GÜNTER UND JOHANNA BRAUN
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NEUES
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BERLIN
1958
Herr Schneckenstieck, Fleischerei- und Konditoreibedarf ...
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GÜNTER UND JOHANNA BRAUN
VERLAG
NEUES
LEBEN
BERLIN
1958
Herr Schneckenstieck, Fleischerei- und Konditoreibedarf en gros, saß vor seinem Vogelhaus und tickte mit dem Fingernagel gegen die Messingstäbe. Er schaute den winzigen schillernden Kolibris zu, die lebhaft umherschwirrten. Er beobachtete seinen Liebling, den Paradiesvogel, der mit wippenden Schwanzfedern zum Badehäuschen spazierte. Er ärgerte sich über den Schmutzgeier*, der finster und abweisend in seinem Gelaß hockte. Tick, tick, machte der Fingernagel. Der Mund des Großhändlers spitzte sich. Er pfiff, wie man einem bummelnden Hunde pfeift. Ein ostafrikanischer Krokodilwächter kam herangehüpft, im Schnabel einen gekrümmten Wurm. Schneckenstieck dachte: Ich müßte meine Vögel höher versichern lassen. Die kann mir keiner ersetzen! Besonders wenn ich jetzt die lustigen Webervögel anschaffe. Sie sollen aus Grashalmen wunderhübsche Nestchen bauen, die sie an den Zweigen aufhängen, wie kleine Kruken und Vasen. Ob sie es auch • Worterklärungen Heftes
am
Schluß des
in der Gefangenschaft tun? Ich müßte mal den Vorsitzenden des Vereins der Vogelfreunde befragen. Die nötigen Grashalme könnte ich heranholen lassen und auch .einen Baum in den Käfig stellen . . . Herrn Schneckenstiecks Gedanken wurden unterbrochen. Soeben hatta es zweimal dumpf geklopft. Das Klopfen hatte sich angehört, als schlüge eine Faust gegen die Tür. „Ja?" rief der Großhändler ärgerlich. „Nicht mal die wenigen Minuten vor Geschäftsbeginn lassen sie einen in Ruhe!" brummte er. Er drehte der Tür den Rücken. Ein schwerer Humpelschritt pochte auf dem Teppich. Eine laute Stimme, sie klang wie die eines Schwerhörigen, sagte: „Sie sind also zu Hause, Herr Schneckenstieck!'' Auf dem Teppich stand ein kleiner, sehniger Mann. Sein dünner brauner Hals ragte aus dem abgewetzten Kragen einer alten Lederjacke. Aus dem zerknitterten Gesicht stachen schwarze, rotumränderte Augen. Über die Stirn lief ein waagerechter roter Streifen. Die Schirmmütze hielt der Mann in der Hand. Mein Fahrer, dachte Schneckenstieck. Er fragte unfreundlich: „Was wollen Sie, Knurr?" 3
„Das sollen Sie gleich hören." Der Mann zog aus der Hosentasche ein buntes Taschentuch und schneuzte sich. Schneckenstiecks Finger tickte an die Vogelhausstäbe. Der Mann wischte sich langsam die Nase, stopfte das Tuch in die Tasche, griff in den Ausschnitt seiner Lederjacke und nahm ein rotgestreiftes Pap'ierbeutelchen heraus. Er warf es vor Schneckenstieck hin. „Was Ist das, Herr Schneckenstieck?" Der Großhändler stieß mit dem Fuß gegen den Beutel. „Das wissen Sie selbst, Knurr! Heben Sie bitte den Beutel auf."
„Was das ist, will ich wissen!" „Mein lieber Knurr, Sie fahren das Zeug nun seit einem Jahr zu den Kunden. Ein guter Fahrer sollte sich immer dafür interessieren, was er fährt. Sonst könnte ihm zum Beispiel einer eine Höllenmaschine aufladen." Schneckenstieck lachte krampfig. „Dies hier ist Nitritpökelsalz. Zufrieden?" Er wandte sich wieder dem Käfig zu. „Nicht zufrieden!" sagte der Fahrer mit einer lauten, hohl klingenden Stimme. Er raffte den Beutel vom Boderi, faßte in seine Tasche und streckte Schneckenstieck ein Stück Salami hin. Die Wurst hatte eine leuchtendrote Farbe. „Daran
hat sich meine Tochter vergiftet." Der Fahrer sprach mit einem Maie leise, fast sanft: „Es geht ihr schlecht." „Bedauerlich, mein lieber Knurr", antwortete Schneckenstieck. „ S i e haben sie vergiftet!" schrie der Fahrer. „ S i e treiben Handel mit dem Gift!" „Aber Herr Knurr, überlegen Sie doch! Wie könnte ich ein Interesse daran haben, Ihre Tochter zu vergiften! Ich begreife Ihren Schmerz." Knurr sprach we'iter, ohne auf des Großhändlers Worte zu achten. „Ihr Zustand ist bedenklich, sie liegt ohne Bewußtsein. Wenn sie wach wird, erbricht sie sich. Ihre Haut sieht blau aus. Manchmal ist es, als ob der Atem aussetzen wellte. Es kann nur an dieser Wurst liegen, hat der Arzt gesagt. Die Wurst haben wir bei Fleischer Schweinichen gekauft, den S i e beliefern!" Er hielt Wurst und Brot in den. Händen, sein spitzer Adamsapfel hob und senkte sich. Scheußlich, dachteSchneckenstieck, es ist seine einzige Tochter, und er ist Witwer. Eine hübsche Tochter! Auf unserer Betriebsomnibusfahrt sah sie reizend aus, aber der Alte wich nicht von ihrer Seite. — Er räusperte sich. „Die Wurst war sicher nicht frisch, eine Fleischvergiftung also. Zum Teufel, wozu gibt es eigentlich die moderne Kühltechnik?" Fahrer Knurr sah ihn verächtlich an. „Mir machen Sie nichts vor. Sie sind ein dreckiger Schuft, der mit der Gesundheit der Menschen spielt, bloß um Geld zu machen! Das wollte ich Ihnen sagen!
Das weitere Ist Sache der Polizei! Ich habe den Fall gemeldet!" Er wandte sich brüsk und verließ humpelnd das Zimmer. Schneckenstieck wollte ihm nachrufen. Er tat es nicht. Jetzt keine Dummheiten, dachte er, jetzt vernünftig überlegen! Er stand mit einem Ruck auf. Die Vögel plusterten erschreckt ihr Gefieder. Böse starrte der nackte Kopf des Geiers. Schneckenstieck drohte ihm mit der Faust. Er rannte auf und 'ab und überlegte: Es kann die Existenz kosten! Alles, was ich mir mühsam aufgebaut habe, kann mit einem Schlag ausgelöscht sein, wenn es einen Skandal gibt. Es darf keinen Skandal geben! Kann ich dafür, daß die Fleischer Stangensalpeter verlangen? Sie wollen eine appetitliche, leuchtendrote Wurst ins Schaufenster legen! Den Kunden soll das Wasser im Munde zusammenlaufen! Solche Wurst kriegen sie nur durch Stangensalpeterl Sie wissen, daß es nicht gesund ist* aber was soll so ein armer Fleischer tun? Macht die Konkurrenz rote Wurst, muß auch er rote Wurst machen, oder er ist im Nachteil. Liefere ich ihm den Salpeter nicht, tut's ein anderer. Eine Frechheit von dem Knurr, mich bei der Polizei zu verleumden! Wenn ich bloß wüßte, wer diese Sache bearbeitet! Aber vielleicht blufft dieser Knurr, hat mich überhaupt nicht angezeigt, will Schmerzensgeld 'rausschinden, der Erpresser! — Schneckenstieck" lief auf die Diele, ans Telefontischchen. Er rief seinen Buchhalter an. 5
— „Krauske! Lassen Sie mal'n Freßkorb besorgen. We'in, Apfelsinen, Schokolade. Habe gehört, Knurrs Tochter ist schwer erkrankt. Es geht dem alten Mann nahe." So, dachte er, während er zu seinen Vögeln zurückkehrte, jetzt beruhigt er sich. Wenn sie ein Pflaster kriegen, sind solche kleinen Leute immer still. Ich will noch ein Kuvert mit fünfzig Mark in den Korb stecken. Wenn er mich aber schon angezeigt hat? — Dann wird der Korb ihn unsicher machen. Er wird sich schämen, er wird sich mir gegenüber verpflichtet fühlen. Das ist gut für die Untersuchung. Er öffnete ein Wandschränkchen und goß sich einen Dujardin ein. Als er den zweiten nehmen wollte, klopfte es kurz und knöchern. Gleich darauf trat ein Mann in verknautschtem Trenchcoat ein, in der Hand hielt er eine Sonnenbrille. „Morgen", sagte der Mann. Er sah flüchtig auf Schneckenstieck. Seine Blicke krochen dann im Raum umher. Sie glitten an den Wänden entlang, hielten am offenen Wandschränkchen, liefen über die Vogelhäuser und kehrten zu Schneckenstieck zurück. „Gewerbepolizei!" Er klappte seinen Ausweis auf. Als Schneckenstieck den Ausweis sah, wurde er blaß. Er hätte gern noch einen Dujardin genommen, aber er traute sich nicht mehr. Er sagte stockend: „Ja — wenn das so ist..." Er wies auf einen Stuhl. Der Beamte musterte ihn mit kaltem Blick. „Was ist das für ein Salz, das Sie den Fleischern liefern?" 6
„Nitritpökelsalz, Herr Kommissarj gewöhnliches Nitritpökelsalz." Er setzte eilig hinzu: „Amtlich zugelassen laut Nitritgesetz von 1934." „Ja", sagte der Beamte, „hundert Gramm Kochsalz dürfen 0,5 Gramm Nitrit enthalten." Er beugte sich rasch vor: „Sogenannten Stangensalpeter liefern Sie nicht?" Schneckenstieck lächelte. „Nein." „Was ist dies?" Der Beamte hielt ein rotgestreiftes Tütchen hoch. „Die amtlich vorgeschriebene Verpackung für Nitritpökelsalz." „Aber was drin ist, entspricht keineswegs der amtlichen Vorschrift!" „Das läßt sich prüfen", sagte Schneckenstieck kühl. Der Beamte steckte die Tüte ein. „Wir haben den Inhalt bereits überprüfen lassen. Fünfundsiebzig Prozent, Herr Schneckenstieck!" „Das muß ein Irrtum sein!" „Ein Irrtum, der Sie Ihre Existenz kosten kann!" Der Beamte räusperte sich. „Ich werde Ihr Lager besichtigen." „Das können Sie, das empfehle ich Ihnen! Sie werden alles in bester Ordnung finden." Schneckenstieck lachte gekünstelt. „Es wäre ganz lehrreich für die hohe Gewerbepolizei, sich einmal mit dem Betrieb eines Großkaufmanns bekannt zu machen. Ein interessanter, aber komplizierter Betrieb. Es war nicht leicht, ihn aufzubauen. Handel und Wandel mußten nach dem Krieg erst wieder in Gang gebracht werden. Das hat Nerven gekostet, Herr Kommissar! Das war schwerer, als eine Kompanie zu führen! Ich war nämlich Kompanieführer im letzten Krieg. Waren Sie auch an der Ost-
front? Hm." Er überlegte, wovon er noch sprechen könnte. Ich muß mit ihm warm werden, dachte er, ich muß mit ihm in ein persönliches Gespräch kommen. Vor allem aber muß ich herauskriegen, ob er Geschenke nimmt! Er sagte: „Entschuldigen Sie, aber ich habe noch nicht gefrühstückt. Die Polizei auf nüchternem Magen ..," Er lachte sehr laut. „Frühstücken wir zusammen?" ..Bedaure", sagte der Beamte steif. Er nimmt nichts, dachte Schnekkenstleck wütend, einer von den sogenannten Unbestechlichen. Die liebe ich! „Einen Dujardin?" Der Beamte winkte energisch mit der Hand. Er erhob sich bereits. Schneckenstieck wollte nicht glauben, daß er unbestechlich sei. An irgendeiner Stelle ist jeder Mensch bestechlich, dachte er. Der Großhändler lächelte se'in kulantestes Lächeln. Er wies auf den Stuhl. „Behalten Sie doch Platz!" Er schwatzte: „Sicherlich ist wieder jemand an einer Wurstvergiftung erkrankt! Die Tochter meines Fahrers hatte ebenfalls das Unglück. Da schiebt man es aufs Pökelsalz, auf den Großhändler schiebt man's! Ein Sündenbock muß her! Im Vertrauen — ich mache meine Kunden ungern schlecht —, die Fleischer sind oft sehr leichtsinnig. Sie nutzen ihre Kühlanlagen nicht richtig, lassen Fleisch und Wurst in der Sonne liegen, Fliegen setzen sich darauf . . . und dann die Verbraucher! Nicht jeder Haushalt hat seinen Kühlschrank, wie es sein sollte.
