An den Grenzen des Übersinnlichen Rätselhafte Dinge und Erlebnisse sind es. die uns im vorliegenden UTOPIA-Band begegne...
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An den Grenzen des Übersinnlichen Rätselhafte Dinge und Erlebnisse sind es. die uns im vorliegenden UTOPIA-Band begegnen – sei es, daß sie sich an Bord des Raumschiffes oder in den Erzählungen der Passagiere ereignen. Wir berühren damit ein etwas heikles Thema. Es ist das Grenzgebiet zwischen Bewußtem und Unbewußtem, dort, wo die nüchterne Erkenntnis endet und das Reich dessen beginnt, das sich nicht mehr mit den Methoden der exakten Wissenschaft beweisen läßt. Auf diesem schwankenden Boden tummelt sich das Heer der Gaukler und Scharlatane, der Wahrsager. Zauberkünstler und Geisterseher. Aber es wäre verfehlt und ungerecht, wenn man alles, was sich nicht mit den Instrumenten der wissenschaftlichen Forschung messen läßt, als „nicht vorhanden’’ abtun wollte. Vergessen wir doch nicht, daß der Mensch mit seinen fünf – nicht einmal sehr ausgeprägten – Sinnen nur einen kleinen Teil dessen erfassen kann, was wirklich in der Welt existiert. Nie wird es ihm gelingen, die Welt restlos zu erforschen. Stets wird es „Dinge zwischen Himmel und Erde“ geben, die uns unerklärlich bleiben. Hieran wollen wir denken, wenn wir die rätselhaften Abenteuer kennenlernen, von denen der neue UTOPIA-Band berichtet.
Von Alf Tjörnsen „Sie wollen es also wirklich wagen, Kommodore?“ Henri Lasalle, der sonst so lebhafte Kommandant der Weltraumstation „Luna nova“, machte ein ganz feierliches Gesicht, als er die schicksalsschwere Frage an Jim Parker richtete. Sie saßen sich in der mit moderner Sachlichkeit eingerichteten, aber dennoch behaglichen Befehlszentrale der Außenstation gegenüber und rauchten gedankenvoll ihre Zigaretten. Der Kommodore lächelte. „Ich bin mir über die Tragweite des Entschlusses völlig im klaren. Eine Fahrt zum Mars – das ist selbst heute, im Zeitalter der Raumschifffahrt, ein Vorstoß ins Unbekannte. Gewiß – auch auf Venus betraten wir Neuland und sahen uns ungewissen Gefahren und Abenteuern gegenüber. Andererseits aber ist Venus ein Planet, der unserer alten Erde weitgehend ähnlich ist. Was aber haben wir von Mars zu erwarten …?“ „Sie denken an diese merkwürdigen Mars-Kanäle?“ fragte Lasalle. „So ist es“, nickte Jim Parker. „Sie sind – trotz allen wissenschaftlichen Fortschritts – noch heute ein Geheimnis. Namhafte 3
Forscher sind nach wie vor fest davon überzeugt, daß es eine Marsmenschheit gibt, die uns geistig und technisch weit überlegen ist. Und wenn ich an meine Erlebnisse in jüngster Zeit denke …“ Der Kommodore hob bedeutungsvoll die Schultern. „Ich weiß, was Sie denken“, warf der kleine Franzose lebhaft ein. „Um so unverständlicher finde ich es, daß Sie so gut wie unbewaffnet reisen wollen. Wozu haben wir die wirkungsvollsten Atomwaffen entwickelt, wenn Sie sich nicht mit ihnen schützen wollen?“ „Wobei es sich freilich erst herauszustellen hätte, wie weit sie in diesem Fall ‚wirkungsvoll’ wären“, lachte Jim Parker und drückte die Zigarette im Ascher aus. „Nein, Lasalle“, sagte er und sprang auf, um an das runde Fenster zu treten, durch das der Blick in die flimmernde Unermeßlichkeit des Universums schweifte, „ich glaube kaum, daß wir auf dieser Fahrt mit Angriffen und Gefahren von außen zu rechnen haben. Die Gefahren, die auf solch langen Raumreisen entstehen, liegen meist in den Fahrtteilnehmern selbst verborgen.“ „Aha“, rief Lasalle, „Jetzt denken Sie an das furchtbare Ende des Raumschiffes „Globetrotter“ * .“ „Allerdings – und nicht weniger an unseren ersten Erkundigungsvorstoß zur Venus ** Durch das seelische Versagen eines einzelnen kann die ganze Expedition zum Scheitern verurteilt sein. Wenn es erst einmal soweit gekommen ist, dann ist es zu spät, die Notbremse zu ziehen und auszusteigen. Und diese 75 langen Tage, die eine Fahrt zum Mars mit unseren modernsten Atom-Raumschiffen immerhin noch erfordert, sind schließlich kein Pappenstiel. Zeit genug, um die Nerven zu verlieren.“ „75 Tage“, wiederholte Henri Lasalle nachdenklich und trat neben den Kommodore ans Fenster. „75 Tage auf engstem *
Siehe UTOPIA, 3. Band: „Panik im Weltall.“ Siehe UTOPIA, 6. Band „Kameraden zwischen Erde und Venus.“
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Raum zusammengepfercht. Nichts als die Leere und das Schweigen des Weltalls, wenn man zum Fenster hinausschaut. Tag für Tag dasselbe bißchen eintönigen Borddienstes, Tag für Tag die – verzeihen Sie! – gleichen langweiligen Gesichter um sich herum. Nein, Kommodore, solch eine Planetenfahrt wäre nichts für mich. Hier, auf der Außenstation, sind wir ja auch nicht gerade verwöhnt. Aber es gibt doch wenigstens Abwechslung. ‚Luna nova’ ist der Umsteigebahnhof zwischen Erde, Mond und Venus. Irgend etwas ist hier immer los. Dagegen draußen im Raum …“ Eine Weile herrschte Schweigen. Doch dann sagte der Kommodore, und seine Stimme war voller Zuversicht: „Sie stellen es sich schlimmer vor, als es ist, Lasalle. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Er findet sich schließlich mit jeder Umwelt, mit jeder Lage ab. Es ist stets Aufgabe des Expeditionsleiters, seine Schutzbefohlenen zu beschäftigen und abzulenken, sie auf andere Gedanken zu bringen, wenn sie anfangen, zu spinnen oder Trübsal zu blasen. Und darin – schätze ich – hat Jim Parker schon einige Erfahrung.“ In diesem Augenblick klopfte es, und Fritz Wernicke, der alte, getreue Gefährte des Kommodores, trat ein und vollführte eine komische Ehrenbezeigung. Jim Parker schüttelte verwundert den Kopf. „Was für eine Krankheit ist denn bei dir ausgebrochen, Whiskytöter?“ „Melde gehorsamst, edler Häuptling: Weltraumschiff ‚Schiaparelli’ klar zur Ausreise. Die unerschrockene Besatzung brennt darauf, ihrem Kommodore durch 60 Millionen Kilometer Nichts zum fernen ‚Kriegsplaneten’ zu folgen.’ „Du hättest Parteiredner werden sollen, mein lieber Fritz“, lachte Jim Parker. „Aber ich freue mich doch, daß ihr die Kiste termingerecht startklar gekriegt habt. Wir müssen die günstige Marsopposition für unseren Erkundungsvorstoß ausnutzen und 5
sind dadurch streng an den vorausberechneten Fahrplan gebunden. Morgen früh, sechs Uhr Stationszeit, werden wir …“ Mitten in die Worte des Kommodores hinein klang schrill die Alarmglocke. Draußen in den Gängen heulten die Sirenen. Rotes Blinklicht flackerte irgendwo vor dem Rundfenster und rief die Männer, die mit Außenarbeiten beschäftigt waren, in die Station zurück. Verblüfft sahen die drei Männer in der Befehlszentrale sich an. Rasch trat Lasalle an den Stationsfernseher und schaltete die automatische Kontrollanlage ein. Auf dem Bildschirm zogen Räume und Gänge von „Luna nova“ in pausenloser Folge vorüber. Man sah, wie sich überall die Schotte über Türen und Rundfenster schoben, wie sich die Männer der Besatzung die luftdichten und druckfesten Weltraumkombinationen anzogen, wie das Wachtpersonal mit schußbereiten Karabinern und Atombrennern Posten bezog. Ununterbrochen schleusten sich die Männer, die der Alarm außerhalb des Riesenrades der Außenstation überrascht hatte, in die „Achse“ von „Luna nova“ ein. Aus dem Lautsprecher kamen knapp und sachlich die Meldungen: „Funkstation – alles in Ordnung.“ „Klimaanlage – alles okay.“ „Observatorium für Erdbeobachtung – alle Mann auf Posten. Was ist denn eigentlich los, zum Donnerwetter?“ „Ja, zum Donnerwetter, was ist denn eigentlich los?“ Das fragte auch Henri Lasalle, als er die Station bis in den verborgensten Winkel mit dem Fernseher kontrolliert und absolut nichts Auffälliges gefunden hatte. Fritz Wernicke machte ein ratloses Gesicht und entkorkte gedankenverloren eine Flasche echt französischen Kognaks, den Lasalle leichtsinnigerweise auf seinem Schreibtisch stehengelassen hatte. Dem Kommodore kam plötzlich ein Gedanke. Er wählte die Nummer der Funkstation und meldete sich. „Befehl für Leutnant Terry vom Sicherheitsdienst: Sofort Po6
sten vor den Luftschleusen verdoppeln. Stellen Sie fest, von wo aus der Alarm gegeben wurde!“ „So“, sagte Jim Parker dann und schritt zur Tür, „dann wollen wir uns draußen mal ein wenig umschauen.“ * Leutnant Fred Terry, dem die kleine Abteilung des Sicherheitsdienstes unterstand, die das S.A.T. * auf der Weltraumstation „Luna nova“ unterhielt, war ein ehrgeiziger und gewissenhafter junger Mann. Außerdem schien er über die bemerkenswerte Fähigkeit zu verfügen, stets im rechten Augenblick dort aufzutauchen, wo Gefahr im Verzuge war. So kam er auch diesmal gerade im richtigen Moment vor dem Eingang der Luftschleuse B an, um zu sehen, wie sich die Hermetiktür von unsichtbarer Hand langsam öffnete. Von den beiden Wachtmännern, die hier auf Posten gestanden hatten, schwebte der eine scheinbar leblos in der Schwerelosigkeit, die hier, in der Achse des Riesenrades, herrschte. Sein Kamerad klammerte sich an die Haltegriffe und stierte untätig auf die Tür, die sich Zoll um Zoll weiter aufschob – wie von Geisterhand … Aber Leutnant Terry glaubte nicht an Geister. Und wenn hier Zauberei im Spiel war, dann konnte es sich höchstens um einen faulen Zauber handeln. Terry handelte unverzüglich. Schon schrillte seine Trillerpfeife Alarm. Er packte den wie gebannt dastehenden Wachtposten und schüttelte ihn. „He, Sie Weihnachtsmann, was glotzen Sie da in der Gegend herum?“ Doch die Wirkung war überraschend. Der Wachtmann zuckte zusammen. Seine Züge verwandelten sich, als würde er aus einem fernen Traumland roh in die Wirklichkeit zurückgeris*
S. A. T. = Staatliches Atom-Territorium der USA
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sen. Verständnislos sah er auf seinen Vorgesetzten – und dann auf die Tür zur Schleusenkammer B. Und plötzlich schlug er die Hände vor das Gesicht und torkelte schluchzend davon. Fred Terry blickte ihm nach. Er mußte ein ungutes Gefühl niederkämpfen, das nach seinem Herzen griff. Aber er faßte sich schnell. Da drüben – die Luftschleuse … Irgend etwas ging da vor. Jetzt schob sich die Tür wie von selbst wieder zu. Es galt, schnell zu handeln. Terry riß eine Tränengasbombe aus der Tasche seiner Kombination und schleuderte sie durch den nunmehr schon recht schmalen Türspalt. Drinnen splitterte Glas … Im nächsten Augenblick wurde die Schiebetür wieder aufgepreßt. Der Leutnant hob den Atombrenner. „Halt! Stehenbleiben! Hands up!“ Aber er fand kein Ziel. Alles ging viel zu schnell. Irgendein Körper – oder war es nur ein Schatten? – huschte gedankenschnell an ihm vorbei. Aus dem Verbindungsweg zwischen „Achse“ und „Radkranz“ der Station, dort, wo die alarmierten Sicherheitsmänner in dem weitmaschigen Netz herbeienterten, das in diesem Teil der Station als Treppe diente, klang wildes Fluchen. Rasch war Terry zur Stelle. Die Männer waren untereinander in Streit geraten. Einer beschuldigte den anderen, ihn getreten, geboxt oder aus dem Netz gestoßen zu haben. Leutnant Terry gebot energisch Ruhe. „Quatscht kein dummes Zeug, Leute! Da hat sich jemand durchgedrängt und ist in den unteren Räumen verschwunden. Sofort umkehren und den Kerl suchen! Los, Sanford, bring Billy ins Revier, der da oben vor Schleuse B liegt. Smith und Tex, ihr bleibt hier und nehmt jeden fest, der es versuchen sollte, sich hier vorbeizuschlän-geln. Ihr anderen kommt mit.“ Im Schlafraum III, der zu dieser Zeit unbenutzt war, traf Fred Terry den Kommodore mit seinen Begleitern. Sie standen vor 8
dem Druckknopf der Alarmanlage, über dem die Schutzscheibe zertrümmert war. „Wenn es Schlafenszeit gewesen wäre, hätte man wenigstens annehmen können, daß einer von den Männern schlecht geträumt und den Alarm im Traum ausgelöst hätte“, meinte Henri Lasalle kopfschüttelnd. „Aber so? Dahinter kann doch nur eine Teufelei stecken.“ Leutnant Terry trat vor und erstattete seine Meldung. Schweigend hörte der Kommodore zu. Dann ging er mit den anderen wieder auf die Suche. Gewissenhaft wurde die ganze Station durchgekämmt, aber nichts Auffälliges wurde gefunden. „Hier scheinen Geister ihre Hand im Spiel zu haben“, sagte Lasalle kleinlaut, als er am Abend mit Parker und Wernicke in dem kleinen, behaglichen Wohnraum zu-sammensaß, der dem Kommodore bei seinen dienstlichen Besuchen auf der Außenstation stets zur Verfügung stand. „Stärken Sie sich, teurer Freund“, warf Fritz Wernicke jovial ein und füllte das Glas des betrübten Stationskommandanten randvoll mit Kognak. „Das ist das sicherste Mittel gegen böse Geister. Frost, Kameraden!“ „Jedenfalls muß der ‚Geist’ die Absicht gehabt haben, auszusteigen und die Station zu verlassen“, meinte Jim Parker sinnend. „Und das gibt immerhin zu denken.“ Die beiden anderen sahen ihn verblüfft an. „Ja, aber wohin hätte er denn gehen sollen, Kommodore?“ rief Lasalle ratlos. „Man kann doch hier, im leeren Weltraum, nicht so mir nichts, dir nichts ‚aussteigen’ – es sei denn, man wollte auf besonders originelle Art Selbstmord begehen.“ „Wie ein Selbstmordkandidat kommt mir dieser Mister Unbekannt nicht vor“, lächelte Parker. „Vielmehr dürfte er die Absicht gehabt haben, sich unauffällig an Bord eines in der Nähe ankernden Raumschiffes zu begeben.“ „Mort de ma vie!“ entfuhr es Lasalle, der immer in seine 9
Heimatsprache verfiel, wenn das Temperament mit ihm durchging. „Das müßte dann ausgerechnet unser ‚Schlaparelli’ gewesen sein, großer Häuptling“, stellte Wernicke sachlich fest, „denn ein anderes Raumfahrzeug ankert zufälligerweise gerade nicht in der Nähe.“ „Stimmt haargenau, Messieurs“, rief Lasalle aufgeregt. „Kein Zweifel: Jrgend jemand wollte sich an Bord des ‚Schiaparelli’ schleichen, um als blinder Passagier zum Mars mitzufahren.“ „Na, dann prost!“ lachte Wernicke. „Die Suppe hätten wir ihm versalzen.“ „Zeit zum Schlafengehen!“ Jim Parker gab das Zeichen zum Schluß der Debatte. „Morgen früh um sechs geht’s los, und bis dahin wollen wir noch ein Auge voll Schlaf nehmen. Wenn die große Marsreise beginnt, werden die ersten Tage uns voll und ganz in Anspruch nehmen.“ Aber Monsieur Lasalle hatte noch etwas auf dem Herzen. „Kommodore“, begann er stockend, „ich habe da irgendwie ein unbehagliches Gefühl, wenn ich an Ihre Expedition denke. Seit einiger Zeit mache ich so seltsame Wahrnehmungen. Lachen Sie mich bitte nicht aus, aber – es ist, als spukte es bei uns auf der Station. Da gibt es Schatten, die plötzlich in Nichts zerfließen, Geräusche, deren Herkunft man nicht zu deuten vermag. Sollte das irgendwie mit Ihrer Reise zusammenhängen? Sollten da Mächte ihre Hand im Spiel haben, die wir nicht kennen? Ich beschwöre Sie, Kommodore: Seien Sie auf der Hut!“ Er ist überarbeitet, er sollte ausspannen, einen längeren Urlaub auf der Erde verbringen, dachte Jim Parker. Aber er sprach den Gedanken nicht aus. „Ich werde auf der Hut sein, Lasalle“, sagte er nur und drückte seinen Besuchern zum Abschied die Hand.
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* Zuweilen hatte Jim Parker so etwas wie einen sechsten Sinn. Er hätte später niemals zu sagen vermocht, was ihn dazu veranlaßt hatte, in dieser Nacht plötzlich aufzuwachen und schon im nächsten Augenblick in die Kleider zu fahren. Draußen auf dem Haupteingang der Station, der im Dämmerlicht einer matten Beleuchtung lag, herrschte nächtliche Stille, nur hin und wieder unterbrochen von dem fernen Schritt eines Wachtpostens. Langsam folgte der Kommodore der Krümmung des Ganges, vorbei an den Schlafräumen der Besatzung, aus denen vielfältiges Schnarchen drang, an der Küche, der Funkstation und den Aufenthaltsräumen. Dann betrat er das Reich der Maschinenräume. Überall fand er die Männer der Nachtwache auf ihrem Posten – überall klang ihm die gleiche Meldung entgegen: „Auf Wache nichts Neues.“ Schweigend setzte Parker seinen nächtlichen Kontrollgang fort. Bis in die verborgensten Ecken kämmte er die Station systematisch durch. Doch es gab nichts, was seinen Verdacht hätte erwecken können. Schließlich schalt er sich selbst einen Narren. Die jüngsten Erlebnisse auf dem Mond mußten seinen Nerven ärger mitgespielt haben, als er es wahrhaben wollte. Wütend über sich selbst ging er zu seiner Kammer zurück. Vor der Tür der Befehlszentrale prallte er mit einem Wachtposten zusammen, der sich durch intensives Klopfen Einlaß zu verschaffen suchte. Erstaunt betrachtete er den Mann. „Was machen Sie denn hier, Sawyer? Sie klopfen vergeblich. Um diese Zeit ist die Zentrale nicht besetzt.“ Der mit „Sawyer“ Angeredete fuhr ‚herum. Er atmete erleichtert auf. „Gott sei Dank, Kommodore, daß ich Sie endlich gefunden habe. Ich suchte Sie überall, als ich Sie nicht in Ihrer Kabine gefunden hatte.“ 11
„Ja, zum Teufel, was ist denn passiert?“ fragte Parker verwundert. Nun war Mister Sawyer an der Reihe, sich zu wundern. „Sie haben mich doch rufen lassen, Kommodore.“ „Wer, ich? – Hm, na, dann erzählen Sie mal, wie das war.“ „Ja, also“, begann der Mann stockend, „ich hatte doch die Wache vor der Luftschleuse C. Da kam plötzlich ein Kollege und rief: ‚Sawyer, sofort zum Kommodore! Schnell, beeile dich! Ich vertrete dich hier einstweilen. Ich fragte noch, was ich denn bei Ihnen sollte, aber der Kollege meinte bloß …“ „Welcher Kollege war denn das überhaupt?“ unterbrach Jim Parker ungeduldig. Sawyer zuckte ratlos die Achseln. „Genau konnte ich ihn in dem Halbdunkel nicht erkennen. Außerdem trug er einen Verband um den Kopf. Ich nahm an, es wäre der Hector vom Laderaum.“ „Kommen Sie mit“, befahl der Kommodore. „Wir wollen uns den Schleusenraum C mal etwas genauer ansehen.“ Aber in der Schleusenkammer deutete nichts darauf hin, daß irgend ein Unbefugter sich darin zu schaffen gemacht hätte. Innen- und Außentüren waren vorschriftsmäßig verschlossen. Das Raumtaxi schwebte festgezurrt in der Haltevorrichtung. Sollte hier wirklich jemand „ausgestiegen“ sein in der Zeit, als Sawyer auf der Suche nach dem Kommodore war? Jim Parker ließ den Posten vor der Luftschleuse zurück und schärfte ihm äußerste Wachsamkeit ein. Er selbst suchte das kleine astronomische Observatorium der Station auf und ließ seine Blicke aus den Beobachtungsfenstern ringsum in den Raum schweifen. Da draußen, zu seinen Füßen, wölbte sich der gewaltige Diskus der Außenstation. Hell hob er sich gegen das mächtige Rund der fernen Erdkugel ab. In gleicher Höhe mit ihm schwebte in zweihundert Meter Abstand der granatenförmige 12
Rumpf des Weltraumschiffs „Schiaparelli“, das ihn, Jim Parker, und seine Gefährten in wenigen Stunden durch 60 Millionen Kilometer leeren Raum zum rotleuchtenden Planeten Mars bringen sollte. Doch da – hallo, was war denn das? War da nicht ein kurzes, helles Aufblitzen gewesen – links neben dem Heck des „Schiaparelli“? Der Kommodore schnellte sich zur gegenüberliegenden Wand und riß das lichtstarke Marineglas vom Haken, das dort griffbereit hing. Einen Augenblick später war er wieder am Fenster und richtete das Instrument auf die Stelle, an der er das Blitzen wahrgenommen hatte. Aber so sorgfältig er auch beobachtete, es war nichts Auffälliges zu erkennen. Kurz entschlossen eilte Parker in den Hauptteil der Station zurück und betrat die Funkstation. „Rufen Sie den ‚Schiaparelli’, Roberts“, befahl er dem diensttuenden Funker, der mit geübten Griffen die Verbindung herstellte. „Hallo, hier Winter“, tönte die Stimme des Bordfunkers vom „Schiaparelli“ aus dem Lautsprecher. „Was ist los?“ Der Kommodore griff zum Mikrophon. „Hier Parker. Hören Sie, Winter: Achten Sie gut auf die Luftschleuse. Sollte irgend jemand, der nicht zur Besatzung gehört, das Schiff betreten wollen, so ist er sofort festzunehmen.“ „Verstanden, Kommodore. Hier kommt keiner rein.“ „Danke. Schluß!“ Aufatmend verließ Jim Parker die Station, um sich für die wenigen Stunden bis zum Start in seiner Kabine aufs Ohr zu legen. * Der Start des „Schiaparelli“ zum Erkundungsvorstoß zum Mars erfolgte ohne viel Aufhebens und ließ jene Aufmerksamkeit 13
völlig vermissen, die einem so bedeutsamen Ereignis in der Geschichte der Weltraumfahrt von Rechts wegen zugekommen wäre. Alle Beteiligten fühlten sich an diesem Morgen müde und aus irgend einem unerklärlichen Grunde niedergeschlagen. Und die äußeren Begleitumstände waren keinesfalls geeignet, diese Stimmung aufzulockern. Henri Lasalle, der Kommandant der Außenstation, hatte den Kommodore und Fritz Wernicke gerade in die Befehlszentrale eingeladen, um mit ihnen beim Frühstück die letzten Einzelheiten des Starts zu besprechen, als ein Läufer eintrat und die Meldung brachte, daß zwei Transport-Raumschiffe, die den Dienst auf der Mondroute versahen, mit leichter Havarie ‚Luna nova“ als Nothafen anlaufen wollten. „Hölle und Teufel!“ schimpfte Lasalle. „Ausgerechnet in diesem historischen Augenblick! Konnten sich diese Himmelhunde denn keine passendere Gelegenheit für ihre Karambolage aussuchen?“ „Lassen Sie nur, Lasalle“, versuchte ihn Jim Parker zu beruhigen. „Wir kommen auch so klar. Es ist ja alles bis ins kleinste besprochen und vorbereitet. Leben Sie wohl und lassen Sie sich nicht aufhalten.“ „Ist auch wirklich alles vorbereitet?“ fragte der kleine Wernicke mit besorgter Stimme. „Ich meine – ahem – wollten Sie nicht …“ „Ich weiß schon“, lächelte Lasalle. „Sie meinen die zehn Flaschen Kognak, die ich Ihnen versprach. Keine Sorge, Monsieur Wernicke! Ich habe sie bereits vor einer halben Stunde an Bord schaffen lassen.“ „Sie sind ein Engel, Lasalle!“ jubelte der kleine, ewig durstige Raumfahrtpilot und umarmte den edlen Spender gerührt. „Komm Fritz“, mahnte der Kommodore, „wir müssen an Bord. Leben Sie wohl. Lasalle. Auf ein gesundes Wiedersehen!“ 14
„Viel Glück, Messieurs! Kommen Sie gesund zurück!“ Henri Lasalles Stimme zitterte, als er seinen Kameraden in der Luftschleuse noch einmal die Hand drückte. Und während die beiden Weltraumfahrer im Raumtaxi in Sekundenschnelle zum mächtigen Schiffsrumpf des „Schiaparelli“ hinüberfuhren, klomm der Stationschef seufzend zum Beobachtungsstand hinauf, um das Landungsmanöver der beschädigten Mondschiffe zu leiten. * An Bord des großen Expeditionsschiffes hatte Jim Parker die Gefährten der abenteuerlichen Fahrt zum Mars noch einmal im Gemeinschaftsraum versammelt. Da standen sie um ihn herum, und nichts verriet in ihren Mienen, daß sie im Begriff standen, sich in wenigen Minuten in ein Abenteuer zu stürzen, das ein neues Kapitel in der Eroberung des interplanetarischen Raumes einleiten sollte. Ruhig und gelassen blick-ten sie auf ihren Kommodore, dem sie ihr Leben und Schicksal bedenkenlos anvertrauten. Es war eine kleine Schar auserwählter Männer aus der „alten Garde“ des S.A.T. Niels Karsten, der Bordingenieur, ein ernster, hagerer Norweger, der alle sieben Weltmeere befahren hatte, bevor er seiner Sehnsucht nach den unerforschten Weiten des Weltraums nachgab und in die Dienste des Staatlichen Atom-Territoriums eintrat. Doktor James Barringer, ein etwas zerstreuter Gelehrter mittleren Alters, der die Expedition als astronomischer Sachverständiger begleitete, galt in der Fachwelt als bedeutender Astrophysiker und Marsforscher von Rang. Dann war da Doktor Leonhard, der Schiffsarzt. Man hätte es dem kleinen, rundlichen Manne mit dem gutmütigen Vollmondgesicht nicht angesehen, daß er einer der hervorragendsten Wissenschaftler des S.A.T., und zwar der leitende 15
