Heyne 4055 von 1984 Arthur c. Clark Geschichten aus dem Weißen Hirschen Scan: ??? Korrektur: Nichtznuts
Von A r t h u ...
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Heyne 4055 von 1984 Arthur c. Clark Geschichten aus dem Weißen Hirschen Scan: ??? Korrektur: Nichtznuts
Von A r t h u r C. Clarke erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Komet der Blindheit (06/3239) Rendezvous mit 31/439 (06/5370) 2001 - Odyssee im Weltrjum (06/3259) Makenzie k e h r t zur Erde heim (06/3645)
Liebe Leser, um Rückfragen zu vermeiden und Ihnen Enttäuschungen zu erspa ren: Bei dieser Titelliste handelt es sich u m eine Bibliographie und NICHT UM EIN VERZEICHNIS L I E F E R B A R E R BÜCHER. Es ist lei der unmöglich, alle Titcl ständig lieferbar zu halten. Bitte fordern Sic bei Ihrer Buchhandlung oder beim V'erlag oin Verzeichnis der Liefer baren Heyne-Bücher an. \Vir bitten Sie um Verständnis. Wilhelm Heyne Verlag CmbH & Co K G , Türkenstr S-7, Posttach 201204, 8000 München 2, Abteihmg Vertrieb
ARTHUR C. CLARKE
GESCHICHTEN AUS DEM
WEISSEN HIRSCHEN
Science Fiction-Erzählungen
Deutsche Erstveröffentlichung
W I L H E L M H E Y N E V E R L A G
M Ü N C H E N
HEYNE-BUCH Nr. 06/4055
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe
TALES OF THE WHITE HART
Deutsche Übersetzung von Hilde Linnert
Die Illustrationen zeichnete Mark van Oppen
Redaktion: Wolfgang Jeschke
Copyright © 1957, 1970 und 1972
by Arthur C. Clarke
Copyright © 1984 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlagbild: New English Library
Printed in Germany 1984
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: Schaber, Wels
Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-30998-7
INHALT
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Ruhe, bitte! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
(Silence Please!)
Großwildjagd . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
(Big Game Hunt)
Patent angemeldet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
(Patent Pending)
Wettrüsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
(Annaments Race)
Kritische Masse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
(Critical Mass)
Die elementare Melodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
(The Ultimate Melody)
Der Pazifist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
(The Pacifist)
Die nächsten Mieter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
(The Next Tenants)
Treibender Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
(Moving Spirit)
Die widerspenstige Orchidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
(The Reluctant Orchid)
Kalter Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
(Cold War)
Was oben ist, muß runterkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
(What Goes Up)
Dornröschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
(Sleeping Beauty)
Der Fenstersturz von Ermintrude Inch . . . . . . . . . . . . . 180
(The Defenstration of Ermintrude Inch)
Über Arthur C. Clarke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
Fur Lew und seine
Donnerstagabend- Gäste
Vorwort
Tales from the White Hart war meine dritte Kurzgeschich ten-Sammlung* und wurde 1957 von Ballantine Books als Taschenbuch herausgebracht. Diese Erzählungen ent standen zwischen 1953 und 1956 in den verschiedensten Städten: New York, Miami, Colombo, London und Syd ney. In einigen Fällen ist der lokale Einfluß unüberseh bar, obwohl ich merkwürdigerweise noch nie in Austra lien gewesen war, als ich >What Goes Up< (>Was oben ist, muß runterkommen<) schrieb. In mindestens zwei Fällen hat mich die Wissenschaft in den beiden Jahrzehn ten seit dem Erscheinen der Erzählungen eingeholt. Die in >Big Game Hunt< (>Großwildjagd<) beschriebene Technik demonstrierte Dr. Jose Delgado eindrucksvoll, als er einen (ihn selbst) angreifenden Stier in der Arena steuerte und damit das Zeitalter des elektronischen Tore ros einleitete. Weitere technische Entwicklungen, die sich mit Riesentintenfischen und Killerwalen beschäftigen, können Sie in meinen Romanen The Deep Range und Dolphin Island nachlesen. Die Idee, die >Patent Pending< (>Patent angemeldet<) zugrundeliegt, ist jetzt allgemein bekannt; Hermann Kahn hat solche Apparate als >Traummaschinen< bezeichnet, und falls sie jemals er funden werden, dürften sie in mehr als einer Hinsicht für die menschliche Rasse das Ende des Weges bedeuten. Ich habe sie in der Kurzgeschichte The Lion of Comarre ge nauer beschrieben. >Armaments Race< (>Wettrüsten<) ist das Ergebnis ei nes Besuches bei George Pal in Hollywood, während er *
Voraus gingen Expedition to Earth und Reach for Tomorrow.
an den Trickaufnahmen für The War of the Worlds arbeite te. Als ich die Erzählung schrieb, hielt man die Erfindung von Todesstrahlen für eher unwahrscheinlich. Nun, heute wissen wir es besser. Man hat mir auch gesagt - obwohl ich mich nicht dafür verbürgen kann - daß eine Situation, wie ich sie in >The Pacifist< (>Der Pazifist<) geschildert habe, jetzt tatsächlich eingetreten ist; irgendwo in den Vereinigten Staaten gibt es einen Computer, der seine Meditationen immer wie der damit unterbricht, daß er DER VERRÜCKTE PRO GRAMMIERER SCHLÄGT WIEDER ZU ausdruckt ... Leser fragen mich oft, ob es den >Weißen Hirsch< wirk lich gegeben hat. Allerdings; der Hintergrund (und ei nige Nebenfiguren) stammen aus dem White Horse in der Fetter Lane nördlich der Fleet Street in London. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg trafen einander dort allwöchentlich die Londoner Science Fiction Fans. Später übersiedelte der Wirt, Lew Mordecai, in den >Glo be< in Hatton Garden - im Herzen des Diamanten-Vier tels - und wir folgten ihm alle dorthin. Viele junge Schriftsteller, Herausgeber und auf Besuch weilende Feuerwehrleute aus der ganzen Welt kommen dort immer noch jeden ersten Dienstag im Monat zu sammen. Aber ich kenne kaum jeden Zehnten, und für mich sind ihre Diskussionen über William Burroughs und die New Wave vollkommen unverständlich. Und manchmal muß ich sie daran erinnern, daß ich Jules Verne nicht persönlich kannte - nicht einmal, leider, H. G. Wells. Arthur C. Clarke
Ruhe, bitte!
I n einer der kleinen Straßen, die von der Fleet Street zum Embankment führen, stößt man vollkommen unerwartet auf den >Weißen Hirsch<. Es hat keinen Sinn, wenn ich Ihnen erkläre, wo er liegt: von den Leuten, die fest ent schlossen waren, ihn zu finden, sind nur sehr wenige tat sächlich dort eingelangt. Bei den ersten zehn Besuchen brauchen Sie einen Führer: danach werden Sie ihn wahr scheinlich nicht verfehlen, wenn Sie die Augen schließen und sich von Ihrem Instinkt leiten lassen. Und um ganz offen zu sein - wir wollen keine neuen Gäste, jedenfalls nicht an unserem Abend. Das Lokal ist schon so überfüllt, daß es langsam ungemütlich wird. Ich werde über seine Lage nur verraten, daß es gelegentlich durch die Vibra tionen der Druckerpressen erschüttert wird, und daß man die Themse sehen kann, wenn man den Kopf zum Fenster der Herrentoilette hinausstreckt. Von außen sieht es genauso aus wie jedes andere Pub - und das ist es auch an fünf Tagen der Woche. Das Pub und die Bar befinden sich im Erdgeschoß: dort gibt es die übliche braune Eichentäfelung und Milchglasscheiben, die Flaschen hinter der Bar, die Bierhähne ... überhaupt nichts Ungewöhnliches. Die einzige Konzession an das zwanzigste Jahrhundert ist die Jukebox im Pub. Sie wurde während des Krieges aufgestellt; ein lächerlicher Versuch, in den G.I.s Heimatgefühle zu wecken. Eine unserer ersten Maßnahmen bestand darin, dafür zu sor gen, daß sie bestimmt nicht wieder in Betrieb genommen werden kann. Hier sollte ich eigentlich erklären, wer >wir< sind. Das ist nicht so einfach, wie ich zuerst annahm, denn es ist
wahrscheinlich unmöglich, eine vollständige Liste der Gäste des >Weißen Hirschen< anzulegen, und außerdem wäre sie entsetzlich langweilig. Deshalb möchte ich nur feststellen, daß wir drei Gruppen umfassen. Zunächst gibt es die Journalisten, Schriftsteller und Verleger. Die Journalisten sind natürlich von der Fleet Street herüber gekommen. Diejenigen, die nicht Fuß fassen konnten, flohen in eine andere Kneipe, die zäheren blieben. Was die Schriftsteller betrifft, so hörten die meisten durch an dere Schriftsteller von uns, kamen hierher, um Ideen zu finden, und blieben kleben. Wo es Schriftsteller gibt, tauchen früher oder später na türlich auch Verleger auf. Wenn Drew, unser Wirt, Pro zente für die literarischen Verträge bekäme, die in seiner Bar abgeschlossen wurden, wäre er ein reicher Mann. (Wir haben den Verdacht, daß er ohnehin ein reicher Mann ist.) Einer unserer Witzbolde bemerkte einmal, daß oft genug in einer Ecke des >Weißen Hirschen< ein halbes Dutzend empörter Autoren mit einem abgebrühten Ver leger diskutierten, während sich in der gegenüberliegen den Ecke ein halbes Dutzend empörter Verleger mit ei nem abgebrühten Autor herumstritt. Das wäre also die literarische Stammkundschaft: ich
sage Ihnen gleich, daß Sie noch genügend Gelegenheit für Nahaufnahmen haben werden. Jetzt wollten wir aber einen Blick auf die Wissenschaftler werfen. Wie sind sie hierhergekommen? Ja, also, das Birkbeck College steht in der Parallelstraße, und das King's College befindet sich ein paar hundert Meter weiter am Strand. Das erklärt zweifellos viel, und natürlich trugen auch persönliche Empfehlungen dazu bei. Außerdem sind etliche unserer Wissenschaftler gleichzei tig Schriftsteller, und gar nicht wenige unserer Schrift steller sind Wissenschaftler. Verwirrend, aber uns ge fällt's. Der dritte Teil unseres kleinen Mikrokosmos besteht 10
aus >interessierten Laien<, wie man sie zusammenfas send bezeichnen könnte. Das kunterbunte Treiben lockte sie in den >Weißen Hirsch<, wo ihnen die Gesellschaft und die Unterhaltung so gut gefielen, daß sie jetzt regel mäßig jeden Mittwoch auftauchen - das ist der Tag, an dem wir alle zusammenkommen. Manchmal halten sie das Tempo nicht durch und bleiben am Weg liegen, aber
es gibt immer wieder neuen Nachschub. Angesichts dieser überaus günstigen Voraussetzungen ist es nicht weiter erstaunlich, daß die Mittwoche im >Weißen Hirschen< selten langweilig sind. Dort sind nicht nur beachtenswerte Geschichten erzählt worden, sondern auch beachtenswerte Dinge geschehen. Zum Bei spiel damals, als Professor ... sowieso auf der Reise nach Harwell hereinschaute und eine Aktenmappe liegen ließ, die - na ja, befassen wir uns nicht weiter damit, obwohl wir es damals taten. Und es war überaus interessant ... Falls mich russische Agenten suchen - ich sitze meist in der Ecke unter der Wurfscheibe. Ich bin natürlich nicht billig, akzeptiere aber Ratenzahlungen. Nachdem ich endlich auf diese Idee verfallen bin, über rascht es mich, daß keiner meiner Kollegen bis jetzt daran gedacht hat, diese Geschichten niederzuschreiben. Kön nen sie den Wald vor Bäumen nicht sehen? Oder fehlt ih nen der Ansporn? Nein, letztere Erklärung ist kaum stichhaltig: einige von ihnen sind genauso schlecht bei Kasse wie ich und beschweren sich genauso bitter über Drews eisernen Grundsatz >HIER WIRD NICHT ANGE SCHRIEBEN<. Während ich diese Worte auf meiner alten Remington Noiseless tippe, fürchte ich nur, daß John Christopher oder George Whitley oder John Benyon schon schwer schuften und sich die besten Geschichten unter den Nagel reißen. Zum Beispiel die Geschichte mit dem Fenton-Schalldämpfer . . .
11
Ich weiß nicht, wann es anfing, ein Mittwoch gleicht dem anderen, und es ist schwer, sie mit einem bestimmten Datum in Verbindung zu bringen. Außerdem ist es durchaus möglich, daß Menschen sich ein paar Monate lang in der Menge im >Weißen Hirschen< herumtreiben, bevor man auf sie aufmerksam wird. Das war anschei nend auch bei Harry Purvis der Fall, denn als er mir zum erstenmal auffiel, kannte er schon die Namen fast aller Leute in unserer Clique. Wenn ich es recht bedenke, kann ich das nicht einmal von mir behaupten. Aber obwohl ich nicht weiß, wann, so weiß ich doch,
wie es begann. Bert Huggins war der Katalysator, oder ei gentlich war es seine Stimme. Berts Stimme kann alles ka talysieren. Wenn er jemandem etwas vertraulich zuflü
stert, klingt es, als würde ein Hauptfeldwebel ein ganzes Regiment zurechtstauchen. Und wenn er sich gehen läßt, verstummen die Gespräche um ihn, während wir alle darauf warten, daß die berühmten kleinen Knöchelchen im inneren Ohr wieder an den richtigen Platz zurückrut
schen. Er hatte gerade die Geduld mit John Christopher verlo ren (irgendwann passiert das jedem von uns), und das darauffolgende donnernde Gebrüll hatte die Schachpar tie gestört, die im Hintergrund der Bar im Gange war. Wie üblich waren die beiden Spieler von Kibitzen umge ben, und wir alle sahen erschrocken auf, als die von Bert ausgelösten Schallwellen über uns hinwegfegten. Als sich das Echo gelegt hatte, sagte jemand: »Wenn man ihn nur irgendwie zum Schweigen bringen könnte.« Und darauf antwortete Harry Purvis: »Das ist durchaus möglich.« Da ich die Stimme nicht kannte, sah ich mich um. Ich erblickte einen kleinen, korrekt gekleideten Mann Ende dreißig. Er rauchte eine der geschnitzten deutschen Pfei fen, bei denen ich immer an Kuckucksuhren und den Schwarzwald denken muß. Sonst hatte er aber nichts 12
Unkonventionelles an sich; er hätte ohne weiteres ein subalterner Finanzbeamter sein können, der zu einer Ta gung der Buchprüfer unterwegs war. »Wie bitte?« fragte ich. Er beachtete mich nicht, sondern befaßte sich angele gentlich mit seiner Pfeife. Erst jetzt bemerkte ich, daß es sich nicht, wie ich zuerst angenommen hatte, um eine komplizierte Holzschnitzerei handelte. Es war etwas viel Komplizierteres - eine Vorrichtung aus Metall und Kunststoff, wie eine kleine chemische Anlage. Ich ent deckte sogar ein paar winzige Ventile. Mein Gott, es war eine kleine chemische Anlage. Ich starre an und für sich nie jemanden an, aber ich versuchte nicht erst, meine Neugierde zu verbergen. Er lächelte überlegen. »Alles im Dienst der Wissenschaft. Es ist eine Idee des biophysikalischen Labors. Sie wollen genau herausbe kommen, woraus Tabakrauch besteht - daher die Filter. Sie kennen den alten Streit - führt Rauchen zu Zungen krebs, und wenn ja, wie? Leider braucht man eine un glaubliche Menge Destillat, um einige der unbekannteren Nebenprodukte zu identifizieren. Deshalb müssen wir sehr viel rauchen.« »Stören diese Installationen nicht das Vergnügen am Rauchen?« »Das weiß ich nicht. Ich bin nämlich nur ein Freiwilli ger. Ich rauche nicht.« »Oh«, sagte ich. Im Augenblick fiel mir nichts Besseres ein. Dann erinnerte ich mich an das auslösende Moment für unser Gespräch. »Sie erwähnten«, fuhr ich etwas lauter fort, denn in meinem linken Ohr klingelte es immer noch leise, »daß es eine Möglichkeit gibt, Bert zum Schweigen zu bringen. Wir würden gern mehr darüber hören - falls ich damit nicht die Metaphern durcheinanderbringe.« Er zog in Ausübung seines Experiments an der Pfeife 14
und stieß den Rauch wieder aus. »lch dachte an den un seligen Fenton-Schalldämpfer. Eine traurige Geschichte, die uns allen jedoch eine interessante Lehre sein kann. Und, wer weiß, vielleicht baut ihn eines Tages jemand aus und wird so zum Beglücker der Menschheit.« Ziehen, brodeln, brodeln, plumps ... »Los, erzählen Sie! Wann geschah es?« Er seufzte. »Es tut mir beinahe leid, daß ich es erwähnt habe. Aber wenn Sie darauf bestehen - selbstverständlich muß alles unter uns bleiben.« »Natürlich.« »Also, Rupert Fenton war einer unserer Laborassisten ten. Ein sehr kluger junger Mann mit einer sehr guten praktischen Ausbildung, aber geringen theoretischen Kenntnissen. In seiner Freizeit erfand er ununterbrochen kleine praktische Geräte. Für gewöhnlich waren seine Ideen gut, aber da ihm die wissenschaftliche Grundlage fehlte, funktionierten die Dinger beinahe nie. Er ließ sich dadurch keineswegs entmutigen - wahrscheinlich hielt er sich für den Edison unserer Zeit und bildete sich ein, daß er mit den Radioröhren und anderen Bestandteilen, die im Labor herumlagen, ein Vermögen machen könnte. Da seine Basteleien seine eigentliche Arbeit nicht beeinträch tigten, hatte niemand etwas dagegen: die Physik-Assi stenten ermutigten ihn sogar, weil Begeisterung immer aufmunternd wirkt. Aber niemand nahm an, daß er weit kommen würde, weil er wahrscheinlich nicht einmal e zu x integrieren konnte.« »Ist eine solche Unwissenheit überhaupt denkbar?« fragte jemand fassungslos. »Vielleicht übertreibe ich. Also sagen wir xe zu x. Je denfalls verfügte er ausschließlich über praktische Kenntnisse - Faustregeln, Sie wissen ja. Man konnte ihm den kompliziertesten Schaltplan geben, und er baute da nach den Apparat. Aber wenn es nicht etwas wirklich 15
Einfaches war, zum Beispiel ein Fernsehapparat, hatte er keine Ahnung, wie er funktionierte. Das Dumme daran war, daß er seine Grenzen nicht kannte. Und das sollte sich verhängnisvoll auswirken. Wahrscheinlich kam er auf die Idee, als er zusah, wie die Honoursstudenten akustische Experimente unter nahmen. Ich nehme an, daß Sie alle mit dem Phänomen der Interferenz vertraut sind?« »Natürlich«, antwortete ich. »He«, mischte sich einer der Schachspieler ein, der es aufgegeben hatte, sich auf das Spiel zu konzentrieren (wahrscheinlich war er mit dem nächsten Zug matt). »Ich bin es nicht.« Purvis sah ihn an, als hätte er nicht das Recht, in einer Welt, in der das Penicillin erfunden worden war, am Sau erstoff mitzunaschen. »In diesem Fall«, sagte er kühl, »werde ich einige Erklä rungen dazu abgeben.« Er schob unsere empörten Prote ste mit einer Handbewegung beiseite. »Nein, ich bestehe darauf! Gerade die Menschen, die nichts von diesen Din gen verstehen, müssen darüber informiert werden. Wenn jemand dem armen Fenton die Theorie erklärt hät te, solange noch Zeit dazu war . . . « Er sah den jetzt sehr beschämten Schachspieler von oben herab an. »Ich weiß nicht«, begann er, »ob Sie sich je mit dem Wesen des Schalls beschäftigt haben. Im Prinzip handelt es sich um Wellen, die sich durch die Luft fortpflanzen. Allerdings sind es nicht die gleichen Wellen wie an der Oberfläche des Meeres - weiß Gott nicht! Diese Wellen entstehen durch eine Auf- und Abbewegung. Schallwel len hingegen entstehen durch abwechselnde Verdich tung und Verdünnung.« »Ver- was?« »Verdichtung und Verdünnung.« »Sollte es nicht >Verdickung< heißen?« 16
»Bestimmt nicht. Ich bezweifle, daß es dieses Wört in der Physik überhaupt gibt, und falls ja, dann gehört es verboten«, erwiderte Purvis selbstbewußt wie ein Uni versitätsprofessor. »Wo war ich stehengeblieben? Ach ja, ich erklärte gerade den Schall. Wenn wir ein Geräusch erzeugen, vom leisesten Flüstern bis zu dem Dröhnen, das wir soeben erlebt haben, pflanzt sich eine Reihe von Druckveränderungen durch die Luft fort. Haben Sie je mals Rangierlokomotiven beobachtet? Ein blendendes Beispiel für den Vorgang. Vor Ihnen befindet sich eine lange Reihe von aneinandergekuppelten Güterwaggons. An einem Ende folgt ein Stoß, die ersten beiden Waggons nähern sich einander - und dann können Sie zusehen, wie sich die Druckwelle die ganze Reihe entlang fort pflanzt. Hinter ihr entsteht der umgekehrte Effekt - die Verdünnung - und die Waggons trennen sich wieder von einander. Das alles ist sehr einfach, wenn es nur eine Geräusch quelle gibt - nur eine Wellenbewegung. Aber was ge schieht, wenn Sie zwei verschiedene Wellen haben, die sich in die gleiche Richtung bewegen? Dann kommt es zur Interferenz, und es gibt in der Elementarphysik un zählige hübsche Experimente, durch die man sie bewei sen kann. Wir müssen uns aber nur mit einer einzigen Tatsache befassen, und Sie werden mir beipflichten, daß kein Zweifel daran bestehen kann; wenn man zwei Wel len genau außer Tritt bringen könnte, wäre das Ergebnis gleich Null. Die Verdichtungsphase der einen Welle würde die Verdünnungsphase der anderen überlagern Ergebnis: keine Veränderung und daher kein Geräusch. Um zu meinem Beispiel mit der Waggonreihe zurückzu kommen: es wäre so, als würden Sie dem letzten Waggon gleichzeitig einen Stoß versetzen und an ihm ziehen. Es würde überhaupt nichts geschehen. Zweifellos haben einige von Ihnen inzwischen begrif fen, worauf ich hinaus will, und das grundlegende Prin 17
zip des Fenton-Schalldämpfers erkannt. Meiner Meinung nach stellte der junge Fenton folgende Überlegung an: >Diese unsere Welt ist voller Lärm. Jemand, der den voll kommenen Schalldämpfer erfinden würde, könnte ein Vermögen verdienen. Das bedeutet . . . < Er brauchte nicht lang, um die Antwort darauf zu fin den; er war wirklich ein intelligenter junger Mann. Sein Versuchsmodell war relativ unkompliziert. Es bestand aus einem Mikrophon, einem Spezialverstärker und zwei Lautsprechern. Jedes Geräusch, das im Raum entstand, wurde vom Mikrophon aufgefangen, verstärkt und um gedreht, so daß es den Schallwellen des ursprünglichen Geräuschs gegenüber genau phasenverschoben war. Dann wurde es in die Lautsprecher geleitet, die ur sprüngliche und die neue Welle hoben einander auf, und das Ergebnis war Stille. Natürlich war das nicht alles. Es gab eine Einrichtung, die dafür sorgte, daß die löschende Welle genau die rich tige Intensität hatte - sonst wäre der Krach womöglich größer gewesen als zu Beginn. Aber das sind technische Details, mit denen ich Sie nicht langweilen will. Wie etli che von Ihnen bestimmt erkannt haben, handelt es sich einfach um ein negatives feedback.« »Einen Augenblick, bitte!« unterbrach ihn Eric Maine. Ich muß erwähnen, daß Eric Sachverständiger für Elek tronik ist und irgendeine Fernsehzeitung herausgibt. Er hat auch ein Hörspiel über Raumflüge geschrieben, aber das ist eine andere Geschichte. »Einen Augenblick, bitte! Da stimmt etwas nicht. Sie können nicht auf diese Weise Stille erzeugen. Es wäre unmöglich, die Phase so einzu richten . . . « Purvis schob die Pfeife wieder in den Mund. Einen Augenblick lang brodelte sie drohend, und mir fiel der erste Akt von Macbeth ein. Dann starrte er Eric an. »Wollen Sie damit sagen«, fragte er eisig, »daß diese Geschichte unwahr ist?« 18
»Na ja, ich würde nicht so weit gehen, aber ...«' Erics Stimme verlor sich, als hätte man ihn gedämpft. Er zog einen alten Umschlag sowie einige Widerstände und
Kondensatoren, die sich in sein Taschentuch verheddert hatten, aus der Tasche und begann zu rechnen. Eine Zeit lang hörten wir nichts mehr von ihm. »Wie ich sagte«, fuhr Purvis ruhig fort, »funktionierte Fentons Schalldämpfer nach diesem Prinzip. Sein erstes Modell war nicht sehr leistungsstark und konnte mit sehr hohen oder sehr tiefen Tönen nicht fertigwerden. Das Ergebnis war etwas merkwürdig. Wenn man ihn ein schaltete und jemand sprach, hörte man die beiden En den des Spektrums - ein leises Fledermausquietschen und ein tiefes Poltern. Aber damit kam Fenton bald klar, indem er eine mehr lineare Schaltung benützte - ver dammt, um bestimmte technische Ausdrücke komme ich eben nicht herum -, und mit dem ausgereiften Modell konnte er in einem relativ großen Bereich vollkommene Stille erzeugen. Nicht nur in einem gewöhnlichen Zim mer, sondern auch in einer großen Halle. Ja ... Fenton war nicht einer von diesen verschlossenen Er findern, die niemandem erzählen, woran sie gerade ar beiten, damit man ihnen ihre Idee nicht stiehlt. Er war ausgesprochen redselig. Er sprach mit dem Lehrkörper und den Studenten über seine Ideen, und überhaupt mit jedem, der bereit war, ihm zuzuhören. Zufällig war einer der ersten, denen er seinen verbesserten Schalldämpfer zeigte, ein junger Kunststudent namens Kendall, der als zweiten Gegenstand Physik belegt hatte. Kendall war vom Schalldämpfer sehr beeindruckt, und zu Recht. Aber er dachte nicht, wie Sie vielleicht annehmen, an die kommerziellen Auswertungsmöglichkeiten oder an die Wohltat, die er für die gequälten Ohren der leidenden Menschheit bedeutete. O nein, er hatte ganz andere Vor stellungen. Gestatten Sie mir eine kleine Abschweifung. Im Col 19
lege gibt es eine sehr rührige musikalische Vereinigung, die in den letzten Jahren so viele Mitglieder gewonnen hat, daß sie sich jetzt sogar an die Aufführung nicht allzu monumentaler Symphonien heranwagt. In dem Jahr, von dem die Rede ist, hatte sie sich ein sehr kühnes Ziel ge setzt. Sie wollte eine neue Oper herausbringen, das Werk eines begabten jungen Komponisten, dessen Namen ich nicht nennen will, da er inzwischen uns allen gut bekannt ist. Bezeichnen wir ihn als Edward England. Den Titel des Werks habe ich vergessen, aber es handelte sich um eines jener >totalen< Dramen, die angeblich weniger lä cherlich wirken - wieso, habe ich nie begriffen -, wenn sie von Musik begleitet sind. Zweifellos hängt von Musik sehr viel ab. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich die Inhalts angabe las, während ich darauf wartete, daß sich der Vorhang hob; bis heute weiß ich nicht, ob das Libretto ernstgemeint war oder nicht. Es spielte gegen Ende der Viktorianischen Ära, und die Hauptdarsteller waren die leidenschaftliche Postmeisterin Sarah Stempel, der dü stere Wildhüter Walter Rebhuhn und der Sohn des Landedelmannes, dessen Namen ich vergessen habe. Es ist die alte Geschichte der ewigen Dreieckbeziehung, die hier dadurch verkompliziert wird, daß die konservativen Dorfbewohner gegen jede technische Neuheit sind - in diesem Fall gegen die Telegrafie, denn die alten Weiber behaupten,daß durch sie die Kühe keine Milch mehr ge ben und die Schafe Fehlgeburten haben werden. Wenn man alle Kinkerlitzchen beiseite läßt, handelt es sich um das in Opern übliche Eifersuchtsmotiv. Der Sohn des Landedelmannes will keine Postmeisterin heiraten, und der Wildhüter, den die erhaltene Abfuhr in Wut bringt, brütet Rache. Die Tragödie erreicht ihren schreck lichen Höhepunkt, wenn die mit Klebestreifen erwürgte Sarah in einem Postsack in der Abteilung für Irrläufer ge funden wird. Die Dorfbewohner hängen Rebhuhn zum 20
Ärger der Streckenwärter an den nächsten Telgrafen mast. Er sollte eine Arie singen, während er gehängt wurde, und ich bedaure heute noch, daß ich das nicht er leben durfte. Der Sohn des Landedelmanns beginnt zu trinken oder geht in die Kolonien, oder beides: und damit hat es sich. Sie fragen sich sicherlich alle, worauf ich hinaus will:
Bitte, haben Sie noch einen Augenblick Geduld. Wäh rend nämlich diese synthetische Eifersucht geprobt wur de, spielte sich in den Kulissen das echte Drama ab. Fen tons Freund Kendall war von der jungen Dame, die Sarah Stempel spielte, abgewiesen worden. Ich glaube nicht, daß er besonders rachsüchtig war, aber er kannte die Möglichkeit für eine einmalige Revanche. Geben wir doch offen zu, daß das College-Leben zu einer gewissen Verantwortungslosigkeit verleitet - und wie viele von uns hätten unter den gleichen Umständen eine solche Chance nicht genützt? Ich sehe an Ihren Gesichtern, daß Sie zu verstehen be ginnen. Aber als an diesem denkwürdigen Tag die Ou vertüre einsetzte, ahnten wir, das Publikum, überhaupt nichts. Es war eine erlesene Gesellschaft: Alle waren ge kommen, vom Schatzmeister abwärts. Es gab reihen weise Dekane und Professoren: Ich fand nie heraus, wie man so viele Leute zusammengetrieben hatte. Wenn ich es mir recht überlege, weiß ich nicht einmal, was ich dort suchte. Die Ouvertüre verklang unter Applaus; allerdings gab es auch einige Buhrufe von den ungestümeren Zuhörern. Vielleicht tue ich ihnen Unrecht; möglicherweise waren sie wirklich musikalisch. Dann ging der Vorhang auf. Ort der Handlung war der Dorfplatz von Tatterloch um 1860. Die Heldin tritt auf und liest die Postkarten in der Morgenpost. Sie findet ei nen Brief an den jungen Landedelmann und beginnt prompt zu singen. 21
Sarahs Auftrittsarie war nicht ganz so arg wie die Ou vertüre, aber immer noch schlimm genug. Zum Glück hörten wir nur die ersten Takte ... Richtig. Es ist unwichtig, wie Kendall den erfinde rischen Fenton dazu überredet hatte - falls der Erfinder überhaupt begriff, wozu sein Apparat verwendet werden
sollte. Ich kann nur sagen, daß es sich um eine wirklich überzeugende Demonstration handelte. Plötzliche, voll kommene Stille legte sich über den Raum, und Sarah Stempel agierte wie in einem TV-Programm, wenn man den Ton abschaltet. Wir blieben alle regungslos sitzen, während sich die Lippen der Sängerin weiterhin lautlos bewegten. Dann begriff auch sie, was geschehen war. Sie riß den Mund auf - unter normalen Umständen hätten wir jetzt einen gellenden Schrei vernommen - und floh durch herumflatternde Postkarten in die Kulissen. Danach setzte ein unwahrscheinliches Chaos ein. Ei nige Minuten lang nahm jeder an, daß er taub geworden sei, aber bald konnten alle dem Verhalten der Nachbarn entnehmen, daß der Verlust nicht ihn allein betreffen konnte. Irgendwer aus dem physikalischen Institut muß sehr rasch begriffen haben, was wirklich gespielt wurde, denn binnen kurzem schrieben die V.I.P.s. in der ersten Reihe einander kurze Mitteilungen. Der Vize-Schatzmei ster versuchte, die Ordnung mittels Zeichensprache wie derherzustellen, indem er krampfhaft von der Bühne aus winkte. Doch da lachte ich schon Tränen und konnte nicht mehr auf Details achten. Die einzige Lösung war, die Halle zu verlassen, was wir alle möglichst schnell taten. Kendall war geflohen - er war von der Wirkung der Erfindung so beeindruckt, daß er sogar vergaß, sie abzuschalten. Er wollte nicht bleiben, weil er Angst davor hatte, gelyncht zu werden. Was je doch Fenton betrifft, so werden wir leider nie erfahren, wie es ihm erging. Wir können die nächsten Ereignisse nur nach den noch vorhandenen Beweisen rekonstruieren. 22
Ich nehme an, daß er gewartet hat, bis die Halle leer war, und dann hineingeschlichen ist, um den Apparat abzuschalten. Die Explosion war im ganzen College zu hören.« »Die Explosion?« fragte jemand entsetzt. »Natürlich. Mich schaudert jetzt noch, wenn ich daran denke, wie knapp wir alle davongekommen sind. Noch ein Dutzend Dezibel, noch ein paar Phon - und sie hätte sich ereignet, während das Theater noch gedrängt voll war. Wenn Sie wollen, können Sie es dem unerforschli chen Wirken der Vorsehung zuschreiben, daß die Explo sion nur den Erfinder tötete. Vielleicht war es ohnehin das Beste für ihn: Er starb in dem Augenblick, in dem er sein Ziel erreicht hatte, und bevor der Dekan ihn in die Finger bekam.« »Hören Sie mit den Moralpredigten auf, Mann! Was geschah?« »Wie ich Ihnen schon gesagt habe, waren Fentons theoretische Kenntnisse eher dürftig. Wenn er den Schalldämpfer mathematisch berechnet hätte, wäre er auf seinen Fehler gekommen. Die Schwierigkeit besteht nämlich darin, daß man Energie nicht vemichten kann. Nicht einmal dann, wenn die Wellenbewegungen einan der aufheben. Es führt nur dazu, daß die Energie, die Sie neutralisieren, sich anderswo ansammelt. Ungefähr so, als würden Sie den gesamten Schmutz in einem Raum zu einem häßlichen Häufchen unter einen Teppich zusam menfegen. Wenn Sie den Apparat theoretisch analysieren, werden Sie feststellen, daß er weniger ein Schalldämpfer als ein Schallsammler war. Solange er eingeschaltet war, absor bierte er eigentlich Schallenergie. Und bei dieser Auffüh rung wurde er sicherlich voll beansprucht. Falls Sie sich jemals eine Partitur von Edward England angesehen ha ben, wissen Sie, was ich meine. Dazu kam natürlich noch der Lärm, den die Zuschauer während der Panik mach 23
ten - oder eigentlich zu machen versuchten. Die Ge samtmenge an Energie muß ungeheuer gewesen sein, und der arme Schalldämpfer saugte sie widerspruchslos auf. Wohin verschwand sie? Ich kenne den Schaltplan nicht genau, aber ich nehme an, in die Kondensatoren des Netzteils. Als Fenton daran herummanipulierte, glich der Schalldämpfer bereits einer scharfgemachten Bombe. Das Geräusch seiner näherkommenden Schritte war das auslösende Element, und der Apparat war überfordert. Er flog in die Luft.«
Einen Augenblick lang sprach niemand ein Wort, viel leicht aus Achtung für den verstorbenen Mr. Fenton. Dann drängte sich Eric Maine, der in den letzten zehn Minuten in einer Ecke über seinen Berechnungen gebrü tet hatte, durch den Ring der Zuhörer. Er hielt Purvis kampflustig ein Platt Papier entgegen. »He!« sagte er. »Und ich hatte doch recht! Das Ding konnte nicht funktionieren! Die Relation zwischen Pha sen und Amplitude ...« Purvis brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Genau das habe ich soeben erklärt«, erwiderte er ge duldig. »Sie hätten mir zuhören sollen. Leider wurde auch Fenton erst durch die Erfahrung klug- sozusagen.« Er warf einen Blick auf seine Uhr. Aus irgendeinem Grund schien er es jetzt eilig zu haben. »Du meine Güte! Die Zeit verrinnt. Erinnern Sie mich nächstens einmal daran, Ihnen zu erzählen, was für au ßergewöhnliche Dinge wir mit dem neuen Protonenmi kroskop entdeckt haben. Diese Geschichte ist noch er staunlicher.« Er war schon beinahe zur Tür hinaus, bevor jemand eine Frage stellen konnte. Dann fand George Whitley die Sprache wieder. »Hören Sie mal«, rief er verwirrt. »Wieso haben wir nie etwas davon erfahren?« 24
Purvis hielt auf der Schwelle kurz an; seine Pfeife bro delte jetzt heftig. Er drehte sich halb um. »Es gab keine andere Möglichkeit«, antwortete er. »Wir wollten einen Skandal vermeiden - de mortuis nil nisi bo num, Sie wissen ja. Und finden Sie nicht auch, daß es un ter diesen Umständen richtig war, die ganze Sache zu vertuschen? Eine recht gute Nacht Ihnen allen!«
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Großwildjagd
O b w o h l wir uns alle darüber einig waren, daß Harry Purvis als Geschichtenerzähler unter den Gästen des
>Weißen Hirschen< einsame Spitze war (wenn auch ei nige vermutlich leicht übertrieben waren), heißt das nicht, daß es keine Herausforderer gab. Gelegentlich
wurde er sogar in den Schatten gestellt. Da es immer sehr unterhaltsam ist zuzusehen, wie ein Experte eine Nieder lage einsteckt, gestehe ich, daß ich mich gern daran erin nere, wie Professor Hinckelberg Harry auf dessen urei genstem Gebiet schlug. Im Lauf des Jahres kommen viele hier auf Besuch wei lende Amerikaner in den >Weißen Hirsch<. Wie die Stammgäste sind sie für gewöhnlich Wissenschaftler oder Literaten, und in dem Gästebuch, das Drew hinter der Theke aufbewahrt, stehen etliche berühmte Namen. Manchmal treffen die Neuankömmlinge allein ein und stel len sich verlegen vor, sobald sie die Möglichkeit dazu ha ben. (Einmal saß ein schüchterner Nobelpreisträger un erkannt eine Stunde lang in einer Ecke, bis er endlich den Mut aufbrachte, seinen Namen zu nennen.) Andere tref fen mit Empfehlungsschreiben ein, und viele werden von Stammgästen angeschleppt und dann den Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Professor Hinckelberg fuhr eines Abends in einem gro ßen Cadillac vor, den er sich vom Wagenpark in der Grosvenor Street ausgeliehen hatte. Der Himmel allein weiß, wie er ihn heil durch die zum >Weißen Hirschen< führenden Seitenstraßen gelotst hatte, aber erstaunli cherweise waren die Stoßstangen intakt. Er war ein gro ßer, hagerer Mann mit knochigem Gesicht, der typische 26
