« abgedruckt – vielleicht hatte sie nicht mehr genug Zeit gehabt, den Artikel vor dem Druck noch herauszunehmen, dachte Challis. Auf dem Flugplatz konnte er seine Gedanken ein wenig schweifen lassen. Seelenfrieden aus der Arbeit mit den eigenen Händen ziehen. Vielleicht war Kitty auch da. Was glaubte er denn, tun zu können – sie aus einer lieblosen Ehe befreien? Wer sagte denn, dass sie tatsächlich lieblos war? Challis hatte es sich vielleicht nur so zurechtgelegt. Oder sie 218
könnten eine Affäre anfangen. Wie passend für einen Mann, der gute Gründe hat, sich von allen Verpflichtungen fern zu halten. Aber das spielt sich alles nur in meinem Kopf ab, dachte Challis, als er in den Hangar kam und Kitty Casement sah, ein gedankenverlorenes Lächeln und ein Winken entgegennahm und nichts weiter. »Muss meinen Papierkram erledigen«, rief sie und wedelte mit einer Rechnung. Ihre Stimme verlor sich in den Ecken der hohen Stahlwände und des ölfleckigen Betonbodens. »Viel Spaß«, rief Challis zurück, stieg in seinen Overall und schwang sich auf den unteren Flügel der Dragon. Langsam fühlte er sich besser. Es gelang ihm, sich für eine Weile ganz in die Arbeit zu vertiefen. Ein Teil seines Verstandes war damit beschäftigt, die einzelnen Schritte der körperlichen Anstrengung vorauszuplanen, während der andere von einer vergangenen Zeit träumte, 1942, als ebendieses Flugzeug dabei mitgeholfen hatte, holländische Flüchtlinge, die vor der japanischen Invasion Javas flohen, von Broome nach Perth zu bringen. Oder noch früher, 1934, als ein Geologe der Vacuum Oil Company damit über schwieriges magnetisches Gelände in der entlegenen Wüstenregion von Zentral- und Nordaustralien geflogen war. Damit hörte die Geschichte seiner Maschine auf. Challis hatte keine Ahnung, wie die Dragon dann später als Wrack in einer Scheune in der Nähe von Toowoomba in Queensland endete. Wie hieß das, Synchronizität oder so? Irgendwas in der Art. Jedenfalls klopfte genau in diesem Augenblick Kitty an den Rumpf der Maschine, und nachdem er sich aus der Enge unter der Instrumententafel geschält und den Kopf herausgestreckt hatte, sah er, dass sie mit einem Buch nach ihm winkte. »Das kam mit der Post«, sagte sie. Challis streckte sich und kletterte aus dem Cockpit zu ihr hinunter. Das Buch war offenbar im Selbstverlag veröffentlicht worden, alles daran wirkte amateurhaft und 219
zusammengeschustert, auch das Foto auf dem Umschlag. »Vor ein paar Wochen habe ich es geschafft, Rex so lange vom Computer wegzulocken, dass ich mal im Internet surfen konnte«, sagte Kitty lachend. »Ich konnte gar nicht glauben, dass es Seiten gibt, die sich nur mit der Kittyhawk beschäftigen. Der Mann, der meine Maschine geflogen hat, ist offenbar vor ein paar Jahren gestorben, aber einer seiner Freunde hat mir das hier geschickt.« Auf dem Titelbild war eine Kittyhawk auf einem Landeplatz in der gleißenden Sonne zu sehen, daneben ein junger Mann in Shorts, Stiefeln und mit Hundemarke, der in die Kamera grinste. Challis nahm an, dass es sich dabei um den Autor als jungen Mann handelte, Lieutenant Andy H. Ludecki aus New Jersey. »Darwin?«, riet Challis und zeigte auf das Foto. »Ja.« Kitty konnte ihre Freude kaum verbergen. Ihr Gesicht strahlte nur so. »Er erwähnt sogar meine Maschine und den Mann, der sie geflogen hat.« Challis überkam ein unerwarteter Schauder. »Den Titel verstehe ich nicht«, sagte er. »Kittyhawk Down? Ach, das ist nur ein Zitat aus einer Funkmeldung von dem Tag, als Darwin bombardiert wurde.« »Ein Abschuss?« »Ja.« »Kitty«, sagte Challis, »pass gut auf dich auf, hörst du?« Sie sah ihn einen Augenblick lang seltsam an, berührte ihn am Ärmel und grinste kurz, dann wandte sie sich ab und meinte, sie solle sich lieber wieder an die Arbeit machen. Kurz darauf klingelte Challis’ Handy. Es war Tessa, die sich nicht mehr ganz so angestrengt anhörte und sagte, sie habe ein paar Informationen für ihn. Challis, der von einer unbestimmbaren Einsamkeit und Traurigkeit erfasst worden war, schlug vor, sie könnten sich doch auf einen Drink und Knabberzeugs an der Bar im Heritage in Balnarring treffen. 220
Achtzehn Uhr. Der Abendtau legte sich, und der Mond hing in den kahlen Bäumen. Challis konnte Holzfeuer riechen, als er ausstieg; schön, sie hatten den offenen Kamin im Nebenzimmer angezündet. Tessa Kanes Wagen stand schon in einer Ecke unter einem Baum. Noch keine weiteren Fahrzeuge. Eine Weile würden sie unter sich sein. Ein Glas Rotwein und ein Teller Nachos neben dem offenen Kamin. Mach dir eine schöne Zeit, und vergiss Kitty Casement. Challis entdeckte Tessa auf dem massigen Ledersofa. Sie sprang auf und küsste ihn zärtlich. »Tut mir Leid, dass ich das letzte Mal so wütend geworden bin«, sagte sie. »Ich weiß, du stehst unter Druck und kannst nicht immer alles preisgeben, auch wenn du es möchtest.« Challis spürte seine Zuneigung zu ihr ebenso wachsen wie ein Gefühl von Dankbarkeit, durchsetzt von Schuldgefühlen: Sie hatte seine Vernachlässigung nicht verdient. Er fühlte sich viel besser: der flackernde Schein des Kamins, die wunderschöne Frau, das Versprechen. »Ich habe eine Flasche Elan bestellt«, sagte sie. »Gut.« »Nachos, Guacamole und Chilidip.« »Klasse.« Sie lächelte ihn verschlagen an. »Es wird dich sicherlich erfreuen zu hören, dass den Chilidip diesmal jemand anderer gemacht hat.« Challis schnaubte, errötete, rutschte umher, so peinlich war ihm das plötzlich. Kurz vor Ostern hatte er ihnen ein Currygericht zubereitet und gerade scharfe Chilischoten klein geschnitten, als Tessa kam. Sie küssten sich, und ehe sie sichs versahen, zogen sie sich aus und liebten sich. Als sie sich hinterher auf dem Wohnzimmerteppich herumlümmelten, hatte es ihnen im Intimbereich gebrannt. Tessa lachte. »Setz dich, Hal.« Als sie es sich bequem gemacht hatten, schwang sie ihre 221
schlanken Knie in seine Richtung und fing sofort an zu reden. »Weißt du noch, was ich dir von dem Osterspaziergang erzählt habe und den Männern in dem Allrad, die am Strand nach etwas suchten?« Challis erstarrte und entspannte sich wieder. Dies war keine Attacke. Tessa war von Natur aus großzügig und verzieh schnell; es handelte sich einfach um etwas Dienstliches. »Ja.« »Ich habe einen von denen wiedergesehen.« »Wo?« »Bei den Munros.« Challis beobachtete sie genau. »Und weißt du, wer es ist?« »Lister. Carl Lister.« »Bist du sicher?« »Ziemlich sicher. An dem Tag am Strand war er Beifahrer, nicht der Fahrer. Damals dachte ich, ich hätte ihn nicht richtig gesehen, aber unterbewusst wohl schon. Ich erinnere mich an die Narbe an seinem Hals.« »Und woher kennst du seinen Namen?« »Ich hatte gehofft, ein Interview mit Aileen Munro machen zu können – du weißt schon, Lokalblatt, verständnisvolle Zuhörerin, nicht irgend so ein Schmierfink vom Age oder der Herald Sun –, als dieser Lister wegfuhr. Hätte beinahe ein paar Reporter überfahren. Jedenfalls habe ich ihn als den Beifahrer in dem Toyota wiedererkannt.« Challis runzelte die Stirn. Toyota. Ian Munro hatte einen Toyota. »Und woher kennst du nun seinen Namen?« Sie berührte ihn am Handgelenk. »Immer langsam mit den jungen Pferden. Trink deinen Wein. Iss deine Nachos.« Challis atmete schwer aus, grinste und trank einen Schluck. »Schon besser. Der Grund, warum ich seinen Namen kenne, ist der, dass Ellen Destry in diesem Augenblick eintraf und Lister half, aus dem Gedränge herauszukommen. Sie hat mir seinen Namen genannt.« 222
Carl Lister, dachte Challis bei sich. »Aber der Fahrer damals am Strand. Könnte das vielleicht …« »Ian Munro gewesen sein? Gut möglich, auch wenn er eine Mütze aufhatte und eine Sonnenbrille und sein Gesicht ganz verzerrt war von der ganzen Schreierei.« Challis starrte in die Flammen und verlor sich darin. Lister und Drogen, Munro und der Drogenanbau … »Hal?« Er wandte sich zu Tessa. »Was denkst du gerade?« Sie fragte ihn nicht als Geliebte – jedenfalls nur zum Teil –, sondern als Journalistin. Sie hatte diesen forschenden, konzentrierten Blick. Aber sie hielt auch seine Hand, wie er bemerkte, also antwortete er ihr, er denke nicht an die Vergangenheit, sondern an das Hier und Jetzt.
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36 Am Mittwochmorgen war Larrayne gedrückter Stimmung, den Tränen nah. Sie wollte nicht aufstehen; in den zwei Tagen davor war sie die ganze Zeit mit ihrem Handy in der Hand herumgelaufen. »Warum ruft er denn nicht an?« »Vielleicht ist er weggefahren, Liebes. Büffelt für die Prüfungen. Ist bei Freunden.« »Und warum hat er mir nichts davon gesagt? Ich bin es leid, andauernd Nachrichten zu hinterlassen.« Ellen kannte den Schmerz noch aus ihrer eigenen Jugend. Es gibt nichts Schlimmeres, als auf Anrufe zu warten, die niemals kommen. »Ich liebe ihn, Ma«, sagte Larrayne offen und inbrünstig, so als habe Ellen daran gezweifelt oder als habe noch nie jemand vor Larrayne jemals geliebt. »Das weiß ich. Das wird sich schon alles klären, du wirst sehen.« »Er geht mir aus dem Weg, ich spüre es.« Ellen riet Larrayne schließlich, sie solle sich anziehen und in die Schule gehen, damit sie mal an was anderes dachte als an Skip. Daran war natürlich nicht zu denken, aber versuchen konnte man es ja mal. Ellen setzte Larrayne am Schultor ab und fuhr aufs Revier. Kaum war sie beim CIB, rief Challis sie zu sich. »Carl Lister ist dabei gesehen worden, wie er Aileen Munro einen Besuch abstattete.« Im selben Augenblick konnte Ellen die Einzelheiten in Verbindung bringen: Lister, sein Sohn, Munro, Marihuana, und sie erkannte die guten Gründe, die Skip plötzlich hatte, Larrayne 224
nicht mehr zu besuchen. Gegen fünfzehn Uhr dreißig, kurz vor Beginn der Spätschicht, saßen Pam, John Tankard und Sergeant van Alphen rings um einen Tisch in der Kantine. Sie hatten Kaffee getrunken und den Rest eines Geburtstagskuchens weggeputzt, der irgendwie übrig geblieben war, und hatten keine Lust zu arbeiten. »Hört mal«, sagte Tank hinter dem gestrigen Progress hervor. »Hier steht: ›Mit Etiketten wie Illegale und Schmarotzer dämonisieren wir nur die Asylbewerber.‹ Ich werd ihr Etiketten geben.« Er streckte seinen Kopf neben der Zeitung vor und sah, dass Pam ihm zuhörte. »Challis’ Freundin«, erläuterte er überflüssigerweise. Pam sagte zuckersüß: »Und was wären das für Etiketten, Tank?« Tank, der auf dem falschen Fuß erwischt worden war, schaute verwirrt, fasste sich aber schnell wieder: »Angeberin, Weltverbesserin, unaustralische Spinnerin. Reicht das? Oder soll ich weitermachen?« Pam dachte, dass ausgerechnet John Tankard, der als Nazi verunglimpft worden war, mit so etwas kommen musste. »Was meinen Sie, Sergeant?« Van Alphen meinte: »Solange das nicht seine Arbeit beeinträchtigt.« Pam hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon er redete. Tankards Arbeit? »Bitte?« »Challis«, sagte van Alphen. »Solange seine Arbeit nicht durch das, was seine Freundin denkt, beeinträchtigt wird.« »Daran hab ich noch gar nicht gedacht«, sagte Pam und dachte, dass es doch eigentlich gar nicht um Challis und seine Beziehung zu Tessa Kane gegangen war. Eigentlich ging es um die Asylbewerber und darum, wie sie aufgenommen und behandelt wurden. Die Menschen waren schon komisch. 225
Komisch und beschränkt. Als es Mittwochabend wurde und die Sonne als flache rote Scheibe über den Mangroven und Schornsteinen von Westernport stand, kribbelte Brad Pikes Haut vor Sucht und Einsamkeit, er verließ seine Wohnung neben den Gebrauchtwagenplätzen und fuhr durch die Nebenstraßen zum Polizeirevier am Kreisverkehr. Es gab jede Menge freier Parkplätze, also parkte er, stellte den Motor ab, wartete ein paar Sekunden, während der Motor stotternd weiterhustete und endlich klappernd erstarb, dann ging er ins Gebäude, um dort zu melden, dass er verfolgt wurde. Der Dienst habende Sergeant – der aussah wie ein frisch entlassener Sträfling – rief Sergeant van Alphen. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Van Alphen kam herein, schlank, düster wirkend, grimmiges Gesicht. »Sieh da, wenn das nicht der junge Bradley ist. Wie gehts denn so, Brad?« »Ganz gut. Und Ihnen?«, erwiderte Pike ganz automatisch und schalt sich dann selbst dafür, höflich zu einem Bullen zu sein. »Also, was für eine verrückte Scheiße hast du jetzt wieder angestellt, Bradley?« »Kein Grund, so zu sein.« »Wie zu sein?« »Ich komme hier mit einem ganz legitimen Anliegen«, sagte Pike, wobei ihm die Worte »legitimen Anliegen« ein wenig schwer über die Zunge kamen. »Das einzige Anliegen, das du bei uns hast, ist uns zu erzählen, wo du Lisa Tullys Kind verscharrt hast.« Pike spürte, wie sein Gesicht zu glühen begann. »Die Anklage ist fallen gelassen worden.« »Nun, das heißt noch lange nicht, dass man auch unschuldig ist, oder, Brad?« Das war das zweite Mal, dass er das in letzter Zeit zu hören 226
bekam. Van Alphen war eine harte Nuss, dunkel und zäh, wie altes Leder. Man munkelte, dass er im Vorjahr ein wenig die Nerven verloren hatte, doch wenn das stimmte, dann hatte er sich längst wieder erholt. Er war von Anfang an mit Pikes Fall betraut gewesen. In gewisser Hinsicht war er mindestens so ein harter Hund wie John Tankard. »Ich bin hier, um eine Beschwerde einzureichen.« »Sag nichts, du wirst verfolgt. Das hast du schon letzten Montag gesagt, die Woche davor …« »Und warum hört mir niemand zu?« »Weil du voller Scheiße bist. Du bist ein schmieriges Stück Dreck und verdienst es nicht zu leben.« Der Constable, der wie ein Exknacki aussah, starrte sie mit aufgerissenen Augen und offenem pickligem Mund an. »Es stimmt aber wirklich, jemand ist mir gefolgt.« »Constable Tankard«, lachte van Alphen. Woher wusste van Alphen das? Hatte er Tankard auf ihn angesetzt? »Ich weiß nicht wer«, sagte Pike. »Ich krieg so Anrufe mitten in der Nacht und komische Briefe. Ich spür die ganze Zeit, dass jemand hinter mir her is. Ich glaub, Lisas Schwester oder vielleicht Dwayne Venn. Wenn ich rumlauf und so.« »Laufen? Du bist doch in deinem ganzen verschissenen Leben noch nicht einen Millimeter zu Fuß gegangen.« Van Alphen beugte sich über den Schreibtisch und verschob dabei einen Stapel Broschüren. »Weißt du, was ich glaube? Das spielt sich nur in deinem Hirn ab, eine Halluzination. Die Welt hasst dich für das, was du Lisa Tullys Kind angetan hast – ach, verdammt, wahrscheinlich verfolgst du Lisa –, und jetzt drehst du den Spieß um und genießt die Freuden des Opferdaseins.« Pike wurde langsam puterrot. Aber van Alphen war mit ihm noch nicht fertig. »Du bist ein einsames, isoliertes, jämmerliches Stück Mensch. Du weißt es, die ganze Welt weiß es, und du gierst verzweifelt 227
nach Anteilnahme. Am liebsten möchtest du anderen die Schuld für dein eigenes verschissenes Leben geben. Du kannst noch nicht mal die Verantwortung für dein eigenes beschissenes Leben übernehmen.« Dann richtete sich van Alphen wieder auf und verschränkte die Arme abweisend. »Du wirst mir also verzeihen, wenn ich daher ein wenig skeptisch bin, Brad.« Pike machte ein paarmal den Mund auf und zu und wollte gerade gehen, als Kellock, der Stationschef, hereingestürmt kam und rief: »Ein paar Wagen zum Flugplatz. Schon wieder eine Schießerei.« »Munro?« »Keine Ahnung. Der Sicherheitsbeamte hat angerufen.« Dann bemerkte Kellock Pike, verstummte abweisend, doch Pike dachte nur noch: Nichts wie weg hier, und schob sich durch die Glastüren auf den Gehweg hinaus. Scobie Sutton stand mit den Händen in den Hosentaschen neben Pikes Auto. »Brad«, sagte er sanft, »es mag deiner Aufmerksamkeit entgangen sein, aber hier dürfen nur Dienstfahrzeuge parken. Und wie ich sehe, ist die Zulassung schon lange abgelaufen.« »Dann verklagt mich doch«, sagte Pike schluchzend, stieg ein und ließ den Anlasser ein paar lange Sekunden jaulen, bis der Motor endlich ansprang.
