July Morland
Gefahren einer Schatzsuche Irrlicht Band 399
Der Mann war nur noch einen Schritt von Julia entfernt. Si...
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July Morland
Gefahren einer Schatzsuche Irrlicht Band 399
Der Mann war nur noch einen Schritt von Julia entfernt. Sie stieß mit dem Rücken an einen Baumstamm und konnte nicht weiter zurückweichen. Der kräftige, wutentbrannte Mann stand in furchteinflößender Haltung vor ihr. Er legte seine riesigen Hände um ihren Hals. Julia versuchte, sich seiner Umklammerung zu entziehen. Sie wand sich verzweifelt in seinen grausamen Händen. Langsam schwanden ihr die Sinne…
»Uff, endlich geschafft!« Julia ließ sich stöhnend in den Sessel fallen. Ihr verletzter Knöchel schmerzte noch immer. Außerdem war sie ganz erledigt von der Hitze und der schlechten Luft, die im Auto geherrscht hatten. »Zum Glück ist das Bein wenigstens nicht gebrochen«, sagte Sandra nun schon zum dritten Mal. Sie holte einen Hocker und legte vorsichtig das verletzte Bein ihrer Freundin darauf. Tröstend mischte sich jetzt auch Christine ein: »Der Arzt meint, in ein paar Tagen kannst du wieder laufen. Jetzt schonst du dich eben ein wenig, dann wird es schon wieder gehen. Wir ändern unser Programm einfach und faulenzen während der nächsten Tage.« »Warum mußte ich mich auch so blöd anstellen?« ärgerte sich Julia über sich selbst. »Damit verpatze ich uns den ganzen Urlaub.« Sie hätte am liebsten geweint. Es war aber auch zum Heulen. Dieser Unfall brachte ihre Urlaubspläne total durcheinander. Die drei Mädchen hatten ein riesiges Programm ausgearbeitet. Mit ungeheurem Elan hatten sie sich vorgenommen, sämtliche Sehenswürdigkeiten der Toskana eingehend zu besichtigen, und nun saß Julia hier fest und konnte nur mühsam humpeln.
*
Es hatte alles so schön begonnen. Voller Erwartungen hatten die drei Freundinnen diesen unverhofften Urlaub angetreten. Christines Eltern hatten einen Bungalow in der Toskana gebucht. Kurz vor Antritt der Reise hatte sich Christines Mutter den Arm gebrochen. Die Buchung war nicht mehr
rückgängig zu machen. Als Christine ihren Freundinnen davon erzählte, hatte Sandra sofort geschaltet. Nach einigem Hin und Her waren die drei Mädchen begeistert von der Idee, anstelle von Christines Eltern in die Toskana zu fahren und in dem kleinen Bungalow zu wohnen. Sie fuhren in Julias Auto. Als sie ankamen, bestaunten sie die herrliche Landschaft, die sich im verheißungsvollen Licht der Abendsonne darbot. Sprachlos standen sie vor dem kleinen Häuschen. Es war reizend. Wie hingeduckt unter hohen Bäumen stand es ein wenig abseits am Straßenrand und schien die Mädchen einzuladen näherzukommen. Die Inneneinrichtung war allerdings etwas spärlich, und das Sofa, auf dem Sandra schlafen mußte, da nur zwei Betten vorhanden waren, war zu kurz und sehr schmal. Dafür wurden sie vom Garten entschädigt. Die drei Mädchen erklärten sofort einstimmig, daß sie sich wohl die meiste Zeit auf der Terrasse aufhalten würden. Sie war überdacht und mit blühenden Rankgewächsen bewachsen. Von hier aus sah man die herrlichen, uralten Bäume eines riesigen, total verwilderten Parks, der gleich hinter dem Häuschen begann. Obwohl es erst Anfang Mai war, schien die Sonne schon sehr heiß und ließ die friedlichen, von kleinen Sonnenflecken durchdrungenen Schatten der uralten Baumriesen noch reizvoller erscheinen. Bereits am Tag nach ihrer Ankunft war es passiert. Neugierig und voller Tatendrang waren die drei Freundinnen herumgestrolcht, um zunächst die nähere Umgebung zu erkunden. Sie waren durch die kleine, verschlafene Ortschaft geschlendert, deren alte Häuser und kleine Weinberge aussahen wie aus einem anderen Jahrhundert, und hatten dann,
als es auf der Straße zu heiß wurde, den verwilderten Park erforscht. Es war nicht einfach, sich einen Weg durch das wuchernde Unterholz zu bahnen. Zähe Ranken und hartnäckige Sträucher hatten die Wege größtenteils überwuchert. Die Mädchen zerkratzten sich ihre nackten Beine an dem dornigen Gestrüpp. Doch das konnte ihre gute Laune nicht beeinträchtigen. Sie hatten ein beträchtliches Stück des unwegsamen Geländes durchstreift, ehe sie zu einem Gebäude kamen, zu dem der Park ganz offensichtlich gehörte. Auf ihrem Weg waren sie an Skulpturen und stillgelegten Springbrunnen, an Steinbänken und von wildwuchernden Pflanzen überdachten Sitzplätzen vorbeigekommen. Das wuchtige, freistehende Haus, an dem sämtliche Läden geschlossen waren, war vor langer Zeit bestimmt einmal eine herrschaftliche Villa gewesen. Jetzt wirkte es ein wenig verwahrlost. Die verwitterten, hölzernen Fensterläden waren geschlossen. Sie hingen schief in den Angeln und gaben dem Haus das Aussehen eines verwunschenen Märchenschlosses. Obwohl es heruntergekommen und vernachlässigt aussah, konnte man ahnen, daß es einst prunkvoll und großartig gewesen war. Vermutlich war es seit langem unbewohnt. Auf dem Rückweg zu ihrem Ferienhaus hatten die drei Mädchen ein halbverfallenes, kleines Gebäude entdeckt. Neugierig waren sie eingetreten. In Augenhöhe stand eine Madonnenfigur, deren Farbe überall abblätterte. Ein Betschemel, der noch verhältnismäßig neu war, stand davor. »Das ist eine kleine Gebetskapelle«, vermutete Christine. »Die Italiener sind doch angeblich sehr fromm.« Julia war übermütig auf ein schmales Mäuerchen geklettert, das einst Teil dieser Kapelle gewesen war. Lachend, mit weit ausgebreiteten Armen, hatte sie kurz auf diesem schmalen Mauerrest balanciert, hatte dann das Gleichgewicht verloren
und war hastig von der Mauer gesprungen. Dabei war sie mit dem linken Fuß so unglücklich auf der Kante einer efeuüberwucherten Steinstufe gelandet, daß sie vor Schmerz aufgeschrien hatte. Sie war nicht mehr in der Lage gewesen aufzutreten. Die Freundinnen hatten sie unter einigen Mühen zu einem Arzt gebracht. Dieser hatte festgestellt, daß nichts gebrochen war, das Bein fachgerecht verbunden und Ruhe verordnet. Da saß sie nun! Ade, schöne Urlaubspläne! Julia war verzweifelt.
*
Am nächsten Morgen sah die Welt wieder etwas freundlicher aus. Nach einigen Stunden Schlaf und einem guten Frühstück war die Aussicht, einige Tage faul hier in dem herrlichen Park herumzuliegen, gar nicht mehr so deprimierend. »Außerdem haben wir noch fast drei Wochen Urlaub vor uns«, beschwichtigte Christine ihre Freundin Julia. »Dein verletzter Knöchel wird sicher in ein paar Tagen soweit geheilt sein, daß du ohne große Beschwerden gehen kannst.« Julia bestand darauf, daß ihre Freundinnen nicht tatenlos bei ihr herumsaßen. Sie drängte: »Fahrt ruhig ohne mich los. Ich bin froh, wenn ich euch den Urlaub durch meinen ungeschickten Leichtsinn nicht verderbe. Hier habe ich es bequem. Es ist mir wirklich lieber, wenn ich weiß, daß ich euch nicht zur Last falle.« Nach einer kurzen Beratung stellten sie ihr Programm um. »Die wichtigen Sehenswürdigkeiten werden wir uns bis zuletzt aufheben. Julia kann dann mit Sicherheit auch wieder laufen«, schlug Sandra vor.
Julia stimmte zu: »Während der nächsten Tage könnt ihr beide euch die Gegend ein wenig ansehen. Es macht mir wirklich nichts aus, allein hierzubleiben.« Nachdem sie Julia, die es sich auf der Terrasse in einem Liegestuhl bequem gemacht hatte, mit Getränken, Lesestoff und guten Ratschlägen versorgt hatten, bestiegen Christine und Sandra das Auto und brausten davon. Wohlig rekelte sich das verletzte Mädchen in ihrem Liegestuhl. Hier konnte sie es einige Tage aushalten. Ihr Bein schmerzte nur noch, wenn sie es bewegte. In der südländischen Idylle dieses Ortes entspannte sie sich. Sie hörte die Vögel zwitschern und das Gesumm der Insekten. Die Ruhe tat ihr gut. Die letzten Tag waren sehr hektisch gewesen. Nun genoß sie die friedvolle Stille und Abgeschiedenheit. Selbst zum Lesen war sie zu faul. Angenehm entspannt döste sie vor sich hin. Rings um sie waren nur Bäume und Sträucher. Von ihrem Platz aus konnte sie das nur noch teilweise erhaltene Dach der kleinen Kapelle sehen, auf deren Mauer sie abgerutscht war. Sie überlegte, aus welchem Material dieses Dach sein könnte. Es flimmerte und glänzte in der Sonne. Plötzlich war alles wie verändert. Sie blinzelte. Die Bäume sahen ganz anders aus. Sie schienen jünger und zum Teil kleiner geworden zu sein. Das dichte Unterholz, das die Wege überwuchert hatte, war verschwunden. Auch ganz andersartige Geräusche drangen an ihr Ohr. Die gedämpften Motorengeräusche, die von der Straße hereingedrungen waren, waren mit einem Mal verschwunden. Von fern hörte sie fröhliches Kinderlachen. Sie konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, was sich geändert hatte, aber irgend etwas war anders als zuvor.
Eigentlich wollte sie darüber nachdenken, was nun so plötzlich verändert war, aber sie wurde entsetzlich müde. Die Augen fielen ihr zu.
*
Julia erwachte vom Lärm der zurückkehrenden Freundinnen. Diese hatten Obst und Kuchen mitgebracht und setzten sich zu ihr auf die Terrasse zu einem verspäteten, improvisierten Mittagessen. Fröhlich und munter kauend saßen sie beisammen. Julia betrachtete aufmerksam die Bäume und das Unterholz. Es war alles wie immer, verwildert und uralt. Sie schüttelte unwillig die Erinnerung an die Veränderung ihrer Umgebung ab. Vermutlich hatte sie nur geträumt. Die Freundinnen plauderten von ihrer Fahrt durch die Hügellandschaft. »Die ganze Gegend ist sehenswert. Die Straße windet sich malerisch durch die blühende, üppige Landschaft. An manchen Stellen hatten wir eine herrliche Aussicht. Christine fotografierte wie verrückt. Ich mußte dauernd anhalten, damit sie die unvergleichlichen Eindrücke auf ihrem Film festhalten konnte. Wenn du nichts dagegen hast, fahren wir noch einmal los, nachdem wir uns ein wenig ausgeruht haben. Wir bringen dann gleich das Abendessen mit. Ich habe eine Pizzeria in der Nähe entdeckt, die sehr einladend aussieht«, erklärte Sandra begeistert. »Fahrt nur ruhig«, erwiderte Julia, von der übermütigen Laune ihrer Freundinnen angesteckt. »Ich bin froh, wenn ihr euch durch mich Invaliden nicht in euren Unternehmungen stören laßt. Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich euch den Urlaub verderben würde. Es ist wunderschön hier. Mir tut
es eigentlich sehr gut, einmal so richtig auszuspannen und zu faulenzen. Wenn ich recht bedenke, finde ich die Aussicht, hier eine Weile untätig herumzuhängen, gar nicht mehr so unangenehm.« Nach dem Mahl holten sich die beiden Mädchen ihre Liegestühle und leisteten Julia einige Stunden Gesellschaft. Dann brachen sie wieder auf. Julia blieb allein zurück und war überhaupt nicht traurig darüber. Die ganze Welt schien in trägem Schlummer zu liegen. Ringsum herrschte eine Stille, die fast greifbar war. Wie in allen südlichen Ländern hielt die Bevölkerung ihre Mittagsruhe. Kein Auto, kein Radiogeheul, keine lauten Stimmen waren zu hören. Selbst die Vögel und die Insekten schienen zu schlafen. Julia, die an den ständigen Geräuschpegel der Stadt gewöhnt war, registrierte diese angenehme, tiefe Stille eher als störend. Sie vermißte den Stadtlärm. Kurz dachte sie daran, den mitgebrachten Radioapparat zu holen und einzuschalten, aber sie war zu faul, um aufzustehen. Christine und Sandra hatten ihr Buch neben den Liegestuhl gelegt, ehe sie verschwunden waren. Julia las ein wenig. Doch schon bald ließ sie das Buch sinken. Sie konnte sich nicht auf den Inhalt der Erzählung konzentrieren. Ihr Blick fiel wieder auf das glänzende, glitzernde Dach der verfallenen Kapelle, und da geschah es erneut. Alles war mit einem Schlag verändert. Die Kinderstimmen waren wieder zu hören, und der Park hatte sein Aussehen verändert. Erstaunt richtete sich Julia ein wenig auf. Was war geschehen? Jetzt kam ein Mann zwischen den Bäumen hervor. Er war groß und schlank und ungemein attraktiv. Dichtes schwarzes Haar lockte sich widerspenstig um sein rassiges, anziehendes
Gesicht. Sein kleines Bärtchen wirkte ein wenig grotesk, paßte aber sehr gut zu dem Kostüm, das er trug. Es hätte aus einem anderen Jahrhundert sein können. Komisch, so auffallend gekleidet im Park herumzulaufen! Vielleicht wurde hier irgendwo ein Film gedreht. Oder der junge Mann ging zu Proben für irgendein Heimatfest, bei dem die alten Trachten getragen wurden. Erst schien es, als würde er auf sie zugehen, doch dann bemerkte sie, daß er einen anderen Weg nahm. Er hatte sie nicht gesehen. Die Abzweigung, in die der Fremde einbog, hatten Julia und ihre Freundinnen auf ihrem Spaziergang nicht entdeckt. Aber gestern waren ja auch die Wege total verwachsen gewesen. Im Moment schienen sie gepflegt und in einwandfreiem Zustand. Bald war der Mann ihren Blicken entschwunden. Lange Zeit regte sich nichts. Dann tauchte der Fremde aus der Richtung, in die er gegangen war, begleitet von zwei jungen Frauen, die eifrig auf ihn einredeten, wieder auf. Auch die beiden Frauen trugen aufwendige Kostüme. Bewundernd betrachtete Julia die Haarpracht der Frauen. Es mußte Stunden dauern, bis eine solche Frisur richtig saß. Leider kamen sie nicht näher. Sie gingen in Richtung Herrenhaus. Als sie etwas später halb eingenickt war, hatte Julia undeutlich das Gefühl, daß sie nicht auf dem weichgepolsterten Liegestuhl, sondern auf Holz lag. Aber sie schlief ein, ohne weiter nachzuforschen. Christine und Sandra waren bester Laune. Sie berichteten nach jedem Ausflug begeistert, was sie gesehen hatten. Julia ärgerte sich manchmal, daß sie nicht mit ihnen gehen konnte, ließ sich aber nichts anmerken. Die meiste Zeit verbrachte sie faul und schläfrig im Liegestuhl. Sie konnte bereits kurze Strecken zurücklegen. Zwar humpelte sie noch mühsam, hatte
aber dabei keine allzu großen Schmerzen. Bald würde sie wieder gehen können. Wenn ihre Freundinnen anwesend waren, sah der Park verwildert und uralt aus. War sie dagegen allein, veränderte er sich und wirkte gepflegt und sehr ordentlich. Das Ganze wurde ihr langsam unheimlich.
*
Schon am Vormittag des nächsten Tages tauchten die Fremden in ihrer altertümlichen Kleidung wieder auf. Diesmal kamen sie näher heran. Julia konnte sie ganz deutlich sehen. Ihre alten Kostüme waren großartig, aber es handelte sich ganz offensichtlich nicht um irgendwelche ländlichen Trachten. Eher glichen sie sehr eleganten Kleidern, wie adlige und reiche Leute sie vor Jahrhunderten getragen hatten. Julia konnte nicht sagen, aus welcher Zeit sie stammten. Sie kannte sich leider nicht so genau mit den einzelnen Epochen und Stilrichtungen aus. Der attraktive junge Mann hatte sie entdeckt. Er winkte erfreut in ihre Richtung und rief ihr etwas zu. Sie konnte ihn nicht verstehen. Höflich hob sie den Arm und winkte lächelnd zurück. Die weiße Spitze ihres Kleides leuchtete im Sonnenlicht. Darauf wandte sich der junge Mann in Julias Richtung. Eine der beiden Frauen, die ihn auch heute wieder begleiteten, faßte ihn energisch beim Arm und hielt ihn zurück. Sie redete eifrig auf ihn ein und schüttelte mehrmals aufgebracht den Kopf. Worüber sie redeten, konnte Julia nicht verstehen, dazu waren sie zu weit entfernt.
Stunde um Stunde lag sie allein auf der schattigen Terrasse. Die dicke Frau brachte ihr wieder ein sehr schmackhaftes Mittagessen. Danach schlief sie ein.
*
Als sie erwachte, hörte sie Autolärm. Daran erkannte sie, daß sie in der Gegenwart war. Dem Stand der Sonne nach war es später Nachmittag. Amüsiert dachte sie an die Begegnung mit den Kostümierten zurück. Lächelnd über ihre Phantasie schalt sie sich selbst einen Narren. Urplötzlich erschrak sie zutiefst. Obwohl sie genau wußte, daß sie am Vormittag nur einen Bikini getragen hatte, war der weiße Ärmel ihres Kleides, als sie ihren Arm hochhob, zurückgerutscht. Sie hatte nicht darauf geachtet. Aber jetzt kam es ihr wieder in den Sinn. Sie sah an sich hinunter. Nein, sie trug ihren Bikini. »Hirngespinste!« sagte sie laut.
*
Die Dachspitze der Kapelle zog ihren Blick magisch an. Sie nahm sich vor, noch einmal hinzugehen und diese Ruine genau zu untersuchen, sobald sie ihr Bein wieder belasten durfte. »Warum sind Sie zurückgekommen? Sie hätten nicht kommen sollen!« sagte plötzlich eine Stimme ganz nahe neben ihr auf Italienisch. Julia erschrak. Sie hatte niemanden kommen sehen.
Ein kleiner grauhaariger Mann stand neben ihr und tadelte sie mit vorwurfsvoller Stimme: »Warum sind Sie nicht geblieben, wo Sie waren? Das wird kein gutes Ende nehmen.« »Aber ich mache hier Urlaub mit meinen Freundinnen«, verteidigte sich Julia, obwohl ihr nicht klar war, was der Alte ihr vorwarf. Sie sprach sehr gut Italienisch, da ihre Mutter eine geborene Italienerin war und sich oft auf Italienisch mit ihr unterhielt. Der Fremde, ein älterer Mann, lief ebenfalls im Kostüm eines längst vergangenen Zeitalters herum. Allerdings war seine Kleidung nicht so prunkvoll und aufwendig. Aufgeregt wiederholte er: »Urlaub! Daß ich nicht lache! Wenn der Padrone Sie hier findet, wird er kurzen Prozeß machen.« Verständnislos starrte Julia den kleinen Mann an. Dieser änderte seine Taktik. Nun hob er bittend die Hände und bat eindringlich: »Bitte, Signora Giulia, hören Sie auf meinen Rat. Gehen Sie von hier fort, ehe es zu spät ist. Sie haben doch dem alten Sergio stets vertraut. Warum wollen Sie jetzt nicht mehr auf mich hören?« Mit weinerlicher Stimme flehte er sie an: »Geben Sie dem Padrone sein Eigentum zurück. Mit Gewalt werden Sie nichts erreichen. Und unseren jungen Signor Salvatore machen Sie ebenfalls unglücklich. Bitte, reisen sie ab, so schnell es geht.« Julia wußte nicht, was der Mann wollte. Wieso kannte er überhaupt ihren Namen? Wie kam er hierher? Was hatte er hier zu suchen? Und wieso wollte er, daß sie abreiste? Eindringlich bettelnd wiederholte er: »Bitte, Signora Giulia, hören Sie auf den gutgemeinten Rat des alten Sergio. Geben Sie alles zurück und reisen Sie ab.« Julia wußte nicht, was sie von dem unzusammenhängenden Gejammer des Alten halten sollte. Unsicher sah sie dem Mann
nach, als er sich grußlos umdrehte und in Richtung Straße davonschlurfte. Aber was war das? Vor Schreck und Entsetzen blieb ihr fast das Herz stehen. Hinter ihr stand nicht der Bungalow, den sie gemietet hatten, sondern ein völlig anderes Gebäude. Es war langgezogen, niedrig und aus grauem Stein gehauen. Nun sah sie auch, daß die Terrasse von Rosen umgeben war. Wo vorher nur Unkraut wuchs, prangte jetzt ein gepflegter, üppig blühender Garten. Anstelle der modernen Liegestühle bemerkte sie eine reichverzierte hölzerne Bank. Ihr erster Impuls war aufzuspringen. Aber bei der unbedachten Bewegung machte sich ihr verletztes Bein schmerzhaft bemerkbar. Es tat so weh, daß sie sich sofort wieder auf das hölzerne Lattengestell zurückgleiten ließ, von dem sie hochgefahren war. Der Schmerz umnebelte ihr Gehirn. Alles verschwamm und wurde dunkel um sie.