Aber schuld ist der Großhändler!" Er zog ein bitteres Gesicht. Der Beamte zuckte die Achseln. Er zupfte seine Handschuhe aus der Manteltasche. Er tat es umständlich und ungeschickt und riß einen Briefumschlag mit heraus, der auf den Teppich segelte. Schneckenstieck wollte sich danach bücken. Der Beamte, der aufgestanden war, setzte den Fuß darauf — unabsichtlich, wie es schien. Schneckenstieck begann: „Erlauben S i e . . . " „Ihre Sache steht schlecht", sagte der Beamte scharf. Er hob die Stimme: „Wir können und dürfen in einem solchen Fall keine Milde walten lassen! Das sind wir der Volksgesundheit schuldig." Schneckenstieck starrte auf den Umschlag, der unter der Gummisohle des Beamten schwarz wurde. „Sie haben mit den schärfsten Maßnahmen zu rechnen", sagte der Beamte. Er streifte die Handschuhe über, ignorierte Schneckenstiecks hingehaltene Hand, nickte knapp und ging zur Tür. „Tun Sie, was Sie für Ihre Pflicht halten", antwortete Schneckenstieck kühl. Er starrte auf den schmutzigen Umschlag in der Mitte des Teppichs. Als die Tür zugefallen war, hob er ihn auf. Der Umschlag war leer, er trug keine Adresse; der sehr deutlich geschriebene Absender lautete: Horst Ehrenfels, hier, Parkstraße 7. Schneckenstieck schrieb ihn ins Notizbuch. Ob es wirklich sein 7
Name ist? überlegte er. Natürlich! Wozu hätte er ihn sonst fallen lassen? — Sich vergnügt die Hände reibend, ging er zum elfenbeinweißen Telefon und rief die Firma Elektro-Boy an. Er bestellte einen modernen Haushallskühlschrank und ordnete an, ihn sofort an die Adresse Ehrenfels zu schicken. Wenn der brave Mann vom Dienst nach Hause kommt, dachte er, steht der Kühlschrank schon in der Küche. Plötzlich bekam er Bedenken: Wenn er mich in eine Falle gelockt hätte? Beamtenbestechung... Er hat sich gedeckt! Der Umschlag ist ihm „zufällig" heruntergefallen. Das kann jedem passieren. Schneckenstieck vergaß, daß er noch nicht gefrühstückt hatte. Im Hausrock lief er die Treppen hinab, stieg in seinen Opel Kapitän und fuhr zum Lager. Er ließ sich die rotgestreiften Tüten zeigen, sie lagen in hohen Stapeln auf rohgezimmerten Regalen. „Davon geht heute nichts 'raus", sagte er dem Lagerverwalter, der in mausgrauem Kittel hinter ihm hertappte. „Wir machen Inventur!" Es wurde ein anstrengender Tag für den Großhändler Schneckenstieck. Er kam nicht einmal dazu, die Käfige seiner Vögel mit Tüchern zu verhängen, wie er es sonst allabendlich tat. Spät ging er zu Bett, doch schlief er nicht. Er lauschte auf die Atemzüge seiner Frau. Als sie tief und regelmäßig wurden, erhob er sich leise. Er zog sich eine alte fischgrätengemusterte Joppe mit Hirschhornknöpfen an, die er immer trug, 8
wenn er hin und wieder im Garten ein wenig arbeitete. Die schwarzen Straßen waren vom buntschillernden Lack der Leuchtreklamen überzogen. Surrend glitten eulenäugige Autos über den Asphalt. Aus einer Bar wehte Musik. Eine leuchtende Hauswand spiegelte sich auf dem Fahrdamm. Diese Helle, dachte Schneckenstieck, diese verdammte Helle! Er blickte ärgerlich auf das stille Leuchten, das von der Wand floß. Er erkannte seine eigene Leuchtreklame: Wer bei Schneckenstieck kauft, ist immer im Vorteil! Adolf Schneckenstieck — Fleischereibedarf — Konditoreibedarf — Ruf 33 521. Er mied die hellen Straßen. Auf dunklen Nebenwegen, im Schatten hoher Hauswände schlich er zum Lager. Er hatte dem Nachtwächter freigegeben. So befand sich kein Mensch in der Nähe, als er aus dem Schuppen einen großen Handwagen holte und ihn vor die Lagertür fuhr. Eigentlich wollte er den Lieferwagen benutzen, den Knurr fuhr, doch der war abgeschlossen. Den Schlüssel hatte Knurr. So mußte er den Handwagen nehmen. Schneckenstieck hatte schon alles zurechtgelegt: mehrere Säcke, in jedem ein Stein. In diese Säcke stopfte er alle Pökelsalztütchen, die sich im Lager befanden. Er schüttete auch von Salpeter durchfeuchtete Packpapierpäckchen dazu. Ächzend schleppte er die Säcke hinaus und belud den Handwagen. Es gingen nur vier Säcke hinein.
Der Großhändler tappte ins dunkle Lager zurück. Der Lichtfleck seiner Taschenlampe geisterte über die Wände. Der Mann fuhr sich über die Stirn. Seine Hand wurde naß. Wie soll ich das schaffen, dachte er. Er fingerte aus seiner Rocktasche eine Vitamin - Traubenzucker - Tablette. Seine Kräfte durften ihn jetzt nicht verlassen! Der Wagen rumpelte dumpf auf den Steinen, denn Schneckenstieck mußte Straßen benutzen, deren Pflaster bucklig war. Der Wagen knirschte auf Sandwegen, und wenn der Großhändler stillstand, um Atem zu holen, hörte er leises Glucksen. Er war am Fluß, Er zog den .Wagen hinter einen Strauch, dann wuchtete er den ersten Sack zum Ufer. Er stöhnte, als der Sack über seinen Schultern hing. Die Last drückte seine Knie zu spitzen Dreiecken, Schneckenstieck hatte lange Zeit keinen Sack mehr getragen. Er rannte humpelnd vorwärts, watete im seichten Wasser. Dann warf er den Sack ab, viel zu sehr vorn, wie ihm schien. Er hoffte, die Strömung würde ihn zur Mitte ziehen. So schleppte er Sack um Sack in den Fluß. Das Wasser glitzerte im Mondschein. Auf kleinen Kräusel wellen tanzte das Licht wie schmale Silberfischchen. Unheimlich, dachte Schneckenstieck. Der leere Wagen bollerte auf den Steinen. Schneckenstiecks Herz klopfte. Er schwitzte in der Joppe mit den Hirschhornknöpfen. Er nahm noch eine Vitamin-Traubenzucker-Tablette.