Arzt und Biologe dieser großen Organisation, war. Geert Winter, ein junger gebürtiger. Hamburger, betreute die Funkanlage des Schiffes. Trotz seiner Jugend hatte er schon manches Jahr in der Raumschiffflotte des S.A.T. abgedient. Und schließlich war noch Jane Russell mit von der Partie, als einziges weibliches Besatzungsmitglied. Sie war eine blonde, herbe Schönheit und trug stets einen etwas überlegenen, spöttischen Ausdruck zur Schau. Dabei galt sie als ungewöhnlich intelligent und in allen Lagen anpassungsfähig. Sie hatte einen etwas undurchsichtigen Posten im S.A.T.-Informationszentrum zu Orion-City inne, und Generaldirektor Cun-ningham hatte besonderen Wert auf ihre Teilnahme an der Expedition gelegt; denn er hatte Jane Russell damit beauftragt, eine genaue Chronik des Mars-Projekts – von seinen ersten Anfängen an – für das Archiv des Atom-Territoriums zu verfassen. Der Kommodore hatte zwar ein bedenkliches Gesicht gezogen – er hielt nicht viel von der Teilnahme von Vertreterinnen des „schwachen Geschlechts“ an längeren Weltraumexpeditionen, zumal wenn die Besatzung so begrenzt war wie hier, und jeder im Ernstfall fest zupacken mußte. Aber der dicke Ted S. Cunningham hatte ihm die Tüchtigkeit der jungen Dame überzeugend dargestellt, und als er noch anfing, ihre Fähigkeiten als künftige Schiffsköchin in glühenden Farben zu schildern, hatte Jim Parker schließlich lachend eingewilligt. Der Kommodore ließ den Blick noch einmal über die Schar seiner Getreuen schweifen und setzte zu einer letzten, knappen Ansprache an: „Kameraden, ich will mich kurz fassen. Tönende Worte und schwülstige Phrasen sind mir genau so zuwider wie Ihnen allen. Unser Ziel ist der Mars. Dank unserem neuentwickelten Atomtriebwerk werden wir den Planeten im kurzen Zeitraum von nur 75 Tagen erreichen. Am Ziel angekommen, wollen wir Mars umkreisen und dabei so viel Beobachtungsmaterial wie möglich 16
gewinnen – als Grundlage für künftige Expeditionen. An eine Landung ist diesmal noch nicht gedacht. Wir kehren nach zwei bis drei Umkreisungen nach ‚Luna nova’ zurück.“ „Verzeihung, Kommodore, wenn ich Sie unterbreche“, sagte der Astronom. „Aber warum hat unser Schiff die aerodynamische Geschoßform, wenn wir gar nicht beabsichtigen, auf einem Planeten mit umgebender Lufthülle zu landen?“ „Nur aus Sicherheitsgründen, Doc“, gab Parker Auskunft. „Die Geschoßform erlaubt es uns, im Bedarfsfalle tief in die Marsatmosphäre einzutauchen. Doch nun zum Schluß noch ein Anliegen, das mir besonders nahegeht: Wir wissen nicht, welchen Abenteuern und Gefahren wir auf unserer Reise entgegengehen. Aber so viel weiß ich: Wir werden sie nur dann bestehen können, wenn wir jederzeit in unbedingter Pflichterfüllung und Kameradschaft zusammenhalten. Und nun bitte ich Sie, auf Ihre Plätze zu gehen. In zehn Minuten starten wir.“ Rasch verteilten sich die Besatzungsmitglieder auf die Räume des Schiffes. Der Kommodore und Fritz Wernicke nahmen ihre Plätze hinter Steuerknüppel und Schaltbrett ein. Ruhig kamen die Meldungen aus dem Lautsprecher: „Funkstation klar. – Beobachtungsraum klar. – Maschinenraum klar.“ Und dann noch einmal die Stimme Geert Winters: „Funkspruch aus Orion-City. ‚An Besatzung des „Schiaparelli“: Viel Erfolg und glückliche Rückkehr. Hals- und Beinbruch! Cunningham’.“ Der Kommodore schaltete den Raketenmotor ein. * Die drei ersten Tage der Reise zum Mars brachten kein nennenswertes Ereignis. Rasch hatte die kleine Besatzung sich an 17
Bord eingelebt und versah gewissenhaft ihre Aufgaben. Jim Parker hatte einen Wachdienst eingeteilt, der während der gesamten Fahrtdauer beibehalten werden sollte. Jeweils zwei der Expeditionsteilnehmer sollten im Führerstand und im Maschinenraum Dienst tun und in Abständen von vier Stunden abgelöst werden. Nur Jane, die es schnell verstanden hatte, sich die Achtung ihrer männlichen Kollegen durch ihre wirklich hervorragende Kochkunst zu erwerben, war von diesem regelmäßigen Dienst befreit. Um so eifriger war sie bemüht, in den Mußestunden ihre Eindrücke zu Papier zu bringen. Es war gegen Abend des vierten Reisetages, als das junge Mädchen dem Ingenieur im Heck des Schiffes einen Besuch abstattete. Niels Karsten hockte auf einem dicken Kühlrohr im Maschinenraum, die kalte Pfeife zwischen den Zähnen, und schmökerte in einem Kriminalroman. „Sie sollten Ihre kostbare Zeit nicht mit minderwertiger Lektüre vergeuden“, sagte Jane mißbilligend. „Wenn Sie sich langweilen, will ich Ihnen gern ein paar Romane aus meinem Gepäck leihen. Kennen Sie zum Beispiel Dan L. Lextons neuesten Bestseller ‚Liebe im Unterbewußten’? Das Buch muß man einfach gelesen haben. Der Verfasser sieht darin die Beziehungen der Menschen untereinander in einer ganz neuartigen Perspektive – gewissermaßen in vierdimensionaler Schau …“ „Was Sie nicht sagen“, meinte der hagere Norweger respektlos. „Mir persönlich genügt immer noch die dreidimensionale. Und auf meine ‚Krimis’ lasse ich nichts kommen. Das ist doch wenigstens was Handfestes – nicht so ein verschrobenes Gewäsch wie bei diesen neumodischen Schwätzern.“ „Sie verstehen eben nichts von moderner Kultur und Philosophie. Sie sind ein Barbar, Mister Karsten. Sie mit Ihren blöden Abenteuerromanen! Solch einen Unsinn gibt es im wirklichen Leben ja gar nicht. Wir leben in einer Welt der Tatsachen, und – huch, Hilfe!“ 18
„Was ist denn los, Miß?“ fragte Niels Karsten und ließ vor Überraschung den geliebten Heftroman fallen. „Ist Ihnen nicht wohl?“ „Ich weiß nicht“, stammelte das junge Mädchen verwirrt. „Sagen Sie, Mister Karsten, haben Sie hier Mäuse an Bord?“ „Mäuse?“ Der Maschinist glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Nee, Miß, ich habe in meiner Fahrenszeit auf manch einem elenden Kahn Dienst getan, auf dem es von Ratten nur so wimmelte. Aber Ratten und Mäuse in einem Raumschiff des S.A.T.? Den dicken Cunningham würde der Schlag rühren, wenn er sowas hörte.“ „Aber ich habe ganz deutlich gespürt, wie mich etwas streifte.“ Niels Karsten nahm die kalte Pfeife aus dem Mund und schaute sich bedächtig um. Sein Blick fiel auf die Schiebetür zum Pumpenraum. Und diese Tür ging lautlos und ganz langsam auf – und ebenso geräuschlos wieder zu. „Da soll doch der Klabautermann …“ Mit einem Satz war der Ingenieur an der Tür, riß sie auf, rannte blindlings hinein in das Gewirr der Maschinen und Rohrleitungen. Plötzlich glaubte er, irgend etwas wie Stoff zwischen den Fingern zu haben. Er krallte sich darin fest, zerrte es ans Licht der kleinen Dekkenlampe … … und hielt einen Fetzen ölgetränkten Wergs in den verkrampften Händen. Jane Russell, die ihm von der Tür aus zugesehen hatte, stimmte ein fröhliches Gelächter an. „Großartig. Mister Karsten! Sie machen wohl Jagd auf Gespenster?“ „Gespenster …“ klang irgendwo ein Echo – merkwürdig hohl und geisterhaft. Mit bleichen Gesichtern starrten die beiden sich an. *
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Am Abend versammelten sich die Besatzungsmitglieder in dem kleinen, behaglich eingerichteten Gemeinschaftsraum des „Schiparelli“ Als die Pfeifen und Zigaretten brannten und der Grog in den Gläsern dampfte, verbreitete sich schnell eine heimelige Atmosphäre. Sie ließ die sechs Menschen das Grauen des leeren Weltraums vergessen, von dem nur eine dünne Schiffswand sie trennte. Doktor Leonhard war nicht unter ihnen. Er hatte die Wache im Maschinenraum. Der Kommodore, der eigentlich im Führerstand Dienst gehabt hätte, hatte das Schiff in die Fernsteuerung von „Luna nova“ eingepellt und konnte sich unbesorgt den Gefährten widmen. Ein zuverlässiger Radarschirm, der das ganze Schiff umgab, meldete automatisch jede von außen kommende Gefahr. Jane Russell erntete große Heiterkeit, als sie in burschikoser Art von ihrem Erlebnis im Maschinenraum erzählte. „Es scheint demnach“, lächelte der Astronom, „wir haben einen ‚Hausgeist’ an Bord. Hoffen wir, daß es ein guter Geist sein möge.“ „Ob gut oder böse – ich leere mein Glas auf das Wohl aller Geister des Weltraums“, rief Fritz Wernicke ausgelassen. „Prost, Kameraden!“ Die anderen folgten lachend seinem Beispiel. Nur der Kommodore blieb merkwürdig ernst und nachdenklich. „Ja“, ergriff der Astronom wieder das Wort und stellte be20
dächtig sein Glas zurück, „wir spotten so gern über Sachen, für die wir keine Erklärung wissen. Und doch gibt es auch heute noch so manche Dinge, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. In meiner Jugend hatte ich einmal ein seltsames Erlebnis, das mir bis auf den heutigen Tag in seinen letzten Zusammenhängen geheimnisvoll geblieben ist.“ „Sie machen uns neugierig, Herr Doktor“, sagte Jane Russell und rückte unwillkürlich näher. Auch der Funker und Niels Karsten, der Ingenieur, horchten gespannt auf. Der Kommodore lächelte: „Wirklich, Doc, Sie müssen uns Ihr Erlebnis erzählen. Und das bringt mich auf eine Idee: Unsere lange Überfahrt zum Mars ist im Grund eine recht eintönige und langweilige Sache. Man kann in den acht Stunden Freizeit zwischen einer Wache und der nächsten nicht immer nur lesen und Schach spielen. Wie wäre es, wenn wir uns allabendlich hier zusammenfänden und abwechselnd Geschichten aus unserem Leben erzählten? Jeder von uns wird genug Abenteuerliches und Spannendes erlebt haben. Wir haben noch rund siebzig Reisetage vor uns und sind insgesamt sieben Mann – Miß Russell selbstverständlich eingerechnet. Da hätte also jeder von uns zehn Erlebnisse zu erzählen …“ „Irrtum, Kommodore“, warf Niels Karsten ein. „Der Löwenanteil fiele unweigerlich auf Sie und auf Mister Wernicke; denn wir anderen haben – alle zusammengenommen – bestimmt nicht halb so viel erlebt wie Sie, und bestimmt nicht so viel Interessantes.“ „Davon bin ich ganz und gar nicht überzeugt, Mister Karsten“, widersprach der Kommodore lebhaft. „Zugegeben – es ist Fritz Wernicke und mir vergönnt gewesen, schon in jungen Jahren mehr zu schauen und zu erleben, als es manch einem Hundertjährigen möglich war. Aber sollten die Erlebnisse anderer darum weniger interessant sein? Es kommt doch nur darauf an, 21
daß man mit offenen Augen durchs Leben geht und aus seinen Begegnungen etwas zu machen versteht.“ Der Astronom nickte zustimmend. „Sie haben recht, Kommodore. Das Leben selbst schreibt die spannendsten Geschichten. Wenn ich also einen kleinen Beitrag beisteuern kann, um den heutigen Abend auszufüllen, so will ich gern den Anfang machen.“ Die Gefährten bekundeten erfreut ihre Zustimmung. Sie lehnten sich bequem zurück und versorgten sich mit frischen Zigaretten. Fritz Wernicke füllte die Gläser nach und zog den Kessel mit dem dampfenden Gebräu vorsorglich in seine Nähe. Doktor Barringer schien tief in sich hineinzulauschen, so als spürte er einer längst verklungenen Melodie nach. Doch dann nahm er einen tiefen Zug aus seiner Shagpfeife und begann: Die Prophezeiung des Lamapriesters Nach Beendigung meines Universitätsstudiums war ich einige Zeit lang als Hilfsassistent in der Lick-Sternwarte auf dem Mount Hamilton in Kalifornien angestellt. Meine Tätigkeit während dieser Zeit war nicht sonderlich interessant. Ich hatte eigentlich keine andere Aufgabe, als tagaus, tagein im Laboratorium die Himmelsaufnahmen auszuwerten, die meine glücklicheren Kollegen des Nachts mit den Instrumenten des Observatoriums machten, wenn der blitzende Sternhimmel sich über dem Gebirge wölbte. Um so glücklicher war ich, als mein Chef, Professor Kelvin, mich eines Morgens in sein Arbeitszimmer kommen ließ und mich fragte, ob ich wohl Lust hätte, an der amerikanischen Sonnenfinsternis-Expedition in die Mongolei teilzunehmen. Das Observatorium wollte Doktor Lindström, den Hauptobservator, mit einer neuentwickelten Spezialkamera entsenden, und ich sollte als sein Gehilfe mitgehen. 22
Solch eine totale Sonnenfinsternis ist ein Ereignis, das von den Astronomen aller Länder stets mit großer Sorgfalt beobachtet wird. Und wenn der Sichtbarkeitsbereich der Finsternis in ein schwer zugängliches Gebiet fällt – sei es nun in die Polargegenden, die sibirische Tundra oder die Wüste Sahara –, so werden weder Kosten noch Mühen gescheut, um wissenschaftliche Expeditionen in diese entlegenen Gebiete zu schicken. In diesem besonderen Fall versprach man sich außergewöhnlich viel von den Beobachtungen. Die Dauer der totalen Verfinsterung sollte nämlich fast 7 1/2 Minuten betragen, und außerdem galt es, eine neue Theorie über die Natur der Sonnenkorona, die damals gerade von einem japanischen Kollegen aufgestellt worden war, durch direkte Beobachtungen zu überprüfen.“ „Die Korona – ist das nicht dieser leuchtende Schleier, der die Sonnenkugel umgibt?“ wollte Jane Russel wissen. „Richtig, Miß Russell. Die Beobachtung der Sonnenkorona ist heutzutage – vom Raumschiff oder von der Außenstation aus – kein Problem mehr. Aber in meiner Jugend gab es noch keine Weltraumfahrt, und wir mußten unsere Beobachtungen samt und sonders von der guten alten Erde aus machen. Nun macht es aber das Streulicht in der irdischen Lufthülle leider unmöglich, die Korona zu erkennen, so daß ihre Beobachtung früher nur während einer totalen Sonnenfinsternis möglich war. Kurz und gut – ich sagte voller Begeisterung ja und fieberte voll Ungeduld dem Tag der Abreise – ich glaube, es war Mitte Juni des betreffenden Jahres – entgegen. Endlich war es soweit. Unsere Expedition bestand aus zwölf Wissenschaftlern, denen noch achtzehn Hilfskräfte beigeordnet waren. Außerdem hatten sich rund ein halbes Dutzend Zeitungsreporter und Kameraleute angeschlossen. Wir gingen in Frisco an Bord eines kleinen Postdampfers und schaukelten gemütlich durch die Fluten des Pacific in Richtung Yokohama, von wo aus die Weiterfahrt mit einer japanischen Linie erfolgen sollte. 23
Ja, Kommodore, ich weiß: Sie haben diese Strecke schon so manches Mal im Raketenflugzeug in wenigen Stunden zurückgelegt. Wir aber waren damals noch wochenlang unterwegs. Für mich war es ein ganz großes Erlebnis, war ich doch – abgesehen von meiner beruflichen Tätigkeit auf dem Mount Hamilton – nie aus meiner Heimatstadt Salem in Oregon herausgekommen. Sie lachen, Mister Karsten? Gewiß – Sie als alter Seebär können sich das nicht vorstellen. Aber es gibt eben auch hoffnungslos seßhafte Landratten. Die Überfahrt verlief glatt und ohne besondere Ereignisse. Auch von dem weiteren Verlauf der Reise – von Yokohama aus durch das Gelbe Meer und später durch das nördliche China und die innere Mongolei – ist nichts Erwähnenswertes zu berichten. Das Unheil nahm erst seinen Anfang, als wir an unserem Bestimmungsort anlangten: einer winzigen Wasserstelle in der Wüste Gobi, unweit der äußersten, südöstlichen Ausläufer des Altai-Gebirges gelegen. Wir fanden bereits ein ganzes Heerlager vor. Allein vier andere Expeditionen – es waren, soweit ich mich erinnere, die Engländer, Russen, Australier und Schweizer – waren uns zuvorgekommen. Ihre Teilnehmer umlagerten dichtgedrängt zwei von den drei wenig vertrauenerweckenden Wassertümpeln. Um den dritten hatte eine kleine Schar mongolischer Nomaden ihre Zelte aufgebaut. Nachdem Professor Houston, unser Expeditionschef, die fremden Kollegen kurz begrüßt hatte, wandte er sich an den Anführer der Mongolen, um mit ihm – über unseren Dolmetscher – wegen eines Lagerplatzes zu verhandeln. Der Alte, durch ein paar Geschenke freundlich gestimmt, gab seinen Begleitern Anweisung, uns ein genügend großes Terrain freizumachen. Willig folgten die Mongolen seinem Befehl. Nur ein einziger, in der gelben Tracht eines lamaistischen Mönches, blieb auf seinem Platz, als ginge ihn das alles nichts an. Mit 24
seltsam verschränkten Händen saß er da und murmelte eintönige Gebete. Plötzlich trat einer von den Journalisten, die uns begleiteten, vor – ein hagerer, rothaariger Mann mit nervös-unbeherrschten Gebärden. Tex Dallas hieß er, wenn ich nicht irre –, und ich fand ihn von Anfang an höchst unsympathisch. Er steuerte auf den frommen Lama zu, packte ihn roh an der Schulter und schüttelte ihn. Jäh verstummten alle Gespräche. ,Steh auf, du gelber Affe!’ schnauzte Tex und versuchte, den Mönch hochzuzerren. ‚Denkst du, wir hätten Zeit und Lust, deinen Albernheiten zuzuschauen und zu warten, bis du mit deinen Selbstgesprächen fertig bist? Scher dich weg, Mensch, sonst mach’ ich dir Beine!’ Durch die Schar der eben noch so friedfertigen Mongolen ging es wie ein elektrischer Schlag. Entrüstet griffen die Männer zu ihren Waffen. Die ungebührliche Behandlung, die ein Fremder dem heiligen Mann angedeihen ließ – grenzte sie nicht geradezu an Gotteslästerung? Beschwichtigend redete der Dolmetscher auf die Empörten ein. Professor Houston, zornrot im Gesicht, wies den Journalisten mit scharfen Worten zurecht. Trotz allem hätte die Sache übel ausgehen können, wenn nicht in diesem Augenblick der Beleidigte selbst eingegriffen hätte. Mit erhobenen Händen gebot er seinen Stammesgenossen Ruhe. Langsam wandte er sich um, blickte den Rothaarigen mit einem undeutbaren Ausdruck an und rief ihm einige Worte in der Landessprache zu. Dann ging er mit großen Schritten von dannen … Bald hatte die rasch hereinbrechende Abenddämmerung die gelbe Gestalt aufgesogen. ,Was hat er gesagt?’ fragte Tex Dallas den Dolmetscher. ,Du findest mich im Kloster zum Achtfältigen Weg, Fremder’, lautete die seltsame Antwort, ‚eine halbe Tageswanderung gegen Mittag’.“ 25
* Der Erzähler unterbrach sich, um seine erloschene Shagpfeife neu zu füllen. Gespannt warteten die Zuhörer auf den Fortgang des Berichts. Fritz Wernicke benutzte die Pause, um geschwind die Gläser nachzufüllen. Doktor Barringer atmete tief und fuhr dann fort: „Wir hatten vom ‚Kloster zum Achtfältigen Weg’ bisher nichts gehört, und unsere Karte verzeichnete weit und breit nichts davon. Sollte der gelbe Mönch uns gefoppt haben – sollte er beabsichtigen, uns einen dummen Streich zu spielen, um sich auf billige Art für die empfangene Kränkung zu rächen. Die Meinungen darüber gingen auseinander. Aber Professor Houston, ein Mann von großem Gerechtigkeitssinn und strengen Grundsätzen, bestand darauf, daß Tex Dallas das Kloster aufsuchen und sich in aller Form bei dem frommen Mann entschuldigen sollte. Der Journalist maulte anfangs und versuchte es mit allerlei fadenscheinigen Ausflüchten. Doch schließlich tröstete er sich mit der Aussicht auf ein interessantes Abenteuer, über das er einen spannenden Tatsachenbericht für seine Zeitung schreiben konnte. Doktor Lindström, mein Chef im engeren Sinne, äußerte den Wunsch, sich ihm anzuschließen. Er war ein begeisterter Verehrer der ostasiatischen Kultur und hoffte, im ‚Kloster zum Achtfältigen Weg’ seltene buddhistische Kunstschätze zu sehen zu bekommen. Kurz entschlossen bat ich darum, ebenfalls mitreiten zu dürfen. Da es im Lager einstweilen nichts Besonderes zu tun gab, erhielt ich ohne weiteres die Genehmigung. Am nächsten Morgen brachen wir zu dritt in südlicher Richtung auf, mit Landkarten, Kompaß und reichlichem Proviant 26
versehen. Es war beabsichtigt, spätestens bis zum Einbruch der Nacht zurück zu sein. Am nächsten Tage, um die Mittagszeit, sollte die Finsternis eintreten, zu deren Beobachtung wir über Land und Meer herbeigeeilt waren. Mühsam und anstrengend war der Ritt durch Sonnenglut und Wüstensand. Trotzdem kamen wir verhältnismäßig gut voran, da die Fußspuren des Wandermönchs leicht im Boden zu erkennen waren. Der ‚seltsame Heilige’ schien fest davon überzeugt zu sein, daß Tex Dallas seiner Aufforderung Folge leisten würde, und hatte alles getan, um uns das Auffinden des Weges zu erleichtern. Gegen Mittag war ich von Hitze und Überanstrengung so benommen, daß ich mich kaum noch im Sattel halten konnte. Alles um mich herum erschien unwirklich, verschwommen und traumhaft. Die Luft zitterte vor Hitze, und irgendwo war ein feines, helles Singen – wahrscheinlich existierte es nur in meiner Einbildung, als Reaktion der überreizten Nerven. Verstohlen blickte ich von Zeit zu Zeit auf meine Begleiter, die mit gesenkten Köpfen neben mir ritten. Ich merkte, daß es ihnen nicht besser ging als mir. In dieser Verfassung befanden wir uns, als wir, auf dem Kamm einer langgestreckten Bodenschwelle angekommen, plötzlich das ‚Kloster zum Achtfältigen Weg’ vor uns sahen. In der grellen Glut der Mittagssonne lag es da: ein großes, flaches, viereckiges Bauwerk, von einer glatten und hohen Mauer umgeben. Es mußte ein sehr altes Gebäude sein; die Schäden im Mauerwerk zeugten von manchem Sturm, den es überstanden hatte. Gelb waren die Mauern, wie der Sand, der sie rings umschloß. Man mußte unsere Ankunft erwartet haben; denn bei unserem Näherkommen öffneten sich kreischend die schweren Torflügel in der Umgebungsmauer. Einige Mönche in gelben Gewändern begrüßten uns schweigend und nahmen sich unserer 27
Reittiere an. Wir wurden in einen ebenerdigen Raum geführt, wo wir Schüsseln mit Waschwasser und Handtücher aus grobem Leinen fanden. Nachdem wir uns erfrischt hatten, erschienen wiederum Mönche, die uns auf niedrigen Tischen unbekannte, aber wohlschmeckende Speisen und Getränke servierten. Wir ließen uns nicht lange nötigen und labten uns nach Herzenslust. Eine wohlige Müdigkeit überkam uns nach dem Essen, und als einer unserer schweigsamen Gastgeber mit einladender Geste auf die bequemen, mit Fellen bedeckten Ruhelager wies, die an den Wänden standen, zögerten wir nicht, uns niederzulegen. Einen Augenblick lang dachte ich noch an die bevorstehende Sonnenfinsternis. Wir mußten unbedingt rechtzeitig wieder im Lager sein. Aber es war ja noch früh am Tage, und der Weg war nicht lang … Wie lange wir geschlafen hatten, konnten wir später nicht sagen. Verwirrt fuhren wir – alle zur gleichen Zeit – aus tiefem, traumlosen Schlummer und blickten uns ratlos um. Es war dunkel geworden, und das matte Licht, das den Raum durchflutete, kam aus der gelblich leuchtenden Lampe, die ein junger Mönch in der Rechten hielt. Er lächelte uns an und forderte uns in gebrochenem Englisch auf, Ihm zu folgen. Der Abt des Klosters erwarte uns. Es ging durch mehrere Gänge an verschlossenen Zellentüren vorbei, bis unser Führer schließlich vor einem größeren, mit kostbarem Schnitzwerk verzierten Portal stehen blieb. Seine Hand ließ einen kleinen Gong ertönen. Von drinnen kam ein leiser Ruf. Der Mönch öffnete die Tür, verneigte sich ehrfurchtsvoll und ließ uns eintreten. Leise schloß sich die Tür hinter uns. Dieser Laut war das letzte, woran ich mich nachher mit vollem Bewußtsein erinnern konnte; denn von dem Moment an, da ich den Blick hob und die Augen des Abtes auf mich gerichtet 28