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37 »Kitty hat häufig bis spät hier gearbeitet«, sagte der Wachmann. Challis nickte. Das wusste er. Er fühlte sich elend und knirschte mit den Zähnen, um die Tränen zu unterdrücken. »Ich konnte Licht im Hangar sehen. Wenn kein Licht brennt, kontrollier ich nur, ob die Türen geschlossen sind, und dreh weiter meine Runde. Wenn Licht brennt, geh ich rein und unterhalt mich ein paar Minuten, wissen Sie, übers Wetter und so.« Na, da wird sie sich ja gefreut haben, dachte Challis und bedauerte diesen Gedanken sofort wieder. Vielleicht mochte sie es, wenn der Typ hereinkam und ihr einen guten Abend wünschte. »Und Sie haben nichts gesehen oder gehört?« »Nichts.« »War noch jemand da? Piloten, Mechaniker …« Der Wachmann schüttelte den Kopf. »Nach sechs finden Sie hier normalerweise niemanden mehr. Außer Mrs. Casement.« »Und um welche Zeit haben Sie sie gefunden?« Der Mann schaute auf seine Uhr. Sein Atem ging schwer, und es dauerte eine Weile, bis er antwortete. »Vor einer Dreiviertelstunde. Gegen halb acht.« »War das am Anfang oder am Ende Ihrer Runde?« »Am Anfang.« »Was haben Sie gemacht, nachdem Sie den Vorfall gemeldet haben?« Der Wachmann schaute peinlich berührt. »Ich hab eine strikte Zeitvorgabe. Ich dachte, wenn die Polizei sowieso eine Weile braucht, bis sie hier ist, kann ich ja mal meine Runde zu Ende machen.« »Und, haben Sie?« 229
»Ja«, sagte er trotzig. »Außerdem dachte ich, vielleicht seh ich ja, wers war.« Challis sagte: »Das ist doch völlig in Ordnung. Besser, man tut was, als rumzustehen, bis einem die Leiche unter die Haut geht.« Der Wachmann schauderte. »Keine besonders glückliche Wortwahl, Mann.« Da hatte er Recht. Challis hatte die Leiche gesehen. Massive Schrotverletzungen in Brust und Kopf, was darauf hinwies, dass der Täter zweimal geschossen hatte. Wenn es Munro mit seiner doppelläufigen Schrotflinte gewesen war, dann hatte er beide Läufe leergeschossen. Oder er hatte die Einläufige dabeigehabt und nach dem ersten Schuss nachgeladen. Oder er hatte eine Automatik. Aber das war nun auch egal, Kitty Casement war tot. Challis arbeitete weiter und versuchte, wie ein Polizist zu denken; dabei hätte er am liebsten alles hingeschmissen. Kitty war eine Frau, die er nur aus Versehen berührt und ganz sicher nie geküsst hatte; dennoch hatte sie sich einen Platz in seinen Gedanken erobert, und nun war sie eines grausamen Todes gestorben. Challis schluckte. Wieder tauchte ungebeten das Bild vor seinem geistigen Auge auf: eine Ecke des Hangars; grobe Schatten, die das unbarmherzige Neonlicht warf, das an den Stahlträgern über Kopf festgemacht war; ein Wirrwarr aus leeren Benzinfässern und schmierigen Lumpen; der kalte, schartige und ölverschmierte Beton, der dort, wo sich ihr Blut gesammelt hatte, schwarz und klebrig war; ihre Leiche, die dort lag wie achtlos weggeworfen. Der Geruch. Flugbenzin, Schmiere und Blut, das sich über den Boden verteilt hatte. Der Wachmann sprach mit ihm. »Entschuldigung, wie bitte?« »Kann ich jetzt gehen?«, wiederholte der Wachmann. »Ich hab noch meine Runde zu machen. Schulen, das Antiquitätengeschäft, ’n paar Supermärkte …« 230
Challis rieb sich müde das Gesicht. »Aber Sie kommen bitte morgen aufs Revier und machen eine Aussage, okay?« »Na klar, kein Problem.« Challis schaute zu, wie der Wachmann in einem kleinen weißen Van vom Flugplatz rollte, und wandte sich dann zögernd wieder zum Hangar um. In der Ecke, in der die Leiche lag, arbeiteten die Kriminaltechniker. Ellen Destry schaute von der Seite aus zu und blickte auf, als sie ihn näher kommen spürte. Sie ging zu ihm hinüber, so als wolle sie sich ihm in den Weg stellen. »Üble Sache, Hal.« Ellen verstummte und neigte den Kopf besorgt zur Seite. »Alles in Ordnung?« Challis nickte. »Ich möchte, dass die Häuser an der Hauptstraße abgeklappert werden. Sie liegen zwar ein Stück weiter weg, und die Anwohner sind es gewohnt, dass andauernd Leute kommen und gehen, aber vielleicht hat ja trotzdem jemand was gesehen oder gehört.« »Ian Munro gesehen, meinen Sie. Das muss er doch gewesen sein, oder nicht?« Challis fuhr sie gereizt an: »Nichts muss irgendwas oder irgendwer sein, Ellen«, und er fragte sich, was er damit meinte. Sie tat einen Schritt zurück und reckte die Hände besänftigend. »Schon gut, immer mit der Ruhe, ich kümmere mich drum.« »Und dann möchte ich, dass Sie zum Ehemann mitkommen.« »Sie glauben doch nicht, dass er es war?« Seine Stimme klang sofort wieder gereizt, er konnte es nicht verhindern. »Man muss es ihm doch sagen, oder nicht?« Die Autoreifen knirschten leise über den lockeren Schotter auf der Zufahrt der Casements, und Ellen sagte: »Er muss sich doch schon fragen, wo sie ist.« Challis lehnte gegen die Fahrertür. Er hatte noch kein Wort gesagt, seit er eingestiegen war. Nun richtete er sich auf und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Nicht 231
notwendigerweise. Sie hat oft bis spät in die Nacht gearbeitet. Und er surft offenbar Tag und Nacht im Internet.« Sie stellten den Wagen ab, klopften an der Haustür, drehten sich dann gemeinsam um und schauten hinaus auf die weit entfernt liegende Bucht. Das Wasser wirkte träge und schwarz, wurde aber hier und da vom Mond beschienen, und jenseits der schwarzen Masse lag Phillip Island voller funkelnder Lichter. Sie hatten keine Schritte gehört, doch plötzlich flammte ein Licht auf, das die Einfahrt beleuchtete, und ein Schloss wurde entriegelt. Rex Casement machte die Tür auf, blinzelte ins grelle Licht und starrte an ihnen vorbei in die Dunkelheit hinaus. Er schien verwirrt – genau wie ein Mann, der gerade aus seiner Arbeit gerissen worden war, fand Challis. »Wer … ich war … was ist?«, fragte Casement. Ellen ging auf ihn zu und sagte leise: »Dürfen wir reinkommen?« Casement kam zu sich und fragte: »Stimmt was nicht? – Ich war im Internet«, fügte er hinzu und warf ihnen abwechselnd Blicke zu. »Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass Kitty schon zu Hause ist.« Er trug eine Trainingshose, Slipper und, wie es aussah, ein Schlafanzugoberteil unter einem gestreiften FleeceFootballpullover. Seine Haare waren ganz verwuschelt, und er zog daran herum, wie Challis bemerkte. Vielleicht hatte er falsch investiert, dachte Challis. »Eigentlich wollten wir zu Ihnen, Mr. Casement«, sagte Ellen. Casement runzelte zweifelnd die Stirn und führte sie in die Küche. »Bei Nacht ist es hier noch am gemütlichsten, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Tee? Kaffee? Was Stärkeres?« Er wusch sich die Hände, so als wollte er das Unausweichliche abwaschen, und als Challis ihm den Grund für ihren Besuch nannte, hörte er auf, sich am Waschbecken zu beschäftigen, und 232
ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Oh nein, oh nein.« Er blickte auf. »Erschossen?« »Ja.« »War das dieser Munro?« »Mr. Casement«, sagte Ellen, »ich weiß, es ist sehr schwer für Sie, aber ich muss Sie fragen, was Sie heute Abend gemacht haben.« Casement wandte sich mit offenem Mund zu ihr und mühte sich sichtlich, sie zu verstehen. »Ich?« »Ja.« »Ich war hier, arbeiten.« »Im Internet?« »Ja. Warum?« »Und Sie waren nirgendwo sonst?« »Nein.« »Haben Sie einen eigenen Telefonanschluss für den Computer?« »Ja.« »Hat jemand angerufen heute Nacht?« »Nicht, dass ich wüsste. Wir haben einen Anrufbeantworter.« Er ging zu einer Ecke der Küchenzeile, die sich als Allzweckbereich entpuppte: Notizen, die an einer kleinen Pinnwand flatterten, Adresskartei, Notizzettel und Stifte, Telefon und Anrufbeantworter. Casement drückte auf einen Knopf, die Maschine piepte, und sie hörten Kitty Casement sagen, dass es später werden würde. Casement schluchzte, wandte sich ab und kehrte zu seinem Platz am Tisch zurück. »Sind Sie heute Abend fort gewesen?« Challis sah, wie sich Casements Gesichtsausdruck veränderte; Verwirrung und Kummer wichen Ungläubigkeit. »Sie wollen von mir ein Alibi? Das ist doch wohl …« »Nein, ist es nicht«, unterbrach ihn Challis ruhig. »Die statistische Wahrscheinlichkeit ist hoch, und fragen müssen wir 233
Sie sowieso.« »Wenn ihr Mistkerle Munro verhaftet hättet, dann wäre das alles nicht –« Challis unterbrach ihn erneut. »Fällt Ihnen sonst noch jemand ein, der Ihrer Frau etwas hätte antun wollen?« »Von Munro abgesehen? Nein. Ist doch offensichtlich, dass er es war, also warum fragen Sie mich? Lassen Sie mich in Ruhe. Na los, verschwinden Sie, und kriegen Sie …« Ellen berührte ihn am Arm. »Können wir jemanden für Sie anrufen, Mr. Casement? Freunde, Nachbarn, Verwandte?« »Ich möchte lieber allein sein«, sagte Casement, der in der Nacht und der Einsamkeit, die ihn erwartete, ganz klein wirkte.
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38 Es war schon dunkel, und Pike war völlig aufgewühlt, als er bei Lisa eintraf. Sie ließen ihn herein, Venn war auch da, und sie waren wie immer bis oben hin zugeknallt. »Na, wenn das nicht der junge Bradley is«, lallte Venn, als Lisa ihn ins Wohnzimmer brachte. Donna starrte ihn wütend an. Auch Lisa hätte ruhig ein wenig freundlicher sein können. Sie glotzten ihn an, als würde er stinken. Er wünschte sich, Dwayne würde sich nicht jedes Mal wiederholen, wenn er zu Besuch kam. »Leg mal ’ne andere Platte auf, Dwayne«, sagte Pike mit leichter, freundlicher Stimme und rieb seine trockenen Hände aneinander. Es roch nach Dope und dreckiger Wäsche, so als seien sie schon seit Tagen nicht mehr draußen gewesen. Was wahrscheinlich auch stimmte. Wann war er das letzte Mal hier? Gestern? Vorgestern? Die drei waren wirklich völlig zugedröhnt, also sagte er: »Sieht ganz so aus, als hätte ich was nachzuholen.« Was er auch im Verlauf der nächsten Stunde tat. Er rauchte Dope, trank Jim Beam, und als er völlig high war und alles prächtig lief und er viel zu weggetreten war, um sich noch zu rühren, sah er, wie Venn Blicke mit den Tully-Schwestern wechselte. »Was ’n?«, murmelte er mit dicker Zunge. »Wir haben was Neues für dich zum Probieren«, sagte Lisa. Sie ging hinaus und kam mit einer Spritze zurück. »Klasse Stoff.« »Was is ’n das?« Sie tippte sich an den Nasenflügel und grinste ihn an, so als sei sie ganz aufgeregt. »Wart nur ab, Loverboy.« Ihm gefiel, wie sie das sagte. Dann setzte sie sich aufs Sofa und klopfte auf die Kissen. »Na komm schon, du bis dran, wir hatten schon jede Menge.« 235
Zufrieden ließ sich Pike neben ihr aufs Sofa plumpsen, spannte die Muskeln am Arm an, band ihn mit einem Stück Gummischlauch ab, den ihm Donna gab, und klopfte eine Vene frei. Lisa rückte näher. Ihr Oberschenkel drückte sich warm an ihn. »Na?«, hauchte sie. »Soll ich?« Das war der höchste Liebesbeweis, und Pike nickte und schaute zu, wie sie die Nadel hineinschob und spritzte. Er riss den Blick los, wartete auf den Kick und sagte: »Lisa, tut mir Leid, dass ich so sauer war wegen dem Gerichtsbeschluss gegen mich.« »Schon in Ordnung.« »Ich hätt dich nicht zwingen dürfen, dass du den ganzen Mist vor Gericht nochmal durchmachen musst. Ich weiß, das hat dich echt verletzt.« »Kein Drama.« Dann trat sie beiseite, ging zu den anderen beiden, und die drei standen da und beobachteten ihn wie aus großer Ferne. »Was ’n?«, fragte er. »Es funktioniert nich«, sagte Lisa. »Dauert noch ’n bisschen«, beschwichtigte Venn. Sie schauten weiter zu. Pike versuchte sich zu rühren, aber er war zu müde, zu entspannt. Das Zeug in seinem Blut bewirkte allerdings nichts. Er fühlte sich ein wenig unwohl, mehr nicht, vielleicht ein ganz leichtes Brennen. Aus großer Entfernung hörte er Donna zischen: »Es funktioniert nich.« »Muss aber«, sagte Venn. »Das is scharfes Zeugs.« Sie schauten zu, und Pike dachte: Acid? Er hatte schon eine ganze Weile keinen guten Acidtrip mehr eingeworfen. Ihm war schwindelig, aber er war auch sehr nervös, und er versuchte, ihre Gesichter zu erkennen. »He, sagt mal was.« »Du bis die reinste Pest«, sagte Lisa. »Sag nich so was.« 236
»Du bist die ganze Zeit hinter uns her«, sagte sie. »Hast uns verfolgt.« »Gar nich«, sagte Pike getroffen. Venn wirkte gereizt und unerbittlich. »Du bis ’ne Made, ein räudiger Köter. Du has mich bei ’n Bullen verpfiffen.« »Hab ich nich.« »Du wirs sterben, Brad, gut, dass wir dich los sind«, sagte Donna. »In der Spritze war kein Acid.« »Is doch egal«, sagte Pike. »Da war richtige Säure drin, mein ich, wie damals im Chemielabor in der Schule. Von dem Autoladen, wo Dwayne arbeitet«, sagte Donna gehässig. »Das wird dir die Eingeweide rausfressen.« Langsam fiel bei Pike der Groschen, und er versuchte vom Sofa aufzustehen. »Ich muss ins Krankenhaus.« Venn schubste ihn zurück. »Du gehs nirgendwohin.« »Erst wenn de mir sags, was du mit Jasmine gemacht has«, sagte Lisa. Pike sah sie nacheinander an. »Is das wahr?« »Was?« »Ihr habt mir Batteriesäure gespritzt?« »Jap.« »Bringt mich zum Arzt. Bitte.« »Erst wenn de uns gesagt has, was du mit meiner Nichte angestellt has«, sagte Donna, und die Worte »meiner Nichte« erfüllten sie ein wenig mit Stolz. »Und wenn de gesagt has, dass de mich bei den Bullen verpfiffen has«, sagte Venn. Pike geriet in Angst und Panik, warf sich auf dem Sofa hin und her und sagte dann: »Es war ’n Unfall, okay? Wir harn rumgealbert, und da isses passiert.« Lisas Augen verengten sich zu Schlitzen. »Wie rumgealbert?« »Na, auf’m Teppich, hoppe Reiter spieln und so Zeugs, kitzeln 237
und ringen und so.« »Du has es mit ihr getrieben«, kreischte Lisa. »Du has es mit meim Baby getrieben!« »Hab ich nich.« »Haste doch.« »Ja, das haste, Brad«, sagte Donna. »Sie wurd auf einmal ganz schlaff. Ich glaub, ihr is der Hals gebrochen«, sagte Pike. »Du hättest se eben nich einfach bei mir lassen sollen. War doch nich mein Kind. Was weiß ich denn schon von Kindern? Is alles deine Schuld, du Schlampe.« Lisa stöhnte. »Wo is sie?« »Keine Sorge, sie hat ’n anständiges Begräbnis gekriegt. Drüben an der Strandpromenade.« Die Promenade überquerte die Mangrovensümpfe, die voll von Krebsen, Schlick, dem Sog der Gezeiten, voller Plastik und Papierabfälle waren. Lisa schluchzte und schlug sich die Hände vors Gesicht. »Bringt mich ins Krankenhaus. Ruft wenigsn ’n Notarzt«, jammerte Pike. Venn sah die Frauen an. »Die Säure wirkt nicht.« »Habbich dir doch gesagt«, keifte Donna. Venn ging hinaus, kam mit einem Baseballschläger zurück und holte aus. Er traf Pikes Kopf schräg von oben, der Schläger rutschte ab und zersplitterte an der Kante des Beistelltischs. Pike stöhnte, schwankte und fiel auf die Knie. Blut floss. Ihm war elend, innen wie außen, und vom Blut war er wie blind. »Nich schlagen. Ich hab doch gesagt, tut mir Leid, okay? Bringt mich zu ’nem Arzt.« »Jetzt is auch noch der Mistschläger kaputt«, murmelte Venn. Seine Stimme war weit weg. »Un ich weiß immer noch nich, ob er mich bei den Bullen verpfiffen hat oder nich. Hast du?«, brüllte er und piekste Pike mit dem zersplitterten Ende des Schlägers. »Ich weiß was«, sagte Donna eifrig, und Pike hörte, wie sie in einer Schublade herumkramte. Dann hockte sie neben ihm und 238
zog ihm eine Plastiktüte über den Kopf. Er hörte sie noch sagen: »Das klappt sicher«, dann saugte sich das Plastik an Nasenlöchern und Mund fest und sperrte ihn von der Welt aus.