*
Sie erwachte in ihrem Liegestuhl. Der kleine Bungalow stand geduckt unter den hohen Bäumen wie immer. Der Garten war verwildert, und nirgends waren Leute mit altertümlicher Kleidung zu sehen. Sie mußte geträumt haben! Nur ihr Bein war Wirklichkeit. In ihrem Knöchel tobte und pochte es. Völlig verwirrt dachte sie nach. Nein, es konnte nur ein Traum gewesen sein. Vermutlich hatte sie den Fuß im Schlaf bewegt, und nun schmerzte er wieder. An diesem Abend tat ihr das verletzte Bein, mit dem sie am Morgen schon kurze Strecken schmerzfrei zurückgelegt hatte,
wieder entsetzlich weh. Deshalb mußte sie auch den nächsten Tag im Liegestuhl verbringen. Da Julia tagsüber nur faul herumlag, konnte sie nachts nicht richtig schlafen. Sie lag wach und hörte auf den Wind, der ums Haus pfiff. Ihre Gedanken waren bei den unheimlichen Vorgängen, die sie in den letzten Tagen erlebte. Grübelnd lag sie im Bett. Was sollte sie tun? Hatte es einen Sinn, sich jemandem anzuvertrauen? Niemand würde ihr glauben. Sie würde sich nur lächerlich machen mit ihrer unwahrscheinlichen Geschichte. Es stürmte stundenlang, doch als Julia nach einem kurzen, unruhigen Schlaf am Morgen erwachte, schien wieder die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Christine und Sandra beabsichtigten, an den Strand zu fahren. Sie saßen über die Straßenkarte gebeugt und suchten die günstigste Strecke. »Wir werden fast eine ganze Stunde für die Anfahrt benötigen. Es ist eigentlich zu weit für eine Halbtagstour«, überlegte Sandra laut. Christine nickte mit dem Kopf. »Wenn Julia mitkommen könnte, würden wir den ganzen Tag dort bleiben. Die weite Autofahrt lohnt nicht, um nur kurz im Meer zu baden.« »Also fahren wir nicht zum Meer.« Unsicher blickte Sandra zu Julia und fragte zaghaft: »Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir dich heute den ganzen Tag allein lassen?« Julia schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht«, beteuerte sie. »In meinem Liegestuhl fühle ich mich sehr wohl. Und wenn mir langweilig wird, kann ich lesen.« Christine zögerte noch. Mit all ihrer Überredungskunst bestärkte Julia die beiden in ihrem Entschluß, bis zum Abend wegzubleiben.
*
Julia horchte auf das Geräusch von Sandras davonfahrenden Auto. Dann richtete sie ihren Blick leise seufzend auf den friedlichen Park mit seinen dunkelgrünen Baumriesen und dem glänzenden Kapellendach dazwischen. Mit einem Mal veränderte sich ihre Umgebung wieder. Entsetzt blickte sie sich um. Was war nur los? Wurde sie verrückt? Oder schlief sie und hielt ihren Traum für Wirklichkeit? Diesmal war es nicht so ruhig wie sonst. Stimmen drangen zu ihr. Ein Hund bellte. Als sie sich umblickte, entdeckte sie den Alten, der sie am Vortag gewarnt hatte. Sergio lächelte ihr sorgenvoll zu und kam, als sie zurücklächelte, langsam näher. Er begrüßte sie langatmig und berichtete dann: »Den Brief, den Sie mir gestern für den Padrone mitgaben, habe ich überbracht. Wie nicht anders zu erwarten, tobte er furchtbar vor Wut. Die nächsten Tage hat er in Florenz zu tun. Aber sobald seine Geschäfte abgeschlossen sind, will er sich mit Ihnen befassen. Ich ahne nichts Gutes. Bitte, Signora Giulia, überlegen Sie sich die Sache noch einmal.« Julia sah ihn verständnislos an. Hier mußte ein Irrtum vorliegen. Sie hatte niemals einen Brief an diesen mysteriösen Padrone geschrieben. Der alte Mann ließ sie nicht zu Wort kommen. Beschwörend bat er sie erneut, so schnell wie möglich abzureisen. Dann fügte er noch sorgenvoll hinzu: »Der Padrone hat streng verboten, Signor Salvatore von Ihrer Anwesenheit zu unterrichten. Er würde ihn am liebsten wegschicken, damit er nicht mit Ihnen zusammentrifft. Aber das geht momentan
schlecht, weil Salvatores Sohn übermorgen getauft wird. Das wird ein Fest! Ganz Florenz steht kopf.« Ausführlich schilderte er die Festvorbereitungen und redete und redete. Wie es bei Südländern üblich ist, waren dabei seine Hände und sein ganzer Körper ständig in Bewegung. Julia hörte ihm ergeben zu. Es hatte keinen Sinn, ihn zu unterbrechen. Scheinbar war dieser Sergio ein wenig wirr im Kopf. Er sah allerdings harmlos aus. Ohne richtig auf seine Worte zu achten, sah sich Julia um. Wie schon mehrmals hatte sich wieder alles verändert. Sie sah den gepflegten Park, das graue Steinhaus und die Holzbänke. Überrascht bemerkte sie, daß auch sie sich verändert hatte. Sie trug ein weit ausladendes, altertümliches weißes Kleid, das verschwenderisch mit kostbaren Spitzen besetzt war. Ihr rechter Fuß steckte in einem zierlichen Satinschuh, doch ihr linkes Bein war dick verbunden. Was hatte das alles zu bedeuten? In dem langgezogenen Steinhaus, das jetzt anstelle des kleinen Bungalows stand, wurde es unruhig. Kindergeschrei und eine Frauenstimme waren zu hören. Die Terrassentür wurde schwungvoll geöffnet. Eine ältere, dicke Frau mit einer Schürze trat heraus. Auf dem Arm trug sie ein kleines Kind. Als das Kind Julia erblickte, strahlte es übers ganze ausdrucksvolle Gesichtchen und streckte seine Arme nach ihr aus. »Mama«, jubelte es laut. Die dicke Frau ging direkt auf Julia zu und setzte ihr das Kind mit freundlicher Geste auf den Schoß. Das äußerst lebhafte Kindchen mochte etwa zwei Jahre alt sein. Es war verpackt in jede Menge Spitzen und Rüschen und sah darin ganz allerliebst aus. Julia brachte es nicht übers Herz, die Freude des Kindes zu zerstören. Darum nahm sie es liebevoll in ihre Arme.
Der alte Sergio schlurfte ins Haus, und auch die Frau ging, nachdem sie gefragt hatte, ob die Signora noch irgendwelche Wünsche hätte, zurück ins Haus. Da saß Julia nun und hatte ein fremdes Kind im Arm, das sie »Mama« nannte. Gedankenverloren spielte sie mit dem Kind. Ihr fiel ein altes italienisches Kinderlied ein, das ihr die Mutter früher oft vorgesungen hatte. Leise sang sie es. Das kleine Kind auf ihrem Schoß klatschte vor Vergnügen in die Hände und bat: »Noch einmal, bitte noch einmal!« Während sie automatisch sang, wanderten ihre Gedanken. Was war nur geschehen? Sie kam sich vor, als wäre sie in eine andere Zeit versetzt. Träumte sie das alles nur? Das Kind lenkte sie von ihren grübelnden Überlegungen ab. Es plapperte eifrig und versuchte, ihr etwas zu erzählen. »Tina mitgehen. Droße Fest«, verstand Julia. »Ein großes Fest?« fragte sie die Kleine, die eifrig nickte und weitererzählte. Leider konnte Julia nicht verstehen, was sie meinte. Doch sie wußte bereits von Sergio, daß ein Tauffest bevorstand. Der kleine Sohn von Salvatore sollte getauft werden. Vermutlich sprach die Kleine davon. Unruhig hopste das Kind auf ihr herum und ließ sich schließlich von der Liege gleiten. Es lief zum Rand der mit Steinen belegten Terrasse und spielte dort mit Grashalmen und kleinen Steinchen. Julia glaubte zu träumen. Sie zwickte sich in den Arm. Aber das Trugbild verschwand nicht. Wieso war sie in dieser fremden, unbekannten Umgebung, in der sie jeder zu kennen schien? Es mußte irgend etwas mit dem Kapellendach zu tun haben. Immer wenn sie es anblickte, veränderte sich ihre Umwelt auf erschreckende Weise. Julia hatte Angst. Sie schaute zum Kapellendach. Aber – was war das? Das goldglänzende Kuppeldach der Kapelle war nicht zu sehen.
Obwohl die Bäume kleiner waren als zuvor, war nirgends eine Kapelle zu erblicken. Langsam kroch das Entsetzen in Julias Gehirn. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Das Kind lenkte sie ab. Es wollte mit ihr spielen. Julia beruhigte sich nur mühsam. Sie kannte sich nicht mehr aus. Wie konnte sie wieder in ihre gewohnte Welt zurückgelangen? Mit halb unterwürfigem, halb freundschaftlich-vertrautem Lächeln kam die Frau, die das Kind gebracht hatte, aus dem Haus und teilte mit: »Das Mädchen, das in der Küche helfen soll, ist angekommen.« Energisch wandte sich die dicke Frau, ohne auf eine Antwort zu warten, zum Haus und sagte freundlich: »Komm, Donatella, die Signora will dich sehen.« Hinter ihr erschien ein schmächtiges, verschüchtertes Mädchen in der Tür. »Das ist Donatella«, stellte die dicke Frau das Mädchen vor, das linkisch an der Tür stehenblieb. »Sie ist fleißig und anständig«, versicherte sie, als Julia nichts darauf antwortete. Julia wußte nicht, was von ihr erwartet wurde. Sie war noch immer in ihrem Grauen über die Entdeckung gefangen, daß sie stets, wenn sie allein war, in eine andere Zeit glitt. So nickte sie nur stumm. Das schien zu genügen. »Dann werde ich ihr gleich alles zeigen«, sagte die dicke Frau eifrig und nahm das Mädchen mit ins Haus. Julia konnte hören, wie die dicke Frau die neue Küchenhilfe durchs Haus führte und ihr alles zeigte. Dabei erfuhr auch Julia einiges über die Haushaltsführung. Aufmerksam lauschte sie, als die dicke Frau erklärte, wie sich der Tagesablauf der Signora gestaltete.
Kurz darauf kam die dicke Frau zurück. »Der kleine Sonnenschein bekommt nun seine Mahlzeit. Komm, Dioselina«, sagte sie liebevoll und nahm das Kind mit sich. Die schüchterne Donatella brachte Julia ein Tablett mit herrlichen Speisen und stellte es auf das eilig herangerückte Beistelltischchen. Sie wünschte unterwürfig guten Appetit und verschwand wieder. Julia war hungrig. Sie aß mit Genuß die ausgefallenen Köstlichkeiten. Danach wurde das leere Tablett von dem schüchternen Mädchen wieder abgeholt. Die dicke Frau streckte ihren Kopf aus einem Fenster und lobte erfreut: »So ist es schön, Signora Giulia. Sie haben alles aufgegessen. Das ist ein gutes Zeichen.« Julia lächelte unsicher. Sie verstand nichts. Grübelnd dachte sie nach. Dieser Spuk wurde durch die Kapelle ausgelöst, dessen war sie inzwischen ziemlich sicher. Aber wodurch verschwand er wieder? Sie erinnerte sich, daß sie bisher jedesmal eingeschlafen und in der Wirklichkeit aufgewacht war. Sie wollte es versuchen. Also schloß sie die Augen und bemühte sich einzuschlafen. Doch es gelang nicht.
*
Lange Zeit lag sie mit geschlossenen Augen da. Sie hörte die fremden Geräusche um sich und konnte nicht schlafen. Ganz in der Nähe hörte sie die Stimmen der dicken Frau und des Mädchens. Als sie gerade begann einzudösen, schnappte sie ein paar Brocken der Unterhaltung der beiden auf und war vor Neugier sofort wieder hellwach. Angestrengt lauschte sie. »Die ärmste Signora Giulia. Endlich hat sie ein wenig Schlaf gefunden«, erklang die mitleidige Stimme der dicken Frau.
»Sie nimmt alle Gefahren und Demütigungen auf sich, um für ihre kleine Tochter ein Zuhause und Sicherheit zu finden.« Das Mädchen fragte etwas. Sie sprach sehr leise. Julia konnte sie nicht verstehen. »Man merkt, daß du nicht von hier bist. Darüber redete damals die ganze Ortschaft. Nein, der Padrone brachte meine arme Signora seinerzeit hierher. Sie war seine – wie soll ich das einem Kind wie dir erklären – nun, seine Geliebte. Er ließ ihr dieses Haus bauen. Hier sollte sie das Kind, das sie von ihm erwartete, zur Welt bringen«, erzählte die dicke Frau. Das Mädchen warf etwas ein. Die Frau widersprach entschieden: »Nein, nein! Darüber regte sich niemand auf. Der Padrone war seit Jahren Witwer. Obwohl sein Sohn Salvatore bereits im heiratsfähigen Alter war, war der Padrone noch sehr rüstig und aktiv. Er ist überall beliebt und geachtet. Man gönnte ihm diese kleine Liebschaft. Was ist denn schon dabei? Selbst Signora Giulia wurde nach einiger Zeit von den meisten Bewohnern des Ortes akzeptiert. Sie entband ein Mädchen, unseren kleinen Sonnenschein Dioselina. Ich bekam den Auftrag, mich um die Signora und das Baby zu kümmern. Seitdem bin ich bei ihr. Ich ging auch mit ihr in die Verbannung.« Die Stimmen verstummten. Julia schloß abermals die Augen. Sie war fest entschlossen zu schlafen, aber es gelang ihr nicht. Nach einiger Zeit fragte das Mädchen im Haus wieder etwas. Julia konnte zwar ihre Stimme hören, doch die Worte verstand sie nicht. Die Antwort der Frau konnte sie dagegen ganz deutlich verstehen: »Ja, natürlich! Er war ja auch viel zu alt für die Signora. Das war das Verhängnis. Signora Giulia lernte den Sohn des Padrone kennen. Salvatore ist jung und hübsch. Ein herrliches Paar, die reinste Augenweide«, schwärmte die Frau verzückt. Dann wurde sie wieder ernst. »Sie verliebten sich
ineinander. Zuerst trafen sie sich nur heimlich. Lange Zeit ging alles gut. Aber man kann so etwas nicht auf die Dauer geheimhalten.« Die Stimmen entfernten sich. Julia mußte sich sehr anstrengen, um die nächsten Worte zu verstehen. »Der Padrone war geschäftlich unterwegs, nach seiner Rückkehr sollte die Hochzeit seines Sohnes Salvatore in allem Prunk gefeiert werden. Er war der einzige Erbe des Padrone und sollte nun die Frau heiraten, die ihm schon als kleines Kind ausgesucht worden war. Natürlich war Signora Giulia kein Hinderungsgrund. Bei den feinen Herrschaften ist es ganz normal, daß die Herren sich nebenbei einige Damen zu ihrer Erbauung halten. Natürlich versuchen die feinen Herren alles, um ihre Seitensprünge zu vertuschen.« »Trotzdem weiß jeder davon«, lachte Donatella. Sie mußte in der Nähe des geöffneten Fensters stehen, denn Julia hörte sie nun ganz deutlich. »Nun ja. So ist es eben. Es wäre alles nicht so schlimm gewesen. Aber der Padrone war krank vor Eifersucht. Er war fast ein Jahr nicht zu Hause gewesen. Als er zurückkam, hörte er von dem Skandal. Er tobte. Noch immer liebte er Signora Giulia und wollte sie auf keinen Fall an seinen Sohn abtreten.« Die Stimme der dicken Frau brach ab. Scheinbar waren die beiden Dienstboten mit einer anstrengenden Arbeit beschäftigt, die ihre ganze Kraft erforderte. Denn man hörte angestrengtes Stöhnen und kratzende Geräusche, wie wenn Metall auf Metall reibt. Schwer atmend fuhr die Frau fort: »Signor Salvatore weigerte sich, sein Verhältnis zu Signora Giulia zu beenden. Signora Giulia wollte vom Padrone nichts mehr wissen. Es gab großen Krach. Der Padrone ist sehr heißblütig und sein Sohn nicht minder. Sie gerieten sich ernsthaft in die Haare. Der alte Sergio, der persönliche Diener des Padrone, konnte das
Schlimmste verhindern. Ihm ist es zu verdanken, daß die Dinge ohne Blutvergießen abgingen. Er hatte erfahren, daß der Padrone die Angelegenheit mit Gewalt lösen wollte und Signor Salvatore sich gegen seinen Vater stellte. Geduldig versuchte er zu schlichten.« Wieder unterbrach sie sich, um etwas hochzuheben, wobei sie geräuschvoll stöhnte. Dann beendete sie ihren Bericht mit den Worten: »Signora Giulia tat das Vernünftigste. Sie reiste ab, ohne ihren neuen Aufenthaltsort mitzuteilen.« Julia hatte längst die Augen wieder geöffnet. Das war ja spannender als ein moderner Krimi! Im Haus war es wieder still. Julia beschloß zu schlafen. Ehe sie die Augen schloß, sah sie, daß der gutaussehende Fremde, den sie an den letzten beiden Tagen jeweils kurz gesehen hatte, aus dem Park trat. Diesmal kam er direkt auf sie zu. »Giulia, mein Herz! Dich hier zu wissen, dich zu sehen und nicht zu dir kommen zu dürfen, war die größte Qual für mich.« Dieser Mann mußte jener Salvatore sein, von dem die dicke Frau gesprochen hatte. Überschwenglich begrüßte er Julia, die sich nicht zu helfen wußte. Sie mußte ihn abwehren. Aber wie? Sollte sie um Hilfe rufen? Vermutlich würde sie sich damit nur lächerlich machen. Der junge Mann küßte sie leidenschaftlich und murmelte ununterbrochen verliebte Worte. Julia war hilflos. Sie ließ alle seine Liebesbezeugungen apathisch über sich ergehen. Zu ihrem Erstaunen fand sie es überhaupt nicht unangenehm, von einem feurigen Italiener angehimmelt zu werden. Wortreich erklärte er ihr seine Liebe. Sie lag nun entspannt da und hörte ihm mit sehr gemischten Gefühlen zu. Salvatore schien plötzlich zur Besinnung zu kommen. »Ach ja, richtig. Du bist krank, wurde mir erzählt. Ich war so überglücklich, daß du wieder hier bist. Habe ich dir weh getan?«
Reumütig setzte er sich neben Julias Liege auf den Boden. Julia lächelte verstört. Sie kam mit dieser Situation nicht ganz zurecht. Der junge Mann gestand ihr mit lauter Stimme und leidenschaftlichen Gesten: »Es war die Hölle für mich. Alles zog mich zu dir hin. Seit ich erfuhr, daß du hier bist, läßt mich mein Vater überwachen. Immer ist jemand in meiner Nähe, damit ich dich nicht besuchen kann. Aber heute gelang mir die Flucht. Alle unsere Leute sind in Aufregung wegen der Taufe meines Sohnes. Da – meine Frau und ihre Schwester. Verdammt!« Er sprang auf. Beruhigend sagte er zu Julia: »Mach dir keine Sorgen. Das regle ich schon.« Dann lief er auf die beiden Frauen zu und begleitete sie, heftig auf sie einredend, durch den Park. Julia war mit einem Mal entsetzlich müde. Sie schlief ein.
*
Durch den Lärm, den Christine und Sandra verursachten, als sie vom Strand zurückkehrten, erwachte Julia aus ihrem unruhigen Schlaf. Sie kam nicht sofort richtig zu sich. Wo war sie? War sie bei Salvatore und dem kleinen Mädchen Dioselina? Oder war sie in der Wirklichkeit, bei Christine und Sandra? Sie war total verwirrt. Als sie Christine schwungvoll und gut gelaunt auf die Terrasse heraustreten sah, atmete sie erleichtert auf. Wahrscheinlich hatte sie alles nur geträumt. Christine und Sandra waren braungebrannt und müde. Aufseufzend ließen sie sich in die Liegestühle fallen, die sie neben Julia aufgestellt hatten.
»Im Auto war es viel zu heiß«, jammerte Sandra. »Nächstes Mal fahren wir erst heim, wenn es kühler ist.« Christine schwärmte ganz begeistert vom Meer. »Ich war noch nie am Meer. Soweit das Auge reicht, nur Wasser. Das konnte ich mir nicht richtig vorstellen. Und ein Strand, sage ich dir, wie im Bilderbuch. Kilometerweit nur weißer Sand und Sonne. Und noch fast keine Menschen. Es war himmlisch.« »In der Nähe gibt es sogar Duschen, um das Salzwasser abzuspülen. Es ist einfach vollkommen«, bestätigte Sandra lebhaft. »Du mußt morgen auch mitkommen, Julia.« Christine hatte bemerkt, daß Julia ein wenig neidisch zugehört hatte.
*
Am Abend beschlossen die drei Mädchen, in die nahegelegene Pizzeria zum Essen zu gehen. Mühsam humpelte Julia, auf Christine gestützt, die kurze Strecke. Als sie die kleine Pizzeria betraten, waren sie entzückt. Es gab nur vier Tische, doch der ganze Raum strahlte eine angenehme Atmosphäre aus. Leider waren die wenigen Tische besetzt. Ein Ober kam beflissen herbeigeeilt und deutete mit einer einladenden Handbewegung auf einen Bogen, der in einen weiteren Raum führte. »Versuchen wir es also weiter hinten«, schlug Sandra mit hoffnungsvollem Optimismus vor und ging bereits durch den Bogen. Im Hinterzimmer standen wieder nur einige Tische. Julia humpelte hinter den Freundinnen her und war fast sicher, daß sie die Strapazen dieses Ausfluges umsonst auf sich genommen hatte.