sah, war alles wieder verschwommen, traumhaft und unwirklich – so wie in jenem Augenblick, als das Kloster unverhofft aus dem Gluthauch der Wüste vor uns aufgetaucht war. Der Abt hockte auf einem großen seidenen Kissen an der Stirnwand des kleinen Raumes, dessen Einrichtung einfach, jedoch von erlesenem Geschmack war. Er war in das gleiche gelbe Gewand gehüllt, das auch seine Mönche trugen. Die schlanken Finger mit den gepflegten, überlangen Nägeln, spielten lässig mit dem buddhistischen Rosenkranz. Das Gesicht des Abtes war welk und zerfurcht. Der Mann schien unvorstellbar alt zu sein. Doch in diesem faltigen Gesicht lebten zwei Augen, wie ich nie zuvor ähnliche gesehen hatte. Sie wirkten weder gut noch böse – sie fingen einen ein und hielten einen unentrinnbar fest mit ihrem bannenden Blick … Aus einem offenen Kohlenbecken stieg süßlicher Rauch. Er zog in bläulichen Schwaden durch den Raum und nebelte die Sinne ein, machte willenlos und schwach. Der Abt hob leicht die Rechte zum Gruß und bedeutete uns, auf den seidenen Polstern, die überall den Boden bedeckten, Platz zu nehmen. Und dann sprach er – leise, doch in einem fehlerfreien Englisch: ,Ich wußte, daß ihr kommen würdet, Fremdlinge. Und ich weiß auch, welcher Grund euch in das Kloster zum Achtfältigen Weg geführt hat.’ Tex Dallas hielt es für richtig, sich bemerkbar zu machen. Er stand auf, räusperte sich verlegen und stotterte seine Entschuldigung. Ein feines Lächeln glitt über die zerfurchten Züge unseres Gastgebers. ,Buddha spricht: Selig, wer sich selbst im Zaum hält und keinem Wesen Schmerz bereitet. – Oh, wie weit seid ihr Fremdlinge aus dem Westen, die ihr euch so viel auf die Errungenschaften eurer Zivilisation einbildet, wie weit seid ihr doch noch vom rechten Weg entfernt!’ 29
Unser geplanter Höflichkeitsbesuch schien in eine religiösweltanschauliche Diskussion ausarten zu wollen. Doktor Lindström bemerkte es mit Besorgnis und schaute verstohlen auf seine Armbanduhr. ,Wir danken dir für dein Verständnis, großer Meister’, begann er etwas unbeholfen, ‚und nicht weniger für deine Gastfreundschaft. Doch nun müssen wir leider gehen. Unsere Gefährten werden schon in Sorge um uns sein. Wir müssen morgen rechtzeitig auf dem Posten sein, um …’ Wieder ging ein Lächeln über das Gesicht des Alten. ‚Ich weiß, ihr wollt den Augenblick erleben, da die Dämonen die Sonne verschlingen. Doch ihr werdet nichts sehen – keiner von euch allen, die ihr am Fuß des Gebirges lagert, wird die Sonne und die Dämonen erkennen.’ Doktor Lindström versuchte, den Sinn dieser seltsamen Worte zu deuten. ‚Du täuschst dich, Meister. Der Himmel wird morgen Mittag genau so klar und ungetrübt sein, wie an jedem Tage in dieser Jahreszeit. Auch hat die langfristige Wettervorhersage mit großer Bestimmtheit für morgen …’ ,Ich täusche mich nicht’, lächelte der Abt. ‚Die Zukunft der Menschen und der Dinge ist meinen Augen nicht verborgen.’ ,Hm’, machte Tex Dallas zweifelnd. ‚Wenn das wirklich stimmen sollte, dann fände ich es riesig nett, wenn Sie uns auch mal ein bißchen weissagen würden, Herr Klostervorstand.’ Der Abt blickte jeden von uns dreien lange an. ‚Es ist ein Segen für die meisten Menschen’, sagte er schließlich, ‚daß sie nicht wissen, was die Zukunft für sie bereit hält.’ ,Aha’, lachte Dallas respektlos, ‚Sie machen einen Rückzieher. Aber – wie sagt doch der Lateiner so schön? Hic … hic … Salat …’ ,Hic Rhodus, hie salta (= hier ist Rhodus, hier springe)’, half Doktor Lindström aus. ‚Mit anderen Worten: Nun zeige mal, was du kannst!’ 30
,Der Wunsch meiner Gäste ist mir Befehl’, erwiderte der Abt ernst. Er ließ einen kleinen Gong ertönen, der hinter ihm an der Wand hing. Ein Mönch trat ein und reichte dem Abt auf dessen Geheiß hin ein schwarzes Lackkästchen und eine Kugel aus Kristall. Dann verschwand er auf lautlosen Sohlen. Der Abt entnahm dem Kästchen eine Handvoll dürrer Stäbchen und ließ sie in die Glut des Kohlenbeckens fallen. Eine knisternde Lohe sprühte auf. Das Zimmer füllte sich mit betäubendem Rauch. Der tranceähnliche Zustand, in dem ich mich seit dem Betreten des Gemachs befand, verdichtete sich. Durch den immer stärker quellenden Rauch sah ich, wie der Abt die Rechte Doktor Lindströms ergriff und starr auf die Kristallkugel blickte, die vor ihm auf dem Kissen lag. Plötzlich kam seine Stimme – wie aus weiter Ferne, aber doch klar und verständlich: ,Du wirst die Bahnen der ewigen Gestirne erforschen. Ein mächtiger Stern soll deinen Namen tragen. Hochbetagt und reich an Ehren wirst du dieses gegenwärtige Leben beenden.’ Er ließ Lindströms Hand los und atmete schwer. Dann ließ er sich Tex Dallas’ Rechte geben und versenkte sich wieder in die Betrachtung des Kristalls. Doch plötzlich verzerrten sich seine Züge. Mit leiser, zitternder Stimme fuhr er fort: ,Ein Leben ohne Ruhe ist dir zuteil geworden. Doch ist der Gipfelpunkt schon überschritten. Fürchte das Feuer, das vom Himmel fällt.’ Wieder atmete der Abt, wie nach einer unsäglichen Anstrengung. Als er nun meine Hand ergriff, fühlte ich alle meine Nerven in höchster Erregung vibrieren. ,Dem roten Wandelstern des Krieges wird all dein Schaffen gewidmet sein. Dir werden nicht die Wege genügen, die andere vor dir beschritten. Auf brausenden Flammen wirst du zu deinem fernen Ziel …’ 31
Da zerriß ein furchtbarer Donnerschlag den mit knisternder Spannung erfüllten Raum. Ich sah noch, wie der Abt, wie meine Gefährten zusammensanken. Dann umfing mich tiefe Bewußtlosigkeit.“ * Gespannt hatten die fünf Raumfahrer der Erzählung des Astronomen gelauscht. In ihren Gesichtern stand der Ausdruck des Miterlebens – nur Jane Russell lächelte ein wenig spöttisch. „Tatsächlich“, meinte der Kommodore schließlich und zündete sich eine neue „Maza Blend“ an, „man braucht nicht unbedingt zu fremden Planeten zu fliegen, wenn man spannende und geheimnisvolle Abenteuer erleben will. Unsere alte Erde hält noch genug für uns bereit. Aber sagen Sie, Doc: Was war denn das für ein komischer Donnerschlag, der die ganze Festversammlung so unliebenswürdig aus den Sandalen warf?“ „Der Vorfall fand andern Tags eine ganz harmlose Erklärung“, lächelte der Gelehrte. „Einer der Mönche wollte dem Abt eine Mitteilung überbringen und hatte auf den Gong geschlagen, der draußen an der Tür hing. In dem überreizten, hypernervösen Zustand, in dem wir alle uns befanden, dröhnte der sanfte Gongton in unseren Ohren wie ein Kanonenschuß. Schade – ich habe auf diese Art daß Ende meiner Schicksalsprognose nicht erfahren.“ „Nun, der Teil der Weissagung, den Sie noch mitgekriegt haben, ist ja immerhin in Erfüllung gegangen“, stellte Jim Parker fest. „Möchte nur wissen, ob das für Ihren Kollegen Lindström auch zutraf.“ „Es traf haargenau zu“, erwiderte Doktor Barringer ernst. „Lindström starb in hohem Alter, als einer der namhaftesten Gelehrten seiner Generation. Auch ein Stern ist nach ihm be32
nannt worden. Es ist der große Komet, den er drei Jahre nach dem mongolischen Erlebnis entdeckt hat.“ „Und was wurde aus diesem rothaarigen Mister Dallas?“ wollte Niels Karsten wissen. „Ja, meine Freunde“, sagte der Astronom nachdenklich, „das ist das Merkwürdigste an der ganzen Geschichte. Sein Schicksal erfüllte sich überraschend schnell. Und das kam so: Wir waren in der Frühe des anderen Morgens vom ‚Kloster zum Achtfältigen Weg’ aufgebrochen und trieben unsere Pferde an, um das Lager noch rechtzeitig vor Beginn der Sonnenfinsternis zu erreichen. Einstweilen brannte die Sonne jedoch noch strahlend und heiß vom Firmament herab und trieb uns den Schweiß aus allen Poren. Unwillkürlich mußte ich an die düstere ‚Wettervorhersage’ unseres Gastgebers denken. Tex Dallas schien den gleichen Gedanken zu haben. ‚Alberner Spinner’, brummte er und zeigte auf die erbarmungslos glühende Sonnenscheibe über uns. Ich ertappte mich dabei, wie ich den rothaarigen Reporter verstohlen von der Seite beobachtete. Tex Dallas gefiel mir heute gar nicht. Er wirkte übernächtigt und nervös und hatte einen fremden Ausdruck in den Augen, den ich zuvor nicht an ihm wahrgenommen hatte. Nach fünf Stunden, in denen wir unsere Pferde fast zu Schanden geritten hatten, trafen wir endlich im Lager ein, wo bereits alle Expeditionsteilnehmer an den aufgestellten Beobachtungsinstrumenten hantierten. Rasch machte ich mit Doktor Lindström unsere Spezialkamera ‚schußbereit’. Von uns aus hätte die Sonne getrost anfangen können, sich zu verfinstern. Sie verfinsterte sich auch – allerdings auf ganz andere Art als ursprünglich vorgesehen. Es waren noch genau dreizehn Minuten bis zum Beginn der Finsternis, als plötzlich sin heftiger Windstoß zwischen uns fuhr und den Sand in kleinen Fontänen aufwirbelte. Die Sonne 33
bekam einen fahlen Schein, gelblich-rot verfärbte sich der Himmel. Aufgeregte Rufe wurden laut: ‚Ein Sandsturm! Ausgerechnet in diesem Augenblick! Schnell, deckt die Instrumente zu! Zurück – in die Zelte!’ Wahrhaftig, ein Sandsturm! Wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel brach er über uns herein. Hastig zerrte ich mit Doktor Lindström den Überzug aus dichter Zeltleinwand über unser kostbares Instrument. Als wir atemlos unser Zelt erreichten“ hatte sich der Himmel dicht bezogen. Es herrschte fast völlige Dunkelheit. Plötzlich ein greller Blitz, ein berstender Donnerschlag! Geschwind schlüpfte ich ins Zelt und machte den Eingang dicht. Allmählich gewöhnte man sich an das Tosen des Sturmes, an die Finsternis und an den Hagel der Sandkörner auf der Zeltwand. Und plötzlich mußte ich wieder an den alten Abt denken. Wir würden die Sonnenfinsternis nicht beobachten können, hatte er prophezeit – und seine Prophezeiung hatte sich in überraschender Weise erfüllt. Ob er wohl auch mit seinen anderen Weissagungen recht behalten würde? Ich hatte plötzlich keine Ruhe mehr. Was war mit Tex Dallas? Der alte Priester hatte so verstört gewirkt, als er dem Journalisten die Zukunft deutete. War da nicht von ‚Feuer, das vom Himmel fiel’ die Rede gewesen? Ich schalt mich selbst einen abergläubigen Narren. Aber als die Zeltwand im Schein eines neuen Blitzes aufleuchtete, hielt ich es nicht mehr aus. Mit ein paar gemurmelten Worten zu Doktor Lindström schlüpfte ich aus dem Zelt. Der Sturm hatte sich etwas beruhigt, doch war es noch immer ziemlich dunkel. Einzelne schwere Tropfen fielen vom Himmel. Als ich das große Zelt erreichte, in dem die Zeitungsleute kampierten, fand ich Tex Dallas nicht vor. Er sei vor fünf Minuten mit seiner Kamera ins Freie gegangen, erklärte man mir auf meine Frage. 34
Beunruhigt suchte ich weiter nach ihm, eilte von Zelt zu Zelt und kam schließlich in das Lager der Schweizer. Hier war er kurz zuvor gesichtet worden. Tatsächlich entdeckte ich seine lange Gestalt auf der Kuppe einer nahen Sanddüne. Er stemmte sich gegen den Sturm, der noch immer in kurzen, heftigen Stößen über die Wüste fegte, und starrte auf einen Punkt, der irgendwo in der Dämmerung lag. ,Dallas – was machen Sie denn da? Kommen Sie doch ins Lager zurück!’ Ich schrie es so laut, wie ich konnte, aber er schien es nicht zu hören. Abermals ein greller Blitz – ein Donnerschlag unmittelbar hinterher. Als ich die geblendeten Augen wieder öffnete, erblickte ich ein gespenstiges Bild: Aus den Wolken herab schoß ein weißglühender Ball. Er traf auf den Boden auf, hüpfte wieder hoch, schwebte langsam die Sanddüne hinauf … Ich hatte nie zuvor Ähnliches gesehen, doch war ich sofort im Bilde: ein Kugelblitz – einer von dem gefährlichen, blauweißen Typ! Was nun geschah, spielte sich in Sekundenschnelle ab. Tex Dallas streckte die Arme aus, um nach der geheimnisvollen Kugel zu haschen … ,Zurück, Dallas!’ brüllte ich. Aber mein Ruf kam zu spät. Der leichtsinnige Reporter berührte den Ball, der mit scharfem Knall zersprang. Gleichzeitig mit einigen von den Schweizer Astronomen, die durch das auffällige Geräusch herbeigeeilt waren, erreichte ich die Unfallstelle. Tex Dallas war tot. Die Prophezeiung des Lamapriesters hatte sich in furchtbarer Weise erfüllt.“ *
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Nachdenkliches Schweigen folgte auf die Erzählung des Astronomen. Schließlich ergriff Jane Russel als erste das Wort: „Eine nette story, die Sie uns da erzählt haben, Doc. Aber – offen gestanden – sie kommt mir stellenweise etwas unwahrscheinlich vor. Oder glauben Sie etwa im Ernst, dieser Lamapriester hätte das alles vorhersehen können?“ Doktor Barringer zuckte die Achseln. „Es hat sich alles genau so abgespielt, wie ich es berichtete, Miß Russell. Ich selbst habe keine landläufige Erklärung dafür. Hätte ich sie, dann wäre die Geschichte ja kaum erwähnenswert gewesen.“ „Wahrscheinlich hat der alte Priester nur mit seinem Teufelszeug Ihre Sinne umnebelt und Ihnen in Wirklichkeit gar nichts prophezeit. Erst nachträglich kam es Ihnen so vor, als hätte er die Dinge vorhergesagt, die dann passierten.“ „O nein, Miß“, lächelte der Gelehrte nachsichtig, „diese Erklärung ist wohl doch etwas zu einfach.“ „Ich jedenfalls kann mir so etwas nicht vorstellen“, ereiferte sich Jane. „In unserer modernen Welt der Sachlichkeit, der Wissenschaft und Technik ist kein Platz mehr für okkulte Dinge. Ich fürchte mich nicht vor Geisterspuk …“ „Höchstens vor Mäusen“, grinste Niels Karsten. „Unverschämtheit!“ Jane warf dem respektlosen Ingenieur einen vernichtenden Blick zu und rauschte davon. Die Zurückbleibenden verbissen sich ein Lachen. „Da geht sie hin“, seufzte Fritz Wernicke und schaute forschend auf den Grund des Kessels, ob es wohl noch zu einer Runde Grog reichen wurde. „Ja, ja – die heutige Jugend“, fuhr er altklug fort. „Was sie nicht unter ihre Meßinstrumente zerren und in seine Bestandteile zerlegen kann, das existiert für sie einfach nicht Zu meiner Zeit … – heda, was soll das heißen?“ Auch die anderen sahen sich erschrocken an. Das Schiff hatte angefangen zu schlingern. Es pendelte aus dem Kurs. Vor dem 36
großen Rundfenster in der gewölbten. Wand tanzten die Sterne auf und ab. „Bei allen Planeten!“ Mit einem Satz war der Kommodore an der Tür und klomm zum Führerraum hinauf. Fritz Wernicke folgte ihm auf dem Fuß. Niela Karsten verschwand in entgegengesetzter Richtung im Maschinenraum. „Hallo, Maschinenraum!“ rief Jim Parker in das Mikrophon. „Ist das Triebwerk unklar?“ „Alles okay, Kommodore“, meldete Doktor Leonhard mit erstaunter Stimme. „Aber sagen Sie mal: Werde ich nicht bald abgelöst?“ „Ich schicke Ihnen gleich jemand“, versprach Jim Parker. „Gedulden Sie sich noch etwas. Hier ist irgendwas nicht in Ordnung.“ „Sämtliche Düsen arbeiten gleichmäßig, Jim“, rief Fritz Wernicke von der Kontrolltafel her. „Am Triebwerk kann es nicht liegen.“ „Bleibt also nur die Steuerung. Ja, damned – was ist denn mit der Fernsteuerung los? Strahlt ‚Luna nova’ keine Steuerimpulse mehr aus?“ „,Luna nova’ sendet nach wie vor“, meldete der Funker aus der Kabine. „Unbegreiflich – jedenfalls versagt die Fernsteuerung. Los, Fritz, hole schnell unseren Navigationsoffizier!“ Der kleine Steuermann kam gleich darauf mit Doktor Barringer zurück. Gemeinsam brachten sie das Schiff wieder auf den richtigen Kurs. Bevor der Kommodore den Führerstand verließ, schaltete er die trügerische Fernsteuerung ab und schloß die Ruder des Schiffes an die automatische Kreiselsteuerung an. *
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Weiter verfolgte der „Schiaparelli“ seinen Weg durch den Raum – auf vorberechneter Bahn dem fernen Mars, dem roten Stern des Kriegsgottes, entgegen. Gleichmäßig arbeiteten die Atomkraftmotoren, die dem Schiff gewaltige Antriebsenergien, vermittelten. Und gleichmäßig tropfte die Zelt für die Besatzung dahin, nur durch die geringfügigen Pflichten unterbrochen, die der eintönige Wachdienst mit sich brachte. Es war in den frühen Nachmittagsstunden des folgenden Tages, als Doktor Leonhard in seiner kleinen Kammer in der Hängematte lag, um das vorzügliche Mittagsmahl, das Jane mit einfachen Mitteln bereitet hatte, in Ruhe zu verdauen. Eine halbe Stunde lang las er noch in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung über die Zusammensetzung der Marsatmosphäre. Dann fielen ihm die Augen zu, und er sank in eine Art Halbschlaf, in jenen Zustand, in dem Traum und Wirklichkeit zu, einem magischen Geflecht lneinanderwachsen. Da vorn in dem dämmrlgen Winkel zwischen Spind und Kabinentür – bewegte sich dort nicht irgend etwas? Ein grauer Schatten zuerst, der langsam Gestalt annahm – die Gestalt eines großen, hageren Mannes. Das Gesicht – von gespenstiger Blässe, mit großen, grauen, bannenden Augen – es kam dem Schiffsarzt irgendwie bekannt vor, doch konnte er sich nicht darauf besinnen, wo er ihm bereits begegnet war. Ich muß mich zur Wehr setzen, sagte er sich im Halbdämmer, mir droht Gefahr. Ich muß mich wehren … Aber wie gelähmt lag er da, unfähig zur geringsten Bewegung. Die Gestalt kam näher – Schritt für Schritt. Sie streckte den Arm aus, hielt dem Arzt etwas entgegen: ein Fläschchen, in dem eine dunkle Flüssigkeit sichtbar war. Doktor Leonhard wußte, es war Gift, das die Erscheinung ihm geben wollte. Er bäumte sich auf gegen den Befehl, der ihn aus den bannenden Augen traf. Aber er konnte ihnen nicht widerstehen. Langsam hob er die Hand, faßte nach dem Fläschchen. 38
In dem Augenblick, da er das kühle Glas zwischen den Fingern spürte, erwachte er mit einem würgenden Angstschrei. Zitternd betrachtete er die Arzneiflasche in seiner Hand. Im nächsten Augenblich mußte er lächeln. Es war ein harmloses Baldrianpräparat, was da braun in dem Fläschchen schimmerte, ein Beruhigungsmittel, das keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Er mußte die Flasche im Schlaf aus dem kleinen Arzneischrank genommen haben – wenn es ihm auch sonderbar vorkam, daß er nichts davon gemerkt haben sollte. Als Doktor Leonhard am Abend sein Erlebnis im Kreise der Gefährten zum besten gab, hatte er die Lacher auf seiner Seite. „Sehen Sie, Miß Russell“, sagte der Astronom scherzend, „auch im Zeitalter der Atomenergie und Weltraumfahrt spukt es noch zuweilen. Es wird für uns immer irgendwelche Dinge geben, die unerklärlich bleiben.“ „So schwer zu erklären ist das doch gar nicht“, widersprach Jane. „Doktor Leonhard hatte ganz einfach Alpdrücken. Das Mittagessen war schuld daran.“ „Unmöglich, Miß Russell“, beteuerte der Arzt. „Wie könnte Ihre vorzügliche Kochkunst wohl Alpträume bei mir verursachen?“ Wieder lachte die ganze Runde, während Jane sich für das Kompliment bedankte. Nur Jim Parker blickte mit nachdenklicher Miene zum Fenster hinaus. Plötzlich verließ er den Gemeinschaftsraum und gab dem Arzt unauffällig ein Zeichen, ihm zu folgen. „Was ist los, Kommodore?“ fragte Doktor Leonhard, als sie draußen auf dem Gang standen. Jim Parker räusperte sich. „Ahem, Doc, sagen Sie: Haben Sie sich davon überzeugt, daß das Fläschchen, das Sie beim Erwachen in der Hand hielten, wirklich nur – Baldriantropfen enthielt?“ „Sie meinen … Donnerwetter, daran habe ich noch gar nicht gedacht.“ 39
„Kommen Sie“, forderte ihn der Kommodore auf. „Wir wollen der Sache mal auf den Grund gehen.“ Doch als sie in der Kabine des Schiffsarztes den Medizinschrank öffneten, zeigte es sich, daß das ominöse Fläschchen spurlos verschwunden war. „Ich verstehe das nicht, Kommodore“, sagte der Arzt erregt. „Ich kann beschwören, daß ich es hier wieder eingeschlossen habe. Und seitdem habe ich den Raum nicht mehr betreten.“ „Das glaube ich Ihnen ohne weiteres, Doc“, bemerkte Jim Parker trocken. „Aber – ich hatte eigentlich gar nichts anderes erwartet. Doch kommen Sie nun. Wir wollen wieder zu den anderen gehen. Und schweigen Sie bitte über das, was wir hier gefunden – beziehungsweise nicht gefunden – haben.“ * Als man sich wenig später wieder im Gemeinschaftsraum bei steifem Grog und dem aromatischen Tabak Virginias zusammengefunden hatte, begann Doktor Leonhard, ein Erlebnis aus seinem fahrten- und abenteuerreichen Leben zu erzählen: Der Fakir von Mysore In meiner Jugend, lange bevor ich in die Dienste des S.A.T. eintrat, war ich einige Jahre lang als medizinischer Mitarbeiter in einer Kommission des ‚Weltbundes der freien Nationen’ tätig, deren Aufgabe es war, technisch und wirtschaftlich zurück40
gebliebene Gebiete durch fachmännischen Rat zu unterstützen und ihre Erschließung einzuleiten. Im Rahmen dieser Projekte wurde ich eines Tages einer Gruppe von Ingenieuren zugeteilt, die seit Jahr und Tag in dem südindischen Staat Mysore dem Dschungel mit den Mitteln der modernen Technik zu Leibe rückte, um neues Kulturland zu schaffen. Meine besondere Aufgabe bestand darin, die Einwohner der entlegenen Dschungeldörfer mit den Errungenschaften der westlichen Hygiene und Medizin vertraut zu machen – eine wahre Sisyphusarbeit, mit der sich ein englischer Kollege, der sich der Technikergruppe bereits bei ihrem Aufbruch angeschlossen hatte, vergeblich herumschlug. Dieser Engländer, Frank Allison war sein Name, erwies sich auf den ersten Blick als ein intelligenter junger Mensch von außerordentlicher Energie und Willensstärke, dessen sportgestähltem Körper das drückende Dschungelklima nicht das geringste anzuhaben vermochte. Frank Allison war etwa gleichaltrig mit mir, und wir freundeten uns rasch an. Bei näherer Bekanntschaft stellte es sich jedoch heraus, daß Frank zuweilen erstaunlich arrogant sein konnte. Alles, was auf normale Art unerklärlich erschien, wurde von ihm mit einer verächtlichen Handbewegung als Schwindel abgetan, und er konnte äußerst heftig werden, wenn man ihm in solchen Fällen widersprach. An Unerklärlichem, Geheimnisvollem herrschte aber gerade in diesem Lande der tausend Wunder kein Mangel. Schon bei meiner Ankunft in der Landeshauptstadt Mysore, einer mittelgroßen Hochschulstadt mit knapp hunderttausend Einwohnern, waren mir auf manchen Plätzen Fakire aufgefallen, die merkwürdige Schaustellungen gaben. Ich spürte ein brennendes Interesse, Näheres über diese Männer zu erfahren, die von den Eingeborenen als Heilige verehrt, von uns ‚aufgeklärten’ Europäern aber allzu gern als Gaukler und Scharlatane bezeichnet werden. 41
Mein Wunsch sollte aber sehr schnell in Erfüllung gehen, und zwar in ganz unerwarteter Weise.“ Doktor Leonhard unterbrach sich und schielte erstaunt über den Rand seiner Brillengläser, zu Jane hinüber, die zusammengezuckt und bleich geworden war. „Nanu, Miß Russell, was haben Sie denn?“ „Ich – ich – oh, es ist nichts“, stotterte Jane mit dern Versuch eines Lächelns. „Mir war nur eben so, als wäre draußen vor dem Fenster eine Gestalt vorbeigehuscht.“ „Kaum anzunehmen“, entschied Jim Parker, der rasch die „Häupter seiner Lieben“ abgezählt hatte. „Wir sind hier alle sechs beisammen, und Freund Karsten dürfte auf Wache im Maschinenraum sein. Unmöglich, daß jemand draußen herumgeistert.“ Allerdings – Niels Karsten war im Maschinenraum. Deutlich vernahm man durch den Türspalt den Klang seines Schifferklaviers, mit dem er sich die Langeweile vertrieb. Jane war zufrieden, daß er jetzt nicht hier war; sicher hätte er sich wieder über ihre Schreckhaftigkeit lustig gemacht – dieses Ekel! „Schätze, unsere Wundergeschichten gehen Miß Russell bereits auf die Nerven“, lächelte Jim Parker. „Sie sieht schon Gespenster …“ „Sie irren, Kommodore“, rief das junge Mädchen ärgerlich. „Ich glaube weder an Gespenster, noch an Wunder. Wenn man diesen Dingen auf die Spur geht, entpuppen sie sich regelmäßig als Schwindel.“ „Das dachte mein Kollege Allison damals auch“, sagte Doktor Leonhard bedächtig. „Doch hören Sie weiter, wie es ihm dabei erging.“ * „Unser Hauptquartier befand sich zu dieser Zeit nördlich der Hauptstadt, tief im Dschungel des Kaweri. Von hier aus fraßen 42