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39 Donnerstagmorgen maulte Aileen Munro: »Sie schon wieder.« »Ich habe keine Zeit für solche Spielchen«, sagte Challis. »Als ich das letzte Mal hier war, sagten Sie mir, Sie hätten nie Besuch.« »Haben wir auch nicht.« Ellen beugte sich vor. »Aileen, Dienstag war Carl Lister hier.« »Ja und?« »Also bekommen Sie von Zeit zu Zeit doch Besuch.« »Das ist doch ein Nachbar. Der wohnt etwas weiter die Straße lang in einem der großen Häuser oben auf dem Kamm.« »War er ein regelmäßiger Besucher?« »Ein Nachbar ist doch kein Besuch«, murmelte Aileen den Fußboden an, blickte wieder auf und sagte: »Er schneit ab und zu hier rein.« »Und er setzt sich hin und trinkt einen Tee mit Ihnen?«, fragte Challis. »Eigentlich nicht. Nicht die Art von Besuch.« »Welcher Art denn dann?« »Er kommt immer, wenn er Ian um einen Gefallen bitten will«, sagte Aileen. »Ob Ian mal mit dem Traktor hochfahren und das Gras mähen kann oder, wenn er festsitzt, ob Ian ihn mal rausziehen kann, solche Sachen.« Gekränkt verschränkte sie die Arme. »Das ist doch kein Besuch. Das ist Arbeit, irgendwie.« »Arbeit«, wiederholte Challis, und sein schmales Gesicht wirkte in dem Dämmerlicht bedrohlich. Seit dem Mord an Kitty war er niedergeschlagen, was er kaum unterdrückte. »Ja, Arbeit.« »Hat Lister Ihrem Mann geholfen, Marihuana anzubauen?« »Ich hab Ihnen doch schon gesagt, ich weiß nichts davon. Warum glauben Sie mir nicht?« 240
»Waren die beiden Geschäftspartner?« »Ich werde keine weitere Ihrer blöden Fragen beantworten, wenn Sie mir sowieso nicht glauben.« »Oder hat Lister Ihrem Mann Geld dafür gegeben, Marihuana anzubauen?« Aileen Munro benahm sich wie ein dickköpfiges Kind, summte laut, stampfte mit dem Fuß auf und sah sich im Zimmer um. Das machte Challis wütend, auch wenn er den Grund für ihr Verhalten durchaus verstand. »Mrs. Munro, ist Ian am Ostersamstag mit Carl Lister irgendwo hingefahren?« Sie runzelte die Stirn. »Kann sein. Weiß nicht.« »Haben sie irgendwas davon gesagt, sie würden an einen der Strände fahren?« »An einen der Strände?« Aileen war völlig perplex. »Zum Fischen, meinen Sie?« »Oder zum Spazierengehen oder so was.« Aileen schüttelte verblüfft den Kopf. »Ich habe Ian noch nie in Rufweite eines Strandes gesehen.« »Hat Ian jemals Botengänge für Lister erledigt oder Sachen für ihn abgeholt?« Aileen legte ihr Gesicht in zweiflerische Falten und schaute ungläubig. »Nee.« »Sie haben ihn nie mit irgendwelchen Päckchen gesehen?« »Nein.« »Hat Ian Drogen genommen?« Aileen richtete sich auf, so als würde die Frage ein schlechtes Licht auf sie selbst oder die Entscheidungen werfen, die sie in ihrem Leben getroffen hatte. »Niemals.« »Aileen, wo ist Ian jetzt?«, fragte Ellen. »Ich hab nicht die leiseste Ahnung.« »Ist er bei Mr. Lister? Versteckt Mr. Lister ihn?« »Das müssen Sie ihn selber fragen.« »Was wollte Lister gestern von Ihnen?«, fragte Challis. 241
»Er kam vorbei, um zu sehen, wie ich zurechtkomme.« Sie sahen sie an, wollten, ja erwarteten mehr und wurden belohnt, als Aileen in das Schweigen hinein sagte: »Hat mich nach Ihnen beiden ausgefragt.« Challis lehnte sich zurück und schaute sie halb lächelnd, aber fest an. »Fragte er Sie rein interessehalber, oder war da mehr dran?« Aileen dachte darüber nach. »Er kam mir ein wenig besorgt vor.« »Besorgt? Wegen was genau?« »Er stellte genau die Art von Fragen wie Sie auch. Ob ich von dem Marihuana gewusst habe. Ob ich gewusst habe, was Ian ausheckt. Ob ich der Polizei irgendwas erzählt habe. Ich fand ihn fürchterlich neugierig.« Dann murmelte sie etwas und lief rot an. Challis setzte nach. »Ich habe Sie nicht verstanden, Aileen.« Sie sah ihn trotzig an. »Er hat mir Geld gegeben.« »Wie viel?« »Hundert Dollar.« Ein paar hundert, nahm Challis an. »Hat er gesagt wofür?« »Für den Fall, dass ich was brauche. Sonst hat Ian immer alles mit der Bank geregelt und so.« »Hat er an den Kredit irgendwelche Bedingungen geknüpft?« »War kein Kredit!« »War das Schweigegeld, will der Inspector wissen«, sagte Ellen. »Anders gesagt, hat er Sie gebeten, der Polizei von gewissen Dingen nichts zu erzählen?« »Er sagte, die Polizei muss ja nicht alles über meine dreckige Wäsche wissen«, sagte Aileen Munro mürrisch. Dann fügte sie hinzu: »Muss ich das Geld zurückgeben?« Challis schüttelte den Kopf. »Behalten Sie es.« »Gut, ich kanns brauchen. Für die Rechnungen und all das.« Hinterher im Wagen sagte Ellen: »Sie haben zusammen Marihuana angebaut, oder Munro hat es für Lister angebaut. 242
Dann taucht das Luftbild auf, und sie vernichten eiligst die Ernte, oder aber sie ernten und bringen alles irgendwohin zum Trocknen, wenn die Pflanzen denn schon groß genug dafür waren.« »Und jetzt können sie eine zweite Anpflanzung nicht riskieren«, nahm Challis den Faden auf. »Also gehen sie zu was anderem über: Ecstasy, Kokain, Heroin, Amphetamine, die auf See abgeworfen werden.« »Doch das Wetter ist schlecht, und eine der Lieferungen wird fortgespült oder vernichtet.« Sie verfielen in Schweigen. Scobie, der am Steuer saß, hakte nach: »Aber seit wann machen sie das? War es das erste Mal? Und was das Zeug angeht, ist es fortgespült worden, oder wurde die Ware von jemand anderem gefunden?« Challis stellte sich Tessa Kane auf ihrem Osterspaziergang vor, wie sie an einem einsamen Strand entlangwandert. Der kräftige Wind bläst ihr Sand in die Augen. Ein Toyota-Pick-up taucht auf, Munro und Lister sitzen drin und sind offenkundig sauer und befürchten, dass ihre Drogenlieferung gestohlen worden ist. War ihnen die Marihuanaernte auch gestohlen worden? Hatte Kitty Casement das Marihuana erkannt, und hatte sie dann die Pflanzen im Schutz der Dunkelheit geerntet? Hatte sie Munros und Listers weitere Schritte überwacht und war so als Erste bei der Schiffsfracht eingetroffen? Challis war durchaus nicht überrascht, als er Ellen fragen hörte: »Haben wir es mit einem Revierkampf zu tun?« Auch nicht, als Sutton fragte: »Wissen wir irgendwas über Kitty Casements Mann?« »Der Geruch«, sagte Ellen plötzlich. »Was für ein Geruch?«, fragte Challis, obwohl ihm bereits die Haut kribbelte und die Haare im Nacken zu Berge standen. »Rund um Listers Haus liegt ein deutlicher Geruch nach Chemikalien in der Luft.« 243
Challis hatte noch immer das Kribbeln auf seiner Haut. »Sie haben Recht, das ist mir auch aufgefallen.« »Ein Labor?«, fragte Scobie. »Kocht er in einem Geheimlabor Speed auf?« »Irgendwas braut er jedenfalls zusammen«, sagte Ellen. Sie waren an der High Street und dem Kreisverkehr angekommen. »Aber wo ist das Labor? Ich habe neulich keinerlei Scheunen gesehen«, sagte Challis. »Wenn man am Zaun entlanggeht«, sagte Ellen, »kann man einen Teil des hinteren Grundstücks einsehen. Das ist wohl terrassiert worden, und es gibt Betonbauten, die in den Boden eingelassen sind. Ich hatte erst angenommen, dass es sich um Stützmauern handelt oder unterirdische Regentanks, aber es könnte auch ein Laboratorium drinstecken.« Scobie Sutton dachte darüber nach, als er den Wagen einparkte. »Die klauen gern Grippetabletten und bereiten sie im Labor auf.« Challis nickte. Sie überquerten die Asphaltfläche zum Hintereingang des Reviers. »Wollte Lister also das fertige Produkt abholen lassen«, fuhr Sutton fort, »oder bekam er gerade eine Lieferung Grippetabletten?« »Das werden wir wohl nie erfahren, Scobie«, sagte Ellen. Manchmal hatte sie Sutton wirklich satt. Challis blieb unvermittelt stehen. Die anderen rempelten ihn an. »Hal?«, fragte Ellen und hielt sich mit einer Hand an seinem Oberarm fest. »Der Strand.« »Was ist damit?« »Kilometerlange Küste«, sagte Challis, »aber abgesucht haben wir noch nichts davon. Wir haben am falschen Ort nach Munro gesucht.« 244
40 »Du frierst dir die Titten ab hier draußen«, sagte Tankard und zog gegen den eisigen Wind die Schultern hoch. Halb fünf nachmittags an einem warmen Herbsttag; warum war es dann hier am Strand so kalt? Er stapfte zusammen mit Pam Murphy weiter, sah auf ihre Brust, um vielleicht einen Blick auf ihre steifen Brustwarzen zu erhaschen – zu viele Klamotten an –, und dann in ihr Gesicht, um festzustellen, wie sie seine Bemerkung aufnahm. Nicht das kleinste Grinsen. Sie suchte unermüdlich die Teebäume nach Spuren von Ian Munro ab. Vielleicht hatte er ja im Buschland ein Zelt aufgeschlagen? Tankard hatte nach seinem tränenreichen Besuch bei ihr neulich gehofft, sie würde es heute mit ihm ein wenig ruhiger angehen lassen. Noch immer konnte er ihren tröstenden Arm um seine Schultern spüren und das Puder in ihrem Morgenmantel riechen, bevor sie Jeans und Windjacke angezogen hatte. Und nun steckte sie in einer Uniform, die so steif, unpraktisch und fehl am Platze war wie seine eigene, stapfte weiter, bekam ab und zu Sand in die Schuhe, fluchte gelegentlich und kümmerte sich nicht um ihn. Aus heiterem Himmel dachte er: Was muss ich tun, damit du dich in mich verliebst? Liebe? Jetzt gehst du aber ’n bisschen weit, Kumpel. Also zog Tankard die Schulter noch ein wenig höher, vergrub die Hände in den Taschen und versuchte dem Seegras und dem Hundedreck auszuweichen. Er war noch nie ein Strandmensch gewesen, und den Strandabschnitt hier hatte er noch nie gesehen. Penzance Beach schien fließend in Myers Point überzugehen, aber auf der Landkarte waren es zwei verschiedene Orte. Auf den Klippen stand eine Hand voll teurer Ferienhäuser, doch die meiste Zeit sah er nur die flachen 245
Bereiche dazwischen, wo in kleinen Teebaumhainen winzige Holzhütten direkt am Strand standen. Ihre Aufgabe bestand darin, überall anzuklopfen und nach Lebenszeichen oder Einbruchsversuchen in den offenkundig leeren Häusern zu suchen, alle Höhlen in den Klippen abzuklappern, an denen sie vorbeikamen, den Jachtclub zu überprüfen, nachzuschauen, ob jemand campte, mit den Leuten zu reden. Andere uniformierte Einheiten suchten die leeren Küstenstreifen bis nach Point Leo in der einen und dem Marinestützpunkt in der anderen Richtung ab. Sergeant van Alphen hatte bei der Einweisung gesagt, das CIB habe Special Operations gebeten, die Küste abzusuchen, doch das war schulterzuckend abgelehnt worden, also war die Polizei von Waterloo auf sich gestellt. Die Rückendeckung bestand aus zwei Streifenwagen, die in Funkkontakt miteinander standen. Es war Herbst, ein eisiger Wind wehte von der Bucht herein, und die Gegend war praktisch menschenleer. Alle Ferienhäuser waren verrammelt, im Jachtclub flickte ein alter Mann ein zerrissenes Segel, das Gestrüpp der Teebäume war undurchdringlich, ein, zwei Rentner führten ihre Hunde spazieren, das war schon alles. »Die Leute haben alle mehr Verstand als wir, heute am Strand herumzuspazieren«, sagte Tankard. »Ziemlich weit hergeholt, wenn du mich fragst.« Pam überhörte ihn. Sie ging die Aufgabe an, so als sei sie todsicher, dass sie Ian Munro finden und als Helden aufs Revier zurückkehren würden. Ehrlich gesagt, sie hatte noch keinen Muckser von sich gegeben, seit sie den Dienst angetreten hatte. Sie stürmte wie besessen voran, ihr Gesicht war zu einer unnachgiebigen Maske versteinert, und sie war nicht daran interessiert zu reden. »Hat die Katze deine Zunge gefressen?« Eine Möwe glitt durch die Luft über ihm und schiss ihm vor die Füße. 246
»Hast du das gesehen? Himmel, wir brauchen eine Gefahrenzulage.« Pam stürmte weiter, so als habe Tankard kein Wort gesagt. Er musste sich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten, seine fleischigen Oberschenkel rieben aneinander, er keuchte, er fühlte sich verschwitzt, trotz des eisigen Windes. »He, mach mal halblang, okay?« Sie überhörte ihn. »He, was hat dich denn auf die Palme gebracht?« Tank hoffte, dass nicht er es gewesen war, hoffte, dass sie es nicht bedauerte, ihn reingelassen und getröstet zu haben. Tränen schossen ihm in die Augen bei dem Gedanken an die Schmach von neulich, die er manchmal noch fühlte und die sie so liebevoll besänftigt hatte. »Was macht das neue Auto?«, rief er, weil er wusste, dass dies kein heißes Thema war. Pam legte noch einen Schritt zu, sie streckte den Rücken, und ihre schwingenden Arme peitschten die Luft um sie herum. Himmel, was hatte er denn jetzt wieder Falsches gesagt? Vielleicht hatte sie es schon zu Schrott gefahren. Vielleicht war es ein Montagsauto und brach andauernd zusammen. Verdammter japanischer Reiskocher, ein Holden V8 wäre ihm allemal lieber. Plötzlich blieb Pam stehen. »Was ist?«, wollte Tankard wissen. Sie standen am Fuß einer Steilklippe. Links und rechts davon war Gestrüpp, doch die Felswand selbst bestand aus gelbem Gestein und Lehm. Hinter ihnen stürzte das Meer über Felsen, die einem die Haut vom Leib schmirgeln würden, der PenzanceBeach-Shop lag östlich von ihnen, Myers Point westlich hinter einer Landzunge. Tankard und Murphy waren allein, und zum ersten Mal war gruselte es ihn. »Was ist?«, fragte er erneut. Pam wies auf einen schmalen Streifen Farmland, der die 247
beiden Gemeinden voneinander trennte. »Da oben steht ein Haus. Verlassen. Überwuchert von Efeu und so ’nem Zeug.« Er wusste von keinem Haus da oben. »Bist du sicher?« »Hier gibt es irgendwo einen Pfad«, sagte Pam, sie wandte sich von der Felswand ab und ging in das dichte Unterholz am Fuß der Klippe. Tankard folgte ihr, und schon bald wurden sie von den kühlen, unheimlichen Senken verschluckt und ließen Wind und Meer hinter sich. Der Pfad verlief im Zickzack und nahm langsam einen sanften Anstieg die Klippen hinauf. Man konnte nur ihren Atem hören, das Sonnenlicht, das durch das dichte Blattwerk gedämpft wurde, lag wie Münzen zu ihren Füßen. Tankard fühlte sich zu den grusligen Orten der Gutenachtgeschichten seiner Kindheit zurückversetzt, und es schauderte ihn. Auf der Anhöhe traten sie durch ein Brombeergestrüpp hinaus, und da stand das Haus aus grauen, verwitterten, bemoosten Eternitplatten und rostigem Wellblech, überwuchert von Farnen. Zerrissene Fliegengitter vor den Fenstern, eine zerrissene Fliegengittertür, im Kamin fehlten ein paar Ziegel. Tankard sah erneut zum Dach hinauf. Munro würde nicht so dumm sein und Feuer machen. Der Qualm würde allen seine Anwesenheit verraten. Aber Munro war da. Tankard spürte es in den Knochen, und er flüsterte: »Du bleibst hier, ich gehe auf die andere Seite.« »Und dann?« So weit hatte er noch gar nicht gedacht. Er war durchaus darauf vorbereitet, die Dinge ihren eigenen Lauf nehmen zu lassen, doch er schaute auf die Uhr und sagte: »Zwei Minuten, dann klopfen wir beide und rufen: ›Aufmachen, Polizei!‹« Pam zuckte mit den Schultern. »Okay. Aber man hat uns gesagt, wir sollten uns ihm nicht nähern, sondern Meldung machen.« »Keine Zeit«, erwiderte Tankard. Er reckte einen Finger in die Höhe, flüsterte: »Zwei Minuten«, und umkreiste das Haus rechts herum, wo das Unterholz nicht so dicht war. Und stieß direkt auf Ian Munro, der vor der Hintertür des 248
Hauses auf einer Fläche hart getretenen, graslosen Lehms stand und ihn erwartete; offenbar amüsierte es ihn, wie Tankard um die Ecke gestolpert kam. »Stolpern«, so beschrieb sich Tankard die Szene später im Geiste, doch in diesem Augenblick hatte Munro eine Schrotflinte direkt auf seinen Brustkorb gerichtet und war voller schlanker, muskulöser Verachtung. »Hallo, Bulle.« Tankard erstarrte. »Du lernst aber auch nichts dazu, hm, Sonnyboy?« Tankard ertappte sich dabei, wie er die Hände in die Höhe reckte. »Wie viele seid ihr?« Tankard schluckte und schaffte es zu sagen: »’n Haufen.« Munro dachte darüber nach. »Ich glaub nicht. Noch einer, vielleicht. Nimm deine Waffe raus – wie ich sehe, haben sie dir eine neue gegeben.« In diesem Augenblick hämmerte Pam mit der Faust an die Tür auf der anderen Seite des Hauses und rief: »Polizei«, doch für John Tankard klang es unglaublich weit weg. Waren wirklich schon zwei Minuten vergangen? Das Ganze kam ihm unwirklich vor. Er sah Munro, der einen Augenblick lang verwirrt schien, die Schrotflinte zum Haus drehen, und er schien zuzuschauen, wie seine Hände aufhörten, sich in den Himmel zu recken, und zu seinem Halfter fielen, um die Dienstwaffe zu zücken. Es ging schnell, wie nach Vorschrift, aber es war doch unmöglich langsam, und schon drehte sich die Schrotflinte wieder zu ihm und zielte auf seine schutzlose Brust. Tankard zückte die Waffe und feuerte, dann ließ er die Waffe fallen, weil sie einen ungeheuren Rückschlag hatte und seine Finger taub werden ließ. Die Schrotflinte brüllte, das Schrot flog wummernd über seinen Kopf hinweg, und Munro fiel zu Boden. Als Pam Murphy bei Tankard eintraf, stand dieser tränenüberströmt über Munro und fragte sie immer und immer wieder: »Was hab ich nur getan?« 249
