Gregor Hensen · Peter Hensen (Hrsg.) Gesundheitswesen und Sozialstaat
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Gregor Hensen · Peter Hensen (Hrsg.) Gesundheitswesen und Sozialstaat
Gesundheit und Gesellschaft Herausgegeben von Ullrich Bauer Uwe H. Bittlingmayer Matthias Richter
Der Forschungsgegenstand Gesundheit ist trotz reichhaltiger Anknüpfungspunkte zu einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Forschungsfelder – z. B. Sozialstrukturanalyse, Lebensverlaufsforschung, Alterssoziologie, Sozialisationsforschung, politische Soziologie, Kindheits- und Jugendforschung – in den Referenzprofessionen bisher kaum präsent. Komplementär dazu schöpfen die Gesundheitswissenschaften und Public Health, die eher anwendungsbezogen arbeiten, die verfügbare sozialwissenschaftliche Expertise kaum ernsthaft ab. Die Reihe „Gesundheit und Gesellschaft“ setzt an diesem Vermittlungsdefizit an und systematisiert eine sozialwissenschaftliche Perspektive auf Gesundheit. Die Beiträge der Buchreihe umfassen theoretische und empirische Zugänge, die sich in der Schnittmenge sozial- und gesundheitswissenschaftlicher Forschung befinden. Inhaltliche Schwerpunkte sind die detaillierte Analyse u. a. von Gesundheitskonzepten, gesundheitlicher Ungleichheit und Gesundheitspolitik.
Gregor Hensen Peter Hensen (Hrsg.)
Gesundheitswesen und Sozialstaat Gesundheitsförderung zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt/Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15286-8
Inhalt
Vorwort ............................................................................................................. 9
I.
Einführung Gregor Hensen, Peter Hensen Das Gesundheitswesen im Wandel sozialstaatlicher Wirklichkeiten ..... 13
II. Struktur und Wandel Ferdinand Rau Der Sozialstaat: Prinzipien, Konstituenten und Aufgaben im Gesundheitsbereich ................................................................................. 41 Sebastian Klinke Gesundheitsreformen und ordnungspolitischer Wandel im Gesundheitswesen ............................................................................. 61 Felix Tretter Gesundheitsökonomie zwischen Politik und Wissenschaft. Gestaltungsansprüche und Erkenntnisdefizite ...................................... 107 Ullrich Bauer Polarisierung und Entsolidarisierung. Ansätze zu einem Impact Assessment der Ökonomisierung im Gesundheitswesen ...................... 141 Peter Hensen Qualitätsberichterstattung im Gesundheitswesen. Der lange Weg zur Leistungstransparenz und Nutzerkompetenz ......... 165
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Inhalt Peter Franzkowiak Prävention im Gesundheitswesen. Systematik, Ziele, Handlungsfelder und die Position der Sozialen Arbeit ......................... 195
III. Risiken und Herausforderungen Thomas Lampert, Lars Eric Kroll Gesundheitliche Ungleichheit als Herausforderung für den Sozialstaat ................................................................................ 223 Uwe H. Bittlingmayer Blaming, Producing und Activating the Victim. Materialistisch inspirierte Anmerkungen zu verdrängten Dimensionen sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit .............................................. 239 Gregor Hensen Gesundheitsbezogene Einflüsse im Sozialisationsprozess und riskante Identitäten ........................................................................ 259 Ulla Walter, Nils Schneider Gesundheitsförderung und Prävention im Alter. Realität und professionelle Anforderungen .......................................... 287 Hans Günther Homfeldt, Sandra Steigleder Gesundheitsbezogene Sozialarbeit. Maßnahmen zur Förderung von Gesundheit zwischen Anspruch und Wirklichkeit ........................ 301 Gregor Hensen Pädagogische Handlungsansätze der Gesundheitsförderung. Gesundheitspädagogik als individualisierte Bildungsanforderung ....... 319
Inhalt
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Gerhard Meinlschmidt Lebenslagenorientierte Gesundheitsförderung im Sozialraum in Berlin. Zielorientierte, vernetzte Strukturen für die Gesundheitsförderung und Prävention ...................................................................................... 333
IV. Epilog Pravu Mazumdar Der Gesundheitsimperativ .................................................................... 349
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ..................................................... 361
Vorwort
Gesundheit bzw. Gesundheitsförderung wird stark von politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bestimmt. Der Zugang zu Gesundheitsleistungen sowie deren Erbringung und Finanzierung sind – gestützt auf den Solidarund Sozialstaatsprinzipien – zum großen Teil staatlich reglementiert. Es ist ein großer Verdienst der Begründer unserer sozialen Sicherungssysteme, dass deren Erbe nachhaltig wie eine Art kollektives Bewusstsein oder wie ein genetischer Code tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Deutlich wird dies u.a. dadurch, dass sozialstaatliche Prinzipien bei der steten Neugestaltung des Gesundheitssystems nach wie vor heftig umkämpft werden. Bei jeder Form von (geplanten oder durchgeführten) Veränderungsprozessen im Gesundheitswesen ist reflexartig das Aufkommen der Gerechtigkeitsdebatte zu beobachten, bei der es um die Verteilung von knappen Mitteln für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung geht. Gleichzeitig werden vor dem Hintergrund dieser öffentlich geführten Grundsatzdiskussionen monetäre Verteilungskämpfe erkennbar, bei denen der Gerechtigkeitsbegriff interessenpolitisch verzerrt wird. In diesem Zusammenhang mahnen Kritiker die grundgesetzlich geschützte Solidaritätsverpflichtung an, gleichzeitig wird jedoch auch implizit die Angst vor staatlich verordneter Rationierung geschürt, was mit Blick ins europäische Ausland zum Teil berechtigt erscheint. Jede sozialstaatliche Intervention bedeutet jedoch gleichzeitig auch eine Einschränkung des individuellen Freiheitsrechts. Die Forderung nach mehr Freiheit innerhalb der sozialen Sicherungssysteme würde aber ein Stück mehr Unsicherheit für alle Beteiligten bedeuten und marktwirtschaftlichen Prinzipien eine größere Bedeutung zurechnen. Gerechtigkeit an sich ist gesellschaftlicher Konsens, dessen inhaltliche Bedeutung von politischen Interessenvertretern nur sehr unterschiedlich interpretiert wird, was die gesundheitspolitischen Auseinandersetzungen und die Reformdebatten zeigen. Gerechtigkeit findet aber gerade ihren Ausdruck im Sozialstaatsprinzip und muss von ihm heraus gestaltet werden. Die Gesundheitspolitik bewegt sich damit ständig in einem Spannungsfeld, das einerseits von sozialstaatlichen Eingriffen zum Schutz des Solidarprinzips, andererseits von den Zwängen wirtschaftlichen Handels und dem Grundsatz individueller Freiheit geprägt ist. Die Positionen innerhalb dieses Spannungsfelds waren in den letzten 30 Jahren einem großen politischen Wandel unterworfen. Die gesundheitspolitischen Zielsetzungen erlebten einen Paradigmenwechsel. Im Rahmen eines langsamen Wandlungsprozesses transformierte sich eine
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Vorwort
expandierende Strukturpolitik in den 1970er Jahre über zahlreiche korrigierende Kostendämpfungsmaßnahmen der 1980er und 1990er Jahre in eine wirtschaftlichkeitsorientierten Ordnungspolitik. Diese muss in der heutigen Zeit als eine Art der „Ökonomisierung“ der Gesundheitspolitik angesehen werden, die letztlich auf das Gesundheitswesen durchscheint. Die Auswirkungen dieses gesundheitspolitischen Wandels sind auf systemtechnischer Ebene und auch auf individueller Ebene wahrnehmbar. Sie spiegeln sich in medial geführten Debatten und werden sichtbar bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen. Zunehmende Selbstbeteiligungen und Zuzahlungen auf Ebene der Nutzer bzw. Leistungsempfänger sind ebenso spürbare Realität wie die Konsequenzen aus der Zunahme pauschalierter Entgeltsysteme und strukturierter Behandlungsprogramme. Ob diese Steuerungsinstrumente zur Beeinflussung und Anreizsteuerung letztendlich wirken, ist unklar. Unübersehbar ist jedoch deren überwiegend experimenteller Charakter, der häufig zu Lasten nicht privilegierter Bevölkerungsgruppen geht. Die Gesundheitsförderung ist dabei die wesentliche Zielvorstellung gesundheitspolitischer Programmatik, obwohl dieser Begriff zahlreiche Unschärfen aufweist und mit einem Omnipotenzanspruch ausgestattet ist, der nur schwer einzulösen ist. Mit dem vorliegenden Band soll eine kritische Annäherung an das deutsche Gesundheitswesen und seine sozialstaatliche Einbettung hinsichtlich der Überprüfung dieser Zielprogrammierung erfolgen. Aus unterschiedlichen Perspektiven des Sozial- und Gesundheitssystems werden Anforderungen an ein modernes Gesundheitswesen und die damit verbundenen Folgen für die sozialstaatliche Leistungstiefe beleuchtet. Dabei ist es nach der Standortbestimmung gesundheitspolitischer Zielsetzungen und sozial-staatlicher Rahmenbedingungen notwendig, strukturelle Möglichkeiten, Instrumente und Auswirkungen derartiger Reformbemühungen vor dem Hintergrund eines sozialstaatlichen Wandels zu diskutieren und zu bewerten. Zusätzlich werden Auswirkungen der zuvor vorgestellten Modernisierungspolitik auf die Folgen individueller Lebensentwürfe und gesellschaftlicher Teilhabechancen erörtert. Allen Autorinnen und Autoren aus den unterschiedlichen Bereichen der Gesundheitswissenschaften, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Politikwissenschaft, Philosophie und der Medizin soll an dieser Stelle für die interdisziplinärkonstruktive Zusammenarbeit an diesem Sammelband gedankt werden. Wir hoffen, mit dem verfolgten Ansatz die bisher eher sektoral geführten Diskussionen zu diesem Thema wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch erweitern zu können. Münster, im Oktober 2007 Gregor Hensen, Peter Hensen
I Einführung
Das Gesundheitswesen im Wandel sozialstaatlicher Wirklichkeiten Gregor Hensen, Peter Hensen „The health status of a nation can be a reflection of the health care policy in place.“ (McGregor 2001)
Die Förderung von Gesundheit und die Vermeidung von Krankheit sind zentrale gesellschaftspolitische Themen der heutigen Zeit. Motiviert wird der Diskurs zur sozialstaatlichen Leistungstiefe in der Gesundheitsförderung aktuell vor allem durch die immer größer werdende Schere zwischen einem wahrnehmbaren Rückbau der medizinischen Grundversorgung, der dem Betrachter aufgrund der anhaltenden fiskalischen Krise des öffentlichen Gesundheitswesen nicht aufzuhalten scheint, und dem gleichzeitig formulierten Anspruch einer ausreichenden, zweckmäßigen und flächendeckenden Versorgung der gesetzlich Krankenversicherten, die vor diesem Hintergrund zunehmend schwerer einzulösen wird. Die Reformen und Umbrüche der letzten Jahre und Jahrzehnte haben bislang noch nicht die Erwartungen erfüllen können, um alle Aufgaben und Ziele der gesundheitlichen Versorgung in einem „gerechten“ Maße zu erfüllen (vgl. Rakowitz 2004). Vor allem der gesellschaftspolitisch unterschiedlich interpretierte Gerechtigkeitsaspekt scheint der größte Stolperstein bei der Umsetzung einer bürgerzentrierten und den „sozialstaatlichen Ansprüchen“ Rechnung tragenden Gesundheitsreform zu sein (vgl. Dabrock 2003). Dabei ist sogar umstritten, ob Gerechtigkeit überhaupt einen rechtlichen Rang haben kann. Teilweise tritt sie nur als ein moralisches Korrektiv des Rechts auf (Fleßa 2005a: 16). Dass es den politischen Entscheidungsträgern bei den reformpolitischen Bemühungen des Gesundheitswesens vor allem um eine monetäre Umsteuerung mit den Zielen der Privatisierung von Gesundheitsrisiken geht, kann auch nicht durch Programme wie z.B. der „Initiative gesundheitsziele.de“, in der sog. inhaltliche Schwerpunkte besonders betont werden sollen (vgl. Bramesfeld et al. 2003), verschleiert werden. Marktwirtschaftliche Elemente in der Gesundheitsversorgung erlangen in Zukunft eine immer größer werdende Relevanz bei der Mittelallokation, da man sich von ihnen die „Gesundung“ des Gesundheitsfinanzierungssystems erhofft (vgl. Mörsch 2002). Das Gesundheitswesen ist aber nicht isoliert als ein vollwertiger und abgeschlossener Markt zu betrachten, sondern konstituiert sich als bedeutender Teil sozialstaatlicher Tätigkeit. Eine kriti-
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sche Annäherung an das deutsche Gesundheitswesen hinsichtlich der Überprüfung ihrer Zielprogrammierung „Gesundheitsförderung“, erfordert einen erweiterten Blick in die aktuelle Sozialstaatsdebatte. Gleichzeitig sind sozialpolitische Entwicklungen erkennbar, die den Aspekt der Gesundheitsförderung nicht nur als private Eigen- und Wahlleistung einer Multioptionsgesellschaft ins Spiel bringen, sondern gesellschaftliche Interessen an den gesundheitlichen Zustand des Einzelnen koppeln. Obwohl der Begriff „Gesundheitsförderung“ sowohl im gesundheitspolitischen als auch im kurativ medizinischen Bereich deutliche Unschärfen besitzt, ist er als Zielvorstellung vieler politischer Programme und wissenschaftlicher Untersuchungen zu finden. In diesem Band wird der Frage nach dem Anspruch und der Wirklichkeit der Gesundheitsförderung auf verschiedenen Ebenen nachgegangen, welche nicht loszulösen ist von Strömungen und Entwicklungen im Gesundheitswesen und dessen sozialstaatlichen Einbettung.
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Die Sozialstaatskritik
Die Bundesrepublik ist „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, so lautet Artikel 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG). Die Sozialstaatlichkeit des bundesrepublikanischen Demokratiemodells ist somit rechtlich verfasst und bildet eine Klammer für die inhaltliche Zusammenführung von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das Sozialstaatsprinzip ist im GG ohne jegliche inhaltliche Konkretisierung normiert, so dass es keine signifikanten Aussagen zur Realisierung zulässt. Der Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat ist nicht als eine gesonderte Institution angelegt, „Sozialstaatlichkeit ist vielmehr ein Charakteristikum des Staates neben anderen, welche nach kontroverser Debatte von Staatsrechtlern heute als Staatsziel interpretiert wird (Kaufmann 1997: 22, Hervorhebung im Original). Dieses Staatsziel geht einher mit der Konstituierung sozialstaatlicher Prinzipien. Sie verpflichten den Staat bzw. den Gesetzgeber „auf Aktivitäten zur Erreichung und Wahrung bestimmter gesellschaftlicher Zustände, die mit den Begriffen der sozialen Sicherheit, der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleichs angedeutet sind“ (Ebsen 1997: 898). Die Integration von sozialstaatlichen Grundsätzen in die Marktwirtschaft („Rheinischer Kapitalismus“) ist ein konstitutives Element des (west-)deutschen Wohlfahrtsstaats1. Seit Mitte der 1970er-Jahre ist ein – fast ausschließlich unter 1 Die Begriffe Wohlfahrtsstaat und Sozialstaat werden im Weiteren synonym verwandt. Obwohl eine Differenzierung in anderen Kontexten und Diskussionszusammenhängen durchaus Sinn macht, ist grundsätzlich auf die gemeinsamen Zielbestimmungen der beiden Begriffe hinzuweisen (vgl. hierzu Butterwegge 2001).
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fiskalischen Gesichtspunkten – geführter Diskurs über den Sozialstaat zu beobachten, der sich mit dem ökonomischen Wert von Sozial- und damit auch von Gesundheitsleistungen beschäftigt. Hier geht es einerseits um den Umfang von Umverteilungsprozessen bzw. deren Nutzen oder Schaden für die Volkswirtschaft, andererseits um die Leistungsstruktur, bei der „ungerechtfertigte” oder falsch terminierte Leistungen betont werden, einschließlich einer Missbrauchsdiskussion über ungerechtfertigte Inanspruchnahme von Sozialleistungen (Blanke et al. 2000: 8). Gleichzeitig sind ab diesem Zeitraum Perspektivenänderungen zu beobachten, in der die bislang positiv konnotierte Rolle des Staates bei der Gesellschaftsgestaltung an Gewicht verlor. Das Pendel neigte sich Anfang der 1980er Jahre in Richtung Staatsversagen2 (Heinze 2000: 32). War der soziale Sektor in den 1960er und 1970er Jahren noch durch massive und ungebremste Expansion geprägt, vermittelten die politischen und wirtschaftlichen Regierungsund Verteilungsstrategien, die seit Beginn der „Ära Kohl“ in der Bundesrepublik erkennbar sind (und ihren Schatten auf die heutige Regierungspolitik werfen), nur noch sektorale Weiterentwicklungen, die in den 1990er Jahren „in einem Stadium der verstärkten Selbstreflexion, des experimentellen Suchens nach neuen Lösungen und des tastenden Umgangs mit Phänomenen wie ‚jobless growth’ oder ‚welfare without work’ (Blanke et al. 2000: 24) mündeten. Diese eher „weiche“ Umschreibung massiver Strukturprobleme, die bedeutenden Einfluss auf die Lebenssituation und Lebenslagen der Bürger/innen hat und damit gleichzeitig die Legitimation bewährten sozialstaatlichen Gesellschaftshandelns in Frage stellt, kennzeichnet die strategischen Ansatzpunkte der liberal-konser-vativen Sozialstaatskritik: Der Sozialstaat befände sich in einer Krise. Nur ist es nicht ebendiese Krise, die den Fortbestand des Sozialstaats konstitutionell gefährdet. Vielmehr sind es die Interessenvertreter des privaten Wirtschaftskapitals, die in der Existenz des Sozialstaates die Ursache für die anhaltende Konjunkturschwäche und steigende Arbeitslosigkeit sehen und in diesem Zusammenhang eine Reduzierung des öffentlichen Sektors auf sog. Kernaufgaben fordern (vgl. Butterwegge 2005). Hierbei tauchen vier Erklärungsmuster immer wieder auf: 1. Der deutsche Wohlfahrtsstaat sei in seiner Leistungsgewährung zu großzügig und zu freigiebig, was ihn zunehmend finanziell überfordert, 2. da keine wirksamen Kontrollen existieren, sei steigender „Leistungsmissbrauch“ nicht zu vermeiden, 3. der de2 Mit „Staatsversagen“ wird unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Sachverhalt beschrieben, wenn eine unternehmerische Tätigkeit des Staates (hier der Sozialstaat) zu schlechteren volkswirtschaftlichen Ergebnissen oder ineffizienteren Lösungen wirtschaftlicher Probleme führt, als eine Organisation über den Markt unter Wettbewerbsbedingungen. „Marktversagen“ beschreibt den gegenteiligen Sachverhalt (Pollert et al. 2004: 150). Erläuterungen zur Makroökonomik (insbesondere zum Marktversagen) finden sich auch im Beitrag von Tretter in diesem Band.
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mographische Wandel (Senkung der Geburtenrate und Zunahme der Lebenserwartung) schwäche die ökonomische Leistungsfähigkeit des Landes und überfordere die sozialen Sicherungssysteme, 4. eine verschärfende Weltmarktkonkurrenz im Zuge von Globalisierungsprozessen mache einen „schlanken Staat“ erforderlich, der nicht mehr als „Investitionshindernis“ bei der Standortvergabe gesehen wird (ebd.). Diese Erklärungsmuster zeigen, dass sozialstaatliche Prinzipien zunehmend ins Fadenkreuz konservativer und neoliberaler Gesellschaftskonzepte geraten. Der Wohlfahrtsstaat gilt zunehmend als überholt und erneuerungsbedürftig. Was in diesem Zusammenhang häufig als Modernisierung verkauft wird, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Deregulierungs- und Zurückdrängungsstrategie. Das Gesundheitswesen ist in dem Maße, wie die Reduktion der Staatstätigkeit in realiter voranschreitet, von diesen Entwicklungen betroffen. Dabei spielen sich verschärfende Verteilungskämpfe, die begleitet werden durch die Implementierung markt- und wettbewerbsorientierter Steuerungsinstrumente, eine große Rolle. Bei der Frage der ideologischen Einflussnahme und Übernahme wird es notwendig, die Kräfte neoliberaler Sozialstaatskritik genauer in den Blick zu nehmen. Während die sozialstaatliche Konzeption eine normativdistributive Zielsetzung besitzt, die auf dem Solidaritätsgedanken basiert, liegt die Zielsetzung neoliberaler Staatsentwicklung in der Etablierung einer „Konkurrenz- und Wettbewerbswirtschaft“ (Schedler/Proeller 2000).
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(Neo-)Liberale Ökonomisierungsstrategien
Gesundheit wird vor dem Hintergrund einer solchen Debatte zunehmend zu einem kostbaren Gut, das in den Mittelpunkt widerstreitender Interessengruppen geraten ist. Kennzeichnend für die aktuellen Entwicklungen sind Ökonomisierungstendenzen, die mittlerweile in fast allen gesellschaftlichen Funktionsbereichen nahezu widerspruchsfrei rezipiert und reproduziert werden. Ökonomisierung, so macht Bauer (2006) deutlich, beinhaltet allerdings eine mehrdimensionale Bedeutung. So wird unter Ökonomisierung häufig der Prozess der „Betriebswirtschaftlichung“ bestimmter Funktionseinheiten, wie z.B. Krankenhäuser, Krankenversicherungen oder ärztliche Verrechnungsstellen verstanden, die unter dem Primat von Effizienz und Effektivität einem organisatorischen Wandel ausgesetzt werden. Diese Wandlungsziele sind nicht neu und beherbergen implizit die Erfüllung der Daseinsvorsorgeerwartung des solidarisch Versicherten („gesundheitspolitische Notwendigkeit“), da aufgrund eines verantwortungsvollen Umgangs mit öffentlichen Mitteln auch in Zukunft eine gesundheitliche Versorgung auf hohem Niveau zu erwarten ist. Wird diese Perspektive noch weitge-
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hend positiv wahrgenommen, so bleibt eine weitere Form der Ökonomisierung auf den ersten Blick zunächst unsichtbar und unvermittelt: die hegemoniale Kraft des Neoliberalismus. Neben zum Teil notwendigen betriebswirtschaftlichen bzw. unternehmerischen Ökonomisierungsprozessen in Gesundheitsinstitutionen, wird Ökonomisierung oftmals gleichbedeutend mit einem Prozess der bewussten und unbewussten Übernahme einer liberalen Wettbewerbslogik gleichgesetzt, die sich in vielen Bereichen der medizinischen Versorgung bereits abzeichnet (z.B. Eigenleistungen, Wettbewerb und Privatisierung). Unter dem Einfluss der neoliberalen Doktrin des Marktes, die vor allem deshalb individuell anschlussfähig ist, da sie zu einem konstitutiven Element unseres Alltags geworden ist, entwickeln sich Gesundheitsleistungen zu Produkten mit Marktwert, zu denen der individuelle Zugang von den wirtschaftlichen Ressourcen der Zielgruppe abhängt. Bezogen auf das Gesundheitswesen sind drei wesentliche Prinzipien des Neoliberalismus identifizierbar (McGregor 2001): 1.
2.
3.
Individualismus zielt auf den Prozess der Privatisierung bzw. Individualisierung von Gesundheitsrisiken (vgl. auch Bauer 2006). Verbunden hiermit sind weiterhin Entwicklungen, die massiven Einfluss auf das Verhältnis Patient/Helfer haben. Vor dem Hintergrund der Technologisierung kurativer, professioneller Hilfeleistung werden die sozialen Bedingungen, in deren Kontexte soziale und medizinische Leistungen erbracht werden, ausgeblendet und verschwinden hinter einer neoliberalen Marktrationalität der Effizienz. Freier Markt via Privatisierung und Deregulierung meint die Privatisierung staatlich regulierter Einrichtungen (z.B. Forschungszentren, Krankenhäuser etc.) und die gleichzeitige Auflösung der korporatistischen Beziehung zwischen Leistungsgewährer und Leistungserbringer. Ein zentrales Element ist hierbei der sukzessive Rückzug des Staates. Aus neoliberaler Perspektive regulieren sich freie Märkte selbst und schaffen so eine Form sozialdarwinistischer „Gerechtigkeit“, die nicht mehr sozialstaatlichen Grundsätzen wie denen der Chancengleichheit oder des sozialen Ausgleichs entspricht. Dezentralisation als Ökonomisierungsstrategie meint die Verlagerung gesundheitspolitischer Verantwortung, Haftung und Maßnahmen von einer Regierungsebene auf eine andere bzw. auf die darunter liegende. Die Ziele, die mit einer Regionalisierung verbunden sein sollen, gehen Hand in Hand mit denen der Ökonomisierungslogik. Regionale und sozioökonomische Disparitäten verhindern dabei eine gleichberechtigte Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen der unterschiedlichen „Konsumentengruppen“ (vgl. McGregor 2001: 83ff.).
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Weiter trägt der Mythos der Globalisierung zur Hegemonie bei. Was als eine Politik der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung Durchsetzung und Akzeptanz findet, erstarrt in einem Zustand des Unausweichlichen. Die Mechanismen der Globalisierung werden als naturhaft vermittelt, „der Faktizität der neoliberalen Sichtweise wird durch die diskursive und konkrete Konstruktion von Sachzwängen zur Geltung verholfen“ (Candeias 2000: 24, Hervorhebung im Original). Der Globalisierungsprozess gilt als Sach- und nicht als Systemzwang der naturwüchsig und unausweichlich zu sein scheint (Butterwegge 2005).
Erscheinungsformen und Wirkung des Wandels Neoliberalismus ist zu einem schillernden Begriff geworden, der eine Vielzahl von Strömungen, grundlegenden Ideologien und Bedeutungen vereint. In der Diskussion um den (z.T. politisch gewollten) Rückzug sozialstaatlicher Leistungsverantwortung zeigt sich, dass sich neoliberale Eroberungsstrategien in weiten Teilen der Öffentlichkeit durchgesetzt haben und seit einiger Zeit auf den sozialpolitischen Sektor durchschlagen. Das Spektrum markt- und wettbewerbsorientierter Ideologien reicht vom marktradikalen laisser-faire (der französischen Frühliberalen) bis hin zum deutschen Ordoliberalismus. Mit Neoliberalismus werden in der aktuellen Debatte synonym Begriffe wie Marktradikalität, Privatisierung, Flexibilisierung, Deregulierung sowie freie Marktwirtschaft verbunden, ohne eine konkrete Richtung oder Ausprägung zu benennen. Das für die Bundesrepublik Deutschland geltende Modell der sozialen Marktwirtschaft ist an vielen Stellen ordoliberalistisch geprägt. Diese sich speziell in Deutschland durchgesetzte Richtung des Neoliberalismus entstand bereits in den 1930er Jahren als Reaktion auf den einsetzenden Wohlfahrtsstaat, aber auch als Gegenentwurf zu Modellen der sozialistischen Planwirtschaft, die von den Verfechtern des marktliberalen Freiheitsgedanken als Bedrohung marktwirtschaftlicher und politischer Freiheit angesehen wurden (Ptak 1998: 51). Entgegen dem Laisser-faire-Prinzip des klassischen Liberalismus setzen die ordoliberalen Vertreter/innen der „Freiburger Schule“ auf einen „starken Staat“, der unparteiisch den Interessenkampf überwacht und Rahmenbedingungen für ein Funktionieren der Marktwirtschaft gewährleistet. Staatlicher Interventionismus, der sich gegen die freie Entfaltung der Marktwirtschaft richtet, behindere automatisch ökonomische Effizienzgestaltung und trage Züge totalitärer Herrschaft (ebd.). Ganz gleich aber, in welcher Weise marktzentrierte Gesellschaftskonzepte zu Tage treten; gemeinsam ist ihnen der messianische Charakter und die Radikalität ihrer Durchsetzung: „Außerhalb der marktradikalen Ökonomie kein Heil“
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(Plehwe/Walpen 1999: 220). Der Totalitarismus, der durch einen zentral planenden und dominierenden Staat drohe, zeigt sich nun transformiert in einem „Totalitarismus des Marktes“ (ebd.). So wird deutlich, dass der Neoliberalismus – vor allem in Hinblick auf seine hegemoniale Entfaltung – Teil eines gesellschaftlichen Grundkonsens wird, der, „bei allen internen Differenzierungen, ‚en bloc’ auftritt, das heißt z.B.: Wer sich für den deutschen Ordoliberalismus als vermeintlich sozialstaatlichere Variante entscheidet, wählt zugleich den ganzen Neoliberalismus“ (ebd.: 228). Die Autoren machen hier auf die große hegemoniale Kraft aufmerksam, die insgesamt mit dem Postulat des wirtschaftlichen Freiheitsdenkens verbunden ist und wogegen das Gesundheitswesen nicht immun ist. Aber selbst neoliberale Vordenker wie Hayek hielten die gesetzliche Versicherungspflicht für legitim, da sie half, größeren Schaden von der Gesellschaft fernzuhalten (vgl. Reiners 2002). Eine Ökonomisierung im Gesundheitswesen ist nicht mehr aufzuhalten und scheint zunächst – unter dem Gesichtspunkt nutzerorientierter Veränderungen auf der Organisationsebene – an einigen Stellen durchaus sinnvoll. Es ist sogar festzustellen, dass das deutsche Gesundheitswesen – obwohl es im internationalen Vergleich noch mit wenig Markt- und Wettbewerbsstrukturen ausgestattet ist – für viele anderen Funktionsbereiche wie z.B. der Behinderten- und Altenhilfe oder der Jugendhilfe als Vorbild für eine Modernisierung dient (vgl. Boeßenecker 2006). In Zukunft wird mehr die Frage im Mittelpunkt stehen, ob eine grundsätzliche Transformation ökonomisch orientierter Ziele auf das Gesundheitswesen, ganz gleich ob in ihrer radikalen oder regulierten Form, als Strategie geeignet ist, um vermeintliche „Modernisierungsschwächen“ auszugleichen, die ihm von den Kritikern des Sozialstaates nachgesagt werden. Die kurzfristig zu lösenden Fragen werden vielmehr sein: Wie viel Wettbewerb verträgt das Gesundheitswesen, um leistungsfähig zu bleiben bzw. überlebensfähig zu sein und welche regulierenden Maßnahmen sind notwendig, um die sozialstaatlich motivierten Gesundheitsziele nicht aus den Augen zu verlieren. Die aufgezeigten Entwicklungslinien zur Durchsetzung marktradikaler Denkweisen zeigen, dass sozialstaatliche Aktivitäten nicht zufällig oder aufgrund systemimmanenter Strukturschwächen einer zunehmenden öffentlichen und fachpolitischen Kritik ausgesetzt sind. Das in diesem Zusammenhang durchzusetzende Primat der Ökonomie wird in allen gesellschaftlichen Teil(Bereichen) sichtbar. Letzte Refugien einer kompensatorisch wirkenden und sozial gerechten Politik werden in dieser Semantik in die „Mottenkiste“ der Geschichte verbannt. Mit dem systematischen Umbau des Sozialstaats und der zunehmenden neoliberalen und neokonservativen Hegemoniegewinnung geraten mehr und mehr die einzelnen Handlungs- und Funktionsbereiche der Sozial- und Gesundheitspolitik ins Fadenkreuz sog. „Erneuerer“.
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Gregor Hensen, Peter Hensen Veränderungen im Gesundheitswesen
Deutlich wird dies heute schon in vielen Bereichen, in denen individuelle Gesundheitsrisiken nicht mehr oder nur teilweise solidarisch abgesichert sind. Deppe (2002: 22) macht auf zwei Strömungen – die das aktuelle Dilemma des Gesundheitswesens widerspiegeln – aufmerksam: Die naturwissenschaftliche Medizin und Forschung hat in den letzten Jahren Erkenntnisse gesammelt, die beeindruckend und bedeutend für therapeutische Interventionen sind. Verbunden hiermit sind die Entwicklungen auf dem Feld der Genforschung, die zu einem neuen gesellschaftlichen Verständnis von Krankheit und Gesundheit führen können3. Der Spielraum des medizinisch Notwendigen und Machbaren wird erweitert. Auf der anderen Seite stehen die ökonomischen Entwicklungen im Gesundheitswesen, die sich scheinbar wie ein Gegenpol zu der Wissensexplosion und den zunehmenden Therapie- und Diagnosemöglichkeiten der Medizin aufgebaut haben. Im Mittelpunkt steht zunehmend die Frage nach dem medizinisch Notwendigen vor dem Hintergrund des finanziell Machbaren (ebd.; vgl. Ulsenheimer 2004). Neben den Errungenschaften der Medizin tragen aber auch die zunehmenden Erkenntnisse gesundheitsrelevanter bzw. -erhaltender Maßnahmen und Verhaltensweisen zum Zielkonflikt zwischen dem potenziell Machbaren und dem finanziell Möglichen bei. Die Beantwortung dieser Frage entwickelt sich zum Lackmustest einer sozialen Gesundheitspolitik, die sich den hier genannten Strömungen ausgesetzt sieht und – ohne vorgreifen zu wollen – an den Stellen scheitert, an denen gesundheitsfördernde Maßnahmen, die einem sozialstaatlichen Konzept folgen, unter dem Einfluss von Effektivitäts- und Effizienzprinzipien ungleich verteilt oder innerhalb eines individualisierten Handlungsrahmens umprogrammiert werden. Die erkennbaren Veränderungen im Gesundheitswesen zeigen bislang diese Gratwanderung (siehe auch Klinke in diesem Band). Im Folgenden werden dazu einige Diskussionen innerhalb der deutschen Gesundheitspolitik aufgegriffen und aktuelle Entwicklungstrends dargestellt, die beispielhaft für einen Wandel sowohl strukturell auf Seiten des Gesundheitswesens als auch individuell auf Seiten des Rezipienten und Adressaten stehen. Eine Vertiefung der hier skizzierten Themenfelder zwischen Gesundheitspolitik und Gesundheitsförderung werden von den Autorinnen und Autoren dieses Bandes im Anschluss ausführlich vorgenommen.
3 Gesundheit und Krankheit erscheinen vor dem Hintergrund der gentechnologischen Fortschritte zunehmend als vorhersehbar und individuell steuerbar. Variationen in dem Spektrum, den diese Pole abbilden, erlangen somit eine neue soziale Komponente des Vermeidbaren (vgl. u.a. Fukuyama 2002).
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3.1 Eigenleistungen im Bereich der Krankenversorgung Die zahlreichen Finanzierungs- und Budgetierungsstrategien, die zu mehr Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen führen sollen, betreffen sowohl die ambulante als auch die stationäre Versorgung. Als eine Konsequenz erscheint die Reduktion der Leistungsangebote auf das Wesentliche, also die Eliminierung von Randaktivitäten und eine stärker am tatsächlichen Bedarf orientierte Ausrichtung der Leistungsstrukturen bzw. Nutzung der vorhandenen Leistungskapazitäten. Für die Leistungserbringer und die Versicherten wird zunehmend das medizinisch notwendige Versorgungsmaß (medizinischer Standard4) zum Maßstab für die Leistungspflicht, die durch neue Behandlungsstrategien, steigende Inanspruchnahme teurer Behandlungsinnovationen und die zu beobachtende Abnahme der Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf den Prüfstand gestellt wird. In den letzten Jahren war auf dem „Gesundheitsmarkt“ eine Ausweitung von Angeboten und der Inanspruchnahme individueller Eigenleistungen zu beobachten. Die Inanspruchnahme dieser Produkte wird zunehmend weniger durch die Solidarversicherung ermöglicht, was zu Folge hat, dass bestimmte Versorgungsleistungen nicht mehr dem sozialstaatlichen Gleichheitsprinzip folgen, sondern einer konservativen Gerechtigkeitslogik („Matthäus-Prinzip“) Rechnung tragen. Im stationären Sektor kristallisiert sich – zwar noch zurückhaltend, aber durchaus wahrnehmbar – eine Tendenz zu Leistungsangeboten heraus, die nicht die Leistungspflicht der GKV berühren. Solche sog. „medizinischen Wahlleistungen“ sind zusätzliche Leistungen eines Krankenhauses, die zwar medizinischer Natur sind, aber nicht den Charakter einer wahlärztlichen Leistung haben und nicht bereits Gegenstand sog. allgemeiner Krankenhausleistungen sind (vgl. Trefz 2003). Es handelt sich um Leistungen, die der Patient im Rahmen einer indizierten Krankenhausbehandlung wünscht, die jedoch von der Standardbehandlung bei der betreffenden Indikation abweichen, oder bestimmte Zusatzleistungen bei medizinischer Indikation, die jedoch nicht unmittelbar mit dem Be4
Der Begriff des „medizinischen Standards“ ist rechtlich nicht einheitlich und umfassend definiert, auch wenn er in der Judikatur als Grundlage für die Bemessung des Leistungsanspruchs und der ärztlichen Sorgfaltspflicht Anwendung findet. Das Recht beschränkt sich bei der Bestimmung des medizinischen Standards auf eine Art „Grenzkontrolle“, die die Mindesterfordernisse für die berufsspezifische Sorgfaltspflicht des Arztes bei der Ausübung seiner Tätigkeit festlegt (vgl. Schreiber 1984). Oberhalb dieser Grenze gilt der medizinische Standard als nach den personellen und sachlichen Möglichkeiten verschieden. Haftungsmaßstab ist dabei nicht das medizinisch Mögliche und auch nicht jede erdenkliche Sorgfalt, sondern etwas darunter Liegendes, das aber noch den Sicherheitsinteressen des Patienten genügt (vgl. Ulsenheimer/Berg 2006). Zur Bemessung des medizinischen Standards spielen in der Medizin die medizinisch-wissenschaftlichen Fachgesellschaften eine große Rolle, die mit der Erstellung von Leitlinien und Empfehlungen de facto – wenn auch nicht abschließend und umfänglich – Standards definieren (vgl. Dierks 2003).
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handlungsauftrag bzw. mit der medizinischen Behandlungsindikation zusammenhängen sowie Leistungen, die weder eine medizinische Indikation aufweisen noch im Zusammenhang mit allgemeinen Krankenhausleistungen stehen (vgl. Wagener et al. 2005). Das grundsätzliche Problem solcher medizinischer Wahlleistungen liegt oftmals in der Abgrenzung zu den medizinischen Standardleistungen, die dem Leistungsspektrum der GKV entsprechen und den Leistungen, die darüber hinausgehen. Deutlich wird Zunahme von Eigenleistungsangeboten auch in der steigenden Zahl sog. Individueller Gesundheitsleistungen (IGeL), die vom versorgenden Vertragsarzt als zusätzlich zur Grundversorgung bzw. zum Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung zu erwerbendes Produkt angeboten werden und privat liquidiert werden dürfen (vgl. Abholz 2005). Ähnlich, aber weniger häufig, sind ambulante Wahlbehandlungen, die einen Sonderfall medizinischer Wahlleistungen darstellen (Wagener et al. 2005). Sie beinhalten ambulante Leistungen, die im Krankenhaus über den Rahmen des Ambulanten Operierens nach § 115b SGB V (Fünftes Buch Sozialgesetzbuch) oder einer Ermächtigungsbehandlung hinausgehen und ebenso nicht dem Leistungskatalog der GKV entsprechen. All diese Eigenleistungsprodukte sollen die zunehmenden Versorgungslücken schließen, die durch den Ausschluss einiger Leistungen der GKV entstanden sind. Es handelt sich also um eine sukzessive Privatisierung staatlicher Versorgungsleistungen, quasi um einen „zweiten Gesundheitsmarkt“ (Klusen 2003: 173). Der Arzt nimmt hier quasi eine Doppelrolle wahr: Auf der einen Seite erfüllt er einen gesellschaftlich finanzierten Auftrag, zu dem ihn sein Heilberuf qualifiziert und legitimiert, auf der anderen Seite fungiert er als Marktteilnehmer. Dem gleichen Patienten, wird eine zusätzliche und sinnvolle Dienstleistung angeboten, die privat zu erwerben ist. Durch die Vermischung von sozialstaatlicher Gesundheitsversorgung auf der einen und privater Dienstleistung auf der anderen Seite ist die objektive Beurteilung des Patienten, ob diese scheinbar frei gewählte Gesundheitsleistung seiner Rekonvaleszenz dienlich ist oder nicht, erschwert. Auch wenn aus medizinischer Sicht auf die Mehrheit der angebotenen Leistungen (IGeL) verzichtet werden kann, entsteht der Eindruck, der Versorgungsschutz durch die GKV sei unvollständig und müsse durch Privatinitiative und Eigenverantwortung kompensiert werden. Das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient auf der einen und zwischen Krankenkasse und Patient auf der anderen Seite wird hierdurch auf eine harte Probe gestellt und unterliegt zunehmend ökonomisch motivierten Einflüssen, deren Ursachenzuweisungen zwischen allen Beteiligten (Leistungserbringer, -gewährer und -empfänger) zirkulieren (vgl. Kühn 2004). Die „privatisierte“ medizinische Leistung tritt somit in einen Preiswettbewerb des günstigsten Anbieters. Dieser Marktlogik folgend
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erschwert sich die Auswahlleistung des Nutzers der angebotenen medizinischen Dienstleistung zusätzlich, und zwar dahingehend, dass er nicht nur gezwungen ist, die Frage nach der tatsächlichen Inanspruchnahme dieser (Wahl-)Leistung und ihres Zeitpunktes zu treffen, sondern gleichzeitig (sich plötzlich als Marktteilnehmer wieder findend) Angebote verantwortungsvoll vergleichen kann. Ein ähnliches Problem tritt mit der Einführung sog. Selbstbehalte auf, die als ökonomisch motivierte Antwort auf die angeblich ungebremste Inanspruchnahme medizinischer Leistungen eingeführt wurden. Anvisiert werden soll mit diesem Instrument eine erhöhte Wertschätzung des Patienten/Konsumenten den zu erbringenden Leistungen gegenüber, die dann zwangsläufig – vor dem Hintergrund einer genauen Abwägung von Kosten und Nutzen – zu Einsparungen auf der Ausgabenseite führen soll. Dieses Prinzip setzt ebenso wie die IGeLLeistungen oder medizinische Wahlleistungen erforderliche Kenntnisse auf Patientenseite voraus, um eine für ihn sinnvolle Entscheidung treffen zu können. Da hier ebenfalls der behandelnde Arzt zunächst als Anbieter fungiert (im Zweifelsfall können Informationen auch über die Kasse oder die zuständige Ärztekammer eingeholt werden), kann die zu treffende Entscheidung des Patienten nur bedingt als autonom bezeichnet werden. Führen die Selbstbehalte zu einer Ablehnung der Leistung seitens des Patienten (z.B. weil die Kosten dafür nicht erbracht werden können) und damit eine nachhaltige Therapie nicht gewährleistet ist, muss damit gerechnet werden, dass langfristig größere Folgekosten entstehen, die von der Solidargemeinschaft getragen werden müssen. Somit setzt das Instrument der Selbstbehalte lediglich auf kurzfristige Lösungen der Kostenreduzierung. Medizinische Wahlleistungen, Individuelle Gesundheitsleistungen oder Selbstbehalte sind nur ein kleiner Ausschnitt einer Entwicklung, die darauf zielt, Gesundheitsrisiken mehr und mehr zu privatisieren. Sie sind Teil einer globalen Liberalisierungsstrategie, die auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche übergreift und gerade im Umfeld des Gesundheitswesen genügend Rezipienten findet, da es sich um einen der kostenintensivsten sozialstaatlichen Versorgungsbereiche handelt. Die Einführung von Wettbewerbselementen im Gesundheitswesen ist bereits seit den 1990er Jahren erkennbar, sie vollzieht sich aber – vergleicht man diese Entwicklung mit den angelsächsischen Staaten – in Deutschland noch eher gebremst. Aktuell vollziehen sich Wettbewerbsaktivitäten im Patienten-ArztVerhältnis eher noch verdeckt, wogegen vor allem im Bereich der Finanzierungssteuerung erhebliche Anstrengungen unternommen wurden, um marktwirtschaftliche Methoden im Gesundheitswesen zu etablieren.
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3.2 Wettbewerb im Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung Etwa rund 90% der Bevölkerung in Deutschland sind Mitglied der GKV, deren Finanzierung dem Solidaritätsprinzip folgt. Die Beitragsbemessung richtet sich bekanntermaßen nach den Einkommensverhältnissen und nicht am gesundheitlichen Risiko des Versicherten. Die medizinische Versorgung wird nach dem Sachleistungsprinzip gewährt, d.h. der Patient wird bei der Bezahlung der empfangenen Leistung nicht mit unmittelbarer Marktmacht ausgestattet. Diese ergibt sich – wenngleich mit zahlreichen Einschränkungen versehen - für den Patienten im Bereich der Kassen-, Arzt- und Krankenhauswahl. Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) von 1992 wurde vom Gesetzgeber der Weg zu mehr Wahlmöglichkeiten und Wettbewerb eingeschlagen. Das für den Versicherten spürbarste und wichtigste Ergebnis war die Einführung der weitgehend freien Wahl der Krankenkasse ab 1996 (vgl. Rothgang 2006). Der entstandene Wettbewerb zwischen den einzelnen Krankenkassen hat zunächst einen Konkurrenzkampf um die Ressource „Beitragzahler“ ausgelöst, der unmittelbar von sinkenden Beiträgen einiger etablierter Krankenversicherungen profitieren konnte. Gegenwärtig existieren etwa 254 Krankenkassen in Deutschland (Stand Dezember 2006, vgl. Pressemitteilung 145 des Bundesministeriums für Gesundheit). Die Beitragssätze der einzelnen Kassen variieren untereinander deutlich (aktuell zwischen 12% und 16%). Dass es den Betriebskrankenkassen in der Regel leichter fällt, niedrigere Beitragssätze anzubieten als den Ersatzkassen, ist hauptsächlich einem schlankeren Management geschuldet. Zur Gewährung der gesetzlich zugesicherten Leistungen sind die Krankenkassen gleichermaßen verpflichtet (siehe SGB V), auch wenn Unterschiede im Leistungsangebot bei freiwilligen Leistungen oder Kulanzleistungen zu erkennen sind. Der Wettbewerb der Kassen untereinander bewirkte innerhalb der Organisationen einen Modernisierungsschub, die Kosten für die vermeintliche Marktteilnahme, so scheint es, wurden u.a auf die Beitragszahler abgewälzt. Für die Wettbewerbsteilnahme müssen die Krankenkassen auf der einen Seite nicht nur Kosten einsparen; sie sehen sich auch mit erhöhten Kosten für Werbung und Marketing konfrontiert. In Deutschland bedeutet dies, dass die Kosten des Wettbewerbs den Beitragszahler jährlich mit einem Aufwand von ca. 157 Euro für Verwaltungsarbeiten belasten5 (vgl. BEIGEWUM 2005). Der Leistungsbereich wurde von diesen Wettbewerbsmöglichkeiten vom Gesetzgeber zunächst ausgenommen, auch wenn dort bis zum Regierungswechsel 1998 zwischenzeitlich über Elemente wie „Gestaltungsleistungen“ und „Freie Wahl zwischen Sachleistung und Kostenerstattung“ nachgedacht wurde (vgl. 5
In Österreich bspw. ist dieser Betrag bedeutend niedriger und beträgt lediglich ca. 61 Euro (BEIGEWUM 2005).
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Klusen 2003). Die tatsächlichen Vorteile dieser Form von Scheinwettbewerb werden für den gesetzlich Versicherten kaum quantifizierbar, sieht man einmal von der Möglichkeit der freien Kassenwahl ab. Es kann sogar von Wettbewerbsversagen gesprochen werden: Die lediglich auf die freie Kassenwahl reduzierte Wettbewerbsform hat nachweislich nicht zu einer Verbesserung der Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung geführt. Da Effizienzsteigerungen nicht ersichtlich waren und in Zukunft auch nicht zu erwarten sind, kristallisieren sich Nachteile zunehmend heraus. Klusen (2003: 169) weist aber darauf hin, dass diese Form des preisinduzierten Kassenwechsels zunächst Vorteile für Versicherte und Arbeitgeber bringen, da individuelle Gesundheitskosten gesenkt werden können. Allerdings ist festzustellen, dass die Wanderungsbewegungen von Versicherten zu preisgünstigeren Krankenkassen nicht in dem Ausmaß stattfanden, wie sie bspw. auf dem Marktsektor der Telekommunikation erkennbar sind (ebd.). Es bleibt also festzuhalten, dass der vom Gesetzgeber „schön“ geredete Wettbewerb bzw. die durch den Wettbewerb angestrebten Vorteile in der gegenwärtigen Form nur schwer realisiert werden können. Krankenkassen sind nach wie vor Körperschaften öffentlichen Rechts und sind damit aufgrund ihrer behördlichen Institutionalisierung im Gesundheitswesen staatlich regulierte Apparate. Auch die Selbstverwaltung suggeriert nur einen scheinbaren Kompromiss zwischen Staat und Markt, da Krankenkassen kaum Informationsverpflichtungen gegenüber ihren Beitragszahlern bzw. Kunden haben und die Mittelverwendung in staatlich regulierten Bahnen erfolgt (vgl. Nebling 2006). Wenn sich aber die Krankenkassen durch einen aufkeimenden Preis- und Servicewettbewerb dazu „gezwungen“ sehen, Versorgungsleistungen vermehrt zu reduzieren und die Sachleistungsansprüche der Versicherten z.B. bei Krankenhaus- oder Vorsorgeleistungen zunehmend in Frage zu stellen, kann dieser scheinbare Wettbewerb langfristig zu einer Verschlechterung der Versorgungssituation und zu einem Anstieg der Beiträge führen. Auch wenn es zurzeit weitere Tendenzen gibt, das Verhältnis von Krankenkasse und Leistungserbringer zu fördern, in dem z.B. selektives Kontrahieren ermöglicht wird (Stichwörter: Integrierte Versorgung, Hausarztzentrierte Versorgung), um Wettbewerb als Konstante im Gesundheitswesen zu etablieren, haben diese Formen (noch) keine große Bedeutung (Rothgang 2006: 310) und stecken noch in den „Kinderschuhen“. Wir haben es insgesamt also mit einem Finanzierungs- und Leistungssystem zu tun, das einerseits hochgradig staatlich reguliert ist, andererseits zunehmend individuelle Entscheidungen, Selbstverantwortung und Marktmacht fordert, ohne einen tatsächlichen Markt anzubieten. Dass trotzdem das ÖkonomisierungsParadigma für die Herstellung, Bezahlung und Durchführung von gesundheitlichen Leistungen zunehmend handlungsleitend wird, liegt vor allem an den ge-
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schaffenen Möglichkeiten für alle Interessengruppen, maximalen Gewinn durch Gesundheit zu erzielen. „Ökonomisierung in diesem Sinne wird insbesondere dann deutlich, wenn die aus der gewinnmaximierenden Logik resultierenden Motive stärker sind als professionelle Qualitätsstandards (…).“ (Bauer 2006: 18) Erkennbar wird so ein Quasi-Markt, auf dem marktwirtschaftliche Instrumentarien bedient und eingesetzt werden, die im Grunde sozialstaatlichen Implikationen widersprechen (siehe Rau in diesem Band). „Durch Marktsimulation und Wettbewerb im Gesundheitswesen wird tendenziell die Marktlogik zum Bezugsrahmen der Behandlungs- und Pflegeentscheidungen.“ (Kühn 2004: 38)
3.3 Entwicklung der Gesundheitsausgaben In der Diskussion um die Grenzen der finanziellen Belastbarkeit des Sozialstaates und unseres Gesundheitswesens werden neben der sinkenden Einnahmeseite vor allem steigende Gesundheitsausgaben genannt. Tatsächlich sind die Gesundheitsausgaben in Deutschland – vergleicht man diese mit anderen OECDLändern – signifikant hoch (2004: 10,8% am Bruttoinlandsprodukt). Lediglich die USA (2004: 15,3% am BIP) und die Schweiz (2004: 11,6% am BIP) liegen mit ihren Ausgaben für Gesundheit deutlich darüber. Frankreich lag in der letzten Dekade – gemessen am Bruttoinlandsprodukt – stets erkennbar unter den deutschen Ausgaben, jedoch mit Annäherungstendenz an das deutsche Niveau (vgl. Statistisches Bundesamt 2006). Der Anteil der Gesundheitsausgaben in Deutschland am BIP präsentiert sich enorm hoch, er ist im Vergleich zu den anderen Ländern in den letzten 10 Jahren jedoch relativ stabil geblieben. Ein deutlicher Anstieg der Gesundheitsausgaben am BIP war allerdings nach der Wiedervereinigung zu beobachten gewesen. Diese Entwicklung muss aufgrund des relativen Zurückbleibens des gesamtdeutschen BIPs nach der Wiedervereinigung aber als ein statistisches Artefakt gewertet werden (vgl. Schölkopf/StapfFiné 2004). Nominal sind die Gesundheitsausgaben in Deutschland in den Jahren von 1995 bis 2004 gestiegen. Im Jahr 2004 ist nach längerer Zeit steigender Ausgaben jedoch erstmals ein leichter Rückgang – bezogen auf das BIP – um 2% (siehe Abb. 1) bzw. eine Stabilisierung der Gesamtausgaben zu verzeichnen (siehe Abb. 2). Grundsätzlich ist in den dargestellten OECD-Ländern seit Mitte der 1990er Jahre ein Trend zu einem generellen Anstieg der Gesundheitsausgaben erkennbar (siehe Abb. 1).
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Anteil am Bruttoinlandsprodukt in %
14
USA
USA
CH
12
D
D 10 8 6
CH F
USA D
F NL NL
CH F
I UK
NL JP
I JP
4
UK
2 0 1994
Abbildung 1:
1995
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
Entwicklung der Gesundheitsausgaben in Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) am Beispiel ausgewählter OECD-Länder; Quelle: Statistisches Bundesamt 2006, OECD Gesundheitsdaten (zum Teil revidiert und aktualisiert).
Hinsichtlich des absoluten Anstiegs der Gesundheitsausgaben sind primär keine Kausalzusammenhänge ersichtlich. Die Gründe für die Ausgabensteigerungen sind aber überwiegend in den gestiegenen Kosten für medizinische Forschung, den technologischen Fortschritten in den Behandlungs- und Diagnosemöglichkeiten, dem demographischen Wandel sowie Mengenausweitungen und Preiserhöhungen bei der Erbringung von Gesundheitsleistungen zu suchen (RKI 2006: 197). In Bezug auf die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit wird zunächst sichtbar, dass sich diese ebenfalls in allen Vergleichsländern zwischen 1995 bis 2004 erhöht haben (siehe Abb. 3). Obwohl für Deutschland ein vergleichsweise eher gebremster Anstieg in den Jahren zu beobachten ist, liegt es doch hinsichtlich der Ausgaben im oberen Mittelfeld (ebd.).
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Gesundheitsausgaben in M ill. €
250.000
200.000 Ambulante Einrichtungen Stationäre/teilstationäre Einrichtungen 150.000
Ausland Sonstige Einr. und private Haushalte Verwaltung
100.000
Rettungsdienste Gesundheitsschutz Investitionen
50.000
0 1995
1996
Abbildung 2:
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
Entwicklung Gesundheitsausgaben 1995 bis 2004 nach Ausgabenträgern und Einrichtungen; Gesundheitsausgaben in Mill. Euro; Quelle: Statistisches Bundesamt 2006.
6.500 USA
6.000
Kaufkraft in US-Dollar je EW
5.500 5.000 4.500 4.000
CH
CH
3.500 3.000 2.500
USA D
USA
D
CH
F NL I
D
2.000
JP
1.500
UK
1.000 500 0 1995
Abbildung 3:
1996
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
Entwicklung der jährlichen Gesundheitsausgaben (in US-Dollar Kaufkraftparität je Einwohner) am Beispiel ausgewählter OECD-Länder; EW: Einwohner; Quelle: Statistisches Bundesamt 2006, OECD Gesundheitsdaten (zum Teil revidiert und aktualisiert).
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Die Pro-Kopf-Ausgaben in Deutschland lagen im Jahr 2004 bei 3040 US-Dollar. Im Vergleich zu den Berechnungen der Gesundheitsausgaben am BIP liegen auch hier die Schweiz (2004: 4080 US-$) sowie die Vereinigten Staaten (2004: 6100 US-$) bei der Ausgabenentwicklung weit vorne. Die Niederlande und Frankreich sind bei den durchschnittlichen Ausgaben je Einwohner auf gleicher Höhe mit Deutschland.
3.4 Zur Kostenexplosion im deutschen Gesundheitswesen Seitdem Heiner Geißler 1974 die Ausgaben für das Gesundheitswesen öffentlich in Zusammenhang mit der Krise des Sozialstaats in Verbindung gebracht hat und den noch heute geläufigen Begriff der „Kostenexplosion“ nachhaltig prägte, wird die Entwicklung der Gesundheitsausgaben misstrauisch von der Öffentlichkeit und der Politik verfolgt. Das Paradigma eines überteuerten Gesundheitswesens ist heute noch fester Bestandteil verbaler Politkämpfe, die um die Wirksamkeit sozialstaatlicher Errungenschaften und ihrer Leistungstiefe kursieren. In Deutschland werden hohe Anteile des BIPs für das Gesundheitswesen aufgebracht. Jedoch erscheinen diese hohen Anteile aus makroökonomischer Betrachtung – ein auskömmliches reales Pro-Kopf-Wirtschaftswachstum vorausgesetzt – auch dauerhaft nicht die Grenzen der Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens zu überschreiten (vgl. Schlander/Schwarz 2005). Die These der Kostenexplosion ist also angesichts der relativen Entwicklung der Gesundheitsausgaben nicht haltbar. Dies wird ebenso bestätigt bei Betrachtung der GKVAusgabenanteile am BIP, bei denen in den letzten 10 Jahren eine ähnliche Entwicklung und relative Ausgabenstabilität zu verzeichnen war wie bei den Gesundheitsgesamtausgaben. Trotz gebremster Ausgabenzuwächse und Effizienzgewinne, die teilweise auf die eingangs dargestellten Veränderungen im Gesundheitswesen zurückzuführen sind, ist bei allgemein relativer Stabilität der Gesundheitsausgaben doch ein geringer Anstieg der Gesundheitskosten am BIP in den letzten Jahren festzustellen. Dies hängt nach Einschätzung des Robert Koch-Instituts (2006) ähnlich wie in der Situation nach der Wiedervereinigung u.a. mit der – im Vergleich zu anderen OECD-Ländern – ungünstigeren wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland in den letzten Jahren zusammen. Schaut man sich die Pro-Kopf-Ausgabenentwicklung genauer an, wird deutlich, dass die durchschnittliche Steigerung in Deutschland am geringsten ausfällt. Obwohl demnach eine Kostenexplosion im deutschen Gesundheitswesen nicht wirklich stattgefunden hat (vgl. z.B. Braun et al. 1998), sollten die in den letzten Jahren gestiegenen Ausgaben für Gesundheitsleistungen genauer in den
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Blick genommen werden. Die Autoren nennen weitere „gern erzählte Fabeln“ im Gesundheitsbereich (siehe auch Ärztezeitung 1998):
Die Anspruchshaltung der Patienten fördere den Missbrauch, führe zu einem maximalen Konsum und steigende Ausgaben, durch gestiegene Kassenbeiträge und Lohnnebenkosten werde der Wirtschaftsstandort gefährdet, Stärkung der Eigenverantwortung durch private Vorsorge und Zuzahlung führe zur besseren Steuerung.
Mit Ausnahme der USA sind die Gesundheitsausgaben in den anderen Ländern zum größten Teil öffentlich finanziert, sei es durch den Staat oder durch eine Solidarversicherung. Effizienz- und Effektivitätsgewinne als Ziel eines privat finanzierten, marktgesteuerten Gesundheitswesens sind in den USA nicht zu erkennen (Reiners 2002: 42). Angesichts der Ausgabenintensität erscheinen Vorhaben, das deutsche Gesundheitswesen mit einem rein marktmäßigen und wettbewerblich organisierten Gesundheitssystem nach dem US-amerikanischen Vorbild zu reformieren, mehr als zweifelhaft. In der Schweiz basiert z.B. die komplette zahnmedizinische Versorgung auf einem privatisierten Versicherungsmodell. Auch hier sind vor dem Hintergrund dieser Kostenvergleiche (Abb. 1 und 3) keine signifikanten Effekte zur Ausgabensenkung erreicht worden. Die Ausgabenhöhe in Deutschland dagegen ist auf eine umfassende Versorgung für die gesamte Bevölkerung zurückzuführen, die in der vorliegenden Tiefe nur von wenigen Ländern auf der Welt geleistet wird. Auch wenn der Leistungskatalog in den letzten Jahren nachweislich geschrumpft ist, gilt die Arzt- und Versorgungsdichte in Deutschland im europäischen Vergleich noch immer als vorbildlich (vgl. Butzlaff et al. 2001; Fleßa 2005b). Auch ist die These von einer durch das Anspruchsverhalten der Versicherten induzierten Ausgabensteigerung der GKV nicht haltbar. Verbunden damit ist die häufig zitierte „Vollkasko-Mentalität“ der Versicherten, die zu einem maximalen Ausnutzen medizinischer Leistungen (ver-)führe6. Die Maximierungsthese ist daher schon nicht plausibel, da im Gesundheitsbereich ein hoher Anteil der Ressourcen von nur wenigen Versicherten in Anspruch genommen wird (dies überwiegend unfreiwillig, z.B. durch schwere Krankheit und lange Leiden); ein 6 In der Diskussion werden häufig die Begriffe „Moral-Hazard-Phänomen“ (Erhöhung der Wahrscheinlichkeit zu erkranken durch entsprechendes Verhalten bei vorhandenem Wissen um den eigenen Versicherungsschutz), „Free-Rider-Mentalität“ (Ausnutzen der Leistungen ohne Eigenbeteiligung bei der Kostenträgerschaft) und „Rationalitätenfalle“ (Beanspruchung möglichst vieler teurer Gesundheitsleistungen) genannt (vgl. Carels und Pirk 2005, insbesondere siehe Beitrag von Tretter in diesem Band).
Das Gesundheitswesen im Wandel sozialstaatlicher Wirklichkeiten
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geringer Teil der Gesundheitsleistungen wird durch eine „überwältigende Mehrheit“ der Versicherten verbraucht (Braun et al. 1998; Ärztezeitung 1998). Seit über 20 Jahren verzeichnen die Gesetzlichen Krankenversicherungen einen konstanten (vgl. ebd.), seit Mitte der 1990er Jahre leicht rückläufigen Anteil am BIP. Die stete Steigerung der Krankenkassenbeiträge hängt vielmehr mit den Einnahmeverlusten durch die steigende Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen sinkenden Lohnquote zusammen (Reiners 2002: 43).
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Gesundheitsförderung als sozialstaatliche Leistung
Das Gesundheitswesen konstituiert sich überwiegend als ein System von Experten, die – abgesehen von breit angelegten Präventionsmaßnahmen – für die einzelfallbezogene Identifizierung von Krankheit zuständig sind. Das zentrale handlungsleitende Interpretationsschema des Gesundheitswesens ist insofern nicht „Gesundheit“ sondern „Krankheit“. Hey (2000) sieht in diesem scheinbaren Antagonismus einen funktional bedeutsamen Zusammenhang: „Denn meist können die für die Entstehung von gesundheitlichen Störungen relevanten Faktoren erst identifiziert und darauf aufbauend Maßnahmen zu ihrer Vermeidung konzipiert werden, wenn eine Mehrzahl von Fällen gleichartiger Störungen bekannt und untersucht sind. Letztlich ist also präventive Erhaltung von Gesundheit immer auch vom faktischen oder auch zumindest potentiellen Auftreten von Krankheit abhängig, nämlich als antizipierte Vermeidung.“ (ebd.: 105) Die frühzeitige Vermeidung von Krankheit bzw. die gleichzeitige Sicherung von Gesundheit hat – dieser Argumentation folgend – eine zweischichtige Intention: Auf der einen Seite geht es primär darum, Krankheit im konkreten personenbezogenen Fall zu heilen (Kuration), zu vermeiden (Prävention) sowie Leiden zu verkürzen bzw. zu verringern (Palliation). Diese ethisch hohen Ziele werden durch das Gesundheitswesen erfolgreich und auf hohem Niveau tagtäglich umgesetzt. Sie haben aber gleichzeitig noch eine weitere Intention: Den Erhalt der von Krankheit bedrohten Funktionsfähigkeit der Gesellschaft (ebd.). Auch wenn derartige strukturfunktionalistische Diagnosen (vgl. Parsons 1967) heutzutage von komplexeren und mehrdimensionalen soziologischen und gesundheitswissenschaftlichen Ansätzen verdrängt wurden (vgl. Hurrelmann 2003), bleibt die Frage nach dem gesamtgesellschaftlichen Nutzen von individueller Gesundheit evident. Hiermit untrennbar verbunden ist die Frage nach der Finanzierung von direkten personbezogenen Gesundheitsleistungen auf der einen (Krankenkassenversorgung) und den strukturellen Folgen nicht korrigierter Krankheitsfolgen auf der anderen Seite (Leistungen der Renten- bzw. Arbeitslosenversicherung, Sozialleistungen zum Lebensunterhalt). Gesundheit und Krankheit erlangen somit
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Gregor Hensen, Peter Hensen
eine gesellschaftspolitische Relevanz, die weit über die des persönlichen Befindens und persönlichen Leidens hinausgeht. Vor dem Hintergrund dieser Bedeutung und hinsichtlich der sich zunehmenden prekarisierenden „sozialen Kosten von Gesundheit“ (Hurrelmann 1994; aktuell Bauer 2006), werden zunehmend Konzepte in den Mittelpunkt gerückt, die nicht mehr nur allein die medizinisch leitende Perspektive von Gesundheit und Krankheit verfolgen, sondern versuchen, die Sicherung und den Erhalt von Gesundheit unter Berücksichtigung relevanter Einfluss- und Bedingungsfaktoren als zentrales Programmziel zu proklamieren. Ein solches Konzept ist die Gesundheitsförderung. Die Begriffe Gesundheitsförderung und Prävention werden häufig in einem Atemzug genannt, wobei bislang keine klar semantische Abgrenzung erfolgte. Dies erscheint vor dem Hintergrund der nahezu ähnlichen Zielsetzung, die mit beiden Begriffen verbunden ist, zunächst nicht notwendig (vgl. Franzkowiak 2006: 20f.). Rosenbrock und Kümpers (2006) halten allerdings die inflationäre Verwendung dieses Begriffspaares für fachlich verfehlt: „Gesundheitsförderung ist ein Querschnittsaspekt jeder modernen Gesundheitssicherung, dessen Ausbau nicht nur in der Prävention, sondern ebenso auch in der Kuration, in der Pflege wie in der Rehabilitation notwendig ist.“ (ebd.: 248) Gesundheitsförderung ist also ein Konzept, das wesentlich umfassender ist als der Präventionsbegriff. Sie umfasst die Primärprävention, verbindet sie jedoch mit einem Konzept eines kompletten Präventions- und Behandlungssystems, das von der Vermeidung der Krankheitsentstehung, über die klinische Manifestation bzw. Heilung und Verbesserung des Zustandes bis zur Vorbeugung von Rückfällen reicht und Gesundheit nicht als Gegenteil von Krankheit definiert (vgl. Fleßa 2005a). Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), deren Aufgabe es u.a. ist, Stellungnahmen zu internationalen Gesundheitsfragen zu liefern, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Modifizierung und Aktualisierung derartiger Begrifflichkeiten. Dass diese nicht immer dem aktuellen Zeitgeist entsprechen, macht folgendes Beispiel deutlich: Die offizielle Definition von Gesundheit bspw. wird schon seit der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 22. Juli 1946 beschrieben als einen „Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen.“ Hiermit verbunden sind utopistische Vorstellungen eines unerreichbaren Zustandes für die drei zentralen Ebenen des menschlichen Daseins (vgl. Hünersdorf 1997: 59ff.). Die Kritik an dieser Definition richtet sich an die Vermittlung eines starren Gesundheitsbildes, das vor dem Hintergrund der heutigen Forschung längst überholt ist (siehe hierzu Hörmann 1998; Hurrelmann 2003). Das so anvisierte Ziel ist hinsichtlich seines umfassenden Auftrages kaum zu erreichen; die Definition machte aber zum ersten Mal deutlich, dass sich ein
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übergreifender und moderner Gesundheitsbegriff nicht nur auf objektive Indikatoren für körperliche Gesundheit beziehen darf, sondern die Ebene des subjektiven Empfindens („Wohlbefinden“) einbeziehen muss. Ein Aspekt, der heute längst unwidersprochen in der Gesundheitsforschung verankert ist. Als Motor dieser Entwicklung galt die im Jahre 1986 verabschiedete „Ottawa Charta“, in der ein erweiterter Begriff der Gesundheitsförderung herausgearbeitet wurde, der auch 20 Jahre später noch (wenn auch wiederum modifiziert durch die JarkartaErklärung von 1997) Grundlage für politische und wissenschaftliche Initiativen ist. Die Ottawa-Charta beginnt mit dem Satz: „Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.“ Deutlich werden zwei Aspekte: a) Gesundheit wird fortan nicht mehr nur als ein statischer Zustand verstanden, sondern als eine veränderbare Entwicklungsaufgabe; b) Voraussetzung hierfür sind bestimmte individuelle Ressourcen, die eine etwaige Veränderung des Gesundheitszustandes zulassen können. Hiermit verbunden war und ist ein Wandel in der Rezeption der Begriffe „Gesundheit“ und Krankheit“. Die ursprüngliche Dichotomisierung, die seit je her mit diesen „Aggregatzuständen“ des menschlichen Daseins verbunden waren, wird im Zuge der Entwicklung eines neuen Verständnisses der Gesundheitsförderung zu einem Kontinuum, wenn auch mit graduellen Unterschieden (Rosenbrock/ Kümpers 2006: 247). Altgeld und Walter (1997: 16) fassen hierzu die fünf wesentlichen Handlungsbereiche der Ottawa-Charta zusammen:
Die Entwicklung einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik, die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebenswelten, die Unterstützung gesundheitsbezogener Gemeinschaftsaktionen die Entwicklung persönlicher Kompetenzen sowie die Neuorientierung der Gesundheitsdienste und anderer gesundheitsrelevanter Dienste.
Der Kern des Konzepts Gesundheitsförderung liegt nach Franzkowiak (2006) in der Analyse und Stärkung von Gesundheitsressourcen sowie gesundheitlichen Potentialen von Menschen, ihren Lebenswelten und den gesellschaftlichen Strukturen. Der Autor sieht neben den hier dargestellten Allgemeinzielen den Fokus der Gesundheitsförderung „auf gesundheitliche und soziale Ungleichheiten sowie auf die Herstellung von gesundheitlicher Chancengleichheit und Gerechtigkeit“ (ebd.: 17f.). Dieser Schwerpunktlegung folgend ist – bei Betrachtung der zugrunde liegenden Konstituenten des Sozialstaats – Gesundheitsförderung nicht nur eine inhaltlose Formel für zukünftige Willensbildungsprozesse der Politik oder für Akteure des Gesundheitswesens, sondern sie ist eindeutig als Bestand-
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teil sozialstaatlicher Tätigkeit identifizierbar. Sie bildet allerdings weder eine eigenständige Strategie noch einen spezifischen Handlungstyp. Rosenbrock und Kümpers (2006) sehen in der Gesundheitsförderung im Kontext primärpräventiver Handlungsansätze „das Korrelat zur Belastungssenkung und [sie] bildet erst zusammen mit der Belastungssenkung moderne, gesundheitswissenschaftlich fundierte Primärprävention“ (ebd.: 247). Gesundheitsförderung und Prävention treffen sich also auf einer gemeinsamen Zielebene: Krankheit vermeiden durch Stärkung von Ressourcen, Senkung der Belastungen und Reduktion von Risiken. Sie bilden einen gemeinsamen strategischen Ansatz, der zurzeit politisch gewollt und wissenschaftlich kaum in Frage gestellt wird. Gesundheitsförderung ist darüber hinaus ein interdisziplinäres Projekt, das über die referentiellen Wissenschaften wie Medizin und Gesundheitswissenschaften hinausgeht. Altgeld und Kolip (2004) beschreiben dieses Anliegen als eine Kernstrategie der Gesundheitsförderung, die auf politischer Ebene folgende Ansätze verfolgt:
Gesundheitsförderung als Aufgabe aller Politikbereiche: Gesundheitsförderung konstituiert sich als politische Querschnittsaufgabe und kann nicht isoliert im Rahmen gesundheits- oder sozialpolitischer Aufgabenstellung gesehen werden. Dies betrifft sowohl die Politikressorts der Bundesebene, die für grundsätzliche gesetzliche Entscheidungen im Gesundheitswesen zuständig sind als auch die kommunalpolitische Ebene, auf der Gesundheitsförderung realisiert werden kann. Stärkung individueller Kompetenzen: Individuen und Gruppen sollen damit in die Lage versetzt werden, eigene Kompetenzen zu erkennen, Bedürfnisse wahrzunehmen sowie die eigenen Ressourcen dafür einzusetzen, um Einfluss auf ihre Lebenswelt und ihren Lebensraum zu nehmen. Das Konzept des „Empowerments“ versteht sich als einen emanzipatorischen Prozess, in dem die Kooperation von Personen, die von gleichen und ähnlichen Problemen betroffen sind, zu synergetischen Effekten im Sinne von Solidarisierung und Selbstorganisation führt. Konzept des gesundheitsfördernden Settings: Dem Settingansatz liegt die Idee zugrunde, dass Gesundheit keine abstrakte Zielvorstellung ist, sondern im alltäglichen Leben Relevanz aufweist. Gesundheitsförderung muss daher an diesem Lebensalltag ansetzen und konzentriert sich auf definierte Sozialräume, in denen sich Menschen bewegen (z.B. Schule, Krankenhaus, Arbeitsplatz, Quartier etc.) (Altgeld/Kolip 2004: 44f.).
Diese Ansätze können nur in einem intersektoralen Zusammenspiel der jeweiligen Funktions- und Politikbereiche umgesetzt werden. Ein Großteil der gesund-
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heitsbezogen relevanten Settings sind öffentliche Räume, sowohl was ihre Struktur als auch ihre Inanspruchnahme angeht. Diese sich an der Lebensrealität segmentarisch abbildenden Räume (z.B. Schule, Tageseinrichtungen für Kinder oder Krankenhäuser) sind in der Mehrheit öffentlich finanziert und inszeniert; sie unterliegen demnach staatlichen Regulierungs- und Aufsichtsfunktionen. Sie sind quasi Teil sozialstaatlicher Leistungen, an denen zwar in manchen Bereichen von den Nutzer/innen auch eine direkte Entgeltleistung erwartet wird (so z.B. in Bereichen der Jugendhilfe oder im Krankenhaus), dennoch unterliegen sie einer sozialstaatlichen Gewährleistungsverantwortung, die gesundheitsfördernde Konzepte beinhaltet. Das bedeutet, der Staat hat nicht nur die Verpflichtung, regelnd im Bereich der kurativen Versorgung einzugreifen (was z.B. durch die Versicherungspflicht geschieht); er erhält durch dieses Zusammenspiel den expliziten Auftrag, Lebensumstände von Menschen und Bedingungen des kindlichen Aufwachsens so zu gestalten, dass die genannten Ziele einer umfassenden Gesundheitsförderung umgesetzt werden können. Deutlich wird hier der besondere Stellenwert des dargestellten Spektrums von Gesundheitsförderung, das nicht nur auf der individuellen und existenziellen Ebene der Nutzerinnen und Nutzer des Gesundheitswesens evident ist, sondern in hohem Maße durch gesundheitsökonomische und –politische Einflussfaktoren bestimmt wird. Die Frage nach dem geeigneten Maß und einer gerechten Leistungstiefe staatlich regulierter Gesundheitsförderung kann letztlich nicht eindeutig beantwortet werden. Eine zunehmende Liberalisierung des Gesundheitswesens auf dem zurzeit eingeschlagenen Wege stellt allerdings den ausgleichenden sozialstaatlichen Charakter unseres auf Solidarität aufgebauten Gesundheitswesens immer mehr in Frage.
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II Struktur und Wandel
Der Sozialstaat: Prinzipien, Konstituenten und Aufgaben im Gesundheitsbereich Ferdinand Rau
„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz). Das Sozialstaatsgebot ist somit als Staatsziel im Grundgesetz verankert. Eine Änderung dieses Grundsatzes ist nach Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz unzulässig. Zentrale Zielsetzung des Sozialstaates ist die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und die Schaffung sozialer Sicherheit. Wichtiges Instrument hierzu sind die sozialen Sicherungssysteme. In Deutschland dominieren dabei die beitragsfinanzierten Sozialversicherungssysteme. Der Anteil der auf dem Versicherungsprinzip basierenden Systeme (z.B. Kranken-, Renten-, Unfall-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) liegt um die 60 Prozent des Sozialbudgets. Ältester Zweig der Sozialversicherung ist die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), die im Jahr 2008 bereits 125 Jahre alt wird. Nach den Aufwendungen für Alter und Hinterbliebene (2005: 39,3 Prozent) stellen mit rd. einem Drittel des Sozialbudgets oder 235,6 Mrd. Euro die Gesundheitsausgaben den zweitgrößten Ausgabenblock des Sozialbudgets dar (2005: 33,9 Prozent) (http://www.destatis.de/basis/d/solei/soleiq23.php). Dabei machen die Ausgaben der GKV knapp zwei Drittel der Gesamtausgaben im deutschen Gesundheitswesen aus (2005: rd. 143,5 Mrd. Euro). Die GKV bildet daher den Schwerpunkt der folgenden Ausführungen.
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Prinzipien
1.1 Versicherungsprinzip, Äquivalenz- und Solidaritätsprinzip Den Sozialstaat in Deutschland dominiert das Versicherungsprinzip. Anspruch auf Versicherungsleistung haben nur die Mitglieder des Versicherungskollektivs. Grundsätzlich müssen sie hierfür eine Beitragszahlung leisten. Gerade in der GKV gibt es Ausnahmen von diesem Grundsatz, da auch ohne eigene Beitragszahlung eine Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen möglich ist (z.B. Kinder oder nicht erwerbstätige Ehegatten als Familienversicherte). Die Finanzierung von Versicherungsleistungen erfolgt hauptsächlich beitragsfinanziert.
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Ferdinand Rau
Dennoch spielt auch die Steuerfinanzierung eine Rolle, die allerdings bislang eher untergeordnet ist. Im Jahr 2004 wurden 207,5 Mrd. Euro für die Finanzierung von Versicherungsleistungen im Gesundheitsbereich aufgewendet (GKV, PKV, soziale Pflegeversicherung, gesetzliche Unfallversicherung, gesetzliche Rentenversicherung). Von Öffentlichen Haushalten und damit steuerfinanziert wurde im Jahr 2004 lediglich ein Anteil von 9 Prozent (18,7 Mrd. Euro) (Statistisches Bundesamt 2006: 22). Die Sozialversicherung (z.B. GKV, soziale Pflegeversicherung, gesetzliche Unfallversicherung, gesetzliche Rentenversicherung) weist deutliche Unterschiede zu einer normalen Versicherung auf. Beispielsweise besteht für GKVVersicherte – mit Ausnahme der freiwillig Versicherten – eine gesetzliche Versicherungspflicht. Demgegenüber liegt der Abschluss eines Versicherungsvertrags mit einer privaten Krankenversicherung (PKV) in der Entscheidungsfreiheit von Personen, die nicht in der GKV versicherungspflichtig sind. Da die Sozialversicherung grundsätzlich auf einer Zwangsmitgliedschaft beruht, steht das Solidaritätsprinzip im Sozialstaat deutscher Prägung in einem natürlichen Spannungsverhältnis zu dem nachfolgend noch eingehender zu erläuternden Subsidiaritätsprinzip, das auf eine soweit als mögliche Nachrangigkeit zentraler Einheiten gegenüber dem Individuum oder niedrigeren Gliederungsebenen abstellt: „Die Solidarität wiederum ist subsidiär und soll die Entfaltung der Person fördern und nicht hindern“ (Groser 2006). Das angesprochene Spannungsverhältnis kommt auch in § 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) zum Ausdruck, der den Titel „Solidarität und Eigenverantwortung“ trägt. Hierin wird zum Ausdruck gebracht, dass die Versicherten für ihre Gesundheit mitverantwortlich sind und die solidarische GKV durch Aufklärung, Beratung und Leistungen zu helfen und auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken hat. Anders als bei einem privaten Versicherungsvertrag (z.B. in der PKV), dessen Prämien auf der Grundlage des Äquivalenzprinzips (Proportionalität zwischen Leistung und Gegenleistung, Berücksichtigung von Risikofaktoren) kalkuliert sind, werden die Beiträge in der Sozialversicherung ohne Würdigung des jeweiligen Risikos ermittelt. Vielmehr ist die Beitragsgestaltung von sozialen Aspekten und der finanziellen Leistungsfähigkeit geprägt. Der Leistungsanspruch hängt in Sozialversicherungssystemen wie der GKV und der sozialen Pflegeversicherung vom individuellen Versorgungsbedarf und nicht vom geleisteten Beitrag ab. Es gilt das Solidaritätsprinzip, das zur Erreichung eines sozialen Ausgleichs auf eine Belastungsumverteilung zu Gunsten bestimmter Gruppen abzielt (aber: Geltung des Äquivalenzprinzips in der gesetzlichen Rentenversicherung).
Der Sozialstaat: Prinzipien, Konstituenten und Aufgaben
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Der soziale Ausgleich und das solidarische Tragen von Lasten ist elementarer Bestandteil der GKV und wirkt entlang der folgenden vier Linien:
Gesundheitszustand: Die zu leistende Beitragshöhe ist einkommensabhängig und unabhängig vom jeweiligen Gesundheitszustand. Hieran ändern auch die gestiegenen Zuzahlungen grundsätzlich nichts, da eine einkommensabhängige Belastungsgrenze gilt. Die Belastungsgrenze beträgt nach § 62 Abs. 2 SGB V 2 Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt; für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, beträgt sie 1 Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Alter: In Relation der Beitragseinnahmen zu den Leistungsausgaben besteht eine ausgeprägte Generationensolidarität zu Gunsten alter Menschen in der GKV. Illustrieren lässt sich dies damit, dass im Jahr 2005 bei einem Anteil der Rentenempfänger von 26 Prozent an den GKV-Versicherten der Anteil der Beitragseinnahmen mit 23 Prozent unterproportional war, während der Anteil der Leistungsausgaben mit 50 Prozent deutlich überproportional ausfiel. Einkommen: Der von besser verdienenden GKV-Versicherten zu leistende absolute GKV-Beitrag ist höher als von niedrigeren Einkommensgruppen. Diese Belastungsumverteilung wird jedoch durch die Beitragsbemessungsgrenze und die Versicherungspflichtgrenze eingeschränkt. Familienversicherung: Sofern Ehegatten und Kinder kein Einkommen über einer bestimmten Höhe haben, sind diese beitragsfrei familienversichert; es besteht also ein Leistungsanspruch ohne eigene Beitragszahlung.
Die Arbeitgeber sind durch die annähernd hälftige Finanzierung der Beiträge (paritätische Finanzierung) in die Solidargemeinschaft der GKV mit einbezogen. In dem vom Versicherungsprinzip geprägten deutschen Sozialstaat dominiert das Kausalprinzip. Danach ist im Leistungsfall die Ursache des Schadens maßgeblich. So ist beispielsweise für die Kostenträgerschaft von Gesundheitsleistungen die Frage relevant, ob Behandlungsanlass eine Erkrankung (GKV) oder ein Unfall (Unfallversicherung) war. Das Finalprinzip ist demgegenüber zweckorientiert ausgerichtet und bemisst im Leistungsfall die Leistung vorrangig danach, ob ein Schaden befriedigend reguliert wird. Das Finalprinzip spielt in Deutschland in Verbindung mit dem Subsidiaritätsprinzip lediglich in der Sozialhilfe eine Rolle.