Auch hier war alles besetzt. Nur an einem großen Tisch waren noch zwei Plätze frei. Aber dort saßen vier junge Italiener, in angeregte Unterhaltung vertieft. Plötzlich blieb Julia wie angewurzelt stehen. Einer von den jungen Männern war… Vor Überraschung rief sie laut: » Salvatore!« Der Mann am Tisch hob den Kopf, grüßte freundlich und fragte auf Italienisch: »Kennen wir uns?« Benommen stand Julia da und brachte kein Wort heraus. Das war Salvatore! Er glich ihm wie ein Ei dem anderen. Nur der kleine Bart fehlte. Aber sonst – es gab keinen Zweifel, das war eindeutig Salvatore. Der Mann, den Julia Salvatore genannt hatte, wirkte ein wenig unsicher. Er musterte sie immer noch nachdenklich. »Ich kann mich nicht genau erinnern, aber irgendwo habe ich Sie schon einmal gesehen. Helfen Sie mir«, bat der Fremde, während er aufstand und mit ausgestreckten Händen auf sie zukam. Verlegen wehrte Julia ab. »Entschuldigen Sie. Sie erinnerten mich an jemanden, den ich flüchtig kannte. Ich weiß selbst nicht, was mit mir heute los ist.« Sie wollte hastig weitergehen. Aber der Italiener hielt sie zurück. »Suchen Sie einen Platz? Wenn Sie nichts dagegen haben, rücken wir ein wenig zusammen, dann können Sie sich zu uns setzen.« »Was sagt er?« fragte Sandra ungeduldig. Als Julia ihren Freundinnen übersetzte, was der Mann vorgeschlagen hatte, stimmte Sandra sofort entschlossen zu. Sie setzten sich. Wie sich herausstellte, hieß der Mann, den Julia als Salvatore erkannt hatte, tatsächlich Salvatore. Es wurde ein vergnüglicher Abend. Obwohl Sandra und Christine nur einige Brocken Italienisch verstanden,
unterhielten sie sich ausgezeichnet mit Salvatore und seinen Freunden. Sandra war überrascht. »Woher kennst du diesen Mann?« fragte sie neugierig. Neckend drohte sie mit dem Finger: »Ich glaube, dich dürfen wir nicht länger allein zurücklassen. Du hast heimlich Bekanntschaft mit den Einheimischen geschlossen.« Julia verteidigte sich lachend: »Ich kenne ihn doch überhaupt nicht. Er ist mir vollkommen fremd.« »Diesen Trick mußt du mir auch einmal verraten«, bat Sandra verschmitzt. »Das ist die neueste Masche, mit einem Mann anzubändeln. Du siehst so harmlos und schüchtern aus, dabei hast du es faustdick hinter den Ohren.« Bis die Speisen serviert wurden, unterhielten sich alle in einem deutsch-italienischen Kauderwelsch. Die Stimmung stieg, als Julia den Unsinn, den sie gegenseitig in der jeweils fremden Sprache erzählten, wörtlich übersetzte. Nach der Mahlzeit tranken sie Brüderschaft. Julia saß neben Salvatore, den sie so gut kannte und der dennoch ein Fremder war. Immer wieder betrachtete sie ihn. Es gab keinen Zweifel. Ihre Verwirrung und Angst nahmen zu. Nun gab es also diesen Salvatore wirklich. Was hatte das alles zu bedeuten? Vielleicht machte er sich nur einen Spaß mit ihr. Immerhin war es möglich, daß Salvatore sich verkleidete und einen Bart anklebte. Vielleicht machte es den jungen Italienern Spaß, den naiven deutschen Mädchen vorzugaukeln, sie wären in der Vergangenheit. Nur – wozu sollte das gut sein? Nach einigen Gläsern Wein vergaß sie ihre Bedenken und genoß den Abend. Als sie von ihrem Mißgeschick mit dem verstauchten Knöchel erzählte und bedauerte, daß sie zur Strafe für ihre Unachtsamkeit nun häufig allein im Bungalow zurückbleiben mußte, während die beiden Freundinnen die
ganze Toskana unsicher machten, erbot sich Salvatore, sie zu besuchen. »Ich freue mich, dich wiederzusehen«, strahlte er sie an. »Nur kann ich nicht genau sagen, wann ich mich freimachen kann. Bei uns zu Hause geht im Moment alles drunter und drüber.« Julia freute sich. »Du kannst jederzeit kommen. Ich bin fast immer auf der Terrasse im Liegestuhl anzutreffen.« »Was für wichtige Dinge hast du denn vor?« fragte einer seiner Freunde. »Ahnenforschung?« Die jungen Männer lachten schallend. Julia verstand den Witz nicht ganz. Salvatore erklärte es ihr: »Ich interessiere mich für unsere Vorfahren. Für meine Freunde ist das unverständlich. Sie hänseln mich ständig damit. Aber das stört mich nicht.« Dann wandte er sich an seine Freunde und erklärte: »Nein! Im Augenblick habe ich sehr reale Probleme. Ich muß das Dach unseres Hauses ausbessern.« Daraufhin erhob sich erneut das Gelächter, in das auch Salvatore gutgelaunt einstimmte. Julia sah die jungen Männer verdutzt an. Christine und Sandra warteten darauf, daß sie ihnen übersetzte, worüber die jungen Männer lachten. Doch Julia wußte es nicht. Salvatore bemerkte ihr verdutztes Gesicht. »Unsere großartige Villa bricht uns langsam, aber sicher über den Köpfen zusammen«, meinte er humorvoll. »Seit Jahren bröckelt sie stillvergnügt vor sich hin. Wenn ich versuche, ein Loch zu stopfen, entsteht nebenan ein neues, meist noch viel größeres. Zur Zeit bin ich dabei, das Dach notdürftig auszubessern. Hoffentlich regnet es in nächster Zeit nicht.« Er legte temperamentvoll die Arme um Julia und versprach mit glutvollen Worten, ganz bestimmt im Laufe des nächsten Tages bei ihr vorbeizuschauen.
Julia sah in die schwarzen Augen des jungen Italieners, und ihr Herz schlug schneller. Zu genau konnte sie sich an die Zärtlichkeiten erinnern, die sie mit dem Namensvetter und Doppelgänger dieses Salvatore ausgetauscht hatte. Sie freute sich auf das Wiedersehen mit ihm.
*
Am nächsten Tag wollten Christine und Sandra noch einmal ans Meer fahren. Sie drängten Julia mitzukommen. »Du kannst ganz ruhig am Strand liegen und mußt dein Bein nicht belasten«, versprach Christine. »Wir fahren dich mit dem Auto ganz nah an den Sandstrand, es ist wirklich nicht weit zu gehen.« Aber Julia lehnte ab. »Der Arzt riet, das verletzte Bein möglichst wenig zu bewegen. Ich bleibe besser noch ein paar Tage in meinem Liegestuhl. Wenn ich jetzt leichtsinnig herumlaufe, bin ich möglicherweise während des ganzen Urlaubs behindert.« »Der Weg zur Pizzeria schadet deinem verletzten Knöchel doch auch überhaupt nicht«, beharrte Christine. Auch Sandra mischte sich ein und versuchte Julia zum Mitkommen zu überreden. Doch Julia schüttelte stur den Kopf. »Ich bin lieber vorsichtig.« Nachdem die beiden Freundinnen weg waren, setzte sie sich wieder auf die Terrasse. Sie wollte herausfinden, ob die Kuppel der Kapelle tatsächlich der Auslöser für ihre verrückten Träume war. Konzentriert bemühte sie sich, nicht in die Richtung dieser gleißenden, glitzernden Dachkuppel zu sehen. Es geschah nichts.
Die Sonne schien heiß vom wolkenlosen Himmel. Vögel zwitscherten, und der Straßenlärm drang gedämpft zu ihr. Ein sanfter Windhauch ließ die Blätter leise rascheln. Obwohl sich Julia fest vorgenommen hatte, nicht in die geheimnisvolle, unwirkliche Welt zurückzukehren, die sie zugleich erschreckte und anzog, wankte sie nun. Je länger sie so tatenlos herumsaß, um so unruhiger wurde sie. Es gab noch so viele Ungereimtheiten. Sie war neugierig. Zu gern würde sie erfahren, was sich im Leben dieser längst vergessenen Giulia und ihrem Salvatore weiter ereignete. Gelangweilt rekelte sie sich in ihrem Liegestuhl. Noch zögerte sie, doch die Verlockung war groß. Ein Blick auf die Kuppel der Kapelle würde genügen, und sie könnte das abenteuerliche Geschehen zurückholen, das sie in den letzten Tagen geängstigt und zugleich fasziniert hatte. Schließlich gab sie vor sich selbst zu, daß ihre Sehnsucht nach Salvatore und seiner Welt größer war als ihre Furcht vor den unheimlichen Vorgängen. Sie richtete ihre Augen auf das Dach der Kapelle, und tatsächlich veränderte sich alles. Von einer Sekunde zur anderen war sie in eine andere Umgebung und vermutlich auch in ein anderes Jahrhundert gewechselt. Das kleine Kind, von dem sie »Mama«, genannt wurde, spielte in ihrer Nähe. Es kam immer wieder mit verschiedenen Gegenständen zu ihr gelaufen und zeigte sie ihrer »Mutter«. Freudig wiederholte die Kleine die Worte, die Julia ihr geduldig vorsagte. Aus dem Haus drangen Geschirrgeklapper und murmelndes Stimmengewirr. Dann erklang ein Knall, wie von zerbrochenem Porzellan. Eine verängstigte Kinderstimme, die vermutlich dem schüchternen Mädchen Donatella gehörte, fing an, sich furchtsam zu entschuldigen und heulte dann längere Zeit jämmerlich und tief unglücklich.
Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich ein riesiger Hund neben Julia. Sie erschrak. Sie fürchtete sich vor Hunden. Und dieses Exemplar war eher ein Kalb als ein Hund. Das überdimensionale Tier wedelte freudig mit dem Schwanz. Es schien sie zu kennen. Zaghaft und vorsichtig begann Julia den Riesenhund zu streicheln. Er genoß es sichtlich. Neugierig sah sie sich um. Sie befand sich in derselben ordentlichen, gepflegten Umgebung wie an den letzten Tagen. Wo war sie? Am meisten irritiert war sie durch das Fehlen der Kapelle. Sie wollte der Sache auf den Grund gehen. Vorsichtig stand sie auf. Ihr Bein schmerzte kaum noch. Am Kopfende der hölzernen Liege lehnte ein reichverzierter Gehstock. Sie nahm ihn und stützte sich darauf. Auf diese Weise mußte sie ihr Bein nicht so stark belasten. Überrascht stellte sie fest, wie hilfreich der Stock war. Mit dem Hund an der Seite humpelte sie auf den Waldweg zu. Das Kind kam ihr nachgelaufen und griff nach ihrer Hand. »Tina auch mit«, bettelte sie. Julia lächelte das kleine Mädchen freundlich an und stimmte zu: »Natürlich darfst du mitkommen.« Sie hatte das anhängliche, liebenswerte Kind in der kurzen Zeit in ihr Herz geschlossen. Die kleine Tochter von Giulia und dem Padrone war ihr komischerweise sehr vertraut. Aber war Giulia nicht sie selbst? War das kleine Mädchen nicht ihr Kind? Nein! Sie hatte doch kein Kind! Ihre Gedanken drehten sich verwirrend im Kreis. Unwillig schüttelte sie den Kopf. Ehe die Zweifel wieder in ihr hochstiegen, wollte sie an etwas anderes denken. Langsam humpelte sie mit Hilfe des Gehstockes durch den schattigen Park. Das Kind an ihrer Seite plapperte ununterbrochen und forderte ihre Aufmerksamkeit. Julia sprach mit ihr und wunderte sich selbst, wie gut sie mit der Kleinen zurechtkam. Sie war kleine Kinder nicht gewohnt.
Der Hund trottete neben ihnen her. Ab und zu sprang er einige Schritte voraus, wartete dann aber wieder auf die Frau und das Kind, die nur langsam vorankamen. Sie kamen an den Platz, wo die Kapelle nach Julias Schätzung stehen mußte. Suchend sah sie sich um. Ungläubig ging sie einige Schritte auf dem Weg zurück, suchte in beiden Richtungen, konnte aber keine Kapelle finden. Sie war absolut sicher, daß die Kapelle an diesem Weg gestanden hatte, als sie vor einigen Tagen auf dem Mäuerchen verunglückte. Oder lagen einige Jahrhunderte dazwischen? Alles Suchen und Forschen half nicht. Julia ging noch mehrmals die Strecke ab, es gab keine Kapelle. Nur ein einfaches schmiedeeisernes Kreuz war zu sehen, sonst nichts. Verwirrt ging sie den unkrautfreien, sauber geharkten Weg zurück. Der Marsch hatte ihrem verletzten Knöchel nicht gutgetan. Sie fühlte bei jedem Schritt einen stechenden Schmerz.
*
Noch verborgen vom Schatten der Parkbäume; sah sie, daß auf der Terrasse ihres Hauses etwas los war. Ein älterer, sehr selbstsicherer Mann stand breitbeinig und irgendwie drohend auf der Terrasse. Der Mann, seinem Auftreten nach ganz offensichtlich der vielzitierte Padrone, wetterte mit lauter Stimme. Die dicke Frau und das Mädchen standen aufgeregt und ängstlich vor ihm und jammerten leise. Sie duckten sich geradezu vor der gewaltigen Macht, die dieser Mann ausstrahlte.
Da entdeckte das Mädchen Julia, die eben den Schutz; der Bäume verließ. Sie deutete mit dem Finger in ihre Richtung und sagte etwas. Die dicke Frau kam ihr erleichtert entgegen und stützte sie. Julia war ihr dankbar dafür. Ihr Bein schmerzte inzwischen sehr. »Der Padrone wartet schon auf Sie. Beeilen Sie sich, er ist sehr zornig«, murmelte die dicke Frau aufgeregt. Julia wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie grüßte den vornehm wirkenden, ein wenig dicken Mann freundlich. Vorsichtig legte sie sich auf die Liege nieder und legte den verletzten Fuß hoch. »Ach, die Signora geruhen endlich allergnädigst zu erscheinen«, brüllte der furchteinflößende Mann zornbebend. Er war offensichtlich nicht gewohnt, daß man ihn warten ließ. Nur mühsam beherrschte er sich. Äußerst ablehnend erwiderte er Julias Gruß. Er war wütend und warf ihr allerhand Unfreundlichkeiten an den Kopf. Die kleine Dioselina begann erschreckt zu weinen. Der Padrone bemerkte das Kind erst jetzt. Sofort änderte sich seine Haltung. Wie ausgewechselt beugte er sich freundlich zu dem kleinen Mädchen, hob es hoch, schwenkte es durch die Luft und küßte es. »Aber, aber, mein großes Mädchen wird doch keine Angst haben«, sagte er mit liebevoller Stimme. »Bist du gewachsen, Dioselina! Du bist ja schon fast ein junges Fräulein. Erkennst du mich denn nicht mehr?« Erst als Dioselina zaghaft lächelte, drückte er sie der dicken Frau in die Arme. »Hier, kümmere dich um sie«, befahl er kurzangebunden. »Ich habe mit ihrer Mutter ein ernstes Wort zu reden.« Die dicke Frau nickte unterwürfig und verschwand eilfertig mit dem Kind im Haus.
Kaum waren sie weg, begann der Padrone abermals mit seinem wütenden Gebrüll. »Ich holte dich aus der Armut. Was wärest du ohne mich? Eine verarmte, halbverhungerte Frau ohne Zukunftsaussichten. Und wie dankst du es mir?« Mit hochrotem Gesicht und unruhigen Bewegungen neigte er sich zu ihr. Julia fürchtete, er würde sie schlagen. Eingeschüchtert wagte sie es nicht, etwas zu erwidern. »Du erpreßt mich! Habe ich das verdient?« Er raufte sich die graumelierten Haare. Julia erkannte, daß der Padrone in einer Zwangslage steckte. Wenn sie nur wüßte, worum es eigentlich ging. Sie schwieg. Kurz überlegte sie, ob es einen Sinn hätte, einfach die Augen zu schließen, um wieder ins zwanzigste Jahrhundert zu gelangen. Aber sie wagte es nicht. Wenn sie sich in seiner Anwesenheit schlafend stellte, würde sich höchstwahrscheinlich der Zorn des Padrone noch steigern. Ärgerlich und wild gestikulierend zog der selbstgefällige Mann ein Blatt aus seiner Rocktasche. »Hier, wie kommst du dazu, mir so einen Wisch zu schicken?« Er wedelte wild mit dem Brief herum und fauchte: »Wenn du denkst, du kannst mich erpressen, dann irrst du dich. Was soll der ganze Unsinn? Habe ich jemals behauptet, daß die Kleine nicht von mir ist? Ich habe es dir schon mehrmals gesagt: Gib mir den Schmuck zurück, und ich werde für dich und das Kind sorgen. Was willst du mit den Schmuckstücken? Du kannst sie nicht verkaufen, weil jeder sie kennt. Für dich sind sie wertlos. Also, wo hast du sie versteckt?« Julia war total perplex. Was war denn nun wieder los? Bisher war es ihr nur ein wenig komisch vorgekommen, daß sie ein Kind haben sollte. Dioselina hatte sie »Mama« genannt, und alle anderen hatten keinen Zweifel daran gelassen, daß sie die wirkliche Mutter des kleinen Mädchens war.
Nun schien es, daß sie auch eine Diebin und Erpresserin sein sollte. Das ging zu weit! Niemals hatte sie jemanden betrogen, und Erpressung fand sie widerwärtig. Sie hatte sich inzwischen so sehr in ihre Rolle hineinversetzt, daß sie erst nach kurzer Überlegung registrierte, daß sie nicht wirklich diese Signora Giulia aus der Vergangenheit war. Sie wünschte sich zurück in die Zeit, in der sie ein junges Mädchen war, das mit ihren Freundinnen Urlaub machte. Aber das nutzte nichts. Der Padrone hatte sich so richtig in seine Wut gesteigert. Mit sich überschlagender Stimme tobte er: »Du hast nicht nur meinen wertvollen Schmuck, auch meinen Sohn hast du mir verdorben. Du Hure, du Miststück, du…« Nun wurde es Julia zuviel. Eine Hure, ein Miststück ließ sie sich von diesem arroganten Kerl nicht nennen. Das ging wirklich zu weit. Sie sprang entrüstet aus ihrer Liege hoch – und knickte ein. Ein fürchterlicher Schmerz durchdrang ihren Knöchel. Sie schrie auf und wurde ohnmächtig.
*
Langsam tauchte Julia aus tiefer Schwärze hervor. Sie schwebte. Töne drangen in ihr Bewußtsein. Jemand nannte ununterbrochen mit flehender Stimme ihren Namen. »Giulia, Giulia, was ist mit dir? Giulia, so sag doch etwas«, hörte sie eine aufgeregte Stimme auf Italienisch betteln. Noch unsicher öffnete sie die Augen und erkannte Salvatore, der sich besorgt über sie beugte. »Salvatore«, murmelte sie noch ganz benommen, »wie schön, daß du gekommen bist.«
Sie schickte sich gerade an, die Arme um seinen Hals zu legen, als sie ernüchtert feststellte, daß er ein modernes T-Shirt und Bermuda-Shorts trug und keinen Bart hatte. Das war nicht der Salvatore, der sie so leidenschaftlich geküßt hatte. Obwohl er genauso aussah, sich genauso bewegte und genauso redete wie ihr Liebhaber aus der Vergangenheit, war dieser Salvatore ein Mann des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Mann der Gegenwart! Noch immer ganz verwirrt, flüsterte sie: »Laß mich nicht mehr allein. Ich hatte solche Angst vor deinem Vater. Zum Glück wurde ich ohnmächtig.« Was murmelte sie denn da? Jetzt brachte sie schon alles durcheinander. Dieser Salvatore konnte doch nichts wissen von ihren Erlebnissen in der Vergangenheit. Sie mußte sich zusammenreißen. Aber was war nun Wirklichkeit, und was war Traum? Als der Padrone sie beschimpft hatte, war sie aufgesprungen und neben der Liege zusammengebrochen. Jetzt lag sie tatsächlich neben ihrem Liegestuhl auf dem Boden, und ihr verletzter Knöchel schmerzte. Julia war so ausgepumpt und verzweifelt, daß sie unvermittelt zu weinen begann. Salvatore redete beruhigend auf sie ein. Die Nähe des Mannes tat Julia gut. Eine prickelnde Erregung überflutete sie, als er seine Arme beschützend um sie legte. Bald war ihre Verwirrung über die unerklärlichen Vorgänge einer anderen, angenehmeren Verwirrung gewichen. Alles war plötzlich so einfach und klar. Nichts konnte ihr passieren, solange Salvatore bei ihr blieb. Sie wollte ewig so liegenbleiben, den jungen Mann neben sich und frei von Angst und Sorge. »Laß mich nicht allein«, bettelte sie. Salvatore versprach, bei ihr zu bleiben, bis ihre Freundinnen zurückkamen. Während sie auf Christine und Sandra warteten, entdeckte er eine Flasche Wein.
»Das ist genau das, was du jetzt brauchst«, sagte er befriedigt. Gemeinsam leerten sie den Wein und unterhielten sich angeregt. Julia beruhigte sich nach und nach und genoß es, mit dem amüsanten jungen Mann zu flirten. Als er sie ausfragen wollte, wie es dazu kam, daß sie bewußtlos auf dem Boden gelegen hatte, wich Julia aus. Niemand würde ihr glauben, daß sie durch die Zeit reiste. Man würde sie für verrückt halten.
*
Am nächsten Tag war Julias Knöchel blutunterlaufen und pochte schmerzhaft. Die rötlich und blauviolett schimmernde Verletzung war wieder sehr angeschwollen und sah entsetzlich aus. Da sie während der Nacht vor Schmerzen kaum geschlafen hatte, suchte Julia den Arzt auf. Er erneuerte den Verband, verschrieb eine Tinktur gegen den schlimmen Bluterguß, der sich gebildet hatte, und ordnete strenge Bettruhe an. Julia würde sich noch einige Tage nicht an den Unternehmungen ihrer Freundinnen beteiligen können. Christine hatte Julia begleitet. Sandra wollte inzwischen einkaufen gehen. Begeistert hatten sie entdeckt, daß in sämtlichen Straßen des kleinen Städtchens an diesem Tag Marktbuden aufgestellt waren. Mit Kauflust war Sandra sofort losgezogen. Auch Christine hatte sehnsüchtig nach den verlockenden Marktständen geschaut. »Geh ruhig auch los, Christine«, schlug Julia vor, nachdem sie umständlich ins Auto geklettert war. »Ich werde im Auto warten.«
Während die Freundinnen in kleinen Kostbarkeiten und Ramsch wühlten und mit den Händlern feilschten, saß Julia im überhitzten Auto und langweilte sich. Sie beneidete Sandra und Christine. Als die beiden Mädchen endlich genug kitschige und sogar einige brauchbare Dinge gekauft hatten, war Julia verschwitzt und übelster Laune. Sie beteiligte sich nicht an der angeregten Plauderei, die Sandra und Christine über ihre soeben erstandenen Schätze führten. »Fehlt dir etwas?« fragte Christine besorgt. Julia erwiderte kurzangebunden: »Mein Bein schmerzt.« * Am Nachmittag lagen alle drei Mädchen faul auf der schattigen Terrasse. Julia sah wiederholt intensiv auf das Dach der Kapelle. Das Kapellendach, das ansonsten golden glänzte und in der Sonne funkelte, wirkte jetzt wie ein ganz normales Ziegeldach. Offensichtlich wirkte der Spuk nur, wenn sie allein war. »Gestern hatte ich den Eindruck, das Kapellendach glänze golden«, sprach sie ihren Gedanken aus. Christine und Sandra schauten in die Richtung. Sandra meinte desinteressiert: »Es ist total heruntergekommen. Aber ich denke, es würde sich kaum rentieren, dieses alte Gemäuer zu renovieren.« »Diese Wildnis muß einst ein schöner Park gewesen sein. All die Sitzplätze und die Statuen. Ich kann mir vorstellen, wie die Leute mit großartigen Roben darin spazierengingen«, träumte Christine. Julia blickte sie erstaunt an. War auch Christine in die Vergangenheit zurückversetzt worden? Doch Christine erzählte schon weiter, was sie in einem historischen Film über solch reiche, geachtete Familien gesehen hatte. Als etwas später Salvatore aus dem Park trat, erschrak Julia. Nun war es also wieder geschehen. Erst als ihre Freundinnen ihm freudig zuwinkten, wurde ihr klar, daß sie nicht in einem
vergangenen Jahrhundert weilte. Sie freute sich, den jungen Mann zu sehen. Er trug eine kleine Plastiktüte in der Hand. Überschwenglich berichtete er: »Jetzt weiß ich, an wen du mich erinnerst, Giulia. Wir besitzen ein Miniaturbild, das wohl nur deshalb noch nicht verkauft wurde, weil das Porträt von einem unbekannten Maler stammt. Auch der bemalte Holzrahmen ist ziemlich wertlos. Auf diesem Gemälde ist eine junge Frau abgebildet, die dir aufs Haar gleicht. Angeblich war sie die Konkubine eines meiner Vorfahren. Komischerweise hieß sie ebenfalls Giulia.« Er zog das kleine Bild aus seiner Tüte und zeigte es beifallheischend den Mädchen. Staunend betrachteten sie es. »Wenn jemand behaupten würde, daß dieses Bild ein Porträt von Julia ist, würde ich es sofort glauben. Diese Ähnlichkeit!« wunderte sich Sandra. Julia betrachtete das Bildchen lange. Ja, es war, als würde sie in den Spiegel sehen. Nur das schwarze, gelockte Haar, das sie normalerweise offen trug, hatte die Frau auf dem Bild zu einer kunstvollen Frisur hochgetürmt. Doch abgesehen davon und von der ungewöhnlichen Kleidung sah diese Frau ihr unheimlich ähnlich. Obwohl es sehr heiß war, fror Julia plötzlich. Was ging mit ihr vor? Das alles war unheimlich. Sie bekam langsam aber sicher Angst vor dem mysteriösen Geschehen, in das sie gegen ihren Willen verstrickt wurde. Salvatore setzte sich eine Weile zu den Mädchen. Als er sich etwas später verabschiedete, lud er die drei Mädchen ein, gemeinsam mit ihm und seinen Freunden am Sonntagabend zu einem Dorffest zu gehen. Natürlich sagten die Mädchen freudig zu.