Er mußte noch einmal und noch einmal fahren. Die Straßen waren leer. Weit entfernt klappte der einsame Schritt eines Schutzmanns. Ich werde es mir leichter machen^ dachte Schneckenstieck. Wer soll jetzt über die Brücke kommen? Höchstens ein Selbstmörder, und der hat mit sich zu tun. Er fuhr auf die Brücke, die ihren schwarzen Eisenbogen über den Fluß spannte. Die Gitterstäbe des Geländers warfen harte Schatten. Plötzlich sah Schneckenstieck vom andern Brückenende sein Spiegelbild nahen: einen keuchenden Mann, der einen Handwagen zog. Der Mond, dachte er, die Nerven. Er fuhr sich über die Augen. Gleich würde das Bild verschwinden. Doch es näherte sich stetig. Schneckenstieck sah den Mann halten, einen Sack aus dem Wagen heben und ihn über das Geländer werfen. Im Mondlicht erkannte er das Gesicht des Fleischermeisters Schweinichen. Er seufzte leise. Er entlud den Wagen und schaute den fliehenden Kreisen nach, die über dem letzten Sack silbern blinkten. Als er wieder In seinem Bett lag, hörte er die Frühvögel In den Hausbäumen zwitschern. Er seufzte bekümmert: „Das Meine hab' ich getan. Hoffentlich tut Freund Ehrenfels das Seine." Als der Kraftfahrer Emil Knurr am Feierabend nach Hause kam, trat er leise auf, um seine Tochter, 9
die in der Wohnküche auf der Chaiselongue lag, nicht zu erschrecken. Sie soll schlafen, dachte er, Schlaf ist die beste Medizin! Er hängte die Mütze an den Haken und lehnte die alte Tasche mit der Frühstücksblechdose an die Wand. Behutsam öffnete er die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. Seine Tochter Christine hatte ihre Steppdecke um sich geschlagen. Knurr sah, wie sich ihr schmaler Körper beim Atmen bewegte. Sein Blick streifte ihr krauses braunes Haar, das wie ein Haufen aufgeräufelter Glanzwolle auf dem Kopfkissen lag. Er sah, daß ihre Wangen einen rosigen Schein trugen. Der Mund stand halb offen und zeigte ein paar weiße Zähne. Knurr betrachtete lange seine Tochter. Sie ist ein schönes Mädchen, dachte er. Jetzt ist sie über den Berg, Ich sehe es! Er trat auf Zehenspitzen näher an die Chaiselongue. Da bemerkte er auf dem Polster ein Kügelchen aus Silberpapier. Auf dem Stuhl lag eine angebrochene Tafel Nußschokolade, und nun sah er neben dem Stuhl einen großen geschwungenen Korb mit hohem Bogenhenkel, daran eine lachsfarbene Seidenschleife. Zwischen Bananen und Apfelsinen steckteSchneckenstiecks knallblaues Geschäftskuvert. Knurr riß den Umschlag auf, eine Karte fiel heraus (mit den besten Wünschen für baldige Genesung!) und ein Fünfzigmarkschein. Emil Knurr steckte Karte und Geldschein wieder zurück, mit spitzen Fingern, als sei beides klebrig. 10
Ich nehm* das nicht, ich lass' meiner Tochter nichts schenken, dachte er. Ich bring' den Korb zurück. Nein, Herr Schneckenstieck, so lassen wir nicht mit uns umspringen! Er wiederholte den Gedanken laut. Christine schaute den Vater schlaftrunken an. Als sie den Korb in seiner Hand sah, sagte sie strahlend: „Da staunst du! Vorhin hat ihn einer von der Firma abgegeben. Die Nußschokolade ist gute Sorte! Ich hab' dir was gelassen, da, auf dem Stuhl." Der Korb geht zurück, dachte Knurr, doch er sagte es nicht. Ich kann ihr nicht das Geschenk wegreißen, sie freut sich sehr darüber. Außerdem ist sie krank. Ich bringe das nicht übers Herz! Er sagte verlegen : „Es paßt mir nicht, Christine. Eigentlich müßten wir den Korb wieder zurückgeben . . ." Er setzte hinzu: „Aber weil du schon davon gegessen hast . , ." „Wir werden doch nicht dumm sein", sagte das Mädchen, „Herr Schneckenstieck ist reich, was macht dem ein Korb aus!" „Das ist es eben", sagte Knurr bitter, „es macht ihm nichts aus, Er tut mit uns, was er will. Er kann uns vergiften, er kann uns beschenken. Wir sagen noch danke schön!" Er stellte den Korb auf die Anrichte. Christine hat recht, dachte er, wir müssen die guten Dinge nehmen, wie sie kommen. Nicht den verschämten Armen spielen! Lassen wir's uns auf Schneckenstiecks Kosten gut schmecken.
Er schaute auf die Weinflasche, die im Korb glühte. Er rackelte die Schranklade auf, einen Korkenzieher zu suchen. Aber als er ihn in der Hand hielt, ließ er ihn in den Kasten zurückfallen. Der Korb kommt nicht aus ehrlichem Herzen, dachte er, er stinkt nach schlechtem Gewissen. Er ging vorm Korb auf und ab, er mochte ihn gar nicht mehr ansehen, aber die funkelnde Flasche stach ihm in die Augen. Der Wein würde Christine guttun, ich quirl' ihn mit Ei . . . so schlecht ist der Schneckenstieck nun auch nicht, er hat es vielleicht gut gemeint, er macht sich Vorwürfe . . . Was rege ich mich auf? Christine hat die Krankheit überstanden. Wir werden uns jetzt vorsehen beim Wurstkauf, und sicher Wird sich Schneckenstieck auch vorsehen. Vielleicht war es nur ein Irrtum, der nicht wieder vorkommt. Ich sollte mit Christine den Wein trinken und den Mund halten. Wir kleinen Leute kommen immer noch am weitesten, wenn wir still sind. Er grabbelte wieder nach dem Korkenzieher. Da traf ihn der Gedanke: Ich kann nicht mehr still sein, ich habe Schneckenstieck schon angezeigt! Ich hab' den Rechtsweg beschritten. Nun muß ich darauf weitergehen, ob ich will oder nicht! Die Polizei würde mir schön was erzählen, wenn ich plötzlich von nichts mehr wissen wollte! Er lachte rauh. Der kleine Emil Knurr, der auf einem Bein humpelte, der wollte gegen den gro-
ßen, mächtigen Schneckenstieck anstinken! Plötzlich dachte er: Der ist nicht so mächtig! Emil Knurr ist jetzt mächtiger als Schneckenstieck. Der Korb ist der Beweis. Schneckenstieck hätte ihn nie geschickt, wenn er stark wäre! Er pfiff durch die Zähne. Warte, Bürschchen, dich hab' ich in der Hand. Er schlug zwei große Zeitungsbogen um den Korb und stellte ihn unten in die Anrichte zu den Töpfen und Pfannen. „Beweismaterial", murmelte er, „Bestechungsversuch, Mundtotmachung . . ." Christine schüttelte den Kopf. „Du bist komisch, Vater." „Nein", sagte Knurr bestimmt, „ich bin nicht komisch. Du wirst es noch verstehen. Dieser Schnekkenstieck wollte mich kaufen. Aber ich stehe nicht zum Verkauf!" Er setzte die Mütze auf. „Ich gehe zur Gewerbepolizei, Dampf hinter die Angelegenheit machen!" „Heute noch?" „Natürlich! Der Verdacht hat sich verschärft. Das muß sofort gemeldet werden!" Am folgenden Nachmittag spazierte am Ufer des Flusses der Privatdetektiv Arno Hannerjahn. Er ging lässig über die Promenade. Vor ihm lief ein junger Schäferhund, dem er hin und wieder ein Stöckchen warf. Einmal setzte sich der junge Mann auf eine der weißen Bänke, nahm eine Illustrierte vor und vertiefte sich in ein Bild von Sophia 11
Loren. Er stand wieder auf und schlenderte weiter. An einer Erfrischungsbude verlangte er ein Island-Eis. Er leckte es langsam. An der Bude -kaufte ein Mann zwei Eis. Eins gab er einer Frau, die wenige Schritte entfernt stand, das andere aß er selbst. Hannerjahn wußte, daß der Mann Buchhalter Krauske war, die Frau aber die Gattin des Versicherungsangestellten Mey. Er hatte sie endlich einmal beieinander. Er würde sie nicht mehr aus den Augen lassen. Der Chef seines Detektivbüros sollte mit se'iner Ermittlung zufrieden sein. Er schritt gemächlich hinter den beiden her. Der Hund schnüffelte am weggeworfenen Eisstanniol. Das Paar begab sich auf den schmalen Uferpfad, dorthin, wo wildes Buschgestrüpp die Sicht versperrte. Klarer Fall, dachte Hannerjahn. Er warf dem Hund ein Stöckchen und streichelte ihn, als der es zurückbrachte; er gebärdete sich so, als gäbe es nichts Interessanteres als diesen Hund und dieses Stöckchen. Dabei behielt er aber das gelbe Kleid von Frau Mey im Auge. Es verschwand hinter Buschgezweig, dann leuchtete es wieder vorn auf dem Weg, es tauchte wieder im Grün unter. Plötzlich hörte er dicht neben sich Zweige knakken. Frau Meys Stimme sagte: „Ich liebe ihn nicht mehr. Ich würde mich am liebsten von ihm scheiden lassen!" 12
Es genügt, dachte Hanner Jahn angewidert. Ich werde es dem Chef melden. Es kotzt mich an, dauernd gegen Bezahlung in fremder Leute Privatangelegenheiten herumzuschnüffeln. Aber ich brauche das Geld fürs Studium. Er pfiff seinem Hund und trat den Rückweg an. Er ging an den Fluß hinab, dorthin, wo die Kiesel flach und blankgewaschen in der Sonne glänzten. Er warf e'inen Kiesel ins Wasser, noch einen, und noch einen. Da sah er seinen Hund mit der Schnauze den feuchten Flußkies bestreichen. Was hat er da? fragte sich Hannerjahn. Der Hund wedelte mit dem Schwanz und lief auf ihn zu, lief wieder zurück, schnüffelte und bellte. Hannerjahn suchte die Stelle ab, die der Hund ankläffte. Er hatte zwar seinen Auftrag erfüllt, niemand hatte ihn geheißen, das Ufer nach etwas Verdächtigem abzusuchen, doch Hannerjahn, der noch nicht lange Detektiv war, beherzigte die Worte eines alten Kollegen: „Ein Detektiv ist immer im Dienst! Er hebt jede Information, die er findet, wie einen alten Nagel auf, den man noch einmal brauchen könnte." Hannerjahn träumte von einem Auftrag, von einer Information, die ihn berühmt machen und ihm vor allen Dingen Geld bringen würde. Dann könnte er sein Jurastudium beenden. Am Flußrand, eingeklemmt zwischen zwei Steinen, lag eine leuch-
tendrote Wurst. Manchmal überspülte sie eine Welle. Wer wirft Würste in den Fluß? überlegte der Detektiv. Er krempelte die Hosenbeine um und wrakkelte die Steine los, die die Wurst hielten. Es war eine lange Wurst. Der Hund sprang an Hannerjahn hoch und schnappte danach. „Nichts!" rief Hannerjahn. Er trocknete die Wurst mit dem Taschentuch und steckte sie unter sein Jackett. Eine Wurst wirft man nicht ohne Grund in den Fluß, konstatierte er. Er setzte sich hinter einen Busch und notierte, daß er Herrn Krauske und Frau Mey erfolgreich beobachtet und am Fluß, nur wenige Meter vom Beobachtungsort entfernt* eine Wurst gefunden hätte. Er fügte das Datum hinzu und ging ins Detektivbüro. Dort legte er dem Chef die Wurst auf den Schreibtisch. Der Chef lachte. „Gestohlene Ware, die jemand rasch loswerden wollte. Aber lassen wir die Wurst — hier ist ein neuer Auftrag! Ein gewisser Emil Knurr, Kraftfahrer bei Schneckenstieck, ist zu beschatten. Der Auftraggeber will täglich über die Schritte des Knurr unterrichtet werden." Am Morgen desselben Tages war Emil Knurr zur Gewerbepolizei gegangen, er war nicht eher vorgelassen worden. Das- spitzsdinäuzige Lieferauto der Firma Schneckenstieck hatte er in der Nähe stehenlassen und sich gar nicht die Mühe gemacht, es in eine Seitenstraße zu fahren.