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1.2 Versorgungs- und Fürsorgeprinzip, Subsidiaritätsprinzip Gegenüber dem Versicherungsprinzip sind das Versorgungs- und das Fürsorgeprinzip abzugrenzen, die jedoch hinsichtlich ihres Ausgabenanteils am Sozialbudget nachrangigere Rollen spielen. Leistungen auf der Grundlage des Versorgungsprinzips erhalten bestimmte Bevölkerungsgruppen, wenn sie besondere Opfer oder Leistungen für die Gemeinschaft erbracht haben. Oftmals erfolgt ein Belastungsausgleich von Schäden mit Ursachen, für die die Allgemeinheit die Verantwortung übernimmt (z.B. Kriegsopferversorgung, Entschädigung von Impfschäden). Die Finanzierung von Versorgungsleistungen erfolgt über Steuern. Eine Bedürfnisprüfung wird nicht vorgenommen. Die Prüfung der Bedürftigkeit ist demgegenüber integraler Bestandteil des steuerfinanzierten „letzten Netzes“ im Sozialstaat, das die auf dem Fürsorgeprinzip fußende Sozialhilfe bildet. Sozialhilfe wird Bürgerinnen und Bürgern nur nachrangig („subsidiär“) gegenüber anderen Ansprüchen gewährt. Es findet das Subsidiaritätsprinzip Anwendung. Ein Leistungsanspruch besteht nur dem Grunde nach. Art, Form und Umfang der konkreten Hilfeleistung richten sich nach den Besonderheiten des Einzelfalls. Im Gesundheitswesen spielen Versorgungs- und Fürsorgeprinzip keine bedeutende Rolle. Zu nennen ist jedoch der öffentliche Gesundheitsdienst, der im Wesentlichen überwachende, vorsorgende und fürsorgende Aufgaben wahrnimmt. Oberstes Ziel seiner Arbeit ist die Förderung und der Schutz der Gesundheit der Menschen. Das Subsidiaritätsprinzip formuliert eine gesellschaftliche Handlungsmaxime, wonach individuelle Freiheit und Eigenverantwortung vor staatliche Unterstützung und Regulierung zu stellen sind. Staatliche und gesellschaftliche Subsysteme (z. B. Sozialverbände, Kirchen) sollen nur dann unterstützend tätig werden und Aufgaben an sich ziehen, wenn die Kräfte zur Selbsthilfe des Individuums, der Familie oder generell der kleineren Einheit nicht ausreichen, eine Aufgabe selbständig wahrzunehmen. Damit wird nur ein Grundverständnis des Begriffs Subsidiarität umrissen. Es existiert eine Vielzahl von Beschreibungen und Erklärungsansätzen (einschlägig hierzu z.B.: Nell-Breuning 1990: 79). Auch gilt: „Das Subsidiaritätsprinzip kann nur die Blickrichtung vorgeben und keine Detaillösungen liefern“ (Groser 2006).
1.3 Weitere Konstruktionsprinzipien im Gesundheitsbereich Ausfluss des Subsidiaritätsprinzips in der GKV ist auch, dass der Staat den Verbänden der Leistungserbringer und der Krankenkassen als so genannte Selbst-
Der Sozialstaat: Prinzipien, Konstituenten und Aufgaben
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verwaltungspartner die Umsetzung und konkrete Ausgestaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen überträgt. Positiv an diesem Selbstverwaltungsprinzip ist, dass der Staat durch die Aufgabendelegation entlastet wird. Zugleich können die Selbstverwaltungspartner die betreffenden Belange selber und ggf. sachgerechter gestalten und ihre Interessen einbringen und umsetzen. Andererseits gerät das Selbstverwaltungsprinzip jedoch aufgrund von Interessengegensätzen zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern und in Abhängigkeit vom jeweils übertragenen Aufgabenbereich oftmals an natürliche Grenzen. In der jüngeren Gesetzgebung wurden deshalb vermehrt für den Konflikt- oder Blockadefall Ersatzvornahmemöglichkeiten des Bundesministeriums für Gesundheit etabliert (z.B. DRG-Einführung, elektronische Gesundheitskarte, Bewertung vertragsärztlicher Leistungen). Bei der Selbstverwaltung ist zu unterscheiden zwischen dem internen Selbstverwaltungsrecht der Krankenkassen und der gemeinsamen Selbstverwaltung unter Beteiligung der Verbände der Leistungserbringer auf Bundes- oder Landesebene. Die Selbstverwaltung der Krankenkassen als Träger der GKV, wird ehrenamtlich durch im Rahmen von Sozialwahlen gewählte Vertreter der Versicherten und Arbeitgeber ausgeübt (Ausnahme Ersatzkassen: nur Arbeitnehmer). Zum Bereich des internen Selbstverwaltungsrechts gehört bislang auch die eigenständige Festlegung der Beitragssatzhöhe einer Krankenkasse. Mit der Einführung eines Gesundheitsfonds durch das GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) wurde dieses Selbstverwaltungsrecht durch die Festlegung eines bundeseinheitlichen Beitragssatzes durch Rechtsverordnung ersetzt (BTDrs. 16/3100). Die Krankenkassen können nun nur noch die Höhe des allein von den Versicherten zu tragenden Zusatzbeitrags eigenständig festlegen. Zentrales Gremium der gemeinsamen Selbstverwaltung (in der Regel: GKV, Kassen(zahn)ärztliche Bundesvereinigung, Deutsche Krankenhausgesellschaft) ist der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Der G-BA trifft u.a. Detailentscheidungen zum GKV-Leistungskatalog, indem er konkretisiert, welche ambulanten oder stationären medizinischen Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind. Zudem entscheidet er über Aufnahme oder Ausschluss neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Außerdem definiert er Anforderungen an Qualitätssicherungsmaßnahmen für die verschiedenen Leistungssektoren des Gesundheitswesens. Seit dem GKV-WSG sind die Qualitätsanforderungen in der Regel sektorübergreifend auszurichten. Thematische Aufgabenschwerpunkte der Selbstverwaltungspartner sind daneben Vereinbarungen zu Rahmenbedingungen für die Leistungserbringung sowie zu Art und Struktur der Leistungsvergütung (z.B. Krankenhausbereich: Vereinbarung eines Vergütungsverzeichnisses (DRG) und deren monetäre Bewertung; vertrags(zahn)ärztliche Versorgung: Bundesmantelverträge, Gesamtverträge; Vereinbarungen
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mit Heil- und Hilfsmittelerbringern). Die PKV hat der Gesetzgeber in der Regel nicht in die gemeinsame Selbstverwaltung einbezogen (mit gewissen Ausnahmen im Krankenhausbereich, z.B. DRG-Entwicklung). Ein weiteres Strukturprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung ist das Sachleistungsprinzip. Nach § 2 Abs. 2 Satz 1 SGB V werden die Leistungen für die GKV-Versicherten grundsätzlich als Sach- und Dienstleistungen erbracht. Die Versicherten erhalten somit im GKV-System unabhängig von ihrer Zahlungsfähigkeit Leistungen als Naturalleistungen. Eine Vorauszahlung oder Vorfinanzierung ist nicht erforderlich. Die Versicherten sind der Notwendigkeit enthoben, für die finanzielle Abwicklung der entstehenden Behandlungskosten zu sorgen. Erbrachte Leistungen werden direkt von der Krankenkasse gegenüber dem Leistungserbringer oder den Vereinigungen der Leistungserbringer (z.B. Kassenärztliche Vereinigung) vergütet. Anders als beim Kostenerstattungsprinzip, das die PKV dominiert, müssen GKV-Versicherte finanziell nicht in Vorleistung treten. In der GKV ist eine Erstattung der Kosten (§ 13 SGB V) anstelle der Bereitstellung einer Sach- oder Dienstleistung bislang nur in gesetzlich ausdrücklich geregelten Fällen zulässig. Das GKV-WSG ermöglicht den Krankenkassen das Angebot von Tarifen mit Kostenerstattung. Auch ist eine Beschränkung einer gewählten Kostenerstattung auf bestimmte Versorgungsbereiche möglich (z.B. nur Krankenhausleistungen, § 13 Abs. 2 SGB V). Versicherte sind an ihre Wahl zur Kostenerstattung ein Jahr lang gebunden. Die Abrechnung der Leistungen erfolgt auf der Grundlage der GOÄ. Dabei sind jedoch Kostensätze, die den Leistungsrahmen der GKV übersteigen, von den Versicherten zu tragen. Anspruch auf Erstattung besteht höchstens in Höhe der Vergütung, die die Krankenkasse bei Erbringung als Sachleistung zu tragen gehabt hätte. Trotz der deutlich erkennbaren Vorteile aus Sicht der Versicherten, ist das Sachleistungsprinzip nicht unumstritten. Vielfach wird kritisiert, das Sachleistungsprinzip schwäche die Transparenz über die erbrachten Leistungen und deren Vergütung. Die resultierende mangelnde Transparenz fördere eigenverantwortliches Verhalten der Versicherten nicht. Vielmehr führe sie zu einer übermäßigen Erbringung und Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, sie fördere eine „Chipkartenmentalität“ (Widmann-Mauz 2006: 6483A) bis hin zum Missbrauch der solidarisch finanzierten Leistungen. Der Gesetzgeber hat dem insofern Rechnung getragen, als Versicherte von ihren Krankenkassen Auskunft über in Anspruch genommene Leistungen und deren Kosten verlangen können (§ 305 Abs. 1 SGB V). Zusätzlich können Patienten von Vertragsärzten und Krankenhäusern Informationen über die erbrachten Leistungen und die abgerechneten Entgelte verlangen (Patientenquittung nach § 305 Abs. 2 SGB V). In der Praxis wird diese Möglichkeit jedoch nur in sehr geringem Umfang in Anspruch genommen (vgl. z.B. Ärzte Zeitung 11.01.2005).
Der Sozialstaat: Prinzipien, Konstituenten und Aufgaben 2
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Konstituenten
Das Gesundheitssystem der Bundesrepublik Deutschland baut auf den dargelegten Prinzipien auf. Für die GKV sind das Versicherungsprinzip, das Solidarprinzip, das Selbstverwaltungsprinzip und das Sachleistungsprinzip von besonderer Relevanz. Die einzelnen Prinzipien wirken zurück auf die Konstituenten, also die wesentlichen Bestandteile der GKV.
2.1 Versicherter Personenkreis Der Abdeckungsgrad der Wohnbevölkerung durch die GKV ist umfassend. Während kurz nach Einführung der GKV im Jahr 1885 nur rund 40 Prozent der Arbeitnehmer (etwas weniger als 10 Prozent der Bevölkerung) erfasst wurden (Niemann 2006: 37), liegt der Abdeckungsgrad mittlerweile bei 87,5 Prozent (BMG 2005, Tab. 9.2). Bei einer Mikrozensuserhebung im Mai 2003 gaben lediglich 0,2 Prozent der Bevölkerung an, über keinen Krankenversicherungsschutz zu verfügen (BMG 2005: a.a.O.). Um zukünftig jedoch für alle Bürger einen Zugang zu einer bezahlbaren Krankenversicherung zu gewährleisten, wird mit dem GKV-WSG zum Jahr 2007 für alle nicht versicherten Personen in der GKV oder PKV (je nach Personenstatus) eine Versicherungspflicht eingeführt. Der versicherte Personenkreis der GKV umfasst Pflichtversicherte, freiwillig Versicherte und Familienversicherte. Die Voraussetzungen für diese drei Versicherungsformen sind in §§ 5 bis 10 SGB V festgelegt. Die Zuordnung erfolgt in Abhängigkeit vom Personenstatus (z. B. sind Arbeiter, Angestellte, Auszubildende oder Bezieher von Arbeitslosengeld II grundsätzlich versicherungspflichtig) oder der Überschreitung der Versicherungspflichtgrenze (2007: 3.975 Euro im Monat). Wenn das regelmäßige Jahresarbeitsentgelt die Versicherungspflichtgrenze überschreitet, sind Arbeiter und Angestellte nicht zur Versicherung in der GKV verpflichtet. Eine freiwillige Versicherung in der GKV ist in der Regel jedoch nur für Personen möglich, die ihr bereits vorher angehört haben. Zum Stichtag 1. Juli 2006 waren 12,3 Prozent der GKV-Mitglieder freiwillig versichert (BMG 2006a). Beitragsfrei familienversichert sind der Ehegatte und die Kinder, wenn sie ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben und ihr Gesamteinkommen eine festgelegte monatliche Bezugsgröße nicht überschreitet. Der Anteil der Familienversicherten an allen GKV-Versicherten beläuft sich auf 28,5 Prozent (BMG 2006a). Nicht der Versicherungspflicht unterliegen und somit versicherungsfrei sind Personen, die der Gesetzgeber nicht als schutzbedürftig ansieht oder die bereits anderweitig für den Fall der Krankheit geschützt sind (Beamte).
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2.2 Leistungsrecht Das SGB V, in dem das Recht der GKV kodifiziert ist, unterscheidet zwischen dem Leistungsrecht (§§ 11 – 68 SGB V) und dem Leistungserbringerrecht (§§ 69 – 140h SGB V). Im Leistungsrecht sind die Leistungsansprüche der Versicherten geregelt. Im Leistungserbringerrecht werden demgegenüber Vorgaben für die Beziehungen der Krankenkassen zu den Leistungsanbietern (u.a. Vertragsärzte, Krankenhäuser) gemacht, wie z. B. die Zulassung von Leistungserbringern zur Versorgung von GKV-Versicherten, die Leistungsvergütung sowie für die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung. 2.2.1 Grundsätze Wichtige gemeinsame Grundsätze des Leistungsrechts sind insbesondere das Wirtschaftlichkeitsgebot und das Sachleistungsprinzip. Beide Grundsätze sind dem Leistungsrecht neben Regelungen zur Inanspruchnahme von GKVLeistungen, zum Ruhen und Erlöschen eines Leistungsanspruchs und zu Leistungen bei Behandlung im Ausland als gemeinsame Vorschriften vorangestellt. Nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 SGB V) müssen Leistungen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Es handelt sich dabei um unbestimmte Rechtsbegriffe. Die konkrete Umsetzung hat unter Berücksichtigung des jeweiligen Einzelfalles im Rahmen einer Zweck-Mittel-Relation zu erfolgen, wobei der medizinische Behandlungserfolg mit Blick auf das Behandlungsergebnis durch den möglichst geringsten Mitteleinsatz zu erreichen ist. Das Wirtschaftlichkeitsgebot wirkt somit in zwei Richtungen: einerseits stellt es den notwendigen Leistungsstandard sicher, andererseits verhindert es Leistungen im Übermaß (Zipperer 2006: § 12 SGB V Rdnr. 2). Der Wirkungsgrad des Wirtschaftlichkeitsgebots geht über das Leistungsrecht hinaus und ist auch für das Leistungserbringerrecht maßgeblich. Dies wird bereits dadurch zum Ausdruck gebracht, dass neben dem explizit ausgeschlossenen Leistungsanspruch der Versicherten auf nicht notwendige oder unwirtschaftliche Leistungen auch die Leistungserbringer entsprechende Leistungen nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen dürfen. Der Wirtschaftlichkeitsgrundsatz wird in § 70 Abs. 1 Satz 2 SGB V dem Leistungserbringerrecht vorangestellt und damit noch einmal gesondert hervorgehoben. Zusätzlich wird hier das Qualitätsgebot zum Ausdruck gebracht („Versorgung der Versicherten [...] muss in der fachlich gebotenen Qualität [...] erbracht werden“). Die Umsetzung des Wirtschaftlichkeitsgebots erfolgt im Leistungsrecht sowie im Leistungserbringerrecht durch weitere Detailregelungen (z.B. Möglichkeit zur Aufer-
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legung der Mehrkosten, wenn Versicherte ohne zwingenden Grund ein anderes als das in der ärztlichen Verordnung genannte Krankenhaus wählen, § 39 Abs. 2 SGB V; Richtlinien des G-BA für einzelne Leistungsbereiche nach § 92 SGB V). Dass das Wirtschaftlichkeitsgebot auch für die Krankenkassen Bedeutung hat, wird durch die Vorstandshaftung unterstrichen. Diese greift, wenn Vorstandsmitglieder Kenntnis davon haben, dass Leistungen ohne Rechtsgrundlage oder entgegen geltendem Recht in Missachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots bewilligt werden (§ 12 Abs. 3 SGB V). Auf die Ausführungen zum Sachleistungsprinzip unter 1.3 wird in diesem Zusammenhang verwiesen. 2.2.2 Leistungsarten Versicherte haben nach § 11 SGB V insbesondere Anspruch auf Leistungen zur
Verhütung von Krankheiten (§§ 20 bis 24b), Früherkennung von Krankheiten (§§ 25 und 26), Behandlung einer Krankheit (§§ 27 bis 52) sowie medizinische und ergänzende Leistungen der Rehabilitation, auch soweit sie nach Eintritt von Pflegebedürftigkeit erforderlich sind.
Der Leistungskatalog der GKV umfasst damit neben Leistungen der Kuration auch Leistungen der Prävention, Früherkennung und auch der medizinischen Rehabilitation. Zu den Präventionsleistungen gehören Leistungen der Primärprävention (§ 20 SGB V), die den allgemeinen Gesundheitszustand verbessern sollen und auf die Vorbeugung des erstmaligen Auftretens von Erkrankungen abzielen (z. B. Schutzimpfungen). Der Gesetzgeber baut zur Primärprävention auch auf die Einbindung von Selbsthilfegruppen. Zu den GKV-Leistungen der sekundären Prävention, mit der die Früherkennung von symptomlosen Krankheitsvor- und frühstadien bezeichnet wird, gehört die zahnmedizinische Gruppen- und Individualprophylaxe (§§ 21, 22 SGB V). Als Beispiel für Leistungen der tertiären Prävention, die die Verhütung der Verschlimmerung von Erkrankungen und Behinderungen sowie die Vorbeugung von Folgeerkrankungen umfasst, können schließlich ambulante Vorsorgeleistungen für chronisch kranke Kleinkinder genannt werden (§ 23 SGB V). Der auf Gesundheitsförderung entfallende Ausgabenanteil an den gesamten laufenden Gesundheitsausgaben (also über die GKV hinaus) belief sich im Jahr 2004 auf nur rd. 2 Prozent (Statistisches Bundesamt 2006: 58; eigene Berechnung).
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Die Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten unterscheiden zwischen
Leistungen für Erwachsene (§ 25 SGB V), für die ab bestimmten Altersgrenzen und für bestimmte Indikationen ein Anspruch auf ärztliche Gesundheitsuntersuchung besteht (z.B. ab dem 35. Lebensjahr jedes zweite Jahr Anspruch auf Früherkennung von Herz-Kreislauf-, Nierenerkrankungen, Zuckerkrankheit; ab dem 20. Lebensjahr bei Frauen und dem 45. Lebensjahr bei Männern auf Früherkennung von Krebserkrankungen) und Früherkennungsuntersuchungen für Kinder, um schon frühzeitig Fehlentwicklungen bei Kindern zu erkennen und zu beeinflussen (§ 26 SGB V).
Der auf Früherkennungsmaßnahmen entfallende Ausgabenanteil an den gesamten laufenden Gesundheitsausgaben (also über die GKV hinaus) belief sich im Jahr 2004 auf nur rd. 0,5 Prozent (Statistisches Bundesamt 2006: a.a.O.). Mit einem Ausgabenanteil an den gesamten laufenden Gesundheitsausgaben von knapp 90 Prozent im Jahr 2004 (Statistisches Bundesamt 2006: a.a.O.) liegt der Schwerpunkt der laufenden Gesundheitsausgaben im Bereich der Krankenbehandlung (ärztliche und therapeutische Leistungen zzgl. Ausgaben für Waren und Unterkunft). Dies stellt sich für die GKV grundsätzlich nicht anders dar. Die Leistungen zur Krankenbehandlung werden in § 27 Abs. 1 SGB V einführend aufgelistet. Sie umfassen insbesondere die vertrags(zahn)ärztliche Versorgung, die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, die häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe, die Krankenhausbehandlung sowie Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und ergänzende Leistungen. Für die einzelnen Leistungen werden Einzelheiten zum leistungsrechtlichen Anspruch der Versicherten in den §§ 27a bis 52 SGB V vorgegeben. § 39 SGB V konkretisiert beispielsweise den Anspruch auf Krankenhausbehandlung. Der Anspruch besteht nur auf Behandlung in zugelassenen Krankenhäusern. Vollstationäre Krankenhausbehandlung darf nur dann erbracht werden, wenn die Aufnahme nach Prüfung durch das Krankenhaus erforderlich ist, weil das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann (Grundsatz „ambulant vor stationär“). Neben dem erwähnten Grundsatz „ambulant vor stationär“ (§ 73 Abs. 4 Satz 1 SGB V, § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB V) gibt das Leistungsrecht auch für das Verhältnis von medizinischer Rehabilitation und Pflege eine in der Versorgung zu beachtende Rangordnung vor: Es gilt der Grundsatz „ambulante Rehabilitation vor Pflege“ (§ 11 Abs. 2 Satz 1 SGB V).
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Zu nennen ist schließlich noch die Gewährung von Lohnersatzleistungen bei Arbeitsunfähigkeit. Hier ist als Leistung insbesondere das Krankengeld anzuführen. Die Zahlung von Krankengeld soll Versicherte in die Lage versetzen, trotz Arbeitsunfähigkeit, Krankenhausbehandlung oder bestimmter stationärer medizinischer Vorsorge- oder Rehabilitationsleistungen ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Krankengeld wird grundsätzlich für die Dauer der Arbeitsunfähigkeit gezahlt; wegen derselben Krankheit jedoch maximal 78 Wochen innerhalb von drei Jahren. Im Jahr 2005 beliefen sich die GKV-Ausgaben für Krankengeld auf rd. 5,86 Mrd. Euro bzw. einen Ausgabenanteil von 4,1 Prozent (BMG 2006b). Die Versicherten haben sich an den Kosten verschiedener Leistungen durch Zuzahlungen zu beteiligen (§ 61 SGB V; z.B. bei Krankenhausbehandlung 10 Euro je Kalendertag für längstens 28 Tage). Inwieweit durch die Höhe und die Ausgestaltung der Zuzahlungen das Inanspruchnahmeverhalten der Versicherten beeinflusst wird, ist beliebter Gegenstand der gesundheitspolitischen Diskussion. Vorhandene empirische Ergebnisse werden dabei jedoch selten berücksichtigt (Rau 1992: 92 ff). Unstrittig ist allerdings die Finanzierungswirkung der Selbstbeteiligungen. Um eine finanzielle Überforderung der Versicherten zu vermeiden, existiert eine Belastungsgrenze (§ 62 SGB V). Die Belastungsgrenze beträgt 2 Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt; für chronisch Kranke, die wegen derselben schwerwiegenden Krankheit in Dauerbehandlung sind, beträgt sie 1 Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt. Im Leistungsrecht der GKV schlagen sich an diversen Stellen Abgrenzungen zu anderen Sozialversicherungszweigen nieder. So haben Versicherte zwar nach § 37 SGB V Anspruch auf häusliche Krankenpflege (Grund- und Behandlungspflege). Nach Eintritt der Pflegebedürftigkeit erbrachte Leistungen der aktivierenden Pflege gehören jedoch nicht mehr zum Leistungsumfang der GKV; sie sind von der Pflegeversicherung zu tragen (§ 11 Abs. 2 Satz 2 SGB V). Ferner besteht kein Anspruch gegenüber der GKV auf Leistungen, die Folge eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung sind (§ 11 Abs. 4 SGB V).
2.3 Leistungserbringerrecht Dem Leistungserbringerrecht vorangestellt ist der Grundsatz der Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V). Er besagt, dass die Selbstverwaltungspartner (Krankenkassen und Leistungserbringer) Vergütungsvereinbarungen so auszugestalten haben, dass Beitragssatzerhöhungen vermieden werden. Von diesem Grundsatz kann nur abgewichen werden, wenn die notwendige medizinische Versorgung auch nach Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven ohne Beitragssatzer-
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höhungen nicht zu gewährleisten ist. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität wird dahingehend operativ umgesetzt, indem die Vergütungsvolumina (z.B. vertragsärztliche Gesamtvergütungen, § 85 Abs. 3 Satz 2 SGB V) oder die Entwicklung der Preise (z.B. Landes-Basisfallwerte der Akut-Krankenhäuser, § 10 Abs. 4 Satz 1 des Krankenhausentgeltgesetzes) an die Veränderungsrate der beitragspflichtigen Einnahmen der GKV-Versicherten angebunden werden. Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität trägt dem Erfordernis Rechnung, die Ausgabenentwicklung der GKV auf die verfügbaren Ressourcen zu begrenzen. Er ist Grundlage der so genannten einnahmeorientierten Ausgabenpolitik, die in der GKV nur an wenigen Stellen durchbrochen wird (z.B. bei Vorsorgeund Früherkennungsmaßnahmen, strukturierten Behandlungsprogrammen, Verträgen zur integrierten Versorgung). Angesichts der nach wie vor lohnzentrierten Finanzierung der GKV müssen jedoch in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und einer rückläufigen Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse einerseits und der wachsenden finanziellen Herausforderungen aufgrund der demographischen Entwicklung und des medizinisch-technischen Fortschritts andererseits Anwendung und Auswirkung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität kritisch diskutiert werden. Entsprechende Überlegungen hinsichtlich eines zusätzlichen Finanzierungsbedarfs wurden auch im Zusammenhang mit dem GKV-WSG beraten (BT-Drs. 16/3100). Beschlossen wurde, dass der Bundeszuschuss für die GKV in den Jahren 2007 und 2008 bei 2,5 Mrd. Euro liegen und in den Folgejahren eine Erhöhung um jährlich 1,5 Mrd. Euro bis zu einer Gesamthöhe von 14 Mrd. Euro erfolgen soll. Eine Heranziehung von weiteren Finanzierungsquellen (z.B. Mieten, Zinsen) wurde nicht beschlossen. Die Leistungserbringung in Deutschland ist sektoral stark gegliedert und durch Doppelstrukturen wie die doppelte Facharztschiene geprägt (fachärztliche Versorgung sowohl durch Vertragsärzte als auch durch Krankenhausärzte). Die sektorale Gliederung schlägt sich auch im Leistungserbringerrecht nieder, das die Beziehungen der Krankenkassen zu den einzelnen Leistungserbringergruppen in gesonderten Abschnitten regelt. Besonders ausführlich erfolgt dies für die vertragsärztliche Versorgung mit Vorgaben für die Sicherstellung der Versorgung und Regelungen zur Bildung und Organisation von Kassenärztlichen Vereinigungen, die als Körperschaften öffentlichen Rechts gesetzlich mit Aufgaben wie der Honorarverteilung unter den Vertragsärzten beauftragt werden. Die Vorgaben im Leistungserbringerrecht für einzelne bi- oder trilateral zu regelnde Sachverhalte (z.B. Leistungsvergütung) dienen insbesondere der Umsetzung des Sachleistungsprinzips. Die Krankenkassen schließen mit Leistungserbringern wie z.B. Vertrags(zahn)ärzten, Krankenhäusern und Apotheken bzw. deren Verbände Verträge, damit im Krankheitsfall die erforderlichen Leistungen
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grundsätzlich ohne finanzielle Einbindung der Patienten erbracht werden können. Hervorzuheben im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung ist die freie Arztwahl (§ 76 SGB V). Danach können Versicherte alle Ärzte in Anspruch nehmen, die zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen oder ermächtigt sind. Ärzte, die nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen (Privatärzte), können jedoch zu Lasten der GKV nicht konsultiert werden. Für die stationäre Versorgung sieht das Gesetz eine entsprechende freie Wahl des Krankenhauses durch die Patienten demgegenüber nicht vor. Vielmehr trifft hier der einweisende Vertragsarzt die Entscheidung über das Krankenhaus unter medizinischen und – soweit ihm bekannt – wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Wählen Versicherte ohne zwingenden Grund ein anderes als ein in der ärztlichen Einweisung genanntes Krankenhaus, können ihnen die Mehrkosten ganz oder teilweise auferlegt werden. Dem SGB V vorangestellt ist das Postulat, dass „Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen [haben] und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen [haben]“ (§ 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Zugleich müssen die Leistungserbringer die Versorgung der Versicherten in der „fachlich gebotenen Qualität“ (§ 70 Abs. 1 Satz 2 SGB V) erbringen. Die Verpflichtung zur Qualitätssicherung wurde 1988 mit dem Gesundheits-Reformgesetz gesetzlich für die ambulante, stationäre und rehabilitative Versorgung verankert und in der Folge weiterentwickelt und vertieft. Der Gesetzgeber hat die Qualitätssicherung zu einer zentralen Aufgabe der gemeinsamen Selbstverwaltung in der GKV gemacht. Wichtige Regelungen zur Qualitätssicherung sind dabei u.a.:
Verpflichtende Einführung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements sowie zur Beteiligung an einrichtungsübergreifenden Maßnahmen der Qualitätssicherung für Vertragsärzte, zugelassene Krankenhäuser sowie stationäre Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen (§ 135a SGB V). Für die stationäre Versorgung beschließt der G-BA Mindestmengen für planbare Leistungen, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses in besonderem Maß von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist, sowie Mindestanforderungen an die Strukturqualität. Ferner regelt der G-BA für die stationäre Versorgung Inhalt und Umfang eines strukturierten Qualitätsberichts, der alle zwei Jahre zu veröffentlichen ist. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden bedürfen für die Einführung in die vertragsärztliche Versorgung der Anerkennung durch den
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Mit dem GKV-WSG wurden bei der Qualitätssicherung Änderungen mit dem Ziel beschlossen, die Anforderungen an die Qualitätssicherung in den verschiedenen Sektoren des Gesundheitssystems soweit wie möglich einheitlich und auch sektorenübergreifend festzulegen. Zukünftig hat der G-BA sektorenübergreifende Richtlinien für die vertrags(zahn)ärztliche Versorgung und die Krankenhausversorgung zu erlassen (§ 137 SGB V). Die bisherigen sektorenspezifischen Vorgaben werden weitgehend aufgehoben. Sektorenbezogene Regelungen sind nur noch dann zulässig, wenn die Qualität der Versorgung nur auf diese Weise angemessen gesichert werden kann. Eine wichtige und wachsende Rolle bei der Qualitäts- und Nutzenbewertung von medizinischen Leistungen spielt das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) (§ 139a SGB V). Das Institut wurde im Jahr 2004 gegründet und soll auf wissenschaftlicher Grundlage und fachlich unabhängig diverse Fragestellungen bewerten. Der Katalog der vom Gesetzgeber genannten Aufgaben ist nicht abschließend. Er umfasst u. a. die Erstellung von wissenschaftlichen Ausarbeitungen, Gutachten und Stellungnahmen zu Fragen der Qualität und Wirtschaftlichkeit der im Rahmen der GKV erbrachten Leistungen sowie die Bereitstellung von für alle Bürgerinnen und Bürger verständlichen allgemeinen Informationen zur Qualität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung (§ 139a Abs. 3 SGB V). Der G-BA beauftragt das IQWiG im Rahmen des gesetzlich umrissenen Aufgabenkatalogs mit konkreten Aufträgen. Die Arbeitsergebnisse stellen Empfehlungen für den G-BA dar. Die zu konstatierende sektorale Gliederung des Leistungsgeschehens mit Reibungs- und Informationsverlusten an den Schnittstellen der Sektorengrenzen soll durch diverse Maßnahmen für eine bessere sektorale Verzahnung überwunden werden (z.B. im GKV-WSG durch Einführung eines Leistungsanspruchs der Versicherten auf Versorgungsmanagement insbesondere zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungsbereiche oder durch Einführung vergleichbarer Vergütungen bei vergleichbaren Leistungen, BT-Drs. 16/3100). Ein wichtiger gesundheitspolitischer Ansatzpunkt zur besseren Verzahnung zwischen verschiedenen Leistungsbereichen und unterschiedlichen Heilberufen ist die integrierte Versorgung (§§ 140a - d SGB V). Danach können die Krankenkassen u.a. mit Vertragsärzten und zugelassenen Krankenhäusern Verträge über eine verschiedene Leistungssektoren übergreifende Versorgung der Versicherten oder eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung abschließen. Von den Regelungen des GKV-Leistungserbringerrechts und des Krankenhausfinanzierungsrechts kann dabei abgewichen werden. Mit dem GKV-
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WSG soll darüber hinaus die Möglichkeit geschaffen werden, durch integrierte Versorgungsformen auch die Grenzen zwischen der gesetzlichen Kranken- und der sozialen Pflegeversicherung aufzulockern und die Möglichkeiten einer intensiven Verzahnung der unterschiedlichen Leistungssysteme zu verbessern.
2.4 Organisations- und Verbänderecht Träger der GKV sind die gesetzlichen Krankenkassen. Sie sind rechtsfähige Körperschaften öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Die (interne) Selbstverwaltung wird ehrenamtlich durch gewählte Vertreter der Versicherten und der Arbeitgeber ausgeübt (Ausnahme Ersatzkassen: hier gibt es nur Versichertenvertreter). Die Wahl der Selbstverwaltungsvertreter erfolgt im Rahmen von Sozialwahlen, die alle sechs Jahre stattfinden. Bei jeder Krankenkasse besteht ein Verwaltungsrat aus den gewählten Vertretern, der alle Entscheidungen grundsätzlicher Art trifft. Er beschließt die Satzung und entscheidet über die Höhe des Beitragssatzes. Darüber hinaus wählt er für die Dauer von sechs Jahren einen hauptamtlichen Vorstand. Der hauptamtliche Vorstand verwaltet die Krankenkasse und vertritt sie nach außen. Organisatorisch ist die GKV eine „gegliederte“ Versicherung. Damit wird die Existenz verschiedener Kassenarten zum Ausdruck gebracht, die für die GKV prägend ist. Die gegliederte Krankenversicherung ist zugleich eine Absage an die Einheitskasse wie sie mit nur zwei Versicherungsträgern mit abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen in der DDR bestand. In Deutschland existieren insgesamt 8 Kassenarten, mit regionaler, berufsständischer oder branchenspezifischer Ausrichtung. Die Gliederung der Kassenlandschaft ist das Ergebnis historisch gewachsener Strukturen. Die Krankenkassen waren ursprünglich berufsständisch und regional operierende Einrichtungen. In Leipzig gab es im Jahr 1885 beispielsweise 18 Ortskrankenkassen: eine für Metallarbeiter, eine für Buchbinder, eine für Verfertiger von Musikinstrumenten usw. Neben diesen 18 speziellen Ortskrankenkassen gab es in Leipzig noch 41 Betriebskrankenkassen. Im Jahr 1885 – also kurz nach Einführung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahr 1883 – existierten 17.511 Träger der gesetzlichen Krankenversicherung (BPB 2007). Diese Vielfalt und Zergliederung hat sich im Laufe der Jahre stark verringert. Die Gesamtzahl der gesetzlichen Krankenkassen belief sich 1991 noch auf 1.209. Sie hat sich stetig verringert. Im Juli 2006 gab es noch 253 Krankenkassen (BMG 2006c). Einen wichtigen Beitrag zum Konzentrationsprozess in der gegliederten Krankenversicherung hat auch die 1996 eingeführte Kassenwahlfreiheit der Versicherten und der damit verbundene verschärfte Krankenkassenwettbewerb ge-
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leistet. Seit dem Jahr 2002 können versicherungspflichtige und freiwillige Mitglieder - unabhängig von Berufs- oder Betriebszugehörigkeit - zum Ablauf des übernächsten Kalendermonats ihre Mitgliedschaft kündigen und eine andere Krankenkasse wählen. Davor war der Kassenwechsel bei Versicherungspflichtigen anlassbezogen (z. B. Arbeitgeberwechsel) und nur zum Jahresende möglich. An die Wahlentscheidung sind die Versicherten grundsätzlich 18 Monate gebunden (§ 175 Abs. 4 SGB V). Ausnahmen gelten aufgrund der organisatorischen Besonderheiten nur für die berufsständischen Krankenkassen (Knappschaft, Landwirtschaftliche Krankenkassen, Seekasse). Um die bisher noch ungenutzten Potenziale für Kassenzusammenschlüsse zu nutzen, wird ab dem 1. April 2007 auch eine Vereinigung von Krankenkassen über die Grenzen der Kassenarten hinweg ermöglicht (§ 171a SGB V). Inwieweit sich aus dem resultierenden weiteren Konzentrationsprozess für die Krankenhäuser Veränderungen bei den Verhandlungspartnern für die Budgetverhandlungen ergeben, bleibt abzuwarten.
2.5 Finanzierung Ein wichtiger Grundsatz der GKV wie der Sozialversicherung insgesamt ist die paritätische Finanzierung der Beiträge. Versicherte Mitglieder (Arbeitnehmer, Rentner) und Arbeitgeber bzw. Rentenversicherungsträger tragen die GKVBeiträge jeweils grundsätzlich zur Hälfte. Bis Mitte 2005 bezog sich die paritätische Finanzierung auf den gesamten GKV-Beitrag. Seit dem 1. Juli 2005 setzt sich der Beitrag, den ein GKV-Mitglied an seine Krankenkasse zu entrichten hat, aus zwei Komponenten zusammen: Dem normalen, paritätisch finanzierten Krankenkassenbeitrag und einem allein vom Kassenmitglied zu tragenden zusätzlichen Beitragssatz in Höhe von 0,9 Prozent der beitragspflichtigen Bruttoeinnahmen (§ 241a SGB V). Bezieher von Arbeitslosengeld II zahlen den zusätzlichen Beitragssatz nicht. Zur Verringerung der Lohnnebenkosten wurde gleichzeitig der paritätisch finanzierte Beitragssatz um 0,9 Prozent abgesenkt. Im Ergebnis werden durch den zusätzlichen Beitragssatz die GKV-Mitglieder mit dem bisherigen Arbeitgeberanteil in Höhe von 0,45 Beitragssatzpunkten belastet. Auch in der modifizierten Form ist jedoch die paritätische Finanzierung noch immer ein die soziale Krankenversicherung prägendes Prinzip. Zur Finanzierung der GKV werden nicht sämtliche Einnahmen herangezogen, sondern nur die beitragspflichtigen Einnahmen (§§ 226ff.SGB V). Bei Arbeitnehmern unterliegt das Arbeitsentgelt aus einer versicherungspflichtigen Beschäftigung der Beitragsbemessung, bei Rentnern der Zahlbetrag der Rente bzw. der Versorgungsbezüge oder ggf. neben einer Rente bezogenes Arbeitseinkommen aus selbständiger Tätigkeit. Grundsätzlich nicht der Beitragsbemessung
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unterliegen Zins- und Mieteinnahmen oder Einnahmen aus Versicherungsleistungen. Die beitragspflichtigen Einnahmen unterliegen der Beitragsbemessung nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze nach § 223 Abs. 3 SGB V (2007: 3.562,50 Euro im Monat). Der überschießende Teil des Arbeitsentgelts oder des Rentenzahlbetrags bleibt bei der Beitragsberechnung unberücksichtigt. Die Bemessungsgrenze wird jährlich entsprechend der Lohn- und Gehaltsentwicklung dynamisiert. Die Beitragsbemessungsgrenze setzt der solidarischen Finanzierung der GKV-Leistungen Grenzen und führt zu einer degressiven Beitragsstruktur: Je höher die Einnahmen über der Beitragsbemessungsgrenze liegen, desto niedriger fällt der Beitragsanteil an den persönlich verfügbaren Einnahmen aus. Der Risikostrukturausgleich (RSA) ist ein Instrument, um in der solidarischen Krankenversicherung gleiche Wettbewerbsbedingungen zu erreichen und das Problem der Risikoselektion zu mindern. Er zielt darauf ab, strukturell bedingte Beitragssatzunterschiede (z.B. aufgrund historisch unterschiedlicher Versichertenstrukturen) und damit Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Krankenkassen abzubauen. Mit dem RSA werden die finanziellen Auswirkungen der von den Krankenkassen nicht beeinflussbaren Unterschiede in der Höhe der beitragspflichtigen Einnahmen der Mitglieder, der Zahl der beitragsfrei Familienversicherten und der Alters- und Geschlechtsverteilung der Versicherten ausgeglichen (§ 266 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Einnahmen- und Ausgabenunterschiede zwischen den Krankenkassen, die nicht auf die genannten Faktoren zurückzuführen sind, werden im RSA im Gegensatz zu den früheren Finanzausgleichen, die vor der Einführung der Kassenwahlmöglichkeiten Anwendung fanden, nicht ausgeglichen. Berücksichtigt werden standardisierte, d.h. am Ausgabendurchschnitt aller Krankenkassen orientierte Leistungsausgaben (ohne Verwaltungskosten). Seit dem 1. Januar 2002 werden außerdem im Rahmen eines Risikopools (§ 269 SGB V) überdurchschnittlich hohe Aufwendungen der Krankenkassen für ihre Versicherten teilweise ausgeglichen. Berücksichtigt werden die Ausgaben für stationäre Versorgung, Arzneimittelversorgung, nichtärztliche Leistungen der ambulanten Dialyse sowie das Krankengeld. Sofern die Aufwendungen für einen Versicherten im Jahr einen bestimmten Euro-Schwellenwert überschreiten, trägt die Solidargemeinschaft der gesetzlich Krankenversicherten 60 Prozent des den Schwellenwert übersteigenden Betrags. Im Jahr 2005 belief sich die Zahl der Risikopoolfälle auf rd. 550.000 Versicherte. Das gesamte Ausgleichsvolumen von RSA (rd. 15,6 Mrd. Euro) und Risikopool (rd. 0,8 Mrd. Euro) lag im Jahr 2005 bei 16,4 Mrd. Euro (2004: 16,1 Mrd. Euro) (Bundesversicherungsamt 2006).
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Mit dem GKV-WSG wird der RSA zielgerichteter ausgestaltet, da über die bisher im RSA berücksichtigten Merkmale der Gesundheitszustand und der Versorgungsbedarf der Versicherten nur unzureichend erfasst wird (BT-Drs. 16/3100).
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In historischer Perspektive ist die ursprüngliche Aufgabe der GKV auch als eine Maßnahme zur Sicherung des inneren Friedens zu werten. Sie ist als alternativer Weg zu der Repressionsgesetzgebung des Kaiserreiches einzustufen. Diese gab keine Antwort auf die Auswirkungen der „industriellen Revolution“. Auch löste sie die im Zusammenhang mit bestehender Massenarmut und einer wachsenden Industriearbeiterschaft einhergehende „soziale Frage“ nicht. Vielmehr wuchs die politische Stärke der Sozialdemokratie trotz der staatlichen Repressalien von Wahl zu Wahl weiter an. Die Kaiserliche Botschaft des Jahres 1881, die Ausgangsgrundlage für die Sozialgesetzgebung des Kaiserreiches und damit auch für die Einführung der GKV war, wurde mit dem Ziel erlassen, die Arbeiterschaft an den Staat zu binden und die oppositionellen Kräfte der Liberalen und Sozialdemokraten zu spalten (Alber 1989: 45; Alber 1987: 29ff.). Auch heute noch lässt sich ein klarer sozialer Auftrag der GKV benennen. Dieser besteht darin, vollen Versicherungsschutz im Krankheitsfall paritätisch und unabhängig von der finanziellen Leistungsfähigkeit des einzelnen Versicherten zu gewährleisten (GKV 2007). Das funktionale Aufgabenspektrum der GKV wurde bereits unter 2.2.1 ausführlich dargelegt. Es umfasst Leistungen zur Krankheitsverhütung, Krankheitsbehandlung, Rehabilitation sowie Lohnersatzleistungen. Zusätzlich haben die Krankenkassen hierbei zur Unterstützung der Eigenverantwortung der Versicherten diese durch Aufklärung und Beratung zu unterstützen sowie auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken (§ 1 Satz 3 SGB V). Die heutigen funktionalen Kernaufgaben der GKV werden unter der Überschrift „Solidarität und Eigenverantwortung“ in § 1 Satz 1 SGB V, also dem ersten Satz des Gesetzbuches für die gesetzliche Krankenversicherung zusammengefasst: „Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Literatur Alber, J. (1989): Der Sozialstaat in der Bundesrepublik: 1950 – 1983. Frankfurt a.M.: Campus Verlag.
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Alber, J. (1987): Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat: Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa. 2. Auflage. Frankfurt a.M./ New York: Campus Verlag. Ärzte Zeitung (11.01.2005): Kein Interesse an Patientenquittung. (02.01.2007). Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2005): Statistisches Taschenbuch Gesundheit 2005. (02.01.2007). Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2006a): Mitgliederstatistik KM6. (02.01.2007). Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2006b): Pressemitteilung Nr. 28 vom 03.03.2006. http://www.bmg.bund.de/ (04.01.2007). Bundesministerium für Gesundheit (BMG) (2006c): Presseinformation vom 24.06.2006, zitiert nach: (02.01.2007). Bundestags-Drucksache 16/3100 (24.10.2006): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz – GKV-WSG). (02.01.2007). Bundesversicherungsamt (2006): Risikostrukturausgleich – Jahresausgleich 2005. Pressemitteilung vom 09.11.2006. (04.01.2007). Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) (o.J.): Die gegliederte Krankenversicherung. (04.01.2007). Groser, M. (2006): Subsidiarität/Subsidiaritätsprinzip. In: Heidelberger Online-Lexikon der Politik. C.H. Beck. (22.12.2006). Nell-Breuning, O.v. (1990): Baugesetze der Gesellschaft. Durchgesehene Neuausgabe. Freiburg/Breisgau: Herder Verlag. Niemann, H.-W. (2006): Glückwunsch, es ist ein Sozialstaat! 125 Jahre Kaiserliche Botschaft, in: Gesundheit und Gesellschaft. Bonn: KomPart Verlagsgesellschaft, S. 3539. Rau, F. (1992): Selbstbeteiligungsregelungen im Gesundheitswesen. Empirische Wirksamkeitsanalysen im internationalen Vergleich. Konstanz: Hartung-Gorre Verlag. Spitzenverbände der Krankenkassen (GKV) (2007): Die GKV: Aufgaben. (04.01.2007). Statistisches Bundesamt (2006): Gesundheit – Ausgaben, Krankheitskosten und Personal 2004. Wiesbaden. (20.12.2006). Widmann-Mauz, A. (2006): Redebeitrag. In: Stenografischer Bericht zur 65. Sitzung des Deutschen Bundestages, 16. Wahlperiode, 21.11.2006. Plenarprotokoll 16/65. (02.01.2007). Zipperer, M. (2006): § 12 SGB V Wirtschaftlichkeitsgebot. In: U. Orlowski/F. Rau/ J. Schermer/J. Wasem/M. Zipperer (Hrsg.): GKV-Kommentar SGB V. Heidelberg: C.F. Müller.
Gesundheitsreformen und ordnungspolitischer Wandel im Gesundheitswesen Sebastian Klinke
30 Jahre Gesundheitsreformen und nichts ändert sich? Viele Jahre war es in Kommentaren zur Wirkung von Gesundheitsreformen üblich, ihnen geringe bis hin zu gar keine Wirkung zu unterstellen – Maßstab für die Messung von Auswirkungen war allein die jeweilige Ausgabengröße, also vor allem Arzneimittel, niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser. Wuchs die jeweilige Ausgabengröße weiter (Wachstum oberhalb des Wachstums der Bruttolohnsumme), wurde von anhaltender Tendenz zur „Kostenexplosion“ gesprochen und Strukturreformen wurden angemahnt. Erst seit einigen Jahren beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass trotz oberflächlich betrachteter Erfolglosigkeit der Reformen – gemessen am Maßstab der „Kostendämpfung“ – sich ein grundlegender Wandel in der sozialpolitischen Gestaltung gesundheitsbezogener Lebensrisiken abzeichnet. Wandel lässt sich jedoch nur dann begrifflich fassen, wenn man sich zuvor über den Status quo vergewissert hat, von dem aus eine Veränderung stattfindet. Für das bundesdeutsche Gesundheitssystem bietet es sich an, sich mit theoretischen Konzepten zur Struktur- und Ordnungspolitik zu beschäftigen, da diese einen begrifflichen Rahmen bereitstellen, die inhaltlichen Facetten deutscher Gesundheitspolitik zu beschreiben und Veränderungsprozesse sichtbar zu machen. Zu klären ist in diesem Zusammenhang:
Wieso hilft der Begriff Ordnungspolitik, das Politikfeld ‚Gesundheitssystem’ analytisch zu fassen? Welches sind die ordnungspolitischen Leitbilder, die treffend zur Charakterisierung eines ordnungspolitischen Status quo bzw. Ex-ante-Zustandes herangezogen werden können? Welches Verhältnis zeichnet sich zwischen dem so definierten Ex-anteZustand und einem zu messenden Ex-post-Zustand ab, d.h. wie kann ordnungspolitsicher Wandel operationalisiert werden?
Mit Blick auf die Bundesrepublik bieten sich ordnungspolitische Modelle insbesondere deshalb an, da sie einem deutschen Spezifikum Rechnung tragen: der in Wissenschaft und Politik verbreiteten Ansicht, dass der Staat in vielen Bereichen
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eine ordnungspolitische Funktion besitzt (Lampert/Bossert 1992: 17ff.), d.h. die demokratisch legitimierten Vertreter die Aufgabe haben, mittels Gesetzgebung Ziele zu formulieren und auf verbandlicher Ebene organisierte Akteure zu benennen, die im Rahmen dieser Normen ihren Politikbereich (mit-)gestalten. Vertreten wird diese „Beschränkung staatlicher Interventionen auf die Gestaltung ordnungspolitischer Rahmen“ von Anhängern des deutschen Neoliberalismus1 (Döhler/Manow 1997: 120f.). Namentlich das von Herder-Dorneich (1984) und seinen Schülern entwickelte und von neo-liberalem Gedankengut geprägte Konzept einer „Ordnungspolitik im Gesundheitswesen“ nahm einen nicht unerheblichen Einfluss auf die bundesdeutsche Gesundheitspolitik und nimmt ihn auch heute noch (Oberender/Fleischmann 2002: 113ff). Konstitutiv für eine funktionierende Ordnungspolitik ist die Durchsetzung eines anerkannten Satzes von Zielen und Leitbildern – eines ordnungspolitischen Rahmens –, die für die zentralen und selbstverwaltenden Akteure verbindlich erscheinen. Im Gegensatz zu den normativ aufgeladenen Betrachtungen der Anhänger des deutschen Neo-Liberalismus wird in diesem Text der Begriff Ordnungspolitik als analytische Kategorie verstanden. Als richtungweisend für einen solchen analytischen Ansatz hat sich die im Bereich Policy-Analyse angesiedelte Arbeit von Marian Döhler und Philip Manow (Döhler/Manow 1997) erwiesen: Der sozialdemokratisch geprägte Reformansatz „Strukturpolitik“ war geeignet, eine expansive Gesundheitspolitik zu begründen und umzusetzen, während „Ordnungspolitik“, als Neokonservatives Gegenmodell (Dubiel 1985), sich als besseres Konzept zur Durchsetzung von Kostendämpfungsmaßnahmen erwies und dadurch mehrheitsfähig wurde. Faktisch ist die sozialdemokratische Politik Ende der 70er Jahre bereits auf dieses Modell eingeschwenkt2: Die 1977 erfolgte Einsetzung der konzertierten Aktion im Gesundheitswesen (KAG) kann als ein Beleg gelten (Döhler 1991: 472f.): Die KAG hat durch andauernde und deutliche Aufwertung der Verbandsebene die Durchsetzung jenes Ordnungsmodells befördert, das eine Steuerung der Gesundheitspolitik auf mittlerer Ebene durch die Verbände nahe legt (Döhler/Manow 1997: 119ff.).
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Neoliberalismus meint in Abgrenzung zum klassischen Liberalismus eine Zuspitzung der Politik auf wirtschaftsliberale Ansätze. In Deutschland wird dieser Ansatz mit dem Konzept des OrdoLiberalismus assoziiert. In Bezug auf die FDP kann diese Neuausrichtung u.a. anhand des Austritts etlicher prominenter Liberaler und am Scheitern der sozial-liberalen Koalition 1982 deutlich gemacht werden. Das Pendant auf CDU-Seite kann mit dem Begriff des Neokonservatismus gefasst werden (Dubiel 1985; Neumann/Schaper 1990: 214). 2 Die KAG war zwar von der damaligen Bundesregierung nicht als ein Einschwenken auf das ideologische Gegenmodell der Opposition betrachtet worden, beförderte jedoch in der Praxis genau jenes Politikmodell.
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Ordnungspolitischer Status quo und ordnungspolitische Leitbilder
Das Politikfeld ‚Gesundheitswesen’ – in der BRD beherrscht von der Institution GKV3 – hat sich rund um einen Satz spezifischer Leitbilder formiert. Als historisch dominante/effektive4 ordnungspolitische Zielvorstellungen sind zuvorderst folgende, z.T. im Sozialgesetzbuch V (SGB V) kodifizierte Konstituenten der GKV zu nennen:
Versicherungsprinzip Prinzip der gegliederten Krankenversicherung Selbstverwaltungsprinzip (Subsidiaritätsprinzip, Eigenverantwortung) Solidarprinzip Sachleistungsprinzip Versorgungsgebot, Bedarfsprinzip Wirtschaftlichkeitsgebot (effektive und effiziente Verwendung der Mittel)
Das Gesundheitswesen eines Landes kann typischerweise anhand von drei funktional differenzierten Ebenen beschrieben werden: der gesellschaftlichen Ebene, der medizinischen Ebene und der ökonomischen Ebene.5 Die oben genannte Liste von Strukturprinzipien6 der GKV lässt sich systematisch diesen drei Ebenen des bundesdeutschen Gesundheitssystems zuordnen:
Gesellschaftliche Ebene – Anspruch auf / Zugang zu Leistungen: Solidarprinzip, Bedarfsprinzip
3 Die GKV kann aufgrund ihres hohen Inklusionsgrades (ca. 90% der Bevölkerung) als Volksversicherung klassifiziert werden. Aus dieser Sichtweise leitet sich die herausragende Bedeutung bzw. zentrale Position dieser Einrichtung für die bundesdeutsche Gesundheitspolitik ab. 4 Eine solche Betrachtungsweise zur Beschreibung von Prozessen des politischen/gesellschaftlichen Wandels besitzt eine große Nähe zu wissenssoziologischen bzw. -politologischen Theorien und Ansätzen (Berger/Luckmann 1995; Bleses/Rose 1998; Meuser/Nagel 1997; Nullmeier 1993; Nullmeier/Rüb 1993; Nullmeier 1994). Die mit dieser Perspektive einhergehenden Annahmen werden in dieser Arbeit mitgeführt. 5 Die drei Ebenen wurden im Wesentlichen von Murswieck (1992a; 1992b) übernommen und in Anlehnung an Beispiele aus der US-amerikanischen Versorgungsforschung formuliert (Access to Health Care, Quality of Health Care, Cost of Health Care). 6 Die Liste der hier präsentierten Strukturprinzipien ist neben dem SGB V auf die Arbeiten einer ganzen Reihe von Autoren zurückzuführen (Döhler 1991: 465; 1994: 148; Bandelow 1998: 21ff.; Nohlen 2002: 165; Neumann/Schaper 1990: 144ff.; Oberender/Fleischmann 2002: 38ff.; Murswieck 1992a: 187). Auffällig ist, dass keiner der zitierten Autoren alle hier aufgelisteten Prinzipien benennt, sondern alle treffen eine Auswahl, z. T. in Verbindung mit einer Hierarchisierung, Bei- und Unterordnung. Dominant ist allerdings die Nennung von Solidaritäts- und Bedarfsprinzip zur Beschreibung der zentralen Funktionslogik der GKV.
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Sebastian Klinke Medizinische Ebene – Qualität der Leistungen: Versorgungsgebot, Sachleistungsprinzip Ökonomische Ebene – Wirtschaftlichkeit der Leistungen: Wirtschaftlichkeitsgebot, Selbstverwaltungsprinzip, Subsidiaritätsprinzip, Eigenverantwortung, Prinzip der gegliederten Krankenversicherung, Versicherungsprinzip
Die gesellschaftliche Ebene wird dominiert vom Solidarprinzip, d.h. von dem Ziel, im Bedarfsfall jedem Bürger, unabhängig von Einkommen und sozialem Status, die notwendige Gesundheitsversorgung zukommen zu lassen. Die medizinische Ebene wird getragen vom Ziel einer bestmöglichen medizinischen Versorgung unter Wahrung der menschlichen Würde und Freiheit. Die ökonomische Ebene wird von dem Ziel einer kostengünstigen Versorgung mit Gesundheitsgütern und -dienstleistungen dominiert: Kostengünstig meint, dass die zur Verfügung stehenden Mittel nicht nur effektiv, sondern auch effizient verwendet werden. Die genannten drei Ziele stehen grundsätzlich im Konflikt zueinander bzw. repräsentieren das magische Dreieck der Gesundheitspolitik, sofern Effizienz als Abwägungsgebot zwischen Zielerreichungsgrad und Mitteleinsatz verstanden wird und/oder dieses Abwägungsgebot auch für die politikfeldübergreifende Allokation gilt. Das Effizienzkriterium der ökonomischen Ebene konfligiert mit den Zielen der beiden anderen Ebenen, da seine Bestimmung sowohl die Etablierung von Maßstäben außerhalb der gesundheitlichen Wohlfahrt des Einzelnen (Konflikt: Medizinische Ebene) als auch außerhalb der Gesundheitspolitik als solcher (Konflikt: Gesellschaftliche Ebene) einschließt. Außerdem übersetzen Ökonomen das Kriterium der Effektivität häufig mit dem Begriff der „Planungseffizienz“ (Kyrer 1988: 47), so dass auch schon die Anwendung des Effektivitätskriteriums zu einer Abwägung von Zielerreichungsgrad und Mitteleinsatz führt – Ansätze zu einer Anwendung von Abwägungsgeboten finden sich bereits im SGB V (Klinke 2005a): „Der Versuch diese Ziele gleichzeitig zu verwirklichen, bestimmt die Konflikt- und Konsensprozesse der Gesundheitspolitik“ (Murswieck 1992a: 187). Eindeutig fällt die Zuordnung des Solidarprinzips, des Versorgungsgebots und des Wirtschaftlichkeitsgebots aus. Das Bedarfsprinzip wurde aufgrund seiner inhaltlichen Nähe zum Solidarprinzip der gesellschaftlichen Ebene zugeordnet, wenngleich auch die Funktionslogik der medizinischen Ebene bedarfsgesteuert abläuft; allerdings wird von dieser Ebene nur derjenige als bedürftig wahrgenommen, der zuvor über das Solidarprinzip Zugang zum System erhalten hat. Folgende Elemente der GKV können als solidarisch und distributiv wirksame Instrumente gelten:
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Die Beiträge sind einkommensabhängig gestaffelt bei identischem Leistungsanspruch (§§ 2, 3, 27 und 241 SGB V). Die GKV besitzt einen Familienlastenausgleich, der eine kostenlose Mitversicherung für unterhaltsberechtigte Familienmitglieder vorsieht (§ 10 SGB V). Die Leistungsausgaben werden umlagefinanziert immer aus den laufenden Beiträgen gedeckt (§§ 386, 389 und 390 RVO sowie § 229 SGB V). Die Sonderstellung der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) im System der GKV bedeutet eine direkte Subventionierung der höheren pro Kopf Gesundheitskosten der Rentner durch die Beitragszahler der GKV (Generationenvertragselement). (Schulenburg 1989: 74f.)
Das Sachleistungsprinzip wird eher auf der medizinischen Ebene verortet, da es gewährleistet, dass keine ökonomischen Erwägungen das Arzt-Patientenverhältnis behindern. Dem Sachleistungsprinzip ist natürlich eine große Nähe zum Solidarprinzip inhärent, jedoch könnten Sachleistungen auch im Rahmen einer entsolidarisierten Basisversorgung erbracht werden. Das Selbstverwaltungsprinzip, das Subsidiaritätsprinzip, das Prinzip der Eigenverantwortung, das Prinzip der gegliederten Krankenversicherung sowie das Versicherungsprinzip sind entweder Prinzipien, die unmittelbar mit dem Gedanken einer rationellen Versorgung respektive Versorgungsstruktur verbunden sind oder die als Mittel zur Durchsetzung marktförmiger, konkurrenzwirtschaftlicher Strukturen dienen. Das Versicherungsprinzip ist relativ uneindeutig, da sich die Konstruktionsprinzipien einer staatlichen Zwangsversicherung von denen privatwirtschaftlicher Versicherungen wesentlich unterscheiden. Erstere ist solidarisch mit der Gruppe der Versicherten, während Letztere individuelle Risiken des Versicherten im Beitragssatz des Einzelnen abbildet. Sofern assekuranzmathematische Elemente Eingang in die GKV finden – z.B. über die derzeit in Diskussion befindlichen Boni- oder Mali-Systeme7 –, um zur Steuerung verhaltensbedingter Risiken beizutragen, wird das Versicherungsprinzip zunehmend als Argument für Maßnahmen zur Steigerung der Eigenverantwortung genutzt. Aufgrund seines stark formalen, da organisationsbezogenen Charakters und der daraus resultierenden inhaltlichen
7 Boni- oder Mali-Systeme bezeichnen das gleiche Verfahren zur Verhaltenssteuerung mittels finanzieller Anreize. Der Unterschied entsteht im Auge des Betrachters, weshalb Boni-Regelungen meist bevorzugt werden, da mit einer höheren Akzeptanz gerechnet werden kann. In Bezug auf die Strukturprinzipien der GKV wirkt die Einführung dieses Instruments meist in Richtung einer Schwächung des Solidar- und Bedarfsprinzips bei gleichzeitiger Aufwertung der Eigenverantwortung bzw. des Subsidiaritätsprinzips, da verhaltensbedingte Risiken negativ sanktioniert werden.
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Offenheit8 wurde das Versicherungsprinzip der ökonomischen Ebene zugeordnet. Dieses Beispiel zeigt, dass mit Bezug auf das gleiche Strukturprinzip unterschiedliche übergeordnete Ziele bzw. Ebenen angesprochen werden können. Im Folgenden wird unterstellt, dass Umdeutungen dieser Strukturprinzipien, das Hinzutreten/Wegfallen von Strukturprinzipien oder Veränderungen im Verhältnis der Prinzipien zueinander als Indikatoren für einen Ausstieg aus dem bestehenden Modell herangezogen werden können, da ein Ausstieg ohne Verletzung dieser Prinzipien nicht denkbar ist. Geht man von den bestehenden Reformdiskussionen aus, so ist die „Ausstiegsrichtung zweifellos im Bereich von Leistungsreduktionen zu suchen“ (Döhler 1994: 149), d.h. zu erwarten wäre insbesondere eine Schwächung des Solidar- und Bedarfsprinzips sowie des Versorgungsgebotes zugunsten des Selbstverwaltungs- und Versicherungsprinzips und des Wirtschaftlichkeitsgebotes.
1.1 Ordnungspolitische Leitbilder als Kristallisationspunkt eines ordnungspolitischen Wandels Entscheidend und konstitutiv für die Untersuchung von ordnungspolitischem Wandel ist der Befund, dass erwartet werden kann, dass sich die derart formierten zentralen Normen und Leitbilder der Gesundheitspolitik als Dreh- und Angelpunkte künftiger Veränderungsprozesse erweisen werden. Eine Analyse des Gesetzgebungsprozesses (Döhler/Manow 1997) zeigt, dass die politisch Verantwortlichen mit dem Ende der gesundheitspolitischen Expansionsphase ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre sich auf der Suche nach einem funktionsfähigen und ‚ordnungspolitisch’ legitimierten Instrumentarium zur Bewältigung der problematischen Kostenentwicklung befanden. Quer zu bisherigen Forschungsansätzen, die sich primär mit den Auswirkungen von Veto-Mächten organisierter Anbieterinteressen, föderaler Politikverflechtung sowie Konsenszwängen von Koalitionsregierungen auf Struktur- und Bewegungsmuster von Reformprozessen beschäftigt haben, vertreten Döhler und Manow die These, dass die Sektoralisierung und Ausdifferenzierung eines Politikfeldes auch und gerade auf Ebene ordnungspolitischer Leitbilder stattfindet: „Leitbilder liefern normativ legitimierte Hinweise für politische Richtungsentscheidungen und schaffen begünstigte Strategieoptionen wie auch Ausschlussregeln für abweichende Vorschläge. Sie sind dabei jedoch nicht frei von den Interessen der Ak8 Aufgrund des beschriebenen Zwittercharakters staatlicher Sozialversicherungen bewegen sich alle Versicherungszweige im Spannungsfeld von Solidaritäts- versus Äquivalenzprinzip (Brümmerhoff et al. 1991: 177ff.), wenngleich die GKV bisher am deutlichsten solidarische Elemente enthält.
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teure, sondern entwickeln sich unter deren Einfluss, ohne aber vollkommen von ihnen beherrscht zu werden. Als entscheidend für diese von Akteurinteressen distanzierte Geltungskraft von Ordnungsmodellen erweist sich oftmals der Umstand, daß ihnen historisch ‚eingefrorene’ Kompromißlinien zugrunde liegen, deren Überschreitung oder Auflösung für die Akteure mit schwer kalkulierbaren Risiken verbunden ist.“ (Döhler/Manow 1997: 116)
Ordnungspolitischer Wandel findet also immer dann statt, wenn sich in einem gegebenen Politikfeld etwas am Satz der handlungsleitenden Ziele und Normen ändert bzw. sich die Gewichtung zueinander verschiebt.9 Im Hinblick auf die Verfasstheit des bundesdeutschen Sozialstaates gilt es somit die Frage zu beantworten, mittels welcher Kategorien die durch multiple Reformgesetzgebungsvorhaben in den letzten 25 Jahren hervorgerufenen Veränderungen im Gesundheitswesen zu beschreiben und zu qualifizieren sind. Anhand eines Kanons von für das bundesdeutsche Gesundheitssystem in seiner historischen Gesamtheit als konstitutiv angesehenen Normen und Leitbildern (s.o.) wird im Folgenden ein Ex-ante-Zustand formuliert, um schließlich einen vermuteten Ex-post-Zustand messbar werden zu lassen. In Anlehnung an ein dreistufiges Modell zur Kategorisierung von Veränderungen in Politikfeldern (Hall 1993: 278f.), lässt sich auf Basis der bereits konturierten Strukturprinzipien folgendes Schema zur Operationalisierung von ordnungspolitischem Wandel generieren (Abb. 1): Implementationsebenen
Reformintensität Veränderung im Bereich der Stellgrößen
Veränderung im Bereich der Instrumente
Veränderung im Bereich der Ziele/Prinzipien
Bund/Staat Verbände/Selbstverwaltung Einzelakteure/Ärzte
Abbildung 1:
Ordnungspolitischer Wandel Quelle: basiert auf Konzeptionalisierungen von Peter A. Hall (1993: 278f.), erweitert um Implementationsebenen, eigene Darstellung.
9 Aus dieser Perspektive betrachtet könnte ein ordnungspolitischer Wandel sogar in seiner Konsequenz zu einer Ablösung des Leitbildes Ordnungspolitik führen, beispielsweise durch das sozialdemokratisch geprägte Konzept der Strukturpolitik, indem die Rolle der Selbstverwaltung entscheidend geschwächt wird. Dieses Beispiel dient indessen allein der Veranschaulichung und rekurriert nicht auf ein wahrscheinliches Szenario.
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Dieses Modell beruht wesentlich auf einer zentralen Annahme: Vom Gesetzgeber induzierte gesundheitspolitische Veränderungen besitzen im Zuge ihrer Implementation immer zwei Wirkungsrichtungen: Wirkungsrichtung a) zielt auf das Verhalten der verschiedenen, an der Umund Durchsetzung einer Reform beteiligten Akteure (ĺImplementationsebenen). Im Zusammenspiel von (bundes-)staatlicher Regelung, Selbstverwaltung und privater Erbringung der Gesundheitsdienstleistungen sind in der BRD in aller Regel auch alle drei Ebenen an der Implementation beteiligt (Schmidt 1995: 366). Im Folgenden wird die Bundesebene bzw. der Gesetzgeber als Makroebene bezeichnet, die Verbands-/Selbstverwaltungsebene als Meso- und die Ebene der Einzelakteure/Ärzte bzw. Leistungserbringer als Mikroebene bezeichnet. Die Einführung der Dimension ‚Implementationsebenen’ erhält ihre spezifische Bedeutung aus dem Vorhandensein einer komplexen „Vielfachsteuerung“ (HerderDorneich 1980: 18ff.) im Gesundheitswesen, d.h. dem Nebeneinander von hierarchischen Strukturen und korporatistischen Staat-Verbände-Beziehungen, Verhandlungen zwischen den Verbänden und verbandlichen Selbstkontrollen. Verschiedene Experten sehen in diesem System eine wesentliche Ursache für die lange Zeit sehr ausgeprägte Strukturkontinuität des bundesdeutschen Gesundheitssystems (Alber 1992: 20f.). Diese starke Position intermediärer Organisationen sowie die profilierte Autonomie der Leistungsanbieterseite – insbesondere Ärzte – führt dazu, dass die Umsetzung einer Reform sowohl auf der Meso- als auch der Mikroebene verzögert, verfälscht oder ganz und gar verhindert werden kann. So haben z.B. „die Selbstverwaltungsorgane im Anschluß an das Gesundheitsreformgesetz 1988 die beschlossenen Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Richtgrößen ebenso wenig vollständig umgesetzt, wie die Transparenzvorschriften des Gesetzes“ (Bandelow 1998: 127). Da man davon ausgehen kann, dass für das letztendliche Scheitern einer Reform Handlungen auf der Mikroebene entscheidend sind – selbst wenn die Ursache für dieses Scheitern schon auf der Mesoebene angelegt wurde – ist es ausreichend, die erfolgreiche Implementation eines auf Makroebene diagnostizierten Wandels auf Ebene der Leistungserbringer nachzuweisen (z.B. anhand von Leitfadeninterviews mit Chefärzten, vgl. Klinke 2003). Wirkungsrichtung b) zielt demgegenüber auf die Qualität der Reformen, deren Eindringtiefe in bestehende Regelungen bzw. die Art und den Umfang der Neuregelungen (ĺReformintensität). In der Rangfolge zunehmender Intensität finden Reformen auf der Ebene von Stellgrößenveränderungen statt, der Ebene des Hinzutretens und/oder Wegfallens bestehender Instrumente sowie der Veränderung übergeordneter Ziele respektive Prinzipien. Mit der Veränderung von Stellgrößen ist gemeint, dass sich am Satz der im Politikfeld Gesundheit im Einsatz befindlichen Instrumente nichts ändert, jedoch z.B. eine Anpassung der
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Leistungshöhe vorgenommen wurde.10 Eine Veränderung der Instrumente meint zusätzlich das hinzutreten neuer bzw. die Abschaffung bestehender Regelungsmechanismen in der Gesundheitspolitik, ohne dass sich die übergeordneten Ziele ändern.11 Eine Veränderung der übergeordneten Ziele/Prinzipien umfasst demgegenüber Veränderungen in allen drei genannten Bereichen.12 Hall nennt diese Veränderungsstufen schlicht Veränderungen der Kategorie 1, 2 und 3, wobei Veränderungen der Kategorie 3 immer Veränderungen im Bereich der übergeordneten Ziele bzw. Umgewichtungen derselben im Verhältnis zueinander einschließen. Deshalb können Veränderungen der 3. Kategorie mit dem hier für die deutsche Gesundheitspolitik präferierten Begriff des ordnungspolitischen Wandels gleichgesetzt werden.
2
Ordnungspolitischer Wandel im Gesundheitswesen aus normativer Sicht
Ohne eine dezidiert juristische Perspektive einnehmen zu wollen, bewegt sich die folgende Analyse im Rahmen einer Betrachtung des normativen Gehalts der Reformgesetze. Untersucht wird das „Wollen“ der Gesetze an sich, d.h. die Interpretation beschränkt sich auf die Gesetzestexte selbst sowie auf Kommentare aus juristischer oder ‚quasi’-juristischer Sicht.13 Bezweckt wird damit, auf recht pragmatische Art und Weise eine Aussage darüber treffen zu können, ob sich auf der Ebene der Reformgesetze ein ordnungspolitischer Wandel im Gesundheitswesen abzeichnet, und wenn ja, ab wann und mit welchem Gesetz dies der Fall ist. Diese Form der Auswertung liefert die Grundlage für die Untersuchungen der Fragestellung, ob sich das Gesundheitssystem derzeit in einem grundlegenden Veränderungsprozess befindet. Der Versuch, die Motivationen und Absichten der am Gesetzgebungsprozess Beteiligten – Bund, Länder, Parteien, Organe der Selbstverwaltung, Verbände – zu rekonstruieren, wird hier nicht unternommen. Ebenso wenig wird der Frage nachgegangen, inwieweit die verschiedenen Interessen dieser Akteure bei der Politikformulierung bzw. im Kontext der vielfältigen Aushandlungsprozesse bis zur endgültigen Verabschiedung eines Gesetzes zum Zuge gekommen sind: Derartig komplexe Untersuchungsgegenstände erfordern eigenständige Studien mit spezifischen Designs. Gezeigt wird im Ver10 Beispiel: Die Zuzahlung bei Arzneimitteln wurde von der derzeitigen Regierungskoalition abgesenkt, jedoch nicht abgeschafft. 11 Beispiel: Teilweise Abschaffung der Vergütung über Pflegesätze und Ersatz durch FPn im Krankenhausbereich. 12 Beispiel: Primat der Beitragssatzstabilität. 13 Quasi juristische Sicht meint Sekundärliteratur, die in ihrer Darstellung und Analyse ganz oder in Teilen dicht an den konkreten gesetzlichen Neuregelungen entlang argumentiert.
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lauf der folgenden Analysen und Ausführungen, inwieweit sich die Reformgesetze in Anlehnung an das von Peter A. Hall entwickelte dreistufige Modell zur Kategorisierung von Veränderungen in Politikfeldern (Hall 1993, 278f) abbilden lassen, um so die Frage nach einem sich abzeichnenden ordnungspolitischem Wandel auf Makroebene einer Beantwortung zuführen zu können. Strukturierend und veranschaulichend wird in gewissen Variationen auf das bereits präsentierte Drei-Felder Schema zurückgegriffen (Abb. 1).
2.1 Ex-ante Zustand 1977 Um Veränderung messbar werden zu lassen, muss zuerst ein ordnungspolitischer Status quo benannt und qualifiziert werden. Als Zeitpunkt wird hier das Jahr 1977 gewählt, da mit dem KVWG und dem KVKG erstmalig per Gesetz der expansive Kurs verlassen wird. Der Zeitraum 1974 bis 1977 kann als Diskussionsphase aufgefasst werden, als deren erstes Ergebnis diese beiden Gesetze betrachtet werden können.
2.2 Ordnungspolitische Ziele/Prinzipien Rekapitulieren wir kurz das Modell zur Messung von ordnungspolitischem Wandel (Klinke 2005b): Als ordnungspolitisch wirksame und historisch dominant geltende Zielvorstellungen können für das bundesdeutsche Gesundheitssystem nachstehend aufgeführte Prinzipien und Gebote angesehen werden: Versicherungsprinzip, Prinzip der gegliederten Krankenversicherung, Selbstverwaltungsprinzip (Subsidiaritätsprinzip, Eigenverantwortung), Solidarprinzip, Sachleistungsprinzip, Versorgungsgebot, Bedarfsprinzip, Wirtschaftlichkeitsgebot (effektive und effiziente Verwendung der Mittel). Zentral für die Formulierung eines Ex-ante Zustandes ist die Annahme über die Geltung dieser sieben Prinzipien, wobei von einem klaren, bis zu diesem Zeitpunkt politisch tolerierten oder sogar gewollten Trade off zu Lasten des Wirtschaftlichkeitsgebots ausgegangen werden muss. Interessant ist, dass die Gesundheitssystemforschung zu diesem Zeitpunkt noch in den Anfängen steckt und ihr Aufschwung unmittelbar mit der einsetzenden Kostendiskussion in Verbindung steht (Fiedler 1978: 7f.; Redler 1979: 43; Herder-Dorneich 1980: IIIf.).14 Hubert Metz charakterisiert in einem 14 Obwohl Deutschland mit dem Krankenversicherungsgesetz aus dem Jahre 1883 und mit der Reichsversicherungsordnung von 1911 schon seit fast hundert Jahren ein oftmals hochgelobtes Gesundheitssicherungssystem besitzt, wird seine Erforschung erst unter dem Vorzeichen der Problematisierung seiner Funktionslogiken in nennenswertem Umfang betrieben. Systemtheoretisch könnte
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Materialband zum Stand der Reformdiskussion 1977 das bundesdeutsche Gesundheitswesen wie folgt: „Dem Krankenversicherungssystem in der Bundesrepublik gehören 98,4%15 der Bevölkerung teils aufgrund gesetzlicher Zwangsmitgliedschaft, teils auf freiwilliger Basis an. Die Solidargemeinschaft der Versicherten bringt Beiträge zu den verschiedenen Krankenkassen auf, die das individuelle Risiko des Krankseins auffangen. Das Prinzip der Solidargemeinschaft der Versicherten entspricht der sozialen Verantwortung der Gesamtheit für ihre einzelnen Mitglieder. Jeder Versicherte erhält im Bedarfsfall von seiner Krankenkasse einen Krankenschein, auf den hin er einen Arzt aufsuchen kann. Die eigentliche medizinische Versorgung wird arbeitsteilig im ambulanten Bereich von den niedergelassenen Ärzten und im stationären Bereich von den Krankenhäusern wahrgenommen.“ (Metz 1977: 7)
Den in dieser Beschreibung primär angesprochenen Strukturprinzipien Solidarprinzip, Versicherungsprinzip, Sachleistungsprinzip und Versorgungsgebot steht bereits 1977 das Wirtschaftlichkeitsgebot als Problemdimension gegenüber: „Das in ökonomischer Hinsicht organisierende Prinzip der medizinischen Versorgung, d.h. der ärztlichen Leistungserstellung, ist in der Bundesrepublik die private Erwerbswirtschaft. Während die niedergelassenen Ärzte nach rein erwerbswirtschaftlichen Grundsätzen praktizieren, arbeiten die Krankenhäuser weitgehend nach dem Kostendeckungsprinzip meist unter der Regie der jeweiligen Kommunen oder caritativer Verbände. Gleichwohl hat das Chefarztsystem das privatwirtschaftliche Erwerbsprinzip auch zu einem Strukturmerkmal der krankenhausärztlichen Versorgung gemacht. Ebenso wird der Arzneimittelmarkt ausschließlich von Privatunternehmen erwerbswirtschaftlich genutzt.“ (Metz 1977: 7f.)
Die marktwirtschaftliche, d.h. gewinnwirtschaftliche Erstellung der Leistungen wird hier noch als Problem für eine Einlösung des Wirtschaftlichkeitsgebots angesehen. Als übergeordnetes Ziel des Gesundheitssystems wird eine angemessene und ausreichende ärztliche Versorgung für alle Versicherten und Patienten genannt.
2.3 Organisation/Planung/Verwaltung Das bundesdeutsche Gesundheitssystem beruht wesentlich auf der im Jahre 1955 im Kassenarztrecht gesetzlich festgeschriebenen Trennung von ambulanter Behieraus gefolgert werden, dass sich Systeme ihrer selbst erst unter dem Vorzeichen der Krise bewusst werden. 15 Diese Zahl summiert anscheinend die Versicherten und Mitversicherten von GKV und PKV.
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handlung durch die privaten niedergelassenen Ärzte (einschließlich der Vorsorgeuntersuchung) und der stationären Behandlung durch die KH. Diese Trennung avanciert zum fundamentalen Strukturmerkmal der ärztlichen Versorgung in der Bundesrepublik. Die gesamte Organisationsstruktur ist auf Seite der Planungsund Entscheidungsträger von einem Nebeneinander staatlicher Stellen, Organen der Selbstverwaltung und Einzelpersonen geprägt. Im Bereich KH spielen außerdem freigemeinnützige Organisationen und private Träger eine wichtige Rolle (Fiedler 1978: 9f.).
Ambulanter Sektor Hauptstützen der ambulanten Versorgung sind die KVn. Die regionalen KVn haben den – quasi hoheitlichen – Auftrag, die ambulante ärztliche Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen (Sicherstellungsauftrag). Sie handeln mit den KKn die Honorare für die einzelnen ärztlichen Leistungen in der Gebührenordnung aus und fungieren als Verteilerstelle für die von den KKn überwiesenen Honorare an die einzelnen Ärzte. Die ambulante kassenärztliche Versorgung verfolgt gemäß § 368 Abs. 3 RVO (Stand 1977) folgendes Ziel: „Ziel der Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung ist es, den Versicherten und ihren Familienangehörigen eine bedarfsgerechte und gleichmäßige ärztliche Versorgung, die auch einen ausreichenden Not- und Bereitschaftsdienst umfaßt, in zumutbarer Entfernung unter Berücksichtigung des jeweiligen Standes der medizinischen Wissenschaft und Technik sowie der Möglichkeiten der Rationalisierung und Modernisierung zur Verfügung zu stellen.“
Die genannten Kriterien und Ziele werden als rechtlich gleichrangig angesehen, unter ihnen soll ein ausgewogenes Verhältnis herrschen. Die Erreichung der geforderten „Bedarfsgerechtigkeit“ könne man nicht endgültig bestimmen, da schon der Begriff „Bedarf“ nicht eindeutig festzulegen sei. Bei der Planung müsse daher „pragmatisch“ vorgegangen werden. Der Zustand der Bedarfsdeckung, definiert als Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage, sei jedoch bis auf „wenige Lücken“ erreicht. Das Kriterium der „zumutbaren Entfernung“ lässt sich als Verpflichtung der GKV gegenüber den Versicherten zu qualitativ gleichwertiger Versorgung interpretieren, da die KKn dem vom Gleichheitsgrundsatz geprägten öffentlichen Recht unterstehen. Der Qualitätsmaßstab „Stand der medizinischen Wissenschaft und Technik“ wird mit dem Anspruch einer wirtschaftlichen Versorgung gekoppelt, woraus sich einerseits die Forderung nach Etablierung eines umfangreichen Facharztsystems ableiten lasse, andererseits einem zu
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starken Anwachsen des Facharztanteils gegenüber dem Anteil der Allgemeinmediziner an der Versorgung entgegen zu wirken sei (Fiedler 1978: 42).
Stationärer Sektor KH werden in der Regel nach dem Chefarztprinzip statt nach dem Kollegialprinzip geleitet. Der Chefarzt einer Abteilung eines KH hat das Privileg, eine Privatstation im KH zu führen. Für die privat behandelten Patienten darf er persönlich liquidieren, d.h. gesonderte Rechnungen außerhalb der normalerweise abzuführenden Krankenhauspflegesätze ausstellen. In einigen Bundesländern besteht die Verpflichtung für Chefärzte, ihre zusätzlichen Honorare mit dem KH, den beteiligten Ober- und Assistenzärzten, Medizinalassistenten und dem Pflegepersonal zu teilen, da sie alle an der Erbringung der Leistung beteiligt sind. (Metz 1977: 12) Eine zentrale Zielbestimmung für diesen Sektor findet sich in § 3 KHG von 1972: „Zweck dieses Gesetzes ist die wirtschaftliche Sicherung der Krankenhäuser, um eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit leistungsfähigen Krankenhäusern zu gewährleisten und zu sozial tragbaren Pflegesätzen beizutragen.“ Auch in diesem Falle werden die drei angesprochenen Zielsetzungen (s.o.) als „im Wesentlichen“ gleichrangig betrachtet. Die „wirtschaftliche Sicherung“ der KH wird vom Gesetzgeber also als vordringliche Aufgabe kenntlich gemacht, u.a. indem bestimmt wird, dass die Investitionskosten für Neu-, Um-, und Ersatzbauten sowie die Kosten der Erneuerung der Anlagegüter vom Bund und den Ländern zu tragen sind. Die Pflegesätze im Niveau sollen die Benutzungskosten „eines sparsam wirtschaftenden und leistungsfähigen Krankenhauses“ decken. Darüber hinaus bleibt die „bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung“ ebenso unbestimmt wie im Falle der ambulanten Versorgung. Das KHG erklärt jedoch die Länder als für die Bedarfsplanung zuständig. Damit kommt ihnen eine für die Gewährleistung einer bedarfsgerechten Versorgung zentrale Aufgabe zu. Die Bettendichte wird gemeinhin als Maßstab bedarfsgerechter Versorgung – in Anpassung an die Morbiditätsstruktur unterschiedlicher Krankenhaustypen – herangezogen. Das dritte Ziel, die Anpassung des Niveaus der Pflegesätze an die Höhe der Behandlungskosten in einem wirtschaftlich geführten KH (Kostendeckungsprinzip), hat faktisch durch die Herausnahme der Investitionskosten zu einer Senkung der Pflegesätze um etwa 20% geführt. (Fiedler 1978: 44) Die primäre Aufgabe der KH ist in § 2 KHG festgelegt, nämlich die ärztliche und pflegerische Hilfeleistung. Auffällig ist, dass es keine Bestimmung gibt, die regelt, ob die Funktion der KH auf die Versorgung stationärer Patienten begrenzt ist (Fiedler 1978: 45).