*
Erst kurz vor Einbruch der Dämmerung, als Christine und Sandra noch einmal weggingen, um fürs Abendessen einzukaufen, konnte sich Julia wieder in die Vergangenheit zurückversetzen. Als sie die Kuppel der Kapelle, die im letzten Abendlicht leuchtete, betrachtete, veränderte sich schlagartig ihre Umgebung. Sie lag auf der Terrasse und hörte mehrere Stimmen durcheinanderreden, konnte aber nichts verstehen. Die dicke Frau kam aus dem Haus und meldete, daß der Doktor angekommen sei. Fast im selben Moment trat auch Salvatore aus dem Park. Herzlich wie immer begrüßte er Julia. Diese merkte erstaunt, daß ihr Herz höher schlug, als sie ihn sah. Sie hatte sich in einen Mann verliebt, der in einem anderen Jahrhundert lebte als sie. Wie sollte das weitergehen? »Oh, Signor Salvatore, der Doktor ist eben angekommen. Vielleicht könnten Sie der Signora ins Haus helfen? Sie darf doch ihren Fuß nicht belasten«, bat die dicke Frau. Amüsiert dachte Julia darüber nach, wie komisch es doch war, daß sie in der Vergangenheit dieselben Probleme mit ihrem Bein gehabt hatte wie im zwanzigsten Jahrhundert. Salvatore reichte ihr galant seinen Arm. Suchend blickte Julia auf das Kopfende der Liege, wo ihr geschnitzter Stock lag. Doch sie brauchte ihn nicht. Salvatore hatte ihr Zögern bemerkt und sie kurzerhand auf den Arm genommen. Er trug sie ins Haus, als wäre sie federleicht. Neugierig sah sich Julia um. Es war ziemlich düster, aber man konnte die reiche Einrichtung ahnen. Sie durchquerten einen großen, spärlich möblierten Raum, in dem ein wuchtiger Treppenaufgang aus Marmor fast die ganze Front einnahm und einen kleineren Aufenthaltsraum mit
schweren Brokatvorhängen und dicken Teppichen. Dann waren sie im Schlafzimmer. Hier stand ein überdimensionales Bett mit einem schweren Baldachin. Das Bett war so hoch, daß der davorstehende Schemel nötig war, um es zu besteigen. Außer dem Bett, einem steiflehnigen Stuhl und einer Kommode mit aufwendigen Intarsienarbeiten war der Raum leer. Die Bilder an den Wänden konnte Julia nicht richtig sehen. Dazu war es zu dunkel. Die dicke Frau zog beflissen die schweren Bettvorhänge zur Seite, und Salvatore legte Julia vorsichtig in die weichen Kissen. Ängstlich wartete Julia, was nun geschehen würde. Ihr war das alles nicht ganz geheuer. Die mitfühlenden Mienen der Umstehenden wirkten sehr beängstigend. Ein kleiner Tisch wurde hereingetragen. Der Doktor, ein lächerlich dürrer Mann mit einer großen, spitzen Nase, eilte geschäftig im Raum umher. Er zog aus seiner großen Tasche Fläschchen, Tiegel und jede Menge Geräte hervor. Bei diesem Anblick wurde Julia von Grauen ergriffen. Inzwischen entfernte die dicke Frau, unterstützt von Donatella, den Verband. Julia erschrak, als sie ihr Bein sah. Sie hatte sich doch nur den Knöchel umgeknickt. Nun hatte sie plötzlich eine offene, eitrige, entzündete Wunde am Unterschenkel. Mit großem Getue beugte sich der Arzt über die Wunde und schüttelte bedenklich den Kopf. Seine deutlich zur Schau gestellte Wichtigkeit stieß Julia ab. Er wandte sich an die dicke Frau: »Laß bitte einige starke Männer holen, Maria.« Julia bekam es mit der Angst zu tun. Was hatte der unsympathische, nicht besonders saubere alte Doktor vor? Als sie an die Geräte dachte, die der Arzt bereitgelegt hatte, und seine Anweisungen hörte, geriet, sie in Panik.
Salvatore stand am Kopfende des Bettes und hielt ihre Hände in den seinen. Beruhigend redete er ihr Mut zu. Verlegen kamen zwei junge Kerle ins Zimmer gestolpert. Sie wurden links und rechts vom Bett postiert und erhielten genaue Anweisungen. Julia schrie vor Entsetzen auf. Das war doch nicht möglich! Verzweifelt schloß sie die Augen. Sie wollte schlafen, um in ihre Zeit versetzt zu werden und dieser Tortur zu entgehen. Der Arzt wartete, bis die dicke Frau eine Unterlage unter Julias Bein geschoben hatte, dann begann er mit seiner schaurigen Arbeit. Salvatore flüsterte voller Liebe und Mitleid tröstende Worte in Julias Ohr. Da durchdrang ein schneidender Schmerz ihr Bein. Julia schrie auf. Entsetzt versuchte sie, sich zu befreien. Aber die Männer hielten sie unbarmherzig fest. Der Arzt fuhr mit seinem grausigen Werk fort. In unerträglicher Qual bäumte sich Julia auf. Nein! Der Schmerz raubte ihr fast die Sinne. Von Qual und Grauen geschüttelt, dachte sie, verrückt zu werden. Nach einer halben Ewigkeit, wie es ihr schien, beendete der arrogante Arzt endlich die peinvolle Behandlung und ordnete an, die Wunde wieder zu verbinden. Der Schmerz, der noch immer in Julias Bein wütete, machte es ihr unmöglich, klar zu denken. Die dicke Frau brachte ihr ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit. »Hier, trinken Sie«, forderte sie mitfühlend. »In dem Wasser ist ein Pulver, das Ihnen ein paar Stunden Schlaf schenken wird.« Gehorsam nahm Julia mit zitternden Händen das Glas und trank es leer. Bald darauf merkte sie, daß ihre Augenlider schwer wurden. Sie schlief ein.
*
Als Christine und Sandra zurückkamen, war Julia nicht auf der Terrasse. Sandra deckte den Tisch im Freien und rief dann frohgelaunt: »Julia, wo bist du?« Julia lag schlafend und leise stöhnend in ihrem Bett. Es gelang den beiden Mädchen nicht, sie aufzuwecken. Selbst als sie die tief Schlafende schüttelten, wimmerte diese nur leise und schlief dann weiter. Christine fragte verwundert: »Verstehst du das? Wieso schläft Julia? Warum ist sie überhaupt zu Bett gegangen? Dazu ist es noch viel zu früh. Außerdem wußte sie, daß wir jeden Augenblick mit dem Abendbrot zurückkommen würden.« »Irgend etwas stimmt nicht mit Julia. Sie ist in letzter Zeit so sonderbar«, stimmte Sandra zögernd zu. Julia hatte die ganze Nacht durchgeschlafen. Christine und Sandra hatten mehrmals besorgt nach ihr gesehen. Erst am späten Vormittag kam sie verschlafen und augenreibend aus ihrem Zimmer. Sie hatte einen schweren Kopf und fühlte sich sehr elend. Müde und abgeschlafft humpelte sie ins Bad. Der Schmerz in ihrem Knöchel rief das Grauen wieder wach, das sie am Vortag erlebt hatte. Sie schauderte, als sie an die gräßliche Wunde dachte, die der selbstgefällige Arzt mit seinen vorsintflutlichen Folterinstrumenten behandelt hatte. Angstvoll, mit zitternden Händen, entfernte sie den Verband an ihrem Bein. Von einer eitrigen Wunde war nichts zu sehen. Der Knöchel war nur ein wenig angeschwollen und blaugefärbt. Von einer entzündeten, offenen Wunde entdeckte sie keine Spur.
»Na, du alte Schlafmütze, endlich aufgewacht?« begrüßte Sandra die gähnende Julia. »Du hast ja geschlafen wie ein Murmeltier.« Schlagfertig antwortete Julia: »Ich hatte schreckliche Kopfschmerzen. Deshalb nahm ich eine Schlaftablette.« Da Sandra und Christine merkten, daß sich Julia nicht recht wohl fühlte, blieben sie an diesem Vormittag daheim. Sie hatten ein schlechtes Gewissen, weil sie die Verletzte zu oft und zu lange alleingelassen hatten. Julia hatte sich in den letzten Tagen verändert. Im Gegensatz zu früher war sie sehr schweigsam und in sich gekehrt. Stundenlang konnte sie geistesabwesend herumsitzen, als lausche sie auf etwas, was nur sie allein hören konnte. Die beiden Mädchen hatten herausgefunden, daß Julia während ihrer häufigen Abwesenheit nie etwas gegessen hatte. Auf ihre drängenden Fragen erwiderte Julia, ganz in ihre Phantasiewelt eingesponnen: »Die dicke Frau bringt mir die Mahlzeiten. Es schmeckt sehr gut.« Sofort erkannte sie, daß sie sich verraten hatte. Geistesgegenwärtig brach sie in schallendes Gelächter aus und neckte: »Eure Gesichter müßtet ihr sehen! Nein, natürlich esse ich hin und wieder etwas. Aber ich liege doch den ganzen Tag nur auf der faulen Haut. Schließlich möchte ich nicht zunehmen.« Gegen Mittag erhielten sie Besuch von Salvatore. Er kam mit seinen drei Freunden. Die vier jungen Männer brachten Schwung und Leben in das kleine Haus. Als alle bei der obligatorischen Flasche Wein auf der Terrasse saßen, berichteten die Männer von einem Filmteam, das ganz in der Nähe drehte. Christine und Sandra fragten begeistert, ob sie möglicherweise bei den Dreharbeiten zuschauen könnten.
Bald darauf brachen die Freunde Salvatores mit den beiden Mädchen zum Drehort auf. Salvatore kam nicht mit. Er schimpfte verärgert: »Bleibt mir mit den Filmleuten vom Hals! Ich habe genug von diesen Typen. Vor einigen Jahren drehten sie in unserem Haus einen historischen Film. Wir dachten, das wäre eine feine Sache. Wir würden Geld für die Dreharbeiten bekommen, und unsere Villa würde berühmt. Aber diese Leute waren allesamt verrückt. Alles ging drunter und drüber. Erinnert mich lieber nicht daran.« Die jungen Männer lachten und berichteten ironisch: »Der ärmste Salvatore hängt an seinem alten Kasten. Obwohl er ohne dieses verkommene Haus viel besser leben könnte, bleibt er dickköpfig darin hocken. Es wird ihm eines Tages über dem Kopf zusammenbrechen.« »Das versteht ihr nicht«, wehrte Salvatore unwillig ab. »Fahrt zu diesen verrückten Filmleuten. Ich gehe inzwischen heim und hole die Bilder von Giulias Doppelgängerin, die ich gestern noch fand.« Während sich die anderen in den kleinen Wagen der Mädchen zwängten, verließ Salvatore die Terrasse in Richtung Park.
*
Julia war noch immer benommen von dem starken Schlafmittel, das ihr die dicke Frau gegeben hatte. Da Salvatore sehr lange nicht wiederkam, spähte sie durch die viel zu dicht stehenden Parkbäume. Ohne es zu wollen, glitt ihr Blick zur goldglänzenden Kuppel der Kapelle ab. Erschrocken wandte sie sich ab. Aber es war schon zu spät.
Ganz schwach war das klägliche Jammern der kleinen Dioselina zu hören. Dann kamen Stimmen näher. Voller Panik erkannte Julia den tiefen Tonfall des hochnäsigen Doktors. Nur das nicht! Doch der Arzt sprach mit der dicken Maria: »Nein, Maria. Das ist nicht nötig. Laß die Signora schlafen. Das kleine Wurm wird schon wieder gesund werden.« Erregt widersprach Maria: »Dioselina verlangt aber ununterbrochen nach ihrer Mama. Der arme, kleine Sonnenschein ist ganz traurig. Und wenn sie nun wirklich ernsthaft krank ist?« »Ich sage doch, Kinder fiebern leicht. Schon ein wenig Aufregung genügt, um die Temperatur der kleinen Würmer hochzutreiben.« »Bezeichnen Sie unsere liebe Dioselina doch nicht andauernd als Wurm«, schrie die dicke Frau aufgebracht. Sie mußte sich sehr erregt haben. Sonst hätte sie es nicht gewagt, dem hochnäsigen Doktor, den sie ansonsten sehr respektvoll behandelte, zu widersprechen. Der Arzt erwiderte gekränkt: »Möchtest du etwa besser wissen, wie man Krankheiten behandelt? Ich habe schließlich die Kunst der Medizin erlernt. Ich werde wohl wissen, ob jemand ernstlich krank ist. Mach alles so, wie ich es dir aufgetragen habe. Gegen Abend komme ich wieder, um das Bein der Signora zu behandeln. Ich fürchte, ich werde noch einmal schneiden müssen. Die Wunde gefällt mir nicht. Bei dieser Gelegenheit kann ich auch nach dem kleinen Wurm sehen.« Die dicke Frau schnaubte wütend. Eine Tür knallte zu. »Ist er weg?« erklang die Stimme Donatellas. Maria fuhr sie an: »Trödle hier nicht herum. Du hast heute viel zu tun. Geh an die Arbeit!« Kaum verständlich murmelte
sie dann eigensinnig: »Wenn es der armen Kleinen nicht bald bessergeht, sage ich es der Signora doch!« Erschrocken richtete sich Julia auf. War Dioselina krank? Mühsam humpelte sie ins Haus. Sie folgte den Geräuschen, die an ihr Ohr drangen. In der Küche traf sie auf Donatella. Das junge Mädchen spülte Geschirr. »Wo ist Dioselina?« fragte Julia. Ehe das Küchenmädchen antworten konnte, erschien die dicke Maria mit dem Kind auf dem Arm. Dioselina hatte hochrote Wangen und verschwommene, glasige Augen. Quengelig und erschöpft, das Köpfchen auf die Schulter Marias aufgestützt, flüsterte sie erleichtert: »Mama!« »Ich bin ja da, meine Kleine«, tröstete Julia. Sie setzte sich auf einen unbequemen Stuhl und nahm das Kind auf den Schoß. Eilfertig beruhigte Maria ihre Herrin. »Der Arzt war bereits hier. Er sagte, es sei nicht weiter schlimm. Dieser eingebildete Laffe! Am Nachmittag wird er noch einmal vorbeisehen, um Ihr Bein zu behandeln. Glauben Sie, daß dieser Kerl Ihnen helfen kann?« Julia schüttelte betrübt den Kopf. Die dicke Maria war mehr als eine Bedienstete. Sie war zwar ehrerbietig und unterwürfig, aber im Grunde war sie eher eine gute Freundin als eine unpersönliche Angestellte. Was dann passierte, wußte Julia hinterher selbst nicht mehr. Plötzlich wurde ihr schwindlig. Alles verschwamm vor ihren Augen. Sie war nicht in der Lage, den Nebel, der sie einhüllte, abzuschütteln. Ganz undeutlich hörte sie, wie Maria entsetzt aufschrie: »Signora Giulia!« Und dann noch einmal: »Giulia!« dann wurde es völlig schwarz um sie. Wie aus weiter Ferne hörte sie immer noch ihren Namen rufen. »Giulia! Wo bist du, Giulia!«
Es war Salvatore. Verwirrt bemerkte Julia, daß sie auf einem dreibeinigen Küchenschemel hockte. Wie war sie hierher gekommen? Sie war eindeutig im zwanzigsten Jahrhundert. Schwankend ging sie Salvatore entgegen. Dieser musterte sie und fragte, ob ihr etwas fehlte. Als Julia verneinte, wies er eifrig auf die Bilder, die er gefunden hatte. »Diese Giulia war scheinbar nicht sehr angesehen«, vermutete er. »Alle Bilder von ihr sind entweder ungerahmt oder stecken in einem wertlosen Rahmen. Wir besaßen Gemälde, die sehr wertvoll waren, aber die sind mittlerweile alle verkauft. Seit Generationen wird alles verschleudert, wofür man Geld bekommen kann.« Schon bald kamen Christine und Sandra mit ihren drei jungen Begleitern wieder zurück. Die Filmleute hatten alles abgesperrt. Es war nichts zu sehen gewesen. Die Verständigung zwischen den jungen Leuten klappte wider Erwarten einwandfrei. Mit Zeichensprache, einigen italienischen Worten und viel Gelächter redeten die beiden Mädchen mit den jungen Italienern. Diese verstanden zwar kaum etwas, lachten aber gutgelaunt mit und fanden die deutschen Mädchen, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließen und jeden Blödsinn mitmachten, sehr amüsiert. »Wieso kommt und geht dein Salvatore eigentlich immer durch den Park?« verlangte Sandra zu wissen, als sie die Bilder Giulias betrachtete. Ein wenig gehemmt übersetzte Julia. Salvatore grinste: »Weil es der kürzeste Weg ist.« Er erklärte, daß er in dem großen Haus im Park wohnte. »Vor langer Zeit war es ein imposantes Herrschaftshaus. Meine Vorfahren waren hier die Herren und hatten große Macht. Wenn der jeweilige Padrone etwas befahl, gehorchten alle.« Schmunzelnd und mit ungezwungener Selbsterkenntnis gab er zu: »Aber wenn ich heutzutage etwas befehlen würde,
würde mich jeder nur auslachen. Die Zeiten haben sich geändert.« Er seufzte bedauernd. Einer seiner Freunde konnte es nicht lassen, ihn aufzuziehen: »Dem großen Padrone Salvatore von der Bruchbude würden wir selbstverständlich gern gehorchen, aber er befiehlt einfach nicht.« Salvatore lächelte nachsichtig. Er schien sich über die Anzüglichkeiten seiner Freunde nicht zu ärgern. Trotz ihrer burschikosen, fast ein wenig rauhen Art konnte man erkennen, daß die jungen Kerle Salvatore eine gewisse Achtung und Vorrangstellung einräumten. Ein wenig schwermütig setzte Salvatore seinen Bericht fort: »Jetzt ist das ganze Anwesen verfallen und heruntergekommen. Nur meine Mutter und meine Tante leben außer mir noch dort. Meine Brüder sind weggezogen und haben sich anderswo Arbeit gesucht. Von dem bißchen Obst und Gemüse, das wir anbauen, können wir kaum leben. Deshalb vermieten wir auch dieses kleine Häuschen hier an Touristen.« Er seufzte und sagte sorgenvoll: »Seit Jahren versuchen wir vergeblich, das große, halbverfallene Haus zu verkaufen. Da es keiner haben will, würden wir es gern in ein Hotel umbauen. Aber niemand gibt uns Kredit.« Nach einer kleinen Pause, in der Julia ihren Freundinnen alles übersetzte, lachte er amüsiert auf. »Vielleicht finden wir ja auch den Schatz noch.« Neugierig fragte ihn Julia, was es mit dem Schatz auf sich hätte. Er erklärte geheimnisvoll: »Irgendwo muß hier ein Schatz vergraben sein. Angeblich handelt es sich um einen Teil des Familienschmucks. Er soll sehr wertvoll sein.« »Und niemand sucht nach ihm?« fragte Julia ungläubig. Selbstironisch spöttelte Salvatore: »Doch! Natürlich! Alle paar Jahre beginnt ein halbverrücktes Mitglied unserer Familie
damit, ihn zu suchen. Wir anderen lassen uns jedesmal sofort davon anstecken. Auf diese Weise haben wir schon fast den ganzen Park umgegraben, aber leider nichts gefunden. Wahrscheinlich existiert dieser angebliche Schatz überhaupt nicht. Es heißt, einer meiner Vorfahren mit Namen Salvatore sei eines Tages auf mysteriöse Weise verschwunden und mit ihm der Schatz. Wahrscheinlich hat der Knabe die Klunker geklaut und sich damit aus dem Staub gemacht. Man hörte nie wieder etwas von ihm.« Ohne darüber nachzudenken, mischte sich Julia entrüstet ein. Leidenschaftlich verteidigte sie ihren Geliebten aus der Vergangenheit: »Aber so etwas hätte Salvatore niemals getan!« Als Salvatore sie verblüfft anblickte, kam sie zu sich und wehrte errötend ab: »Nein, nein. Erzähl weiter!« »In der Überlieferung heißt es, eine Geliebte des damaligen Padrone hätte den Schmuck gestohlen und den Sohn des Hauses verhext. Da sie hier starb, könnte möglicherweise auch der verschwundene Schmuck noch hier irgendwo verborgen sein.« »Giulia war keine Hexe. Sie war eine feinfühlige, unglückliche junge Frau«, verteidigte Julia ihre Doppelgängerin. »Niemals hätte sie etwas gestohlen.« Entgeistert blickte Salvatore sie an. »Wer sagt dir denn, daß es sich um diese Giulia handelte? Es war nur von der Geliebten des Padrone die Rede. Wie kommst du gerade auf Giulia?« Hastig lenkte Julia ab: »Das war nur so ein Gedanke. Sprich weiter!« Doch mehr wußte Salvatore nicht über diese alte Schatzgeschichte. Julia übersetzte ihren Freundinnen, was sie soeben erfahren hatte. Diese waren sofort Feuer und Flamme. Übermütig beschlossen sie, im Park auf Schatzsuche zu gehen.
Die jungen Männer erboten sich, für Schaufeln und Spaten zu sorgen. Julia blieb lächelnd in ihrem Liegestuhl zurück und winkte den Schatzsuchern nach, bis sie der Park ihren Blicken entzog.