sich die motorisierten Baumsägen, die schweren Raupenfahrzeuge und Planierungsmaschinen neuester amerikanischer Bauart unwiderstehlich in Urwald und Dickicht hinein. Es war an einem Feiertag der Hindus, als wir uns zusammen mit einigen Ingenieuren aufmachten, um das nahegelegene Städtchen – es hatte irgendeinen unaussprechlichen Namen, den ich vergessen habe – zu besuchen. Wir ließen den Wagen in einem Gasthof am Stadtrand stehen und mischten uns unter die festliche Menge, die in dichtem Gedränge die engen Gassen füllte. Auf einem größeren Platz, der sich vor den Pforten eines Tempels dehnte, blieben wir stehen. Einige Fakire, nur mit Lendenschurz und Turban bekleidet, hockten in der glühenden Sonne auf dem Boden. Einer von ihnen entlockte einer bauchigen Flöte seltsame schrille Töne. Aus einem flachen Korb wand sich eine Kobra, ein stattliches Exemplar jener gefährlichen Brillenschlangen Asiens. Sie richtete sich steil auf, blähte den Hals und begann, sich im Rhythmus der fremdartigen Melodie zu wiegen – ein unheimliches Bild … ,Schlangenbeschwörer’, sagte Frank Allison verächtlich. ‚Glauben Sie nur nicht, das sei etwas Besonderes. Der alte Gauner hat dem Biest die Giftzähne vorsorglich herausgebrochen. Kommen Sie weiter, hier gibt es Interessanteres zu sehen.’ Ein Fakir entrollte unter geheimnisvollen Zeremonien ein starkes Seil und warf es plötzlich in die Luft. Wie erstarrt blieb es stehen. Ein kleiner Knabe, der bisher unbeteiligt neben dem Meister am Boden gehockt hatte, klomm an dem starren Seil empor, dessen unteres Ende der Fakir mit der Linken umklammert hielt. Als er das obere Ende fast erreicht hatte, erschien eine Wolke, die ihn einhüllte. Plötzlich riß der Fakir ein Messer aus dem Gürtel, schleuderte es in die Wolke hinauf. Ein markerschütternder Schrei – aus der Wolke fielen die zerschnittenen, blutigen Glieder des Knaben. Wir standen da, von Entset43
zen gelähmt. Doch der unheimliche Mann beugte sich über die Gliedmaßen, murmelte ein paar beschwörende Worte und warf die Glieder nacheinander wieder in die Wolke hinein. Da löste sich der Dunst. Unversehrt rutschte der Knabe am Seil herab und hockte sich freundlich grinsend auf den Boden. Der Meister rollte das Seil ein und ging mit einem Blechteller herum, um dia Gaben der dankbaren Zuschauer einzusammeln. Wir waren tief beeindruckt von dem Gesehenen. Aber Allison lachte nur wieder abfällig. ‚Gut gemacht, das muß man schon sagen – aber doch nichts als Schwindel. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht und die ganze Vorstellung von A bis Z mit meiner Schmalfilmkamera aufgenommen. Als ich den Film nachher entwickelt hatte. sah man den Fakir während der ganzen Zeit friedlich auf dem Boden hocken und den Zauberlehrling daneben. Und sonst gar nichts.’ ,Und wie erklären Sie sich das?’ ,Diese alten Gaukler sind wahre Meister der Suggestion. Das ist das ganze Geheimnis ihres Erfolges. Es ist überhaupt nichts Wunderbares dabei. Alles läßt sich auf natürliche Art erklären.’ Ich empfand einige Zweifel, erwiderte aber nichts. Wir gingen weiter und standen bald vor einer neuen Gruppe. Auf einem Brett, aus dem Hunderte von langen, spitzen Nägeln ragten, lag ein dürrer Fakir und schien sich auf der ebenso gefährlichen wie unbequemen Unterlage äußerst wohl zu fühlen. Es war ein beängstigender Anblick. ,Wie ist denn so etwas möglich?’ fragte ich Frank Allison. ‚Der Mann müßte doch hundertfach durchbohrt werden. Wollen Sie etwa behaupten, dies sei auch nur ein plumper Taschenspielertrick? Dieser Mann muß doch übernatürliche Kräfte …’ ,Hahaha!’ lachte Allison. ‚Das ist ein ganz plumper Schwindel, nimmt sich aber ganz wirkungsvoll aus. Jeder von uns könnte es nachmachen, wenn er es richtig anstellte. Bedenken 44
Sie doch, Gentlemen: Das Fliegengewicht dieses dürren Herings verteilt sich gleichmäßig auf mehrere hundert Nägel. Das bedeutet, daß sich jeder von ihnen nur mit einem Druck von 300 Gramm gegen seinen Körper preßt, Und das ist viel zu wenig, um die Haut zu durchbohren. Nee, Gentlemen, hier ist alles fauler Zauber.’ ,Der Sahib irrt. Nicht alles ist Schwindel. Es gibt auch echte Yogis, heilige Männer, die Tote erwecken können.’ Überrascht fuhren wir herum und sahen uns einem europäisch gekleideten jungen Inder gegenüber, der uns mit etwas überlegenem Blick musterte. Jetzt fiel mir ein, daß ich den Mann schon wiederholt an diesem Tage gesehen hatte. Er war uns wie ein Schatten überall hin gefolgt. ,Das möchte Ihnen so passen, lieber Freund’, grunzte Frank Allison ärgerlich. ‚Nein, nein, geben Sie sich keine Mühe. Mir machen Sie so was nicht weis. Ich kenne alle Tricks dieser übelduftenden Halunken.’ ,Thakur ist ein Meister über Leben und Tod. Sein Wille allein kann Tote erwecken. Er lebt schon seit Hunderten von Jahren. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft – alles liegt offen vor seinem Blick.’ ,Thakur? Kenne ich nicht. Was ist denn das für ein alter Knabe?’ ,Folge mir, Sahib. Der Meister erwartet dich.’ Fragend sahen wir uns an. Allison zuckte die Achseln und folgte dem jungen Inder, der bereits vorangegangen war. Erwartungsvoll schloß ich mich mit den beiden Ingenieuren an. Wir brauchten nicht lange zu gehen. Der Inder führte uns in den ältesten Teil der Stadt und verschwand schließlich im Eingang eines baufälligen Hauses, das in einer unbelebten Nebenstraße lag. Zögernd folgten wir ihm. ,Vorsicht!’ flüsterte Frank Allison über die Schulter zurück. ‚Sieht verdammt nach einer Falle aus.’ 45
In einem dumpfen, niedrigen Raum, der nur dürftig durch eine kleine Fensteröffnung erhellt wurde,“ trafen wir Thakur, den ‚Meister über Leben und Tod’. Er hockte mit untergeschlagenen Beinen auf einer einfachen Holzpritsche und schien in tiefste Meditation versunken. Sein Gesicht war uralt, die Arme, die aus dem zerschlissenen Gewand ragten, zeigten den äußersten Grad der Abmagerung. Es war ein Rätsel, wie dieses Skelett noch Leben beherbergen konnte. Jetzt öffnete der Meister die Augen weit und redete Frank Allison an. Uns andere schien er nicht zu bemerken. Der Alte sprach Hindostani, und unser junger Führer machte den Dolmetscher. ,Ich wußte, daß du kommen würdest, Sah, b. Mein Wille befahl dich hierher.’ ,Na, erlauben Sie mal’, brauste Allison auf. Der Alte hob nur leicht die Hand. ‚Dein Tun ist nicht gut, Sahib. Du verspottest die uralten Geheimnisse meines Volkes. Du bemühst dich, seinen Glauben an das Wunderbare zu zerstören …’ ,Stimmt auffallend’, staunte Allison. ‚Woher wissen Sie das nur so genau?’ ,Thakur bleibt nichts verborgen. O Sahib, du kämpfst gegen unsere Geheimnisse mit den Waffen deiner toten Schulweisheit. Aber diese Waffen sind stumpf.’ ,Was soll dieses Gerede?’ unterbrach Allison den Alten gelangweilt. ‚Zeigen Sie uns lieber, was Sie können. Dieser junge Mann hier behauptet, Sie könnten Tote erwecken.’ Ein Lächeln huschte über die ausgemergelten Züge des Yogi. Mit einer Handbewegung forderte er uns auf, zu einer großen Steintruhe zu treten, die an der linken Seitenwand des Raumes stand. Der junge Inder half uns, den schweren Deckel abzuheben. In dem Steinsarg lag ein Toter. Es mochte ein Mann in mitt46
leren Jahren gewesen sein. Er war vollkommen kalt und starr, zeigte jedoch keinerlei Anzeichen körperlichen Verfalls. Das ärztliche Interesse erwachte in mir. Gemeinsam mit meinem Kollegen unterzog ich den Körper einer gewissenhaften Untersuchung. Kein Atem, kein Pulsschlag, nicht die geringsten Reflexe – kein Zweifel: Der Mann war mausetot. Wir traten zurück und blickten fragend zu dem Yogi hinüber, der sich erhoben hatte. Jetzt streckte er die dünnen Knochenarme gegen den Steinsarg aus und murmelte beschwörende Worte. Und plötzlich drang ein furchtbares Stöhpen aus dem Munde des Toten. Mit schwerfälligen Bewegungen erhob er sich von seinem Lager, schwankte auf den Yogi zu, verneigte sich langsam und torkelte in den Sarg zurück, wo er alsbald wieder in Todesstarre versank. Es grauste mich, und ich bemerkte, wie sich die beiden Ingenieure verstohlen zur Tür zurückzogen. Nur Frank Allison lachte – doch auch sein Lachen klang unfrei und rauh. ,Ein effektvolles Schauspiel, by Jove! Ich gestehe, daß ich den Trick im Augenblick noch nicht durchschaue. Aber ich komme schon noch dahinter, verlassen Sie sich drauf.’ ,Du wirst keine Möglichkeit mehr haben, unserem Geheimnis nachzuspüren, o Sahib’, murmelte der Alte tonlos. ‚Deine Neugier sei verflucht, sie soll dir selbst zum Verhängnis werden. Ehe der Mond sich rundet, wird deine Seele dieses Land verlassen haben.’ Unwillkürlich sah ich bei diesen Worten Allison ins Gesicht und erschrak über seinen Ausdruck. Das waren die Züge eines Fremden! Doch schnell verwandelten sie sich wieder, und er war ganz der alte Frank Allison, als er jetzt trocken erwiderte: ,Das müßte also in drei Tagen sein. Aber ich schätze, Sie sind ein alter Schwätzer, Thakur. Ich denke gar nicht daran, Mysore so bald zu verlassen, obwohl ich dieses schöne Land 47
manchmal zu allen Teufeln wünsche. Ich wette diesen Ring, daß Ihr Fluch genau solch ein Bluff ist, wie dieser ganze alberne Yogi-Rummel hier.’ Und er hob die linke Hand, an der matt ein goldener Ring schimmerte: ein schmaler Reif mit zwei gekreuzten Schlangenköpfen.“ * Der Erzähler machte eine Pause und nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas, das der aufmerksame Wernicke gerade frisch gefüllt hatte. „Wie kindisch doch diese dummen Inder sind“, rief Jane unwillig. „Da geht ein ganzes Riesenvolk, Hunderte Millionen von Menschen, gutgläubig ein paar gerissenen Zauberkünstlern auf den Leim und verehrt sie, als seien sie Wesen aus einer höheren Welt. Und dabei ist doch alles nur Lug und Trug.“ „Das hatte Frank Allison auch geglaubt“, lächelte Doktor Leonhard. „Und hat er etwa nicht recht behalten?“ Der Arzt schien mit seinen Gedanken weit weg zu sein. „Urteilen Sie selbst“, sagte er schließlich. „Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende. In den Tagen, die auf dieses Erlebnis folgten, hatten wir ungewöhnlich viel zu tun. Eine Seuche, in ihren Symptomen ähnlich dem Sumpffieber, war unter unseren Arbeitern ausgebrochen, und wir Ärzte waren ständig in Bewegung, um die zahlreichen Patienten zu versorgen. Am Nachmittag des dritten Tages hatten wir gemeinsam einen weit in den Dschungel vorgeschobenen Außenposten besucht, um in einem besonders ernsten Krankheitsfall Hilfe zu leisten. Als wir unsere Arbeit vollbracht hatten, lud uns der In48
genieur, der diesen Abschnitt befehligte, in sein Zelt und bot uns Tee und Erfrischungen an. Wie von ungefähr kam das Gespräch auf Fakire und ihre Künste. Frank Allison war in den letzten Tagen wortkarg und zerstreut gewesen, und ich schob den Grund seines veränderten Wesens auf seine Überarbeitung. Doch bei diesem Thema taute er sichtlich auf und griff mit Erbitterung den ‚ganzen verdammten Zauberkram’ an. Unser Gastgeber erzählte gerade, wie er vor Jahren einer besonders sensationellen Vorführung beigewohnt hatte. Ein Fakir hatte sich bei lebendigem Leibe begraben lassen, um nach anderthalb Stunden frisch und unversehrt aus seinem Grabe wieder aufzustehen. ,Lächerlich!’ rief Allison erregt. ‚Das ist die einfachste Sache der Welt – völlig ungefährlich. Der Kerl hat Luft genug in seinem Sarg, um nicht zu ersticken. Der ganze Witz bei der Sache ist, daß man sich ruhig verhält und nicht die Nerven verliert. Ich wette eine Kiste Bier, daß ich das Experiment jederzeit nachmache, und zwar für die Dauer von zwei vollen Stunden, meinetwegen sofort.’ ,Topp!’ brüllte der Ingenieur begeistert. ‚Ich setze zwei Kisten Bier dagegen.’ Ich muß gestehen, mir wurde himmelangst. Wenn es mir nur gelang, Frank Allison von seinem verrückten Vorhaben abzubringen und ihn aus diesem Sumpfloch ins sichere Hauptlager zurückzuschaffen. Plötzlich fielen mir die Worte des alten Fakirs wieder ein. Heute war der dritte Tag, der Abend des Vollmondes … Aber alle meine Vorhaltungen waren vergeblich. Schnell war ein Raupenbagger zur Stelle, der eine fünf Meter tiefe Grube aushob. Frank Allison bestieg eine große, feste Holzkiste, die zum Transport von Maschinenteilen gedient hatte, und ließ den Deckel verschrauben. Ein Kranwagen ließ den Riesensarg lang49
sam auf den Grund der Grube hinab, die von den eingeborenen Arbeitern unverzüglich zugeschaufelt wurde. Ich machte sowohl mir selbst, wie dem Ingenieur, die übelsten Vorwürfe. Das war ja reiner Wahnsinn, der an Mord und Selbstmord grenzte! Unendlich langsam schlichen die Minuten dahin. Als die zweite Stunde zu Ende ging, und die Arbeiter hastig die Grube freilegten, fühlte ich mich am Ende meiner moralischen Kraft. Endlich tauchte die Kiste über dem Rand der Grube auf und setzte – am Arm des Kranes – vorsichtig auf dem Boden auf. Mit fliegenden Fingern lösten wir die Verschraubungen, rissen den Deckel herunter … Aus dem ‚Sarg’ erhob sich die Gestalt Frank Allisons. Er atmete tief und lächelte verzerrt. ‚Wo sind die zwei Kisten Bier?’ fragte er. ,Allison – Gott sei Dank, daß Sie leben!’ rief ich und fühlte eine Zentnerlast von meiner Seele weichen. ,Kleinigkeit’, sagte Allison geringschätzig und sprang gewandt ins Freie. Doch in diesem Augenblick stieß er einen entsetzten Schrei aus. Im Osten war die riesige, blutrote Scheibe des Vollmondes aufgegangen und tauchte die Gegend in ein ungewisses und unheimliches Licht. Frank Allison war zu Boden gesunken und starrte mit glasigen Augen auf eine Stelle, wo sich ein schwärzliches Reptil davonringelte – eine der gefährlichen Giftschlangen dieser Wälder! Ich sprang hinzu, um die Bißstelle zu suchen, die Wunde provisorisch abzubinden. ‚Mein Instrumentenkoffer!’ brüllte ich. Der Ingenieur stürzte zum Lagerplatz. Im Licht des Mondes bemühte ich mich um den Verunglückten. Das Schlangengift verbreitete schnell seine Wirkung. Wenn ich nicht bald das rettende Serum injizieren konnte … Es ging um Sekunden. 50
Endlich – ich sah den Ingenieur angerast kommen, den kleinen Koffer in der hocherhobenen Rechten. Doch da ertönte ein Aufschrei – das Geräusch eines schweren Falls …, Der Ingenieur war wie vom Erdboden, verschluckt. Und aus der Tiefe der offenen Grube hörte ich sein erbittertes Fluchen. Ich blickte über den Rand des Erdloches. Unten flammte jetzt ein Streichholz auf. In seinem trüben Schein sah ich den Inhalt meines Koffers auf dem Boden der Grube verstreut. Die Ampullen mit dem rettenden Antitoxin waren zerbrochen. Frank Allison starb uns unter den Händen. Erschüttert betrachtete ich noch einmal sein stilles Gesicht. Mein Blick wanderte weiter und erstarrte … Ich sah die linke Hand, die weiß und verkrampft im Mondlicht schimmerte. Der goldene Schlangenring, den er stets zu tragen pflegte, war von seinem Finger verschwunden.“ * „Huh – bei euren Geschichten kann man ja wirklich das Gruseln kriegen.“ Jane schüttelte sich. „Und sowas in unserem aufgeklärten Jahrhundert der Technik!“ Der Schiffsarzt lächelte. „Unser Leben ist voll von geheimnisvollen Dingen, vor denen unsere Erkenntnis kapitulieren muß. Vergessen wir doch das eine nicht: Wir Menschen sind von Natur nur mit fünf Sinnen ausgestattet und können nur das wenige wahrnehmen, das uns diese Sinne vermitteln, das heißt alles das, was wir sehen und hören, schmecken, riechen und tasten können.“ „Sie meinen also, es gebe außerdem noch viele Dinge in der Welt, von denen wir nichts wissen können, weil wir keine speziellen Wahrnehmungsorgane dafür haben?“ fragte Jim Parker. 51
„Gewiß, Kommodore. Denken Sie zum Beispiel an die Radiowellen, die auch in der Natur vorkommen. Für sie fehlt uns jedes natürliche Empfangsorgan.“ „Und was hat das mit Geistern und Übersinnlichem zu tun?“ „Nun“, meinte der Arzt nachdenklich, „uns ‚normalen Menschen’ fehlt jener ‚sechste Sinn’, der uns den Weg zur ‚Geisterwelt’ öffnet. Vielleicht ist er im Laufe der Entwicklung verkümmert. Nur einige wenige unter unseren Zeitgenossen verfügen noch über diesen rätselhaften Sinn: Es sind die paar echten Yogis, die es tatsächlich gibt.“ In diesem Augenblick schob sich Niels Karstens ernstes Gesicht durch den Türspalt. „Verzeihung, Gentlemen, war einer von Ihnen draußen? Mir war es, als hätte ich Geräusche in der Luftschleuse gehört.“ „In der Luftschleuse?“ Fragend sahen sich die sechs Menschen an. Der Kommodore stand auf und reckte sich. „Sie haben sich getäuscht, Karsten. Ich denke, wir gehen jetzt schlafen. Winter, geben Sie noch den üblichen Funkspruch für Orion-City durch. Gute Nacht, Miß Russell – gute Nacht, Gentlemen.“ Doch bevor Jim Parker seine Hängematte aufsuchte, ging er noch in die Schleusenkammer und nahm den kleinen, nüchternen Raum genauestens in Augenschein. Er konnte nichts Auffallendes entdecken – und doch war da irgend etwas Störendes, eine Art fremden Fluidums … Kopfschüttelnd trat er auf den Gang hinaus. Aus der Tür zur Funkstation kam Geert Winter mit ratlosem Gesicht. „Kommodore, da stimmt etwas nicht. Ich bekomme keine Verbindung mit Orion-City. Habe schon alles nachgesehen, kann aber nirgends einen Fehler entdecken. Höchstens könnte die Außenantenne unklar geworden sein.“ „Die Antenne? Hier im leeren Raum?“ Der Kommodore überlegte. „Kommen Sie mit“, entschied er, „wir steigen aus.“ 52
Die beiden Männer krochen in ihre Raumtaucheranzüge und schleusten sich aus. Schwebend tasteten sie sich am glatten Leib des Raumschiffes entlang – nach achtern, wo die Außenantenne in einer der riesigen Heckflossen eingebaut war. Bald war der Schaden entdeckt. Der Zuleitungsdraht war zerrissen. Ausgerechnet in jenem kurzen Stück zwischen der Flosse und dem Eintritt in die Schiffswand. „Ein Meteorstein“, mutmaßte der Funker. Jim Parker besah sich den Schaden auffällig lange. „Hm“, machte er schließlich, „der müßte aber eine sehr merkwürdige Flugrichtung genommen haben. Los, Winter, wir wollen den Schaden reparieren.“ * Jane Russell bereitete in der kleinen Kombüse des „Schiaparelli“ das Abendbrot für die Besatzung. Ihre eigentliche Aufgabe, die Niederschrift eines bis in die kleinsten Einzelheiten genauen Reiseberichts für das Archiv des S.A.T., ließ ihr genügend Zeit, sich um das leibliche Wohl ihrer Fahrtgenossen zu kümmern. Sie kam dieser zusätzlichen Pflicht mit Lust und Liebe und viel guten Zutaten nach. An diesem Abend leistete ihr Niels Karsten Gesellschaft und half ihr durch kleine Handreichungen. Jane konnte es nicht lassen – sie mußte den großen, ruhigen Norweger ein bißchen hänseln. „Wirklich zu aufmerksam, Mister Karsten. Wie komme ich unwürdiges Geschöpf nur zu der großen Ehre, daß Sie mir Ihre kostbare Zeit opfern?“ „Och – Zeit spielt ja eigentlich im Augenblick keine Rolle. Es ist nur, weil ich den Eindruck habe, daß Sie vielleicht meinen Schutz brauchen könnten.“ „Ihren Schutz? Ja, wovor oder wogegen denn, Mister Karsten?“ 53
„Nun – zum Beispiel gegen unser Bordgespenst. Das scheint sich ja für Sie ganz besonders zu interessieren.“ „Ich brauche Ihren Schutz nicht, Mister Karsten“, erwiderte Jane eisig, „und Ihre Anspielungen schon gar nicht. ‚Bordgespenst’ – solch ein Unsinn! Daß Sie, als erwachsener Mensch überhaupt – Hilfe!“ Klirrend zerbrach ein ganzer Stapel von Tellern, den Jane gerade aus dem Wandschrank geholt hatte, am Boden. „Scherben bringen Glück“, tröstete Niels Karsten in seiner trockenen Art. „Aber sagen Sie mal: Warum schreien Sie eigentlich so laut?“ „Da – da!“ stammelte Jane und zeigte mit zitternder Hand durch die offene Kombüsentür in den schwach erleuchteten Mittelgang hinaus. „Der Schatten …“ „Aber nicht doch“, sagte Karsten und nahm Janes Hand in seine mächtige Seemannsfaust. „Da war ja gar nichts. Es sind nur die Nerven. Das kennen wir alten Raumfahrer zur Genüge. Aber das gibt sich bald.“ Jane empfand seine Worte, den ruhigen Druck seiner Hand ungemein tröstlich und beruhigend. Gern hätte sie sich in diesem Augenblick in seine Arme geflüchtet. Aber da nahten hastige Schritte. Geert Winter, der Funker, steckte aufgeregt den Kopf herein. „Wo ist der Kommodore?“ „Wahrscheinlich steckt er in seiner Kabine und schläft“, erwiderte Karsten, „Was ist denn los, Geert?“ Aber der Funker raste schon weiter. Er riß den Kommodore aus tiefem Schlummer. „Depesche aus Orion-City, Sir. In meiner Abwesenheit eingegangen.“ „Zeigen Sie her!“ Befremdet las der Kommodore: „S.A.T., Orion-City, an Kommodore Parker, an Bord des Schiaparelli: Marsreise abbrechen. Sofort umkehren. Landung nicht in Luna 54
nova vornehmen, sondern Orion-City direkt anlaufen. Cunningham.“ Jim Parker ließ das Blatt sinken und schaute den Funker zweifelnd an. „Mensch, ist der Boß verrückt geworden?“ „Wahrscheinlich – das heißt – pardon – wir könnten ja mal rückfragen, wie das gemeint ist.“ „Richtig, Winter – rufen Sie die City an.“ Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Der Funker übertrug die Morsezeichen und schob dem Kommodore verlegen grinsend die Meldung hin. „S.A.T. an Kommodore Parker: Haben keine idiotischen Befehle gegeben und auch sonst nichts gefunkt. Bei euch ist wohl die Raumkrankheit ausgebrochen? Gute Besserung! Cunningham.“ * „Das sind ja wirklich reichlich grobe Späße, die sich unser verehrungswürdiges Bordgespenst erlaubt“, sagte Doktor Barringer, als der Funker an diesem Abend im Kreise der Gefährten sein letztes Abenteuer erzählt hatte. „Ich glaube, es wird Zeit, daß wir ihm ein wenig auf die Finger schauen.“ „Aber das mit der Antenne war doch gewiß nur Zufall“, ereiferte sich Jane. „Ein Meteorstein hat den Verbindungsdraht zerrissen.“ „An solch seltene Zufälle glaube ich nicht“, belehrte sie der Astronom. „Meteorsteine sind im Weltraum so dünn verteilt, daß es beliebig unwahrscheinlich ist, von einem dieser kosmischen Geschosse getroffen zu werden.“ „Der Kommodore machte auch ein sehr bedenkliches Gesicht“, pflichtete der Funker bei. „Als er vorhin im Maschinenraum seine Wache antrat, untersuchte er alles so gründlich, als verfolge er schon eine bestimmte Spur.“ 55
Jane zuckte die Achseln. „Wer ist heute an der Reihe – als Märchenerzähler?“ „Vielleicht könnte ich mal die Geschichte erzählen, wie mir vor Kap Horn der Klabautermann erschien“, begann Niels Karsten bedächtig. „Um Himmels willen!“ Jane hielt sich entsetzt die Ohren zu. „Jeden Abend eine Gespenstergeschichte – das halten meine Nerven nicht aus. Wir machen uns ja gegenseitig verrückt mit diesem grausamen Hokuspokus.“ „Aber wieso denn, Miß?“ Fritz Wernicke schien anderer Meinung zu sein. „Ich für mein Teil finde Gespenstergeschichten höchst vergnüglich. Sie enden auch keineswegs immer so todtraurig, wie die beiden, die wir bisher gehört haben. Jedenfalls ist dem Kommodore und mir vor Jahren einmal eine Geschichte begegnet …“ „Oh, Mister Wernicke, erzählen Sie!“ riefen die anderen wie aus einem Munde. Der kleine Steuermann zog sein Glas dicht zu sich heran, lehnte sich behaglich zurück und begann: Das Schloß in den Grampian Mountains Das war in jenen glorreichen Tagen, als die christliche Raumschiffahrt noch in ihren allerersten Kinderschuhen steckte. Ja, das waren noch Zeiten! Heute setzt man sich ganz einfach in eine bequeme Passagierrakete, läßt sich in aller Gemütlichkeit zur Außenstation kutschieren und steigt dort in die fahrplanmäßigen Schiffe zum Mond und zur Venus um. Aber damals gab es noch keine Außenstation, und Venusreisen lagen noch in nebelhafter Ferne. An Atomkrafttriebwerke war überhaupt noch nicht zu denken, wenigstens nicht für Raumschiffe. Wir waren schon restlos glücklich, wenn wir mit unseren Stufenraketen überhaupt den Mond erreichten und noch genug Sprit übrig be56