41 Pam Murphy erstattete Meldung, und die Detectives und die höheren Ränge der uniformierten Polizei nahmen die Sache in die Hand – zum Glück, denn John Tankard war völlig zusammengebrochen. Pam gab einen kurzen mündlichen Bericht ab und fragte dann, ob sie Tankard zurück aufs Revier bringen könne. »Besser, Sie bringen ihn zu einem Arzt«, sagte Sergeant van Alphen und warf einen argwöhnischen Blick auf Tank, der schluchzend auf der hinteren Veranda der Hütte saß. »Er soll ihm ein Beruhigungsmittel geben. Später wird er dann zu einem Psychologen müssen.« Er sah Pam an, und irgendwo unter seinen eisigen Gesichtszügen war eine Spur von Freundlichkeit zu erkennen. Nicht zum ersten Mal war Pam überrascht, wie sehr er äußerlich Inspector Challis ähnelte: dieselbe innere Ruhe und Prägnanz, dieselbe düstere, intensive, nachdenkliche Genauigkeit. Doch Challis wirkte stabil, van Alphen hingegen war im vergangenen Jahr durchgeknallt. Er wusste also, wovon er sprach. Pam sah, wie er wieder zu Tank hinübersah und ganz leicht mit dem Kopf schüttelte. »Sergeant?«, fragte sie. »Er wird doch wieder, oder? Ich meine, es wird eine Untersuchung geben, aber an dem Schusswechsel war doch nichts Unsauberes.« Van Alphen grinste sie an wie ein Hai. »Verdammt, das da ist Munro, und er ist tot. Die werden John einen Orden anheften.« »Danke, Sergeant.« »Bringen Sie ihn nach Hause. Nein, bringen Sie ihn erst aufs Revier, vertraute Umgebung, vielleicht ist er dann in der Lage, eine Aussage zu machen. Wenn die Untersuchung morgen angesetzt wird, werde ich ihn ein, zwei Tage beurlauben, damit 250
er sich erholen kann.« »Danke, Sergeant.« Pam umarmte van Alphen kurz und unaufdringlich, und der Sergeant drückte nach kurzem Zögern linkisch ihre Schultern und starrte zu Boden. Dann brachte Pam John Tankard auf die Beine und bat Scobie Sutton darum, sie zu ihrem Streifenwagen zu fahren. Scobie sagte: »Gute Arbeit, Leute.« Scobie plapperte endlos weiter, lobte sie, sprach von der Notwendigkeit, sich unter solchen Umständen psychologisch betreuen zu lassen. Pam wusste, dass Scobie Sutton auch noch andere Facetten aufzuweisen hatte, doch im Augenblick quoll ein ununterbrochener Strom von Freundlichkeit und Güte aus ihm heraus; er hätte wohl besser Pfarrer werden sollen. »Danke«, sagte sie und war froh, dass Tank und sie aus dem CIB-Dienstwagen aussteigen und in ihren Van klettern konnten. Auf dem Revier gab es noch mehr Schulterklopfen. Pam brachte Tank zu den Spinden und sagte ihm, er solle sich umziehen. Er wirkte verwirrt, hatte wässrige Augen, musste praktisch an die Hand genommen werden. An eine Aussage war nicht zu denken: Sie wollte ihn nach Hause bringen. Doch dann kam Senior Sergeant Kellock herein und sagte: »Gute Arbeit, ihr beiden«, und nahm Tank mit, damit dieser seine Aussage machte. Pam saß noch eine Weile da und dachte an Lister, und da fiel ihr ein, wie sie den Kredit zurückzahlen konnte: Sie musste den Wagen verkaufen. Draußen auf dem Flur stieß sie auf Sergeant Destry, die sie voller Warmherzigkeit anlächelte und sagte: »Gute Arbeit heute«, und Pam, die ganz verzweifelt danach trachtete, zu beichten, hörte sich sagen: »Sergeant, kann ich Sie mal kurz sprechen?« Jedes Mal, wenn sie Pam Murphy sah, fühlte sich Ellen Destry an ihr jüngeres Ich erinnert. Murphy war voller Enthusiasmus, 251
ambitioniert, musste sich mit Wüstlingen und Neandertalern herumschlagen, neigte zu Schweigsamkeit und dazu, alles herunterzuschlucken. Was sie nun über Geld zu hören bekam, damit hatte sie nicht gerechnet: die ständige Sorge darum, der Mangel daran, das Unvermögen, damit umzugehen. Ellen schüttelte den Kopf und musste unvermittelt an ihre Tochter denken: Immer wieder versagen wir dabei, unseren Kindern beizubringen, wie sie ihr Leben führen sollen. Dann überkamen sie böse Erinnerungen. Eines Tages wird mich das Geld auch noch in Schwierigkeiten bringen, dachte sie, und sie errötete bei dem Gedanken an den Augenblick letztes Jahr, als sie fünfhundert Dollar eingesteckt hatte, die sie am Ort einer Brandstiftung gefunden hatte. Immer mal wieder, wenn auch in langen Abständen, tat sie das, kleine Summen, die irgendwelchen Kriminellen gehörten und nicht vermisst wurden. Falsch war es trotzdem, und sie gaukelte sich immer wieder vor, ihr Problem in den Griff bekommen zu haben. Letztes Jahr hatte sie die fünfhundert Dollar gespendet: Es wäre zu kompliziert gewesen, sie wieder an den Tatort zurückzubringen. Diese Gelegenheitsklauerei stammte noch aus Kindertagen, als sie nach der Schule im Laden an der Ecke Lollis und Comics mitgehen ließ. Sie schüttelte die Erinnerung ab. »Ich dachte, Lister ist Buchhalter«, sagte sie und sah Pam Murphy, die auf dem harten Stuhl auf der anderen Seite ihres Schreibtischs saß, fest in die Augen. »Ist er auch«, sagte Pam, die offensichtlich überrascht war, nicht den Kopf abgerissen zu bekommen. »Er verleiht aber auch Geld.« »Und er hat Ihnen dreißigtausend Dollar geliehen.« »Jawohl, Sergeant.« »Eine Menge Geld.« »Jawohl, Sergeant.« 252
»Sie würden nicht so in der Klemme sitzen, wenn Sie sich eine vernünftige Summe geliehen hätten, zehntausend vielleicht – für zehntausend kriegen Sie schon ein vernünftiges Auto.« Ellen sah, wie Pam den Kopf sinken ließ. »Jawohl, Sergeant.« »Aber Sie wollen sicher keinen Vortrag von mir hören. Wie werden Sie den Kredit zurückzahlen?« Pam blickte auf und sagte mit einem schrägen Grinsen: »Ich werde den Wagen verkaufen.« »Dabei werden Sie aber Geld verlieren.« Pam schüttelte den Kopf. »Vielleicht nicht. Er war nicht mehr ganz neu, also war schon ein Wertverlust abzuziehen, als ich ihn gekauft habe. Die Nachfrage nach Subarus ist groß, und mit ein wenig Glück kriege ich mein Geld raus oder mache noch einen kleinen Gewinn. Und wenn es nicht reicht, leihe ich mir was von meiner Mutter. Wenn die Schulden erst mal zurückgezahlt sind, kommt Lister nicht mehr an mich ran.« Du bist naiv, dachte Ellen und sah die jüngere Frau bedauernd an. Dann wurde sie gröber: »Sobald wir ihn verhaften oder ihn auch nur wegen irgendwas verhören, wird er sagen, dass er Sie in der Hand hat. Er wird sagen, dass Sie ihm für das Geld vertrauliche Informationen geliefert haben, und dann drohen Ihnen Disziplinarmaßnahmen, und Sie sind möglicherweise Ihren Job los.« Noch während sie sprach, schweiften ihre Gedanken ab, und es rührte sie nicht sonderlich, als Pam ein zutiefst betroffenes Gesicht machte und in heiße Tränen ausbrach. Ellen dachte, dass Ian Munro sich von Lister Geld geliehen hatte, weil niemand sonst ihm etwas hatte geben wollen, dass er in Zahlungsschwierigkeiten geraten war und dann einwilligte, für Lister Marihuana anzubauen. Aber steckte Skip auch mit in der Sache? Hatte Skip für seinen Vater spioniert, war er angestiftet worden, immer wieder bei den Destrys aufzukreuzen, um so viel wie möglich über die örtliche Polizei zu erfahren? Der Gedanke war einfach zu entsetzlich, 253
um länger darüber nachzudenken. Larrayne wäre am Boden zerstört. »Herrje«, murmelte sie und kehrte erst wieder in die Gegenwart zurück, als Pam Murphy fragte: »Sergeant?« »Also, was stellen wir jetzt mit Ihnen an?« »Ich weiß nicht, Sergeant.« »Wie viel haben Sie Lister erzählt?« »Nichts, was nicht schon öffentlich bekannt war«, sagte Pam leichthin. »Hören Sie, Constable, Sie haben ihm Informationen für Geld gegeben. So wird man das sehen. Egal, wie vertraulich oder wertlos diese Informationen waren.« Pam Murphy ließ den Kopf sinken. »Sergeant.« »Hat Lister gesagt, warum er die Informationen wollte?« »Er sagte, er wolle keinem Geld leihen, an dem die Polizei interessiert ist. Er hatte Angst, sie könnten verhaftet werden und er würde sein Geld nie wiedersehen.« »Eine passende Geschichte.« »Ja, Sergeant. Aber der Punkt ist, er interessierte sich nur dafür, wer mit Drogen zu tun hatte, wen die Polizei im Auge behielt, die Dealer und Pusher.« Ellen nickte. Wenn Lister ins Geschäft kommen wollte, sich in den Markt drängen oder produzieren und verhökern wollte, ja selbst wenn er einen Krieg vom Zaun brechen wollte, dann wollte er genau jene Art von Informationen, über die nur die Polizei verfügte. Davon sagte sie allerdings nichts zu Pam Murphy, sondern: »Also, Listers Name ist im Zusammenhang mit einer anderen Geschichte aufgetaucht. Ihre Erfahrungen mit ihm runden das Bild ab. Wir behalten die Geschichte im Augenblick noch für uns. Auf Anfrage werde ich sagen, dass Sie sofort zu mir gekommen sind, als Lister versucht hat, Sie anzuheuern, und dass wir beschlossen haben mitzuspielen und ihm unwichtige Informationen zugetragen haben, bis wir erkennen konnten, was 254
er damit vorhatte.« Das war eine Galgenfrist, Pam fiel eine Riesenlast von den Schultern, und ihr Gesicht entspannte sich. »Vielen Dank, Sergeant.« Doch Ellen hob warnend eine Hand. »Das soll nicht heißen, dass später die Wahrheit nicht doch noch an den Tag kommt, falls die ganze Angelegenheit schief geht. Sie haben einen Fehler gemacht.« »Ja, Sergeant.« »Aber besser jetzt als später.« »Danke, Sergeant.« Als Pam hinausging, sagte Ellen noch: »Haben Sie das von Brad Pike gehört?« »Was denn, Sergeant?« »Mausetot.« Unterdessen befragte Scobie Sutton gerade Dwayne Venn. Als das Band lief, Venn belehrt worden war und er erneut auf sein Recht verzichtete, einen Anwalt hinzuzuziehen, fing Scobie an; Challis, der eine Schulter an die Wand gelehnt hatte und abwesend und ein wenig erschöpft wirkte, stand daneben. An der Wand gab es in Wischmopphöhe eine Scheuerkante, und eine zweite fand sich in Schulterhöhe, wo die müden oder zutiefst ungläubigen Detectives sich mit Kopf und Schultern anlehnten. »Also, Dwayne, das Ganze nochmal von vorn.« »Ich hab Ihnen doch schon erzählt, was passiert ist.« »Diesmal fürs Tonband.« Venn wirkte müde, aber sehr angespannt, so als habe er seit ein paar Tagen ganze Drogencocktails genommen. Er musste sich mal rasieren und roch ziemlich streng in dem weißen Papieroverall, den er tragen musste, nachdem ihm Jeans, T-Shirt und Turnschuhe abgenommen und ins Labor gebracht worden waren. 255
»Also, Brad kam letzten Abend vorbei und …« »Er kam zum Haus? Zu Lisa Tullys Haus?« »Na ja, eigentlich läuft der Mietvertrag auf Donna.« »Wer wohnt da?« »Lisa und Donna.« »Sonst noch jemand?« »Nein, Mann.« »Und Sie waren auch da?« »Nur zu Besuch.« »Leben Sie dort, Mr. Venn?«, fragte Challis unvermittelt. »Na ja, ich wohne nicht da, aber ich schau ab und zu mal vorbei, ja.« »Schlafen Sie mit Lisa? Mit Donna? Mit beiden?«, wollte Challis wissen. »Ich werde doch nicht mein Liebesleben ausplaudern. Hören Sie, Lisa und Donna und ich sind in gutem Glauben hergekommen, haben Ihnen erzählt, dass wir den Fall gelöst haben, den ihr Arschlöcher nicht lösen konntet, und was passiert? Sie fragen mich nach meinem Liebesleben. Kein Wunder, dass Sie Lisas Kind nicht gefunden haben. Sie …« »Wir interessieren uns nur für die Umstände, Dwayne.« Verdammter Challis, dachte Sutton. Beschwichtigend hob er die Hände. »Also, erzählen Sie uns, was als Nächstes passiert ist. Sie waren im Haus der Tully-Schwestern, als Brad Pike auftauchte, richtig?« »Genau.« »Und was geschah dann?« »Wir unterhielten uns, und …« »Sie haben getrunken?«, sagte Challis grob. »Na und?« »Drogen? Dope, Speed?« »Bestimmt nicht.« »Dwayne«, sagte Sutton sanft, »das ganze Haus hat danach gestunken.« 256
Venn verschränkte trotzig die Arme. »Brad hat ’n bisschen Zeug mitgebracht. Wir wollten nichts davon. Er hat die Bude so voll gestunken.« »Wir versuchen nur herauszufinden, wie es wirklich gewesen ist, Dwayne. Wenn Ihr Urteilsvermögen wegen irgendwelcher Drogen beeinträchtigt gewesen ist, dann könnte das vor Gericht als mildernder Umstand angesehen werden.« In Venns Augen schien ein Licht aufzublitzen, und er verengte sie zu Schlitzen. »Moment, Pike hat mich angegriffen und versucht, mich umzubringen. Ich musste mich verteidigen.« Challis fuhr ihn hart und unerbittlich über den wackligen Tisch an. »Die Beweise sagen da was anderes. Man hat ihm einen Kricketschläger oder etwas Ähnliches über den Kopf geschlagen und …« »Kricket?« Scobie, der Venn in diesem Augenblick beobachtete, dachte, das ist ein Mann, der sich mit Jim Beam umgibt, mit einer Harley-Davidson, mit Indianerpostern und Indianerkrempel – was weiß der denn schon von Kricket, einem Spiel für Engländer? »Oder einem Baseballschläger«, sagte er. »Wir haben einen zerbrochenen Baseballschläger in der Gasse hinter dem Haus gefunden.« »Man sollte die Blödheit der Gauner in der Gegend hier nicht unterschätzen«, knurrte Challis. Was ist denn in Challis gefahren?, dachte Sutton. Brummig wie ein Bär mit Zahnschmerzen. »Okay, Dwayne, Pike hat Sie angegriffen. Und dann?« »Dann hab ich mich verteidigt.« »Wie?« »Mit den Fäusten. Ich hab ’nen guten Treffer gelandet, und er ist umgefallen und hat sich den Kopf angestoßen irgendwo. Vielleicht an einer Flasche, das erklärt den Abdruck am Kopf.« »Na, so was von selbstbewusst. Ein Mann, der für alles eine Erklärung parat hat«, sagte Challis. 257
»Ach, Scheiße. Ich komme in gutem Glauben hierher, und …« »Die Rechtsmedizinerin sagt, Pike ist erstickt worden«, sagte Sutton. »Nach der Art zu urteilen, wie das Blut an Pikes Gesicht klebt, wurde dazu eine Plastiktüte verwendet, nimmt sie an. Wir haben die Tüte noch nicht gefunden, aber das kommt schon noch, genauso wie wir Spuren der Tüte an Pike finden werden.« Sutton warf Challis einen scharfen Blick aus dem Augenwinkel zu, so als wollte er sagen: Ich kann auch den starken Mann markieren, also gib Ruhe, okay? Venn meinte trotzig: »Ich sag kein Wort mehr.« Na, wenigstens hat er noch nicht um einen Anwalt gebeten, dachte Scobie. »Und was geschah dann?« Venn schaute ihn mürrisch an. Nach ein paar Sekunden ließ er sich zu einer Antwort herab. »Bevor Brad ohnmächtig wurde, hat er uns noch gesagt, was er mit Lisas Kind gemacht hat.« »Und Sie haben ihm geglaubt?« »Na klar. Das war doch ein Geständnis auf dem Totenbett«, sagte Venn, wobei er sehr sorgfältig sprach und offenbar recht zufrieden mit seiner Ausdrucksweise war. So ein Blödmann, dachte Scobie und begann mit seinem Vortrag. »Dwayne Venn, ich verhafte Sie wegen des Verdachts, Bradley Pike am fünfzehnten des Monats ermordet …« Venn klappte der Mund auf. »Das können Sie doch nicht einfach so. Wir kommen in gutem Glauben hierher, und …« »Ich kriegs einfach nicht aus dem Kopf«, sagte John Tankard. »Ich weiß«, erwiderte Pam. Sie saß am Steuer und fuhr ihn nach Hause. Ihre Anwesenheit bot ihm Trost. Immer wieder sagte sie: »Ich weiß«, und lächelte sanftmütig. Wie konnte er sich der Kraft ihrer Freundlichkeit, ihres müden Mitgefühls entziehen? Sie verurteilte ihn nicht, stürzte sich nicht hart und unvermittelt auf ihn wie Kellock vor ein paar Minuten auf dem Revier; Kellock war einerseits froh, dass Munro tot war, aber vor allem machte er sich Sorgen 258
darüber, dass die Presse schreiben könnte, die Polizei sei wieder mal in eine tödliche Schießerei verwickelt gewesen. »Ich hab einfach geschossen. Instinkt. Reiner Instinkt, Pam. Peng, einfach so.« Komisch, wie seine Gefühle Achterbahn fuhren. In dem einen Augenblick wollte er sich am liebsten verkriechen oder sterben oder den ganzen Tag flennen, im nächsten durchfuhr ihn wieder ein Hochgefühl. »Ich meine, herrje …« »Du hast uns wahrscheinlich beiden das Leben gerettet«, sagte Pam. Jetzt schlugen seine Emotionen wieder in die andere Richtung um. Alle klopften ihm auf die Schulter, als sei er so ein Schnellschussheld mit mörderischer Reaktion, wo er doch nur mehr oder weniger wieder in Panik geraten war und einen Glückstreffer gelandet hatte. Die Waffe in seiner Hand hatte sich nicht gut angefühlt. Ein Glücksschuss aus reiner Panik. Er hatte einen Mann erschossen. »O Gott«, sagte er und legte sich die Hände vors Gesicht. Gott sei Dank waren sie verpflichtet, seine Waffe als Beweismittel zu beschlagnahmen. Er wollte keine Waffe mehr sehen, solange er lebte. Sie kamen bei seiner Wohnung an; als Pam am Straßenrand bremste, sagte er. »Hör mal, ich muss allein sein, nicht dass du mich falsch verstehst, aber …« »Wie du meinst, Tank«, sagte Pam, umarmte ihn kurz und bedankte sich erneut bei ihm dafür, dass er ihnen beiden das Leben gerettet hatte. Und wieder hoben seine Gefühle ab. Dann fuhr sie schnell davon, zu schnell, und Tank fragte sich, ob sie es tatsächlich ehrlich meinte. Miststück.