*
Lange sah Julia auf die alten, bemoosten Bäume und die dichtwuchernden Stauden, hinter denen die Schatzsucher verschwunden waren. Es war wieder unheimlich still ringsum. Sie bedauerte es nun, daß sie nicht mit den Schatzsuchern gehen konnte. Als sie nach ihrem Buch griff, das neben ihrer Liege auf dem Boden lag, schlängelte sich eine Eidechse wieselflink davon und verschwand unter einem losen Stein. Julia beobachtete das Tierchen, das vorsichtig aus seinem Versteck hervorlugte und sich, als sich nichts mehr rührte, frech wieder näherte. Die kleine Echse lief zurück zu ihrem Platz neben Julias Buch, wo ein kleiner sonniger Fleck zum Verweilen einlud. Durch das Gestrüpp der wildwuchernden Pflanzen bahnte sich die Sonne ihren Weg und zauberte hier und dort einen hellen Lichtkringel auf die Steine. Um das Tierchen nicht zu stören, verzichtete Julia darauf zu lesen. Ihr Buch interessierte sie ohnehin nicht mehr. Ängstlich bemühte sie sich, nicht auf das Dach der Kapelle zu blicken. Der Schrecken und das Entsetzen über die grauenvollen Behandlung ihres Beines saßen ihr noch in den Knochen. Dann hörte sie laute Stimmen. Sie blickte in die Richtung, aus der die Stimmen kamen, sah dabei die glitzernde Kuppel der Kapelle und war wieder in der Vergangenheit.
»Schläft die Signora?« hörte sie die Stimme der dicken Frau. »Ja, tief und fest«, antwortete Donatella. Aus dem Haus kam ein Duft von kochenden Beeren. Es roch sehr angenehm. Die Stimme der dicken Frau drang wieder an Julias Ohr. »Endlich! Die Ärmste. Ein wenig Ruhe tut ihr so gut. Nachts findet sie keinen Schlaf. Und all die Aufregung! Dabei hat der Arzt jede Aufregung strengstens verboten. Er befürchtet, daß ihr Herz nicht mehr lange mitmacht. Die ärmste Signora ist sehr krank.« Donatella fragte mit ihrer weichen, leisen Stimme etwas. Darauf erwiderte die dicke Frau: »Nein. Aber sie wird nicht mehr völlig genesen. Im Höchstfall hat sie noch einige Monate zu leben.« Wieder konnte Julia nicht verstehen, was Donatella sagte. Die Stimme der dicken Frau war dagegen sehr deutlich zu verstehen. »Nein, das ist nicht nötig. Sie weiß es selbst. Deshalb kam sie auch zurück. Unter allen Umständen möchte sie die Zukunft der kleinen Dioselina sichern. Wenn Signora Giulia plötzlich stirbt, steht unser kleiner Sonnenschein ganz allein auf der Welt. Die Signora versucht nun mit allen Mitteln, den Padrone dazu zu bringen, daß er das Kind offiziell als seine Tochter anerkennt.« Die dicke Frau seufzte. Als Donatella wieder eine Frage stellte, wehrte die dicke Frau entrüstet ab: »Nein, natürlich nicht! Wer kann ihr einen Vorwurf machen, wenn sie alles versucht, um die Zukunft ihres Kindes zu sichern?« Die dicke Frau fuhr das Mädchen zornig an: »Aber das geht dich gar nichts an. Mach lieber deine Arbeit, und stell nicht so viele Fragen! Über diese Dinge schwatze ich nicht. Die Signora vertraut mir.« Eine Weile herrschte Schweigen im Haus. Nur das Geklapper von Töpfen und vereinzeltes Gläserklirren waren zu hören.
»Ach, da kommt der Doktor. Dieser Kerl quält meine arme Signora auch nur unnötig. Ich glaube, er versteht nicht recht viel von seinem Handwerk. Wenn man mich ließe, würde ich das Bein mit Kräutersud behandeln. Aber diese Ärzte wollen immer nur schneiden.« Mißbilligend schimpfte Maria über die gesamte Ärzteschaft. Der Arzt kam! In Panik überlegte Julia, wie sie es anstellen könnte einzuschlafen, um dem Grauen zu entgehen. Sie schloß die Augen, wußte aber, daß sie unmöglich schlafen konnte, solange ihre innere Unrast sie nicht zur Ruhe kommen ließ. Sie mußte fliehen. Völlig wirr im Kopf vor Angst und Entsetzen richtete sie sich auf. Sie tastete hastig nach ihrem Stock und humpelte, so schnell ihr verletztes Bein es zuließ, auf die Bäume des Parks zu. Kaum war sie im schützenden Laubwerk des Parks verschwunden, als sie Schritte hörte. Wie gehetzt versteckte sie sich hinter einem dicken Baumstamm. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, daß sie weit ausladende Röcke trug. »Giulia!« Die donnernde Stimme des Padrone ließ sie zusammenfahren. Resigniert trat sie aus ihrem unvollkommenen Versteck hervor. »Was tust du hier? Alle erzählen mir, du wärest schrecklich krank und schwach.« Abschätzend betrachtete er sie. Julia sah, wie er in Wut geriet. »Du spielst mir etwas vor!« »Wo ist der Schmuck?« Gefährlich ruhig klang die Stimme des Padrone. Er kam näher. Julia wich ängstlich zurück. In ihrem Kopf war ein heilloses Durcheinander. Sie war nicht fähig, sich zu verteidigen. »Ich frage dich noch einmal«, preßte der Padrone drohend hervor, »wo ist der Schmuck?«
Er war nur noch einen Schritt von Julia entfernt. Diese stieß nun mit dem Rücken an einen Baumstamm und konnte nicht weiter zurückweichen. Der kräftige, wutentbrannte Mann stand in furchteinflößender Haltung vor ihr und schien vor Zorn nicht mehr klar zu denken. Er war zu allem fähig. Abwehrend hob Julia die Hände und suchte krampfhaft nach einem Ausweg. Sie wußte von nichts. Den Schmuck hatte sie nie gesehen. Wo auch immer er war, sie konnte ihn beim besten Willen nicht herbeischaffen. Sie zwang sich zu reden. Nur so konnte sie den erzürnten, gewalttätigen Mann beruhigen. Der Padrone hörte nicht auf ihr hilfloses Gestammel. Er legte seine riesigen Hände um ihren Hals und drohte: »Ich bring’ dich um, wenn du mir den Schmuck nicht zurückgibst.« Julia versuchte, sich seiner Umklammerung zu entziehen. Aber der viel stärkere Mann hatte seine riesigen, gepflegten Pranken wie einen Schraubstock um ihren zarten Hals gelegt und drückte nur noch fester zu. Sie wand sich verzweifelt in seinen grausamen Händen. Langsam schwanden ihr die Sinne. Wie aus weiter Ferne hörte sie seine zornbebende Stimme. Gepreßt schrie er: »Also gut. Du hast gewonnen. Laß morgen den Notar kommen. Die kleine Dioselina ist meine Tochter. Sie soll gemeinsam mit dem kleinen Sohn Salvatores erzogen werden. Ich werde sie als mein Kind anerkennen. Bist du damit zufrieden?« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, würgte er sie noch einmal wütend. Er schüttelte die wehrlose junge Frau, brachte sein verschwitztes Gesicht dicht an Julias Kopf und drohte: »Aber danach gibst du mir den Schmuck. Sonst wirst du mich kennenlernen.«
Seine großen Hände waren noch immer um ihren zarten Hals gelegt. In seiner Wut lockerte er den Griff erst, als er merkte, daß sie unter seinem brutalen Griff schlaff wurde. Als er sah, was er angerichtet hatte, erschrak er. »Giulia, Giulietta, mein kleiner Engel!« Er befürchtete, sie erwürgt zu haben. Erst jetzt gestand er sich ein, daß er noch immer etwas für diese Frau empfand, die er vor einigen Jahren heiß geliebt hatte. Er beugte sich über sie, horchte an ihrer Brust und war erleichtert, als er ihren Herzschlag hörte. »Bleib ruhig liegen, ich hole Hilfe«, stammelte er zutiefst erschrocken. Julia konnte ihn nicht hören. Sie lag in tiefer Bewußtlosigkeit. Benommen schlug Julia die Augen auf. Sie blickte verständnislos um sich. Wo war sie? Was tat sie hier im Wald ganz allein auf dem Boden? Ihr Hals schmerzte, und ihr ganzer Körper fühlte sich an, als wäre er aus Watte. Nur langsam kehrte die Erinnerung zurück. In ihrem Kopf drehte sich alles. Ihre Hand fuhr zum Hals. Sie räusperte sich mehrmals und konnte dann wieder frei atmen. Ängstlich suchten ihre Augen im Unterholz nach dem Padrone. Es raschelte ganz in ihrer Nähe. Erschreckt und furchtsam wollte sie sich hastig aufrichten. Mit einem Jammerlaut ging sie wieder zu Boden. Ihr Bein schmerzte sehr. Sie würde nicht fliehen können. Die Büsche teilten sich, und heraus trat Salvatore. Vor Erleichterung begann Julia zu weinen. »Salvatore, oh, bin ich froh, daß du es bist.« Sie sank kraftlos in sich zusammen. Mit tonloser Stimme jammerte sie: »Dein Vater wollte mich ermorden.« Der junge Mann fragte betroffen: »Was ist passiert? Wer wollte dich ermorden?«
»Dein Vater, der Padrone. Der Schmuck – Dioselina…«, stammelte sie unzusammenhängend. Dann brach sie in haltloses Schluchzen aus, Salvatore beugte sich über das am Boden kauernde, total durchgedrehte Mädchen. Er erkannte, daß sie etwas Schreckliches erlebt hatte. Aus ihrem Gejammer wurde er jedoch nicht recht schlau. Julia legte die Arme um seinen Hals, schmiegte sich an ihn und murmelte verzweifelt und flehend: »Oh, Salvatore, Liebster, bleib’ bei mir. Dein Vater will mich umbringen. Nur gut, daß du noch rechtzeitig dazwischenkamst.« »Wovon redest du denn? Wie kommst du überhaupt hierher?« fragte Salvatore verständnislos. Er ließ sich auf seine Knie nieder und hielt Julia, die am ganzen Körper zitterte, zärtlich in seinen Armen. Julia schmiegte sich schutzsuchend an ihn. Dann bemerkte sie plötzlich mit völliger Klarheit, daß der junge Mann neben ihr ein modernes T-Shirt und Jeans anhatte. Er war zudem glattrasiert und trug verwaschene Turnschuhe. Wie erwachend sah sie sich um. Sie war im zwanzigsten Jahrhundert. Der junge Mann, in dessen Armen sie lag, war nicht der Geliebte Giulias aus längst vergangener Zeit, sondern ein moderner junger Mann. Und sie war ihm um den Hals gefallen! Oje, was würde er von ihr denken! Verlegen versuchte sie sich aus seinen Armen zu befreien. Aber er redete weiter beruhigend auf sie ein und trug sie, als sie sich wieder ein wenig gefaßt hatte, zurück auf die Terrasse. Fürsorglich setzte er sie in ihrem Liegestuhl ab. »Nun will ich aber wissen, was das alles soll«, verlangte er sehr bestimmt. Er holte sich ebenfalls einen Liegestuhl heran, setzte sich und starrte Julia gespannt an. »Mein Vater ist seit Jahren tot. Aber du hast schon mehrmals solche ungereimten Sachen gesagt. Und wie kam es eigentlich, daß du mich bei unserer ersten
Begegnung erkanntest, obwohl du mich zuvor noch nie gesehen hattest?« Forschend betrachtete er sie. Julia starrte befangen zu Boden. Wie sollte sie ihm alles erklären? Er würde sie für verrückt halten, wenn sie ihm die Wahrheit gestand. Aber die ganze Geschichte wuchs ihr langsam über den Kopf. Sie wußte, daß es nicht ungefährlich war, in die Vergangenheit versetzt zu werden. Mit allen Mitteln mußte sie verhindern, daß es ihr erneut geschah. Sie war erschöpft und völlig durcheinander. Es würde guttun, sich bei einem verständnisvollen Menschen auszusprechen. Und Salvatore war ihr durch ihre Erlebnisse in der Vergangenheit längst kein Fremder mehr. Sie hatte ihre Gefühle für den Salvatore der Vergangenheit bedenkenlos auf den modernen jungen Mann an ihrer Seite übertragen. Bei dem Chaos, das in ihrem Kopf herrschte, war ihr nur klar, daß Salvatore bei ihr war. Das allein zählte. Aus welchem Jahrhundert er stammte, war ihr im Moment vollkommen gleichgültig. Zögernd berichtete Julia, wie alles begonnen hatte. Da sie das zweifelnde Gesicht des jungen Mannes nicht sehen wollte, starrte sie verbissen auf ihre verkrampften, nervösen Hände. Salvatore unterbrach sie nicht. Immer flüssiger und ungezwungener sprudelte alles aus Julia heraus. Mit erregten Worten sprach sie von ihrer Angst, ihren Qualen, ihrem Entsetzen und ihrer tiefen Verwirrung. Der junge Mann lauschte aufmerksam. »Ich verstehe nicht, wohin das führen soll. Ich habe das Gefühl, als würde ich auf etwas Grauenvolles zusteuern. Zu allem Überfluß ist neben der Angst auch ein gewisser reizvoller Nervenkitzel. Es ist ein aufregendes Abenteuer.« Nachdem sie geendet hatte, herrschte lange Zeit Schweigen zwischen den beiden jungen Menschen. Julia fürchtete, daß Salvatore sie nur aus Höflichkeit ausreden ließ. Hielt er sie für
übergeschnappt? Oder glaubte er an ihre unerklärlichen Erlebnisse? Salvatore räusperte sich. Unsicher meinte er: »Das klingt alles sehr unwahrscheinlich. Aber komischerweise glaube ich dir.« Nachdenklich saß er neben ihr. Sie wagte nicht, etwas zu sagen. Dann schien Salvatore zu einem Entschluß gelangt zu sein. »Auf jeden Fall darfst du jetzt nicht allein bleiben. Sobald deine Freundinnen zurückkommen, gehe ich heim und sehe in unserer Bibliothek nach, ob ich Aufzeichnungen über diese Begebenheiten finden kann. Vielleicht hilft uns das weiter. Es wäre wahrscheinlich besser, wenn du niemandem etwas von deinen Zeitsprüngen verraten würdest.« Allmählich entspannte sich Salvatore. Er ließ sich grübelnd auf die Liege zurücksinken und fragte: »Konntest du in etwa feststellen, in welcher Zeit das alles geschah? Es würde mir meine Suche erleichtern.« Doch Julia hatte keine Ahnung. Sie beschrieb die Garderobe der Menschen, denen sie begegnet war. »Es muß schon lange her sein. Und, ja richtig«, erinnerte sie sich lebhaft, »die Kapelle stand damals noch nicht.« Salvatore hörte aufmerksam zu und nickte einige Male. Dann fiel ihm noch etwas ein: »Du erwähntest den Schmuck. Weißt du, wo er war?« »Nein. Aber ganz offensichtlich hatte ihn Giulia.« Nervös sah Salvatore immer wieder zum Park. »Wo bleiben diese verrückten Schatzsucher nur so lange?« fragte er ungeduldig. Julias Geschichte hatte ihn gefesselt. Sobald wie möglich wollte er in den alten Aufzeichnungen nachsehen. Schon immer hatte er sich für die Geschichte des Ortes und vor allem seines Hauses interessiert. Oft war er von seinen Freunden deshalb gehänselt worden. Doch die alten Überlieferungen und die teils handgeschriebenen Bücher
faszinierten ihn immer wieder. Nun konnte er vor Aufregung kaum noch still sitzen. Julia erging es nicht anders. In ihrer inneren Unrast drängte sie den jungen Mann, sofort etwas zu unternehmen. Sie versicherte, daß es ihr nichts ausmachte, allein zu sein.
*
Kurz nachdem Salvatore zwischen den Bäumen verschwunden war, kamen die anderen von ihrer erfolglosen Schatzsuche zurück. Lachend und herumalbernd erzählten sie von ihren vergeblichen Versuchen, den wertvollen Schmuck aufzuspüren. Salvatores Freunde schlugen vor, auch noch die nahe gelegene Ruine eines Bauernhauses zu durchsuchen. Zwar hatte diese mit dem Schatz nichts zu tun, aber es machte bestimmt Spaß, in dem halbzerstörten Bauwerk herumzuklettern. Trotz der Sprachschwierigkeiten genossen es die jungen Männer, mit den beiden hübschen Urlauberinnen herumzustrolchen. Nachdem sie den Kühlschrank geplündert und noch ein wenig herumgealbert hatten, bewaffneten sie sich mit Taschenlampen und zogen gutgelaunt wieder los.
*
Die Sonne versank wie ein gewaltiger roter Feuerball langsam hinter den Bäumen. Sie färbte die Wolken, die sich vereinzelt zusammenballten, rot und violett. Die mächtigen Bäume
standen im flammenden Abendlicht wie schwarze, drohende Riesen. Julia ließ ihren Blick schweifen. Sie war noch immer allein. Wie lange sie schon wartete, wußte sie nicht. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren. Weder Salvatore noch die Schatzsucher waren bisher zurückgekehrt. Verkrampft bemühte sie sich, die Kuppel der Kapelle nicht anzusehen. Statt dessen sah sie gelangweilt den Vögeln zu, die jetzt, bei beginnender Dämmerung, auf Futtersuche gingen. Zwei wild schilpende Spatzen stritten miteinander. Lachend sah ihnen Julia nach, als die kleinen Vögel, noch immer laut und unmelodisch pfeifend, hochflogen und ihren Kampf in der Luft fortsetzten. Erschrocken bemerkte sie, daß die Kapelle in ihr Gesichtsfeld gekommen war. Sie sah rasch weg, aber es war bereits zu spät. Augenblicklich hatte sich alles verändert. Julia wußte, daß sie wieder in die Vergangenheit eingetaucht war. Sie war ganz in Weiß gekleidet und lag auf der harten Holzliege. Der riesengroße Hund stand, laut hechelnd, neben ihr. Automatisch streckte sie die Hand aus und streichelte ihn. Er wedelte begeistert mit dem Schwanz und wandte ihr den zotteligen Köpf zu. Julia sah in die treuen Hundeaugen und wunderte sich, wieso das feinfühlige Tier nicht erkannte, daß sie nicht seine Herrin, sondern nur ihre Doppelgängerin aus einem zukünftigen Jahrhundert war. Die kleine Dioselina saß auf der Terrasse und spielte mit einer Stoffpuppe. Sie war noch immer ein wenig matt und quengelig, hatte aber offensichtlich kein Fieber mehr. Verärgert kreischte sie und stampfte wütend mit dem kleinen Beinchen auf, weil ihre Puppe einfach nicht stehenbleiben wollte. Aus dem Haus drangen Essensgerüche. Julia lief das Wasser im Mund zusammen. Sie bemerkte, daß sie hungrig war. Es
dauerte nicht lange, dann bat die dicke Frau sie mit den gestelzten Worten: »Signora, es ist angerichtet«, ins Haus. Sie kam zu Julia und stützte sie. Julia war froh darüber, zum Teil, weil ihr das verletzte Bein noch immer Schwierigkeiten machte, vor allem aber, weil sie nicht genau wußte, wo sich das Speisezimmer befand. Donatella servierte eine köstliche Fisch-Mahlzeit. So etwas hatte Julia nie zuvor in ihrem Leben gesessen. Obwohl sie sehr besorgt war, ließ sie es sich schmecken. Danach gab es Käse und zuletzt einen Kuchen, von dem Julia noch ein zweites Stück nahm. Die dicke Frau, die im Hintergrund stand, lächelte wohlwollend und meinte: »Wußte ich es doch, daß ich der Signora mit diesem Dolce eine Freude machen würde. Dieser Süßspeise konnten Sie noch nie widerstehen.« Daraufhin goß sie Kaffee in die kleine Tasse, die vor Julia stand, gab zwei Stück Zucker dazu und rührte um. Verwundert gestand sich Julia ein, daß sie ihren Kaffee ebenfalls so am liebsten trank. Sie hatte also nicht nur dasselbe Aussehen wie die längst verstorbene Giulia, sondern auch deren Geschmack und Eigenheiten. Wie seltsam das alles war! Nach der Mahlzeit verließ sie, gestützt von der dicken Maria, das Speisezimmer. Inzwischen waren im ganzen Haus die Läden geöffnet worden, die während der Hitze des Tages immer verschlossen blieben. Es war trotzdem unerträglich schwül. Julia sehnte sich nach dem leisen Lufthauch, der auf der Terrasse stets wehte. »Würdest du bitte die Liege noch einmal aufstellen, Maria?« bat sie. Die dicke Frau murmelte unzufrieden: »Sie sollten jetzt wirklich schlafen gehen. Der Arzt hat verordnet, daß Sie nach den Mahlzeiten ruhen sollen.« Murrend stellte sie die
Ruhebank, die an der Wand des Hauses lehnte, wieder auf, holte die weichen Kissen aus dem Haus und legte sie darauf. Kaum lag Julia auf ihrer Liege, sah sie Sergio, den alten Diener des Padrone. Er schien unentschlossen, ob er sich nähern sollte. Mit einer einladenden Handbewegung und freundlich lächelnd nahm ihm Julia die Entscheidung ab. Der alte Mann schlurfte heran und blieb einige Schritte vor ihr respektvoll stehen. »Nun, was gibt es, Sergio?« fragte Julia. Der alte Sergio druckste unglücklich herum, dann sagte er entschlossen: »Mir kam zu Ohren, daß der Padrone Gerüchte ausstreuen will, die arme Signora Giulia wäre von einem bösen Geist besessen.« Erleichtert atmete er auf. Das wäre geschafft! Mit dem Handrücken fuhr er sich über die schweißnasse Stirn. Um Julia nicht ins Gesicht sehen zu müssen, starrte er stumpfsinnig auf seine Schuhe. Julia erschrak. Betroffen schaute sie den alten Diener an. »Aber was verspricht er sich davon? Dadurch hat doch niemand einen Vorteil«, sinnierte sie halblaut. Sergio zögerte, dann gab er sich einen Ruck und bat eindringlich: »Signora Giulia, bitte seien Sie vernünftig. Geben Sie den Schmuck heraus. Es gibt Mord und Totschlag, wenn der Schmuck bis zur Taufe des kleinen Patrizio nicht in den Händen des Padrone ist.« Verwundert fragte Julia: »War die Taufe nicht schon vor einigen Tagen?« Sergio schüttelte den Kopf. »Nein. Sie wurde verschoben, weil der Großherzog erkrankte. Er ist einer der Paten. Das ist eine große Ehre für unser Haus.« Sergio fühlte sich mit der Familie des Padrone so eng verbunden, daß er alle Probleme seiner Herrschaft zu seinen eigenen Problemen machte. Belehrend erklärte er: »Die
Familie war vor einigen Jahren in Ungnade gefallen. Das hatte schlimme wirtschaftliche Auswirkungen. Doch nun ist der Großherzog bereit, als Zeichen der Versöhnung den ersten Enkel des Padrone persönlich aus der Taufe zu heben.« Die dicke Frau kam aus dem Haus. Sie trug Dioselina im Arm. Sergio verstummte. Auffordernd reichte Maria das Kind Julia. »Unser kleiner Sonnenschein geht jetzt schlafen«, erklärte sie mit warmer Stimme. »Und morgen früh ist die kleine Dioselina bestimmt wieder ganz gesund. Sie ist jetzt schon wieder ganz munter.« Dioselina nickte eifrig. Wartend blieb die dicke Frau neben Julia stehen. Julia nahm die Kleine und drückte sie liebevoll an sich. Sie war überrascht, welche Gefühle das in ihr wachrief. Um das kleine Mädchen noch im Arm behalten zu dürfen, neckte und kitzelte sie es, und Dioselina kicherte unbeschwert. Gerührt und glücklich ließ es sich Julia danach gefallen, daß das Kind die kurzen, weichen Armchen um ihren Nacken legte und treuherzig beteuerte: »Tina hat Mama soo lieb.« Nur ungern ließ Julia ihre »Tochter« von der dicken Frau wegtragen. Der alte Sergio stand noch immer am selben Fleck. Er lächelte dem Kind selbstvergessen nach. Auch Julia hatte sich umgewandt und verfolgte Maria und das kleine Mädchen mit den Blicken, bis sie im Haus verschwanden. »Ich danke dir für deine Warnung, Sergio«, richtete Julia das Wort dann wieder an den Diener. »Bitte, Signora, hören Sie auf meinen gutgemeinten Rat.« »Vielleicht hast du recht, Sergio. Ich hatte eigentlich immer Vertrauen zu dir. Mittlerweile konnte ich feststellen, daß du mehr Macht besitzt, als es den Anschein hat.« »Das stimmt, Signora Giulia«, grinste er erfreut. Julias Stimme wurde fordernd. »Du kannst den Padrone beeinflussen. Ich bitte dich, Sergio, kümmere dich darum, daß
er für meine kleine Dioselina sorgt, wenn ich nicht mehr bin.« Sergio wollte etwas antworten, doch Julia ließ ihn nicht zu Wort kommen. Hilfesuchend hob sie die Arme hoch. »Hilf mir, Sergio. Rede mit deinem Herrn. Er muß Dioselina als seine Tochter anerkennen.« Mit großartiger Geste legte Sergio seine beiden Hände auf die Brust und rief mit Überzeugung: »Solange ich lebe, werde ich für das kleine Mädchen kämpfen. Auf Sergio können Sie sich verlassen, Signora.« Traurig sah Sergio auf die Kranke. Er konnte deutlich sehen, daß sie sehr geschwächt war. Von ihrer einstigen Schönheit war nicht mehr viel zu bemerken. Das Mitleid schnürte dem alten Mann die Kehle zu. Trotzdem mußte er zu seinem Anliegen zurückkommen. Er schluckte mehrmals, als er bat: »Geben Sie den Schmuck zurück, Signora Giulia. Salvatores Frau muß diese Schmuckstücke tragen. Bitte, Signora Giulia!« »Ach, Sergio!« stöhnte Julia. »Wenn ich nur wüßte, was ich tun soll.« »Hören Sie auf mich, Signora Giulia«, forderte der alte Mann erneut. »Es ist nur zu Ihrem Besten. Der Padrone ließ es sich noch niemals gefallen, daß jemand seine Befehle mißachtete. Und jetzt ist er in einer Zwangslage.« »Was heißt Zwangslage? Es ist ihm sicher peinlich, wenn er den Schmuck nicht vorweisen kann.« Sergio schüttelte erregt den Kopf. »Es gibt einen Skandal, wenn die Schwiegertochter des Padrone diesen Schmuck bei der Taufe nicht trägt. Er wurde der Familie vom Vater des Großherzogs verliehen. Dieser legte sehr großen Wert darauf, daß die Geschenke bei seinen Untergebenen Anerkennung finden.«
Julia fühlte sich plötzlich furchtbar schwindelig. Benebelt und fast träumerisch antwortete Julia: »Ja, ja, natürlich! Ich muß den Schmuck zurückgeben.« Der leichte Schwächeanfall ging vorüber. Sie konnte wieder klar denken. Jetzt erinnerte sie sich, daß sie nicht wußte, wo dieser Schmuck war. Sergio richtete sich freudestrahlend aus seiner demütig gebückten Haltung auf und rief überschwenglich: »Oh, Signora! Das ist eine Freude! Ich laufe zum Padrone. Wie gut, daß ich noch einmal mit Ihnen sprach.« Schon lief er weg. Für sein Alter war er noch erstaunlich flink. Julia legte sich zurück und döste vor sich hin. Ohne es zu merken, schlief sie ein.