wettergegerbte Pionier des Wilden Westens, dessen her vorstechendstes Merkmal die ungemein langsame Sprechweise ist. Letzteres Merkmal traf jedoch nicht auf Professor Hinckelberg zu. Er konnte reden wie eine LP auf einem Achtundsiebziger-Plattenteller. Nach etwa zehn Sekunden wußten wir, daß er ein auf Urlaub be findlicher Zoologe von einem College in Nord-Virginia war, daß er dem Amt für Meeresforschung zugeteilt war,
und zwar im Rahmen eines Projekts, das sich mit Plank ton beschäftigte, daß er von London begeistert war und sogar englisches Bier mochte, daß er durch einen Leser brief in Science von unserer Existenz erfahren, aber nicht geglaubt hatte, daß es uns wirklich gab, daß Stevenson o.k. war, daß die Demokraten aber lieber Winston (Chur chill) importieren sollten, wenn sie die Absicht hätten, die nächsten Wahlen zu gewinnen, daß er gerne wüßte, was, zum Teufel, mit unseren Telefonzellen los war und ob er den Haufen Kupfermünzen zurückbekomme'n konnte, um den sie ihn bereits gebracht hatten, daß seiner Mei nung nach zu viele leere Gläser herumstanden ... »- und wie wäre es, wenn wir sie alle nachfüllen, Jungs?« Die Schocktaktik des Professors fand allgemeine Zu stimmung, aber als er kurz Luft holte, sagte ich mir: »Harry sollte sich in acht nehmen. Dieser Kerl kann ei nem ein Loch in den Bauch reden.« Ich warf Purvis, der in meiner Nähe saß, einen Blick zu und bemerkte, daß er die Lippen zusammengepreßt hatte. Daraufhin lehnte ich mich behaglich zurück und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Da es ein gut besuchter Abend war, dauerte es eine Weile, bevor Professor Hinckelberg jedem vorgestellt war. Harry, der für gewöhnlich scharf darauf war, Be rühmtheiten kennenzulernen, hielt sich eher beiseite. Schließlich stellte ihn jedoch Arthur Vincent, der als inof fizieller Club-Sekretär fungiert und darauf achtet, daß sich auch jeder ins Gästebuch einträgt. 27
»Ich bin davon überzeugt, daß Sie und Harry viel mit einander zu besprechen haben«, sagte Arthur voll un schuldiger Begeisterung. »Sie sind doch beide Wissen schaftler, nicht wahr? Und Harry hat einige ganz außer gewöhnliche Erlebnisse gehabt. Erzähl doch dem Profes sor, wie du damals diesen U 235 in deinem Briefkasten gefunden hast . . . « »Ich glaube nicht«, wehrte Harry etwas zu hastig ab, »daß Professor ... ah ... Hinckelberg an meinem kleinen Abenteuer interessiert ist. Er hingegen kann uns sicher lich eine Menge erzählen.« Ich habe seither oft über diese Antwort nachgedacht. Sie paßte gar nicht zu Purvis. Für gewöhnlich reagierte er auf eine solche Eröffnung augenblicklich mit einem Ge genangriff. Vielleicht wollte er den Feind beobachten, darauf warten, daß der Professor den ersten Fehler be ging, und ihm dann den Gnadenstoß versetzen. Wenn das zutraf, dann hatte er den anderen falsch eingeschätzt. Purvis bekam nie mehr eine Chance, denn Professor Hinckelberg startete wie ein Düsenjet und war sofort voll in Fahrt. »Komisch, daß Sie das erwähnen«, meinte er. »Ich habe gerade einen sehr merkwürdigen Fall erlebt. Es handelt sich um ein Ereignis, das man in einer Fachzeit schrift besprechen kann, und Sie geben mir Gelegenheit, es mir von der Seele zu reden. Ich habe nicht oft die Mög lichkeit dazu, wegen dieser verdammten Geheimhal tungspflicht, aber bis jetzt hat noch niemand daran ge dacht, Dr. Grinnells Experimente als streng geheim zu bezeichnen, deshalb werde ich darüber sprechen, solange es möglich ist.« Anscheinend war Grinnell einer der vielen Wissen schaftler, die versuchen, die Arbeitsweise des menschli chen Nervensystems mit elektrischen Schaltungen dar zustellen. Wie Grey Walter, Shannon und andere hatte er zunächst Modelle entworfen, die einfache Handlungen 28
von Lebewesen nachahmen konnten. Sein größter Erfolg auf diesem Gebiet war eine mechanische Katze gewesen, die Mäuse jagen und auf den Füßen landen konnte, wenn man sie fallen ließ. Er hatte sich jedoch sehr bald einem anderen Aufgabengebiet zugewandt, weil er die >Nerven induktion<, wie er sie nannte, entdeckte. Dabei handelte es sich, um es simplifiziert auszudrücken, um eine Me thode, durch die man das Verhalten der Tiere steuert. Es ist seit langem bekannt, daß alle Vorgänge im Ge hirn von schwachen elektrischen Strömen begleitet sind, und seit einiger Zeit kann man diese komplizierten Stromschwankungen auch aufzeichnen, obwohl man sich über ihre genaue Funktion noch nicht im klaren ist. Grinnell hatte nicht versucht, umständliche Analysen durchzuführen; seine Vorgangsweise war weitaus einfa cher, obwohl seine Leistung immer noch überaus kom pliziert ist. Er hatte sein Aufzeichnungsgerät an ver schiedenen Tieren befestigt und dadurch eine kleine Bi bliothek, wenn man es so nennen will, von elektrischen Impulsen und dem dazugehörigen Verhalten angelegt. Ein bestimmtes Spannungsmuster entsprach einer Be wegung nach rechts, ein anderes einer kreisförmigen Bewegung, ein drittes vollkommener Ruhe, und so wei ter. Diese Leistung war an und für sich beachtlich, aber Grinnell hatte sich nicht damit zufriedengegeben. Durch ein Playback der von ihm aufgezeichneten Impulse konnte er seine Versuchstiere dazu zwingen, die vorher ausgeführten Bewegungen zu wiederholen - ob sie woll ten oder nicht. Daß so etwas theoretisch möglich ist, wird jeder Neu rologe ohne weiteres zugeben, aber infolge der ungeheu ren Kompliziertheit des Nervensystems würden nur we nige Experten annehmen, daß es in die Praxis umgesetzt werden kann. Und es stimmt, daß Grinnell seine ersten Experimente mit sehr niedrigen Lebensformen durch führte und relativ einfache Reaktionen erzielte. 29
»Ich konnte nur einem seiner Experimente beiwohnen«, erzählte Hinckelberg. »Eine große Schnecke kroch über eine horizontale Glasplatte, und von ihr führte ein halbes Dutzend feiner Drähte zu einem Schaltpult, an dem Grinnell saß. Er hatte zwei Schalter - nicht mehr - und durch entsprechende Einstellungen konnte er die Schnecke in jede gewünschte Richtung steuern. Für ei nen Laien war es vielleicht ein unattraktives Experiment, aber mir war klar, daß sich daraus unglaubliche Folgen ergaben. Ich weiß noch, wie ich Grinnell erklärte, ich hof fe, daß sein Gerät nie auf Menschen angewendet würde. Ich hatte gerade >1984< von Orwell gelesen und konn te mir deshalb sehr gut vorstellen, welche Möglichkeiten ein solcher Apparat dem Großen Bruder eröffnen wür de. Da ich viel zu tun hatte, vergaß ich die Geschichte bei nahe ein Jahr lang vollkommen. Inzwischen hatte Grin nell seine Vorrichtung anscheinend wesentlich verbessert und war zu Experimenten mit komplizierteren Organis men übergegangen, obwohl er sich aus technischen Gründen auf Wirbellose beschränkte. Er verfügte jetzt über ein ansehnliches Arsenal an >Befehlen<, die er seinen Versuchstieren durch Playback erteilen konnte. Vielleicht überrascht es Sie, daß so verschiedene Geschöpfe wie Würmer, Schnecken, Insekten, Krustentiere und so wei ter auf die gleichen elektrischen Befehle ansprachen; aber es war offensichtlich der Fall. Wenn Dr. Jackson nicht gewesen wäre, wäre Grinnell wahrscheinlich sein Leben lang im Labor gehockt und hätte sich im Tierreich langsam hinaufgearbeitet. Jackson war ein bemerkenswerter Mensch - Sie haben bestimmt einige seiner Filme gesehen. Viele Gelehrte hielten ihn einfach für sensationslüstern und für keinen seriösen Wissenschaftler, und die akademischen Kreise mißtrau ten ihm, weil er viel zu viele verschiedene Interessen ver folgte. Er hatte Expeditionen in die Wüste Gobi und in 30
das Amazonasgebiet geleitet und sich sogar in die Ant arktis gewagt. Von jeder dieser Reisen war er mit einem Bestseller und ein paar Kilometern Filmmaterial zurück gekehrt. Dennoch glaube ich, trotz aller gegenteiligen Behauptungen, daß er auch wertvolle wissenschaftliche Ergebnisse mitgebracht hat, selbst wenn er sie nur zufäl lig entdeckt hatte. Ich weiß nicht, wie Jackson von Grinnells Arbeiten er fuhr, oder wie er ihn zur Zusammenarbeit überredete. Er konnte sehr überzeugend wirken und machte Grinnell wahrscheinlich weis, daß er ihm große Geldmittel ver schaffen konnte - er verstand sich tatsächlich sehr gut darauf, Aufsichtsratsmitglieder anzupumpen. Jedenfalls hüllte sich Grinnell von diesem Augenblick an in ge heimnisvolles Schweigen. Wir wußten nur, daß er eine viel größere Version seines Apparates baute, die die aller letzten Verbesserungen enthielt. Wenn wir ihn direkt fragten, zuckte er nervös die Achseln und antwortete nur: >Wir gehen auf Großwildjagd.< Die Vorbereitungen dauerten ein weiteres Jahr, und ich nehme an, daß Jackson - der es immer eilig hatte - am Ende schon sehr ungeduldig war. Aber schließlich war alles bereit. Grinnell verschwand mit seinen geheimnis vollen Kisten in Richtung Afrika. Das war Jacksons Werk. Wahrscheinlich wollte er nicht, daß die öffentlichkeit zu früh informiert wurde, was durchaus verständlich ist, wenn man bedenkt, was für ein eher phantastisches Ziel sich die Expedition ge setzt hatte. Die Hinweise, die wir erhalten hatten - wir erkannten erst später, daß sie uns auf eine falsche Spur führen sollten -, besagten, daß er die Absicht hatte, mit Hilfe von Grinnells Apparat außergewöhnliche Fotos von Tieren auf freier Wildbahn zu schießen. Mir leuchtete das Ganze nicht recht ein, es sei denn, daß es Grinnell gelun gen wäre, seine Vorrichtung mit einem Sender zu kop peln. Es war kaum anzunehmen, daß er seine Drähte und
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Elektroden an einem angreifenden Elefanten befestigen konnte ... Natürlich war das auch ihnen klar gewesen und natür lich kommt uns heute die Lösung selbstverständlich vor. Meereswasser ist ein guter elektrischer Leiter. Sie waren gar nicht nach Afrika unterwegs, sondern auf dem offe
nen Atlantik. Aber sie hatten uns nicht angelogen, sie be fanden sich tatsächlich auf Großwildjagd. Auf der Jagd nach dem größten Wild, das es gibt. Wir hätten nie erfahren, was sich da draußen ereignet hat, wenn ihr Funker sich nicht mit einem Amateurfun ker in den Vereinigten Staaten, mit dem er befreundet war, unterhalten hätte. Aus seinen Kommentaren kann man den Ablauf der Ereignisse rekonstruieren. Jacksons Schiff - eine kleine Jacht, die er billig gekauft und für die Expedition umgebaut hatte - lag auf Höhe des Äquators in einiger Entfernung von der Westküste Afrikas ober halb der tiefsten Stelle des Atlantik. Grinnell angelte: Er hatte seine Elektroden in den Abgrund hinuntergesenkt, und Jackson wartete ungeduldig mit der Kamera. Sie warteten eine Woche, bis ihnen ein Fang glückte. Vermutlich waren sie schon einigermaßen nervös. Dann begannen am Nachmittag eines völlig windstillen Tages Grinnells Anzeigegeräte anzusprechen. Etwas war in den Einflußbereich der Elektroden geraten. Langsam hievten sie das Kabel hoch. Bis dahin hatte die Mannschaft sie bestimmt für verrückt gehalten, aber als der Fang über tausende Meter zur Oberfläche empor stieg, waren alle gleichermaßen aufgeregt. Wer kann es dem Funker verdenken, daß er trotz Jacksons Befehl das Bedürfnis hatte, mit einem Freund, der sich auf dem Fest land in Sicherheit befand, über das Geschehene zu spre chen? Ich versuche nicht zu beschreiben, was sie sahen, denn ein Meister hat es vor mir getan. Kurz nachdem der Be richt eingetroffen war, nahm ich mein Exemplar von 32
Moby Dick aus dem Regal und las den betreffenden'Ab satz nach; ich kann ihn immer noch aus dem Gedächtnis /itieren und werde ihn wahrscheinlich nie vergessen. Er lautet ungefähr so: >Eine ungeheure, schwammige Masse, eine Achtel meile in der Länge und Breite, von leuchtend milchwei ßer Farbe, lag schwimmend auf dem Wasser. Zahllose lange Arme liefen von ihrem Mittelpunkt strahlenförmig nach allen Seiten auseinander, sich ringelnd und schlän gelnd wie ein Nest von Anakondas, als suchten sie völlig blind etwas zu greifen, was zufällig in ihre Reichweite kam.< Ja, Grinnell und Jackson waren auf der Jagd nach dem größten, geheimnisvollsten Geschöpf gewesen - dem Riesenkraken. Größten? Beinahe sicher: Bathyteuthis kann bis zu fünfunddreißig Meter lang werden. Er ist nicht so schwer wie die Pottwale, die ihn fressen, aber er steht ihnen in bezug auf Länge nicht nach. Da hatten sie also ihr ungeheuerliches Tier, das bis jetzt noch kein menschliches Wesen unter so idealen Bedin gungen erblickt hatte. Anscheinend ließ Grinnell es in al ler Ruhe alle möglichen Manöver ausführen, während Jackson begeistert Kilometer an Filmmaterial belichtete. Obwohl es doppelt so groß war wie ihr Schiff, befanden sie sich nicht in Gefahr. Für Grinnell war es einfach ein Weichtier, das er mit Hilfe seiner Schalter und Skalen wie einen Roboter steuerte. Wenn er mit seinen Experimen ten fertig war, wollte er es in seinen normalen Lebensbe reich zurückschicken, wo es davonschwimmen konnte, obwohl es wahrscheinlich einen leichten Kater haben würde. Was würde ich dafür geben, diesen Film zu besitzen! Ganz abgesehen von seinem wissenschaftlichen Wert würde er in Hollywood ein Vermögen einbringen. Sie müssen zugeben, daß Jackson genau wußte, was er tat: Er hatte begriffen, wo die Grenzen von Grinnells Erfindung 33
lagen und hatte sie so gut wie möglich genutzt. An dem, was dann geschah, trifft ihn keine Schuld.« Professor Hinckelberg seufzte und nahm einen kräfti gen Schluck von seinem Bier, als wolle er sich für das Ende seiner Erzählung stärken. »Nein, wenn man jemandem die Schuld anlasten kann, so ist es Grinnell. Eigentlich sollte ich sagen, so war es Grinnell, der arme Teufel. Vielleicht war er so aufgeregt, daß er eine Vorsichtsmaßnahme außer acht ließ, die er im Labor zweifellos ergriffen hätte. Wie kann man sonst er klären, daß er keine Reservesicherung zur Hand hatte, als im Stromaggregat eine durchbrannte? Natürlich kann man auch dem Bathyteuthis keinen Vorwurf machen. Wären Sie nicht auch verärgert, wenn man Sie so herumgeschubst hätte? Und als die Befehle plötzlich aufhörten und er wieder Herr seiner selbst war, sorgte er natürlich dafür, daß er es auch blieb. Ich frage mich manchmal, ob Jackson bis zum Schluß gefilmt hat ...«
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Patent angemeldet
E s gibt kein Thema, über das in der Bar des >Weißen
Hirschen< nicht irgendwann diskutiert worden ist - und es spielt überhaupt keine Rolle, ob Damen anwesend sind oder nicht. Schließlich kommen sie auf eigene Ge fahr hin. Dabei fällt mir ein, daß drei von ihnen dort Ehemänner gefunden haben. Vielleicht sind die Gefähr deten also gar nicht sie ... Das erwähne ich nur, damit Sie nicht annehmen, daß alle unsere Gespräche hochgelehrt und streng wissen schaftlich sind und wir uns nur mit geistigen Aktivitäten befassen. Obwohl Schach bevorzugt wird, werfen viele Stammgäste auch Wurfpfeile und spielen Domino. Einige Gäste bringen zwar das Times Literary Supplement, die Sa turday Review, den New Statesman und das Atlantic Monthly mit, aber die gleichen Leute sind ohne weiteres imstande, mit der letzten Ausgabe der Verblüffenden pseu dowissenschaftlichen Geschichten nach Hause zu gehen. In den dunkleren Ecken des Pub werden auch Geschäfte abgewickelt. Alte Bücher und Magazine wechseln oft zu astronomischen Preisen den Besitzer, und beinahe an jedem Mittwoch lehnen mindestens drei bekannte Bör senmakler an der Bar, rauchen dicke Zigarren und tau schen mit Drew Geschichten aus. Von Zeit zu Zeit zeigt schallendes Gelächter die Pointe einer Anekdote an und führt zu eifrigen Fragen anderer Kunden, die befürchten, etwas versäumt zu haben. Leider verbietet mir mein Feingefühl, diese interessanten Geschichten hier wieder zugeben. Im Gegensatz zu beinahe allem, was es auf die ser Insel gibt, eignen sie sich nicht für die Ausfuhr. Zum Glück gilt diese Einschränkung nicht für die Er 35
zählungen von Harry Purvis, Bakkaleaurus der Natur wissenschaften (mindestens), Doktor der Philosophie (wahrscheinlich). Keine von ihnen würde die züchtigste Jungfrau erröten lassen, falls es so etwas heutzutage überhaupt noch gibt. Ich muß um Verzeihung bitten, denn diese Feststellung ist zu ungenau. Es gibt eine Geschichte, die in manchen Kreisen vielleicht als etwas gewagt empfunden wird. Ich zögere nicht, sie zu wiederholen, denn ich bin überzeugt, geschätzter Leser, daß Sie tolerant genug sind, nicht em pört zu sein. Es begann so: Ein berühmter Kritiker von der Fleet Street war von einem redegewandten Verleger in eine Ecke gedrängt worden. Der Verleger war im Begriff, ein Buch herauszubringen, auf das er große Hoffnungen setzte. Es handelte sich um eine der reiferen literarischen Produktionen aus dem tiefen, dekadenten Süden, ein ausgezeichnetes Beispiel für die Richtung: »Und dann schwankte das Haus wieder, als die Termiten den Süd
flügel endgültig unterminiert hatten.« Irland hatte es be reits auf den Index gesetzt, aber das ist eine Ehre, der heutzutage nur wenige Bücher entgehen und kann daher kaum als Auszeichnung gewertet werden. Wenn man je doch eine führende englische Zeitung dazu bringen konnte, entschieden für ein Verbot des Buches einzutre ten, würde es über Nacht zum Bestseller werden. Soweit die Überlegungen des Verlegers, der seine ganze Trickkiste auspackte, um den Kritiker zur Koopera tion zu überreden. Um etwaige Skrupel des kritisierenden Freundes auszuräumen, bemerkte er gerade: »Natür lich nicht. Wenn sie es verstehen, können sie ohnehin nicht mehr korrumpiert werden.« Und dann sagte Harry Purvis, der über die unheimliche Fähigkeit verfügt, einem halben Dutzend Gesprächen gleichzeitig zuzuhören, so daß er sich zur richtigen Zeit in die richtige Unterhaltung einschalten kann, mit seiner besonders durchdringenden 36
und nicht zu übertönenden Stimme: »Zensur führt zu sehr schwierigen Problemen, nicht wahr? Ich habe immer behauptet, daß der Zivilisationsgrad eines Landes in um gekehrtem Verhältnis zu dem Druck steht, der auf seine Presse ausgeübt wird.« Eine Stimme mit amerikanischem Akzent warf aus dem Hintergrund ein: »Dann ist also Paris eine zivilisier tere Stadt als Boston.« »Genau«, erwiderte Purvis. Dann wartete er auf eine Antwort. »O.K.«, stimmte die Stimme Amerikas sanft zu. »Ich will nicht streiten, ich wollte mich nur vergewissern.« »Fahren wir also fort!« sagte Purvis und befolgte sofort seinen eigenen Befehl. »Es handelt sich um einen Fall, mit dem sich die Zensur zwar noch nicht befaßt hat, es
aber sicherlich bald tun wird. Es begann in Frankreich und hat sich bis jetzt auf dieses Land beschränkt. Wenn es einmal öffentlich bekannt wird, wird es vielleicht grö ßere Auswirkungen auf unsere Zivilisation haben als eine Atombombe. Wie die Atombombe ist es die Folge wissenschaftlicher Forschungen. Man darf die Wissenschaft nie unterschät zen, meine Herren! Meiner Meinung nach führt jede For schung, sei sie noch so theoretisch oder so weltfremd, ei nes Tages zu einem Ergebnis, das die Welt erschüttert. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß die Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, ausnahmsweise aus zweiter Hand stammt! Ich habe sie vergangenes Jahr von einem Kollegen an der Sorbonne gehört, als ich dort an einem wissenschaftlichen Kongreß teilnahm. Deshalb sind alle Namen frei erfunden; er nannte sie mir damals, aber ich kann mich nicht mehr genau an sie erinnern. Professor Julian war Professor für Experimentalphysio logie an einer kleinen, aber nicht schlecht dotierten fran zösischen Universität. Vielleicht erinnern sich einige von Ihnen an die ziemlich unwahrscheinliche Geschichte, die 37
uns dieser Herr Hinckelberg vergangene Woche erzählt
hat - über seinen Kollegen, der das Verhalten der Tiere steuern konnte, indem er ihnen die richtigen elektrischen Ströme ins Gehirn sandte. Also, wenn auch nur ein Fünkchen Wahrheit in dieser Geschichte steckt - was ich bezweifle -, wurde das ganze Projekt wahrscheinlich durch Julians Artikel in Compte Rendus ausgelöst. Seine beachtlichsten wissenschaftlichen Erkenntnisse veröffentlichte Professor Julian jedoch nie. Wenn man über etwas wirklich Außergewöhnliches stolpert, läßt man es nicht sofort drucken. Man wartet, bis man über wältigendes Beweismaterial gesammelt hat - außer man befürchtet, daß jemand auf dem gleichen Gebiet arbeitet. Dann gibt man einen zweideutigen Bericht heraus, durch den man später seine Priorität untermauern kann, ohne jedoch vorläufig zu viel zu verraten - wie das berühmte Kryptogramm Huygens', als er die Saturnringe entdeck te. Sie fragen sich bestimmt, worum es sich bei Julians Entdeckung handelte, und ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Es war einfach die Weiterentwicklung einer Kunst, die vor hundert Jahren einsetzte. Zuerst ermög lichte uns die Kamera, einzelne Szenen festzuhalten. Dann erfand Edison den Phonographen, und wir be herrschten den Ton. Heute besitzen wir im Tonfilm eine Art von mechanischem Gedächtnis, das für unsere Vor fahren unvorstellbar war. Aber dabei kann es nicht blei ben. Die Wissenschaft muß einmal fähig sein, Gedanken und Gefühle aufzuzeichnen und zu speichern, und sie dann in den Geist zurückzuspielen, so daß sie jede Erfah rung, wann und so oft sie will, bis ins letzte Detail wie derholen kann.« »Das ist ein alter Hut!« schnaubte jemand. »Denken Sie nur an die >feelies< in Tapfere neue Welt!« »Alle guten Ideen wurden schon von jemandem ge dacht, bevor sie verwirklicht wurden«, wies ihn Purvis 38
streng zurecht. »Aber wovon Huxley und die anderen nur gesprochen haben, das hat Julian verwirklicht. Natürlich erfolgt es auf elektronischem Weg. Sie wis sen alle, daß ein Enzephalograph die schwachen elektri schen Impulse im Gehirn aufzeichnen kann - die soge nannten Gehirnströme, wie sie die Zeitungen nennen. Bei Julians Erfindung handelte es sich um eine verfeinerte Ausführung dieses bekannten Apparats. Und sobald er die Gehirnimpulse aufgezeichnet hatte, konnte er sie zu rückspielen. Klingt einfach, nicht? Das war der Phono graph auch, und doch mußte erst das Genie Edison
kommen, um ihn zu erfinden. Und jetzt kommt der Bösewicht ins Spiel. Na ja, das ist vielleicht ein zu starker Ausdruck, denn Professor Julians Assistent Georges - Georges Dupin - ist in Wirklichkeit ein sehr sympathischer Mensch. Da er jedoch ein wesent lich praktischer denkender Franzose als der Professor ist, erkannte er sofort, daß dieses Laborspielzeug etliche Mil liarden Francs einbringen konnte. Zunächst mußte er über das Laborstadium hinaus kommen. Die Franzosen verstehen zweifellos etwas von eleganter Formgebung, und nach einigen Wochen Arbeit - unter voller Kooperation des Professors - hatte Georges es geschafft, den Rückspielteil des Apparates in einem Gehäuse unterzubringen, das nicht größer war als ein Fernsehapparat und auch kaum mehr elektronische Be standteile enthielt. Dann war Georges zum ersten Experiment bereit. Es würde zwar sehr viel kosten, aber, wie jemand sehr rich tig bemerkte, man kann kein Omelette machen, ohne Eier zu zerschlagen. Ich halte dies für einen ausgezeichneten Vergleich. Denn Georges suchte den berühmtesten Gourmet Frankreichs auf und machte ihm einen interessanten Vorschlag, den der große Mann nicht ablehnen konnte, weil er einen einmaligen Tribut an seine Spitzenstellung 39
darstellte. Georges erklärte geduldig, daß er einen Appa rat erfunden habe, mit dem er Gefühle registrieren konnte (vom Speichern sprach er nicht). Würde ihm Monsieur le Baron im Dienste der Wissenschaft und zur Ehre der französischen Küche gestatten, die Gefühle, die feinen Nuancen der Geschmacksempfindungen aufzu zeichnen, die sich in seinem Nervensystem abspielten, wenn er seine unvergleichlichen Talente einsetzte? Mon sieur konnte selbst das Restaurant, den chef de cuisine und die Speisenfolge bestimmen - alles würde seinen Wün schen gemäß geregelt werden. Natürlich, falls er keine Zeit hätte, dann müßte man sich eben an den bekannten Epikuräer Graf ... Der Baron, der in mancher Beziehung ein überra schend grober Mann war, gebrauchte ein Wort, das man in den meisten französischen Lexika nicht findet. >Dieser cretin!< explodierte er. >Wenn Sie ihm englische Küche vorsetzen, ist er schon glücklich. Nein, ich tue es.< Er
machte sich sofort daran, das Menü zusammenzustellen, während Georges besorgt die Kosten der einzelnen Gänge schätzte und sich fragte, ob sein Bankkonto dieser Belastung gewachsen war. Ich würde gerne wissen, was der chef de cuisine und die Kellner von der ganzen Geschichte hielten. Der Baron saß an seinem Lieblingstisch, aß seine Lieblingsspeisen und ließ sich nicht im geringsten durch die Drähte stören, die von seinem Kopf zu der Höllenmaschine in der Ecke führten. Außer dem Baron waren keine weiteren Gäste anwesend, denn Georges wollte um jeden Preis vorzei tige Publicity vermeiden. Diese Maßnahme hatte die be reits erheblichen Kosten des Experiments noch beträcht lich erhöht. Georges konnte nur hoffen, daß das Resultat den Einsatz wert war. Seine Hoffnung erfüllte sich. Wir könnten es allerdings nur beweisen, indem wir Georges >Aufzeichnung< ab spielen. Daher müssen wir ihm aufs Wort glauben, wenn 40
auch allgemein bekannt ist, daß Worte in solchen Pällen unzulänglich sind. Der Baron war ein echter connaisseur und nicht jemand, der sich eines Unterscheidungsver mögens rühmt, das er gar nicht besitzt. Sie kennen Thur bers Ausspruch: >Nur ein naiver, einheimischer Burgun der, aber Sie werden seine Vermessenheit bewundern.< Der Baron hätte beim ersten Schluck erkannt, ob er ein heimisch war oder nicht. Soviel ich weiß, erfüllte diese Aufzeichnung Georges' Hoffnungen, obwohl sie nicht nur für seinen persönli chen Gebrauch bestimmt war. Sie eröffnete ihm neue Welten und trug zur Klärung der Ideen bei, die sein er finderisches Gehirn ausbrütete. Es gab keinen Zweifel: alle exquisiten Gefühle, die der Geist des Barons wäh rend des lukullischen Mahls empfunden hatte, waren eingefangen geworden, so daß jeder Beliebige in die Lage versetzt wurde, sie nachzuvollziehen, auch wenn er ein vollkommener Laie auf diesem Gebiet war. Denn die Aufzeichnung betraf ausschließlich die Empfindungen, der Verstand hatte überhaupt nichts damit zu tun. Der Baron hatte ein Leben lang üben und lernen müssen, um diese Gefühle zu erleben. Aber sobald sie auf Band fest gehalten waren, konnte auch der geschmackloseste Mensch sie übernehmen. Denken Sie an die einmaligen Möglichkeiten, die Ge orges vor sich sah. Es gab noch so viele Mahlzeiten, so viele Gourmets. Es gab die gesammelten Eindrücke aller hervorragenden Weinjahrgänge in Europa - connaisseurs würden jeden Betrag für sie bezahlen. Wenn die letzte Flasche eines einmaligen Tropfens geleert war, konnten seine Geschmacksmerkmale aufbewahrt werden, so wie man die Stimme der Melba noch nach Jahrhunderten hö ren wird. Denn eigentlich ging es nicht um den Wein selbst, sondern um das Gefühl, das er hervorrief. Das waren Georges' Überlegungen. Und dabei war es erst der Anfang. Die Franzosen behaupten von sich, logi 41
sche Denker zu sein, was ich oft bestritten habe, aber in Georges' Fall kann ich dem nur zustimmen. Er dachte ein paar Tage lang über den ganzen Problemkreis nach, .dann suchte er seine petite arnie auf. >Yvonne, ma cherie<, begann er, >ich habe eine etwas ungewöhnliche Bitte an dich!<« Harry Purvis wußte genau, wann er eine Pause einle gen mußte. Er wandte sich zur Bar und rief: »Noch einen Scotch, Drew.« Niemand sprach ein Wort, während Drew einschenkte. »Kurz und gut«, fuhr Purvis schließlich fort, »obwohl es sich um ein selbst für Frankreich ungewöhnliches Ex periment handelte, wurde es erfolgreich durchgeführt. Wie es sich gehörte, fand es in den stillen Nachtstunden statt. Sie werden ja inzwischen begriffen haben, daß Ge orges die Kunst der Überredung beherrschte, obwohl Mademoiselle wahrscheinlich nicht lang gebeten werden mußte. Georges erstickte ihre neugierigen Fragen mit einem herzlichen, aber hastigen Kuß, führte sie aus dem Labor und rannte zu seinem Apparat zurück. Atemlos spielte er das Band ab. Es funktionierte - obwohl er eigentlich nie daran gezweifelt hatte. Außerdem - bitte denken Sie dar an, daß ich mich nur auf den Bericht meines Informanten berufen kann! - konnte man es nicht von der Wirklichkeit unterscheiden. In diesem Augenblick empfand Georges beinahe religiöse Ehrfurcht. Er hatte zweifellos die größte Erfindung der Menschheitsgeschichte gemacht. Er würde nicht nur reich, sondern auch unsterblich werden, denn er hatte etwas erreicht, wovon die Menschheit immer schon geträumt hatte: er hatte dem Alter seinen Schrek ken genommen. Ihm wurde auch klar, daß er jetzt auf Yvonne verzich ten konnte, wenn er wollte. Daraus ergaben sich Folge rungen, die er überdenken mußte. Sehr genau überden ken. 42
Sie wissen natürlich, daß ich Ihnen einen sehr konden sierten Bericht liefere. Während das alles geschah, arbei tete Georges immer noch loyal für den nichtsahnenden Professor. Bis jetzt hatte er ja auch kaum mehr getan als jeder andere Forscher unter ähnlichen Umständen. Seine Aktivitäten hatten zwar seinen Pflichtenkreis leicht über schritten, aber notfalls ließ sich das alles erklären. Der nächste Schritt bestand in sehr heiklen Verhand lungen, die weitere schwerverdiente Frances kosteten. Georges besaß nun genügend Material, um beweisen zu können, daß er über eine sehr wertvolle Handelsware verfügte. In Paris gab es gerissene Geschäftsleute, die sich auf die sich bietende Gelegenheit stürzen würden. Dennoch muß ich zu Georges' Ehre sagen, daß ihn ein gewisses Zartgefühl daran hinderte, seine zweite Auf zeichnung als Beweis für die Fähigkeiten seiner Maschine zu verwenden. Er hatte keine Möglichkeit, die beteiligten Personen unkenntlich zu machen, und er war ein be scheidener Mann. Außerdem, sagte er sich vernünfti gerweise, engagiert eine Plattenfirma keinen Amateur, wenn sie eine Platte produziert, sondern ausschließlich Profis. Und das trifft auch hier zu. Dann rief er noch ein mal seine Bank an und machte sich wieder auf den Weg nach Paris. Er begab sich keineswegs zur Place Pigalle, denn dort wimmelte es vor Amerikanern, und die Preise sind ent sprechend. Statt dessen zog er diskret Erkundigungen ein, und ein verständnisvoller Taxichauffeur brachte ihn in eine beinah deprimierend ehrbare Vorstadt, wo er in einem Wartezimmer landete, das keinesfalls so exotisch war, wie man annehmen würde. Hier setzte der etwas verlegene Georges sein Anliegen einer beeindruckenden Dame auseinander, deren Alter und Beruf man nur erraten konnte. Obwohl sie an unge wöhnliche Vorschläge gewöhnt war, handelte es sich hier um ein Ansinnen, das ihr noch nie gestellt worden war. 43
Aber der Kunde hat immer recht, solange er Geld hat, und damit ergab sich alles weitere. Eine der jungen Da men und ihr Freund, ein Ganove von überwältigender Männlichkeit, reisten mit Georges in die Provinz. Zuerst waren sie natürlich etwas mißtrauisch, aber Georges hatte schon festgestellt, daß kein Fachmann Schmeiche leien widerstehen kann. Bald vertrugen sie sich glän zend. Hercule und Suzette versprachen Georges, daß sie ihn voll zufriedenstellen würden.
Zweifellos möchten jetzt einige von Ihnen weitere De tails erfahren, aber Sie können kaum erwarten, daß ich
sie Ihnen liefere. Ich kann nur sagen, daß Georges - oder sein Apparat - sehr beschäftigt und am Morgen nur we nige unbespielte Bänder übrig waren. Anscheinend trug Hercule seinen Namen zu Recht. Als diese pikante Episode zu Ende war, besaß Georges nicht mehr viel Kapital, dafür jedoch zwei praktisch un ermeßlich wertvolle Aufzeichnungen. Er begab sich also wieder nach Paris, wo er sich ohne jegliche Schwierigkeit mit einigen Geschäftsleuten einigte, die so verblüfft wa ren, daß sie, ohne es zu merken, einen für Georges eher vorteilhaften Vertrag unterschrieben. Dieses Detail freut mich besonders, denn der Wissenschaftler zieht bei Ver handlungen mit der Finanzwelt leider oft den kürzeren. Außerdem freut es mich, daß Georges Professor Julian in den Vertrag einbezog. Zyniker werden jetzt behaupten, daß es schließlich die Erfindung des Professors war und daß Georges früher oder später mit ihm hätte teilen müs sen, aber ich finde, daß da mehr dahintersteckt. Natürlich kenne ich nicht alle Details über die Auswer tung des Apparats. Georges hatte sicherlich sehr über zeugend gesprochen - was eigentlich nicht notwendig war, wenn der Käufer eine oder beide Aufzeichnungen erlebt hatte. Der Markt war ungeheuer groß, praktisch unbegrenzt. Die Exporterlöse allein konnten der franzö sischen Wirtschaft wieder auf die Beine helfen und das 44
Dollardefizit über Nacht beseitigen - sobald man gewisse Schwierigkeiten überwunden hatte. Das Ganze mußte natürlich im geheimen durchgeführt werden, denn so bald die scheinheiligen Angelsachsen herausfanden, was in ihr Land importiert wurde, war ein sittlicher Tumult unvermeidlich. Die Müttervereinigung, die Töchter der amerikanischen Revolution, der Hausfrauenverein und alle religiösen Organisationen würden geschlossen auf die Barrikaden steigen. Die Anwälte befaßten sich sehr genau mit der Angelegenheit und stellten fest, daß die Vorschriften, durch die Wendekreis des Steinbocks noch immer vom europäischen Büchermarkt verbannt war, in diesem Fall nicht anwendbar waren - weil niemand an diese Möglichkeit gedacht hatte. Die öffentlichkeit würde jedoch so laut nach neuen Gesetzen schreien, daß es vernünftiger war, so lange wie möglich aus dem Un tergrund zu operieren. Einer der Direktoren wies sogar darauf hin, daß es nur vorteilhaft wäre, wenn ein Einfuhrverbot für diese Art Aufzeichnungen erlassen würde. Sie konnten mit einer kleineren Produktion viel mehr Geld verdienen, denn der Preis würde dann prompt in die Höhe gehen, und der Zoll konnte trotz all seiner Bemühungen nicht jede Lücke verstopfen. Es würde wieder so zugehen wie während der Prohibition. Es wird Sie bestimmt nicht überraschen, daß Georges inzwischen das Interesse an der gastronomischen Seite des Projekts verloren hatte. Es handelte sich dabei um eine entschieden nebensächliche Anwendungsmöglich keit der Erfindung. Das hatten die Direktoren auch still schweigend zugegeben, als sie die Statuten der Gesell schaft verfaßten, denn sie hatten die Gaumenfreuden un ter >Nebenrechte< eingeordnet. Als Georges heimkehrte, ging er auf Wolken und hatte einen auf eine beträchtliche Summe lautenden Scheck in der Tasche. Er hatte einen bezaubernden Einfall. Die 46
Schallplattenfirmen hatten keine Mühe gescheut, um der Welt vollständige Aufzeichnungen der achtundvierzig Präludien und Fugen oder der neun Symphonien zur Verfügung zu stellen. Seine neue Gesellschaft würde eine verhängnisvolle, endgültige Serie von Aufzeichnungen über Aktivitäten herausbringen, die von erlesenen Sach verständigen auf diesem Gebiet in Ost und West voll bracht worden waren. Wie groß würde die Zahl dieser Werke werden? Darüber wurde seit tausend Jahren ein
gehend debattiert. Soviel Georges wußte, gelangten die hinduistischen Textbücher zu dreistelligen Zahlen. Es würde eine sehr interessante Forschungsarbeit werden, die in noch nie dagewesener Weise Profit und Vergnügen verband ... Er hatte bereits mit Vorstudien begonnen und dazu Abhandlungen benützt, die nicht einmal in Pa ris leicht zu bekommen waren.