Auf der Holzbank im halbdunklen Gang mußte er lange warten, bis er aufgerufen wurde. Die Helle im weißgestrichenen Zimmer blendete ihn, als er eintrat. Er mußte zwinkern. Hinterm Schreibtisch saß Ehrenfels, wie beim erstenmal, als Knurr sich beschwerte. Eine Sekretärin kehrte dem Besucher den Rücken. Sie saß über ihre Maschine gebeugt, die Hände schlagbereit auf den Tasten. Sie hatte Knurrs Anzeige zu Protokoll genommen. Ehrenfels nahm eine halbleere Milchflasche vom Schreibtisch und stellte sie aufs Fensterbrett. Er sagte kurz: „Setzen Sie sich!" Das Fensterlicht fiel in Knurrs Gesicht. Ehrenfels konnte jede Zuckung, jede kleine Bewegung des Mundes und der Augen beobachten. Er sah ihn gleichgültig an. Sein Blick sagte: Ich weiß alles, Sie können mir nichts Neues mehr berichten. Knurr räuspert» sich. „Es ist noch etwas hinzugekommen", begann er. h Herr Schneckenstieck hat versucht, mich zum Schweigen zu bringen. Er hat meiner kranken Tochter ein Geschenk geschickt." Des Beamten Gesicht blieb starr. Die langen Falten, die von den Augen zum Mund liefen, glichen In Stein geritzten Linien. Plötzlich aber knifften sich die Falten zu Dreiecken. Ehrenfels brüllte: „Sie fallen uns hier langsam auf den Wecker mit Ihren Mutmaßungen und Verdächtigungen! Wenn er Ihrer kranken Tochter ein Geschenk geschickt hat, bedanken Sie sich ge13
fälligst! Ein solches Geschenk ist nicht verdächtig. Wenn Sie keinen andern Beweis haben ..." „Die Tüten beweisen wohl genug, Herr Kommissar." „Halten Sie uns für Säuglinge? Sie können das Tütchen und das Wurstende sonstwoher haben. Es wäre nicht das erstemal, daß einem Mann etwas untergeschoben wird! Vielleicht zahlt Herr Schneckenstieck Ihnen nicht genug? Vielleicht paßt Ihnen die Arbeit nicht?" „Erlauben Sie, Herr Kommissar..." „Natürlich", sagte Ehrenfels, „ich will annehmen, Sie handeln aus anständigen Motiven." Er wurde ruhig und begütigend. „Ich muß Beweise haben. Ohne Beweise kann die Polizei nichts anfangen." „Wenn's weiter nichts ist", sagte Knurr, „die Beweise liegen zu Haufen In Schneckenstiecks Lager. Ganze Regale sind voll von diesen Tüten. Überm Hof, im Schuppen stehen Kisten, aus denen wird das Zeug abgefüllt." „Soll ich das zu Protokoll nehmen?" fragte die'JSekretärin. „Jawohl", sagte Ehrenfels. „Und dann", fuhr Knurr fort, „dann schauen Sie in die Bücher. Das Geld muß verbucht sein, ich habe nur gegen Lieferschein Ware ausgegeben." Der Beamte lachte trocken, er bewegte dabei das Gesicht nicht. „Da machen Sie sich keine Hoffnung." Er hüstelte und rückte ein wenig mit dem Stuhl. „Auf Wiedersehen", sagte Knurr. Er wandte sich an der Tür um: „Sie werden schon genug finden", meinte er zuversichtlich. — 14
Gegen Mittag erschien 'in Schnekkenstiecks Lager Kommissar Ehrenfels in Begleitung eines anderen Beamten. Adolf Schneckenstieck trat ihnen verbindlich lächelnd entgegen. Er streckte die Arme zur Begrüßung vor. Doch Ehrenfels hustete hart. „Machen Sie uns keine Schwierigkeiten!'' Schneckenstieck ging voran und ließ im Lager das Unterste zuoberst kehren. Den Lagerverwalter hatte er schon früh einkaufen geschickt, zur Unterstützung hatte er ihm zwei Lagerarbeiterinnen mitgegeben, die dritte, eine ältere Frau* war schwerhörig. Sie ging mit unbeteiligtem Gesicht zwischen den Regalen und Verschlagen auf und ab. Zwei Stunden lang durchsuchten die beiden Beamten Lager und Schuppen. Zum Schluß blieb Ehrenfels' Begleiter nachdenklich stehen. „Man müßte das Personal befragen." Er ging auf die Frau zu. Sie schlug sich gegen die Ohren und schüttelte den Kopf. „Kommen Sie", sagte Ehrenfels, „die Bücher werden uns Aufschluß geben." Buchhalter Krauskes blasse Hand zitterte ein wenig, als er den Ordner mit den Rechnungen aus dem Rollschrank zog. „Lassen Sie das", sagte Ehrenfels, „wir informieren uns selbst. Setzen Sie sich dorthin, und gehen Sie nicht aus dem Raum!" Schneckenstieck kam herein. „Auch Sie, Herr Schneckenstieck, bleiben hier!"
Es schmerzte Buchhalter Krauske, als er sah, wi» die beiden Beamten seine sauberbeklebten Ordner aus den Schränken zerrten und sie auf den Tisch knallten, wie Ehrenfels beim Umblättern den Finger anfeuchtete. Er fuhr zusammen, als Ehrenfels ihn anherrschte: „Wo sind die Rechnungen über das gelieferte Natriumnitrit? Sie liefern doch ständig Nitrit in d'ie Fleischereien, nicht wahr, Herr Krauske?" Krauske wußte nicht, wohin er blicken sollte. Ihn traf Schneckenstiecks beschwörender Blick. Von der anderen Seite starrten ihn Ehrenfels' graue Augen an. „Es ist alles abgelegt", sagte er unsicher, dann energischer: „Jeder Ausgang ist registriert! Sie finden alles in den Ordnern!" „Was ist das?" Ehrenfels hielt ihm eine Rechnung hin. „Pökelsalz", antwortete Krauske. „Pökelsalz." Krauske und Schneckenstieck konnten der Stimme des Beamten nicht anhören, ob er es glaubte. Der andere fragte: „Wieviel Prozent Nitrit hat denn dieses Salz?" Buchhalter Krauske zuckte die Achseln. „Da müssen Sie mich nicht fragen, ich bin nur für die Rechnungen und die Bilanz zuständig." Er blickte auf Schneckenstieck. Schneckenstieck sagte brummig: j,Natürlich enthält es die gesetzlich erlaubten 0,5 Prozent." „Und warum haben Sie jetzt ke'in Pökelsalz im Lager?" fragte Ehrenfels. Gemeiner Kerl! dachte Schneckenstieck. Habe ich dir den Kühlschrank
geschickt, damit du mich Jetzt so fragst? Er sagte: „Wir haben alles ausgeliefert." „Sehen Sie die Bücher nach, die Bücher stimmen!" rief Buchhalter Krauske. Er schaute heimlich auf seine Armbanduhr, und er dachte: Wenn sie sich nicht beeilen, versauen sie mir den Feierabend. Die Beamten wendeten jedes Blatt. Schließlich warfen sie die Aktenordner auf einen Haufen. Ehrenfels sagte höhnisch: „Heute haben wir nichts gefunden, Herr Schneckenstieck..." Sein Kollege blickte ihn an und schüttelte sacht den Kopf, es sollte heißen: Sei doch nicht so scharf! Schneckenstieck geleitete die Herren hinaus. Er hielt sich nahe an Ehrenfels. Er sagte versöhnlich: „Sehen Sie, die Mühe war umsonst." Ehrenfels sagte kalt: „Ihr Glück! Der Knurr war schon wieder bei uns." Das Taxi, das Detektiv Hannerjahn genommen hatte, hielt gegenüber dem Polizeigebäude, dicht hinter dein Dreiradwagen der Firma Schneckenstieck. „Wir warten hier", sagte Hannerjahn zum Chauffeur. Er beobachtete, wie aus dem Schneckenstieckschen Wagen ein Mann in abgewetzter Lederjacke stieg, wie er den Autoschi üssel in die Tasche steckte, um den Wagen herumging und hinten an der Tür rackelte, ob sie verschlossen sei. Er sah den Mann die Stufen zum Polizeigebäude hinaufsteigen, humpelnd, mit ein wenig steifen Knien. 15
Ein alter, biederer Mann, dachte Hannerjahn, was mag er wohl ausgefressen haben? Ich verfolge ihn nun durch die ganze Stadt, seit er heute früh sein Haus verließ. Ich bin ihm zu Fleischern und Konditoreien nachgefahren, ich habe hinter dem Kiosk gestanden, als er sich die „Demokratische Volkszeitung" kaufte, ich sah zu, wie er an der Schokoladenbude einen Beutel Nougatwürfel kaufte, ich habe festgestellt, daß er sich aus dem Zigarettenautomaten eine Schachtel zog, und zwar genau um 10.30 Uhr! Die erste interessante Stelle, die er aufsucht, ist dieses Gebäude. Er sah die Tür hinter Emil Knurrs Rücken zuschlagen. Kommissar Ehrenfels war heute sofort zu sprechen, als ihm Knurrs Ankunft gemeldet wurde. Er ging auf Knurr zu, reichte ihm die Hand und sagte vertraulich: „Mein lieber Herr Knurr, da sitzen wir In einer schönen Klemme! Wir haben das Lager durchsucht und nichts gefunden." Knurr blickte Ihn verdutzt an. Sein Mund öffnete sich, die alten gelblichen Zähne waren zu sehen. „Dann ist es weggeschafft worden! Das ganze Lager war voll!" Der Beamte zuckte die Achseln. ,,Bedayerlich für Sie, Herr Knurr, natürlich auch für u n s . . . aber wir haben kein Gramm gefunden." „Er hat es beiseite geschafft! Dafür leg' ich die Hand ins Feuer!" *,Nicht so rasch, Herr Knurr. Ich bin übrigens genascso davon überzeugt wie Sie. Aber Sie wissen, 16