*
»Selbst wenn du schläfst, gleichst du einer lieblichen Rose, die der Sonnenschein mit seinen zärtlichen Küssen verwöhnt.« Julia war aus tiefem Schlaf erwacht und wußte im ersten Moment nicht, wo sie war. »Ich sagte: Selbst wenn du schläfst, gleichst du…«, begann Salvatore allen Ernstes, seine Worte zu wiederholen. Julia unterbrach ihn vergnügt: »Ja, ja. Das reicht schon. Diese kitschigen Worte passen zu deinem Namensvetter aus der Vergangenheit besser als zu dir. Obwohl ich mich natürlich sehr geehrt fühle.« Das schelmische Lächeln, das ihre Worte begleitete, war ansteckend. Salvatore grinste über das ganze Gesicht und verteidigte sich: »Du solltest dich nicht über mich lustig
machen. Es ist mein Ernst. Du bist für mich die schönste Rose, die der Sommer hervorbringt.« Bevor er wieder in Schwung kam, wehrte Julia gutgelaunt, in gespieltem Entsetzen, ab: »Hör auf! Hör auf! Sonst finde ich noch Gefallen an deinem Süßholzraspeln. Hast du etwas herausgefunden?« Salvatore verneinte: »Bisher nicht. Ich wälzte unzählige Bücher.« Er betrachtete Julia verliebt und gestand mit feuriger Glut: »Die Sehnsucht nach deinem lieblichen Anblick ließ mich alles andere vergessen und zu dir eilen.« »Salvatore, laß den Kitsch«, prustete Julia los. Die Gesten und die übertriebenen Worte des jungen Mannes waren zu drollig. »Du hast eben nichts übrig für romantische Liebeserklärungen. Also werde ich wieder seriös werden.« Er grinste verschmitzt: »In Wirklichkeit wurde es zu dunkel, um die handschriftlichen Eintragungen zu entziffern. In unserer Bibliothek brennt nur eine schwache Deckenlampe. Aber ich gebe nicht auf. Morgen suche ich weiter.« Ganz allein saßen sie auf der Terrasse. Die Schatzsucher waren noch nicht zurückgekehrt. Die warme Nacht mit ihren gedämpften Geräuschen hüllte sie ein. Es war bereits völlig dunkel. Julia konnte den jungen Mann an ihrer Seite mehr ahnen als sehen. Dieser ließ die einmalige Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen. Zärtlich und zugleich leidenschaftlich küßte er Julia, die nur darauf gewartet hatte. Hastig fuhren sie wie ertappte Sünder auseinander, als sie Stimmen hörten. Es waren die erfolglosen Schatzsucher. Sie mußten ihre Nachforschungen abbrechen, da es zu dunkel wurde. Als Salvatore sich von Julia verabschiedete, versprach er, weiter nachzuforschen und ihr sobald wie möglich näheres zu berichten.
Die Nacht war drückend heiß. Die glühende Tageshitze war ins Haus eingedrungen und hatte sich hartnäckig festgesetzt. Obwohl sämtliche Fenster weit geöffnet waren, wollte es nicht abkühlen. Im Garten stimmten die ersten Vögel ihr Frühkonzert an. Das dämmerige Licht des frühen Morgens drang spärlich durch die Spalten der Jalousien. Julia konnte nicht mehr schlafen. Unruhig wälzte sie sich hin und her und horchte auf die gleichmäßigen Atemzüge Christines, die tief und fest schlief und ab und zu leise schnarchte. Leise stand sie auf. Sie wollte der abgestandenen, warmen Luft im Haus entkommen. Tief einatmend betrat sie die Terrasse. Hier war es angenehm kühl. Gähnend reckte sie sich. Alles war so ruhig und friedlich. Zufrieden und glücklich betrachtete sie ihre Umgebung. Sie hatte nicht die Absicht, sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen. Doch das Kapellendach lag genau in ihrem Blickfeld. Und schon war es geschehen. »Was tun Sie denn hier?« fragte die dicke Maria besorgt. »Und noch dazu, nur mit einem Nachtgewand bekleidet. Sie werden sich erkälten. Kommen Sie ins Haus.« Julia sah an sich herunter. Sie trug ein bodenlanges, hochgeschlossenes, hauchdünnes Nachthemd, das überreich mit weichfallenden Rüschen und kleinen rosaroten Röschen besetzt war. Nun war sie also doch wieder in der Vergangenheit. Salvatore hatte sie eindringlich vor der Gefahr gewarnt. Niedergeschlagen murmelte sie: »Ich werde wieder zu Bett gehen. Es ist noch zu früh.« Maria nickte beistimmend und geleitete ihre Herrin ins Haus. Als Julia durch die dämmerigen Räume zu ihrem Schlafzimmer ging, sah sie oben an der breiten Marmortreppe die kleine Dioselina stehen. Das Kind war ebenfalls mit einem
langen, rüschenbesetzten Nachthemdchen bekleidet. Barfuß stand es zögernd an der obersten Stufe und wagte es anscheinend nicht so recht, die Treppe hinunterzusteigen. »Mama!« schrie die Kleine, als sie Julia sah. Sie begann, sich krampfhaft am Geländer festhaltend, die oberste Treppenstufe mit ihrem Fuß zu ertasten. Maria stoppte sie aufgeregt. »Langsam, langsam, mein kleiner Sonnenschein. Warte, ich werde dir helfen.« Behende lief die dicke Frau die Treppe hoch. Sie nahm das Kind auf den Arm und rief entsetzt: »Was hast du denn da?« Befremdet starrte sie auf den Hals der Kleinen. Dann drehte sie sich um und stotterte heiser: »Warten Sie, Signora, ich werde das Kind schnell wieder ins Bett bringen.« Irgend etwas stimmte nicht. Wieso war Maria beim Anblick der kleinen Dioselina so erschrocken? Mühselig quälte sich Julia die vielen Stufen hinauf. Im Kinderzimmer stand Maria über das kleine Mädchen gebeugt und besah sich deren Haut genau. Sie blickte betroffen auf, als sie Julia bemerkte. »Die kleine Dioselina hat überall rote Flecken«, stammelte sie angespannt. Es fiel ihr schwer, ihre Erregung zu zügeln. Mit mühsam beherrschter Stimme setzte sie hinzu: »Aber es ist sicher nicht schlimm. Bitte, Signora Giulia, Sie dürfen sich nicht aufregen. Kommen Sie mit, ich bringe Sie zu Bett.« Julia schüttelte die Hand der dicken Frau unwillig ab und ging zum Bett des Kindes. Dioselina hatte, tatsächlich am ganzen Körper rote Flecken. Zuerst erschrak Julia. Doch dann sah sie genauer hin und war fast sicher, daß das kleine Mädchen Windpocken hatte. »Eine harmlose Kinderkrankheit«, sagte sie deshalb unbesorgt. Maria schien anderer Ansicht zu sein. Sie war furchtbar nervös. »Wir sollten den Doktor verständigen. Der eingebildete Quacksalber weiß zwar selbst nicht viel. Aber…«
»Bitte, Maria, mach nicht so ein Theater«, wies Julia die dicke Frau zurecht. »Dioselina hat weder Fieber noch sonstige Symptome. Ich bin sicher, in ein paar Tagen ist alles vorbei.« Dioselina war nicht mehr müde. Sie streckte die Arme nach ihrer »Mutter« aus und wollte aus ihrem Bettchen genommen werden. Julia freute sich darauf, ein wenig mit dem Kind zu spielen. Sie konnte sich hinterher immer noch schlafen legen. So früh am Morgen schliefen wahrscheinlich alle noch. Also drohte ihr wenig Gefahr. »Ich bleibe ein wenig bei Dioselina«, sagte sie fest. Wie um ihre Worte zu bekräftigen, setzte sie sich auf den dicken, weichen Teppich, der vor dem Kinderbettchen lag. Der dicken Frau blieb nichts anderes übrig, als das Kind aus dem Bett zu heben und neben die Mutter zu setzen. Dann verließ sie, sehr nervös und beunruhigt, das Kinderzimmer. Sie mußte an ihre alltäglichen Haushaltspflichten gehen. Julia spielte vergnügt mit dem Kind. Übermütig alberte sie mit dem jauchzenden Mädchen herum und freute sich an der Begeisterung der Kleinen. Als Dioselina sich schließlich erschöpft an ihre »Mutter« lehnte und sie bat, etwas vorzulesen, nahm Julia ein Bilderbuch zur Hand und las. Der Kopf des Mädchens sank auf die Beine Julias, und bald war es eingeschlafen. Lächelnd blickte Julia auf Dioselina. Um sie nicht zu wecken, hielt sie sich ganz still. Mit den Schultern lehnte sie sich ans Kinderbettchen und betrachtete gerührt das pausbäckige Gesichtchen. Dioselina hatte die kleinen Händchen zu Fäusten geballt und schlummerte friedlich. Lange saß Julia reglos und wagte kaum zu atmen. Sie wurde müde und schlief dann ebenfalls ein. Durch das Geräusch einer schlagenden Tür wurde Julia abrupt aus dem Schlaf gerissen. Sie kauerte in verkrampfter Haltung halbsitzend, an etwas Hartes gelehnt. Alle Glieder
taten ihr weh. Ein LKW ratterte laut vorbei. Der Straßenlärm drang sehr deutlich zu ihr. Ganz konfus schaute sie sich um. Wo war sie? Es war ziemlich finster in dem großen Raum. Nur durch ein kleines rundes Loch drang ein wenig Licht. Vorsichtig richtete sie sich auf. Der Raum war so niedrig, daß sie nicht stehen konnte. Gebückt tappte sie zu der Lichtquelle. Es war ein unverglastes, winziges Fenster. Als sie hinaussah, erkannte sie, daß sie auf dem Dachboden des kleinen Ferienbungalows war. Wie war sie hierhergekommen? Sie erinnerte sich an die kleine Dioselina. Richtig! Sie war die Marmortreppe hochgegangen. Auf den Knien kriechend, suchte sie nach einer Treppe oder zumindest einer Luke. Ihre Finger tasteten das rauhe Holz des Bodens ab. Überall standen Gegenstände. Sie konnte nicht viel erkennen. Als sie an etwas Weiches stieß, zog sie ihre Hand angeekelt zurück. Hoffentlich lag da nicht ein verendetes Tier. Grauen überfiel sie. Dann ertastete sie ein Rechteck und Scharniere. Hier war die Luke. Sie mußte sie nur noch öffnen. Mit aller Kraft drückte sie auf das Holz. Es bewegte sich nicht. Nach einigen vergeblichen Versuchen sah sie ein, daß sie die Luke nicht allein öffnen konnte. Was sollte sie tun? Wie sollte sie Christine und Sandra erklären, daß sie hier oben festsaß?
*
Christine erwachte und stellte fest, daß Julia bereits aufgestanden war. Auch Sandra hantierte bereits in der Küche. »Guten Morgen!« schrie sie gutgelaunt. Dann fragte sie irritiert: »Wo ist denn Julia?«
»Ich dachte, die schläft noch«, antwortete Sandra. Nachdem Christine ihre Morgentoilette beendet hatte, war Julia noch immer nicht aufgetaucht. »Wir müssen sie suchen. Wo kann sie nur sein?« Die beiden Mädchen suchten vergeblich den Garten und den nahen Park ab. Erst als sie wieder im Haus waren und ratlos grübelten, wo Julia sein könnte, hörten sie die Hilfeschreie. Es dauerte lange, bis sie die Bodenluke, die mit einer Tapete überklebt war, gefunden hatten. Sie war von außen mit einem Riegel verschlossen. »Verstehst du das?« fragte Sandra verblüfft. Sie schlitzten die Tapete mit einem scharfen Messer rundum auf und zogen den langen Riegel zurück. »Aber wie kommst du da hinauf?« wunderte sich Sandra. »Das ist doch unmöglich. Und die Luke war von unten zugesperrt.« Auch Christine wurde nun stutzig. »Wer hat dich dort hinaufgebracht und eingesperrt?« Julia lenkte ab: »Darüber reden wir später. Jetzt helft mir zuerst herunter. Ich wage es nicht, einfach zu springen. Mein Knöchel könnte es mir übelnehmen.« »Warte, ich laufe zum Herrenhaus und borge mir eine Leiter«, schrie Sandra. Kurz darauf kam sie mit Salvatore, der eine kleine Leiter trug, zurück. Julia wurde aus ihrer mißlichen Lage befreit. »Mich würde es trotzdem interessieren, wie du da hinaufkamst«, beharrte Christine. »Das ist doch unmöglich! Die Tapete war über die Luke geklebt. Und das Fenster ist zu klein, um durchzuschlüpfen. Also, wie hast du das gemacht?« Julia zog sich aus der Affäre, indem sie Salvatore auf Italienisch von ihren Erlebnissen erzählte. »Was soll ich nun den beiden Mädchen sagen? Sie warten auf eine Erklärung?« fragte sie hilflos.
»Behaupte einfach, ich hätte dir gesagt, daß so etwas schon mehrfach vorkam.« »Das werden sie mir niemals glauben.« »Bleib’ einfach bei dieser Behauptung. Der Riegel schiebt sich jedesmal von selbst vor, wenn die Luke mit Schwung geschlossen wird.« »Und wie kam ich ohne Leiter hinauf?« widersprach Julia patzig. »Gar nicht zu reden von der Tapete.« »Ach, laß dir irgend etwas einfallen.« Er verstummte verärgert. »Streitet ihr?« fragte Sandra. »Nein, Salvatore steht vor demselben Rätsel wie ihr«, antwortete Julia unwirsch. Grübelnd dachte Salvatore nach. Dann erhellte sich sein Gesicht. »Du weißt von nichts: Genau! Das ist das Beste: Gib dich als Schlafwandlerin aus.« Salvatore war begeistert von seiner Idee. Doch Christine und Sandra schauten Julia nur ungläubig an, als diese hartnäckig darauf beharrte, mondsüchtig zu sein. »Ich werde heute abend nachsehen, ob Vollmond ist«, murmelte Sandra, nicht sehr überzeugt. Salvatore war sehr besorgt um Julia. »Du darfst auf keinen Fall mehr allein hierbleiben«, wiederholte er mehrmals. Da Julia beabsichtigte, sich ihren Unternehmungen anzuschließen, hatten Christine und Sandra beschlossen, eine kleine Autotour zu machen. Vom Auto aus konnten sie bequem die reizvolle Landschaft betrachten. Hingerissen besah sich Julia die Umgebung. Sie mußte ihren Freundinnen, deren Enthusiasmus sie bisher für übertrieben gehalten hatte, zustimmen. Vor allem die verschlafenen Dörfchen hoch oben auf den langgezogenen Bergrücken bezauberten sie.
Nach ihrer Rückkehr am späten Nachmittag holten sie die Liegestühle heraus und legten sich in den Garten. Dösend rekelten sie sich in der warmen Abendsonne. »Wir bleiben heute abend zu Hause«, schlug Christine träge vor. Sandra wandte ein: »Dann müßten wir aber noch einmal los und etwas zum Essen besorgen.« Julia blieb allein zurück. Sie warteten ungeduldig auf Salvatore und ließ kein Auge von dem überwucherten Weg, auf dem er aus dem Park kommen mußte. Er kam mit leeren Händen, aber seine Miene war sehr besorgt. »Hast du etwas herausgefunden?« wollte Julia wissen, noch ehe er ganz herangekommen war. Salvatore nickte. Er setzte sich neben Julia und fragte nach Christine und Sandra. »Sie sind noch einmal losgefahren, um einzukaufen. Sie wollen nicht lange wegbleiben«, gab Julia Auskunft. Sorgenvoll wackelte Salvatore mit dem Kopf. »Du solltest nicht länger hier bleiben. Vor allem nicht allein.« Dann berichtete er mit großem Ernst, was er gelesen hatte. »Bei meinen Nachforschungen fiel mir der Name Dioselina auf. Von ihr wird berichtet, daß sie sich sehr vorteilhaft im Norden verheiratete. Sie ist als legitime Tochter des Padrone verzeichnet.« »Also hat der Padrone sein Wort gehalten«, warf Julia ein. Salvatore nickte. »Doch die Vorgänge, die du schildertest, sind nicht so leicht zu durchschauen. Es ist alles ein wenig unklar.« »Kein Wunder nach so langer Zeit.« »Ja. So viel ist jedenfalls festzustellen: Die Geschichte mit der Geliebten, die in einem Häuschen in der Nähe ein Kind vom Padrone zur Welt brachte und sich dann in den Sohn
dieses Mannes verliebte, stimmt. Es stimmt auch, daß der junge Mann Salvatore hieß. Das ist nicht verwunderlich, denn dieser Name kommt in unserer Familie sehr häufig vor. Wir besitzen sogar ein Bild von diesem Salvatore.« »Meinem Salvatore!« wiederholte Julia fast ein wenig verstimmt. »Mein Salvatore bist du!« Der junge Mann lachte geschmeichelt und sagte unsicher: »Das Bild ›deines‹ Salvatore hängt bei uns in der Eingangshalle und zeigt ihn als sehr jungen Mann. Ich sehe es fast täglich, dachte mir bisher jedoch nichts dabei. Er sah genauso aus wie ich. Nur hatte er einen Bart und trug das Haar länger.« Julia stimmte zu: »Er sah nicht nur so aus, er war in allem genau wie du.« Unruhig stand Salvatore auf, ging ins Haus und kam mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern wieder. »So redet es sich leichter«, meinte er und reichte Julia ein volles Weinglas. »Also, was du mir erzähltest, stimmt alles«, fuhr er eifrig fort. »Diese Giulia war schwer krank und wußte, daß sie nicht mehr lange zu leben hatte. Darum wollte sie die Zukunft ihrer kleinen Tochter gesichert wissen. Nach der Entbindung hatte der verblendete Padrone ihr wertvollen Familienschmuck geschenkt. Er war damals nicht gut zu sprechen auf den Stifter dieser wertvollen Stücke.« »Dabei hatte er in seinem Eifer nicht bedacht, daß die Frauen der Familie diesen Schmuck zu besonderen Anlässen tragen mußten, falls sie die Gunst des Großherzogs wieder erlangen konnten«, fiel Julia ein. »Richtig! Nun war er in großen Schwierigkeiten. Die ehemalige Geliebte wollte den Schmuck nur herausrücken, wenn er Dioselina an amtlicher Stelle als seine Tochter anerkannt hätte.«
Salvatore nahm einen Schluck Wein und berichtete der gespannt lauschenden Julia: »Inzwischen war es dem Padrone gelungen, den Großherzog gnädig zu stimmen. Bestimmt hatte ihm das einen schönen Batzen Geld gekostet. Nun, jedenfalls geruhte der hohe Herr anläßlich der Taufe des Enkels zu erscheinen. Auch alle Prominenten der Umgebung waren eingeladen. Aus diesem Grund mußte Salvatores Frau den Familienschmuck tragen.« »Warum gab er dann nicht dem Drängen seiner ehemaligen Geliebten nach?« wunderte sich Julia. »Ganz einfach! Es war dem Padrone kaum möglich, das Kind in dieser kurzen Zeit amtlich anzuerkennen. Er versuchte es sicherlich mit Schmeicheleien und Gewalt. Aber vergeblich.« »Genauso war es«, bestätigte Julia. »Also war das alles kein Traum. Ich erlebte es wirklich, Salvatore, ich habe schreckliche Angst. Was bedeutet das alles?« Salvatore beruhigte sie: »Ich bin ja bei dir. Wenn du vorsichtig bist, kann dir nichts geschehen. Du darfst nicht mehr in diese Zeit zurückkehren. Es könnte wirklich gefährlich für dich werden. Ich könnte es nie verwinden, wenn ich dich wieder verlieren würde. Giulia, Liebste, ich werde dich beschützen.« Mit heißen Worten gestand er Julia seine Liebe. Geschmeichelt ließ es sich Julia eine Weile gefallen. Doch dann lachte sie: »Jetzt übertreib’ doch nicht so!« Salvatore besann sich wieder. Grinsend lehnte er sich auf seinem Liegestuhl zurück und sagte: »Also gut. Dann höre zu, was ich sonst noch herausfand. Das Schlimmste kommt erst.« Mit tragischer Stimme und sehr ernstem Ton setzte er seinen Bericht fort: »Am Abend der Taufe spitzte sich das Geschehen zu.« Neugierig beugte sich Julia vor. Sie hing gebannt an Salvatores Lippen.