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42 Es war früher Nachmittag, das Telefon klingelte, und seine Frau sagte: »Hal, ich bin so niedergeschlagen.« Challis erwiderte nichts darauf. Er hörte zu, wie die Zeit verging. Er wollte sie nicht ermutigen. »Wenn du nicht wärst, ich wüsste nicht, was ich tun soll. Ich habe dich schon immer gebraucht.« Diesmal reagierte er. »Nein, das hast du nicht, Angela. Es gab mal eine Zeit, da hast du mich überhaupt nicht gewollt oder gebraucht.« »Sei doch nicht so.« »Wie?« »So gemein.« Darauf erwiderte er nichts. Blöd genug, dass er überhaupt etwas gesagt hatte. »Ich habe damals nur für eine Weile den Kopf verloren, mehr nicht. Du warst immer arbeiten, warst nie zu Hause. Aber ich habe es schnell wieder herausgefunden: Ich habe immer nur dich gewollt.« »Angela, es ist zu spät.« Das hatte er bisher noch nie zu ihr gesagt. Jedenfalls nicht so direkt, aus Sorge um ihren labilen Zustand. Doch jetzt war ihm das egal. Angela jammerte: »Nein, ist es nicht.« »Wir werden uns scheiden lassen und getrennte Wege gehen.« »Nein.« Sie verlor zusehends die Fassung. »Nein, das kannst du mir nicht antun.« »Ich muss«, sagte er sanft. »Wenn ich dich nicht haben kann, werde ich mich umbringen.« Das hatte sie schon früher gesagt, und sie würde es weiterhin 260
sagen. Er verabschiedete sich, hängte auf, und fünf Minuten später rief Tessa Kane an. Als er ans Telefon ging, war er noch ganz gereizt. »Ich versuche gerade, den Haken an der Sache Janet Casement zu finden.« »Das ist keine Sache. Sie ist keine Sache. Es gibt keinen Haken. Jemand hasste sie so sehr, dass er sie umbringen wollte, das ist tragisch, okay?« »Du bist heute aber mit dem falschen Fuß aufgestanden. Und natürlich gibt es einen Haken, Hal. Hast du doch gerade selbst gesagt, jemand hasste sie so sehr, dass er sie erschießen wollte, woraus sich zwei Fragen ergeben: Erstens, willst du damit sagen, dass es Munro nicht gewesen ist? Zweitens, ob nun er oder jemand anderer, warum ist sie erschossen worden? Na komm schon, Hal, ich brauche eine gute Story.« »Tess, seit vierzehn Tagen hast du eine gute Story nach der anderen.« »Na gut, frage ich eben andernorts nach.« »Tu das.« »Wir reden dann später wieder, wenn du dich wieder besser fühlst.« »Bestens.« Tess sagte nichts, sondern beendete die Verbindung, und dann rief McQuarrie an. »Gute Arbeit, Hal.« »Ja, Sir.« »Wieder ein räudiger Köter weniger auf der Straße.« So als wollte er damit sagen, Munro habe die Straßen unsicher gemacht und unschuldige Menschen erschossen. »Ja.« »Gut für unser Sauberkeitsimage: vier Morde, ein Täter.« »Daran habe ich allerdings so meine Zweifel, Sir.« »Seien Sie nicht albern, Hal. Tun Sie uns allen einen Gefallen. Schauen Sie sich mal die Gemeinsamkeiten an: eine Schrotflinte und ein unzufriedener Mann, dem eine Reihe von Schrotflinten gehören und der gute Gründe hatte, alle vier Opfer zu töten.« 261
Der Superintendent hielt inne. »Na gut, gewähren Sie mir Einblick in Ihre Sichtweise?« »Ich glaube, der Mord an Janet Casement war ein Gelegenheitsverbrechen. Ich glaube, die Tatsache, dass in den anderen Fällen eine Schrotflinte verwendet wurde, ist rein zufällig.« »Sie wollen doch nicht behaupten, dass es drei Täter gibt, für jeden Tatort einen anderen?« »Nein. Ich glaube, es gibt zwei.« »Können Sie das beweisen?« »Ich weiß nicht. Ich arbeite noch daran.« »Image ist alles, Hal. Die Moral auch. Wenn Ihre Ansätze nirgendwohin fuhren und wir Munro alle vier Morde anlasten, dann wird das nicht das Ende der Welt sein.« Sein ganzes Leben lang hatte Challis es mit Politikern wie McQuarrie zu tun. Irgendwas geschah mit einem, wenn man zu hoch auf der Karriereleiter stieg und in Sichtweite der obersten Sprosse kam. Man hörte auf, Polizeiarbeit zu leisten, und begann, Politik zu machen. Neunzehn Uhr fünfundvierzig. Die drei Anrufe ärgerten Challis und verdarben ihm den Tag. In einer Stunde könnte er in St. Kilda sein; wahrscheinlich hatte er um diese Uhrzeit bessere Chancen, vor Ort etwas über Trevor Hubble zu erfahren, als am Tag anzurufen, wenn die wenigsten zu Hause waren. Er schloss sein Haus ab und fuhr durch sein Tor hinaus in Richtung Highway. Es war gut, wieder in Bewegung zu sein, aber trotzdem ging ihm Kitty Casement nicht aus dem Kopf. Am Nachmittag war der vorläufige Obduktionsbericht eingetroffen und fiel aus wie erwartet: Kitty war vor den Schüssen nicht vergiftet oder niedergeschlagen worden. Sie hatte keine tödlichen Krankheiten gehabt. Ihr Mageninhalt verriet, dass sie ein paar Stunden zuvor ein Sandwich gegessen hatte, nichts weiter. Todesursache war also ein Schuss aus einem 262
Schrotgewehr in den Hinterkopf, höchstwahrscheinlich aufgesetzt, wie die massiven, lokal begrenzten Schäden an Knochen und Haut vermuten ließen. Zum Glück wusste man, wer sie war, denn der Schaden an den Gesichtsknochen, an Haut und Zähnen hätte es nahezu unmöglich gemacht, ihr Gesicht zu rekonstruieren oder ihr Gebiss mit zahnärztlichen Unterlagen abzugleichen. Blutgruppe 0, wie die Hälfte der Bevölkerung. Challis seufzte, schlug sich Kitty aus dem Sinn und entschied, dem Abend noch etwas Positives abzugewinnen. Gegen zwanzig Uhr vierzig war er auf der Beaconsfield Parade, dort ließ er sich von den Lichtern auf dem Wasser leiten, vom Strom der Autos und der leicht fadenscheinigen Fröhlichkeit der Gästehäuser und Wohnungen, die auf die Bucht hinausgingen. Er fand die Duke Street, und er fand eine junge Frau, die unter Hubbles alter Adresse wohnte. Sie hieß Sienna. Weiter nichts. Sie war Künstlerin. »Ach, der ist zurück nach England gegangen«, sagte sie und führte Challis in ein Wohnzimmer. Er sah sich um: glänzende Hartholzdielen, dicke Wollteppiche, schwarzes Ledersofa, hohe Bücherregale. Ein Hauch von Leinöl hing in der Luft, und er nahm an, dass sich ihr Atelier in einem der Nebenräume befand. »Wissen Sie wo in England?« »Er kommt aus London, glaub ich. Er hatte Heimweh. Ist vor ein paar Jahren mit seiner Freundin wieder dorthin gezogen.« »Und Sie haben das Haus von ihm gekauft?« Sienna verschränkte ihre dünnen Arme und schüttelte kräftig verneinend den Kopf. »Das gehörte mir schon – mit meinem Mann zusammen. Trevor Hubble hat es von uns gemietet.« »Und Sie sind danach eingezogen?« »Nicht gleich. Sein Freund hat den Mietvertrag übernommen.« »Sein Freund. Hat der auch einen Namen?« »Soundso Billings.« »Kann ich eine Kopie des Mietvertrages sehen?« 263
Sienna schaute ihn peinlich getroffen an. »Das Ganze war ziemlich locker. Wir haben für diesen Billings keinen neuen Mietvertrag geschrieben – ich meine, er war Trevors Freund und sehr sympathisch und so. Er zahlte stets pünktlich die Miete, in bar, hat nicht rumgesaut, schien ein netter Kerl zu sein. Das war wohl dumm von mir, aber ich habe ihm vertraut.« »Und wo ist Billings jetzt?« »Keine Ahnung. Er ist ganz plötzlich verschwunden, und ich habe auch keine Nachsendeadresse.« »Und wann sind Sie eingezogen?« Während sie Challis beobachtete, wackelte Sienna mit einem Fuß und spielte mit einem Ohrring. »Letztes Jahr Ende Oktober.« Etwa um die Zeit, als Trevor Hubble nach Australien zurückgekehrt und die Ankerleiche gefunden worden war, dachte er. »Und Sie hatten kein Interesse an einem neuen Mieter für das Haus?« »Mein Mann und ich hatten uns gerade getrennt, und als Billings meinte, er würde ausziehen, bin ich eben eingezogen.« »Was ist mit seiner Post?« »Er hat nie welche gekriegt. Ich kriege ab und zu noch was für Trevor, aber von dem habe ich auch keine neue Adresse.« »Und Sie haben Trevor Hubble nie wiedergesehen?« »Soweit ich weiß, ist er immer noch in England.« Challis schüttelte den Kopf. »Tatsächlich ist er kurz vor Ihrem Einzug wieder zurückgekommen.« Sienna wusste nicht, was sie mit dieser Information anfangen sollte, und sah ihn an, als beschuldige er sie auf subtile Weise irgendeiner Missetat. »Ja und …« »Und es gibt Beweise dafür«, sagte Challis, »dass er in der Zeit, in der er angeblich in London gewesen sein soll, hier lebte.« Sienna schaute verwirrt. »Woher wissen Sie das?« »Wir haben Kreditkartenabrechnungen nachverfolgen können, 264
Telefon- und Stromrechnungen …« »Die Rechnungen hat Billings wohl einfach in Trevors Namen bezahlt«, grübelte Sienna, »aber er würde doch nicht einfach Trevors Kreditkarte benutzen?« Challis schaute sie nur an. »Hören Sie, ich weiß nur, dass Trevor sich 1999 verabschiedet hat und nach England abgereist ist. Billings ist eingezogen, und ich habe nichts davon gewusst, dass Trevor nach Australien zurückgekehrt ist. Seine Freundin schon, aber Trevor nicht. Die hat es in England nur ein paar Monate ausgehalten.« »Haben Sie sie wiedergesehen?« »Als sie hier mit Trevor lebte, standen wir ganz gut miteinander. Sie hat mir immer die Miete gebracht, und wir haben ein wenig getratscht. Als sie aus England zurückkam, fragte sie mich, ob es in Ordnung ginge, wenn sie in dem Haus ein Zimmer bewohnt. Mir war das gleich, aber Billings mochte das nicht. Als Trevor noch hier war, da war er freundlich zu ihr, aber dann hat er ihr nur noch die kalte Schulter gezeigt.« »Stehen Sie in Kontakt mit ihr?« »Sie ist nach Queensland gezogen.« »Aber Sie haben noch Kontakt?« »Ich habe irgendwo ihre Telefonnummer.« Sie ging zu einem kleinen Sekretär hinüber und zog ein Adressbuch heraus, kritzelte eine Nummer auf ein Stück Papier und gab es Challis. »Hören Sie, können Sie mir sagen, worum es eigentlich geht?«, fragte sie. »Das hätte ich Sie schon gleich fragen sollen, ich wollte nicht zu neugierig sein, aber jetzt platz ich gleich vor Neugier.« Halb peinlich berührt, halb flehend, ging ihr die Luft aus, so als wisse sie, dass einem Menschen, den sie kannte und vertraute, etwas Schlimmes zugestoßen war. »Wir gehen davon aus, dass wir Trevor Hubbles Leiche gefunden haben«, sagte Challis. »Er ist ermordet worden.« Sienna sperrte den Mund auf. »Wo? Hier in Australien?« 265
»Ja.« »Wann?« »Etwa zu der Zeit, als Billings ausgezogen ist.« Challis sah, wie sie darüber nachdachte. »Hat Billings sich für ihn ausgegeben?« Challis machte eine Handbewegung, die besagte, dass er das nicht wisse, sie aber wahrscheinlich nicht ganz falsch liege.
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43 Letzten Abend hatte Challis im Auto auf der Rückfahrt zur Halbinsel im einsetzenden Nebel ein paarmal die Nummer von Hubbles Freundin angerufen und endlich eine verschlafene, mürrische Stimme ans Telefon bekommen, die ihm mitteilte, dass sie Queensland verlassen habe und nach Melbourne gezogen sei. Challis kritzelte ihre neue Nummer in sein Notizbuch, rief aber nicht mehr an. Dazu war es bereits zu spät. Er wollte gleich Freitagmorgen anrufen, doch als er sich gerade einen Kaffee gekocht hatte und nach dem Telefonhörer greifen wollte, stand Ellen Destry in seiner Tür und fragte: »Haben Sie mal einen Augenblick Zeit?« Challis klappte das Notizbuch zu und wies auf den Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches. »Für Sie immer.« »Sie haben doch nie geglaubt, dass Munro den Einmischer und seine Frau erschossen hat, richtig?« »Richtig.« »Glauben Sie, er hat Janet Casement erschossen?« »Alle anderen scheinen das zu glauben.« Challis verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Der Superintendent hat mir das praktisch in den Mund gelegt. ›Gute Arbeit, Hal‹, hat er auf seine großspurige Art gesagt.« Ellen grinste ihn an, ihr Gesicht verlor seinen Ernst und wirkte für einen kurzen Augenblick ironisch, sympathisch, respektlos. »Ich denke, wir können Carl Lister mit auf die Liste setzen«, sagte Ellen. Challis nickte langsam: »Fahren Sie fort.« »Er ist im Nebenberuf Kredithai.« »Ach ja.« »Folgende Information ist vertraulich. Es geht dabei um einen unserer uniformierten Leute, und ich möchte nicht, dass diese 267
Person in unnötige Schwierigkeiten gerät.« Challis starrte sie an und zuckte dann mit den Schultern. »Das ist Ihre Sache, Ellen.« »Pam Murphy.« »Gute Polizistin«, sagte Challis. »Das haben Sie schon öfter gesagt. Die Sache ist, nun, sie scheint ein wenig in Schwierigkeiten geraten zu sein.« »Fahren Sie fort.« »Sie hat sich von Lister Geld für ein neues Auto geliehen. Kam mit den Ratenzahlungen in Verzug, also hat ihr Lister freundlicherweise ein Arrangement angeboten.« Challis runzelte die Stirn. »Sex? Was hat das mit den Schießereien zu tun?« Er sah, wie es Ellen schauderte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Murphy einwilligt, mit diesem Kerl zu schlafen. Nein, im Austausch für Informationen wollte Lister mit den Ratenzahlungen runtergehen. Kurz gesagt, wollte er polizeiinterne Informationen zur örtlichen Drogenszene.« Challis drehte sich mit seinem Bürostuhl um, starrte gedankenverloren zum Fenster hinaus und spielte mit seiner Kaffeetasse. »Und Sie glauben, dass Munro ihm auch Geld geschuldet hat?« »Worauf Sie wetten können.« »Hat die Ratenzahlungen nicht geschafft, also hat Lister ihm gesagt, er soll Marihuana anbauen.« »Genau.« Challis drehte sich zurück. Er spürte, wie sein Interesse wuchs. »Der Einmischer hat irgendwie Wind davon bekommen, hat sie vielleicht erpresst oder wurde dabei ertappt, wie er herumschnüffelte, also hat Lister ihn und seine Frau erschossen.« »Das Ganze war eher ein Lister-Mord als ein Munro-Mord, falls Sie verstehen, was ich meine«, sagte Ellen. »Sauber durchgeführt und so weiter und so fort.« 268
»Sie können ihn nicht leiden, stimmts?« »Noch nie. Von Anfang an nicht. Ich glaube, er hat seinen Sohn in den Verkauf und die Verteilung der Drogen eingespannt, an der Universität und wahrscheinlich auch in der örtlichen Rave-Szene, Partys und so weiter. Ich glaube, er wollte wissen, was wir wissen, um uns immer einen Schritt voraus zu sein oder um die Konkurrenz ausschalten zu können. Ich fand ihn immer sehr berechnend. Munro war eher hitzköpfig. Munro neigte stets dazu, zu explodieren.« »Hat Pam Murphy Lister nützliche Informationen geliefert?« »Sie sagt nein – nichts Wichtiges zumindest. Sie habe ihm ein paar der bekannten Junkies genannt, mehr nicht. Aber sie sagt auch, dass Lister unangenehm wurde und angefangen habe, Druck auf sie auszuüben.« »Und dann kam sie zu Ihnen?« Ellen nickte. »Und Sie glauben, Lister hat auch Kitty umgebracht?« »Das ergäbe doch einen Sinn, oder nicht?« »Ja, wenn sie wegen der Fotografie ermordet wurde.« »Und was, wenn es nicht nur das Foto war?« »Hören Sie, Ellen, Kitty ist tot, ich fühle mich mies deswegen, aber es ist nicht so, als wäre jemals was zwischen uns gewesen, ganz gleich, was Sie denken. Also bitte, wenn Sie glauben, sie hat da mitgemischt, dann sagen Sie es auch.« »Ich habe nie gedacht, dass Sie was mit ihr gehabt haben könnten. Wirklich nicht. Aber man konnte erkennen, dass Sie sie mochten.« »Okay, ich mochte sie. Aber ich wusste nicht viel über sie, deshalb weiß ich auch nicht, warum sie ermordet wurde. Also legen Sie schon Ihre Theorien auf den Tisch, um Himmels willen.« Ellen verzog kurz das Gesicht und sagte dann: »Nun, wir sind das schon mal durchgegangen, mehr oder weniger. Kitty gerät unschuldig hinein. Sie verkauft Munro das Foto, ohne zu 269
wissen, was darauf zu sehen ist. Munro sagt es Lister, die Sache schwelt eine Weile vor sich hin, und am Ende beschließt er, sie zu beseitigen.« »Schon komisch, dass er dann erst versucht, ihr Flugzeug zu rammen.« »In mancherlei Hinsicht schon, aber dabei taucht dieselbe Masche auf, die Polizei in die Irre führen zu wollen, wie bei dem Mord-Selbstmord des Einmischers und seiner Frau. Vielleicht hoffte er, wir würden glauben, es handle sich um betrunkene Kids, die sich mit einem gestohlenen Wagen amüsieren, und eine Menge Zeit mit Untersuchungen in dieser Richtung vergeuden.« Challis nickte. »Ich verstehe. Aber dann wurde sie doch nur einfach erschossen. Daran ist nichts Kompliziertes oder Zweideutiges.« »Nachahmer«, sagte Ellen. Challis spürte, wie es in ihm rumorte. Er stützte sich mit den Unterarmen auf den Schreibtisch. Eine Wolke schob sich vor die Sonne und verdunkelte sein Fenster, bevor es wieder mit Herbstlicht übergossen wurde. »Also, Lister sieht das folgendermaßen: Munro ist ausgeflippt. Er tobt mit einer Schrotflinte durch die Gegend und hat sie bereits auf Menschen abgefeuert, die er hasst. Da könnte man Munro doch noch einen Mord anhängen. Die Polizei wird ihn sowieso umlegen, und wenn nicht, glaubt eh jeder, dass er Kitty erschossen hat.« Ellen nickte. »Aber warum?«, fragte Challis. »Das ist doch die Frage.« »Das Foto.« »Da brauche ich aber mehr. Kitty hat Munro das Foto schon vor Monaten gezeigt. Warum sollte Lister jetzt Angst davor haben?« »Das hatten wir auch schon. Kitty weiß, was darauf abgebildet ist, und erpresst Munro, der es Lister sagt, oder sie beklaut sie oder kauft sich bei ihrem kleinen Geschäft ein.« 270
Nicht die Kitty, die ich kenne, wollte Challis sagen. Sie schwiegen. Dann fuhr Ellen fort: »Haben wir genug in der Hand, um einen Durchsuchungsbefehl für Listers Grundstück zu kriegen?« »Bei weitem nicht.« »Können wir denn wenigstens mal hinfahren und mit ihm reden?« Challis griff nach seiner Jacke. »Wüsste nicht, was dagegen spricht.« Unterwegs in seinem Triumph, sagte Challis: »Was studiert denn der Sohn?« »Chemieingenieurwesen.« »Chemie?«, fragte Challis gedehnt. Er spürte die Stille in Ellen und fuhr fort: »Der Vater hat Verbrennungen im Gesicht und an den Armen.« Ellen nickte. »Laborunfall«, sagte sie. »Ich habe seinen Namen bei der Drogenfahndung durchlaufen lassen, aber dort kennt ihn keiner.« »Das heißt noch gar nichts. Er hat gut aufgepasst, mehr nicht. Nur nicht mit den guten alten Bunsenbrennern.« »Bunsenbrenner«, wiederholte Ellen. »Herrje, das versetzt mich um Jahre zurück.« Sie ließ sich in ihren Sitz sinken und sah zu Challis hinüber. »Haben Sie jemals eine Highschool besucht, ich meine, zu einem Vortrag oder so?« Challis nickte. »Die riechen alle gleich. Schweißsocken, Chemielabor, Hormone.« »Kreide, Edding, Tampons, Putzmittel.« Sie kamen an Carl Listers Tor. Challis drückte auf die Gegensprechanlage und kündigte sie beide an. Kurze Zeit später erschienen die beiden Listers, Skip kam ums Haus, Carl Lister durch die Eingangstür. »Interessant«, murmelte Challis. »Glauben Sie, Skip war im Labor? Und Lister hat ihn gewarnt, er solle rauskommen?« 271
»Schon möglich. Mal sehen, ob uns Lister erlaubt, mal ein wenig auf dem Grundstück herumzuspazieren.« Lister kam vor seinem Sohn am Tor an und fragte: »Was kann ich für Sie tun?« Er schaute ins Auto. »Hi, Ellen.« Dann trudelte Skip ein. Er wich ihren Blicken aus und murmelte nur: »Hallo, Mrs. Destry.« »Hallo, Skip.« Challis sah, wie sie den Jungen streng anblickte, und hörte sie dann sagen: »Larrayne würde sich freuen, wenn du sie mal anrufen würdest.« Skip wand sich unter dem gestrengen Blick und scharrte mit der Schuhspitze im Kies. »Was können wir für Sie tun?«, fragte Carl Lister erneut. »Könnten wir wohl hereinkommen und kurz mit Ihnen sprechen?« »Worüber? Ich bin gerade beim Laubharken – der ganze Rasen ist voll –, und dann bin ich mit einem Klienten verabredet, ich habe also nicht allzu viel Zeit, um …« »Es dauert nicht lange. Wär doch besser, als sich durchs Tor anzubrüllen«, sagte Ellen. Lister wechselte kurz einen Blick mit Skip. »Räum bitte den Rechen weg, mein Sohn.« Skip runzelte die Stirn, dann erhellte sich sein Gesicht, und er schlenderte mit den Händen in den Hosentaschen zur Rückseite des Hauses. Doch er war zu angespannt, ging ein wenig zu schnell, als dass es lässig hätte wirken können. Challis schaute ihm hinterher, wie er am Haus entlangging und verschwand. Erst danach öffnete Lister das Tor und ließ den Triumph hinein. Er ließ das Tor offen, so als rechne er nicht damit, dass sie lange blieben. Challis fuhr an ihm vorbei die Zufahrt entlang und hielt vor der Haustür. Er stieg aus, Ellen tat es ihm nach, gerade als Lister bei ihnen eintraf. Der chemische Geruch war hier stärker, und Lister, der dies offensichtlich bemerkte, sagte: »Kommen Sie rein ins Warme. Die Tage werden langsam kalt, ist Ihnen das auch aufgefallen?« 272
»Vielleicht sollten wir einen kurzen Spaziergang machen«, sagte Ellen, »um den Kreislauf in die Gänge zu bekommen.« Lister quälte sich ein Lachen ab. »Was? Und meine Blätter wieder durcheinander bringen, die ich alle zu hübschen Häufchen zusammengerecht habe? Nein, nein, kommen Sie herein.« Sie traten auf die Veranda. Plötzlich gab es ein Geräusch, gedämpft, aber erkennbar eine Explosion. Die Erde bebte, eine kleine Druckwelle erreichte sie, und als Challis zur Rückseite des Hauses rannte, sah er gerade noch beißenden Rauch aus einem Spalt im Boden dringen. Dann gab es eine weitere Explosion, ein Stück von einer Betonplatte löste sich aus dem Gras, und noch mehr Qualm entwich. »Skip!«, schrie Lister und rannte los. Später meinte Ellen zu Challis, in der Stimme habe mehr Schmerz gelegen, als sie für möglich gehalten habe.