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Finanzierung Die Finanzierung erfolgt im Rahmen der paritätischen Beitragszahlung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie staatlicher Haushalte, insbesondere bei der Krankenhausfinanzierung. Eine Sonderform besteht bezüglich der KVdR, die unter dem Aspekt der Solidarität von ihrer Beitragspflicht befreit sind. Sachwalter der Gelder sind im Wesentlichen die KKn. 1977 stehen bei den Honorarverhandlungen rund 1750 verschiedene KKn der Sozialversicherten16 den Vertretern der KVn gegenüber. Zwischen den KKn besteht Konkurrenz um die Versicherten. Eine einheitliche Interessenvertretung der Sozialversicherten besteht nicht. Die Sozialversicherten sind keine gesellschaftlich organisierte Gruppe, die sich interessensmäßig in eine einheitliche, starke Verhandlungsposition gegenüber den KVn gebracht hat. (Metz 1977: 10f.) Die Löhne und Gehälter in den KH sind der allgemeinen Einkommensentwicklung angepasst, außer bei den Chefärzten, insofern sie einen Zugang zu Privatpatienten haben. Die durchschnittlichen Einkommen der niedergelassenen Kassenärzte stiegen von 1962 bis 1972 um annähernd 13% jährlich. „Keine andere Gruppe in der Gesellschaft hat in diesem Zeitraum eine so durchschlagende und permanente Einkommenssteigerung erfahren.“ (Metz 1977: 11) Entsprechend besteht für die Beitragssätze 1977 eine kontinuierliche Steigerungstendenz. Systemisch betrachtet legt der Bundesgesetzgeber den Leistungsumfang fest und überlässt es den KKn, über die autonome Festlegung der Beitragsätze diesen zu finanzieren, wobei die Kassen lediglich unerhebliche Spielräume (Ermessensleistungen) bei der Wahl des Leistungskatalogs besitzen. Als Ex-ante Zustand des bundesdeutschen Gesundheitswesens, wie es für die große Mehrheit der Bevölkerung als Versicherte der GKV Gültigkeit besitzt, lässt sich in Zusammenfassung der geschilderten Gesetzgebungsaktivitäten der so genannten Restaurations- sowie Ausbauphase bis Ende der 70er Jahre folgende Darstellung generieren: Implementationsebenen
Makroebene: Bund/Staat
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Ordnungspolitischer Status quo 1977 Kategorie 1: Stellgrößen
Kategorie 2: Instrumente
Kategorie 3: Ziele/Prinzipien
Ambulanter Sektor: Uneingeschränkte Niederlassungsfreiheit für Ärzte, freie Arztwahl, uneinge-
Mitgliedschaft: Zwangsmitgliedschaft u. Inklusion fast aller Bevölkerungsgruppen
Gültigkeit der sieben Prinzipien, Trade off zu Lasten des Wirtschaftlichkeitsgebots
398 AOKn, 100 Landeskrankenkassen, 177 Innungskrankenkassen, 1059 BKKn, 1 Seekasse, 1 Bundesknappschaft sowie 15 Arbeiter- und Angestelltenkassen.
Gesundheitsreformen und ordnungspolitischer Wandel Implementationsebenen
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Ordnungspolitischer Status quo 1977 schränkte Sachleistungserbringung, geringe Zuzahlungen, wenige Zuschussregelungen Stationärer Sektor: Uneingeschränkte Sachleistungserbringung nach Stand des medizinischen Wissens u. Technik, wenige u. in der Höhe geringe Zuschussregelun17
gen
Geltungsbereich: Für circa 90% der Bevölkerung18
Organisation: Regionale, sektorale und betriebliche Gliederung der KKn als Mitgliederorganisation u. Selbstverwaltungsorgan (als Körperschaft des öffentlichen Rechts); die Selbstverwaltung der Anbieterseite ist in KVn und LKG organisiert Leistungen/Abrechnung: Ambulante u. stationäre Sachleistungen, Zuschüsse, Zuzahlungen, Krankengeld; Leistungen werden bedarfsbezogen im Rahmen der Selbstkostendeckung (Selbstkostendeckungsprinzip) erbracht
Verbände/ Selbstverwaltung
o.g. Regelungen werden befolgt
Finanzierung: Paritätische Beiträge (abhängig Beschäftigte/Unternehmen), Ausnahme: Rentner, Landes- u. Bundesmittel (KH, Mutterschaft) o.g. Regelungen werden akzeptiert
Einzelakteure/ Ärzte
o.g. Regelungen werden befolgt
o.g. Regelungen werden akzeptiert
Gültigkeit der sieben Prinzipien, Trade off zu Lasten des Wirtschaftlichkeitsgebots Gültigkeit der sieben Prinzipien, Trade off zu Lasten des Wirtschaftlichkeitsgebots
Tabelle 1: Ex-ante Zustand des Gesundheitswesens bis 1977 Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Hall (1993: 278f.) Das Schaubild zeigt auf schematische Weise den Zustand des bundesdeutschen Gesundheitssystems vor Beginn der Kostendämpfungsphase mit seinen Prinzipien und Instrumenten sowie dem Niveau der Stellgrößen. Was die verschiedenen Implementationsebenen betrifft, so wird davon ausgegangen, dass die geltenden gesetzlichen Regelungen weder auf Ebene der Selbstverwaltung/Inte17
Einige Kommentatoren sprechen selbst 1990 noch von einem Zustand der „Vollversorgung, da das Maß des Notwendigen grundsätzlich mit dem Maß des medizinisch Möglichen identisch ist“ (Schulin/Kegel 1990: 21). 18 Eigene Berechnung für das Jahr 1985, Quellen: (BMA 1991, 2.1; BMG 1992, 10.4).
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Sebastian Klinke
ressensverbände noch auf Ebene der Einzelakteure/Ärzte grundlegend unterlaufen werden. Nur die Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots bei der Leistungserbringung steht in Zweifel. Das anschließende Kapitel widmet sich der Verortung der ab 1977 verabschiedeten Kostendämpfungs- und Strukturreformgesetze innerhalb des entwickelten Modells. Im Gegensatz zur Darstellung des Status quo beschränken sich die folgenden Tabellen auf die Makroebene (Bund/Staat), da an dieser Stelle noch nichts über die Auswirkungen der Reformgesetze auf den anderen Ebenen ausgesagt werden kann und soll.
2.4 Phase 1: Kostendämpfung 1977-1982 unter SPD-geführten Koalitionsregierungen Diese Phase steht eindeutig unter dem Vorzeichen einer Kostendämpfung, wobei immer eine Dämpfung der Kostenwachstumsrate gemeint ist, nicht der absoluten Kosten. Erklärtes Ziel ist eine Stärkung des Wirtschaftlichkeitsgebotes. Unmittelbar deutlich wird diese Intention durch die Ersetzung des Selbstkostendeckungsprinzips durch das Ziel einer einnahmeorientierten Ausgabensteuerung.19 Im Bereich der Organisation werden hierzu zwei neue Instrumente geschaffen, die KAG, ein paritätisch besetztes Gremium zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit im ambulanten Sektor und die Verpflichtung der KVn, eine Bedarfsplanung durchzuführen. Somit wird faktisch das Selbstverwaltungsprinzip gestärkt, einerseits indem alle Beteiligten oder einzelne Akteure ‚mit ins Boot’ genommen werden (KAG, KVn), andererseits indem die Rolle spezifischer Akteure gestärkt wird (KKn). Unter den Organen der Selbstverwaltung sind die KKn als primärer Sachwalter der Gesundheitskostenabrechnung und Vertretung der Beitragszahler am ehesten geeignet, den staatlichen Sparwillen umzusetzen, ohne das Selbstverwaltungsprinzip zu verletzten. Im Leistungsbereich werden für den ambulanten Sektor drei neue Instrumente eingesetzt: für die Abrechnung mit den Kostenträgern ein einheitliches Leistungsverzeichnis auf Basis von Punktzahlen (bundeseinheitlicher Bewertungsmaßstab), für die Versicherten die Einführung des Kostenerstattungsprinzips bei Zahnersatz und kieferorthopädischer Behandlung (1981 teilweise Rücknahme) und in Verbindung damit Höchstpreise statt Festpreise bei den bezuschussten Leistungen (Zahntechnik, Heil- und Hilfsmittel).
19 Beide Prinzipien erscheinen aus ökonomischer Sicht sehr naiv: Es kann davon ausgegangen werden, dass die Ärzte ein sehr ausgedehntes Verständnis von ihren ‚Selbstkosten’ angewandt haben, also die Abgrenzung zum Begriff ‚Gewinn’ nicht gegeben ist. Einnahmeorientierte Ausgaben sind ebenso dubios, denn jedes Unternehmen wird mit Krediten finanziert und Staaten sowieso.
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Im Bereich der Stellgrößen werden einerseits bestehende Selbstbeteiligungen erhöht (Arzneimittel, Heilmittel und Brillen) und andererseits Leistungen gekürzt (Fahrtkosten, Zahntechnikkosten, Kuren und Krankenhausaufenthalten nach Entbindungen). Auf der Anbieterseite werden Preise gesenkt (Praxislaborpreise) und finanzielle Anreize geschaffen (Bettenabbau in KH). Reformintensität Veränderung im Bereich der Stellgrößen
Veränderung im Bereich der Instrumente
Veränderung im Bereich der Ziele/Prinzipien
Ambulanter Sektor: Einschränkung der Niederlassungsfreiheit: Bedarfsplanung für die vertragsärztliche Versorgung
Mitgliedschaft: keine Änderungen
Versicherungsprinzip: keine Änderungen
Organisation: Einführung der KAG
Prinzip der gegliederten Krankenversicherung: keine Änderungen
Beschränkung der Zahnersatzleistung u. kieferorthopädischen Behandlung auf 80% der Kosten; 1981 wird Zahnersatz wieder Sachleistung, jedoch werden Zahntechnikkosten nur noch zu 60% bezuschusst Erhöhung von Selbstbeteiligung bei Arzneimittel, Heilmittel u. Brillen Entgeltregelungen für Anbieter: Absenkung der Praxislaborpreise um 5 % Stationärer Sektor: erste finanzielle Anreize zum Abbau von Krankenhausbetten Leistungskürzungen bei Kuren u. KH-Aufenthalten nach Entbindungen Sektorunabhängig: Leistungskürzungen bei Fahrtkosten Geltungsbereich: keine Änderungen
Einführung einer paritätischen Wirtschaftlichkeitsprüfung im ambulanten Bereich (vorher nur KV, nun KV u. KK) Bedarfsplanung für die vertragsärztliche Versorgung Leistungen/Abrechnung: vom Selbstkostendeckungsprinzip zur einnahmeorientierten Ausgabensteuerung Einführung eines einheitlichen Leistungsverzeichnisses (bundeseinheitlicher Bewertungsmaßstab) auf Basis von Punktzahlen Einführung des Kostenerstattungsprinzips bei Zahnersatz und kieferorthopädischer Behandlung, 1981 teilweise Rücknahme bei zahntechnischen Leistungen, Heilu. Hilfsmitteln, Höchstpreise statt Festpreise
Selbstverwaltungsprinzip (Subsidiaritätsprinzip, Eigenverantwortung): keine Änderungen/Stärkung Solidarprinzip: keine Änderungen Sachleistungsprinzip: keine Änderungen/Schwächung Versorgungsgebot, Bedarfsprinzip: keine Änderungen Wirtschaftlichkeitsgebot (effektive und effiziente Verwendung der Mittel): Stärkung
Finanzierung: keine Änderungen
Tabelle 2: Kostendämpfung 1977-198220
20
Der Darstellung liegen folgende Gesetze zugrunde: KVWG 1977, KVKG 1977, KHKG 1981, KVEG 1981.
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Sebastian Klinke
Eine Notation in der Rubrik Veränderung im Bereich der Stellgrößen erfolgt dann, wenn vor der Regeländerung für diesen Leistungsbereich, diesen Abrechnungsbereich, diesen Finanzierungsbereich oder Geltungsbereich bereits das entsprechende Instrument im Einsatz war. Ein Eintrag unter Veränderung im Bereich der Instrumente wird in den Fällen vorgenommen, in denen für einen spezifischen Leistungs-, Abrechnungs-, Organisations- oder Finanzierungsbereich ein anderes als das bisherige Instrument exklusiv oder ergänzend zur Regelung herangezogen wird. Z.T. ist eine Abgrenzung zur Veränderung der Stellgrößen schwierig, z.B. im Bereich Mitgliedschaft: Werden bestimmte, bisher Pflichtversicherte zu freiwillig Versicherten, kann dies aus Sicht der GKV als Veränderung von Stellgrößen aufgefasst werden, aus Sicht der Versicherten findet jedoch eine komplette Statusänderung statt; daher werden hier Mitgliedschafts- und Leistungsexklusionen grundsätzlich dem Bereich ‚Instrumente’ zugeordnet. Und schließlich sind die Kategorien ‚Stärkung’ und ‚Schwächung’ im Feld Veränderung im Bereich der Ziele/Prinzipien als Tendenzaussagen zu lesen. Es handelt sich hier um eine Interpretation der Veränderungen auf Ebene 1 und 2; sofern vorhanden, wird die vom Gesetzgeber vorgenommene Zuordnung übernommen. Der Kommentar ‚keine Änderungen’ weist auf weniger eindeutige Tendenzen hin.
Zusammenfassung und Bewertung Neben der erklärten Stärkung des Wirtschaftlichkeitsgebots und einer mit gleichen Intentionen herbeigeführten faktischen Stärkung der Selbstverwaltung wird mit der Einführung des Kostenerstattungsprinzips im zahnmedizinischen Bereich das Sachleistungsprinzip geschwächt. Insbesondere die Schaffung der Institution KAG ist von nachhaltiger Tragweite, da alle beteiligten Akteure langfristig gezwungen werden, unter den von staatlicher Seite vorgegebenen Zielen/Prämissen miteinander zu kooperieren und nach Lösungsansätzen zu suchen. Langfristige Diskussionszusammenhänge haben allein aufgrund ihrer Konstanz die Tendenz, dass gemeinsame Deutungshorizonte geschaffen werden (Bohnsack 1993: 108ff.).
2.5 Phase 2: Kostendämpfung 1983-1989 unter CDU-geführten Koalitionsregierungen Dominantes Gesetz dieser Periode ist das GRG von 1989. Alle seine Bestimmungen sind dem Ziel einer Förderung der Wirtschaftlichkeit bei Leistungs-
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erbringung und -inanspruchnahme untergeordnet. Konkret gefasst wird die Aufwertung des Wirtschaftlichkeitsgebotes mit der Verpflichtung aller Akteure, die Beitragssatzstabilität zu gewährleisten. Auffällig ist, dass erstmalig nach langen Zeiten der immer weiter gefassten Inklusionsregelungen bestimmte Gruppen aus dem Kreis der Pflichtversicherten ausgeschlossen werden. Begründet wird dies zwar mit dem Prinzip der gegliederten Krankenversicherung, faktisch wird jedoch eine entscheidende Option zur Lösung der Einnahmeprobleme in konjunkturell schwachen oder strukturell schlechten wirtschaftlichen Zeiten negiert, nämlich weitere gut verdienende Bevölkerungskreise in die GKV zu integrieren. Im Bereich der Organisation wird mit dem MDK ein für die weitere Entwicklung bedeutsames Instrument geschaffen. Personell zwar unabhängig, faktisch aber in der Hand der KKn soll der MDK die Wirtschaftlichkeit des Verordnungsverhaltens der Ärzte überprüfen. Auf diese Weise werden die KKn zum ersten Mal personell in die Lage versetzt, das bisher inhaltlich kaum zu kontrollierende Verhalten der Ärzte zu bewerten und ggf. die Behandlung an sich oder deren Bezahlung zu verweigern. Für den stationären Bereich wird die Verhandlung der Pflegesätze den KKn und KH übertragen, d.h. einerseits wird die Selbstverwaltung gestärkt, andererseits werden Leistungserbringer und Kostenträger an einen Tisch gesetzt, um so die Anreize zu wirtschaftlichem Verhalten zu stärken. Konsequenterweise können KH von nun an Gewinne und Verluste machen. Zu den Umstellungen im KH-Bereich gehören außerdem Änderungen der Finanzierungsmodalitäten: Die Investitionskostenzuschüsse des Bundes werden den Ländern zugeschlagen, und die KKn müssen die Rationalisierungsinvestitionen über den Pflegesatz abrechnen. Letzteres lässt den Verdacht entstehen, es könnte nun vieles als Rationalisierung deklariert werden, was vorher als Investition galt. Außerdem wird für die in der KVdR versicherten Rentner das für sie neue Instrument der Beitragspflicht geschaffen. Der nun geltende ermäßigte Beitragssatz soll im weiteren Verlauf schrittweise bis zum vollen Beitragssatz der jeweiligen KK angehoben werden. Diese Absicht kann als Schwächung des Solidarprinzips gewertet werden, da der so erheischte Zugriff auf die Renten eine bisher sozialpolitisch gewollte Förderung der Alterseinkommen beschneidet.21
21 Inwieweit heutzutage das Risiko Alter als sozialpolitisch überkompensiert erscheint, ist eine anhaltende Debatte und wird im Rahmen von Framing-Prozessen unter dem Schlagwort ‚Generationenkonflikt’ verhandelt (Klinke 1995; Butterwegge 1999; Backes 1999; Silverstone 1994).
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Sebastian Klinke Reformintensität
Veränderung im Bereich der Stellgrößen
Veränderung im Bereich der Instrumente
Veränderung im Bereich der Ziele/Prinzipien
Ambulanter Sektor: Kostenerstattung bei Zahnersatz und kieferorthopädischer Behandlung in Höhe von 50% (60% bis Ende 1990, ab 1991 nur noch bei Prophylaxe Nachweis), bei 10jähriger Prophylaxe Bonus von 5%
Mitgliedschaft: Arbeiter oberhalb der Versicherungspflichtgrenze, Studenten mit mehr als 14 Fachsemestern oder nach Vollendung des 30. Lebensjahres sowie bestimmte Gruppen von Selbständigen werden von der Versicherungspflicht befreit
Versicherungsprinzip: keine Änderungen
Erhöhung von Selbstbeteiligungen bei Arzneimitteln um etwa 30% (ab 1989 bei Arzneimitteln ohne Festbetrag 15% bzw. maximal DM 15,-), bei Heilmittel auf 10% der Kosten, bei Fahrtkosten von fünf auf DM 20,Zuschussregelungen bei Brillengestellen: DM 20,Stationärer Sektor: Selbstbeteiligungen je Tag 5 DM, ab 1989 zehn DM für maximal 14 Tage in KH, je Tag zehn DM bei Kuraufenthalten Sektorunabhängig: Erhöhung von Selbstbeteiligungen bei Fahrtkosten von fünf auf DM 20,Zuschussregelungen: Absenkung des Sterbegeldes, insbs. für Familienmitversicherte Deckelung: bei Fahrtkosten, Kuren u. KH-Aufenthalten nach Entbindungen; Leistungsausbau: im Bereich Präventionsmaßnahmen Geltungsbereich: Verringerung der Versicherungspflicht für Arbeiter, Studenten und Selbständige
Organisation: KKn u. KH verhandeln ab 1986 die Pflegesätze; KH können nun Gewinne/Verluste machen; MDK als Instanz zur Überprüfung der Wirtschaftlichkeit gegründet Leistungen/Abrechnung: Das Wirtschaftlichkeitsgebot wird mit der Zieldimension „Beitragssatzstabilität“ konkretisiert; Leistungsausschluss: indikationsbezogene Negativliste (Bagatellerkrankungen) für Medikamente; Einführung von Selbstbeteiligungen: KHu. Kuraufenthalte; Einführung von Zuschussregelungen bei Brillengestellen (statt Selbstbeteiligungen); Kostenerstattungsprinzip statt Sachleistungsprinzip bei Zahnersatz u. Kieferorthopädie; Einführung von Bonus-/MalusSystem bei Zahnersatzleistungen; Einführung von Härtefallregelungen; Einführung von Festbetragsregelungen bei Arzneimitteln; Leistungsdeckelung bei Fahrtkosten
Prinzip der gegliederten Krankenversicherung: keine Änderungen Selbstverwaltungsprinzip (Subsidiaritätsprinzip, Eigenverantwortung): keine Änderungen/Stärkung Solidarprinzip: keine Änderungen/Schwächung Sachleistungsprinzip: keine Änderungen/Schwächung Versorgungsgebot, Bedarfsprinzip: keine Änderungen/Schwächung Wirtschaftlichkeitsgebot (effektive und effiziente Verwendung der Mittel): Stärkung
Finanzierung: KKn müssen Rationalisierungsinvestitionen in KH über Pflegesatz finanzieren; Länder müssen komplett die Investitionskosten der KH übernehmen (ehem. Bundesanteile); Rentner werden beitragspflichtig
Tabelle 3: Kostendämpfung 1983-198922 22
Der Darstellung liegen folgende Gesetze zugrunde: HBG83 1983, KHNG84 1984, GRG 1989.
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Im Leistungsbereich werden zahlreiche Instrumente neu eingeführt. Hervorzuheben ist das Novum, dass eine Leistung aus Kostengründen aus dem GKV-Katalog gestrichen wird: Die indikationsbezogene Negativliste schließt Medikamente für ‚Bagatellerkrankungen’ aus und schafft auf diesem Weg einen Präzedenzfall für die weitere Entwicklung des Leistungsrechts: Krankheiten, deren Prävalenz auch ohne medikamentösen oder sonst wie therapeutischen Einsatz verschwindet oder mit ‚Hausmitteln’ zu beseitigen ist, sollen nicht von der Solidargemeinschaft finanziert werden. Neben diesem Leistungsausschluss werden die Leistungen im Bereich der Fahrtkosten gedeckelt. Das Kostenerstattungsprinzip wird im Bereich der Zahnmedizin zum dominanten Prinzip, das Sachleistungsprinzip wird somit weiter geschwächt. Hinzu treten beim Zahnersatz Bonus-Regelungen, die mit einer Stärkung der Eigenverantwortung begründet werden. Auch hier handelt es sich um ein gänzlich neues Instrument, welches von seiner Eigenlogik her auch auf viele andere Bereiche, in denen verhaltensbedingte Risiken eine Rolle spielen, angewandt werden kann. Eine solche Logik schwächt das Solidarprinzip, da dieses allein durch Mitgliedschaft den Zugang zu gleichen Leistungen ermöglicht. Elemente, die den Zugang zu Leistungen an weitere Bedingungen knüpfen, wirken tendenziell entsolidarisierend.23 Insofern die Stärkung der Eigenverantwortung zur Nicht- oder verzögerten Inanspruchnahme von benötigten Leistungen führt, schwächt sie zusätzlich das Bedarfsprinzip. Weitere Instrumente, deren Einsatzbereiche ausgedehnt werden, sind Selbstbeteiligungen (KH- und Kuraufenthalt) und Zuschussregelungen (Brillengestelle) auf Seiten der Versicherten sowie Festbetragsregelungen auf Anbieterseite (Arzneimittel). Bestehende Selbstbeteiligungen werden erhöht (Arznei- und Heilmittel, Fahrtkosten) und bestehende Zuschüsse abgesenkt (Sterbegeld). Als sozialer Ausgleich für diese Maßnahmen wird das Instrument ‚Härtefallregelung’ neu geschaffen. Im Bereich der Stellgrößen kommt es sogar zu einer Leistungsausweitung, denn die Berechtigung zur Teilnahme an Präventionsmaßnahmen wird ausgebaut.
23 Auch wenn das Erfordernis zahnmedizinischer Prophylaxe nicht besonders gravierend erscheint, wird diese Problematik deutlich, betrachtet man die Diskussionen über andere verhaltensbedingte Risiken: Negative Sanktionierungen hinsichtlich durch Freizeitsport, ungesunde Ernährung, Rauchen, sonstige Drogen, Bewegungsmangel am Arbeitsplatz oder ungesunde Körperhaltung bei der Arbeit verursachte Erkrankungen/gesundheitliche Beeinträchtigungen würden das Solidaritätsprinzip quasi abschaffen und das Bedarfsprinzip drastisch einschränken.
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Zusammenfassung und Bewertung Diese Phase steht bereits unter dem Vorzeichen angestrebter Strukturreformen, um Kosten steigernde Mechanismen zu beseitigen, jedoch sind die meisten Maßnahmen dieser Zeit eher dem Typ ‚kurzfristig wirksame Regelungen’ zuzuordnen, wenngleich in vielen Bereichen neue Instrumente zur Ausgabensteuerung eingesetzt werden. Mittel- bis langfristig von großer Bedeutung ist die Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebots mit dem Ziel der Beitragssatzstabilität, denn mit Einführung dieser Größe wird die Zielerreichung zum ersten Mal messbar. Deutlich wird die damit einhergehende Aufwertung des Wirtschaftlichkeitsgebots gegenüber allen anderen Prinzipien durch einen Blick auf die bisherige Beitragssatzentwicklung: Jede Weiterentwicklung des Gesundheitssystems der BRD wurde bislang über eine Steigerung des Beitragsatzes finanziert. Hinzu kommt eine langfristige Schwächung des Solidaritätsprinzips durch die eingeführte Beitragspflicht der Rentner und Befreiung besser verdienender Arbeitnehmer von der Versicherungspflicht. Ergänzend führt die Aufwertung der Eigenverantwortung zu einer weiteren Schwächung des Sachleistungs- und Solidarprinzips. Im Bereich der Zahnmedizin wird das Bedarfsprinzip geschwächt.
2.6 Phase 3: Strukturreform 1992-1998 unter CDU-geführten Koalitionsregierungen Definitiv prominentestes Gesetz dieser Phase ist das GSG von 1992, bei dem bereits die Namensgebung den gesetzgeberischen Willen zu grundlegenden Reformen ausdrückt. Als weitere zentrale Reformgesetze dieser Phase können die beiden, inhaltlich nicht weniger Struktur verändernd wirkenden Neuordnungsgesetze von 1997/98 angesehen werden. Im Bereich der Instrumente kommt es zu zahlreichen Veränderungen, die die Organisation und Leistungserbringung bzw. Abrechnung betreffen. In organisatorischer Hinsicht wird die Gleichstellung von Ersatz- und Primärkassen beschlossen, verbunden mit der freien Kassenwahl für die Versicherten ab 1996. Die traditionelle Statusdifferenzierung wird gewissermaßen nivelliert und das Prinzip der gegliederten KV geschwächt. Der damit einsetzende und über den Beitragssatz geführte Wettbewerb um Mitglieder ist als Instrument zur Förderung von Kostendämpfungsbemühungen seitens der Kassen gedacht und wird mit dem Instrument des RSA ergänzt, um die durch ungleiche Mitgliederstrukturen vorhandenen Wettbewerbsnachteile, insbesondere der AOKn, auszugleichen. Zudem wird die Selbstverwaltung der KKn reformiert und das bisher ungenutzte Instrument der Sonder- und Wahlleistungen als Option eingeführt. Auch wenn
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von diesen Wahlrechten kaum Gebrauch gemacht wird, bedingt dieses neue Instrument, in seiner Eigenlogik betrachtet, eine Schwächung des Solidar- und Sachleistungsprinzips, da vom Grundsatz der beitragshöhenunabhängigen Versorgung abgewichen wird. Den KVn wird auferlegt, anhand einer fixen Formel künftig den Versorgungsgrad für einzelne Fachdisziplinen in den jeweiligen Regionen zu ermitteln und im Fall einer Überversorgung die Zulassung zu beschränken. Dem allgemeinen Ziel einer bedarfsgerechten ambulanten Versorgung wird ein konkreter Maßstab an die Hand gegeben und ein Akteur im Rahmen der Selbstverwaltung bestimmt, der diesen anwenden und durchsetzen soll. Formal betrachtet handelt es sich um eine Stärkung der Selbstverwaltung, da Kompetenzen zugeteilt werden, jedoch bewirkt die Durchsetzung paradoxerweise eher eine Schwächung dieser Institution, da massive Konflikte in den Reihen der vertretenen Ärzte zu befürchten sind.24 In diesem Zusammenhang wird zudem erstmalig eine Altersgrenze für Kassenärzte erlassen, d.h. der Status des niedergelassenen Arztes als Selbstständiger wird faktisch beschnitten, denn von Privatpatienten allein kann der ‚Durchschnittsarzt’ seine Praxis nicht finanzieren. Die Position der KVn wird weiter geschwächt, indem die Kontrollrechte der KKn um die Möglichkeit der zufälligen Plausibilitätsprüfung (Wirtschaftlichkeitsprüfungen) erweitert werden. Eine weitere Organisationsreform betrifft die Aufweichung der bisher strikten Trennung von ambulantem und stationärem Sektor, wobei insbesondere der Kompetenzbereich der KH in Richtung ambulanter Behandlungsformen erweitert wird, mit dem Ziel, teure stationäre Behandlungen zu vermeiden. Damit wird ein neues Steuerungsinstrument geschaffen, denn nun können, je nach Absicht des Gesetzgebers, dem einen oder anderen Bereich Kompetenzen entzogen oder zugeteilt werden. Bisher sieht es danach aus, dass der von staatlicher Seite als zu teuer und teilweise überflüssig betrachtete fachärztliche Bereich Kompetenzen und Ressourcen abgeben soll (s.u.: Hausarztmodell). Im Bereich der Leistungen wird die Anwendung des Instruments des Leistungsausschlusses auf die Bereiche Zahnersatz (für unter 18-Jährige), Hilfsmittel (Brillengestelle) und Gesundheitsförderung (allgemeine GF) ausgedehnt. Hervorzuheben ist die Begründung für den Leistungsausschluss beim Zahnersatz für jüngere Versicherte: Erneut (s.o.) wird der Gedanke der Eigenverantwortung bemüht, um nun erstmalig sogar den Ausschluss von einer medizinisch notwendigen Maßnahme zu rechtfertigen; d.h. das Prinzip der Eigenverantwortung wird gestärkt, Bedarfs- und Solidarprinzip werden geschwächt. Eine weitere Schwä24 Ein markantes Problem in Gebieten mit Zulassungsbeschränkungen ist anscheinend dadurch bedingt, dass in den Ruhestand tretende Ärzte Teile ihres Alterseinkommens traditionell aus dem Verkaufserlös ihrer Praxis beziehen, sich jedoch derzeit mit dem Problem konfrontiert sehen, dass der Nachwuchs nicht berechtigt ist ihre Praxis zu übernehmen.
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chung des Bedarfsprinzips findet sich durch die Anwendung des Instruments der Leistungsdeckelung auf den Bereich des höherwertigen Zahnersatzes. Ein gänzlich neuer Mechanismus wird im Bereich der Selbstbeteiligungen eingeführt, in dem Beitragssatzerhöhungen einer KK automatisch zu einer Erhöhung der Selbstbeteiligungen führen. Damit wird eine Wechselbeziehung zwischen zwei Instrumenten hergestellt, die gewissermaßen ein neues Steuerungsinstrument hervorbringen, nämlich die ‚beitragssatzabhängige Selbstbeteiligung’. Dieses dubiose Instrument soll die KKn indirekt25 zur Einhaltung des Grundsatzes der Beitragssatzstabilität veranlassen und somit das Wirtschaftlichkeitsgebot stärken. Für die Leistungsanbieter kommt es zu einem massiven Ausbau des Instruments der Ausgabendeckelung mittels sektorbezogener fixer Budgets, so dass nahezu alle Bereiche von mehr oder minder starren Budgets erfasst sind. Insbesondere der bisher ausgeklammerte und vom Umfang her große Bereich der Krankenhauskosten erhält nun auch ein Budget. In diesem Kontext ist auch die schrittweise Ablösung des Selbstkostendeckungsprinzips im KH-Bereich durch das Instrument prospektiver Erstattungsverfahren zu betrachten. Die Änderung beinhaltet einen weitgehenden Ersatz der bestehenden Pflegesätze durch leistungsbezogene FPn, Sonderentgelte (Einführung von 73 FPn und 147 Sonderentgelten ab 1996) und Abteilungspflegesätze sowie Basispflegesätze (§ 17 KHG) (Bieback 1993: 203). Die Höhe der jährlichen Budgetsteigerung und der Preise prospektiver Erstattungsverfahren wird an die Entwicklung der Grundlohnrate der Versicherten geknüpft, um Beitragssatzsteigerungen zu vermeiden. Dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität wird ergo ein konkretes Instrument zu seiner Erreichung zugeteilt; das Wirtschaftlichkeitsgebot wird gegenüber allen anderen Prinzipien massiv gestärkt. Reformintensität
25
Veränderung im Bereich der Stellgrößen
Veränderung im Bereich der Instrumente
Veränderung im Bereich der Ziele/Prinzipien
Ambulanter Sektor: Einschränkung der Niederlassungsfreiheit: Verschärfung der Bedarfsplanung mit Festschreibung von Zulassungsbeschränkungen; alle Versicherten des Jahres 1996 unter 18 Jahren werden von Zahnersatzleistungen ausgeschlossen; Erhöhung von Selbstbeteiligungen bei Arzneimittel (mehrfach), Zuzahlung auch bei Mitteln
Mitgliedschaft: keine Änderungen
Versicherungsprinzip: keine Änderungen
Organisation: Gleichstellung von Ersatzkassen und Primärkassen; einheitliche Bezeichnung als vertragsärztliche Versorgung (früher: kassenärztliche Versorgung); kassenartenübergreifender RSA (ab 1994); Neuordnung der Selbstverwaltung und den Ausbau von Wahlrechten;
Prinzip der gegliederten Krankenversicherung: keine Änderungen/Schwächung Selbstverwaltungsprinzip (Subsidiaritätsprinzip, Eigenverantwortung): Schwächung/Stärkung
Es droht die Wahrnehmung der Exit-Option durch die Versicherten.
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Reformintensität Veränderung im Bereich der Stellgrößen
Veränderung im Bereich der Instrumente
Veränderung im Bereich der Ziele/Prinzipien
mit Festbetrag; Zuzahlung zu Heilmitteln steigt auf 15%, bei Hilfsmitteln auf 20% (1997/98)
ab 1996 freie Krankenkassenwahl; KVn müssen Versorgungsgrad berechnen u. ggf. Zulassung beschränken; Einführung einer Altersgrenze für Kassenärzte von 68 Jahren (ab 1999); sektorale Trennung zwischen ambulanter u. stationärer Versorgung eingeschränkt; Wirtschaftlichkeitsprüfungen: KKn dürfen zufällige Plausibilitätsprüfungen durchführen
Solidarprinzip: keine Änderungen/Schwächung
Kostenerstattung: bei Zahnersatz um 5% gekürzt (1997/98) Festzuschüsse bei „höherwertigem“ Zahnersatz (1998) Entgeltregelungen für Anbieter: Budgetierung der Gesamtvergütung, der Zahnbehandlungskosten u. für Arznei- u. Heilmittel; Absenkung der Honorare beim Zahnersatz um 10% u. Einführung der Degressionsregelung Stationärer Sektor: Kuren werden auf drei Wochen alle vier Jahre beschränkt unter Anrechnung von zwei Urlaubstagen je Woche als erweiterte „Selbstbeteiligung“ (1997) Zuzahlung bei KH-Behandlung steigt auf DM 17 pro Tag (1998); Einführung von 73 FPn und 147 Sonderentgelten (1996) ab 1996 flexible Abteilungsbudgets bei fixem Gesamtbudget; Entfristung der Budgetierung ab 1997/98 ab 1997 Kürzung der Gesamtbudgets um ein % (wg. Pflegeversicherung) 1997/98: KH-Notopfer DM 20,- je Versicherten Leistungsausbau: ambulantes Operieren Sektorunabhängig: Kürzung des Krankengeldes um 10 % auf 80 % des Bruttolohns Verbesserung der Härtefallregeln für chronisch Kranke Eigenanteil bei Fahrkosten steigt auf DM 25,- (1998); zeitlich befristete Grundlohnanbindung auf regionaler Ebene, mittels fester
Leistungen/Abrechnung: Leistungsausschluss: Zahnersatz für 1996 unter 18 Jährige; Brillengestellzuschuss gestrichen (1997); allgemeine GF gestrichen; Leistungsdeckelung: bei „höherwertigem“ Zahnersatz, Umstellung auf Festbetragszuschuss (1998); Beitragssatzanhebungen einer KK führen zu erhöhten Zuzahlungen für Versicherte, diese erhalten außerordentliches Kündigungsrecht (1997); 1998 ausgesetzt; Ausgabendeckelung: strikte Budgetierung der Gesamtvergütung, der KH-Kosten (ohne Personalkostensteigerung durch Tarifabschlüsse), Kosten für stationäre Kuren, Zahnbehandlungskosten sowie die Verwaltungskosten der KKn u. der Ausgaben für Arzneiund Heilmittel, Haftung der Vertragsärzte für eine Budgetüberschreitung 1997/98: Zuwachs der KHBudgets u. der Vergütung für FPn u. Sonderentgelte wird auf die ProKopf-Steigerungsrate aller GKV Beitragseinnahmen (=Grundlohnrate) begrenzt; Einführung der Degressionsregelung im ambulanten Bereich, d.h. ab einer bestimmten Punktzahl-Menge werden die erbrachten Leistungen in einem festgelegten Verhältnis nicht mehr bezahlt; umfassende Neugestaltung des ärztlichen Vergütungssystems, durch Einführung von Leistungskomplexen, z.B. einer hausärztli-
Sachleistungsprinzip: keine Änderungen/Schwächung Versorgungsgebot, Bedarfsprinzip: keine Änderungen/Schwächung Wirtschaftlichkeitsgebot (effektive und effiziente Verwendung der Mittel): Stärkung
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Sebastian Klinke Reformintensität
Veränderung im Bereich der Stellgrößen
Veränderung im Bereich der Instrumente
Budgets oder Ausgabenobergrenzen in den Hauptsektoren des Gesundheitssystems
chen Grundvergütung
Preismoratorium für Arzneimittel, Ausnahme für nach 1995 zugelassene Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen KAG: Kompetenzen erweitert 1997 Reduzierung des Beitragssatzes um 0,4 % Geltungsbereich: keine Änderungen
Veränderung im Bereich der Ziele/Prinzipien
1997/98: Arznei- und Heilmittelbudgets werden durch arztgruppenspezifische Richtgrößen abgelöst. Bei Überschreiten der Richtgrößen entsteht Regresspflicht für den einzelnen Arzt; die ärztliche Gesamtvergütung wird durch ein Regelleistungsvolumen mit festem Punktwert (arztgruppenspezifische Praxisvergütung) ersetzt. Bei Überschreitung erfolgt für alle zusätzlichen Leistungen eine Vergütungsabstaffelung; KKn können Zusatzleistungen/Sonderkonditionen anbieten („Gestaltungsleistungen“) u. für Nichtinanspruchnahme Beitragsrückerstattungen anbieten (1997/98); in KH: schrittweise Ablösung des Selbstkosten-deckungsprinzips durch prospektive Erstattungsmechanismen 1997/98: Instandhaltungskosten der KH werden über Pflegesatz abgerechnet Finanzierung: 1997 Reduzierung des Beitragssatzes; volkswirtschaftliche Gegenfinanzierung von Kuren durch Urlaubstage; 1997/98: Gegenfinanzierung der KH Investitionskosten durch Kopfbetrag
Tabelle 4: Strukturreform 1992-199826 An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass allein die Einführung des Instruments Budgetierung in das bundesdeutsche Gesundheitssystem zu einer Debatte geführt hat, ob mit dieser Modifikation nicht ein Systemwandel einhergeht, da dem Wirtschaftlichkeitsgebot in einem komplett budgetierten System eine Primatstellung zukommt, hinter dem alle anderen Prinzipien des Gesundheitswe26
Gesetze: GSG 1992/93, BPflV95 1995, StabG96 1996, 7. SGB V-Änderungsgesetz 1996, KBEG 1997, 1. u. 2. GKV-NOG 1997/98, GKVFG 1998/99.
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sens zurückzutreten haben. Heinz Rothgang hat in diesem Zusammenhang z.B. die Formulierung „vom Bedarfs- zum Budgetprinzip“ entwickelt (Rothgang 1996). Diese Hypothese kann mittelbar in den Kontext der von anderen Autoren allgemeiner gefassten These einer „Ökonomisierung der Politik“ gestellt werden (Blanke/Kania 1996), die ein Umschwenken der Politik in Zeiten des langfristig geschwächten Wachstums über Parteigrenzen hinaus abbilden soll. Dieser Hinweis macht plausibel, dass von der Einführung einer strikten Budgetierung – unabhängig von ihrer tatsächlichen ökonomischen Wirkung – für alle Akteure eine spezifische Signalwirkung ausgeht: Der Gesetzgeber zeigt, dass eine Veränderung des Verhältnisses der ordnungspolitischen Prinzipien zueinander intendiert ist. Zur Durchsetzung der Budgets wird im ambulanten Bereich das Instrument der vertragsärztlichen Haftung (Degressionsregelung) eingeführt und im Bereich KH wird der Zwang zu wirtschaftlichem Handeln durch eine Ausweitung/Verbesserung des Kündigungsrechts der KKn gegenüber unwirtschaftlichen Häusern gestärkt (Bieback 1993: 206). Des Weiteren wird das vertragsärztliche Vergütungssystem einer umfassenden Neuordnung unterzogen, u.a. mit dem Ziel, die Position des Hausarztes (hausärztliche Grundvergütung) zu stärken. Gegen Ende dieser Phase werden die Arznei- und Heilmittelbudgets durch arztgruppenspezifische Richtgrößen mit individueller Regresspflicht abgelöst. Die vertragsärztliche Gesamtvergütung wird durch ein Regelleistungsvolumen mit festem Punktwert (arztgruppenspezifische Praxisvergütung) mit Vergütungsabstaffelung bei Überschreitung ersetzt. Diese Instrumente führen im ambulanten Bereich zu einem weitgehend bedarfsentkoppelten Abrechnungssystem, welches aus betriebswirtschaftlichen Gründen Leistungsverweigerungen in Teilbereichen nahe legt (Arznei- und Heilmittel) und für das Gesamtsystem irrationale Mehrbehandlungen (Regelleistungsvolumen mit festem Punktwert) fördert. Im Bereich der Finanzierung wird die bisherige duale Finanzierung des stationären Sektors aufgehoben: Die bisher von den Ländern getragenen Investitionskosten werden über den Pflegesatz finanziert. Um das Ziel der Beitragssatzstabilität nicht zu gefährden, wird als neues Instrument eine Art Kopfsteuer27 eingeführt, das „Krankenhausnotopfer“. Im Vergleich zur vorherigen Finanzierung dieses Bereichs wird das Solidarprinzip geschwächt, da nicht mehr die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Einzelnen über die Höhe des Beitrags entscheidet.
27 Kopfsteuern sind eine antike Form der Besteuerung von Personen anhand äußerer Merkmale wie Wohnort etc., ohne Rücksicht auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit oder Verhältnisse (Woll 1990: 418).
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Ein weiteres, wenn auch indirektes Finanzierungsinstrument findet sich bei den Kuren, die nun über zwei Urlaubstage je Woche vom Patienten gegenfinanziert werden. In Anlehnung an die Intention der damaligen Bundesregierung kann von einem ‚Unternehmensentlastungsinstrument’ gesprochen werden. Zusätzlich wird 1997 erstmalig das Instrument einer gesetzlichen Beitragssatzsenkung angewendet, womit wiederum das Wirtschaftlichkeitsgebot gestärkt wird, in diesem Fall sogar mittels temporärer Schwächung des Selbstverwaltungsprinzips.28 Im Bereich der Stellgrößen kommt es im ambulanten Sektor zu weiteren Erhöhungen der Selbstbeteiligungen und Zuzahlungsregelungen – bei Arzneimitteln sogar mehrfach –, Kürzungen von Kostenerstattungsbeträgen (Zahnersatz) und auf Anbieterseite (Zahnärzte) zu einer pauschalen Absenkung der Honorare. Im stationären Sektor wird für die Versicherten der Zugang zu Kuren und deren Dauer beschränkt und die Zuzahlung bei Krankenhausbehandlung weiter erhöht. Sektorunabhängig wird das Krankengeld von 90 auf 80% gekürzt und der Eigenanteil bei den Fahrtkosten erhöht. Als sozialer Ausgleich für all diese Verschärfungen werden die Härtefallregelungen für chronisch Kranke verbessert. Auf Anbieterseite wird ein Preismoratorium für Arzneimittel erlassen, mit Ausnahme von Präparaten mit patentgeschützten Wirkstoffen. Die Kompetenzen der KAG werden erweitert, insbesondere wird ein weiteres Sondergutachten zum Thema ‚Zukunft der GKV im Jahre 2000’ in Auftrag gegeben.
Zusammenfassung und Bewertung Diese Phase ist geprägt von strukturellen Änderungen, die zu einer Umgewichtung des Verhältnisses der Prinzipien zueinander führen. „Das Gesundheitsstrukturgesetz (...), das am 1. Januar 1993 in Kraft trat, enthielt sowohl kurzfristig wirksame, ausgabenbegrenzende als auch strukturverändernde Regelungen – vor allem für den bisher von Kostendämpfungsregelungen verschont gebliebenen Krankenhausbereich.“ (Blanke/Kania 1996: 529f.)
Während frühere Gesetzgebungsakte, bis hin zum GRG 1989,29 eine verstärkte Abschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven intendierten, geht die Regelungstiefe des GSG darüber hinaus, da dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität zum ersten Mal konkrete Instrumente der Umsetzung an die Hand gegeben werden. 28 Das Selbstverwaltungsprinzip war bisher von der CDU immer als besonders förderungswürdig angesehen worden. Insofern ist die zeitweilige Aussetzung der Beitragssatzhöhenfestlegungskompetenz der KKn bemerkenswert. 29 Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen vom 25.11.1988 (Lampert 1998: 242).
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Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Einführung einer Budgetierung der Ausgaben in allen Leistungsbereichen sowie strukturelle Veränderungen zum Abbau von Überkapazitäten im ambulanten und stationären Bereich (Lampert 1998: 243). Bemerkenswert ist in diesem Kontext auch die Bedeutung der beiden Neuordnungsgesetze, die einige traditionelle Bestimmungen des Systems verletzt haben (Gesundheitssysteme 2000: 125f.). Da das Wirtschaftlichkeitsgebot gegenüber allen anderen Prinzipien gestärkt wird – im Konfliktfall sogar zu Lasten des politisch gern protegierten Selbstverwaltungsprinzips –, kann davon ausgegangen werden, dass mit dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität, ausgestattet mit konkreten Instrumenten zu seiner Erreichung (Grundlohnanbindung), eine Neudefinition des Verhältnisses von Wirtschaftlichkeit und Eigenverantwortung auf der einen Seite und Solidarität und Bedarfsprinzip auf der anderen Seite beabsichtigt ist, wenngleich noch „keine endgültige Antwort auf die Frage“ (Bandelow 1998: 211) nach den Konsequenzen und der Reichweite dieser Neudefinition gegeben wird.
2.7 Phase 4: Strukturreform 1998-2003 unter SPD-geführten Koalitionsregierungen Diese Phase der Gesundheitsreformen ist zunächst geprägt von einer gewissen Aufbruchstimmung seitens der neuen Regierungskoalition nach einer langen Zeit der Oppositionsarbeit. Dieser gesundheitspolitische Optimismus lässt sich maximal bis zum Jahre 2000 nachweisen. Entsprechend zweigeteilt ist auch der inhaltliche Verlauf dieser Phase. Während anfänglich die Diskussionen um Strukturreformen unter dem Vorzeichen eines gezielten Ausbaus des Systems standen, kam es spätestens mit der gescheiterten großen Gesundheitsreform zu einem Umschwenken in Richtung des Zieles kurz- und langfristiger Ausgabenbegrenzung. Die Debatte um die Gesundheitsreform 2004 (GMG) lief, wie schon im Falle des GRG, auf eine große Sachkoalition hinaus und besitzt eine ähnliche Wirkungsrichtung (Weser Kurier 25.06.2003, Nr. 145, 1): „Es ist in erheblichem Umfang von (…) Zeitgeistströmungen geprägt, als deren momentan bedeutendste das Gebot der Senkung der Lohnnebenkosten gelten muss“ (Schmacke 2005: 11). Im Bereich der Instrumente kommt es zu einer gewissen ‚Hüh-Hott’Bewegung, denn das PsychThG und das SolG beinhalten expansive Maßnahmen, insbesondere bezüglich des Zugangs zu ambulanter Psychotherapie sowie im Bereich GF und Prävention, während die folgenden Gesetze erneut Budgetierungen und Leistungsmengenbegrenzungen vorsehen. Im Bereich der Mitgliedschaft wird als neues Instrument die Bemessung der Versicherungspflichtgrenze an die
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jeweilige Höhe der Beitragsbemessungsgrenze der GRV gekoppelt, d.h. die so genannte „Friedensgrenze“ wird zuungunsten der PKV verschoben, somit das Solidarprinzip gestärkt, da die Finanzgrundlagen der GKV gestärkt werden. Im Feld der Organisation wird das Konzept einer sektorübergreifenden Versorgung um das Ziel des Aufbaus einer „Integrationsversorgung“ erweitert, d.h. die Versorgungspfade sollen grundsätzlich besser aufeinander abgestimmt werden. Dieses Ziel ist insbesondere im Kontext der angestrebten Verkürzung von Liegezeiten in den KH und dem daraus resultierenden Bedarf an einer verbesserten ambulanten Nachsorge zu betrachten. Geplant ist eine stärkere räumliche Anbindung der Fachärzte an die KH, um dort vorhandene diagnostische Kapazitäten besser auszulasten, was im Umkehrschluss bedeutet, dass diagnostische Kapazitäten im ambulanten Bereich abgebaut werden sollen. Wenngleich das BMG in der Begründung auch vom Ziel einer verbesserten Versorgung spricht, bleibt der Mechanismus zur Erreichung weitaus unklarer als der ökonomische Zusammenhang. Der Aufbau einer solchen „Integrationsversorgung“ dient deshalb primär einer Stärkung des Wirtschaftlichkeitsgebots. In Analogie zum ambulanten Sektor werden nun auch für den stationären Sektor Instrumente zur Qualitätssicherung eingeführt. Dazu gehört die Gründung des „Ausschuss Krankenhaus“ zur Überprüfung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie eines Koordinierungsausschusses, der auf Basis evidenzmedizinischer Leitlinien30 Kriterien für eine zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung erstellen soll. Ähnlich wie im Falle der Integrationsversorgung steht die kostengünstige Leistungserbringung im Vordergrund, da es nicht unmittelbar plausibel ist, dass eine solche Standardisierung31 der Versorgung in jedem Fall einer individuell optimalen Versorgung entspricht, z.B. wenn man an innovative Verfahren denkt, für die per se noch keine solche Evidenzbasierung vorhanden sein kann. Im ambulanten Bereich wird auf Basis ähnlicher Überlegungen ein neues Instrument zur Verhinderung der Überschreitung der Arzneimittelbudgets gebildet: Zuständig ist ein aus Vertretern der KVn und KKn zusammengesetzter Prüfausschuss. Dieser soll anhand von zu generierenden Richtgrößen das Verordnungsverhalten der Vertragsärzte überprüfen und auf die 30
Evidenzmedizin ist ein Begriff, der im Gegensatz zur etablierten Praxis in den Krankenhäusern steht, dass der jeweilige Chefarzt gemäß seiner persönlichen Erfahrungen und Neigungen über die Behandlungsmethode entscheidet. Im Gegensatz zu dieser Praxis sollen nur noch diejenigen Methoden zur Anwendung kommen, die auf der Basis allgemein verfügbarer Daten als effektiv und wirtschaftlich angesehen werden und daher Eingang in die o.g. evidenzmedizinischen Leitlinien gefunden haben. 31 Standardisierung der Behandlungsmethoden in der Medizin ist sicherlich auch bezüglich einer Verbesserung der Versorgung förderlich, jedoch sollte m.E. immer die Möglichkeit zur Abweichung gegeben sein. Dies zu gewährleisten, steht derzeit nicht im Vordergrund, wenn es darum geht, evidenzmedizinischen Verfahren zur Durchsetzung zu verhelfen.
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Einhaltung der Richtgrößen achten. Hierzu werden ihm als Instrument die Erhebung von Daten und der Aufbau einer kontinuierlich fortzuschreibenden Datenbank an die Hand gegeben. Maßnahmen, die der Einhaltung von Budgets dienen, stärken das Wirtschaftlichkeitsgebot, da allein die ökonomische Kontrollgröße den Bezugspunkt bildet, und eine Abdeckung gesundheitlicher Bedarfe als in der Richtgröße enthalten vorausgesetzt wird. Zusätzlich wird der organisatorische Rahmen des RSA – zur Vermeidung der Selektion günstiger Risiken (Abwanderung vor allem in Richtung BKKn) – um die Komponente der Berücksichtigung der Morbidität erweitert. Als Instrumente sind vorgesehen: Boni für KKn, die Disease-Management-Programme für chronisch Kranke betreiben, sowie die Schaffung eines Risikopools für eine Übergangszeit, aus der die KKn für Patienten mit überdurchschnittlichen Kosten Ausgleichszahlungen erhalten. Ab 2007 soll der Beitragsbedarf der KKn im RSA dann auf Grundlage direkter Morbiditätsmerkmale der Versicherten bestimmt werden. Mit Inkrafttreten dieses weiterentwickelten RSA soll dann der Risikopool durch einen Hochrisikopool abgelöst werden, der mit erhöhten Schwellenwerten den Ausgleich besonders schwerwiegender Belastungen von KKn durch einzelne Versicherte gewährleisten und den weiterentwickelten RSA flankieren soll. Diese Maßnahme kann als Stärkung des Solidarprinzips angesehen werden, da vermieden werden soll, dass kranke und gesunde Versicherte unterschiedliche Beitragssätze zu zahlen haben. Im Bereich der Leistungen werden einige aus der Endphase der schwarzgelben Koalition stammende System verändernde Instrumente wieder abgeschafft. Hiervon betroffen ist der Komplex des Zahnersatzes, der wieder für alle Versicherten zugänglich gemacht und ‚entdeckelt’ wird: Für Zahnersatzleistungen wird der Zustand des Jahres 1989 wiederhergestellt. Außerdem wird das „Krankenhausnotopfer“ ausgesetzt und abgeschafft. Des Weiteren werden die „Gestaltungsleistungen“ der KKn gestrichen und die Option der Abrechnung über Kostenerstattung zugunsten des Sachleistungsprinzips wieder abgeschafft. Im Bereich der Stellgrößen werden in diesem Zusammenhang die Selbstbeteiligungen bei Arzneimitteln erstmalig wieder abgesenkt. Kurz nach dieser restaurativen Phase werden „Gestaltungsleistungen“ quasi wieder durch die Hintertür eingeführt und zwar in Form einer Einschränkung der freien Arztwahl, dem so genannten Hausarztmodell (§ 73 SGB V). Derzeit sind die KKn im Rahmen des GMG 2004 verpflichtet, ihren Mitgliedern die optionale Teilnahme an einem solchen Modell unter Verwendung von Boni-Regelungen ermöglichen. Aktuell besteht nach einer Recherche des BMG (Redaktionsbüro Gesundheit 2007) für 24 Millionen Versicherte theoretisch die Möglichkeit, sich in ein Hausarztmodell einzuschreiben. Davon haben sich 4,6 Millionen für ein Hausarztmodell tatsächlich entschieden. Ein solches Hausarztmodell hat poten-
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ziell, je nach Ausgestaltung, verschiedene Wirkungsrichtungen. Seine zugrunde liegende Logik bewirkt zumindest eine Schwächung des Solidar- und Sachleistungsprinzips, da über eine im Vergleich höhere Geldleistung der Zugang zu einer tendenziell höherwertigen Versorgung (Facharzt) möglich wird. Eine weitere Wirkungsrichtung besteht darin, die fachärztliche Versorgung vom Umfang her zu beschneiden, womit eine Stärkung des Wirtschaftlichkeitsgebots beabsichtigt ist. Gegenwärtig ist nicht genau abzuschätzen, ob perspektivisch eine Auflösung der fachärztlichen Versorgungsstrukturen bzw. ihre sukzessive Integration in den stationären Bereich mit seinen Tageskliniken und Ambulanzen geplant ist.32 In einem solchen Fall würde das Versorgungsgebot zugunsten des Wirtschaftlichkeitsgebots ernsthaft geschwächt. Reformintensität Veränderung im Bereich der Stellgrößen
Veränderung im Bereich der Instrumente
Veränderung im Bereich der Ziele/Prinzipien
Ambulanter Sektor: Boni-Regelungen bei Zahnersatzleistung erhöht
Mitgliedschaft: Versicherungspflichtgrenze mit RV-Beitragsbemessungsgrenze vereinheitlicht: Zuwachs der PKV soll beschnitten werden
Versicherungsprinzip: keine Änderungen
Absenkung von Selbstbeteiligungen bei Arzneimittel Entgeltregelungen für Anbieter: Preise für zahntechnische Leistungen werden ab dem 1. Januar 2003 um 5% gesenkt, Vergütung 2003 eingefroren Zugangserleichterung bei psychotherapeutischer Versorgung Festbeträge im Arzneimittelbereich: im unteren Drittel der Preisspanne für die jeweilige Gruppe festgelegt; 2002 müssen Apotheker Rabatt für KKn von 5 auf 6% anheben, 2003 Erhöhung u. Staffelung des Rabattes nach Packungspreis; die PharmaUnternehmen gewähren einen Rabatt von 6% u. die PharmaGroßhandelsorganisationen gewähren dafür den Apothekern Rabatte von 3%
Organisation: Psychotherapeuten werden Ärzten gleichgestellt und zu vollwertigen Mitgliedern der KVn; sektorenübergreifende „Integrationsversorgung“ soll aufgebaut werden Qualitätssicherung: in Ergänzung zu den Bundesausschüssen der Ärzte u. KKn wird der „Ausschuss Krankenhaus“ zur Überprüfung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden eingerichtet; Koordinierungsausschuss soll auf der Basis evidenzmedizinischer Leitlinien Kriterien für eine zweckmäßige und wirtschaftliche Leistungserbringung erstellen Verhinderung von ArzneimittelBudgetüberschreitung: paritätischer Prüfausschuss prüft nach Richtgrößen, dazu werden Daten-
Prinzip der gegliederten Krankenversicherung: keine Änderungen Selbstverwaltungsprinzip (Subsidiaritätsprinzip, Eigenverantwortung): keine Änderungen/Stärkung Solidarprinzip: Stärkung/Schwächung Sachleistungsprinzip: keine Änderungen/Schwächung Versorgungsgebot, Bedarfsprinzip: keine Änderungen/Schwächung Wirtschaftlichkeitsgebot (effektive und effiziente Verwendung der Mittel): Stärkung
32 Die umfangreiche fachärztliche Versorgung unterscheidet das bundesdeutsche Gesundheitssystem von vielen anderen Ländern. Insbesondere Staaten, in denen bereits weit reichende gesundheitspolitische Reformen umgesetzt wurden, wie z.B. Schweden, besitzen nur (noch) eine ambulante Basisversorgung auf allgemeinmedizinischem Niveau.
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Reformintensität Veränderung im Bereich der Stellgrößen Stationärer Sektor: Budgetierung unter dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität fortgesetzt; die Pflegesatzparteien vereinbaren ab 2000 entsprechend einen Gesamtbetrag für jedes KH FPn-System Ausdehnung: 2003 flächendeckendes DRG-FPnSystem für alle Behandlungsformen (Ausnahme Psychiatrie), verbindlich für alle KH ab 2004 Ausbau der Prüfrechte des MDK Sektorunabhängig: Verbesserung der Härtefallregeln für chronisch Kranke: Zuzahlung nur bis 1% des Jahresbruttoeinkommens GF, Prävention, Rehabilitation ausgebaut Grundlohnanbindung für Ausgaben-Zuwachsraten ausgedehnt: für Budgets, Preise für Krankentransport und Heil- u. Hilfsmittel; für Ärzte, Zahnärzte, Verwaltungsausgaben der KKn und KH 2003 statt Grundlohnanpassung Nullrunden; Ausnahme: KH, die 2003 am DRG-System teilnehmen; verstärkte Dokumentationspflichten der Leistungserbringer gegenüber Selbstverwaltungsorganen/Kostenträgern Sterbegeld halbiert (2003) Geltungsbereich: Anhebung der Versicherungspflichtgrenze auf Niveau der GRV
Veränderung im Bereich der Instrumente grundlagen über Verordnungsverhalten ausgebaut (2001) RSA-Reform um Selektion günstiger Risiken zu vermeiden: Berücksichtigung der Morbidität, Boni für Disease-Management-Programme, Risikopool ab 2003, Umsetzung bis 2007 Leistungen/Abrechnung: Leistungsinklusion: Zahnersatz wieder für alle Versicherten; Deckelung beim Zahnersatzzuschuss entfällt, wird wieder prozentual geleistet „Gestaltungsleistungen“ der KKn gestrichen, Kostenerstattung zugunsten des Sachleistungsprinzips abgeschafft Leistungsausschluss: Einführung einer Arzneimittelpositivliste (01.07.2003) Aut-idem-Regelung 2002: Apotheker müssen teure verordnete Medikamente durch Generika ersetzen Einschränkung der freien Arztwahl: Hausarztmodell, Teilnahme freiwillig, Boni-Regelungen, geplant für 2004 sektorale Budgetierung: Arznei-, Heil-, u. Hilfsmittelbudget, Budgets für ambulante und stationäre Versorgung werden modifiziert erneut in Kraft gesetzt; Grundsatz der Beitragssatzneutralität DRG-FPn-System ab 2003: soll Liegezeiten verkürzen; Verpflichtung zu Qualitätsberichten; dreistufige Angleichung der unterschiedlichen KH-Budgets an das landeseinheitliche DRG-Preisniveau bis 2007, danach Ende der Budgetierung
Veränderung im Bereich der Ziele/Prinzipien
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Sebastian Klinke Reformintensität
Veränderung im Bereich der Stellgrößen
Veränderung im Bereich der Instrumente
Veränderung im Bereich der Ziele/Prinzipien
für KH Vorgabe von Mindestmengen für planbare Leistungen, bei denen ein Zusammenhang zwischen Quantität und Qualität besteht u. Festlegung bundesweiter Mindestanforderungen an die Struktur- u. Ergebnisqualität von KH-Leistungen KKn sind verpflichtet die Ausgaben bzw. Vergütungsvereinbarungen so auszurichten, dass Beitragssatzstabilität gewährleistet ist; Budget Überschreitung: bei Arznei- u. Hilfsmitteln haftet zunächst der einzelne Arzt, ergänzend alle Ärzte einer Region kollektiv mit bis zu 5% der Budgetsumme; Kollektivhaftung 2001 abgeschafft Finanzierung: „Krankenhausnotopfer“ wird ausgesetzt u. abgeschafft € 200 Mio. für Arbeitszeitentlastungen im KH-Bereich aus Bundesmitteln für 2002 u. 2003 Beitragssatzanhebungsverbot: vom 07.11.2002 bis zum 31.12.2003 ist es KKn untersagt, die Beiträge zu erhöhen
Tabelle 5: Strukturreform 1998-200333 Ein weiteres neues Instrument im Leistungsbereich sollte die Einführung einer Arzneimittelpositivliste sein, mittels derer bestimmte teure, aber wirkungsgleiche Medikamente oder Medikamente ohne erwiesene Wirkung aus dem Leistungskatalog entfernt werden. Dieses Vorhaben wurde aus dem GMG gestrichen und durch Anreize zur Verschreibung kostengünstiger Medikamente ersetzt (Festbetragsregelung), die jedoch teilweise von den Ärzten auf die Patienten abgewälzt
33 Gesetze: PsychThG 1998, SolG 1999, GRG2000 2000, Gesetz zur Rechtsangleichung in der GKV 2001, ABAG 2001, Gesetz zur Reform des Risikostrukturausgleichs in der GKV 2002, FPG 2002, AABG 2002, BSSichG 2003, Arzneimittel-Positivlisten-Gesetz 2003, 12. SGB V Änderungsgesetz 2003, FPÄndG 2003.
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werden können34. Ergänzt wird dieses Instrument mit einer Verpflichtung der Apotheker, die Aut-idem-Regelung auf alle Kassenrezepte anzuwenden. Erneut wird das Wirtschaftlichkeitsgebot gestärkt und das Solidarprinzip geschwächt, ob gleichzeitig das Bedarfsprinzip geschwächt wird, ist strittig. Im Hinblick auf Abrechnungsmodi wird das Instrument der sektoralen Budgetierung für alle relevanten Leistungsbereiche modifiziert erneut in Kraft gesetzt. Im stationären Bereich wird mit der 2003 noch freiwilligen und 2004 verbindlichen Einführung der DRG-FPn ein neues Instrument zur Abrechnung der Krankenhauskosten geschaffen. Im Gegensatz zu den wenigen bisherigen FPn werden die DRG-FPn das gesamte Leistungsgeschehen im Bereich KH abbilden und die Pflegesätze ersetzen. Bis 2009 soll ein landeseinheitliches DRGPreisniveau entwickelt und im Gegenzug die Budgetierung beendet werden. Ergänzend wird für KH als Instrument zur Förderung der Standardisierung von Leistungen die Vorgabe von Mindestmengen für planbare Leistungen, bei denen ein Zusammenhang zwischen Quantität und Qualität besteht, und die Festlegung bundesweiter Mindestanforderungen an die Struktur- und Ergebnisqualität von Krankenhausleistungen beschlossen. An der Einführung der DRG-FPn wird deutlich, dass eine Standardisierung medizinischer Leistungen im stationären Sektor auf allgemeinem Niveau beabsichtigt ist. Insbesondere der Fortbestand kleiner städtischer Kliniken, die nicht durch das Gebot einer flächendeckenden Versorgung geschützt sind, scheint gefährdet (Klinke 2005c). Neben einer ausgeprägten Stärkung des Wirtschaftlichkeitsgebotes ist als Wirkungsrichtung eine Schwächung des Versorgungsgebots zu erkennen, da eine längere als die durchschnittliche Verweildauer nicht finanziert wird. Grundsätzlich ist zwar im DRGSystem sehr vieles möglich – auch die Behandlung untypischer Krankheitsverläufe –, nur wird es immer aufwendiger für den behandelnden Arzt Kostenstellen zu finden bzw. die Kostenübernahme durch die Kassen zu erreichen. Mit anderen Worten: Es werden Anreize gesetzt, möglichst viele Patienten im Rahmen des jeweiligen Standards zu behandeln und nicht schon bei kleineren Komplikationen den einmal eingeschlagenen Versorgungspfad einer Überprüfung zu unterziehen.
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Festbetragsregelungen sind Preisobergrenzen, bis zu denen die Krankenkassen die Kosten für bestimmte Arzneimittel erstatten. Wenn die Ärztin oder der Arzt ein Präparat verschreibt, dessen Preis über der Erstattungsgrenze liegt, muss der Patient die Differenz zwischen Festbetrag und tatsächlichem Preis bezahlen. Über die genaue Ausgestaltung der gesetzlichen Regelung, also die Festlegung von Arzneimittelgruppen und die genaue Höhe der Festbeträge, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA). Dieser hat zum 1. Januar 2005 – zusätzlich zu den bereits bestehenden – neue Arzneimittelgruppen für die Festbetragsregelung festgelegt: Protonenpumpenhemmer (gegen Magenbeschwerden), Statine (zur Cholesterinsenkung), Sartane (zur Blutdrucksenkung) und Triptane (gegen Migräne).
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Im ambulanten Bereich wurde zunächst eine kombinierte individuelle und kollektive regionale Haftung der Ärzte bei Überschreitung des jeweiligen Arzneioder Hilfsmittelbudgets eingeführt, 2001 wird die kollektive Haftung jedoch wieder abgeschafft. Erneut wird mit diesem Instrument ein Anreiz geschaffen, das Wirtschaftlichkeitsgebot ohne Anbindung an das Versorgungsgebot zu beachten. Wie im Falle der DRG-FPn kann der Arzt zwar versuchen, eine erfolgte Budgetüberschreitung zu rechtfertigen, jedoch ist dieses Vorgehen aufwendig und der Ausgang ungewiss. Per Gesetz werden die KKn verpflichtet, ihre Ausgaben bzw. Vergütungsvereinbarungen so auszurichten, dass die Beitragssatzstabilität gewährleistet ist. Damit wird ein weiterer Schritt auf dem Weg der Durchsetzung des Gebotes der Beitragssatzstabilität unternommen, ohne die Einnahmeseite zu verbessern. Neben dieser grundsätzlichen Regelung kommt es parallel zur Verabschiedung eines temporären, per Gesetz verordneten Beitragssatzmoratoriums, welches den KKn für die Dauer eines Jahres (bis zum 31.12.2003) verbietet, die Beiträge zu erhöhen. Neben der Einführung dieser das Wirtschaftlichkeitsgebot stärkenden Instrumente zeichnen sich Veränderungen vor allem im Bereich der Stellgrößen ab. Neben den bereits angesprochenen Regelungen kommt es zu einer Ausweitung der Boni-Regelungen, d.h. die Tendenz einer negativen Sanktionierung verhaltensbedingter Risiken wird verstärkt. Hinsichtlich der Vergütung von Leistungen im ambulanten Bereich werden verschiedene Preise gesenkt oder eingefroren, insbesondere im Bereich der Arzneimittelpreise, wobei die Apotheker mehr als der Großhandel oder die Pharmaunternehmen belastet werden. Insofern wird in diesem Fall das Wirtschaftlichkeitsgebot gestärkt, jedoch ohne eines der anderen Prinzipien zu schwächen. Im stationären Bereich ist – neben den bereits erwähnten StellgrößenVeränderungen – auf den Ausbau der Prüfrechte des MDK hinzuweisen, der in Streitfällen bezüglich der Kostenübernahme zwischen behandelndem Arzt und KK Entscheidungen herbeiführen kann, d.h. auch in diesem Fall geht es um eine Stärkung des Wirtschaftlichkeitsgebots. Sektorübergreifend werden hierzu analog die Dokumentationspflichten der Leistungserbringer gegenüber den Selbstverwaltungsorganen bzw. Kostenträgern verstärkt. Die Grundlohnanbindung der Budgets sowie der Preise für Krankentransport und Heil- und Hilfsmittel wird verlängert. 2003 wird für Ärzte, Zahnärzte, Verwaltungsausgaben der KKn und KH darüber hinaus eine Nullrunde beschlossen. Ausgenommen hiervon sind nur die Häuser, die 2003 bereits am DRG-System teilnehmen (Optionshäuser). Ferner werden das Sterbegeld um 50% gesenkt und die Härtefallregelungen für chronisch Kranke verbessert.
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Zusammenfassung und Bewertung Charakteristisch für diese Phase ist, dass anfänglich gewisse Struktur verändernde Maßnahmen der Jahre 1997/98 zurückgenommen und originär gesundheitspolitische Ziele verfolgt wurden – Beispiele: der Zugang zu ambulanter Psychotherapie wird verbessert, Gesundheitsförderung, Prävention und Rehabilitation werden ausgebaut. Spätestens jedoch im Jahr 2000 fand ein Umsteuern in Richtung Stärkung des Wirtschaftlichkeitsgebots statt. Die angestrebte Stärkung des Wirtschaftlichkeitsgebots wird in der Mehrzahl der Maßnahmen mittels einer Schwächung der Anbieter- und Leistungserbringerseite verfolgt, teilweise über eine Aufwertung des Selbstverwaltungsprinzips (KKn) bei gleichzeitiger Schwächung durch Interessenskonflikte (KVn). Obwohl die rot-grüne Regierungskoalition in den Begründungen ihrer Reformgesetze immer einen Passus bezüglich des Ausbaus oder zumindest der Wahrung des Solidaritätsprinzips aufnimmt, gehen einige in dieser Phase verabschiedete Regelungen im Bereich der Instrumente zu Lasten des Solidaritäts-, Sachleistungs- und Bedarfprinzips und stehen in der Tradition des GSG, gehen jedoch darüber hinaus. Hervorzuheben sind die verschärfte Fortsetzung der Budgetierung, die Einführung der DRG-FPn im stationären Sektor und die Einführung des Hausarztmodells, die zusammen mit einer fortgesetzten Anbindung an den Grundsatz der Beitragsatzstabilität eine von der Bedarfsentwicklung relativ unabhängige Ausgabensteuerung ermöglichen. Gerade im Bereich des ärztlichen Verordnungsverhaltens werden Logiken etabliert – Begründungs- und Dokumentationspflichten, drohende Kostenübernahmeverweigerung, Prüfrechte der KKn und des MDK –, die einen Vorrang der wirtschaftlichen Verordnung vor einer möglichst umfassenden Behandlung nahe legen. Eine langfristige Schwächung der Position der Ärzte geht vermutlich mit dem Aufbau diverser Datenbanken und der Ausweitung evidenzmedizinischer Verfahren einher.
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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen der Analyse
Was ergibt nun eine Zusammenschau von annähernd 25 Jahren gesundheitspolitischer Reformgesetzgebung im Hinblick auf die Frage nach einem ordnungspolitischen Wandel? Auf einen ersten Blick eventuell gar nichts – im SGB V findet sich weiterhin ein umfassender Versorgungsanspruch und die Forderung nach Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebots. Genauso augenfällig ist jedoch die Tatsache, dass fast jedes dieser vielen Gesetz eigentlich nur ein Ziel kannte, das auf verschiedenen Wegen, also mit unterschiedlichen Instrumenten, unter Förde-
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rung oder Schwächung der anderen Strukturprinzipien der GKV erreicht werden sollte: das Wirtschaftlichkeitsgebot. Versucht man eine Kontinuitätslinie zu skizzieren,35 dann wurde in der ersten Reformphase das Wirtschaftlichkeitsgebot mittels Stärkung der Selbstverwaltung bei gleichzeitiger Schwächung des Sachleistungsprinzips gefördert. Von nachhaltiger Bedeutung ist hier die Schaffung der Institution KAG, die einen parteiübergreifenden Wandel von der Struktur- zur Ordnungspolitik als dominantem Modus einleitet. Die zweite Reformphase brachte eine stärkere Betonung des Wirtschaftlichkeitsgebots, indem konkretisiert und die Zielerreichung kontrollierbar gemacht wurde. Die hier angesprochene Beitragssatzstabilität kann in ihrer Funktionalität als bivalent charakterisiert werden, denn sie befindet sich einerseits auf der Ebene einer Zieldimension, andererseits kann sie auch als Instrument zur Bemessung von Ausgabengrenzen fungieren.36 Das Sachleistungsprinzip wurde weiter geschwächt, die Eigenverantwortung gestärkt, damit das Solidarprinzip geschwächt, und Erfordernisse des Wirtschaftlichkeitsgebots führten zu einer Aufweichung des Bedarfsprinzips im Bereich Zahnmedizin. Als neue Institution von langfristiger Bedeutung wurde der MDK geschaffen, der dazu dient, das bisher aus Sicht der KKn und des Gesetzgebers einer inhaltlichen Überprüfung entzogene Verordnungsverhalten der Ärzte transparent zu machen, indem sie gezwungen werden, ihr therapeutischen Verhalten gegenüber anderen Ärzten zu begründen.37 Die dritte Reformphase beinhaltete strukturelle Änderungen, die zu einer Umgewichtung des Verhältnisses der Prinzipien zueinander führten, da dem Grundsatz der Beitragssatzstabilität mit der Einführung einer Budgetierung der Ausgaben in allen Leistungsbereichen und der Grundlohnanbindung zur Bemessung von Ausgabensteigerungen konkrete Instrumente einer Umsetzung zugeordnet wurden. Aufgrund der Tatsache, dass das Wirtschaftlichkeitsgebot gegenüber allen anderen Prinzipien gestärkt wurde, kann von einer Neudefinition des Verhältnisses von volkswirtschaftlichen Belangen und Eigenverantwortung auf der einen und Solidarität und Bedarfsprinzip auf der anderen Seite ausgegangen werden, wenngleich noch keine endgültige Antwort auf die Frage des Ausmaßes dieser Neubewertung gegeben wurde. 35 Soll heißen: man kann auch die Diskontinuitäten betonen, jedoch erscheint dies hier unangemessen, da der Schwerpunkt auf der Betrachtung langfristiger Tendenzen liegt. 36 Dies liegt daran, dass die KKn nur geringe Ermessenspielräume bei der Festlegung des Beitragssatzes besitzen und auf den Einnahmebereich keinen Einfluss haben – einmal abgesehen von Versuchen der Mitgliederwerbung in gesellschaftlichen Gruppen mit günstigem Beitragshöhen-Morbiditäts-Verhältnis, den so genannten günstigen Risiken –, d.h. eine Erhöhung von Ausgabeposten X würde unweigerlich zu einer Erhöhung des Beitragssatzes Y führen. Damit erhält das Ziel der Beitragssatzstabilität den Charakter eines Instruments zur Ausgabenobergrenzenbemessung. 37 Eine solche Begründung gegenüber einem vom MDK beschäftigten Arzt kann bis zu einer Vorführung des Patienten führen.
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Die vierte Phase zeichnet sich dadurch aus, dass die angestrebte Stärkung des Wirtschaftlichkeitsgebots in der Mehrzahl der Maßnahmen mittels einer Schwächung der Anbieter- und Leistungserbringerseite verfolgt wird, teilweise über eine Aufwertung des Selbstverwaltungsprinzips (KKn) bei gleichzeitiger Schwächung durch Interessenskonflikte (KVn).
Abbildung 2:
Zentrale Wirkungsrichtungen der Gesundheitsreformen
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Einige der verabschiedeten Regelungen im Bereich der Instrumente gehen direkt zu Lasten des Solidaritäts-, Sachleistungs- und Bedarfsprinzips und stehen damit in der Tradition des GSG, weisen jedoch über diese juridischen Werke hinaus. Hierzu gehört die verschärfte Fortsetzung der Budgetierung, die Einführung der DRG-FPn und die beabsichtigte Einführung des Hausarztmodells, die eine von der Bedarfsentwicklung entkoppelte Ausgabensteuerung ermöglichen. Speziell im Bereich des ärztlichen Verordnungsverhaltens wurden Logiken etabliert – Begründungs- und Dokumentationspflichten, drohende Kostenübernahmeverweigerung, Prüfrechte der KKn und des MDK –, die einen Vorrang der wirtschaftlichen Verordnung vor einer möglichst umfassenden Behandlung nahe legen. Die Hauptwirkungsrichtungen der gesundheitspolitischen Reformgesetzgebung lassen sich demnach als starke Aufwertung des Wirtschaftlichkeitsgebots, unter Stärkung des Selbstverwaltungsprinzips und der Eigenverantwortung bei gleichzeitiger Abwertung des Sachleistungsprinzips, des Solidarprinzips sowie des Bedarfsprinzips darstellen (vgl. Abbildung 2). Zusammenfassend kann für alle vier Phasen demnach konstatiert werden, dass, nach gewissen institutionellen Grundsteinlegungen in der ersten und zweiten Phase, in der dritten Phase ein signifikanter Bruch im ordnungspolitischen Gefüge zu verzeichnen ist, der in der vierten Phase verstärkt wurde und heute zu einem Zustand geführt hat, den man wie folgt charakterisieren kann: Dem Wirtschaftlichkeitsgebot kommt eine die übrigen Prinzipien dominierende Rolle zu. Im Vergleich zum Ex-ante-Zustand wurde der damalige Trade off zu Lasten des Wirtschaftlichkeitsgebots mehr als einfach nur ausgeglichen (vgl. Tabelle 6). Implementationsebenen
Makroebene: Bund/Staat
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Ordnungspolitischer Status quo 2003
Kategorie 1: Stellgrößen
Kategorie 2: Instrumente
Kategorie 3: Ziele/ Prinzipien
Ambulanter Sektor: eingeschränkte Niederlassungsfreiheit für Ärzte, freie Arztwahl (noch), eingeschränkte Sachleistungserbringung im Rahmen medizinisch notwendiger Versorgung und Budgets bzw. Richtgrößen, Zuzahlungen, Zuschussregelungen
Mitgliedschaft: Zwangsmitgliedschaft und Inklusion fast aller Bevölkerungsgruppen
Gültigkeit der sieben Prinzipien, Trade off zu Lasten des Solidaritäts-, des Bedarfs- und des Sachleistungsprinzips
Für das Jahr 1999, Quelle: BMG 2002, 9.2.