Beweise sind für die Polizei so bitter notwendig wie das tägliche Brot!" „Ich dachte, die Polizei würde auch einem Verdacht nachgehen! Ich habe mal einen Kriminalroman gelesen, da ging die Polizei dem Verdacht nach, und sie fand den Verbrecher!" Ehrenfels lächelte. „So leicht, wie es in Kriminalromanen dargestellt wird, geht es in Wirklichkeit nicht. Aber", er wurde ernst, „Sie haben doch noch diese Proben, dieses Natriumnitrit und den Wurstzipfel." „Jawohl, Herr Kommissar. Zwei Tüten und den Zipfel." „Ausgezeichnet!" Ehrenfels rieb die Hände. Er sagte bittend: „Würden Sie uns helfen? Stellen Sie uns Tüten und Wurstzipfel zur Verfügung, damit wir sie im Laboratorium analysieren lassen? So käme mehr Licht in unsere gemeinsame Angelegenheit." Er drückte Knurr die Hand. Knurr brummte: „Ich gab Ihnen schon eine Tüte." „Die genügt nicht. Man müßte mehr haben, um den ganzen Umfang dieser Nitritgeschichte erkennen zu können. Eine Tüte! Das kann ein Zufall sein, ein Versehen ..." „Gut", antwortete Knurr. „Sie sollen die Proben haben. Ich bring' sie 'rum." Als Emil Knurr aber am Steuer saß, dachte er: Wenn .ich dem die Proben gebe, habe ich kein Beweisstück mehr in der Hand. Sie können im Laboratorium verlorengehen. Sie können im Schreibtisch von diesem Kommissar verschim-
mein. Er hatte plötzlich Mißtrauen gegen die Polizei. Der Kommissar ist vielleicht nicht so übel, aber er kommt mir sehr bürokratisch vor. Ich müßte mich noch an eine andere Instanz wenden. Es ist immer besser, zwei Eisen im Feuer zu haben. Er fuhr durch viele Straßen, er lud Ware ab und nahm Bestellungen mit, aber während der ganzen Zeit überlegte er, zu welcher Instanz er noch gehen könnte. Zum Bürgermeister? Er erinnerte sichj den Bürgermeister in Schneckenstiecks Haus gesehen zu haben. Einmal war er sehr lustig gewesen und hatte nach Wein gerochen. Der Bürgermeister kam nicht in Frage. Zum Gesundheitsamt? Da würde es bürokratisch zugehen. Zur Kirche? Knurr war nicht getauft, Schnekkenstieck aber stiftete jedes Jahr minderbemittelten Konfirmanden Anzug und Gesangbuch. Sollte Knurr zu den Sozialdemokraten gehen? Er war nicht Mitglied, und er fürchtete, sie würden sehr viel reden. Welche Instanz aber gab es noch? Vielleicht sollte ich zur Zeitung gehen, dachte er. Welche Zeitung würde sich seiner Sache annehmen? Die meisten Zeitungen, die am Kiosk hingen, druckten Artikel über Schönheitsköniginnen und Hunde im Schaumbad. Ich werde zur „Demokratischen Volkszeitung" gehen, beschloß er. Es ist zwar nur eine kleine Zeitung, und man behauptet, sie wäre kommunistenfreundlich, aber sie hat schon manche Schiebung aufgedeckt. Sie hat über den großen Unterschlagungsskandal in der Stadtverwaltung als erste geschrie-
ben. Als einer unserer Kollegen exmittiert werden sollte, hat sia sich für ihn eingesetzt. Bald hielt das Schneckenstiecksche Lieferauto vor dem Haus, in dem die „Demokratische Volkszeitung" ihre Redaktion hatte. Es war ein altes fünfstöckiges Gebäude mit dicken Säulen vorm Eingang und steinernen Engelsköpfen unter den Fenstern. Zu beiden Türseiten hingen Schilder: von der Versicherung, von zwei Ärzten, von einem Fußpflegeinstitut, einer Mannequinschule und einem Gesanglehrer, über der Tür aber stand: „Wollen Sie die Wahrheit wissen? Lesen Sie die Volkszeitung!" Die Redaktion lag im fünften Stock. Knurr sagte, noch außer Atem, daß er den Chefredakteur sprechen müßte. Gleich zur höchsten Stelle, dachte er, so kommt man am weitesten. Der Chefredakteur war nicht im Hause. Eine freundliche junge Dame sagte zu Knurr: „Sie dürfen mir Ihr Anliegen ruhig vortragen, ich vertrete den Chef." „Nein", sagte Knurr, „ich muß den Chefredakteur persönlich sprechen. Wann ist er hier?" „Morgen früh." „Ich komme morgen früh wieder.'8 Er polterte die Treppen hinab, stieg schnell ins Auto. Er mußte noch sechs Kunden beliefern. Als er abfuhr, verließ Detektiv Hannerjahn gerade die gegenüberliegende Telefonzelle. Am anderen Morgen wurde Knurr zu Schneckenstieck gerufen. 17
Im Vorzimmer von Schneckenstiecks Büro mußte er warten. Da ihm die Sekretärin keinen Stuhl anbot, humpelte er langsam auf und ab. Er hörte Porzellan klingen. Kaffeeduft zog gegen sein Gesicht. Er atmete ihn ein, er schloß die Augen und dachte: Jetzt eine Tasse starken! Es war zuviel, ich hätte mir das nicht übernehmen sollen. Ein Mann in meinen Jahren sollte zufrieden sein mit dem, was er hat. Hätte ich mir bloß nicht diese Polizeigeschichte übern Hals genommen! Aber ich hatte solche Wut, als der Arzt sagte, Christine könne nur von Nitrit vergiftet sein! Wenn der Arzt mir nicht gesagt hätte daß sie ins Pökelsalz so viel Nitrit hineinschummeln können, daß Leute davon krank werden . . . ich wäre nie zur Polizei gegangen! Er blieb vor der Tür zu Schnekkenstiecks Büro stehen. Er hörte Schneckenstiecks Stimme, die ein wenig zitterte. Eine andere Stimme, eine tiefe, fette, sagte: „Jedenfalls läßt das die Fleischerinnung nicht auf sich sitzen! Die Kunden dürfen nicht kaufscheu gemacht werden. Bei unserm Kollegen Schweinichen hat sich bedauerlicherweise ein Kassenrückgang gezeigt. Es muß sich etwas herumgesprochen haben." Schneckenstieck antwortete: „Was fliegt schneller als die Weltraumrakete? Das Gerücht." Er lachte nervös. „Jedenfalls", sagte die fette Stimme, „für die Ehre unseres Fleischerhandwerks werden wir jederzeit eintreten! Wir stellen uns geschlossen hinter Sie, Herr Schnek18
kenstieck, darauf können Sie sich fest verlassen." Ein Räuspern. „Ich habe mit allen unsern Meistern gesprochen. Ich habe sie ins Gebet genommen. Kein einziger ist sich bewußt, jemals von Ihnen eine ungesetzliche Lieferung empfangen zu haben." — Sie sind sich einig, dachte Knurr. Er sah die Fleischer der Stadt in ihren blauweißgestreiften Hemden und den weißen, blutgesprenkelten Schürzen in dichter Front stehen. Er stand allein. Die Bürotür ging auf. Der Obermeister der Fleischerinnung, Friedrich Hackmann, kam heraus. Unter seinem schweren Schritt knarrte der Fußboden. Knurr sah die doppelte Nackenfalte rosig über den Kragen schwappen. Hackmann ging an ihm vorüber, als sei er nicht im Zimmer. Kurz vor der Tür drehte er den kahlen Kopf. Seine wasserblauen Augen, die zwischen den Lidritzen schwammen, betrachteten Knurr mit Verachtung. Adolf Schneckenstieck sagte zu Knurr, der zögernd das Büro betrat: „Sie erledigen während Ihrer Arbeitszeit Privatsachen. Ich will nicht wissen, welche. Nein", sagte er giftig, „das will ich wahrhaftig nicht wissen!" Er senkte den Kopf und lief auf dem Teppich hin und her. Auf seinem Schreibtisch stand ein kleiner Holzkäfig. Darin hüpfte ein blaugrauer Wellensittich. Er stieß mit dem Kopf an die Holzstäbchen. Jedesmal, wenn er sich gestoßen hatte, schilpte er.