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44 »Und es gibt keinen Zweifel?«, fragte Scobie am Samstagmorgen, diesmal vom Beifahrersitz aus. »Keinen«, sagte Challis. »Lister hat gestanden, und trotz der Explosion lassen sich genug Beweise finden. Eine Pillenpressmaschine, eimerweise Pulver, Farbstoff, Grippetabletten, was immer Sie wollen.« »Und der Junge?« »Schwere Verbrennungen, aber er wird überleben, wenn auch nur knapp.« Sutton schüttelte den Kopf. »Verbrennungen. Davor habe ich am meisten Angst, dass Roslyn sich mit einem Topf überbrüht oder mit Streichhölzern spielt, und ihre Kleidung fängt Feuer.« Challis schweifte mit den Gedanken ab. Lister, der erst bis an den Rand des Zusammenbruchs erschüttert war und dann vor lauter Schuldgefühlen zusammenbrach, hatte ihnen gestern alles gestanden. Ja, er hatte in einem unterirdischen Labor hinter dem Haus Amphetamine hergestellt. Skip hatte ihm geholfen. Er war nicht besonders stolz auf diese Tatsache. Er war kein guter Vater. Er hatte den Jungen dazu gebracht, ihm zu helfen, hatte den Jungen in einer Atmosphäre gerissener Geschäftemacherei aufgezogen. Ellen war herausgeplatzt: »Meine Tochter hat ihn geliebt.« Lister hatte den Kopf hängen lassen. »Ich weiß. Und ich glaube, er auch. Aber er hatte Schuldgefühle. Er …« Challis unterbrach die beiden. »Erzählen Sie uns von Ihren Verbrennungen.« Eine Laborexplosion vor ein paar Jahren, erklärte Lister. Damals hatte er noch in Sydney gelebt. Diesmal hatte er geglaubt, es sei sicherer: besseres Know-how, bessere Ausrüstung, Skips Universitätsausbildung. 274
Dann war Lister zusammengebrochen, und sie mussten die Befragung aussetzen. Als er später ein leichtes Beruhigungsmittel bekommen hatte, packte er weiter aus … Ja, er war ein Kredithai. Wenn jemand mit den Rückzahlungen in Verzug kam, handelte er mit ihm etwas aus. Eine Hand wäscht die andere. »Ian Munro?« »Der hat für mich Marihuana angebaut. Er sprang gleich voll auf die Idee an. Unsicherer Kantonist. Ich hätte niemals …« »Haben Sie geerntet? Verkauft?« Lister hatte verneinend den Kopf geschüttelt. »Als dieses Luftbild auftauchte, hab ich alles niedergebrannt.« »Musste Janet Casement deswegen sterben? Weil sie eine undichte Stelle war? Wozu so lange warten?« »Ich wollte es ignorieren, aber es hat die ganze Zeit in mir genagt. Außerdem wurde Munro immer unzuverlässiger, und ich dachte, wenn er verhaftet wird, weil er jemanden von der Kommune niederschlägt oder was auch immer, dann fängt die Polizei vielleicht an, herumzuschnüffeln.« »Es wäre besser gewesen, Munro umzubringen, nicht Janet Casement.« »Das können Sie laut sagen.« »Und warum haben Sie versucht, ihr Flugzeug zu rammen? Warum haben Sie sie nicht gleich erschossen?« »Ich wollte, dass es wie ein Unfall aussah. Ich meine, dass vielleicht ein Betrunkener oder ein Junkie dafür verantwortlich war. Das wirkte nicht so verdächtig.« »Wie sich herausstellte, wirkte das sogar sehr verdächtig«, sagte Challis zu ihm. »Zumindest von meinem Standpunkt aus. Wer ist gefahren? Sie? Munro?« »Munro wusste nichts davon. Nein, ich wars.« »Ganz schön hohes Risiko«, sagte Ellen rundheraus. Lister zuckte mit den Schultern. »Ich wollte erst einen Junkie 275
anheuern, aber das Risiko wäre noch höher gewesen.« »Und als das nicht funktionierte, haben Sie Munro beauftragt, sie zu erschießen«, sagte Challis, »oder waren Sie das auch?« Lister schüttelte verwirrt den Kopf. »Das war ich nicht, ganz ehrlich. Muss wohl Munro gewesen sein, oder? Ich meine, er hat seinen Anwalt umgelegt, was er mir gegenüber schon vorher angedroht hatte; ich habe versucht, es ihm auszureden. Vielleicht hat er auch das Pärchen erschossen und diese Casement, keine Ahnung. Er hat nie ein Wort von ihnen gesagt, und ich habe ihn nie dazu angestiftet.« »Na, wie praktisch«, sagte Ellen. »Sie gestehen das geringere Verbrechen, den Mordversuch, aber nicht, dass Sie tatsächlich bei einem Mord beteiligt waren. Jetzt haben Sie es sich anders überlegt, hm? Jetzt tut es Ihnen Leid, dass sie in dem Augenblick, als Ihr Sohn beinahe umkommt, alles gestehen, jetzt versuchen Sie, verlorenen Boden wieder gutzumachen, stimmts? Sie widern mich an, Mr. Lister.« Carl Lister sah sie mit feuchten Augen und erschüttertem Gesichtsausdruck an und sagte: »Ich weiß. Sie sollten einfach den Schlüssel wegwerfen. Aber ich weiß wirklich nichts von den Morden, von keinem einzigen davon.« »Und das ist der jetzige Stand der Dinge«, sagte Challis; Scobie saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. »Ich frage mich, wie Ellens Tochter das verkraftet«, sagte Scobie. Er saß mit einem Finger im Straßenverzeichnis da und reckte seinen langen, schmalen Kopf nach den vorbeihuschenden Straßenschildern. »Offenbar nicht besonders gut«, sagte Challis. »Deshalb hat sie sich ja den Tag freigenommen.« »Wenn man sich nur das Leid vorstellt, dass dieser Kerl verursacht hat.« »Lister oder der Sohn?« »Lister, hauptsächlich.« 276
»Wo waren Sie am Ostersamstag?«, hatte Challis Lister gefragt. Lister hatte den Kopf zur Seite geneigt. »Sie meinen den Strand, richtig? Ich dachte mir doch, dass ich die Reporterin wiedererkannt habe, neulich bei Munros Haus. Wir sind an den Strand gefahren, um eine Lieferung Grippetabletten aufzusammeln, die mit einem Schiff aus Queensland geliefert werden sollte, das ist sicherer als auf der Straße. Wir hatten nicht mit Sturm gerechnet.« Dann hatte Ellen ihn nach Pam Murphy ausgefragt. Lister winkte ab. »Sie hat mir nichts verraten, was ich nicht sowieso schon gewusst habe.« »Sie ist zu mir gekommen und hat die Erpressung gemeldet.« »Na und?« »Und ich möchte nicht, dass Sie das in irgendeiner Weise ausschlachten. Ihrer Verteidigung wird das nichts nützen, sondern nur noch alles verschlimmern; es wird so aussehen, als hätten Sie versucht, eine Polizistin zu erpressen.« Lister hatte mit den Schultern gezuckt. »Ich hab nichts gegen sie. Schnee von gestern.« Ohne weiter darauf einzugehen, fügte er an: »Ich fühle mich beschissen wegen Skip, können Sie das nicht verstehen? Ich möchte mir alles von der Seele reden.« Ellen hatte ihn ungläubig angestarrt. »Constable Murphy wird ihren Wagen verkaufen und den Kredit zurückzahlen.« Lister, der nun offenkundig erschöpft war, hatte sich das Gesicht gerieben. »Das werde ich wohl brauchen können, denke ich. Anwaltskosten. Krankenhausrechnungen.« »Sie widern mich an«, hatte Ellen gesagt. Challis erzählte nichts davon Scobie Sutton. Sutton würde zwar nicht plaudern oder diese Information anderweitig missbrauchen, aber die Geschichte mit Pam Murphy sollte besser unentdeckt bleiben. »Hier sind wir richtig«, sagte Sutton, »die nächste rechts.« Sie hatten den Peninsula Freeway bis Frankston genommen 277
und waren dann hinüber zum Nepean Highway gefahren, der die Bucht einen Block vom Wasser entfernt umrundete, das man ab und zu durch die Seitenstraßen blitzen sah. Trotz des Wassers war dies ein trostloses Stadtviertel: flach, sonnendurchglüht, die Häuserzeilen, die nur ab und zu durch hässliche italienisch wirkende Villen mit ihren Terrakottafliesen und weißen Gipssäulen unterbrochen wurden, die in der Herbstsonne blendeten, ähnelten sich zu sehr. Challis bog rechts ab durch den fließenden Verkehr in eine enge Straße, die einen Bogen schlug, an dem eine Reihe von dreigliedrigen verklinkerten Häusern aus den Fünfzigerjahren stand. Hausnummer vierzig hatte cremefarbene Klinker, der Rasen war verdorrt, im Carport neben dem Haus stand ein Mazda 121. »Jemand zu Hause«, murmelte Sutton. Challis schüttelte irritiert den Kopf. Er hätte sich nicht die Mühe der langen Fahrt gemacht, wenn er das nicht vorher überprüft hätte. Louise Cook war um die vierzig, hatte karottenrote Haare ohne jede Fasson und das trockene, faltige Gesicht einer Kettenraucherin. Sie hustete stark und führte sie eilig ins Wohnzimmer, so als müsse sie dringend wieder zu ihrem Lehnsessel, dem Beistelltisch und dem Aschenbecher. Dann stand sie wieder auf und sagte atemlos: »Tee? Kaffee?« »Nichts, danke«, sagte Challis mit fester Stimme. Er wollte nicht allzu lange bleiben und sah, wie Louise Cook sich erleichtert zurücksinken ließ und ihn erwartungsvoll ansah. »Sie wollen etwas über Trevor wissen?« »Sie sind doch 1999 mit ihm nach England gegangen.« »Ja.« »Aber Sie sind zurückgekommen, und er ist dort geblieben.« »Ja. Er war aus London, aber ich bin von hier, und ich bekam Heimweh. Außerdem war es in London viel zu kalt und zu teuer.« 278
»Haben Sie seitdem Kontakt gehabt?« »Immer mal wieder. Wir haben uns recht freundschaftlich getrennt. Keine große Leidenschaft und so.« »Was können Sie mir über Billings erzählen, den Mann, der Trevors Mietvertrag für das Haus in St. Kilda übernommen hat?« »Er war ein ziemlich übler Finger. Als ich nach Australien zurückkam, wollte ich nur für eine Weile ein Zimmer haben, bis ich wieder auf die Beine gekommen war. Der Mistkerl hat mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.« »Und davor? Als Trevor Hubble und Sie ihn kennen lernten, bevor Sie nach London gegangen sind?« »Trevor und ich hatten ein Teppichreinigungsgeschäft. So haben wir Billings kennen gelernt. Wir unterhielten uns, freundeten uns an, Trevor und er kamen aus derselben Gegend in London, also hatten sie vieles gemeinsam, und am Ende investierte er in unser Geschäft, sodass wir es uns leisten konnten, nach England zu gehen. Er behielt die finanzielle Kontrolle, so ungefähr.« »Was ist aus dem Geschäft geworden?« Cook gestikulierte. »Wenn ich das wüsste. Wir haben ihm aus England geschrieben, aber er hat nie geantwortet. Und als ich zurückkam und ihn sprechen wollte, hat er mir die Tür vor der Nase zugeschlagen.« »Aber zu Anfang war er freundlich und hat Ihnen Geld geliehen?« »Mehr oder weniger, ja. Alles ganz legal.« »Ich bin an der finanziellen Seite nicht interessiert«, sagte Challis, »zumindest nicht ausschließlich. Erzählen Sie mir mehr von Billings.« »Wie schon gesagt, er war recht freundlich, generös, bot uns an, für uns auf das Geschäft aufzupassen. Ich weiß, dass Trevor jede Menge Papierkram bei ihm gelassen hat.« »Welche Art Papierkram?« 279
»Bankunterlagen und all so Zeugs. Dokumente. Um darauf aufzupassen und so weiter.« Sie wies auf Scobie Sutton. »Und was ist mit dem da? Spricht er nicht? Ist er Ihr Boss oder so was?« Sutton, der die ganze Angelegenheit mit den aktiven Konten und Rechnungen auf Hubbles Namen herausgefunden hatte, lächelte sie müde an und fragte: »Wann haben Sie Mr. Hubble zum letzten Mal gesehen?« »Wie ich schon sagte, als ich mich in London von ihm verabschiedet habe.« »Und danach sind Sie in Kontakt geblieben?« »Ein paar Briefe«, murmelte sie. »Ein paar Telefonate. Er schien nicht sehr glücklich zu sein.« »Dass Sie ihn verlassen haben?« »Nein, na ja, vielleicht, aber hauptsächlich, weil er in London unglücklich war. Zu teuer, keine anständige Arbeit, konnte kein Geschäft eröffnen, keine Familienangehörigen mehr, keine Freunde, die diesen Namen verdient hätten.« Jetzt wusste Challis zumindest, warum ihn in beiden Ländern niemand als vermisst gemeldet hatte. »Also kam er zurück nach Australien?« Louise Cook zuckte mit den Schultern, was ihren Husten nur noch zu verschlimmern schien. Sie warteten, bis sie sich ausgebellt hatte, und machten sich schon Sorgen, sie könnte ihnen unter den Händen wegsterben, so mitgenommen wirkte sie nach dem Hustenanfall. »Ich weiß nur, er sagte, er wolle vielleicht wieder herkommen und dort weitermachen, wo er aufgehört hatte.« »Teppiche reinigen?« »Vermutlich.« »Hat er Billings Bescheid gegeben?« Sie zuckte mit den Schultern. »Das nehme ich an.« »Und was ist mit Ihnen? Wollten Sie nicht wieder in das Geschäft einsteigen?« 280
»Ich hatte da ja kein Geld drin stecken. Außerdem waren Trevor und ich fertig miteinander, und von den Chemikalien hab ich Ausschlag gekriegt, und ich hatte jemand anderen kennen gelernt.« Sie schien den Kopf in Richtung Flur zu senken, der zu den hinteren Räumen führte. »Wir leben zusammen. Er ist auf Arbeit. Er hat Trevor oder Billings nie gesehen, falls Sie ihn fragen wollen.« Challis schüttelte den Kopf. Er beugte sich vor. »Also ist es durchaus möglich, dass Trevor Billings mitgeteilt hat, er wolle nach Australien zurückkehren.« Cook zuckte kaum mit den Schultern. »Haben Sie ein Foto von Trevor Hubble?« »Irgendwo.« »Und irgendwas, das er angefasst hat, ein Fotoalbum, ein Buch …« Sie runzelte die Stirn. »Ich muss mal schauen, aber wozu? Was hat er angestellt?« »Nichts, soweit wir wissen.« »Aber das hört sich doch so an, als wollten Sie seine Fingerabdrücke. Und dann noch ein Foto …« »Zur Identifizierung«, sagte Scobie. Sie starrte ihn an und sagte schließlich: »Sie haben eine Leiche gefunden.« »Ja«, sagte Challis sanft, »in der Bucht.« Louise Cook war ganz aufgeregt und zuckte hustend in ihrem Sessel herum, bekam ein rotes Gesicht und schnappte nach Luft. »Billings hatte ein Boot.« »Ach, wirklich?« »Verhaften Sie den Mistkerl.« »Wissen Sie, wo er ist?« »Nein.« »Können Sie uns irgendwas über ihn erzählen? Tätigkeiten, Gewohnheiten … irgendwelche Fotos?« Sie brütete eine Weile, hielt sich den Brustkorb und keuchte 281
ein wenig. Dann sah sie auf. »Ich hab hier irgendwo seine Handynummer.« Schließlich war es Sutton, der aufstand und für sie in die Küche ging und mit einem fettfleckigen Adressbuch zurückkehrte. Er schlug unter »Billings« nach und schrieb die Nummer in sein Notizbuch. »Versuchen Sie mal«, sagte Challis. »Hat wahrscheinlich schon längst die Nummer gewechselt, den Vertrag gekündigt, den Anbieter gewechselt.« »Heutzutage kann man seine Nummer doch behalten, selbst wenn man den Anbieter wechselt«, sagte Louise Cook und beobachtete sie mit aufklarendem Blick. Es macht ihr Spaß, dachte Challis. »Lassen Sie mich mal«, sagte er und zog sein Handy aus der Tasche. Scobie las ihm die Nummer vor, Challis wählte, und dann krächzte eine ruhige britische Stimme in seinem Ohr: »Rex Casement.«
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45 Als Challis wieder in der Einsatzzentrale in Waterloo war, rief er Ellen an und teilte ihr mit, dass sie zu einer dringenden Einsatzbesprechung kommen müsse. Und als sie alle beisammen waren, sagte er ihnen, wie er den Fall Casement sah. »Also«, schloss er, »wir haben ihn erwischt, weil er seine alte Handynummer behalten hat.« Sie schüttelten die Köpfe. Immer wieder kam ihnen so etwas unter, Variationen von Kellocks Theorie über das Falschparken. »Und er hat einfach seinen Namen genannt?«, fragte Ellen. »Ja.« »Und wie behält er die Übersicht über seine verschiedenen Persönlichkeiten?« »Der Bursche ist konzentriert. Das muss er auch sein.« »Abgesehen von der alten Telefonnummer.« »Abgesehen davon, ja.« »Und was hat er gesagt?« »Er war ziemlich zugeknöpft. Wollte wissen, woher ich seine Nummer hätte. Ich wollte erst sagen: Tut mir Leid, falsch verbunden, und auflegen, aber dann dachte ich, das würde nur noch verdächtiger wirken.« Also hatte Challis improvisiert und Casement gesagt, er tue nur seine Arbeit, er sitze in einem Callcenter zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Telefonisten und gehe zugunsten einer Wohltätigkeitsorganisation eine Liste von Handynummern durch. Von wem denn die Liste stamme, wollte Casement wissen. Das wisse er nicht, hatte Challis erwidert, er tue nur seine Arbeit, aber vielleicht habe die Telefongesellschaft die Liste verkauft. »Mistkerle«, hatte Casement gesagt. »Und dann habe ich mich entschuldigt und schnell aufgelegt.« »Ihre Stimme hat er nicht erkannt?« 283
»Ich glaube nicht. Jedenfalls nicht in dem Zusammenhang.« »Und wer ist Casement?« »Ich habe bei Scotland Yard nachgefragt und sie gebeten, unter den Namen Casement und Billings nachzuschauen. Angesichts der Tatsache, dass er echte Papiere verwendet hat, um unter beiden Namen zu agieren, ist es durchaus möglich, dass es sich um tatsächlich existierende Personen handelt – lebendige oder tote.« »Also nehmen wir ihn unter die Lupe, weil er seine Frau umgebracht haben könnte?« »Und Trevor Hubble«, sagte Challis und setzte sich auf den Tisch neben der Pinnwand. »Kümmern wir uns als Erstes um den Fall Hubble. Gehen wir davon aus, dass Casement auf der Flucht ist. Er kommt unter dem Namen Billings nach Australien, lernt Hubble kennen und nimmt dessen Identität an, nachdem Hubble Heimweh kriegt und nach England zurückkehrt. Doch Hubble wird erneut ruhelos und kommt wieder nach Australien, also fühlt sich Casement/Billings bedroht. Er macht mit Hubble eine Fahrt auf seinem Boot, bringt ihn um, verlässt das Haus in St. Kilda und zieht auf die Halbinsel. Er lernt Kitty kennen, und die beiden heiraten. Die Ehe bietet Schutz und verleiht ihm die dringend benötigte Legitimität.« Challis hielt inne. »Wir brauchen Beweise. Sein Boot, zum Beispiel. Wir wissen von Louise Cook, dass er eins hatte. Hat er es immer noch? Wo liegt es? Kriegen wir einen Durchsuchungsbefehl für das Boot? Hubbles Fingerabdrücke wären nicht schlecht.« »Global Positioning System«, sagte Scobie unvermittelt. »Kann ich das mal für Uneingeweihte haben?«, fragte van Alphen, der für eine Weile von Kellock abgestellt worden war. »Das hat was mit Navigation zu tun. Es sagt einem, wo die Jacht gewesen ist und wann.« Challis wies auf van Alphen. »Van, ich möchte, dass Sie die Jacht finden, einen Durchsuchungsbefehl erwirken und diesen 284