Organisation: Regionale, sektorale und betriebliche Gliederung der KKn als Mitgliederorganisation und Selbstverwaltungsorgan (als Körperschaft des öffentlichen Rechts); die Selbstverwal-
Gesundheitsreformen und ordnungspolitischer Wandel Implementationsebenen Kategorie 1: Stellgrößen Stationärer Sektor: Sachleistungserbringung im Rahmen medizinisch notwendiger Versorgung und Budgets bzw. FPn, Selbstbeteiligung Geltungsbereich: Für ca. 90% der Bevöl38
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Ordnungspolitischer Status quo 2003 Kategorie 2: Instrumente
Kategorie 3: Ziele/ Prinzipien
tung der Anbieterseite ist in KVn und LKG organisiert; KAG erarbeitet Vorschläge zur Umsetzung der von der Politik vorgegeben Sparziele; MDK und andere Prüfgremien wachen über die Einhaltung der Sparziele Leistungen/Abrechnung: ambulante und stationäre Sachleistungen, Zuschüsse, Zuzahlungen, Krankengeld; Leistungen werden bedarfsbezogen im Rahmen der Budgets und prospektiver Erstattungsverfahren erbracht Finanzierung: paritätische Beiträge (noch)
Verbände/ Selbstverwaltung
es herrschen Konflikte, Befolgung der Regeln nicht freiwillig, insb. auf Seiten der Leistungserbringer
es herrschen Konflikte, Befolgung der Regeln nicht freiwillig, insbs. auf Seiten der Leistungserbringer
Trade off zu Lasten des Solidaritäts-, des Bedarfs- und des Sachleistungsprinzips wird registriert
Einzelakteure/ Ärzte
es herrschen Konflikte, Befolgung der Regeln nicht freiwillig, insb. auf Seiten der Leistungserbringer
es herrschen Konflikte, Befolgung der Regeln nicht freiwillig, insb. auf Seiten der Leistungserbringer
Trade off zu Lasten des Solidaritäts-, des Bedarfs- und des Sachleistungsprinzips wird registriert
Tabelle 6: Zustand des Gesundheitswesens 2003 Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Hall (1993: 278f.) Die Einteilung der Phasen entlang von Regierungskoalitionen konnte keine wesentlichen Brüche in der Politikausrichtung nachweisen, d.h. gesundheitspolitisch herrscht seit vielen Jahren eine große Koalition der Gesundheitsexperten der im Bundestag vertretenen Parteien. Als Unterschied lässt sich maximal eine stärkere Betonung des Selbstverwaltungsprinzips und der Eigenverantwortung bei CDU-geführten Koalitionen gegenüber dem Vorzug von direkten Einschränkungen auf Anbieter- und Nachfrageseite bei SPD-geführten Koalitionen feststellen. Gemeinsam ist den aus den Reformgesetzen ersichtlichen Politiken in-
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Sebastian Klinke
dessen die inhaltliche und ordnungspolitische Neubewertung des Verhältnisses von Wirtschaftlichkeitsgebot und Eigenverantwortung auf der einen und Solidarund Bedarfsprinzip auf der anderen Seite. Betont werden muss an dieser Stelle, dass nicht alle Verortungen von Schwächungen und Stärkungen der Prinzipien an sich oder im Verhältnis zueinander in den entsprechenden Gesetzestexten oder den sie begleitenden offiziellen Begründung zu finden sind. Diese Verortungen sind als plausible Interpretationen des Inhalts dieser Gesetze zu verstehen. Zur abschließenden Klärung der Frage, ob sich aus den gesundheitspolitischen Reformgesetzen der letzten 25 Jahre qualitativ nur ein Wandel 1. und 2. Grades oder tatsächlich ein Wandel 3. Grades (ordnungspolitischer Wandel) interpretieren lässt, ist folgende Einschätzung von Bleses hilfreich: „Es ist allerdings zweierlei zu bedenken: Zum einen muss auch ein radikaler Paradigmen- und Instrumentenwechsel durch vielleicht sogar langwierige Debatten politisch vorbereitet werden. Er kündigt sich also meist lange an, bevor er sich vollzieht. Zum anderen kann ein Strukturwandel auch weniger radikal verlaufen, in dem sich Veränderungen erster und vor allem zweiter Ordnung in großer Zahl über längere Zeiträume aneinander reihen und schließlich zu einem schleichenden Strukturwandel führen können. In ausdifferenzierten politischen Systemen dürfte diese Form des Strukturwandels sogar der wahrscheinlichere Fall sein, da es hier aufgrund komplexer Strukturen selten – aber nicht völlig unmöglich – zu radikalen Veränderungen in kurzen Schritten und Zeiträumen kommen kann.“ (Bleses 2003)
Ersetzt man den Begriff des Strukturwandels mit dem in dieser Arbeit präferierten Begriff des ordnungspolitischen Wandels, dann scheint es im Falle des bundesdeutschen Gesundheitssystem gerechtfertigt, von einem ordnungspolitischen Wandel auf der Makroebene zu sprechen, denn keines der ordnungspolitischen bzw. Strukturprinzipien wurde aus der Agenda entfernt, jedoch ihre Gewichtung zueinander entscheidend verändert: Volkswirtschaftliche Interessen besitzen mittlerweile im Konfliktfall mehr Gewicht als medizinische Erwägungen. In Bezug auf die drei Ebenen von Gesundheitszielen und den ihnen beizuordnenden Strukturprinzipien der GKV lässt sich der ordnungspolitische Wandel als Hierarchisierung der Ebenen abbilden, d.h. von einem relativ gleichgewichtigen Nebeneinander hin zu einer klaren Rangfolge: 1.
2. 3.
Ökonomische Ebene: Wirtschaftlichkeitsgebot, Selbstverwaltungsprinzip, Subsidiaritätsprinzip, Eigenverantwortung, Prinzip der gegliederten Krankenversicherung, Versicherungsprinzip Gesellschaftliche Ebene: Solidarprinzip, Bedarfsprinzip Medizinische Ebene: Versorgungsgebot, Sachleistungsprinzip
Gesundheitsreformen und ordnungspolitischer Wandel
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Nachdem auf der Makroebene ein ordnungspolitischer Wandel nachgewiesen werden konnte, ist nun zu prüfen, wie dieser Reformprozess von den Akteuren auf Meso- und Mikroebene wahrgenommen und umgesetzt wurde. In Bezug auf die beiden untergeordneten Ebenen des Implementationsprozesses – Meso- und Mikroebene –, ergibt sich nun die Frage, ob diese Verschiebungen in der Gewichtung der Prinzipien ebenfalls wahrgenommen wurden bzw. werden. Mit Sicherheit wahrgenommen werden die vielen Änderungen von Stellgrößen und das Hinzutreten neuer Instrumente (z.B. DRG-System). Da etliche Neuregelungen zu Handlungsrestriktionen und finanziellen Einbußen für die von ihnen betroffenen Akteure – hauptsächlich Leistungserbringer und ihre Organe der Selbstverwaltung – führen, lässt sich die These vertreten, dass eine loyale Befolgung der Gesetzesänderungen nicht vorausgesetzt werden darf. Vielmehr ist mit Konflikten und Verweigerungshaltungen zu rechnen. Für die Mikroebene ist dies zumindest im Hinblick auf die Krankenhausärzte bereits anhand von Interviews mit Chefärzten untersucht worden (Klinke 2003), um so Aussagen zu generieren, ob mit einer weit reichenden Implementation und Umsetzung des für die Makroebene verorteten Wandels zu rechnen ist. Dort konnte gezeigt werden , dass ein ordnungspolitischer Wandel bereits in den Köpfen der Chefärzte registriert und teilweise positiv gedeutet wird, wenngleich einer loyalen Regelbefolgung noch andere Handlungslogiken häufig entgegen stehen.
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Gesundheitsökonomie zwischen Politik und Wissenschaft Gestaltungsansprüche und Erkenntnisdefizite Felix Tretter Das normative Potenzial der Wirtschaftswissenschaften: Je stärker die Menschen glauben, dass sie eigentlich nur Wirtschaftssubjekte sind, desto leichter lassen sie sich durch Preise steuern.
1
Einführung Wo Ökonomik in der Praxis hilft, da ist sie theoretisch trivial; wo sie theoretisch nicht-trivial ist, da ist sie praktisch irrelevant.
Gesundheitsreformen sollen das Versorgungssystem optimieren. In die inhaltlichen Leitvorstellungen der Reformen fließen allerdings zunehmend politische und vor allem ökonomische Variablen ein. Medizinische Variablen kommen fast nur mehr als undifferenzierte Randvariablen vor, Ethik scheint bereits eliminiert zu sein.
Die Wirtschaft als Kontext der Gesundheitsreformen Im Hintergrund jeder Reform-Agenda steht die Senkung der Lohnnebenkosten für Unternehmen. Weiteres Ziel der Strukturreform ist die Übertragung ökonomischer Prinzipien wie die Mechanismen von Angebot, Preis und Nachfrage und von Konkurrenz in das Gesundheitswesen. Im Sinne des Konzepts der „unsichtbaren Hand“ nach Adam Smith (siehe unten) soll sich auf diese Weise automatisch das Optimum zwischen Anzahl der Anbieter bzw. Angebote, der Nachfrage nach Gesundheitsleistungen und den Preisen einstellen. Veränderungen des Aufgabenprofils des medizinischen Personals und Abbau und „Outsourcing“, etwa von so genannten Hotelleistungen der Krankenhäuser, stehen ganz vorne auf der gesundheitspolitischen Agenda. Solche Gestaltungstrends im Gesundheitswesen beruhen auf mechanistischen Input-Output-Kalkülen von
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Gesundheitsökonomen. Öffentlich wird aber oft festgestellt, dass bei einzelnen Reformmodellen „falsch gerechnet“ wurde. Es fragt sich deshalb, wo die Grenzen der Kompetenz der Ökonomen bei der Umgestaltung des Gesundheitswesens sind.
Die Wirtschaftswissenschaften als Ratgeber Für ein kritisches Verständnis der Problematik der aktuellen ÖkonomisierungsProzesse in unserem Gesundheitswesen müssen zunächst einige Grundkonzepte der „Ökonomik“ als Wirtschaftswissenschaft dargestellt werden. Dieses Fach hat die Aufgabe der Untersuchung des gesamten Systems Wirtschaft. Als Referenz mögen einige für den interessierten Leser nützliche Einführungs- und Lehrbüchern dienen (Henrichsmeyer et al. 1993; Mankiw 2000; Varian 2001, Sperber 2003; Bofinger 2006; Flynn 2006). Anschließend sollen die methodologischwissenschaftstheoretischen Schwächen der Ökonomik als „Mutterdisziplin“ der für die Analyse des Gesundheitswesens zuständigen Gesundheitsökonomik erörtert werden. So nützlich und unabdingbar die Ökonomik auch ist – ihre wissenschaftliche und Problemlöse-Qualität liegt weit unter ihrem an den Naturwissenschaften orientierten Anspruch auf Rationalität. Das Hauptmanko der Ökonomik ist ihre Theorie-Lastigkeit im Verhältnis zur Empirie. Die Erkenntniskraft der empirischen Ökonomik ist darüber hinaus grundlegend eingeschränkt, insofern sie kaum kontrollierte Experimente durchführen kann. Auch ignoriert sie neben psychosozialen Faktoren den soziokulturellen Kontext von Wirtschaftssystemen systematisch. Diese Defizite setzen sich vor allem in der Makro-Gesundheitsökonomik, die das Gesundheitswesen als System untersucht, fort. Deshalb sind auch internationale Vergleiche von Gesundheitssystemen nur so gut, wie es die sozial- und kulturwissenschaftlichen Überlegungen dazu sind. Das ist verständlich, weil Ökonomen, vor allem unter dem Einfluss des Wirtschaftsnobelpreisträgers aus dem Jahre 1992, Gary S. Becker (1993), im Rahmen einer generalisierten Nutzentheorie und auf der Basis von Differenzialgleichungen von der Reduzierbarkeit jeglichen menschlichen Verhaltens auf ökonomische Variablen ausgehen. Als Beispiele dienen Heiraten, Kinderkriegen, süchtiger Tabakgebrauch oder abweichendes Verhalten. Auch Ethik, etwa in Form des Helfens auf das Risiko der Selbstschädigung hin, wird in ein Nutzenkalkül eingebunden (vgl. kritisch dazu Tretter/Sonntag 2004). Ökonomie wird so zur disziplinübergreifenden „Master Science“, die keinerlei Interdisziplinarität benötigt. Besonders auffällig ist dabei, dass wissenschaftstheoretische Reflexionen in den Wirtschaftswissenschaften außer in Fußnoten kaum zu finden sind (vgl. jed. Frank 2004). Das könnte auch daran liegen, dass selbstkritische, nachdenkliche Öko-
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nomen im Beratungs- und Gutachtenwesen gegenüber Auftraggebern nicht überzeugend wirken und deshalb vielleicht weniger Aufträge bekommen als hochaktive „Gnostiker“, die als versierte Problemlöser auftreten. Methodologische Selbstbeschränkung wäre da ein Image-Schaden.
Kritik an den Wirtschaftswissenschaften Ziel ist es also, dem Leser einige Grundlagen für eine methodologische Skepsis gegenüber der Gesundheitsökonomik als Leitwissenschaft für Gesundheitsreformen zu vermitteln, und zwar durchwegs im Sinne von: „Ökonomie ist nicht alles, aber ohne Ökonomie ist alles nichts“. Dazu werden im Folgenden wichtige Themenkomplexe in „top-down“-Richtung, vom Gesamtsystem einer Volkswirtschaft bis zu den individuellen Akteuren am Markt kurz dargelegt, kritisch beleuchtet und dann die Konsequenzen für die Gesundheitsökonomik dargestellt. Einige Aspekte der im Folgenden vorgebrachten Kritik basieren neben der langjährigen Erfahrung mit der Praxis der Klinikökonomie und diversen sozialsystemanalytischen Untersuchungen (z.B. Tretter et al. 2004) auf einem wirtschaftstheoretischen Seminar der „Initiative Lebendige Mathematik“ an der Universität München unter Leitung des Autors mit Hermann Haken, Jürgen Kopf, und Karl-Heinz Brodbeck im Sommersemester 2004. Vor allem die scharfe wissenschaftstheoretische Ökonomik-Kritik von Brodbeck (2000) wird im folgenden Text immer wieder eingebunden.
2
Die globale Makroökonomie als Rahmen Globalisierung: Entgrenzung komplexer ökonomischer Ungleichgewichte.
Das nationale Gesundheitswesen ist im Kontext der nationalen Ökonomie und die wiederum im Kontext der Weltökonomie zu sehen. Es bedarf zunächst keiner großartigen Analyse, um zu erkennen, dass die Globalisierung der Wirtschaft und insbesondere der Kapitalmärkte im Wesentlichen auf der globalen ökonomischen Disparität als Differenz des Einkommens und Vermögens der Industrieländer einerseits und der Entwicklungsländer andererseits beruht. Man braucht nur auf die etwa 10-fach niedrigeren Löhne in Entwicklungsländern schauen und kann dann eine globale Differenz der Produktionskosten (z.B. geringe Lohnstückkosten) erkennen. Zwar diskutieren Volkswirte diesen Sachverhalt sehr kontrovers (vgl. Sinn 2004; Bofinger 2004), doch scheinen die globalen und
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lokalen ökonomischen Ungleichgewichte seit dem Ende der kommunistischen Regimes und dem damit „entgrenzten“ Kapitalismus tendenziell die „Haupttreiber“ sozioökonomischer Prozesse zu sein (Beck/Lau 2004): Billige Produktionsmöglichkeiten in Entwicklungsländern und Schwellenländern führen zur Verlagerung von Produktionsstätten und damit zu struktureller Arbeitslosigkeit in den Industrieländern, sogar in High-Tech-Branchen. Die Billigproduktion, aber auch unausgewogene Währungsrelationen, ermöglichen Billigangebote auf den Märkten in den Industrieländern (Giddens 1998; Beck 1997). Sogar CDUPolitiker wie Heiner Geißler haben diese Tendenzen des globalen Systems Wirtschaft als „deregulierten Kapitalismus“ bezeichnet. Zwar gibt es prinzipiell Regulations-Möglichkeiten über international-rechtliche Vereinbarungen, aber es treffen sehr schwer vereinbare Kulturen, Rechtssysteme und politische Systeme aufeinander, so dass die für globale Regelungen erforderliche „Weltdemokratie“ dem Weltkapitalismus noch lange nachhinken wird (Giddens 1998; Beck 2000; Beck/Lau 2004). Fazit: Die Globalisierung der Wirtschaft und insbesondere der Kapitalmärkte degradieren nationalstaatliches politisches Agieren zur lokalen kompensatorischen Reparaturmaßnahme. Daher erscheint die Reduktion der Lohnnebenkosten, also unter anderem der Kassenbeiträge, als einer der wesentlichen wirtschaftspolitischen Steuerungsfaktoren, der große Unternehmen vielleicht davon abhalten kann, ihr Kapital im Ausland zu investieren.
3
Ökonomie, Recht, Politik und die Menschen des Nationalstaats Ökonomisches Sein bestimmt das Bewusstsein. (vereinf. nach Marx 1867/2004)
Nicht nur die globale Ökonomie hat Kräfte, die lokale soziale Prozesse determinieren, sondern auch die nationale Ökonomie bestimmt die heutige BinnenDynamik der Gesellschaft wesentlich. Dabei kann man unter „Gesellschaft“ das Gefüge der sozialen Systeme Recht, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft etc. und der Bevölkerung als Agenten der Gesellschaft, also etwa als Akteure am Markt, verstehen (Luhmann 1984). Das Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik, Recht und Bevölkerung ist in Deutschland im Grunde genommen parlamentarischdemokratisch organisiert, aber Wirtschaftsverbände (und auch Gewerkschaften) haben mit dem Hinweis auf potenzielle Entlassungen quasi im Kurzschluss „schnelle Achsen“ zur Politik und können so Prozesse anstoßen oder dämpfen, bevor die Bevölkerung ihr Votum bei Wahlen oder Umfragen abgeben kann.
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In dieser Form determinieren der Zustand und die Prozesse der Wirtschaft als soziales System den Zustand und die Prozesse der Bevölkerung und der Gesellschaft. Diese Determination ist aber (noch) nicht vollständig. Der Soziologe Niklas Luhmann sprach bewundernswert abstrakt und vorsichtig vom „funktionalen Primat“ der Wirtschaft in unserer Gesellschaft (Luhmann 1984). Das Hauptprinzip heutiger Wirtschaftsprozesse ist bekanntlich die Gewinnmaximierung, also ein Kernprinzip der Marktwirtschaft (Flynn 2006). Deshalb kann die aktuelle Gesellschaftsdynamik im Grunde recht zutreffend durch eine materialistische Gesellschaftstheorie beschrieben werden, wie sie beispielsweise von Karl Marx entwickelt worden ist (Marx 1867). Eine kritische politökonomische Analyse impliziert dabei aber keinesfalls, dass eine „kommunistische Wirtschaftsordnung“ besser sei. Der Markt als Zentrum unserer Wirtschaftsordnung ist nämlich eine im Prinzip transkulturell beobachtbare Institution, die – soziobiologisch betrachtet – natürlichen Strebungen der Menschen entgegen zu kommen scheint, und die, auf die kollektive Ebene bezogen, sicher ein effizientes Selbstorganisationspotenzial hat. Der Markt ist aber keine Institution des Humanismus, worauf auch Adam Smith (1776) hinwies, der als einer der Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften gilt, die damals noch im Umfeld der „Moral Science“ stand (Smith/Streissler 2005). Es besteht also exogener Regulationsbedarf, um u.a. extreme ökonomische Ungleichgewichte zwischen Haushalten zu mindern. Diese Funktion übt bisher der Staat aus (Bofinger 2006). Andererseits setzt kollektive Wohlfahrt eine florierende Unternehmenswelt voraus, ein Aspekt, den die Vertreter aus dem linken Spektrum der Parteien häufig übersehen. Der potenziell destruktiven Dynamik der Marktwirtschaft kann nur das Rechtssystem, also Gesetze (z.B. Steuergesetze), entgegenwirken. Dem Rechtssystem obliegt die Aufgabe, gesellschaftliche Prozesse durch Regularien zu steuern, also zu hemmen und zu fördern. Die Rechte bzw. Gesetze werden wiederum von der Politik als Agentur des Staates gemacht (oder verhindert) und die Politik wird letztlich von der Bevölkerung gewählt. Dieses zirkuläre Wirkungsgefüge zeigt allerdings eine lange Laufzeit (s. Abb.1). Durch die Gesetze steuern der Staat und seine Organe das Verhalten der Bevölkerung und die Verteilung von materiellen und ideellen kollektiven Ressourcen. Das betrifft auch die direkte oder indirekte Zuweisung von Mitteln und Prioritäten, die beim Management von Gesundheitsproblemen erforderlich sind. Die staatliche Rationalität, die in diese Regulator-Rolle einfließt, scheint nun zunehmend die Interessen der Ökonomie berücksichtigen zu müssen: Heute ist die Kernaufgabe des Sozialstaats, die Voraussetzungen zu schaffen, dass Arbeitsplätze eingerichtet werden.
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Abbildung 1:
Felix Tretter
RECHT
POLITIK
WIRTSCHAFT
BEVÖLKERUNG
Wirkungskreisläufe zwischen Wirtschaft, Bevölkerung, Politik und Recht (Gesetze, Verordnungen, Steuergesetze etc.) mit schnellen (durchgezogene Linien) und langsamen (gestrichelte Linien) Aktivierungen (Pfeile) und Hemmungen (Striche mit Querstrichen) der jeweiligen Systemprozesse und -zustände.
Das allgemeine Staatskonzept in Form des „Vaters“ Staat, der alles regelt, wird zugleich demontiert und in ein Konzept übergeführt, das jeden Einzelnen als seines Glückes Schmied ansieht. Das fordern manche Politiker von heute auf morgen, und zwar nachträglich – wenn beispielsweise kinderlose Rentnerinnen weniger Geld bekommen sollen, dann werden sie vom Staat im Nachhinein bestraft, da sie ja keine Kinder mehr bekommen können. Solcherart erkennbare „libertäre“ Veränderungen im Selbstverständnis des Staates gehen quer durch alle politische Parteien, angetrieben natürlich vor allem von Vertretern aus dem liberalen und bürgerlichen Lager. Problematisch ist dabei vor allem der zunehmende Mangel offener gesellschaftlicher Diskurse, die immer stärker nur mehr auf die kurze Zeit vor Wahlen konzentriert sind. Der Staat, vertreten durch die Politik und die öffentliche Administration, setzt auch gesetzliche Rahmenbedingungen und Regelungen, die die Prozesse im Gesundheitswesen steuern sollen. Das Gesundheitswesen umfasst in diesem Fall, bei einer „dreipoligen“ Konzeption des Systems, die Versicherungen (V), die Bevölkerung (B) als Patienten bzw. Versicherte und die leistungserbringende Medizin (M), wie beispielsweise niedergelassene Ärzte oder Krankenhäuser (s. Abb. 2). Im Zentrum steht die von den Krankenversicherungen erbrachte
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Vergütung (z.B. Honorare, H) der dokumentierten medizinischen Leistungen (DML) in Relation zu den Versicherungsbeiträgen (VB). Dabei werden in der öffentlichen Diskussion in zunehmendem Maße bereits kategorische Fragen aufgeworfen, die den Umfang der Versicherungsleistungen (VL) betreffen, wie beispielsweise die Schwangerenbetreuung oder die Suchtkrankenbehandlung, die übrigens hauptsächlich der Rentenversicherung zugeordnet wird. Unterschätzungen von Krankheitsrisiken auf Seiten der Versicherungsnehmer führen dann im Krankheitsfall dazu, dass für die Nachfrage nach medizinischen Leistungen keine Finanzierung der notwendigen Behandlung vorhanden ist. Das führt wiederum tendenziell zur klammheimlichen Ausgrenzung nicht ausreichend Versicherter aus der Versorgung, ein Vorgang, der jetzt bereits in Kliniken beobachtet werden kann.
Abbildung 2:
Das „Dreieck“ des Gesundheitswesen1
Politische Maßnahmen setzen ein Funktionsverständnis von Gesellschaft als Gefüge von Teilsystemen voraus. Das bedeutet ein Verständnis der Verhältnisse in wichtigen Systembereichen in Form von „Wenn-dann“-Aussagen. In Hinblick auf die Gesundheitsökonomie betrifft es die Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Kenntnisse auf das Gesundheitssystem. Über derartige analytische Kompetenzen verfügen die Politiker selbst nur selten. Aus diesem Grund beanspruchen sie Fachberater, beispielsweise als „Wirtschaftsexperten“. Folglich 1 Versicherungen (V), Medizin (M) und die versicherte Bevölkerung (B; nach Erbas/Tretter 2004), DML: dokumentierte medizinische Leistungen, H: Honorare, ML: medizinische Leistungen, VB: Versicherungsbeiträge, VL: Versicherungsleistungen, NM: Nachfrage nach medizinischen Leistungen.
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verfassen Ökonomen als akademische Wirtschaftsexperten bei den Gesundheitsreformen Gutachten und entwerfen Systemregularien. Fazit: Im Hinblick auf das komplexe Wechselspiel von Wirtschaft, Recht, Politik und Bevölkerung haben die Wirtschaftswissenschaften eine zunehmende Bedeutung bei (gesundheits)politischen Entscheidungen. Deshalb soll hier der Frage grundlegend nachgegangen werden, welche wissenschaftliche Qualität diese Disziplin aufweist.
4
Makroökonomik – Bausteine des Grundmodells der Wirtschaftskreisläufe und ihrer Steuerung Ist die Wirtschaftswissenschaft die Physik der sozialen Systeme?
Die Wirtschaftswissenschaften (z.B. Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre) als „Heimat“ der Gesundheitsökonomik, beschreiben und analysieren wirtschaftliche Prozesse, also die „Verteilung (Allokation) von (knappen) Ressourcen zur Befriedigung von Bedürfnissen". Diese Fächer betrachten im Detail folgende Gegenstandsbereiche und Aspekte (Flynn 2006; Samuelson/Nordhaus 1995; Mankiw 2000): 1.
2.
3.
4. 5.
Es wird das Verhältnis von Produktion, Distribution und Konsumtion von Gütern (auch Dienstleistungen wie Gesundheitsdienste) als grundlegende wirtschaftliche Prozesse untersucht. Es wird danach gefragt, unter welchen Bedingungen, welche und wie viele Güter, auch "Ressourcen" genannt, nachgefragt bzw. angeboten werden, die der Befriedigung von Bedürfnissen (Nutzen; z.B. Bedürfnis nach Gesundheit) dienen. Der Austausch von Gütern (z.B. medizinische Kompetenz) erfolgt gegen Geld. Das geschieht am Markt. So stellt sich die Frage, wie die Preisbildung am Markt erfolgt: Knappe Güter werden prinzipiell zu maximalen Preisen angeboten und zu minimalen Preisen nachgefragt. Diese Marktmechanismen treffen nur begrenzt für das stark über Gebührenordnungen regulierte Gesundheitswesen zu. Es fragt sich, auf welche Weise jeder Akteur am Markt seinen Nutzen maximiert. Theoretisch führt eine Marktsituation der Konkurrenz der Anbieter zur Optimierung der angebotenen Gütermengen in Relation zu den Preisen: Sind die Preise hoch, mindert sich die Nachfrage, es erhöhen sich aber auch
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die Angebote, da andere Anbieter in den Markt eintreten. Das führt wieder zu Preissenkungen, was die Nachfrage stimuliert usw. Es fragt sich, wie diese Dynamik am besten charakterisiert werden kann. Wie lässt sich das Gesamtsystem Wirtschaft mit den Sektoren Haushalte, Unternehmen, Staat, Ausland und einem Sektor für Vermögensveränderung, der oft (und auch hier) zur Vereinfachung als „Banken“ bezeichnet wird, wissenschaftlich zweckmäßig untergliedern und als System darstellen?
Bei Durchsicht wirtschaftswissenschaftlicher Texte zu diesen Themen fällt auf, dass sie stark von der Mathematik geprägt sind. Das liegt daran, dass Geld und Güter als Elemente wirtschaftlicher Prozesse leicht quantifiziert werden können. Die Formalisierungen, etwa in Form von partiellen Differenzialgleichungen, erwecken rasch den Anschein einer „harten“ Wissenschaft, was aber so nicht der Fall ist, insbesondere, weil die Beziehung der Theorie zur Empirie überraschend schwach ausgeprägt ist. Darauf wird noch später eingegangen werden. Auf der Basis der formalisierten und quantifizierten Konzepte vom System Wirtschaft lässt sich auch die Steuerung der Ökonomie, nämlich die Wirtschaftspolitik, vornehmen (Clement et al. 2001):
Ziele der wirtschaftspolitischen Steuerung durch den Staat, und damit der Politik, betreffen quantifizierte Indikatoren wie vor allem das „Wachstum“, die „Preisniveaustabilität“, ein „hohes Beschäftigungsniveau“, das „außenwirtschaftliche Gleichgewicht“, die „Inflationsrate“, die „Zinssätze“ usw. und davon abgeleitete Quoten und Raten (Clement et al. 2001). Diese Zielvariablen charakterisieren die Konjunkturlage und in der Verlaufsbetrachtung auch ihre Zyklen (Hochs, Rezession usw.). Die durch diese Indikatoren gekennzeichneten Prozesse beeinflussen sich teilweise gegenseitig: „Wachstum“ im Unternehmenssektor ermöglicht beispielsweise im Prinzip ein hohes „Beschäftigungsniveau“ und damit mehr Konsumenten, mit mehr Nachfrage, was mehr Wachstum ergibt. Das ist aber nicht zwingend der Fall, denn bereits die zunehmende Automatisierung der Produktion – sogar von Gesundheitsdienstleistungen – schmälert diesen Effekt oft und steigert vor allem die Unternehmensgewinne ohne merkbare Beschäftigungseffekte. Instrumente der wirtschaftspolitischen Steuerung sind vor allem Steuersenkungen oder Steueranhebungen, staatliche Investitionen oder Subventionen als Staatsausgaben an die Unternehmen bzw. staatlicher Konsum unternehmerischer Leistungen. Grundlagen der wirtschaftspolitischen Steuerung sind „Modellrechnungen“. Sie beruhen auf der „volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“ (VGR) mit ih-
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Felix Tretter ren verschiedenen Grundberechnungen und prognostischen Hochrechnungen.
Fazit: Das erkennbar komplexe System einer Volkswirtschaft wird auf messbare Indikatoren und kalkulierbare Prozesse reduziert, um es politisch handhabbar zu machen. Dem gemäß müssen im Zusammenhang mit den verschiedenen Reformbemühungen Kalkulationsmodelle genutzt werden, Bezug nehmend auf die es in der öffentlichen Diskussion oft heißt, dass „falsch gerechnet“ wurde. Dieser Aspekt soll nun etwas genauer beleuchtet werden.
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Makroökonomische Modelle des Wirtschaftskreislaufs Wirtschaftstheorie: Der formalen Exaktheit korrespondiert empirische Beliebigkeit. (Brodbeck 2000: 22)
Die makroökonomische Modellierung einer Volkswirtschaft durch die Verknüpfung der Sektoren zu einem operationell geschlossenen zirkulären System führt zu einem systemischen „Kreislaufmodell“. Ein erstes derartiges Kreislaufmodell hat 1758 der französische Arzt François Quesnay entwickelt. Es besteht aus einem geschlossenen „Kreislauf“ der Güter und – in Gegenrichtung – des Geldes. Dieses Modell kann allerdings – wie gleich gezeigt wird – unterschiedlich detailliert ausgestaltet werden (Dubs 1994; Scheiffele 2001; Sperber 2003; s. Abb.3). Demgemäß fließen von dem Sektor „Unternehmen“ als produzierende Wirtschaftseinheiten Löhne und Gehälter als (aggregierter) monetärer Output Y an die Haushalte ab. Die Löhne Y als monetärer Input in die Haushalte sind somit zugleich das (aggregierte) Volkseinkommen. Von den Unternehmen fließen indirekte Steuern an den Staat und unverteilte Gewinne als Sparbeträge in den Sektor Banken und Ausgaben für Importe (M) ab. Diesen Geld-Abflüssen stehen Geld-Zuflüsse in Form des Konsums (C) durch die Haushalte und durch den Staat und in Form von Investitionen (I) und Erlösen aus Exporten (X) gegenüber.
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Transferzahlungen STAAT Steuern
Steuern
Staatsausgaben/ Subventionen Importausgaben M
Konsum C UNTERNEHMEN
HAUSHALTE
Löhne, Gehälter Y Gewinne
Ersparnisse Kredite Staatsersparnisse
Abbildung 3:
BANKEN
Exporterlöse X AUSLAND
Investitionen I
Schema des Geldkreislaufes im System Wirtschaft (modifiziert, nach Dubs 1994; Scheiffele 2001: 84, 87).
Eine Form der VGR, wie sie beispielsweise das statistische Bundesamt vornimmt, und die aufgrund verschiedener formaler Vereinfachungen nicht alle eben erwähnten Komponenten wiedergibt, wird als das Bruttoinlandsprodukt (BIP) definiert. Das BIP wird auf Quartale oder ein gesamtes kalendarisches Jahr bezogen und in Geldeinheiten ausgedrückt. In diesem Fall wird es auf die Unternehmen und deren Produktion bzw. auf die Güter-Nachfrage bezogen (Verwendungsrechnung). Es erfasst in Geldwerten einerseits die an die Haushalte abfließenden Löhne, Gehälter und Gewinne mit der Variable Y und andererseits den staatlichen Konsum und den Konsum der Haushalte als C und die ähnlich aggregierten Investitionen I. Schließlich wird die Differenz von Exporterlösen X und Importausgaben M in die Kalkulation aufgenommen. Es ergibt sich dann folgende Gleichung (vgl. Bofinger 2006: 322): Y = C + I + (X – M) Sinngemäß können für jeden Sektor entsprechende Gleichungen aufgestellt werden. Wenn alle Zuflüsse und Abflüsse voneinander abgezogen Null ergeben, dann liegt ein Gleichgewicht der kumulierten Geldströme vor (Dubs 1994). Auch sollen Geld- und Güterströme im Gleichgewicht sein.
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Felix Tretter
Wenn nun das jährliche Wachstum des BIP, als der zentrale nationale Wohlfahrtsindikator, stagniert (ǻ BIP [%] = 0), dann kann wirtschaftspolitisch versucht werden, (a) angebotsorientiert die Rahmenbedingungen der Produktivität der Unternehmen zu begünstigen (z.B. Lohnnebenkosten-Senkung) und/oder (b) nachfrageorientiert die Bedingungen des Konsums von Seiten der Haushalte zu verbessern (z.B. Lohnsteuer-Senkung). Die Effektivität politischer Einwirkungen auf die einzelnen Sektoren ist unterschiedlich stark. Investitionen oder intensiver staatlicher Konsum oder gar Subventionen haben als monetäre Inputs in Unternehmen Konjunktur belebende Effekte und können den Geldkreislauf verstärken und beschleunigen (Multiplikator-Akzelerator-Effekt). Trotz dieses empirisch mehrfach nachgewiesenen Effekts sind sich die Wirtschaftsexperten noch heute uneinig, wann eine eher angebots- und wann eine nachfrageorientierte wirtschaftspolitische Intervention erfolgen soll, denn nicht alle Unternehmen verhalten sich „dankbar“ gegenüber dem Staat, sondern sie investieren wegen z.T. noch günstigeren Bedingungen lieber im Ausland, trotz der verschiedenen Begünstigungen, die sie von der Politik im Inland erfahren. Auch die Haushalte zögern bei Einkommenserhöhungen oft lange mit ihren Konsumausgaben. Fazit: Es ist nachvollziehbar, dass eine Volkswirtschaft ein komplexes dynamisches System ist, das im Detail nicht voll erfasst werden kann. Es fragt sich, welche Modellkomplexität ein adäquates Verständnis erlaubt. Wirtschaftspolitisch werden seit längerem die Unternehmen gestärkt, was u.a. durch Senkung der Lohnnebenkosten, die auch von Krankenkassenbeiträgen bestimmt sind, erfolgen soll. Allerdings wird sich bei gleich bleibenden Löhnen das InlandsKonsumniveau kaum nachhaltig heben lassen.
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Quantitative Modelle der Makroökonomik Die Wirtschaftswissenschaften: Ihre prognostischen Leistungen sind nur wenig mehr als ein gefüllter Papierkorb statistischer Irrtümer. (Brodbeck 2000: 3)
Die grundlegende Aufgabe der Ökonomik, optimale und suboptimale Relationen zwischen Gütermengen und Preisen zu untersuchen, führt wie selbstverständlich dazu, dass wirtschaftswissenschaftliche Publikationen überwiegend mathematisch formuliert und mit Zahlenwerk versehen sind. Ronald Coase, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 1991, sieht in dieser Hinsicht in der Ökonomik eine Entwicklung zu „einem theoretischen System, das in der Luft
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schwebt und kaum Bezug zu dem hat, was in der realen Welt geschieht“ (zit. nach Lawson 2003). Mathematische Modelle werden nämlich häufig ohne Bezug zur empirischen Forschung, ja sogar ohne ausreichenden Bezug zur Alltagsökonomie des zu modellierenden Problembereichs dargestellt. Andererseits stellen sich numerische Kalkulationen häufig nur als banale Tabellenkalkulation dar, wie beispielsweise die Kostenrechnung bei Sparproblemen. Dies weist darauf hin, dass der Prozess der Modellbildung in der Ökonomik genauer zu beleuchten ist (Brodbeck 2000). Abstrahiert von der fachlichen Überlegung, und damit von der verbalen Theorieebene, werden nämlich die Annahmen, die zur Anwendung eines bestimmten mathematischen Ansatzes erforderlich sind, zu wenig expliziert. Beispielsweise werden Differenzialgleichungen verwendet, obgleich die wenigsten ökonomischen Variablen in gleicher Weise wie in der Physik etwa die Temperatur kontinuierlich gemessen werden können. Auch Geld und Güter sind meist „gequantelt“. So wird Mathematik rasch zum Selbstzweck und verliert den instrumentellen Charakter bei der Theoriebildung, insofern komplexe Zusammenhangsüberlegungen komprimiert und systematisiert dargestellt werden können. Eine valide mathematische Modellierung setzt nämlich, wie die Geschichte der theoretischen Physik zeigt, mehrere Stufen der inhaltlichen Analyse des zu modellierenden Gegenstands voraus (vgl. Steiner 1998; Lauth/Sareiter 2002). Ein theoretisches Konzept geht in der Regel der Mathematisierung voraus. Mangelnde Ausführungen zur Methodik der Metrisierung der Variablen der jeweiligen formalen Kalküle erhöhen die Abstraktheit der Aussagen und steigern die Realitätsferne der Modellierungen. In der Physik sind beispielsweise Energie, Masse oder Beschleunigung operationalisierte, empirisch exakt messbare Kernbegriffe, die über Gleichungen in mathematische Zusammenhänge eingebunden werden. Wenngleich allerdings die theoretische Physik über elegante Gleichungen wie E=mc2 verfügt, so tut sich die angewandte Physik schwer, etwa einfache Wetter- und Klimamodelle zu erstellen. Das muss die an der Physik orientierte theoretische Ökonomik beachten. Bei formalen Kalkülen der Wirtschaftstheorie, insbesondere zum Gesundheitswesen, findet sich nämlich oft ein willkürlicher Variablenmix mit unzulänglicher Operationalisierung bzw. Validität. Das betrifft beispielsweise das „Humankapital“ als durchschnittliches geschätztes arbeitslebenszeitliches Bruttoeinkommen bzw. als Produktivitätsverlust bezogen auf die Arbeitsunfähigkeitstage (siehe unten; Rychlik 1999). Es fragt sich nun, welche detaillierten und validierten Modelle es gibt, die es erlauben, die wesentlichen Prozesse einer gesamten Volkswirtschaft in ihrem Zusammenwirken hinreichend exakt abzubilden und damit Erklärungen und Prognosen zu ermöglichen. Das bedeutet im Wesentlichen, den Faktor „Zeit“, also die Geld- und Güter-Flüsse bzw. die Dynamik ökonomischer Prozesse, zu
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Felix Tretter
modellieren. Tatsächlich wurde eine der extremsten derartigen dynamischen Modellierungen von dem bekannten österreichischen Wirtschaftsstatistiker Gerhard Bruckmann und dem versierten Systemtheoretiker Peter Fleissner schon vor längerem für die österreichische Nationalökonomie erstellt (Bruckmann/Fleissner 1989). Sie orientierten sich an einem Wirtschaftsmodell, das ein Submodell der humanökologischen, so genannten „Weltmodelle“ von Forrester (1961), Meadows (1972), Meadows et al. (1992) bildet. Zunächst wurden komplexe Wirkungsdiagramme erstellt, welche die qualitative theoretisch-konzeptionelle Struktur des Modells anschaulicher explizieren lassen, als dies mit Gleichungen möglich ist. Im Anschluss daran wurden Hunderte von umfangreichen (Differenzial-)Gleichungen erstellt, die mit wirtschaftsstatistischen Daten versehen wurden. Durch Übersetzung der Gleichungen in Computerprogramme können dann Simulationen verschiedener Entwicklungsszenarien durchgespielt werden, die es erlauben, wirtschaftspolitische Entscheidungen zu unterstützen. Derartige Modellierungen haben wissenschaftlich gesehen zumindest einen heuristischen Wert in Hinblick auf die interdependenten Dynamiken eines realen Wirtschaftssystems (Tretter 2005; Rothgatter/Schaffer 2006). Allerdings zeigen die Modelle eine hohe Instabilität bei relativ geringfügigen Abweichungen einiger Indikatoren, was durch die Modellstruktur bedingt sein kann oder aber der Labilität des realen Systems entspricht. Das ist schwer zu entscheiden, vor allem da eine Weiterentwicklung dieser Modelle nicht vorangetrieben worden ist. Clement et al. (2001) erkennen ebenfalls den Wert von derartigen explorativen Computermodellen für wirtschaftspolitische Entscheidungen. Sie weisen aber kritisch darauf hin, dass ökonometrische Modelle, die auf der linearen multivariaten Statistik (z.B. multiple Regressionsanalyse) beruhen, nicht wesentlich schlechtere Kurzzeit-Prognosen erlauben. Dennoch sind auch die Annahmen dieser statistischen Modelle nur begrenzt valide, insofern sie theoretisch von Gleichgewichtsmechanismen ausgehen und im Wesentlichen lineare Beziehungen zwischen den zu untersuchenden Variablen voraussetzen. Dies stimmt meistens, aber nicht immer. In der Realität sind nämlich Ungleichgewichte und Fluktuationen der ökonomischen Parameter beinahe die Regel (z.B. Aktienkurse an der Börse), wobei sich seit den Anfängen der modernen Wirtschaftstheorie die grundlegende Frage stellt, ob Preisfluktuationen als Zufallsschwankungen oder als „deterministisches Chaos“, also als irreguläre Verläufe mit dahinter stehenden komplexen „Mustergeneratoren“ zu verstehen sind. Tatsächlich können sich verschiedene ökonomische Parameter bzw. dahinter liegende Wirkgrößen zu Katastrophen aufschaukeln. Derartige nicht-lineare Verläufe sind in der Wirtschaftsgeschichte immer wieder beschrieben worden, so dass wegen der potenziell weltweiten Ausbreitung von katastrophalen Zuständen die Prognose solcher Entwicklungen wichtig ist. Weiterhin versuchen deshalb Ökonomen in der Fluk-
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tuation von Wirtschaftsparametern Muster zu erkennen, wie beispielsweise durch Ansätze der fraktalen Geometrie (Mandelbrot/Hudson 2005). Auf die Systemeigenschaften und die Dynamik von Wirtschaftssystemen geht im Bereich der Wirtschaftstheorie gegenwärtig der Ansatz der so genannten „evolutionären Ökonomik“ (Hermann-Pillath 2002) grundsätzlicher ein. Dabei wird u.a. das auch hier kritisierte deterministische Maschinenmodell der Wirtschaft (und des Gesundheitswesens) kritisiert und das Modell des sich selbstorganisierenden, quasi-indeterministischen lebenden Systems präferiert. Auf diese Weise wird statt der Physik eher die Biologie zur Referenzdisziplin. Damit verbunden, aber auch unabhängig davon, besteht die Forderung nach einer umweltorientierten Ökonomik (Umweltökonomik, ökologische Ökonomik) seit der ersten Umweltkrise in den 1970er Jahren (Meadows 1972; Vester 1983; Meadows 1992; Biesecker/Kesting 2003; Serbser 2003). Sie erhält wegen der Aktualität der Klimaproblematik eben neuen Aufschwung. Fazit: Die exakte Modellierung makroökonomischer Prozesse ist vor allem wegen der Komplexität und den Dynamiken der Systeme mit mehreren methodischen Problemen belastet. Das erschwert das Verständnis und die Prognose wirtschaftlicher Prozesse und damit die erwünschte „rationale“ Wirtschafts- bzw. Gesundheitspolitik. Auch werden wirtschafts-externe Faktoren wie „Natur“ oder „Kultur“ in der zu wenig interdisziplinär ausgerichteten Ökonomik noch immer unzulänglich berücksichtigt.
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Mikroökonomik – der autoregulative Markt Es ist nicht das Mitleid des Metzgers, weshalb er uns Fleisch zum Verkauf anbietet, sondern sein Eigennutz. (nach Adam Smith 1776/2005)
Die Mikroperspektive in den Wirtschaftswissenschaften (Mikroökonomik) fokussiert auf den „Markt“, über den sich der ökonomische Austausch der Sektoren des Wirtschaftssystems (z.B. Haushalte und Unternehmen) abwickelt. Prozesse auf Märkten als Schnittstellen zwischen den Wirtschaftssektoren sind auch die zentralen Elemente der eben genannten Makromodelle. Grundlegend ist der Markt zunächst durch eine plausible Interessensdifferenz zwischen Anbieter und Nachfrager eines Gutes geprägt, die in Hinblick auf die Höhe des Preises besteht (Mankiw 2000; Varian 2001; s. Abb. 4):
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Felix Tretter Ein Gut mit einem hohen Preis P2 wird in großer Menge (x2) angeboten, während wenig (x1) davon nachgefragt wird (Angebotsüberhang). Bei einem niedrigem Preis P1 wird wenig von dem Gut angeboten (x1), aber viel (x2), nachgefragt (Nachfrageüberhang). Die Interessensdifferenz führt allmählich zum „Gleichgewichtspreis“, bei dem auch die Angebots- und Nachfragemengen im Gleichgewicht sind: Im Idealfall kommen bei hohen Preisen bald weitere Anbieter auf den Markt. So entsteht Konkurrenz zwischen den Anbietern und das drückt den Preis. Die Konkurrenz der als Aggregat oder als Individuen begriffenen Anbieter, führt somit aus theoretischer Sicht automatisch zum Wohl des Kunden. Es gibt auch preisinelastisches Nachfrageverhalten, wie es beispielsweise bei Kranken tendenziell der Fall ist: Wird beim Preis P1 und der Nachfrage nach der Menge x2 der Preis auf P2 erhöht, so wird in dieser Situation statt der zu erwartenden geringeren Menge x1 weiterhin die Menge x2 nachgefragt (vertikale gestrichelte Linie).
Preis Nachfrage
Angebot
P2 Gleichgewichtspreis P1
x1 Abbildung 4:
x2 Menge
Die „Geometrie“ der Marktprozesse – Kurven der Angebotsfunktion und Nachfragefunktion, hier jeweils als Gerade (modifiziert, nach Mankiw 2000: 9).
Grundsätzlich geht die Annahme der maximalen Konkurrenz an der sozialen Realität vorbei, insofern die Konzernierung durch Betriebsübernahmen (z.B. Klinikketten) rasch von der polypolen Marktsituation zu einer oligopolen Markt-
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situation führen kann, wie dies beispielsweise besonders ausgeprägt im Energiesektor der Fall ist (Bofinger 2006). Darüber hinaus tritt auf Mikroebene wie auf Makroebene kooperatives Verhalten auf, das bei Ökonomen als „Anomalie“ gilt. Diese Kooperativität haben viele empirische Studien demonstriert (Frey 1999). Auch branchenspezifische Preisabsprachen (Kartelle) werden immer wieder aufgedeckt. Wenngleich die Gültigkeit der eben dargestellten Grundkonzepte zum Markt in weiten Bereichen bei hoher Aggregation (z.B. nationale Märkte) bei Gleichgewichtslagen empirisch belegt sind, zeigt sich bei lokalen und fokalen empirischen Marktanalysen (z.B. lokaler Immobilienmarkt), dass die vereinfachenden Grundannahmen der Realität nicht genau genug entsprechen. So sind die Nachfrager wie auch die Anbieter „erwartende“, „planende“ und nicht nur „reagierende“ Akteure. Sie informieren sich auch, bevor sie konsumieren. Das sind „Transaktionen“, die wirtschaftstheoretisch zunehmend als implizite, aber relevante Kosten beachtet werden (Voigt 2002). Fazit: Der Markt ist ein grundlegendes Konstrukt zur Beschreibung und Analyse ökonomischer Austauschprozesse. Bei konkreten Anwendungen sind aber Relativierungen der theoretischen Marktgesetze erforderlich. Das betrifft in besonderem Maße den „Gesundheitsmarkt“, wie später noch detaillierter zu zeigen ist.
8
Marktmodellierungen Der Markt ist keine ewige Naturordnung, sondern eine immer wieder neu geschaffene Illusion, deren Schein sich in periodischen Zusammenbrüchen von Volkswirtschaften und diversen Crashs zeigt. (Brodbeck 2000: 4)
In einem Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre (Neubauer 2001: 67, 68) wird zwar die Realitätsferne der Marktmodelle festgestellt, aber dennoch die Bedeutung für wirtschaftspolitische Entscheidungen betont: „Insgesamt gilt, dass viele wichtige Voraussetzungen des vollkommenen Marktes in der Realität nicht gegeben sind. Gleichwohl lassen sich aus der modellhaften Darstellung wichtige Schlüsse ziehen (…). Für die Wirtschaftspolitik, insbesondere die Wettbewerbspolitik, bleibt trotz der gemachten Einschränkungen das Modell der vollständigen Konkurrenz ein wichtiger Orientierungspunkt.“ (ebd.)
Aus wissenschaftstheoretischer Sicht werden also aus falschen Prämissen „wichtige“, aber eigentlich „nicht richtige“ Folgerungen gezogen, die dann die Politik
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Felix Tretter
leiten sollen. Das kann nicht gut gehen. Man muss sich sogar fragen, warum die Wirtschaft trotzdem so gut funktioniert! Ist man an realitätsbezogenen Marktmodellierungen interessiert, dann muss vor allem der Faktor „objektive bzw. subjektive Zeit“ explizit in das Modell eingebunden werden, da sich einiges in der Realität ständig ändert, anderes jedoch gleich bleibt: Bemerkenswert ist nämlich am Marktgeschehen, dass die Menge der nachgefragten bzw. abgesetzten Güter zwar täglich variiert, doch die Preise gleich bleiben. Es gibt also, systemtheoretisch gesprochen, eine „Robustheit“ des Systems, insofern in anderen Bereichen, beispielsweise auf den Geldmärkten, die Preise im Stundentakt variieren, ohne dass sich auf der Güterebene, also in der Produktion der Firmen, deren Aktien gehandelt werden, etwas ändert. Es sind oft nur Nachrichten über die Firmen, die die Aktienkurse verändern und das auch nicht immer und sofort. Ursachen solcher Fluktuationen wie der Aktienkurse werden dem „Zufall“ zugeordnet, wenngleich reale Faktoren das Verhalten der Kunden (z.B. Aktienhändler) heute, gestern und morgen beeinflussen. Diese Faktoren können aber nur sehr selten sicher identifiziert werden. Hier wirken neben den rein technischen Zeitverzögerungen auch psychologische Faktoren (z.B. Erwartungen) und in globaler Perspektive kulturelle Faktoren mit, die in den Wirtschaftswissenschaften allgemein zu wenig berücksichtigt werden. Es ist deshalb eine zentrale Frage, ab welchen beobachteten Preisfluktuationen man eine neue Steigung der Preis-Kurve annimmt.
+ A
Abbildung 5:
P
_
_
+ N
Wirkungsgraph der Marktdynamik von Angebot (A), Nachfrage (N) und Preisen (P) als zwei gekoppelte Oszillatoren (vereinfacht nach Sterman 2000: 169)2.
2 Leseweise: Hohe Preise stimulieren die Angebotsmenge A (+), dämpfen aber die Nachfragemenge N (-). Ein großes Angebot hingegen dämpft die Preise (-), während eine starke Nachfrage die Preise steigert (+). Hohe Preise stimulieren wieder das Angebot, was wieder die Preise senkt usw.
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Bereits Adam Smith hat solche oszillatorischen Fluktuationen und die dahinter liegenden Interaktionen der Akteure am Markt erkannt (vgl. Sterman 2000: 169; s. Abb. 5). Sie können im Extremfall zu Zusammenbrüchen des Marktes führen. Empirisch gut belegt und theoretisch untersucht sind sie beim so genannten Schweinezyklus, der auf Verzögerungen zwischen Nachfrage und Erstellung von Angeboten aufgrund der Produktionszeit beruht. Das ist auch im Bereich des betriebswirtschaftlichen Managements von Versorgungsketten relevant (Supply chain management, Kuhn/Hellingrath 2002). Die Berücksichtigung dieser Aspekte erfordert besonders komplizierte Modellierungen. Formal werden diese Phänomene vor allem im Cobweb-Ansatz grundlegend behandelt (McKenna/Rees 1992): Wenn die Nachfragemenge (Qd) zum Zeitpunkt t nicht befriedigt werden kann, weil die Lager leer sind (Nachfrageüberhang), wird die Produktion (oder die Nachlieferung) aktiviert, die allerdings nicht sofort für eine Nachfrage-adäquate Menge sorgen kann, sondern mit der Verzögerung ǻt. Die Preise P für die Restmengen des Guts steigen weiter und damit sinkt die Nachfrage. Wenn daher die zuletzt erforderliche Angebotsmenge (Qs) schließlich zum Zeitpunkt t+1 vorhanden ist, findet sich u.U. kein angemessener Absatz mehr und so müssen die Preise wieder sinken, bis die Nachfrage steigt usw. Nach einigen Oszillationen bildet sich für diese Periode ein Gleichgewichtspreis (s. Abb. 6). Es können aber auch die Oszillationen zum Zusammenbruch des Marktes führen.
Abbildung 6:
Gedämpfte Preisoszillationen bei angepasstem Lager (nach Stinespring 2002).
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Felix Tretter Qd = - Q[t] + Į – ȕ*P[t] Qs = - Q[t] - Ȗ + į*P[t] adj = P[t+1] == P[t] – ı*(Qs-Qd)3
Fazit: Je detaillierter und konkreter ein Markt modelliert wird, desto komplexer wird das Modell. Vor allem der Faktor Zeit wird zur kritischen Größe. Es zeigt sich dadurch die potenzielle Instabilität der Angebots-Nachfrage-Interaktionen. Für „freie“ Gesundheitsmärkte kann man sich gemäß dem „Schweinezyklus“Problem Szenarien mit temporärer Unterversorgung, z.B. von Grippemitteln, vorstellen, die im Epidemiefall zu massenhaften Todesfällen führen könnten. Deshalb erforderliche „unökonomische“ Vorhalteleistungen sind geradezu typisch für den Gesundheitsmarkt.
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Akteure als Nutzenmaximierer Menschen werden als Elementarteilchen betrachtet, die sich auf bestimmte, sehr stumme Weise „verhalten“, die mathematischen Gesetzen gehorchen, durch einfache Gleichungen erfassbar sind und in ihrem Verhalten ein Gleichgewicht herbeiführen. (Brodbeck 2000: 32)
Grundlegend zum Marktverhalten ist die Annahme, dass jeder Akteur ein "Nutzenmaximierer" ist, der wie eine Kugel mit hoher potenzieller Energie automatisch von dieser Ebene auf ein niedrigeres Niveau rollt („rationaler Egoist“, Homo oeconomicus). Präziser gesagt handelt also jeder Akteur im Wirtschaftssystem so, dass er seinen Nutzen U maximiert. Der Nutzen kann der Gewinn, oder Ersparnisse, der Konsum eines Gutes, aber auch Immaterielles, wie Erholung bei einem Spaziergang sein. Im Rahmen der klassischen „kardinalen“, also auf direkten Messungen aufgebauten Nutzentheorie ist das Maximum des Nutzens erreicht, wenn die nächste Aktion (z.B. Menge x+1 des Konsums) keinen Nutzenzuwachs mehr erbringt (Grenznutzen = 0). Das Maximum ist überschritten, wenn bei der nächsten Aktion der Nutzen abnimmt. Dieser Zusammenhang entspricht mathematisch der Kurvenanalyse im Rahmen der Differenzen- bzw. Differenzialrechnung: ǻ U / ǻ x -> min; (s. Abb.7). Die Frage stellt sich dabei, wie der Nutzen gemessen wird. Am einfachsten ist es, den monetären Nutzen zu erfassen, also etwa in Form des Gewinns als 3
Qd: Menge der Nachfrage; Qs: Menge des Angebots; P[t]: Preis zum Zeitpunkt t; P[t+1]: Preis zum Zeitpunkt t+1; adj: Anpassung des Preises; Į=10, ȕ=1, Ȗ=2, į=2, ı=0.5: Koeffizienten, Parameter.
Gesundheitsökonomie zwischen Politik und Wissenschaft
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Differenz von Erlös und Kosten. Der Nutzen von Gütern ist aber meistens nicht leicht messbar, weshalb heute meist der „ordinale“ Nutzen durch Vergleich zweier Gütermengen gemessen und über Indifferenzkurven ermittelt wird (Varian 2001). Ökonomen gehen aber zusätzlich davon aus, dass auch bei immateriellen Gütern, wie bei Gesundheit derartige Nutzenkurven zutreffend sind (Becker 1993). Diese Methode ist aber fraglich adäquat bei Kranken, wenn es darum geht, den Nutzen einer Therapie zu ermitteln, da Kranke aus empirischer Sicht meist keine Wahl haben und sie gegebenenfalls in Ermangelung von Informationen nicht rational treffen können. Auch ist eine Abhängigkeit vom Alter, vom Geschlecht und von der Schicht zu beachten. Nu tze n
B
A
x1 Grenz nutz en
x2
M enge
A
B
x1
Abbildung 7:
x2
M enge
Maximierung von Nutzen und der Grenznutzen (kardinale Nutzenfunktion nach Gossen; vgl. Dubs 1994: 129)4.
4 Oben: Der Nutzen am Punkt A ist geringer als am Punkt B. Der Nutzengradient (Grenznutzen = Nutzenänderung, z.B. Nutzenzuwachs) am Punkt A ist jedoch steiler als am Punkt B, wo er nahezu null beträgt. Ein über A hinausgehende Mengenzunahme (z.B. Konsum) senkt den Nutzenzuwachs. Unten: Darstellung des abnehmenden Grenznutzens (Ordinate) – in B ist er niedriger als in A.
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Felix Tretter
Das Konzept der – quasi automatischen – Nutzenmaximierung ist allerdings nur begrenzt zutreffend, weil Akteure mit Innenleben ausgestattete, erlebende Subjekte sind, mit Erwartungen und oft inkonsistenten Zielen, die oft auch nach Zufällen und somit nur „begrenzt rational“ handeln. Von außen betrachtet akquirieren oder tolerieren sie mit einer individuellen Eigendynamik oft nur „submaximalen“ Nutzen. Hier besteht Psychologie-Bedarf für die Wirtschaftswissenschaften, die zu weiten Teilen eine Verhaltenswissenschaft sind (vgl. Axelrod 1997; Frey 1999; Kirchler 2005; Wiswede 2000). Darüber hinaus ist das kategorial bzw. kardinal definierte Nutzenkonzept prinzipiell ein zirkuläres, tendenziell tautologisches Konstrukt, das in wissenschaftstheoretischer Hinsicht immunisiert ist, und das im Nachhinein „alles“ erklärt, aber wenig prognostizieren lässt:
Wer handelt, maximiert Nutzen, und wer nicht handelt (z.B. schläft), offensichtlich auch. Wer beim teuren Anbieter Güter kauft, kauft einen immateriellen Nutzen mit ein. Wer wenig Geld verlangt, erhält immaterielle Werte. Wer altruistisch ist, maximiert ideelle Werte.
Wegen der Möglichkeit solcher Argumentationsfiguren ist das (kardinale) Nutzenmaximierungs-Konstrukt eigentlich nicht falsifizierbar und erklärt somit nichts mehr differenziert. Fazit: Das Konstrukt der Nutzenmaximierung, das vor allem von Becker (1993) verallgemeinert wurde, wird oft überinterpretiert. Es lässt sich im Gesundheitswesen nur äußerst begrenzt anwenden. Beispielsweise müsste man – ohne Selbstidealisierung – für die Arztrolle polarisierend zur ökonomischen Einordnung als „rationalen Egoisten“ vom „empathischen Altruisten“ sprechen und zwar trotz der eben genannten Extension des Nutzenbegriffs.
10 Gesundheitsökonomik – Gegenstand, Fragestellungen, Probleme Welchen Nutzen bringt die Heilung von Krankheit? Gesundheitsökonomik ohne Versorgungsforschung ist leer und blind. Die Gesundheitsökonomik als „Tochterdisziplin“ der Ökonomik untersucht, mit all deren Schwächen, die Ökonomie der Gesundheit und die Ökonomie des Gesundheitswesens bis zum Gesundheitsmanagement. Zur Erläuterung sei eines der führenden und auch extrem anregenden deutschsprachigen Lehrbücher zur Ge-
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sundheitsökonomik von Friedrich Breyer und Peter Zweifel (1999) angeführt, das 1992 zum ersten Mal erschien und seit 2003 mit einem dritten Autor, Mathias Kifmann, erscheint und ab 2005 bereits als 5. Auflage vorliegt. Dieser Autorengruppe nach untersucht die Gesundheitsökonomik gemäß dem Klappentext der Ausgabe von 2003 unter anderem die „erheblichen Kostensteigerungen im Gesundheitswesen“, „die Macht der Ärzteverbände" und „Ineffizienzen in Krankenhäusern“. Solche wertenden Beschreibungen haben eigentlich mit einer neutralen Wissenschaft wenig zu tun. Sie drücken eine negative Haltung gegenüber Ärzten und Krankenhäusern aus. Bei einem Lehrbuch zur Versicherungsökonomie von Zweifel und Eisen (2003) kommt im Klappentext beispielsweise keine analoge wertende Definition vor. In der 5. Auflage des GesundheitsökonomieBuchs von 2005 steht nun abgeschwächt im Klappentext statt „Kostensteigerungen“ das Wort „Ausgabendynamik“ und das Thema „Ärzteverbände“ wird nicht mehr genannt; das Thema „Ineffizienzen in Krankenhäusern“ bleibt hingegen.
Treiber der „Kostenexplosion“ ? Die „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen ist ein Hauptthema der Gesundheitsökonomen. Neben der „Ärzteschwemme“ identifizieren Gesundheitsökonomen wohl auf der Basis des Homo oeconomicus häufig folgende „Kostentreiber“ (von der Schulenburg/Greiner 2000; Oberender et al. 2002; Breyer et al. 2003):
Der „Moral Hazard-Effekt“: Je besser die Versicherung ist, desto riskanteres Verhalten tritt auf. Die „Free Rider-Mentalität“: Eine Bereitschaft zum Ausnutzen der Leistungen ohne Eigenbeteiligung bei der Kostenträgerschaft liegt vor. Die „Rationalitätenfalle“: Möglichst viele teure Gesundheitsleistungen werden beansprucht. Das „Verantwortungsvakuum“ der Patienten, aber auch der Ärzte. Das „steigende Anspruchsniveau“ der Bürger gegenüber Gesundheitsleistungen. Die „angebotsinduzierte Nachfrage“ nach Gesundheitsleistungen durch Arztniederlassungen. Medizintechnologische Fortschritte. Die Bevölkerungsentwicklung mit einer Zunahme der Älteren.
Nur die beiden letzten Punkte können leicht nachvollziehbar als relevante Kostentreiber identifiziert werden. Zu den anderen Aspekten, die sicher prinzipiell
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auch zutreffend sind, werden von den genannten Autoren nur wenige aktuelle Daten geliefert, die ihren relativen Einfluss an den Gesundheitsausgaben gewichten lassen. Die Befunde stammen meist aus älteren amerikanischen Studien aus den 1970er und 1980er Jahren. Schon die damalige unrelativierte Übertragung dieser Befunde auf die deutschen Verhältnisse bleibt unverständlich. Hier drückt sich ein naiver ökonomischer Reduktionismus aus, der unbegründet von systemunabhängigen transkulturellen Universalien menschlichen Verhaltens ausgeht. Die genannten Konstrukte müssten erneut empirisch ausgetestet werden. Erschwerend kommt hinzu, dass sich in den letzten 10 Jahren das Gesundheitswesen in Deutschland aufgrund mehrfacher Reformen dramatisch geändert hat, so dass verschiedene Phänomene nicht mehr klar genug kausal interpretiert werden können: Beruht beispielsweise die gesicherte Abnahme der Krankheitszeiten in Betrieben auf der Einführung der Praxisgebühr und damit auf den Abbau einer „Free Rider“-Mentalität oder auf der Angst vor Arbeitsplatzverlust oder auf beidem? Gibt es mehr verschleppte Erkrankungen aufgrund der Praxisgebühr und wegen der damit höheren Schwellen für den Arztbesuch? Oder: Welche Effekte haben die DRGs auf die Patientenströme? Stringente Antworten zu solchen Fragen lassen sich aus Querschnittsanalysen wegen der sich überlagernden Prozess- und Wirkungspfade im Versorgungssystem als Konsequenz der Serie von „exogenen Reformschocks“ kaum geben (Problem der Analyse komplexer lebender dynamischer Systeme).
„Ineffiziente Krankenhäuser“? Krankenhäuser sind verständlicherweise a priori nicht voll ausgelastet und damit „ineffizient“, weil sie Ressourcen für potenzielle Notfälle bereitstellen müssen. Das hängt aber auch wesentlich von der Funktion der jeweiligen Klinik im Versorgungssystem ab. Interessant sind deshalb Ausführungen zur Krankenhausökonomik in Breyer und Zweifel (1999: 350,351): Die „Qualität der Behandlung“ im Krankenhaus wird als Funktion des Quotienten von Behandlungstagen durch Fälle definiert, was die durchschnittliche Verweildauer pro Fall ergibt. Das ist medizinisch nicht sinnvoll, weil die Verweildauer, auch vor der Einführung der DRGs wesentlich von der Schwere der Erkrankung und organisatorisch von der Option einer Anschlussbehandlung abhängt. In Breyer et al. (2003) ist dieser Ansatz nicht mehr zu finden, er hat sich möglicherweise nicht bewährt. Allerdings wird in der 2003-Ausgabe ein Krankenhausbetriebsvergleich dargestellt, in dem sich zeigt, dass öffentliche Krankenhäuser besonders ineffizient sind. Dabei werden aber ebenfalls die Schwere der Erkrankungen und die Versorgungspflicht der betreffenden Kliniken nicht berücksichtigt (vgl. Versor-
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gungsepidemiologie), so dass verständlicherweise die im Regelfall elektiv aufnehmenden Privatkliniken gut abschneiden. Bei so wenig Beachtung der Grundlagen der Versorgungssystemforschung wundert es nicht, dass Ökonomen bereits empfehlen, Krankenhäuser so zu führen als wären es Ziegelfabriken oder Möbellager (pers. Beob.). Gesundheitsökonomie der Versorgung muss deshalb vor allem zuerst beachten, wie die Versorgungssysteme und ihre Komponenten strukturell und prozedural und in Hinblick auf die differenziellen Effekte (Outcomes) funktionieren (Schwartz/Busse 1998; Pfaff 2003). Die fachliche Einseitigkeit ist ein Fundamentaldefizit der Gesundheitsökonomik, das keinesfalls problematisch wäre, wenn Ökonomen nicht in der Gesundheitspolitik den Anspruch auf Allwissenheit hätten – pointiert gesagt: Gesundheitsökonomie ohne Kenntnisse über ihrem Untersuchungsgegenstand ist nicht „wertfrei“, sondern nahezu wertlos. Die Reduktion von Werten auf Preise ist besorgniserregend. Eine Alternative dazu wäre eine interdisziplinär ausgerichtete Gesundheitsökonomik, die sich etwa auf das politisch relevante „Health Technology Assessment“ stützt (DIMDI 2007), bei dem neben der Ökonomie auch die Aspekte Sicherheit, Wirksamkeit, Soziales/Ethik und Organisation beachtet werden müssen. Die Kritik an der Gesundheitsökonomik muss aber noch vertieft werden.
Der Gesundheitsbegriff – Wellness oder Gesundheit ? „Gesundheits-Ökonomie“ muss sich um eine genauere kategoriale und metrisierte Definition von Gesundheit und insbesondere der medizinischen Theorien von Gesundheit bzw. Krankheit bemühen, sonst ist sie eben „Nur-Ökonomie“. In der Regel werden mehrdimensionale Theorien und Daten der Gesundheitswissenschaften, die sich aus Erkenntnissen zur Gesundheitsförderung, zu Public Health und der theoretischen Medizin zusammensetzen, nicht berücksichtigt, obgleich diese Fächer wohl im Vergleich zur Ökonomik – hoffentlich nachvollziehbar – eine gewisse Definitionshochheit zum Thema Gesundheit haben (Gross/Löffler 1997; von Uexküll 2000; Hurrelmann et al. 2005). Eine Überbetonung von verhaltensbedingten Erkrankungen durch Ökonomen zeigt sich bereits an Kapitelüberschriften wie – „das Individuum als Produzent seiner Gesundheit“ oder „Gesundheit als Teil des Humankapitals“ (Breyer et al. 2003). Dieses Verständnis ist bei weitem unzulänglich, da es die auch genetisch determinierte Kausalgenese von Gesundheit und Krankheit und darüber hinaus die enormen Messprobleme nicht ausreichend würdigt (vgl. jed. Drummond et al. 2005). Breyer et al. merken dies zwar auch im Text an, allerdings nur mit dem Gewicht von Fußnoten. Sie operieren dann in den Höhen mathematischer Theoriebildung weiter, als wäre
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nichts gewesen. Bei einer derartigen Unschärfe des Gesundheitsbegriffs handelt es sich deshalb eher um „Wellness-Ökonomie“, als um die Ökonomie von Krankheit und von Wiederherstellung von Gesundheit. Viele Gesundheitsökonomie-Experten scheinen also sehr wenig von Krankheit zu wissen, möglicherweise auch deshalb, weil sie selbst noch nie schwer krank waren. Das hat bekanntlich wenigstens der Ex-Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer als ehemals von akut lebensbedrohlicher Erkrankung Betroffener eingestanden.
Das Marktversagen im Gesundheitswesen Auf der Ebene des Versorgungssystems muss noch die begrenzte Validität des Konstrukts „Gesundheitsmarkt“ hervorgehoben werden, vor allem insofern – unabhängig vom Finanzierungssystem – Einschränkungen der Marktmechanismen („Marktversagen“) anzunehmen sind:
Der besondere Charakter des Gutes Gesundheit (höchstes Gut, nicht beliebig konsumierbar und ersetzbar) lässt Gesundheit nicht mit anderen Gütern vergleichen. Aber Menschen können lernen, ihre Gesundheit als Ware zu erkennen. Auch die im Abschnitt zur Mikroökonomik erwähnte „Preisinelastizität“ der Nachfrage nach Gesundheit, natürlich abhängig von der Schwere der Erkrankung, ist hier hervorzuheben. Darüber hinaus gibt es eine kaum behebbare „Informationsasymmetrie“ zwischen Arzt und Patienten und Versicherungen und nicht die „vollkommene“ Information, die für die Erfüllung des Konstrukts des „souveränen Kunden“ erforderlich ist. Eine wachsende Ärztedichte erhöht tendenziell die Patientenzahl.
Gerade der letzte Aspekt kann auf einer angebotsinduzierten Erhöhung der Nachfrage beruhen, er ist aber auch durch einen latenten Nachfrageüberhang erklärbar. Die relative Häufigkeit dieser Verhaltensweisen ist in keiner Studie repräsentativ ausgewiesen. Breyer (1984) präferiert eine „Zieleinkommens-Hypothese“, die besagt, dass bei einem Anstieg der Ärztedichte der „Anreiz“ für die Ärzte besteht, „die Informationen, die sie an die Patienten geben, systematisch zu ändern, um ihre eigene Auslastung (…) sicherzustellen“ (Breyer et al. 2003: 312). Die empirischen Befunde sind allerdings uneindeutig. Ungeachtet dieser Einschränkungen, was die Mechanismen am „Gesundheitsmarkt“ betrifft, zielen die Reformvorschläge der Ökonomen auf die volle Entfaltung der Marktprinzipien im Gesundheitswesen (Oberender et al. 2002).
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Mathematisierung – Formalismus ohne Gehalt? Neben begrifflichen und konzeptionellen Problemen fällt bei der Gesundheitsökonomik ihre Theorielastigkeit auf, die sich in einer übermäßigen Mathematisierung ausdrückt (Breyer et al. 2003; von der Schulenburg/Greiner 2000). Es wird weder die empirische Sachlage noch der Theoriehintergrund genau dargestellt, da geht es beispielsweise bei Breyer et al. schon mit Gleichungen und komplexen Diagrammen los. Die Autoren erörtern bereits auf den ersten Seiten ihres Buchs, auch für Ökonomen als Leser, recht willkürlich das VierQuadranten-Schema der Nutzen-Indifferenzkurven der Achsen „Konsum“, „Konsumgüter“, „medizinische Leistungen“ und „Gesundheit“ bei verschiedenen Budgetrestriktionen (Breyer et al. 2003: 7). Wie üblich bei didaktisch suboptimaler Anwendung von Mathematik werden die Annahmen einfach gehalten, Begriffe willkürlich geprägt und sofort der Formalismus exerziert, unabhängig davon, ob die Annahmen zumindest eine Face-validity haben und ob die Variablen adäquat gemessen werden können. Auf diese Weise werden nur Konstrukte der Ökonomik (z.B. Nutzenfunktionen, Produktionsfunktionen) abstrakt auf das Thema Gesundheit (im weitesten Sinne) angewendet. Solche Formalisierungen stellen nur einen letztlich trivialen Wechsel der Sprachebene dar. Mathematische Kalküle erlauben es, durch ihre Symbole und Operatoren sprachlich effizient, systematisierte Aussagen über Zusammenhänge zu formulieren (z.B. Quotienten von Quotienten als Maß für Elastizitäten). Mathematik ist zwar abstrakt, aber nicht per se „theoretisch“. Die beliebten Differenzialquotienten drücken nur Tendenzen zu Minima, Maxima und Optima der Produktion, des Konsums usw. aus. Die in der Folge entwickelten Differenzialgleichungen bzw. Integralgleichungen sind zwar formal interessant, aber inhaltsarm und weisen nicht sonderlich sinnvoll messbare hypothetische Kategorien wie „Gesundheitskapitalstock“ und dergleichen auf (s.u.). Sie sind demnach nicht sehr valide bzw. eben nur gedanklich anregend. Derartige kritische Feststellungen werden aber von reduktionistischen Ökonomen geradezu als Lob uminterpretiert, weil sie mit Becker der Auffassung sind, dass ökonomische Gleichungen, wenn sie nur abstrakt genug sind, alle menschlichen Aspekte erfassen können („the economic approach“, Becker 1993). Autoren anderer Lehrbücher zur Gesundheitsökonomik wie jenes von Lauterbach und Schrappe (2001), aber auch die „Bibel“ zu gesundheitsökonomischen Evaluationsmethoden von Michael Drummond et al. (2005) kommen allerdings mit einfacher Mathematik aus.
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Die „Theoretizität“ – Jenseits der Realität ? Der hohe Grad an Mathematisierung wirtschaftswissenschaftlicher Texte suggeriert einen hohen Grad an „Theoretizität“. Für die Qualität einer Theorie sind aber nicht nur formal-logische Aspekte, sondern auch Strukturmerkmale zentraler Begriffe und vor allem ihre empirische Überprüfbarkeit, also die Operationalisierung und Metrisierung der Begriffe und Konstrukte bedeutsam. So ist beispielsweise die Kategorie „Gesundheitskapitalstock“, die Michael Grossman in den frühen 1970er Jahren kreiert hat, wirtschaftstheoretisch interessant (Grossman 1972; Rychlik 1999; Grossman 2000; Breyer et al. 2003). Dieses Konstrukt korrespondiert mit dem Konzept des „Humankapitals“, das vor allem von Gary Becker ausgearbeitet wurde (Becker 1993) und das auch bei der Schätzung von indirekten Krankheitskosten verwendet wird (Rychlik 1999: 39): Das Gesundheitskapital geht zunächst als Komponente in das umfassendere Kalkül der (individuellen) Wohlfahrt W ein: Die Wohlfahrt hängt nach Grossman vom Nutzen U der Gesundheit H und vom Konsum X ab. Die Gesundheitsveränderungen ergeben einen Zuwachs durch Investitionen I in medizinische Leistungen M abzüglich des altersbedingten Verlusts der Gesundheit (Differenzialgleichung). Als gut messbare Variable wird dann das aktuelle Vermögen A gewählt, das sich aus dem verzinsten Vermögensbestand und dem Einkommen Y ergibt, abzüglich der Ausgaben für Gesundheit und für Konsum. Mit diesem Gleichungssystem wurden nun empirische Untersuchungen angestellt, die zeigten, dass bei höherem Einkommen Y ein höheres Gesundheitsniveau H „erzeugt“ wird und auch umgekehrt, dass bei höherem Gesundheitsniveau auch mehr Einkommen erzielt wird (Breyer et al. 2003). Nicht nur untersuchungslogische Gründe, sondern auch die Vielzahl der zusätzlich zu diskutierenden Einflussvariablen lässt aber eine eindeutige kausale Interpretation nicht zu: Höheres Einkommen erlaubt eine bessere Ernährung, mehr häusliche Hygiene, geringere Berufsrisiken, usw. Die theoretische Aussage dieses Konzepts ist daher eher trivial. Formal interessant ist das Konzept, wenn es um die Kalkulation „intertemporaler Nutzenvergleiche“ bei dynamischen (d.h. altersabhängigen) Abzinsungen des Gesundheitskapitalstocks geht. Beispielsweise ist der Gegenwartswert des langfristig potenziell krankmachenden Tabakkonsums vor allem wegen sich im Lauf der Zeit ändernden „Gesundheits-Abzinsungen“ schwer modellierbar (vgl. Feichtinger/Tragler 2004). Ähnlich problematisch wie das Konstrukt „Gesundheitskapitalstock“ ist die ökonomischen „Theorie des Arztes“ oder die „Theorie des Krankenhauses“ mit ihrer Ad-hoc-Variablenwahl und ihrer mangelnden die empirischen Validierung (Breyer et al. 2003; von der Schulenburg/Greiner 2000).
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Ein modelltheoretisch positives Beispiel zur theoretischen Gesundheitsökonomik – was die Makroperspektive des Gesundheitswesens betrifft – wurde bereits in den 1970er Jahren durch die Arbeitsgruppe um den Wiener Systemforscher Peter Fleissner in Form eines durchwegs theoretisch und mathematisch anspruchsvollen ökonometrischen dynamischen Systemmodells des österreichischen Gesundheitswesens vorgelegt (Fleissner 1977; vgl. Tretter 1978). Hier wurden, wie bereits in einem vorherigen Abschnitt zu qualitativen Modellen zur Makroökonomie erörtert wurde, zunächst fachlich-theoretische Überlegungen zur Struktur des Gesundheitswesens angestellt, Kontext-Variablen wie Demographie und Wirtschaft explizit modelliert und dann in (Differenzial-)Gleichungen gefasst. Dieses Simulationsmodell hat aber offensichtlich die in den 1970er Jahren erst in Anfängen als akademisches Fach vorhandene deutschsprachige Gesundheitsökonomik überfordert. Dennoch hat einer der wichtigsten deutschen Gründerväter der Gesundheitsökonomik, Herder-Dorneich (1988; 1993; 1994) eindeutig und differenziert „systemisch“ gedacht. Das systemische Konzept wurde aber leider nicht weiter entwickelt. Unberührt von der hier kurz vorgebrachten metatheoretischen bzw. wissenschaftstheoretischen Kritik gehen Graf von der Schulenburg und Greiner (2000: 1) in ihrer Konzeption von ökonomischer Theorie letztlich besonders weit: „Es gibt nämlich nur eine ökonomische Theorie, die entweder in allen Bereichen ihre Gültigkeit hat oder keine Theorie ist.“ Wenn das zutrifft, dann müsste die Wirtschaftswissenschaft offensichtlich über eine universelle Verhaltenstheorie verfügen und damit intellektuell schon weiter sein als die Physik. Folglich wäre auch jede weitere Theorieentwicklung unökonomisch und die universitären wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühle könnten bis auf jene, die wirtschaftspolitisch relevante Geschäftsklimaforschung betreiben, stillgelegt werden. Wie aber in den vorigen Abschnitt dargelegt wurde, sehen Vertreter der evolutionären Ökonomik und auch wissenschaftstheoretisch orientierte Autoren, allerdings eher aus der Betriebswirtschaftslehre, im Bereich der theoretischen Ökonomik methodologische Probleme (Frank 2004).
Die „Ökonomie der Gesundheitsökonomie“ Bemerkenswert aus wissenschaftssoziologischer Sicht ist schließlich, dass vor allem monodisziplinär qualifizierte Ökonomen, wie beispielsweise der Bayreuther Mikroökonom Peter Oberender großes öffentliches Gehör zu Reformvorschlägen für das Gesundheitswesen finden. Auch andere Autoren und Akteure wie Peter Zweifel sind einflussreiche „reine“, sehr theoretisch orientierte Ökonomen. Derartige fachliche Einseitigkeiten lassen sich sogar als zusätzliches
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Qualitätsmerkmal wissenschaftlicher Bonität interpretieren, wenn man positivistisch glaubt, dass die Distanz zum Gegenstand die Objektivität erhöht. Gerade die Distanz der „Nur-Ökonomen“ zum Thema Gesundheit führt in ihrer öffentlichen Präsentation zum Image maximaler Neutralität und damit zum Bild einer soliden Wissenschaft. Demnach erheben sie unangefochten Ansprüche zur Umgestaltungskompetenz des Gesundheitswesens. Gesundheitsökonomen, die primär aus dem Bereich Medizin entstammen, wie Karl Lauterbach, sind hingegen vermutlich nicht durch die harte Mühle einer akademischen Qualifikation der theoretischen Makroökonomik gegangen und könnten außerdem als befangen eingestuft werden, weil sie Mediziner sind. Personen mit einer doppelten Qualifikation, in Medizin und Wirtschaftswissenschaften, wie sie beispielsweise der vergleichsweise weniger bekannte Gesundheitsökonom Reinhard Rychlik aufweist, versprechen ausgewogenere Analysen und Konzepte zu gesundheitsökonomischen Fragen. Derart umfassend qualifizierte Experten melden sich aber vermutlich wegen der weit reichenden Kenntnis der Komplexität der Sachprobleme weniger öffentlich zu Wort. Mit diesen Hinweisen soll nur deutlich gemacht werden, dass die Bindestrich-Disziplin „Gesundheitsökonomie“ durch ihre Fachvertreter – so qualifiziert sie für ihre Spezialgebiete auch sein mögen – nicht so integrativ ist, wie es ihr Gegenstandsbereich erfordert. Die Monetarisierung ideeller Werte durch Ökonomen ist deshalb ein bedenklicher Reduktionismus. Die Rolle dieser Wissenschaft in der Politikberatung ist somit sehr zweifelhaft. Nicht zuletzt verlieren Gesundheitsökonomen im Kontext der Politik nicht selten ihre akademisch gebotene, methodologische Bescheidenheit im Sinne des kritischen Rationalismus und „wissen“, wie man es machen müsste, obgleich es an geeigneten Daten, wie auch an validen theoretischen Konzepten, mangelt. Manche dieser kommunikativ besonders kompetenten Akteure haben über Jahre keine international ausgewiesene Publikationen mehr produziert, sind ökonomisch abgesichert als Hochschullehrer im öffentlichen Dienst beschäftigt und scheinen trotzdem, oder gerade deswegen, besonders häufig als Gutachter und Berater tätig zu sein. Die Wirtschaftswissenschaften scheinen ja nun zu den Leitwissenschaften des 21. Jahrhunderts werden. Das lässt sich auch an der gegenwärtigen „Ökonomenschwemme“ an den Universitäten erkennen. Dort zeigt sich auch eine Selbstverstärkung der Ökonomie der Ökonomen durch Ökonomen. Das kann man im rückseitigen Klappentext des Lehrbuchs der (Gesundheits-)Ökonomen Graf von der Schulenburg und Greiner (2000) erkennen, in dem es heißt, dass „das gesundheitsökonomische Studium die Studenten befähigen soll, in diesem neuen Markt der ökonomischen Gesundheitsberatung oder gesundheitsökonomischen Beratung einsteigen zu können“. Es ist einsehbar, dass die in dem vorlie-
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genden Aufsatz geforderte methodologische Selbstreflexion des ökonomischen Ansatzes bei Ökonomen aus eigenökonomischen Interessen nicht angebracht erscheint. Fazit: Es ist hoffentlich deutlich geworden, dass die Gesundheitsökonomik noch nicht in der Lage ist, wichtige Phänomene ihres Gegenstandsbereichs stringent und valide zu beschreiben, zu erklären oder gar zu prognostizieren. Eine grundlegende Methodenkritik der Gesundheitsökonomik ist so gut wie nicht in der Fachliteratur auszumachen. Das wurde bereits im Abschnitt zu den allgemeinen Wirtschaftswissenschaften festgestellt. Es ist daher „rational“, die scheinbar rationalen Empfehlungen von Gesundheitsökonomen skeptischer zu betrachten als dies gegenwärtig der Fall ist.