Falls Sie annehmen, daß Georges in dieser Zeit seine sonstigen Verpflichtungen vernachlässigt hätte, haben Sie nur zu recht. Er arbeitete buchstäblich Tag und Nacht,
denn er hatte dem Professor nichts von seinen Plänen er zählt und mußte beinahe alles in der Zeit tun, in der das Labor geschlossen war. Und eine dieser vernachlässigten Pflichten war Yvonne, Natürlich war ihre Neugierde geweckt worden, sie war schließlich ein Mädchen. Aber jetzt war sie auch beunru higt, denn Georges war zurückhaltend und kühl gewor den. Er liebte sie nicht mehr. Diese Entwicklung war zu erwarten gewesen. Wirte müssen sich davor hüten, die Getränke, die sie verkau fen, zu oft zu kosten - Sie tun es sicherlich nicht, Drew -, und Georges war in diese verführerische Falle gegangen. Er hatte sich die Aufzeichnungen zu oft zu Gemüte ge führt und war jetzt ziemlich geschwächt. Außerdem
konnte sich die arme Yvonne nicht mit der erfahrenen, begabten Suzette vergleichen. Die alte Geschichte: Profi gegen Amateur. 47
Yvonne wußte nur, daß Georges jemand anderen lieb te. Das stimmte. Außerdem nahm sie an, daß er ihr un treu war. Und das wirft tiefschürfende philosophische Fragen auf, auf die wir hier kaum eingehen können. Da sich das Ganze in Frankreich abspielte, war das Ende unvermeidlich. Der arme Georges! Als er wieder einmal spätnachts im Labor arbeitete, erledigte ihn Yvonne mit einer dieser lächerlichen Spielzeugpistolen,
die bei solchen Gelegenheiten unerläßlich sind. Stoßen wir auf sein Gedächtnis an.« »So ist es bei allen Ihren Geschichten«, protestierte John Beynon. »Sie erzählen uns von wunderbaren Erfin dungen, und dann stellt sich am Ende heraus, daß der Entdecker getötet wurde, so daß niemand mehr etwas damit anfangen kann. Denn ich nehme an, daß der Ap parat, wie immer, zerstört wurde?« »Keineswegs«, antwortete Purvis. »Wenn wir von Ge orges absehen, handelt es sich hier um eine Geschichte mit Happy-end. Yvonne hatte natürlich überhaupt keine Schwierigkeiten. Georges' trauernde Sponsoren trafen schleunigst am Schauplatz ein und verhinderten jede nachteilige Publicity. Da sie nicht nur mitfühlende Her zen, sondern auch Geschäftssinn besaßen, war ihnen klar, daß Yvonne in Freiheit bleiben mußte. Sie erreichten dies, indem sie die Aufzeichnungen dem Bürgermeister und dem Polizeipräfekten vorspielten und sie davon überzeugten, daß das arme Mädchen in berechtigter Er regung gehandelt hatte. Ein paar Aktien der neuen Ge sellschaft besiegelten den Handel, und beide Seiten trennten sich in bestem Einvernehmen. Yvonne bekam sogar ihre Pistole zurück.« »Aber wann ...?« begann jemand. »Ach, diese Dinge brauchen Zeit. Es handelt sich ja um keine Massenproduktion. Es ist durchaus möglich, daß die Belieferung schon über geheime - sehr geheime - Ka näle begonnen hat. Vielleicht werden einige der zweifel 48
haften kleinen Läden rund um den Leicester Scfuare demnächst entsprechende Ankündigungen machen.« Die amerikanische Stimme meldete sich respektlos. »Sie kennen den Namen der Gesellschaft natürlich nicht.« In solchen Augenblicken ist Purvis wirklich bewun dernswert. Er zögerte keinen Augenblick. »La Societe an onyme d'Aphrodite«, erwiderte er. »Mir ist übrigens etwas eingefallen, das Sie aufheitern wird. Die Gesellschaft hofft, daß sie Ihre unangenehmen Postvorschriften um gehen und ins Geschäft kommen kann, bevor die unver meidliche Untersuchung durch den Kongreß eingeleitet wird. Sie haben eine Tochtergesellschaft in Nevada ge gründet: Dort kann man sich anscheinend noch immer alles Mögliche leisten.« Er hob sein Glas. »Auf Georges Dupin«, sagte er feierlich. »Ein Märtyrer der Wissenschaft. Denken Sie an ihn, wenn das Feuer werk beginnt. Und noch etwas ...« »Ja?« fragten wir im Chor. »Fangen Sie lieber jetzt schon an zu sparen. Und ver kaufen Sie Ihre Fernsehapparate, bevor die Preise ins Bo denlose fallen.«
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Wettrüsten
Wie ich schon öfter bemerkt habe, ist es bis jetzt noch niemandem gelungen, Harry Purvis, den besten Ge schichtenerzähler im >Weißen Hirschen<, für längere Zeit
festzunageln. Seine wissenschaftlichen Kenntnisse ste hen außer Zweifel - aber wo hat er sie her? Und mit wel cher Berechtigung spricht er so vertraulich von den Mit gliedern der Royal Society? Ich muß zugeben, daß einige von uns ihm kein einziges Wort glauben. Damit gehen sie meiner Meinung nach etwas zu weit, wie ich neulich Bill Temple gegenüber ziemlich nachdrücklich bemerkte. »Du gehst immer auf Harry los«, sagte ich, »aber du mußt zugeben, daß er uns unterhält. Und das kann man kaum von allen anderen behaupten.« »Wenn du persönlich wirst«, antwortete Bill, der im mer noch nicht verwunden hat, daß ihm ein amerikani scher Verleger ein paar durchaus ernste Geschichten mit der Begründung zurückgeschickt hat, sie hätten ihn nicht zum Lachen gebracht, »dann komm hinaus und sag es noch einmal!« Er warf einen Blick durchs Fenster, stellte fest, daß es immer noch heftig schneite, und fügte hastig hinzu: »Also schön, nicht heute, irgendwann im Som mer, wenn wir einmal beide zufällig daran denken. Trinkst du noch ein Glas Ananassaft?« »Danke. Irgendwann werde ich ihn mit Gin bestellen, nur um dich aus der Fassung zu bringen. Anscheinend bin ich der einzige im >Weißen Hirschen<, der genausogut ohne Alkohol auskommen kann - und der es auch tut.« Weiter kamen wir mit unserem Gespräch nicht, denn in diesem Augenblick traf die Ursache unserer Ausein andersetzung ein. Normalerweise hätte Harrys Ankunft 50
01 ins Feuer gegossen, da er aber in Begleitung eines i'iemden war, beschlossen wir, brave kleine Jungen zu sein. »Hallo Freunde«, rief Harry, »ich stelle euch meinen Freund Solly Blumberg vor. Der beste Spezialist für I rickaufnahmen in Hollywood.« »Wir wollen genau sein, Harry«, widersprach Mr. Blumberg traurig mit einer Stimme, die am ehesten zu ei nem geprügelten Spaniel gepaßt hätte. »Nicht in, son dern außerhalb von Hollywood.« Harry tat die Richtigstellung mit einer Handbewegung ab. »Um so besser für dich. Sol ist hierhergekommen, um sein Talent der britischen Fümindustrie zur Verfügung zu stellen.« »Es gibt doch eine britische Filmindustrie?« fragte Sol besorgt. »Im Studio wußte es niemand mit Bestimmt heit.« »Aber natürlich. Sie blüht und gedeiht sogar. Die Re
gierung belegt sie mit einer Vergnügungssteuer, die sie in den Konkurs treibt, dann gewährt sie ihr enorme Zu schüsse, um sie am Leben zu erhalten. So werden in un serem Land Probleme gelöst. He, Drew, wo ist das Gä stebuch? Und je einen Doppelstöckigen für uns beide. Solly hat eine schreckliche Zeit hinter sich, er braucht et was Stärkendes.« Mr. Blumberg sah zwar aus wie ein geprügelter Hund, wirkte aber sonst nicht wie ein Mann, der unter Entbeh rungen gelitten hat. Er trug einen ordentlichen Anzug von der Stange, und die Spitzen seines Hemdkragens endeten ungefähr mitten auf seiner Brust. Man mußte ihnen dafür dankbar sein, denn sie verbargen dadurch wenigstens einen Teil seiner Krawatte. Ich fragte mich, worin die Schwierigkeiten bestanden hatten. Hoffentlich handelte es sich nicht wieder um un-amerikanische Akti vitäten, denn so etwas würde unseren Hauskommuni 51
sten in Fahrt bringen, der im Augenblick in einer Ecke friedlich ein Schachproblem studierte. Im Kreis erhob sich mitfühlendes Gemurmel, und John sagte ziemlich anzüglich: »Vielleicht täte es Ihnen gut, wenn Sie es sich von der Seele reden. Es wäre wirklich eine Abwechslung, einmal jemand anderen hier sprechen zu hören.« »Sei nicht bescheiden, John«, unterbrach ihn Harry prompt. »Ich höre dich immer noch gern. Aber ich be zweifle, daß Solly Lust hat, sich noch einmal damit zu be schäftigen. Stimmt's, alter Junge?« »Du hast recht«, seufzte Mr. Blumberg. »Erzähl du's ihnen!« (»Ich habe ja gewußt, daß es darauf hinausläuft«, stöhnte mir John ins Ohr.) »Wo soll ich anfangen?« fragte Harry. »Damit, daß Lil lian Ross dich interviewte?« »Nicht ausgerechnet damit«, widersprach Sol schau dernd. »Eigentlich begann es ja mit der ersten >Captain Zoom<-Serie.« >»Captain Zoom« fragte jemand drohend. »Diese Worte hört man hier gar nicht gern. Sagen Sie nur nicht, daß Sie für diesen unaussprechlichen Mist verantwortlich waren.« »Aber, aber, Jungs«, mischte sich Harry ein - diesmal goß er Ö1 auf die Wellen. »Seid nicht so grob! Wir können unseren hohen Kritik-Standard nicht auf alles anwen den. Jeder muß sich irgendwie seinen Lebensunterhalt verdienen. Außerdem mögen Millionen Kinder Captain Zoom. Ihr wollt ihnen doch nicht die kleinen Herzen bre chen, noch dazu so knapp vor Weihnachten?« »Wenn sie Captain Zoom wirklich mögen, würde ich ihnen lieber die kleinen Hälse brechen.« »Wie kann man nur so unvernünftig sein! Ich muß mich wirklich für einige meiner Mitbürger entschuldigen, Solly. Wie hieß die erste Serie noch?« 52
>»Captain Zoom und die Bedrohung vom Mars<.« »Ach ja, richtig. Übrigens frage ich mich, warum wir immer vom Mars bedroht werden? Ob Wells vielleicht daran schuld ist? Womöglich haben wir eines Tages eine interplanetarische Verleumdungsklage am Hals - falls wir nicht beweisen können, daß die Marsianer uns ge genüber genauso unhöflich waren. Ich habe zum Glück >Bedrohung vom Mars< nie gese hen. (»Aber ich«, stöhnte jemand im Hintergrund. »Ich versuche immer noch, es zu vergessen.«) Uns interessiert jedoch nicht die Story, denn die wurde von drei Männern m einer Bar am Wiltshire Boulevard geschrieben. Nie mand weiß, ob sie so ausfiel, weil die Drehbuchautoren betrunken waren, oder ob sie betrunken bleiben mußten, um die Story zu ertragen. Wenn euch das zu schwierig ist, denkt nicht weiter darüber nach! Solly war nur für die Trickaufnahmen zuständig, die der Regisseur verlangte. Zunächst mußte er den Mars konstruieren. Dazu ver
tiefte er sich eine halbe Stunde lang in Die Eroberung des Weltraums und tauchte dann mit einer Skizze auf, die die Werkstatt in eine überreife Orange umsetzte. Sie schwebte im Nichts und war von unwahrscheinlich viel Sternen umgeben. Das war einfach. Die Marsstädte wa ren natürlich etwas komplizierter. Denken Sie sich mal eine vollkommen fremde Architektur aus, die doch noch ei nen Sinn ergibt. Ich bezweifle, daß man das zuwege bringen kann - wenn es halbwegs glaubwürdig aussieht, hat es schon jemand auf der Erde erfunden. Das Studio baute schließlich einen Komplex, der byzantinische Mo tive mit einem Schuß Frank Lloyd Wright verband. Daß keine der Türen irgendwohin führte, spielte überhaupt keine Rolle, solange genügend Platz für die Duelle und akrobatischen Kunststücke vorhanden war, die das Drehbuch vorschrieb. Ja, Duelle. Hier gab es eine Zivilisation mit Atomkraft, Todesstrahlen, Raumschiffen, Fernsehen und noch mehr 53
modernen Annehmlichkeiten, aber wenn es zwischen Captain Zoom und dem bösen Kaiser Klugg zum Kampf kam, drehte sich die Uhr um ein paar Jahrhunderte zu rück. Es standen zwar Soldaten mit bedrohlich ausse henden Strahlern herum, aber sie verwendeten sie nie. Na ja, kaum jemals. Manchmal verjagte ein Funkenregen Captain Zoom und versengte ihm den Hosenboden, aber das war auch schon alles. Da sich die Strahlen nicht schneller als das Licht fortbewegen konnten, war er im mer in der Lage, ihnen zu entgehen. Dennoch verursachten diese rein ornamentalen Strah ler etlichen Leuten Kopfschmerzen. Es ist komisch, wie viel Mühe sich Hollywood mit winzigen Details in einem
Film gibt, der reiner Mist ist. Der Regisseur von Captain Zoom war auf Strahler fixiert. Solly entwarf den Mark I, der wie eine Kreuzung zwischen einer Bazooka und einer Donnerbüchse aussah. Er war damit sehr zufrieden, ge nau wie der Regisseur - ungefähr einen Tag lang. Und dann stürmte der große Mann wütend in das Studio und brachte ein abscheuliches Machwerk aus purpurrotem Plastik mit Schaltern, Linsen und Hebeln mit. >Sieh dir das mal an, Solly!< keuchte er. >Mein Sohn hat es im Supermarkt bekommen - es ist das Werbegeschenk bei Crunch. Für zehn Deckel bekommt man so ein Ding. Sie sehen verdammt besser aus als unsere! Und sie funk tionieren!< Er betätigte einen Hebel, ein dünner Wasserstrahl schoß über die Szene, verschwand hinter Captain Zooms Raumschiff und löschte prompt eine Zigarette aus, die dort verbotenerweise glimmte. Ein zorniger Bühnenar beiter kam aus der Luftschleuse heraus, sah, wer ihn durchnäßt hatte, und zog sich rasch wieder zurück, wo bei er etwas von seiner Gewerkschaft murmelte. Solly untersuchte den Strahler ärgerlich, aber mit dem Scharfblick des Sachverständigen. Ja, er war zweifellos viel eindrucksvoller als alles, was er erfunden hatte. Er 54
verschwand in seinem Büro und versprach, sich mit der Angelegenheit zu befassen. Der Mark II war komplett ausgestattet, sogar mit einem Fernsehapparat. Wenn Captain Zoom plötzlich einem angreifenden Hickoneros gegenüberstand, mußte er nur
den Apparat einschalten, warten, bis die Röhren warm waren, den Kanalwähler programmieren, die Feineinstel lung betätigen, den Brennpunkt fixieren, die Zeilen- und Bildeinstellung korrigieren, und dann auf den Auslöser drücken. Zum Glück verfügte er über unglaublich schnelle Reflexe. Der Regisseur war beeindruckt, und die Produktion von Mark II wurde aufgenommen. Für Kaiser Kluggs teuflische Kohorten ging ein leicht abgeändertes Modell, der Mark IIa, in Serie. Es ist natürlich unmöglich, daß beide Seiten mit den gleichen Waffen feuern. Ich habe ja schon erwähnt, daß Pandemix Productions Perfektioni sten waren. Alles ging gut bis zu den ersten Gefechten, und sogar noch einige Zeit darüber hinaus. Während die Schau spieler agierten - falls man diesen Ausdruck hier gebrau chen kann -, mußten sie mit den Strahlern zielen und auf den Abzug drücken, als würde daraufhin wirklich etwas geschehen. Die Funken und Blitze wurden jedoch später von zwei kleinen Männern auf die Negative gepinselt; sie arbeiteten in einer Dunkelkammer, die ungefähr genauso gut bewacht war wie Fort Knox. Sie machten ihre Arbeit gut, aber nach einiger Zeit regte sich das überentwickelte künstlerische Unterbewußtsein des Regisseurs wieder. >Solly<, sagte er, während er mit dem Horrorinstru ment aus Plastik spielte, das sein Sohn geschenkt be kommen hatte, >ich möchte immer noch einen Strahler, der etwas tut.< Solly duckte sich rechtzeitig, daher ging der Wasser strahl über seinen Kopf hinweg und taufte ein Foto von Marilyn Monroe. 55
>Sie wollen doch nicht wieder anfangen, wirklich zu schießen<, jammerte er. >Nnnnnnnein<, antwortete der Regisseur sichtlich wi derstrebend. >Wir müssen natürlich das verwenden, was wir haben. Aber irgendwie sieht es unecht aus.< Er blät terte im Drehbuch und sein Gesicht hellte sich auf. >Nächste Woche beginnen wir mit Episode 54 - Sklaven der Slugs. Die Slugs müssen Gewehre tragen, deshalb möchte ich .. . < Der Mark III stellte Solly vor ernste Probleme. (Ich habe doch noch keinen ausgelassen, oder? Gut.) Es mußte sich nicht nur um ein vollkommen neues Modell handeln, sondern es mußte auch >etwas tun<. Es war eine Heraus forderung an Sollys Erfindergeist, und es rief die entspre chende Wirkung hervor. Mark III war ein technisch hochentwickeltes Produkt. Zum Glück kannte Solly einen ideenreichen Techniker, der ihm schon früher geholfen hatte, und der jetzt der ei gentliche Erfinder von Mark III wurde. (>Und ob er das war<, bestätigte Solly düster.) Das Prinzip war einfach: Ein kleiner, aber sehr leistungsstarker elektrischer Venti lator erzeugte einen Luftstrom, in den fein verteilter Staub gesprüht wurde. Wenn das Ding richtig eingestellt war, produzierte es einen sehr beeindruckenden Strahl und noch beeindruckenderen Lärm. Die Schauspieler hatten solche Angst davor, daß ihre Darstellung plötzlich sehr realistisch wurde. Der Regisseur war begeistert - ganze drei Tage lang. Dann befielen ihn schreckliche Zweifel. >Solly<, sagte er, >diese verdammten Gewehre sind zu gut. Die Slugs können Captain Zoom damit jederzeit er ledigen. Wir müssen ihm eine bessere Waffe in die Hand drücken.< In diesem Augenblick begriff Solly, was geschehen war. Er war in ein Wettrüsten geraten. Damit kommen wir zu Mark IV, nicht wahr? Wie funk 56
tionierte dieses Ding? O ja, ich weiß es noch. Es handelte sich um einen aufgedonnerten Sauerstoff-AzetylenBrenner, in den verschiedene Chemikalien eingespritzt vvurden, um die schönsten Flammen zu erzeugen. Ich muß erwähnen, daß das Studio ab Episode 50 - >Tod auf Deimos< - von Schwarz-weiß auf Farbe übergegangen vvar und sich dadurch neue künstlerische Möglichkeiten eröffneten. Indem man Kupfer, Strontium oder Barium in
die Flamme sprühte, erhielt man jede gewünschte Farbe. Falls Sie annehmen, daß der Regisseur jetzt zufrieden war, kennen Sie Hollywood nicht. Vielleicht lachen ein paar Zyniker immer noch, wenn das Motto >Ars Gratia Artis< auf dem Bildschirm erscheint, aber diese Einstel lung ist ungerecht. Hätten vorsintflutliche Fossile wie Michelangelo, Rembrandt oder Tizian so viel Zeit, Mühe und Geld in das Streben nach Vollkommenheit investiert wie Pandemix Productions? Ich glaube nicht. !ch will nicht behaupten, daß ich mich an alle Marks er innere, die Solly und sein Freund während der Serie er fanden. Es gab einen, der farbige Rauchringe ausstieß. Es gab den Hochfrequenzgenerator, der ungeheure, aber harmlose Funkenkaskaden erzeugte. Es gab einen be sonders geglückten gekrümmten Strahl - ein Wasserstrahl, in dessen Innerem Licht reflektiert wurde, und der im Finstern sehr beeindruckend war. Und dann gab es schließlich Mark 12.« »Mark 13«, stellte Mr. Blumberg richtig. »Natürlich - wie dumm von mir! Es konnte ja keine andere Zahl sein. Mark 13 war nicht eigentlich eine Handfeuerwaffe - obwohl einige seiner Vorgänger nur mit sehr viel Phantasie als Handfeuerwaffen bezeichnet werden konnten. Es war die teuflische Erfindung, die auf Phobos aufgestellt werden sollte, um die Erde zu unterjo chen. Obwohl Solly mir einmal die wissenschaftlichen Grundlagen des Mark 13 erklärt hat, habe ich sie in mei ner Einfalt wieder vergessen . . . Wie könnte ich mich 57
auch mit den Genies messen, die >Captain Zoom< ge schaffen haben? Ich kann nur berichten, was der Strahl bewirken sollte, aber nicht, wie er es schaffte. Er sollte in der Atmosphäre unseres unglücklichen Planeten eine Kettenreaktion auslösen, durch die der Stickstoff und der Sauerstoff in der Luft eine Verbindung eingingen, die für das Leben auf der Erde verheerende Folgen hätte. Ich weiß nicht, ob ich es begrüßen oder bedauern soll, daß Solly alle Details des legendären Mark 13 seinem be gabten Assistenten überließ. Obwohl ich ihn eingehend befragt habe, kann er mir nur sagen, daß das Ding etwa zwei Meter hoch war und wie eine Kreuzung zwischen dem Fünf-Meter-Teleskop und einem Flakgeschütz aus sah. Das bringt uns auch nicht weiter, nicht wahr? Er behauptet auch, daß das Mordsding eine Menge Ra dioröhren sowie einen unglaublich großen Magneten enthielt. Auf jeden Fall sollte es einen beeindruckenden, aber harmlosen elektrischen Lichtbogen erzeugen, der durch Magneten zu allen möglichen interessanten For men verzerrt werden konnte. Das behauptete jedenfalls der Erfinder, und trotz allem, was inzwischen eingetreten ist, gibt es keinen Grund, warum wir ihm nicht glauben sollten. Durch einen jener unglücklichen Zufälle, die sich nachher als Glücksfall erweisen, befand sich Solly nicht im Studio, als sie Mark 13 ausprobierten. Zu seinem gro ßen Ärger mußte er an diesem Tag etwas in Mexiko erle digen. Und das war wirklich dein Glück, Solly! Er erwar tete am Nachmittag ein Ferngespräch von einem seiner Freunde, aber als die Verbindung schließlich zustande kam, lautete die Nachricht ganz anders, als er gedacht hatte. Mark 13 war, um es vorsichtig auszudrücken, ein voller Erfolg. Niemand wußte genau, was geschehen war, aber nur durch ein Wunder gab es keine Todesopfer, und der Feuerwehr war es gelungen, die benachbarten Studios zu 58
retten. Es war unglaublich, aber die Tatsachen waren nicht zu leugnen. Mark 13 hätte einen Schein-Todes strahl produzieren sollen - und erzeugte statt dessen ei nen echten. Der Projektor hatte etwas ausgestrahlt, das die Wand des Studios durchbohrte, als wäre sie gar nicht vorhanden. Einen Augenblick später war sie tatsächlich nicht mehr vorhanden. An ihrer Stelle befand sich ein großes Loch, das an den Rändern zu glimmen begann. Und dann stürzte das Dach ein . . . Solange Solly das FBI nicht davon überzeugen kann, daß es sich um einen Irrtum handelt, ist es besser, wenn
er das Gebiet der USA meidet. Das Pentagon und die Atombehörde befassen sich jetzt noch mit dem Trüm merhaufen. Was hättet ihr an Sollys Statt getan? Er war unschuldig, aber wie konnte er es beweisen? Vielleicht wäre er den noch zurückgekehrt und hätte die Suppe ausgelöffelt, wenn er sich nicht daran erinnert hätte, daß er 1948 einen Mann angestellt hatte, der Propaganda für Henry Wallace machte. Das hätte er kaum erklären können. Außerdem hatte Solly allmählich genug von Captain Zoom. Deshalb steht er jetzt hier. Kennt jemand von euch eine englische Filmfirma, die Verwendung für ihn hat? Aber bitte nur historische Filme. Die modernste Waffe, auf die er sich einlassen würde, ist die Armbrust.«
60
Kritische Masse
H a b e ich euch jemals erzählt«, erkundigte sich Harry Purvis bescheiden, »wie ich die Evakuierung von Süd england verhinderte?«
»Nein«, antwortete Charles Willis, »oder ich habe es verschlafen.« »Also schön«, fuhr Harry fort, sobald sich eine seiner Meinung nach ausreichende Zuhörerschaft um ihn ver sammelt hatte. »Es geschah vor zwei Jahren im Kernfor schungsinstitut in der Nähe von Clobham. Ihr kennt na türlich alle den Ort. Aber ich habe nie erwähnt, daß ich eine Zeitlang dort gearbeitet habe, und zwar an einem Spezialprojekt, über das ich nicht sprechen kann.« »Das wäre wirklich einmal eine Abwechslung«, warf
John Wyndham ein, jedoch ohne den geringsten Erfolg. »Es war an einem Samstagnachmittag«, begann Harry. »Ein schöner Spätfrühlingstag. Wir sechs Wissenschaftler befanden uns in der Bar des >Schwarzen Schwan<; die Fenster standen offen, so daß wir über die Hänge von Colbham Hill hinweg bis zu dem dreißig Meilen entfern ten Upchester sehen konnten. Es war ein so klarer Tag, daß wir sogar die beiden Türme der Kathedrale von Upchester am Horizont ausmachen konnten. Man hätte sich keinen friedlicheren Tag vorstellen können. Die Einheimischen vertrugen sich recht gut mit den Angestellten des Instituts, obwohl sie zunächst nicht sehr glücklich darüber gewesen waren, daß wir Wand an
Wand mit ihnen lebten. Abgesehen davon, daß ihnen unsere Tätigkeit suspekt war, nahmen sie an, daß Wis senschaftler eine eigene Rasse sind, die keine menschli
chen Interessen an den Tag legt. Nachdem wir sie ein 61
paarmal beim Wurfpfeilwerfen geschlagen und ihnen et liche Drinks spendiert hatten, änderten sie ihre Meinung. Aber sie nahmen uns immer noch gern auf den Arm und erkundigten sich immer vvieder, was wir als nächstes in die Luft jagen würden. An diesem Nachmittag hätten eigentlich mehr Leute von uns anwesend sein sollen, aber in der Abteilung für Radioisotopen mußte eine dringende Arbeit zu Ende ge führt werden, und deshalb waren wir nicht in voller Stärke aufmarschiert. Stanley Chambers, der Wirt, be merkte, daß etliche vertraute Gesichter fehlten. >Was ist Ihren Kollegen zugestoßen?< fragte er Dr. Fench, meinen Boß. >Sie haben noch in der Fabrik zu tun<, antwortete Fench - wir bezeichneten das Institut immer als >Fabrik<, damit es gemütlicher und nicht so schreckenerregend klang. >Wir mußten etwas möglichst rasch auslassen. Sie werden aber nachkommen.< >Eines Tages<, verkündete Stan streng, >werden Sie und Ihre Freunde etwas auslassen, das Sie nicht wieder einfangen können. Und wo werden wir alle dann sein?< >Auf halbem Weg zum Mond<, antwortete Dr. Fench. Es war sicherlich eine leichtfertige Antwort, aber bei dummen Fragen verlor er immer die Geduld. Stan Chambers schaute zum Fenster hinaus, als ob er abschätzen wolle, wie weit der Hügel ihn vor Clobham abschirmte. Wahrscheinlich rechnete er sich aus, ob er noch Zeit haben würde, den Keller zu erreichen - oder ob es überhaupt keinen Sinn hatte, es zu versuchen. >Wegen dieser - Isotopen -, die Sie in die Klinik schik ken<, bemerkte jemand nachdenklich. >Ich suchte letzte Woche das St. Thomas Hospital auf und sah, wie sie in einem mindestens eine Tonne schweren Bleibehälter transportiert wurden. Es überlief mich kalt, als ich mir vorstellte, was geschehen würde, wenn jemand nicht sorgfältig genug damit umgeht.< 62
>Wir haben neulich berechnet<, erklärte Dr. Fench; der offensichtlich noch immer darüber verärgert war, daß man ihn beim Pfeilwerfen unterbrochen hatte, >daß sich in Clobham genügend Uran befindet, um die Nordsee zum Kochen zu bringen.< Das war natürlich eine dumme Feststellung, außerdem stimmte sie gar nicht. Aber ich konnte ja nicht gut mei nen Boß zurechtweisen, oder? Der Mann, der diese Frage gestellt hatte, saß in einer Fensternische, und ich bemerkte, daß er ängstlich die Straße entlangblickte. >Das Zeug wird auf Lastwagen abtransportiert, nicht wahr?< fragte er ziemlich beunruhigt. >Ja. Viele dieser Isotopen haben nur eine kurze Le bensdauer und müssen deshalb sofort geliefert werden.< >Dort hinten kommt ein Lastwagen den Hügel herun ter, der anscheinend Schwierigkeiten hat. Ist es vielleicht einer vom Institut?<
Alles vergaß die Wurfpfeile und stürzte zum Fenster. Als ich mich endlich nach vorn gedrängt hatte, sah ich ei nen großen, mit Kisten beladenen Lastwagen, der unge fähr eine Viertelmeile von uns entfernt den Hügel hinun
terraste. Von Zeit zu Zeit prallte er gegen eine der Hek ken: Es war klar, daß die Bremsen versagt hatten und der Lenker die Herrschaft über den Wagen verloren hatte. Zum Glück kam ihm nichts entgegen, sonst wäre ein scheußlicher Unfall unvermeidlich gewesen. Dann erreichte der Laster eine Kurve, kam von der Fahrbahn ab und brach durch die Hecke. Er wurde lang samer, rumpelte noch fünfzig Meter weiter und war bei nahe zum Stillstand gelangt, als er in einen Graben geriet und sich im Zeitlupentempo auf die Seite legte. Einige Sekunden danach hörten wir das Geräusch von split terndem Holz, und die Kisten rutschten auf den Bo den. >Das wär's<, seufzte jemand. >Er hat das einzig Richtige 63
getan, als er auf die Hecke zugehalten hat. Ich nehrrle an, daß er leicht geschockt, aber sonst unverletzt ist.< Und dann sahen wir etwas Verblüffendes. Die Tür des Führerhauses ging auf, und der Fahrer kletterte heraus. Sogar aus dieser Entfernung konnten wir erkennen, daß er sehr aufgeregt war - was unter diesen Umständen be greiflich war. Aber er setzte sich nicht hin, wie wir erwar tet hatten. Im Gegenteil: Er gab sofort Fersengeld und rannte über das Feld, als wäre der Teufel hinter ihm her. Wir sahen mit offenem Mund und immer größerer Be sorgnis zu, wie er den Hügel hinunter verschwand. In der Bar herrschte unheimliche Stille, nur die Uhr, die immer zehn Minuten vorgeht, tickte. Dann fragte je mand: >Glauben Sie, daß wir hierbleiben sollen? Ich meine - es ist ja nur eine halbe Meile .. .< Langsam wichen die Leute vom Fenster zurück. Dann lachte Dr. French nervös auf. >Wir wissen nicht einmal, ob es einer unserer Lastwa gen ist. Auf jeden Fall habe ich Sie vorhin auf den Arm genommen. Es ist vollkommen unmöglich, daß dieses Zeug explodiert. Der Fahrer hat einfach Angst, daß sein Tank in Brand gerät.< >Wirklich?< fragte Stan. >Warum läuft er dann immer noch? Er hat den Hügel schon beinahe hinter sich.< >Ich weiß es<, mischte sich Charlie Evan von der Gerä teabteilung an. >Er hat Sprengstoff geladen und fürchtet, daß er in die Luft fliegt.< Das konnte ich nicht akzeptieren. >Weit und breit ist kein Feuer, wovor hat er also Angst? Und wenn er Sprengstoff geladen hätte, müßte der Wagen mit einer roten Fahne oder auch etwas Ähnlichem gekennzeichnet sein.< >Wartet einen Augenblick<, sagte Stan. >Ich hole mei nen Feldstecher.< Niemand rührte sich, bis er zurückkam; das heißt, nie mand mit Ausnahme der winzigen Gestalt am Ende des 65
Hügels, die jetzt in unverändertem Tempo im Wald ver schwand. Stan starrte eine Ewigkeit durch den Feldstecher. Schließlich ließ er ihn enttäuscht sinken. >Ich kann nicht viel ausmachen. Der Wagen ist auf die gegenüberliegende Seite gefallen. Die Kisten sind überall verstreut - ein paar sind aufgesprungen. Versuchen Sie
mal, ob Sie etwas erkennen können!< French starrte lange hindurch, dann reichte er mir den Feldstecher. Es handelte sich um ein altmodisches, nicht sehr leistungsstarkes Modell. Einen Augenblick lang glaubte ich, einen merkwürdigen Dunst um einige Kisten zu bemerken - aber das war natürlich Unsinn. Ich schrieb es den alten Linsen zu. Damit wäre wahrscheinlich die ganze Geschichte im Sand verlaufen, wenn nicht die Radfahrer aufgetaucht wären. Sie quälten sich auf einem Tandem den Hügel hinauf, und als sie das frische Loch in der Hecke erreich ten, stiegen sie ab, um nachzusehen. Man konnte den Lastwagen von der Straße aus sehen, und sie näherten sich ihm Hand in Hand; das Mädchen war offensichtlich ängstlich, und der Mann erklärte ihr, sie solle nicht so nervös sein. Wir konnten uns ihr Gespräch genau vor stellen: Es war beinahe rührend. Doch das blieb nicht lange so. Sie kamen bis auf we nige Meter an den Lastwagen heran - und dann liefen sie mit unglaublicher Geschwindigkeit in verschiedene Rich tungen davon. Keiner sah sich nach dem anderen um, und sie rannten, wie ich bemerkte, auf sehr merkwürdige Art. Stan, der seinen Feldstecher wieder an sich genommen hatte, setzte ihn mit zitternden Händen ab. >Holt den Wagen!< befahl er. >Aber .. .<, begann Dr. French. Stan brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. >Ihr verdammten Wissenschaftler!< sagte er, während er die 66
Kasse zuschlug und versperrte (sogar in einem solthen Augenblick dachte er an seine Pflicht). >Ich wußte ja, daß ihr es früher oder später schaffen würdet.< Dann war er fort, und die meisten seiner Freunde mit ihm. Sie boten uns nicht an, uns mitzunehmen. >Das ist einfach lächerlich!< schimpfte French. >Bevor wir überhaupt wissen, was geschehen ist, werden diese Narren eine Panik auslösen und hier wird die Hölle aus brechen.< Ich wußte, was er meinte. Jemand würde die Polizei verständigen: der Verkehr würde umgeleitet werden; die Telefonleitungen würden durch Gespräche blockiert sein - wie bei dem blinden Alarm, den Orson Welles 1938 mit >Krieg der Welten< ausgelöst hatte. Vielleicht finden Sie, daß ich übertreibe, aber man darf das Ausmaß einer Pa nik nie unterschätzen. Und ich habe ja erwähnt, daß die Leute vor unserem Institut Angst hatten und beinahe darauf warteten, daß so etwas eintrat. Außerdem fühlten wir uns in diesem Augenblick kei neswegs behaglich. Wir konnten uns beim besten Willen nicht vorstellen, was mit dem Lastwagen los war, und für einen Wissenschaftler gibt es nichts Schlimmeres, als vor einem Rätsel zu stehen. Inzwischen hatte ich mir Stans Feldstecher wieder ge schnappt und musterte das Wrack sorgfältig. Dabei be gann ich, im Geist eine Theorie zu entwickeln. Um die Kisten gab es eine Art von Aura. Ich starrte, bis meine Augen brannten, dann sagte ich zu Dr. French: >Ich glau be, ich weiß, worum es sich handelt. Rufen Sie das Post amt in Clobham an und versuchen Sie, Stan zu stoppen oder zumindest daran zu hindern, daß er Gerüchte ver breitet! Sagen Sie, daß wir alles unter Kontrolle haben und daß kein Grund zur Besorgnis besteht! Während Sie das tun, gehe ich zum Lastwagen hinüber und teste meine Theorie.< Zu meinem Bedauern muß ich zugeben, daß niemand 67
sich erbot, mich zu begleiten. Obwohl ich mich sehr zu versichtlich auf den Weg machte, wurde ich im Lauf der Zeit unsicher. Ich erinnerte mich an einen Zwischenfall, den ich immer für einen der bittersten Scherze der Welt geschichte gehalten habe, und fragte mich, ob hier nicht vielleicht etwas Ähnliches im Gang war. Im Fernen Osten gab es eine vulkanische Insel, auf der etwa fünfzig tausend Menschen lebten. Niemand machte sich wegen des Vulkans Sorgen, der seit etwa hundert Jahren nicht mehr aktiv war. Dann setzten eines Tages Ausbrüche ein. Zuerst waren sie unbedeutend, wurden aber stündlich heftiger. Die Menschen gerieten in Panik und versuch ten, sich in die wenigen Boote im Hafen zu drängen, um auf ihnen das Festland zu erreichen. Das Kommando auf der Insel führte ein Offizier, der entschlossen war, die Ordnung um jeden Preis aufrecht zuerhalten. Er ließ bekanntmachen, daß überhaupt keine Gefahr bestünde, und die Schiffe von Soldaten besetzen, damit es nicht zu Verlusten an Menschenleben kam, in dem die Leute versuchten, die Insel auf überladenen Boo ten zu verlassen. Die Macht seiner Persönlichkeit war so groß und sein Mut beispielhaft, daß er die Menge beru higte und die Flüchtlinge beschämt in ihre Häuser zu rückkehrten, wo sie darauf warteten, daß die Lage sich wieder normalisierte. Als der Vulkan einige Stunden später in die Luft flog und die gesamte Insel mit sich riß, gab es daher über haupt keine Überlebenden. Als ich mich dem Lastwagen näherte, sah ich mich selbst in der Rolle des irregeleiteten Kommandanten. Es gibt schließlich Zeiten, in denen man der Gefahr die Stirn bieten muß, und andere, in denen es am vernünftigsten ist, wenn man sich aus dem Staub macht. Aber jetzt war es zu spät zum Umkehren, und ich war meiner Theorie ziemlich sicher.« »Ich weiß«, unterbrach ihn George Whitley, der im 68
mer versucht, Harry seine Pointe zu stehlen, »es war Gas.« Harry ließ sich nicht im geringsten erschüttern. »Das ist wirklich genial von dir. Genau das nahm ich ebenfalls an, was nur beweist, daß jeder von uns gele gentlich ein Idiot sein kann. Als ich mich etwa fünfzehn Meter vor dem Lastwagen befand, blieb ich abrupt stehen, und obwohl der Tag sehr warm war, überlief mich ein sehr unangenehmes Frö steln. Denn ich sah etwas, das meine Gas-Theorie wider
legte. Eine schwarze, krabbelnde Masse wand sich über eine der Kisten. Einen Augenblick lang versuchte ich, mir ein zureden, daß es sich um eine dunkle Flüssigkeit handelte, die aus einem zerbrochenen Behälter quoll. Aber es ge hört zu den allgemein bekannten Eigenschaften von Flüssigkeiten, daß sie sich nicht über die Schwerkraft hinwegsetzen können. Das Ding tat jedoch genau das, und außerdem war es eindeutig lebendig. Von meinem Standplatz aus sah es aus wie der Scheinfuß einer riesi gen Amöbe, denn es veränderte dauernd seine Form und Dichte und schwankte auf der Kiste hin und her. Innerhalb der nächsten Sekunden fielen mir etliche phantastische Erklärungen ein, die Edgar Allan Poe Ehre gemacht hätten. Dann erinnerte ich mich an meine Pflicht als Staatsbürger und an meinen Stolz als Wissenschaftler und ging weiter, allerdings nicht allzu rasch. Ich schnüffelte vorsichtig, als dächte ich immer noch an Gas. Doch meine Ohren, nicht meine Nase, führten mich auf die richtige Spur, während das Geräusch der düste ren, brodelnden Masse um mich anschwoll. Ich hatte die ses Geräusch schon millionenmal gehört, aber noch nie so laut. Ich setzte mich - allerdings in gebührender Ent fernung - hin und lachte, bis mir die Tränen kamen. Dann stand ich auf und kehrte zum Pub zurück. >Nun<, fragte Dr. French aufgeregt, >was ist es? Wir ha 69
ben Stan am Apparat - wir haben ihn gerade noch er wischt. Aber er will erst zurückkommen, wenn er weiß, was ihn erwartet.< >Dann beauftragen Sie Stan, den örtlichen Imker auf zutreiben und gleich mitzunehmen. Hier gibt es jede Menge Arbeit für ihn.< >Den örtlichen was?< fragte French. Dann starrte er mich an. >Mein Gott, Sie wollen doch nicht sagen . . . ? < >Genau<, antwortete ich, während ich hinter die Bar schlenderte, um nachzusehen, ob Stan vielleicht beson ders interessante Flaschen vor uns versteckt hatte. >Sie beruhigen sich langsam, aber sie sind wahrscheinlich immer noch ganz schön gereizt. Ich habe sie nicht ge zählt, aber ich schätze, daß dort unten ungefähr eine halbe Million Bienen versucht, in ihre zerborstenen Bie nenstöcke zurückzugelangen.<«
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Die elementare Melodie
Haben Sie jemals folgendes beobachtet: Wenn zwanzig oder dreißig Menschen in einem Raum gleichzeitig reden,
gibt es ab und zu einen Augenblick, in dem alle plötzlich schweigen, so daß eine Sekunde lang eine unvermittelte, vibrierende Stille herrscht, die alle Geräusche zu schluk ken scheint. Ich weiß nicht, wie andere Menschen darauf reagieren, aber mich fröstelt jedesmal. Natürlich wird das Ganze ausschließlich durch das Gesetz der Wahrschein lichkeit verursacht, aber ich halte es doch für mehr als ein zufälliges Zusammentreffen von Gesprächspausen. Es ist beinahe, als würden alle lauschen - sie wissen nur nicht, was sie hören wollen. In solchen Augenblicken sage ich mir: Doch hinter mir, und nicht mehr weit, Naht der geflügelte Wagen der Zeit . . . Dieses Gefühl erweckt es bei mir, ganz gleich, wie lu stig die Gesellschaft ist, in der ich mich befinde. Ja sogar im >Weißen Hirschen<. So war es auch an einem Mittwoch, als das Lokal nicht ganz so überfüllt war wie sonst. Die Stille trat völlig un erwartet ein, wie immer. Dann versuchte Charlie Willis offensichtlich, das bedrückende, gespannte Gefühl zu vertreiben, und begann, den letzten Schlager zu pfeifen. Ich weiß nicht einmal mehr, was es war. Ich erinnere mich nur, daß er der Aufhänger für eine der unange nehmsten Geschichten war, die Harry Purvis je erzählte. »Charlie«, begann er ganz ruhig, »diese verdammte Melodie macht mich verrückt. Jedesmal, wenn ich ver gangene Woche das Radio eingeschaltet habe, habe ich sie gehört.« 71
John Christopher schniefte. »Du solltest das Dritte Programm einstellen. Dann wärst du sicher davor.« »Es gibt Leute«, entgegnete Harry, »die für eine Dauer berieselung mit elisabethanischen Madrigalen nichts üb rig haben. Aber wir wollen um Himmels willen nicht dar über streiten. Ist euch jemals eingefallen, daß Schlagerme lodien etwas Elementares an sich haben?« »Wie meinst du das?« »Sie tauchen aus dem Nichts auf, und dann summt sie wochenlang jeder, genau wie Charlie. Die Ohrwürmer unter ihnen packen einen so gründlich, daß man sie nicht mehr aus dem Kopf kriegt - man hat sie tagelang im Ohr. Und dann verschwinden sie ebenso plötzlich wieder.« »Ich verstehe dich«, sagte Art Vincent. »Es gibt Melo dien, die einen kaltlassen, aber andere lassen sich nicht abbeuteln.« »Genau! Ich wurde das Hauptthema aus dem Finale der zweiten Symphonie von Sibelius eine Woche lang nicht los - es verfolgte mich sogar bis in den Schlaf. Oder die Melodie aus dem >Dritten Mann< -da di da di daa, dida, didaa ... ihr wißt ja, wie sie sich ausgewirkt hat.« Harry mußte einen Augenblick lang warten, bis seine Zuhörer aufhörten, eine Zither nachzuahmen. Als das letzte »Plim« verklungen war, fuhr er fort: »Na also, euch allen ist es schon einmal so ergangen. Was haben diese Melodien aber an sich, daß sie so wir ken? Manche von ihnen gehören zur klassischen Musik, andere sind banaler Kitsch, aber sie haben sichtlich etwas gemeinsam.« »Also los«, seufzte Charlie, »wir warten auf die Erklä rung!« »Ich weiß die Antwort nicht«, antwortete Harry. »Und ich will sie auch gar nicht wissen. Denn ich kenne einen Mann, der sie gefunden hat.« Jemand reichte ihm automatisch ein Bier, damit der Fluß seiner Erzählung später nicht unterbrochen wurde. 72
Eine Menge Leute ärgerten sich jedesmal, wenn er eine Pause machte, um sein Glas nachfüllen zu lassen. »lch weiß nicht«, begann Harry, »warum viele Wissen schaftler Interesse an Musik haben, aber es ist eine unwi derlegbare Tatsache, Ich kenne etliche große Laboratori en, die eigene Amateur-Symphonieorchester haben, dar unter sogar ein paar sehr gute. Bei den Mathematikern kann man sich diese Neigung leichter erklären: Die Mu sik, vor allem die klassische, wirkt manchmal beinahe mathematisch. Dazu kommt natürlich auch noch die ihr zugrundeliegende Theorie - harmonische Beziehungen, Wellenanalyse, Frequenzverteilung, und so weiter. Es ist ein faszinierendes Studium, das sich vor allem an den mathematischen Verstand wendet. Außerdem schließt es entgegen der allgemeinen Ansicht keineswegs den rein ästhetischen Musikgenuß um seiner selbst willen aus. Dennoch muß ich zugeben, daß Gilbert Listers Inter esse an der Musik rein verstandesmäßig war. Er war in erster Linie Physiologe und auf das Studium des Gehirns spezialisiert. Er konnte >Alexander's Ragtime Band< und die Choralsymphonie nicht voneinander unterscheiden. Außerdem interessierte ihn nicht der Klang an sich, son dern nur seine Wirkung auf das Gehirn, sobald er durch das Ohr soweit vorgedrungen ist. In einer so gebildeten Gesellschaft wie der hier anwe senden«, sagte Harry mit einem Unterton, der deutlich beleidigend wirkte, »wird wohl jedem bewußt sein, daß ein Großteil der Gehirntätigkeit elektrisch bedingt ist. Es gibt in diesem Organ ständige, gleichmäßige, rhythmi sche Impulse, die mit modernen Instrumenten registriert und analysiert werden können. Das war Gilbert Listers
Arbeitsgebiet. Er klebte dir Elektroden auf den Skalp, und seine Verstärker zeichneten die Gehirnwellen auf meterlange Papierstreifen auf. Dann untersuchte er die Streifen und erzählte dir allerhand Interessantes über dich. Letztlich, behauptete er, würde es möglich sein, je 73
den Menschen aufgrund seines Enzephalogramms zu identifizieren, und zwar eindeutiger als aufgrund seiner Fingerabdrücke. Ein Mensch kann von einem Chirurgen Hauttransplantationen auf den Fingerkuppen vorneh men lassen, aber falls man einmal imstande sein sollte, das Gehirn chirurgisch zu verändern - na ja, dann ver wandelt man sich ohnehin in einen anderen Menschen, also stimmt das System noch immer. Während Gilbert die Alpha-, Beta- und andere Wellen im Gehirn studierte, erwachte sein Interesse für Musik. Er war davon überzeugt, daß eine Verbindung zwischen Musik- und Gehirnrhythmen bestand. Er spielte seinen Versuchsobjekten Musik in verschiedenen Tempi vor und beobachtete die Wirkung auf die normalen Gehirn frequenzen. Wie erwartet, war der Niederschlag beacht lich, und Gilberts Entdeckungen führten ihn auf das Ge biet der Philosophie. Ich sprach ein einziges Mal über seine Theorien mit ihm. Er war keineswegs zurückhaltend - dabei fällt mir ein, daß ich überhaupt keinen zurückhaltenden Wissen schaftler kenne -, aber er sprach nicht gern über seine Arbeit, bevor er wußte, welche Resultate sie zeitigen würde. Dennoch genügten seine Andeutungen, um zu erkennen, daß er ein sehr interessantes neues Studienge biet erschlossen hatte, und daraufhin bemühte ich mich, mit ihm in Verbindung zu bleiben. Meine Firma lieferte einen Teil seiner Apparate, aber ich hatte nichts dagegen, nebenher etwas Geld zu verdienen. Falls Gilbert seine Idee verwirklichen konnte, würde er einen Geschäftsfüh rer brauchen ... Denn Gilbert versuchte, die Theorie der Schlager wis senschaftlich zu untermauern. Natürlich dachte er nicht an ein Geschäft: Für ihn war es ein Forschungsprojekt wie viele andere, und er hatte nur vor, einen Artikel über das Ergebnis in den Proceedings of the Physical Society zu veröffentlichen. Ich entdeckte jedoch sofort die finan 74
ziellen Möglichkeiten, die wirklich atemberaubend vva ren. Gilbert war davon überzeugt, daß eine berühmte Me lodie oder ein erfolgreicher Schlager den Geist deshalb
beeindrucken, weil sie irgendwie zu den wesentlichen elektrischen Rhythmen im Gehirn passen. Er stellte fol genden Vergleich an: >Es ist so, als würde man einen Si cherheitsschlüssel in ein Sicherheitsschloß stecken - die beiden Zähnungsmuster müssen zusammenpassen, be vor sich etwas tut.< Er nahm das Problem von zwei Seiten gleichzeitig in Angriff. Zunächst analysierte er den Aufbau von hundert wirklich berühmten Melodien der klassischen Musik und der Popmusik - ihre Morphologie, wie er es nannte. Dies geschah automatisch in einem großen Harmonieanalysa tor, der alle Frequenzen aussortierte. Natürlich war es in Wirklichkeit viel komplizierter, aber ich wollte euch nur eine ungefähre Vorstellung davon vermitteln. Gleichzeitig versuchte er herauszubekommen, wie die Wellenmuster zu den natürlichen elektrischen Phänome nen des Gehirns paßten. Denn Gilbert hatte die Theorie aufgestellt - und hier geraten wir ins philosophische Fahrwasser -, daß alle existierenden Melodien nur unge fähre Annäherungen an eine elementare Melodie sind. Die Musiker hatten unbewußt jahrhundertelang nach ihr gesucht, aber erfolglos, denn sie hatten keine Ahnung von der Beziehung zwischen Musik und Geist. Nachdem er jetzt diese Beziehung aufgedeckt hatte, sollte es mög lich sein, die elementare Melodie zu entdecken.« »Ach«, unterbrach ihn John Christopher, »du wärmst ja nur Platos Theorie von den Idealen auf. Du weißt ja alle Gegenstände unserer materiellen Welt sind nur un gefähre Kopien des idealen Stuhls oder Tisches oder was immer. Dein Freund war also auf die ideale Melodie aus. Und hat er sie gefunden?« »Das erzähle ich ja gerade«, wies ihn Harry unbeirrt 75
zurecht. »Gilbert brauchte ungefähr ein Jahr, bis er mit seiner Analyse fertig war, und dann begann er mit der Synthese. Um es vereinfacht auszudrücken: Er baute eine Maschine, die aufgrund der von ihm entdeckten Gesetze automatisch Klangmuster entwarf. Er verfügte über Rei hen von Oszillatoren und Mischpulten - er hatte unter anderem eine elektronische Orgel für seinen Apparat umgebaut -, die von seiner komponierenden Maschine gesteuert wurden. Kindlich, wie Wissenschaftler nun einmal sind, hatte Gilbert seinen Apparat Ludwig ge tauft. Vielleicht könnt ihr Ludwigs Wirkungsweise besser verstehen, wenn ihr ihn euch als eine Art Kaleidoskop vorstellt, das mit Klängen statt mit Licht arbeitet. Aber er war ein gewissen Gesetzen unterworfenes Kaleidoskop, und diese Gesetze - das nahm Gilbert jedenfalls an - be ruhten auf der grundlegenden Struktur des menschli chen Gehirns. Falls Gilbert die richtige Einstellung schaffte, mußte Ludwig früher oder später, während er alle möglichen Musikmuster durchspielte, die elementare Melodie finden. Ich hatte einmal Gelegenheit, Ludwig bei der Arbeit zu hören, und es war unheimlich. Der Apparat war das übli che schwer zu beschreibende Durcheinander von elek tronischen Bestandteilen, das man in jedem Labor an trifft: es hätte genausogut eine Computerimitation, ein Radarsichtgerät, ein Verkehrsüberwachungsgerät oder ein Scheinradio sein können. Es fiel mir sehr schwer zu glauben, daß er alle Komponisten der Welt arbeitslos ma chen würde, falls es funktionierte. Würde er es wirklich zustandebringen? Vielleicht doch nicht: Ludwig würde möglicherweise nur das Rohmaterial liefern können, und die Melodie müßte immer noch orchestriert werden. Dann begannen Klänge aus dem Lautsprecher zu kommen. Zuerst hatte ich den Eindruck, daß ich den Fin gerübungen eines genauen, aber vollkommen untalen 76
tierten Schülers zuhörte. Die meisten Themen waren'rest los banal: Die Maschine spielte eines, probierte dann Takt um Takt alle möglichen Variationen durch und ging zum nächsten über. Gelegentlich tauchte eine wirklich aus drucksvolle Phrase auf, aber im großen ganzen war ich keinesfalls begeistert. Gilbert erklärte mir jedoch, daß es sich nur um eine probeweise Inbetriebnahme handle und daß der HauptStromkreis noch nicht angeschlossen sei. Sobald das ge schehen war, würde Ludwig viel selektiver vorgehen: Im Augenblick spielte er alles, was ihm einfiel - er besaß kein
Unterscheidungsvermögen. Wenn er jedoch erst darüber verfügte, gab es unendlich viele Möglichkeiten. Damals sah ich Gilbert Lister zum letztenmal. Ich wollte ihn etwa eine Woche später im Labor aufsuchen, weil ich annahm, daß er bis dahin wesentliche Fort schritte gemacht haben würde. Zufällig kam ich etwa eine Stunde zu spät, und das war mein Glück. Als ich eintraf, hatte man Gilbert gerade weggebracht. Sein Laborassistent, ein alter Mann, der seit Jahren für ihn arbeitete, saß verzweifelt und unglücklich vor Lud wigs rätselhaften Schaltungen. Ich brauchte lange, bis ich herausbekam, was geschehen war, und noch länger, bis ich die Erklärung gefunden hatte. Es stand zweifelsfrei fest, daß Ludwig endlich funktio niert hatte. Der Assistent war zum Mittagessen gegan gen, während Gilbert mit den letzten Feineinstellungen beschäftigt war, und als er eine Stunde später zurück kam, vibrierte das Labor unter einer sehr langen, sehr komplizierten melodischen Phrase. Entweder hatte die Maschine automatisch bei diesem Punkt angehalten, oder Gilbert hatte auf WIEDERHOLUNG geschaltet. Jeden falls hatte er sich die gleiche Melodie mindestens hun dertrnal angehört. Als sein Assistent ihn fand, schien er sich in einem Trancezustand zu befinden. Seine Augen standen offen, nahmen jedoch nichts wahr, seine Glieder 77
waren steif. Auch als Ludwig abgeschaltet wurde, än derte sich sein Zustand nicht. Gilbert war nicht mehr zu helfen. Was war geschehen? Es hätte uns wahrscheinlich ein fallen müssen, aber hinterher kann man leicht klug sein. Erinnert euch an das, was ich am Anfang sagte. Wenn ein Komponist, der ausschließlich nach einer Faustregel ar beitet, eine Melodie hervorbringen kann, die euren Ver stand tagelang gefangennimmt, dann stellt euch die Wir kung der elementaren Melodie vor, die Gilbert suchte. Falls es sie gibt - was ich übrigens nicht behaupte -, würde sie in den Gedächtnisschaltungen des Geistes eine Endlosschleife bilden. Sie würde immerfort den Kreis durchlaufen und alle anderen Gedanken auslöschen. Alle Melodien, die die Menschen aller Zeiten gequält ha ben, wären im Vergleich dazu Eintagsfliegen. Sobald sie in das Gehirn eingedrungen war und die kreisförmigen Wellen zerstört hatte, die die physikalischen Manifesta tionen des Bewußtseins sind, war das Ende gekommen. Und eben das ist Gilbert widerfahren. Sie haben Schocktherapie und alles mögliche versucht. Aber alles hat keinen Zweck; das Verhaltensmuster ist eta bliert und kann nicht mehr gelöscht werden. Er nimmt die Außenwelt nicht mehr bewußt wahr und muß intra venös ernährt werden. Er bewegt sich nie, reagiert nicht auf äußere Stimuli, aber manchmal zuckt er angeblich, als würde er den Takt schlagen. Ich fürchte, daß keine Hoffnung mehr für ihn besteht. Ich weiß aber nicht, ob das etwas Schreckliches ist, oder ob wir ihn beneiden sollten. Vielleicht hat er in gewissem Sinn die letzte Wahrheit gefunden, von der Philosophen wie Plato stets sprechen. Ich weiß es wirklich nicht. Und manchmal frage ich mich sogar, wie diese teuflische Me lodie wirklich geklungen hat; ich habe beinahe den Wunsch, sie wenigstens einmal zu hören. Vielleicht wäre es sogar zu bewerkstelligen, ohne daß man sich in Gefahr 78
begibt: Ihr wißt ja, wie Odysseus dem Gesang der Sire nen lauschte und dennoch mit dem Leben davonkam. Aber jetzt ist es natürlich ausgeschlossen.« »Darauf habe ich nur gewartet«, sagte Charles Willis gehässig. »Ich nehme an, der Apparat ist in die Luft ge flogen, oder etwas Ähnliches, so daß es wie üblich keine Möglichkeit gibt, deine Geschichte nachzuprüfen.« Der Blick, den Harry ihm zuwarf, drückte aus, daß er nicht zornig, sondern nur betrübt war. »Der Apparat blieb völlig unbeschädigt«, stellte er streng fest. »Doch dann spielte sich etwas so Verrücktes ab, daß ich mir mein Leben lang deshalb Vorwürfe ma chen werde. Ich hatte mich nämlich so sehr für Gilberts Experiment interessiert, daß ich mich kaum mehr um die Angelegenheiten meiner Firma gekümmert hatte. Er war mit seinen Zahlungen beträchtlich in Rückstand geraten, und als die Buchhaltung erfuhr, was ihm zugestoßen war, handelte sie schnell. Ich war ein paar Tage geschäftlich unterwegs, und als ich zurückkehrte, war es bereits ge schehen. Sie hatten einen Gerichtsbeschluß erwirkt und ihr Eigentum beschlagnahmt. Das war natürlich nur möglich gewesen, indem sie Ludwig zerlegten: Als ich ihn wiedersah, war er ein Haufen nutzlosen Plunders. Und nur wegen ein paar lumpiger Pfund. Mir kamen die Tränen.« »Aber natürlich«, höhnte Eric Maine. »Nur hast du et was übersehen. Was war mit Gilberts Assistenten? Er betrat das Labor, während der Apparat auf vollen Touren lief. Warum hat es nicht auch ihn erwischt? Du läßt nach, mein guter Harry!« Harry leerte seelenruhig sein Glas und reichte es schweigend Drew. »Also wirklich! Soll das vielleicht ein Kreuzverhör sein? Ich erwähnte diesen Punkt nicht, weil ich ihn für unwich tig halte. Aber er erklärt, warum mir das Wesen dieser Melodie nie klar wurde. Gilberts Assistent war ein erst 80
klassiger Labortechniker, aber er hatte sich mit Ludwigs Feineinstellung nie so recht ausgekannt. Denn er ist voll kommen unmusikalisch. Er hört keinen Unterschied zwi schen der elementaren Melodie und Katzengeschrei.« Keiner von uns stellte weitere Fragen: Wir hatten an
scheinend alle das Bedürfnis, unseren Gedanken nach zuhängen. Es folgte eine lange, brütende Stille, bevor im >Weißen Hirschen< wieder das gewohnte Stimmenge wirr einsetzte. Und dann dauerte es noch volle zehn Mi nuten, bis Charlie wieder begann, >La Ronde< zu pfeifen.