globalen Schnickschnack von der Jacht untersuchen. Dann wäre da noch die Frage nach dem Anker, der dazu verwendet wurde, um Hubbles Leiche zu versenken. Ist der schon wieder aufgetaucht?« Sie schüttelten die Köpfe, so als könne sie nichts mehr überraschen. Wer vermisste schon einen Anker? Wer brauchte ihn denn jemals wieder? Polizisten unterschlagen nun mal Beweisstücke, stehlen oder verkaufen sie. »Danach dann Janet, seine Frau«, fuhr Challis fort. »Gut möglich, dass sie zu neugierig geworden ist oder herausgefunden hat, wer er war, oder aber sie war vielleicht von Anfang an eingeweiht und wurde zum Risiko. So oder so handelt es sich um einen Gelegenheitsmord, denn den konnte man ja Munro in die Schuhe schieben.« »Vielleicht hatte sie unerwünschtes polizeiliches Interesse aufs Haus gezogen«, sagte Ellen. »Zum einen, als Lister ihr Flugzeug rammte, zum anderen, als wir das Foto fanden.« Van Alphen lachte spöttisch auf. »Also bringt er sie um und macht dadurch erst recht die Polizei auf sich aufmerksam?« »Aus Anteilnahme, nicht aus Argwohn«, sagte Challis. »Außerdem könnte ihm das in anderer Hinsicht nützlich gewesen sein. Scobie, ich möchte, dass Sie sich die Finanzen der Casements anschauen. Hatte er eigenes Geld? Hatte Kitty welches? Erbt Casement? Wenn ja, wie viel? Hat er in letzter Zeit Lebensversicherungen für seine Frau abgeschlossen? Und so weiter.« Scobie und die anderen wollten schon ihre Akten zuklappen und gehen, doch Challis hob die Hand. »Noch nicht. Da ist noch die Sache mit dem Einmischer und seiner Frau.« Er sah in skeptische Gesichter. »Noch ein wenig Geduld. Lister hat uns gesagt, dass er sie nicht erschossen und auch niemanden angeheuert hat, es zu tun, und ich glaube ihm. Er sagte auch, dass Munro davon gesprochen habe, den Anwalt umzubringen, aber nicht davon, den Einmischer und seine Frau 285
zu erschießen. Warum sollte er sich deswegen zieren? Er hat auch Lister gegenüber kein Wort darüber verloren, Janet Casement erschießen zu wollen. Ich glaube, Rex Casement landet ganz oben auf der Liste der Verdächtigen im Fall des Einmischers.« »Motiv?« »Wir reden hier vom Einmischer. Er ist den Leuten auf die Nerven gegangen. Er hat sie verpfiffen oder damit gedroht. Was, wenn er herausgefunden hat, wer Casement in Wahrheit war?« »Und warum hat er es dann nicht der Polizei gemeldet?« »Enttäuschung?«, erwiderte Challis. »Gier? Vielleicht glaubte er, er könne irgendwie Profit daraus schlagen, eine kleine Erpressung vielleicht. Er versucht es nicht bei jemandem, der Müll wegwirft oder seine Schafe nicht füttert, aber Casement ist ein ganz anderes Kaliber. Wenn er unter falschem Namen lebt, geht es wahrscheinlich um etwas Großes, vielleicht Betrug – jedenfalls etwas, bei dem sich Erpressung lohnen würde.« »Also müssen wir erst Scotland Yard abwarten?« »Und wir müssen nochmal das Haus der Pearces durchsuchen, falls da jemand geschlampt hat«, sagte Challis. »Ellen, Sie kommen mit. Die anderen wissen ja, was sie zu tun haben.« Challis und Ellen Destry überquerten gerade den Parkplatz, als sein Handy klingelte. »Inspector Challis? Sie haben mir Ihre Nummer gegeben, nur für den Fall.« »Wer spricht denn da?« »Louise Cook.« »Ja, Louise?« »Ähm, ich glaube, ich habe eine Dummheit begangen. Aber ich war so wütend.« Challis verkrampfte innerlich in Erwartung dessen, was jetzt kam. »Was haben Sie angestellt?« »Ich habe die Handynummer angerufen, die ich Ihnen gegeben 286
habe. Billings ging ran, es war ganz bestimmt er, obwohl er einen anderen Namen genannt hat.« »Und?« »Und ich bin wütend auf ihn geworden. Hab ihm gesagt, ich wüsste, wer Trevor umgebracht hat.« »Himmel.« »Hören Sie, es tut mir wirklich Leid. Ich wollte nur …« »Wann?« »Was?« »Wann zum Teufel haben Sie ihn angerufen?« »Sie brauchen nicht gleich ausfallend zu werden. Ich hab doch das Richtige getan, ich habe Sie sofort angerufen, nachdem ich gemerkt habe, dass er es ist.« »Aber nun haben Sie ihn gewarnt, jetzt wird er zu flüchten versuchen, und Ihr eigenes Leben ist auch noch in Gefahr. Verdammt.« »Was? Was meinen Sie damit?« Challis zwang sich, ruhig zu bleiben. »Ich hoffe, Sie haben ihm nicht gesagt, wo Sie wohnen. Oder dass Sie von ihm Schweigegeld wollen.« »Wenn das der Dank ist für …« »Wiederhören«, sagte Challis, steckte sein Telefon in die Tasche und sagte zu Ellen: »Jetzt aber los.«
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46 »Wie gehts John Tankard?« »Ganz gut so weit«, antwortete Pam Murphy. Sie fuhr, Challis saß neben ihr, van Alphen und Ellen auf dem Rücksitz. »Geht er zur Gesprächstherapie?« Challis spürte ihren wachsenden Widerstand. Sie schützt ihre Leute, dachte er. Diese Art von Fragerei gefällt ihr nicht. Sie fuhr schnell, aber sehr gut, nahm die Küstenstraße in Richtung Penzance Beach und dann den Abzweig Richtung Upper Penzance und lenkte ihn vom Thema ab. »Wird Casement fliehen, Sir?« »Das hat er schon mal gemacht. Er wird einen Notfallplan haben, eine neue Identität, in die er schlüpfen kann.« »Glauben Sie, er ist zu Hause?« »Das hoffe ich, aber fahren Sie trotzdem, so schnell Sie können.« »Ist er bewaffnet?« »Gut möglich.« Sie waren auch bewaffnet. Und die bewaffnete Nachhut rollte ebenfalls an, sobald Senior Sergeant Kellock genug Uniformierte zusammentrommeln konnte. Unglücklicherweise lagen einige von ihnen mit Grippe darnieder, andere mussten sich um einen Auffahrunfall mit vier Fahrzeugen an der Kreuzung Myers Road und Coolart Road kümmern. Der Einmischer hatte Recht gehabt mit dieser Kreuzung: Warum zum Teufel hatte man dort nicht einfach Stoppschilder aufgestellt? Challis beobachtete, wie Pam Murphy bremste und mit einer kurzen Lenkbewegung in die Five Furlong Road abbog. Das Fahrmanöver wirkte ein wenig zu dramatisch, ein wenig zu forsch. Pam hatte auf ihrem letzten Posten öfter mit 288
Verfolgungsfahrten zu tun gehabt; sie war noch jung genug, um ein wenig angeben zu wollen. Sie wollte zum GIB, aber die Uniform erlaubte ihr auch noch den ganzen Spaß wie schnell fahren, Sirene anwerfen, der Welt sagen, sie solle ihr gefälligst Platz machen. »Verdammt, da ist er«, sagte Challis. In diesem Abschnitt war die Five Furlong Road schmal, ausgefahren, voller Schlaglöcher und tückischer Querrillen. Wenn sich zwei Fahrzeuge aus unterschiedlichen Richtungen begegneten, waren sie gezwungen, sehr langsam zu fahren und an den Rand auszuweichen, manchmal sogar mit den äußeren Rädern bis in den Graben, wenn dieser flach genug war. Dabei ging man durchaus das Risiko ein, mit dem Unterboden aufzusetzen, sich die Ölwanne aufzuschlitzen und den Auspuff abzureißen. Doch Casement, der den Mercedes-Kombi seiner Frau fuhr, bremste nicht, fuhr nicht ran, blieb nicht stehen. Pam fuhr ins Unterholz zwischen zwei Eukalyptusbäumen und ließ den Wagen über die ausgehärteten Lehmklumpen holpern, die der Straßenhobel dort hinterlassen hatte. Challis drehte sich um und schaute durchs Rückfenster hinter Casement her, der vorbeigeschossen war und eine dichte Staubwolke hinter sich herzog. Sie hörten kleine Steinchen gegen das Heck des Polizeiautos prasseln. »Schnell«, sagte Challis und bedauerte seine Bemerkung sogleich, denn das war ja offensichtlich. »Bin ich, Sir«, erwiderte Pam, die wegen seiner Bevormundung irritiert und verärgert wirkte. Sie sprintete los, suchte nach einem Farmtor, fuhr hinein und setzte zurück, als es plötzlich laut hupte. Bevor sie noch das Wendemanöver beenden und ihr Vorfahrtsrecht einfordern konnte, fuhr ein Telstra-Servicewagen vorbei, der schwer mit Leitern beladen war. Challis sah das schreckerfüllte Gesicht des Mechanikers, dann war der Wagen an ihnen vorbei, und sie krochen hinter ihm her. Der Fahrer schien darüber in Panik zu 289
geraten, dass die Polizei hinter ihm war und er sie behinderte. Also bremste er auf Schritttempo ab, doch der Straßenrand war zu weich, und die überhängenden Baumäste drohten ihm die Leitern herunterzureißen. Challis’ eigene Straße sah so ähnlich aus wie die Five Furlong Road. Mindestens einmal im Jahr rief er die Gemeinde an, um den Baumschnittdienst kommen zu lassen. Warum seine Nachbarn das nicht taten, wusste er nicht. »Werfen Sie die Sirene an«, forderte van Alphen von der Rückbank. »Schon gut«, sagte Challis. »Er weiß schon, dass wir hier sind, er wird anhalten, sobald er kann.« Pam Murphy warf ihm einen dankbaren Blick zu. Dann konnten sie endlich den Laster überholen und nahmen wieder Fahrt auf. Staub hing in der Luft. Sie kamen an der Kreuzung mit der Küstenstraße an, und Pam fragte: »Sir? Links? Rechts?« Challis fiel sofort die richtige Antwort ein. Es war etwas Offenkundiges, Ironisches an der Sache. »Zum Flugplatz. Wir wissen, dass er fliegen kann.« Pam lachte. »Ich habe so eine Vision, wir könnten ihn die Landebahn hinauf- und hinunterjagen.« Man könnte ihn in eine Ecke treiben, dachte Challis. Der Flugplatz Waterloo war T-förmig angelegt, Nord-Süd und OstWest. Viel Gras zwischen den Landebahnen und der Umzäunung, eher wie eine große offene Weidefläche mit Hangars an einer Seite, ein paar Tore, Maschendrahtzaun. »Und wenn er nicht dort ist?«, fragte Pam. »Ich mache besser Meldung«, sagte van Alphen, zog sein Handy aus der Tasche, murmelte, brüllte dann, um sich verständlich zu machen, klappte das Handy schließlich wieder zu und steckte es ein. »Hier in der Gegend kriegt man nie eine vernünftige Verbindung«, sagte er. »Die Halbinsel ist voller Funklöcher.« Die anderen kümmerten sich nicht um ihn. Pam donnerte mit dem Polizeiauto über die Küstenstraße nach Waterloo zurück. 290
Challis schätzte, dass sie auf der Five Furlong Road etwa zwei Minuten verloren hatten. Casement hatte Gas gegeben, als er sie sah. Er ging davon aus, dass sie hinter ihm her waren. Reichten zwei Minuten, um ein Flugzeug starklar zu machen? Welches Flugzeug? Die Cessna? Die wurde in einem anderen Hangar repariert. Challis wusste nicht, ob sie schon wieder startbereit war. Die Kittyhawk? Die Kittyhawk würde Casement zwar einen Geschwindigkeitsvorteil geben, aber man würde ihn überall erkennen, und außerdem kletterte man nicht einfach so mir nichts, dir nichts in ein altes Cockpit aus der Weltkriegszeit und tuckerte auf die Startbahn hinaus. Nach neun Minuten waren sie da. Wenn Pam Murphy ein sicheres Tempo vorgelegt hätte – von dem amtlich vorgeschriebenen ganz zu schweigen –, dann hätten sie mindestens eine Viertelstunde bis zum Flugplatz gebraucht. Sie bremste an der Schotterstraße außerhalb der Umzäunung, rutschte seitwärts vors Tor und schoss hindurch. Es war bereits später Nachmittag, der Flugplatz hatte seinen Betrieb für diesen Tag so ziemlich eingestellt, und es war offensichtlich, dass Casement nicht dort war. »Scheiße. Entschuldigung, Sir.« »Nicht stehen bleiben«, sagte Challis zu Pam. »Er wird in einen der Hangars gefahren sein.« Pam gab Gas, bretterte auf die Landebahn hinaus, und nun konnten sie eine offene Hangartür sehen und tief in den Schatten des Hangars den staubigen Mercedes. Pam bremste, sie stiegen aus, Challis wies sie ein. »Wir wissen nicht, wann die Verstärkung kommt. Also, Van und Ellen, Sie kontrollieren die Maschinen«, sagte Challis und wies auf das Dutzend kleinerer Flugzeuge, die auf einer freien Asphaltfläche hinter den Hangars standen. »Pam, Sie kommen mit mir. Seien Sie darauf gefasst, die Waffe ziehen zu müssen, aber erst warnen, das Übliche eben.« 291
Sie verteilten sich und begannen mit ihrer Suche. Fünf Minuten vergingen, dann zehn, und als sich die Abenddämmerung von Horizont zu Horizont ausbreitete und die Flugzeuge und die Hangars mit ihren Ecken und Nischen mit verwirrenden Schatten anfüllte, begann sich Challis zu fragen, ob sie nicht zu spät gekommen waren, ob Casement nicht schon in der Luft war, vielleicht den Piloten einer Maschine entführt hatte, die gerade abheben wollte. Zu blöd. Er hätte sich beim Bodenpersonal erkundigen müssen. Nun war der Arbeitstag des Bodenpersonals zu Ende. Er konnte sehen, wie sie sich nacheinander in einer zufälligen Prozession aus Familienkombis, Allradfahrzeugen und kleinen japanischen Limousinen in Richtung Tor bewegten und die Hälse reckten, um zu sehen, was denn da los war. »Verdammt!«, rief Challis. Er rannte zum Wagen zurück, dachte zu spät an den Zündschlüssel, wollte gerade nach Pam Murphy Ausschau halten, sah aber nochmal am Zündschloss nach und stellte fest, dass sie ihn hatte stecken lassen. Er sprang hinein, startete den Wagen und jagte hinter dem Bodenpersonal her. Ein Teil hatte bereits den Flugplatz selbst verlassen und fuhr hintereinander über die Staubpiste, die zur Hauptstraße führte. Challis gab Gas, fuhr auf die Grasfläche, um sie zu überholen, schrammte einen Baum entlang der Eukalyptusallee, bevor er sich vor den ersten Wagen setzen konnte, und bremste, wodurch er alle anderen Fahrzeuge ebenfalls aufhalten konnte. Challis stieg aus, beide Hände an der Dienstwaffe in Kopfhöhe, sodass jeder sie sehen konnte, dann wies er die Fahrer an, die Motoren abzustellen und auszusteigen. Aus dem ersten Wagen kletterte ganz nervös eine Frau und lief auf Challis’ Gesten hin in den Schutz der Bäume. Dann stieg ein Mann aus dem zweiten Wagen und rannte gebückt in Deckung, 292
zwei Männer stiegen aus einem kleinen Daihatsu, aber der Fahrer eines Landrovers saß da, starrte Challis an, die Hände fest um den Lenker gekrallt. Nachdem die anderen Fahrer und Insassen ihre Fahrzeuge verlassen hatten, näherte sich Challis dem Landrover von der linken Seite, sodass ihm die verlassenen Wagen ein wenig Deckung boten. Er kam heran, bis er ein paar Meter von dem Landrover entfernt hinter einem Holden stand und erkannte, dass es sich bei dem Fahrer um den Chefmechaniker handelte, der am ganzen Leib zitterte. Challis blieb stehen und rief: »Ist Casement bei Ihnen?« Der Mann nickte. »Auf dem Rücksitz?« Wieder Nicken. »Bewaffnet?« Erneut ein Nicken, der Mechaniker war vor Furcht wie erstarrt, und in diesem Augenblick sah Challis die Schrotflinte zwischen den Vordersitzen auftauchen und sich von unten ins Kiefergelenk des Mechanikers bohren. »Casement? Können Sie mich hören?« Das Fenster ging auf, der Doppellauf schwang vom Fahrer fort, und Challis bekam zur Antwort einen Schuss aus der Schrotflinte. Er duckte sich und hörte die Schrotkugeln über seinen Kopf hinwegsirren und in die Flanke des Holden schlagen. Als er seinen Kopf wieder hob, fiel der zweite Schuss. Diesmal zielte Casement besser, der Schuss kam tiefer, durchlöcherte einen Hinterreifen und zischte ihm um die Beine, wobei er am rechten Schienbein und in der Wade getroffen wurde. Challis rannte, bevor der Schmerz einsetzen konnte, rannte, bevor das Blut ihm in den Schuh suppte, rannte, bevor Casement nachladen oder ihm beweisen konnte, dass er ein ganzes Magazin voller Patronen hatte. 293
47 Die folgenden drei Tage waren voller Verhöre, Papierkram und ambulanter Behandlungen im Krankenhaus, dann verübte Challis’ Frau auch noch einen weiteren Selbstmordversuch, und sein erster Gedanke war: Ich habe all dieses Sterben so satt. Diesmal hatte sie allerdings Erfolg mit den Schlaftabletten, die sie während ihrer Genesung im Gefängniskrankenhaus gestohlen und gesammelt hatte; die Pillen schafften, was sie mit spitzem Plastik und halbherzigen Schnittversuchen nicht geschafft hatte. Sie hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem sie ihm die Schuld gab, doch Challis fühlte keinerlei Verantwortung. Er ging zur Beerdigung, sah den Sarg und fühlte nur Mitleid mit Bob und Margaret, die an seinem Arm hingen und sagten, wie Leid ihnen alles täte. Leid um ihre Tochter, Leid, dass er angeschossen worden war. Sie hielten sich an seinen Armen fest und boten ihm mit seinem bandagierten Bein und der Krücke nicht nur Halt und Mitgefühl, sondern stützten sich auch selbst. Das war allerdings erst am dritten Tag. Bis dahin waren Stunden fruchtloser Verhöre vergangen, Challis hatte am ersten Abend nur einen Notverband getragen, um bei Casement sofort nachsetzen zu können; danach hatte er sich die Schrotkugeln entfernen lassen müssen und war sofort wieder zurückgekehrt, um Casement weiterzuverhören. Der hatte gleich von Anfang an einen Anwalt dabei, einen übergewichtigen, verächtlich blickenden Mann, der im Verhörraum recht wacklig auf einem Plastikstuhl hockte. »Mein Klient räumt freiwillig eine versuchte Entführung und mehrmaligen Schusswaffengebrauch ein, doch er bestreitet, jemanden umgebracht zu haben.« 294
»Ian Munro hat meine Frau umgebracht«, sagte Casement ganz entspannt. »Soweit ich weiß, hat er auch die Pearces erschossen. Und Trevor Hubble, also, da habe ich nicht die leiseste Ahnung.« »Aber Sie geben zu, dass Sie ihn gekannt haben.« »Ist schon Jahre her.« »Zwei, um genau zu sein. Sie waren Geschäftspartner, Sie haben das Geschäft übernommen, als Hubble nach England zurückkehrte, doch dann tauchte er letzten Oktober wieder auf, und Sie haben ihn umgebracht, weil Sie seine Identität angenommen hatten und er eine Bedrohung für Sie darstellte.« »Es war für meinen Klienten einfacher, den Papierkram auf Mr. Hubbles Namen weiterlaufen zu lassen, das ist alles«, sagte der Anwalt. »Er hat seine Steuern bezahlt, er ist niemandem was schuldig.« Am nächsten Tag konnte Challis jedoch dem Anwalt entgegenhalten: »Wir haben die Fingerabdrücke Ihres Klienten an Interpol und Scotland Yard weitergeleitet. Sein wahrer Name ist Michael Trigg, und er wird gesucht wegen Diebstahl, Betrug und Geldwäscherei. Wir beabsichtigen, ihn nach England auszuweisen, sobald er hier seine Strafe abgesessen hat.« »Mein Klient wird jede Tat bestreiten, die die englische Polizei ihm zur Last legen will. Außerdem bezweifle ich, dass er in diesem Land wegen versuchter Entführung und Schusswaffengebrauchs eine längere Haftstrafe absitzen wird.« »Mord nicht zu vergessen«, sagte Challis. »In vier Fällen.« »Aufgrund welcher Beweise?« Sie hatten keine. Challis hielt sich an das, was er wusste. »Scotland Yard zufolge hat Ihr Klient einen Kreis von Geschäftsfreunden um drei bis vier Millionen Pfund betrogen. Das Geld hat er über Dutzende von Konten gewaschen. Er verschwand vor dem Prozess und ist bisher auf der Flucht gewesen, bei der er eine ganze Reihe von falschen Namen angenommen hat.« 295