11 Gesamtfazit Nur ein Ökonom zu sein reicht nicht, um ein großer Ökonom zu sein. (nach Friedrich August von Hayek 2006) Die Wirtschaftswissenschaften zeigen erhebliche Vereinfachungen was die reale Struktur des Systems Wirtschaft betrifft. Die verfügbaren Zahlen, wie die Anzahl der angebotenen (bzw. verkauften) Güter bei bestimmten Preisen, der Gesamtgeldfluss im Jahr usw. suggerieren, dass Ökonomik eine exakte Wissenschaft ist. Auch der hohe Grad der Formalisierung bekräftigt dies. Andererseits sind mathematisierte theoretische Modelle, die Marktkonstellationen prinzipiell konsistent beschreiben, für die Anwendung auf konkrete Marktphänomene unzulänglich, insbesondere was die Erfassung dynamischer Prozesse betrifft. Auf empirischer Ebene zeigen sich ökonomische Daten, über die Zeit hin betrachtet, als Fluktuationen. Sie müssen daher zur Abbildung in mathematische Funktionen approximiert werden. Die (formale) „Erklärung“ dieser Fluktuationen durch Wirtschaftsmechanismen (z.B. Marktmechanismen) sind noch unzufrieden stellend. Die sich damit auftuende Kluft zwischen empirischer und theoretischer Wirtschaftswissenschaft setzt sich in der Gesundheitsökonomie fort, die als Spezialdisziplin der Ökonomik diese fachinternen Probleme mitbringt, und die darüber hinaus mit einem anderes funktionierenden Markt, als es etwa der Wohnungsmarkt ist, zu tun hat. Gesundheitsökonomik als „praktische Wissenschaft“ ist zwar ein unentbehrlicher und auch stimulierender Ansatz, Orientierungen für rationale Gesundheitssystemsteuerungen und -gestaltungen zu bekommen. Die „Rationalität“ dieses Faches ist aber begrenzter, als es ihr gegenwärtiges Marketing vermuten
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lässt. Ein intensiverer „transdisziplinärer“ Dialog zwischen Gesundheitsökonomie, Versorgungsforschung, Politik und praktischer Medizin zur Entwicklung von Konzepten zur Effizienzsteigerung des Gesundheitssystems erscheint daher unumgänglich. Auch die Berücksichtigung von Psychologie, Soziologie und Epidemiologie würde realistischere Modellierungen und Planungen und Gestaltungen von Reformen erlauben. Das würde allen Beteiligten, und vor allem den Kranken helfen. Es sollte also deutlich geworden sein, dass „Fehler“ in Kalkulationen zur Gesundheitsreform nicht „banale Rechenfehler“ sind, sondern auf tiefer greifenden Problemen der Wirtschaftstheorie beruhen.5
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Anmerkungen: Für die detaillierte Durchsicht des Manuskripts und für Korrekturvorschläge danke ich Herrn Kollegen Max Braun aus unserer Abteilung und den Herausgebern.
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Polarisierung und Entsolidarisierung Ansätze zu einem Impact Assessment der Ökonomisierung im Gesundheitswesen Ullrich Bauer
Einleitung Bemessen an der Rasanz, mit der sich ökonomisch motivierte Veränderungen im deutschen Gesundheitswesen vollziehen, verläuft die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik immer noch schleppend. Faktisch existiert bis heute, von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, keine Empirie der Ökonomisierung im Gesundheitssektor. In den Sozial- und Gesundheitswissenschaften wird damit ein gesellschaftlicher Megatrend nur selten überhaupt zur Kenntnis genommen. Kaum Beachtung findet, dass Gesundheitspolitik in Deutschland zum Bestandteil einer seit den 1980er Jahren – international sogar mehrheitlich früher – massiv beschleunigten Ökonomisierungsdynamik geworden ist, mit der die Aufrechterhaltung eines Angebots öffentlich garantierter Güter und Dienstleistungen immer mehr in Frage gestellt wird. Das gilt für den Gesundheitsbereich genauso wie für das Erziehungs- und Bildungswesen, es betrifft die Energie- und Wasserversorgung, den so genannten kulturellen Sektor, öffentliche Verkehrsnetze etc. (Dickhaus/Dietz 2004). Die viel beklagte Überlastung der öffentlichen Finanzhaushalte ist dabei keinesfalls nur Triebrad, sozusagen unhintergehbarer Sachzwang hinter einer solchen Ökonomisierungsbewegung. Vielmehr vollzieht sich im konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaat eine ultraliberalistisch geprägte Transformation. Man könnte auch sagen, der traditionelle Wohlfahrtsstaat durchlebt eine kollektive neoliberale Konversion (Bourdieu 1997). In dem Prozess, in dem der Umbau des Sozialstaates die Institutionen der gesundheitlichen Versorgung berührt, wird die Frage gesellschaftlicher Konsequenzen immer virulenter. Mit dem Gut Gesundheit wird das wahrscheinlich sensibelste vitale menschliche Bedürfnis bezeichnet. In einem nicht unerheblichen Unterschied zu anderen bedeutsamen Mangellagen (Zugang zu Wohnung, Bildung, Arbeit etc.) haben gesundheitliche Beeinträchtigungen und das Vorenthalten von Leistungen direkte drastische Folgen. Um so mehr ist zu vermuten, dass damit auch die Konsequenzen einer weiteren wohlfahrtsstaatlichen Defor-
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mation von den Betroffenen – Nutzern wie Beschäftigten des Gesundheitswesens – unmittelbarer als bisher erfahren werden. Der vorliegende Beitrag setzt hier an. Er fragt nach den Auswirkungen, die sich durch den Import betriebswirtschaftlicher Organisationsprinzipien in besonders sensible Bereiche der sozialstaatlichen Versorgung ergeben. Im Mittelpunkt steht der Einfluss einer streng ökonomistischen Handlungslogik auf die Ausgestaltung von Versorgungsbeziehungen. Ziel der Erörterung ist die Systematisierung von Befunden, die sowohl gegenwartsbezogene als auch prognostische Aussagen über die Entwicklung eines ökonomisierten Gesundheitswesens zulässt. Einleitend soll zunächst der Bereich dessen, was als Ökonomisierung im Gesundheitssektor diskutiert werden kann, eine begriffliche (1.) und strukturorientierte (2.) Konkretisierung erfahren. Im Anschluss wird eine thesenartige Erörterung vorgenommen, die Ökonomisierungseffekte als Verschärfung gesundheitlicher Ungleichheiten (3.) und als abnehmende Solidaritätsbereitschaft (4.) diskutiert. Abschließend (5.) werden die verfügbaren Erkenntnisse komprimiert. Damit sollen zum einen die gegenwärtigen Veränderungen genauer als bisher als strukturinduzierter Symptomkomplex und zum anderen die vielgestaltigen offenen Forschungsfragen identifiziert werden (vgl. hierzu wie im Folgenden Bauer 2007) 1.
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Ökonomisierung – Analyserahmen oder Kampfbegriff?
Die Auswirkungen einer ökonomisierten Ausrichtung des Gesundheitswesens lassen sich heute kaum genau abschätzen. Die Gründe dafür sind evident. Zum einen steht kein Kennzahlensystem zur Verfügung, das beziffern könnte, welche sozialen Folgen mit Prozessen der Ökonomisierung verbunden sind. Zum anderen existiert – dies betrifft die Problematik noch basaler – keine verlässliche begriffliche Differenzierung von Ökonomisierungsphänomenen. Gemein wird als Ökonomisierung verstanden, was an ökonomischen Maßstäben ausgerichtet und bemessen wird. Genau mit diesem Versuch seiner Handhabung aber wird der Ökonomisierungsbegriff unscharf. Zumindest dann, wenn damit ein Instrument zur analytischen, also auch zur zeitlichen Differenzierung unterschiedlicher Systembedingungen bereitgestellt werden soll. Letztlich wird genau auf diese Weise der gängige Fehlschluss provoziert, nach dem das Gesundheitswesen vor dem Zeitpunkt seiner Ökonomisierung nicht an Kriterien der Effizienz und Effektivität ausgerichtet gewesen sei. Diese Annahme wird von Kritikern wie Be1
Zuerst erschienen unter dem Titel „Gesundheit im ökonomisch-ethischen Spannungsfeld“ im Jahrbuch Kritische Medizin und wird hier in überarbeiteter und aktualisierte Version wieder abgedruckt.
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fürwortern offenbar gleichermaßen verfolgt (die Problematik besonders verkürzend, wenn diese „Bruchannahme“ entweder zum Bestandteil einer Rhetorik wird, mit der die Zumutbarkeitsgrenzen einer ökonomischen Ausrichtung stetig erweitert werden, indem man sagt, früher sei alles unüberlegt, ineffizient und ineffektiv gewesen etc. oder, wenn der Status quo ante als nicht-ökonomisiert, zwanglos usw. übersteigert wird). Unzureichend ist sie in beiden Fällen, da eine entsprechende Kampfmetaphorik zentrale Entwicklungslinien nicht zu erfassen vermag. Sie übersieht, dass ökonomische Kalküle in der Entwicklung des Gesundheitswesens keineswegs ein gänzlich neuartiges Phänomen der letzten zwei bis drei Jahrzehnte bezeichnen. Sie verkennt, dass schon die Institutionalisierung des Systems gesundheitlicher Sicherung im 19. Jahrhundert mit seiner ausdrücklichen ökonomischen Instrumentalisierung zusammen fällt. Diese Koinzidenz bedingt, dass bei der Ausrichtung des Versorgungssystems Kriterien der Effizienz und Effektivität kontinuierlich und über eine lange Dauer hinweg im Vordergrund gestanden haben (Kühn 2004; Rosenbrock/Gerlinger 2006; Simon 2000). Der Ökonomisierungsbegriff in seiner jetzigen Gestalt kann somit nur eingeschränkt volle Differenzierungskraft beanspruchen. Notwendig ist, weitere Unterscheidungsmerkmale einzuführen, die Präzisierungen zulassen. Möglich erscheint dann, Rationalisierungs- und Rationierungspraktiken, auch wenn diese als Universalmerkmal institutionalisierter Gesundheitssysteme angesehen werden müssen, nach ihrer spezifischen Intensität zu befragen, mit der sie auf die Ausgestaltung von Versorgungsbeziehungen Einfluss nehmen. Auf diese Weise rücken zumindest graduelle Differenzen in den Blick, mit denen Strukturen des Gesundheitssystems zwar generell als ökonomisiert, im Detail aber als unterschiedlich stark bzw. als unterschiedlich schwach ökonomisiert unterschieden werden können. Hagen Kühn hat eine solche graduelle Differenzierung vorgenommen, indem er seit einigen Jahren eine kontinuierliche Verschiebung in der Beziehung zwischen Geldanreizen und Versorgungsqualität diagnostiziert, die so bezeichnete Verkehrung der Zweck-Mittel-Relation: „Geld bleibt nicht Mittel zur Sicherstellung der Versorgung, sondern die Versorgung von Kranken wird tendenziell zum Mittel, durch das Gewinn erzielt werden kann.“ (Kühn 2004: 26) Dieser Zugang ist im Kern vergleichend, also relational angelegt. Das Unterscheidungskriterium basiert nicht auf der Identifizierung monetärer Interessen, diese werden vielmehr vorausgesetzt. Entscheidend ist die Verschiebung in der Gewichtung einer monetären Motivation, das heißt, die Verlagerung von den nicht-finanziellen zu den finanziellen Interessen, die die Anbieter von Versorgungsleistungen (Träger wie Erbringer) zum Handeln motiviert. Auf diese Weise ist – wie später noch deutlicher wird – ein wichtiger heuristischer Zugang gelegt. Dieser ersetzt aber noch nicht die mangelnde empirische Basis der Diskussion.
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Analytische Zugänge können bisher kaum von der Ebene bloßer Postulate getrennt werden. Das gilt zum einen für die Ebene einer konservativen Gesundheitsökonomie, die unaufhörlich steigende Kosten prognostiziert und damit für die Abkehr vom „alten“ System öffentlicher Daseinsfürsorge auch im Gesundheitsbereich plädiert (Greiner/Mittendorf 2005; Kliemt 2006; Oberender 2002; Roth 2003; kritisch hierzu Braun et al. 1998). Zum anderen scheint eine gewisse Vorentschiedenheit auch von denjenigen vertreten zu werden, die sich für den Erhalt eines vornehmlich staatlich garantierten, solidarisch und egalitär ausgerichteten Sicherungsprinzips einsetzen. So wird konträr zum liberalistischen Standpunkt postuliert, dass eine marktwirtschaftliche Organisation des Gesundheitswesens unmöglich sei, weil Krankheit und Gesundheit als Ganzes keinen kapitalistischen Warencharakter annehmen könnten (Deppe 2002). Diese Argumentation hat einen starken normativen Anker, sie trifft ein intuitives moralisches Empfinden. Ist sie aber wirklich haltbar? Können Varianten der reinen Marktorientierung und Kommerzialisierung im Gesundheitswesen tatsächlich ausgeschlossen werden? Ist die Unterordnung der Gesundheitsversorgung unter ökonomische Erfordernisse und damit auch unter Verwertungsinteressen unmöglich? Oder, so im Umkehrschluss, hat sie nicht bereits begonnen? Und ist nicht schon erkennbar, wie weit die Zwänge des Marktgeschehens reichen, wie weit also eine ökonomische Zwangrationalität und damit das Zur-Ware-Werden von Gesundheit voranschreiten kann? Entsprechende Vermutungen lassen sich empirisch nicht eindeutig belegen. Es lassen sich aus grundlegenden Strukturveränderungen allenfalls Hinweise für eine solche ökonomisch induzierte Transformationsbewegung erkennen.
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Grundzüge der Ökonomisierung im Gesundheitswesen
Bereits zu Beginn der 1990er Jahre beobachten Friedrich-Wilhelm Schwartz und Reinhard Busse die Annäherung der deutschen an die US-amerikanische Gesundheitspolitik: „Die Lieblingsidee der Reagan-Administration war die Vorstellung, daß jeder Haushalt in den USA sich auf private Kosten seine persönliche Krankenversicherung kauft und daß gegebenenfalls der Staat mit Steuererleichterungen aushilft, wenn die eigenen Einnahmen dazu nicht ausreichen. Zum Ende dieser Ära, nachdem 40 Millionen Amerikaner gar nicht und 40 Millionen unterversichert waren, offenbarte sich auch auf politischer Ebene das Scheitern dieser Vorstellung.“ (Schwartz/Busse 1994)
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Heute, ein gutes Jahrzehnt später, müssen die Quoten der Nicht- bzw. Unterversicherten in den USA um weitere 10-15% nach oben korrigiert werden und die Annäherungstendenzen zweier lange Zeit gänzlich unterschiedlicher Sicherungssysteme gehen über zufällige Konvergenzen hinaus. Wenn heute die Grundzüge der Ökonomisierung in der deutschen Versorgungslandschaft thematisiert werden, lassen sich zumindest zwei Kerntendenzen identifizieren, die das USamerikanische Gesundheitswesen in gewisser Weise kopieren oder anders gesagt, für eine Art nachholende Entwicklung stehen. Zum einen erste einschneidende Strukturveränderungen, die die Organisation und Trägerschaft, das heißt, die Ebene der Leistungsträger und Leistungserbringer betreffen. Zum anderen die Ebene der einzelnen Akteure, auf der der Trend zur Ökonomisierung vor allem als neue Nutzeranforderungen oder als neue Nutzerbelastungen thematisiert werden muss. Beide Ebenen der Veränderungen – die Struktur- und die Nutzerebene – sollen im Folgenden knapp umrissen werden.
Strukturveränderungen Die in Deutschland, trotz unterschiedlicher politischer Konjunkturen, dominierende sozial- und gesundheitspolitische wirtschaftspolitische Konzeption der Nachkriegszeit wurde lange Zeit als konservatives Modell der kontinentaleuropäischen Länder (neben Deutschland u.a. auch Frankreich, Österreich, Italien) bezeichnet. Dieses konservative Modell ist primär durch die mehr oder weniger gleichgewichtige Integration ordnungsstaatlicher wie privatwirtschaftlicher Strukturen geprägt, die sich von einem dominierenden Staatsinterventionismus im so genannten skandinavischen Modell (strenge Ausrichtung auf Egalitätsnormen) und dem marktorientierten wirtschaftsliberalen Modell (eine wie in den USA, GB, Australien und Neuseeland weitgehend passive Rolle des Staates) über eine lange Dauer hinweg erkennbar unterschied (Rosenbrock/Gerlinger 2006). Heute sind die Konturen des skandinavischen, aber auch des konservativen Modells undeutlicher geworden, womit eine trennscharfe Abgrenzung zu den marktorientierten Konzeptionen schwerer fällt. Entsprechende Anleihen an einem wirtschaftsliberalen Modell werden international als Tendenzen des Neoliberalismus befürwortet wie kritisiert (Bittlingmayer 2006; Dixon 2000; Friedman 2002; Galbraith 2005; Hayek 2003). In Deutschland werden mit dieser Entwicklung generelle Akzentverschiebungen in der Sozialpolitik verknüpft, die gemeinhin als Trend zur Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen sowie als Entbindung einer staatlichen Bereitstellungs-, Ordnungs- und Kontrollpflicht auftreten (Strodtholz 2005; Butterwegge 2006; Weizsäcker et al. 2006).
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Entsprechende Strukturveränderungen lassen sich an der Entwicklung der Krankhausträgerschaften abbilden (Tab. 1). Diese zeigt – für Ökonomisierungsprozesse im Gesundheitswesen exemplarisch – bezüglich der Trägerstrukturen eine deutliche Verschiebung vom öffentlichen und teil-öffentlichen Pol zum privaten Pol der Regelung von Eigentums- und Rechtsverhältnissen an.2 Öffentliche Krankenhäuser
Freigemeinnützige Krankenhäuser
Private Krankenhäuser
Jahr 1990
Insgesamt 1 043
Betten 387 207
Insgesamt 843
Betten 206 936
Insgesamt 321
Betten 22 779
2004
671
255 775
712
179 682
444
53 976
Trend
- 36%
- 34%
- 16%
- 13%
+ 38%
+ 137%
Tabelle 1: Krankenhäuser (KH) und Trägerschaft im Zeitvergleich. Entwicklung zwischen 1990 und 2004. Quelle: Deutsche Krankenhausgesellschaft 2006: 16. Eigene Darstellung und Berechnungen. Nimmt man die sich vollziehenden Veränderungen nicht nur an den beiden sehr dynamischen Polen der öffentlichen und privaten Häuser ernst, fällt zunächst die relative Stabilität der Stellung der freigemeinnützigen, also kirchlich und konfessionell gebundenen Träger auf. Diese bedarf dennoch der Kommentierung, womit auf eine wesentliche Grundtendenz von Ökonomisierungserscheinungen im Krankenhausbereich aufmerksam zu machen ist. Die freigemeinnützigen Häuser sind, wie die übrigen Träger auch, zu einem streng ökonomischen Kalkül verpflichtet. Der Unterschied ist, dass sie in diesem Konkurrenzkampf durch ihre besondere Rechtsstruktur und damit verbundene kirchenrechtliche Privilegien über besonders gute Ausgangsbedingungen verfügen (Manzeschke 2005; Jacobi 2005). Einem solchen Vorteilsgeflecht lassen sich vielschichtige Formen des Outsourcing subsumieren, zu denen u.a. die Gründung von Zeitarbeitsfirmen und Beschäftigungsgesellschaften gehört, über die ein Teil der zuvor „regulär“ Beschäftigten neu eingestellt, aber untariflich bezahlt wird, während gleichzeitig die Regelung des Kündigungsschutzes nur noch abgeschwächt zur Anwendung gelangt. Ein derart flexibles wirtschaftliches Handeln wird durch geltendes Kir2 Wobei nach Angaben des Statistischen Bundesamtes dieser Trend seit den 1990er Jahren ein ausgedehntes Ost-West-Gefälle aufweist. Private Träger haben also gerade dort viel leichter an Boden gewinnen können, wo der Krankenhaussektor im Umbruch begriffen war und wo zahlreiche private Neugründungen wie Übernahmen mit Subventionen unterstützt wurden (Statistisches Bundesamt 2005).
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chenrecht durchaus begünstigt, was auf Prozesse einer sich häufig noch unbemerkt vollziehenden impliziten Ökonomisierung auch innerhalb der traditionellen Trägerstrukturen aufmerksam macht. Prozesse der Ökonomisierung im Gesundheitsbereich können demnach weder mit dem bloßen Zuwachs privater Krankenhausträger identifiziert werden noch sind sie dann ausreichend erfasst, wenn man allein privaten Trägern Gewinninteressen unterstellt und dadurch erwartbare Auswirkungen auf die Versorgungsorganisation allein dort vermutet, wo die Patientenversorgung „privatisiert“ erfolgt. Der Begriff Privatisierung kann also keinesfalls, wie häufig vorschnell angenommen, als Präzisierung für Ökonomisierungsphänomene dienen. Im Gegenteil sogar. Mit dem exemplarischen Blick auf die Entwicklung im Krankenhaussektor lassen sich viel eher weitgehend parallele, also trägerunspezifische Veränderungen der Organisations- und Handlungsabläufe beschreiben, die auf eine allgemeine, keine bereichsspezifische Ökonomisierungslogik verweisen. Hiernach kommt es – soweit empirische Verallgemeinerungen möglich sind – in den stationären Versorgungseinrichtungen zu einem allgemeinen quantitativen wie qualitativen Stellenabbau, die Fluktuation unter den Beschäftigten steigt signifikant an, Arbeitsunfälle passieren häufiger, die Arbeitszeitverdichtung und psychische Belastungen sowie die Burnout-Rate nehmen aufgrund der Unsicherheit des Arbeitsplatzes zu (Arbeitsgruppe Public Health 2001; Schubert et al. 2005). Entsprechende Entwicklungen galten bisher nur als US-amerikanisches Phänomen, sie stellen mittlerweile aber auch in Deutschland eine gut sichtbare Folge voranschreitender Rationalisierungstendenzen dar (SVR 2005: 321, Ziffer 410). Nach Ergebnissen eines Forschungsreviews des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG 2006) verweisen die Ergebnisse internationaler Untersuchungen (deutsche Studien existieren bislang nicht) mehrheitlich auf den engen Zusammenhang zwischen der Personalausstattung und Versorgungsqualität im Krankenhausbereich. Vor allem die Tendenz zur Ausdünnung der Personaldecke führt demnach häufiger zu Qualitätsverlusten. Dass dabei ökonomische Verknappungstendenzen die hervorgehobene Rolle spielen, muss als einflussreicher Faktor angesehen werden. Die Einführung von Fallpauschalen in der Vergütung von Krankenhausleistungen – nach der so genannten DRG-Systematik (Kretschmer/Nass 2005) – ist ein Beispiel solcher Verknappungstendenzen. Untersuchungen zur Einführung der Fallpauschalen im stationären Sektor diagnostizieren aus Sicht der Beschäftigten die kontinuierliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Ergebnisqualität (Buhr/Klinke 2006a,b).
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Neue Nutzeranforderungen – Falle Selbstverantwortung Komplementär zu einer strukturellen Entwicklung, die das Gesundheitswesen sektorenübergreifend einer wachsenden Knappheitsproblematik aussetzen, lassen sich Veränderungen auf der Ebene der Nutzer identifizieren. Auch hier kann zunächst von einer Verknappung zentraler Ressourcen gesprochen werden, wobei, wie die Überblickdaten in Tab. 2 veranschaulichen, die Ausgaben im Gesundheitswesen nicht insgesamt abgenommen haben, sondern zwischen öffentlicher und privater Hand neu verteilt wurden. Der Effekt dieser Kostenverlagerung bedeutet im 11-Jahreszeitraum zwischen 1992 und 2003 eine Kostenreduktion der Ausgaben öffentlicher Haushalte um etwa 12% und eine Ausgabensteigerung auf Seiten der Leistungsempfänger um etwa 70%. Träger und Ausgaben in Mill. Euro
1992
2003
Öffentliche Haushalte
21 151
18 786
Private Haushalte
17 391
29 409
Tabelle 2: Gesundheitsausgaben öffentlicher und privater Haushalte. Quelle: Statistisches Bundesamt 2005. Der Blick auf die Dynamik der Kostenverteilung macht deutlich, dass die häufig verwendete Formel einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen eigentlich präzisiert werden müsste: Wird die Annahme einer überproportionalen Ausgabensteigerung überhaupt geteilt (kritisch hierzu Braun et al. 1998), so sind es vor allem die privaten und eben nicht die öffentlichen Haushalte, die eine finanzielle Mehrbelastung tragen müssen. Mehrkosten werden externalisiert, durch ein solidarisches Finanzierungssystem also in immer geringerem Umfang abgedeckt. Wenn man so will, verbirgt sich hinter dieser Entwicklung die weitgehende Neudefinition der Rolle der Nutzer im Gesundheitswesen. Diese bedeutet eine veränderte Anforderungsstruktur, zu der auf der einen Seite individuelle finanzielle Mehrbelastungen gehören, auf der anderen Seite der Wechsel im patientenspezifischen Rollenverständnis. Was in den 1970er Jahren als emanzipative Forderung nach mehr Patientenverantwortung und mehr Patientenbeteiligung immer wieder eingeklagt wurde, erlebt jetzt einen grundlegenden Bedeutungswandel (Bauer et al. 2005). Die Idee des Empowerments, der Aktivierung, des autonomen und mündigen Patienten wird im Einklang mit einer ökonomischeren Ausrichtung zwar revitalisiert. Ursprünglich progressiven Leitbildern, wie dem Wandel vom passiven zum aktiven Patientenleitbild, wird damit aber gleichzeitig eine neue Funktion zugeteilt. Sie werden im Sinne neuer eigenverantwortlicher
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Strukturen in Dienst genommen (Kühn 1998; Kunz 2005), die wiederum selbst in Gefahr sind, als Instrument einer Politik des Förderns-und-Forderns (Butterwegge 2006; Gerdes 2006) primär ökonomische, anstatt Patienteninteressen zu vertreten (Bauer 2006; Kühn 1993). Können die momentanen Veränderungen im deutschen Gesundheitswesen, die hier mit dem Ökonomisierungsbegriff verbunden sind, auch insgesamt als Rückzugsbewegung des Staates interpretiert werden, bleibt die konkrete Frage nach den tatsächlichen Konsequenzen dennoch unbeantwortet. Die generelle Transformationsbewegung, die hier auf der Struktur- und Nutzerebene grob umrissen ist, gibt also noch nicht über die veränderte Qualität der Versorgung Auskunft. So lange eine ausreichend empirisch fundierte Diskussion aussteht, können zu dieser zentralen Forschungsfrage also nur Annahmen verfolgt werden. Zwei dieser Annahmen sollen im Folgenden thesenartig entfaltet. Beide Thesen nehmen die Frage nach den Ökonomisierungsauswirkungen auf, von wo aus erwartbare Effekte auf die Ungleichverteilung gesundheitlicher Lebenschancen (3.) und das Szenario gesellschaftlicher Entsolidarisierung (4.) beschrieben werden.
3
Rationalisierung – Rationierung – Polarisierung (1. These)
Die Folgen veränderter Finanzierungsbedingungen in der gesundheitlichen Versorgung werden aus ökonomischer Perspektive als Prozess der Rationalisierung mehrheitlich positiv bewertet (Greiner 2006; Jacobs/Schulze 2006; Koptsch 2005; Loss/Nagel 2004). Hiervon häufig noch deutlich separiert erfolgt eine Diskussion, die umfassender zu evaluieren versucht, welche Folgen sich tatsächlich ergeben, wenn Arbeitsabläufe durch einsetzende finanzielle Knappheit nicht nur verschlankt und vereinfacht, sondern notwendige Leistungen durch Personalmangel und Mittelverkappung einfach nicht mehr erbracht werden können.3 3 Zur empirischen Diskussion dessen, was als Personal- und Mittelverknappung tatsächlich abgebildet werden kann, existiert eine Vielzahl zumeist vereinzelter Daten, die längst der vereinheitlichenden Aufbereitung bedürfen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes (2005) weist die Personalentwicklung im stationären Versorgungssektor nunmehr seit vielen Jahren eine rückschrittliche Tendenz auf, wenn allein die Beschäftigten im Pflegebereich berücksichtigt werden (die Personalentwicklung im Ärztebereich hierzu invers). Das ist natürlich vor dem Hintergrund einer seit der DRG-Einführung deutlich verkürzten durchschnittlichen Verweildauer in den Krankenhäusern (eine Verkürzung, die zwar diagnoseabhängig bleibt, durchschnittlich aber etwa eine Halbierung der Liegezeiten bedeutet) problematisch, da die noch verbleibenden Patientenpopulationen häufiger einen höheren Pflegebedarf haben, sich damit Arbeitsbelastungen beim pflegerischen Personal potenzieren etc. Repräsentative Daten zur Personalssituation und den damit verbundenen Auswirkungen sind noch seltener. Einen zumindest aktuellen Überblick über die Entwicklung im ambulanten und stationären Pflegesektor geben DIP 2002, 2003, 2004; Kälble 2005; Schubert et al. 2005.
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Inzwischen wird diesbezüglich von Formen der Leistungsrationierung gesprochen (Gericke/Busse 2005; Gerlinger 2004; Simon 2000). Diese ist durch unterschiedliche Varianten gekennzeichnet: einerseits eine generelle, also alle Leistungsempfänger betreffende Leistungsverknappung und/oder -verweigerung, zum anderen die Praxis der selektiven Leistungsvergabe. Die generelle Leistungsverknappung wird zwar am häufigsten als Ausgangspunkt der Rationierungsdiskussion angenommen (Kliemt 1997; Oberender/Zerth 2005). Nach allen verfügbaren Erkenntnissen stellt jedoch die unspezifische, alle Patientengruppen gleichermaßen (also unabhängig von sozialen Merkmalen) betreffende Leistungseinschränkung in der Realität einen Sonderfall dar. Die Rationierungsproblematik ist somit im engeren Sinne nicht als die der generellen, sondern als die der selektiven Leistungsallokation aufzufassen. Die Zuteilung von Leistungen, die in geringerem Maße erbracht als nachgefragt werden, folgt Kriterien, die sich mit Normen universalistischer Verteilungsgerechtigkeit nicht vereinbaren lassen (Manzeschke 2005). Solche Formen der ungleichen Leistungszuweisung (oder Leistungsallokation) erfolgen einerseits offen bzw. explizit, wie im Falle der Privilegierung von Privatpatienten, oder implizit, also als verdeckte Form der Rationierung (IQWiG 2006; Gericke/Busse 2005). Die zweite Rationierungsvariante, die implizite oder verdeckte Form, ist allen vorliegenden Erkenntnissen zufolge durch eine sozial ungleiche Vergabepraxis charakterisiert (De Geest 2005; Simon 2000). Hiernach können sich Patientengruppen, die über ausreichende Ressourcen (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital) verfügen, in der Auseinandersetzung um knappe Gesundheitsgüter zum einen leichter durchsetzen, zum anderen werden sie – offenbar durch soziale Homogamie-Effekte ermöglicht – im konkreten Leistungsgeschehen bevorzugt (Bauer/Schaeffer 2006; Dreißig 2005). Rationalisierungs- und Rationierungsproblematiken erfahren im Hinblick auf die Problematik einer zunehmend sozial selektiven Leistungsvergabe eine bedeutsame Zuspitzung. Mit der Verringerung ökonomischer Mittel, die die Personalausstattung und die Leistungsvergabe regulieren, nimmt die Gefahr einer weiteren Polarisierung gesundheitlicher Lebenschancen zu. Diese weist schon jetzt einen anhaltend stabilen sozialen Gradienten im Hinblick auf die Verteilung von Morbiditäts- und Mortalitätsrisiken auf (Mielck 2000). Im Zuge einer entsprechend beschleunigten Ökonomisierungsdynamik ist indes mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Verschärfung gesundheitlicher Ungleichheiten zu erwarten. Für eine solche Dynamik steht die Entwicklung des US-amerikanischen Gesundheitssystems Pate (Kühn 1993). Ungleichheitsstrukturen, denen die primär ökonomische Ausrichtung des Gesundheitswesens damit nicht entgegenwirkt, bestehen in der mehrfachen Benachteiligung ressourcenschwacher Gruppen: Erstens, das Risiko der Gesundheitsschädigung wird sozial un-
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gleich getragen. Die Verteilung gesundheitlicher Risiken erfolgt ungleich, Krankheitsfälle treten häufiger, Todesfälle früher ein. Von schweren und chronischen Erkrankungen, die einen erhöhten Versorgungsbedarf erforderlich machen, sind sozial benachteiligte Gruppen überproportional häufig betroffen (SVR 2005). Zweitens, Ressourcenungleichheiten führen zu Ungleichheiten in der Versorgungsnutzung. Milieuspezifische Handlungsbefähigungen bedingen den Umgang mit Versorgungsangeboten und die Ausgestaltung von Versorgungsbeziehungen (Bauer 2005). Drittens, in der gesundheitlichen Versorgung existieren ungleiche Teilhabechancen. Nicht nur milieuspezifische Muster des Nutzungsverhaltens, sondern auch Formen der institutionellen Diskriminierung von Angehörigen sozial unterprivilegierter Gruppen führen zu sozial selektiven Effekten bei der Vergabe von Versorgungsleistungen (Schaeffer 2004).
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Ökonomisierung als Entsolidarisierung (2. These)
Dass die Dynamik der sozialen Polarisierung gesundheitlicher Lebenschancen nicht unterbrochen wird, wenn ökonomische Mittel verknappt und damit die Kompensationsmöglichkeiten der öffentlichen Hand eingeschränkt werden, ist Ausgangspunkt der ersten thesenartigen Erörterung. Wird diese ernst genommen, kann sie im Kontext der Ökonomisierungsproblematik dennoch nicht isoliert verhandelt werden. Wenn die Zunahme gesundheitlicher Ungleichheiten als ein Effekt sozialstaatlicher Transformationsprozesse toleriert wird, dann muss die Frage nach den Ökonomisierungsauswirkungen einen breiteren Antwortkontext umfassen. Sie muss thematisieren, wie die Betroffenen selbst, also Beschäftigte und Nutzer, mit einer entsprechenden Entwicklungstendenz, so auch der Verschärfung von Ungleichheitslagen, umgehen. Im Mittelpunkt steht dann die Frage, ob und wie die sozialen Akteure auf die ökonomisch induzierten Wandlungsphänomene reagieren, ob damit verbundene Folgen kritisiert, lediglich akzeptiert oder sogar befürwortet werden? Eine entsprechende mikrologische Fokussierung, die eine akteursorientierte Perspektive (die Perspektive der einzelnen, nicht der institutionellen Akteure) einbezieht, ist bisher selten ausformuliert. Veränderte ökonomische Ausgangsbedingungen wurden bisher nur mit Blick auf die Ebene der Arrangementbildung im Bereich der häuslichen Pflege thematisiert. Auf dieser Grundlage können zwar bereits erheblich variierende Grundmuster pflegerelevanter Kompetenzen und Mentalitäten konstatiert werden, die den markanten Einfluss sozialer Ungleichheiten auf die Ausgestaltung von Pflegearrangements, mithin die deutliche Benachteiligung der ressourcenschwachen Milieus (Heusinger/Klünder 2005) sowie die abnehmende Pflegebereitschaft in den ressourcenstarken Milieus er-
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kennen lassen (Blinkert/Klie 2004). Von hier aus lassen sich erste Hinweise darauf entnehmen, dass der Wandel ökonomischer Rahmenbedingungen im Gesundheitswesen keineswegs einheitlich, sondern höchst unterschiedlich bewältigt wird. Solche unterschiedlichen Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster verweisen ihrerseits auf systematische Gruppenunterschiede. Aus der Sozialstruktur- und Ungleichheitsforschung sind entsprechende milieuspezifische Mentalitätsunterschiede hinlänglich bekannt (Vester et al. 2001). Sozialstrukturelle Ungleichheiten, die bisher u.a. für die Erklärung von Parteienpräferenzen verwendet werden, finden auch im Bereich des gesundheitsrelevanten Verhaltens Anwendung (Sperlich/Mielck 2003; Bauer/Bittlingmayer 2006). Sie dienen schließlich sogar als Indikator für das Maß an Zustimmung gegenüber gesundheitspolitischen Reformstrategien, wenn diese explizit auf die Aufkündigung gesellschaftlicher Solidaritätsverpflichtungen verweisen (Bayerl/Mielck 2006). Wird bei der Frage nach den Auswirkungen ökonomisch motivierter Wandlungsbewegungen nicht nur die Ebene der Nutzer, die im Sinne eines vielfach geforderten Impact Assessment künftigen Untersuchungsbedarf deutlich anzeigt, sondern die Ebene der Beschäftigten adressiert, verdichten sich die ersten Hinweise auf die Bedeutung unterschiedlicher Verarbeitungsmuster. Empirische Zugänge, die die Perspektive des medizinischen Personals erfassen, verweisen zwar noch nahezu übereinstimmend darauf, dass Ökonomisierungstendenzen im Arbeitsprozess sowie damit verbundene Akzelerations- und Verdichtungsbewegungen berufsgruppenübergreifend und im Zeitvergleich ansteigend wahrgenommen werden (Buhr/Klinke 2006a, b; Dibelius 2003; Manzeschke 2005). Die Bewertung dieser Veränderungen fällt aber alles andere als einheitlich aus. Das, was als Ökonomisierungstendenz realisiert wird, erhält auch aus der Beschäftigtenperspektive keine eindeutige Bestimmung. Vielmehr zeigt sich, dass die Bewertung von Ökonomisierungsfolgen durchweg ambivalent ausfallen kann und immer wieder unterschiedliche Positionen – zwischen Ökonomisierungszustimmung und Kritik – besetzt. In diesem Sinne sollen die Ergebnisse einer Mitarbeiterbefragung Eingang finden, die im Rahmen einer Pilotstudie zu Ökonomisierungsfolgen im stationären Versorgungssektor durchgeführt wurde. Die Untersuchung auf Basis von qualitativen Experteninterviews mit Pflegekräften (n=15) hatte explizit zum Ziel, die Sichtweise des Krankenhauspersonals auf den steigenden ökonomischen Druck der Häuser zu explorieren.4 Die Ergebnisse der Bielefelder Pilotstudie
4 Die Erhebung wurde im Frühjahr 2006 in mehreren Kliniken in Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Befragt wurden Pflegekräfte, die sich zum Zeitpunkt des Interviews (teilstrukturiert und leitfadengestützt) in der Funktion von Mitarbeiter-, Personalvertretungen oder Betriebsräten befunden haben. Das hier vorgestellte Sample rekurriert ausschließlich auf Einrichtungen in öffentlicher, teil-
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verweisen bereits in der äußerst komprimierten Darstellung darauf, dass Ökonomisierungsprozesse überaus vielschichtig bewertet werden (Tab. 3). Im Rahmen mehrdimensionaler Typenbildung (Bohnsack 2001) können dabei unterschiedliche Bewertungsmuster rekonstruiert werden, die hier dreistufig in einen kritischen, ambivalenten und ökonomischen Pol unterschieden wurden. Diese dreipolige idealtypische Konstruktion beinhaltet Antwortmuster, die häufig parallel verwendet werden. Sie können also nicht fallspezifisch zugeordnet werden, sondern kennzeichnen vielmehr ein oftmals inhomogenes Gesamtmuster der Bewertung. Kritischer Pol (1)
Ambivalenter Pol (1)
Durchgehende Kritik zunehmender Arbeitsbelastung „Du kannst Du ganz platt sagen, mit weniger Personal mehr Leistung“
Mythos Privatisierung Organisation wird optimiert
Arbeitsverdichtung „Krankenhaus ist Fließband“ – Burn-Out, Bossing, Mobbing etc.
Überwindung ständischer Krankenhaushierarchien Ärzte können sich auch nicht mehr alles erlauben
Keine Zeit für Patientenbedürfnisse „Aufgaben werden so getaktet, dass für nichts mehr Zeit bleibt“
Statusgewinn der Pflege gegenüber Ärzteschaft Übernahme ärztlicher Aufgaben
Rückzug auf Grundpflege „Verlust des Menschlichen“ Privilegierung der Privaten Privat Versicherte müssen nicht warten, Private setzen sich durch
Schuldübernahme „Wir waren verschwenderisch“
Professionalisierung durch Abwertung ganzheitlicher Pflege Ideal ganzheitlicher Pflege wird aufgegeben. Auf medizinische Erfordernisse reduzierte Pflegeimperative (Funktionspflege) werden akzeptiert
Ökonomischer Pol (1) Unterwerfung unter Markdoktrin „Unser Haus hat keine finanziellen Spielräume“ Qualitätsverlust wird negiert „Alles medizinisch Notwendige wird geleistet“ Individualisierung der Strukturproblematik I „Nicht alle von uns ziehen mit“ Individualisierung der Strukturproblematik II „Die Schmarotzer unter den Patienten“ Individualisierung der Strukturproblematik III „Mehr Selbstverantwortung für die Patienten“
Tabelle 3: Bielefelder Pflegebefragung 2006: Dreistufige Typenbildung. Die Synopse der Typenbildung gibt die Spannbreite der unterschiedlichen Bewertungsmuster wieder. Dem kritischen Pol ist die hohe Sensitivität für die Folgen einer zunehmenden Arbeitsbelastung und -verdichtung zugeordnet. Ihre öffentlicher oder freigemeinnütziger Trägerschaft, voll privatisierte Einrichtungen sind ausgenommen (hier ausführlich u.a. Slotala/Bauer i.E.).
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Auswirkungen treffen Beschäftigte und Patienten gleichermaßen. DRG-System, Kostendruck und Personalabbau befördern danach die Ausfallquoten beim pflegerischen Personal und beeinträchtigen die Versorgungsqualität empfindlich (erzwungener Rückzug auf Grundpflege etc.). Allein die Privatpatienten sind aus Sicht der Beschäftigten von den Folgen solcher Verknappungsszenarien meist ausgenommen. Der ambivalente Pol differenziert stärker zwischen Negativ- und Positivdynamiken. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn der Transformationsprozess, in dem sich die Krankenhausversorgung insgesamt befindet, aus der Sicht der eigenen Profession bewertet werden soll. Die Bewertung von Ökonomisierungsprozessen erfährt dann einen Wandel, bisherige Strukturdefizite werden selbstkritisch benannt („wir waren verschwenderisch“) und mit der Erwartung verbunden, im Sog der Ökonomisierungsbewegung die Aufwertung der Pflegeprofession zu erreichen (womit vor allem die untergeordnete Stellung gegenüber der medizinischen Profession überwunden werden soll). Medium dieser Erwartung ist der Glaube an ein höheres Maß an Neutralität ökonomischer Bewertungsmaßstäbe, die das ständische Hierarchieprinzip (Arzt- und Chefarztprivilegien) aufweichen und durch eine „leistungsgerechte“ Statuszuweisung ersetzen. Der ökonomischen „Modernisierung“ im Krankenhausbereich werden also durchaus positive Begleiteffekte zugetraut, einer betriebswirtschaftlicheren Ausrichtung sogar häufig die höhere Effizienz. Diese die Verbetriebswirtschaftlichung insgesamt befürwortende Tendenz wird im empirischen Material als der ökonomische Pol bezeichnet, der im engeren Sinne auch als affirmativer Typ charakterisiert werden kann. Ihm zu Grunde liegt die Unterordnung unter eine ökonomische Sachzwanglogik. So werden dominante Deutungsmuster („Unser Haus hat keine finanziellen Spielräume“) und marktbedingte Konkurrenzkämpfe („Im Wettbewerb sind Kosteneinsparrungen notwendig“) naturalisiert, also als unausweichlich betrachtet. Versorgungsmängel werden geleugnet, das Leistungsverständnis, nach welchem Zeit und Zuwendung für die Pflege eine übergeordnete Rolle spielen, wird für überholt erklärt. Das eigentlich ökonomisch bedingte Verknappungsproblem aber – und das ist das signifikante Ergebnis der Explorationsstudie – tritt dann nur noch am Rande in Erscheinung. Nur noch in der Form, die hier als Individualisierung der Strukturproblematik bezeichnet wird. Sie ist der charakteristische Zug der Unterordnung unter eine als unabwendbar angesehene Ökonomisierungslogik. Sie führt zu einer Verschiebung der Problematik auf die individuelle Ebene, auf nicht belastbare Kollegen („Nicht alle von uns ziehen mit“), Patienten und Angehörige (unter ihnen die „Schmarotzer“).
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Konklusion
Mit der Transformation zentraler Organisationsprinzipien im Gesundheitswesen, die hier als Prozesse der Ökonomisierung diskutiert wurden, wird primär der Zweck der Ausgabensenkung verfolgt. Hierdurch soll die öffentliche Hand entlastet werden, worauf die Ausgabenentwicklung im Gesundheitsbereich seit langem verweist. Ein entsprechender Politikwechsel, der mit Rekurs auf die Unterscheidung sozialstaatlicher Paradigmen als ein schleichender Übergang vom konservativen zum wirtschaftsliberalen Modell bezeichnet werden kann, ist auf seine weiteren Implikationen bisher jedoch kaum untersucht. Allein der Blick auf Gesundheitssysteme, die wie das US-amerikanische prototypisch für einen neo- oder ultraliberalen Zuschnitt stehen, kann als erster Orientierungspunkt für eine Trendanalyse dienen, um nicht nur primär wirtschaftliche, sondern in umfassenderer Hinsicht allgemeine gesellschaftliche Folgen des Ökonomisierungsprozesses im Gesundheitswesen zu antizipieren. So findet mit Blick auf das, was unter der Ökonomisierungschiffre als Veränderungstendenz im deutschen Gesundheitswesen diskutiert wird, der Trend zu einer wirtschaftsliberalen Orientierung deutliche Bestätigung. Im Kern lässt sich so die Umwidmung der Idee der Sozialstaatlichkeit und damit der schleichende Übergang von der Solidar- zur Selbstverantwortung diagnostizieren (Dahme et al. 2005). Auf diese Weise aber wird die Selbstverständlichkeit sozialstaatlicher Versorgung mehr und mehr vakant, sie ist vor dem Hintergrund ökonomischer Imperative selbst begründungspflichtig geworden (Butterwegge 2006; Maucher 2005; Strodtholz 2005). Die Auswirkungen eines solchen Paradigmenwechsels lassen sich noch nicht genau abschätzen. Thesenartig wurden zwei Argumentationslinien verfolgt, die den analytischen Zugang zur Ökonomisierungsproblematik konkretisieren sollen: Erstens, mit Blick auf das deutsche Gesundheitswesen lassen sich internationale, vor allem US-amerikanische Trendaussagen verallgemeinern, nach denen der Versorgungssektor auf wachsenden Ökonomisierungsdruck mit Verknappungsstrategien reagiert (De Geest 2005; Jacobs/Schulze 2006). Dies ist jedoch nur vordergründig eine „bloße“ Rationalisierungsproblematik. Sie muss bereits heute als Problematik der Rationierung von wichtigen Versorgungsleistungen ernst genommen werden. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass mit der veränderten Finanzierungslage Versorgungsengpässe und Versorgungsversäumnisse eingetreten sind (IQWiG 2006), von denen aber nicht alle Nutzer gleich betroffen sind. Rationierungspraktiken lassen sich als explizite (Privatversicherungsschutz, Zusatzausgaben etc.) und implizite unterscheiden (ungleiche Kompetenzen der Versorgungsnutzung, Formen der institutionellen Diskriminierung etc.). Mit beiden Formen der Verknappung im Versorgungsbereich werden sozial bedingte
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gesundheitliche Ungleichheiten auch in Zukunft stabilisiert. Thetisch: Soziale Polarisierung dient als Seismograph von Ökonomisierungsprozessen im deutschen Gesundheitswesen. Zweitens, zahlreiche Studienergebnisse verweisen inzwischen darauf, dass sich tradierte Solidaritätsstrukturen, die insbesondere das familiale Pflegearrangement charakterisiert haben, sukzessive auflösen. Dass damit die generelle Bereitschaft abnimmt, in eine Hilfe- und Sorgebeziehung einzutreten, ohne ein eigenes ökonomisches Kalkül zu verfolgen, kann als allgemeines Ökonomisierungsmerkmal angesehen werden. Die Ergebnisse der Bielefelder Pilotstudie geben parallel hierzu Auskunft über die Zerrissenheit, in die das professionelle pflegerische Personal durch den empfundenen Ökonomisierungsdruck gerät. Bei aller Vorsicht ob des lediglich explorativen Charakters des empirischen Materials machen die Erkenntnisse deutlich, wie intensiv die Beschäftigten die Verletzung ihrer Handlungsautonomie erfahren. Umso überraschender ist, dass sie es offenbar nicht vermögen, eine eigene starke Berufsethik gegen den ökonomischen Druck in ihrer Einrichtung aufrechtzuerhalten. Eine aktive kritische Positionierung wird durch die Übernahme dominanter Deutungsmuster eliminiert, die Beschäftigten erliegen der kulturellen Hegemonie der ökonomischen doxa. Im Sinne eines solchen von Pierre Bourdieu (1987: Kap. 8) bezeichneten symbolischen Gewaltverhältnisses wirken sie damit an ihrer eigenen Machtlosigkeit mit. Thetisch: Ökonomische Zwänge wirken als Denkgebote und Denkverbote, die sukzessive zu einer Identifikation mit den ökonomischen Imperativen führen. Zusammenfassend ist also durchaus konstatierbar, dass die Auswirkungen einer auf dem bloßen wirtschaftlichen Kalkül basierenden Steuerungslogik bereits erkennbar sind. Mit dem Anspruch auf eine weiter reichende Prognose darf aber kein bloßes Untergangsszenario beschworen werden. Vielmehr ist genau zu differenzieren, wo bereits ökonomische Zwänge und Eigenlogiken zu einer Kommerzialisierung und Kommodifizierung von Gesundheit geführt haben. Wichtigste Ausgangsannahme bleibt, dass die Diversifizierung sozialstaatlicher Entwicklungspfade eine hohe Variabilität zulässt. In diesem Kontinuum bewegt sich auch der gegenwärtige Veränderungsprozess im deutschen Gesundheitswesen. Dass dieser die Tendenz zur gesellschaftlichen Polarisierung und Entsolidarisierung eher befördert als einschränkt, darf als starke These auch weiterhin verfolgt werden. Die allgemeine Diagnose aber, nach der Rentabilitätskalküle gesellschaftliche Egalitäts- und Solidaritätsnormen sukzessive überlagern, muss noch – so viel kann gleichfalls festgehalten werden – zum Gegenstandsbereich ein viel breiteren sozial- und gesundheitswissenschaftlichen Forschungsdiskussion werden.
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Umrisse eines Salutokapitalismus? Eine künftige Auseinandersetzung mit der Ökonomisierungsproblematik muss auch beinhalten, den Nutzen einer explizit auf den Kapitalismusbegriff bezogenen Forschungsperspektive neu zu bemessen. Natürlich ist damit die Gefahr verbunden, mit einem politischen Kampfbegriff die eigentlich wissenschaftliche Auseinandersetzung ideologisch aufzuladen. Gleichzeitig muss inzwischen Berücksichtigung finden, dass die Debatte darüber, ob wir in einer kapitalistischen Gesellschaft leben oder nicht, längst obsolet geworden ist. Die Zeit der ideologischen Verbrämung ist vorbei. Heute verzichten allenfalls noch gesellschaftskritische Ansätze auf den Kapitalismusbegriff (womöglich aus gut antrainierter Vorsicht). Nicht aber eine mehrheitlich konservativ ausgerichtete Wirtschaftswissenschaft, zu der auch die deutsche Gesundheitsökonomie gehört, die Kapitalismus als Signum eines weitgehend reibungslos funktionierenden Steuerungsmechanismus durchaus zu instrumentalisieren weiß. Die Einsicht, dass der Kapitalismusbegriff also kein parteiisches Paketwissen beinhaltet, kann behilflich sein, um damit etwas unverstellter ein analytisches Großarsenal wieder zu entdecken, das für die Analyse von Ökonomisierungsprozessen durchaus wissenschaftliche Potenz besitzt. Die Verbindung kapitalistischer Strukturen mit denen des Gesundheitswesens, also ein Art „Salutokapitalismus“, kann somit als theoretische Klammer fungieren, die all jene Beziehungen umfasst, die heute um die Erhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit geknüpft werden. Als ausdrücklich kapitalistisch können diese Beziehungen charakterisiert werden, wenn sie einen marktförmigen Charakter annehmen oder aber, wenn sie sich einer ökonomischen Verwertungslogik nicht mehr entziehen können. Beispiele sind zahlreich, Friedrich von Hayek, einer der Hauptvertreter der neoliberalen Ökonomielehre, liefert hierzu eine Art konzeptionellen Rahmen: „Es mag hart klingen, aber es ist wahrscheinlich im Interesse aller, dass in einem freiheitlichen System die voll Erwerbstätigen oft schnell von einer vorübergehenden und nicht gefährlichen Erkrankung geheilt werden um den Preis einer gewissen Vernachlässigung der Alten und Strebenskranken.“ (Hayek 1983: 397, zit. nach Reiners 2002: 50)
Die hier zum Vorschein kommende ökonomische Ethik ist leicht zu extrapolieren. Vorrang hat, was ökonomischen Nutzen bringt. Polarisierungsbewegungen verlaufen hierzu keinesfalls gegensätzlich. Bestandteil der kapitalistischen Verwertungslogik ist ein soziales Ausleseprinzip, das nicht auf sozialen Ausgleich
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zielt.5 Ähnliches gilt für die Diagnose der Entsolidarisierung. „Alles Stehende und Ständische verdampft“ (Marx), heißt es in der Frühphase der Ökonomieanalyse. Mit dem Rückgang sozialer Solidaritäts- und Hilfestrukturen gelangen offenbar ökonomische Rationalisierungsdynamiken zur Durchsetzung. Vor dem Hintergrund der ökonomischen Bewertung macht Zuwendung, wenn sie nicht reziprok auf einen Gegenwert zielt, womöglich keinen Sinn mehr. Trifft das Gesundheitsfeld also, wenn wir von Ökonomisierung sprechen, auf ein gesamtgesellschaftliches Wandlungsphänomen? Die ökonomische „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas) und die wachsende Dominanz eines „universellen Tauschprinzips“ (Adorno), mit dem alles nach dem persönlichen ökonomischen Nutzen befragt wird, sind als gesellschaftstheoretische Motive bereits vorhanden. Ihre Indienstnahme wäre dann fruchtbares Fundament künftiger Ökonomisierungsforschung auch im Gesundheitsbereich.
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5 Wiewohl der konkrete Reproduktionsmechanismus ungleicher Chancen im Gesundheits- wie im Bildungsbereich durchgängig noch immer oder ständische Merkmale aufweist (Vester 2005), die mit dem Anspruch auf Chancengleichheit, der ja gerade von ökonomischer Seite erhoben wird, natürlich keinesfalls vereinbar sein können.
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Qualitätsberichterstattung im Gesundheitswesen Der lange Weg zur Leistungstransparenz und Nutzerkompetenz Peter Hensen „Was einzig zählt, ist Ergebnisqualität. Was sollte Patienten sonst interessieren?“ (Rolf Hildebrand)
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Zielsetzung und Hintergrund von Qualitätsberichterstattung
1.1 Qualität als Steuerungsinstrument im Gesundheitswesen Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR) hat sich in seinen Gutachten in den letzten Jahren nachdrücklich für eine Stärkung der Nutzerinteressen im Gesundheits- und Versorgungssystem ausgesprochen und Handlungsbedarf zur Abschaffung oder Minimierung der bestehenden Informationsasymmetrien zwischen Leistungserbringern und Leistungsempfängern angemahnt (SVR 2002 und 2003). Dieser Forderung hat sich die Politik grundsätzlich nicht verweigert. Mit den zahlreichen Gesetzesvorhaben zur Umstrukturierung des Gesundheitssystems respektive des Krankenhaussektors wurden „der Patient“ bzw. sämtliche an der Versorgung partizipierenden Akteure ins argumentative Zentrum der Gesetzgebungsverfahren zur Krankenhausfinanzierung1 und der flankierenden Gestaltungsmaßnahmen gerückt. Zunehmend sollen Nutzer bzw. Leistungsempfänger in die Finanzierungs- und Allokationsentscheidungen mit einbezogen werden. Nach Aussagen des Sachverständigenrats gelten Einrichtungen des Gesundheitswesens dann als patienten- bzw. nutzerorientiert, wenn Autonomie und Selbstbestimmung des Patienten beachtet, gemeinsame Definitionen der angestrebten diagnostischen und thera1 Mit der GKV-Gesundheitsreform 2000 und der Einfügung des § 17b („Einführung eines pauschalierenden Entgeltsystems“) in das Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) wurde der Grundstein für ein „durchgängiges, leistungsorientiertes und pauschalierendes Vergütungssystem“ für Krankenhausleistungen auf der Grundlage der Diagnosis Related Groups (DRG) gelegt. Auf der Basis eines eindimensionalen Patientenklassifikationssystems sollen langfristig nicht mehr Budgetabschlüsse, sondern unter der Prämisse der Beitragssatzstabilität und des medizinischen Versorgungsbedarfs die auf Landesebene vereinbarte Preishöhe und die regelmäßige Überprüfung und Fortschreibung der Leistungskalkulationen im Mittelpunkt der Ausgabensteuerung stehen.
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peutischen Ziele entwickelt, Patienten am diagnostischen und therapeutischen Prozess beteiligt und die bereits gemachten Erfahrungen berücksichtigt werden (vgl. SVR 2003). Wichtiges Element der jüngeren Gestaltungsmaßnahmen im Gesundheitswesen ist die Einführung von Pauschalentgeltsystemen, die weit reichende Strukturveränderungen im Gesundheitssystem mit sich bringen bzw. erwarten lassen. Im Krankenhaussektor haben beispielsweise diagnosebezogene Fallpauschalen (DRG) die Finanzierung von allgemeinen Krankenhausleistungen revolutioniert und in weiten Bereichen der akutstationären Versorgung die Abrechung von tagesgleichen Pflegesätzen abgelöst.2 Durch eine leistungsgerechtere Mittelverteilung als Folge der Verknüpfung von erbrachten Leistungen mit der Vergütung und durch die gleichzeitige Abschaffung von bis dahin bestehenden Fehlanreizen soll eine Erhöhung der Wirtschaftlichkeit im Gesundheitssystem und eine stärker am Bedarf orientierte Entwicklung der Leistungsstrukturen und Leistungskapazitäten erreicht werden. Ebenso ist ein Bekenntnis zu mehr Wettbewerb unter den Leistungsanbietern zu vernehmen, das neben der Eliminierung von Ineffizienzen gleichzeitig zu einer Verbesserung der Qualität in der medizinischen Versorgung führen soll. Es kann zunächst erstmal nur als ein „frommer Wunsch“ aufgefasst werden, dass Qualitätsaspekte künftig tatsächlich eine führende Rolle bei den Allokations- und Entscheidungsprozessen spielen werden. Mit den Finanzierungsneuregelungen für Krankenhausleistungen besteht gleichzeitig auch die Gefahr, dass wiederum neu geschaffene Fehlanreize gegenläufige Entwicklungen produzieren und Qualität als Wettbewerbsfaktor vom Wettbewerbsfaktor Preis verdrängt wird. Gelingt es langfristig nicht, Qualitätsaspekte ausreichend und nachvollziehbar zu entwickeln und darzustellen, werden eher Kostenaspekte auswahlentscheidend bzw. marktregulierend sein werden. Die Auswirkungen auf die Versorgungswirklichkeit, die mit der Einführung von Wettbewerbselementen letztendlich in einem Markt wie dem Gesundheitsmarkt, der nur sehr schwer mit anderen Wirtschaftsmärkten vergleichbar ist, verbunden sein werden, sind schwer abzuschätzen. Eine marktregulierte Qualitätssteigerung als Resultat marktbereinigender Wettbewerbsprozesse wird jedoch nur im Rahmen und als Ergebnis eines langfristigen Prozesse auf dem Gesundheitsmarkt in Erscheinung treten können. Dass aber Qualitätsaspekte durchaus Steuerungswirkung in Gesundheitssystemen entfalten können, ist aus anderen Ländern bekannt. So beeinflussen darstellbare Qualitätsvorteile zum Beispiel
2 Die Einführung der fallpauschalierten Krankenhausfinanzierung (DRG) kann stellvertretend für den Paradigmenwechsel in der Gesundheitspolitik und die Wandlungsprozesse im Gesundheitswesen angesehen werden.
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Patientenströme, wie Erfahrungen aus den USA und auch Australien zeigen (vgl. Blendon et al. 2004; Romano/Mutter 2004). Allerdings präsentiert sich die vorhandene relative Starrheit der sektoralen Trennung der Versorgungssysteme im deutschen Gesundheitswesen als nachteilig für die Ausbildung durchgängiger und qualitätsorientierter Versorgungsstrukturen. Diese wird flankierend zwar schrittweise aufgeweicht, z.B. mit der Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Versorgung, der Flexibilisierung der Vertragsstrukturen zwischen Krankenkassen und Leistungsanbietern oder der Berücksichtigung von Managed-Care-Elementen3 (vgl. Roeder et al. 2004). Es ist aber gegenwärtig noch nicht abzusehen, ob und inwieweit durch die zahlreichen neuen Strukturkomponenten im Gesundheitswesen neben Bürokratiezuwachs und Komplexitätssteigerung auch tatsächlich positive Entwicklungen in der Gesundheitsversorgung folgen werden. Der damit erhoffte Qualitätsschub hängt neben wirksamen Instrumenten der Qualitätsdarstellung nicht zuletzt auch von der Methodik und Nutzbarmachung der Qualitätsmessung und -bewertung ab. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Wandlungs- und Transitionsprozesse bzw. deren Zielsetzungen werden zum einen Maßnahmen notwendig, die Versorgungsdefizite und Qualitätsverschlechterungen aufdecken und letztendlich zu deren Vermeidung beitragen. Zum anderen sollten diese Maßnahmen in der Lage sein, das Leistungsgeschehen transparenter als zuvor zu gestalten, die Nutzerinteressen angemessen zu berücksichtigen und entscheidungsrelevante Informationen auf die Nutzerebene zu transportieren, um die mit der Qualitätsdarstellung beabsichtige Qualitätsverbesserung langfristig zu ermöglichen. Maßnahmen dieser Art werden vom Gesetzgeber unter anderem im Fünften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V) im Rahmen der verpflichtenden Qualitätssicherung von den Leistungserbringern eingefordert.
1.2 Verpflichtung zur Qualitätssicherung Die Qualitätssicherung im Gesundheitswesen wird durch eine steigende Zahl gesetzlicher Vorschriften geregelt, die von den Selbstverwaltungspartnern im Gesundheitswesen ausgestaltet werden und durch freiwillige Maßnahmen er3 Zu den neuen Versorgungsformen für ambulante Leistungen laut GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) 2004 gehören die medizinischen Versorgungszentren (§ 95 SGB V), die ambulante Versorgung bei Unterversorgung (§ 116a SGB V), die ambulante Behandlung im Rahmen von DiseaseManagement-Programmen (DMP), bei hoch spezialisierten Leistungen und seltenen Erkrankungen mit besonderen Krankheitsverläufen (§ 116b SGB V) und die so genannten „integrierten Versorgungsformen“ (§§ 140a ff. SGB V) (vgl. Kuhlmann 2004).
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gänzt werden können. Nach § 135a sind Leistungserbringer zur Sicherung und Weiterentwicklung der Qualität der von ihnen erbrachten Leistungen verpflichtet. Die angebotenen Leistungen müssen dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechen und in der fachlich gebotenen Qualität erbracht werden. Die Verpflichtung bezieht sich auf Vertragsärzte, medizinische Versorgungszentren, zugelassene Krankenhäuser, Erbringer von Vorsorgeleistungen oder Rehabilitationsmaßnahmen und Einrichtungen, mit denen ein Versorgungsvertrag nach § 111a SGB V besteht. Seit dem Inkrafttreten des GKV-Gesundheitsreformgesetzes 2000 sind verpflichtende Maßnahmen der externen Qualitätssicherung sowie grundsätzliche Anforderungen an die Einführung eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements im § 137 SGB V für Einrichtungen im Gesundheitswesen gesetzlich vorgeschrieben, wobei die externe medizinische Qualitätssicherung bereits seit 1.1.1989 im § 137 SGB V verankert ist. Welche Ziele bei der Qualitätssicherung im Krankenhaussektor erreicht werden sollen, ist in einer Vereinbarung über Maßnahmen der Qualitätssicherung für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser gemäß § 137 Abs. 1 SGB V i.V.m. § 135a SGB V formuliert4. In dieser Vereinbarung heißt es im § 2 „Ziele der Qualitätssicherung“: „Orientiert am Nutzen für den Patienten verfolgen Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Weiterentwicklung der Qualität von Krankenhausleistungen insbesondere folgende Ziele:
Durch Erkenntnisse über Qualitätsdefizite Leistungsbereiche systematisch zu identifizieren, für die Qualitätsverbesserungen erforderlich sind. Unterstützung zur systematischen, kontinuierlichen und berufsgruppenübergreifenden einrichtungsinternen Qualitätssicherung (internes Qualitätsmanagement) zu geben. Vergleichbarkeit von Behandlungsergebnissen – insbesondere durch die Entwicklung von Indikatoren - herzustellen. Durch signifikante, valide und vergleichbare Erkenntnisse – insbesondere zu folgenden Aspekten – die Qualität von Krankenhausleistungen zu sichern: Indikationsstellung für die Leistungserbringung, Angemessenheit der Leistung, Erfüllung der strukturellen und sächlichen Voraussetzungen zur Erbringung der Leistungen, Ergebnisqualität.“
4 Aktuelle Vereinbarung: Vereinbarung des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 137 Abs. 1 SGB V i. V. m. § 135a SGB V über Maßnahmen der Qualitätssicherung für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser (Vereinbarung zur Qualitätssicherung) in der Fassung vom 15. August 2006, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2006 S. 6361, zuletzt geändert am 19. Dezember 2006, veröffentlicht im Bundesanzeiger 2007 S. 637, in Kraft getreten am 1. Januar 2007.
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Im ambulanten Bereich bestehen Vereinbarungen zur Qualitätssicherung nach § 135 Abs. 2 SGB V, mit der die Strukturqualität bei der Durchführung besonderer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung sichergestellt werden sollen. Als Elemente der Strukturqualität gelten hier u.a. Anforderungen an die fachliche Befähigung des Arztes, apparative Ausstattung von Geräten, Organisation und Dokumentation. Darüber hinaus regeln Vereinbarungen der Selbstverwaltungspartner die Qualitätssicherungsmaßnahmen bei ambulanten Operationen und stationsersetzenden Eingriffen gemäß § 115b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V5. Ein wichtiges Instrument der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen ist die Qualitätsberichterstattung, die in Form von Leistungsberichten Information und Entscheidungshilfe für die Leistungsempfänger im Vorfeld einer Behandlung, eine Orientierung bei der Steuerung der notwendigen Versorgungsformen sowie die Möglichkeit für die Leistungserbringer, ihre Leistungen nach Art, Anzahl und Qualität nach außen transparent zu machen und sichtbar darzustellen. Qualitätsberichterstattung bietet von den verschiedensten Institutionen eine Art Nachweis, wie in anderen Ländern schon seit Jahren und Jahrzehnten üblich, der den qualitativen Standard der medizinischen Behandlung gewährleisten soll. Der Gesetzgeber hat dies unter anderem verpflichtend zur Aufgabe aller Krankenhäuser gemacht. Gemäß § 137 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 SGB V sind alle nach § 108 SGB V zugelassenen Krankenhäuser verpflichtet, im Abstand von zwei Jahren - erstmals im Jahr 2005 für das Jahr 2004 - einen strukturierten Qualitätsbericht zu erstellen und zu veröffentlichen. Die Regelungen und Bestimmungen des zu veröffentlichenden strukturierten Qualitätsberichts sowie die Festlegung des Verfahrens werden durch die Selbstverwaltungspartner bzw. durch Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) geregelt. Ein von den Qualitätsberichten ausgehender Nutzen für die Leistungserbringer findet sich grundsätzlich auf zwei Ebenen (vgl. Selbmann 2004; vgl. Freeman 2002):
Innenwirkung. Informationsgewinnung für das interne Qualitätsmanagement im Krankenhaus. Außenwirkung. Darstellung und Präsentation der Strukturen, Prozesse und Ergebnisse zur wettbewerblichen Positionierung.
Mit der Kommunikation nach außen wird erwartet, dass langfristig reale Wettbewerbswirkungen entstehen, wenn nicht nur vereinzelt freiwillig, sondern um5 Aktualisiert: Vereinbarung von Qualitätssicherungsmaßnahmen bei ambulanten Operationen und stationsersetzenden Eingriffen einschließlich der notwendigen Anästhesien gemäß § 115b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB V in der Fassung vom 18. September 2006.
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fänglich verpflichtend Qualitätsmerkmale offen gelegt werden. Transparenz wird quasi zur Voraussetzung einer zu steigernden Wirtschaftlichkeit und Nutzerorientierung. Die Darlegung von Defiziten bedeutet auch, dass Informationen für die Steuerung des internen Qualitätsmanagements in Krankenhäusern genutzt werden können. Informationen und Fakten dieser Art unterstützen die kontinuierliche Qualitätssteuerung, die Freisetzung von Verbesserungs- und Innovationspotenziale sowie letztendlich die Dienstleistungsangebote und die Versorgung der Patienten.
1.3 Qualitätsberichte als Patientenwegweiser Neben der gesetzlichen Verpflichtung zur Qualitätssicherung und Qualitätsdarstellung wird die Offenlegung und Darstellung der eigenen Leistungsfähigkeit und der erreichten Ergebnisse in Form von Leistungs- bzw. Qualitätsberichten zu einem immer wichtiger werdenden Instrument der Beurteilung und Entscheidungsfindung in einem zunehmend wettbewerbsorientierten Gesundheitsmarkt. Bei der Berichterstattung ist grundsätzlich zwischen fakultativen und obligatorischen Berichten zu unterscheiden. Die fakultativen Berichte dienen vorrangig der internen Qualitätssicherung oder können marketingstrategischen Werbezwecken dienen. Für diese gibt es keine Verpflichtung zur Veröffentlichung. Obligatorische Berichte - wie der strukturierte Qualitätsbericht - werden aufgrund gesetzlicher Vorgaben mit festgelegten Inhalten und Parametern verfasst. Sie dienen einer externen Qualitätssicherung, deren Daten nach bundes- und landesweiten Ergebnissen gegliedert und veröffentlicht werden. Der Sachverständigenrat (SVR) empfahl, dass zu veröffentlichende Daten als Mindeststandard für die Nutzer Aufschluss über Fallzahlen, Verweildauer, Komplikationsraten, Krankenhaussterblichkeit, Verlegungsraten und Altersstruktur geben sollen. Sowohl mit fakultativen als auch mit obligatorischen Berichten soll neben qualitätssteigernden Effekten vor allem die Transparenz des Versorgungsgeschehens für die Nutzer erhöht und damit eine gezielte Inanspruchnahme der Versorgungsangebote erreicht werden (vgl. Schlemm/Scriba 2004). Mit Hilfe solcher Maßnahmen soll das system- und rollenimmanente Machtgefälle zwischen Leistungserbringer und Nutzer reduziert werden, indem der Patient mit mehr entscheidungsrelevanter Sachkenntnis und Marktmacht ausgestattet wird. Veröffentlichte Qualitäts- und Leistungsberichte können aber nur dann als „Patientenwegweiser“, die echte Wahlmöglichkeiten zwischen konkurrierenden Anbietern oder Angeboten eröffnen, funktionieren, wenn die darin enthaltenen Informationen methodisch einwandfrei und vergleichbar sind, nutzerfreundlich abgefasst wurden bzw. auch von Menschen ohne medizinische Vorkenntnisse
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gelesen werden können und entsprechend einfach zugänglich gemacht werden. Niederschwellige Zugangsbedingungen, Verlässlichkeit bzw. Vergleichbarkeit von Qualitätsdaten sowie verständliche und valide Inhalte stellen insgesamt die wesentlichen Anforderungen an Instrumente der Qualitätsberichterstattung und an die damit verbundene Entwicklung der Nutzerkompetenz.
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Qualität in der Gesundheitsversorgung
Qualität wird als Zielgröße gesundheitspolitischer Wandlungsprozesse stetig bemüht, um die zunehmenden Ökonomisierungstendenzen in der Medizin bzw. auf dem Markt der Gesundheitsleistungen argumentativ zu rechtfertigen. Andererseits fehlt jedoch eine übereinstimmende Festlegung dessen, was Qualität im Gesundheitswesen und in der Patientenversorgung überhaupt bedeutet bzw. wie diese auszusehen hat. Die Bestimmung von Qualität in der Gesundheitsversorgung ist ein nicht vollständig gelöstes und aufgrund hoher soziokultureller Variabilität in beziehungsorientierten Dienstleistungen ein entsprechend komplexes und differenziertes Problem.
2.1 Der Qualitätsbegriff Der Begriff „Qualität“ (lat.: qualitas) beinhaltet originär eine rein beschreibende Komponente, die eine Beschaffenheit oder Eigenschaft eines Produktes oder einer Dienstleistung anzeigt. Gleichzeitig kommt Qualität auch eine (be-)wertende Dimension zu und zwar als Ergebnis eines Soll-Ist-Abgleichs von gestellten Anforderungen und dem Ausmaß, in dem diese Anforderungen erfüllt werden.6 Bezogen auf das Gesundheitswesen wäre eine optimale Qualität demgemäß die vollständige Übereinstimmung zwischen Nutzerwünschen einerseits und der Beschaffenheit bzw. Ausgestaltung des Dienstleistungsprozesses, was naturgemäß nur in den seltensten Fällen zu beobachten sein wird. Um Qualität von Dienstleistungen näher zu konkretisieren, können verschiedene Qualitätsperspektiven eingenommen werden. Ein differenziertes Qualitätsverständnis aus der 6 Nach der Qualitätsmanagement-Norm DIN EN ISO 9000:2000 ist Qualität definiert als „der Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale Anforderungen erfüllt“. Eine weniger technokratische Definition betont Erwartungen, Bedürfnisse und Anforderungen der Leistungsempfängerseite: „Qualität ist die Erfüllung von (vereinbarten) Anforderungen zur dauerhaften Kundenzufriedenheit“ (Zink 1999). In Bezug auf die Gesundheitsversorgung ist zu berücksichtigen, dass sich der Begriff „Kunde“ nicht ausschließlich auf den unmittelbaren Leistungsempfänger (z.B. Patient) beschränkt, sondern sämtliche Anspruchsgruppen und Interessenpartner im Gesundheitswesen umfasst.
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Dienstleistungsliteratur beschreibt fünf unterschiedliche Qualitätsdimensionen (vgl. Haller 1999; Mühlenkamp 2005):
Der teleologische Qualitätsbegriff. Beim teleologischen (zweckorientierten) Qualitätsbegriff steht im Vordergrund, ob und inwieweit eine Dienstleistung in der Lage ist, einen bestimmten (zielgerichteten) Zweck zu erfüllen (z.B. den geplanten Heilerfolg). Der produktorientierte Qualitätsbegriff. Der produktorientierte Qualitätsbegriff orientiert sich an der Beschaffenheit der Dienstleistung d.h. an den strukturellen Komponenten. Dieser kann anhand messbarer Parameter objektiviert und verglichen werden (z.B. Anzahl gewonnener Lebensjahre). Der herstellungsorientierte Qualitätsbegriff. Der herstellungsorientierte Qualitätsbegriff betont die prozessuale Komponente der Dienstleistung, also die Art und Weise der Erbringung (z.B. Konformität der Behandlung mit medizinischen Leitlinien). Der kundenorientierte Qualitätsbegriff. Der kundenorientierte Qualitätsbegriff fokussiert die Wahrnehmung der Erfüllung der gestellten Anforderungen aus der Kundenperspektive (z.B. Zufriedenheit von Patienten oder einweisenden Ärzten) Der wertorientierte Qualitätsbegriff. Beim wertorientierten Qualitätsbegriff wird der gewonnene Nutzen im Verhältnis zum erbrachten Aufwand betrachtet. Es geht nicht um die Erbringung maximaler Leistungsniveaus, sondern um ein effizientes Qualitätsniveau (z.B. nutzenorientierte Eliminierung von nicht Ziel führenden Randaktivitäten im Behandlungsprozess)
Gegenüber dieser mehrschichtigen Betrachtungsweise hat sich im Gesundheitswesen international eine stärker phasenorientierte Betrachtung der Dienstleistungsprozesse etabliert und als brauchbar erwiesen. Nach Donabedian wird Qualität im Gesundheitsbereich in die drei Dimensionen der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität unterteilt (Donabedian 1986):
Strukturqualität. Die Strukturqualität beschreibt die vorhandenen Rahmenbedingungen, die für die medizinische Versorgung notwendig sind. Betriebswirtschaftlich kann hier auch von so genannten Produktionsfaktoren oder Inputvariablen gesprochen wären. Unter Strukturqualität werden sämtliche personellen Voraussetzungen, bauliche, räumliche und apparative Ausstattung, aber auch die finanzielle Situation der jeweils zu betrachtenden Organisation gefasst. Prozessqualität. Die Prozessqualität orientiert sich an der Art und Weise der Dienstleistungserbringung und umfasst sämtliche diagnostischen, pflegeri-
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schen und therapeutischen Maßnahmen innerhalb der Kern- und Teilprozesse. Neben Kernprozessen wie der Behandlungsaufenthalt eines Kranken oder Ratsuchenden spielen hier vor allem Teilprozesse wie z.B. Anamneseund Untersuchungstechniken, Diagnosestellung, Therapie des Arztes, Pflegemaßnahmen, Zusammenarbeit mit Kollegen und Praxis, u.ä. eine Rolle. Ergebnisqualität. Die Ergebnisqualität bezeichnet letztendlich die Resultate, die bei der Verarbeitung bzw. Prozessierung der Produktionsfaktoren entstehen. Bei rein medizinischer Betrachtungsweise wird von Versorgungsendpunkten und Surrogatparametern gesprochen, aus ökonomischer Sicht ist vorrangig das wirtschaftliche Ergebnis von Belang.
Die drei Qualitätsdimensionen sind wechselseitig stark voneinander abhängig und nicht immer eindeutig gegeneinander abgrenzbar. Struktur- und Prozessqualität sowie Prozess- und Ergebnisqualität interagieren in hohem Maße. Eine gute Prozessqualität – im Sinne der Erfüllung eines vorher festgelegten Zielerfüllungsgrades – setzt grundsätzlich eine ausreichend vorhandene Strukturqualität voraus. Umgekehrt gilt die Strukturqualität zwar als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingung für die Prozess- und Ergebnisqualität. Letztere ist als die entscheidende Dimension der Qualitätsbewertung anzusehen, da sie eine zusammenfassende Aussage über die vorhandenen Strukturen und Prozesse ermöglicht und ein Produkt oder eine Dienstleistung anhand ihres Kernerfüllungsauftrags beurteilt. Kurz gesagt, ohne ausreichend gute Struktur- und Prozessqualität ist auch keine „gute“ Ergebnisqualität erzielbar. Jede dieser Qualitätsdimension bedarf einer eigenständigen Ausrichtung und die Auswahl geeigneter Messkriterien zur Qualitätsbestimmung. Die drei Qualitätsdimensionen und die Zuordnung von Indikatoren und Kennzahlen zu jeder einzelnen Qualitätsdimension helfen, den Begriff der Qualität in der Versorgung greifbarer zu machen. Letztendlich sind sie aber auch nur in der Lage, das Problem der Qualität in der Gesundheitsversorgung näher beschreiben, ohne es vollständig lösen zu können (vgl. Haeske-Seeberg 2001).
2.2 Qualitätsmessung Um Strukturen, Prozesse und Ergebnisse im Gesundheitswesen bewerten zu können, bedarf es Messgrößen und Vergleichsparameter, die Bewertungen bzw. Beurteilungen der Qualität ermöglichen. Objektivität bei der Beurteilung kann nur dann gegeben sein, wenn die zu untersuchenden Qualitätsmerkmale messbar und eindeutig sind und deren Messung nach einheitlichen Regeln verläuft (vgl. Mühlenkamp 2005). Im Gesundheitswesen wächst die Bedeutung der Qualitäts-
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messung, um die medizinischen Leistungen und vorhandenen Ressourcen besser nutzen zu können (vgl. Schneider et al. 2003; Mainz 2004). Zur Messung und Bewertung von Qualitätsmerkmalen werden in der Regel so genannte Qualitätsindikatoren herangezogen. Die Bewertung eines Indikators setzt ein Verständnis für lokale Strukturen und Prozesse voraus, die seine Ausprägung determinieren (Kazandjian 1991). Indikatoren sind jedoch nur Hilfsgrößen, welche die Qualität der Messeinheit durch Zahlen indirekt abbilden. Qualität in der Versorgung ist ein komplexes Phänomen, das in der Regel nur durch mehrere Indikatoren abgebildet werden kann. Einzelne Aspekte zeigen immer nur Teilaspekte der Qualität an (vgl. ÄZQ 2001). Grundsätzlich setzt ein Indikator metrische Eigenschaften voraus. Er kann auf verschiedene Art und Weise beschrieben werden: als Rate (Anzahl der Beobachtungen/Definition der Gruppengröße), Proportion (Prozentsatz der Beobachtungen in einer definierten Gesamtheit), Ratio (Beziehungen zweier Proportionen), Mittelwert und absolute Nummern (vgl. Mainz 2003). Die Aussagekraft eines Indikators hängt wiederum von zahlreichen Qualitätsmerkmalen ab (nach Groene 2006):
Wichtigkeit und Nutzen zur Qualitätsverbesserung. Hierbei geht es um die Frage, ob und inwieweit der Indikator in der Lage ist, einen Versorgungsaspekt zu beschreiben, der auch einen ausreichenden Nutzen für die jeweilige Gesundheitsinstitution aufweisen kann. Indikatoren und deren Messung dürfen niemals Selbstzweck sein, sondern sollten Verbesserungspotenziale aufdecken und Qualitätsverbesserungen ermöglichen. Klinische Logik. Die klinische Logik eines Indikators bezieht sich auf die Relevanz des Indikators hinsichtlich der Verbesserung der Versorgungsqualität. Indikatoren sollten aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Lage sein, klinische Endpunkte oder Surrogatparameter zu erfassen, die das Versorgungsgeschehen auch tatsächlich darstellen und beeinflussbar werden lassen. Testtheoretische Eigenschaften. Hierbei wird der Reliabilitäts- und Validitätsaspekt bei der Indikatorauswahl und -interpretation angesprochen. Ein Indikator sollte in der Lage sein, den zu messenden und letztendlich zu steuernden Versorgungsaspekt inhaltlich sachgerecht (valide) und zuverlässig (reliabel) abzubilden. Darüber hinaus müssen neben der Spezifität auch die Aspekte der Sensitivität berücksichtigt werden, also inwieweit der Indikator in der Lage ist, Veränderungen zu erfassen. Durchführbarkeit. Die Durchführbarkeit zielt auf die praktische Handhabung. Indikatoren sollten einerseits eindeutig und klar formulierbar sein, d.h. sich auf einen Versorgungsaspekt beziehen, dem sie eindeutig zuorden-
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bar sind, andererseits sollten die zu erhebenden Daten ohne größeren Aufwand verfügbar bzw. messbar sein, damit sie für einen Routineeinsatz in Frage kommen. In der medizinischen Versorgung wird bei Qualitätsmessungen und beurteilungen von klinischen Messgrößen7 gesprochen, bei dem der Indikator jeweils den Versorgungsaspekt beschreibt, für den Qualitätsinformationen gesammelt und dargestellt werden. Im Rahmen der Qualitätsmessung kann weiterhin zwischen Qualitätsindikatoren und Qualitätskennzahlen unterschieden werden, wobei letztere eine Gliederung der beobachteten Gruppen ermöglichen (vgl. Döbler et al. 2007). Wird als Versorgungsaspekt beispielsweise die Diagnostik eines Patienten mit Verdacht auf eine bestimmte Erkrankung gewählt und als Messkriterium das Erreichen einer bestimmten Diagnostik innerhalb eines Zeitrahmens, so kann ein möglicher Indikator z.B. die Zeit anzeigen, die bis zur endgültigen Diagnosestellung gebraucht wird oder die Anzahl von Patienten, die in einem bestimmten Zeitfenster eine rechtzeitige Diagnostik erfahren haben. Zu einem solchen Qualitätsindikator können dann ein oder mehrere Qualitätskennzahlen gehören, die eine weitere Spezifizierung des Untersuchungsgegenstandes erlauben (z.B. Unterteilung in bestimmte Patientengruppen). Auf diese Weise können Qualitätsmerkmale dargestellt und der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität zugeordnet werden. Eine Qualitätsbeurteilung, also eine Unterscheidung zwischen guter und schlechter Qualität ist jedoch nur möglich, wenn auch Referenzbereiche vorliegen bzw. ausreichend definiert sind, gegen die gemessen werden kann. Fehlen diese, erschöpft sich die Qualitätsdarstellung in ihrer deskriptiven Komponente und Qualitätsbeurteilungen sind nur sehr eingeschränkt möglich.