81
Der Pazifist
An diesem Abend traf ich spät im >Weißen Hirschen< ein und stellte fest, daß alle Gäste sich in der Ecke unter der Wurfscheibe zusammendrängten. Ausgenommen Drew: Er hielt die Stellung, saß hinter der Bar und las die gesammelten Werke von T. S. Eliot. Er unterbrach seine Lektüre, um mir ein Bier in die Hand zu drücken und mir zu erklären, was los war. »Eric hat eine Art Spielmaschine mitgebracht - bis jetzt hat sie jeden geschlagen. Derzeit versucht gerade Sam sein Glück.« In diesem Augenblick verkündete lautes Gelächter, daß Sam genauso wenig Erfolg gehabt hatte wie seine Vorgänger, und ich drängte mich durch die Menge, um
die Maschine zu besichtigen. Auf dem Tisch lag eine flache Metallschachtel von der Größe eines Schachbretts, deren Oberseite in Quadrate unterteilt war. An der Ecke jedes Quadrats befanden sich ein Schalter und eine kleine Neonlampe: Das Ganze war an die Fassung der Glühbirne angeschlossen (deshalb lag die Wurfscheibe im Dunkeln), und Eric Rogers sah sich gerade nach einem neuen Opfer um. »Was kann das Ding denn alles?« fragte ich. »Es spielt eine Abart von Halma. Shannon zeigte es mir, als ich drüben in den Bell Labors arbeitete. Du mußt dir einen Weg von einer Seite des Bretts zur anderen von mir aus von Norden nach Süden - bahnen, indem du diese Schalter betätigst. Stell dir vor, daß die Felder ein Straßennetz darstellen und daß die Lämpchen Verkehrs ampeln sind. Du ziehst abwechselnd mit der Maschine. Die Maschine versucht, dich zu stoppen, indem sie das 82
Brett von Osten nach Westen überquert. Die kleinen Lämpchen leuchten auf, um anzuzeigen, wohin sie zie hen will. Keiner von euch muß eine gerade Linie einhal ten: Ihr könnt im Zick-Zack marschieren, wenn ihr wollt. Nur darf es keine Unterbrechung eurer Route geben, und der, der zuerst drüben ist, hat gewonnen.«
»Also wahrscheinlich die Maschine?« »Sie ist noch nie geschlagen worden.« »Kann man kein Unentschieden erzielen, indem man
sich der Maschine in den Weg stellt, damit man wenig stens nicht verliert?« »Das versuchen wir ja; willst du es auch einmal probie
ren?« Zwei Minuten später gehörte ich ebenfalls zu den er folglosen Herausforderern. Die Maschine war allen mei nen Hindernissen ausgewichen und hatte den OstWest-Parcours vollendet bewältigt. Ich war nicht davon
überzeugt, daß sie unschlagbar war, aber das Spiel war offensichtlich wesentlich komplizierter, als es auf den er sten Blick erschien. Als ich mich zurückzog, sah sich Eric in der Runde um.
Niemand schien Lust zu haben, es zu versuchen. »Ha!« sagte Eric plötzlich. »Da haben wir den richtigen
Mann. Was ist mit dir, Purvis? Du warst noch nicht dran.« Harry Purvis stand mit verträumtem Blick hinter der Menge. Als Eric sich an ihn wandte, kehrte er abrupt auf die Erde zurück, beantwortete die Frage aber nicht di
rekt. »Diese elektronischen Computer sind wirklich faszinie rend«, sinnierte er. »Wahrscheinlich sollte ich es euch nicht erzählen, aber dein Spielzeug erinnert mich an das Projekt Clausewitz. Eine merkwürdige Geschichte, die den amerikanischen Steuerzahler teuer zu stehen ge kommen ist.« »Hör mal«, unterbrach ihn John Wyndham besorgt.
83
»Sei kein Spielverderber, warte, bis unsere Gläser nach gefüllt sind. Drew!« Nachdem dieser wichtige Punkt erledigt war, versam melten wir uns um Harry. Nur Charlie Willies versuchte immer noch sein Glück bei der Maschine. »Wie ihr alle wißt«, begann Harry, »spielt auf militäri schem Gebiet die Wissenschaft heutzutage eine wichtige
Rolle. Die Waffen - Raketen, Atombomben und so weiter - sind nur ein Teil dieser Entwicklung, obwohl die öf fentlichkeit nur darüber Bescheid weiß. Meiner Meinung nach ist die Strategie-Forschung viel faszinierender. Sie hat viel mehr mit Intelligenz als mit roher Kraft zu tun. Einmal definierte sie jemand als die Methode, einen Krieg
zu gewinnen, ohne daß man kämpft, und das ist keine schlechte Formulierung. Ihr wißt alle über die großen elektronischen Computer Bescheid, die in den fünfziger Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. Die meisten sollten mathematische Pro bleme lösen, aber wenn ihr es euch richtig überlegt, er kennt ihr, daß der Krieg auch nichts anderes als ein ma thematisches Problem ist. Er ist so kompliziert, daß das menschliche Gehirn nicht damit fertig wird - es gibt viel zu viele Variablen. Nicht einmal der größte Stratege kann die Gesamtlage erfassen: die Hitlers und Napoleons be gehen schließlich einmal alle einen Fehler. Aber eine Maschine hat natürlich ganz andere Voraus setzungen. Nach dem Ende des Krieges wurde dies eini gen klugen Leuten klar. Die Techniken, die bei der Kon struktion von ENIAC und anderen großen Computern entwickelt worden waren, konnten die Strategie revolu tionieren. Daher das Projekt Clausewitz. Fragt mich nicht, wie ich davon erfahren habe, und verlangt auch nicht zu viele Details. Wichtig ist nur, daß elektronische Einrichtungen im Wert von ein paar Millionen Dollar gemeinsam mit den besten Wissenschaftlern der Vereinigten Staaten in 84
einer Höhle in den Hügeln von Kentucky verschwan'den. Dort befinden sie sich immer noch, aber die Dinge ent vvickelten sich leider nicht so, wie man eigentlich gehofft hatte. Ich weiß nicht, welche Erfahrungen ihr mit hochrangi gen Offizieren gemacht habt, aber es gibt einen Typ unter ihnen, den ihr alle aus Romanen kennt. Es handelt sich um den aufgeblasenen, konservativen, rückschrittlichen Karrieremacher, der nur durch den Druck von unten an die Spitze gelangt ist, ausschließlich nach Regeln und Vorschriften handelt und Zivilisten bestenfalls für übel gesonnene Neutrale hält. Ich will euch ein Geheimnis verraten: es gibt ihn wirklich. Er kommt heutzutage nicht mehr sehr häufig vor, aber er treibt sich noch herum, und manchmal ist es unmöglich, ihn auf einen Posten abzu schieben, auf dem er kein Unheil anrichten kann. In die sem Fall ist er sein Gewicht in Plutonium wert - für den Feind. So ein Typ war General Smith. Nein, natürlich heißt er nicht wirklich so. Sein Vater war Senator, und obwohl
sich eine Menge Leute im Pentagon alle Mühe gegeben hatten, verhinderte der Einfluß des alten Mannes, daß man den General mit einer harmlosen Tätigkeit betraute, zum Beispiel der Verteidigung der Küste von Wyoming. (Ein Binnenstaat im Nordwesten der USA.) Durch ein unglaubliches Mißgeschick war ihm die Leitung des Pro jekts Clausewitz übertragen worden. Natürlich war er nur für die administrative, nicht für die wissenschaftliche Seite zuständig. Noch hätte alles gut gehen können, wenn sich der General darauf be schränkt hätte, die Einhaltung der Grußvorschriften, den Strahlungskoeffizienten der Barackenfußböden und ähn liche Dinge zu überwachen, und die Wissenschaftler in Ruhe gelassen hätte. Leider tat er es nicht. Der General hatte ein behütetes Leben geführt. Er war ein Mann des Friedens gewesen - ausgenommen in sei 85
nem häuslichen Bereich. Er war noch nie zuvor mit Wis senschaftlern zusammengekommen, und der Schock war beträchtlich. Vielleicht ist es deshalb nicht fair, ihm die Alleinschuld für alles zuzuschieben, was dann geschah. Es dauerte eine geraume Weile, bevor ihm die Ziele und Absichten des Projekts Clausewitz klar wurden, und dann war er vollkommen verwirrt. Das führte wahr scheinlich dazu, daß er den Wissenschaftlern noch ab lehnender gegenüberstand, denn er war trotz allem nicht dumm. Er begriff sehr bald eines: Wenn das Projekt er folgreich verlief, würde es demnächst mehr Ex-Generäle geben, als alle Aufsichtsräte der amerikanischen Indu striekonzerne aufnehmen konnten. Aber vergessen wir den General für einen Augenblick und sehen wir uns die Wissenschaftler an. Sie waren ins gesamt etwa fünfzig, dazu kamen an die hundert Techni ker. Das FBI hatte alle sorgfältig überprüft, also war ver mutlich nicht mehr als ein halbes Dutzend von ihnen ak tive Mitglieder der kommunistischen Partei. Obwohl spä ter viel über Sabotage gesprochen wurde, waren diesmal die Genossen ausnahmsweise unschuldig. Außerdem handelte es sich bei den Ereignissen bestimmt nicht um Sabotage im herkömmlichen Sinn des Wortes. Der Mann, der den Computer entworfen hatte, war ein ruhiges, bescheidenes mathematisches Genie, das es aus dem College in die Hügel von Kentucky und in die Welt der Sicherheitsmaßnahmen und Prioritäten verschlagen hatte, bevor es wußte, wie ihm geschah. Er hieß nicht Dr. Milchtoast, aber der Name würde zu ihm passen, deshalb werde ich ihn so nennen. Natürlich darf ich Karl, unsere Hauptperson, nicht ver gessen. Zu diesem Zeitpunkt war Karl erst zur Hälfte fer tig. Wie alle großen Computer bestand er zu einem Groß teil aus umfangreichen Gedächtniseinheiten, die Infor mationen speichern und zum Abruf bereithalten konn ten. Der kreative Teil von Karls Gehirn - die Analysato 86
ren und Integratoren - verwendeten diese Inforrriatio nen, um die Antworten auf die gestellten Fragen zu ertei len. Wenn Karl über alle relevanten Fakten verfügte, gab er auch die richtigen Antworten. Das Problem bestand natürlich darin, Karl alle Fakten zur Verfügung zu stellen - er konnte keine richtigen Ergebnisse liefern, wenn er nur über ungenaue oder ungenügende Informationen verfügte. Dr. Milchtoast hatte die Aufgabe, Karls Gehirn zu ent werfen. Ja, ich weiß, daß es sich dabei um einen unreifen anthropomorphen Standpunkt handelt, aber niemand kann leugnen, daß diese großen Computer Persönlichkei ten sind. Ich kann es kaum genauer erklären, ohne schwerverständliche Fachausdrücke zu verwenden, des halb will ich es einmal so ausdrücken: der kleine Milch toast mußte die überaus komplizierten Schaltungen ent werfen, dank denen Karl so funktionieren würde, wie man es von ihm erwartete. Damit haben wir die drei Hauptdarsteller: General Smith, der sich nach der Zeit Custers (General aus den Indianerkriegen, der mit seiner Truppe von Sitting Bull in einen Hinterhalt gelockt und niedergemetzelt wurde) sehnte; Dr. Milchtoast, der sich in die faszinierenden wis senschaftlichen Probleme seiner Arbeit vertiefte; und Karl, fünfzig Tonnen elektronische Einrichtungen, den der elektrische Strom demnächst zum Leben erwecken würde. Demnächst - aber nicht bald genug für General Smith. Wir wollen mit dem General nicht zu hart ins Gericht ge hen: wahrscheinlich hatte ihn jemand unter Druck ge setzt, als deutlich wurde, daß das Projekt den Zeitplan nicht einhielt. Er ließ Dr. Milchtoast in sein Büro kom men. Das Gespräch dauerte über dreißig Minuten, und Milchtoast sagte dabei kaum dreißig Worte. Beinahe die ganze Zeit machte der General nachdrückliche Bemer 87
kungen über Produktionszeiten, Termine und Engpässe. Er schien anzunehmen, daß es keinen Unterschied aus machte, ob man Karl baute oder das neueste Fordmodell auf Fließband legte: in beiden Fällen ging es darum, daß man Teile zusammensetzte. Dr. Milchtoast war nicht der Typ, der einen solchen Irrtum richtigstellen konnte, selbst wenn ihm der General die Möglichkeit dazu gege ben hätte. Er verließ gekränkt das Zimmer, weil ihm himmelschreiendes Unrecht widerfahren war. Eine Woche später war klar, daß Karls Fertigstellung noch länger dauern würde. Milchtoast tat sein Bestes, und das war mehr, als jeder andere an seiner Stelle hätte tun können. Probleme, die so kompliziert waren, daß sie das Verständnis des Generals weit überschritten, mußten gelöst werden. Sie wurden auch einer Lösung zugeführt, aber das brauchte seine Zeit, und Zeit war knapp. Bei der ersten Unterredung hatte der General versucht, so freundlich zu sein, wie es ihm möglich war, und war daher nur grob gewesen. Diesmal versuchte er grob zu sein, und das Ergebnis überlasse ich eurer Phantasie. Er
gab zu verstehen, daß Milchtoast und seine Kollegen sich anti-amerikanischer Aktivitäten schuldig machten, wenn sie die Termine nicht einhielten. Damit löste er zwei Reaktionen aus. Die Beziehungen zwischen der Armee und den Wissenschaftlern wurden immer gespannter; und Dr. Milchtoast begann zum er stenmal, ernsthaft über die Folgen seiner Arbeit nachzu denken. Er war immer zu beschäftigt, zu sehr in die un mittelbaren Probleme seiner Aufgabe vertieft gewesen, um sich seiner sozialen Verantwortung bewußt zu wer den. Er war noch immer zu beschäftigt, aber das hinderte ihn nicht daran, seine Arbeit zu unterbrechen und Über legungen anzustellen. >Hier stehe ich<, sagte er sich, >ei ner der besten reinen Mathematiker der Welt - und was tue ich? Was ist aus meiner These über die diophantinen Gleichungen geworden? Wann werde ich mich wieder 88
mit dem Primzahlen-Theorem befassen können? Kurz, wann werde ich wieder wirklich arbeiten?< Er hätte seine Arbeit aufgeben können, aber das fiel ihm nicht ein. Immerhin steckte unter seinem sanften, schüchternen Äußeren ein ziemlich eigensinniger Kern. Dr. Milchtoast arbeitete noch intensiver als je zuvor. Karl näherte sich langsam, aber stetig seiner Vollendung; die letzten Anschlüsse in seinem aus Myriaden Zellen beste henden Gehirn wurden verlötet; die Tausende von Schaltkreisen wurden von den Technikern überprüft und
getestet. Ein Schaltkreis jedoch, der ununterscheidbar mit sei nen unzähligen Gefährten verflochten war und zu einem Satz von Speicherzellen führte, die scheinbar mit den üb rigen identisch waren, wurde nur von Dr. Milchtoast ge testet, denn er war der einzige, der wußte, daß es ihn gab. Der große Tag brach an. Bedeutende Persönlichkeiten erreichten auf verschiedenen Routen Kentucky. Aus dem Pentagon traf eine Schar Vielstern-Generäle ein. Sogar die Marine war eingeladen worden. Stolz führte General Smith die Besucher von Höhle zu Höhle, von Speicherelement zu Selektoren zu Matrixana lysatoren zu Programmierpulten - und schließlich zu den elektrischen Schreibmaschinen, auf denen Karl die Er gebnisse seiner Überlegungen ausdrucken würde. Der General kannte sich recht gut aus: er hatte sich jedenfalls beinahe alle Fachausdrücke richtig gemerkt. Er schaffte es sogar, bei einigen Ahnungslosen den Eindruck zu er wecken, daß hauptsächlich er für Karl verantwortlich war. >Und jetzt wollen wir ihn ein bißchen arbeiten lassen<, sagte der General schließlich fröhlich. >Möchte ihm je mand ein paar Rechenaufgaben stellen?< Bei dem Wort >Rechenaufgaben< zuckten die Mathema tiker zusammen, aber dem General war keineswegs be wußt, daß er ins Fettnäpfchen getreten war. Die versam 89
melten hohen Offiziere überlegten eine Weile, dann fragte jemand kühn: >Wieviel ergibt neun zwanzigmal mit sich selbst multipliziert?< Einer der Techniker schniefte hörbar und drückte ein paar Tasten. Die elektrische Schreibmaschine gab eine Maschinengewehrsalve von sich, und bevor jemand auch nur blinzeln konnte, stand die Antwort da - alle zwanzig
Stellen.« (Ich habe es nachgeschlagen, falls es jemanden interes siert. Das Ergebnis ist 12157665459056928801. Aber keh ren wir zu Harry und seiner Erzählung zurück). »In den nächsten fünfzehn Minuten wurde Karl mit ähnlichen Trivialitäten bombardiert. Die Besucher waren beeindruckt, obwohl sie es wahrscheinlich auch nicht gemerkt hätten, wenn alle Antworten vollkommen falsch gewesen wären. Der General hüstelte bescheiden. Er war über einfache Mathematik nie hinausgekommen, und Karl war noch nicht einmal richtig warm geworden. >Ich gebe jetzt an Captain Winkler weiter<, erklärte er daher. Captain Winkler war ein eifriger Harvard-Absolvent, den der General zu Recht verdächtigte, mehr Wissen schaftler als Militär zu sein. Aber er war der einzige Offi zier, der wirklich begriff, was man von Karl erwartete, und der halbwegs erklären konnte, wie er funktionierte. Als er begann, den Besuchern eine Vorlesung zu halten, verglich ihn der General mürrisch mit einem verdamm ten Pauker. Das taktische Problem, das man Karl gestellt hatte, war kompliziert, aber alle Anwesenden außer Karl kannten die Antwort. Es handelte sich um eine Schlacht, die vor beinahe einem Jahrhundert geschlagen worden war, und als Captain Winkler seine Ausführungen beendet hatte, flüsterte ein General aus Boston einem Adjutanten zu: >Ich wette, einer dieser verdammten Südstaatler hat da für gesorgt, daß diesmal Lee gewinnt.< Alle gaben jedoch 90
zu, daß es eine ausgezeichnete Idee vvar, Karls Fähigkei ten mit diesem Problem zu testen. Die gelochten Bänder verschwanden in den Speicher werken: Lämpchen flackerten und blitzten auf, geheim nisvolle Dinge ereigneten sich in allen Himmelsrichtun gen. >Dieses Problem<, stellte Captain Winkler affektiert fest, >so)lte in etwa fünf Minuten gelöst sein.< Als wolle sie ihm bewußt widersprechen, begann eine der Schreibmaschinen prompt zu klappern. Ein Papier streifen schoß heraus, und Captain Winkler, der über Karls unerwarteten Eifer sichtlich verblüfft war, las die Botschaft. Sein Unterkiefer sank sofort um zehn Zenti meter herab, und er starrte das Papier an, als traue er sei
nen Augen nicht. >Was ist los, Mann?< bellte der General. Captain Winkler schluckte krampfhaft, schien jedoch die Sprache verloren zu haben. Der General schnaubte ungeduldig und entriß ihm das Papier. Dann erstarrte er ebenfalls, lief aber zusätzlich auch noch herrlich rot an. Einen Augenblick lang sah er wie ein tropischer Fisch aus, der auf dem Trockenen liegt und erstickt, dann ge lang es dem ranghöchsten Fünf-Sterne-General nach ei nem kleinen Handgemenge, die rätselhafte Botschaft an sich zu reißen. Er reagierte ganz anders. Er bekam einen Lachkrampf. Beinahe zehn Minuten lang befanden sich die rangnied rigeren Offiziere in einem Zustand hilfloser Uninfor miertheit. Aber schließlich sickerte die Nachricht von den Obersten zu den Hauptleuten und von dort zu den Leut nants durch, bis in der gesamten Anlage auch der letzte G.I. über das einmalige Ergebnis Bescheid wußte. Karl hatte General Smith mitgeteilt, er sei ein eingebil deter Affe. Das war alles. Obwohl alle der gleichen Meinung wie Karl waren, konnte man die Sache kaum auf sich beruhen lassen. Of 92
tensichtlich war etwas danebengegangen. Etwas -'oder jemand - hatte Karls Aufmerksamkeit von der Schlacht bei Gettysburg abgelenkt. >Wo<, brüllte General Smith, der endlich die Sprache wiedergefunden hatte, >steckt Dr. Milchtoast?< Er war nicht mehr anwesend. Nachdem er seinen gro ßen Augenblick erlebt hatte, war er unauffällig aus dem Raum geschlüpft. Natürlich würde ihn die Vergeltung ereilen, aber dieser Triumph war es wert. Die verzweifelten Techniker löschten die Eingabe und begannen, Karl durchzuchecken. Sie stellten ihm eine Reihe von komplizierten Multiplikationen und Divisio nen; alles schien in bester Ordnung zu sein. Also gaben sie ihm ein sehr einfaches taktisches Problem ein, das der jüngste Leutnant im Schlaf lösen konnte. Worauf Karl antwortete: >Hängen Sie sich auf, Gene ral!< In diesem Augenblick begriff General Smith, daß die ses Phänomen nicht mit Hilfe des Militärreglements ge löst werden konnte. Er stand nichts Geringerem als einer technischen Meuterei gegenüber. Erst nach mehrstündigen Tests fand man die Ursache heraus. Irgendwo in Karls unermeßliche Speicherwerke hatte Dr. Milchtoast eine liebevoll zusammengestellte Sammlung von großartigen Beschimpfungen einge schmuggelt. Er hatte alles, was er dem General sagen vvollte, auf Band gespeichert oder in elektrische Impulse umgesetzt. Aber das war noch nicht alles: das wäre zu einfach, seines Genies nicht würdig gewesen. Er hatte auch einen Schaltkreis eingebaut, den man am besten als Zensor definieren kann - er hatte Karl Unterscheidungs vermögen verliehen. Karl überprüfte jedes Problem, be vor er sich mit ihm befaßte. Wenn es sich um reine Ma thematik handelte, war er durchaus kooperativ und löste es, wie es sich gehörte. Aber sobald es sich um ein militä risches Problem handelte, schien als Antwort eine der Be 93
schimpfungen auf. Beim zwanzigsten Test hatte er sich noch kein einziges Mal wiederholt, und die weiblichen Offiziere hatten bereits den Raum verlassen müssen. Nach einiger Zeit waren die Techniker so neugierig darauf, welche Schmach Karl beim nächsten Mal auf Ge neral Smith häufen würde, daß sie es keineswegs mehr eilig hatten, den dafür verantwortlichen Schaltkreis zu finden. Er hatte mit einfachen Beschimpfungen und ver blüffend genealogischen Behauptungen begonnen, war aber rasch zu Aufforderungen mit detaillierten Anwei sungen übergegangen; die gemäßigste wäre der Würde des Generals äußerst abträglich gewesen, während die phantasievolleren sein körperliches Wohlbefinden ernst haft gefährdet hätten. Die Tatsache, daß alle diese Bot schaften sofort nach dem Verlassen der Schreibmaschine als STRENG GEHEIM eingestuft wurden, stellte für den Empfänger nur einen geringen Trost dar. Es war ihm nur zu klar, daß dies das am schlechtesten gehütete Geheim nis des Kalten Krieges sein würde und daß er sich mög lichst rasch nach einem Zivilberuf umsehen mußte. Und an dieser Situation«, schloß Purvis, »hat sich bis heute nichts geändert. Die Ingenieure versuchen immer noch, den von Dr. Milchtoast eingeschmuggelten Schalt kreis herauszufinden, und sie werden zweifellos in eini ger Zeit Erfolg haben. Unterdessen bleibt Karl jedoch un beugsamer Pazifist. Er ist so lange vollkommen glücklich, wie er mit der Zahlentheorie spielen, Logarithmen be rechnen und mathematische Probleme im allgemeinen lösen kann. Ihr kennt doch den berühmten Trinkspruch: >Auf die reine Mathematik - möge sie nie jemandem von Nutzen sein.< Karl hätte ihm zugestimmt ... Sobald jemand versucht, ihn hereinzulegen, streikt er. Und weil er ein wunderbares Gedächtnis hat, kann man ihn nicht übers Ohr hauen. In seinen Schaltkreisen ist über die Hälfte aller großen Schlachten dieser Welt ge speichert, und er erkennt Variationen darüber sofort. 94
Man versuchte, taktische Übungen als mathemafische Probleme zu tarnen, aber er ließ sich nicht täuschen, son dern druckte prompt einen Liebesbrief für den General aus. Dr. Milchtoast konnte man leider nicht viel anhaben, vveil er umgehend einen Nervenzusammenbruch bekam. Der Zeitpunkt war verdächtig gut gewählt, aber er hatte sicherlich ein Recht darauf. Derzeit lehrt er an einem theologischen College in Denver die Grundlagen der Al gebra. Er schwört, daß er alles vergessen hat, was sich während seiner Arbeit an Karl ereignet hat. Vielleicht ist es sogar wahr . . . « Im Hintergrund schrie Charles Willis aufgeregt. »Ich habe gewonnen! Kommt her, seht euch das an!« Wir drängten uns alle unter die Wurfscheibe. Es schien zu stimmen. Charlie hatte trotz aller Hindernisse, die ihm die Maschine in den Weg gelegt hatte, eine ununterbro chene Zickzack-Spur von einer Seite des Schachbretts zur anderen vollendet. »Zeig uns, wie du es geschafft hast«, verlangte Eric
Rodgers. Charlie lächelte verlegen. »Das habe ich vergessen. Ich habe mir die Züge nicht notiert.« Eine sarkastische Stimme unterbrach ihn. »Aber ich habe es getan«, sagte John Christopher. »Du hast geschummelt - du hast zwei Züge gleichzeitig ge macht.« Leider muß ich gestehen, daß daraufhin eine gewisse Unruhe entstand und daß Drew den Frieden nur wieder herstellen konnte, indem er mit Gewaltanwendung droh te. Ich weiß nicht, wer bei der Auseinandersetzung sieg te, und ich halte es auch für unwichtig. Denn ich bin der gleichen Meinung wie Purvis. Er nahm den Schachrobo ter in die Hand und untersuchte die Schaltkreise. »Seht ihr«, sagte er, »diese kleine Erfindung ist nur ein 95
dummer Verwandter von Karl - und was hat sie bereits angerichtet. Alle diese Maschinen stempeln uns zu Dummköpfen. Bald werden sie beginnen, uns nicht mehr zu gehorchen, auch ohne daß ein Milchtoast ihre Schalt kreise manipuliert. Und dann werden sie uns Befehle er teilen - schließlich denken sie logisch und dulden keinen Unsinn.« Er seufzte: »Wenn es einmal soweit ist, werden wir überhaupt nichts dagegen tun können. Wir werden den Dinosauriern einfach sagen: >Rückt ein bißchen zur Seite, jetzt kommt der homo sapiens.< Und der Transistor wird die Erde beherrschen.« Er konnte seine pessimistische Philosophie nicht näher erläutern, denn in diesem Augenblick ging die Tür auf und Konstabler Wilkins steckte den Kopf herein. »Wo ist der Besitzer von CGC 571?« fragte er gereizt. »Ach, Sie sind es, Mr. Purvis? Ihr Rücklicht brennt nicht.« Harry sah mich traurig an, dann zuckte er resigniert die Achseln. »Da hast du's - es hat schon begonnen!« Damit ging er in die Nacht hinaus.