Schneckenstieck tickte mit dem Fingernagel gegen den Käfig, er spitzte den Mund, als wolle er dem Vogel zupfeifen. Plötzlich wurde sein Mund gerade. Schnekkenstieck sagte: „Unter solchen Umständen, Herr Knurr, bin ich leider nicht länger in der Lage, Sie zu beschäftigen. Wenn Arbeitszeit ist, dann ist Arbeitszeit. Dafür bezahle ich Sie." Er rückte an dem Vogelkästchen und dachte: Ein ganz gewöhnlicher Wellensittich, wie ich ihn an jeder Ecke in der zoologischen Handlung kriege! Das soll nun ein Geschenk sein! Er sagte: „Ich sehe keinen anderen Weg, Herr Knurr. Mein Unternehmen muß rentabel arbeiten, sonst ist es nicht konkurrenzfähig. Der Konkurrenzkampf ist ein harter Kampf, ein Kampf ohne Gnade." Knurr fühlte, wie ihm die Erregung die Kehle zuschnürte. Er konnte nicht sprechen. Schneckenstieck sagte kühl: „Das ist wie bei einem Seiltänzer, Herr Knurr! Ein kleiner Fehltritt kann ihn das Leben kosten. Nur ein Unternehmen, das präzise, zuverlässig, sauber arbeitet, kann den Anforderungen des Existenzkampfes gewachsen sein ..." Sein Körper straffte sich. „Also, Herr Knurr, Sie lassen sich draußen Ihre Papiere geben, dazu eine Anweisung auf Ihr Geld. Ich zahl' es Ihnen für den Monat voll aus. Nötig hätte ich es nicht." Knurr bewegte sich nicht. Das habe ich mir eingebrockt, ich Esel! Nun kann ich Christine nicht zur Erholung schicken. Stempeln kann ich gehen. Wer nimmt mich alten
Mann? Hätte ich bloß nicht den Rechtsweg beschritten! Wer das tut, kommt in eine Mühle, die ihn nicht mehr losläßt, bis sie ihn in ihrem Getriebe zermahlen hat! Er sagte mit seiner lauten Altmännerstimme: „Dazu haben Sie kein Recht, Herr Schneckenstieck. Es gibt ein Arbeitsgericht!" „Sie haben in der Arbeitszeit Privatsachen erledigt." Knurr sagte leise, und seine Stimme klang wie die eines Bauchredners: „Ich habe alle Lieferungen pünktlich und ordentlich erledigt, das kann ich beweisen. Was die Arbeitszeit betrifft, da war i c h nie so pinnig! Sie wissen, daß ich manchches Mal eine halbe Stunde zugelegt habe, die Sie mir nicht bezahlten. Aber davon sprechen wir vor dem Arbeitsgericht. Und was die Sache mit dem Nitrit angeht — auch darüber werden wir vor Gericht sprechen." „Knurr", sagte Schneckenstieck mit einem Male, so wie er zu seinem Fahrer in den besten Tagen gesprochen hatte, „lieber Knurr, überlegen Sie doch vernünftig. Ich weiß, Sie sind mir böse wegen des Nitrits. Sie glauben nun einmal steif und fest, i c h sei schuld an der Krankheit Ihrer Tochter. Gut; glauben Sie das, wenn es auch ein Irrtum ist. Aber denken Sie an Ihre Tochter!" Er beugte sich zu Knurr herab. „Wenn ich zumachen muß, ist es mit Ihrer Stelle aus. Hier hatten Sie ein Zuhause, hier nahm man Rücksicht auf Ihre Kriegsverletzung, hier fragte niemand nach Ihrem Alter. Ich habe immer gedacht, der Knurr ist alt* 19
aber er ist zuverlässig, und ich habe auch gedacht: Einen alten Menschen ohne Brot zu lassen, das ist unchristlich. Ich habe stets versucht, mich in die Seele eines älteren Menschen hineinzufühlen, bin selbst nicht mehr der jüngste, aber wenn man mich zurückstößt, wenn mich dieser Mensch nicht verstehen w i l l . . . " Ein bitterer Zug legte sich um Schneckenstiecks Mund. Er seufzte. „Sie machen es mir schwer, lieber Knurr. Aber ich trage nichts nach. Ich möchte, daß Sie Ihre Tochter auf meine Kosten in den Schwarzwald schicken. Auch Ihnen will ich helfen. Sie sollen eine Zulage bekommen..." Der Großhändler lächelte schlau. Wenn du wüßtest, daß ich mich schon nach einem neuen Fahrer umgesehen habe! Denn sobald diese ekelhafte Nitritgeschichte zu Ende ist — ich muß sehen, daß ich sie schnell ins reine bringe —, werde ich dich als Hausmann anstellen, und zum Gärtner- und Hausmannsgehalt werde ich zehn Mark legen, wenn du mir keine Zicken drehst. Ein altes Hausfaktotum, das hier und da mal einen Nagel einschlägt und die Dampfheizung repariert, ist gar nicht so schlecht. Später kann ich dich mir immer noch vom Halse schaffen. Er reichte Knurr beide Hände und lächelte gewinnend. Herzlich bat er: „Geben Sie Ihre Wege zur Polizei auf." „Ja", sagte Knurr, „ich gebe sie auf." In seinem Kopf standen die Worte: Schwarzwald, Zulage, Ruhe . . . Er sagte ein wenig brummig: „Schön, Herr Schneckenstieck, 20
alles vergeben und vergessen! Manchmal gehen die Nerven mit einem durch." Er murmelte: „Der Krieg, der hat uns fertiggemacht, und meine Frau, daß sie sterben mußte, d a ß . . . " Schneckenstieck deckte seine beringte Hand über Knurrs braune, behaarte. „Ich verstehe, Knurr, ich verstehe." Er ist auch ein Mensch, dachte Knurr gerührt, man sollte das nicht dauernd verkennen. Die Tür sprang auf. Ein junger, blonder Mann trat ein. Seine Lederjacke mit geflochtenen Achselstücken knarrte vor Neuheit. Der Mann zeigte sein kräftiges, weißes Gebiß. „Ich bin der neue Fahrer, Herr Schneckenstieck!" Knurr löste die Hand aus der des Chefs. Er starrte den blonden Mann an, er sah in Schneckenstiecks Gesicht. Es war rot geworden. „Was wollen Sie hier? Klopfen Sie gefälligst an!" schnauzte Schneckenstieck. Der junge Mann sagte gekränkt: „Entschuldigen Sie, aber ich habe dreimal geklopft." „Ich habe nichts gehört, und ich suche auch keinen Fahrer." „Sie haben mich doch bestellen lassen." >,Davon ist mir nichts bekannt. Guten Tag!" Der Blonde drehte seinen Stiefelabsatz unschlüssig auf dem Teppich* er bewegte die Lippen, er wollte etwas sagen. Plötzlich rief er: „Die Leute veräppeln, was? Ich hab' meine Zeit nicht gestohlen!" Er
wandte sich hart und stampfte aus dem Zimmer. Knurr sah Schneckenstieck haßerfüllt an. Er humpelte ohne Gruß hinaus. Schneckenstieck lief ihm nach. „Aber Knurr, mein lieber Knurr, bester K n u r r . . . " Knurr hinkte weiter. Sein steifes Bein klopfte hohl auf die Dielen. „Dummer Tag!" fluchte Schnekkenstieck. „Erst kriege ich diesen mickrigen Sittich geschenkt, dann kommt dieses Trampel herein und zerstört alles. Knurr ist jetzt zu allem fähig." Er schrie seine Sekretärin an: „Wie konnten Sie den Kerl zu mir lassen? Kein Feingefühl, kein Takt!" „Er kam, klopfte an und ging 'rein", sagte die Sekretärin, „wie ein General kam er." „General! Hier bin ich der General, verstanden!" Er schlug die Tür hinter sich zu. Er blieb lange vor seinem Schreibtisch stehen. Plötzlich packte er den Vogelkäfig und trug ihn hinaus. „Schenk' ich Ihnen", sagte er grimmig zur Sekretärin. Allein im Zimmer, hob er den Telefonhörer ab und wählte die Nammer der Gewerbepolizei. Als sich Ehrenfels meldete, umschirmte er die Sprechmuschel mit der Hand und sagte leise: „Ich hege berechtigten Verdacht, daß mein Fahrer Knurr Schwarzhandel mit Nitrit betreibt." Auch am nächsten Morgen beobachtete Arno Hanneriahn den Fahrer Knurr, wie es ihm aufgetragen war.
Knurr fuhr zu den Kunden. Er fuhr unsicher. Einmal bremste er scharf. Fast wäre er mit einem Motorroller zusammengestoßen. Gegen Mittag hielt Knurr vor seinem Haus. Er ging rasch hinein. Mißmutig beobachtete Hannerjahn die Straße. Es gab nichts Besonderes in dieser alten, häßlichen Straße zu sehen, deren Häuser längst hätten neu verputzt werden müssen. Aus einer kleinen Kneipe mit Vorhängen, die der Tabaksqualm gegilbt hatte, wehte Bratheringsdunst. Vor dem Laden eines Älthändlers baumelten an einer Stange zwei Trenchcoats und ein blumiges Sommerkleid. Dort, wo die Straße in eine breitere mündete, parkte ein schwarzer Wagen, der Hanner Jahn bekannt schien. Er las das Nummernschild und wußte: Polizei! Er faßte wieder Knurrs Haustür ins Auge. Sie öffnete sich baldy Knurr stolperte heraus. Neben ihm gingen zwei Männer in Ledermänteln. Des alten Mannes zerknittertes Gesicht war pergamentgelb. Die Männer schoben ihn ins Auto, das langsam vorfuhr, knallten die Türen und jagten davon. Es war Nachmittag, als Detektiv Hannerjahn sich zum Fluß begab. Den jungen Mann hatte die Neugier gepackt, als er den festgenommenen Knurr aus dem Haus kommen sah. Er war hineingegangen. Das Mädchen Christine hatte ihm erzählt, daß die Polizei die Wohnung durchsucht und die Tütchen mit Nitritpökelsalz gefunden habe. 21
Als ihr Vater nach Haus gekommen sei, hätten sie ihn wegen Verdachts auf Gifthandel festgenommen. Sie erzählte Hannerjahn von dem Korb, den Schneckenstieck geschickt hatte, und von den vielen Wegen, die sich der Vater gemacht habe, um Schneckenstiecks schmutzige Nitritgeschäfte aufzudecken. Zum Schluß sagte sie traurig: „Die Chefs und die Polizei halten zusammen, da kann ein einzelner gar nichts machen." Hanner Jahn hatte in der letzten Zeit von mehreren Nitritvergiftungen gehört. Die Wurst, die sein Hund am Ufer gefunden hatte, konnte nur eine Nitritwurst sein. Er stieg die Böschung hinab, die sich flach zum Fluß senkte. Das Gras war von einer tiefen Handwagenspur durchschnitten, die sich bis zum feuchten Uferkies zog. Zwischen den beiden Radspuren liefen die Abdrücke von gemusterten Gummisohlen. Sie waren nur noch schwach zu erkennen. Sie gingen bis in den Fluß hinein. Hannerjahn krempelte die Hosenbeine um und watete den Spuren nach. Er stolperte, eine Fessel schlang sich um seine Beine. Er griff danach und zog einen Sack aus dem Wasser. An der oberen Sackkante fand er — verwaschen — einen Stempel: Adolf Schneckenstieck, Fleischereiund Konditoreibedarf en gros. Er rollte den Sack zusammen und versteckte ihn im Gebüsch. Er suchte weiter und holte noch ein paar schmutzige weißrotgestreifte Papierfetzen zwischen den Steinen hervor. Er legte sie in die Sonne, damit sie trockneten. Dann setzte 22
sich der junge Mann auf einen großen Stein und überlegte. Sollte er sich nicht besser um seine eigenen Angelegenheiten kümmern? Die sahen traurig genug aus: kein Geld fürs Studium, und einen neuen Anzug hätte er auch brauchen können. Er sollte lieber zum Chef gehen und nach neuen Aufträgen fragen! Er könnte in der Nitritangelegenhe'it ins Fettnäpfchen treten, die Großen sind mit der Polizei gut dran. Wer weiß, wer an dem Nitrit alles verdient hat? Vielleicht hängt eine ganze Clique daran! Soll sich der Knurr selbst verteidigen! Wenn er unschuldig ist, kann ihm nichts geschehen. Hannerjahn lachte ironisch. Das war ein schlechter Witz. Ich weiß genau, daß nicht immer die Unschuld siegt, wie in Kitschromanen. Sie werden ihm so zusetzen, daß er gesteht, was er nie getan hat. Was aber kann ich dafür? Ich sollte sehen, daß ich mein Geld verdiene, damit ich im Herbst weiterstudieren kann! Dies ist nicht der große Fall, der mich berühmt machen würde, eher könnte ich mir die Finger daran verbrennen! Er hob ein blankgespültes Steinchen auf und warf es flach über den Wasserspiegel. Er hob ein zweites auf, bemerkte, daß es ein Hirschhornknopf war, gelbbraungefleckt. Er wollte ihn ins Wasser schleudern, doch dann steckte er ihn ein. Ein neuer Beweis, dachte er. Der Knopf braucht nicht dem Täter zu gehören. Ein Kind kann hier mit ihm gespielt haben . . . Sehe ich nicht Gespenster?