»Ich konnte nicht genau feststellen, wie alles ablief«, gab Salvatore zu. »Die Eintragungen waren sehr undurchsichtig. Es hat den Anschein, als sollte etwas verschleiert werden. Die Worte sind so unnatürlich und gedrechselt, daß man alles Mögliche daraus lesen könnte. In der damaligen Zeit schrieb man anders als heute. Trotzdem ist die ganze Sache sehr geheimnisvoll.« Gedankenverloren füllte er die Weingläser nach. »So viel ist klar: Giulia starb in der Nacht der offiziellen Tauffeier; angeblich eines natürlichen Todes. Aber auch der junge Salvatore verschwand in derselben Nacht und wurde nie mehr gesehen, und vom Schmuck fehlt seitdem jede Spur.« Betroffen flüsterte Julia: »Ich – das heißt, Giulia besaß diesen Schmuck. Da bin ich mir ziemlich sicher.« Salvatore lächelte verhalten: »Scheinbar ist das der Schatz, den wir heute noch suchen. Ja, das war die ganze Geschichte. Mehr konnte ich nicht herausfinden. Das heißt«, setzte er nachdenklich hinzu, »die Kapelle scheint auch etwas mit dem Geschehen dieser Nacht zu tun zu haben. Sie entstand unmittelbar nach dem Tod von Giulia. Der Padrone ließ sie an der Stelle erbauen, wo früher ein einfaches Gedenkkreuz stand. In den alten Aufzeichnungen ist noch vermerkt, daß er sie jeden Tag besuchte.« Tief in Gedanken versunken saßen die beiden jungen Menschen auf der Terrasse. Ohne daß es ihnen bewußt geworden war, hatten sie sich an den Händen gefaßt. Die Dämmerung brach herein. Als Julia, die nur einen Bikini trug, fröstelnd zusammenschauerte, holte Salvatore eine leichte Decke für sie. Doch Julia zitterte mehr aus Grauen als vor Kälte. Leidenschaftlich drückte Salvatore die nachdenkliche Julia an sich, als er sie fürsorglich zudeckte. Befangen setzte er sich wieder auf seinen Liegestuhl. Mit leiser tonloser Stimme
klagte er: »Nach dieser ganzen Geschichte scheinst du mich so gut zu kennen, und ich kenne dich kaum. Trotzdem verliebte ich mich bereits am ersten Abend in dich. Giulia…« Mit stürmischem Feuer gestand er ihr seine Liebe…
*
Als Christine und Sandra gutgelaunt und mit einer Unmenge von Tüten und Getränken bepackt, heimkamen, saßen die beiden Verliebten noch immer versunken auf der dunklen Terrasse. Respektlos bemerkte Sandra auf Deutsch: »Dich hat es ja mächtig erwischt.« Als Julia darauf nichts erwiderte, warnte sie: »Verlieb’ dich nicht zu sehr in ihn. Wir fahren in zwei Wochen wieder heim. Du machst dich nur unglücklich.« Der junge Italiener sah fragend von Sandra zu Julia. Er erwartete, daß Julia ihm übersetzte, was Sandra gesagt hatte, doch Julia schüttelte nur stumm den Kopf. Ehe Salvatore sich verabschiedete, mußte ihm Julia versprechen, am nächsten Tag nicht allein im Bungalow zu bleiben. Er wollte am Abend, wenn Christine und Sandra mit ihren italienischen Begleitern wie vereinbart zum Dorffest gingen, wiederkommen. »Ich werde dich bewachen«, rief er mit erhobener Hand theatralisch aus. »Alle Gefahren, sogar Drachen und feuerspeiende Ungeheuer aus der Vergangenheit werde ich für dich besiegen.« Christine und Sandra schüttelten lachend die Köpfe. »Er ist schon ein großartiger Mann. Selbst wenn man nicht versteht, was er sagt, muß man ihn bewundern. Was hat er dir denn zum Abschied für Liebesschwüre zugerufen?« fragte Sandra neugierig.
Schmunzelnd wiederholte Julia, was Salvatore gesagt hatte.
*
Nach den herrlichen Frühlingstagen, die in diesen Breiten so heiß waren wie zu Hause in Deutschland die Sommerzeit, änderte sich nun das Wetter. Immer wieder ballten sich Wolken zusammen, um sich dann jedoch erfolglos wieder aufzulösen. Diesige heiße Luft hing über dem Tal. Es wurde sehr schwül und drückend. Die drei Mädchen beschlossen, ans Meer zu fahren, wo wenigstens ein leichter Wind die unerträgliche Hitze milderte. Julia freute sich auf das Meer. Sie mochte nicht mehr allein bleiben. Die Angst, in der Vergangenheit schreckliche Dinge zu erleben, hatte sich in ihr festgesetzt. Der kleine verlassene Strand, den die Mädchen entdeckt hatten, war wirklich sehr anziehend. Vergnügt planschten sie im seichten Wasser, schwammen, faulenzten und ließen sich von der Sonne braten. Sie hatten einen reichgefüllten Picknickkorb mitgenommen und genossen ihre Ferien. Als sie am Abend zurückkehrten, wartete Salvatore mit seinen jungen Freunden bereits vor dem Bungalow. Eilig zogen sich die Mädchen um. Inzwischen war ein frischer Wind aufgekommen. »Hoffentlich kommt kein Gewitter«, bemerkte einer der jungen Männer mit einem skeptischen Blick zum Himmel. »Wir haben ein großartiges Feuerwerk vorbereitet.« Unter Gekicher und vergeblichen Versuchen, sich zu verständigen, gingen Christine und Sandra mit den jungen Italienern zum Dorffest. In ihrer Vorfreude auf das Fest brachen sie immer wieder in lautes Gelächter aus und
bemühten sich, in aufgeregtem deutsch-italienischem Kauderwelsch miteinander zu reden. Julia und Salvatore saßen, glücklich über ihre ungestörte Zweisamkeit, träumend und plaudernd beisammen. Sie beobachteten den wolkenverhangenen Nachthimmel, der sich immer mehr bezog und nichts Gutes ahnen ließ. Der Wind hatte zugenommen. Abgerissene Blätter und kleine Zweige wirbelten durch die Luft. Undeutlich hörten sie plötzlich aufgeregte Rufe. Salvatore lauschte. Jemand rief nach ihm. Die Stimme kam näher. »Salvatore!« »Das ist meine Tante.« Verwundert und alarmiert sprang er auf. Schwer atmend kam eine ältere Frau näher. »Deine Mutter wurde von einem Dachziegel am Kopf getroffen. Komm schnell. Sie liegt besinnungslos im Hof, und niemand ist da. Alle gingen zum Dorffest.« Salvatore sprang auf, dann zögerte er. Unsicher sah er Julia an, für die er sich verantwortlich fühlte. »Beeil dich doch!« drängte die Tante keuchend. »Geh nur«, nahm ihm Julia die schwere Entscheidung ab, »deine Mutter braucht dich jetzt dringender.« »Aber paß gut auf dich auf, Julia«, mahnte er noch einmal nachdrücklich. Völlig ruhig und sorglos dachte Julia, daß es in dieser dunklen Nacht nicht möglich war, das verhängnisvolle Kapellendach zu sehen. Ihr konnte nichts passieren!
*
Kurz nachdem Salvatore gegangen war, begann das Feuerwerk. Julia blickte gebannt zum Himmel. Sie stand auf und humpelte zur Kante der Terrasse. Von dort aus konnte man die schimmernde, gleißende Pracht besser beobachten. In allen Farben leuchteten die Feuerwerkskörper, ehe sie am wolkenverhangenen Himmel funkensprühend verglühten. Ohne sich dessen richtig bewußt zu sein, sah sie plötzlich die Kuppel der kleinen Kapelle im Schein der Raketen glänzen. Sie erschrak. Doch zum Glück hielt das Feuerwerk an. Sie war nicht in die Vergangenheit zurückversetzt. Dann stand plötzlich die dicke Frau neben ihr. Auch sie betrachtete das Feuerwerk fasziniert. Nun kannte sich Julia nicht mehr aus. Donatella, das Mädchen, das der dicken Frau im Haushalt half, starrte ebenfalls mit offenem Mund auf die bunten Leuchtkörper, die sich am Nachthimmel knallend entluden. Die beiden Dienstboten schrien bei jeder Explosion laut und begeistert »Ah!« und »Oh!«. Julia mußte trotz ihrer drückenden Sorgen über so viel Enthusiasmus lächeln. Erst als die letzten Raketen mit lautem Knallen barsten, wandten sie sich ab. »Der Padrone hat wirklich keine Mühen gescheut, um die Taufe seines Enkels zu einem unvergeßlichen Ereignis zu machen«, bemerkte die dicke Frau. »Seit dem frühen Morgen tanzen die Leute im ganzen Ort auf den Straßen. Und du«, sie wandte sich an Donatella, »darfst nun auch gehen. Ich brauche dich heute nicht mehr.« Nun hatte Julia die Gewißheit, daß genau das passiert war, was sie am meisten befürchtet hatte. Sie war in der Vergangenheit, ausgerechnet in der Nacht, in der das Tauffest von Salvatores Sohn gefeiert wurde. In dieser Nacht war jene Giulia gestorben, deren Stelle sie immer wieder gegen ihren
Willen einnahm. Eine unerträgliche Angst lähmte ihr Denken. Sie mußte schnellstens weg von hier. Aber wie? Die Feuerwerkskörper verglühten am Himmel. Der letzte Knall verklang. Es war wieder alles ruhig und dunkel. Da ihr nichts anderes übrigblieb, ging Julia mit den Dienstboten zurück ins Haus. »Ich werde sofort zu Bett gehen«, teilte sie der dicken Frau mit. Diese nickte befriedigt: »Ja, ein paar Stunden Schlaf werden Ihnen guttun.« Fürsorglich half sie Julia ins Schlafzimmer. Mit ruhiger Selbstverständlichkeit begann sie dann, die unzähligen kleinen Knöpfe an Julias Kleid zu öffnen. Julia behagte der Gedanke, von dieser Frau ausgezogen und wie ein kleines Kind ins Bett gesteckt zu werden, nicht so recht. Aber sie wollte durch unangebrachten Protest kein Aufsehen erregen. Noch bevor sie das Kleid mit Marias Hilfe ablegen konnte, wurde sie durch ein lautes, dringendes Klopfen an der Tür gestört. Verschüchtert streckte Donatella in ihrem schmucken Sonntagsstaat den Kopf ins Zimmer und stotterte: »Eine Nachricht vom Padrone. Ein Bote brachte einen Brief. Und wenn ich nicht mehr gebraucht werde, gehe ich dann.« Julia bat um den Brief, ließ sich eine Kerze bringen und erbrach das Siegel. In dem Papier lag die Kopie eines Vorvertrages. Der Padrone erkannte Dioselina als seine Tochter an. »Der Überbringer wartet draußen«, berichtete Maria. Schnell ließ Julia ihr Kleid wieder zuknöpfen und wankte, auf die dicke Frau gestützt, in die Vorhalle. Der junge Mann, der den Brief überbracht hatte, sagte sein auswendig gelerntes Sprüchlein auf: »Ich soll ausrichten, daß der Vertrag von einem Rechtsgelehrten aufgesetzt und von zwei vertrauenswürdigen Zeugen unterzeichnet und somit absolut unanfechtbar ist. Der Padrone läßt Sie bitten, ihn in
einer halben Stunde an dem kleinen Kreuz, das zum Gedenken an den tödlichen Unfall seines ältesten Sohnes Patrizio im Park aufgestellt wurde, zu treffen. Er möchte sein Eigentum zurückhaben.« Noch ehe der Bote mit der Zusicherung, daß Julia in den Park kommen würde, gegangen war, kam Salvatore herein. Er hatte die letzten Worte des Boten mitangehört und ärgerte sich über seinen Vater, der die kranke junge Frau in den Park bestellte. »Er will den Schmuck zurück«, sagte Julia verständnisvoll. »Und niemand soll davon erfahren.« »Welchen Schmuck?« Salvatore ahnte scheinbar nichts von den Schwierigkeiten, in denen sein Vater steckte. Julia informierte ihn. »Wenn es so wichtig ist, dann gib’ ihm doch den Schmuck zurück. Er wird ihn dir sicher ersetzen«, riet Salvatore. »Darum geht es mir nicht!« wehrte Julia ab. »Was sollte ich noch damit anfangen? Du weißt genau, daß ich keine Zeit mehr habe, ihn zu tragen. Mich interessiert nur noch, was mit meiner kleinen Tochter geschieht.« Julia merkte, wie ihr vor Selbstmitleid Tränen in die Augen stiegen. Sie blinzelte unwillig. »Dein Vater ist mit meinen Vorschlägen einverstanden. Soeben brachte der Bote den Vorvertrag. Hier!« Sie reichte Salvatore die Dokumente. »Ich glaube, das ist in Ordnung.« Salvatore las den Vertrag aufmerksam durch und nickte beistimmend. »Damit kommst du vor jedem Gericht durch. Aber du solltest dich nicht um Dioselina sorgen. Ich würde niemals zulassen, daß dein kleines Mädchen in Armut lebt.« Darauf antwortete Julia nicht. Sie war mit ihren Gedanken bei einem anderen Problem. Sie wußte nicht, wo jene Giulia den Schmuck vor einigen hundert Jahren versteckt hatte. Einer
plötzlichen Eingebung folgend, wandte sie sich zu Maria und bat, den Schmuck zu holen. Die dicke Frau ging in das angrenzende Zimmer und kam mit einer kleinen Metallschatulle zurück. Sie hatte die Form einer Muschel. Julia nahm die kunstvoll gearbeitete Muschel in die Hand und stellte fest, daß er sehr schwer und reichverziert war. »Du brauchst dich nicht zu bemühen. Ich werde den Schmuck zurückbringen«, erbot sich Salvatore. »Bis zur Feier dauert es noch fast zwei Stunden. Es eilt also nicht.« Julia wehrte ab. »Wenn dein Vater wünscht, mich in einer halben Stunde im Park zu treffen, ist es besser, ich komme selbst, und zwar möglichst pünktlich. Ich habe seine Geduld ohnehin schon zur Genüge strapaziert. Du weißt, wie jähzornig er werden kann«, erinnerte sie ihren Geliebten. Dieser bot sich daraufhin an, sie wenigstens zu begleiten und zu stützen. Julia drückte ihm die Schmuckschatulle in die Hand, und er verstaute sie in seinem prunkvollen, breiten Gürtel.
*
Es war sehr dunkel im Park. Dicke Wolken ließen kein Mondlicht zur Erde durchdringen. Die beiden Liebenden gingen langsam den Parkweg entlang. Fürsorglich stützte Salvatore die humpelnde Julia. Immer wieder mußten sie stehenbleiben und verschnaufen. »Ich fühle mich heute furchtbar schwach«, beklagte sich Julia während einer dieser Pausen. Salvatore erwiderte mitfühlend: »Ich bringe dich zurück. Niemand kann von dir verlangen, daß du in deinem Zustand nachts im Park herumläufst.«
Julia reagierte empfindlich. Sie war selbst überrascht. »Noch bin ich nicht tot«, sagte sie scharf. Sie hatte diese Worte noch nicht ganz ausgesprochen, als ihr der harte Ton bereits leid tat. »Verzeih mir, Salvatore. Ich bin verbittert. Ich möchte nicht sterben. Ich bin noch so jung.« Erst jetzt kam es Julia voll zu Bewußtsein, daß jene Giulia, deren Platz sie einnahm, in der Nacht der Tauffeier gestorben war. Sie bäumte sich gegen dieses Schicksal auf. Sie mußte weg von hier. Salvatore spürte ihre Erregung. Er beruhigte sie, versicherte ihr mit überschwenglichen Koseworten seine Liebe und beklagte ihr Los. Langsam beruhigte sich Julia wieder. Sie würde, genau wie zuvor schon oft, bewußtlos werden und in ihre Zeit zurückkehren. Schwer auf Salvatore gestützt, setzte sie ihren Weg fort. Der Padrone war noch nicht am vereinbarten Platz, als sie dort ankamen. Verliebt standen sie engumschlungen in der lautlosen Nacht und warteten. Als sie Schritte hörten, lösten sie sich voneinander. Julia bat: »Laß mich zuerst allein mit ihm reden.« Hastig versteckte sich Salvatore im Gestrüpp und lugte neugierig durch die Blätter. Der Padrone kam in Begleitung seines Bruders, eines hohen Würdenträgers der katholischen Kirche. Der dicke, selbstgefällige Monsignore hatte seinem Bruder sehr zugesetzt. Er hatte ihn einen Narren genannt und ihm seine Sünden in allen Schattierungen vorgeworfen. Die schlimmste Sünde war dabei in den Augen des Monsignore, daß der Padrone den wertvollen Schmuck, der ihm anvertraut gewesen war, einer Hure und Betrügerin geschenkt hatte. Die Beschimpfungen seines Bruders hatten nicht dazu beigetragen, den Padrone freundlicher zu stimmen. Er war in
einer sehr gnädigen Verfassung. Gereizt und zornbebend schnaufte er verächtlich, als er Julia sah. Aufgewiegelt durch die Hetzreden seines Bruders brüllte er die wartende Julia barsch an. »Wo hast du den Schmuck?« »Ach ja, richtig, den Schmuck!« Julia wandte sich nichtsahnend um. Sie wollte Salvatore heranwinken, der die Schmuckschatulle noch immer in seinem Gürtel trug. Der Padrone verstand die Geste falsch. Mit wutverzerrtem Gesicht zog er sein langes, reichverziertes Messer und zischte mit unverhülltem Haß: »Ich lasse mich nicht länger von dir zum Trottel machen.« Dann ging alles sehr schnell. Der Padrone fuchtelte aufgeregt mit seinem Messer herum. Der Monsignore versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen und ihm das Messer zu entwinden. Salvatore sah von seinem Versteck aus auf das Messer, das sein Vater gegen Julia richtete, und wollte seiner Geliebten zu Hilfe eilen. In der Finsternis der Nacht konnte Julia nicht genau erkennen, wie es passierte. Sie bemerkte lediglich, wie Salvatore strauchelte und nach vorn stolperte. Mehrere laute Schreie durchdrangen die Nacht. Erst als Salvatore reglos am Boden lag, verstand sie, was geschehen war. Sie schrie bestürzt auf. Salvatore war in das Messer gefallen, das sein Vater gegen die junge Frau erhoben hatte. Trotz des unsicheren Lichts der Sommernacht erkannte Julia klar und deutlich den Schaft des Messers, der aus Salvatores Hals ragte. Ihre Knie gaben nach. Neben dem Geliebten sank sie ins Gras. Überall war warmes, klebriges Blut. In namenlosem Schmerz warf sie sich über den jungen Mann. Salvatore lebte noch. Er fühlte Julias Nähe. Mit matter Stimme flüsterte er: »Giulia, ich liebe dich. Wir werden
miteinander glücklich sein – irgendwann, in einer anderen Zeit. Du wirst mich…« Dann lag er still. Sein Vater und sein Onkel schoben Julia rücksichtslos beiseite. Sie bemühten sich vergeblich, das Blut, das in Strömen floß, zu stoppen. Es war aussichtslos. Vor Gram und Grauen war Julia wie von Sinnen. Kraftlos lag sie im hohen Gras und konnte nicht fassen, was geschehen war. In ihrer Brust krampfte sich etwas zusammen. Doch der Schmerz trat in den Hintergrund vor dem viel tieferen Leid, machtlos zusehen zu müssen, wie der geliebte Mann verblutete. Die erschütternde Reaktion des Padrone, seine lauten, herzzerreißenden, verzweifelten Schreie drangen nur schwach in ihr Bewußtsein. Der Monsignore war der Einzige der einen klaren Kopf behielt. Er murmelte leise die Sterbegebete, die seine Kirche vorschrieb. Dann blickte er sich um und wies anklagend auf Julia: »Sie ist an allem schuld! Diese Hexe hat den Tod des armen Salvatore verursacht. Mit ihrem teuflischen Blick hat sie das Messer irregeführt. Sie ist eine Gefährtin des Satans. Ich werde dafür sorgen, daß sie ihre gerechte Strafe für diese frevelhafte Tat erhält.« Mit unverhohlenem Haß stieß er diese Worte hervor. Die Verwünschungen des Monsignore berührten Julia nicht. Ihr war alles gleichgültig, Salvatore, ihr Salvatore war tot. Sie hatte nur den Wunsch, ebenfalls zu sterben. Der Padrone, der reglos über seinem Sohn kauerte, bewegte sich. Mit kraftloser, resignierter Stimme und leerem Blick widersprach er schwerfällig: »Das würde auch nichts mehr ändern. Nein! Wir müssen diese Angelegenheit geheimhalten. Ein Hexenprozeß gäbe einen fürchterlichen Skandal. Wie
willst du sie daran hindern, die Wahrheit zu sagen? Jeder hier weiß, wie geschwächt sie durch ihre Krankheit ist.« »Eine Hexe hat die Macht, durch Satans Hilfe Unmenschliches zu vollbringen.« Müde winkte der Padrone ab: »Nein, so geht es nicht!« Gramgebeugt kniete der stolze, herrschsüchtige Mann neben seinem toten Sohn. Der Monsignore wurde ungeduldig. »Wir müssen uns überlegen, was wir den Leuten sagen wollen. Die Zeit verstreicht. Man wird uns bald suchen.« Während Julia vor Schmerz um Salvatore kaum klar denken konnte, erörterten die beiden Männer die verschiedenen Möglichkeiten. Der Monsignore machte vernünftige Vorschläge. »Bestimmt wissen die Leute im Ort, daß du auf deinen Sohn wegen dieser Hure dort«, er deutete verächtlich auf Julia, »eifersüchtig warst. Man wird dir niedrige Instinkte vorwerfen. Du bekommst eine Menge Ärger, wenn das Unglück bekannt wird.« Sie kamen schließlich zu dem Schluß, daß es am besten sei, wenn niemand etwas von dem Vorgefallenen erfahren würde. Man mußte Salvatore möglichst schnell, ohne irgend jemanden einzuweihen, begraben. Der Padrone warf aufbegehrend ein: »Aber mein Sohn soll nicht ohne die Segnungen der Kirche in ungeweihter Erde verscharrt werden.« In diesem Punkt konnte ihn der Monsignore beruhigen. »Ich werde ihn in aller Form würdig beerdigen. Später kannst du an dieser Stelle eine Kapelle erbauen lassen. Dann ruht er in geweihtem Boden.« All das hörte Julia wie aus weiter Ferne. Sie lag auf der Erde und atmete gequält. Die beiden Männer nahmen keine Notiz von ihr. Sie fühlte, wie der Druck in ihrer Brust sie zu
ersticken drohte. Die Kälte, die vom Boden ausging, durchdrang sie. Undefinierbare Geräusche erklangen in ihren Ohren. Plötzlich wußte sie, daß sie sterben würde. Ganz am Rande ihres Bewußtseins registrierte sie zwar, daß etwas nicht stimmen konnte. Sie war doch nicht diese Giulia aus längst vergangener Zeit! Aber sie war zu schwach, um sich gegen das Schicksal aufzubäumen. Ergeben ließ sie sich fallen. Finsternis umfing sie, es wurde still, unheimlich still, und dann schwebte sie, schwebte – hin zu Salvatore. Keine Auflehnung war in ihr, nur tiefer Friede. Sie würde Salvatore wiedersehen. Niemand würde sie mehr von ihrem Geliebten trennen können. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchflutete sie. Dann wurde es hell, sehr hell – und entsetzlich warm. Julia schwebte. Eingehüllt in eine Wattekugel glitt sie schwerelos dahin. Salvatore war in ihrer Nähe, das fühlte sie. Ganz leise, aus weiter, weiter Ferne hörte sie die flehende Stimme des geliebten Mannes. Seine bettelnden, drängenden Worte konnte sie lange Zeit nicht richtig verstehen. Doch das störte sie nicht. Es genügte ihr, daß er da war. Erst nach und nach drangen seine Worte bis zu ihrem Bewußtsein durch. »Giulia, so komm doch endlich zu dir! Um Himmels willen, was ist denn geschehen? Meine Liebste, mein Herz, so sag’ doch etwas.« Glücklich schmiegte sie sich in die Arme, die sie umschlossen. Salvatore war bei ihr, alles war gut. Vorsichtig schlug sie die Augen auf. »Salvatore!« flüsterte sie benommen. Salvatore kniete neben ihr auf der feuchten Erde. Er atmete erleichtert auf, als er ihre Stimme hörte. »Dem Himmel sei Dank! Ich hatte solche Angst um dich.«
In seiner Freude drückte er sie so stürmisch an sich, daß sie vor Schmerz aufschrie. Ihr Kopf war noch immer umnebelt. Sie wußte nicht genau, lag sie nun tot irgendwo im Schattenreich mit dem ebenfalls gestorbenen Salvatore, oder lag sie lebend in den Armen des jungen Mannes aus ihrer realen Zeit? Mit schwerem Kopf blickte sie sich um. Nur langsam kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. Es war noch immer dunkel. Leises, drohendes Donnergrollen erfüllte die Luft. In der Ferne zuckten Blitze. Ein grelles Licht blendete, und es war ungewöhnlich heiß. Funken stoben durch die Luft. Plötzlich war sie hellwach. Die Kapelle! Sie stand in Flammen. Was war geschehen? »Die Kapelle – das Grab Salvatores – er darf nicht verbrennen«, stammelte sie verwirrt. »Reg dich nicht auf. Du bist in Sicherheit, mein Liebling«, flüsterte Salvatore verliebt. Mittlerweile hatte er sie ganz sachte hochgehoben und trug sie wie einen wertvollen Schatz zum Bungalow. Ängstlich klammerte sich Julia an ihn. Ihr Gehirn weigerte sich, an das Grauen dieser Nacht zurückzudenken. Doch dann stürmten die Bilder ungehemmt auf sie ein. Sie stöhnte leise auf. Erst jetzt kam verspätet die Reaktion auf das grauenvolle Erlebnis. Salvatore fühlte, wie sie in seinen Armen zu zittern begann. Er sah ihren entsetzten Gesichtsausdruck und bemerkte, daß sie sich an ihn klammerte wie eine Ertrinkende. Das Gewitter verzog sich. Ohne Vorwarnung begannen schlagartig dicke Regentropfen herunterzuprasseln. Salvatore beeilte sich, mit seiner süßen Last ins Trockene zu kommen. Im Bungalow legte er Julia auf die Couch und deckte sie fürsorglich zu.