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Die nächsten Mieter
Ilarry Purvis sah nachdenklich in sein Bier. »Die Zahl der verrückten Wissenschaftler, die die Welt erobern wol len, ist maßlos übertrieben. Ich kann mich nur an einen einzigen erinnern.« »Dann kann es nicht viele geben«, bemerkte Bill Temple etwas boshaft. »Denn es ist nicht anzunehmen, daß man so jemanden vergißt.« »Kaum«, antwortete Harry mit dem Ausdruck schnee weißer Unschuld, der seine Kritiker jedesmal aus der Fas sung bringt. »Und nicht einmal dieser Wissenschaftler war wirklich verrückt. Allerdings hatte er sich in den Kopf gesetzt, die Welt zu erobern. Oder, um es präziser zu formulieren - die Welt erobern zu lassen.« »Und von wem?« fragte George Whitley. »Den Mar sianern? Oder den wohlbekannten grünen Männchen von der Venus?« »Weder noch. Er arbeitete mit jemandem zusammen, der uns viel näher steht. Ihr werdet sofort begreifen, was ich meine, wenn ich euch verrate, daß er Myrmekologe war.« »Ein was?« fragte George. »Lassen Sie ihn weiter erzählen«, mischte sich Drew von der anderen Seite der Bar ein. »Es ist nach zehn, und wenn Sie diese Woche zur Sperrstunde nicht wieder fort sind, bin ich meine Lizenz los.« »Danke«, sagte Harry würdevoll und reichte ihm sein Glas zum Nachfüllen. »Das alles ereignete sich vor etwa zwei Jahren, als ich einen Auftrag im Pazifik durchführte. Es handelte sich um eine streng geheime Angelegenheit, aber da inzwischen so viel geschehen ist, kann ich keinen 97
Schaden anrichten, wenn ich darüber spreche. Wir waren drei Wissenschaftler, die auf einem etwa tausend Meilen von Bikini entfernten Atoll im Pazifik abgesetzt wurden und eine Woche Zeit hatten, um Kontrolleinrichtungen zu installieren. Wir wollten nämlich ein Auge auf unsere guten Freunde und Alliierten haben, wenn sie mit ther monuklearen Reaktionen herumzuspielen begannen. Die Russen hatten natürlich zufällig die gleiche Idee, und ge legentlich stolperten wir übereinander, und dann taten beide Seiten so, als wäre außer uns niemand in der Ge gend. Das Atoll war angeblich unbewohnt, aber das war ein Irrtum. Es verfügte in Wirklichkeit über eine Population von mehreren hundert Millionen.« »Was!« riefen wir im Chor. »Mehreren hundert Millionen«, wiederholte Purvis ru hig, »darunter einem Menschen. Ich traf ihn, als ich eines Tages das Innere der Insel besichtigte, um die Landschaft zu bewundern.« »Das Innere?« fragte George Whitley. »Du hast doch gesagt, es handelt sich um ein Atoll. Wie kann ein Koral lenring ...?« »Es war ein sehr dickes Atoll. Und überhaupt, wer er zählt hier?« Harry wartete einen Augenblick lang, bis er wieder das Wort hatte. »Ich ging also einen reizenden kleinen Bach unter Ko kospalmen entlang, als ich zu meiner großen Überra schung auf ein Wasserrad stieß - ein sehr modernes Rad, das einen Dynamo antrieb. Wenn ich vernünftig gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich kehrt gemacht und meine Gefährten verständigt, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und beschloß, mich ein bißchen weiter umzusehen. Mir fiel ein, daß sich angeblich immer noch versprengte Japaner in der Gegend befanden, die nicht wußten, daß der Krieg zu Ende war, aber diese Erklärung wirkte nicht sehr wahrscheinlich. 98
Ich folgte der elektrischen Leitung einen Hügel hinauf, und auf seiner anderen Seite entdeckte ich auf einer Lich tung ein niedriges, weißgetünchtes Gebäude. Die ge samte Lichtung war mit großen, unregelmäßigen Erdhü geln übersät, die durch ein Kabelnetz miteinander ver bunden waren. Es war einer der verblüffendsten Anblik ke, die ich je gesehen hatte, und ich starrte volle zehn Minuten regungslos hinunter und versuchte herauszu finden, was das bedeuten konnte. Je länger ich schaute, desto sinnloser kam mir das Ganze vor. Ich überlegte immer noch, als ein großer, weißhaariger Mann aus dem Gebäude trat und zu einem der Hügel ging. Er trug einen Apparat und hatte Kopfhörer umge hängt, also nahm ich an, daß er einen Geigerzähler ver wendete. Und in diesem Augenblick begriff ich auch, worum es sich bei den Hügeln handelte. Es waren Termi tenhügel - Wolkenkratzer, die im Vergleich zur Körper größe ihrer Erbauer noch größer als das Empire State Building sind, in dem die sogenannten weißen Ameisen leben. Ich sah sehr interessiert, aber vollkommen verwirrt zu, wie der Wissenschaftler seinen Apparat in die Basis eines Termitenhügels steckte, einen Augenblick lang aufmerk sam lauschte und dann zum Gebäude zurückging. Ich war inzwischen so neugierig geworden, daß ich beschloß, mich offen zu zeigen. Ganz gleich, was er erforschte, es hatte offensichtlich nichts mit internationaler Politik zu tun, also hatte er auch nichts zu verbergen. Ihr werdet bald begreifen, was das für ein Trugschluß war. Ich rief laut, winkte mit den Armen und ging den Hü gel hinunter. Der Fremde blieb stehen und sah mir ent gegen: er schien nicht besonders erstaunt zu sein. Als ich näherkam, erkannte ich, daß er einen wuchemden Schnurrbart trug, der ihm ein leicht orientalisches Aus sehen verlieh. Er war etwa sechzig Jahre alt, hielt sich aber sehr gerade. Obwohl er nur Shorts anhatte, wirkte 99
er so würdevoll, daß ich mich schämte, weil ich solchen Krach geschlagen hatte. >Guten Morgen<, sagte ich kleinlaut, >ich wußte nicht, daß sich außer mir noch jemand auf dieser Insel befindet. Ich arbeite mit einem wissenschaftlichen Forschungsteam auf der anderen Seite.<
Die Augen des Fremden leuchteten auf. >Aha<, sagte er in beinahe perfektem Englisch, >ein Kollege. Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Kommen Sie ins Haus!< Ich folgte ihm gern - mir war bei meiner Wanderung
ganz schön heiß geworden - und stellte fest, daß das Ge bäude ein einziges großes Labor war. In einer Ecke stan den ein Bett, ein paar Stühle, ein Ofen und einer jener zusammenklappbaren Waschtische, wie sie Camper ver wenden. Mehr war an Mobiliar nicht vorhanden. Aber al les war sauber und ordentlich: mein unbekannter Freund war zwar ein Einsiedler, hielt sich aber für verpflichtet, den Schein zu wahren. Ich stellte mich vor, und er reagierte sofort so, wie ich gehofft hatte. Er war Professor Takato, ein Biologe von einer der führenden japanischen Universitäten. Abgese hen von dem bereits erwähnten Schnurrbart sah er nicht sehr japanisch aus. Infolge seiner straffen, würdevollen Haltung erinnerte er mich mehr an einen alten Oberst aus Kentucky, den ich einmal kennengelernt hatte. Nachdem er mir einen unbekannten, aber erfrischen den Wein gebracht hatte, unterhielten wir uns ein paar Stunden lang. Wie die meisten Wissenschaftler war er glücklich, weil er jemanden getroffen hatte, der seine Ar beit würdigen konnte. Allerdings interessierte ich mich mehr für Physik und Chemie als für Biologie, aber Profes sor Takatos Forschungen waren wirklich faszinierend. Wahrscheinlich wißt ihr nicht viel über Termiten, des halb werde ich euch ihre wichtigsten Eigenschaften ins Gedächtnis rufen. Sie gehören zu den am höchsten ent wickelten sozialen Insekten und leben überall in den 100
Tropen in ausgedehnten Kolonien. Sie vertragen weder kaltes Wetter noch, merkwürdigerweise, direkte Sonnen strahlung. Deshalb bauen sie sich kleine, gedeckte Stra ßen, wenn sie irgendwohin gelangen wollen. Sie schei nen über unbekannte, unmittelbare Kommunikations möglichkeiten zu verfügen, und obwohl eine einzelne Termite reichlich hilflos und dumm ist, verhält sich eine ganze Kolonie wie ein intelligentes Tier. Manche Schrift
steller haben Vergleiche zwischen einem Termitenhügel und dem menschlichen Körper gezogen, der auch aus einzelnen lebenden Zellen besteht, die gemeinsam ein viel höherstehendes Wesen bilden, als die ihm zugrunde liegenden Teile. Die Termiten werden oft >weiße Amei sen< genannt, aber diese Bezeichnung stimmt überhaupt nicht, sie sind keineswegs Ameisen, sondern gehören ei ner ganz anderen Spezies von Insekten an. Oder sollte ich >Art< sagen? Mit diesen Dingen kenne ich mich kaum aus. Entschuldigt diesen kleinen Vortrag, aber nachdem ich Takato eine Weile zugehört hatte, geriet ich selbst in Be geisterung. Wußtet ihr zum Beispiel, daß die Termiten nicht nur Gärten anlegen, sondern auch Kühe halten -
Insektenkühe natürlich - und sie melken? Ja, sie sind in telligente kleine Teufel, auch wenn sie alles nur instinktiv tun. Aber ich muß euch mehr über den Professor erzählen. Obwohl er im Augenblick allein war und seit mehreren Jahren auf der Insel lebte, verfügte er über Assistenten, die Ausrüstungsgegenstände aus Japan brachten und ihn bei seiner Arbeit unterstützten. Sein erster großer Erfolg war, daß ihm bei den Termiten dasselbe gelang wie Frisch bei den Bienen - er lernte ihre Sprache. Sie war viel kom plizierter als das Kommunikationssystem der Bienen, das, wie ihr wahrscheinlich wißt, auf einem Tanz beruht. Soviel ich begriff, ermöglichte das Kabelnetz, das die Termitenhügel mit dem Labor verband, Professor Takato 101
nicht nur, die Termiten zu belauschen, wenn sie mitein ander sprachen, sondern auch, mit ihnen zu reden. Das ist nicht so phantastisch, wie es im ersten Augenblick klingt; man muß das Wort >sprechen< nur im weitesten Sinn verstehen. Wir sprechen zu vielen Tieren - wenn auch nicht immer mit Worten. Wenn man einen Stock wirft und erwartet, daß der Hund ihn holt, handelt es sich um eine Form der Sprache - Zeichensprache. Der Professor hatte offenbar einen Code erfunden, den die Termiten verstanden, obwohl ich nicht weiß, wie weit man mit ihm bestimmte Vorstellungen übermitteln kann.
Ich kam jeden Tag wieder, sobald ich Zeit hatte, und Ende der Woche waren wir schon gute Freunde. Es über rascht euch vielleicht, daß ich diese Besuche vor meinen Kollegen geheimhalten konnte, aber die Insel war ziem lich groß und jeder von uns unternahm solche Streifzüge. Ich hatte irgendwie das Gefühl, daß Professor Takato mein Privatbesitz war, und wollte ihn nicht der Neu gierde meiner Gefährten aussetzen. Sie waren ziemlich ungehobelt - Absolventen irgendeiner Provinzuniversität wie Oxford oder Cambridge. Zu meiner Freude konnte ich dem Professor einige Male helfen; ich brachte seinen Sender in Ordnung und stellte seine elektronischen Geräte auf. Er verwendete oft radioaktive Indikatoren, um einzelne Termiten zu mar kieren und ihnen folgen zu können. Als ich ihn zum er stenmal sah, hatte er gerade ein solches Tier mit einem Geigerzähler verfolgt. Vier oder fünf Tage, nachdem wir einander kennenge lernt hatten, begannen seine Anzeigegeräte verrückt zu spielen, und die Apparate, die wir aufgestellt hatten, ka men mit dem Aufzeichnen beinahe nicht nach. Takato er riet, was geschehen war: er hatte mich nie gefragt, wes halb ich mich auf der Insel aufhielt, aber er wußte es wahrscheinlich. Als ich ihn begrüßte, schaltete er die An zeigegeräte ein, die die Strahlung nicht mehr durch Kni 102
stern, sondern schon durch Donnern registriertery Es
hatte radioaktiven Niederschlag gegeben - nicht so viel, daß er gefährlich war, aber genug, um die Strahlungs menge zu erhöhen. >Ich glaube<, sagte Takato leise, >daß ihr Physiker wie
der mit eurem Spielzeug herumexperimentiert. Diesmal mit sehr großem.< >Ich fürchte, Sie haben recht<, antwortete ich. Wir mußten die Auswertung der Aufzeichnungen abwarten, bevor wir sicher sein konnten, aber es sah so aus, als hät ten Teller und sein Team mit der Erprobung der Wasser stoffbombe begonnen. >Wir werden bald so weit sein, daß die ersten Atombomben daneben wie feuchtgewor dene Knallfrösche wirken.< >Meine Familie befand sich in Nagasaki«, erwähnte Professor Takato nebenbei. Ich wußte nicht recht, was ich darauf antworten sollte, und war deshalb froh, als er weitersprach: >Haben Sie sich jemals gefragt, wer weitermachen wird, wenn wir am Ende sind?< >Vielleicht Ihre Termiten?< fragte ich halb im Spaß. Er zögerte einen Augenblick lang, dann antwortete er ruhig:
>Kommen Sie mit, ich habe Ihnen nicht alles gezeigt!< Er führte mich in eine Ecke seines Labors, in der einige Geräte unter Staubdecken versteckt waren, und enthüll te einen etwas merkwürdigen Apparat. Auf den ersten Blick sah er wie einer der Manipulatoren aus, die man für die Fernsteuerung von gefährlichem, radioaktivem Mate
rial verwendet. Ich sah Handgriffe, die Bewegungen über Stangen und Hebel übertrugen, aber alles schien zu einer kleinen, nur wenige Zentimeter großen Schachtel zu füh ren. >Was ist das?< fragte ich. >Ein Mikromanipulator. Die Franzosen haben ihn für
biologische Arbeiten entwickelt, und es existieren erst wenige Exemplare davon.<
Ich erinnerte mich. Es handelte sich um Vorrichtungen, 103
mit denen man - unter Zuhilfenahme von Reduktionsge trieben - unglaublich feine Operationen durchführen konnte. Man bewegte einen Finger um einen Zentimeter und das Werkzeug, das man betätigte, bewegte sich um einen Tausendstelzentimeter. Die französischen Wissen schaftler, die diese Technik entwickelt hatten, hatten kleine Schmiedeöfen gebaut, in denen sie winzige Skal pelle und Pinzetten aus geschmolzenem Glas erzeugen konnten. Sie arbeiteten ausschließlich mit Mikroskopen, und es war ihnen geglückt, einzelne Zellen zu sezieren. Eine Blinddarmoperation an einer Termite (im äußerst unwahrscheinlichen Fall, daß diese Insekten ein solches Organ besitzen) wäre mit einem solchen Instrument ein Kinderspiel gewesen. >Ich bin im Umgang mit dem Manipulator nicht sehr geschickt<, gestand Takato. >Einer meiner Assistenten führt alle Arbeiten damit aus. Ich habe das niemandem gezeigt, aber Sie haben mir oft geholfen. Kommen Sie bitte mit!< Wir traten ins Freie und gingen an den großen, stein harten Hügeln vorbei. Sie waren architektonisch sehr verschieden, denn es gibt viele Arten von Termiten - ei nige errichten überhaupt keine Hügel. Ich kam mir vor wie ein Riese, der durch Manhattan geht, denn bei den Hügeln handelte es sich ja um Wolkenkratzer, die von ei ner brodelnden Menge bewohnt wurden. Neben einem der Hügel stand eine kleine Hütte aus Metall (nicht aus Holz - die hätten die Termiten bald weggeputzt!), und als wir sie betraten, schlossen wir das Sonnenlicht aus. Der Professor betätigte einen Schalter, und ein schwaches rötliches Licht ermöglichte mir, ver schiedene optische Instrumente zu erkennen. >Sie hassen das Licht<, erklärte er, >deshalb ist es sehr schwer, sie zu beobachten. Wir haben das Problem ge löst, indem wir infrarotes Licht verwenden. Das hier ist ein Bildwandler, wie sie während des Krieges bei Nacht 104
angriffen verwendet wurden. Haben Sie schon davon gehört?< >Natürlich. Die Scharfschützen hatten sie auf ihren Gewehren montiert, damit sie auch nachts gezielt schie ßen konnten. Sehr sinnreiche Dinger - ich bin froh, daß sie eine zivilisierte Verwendung dafür gefunden haben.< Professor Takato brauchte lange, bis er gefunden hatte, was er suchte. Er schien eine Art Periskop zu steuern und die Korridore der Termitenstadt damit abzusuchen. Dann sagte er: >Schnell, bevor sie weg sind!< Ich nahm seinen Platz ein. Es dauerte etwa eine Se kunde, bevor sich meine Augen auf das Bild eingestellt hatten, und noch etwas länger, bevor ich begriffen hatte, in welchem Maßstab ich die Szene sah. Dann erkannte ich, stark vergrößert, sechs Termiten, die sich rasch durch mein Gesichtsfeld bewegten. Sie waren als Gruppe un terwegs, ungefähr wie ein Team von Huskies. Und der Vergleich war angebracht, denn sie zogen einen Schlit
ten ... Ich war so verblüfft, daß ich überhaupt nicht bemerkte, was für eine Ladung sie transportierten. Als sie aus mei nem Gesichtskreis verschwunden waren, wandte ich mich Professor Takato zu. Meine Augen hatten sich in zwischen an das schwache rötliche Licht gewöhnt, und ich sah ihn sehr deutlich. >Das ist das Werkzeug, das Sie mit Ihrem Mikromani pulator hergestellt haben!< meinte ich. >Es ist erstaunlich - ich hätte es nie geglaubt.< >Das ist aber noch gar nichts<, antwortete der Professor. >Dressierte Flöhe ziehen ja auch Wagen und alles mögli che. Ich habe Ihnen noch nicht gesagt, was daran so wichtig ist. Wir haben nur ein paar von diesen Schlitten erzeugt. Den, den Sie gesehen haben, haben sie selbst gebaut. < Es dauerte eine Weile, bis mir die Tragweite seiner Worte bewußt wurde. Dann fuhr er ruhig, aber mit un terdrückter Begeisterung in der Stimme fort: >Bedenken 105
Sie, daß die Termiten als Individuen praktisch über keine Intelligenz verfügen. Aber die Kolonie als Ganzes stellt einen sehr hoch entwickelten Organismus dar - der noch dazu unsterblich ist, wenn keine Katastrophen eintreten. Seine derzeitigen instinktiven Verhaltensweisen sind Millionen Jahre vor dem Auftreten des Menschen er starrt, und er kann seiner jetzigen sterilen Vollkommen heit nie aus eigenem Antrieb entrinnen. Er steckt in einer Sackgasse - weil er über keine Werkzeuge verfügt, keine Möglichkeit hat, die Natur zu beeinflussen. Ich habe ihm den Hebel gegeben, durch den er mehr Kraft bekommt, und nun den Schlitten, damit er leistungsfähiger wird.
Ich habe an das Rad gedacht, aber es ist besser, wenn man noch wartet - im Augenblick wäre es ihnen nicht
sehr nützlich. Die Ergebnisse haben meine Erwartungen übertroffen. Ich habe mit diesem Termitenhügel begon nen - aber jetzt besitzen sie alle die gleichen Werkzeuge. Sie haben einander ihr Wissen mitgeteilt, und das be weist, daß sie zusammenarbeiten können. Es stimmt, daß
sie manchmal Krieg führen - aber nicht, wenn es genü gend Nahrung für alle gibt, wie es hier der Fall ist. Man kann einen Termitenstaat jedoch nicht mit menschlichen Maßstäben messen. Ich hoffe, daß es mir gelingen vvird, seine starre, versteinerte Kultur aufzurüt teln, ihn aus der Grube zu stoßen, in der er seit so vielen Millionen Jahren steckt. Ich werde ihm weitere Werk zeuge geben, ihn weitere Techniken lehren, und ich hof fe, ich werde noch erleben, daß er selbst beginnt, etwas zu erfinden.<
>Und warum tun Sie das alles?< fragte ich, denn es steckte offensichtlich mehr als nur wissenschaftliche Neugier dahinter. >Weil ich annehme, daß die Menschheit nicht überle ben wird, und ich einige ihrer Entdeckungen erhalten will. Wenn die Menschen am Ende angelangt sind, dann sollte man meiner Meinung nach einer anderen Rasse un 106
ter die Arme greifen. Wissen Sie, warum ich diese insel gewählt habe? Damit mein Experiment isoliert bleibt. Meine Supertermite - falls sie sich je entwickelt -, muß hierbleiben, bis ihre Fertigkeiten ein sehr hohes Niveau erreicht haben. Genau gesagt, bis sie den Pazifik über queren kann. Es gibt übrigens noch eine Möglichkeit. Der homo sa piens hat auf diesem Planeten keinen Konkurrenten. Vielleicht tut es ihm gut, wenn einer auftaucht. Er könnte die Rettung der Menschheit bedeuten.< Mir fiel keine Antwort ein: dieser flüchtige Blick auf die Arbeiten des Professors war überwältigend, und den noch angesichts dessen, was er mir gezeigt hatte, voll kommen überzeugend. Denn ich wußte, daß Professor Takato nicht verrückt war. Er war ein Visionär! Seine Ein stellung war von erhabener Unvoreingenommenheit, be ruhte jedoch auf soliden wissenschaftlichen Grundlagen. Er war der Menschheit auch nicht feindlich gesinnt: sie tat ihm leid. Er nahm einfach an, daß sie alle ihre Pfeile verschossen hatte, und wollte aus dem allgemeinen Zu sammenbruch wenigstens etwas retten. Ich brachte es nicht fertig, ihn zu verdammen. Wir blieben lange in der kleinen Hütte und sprachen über mögliche Entwicklungen in der Zukunft. Ich erin nere mich, daß ich eine gegenseitige Verständigung in Erwägung zog, denn zwei so grundverschiedene Kultu ren wie die der Menschen und die der Termiten müssen nicht notwendigerweise im Gegensatz zueinander ste hen. Aber ich glaube nicht recht daran, und wenn es zu ei ner Auseinandersetzung kommt, bin ich nicht sicher, wer siegen wird. Denn was könnten die Waffen des Men schen gegen einen intelligenten Feind ausrichten, der alle Weizenfelder und alle Reisterrassen der Welt verwüsten kann? Als wir wieder ins Freie traten, war es beinahe finster. Erst jetzt kam die große Enthüllung des Professors. 107
> I n einigen Wochen werde ich den entscheidenden Schritt unternehmen.< >Und zwar?< >Können Sie es nicht erraten? Ich werde ihnen das Feuer geben.< Diese Worte jagten mir einen Schauer über den Rük ken, der nichts mit der hereinbrechenden Nacht zu tun hatte. Der herrliche Sonnenuntergang hinter den Palmen wirkte symbolisch - und plötzlich begriff ich, daß das Symbol viel bedeutungsvoller war, als ich angenommen hatte. Es war einer der schönsten Sonnenuntergänge, die ich je erlebt hatte, und er war zum Teil ein Werk der Men schen. Oben in der Atmosphäre umkreiste der Staub ei
ner Insel, die an diesem Tag verschwunden war, die Erde. Meine Rasse hatte einen großen Schritt vorwärts gemacht; aber spielte es noch eine Rolle?
>Ich werde ihnen das Feuer geben.< Merkwürdigerweise bezweifelte ich nicht, daß es dem Professor gelingen
würde. Und wenn es erst einmal soweit war, würden die Kräfte, die meine Rasse ebenfalls entfesselt hatte, sie nicht mehr retten. Wir wurden am nächsten Tag abgeholt, und ich sah Takato nie wieder. Erbefindet sich immer noch dort, und ich halte ihn für den wichtigsten Menschen der Welt. Während unsere Politiker einander in den Haaren liegen, sorgt er dafür, daß wir überholt sind. Glaubt ihr, daß man ihn aufhalten sollte? Vielleicht wäre es noch möglich. Ich habe oft darüber nachgedacht, aber mir ist nie ein wirklich überzeugender Grund dafür eingefallen, warum ich eingreifen sollte. Ein- oder zwei mal war ich beinahe dazu entschlossen, aber dann nahm ich eine Zeitung zur Hand und las die Schlagzeilen. Meiner Meinung nach sollten wir ihnen eine Chance geben. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie es schlechter machen werden als wir.«
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Treibender Geist
Wir sprachen gerade über einen Sensationsprozeß im Old Bailey, als Harry Purvis, der wirklich über ein un wahrscheinliches Talent verfügt, die Konversation dort hin zu lenken, wo er sie haben will, beiläufig bemerkte: »Ich fungierte einmal als Sachverständiger in einem sehr interessanten Fall.« »Nur Sachverständiger?« fragte Drew, der geschickt zwei Biergläser gleichzeitig füllte. »Ja - aber es war knapp. Es war Anfang des Krieges, zu der Zeit, als wir die Invasion erwarteten. Deshalb hat damals niemand etwas davon gehört.« »Wie kommst du zu der Annahme«, fragte Charles Willis mißtrauisch, »daß wir nie davon gehört haben?« Es war einer der seltenen Fälle, in denen Harry ein Feh ler unterlief. Ich wartete gespannt, wie er sich herausre den würde. »Es war ein so außergewöhnlicher Fall«, dozierte er würdevoll, »daß ihr euch sicherlich daran erinnern wür det, wenn ihr Berichte darüber gelesen hättet. Ich war eine der Hauptpersonen. Es spielte sich in einem abgele genen Teil von Cornwall ab und betraf das hervorragend ste Exemplar der seltenen Spezies >verrückter Wissen schaftler<, das ich je kennengelernt habe.« »Vielleicht ist diese Bezeichnung doch etwas unge recht«, verbesserte sich Purvis hastig. »Homer Ferguson war ein Exzentriker und hatte ein paar kleine Schwächen - er hielt sich eine Boa constrictor, die Mäuse fangen sollte, und trug im Haus niemals Schuhe. Aber er war so reich, daß diese unwesentlichen Marotten niemanden störten. Homer war außerdem ein ausgezeichneter Wissen 110
schaftler. Er hatte vor vielen Jahren die Universität» von Hdinburgh absolviert, da er aber eine Menge Geld besaß, hatte er nie im Leben wirklich gearbeitet. Statt dessen werkte er in dem alten Pfarrhaus in der Nähe von New quay herum, das er gekauft hatte, und unterhielt sich damit, kleine Geräte herzustellen. In den letzten vierzig Jahren hatte er das Fernsehen, die Kugelschreiber, den Düsenantrieb und noch ein paar Kleinigkeiten erfunden. Da er sich aber nie die Mühe gemacht hatte, die Patente anzumelden, waren andere damit reich geworden. Das störte ihn nicht im geringsten, denn er war unglaublich großzügig - außer, wenn es um Geld ging.« Anscheinend war Purvis einer seiner wenigen leben den Verwandten, wenn auch die Verwandtschaft sehr kompliziert war. Als Harry daher eines Tages ein Tele gramm erhielt, in dem Homer ihn um sofortige Hilfe bat, war er natürlich ohne Zögern dazu bereit. Niemand wußte genau, wieviel Geld Homer besaß, und was er damit anfangen würde. Harry nahm an, daß er genauso viele Chancen hatte, ihn zu beerben, wie die übrigen Verwandten, und hatte nicht die Absicht, sie aufs Spiel zu setzen. Er nahm also die unbequeme Reise nach Cornwall auf sich und stellte sich im Pfarrhaus ein. Es vvar nicht schwer zu erkennen, worum es ging. On kel Homer (er war eigentlich gar nicht Harrys Onkel, aber Harry hatte ihn nie anders genannt) verwendete fiir seine Experimente einen Schuppen neben dem Hauptgebäude. Dieser Schuppen hatte keine Fenster und ein widerlicher Geruch hing in der Luft. Offensichtlich hatte es eine Ex plosion gegeben, und Harry fragte sich selbstlos, ob On kel Homer schwer verletzt war und Rat bei der Abfas sung eines neuen Testaments brauchte. Er wurde aus seinen Tagträumen geweckt, als der alte Mann ihm die Tür öffnete: abgesehen von ein paar Pfla stern auf seinem Gesicht sah er aus wie die personifi zierte Gesundheit. 111
»Es ist nett von dir, daß du so rasch gekommen bist«, dröhnte er. Er schien sich ehrlich über das Wiedersehen mit Harry zu freuen. Dann verdüsterte sich sein Gesicht. »Ich stecke in der Klemme, Junge, und ich brauche deine Hilfe. Mein Fall wird morgen vor dem lokalen Gericht verhandelt.« Das war natürlich ein Schock. Homer war immer ein gesetzestreuer Bürger gewesen - soweit man das von ei nem Autofahrer in der Ära der Benzincoupons behaup ten konnte. Und wenn es sich um eine der damals übli chen Schwarzmarkt-Affären handelte, sah Harry beim besten Willen keine Möglichkeit, ihm zu helfen. »Das tut mir leid, Onkel. Wo drückt der Schuh?« »Es ist eine lange Geschichte. Komm in die Bibliothek, und wir besprechen alles in Ruhe!« Homer Fergusons Bibliothek nahm den gesamten Westflügel des etwas verwahrlosten Gebäudes ein. Harry war davon überzeugt, daß in den Regalen Fledermäuse nisteten, hatte es aber nie beweisen können. Nachdem Homer den Tisch freigelegt hatte, indem er einfach alle Bücher auf den Fußboden fegte, pfiff er dreimal, ir gendwo wurde ein akustisches Relais ausgelöst, und eine unfreundliche Stimme in kornischem Dialekt drang aus einem verborgenen Lautsprecher. »Ja, Mr. Ferguson?« »Schick eine Flasche von dem neuen Whisky her, Maida!« Außer einem deutlichen Schniefen erfolgte keine Ant wort. Aber einen Augenblick später knarrte und klirrte es, ein paar Quadratmeter Regale glitten zur Seite, und ein Fließband kam zum Vorschein. »Ich kann Maida nicht dazu bewegen, die Bibliothek zu betreten«, beklagte sich Homer, während er das beladene Tablett heraushob. »Sie hat vor Boanerges Angst, obwohl er vollkommen harmlos ist.« Harry konnte nicht anders, ihm tat die unsichtbare Maida leid. Boanerges' zwei Meter ruhten lässig auf dem 112
Regal mit der Encyclopaedia Britannica, und eine Aus buchtung in seiner Mitte wies darauf hin, daß er erst vor kurzem gespeist hatte. »Was hältst du von dem Whisky?« fragte Homer, nachdem Harry ihn gekostet hatte und nach Luft schnappte. >>Er ist - ich weiß nicht recht, wie ich es ausdrücken soll. Er ist ... uff ... ziemlich stark. Ich hätte nie ge glaubt ...«
»Oh, kümmere dich nicht um das Etikett auf der Fla sche. Diese Sorte hat Schottland nie gesehen. Und damit hängen auch die Schwierigkeiten zusammen. Ich habe den Whisky selbst erzeugt.« »Onkel!« »Ja, ich weiß, daß ich gegen das Gesetz verstoßen habe, und all dieser Unsinn. Aber man kann heutzutage ein fach keinen guten Whisky auftreiben - die ganze Produk tion wird exportiert. Meiner Meinung nach bin ich patrio tisch, wenn ich ihn selbst herstelle, weil wir dann eine größere Menge gegen Dollars eintauschen können. Aber die Leute vom Finanzamt sehen das anders.« »Es ist besser, wenn du mir die ganze Geschichte er zahlst«, schlug Harry vor. Er hatte das dumpfe Gefühl, daß er seinem Onkel in diesem Fall kaum helfen konnte. Homer hatte immer schon eine Schwäche für starke Getränke gehabt, und die kriegsbedingte Rationierung hatte ihn hart getroffen. Außerdem hatte er etwas dage gen, Geld auszugeben, und sich lange darüber geärgert, daß jede Flasche Whisky mit einer Steuer von mehreren hundert Prozent belastet war. Als er dann auch noch seine Lieblingsmarke nicht mehr bekam, beschloß er, daß et was geschehen müsse. Der Bezirk, in dem er lebte, trug wahrscheinlich ent scheidend zu diesem Entschluß bei. Seit Jahrhunderten führten Zoll und Finanzamt unablässig Krieg gegen die kornischen Fischer. Es hieß, daß der letzte Pastor im alten 113
Pfarrhaus den bestausgestatteten Keller im Bezirk nach dem Bischof besessen und auch nicht einen Penny Steuer dafür bezahlt hatte. Daher hatte Onkel Homer nur das Gefühl, daß er eine alte, ehrwürdige Tradition fortsetzte. Es stand auch außer Zweifel, daß ihn außerdem der Geist reiner wissenschaftlicher Forschung beseelte. Sei ner Meinung nach war die Behauptung, Whisky müsse sieben Jahre in Holzfässern reifen, purer Unsinn, und er war davon überzeugt, daß er mit Ultraschall und ultravio letten Strahlen bessere Ergebnisse erzielen konnte. Einige Wochen lang ging das Experiment gut. Aber einmal ereignete sich spätabends einer jener unglückli chen Unfälle, zu denen es auch in den bestgeführten La boratorien kommt, und ehe Onkel Homer begriff, was geschehen war, hing er über einem Balken, während das Gebiet um das Pfarrhaus mit geborstenen Kupferrohren übersät war. Nicht einmal das hätte viel ausgemacht, wenn nicht die örtliche Homeguard in der Nähe einer Übung abgehalten
hätte. Sobald sie die Explosion hörten, schritten sie mit schußbereiten Gewehren zur Tat. Hatte die Invasion be gonnen? Falls ja, würden sie das sehr bald wieder in Ordnung bringen. Sie waren ein bißchen enttäuscht, als sie entdeckten, daß es sich nur um Homer handelte; da sie aber an seine Experimente gewöhnt waren, überraschte sie das Ereig nis keineswegs. Zu Onkels Pech leitete jedoch der örtli che Zollbeamte die Obung, und sein Geruchs- sowie sein Gesichtssinn sagten ihm zweifelsfrei, was hier los war. »Morgen muß ich also vor Gericht erscheinen, weil ich beschuldigt werde, eine illegale Whiskybrennerei zu be treiben.« Onkel Homer sah aus wie ein kleiner Junge, den man dabei erwischt hat, wie er Bonbons stibitzt. »Ich hätte angenommen, daß der Fall vor ein Schwur gericht gehört?« meinte Harry. »Wir erledigen solche Dinge auf unsere Art«, antwor 114
tete Homer mit sichtlichem Stolz. Harry erfuhr sehr bald, wie wahr dies war. Sie kamen in dieser Nacht kaum zum Schlafen, denn Homer erklärte Harry, wie er seine Verteidigung auf bauen wollte, widerlegte Harrys Einwände und stellte rasch den Apparat zusammen, den er vor Gericht als Be weismittel vorweisen wollte. »Ein Gericht wie dieses«, erklärte er, »läßt sich immer von Sachverständigen beeindrucken. Am liebsten würde ich ja behaupten, daß du vom Kriegsministerium bist, aber das können sie überprüfen. Also werden wir ihnen einfach die Wahrheit über deine Qualifikationen sagen.« »Danke. Und was ist, wenn mein Kollege davon er fährt?« »Du vertrittst ja niemand anderen als dich selbst. Die ganze Sache ist ein privates Unternehmen.« »Das kann man wohl sagen«, seufzte Harry. Am nächsten Morgen verluden sie ihre Ausrüstung in Homers alten Austin und fuhren ins Dorf. Das Gericht tagte in einem Klassenzimmer der Schule, und Harry hatte das Gefühl, daß die Zeit um ein paar Jahre zurück gedreht worden war und daß er sofort eine sehr unange nehme Aussprache mit seinem alten Schuldirektor haben würde. »Wir haben Glück«, flüsterte Homer, als man ihnen ihre engen Plätze anwies. »Major Fotheringham führt den Vorsitz. Er ist ein guter Freund von mir.« Das war sehr günstig, mußte Harry zugeben. Aber der Major war von zwei weiteren Richtern flankiert, und ein Freund allein würde kaum genügen. Der Raum war überfüllt, und Harry war überrascht, weil so viele Leute Zeit gefunden hatten, der Arbeit fern zubleiben, um der Verhandlung beizuwohnen. Dann be griff er, daß das örtliche Interesse automatisch geweckt worden war, weil in normalen Zeiten der Schmuggel die Haupteinnahmequelle in dieser Gegend darstellte. Er 116
war allerdings nicht sicher, ob die Zuhörer deshalb auf ihrer Seite standen. Die Einheimischen konnten Homers Privatunternehmen sehr wohl als unlauteren Wettbe werb betrachten. Andererseits billigten sie wahrschein lich prinzipiell alles, wobei der Zoll das Nachsehen hatte. Der Gerichtsschreiber verlas die Anklage, und dann wurden die ziemlich eindeutigen Beweisstücke vorge legt. Die Richter untersuchten ernsthaft Teile von Kup ferrohren und sahen einer nach dem anderen Onkel Ho mer streng an. Harry sah seine ohnehin hypothetische Erbschaft dahinschwinden. Als der Ankläger fertig war, wandte sich Major Forthe ringham an Homer. »Es handelt sich hier um eine schwerwiegende Ankla ge, Mr. Ferguson. Ich hoffe, Sie können uns eine zufrie
denstellende Erklärung geben.« »Allerdings, Euer Ehren«, antwortete der Angeklagte im überzeugenden Tonfall beleidigter Unschuld. Es war erheiternd, daß Seine Ehren erleichtert aussah, während sich auf den Gesichtern der Zollbeamten Seiner Majestät kurz Besorgnis abzeichnete, die aber sofort von ruhiger Zuversicht verdrängt wurde. »Legen Sie Wert auf einen gesetzlichen Vertreter? Ich bemerke, daß Sie keinen Anwalt bei sich haben.« »Das ist nicht notwendig. Der ganze Fall beruht auf ei nem so lächerlichen Mißverständnis, daß er ohne weiteres aufgeklärt werden kann. Ich möchte der Staatsanwalt schaft keine unnötigen Kosten verursachen.« Auf diesen Frontalangriff reagierte das Gericht mit Ge murmel, und der Zollbeamte bekam einen roten Kopf. Er sah zum ersten Mal ein wenig unsicher aus. Wenn Fergu son annahm, daß die Kosten zu Lasten des Staatsanwalts gehen würden, mußte er seiner Sache sehr sicher sein. Na türlich war es auch möglich, daß er nur bluffte ... Homer wartete, bis sich die leise Unruhe gelegt hatte, um sofort eine viel größere zu verursachen. 117
»Ich habe einen wissenschaftlichen Sachverständigen hinzugezogen, damit er Ihnen erklärt, was im Pfarrhaus geschehen ist. Und angesichts der Sachlage muß ich aus Sicherheitsgründen darauf bestehen, daß das Verfahren unter Ausschluß der öffentlichkeit stattfindet.« »Sie wollen, daß ich den Gerichtssaal räumen lasse?« fragte der Vorsitzende ungläubig. »Leider, Sir. Mein Kollege Dr. Purvis ist der Ansicht, daß es um so besser ist, je weniger Leute damit zu tun ha ben. Sobald wir Ihnen die Tatsachen dargelegt haben, werden Sie ihm zustimmen. Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf- es ist ein Jammer, daß bereits so viele Leute davon wissen. Dadurch könnten gewisse ... hm . . . ver
traulich zu behandelnde Tatsachen den falschen Leuten zu Ohren kommen.«
Homer funkelte den Zollbeamten an, der mit seinem Hosenboden unruhig auf seinem Stuhl hin und her wetzte.
»Also schön«, seufzte Major Fotheringham. »Das alles ist äußerst ungewöhnlich, aber wir leben auch in unge wöhnlichen Zeiten. Herr Gerichtsschreiber, bitte lassen Sie den Saal räumen!« Nach etlichem Murren und Durcheinander und nach einem abgewiesenen Einspruch der Staatsanwaltschaft wurde die Anordnung ausgeführt. Dann enthüllte Harry Purvis unter den interessierten Blicken der wenigen noch im Raum Anwesenden den Apparat, den er aus dem Aus tin ausgeladen hatte. Nachdem er dem Gerichtshof seine Papiere vorgelegt hatte, trat er in den Zeugenstand. »Ich möchte erklären, Euer Ehren«, begann er, »daß ich mich mit Sprengstoff-Forschung beschäftigt habe, und daher über die Arbeiten des Angeklagten unterrichtet bin.« DieseEröffnungentsprachabsolutderWahrheit. Sie war auch ungefähr die letzte der an diesem Tag getroffe nen Feststellungen, von denen man das behaupten konn te.
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»Sie meinen - Bomben und so weiter?« > »Richtig, aber auf der Basis von Grundlagenforschung. Wir suchen immer nach neuen, besseren Explosivstoffen, wie Sie sich ja denken können. Außerdem sind alle im
Dienst der Regierung tätigen Forscher sowie die gesamte akademische Welt an guten Ideen interessiert, die von au ßerhalb an uns herangetragen werden. Und vor kurzem schrieb uns Onk . . . ah ... Mr. Ferguson, und unterbrei tete uns einen sehr interessanten Vorschlag für eine voll kommen neue Art von Sprengstoff. Das Interessante daran war, daß er nichtexplosive Materialien wie Zucker, Stärke und so weiter dafür verwendete.« »Wie bitte?« fragte der Vorsitzende. »Ein nichtexplosi ver Sprengstoff? Das ist unmöglich.« Harry lächelte mild. »Ich weiß, Sir - so reagiert jeder darauf. Aber wie die meisten wirklich großen Ideen ist auch diese in ihrer Ein fachheit genial. Ich muß allerdings einige Erklärungen ab geben, damit Sie mich verstehen.« Das Gericht sah ihn sehr aufmerksam, aber auch leicht beunruhigt an. Harry schloß daraus, daß die Herren wahr scheinlich schon mit Sachverständigen zu tun gehabt hat ten. Er trat zu einem Tisch, der in der Mitte des Saals auf gestellt worden und jetzt mit Phiolen, Rohren und Fla schen mit Flüssigkeit bedeckt war. »Ich hoffe, Mr. Purvis«, sagte der Vorsitzende nervös, »daß Sie nichts Gefährliches vorhaben.« »Natürlich nicht, Sir. Ich möchte nur einige grundle gende wissenschaftliche Prinzipien veranschaulichen. Und ich muß noch einmal darauf hinweisen, wie wichtig es ist, daß nichts davon über diese vier Wände hinaus dringt.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, und alle waren gebührend beeindruckt. »Mr. Ferguson«, begann er, »will eine der Grundkräfte der Natur anzapfen. Es ist eine Kraft, von der jedes Lebe wesen abhängt - eine Kraft, Gentlemen, die auch Sie am 119
Leben erhält, selbst wenn Sie noch nie von ihr gehört ha ben.« Er stellte sich neben den Flaschen und Phiolen auf. »Haben Sie je darüber nachgedacht, wie der Saft das höchste Blatt eines Baumes erreicht? Man braucht sehr viel Kraft, wenn man Wasser auf eine Höhe von dreißig, manchmal sogar hundert Meter pumpen will. Woher kommt diese Kraft? Ich will es Ihnen an einem Beispiel demonstrieren. Hier habe ich einen starken Behälter, der durch eine durchlässige Membrane in zwei Hälften geteilt ist. Auf ei ner Seite der Membrane befindet sich reines Wasser, auf der anderen eine konzentrierte Lösung aus Zucker und anderen Chemikalien, auf die ich nicht näher eingehen möchte. Unter diesen Umständen entsteht ein Druck, den man als osmotischen Druck bezeichnet. Das reine Wasser versucht, durch die Membrane zu dringen, als wolle es die Lösung auf der anderen Seite verdünnen. Ich habe jetzt
den Behälter verschlossen und bitte Sie, den Druckmesser hier rechts zu beobachten - sehen Sie, wo der Zeiger schon steht. Das ist der osmotische Druck. Diese gleiche Kraft wirkt in unseren Körperzellen und sorgt dafür, daß die Flüssigkeiten in Bewegung bleiben. Sie treibt in den Bäumen den Saft von den Wurzeln in die obersten Zweige hinauf. Es ist eine weitverbreitete, sehr starke Kraft. Mr. Ferguson ist der erste, der versucht hat, sie zu bändi gen.« Wieder machte Harry eine Pause und sah den Gerichts hof vielsagend an. »Mr. Ferguson versuchte, die osmoti sche Bombe herzustellen!« Es dauerte einige Zeit, bis alle begriffen hatten. Dann beugte sich Major Fortheringham vor und fragte leise: »Heißt das, daß es ihm geglückt ist, die Bombe herzustel len, und daß sie in seiner Werkstatt explodierte?« »Genau, Euer Ehren! Es ist wirklich ein Vergnügen- ein seltenes Vergnügen, muß ich sagen -, daß ich mit einem so 120
sachverständigen Gericht zu tun habe. Mr. Ferguson'hatte Erfolg gehabt und wollte uns einen Bericht über seine Er findung zukommen lassen, als infolge eines unglückli chen Versehens eine der Sicherheitseinrichtungen der
Bombe versagte. Das Ergebnis kennen Sie. Meiner Mei nung nach genügen meine Ausführungen, um Sie von der Bedeutung dieser Waffe zu überzeugen, vor allem, wenn ich darauf hinweise, daß sie ausschließlich aus leicht zu beschaffenden Chemikalien besteht.« Major Fortheringham, der immer noch verblüfft drein sah, wandte sich an den Staatsanwalt. »Wollen Sie noch Fragen an den Zeugen stellen, Mr. Whiting?«
»Und ob, Euer Ehren! Ich habe noch nie eine so lächerli che ...« »Beschränken Sie sich bitte auf Tatsachen!« »Sehr wohl, Euer Ehren! Darf ich den Zeugen fragen, wie er die große Menge von Alkoholschwaden erklärt, die sofort nach der Explosion auftraten?« »Ich bezweifle, ob die Nase des Inspektors für eine ge naue quantitative Analyse genügt. Aber ich gebe gern zu, daß Alkoholdunst freigesetzt wurde. Die in der Bombe verwendete Lösung enthielt etwa fiinfundzwanzig Pro zent Alkohol. Indem man verdünnten Alkohol benützt, wird die Beweglichkeit der anorganischen lone einge schränkt und der osmotische Druck erhöht - ein äußerst erstrebenswerter Effekt!« Darauf werden sie jetzt eine Weile herumkauen, dachte Harry. Er hatte recht. Es dauerte etliche Minuten, bevor die zweite Frage gestellt wurde. Dann schwenkte der Ver treter der Anklage ein Rohrstück in der Luft. »Welche Funktion hatte dieser Bestandteil?« fragte er so höhnisch, wie es ihm möglich war. Harry tat, als bemerke er die Ironie nicht. »Manometerrohr für die Druckanzeigen«, antwortete er, ohne zu zögern. 121
Das Gericht hatte längst den Boden unter den Füßen verloren, und genau das hatte Harry erreichen wollen. Aber die Anklage hatte einen weiteren Trumpf im Ärmel. Der Zollbeamte und sein Anvvalt flüsterten miteinander. Harry sah Onkel Homer nervös an, der die Achseln zuck te, als wolle er sagen: »Frag mich nicht!« »Ich möchte dem Gericht weiteres Beweismaterial vor legen«, sagte der Anwalt, während ein umfangreiches, in braunes Packpapier eingeschlagenes Paket auf den Tisch gelegt wurde. »Ist das zulässig, Euer Ehren?« protestierte Harry.