hielten, um die Rückkehr zur Erde zu wagen. Mit dem Landungsmanöver war es nachher immer so eine Sache. Wenn man sich zum Beispiel fest vornahm, tief im Herzen von Arizona zu landen, kam man todsicher in Frankreich oder Nordafrika herunter und durfte noch froh sein, wenn man nicht ein nasses Ende im Atlantik nahm.“ „Mit der Navigationskunst scheint es damals schlecht bestellt gewesen zu sein“, lächelte Doktor Barringer. „No, Sir, draußen im Raum fanden wir schon unseren Weg. Aber der Treibstoff reichte meist nicht mehr, um durch Rückstoß zu bremsen, und so mußten wir in ewig langen Bremsspiralen um die Erde herumfliegen, bis der Luftwiderstand unsere kosmische Geschwindigkeit aufgezehrt hatte und wir eben irgendwo im Gleitflug niedergingen. So geschah es auch, als ich damals mit Jim Parker an Bord des ‚Glow-Worm’, einer kleineren Alkohol-Sauerstoffrakete, von einem Erkundungsvorstoß zur Rückseite des Mondes zurückkehrte. Wir hatten Glück gehabt: In einem Bleikanister befanden sich Proben eines Erzes, das der Kommodore für uranhaltig hielt. Uran auf dem Mondl Das wäre ein Ergebnis gewesen, an das unser hoher Chef, der dicke Cunningham, nicht in seinen kühnsten Träumen geglaubt hätte. Natürlich brannten wir darauf, unseren kostbaren Fund ohne Bruchlandung heimzubringen, um ihn in den Laboratorien von Orion-City untersuchen zu lassen. Fünfmal waren wir schon mit dem ‚Glow-Worm’ hoch über der Forschungsstadt dahingezogen, in immer engeren Spiralen, jedesmal dem Boden um ein Beträchtliches näher. Aber wir mußten die Landung wieder und wieder aufschieben. Zu groß war unsere Fahrtgeschwindigkeit, und wir hatten keinen Tropfen Sprit mehr in den Tanks. Zum sechsten Mal dehnte sich unter uns die Wasserwüste des Atlantik. Die Geschwindigkeit war nun soweit gesunken, daß wir uns nach einem Landeplatz umsehen mußten. 57
,Hoffentlich kommt bald Land in Sicht’, sagte ich, ‚sonst sehe ich schwarz.’ ,Schätze, daß wir gerade noch die Küste Schottlands erreichen müßten!’ murmelte der Kommodore und versuchte, sich in dem Dunst und Nebel zu orientieren, der unter uns die Sicht beeinträchtigte. ,Sagtest du Schottland, Jim?’ Meine Lebensgeister erwachten beim Klang dieses Namens und wurden quicklebendig. ‚Schottland – schon immer warst du das Land meiner Sehnsucht’, begann ich zu schwärmen. ‚Auf meerumbrandeten Klippen ragen uralte Schlösser. Und der edle Whisky fließt in Strömen. Man könnte darin ertrinken.’ ,Gib acht auf das Höhenruder, Whiskytöter! Sonst ertrinken wir tatsächlich noch – aber nicht in edlem Whisky, sondern in nassem Seewasser.’ ,Seewasser? Brr! Erschrocken griff ich in die Steuerung. Wir wußten tatsächlich nicht, wo wir uns befanden. Nur soviel war klar, daß wir Land unter uns hatten; denn hier und da ragten Berggipfel, wie die eines Mittelgebirges, aus dem breiigen Nebel hervor. Das war einerseits beruhigend, bei diesen Witterungsverhältnissen jedoch nicht ganz ungefährlich. Es blieb mir aber nicht viel Zeit, über unsere Lage nachzudenken; denn plötzlich kommandierte Jim Parker: ,Bremsschirm raus!’ Ein Druck auf den Knopf, und aus dem Heck wurde der riesige, raffiniert ausgedachte Bänderfallschirm ausgestoßen. Es gab einen Ruck, wir gingen in schrägem Fall nach unten und setzten hart auf dem Boden auf. Vor meinen Augen tanzten bunte Sterne. Als wir das Schiff verließen, um uns auf die Suche nach einer menschlichen Niederlassung zu begeben, war die Abenddämmerung bereits hereingebrochen. Wir tasteten uns im Nebel voran und stolperten in dem steinigen, hügeligen Gelände her58
um. Das also war Schottland, das Land meiner durstigen Sehnsuchtsträume! Ich fühlte mich zutiefst enttäuscht. Allmählich wurde die Gegend ebener, und plötzlich standen wir auf einer schlecht gepflasterten Landstraße. Aufs Geratewohl wandten wir uns nach rechts. Nach zehn Minuten bog eine Allee im rechten Winkel ab. Ein verwitterter Wegweiser kündete an: ,Dunmore Castle.’ ,Hm’, meinte der Kommodore und blickte sich zweifelnd um, ‚wer weiß, wie lange wir noch in dieser gottverlassenen Gegend herumstolpern müssen, ehe wir das nächste Kuhdorf erreichen. Schlage vor, wir suchen uns lieber hier unser Nachtquartier.’ Gleich darauf nahm uns die schweigende Allee auf, von deren Bäumen es feucht und kalt tropfte. Und plötzlich wuchs geisterhaft aus den ziehenden Nebelschwaden ein Koloß aus grauem Stein vor uns auf. Ja, Miß Russell, Ich bin überzeugt – bei dem Anblick hätten auch Sie an Gespenster geglaubt! Dunkel war das Gemäuer und verwittert. An Stelle von Fenstern sah man nur schmale, hohe Schießscharten. Ein dicker, runder Turm war an einer der vier Ecken direkt mit dem Haus verbunden, dessen flaches Dach ringsum von Zinnen umrandet wurde. Reste der alten Burgmauer ragten hier und da aus verwildertem Gestrüpp. Das einzige Zugeständnis an die Bedürfnisse der neueren Zeit war ein häßliches Stallgebäude, das in eine Garage umgebaut war. Dunmore Castle … ,Hm’, machte Jim Parker wieder, ‚sieht nicht gerade einladend aus. Aber wir haben keine andere Wahl.’ Wuchtig setzte er den grünspanüberzogenen Klopfer an der massiven Eichentür in Bewegung. Dumpf und schaurig hallten die Schläge und rollten unheimlich durch das Haus. Ein alter, scheinbar stocktauber Diener öffnete uns und gelei59
tete uns beim Schein einer Kerze durch dumpfe Gänge in einen Raum, der mit altmodischen Möbeln ausgestattet war. Hohe Regale, mit Schweinslederbänden vollgestopft, reichten bis an die Decke. Das Feuer, das im Kamin prasselte, tauchte das Zimmer in einen blutrot flackernden Schein. Wir wollten uns gerade die klamm gewordenen Hände wärmen, als eine schmale Seitentür aufging, und der Herr des Hauses eintrat. Lord Inverness – so lautete sein Name – begrüßte uns korrekt, aber mit Zurückhaltung. Er war ein schlanker Mann von etwa fünfzig Jahren, mit grauem Haar und einem rötlichen, merkwürdig verquollenen Gesicht. Als wir uns vorgestellt und unser Anliegen vorgetragen hatten, lud er uns höflich ein, die Nacht auf Dunmore Castle zu verbringen, und ließ uns durch Glenn, den alten Diener, unser Zimmer anweisen. Es lag im zweiten Stock des runden Eckturmes. Beim Supper, das im riesigen, kahlen und kalten Speisesaal serviert wurde, lernten wir Lady Inverness kennen. Sie war groß und knochig, mit einer langen, spitzen Nase im strengen Gesicht, und mindestens zehn Jahre älter als ihr Ehegespons. Bei Tisch riß sie sofort die Unterhaltung an sich und ließ keinen von uns zu Wort kommen. Der Lord schien einen Mordsrespekt vor ihr zu haben. ,Sie kommen also direkt vom Mond, junger Mann?’ herrschte sie mich an und musterte mich streng durch ihr Lorgnon. ,Jawohl, Mylady. Reizende Gegend, der Mond. Fast so schön wie Ihre prächtige schottische Heimat.’ ,Gibt es auf dem Mond auch alkoholische Getränke?’ kam prompt die nächste Frage. ,Leider nicht’, bedauerte ich aufrichtig. ‚Aber wir bringen uns den Alkohol im Raumschiff mit.’ Die Lady warf mir einen vernichtenden Blick zu. Jim Parker trat mich unter dem Tisch kräftig gegen das Schienbein. ‚Mein Freund scherzt’, erklärte er mit seinem verbindlichsten Lächeln. 60
‚Unsere Raumschiffe haben tatsächlich Alkohol an Bord, allerdings nur in Gestalt von Treibstoff für den Raketenmotor.’ ,Das will ich hoffen, mein Herr’, grollte die strenge Dame. ‚Der Alkohol ist ein entsetzliches Gift und sein Genuß das furchtbarste aller Laster. Nie würde ein Tropfen dieses Teufelszeugs in die Mauern von Dunmore Castle gelangen, solange ich hier befehle. Wie gut ist dagegen die gesunde Milch, dieser wahre Göttertrank …’ Bum! ertönte es plötzlich von der Wand zur Linken. Ein großes, düsteres Ahnenbild mit schwerem, goldenem Rahmen war herabgestürzt. Lady Inverness zuckte zusammen und verfärbte sich. ,Das ist Oliver, der Schwarze Ritter’, stammelte sie. Jim Parker hob das Bild auf und hängte es wieder an seinen Platz. Es zeigte einen aufgedunsenen Glatzkopf mit gewaltigem Schnauzbart, der martialisch aus einem schwarzen Harnisch herausschaute. ,Der Schwarze Ritter? Wer ist denn das?1 ,Pst!’ machte die Lady ängstlich. ‚Nicht so laut – er könnte es übelnehmen, wenn man über ihn spricht. Also hören Sie: Oliver lebte im 16. Jahrhundert in diesem Schloß, das er von seinen Ahnen geerbt hatte. Er war ein alter Haudegen und Wüterich, und was das Schlimmste ist: Er war ein zügelloser Säufer und feierte allwöchentlich in der Samstagnacht mit seinen Zechkumpanen wüste Gelage in jenem Kellergewölbe, das unter dem runden Turm gelegen ist Doch die gerechte Strafe ereilte ihn auf fürchterliche Art. Eines Nachts, als wieder einmal das Gewölbe vom Fluchen und vom wilden Gesang der Zechenden erzitterte, gerieten sie aus nichtigem Anlaß in Streit. Bald flogen die blanken Klingen aus den Scheiden, und als die erste Wut verraucht war – lag Oliver tot in seinem Blut. Ein mächtiger Schwertstreich hatte ihm den Kopf vom Rumpf getrennt. 61
Seit dieser Nacht des Schreckens spukt es in Dunmore Castle. Der Geist des Toten fand keine Ruhe. Noch heute sucht er nach seinem Mörder und schleicht in den Samstagnächten durch die Räume des Schlosses, den Kopf unter dem Arm. Besonders arg treibt er es in der Nähe des alten Turmes. Wir haben zwar schon vor Jahren die Tür zu jenem Kellergewölbe, in dem der Mord geschah, vermauern lassen, aber für einen Geist bedeuten auch Mauern kein Hindernis. Gewiß wird Oliver auch in dieser Nacht wieder sein Unwesen treiben.’ ,Du solltest dich schlafen legen, meine Teuerste’, sagte der besorgte Gatte. ‚Hier, nimm dein Schlafmittel. Es hilft am sichersten gegen böse Geister und nächtliche Störungen.’ Er reichte ihr eine kleine Schachtel, die er aus der Anrichte genommen hatte. ,Du hast recht, Balthasar’, entgegnete die Lady dankbar. Gehorsam schluckte sie drei von den weißen Pillen. Dann ließ sie sich, nachdem sie uns gnädig zugenickt hatte, von ihrem Mann in ihre Gemächer geleiten. ,Mensch, Jim’, ächzte ich, als wir allein waren, ich habe einen Durst, wie ein Löwe in der Wüste.’ ,Trink doch die gesunde Milch, diesen wahren Göttertrank’, spottete der Kommodore. ,Milch? Brr! Allein der Gedanke daran bereitet mir Alpdrücken. O Jim, hätte ich geahnt, daß Dunmore Castle solch ein trauriger Ausschank ist, ich wäre lieber noch stundenlang auf der Landstraße weitergetippelt. Kein Tropfen Whisky in dem ganzen riesigen Kasten! Und solch ein Malheur muß mir ausgerechnet in Schottland passieren. Da ging es hier zur Zeit des ollen Oliver bestimmt viel gemütlicher zu.’ ,Komm, Fritz, laß die Toten ruhen. Schätze, es wird das beste sein, wir legen uns jetzt auch schlafen.’ Und so kroch ich durstig in die Kissen meines altertümlichen Himmelbettes, droben im Turmzimmer des Gespensterschlosses.“ 62
* Fritz Wernicke schwieg und hob lauschend den Kopf. Waren das nicht Schritte gewesen, draußen im Gang – leise und schleichend? Ach, Unsinn! Die Phantasie spielte ihm nur einen Streich … „Eine köstliche Situation“, sagte Jane. „Stellen Sie sich das nur mal vor, Gentlemen: Zwei Weltraumfahrer im Kampf mit Oliver, dem Schloßgespenst! Ein Bild für die Götter.“ „Es kam gar nicht zum Kampf“, erwiderte Wernicke. „Jedenfalls nicht mit Olivers Geist. Doch hören Sie nun weiter: Es war kurz nach Mitternacht – ich hatte die zwölf dumpfen Schläge der Turmuhr bis in meine Träume gehört –, als der Spektakel losging. Irgendwo kreischte eine Tür in den Angeln. Schritte tappten plump über Treppenstufen herauf. Sie schienen aus dem Keller des Turmes zu kommen – aus jenem schaurigen Gewölbe, in dem Ritter Oliver vor vielen hundert Jahren ein so furchtbares Ende gefunden hatte und das jetzt fest zugemauert war. Jetzt hörte man deutlich das Rasseln schwerer Ketten, ein furchtbares Stöhnen … Ich fühlte, wie mir eine Gänsehaut über den Rücken kroch. ‚Hallo, Jim’, flüsterte ich heiser, ‚hörst du es auch?’ ,Schätze so’, erklang die sonore Stimme des Kommodores. ‚Ritter Oliver scheint wieder einmal Ausgang zu haben.’ Die schlurfenden Schritte entfernten sich. Da erscholl in einem anderen Teil des Hauses plötzlich ein schauriges Heulen. ,Das war im unteren Stockwerk’, rief Jim Parker. ‚Komm, Fritz, wir wollen mal nachsehen, wo dem edlen Ritter der Schuh drückt.’ Rasch schlüpften wir in unsere Kleider und tasteten uns im 63
Dunkeln die steile Wendeltreppe hinunter. Im Gang des ersten Stockwerkes flackerte Kerzenschimmer. Als wir die untersten Treppenstufen erreichten, sahen wir gerade noch eine weiße Gestalt um die nächste Ecke biegen. Sie trug in der Rechten eine brennende Kerze. Unter dem linken Arm jedoch – wahrhaftig, mir stiegen die Haare zu Berge – unter dem linken Arm trug sie – ihren Kopf! ,Oliver, der Schwarze Ritter’, stammelte ich fassungslos. ,Den wollen wir uns mal ein bißchen genauer anschauen’, knurrte der Kommodore und setzte sich entschlossen in Marsch. Doch in diesem Augenblick stürzte über uns, in dem Turmzimmer, aus dem wir gerade gekommen waren, mit Donnergepolter ein Stuhl um. ,Da will uns anscheinend jemand besuchen, Fritz! Komm, schnell zurück!’ Wir hasteten atemlos die Treppe wieder hinauf und traten in unser Zimmer, das jetzt von einem Leuchter erhellt war. In seinem Schein erkannten wir – Oliver, den Schwarzen Ritter! In langem, weißem Gewand stand er da, den greulichen Schädel unter den Arm geklemmt, und verbeugte sich höflich vor uns. ,Thunderstorm!’ rief der Kommodore überrascht. ‚Sind Sie etwa allgegenwärtig?’ ,Keineswegs’, lachte das Gespenst und schlüpfte aus der weißen Hülle. Vor uns stand Lord Inverness, der Hausherr, und grinste uns verschmitzt an. ,Und der andere – da unten?’ fragte ich verblüfft. ,… ist Glenn, mein getreuer Diener. Verzeihen Sie den Mummenschanz und die nächtliche Ruhestörung, Gentlemen. Sie werden gleich alles verstehen. Und jetzt folgen Sie mir bitte zunächst in das Gewölbe, in dem der arme Oliver ein so betrübliches Ende gefunden hat.’ ,Wieso – ich denke, das Gewölbe sei vorsorglich zugemauert worden?’ fragte Jim Parker mißtrauisch. 64
,Gewiß – aber in der Geisterstunde tun sich alle Mauern auf, wenigstens für uns Gespenster. Sesam, öffne dich!’ Mit flinken Händen fuhr der Lord an den Fugen der schweren Mauersteine entlang. Und plötzlich bewegte sich ein Wandstück, glitt auf kreischenden Rollen zur Seite und gab eine Öffnung frei, aus deren Tiefe trüber Lichtschein heraufdrang. ,Darf ich vorangehen?’ fragte unser Gastgeber höflich und stieg uns voran eine enge, steinerne Wendeltreppe in die Tiefe. Wir schlossen uns zögernd an. Es ging ziemlich tief hinab. Schließlich waren wir auf dem Boden angelangt und betraten durch eine ähnliche Wandöffnung den vermauerten Keller, dessen ganze Einrichtung aus einem schweren Eichentisch und ein paar alten Bänken bestand. Ein paar dicke Wachskerzen waren auf die Tischplatte geklebt. Sie beschienen ein Bild, das mir vor Freude das Herz im Leibe hüpfen ließ: Auf dem alten, eichenen Tisch standen – säuberlich ausgerichtet in Reih und Glied – ein gutes Dutzend Flaschen mit echt schottischem Whisky! Was scherten mich Gespenster und Geisterstunde? Ich ließ mich nicht lange nötigen. Bald saßen wir zu viert zusammen – denn auch Glenn, der alte Diener, der jetzt weder taub noch stumm war, hatte sich inzwischen eingefunden – und tranken auf das Wohl aller Geister Schottlands. ,Es war ein rettender Gedanke für mich, die Gespenstergeschichte vom alten Oliver wieder aufleben zu lassen’, vertraute uns Lord Inverness an. ‚Ich habe nämlich – im Vertrauen gesagt – bei meiner Frau nichts zu lachen. Sie ist fanatische Alkoholgegnerin und gönnt weder mir noch Glenn auch nur einen einzigen Tropfen. Doch wir wußten uns zu helfen. Jeden Samstagabend meldet sich Oliver, das Schloßgespenst, auf geheimnisvolle Weise an. Wie das mit dem herabfallenden Bild gemacht wird, ahnt die Gute natürlich nicht. 65
Aber die Wirkung ist vollkommen. Meist verlangt sie sofort ihr Schlafmittel, und wenn das – wie heute – nicht gleich wirkt, lassen wir Oliver ein wenig durch die Gänge geistern. Nachher haben wir dann unsere Ruhe und laben uns hier nach Herzenslust. Lady Inverness ist nämlich entsetzlich furchtsam und abergläubisch. Nie käme sie auf den Gedanken, dem faulen Zauber nachzuspürend …’ ,Balthasar! Hier also finde ich dich. Schämst du dich nicht?’ Die tiefe Baßstimme der strengen Lady hallte schauerlich in dem engen Gewölbe. Wie eine Rachegöttin stand sie in wallendem Nachtgewand vor uns. Aus der Ferne schlug die Turmuhr eins. ,Lügen haben kurze Beine, und alle Schuld rächt sich auf Erden’, fuhr die holde Gattin des Schloßherrn fort. ‚Du hast mich zwar ganz schön hinters Licht geführt, aber bekanntlich begeht jeder Verbrecher eines Tages einen Fehler, der ihn zu Fall bringt. Dein Fehler war es, daß du mir heute abend anstatt Schlaftabletten – Abführpillen gabst.’ Und nun entlud sich ein Donnerwetter auf unsere sündigen Häupter, das uns die Freude an Gespensterschlössern ein für allemal verdarb. Jim Parker und ich, wir hielten es für besser, nicht länger zu stören. Als der Morgen graute, waren wir schon längst wieder unterwegs und tippelten auf der Landstraße der nächsten Ortschaft, dem Städtchen- Ballater in den Grampian Mountains, entgegen.“ * „Na also“, rief Jane belustigt, als Fritz Wernicke mit seiner Erzählung zu Ende war und sich zur Stärkung ein Glas Gin einschenkte. „Sie sehen, Gentlemen, alles Gespenstische fand seine natürliche Aufklärung. Armer Balthasar! Ich hätte nicht in seiner Haut stecken mögen!“ 66
„Lady Inverness war furchtbar in ihrem Zorn“, bestätigte Wernicke schaudernd. „Übrigens“, warf Doktor Leonhard ein, „sollen nicht alle Erlebnisse in Gespensterschlössern, an denen gerade das ewig neblige Schottland besonders reich ist, einen so harmlosen Ausgang nehmen. Man hört zuweilen Dinge darüber, die jeder vernünftigen Erklärung spotten.“ In diesem Augenblick war plötzlich ein leises Knistern zu hören. Es schien von draußen, aus dem Gang, zu kommen. Geert Winter riß die Tür auf und prallte erschrocken zurück. Bläuliche Schwaden stinkenden Rauches drangen herein. „Feuer an Bord!“ brüllte Fritz Wernicke und sprang zur Alarmklingel, um den Kommodore im Maschinenraum auf den Plan zu rufen. Karsten und Winter kämpften sich hustend durch die Rauchschwaden zum Führerstand hin. Der kleine, rundliche Schiffsarzt brachte einen Feuerlöscher angeschleppt. Vor der Tür zur Kombüse stauten sich die Fahrtgenossen und betrachteten mit gemischten Gefühlen den „Brandherd“. Auf der voll eingeschalteten Kochplatte des elektrischen Herdes stand ein Topf, der allmählich in Rotglut übergegangen war. Sein Inhalt war zu einem Häufchen Schlacke zusammengeschmort. „Das schöne Essen“ jammerte Jane. „Alles ist hinüber.“ „Was sollte es denn geben?“ fragte Fritz Wernicke, der inzwischen den Strom abgeschaltet hatte und mit einem Küchenmesser in dem glühenden Topf herumstocherte. „Labskaus“, gestand Jane weinerlich. „Labskaus?“ Niels Karsten, der alte Seemann, spitzte die Ohren. „Ja – das ist aber schade …“ „Ich hatte es extra für Sie ausgedacht, Niels. Es sollte eine Überraschung für Sie werden.“ „Die ist Ihnen zweifellos gelungen, Miß Russell“, erklärte der Kommodore, der unbemerkt hinzugetreten war. „Wahrscheinlich war Fritz Wernickes Erzählung so spannend, daß Sie 67
darüber ganz vergaßen, nach Ihrem Kochtopf zu schauen, den Sie aufgesetzt hatten.“ „Aber ich hatte den Topf doch noch gar nicht auf den Herd gestellt, Kommodore“, sagte das junge Mädchen verständnislos. „Ich wollte das Essen erst morgen fertigmachen.“ Wieder einmal blickten sich die sieben Fahrtgenossen fragend an. Niels Karsten traf genau das, was sie alle dachten, als er mit leiser Stimme bemerkte: „Das Bordgespenst.“ „Ich hatte mir immer eingebildet“, sagte Jim Parker spöttisch, „daß Geister von geistiger Nahrung allein leben könnten. Aber ein Gespenst, das Labskaus frißt? Das dürfte entschieden ungewöhnlich sein.“ * Das Labskausessen, das Jane eigentlich dem braven Bordingenieur zugedacht hatte, schien dem Bordgespenst des „Schiaparelli“ neuen Auftrieb gegeben zu haben. Jedenfalls ereigneten sich am folgenden Tage verschiedene Dinge, die bestimmt nicht im Programm dieser Marsreise vorgesehen waren. Das erste Opfer war an diesem Tage Niels Karsten. Er war im entlegensten Winkel des Maschinenraums gerade damit beschäftigt, die Lufterneuerungsanlage zu überprüfen, als er leise Schritte hinter sich herumschleichen hörte. Doch bevor er sich noch umdrehen konnte, erhielt er einen so kräftigen Fußtritt in das Hinterteil, daß er sich förmlich in der Luft überschlug und heftig gegen die Wand prallte. Niels empfand diese Behandlung als ausgesprochen unkollegial und reagierte darauf mit einem Wutgebrüll. Doch als er den heimtückischen Witzbold fassen wollte, griff er ins Leere. Der Kerl war schon auf und davon. Irgendwo klangen gedämpft seine flüchtenden Schritte. Niels Karsten rannte den Lauten nach, konnte aber den Fliehenden nicht erwischen. Plötzlich war alles wieder still. 68
„Na warte, Freundchen, wenn ich dich zu fassen kriege“, brummte der Ingenieur und ging an seine Arbeit zurück. Ärgerlich klappte er den Kasten der Regenerationsapparatur zu und verließ den Maschinenraum. Es war um die Mittagszeit, und die Besatzung saß gerade beim Essen im Gemeinschaftsraum, als Jane plötzlich von Schwindel und starken Kopfschmerzen befallen wurde. Auch die anderen mußten zugeben, daß sie seltsame Müdigkeitserscheinungen empfanden. Plötzlich taumelte der Schiffsarzt zur Tür und zerrte Jim Parker mit hoch. „Schnell, Kommodore, die Sauerstoffreserve!“ Als sie den Führerstand des Schiffes erreichten, fanden sie Fritz Wernicke, der hier die Wache gehabt hatte, bewußtlos am Boden liegen. Der Arzt faßte nach seinem Puls. Die Augen des Kommodore überflogen bereits die Tafel mit den Kontrollinstrumenten. „Es stimmt, Doc: Die Lufterneuerung ist ausgefallen. Gut, daß Sie es noch bemerkten, bevor wir alle hinüberdämmerten.“ Mit raschem Griff brachte er die Sauerstoff-Notanlage in Betrieb. Aus tausend feinen Zerstäuberdüsen zischte in allen Räumen der flüssige Sauerstoff und verdampfte in der verbrauchten Stickluft. Weit dehnten sich die Lungen und sogen sich voll mit dem belebenden Element. Auch Fritz Wernicke erwachte aus seiner Ohnmacht. „Kommen Sie, Karsten“, rief Jim Parker, „wir wollen nachsehen, was da passiert ist.“ Der Schaden war schnell gefunden. Die Lufterneuerungsanlage war im Maschinenraum abgeschaltet worden. Das konnte natürlich am Vormittag geschehen sein, als Karsten an dem Schrank beschäftigt war. Aber der Ingenieur konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, den kleinen roten Hebel berührt zu haben … Kopfschüttelnd ging der Kommodore nach vorn. Er mochte 69