Er beschloß, mit dem Chef über den Fall zu reden. Der Chef fuhr ihn ungnädig an: „Wenn Sie sich nicht ausgelastet fühlen, lieber Herr Hannerjahn, empfehle ich Ihnen, ein eigenes Detektivbüro aufzumachen. Schnekkenstieck ist unser Kunde. Jedermann kann unser Kunde sein. Deshalb mischen wir uns nie in Dinge, die unsern derzeitigen oder künftigen Kunden schaden könnten. Haben Sie verstanden?" „Ja", sagte Hannerjahn. Er raffte Sack, Wurst und Papierfetzen zusammen. Niedergeschlagen dachte er: Ich will das Recht studieren, aber ich kann nichts fürs Recht tun. Doch, ich werde etwas tun! Ich werde sofort zur Polizei gehen und meine Feststellungen zu Protokoll geben! Er verwarf diesen Plan. Er traute der Polizei nicht. Er war verzweifelt. Soll es denn kein Recht geben? Das Recht sollte doch etwas Sauberes, Anständiges sein, etwas, was für alle Menschen gilt, ganz gleich, ob sie reich oder arm, schön oder häßlich sind! So jedenfalls stelle ich mir das Recht vor. Er überlegte, was er noch tun könnte. Vielleicht sollte er sich an eine ctpfere Zeitung wenden? Er wußte es nicht. Während Hannerjahn seinen Gedanken nachhing, wurde Emil Knurr verhört. Er saß auf einem unbequemen Holzschemel. Die Sonne schien ihm grell ins Gesicht. Zu seinen Seiten hockten zwei Kriminalbeamte. Vor ihm legte sich Ehrenfels über den Schreibtisch. Ehrenfels brüllte: „Sie treiben 24
seit längerer Zeit Schwarzhandel mit Nitrit! Woher haben Sie es?" „Ich habe niemals..." „Kennen wir, sagen alle, 'raus mit der Sprache! Wir haben keine Lust, hier lange zu palavern! Wo haben Sie das Nitrit her, das Sie den Fleischern verkauften?" „Von Schneckenstieck!" „Also von Ihrem Chef geklaut! Und dann schwungvoll damit gehandelt? Gar nicht so dumm." „Ich habe nichts..." „Nein, Sie sind unschuldig! Wie ein Engel. Kennen wir. Sie haben das gestohlene Nitrit an die Fleischer verkauft. Zu welchem Preis?" Knurr wischte mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. „Ich sage doch: Schneckenstieck lieferte das Nitrit an die Fleischer, ich fuhr es nur aus. Ich h a b e . . . " „Aha!" rief der linke Beamte. „Noch schöner!" rief der rechte. Ehrenfels sagte: „Dann haben Sie sich also der Mitwisserschaft schuldig gemacht. Warum haben Sie es nicht gemeldet? Sie wußten doch, daß so etwas ungesetzlich ist!" „Herr Schneckenstieck sagte mir nichts, ich konnte nicht..." „Mann! Sie müssen doch wissen, was Sie fahren! Da kann Ihnen ja jemand sonstwas auf die Karre laden!" „Ich wußte nichts", beteuerte Knurr, „und als ich es erfuhr, nämlich als meine Tochter krank wurde..." „Als Ihre Tochter krank wurde! Aber andere Töchter durften ruhig krank werden. Nur als die eigene drankam, da kriegten Sie Gewissensbisse!"
Knurr hielt die Hände vors Gesicht. „Sagen Sie die Wahrheit!" zischte es von -rechts. „Wir wissen alles", kam es von links. Von vorn schrie Ehrenfels: „Schluß mit dem Theater! Sie lügen sich immer tiefer 'rein, denken Sie gar nicht an Ihre Tochter?" „Ich denk' dran", murmelte Knurr. „Ich will 'raus, Ich bin zu Unrecht hier, ich habe nichts getan . . . " „Das können wir nun bald singen", sagte Ehrenfels höhnisch. Dann veränderte sich seine Stimme, sie wurde weich. „Herr Knurr, es ist doch nur zu Ihrem Besten. Sie müssen uns doch helfen. Sie haben die Gesundheit vieler Bürger gefährdet. Nun machen Sie es gut, indem Sie uns die Arbeit erleichtern. Was Sie getan haben, wissen wir, doch sagen Sie es uns mit eigenen Worten, damit es protokolliert werden kann. Wenn Sie das Protokoll unterschrieben haben, können Sie sofort zu Ihrer Tochter." Knurr blinzelte gegen die scharfe Sonne. Wenn sie doch den Vorhang zuziehen möchten, dachte er. Er sagte laut: „Ich kann nichts zugeben, was ich nicht getan habe. Sie brauchen mich nicht weiter zu fragen." „Wir fragen, soviel und solange wir wollen, verstanden? Aber jetzt wollen wir essen gehen und ein Bier trinken. Das könnten Sie auch, Herr Knurr, so ein helles, schäumendes Bier . . . Aber Sie ziehen die Zelle vor. Jedem das Seine!
Wachtmeister, führen Sie den Untersuchungsgefangenen ab!" Der Wachtmeister brachte ihn einen Gang hinab, in dem es kühl von den Wänden wehte. „Es sieht übel aus, mein Junge", sagte der Wachtmeister. Großhändler Adolf Schneckenstieck saß inmitten seiner Vogelkäfige und überlegte, ob er sich die Webervögel anschaffen sollte oder nicht. Der Vorsitzende des Vereins der Vogelfreunde hatte ihm noch nicht sagen können, ob die Webervögel auch in der Gefangenschaft ihre hübschen Nester bauen. Er wollte erst einen studierten Ornithologen befragen. Schneckenstieck tickte mit dem Fingernagel gegen die Messingstäbe des großen Käfigs. Der Paradiesvogel, sein Liebling, stelzte aus dem Badehaus. Der Großhändler trat ans Fenster und schaute in den sonnigen Morgen hinaus. Die Bäume leuchteten in kräftigem Grün. Frisch und ein wenig feucht vom Tau lag der Weg unter ihnen. Der Mann öffnete das Fenster und atmete tief die Frühluft ein. Über den taufrischen Weg fuhr ein Speditionsauto. Es hielt unter den leuchtenden Bäumen. Zwei Männer in blauen Möbelträgerblusen luden einen Kühlschrank ab. Sie trugen ihn in die Villa. Schneckenstieck wollte aus dem Fenster schreien: „Nicht hierher, nicht hierher!" Er brachte kein Wort über die Lippen. Er lief hinaus in den Korridor und hörte 25
schon knarrende Schritte und leises Ächzen. Vor der Glastür erhob sich der eckige Schatten des Kühlschrankes. Schneckenstieck öffnete nicht, er rief mit hoher Stimme: „Wer schickt denn dieses Ungetüm? Ich habe nichts bestellt!" „Herr Ehrenfels schickt ihn. Sie wüßten Bescheid. Die Rechnung für den Transport haben wir mitgebracht." Schneckenstieck sah durch die matte Scheibe einen Arm etwas auf den Schrank legen. Erst als die Männer weg waren, öffnete er die Tür. Er schrie nach seiner Frau und dem Dienstmädchen: „Schafft das Ding weg, dieses Ding aus meinen Augen!" Inzwischen war in das Vogelzimmer ein Servierwagen mit dem Frühstück geschoben worden. Unterm Brötchenteller lag zusammengefaltet die Zeitung. Es war die „Demokratische Volkszeitung", die Schneckenstieck nicht abonniert hatte. Das Dienstmädchen las sie. Was legt sie mir dieses Käseblatt hin, dachte er wütend, wo ist mein „Städtischer Anzeiger"? Verwechselt schon die Zeitung, die dumme Trine! Er entfaltete das Blatt, er wollte gerade knurren: Wer liest denn so was?, da stach ihm eine Überschrift in die Augen: „Profite auf Kosten der Volksgesundheit — Lebensmittelfälscher am Werk." Er las die folgenden Zeilen, vor seinen Augen tanzten die Worte. Sie nennen keinen Namen, dachte er. Aber das beruhigte ihn nicht. Sie schreiben in einem Ton, als wüßten sie alles. Ich muß sofort 26
Obermeister Hackmann anrufen. Er muß bei der Zeitung im Namen der Fleischerinnung energisch protestieren und eine Zurücknahme des Artikels fordern! Obermeister Hackmann war nicht zu sprechen. Seine Frau sagte, er sei bei der Innung, die Sekretärin im Innungsbüro sagte, er sei zu einer Sitzung gefahren. Es sei unbestimmt, wann er wiederkäme. „Verdammt!" Schneckenstieck warf den Hörer Hin. Er rutschte von der Gabel und pendelte dicht überm Fußboden. Schneckenstieck hörte das Amtszeichen tüten. Soll er hier pendeln, dachte er wütend, dann kann mich wenigstens kein Idiot anrufen. Heute können nur unangenehme Anrufe kommen. Ich fühle, es ist ein schwarzer Tag. Er war noch nicht dazu gekommen, sich Honig aufs Brötchen zu träufeln, da schrillte die Türklingel. Bald darauf dröhnten Schritte auf der Treppe. Ohne anzuklopfen, trat Ehrenfels ein, ihn begleiteten der Beamte, der Schneckenstiecks Lager und die Bücher untersucht hatte, und ein Angestellter der Kriminalpolizei. Schneckenstieck wischte die Honigfinger an der Serviette ab. Er mochte den Herren keine klebrige Hand geben. Die Beamten warteten nicht, daß er ihnen die Hand reichte. Ehrenfels warf sich in einen Sessel, sein Kollege zog sich einen Hocker heran, der Kriminalbeamte setzte sich rittlings auf einen Stuhl und stützte die Ellenbogen auf die Lehne.