»Ihr Klient«, das ging ihm leichter über die Lippen als »Casement«, »Billings« oder »Trigg«, doch im Geiste war Trigg Casement. »Wie ich schon sagte, ist mein Klient durchaus zuversichtlich …« »Kann Ihr Klient eigentlich auch für sich selbst sprechen?«, wollte Challis wissen. Er hatte Schmerzen, er fühlte sich nicht wohl, war gereizt. »Ich kann nur wiederholen, was mein Anwalt so eloquent ausgeführt hat«, sagte Casement leichthin. Er schien sich zu amüsieren, und Challis ging davon aus, dass Casement bei den Dingen, die uns normalerweise rühren, völlig ungerührt blieb. »Wir wissen, dass Sie die Identität von mindestens zwei Ihrer Opfer angenommen haben: Billings und Casement«, fuhr Challis fort. »Offenbar haben Sie ihnen jeweils eine Million abgenommen.« Casement zuckte mit den Schultern. »Haben Sie Hubbles Teppichreinigung als Deckmantel benutzt, um das Geld zu waschen, das Sie gestohlen haben?« Keine Antwort. »Und nun ist es sicherer, Ihr gestohlenes Geld in den OnlineBörsenhandel zu stecken.« Keine Antwort. »Wir haben in Ihrem Haus Ölgemälde, Goldbarren und eine Sammlung von Ausweispapieren gefunden.« Diesmal zuckte Casement mit den Schultern. Challis fuhr fort. »Was haben Sie mit Ihrer Jacht gemacht?« »Mit welcher Jacht?« »Hubbles Freundin Louise Cook zufolge hatten Sie eine Jacht, als Sie noch Billings hießen.« »Seh ich vielleicht wie ein Jachtbesitzer aus?« Casement hatte die Jacht wohl unter einem falschen Namen eintragen lassen, auf den die Polizei erst noch stoßen musste, dachte Challis. »Und wo liegt sie jetzt?« 296
»Mein Klient hat nie eine Jacht besessen. Bitte reiten Sie nicht länger darauf herum, Inspector.« »Wir werden sie schon finden«, sagte Challis. »Wir werden herausfinden, dass der Anker dazugehört, wir werden die GPSAnlage kontrollieren, und wir werden höchstwahrscheinlich die Fingerabdrücke Ihres Klienten dort finden, zusammen mit denen von Trevor Hubble.« Eine winzige Regung zeigte sich bei Casement, eine mikroskopisch kleine Veränderung, doch sein Anwalt ging dazwischen und sagte: »Soweit ich weiß, Inspector, haben Sie keinen Anker. Er ist verschwunden.« »Er wird schon wieder auftauchen«, entgegnete Challis. Und das tat er auch, bei einem Secondhand-Schiffsausrüster am Strand von Rosebud. Nein, der Besitzer konnte sich nicht mehr daran erinnern, woher er den Anker hatte. Dann wurde auch die Jacht gefunden. Casement hatte sie weit in einem Entwässerungskanal in einiger Entfernung bei Tooradin versteckt, wo sie vielleicht niemandem aufgefallen wäre, wenn sie nicht ihre Ankerkette mitgeschleift und dabei das Dingi eines anderen Bootes beschädigt hätte. Kriminaltechniker fanden Casements Fingerabdrücke und die von Hubble. »Na und, hab ich eben eine Jacht gehabt.« »Sie haben uns angelogen.« »Es ist doch verständlich, dass mein Klient nervös ist angesichts dieser Mordanklagen, Inspector Challis. Dadurch wird er vergesslich, und gleichzeitig will er sich selbst schützen. Das werden Sie doch verstehen.« »Oh, ich verstehe sehr gut«, erwiderte Challis. »Er versucht verzweifelt seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass wir die Fingerabdrücke Ihres Klienten und die seines Opfers auf einem Boot gefunden haben, das er angeblich gar nicht besitzt.« »Die korrekte Bezeichnung ist Jacht, nicht Boot«, verbesserte ihn Casement ganz unwillkürlich. 297
»Tut mir schrecklich Leid. Aber wie schon gesagt …« »Außerdem gibt es eine ganz einfache Erklärung dafür«, fuhr Casement fort. »Ich nehme an, Trevors Fingerabdrücke sind schon seit Ewigkeiten dort, noch aus der Zeit, als wir an den Wochenenden segeln gegangen sind, bevor er nach London ging.« »Und wer hat ihn dann ermordet, und das ausgerechnet auf See?« »Fragen Sie doch mal Louise Cook danach. Sie hat ihm den Tod gewünscht, das habe ich sie oft genug sagen hören, nachdem sie ohne ihn nach Australien zurückgekehrt war. ›Ich hasse diesen Kerl‹, hat sie immer gesagt. ›Am liebsten würde ich ihn über den Haufen schießen.‹ Vielleicht sollten Sie da mal nachhaken.« Challis nahm sich vor, genau das zu tun, und sagte: »Das GPS verrät uns, dass Sie sich zum Zeitpunkt des Mordes vor Flinders aufgehalten haben.« »Das ist allerdings kein Beweis dafür, dass mein Klient zu dem Zeitpunkt auf dem Boot war oder Trevor Hubble ermordet hat oder dass Hubble zu diesem Zeitpunkt überhaupt auf dem Boot war. Vielleicht sind andere damit hinausgesegelt.« »Jacht«, sagte Casement. »Warum haben Sie die Pearces ermordet? Was hatte Pearce gegen Sie in der Hand?« »Mein Klient hat bereits bestritten …« »Hat Pearce herausgefunden, wer Sie tatsächlich sind? Hat er Sie dabei beobachtet, wie Sie Hubble umgebracht haben? Hat er herumgeschnüffelt und unangenehme Fragen gestellt?« »Ich kenne den Kerl nicht, tut mir Leid«, sagte Casement träge. »Warum haben Sie Ihre Frau umgebracht?«, setzte Challis nach. »Hat Sie Ihre Tarnung auffliegen lassen? Ist Pearce erst zu ihr gegangen und hat ihr gesagt, wer Sie sind? Oder wusste sie bereits davon, und sie haben sich gestritten? Hat sie zu viel 298
polizeiliche Aufmerksamkeit auf sich selbst gelenkt, sodass Sie sich bedroht fühlten? Ging es um Geld? Soweit mir bekannt ist, geht es dabei um Bargeld, Grundbesitz und eine Lebensversicherung über eine halbe Million.« »Mein Klient hat bereits bestritten …« Patt. Die Behörden gingen bei Casement von hoher Fluchtgefahr aus, also wurde er wegen Entführung und Schusswaffengebrauchs in Untersuchungshaft genommen, was Challis Zeit und Raum gab, um Luft zu holen und nachzudenken. Er dachte an Beständigkeit und daran, dankbar für das zu sein, was er hatte. Seine Frau war in ihrer Liebe nicht beständig gewesen, sondern hatte nur wie ein hartnäckiger Splitter geschmerzt. Nun war er frei davon. Kitty Casement war beständig gewesen, bis sie ermordet worden war, beständig, aber distanziert und nicht frei, ihn zu lieben. Liebe. Liebe war nur ein Traum gewesen, weil er zu dem Zeitpunkt unglücklich gewesen war. Tessa Kane hatte bewiesen, dass sie bereit war, eine Konstante in seinem Leben zu sein, und er war nun frei, sie zu lieben – wenn er sie nicht schon vertrieben hatte. Er fragte sich, wie er ihr sagen sollte, dass seine Frau tot war. Was würde sie antworten? Zu spät? Oder: Wie passend? Würde sie sich fragen, welche Fallstricke er noch mit in ihre Beziehung brachte? Er sollte dankbar dafür sein, sie zu kennen. Ob sie das umgekehrt auch so sah, war eine ganz andere Frage. In diese Art von Gedanken versunken war er, als ihn am Tag nach der Beerdigung sein Unterbewusstsein anstachelte und er zu Scobie Sutton sagte: »Wir wollten doch noch mal das Haus des Einmischers durchsuchen.« Challis’ Sinne waren bei diesem Einsatz durchaus nicht geschärft; er fuhr träge vor sich hin und ließ seine Gedanken schweifen, während Sutton redete. 299
»Aileen Munro hat die Kinder aus der Schule genommen.« »Hmhm.« »Die armen Teufel.« »Ja.« »Wie erklärt man denn so kleinen Kindern, was da passiert ist? Schon schwer genug, es meinem Kind zu erklären. Da tauchen gewichtige Fragen auf. ›Daddy, wohin gehst du, wenn du stirbst?‹ So die Art von Fragen.« Challis ließ Sutton reden und betrat nach ihm das Haus der Pearces. In den Tagen seit dem Mord hatte sich noch ein anderer Geruch als der von Blut im Haus breit gemacht. Komischerweise war es dieser Geruch, der Challis aufschreckte. Er verfolgte ihn bis zu einem kleinen Eimer unter der Spüle, einem deckellosen Eimer voller Verpackungsmüll; die Pearces hatten wohl als Letztes den Einkauf weggeräumt. Der Gestank stammte von der vergammelnden Haut und dem Fett eines Hühnchens, wie er feststellte, als er den Eimer in den Hinterhof hinaustrug und den Inhalt in eine Mülltonne kippte. Da entdeckte er die Folie und das leere Blatt mit den Klebeetiketten einer Videokassette unten in dem Eimer, zusammen mit einem Kassenbon, datiert zwei Tage vor dem Mord. Diese unbedeutenden Gegenstände führten ihn zurück ins Haus, zum Videorekorder und zu der Kassette mit der Aufschrift »International Most Wanted«, die noch immer darin steckte und darauf wartete, den Zusammenhang zwischen Casement und dem Einmischer preiszugeben. Fehlte nur noch der Beweis, dass Casement Kitty erschossen hatte, aber immer eins nach dem anderen.
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Garry Disher Garry Disher, 1949 geboren, wuchs im ländlichen Südaustralien auf und lebt heute direkt an der Südküste in der Nähe von Victoria. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und besonders erfolgreich Kriminalromane und Kinderbücher. Sein Roman »The Sunken Road« wurde für den Booker-Preis vorgeschlagen, »Drachenmann« war auf der Auswahlliste für den wichtigsten australischen Krimipreis, den Ned Kelly Award. Disher gewann zudem zweimal den Deutschen Krimi Preis.
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Bibliografie Steal Away (1987); The Stencil Man (1988); The Sunken Road (1996); Past the Headlands (2001 ; dt. Hinter den Inseln, 2003). Hal-Challis-Romane: The Dragon Man (1999; dt. Drachenmann, 2001); Kittyhawk Down (2003; dt. Flugrausch, 2005). Wyatt-Romane: Kickback ( 1991 ; dt. Gier, 1999); Paydirt ( 1992, dt. Dreck, 2000); Deathdeal (1993; dt. Hinterhalt, 2001 ); Crosskill (1994; dt. Willkür, 2002); Port Vila Blues (1996; dt. Port Vila Blues,2005); The Fallout (1997). Garry Disher hat außerdem mehrere Kinderbücher und Erzählbände veröffentlicht sowie Schulbücher zur australischen Geschichte.
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Garry Disher: Übers Schreiben Garry Disher ist einer der interessantesten zeitgenössischen Schriftsteller Australiens. Den Stoff für seine gut recherchierten und detailgetreuen Romane sammelt er unter anderem auf Reisen durch Europa, Israel und Afrika. Bereits 1978 beginnt Disher zu schreiben. Er soll für eine Anthologie eine Kurzgeschichte über ein berühmtes australisches Gemälde verfassen. Aus der Kurzgeschichte wird unter der Hand eine Kriminalgeschichte. Danach entsteht der erste Gangster-Roman mit Wyatt als Hauptfigur. In den Achtzigerjahren lehrt Disher an der Stanford University in Kalifornien kreatives Schreiben. Mittlerweile ruht Dishers Dozententätigkeit und er ist vollberuflich als Schriftsteller tätig. Mehr als vierzig Werke wurden bislang veröffentlicht, für die er verschiedene Preise erhalten hat, darunter auch den Deutschen Krimi Preis 2002 für den in der metro-Reihe im Unionsverlag erschienenen Roman Drachenmann. Disher schreibt in einem Arbeitszimmer, das abseits liegt von den restlichen Räumen seines Hauses an der Küste der Halbinsel von Mornington, Victoria, das er mit seiner Frau und seiner Tochter bewohnt. Über seine Schreibmethode sagt er: »Die ersten Ideen notiere ich handschriftlich, erst den zweiten Entwurf tippe ich in den Computer ein. Den Stoff für meine Romane hole ich mir aus der aktuellen Tagespresse. Dabei suche ich speziell nach Artikeln über Verbrechen oder merkwürdige Geschehnisse und überlege die Hintergründe, die zur Tat geführt haben könnten. Es geht mir vor allem darum, die Motive zu ergründen und Erklärungen zu finden. Auch Gedankenspiele nach dem Motto was wäre wenn können Ideen für meine Romane liefern und beflügeln meine Fantasie.« 303
»Meine Geschichten müssen ein Ziel verfolgen. Ein noch so schön-schauriger Roman ist wertlos, wenn der Plot nicht in sich schlüssig und logisch ist. Ein Roman kann sprachlich noch so gut geschrieben sein oder die Protagonisten noch so viel Identifikationspotential für den Leser liefern, wenn aber die Handlung – ganz gravierend vor allem bei einem Kriminalroman – zu konfus, abstrus und unrealistisch ist, dann krankt der gesamte Roman.« Aus Elementen der Realität und seiner Fantasie schafft er dann eine Einheit aus Plot und Figuren. »Das Schreiben ist gelungen, wenn die Wörter auf den Seiten singen. Dann ist meine schriftstellerische Arbeit von Erfolg gekrönt. Wenn aber die Wörter schwer wie Steine auf den Seiten lasten, dann habe ich mein Ziel verfehlt.« Disher will Geschichten erzählen: »Ich erzähle jedem, der sie hören möchte, meine Geschichten. Dabei müssen sie nicht immer gut ausgehen und über ein Happy End verfügen. Geschichten zu schreiben bedeutet für mich auch, meine eigene Welt um mich herum zu schaffen, die aus eigenen Erfahrungen zusammensetzt ist. Die Grenzen der Welt sind die Grenzen der eigenen Fantasie.« »Beim Schreibens ist es unerlässlich, auf sich selbst zu hören – und gleichzeitig ein guter Leser zu sein. Enthusiastisches Schreiben und Lesen müssen sich gegenseitig befruchten.« Dishers Überlegungen zum Schreiben beinhalten somit gleichzeitig eine Anleitung zum Lesen: »Wer nie einen Kriminalroman gelesen hat, wird niemals einen schreiben können, auch mit noch so großem Talent. Während meiner Zeit als Dozent an der Universität habe ich meinen Studenten immer wieder versucht klar zu machen, dass der Weg der eigenen Schriftstellerei nur über die genaue Kenntnis der Literaturszene geht. Nur wer ein reflektierter Leser ist, kann seine eigene Arbeit strukturieren und mit einer eigenen Handschrift versehen.« 304
»Bei allem was ich schreibe, schreibe ich für mich und für den Leser in mir. Darüber hinaus schreibe ich auch für den Künstler in mir, der bewegt und motiviert wird durch eine innere, nicht näher zu bestimmende Kraft. Ich beziehe mich da auf Georges Simenon, der sagte: ›Ich würde meine Romane in die Rinde eines Baumes einritzen.‹« Disher arbeitet nie parallel an zwei verschiedenen Projekten, auch wenn er immer mit mehreren Ideen gleichzeitig jongliert: »Wenn ich beispielsweise an einem Kriminalroman schreibe, habe ich bereits Ideen für ein Kinderbuch. Dieses Projekt muss dann erst einmal auf Eis gelegt werden. Ich versuche vielmehr, im Wechsel zu arbeiten. Das heißt, ich schreibe in einem Jahr einen Roman, im anderen Jahr ein Kinderbuch und danach beginne ich vielleicht mit einem neuen Kriminalroman. Manchmal jedoch muss ich von diesem Konzept abweichen, wenn ein unvorhergesehenes Ereignis, wie zum Beispiel die gefürchtete Schreibblockade, eintritt. Dann lasse ich das Projekt, an dem ich gerade arbeite, ruhen und widme mich einem anderen Genre.« Grundsätzlich gilt: »Ich schreibe nur über das, was mich auch selbst interessiert – und was ich selbst lesen würde!« Ist die Entscheidung schließlich für ein literarisches Projekt gefallen, »dann kämpfe ich so lange mit meinen Figuren, Strukturen, Stimmungen und der Komplexität der Geschichte, bis der Roman steht, den ich mir vorgestellt habe. Dieser Prozess ist langwierig, weil Schreiben gleichzeitig das Zusammenspiel von permanenter Selbstkontrolle, klarem Denken und feinsinnigen Formulierungskünsten bedeutet. Gute Schriftsteller sind ständig unzufrieden mit ihrer eigenen Arbeit. Nur nach unzähligen missglückten Versuchen und Bemühungen kommt letztendlich der Satz heraus, nach dem man lange gesucht hat.« »Schreiben ist Spaß, ist Befreiung – aber alles andere als 305
einfach.« Disher steht seiner eigenen schreibenden Zunft und ihren Vermarktungsstrategien kritisch gegenüber: »Die literarische Szene ist vergiftet, durchtrieben von Neid, Begünstigung und Hinterhältigkeit. Jeden Schriftsteller quält die Angst, ob sich das Werk verkaufen lässt, ob der Rubel rollen wird, ob man auch ein Stück vom Kuchen abbekommt. Der Buchmarkt ist ein hart umkämpfter Markt, von dem nicht zuletzt die eigene Existenz als Schriftsteller abhängt. Aber ich muss in dieser Welt meinen Weg finden. Ich verdiene schließlich mein Geld mit Schreiben. Ich kann es mir nicht leisten, die Rolle des Schriftstellers zu verklären und zu romantisieren.« Doch Dishers Durchhalteparole für die Zeiten, in denen es mal nicht so gut laufen sollte, zieht er aus Colettes Zitatenschatz: »Schau lange und genau auf die Dinge, die dich erfreuen – zumindest länger als auf die Dinge, die dich ärgern.« Aus all dem ergeben sich Garry Dishers Zehn Gebote für die Schriftstellerei: »Du sollst nicht predigen und nicht belehren. Du sollst nicht herablassend sein. Du sollst nicht schlecht schreiben. Du sollst beim Schreiben die Welt nicht durch eine rosarote Brille sehen und trotzdem genug Raum lassen für Liebe und Humor. Du sollst nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen und nicht die Kavallerie zur Rettung rufen. Du sollst nicht auf reißerische Themen wie Inzest, Selbstmord, Cyberspace und Obdachlosigkeit setzen, nur um einen schnellen Dollar zu machen. Solche Themen sind nur dann erlaubt, wenn die Geschichte sie erfordern. Du sollst die inneren und äußeren Herausforderungen des Lebens mit Ehrlichkeit, Integrität und ernsthafter Überlegung behandeln und einfache oder keine Antworten sowie Gefühlsduselei vermeiden. 306
Du sollst die Wahrhaftigkeit deiner Arbeit wertschätzen: Einer Geschichte einen pompösen Schluss aufzupfropfen, wo eigentlich ein anderer verlangt ist, ist ein Betrug an deinem Werk, deinen Leser und dir selbst. Du sollst unterhalten. Du sollst die Grenzen, die du dir selber setzt, immer wieder verschieben.« (Alle Zitate und Statements stammen aus Interviews, die unter anderem auf Garry Dishers Homepage zu finden sind.)
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Der Übersetzer Peter Torberg, geboren 1958 in Dortmund, studierte in Münster und in den USA. Nach einigen Jahren als Lektor ist er seit 1986 als Übersetzer tätig, unter anderem hat er Bücher von Paul Auster, Peter Carey, Anita Desai, Michael Ondaatje und Oscar Wilde ins Deutsche übertragen. Stipendium für Literaturübersetzung der Stadt München 1993. Arbeitsstipendium des Deutschen Übersetzerfonds 2000, Übersetzerwerkstatt Berlin 2001, Arbeitsstipendium der Stiftung Kulturfonds, Ahrenshoop 2002.
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