etwa in der Höhe des Proviantraums, im Mittelteil des Schiffes, angekommen sein, als das Licht plötzlich erlosch. Schwärzeste Finsternis erfüllte das ganze Weltraumschiff. Kurzschluß! Irgendwo in der Dunkelheit tappten Schritte. Eine Stimme rief nach Taschenlampen, eine andere nach der Notbeleuchtung. Jim Parker – auf dem Wege zum Führerstand – prallte gegen einen Körper und kam zu Fall Mit zerschundenem Gesicht stand er auf und tastete sich weiter vorwärts. Als er den Führerraum erreichte, flammten gerade die schwachen Glühbirnen der Notbeleuchtung auf, die an einen besonderen Stromkreis angeschlossen waren. Wieder glitt sein Blick forschend über die Skalen der Kontrollinstrumente. Alles war in Ordnung – lediglich die Volt- und Amperemeter des Bordnetzes zeigten keinen Ausschlag. Nun, man würde rasch festgestellt haben, wo der Schaden entstanden war. Wie von ungefähr warf der Kommodore einen Blick aus dem Bugfenster – und erstarrte vor Schreck. Wo eben noch das ferne, winzige Scheibchen des Mars rötlieh gestrahlt hatte, stand jetzt das mächtige, dunkle Rund der Erdscheibe, von einer weiten, sonnenbestrahlten Sichel eingefaßt … Die Erde! Das Schiff fuhr auf Gegenkurs. Mit verbissenem Gesicht stürzte sich der Kommodore auf den Steuerknüppel. In weiter Kurve schwenkte der „Schiaparelli“ zurück, pendelte nach und nach wieder ein in den alten Kurs. „Hallo, Fritz, bist du wieder auf den Beinen?“ Der kleine Steuermann kam in den Führerstand geschlichen, wie das Leiden in Person. „O Jim, ich bin am ganzen Körper todsterbenskrank. Der Doktor hat mir Whisky, viel Whisky verordnet, wenn eine Rettung für mich überhaupt noch möglich sein soll.“ „Allright. Nimm deine Medizin“, lachte der Kommodore. „Da drüben im Wandschrank findest du eine ganze Pulle. Und dann setze dich ans Steuer und gib gut acht. Wir dürfen 70
den Führerstand von jetzt ab nicht mehr aus den Augen lassen.“ Jim Parker trat gerade in die Funkstation, um eine Meldung nach Orion-City aufzugeben, als sich ein neuer Zwischenfall ereignete. Das gedämpfte Brausen des Rückstoßmotors, das ständige Vibrieren der Wände, hörten ganz plötzlich auf, und zugleich verschwand jedes Gefühl der Schwere. Federleicht schwebten die Männer in der Kabine herum. Kein Zweifel: das Triebwerk arbeitete nicht mehr! Der Kommodore dachte nicht mehr an seine Depesche nach Orion-City. Er stieß sich ab und schnellte sich in den Gang hinaus. Unsanft knallte er mit dem Bord-Ingenieur zusammen, der noch immer auf der Suche nach dem Leitungsschaden war und ein recht betretenes Gesicht machte. „Kommodore, achtern muß irgendwas unklar sein.“ „Ich bewundere Ihren Scharfsinn“, sagte Jim Parker unfreundlich. „Lassen Sie jetzt Ihren Drahtverhau und kommen Sie mit nach hinten.“ Es dauerte immerhin bis zum Abend, bis man den Defekt an der Maschine gefunden und beseitigt hatte. Ein Magnetventil – an einer schwer zugänglichen Stelle der Dampferzeugungsanlage – war aus unerklärlichen Gründen ausgefallen. Zum Glück hatte man genug Ersatzteile an Bord. „Mein Bedarf an diesen seltsamen Pannen ist für den Rest der Reise gedeckt“, sagte der Kommodore zu Fritz Wernicke, als er kurz danach wieder den Führerstand betrat. „Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Fast könnte man meinen …“ „Sabotage?“ warf der Steuermann ein. Der Kommodore kam nicht mehr zum Antworten. Aus dem Mittelteil des Schiffes kam ein lautes Rauschen und Zischen. Ein Luftzug strich durch die Kabine. Auf der Kontrolltafel pendelten die Nadeln der Innenbarometer wie toll. 71
„Ein Leck!“ schrie Jim Parker. „Schotte dicht!“ Mit schlafwandlerischer Sicherheit legte Fritz Wernicke ein paar Schalter auf dem Armaturenbrett um. Rasch schlossen sich die luftdichten Querwände. Alarmklingeln schrillten in allen Räumen. „Achtung, Achtung“, tönte die Stimme des Kommodores aus den Lautsprechern. „Das Schiff ist leck geworden, wahrscheinlich durch Kollision mit einem Meteorstein. Die Räume dürfen vorläufig nicht verlassen werden. Karsten – legen Sie den Schutzanzug an und kommen Sie in den Führerstand. Wir wollen den Schaden suchen.“ „Ich hab’ ihn schon, Kommodore“, rief der Ingenieur atemlos, als er in den Führerstand geschlüpft war und das Visier seines Taucherhelms geöffnet hatte. „Kommen Sie – Sie werden es nicht glauben.“ Jim Parker, ebenfalls im luftdichten Weltraumpanzer, folgte dem Gefährten durch den Mittelgang: Vor der Luftschleuse blieb Niels Karsten stehen. Außen- und Innen-türen der Schleuse standen sperrangelweit offen. Die Leere des Weltalls gähnte den Männern entgegen. „Damned!“ entfuhr es Jim Parker. „Allmählich wird es mir zu bunt. Das ist schon etwas mehr als grober Unfug.“ „Wenn ich den Schuft erwische“, knurrte Karsten und blickte vielsagend auf seine mächtigen, dickbehandschuhten Seemannsfäuste. Dann schloß er die 72
Schleusentüren. Der Kommodore wartete, bis der normale Luftdruck in den Räumen des Schiffes wieder erreicht war, und hob dann den Alarm auf. * Eine beklommene Stimmung lag auf den Gefährten, die sich auch an diesem Abend – bis auf zwei – im Gemeinschaftsraum versammelt hatten. Fritz Wernicke tat Dienst im Führerstand, während der Funker Winter die Wache im Maschinenraum übernommen hatte. „Es hätte uns alle leicht das Leben kosten können, als heute mittag die Lufterneuerung ausfiel“, sagte Doktor Leonhard ernst. „Wir waren drauf und dran, vor Sauerstoffmangel bewußtlos zu werden – und erwacht wären wir dann im Jenseits.“ „Solch ein Erstickungstod ist unter Umständen eine ganz scheußliche Sache“, sagte Jim Parker gedankenverloren. „Ich hatte da vor langen Jahren, als junger Anfänger in der Raumfahrt, mal ein Erlebnis, das mir fast die Lust an der Sache für immer genommen hätte.“ „Das müssen Sie uns erzählen, Kommodore“, bat Jane. „Kommen dabei etwa auch Gespenster vor?“ „Ich weiß nicht, ob man dabei von Gespenstern sprechen kann“, lächelte Jim Parker müde. „Jedenfalls ging es unheimlich genug zu. Und deshalb will ich lieber ein andermal davon berichten. Ich glaube nämlich, heute haben wir schon genug an Unerklärlichem erlebt.“ „Keine Ausflüchte, Kommodore!“ rief Doktor Leonhard protestierend. „Wer A sagt, muß bekanntlich auch B sagen. Und vielleicht bringt uns gerade diese Geschichte, die Ihnen offenbar sehr nahe gegangen ist, auf andere Gedanken.“ Auch Doktor Barringer und Niels Karsten pflichteten dem Schiffsarzt lebhaft bei, und schließlich erklärte sich der Kom73
modore bereit. Er zündete sich noch eine frische „Maza Blend“ an, stieß den Rauch weit von sich und begann: Der Untergang des „Golden Star“ Zu der Zeit, da ich als junger Ingenieur in die Dienste des Staatlichen Atom-Territoriums trat, begann man in Orion-City gerade mit den ersten größeren Vorstößen bemannter Raketenschiffe in den Weltraum. Gewiß – die Weltraumfahrt war damals längst zu einem Begriff geworden, aber letzten Endes beherrschte man sie doch nur in der Theorie, und außer ein paar Umschwebungen des Mondes durch bemannte, automatische Stufenraketen hatte sich praktisch noch nicht allzu viel getan. Der ‚Golden Star’ war eins der ersten Schiffe, die für eine größere Besatzung bestimmt waren – eine plump wirkende, vierstufige Rakete, mit Alkohol und flüssigem Sauerstoff als Treibstoffen. Ich hatte den Posten des Bordingenieurs. Außer dem Kapitän, einem Mister Grey, und mir befanden sich noch weitere vier Mann an Bord: ein Funker, zwei Maschinisten und ein Kameramann namens Britton. An einem klaren Junimorgen bekamen wir Order, mit unserem Schiff einen Vorstoß in 35 900 Kilometer Höhe zu unternehmen und dort in eine Kreisbahn um die Erde überzugehen.“ „Aha, ich verstehe“, rief der Astronom. „Mit diesem Erdabstand hat es nämlich eine bestimmte Bewandtnis. Ein Raumschiff, das die Erde in dieser Entfernung mit 3,08 Kilometer Sekundengeschwindigkeit umkreist, braucht zu einem vollen Umlauf gerade 24 Stunden. Mit anderen Worten: Es stände in diesem Fall ununterbrochen über ein und demselben Ort der Erdoberfläche.“ „Sehr richtig“, nickte Jim Parker. „Wir sollten über einer größeren Stadt des Mittelwestens vor Anker gehen, und Mister Britton sollte im Auftrag irgend eines spleenigen Filmunter74
nehmens seinen Streifen kurbeln. ‚Großstadt zwischen Morgen und Abend’, oder so ähnlich, sollte der Quatsch heißen. Start, Aufstieg und Einlenkmanöver gelangen überraschend gut und reibungslos. Bald lag der amerikanische Kontinent in der Tiefe unter uns. Weit dehnte sich das Rund der Erdkugel mit seinen Ländern, Meeren und Wolkenmassen. Wir korrigierten unsere Bahn mit einigen Brems- und Richtungsschüssen aus den Raketendüsen und legten uns dann beruhigt auf die faule Haut. In der Dämmerung des nächsten Morgens fuhr Mister Britton seine Fernaufnahmegeräte aus und begann seinen Film zu drehen, von dessen Publikumswirkung ich mir – offen gestanden – nicht viel versprach. Aber der eifrige Kameramann widmete sich seiner Aufgabe mit rührender Begeisterung und blickte mit Stolz auf die Ausbeute dieses Tages, als die Schatten der Dämmerung die Erde unter uns einhüllten. Wir hätten jetzt planmäßig zur Erde zurückkehren sollen, aber Kapitän Grey hatte wohl Bedenken, das Landungsmanöver bei Dunkelheit durchzuführen, und verschob es auf den kommenden Tag. Der Entschluß des Kapitäns bereitete mir Sorge. Ich wußte nur zu gut, daß unsere Vorräte an Proviant, Wasser und vor allem an Atemluft, knapp bemessen waren, und wurde deshalb bei meinem Vorgesetzten vorstellig. Doch der Alte grunzte nur verstimmt und schickte mich in meine Hängematte. Dieser Aufschub der Rückkehr sollte die verhängnisvollsten Folgen nach sich ziehen … * Mitten im Satz brach der Erzähler ab und schaute erstaunt zur Decke. Auch die anderen hatten es deutlich vernommen: Über die Außenhaut des Schiffes huschte ein unheimliches Schaben und Kratzen. 75
„Mir scheint, der ‚leere’ Weltraum ist gar nicht so leer, wie wir es auf der Schulbank zu lernen gewohnt sind“, sagte Doktor Leonhard bedeutungsvoll. „Vermutlich meteorischer Staub“, meinte der Astronom. Jane sagte nichts; aber ihre Rechte schlich sich schutzsuchend in die mächtige Pranke Niels Karstens, der schweigend neben ihr saß und seine Pfeife rauchte. Der Kommodore langte zum Hörer des Bordtelephons und rief den Führerstand an. „Hallo, Fritz – was war das eben?“ „Habe es auch gehört, Jim, kann mir aber keinen Reim darauf machen. Soll ich mal aussteigen und, nachsehen?“ „Bleib auf deinem Platz und rühre dich nicht aus dem Führerraum, bis du abgelöst wirst. Und fahre die Radartaster aus. Falls wir in einen Meteorschwarm hineingeraten sind, müßten die Peilgeräte ihn anzeigen. So long.“ Das Kratzen war wieder verstummt. Der Kommodore lauschte noch einen Augenblick in das Schweigen hinein, das nur vom fernen Summen des Triebwerks erfüllt war. Schließlich nahm er einen Schluck aus dem Punschglas, das Jane ihm neu gefüllt hatte, und fuhr fort: „Der nächste Morgen – es war am Freitag, dem 13. Juni – brachte uns eine böse Überraschung. Bei Wiederaufnahme der Fahrt geriet das Schiff aus unerklärlichen Gründen aus dem Kurs. Es gehorchte der Steuerung nicht mehr. Fluchend schaltete Kapitän Grey ab und befahl mir, mit meinen beiden Maschinisten den Fehler zu Buchen. Gewissenhaft überprüften wir die ganze Steueranlage, von der Spitze bis zum Heck. Vergeblich! Wir stiegen in die drei einzigen Raumtaucheranzüge, die der ‚Golden Star’ an Bord hatte, schleusten uns aus und krochen in die große Heckdüse, die sich wie der Eingang zur Hölle vor uns auftat. Die Lichtkegel unserer Stabscheinwerfer tasteten die Stahlruder ab. Endlich – eines der vier Ruder war in der Hitze verschmort. So schnell wir konnten, montierten wir das Ruder 76
ab. Einer der Maschinisten wurde zurückgeschickt, um die nötigen Ersatzteile zu holen. Der Mann kam nicht wieder. Die Minuten tropften dahin – und der Sauerstoff wurde knapp und immer knapper in unseren Taucherhelmen. Beunruhigt gab ich das Zeichen zur Rückkehr. Als wir die Außentür der Schleusenkammer erreichten, bemerkte ich mit Entsetzen, daß sie nicht fest verschlossen war. Durch einen winzigen Spalt dampfte die unersetzbare Luft heraus und verlor sich in der Leere des Raumes. Die Tür klemmte. Verzweifelt mühten wir uns ab, den Spalt zu erweitern. Nur millimeterweise rückte sie zur Seite. Kostbare Zeit ging verloren, ehe wir uns mit letzter Kraft hindurchzwängen konnten. Drinnen taumelten wir durch die kleine Kammer, eilten durch die weit offene Innentür und schoben sie zu. Eine unheimliche Stille empfing uns. Vermutlich war die Besatzung dem Luftmangel zum Opfer gefallen. Ein Blick auf das Wandbarometer belehrte mich, daß der Luftdruck weit unter das Minimum des für Menschen Erträglichen gefallen war. Mein Begleiter öffnete seinen Taucherhelm und sank im nächsten Augenblick mit einem gurgelnden Laut in Ohnmacht. Ich hatte keine Zeit, mich um ihn zu kümmern. Da drüben – der kleine, rote Kasten an der Wand! Ein Stoß mit dem Ellbogen in die Schutzscheibe – den Hebel hochgedrückt … Die Reserveluft entströmte den Düsen. Aber sie reichte bei weitem nicht aus, um den gewaltigen Luftverlust des Schiffes auszugleichen. Ich packte die leblose Gestalt des Maschinisten und zerrte sie hinter mir her in den Führerraum. Ein furchtbares Bild erwartete mich: Der Kapitän war über dem Steuerknüppel zusammengesunken und gab kein Lebenszeichen von sich. Die drei anderen Besatzungsmitglieder schwebten leblos in der Schwerelosigkeit des Raumes. Der Sauerstoffmangel hatte ihrem Leben ein Ende gemacht. 77
Plötzlich fühlte ich, wie mir die Sinne schwanden. Ich konnte noch das Visier des Taucherhelms aufreißen – und dann wurde es dunkel ringsum … Ich lag in endlosem Dämmerzustand – zwischen Wachsein und Traum. Die Tage gingen dahin. Ich hatte eine Taste vor mir – wie mochte sie nur hierher, in den Führerstand, gekommen sein? – und morste vom Morgen bis zum Abend SOS. Oder ich spürte den Steuerknüppel zwischen den Händen und lenkte den ‚Golden Star’ der rettenden Erde zu. Vor mir im Blickfeld ein Landeplatz – mit farbigen Markierungszeichen! Doch plötzlich entglitt mir das Steuer. Und es wurde Nacht … In der Nacht kam unheimliches Leben in meine toten Gefährten. Der Kapitän ließ den Raketenmotor aufheulen und griff mit wildem Blick in die Steuerung. Schwankend raste das Schiff die Strecke wieder zurück, die ich bei Tage mühsam erdenwärts gesteuert hatte. Der Funker hämmerte irre Morsezeichen. Mit schweren Schraubenschlüsseln schlugen die Maschinisten die Geräte und Armaturen in Trümmer, während Mister Britton die schauerliche Szene lächelnd filmte. Ich wollte schreien, mich dazwischenwerfen. Aber die Kehle war mir wie zugeschnürt, und ich war unfähig, mich zu rühren … Und so wechselten Tag und Nacht, Nacht und Tag. Als ich schließlich erwachte, lag ich in einem Bett im Krankenhaus von Orion-City. Arzte und Schwestern pflegten mich mit großer Sorgfalt und waren bemüht, jede Aufregung von mir fernzuhalten. Meine gesunde Natur überwand bald die Krise, und ich war geneigt, das ganze Erlebnis für einen bösen Traum zu halten …“ „… was ohne Zweifel auch zutraf, warf Doktor Leonhard ein. Der Kommodore lächelte und hob die Schultern, „Wer kann das wissen, Doc? Ich erfuhr später, daß ein Hilfsschiff des S.A.T. den ‚Golden Star’ nach Tagen angelaufen und mich als einzigen Überlebenden geborgen hätte. Das Unglücksschiff 78
selbst mußte an Ort und Stelle gesprengt werden, da es zu schwer havariert war, um zur Erde zurückzukehren. Vollends betroffen war ich jedoch, als ich mich nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus bei Cunndngham zurückmeldete und – im Verlauf meines Berichts – auch von dem unheimlichen Erlebnis der letzten Tage an Bord erzählte. Denn da stellte es sich heraus, daß man tatsächlich unablässig Morsezeichen vom ‚Golden Star’ aufgefangen hätte – tagsüber in Form des internationalen Notrufs, nachts jedoch als undefinierbares Durcheinander.“ „Und der Grund für die völlige Manövrierunfähigkeit des Schiffes?“ fragte Niels Karsten interessiert „Er lag darin, daß sämtliche Geräte und Armaturen mit brutaler Gewalt zertrümmert waren“, erwiderte der Kommodore ernst „In den Händen der toten Maschinisten jedoch fand man schwere Schraubenschlüssel …“ * „Ein scheußliches Erlebnis“, murmelte Doktor Leonhard und schüttelte sich. „Das berühmte Märchen vom ‚Gespensterschiff’, im Zeitalter der modernen Technik zur Wirklichkeit erwacht Ein Wunder, daß Sie die Raumfahrt nicht an den Nagel hängten und für ihr weiteres Leben unter die Schrebergärtner und Bienenzüchter gingen.“ „Wie gesagt“, lächelte der Kommodore, „ich hatte eine robuste Natur. Und – weiß Gott – ich bereue es nicht, daß ich mein Leben der Raumfahrt verschrieben habe.“ Bewundernd ließ Jane ihren Blick auf dem Antlitz des großen Sternenfahrers ruhen, das jetzt in echter Begeisterung strahlte. Langsam wandte sie die Augen zum Fenster, durch das die ewigen Gestirne leuchteten, die dieser Mann zu seinen Zielen erkoren hatte. Und da … 79
Ein markerschütternder Entsetzensschrei aus Janes Mund zerriß die Stillle. Besorgt beugte Niels Karsten sich über sie. Die Blicke der anderen folgten der Richtung ihrer zitternden Hand …, Vor dem Rundfenster schwebte eine Gestalt – eigentlich war es nur ein nebelhafter Schemen, durch den die Sterne des Himmelshintergrundes hindurchleuchteten. Aber dieser Schemen hatte unverkennbar menschliche Formen: ein Mann im Raumtaucheranzug mußte es sein, in einem Anzug, wie sie hier, an Bord der „Schiaparelli“, nicht gebräuchlich waren. Nur auf der Außenstation hatte man noch diesen Typ. Die nebelhafte Gestalt wurde ein wenig deutlicher. Sie preßte den dicken Taucherhelm gegen die Fensterscheibe und glotzte herein. „Ein Geist – ein Gespenst …“ stammelte Jane und sank in Ohnmacht. Niels Karsten fing sie hilfreich auf. Der Kommodore schien Janes Ansicht nicht zu teilen. „Endlich haben wir den Schuft“, schrie er kampfeslustig. „Los, Kameraden, holt eure Schutzanzüge! Karsten – als Wache vor die Schleusenkammer! Alarm!“ Wieder schrillten die Glocken durch das Schiff. Die Männer stürzten davon, um dem Befehl des Kommodore nachzukommen. Als Niels Karsten endlich vor der Schleuse erschien – er hatte sich Janes wegen um einige Sekunden verspätet –, sah er gerade noch, wie die Innentür von unsichtbarer Hand aufgeschoben wurde. Ein Schatten huschte in Richtung nach dem Heck davon. „Haltet den Kerl!“ brüllte der Bordingenieur und stürmte der Erscheinung nach. Von vorn her kamen Schritte herbeigetrampelt – der Kommodore hetzte heran, in seinem Kielwasser der Schiffsarzt und der Astronom. Geert Winter, der gerade den Eingang zum Maschinenraum zusperren wollte, bekam einen Schlag auf den Kopf und stürzte zu Boden. Über ihn hinweg stampfte der fliehende Spuk. „Hier80
her!“ schrie der Funker. „Hier ist der Kerl im Maschinenraum!“ Ein toller Wirbel erfüllte den sonst so sachlich-nüchternen Raum. Die fünf Männer – Fritz Wernicke war im Führerstand geblieben – krochen überall herum und suchten alles ab. Doch der Flüchtling schien sich in Gas aufgelöst zu haben. „Da hinten – in der Ecke!“ Geert Winter sprang mit augestreckten Armen auf einen Schatten zu, der sich zwischen den verschlungenen Rohrleitungen der Dampferzeugungsanlage verborgen hielt. Als die Männer auf die bezeichnete Stelle zueilten, kam Bewegung in den Schatten. Plötzlich krachten Schüsse. Der Kommodore duckte sich. Ein metallischer Laut – eine Kugel mußte seinen Taucherhelm gestreift haben. Schüsse im Raumschiff! Das war so ungefähr der Gipfelpunkt des Verbotenen. Hier, wo jede kleine Verletzung der Schiffswand zu Luftverlusten führen und die ganze Besatzung in Lebensgefahr bringen mußte … Die Wirkung der wilden Knallerei ließ auch nicht lange auf sich warten. Die Männer waren blitzschnell auseinandergestoben und in Deckung gegangen. Und der unsichtbare Schütze feuerte, wohin er gerade traf. Durch die zersiebte Außenwand entwich die Luft mit schrillem Pfeifen. Auch das dicke Rohr der Wasserstoff-Hauptleitung war schon getroffen. Aus den Einschußöffnungen spritzte das nasse Element und vergaste sofort. Da – jetzt hatte ein Schuß, der wohl dem Bordfunker gegolten hatte, ein Ventil der Dampfanlage zerstört. Mit schrillem Zischen strömte der hochgespannte Dampf aus und erfüllte den Maschinenraum. Aber auch der Funker schien getroffen zu sein. Zusammengekrümmt preßte er die Hände auf ein winziges Loch in der linken Seite seiner Taucherrüstung 81
Der Kommodore erkannte die Gefahr. Seine Befehle überschlugen sich fast: „Schnell, Leute – raus hier! Zurück in den Mittelgang! Nehmt Winter mit – ich decke euch den Rückzug.“ Polternd strebten die Männer in den plumpen Weltraumkombinationen dem Ausgang zu. Der Kommodore richtete den Atombrenner auf die Stelle, wo der geheimnisvolle Schatten hockte. Aber ein Streifschuß riß ihm den Stoff des Schutzanzuges auf. Für Jim Parker wurde es höchste Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Schon wurde die Atemluft im Maschinenraum bedrohlich dünn. Er sprang zurück und schlug die Tür hinter sich zu. Im nächsten Augenblick hob er den Hörer des Wandtelefons ab. „Hallo, Fritz! Dampfanlage und H2-Tank sind leck geworden. Sofort Triebwerk abschalten, sonst geht der ganze Kasten mit uns hoch.“ Dann ließ der Kommodore weitere Atombrenner herbeischaffen und postierte seine kleine Streitmacht im Hauptgang. Die Männer behielten die Tür zum Maschinenraum scharf im Auge. „Lange wird er es darin nicht mehr aushalten“, lachte Jim Parker grimmig. * Auf der Außenstation „Luna nova“ nahm der Dienst seinen gewohnten Gang, seit der „Schiaparelli“ zum Mars gestartet war. Es hatte sich nichts Außergewöhnliches mehr zugetragen, und Henri Lasalle, der Stationskommandant, nahm es erleichtert zur Kenntnis, daß die gespenstigen Vorgänge der letzten Wochen ebenso plötzlich geendet, wie sie vor einiger Zeit begonnen hatten. Täglich trafen die Funkmeldungen von Bord des „Schiapa82
relli“ ein. Sie brachten Kunde vom Verlauf der MarsExpedition und berichteten auch von kleineren Zwischenfällen, die nicht ganz geklärt werden konnten. Doch jede dieser Meldungen endete mit dem beruhigenden Satz: „An Bord alles wohl“ So kam es. daß der wackere Henri Lasalle aus allen Wolken fiel, als er eines Nachts aus dem Schlaf gerüttelt wurde, und ein verstörter Funker ihm meldete: „Raumschiff ‚Schiaparelli’ funkt SOS, Sir. Das Schiff ist manövrierunfähig und erbittet dringend Entsendung eines Hilfsfahrzeuges, da es mit eigenen Mitteln nicht mehr klarkommen kann. Kommodore Parker ersucht Sie um unverzügliche Unterstützung. Hier ist genaue Position des ‚Schiaparelli’ …“ Monsieur Lasalle war bereits aus den Federn und stürzte zur Befehlszentrale. Unterwegs überlegte er fieberhaft: Man müßte eines von den großen, leistungsfähigen Raumschiffen der Mondflotte nehmen. Wenn man alle Frachträume mit Reservetreibstoffen füllen würde, könnte es vielleicht gelingen, Jim Parkers Marsschiff einzuholen. Aber die Mondschiffe waren samt und sonders unterwegs. Das nächste war nicht vor 15 Stunden zurückzuerwarten. So lange konnte man nicht zögern. Doch halt – war da nicht der „Hermes“ gemeldet, das große Venus-Passagierschiff, das mit einer ganzen Ladung von heimkehrenden Venussiedlern im Anflug war? Klar, das war die Lösung! Kaum war Lasalle mit seinen Überlegungen so weit gediehen, als ein Anruf aus der Funkstation ihm das Eintreffen des „Hermes“ meldete. „Moment mal“, rief er. „Ich komme gleich rüber.“ Sekunden später hatte Henri Lasalle in der Funkstation Sprechverbindung mit dem „Hermes“. Kapitän Holmes, der junge Schiffsführer, war von der ihm zugedachten Sonderaufgabe ehrlich entzückt. 83