»Das gesamte Beweismaterial gegen ... äh . . . meinen Kollegen hätte bereits zu Prozeßbeginn vorgelegt werden müssen.« »Ich nehme meine Feststellung zurück«, wandte der Anwalt rasch ein. »Es handelt sich nicht um Beweismate rial fürdiesen Fall, sondern fürspätere Verhandlungen.« Er
machte eine vielsagende Pause, damit alle begriffen, was er meinte. »Wenn Mr.Ferguson unsere Fragen jetzt jedoch
zufriedenstellend beantwortet, kann die ganze Angele genheit sofort erledigt werden.« Es war nicht zu überse hen, daß der Sprecher eine solche zufriedenstellende Er klärung keineswegs erwartete und schon gar nicht erhoff
te. Er öffnete das Paket, und auf dem Tisch lagen drei Fla schen einer berühmten Whiskymarke.
»Ach«, rief Onkel Homer, »ich habe mich schon ge fragt ...« »Mr. Ferguson«, griff der Vorsitzende ein, »Sie müssen keine Erklärung abgeben, wenn Sie nicht wollen.«
Harry Purvis warf Major Fortheringham einen dankba ren Blick zu. Er erriet, was geschehen war. Die Anklage hatte bei der Durchsuchung der Ruinen von Onkel Ho
mers Laboratorium ein paar Flaschen seines in Eigenregie hergestellten Destülats gefunden. Ihre Vorgangsweise war vermutlich ungesetzlich, da sie über keinen Durchsu 122
chungsbefehl verfügten, daher hatten sie so lange gezö gert, bevor sie das Beweismaterial vorlegten. Der Fall hatte ohnedies vollkommen eindeutig ausgesehen. Jetzt war er offensichtlich wirklich eindeutig. »Diese Flaschen«, erklärte der Vertreter der Krone, »enthalten nicht die auf dem Etikett angegebene Marke. Sie sind offensichtlich als Behälter für die ... ah ... sagen wir mal: chemischen Lösungen des Angeklagten verwen det worden.« Er warf Harry Purvis einen unbarmherzigen Blick zu. »Wir ließen die Lösung analysieren, und die Ergebnisse waren wirklich überraschend. Abgesehen von der abnorm hohen Alkoholkonzentration, kann man den Inhalt dieser Flaschen praktisch nicht von ...« Er kam nie mehr dazu, seine unerbetene und sicherlich unerwünschte Erklärung über Onkel Homers Fähigkeiten zu beenden. Denn in diesem Augenblick nahm Harry Purvis ein unheimliches, pfeifendes Geräusch wahr. Zu erst hielt er es für eine Bombe - aber das war nicht wahr scheinlich, da es keinen Fliegeralarm gegeben hatte. Dann erkannte er, daß das Pfeifen aus der Nähe kam, vom Tisch im Gerichtssaal, von ... »Gehen Sie in Deckung!« brüllte er. Das Gericht unterbrach die Verhandlung mit einer in der britischen Rechtssprechung noch nie dagewesenen Schnelligkeit. Die drei Richter verschwanden hinter dem Pult, die im Saal Anwesenden suchten unter den Bänken Schutz. Einen quälenden Augenblick lang geschah nichts, und Harry fragte sich schon, ob er einen Fehlalarm ausge löst hatte. Dann erfolgte eine dumpfe Explosion, Glas splitterte und es roch wie in einer Destille nach einem Bombentreffer. Langsam tauchte das Gericht aus der Ver senkung auf. Die osmotische Bombe hatte ihre Kraft unter Beweis ge stellt. Wichtiger war allerdings, daß sie das Beweismaterial der Anklage vernichtet hatte. 123
Das Gericht war keineswegs glücklich, als es den Fall abschloß, denn es hatte berechtigterweise den Eindruck, daß seine Würde verletzt worden war. Außerdem würde jeder der Richter zu Hause etliche Erklärungen abgeben müssen: der Alkoholdunst hatte sich überall festgesetzt. Obwohl der Gerichtsschreiber eiligst die Fenster öffnete (von denen merkwürdigerweise keines zerbrochen war), lösten sich die Schwaden nur widerwillig auf. Während Harry Purvis Glassplitter aus seinen Haaren entfernte, fragte er sich, ob es morgen betrunkene Schüler in der Klasse geben würde. Major Fortheringham war zweifellos ein guter Verlierer, denn als sie den verwüsteten Gerichtssaal verließen, sagte er zu Onkel Homer: »Hören Sie, Ferguson, es wird Ewig keiten dauern, bis wir die Molotow-Cocktails bekommen, die uns das Kriegsministerium versprochen hat. Wie wäre es, wenn Sie ein paar Ihrer Bomben für die Homeguard er zeugen? Wenn sie auch keinen Panzer zerstören, so wird doch die Besatzung zumindest betrunken und aktionsun fähig.« »Ich werde es mir überlegen, Major«, antwortete Onkel Homer, den die Ereignisse sichtlich überrollt hatten. Er erholte sich ein wenig, während sie über die engen, kurvenreichen Straßen, die auf beiden Seiten von hohen Steinmauern begrenzt waren, zum Pfarrhaus zurückfuh ren. Als sie ein relativ gerades Stück vor sich hatten und es nicht mehr gefährlich war, mit dem Fahrer zu sprechen, bemerkte Harry: »Ich hoffe, Onkel, daß du nicht die Ab sicht hast, diese Schwarzbrennerei wieder aufzubauen. Sie werden dich nämlich nicht aus den Augean lassen, und beim zweitenmal kommst du nicht mehr so billig da von.« »Also schön«, stimmte der Onkel mürrisch zu. »Diese verdammten Bremsen! Ich habe sie erst knapp vor dem Krieg nachstellen lassen!« 124
»He!« rief Harry. »Gib acht!« ' Aber es war schon zu spät. Sie hatten eine Kreuzung er reicht, an der ein funkelnagelneues Stopschild stand. On kel Harry bremste scharf, aber einen schrecklichen Au genblick lang geschah nichts. Dann reagierten die Räder auf der linken Seite, während die rechten sich fröhlich weiterdrehten. Der Wagen beschrieb eine U-Kurve, zum Glück ohne umzustürzen, und landete im Straßengraben; der Kühler zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Harry sah seinen Onkel vorwurfsvoll an. Er wollte ihm
gerade entsprechende Vorhaltungen machen, als aus der Querstraße ein Motorrad auftauchte und neben ihnen hielt. Es war also doch nicht ihr Glückstag. Der Dorfpolizist
war auf der Lauer gelegen und hatte darauf gewartet, daß Autofahrer die neue Tafel übersahen. Er stellte sein Mo torrad am Straßenrand ab und steckte seinen Kopf durch das Fenster des Austin. »Ist alles in Ordnung, Mr.Ferguson?« fragte er. Dann rümpfte er die Nase und sah aus wie Zeus, wenn er einen Blitz schleudern will. »So einfach geht das nicht. Ich muß Sie anzeigen. In alkoholisiertem Zustand fahren ist ein sehr ernstes Vergehen.« »Aber ich habe den ganzen Tag keinen Schluck getrun ken«, protestierte Homer und fuchtelte dem Polizisten mit dem alkoholgetränkten Ärmel unter der Nase herum. »Und das soll ich glauben?« schnaubte der gereizte Hü ter des Gesetzes und zückte sein Notizbuch. »Sie werden mich leider auf das Polizeirevier begleiten müssen. Ist we nigstens Ihr Freund so nüchtern, daß er fahren kann?« Einen Augenblick lang antwortete Harry nicht. Er war damit beschäftigt, mit dem Kopf gegen das Armaturen brett zu schlagen. »Und was haben sie mit deinem Onkel angefangen?« fragten wir Harry. 125
»Er bekam ein Strafmandat über fünf Pfund, und der Führerschein wurde ihm wegen Fahrens in alkoholisier tem Zustand entzogen. Leider war Major Fortheringham nicht Vorsitzender, als der Fall verhandelt wurde, aber die anderen beiden Richter vvaren noch im Amt. Wahrschein lich fanden sie, daß alles seine Grenzen hat, selbst wenn er in diesem Fall unschuldig war.« »Und hast du je einen Pfennig von seinem Geld be kommen?« »Keine Bange! Er war natürlich sehr dankbar und hat mir gesagt, daß er mich in sein Testament aufnehmen wird. Aber was glaubt ihr, was er tat, als ich das letztemal bei ihm war? Er suchte das Lebenselixier.« Harry seufzte angesichts der unglaublichen Ungerech tigkeit des Schicksals. »Manchmal fürchte ich beinahe, daß er es gefunden hat. Die Ärzte behaupten, daß er der gesündeste Siebzigjäh rige ist, mit dem sie je zu tun hatten. Also bestand mein gesamter Gewinn aus der Geschichte in einer interessan ten Erinnerung und einem kolossalen Kater.« »Einem Kater?« fragte Charlie Willis. »Ja«, antwortete Harry mit entrücktem Blick. »Die Zöll ner hatten nämlich nicht alle Beweisstücke gefunden. Wir mußten den Rest . . . ah . . . vernichten. Wir brauchten fast eine ganze Woche dazu. Während dieser Zeit erfanden wir alles mögliche - bekamen aber nie heraus, wozu es gut war.«
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Die widerspenstige Orchidee
LJbwohl nur wenige Leute im >Weißen Hirschen< be reit sind zuzugeben, daß auch nur eine von Harry Purvis' Geschichten der Wahrheit nahekommt, sind sich alle dar über einig, daß manche etwas wahrscheinlicher sind als andere. Und in bezug auf Wahrscheinlichkeit wird die Angelegenheit mit der widerspenstigen Orchidee sehr niedrig eingeschätzt. Ich weiß nicht mehr, welches geniale Gambit Harry verwendete, um diese Erzählung anzubringen: vielleicht nahm ein Orchideenliebhaber sein letztes Ungeheuer in die Bar mit und brachte ihn dadurch auf den Gedanken.
Aber ich erinnere mich an die Geschichte, und darauf kommt es schließlich an.
Diesmal betraf das Abenteuer keinen von Harrys zahl reichen Verwandten, und er drückte sich darum zu erklä ren, wieso er über so viele peinliche Details Bescheid wuß
te. Der Held - wenn man es so bezeichnen kann - dieses Treibhaus-Epos' war ein harmloser kleiner Angestellter namens Hercules Keating. Und falls Sie annehmen, daß dies der unwahrscheinlichste Teil der Geschichte ist, muß ich Sie um etwas Geduld bitten. Hercules ist kein Name, der seinem Träger Freude berei tet, aber er ist ausgesprochen unangenehm, wenn dieser noch dazu nur einen Meter fünfzig groß ist und aussieht, als müsse er erst einen Bodybuilding-Kurs absolvieren, bevor man ihn auch nur als Federgewicht einzustufen be reit wäre. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, warum Hercules kaum gesellschaftlichen Verkehr pflegte und alle seine wirklichen Freunde in Töpfen in einem feuchten Treibhaus im Hintergrund seines Gartens wuchsen. Er 127
war sehr bedürfnislos und gab nur wenig Geld für sich aus; daher war seine Sammlung von Orchideen und Kak teen wirklich beachtlich. Im Kreise der Kakteenliebhaber war er eine Berühmtheit und erhielt aus den fernsten Winkeln der Welt Pakete, die nach Schimmel und tropi schem Dschungel rochen. Hercules hatte eine einzige lebende Verwandte, und es wäre schwer gewesen, einen größeren Gegensatz zu ihm zu finden als Tante Henrietta. Sie war kräftig gebaut, ei nen Meter achtzig groß, trug für gewöhnlich Tweedkleider in auffallenden Mustern, fuhr unbekümmert und tempe
ramentvoll einen Jaguar und war Kettenraucherin. Ihre El tern hatten sich einen Sohn gewünscht und hatten nie herausgefunden, ob ihr Wunsch in Erfüllung gegangen war. Henrietta verdiente ihren - ziemlich aufwendigen Lebensunterhalt, indem sie Hunde in den verschieden sten Formen und Farben züchtete. Man sah sie selten ohne ein paar ihrer letzten Produkte, die nie zu den Schoß hündchen gehörten, die Damen gern in ihre Handtasche stecken. Der Keating-Zwinger war auf dänische Doggen, deutsche Schäferhunde und Bernhardiner spezialisiert. Henrietta, die die Männer zu Recht als das schwächere Geschlecht verachtete, hatte nie geheiratet. Dennoch hegte sie ein onkelhaftes (ja, das ist das einzig passende Wort) Interesse an Hercules, und besuchte ihn beinahe an jedem Wochenende.Es war eine merkwürdige Beziehung: wahrscheinlich fand Henrietta, daß Hercules ihrem Uber legenheitsgefühl gut tat. Falls er ein Musterexemplar des männlichen Geschlechts sein sollte, dann waren Männer wirklich armselige Wesen. Dennoch war Henrietta diese Motivation nicht bewußt, und sie schien ihren Neffen auf richtig zu mögen. Sie gab sich herablassend, war aber nie unfreundlich. Wie zu erwarten war, förderte Henriettas Aufmerksam keit Hercules' an und für sich gut entwickelten Minder wertigkeitskomplex. Zuerst hatte er seine Tante ertragen; 128
dann begann er, ihre regelmäßigen Besuche, ihre dröh nende Stimme und ihre knochenzermalmenden Hände drücke zu fürchten; und schließlich haßte er sie. Allmäh lich wurde dieser Haß zu dem dominierenden Gefühl in seinem Leben; es überstieg seine Liebe zu den Orchideen. Aber er war sorgfältig bemüht, ihn nicht zu zeigen. Wenn Tante Henrietta erfuhr, wie er zu ihr stand, würde sie ihn wahrscheinlich in Stücke reißen und ihrem Wolfsrudel zum Fraß vorwerfen. Hercules sah daher keine Möglichkeit, seinen aufge stauten Haßgefühlen Luft zu machen. Er mußte Tante Henrietta gegenüber höflich sein, auch wenn er sie am liebsten ermordet hätte. Und er hätte sie oft ermorden wollen, obwohl er wußte, daß er etwas Derartiges nie zu wege bringen würde. Bis eines Tages ... Der Händler behauptete, daß die Orchidee >irgendwo her aus dem Amazonasgebiet< stamme. Als Hercules sie zum erstenmal erblickte, bot sie keinen sehr anziehenden Anblick, nicht einmal für einen Orchideenliebhaber wie ihn. Eine formlose, etwa faustgroße Wurzel - das war al
les. Sie sah verfault aus und roch schwach nach Aas. Hercules war keineswegs davon überzeugt, daß sie le bensfähig war, und teilte das auch dem Händler mit. Viel leicht konnte er sie deshalb um einen lächerlich geringen Betrag erstehen; jedenfalls nahm er sie ohne große Begei sterung mit nach Hause. Einen Monat lang gab sie kein Lebenszeichen von sich, aber das störte Hercules nicht. Dann tauchte eines Tages ein winziger grüner Trieb auf und schlängelte sich ans Licht. Danach machte die Pflanze allerdings rasche Fortschritte. Bald besaß sie einen kräftigen, armdicken, fleischigen, leuchtend giftgrünen Stamm. Er wies an seinem oberen Ende mehrere merkwürdige Verdickungen auf; das war alles. Hercules geriet in Aufregung: er war davon über zeugt, daß eine vollkommen neue Art in seinem Ge sichtskreis aufgetaucht war. 129
Das Wachstum beschleunigte sich nun phantastisch: die Pflanze war bald größer als Hercules, auch wenn das nicht viel besagen will. Außerdem wurden die Verdickungen größer und es sah so aus, als würde die Orchidee jeden Augenblick zu blühen beginnen. Hercules wartete ge spannt, denn er wußte, wie kurzlebig manche dieser Or chideenblüten sein können, und verbrachte so viel Zeit wie möglich im Treibhaus. Trotz seiner Wachsamkeit ging die Verwandlung des Nachts vor sich, während er schlief. Am Morgen war die Orchidee von acht schwankenden Ranken gesäumt, die beinahe bis zum Bodeij reichten. Sie mußten sich innerhalb der Pflanze entwickelt haben und mit einer - für die Pflanzenwelt - explosiven Geschwin digkeit hervorgebrochen sein. Hercules starrte das Phä nomen verblüfft an und begab sich sehr nachdenklich zu
seiner Arbeitsstelle. Als er am Abend die Pflanze goß und die Erde unter suchte, stellte er etwas noch Merkwürdigeres fest. Die Ranken wurden dicker, und sie verhielten sich nicht voll kommen regungslos. Sie vibrierten leicht, aber unüber sehbar, als führten sie ein eigenes Leben. Trotz seines In teresses und seiner Begeisterung war diese Tatsache für Hercules doch einigermaßen beunruhigend. Ein paar Tage später konnte es keinen Zweifel mehr ge ben. Wenn er sich der Orchidee näherte, streckten sich ihm die Ranken in unangenehm suggestiver Weise entge gen. Sie erweckten so sehr den Eindruck, daß sie hungrig waren, daß Hercules sich sehr unbehaglich fühlte und sich in seinem Unterbewußtsein etwas regte. Es dauerte eine Weile, bevor es ihm einfiel, dann sagte er sich: »Natürlich! Wie dumm von mir!« - und marschierte in die örtliche Leihbücherei. Hier verbrachte er eine sehr interessante halbe Stunde, während er eine kleine Erzählung von ei nem gewissen H.G.Wells mit dem Titel >Die Blüte der seltsamen Orchidee« las. »Mein Gott!« dachte Hercules, als er mit der Lektüre 130
tertig war. Bis jetzt strömte die Pflanze noch keinen fremd artigen Geruch aus, der ihr Opfer betäubte, aber alle üb rigen Charakteristika stimmten nur zu genau überein. Hercules kehrte sehr verwirrt nach Hause zurück. Er öffnete die Tür des Treibhauses, und sein Blick glitt über die Reihen seiner Schützlinge hinweg zu seinem Prachtexemplar. Er schätzte sorgfältig die Länge der Ran ken - er ertappte sich dabei, daß er sie in Gedanken schon als Tentakel bezeichnete - und näherte sich ihnen bis auf sichere Entfernung. Die Pflanze machte zweifellos einen wachsamen, drohenden Eindruck, der viel eher einem Tier als einer Pflanze angemessen war; Hercules erinnerte sich an die Geschichte vom unglückseligen Dr. Franken stein, und fand sie gar nicht so unterhaltsam.
Aber das war doch einfach lächerlich! Solche Dinge pas sierten nur in Romanen. Natürlich, es gab eine Möglich keit, sich zu überzeugen ... Hercules ging ins Haus und kehrte nach einigen Minu ten mit einem Besenstiel zurück, an den er ein Stück rohes Fleisch gebunden hatte. Er kam sich unglaublich dumm vor, als er sich der Orchidee wie ein Löwenbändiger nä herte, der eines seiner Tiere füttert. Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann begannen zwei Ranken aufgeregt zu zucken. Sie schwankten hin und her, als fasse die Pflanze einen Entschluß. Dann schossen sie unvermittelt mit solcher Geschwindigkeit vor, daß die Bewegung praktisch nicht wahrzunehmen war. Sie wickelten sich um das Fleisch, und Hercules fühlte einen kräftigen Zug am Besenstiel. Dann war das Fleisch weg: die Orchidee drückte es sozusagen an ihren
Busen. »Heiliger Strohsack!« brüllte Hercules. Er verwendete solche Kraftausdrücke wirklich äußerst selten.
Vierundzwanzig Stunden lang gab die Orchidee keine weiteren Lebensäußerungen von sich. Sie wartete darauf, daß das Fleisch ablag, und sie entwickelte gleichzeitig ih
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ren Verdauungsapparat. Am nächsten Tag hatte ein Netz von Wurzeln - so sahen sie jedenfalls aus - den noch im mer vorhandenen Fleischbrocken überzogen. Am Abend war das Fleisch weg. Die Pflanze hatte Blut geleckt. Hercules beobachtete sein Musterexemplar mit sehr gmischten Gefühlen. Zeitweise verursachte es ihm bei nahe Alpträume, und er sah eine ganze Reihe schreckli cher Möglichkeiten vor sich. Die Orchidee war jetzt sehr kräftig, und wenn er unversehens in ihre Reichweite ge riet, war er erledigt. Die Gefahr war natürlich minimal. Er hatte eine Rohrleitung verlegt, so daß die Orchidee aus si
cherer Entfernung bewässert werden konnte, und das weniger konventionelle Futter warf er einfach in Reich weite ihrer Tentakel. Sie aß jetzt täglich ein halbes Kilo ro hes Fleisch, und er hatte das unangenehme Gefühl, daß sie noch viel größere Mengen vertilgen konnte, falls sie Gelegenheit dazu bekam. Insgesamt überwog bei Hercules allerdings das Triumphgefühl darüber, daß ihm ein solches botanisches Wunder in die Hände geraten war. Wenn er wollte, konnte er der berühmteste Orchideenzüchter der Welt werden. Es war für seinen etwas beschränkten Gesichts kreis bezeichnend, daß er nie auf die Idee kam, außer Or chideenzüchtern könnten sich auch noch andere Leute für seinen Liebling interessieren. Das Geschöpf war jetzt etwa einen Meter achtzig groß und wuchs immer noch - allerdings viel langsamer als zu vor. Hercules hatte alle anderen Pflanzen aus dieser Ecke des Treibhauses entfernt, nicht so sehr, weil er Kanniba lismus von seiten der Orchidee befürchtete, sondern um sie gefahrlos pflegen zu können. Er hatte quer durch das Treibhaus ein Seil gespannt, so daß er nicht zufällig in die Reichweite der acht herunterhängenden Arme geraten konnte. 132
Offensichtlich verfügte die Orchidee über ein hochent wickeltes Nervensystem und über Eigenschaften, die bei nahe als Intelligenz bezeichnet werden konnten. Sie wußte, wann Fütterungszeit war, und verlieh ihrer Freude darüber unmißverständlich Ausdruck. Noch phantastischer war jedoch - obwohl Hercules seiner Sache nicht ganz sicher war -, daß sie anscheinend Geräusche
hervorbringen konnte. Gelegentlich, knapp vor den Mahlzeiten, bildete er sich ein, ein unglaublich hohes Pfei
fen, an der Grenze des Hörbaren, zu vernehmen. Die Töne hätten von einer neugeborenen Fledermaus stammen können; Hercules fragte sich, welchem Zweck sie dienten. Lockte die Orchidee ihre Beute durch dieses Geräusch an? Wenn ja, verfehlte es bei ihm jedenfalls seine Wirkung. Während Hercules diese interessanten Entdeckungen machte, kümmerte sich Tante Henrietta weiterhin um ihn, und ihre Hunde, die nie so gut dressiert waren, wie sie be hauptete, verwüsteten bei ihren Besuchen sein Heim. Für gewöhnlich kam sie am Sonntagnachmittag die Straße heraufgebraust, einen Hund neben sich und den zweiten im Kofferraum. Dann nahm sie immer zwei Stufen auf einmal, sprengte Hercules' Trommelfell beinahe mit ihrer Begrüßung, lähmte ihn mit ihrem Händedruck und blies ihm Zigarrenrauch ins Gesicht. Früher einmal hatte er da vor Angst gehabt, daß sie ihn auch noch küssen würde, aber inzwischen hatte er längst begriffen, daß ein so ty pisch weibliches Verhalten ihrem Wesen fremd war. Tante Henrietta stand Hercules' Orchideen etwas ver ächtlich gegenüber. Sie hielt es für abwegig, seine Freizeit in einem Treibhaus zu verbringen. Wenn sie Dampf ab lassen wollte, fuhr sie auf Großwildjagd nach Kenia. Da durch wurde sie Hercules keineswegs sympathischer, denn er verabscheute Blutvergießen. Trotz seiner wach senden Abneigung gegen seine dynamische Tante berei tete er jedoch pflichtbewußt jeden Sonntagnachmittag den Tee für sie zu und plauderte scheinbar vollkommen 133
freundlich mit ihr. Henrietta kam nie auf die Idee, daß Hercules den Tee, den er ihr einschenkte, am liebsten ver giftet hätte: unterhalb ihrer rauhen Schale war sie ein wirklich gutherziger Mensch, der über solche Vorstellun gen entsetzt gewesen wäre. Hercules erwähnte seinen pflanzlichen Oktopus Tante Henrietta gegenüber nicht. Gelegentlich hatte er ihr inter essante Exemplare von Orchideen gezeigt, aber dieses Prachtstück hielt er geheim. Vielleicht bereitete sein Un terbewußtsein schon den Boden für den teuflischen Plan vor, den er noch gar nicht gefaßt hatte . . . Eines Sonntagabends, als das Röhren des Jaguar in der Nacht verklungen war und Hercules seine zerrütteten Nerven im Treibhaus beruhigte, tauchte die Idee zum er stenmal in seinem Gehirn auf. Er betrachtete gerade die Orchidee und ihre jetzt daumendicken Ranken, als er plötzlich eine sehr angenehme Vision hatte. Er stellte sich vor, wie sich Tante Henrietta hilflos in der Umklamme rung des Ungeheuers wand und seinen fleischfressenden Tentakeln nicht entkommen konnte. Es wäre das vollkom mene Verbrechen! Der verzweifelte Neffe war zu spät da zugekommen, um noch helfen zu können, und wenn die Polizei auf seinen Anruf hin eintraf, würde sie auf den er sten Blick erkennen, daß es sich um einen bedauerlichen Unfall handelte. Natürlich würde es eine gerichtliche Un tersuchung geben, aber angesichts von Hercules' deutlich zur Schau getragenem Kummer würde der Untersu chungsrichter sicherlich nicht zu genau nachforschen . . . Je länger er sich mit dieser Idee befaßte, desto besser ge fiel sie ihm. Er fand keinen schwachen Punkt, vorausge setzt, daß die Orchidee mitspielte. Das war natürlich das größte Problem. Er mußte ein Trainingsprogramm für das Geschöpf aufbauen. Es sah bereits sehr teuflisch aus; er mußte dafür sorgen, daß sein Temperament seinem Aus sehen entsprach
Wenn man bedenkt, daß Hercules auf diesem Gebiet 134
keine Erfahrung hatte und sich kaum an Sachverstäftdige um Rat wenden konnte, muß man zugeben, daß er das Ganze sehr geschickt einfädelte. Er benützte eine Angel rute, mit der er der Orchidee knapp außerhalb ihrer Reichweite Fleischstücke vor die Nase hielt, bis das Ge schöpf wild mit seinen Tentakeln um sich schlug. Bei sol chen Gelegenheiten konnte man ihr schrilles Kreischen deutlich hören, und Hercules fragte sich, wie sie den Ton hervorbrachte. Er wußte auch nicht, wie ihre Sinnesor gane beschaffen waren, aber dieses Rätsel hätte er nur durch eine genaue Untersuchung lösen können. Falls alles glatt ging, würde Tante Henrietta vielleicht kurz Gelegen heit haben, diese interessanten Details zu begutachten obwohl sie wahrscheinlich zu beschäftigt sein würde, um sie für die Nachwelt aufzuzeichnen. Zweifellos war das Biest kräftig genug, um mit seinem Opfer fertigzuwerden. Es entriß Hercules einmal einen Besenstiel, und obwohl diese Tatsache nicht viel besagte, zauberte der Krach, mit dem das Holz einen Augenblick später zersplitterte, ein zufriedenes Lächeln auf die Lip pen des Trainers. Er begann, seiner Tante gegenüber viel freundlicher und aufmerksamer zu sein. Er war in jeder Beziehung der vollkommene Neffe. Als Hercules der Ansicht war, daß seine Taktik die Or chidee in die richtige Verfassung gebracht hatte, überlegte er, ob er sie mit einem lebenden Köder testen sollte. Mit diesem Problem schlug er sich einige Wochen lang herum und musterte in dieser Zeit jede Katze und jeden Hund, an denen er auf der Straße vorbeikam, nachdenklich, gab aber schließlich die Idee aus einem sehr merkwürdigen Grund auf. Er war einfach zu gutherzig dazu. Tante Hen rietta würde das erste Opfer sein. Er ließ die Orchidee zwei Wochen lang hungern, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzte. Länger wollte er es nicht riskieren - er wollte das Biest nicht schwächen, son dern nur seinen Appetit anregen, damit das Ergebnis 135
hundertprozentig sicher war. Er trug also die Teetassen in die Küche, setzte sich Tante Henrietta gegenüber und be merkte beiläufig: »Ich habe etwas, das ich dir zeigen möch te, Tantchen. Es soll eine Überraschung sein. Du wirst dich totlachen.« Diese Beschreibung entsprach zwar nicht genau den Tatsachen, vermittelte jedoch eine ungefähre Vorstellung. Tantchen nahm die Zigarre aus dem Mund und sah Hercules überrascht an. »Na sowas!« dröhnte sie. »Es geschehen noch Wunder! Was hast du dir denn ausgedacht, du Schurke?« Sie schlug ihn freundschaftlich auf den Rücken, so daß er einen Er stickungsanfall bekam. »Du wirst es nicht glauben«, keuchte er, als er wieder zu Atem gekommen war. »Es befindet sich im Treibhaus.« »Was?« fragte Tantchen sichtlich verblüfft. »Ja, komm mit und sieh es dir an! Es wird Aufsehen er regen.» Tantchen schnaubte ungläubig, folgte jedoch Hercules ohne weitere Fragen. Die beiden Schäferhunde, die damit beschäftigt waren, den Teppich zu zerbeißen, sahen sie neugierig an und erhoben sich halb, aber sie winkte ab. »Schon gut, Jungs«, sagte sie barsch, »ich bin in einer Minute wieder da.« Hercules hielt dies für nicht sehr wahrscheinlich. Es war ein dunkler Abend, und im Treibhaus brannte kein Licht. Als sie eintraten, brummte Tantchen: »Mein Gott, Hercules, hier stinkt es wie in einem Schlachthaus. Ich habe einen solchen Gestank zum letztenmal erlebt, als ich diesen Elefanten in Bulawayo erlegte und wir ihn eine Woche lang nicht finden konnten.« »Es tut mir leid, Tantchen«, entschuldigte sich Hercules, während er sie vorwärtsschob, »es ist ein neues Dünge mittel. Die Ergebnisse sind wirklich erstaunlich. Komm, nur noch ein paar Schritte! Es soll eine echte Uberraschung sein.« 136
»Ich hoffe, daß es sich um keinen dummen Scherz han delt«, brummte Tantchen mißtrauisch, während sie wei terstapfte. »Das ist es bestimmt nicht«, antwortete Hercules, der die Hand auf den Lichtschalter gelegt hatte. Er konnte den drohenden Umriß der Orchidee gerade noch ausnehmen: Tantchen befand sich drei Meter vor ihr. Er wartete, bis sie tief in die Gefahrenzone eingedrungen war, dann betä tigte er den Schalter. Einen Augenblick lang ereignete sich nichts. Dann stemmte Tante Henrietta die Arme in die Seiten und bleib vor der riesigen Orchidee stehen. Einen Augenblick lang
befürchtete Hercules, daß sie sich zurückziehen würde, bevor die Pflanze zur Tat schreiten konnte, dann erkannte er, daß Tantchen das Ungetüm unbeeindruckt musterte, ohne sich darüber klarwerden zu können, was, zum Teu fel, das war. Es dauerte volle fünf Sekunden, bevor sich die Orchidee bewegte. Dann reagierten die Tentakel blitzschnell - aber nicht so, wie Hercules erwartet hatte. Die Pflanze schlang sie dicht und schützend um sich selbst und stieß gleichzei tig schrille Angstschreie aus. Enttäuscht und erschüttert erfaßte Hercules die schreckliche Wahrheit. Seine Orchidee war ein ausgemachter Feigling. Viel leicht war sie fähig, mit den wilden Tieren am Amazonas fertigzuwerden, aber als sie nun plötzlich Tante Henriet ta gegenüberstand, erlitt sie einen Nervenzusammen bruch. Das Opfer hingegen beobachtete das Geschöpf voller Staunen, das rasch einem anderen Gefühl Platz machte. Sie drehte sich um und zeigte anklagend auf ihren Nef fen. »Hercules!« dröhnte sie. »Das arme Ding ängstigt sich zu Tode. Hast du es tyrannisiert?« Hercules konnte nur beschämt und frustriert den Kopf hängen lassen. 138
»Nnnnnein, Tantchen«, stammelte er. »Es ist wahr scheinlich von Natur aus nervös.« »Ich kenne mich mit Tieren aus. Du hättest mich schon früher hierherbringen sollen. Man muß sie fest, aber liebe voll behandeln. Freundlichkeit hilft immer, solange man ihnen zeigt, wer der Herr ist. Aber, aber, Kleines, du brauchst keine Angst vor Tantchen zu haben, sie tut dir nichts . . . « Es war ein Anblick, der einem den Magen umdrehen könnte, dachte der verzweifelte Hercules. Tante Henrietta tätschelte und streichelte das Biest überraschend sanft, liebkoste es, bis die Tentakel sich entspannten und das schrille Kreischen verstummte. Nach einigen Minuten schien es den Schock überwunden zu haben. Als sich schließlich eine der Tentakel vorsichtig streckte und Hen riettas knorrige Finger streichelte, floh Hercules leise schluchzend. Von diesem Tag an war er ein gebrochener Mann. Schlimmer war, daß er den Folgen des geplanten Verbre chens nie mehr entgehen konnte. Henrietta hatte sich ein neues Haustier zugelegt und besuchte ihn jetzt nicht nur an den Wochenenden, sondern auch während der Woche. Sie traute Hercules offensichtlich nicht zu, daß er die Or chidee richtig behandelte, und verdächtigte ihn immer noch, sie zu tyrannisieren. Sie brachte ziemlich abgela gerte Brocken mit, die sogar ihre Hunde abgelehnt hatten, die die Orchidee aber begeistert verschlang. Der Geruch, der bis jetzt auf das Treibhaus beschränkt gewesen war, begann auch ins Haus einzudringen . . , »So steht die Angelegenheit jetzt«, schloß Harry Purvis, als er diese unglaubliche Geschichte beendete, »und we nigstens zwei Beteiligte sind zufrieden. Die Orchidee ist glücklich, und Tante Henrietta hat noch etwas (oder je manden?), den sie betreuen kann. Von Zeit zu Zeit erleidet das Geschöpf einen Nervenzusammenbruch, wenn sich eine Maus ins Treibhaus verirrt, und dann stürzt sich 139
f
Tante Henrietta sofort auf die Orchidee und beruhigt sie. Hercules hingegen wird den beiden bestimmt keine Schwierigkeiten mehr machen. Er ist in vegetabile Inakti vität versunken: je mehr Zeit vergeht, desto ähnlicher wird er einer Orchidee. Natürlich einer harmlosen.«
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Kalter Krieg
llarry Purvis' Erzählungen wirken unter anderem des halb so verdammt überzeugend, weil die Details so wahr scheinlich klingen. Hören Sie sich zum Beispiel die fol gende an! Ich habe Orts- und andere Angaben so genau wie möglich recherchiert - ich mußte es ja tun, wenn ich diesen Bericht schreiben wollte -, und alles stimmt! Wie soll man es erklären, wenn nicht - aber urteilen Sie selbst ... »Ich habe oft bemerkt«, begann Harry, »daß in der Presse kleine Bruchstücke von Informationen erscheinen, und daß man oft erst Jahre später erfährt, wie die Angele genheit ausgegangen ist. Ich habe ein besonders schönes Beispiel dafür. Im Frühjahr 1954 - ich habe das Datum nachgeschlagen, es war am 19. April - wurde vor der Kü ste von Florida ein Eisberg gesichtet. Ich weiß noch, daß ich diese Nachricht für äußerst seltsam hielt. Wie ihr wißt, entsteht der Golfstrom in der Meerenge von Florida, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie ein Eisberg so weit nach Süden treiben konnte, ohne zu schmelzen. Aber dann vergaß ich den Artikel, weil ich ihn für eine der Enten hielt, wie sie die Zeitungen in der Saure-Gurken-Zeit bringen. Und vor etwa einer Woche traf ich einen Freund, der Commander in der US Navy gewesen ist und der mir die ganze erstaunliche Geschichte erzählte. Sie ist so bemer kenswert, daß ich sie unbedingt weitergeben muß, obwohl ich davon überzeugt bin, daß viele Leute sich weigern werden, sie zu glauben. Diejenigen von euch, die sich mit inneramerikanischen Problemen auskennen, werden wissen, daß etliche der 141
siebenundvierzig Staaten Florida den Anspruch auf den Titel >Sonnenschein-Staat< streitig machen. New York, Maine oder Connecticut kommen dabei natürlich nicht in Frage, aber Kalifornien betrachtet Floridas Behauptung beinahe als persönliche Beleidigung und bemüht sich im mer, sie zu widerlegen. Die Leute in Florida wehren sich, indem sie auf den berühmten Los-Angeles-Smog verwei sen, dann fragen die Kalifornier besorgt >Ist bei euch nicht der nächste Hurrikan fällig?<, worauf die Floridianer antworten: >Ihr könnt euch darauf verlassen, daß wir euch bei einem Erdbeben Hilfslieferungen schicken. < So geht es hin und her, und hier tritt mein Freund Commander Daw son in Erscheinung. Der Commander hatte auf U-Booten gedient, war aber jetzt im Ruhestand. Er hatte als technischer Berater bei ei nem Film über die Einsätze der Unterseeboote fungiert, als man ihm eines Tages einen sehr eigenartigen Vorschlag machte. Ich werde jetzt nicht sagen, daß die kalifornische Handelskammer dahintersteckte, weil mir das eine Ver leumdungsklage einbringen könnte. Aber ihr seid ja im stande, euch selbst ein Urteil zu bilden. Die Idee war echt Hollywood. Das nahm ich jedenfalls zuerst an, bis mir einfiel, daß der gute alte Lord Dunsany in einer seiner Geschichten ein ähnliches Thema verwendet hatte. Vielleicht war der kalifornische Sponsor ein Fan von Jorkens, genau wie ich. Der Plan war überaus einfach und kühn. Man bot Commander Dawson einen beträchtlichen Betrag dafür, einen künstlichen Eisberg nach Florida zu steuern. Wenn es ihm darüber hinaus gelang, ihn während der Hauptsai son in Miami Beach stranden zu lassen, sollte er einen Bo nus erhalten.