»Das viele Blut. Überall war Blut. Oh, Salvatore«, stöhnte Julia erregt. »Das Messer!« Sie bäumte sich auf. Noch immer ganz verwirrt, redete sie unverständliches Zeug. Salvatore hielt ihre Hand und tröstete: »Es ist alles vorbei. Hab’ keine Angst. Ich bin ja bei dir.« Julia zitterte noch immer am ganzen Leib. Wirr und unzusammenhängend redete sie ununterbrochen. Immer wieder beteuerte sie, daß sie nicht für Salvatores Tod verantwortlich war. »Es war so grauenhaft. Der Monsignore nannte mich eine Hexe. Das viele Blut. Oh, mein Gott!« Julia starrte mit weit geöffneten Augen ins Leere. Die besänftigenden Worte des jungen Mannes hörte sie kaum. Auch Salvatore war unruhig. Nervös blickte er immer wieder aus dem Fenster. Als Julia sich schließlich ein klein wenig beruhigt hatte, fragte er unsicher: »Kann ich dich einen Moment allein lassen? Ich muß die Feuerwehr verständigen. Bei der Trockenheit der letzten Wochen fängt sonst noch der ganze Park Feuer.« Julia hörte ihn zwar, nahm jedoch nicht wahr, was er sagte. Sie fand sich nicht mehr zurecht. Mit absoluter Gewißheit wußte sie, wie Salvatore mit dem Messer im Park verblutete. Mit einem seligen, wehmütigen Lächeln erinnerte sie sich daran, wie er ihr versprochen hatte, sie würden miteinander glücklich werden. Sie war ihm in den Tod gefolgt und bei ihm aufgewacht. Aber was redete er für Unsinn? Wozu brauchten sie die Feuerwehr? Sie brach in haltloses Schluchzen aus. Davon hörte Salvatore nichts mehr. Verzweifelt war er losgerannt, um die Feuerwehr und den Arzt zu verständigen.
*
Christine und Sandra hatten sich im Ort untergestellt, als plötzlich das Gewitter ausgebrochen war. Jetzt kamen sie völlig durchnäßt heim. Lärmend und gutgelaunt betraten sie den kleinen Bungalow. Als sie Julia sahen, verstummten sie betroffen. »Julia, was ist denn passiert?« fragte Christine bestürzt. Doch Julia schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Sie war wie versteinert. Erschüttert beugte sich Christine über Julia. Diese fror und wimmerte leise. Sie zitterte am ganzen Leib. Energisch brachten die beiden Mädchen ihre verstörte Freundin zu Bett. Sandra wunderte sich: »Kannst du das verstehen? Wie kann ein Gewitter die sonst so robuste Julia dermaßen aus dem Gleichgewicht bringen?« Sie waren froh, als Salvatore mit dem Arzt kam. Dieser gab Julia eine Spritze, und sie schlief erlöst ein. Erst nach endlosen Stunden, die Salvatore wachend neben Julias Bett zubrachte, kam sie wieder zu sich. Das Grauen drohte erneut, sie zu verschlingen. Die grausigen Bilder ließen sich einfach nicht verdrängen. Sie klammerte sich an Salvatore und murmelte immer wieder: »Das Blut, das viele Blut!« Verständnisvoll nickte der junge Mann. Er neigte sich wissend zu ihr und bat: »Ganz ruhig, Julia. Das kannst du mir später alles genau erzählen.« Nervös und verständnislos hatten Christine und Sandra darauf gewartet, daß Julia erwachte. Sie wollten endlich erfahren, was ihre Freundin so durcheinander gebracht hatte. Die Erklärungen des jungen Italieners, der kaum Deutsch sprach, hatten sie nur noch mehr verwirrt. »Die Kapelle brannte«, sagte Julia plötzlich ganz ruhig und normal. Mehr erfuhren die beiden Mädchen im Moment nicht von ihr.
»Komm«, sagte Christine zu Sandra. »Lassen wir sie mit Salvatore allein. Ihm gelingt es vielleicht eher, sie zu beruhigen.« »Gut. Stören wir die beiden Turteltauben nicht länger. Aber wissen möchte ich schon, was die ärmste Julia so aus dem Gleichgewicht brachte.« Salvatore berichtete, was sich zugetragen hatte, seit er mit seiner Tante gegangen war. »Ich holte den Arzt für meine Mutter. Sie hat eine Gehirnerschütterung, fühlte sich aber schon wieder ganz wohl. Dann brach das Gewitter mit ungeheurer Wucht los. Der Sturm deckte mehrere Häuser im Ort ab und hinterließ überall ein Feld der Zerstörung. Ein Blitz schlug ganz in der Nähe ein. Kurz darauf roch ich Rauch und nahm die Helligkeit der Flammen im nächtlichen Park wahr.« Während er mit leiser Stimme erzählte, entspannte sich Julia ein wenig. Ruhig legte sie sich zurück und horchte auf die Worte des jungen Mannes. »Da ich meine Mutter bei dem erfahrenen Hausarzt und der Tante in guten Händen wußte, eilte ich sofort an den Brandherd. Die alte Kapelle brannte lichterloh. Das ausgedörrte Holz des halbverfallenen Dachstuhls und die Innenverkleidung verströmten eine unerträgliche Hitze. Ich hatte mich bereits abgewandt, um die Feuerwehr zu alarmieren, als ich im Schein der Flammen etwas Buntes liegen sah.«
*
Seine glutvollen Augen spiegelten den Schrecken wider, der ihm in die Glieder gefahren war, als er Julia erkannt hatte, die reglos neben den Stufen der Kapelle lag. »Du warst fürchterlich verstört. Alles, was du sagtest, war ›das viele Blut‹. Immer wieder sprachst du von Blut. Hast du Julias Tod miterlebt? Möchtest du darüber sprechen?« In Julia stieg das kaum verdrängte Grauen erneut auf. Sie weinte. Ihre Nerven ließen sie im Stich. Heftige Schluchzer erschütterten ihren ganzen Körper. Lange Zeit saß Salvatore neben ihr, streichelte sie beruhigend und gab leise, liebevolle, meist sinnlose Laute von sich. Julia wurde ruhiger und verstummte endlich. Total erschöpft vom haltlosen Weinen fühlte sie sich wie ausgehöhlt und leer. Noch immer von Schluchzern geschüttelt, erzählte sie von der entsetzlichen Tragödie um Salvatores Tod.
*
Als Julia am nächsten Tag sehr spät erwachte, war Salvatore bereits da. Sie frühstückten gemeinsam, während Christine und Sandra sich von ihren neuen italienischen Freunden die Sehenswürdigkeiten der Umgebung zeigen ließen. Salvatore betrachtete Julia immer wieder mit wachsamen Augen. Sie hatte ihr Grauen über das schreckliche Geschehen der vergangenen Nacht scheinbar überwunden. Vergnügt plauderte sie mit ihm über belanglose Dinge. Glücklich lächelnd erinnerte Salvatore an die letzten Worte seines Namensvetters. »Wie sagte er bei seinem Tod? Wir werden miteinander glücklich sein – irgendwann in einer anderen Zeit.«
Übermütig, mit tiefempfundenem Glauben an die Verheißungen aus der Vergangenheit behauptete er: »Diese Voraussage wird in Erfüllung gehen. Wir haben meinem unglücklichen Vorfahren gegenüber die Verpflichtung, miteinander glücklich zu werden.« Sehr ernst nahm er Julias Hände in seine und fragte eindringlich: »Giulia, willst du meine Frau werden?« Ehe Julia antworten konnte, sprach er nervös weiter: »Im Gegensatz zu meinem Vorgänger habe ich weder Geld noch Macht. Du wirst kein leichtes Leben haben an meiner Seite. Aber ich habe ein Herz voller Liebe für dich.« In seiner heißblütigen, übertriebenen Art redete er auf sie ein. Er war so richtig in Fahrt. Julia konnte ihn kaum unterbrechen. Lachend beteuerte sie, daß sie selbst auch nicht reich sei und nur zu gern seine Frau würde. Nach dem Frühstück setzten sie sich auf die Terrasse. Von der Kapelle war nichts mehr zu sehen. Das Feuer war noch in der Brandnacht gelöscht worden. Die Feuerwehr hatte gut gearbeitet. Der Regen hatte ein übriges getan. Trotzdem war von der Kapelle nicht viel übriggeblieben. Nur einige verkohlte Baumriesen und ausgebranntes Mauerwerk zeugten noch von dem Geschehen der Nacht.
*
Die Tage vergingen wie im Flug. Julias Fuß schmerzte kaum noch. Sie beteiligte sich nun an allen Unternehmungen ihrer Freundinnen. Jetzt begannen die drei Mädchen endlich, all die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, die sie sich vorgenommen hatten. Die Zeit, die sie zur Verfügung hatten, reichte kaum, um alles zu sehen. Begeistert und fasziniert von der reichen
Vergangenheit der Gegend, besahen sie sich Kirchen, Bauwerke und Städte. Doch ganz gleich, was sie taten, Julia sehnte die Stunden herbei, die sie mit Salvatore verbringen konnte. Sie machten ernsthafte Zukunftspläne. Beide waren entschlossen, sobald wie möglich zu heiraten. Eines Abends erhielten die Mädchen den Besuch einer älteren Frau. Sie fragte unsicher nach Julia. »Ich bin Salvatores Mutter«, stellte sie sich vor. »Mein Sohn erzählte mir, daß er die Absicht hat, Sie zu heiraten. Deshalb möchte ich mit Ihnen sprechen.« Julia bot ihr einen Sitzplatz an, aber die Frau lehnte ab. Sie meinte: »Was ich zu sagen haben, kann ich auch im Stehen sagen. Ich werde Sie nicht lange aufhalten.« Dann holte sie tief Luft. Man merkte ihr an, daß ihr das, was sie vorhatte, peinlich war. »Salvatore redet ununterbrochen von Ihnen. Er hat recht, Sie sehen genauso aus wie jene Giulia auf unserer alten Miniatur. Es ist unwahrscheinlich, Signorina.« Julia schwieg erwartungsvoll. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Salvatores Mutter von ihr wollte. Nach kurzem Zögern fuhr die Frau beherzt fort: »Ich habe nichts dagegen, daß Salvatore heiratet. Im Gegenteil, es wird Zeit. In unserem großen Haus fehlen Kinder. Aber wir brauchen vor allen Dingen Kapital. Wenn Salvatore eine Frau nimmt, muß sie etwas mit in die Ehe bringen. Bitte, Signorina Giulia«, sie hob flehend die Arme und sprach mit ausdrucksvollem, verständnisheischendem Ton weiter, »verstehen Sie mich nicht falsch. Ich habe nichts gegen Sie. Aber wir sind arm, der Ertrag unserer Felder genügt kaum, die Zinsen zurückzubezahlen, die auf unserem Haus lasten. Sie müßten mit Salvatore ein Leben in Armut und Entsagung
führen. Wie lange würde Ihre Liebe unter diesen Umständen andauern?« »Ich liebe Salvatore. Wir werden trotzdem glücklich sein. Aus Liebe kann man auf vieles verzichten«, warf Julia aufgebracht ein. »Da muß ich Ihnen im Grunde zustimmen. Aber in diesem Fall liegt die Sache anders. Sie kommen aus einem anderen Land. Es wird nicht leicht für Sie, sich bei uns einzugewöhnen. Wenn dann auch noch an allen Ecken und Enden geknausert werden muß, werden Sie sich nicht wohl fühlen.« Nun war Julia doch nachdenklich geworden. Ganz von der Hand zu weisen waren die Argumente nicht. Aber sie liebte Salvatore doch. Ein Leben ohne den geliebten Mann war schlimmer als alle Entbehrungen. »Es hat wenig Sinn, mit Salvatore zu reden. Er ist blind vor Liebe. Deshalb kam ich zu Ihnen. Ich möchte Sie bitten, sich alles reiflich zu überlegen. Fahren Sie nach Hause und gewinnen Sie Abstand. Eine übereilte Hochzeit ist nicht nötig.« Sie wandte sich zum Gehen. Dann blieb sie noch einmal stehen und bat lächelnd: »Wenn Sie morgen abend nichts Besseres vorhaben, würde ich mich freuen, wenn Sie und Ihre Freundinnen zum Essen zu uns kämen.«
*
Bei diesem Anlaß lernte Julia dann die Mutter und die Tante ihres zukünftigen Mannes näher kennen und fand sie im Grunde nett. Im Plauderton meinte Salvatores Mutter: »Sie gefallen mir, Giulia. Vielleicht hat Salvatore doch recht.«
Salvatore mischte sich ungehalten ein: »Bitte, Mama, fang nicht schon wieder damit an! Ich werde Giulia heiraten, und wenn du dich auf den Kopf stellst. Basta!« »Dann mußt du genau wie deine Brüder von hier weggehen und dir irgendwo eine Arbeit suchen«, sagte die Frau resigniert. »Davon kann keine Rede sein«, widersprach Salvatore gereizt. »Ich lasse euch zwei alten Damen nicht allein. Wir sind jung und stark. Gemeinsam werden wir es schaffen. Du wirst schon sehen. Vielleicht machten wir eine Erbschaft.« Seine Mutter schüttelte lebhaft den Kopf. »Wer sollte uns etwas vererben? Du mußt aufhören zu träumen.« »Oder wir finden den Schatz.« Salvatore ließ sich nicht beirren. Sein Glaube an eine bessere Zukunft war grenzenlos. Plötzlich richtete sich Julia ruckartig auf. Sie schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ach du liebe Zeit, der Schatz!« rief sie erregt aus. Salvatore lachte verständnislos und versicherte ihr glutvoll: »Wir brauchen keinen Schatz. Ich habe dich. Du bist mein Schatz.« Julia war aufgesprungen. Vor Aufregung achtete sie nicht auf die abwehrenden Mienen der beiden alten Frauen, die sie verständnislos anblickten. Christine und Sandra sahen sie ebenfalls überrascht an. Warum sprang Julia hoch, wie eine Sprungfeder? Was hatte sie nun schon wieder? Sie hatten ohnehin nichts von der Unterhaltung verstanden, die auf Italienisch geführt worden war. »Aber, Salvatore! Der Schatz! Ich weiß, wo er ist. Euer Schatz! Die Schmuckstücke in der goldenen Muschel!« Nun wurde auch Salvatore hellhörig. Vor Aufregung war Julia ganz aus dem Häuschen. »Du trugst doch die Schmuckschatulle in deinem Gürtel, als du starbst. Das heißt, natürlich nicht du, sondern dein Vorfahr.«
Die beiden alten Damen starrten sie betroffen an. Stimmte mit dem deutschen Mädchen etwas nicht? Sie redete total konfuses Zeug. Salvatore verringerte ihre Verwirrung keineswegs, als er allen Ernstes erzählte, Julia sei in die Vergangenheit gereist. Julia ließ sich nicht mehr bremsen. Eifrig erzählte sie Salvatores Mutter und Tante, wie sich alles zugetragen hatte. Die beiden älteren Frauen schüttelten traurig die Köpfe. Dieses reizende Mädchen, das Salvatore sich zur Frau ausgewählt hatte, war verrückt. Wie schade! Zur Verwunderung der beiden alten Frauen war Salvatore, als die arme Irre geendet hatte, genauso aufgeregt wie Julia. Vor innerer Unrast konnte sie nicht mehr stillsitzen. Sofort wollte sie zur Kapelle gehen und graben. Es dauerte endlose Stunden, bis Salvatore auf etwas stieß. Er hatte zuerst die verkohlten Überreste der Kapelle wegräumen müssen und grub seitdem unverzagt und mit verbissener Energie. Inzwischen war es stockdunkel. Auch der Schein der Lampen reichte nicht mehr aus, um weiterzugraben. Das Unternehmen wurde auf den nächsten Tag verschoben. Bereits beim Morgengrauen holte Salvatore Julia und begab sich mit ihr zu der Stelle, an der sie den Schatz vermuteten. Unverzüglich ging er erneut an die Arbeit. Salvatores Mutter gesellte sich nach einer Weile zu Julia. Sie stand ärgerlich am Rande des Loches. »Salvatore hätte wirklich Besseres zu tun, als im Park ein Loch zu buddeln«, schimpfte sie. Das Loch war schon ziemlich tief, als Salvatore einen triumphierenden Schrei ausstieß. Seine Mutter und Julia beugten sich erregt über den Rand der Grube. Julia nahm ihm den verschmutzten Gegenstand ab, den er ihr freudestrahlend heraufreichte. Mit einem Satz war er aus der
Grube. Nachdem sie das Metallkästchen im hohen Gras notdürftig abgewischt hatten, erkannte Julia die Schmuckschatulle wieder. Das Schloß der Muschel ließ sich nicht sofort öffnen. Mit sanfter Gewalt brach Salvatore die Muschel auf – und hielt die Luft an. Der Schatz! Sie hatten ihn gefunden. Im Überschwang seiner Gefühle umarmte Salvatore seine zukünftige Frau, wirbelte sie freudestrahlend im Kreis und jubelte: »Giulia, wir können endlich unser Haus renovieren. Aus diesem alten Kasten machen wir ein herrliches Hotel. Unsere Kinder werden in Glanz und ohne Sorgen heranwachsen.« »Nun können wir getrost heiraten«, stimmte Julia glücklich zu. Sie konnten ihr Glück kaum fassen. Sehr ernst schaute Salvatore seiner geliebten Julia in die Augen und sagte: »Dein Salvatore hatte recht: Wir werden miteinander glücklich sein. Nicht erst in einer anderen Zeit, sondern jetzt, heute, morgen, alle Tage.«