„Haben Sie ausreichend Treibstoff an Bord?“ erkundigte sich Lasalle besorgt. „Wenn ich nicht bis zum Mars fliegen muß, werde ich schon auskommen.“ „Gut, Holmes, dann halten Sie sich nicht erst lange mit dem Ausladen Ihrer Passagiere auf. Nehmen Sie die ganze Bande mit und hauen Sie ab. Wir nehmen Sie von hier aus in Fernsteuerung. Viel Glück – und Hals- und Beinbruch!“ * Die Passagiere des „Hermes“, die eine monatelange Raumreise hinter sich hatten, waren nicht sonderlich entzückt, als ihr Schiffsführer angesichts der nahen Erde unvermittelt wieder Fahrt aufnahm und mit tosenden Motoren in den leeren Raum davondonnerte. Aber der junge Kapitän verstand es, ihren Unmut in gespannte Erregung zu verwandeln. „Ladies and Gentlemen, wir müssen diesen kleinen Umweg machen, um bedrängten Mitmenschen Hilfe zu bringen. Das Raumschiff ‚Schiaparelli’ befindet sich in Gefahr. Sieben Menschen sind an Bord, unter ihnen Kommodore Parker.“ Von nun an verfolgten die Passagiere das Abenteuer mit atemloser Spannung und lauerten ungeduldig auf die mageren Meldungen, die der Bordfunker vom „Schiaparelli“ empfing. Indessen gelang es schneller als erwartet, den großen Vorsprung des havarierten Schiffes einzuholen. Der „Schiaparelli“ hatte einige starke Bremsschüsse entgegen der Fahrtrichtung abgeben können und war dadurch fast zum Stillstand gekommen. Es war am Abend des sechsten Tages seit dem Aufbruch des Hilfsschiffes von „Luna nova“, als der „Hermes“ am Wrack des „Schiaparelli“ längsseits ging. Die Alarmklingeln riefen die Besatzung auf der Statioa „Klar zum Rettungsmanöver!“ kommandierte Kapitän Holmes. 84
* „Achtung – er kommt“, flüsterte Jim Parker seinen Gefährten zu und deutete vorsichtig auf die Tür des Maschinenraums, die sich wie von Geisterhand geräuschlos öffnete. Ein Schatten trat unhörbar heraus. Rasch schloß er die Tür und zog, kaum wahrnehmbar, ein rundes Gehäuse hervor, an dem er unruhig herumfingerte. Der Kommodore hob den Atombrenner, zielte auf den winzigen Apparat, der kaum größer schien als eine Taschenuhr, und drückte auf den Auslöser. Ein grünlicher Strahl zischte aus der Mündung. Das Gehäuse in den Händen des Schattens glühte auf – und in diesem Augenblick stand dort, wo eben noch ein verwaschener Schemen gegeistert hatte, in voller Schärfe und Klarheit – ein Mensch! „Doktor Finlay!“ rief der Schiffsarzt ungläubig. „Fast hatte ich’s erwartet“, knurrte Jim Parker böse. „Hands up, großer Meister, und keine Dummheiten mehr gemacht! Schätze, Ihre Rolle als Bordgespenst ist ausgespielt“ In diesem Augenblick geschah etwas Unerwartetes: Die vier Männer, die drohend ihre Atomwaffen auf den ertappten Eindringling richteten, verloren plötzlich den Boden unter den Füßen und schwebten zappelnd in der Luft herum. Fritz Wernicke hatte befehlsgemäß den Rückstoßmotor ausgeschaltet und damit den Zustand der Schwebefreiheit hergestellt. Der Gegner ergriff seine Chance. Mit gewaltigem Hechtsprung schnellte er sich vor, eilte durch den Hauptgang nach vorn und – prallte mit Jane zusammen, die gerade aus der Kombüse kam. Hinter ihm hetzten bereits die Verfolger heran. Da umspannte Finlays Linke roh den Hals des jungen Mädchens, wie einen 85
Kugelfang hielt er Jane an sich gepreßt, als er sich jetzt umdreht, um die Anstürmenden mit der Pistole in Schach zu halten. Doch Niels Karsten stürzte vor, ungeachtet der drohenden Pistolenmündung. Jetzt, da es um Janes Leben ging, kannte er keine Gnade – am wenigsten gegen sich selbst Ein Schuß krachte – brennend heiß streifte irgend etwas Karstens Backe – er achtete nicht darauf. Finlay ließ Jane los, die in die Arme des Schiffsarztes taumelte. Wieder hob er die Waffe … … und brach im Feuer eines Atombrenners zusammen, das ihm grün und bösartig entgegenstrahlte. * Bald halte es sich herausgestellt, daß die Beschädigungen am Triebwerk des „Schia-parelli“ mit den an Bord befindlichen Hilfsmitteln nicht behoben werden konnten. Zu viele Ersatzteile wurden gebraucht, zu viel Treibstoff war verlorengegangen. Schweren Herzens entschloß sich der Kommodore, die Erkundungsfahrt zum Mars abzubrechen. Eine Serie von Bremsschüssen stoppte die Fahrtgeschwindigkeit des Schiffes. Inzwischen nahm der Bordfunker Verbindung mit „Luna nova“ auf und bat um Entsendung eines Hilfsschiffes. Sechs Tage gingen noch dahin, bis sich der groteske Rumpf des „Hermes“ an dem manövrierunfähigen Schiff vorbeischob. Die Übernahme der kleinen Besatzung, bis ins einzelne vorbereitet, ging rasch und reibungslos vonstatten. Zwei Mann aus der Besatzung des Hilfsschiffes übernahmen die Wache im Führerstand des „Schiaparelli“, der durch ein langes Schleppseil mit dem „Hermes“ verbunden wurde. Die Heimreise nach „Luna nova“ begann … „Ich möchte nur wissen“, sagte Kapitän Holmes, als man 86
wenig später in der Messe des „Hermes“ zusammensaß und der Erzählung des Kommodores lauschte, „was dieser unheimliche Doktor Finlay überhaupt an Bord Ihres Schiffes gesucht hat.“ „Für diese Frage gibt es wohl nur eine plausible Erklärung“, meinte Jim Parker sinnend. „Sie werden sich vielleicht daran erinnern, daß es Finlay damals gelang, mit einer kleinen, veralteten Rakete vom Mond zu fliehen. * Es glückte ihm, in die Nähe der Außenstation zu kommen, wo er ausstieg und sich eine Zeitlang versteckt hielt. Endlich glaubte er, eine Gelegenheit entdeckt zu haben, um zur Erde weiterzufahren. Es war sein persönliches Pech, daß er ausgerechnet den „Schiaparelli“ erwischen mußte. Als er erkannte, daß die Fahrt in die Fernen des Raumes ging, versuchte er alles, um uns zur Rückkehr zur Erde zu zwingen.“ „Wobei ihm seine Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, bestens zu Hilfe kam“, warf Fritz Wernicke ein. „Konnte er das wirklich?“ fragte Holmes zweifelnd. „Allerdings“, gab der Kommodore zu. „Dank einem kleinen von Ben Shelly erfundenen Apparat, den er bei sich trug. Wir hatten damals geglaubt, Shelly hätte sein Geheimnis mit ins Grab genommen, aber das war ein Irrtum. Erst mein Atombrenner machte dieser Erfindung, die leider in unrechte Hände geraten war, endgültig den Garaus.“ Eine Weile ging jeder seinen eigenen Gedanken nach. Plötzlich sagte Fritz Wernicke: „Sie sind uns noch eine Geschichte schuldig, Karsten: das Erlebnis mit dem Klabautermann vor Kap Horn.“ „Um Himmelswillen!“ rief Jane entsetzt und rannte zur Tür. „Mein Bedarf an Gespenstern – ganz gleich, ob im Weltraum oder auf Erden – ist für die nächsten fünfzig Jahre gedeckt.“ „Du bekommst die Geschichte eines Tages doch noch zu hö*
siehe UTOPIA, 23. Band: „Das Sanatorium des Teufels“
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ren“, lachte Niels Karsten hinter ihr her. „Schließlich haben wir ja ein ganzes Leben lang Zeit dafür.“ „Ach, so steht es mit euch“, schmunzelte Fritz Wernicke. „Na, ich habe es mir schon lange gedacht; denn ‚was sich liebt, das neckt sich.’ Auf, Kameraden, stoßt an: Auf das Wohl des jungen Paares! Mögen nur gute Geister seinen kommenden Lebensweg begleiten!“ – Ende –
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Sie fragen – UTOPIA antwortet UTOPIA-BRIEFKASTEN Liebe UTOPIA-Freunde! „Phänomen Technik“! Dieses Thema hatten wir in unserem letzten Briefkasten angeschnitten. Nach dem Sinn (oder dem Unsinn) der Technik wird heute oft gefragt, und wir können uns dieser Frage und diesen Zweifeln nicht verschließen. Wir wollen versuchen, eine allgemeine Diskussion in Gang zu bringen. Mehr im nächsten Band an dieser Stelle * Heute beantworten wir folgende Leserzuschriften (wieder nur einige von vielen, und wir müssen wieder um Geduld bitten.) H. B. aus Kiel teilt mit, er habe des öfteren gelesen, daß es in den USA Gesellschaften geben solle, die bereits jetzt Fahrkarten für Weltraumfahrten verkaufen (ähnlich wie in Heft 3 unserer Serie). Unsere Antwort: Stimmt! Es handelt sich um das Hayden Planetarium in New York 24, Central Park West at 79th Street. Gibt Platzkarten für Raumfahrten aus, die ab 1975 beginnen sollen. Bezweckt wird lediglich, auf diese echt amerikanische Art Propaganda für die Raumfahrtidee zu machen. Werner M. aus Siegburg b. Köln baut mit seinen beiden Freunden Manfred L. und Hans-Andre P. Modellraketen, die aber nicht recht funktionieren. So etwas macht natürlich keine Freu89
de, besonders, wenn man sich so ernsthaft mit der Raketentechnik zu beschäftigen scheint, wie dieses Dreigespann. Unser Rat: Fragt einmal bei der „Gesellschaft für Weltraumforschung e.V.“, Stuttgart-W, Reinsburgstr. 54, an, ob es Bauanleitungen usw. gibt. Baldigen Erfolg! Peter G. aus Berlin N 65. 1. Warum können die Erdbewohner nicht fühlen, daß sie am Südpol den Kopf unten haben und mit ihren Beinen oben stehen? Unsere Antwort: Für den Erdbewohner ist stets dort UNTEN, wohin ihn die Erdanziehung zieht, d. h. in Richtung zum Erdmittelpunkt. Wo sich der Mensch dabei auf der Erdkugel befindet, ist völlig gleich. Was für uns aufrecht ist, bedeutet für den Bewohner der Südhalbkugel „auf dem Kopf stehend“, und umgekehrt. 2. Wenn sich auf der Erde irgendwo ein runder Gegenstand befindet, und darauf steht ein Mensch, so steht er wohl richtig, aber könnte er auf der gegenüberliegenden Seite stehen, so würde er es nicht lange aushalten, denn er steht verkehrt mit den Beinen nach oben. Hat dieser Zweck denselben Vorteil im Weltraum bei einer Rakete? Unsere Antwort: Die Frage ist nicht ganz klar. Für das antriebslose Raumschiff im leeren Raum ist es gleichgültig, ob die Passagiere mit dem Kopf nach „oben“ oder „unten“ schweben, da Schwerelosigkeit herrscht 3. Wenn sich eine Rakete im Weltraum in der Erdnähe befindet und der Erde naht, so sieht man das Land, auf dem sie landen will, im Weltraum von der Seite Wie verändert sich das Land aus dem Weltenraum bis zur Landung der Rakete? Unsere Antwort: Das Land wird zunächst wohl nur größer. Ein Gefühl für Oben und Unten entsteht erst, wenn die Rakete in Richtung zur Erde Bremsschüsse abgibt, also das Bremsmanöver beginnt. 90
Herta G. aus Berlin N 65. 1. Von der Erde bis in den Weltraum fliegt ein Raumschiff hoch, aber fliegt es im Weltraum weiter hoch oder immer seitlich wie ein Flugzeug? Unsere Antwort: Im schwerefreien Raum verlieren Begriffe, wie Oben, Unten, Seitlich usw., ihre gewohnte Bedeutung. Ein Raumschiff fliegt nur vom Erdboden aus gesehen „hoch“, in Wirklichkeit fliegt es „von der Erde fort“. Nur im Raumschiff, das mit Antrieb fährt, können wir von „Oben“ und „Unten“ sprechen, wobei „Unten“ stets die Richtung ist, in der der Gasstrahl des Raketenantriebes ausströmt. Sobald das Triebwerk abgeschaltet ist, herrscht Schwerelosigkeit im Schiff. 2. Um wievielmal würde die Erde vom Mond größer erscheinen, als wir den Mond von der Erde sehen? Unsere Antwort: Die Erde erscheint vom Mond aus dreieinhalb mal größer als der Mond von der Erde aus. Sie erreichen uns über den Pabel-Verlag, Rastatt/Baden, (UTOPIA-Briefkasten). Freundliche Grüße! Ihre UTOPIA-Schriftleitung
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Lesen Sie im nächsten (25.) UTOPIA-Band: Auf dem Planeten Venus leben die ersten Pioniere, Männer und Frauen aus allen Ländern der Erde, im zähen Kampf mit den Gewalten einer feindlichen Umwelt, um die Wildnis in fruchtbares Siedlungsland zu verwandeln. Da bricht, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, eine unfaßbare Bedrohung über sie herein. Unheimliche Dinge geschehen und bringen die Siedler an den Rand einer Panik. Sind es Lebewesen – Menschen von unbekannten Planeten –, welche die irdischen Kolonisten von dem fremden Boden vertreiben wollen? Gemeinsam mit seinem treuen Gefährten Fritz Wernlcke macht sich Kommodore Parker auf, um das Rätsel zu lösen und die unbekannte Gefahr zu bannen. Sollten Sie die vorhergehenden UTOPIA-Bände 1 bis 23 bei Ihrem Zeitschriftenhändler nicht mehr erhalten, dann wenden Sie sich bitte direkt an den Verlag Erich Pabel, Rastatt (Baden). Senden Sie dabei den Geldbetrag (je Band 50 Pfg.) auf das Postscheckkonto Karlsruhe 224 46 ein. Aber hierbei nicht vergessen, die gewünschten Nummern auf der Rückseite des linken Zahlkartenabschnittes an-zugeben. Auch können Sie den Geldbetrag in bar sofort Ihrer Bestellung beifügen. 92
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Leseprobe aus dem neuen UTOPIA-Großband:
Invasion aus dem Weltraum von Kellar DER UNBEKANNTE TOD Die Entscheidung, die Erde sofort zu evakuieren, wurde am 12. Juni 2115, Punkt 11 Uhr, gefällt. Diesen Entschluß zu fassen, war den Verantwortlichen gewiß nicht leicht gefallen; aber es blieb keine andere Möglichkeit. Entweder Evakuierung – oder Tod für alle Menschen. Weltpräsident van Koff gab die Neuigkeit über alle Sender bekannt. Seine Stimme hatte einen dramatischen Unterton und wurde somit dem Ernst der Stunde vollauf gerecht. Er machte kein Hehl daraus, daß die Lage ziemlich hoffnungslos war. Es hatte vor sechs Monaten ganz harmlos begonnen. Ein Arzt in Ostchina – er arbeitete auf einer Außenstation – stellte bei einigen Leuten einen bisher unbekannten Hautausschlag fest. Die Erkrankten gaben an, keine Schmerzen zu verspüren. Untersuchungen ergaben, daß die Haut eine grünliche Färbung annahm. Bei fortschreitendem Stadium bildete sich ein wenig Eiter, der ebenfalls grün war. Jener Arzt machte einen Bericht und leitete ihn an seine vorgesetzte Dienststelle weiter. Mehr konnte er nicht tun. Bei dieser Dienststelle lag bereits ein ähnlicher Bericht aus Delhi vor. 97
Bald schon erhielt der Arzt die Antwort, der Ausschlag sei in der Geschichte der Medizin bisher noch nicht bekannt. Die Haut sei radioaktiv geworden. Diese letzte Feststellung erregte in verschiedenen Kreisen erhebliches Aufsehen, die Öffentlichkeit jedoch blieb uninteressiert. Wahrscheinlich waren die Erkrankten mit radioaktiven Stoffen in Berührung gekommen. Vielleicht hatten Veränderungen im Erdinnern solche Stoffe an die Oberfläche verlagert. Man fand noch andere Erklärungen; aber die Erkrankungsfälle waren ja nur in einigen Orten in Asien zu verzeichnen, so daß man ihnen keine besondere Bedeutung beimaß. Eine Sonderkommission reiste in die betreffenden Gebiete ab: zwei bekannte Geologen, zwei namhafte Mediziner und ein Mineraloge. Die Krankheit wurde „X-Ausschlag“ genannt. Doch dann ereignete sich ein solcher Fall in New York. Eine Frau meldete sich in einem dortigen Krankenhaus und gab an, Schulter, Rücken und Beine zeigten grüne Flecken. Bei genauer Befragung stellte sich heraus, daß sie an einem warmen Tage des Jahres auf dem Dachgarten ihres Hauses ein Sonnenbad genommen hatte. Dabei habe sie auf dem Bauch gelegen, entsann sie sich. Die Ärzte hätten sich nicht soviel Gedanken gemacht, wäre ihnen nicht bekannt gewesen, daß auch in China der grüne Ausschlag nur an solchen Stellen des Körpers aufgetreten war, die der Sonne ausgesetzt worden waren. Man fand keine Erklärung. Die Frau hatte keine Verbindung zu Chinesen und war auch noch nie in China gewesen. Die Theorie der Geologen wurde gegenstandslos. Das konnte nicht mit einer Verschiebung des Erdreiches in China zusammenhängen. Dann fragte eine amerikanische Zeitung:
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„X-Ausschlag bringt Experten in größte Verlegenheit Kommt der Krankheitserreger – aus der Luft???“ Aus der Luft? Nicht wenig Augen waren es damals, die in den Himmel schauten, als suchten sie dort die Antwort auf diese Frage. Bakterien, die durch den Wind übertragen wurden, hatte es schon einmal gegeben. War dies ein ähnlicher Fall? Am nächsten Tag wurden hundert Erkrankungen an XAusschlag aus Paris gemeldet. Jene Menschen hatten morgens im Spiegel ihr fahlgrünes Gesicht erblickt, oder Fremde hatten sie auf der Straße angehalten und darauf aufmerksam gemacht, daß ihr Teint ein wenig sonderbar sei. Was sollte das bedeuten? Was würde als nächstes geschehen? Sie erfuhren es sehr schnell – am anderen Tage schon. Einer der erkrankten Chinesen war über Nacht gestorben! Das Fleisch war zusehends verfallen, und kurz vor seinem Tode hatte er zu rasen begonnen. Kaum hatte man ihn halten können. Insgeheim war sofort eine Abteilung der Weltpolizei nach dort geflogen worden. Sie sperrte das Gebiet ab. Es waren alles ausgesuchte Leute, die unter dem direkten Kommando ihres Chefs, des Captains Roc French, standen. Die Weltpolizei war die einzige militärische Macht der Erde, nachdem vor 30 Jahren alle ähnlichen Einrichtungen verboten worden waren. French saß in seinem Hauptquartier in London vor der Radarkarte. Blaue Flecken zeigten ihm, wo sich seine Streitkräfte befanden, und zwei bewegliche Punkte in der Nähe von Peking und Paris stellten die Raketenschiffe dar, die die Verstärkung nach diesen Orten brachten. Schon hatte sich eine gewisse Panikstimmung unter der Bevölkerung bemerkbar gemacht. Die Menschen schlossen sich in 99
ihre Wohnungen ein und weigerten sich, ihrer Arbeit nachzugehen. Die Krankheitsfälle verdoppelten und vervierfachten sich, der Verbrauch alkoholischer Getränke stieg genau so an wie die Zahl der Selbstmorde. Innerhalb einer Woche waren in Paris 48 Menschen an XAusschlag gestorben. Sämtliche Opfer wurden vor ihrem Tode wahnsinnig. So wurde in Paris eine Krankenschwester aus dem Fenster gestürzt und getötet. In Peking rannten zwei mit Messern bewaffnete Männer durch die Straßen und stachen alles nieder, was ihnen begegnete. Erst die Polizei konnte sie stellen und erschießen. In New York wurden 15 neue Erkrankungsfälle registriert. Ein russischer Arzt meldete den ersten Fall aus Moskau. In London fand man einen Mann von 80 Jahren tot in seinem Bett auf. Sein Gesicht war grün. Stündlich trafen neue Berichte aus allen Teilen der Welt ein. In allen Versuchslaboratorien wurde fieberhaft gearbeitet; aber die Mediziner blieben machtloser, als es im Mittelalter die Ärzte im Kampf gegen die Pest gewesen waren. Es gab einfach kein Heilmittel. Innerhalb einer weiteren Woche war die Zahl der Todesopfer auf 400 gestiegen. French saß da, tief in Gedanken versunken. Seine Blicke ruhten auf dem naturgetreuen Modell der Erdkugel, das mitten im Raum hing. Grüne Flecken kennzeichneten die Orte, wo X-Ausschlag aufgetreten war, blaue dagegen bedeuteten die Polizeikräfte. Schon gewannen die grünen Stellen sichtlich die Oberhand, besonders im Westen. Er drückte auf einen der Knöpfe an der Tischplatte, und auf einer Wandfläche erschien das Bild eines Offiziers. Lebend schien dieser vor ihm zu sitzen – und doch war er mehr als 3000 Meilen entfernt. „Yes, Sir?“ „Kaplan, wie ist die Lage?“ 100
„Die Lage? Schlecht, Captain! 88 neue Fälle, 7 Tote! Zwei Frauen mußten wir erschießen. Sie hatten sich in einem Haus verschanzt und bedrohten alles mit alten Armeestrahlpistolen. Schlimm ist, daß viele Menschen sich nicht mehr melden, weil die Ärzte doch nicht helfen können. Sie bleiben zu Hause, und man weiß dann nie, wann sie mit Amoklaufen anfangen. Wir sitzen wie auf einem Pulverfaß, das jeden Moment in die Luft gehen kann.“ French drückte auf einen anderen Knopf und schaltete um. Eine junge Frau erschien auf der Wandfläche. „Ja – Roc? – Hier sieht es böse aus. Vor einer Stunde war im Südteil der Stadt ein Aufstand. Wir mußten 8 Menschen töten. Ach, wie ich das hasse! Sie waren noch gar nicht krank, nur von einer Panik ergriffen. – Roc, ich weiß nicht, ob ich das hier noch lange aushalte!“ French schob sein Kinn ein wenig vor. „Du mußt! Es ist überall das gleiche. Ich weiß, daß es grausam ist; aber du mußt noch grausamer sein! Wenn eine Massenhysterie ausbricht, sind wir alle verloren. Sei brutal, wenn es sein muß! Lieber heute 100 erschießen, als morgen 1000 abschlachten lassen!“ Sie nickte zögernd, aufmerksam sein Gesicht betrachtend. „Ich will es versuchen. Gibt es sonst etwas Neues?“ „Nein, leider nicht. In wenigen Minuten werde ich mit der Weltregierung Verbindung aufnehmen. Vielleicht erfahre ich da etwas. Wenn es wichtig ist, hörst du bald von mir. Viel Glück jetzt, Vanid!“ „Auf Wiedersehen, Roc; ebenfalls viel Glück!“ Dann erschien ein Negerleutnant auf der Wandfläche. „Schlechte Neuigkeiten, Captain! Gestern 6, heute 2 eigene Verluste. Ungefähr 10 000 Aufständische griffen uns an. Wir haben etliche Hundert erschießen müssen. In allen Städten sind Zusammenrottungen.“ 101
„Seid ihr noch Herren der Lage dort, Sam?“ „Noch, Captain! Aber wir benötigen Verstärkung. Was wird die Regierung unternehmen?“ „Ich werde versuchen, euch noch 12 Mann zu schicken. Das ist alles, was ich im Moment für euch tun kann.“ „Länger als zwei, drei Tage können wir es wohl kaum noch aushalten, Captain. Wir werden aber unsere Pflicht tun.“ French schaltete ab und starrte nachdenklich und mit zusammengezogenen Augenbrauen an die Decke. Das Problem schien unlösbar zu sein. Wenn die Wissenschaftler kein wirksames Mittel gegen den tödlichen XAusschlag fanden oder dessen Ursachen nicht von selbst verschwänden, würde die Polizei gewaltigen Aufständen und Plünderungen bald machtlos gegenüberstehen. Das Verhältnis Polizei zu Kranken war 1 : 100. Die Zahl der hysterischen Panikmacher jedoch ging in die Millionen. Hilflos zuckte French mit den Schultern und drückte einen Knopf. „Karl? Geben Sie mir bitte den Sekretär des Präsidenten. – Ja –? Ah, Jörg! Hier French. Was Neues?“ Die Antwort kam nicht sofort, als aber dann die Worte durch den Äther drangen, waren sie mit einer grauenhaften Ungewißheit belastet. Die Neuigkeit war noch inoffiziell und vorerst geheim. „Ich wollte Sie gerade anrufen, French. Es gibt etwas Neues. Ziemlich böse Sache. Nehmen Sie es bitte auf. Fertig?“ „Fertig; fangen Sie an!“ „Vor zwei Stunden sollte das Raumschiff G 19, vom Merkur kommend, hier landen. Man hatte das Schiff während der ganzen 18-stündigen Fahrt hier im Radarschirm; Funkverbindung auch. Aber auf einmal war es aus, kein Wort mehr. Das Schiff näherte sich der Erde. Vom Boden aus nahmen sie es dann in Fernsteuerung und brachten es vor einer halben Stunde herunter. 102
An der Hülle keine Beschädigungen, Raketen in Ordnung – aber es stieg keiner aus! Man ließ das Flugfeld bis auf einige Techniker und ein paar Polizisten räumen, nahm einen Atombrenner und schweißte eine Öffnung –“ Er machte eine kurze Pause und schien nach Worten zu suchen. „French, es war furchtbar! Na, vielleicht können Sie es sich vorstellen: Alle 20 Mann der Besatzung waren tot. Sie lagen im Kontrollraum, und – glauben Sie es mir – ihr Ende war nicht leicht gewesen. Grünes, zersetztes Fleisch – wahnsinnig müssen sie geworden sein! Stellen Sie sich vor: 20 Wahnsinnige allein in einem Raumschiff!“ Seine Stimme brach ab. Als French sprach, klangen seine Worte nüchtern und sachlich. „Es ist also auch dort draußen, im Weltraum –?“ „Wie gesagt – ich habe noch keine offiziellen Berichte darüber. Aber es wird schon so sein.“ „War der Ausschlag genau so schlimm wie der uns bekannte?“ „Schlimmer! Alles grün, selbst die Haare. Furchtbar!“ French knurrte etwas vor sich hin, seine Gedanken rasten. „Vielen Dank, Jörg! Gehen Sie jetzt bitte aus der Leitung. Ich möchte sofort dringend mit der Astronavigation sprechen.“ Der andere schien jedoch nicht zu hören. „Die Erde ist verloren. Wissen Sie das?“ Seine Worte peitschten wie Schüsse durch Frenchs Zimmer. „Ich sage Ihnen, daß wir alle sterben müssen!“