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3.1 Strukturierter Qualitätsbericht Seit 2005 ist die Veröffentlichung eines strukturierten Qualitätsberichtes für alle Krankenhäuser vorgeschrieben. In Form eines obligaten Leistungsberichts sind 7 Die Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung (ÄZQ) verwendet für die Qualitätsbeurteilung in der medizinischen Versorgung den international gebräuchlichen Begriff „klinische Messgröße“, der einen übergeordneten Versorgungsaspekt beschreibt und absteigend hierarchisch ein Kriterium, einen oder mehrere Indikator(en) und den bzw. die dazugehörigen Referenzbereich(e) beinhaltet (vgl. ÄZQ 2001).
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unter anderem auch der Stand des einrichtungsinternen Qualitätsmanagements und der verpflichtenden externen Qualitätssicherung insbesondere unter Berücksichtigung der eingeleiteten Maßnahmen und der Kriterien für die Qualität der diagnostischen und therapeutischen Leistungen darzustellen. Die formalen Anforderungen an diesen Qualitätsbericht wurden von den Selbstverwaltungspartnern im Gesundheitswesen festgelegt. Die Zielsetzungen der Berichterstattung in Form des strukturierten Qualitätsberichts sind zusammenfassend formuliert:
Information und Entscheidungshilfe für Versicherte und Patienten im Vorfeld einer Krankenhausbehandlung. Ihre Anlaufstellen wären das Internet und die Krankenkassen, die ihre Versicherten bei der Interpretation der Daten und der Auswahl des Krankenhauses beraten. Orientierungshilfe bei der Einweisung und Weiterbetreuung der Patienten insbesondere für Vertragsärzte und Krankenkassen. In Zukunft werden nicht mehr nur persönliche Erfahrungen des einweisenden Arztes das Einweisungsverhalten steuern, sondern die erfolgreiche Kommunikation der vorhandenen Qualitätsparameter. Möglichkeit für die Krankenhäuser der Leistungsdarstellung nach Art, Anzahl und Qualität und Steigerung der Leistungstransparenz nach außen. Qualitätsergebnisse und Qualitätsansprüche des Krankenhauses können somit (eingeschränkt) vergleichbar und nachvollziehbar öffentlich gemacht werden.
Inhalt und Umfang des strukturierten Qualitätsberichts für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser sind in der Vereinbarung gemäß § 137 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 SGB V vom 03.12.2003 zwischen dem Spitzenverbänden der gesetzlichen Krankenkassen, dem Verband der Privaten Krankenversicherung und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) erstmalig festgelegt worden.8 Durch Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vom 17.10.2006 wurde eine Neufassung der Vereinbarung gemäß § 137 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 SGB V einschließlich der Anlage 1 (Inhalt und Ausfüllhinweise) sowie des Anhangs 2 zur Anlage 1 (Auswahllisten) veröffentlicht, womit zahlreiche Inhalte neu geregelt und präzisiert wurden.9 8 Vereinbarung gemäß § 137 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 SGB V über Inhalt und Umfang eines strukturierten Qualitätsberichts für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser vom 03.12.2003 inklusive Anlagen. 9 Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 91 Abs. 7 SGB V zur Neufassung der Vereinbarung gemäß § 137 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 SGB V über Inhalt und Umfang eines strukturierten Qualitätsberichts für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser vom 17.10.2006 inklusive Anlagen.
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Der Qualitätsbericht ist insgesamt eine rückblickende Zusammenstellung der in einem Krankenhaus vorhandenen Bestands- und Leistungsparameter, die sich im Abstand von 2 Jahren jeweils auf das zurückliegende Jahr, das so genannte Berichtsjahr, beschränkt. Der Bericht muss fristgerecht und entsprechend der vereinbarten formalen Vorgaben dem so genannten Empfängerkreis, d.h. den Spitzen- und Landesverbänden der Krankenkassen, den Verbänden der Ersatzkassen, dem Verband der privaten Krankenversicherung, der DKG sowie den Patientenvertretern nach § 140f SGB V zur Verfügung gestellt werden.10 Er muss in elektronischer Form an eine gemeinsame Annahmestelle geliefert werden, die von den Verbänden der Krankenversicherungen eingerichtet wird. Die gemeinsame Annahmestelle übermittelt die Qualitätsberichte der Krankenhäuser bis zum 30. September des maßgeblichen Jahres in unveränderter Form der Geschäftstelle des G-BA, die diese wiederum an den Empfängerkreis weiterleitet. Die elektronische Form wird sowohl in einem nicht-veränderbaren Format (PDF, Portable Document Format) also auch in einem weiterverarbeitbaren Format für die Verwendung in einer Datenbank (XML, Extensible Markup Language) übermittelt. Der Qualitätsbericht ist in der Neufassung von 2006 umfangreich verändert worden. Einerseits ist die Zweiteilung in einen Basis- und Systemteil aufgegeben worden, andererseits ist eine inhaltliche Aufteilung in einen Datenteil („Pflichtteil“) und freien Berichtsteil („Kürteil“) nach wie vor erkennbar ist (vgl. Brechtel/Zöll 2007). Nach einem Teilabschnitt mit Struktur- und Leistungsdaten des gesamten Krankenhauses (Modul A) schließt sich ein Teilabschnitt für die einzelnen Fachabteilungen bzw. Organisationseinheiten (Modul B) an. Dazu gehören unter anderem Angaben zu Betten-, Personal- und Fallzahlen, zu Leistungsspektrum und -schwerpunkten sowie zur apparativen und therapeutischen Ausstattung. Mit der letzten Neuregelung des strukturierten Qualitätsberichts müssen unter anderem DRG-Fallgruppen nicht mehr verpflichtend aufgeführt werden, da diese vorrangig Abrechnungszwecken dienen und in der Vergangenheit häufig Missverständnisse, vor allem bei der freitextlichen Inhaltsbeschreibung hervorgerufen haben. Die Leistungsdarstellung des Krankenhauses wird sich daher statt 10
Eine „fristgerechte Abgabe“ liegt vor, wenn der Qualitätsbericht alle zwei Jahre bis zum 31. August des maßgeblichen Jahres für das Vorjahr (Berichtsjahr) abgegeben wird. Die fristgerechte und den formalen Anforderungen entsprechende Lieferung (so genannte vereinbarungsgemäße Lieferung) des Qualitätsberichts wird den Krankenhäusern schriftlich bestätigt. Erfolgt keine vereinbarungsgemäße Lieferung im oben genannten Sinne, wird die gemeinsame Annahmestelle das Krankenhaus schriftlich über die Mängel informieren. Dem Krankenhaus wird eine Frist von 14 Tagen eingeräumt, die vereinbarungsgemäße Lieferung nachzuholen, um drohende Sanktionen wegen Nichtbeteiligung an Maßnahmen zur Qualitätssicherung bzw. die in § 2 Abs. 3 der Vereinbarung genannte drohende jährliche MDK-Prüfung gemäß § 17c Abs. 2 Krankenhausfinanzierungsgesetz (KHG) bei Nichtlieferung zu verhindern.
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auf DRGs ausschließlich auf Diagnosen- und Prozedurenschlüssen stützen, dies jedoch in erweiterter Form als bisher üblich. Die nachfolgenden Teile wurden gegenüber der Vorversion auf zwei Teilabschnitte reduziert, den Bereich der Qualitätssicherung (Modul C) und des Qualitätsmanagements (Modul D). Im Teilabschnitt C sollen Angaben zur verpflichtenden externen Qualitätssicherung gemacht werden. Hier finden sich auch Angaben zur Umsetzung der Mindestmengenvereinbarung.11 Teilabschnitt D umfasst in erster Linie krankenhausindividuelle Aussagen zum einrichtungsinternen Qualitätsmanagement. Er erlaubt die freie Berichterstattung über Qualitätspolitik, Qualitätsphilosophie, der strategischen und operativen Ziele sowie die Darstellung der Kommunikation der Qualitätspolitik, des Aufbaus und Instrumente des Qualitätsmanagements und dessen Bewertung sowie der durchgeführten Qualitätsmanagementprojekte im Berichtszeitraum. Im strukturierten Qualitätsbericht werden vorrangig Daten zur Strukturqualität (z.B. apparative und personelle Ausstattung, Versorgungsschwerpunkte) verpflichtend abgefragt. Die Darstellung von Daten zur Ergebnisqualität beschränkt sich im Wesentlichen auf die Angabe von Mengenangaben wie Fallzahlen oder abstrakten Leistungsgrößen wie Hauptdiagnosen und durchgeführte Prozeduren. Daten zur Prozessqualität werden im Datenteil des Qualitätsberichts dagegen gar nicht gefordert. Mit der Beschränkung auf wenige Indikatoren zur Strukturqualität und rudimentären Angaben zur Ergebnisqualität wird das geschilderte Qualitätsproblem bzw. die Festlegung konsensfähiger und aussagekräftiger Qualitätsindikatoren im Gesundheitswesen deutlich. Demgegenüber haben die Krankenhäuser bei der freitextlichen Darstellung des einrichtungsinternen Qualitätsmanagements (Modul D) jedoch die Möglichkeit, umfangreich und in „eigenen Worten“ ihre Qualität entlang der drei Qualitätsdimensionen darzustellen. Bislang wurden diese Möglichkeiten viel zu wenig genutzt. Der neu gefasste Abschnitt D (Qualitätsmanagement) bietet eine gute Möglichkeit, in detaillierter Form Strukturen, Prozesse und Ergebnisse des internen Qualitätsmanagements umfangreich darzustellen. Hiermit kommt der Qualitätsberichterstattung auch eine Indikatorfunktion zu, ob in dem Krankenhaus die gesetzlichen Vorgaben des Aufbaus und der Pflege eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements erfüllt werden, auch wenn dies bislang noch in einem sanktionsfreien Rahmen geschieht. Die (teilweise freiwillig) aufzuführenden qualitätsrelevanten Informationen sind: 11
Vereinbarung des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß § 137 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 SGB V für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser (Mindestmengenvereinbarung) zuletzt geändert am geändert am 19. Dezember 2006. Die Vereinbarung regelt die Erlaubnis zur Erbringung planbarer medizinischer Leistungen, bei denen die Qualität des Behandlungsergebnisses in besonderem Maße von der Menge der erbrachten Leistungen abhängig ist.
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Qualitätspolitik. Leitbild (Leitmotto) des Krankenhauses, Vision, Mission, Qualitätsmanagementansatz/-gründsätze mit den Elementen Patientenorientierung, Verantwortung und Führung, Mitarbeiterorientierung und -beteiligung, Wirtschaftlichkeit, Prozessorientierung, Zielorientierung und Flexibilität, Fehlervermeidung und Umgang mit Fehlern, Kontinuierlicher Verbesserungsprozess, Umsetzung / Kommunikation der Qualitätspolitik im Krankenhaus (z.B. Information an Patienten, Mitarbeiter, niedergelassene Ärzte und die interessierte Fachöffentlichkeit). Qualitätsziele. Strategische / operative Ziele, Messung und Evaluation der Zielerreichung, Kommunikation der Ziele und der Zielerreichung. Aufbau eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements. Darstellung der QM-Strukturen (z.B. Organigramm, zentrales Qualitätsmanagement, Stabsstelle, Kommission, Konferenzen, berufsgruppenübergreifende Teams), Einbindung der Strukturen in die Krankenhausleitung, Qualitätsmanagementaufgaben, Vorhandene Ressourcen (personell und zeitlich). Instrumente des Qualitätsmanagements. Interne Auditinstrumente, Beschwerdemanagement, Fehler- und Risikomanagement, Morbiditäts- und Mortalitätsbesprechungen, Patientenbefragungen, Mitarbeiterbefragungen, Einweiserbefragungen, Maßnahmen zur Patienteninformation und -aufklärung, Wartezeitenmanagement, Hygienemanagement. Qualitätsmanagementprojekte. Hintergrund des Problems, Ausmaß des Problems, Zielformulierung, Maßnahmen und deren Umsetzung, Evaluation der Zielerreichung. Bewertung des Qualitätsmanagements. Allgemeine Zertifizierungsmaßnahmen, Krankenhausspezifische Zertifizierungsverfahren, Excellence-Modelle, Peer-Reviews, Interne Selbstbewertungen.
3.2 Externe Qualitätssicherung Externe Qualitätssicherung im Krankenhaussektor bedeutet vergleichende Prüfung von Daten, die nach einem einheitlichen Datenerhebungsverfahren gewonnen werden. Dies wird im Wesentlichen durch zwei Ansätze erreicht: zum einen die Darstellung von qualitätsrelevanten Daten im Rahmen des strukturierten Qualitätsberichts, zum anderem das Verfahren der vergleichenden externen Qualitätssicherung, das administrativ und methodisch auf Bundesebene von der Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung (BQS) betreut wird. Der BQS obliegt die Koordination, Umsetzung und Weiterentwicklung aller auf Bundesebene vertraglich vereinbarter und damit verbindlicher Qualitätssicherungsmaßnahmen
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(vgl. Pilz 2003). Als Ziele der vergleichenden externen Qualitätssicherung haben sich die Partner der Selbstverwaltung auf folgende Punkte geeinigt:
Durch Erkenntnisse über Qualitätsdefizite Versorgungsbereiche systematisch zu identifizieren, für die Qualitätsverbesserungen erforderlich sind. Unterstützung zur systematischen, kontinuierlichen und berufsgruppenübergreifenden einrichtungsinternen Qualitätssicherung (internes Qualitätsmanagement) zu geben. Vergleichbarkeit von Behandlungsergebnissen insbesondere zur folgenden Aspekten die Qualität von Krankenhausleistungen zu sichern: Indikationsstellung für die Leistungserbringung, Angemessenheit der Leistung, Erfüllung der strukturellen und sächlichen Voraussetzungen der Leistungen und Ergebnisqualität.
Im Rahmen der vergleichenden externen Qualitätssicherung stehen für zahlreiche medizinische Leistungsbereiche bundesweit verbindliche Messinstrumente zur Verfügung. Für jeden Leistungsbereich wurden Anforderungen an die Qualität einer Behandlung definiert und Kriterien zum Messen dieser Anforderungen festgelegt. Die Messinstrumente orientieren sich an international entwickelten „Tracer“-Verfahren, das bereits in den 1970er Jahren eine vergleichende Darstellung der Qualität im Gesundheitswesen erlaubte und dessen Konzept auch in Deutschland nachfolgend angewandt wurde (vgl. Kessner 1973; vgl. Mohr 2003). Das ursprüngliche Tracer-Verfahren wurde seit Mitte der 1990er Jahre weiterentwickelt und mit Elementen der Indikator-Methode kombiniert, bei dem anhand von Kennzahlen gemessen wird, in welchem Umfang ein zuvor definiertes Qualitätsziel erreicht wird (ebd.). Auf der ausführenden Ebene im Krankenhaus müssen die Leistungserbringer für jeden Patienten, dessen Behandlung einem dieser Leistungsbereiche entspricht, eine Qualitätssicherungsdokumentation mit den entsprechenden Merkmalen in elektronischer Form ausfüllen. Die Daten müssen bis zu einer landesspezifischen Abgabefrist fehlerfrei an eine zentrale Datenannahmestelle übermittelt werden. Die Nichtteilnahme eines Krankenhauses wird von den Krankenkassen zum Teil mit erheblichen Sanktionszahlungen geahndet. Vergleichende externe Qualitätssicherung folgt insgesamt jedoch in hohem Maße dem Prinzip „garbage in, garbage out“. Dies bedeutet, dass nur Auswertungen, die auf einer guten Datenbasis beruhen, in der Lage sind, gute Ergebnisse zu produzieren. Die Qualität der Qualitätssicherung hängt damit entscheidend von der Qualität der erfassten Daten ab. Damit richtet sich der Fokus zunächst auf die Mitarbeiter vor Ort, die sich zusätzlich zu ihren täglichen Routineaufgaben inhaltlich und technisch mit der Leistungserfassung auseinandersetzen und
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diese sachgerecht bewerkstelligen müssen, aber auch auf informationstechnischen Anforderungen der Datenerfassung und -übermittlung. Die Daten, welche die Krankenhäuser liefern, werden auf Landesebene zusammengestellt und getrennt nach Leistungsbereichen nach einem bundesweit einheitlichen Verfahren ausgewertet. Aus dieser Auswertung erhält das Daten liefernde Krankenhaus zur internen Nutzung einen Ergebnisbericht. Der Bericht enthält neben den statistischen Tabellen auch graphische Darstellungen zu den einzelnen Qualitätsindikatoren. Mit dieser Rückspiegelung der Ergebniszahlen wird eine aktive Nutzung im Sinne einer internen Auseinandersetzung im Vergleich mit den Wettbewerbern erwartet, wenngleich letztere anonymisiert präsentiert werden. Auf Bundesebene werden die Ergebnisse aller Leistungsbereiche zusammengeführt und übergreifend ausgewertet. Hierbei werden vor allem medizinische und pflegerische Leistungen in operativen und interventionellen Fachgebieten, bislang aber nicht in konservativen Fächern betrachtet. Daher ist davon auszugehen, dass die Qualitätsmessung und -darstellung nicht repräsentativ für das Versorgungsgeschehen in deutschen Krankenhäusern ist, sondern nur Teilbereiche beleuchtet.
3.3 Vergleiche von Routinedaten Weitere Möglichkeiten zur Qualitätsüberprüfung ergeben sich aus der Nutzung von Sekundärdaten, resp. Routinedaten im Gesundheitswesen, wie beispielsweise die im Rahmen der Fallabrechnung sehr differenziert übermittelten Leistungsdaten der Krankenhäuser. Routinedaten stehen unter anderem den Krankenkassen aus stationären Abrechnungsvorgängen, den Apothekenrechenzentren aus Verordnungsdaten, den Kassenärztlichen Vereinigungen aus der ambulanten Versorgung ebenso wie der Selbstverwaltung aus der Entwicklung und Pflege des DRG-Fallpauschalensystems zur Verfügung. Unter den eingangs beschriebenen DRG-Bedingungen hat die Dokumentationsqualität in den Krankenhäusern erheblich zugenommen, so dass neben den Stammdaten und anderen aufenthaltspezifischen Charakteristika Diagnosen und Leistungen im hohen Differenzierungsgrad zur Verfügung stehen. Da Komorbiditäten und Komplikationen ausdrückende Nebendiagnosen wegen ihres Einflusses auf die DRG-Vergütung umfassend dokumentiert werden, steht ein umfangreicher Datenpool zur Verfügung, der zur Messung und Vergleichsanalyse der Qualität herangezogen werden kann. Über die fallindividuelle Datenübertragung hinaus stehen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und der Deutschen Krankenhausgesellschaft sämtliche Krankenhausaufenthalte pro Versicherten für Qualitätsanalysen datentechnisch zur Verfügung, unabhängig davon, ob diese Aufenthalte im selben Kran-
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kenhaus oder in verschiedenen Krankenhäusern stattgefunden haben. ReOperationen, Wiederaufnahmen, Mehrfachbehandlungen etc. können vergleichend analysiert werden, um die Qualität verschiedener Leistungserbringer bzw. Krankenhäuser im Vergleich darzustellen. Die Verwendung von Routinedaten hat in den letzten Jahren stetig zugenommen und ihren Beitrag zur Versorgungsforschung geleistet. Die Ergebnisse des zurzeit umfassendsten Projekts, das von Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) in Kooperation mit den Helios-Kliniken durchgeführt wurde, wurden kürzlich vorgestellt (vgl. AOK Abschlussbericht). Ein ähnliches Projekt wurde vom Clinotel-Krankenhausverbund vorgestellt (Becker et al. 2005). Die Vorteile solcher Daten liegen in ihrer kostengünstigen und schnellen Verfügbarkeit, ihrer Aktualität, ihrer leistungserbringerübergreifenden Perspektive und in ihrer Möglichkeit längsschnittorientierter Untersuchungen (vgl. Swart/Ihle 2005). Methodisch ist hervorzuheben, dass mit Routinedaten nahezu hundertprozentige Beteiligungsraten möglich sind, so dass die Repräsentativität nicht von einer Teilnahmefreiwilligkeit und vom Einverständnis der zugrunde liegenden Individuen abhängig ist (vgl. Pigeot et al. 2006). Häufig existiert jedoch ein hoher Anteil von fehlenden Werten, da bei der Erhebung der Primärdaten häufig nicht sämtliche erhobene Daten für die weiterverarbeitenden Stellen von Interesse sind, z.B. bei Abrechnungsdaten (ebd.). Ebenso ist die Validität der erhobenen Daten abhängig von der Güte und Systematik des Kodiervorgangs in den einzelnen Krankenhäusern (vgl. Zorn 2007). Die bisherige Nutzung von Routinedaten ist insgesamt nur selten methodisch einheitlich und nur zum Teil systematisch.
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Limitationen und Implikationen
4.1 Methodische Limitationen Qualitätsindikatoren lassen niemals eine absolute Aussage über die Qualität eines Versorgungsbereichs zu, sondern sind als Hilfsgrößen der Qualitätsdarstellung in der Lage, Leistungen und Defizite eines Versorgungsbereichs aufzeigen. Im Rahmen des BQS-Verfahrens (vergleichende externe Qualitätssicherung) wird sehr viel wert auf Präzision und Vorhersagbarkeit gelegt. Die Frage nach der Ausgewogenheit eines Indikatorensets bzw. die zentrale Frage nach dem praktikablen Nutzen und der vollständigen Abdeckung eines Versorgungsbereichs wird dagegen nicht gestellt (Lack/Schneider 2005). Beim externen Gebrauch von Qualitätsindikatoren ist aus methodischer Sicht eine Risikoadjustierung zwingend notwendig. Sie dient dazu, Unterschiede im Patientenspektrum verschiedener Leistungsanbieter auszugleichen (Siebers et
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al. 2007b). Unterschiedliche Krankenhäuser haben unterschiedliche Risiken zu versorgen, z.B. aufgrund unterschiedlicher Versorgungsstufen, des regionalen Versorgungsgebietes oder des angebotenen Leistungsmixes. Dennoch hinterlässt auch eine umfassende Risikoadjustierung unerklärte Residualvariationen, der den Nutzen für den Krankenhausvergleich enorm einschränken. Der Nutzen eines Indikators ist dabei in hohem Maße durch seine Variabiliät und Sensibilität, statistische Outlier zu identifizieren, bestimmt (Groene 2006). Eine Gefahr, die sich unmittelbar aus der Veröffentlichung von Qualitätsindikatoren ergibt, ist die, dass Nutzer und andere Akteure durch fehlerhaft interpretierte Daten verunsichert werden oder falsche Schlussfolgerungen ziehen. Die Adressaten solcher Vergleiche werden die Methodik nicht hinterfragen, sondern sich ausschließlich an den Ergebnissen (Ranking) orientieren. Durch eine nicht oder nur unzureichend risikoadjustierte Letalitätsstatistik kann es unter anderem schnell zu einer Stigmatisierung einer Klinik kommen (vgl. Siebers 2005). Gerade in diesem sehr sensiblen Bereich können einmal entstandene Eindrücke nachhaltig eine fehlergeleitete Steuerungswirkung entfalten. Dennoch soll nicht die Angst vor Fehlinterpretationen geschürt werden. Den perfekten Indikator wird es niemals geben, dadurch wird die Qualitätsmessung aber nicht automatisch wertlos. Jeder Indikator ist als Aufgreifkriterium im Sinne multipler und wiederholter Auffälligkeiten geeignet, in einem nachfolgenden Dialog zur Klärung offener Fragen beizutragen. Je stärker jedoch eine expertokratische Verwissenschaftlichung der Indikatoreninterpretation einsetzt und damit eine Abkehr vom eigentlichen Adressaten der Qualitätsdarstellung, nämlich dem Patienten, erfolgt, desto geringer ist die Chance, Erkenntnisse durch Qualitätsmessungen für den internen (institutionelle Managementfunktion) und den externen (systemweite Steuerungsfunktion) Gebrauch sinnvoll zu verwerten. Eine sinnvolle Verwertung liegt vor allem in der Einbettung in eine systemweite Gesamtkoordination sämtlicher Qualitätssicherungsmaßnahmen. Aufgrund der hohen Variabilität bei der Indikatoren- und Kennzahlenauswahl in fakultativen Leistungsberichten - gleiche Parameter messen unterschiedliche Versorgungsaspekte und ein und derselbe Versorgungsaspekt wird mit unterschiedlichen Parametern gemessen - wäre auf Ebene des Gesundheitssystems ein zentrales Register für Qualitätsindikatoren und -kennzahlen zu fordern (vgl. Döber et al. 2007). Ein solches Register könnte eine Art „Warenhaus“ für validierte und eindeutig definierte Messgrößen bieten, in das praktische Erkenntnisse von den Leistungserbringern gleichsam einfließen wie wissenschaftlicher Sachverstand (vgl. McGlynn 2003).
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4.2 Nutzerseitige Limitationen Offen bleibt, ob die zahlreichen Maßnahmen zur Transparenz- und Qualitätssteigerung im Gesundheitswesen, insbesondere die strukturierten Qualitätsberichte der Krankenhäuser, überhaupt bei ihrer wichtigsten Zielgruppe, den Nutzern von Gesundheitsdienstleistungen, ankommen. Die jüngsten Entwicklungen bzw. die Neugestaltung des Qualitätsberichts zeigen, dass es durchaus gelingen kann, durch eine vereinfachte Struktur und stärker ergebnisorientierte Leistungsbeschreibung sich konsequenter auf die zentrale Zielgruppe der Nutzer auszurichten. Die in den derzeitigen strukturierten Qualitätsberichten enthaltenen Daten lassen jedoch nur sehr eingeschränkt Rückschlüsse auf die tatsächliche Qualität medizinischer Leistungen zu. Die Vorgaben der Selbstverwaltung für diese Form der obligaten Leistungsberichte enthalten jenseits der Qualitätskennzahlen im Rahmen der verpflichtenden externen Qualitätssicherung (BQS-Verfahren) keine echten Parameter der krankenhausinternen Prozess- und Ergebnisqualität. Positiv zu werten ist, dass aber bereits nach kurzer Anlaufzeit von einem Viertel der Krankenhäuser die Chance der freiwilligen Veröffentlichung von Prozess- und Ergebnisqualitätsparametern genutzt wurde (Döbler et al. 2007). Kritisch muss bei fakultativen Datenberichten jedoch die Frage gestellt werden, ob nur dann freiwillig Qualitätsindikatoren veröffentlicht werden, wenn diese besonders gute Ergebnisse zeigen. Auch macht die Tatsache, dass nach individuellen und nicht objektiven Selektionskriterien nur aus bestimmten Leistungsbereichen berichtet wurde, einen Qualitätsvergleich zwischen Krankenhäusern faktisch unmöglich (ebd.). Daher lässt sich zusammenfassend feststellen, dass zunehmend Leistungsund Qualitätsdaten zur medizinischen Leistungserbringung im deutschen Gesundheitswesen zur Verfügung stehen, deren Reliabilität und Validität aber aufgrund unterschiedlicher methodischer Schwächen bislang noch nicht ausreichend ist, um die angestrebte Stärkung der Nutzerkompetenz und Leistungstransparenz zu verwirklichen. Zu berücksichtigen ist auch, dass es bei Einhaltung der gestellten Anforderungen an die Veröffentlichung von qualitätsrelevanten Kennzahlen zum Versorgungsgeschehen selbst für gut informierte Patienten äußerst schwierig ist, eine Unterscheidung zwischen Werbung und objektiver Information vornehmen zu können (vgl. Sänger et al. 2002). Darüber hinaus haben Untersuchungen auch gezeigt, dass selbst bei einer verfügbaren und diskriminierbaren Datenlage Patienten die vorhandenen Informationen gar nicht nutzen bzw. letztendlich keine Auswahlentscheidungen zwischen Leistungsanbietern getroffen werden (Chassin et al. 1996). Dies gilt interessanterweise auch für deren Vertreter bzw. für zuoder einweisende Leistungsanbieter im Gesundheitswesen (Schneider/Liberman 2001; Marshall et al. 2002). Die Veröffentlichung von Letalitätsraten im Rahmen
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von Bypass-Operationen führte in einer Studie beispielsweise nicht zu einer Veränderung der Patientenzahlen in den teilnehmenden Kliniken, obwohl diese äußerst unterschiedliche Letalitätszahlen aufwiesen (vgl. Siebers 2005). In Deutschland wird als Informationsquelle nach wie vor dem Hausarzt und seiner Empfehlung die stärkster Bedeutung von Patientenseite aus zugewiesen. Die Nutzung des Internets zum Vergleich von Leistungszahlen ist dagegen verschwindend gering (Streuf et al. 2007). Qualitätsberichterstattung hat in vielen Ländern, vor allem im angloamerikanischen Raum, eine weitaus längere Tradition als in Deutschland. Zahlreiche Initiativen aus den USA haben ganze Sets von Indikatoren entwickelt und zusammengestellt, so genannte „report cards“, mit denen mehr oder weniger freiwillig teilnehmende Krankenhäuser sich vergleichen können, z.B. im Rahmen des Programms „Hospital Quality Alliance: Improving Care Through Information“. Gegenwärtig besteht aber trotz der zahlreichen internationalen Erfahren nur sehr wenig Evidenz hinsichtlich der Wirksamkeit von Qualitätsvergleichen bzw. der gestellten Erwartung, dass informierte und kompetente Nutzer von Gesundheitsdienstleistungen anhand von Leistungs- und Qualitätsdatenvergleichen jene Anbieter stärken, die eine den Daten nach vermeintlich bessere Qualität anbieten oder diese von den Anbietern direkt verlangen (vgl. Marshall/Romano 2005). Bei der direkten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sind Patienten auch nur sehr eingeschränkt bis gar nicht in der Lage, deren Qualität zu bewerten, eher noch die der begleitenden (sekundären) Qualitätsaspekte (vgl. Rubin 1990; Ruprecht 2001), wobei die methodische Qualität des Befragungsdesigns von immenser Wichtigkeit für die Aussagekraft der Ergebnisse ist (vgl. Hensen 2007). Die Forschung zu diesem Thema hat gezeigt, dass die Erwartungen und Bedürfnisse kranker Menschen länder- und systemübergreifend vergleichbar sind. Dennoch wird bei der Frage, was Patienten als wichtig im Hinblick auf ihre Behandlung erachten, häufig angenommen, dass diese sich mehr für Service- und Komfortaspekte interessieren, als für die Qualität der medizinischen Versorgung (vgl. Flieger 2006). In Untersuchungen werden auch Aspekte der Hygiene beispielsweise als besonders wichtig erachtet (Hensen et al. 2006). Dies kann zum einen darauf zurückgeführt werden, dass eine qualitativ hochwertige ärztliche und pflegerische Versorgung grundsätzlich von den Patienten vorausgesetzt wird (vgl. Born 2001). Andererseits können Parameter wie der Service oder die Hygiene auch als Ersatzkriterien für Bereiche dienen, die sich einer objektiven Bewertung durch den Patienten entziehen und für diesen eigentliche Bedeutung haben. Sie nehmen damit die Rolle von Surrogatparametern ein, die für den Nutzer greifbar sind, ohne dabei zu berücksichtigen, dass zahlreiche Aspekte dieser so genannten sekundären Qualitätsdimensionen ebenfalls auch nur sehr bedingt aus Patientensicht valide beurteilbar sind, z.B. wenn vom opti-
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schen Zustand der sanitären Einrichtungen oder baulichen Ausstattungsmerkmalen auf das Ausmaß hygienischer Bedingungen fälschlicherweise geschlussfolgert wird.
4.3 Strukturelle und funktionale Limitationen Bei Betrachtung der Vielzahl an Maßnahmen zur Qualitätssicherung im Gesundheitswesen, insbesondere die Instrumente zur Darlegung von Struktur-, Prozess-, und Ergebnisdaten im Rahmen der Qualitätsberichterstattung, die in den letzten Jahren verpflichtend eingeführt bzw. freiwillig genutzt werden können, verwundert es, warum trotz der Vielzahl dieser Maßnahmen und Instrumente bisher nicht der gewünschte Qualitätsschub im deutschen Gesundheitswesen zu verzeichnen ist. Dies liegt einerseits an den unterschiedlichen Zielsetzungen, die jeweils mit den Instrumenten erreicht werden sollen, andererseits aber auch daran, dass die Instrumente nur sehr eingeschränkt in der Lage sind, diese Ziele in ihrer isolierten Wirkungsrichtung zu verwirklichen. Neben den methodischen und adressatengerechten Limitationen erschweren auch strukturelle und funktionale Hürden im Gesundheitswesen die gewünschte Qualitätsentwicklung. Qualität wird als Zielgröße deklariert, ohne dass übereinstimmende Festlegungen zu deren Inhalt erfolgen. Der strukturierte Qualitätsbericht stellt sich in seiner jetzigen Form als Mengenbericht dar, der Struktur- und Leistungsdaten von Krankenhäusern präsentiert, aber keinerlei Angaben über die Behandlungsergebnisse macht (Leber 2004). Die in dem Bericht enthaltenen Daten waren bis zur aktuellen Neuregelung allein auf die Teilnahmedaten bzw. Ausfüllquoten beschränkt gewesen. Erst mit der Aktualisierung 2007 werden BQS-Daten, also Ergebnisdaten der vergleichenden externen Qualitätssicherung, auch inhaltlich in die Darstellung mit aufgenommen.12 Dies kommt einer bundesweiten Veröffentlichung gleich, wobei die Krankenhäuser gleichzeitig die Möglichkeit haben werden, die verpflichtend anzugebenden Qualitätsindikatoren entsprechend zu kommentieren und die fakultativen nicht zu veröffentlichen (vgl. Siebers et al. 2007a; Streuf/Selbmann 2007). Die Anforderungen an die Entwicklung und Pflege eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagement an sämtliche medizinische Leistungserbringer vom Vertragsarzt, über das Krankenhaus bis hin zur Reha-Einrichtung, verfolgen das gewünschte Ziel, Qualität nicht mehr dem Zufall zu überlassen, sondern diese besser planbar, lenkbar und steuerbar zu ma12 Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine Änderung der Vereinbarung gemäß § 137 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 SGB V über Inhalt und Umfang eines strukturierten Qualitätsberichts für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser [Darstellung der Ergebnisse des BQS-Verfahrens] vom 10. Mai 2007.
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chen bzw. die Qualitätsverbesserung zu systematisieren. Ähnlich dem produzierenden Industriesektor soll die Erfüllung von Qualitätsanforderungen Marktsteuerung und Preisbildung bewirken. Die Qualitätsmanagementanforderungen im produzierenden Industriesektor und in der Gesundheitsversorgung unterscheiden sich jedoch bereits in ihrem Ansatz. Bei der Produktion von Kraftfahrzeugen beispielsweise werden umfangreiche Anforderungen an die Produktbeschaffenheit gestellt, ohne deren Erfüllung eine Inbetriebnahme der Produkte und letztendlich wirtschaftliches Handeln auf Seiten des Herstellers nicht möglich wäre. Mit welchen Verfahren und mit welchem Nachweis diese Anforderungen erfüllt werden, bleibt den Herstellern selbst überlassen. Es gibt keine gesetzliche Verpflichtung, die Hersteller zum Qualitätsmanagement bei der Produktion von Kraftfahrzeugen verpflichtet. Es werden lediglich Ansprüche an die (Ergebnis-)Qualität des Produkts gestellt. Entsprechend gegensätzlich präsentiert sich die Situation im Gesundheitswesen. Einerseits werden zwar zahlreiche Qualitätssicherungsmaßnahmen von den Leistungserbringern eingefordert (z.B. internes Qualitätsmanagement, externe Qualitätssicherung), andererseits gibt es in punkto Ergebnisqualität kaum einheitliche Zielgrößen oder einvernehmliche Referenzen, die eine objektive Qualitätsbeurteilung durch die Leistungsempfänger oder Dritte zulassen. Anforderungen an die Strukturqualität (z.B. Aus- und Weiterbildung der Ärzte) oder Prozessqualität (z.B. Operationstechniken) sind zwar durchaus vorhanden, es sind jedoch ausschließlich die Parameter der Ergebnisqualität, die für den Patienten bzw. den Nutzer von Gesundheitsdienstleistungen wirkliche Bedeutung haben. Gelingt es trotz des großen Aufwandes und der methodischen Hürden verwertbare (Vergleichs-)Daten zur Qualität in der Gesundheitsversorgung zu sammeln, ist die Frage der Verwertung gänzlich ungeklärt. Vergleichbar mit anderen Teilbereichen der Versorgung, beispielsweise bei der Entwicklung von medizinischen Leitlinien, reicht die vorhandene Kenntnis oft nicht für Implikationen und Implementierungsstrategien, sei es auf Ebene des Gesundheitswesens oder innerhalb von Gesundheitsinstitutionen, aus. Dies mag daran liegen, dass die zurzeit vorliegenden Daten nicht genügend die gewünschten Aspekte der Versorgungsqualität adressieren. Andererseits fehlen klare Vorgaben, wie mit den veröffentlichen Qualitätsdaten zu verfahren ist. Die BQS sammelt und wertet mit hohem Aufwand und Sachverstand zahlreiche Indikatordaten zu den unterschiedlichsten Versorgungsaspekten aus. Sie spiegelte diese in der Vergangenheit jedoch nur in anonymisierter Form den Leistungserbringern wider. Mit Beschluss des G-BA im Jahr 2007 wurde erstmals festgelegt, dass die Ergebnisse der Bundesauswertung der externen stationären Qualitätssicherung 2006 zu veröffentli-
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chen sind.13 Leider fehlen strukturelle oder funktionelle Vorgaben oder auch Vorschläge, wie mit den gewonnenen Informationen auf System- und auf lokaler Ebene zu verfahren ist. Bislang enden die Qualitätsbemühungen noch auf der Stufe der Qualitätsdarstellung ohne sichtbare Implikationen für die Versorgungspraxis. Die BQS wird hier nicht aktiv, da sie für derartige Bemühungen weder Auftrag noch Mittel hat. Vielmehr müssten auf Selbstverwaltungsebene Bestrebungen erwachsen, die zahlreichen Qualitätssicherungsbemühungen miteinander zu verzahnen. Qualitätsmessungen und -darlegungen müssen Teile eines geschlossenen Regelkreises sein, in dem auch eine Umsetzung in medizinische Leistungen und eine Überprüfung derselben auf Konformität mit den Anforderungen zu erfolgen hat und in dem gegebenenfalls eine Korrektur von Abweichungen möglich ist. Grundvoraussetzung dafür ist, dass die mit den Qualitätsmessungen beabsichtigte Nutzerorientierung als Teil einer umfassenden Qualitätsphilosophie im Gesundheitswesen verstanden und gelebt wird. Bei der Systemkoordination ist ein Zusammenwirken aller beteiligter Organisationen zu fordern, damit das komplexe Zusammenspiel von Vorgaben und den verschiedenen Interessenpartnern im Gesundheitssystem funktioniert und nicht isoliert Partikularziele und -interessen in den Vordergrund rücken. Vor einem solchen Hintergrund werden Qualitätsmessungen zu Elementen von geschlossenen Regelkreisen, deren Regelgröße die Qualität der angebotenen Gesundheitsdienstleistung darstellt. Entscheidende Rahmenbedingungen hierfür sind Transparenzbereitschaft auf allen Ebene, Klarheit über Zweck und Charakter der Qualitätsmessung und -darstellung und letztendlich der qualifizierter und offene Umgang mit den Ergebnissen.
4.4 Schlussbetrachtung Qualitätsberichterstattung ist ein dynamischer und mehrdimensionaler Prozess. Der strukturierte Qualitätsbericht der Krankenhäuser, die externe Qualitätssicherung und die Anforderungen an die Einrichtungen eines internen Qualitätsmanagements sind zunächst erst einmal nur Einzelkomponenten eines umfangreichen Versuchs, medizinische Behandlungsqualität zu messen und sichtbar zu machen. Der Aufwand, der für diese Maßnahmen notwendig ist, wird nicht zuletzt von den Berufsgruppen im Gesundheitswesen, die unmittelbar mit den damit verbundenen Dokumentationspflichten konfrontiert sind, zunehmend kritisch hinterfragt (Leber 2004). Vor diesem Hintergrund erscheint der systematische Vergleich von bestehenden Routinedaten, die ohnehin von den Krankenhäusern im Rah13
Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses zur Veröffentlichung der Bundesauswertung der Externen stationären Qualitätssicherung 2006 vom 21. Juni 2007.
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men der Abrechung oder der verpflichtenden Datenlieferung nach § 21 SGB V vorliegen, als die größere Perspektive bei der Qualitätsdarstellung zu sein. In diesen Datenformaten liegen bereits zahlreiche Informationen vor, z.B. Sterblichkeiten oder Revisionshäufigkeit, ohne dass diese zusätzlich mit erfasst werden müssen. Hinsichtlich der Vollständigkeit und Korrektheit der medizinischen Kodierung muss kritisch hinterfragt werden, ob in die verschlüsselten Datensätze sämtliche Behandlungsdiagnosen vollständig einfließen, vor allem wenn aus medikojuristischer Sicht Konsequenzen erwartet werden könnten (z.B. Vermeidung der Kodierung von Dekubitalulzera). Ferner ist bei der Verwendung von Routinedaten zu berücksichtigen, dass Schlussfolgerungen aus darstellbaren Zusammenhängen einer strengen Validierung unterzogen werden müssen. So werden Wiederaufnahmeraten häufig unter der Annahme, dass eine vermeintlich schlechte Erstversorgung zu höheren Wiederaufnahmen in dasselbe Krankenhaus führt, als Qualitätsmaßstab diskutiert. Studien hierzu haben aber nur lose bzw. schwache Zusammenhänge zwischen Wiederaufnahmerisiko und Qualität der vorangegangenen Behandlung aufdecken können (Weissman 1999; vgl. Swart 2005). Insgesamt stellt sich die aktuelle Situation so dar, dass trotz eines zentralen Bekenntnisses zu mehr Nutzerorientierung eine primär institutionelle Orientierung in der Organisationsgestaltung, der zunehmende Kostendruck im gesamten Gesundheitssystem und die Starrheit sektoraler Versorgungsgrenzen und Vergütungsfehlanreize einer echten Nutzerorientierung immer noch zuwider laufen. Die hier dargestellten Instrumente sind insgesamt nur als einige von zahlreichen Möglichkeiten anzusehen, im Rahmen von Steuerungsmaßnahmen die Nutzerund Patientenperspektive besser zu berücksichtigen. Qualitätsberichterstattung beschränkt sich gegenwärtig in weitem Maße noch auf die Darstellung institutsbezogener Qualitätsaussagen oder den Vergleich administrativer Daten. Gerade die Heranziehung administrativer Daten für einen Qualitätsvergleich zwischen verschiedenen Leistungsanbietern ist zum jetzigen Zeitpunkt aber noch mit Fehlern und großen Untersicherheiten behaftet. Die Probleme liegen nicht nur in der Datengenerierung, sondern vor allem in der Ableitung qualitätsrelevanter Aussagen. Der mit der DRG-Einführung geforderten Verschlüsselung von Patienteninformation kommt eine wichtige Rolle bei der Qualitätssicherung, aber auch bei Fragestellungen der Versorgungsforschung zu. Die Erstellung von verwertbaren Behandlungsinformationen ist allerdings nicht nur an die Aussagekraft der jeweils gültigen Klassifikationssysteme geknüpft. Die Leistungen müssen sachgerecht und vollständig kodiert, die Daten durchgängig verarbeitet und auf ihre Plausibilität überprüft werden (vgl. Drösler 2004). Dabei stehen noch nicht viele Parameter zur Verfügung, die wiederum die Datenqualität zuverlässig messen und eine externe Nachprüfbarkeit gewährleis-
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ten. Aus den umfangreichen Datenmengen, die dabei zur Verfügung stehen, können momentan nur vereinzelt differenzierte Behandlungs- und Ergebnisinformationen abgeleitet werden. In Zukunft wird es darauf ankommen, keine Datenfriedhöfe zu produzieren, sondern - die Richtigkeit und Vollständigkeit der Daten vorausgesetzt - aussagefähige und inhaltlich verwertbare Indikatoren für die medizinische Versorgungs- und Behandlungsqualität zu entwickeln. Qualitätsberichterstattung ist nicht nur Darstellung, Qualitätsberichterstattung will auch Veränderung. Grundsätzlich gilt, dass je geringer die methodischen Anforderungen und je schwächer die Einbindung in eine ebenenübergreifende Qualitätsphilosophie ausfallen, desto niedriger müssen auch die Erwartungen an die Wirksamkeit dieser Instrumente ausfallen. Neben der Entwicklung und Pflege von anwendbaren, validen und verständlichen Qualitätsindikatoren, muss das Hauptforschungsinteresse künftig bei den Implikationen und den zu vollziehenden Transferleistungen zur Schaffung patientengerechter und qualitätsorientierter Versorgungs- und Dienstleistungsstrukturen liegen.
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Was heißt, worauf zielt Prävention?
In der Biomedizin und den Gesundheitswissenschaften versteht man unter Prävention die Gesamtheit aller Maßnahmen, die eine gesundheitliche Schädigung gezielt verhindern, weniger wahrscheinlich machen oder ihren Eintritt verzögern. Präventive Eingriffe sollen das Risiko des Neuauftretens von Krankheiten, von Behinderungen oder eines vorzeitigen Todes senken, und sie sollen dazu beitragen, Selbständigkeit im fortschreitenden Alter möglichst lang zu erhalten. Ansatzpunkt und Bezug ist eine medizinisch oder psychiatrisch definierte, intersubjektiv diagnostizierbare Gesundheitsstörung bzw. deren operationalisierbare Vorläufer. Laaser und Hurrelmann sprechen dezidiert von „Krankheitsprävention“ (1998: 395ff.). Auch das Grundlagenwerk „Public Health“ definiert Prävention als zielgerichtete Vermeidung von Krankheiten (Walter/Schwartz 2003: 189ff.). Lebens- und Gesundheitsrisiken sind niemals sämtlich vermeidbar. Präventive Interventionen beruhen auf Vorannahmen und Selektionsentscheidungen: Art und Ausmaß der Risiken und Krankheiten, bei denen eingegriffen wird oder werden soll, zeigen an, welche sozialen Interessen, kulturellen Deutungen und professionellen Machtpositionen im aktuellen Gesundheitsdiskurs vorherrschen. Jede Risikobewertung, jede Risikokommunikation legt unterschiedliche Grundüberlegungen (und Machtverhältnisse bzw. -konflikte) zu Gesundheit und Krankheit offen. Wie die ihnen angeklammerten Kategorien von Risiko, Körper und Lebensweise sind Gesundheit und Prävention historisch wandelbar (Erben et al. 1986; Homfeldt 1999; Stöckel/Walter 2002). Ihre jeweilige kulturelle Gestalt gibt Auskunft über die herrschenden Körperpolitiken und die darin eingekapselten ethischen und pragmatischen Deutungen und Wertungen. Sozialwissenschaftliche und systemische Autoren stellen besonders auf die strukturelle Paradoxie ab, die Prävention eigen ist: etwas nicht Bestehendes verhindern zu wollen, damit in einer „paradoxen Zuvorkommenheit“ (Fuchs 2007) zu operieren (vgl. auch Freund/Lindner 2001; Hafen 2005). Präventive Eingriffe
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beruhen auf der Institutionalisierung sozialer Prozesse, aus denen die Handelnden im System zukünftig (Wohl- oder Fehl-)Verhalten ableiten. Grundlage dieses Interaktionstypus sind Selektionsentscheidungen über Wünschenswertes, gespeist aus fremd bestimmten, normativen Prämissen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gilt für Deutschland und Mitteleuropa, dass Prävention – ideologisch, professionell und organisatorisch – maßgeblich mit Risikoabwehr im gesundheitlichen Bereich von Gesellschaft und gesellschaftlichen Gruppen verbunden wird (Walter/Stöckel 2002). Gegenstand und Gegenstandsbereiche des organisierten Handelns im Gesundheitswesen werden durch das so genannte gesundheitliche Problempanorama abgesteckt. Zwei epidemiologische Großtrends bilden derzeit die Eckpunkte, gleichermaßen für Kuration und Pflege wie für die Prävention:
„Dominanz chronischer, medizinisch nicht heilbarer, aber grundsätzlich vermeidbarer Erkrankungen bei steigender Lebenserwartung, sozial bedingt ungleiche Verteilung der kontinuierlich anfallenden Gesundheitsgewinne aufgrund ungleicher Verteilung von Gesundheitsbelastungen und Gesundheitsressourcen“ (Rosenbrock/Gerlinger 2004: 57).
Die anfänglich kaum zu erschütternde Dominanz der medizinischen Erklärungsund Veränderungsmodelle (pathogenetisch-naturwissenschaftliches PräventionsParadigma) wird mittlerweile bedrängt von einem bio-psycho-sozial-ökologischen (auch: „salutogenetischen“) Erklärungs- und Handlungsmodell der Gesundheit, ihrer Erhaltung und Förderung. Dennoch ist weiterhin von einer hegemonialen, in Strukturen einzementierten Deutungsmacht der Biomedizin in der nosologischen (krankheitsbezogenen) Prävention auszugehen. Rapide biotechnologische Fortschritte rücken seit dem Ausgang der 1990er Jahre die prädiktive Medizin mit der neuartigen Möglichkeit genetischer Diagnostik und Selektion in den Vordergrund. Hieran koppeln Labisch (2001) und Paul (2003) das Szenario einer künftigen „Genetisierung“ der Lebens- und Gesundheitsgeschichte. Der heutige Fokus auf verhaltens- und verhältnispräventive Früherkennung und Frühbehandlung könnte bald abgelöst werden von einer Welle des detektivischen Lesens im Erbguts, der Suche nach vermeintlich riskanten Genotypen und Biomarkern. Es ist vorstellbar, dass die bisher präventionsleitende Orientierung auf Verhalten und Lebensweisen (in Lebenslagen) in naher Zukunft verkürzt würde auf klinische Genomik und „individualisierte Medizin“ mit molekularen Therapeutika: eine in Tendenz hermetische Kette von Diagnose, Prognose und Frühbehandlung von genetischen Dispositionen für polygene Krankheiten. Folgen wären eine Verlagerung von Beratung und Früherkennung in genetische Detektion und prekäre Voraussage.
Prävention im Gesundheitswesen 2
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Ordnungsversuche, Systematiken und Abgrenzungen
2.1 Das triadische Strukturmodell Orientierend und handlungsleitend für die gegenwärtige Prävention im Kontext von Biomedizin, Psychiatrie und Gesundheitspolitik ist das triadische Strukturmodell aus primärer, sekundärer und tertiärer Prävention. Ziele und Maßnahmen sind aus dem zeitlichen Ansatz im Krankheitsverlauf abgeleitet: „Prävention bezeichnet alle Interventionshandlungen, die sich auf Risikogruppen mit klar erwartbaren, erkennbaren oder bereits im Ansatz eingetretenen Anzeichen von Störungen und Krankheiten richten. Die Interventionshandlungen lassen sich je nach dem Zeitpunkt des Eingriffs in einer Abfolge von Entwicklungsstufen der Störung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention unterscheiden“ (Laaser/Hurrelmann 1998: 395). Primäre Prävention ist unmittelbare Krankheitsverhütung. Sie soll wirksam werden, so lange noch keine Krankheit aufgetreten ist. Sekundäre Prävention ist Krankheitsfrüherkennung. Krankheiten und Vorläufer sollen erkannt werden, noch bevor Beschwerden oder Krankheitssymptome auftreten. Tertiäre Prävention ist Verhütung der Krankheitsverschlechterung. Sie richtet sich an manifest Kranke bzw. dauerhaft Leidende, soll Folgeschäden und Chronifizierungen vermeiden und Rückfällen vorbeugen. Diese klassisch gewordene Dreiteilung aus den 1960er bis 1980er Jahren wirkt bis heute strukturell nach und bildet die Grundlage auch für gesundheitspolitische Entscheidungen (s. die definitorischen Textbausteine im 2005 kurz vor Abschluss des Gesetzgebungsprozesses gescheiterten Präventionsgesetzes). Die Bestimmungsmerkmale sind angesichts der Weiterentwicklung epidemiologischer Erkenntnisse und der Public Health präzisiert und modifiziert worden. Tabelle 1 fasst den aktuellen Stand der Diskussion um die präventive Trias zusammen (Sachverständigenrat 2001; Walter/Schwarz 2003).
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Peter Franzkowiak
Strukturebene
Ansatzpunkt
Maßnahmen
Ziele
Primärprävention
einsetzend vor Eintritt einer fassbaren biologischen Schädigung
Risikosenkung bis hin zur Risikoeleminierung; Senkung der Inzidenzrate einer Krankheit bzw. Senkung der Wahrscheinlichkeit des Krankheitseintritts bei einem Menschen bzw. einer (Teil-)Population
Sekundärprävention
Entdeckung von biomedizinisch eindeutigen (u.U. auch klinisch symptomlosen) Frühstadien einer Erkrankung und deren erfolgreiche Frühtherapie Behandlung manifester Krankheit („Kuration“) und ergänzende Interventionen zur Verhinderung bleibender Funktionseinbußen
alle spezifischen Aktivitäten zur Vermeidung auslösender oder vorhandener Teilursachen (darunter Risikofaktoren) von bestimmten Erkrankungen, darunter auch die individuelle Erkennung und Beeinflussung solcher Teilursachen Gesundheitschecks, Vorsorgeuntersuchungen, spezifische Früherkennungsmaßnahmen (von u.a. Risikofaktoren) wirksame Behandlung einer symptomatisch gewordenen Erkrankung
Verschlimmerung der Krankheit und/oder bleibende Funktionsverluste verhüten oder verzögern; Leistungsfähigkeit soweit wie möglich wiederherstellen bzw. erhalten, die Inzidenz bleibender Beeinträchtigungen und Behinderungen absenken
Tertiärprävention
Senkung der Inzidenz von manifesten oder fortgeschrittenen Erkrankungen
Tabelle 1: Stufen und Komponenten des triadischen PräventionsStrukturmodells In der nosologischen Prävention wird die Bildung trennscharfer Kategorien und einheitlicher Terminologien zunehmend schwieriger. Diese Problematik beruht auf der Komplexität von Krankheitsätiologien und präventiven Wirkmechanismen. Zugleich wirkt sich hier die Vielfalt von Interventionen, Organisationen, Settings und Systemen im Handlungsfeld aus. Zunehmend feinere Diagnosemethoden sowie die Einführung der präventiven Gendiagnostik, verbunden mit einer Ausweitung des Krankheitsbegriffs, befördern die Aufweichung der Grenzen zwischen Primär- und Sekundärprävention. Neue begriffliche Unschärfen ergeben sich durch die partiell aufgegebene Unterscheidung von Risikofaktor
Prävention im Gesundheitswesen
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und Erkrankung. So sind Hypertonie oder der Diabetes mellitus einerseits eingeführte Prädiktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen und Myokardinfarkt, gelten aber auch als manifeste Ereignisse mit eigenem Krankheitswert und entsprechender Therapiebedürftigkeit.
2.2 Das Spezifitätsmodell Wie problematisch die scheinbar eindeutige Zuordnung von Vorläufern und Ursachen zu nachfolgenden Krankheiten ist, ist in der Klinischen Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie bereits länger bekannt. Am zeitlichen Verlauf einer in der Regel nicht kausal, sondern multipel bedingten Krankheit bzw. einem Krankheitssyndrom anzusetzen, führt notwendig zu Überschneidungen und Abgrenzungsschwierigkeiten. Als ergänzende Klassifikation wurde im angloamerikanischen Wissenschaftsraum daher eine Kategorisierung präventiver Maßnahmen nach Spezifität und Maß der Gefährdung entwickelt. Diese Klassifikation folgt einer Risiko-Nutzen-Perspektive. Deren Bestimmungsgrößen sind: das individuelle Erkrankungsrisiko (gegebene Ausprägung von Risikofaktoren bei den jeweiligen Zielgruppen), die Interventionsrisiken sowie Aufwand und Kosten, welche mit einer Maßnahme verbunden ist, sind. Drei Präventionsformen werden unterschieden: universale, selektive sowie indizierte Prävention (Tab. 2). Universale Prävention
spricht die Gesamtbevölkerung bzw. große Teilpopulationen an
soll prinzipiell für jeden nützlich oder notwendig sein, kann in bestimmten Fällen auch ohne Professionelle durchgeführt werden (Impfempfehlungen für Säuglinge und Kinder, Verkehrserziehung im Kindergarten, Sexualpädagogik und Drogenaufklärung in der schulischen Sekundarstufe, Sicherheitsgurtpflicht für alle TeilnehmerInnen im Straßenverkehr, u.v.a.m.)
Selektive Prävention
interveniert bei umrissenen Zielgruppen mit einem vermuteten, evtl. überdurchschnittlichen Risiko (Risikoträger)
versucht bei ausgewählten Gruppen, empfohlene Vorsorge- oder Früherkennungsmaßnahmen um- und durchzusetzen (Unterstützungsgruppen für Kinder von alkoholabhängigen Eltern, Schüler- und Elterntrainings in sozialen Brennpunkten, spezifische Aufklärungskampagnen für Mitglieder von Party(drogen)szenen oder sexuell hochaktive Jugendliche und Erwachsene, Grippeschutzimpfungen für exponierte Berufsgruppen und ältere Menschen, MammographieScreenings bei Frauen mit familiärer Krebsbelastung u.v.a.m.)
200 Indizierte Prävention
Peter Franzkowiak zielt auf Personen und Gruppen mit gesicherten Risikofaktoren bzw. manifesten Störungen oder Devianzen
versucht Maßnahmen einzuleiten, die bei spezifischen Hochrisikopersonen vorsorgend, frühbehandelnd oder schadensminimierend/rückfallpräventiv einwirken (Mentorenprogramme für erstauffällige jugendliche Drogenkonsumenten, Elterntrainings für deren Eltern, Kondomgebrauch bei sexuell aktiven HIV-Infizierten, Diätempfehlungen und (Selbsthilfe-)Gruppen zur Reduktion von Hypercholesterinämie, regelmäßige Kontrollen bei Hypertonikern, Screening und Früherfassung von gesundheitlich auffälligen Menschen zur Einleitung von Behandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen u.v.a.m.)
Tabelle 2: Typologie von Präventionsschritten nach Spezifität und Maß der Gefährdung (nach: Walter/Schwartz 2003; Franzkowiak 2006) Das Spezifitätsmodell ist in den angloamerikanischen Theorien und Systemen von Mental Health, Health Care, Health Care Social Work und Clinical Social Work weit verbreitet. In Deutschland war es bis in die 1990er Jahre vorwiegend in der Gemeindepsychiatrie und Suchthilfe vertreten, gewinnt in diesem Jahrzehnt in der Suchtprävention an Bedeutung (Hanewinkel/Wiborg 2003; Bühler/Kröger 2006). Die Typologie ist pathogenetisch grundiert, in ihr dominiert die expertenbestimmte Unterstellung von Risiko und Krankheit. Ziel bleibt die Verringerung von nosologischen Inzidenzen und Prävalenzen. Daher ordnen Walter/Schwartz (2003) das Spezifitätsmodell der klassischen Trias von primärer, sekundärer und tertiärer Prävention nach. Es wird als Ausführungsmodell gewertet. Terminologisch wird differenziert nach Bevölkerungsstrategien und Risikogrupppenstrategien: bei letzteren wird gezielt bei Personengruppen mit durchschnittlichem, leicht erhöhtem Risiko oder bei Hochrisikopersonen interveniert. Der Übergang zwischen beiden Formen ist fließend. Das klassische nosologische Strukturmodell (primär – sekundär – tertiär) und das nachrückende Spezifitätsmodell (universell – spezifisch – indiziert) stehen nicht in logischem Widerspruch. Zielgruppenstrategien ergänzen die dreistufige krankheitsbezogene Perspektive. Eine durchaus nützliche, doch rein pragmatische Erweiterung findet statt, ohne eine prinzipielle Alternative zu formulieren. Strategien der Spezifität klären die Bedingungen der Ansprache, Zugangswege und Umsetzung von Präventionszielen – wobei die Ziele weiterhin krankheitsbezogen abgeleitet werden.
Prävention im Gesundheitswesen
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2.3 Fokus: Primärprävention Rosenbrock/Gerlinger (2004) plädieren für eine weiter gehende Fokussierung: für sie ist als Kernbegriff der modernen Prävention und Präventionspolitik allein die Primärprävention tauglich. Deren Zentrum bildet die Risikosenkung, welche sich in der Kombination von Belastungssenkung und Ressourcenstärkung entfaltet (Abb. 1). Für betriebliche Prävention und Gesundheitsförderung haben Badura/Strodtholz (1998) ein semantisch gleichartiges Begriffspaar vorgeschlagen: „Reduzierung und Vermeidung von Gesundheitsrisiken“ in Verbindung mit „Erschließung von Gesundheitspotentialen“.
Primärprävention
Risikosenkung
Belastungen senken
Ressourcen stärken
Krankheitsvermeidung
Gesundheitsförderung
Abbildung 1:
Komponenten von Primärprävention Quelle: Rosenbrock/Gerlinger 2004: 67
Rosenbrock wendet sich offensiv gegen den gebräuchlichen, im Versorgungssystem geradezu zementierten, nosologischen Bezug, die verengende Orientierung auf definierte Krankheiten: „Primärpräventive, d.h. Belastungen senkende und Ressourcen vermehrende Aktivitäten und Strategien lassen sich nur in Ausnahmefällen eindeutig bestimmten Krankheiten zuordnen. Primärprävention folgt nicht der Nosologie, sondern der Logik der Interventionsbereiche (z.B. Arbeit, Wohnen, Erholung, Ernährung, Bewegung etc.)“ (2004a: 6, Hervorhebung PF). Primärpräventive Maßnahmen wirken auf drei Interventionsebenen: beim Individuum, im Setting bzw. in der Lebenswelt, in der Gesamtbevölkerung bzw. gro-
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Peter Franzkowiak
ßen Bevölkerungsgruppen. Zugleich können sie einen unterschiedlichen Fokus haben – entweder auf Information, Aufklärung und Beratung zielend oder die Veränderung gesundheitsbelastender bzw. ressourcenhemmender Faktoren des jeweiligen Kontextes anstrebend.
2.4 Prävention und Gesundheitsförderung Prävention und Gesundheitsförderung werden oft als synonyme Begriffe gebraucht. In der Praxis ist es sinnvoll, die beiden nicht mehr scharf abtrennbaren Orientierungen bewusst zu kombinieren. So haben Interventions-Modelle in der Arbeitswelt, in denen Gesundheitsförderung mit Elementen der Verhaltens- und Verhältnisprävention kombiniert wurde, beachtliche und zeitstabile Wirkungen gezeigt. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen gewichtet in seinem Jahresgutachten 2000/2001 die krankheitsorientierte Herangehensweise, d.h. Prävention im engeren Sinn und den ressourcenaufbauenden Ansatz (Gesundheitsförderung) als einander ergänzend (Sachverständigenrat 2001). Nach einer vergleichenden Betrachtung verschiedener Interventionsfelder (Setting-Ansätze, Suchtprävention, Oralprophylaxe etc.) benennen Bauch und Bartsch (2003) als so genannten Königsweg den auf die jeweilige Zielgruppe und das jeweilige Setting zugeschnittenen „spezifischen Mix“ von traditionaler Prävention/Gesundheitserziehung mit gesundheitsförderlichen Maßnahmen. Schon Waller (1995; 2002) gewichtete Gesundheitsförderung und Prävention als zwei komplementäre Strategien zur Verbesserung und Erhaltung der Gesundheit. Sie sind im Ansatz und den Strategien unterscheidbar, ergänzen sich auf dem Weg zum gemeinsamen Ziel der Verbesserung von Gesundheit und gesundheitlicher Chancengleichheit in einer Bevölkerung. Gesundheitliche Aufklärung, Gesundheitserziehung, Gesundheitsbildung, Gesundheitsberatung, Gesundheitstraining, Patientenschulung, gesundheitsbezogene Selbsthilfe, gesundheitsorientierte Gemeinwesenarbeit, Gesundheitsförderung in Settings, Gesundheitspolitik – allesamt sind dies unterschiedliche Methoden und Zugangswege in der Umsetzung beider Hauptstrategien zu einem gemeinsamen Ziel. Eine fruchtbare Weiterentwicklung stammt von Hurrelmann (2000), der Prävention und Gesundheitsförderung nach der Erzielung von Gesundheitsgewinn bzw. der Vermeidung von Gesundheitsverlust unterscheidet. Gesundheitsförderung dehne den „äußeren Möglichkeitsspielraum“ von Gesundheit aus und erziele Gesundheitsgewinn durch Verbesserung der Bedingungen für Gesundheit. Krankheitsprävention hingegen dränge Krankheitsrisiken zurück, verenge die „innere Einschränkungszone“ und erziele so Gewinn von Gesundheit und
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gesundheitlichen Potentialen. In die gleiche Richtung argumentiert Rosenbrock, der Gesundheitsförderung als „Korrelat zur Belastungssenkung“ umschreibt. Eine Gegenposition vertritt Hafen (2005). Er argumentiert aus systemtheoretischer Sicht (sowie aus der Praxis von Suchtprävention) offensiv für eine Aufhebung der für ihn weder formal noch methodisch sauberen Unterscheidung. Nicht Prävention und/oder Gesundheitsförderung sei die Unterscheidung – komplementäre Eckpunkte des professionellen Handelns mit dem Ziel der Gesundheitserhaltung bzw. Krankheitsvermeidung oder -bewältigung seien vielmehr Prävention und Behandlung. Das Beharren auf Eigenständigkeit, gar Besonderheit von Gesundheitsförderung spiegele letztlich nur semantische Traditionen der letzten zwei Jahrzehnte oder sei der Anbindung an persönliche Karrieren und strukturelle Organisationsbildungen geschuldet, daher konzeptionell keineswegs zwingend.
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Präventive Schwerpunkte und Zielbestimmungen
In der biomedizinisch geprägten Logik und Klassifikation von Gesundheit und Gesundheitsstörungen, v.a. im System der krankheitsbezogenen Versorgung, werden Vorsorgeziele aus vorgegebenen Risiko- oder Krankheitsbildern sowie der Position von Klienten/Patienten oder Rehabilitanden im Verlauf von Krankheit bestimmt. Sie werden in dreifacher Verschränkung abgeleitet:
aus dem nosologischen Bezug zu spezifischen Krankheiten und Krankheitsfolgen, hinsichtlich der Sequentialität im Verlauf einer Krankheit oder eines Unfalls, den daraus folgenden Funktionseinschränkungen und Behinderungen und differenziert nach Settings (Orten, Arbeitsfeldern) und Methoden der medizinisch bestimmten Prävention, Kuration und Rehabilitation.
3.1 Nosologische Prioritätensetzungen Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen identifiziert in seinem Gutachten 2000/2001 sechs prioritäre Krankheitsgruppen, für die ein erheblicher Verbesserungsbedarf in Versorgung und Versorgungsintegration sowie ein zu wenig ausgeschöpftes Potenzial an Prävention bestünde: ischämische Herzerkrankungen; zerebrovaskuläre Erkrankungen, insbesondere Schlaganfall; chronische, obstruktive Lungenerkrankungen einschließlich Asth-
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Peter Franzkowiak
ma bei Kindern und Erwachsenen; Krebserkrankungen (Lungenkrebs, Brustkrebs und übergreifende Aspekte der Versorgung Krebskranker); Rückenleiden; depressive Störungen. Diese Krankheitsgruppen verursachen etwa zwei Drittel aller krankheitsbezogenen Ausgaben in Deutschland, incl. Arbeitsfehlzeiten und Krankenhausaufenthalte. Als zusätzliche präventive Prioritäten nennt das Gutachten: Erhaltung und Stärkung von Kariesprophylaxe, Paradontologie und Zahnerhaltung; Sicherung der Impfprävention und Erhöhung von Durchimpfungsraten. Vergleichbare Zielbestimmungen stellen die Spitzenverbände der Gesetzlichen Krankenversicherung in einem 2003 erstmals vorgelegten, 2006 aktualisierten „Leitfaden Prävention“ vor (AGSK 2006). Die GKV-Bedarfsermittlung benennt fünf Krankheitsgruppen als epidemiologisch besonders bedeutsam. Allen Bereichen werden präventive Empfehlungen zugeordnet (Tab. 3), wobei die einzusetzenden Methoden den Prüfkriterien der Evidenzbasierung genügen müssen. Krankheitsbilder von besonderer epidemiologischer Bedeutung Herz-Kreislauferkrankungen (insbesondere Herzinfarkte, Schlaganfälle und Krankheiten des zerebrovaskulären Systems) bösartige Neubildungen Krankheiten der Muskeln, des Skeletts und des Bindegewebes
Empfohlene präventive Interventionen
Vermeidung von Rauchen, Übergewicht, Bluthochdruck, Bewegungsmangel, übermäßigem Alkoholkonsum, Disstress (vor allem in Bezug auf Herzinfarkte und Schlaganfälle) Förderung einer ballaststoffreichen, fettarmen Ernährung zur Vermeidung von Colon-Rektumkarzinomen und Nichtrauchen zur Vermeidung von Lungenkarzinomen Vermeidung von Übergewicht, Verhütung von Gelenkverletzungen, Kräftigung der Muskulatur (vor allem in Bezug auf Arthrosen und Dorsopathien)
Diabetes mellitus, insbesondere Typ II
Vermeidung des metabolischen Syndroms (Kombination aus Adipositas, Hyperlipoproteinämie, Hypertonie und Hyperurikämie, die mit Insulinresistenz, Glukosetoleranzstörung bzw. einem manifesten Diabetes einhergeht) durch Förderung von Bewegung und ausgewogener Ernährung, Zurückdrängung der o.g. Risikofaktoren
Depressionen und Angststörungen
Förderung individueller Kompetenzen der Belastungsverarbeitung zur Vermeidung von Disstress
Tabelle 3: Epidemiologisch bedeutsame Krankheitsbilder und Schwerpunkte für Prävention aus Sicht der Spitzenverbände der Krankenkassen Quelle: AGSK 2006
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Die nosologischen Systematiken erscheinen erschöpfend, sie sind in sich aber nicht spannungs- oder widerspruchsfrei. Aus Sicht der Sozialepidemiologie wird grundlegende Kritik geübt: eine primär nosologische Bestimmung sei reduktionistisch und habe nur eingeschränkte präventive Güte. Ihr müsse gleichgewichtig eine Einschätzung der sozialepidemiologischen, lebenslagen- und lebenslaufbezogenen Risikolagen bzw. Gefährdungspotentiale zur Seite treten. Der sozialepidemiologische Zusammenhang zwischen (benachteiligenden, einschränkenden) sozialen Lagen, Milieus sowie Optionen und (eingeschränkten) Gesundheitschancen sowie (erhöhten, kumulierenden) Risikokonstellationen ist eindeutig und reicht quer durch verschiedenste Krankheiten und Funktionseinbußen (Mielck 2000; 2004). Auch bei psychischen Störungen und psychiatrischen Erkrankungen stellen sozial ungleich verteilte Ressourcen unverändert ein zentrales Krankheitsrisiko dar (Keupp 2005). Zudem erweisen sich bestimmte Lebensphasen als besonders vulnerabel für das Auftreten bestimmter Krankheitsbilder oder -syndrome. Biographisch zeigen sich differenzierende Wirkungen von subjektiven Gesundheitskonzepten bzw. soziokulturell vermitteltem Krankheits- oder Hilfesuchverhalten im Kontext allgemeiner Lebensweisen und Bewältigungsformen. Nosologische Zielfestlegungen sind und bleiben notwendig im Grundgerüst der klassischen Prävention. Sie müssen jedoch biographisch-entwicklungsbezogen flankiert sowie sozial-ökologisch grundiert werden. Erst in der Zusammenschau aller potentiellen Determinanten ist eine valide, hinreichend differenzierte Ziel- wie Zielgruppenbestimmung möglich.
3.2 Lebenslagenbezogene Zielbestimmungen Die Sozialepidemiologie hat klare Belege, dass gesundheitliche Ungleichheit, vor allem durch Lebenslagen und Lebensbedingungen, nur zu einem deutlich kleineren Teil durch individuelles Gesundheitsverhalten erklärt werden kann. Zwar lassen Lebensbedingungen durchaus Spielräume für persönliche Entscheidungen im Gesundheits- oder Risikoverhalten, letztlich prägen und bestimmen sie aber den Rahmen für die Lebensweisen, und darin für individuelles Verhalten mit Gesundheitswirkung. Der in der Prävention seit Jahren herrschende wissenschaftliche Streit um die angeblich höhere Bedeutung (der Beeinflussung) von Gesundheitsverhalten gegenüber (einer Beeinflussung und Politik zur Verbesserung von) Lebenslagen ist Ideologie: „Das Gesundheitsverhalten basiert häufig nicht nur auf freien Entscheidungen, sondern es wird maßgeblich geprägt durch die Lebenslage. Ohne Berücksichtigung dieser komplexen Ursachen des Ge-
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sundheitsverhaltens besteht somit die Gefahr, dass dem ‚Opfer die Schuld zugeschoben wird’ (blaming the victim)“ (Mielck 2004: 216). Rosenbrock (2004b) empfiehlt den Gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland, sich bei ihrem gesetzlichen Auftrag in der primären Prävention nach § 20 SGB V (und dem evtl. kommenden Präventionsgesetz) auf Interventionen für sozial und gesundheitlich besonders benachteiligte Gruppen zu konzentrieren. Für eine derartige lebenslagenbezogene Zielgruppenbestimmung kommen vorrangig folgende Gruppen in Betracht (Auflistung nach Rosenbrock 2004b; drei zusätzliche Nennungen auf Grund von risikoerhöhenden Lebenslagen):
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Personen mit sehr niedrigem Einkommen (z.B. Sozialhilfeempfänger und ihre Familienangehörigen); Personen mit sehr niedrigem sozialen Status (z.B. ungelernte ArbeiterInnen, Mini-JobberInnen); Personen mit sehr niedriger Schulbildung (z.B. Personen ohne qualifizierten Hauptschulabschluss); Personen mit anderen sozialen Benachteiligungen (z.B. Arbeitslose, Alleinerziehende, MigrantInnen mit unsicherem Aufenthaltsstatus und/oder schlechten Deutschkenntnisse; Menschen mit Behinderung; alleinerziehende Eltern (v.a. alleinerziehende Mütter); Suchtkranke und Suchtgefährdete (z.T. in Merkmalsüberschneidung mit anderen Gruppen); Menschen in Armutslagen und Wohnungslosigkeit, insbesondere ältere Arme.
Handlungskontexte und struktureller Rahmen von Prävention
Die Kontexte von präventiven Tätigkeiten im strukturell und ideologisch vorrangig kurativ und rehabilitativ formierten Gesundheitswesen lassen sich nach ihrer Wirkung auf Mikro-, Meso- und Makroebene ordnen:
Prävention bei einzelnen Menschen, spezifischen Adressaten und Zielgruppen; Prävention in Settings, Organisationen und Gemeinschaften; Prävention im Sektor von Warenproduktion und –verteilung und Dienstleistungen;
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Prävention im Sektor lokaler, regionaler, nationaler und supranationaler Gesundheitspolitik einschließlich anderer, direkt wie indirekt gesundheitswirksamer Politikfelder.
Es wird im deutschen Gesundheitswesen zwar umfangreich und in vielen Feldern Prävention betrieben, dennoch existiert keine durchgängige sozialrechtlich verankerte und Ressourcen bindende, also: genuin präventive Infrastruktur. In nahezu allen Einrichtungen und Kontexten der Kuration und Rehabilitation, in Psychiatrie und Geriatrie, zunehmend auch im organisierten Bildungswesen und in Teilen der Arbeitswelt werden präventive Maßnahmen geplant, durchgeführt, in die organisatorisch-systemischen Abläufe integriert. Strukturell hat Prävention aber nur eine nachrangige Bedeutung und ist mangelhaft verankert. Kaum eine der Kerninstitutionen des Gesundheitssystems ist primär präventiv ausgerichtet – Prävention wird in der Regel ausgelagert in psychosoziale und pädagogische Randgebiete der Gesundheitsversorgung. Im sequentiellen Versorgungsverlauf existieren keine Vorsorgeeinrichtungen, die auch nur annähernd gleichen Rang und Macht hätten wie die bestehenden kurativen „Versorgungsfestungen“. Kerngeschäfte im Gesundheitswesen sind Kuration und Rehabilitation: die gesundheitliche Vorsorge ist eine mögliche, ergänzende, auch optimierende Komponente – jedoch (noch) kein eigenständiger, eigene Strukturen prägender Aspekt. Ihr nachgeordneter Status spiegelt sich auch darin, dass Ziele, Maßnahmen, Institutionen und Finanzierung vielfältigen, fragmentierten sozialrechtlichen Vorgaben unterliegen. Ein vereinheitlichendes Präventionsgesetz („4. Säule“) wird seit Jahren geplant und ist zuletzt 2005 gescheitert (siehe auch Homfeldt/Steigleder in diesem Band). Sozialrechtlich besteht ein Nebeneinander unterschiedlicher, z.T. widersprüchlicher Begrifflichkeiten in sieben der 12 Sozialgesetzbücher. Im Gesamten muss man weiterhin, mit der Formel von Walter (2003), vom präventiven „Babylon im SGB“ sprechen.
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Methoden: Mehr-Ebenen-Systematik
Es gibt drei grundlegende Ansätze präventiver Methodik:
medizinische Prävention als Einsatz medizinischer Mittel der Diagnostik und (Früh-)Behandlung, z.B. über Schutzimpfungen; Verhaltensprävention als Veränderung von Verhaltensmustern und/oder Gesamt-Lebensweisen bei Einzelpersonen und Gruppen mit Ziel und Steuerung von Krankheitsvermeidung;
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Peter Franzkowiak Verhältnisprävention als Gesamt struktureller Eingriffe zur Veränderung der ökologischen, sozialen, kulturellen und technisch-materiellen Umwelten („Settings“), der Beeinflussung von sozialen und kulturellen Regeln, Gesetzen und sozialen Systemen und der Intervention in Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung.
Fließende Übergänge zur Gesundheitsförderung bestehen in erheblichem Maße bei der Verhältnisprävention (z.B. bei Maßnahmen in Settings wie Betrieben oder der Schule). Aber auch Interventionen, die als Verhaltensprävention angelegt sind, können über Gesundheitserziehung, Gesundheitsberatung oder Patientenschulung hinausgehen, wenn sie eine systemische und kompetenzfördernde Perspektive einnehmen. Leppin (2004) hat eine vertiefende Mehr-Ebenen-Systematik der gebräuchlichen Handlungsansätze in der Prävention vorgelegt. Alles methodischpräventive Handeln zielt nach Leppin darauf ab, individuelles Verhalten zu verändern, die physikalische oder soziale Alltagsumwelt präventiv umzugestalten, präventive gesundheitliche Versorgungsstrukturen (z.B. Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen) zu initiieren oder ihre Inanspruchnahme zu verbessern. Dabei lassen sich personen- und strukturbezogene Verfahren unterscheiden, die in Wechselwirkung und Komplementarität zueinander stehen. Personen- und gruppenbezogene Praxisansätze umfassen edukative Verfahren (psycho- bzw. sozioedukative Maßnahmen) und Aktivierungs- und Mobilisierungsprozesse. Strukturelle und lebensweltbezogene Praxisansätze bestehen aus normativ-regulatorischen Verfahren und ökonomischen Anreiz- und Bestrafungssystemen. Psychoedukative Verfahren stehen im Kern von Verhaltensprävention. Ihre Hauptziele sind: Aufklärung und Wissensvermittlung, Aufbau von förderlichen und Veränderung riskanter gesundheitlicher Einstellungen und Motivationen, Vermittlung von Handlungskompetenzen zur Erhaltung/Wiederherstellung von Gesundheit, Vermittlung von Bewältigungskompetenzen bei eingeschränkter Gesundheit oder andauernder funktioneller Beeinträchtigung. Das methodische Arsenal umfasst: Informationsgabe und Aufklärung z.B. über Risikofaktoren oder angemessenes Gesundheitsverhalten, individuelle Gesundheits- und Patientenberatung (auch Suchtberatung oder Beratung von Menschen in Krisensituationen) sowie Gesundheits- und Verhaltenstrainings (Verhaltenseinübung, Selbstmanagement, Kompetenzförderung, Programme zur Stressbewältigung, Patientenschulungen). Sozioedukative Verfahren dienen dazu, in Gruppen oder Organisationen präventive Prozesse anzustoßen und zu verankern. Exemplarische Strategien sind gesundheitsbezogene Quartiersentwicklung, anwaltschaftliches Handeln im Kontext von gesundheitsbezogener Gemeinwesenarbeit sowie Aktivierung von „Be-
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troffenen“ zur Verbesserung präventiver und rehabilitativer Information und Versorgung. Methodische Ansätze umfassen Mobilisierung und Partizipation von Betroffenen, Lobbyarbeit bei Entscheidungsträgern, Bildung professioneller und politischer Netzwerke und Koalitionen. Die Grenze zur Gesundheitsförderung, insbesondere zur sozialpolitischen Aktivierung und Mobilisierung, ist fließend. Gleichfalls sind, etwa wenn nachhaltige lokale Strukturen gebildet werden (z.B. Gesundheitsbüros und -treffpunkte, Selbsthilfe-Kontaktstellen u.a.), Aspekte struktureller Prävention mitberührt. Bei der strukturellen Prävention stehen nach Leppin eher normativregulatorische Maßnahmen im Mittelpunkt (Gesetze, Vorschriften, Ge- und Verbote mitsamt Androhung von Sanktionen). Als exemplarische Beispiele lassen sich für die Verhaltensprävention Rauchverbote, Anschnallpflicht und Promillegrenzen im Straßenverkehr anführen. Zur Verhältnisprävention tragen Schadstoffverordnungen, Vorschriften der Lebensmittelüberwachung, Gesundheitsund Arbeitsschutzgesetzgebung, Gesundheitsverträglichkeitsprüfungen von lokalen Bau- und Ansiedlungsmaßnahmen oder Regelungen des gesetzlichen Jugendschutzes bei. Unter ökonomische Anreiz- und Bestrafungssysteme fallen Preisregulierungen (Verteuerung eines gesundheitsschädlichen Produktes, z.B. bei Tabakwaren und Alkohol), Beitragsermäßigungen bei Inanspruchnahme präventiver Angebote oder Steuersenkungen.