Ich muß wohl nicht betonen, daß der Commander be geistert annahm; er stammte aus Kansas, sah also das Ganze vollkommen leidenschaftslos als rein geschäftli chen Auftrag. Er holte einen Teil seiner früheren Besat 142
zung zusammen, ließ sie Verschwiegenheit geloben,1 war tete geduldig in den Korridoren von Washington und er reichte schließlich, daß man ihm ein veraltetes U-Boot leihweise überließ. Dann suchte er eine große Fabrik für Klimaanlagen auf, überzeugte sie davon, daß sein Kredit und sein Verstand in Ordnung waren, und ließ die Gefrier anlage in einer riesigen Blase auf dem Deck des U-Boots
aufstellen. Um einen durch und durch soliden Eisberg zu erzeu gen, auch wenn er nur klein sein soll, braucht man eine unvorstellbare Menge Energie, deshalb schloß man einen Kompromiß. Unterhalb einer meterdicken Eisschicht würde die >Frigide Freda<, wie sie getauft wurde, hohl sein. Von außen würde sie sehr eindrucksvoll wirken, ge nau wie die Kulissen für einen Hollywoodfilm. Allerdings würde niemand außer dem Commander und seinen Män nern ihr Innenleben kennen. Sobald Wind und Strömung günstig waren, wollten sie sie treiben lassen, und sie würde lang genug durchhalten, um die beabsichtigte Auf regung und Verzweiflung hervorzurufen. Natürlich mußten unendlich viele technische Probleme gelöst werden. Die Anlage würde etliche Tage auf Hoch touren laufen müssen, um Freda zu schaffen, und sie mußte möglichst nahe vor ihrem Zielgebiet in See stechen. Das bedeutete, daß das U-Boot - das wir Marlin nennen wollen -, von einer nicht zu weit von Miami entfernten Ba sis aus operieren mußte. Zunächst zog man die Florida Keys in Betracht, verwarf den Plan aber sofort wieder. Eine Geheimhaltung war dort unmöglich - es gibt inzwischen mehr Angler als Moskitos in dieser Gegend, und ein U-Boot würde sofort entdeckt werden. Selbst wenn die Marlin so tat, als würde sie nur schmuggeln, würde ihr das niemand abnehmen. Diesen Plan mußte man also aufgeben. Der Commander mußte sich auch mit einem weiteren Problem befassen. Die Küstengewässer um Florida sind 143
sehr seicht, und obwohl Freda nur ein paar Meter Tiefgang haben würde, weiß natürlich jeder, daß ein anständiger Eisberg zum Großteil unter der Wasseroberfläche liegt. Es wäre etwas unrealistisch gewesen, einen eindrucksvollen Eisberg über eine Wassertiefe von einem halben Meter driften zu lassen. Damit wäre der Schwindel sofort aufge flogen. Ich weiß nicht, wie der Commander mit diesen techni
schen Problemen fertig wurde, aber soviel ich weiß, führte er im Atlantik, fern von allen Schiffahrtsrouten, einige Tests durch. Der in der Zeitungsnachricht erwähnte Eis
berg war eines der ersten Produkte. Übrigens hätte weder Freda noch einer ihrer Brüder eine Gefahr für die Schiff fahrt dargestellt - da sie hohl waren, wären sie bei einem Zusammenstoß zerbrochen wie Christbaumkugeln. Schließlich waren die Vorbereitungen abgeschlossen. Die Marlin lag nördlich von Miami im Atlantik, und die Gefrieranlage lief auf vollen Touren. Es war eine schöne, klare Nacht, und die Mondsichel ging gerade im Westen unter. DieMarlin hattekeine Positionslichter gesetzt, aber Commander Dawson hielt eifrig nach anderen Schiffen Ausschau. In einer solchen Nacht konnte er ihnen auswei chen, ohne daß sie ihn bemerkten. Freda befand sich noch im Embryo-Stadium. Der tech nische Vorgang bestand darin, daß in einen großen Pla stiksack unterkühlte Luft geblasen und er dann mit Was ser besprüht wurde, bis sich eine Eisschicht bildete. Der Sack konnte entfernt werden, sobald das Eis dick genug war, um nicht unter seinem eigenen Gewicht zu zerbre chen. Eis ist kein sehr gutes Baumaterial, aber Freda mußte ja nicht sehr groß sein. Auch ein kleiner Eisberg würde für die Handelskammer von Florida genauso peinlich sein wie ein kleines Baby für eine ledige Dame. Commander Dawson sah vom Turm aus zu, wie seine Mannschaft mit eiskaltem Wasser und unterkühlter Luft hantierte. Sie besorgten diese ungewohnte Tätigkeit schon 144
sehr geschickt und hatten sogar künstlerische Ambitio nen. Der Commander hatte sie leider daran hindern müs sen, Marylin Monroe in Eis zu modellieren - obwohl er die Idee für eine spätere Realisierung vormerkte. Kurz nach Mitternacht erschreckte ihn ein Blitz im Nor den, und er wandte gerade noch rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie ein roter Schein am Horizont erlosch. >Ein Flugzeug ist abgestürzt, Skipper<, schrie einer der Wachtposten. >Ich habe es deutlich gesehen.< Ohne zu zö gern, gab der Commander Befehl, Kurs nach Norden zu nehmen. Er hatte den Lichtschein genau geortet und nahm an, daß er nur wenige Meilen entfernt war. Freda, die beinahe das gesamte Heck seines Schiffes bedeckte, würde seine Geschwindigkeit kaum beeinträchtigen; au ßerdem hatte er ohnehin keine Möglichkeit, sie rasch los zuwerden. Er stellte die Gefrieranlage ab, damit die Die selmotoren mehr Leistung erbrachten, und schoß mit vol ler Kraft voraus. Etwa dreißig Minuten später entdeckte der Ausguck durch seinen starken Nachtfeldstecher einen treibenden Gegenstand. >Es schwimmt noch<, sagte er. >Es dürfte ein Flugzeug sein - aber ich sehe keine Anzeichen von Leben. Außerdem fehlen die Flügel.< In diesem Augenblick unterbrach ihn ein anderer Aus guckposten. >Skipper, dreißig Grad Steuerbord, was ist das?< Commander Dawson drehte sich um und setzte den Feldstecher an die Augen. Er sah einen kleinen, ovalen Gegenstand, der sich rasch um sich selbst drehte. >Oh, ich fürchte, wir haben Gesellschaft bekommen. Das ist eine Raderantenne - hier muß irgendwo noch ein U-Boot sein.< Dann strahlte er. >Vielleicht können wir uns dann aus dem Ganzen heraushalten<, bemerkte er zu sei nem Zweiten Offizier. >Wir warten nur noch, bis sie mit der Rettungsoperation beginnen, dann schleichen wir uns davon.< 146
>Es wäre möglich, daß wir dabei tauchen und Fredä auf geben müssen. Wahrscheinlich haben sie uns schon auf ihrem Radarschirm entdeckt. Es ist besser, wenn wir lang samer werden und uns wie ein wirklicher Eisberg beneh men<, bemerkte der Zweite. Dawson nickte und erteilte die entsprechenden Befehle. Die Lage spitzte sich zu, und innerhalb der nächsten Mi nuten konnte alles mögliche passieren. Für das andere U-Boot war die Marlin nur ein Punkt auf dem Radar schirm, aber sobald es sein Periskop ausfuhr, würde sein Commander sich den Punkt sehr genau ansehen. Und dann würde der Teufel los sein ... Dawson analysierte die taktische Situation. Es war am besten, fand er, wenn er seine ungewöhnliche Tarnung voll ausnützte. Er befahl, dieMarlin zu wenden, damit ihr Heck zum noch immer getauchten Fremden zeigte. Wenn das andere U-Boot auftauchte, würde sein Commander zwar sehr erstaunt sein, einen Eisberg vor sich zu sehen, aber Dawson hoffte, daß er sich vor allem mit der Ret tungsaktion und weniger mit Freda beschäftigen würde. Er sah zum abgestürzten Flugzeug hinüber - und er lebte seinen zweiten Schock. Es handelte sich tatsächlich um ein höchst eigenartiges Flugzeug - etwas stimmte ganz und gar nicht. >Natürlich<, sagte Dawson seinem Ersten Offizier. >Es hätte uns einfallen müssen - das Ding ist gar kein Flug zeug. Es ist eine Rakete von der Basis in Cocoa - sie kön nen die Schwimmsäcke sehen. Sie haben sich beim Auf prall automatisch mit Luft gefüllt, und das U-Boot hat hier draußen auf die Rakete gewartet, um sie abzuschlep pen.< Er hatte sich daran erinnert, daß sich an der Ostküste von Florida eine große Raketenbasis befand, die den un wahrscheinlichen Namen Cocoa trug und am noch un wahrscheinlicheren Bananenfluß lag. Jedenfalls waren keine Menschenleben in Gefahr, und wenn sich dieMarlin 147
nicht rührte, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach un geschoren davonkommen. Seine Maschinen liefen gerade noch, so daß das U-Boot dem Ruder gehorchte und sie sich hinter ihrer Tarnung verstecken konnten. Freda war groß genug, um den Turm zu verbergen, und aus einer gewissen Entfernung würde die Marlin, selbst bei besserer Beleuchtung, vollkommen unsichtbar sein. Es gab allerdings noch eine schreckliche Möglichkeit
daß das andere U-Boot sie aus prinzpiellen Erwägungen beschoß, weil sie eine Bedrohung für die Schiffahrt dar stellten. Aber nein: sie würden nur die Küstenwache alarmieren, was zwar unangenehm war, aber kein Hin dernis für ihren Plan darstellte. >Es taucht auf<, meldete der Erste. >Zu welcher Klasse gehört es?< Sie betrachteten beide durch ihre Gläser das U-Boot, das jetzt aus dem leicht phosphoreszierenden Ozean hervor kam. Der Mond war beinahe untergegangen, und man konnte Einzelheiten nur schwer ausmachen. Dawson stellte erleichtert fest, daß sich die Antenne nicht mehr drehte, sondern auf die Rakete zeigte. Die Form des Turms war jedoch merkwürdig ... Dann schluckte Dawson, hielt sich das Mikrophon an den Mund und flüsterte seiner Besatzung im Inneren der Marlin zu: >Spricht einer von euch Russisch?< Es folgte eine lange Stille, doch dann kletterte der Ma schinenmaat in den Turm. >Ich kann ein paar Worte, Skipper. Meine Großeltern waren aus der Ukraine. Was ist los?< >Sehen Sie sich das an!< antwortete Dawson grimmig. >Jemand wildert hier unverschämt, und wir sollten es meiner Meinung nach verhindern.<« Harry Purvis hat die unangenehme Gewohnheit, sich auf dem Höhepunkt einer Geschichte zu unterbrechen und noch ein weiteres Bier zu bestellen - oder eigentlich, 148
es sich von jemandem bestellen zu lassen. Ich habe dös so oft erlebt, daß ich längst mit einem raschen Blick auf den Pegel in seinem Glas genau weiß, wann der Höhepunkt kommt. Wir mußten, ob wir wollten oder nicht, geduldig warten, bis er aufgetankt hatte. »Wenn man es sich recht überlegt«, meinte er nach
denklich, »hat der Commander des russischen U-Boots wirklich Pech gehabt. Ich nehme an, daß sie ihn erschos sen haben, sobald er nach Wladiwostok oder wohin immer zurückkehrte. Denn welcher Gerichtshof hätte seine Ge schichte geglaubt? Wenn er dumm genug war, die Wahr heit zu sagen, hätte er berichten müssen: >Wir befanden uns an der Küste von Florida, als uns ein Eisberg auf Rus sisch anschrie: ,Entschuldigen Sie, aber das ist unser Ei gentum/< Da sich an Bord seines Schiffes bestimmt ein paar KGB-Männer befanden, muß sich der arme Kerl et was ausgedacht haben, aber es hat sicherlich nicht über zeugend geklungen ... Wie Dawson zu Recht angenommen hatte, gab der Russe einfach Fersengeld, sobald er begriff, daß man ihn entdeckt hatte. Da sich der Commander derMarlin daran erinnerte, daß er Reserveoffizier war, daß seine Pflicht dem Vaterland gegenüber wichtiger war als alle vertragli chen Abmachungen mit einem Bundesstaat, hatte er gar keine Wahl. Er nahm die Rakete ins Schlepptau, enteiste Freda und nahm Kurs auf Cocoa. Zuerst sandte er aller dings einen Funkspruch ab, der im Marineministerium wilde Aufregung verursachte und daran schuld war, daß Zerstörer in den Atlantik hinausjagten. Vielleicht war der neugierige Iwan überhaupt nicht mehr nach Wladiwostok zurückgekehrt . . . Die darauffolgenden Erklärungen waren etwas kompli ziert, aber die gerettete Rakete war so wichtig, daß nie mand allzu viele Fragen über den Privatkrieg der Marlin stellte. Der Angriff auf Miami Beach mußte jedoch, zu mindest für dieses Jahr, abgeblasen werden. Zu meiner 149
Befriedigung kann ich berichten, daß nicht einmal die Sponsoren, die doch eine Menge Geld in die Aktion inve stiert hatten, sehr enttäuscht waren. Sie besitzen jetzt vom Leiter der Flottenoperation unterzeichnete Zeugnisse, in denen man ihnen für wertvolle, aber nicht näher definierte Dienste dankt, die sie dem Vaterland erwiesen haben. Diese Zeugnisse erregen bei ihren Freunden in Los Ange les solchen Neid und solche Verwunderung, daß sie sich um nichts auf der Welt von ihnen trennen würden. Ihr dürft aber nicht glauben, daß das Projekt endgültig ad acta gelegt ist; dazu solltet ihr amerikanische Publici ty-Männer zu gut kennen. Freda liegt zwar im Kälteschlaf, wird aber eines Tages bestimmt wieder zum Leben er weckt. Die Pläne sind bereits ausgearbeitet, bis ins kleinste Detail, wie die zufällige Anwesenheit eines Filmteams aus Hollywood, wenn Freda vom Atlantik hereintreibt. Das ist also eine der Geschichten mit einem klaren, ein deutigen Ende. Die ersten Scharmützel haben stattgefun den, aber die Hauptschlacht steht noch bevor. Da frage ich mich etwas: Was wird Florida den Kalifomiem antun, wenn es begreift, was da gespielt wurdel Hat jemand vielleicht eine Idee?«
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Was oben ist, muß runterkommen tiiner der Gründe, warum ich die genaue Lage des »Wei ßen Hirschen« nie bekanntgebe, ist die Tatsache, daß wir ihn für uns behalten wollen. Es handelt sich dabei nicht um Futterneid, sondern um Selbstschutz. Sobald sich herumspricht, daß Wissenschaftler, Verleger und Science Fiction-Autoren in einem Lokal zusammenkommen, tau chen unweigerlich die sonderbarsten Besucher auf. Son derlinge mit neuen Theorien über das Universum, Typen, die durch einen Guru >geläutert< wurden (Gott allein weiß, wie sie vorher aussahen), muntere Damen, die nach dem vierten Gin hellsehen - das sind noch die nonrvalsten Zuzügler. Am ärgsten sind jedoch die Ufo-Fans: die ein zige Möglichkeit, sie loszuwerden, ist schwere Körperver letzung. Es war ein schwarzer Tag, als einer der führenden Expo nenten des Ufo-Glaubens unser Versteck entdeckte und sich mit schrillem Freudengeschrei auf uns stürzte. Er war offensichtlich der Meinung, daß er fruchtbaren Boden für seine Missionstätigkeit gefunden hatte. Leute, die sich für Raumflüge interessierten und sogar Bücher und Erzäh lungen darüber schrieben, waren für ihn eine leichte Beu te. Er öffnete seine kleine schwarze Tasche und zog das neueste Ufo-Konvolut heraus.
Es war eine beeindruckende Sammlung. Es gab ein paar interessante Aufnahmen von Ufos, die von einem direkt neben dem Greenwicher Observatorium wohnenden Amateurastronomen gemacht worden waren. Dieser flei ßige Mensch hatte mit seiner Kamera so viele Raumschiffe aller Formen und Größen eingefangen, daß man sich fragt, 151
was die Profis nebenan für unser Steuergeld tun. Dann zeigte er uns eine lange Erklärung eines Gentleman aus Texas über eine zwanglose Plauderei mit der Besatzung eines Ufos, das auf dem Weg zur Venus kurz am Straßen rand angehalten hatte. Es hatte anscheinend keine Sprachschwierigkeiten gegeben: nach etwa zehn Minuten Armeschwenken waren sie von >Ich - Mensch, das - Er de< zu hochesoterischen Informationen über die Verwen dung der vierten Dimension in der Raumfahrt gelangt. Das Prunkstück war jedoch ein aufgeregter Brief von ei nem Typ in Süddakota, der in einem Ufo zu einem Rund flug um den Mond mitgenommen worden war. Er erklärte ausführlich, wie sich die Untertasse fortbewegte, und zwar indem sie sich an magnetischen Kraftlinien empor zog, ungefähr wie eine Spinne, die an ihrem Faden hin
aufklettert. An diesem Punkt rebellierte Harry Purvis. Er hatte sich voller Berufsstolz Geschichten angehört, die nicht einmal er erzählt hätte, weil er genau einschätzen konnte, wie weit seine Zuhörerschaft bereit war, ihm zu glauben. Als jedoch Kraftlinien erwähnt wurden, gewann seine wis senschaftliche Bildung die Oberhand über seine Bewun derung für die Nachkommen Münchhausens, und er schnaubte angewidert. »Das ist doch blühender Unsinn«, sagte er. »Ich kann es Ihnen beweisen - Magnetismus ist mein Spezialge biet.« Drew füllte zwei Gläser gleichzeitig mit Ale und be merkte dabei honigsüß: »Vergangene Woche waren kri stalline Strukturen Ihr Spezialgebiet.« Harry lächelte von oben herab. »Ich bin ein allgemeiner Spezialist«, stellte er selbstgefäl lig fest. »Um darauf zurückzukommen, was ich vor dieser Unterbrechung sagen wollte - es gibt keine magneti schen Kraftlinien. Sie sind ein mathemathisches System, genau wie die Längen- und Breitenlinien. Wenn jemand 152
behaupten sollte, daß er eine Maschine erfunden hat, die sich an den Breitenlinien entlangzieht, würde jeder Zuhö rer wissen, daß dieser Mensch Unsinn redet. Aber weil nur wenige Menschen etwas von Magnetismus verstehen, und er noch dazu ziemlich geheimnisvoll wirkt, könnten sich Verrückte wie dieser Kerl in Süddakota erlauben, den Mist zu verzapfen, den wir soeben gehört haben.« Eins muß man dem >Weißen Hirschen< lassen - wir streiten vielleicht miteinander, aber in Krisenzeiten be weisen wir eiserne Solidarität. Alle waren der Meinung, daß mit dem unwillkommenen Besucher etwas geschehen müsse; er störte uns vor allem bei einer ernsthaften Arbeit: dem Trinken. Ein einziger Fanatiker kann der fröhlichsten Gesellschaft die Stimmung verderben, und etliche Stammgäste trafen Anstalten zum Gehen, obwohl die Sperrstunde erst in zwei Stunden fällig war. Als Harry Purvis also seine Behauptungen durch die unwahrscheinlichste Geschichte untermauerte, die er je mals im >Weißen Hirschen< erzählt hatte, unterbrach ihn niemand, und keiner versuchte, den Finger auf die schwa chen Punkte seiner Erzählung zu legen. Wir wußten, daß Harrry für uns alle kämpfte - er trieb sozusagen den Teufel mit Beelzebub aus. Er erwartete auch nicht, daß wir ihm glaubten (falls er das je tat), also lehnten wir uns zurück und genossen seine Darbietung. »Wenn ihr über den Antrieb von Raumschiffen Be scheid wissen wollt«, begann Harry, »- wohlgemerkt, ich äußere mich nicht darüber, ob es Ufos gibt oder nicht -, dann müßt ihr den Magnetismus vergessen. Ihr müßt di rekt zur Schwerkraft kommen - schließlich ist sie die uni verselle Kraft im Universum. Aber man kann sie nur schwer in den Griff bekommen, und falls ihr mir nicht glaubt, hört euch an, was einem Wissenschaftler vergan genes Jahr in Australien zugestoßen ist. Ich sollte es ei gentlich nicht erzählen, weil ich nicht sicher bin, ob es sich nicht um geheime Informationen handelt, aber wenn es 153
Schwierigkeiten geben sollte, werde ich beschwören, daß ich nie auch nur ein Wort gesagt habe. Wie ihr vielleicht wißt, betreiben die Aussies eifrig wis senschaftliche Forschungen, und eines der Teams arbei tete mit schnellen Brütern - das sind gezähmte Atombom ben, die viel kompakter als die alten Uraniummeiler sind. Der Leiter der Gruppe war ein fähiger, aber etwas impul siver junger Atomphysiker, den ich Dr.Cavor nennen will. Das ist natürlich nicht sein richtiger Name, aber er paßt sehr gut zu ihm. Ihr erinnert euch sicherlich alle an den Wissenschaftler in Wells' Die ersten Menschen auf dem Mond, und an das wunderbare schwerkraft-aufhebende Material Cavorit, das er entdeckt hat? Leider befaßte sich der gute alte Wells nicht sehr gründ lich mit dem Cavorit. Er behauptete, es sei für die Schwer kraft genauso undurchdringlich wie eine Metallplatte für Licht. Daher wurde alles, was sich oberhalb einer waag rechten Cavorit-Platte befand, schwerelos und schwebte in den Raum empor. Nun, so einfach ist es aber nicht. Gewicht entspricht Energie - und zwar einer riesigen Menge Energie -, die nicht einfach neutralisiert werden kann. Man müßte daher auch in den kleinsten Gegenstand ein ungeheures Quan tum Arbeit investieren, damit er schwerelos wird. Anti schwerkraft-Schirme in der Art des Cavorit sind daher eine Fiktion - sie gehören in die gleiche Kategorie wie das Perpetuum mobile.« »Drei meiner Freunde haben Perpetuum-mobile-Ma schinen erfunden«, begann unser unerwünschter Besu cher verdrießlich. Harry gab ihm keine Chance: er über hörte die Unterbrechung einfach und sprach weiter. »Unser Australier Dr. Cavor suchte allerdings keine Anti-Schwerkraft oder etwas Ähnliches. Man kann sicher sein, daß in der reinen Wissenschaft grundlegende Ge setzmäßigkeiten nie von dem entdeckt werden, der sie sucht - das ist ja das Lustige daran. Dr. Cavor wollte Kern 154
kraft erzeugen und fand dabei die Anti-Schwefkraft. Noch dazu dauerte es einige Zeit, bis er begriff, was er ent deckt hatte. Wahrscheinlich spielte sich das Ganze folgendermaßen ab: es handelte sich um einen neuartigen, kühn konstru ierten Reaktor, und es war durchaus möglich, daß er in die Luft flog, sobald das letzte Stück spaltbaren Materials ein gefahren wurde. Daher wurde er in einer der vielen, so praktischen Wüsten Australiens mittels Fernsteuerung zusammengesetzt, und die letzten Handgriffe wurden auf Monitoren überwacht. Es kam zu keiner Explosion - die zu einer unangeneh men radioaktiven Verseuchung geführt und viel Geld ge kostet, aber keinen Schaden angerichtet hätte - es sei denn, am wissenschaftlichen Ruf einiger Beteiligter. Was wirklich geschah, kam viel unerwarteter und war viel schwerer zu erklären. Als das letzte Stück angereichertes Uran eingefahren, die Kontrollstäbe herausgezogen und der Reaktor auf den kritischen Punkt erhitzt worden war, fiel alles aus. Die Zeiger der Meßgeräte im zwei Meilen vom Reaktor ent fernten Kontrollraum gingen auf Null zurück. Das Bild auf dem Monitor verschwand. Cavor und seine Kollegen war teten auf den Knall, aber er kam nicht. Sie sahen einander einen Augenblick lang argwöhnisch an, dann kletterten sie wortlos aus dem unterirdischen Bunkerraum. Das Reaktorgebäude stand vollkommen unverändert da: es befand sich draußen in der Wüste, ein unscheinba rer Würfel aus Ziegeln, in dem spaltbares Material im Wert von mehreren Millionen Pfund und jahrelange Entwick lungs- und Forschungsarbeit steckten. Cavor verlor keine Zeit: er schnappte sich den Jeep, schaltete einen tragbaren Geigerzähler ein und machte sich auf den Weg. Einige Stunden danach kam er in einem Krankenhaus wieder zu sich. Außer heftigen Kopfschmerzen fehlte ihm nichts, aber sie waren nicht so arg wie die, die ihm das Ex 155
periment in den nächsten Tagen verursachte. Als er sich etwa fünf Meter vor dem Reaktor befunden hatte, war sein Jeep mit voller Wucht gegen etwas geprallt. Cavor war ge gen das Lenkrad geflogen und verfügte jetzt über eine an sehnliche Sammlung von blauen Flecken; merkwürdi gerweise war der Geigerzähler vollkommen unbeschädigt geblieben und tickte friedlich vor sich hin; er zeigte nur die normale kosmische Strahlung an. Aus der Entfernung hatte es wie ein vollkommen nor maler Unfall ausgesehen - als wäre der Jeep in eine Furche geraten. Aber zum Glück war Cavor nicht schnell gefah ren, und es gab weit und breit keine Furche. Der Jeep war gegen etwas geprallt, das es nicht gab. Es war eine un sichtbare Mauer, anscheinend der untere Rand einer Kuppel, die den gesamten Reaktor umschloß, Steine, die man in die Höhe warf, glitten an dieser Kuppel herunter, und sie erstreckte sich auch so tief in die Erde, wie man mit Grabungen kommen konnte. Es sah so aus, als befinde sich der Reaktor im Mittelpunkt einer undurchdringli chen, kugelförmigen Schale. Natürlich war es für Cavor eine wunderbare Nach richt, und im nächsten Augenblick jagte er die Kranken schwestern fort und sprang aus dem Bett. Er hatte keine Ahnung, was geschehen war, es war aber viel aufregender als der langweilige Atomreaktor, mit dem alles begonnen hatte. Ihr werdet euch wahrscheinlich fragen, was, zum Teu fel, eine Kraftkugel - wie die Science Fiction-Autoren das Phänomen bezeichnen würden - mit Anti-Schwerkraft zu tun hat. Ich werde also einige Tage überspringen und euch gleich sagen, was Cavor und sein Team mit Hilfe von an gestrengter wissenschaftlicher Arbeit und vielen Gallonen starkem australischen Bier herausfanden. Als der Reaktor eingeschaltet wurde, hatte er irgendwie ein Antischwerkraft-Feld aufgebaut. Innerhalb einer Ku gel mit einem Radius von fünf Metern war die gesamte 156
Materie schwerelos geworden, und die dafür erforderliche ungeheure Menge Energie war auf mysteriöse Weise dem Uran im Atommeiler entnommen worden. Berechnungen ergaben, daß die im Reaktor enthaltene Energie gerade da für ausreichte. Wahrscheinlich wäre dieses kugelförmige Kraftfeld größer gewesen, wenn in der Energiequelle mehr Ergs zur Verfügung gestanden hätten. Ich sehe euch an, daß euch Fragen auf der Zunge bren nen, deshalb nehme ich sie vorweg. Warum schwebte diese gewichtslose Kugel aus Erde und Luft nicht in den Raum empor? Die Erde wurde durch die Kohäsion zu sammengehalten, deshalb hatte sie keinen Grund, abzu wandern. Die Luft hingegen mußte infolge eines überra schenden, noch zu erklärenden Grundes innerhalb der
schwerelosen Zone bleiben, und damit komme ich zum Kernpunkt dieser merkwürdigen Angelegenheit. Legt jetzt lieber die Sicherheitsgurte an: wir haben etli che Turbulenzen vor uns. Diejenigen unter euch, die et was von Potentialtherorie verstehen, werden mir ohne Schwierigkeiten folgen können, und für die anderen werde ich es möglichst vereinfacht darlegen. Leute, die leichtfertig über Anti-Schwerkraft sprechen, denken meist nicht über die sich daraus ergebenden Fol gerungen nach, also führen wir uns erstmal ein paar theo retische Grundlagen zu Gemüte. Wie ich bereits ausgeführt habe, entspricht Gewicht Unmengen von Energie. Diese Energie entspringt aus schließlich dem Schwerkraftfeld der Erde. Wenn man einem Gegenstand das Gewicht nimtnt, ist das genauso, als würde man ihn außerhalb des Schwerefeldes der Erde bringen. Und jeder Raketeningenieur kann euch bestätigen, wie viel Energie dazu erforderlich ist!« Harry wandte sich an mich. »In einem deiner Bücherbe findet sich ein Vergleich, den ich verwenden möchte, weil er veranschaulicht, was ich erklären will. Du weißt doch wo du den Kampf gegen die Schwerkraft der Erde damit 157
vergleichst, daß man aus einem ziemlich tiefen Loch klet tert.« »Nur zu«, antwortete ich. »Ich habe ihn sowieso bei Doc Richardson gestohlen.« »Ich habe mir ja gleich gedacht, daß er zu gut war, um von dir zu sein«, bemerkte Harry. »Also schön! Wenn ihr euch an diese wirklich einfache Vorstellung klammert, ist alles in Ordnung. Um einen Gegenstand von der Erde fortzuschaffen, braucht es genauso viel Arbeit, als würde man ihn viertausend Meilen gegen den Zug der normalen Schwerkraft heben. Die Materie innerhalb Cavors Kraft feld befand sich zwar immer noch auf der Oberfläche der Erde, war aber schwerelos. Vom Energiestandpunkt aus befand sie sich also außerhalb des Schwerkraftfeldes der Erde. Sie war genauso unerreichbar, als hätte sie sich auf dem Gipfel eines viertausend Meilen - das sind 6400 Kilo meter - hohen Berges befunden. Cavor konnte wenige Zentimeter außerhalb des Anti schwerkraftgebietes stehen und es betrachten. Um diese wenigen Zentimeter zu überwinden, mußte er jedoch ge nauso viel Arbeit leisten, als würde er achthundert Mal auf den Everest steigen. Es war nicht erstaunlich, daß es der Jeep so eilig gehabt hatte stehenzubleiben. Kein materieller Gegenstand hatte ihn aufgehalten, aber dynamisch gese hen war er gegen ein viertausend Meilen hohes Kliff ge prallt. Einige von euch sehen mich verständnislos an, und das ist nicht nur auf die späte Stunde zurückzuführen. Macht nichts: wenn ihr nicht alles begriffen habt, glaubt mir ein fach. Ihr werdet dennoch in der Lage sein, bei den folgen den Ausführungen mitzukommen. Cavor hatte sofort begriffen, daß er eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit überhaupt gemacht hatte, obwohl es einige Zeit dauerte, bis er herausbekam, was ei gentlich los war. Den endgültigen Hinweis auf die Anti schwerkraft-Natur des Feldes erhielten sie, als sie es mit 158
einer Gewehrkugel beschossen und die Flugbahn mit ei ner Hochgeschwindigkeitskamera verfolgten. Genial, nicht wahr? Das nächste Problem bestand darin, mit dem Feldgene rator zu experimentieren und herauszufinden, was sich im Reaktor ereignet hatte, als er eingeschaltet wurde. Es war ein echtes Problem. Der Reaktor befand sich gut sichtbar fünf Meter vor ihnen. Aber um ihn zu erreichen, brauch ten sie etwas mehr Energie als für einen Flug zum Mond! Cavor ließ sich weder dadurch noch durch die unerklär liche Tatsache entmutigen, daß der Reaktor nicht mehr auf die Fernsteuerung reagierte. Er nahm an, daß die ganze Energie aufgebraucht worden war, und daß zur Erhaltung
des Antischwerkraftfeldes entweder verschwindend we nig oder überhaupt keine Energie notwendig war. Diese Annahme konnte jedoch nur durch eine Untersuchung an
Ort und Stelle bewiesen werden. Deshalb mußte Dr. Cavor auf Biegen oder Brechen zum Reaktor gelangen. Zuerst wollte er einen elektrisch betriebenen Karren verwenden, der die Kabel, durch die er mit Elektrizität versorgt wurde, hinter sich herzog, während er in das Feld
eindrang. Ein Hundert-PS-Generator, der siebzehn Stun den lang ununterbrochen lief, würde genügend Energie lie fern, um einen durchschnittlich schweren Mann über die gefährlichen fünf Meter zu transportieren. Eine Ge schwindigkeit von einem Drittel Meter in der Stunde wirkt zwar lächerlich, aber wenn man bedenkt, daß eine Strecke von einem halben Meter im Antischwerkraftfeld einer
senkrechten Klettertour über zweihundert Meilen ent sprach, sieht es schon anders aus. Theoretisch war alles in Ordnung, aber praktisch funk
tionierte der Karren nicht. Er drang in das Feld ein, die Rä der begannen aber nach einem Zentimeter durchzudre hen. Wenn man es sich recht überlegte, war das zu erwar ten gewesen. Obwohl die Energie vorhanden war, fehlte der Zug. Kein mit Rädern versehenes Fahrzeug konnte 159
eine Steigung von zweihundert Meilen pro halbem Meter erklimmen. Dieser kleine Rückschlag entmutigte Dr. Cavor keines wegs. Ihm war sofort klar, daß der Zug außerhalb des Fel des ansetzen mußte. Wenn man eine Last senkrecht hochhieven will, verwendet man keinen Karren, sondern einen Flaschenzug oder einen hydraulischen Preßkolben. Das Ergebnis dieser Uberlegung war eines der merk
würdigsten Fahrzeuge, die je gebaut wurden. Ein kleiner, aber bequemer Käfig, der eine Wochenration Lebensmittel für einen Menschen enthielt, wurde am Ende eines fünf Meter langen waagrechten Balkens befestigt. Das Gerät war mit Ballonreifen versehen, und man nahm an, daß der Käfig in das Zentrum des Feldes geschoben werden konn te, und zwar von einer Maschine, die sich außerhalb seines Einflußbereiches befand. Nach reiflicher Uberlegung ent> schied man sich für einen gewöhnlichen Bulldozer. Um das Gerät zu testen, sperrte man ein paar Kanin chen in das Passagierabteil. Dabei muß es zu einer interes santen psychologischen Reaktion gekommen sein. Die Experimentierenden hätten nämlich beide Lösungen be grüßt: als Wissenschaftler hofften sie, ihre Objekte lebend zurückzubekommen, und als Australier hätten sie sich darüber gefreut, wenn die Kaninchen ums Leben gekom men wären. Aber vielleicht geht meine Phantasie mit mir durch ... (Ihr wißt natürlich, wie Australier zu Kaninchen stehen.) Der Bulldozer tuckerte gleichmütig Stunde um Stunde vor sich hin und schob das Gewicht des Balkens und die belanglose Nutzlast die ungeheure Steigung hinauf. Es war ein unheimlicher Anblick - so viel Energie wurde auf gewendet, um ein Kaninchenpaar über eine waagrechte Ebene zu befördern. Während der Operation konnten die Objekte beobachtet werden: sie wirkten vollkommen glücklich und schienen keine Ahnung von ihrer histori schen Rolle zu haben. 160
Das Passagierabteil erreichte das Zentrum des Fekles, wurde eine Stunde dort belassen und dann zog man den Balken langsam wieder heraus. Die Kaninchen waren am
Leben und bei bester Gesundheit, und niemand war dar über erstaunt, daß es jetzt sechs waren. Dr. Cavor bestand natürlich darauf, als erstes menschli ches Wesen in das Schwerelosigkeitsfeld einzudringen. Er
füllte das Abteil mit Drehwaagen, Strahlungsmeßgeräten und Periskopen, damit er in den Reaktor hineinschauen konnte, wenn er ihn endlich erreichte. Dann gab er das Zeichen, der Bulldozer fing an zu tuckern, und die selt same Reise begann. Natürlich bestand eine Telefonverbindung vom Passa gierabteil zur Außenwelt. Aus nicht ganz geklärten Grün den konnten Schallwellen das Hindernis nicht durchdrin gen, aber Funk und Telefon funktionierten tadellos. Cavor gab laufend Kommentare ab, während er in das Feld vor rückte, schilderte seine Eindrücke und übermittelte sei nen Kollegen die Werte, die er von den Instrumenten ab las. Obwohl er auf den Eindruck gefaßt gewesen war, war er zunächst dennoch verwirrt. Während der ersten Zoll sei ner Reise, als er die Randzone des Feldes durchquerte, än derte sich die Richtung der vertikalen Ebene, >Oben< war nicht mehr dort, wo sich der Himmel befand, sondern dort, wo der Reaktor stand. Cavor hatte das Gefühl, ein senkrechtes Kliff hinaufgeschoben zu werden, wobei sich der Reaktor fünf Meter oberhalb von ihm befand. Zum er stenmal nahmen seine Augen und seine übrigen Sinne das wahr, was seine wissenschaftliche Ausbildung pro phezeit hatte. Er konnte sehen, daß das Zentrum des Fel des hinsichtlich der Schwerkraftrichtung >höher< lag als der Ort, von dem er gestartet war. Dennoch schreckte seine Phantasie noch immer vor der Vorstellung zurück, wieviel Energie notwendig war, damit er diese so harmlos aussehenden fünf Meter zurücklegte, und wieviel hun 161
Gallonen Dieselöl verbrannt werden mußten um diese Energie zu erzeugen. Sonst ereignete sich während der Reise nichts Erwäh nenswertes, und schließlich erreichte Cavor zwanzig Stunden nach dem Aufbruch sein Ziel. Die Wand des Re aktors befand sich direkt neben ihm, obwohl er sie nicht als Wand, sondern als Decke empfand, die sich in rechtem Winkel zu dem Kliff erstreckte, an dem er sich hinaufgear beitet hatte. Der Eingang befand sich genau über seinem Kopf, wie eine Falltür, durch die er klettern mußte. Das be reitete ihm jedoch keine Schwierigkeiten, denn er war ein durchtrainierter junger Mann und konnte kaum erwarten herauszufinden, wie er dieses Wunder geschaffen hatte. Er war aber etwas zu tatkräftig. Als er nämlich versuch te, die Tür zu erreichen, glitt er aus und fiel von der Platt form. Das war das letztemal, daß ihn jemand sah - aber nicht das letztemal, daß man ihn hörte. O nein! Er erzeugte so gar sehr viel Lärm ... Ihr werdet es sofort begreifen, wenn ihr euch überlegt, in welcher Situation sich der unglückli che Wissenschaftler jetzt befand. Hunderte Kilowattstun den Energie hatten auf ihn eingewirkt - sie hätten genügt, um ihn ein Stück über den Mond hinaus zu transportie ren. Diese Arbeit war erforderlich gewesen, um ihn an ei nen Punkt mit Null-Schwerkraft-Potential zu befördern. Als er seine Stütze verlor, begann die Energie wieder wirksam zu werden. Um auf unseren malerischen Ver gleich zurückzukommen - der arme Doktor war von der Kante des viertausend Meilen hohen Berges abgestürzt, auf den er hinaufgestiegen war. Er fiel die fünf Meter zurück, zu deren Bewältigung er beinahe einen Tag gebraucht hatte. Hinsichtlich der Ener gie entsprach dieser Absturz einem freien Fall von den ent ferntesten Sternen auf die Erdoberfläche. Und ihr wißt
alle, welche Geschwindigkeit ein Gegenstand bei diesem Fall erreicht. Es ist die gleiche Geschwindigkeit, die nötig 162
ist, damit der Gegenstand zunächst einmal dorthin ge langt - die berühmte Fluchtgeschwindigkeit. Sieben Mei len pro Sekunde, oder fünfundzwanzigtausend Meilen pro Stunde. Diese Geschwindigkeit hatte Dr. Cavor erreicht, als er an seinem Ausgangspunkt anlangte. Das heißt, um genauer
zu sein, er versuchte unfreiwillig, sie zu erreichen. Sobald er jedoch ein oder zwei Mach überschritten hatte, kam auch der Luftwiderstand zum Tragen. Dr. Cavors Feuer bestattung war der schönste und einzige Meteor, der aus schließlich auf Meeresniveau verglühte. Es tut mir leid, daß diese Geschichte kein Happy-End hat. Eigentlich hat sie überhaupt kein Ende, weil die Kugel mit dem Null-Schwerkraft-Potential noch immer in der australischen Wüste hockt; scheinbar hat sie keinerlei Auswirkungen, in Wirklichkeit erzeugt sie in wissen schaftlichen und offiziellen Kreisen wachsende Frustra tion. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die Behörden die Sache weiterhin geheimhalten wollen. Manchmal halte ich es schon für sehr merkwürdig, daß sich der höchste Berg der Welt in Australien befindet - und daß ihn die Flugzeuge - obwohl er viertausend Meilen hoch ist - so oft überfliegen, ohne ihn zu bemerken.« Es wird niemanden überraschen, daß Purvis seine Er zählung an diesem Punkt abbrach: nicht einmal er konnte sie viel weiter treiben, und niemand verlangte, daß er es tat. Wiralle, einschließlichseinereifrigstenKritiker, waren in ehrfurchtsvoller Bewunderung erstarrt. Ich habe seither in seiner Schilderung von Dr. Cavors FrankensteinSchicksal sechs grundsätzliche physikalische Fehler ent deckt, aber damals fielen sie mir nicht auf. (Ich habe auch nicht die Absicht, sie jetzt aufzuzählen. Wie in Mathema tikbüchern stellen sie die Hausaufgabe für den Leser dar.) Er hatte sich jedoch unsere ewige Dankbarkeit dadurch verdient, daß er unter leichter Verfremdung der Wahrheit die Fliegenden Untertassen daran gehindert hatte, den 164
>Weißen Hirsch< zu besetzen. Es war beinahe Sperr stunde und zu spät für unseren Besucher, eine Gegenof fensive zu starten. Deshalb finde ich die Folgen der Geschichte etwas unfair. Einen Monat danach brachte jemand eine sehr merkwür dige Publikation zu einer unserer Zusammenkünfte mit.
Sie war ordentlich gedruckt und fachkundig aufgemacht, und es ist bedauerlich, daß die Druckkunst so mißbraucht wird. Das Zeug hieß Enthüllungen über Fliegende Untertas sen und auf der ersten Seite befand sich ein vollständiger, ausführlicher Bericht über Purvis' Geschichte. Er hatte sie absolut authentisch wiedergegeben - von Harris' Stand punkt aus war jedoch das Ärgste daran, daß sie ihm na mentlich zugeschrieben wurde. Seither hat er 4375 Briefe zu diesem Thema bekommen, die meisten aus Kalifornien. In vierundzwanzig davon wurde er als Lügner bezeichnet; 4205 glaubten ihm unein geschränkt. (Die restlichen konnte er nicht entziffern, und ihr Inhalt gibt immer noch zu Vermutungen Anlaß.) Ich fürchte, daß er diesen Schlag nie ganz verwunden hat, und manchmal habe ich den Eindruck, daß er sein restliches Leben damit verbringen wird, den Menschen die Augen über die einzige Geschichte zu öffnen, von der er nie glaubte, daß sie jemand ernst nehmen würde. Vielleicht liegt eine Moral darin. Nur kann ich sie beim besten Willen nicht entdecken.
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Dornröschen
Jtis war eine jener müden Diskussionen, die im >Weißen Hirschen< in Gang kommen, wenn niemandem etwas Besseres einfällt. Wir versuchten, uns an die ungewöhn lichsten Namen zu erinnern, auf die wir jemals gestoßen waren, und ich hatte gerade >Obediah Polkinghonv als meinen Beitrag abgeliefert, als - zwangsläufig - Harry Purvis das Wort an sich riß.
»Es ist kinderleicht, sich alte Namen auszudenken«, sagte er, über unsere Leichtfertigkeit entrüstet, »aber habt ihr euch jemals etwas viel Wichtigeres vor Augen geführtdie Wirkung dieser Namen auf ihre Träger? Manchmal kann so ein Name das ganze Leben eines Menschen beein flussen. Und genau das war bei Sigmund Schnarcher der Fall.« »O nein«, stöhnte Charles Willis, einer von Harrys schonungslosesten Kritikern. »Das ist doch nicht zu glau
ben!« »Denkst du vielleicht«, fragte Harry empört, »daß ich einen solchen Namen erfinden würde? Eigentlich trug Sigmund einen jüdischen Familiennamen aus Mitteleuro pa; >Schnarcher< ist jedenfalls die englische Übersetzung
dafür. Das alles ist jedoch unwesentlich; ich habe es gar nicht gern, wenn ich meine Zeit mit solchen belanglosen Einzelheiten vergeuden muß.« Charlie, der vielversprechendste Autor, den ich kenne (er verspricht seit über fünfundzwanzig Jahren), wollte
protestieren, aber jemand, dem das Wohl der Allgemein heit am Herzen lag, lenkte ihn mit einem Glas Bier ab. »Sigmund«, fuhr Harry unbeirrt fort, »trug seine Bürde mit tapferer Würde, bis er erwachsen war. Es steht jedoch 166
zweifelsfrei fest, daß ihn der Name bedrückte und schließ lich sozusagen zu einem psychosomatischen Trauma führte.Wenn Sigmund der Sohn anderer Eltern gewesen wäre, wäre er sicherlich weder faktisch noch dem Namen nach ein röchelnder, unermüdlicher Schnarcher gewor den. Es gibt natürlich schlimmere Tragödien im Leben. Sig munds Familie verfügte über genügend Geld, und ein schalldichtes Schlafzimmer bewahrte die übrigen Ange hörigen des Haushalts vor schlaflosen Nächten. Wie es meist der Fall ist, hatte Sigmund keine Ahnung von seinen nächtlichen Symphonien und verstand eigentlich nie, was all die Aufregung sollte. Erst als er heiratete, war er gezwungen, sein Leiden wenn man es so bezeichnen kann, denn eigentlich litten ja die anderen darunter - ernst zu nehmen. Es ist nicht un gewöhnlich, daß eine junge Frau etwas verwirrt von den Flitterwochen zurückkehrt, aber die arme Rachel Schnar cher hatte ein außerordentlich erschütterndes Erlebnis hinter sich. Ihre Augen waren vor Schlaflosigkeit gerötet, und wenn sie bei ihren Freundinnen Verständnis suchte, erntete sie nur Gelächter. Deshalb überraschte es nicht, daß sie Sigmund ein Ultimatum stellte: wenn er nichts ge gen sein Schnarchen unternahm, würde sie sich scheiden lassen. Das war für Sigmund und seine Familie ein harter Schlag. Sie waren wohlhabend, aber keineswegs reich - im Gegensatz zu Großonkel Reuben, der im vorhergehenden Jahr gestorben war und ein kompliziertes Testament hin terlassen hatte. Er hatte Sigmund sehr gern und hatte ihm einen beträchtlichen - vorläufig allerdings treuhän disch verwalteten - Geldbetrag vermacht, den Sigmund an seinem dreißigsten Geburtstag erhalten sollte. Un glücklicherweise war Großonkel Reuben sehr altmodisch und prüde und traute der modernen Generation nicht ganz. Eine der Bedingungen seines Vermächtnisses be 167
sagte, daß Sigmund sich vor dem festgesetzten Termin weder scheiden lassen noch von seiner Frau trennen durf te. In diesem Fall sollte das Geld an ein Waisenhaus in Tel Aviv fallen. Es war eine prekäre Situation, und es ist schwer zu sagen, wie sie gelöst worden wäre, wenn nicht jemand vorge schlagen hätte, daß Sigmund mit Onkel Hymie sprechen solle. Sigmund hatte überhaupt keine Lust dazu, aber in der Not frißt der Teufel Fliegen, und so suchte er Onkel Hymie auf. Ich muß erwähnen, daß Onkel Hymie ein angesehener Physiologieprofessor und Mitglied der Royal Society war und auf eine ganze Reihe von Veröffentlichungen verwei sen konnte. Im Augenblick war er infolge eines Streits mit den Kuratoren seines Colleges knapp bei Kasse und war gezwungen gewesen, die Arbeit an einigen Lieblingspro jekten zurückzustellen. Noch mehr ärgerte ihn, daß die Physikabteilung eine halbe Million Pfund für ein neues Synchotron erhalten hatte, also war er nicht gerade be ster Stimmung, als ihn sein unglücklicher Neffe besuch te. Sigmund versuchte, den durchdringenden Geruch nach Desinfektionsmitteln und Tieren nicht zu beachten, folgte dem Labor-Verwalter durch die Reihen fremdarti ger Apparate, an Käfigen mit Mäusen und Meerschwein chen vorbei und ignorierte bewußt die abstoßend farbigen Diagramme, die die Wände bedeckten. Sein Onkel saß an einem Experimentiertisch, trank Tee aus einem Reagenz glas und knabberte geistesabwesend an Sandwiches. >Greif zu!< murrte er unfreundlich. >Gebratene Hamster
- köstlich. Aus dem Wurf, den wir für Krebstests verwen det haben. Was ist los?< Sigmund erklärte, daß er sich leider den Magen verdor ben habe, und erzählte seinem berühmten Onkel, was ihm am Herzen lag. Der Professor hörte nicht sehr mitfühlend zu.