PLANET IM UNTERGANG Innerhalb weniger Sekunden hatte French die Verbindung unterbrochen und bekam dann den Chef der Astronavigation. Das Büro war in Paris. „Haddon? Hier ist French, London. Haben Sie einen guten Mann da? Ja? Gut, ich bin in zehn Minuten bei Ihnen. Bereiten 103
Sie alles vor, um eine Strahlung, die von der Milchstraße her kommt, zu bestimmen. Nein, ich bin nicht verrückt! Schluß!“ French sprach einige Worte in ein Mikrophon auf dem Tisch, dann erhob er sich, verließ das Büro und verschloß die Tür. Ein uniformierter Mann grüßte. „Der „Vakuum“ ist bereit, Sir.“ French fuhr mit einem Lift in den Keller hinab, passierte eine Luftdruckkammer und saß bald in einer kleinen, dichten Kabine, die genau in die unterirdische Röhre paßte. Ein Licht glühte auf, und hundert Meilen entfernt wurde die Luft aus dieser Röhre gepumpt. French betätigte einen roten Hebel. Hinter ihm drückten etliche Hundert Atmosphären die glatte Kabine mit einer Geschwindigkeit von fast 600 Meilen je Stunde nach vorn, und kurz vor dem Ziel bremste die zusammengepreßte Restluft ab. Die Kabine hielt an. Ein Helikopter wartete bereits, und genau 9 Minuten nach ihrem Gespräch reichten sich French und Haddon die Hände. Vor ihnen hing eine große beleuchtete Karte, daneben stand ein kleiner, bleicher Mann. Ganz kurz erklärte French ihnen seine Theorie: „Das ist ganz inoffiziell; verstehen Sie? Völlige Geheimhaltung ist wichtig. Mir ist eben bekanntgeworden, daß die XStrahlung – denn nur eine Strahlung kann der Ursprung des Ausschlages sein – nicht auf der Erde allein, sondern auch im Weltraum vorhanden ist.“ Haddon zog die Augenbrauen zusammen, und seine Pupillen verengten sich. „Guter Gott!“ „Ja, es sieht schlecht aus. Mir geht es nun um folgendes: Können Sie mir sagen, ob Venus, Mars oder Merkur von Strahlen bombardiert werden? Außer den bisher bekannten, natürlich. Haben Sie ein Instrument, mit dem Sie das feststellen können?“ 104
„Sicher, auf Mars und Venus befinden sich Versuchsstationen, die aber ein derartiges Ereignis bestimmt gemeldet hätten. Das neue Radioskop würde eine Veränderung auf dem Merkur ebenfalls sofort anzeigen.“ „Sind Sie sicher, daß die Mars- oder Venusstationen es nicht übersehen haben? Wir haben es auch zu spät bemerkt.“ Der Wissenschaftler lächelte schwach. „Wenn es hart auf hart geht, beweise ich Ihnen und der Weltregierung, daß sie selbst schuld an allem hat. Wir haben immer noch keinen künstlichen Satelliten, weil er zu kostspielig ist. Er hätte uns aber bei der Suche nach dem Ursprung der Strahlen gute Dienste geleistet.“ French nickte ungeduldig. „Wollen Sie, bitte, Venus und Mars noch einmal überprüfen? Hören Sie – das ist jetzt lebenswichtig!“ Der Astronavigator zuckte die Schultern und sprach in das Mikrophon auf dem Tisch. „Venus, Merkur und Mars auf Kanal A, B und C. Wünsche Radioaktivitätshöhe bei Grund und 1000 Meilen Höhe. Vergleich normal auf D.“ Er zeigte auf die Wand. Dort leuchteten drei Diagramme auf, und dann ein viertes, das den normalen Stand anzeigte. Haddon nickte. „Sehen Sie! Alles in Ordnung dort.“ „Richtig! Alle vier Diagramme zeigten den gleichen Wert an. Hm! – Was werden Sie aber sagen, wenn ich Ihnen nun mitteile, daß gestern ein Raumschiff, das vom Merkur kam und 18 Stunden für die Reise benötigte, unterwegs derart in den konzentrierten X-Strahlen-Bereich kam, daß die Mannschaft innerhalb von Minuten ein furchtbares Ende gefunden hat?“ „Sie meinen, daß – nur die Erde angestrahlt wird? Wir liegen genau in einem Strom von X-Strahlen, deren Ursprung außerhalb unseres Sonnensystems liegen muß?“ „Ganz recht! Könnten Sie den Strahlenwinkel herausfinden? 105
Es ist doch klar, daß der Strahl sehr schmal sein muß, wenn er die Erde trifft, aber keinen der anderen Planeten.“ Seine Augen wurden plötzlich ganz groß und starr. „Donnerwetter! Haben Sie eine Weltkarte hier?“ Man brachte sie. French faltete sie auseinander, und sein Finger zog langsam eine Linie; sie war gerade. „So – ja –! Dies sind die Plätze, die am schwersten heimgesucht wurden. Wenn man die Stellung der Erde im Raum berücksichtigt, auch die Rotation, und außerdem annimmt, daß der Strahl schmal ist, dann kommt er von irgendeinem Punkt links hinter der Sonne. Na, stimmt es?“ „Ein schmaler Strahl? So wie ein Scheinwerfer? Hm – ich denke eher, daß es eine Stauung der einfallenden kosmischen Partikelchen ist; denn Sie werden doch wohl nicht im Ernst annehmen wollen, daß ausgerechnet die Erde das Ziel eines aus dem Raum kommenden radioaktiven Strahles sei? Der Gedanke wäre doch wohl zu phantastisch!“ „Das ist er allerdings! Aber wenn Sie mir erklären können, warum auf einmal, nach Millionen von Jahren, die Weltraumstrahlung derart gefährlich und zudem wie durch eine Linse auf die Erde geworfen wird, dann will ich Ihnen gerne zuhören. Inzwischen errechnen wir den Winkel, ja?“ Der Chef zuckte abermals die Schultern. „Machen Sie das, Jones!“ Der kleine, bleiche Mann beugte sich über die Karten und begann mit seiner Arbeit. Nach geraumer Zeit sah er auf. „Wenn wir annehmen, die Theorie des Captains sei richtig, dann käme solch ein Strahl von Beta Capella oder einem seiner Planeten. Der Winkel würde genau stimmen.“ French zog die Augenbrauen in die Höhe. „Beta Capella? Was ist das für ein Stern?“ Der Chefastronavigator gab Auskunft. „Ein roter Riese, wurde vor 20 Jahren von Brett entdeckt. 10 Millionen Meilen Durch106
messer und überraschend geringe Dichte. Nur mit Radar sichtbar. Viel mehr wissen wir nicht.“ „10 Millionen Meilen? Das ist ziemlich groß, was?“ „Noch nicht so groß wie Betelgeuse oder Cantor.“ French streckte seine Hand aus. „Vielen Dank für alles! Vergessen Sie nicht: Streng geheim!“ Haddon nickte und lächelte ein wenig überlegen: „Sie werden noch an meine Worte denken, Captain! Es sind die Weltraumstrahlen – wenigstens müßten sie es sein!“ Diesmal zuckte French mit der Schulter. * Weltpräsident van Koff beobachtete Frenchs Gesicht auf der Bildscheibe des Gerätes. Seine Finger trommelten auf der Tischplatte. Weiße Haare bedeckten seinen mächtigen Kopf. Er saß ein wenig nach vorn gebeugt. Endlich nickte er langsam. „Ihre Theorie klingt zwar furchtbar, aber auch sehr wahrscheinlich. Thor Gunnarsen hat inzwischen das Schiff untersucht und nimmt an, daß die normale kosmische Strahlung aus noch unbekanntem Grunde plötzlich intensiver geworden sei. Ich persönlich halte Ihre Theorie für besser. Aber warum gerade Beta Capella?“ French zögerte. „Die Berechnungen! Ich weiß es natürlich selbst nicht genau. Vielleicht ist es nur ein Naturereignis. Atomare Umwandlung mit Entwicklung von Gammaradioaktivität. Ist es das aber nicht –“ Seine Stimme klang mit einem Male drohend. „– dann ist es eine Strahlung mit dem Ziel, die Erde und die Menschen zu vernichten!“ Van Koff sah ihn überrascht an. „Halten Sie das für möglich?“ 107
„Ja! Der Strahl ist schmal, seine Energie konzentriert. Kein anderer Planet wird betroffen. Ich weiß – die Theorie klingt verrückt; aber sagen Sie mir, warum es nicht so sein sollte.“ Van Koffs Entscheidungen waren immer sehr schnell getroffen. Auch diesmal. „Ich werde alles überprüfen lassen. Wenn Sie recht haben, wenn es nur Beta Capella sein kann, dann dürfen wir annehmen, daß die Strahlung auch zu verhindern ist.“ „Und dann?“ „Dann werden wir sie verhindern, und zwar mit Gewalt!“ * Unmittelbar darauf wurden die ersten hierauf bezüglichen Schritte unternommen. Van Koff befahl den Bau einer Flotte von sechs Raumkreuzern für je 60 Mann Besatzung. Sie sollten mit den neuesten Thetastrahlern ausgerüstet sein und eine Vorrichtung zum Abwurf von Solarbomben an Bord haben. Diese Solarbomben übertrafen die alten H-Bomben um ein Vielfaches und konnten einen kleineren Planeten, von der Größe des Mondes etwa, mit einem Schlage vernichten. Deuteriumreaktoren sollten die Schiffe innerhalb 9 Wochen an ihr Ziel bringen. Der genaue Schlachtplan wurde einige Tage später auf einer Konferenz in Washington erörtert und folgendes beschlossen: Da die Strahlung von Beta Capella kam – aber sicherlich nicht von dem Stern selbst, sondern von einem seiner Planeten –, sollte die Flotte sich bis in den Schwerebereich des Systems vorwagen, dann die Bomben auslösen und so schnell wie möglich umkehren. Einige Stunden würde es dauern, bis die Bomben landeten; aber 6 dieser Bomben würden eine atomare Flammenhölle von Millionen von Kilometern Weite hervorrufen. In der Zwischenzeit müsse alles Menschenmögliche getan werden, um die Zahl der Todesopfer durch X-Ausschlag nicht weiter ansteigen zu lassen. 108
Vitamin B 6 verlangsamte den Zerfallsprozeß, und 15 Zentimeter Blei oder 20 Zentimeter „Keelanplastik“ ließen die Strahlen nicht mehr durch. Entsprechende Schutzräume wurden für alle Arbeiter und Ingenieure angelegt, die mit dem Bau der Raumschiffe beschäftigt waren. Van Koffs Antrag, das Kriegsrecht zu proklamieren, wurde einstimmig angenommen. Danach wurde der Führer der Expedition gewählt; die Abstimmung ergab eine Mehrheit für John Carr, der damals als erster die Sonne umflogen hatte und jetzt noch den absoluten Geschwindigkeitsrekord für die Strecke Mars – Merkur hielt. Er nahm die Wahl an, obwohl dies sein letzter Flug werden konnte. Am anderen Tage verstärkte sich plötzlich die Strahlung. Moskau mußte aus irgendeinem Grunde sehr lange genau im Brennpunkt des tödlichen Strahls gelegen haben, denn French erhielt von Carsen, seinem russischen Agenten, einen erschreckenden Bericht. Die Stimme des Mannes war voller Grauen. „Wir sind fertig hier; die Stadt ist tot! Kein Transport, keine Verpflegung und kein Wasser! 10 000 Fälle in der vergangenen Nacht gemeldet, davon 1700 Tote! In der vergangenen Woche sind 18 000 Menschen gestorben! Von meinen 40 Mann habe ich 16 verloren!“ „Irgendwelche Aufstände?“ „Und ob! – Gestern war es furchtbar. Vielleicht 40 000 Menschen, von Angst und Verzweiflung getrieben, zertrümmerten die restlichen Geschäfte und plünderten. Dann marschierten sie; hier und da sanken etliche um, die sich dann nicht mehr erhoben. Sie wissen das, und deshalb marschieren sie immer weiter. Sie sehen aus wie Leichen.“ Ähnliche Meldungen bekam French aus allen Teilen der Welt. In Chikago stießen zwei Gruppen Aufständischer zusammen, zwischen denen sich ein erbitterter Kampf um einige zerstörte Kaufhäuser entspann. Ehe die Polizei eingreifen konnte, hatte 109
es schon 200 Tote gegeben. In Melbourne war ein Sechstel der Bevölkerung gestorben, in Berlin ein Viertel. Auf der ganzen Welt waren es bisher insgesamt eine Million Tote! Dann hatte van Koff die phantastische Entscheidung getroffen, die Erde zu evakuieren, ohne vorher den Rat um Einwilligung zu fragen. Er war kein Wissenschaftler oder Techniker; aber sein Wort war Gesetz! Der Mars war schon seit vielen Jahren mit einer künstlichen Atmosphäre versehen; und alle Schiffe, die noch vorhanden waren, wurden raumtüchtig gemacht. Behelfsmäßige Plastikschiffe wurden gebaut, die aber nur eine Reise aushielten. Die Produktion begann auf Hochtouren zu laufen. Bleidächer und -wände schützten die Arbeiter. Sie schliefen in den Fabriken. Außer Verpflegung, Brennstoff und Medikamenten wurde nichts mehr produziert, nur eben Raumschiffe, Raumschiffe und nochmals Raumschiffe! Tausend Schiffe würde man täglich herstellen können, wenn die Produktion erst mal angelaufen war. Schon 6 Stunden nach der Entscheidung verließ das erste Schiff die Erde. 50 Menschen befanden sich an Bord der veralteten V-170-Rakete. Uranium war der Treibstoff. Auf dem Mars wurden alle Vorbereitungen getroffen, die Bevölkerung der Erde in Empfang zu nehmen. Außer van Koff wußten allerdings nur noch 6 Menschen, daß mehr als 500 Millionen Menschen auf dem Mars keinen Platz hatten. Die Erde aber trug das Zehnfache an Bevölkerung! Zudem könnten, selbst bei größtmöglicher Beschleunigung der Aktion, nur etwa 20 Millionen Menschen gerettet werden; denn die Zahl der Toten stieg täglich. Es war ein Wettrennen mit dem Tode, und alles hing nun von John Carr und seinen 6 Schiffen ab. In Carrs Händen lag das Schicksal der Erde!
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DIE FLOTTE AUS DEM WELTALL Im Laufe der nächsten Woche geschahen viele Dinge. Täglich wurden 80 000 Menschen zum Mars geflogen. Außer den neuen Plastikschiffen waren dazu ältere Typen und alle verfügbaren Patrouillenkreuzer eingesetzt worden. Die Strahlung hatte sich noch mehr verstärkt, und auf der ganzen Welt betrug die tägliche Zahl der Toten etwa eine Million. Vitamin B 6 ließ diese Zahl vorerst nicht weiter ansteigen. Flugzeuge rieselten Desinfektionsmittel auf die unbegrabenen Leichen herab, damit keine Seuchen entstehen konnten. Es sah fast so aus, als werde die Erde das Rennen mit dem Tode gewinnen: denn die 6 Raumschiffe John Carrs und die Mannschaften standen bereit, um in einigen Stunden zu starten. Doch dann kam eine Neuigkeit, die die Menschen aufhorchen ließ: Drei Frachtschiffe älterer Type hatten vor einigen Tagen Mailand verlassen, um die einwöchige Reise zum Mars anzutreten. Am fünften Tage sandten sie folgenden Funkspruch, der in Genua von der Patrouille aufgenommen wurde: „Hier ist F 6. Auf Radarkanal 6 unerklärliche Echos. Erbitten Nachricht, ob wir Richtung ändern müssen.“ Die Geräte der Erde überprüften den angegebenen Sektor und stellten fest, daß F 6 sich nicht geirrt hatte. Man fragte in Washington an, und auch dort stellte man das gleiche fest. Die Entfernung der etwa hundert Körper, die sich der Erde näherten, betrug 50 Millionen Meilen. Man funkte dem Schiff: „Achtung, F 6! Wahrscheinlich Meteoritenschwarm auf Ihrem Weg. Ändern Sie den Kurs um 5 Grad! Weitere Anweisungen abwarten!“ Aus New York traf eine weitere Beobachtung ein. Sie bestätigte die vorangegangenen und fügte die Anweisung der Astronavigation hinzu, die wahrscheinliche Flugbahn des Schwarmes vom Raumverkehr auszuschließen. 111
An sich waren Meteoritenschwärme zwischen Mars und Erde nicht üblich; aber noch machte sich keiner besondere Gedanken. Dann aber kam eine neue Sensation hinzu. „Hier ist F 6. Der Schwarm hat Richtung gewechselt; ist wieder genau in unserer Flugbahn. Erbitten sofort neuen Kurs!“ Der Kommandant der Kontrollstation schüttelte sich vor Lachen. „Sie wechseln die Flugrichtung? Hat man jemals gehört, daß Meteore die Richtung wechseln, zumal so plötzlich?“ Ach ja, diese verfluchten Amateure dort oben! – Er stellte die Verbindung mit New York wieder her. „Tom, ich habe eine neue Meldung von F 6 bekommen. Höre dir das nur an: Sie behaupten, der Schwarm habe die Flugrichtung gewechselt! Prüfe es doch bitte nach, damit wir was zum Lachen haben. Auf 18/4.“ In weniger als einer Minute hatte er die Antwort. „Sam, da stimmt irgend etwas nicht! Sie haben tatsächlich die Richtung geändert und tun es laufend; und zwar mit einer unwahrscheinlichen Schnelligkeit. Es sieht so aus, als seien es Raumschiffe, die von der anderen Seite der Sonne kämen und nun in großen Schleifen die Geschwindigkeiten herabdrücken wollten. Von uns sind keine Schiffe nach hier unterwegs. Von euch?“ „Auch nicht. – Vielleicht ist ein Defekt in den Geräten. Aber bei allen Geräten gleichzeitig? Prüft doch noch mal mit euerem Supersuchgerät nach. Komische Angelegenheit!“ Das Resultat blieb das gleiche. Von New York aus wurde van Koff von dem merkwürdigen Ereignis in Kenntnis gesetzt. Ohne zu zögern, befahl dieser, daß sämtliche Luftfahrzeuge der Erde sofort zu ihren Stützpunkten zurückkehren sollten. Genua funkte das Schiff F 6 an: „F 6, sofort umkehren! Informiert die anderen Schiffe, daß sie sofort umkehren sollen. Befehl van Koffs!“ 112
Nach einigen Minuten des Schweigens, das nur durch die üblichen Störgeräusche des Kosmos unterbrochen wurde, kam die Antwort: „Wir werden angegriffen! F 5 in Flammen! Der Feind –“ Der Empfänger schwieg. Alle Versuche, mit einem der Schiffe wieder Verbindung aufzunehmen, mißlangen. Was war geschehen? Keiner der Kontrolloffiziere wußte es zu sagen. Stumm standen sie vor ihren Radarschirmen. Van Koff wurde unterrichtet. Der Schwarm war noch vier Millionen Meilen von der Erde entfernt. * Innerhalb 30 Sekunden stand van Koff mit French in Verbindung. „French, ich möchte, daß Sie sofort nach New York kommen. Ihre Theorie scheint zu stimmen. Beeilen Sie sich aber, bitte!“ Eine geräuschlose Scheibe brachte French nach New York, und schon eine halbe Stunde später saß er dem Präsidenten gegenüber. Beide Männer kannten sich schon seit Jahren, und sobald sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, verloren sie ihre förmliche Haltung. Van Koff fiel in einen bequemen Sessel und lud French ein, sich ihm gegenüberzusetzen. Einige Minuten lang sprachen sie kein Wort, sondern saßen beide in Gedanken versunken da. Die Augen hielten sie geschlossen. „Ahhhh! Jetzt fühle ich mich wohler.“ Van Koff atmete tief auf. „Jetzt können wir uns konzentrieren, French. Und, bei Gott, wir haben das verflucht nötig!“ 113
Er unterrichtete den Chef der Weltpolizei von dem, was sich an diesem Nachmittag ereignet hatte. Dann sah er auf seine Uhr: „Es ist 19.20 Uhr. Wenn sie die Erde angreifen wollen, werden sie morgen früh hier sein. Wenn wir dem Radarecho trauen wollen – und das müssen wir schon –, dann handelt es sich todsicher um gelenkte Objekte, und zwar um solche mit Besatzung; denn sie reagieren augenblicklich. Andererseits ist es allerdings auch möglich, daß jene Frachtschiffe verunglückt sind, daher die Notmeldung. Aber alle drei? Nein, damit wäre das Rätsel der Echos nicht gelöst. Was meinen Sie?“ French zuckte die Schultern. „Denken ist Zeit Verschwendung! Wir müssen das Schlimmste annehmen, um Schlimmes abwehren zu können. Alle verfügbaren Waffen müssen bereitgestellt werden, und alle Schiffe haben auf ihren Startbasen zu verbleiben. Eine Verteidigungsflotte muß ausgesandt werden – und dann können wir nur hoffen, daß es wirklich nur „verrückt gewordene“ Meteore sind.“ „Warum eine Verteidigungsflotte? Was wollen Sie damit bezwecken?“ „Wenn es tatsächlich feindliche Raumschiffe sind, können wir sie nur im Raum selbst angreifen. Sobald diese Flotte einmal innerhalb unserer Atmosphäre ist, wird jede Gegenwehr sinnlos. Erinnern Sie sich an den Krieg im Jahre 2070? – Die Deutschen gewannen ihn damals, weil sie überraschend in die Lufthülle der Venus eindringen konnten. Die Gegner waren geschlagen, bevor sie es bemerkt hatten. Ich möchte ganz sichergehen, daß es diesmal nicht uns so geht.“ „French, wenn ich Sie zum Kriegsminister machte: Was würden Sie als nächstes unternehmen?“ „Kriegsminister? Wir haben seit 50 Jahren keinen mehr gehabt.“ Er atmete tief auf und verdaute so die Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens. 114
„Ich würde jeden unterirdischen Raum sofort in einen Bunker verwandeln und Krankenhäuser, Unfallstellen, Feuerwehr und Polizei in äußerste Bereitschaft versetzen. Jedes Raumschiff, das sich noch einigermaßen bewegen kann, würde sofort mit Strahlkanonen ausgerüstet und müßte sich bereitstellen. Bombenabwurfvorrichtungen würden natürlich angebracht. Ja, das wäre das erste.“ Etwas unsicher wiegte er seinen Kopf hin und her, ehe er fortfuhr: „Die Menschen sind demoralisiert genug: Ich fürchte, viel können wir nicht mehr von ihnen verlangen. Wenn zu dem tödlichen X-Ausschlag nun auch noch der Angriff einer feindlichen Invasionsflotte kommt, wird es sehr schwer sein, eine Abwehr zu organisieren.“ Van Koff nickte schwer: „Das weiß ich!“ French fuhr fort: „Zuerst müssen wir dem Gegner etwas entgegenschicken; das ist wichtig! Ich würde vorschlagen, John Carr damit zu beauftragen, Fühlung mit ihm aufzunehmen. Wann können seine Schiffe startklar sein? Bis zum Morgen aber, sonst ist es zu spät.“ Van Koff sprach einige Worte in seinen Tischapparat. Dann sagte er: „In zwei Stunden sind sie fertig. Die Waffen werden gerade eingebaut.“ „Noch eines: Bin ich Kriegsminister?“ Der Präsident zögerte eine Sekunde, dann lächelte er: „Sie sind es!“ „Dann sorgen Sie, bitte, dafür, daß keines der Schiffe eine Solarbombe an Bord hat; denn falls jenes Schiff getroffen würde, bliebe uns keine Erde mehr, die wir verteidigen sollten!“ Jetzt wollen Sie natürlich erfahren, wie er weitergeht, der Kampf der Erde mit den unbekannten und unheilvollen Machten einer fremden Welt. Sie wollen auch weiterhin Zeuge des Verzweiflungskampfes der Menschen im Jahre 2115 sein. 115
Im UTOPIA-Großband
Invasion aus dem Weltraum erleben Sie plastisch, atemberaubend und faszinierend, wie die Erde mit all ihren Menschen vor dem großen Untergang steht. Nur dürfen Sie diesen UTOPIA-Großband nicht in der Eisenbahn, in der Straßenbahn oder im Omnibus lesen: Sie vergessen sonst garantiert das Ausstelgen! Sollten Sie tatsächlich im April das Pech haben, daß Sie den UTOPIA-Großband Nr. 1 durch Ihren Zeitschriftenhändler nicht erhalten, dann wenden Sie sich bitte direkt an den Verlag und benutzen Sie dabei den nachstehenden Bestellzettel.
Verlag und Druck: Erich Pabel, Rastatt in Baden, 1954 (Mitglied des Verbandes deutscher Zeitschriftenverleger e. V.) Die Bände dieser Serie dürfen nicht in Leihbüchereien verliehen, in Lesezirkeln nicht geführt und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Scan by Brrazo 08/2010
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Auf dem Wege zur Weltraumfahrt 24) Der Riese im Planetensystem In einem mittleren Abstand von rund 777 Millionen Kilometer zieht Jupiter seine Bahn um die Sonne. Die Lichtstrahlen der Sonne, die – bei einer Geschwindigkeit von 300 000 km sec – bereits nach 8 1/3 Minuten unsere Erde erreichen, brauchen 3/4 Stunden, um in die Feine des Jupiter zu gelangen. Fast zwölf Erdenjahre braucht Jupiter, um einen vollen Umlauf um die Sonne zu vollenden. Der Planet, der den Namen des römischen Göttervaters trägt, ist der größte unter seinen Geschwistern. Nicht weniger als 1360mal hätte die Erdkugel, die uns doch so unermeßlich groß vorkommt, in seinem Inneren Platz. Doch seine Masse hält mit dieser gewaltigen Zahl nicht Schritt. Sie übertrifft die Erdmasse nur 317fach. Das bedeutet, daß die Materie, aus der Jupiter besteht, bei weitem nicht so dicht ist wie die irdische. Die mittlere Dichte des Planeten erreicht nur knapp ein Viertel der Erddichte. Der gewaltige Planet dreht sich in weniger als 10 Stunden einmal um seine Achse. Bei solch schneller Rotation ist es nicht verwunderlich, daß Jupiter seine genaue Kugelgestalt verloren hat. Im Fernrohr erscheint er daher an den Polen stark abgeplattet. Was uns das Fernrohr sonst noch von diesem Riesenplaneten zu berichten weiß, werden wir in der nächsten Fortsetzung erfahren. (Fortsetzung folgt)
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