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Die Position der Sozialen Arbeit in der Prävention
6.1 Soziale Arbeit und Gesundheit Für die Soziale Arbeit hat die Verbindung mit dem Gesundheitswesen eine lange Tradition. Gesundheitsfürsorge, Armen- und Jugendfürsorge bilden die drei Säulen in der Entstehungsgeschichte der modernen Sozialen Arbeit. Gesundheit war und ist für die Soziale Arbeit immer ein Kernthema (Sting/Zurhorst 2000; Homfeldt/Sting 2006). Nicht nur für die Profession, auch in den modernen Ansätzen zur Formulierung einer Sozialarbeitswissenschaft ist die Verklammerung von sozialen Notlagen und sozialer Benachteiligung mit gesundheitlicher Beeinträchtigung konstitutiv. Der Gesundheitszustand einer Bevölkerung oder umschriebener Gruppen gilt der Sozialen Arbeit seit je als Indikator und Seismograph für zu bearbeitende soziale Problemlagen. Sozialprofessionelle Tätigkeit im Gesundheitswesen unterliegt einem strukturellen Konflikt: Die Systeme von Gesundheitsversorgung und sozialer Sicherung gründen auf und folgen einer die Klienten und ihre Lebenslagen fragmentierenden Ordnung. In der Gesundheitsversorgung werden die bio-psycho-soziale
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Einheit von Gesundheit und gesundheitlicher Störung und das GesundheitsKrankheits-Kontinuum parzelliert und zur gesellschaftlichen und professionellen Bearbeitung in getrennten Bereichen freigegeben. Damit geht eine hierarchische Verdrängungslogik und professionelle Abwertung einher, für die Ortmann und Schaub (2002: 68) folgende pointierte Zusammenfassung gefunden haben: „Der biologische Zugang (kann als) der gesellschaftlich akzeptierte, der psychologische der in Grenzen gewollte und der soziale als der vernachlässigte angesehen werden“. Jede soziale Gesundheitsarbeit und ihre präventiven Anteile und Strategien sind innerhalb des ständisch-hierarchisch organisierten, biomedizinisch grundierten Gesundheitssystems dieser Logik unterworfen. Dennoch ist gesundheitsbezogene Soziale Arbeit sinnvoll und wirksam – allerdings müssen ihr Wirkungsgrad und das Ausmaß ihrer jeweiligen Eigenständigkeit je nach Setting klassifiziert werden. Hierzu haben Homfeldt und Sting (2006: 17) einen hilfreichen Differenzierungsvorschlag vorgelegt (siehe ausführlich Homfeldt und Steigleder in diesem Band) (Tab. 4). Soziale Arbeit im Gesundheitswesen
Tätigkeiten in etablierten Gesundheitsdiensten wie Krankenhaus, Rehabilitation, dem Öffentlichen Gesundheitsdienst und gesundheitsbezogenen Beratungsstellen
Gesundheitsarbeit im Sozialwesen
Direkte und indirekte gesundheitliche Wirkungen von Sozialer Arbeit in ihren eigenen etablierten Feldern wie Familien- und Jugendhilfe, psychosozialer Versorgung oder Gemeinwesenarbeit
Sozialpädagogische Gesundheitsförderung
Präventive Strategien und Konzepte in Settings wie Schule und Gemeinde, Betrieben und Organisationen, Netzwerkarbeit und Empowerment
Tabelle 4: Systematik der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit Quelle: Homfeldt/Sting 2006
6.2 Soziale Arbeit in der gesundheitsbezogenen Prävention Prävention sei „der vermutlich am besten etablierte, eigenständigste Bereich gesundheitsbezogener Sozialer Arbeit“ – mit dieser These beschließen Homfeldt und Sting (2006: 209) ihre Durchsicht der unterschiedlichen Praxisfelder gesundheitsbezogener Sozialer Arbeit. Als Belege führen sie drei Aufgabenfelder an: Sucht- und Aidsprävention sowie Gewaltprävention. Für diese Bereiche ist den Autoren uneingeschränkt zuzustimmen. Insbesondere für primärpräventive, universelle und selektive Ansätze in der Suchtprophylaxe konnten Sting und Blum (2003: 92ff.) das Postulat eindrucksvoll belegen – nicht nur konzeptionell,
Prävention im Gesundheitswesen
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auch mit genuin sozialarbeiterischen Praxisstrategien für die Settings Schule, ambulante und stationäre Jugendhilfe sowie offene Jugendarbeit, betriebliche Suchtprävention sowie Gemeinwesen- und Stadtteilarbeit mit institutioneller Integration und Vernetzung. Ergänzend zu nennen sind die neueren, erfolgreichen Handlungsansätze der Früherfassung und Frühintervention bei jugendlichen Risikokonsumenten und erstauffälligen Drogenkonsumenten (Ginko 2003; Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2003) sowie die Einrichtung und Vernetzung von Sozialen Frühwarnsystemen, zunächst in Nordrhein-Westfalen implementiert als Modellprojekt früher Hilfen für Familien in Risikolagen, mittlerweile sich überregional ausweitend (MFJFG NRW 2003; MGFFI NRW 2006a; 2006b). Für das institutionalisierte Gesundheitswesen und darin die Krankheitsprävention gilt der optimistische Befund aber nur mit erheblichen Einschränkungen. In diesem Kernbereich zählt die Soziale Arbeit seit je zu den Assistenzprofessionen, ist Weisungsempfänger, bestenfalls angeleiteter „Partner“ (Reinecke 1994; 2003). Die Präventivmedizin instrumentalisiere nicht-medizinische Fachkräfte in erheblichem Maße und verenge deren Tätigkeit vielfach auf „technologische Medicopädagogik“, stellte Hörmann (1997) heraus. Von Ortmann und Schaub (2002) stammt die zugespitzte Formulierung einer Ableistung „jahrzehntelanger Magddienste für die Medizin“. Die Soziale Arbeit hat zwar anfänglich der zunächst als Gegenmodell zur Prävention konzipierten Gesundheitsförderung einen eigenen Stempel aufgedrückt (Lebensweltorientierung, Gemeindebezug, Empowerment und Partizipation) – dies scheint aber nur noch konzeptionshistorisch von Belang zu sein (Böllert 1995; Mühlum et al. 1998; Franzkowiak/Wenzel 1989; 2005). Die präventiven (Teil-)Leistungen, die von SozialarbeiterInnen und SozialpädagogInnen in Einrichtungen und Handlungsfeldern des Gesundheitswesens geleistet werden, unterliegen den Zwängen des hegemonial organisierten und hierarchisch durchstrukturierten Systems der Gesundheitsversorgung. Definitionsmacht und Aktivitäten der individualisierten, kurativ orientierten klinischen Medizin bestimmen die Perspektiven auf Gesundheit, Risiko und Krankheit. Sie regulieren Handlungsvorgaben und Systeme der Vorsorge und Versorgung, und sie markieren die Hierarchie der beteiligten Berufsgruppen und der von ihnen abgerufenen Kompetenzen. Wie Hey (2001) herausgearbeitet hat, besteht zwischen Biomedizin und Sozialer Arbeit ein strukturell bedingtes prekäres Verhältnis – begründet in je eigenen, hoch differenten symbolischen Ordnungen sowie „prinzipiell inkompatiblen“ Erklärungsmodellen. Soziale Arbeit wird zum einen im Gesundheitswesen genutzt als (und beschränkt auf ein) soziales Schnittstellenmanagement im sequentiellen Krankheits(versorgungs)prozess. Sie ist ande-
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Peter Franzkowiak
rerseits Zuarbeit in allen psycho- und sozioedukativen Maßnahmen vor, in und nach klinischen Akutbehandlungen und in der Rehabilitation. Handlungsführende Prävention im engeren Sinne., also mit direkter, unabhängiger oder zumindest professionell gleichberechtigter Steuerung durch die Soziale Arbeit existiert neben der Sucht- und Aidsarbeit nur in ausgewählten, für das Gesundheitswesen eher randständigen Feldern: in den gemeinwesenorientierten, sozialräumlichen und Netzwerk fördernden Ansätzen von interprofessioneller Gesundheitsförderung und Gemeindeentwicklung („Gesunde Städte“, „Soziale Stadt“). Diese Ansätze zeichnet eine deutliche Distanz zur enggeführten medizinischen Prävention aus. Betont wird die Schnittmenge und Methodenkompatibilität zur frühen, lebensweltorientierten Gesundheitsförderung (Trojan/Legewie 2001, Herriger 2002, Lenz/Stark 2002). Gleichermaßen wichtig, zu Unrecht oft übersehen, sind die nicht-intendierten, indirekten Gesundheitswirkungen allgemeiner Sozialer Arbeit: „Der Bereich der unspezifischen Primärprävention als Leistung der Sozialen Arbeit wird häufig gar nicht als Prävention wahrgenommen, da diese Arbeit auch in Arbeitsfeldern wie z.B. der Kinder- und Jugendarbeit, der Erwachsenenbildung, der Stadtteilarbeit stattfindet, die scheinbar gar nichts mit Gesundheitsproblemen zu tun haben“ (Brieskorn-Zinke/KöhlerOffierski 1997: 78). Eigenständig sozialprofessioneller Kern einer in Ansätzen zu formulierenden „Präventiven Sozialen Gesundheitsarbeit“ ist die lebensweltorientierte Umsetzung dessen, was Rosenbrock als Primärprävention definiert: Interventionen und methodisches Ansetzen nicht entlang der zeitlichen Verläufe von spezifischen Krankheiten, nicht angeleitet durch fremdbestimmte Ziele und Kontexte – sondern Aktivierung und Unterstützung von Menschen zur Lebensbewältigung, Belastungssenkung und Ressourcenstärkung in ihren realen Settings und Lebenswelten. Konträr zur allein nosologisch-biographischen Prävention am Individuum werden Lebenswelten als Determinanten von Gesundheits- und Risikoverhalten, Krankheitshandeln und Krankheitsbewältigung verstanden. Kategorial sind sie damit im Kern von Interventionen und können keinesfalls auf die Position von Mediator- oder gar Störvariablen reduziert werden.
6.3 Eigenständige Handlungsfelder und Ansätze Rosenbrocks Schlüsselbegriffe (Belastungssenkung und Ressourcenerhöhung) definieren sowohl den Kern von Gesundheitsförderung als auch von lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Die Praxis gelungener präventiver Sozialer Gesundheitsarbeit belegt die Wirksamkeit einer Fokussierung auf sozialräumliche und soziallagenbezogene Sozial- und Gemeinwesenarbeit. So existiert längst eine
Prävention im Gesundheitswesen
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breite (wenn auch fragmentierte und kaum untereinander kommunizierende oder sich vernetzende) Infrastruktur von Maßnahmen (Tab. 5). Strukturbildende settingorientierte Interventionen
Zielgruppenbezogene settingorientierte Maßnahmen
Infrastrukturen des kommunalen gesundheitlichen Wandels im „Gesunde Städte-Netzwerk“ Verknüpfung von Stadtteilentwicklung und Gesundheitsförderung in sozial benachteiligten Quartieren Quartiersorientierte personale Prävention und strukturelle Gesundheitsförderung durch Gesundheitstreffpunkte Gesundheitsberatung und Suchtprävention im sozialen Brennpunkt durch Gesundheitsberatungsstellen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes Bewegungs- und Gesundheitsförderung im Rahmen des großstädtischen Quartiersmanagements Tertiärprävention im Gemeindepsychiatrischen Verbund durch Allgemeinen Sozialdienst, Sozialpsychiatrische Dienste und Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstellen Sozialräumliche Aktivierung und psychomotorische Bewegungsförderung bei benachteiligten Kindern und Jugendlichen Prävention für Kinder und Jugendliche in sozialen Brennpunkten mit Schwerpunkt auf Ernährungsverhalten Kultursensible, aufsuchende Gesundheitsberatung und Hilfsangebote für MigrantInnen und ZuwandererInnen Gemeinwesenorientierte präventive Altenarbeit kombiniert mit wohnortnaher Pflegeprävention im Quartier
Tabelle 5: Exemplarische Interventionen der präventiven Sozialen Gesundheitsarbeit, Quelle: Franzkowiak 2006: 83-109 Umsetzungsstrategien dieser Art betonen Befähigung, Vernetzung und gemeindebezogenes Empowerment. Sie sind Muster für eine sozialarbeiterisch handlungsleitend geführte Prävention mit Gesundheitsbezug in realen Lebenswelten und Lebensräumen. Homfeldt (2002) betont, dass in benachteiligten Gemeinwesen gesundheitsfördernde Soziale Arbeit geradezu gleichzusetzen sei mit Primärprävention, da sie wirksam gegen risikoerhöhende und krankheitserzeugende CoFaktoren wie etwa defizitäre Wohnbedingungen vorgeht. Im sozialräumlichen Ansatz werden vorrangig niedrigschwellige, zielgruppenspezifische Maßnahmen entwickelt und eingesetzt. Sozialräumliches Arbeiten folgt acht Leitstandards, die Lüttringhaus (2001) aus der Praxis der deutschen Gemeinwesenarbeit kondensiert hat: Sozialraumbezug, Bedürfnisorientierung, Aktivierung zur Selbstorganisation und Selbsthilfe, Ressourcennutzung, Infrastrukturverbesserung, Förderung von sozialem Klima und Identität, sektorenübergreifendes Handeln, Netzwerkförderung. Die Stan-
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Peter Franzkowiak
dards verlassen den Risikofaktoren-Kosmos der biomedizinischen Prävention. Zwar kann zu Recht reklamiert werden, dass solche Leitlinien und ihre Ziele nicht direkt krankheitsbezogen, empirisch nicht auf die letzte Nullhypothese „sauber“ operationalisiert und zufallskritisch überprüft werden können. Aus der Perspektive eines systemischen, bio-psycho-sozialen bzw. Belastungs-Ressourcen-orientierten Gesundheitsverständnisses ändert diese evidenzformale Einschränkung nichts daran, dass sie krankheitspräventiv und bewältigungsstärkend wirken.
6.4 Gesundheitsbezogene Soziale Arbeit – Präventive Gesundheitssozialarbeit Homfeldt (2004) definiert vor diesem Hintergrund gesundheitsbezogene Soziale Arbeit als eine entwicklungsbezogene Profession und Disziplin, die sich keinesfalls in paramedizinischer Assistenz, Reparaturdienstleistung oder Einzelfallarbeit erschöpfe. Ihre primäre, eigenständige Leistung in Prävention und Gesundheitsförderung sei, sozial-ökologisch zu wirken, im Sinne einer Verbesserung von Lebensräumen aktiv zu werden. Dafür ist die Gemeinwesenarbeit „ein bedeutender Impulsgeber“, sind Kompetenzförderung, Aktivierung und Empowerment sowie die Stärkung von Partizipation und Teilhabe „grundlegende Eckpunkte“. Empowerment ist die professionelle Strategie des „Anstiftens“ zur (Wieder-)Aneignung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Lebens. Ziele sind die Erweiterung und Erhaltung von Potenzialen der Selbststärkung und autonomen Lebensführung sowie gegenseitiger Unterstützung durch: Orientierung an Stärken; Akzeptieren unkonventioneller Lebensentwürfe; Arrangieren von flexiblen Alltagshilfen; biographisches Arbeiten; Unterstützung von Freundschafts- und sozialen Netzwerken (Herriger 2001; 2002; vgl. auch Keupp 2005). Über einen Zentralbegriff der Sozialpädagogik nähert sich Sting (2000) der Begründung von gesundheitsbezogener Sozialen Arbeit (und darin der Prävention). Komplementär zum sozialräumlichen Handeln und Aktivieren akzentuiert Sting Konzept und Praxis einer „gesundheitsbezogenen sozialen Bildung“ – diese jedoch nicht als Sonderfall von schulischer oder Erwachsenen-Bildung, vielmehr „als Bestandteil des umfassenden Prozesses der Bildung der Gesamtperson“ (Homfeldt/Sting 2006: 118). Seine Leitbegriffe speisen sich aus der klassischen Pädagogik Schleiermachers und der Sozialpädagogik Mollenhauers. Als Ziel und Methode sozialer Gesundheitsarbeit gilt Sting die soziale Bildung der körperbezogenen Lebenspraxis. Die Frage nach gesundheitsförderlichen Lebenspraxen wird in diesem Kontext offensiv pädagogisch, sozial und historisch reflexiv gestellt – als Kontrast
Prävention im Gesundheitswesen
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und im Widerstand gegen die Negativausrichtung und Lebensweisenfragmentierung der Biomedizin, gegen ihre De-Thematisierung sozialpolitischer Rahmenbedingungen sowie unter Infragestellen der impliziten Normativitätserwartungen und anderer negativer Verzerrungen innerhalb der klassischen Prävention. Hier greift der diskursive sozialpädagogische Ansatz einer Bildungsarbeit, die von ihrer Ausrichtung Anregung zur Selbstbildung und Bereitstellung von Entwicklungs- und Lernchancen ist. Im Gegensatz zur Gesundheits“erziehung“ begreift die Soziale Arbeit Bildung als eine nicht-normative, selbstreflexive Gestaltungsaufgabe für ein komplexes Gesamt von Lebensweise und Lebenspraxis. Unverzichtbar für pädagogische Anstöße ist die Erkenntnis, „dass die jeweiligen Lebenspraktiken und Gesellungsformen eine Auseinandersetzung mit der sozialen Position und den daraus resultierenden sozialen Chancen enthalten“ (Homfeldt/Sting 2006: 120). Somit kann das gesundheitsbezogene Handeln der Individuen und ihrer Gesellungen nicht von den persönlichen und gesellungsgeprägten Lebensweisen und Lebenspraxen abgespalten werden. Im Zentrum jeder Sozialen Arbeit, auch der gesundheitsbezogenen und präventiven, steht Ressourcenarbeit zur Lebensbewältigung (oft in prekären Lebenslagen). Ihre Zielsetzungen sind nicht verengt nosologisch, vielmehr im besten Sinne generalistisch. Zur verbesserten Problembewältigung und nachhaltigen (Selbst-)Hilfe werden persönliche Stärken und Kompetenzen mobilisiert. In Verbindung damit steht die Erweiterung und Stabilisierung von kollektiven Handlungskompetenzen und sozialen Unterstützungsnetzen. Alle sozialprofessionellen Interventionen verfolgen das Oberziel einer Erhöhung gesellschaftlicher Teilhabe- und Bestimmungsmöglichkeiten. Dabei verpflichtet sich die Soziale Arbeit, anders als Prävention und Gesundheitserziehung, nicht auf ein verhaltensreduktionistisches Normalitätsmodell bei Ausschluss anders gelagerter Lebensentwürfe oder Lebensweisenoptionen (Böllert 1995). In der Präventivmedizin und Rehabilitation wirken SozialarbeiterInnen weiterhin sozio- und psychoedukativ, vermittelnd und vernetzend – wohl auch weiterhin mit eingeschränkter Autonomie und Gestaltungsmacht und einem eher nachgeordnetem Status. In ihren sozialräumlichen Ansätzen, in der quartiers- und gemeinwesenbezogenen Gesundheitsförderung, der aktivierenden Befähigung und gesundheitsbezogenen sozialen Bildung kann die Soziale Arbeit hingegen ihre fachliche Kompetenz erweisen, stärken und ausbauen. Dort und darin liegen ihre genuin präventionsrelevanten Handlungsfelder und Praxisstärken.
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III Risiken und Herausforderungen
Gesundheitliche Ungleichheit als Herausforderung für den Sozialstaat Thomas Lampert, Lars Eric Kroll
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Einleitung
Die Bundesrepublik Deutschland baut als moderner Sozialstaat auf dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit und gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auf. Kennzeichnend für die gesellschaftliche Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg sind u.a. der allgemeine Wohlstandszuwachs, die Bildungsexpansion, die Verbesserung der Arbeitsbedingungen, der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme sowie der zunehmend höhere Standard der medizinischen und pflegerischen Versorgung. Andererseits lässt sich spätestens seit den 1980er Jahren eine Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse beobachten, die sich mit der Wiedervereinigung Deutschlands und infolge von demographischen Entwicklungen, insbesondere der fortschreitenden Alterung der Gesellschaft, weiter verschärft hat. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang zuvorderst auf die Zunahme von Einkommensarmut und Überschuldung, Arbeitslosigkeit und prekärer Arbeitsmarktanbindung sowie die nach sozialer Herkunft ungleich verteilten Bildungschancen (BMAS 2001; BMGS 2005). Gesundheitspolitisch relevant sind diese konträren gesellschaftlichen Entwicklungslinien, weil sie sich auch in der Gesundheit und Lebenserwartung der Bevölkerung widerspiegeln. Auf der einen Seite hat die Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände dazu geführt, dass die Menschen immer älter werden und häufig bis ins hohe Alter ein gesundes und selbstständiges Leben führen können. Ein Großteil der Krankheiten und Gesundheitsstörungen wird heute früher erkannt und erfolgreicher behandelt. Durch Anschlussheilbehandlungen und Rehabilitationsmaßnahmen können in vielen Fällen nachhaltige Auswirkungen auf die Lebensqualität verhindert werden. Auf der anderen Seite ist eine sozial ungleiche Verteilung des Krankheits- und vorzeitigen Sterberisikos zu beobachten. Menschen mit niedrigem Bildungsniveau, Berufsstatus und Einkommen sind gerade von schwerwiegenden, potenziell tödlich verlaufenden oder die Lebensqualität stark einschränkenden Krankheiten vermehrt betroffen (Mielck 2000; Lampert et al. 2005; Richter/Hurrelmann 2006). Zudem verfügen sie offenbar über geringere Kompetenzen und Ressourcen, um aufgetretene
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Thomas Lampert, Lars Eric Kroll
Krankheiten und daraus resultierende psychosoziale Belastungen zu bewältigen (Badura et al. 1987; Borgetto/Gerhardt 1993). Soziale Unterschiede im Gesundheitszustand und in der Lebenserwartung können als eine extreme Ausprägungsform sozialer Ungleichheit angesehen werden. Dass allgemein hoch bewertete Güter und Ressourcen wie Einkommen, Bildungsabschlüsse oder Sozialprestige in einer Leistungsgesellschaft ungleich verteilt sind, wird zumindest bis zu einem gewissen Punkt akzeptiert und sogar als stabilisierendes Element der gesellschaftlichen Funktionszusammenhänge verstanden. Wenn sich die soziale Ungleichheit aber darin ausdrückt, dass bestimmte Bevölkerungskreise gesünder sind und länger leben als andere, dann steht dies im Widerspruch zum sozialstaatlichen Selbstverständnis und dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen. Entsprechend hoch ist der politische Handlungsdruck, der durch empirische Nachweise sozial bedingter Unterschiede im Gesundheitszustand und in der Lebenserwartung der Bevölkerung erzeugt wird, zumal diese inzwischen Eingang in regierungsamtliche, politische Entscheidungsprozesse unterstützende Berichtssysteme wie die Gesundheitsberichterstattung des Bundes und die Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung gefunden haben. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welche sozialstaatlichen Herausforderungen sich durch die gesundheitliche Ungleichheit ergeben und inwieweit sich diese in politischen Strategien und Programme niedergeschlagen haben. Ausgangspunkt der Diskussion ist eine Darstellung des aktuellen Forschungs- und Erkenntnisstandes zu Ausmaß, Erscheinungsformen und Entwicklungstrends der gesundheitlichen Ungleichheit in Deutschland.
2
Empirische Befunde zur gesundheitlichen Ungleichheit in Deutschland
Mittlerweile erscheinen jedes Jahr etwa 50 Publikationen, in denen empirische Ergebnisse zur gesundheitlichen Ungleichheit in Deutschland berichtet werden (Mielck 2005). Die gesundheitliche Ungleichheit wird dabei zumeist entlang der Merkmale Bildung, berufliche Stellung und Einkommen beschrieben, die entweder einzeln oder mehrdimensional als aggregierter Sozialstatusindex betrachtet werden (Lampert/Kroll 2006). Als Gesundheitsindikator wird in vielen Studien die Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes herangezogen, die zumeist anhand einer fünfstufigen Skala von „sehr gut“ bis „sehr schlecht“ erhoben wird. Beispielsweise wurde mit Daten des telefonischen Gesundheitssurveys 2003 gezeigt, dass Personen mit niedrigem Sozialstatus ihren allgemeinen Gesundheitszustand seltener als „sehr gut“ bewerten im Vergleich zu denjenigen mit mittlerem und vor allem zu denjenigen mit hohem Sozialstatus. Für Frauen
Gesundheitliche Ungleichheit als Herausforderung für den Sozialstaat
225
ließ sich dies in allen betrachteten Altersgruppen feststellen, für Männer spätestens ab dem 30. Lebensjahr (Abb. 1). Bei statistischer Kontrolle des Alterseffektes war die Chance einer sehr guten Gesundheit bei Männern wie Frauen aus der niedrigen im Vergleich zur hohen Statusgruppe um den Faktor 2,4 verringert (Lampert 2005). Männer
Frauen
50
Prozent
40
30
20
10
0 18-29 J.
30-44 J.
45-64 J.
Sozialstatus
Abbildung 1:
65+ J.
Niedrig
18-29 J.
30-44 J.
Mittel
Hoch
45-64 J.
65+ J.
Anteil der 18-jährigen und älteren Männer und Frauen mit sehr gutem allgemeinem Gesundheitszustand nach sozialem Status; Datenbasis: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003 (Lampert 2005)
Auch im Auftreten chronischer Krankheiten und Beschwerden sind statusspezifische Unterschiede zu beobachten. Die Ergebnisse der Deutschen Herz-KreislaufPräventionsstudie (DHP), die zwischen 1984 und 1991 durchgeführt wurde, bestätigen dies u.a. für Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes mellitus, chronische Bronchitis und Magengeschwüre. Die größeren Gesundheitsprobleme von Personen mit niedrigem Sozialstatus lassen sich auch daran festmachen, dass sie häufiger von mehreren Krankheiten gleichzeitig betroffen sind. Von den untersuchten Krankheiten kamen einzig Allergien und Heuschnupfen vermehrt bei den Angehörigen der hohen Statusgruppe vor (Helmert/Shea 1994). Krankenkassendaten liefern ebenfalls Evidenz für die sozial ungleich verteilte Krankheitslast. Mit Daten der AOK-Mettmann aus den Jahren 1987 bis 1996 konnte gezeigt werden, dass Männer mit niedriger schulischer und beruflicher Bildung im Beo-
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Thomas Lampert, Lars Eric Kroll
bachtungszeitraum viermal häufiger einen Herzinfarkt erlitten als diejenigen mit hohem Bildungsniveau. Un- und angelernte Arbeiter unterlagen einem doppelt so hohen Infarktrisiko wie Angestellte und Führungskräfte. Bei Frauen ging nur von der beruflichen Stellung ein signifikanter Einfluss auf das Infarktrisiko aus, der zudem schwächer ausgeprägt war als bei Männern (Geyer/Peter 1999). Eine Auswertung von Daten der Gmünder Ersatzkasse aus den Jahren 1990 bis 2003 bestätigt das höhere Herzinfarktrisiko von Männern mit niedriger Bildung und niedrigem Berufsstatus (Abb. 2) und weist zudem auf ein verstärktes Auftreten von Lungenkrebs und Leberzirrhose in diesen Gruppen hin (Voges et al. 2004).
Gering qualifizierte manuelle Berufe
8
Gering qualifizierte Angestelltenberufe Qualifizierte manuelle Berufe
7
Qualifizierte Angestelltenberufe Berufe mit hohem Status
6
Männer
Prozent
5
4
3
Frauen
2
1
0 1990
Abbildung 2:
1992
1994
1996
1998
2000
2002
2004
Kumulierte Morbiditätsraten für Herzinfarkt bei 40- bis 69jährigen Männern und Frauen; Datenbasis: Gmünder Ersatzkasse 1990-2003 (Voges et al. 2004)
Der Einfluss sozialer Ungleichheit kommt auch in der psychischen Gesundheit zum Ausdruck. Das machen Ergebnisse des Zusatzmoduls „Psychische Störungen“ zum Bundes-Gesundheitssurvey 1998 deutlich, die sich auf affektive, somatoforme, Angst- und Substanzstörungen beziehen. Während bei 34% der Männer aus der unteren sozialen Statusgruppe mindestens eine Störung festgestellt wurde, traf dies auf 25% der Männer aus der mittleren und 22% der Männer aus der oberen Statusgruppe zu. Bei Frauen betrugen die entsprechenden Anteile 40% im Vergleich zu 37% und 34%. Eine nach Störungsgruppen diffe-
Gesundheitliche Ungleichheit als Herausforderung für den Sozialstaat
227
renzierende Betrachtung ergab bei Männern deutliche statusspezifische Unterschiede im Auftreten affektiver, somatoformer und Angststörungen (Tab. 1). Bei statistischer Kontrolle des Alterseffektes war die Auftretenswahrscheinlichkeit dieser Störungen in der niedrigsten im Vergleich zur höchsten Statusgruppe 1,9bis 2,6-fach erhöht. Frauen aus der unteren Statusgruppe sind insbesondere von affektiven Störungen häufiger betroffen. Auch bei den insgesamt seltener vorkommenden Substanzstörungen zeigen sich Statusunterschiede, die statistisch aber nicht signifikant sind. Psychische Komorbidität, d.h. das gleichzeitige Auftreten von zwei und mehr psychischen Störungen, kommt bei Männern mit niedrigem Sozialstatus etwa 4-mal, bei Frauen etwa 2-mal häufiger vor als bei denjenigen mit hohem Sozialstatus (Lampert et al. 2005). Männer
Frauen
Sozialstatus
Sozialstatus
Niedrig
Mittel
Hoch
N : H1
Niedrig
Mittel
Hoch
N : H1
Affektive Störungen
12,0
8,5
6,7
1,86*
20,1
15,6
11,1
2,02***
Angststörungen
14,9
8,7
6,5
2,59***
21,8
20,2
16,6
1,40 1,17
Somatoforme Störungen
10,3
7,0
4,9
2,48**
16,2
14,3
14,2
Substanzstörungen
10,8
7,1
5,7
1,48
3,1
1,3
1,4
2,05
15,0
8,4
4,5
3,92***
22,4
15,1
12,1
2,14***
Psychische Komorbidität
2
1 Altersadjustierte odds ratio mit Signifikanzniveau (* p<0,05 ** p<0,01 *** p<0,001) für das Vorkommen psychischer Störungen in der niedrigen im Verhältnis zur hohen Statusgruppe 2 Psychische Komorbidität = 2 oder mehr Diagnosen
Tabelle 1: 12-Monats-Prävalenz psychischer Störungen und psychischer Komorbidität bei 18- bis 65-jährigen Männern und Frauen nach sozialem Status (in %); Datenbasis: Bundes-Gesundheitssurvey 1998 – Zusatzmodul „Psychische Störungen“ (Lampert et al. 2005) Bei der Entstehung chronischer Krankheiten und Beschwerden kommt den verhaltenskorrelierten Risikofaktoren Rauchen, Übergewicht und Bewegungsmangel große Bedeutung zu. Zahlreiche Studien liefern Hinweise darauf, dass die höhere Krankheitsbelastung der niedrigen Statusgruppen zumindest teilweise auf einen gesundheitsriskanteren Lebensstil zurückzuführen ist (Helmert 2003; Nocon et al. 2007). Eine Schlüsselrolle scheint dabei die Bildung zu spielen, die im engen Zusammenhang mit gesundheitsbezogenen Einstellungen, Wahrnehmungen und Überzeugungen zu sehen ist. Die Ergebnisse des telefonischen Gesundheitssurveys 2003 zeigen hierzu, dass Personen mit Hauptschulabschluss deut-
228
Thomas Lampert, Lars Eric Kroll
lich häufiger rauchen, übergewichtig sind und keinen Sport treiben als Personen mit Abitur. Auch zwischen Personen mit mittlerer Reife und Abitur zeigen sich Unterschiede, so dass von einem Bildungsgradienten in der Verbreitung der verhaltenskorrelierten Risikofaktoren gesprochen werden kann (Tab. 2). Rauchen
Übergewicht
Sportliche Inaktivität
OR
95%-KI
OR
95%-KI
OR
95%-KI
1,84
1,55-2,19
1,53
1,28-1,83
2,01
1,70-2,36
Mittlere Reife
1,56
1,31-1,84
1,30
1,10-1,54
1,57
1,33-1,85
Abitur
Ref.
Männer Hauptschulabschluss
Ref.
Ref.
Frauen Hauptschulabschluss
2,28
1,86-2,80
2,39
1,98-2,87
2,03
1,71-2,42
Mittlere Reife
1,64
1,37-1,96
1,61
1,36-1,90
1,37
1,16-1,61
Abitur
Ref.
Ref.
Ref.
OR: Altersadjustierte odds ratio, 95%-KI: 95%-Konfidenzintervalle zu den odds ratio, Ref.: Referenzgruppe
Tabelle 2: Rauchen (aktuell), Übergewicht (BMI>25) und sportliche Inaktivität bei 18-jährigen und älteren Männern und Frauen nach Schulbildung; Datenbasis: Telefonischer Gesundheitssurvey 2003 (eigene Berechnungen) Das häufigere Auftreten von Krankheiten und Risikofaktoren in den unteren Statusgruppen korrespondiert mit einer höheren vorzeitigen Sterblichkeit. Aufschluss hierüber gibt eine Studie zu Einkommensunterschieden in der Lebenserwartung, die auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren 1995 bis 2005 basiert. Demnach unterliegen Männer und Frauen aus der niedrigsten im Verhältnis zur höchsten Einkommensgruppe einem 2,7- bzw. 2,4-fach erhöhtem Mortalitätsrisiko. Bei Männern lässt sich auch für die mittleren Einkommensgruppen ein erhöhtes Mortalitätsrisiko feststellen (Abb. 3). Bezogen auf die mittlere Lebenserwartung bei Geburt macht der Unterschied zwischen der niedrigsten und höchsten Einkommensgruppe bei Männern 11 und bei Frauen 8 Jahre aus. Berücksichtigt man nur den Anteil der Lebensjahre, die bei guter Gesundheit verbracht werden können, erhöhen sich die Differenzen in der Lebenserwartung auf 14 Jahre bei Männern und 10 Jahre bei Frauen (Lampert et al. 2007).
Gesundheitliche Ungleichheit als Herausforderung für den Sozialstaat
Männer
229
Frauen
4,0
3,0
Relatives Mortalitätsrisiko
2.7 2.4 2,0
2.0 1.7 1.5
1.4
1.4
1.1 1,0
Ref.
Ref.
0,5 0-60%
60-80%
80-100%
100-150%
>150%
0-60%
60-80%
80-100%
100-150%
>150%
Einkommen
Abbildung 3:
3
Relatives Mortalitätsrisiko von Männern und Frauen ab 18 Jahren nach Einkommen (Referenzgruppe: Personen mit einem Netto-Äquivalenzeinkommen von 150% und mehr des gesellschaftlichen Medians); Datenbasis: Sozio-oekonomisches Panel 1995-2005 (Lampert et al. 2007)
Zeitliche Entwicklungen und Trends
Angesichts der Auseinanderentwicklung der Lebensverhältnisse, die sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in den meisten anderen europäischen Ländern beobachten lässt, stellt sich die Frage, wie sich die gesundheitliche Ungleichheit im Zeitverlauf verändert hat. Von besonderem Interesse ist dabei die Entwicklung seit Ende der 1970er Jahre, weil diese Periode durch eine deutliche Zunahme der Armutsbetroffenheit und Arbeitslosigkeit sowie in den letzten Jahren auch durch Einschnitte in die sozialen Sicherungssysteme gekennzeichnet war. Seit den 1990er Jahren zeichnet sich zudem ein Umbau der Wohlfahrtsstaaten in Europa ab, der auch als Reaktion auf den demographischen Wandel und die europäische Währungsunion zu verstehen ist (Dingeley 2006). Die vorliegenden internationalen Studien sprechen dafür, dass die gesundheitliche Ungleichheit in den vergangenen Jahrzehnten eher zu- als abgenommen hat. Für die Selbsteinschätzung des allgemeinen Gesundheitszustandes zeigt eine Analyse von Daten aus 10 europäischen Ländern, dass sich die Bildungs- und
230
Thomas Lampert, Lars Eric Kroll
Einkommensunterschiede in den meisten Ländern nicht verringert haben. In einigen Ländern ist sogar eine Ausweitung der sozialen Ungleichheit im allgemeinen Gesundheitszustand zu beobachten. Dies lässt sich beispielsweise an zunehmenden Bildungsunterschieden in Italien und Spanien festmachen. In den Niederlanden haben im gleichen Zeitraum die Einkommensunterschiede zugenommen (Kunst et al. 2005).
Männer
Frauen
3,5
3,0
Odds Ratio
2,5
2,0
1,5
1,0 1998
2000
2002
2004
2006 1998
Einkommen (Referenzgruppe: >150%)
Abbildung 4:
2000
0-60%
2002
2004
2006
60-150%
Zeitliche Veränderung des Risikos einer zufrieden stellenden bis sehr schlechten allgemeinen Gesundheit in der niedrigsten und mittleren im Vergleich zur höchsten Einkommensgruppe (<60%, 60-150% und >150% des mittleren Netto-Äquivalenzeinkommen); Datenbasis: Sozio-oekonomisches Panel 19982006 (eigene Berechnungen)
Für Deutschland kann die zeitliche Entwicklung der gesundheitlichen Ungleichheit auf Basis von Daten des Sozio-oekonomischen Panels dargestellt werden. Mit Blick auf den allgemeinen Gesundheitszustand zeigt sich dabei in den letzten Jahren eine Zunahme der Einkommensungleichheit. Im Jahr 1998 schätzten 53% der Männer aus der niedrigsten und 42% der Männer aus der höchsten Einkommensgruppe ihren allgemeinen Gesundheitszustand nur als zufriedenstellend bis sehr schlecht ein. Bis zum Jahr 2006 stieg dieser Anteil in der niedrigsten Einkommensgruppe deutlich auf 58%, in der höchsten Einkommensgruppe dagegen nur leicht auf 44%. Bei Berücksichtigung der unterschiedlichen Alterszusam-
Gesundheitliche Ungleichheit als Herausforderung für den Sozialstaat
231
mensetzung in den Einkommensgruppen, lässt sich die Aussage treffen, dass das Risiko einer zufriedenstellenden bis sehr schlechten Gesundheit in der niedrigsten im Verhältnis zur höchsten Einkommensgruppe im Jahr 1998 um das 1,9fache und im Jahr 2006 um das 2,8-fache erhöht war. Auch bei Frauen zeigte sich eine Zunahme der Einkommensunterschiede im allgemeinen Gesundheitszustand, die aber etwas schwächer als bei Männern ausfiel (Abb. 4). Die Länder vergleichenden Studien erteilen außerdem Auskunft über die sozial differenzielle Entwicklung im Gesundheitsverhalten. Beispielsweise zeigt eine Analyse von Daten aus neun europäischen Ländern, dass im Zeitraum 1985 bis 2000 die Bildungsunterschiede im Rauchverhalten zugenommen haben. Die deutlichsten Belege hierfür fanden sich bei Frauen in Schweden, Finnland, Dänemark, Italien und Spanien. Zwar hatten die Rauchprävalenzen in den meisten Ländern abgenommen, der Rückgang war aber vor allem in den besser gebildeten Bevölkerungsgruppen zu beobachten. Lediglich bei britischen Männern und Frauen sowie italienischen Männern wurde einer Verringerung der Bildungsunterschiede im Tabakkonsum festgestellt (Giskes et al. 2005). Wie für die subjektive Gesundheit so ist auch für das Rauchen in Deutschland ein Anstieg der sozialen Ungleichheit festzustellen (Abb. 5). Im Jahr 1998 rauchten 41% der Männer mit Hauptschulabschluss und 31% der Männer mit Abitur. In beiden Gruppen nahmen die Raucheranteile bis zum Jahr 2006 auf 36% bzw. 23% ab. Das Chancenverhältnis stieg dabei unter Berücksichtigung von Altersunterschieden zwischen den Bildungsgruppen von 2,1:1 auf 2,5:1 an. Dagegen ist nur bei den Frauen mit Abitur ein leichter Rückgang des Tabakkonsums festzustellen, bei den Frauen mit Hauptschulabschluss nahm der Anteil der aktuellen Raucherinnen sogar noch zu (von 22% auf 27%). Folglich haben sich die Bildungsunterschiede im Rauchverhalten von Frauen in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet, bezogen auf das Chancenverhältnis von 1,6:1 auf 2,5:1.
232
Thomas Lampert, Lars Eric Kroll
Männer
Frauen
3,5
3,0
Odds Ratio
2,5
2,0
1,5
1,0 1998
2000
2002
2004
2006 1998
Höchster Schulabschluss (Referenzgruppe: Abitur)
Abbildung 5:
4
2000
Hauptschule
2002
2004
2006
Mittlere Reife
Abbildung 5: Zeitliche Veränderung des Risikos aktuell zu Rauchen in der niedrigsten und mittleren im Vergleich zur höchsten Bildungsgruppe (Hauptschulabschluss, mittlere Reife und Abitur); Datenbasis: Sozio-oekonomisches Panel 1998-2006 (eigene Berechnungen)
Herausforderungen für den Sozialstaat
Mittlerweile bestätigen die empirischen Studien zur gesundheitlichen Ungleichheit nur noch einen bekannten und allenthalben akzeptierten Sachverhalt. Aus diesem Grund rückt zusehends die Frage in den Mittelpunkt, wie den beobachteten gesundheitsbezogenen Problemlagen und Verteilungsungleichheiten politisch begegnet werden kann. Zentral erscheint die Bekämpfung von Einkommensarmut. Über das Einkommen eröffnet sich nicht nur der Zugang zu notwendigen Bedarfs- und Gebrauchsgütern, ebenso werden die Möglichkeiten der sozialen Integration und sozio-kulturellen Teilhabe sowie der individuellen Lebensplanung maßgeblich durch die Ausstattung mit finanziellen Mitteln bestimmt. Ein Leben unter oder an der Armutsgrenze geht oftmals mit Ausgrenzungserfahrungen, einem verminderten Selbstwertgefühl und Stressbelastungen einher. Die Umverteilung über Transferleistungen, Steuern und Sozialversicherungsbeiträge ist deshalb nicht nur unter materiellen Aspekten zu bewerten, sondern auch im Hinblick auf psychosoziale Prozesse und die damit verbundenen Gesundheitschancen bzw. -risiken.
Gesundheitliche Ungleichheit als Herausforderung für den Sozialstaat
233
Da Arbeitslosigkeit die Hauptursache von Armut ist, sollte eine Politik des sozialen Ausgleichs an der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt ansetzen. Neben allgemeinen beschäftigungspolitischen Maßnahmen erscheinen angesichts sich wandelnder Wirtschaftszweige, Technologien und Berufsstrukturen neue Programme zur beruflichen Qualifizierung und Weiterbildung erforderlich. Bei Arbeitslosen muss gegebenenfalls durch Umschulung oder Zusatzjobs eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt erreicht werden. Ein besonderes Augenmerk sollte kranken und behinderten Menschen gelten, die einem höheren Arbeitslosigkeitsrisiko unterliegen und relativ schlechte Wiederbeschäftigungschancen haben. Ein weiterer Ansatzpunkt für politische Interventionen ist die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Vor allem die Arbeitssituation von un- und angelernten Arbeitern ist oftmals durch Gesundheitsrisiken wie körperliche Schwerarbeit, Nacht-, Schicht- und Akkordarbeit, Schadstoffexposition, Lärmeinwirkung, Unfallgefahren sowie Hitze, Kälte, Nässe oder Zugluft charakterisiert (Oppolzer 1994; Statistisches Bundesamt 1998). Die Angehörigen statusniedriger Berufsgruppen sind aber nicht nur physischen, sondern auch psychosozialen Arbeitsbelastungen, die in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben, verstärkt ausgesetzt. Ursachen hierfür sind u.a. monotone Arbeitsabläufe, geringe Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume, Konflikte mit Kollegen und Vorgesetzten sowie berufliche Gratifikationskrisen (Siegrist 1996; Badura et al. 2004). Ebenso können Investitionen in die Bildung dazu beitragen, die gesundheitliche Ungleichheit zu verringern. Die schulische Bildung und berufliche Qualifikation ist maßgeblich für die späteren Erwerbs- und Einkommenschancen. Über die Bildung werden zudem Gesundheitswissen sowie gesundheitsbezogene Einstellungen und Handlungskompetenzen vermittelt, die z.B. bei der Vermeidung von Gesundheitsrisiken oder dem Umgang mit Krankheiten zum Tragen kommen. Die Ergebnisse der PISA-Studien, die für Deutschland einen auch im internationalen Vergleich engen Zusammenhang zwischen den Bildungschancen und der sozialen Herkunft belegen (Prenzel et al. 2005), zeigen deshalb einen vordringlichen politischen Handlungsbedarf aus. Gefordert ist darüber hinaus die Familienpolitik. Die Erziehung von Kindern ist mit Kosten verbunden, die durch den Familienlastenausgleich nicht annähernd gedeckt werden. Bei mehreren Kindern ergeben sich monatliche Ausgaben, die auch Familien im mittleren Einkommensbereich an ihre finanziellen Belastungsgrenzen stoßen lassen. Besonders problematisch stellt sich die Situation für Familien allein erziehender Mütter dar, da die alleinige Sorge für die Kinder die Erwerbs- und Einkommenschancen vermindert. Vor diesem Hintergrund bedarf es zielgerichteter Transferleistungen und steuerlicher Entlastungen für Familien mit Kindern. Außerdem muss die Kinderbetreuung verbessert werden,
234
Thomas Lampert, Lars Eric Kroll
um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Eine sozial gerechte Familienpolitik sollte die finanziellen und psychosozialen Belastungen von Familien verringern und die Eltern dazu befähigen, ihren Kindern ein förderliches Umfeld zu schaffen und gerechte Startchancen zu eröffnen. Anforderungen stellen sich außerdem an die Wohnungsbaupolitik und Stadtplanung. Personen mit niedrigem Einkommen leben in kleineren und schlechter ausgestatteten Wohnungen. Bisweilen finden sich gravierende, gesundheitsschädigende Wohnungsmängel, wie z.B. feuchte Wände, Zugluft, Kälte oder hohe Schadstoffbelastung (Fiedler 1998). Für die Gesundheit sind aber nicht nur die Bedingungen innerhalb der Wohnung von Bedeutung, sondern auch die Beschaffenheit des Wohnumfeldes. Sozial benachteiligte Wohngebiete sind durch eine schlechtere soziale und kulturelle Infrastruktur, weniger Grün- und Freiflächen sowie ein höheres Verkehrsaufkommen und eine stärkere Luftverschmutzung charakterisiert (Heinrich et al. 1998). Möglichkeiten zur Verringerung der gesundheitlichen Chancenungleichheit ergeben sich auch im Zusammenhang mit der medizinischen Versorgung. In Deutschland gewährleistet die gesetzliche Krankenversicherung einen vom Einkommen weitgehend unabhängigen Zugang zum Versorgungssystem. In den letzten Jahren hat allerdings die Bedeutung direkter Käufe von medizinischen Gütern und Leistungen sowie von Zuzahlungen zugenommen. Obwohl sich die Selbstbeteiligungen im Vergleich zu anderen Ländern immer noch gering ausnehmen und zahlreiche Härtefallregelungen existieren, werden bisweilen Effekte auf die Versorgungsgerechtigkeit unterstellt (Lauterbach 2007). Neben finanziellen Zugangsbeschränkungen dürften hierfür Unterschiede im Gesundheitswissen, in gesundheitsbezogenen Einstellungen, der Bereitschaft, Hilfe zu suchen und in Anspruch zu nehmen, sowie der Arzt-Patienten-Kommunikation verantwortlich sein. Auch bei Härtefallregelungen ist zu berücksichtigen, dass viele Berechtigte diese nicht in Anspruch nehmen, weil sie entweder nicht um die Befreiungsmöglichkeit wissen oder das Antragsverfahren als sehr kompliziert wahrnehmen (Mielck 2000). Ein weiteres Handlungsfeld stellt die Prävention und Gesundheitsförderung dar. Bislang erreichen viele präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen vor allem die besser gebildeten Bevölkerungsgruppen, was sich z.B. für die Krankheitsfrüherkennungsuntersuchungen im Kindesalter belegen lässt (Landesgesundheitsamt Brandenburg 2005). Umso wichtiger erscheint es, beim geplanten Ausbau der Prävention stärker die sozial benachteiligten Gruppen, z.B. durch niedrigschwellige, leicht zugängliche Angebote, einzubeziehen (Pott/Lehmann 2002).
Gesundheitliche Ungleichheit als Herausforderung für den Sozialstaat
235
Zusammenfassend ist festzustellen, dass eine nachhaltige Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit nur durch ein breites Spektrum aufeinander abgestimmter politischer Maßnahmen zu erreichen ist. Erforderlich erscheint eine umfassende Handlungsstrategie, die in verschiedenen Politikbereichen, insbesondere der Gesundheits-, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik, umgesetzt wird. In Deutschland gibt es diese bislang nicht, in einigen anderen Ländern ist die Entwicklung aber weiter vorangeschritten. So wird in England seit dem Jahr 2003 das Aktionsprogramm „Tackling Health Inequalities: A Programme for Action“ durchgeführt, dass von 12 Ministerien unterstützt wird und u.a. das Ziel verfolgt, die Mortalitätsunterschiede zwischen der niedrigsten und höchsten Statusgruppe bis zum Jahr 2010 um 10% zu verringern (Department of Health 2003). Im gleichen Jahr wurde in Schweden das Gesetz „Sweden’s New Public Health Policy“ verabschiedet, das den Schwerpunkt auf intersektorale und gesamtgesellschaftliche Maßnahmen zu drei übergeordneten Zielbereichen legt: Verringerung der sozialen Ungleichheit, Schaffung gesunder Lebensumwelten und Förderung einer gesunden Lebensweise (Agren 2003). Auch in den Niederlanden, Irland und Schottland gibt es inzwischen umfassende Aktionsprogramme zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit (Mielck 2006). Zu den in Deutschland umgesetzten Maßnahmen zählt die Neugestaltung des § 20 des Sozialgesetzbuches V, der die Krankenkassen zur Erbringung präventiver Leistungen anhält, die insbesondere einen Beitrag zu einer Verringerung der sozial bedingten Ungleichheit von Gesundheitschancen leisten sollen. Eine wichtige Weichenstellung könnte durch das geplante Präventionsgesetz erfolgen, mit dem die Prävention als vierte Säule des Gesundheitswesens verankert werden soll. Voraussetzung ist allerdings, dass die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit tatsächlich als ein vorrangiges politisches Handlungsziel festgeschrieben wird. Impulse gehen außerdem von der Formulierung nationaler Gesundheitsziele und der Gründung des Deutschen Forums für Prävention und Gesundheitsförderung als Plattform der Koordinierung von Aktivitäten und Vernetzung von Akteuren im Gesundheitsbereich aus. In beiden Zusammenhängen wird die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit als wichtige Querschnittsanforderung erachtet, Empfehlungen für die Umsetzung dieser Aufgabe wurden bislang aber nicht erarbeitet. Gleiches gilt für die „Nationalen Aktionspläne zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung“ (NAP’incl), die noch keine konkreten Vorschläge zur Verminderung der gesundheitlichen Auswirkungen einer benachteiligten Lebenslage beinhalten. Die Entwicklung einer umfassenden politischen Strategie zur Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheit steht somit in Deutschland noch aus.
236
Thomas Lampert, Lars Eric Kroll
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Blaming, Producing und Activating the Victim Materialistisch inspirierte Anmerkungen zu verdrängten Dimensionen sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit Uwe H. Bittlingmayer
Die jüngeren Diskussionen um sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheiten haben verdeutlicht, dass in hoch entwickelten Industriegesellschaften ein signifikanter Zusammenhang besteht zwischen dem Gesundheitszustand einer Person und deren Stellung in der sozialen Hierarchie. Die Sozialepidemiologie hat in Deutschland eine enorme Anzahl von Befunden in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren vorgelegt, die einen sozialen Gradienten entlang unterschiedlichster Krankheiten nachweisen können. Das Robert Koch-Institut fasst stellvertretend in einer aktuellen Übersicht zusammen: „Sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen sind durch stärkere Arbeitsbelastungen, schlechtere Wohnverhältnisse, vermehrten Zigarettenkonsum, häufigeres Übergewicht und größeren Bewegungsmangel einem teilweise deutlich erhöhten Krankheitsrisiko ausgesetzt. Leiden wie Schlaganfall, chronische Bronchitis, Schwindel, Rückenschmerzen und Depressionen sind in der unteren Sozialschicht sowohl bei Frauen wie Männern häufiger als in der oberen Schicht. Eine besondere Risikogruppe stellt die gewachsene Zahl der Arbeitslosen dar. Bei den 20-59-Jährigen leiden knapp 50 Prozent der arbeitslosen, dagegen nur rund 30 Prozent der erwerbstätigen Männer und Frauen unter gesundheitlichen Beschwerden. Dies führt bei Arbeitslosen im Vergleich mit Erwerbstätigen zu einer etwa doppelt so großen Anzahl von Krankenhaustagen.“ (RKI 2006: 83) Die sozial bedingten gesundheitlichen Ungleichheiten, die mittlerweile in einer Vielzahl von Studien für Deutschland, aber auch für andere Industrienationen nachgezeichnet werden (Jungbauer-Gans/Kriwy 2004; Mielck 2005; Wilkinson 2005; Richter/Hurrelmann 2006; Bauer et al. 2007), beziehen sich aber bekanntlich nicht nur auf die vielfältigen sozial ungleichen Erkrankungswahrscheinlichkeiten, sondern auch auf die Mortalitätsraten. Vergleichsweise dramatische Befunde auf der Grundlage von SOEP-Daten zeigen beispielsweise, dass die Unterschiede in der Lebenserwartung – auf der Basis eines vergleichsweise
Ich bedanke mich ganz ausdrücklich bei Ullrich Bauer und Diana Sahrai für wertvolle Hinweise und Kommentare.
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sehr groben Indikators – zwischen dem obersten Einkommensviertel gegenüber dem untersten Einkommensviertel in Deutschland bei Frauen 5 Jahre und bei Männern sogar 10 Jahre betragen.1 Zusammenhänge zwischen sozialer Ungleichheit und gesundheitlichem Zustand lassen sich also nicht mehr länger leugnen, nachdem der Diskurs in Deutschland wegen unzulänglicher Datenlage mit einer Verzögerung von zehn bis fünfzehn Jahren geführt wurde (klassisch etwa der Black-Report für Großbritannien (DHSS 1980) einerseits und die Initialstudie für Deutschland von Mielck (1994) andererseits). Die Rede von der Zwei- bzw. Dreiklassenmedizin ist ein gängiger Aufhänger massenmedialer Inszenierungen. Dass sich gesundheitliche Ungleichheiten nachweisen lassen ist für Ungleichheitssoziologen kaum eine Überraschung,2 sondern eine besonders drastische Konsequenz des nahezu ungebrochenen Trends in den letzten zwei Dekaden in fast allen westlichen Industrienationen einer Steigerung gesamtgesellschaftlicher Ungleichheiten. Interessant und anvisierter Mittelpunkt des Beitrages ist aber die (gesundheits-)politische Verarbeitung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten. Ich möchte in diesem Beitrag zu diesem Zweck zunächst die gesundheitspolitischen Stellungnahmen zur Reduzierung gesundheitlicher Ungleichheit in den Blick nehmen (1.). Dabei wird sich zeigen, dass die markanteste Linie aktueller Gesundheitspolitik in Deutschland im Hinblick auf gesundheitliche Ungleichheit eine folgenreiche doppelte Verschiebung aufweist. Ich werde in einem zweiten Schritt analysieren, inwieweit sich die aktuelle Gesundheitspolitik auf eben dieser Grundlage in den öffentlichen Kampagnen einem „Blaming the Victim“ schuldig macht, das gesundheitliche Ungleichheiten kaum ernsthaft zu reduzieren vermag (2). Ich möchte ferner in einem dritten Schritt zeigen, dass dieses 1 Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich noch lange nicht vorne. „Research [...] using official data from twenty-three rich and poor areas in the United States found that white woman who reached the age of sixteen and were living in the richest areas could expect to live until they were eighty-six year old, compared to seventy for black woman in the poorest areas of New York, Chicago, and Los Angeles – a difference of sixteen years. Similarly, sixteen year-old white men living in rich areas could expect to live until they were seventy-four or seventy-five, whereas black men in the poorest areas could expect to live to only about fifty-nine. The difference of life expectancy between whites in rich areas and blacks in poor areas of the United States was close to sixteen years for both men and woman.“ (Wilkinson 2005: 14/15) 2 Allerdings ist in der soziologischen Ungleichheitsforschung oder auch der Stadtsoziologie der Gegenstand Gesundheit noch immer stark vernachlässigt. Die Stadtsoziologie hält mit der Erforschung ungleichheitsproduzierender räumlicher Strukturen aus der Quartiersforschung Einsichten parat, die für die gesundheitswissenschaftliche Erforschung von Ungleichheiten noch unausgeschöpft sind. Im Rahmen der ungleichheitsorientierten Stadtsoziologie (Keller 1999; Keller 2005) lässt am genauesten zu zeigen, welche materialisierten Komponenten soziale Ungleichheitsverhältnisse heute mit sich bringen oder warum die These, dass „Raum“ nicht nur ein Ungleichheitsverstärker, sondern ein eigenständiger Ungleichheitsproduzent (Dangschat 1998; Alisch/Dangschat 1998; Wacquant 2006; Mielck 2007) ist, Plausibilität beanspruchen darf.
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„Blaming the Victim“ nicht zufällig erfolgt, sondern der spezifischen politischen Logik eines „aktivierenden Sozialstaats“ inhärent ist (3). Insofern wird das Beschuldigen und Verleumden der Opfer aktueller Politik maßgeblich gerahmt zunächst von der Produktion der Opfer gesundheitlicher Ungleichheiten durch die Einführung und Verstärkung marktorientierter Steuerungsformen einerseits und von der Aktivierung der Opfer in Form der normativen Betrachtung von Lebensstilen sowie der sukzessiven Erweiterung von Präventionspflichten andererseits.
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Zwischen Kampagnen und Kürzungen: Die aktuelle deutsche Gesundheitspolitik
Gesundheit im Spannungsfeld konträrer Handlungslogiken Die Gesundheitspolitik ist ein traditionelles Konfliktfeld politischer Steuerung und Regulierung. Zum einen ist eine auf Allgemeinheit zielende Gesundheitspolitik verpflichtet, allen Bürgerinnen und Bürgern den bestmöglichen Zugang zu gesundheitlichen Versorgungen zu gewährleisten und das medizinisch und technisch Realisierbare unabhängig vom sozialen Status der betroffenen Personen anzuwenden. Zum anderen sind Gesundheit und Krankheit aber auch volkswirtschaftlich relevante Handlungsfelder, in denen etwa Berufsprofessionen und Semiprofessionen um Einkünfte und Bezüge streiten, die Pharmaindustrie ihre Profite maximieren möchte und der Gesundheitssektor insgesamt einen wichtigen Posten in staatlichen Haushalten darstellt. Der Bereich der Gesundheit und Krankheit stellt insofern einen besonders sensiblen Kristallisationspunkt zweier unterschiedlicher Handlungslogiken dar. Idealtypisch könnte man den Gegensatz in den Handlungslogiken etwa so charakterisieren: Einerseits kann die regulative Idee allgemeiner Gesundheit als sozialpolitischer Gegenstand begriffen werden. Dann ist es das ausgesprochene Ziel, jedem und jeder einzelnen unterschiedslos das Recht auf Gesundheit zu ermöglichen. Die politische Steuerung von Gesundheitsleistungen, d.h. der Inanspruchnahme von ambulanter oder stationärer medizinischer Versorgung im engeren Sinne oder auch der Inanspruchnahme von gesundheitsförderlichen Maßnahmen im weiteren Sinne3 verpflichtet sich auf dieser Basis auf einen nor3 Der Terminus Gesundheitsförderung umfasst dabei zum Teil sehr weitgehende, auf die gesellschaftlichen Hintergrundbedingungen abzielende Reformüberlegungen. „Health promotion is the process of enabling people to increase control over, and to improve their health.” (WHO 1986) Damit geht der Begriff Gesundheitsförderung weit über das hinaus, was unter Krankheitsprävention in der Regel verstanden wird. Vgl. hierzu die lesenswerte Studie von Schnabel (2007), in der die Differenz zwi-
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mativen Bezugsrahmen der Gleichheit. Andererseits ist der Gegenstand Gesundheit in zweierlei Hinsicht Objekt von Bemühungen, die das normative Ideal der Gleichheit konterkarieren. Zunächst ist die professionelle Beschäftigung mit Gesundheit in sozialstrukturelle Statuskämpfe eingebunden, die von bestehenden sozialstrukturellen Ungleichheiten in der Gesellschaft zeugen und darauf verweisen, dass strukturierte soziale Ungleichheit entlang unterschiedlicher Entlohnungen der Gesundheitsberufe bereits eine Ausgangsbedingung des Gesundheitssystems selbst ist. Die Statuszuweisung der Gesundheitsberufe folgt dabei in Deutschland weitgehend ständischen Prinzipien. Den statusreichen und in der Regel noch immer sehr lukrativen freien Berufen Arzt und Apotheker stehen beispielsweise die so genannten semi-professionellen Pflegeberufe gegenüber, die nicht nur weniger prestigeträchtig sind, sondern auch erheblich schlechter bezahlt sind.4 Darüber hinaus ist der Gegenstand Gesundheit aber auch Objekt von direkten Profitinteressen, die sich insbesondere in der Pharmaindustrie, aber mittlerweile längst nicht mehr nur dort manifestieren. So lässt sich seit den „Gesundheitsreformen“ Anfang der 1990er Jahre die Liste um profitorientierte Krankenhausketten oder auch Suchtkliniken mühelos erweitern. In all diesen „Betrieben“ gilt der simple kapitalistische Grundsatz, dass nicht in erster Linie für die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten produziert wird, sondern um monetäre Profite zu erzeugen und in dieser Hinsicht sind Medikamente, medizintechnische Geräte oder die stationäre Versorgung von Patienten eben solche Waren wie Autos, Kühlschränke oder Staubsauger. Profitinteressen und Profitrealisierungen stehen immanent im Gegensatz zu Prinzipien sozialer Gleichheit. In Staaten wie der Bundesrepublik, die sich als soziale Marktwirtschaft deklarieren, stehen diese beiden Handlungslogiken stets in einem konfliktreichen Verhältnis und es ist selbst ein zeitdiagnostisches Motiv, welche der beiden Handlungslogiken gerade überwiegt. Dabei ist eine deutliche sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit im Gesundheitsbereich deshalb eine besonders sensible zeitdiagnostische Referenz, weil die Forderung, dass allen Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft oder ihres gegenwärtigen sozialen Status schen Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention systematisch ausgearbeitet wird sowie Altgeld 2006. 4 Diese scheinbar natürliche Entlohnung und berufsbedingte Hierarchie ist keinesfalls so naturgegeben wie häufig angenommen. Dass soziale Hierarchien immer auch politische Konstruktionen sind, zeigt sich etwa daran, dass Ärzte in der DDR weniger verdient haben als ein bedeutender Teil der Arbeiterinnen und Arbeiter. Auch wenn die Sozialstrukturforschung der DDR oder eine historisch vergleichende Perspektive kaum vorliegt, verweist das Beispiel doch darauf, dass die Zuteilung von Einkommen und Status stets auf allgemeinere Hintergrundstrukturen und soziale Kämpfe verwiesen bleibt. Zum Wandel in den Gesundheitsberufen und zum Versuch der Neujustierung der Statushierarchien vgl. die Beiträge in Bollinger et al. 2005.
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das gleiche positive Recht auf das beste Maß an gesundheitlicher Versorgung und Gesundheitsförderung besitzen, das jeweils möglich ist, auf die breiteste Zustimmung in der Bevölkerung zählen kann und allein deshalb einen politisch nicht zu unterschätzenden normativen Bezugspunkt bildet. Die aktuelle Gesundheitspolitik in Deutschland hat sich von der Maßgabe sozialer Gleichheit im Gesundheitsbereich allerdings ein weites Stück entfernt. Drei Strategien augenblicklicher Gesundheitspolitik lassen sich identifizieren: erstens die abstrakte Anerkennung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten als kritikwürdiges Ausgangsszenario, zweitens die Stärkung wettbewerblicher Elemente sowie drittens die Favorisierung verhaltenspräventiver Steuerungsinstrumente als Therapiekonzepte.
Gesundheitliche Ungleichheit: Therapievorschläge des Bundesministeriums für Gesundheit In den unüberschaubar zahlreichen Presseerklärungen, die das Bundesministerium für Gesundheit herausgibt und den vielen Interviews und Statements der Ministerin Ulla Schmidt, die sich nach wie vor auf eine starke mediale Präsenz verlassen kann, sind immer wieder Formulierungen zu finden, in denen das Vorhandensein sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheiten eingeräumt wird. In einer Reaktion auf das neueste Gutachten des Sachverständigenrates für Gesundheit (SVR), in dem besonders deutlich auf gesundheitliche Ungleichheit hingewiesen wird (SVR 2007), wird der Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten als gesundheitspolitisches Ziel klar herausgestrichen (BMG 2007). Auch wenn im Grußwort der Ministerin (Schmidt 2006a) für den neuesten nationalen Gesundheitsbericht „Gesundheit in Deutschland“ (RKI 2006) das Thema sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheiten nicht benannt wird, so findet sich hier die Aussage, dass die „Politik [...] von einer umfassenden Gesundheitsberichterstattung [profitiert], liefert sie doch eine für gesundheitspolitische Entscheidungen wichtige Aufbereitung aktueller Gesundheitsdaten.“ (Schmidt 2006a: 3) Da im Bericht explizit die Existenz sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit belegt wird (vgl. u.a. RKI 2006: 81ff.), wäre die nahe liegende Konsequenz, dass ihre Reduktion insgesamt eine wichtige Einflussgröße der Gesundheitspolitik bildet. Gesundheitliche Ungleichheiten und gesamtgesellschaftliche Ungleichheiten sind allerdings keine unabhängigen Größen, sondern kaum zu trennen. Wie etwa die Studien von Richard Wilkinson zeigen, steigt die sozial bedingte gesundheitliche Ungleichheit mit der allgemeinen Einkommensungleichheit in der Bevölkerung an (Wilkinson 1996; Wilkinson 2005).
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Wenn der Abbau gesundheitlicher Ungleichheiten das vorrangige Ziel der aktuellen Gesundheitspolitik wäre, sollten sich also die politischen Strategien auf den Rückgang gesamtgesellschaftlicher sozialer Ungleichheiten konzentrieren. Gerade an dieser Stelle erweist sich aber, dass die Anerkennung sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit und die Proklamierung ihrer Reduzierung als politisches Ziel keinen handlungsleitenden Maßstab liefert, sondern eher rhetorisch umgedeutet wird. Denn nicht nur werden die Ursachen der gesamtgesellschaftlichen Produktion von sozialen Ungleichheiten in den politischen Stellungnahmen mittlerweile nahezu vollständig tabuisiert. Es kommt darüber hinaus zu einer doppelten Verschiebung der argumentativen Logik gesundheitlicher Ungleichheit, die konsequenzreich ist. Zum einen werden hierzu die vorhandenen „Fehlallokationen“, zu denen auch Ungleichheiten gerechnet werden, dadurch erklärt, dass im Gesundheitssektor noch nicht genug Wettbewerb eingeführt worden ist. Erst durch die konsequente Stärkung des Wettbewerbs, so die Grundidee, kommt es im Gesundheitssystem zu einer effizienten und sozial gerechten gesundheitlichen Versorgung und Gesundheitsförderung. So beklagt etwa Ulla Schmidt (2005: 4), „dass die wettbewerbliche Restrukturierung des Gesundheitswesens nicht weit genug gegangen ist.“ Dabei kann sich die Orientierung an einer Stärkung des Wettbewerbs im Gesundheitswesen im Augenblick breiter politischer parteiübergreifender Zustimmung erfreuen, ist doch damit die Vorstellung verbunden, dass die bislang ineffiziente ständisch-korporatistische Organisation des Gesundheitssystems enorme Effizienzgewinne erfährt und alles in allem kostengünstiger Versorgungs- und Präventionsleistungen übernehmen kann (zur Kritik vgl. Braun et al. 1998; Bauer 2006). Die Anbieter von gesundheitlichen Dienstleistungen aller Art sollen nach Ansicht des Bundesministeriums für Gesundheit in einen umfassenden Wettbewerb eintreten, um „Kunden“ gesundheitlicher Dienstleistungen durch kostengünstige Leistungen bei hohem medizinischem Standard zu gewinnen. Der erste Teil der Begründung gesundheitlicher Ungleichheit wird so auf die Ineffizienz der Anbieter verlagert, der politisch durch Liberalisierung und Stärkung des Wettbewerbs (Ökonomisierung) entgegengewirkt werden kann. Komplementär hierzu wird die Rolle des Patienten in den Presseerklärungen und Statements konzeptionalisiert. Insbesondere die Rolle der Prävention im Gesundheitsbereich soll gestärkt und als gleichberechtigte „vierte Säule“ im Gesundheitswesen neben der Akutbehandlung von Krankheiten, der Rehabilitation und der Pflege etabliert werden. „[W]ir brauchen einen umfassenden Ansatz, der Prävention als nationale Aufgabe sieht. Die Stärkung der Prävention ist eines meiner wichtigsten gesundheitspolitischen Ziele, denn ich bin überzeugt, dass Prävention mitentscheidend ist für die Zukunft unseres Gesundheitswesens.“ (Schmidt 2004) Unter Rückgriff auf die Betonung von Prävention gerät insbe-
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sondere das individuelle Gesundheitsverhalten in den Blick. „Unser heutiger Lebensstil mit zu wenig Bewegung und fettreicher, energiedichter Ernährung ist vorrangig verantwortlich für den Anstieg von Typ 2-Diabetes. [...] Die Entstehung und gravierende Folgeerkrankungen des am häufigsten auftretenden Typ 2Diabetes [...] lassen sich in den allermeisten Fällen durch konsequente Prävention verhindern. Prävention und Förderung eines gesunden Lebensstils mit ausgewogener Ernährung, ausreichender Bewegung und positiver Stressbewältigung sollte daher bereits in der Kindheit ansetzen.“ (BMG 2006a) Dieselbe präventive Argumentationslogik gilt auch für eine Reihe von anderen Krankheiten wie Übergewicht und Adipositas, Koronarkrankheiten, Lungenkrebs, Karies usw. (vgl. BMG 2006a; BMG 2006b; BMG 2006c). Auf der Grundlage eines risikoreichen Gesundheitsverhaltens werden präventive Maßnahmen als individuelle monetäre oder symbolische Anreizsteuerung konzipiert, sich selbst besser und nachhaltiger um seine eigene Gesundheit zu sorgen. Ein Beispiel für ein solches als erfolgreich eingestuftes monetär orientiertes Anreizsystem bieten die gesundheitspolitischen Rahmenveränderungen in der zahnmedizinischen Versorgung. „Die Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie belegt, dass die Präventionsleistungen der gesetzlichen Krankenkassen und die gute zahnärztliche Versorgung in Deutschland Früchte tragen. Regelmäßige Zahnarztbesuche zur Kontrolle der Mundgesundheit, die im Rahmen der Bonusregelung bei Zahnersatz belohnt werden, fördern die Gesundheitsvorsorge und Früherkennung aber auch ein stärkeres eigenverantwortliches Bewusstsein für Zahn- und Mundhygiene.“ (BMG 2006b) Ein Beispiel für eine groß angelegte symbolische Politik ohne nachweisbare und nachhaltige Wirkung ist die Kampagne „Bewegung und Gesundheit“ des Gesundheitsministeriums (vgl. BMG 2006d; kritisch zu solchen symbolischen Politikinstrumenten Altgeld 2006). Die gesundheitspolitische Inangriffnahme der Reduktion gesundheitlicher Ungleichheit erfährt also insgesamt eine doppelte Rahmung. Zum einen soll über eine Erweiterung des Wettbewerbs eine Effizienzsteigerung und Kostensenkung gesundheitlicher Dienstleistungen erreicht werden. Parallel hierzu soll die Stärkung von verhaltensbezogenen Präventionskampagnen bewirken, dass gesundheitsabträgliche Verhaltensweisen wie Rauchen oder übermäßiger Alkoholkonsum, Bewegungsmangel oder schlechte Ernährung deutlich reduziert werden. Auf diese Weise sollen die Morbiditätsraten und Mortalitätsraten gesamtgesellschaftlich eingeschränkt werden und als indirekte Konsequenz gesundheitliche Ungleichheit reduziert werden. Zur Steuerung gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen wird allerdings nicht mehr nur auf „positive Anreizmodelle“, sondern auch auf so genannte Malus-Modelle zurück gegriffen, d.h. Personen werden auch monetär für ihre gesundheitsabträglichen Verhaltensweisen zur Rechenschaft gezogen; darüber
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hinaus sollen auch erweiterte Präventionspflichten etabliert werden. „Warum sollten Menschen, die sich grundsätzlich nicht therapietreu verhalten, von Zuzahlungsermäßigungen etwa in Chroniker-Programmen profitieren? Wer mitmacht, wer aktiv dazu beiträgt, vermeidbare Komplikationen nicht entstehen zu lassen, sollte besser dastehen als andere Patienten. [...] Im Alter zwischen ungefähr 45 und 55 sollten Check-ups etwa zur Früherkennung von Stoffwechselerkrankungen zur Pflicht gemacht werden. [...] Übertragen bedeutet das: Wer regelmäßig zur Vorsorge geht, soll später von Abschlägen bei Zuzahlungen profitieren.“ (Schmidt 2006b) Die verhaltensbezogene Orientierung gesundheitspolitischer Maßnahmen und Kampagnen sowie die Einführung von Bonus- und Malus-Systemen auf lebensstilrelevante Größen beinhaltet immanent die Vorstellung, dass soziale Akteure bewusst und kalkulierend ihren Alltag gestalten. Individuelle Verhaltensweisen werden dadurch mit einem hohen Freiheits- und Entscheidungsgrad ausgezeichnet, der auf der handlungstheoretischen Idee rationaler und insbesondere kalkulierter bewusster Entscheidungen aufruht. Ob es sich nun um die Wahl der richtigen Krankenkasse, um das Bewegungs- oder Ernährungsverhalten handelt, alle Verhaltensweisen werden nach diesem Modell als Wahlhandlungen verstanden. Ich werde im nächsten Abschnitt zeigen, dass gegen diese Vorstellungen und gegen die aktuelle Gesundheitspolitik im Kontext existierender gesundheitlicher Ungleichheiten zurecht der Vorwurf des „Blaming the Victim“ erhoben worden ist.
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Die Stärkung des Wettbewerbs im Gesundheitssystem und die gleichzeitige Verlagerung der Verantwortlichkeit für den individuellen Gesundheitszustand auf das Gesundheitsverhalten der sozialen Akteure ist gerade aus der Perspektive, gesundheitliche Ungleichheiten reduzieren zu wollen, höchst problematisch. Bereits die Ausdehnung wettbewerblicher Elemente im Gesundheitssystem führt zu einer bedeutsamen Ausdehnung gesundheitlicher Ungleichheiten. Denn deren Reduktion ist kaum eine Frage effizienter Ressourcenallokation, weil die Herstellung von umfassender sozialer Gleichheit in westlichen Industriestaaten auf keine Mangelsituation trifft (das Argument findet sich bereits bei Galbraith 1958, Galbraith 1968; gegen das speziellere Argument einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen argumentieren überzeugend Braun et al. 1998). Inzwischen liegen auch eine Reihe von Studien darüber vor, auf welche Weise die Einführung und Stärkung wettbewerblicher Elemente in der gesundheitlichen Versorgung zu
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einer Ausdehnung gesundheitlicher Ungleichheit beiträgt (Kolb/Wolf 2006; SVR 2007; vgl. auch den Beitrag von Bauer in diesem Band). So hat die Einführung des Wettbewerbs unter den Krankenkassen, mit dem die Trendwende einer zunehmenden Ökonomisierung im Gesundheitswesen begann, „die in ihn gesetzten Hoffnungen auf eine Verbesserung der Versorgungsqualität überwiegend nicht erfüllt und in mancher Hinsicht sogar zu kontraproduktiven Wirkungen geführt.“ (Ahrens 2007: 51) Das Setzen auf wettbewerbliche Elemente im Gesundheitswesen, auf das „Spiel von Angebot und Nachfrage“ ist also, trotz der gesundheitspolitischen Beteuerungen, nicht geeignet um gesundheitliche Ungleichheiten zu reduzieren. Denn die sozialen Akteure treten mit gänzlich unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in die Marktsituation ein und können Marktsouveränität und freie Wahlentscheidungen nur auf der Grundlage ausreichender im Vorfeld vorhandener Handlungsressourcen überhaupt realisieren (Kraemer 1997). Zentral an der politischen Trendwende einer Ökonomisierung des Gesundheitswesens ist im Kontext gesundheitlicher Ungleichheiten aber vor allem, dass mit ihr der politische Gestaltungsanspruch auf die Verwirklichung sozialer Bürgerrechte aufgegeben und in guter Hoffnung auf Marktkräfte und Wettbewerb verschoben wird (Gerlinger 2002; Bauer 2006). Das, was die politische Gestaltung nicht mehr zu leisten vermag oder sich nicht mehr zutraut, wird abstrakten Steuerungsmechanismen übertragen, die erst recht nicht auf die Realisierung sozialer Rechte programmiert sind. Um es an dieser Stelle zu pointieren: Seit etwa einem Jahrzehnt werden in Deutschland politische Rahmenbedingungen geschaffen, die zu einer Verschärfung gesundheitlicher Ungleichheiten beitragen. Vor diesem Hintergrund ist es ganz besonders bedeutsam, dass in den politischen Stellungnahmen und öffentlichen Erklärungen gleichzeitig die Rolle der Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger und der Patientinnen und Patienten bei der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Gesundheit betont wird. Dieser Fokus auf das individuelle Gesundheitsverhalten, wie er im ersten Abschnitt in den angeführten Statements zum Ausdruck kam, bei einer Verschärfung der gesundheitssystemischen Rahmenbedingungen ist nicht nur gesundheitspolitisch bedenklich, sondern auch theoretisch in mehrfacher Hinsicht nicht haltbar. Erstens ist die Vorstellung, dass wir in einer individualisierten Gesellschaft leben, in der die persönlichen Entscheidungen als ahistorische, freie und kalkulierende individuelle Wahlhandlung immer weniger von den rahmenden Faktoren der sozialen Herkunft abhängig sind, nicht richtig. Die korrespondierende Idee, dass Individuen mittlerweile nicht mehr sozial integriert werden, sondern direkter durch die systemische Integration der Marktteilnahme, kann mittlerweile als widerlegt gelten. Nicht nur hat die soziologische Ungleichheitsforschung eben so wie die Bildungsforschung in einer großen Vielzahl von Untersuchungen
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den maßgeblichen Einfluss der sozialen Herkunft auf die gesamte Biografie aufgezeigt (für die Ungleichheitsforschung u.a. Vester 2002; Geißler 2002; Vester 2006; für die Bildungsforschung u.a. Deutsches PISA-Konsortium 2001; Becker/Lauterbach 2004; Vester 2005; Grundmann et al. 2006). Vielmehr ist darüber hinaus auch die Stabilität sozialer Klassen und Milieus empirisch herausgearbeitet worden (vgl. Vester et al. 2001), in denen die soziale Integration und die für das Gesundheitsverhalten maßgeblichen Sozialisationsprozesse – also die Entwicklung von Körperkonzepten oder Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten, Sportarten usw. – stattfinden (Bauer/Bittlingmayer 2006; siehe auch G. Hensen in diesem Band). Zweitens ist das Gesundheitsverhalten eingebettet in den gesamten Lebensstil einer Person. Lebensstile sind aber selbst symbolischer Ausdruck der eigenen gesellschaftlichen Stellung (Bourdieu 1982). Sie sind weder frei gewählt noch sind verhaltensbezogene Alltagspraktiken neutrale Aktivitäten. Der „freiwillige“ Besuch von Präventionsprogrammen oder Kursen zur Gesundheitsförderung verweist bereits auf einen bildungsgewohnten Lebensstil, der nicht für alle gesellschaftlichen Milieus zugänglich ist, weil hier spezifische symbolische Barrieren eingezogen sind (Bremer 2006; Bittlingmayer/Bauer 2007). Denn Gesundheitsverhalten ist ein Bestandteil übergreifenden Bildungsverhaltens (Tippelt et al. 2004: 125-128) und das Bildungsverhalten der Mitglieder der sozialen Milieus „in die gesamte klassenspezifische Lebensweise eingebettet“ (Vester 2004: 39). Die grundlegende Akzeptanz und Wahrnehmung von Angeboten der Prävention und Gesundheitsförderung ist also durch die Nähe zur schulischen und akademischen Bildung vermittelt. Der Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Kursangeboten und der Milieuzugehörigkeit ist gut belegt (vgl. Bremer, 2004; vgl. auch Bolder, 2006) Denn über das Ausmaß an „kulturellem Kapital“, also an erreichten Bildungs- und Berufsabschlüssen wird auch geregelt, mit welcher Sicherheit und mit welchem Selbstbewusstsein Individuen in welchen sozialen Feldern handeln. Die Wahrnehmung eines Rhetorikkurses setzt ein bestimmtes Selbstbewusstsein immer schon voraus, ebenso wie die Wahrnehmung eines Elternbildungskurses oder eines „Gesundheitstrainings“. Auch Kursangebote aus dem Bereich der Verhaltensprävention oder der Gesundheitsförderung sind bereits mit kulturellen Barrieren verknüpft, die entscheidend über den milieuspezifischen Bildungszugang vermittelt sind. Drittens schließlich ist die Vorstellung, dass verhaltenspräventive Aktivitäten für alle gleichermaßen und im selben Ausmaß positive Effekte beinhalten, selbst bereits ein starke ideologische Vorannahme. In seiner Bahn brechenden Studie über das US-amerikanische Gesundheitssystem führt Hagen Kühn hierzu treffend aus:
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„Die verhaltensbedingten Gesundheitseffekte sind in Schichten mit günstigeren Lebensbedingungen größer als unter ungünstigen. [...] Für Männer, die leichte Arbeit verrichten, ‚lohnt’ sich das Nichtrauchen gesundheitlich mehr als für Schwerarbeiter. ‚Gute Ernährung’ reduzierte die Erkrankungsraten zwar bei den Frauen der ‚non-manual class’, aber nicht bei denen der ‚manual class’. [...] Kurzum: Nicht nur das Gesundheitsverhalten, sondern auch dessen Wirkungen hängen von den sozialökonomischen Lebensbedingungen ab. Je besser also die Lebensbedingungen, desto höher der Effekt gesunden Verhaltens.“ (Kühn 1993: 98/99)
Die in den Stellungnahmen und Statements des Bundesgesundheitsministeriums häufig vorgetragenen Appelle für rationaleres Gesundheitsverhalten sehen von diesen ungleichen Wirkungen vollständig ab. Im Falle einer Drohung mit negativen Sanktionen bei ungehorsamem Präventionsverhalten und gleichzeitiger Beteuerung, dass es als maßgebliches Ziel des Bundesministeriums für Gesundheit betrachtet wird, gesundheitliche Ungleichheit zu reduzieren, wird ein Zynismus vollendet, der zurecht als „blaming the victim“ bezeichnet wird. „Bedenkenswerte unerwünschte Wirkungen von Gesundheitsförderung können auftreten, wenn Menschen, die sich nicht [...] aktivieren lassen oder lassen wollen, deshalb formell oder informell sanktioniert werden und ihnen die Schuld an ihrer Lage zugeschoben wird“ (Rosenbrock 1998: 34). Die theoretischen Hintergrundmodelle, die die Grundlage für die gegenwärtige Gesundheitspolitik in Deutschland bilden, sind nicht nur unterkomplex, sondern schlicht falsch, sofern sie als Möglichkeit angeführt werden, gesundheitliche Ungleichheit zu verringern. Im Falle der Vorstellung, dass die Ausdehnung des Wettbewerbs im Gesundheitsbereich zu einer effizienteren und für alle sozialen Akteure gerechteren Ressourcenallokation führt, wird von der sozial polarisierenden Wirkung profitorientierter Steuerung abgesehen. Im Falle der Vorstellung, dass das individuelle Präventionsverhalten der Schlüssel zu einer gesünderen Gesellschaft ist, wird einerseits ein falsches handlungstheoretisches Modell zu Grunde gelegt und andererseits davon abgesehen, dass gerade sozial benachteiligte Gruppen am wenigsten von den konkreten Verhaltensänderungen profitieren können. Die moralischen Appelle an benachteiligte soziale Akteure führen hier zu einem „blaming the victim“, zu einem Anklagen derjenigen Opfer, die mit den Gesundheitsmodernisierungsgesetzen und weiteren „Reformvorhaben“ in angrenzenden Politikfeldern erst erzeugt werden.