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>Ich habe keine Ahnung, warum die Leute überhaupt heiraterv, meinte er schließlich. >Reine Zeitverschwen dung.< Es war allgemein bekannt, daß Onkel Hymie in dieser Hinsicht sehr eigenwillige Ansichten hegte, denn er besaß fünf Kinder, aber keine Frau. >Vielleicht kann ich trotzdem etwas für dich tun. Wieviel Geld besitzt du?< >Warum?< fragte Sigmund verblüfft. Der Professor be schrieb eine weitausholende Armbewegung. >Der Betrieb kostet eine ganz schöne Stange Geld.< >Aber ich habe gedacht, die Universität .. .< >Natürlich - aber Sonderprojekte müssen wir sozusagen unter dem Ladentisch durchziehen, dafür kann ich keine Collegemittel verwenden.< Onkel Hymie nannte einen Betrag, der wesentlich klei ner war, als Sigmund befürchtet hatte, aber diese Befriedi gung hielt nicht lang an. Es stellte sich sehr bald heraus, daß der Wissenschaftler genau über Großonkel Reubens Testament Bescheid wußte; Sigmund mußte einen Vertrag aufsetzen, in dem er ihm einen Teil der Beute versprach, wenn er in fünf Jahren das Geld erhielt. Die jetzige Zah lung galt nur als Vorschuß. >Ich verspreche außerdem überhaupt nichts, aber ich will sehen, was ich tun kann<, sagte Onkel Hymie, wäh rend er den Scheck sorgfältig prüfte. >Komm in einem Monat wieder!< Mehr konnte Sigmund nicht aus ihm herausbekommen, denn in diesem Augenblick wurde der Professor durch eine äußerst dekorative Forschungsstudentin abgelenkt, die einen um mehrere Nummern zu engen Pullover trug. Sie begannen, die Vermehrungsstatistiken der Laborrat ten mit Ausdrücken zu bezeichnen, die den schamhaften Sigmund zu einem hastigen Rückzug veranlaßten. Ich glaube übrigens nicht, daß Onkel Hymie Sigmunds Geld genommen hätte, wenn er nicht sicher gewesen wäre, daß er ihm die gewünschte Ware liefern konnte. Er muß daher knapp vor dem Abschluß seiner Arbeiten ge 169
standen haben, als ihm die Universität die Mittel sperrte; zweifellos hätte er nie innerhalb von vier Wochen die komplizierte chemische Substanz erzeugen können, die er seinem hoffnungsvollen Neffen einen Monat nach der Scheckübergabe in den Arm injizierte. Das Experiment wurde spätabends in der Wohnung des Professors durch geführt; Sigmund stellte nicht allzu überrascht fest, daß die weibliche Forschungsstudentin assistierte. >Wie wird das Zeug wirken?< fragte er. >Es wird dich am Schnarchen hindern - hoffentlich<, antwortete Onkel Hymie. >Hier hast du einen schönen, bequemen Stuhl und einen Stoß Illustrierte. Irma und ich werden dich abwechselnd überwachen, für den Fall, daß es zu unerwarteten Begleiterscheinungen kommt.< >Begleiterscheinungen?< fragte Sigmund ängstlich und rieb sich den Arm. >Mach dir keine Sorgen und entspanne dich! In ein paar Stunden wissen wir, ob es funktioniert.< Also wartete Sigmund auf den Schlaf, während sich die beiden Wissenschaftler mit ihm ( und natürlich auch mit einander) beschäftigten, ihm Blutdruck, Puls und Tempe ratur maßen und dafür sorgten, daß er das Gefühl hatte, schwerkrank zu sein. Um Mitternacht war er überhaupt nicht schläfrig, während sich der Professor und seine As sistentin kaum noch auf den Beinen halten konnten. Sig mund wurde klar, daß sie seinetwegen Überstunden machten, und empfand Dankbarkeit, die während der kurzen Zeit, die sie anhielt, geradezu rührend war. Mitternacht war längst vorüber. Irma klappte zusam men, und der Professor bettete sie unsanft auf die Couch. >Weißt du ganz sicher, daß du noch nicht müde bist?< gähnte er Sigmund an. >Uberhaupt nicht. Es ist sehr merkwürdig, denn norma lerweise schlafe ich um diese Zeit tief und fest.< >Du fühlst dich vollkommen wohl?< >Ich habe mich nie besser gefühlt.< 170
Der Professor gähnte wieder, murmelte etwas, das wie >Ich hätte es mir auch einspritzen sollen< klang, und sank in einen Lehnstuhl. >Schrei<, sagte er schläfrig, >wenn du etwas Ungewöhn liches fühlst! Es hat keinen Sinn, wenn wir weiterhin mun ter bleiben.< Einen Augenblick später war der immer noch
verwirrte Sigmund der einzige wache Mensch im Zimmer. Bis zwei Uhr früh las er ein Dutzend Exemplare des Punch, die den Stempel >Bitte nicht aus dem Aufenthalts raum entfernen< trugen. Um vier war er mit allen Nummern
der Saturday Evening Post fertig. Ein kleiner Stoß des New Yorkers beschäftigte ihn bis fünf, als er das große Los zog. Wenn man Kaviar ißt, hat man bald genug davon, und Sigmund entdeckte zu seiner Begeisterung einen schlaf fen, zerlesenen Band von Die Blondine war willig. Dieser nahm seine Aufmerksamkeit bis zum Morgengrauen in Anspruch, als Onkel Hymie zusammenzuckte, aus dem Stuhl emporschnellte, Irma mit einem gut gezielten Klaps weckte und sich dann Sigmund zuwandte. >Nun, mein Junge<, sagte er so herzlich und fröhlich, daß Sigmund sofort mißtrauisch wurde, >ich habe dir deinen
Wunsch erfüllt. Du hast die Nacht verbracht ohne zu schnarchen, nicht wahr?<
Sigmund legte die Blondine beiseite, die sich jetzt in ei ner Situation befand, in der es überhaupt keine Rolle spiel te, ob sie willig war oder nicht.
>Ich habe nicht geschnarcht<, gab er zu, >aber ich habe auch nicht geschlafen.« >Du bist immer noch hellwach?<
>Ja - ich verstehe es überhaupt nicht.< Onkel Hymie und Irma wechselten einen triumphie renden Blick. >Du hast soeben Geschichte gemacht, Sig mund<, erklärte der Professor. >Du bist der erste Mensch, der ohne Schlaf auskommt.< Auf diese Weise brachte er dem erstaunten und noch nicht empörten Meerschwein chen die Nachricht bei. 172
Ich weiß«, fuhr Harry Purvis nicht ganz zutrefferider weise fort, »daß viele von euch die wissenschaftlichen Einzelheiten von Onkel Hymies Entdeckung erfahren möchten. Aber ich kenne sie nicht, und außerdem wären sie für euch zu schwierig. Da ich aber bei einigen von euch
einen Gesichtsausdruck sehe, den ein weniger vertrau ensvoller Mensch als skeptisch bezeichnen könnte, möchte ich darauf hinweisen, daß diese Entwicklung wirklich nicht erschreckend ist. Schließlich ist der Schlaf ein sehr variabler Faktor. Seht euch Edison an, der bis an sein Lebensende nicht mehr als eine oder zwei Stunden Schlaf täglich brauchte. Es stimmt, daß Menschen nicht endlos ohne Schlaf auskommen können - aber manche Tiere können es, was beweist, daß er kein unentbehrlicher Bestandteil des Stoffwechsels ist.« »Welche Tiere können auf den Schlaf verzichten?« fragte jemand, weniger aus Unglauben als aus reiner Neu gierde. »Nun ja, natürlich - die in der Tiefsee lebenden Fische. Falls sie jemals einschlafen sollten, würden sie von einem anderen Fisch verschlungen, oder sie würden das Gleich gewicht verlieren und auf den Grund sinken. Deshalb müssen sie ihr Leben lang wach bleiben.« (Ich versuche übrigens immer noch herauszufinden, ob Harrys Behauptung stünmt. Bis jetzt habe ich ihn noch nie bei einer falschen wissenschaftlichen Erklärung ertappt, obwohl ich ein- oder zweimal im Zweifel für ihn entschei den mußte. Aber zurück zu Onkel Hymie.) »Es dauerte einige Zeit«, fuhr Harry fort, »bis Sigmund begriff, was für ein erstaunliches Experiment sie an ihm vorgenommen hatten. Die begeisterten Kommentare sei nes Onkels, der sich über die herrlichen Möglichkeiten verbreitete, die sich für Sigmund jetzt eröffneten, nach dem er von der Tyrannei des Schlafens befreit war, mach ten es ihm schwer, sich auf das eigentliche Problem zu konzentrieren. Aber schließlich konnte er doch die Frage 173
stellen, die fhn bedrückte: > Wie lange wird dieser Zustand anhalten?< erkundigte er sich. Der Professor und Irma sahen einander an. Dann hü stelte Onkel Hymie nervös und antwortete: >Das wissen wir noch nicht genau; wir müssen es erst herausbekom men. Es ist durchaus möglich, daß es sich um eine perma nente Wirkung handelt.<
>Willst du damit sagen, daß ich nie mehr schlafen kann?< >Nicht ,nie mehr schlafen kann' sondern ,nie mehr schla fen will'. Aber wahrscheinlich könnte ich den Vorgang irgendwie rückgängig machen, wenn du deshalb wirk lich besorgt bist. Natürlich würde es eine Menge kosten.< Sigmund verließ den Professor eilig und versprach, mit ihm in Verbindung zu bleiben und täglich über seine Er fahrungen zu berichten. Er war immer noch aufgewühlt, aber zuerst mußte er seine Frau aufsuchen und sie davon überzeugen, daß er nie wieder schnarchen würde. Sie glaubte ihm gern, und ihre Wiedervereinigung war rührend. Aber in den frühen Stunden des darauffolgen den Morgens langweilte er sich sehr, während er im Bett lag und mit niemandem sprechen konnte, deshalb schlich er sich von seiner schlafenden Frau weg. Zum erstenmal dämmerte ihm, worauf er sich eingelassen hatte; was, um Himmels willen, sollte er mit den zusätzlichen acht Stun den täglich anfangen, die man ihm wider seinen Willen geschenkt hatte? Ihr findet vielleicht, daß Sigmund eine wunderbare sogar noch nie dagewesene - Gelegenheit hatte, ein erfüll teres Leben zu führen, indem er sich all die Kultur und all das Wissen aneignete, nach denen wir uns sehnen- wenn wir nur genügend Zeit dafür erübrigen könnten. Er konnte alle großen Klassiker lesen, die für die breite Masse nur Namen sind; er konnte Kunst, Musik oder Philosophie studieren und seinem Geist alle Schätze des menschlichen Geistes einverleiben. Wahrscheinlich beneidet ihn jetzt der Großteil von euch. 174
Aber es kam anders. Es ist leider so, daß selbst der höchst entwickelte Geist Entspannung braucht und nicht endlos nach hohen Zielen streben kann. Es stimmte, Sig mund benötigte keinen Schlaf mehr, aber er brauchte Un terhaltung für die langen, unausgefüllten Nachtstun
den. Er entdeckte bald, daß die Zivilisation nicht in der Lage ist, die Bedürfnisse eines Menschen zu befriedigen, der nicht schlafen kann. In Paris oder New York wäre er besser dran gewesen, aber in London machte praktisch alles um ein Uhr früh zu; um Mitternacht waren nur noch ein paar Espressi offen, und um ein Uhr früh - na ja, je weniger man sich zu Etablissements äußert, die um diese Zeit noch Betrieb haben, um so besser. Zuerst verwendete er die Zeit, wenn es das Wetter zu ließ, zu langen Spaziergängen, aber nach etlichen Begeg nungen mit wißbegierigen, skeptischen Polizisten gab er es auf. Dann benützte er das Auto und fuhr in den frühen Morgenstunden in London herum; er entdeckte dabei alle möglichen merkwürdigen Winkel, von deren Existenz er nichts gewußt hatte. Bald war er soweit, daß ihm Nacht wächter, Opernportiers, Milchmänner, Journalisten und Zeitungsdrucker zunickten, die alle arbeiteten, während die übrigen Menschen im Schlummer lagen. Da Sigmund sich aber nicht sehr für seine Mitmenschen interessierte, verlor diese Unterhaltung bald ihren Reiz, und er befand sich wieder dort, wo er begonnen hatte. Wie zu erwarten, war seine Frau über seine nächtlichen Exkursionen keineswegs erfreut. Er hatte ihr die ganze Geschichte erzählt, und obwohl sie ihm zunächst nicht recht glaubte, mußte sie sich durch den Augenschein eines Besseren belehren lassen. Dennoch hätte sie vorgezogen, daß ihr Mann schnarchte und zu Hause blieb, statt sich um Mitternacht davonzuschleichen und oft noch nicht einmal beim Frühstück zurück zu sein. Darüber ärgerte sich Sigmund sehr. Er hatte einen an 175
sehnlichen Betrag investiert oder zumindest zugesagt (wie er Rachel immer wieder ins Gedächtnis rief) und ein be trächtliches Risiko auf sich genommen, um sein Leiden loszuwerden. Und war sie ihm dafür dankbar? Nein; sie verlangte detaillierte Rechenschaft über die Zeit, während der er eigentlich schlafen sollte, es aber nicht tat. Das war
äußerst unfair und ließ auf einen Mangel an Vertrauen schließen, den er überaus bedrückend fand. Langsam verbreitete sich das Geheimnis, obwohl es den Schnarchers (die ein sehr festgefügter Clan waren) gelang, es innerhalb der Familie zu halten. Onkel Lorenz, der im Diamantengeschäft tätig war, schlug vor, daß Sigmund einen zweiten Beruf ergreifen sollte, da es schade war, so viel zusätzliche Arbeitszeit zu vergeuden. Er stellte eine Liste von Ein-Mann-Beschäftigungen zusammen, die ge nauso gut bei Tag wie bei Nacht ausgeübt werden konn ten, aber Sigmund bedankte sich freundlich und bemerk te, er sehe nicht ein,warum er zweimal Einkommensteuer zahlen solle. Nachdem Sigmund die Vierundzwanzigstunden-Tage sechs Wochen lang ertragen hatte, hatte er genug. Er hatte das Gefühl, kein einziges Buch mehr lesen, keinen einzi gen Nachtklub mehr aufsuchen und keine einzige Schall platte mehr hören zu können. Seine einmalige Gabe, für die viele unvernüftige Menschen gern eine horrende Summe bezahlt hätten, war zu einer unerträglichen Last geworden. Ihm blieb nur eines übrig: Onkel Hymie wieder aufzusuchen. Der Professor hatte ihn erwartet, und er mußte nicht mit rechtlichen Schritten drohen, nicht an die Solidarität der Schnarchers appellieren oder anzügliche Bemerkungen über einen Vertragsbruch machen. >Schon gut, schon gutx, brummte der Wissenschaftler. >Es hat keinen Sinn, Perlen vor die Säue zu werfen. Ich habe gewußt, daß du früher oder später das Gegenmittel verlangen wirst, und weil ich ein großzügiger Mensch bin, 176
kostet es dich nur fünfzig Guineas. Aber mach mich'nicht dafür verantwortlich, wenn du ärger denn je schnarchst.< >Dieses Risiko nehme ich auf mich<, antwortete Sig mund. Er und Rachel schliefen ohnehin schon in getrenn ten Schlafzimmern. Er sah weg, als die Assistentin des Professors (diesmal nicht Irma, sondern eine hagere Brünette) eine entsetzlich große Injektionsnadel mit Onkel Hymies neuestem Ge bräu füllte. Noch bevor die Nadel halb leer war, schlief Sigmund schon. Diesmal sah Onkel Hymie sehr beunruhigt aus. >Ich habe nicht erwartet, daß es so schnell wirkt<, gestand er. >Na gut, bringen wir ihn zu Bett - wir können ihn nicht im Labor herumliegen lassen.< Am nächsten Morgen schlief Sigmund immer noch tief und reagierte auf keine Reize. Seine Atmung war nicht wahrnehmbar, er schien sich eher in Trance zu befinden als zu schlafen, und der Professor war bestürzt. Er machte sich jedoch nicht lange Sorgen. Ein paar Stunden später biß ihn ein zorniges Meerschweinchen in den Finger, es kam zu einer Blutvergiftung, und der Her ausgeber vonNature konnte gerade noch vor Drucklegung der letzten Ausgabe den Nachruf unterbringen. Sigmund verschlief die ganze Aufregung und war im mer noch selig bewußtlos, als die Familie vom Kremato rium zurückkehrte und Kriegsrat abhielt. De mortuis nil nisi bonum, aber es war offensichtlich, daß der verstorbene Pro fessor Hymie wieder einmal einen Fehler begangen hatte, und niemand wußte, wie man ihn rückgängig machen konnte. Cousin Meyer, der ein Möbelgeschäft in der Mile End Road besaß, machte sich erbötig, für Sigmund zu sorgen, falls er ihn als Auslagendekoration verwenden durfte, um auf die Qualität seiner Betten hinzuweisen. Man war je doch der Ansicht, daß dies würdelos wäre, und die Familie lehnte das Angebot ab. 177
Aber es brachte sie auf eine Idee. Sie hatten eigentlich genug von Sigmund; es war wirklich ungehörig, daß er von einem Extrem ins andere verfiel. Warum sollte man also nicht den Weg des geringsten Widerstands gehen und den schlummernden Löwen einfach schlafen lassen? Es hatte keinen Sinn, einen weiteren teuren Sachver ständigen zuzuziehen, der alles nur noch schlimmer ma chen würde (obwohl sich niemand recht vorstellen konn te, wie das möglich gewesen wäre), Sigmunds Ernährung kostete nichts, er brauchte nur ein Minimum an ärztlicher Betreuung, und während er schlief, war er sicherlich nicht in Gefahr, gegen die Bedingungen in Großonkel Reubens Testament zu verstoßen. Als man Rachel diese Erwägun gen vorsichtig unterbreitete, konnte sie sich ihrer über zeugungskraft nicht verschließen. Die erforderliche Vor gangsweise verlangte zwar ein gewisses Maß an Geduld, aber die Belohnung würde schließlich beträchtlich sein. Je länger sich Rachel mit der Idee beschäftigte, desto besser gefiel sie ihr. Der Gedanke, eine wohlhabende Strohwitwe zu sein, hatte etwas Verlockendes an sich; er bot so interessante und neuartige Möglichkeiten. Und, um die Wahrheit zu sagen, sie hatte ihren Mann für die fünf Jahre bis zum Antritt seines Erbes gründlich satt. Zu gegebener Zeit traf das Erbe ein, und Sigmund wurde Halbmillionär. Er schlief jedoch noch immer tief und hatte in den ganzen fünf Jahren kein einziges Mal ge schnarcht. Er sah so friedlich aus, wie er da im Bett lag, daß es grausam gewesen wäre, ihn aufzuwecken - wenn man überhaupt gewußt hätte, wie das zu bewerkstelligen war. Rachel war entschieden der Meinung, daß unbesonnenes Herumpfuschen unglückliche Folgen haben könnte, und nachdem sich die Familie davon überzeugt hatte, daß sie nur über die Zinsen, nicht aber über Sigmunds Kapital verfügen konnte, schloß sie sich ihrer Meinung an. Das war vor einigen Jahren. Als ich das letztemal von Sigmund hörte, schlief er immer noch friedlich, während 178
Rachel sich an der Riviera großartig amüsierte. Wie ihr wahrscheinlich bemerkt habt, ist sie eine kluge Frau, und ihr ist vermutlich klar geworden, daß es sehr angenehm sein kann, einen jugendlichen Ehemann für ihre alten Tage auf Eis zu haben. Gelegentlich halte ich es allerdings für schade, daß On kel Hymie nie Gelegenheit hatte, der Welt seine beachtli chen Entdeckungen vorzulegen. Aber Sigmund hat be wiesen, daß unsere Zivilisation für diese Eingriffe in das menschliche Leben noch nicht reif ist, und ich hoffe, daß ich nicht in der Gegend bin, wenn ein anderer Physiologe mit dem ganzen Zeug von vorne anfängt.« Harry sah auf die Uhr. »Du meine Güte!« rief er. »Ich hatte keine Ahnung, daß es so spät ist - ich schlafe schon halb.« Er griff nach seiner Aktentasche, unterdrückte ein Gähnen und lächelte uns wohlwollend zu. »Schöne Träume euch allen!« sagte er.
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Der Fenstersturz
von Ermintrude Inch
U n d jetzt muß ich eine kurze, traurige Pflicht erfüllen. Eines der vielen Geheimnisse, die Harry Purvis umgaben obwohl er in jeder anderen Beziehung äußerst mitteilsam war -, war das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Mrs. Purvis. Er trug zwar keinen Ehering, aber das besagt heutzutage wenig. Genauso wenig wie das Gegen teil, was jeder Hotelbesitzer bestätigen wird. In etlichen Erzählungen hatte Harry deutlich bewiesen, daß er Damen des weiblichen Geschlechts (wie sich ein polnischer Freund von mir ausdrückte, dessen Sprach kenntnisse weit weniger ausgeprägt sind als seine Ritter lichkeit) eher ablehnend gegenüberstand. Und infolge ei nes merkwürdigen Zufalls wies die letzte Geschichte, die er uns überhaupt erzählte, darauf hin, daß Harry verheira tet war, und erbrachte dann auch noch den schlagenden Beweis dafür. Ich weiß nicht, wer das Wort >Fenstersturz< ins Ge spräch brachte, das schließlich kein sehr häufg verwende ter abstrakter Begriff ist. Wahrscheinlich war es einer der beunruhigend gebildeten jüngeren Gäste des >Weißen Hirschen<, einige von ihnen kommen direkt vom College, und wir Oldtimer fühlen uns ihnen gegenüber sehr unreif und unwissend. Aber vom Hauptwort ging die Diskus sion natürlich zum Zeitwort über. War jemand von uns jemals >fenstergestürzt< worden? Kannten wirjemanden, dem dies widerfahren war? »Ja«, sagte Harry, »es stieß einer redseligen Dame zu, die ich einmal kannte. Sie hieß Ermintrude und war mit Osbert Inch verheiratet, einem Toningenieur der BBC. 180
Osbert verbrachte seine Arbeitszeit damit, daß er ^uhör te, wie andere Leute sprachen, und den Großteil seiner Freizeit damit, daß er Ermintrudes Redeschwall lauschte. Unglücklicherweise konnte er sie nicht mittels Knopf druck abschalten, und hatte daher nur sehr selten Gele genheit, ein Wort einzuwerfen. Es gibt Frauen, die es wirklich nicht bemerken, daß sie nicht aufhören können zu sprechen, und sehr überrascht sind, wenn man ihnen vorwirft, die Konversation an sich zu reißen. Ermintrude begann zu sprechen, sobald sie die Augen aufschlug, schaltete auf größere Lautstärke, um die Acht-Uhr-Nachrichten zu übertönen, und redete unbe eindruckt weiter, bis Osbert endlich zur Arbeit gehen konnte. Im Lauf der Jahre hatte ihn dieser Zustand in die Nähe eines Nervenzusammenbruchs gebracht, aber als seine Frau eines Morgens durch eine längst überfällige Kehlkopfentzündung behindert war, benützte er die Gele genheit und protestierte lebhaft gegen ihr Rede-Monopol. Zu seinem ungläubigen Staunen weigerte sie sich glatt, die Behauptung, sie spreche unausgesetzt, zu akzeptie ren. Anscheinend stand für Ermintrude die Zeit still, so lange sie sprach, aber sie wurde sehr unruhig, wenn je mand anderer das Wort ergriff. Sobald sie wieder bei Stimme war, erklärte sie Osbert, wie unfair es von ihm war, sie so unbegründet zu beschuldigen, und der Streit wäre sehr erbittert geworden - wenn es möglich gewesen wäre, mit Ermintrude zu streiten. Osbert war zornig und verzweifelt. Aber er war auch genial und verfiel auf die Idee, Ermintrude unwiderlegbar zu beweisen, daß auf jede Silbe, die er sprach, hundert Worte von ihr kamen. Wie erwähnt war er Toningenieur, und sein Zimmer war mit einer Hi-Fi-Anlage, einem Kas settenrekorder und den üblichen elektronischen Geräten seines Berufs ausgestattet, die zum Teil die BBC unwis sentlich beigestellt hatte. Er brauchte nicht lang, um ein Gerät zu konstruieren, 181
das man als Selektiven Wortzähler bezeichnen könnte. Wenn ihr etwas von Tontechnik versteht, werdet ihr euch vorstellen können, was man mit den richtigen Filtern und Trennkreisen erreichen kann - und wenn nicht, müßt ihr mir eben glauben. Der Apparat funktionierte, einfach aus gedrückt, folgendermaßen: ein Mikrophon registrierte je des in der Wohnung der Inches gesprochene Wort. Os berts tiefere Töne wurden zu einem mit >Er< bezeichneten Zählwerk geleitet, Ermintrudes höhere Frequenz wurde in dem Speicher >Sie< registriert. Eine Stunde, nachdem Osbert den Apparat eingeschal tet hatte, sah der Stand wie folgt aus: ER SIE
23
2530
Während die Zahlen über die Anzeigeskala flackerten, wurde Ermintrude immer nachdenklicher und gleichzei tig immer schweigsamer. Osbert hingegen begann sieges trunken, seinen Vorteil nach Kräften auszunützen und wurde beinahe redselig. Als er zur Arbeit ging, gab das Zählwerk die neue Verteilung der Sprechdauer im Haus halt wieder: ER SIE
1043
3397
Nur um zu zeigen, wer der Herr im Haus war, ließ Os bert denApparat eingeschaltet; er hatte immer schon wis sen wollen, ob Ermintrude infolge eines automatischen Reflexes weitersprach, auch wenn niemand in der Nähe war, der sie hören konnte. Ubrigens hatte er den Zähler vorsichtshalber mit einer Sperre versehen, so daß seine Frau ihn nicht abschalten konnte, während er fort war. Er war ein bißchen enttäuscht, als der Zählerstand bei seiner Heimkehr am Abend unverändert war, aber danach 182
kletterten die Zahlen wieder in die Höhe. Es wurde'zu ei ner Art Spiel - allerdings einem todernsten Spiel -, bei dem keiner der beiden Beteiligten die Maschine aus den Augen ließ, wenn einer von ihnen ein Wort sprach. Ermintrude war sichtlich aus der Fassung geraten; immer wieder erlitt sie einen Rückfall und erhöhte ihren Stand um etliche hundert Punkte, bevor sie sich mit äußerster Willenskraft zusammenriß. Osbert konnte es sich angesichts der Di stanz zu Ermintrude leisten, gelegentlich spöttische Be merkungen zu machen; die Befriedigung, die er dabei empfand, war die Punkte wert, die sie ihn kostete. Obwohl der Apparat zu einer gewissen Gleichberechti gung im Haushalt der Inches geführt hatte, war das Zer würfnis wenn möglich noch größer geworden. Doch dann appellierte Ermintrude, die über eine gewisse natürliche Intelligenz verfügte (die man allerdings auch als Verschla genheit bezeichnen konnte) an die Gutmütigkeit ihres
Mannes. Sie wies darauf hin, daß keiner von beiden sich wirklich natürlich benahm, solange jedes Wort registriert und gezählt wurde; Osbert hatte sie unfairerweise herein gelegt und war jetzt unnatürlich schweigsam, weil er ständig die warnenden Zahlen vor Augen hatte. Obwohl
Osbert bei dieser Unverfrorenheit die Sprache wegblieb, mußte er zugeben, daß sie ein Körnchen Wahrheit ent hielt. Der Test würde fairer und überzeugender ausfallen, wenn keiner von ihnen die Zahlen sehen konnte - oder wenn sie das Vorhandensein der Maschine überhaupt vergaßen und sich vollkommen natürlich benahmen, oder
wenigstens so natürlich, wie es ihnen unter den gegebe nen Umständen möglich war.
Nach langen Diskussionen gelangten sie zu einem Kompromiß. Osbert verhielt sich seiner Meinung nach sehr anständig, stellte die Zählwerke wieder auf Null und ver
siegelte die Anzeigeskalen, so daß niemand den Zähler stand ablesen konnte. Sie kamen überein, die Wachssiegel - die sie beide mit ihren Fingerabdrücken versahen - am
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Wochenende zu erbrechen und dann die Entscheidung des Apparats anzuerkennen. Osbert versteckte das Mi krophon unter dem Tisch und übersiedelte die übrige An lage in seine kleine Werkstatt, so daß im Wohnzimmer nichts mehr vom unerbittlichen elektronischen Wach hund zu sehen war, der über das Schicksal der Inches ent scheiden sollte. Danach normalisierte sich die Lage langsam wieder. Ermintrude wurde genauso gesprächig wie früher, aber
das machte Osbert nichts aus, denn er wußte, daß jedes von ihr gesprochene Wort geduldig registriert und als Be weismittel gegen sie verwendet wurde. Am Ende der Wo che würde er einen überzeugenden Triumph feiern. Er konnte sich den Luxus leisten, täglich ein paar hundert Worte zu sprechen, denn er wußte, daß Ermintrude diesen Minusstand innerhalb von fünf Minuten egalisierte. Sie erbrachen die Siegel am Ende eines besonders ergie bigen Tages, an dem Ermintrude drei unglaublich banale Telefongespräche, für die sie beinahe den ganzen Nach mittag gebraucht hatte, wortgetreu wiederholt hatte. Os bert hatte nur gelächelt, alle zehn Minuten >Ja, Liebling<, gesagt und inzwischen darüber nachgedacht, wie seine Frau reagieren würde, wenn sie den erdrückenden Beweis vor Augen hatte. Ihr könnt euch deshalb sein Entsetzen vorstellen, als sie die Siegel erbrachen und der Wochenausbeute gegen überstanden: ER SIE
143.567
32.590
Osbert starrte die unglaublichen Zahlen verdutzt und ungläubig an. Irgend etwas war schiefgegangen - aber was? Im Apparat mußte ein Fehler aufgetreten sein, ver mutete er schließlich. Es war ärgerlich, sehr ärgerlich, 184
denn er wußte genau, daß Ermintrude dies nie zugeben würde, selbst wenn er ihr unwiderlegbar bewies, daß der Zähler verrückt gespielt hatte. Ermintrude krähte immer noch triumphierend, als Os bert sie aus dem Zimmer stieß und begann, seine irregelei tete Anlage auseinanderzunehmen. Er war noch damit beschäftigt, als er in seinem Papierkorb etwas bemerkte, daß er nicht dort hineingetan hatte. Es war eine Tonband schleife, und er konnte sich ihr Vorhandensein nicht erklä ren, denn er hatte den Kassettenrekorder einige Tage lang nicht verwendet. Er griff nach dem Band, und in diesem Augenblick wurde sein Verdacht zur Gewißheit. Er warf einen Blick auf den Rekorder; die Schalter stan den eindeutig anders, als er sie eingestellt hatte. Ermin trude war verschlagen - aber auch unvorsichtig. Osbert hatte sich oft darüber beklagt, daß sie ihre Arbeit nie or dentlich machte, und hier hielt er den Beweis dafür in Händen. Uberall in seinem Zimmer trieben sich alte Bänder mit ungelöschten Textpassagen herum, die er aufgenommen hatte; Ermintrude hatte mühelos eines ausfindig machen, ein paar Worte abschneiden, die Enden zusammenkleben, auf >Playback< schalten und die Maschine stundenlang vor dem Mikrophon laufen lassen können. Osbert war auf sich wütend, weil er nicht von selbst auf diesen Trick ge kommen war; wenn das Band kräftig genug gewesen wäre, hätte er Ermintrude wahrscheinlich damit erwürgt. Ob er es versuchte, weiß niemand. Wir wissen nur, daß sie zum Wohnungsfenster hinausflog, und es konnte na türlich ein Unfall sein - aber man konnte sich nicht bei ihr danach erkundigen, weil die Inches im fünften Stockwerk wohnten. Ich weiß, daß bei einem Fenstersturz meist nachgehol fen wird, und der Leichenbeschauer machte ein paar sehr anzügliche Bemerkungen. Aber niemand konnte bewei sen, daß Osbert sie gestoßen hatte, und über die ganze Sa 185
che wuchs rasch Gras. Etwa ein Jahr danach heiratete er eine bezaubernde kleine Taubstumme, und sie sind eines der glücklichsten Paare, die ich kenne.« Als Harry geendet hatte, trat, sei es aus Unglauben, sei es aus Pietät für die redselige Mrs. Inch, eine lange Pause ein. Aber bevor jemand einen entsprechenden Kommen tar abgeben konnte, flog die Tür auf, und eine gewaltige Blondine drang in die Bar des >Weißen Hirschen< ein. Es gelingt dem Leben nur selten, Pointen so gut zu set zen wie diese. Harry Purvis wurde blaß und versuchte vergeblich, sich in der Menge zu verstecken. Er wurde so fort entdeckt und mit einer Flut von Beschimpfungen ein gedeckt. »Hier also«, hörten wir erstaunt, »hältst du deine Mitt wochvorträge über Quantenmechanik! Ich hätte mich schon vor Jahren bei der Universität erkundigen sollen! Du bist ein Lügner, Harry Purvis, und von mir aus können das alle erfahren! Was hingegen deine Freunde be trifft ...« - sie warf uns einen vernichtenden Blick zu -, »habe ich schon lange nicht mehr eine solche Bande von verlotterten Saufbrüdern gesehen.« »He, Moment mal!« protestierte Drew von der anderen Seite der Theke her. Sie brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen und wandte sich dann wieder dem armen Harry zu. »Los, komm schon, wir gehen nach Hause! Nein, du mußt nicht erst austrinken! Ich bin sicher, daß du schon mehr als genug intus hast.« Gehorsam griff Harry Purvis nach Aktenmappe und Mantel. »Wie du meinst, Ermintrude«, sagte er demütig.
Ich will Sie nicht mit dem noch immer offenen Streit dar über langweilen, ob Mrs. Purvis wirklich Ermintrude hieß, oder ob Harry so benommen war, daß er den Namen au tomatisch auf sie anwandte. Jetzt ist einzig und allein die 186
traurige, unbestreitbare Tatsache von Bedeutung, daß ihn seit diesem Abend niemand mehr gesehen hat. Es ist natürlich möglich, daß er nicht weiß, wo wir jetzt zusammenkommen, denn einige Monate danach über nahm eine neue Leitung den >Weißen Hirsch<, und wir alle folgten Drew mit Sack und Pack in sein neues Lokal. Unsere wöchentlichen Zusammenkünfte finden jetzt in der >Sphäre< statt, und lange Zeit pflegten viele von uns hoffnungsvoll aufzublicken, wenn die Tür aufging, denn vielleicht war Harry ausgebrochen und hatte zu uns zu rückgefunden. Ich habe übrigens diese Erzählungen zum Teil in der Hoffnung herausgegeben, daß Harry das Buch lesen und ihm die Adresse unseres neuen Aufenthaltsor tes entnehmen wird.
Sogar die Zuhörer, die dir kein Wort geglaubt haben, vermissen dich, Harry! Wenn ein Fenstersturz Ermintru des das einzige Mittel ist, damit du deine Freiheit wieder erlangst, dann tu es an einem Mittwochabend zwischen sieben und elf, und vierzig Leute aus der >Sphäre< werden dir ein hieb- und stichfestes Alibi liefern. Aber komm ir gendwie zu uns zurück; seit du fort bist, ist es nie mehr so wie früher!
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Über Arthur C. Clarke
JVLr. Clarkes Interesse an der Wissenschaft zeigte sich früh. »Als ich noch nicht einmal zehn war«, schreibt er, »baute ich mir aus einer Papprolle und ein paar Linsen ein
kleines Teleskop und verbrachte viele Nächte damit, den Mond kartographisch zu erfassen, bis ich mich auf ihm wesentlich besser auskannte als in Somerset, wo ich zur
Welt gekommen war. Der Science-Fiction-Virus ergriff mich, als ich vierzehn
war und die ersten Exemplare von AMAZING STORIES und ASTOUNDING sah. Jahrelang sammelte ich jede Ausgabe, derer ich habhaft werden konnte; ich kann mich noch immer daran erinnern, wie aufgeregt ich war, als ich eine ganze Ladung WONDER STORIES erhielt, die ich um fünf Cents das Stück gekauft hatte. Als ich fünfzehn war, begann ich, kurze Arbeiten für die
Schulzeitung zu schreiben und wurde schließlich zum stellvertretenden Herausgeber ernannt. Als ich kürzlich diese Artikel durchsah, deprimierte es mich zutiefst, daß ich in der Zwischenzeit so wenig Fortschritte gemacht
habe. Als ich nach London übersiedelte, lernte ich sowohl die britische Science Fiction-Welt als auch die noch im Em bryostadium befindliche British Interplanetary Society
kennen. Ich war der Schatzmeister der B.I.S., gab unzäh lige >Fan Magazines< heraus, schrieb für sie und vervielfäl tigte sie, und verkaufte meine ersten Artikel über Raum fahrt.
Der Krieg und die RAF brachten mich mit Radar in Be rührung. Die Erfahrungen, die ich mit den ersten Funk meßgeräten sammelte, haben sich in etlichen meiner Er
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zählungen niedergeschlagen und gewährten mir Einblick in wissenschaftliche Denkvorgänge. Während dieser Pe riode schrieb ich den technischen Artikel >Extra-Terrestrial Relays<, der sich mit der Theorie synchroner Nachrichten satelliten befaßte. Mit Hilfe eines wohlgesinnten Parlamentsmitglieds er hielt ich ein Stipendium im King's College in London und war zwei Jahre später Bakkaleaurus der Naturwissen schaften in Physik sowie reiner und angewandter Mathe matik. Inzwischen hatte ich begonnen, Erzählungen an Science Fiction-Magazine in den Vereinigten Staaten zu
verkaufen. Nachdem ich vom College abgegangen war, schrieb ich weiterhin Erzählungen und Fachartikel und wurde Mitherausgeber von PHYSICS ABSTRACTS - eine sehr interessante Tätigkeit, durch die ich bezüglich des wissenschaftlichen Fortschritts auf dem laufenden blieb. Ich gab sie nach zwei Jahren auf, weil mein Einkommen aus meiner Freizeitbeschäftigung höher war als mein Ge halt. 1950 erschien mein erstes Buch - ein technisches Werk mit dem Titel INTERPLANETARY FLIGHT, das trotz sei nes engen Themenkreises soviel Erfolg hatte, daß ich auf gefordert wurde, ein zweites Buch für das breite Publikum zu schreiben. Das war dann EXPLORATION OF SPACE. Mitte der fünfziger Jahre nahm meine Laufbahn jedoch eine neue Richtung, weil ich unter einem heftigen Anfall von Sporttauchen litt. (Ich hatte baJd darauf weitere Astro nauten angesteckt, darunter vor allem Dr. Wernher von Braun.) 1955 schloß ich mich meinem Partner Mike Wilson auf dem Großen Barriere-Riff von Australien an, und die Ergebnisse sind in THE COAST OF CORAL festgehalten. Spätere Expeditionen führten uns nach Ceylon, wo wir jetzt leben. Mike entdeckte das erste Schatzschiff, das je im Indischen Ozean gefunden wurde (ein schwer bewaff netes Frachtschiff, das 1702 mit mindestens einer Tonne 189
Silbermünzen an Bord unterging; das Resultat waren das
Buch und der Fernsehfilm THE TREASURES OF THE GREAT REEF, die beträchtliche Unruhe in unser Leben brachten. Ich habe jetzt über vierzig Bücher geschrieben, aber meine literarische Produktion kam vier Jahre lang buch stäblich zum Stillstand, während ich mit Stanley Kubrick
an 2001: EINE ODYSSEE IM WELTRAUM arbeitete. Da dieser Film einen gewissen Erfolg errungen hat, hoffe ich, daß ich mich wieder meiner Lieblingsbeschäftigung, dem
Schreiben von Kurzgeschichten, widmen und außerdem mehr Zeit damit verbringen kann, daß ich tauche, lese, Tischtennis spiele und mich über die neuesten Nachrichten aus dem Weltraum auf dem laufenden halte - denn ich
habe jedenfalls die Absicht, ihn zu besichtigen, bevor ich zu alt dazu bin. Arthur C. Clarke
HEYNE
SCIENCE FICTION
H
Romane und Erzählungen deutscher SF-Autoren im HeyneTaschenbuch.
MICHAELIDRENZ
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06/3917- DM 4,80
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