„Wir haben uns soeben Ihren Handwagen angesehen", sagte Elirenfels ohne Einleitung. „Fahren Sie öfter mit dem Handwagen spazieren?" „Iiiich?" Ehrenfels sprang auf. „Zeigen Sie uns Ihren Kleiderschrank, aber 'n bißchen dalli!" Es erwies sich, daß Herr Schnekkensüeck drei Kleiderschränke besaß. Das Dienstmädchen mußte einen Anzug nach dem anderen herausnehmen, auch den eingemotteten Winterpelz, den alten Militärmantel, den sich Herr Schnekk°nstieck als Kriegsandenken aufhob, die Klubjacke mit den strekkenden Streifen und die wattierten Hausjacken. „Sind das alle Sachen?" fragte der Kriminalbeamte. „Ja", sagte Schneckenstieck, „mehr habe ich leider nicht." „Aber, Herr Schneckenstieck, Sie haben doch noch die Joppe!" rief das Dienstmädchen. „Zeigen Sie die Joppe!" „Sie hängt im Gartenhaus, ich zieh' sie kaum noch an." Das Dienstmädchen mußte die Joppe holen. Es war eine alte fischgrätengemusterte Joppe mit Hirschhornknöpfen. „Vermissen Sie nicht einen Knopf?" fragte der Kriminalbeamte. „Nicht, daß ich wüßte." Sämtliche Knöpfe saßen in zwei Reihen an der Joppe. Auch die Ärmelknöpfe waren vorhanden, nur einer hing ein wenig lose. Der Beamte kehrte die Joppe um, das
verschwitzte Futter kam zum Vorschein. Die Joppe hatte zwei Innentaschen, an einer hingen abgerissene Nähfäden. „Hier ist Ihr Knopf, Herr Schnekkenstieck, Sie hatten ihn am Fluß verloren", sagte der Beamte und zeigte den Hirschhornknopf. „Ich verstehe gar nichts mehr", sagte Schneckenstieck. „Das kommt noch", sagte Ehrenfels. Er zeigte auf Schneckenstiecks Füße. „Haben Sie noch andere Schuhe?" Die Beamten durchwühlten den Schuhschrank. „Da fehlt ein Paar!" „Es steht in der Küche", sagte Schneckenstieck matt. Der Kriminalbeamte nahm ein Stück Papier heraus, auf das ein Sohlenmuster gezeichnet war. Er verglich es mit Schneckenstiecks Gummisohle. Er nickte. Die anderen nickten auch. „Wir müssen Sie mitnehmen, Herr Schneckenstieck. Es dürfte Ihnen wohl einleuchten, weshalb?" Bis jetzt hatte Schneckenstieck nur wenig gesagt. Er hatte vor Schreck keine Worte gefunden. Plötzlich aber brüllte er und griff Ehrenfels an die Krawatte. „Sie Schuft, Sie sind bestechlich! Sie haben von mir einen Kühlschrank genommen! Unten steht der Kühlschrank, den Sie von mir genommen haben!" Ehrenfels kniff die Lippen ein. Er sagte kalt: „Ein Kühlschrank, den ich genommen habe, kann nicht in I h r e m Hause stehen!" Er wandte sich an die Beamten. „Herr Schneckenstieck versuchte mich zu bestechen. Es ist selbstverständlich 27
nicht gelungen. Ich habe ihm den Kühlschrank sofort zurückgeschickt." „Sofort? Höhö! Daß ich nicht lache!" Schneckenstieck schnaufte. „Nach vier Tagen, heute erst, haben Sie ihn mir zurückgeschickt!" „Ich mußte erst überprüfen, woher er kam", sagte Ehrenfels. Seine Stirnader schwoll. Schneckenstieck lachte hysterisch. „Sie haben Angst bekommen, wegen des Zeitungsartikels!"
Der Kriminalbeamte hüstelte und sah Ehrenfels durchdringend an. Schneckenstieck fauchte: „Und den Umschlag mit Ihrem Absender? Wozu haben Sie den fallen lassen?'* „Einen Umschlag?" fragte Ehrenfels verwundert. „Nicht, daß ich wüßte! Wenn ich wirklich einen verloren haben sollte, so wäre es Ihre verdammte Pflicht und Schuldigkeit gewesen, ihn mir sofort zurückzugeben."
„Gauner!" brüllte Schneckenstieck. „Ihr alle seid Gauner! Vor Gericht werde ich auspacken!" Ehrenfels räusperte sich. „Ich verbitte mir Ihre Beleidigungen. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß versuchte Beamtenbestechung sowie Beamtenbeleidigung strafverschärfend wirken!" „Herr Schneckenstieck", sagte der Kriminalbeamte und klopfte dem Großhändler auf die Schulter, „es dürfte jetzt an der Zeit sein -. -, " Als die Beamten mit Schneckenstieck das Vogelzimmer verließen, plusterten die Vögel ihr Gefieder, der Paradiesvogel schwang auf der Schaukel wild hin und her. Die Papageien kreischten. Schweigend wandte der Schmutzgeier den nackten Kopf. Am buntbepflasterten Zeitungskiosk gegenüber dem Polizeigebäude blieben heute mehr Leute stehen als anderntags und studierten die Schlagzeilen. Der Zeitungshändler reichte eine Zeitung nach der anderen aus seinem gläsernen Guckkasten. Er war ein alter Zeitungshändler, er trug eine unmoderne, runde Brille, deren dicke Gläser seinen Augen einen treuherzigen Ausdruck gaben. Das „Heimblatt", die Zeitung für Familie, Haus^ und Feierabend, schrieb in schwarzen Fettbuchstaben: i,Am schwersten betroffen sind wohl die Opfer dieses großangelegten Verbrechens, nämlich die ehrlichen Fleischermeister unserer Stadt, die ahnungslos das Gift verwandten, immer in gutem Glau-
ben, es handele sich um das übliche Pökelsalz. Wie konnten sie annehmen, daß ihr Vertrauen so mißbraucht würde? Obermeister Hackmann und Meister Schweiniehen, die unser Reporter interviewte, schämten sich ihrer Tränen nicht. Tief erschüttert erklärte der Obermeister: Wir alle sind betrogen worden!" So schrieb das „Heimblatt". Der Zeitungshändler aber schüttelte den Kopf und murmelte: „Wer's glaubt, wird selig." Das „Bilder-Echo" trug vorn die Fotos des Detektivs Arno Hannerjahn und des Mädchens Christine Knurr. Hannerjahn lachte verlegen. Die eine Hand lag auf dem Kopf des treuen Hundes, der die Wurst gefunden hafte. Im Text hieß es: „Handelte der sympathische junge Sherlok Holmes aus business-Geistj oder war es der elektrisierende Funke einer Liebe auf den ersten Blick, der ihn an den Fluß trieb? Auch auf die entzückende Christine (17, braunäugig) kann der junge Detektiv nicht ohne Wirkung geblieben sein, nachdem er dem zarten Giftopfer wie ein Engel in der Not erschienen war. Arno Hannerjahn ist passionierter Briefmarkensammler* trinkt jeden Morgen ein Glas Joghurt und raucht nur wenig : . . Wenn er in seinem lässig geschnittenen Sportanzug dunklen Verbrechen nachspürt, wissen wir, daß wir beruhigt schlafen können . . .", Der Zeitungshändler sagte dazu: „Die wollen vom Thema ablenken." Es wurde der „Städtische Anzeiger" verlangt,, Schneckenstiecks Leib-und-Magen-Blatt. Der Anzei29
ger brachte" Schneckenstiecks Bild. Der Großhändler saß mit herabgesunkenen Schultern neben einem riesigen Kühlschrank. „Es gelang ihm nicht", stand darunter, „unsere Polizei ist ehrlich! Kommissar Ehrenfels benötigte keine Minute Zeit, den Kühlschrank an die rechte Adresse zurückzuschicken." Hierzu meinte der Zeitungshändler: „So siehst du aus!" Die „Demokratische Volkszeitung" veröffentlichte kein Bild. Aber sie fragte: „Warum bedurfte es erst unseres Artikels, um das Verbrechen aufzuklären?" „Ja, warum?" fragte der Zeitungshändler. Ein alter Mann trat an den Kiosk und verlangte mit leiser Stimme die „Volkszeitung", das „BilderEcho", den „Städtischen Anzeiger" und das „Heimblatt". Er rollte sie zusammen und steckte sie vorn in seine abgetragene Lederjacke. Langsam humpelte er die Straße entlang. Auf einer Bank neben Blu-
menrabatten ließ er sich nieder. Er zog die Brille hervor, putzte sie mit einem karierten Taschentuch, und er las einen Artikel nach dem andern. Von mir schreiben sie kein Wort, dachte er. Er legte die Zeitungen zusammen und starrte vor sich hin auf seine Arbeitsschuhe, die schon runzlig wurden. Schneckenstieck ist hin, dachte er, wo kriege ich nun eine neue Stelle her? Er saß lange auf der Bank. Beinahe lautlos glitten die spiegelnden Autos an ihm vorüber. An den Steuern saßen jüngere Männer als Knurr. Hier werde ich keinen Wagen wieder fahren können, dachte er traurig. Er fühlte sich sehr allein. — Vielleicht sollte ich dem Otto mal schreiben? Er ist Fahrer bei einer Maschinenfabrik in Magdeburg, trotz seiner achtundfünfzig Jahre. Ich will sehen, ob ich seine Adresse finde. — Er stand auf und ging langsam die Straße hinab. Auf der leeren Bank blieben die Zeitungen liegen.
Anmerkungen Schmutzgeier Krokodilwächter Detektivbüro Natriumnitrit Stangensalpeter
Ornithologe
Raubvogel mit stumpfen Krallen und Hakenschnabel ostafrikanischer Schnepfenvogel, holt sich sein Futter (Insekten) vom Körper der Krokodile ein Büro, das gegen Bezahlung im Auftrage von Privatpersonen Ermittlungen über jedermann anstellt ähnelt dem Kochsalz, auch im Geschmack. 0,5 Gramm Nitrit können zur Übelkeit führen, 2 Gramm dagegen schon schwere Vergiftungserscheinungen hervorrufen. Tarnbezeichnung für reines Natriumnitrit, da das Nitritgesetz (Verordnung vom Jahre 1930 und vom 19. Juni 1934) die Verwendung von Natriumnitrit grundsätzlich untersagt. Nitritpökelsalz darf nach diesem Gesetz nur 0,5 Gramm Natrium in 100 Gramm Kochsalz enthalten. Es darf nur in Betrieben, die unter staatlicher Aufsicht stehen, verwandt werden und muß durch rotgestreifte Papiersäcke kenntlich gemacht werden. In der DDR ist das Nitritgesetz verschärft worden, so dafl hier Lebensmittelfälschungen unmöglich sind. Vogelkundler
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Copyright by Verlag Neues Leben Berlin 1958 Lizenz Nr.- 303 (305/88/58) Umsehlagzeichnung und Illustrationen: Werner Kulle, Berlin Druck: (140) Neues Deutschland, Berlin N 54 . 5487 ES 9 D 4/5
erade an dem Tage, an dem Billi (eigentlich Willi Biedermann) das Mädchen Irene treffen soll, wird ihm und seinen Kameraden der Ausgang gesperrt. Sie hatten sich für die Streiche der ersten Kompanie rächen wollen und waren dabei erwischt worden. Nun ist guter Rat teuer. Doch die Freunde haben eine Idee: Moses, der kleinste von ihnen (in Wirklichkeit heißt er Hans Röder), soll durch den unterirdischen Mönchsgang der Burg, in der das Bataillon untergebracht ist, in die Stadt gehen und Irene benachrichtigen. In dem geheimnisvollen Labyrinth stößt er auf eine Gruft und erblickt hinter dem marmornen Sarkophag einen kreidebleichen Mönch . . . Humorvoll berichtet Rudi Strahl von dem Abenteuer dieses jungen Soldaten unserer Volksarmee in seiner Erzählung
die im Heft Nr. 144 unserer Reihe „Das neue Abenteuer" erscheint.
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