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Ich möchte in diesem Abschnitt zeigen, dass das soeben skizzierte blaming the victim nur ein Ausschnitt einer „Entwicklungslogik“ darstellt, die vom producing und vom activating the victim gerahmt wird. Entwicklungslogik muss hier in einem schwachen Sinn verstanden werden, denn die politischen Akteure dürften kaum ernsthaft die gesellschaftlichen Entwicklungen hin zu einer Verschärfung sozialer Ungleichheiten im Allgemeinen und gesundheitlichen Ungleichheiten im Besonderen, mit denen sie regulativ zu kämpfen haben, begrüßen. Sie muss allerdings als Konsequenz einer Politik begriffen werden, die der Ausdehnung kapitalistischer Prinzipien auf Gegenstände, die noch bis in die siebziger und achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts als Meilensteine der Positivierung sozialer Rechte galten, geschuldet ist. Der Mechanismus des producing victims liegt also zunächst in einer politisch induzierten und auch politisch gewollten Reduktion garantierter und durch soziale Bewegungen erkämpfter sozialer Rechte.5 Ausgangspunkt war hier sicher der neokonservative und neoliberale Politikwechsel, der mit der Trias Thatcher, Reagan und Kohl verbunden ist und der der Maßgabe folgte, dass unter allen Umständen die Staatsquote gesenkt und die sozialen Sicherungssysteme insgesamt zurückgeschraubt werden müssen. Das entscheidende Argument für einen Politikwechsel des sozialen und sozialstaatlichen Kompromisses hin zu stärker konkurrenzorientierten politischen Steuerungen lieferte Margaret Thatcher mit der berühmten Formel: „There is no alternative“ (Das „TINA-Prinzip“). Angesichts hoher Staatsverschuldungen und – zumindest in absoluten Zahlen – steigender Sozialausgaben einerseits sowie einer anhaltenden Massenarbeitslosigkeit, also Verlusten auf der Einnahmeseite der nationalstaatlichen und kommunalen Haushalte andererseits schien eine Abkehr von ausgedehnten sozialstaatlichen Transferleistungen und der Finanzierung einer „sozialen Hängematte“ (Helmut Schmidt) nicht mehr tragbar. Vor diesem Hintergrund wurden nach und nach alle versicherungsförmigen oder steuerfinanzierten Politikfelder, in denen soziale Transferleistungen realisiert werden, durch die Einführung und kontinuierliche Erweiterung wettbewerbsförmiger Elemente umstrukturiert und für die Möglichkeit, Profite durch Dienstleis-
5 Dieser Aspekt der aktiven Rolle der politischen Akteure ist wichtig zu betonen, denn die kontinuierlichen Verknappungen des politischen Spielraums, einschließlich der Verteilungsmasse der Transferleistungen sind eine Konsequenz der politischen Entscheidung, eher auf anonyme Marktkräfte als auf direkte politische Steuerung zu setzen und mit einer großen Anzahl gesetzlicher Änderungen überhaupt erst eingeleitet worden. Vgl. Jessop 2001.
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tungen in diesen Feldern zu erzeugen, geöffnet.6 Der übergreifende Maßstab aller politischen Regelungen war dabei, die nationale Wirtschaft „in Zeiten der Globalisierung“ zu stärken, den nationalen Standort konkurrenzfähig zu gestalten und schließlich ein „investitionsfreundliches Klima“ zu schaffen. Im Zuge dieses grundlegenden Politikwechsels wurde schließlich auch das Gesundheitssystem einer Umstrukturierung unterworfen. Die politischen Reformen, die angestrengt wurden, umfassen zwei Ziele: Erstens, die staatlichen Kosten im Gesundheitsbereich zu reduzieren und stärker auf die Privathaushalte umzulegen. Zweitens, die Bedeutung des Gesundheitsfeldes als wachstums- und gewinnträchtiges ökonomisches Terrain zu stärken. Denn „’Gesundheit ist die Wirtschaftsbranche Nummer 1 in Deutschland’ [...]. ‚Die Gesundheitswirtschaft hat das Potenzial für eine lange wirtschaftliche Wachstumswelle, die grundlegende Innovationen in allen Wirtschaftsbereichen auslösen und eine starke wirtschaftliche Dynamik entfalten kann’.“ (BMG 2006e) Die Ziele, die im Gesundheitsbereich erreicht werden sollen, werden also an ökonomische Kriterien angelehnt und Gesundheit zum einen selbst als ein knappes und kalkulierbares Gut betrachtet, während zum anderen der Gegenstand Gesundheit gegenüber ökonomischer Prosperität abgewertet wird. „Mit der Gesundheitsreform 2004 hat die Bundesregierung das reformbedürftige Gesundheitssystem erneuert und die medizinisch notwendige Versorgung für alle unabhängig von sozialem Status und Einkommen gesichert. [...] Mit der Gesundheitsreform wird die Qualität der Versorgung erhöht und zugleich ein wichtiger Beitrag zur Stabilisierung der Lohnnebenkosten geleistet.“ (BMAS 2005) Handlungsleitendes Kriterium und übergreifender Bewertungsmaßstab aller Reformen in den sozialen Sicherungssystemen ist, ob die Maßnahmen und Gesetzesänderungen ökonomischer Prosperität dienen, indem auch soziale Handlungsfelder direkt einer marktförmigen Profitmaximierung geöffnet werden. Es ist kaum übertrieben festzustellen, dass die o.g. politische Wende in einer Re-Organisation kapitalistischer Gesellschaftsstrukturen mündeten, die weder abgeschlossen ist noch ein logisches Ende hat. Im Rahmen der veränderten marktorientierten Hintergrundstrukturen werden durch vielfältige Prozesse relativ systematisch „Strukturopfer“ erzeugt, beispielsweise, indem die Verschlechterung von Arbeitsbedingungen bzw. Arbeitsschutzvorschriften oder die Wiedereinführungen von Arbeitsformen, die noch aus dem Feudalismus stammen, wie Heimarbeit oder die wachsende Beschäftigung von Dienstmädchen (Lutz 2007) akzeptiert werden; indem zunehmend die Kosten des Gesundheitssystem auf die Patientinnen und Patienten verlagert wer6 Eines der krassesten Beispiele hierfür sind sicherlich die Privatgefängnisse, die in den USA und in Großbritannien den Strafvollzug effizienter gestalten und mit enormen Gewinnmargen für die Betreiber verbunden sein sollen. Vgl. hierzu Wacquant 2000.
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den (vgl. Bauer in diesem Band sowie Bauer/Büscher 2007), was vor allem die ressourcenschwachen Gruppen ungleich härter trifft als die ressourcenstarken; indem der Erhalt von Versorgungsleistungen für sozial benachteiligte Gruppen zum alltäglichen Kampf avanciert (Kolb/Wolf 2006). „Im Krankenhausbereich wird derzeit durchexerziert, wie Solidarinteressen in Privatinteressen umgewandelt werden. Aus dem US-amerikanischen Gesundheitswesen wissen wir indes seit langem, was privatisierte Strukturen tatsächlich bringen: mehr öffentliche Kosten, weniger Qualität und mehr soziale Ungleichheit. Dass man diesen Weg trotzdem geht, ist das Ergebnis einer ideologischen Konditionierung, durch die auf steigenden Veränderungsdruck fast schon reflexhaft mit der Forderung nach staatlichem Rückzug und mehr Eigenverantwortung reagiert wird.“ (Bauer/ Rosenbrock 2006: 92) Die Entfaltung des zuvor mäßig gezähmten gesamtgesellschaftlichen ökonomischen Imperativs, der durch einen neokonservativen und neoliberalen parteiübergreifenden Politikwechsel initiiert wurde, produziert größere soziale Ungleichheiten als in der bisherigen deutschen Nachkriegsgeschichte für möglich gehalten wurde. Diese erweiterte Produktion sozialer Ungleichheit wird flankiert von der oben beschriebenen Anklage der unter der sozialen Ungleichheiten selbst leidenden sozialen Akteure. Dabei übernimmt das „blaming the victim“ eine unmittelbar ideologische Funktion. Die Legitimierung sozialer Ungleichheiten verläuft über die gesellschaftliche Garantie von Chancengleichheit, d.h. der weitestgehenden Unabhängigkeit herkunftsspezifischer Einflüsse auf das Erreichen begehrter Positionen (einen gerechtigkeitstheoretischen Hintergrund für diese weit verbreitete Position liefert etwa Rawls 1971). Wenn nun deutlich wird, dass die soziale Herkunft doch die biografiebestimmende Rolle spielt, dass wir es in Deutschland mit einer „pluralisierten Klassengesellschaft“ (Vester 2006) zu tun haben, dann geraten soziale Ungleichheiten unter Legitimationsdruck. Die politischen Rezepte zur Reduzierung sozialer Ungleichheiten erschöpfen sich aktuell recht eindimensional in der Stärkung marktwirtschaftlicher und wettbewerblicher Elemente. Wenn nun nicht eingestanden wird, dass gerade die Ausdehnung von Konkurrenz die Verschärfung sozialer Ungleichheiten erzeugt, verbleiben zwei rhetorische Argumente, die sich tendenziell selbst immunisieren. So wird im politischen Diskurs zum einen darauf verwiesen, dass die Einführung wettbewerblicher Elemente noch nicht weit genug vorangeschritten ist und die unerwünschten Effekte eine Folge davon sind, dass die gesamtgesellschaftliche Ökonomisierung noch nicht radikal genug vollzogen wurde. Dieses Argument ist mit Verweisen auf empirische Befunde nicht zu widerlegen. Zum anderen bleiben die sozialen Akteure, die unter Ungleichheit zu leiden haben, als Projektionsfläche übrig. Ihnen wird – je nach Ministerium – vorgeworfen, ein falsches und risikoreiches Gesundheitsverhalten an den Tag zu legen, sich nicht genügend um
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die Prävention ihrer eigenen Gesundheit zu kümmern oder schlicht, faul und insgesamt arbeitsunwillig zu sein. Nach dieser diskursiven Zurüstung der von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit Betroffenen ist der Schritt vom „blaming the victim“ zum „activating the victim“ nur ein kleiner, allerdings kaum ein zufälliger. Die Konsequenz der politischen Verantwortungsübertragung sozialer Ungleichheit auf die benachteiligten sozialen Akteure ist, dass Menschen, die in Armut und in sozial schwierigen Lebenslagen sind, tendenziell unter einen Generalverdacht geraten, nicht genügend in ihre biografischen Optionen investiert zu haben. Das gilt dann insbesondere für sozial benachteiligte Akteure, die dann auch noch medizinische Versorgungsleistungen in Anspruch nehmen müssen. Die Vermutung, dass ihr persönlicher Lebensstil nicht gesundheitszuträglich ist, dass sie nicht rechtzeitig präventive Angebote genutzt haben und dass ihre aktive Mithilfe bei der Wiederherstellung eines befriedigenden Gesundheitszustands vergleichsweise gering sein wird, ist in den hier aufgeführten politischen Statements allgegenwärtig. Die Lösung all der hier vermuteten Probleme scheint die konsequente Einführung von Bonus- und Malussystemen zu beinhalten, die ja bereits jetzt im Gesundheits- und Sozialstaatssystem verankert sind und weiter zunehmen werden. Bonus- und Malussysteme sollen die richtigen „Anreiz- und Motivationsstrukturen“ erzeugen, durch die soziale Akteure zu einem gesundheitsbewussten oder arbeitsmarktorientierten Verhalten ermuntert werden sollen. Die Stärkung des Wettbewerbs und die politische Strategie der Deregulierung bislang staatlich gesteuerter Leistungen offenbart an der Stelle der Verknüpfung mit Bonus- und Malussystemen ein Janusgesicht. Denn die Malussysteme etwa im Gesundheitssystem treffen nur diejenigen sozialen Akteure, die wenige Handlungsressourcen zur Verfügung haben, wirklich spürbar. Hinter dem allgemeinen Steuerungsmodell des Malussystems verbirgt sich deshalb ein unmittelbarer und breit angelegter Disziplinierungsversuch sozial benachteiligter Gruppen. Wenn beispielsweise in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit sicherlich wenig gesundheitsfördernde Ein-Euro-Jobs unter Androhung von Sanktionen zugewiesen werden, werden die Opfer dieser Politik „aktiviert“ und gleichzeitig mit Beschäftigung belegt. Auf diese Weise sollen sie wenigstens formal an die normativ festgeschriebenen sinnvollen Verhaltensweisen, einer regelmäßigen Beschäftigung nachzukommen, angekoppelt bleiben. Diese Form allgemeiner Sozialdisziplinierung, die immer offener die aktuelle Sozial- und zunehmend auch die Gesundheitspolitik bestimmt, kann dabei auf den historischen Vorläufer der Arbeitshäuser als industrielle Disziplinierungsanstalten zurückblicken (vgl. Sachße 1986; vgl. auch Foucault 1973; als aktuelle Analyse Gerdes 2006). Sie ist kaum in Einklang zu bringen mit garantierten und verfassungsrechtlich geschütz-
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ten Bürgerrechten. Ihr ist allerdings eine spezifische Funktion immanent: Je stärker die Formen der Sozialdisziplinierung, die bis zur Kriminalisierung ganzer benachteiligter Bevölkerungsgruppen gehen kann (Wacquant 2002; Katz/Ziegler 2005), greifen und je mehr vorgeschriebene Verhaltensmuster abzuarbeiten sind, um so weniger kommt in den Blick, dass es sich nicht um Einzelschicksale, sondern um Strukturprobleme kapitalistischer Vergesellschaftung handelt. Eine vollends sozialdisziplinatorisch aktivierte Gesellschaft voller zwangsweise beschäftigter Individuen – das Repertoire reicht hier vom verordneten Spargelstechen bis hin zur verordneten Vorsorgeuntersuchung – verhindert effektiv die Bildung einer sozialen Bewegung der Betroffenen, die gegen die augenblicklichen Vergesellschaftungsbedingungen rebellieren könnten. Insofern ist die aktuell vollzogene „aktivierende Sozialdisziplinierung“ durchaus funktional und eine logische Fortsetzung der Trias producing – blaming – activating the victim. Ob sie mit den Grundideen demokratischer Vergesellschaftung zu vereinbaren ist, ist allerdings in hohem Maße fraglich.
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Gesundheitsbezogene Einflüsse im Sozialisationsprozess und riskante Identitäten Gregor Hensen
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Ausgangslage
Sozialisationsprozesse verlieren im postmodernen Zeitalter zunehmend an Kontinuität und sehen sich stets mit der Herausforderung des Aktualisierens und Konstruierens konfrontiert (vgl. Hitzler/Honer 1994). Die Veränderung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und sozialstruktureller Verhältnisse der so genannten „geregelten Moderne“ zu einem heute geforderten diffusen Mix aus sich ständig neu formierenden Lebens- und Anpassungserwartungen hat zu einer Auflösung kulturell und gesellschaftlich determinierter Identitätsmuster geführt. Sie werden zeitgleich relevant mit der Verdichtung gesellschaftlicher Wandlungsprozesse der Spätmoderne, die Gegenstand von Zeitdiagnosen wie „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) oder „Erlebnisgesellschaft“ (Gerhard Schulze) geworden sind. Als referenzieller gesellschaftlicher Hintergrund dieser Befunde dient vor allem das Individualisierungstheorem. Der von Beck diagnostizierte Einzelne als „Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf“ (Beck 1986: 217), als „Unternehmer seiner selbst“, mit „riskanten Freiheiten“ ausgestattet, wird zum Hauptakteur biographischer Selbstkonstruktion. Anschlussfähig wird die Individualisierungsthese mit systemfunktionalen Identitätskonzepten der Gegenwart1, bei denen die Auswirkungen biographischer Unsicherheiten für die gesellschaftliche Entwicklung noch nicht absehbar sind. Ehemals vorhersehbare Sozialisationsprozesse junger Menschen zeigen sich vor diesem Hintergrund zunehmend durchlässig und brüchig (Keupp et al. 1999). Identität wird vor diesem Hintergrund zu einem Dauerthema, das aktuell zum Problem wird, weil sie sich – aufgrund der veränderten Gesellschaftsordnung – in der Krise befindet (vgl. Eickelpasch/Rademacher 2004). Alle diese Modelle verbleiben allerdings auf einer eher affirmativen Ebene und blenden die Relevanz ungleicher Sozialisationsbedingungen systematisch aus, die prägend auf das Verhalten junger Menschen und späterer Erwachsener einwirken. Vor allem gilt dies in Bezug auf die Bedeutung von Gesundheit als individuelle Entwicklungs1
Zu nennen sind hier beispielhaft das Konzept der Patchwork-Identität (Keupp 1989; 1997) oder das der Bastelbiographie (vgl. Hitzler/Honer 1994).
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ressource und -bedingung. Gesundheit als untersuchter Gegenstandsbereich zeigt sich nicht nur als allgemeine Zielvorstellung, sondern wird u.a. als Voraussetzung gelingender Identitätskonstruktion im Sozialisationsprozess sichtbar. Die Sozialisationsforschung beobachtet in diesem Zusammenhang schon länger die prozessuale Verlagerung strukturalistischer Vergesellschaftungstheorien zu Gunsten einer Individuationsperspektive, die zunehmend einem „strukturlosen Subjektzentrismus“ gleicht (Bauer 2002: 430ff.). Die Entdeckung der Identität als zentrales Forschungsthema und ihr konjunktureller Verlauf werden im Folgenden vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen eingeordnet und in Bezug auf die Bedeutung gesundheitlicher Risiken und gesundheits- und krankheitsbezogener Einflüsse analysiert.
2
Die soziale Entdeckung der Identität
Der Begriff der Identität ist heute fester Bestandteil psychologischer, soziologischer sowie erziehungswissenschaftlicher Analysen von Sozialisationsbedingungen. Kaum ein anderer Begriff ist dermaßen konjunkturell ausgeprägt sowohl in der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachöffentlichkeit als auch im Alltagsgeschehen diskutiert worden. Bereits zu Beginn der 1980er Jahre konnte festgestellt werden, dass der Begriff Identität einer starken Inflationierung unterworfen ist (Keupp 1989: 48). Das öffentliche Interesse an Identität und Identitätsentwicklung ist in dem gleichen Maße gewachsen wie die Strahlkraft geregelter Persönlichkeitsentwicklungsmodelle der Moderne als universalistische Sinnund Lebensanker ins Wanken gerieten. Insbesondere die Widersprüchlichkeit der Diskussionsführung und der Wettstreit unterschiedlicher Identitätsmodelle und Deutungsalternativen von Subjektbildung hat diese Diskussion bis heute vorangetrieben. Die Wertschätzung, die in diesem Zusammenhang dem Subjekt zuteil geworden ist und es als scheinbaren „Gewinner“ der Dialektik von Vergesellschaftung und Individuation exponiert, ist eng verknüpft mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, die bereits gegen Ende der 1950er Jahre ihren Anfang nahmen. Folgen der funktionalen Differenzierung waren vor allem die Eröffnung neuer Erwerbs- und Lebenschancen und das scheinbare Überwinden der vormals starren Schranken des Herkunftsmilieus. Möglichkeiten der persönlichen Veränderung konnten – zunächst vor allem von den Männern – im Rahmen der zulässigen Grenzen innerhalb der Teilsysteme genutzt werden. Dazu zählen subjektbezogene Erweiterungsstrategien hinsichtlich Mobilität, Bildung und Teilhabe, die essentielle Bestandteile von Individualisierungsanforderungen darstellen. Eickelpasch und Rademacher (2004) sehen hier vor allem zwei sich wechselseitig verstärkende gesellschaftliche Umbrüche: Zum einen sind seit den 1960er
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Jahren bis heute gesellschaftliche Veränderungen zu verzeichnen, die unter zeitdiagnostischen Begriffen wie Individualisierung, Enttraditionalisierung oder Pluralisierung von Lebenswelten als markante Strukturelemente der so genannten Spätmoderne subsumiert werden. Als Motor diffundierender Entwicklungsergebnisse kann zum anderen die kulturelle Globalisierung, der weltweite Austausch von Bildern, Symbolen sowie Lebensstilen und Identitätsschablonen gesehen werden (Eickelpasch/Rademacher 2004: 6ff.). Identitätsentwicklung wird – vor dem Hintergrund erodierender vorgefertigter Identitätsmuster – als permanente Eigenleistung und Konstruktionsaufgabe verstanden. Zum anderen werden derartige Konstruktionsbemühungen durch den sog. Globalisierungsprozess ergänzt und verstärkt (vgl. Reichenbach 1998). Die Eigenleistung einer in sich stimmigen (kohärenten) Identität wird nicht mehr zum selbst gewählten Programm, sondern bildet fortan eine existenzielle Grundvoraussetzung. Die Gesellschaft als ordnende und eingreifende Instanz hat ihren Einflussbereich auf das Individuum gleichzeitig mit der Entdeckung der Identität eingebüßt. Identität ist somit ein historischer Prozess, der untrennbar mit der Entwicklung der Postmoderne verbunden ist. „Heute, nach einer fünfzig Jahre andauernden Entstehung, erweist sich die Identität immer noch als Thematik, die das Siegel der Neuheit trägt.“ (Kaufmann 2005: 34) Neuheit vor allem in dem Sinne, dass Identität stets neu erworben werden muss und kein eindeutiges Entwicklungsprodukt im Sozialisationsprozess darstellt. Das ständige Aktualisieren von Identität, das über die Zeit der Primärsozialisation hinausgeht und als Prozess verstanden wird, fassen Keupp et al. (1999) mit dem Begriff der „Identitätskonstruktion“ zusammen und legen damit ein Identitätskonzept vor, das mit postmodernen Gesellschaftsstrukturen kompatibel erscheint und gleichzeitig den traditionellen Theorien eine Absage erteilt. Keupp (1989; 1997; Keupp et al. 1999) bezieht in seinen Arbeiten die gesellschaftlichen Verhältnisse der Spätmoderne ein, die vor dem Hintergrund einer zunehmend enttraditionalisierenden, flexiblen und fragmentierten Gesellschaft dem Prozess der Identitätsbildung eine neue, diesen Verhältnissen entsprechende Passform gibt. Integrierte und mit universalistischen Ansprüchen ausgestattete Identitätsmodelle, die analog zu Erikson „den ganzen Menschen“ mit Sinn versorgen sollen, verlieren mehr und mehr an Bedeutung. Ähnlich hoch wie Antonovsky (1997) schätzt Keupp (a.a.O.) vor diesem Hintergrund das Gefühl von Kohärenz (sense of coherence) ein. Das Modell von Antonovsky beschäftigt sich mit der Frage, wie es Individuen gelingt, trotz eines erhöhten Maßes an Stress und Belastung gesund zu bleiben bzw. keine oder weniger Auffälligkeiten zu zeigen wie bspw. andere Individuen. Höfer (2000: 76) fasst Antonovskys Ansatz zusammen: „Er definiert Gesundheit als eine dynamische Interaktion zwischen belastenden und schützenden Faktoren und Be-
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dingungen. Das Gesundheitsniveau ist Resultat der je gegebenen veränderlichen und beeinflussbaren Balance zwischen Risiko- und Schutzfaktoren, die sowohl innerhalb als auch außerhalb der Person liegen und jeweils ihre eigene Geschichte und damit auch unterschiedliche Stabilität haben können.“ Grundvoraussetzung für die psychische und körperliche Gesundheit ist demnach das Gefühl von Kohärenz eines Individuums (sich als stimmiges Ganzes zu fühlen), was in einer hochpluralisierten Gesellschaft unstreitig eine zentrale Herausforderung darstellt. Keupp bedauert aber nicht den vermeintlichen Verlust von Kohärenz, sondern sieht Kohärenz „als einen kreativen Prozess von Selbstorganisation“. Die in den Gegenwartsdiagnosen häufig postulierte „Auflösung der Ganzheit“ oder der „Verlust der Mitte“ (der Eindeutigkeit) wird als Zugewinn kreativer Möglichkeiten gedeutet. Identitätsarbeit wird hierbei als Projekt verstanden, als „riskante Chance“. Kohärenz kann aber nicht in Einzelarbeit (oder Einsamkeit) erlangt werden, sondern ist nur als gelungene Verknüpfung des Individuums mit anderen möglich (bspw. in Form sozialer Netzwerke). So spielen die Wechselbeziehungen von Individuum und Gesellschaft bei der Identitätsarbeit eine bedeutende Rolle.
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Sozialisationstheoretischer Hintergrund
3.1 Funktionale Gesellschaftstheorie und Gesundheit Der Begriff der Identität ist historisch gesehen eng verknüpft mit der Durchsetzung einer Idee von Individualität: Mit der Aufklärung und der Auflösung der Ständegesellschaft wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Zeitalter der Industrialisierung eingeläutet und mit ihm die Struktur einer arbeitsteiligen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund funktionaler Differenzierungsprozesse der Gesellschaft in Teilsysteme wurde praktisch dem Subjekt die Anerkennung als Vollperson abgesprochen (vgl. Luhmann 1984). Die Inklusion als vollständiges Individuum ist – systemtheoretisch betrachtet – in einer Welt funktionaler Systeme nicht vorgesehen. Subjekte sind hier lediglich als Funktionsträger identifizierbar2. Die Gesellschaftsanalyse des strukturalen Funktionalismus vermittelt ein 2 Luhmann distanzierte sich – im Gegensatz zur strukturfunktionalistischen Theorie Parsons – durchgehend von Theorien, in denen die Konstituierung von Identität im Vordergrund stehen. Die größere Rolle in Luhmanns „Sozialen Systemen“ spielen die Analysen von Differenzen und die Differenz von Identität und Differenz (Sigrist 1999: 73). Während im handlungsorientierten Systemmodell von Parsons die „Integration“ der Gesellschaft von tendenziellen Übereinstimmungen von personalen Werten und systemischen Normen gleichzeitig abhängt, „wird Integration im selbstreferentiellen (aus sich heraus funktionierenden und auf sich bezogenen) Systemmodell von Luhmann durch stetige
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Bild, in der die Individuen in ihre „Umwelten“ abgedrängt werden und lediglich durch ihre funktionsabhängigen Leistungen identifizierbar sind. Talcott Parsons war einer der ersten, der Sozialisation in eine große Gesellschaftstheorie einband und diesem Prozess damit eine erhebliche Bedeutung zuteilte. Seine strukturfunktionalistische Gesellschaftstheorie schreibt dem Individuum keine Handlungsalternativen bei der Subjektwerdung zu; für ihn ist Sozialisation ein Prozess, durch den die Individuen die Dispositionen erwerben, die erforderlich sind, um die in der Gesellschaft vorgegebenen Rollen als Akteure spielen zu können (Brinkhoff 1998: 39). Gleichzeitig erlangt die Gesundheit bzw. das gesunde Individuum in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung für den kapitalistischen Produktionsprozess, denn der funktionierende Organismus bildet die Basis für das Funktionieren von Gesellschaft und Wohlstand sowie der subjektiven Erhaltungsfähigkeiten (vgl. Parsons 1967). Diese Definition der individuellen und damit letztlich auch gesellschaftlichen Leistungsfähigkeit birgt eine klare Abgrenzung des Krankheitsbegriffs in sich, der demnach kategorisch definiert ist als eine generalisierte Störung der Leistungsfähigkeit des Individuums für die normalerweise zu erwartende Erfüllung der Aufgaben“ (Hurrelmann 1994: 147). Krankheit wird dadurch sowohl zu einer Form sozialer als auch biomedizinischer Abweichung, auf die Gesellschaften sehr präzise Mechanismen entwickelt haben, diese Abweichungen zu verwalten und zu handhaben. Vor allem in den westlich industrialisierten Ländern existieren dazu sehr spezifische Formen und Verhaltensmuster (Kelly/Millward 2004). „Parsons sieht das Problem Gesundheit gekoppelt an die in kapitalistischen Industriegesellschaften typische Verfügung von Arbeitsorganisationen über einen voll leistungsfähigen Körper, die den Menschen als bloßes Leistungspotential wahrnimmt. Er sieht Krankheit als Inbegriff der Störung dieses Leistungspotentials, das durch biologische und physische Regeln bestimmt ist.“ (Hurrelmann 1994: 148) Gesundheit und Krankheit erlangen hier einen isolierten Charakter in einem abgegrenzten Systemverständnis. Hurrelmann (1994) sieht gerade hier u.a. die Ursache, warum Parsons’ Gesellschaftsanalyse nach heutigem (gesundheits)-soziologischem Verständnis und Kenntnissen keine brauchbare Theorie zur Sozialisation und dem Verhältnis zwischen Identität und Gesundheits-/Krankheits-Kontinuum liefert und insofern biomedizinisch affirmativ angelegt ist. Dennoch ist festzuhalten, dass die funktionalistische These vom vergesellschafteten Menschen, insbesondere die Theorie von Parsons, einen Zusammenhang zwischen Sozialisationsergebnissen auf der einen und den Konstitutionsbedingungen von der Gesellschaft auf der anderen Seite hergestellt hat. „Damit öffnet sie (…) den Blick für die Tatsache, dass sich soziale Differenzierungen erreicht, mit der Komplexität reduziert und dadurch Integration möglich wird“ (Böhnisch 1996: 193).
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das Thema der Sozialisationstheorie nicht mit der Feststellung irgendwelcher Sozialisationsergebnisse erschöpft, sondern auf die darüber hinaus greifende Frage geht, welche Konsequenzen Sozialisation für das zukünftige Handeln der betreffenden Individuen, und das heißt für die weitere Entwicklung der Gesellschaft selbst hätte.“ (Geulen 2005: 111, Hervorhebungen im Original) Gesundheit und Krankheit als Variablen im Sozialisationsprozess erlangen – dieser Fragestellung folgend – nicht nur einen individuellen Bezug (z.B. als Schicksal oder als persönliche Zielvorstellung), sondern erhalten eine übergreifende Relevanz, da sie im gesellschaftlichen Handeln der Akteure sichtbar werden. Berger und Luckmann (1980) konstatieren, dass aus anthropologischer Sicht eine absolute gelingende Sozialisation nicht möglich ist sowie eine absolut misslungene Sozialisation eher die Ausnahme darstellt. Gesellschaften mit einfacher Arbeitsteilung und minimaler Wissensaufsplitterung können den größten Erfolg hinsichtlich gelungener Sozialisation aufweisen. „Die Sozialisation produziert bei solchen Bedingungen eine Identität, die gesellschaftlich prädefiniert und in hohem Maße vorprofiliert ist.“ (ebd.: 175)
3.2 Sozialisationstheorie und Gesundheit Moderne sozialisationstheoretische Ansätze beinhalten im Gegenzug zu der dargestellten strukturfunktionalistischen Perspektive metatheoretische Zugangsweisen, die versuchen, die Komplexität von lebensweltlichen und biographischen Einflussgrößen auf die Gesundheit herauszuarbeiten und evtl. psychische und somatische Beeinträchtigungen als einen schrittweisen Prozess der Veränderung zu charakterisieren. Die Status-quo-Zuschreibung von krank und nicht krank sowie gesund und nicht gesund, wie sie nicht nur in der ärztlichen Diagnose ihre Anwendung findet, sondern auch in der psychotherapeutischen Praxis als Klassifikationsmodell dient, wird somit aufgelöst und durchlässig für mehrdimensionale Erklärungsmuster. Hiermit korrespondieren Sozialisationstheorien, die die Beziehung von Person und Umwelt als komplexe und interdependente Wechselwirkung sehen (Hurrelmann 2003). Bronfenbrenners Arbeiten zur Ökologie der menschlichen Entwicklung verweisen hierzu auf die Notwendigkeit, den Schwerpunkt der Forschung breiter anzulegen und Beziehungen zwischen Systemen einzubeziehen, die auf das Verhalten und die Entwicklung des Einzelnen zurückwirken (Bronfenbrenner 1976: 207). Es ist davon auszugehen, dass zwischen psychischen Störungen, physischen (somatischen) Beeinträchtigungen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen ein Zusammenhang besteht.
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Sozialisationstheorien basieren hauptsächlich auf zwei großen klassischen Theoriebereichen, und zwar den soziologischen (Handlungs-, Gesellschafts-, Systemtheorie) und den psychologischen Basismodellen (Lern-, Persönlichkeits-, Entwicklungspsychologie) (Raithel et al. 2005: 64). Der Beginn der 1980er Jahre kann als der ungefähre Beginn genannt werden, in der es innerhalb der Sozialisationsforschung – die bis dato eng mit einer schichtspezifischen Forschungstradition verbunden war – zu einem Paradigmenwechsel kam (Bauer 2002: 426; 2005: 84). Die schichtspezifische Perspektive, in der der sozialstrukturelle Hintergrund für die Analyse ungleicher Lebensverhältnisse und Entwicklungsverläufe von Menschen evident ist und auf deren Grundlage der Zusammenhang von ungleichen Lebens- und Entwicklungschancen vermittelt werden kann, wurde abgelöst von einem Menschenbild, in dem das aktive Subjekt als „Multioptionsträger“ individuell wirksame Entscheidungen nicht nur beeinflussen, sondern auch maßgeblich steuern kann. Derartige interaktionistisch geprägte Ansätze machen deutlich: Das Subjekt wird nicht mehr nur als Ergebnis verstanden, sondern bereits im Sozialisationsprozess selbst verhält sich das Individuum als Subjekt, das seine Sozialisation durch eigene Aktivität mitbestimmt (Geulen 2005: 166). Die Konjunktur der subjektbezogenen Forschung wurde überdies beschleunigt durch die einsetzende Kritik am schichtspezifischen Modell, das lediglich – so die Kritiker – deskriptiv die Integration in ein statisches Gesellschaftsgefüge verfolge. Die Kritiker sahen hier ein mechanistisches und behavioristisches Menschenbild verankert, das Eigenaktivität, Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit und Motivsteuerung vernachlässige. Herausgebildet hat sich bis heute in der Sozialisationsforschung eine dichotome Beziehung von Vergesellschaftung und Individuation, die weder dialektisch vermittelt wird noch aufzulösen scheint (Bauer 2002: 427). „Das theoretische Pendel der Sozialisationsforschung hat in übervorsichtiger Abgrenzung zu strukturdeterministischen Ansätzen im schichtspezifischen Paradigma in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen: Die heute geläufige Gleichsetzung von Sozialisation und Individuation übergeht nur allzu leicht die spezifischen Grenzen, die der Fähigkeit zu autonomem, selbstgesteuertem Handeln durch die Struktur der Sozialisationsbedingungen gesetzt werden.“ (ebd.: 428)
3.3 Sozialisation und Identität Vor diesem wissenschaftstheoretischen Hintergrund gewinnen Sozialisationsmodelle an Bedeutung, die mit der Herausbildung von Konzepten einer autonomen,
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kohärenten Identität korrespondieren3. Sozialisation ist nach Hurrelmann (2002a) ein Prozess der produktiven Realitätsverarbeitung. Sie ist die „ständige aktive Beobachtung und Diagnose der eigenen Anlagen und ihrer Veränderungen im Laufe des Lebens. Durchgehend stellt sich einem Menschen die Aufgabe, die jeweilige Veränderung von körperlichen und psychischen Ausgangsgrößen sensibel aufzunehmen und das eigene Handeln hierauf abzustimmen“ (ebd.: 28). Sozialisation als produktiven Prozess verstanden erfordert ständige und lebenslange Arbeit an der eigenen Person. Ebenso wie Keupp verweist Hurrelmann auf die Notwendigkeit bestimmter individueller Fertigkeiten und Fähigkeiten zur Lösung von Entwicklungsaufgaben (ebd.: 36), die wiederum ressourcenabhängig sind. Für die Identitätsentwicklung ist nach Hurrelmann (2002a: 38) die Fähigkeit zur Selbstreflexion maßgeblich, die ebenso von der Fähigkeit abhängt, die Grundbedingungen der inneren Realität (also der genetischen, körperlichen und psychischen Potenziale) realistisch und sensibel wahrzunehmen für die Bewertung und Einschätzung, die ein Mensch im Blick auf die eigenen Handlungsmöglichkeiten in der äußeren Realität besitzt. „Von ‚Identität’ kann gesprochen werden, wenn ein Mensch über verschiedene Entwicklungs- und Lebensphasen hinweg eine Kontinuität des Selbsterlebens auf der Grundlage des positiv gefärbten Selbstbildes wahrt. Das Erleben des Sich-gleich-Seins bezieht sich auf die verschiedenen Stadien der eigenen Lebensgeschichte, es zieht sich also durch den gesamten Lebenslauf.“ (ebd.: 38f.) Was heute als gelungene Sozialisation und Identität angesehen wird, stellt sich vielfach als „struktur- und ungleichheitsvergessen“ dar (vgl. Bauer 2002). Soziologische Beschreibungen von Identität unterscheiden sich vom Mainstream sozialpsychologischer Arbeiten in vielen Punkten: Generelle sozialpsychologische Ansätze fokussieren sich einerseits auf kognitive Aspekte der Identitätsformation und die Wege, wie Menschen subjektiv ein schlüssiges Konzept von sich selbst wahrnehmen und aufspüren können sowie andererseits auf die Art und Weise, wie Identität aufgrund von sozial induzierten, individuellen Unterschieden, Eigenschaften und Überzeugung entstehen kann. Der sozialpsychologische Weg beschäftigt sich mit der Frage, wie Auffassungen, Motivationen und Haltungen die unterschiedlichen Typen von Identität beeinflussen können. Im Weiteren wird die Genese von Krankheit und Gesundheit zumeist stresstheoretisch erklärt4. Der eigentliche Unterschied zwischen diesen und soziologi3 Zu nennen sind hier insbesondere und stellvertretend die Arbeiten von Habermas (1977); Krappmann (1993); Keupp (1997), in denen Sozialisation und Identitätsbildung maßgeblich unter interaktionistischen Gesichtspunkten betrachtet werden. 4 Nach Zimbardo (1995: 575) ist Stress ein Muster spezifischer und unspezifischer Reaktionen eines Organismus auf Reizereignisse, die sein Gleichgewicht stören und seine Fähigkeiten zur Bewältigung strapazieren oder überschreiten. Diese Reizereignisse umfassen eine ganze Bandbreite externer und interner Bedingungen, die allesamt als Stressoren bezeichnet werden.
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schen Ansätzen ist, dass die Soziologie stärker die soziale Erfahrung als Basis von Identität betonen und nicht hauptsächlich kognitive Prozesse und persönliche Charakterzüge. Der kognitive Aspekt wird in der Soziologie nicht geleugnet, dennoch hat die soziale Erfahrung des Menschen (also die Prägungen der Sozialisation) und wie sie Meinungen und Interaktion von Akteuren formt und somit zur Entwicklung von Identität führt, in der soziologischen Analyse Priorität (Kelly/Millward 2004: 3f.). Bezogen auf Identität besteht aktuell der Konsens, dass Gesundheit eine enorme Bedeutung für ihre Entwicklung und die Neuorganisation besitzt. Höfer (2000) verknüpft relevante psychologische und soziologische Konzepte und kommt zu dem Ergebnis, dass Identität sowohl einen reflexiven Bezugsrahmen darstellt, in dem Lebenserfahrungen interpretiert und Sinn- bzw. Bedeutungsfragen retrospektiv betrachtet werden, als auch einen agierenden Bezugsrahmen, in dem Subjekte ihr Selbst entwerfen (konstruieren) und hinsichtlich extern vermittelter Anforderungsprofile reflektieren und in Handeln umsetzen. „Ein zentrales Ziel des Identitätsprozesses ist die Herstellung einer allgemeinen Handlungsfähigkeit, die die Grundlage für die Lebensbewältigung und damit die Basis für Gesundheit bildet.“ (ebd.: 302) Die gezeigten Identitätsvorstellungen haben den Ursprung ihres Aufstiegs „in der Auflösung der Gemeinschaften, die durch die Individualisierung der Gesellschaft hervorgerufen wurde (Kaufmann 2005: 19). Das Theorem der Individualisierung als gesellschaftswissenschaftliche Zeitdiagnose besitzt – obwohl es an einigen Stellen den empirischen Nachweis schuldig bleibt – erziehungssoziologische Relevanz in den Bereichen, in denen sozialisatorische Effekte für die Entwicklung von Identität wirksam werden. Die Veränderung familialer Lebenswelten5 sowie sozialer und struktureller Voraussetzungen bedingen einen Wandel im Bereich der vormals präformierten Primärsozialisation junger Menschen, die nicht vergleichbar mit den Lebensbedingungen sind, vor deren gesellschaftlichen Hintergrund sog. klassische Identitätstheorien gewachsen sind (z.B. Erikson 1973). Die Auslagerung von kindlichen und juvenilen Entwicklungsaufgaben aus dem familialen Verbund erhöht die Aufmerksamkeit auf die soziale Infrastruktur. Der Staat als Gewährleister sozialintegrativer, gesundheitsfördernder sowie schulischer Einrichtungen steht grundsätzlich vor dem Dilemma, dass er sich auf der einen Seite mit erhöhten Integrationsanforderung konfrontiert sieht, auf der anderen Seite im Zuge sozialstaatlicher Rückbautendenzen seine Ressourcen auf das Kerngeschäft reduzieren muss. Folglich bleibt zu fragen, wie sich derartige Ver5 Beispiele für den viel diskutierten Funktionswandel von Familie und damit verbundenen Erziehungsvoraussetzungen sind familiesoziologische Analysen wie Desintegration und Desorganisation der Familie (König 1976) sowie die „Verinselung“ kindlicher Lebenswelten (Peuckert 2005).
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änderungen auf die Interaktion von Person und Umwelt bzw. in modernen Sozialisationsergebnissen widerspiegeln. „Die Sozialisationsperspektive verweist auch darauf, dass der durch ständiges soziales Lernen in Gang gehaltene Prozess der Persönlichkeitsentwicklung eine lebensgeschichtliche Komponente besitzt. Die miteinander rivalisierenden Bausteine der Persönlichkeit, die entweder auf Sozialität und Anpassungsfähigkeit, oder auf Originalität und Einzigartigkeit hinauslaufen, müssen immer wieder neu, und zwar auf der Grundlage derjenigen körperlichen, seelischen und sozialen Ressourcen miteinander in Einklang gebracht werden (…). Mit der Gesundheit verhält es sich nicht anders. Aus sozialisationsanalytischer Sicht muss sie als Voraussetzung, aber auch als Resultat und d.h. als flüchtige und stets wieder herzustellende Durchgangsphase im Leben eines Menschen betrachtet werden.“ (Schnabel 2001: 110, Hervorhebungen im Original) Die hier von Schnabel genannten drei Eckpunkte von Sozialisationsverläufen (körperliche, seelische und soziale Ressourcen) tauchen im Zusammenspiel von Identitätskonstruktionen auf, wobei hier allerdings der Aspekt des Körperlichen in Verbindung mit gesundheitsrelevantem Verhalten in der Forschung bislang nur eine randständige Rolle spielt6.
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Die aufgezeigten Veränderungen haben nicht nur großen Einfluss auf alltägliche Lebenszusammenhänge, sondern reichen auch in allgemeingültige Wert- und Wahrnehmungsmuster hinein. Der historische Gesundheitsbegriff wurde als Teil einer festgelegten Ordnung verstanden und nicht als ein persönliches Gut (vgl. Herzlich/Pierret 1991). Die späte Entdeckung von Individualität und Identität hingegen löst die Gesundheit aus dieser Ordnung heraus und schreibt dem Subjekt Handlungspotentiale zu, mit denen Gesundheit handhabbar und letztlich steuerbar wird. „Gesundheit ist nicht nur Schicksal, sondern Ausdruck eines individuellen Lebensstils“, so Keupp (1997b), „Gesundheit wird nun so verstanden, dass sie durch den Menschen selbst produziert werden kann; sie wird mit Selbst-Tun assoziiert; sie drückt den rationalen Umgang jedes einzelnen mit sich selbst aus.“ (ebd.: 35) Die Gesundheit wird so als veränderbare Variable postuliert und wahrgenommen. Unter dieser Voraussetzung werden konstruktive Subjektbildungsprozesse insofern erweitert und anspruchsvoller, als dass Gesundheit sowohl für die Entwicklung von Identität als auch für den Wandel bereits angenommener (Teil-)Identitäten eine große Rolle spielt. Hierbei sind folgende Dimensionen zu beachten: 6
Siehe hierzu die jüngsten Entwicklungen in der Soziologie, die von Schroer (2005) als einen „somatic turn“ beschrieben werden.
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Gesundheit als Voraussetzung – vor dem dargestellten theoretischen Hintergrund bildet Gesundheit zunächst die Voraussetzung für einen „gelingenden“ Sozialisationsprozess. „Gesundheit bezeichnet den Zustand des objektiven und subjektiven Befindens einer Person, der gegeben ist, wenn diese Person sich in physischen, psychischen und sozialen Bereichen ihrer Entwicklung in Einklang mit den Möglichkeiten und Zielvorstellungen und den jeweils gegebenen äußeren Lebensbedingungen befindet.“ (Hurrelmann 1994: 16f.) Ist dieser Einklang nicht gegeben oder gestört, können sich Symptome mit Krankheitswert zeigen, die Einfluss auf den Entwicklungsprozess ausüben können. Gesundheit als Resultat – Der Gesundheitsbegriff in der aktuellen Gesundheitsforschung impliziert häufig eine generelle ontologische Ziel- und Idealvorstellung, in der Gesundheit als Resultat von Prävention und Intervention gesehen wird. Gesundheit als Prozess verstanden stellt vielmehr die Frage nach der Relevanz von Gesundheit in Bezug auf gesellschaftliche und individuelle Konstruktionsaufgaben von Identität in den Mittelpunkt. Gesundheit als Varianz – Das Empfinden von Gesundheit besitzt eine Vielzahl biographischer und persönlicher Elemente, die sowohl zur Aufrechterhaltung als auch zur Schaffung von Gesundheit beitragen können. Gesundheit ist daher niemals eindeutig definierbar, sondern wird unterschiedlich wahrgenommen und sichtbar in ihrer Varianz, sowohl in Abgrenzung zu Krankheit als auch zu divergierenden Gesundheitszuständen.
Gesundheitsrisiken im Prozess des Aufwachsens Die Entwicklung von Identität(en) wird als lebenslange Arbeit deklariert; trotzdem verdient die Sozialisation in der frühen Kindheit und im juvenilen Alter besondere Beachtung. Die Familie ist zwar nach wie vor die primäre Sozialisationsinstanz, mit zunehmendem Alter werden Schule, Freizeit und Gleichaltrige immer wichtiger für die Sozialisation. Alle sozialisationsrelevanten Organisationen und Systeme wirken dabei aber nicht unabhängig, sondern bilden einen wechselseitigen Zusammenhang (Hurrelmann 2002a: 34). In dieser Zeit werden bestimmte Verhaltensgewohnheiten erlernt und Dispositionen erworben. Kinder und Jugendliche sind in ihrem Entwicklungsprozess mit einer Vielzahl von Entwicklungsaufgaben konfrontiert und werden somit alters- und statusbedingten Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Dabei ist festzustellen, dass einige der gesundheitlichen Belastungen entwicklungstypisch und nur in dieser Lebensphase auftreten, die meisten allerdings werden mit steigendem Lebensalter in die Erwachsenenphase übernommen (Hurrelmann 2003; Richter 2005).
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Obwohl das Kindes- und Jugendalter gemeinhin als ein gesundes Lebensalter identifiziert wird, werden gerade im Hinblick auf die sich verschärfenden gesellschaftlichen Bedingungen („riskante Freiheiten“) Gesundheitsrisiken erkennbar, die sowohl alters- und statusabhängig auftauchen als auch sozial und kulturell induziert sein können. Im Folgenden werden einige solcher Risiken und gesundheitsschädigenden Faktoren und Variablen skizziert, die von großer Bedeutung im Prozess des Aufwachsens sind.
Gesundheitsverhalten im Jugendalter Das Gesundheitsverhalten im Jugendalter hat eine große Bedeutung, da hierauf die meisten gesundheitlichen Risiken beruhen, die auf konkrete Verhaltensweisen der Jugendlichen zurückzuführen sind. An der Schwelle vom Übergang von der Kindheit zum Jugendalter werden häufig Verhaltensweisen sichtbar, die als sog. Risikoverhalten identifiziert werden. Jugendliche beginnen plötzlich, durch riskantes Verhalten aufzufallen, das sowohl ihre körperliche und seelische Gesundheit als auch die Ihrer Mitbürger gefährden kann (vgl. Hurrelmann 2002b). Die meisten Jugendlichen, die sich riskant und gesundheitsschädigend verhalten, ändern dieses mit zunehmendem Alter bzw. als junge Erwachsene (Pinquart/Silbereisen 2002). Während in der Kindheitsphase noch vor allem die Eltern das Gesundheitsverhalten der Kinder kontrollieren (Hygiene, Ernährung, Bewegung etc.), bestimmen ältere Kinder und Jugendliche zunehmend selbst über ihr Gesundheitsverhalten (ebd.). Das individuelle gewählte Verhalten von Jugendlichen wird dagegen kaum durch gesundheitsbezogene Überlegungen und Kalkulationen gesteuert. Die gewählten Verhaltensweisen orientieren sich aber verstärkt nach dem eigenen, subjektiv wahrnehmbaren Vorteil (vgl. Engel/Hurrelmann 1996). Die soziale und psychische, in Einzelfällen auch emotionale Funktionalität des Verhaltens für die Alltagsbewältigung steht bei ihnen mehr im Vordergrund. Gesundheitsschädigendes Verhalten wie der Konsum von Alkohol oder Tabak kann innerhalb von peer-groups sogar erwünscht sein und den Jugendlichen bei seiner Zielerreichung unterstützen (z.B. Akzeptanz in der Gruppe, Bewältigung von Problemen oder Erleben von angenehmen Gefühlen). Es ist in dem Sinne höchst funktional. Im Gegensatz dazu kann gesundheitsförderndes Verhalten aus der Perspektive des Jugendlichen zunächst sogar kontraproduktiv auf soziale Integrationsziele wirken (Hurrelmann 2003:106). Risikoverhalten hat aus sozialisationstheoretischer Perspektive für Jugendliche den Stellenwert, Entwicklungsaufgaben zu lösen und Statusunsicherheit zu bewältigen. Das besondere Problem derartigen Verhaltens liegt darin, dass nicht nur eine unmittelbare Gefährdung auf den jungen Menschen oder anderen Indi-
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viduen ausgeht; eine Vielzahl gesundheitsschädigender Risikoverhaltensweisen können zu Langzeitschäden führen oder zeigen sich bei dauerhaftem Gebrauch erst mit einer mehrjährigen Latenzzeit (z.B. beim Konsum legaler und illegaler Drogen) (vgl. Raithel 2001). Dabei sind sich die Jugendlichen des Risikos ihrer Taten häufig bewusst. Hurrelmann (2002b) sieht in dem hier genannten Verhalten – wenn auch in seiner limitierten und dosierten Form – einen wichtigen Beitrag für den Ablöse- und Verselbständigungsprozess junger Heranwachsender; auf der anderen Seite ist Risikoverhalten aber auch ein Zeichen für eine Art biographischer Vorverlagerung von häufig unbeantworteten Sinnfragen und einem „Hunger nach Zuwendung und Aufmerksamkeit in einer nüchternen Wettbewerbsgesellschaft“ (ebd.: 871). Bezug nehmend auf die Datenbasis der international vergleichenden Studie „Health Behaviour in School-Aged Children“ (HBSC), die alle vier Jahre von der Weltgesundheitsorganisation durchgeführt wird, konnte festgestellt werden, dass Jugendliche in Deutschland bei den meisten der gewählten Indikatoren relativ hohe Quoten gesundheitsschädigenden Verhaltens aufweisen (Langness et al. 2005). Der Anteil der Jugendlichen in Deutschland, die regelmäßig Tabak und Alkohol konsumieren, ist im internationalen Vergleich auffällig hoch; dagegen steht die niedrige Quote derjenigen, die regelmäßig Sport treiben oder sich anderweitig körperlich betätigen (ebd.). Ohne auf die Gründe für das schlechte Abschneiden von Jugendlichen in Deutschland näher eingehen zu wollen, die u.U. mit der überaus guten Erreichbarkeit legaler Drogen zusammenhängen kann, wird deutlich, dass gesundheitsschädigendes Verhalten von Heranwachsenden in hoch industrialisierten Staaten und im Kontext einer sog. „Wissensgesellschaft“ ein Problem ist. Trotz vieler Kenntnisse über den Zusammenhang von schädigendem Verhalten scheinen exogene Einflüsse, die aktuell den Alltag von Kindern und Jugendlichen bestimmen, maßgeblich ihr Verhalten zu bestimmen. Die bereits skizzierten Sozialisationsanforderungen schaffen ein Klima massiver Unsicherheit, das nicht nur für ein paar wenige „Individualisierungsverlierer“ prekär ist, sondern insgesamt die Entwicklung kohärenter Persönlichkeitswahrnehmung erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht. Gesundheitsverhalten von Jugendlichen stand in der Vergangenheit häufig im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses; die eigentliche gesundheitliche Lage von Jugendlichen wurde dagegen eher vernachlässigt. Die meisten statistischen Daten über den Gesundheitszustand von Jugendlichen geben an, dass dieser sich in den letzten Jahren günstig entwickelt hat. Diese Aussagen werden vor allem vor dem Hintergrund einer rückläufigen Mortalitätsrate sowie einer mittlerweile randständigen Bedeutung infektionsbedingter Erkrankungen getroffen (vgl. Richter 2005: 61f.). Sie geben allerdings ein verzerrtes Bild wider und berücksichtigen in keiner Weise die veränderten und sich stets verändernden
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gesellschaftlichen Bedingungen, mit denen der Heranwachsende konfrontiert wird. „In den westlichen Industrieländern ergeben sich aus den zivilisatorischen Lebens- und Umweltbedingungen der jungen Generation neue Gesundheitsbeeinträchtigungen, die in der Regel nicht primär lebensbedrohlich sind, wohl aber das Befinden, die Lebensqualität und die Leistungsfähigkeit dauerhaft beeinträchtigen können.“ (ebd.: 62) Die Ungleichheitsforschung und Gesundheitswissenschaft weisen seit langem darauf hin, dass Kinder aus einem Herkunftsmilieu mit geringem sozioökonomischem Status größeren Gesundheitsrisiken ausgesetzt sind als bspw. Kinder aus bildungsnahen, oberen Statusgruppen (z.B. Rosenbrock 2002; Lampert et al. 2006). Insbesondere für chronisch-degenerative Erkrankungen (z.B. koronare Herzkrankheiten, zerebrovaskuläre Erkrankungen, Atemwegserkrankungen, Diabetes, Aids) konnte ein Schichtgradient nachgewiesen werden. Ursache dieser meist erworbenen Krankheiten ist in der schlechten sozioökonomischen Lage und ihren Folgen zu suchen. Hinzu kommen gesundheitsschädigende Verhaltensweisen, mangelndes Vorsorgeverhalten und teilweise schlechte gesundheitliche Versorgung im Gesundheitswesen, die mit der sozialen Lage zusammenhängen (Mielck 2002: 54). Die Lebensstilforschung zeigt dazu, dass bestimmte Lebensstiltypen in Bezug auf Gesundheitsverhalten identifizierbar sind, aber auch, dass lebensstilistische Differenzen bezüglich gesundheitsrelevantem Verhalten existieren (vgl. Gerhards/Rössel 2002; Raithel 2004). Der Bedeutungszuwachs von Lebensstilen für die Entwicklung von Jugendlichen hängt zum großen Teil mit der Wahrnehmung gesellschaftlicher Veränderungen der Postmoderne zusammen, in denen die Beschreibung sozialstruktureller Lagen um die kulturelle Dimension erweitert wird. Hackauf (2002) weist darauf hin, dass die WHO bereits in den 1980er Jahren den Begriff der Lebensstile für die Erfassung der Gesamtheit der alltäglichen Lebensvollzüge in die Gesundheitsförderung eingeführt hat. Lebensstile spielen bei der Untersuchung von individuellem gesundheitsrelevantem Verhalten sowie bei zivilisatorischen Konsumverhaltensweisen eine große Rolle (ebd.). Raithel (2004) ermittelte in seiner Studie (Befragung von 15-18-jährigen Schülern) zwei prototypische gesundheitsbezogene Lebensstile: auf der einen Seite den gesundheitsförderlichen hochkulturellen Lebensstil, auf der anderen Seite den gesundheitsriskanten hedonistischen Lebensstil (ebd.: 89). Der gesundheitsfördernde Lebensstil entspricht in der Form den heutigen Konstruktionserwartungen individueller „Gesundheitsidentitäten“, bei denen es nicht mehr nur um das funktionale Paradigma der Krankheitsvermeidung geht, sondern die Umsetzung gesellschaftlicher (und höchst fragiler) Annahmen hinsichtlich eines ge-
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sunden Körpers als Humankapital im Mittelpunkt stehen7. Gesundheitsförderliches Verhalten, das den expressiven Teil eines Lebensstils gehobener Sozialmilieus bildet, besitzt offensichtlich einen großen Zusammenhang zum Herkunftsmilieu (vgl. Schlicht 2000). Die Kristallisation von bestimmten gesunden Lebensstiltypen und ihr Einfluss auf eine gesundheitsbezogen differierende Identitätsentwicklung ist nach wie vor noch eine vernachlässigte Forschungsfrage. Lebensstile haben in der Sozial- und Jugendforschung keinen eindeutigen Bezugsrahmen (Hackauf 2002). Dieser Umstand erschwert einen Vergleich vorliegender Forschungsergebnisse, die in der Regel versuchen, die Komplexität und Durchlässigkeit von Lebensstilen auf Typenmuster zu reduzieren. So kommt Hackauf (2002: 884) zu dem Schluss, dass es eine geeignete Lebensstiltypologie für alle gesundheitsrelevanten Verhaltensweisen kaum geben kann. Eine bedeutende Erklärung ist in der Analyse materieller und struktureller Faktoren zu suchen. Diese Faktoren geben Hinweise auf den interdependenten Zusammenhang von Belastungen und Ressourcen junger Menschen (vgl. Lampert/Kurth 2007). Strukturelle und materielle Unterschiede und die damit verbundene ungleiche Verteilung von Lebens-, Bildungs- und Einkommenschancen sind demnach maßgeblich an der Genese individueller Gesundheitsrisiken verantwortlich, die direkt Einfluss auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nehmen kann. Die große Bedeutung des Verhaltensansatzes, die ihm bislang in der Gesundheitsforschung zugesprochen wurde und wird, lässt sich somit zumindest relativieren (siehe auch Bittlingmayer in diesem Band). Als Folge des Zusammenwirkens von unerwünschten Gesundheitsverhaltensmustern auf der einen und bereits vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf der anderen Seite kann von ungünstigen Gesundheitsbiographien der Kinder und Jugendlichen aus sozial schwachen Familien ausgegangen werden (Hurrelmann et al. 2003).
Gesundheit und Familie Die Familie bildet vor allem in den ersten Lebensjahren die primäre Sozialisationsinstanz; in ihr werden Kompetenzen erworben, die maßgeblich die späteren Bildungs- und Lebenschancen von jungen Menschen beeinflussen. Die im Kindesalter erworbenen Rückstände und Entwicklungsverzögerungen können sich 7 Der Imperativ der „Fitness“ verdichtet sich in den Ausführungen des Zukunftsforschers Horx, dessen Konzept des „Selfness“ auf den Einsatz individueller Kompetenzen für die Schaffung und Förderung von Gesundheit beruht und dem gesellschaftlichen und aktuell sozialpolitischen Postulat der Eigenverantwortung entspricht (Horx 2004). Eine kritische Perspektive dazu vertritt Mazumdar in diesem Band.
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im Jugend- und Erwachsenenalter manifestieren und haben Einfluss auf die Identitätsentwicklung und den Lebensverlauf. Entwicklungsdefizite stellen zwar im engeren und klassischen Sinne keine Erkrankung dar, sie bedeuten aber eine erhebliche Beeinträchtigung für den weiteren Lebensweg, genauer für die schulische, berufliche und soziale Entwicklung (Fegeler 2005). Hurrelmann (2003: 147) geht davon aus, das in etwa einem Fünftel aller Familien ungünstige Voraussetzungen für Kinder und Jugendliche gegeben sind, um sich mit ihren alltäglichen Anforderungen im Freizeit- und Leistungsbereich auseinanderzusetzen. Es konnte ferner nachgewiesen werden, dass Kinder aus sozial schwachen Familien häufiger Sprach- und Sprechstörungen, körperliche und intellektuelle Entwicklungsrückstände sowie psychische Auffälligkeiten zeigen (Schnabel 2001a; Hurrelmann et al. 2003). Verhaltensweisen von Eltern, die für das heranwachsende Kind bzw. den Jugendlichen Vorbildcharakter ausüben sollen, müssen als wichtige Quelle für das Entstehen von Kompetenzdefiziten, misslingende gesellschaftliche Integrationsprozesse und alterstypische Ablöseschwierigkeiten verstanden werden. Defizitverhalten von relevanten Personen, die auf die Sozialisation von jungen Menschen eine entscheidende Wirkung haben, üben häufig einen tief greifenden Einfluss auf Verhaltensweisen und Wahrnehmungsmuster der Sozialisanden aus. Im Laufe des Heranwachsens können negative Effekte durch pädagogische Interventionen teilweise ausgeglichen, zumindest aber abgefedert werden. Die Folgen mangelnder Zuwendung und Kommunikation bleiben als Dekompensationsrisiko jedoch virulent (Schnabel 2001b: 85). Familie übt demnach Einfluss auf die Gesundheit ihrer Mitglieder aus, indem sie für die Vermittlung grundlegender Dispositionen auf physisch körperlicher, psychischer und emotionaler Ebene verantwortlich ist. Schnabel (2001a: 80) nennt fünf Typen von sog. Risikofamilien und ihre besonders gefährdeten Mischformen, die sich im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen und psychosozialen Grundrisiken unterscheiden. Familien mit mehr als zwei Kindern Familien in niedrigen Soziallagen
z.B. Familien mit Migrationshintergrund z.B. arbeitslose allein Erziehende
Ein-Eltern-Familien Unverheiratet zusammenlebende Familien mit Kindern Stieffamilien
Abbildung 1:
z.B. unverheiratet zusammenlebende Familien in wechselnden Verhältnissen
Typen von Risikofamilien und Mischformen (Schnabel 2001)
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Eine solche grobe Einteilung ist für die Identifizierung von gesundheitsfördernden Bedarfen nicht hilfreich, da sie Stigmatisierungseffekte provoziert und die spezifischen positiv wirkenden Ressourcen dieser Familientypen nur randständig beachtet. Schnabels Verweis auf den niedrigen sozioökonomischen Status und Gesundheitsrisiko ist evident (siehe Lampert und Kroll in diesem Band). So muss ebenso die spezielle Situation allein erziehender Eltern besonders betrachtet werden. Die Anzahl allein erziehender Mütter und Väter ist in der vergangenen Dekade deutlich gestiegen (Hradil 2004: 120). Etwa 20% der Kinder wachsen bei nur einem Elternteil auf, wobei davon ca. 85% bei der Mutter leben. Internationale und nationale Studien belegen, dass diese Erziehungssituation, wenn sie nicht nur eine Lebenspassage darstellt, sondern sich dauerhaft abzeichnet, eine erhöhte soziale, gesundheitliche und seelische Beeinträchtigung dieser Mütter und ihrer Kinder bewirken kann. Es konnte gezeigt werden, dass sowohl allein Erziehende als auch ihre Kinder überdurchschnittlich stark von Armut und psychosomatischen Belastungen betroffen sind. Etwa 40% der Alleinerziehenden wünschen sich Hilfe und bessere Unterstützung (Franz et al. 2003; Franz 2005). Gerade hier werden sozialstrukturelle Einflüsse sichtbar, die nur schwer durch sozialstaatliche resp. gesundheitsfördernde Interventionsmaßnahmen kompensiert werden können. Dabei ist es notwendig, die Ergebnisse der Risikoforschung einzubeziehen. Ob Risikofaktoren (endogene und exogene) für die Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen tatsächlich Risikofolgen hervorrufen, hängt nicht allein von den Eigenschaften des Risikos ab, sondern von dem Grad der Risikobewältigung, also von den Ressourcen und der Vulnerabilität (MeyerProbst/Reis 2000).
Gesundheit und Geschlecht Die geschlechtervergleichende Jugendgesundheitsforschung zeigt relativ konsistente Verhaltensmuster: Männliche Jugendliche fallen durch nach außen orientiertes Problemverhalten auf, weibliche durch häufiger internalisierendes Verhalten (Hurrelmann 1996). Psychische Gesundheit ist im Jugendalter in hohem Maße geschlechtsabhängig. Internalisierte Effekte äußern sich bspw. in Depressionen, von denen Mädchen im Jugendalter und frühen Erwachsenenalter doppelt so häufig betroffen sind als gleichaltrige Jungen. Bei Jungen sind es häufiger hyperkinetische Phänomene und dissoziale Störungen, die diagnostiziert werden (Hurrelmann et al. 2003). Obwohl aber zahlreiche Befunde vorliegen, dass das gesundheitliche Verhalten geschlechtsdifferenziert variiert, wird die Entwicklung geschlechterdifferenzierter Präventionskonzepte nach wie vor vernachlässigt (siehe Kolip 2005). Bereits im Grundschulalter zeigen sich bedeutsame ge-
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schlechtsspezifische Unterschiede im Gesundheitsverhalten (Eschenbeck/Kohlmann 2004), die in der frühen Phase als Gegenstandsbereich primär- und sekundärpräventiver Maßnahmen in den Blick genommen werden sollten: Mädchen zeigen im Vergleich zu Jungen das günstigere gesundheitsbezogene Verhalten, was sich vor allem im Ernährungsverhalten ausdrückt. Dieser Befund reproduziert sich im Jugendalter, in dem ein bedeutend höherer Anteil von Jungen von Übergewicht betroffen ist, was u.a. mit mangelnder sportlicher Aktivität und unregelmäßigen Essrhythmen zusammenhängt. Mädchen zeigen im Gegensatz dazu im Jugendalter eher Tendenzen zu Untergewicht (Zubrägel/Settertobulte 2003). Insgesamt wird das Essverhalten durch geschlechtsspezifische Normen und das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung geformt (Klingenspor/Rastetter 2004)8. Jungen scheinen dennoch insgesamt (auch im internationalen Vergleich) körperlich aktiver zu sein als Mädchen (Langness et al. 2005) und beurteilen ihre körperlichen Fähigkeiten (in den daraufhin untersuchten Dimensionen Koordination, Schnelligkeit, Kraft und Ausdauer) sowie ihre physische Attraktivität besser als Mädchen ihrer Altersgruppe (Alfermann et al. 2003). Die niedrigere subjektive physische Attraktivität von Mädchen gerade im Jugendalter ist ein vielfach replizierter Befund, der sowohl die hohe Bedeutsamkeit der physischen Attraktivität wie auch die strengen Schönheits- und Schlankheitsanforderungen an Mädchen und Frauen in unserer Kultur widerspiegelt (ebd.: 142). Sichtbar wird somit insbesondere eine entscheidende soziale und geschlechtssozialisatorische Komponente (vgl. Weiss et al. 1996). Im Jugendalter sind weitere geschlechtsspezifische Unterschiede im Gesundheits- und Risikoverhalten feststellbar: Jungen trinken regelmäßiger Alkohol und berichten von Rauscherfahrungen mit Cannabis (Hurrelmann et al. 2003); Mädchen fallen zunehmend damit auf, dass sie bereits in frühen Jahren bis ins späte Jugendalter einen höheren Tabakkonsum haben als gleichaltrige Jungen, auch wenn das Einstiegsalter bei Jungen nach wie vor jünger ist (Weyers 2007). Hier spielt das elterliche Verhalten eine große Rolle. Riskantes Gesundheitsverhalten der Eltern sagt gleichgerichtetes Gesundheitsverhalten der Jugendlichen vorher, wobei offensichtlich Mütter eher das Verhalten ihrer Töchter und Väter eher das Verhalten ihrer Söhne beeinflussen (vgl. Pinquart/Silbereisen 2002).
8 Für Keupp (1989) hat gerade die Anerkennung essentielle Bedeutung für die positive Entwicklung von Identität, somit ist Ernährung und das Ernährungsverhalten in Verbindung mit der Lebensweise Ausdruck einer Identitätsvorstellung im Konstruktionsprozess.
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Ernährungsstatus und Ernährungsverhalten Das Problem übergewichtiger Kinder ist nicht nur ein Problem, das in den USA zu beobachten ist, sondern hat auch in Deutschland stark zugenommen. Wenn sich Übergewicht schon im Kindesalter manifestiert, so besteht im Vergleich zu normalgewichtigen Kindern ein 2 bis 4-fach höheres Risiko, dass es auch im Erwachsenenalter fortbesteht (Lindel/Laessle 2002). Das Risiko übergewichtiger und adipöser Kinder, auch im Erwachsenenalter adipös zu sein, ist umso höher, je älter die Betroffenen sind (vgl. Goldapp/Mann 2004). Die Prävalenzzahlen für Übergewicht und Adipositas sind für Kinder und Jugendliche in Deutschland bislang nicht einheitlich, was zum großen Teil an den nicht standardisierten Messmethoden und unterschiedlich operationalisierten Definitionen liegt. Der im Jahr 2002 erschienene Jugendgesundheitssurvey der Universität Bielefeld ermittelte etwa 4,6% der 12- bis 16-jährigen Jugendlichen als übergewichtig und 2,1% als adipös. Dies waren mit Abstand die niedrigsten Werte im Vergleich zu anderen Studien, die teilweise zwischen ca. 8,1% und 17,6% für Übergewicht und für Adipositas zwischen 0,7% und 6,7% liegen (siehe ausführlich Zubrägel/Settertobulte 2003; Goldapp/Mann 2004). Die jüngst veröffentlichten Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KIGGS) zeigen, dass Insgesamt 15% der Kinder und Jugendlichen zwischen 3 bis 17 Jahren übergewichtig sind und 6,3% unter Adipositas leiden. Rechnet man diese Zahlen auf Deutschland hoch, entspricht dies einer Zahl von circa 1,9 Millionen übergewichtigen Kindern und Jugendlichen, von denen circa. 800.000 adipös sind (Kurth/Schaffrath Rosario 2007). Adipositas hat sowohl gravierende medizinische als auch psychosoziale Folgen, die in Ihrer Kumulation zu einem erhöhtem Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko führen (Hubel et al. 2004). Übergewicht bei Kindern ist ebenso mit Stigmatisierungen verbunden, die in Verbindung mit der Entwicklung eines ungünstigen Selbstkonzepts weitere psychopathologische Folgen entstehen lassen können (ebd.; Laessle et al. 2001). Obwohl es zu den häufig publizierten Meinungen gehört, dass Stress als wesentlicher Einflussfaktor für das Essverhalten einzustufen ist, konnte die Untersuchung von Lindel und Laessle (2002) zeigen, dass übergewichtige Kinder nicht generell nach Stress mit übermäßiger Kalorienaufnahme reagieren bzw. Stresserleben durch protektive Faktoren u.U. anders und „gesünder“ kompensieren können. Dazu sind allerdings Ressourcen und förderliche Bedingungen erforderlich, die jungen Menschen gezielt Handlungsalternativen zur Kalorienaufnahme vermitteln. Ein reines Drängen auf Verzicht und Zügelung des Essens führt dahingehend zu genannten Stressreaktionen (ebd.). Das bedeutet, dass gesundheitsschädigendes Ernährungsverhalten in der Kindheit und im Jugendalter nicht allein mit Stresstheorien erklärt werden können. Offensichtlich spielen
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frühkindlich erlernte Verhaltensweisen und der vermittelte Lebensstil des erzieherischen Umfeldes eine ebenso große Rolle.
Chronische Erkrankungen Festzustellen ist schon seit längerem eine Verlagerung des Krankheitsspektrums in allen Altersgruppen von Akutkrankheiten auf chronische Erkrankungen, die hinsichtlich gesundheitsfördernder Maßnahmen (z.B. gesundheitspädagogischer Ziele) relevant wird (vgl. Hoepner-Stamos 1999). Dazu gehören ebenso periodisch auftretende Allergien, psychische und psychosomatische Störungen sowie Suchtkrankheiten. Sie sind nicht auf eindeutige Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zurückzuführen wie bspw. Infektionskrankheiten, die mit biomedizinischen Methoden weitgehend gut erklärt und therapiert werden können (vgl. Waller 1991). Verhaltensansätze, die auf die Vermeidung direkter Gesundheitsgefährdungen zielen, treten in der pädagogischen Gesundheitsförderung daher eher in den Hintergrund. Viele chronische Erkrankungen (vor allem im Jugendalter) sind nicht auf schädigendes (Risiko)Verhalten, sondern auf genetische Ursachen zurückzuführen (z.B. Hauterkrankungen, System-, Blut- oder Autoimmunkrankheiten), d.h. Verfahren, die auf Verhaltensmodifikation zielen, können hier keine Wirkung zeigen. Einen hohen Stellenwert haben dagegen Ansätze, bei denen die Stärkung von Bewältigungs- und Leistungsressourcen von chronisch kranken Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen im Vordergrund stehen (z.B. in Patientenschulungen). Menschen mit chronischen Erkrankungen sind häufig über Jahre und Jahrzehnte mit ihrer Krankheit und deren Behandlung konfrontiert, so dass sich ein Patient im Laufe der Zeit selbst zu einem wichtigen Koproduzent von Gesundheits- und Versorgungsdienstleistungen entwickelt (Bodenheimer et al. 2002). Für die Betroffenen stellt der Umgang mit ihrer Erkrankung einen bedeutenden Teil ihres Lebens dar und wirkt sich entscheidend auf Krankheitsverlauf, Lebensqualität bzw. Stigmatisierungserleben (Schmidt-Ott et al. 2005), und der Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben aus (Bengel et al. 2003). Neben den somatischen spielen bei chronischen Erkrankungen vor allem die psychosozialen Aspekte eine wichtige Rolle. Allerdings ist ein eindeutiger Zusammenhang zwischen chronischen Erkrankungen im Jugendalter und überdurchschnittlich stark ausgeprägten psychischen Problemen (Psychische Labilität, psychopathologische Veränderungen) zurzeit nicht erkennbar (Salewski 2004: 11). Auch zeigt sich, dass sich chronisch kranke junge Menschen nicht gesundheitsschädlicher verhalten als gesunde (z.B. durch legale und illegale Drogen), um das Belastungsniveau zu reduzieren (ebd.: 60). Kollektive Selbsthilfeaktivitäten in Form von
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Selbsthilfeinitiativen und -organisationen sind hier ein wichtiger Bestandteil des Gesundheitswesens, indem sie die medizinische Versorgung ergänzen und einen wichtigen Beitrag zur Krankheits- und Lebensbewältigung chronisch kranker Menschen leisten (RKI 2006: 211). Die Selbsthilfe bietet den Vorteil der unmittelbaren Betroffenheits- und Erfahrungskompetenz, so dass eine stärkere Einbindung von Selbsthilfeinitiativen in das Versorgungssystem einen Beitrag zum Patienten-Empowerment leistet. Geprägt ist das Leben von Menschen mit chronischen Erkrankungen häufig durch ein lebenslanges Verwiesensein auf das Gesundheitswesen, die sozialen Sicherungssysteme sowie das persönliche Umfeld. In Ergänzung mit dem Befund, dass die Zahl chronisch Kranker stetig zunimmt, ist hier ein steigender Versorgungsbedarf in der Zukunft abzusehen. Eine allein auf Kuration und Therapie ausgerichtete Gesundheitsversorgung kann diese Anforderungen nicht erfüllen, es bedarf einer „erheblich stärkeren Verankerung von Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung im Versorgungssystem“ (Hurrelmann et al. 2004: 16).
5
Resümee
Das hier vermittelte Spektrum an gesundheitsfördernden und –schädigenden Verhaltensweisen hat Einfluss auf den Gesundheitsstatus und kann über den gesamten Lebensverlauf wirksam sein (Hurrelmann 2003; Kaluza/Lohaus 2006). Kinder und Jugendliche sind bereits mit einer Vielzahl somatischer und psychischer Belastungen konfrontiert, die einer Intervention – und besser noch einer Prävention – bedürfen und die sich in Bezug ihrer persönlichen Entwicklung als Hemmnisse erweisen können. Im Hinblick auf die wechselseitige Konstruktion von Identität und Gesundheit können an dieser Stelle einige Thesen formuliert werden, die die komplexe Situation und den Einflusscharakter von Gesundheit als relevante Bestimmungsgröße im Sozialisationsprozess deutlich machen.
Gesundheit ist für die Konstruktion gesellschaftlich funktionaler Identitätsmodelle eine unverzichtbare Voraussetzung. Der lebenslange Prozess einer identitätsrelevanten Konstruktion für ein kohärentes Selbsterleben kann nur unter Berücksichtigung von gesundheitsbezogenen Variablen realisiert werden. Gesundheit ist eine notwendige Bedingung und wird zunehmend zur moralischen Verpflichtung, der über individualpräventiven Programmen Nachdruck verliehen wird (vgl. Filsinger/Homfeldt 2001: 713).
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Gregor Hensen Identität ist gleichwohl eine Bedingung für Gesundheit (Hurrelmann 2003) oder mit den Worten Höfers (2000: 307) ausgedrückt: Gesundheit ist vor allem das Ergebnis von gelungenen identitätsbezogenen Passungsverhältnissen. Identität steht damit quasi in einem abhängigen Wirkungsmechanismus mit dem Konzept Gesundheit. „Je besser und je häufiger es Subjekten gelingt, selbstbezogene Erfahrungen in ein für sie stimmiges Balanceverhältnis zu setzen, desto höher wird auch das subjektbezogene Gefühl von Gesundheit sein.“ (ebd.) Die Realisierung „riskanter Chancen“ und eines kohärenten Ich-Erlebens (Antonovsky 1997) erfordert nicht nur Gesundheit als Grundbedingung am gesellschaftlichen Integrationsprozess; ebenso ist das Erleben von Gesundheit (am Beispiel eines gesunden Körpers, Wahrnehmung von Attraktivität, positives physisches Selbstkonzept, vgl. Alfermann et al. 2003) einflussreich für die Identitätsentwicklung junger Menschen. Identität wird als produktiver Prozess verstanden (Hurrelmann 2002a), der sowohl einen reflexiven als auch einen agierenden Bezugsrahmen besitzt (Höfer 2000). Sowohl die Struktur (Herkunftsmilieu), materielle Ressourcen als auch die Performanz (Lebensstil, Lebensweise) junger Menschen haben großen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten und letztlich auf die Gesundheit des jungen Individuums. Dennoch ist festzustellen, dass vor allem der Wirkungsgrad negativer Strukturbedingungen Einfluss auf die Beeinträchtigung von Gesundheit hat (Mielck 2002; Richter 2005; Lampert/Kurth 2007).
Die Determinanten von Gesundheit geben Hinweise, dass vor allem die Ernährung in Kombination mit dem Lebensstil und dem Verhalten signifikante Faktoren für Krankheit und Gesundheit sein können (Rigby 2005) und großen Einfluss auf die Statusentwicklung und somit auf die Realisierung von Lebenschancen hat. Hörmann (2002) sieht ebenfalls den Lebensstil als bedeutende Einflussgröße für den Erhalt von Gesundheit an. In der frühen Kindheit ist das Individuum noch zu einem großen Teil von den Eltern abhängig und übernimmt Formen des Lebensstils und Ernährungsgewohnheiten der Familie. Dennoch zeigen sich sozialpsychologische Deutungsmuster, die sich allein auf Verhaltensweisen, Lernerfahrungen und kognitiven Entwicklungen stützen, für die Erklärung gesundheitlicher Ungleichheit zu eindimensional. Der soziologische Blick auf die sozialen Erfahrungen im Sozialisationsprozess (vgl. Kelly/Millward 2004), die ebenso strukturell wie kognitiv erfahrbar werden, lassen deutlich werden, dass Gesundheit und die Bildung einer kohärenten, stimmigen Identität nicht nur Thema psychologischer (und vielfach therapeutischer) Analysen sind: Es werden weitere Zugänge notwendig, in denen eine langfristige Perspektive in Bezug auf
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die eigene Persönlichkeitsentwicklung und vor dem eigenen biographischen Hintergrund zugelassen werden kann, die über Kurzzeitinterventionen und Therapie hinausgehen (vgl. Hörmann 2004). Der Einbezug pädagogisch orientierter Maßnahmen der Gesundheitsförderung, unter Berücksichtigung ihrer ganz spezifischen Elemente wie Erziehung, Bildung und Didaktik, kann diesen Diskurs erweitern.
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Gesundheitsförderung und Prävention im Alter Realität und professionelle Anforderung Ulla Walter, Nils Schneider
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Der demographische Wandel – Herausforderung für Gesundheitsförderung und Prävention
Die demographische Transition stellt nach der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization 1998) weltweit eine der größten Herausforderungen für das 21. Jahrhundert dar. Die Alterung der Bevölkerung macht sich in Deutschland bereits in naher Zukunft mit der Zunahme der Älteren im Erwerbsalter bemerkbar. So wird der Anteil der 50-64-Jährigen von derzeit 30% (2005) auf 40% im Jahr 2020 ansteigen (Statistisches Bundesamt 2006). Diese Entwicklung wird sich in den nachfolgenden Jahren in den höheren Alterstufen fortsetzen. Dabei ist in den kommenden Jahrzehnten eine zunehmende Differenz der Anteile der jüngeren und älteren Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung zu verzeichnen: Entsprach der Anteil der 65-Jährigen und älteren in der Bevölkerung 2005 mit 19% noch dem Anteil der 20-Jährigen und jüngeren (20%), wird nach der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung der Anteil der älteren Bevölkerung 2030 29% betragen und sich bis zum Jahre 2050 auf 33% erhöhen. Dem steht ein Rückgang der jüngeren Bevölkerung auf 15% (2050) gegenüber (Statistisches Bundesamt 2006). Diese demographische Transition ist auf die Alterung der geburtenstarken Jahrgänge (Babyboom-Generation) sowie einer verringerten Fruchtbarkeitsrate zurückzuführen. Hinzu kommt eine Erhöhung der Lebenserwartung im 20. Jahrhundert, die in den vergangenen Jahrzehnten vor allem auf einer Verbesserung der Lebenserwartung im höheren Alter basiert. Die 11. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung (2006) geht von einem weiteren Anstieg der Lebenserwartung aus. Nach einer mittleren Annahme wird für das Jahr 2050 mit einer Lebenserwartung ab Geburt für Mädchen von 88,0 Jahren und für Jungen von 83,5 Jahren gerechnet. Dies entspricht einer Zunahme von 6,5 (Mädchen) bzw. 7,6 Jahren (Jungen) im Vergleich zu 2002/2004. Für die 60-Jährigen wird entsprechend eine fernere Lebenserwartung von 25,3 (27,2) Jahren (Männer) bzw. 29,1 (30,9) Jahren (Frauen) erwartet (Statistisches Bun-
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desamt, 2006). Diese Annahme kann – bei günstigen Lebensbedingungen – weit übertroffen werden. Angesichts dieser demographischen Entwicklung und der technologisch bedingten wachsenden Versorgungsbedarfe wird der Prävention und Gesundheitsförderung seit den 1990er Jahren international (World Health Organization 1998; Fries 1997) und national (Sachverständigenrat 2002) eine zukunftentscheidende Bedeutung zugeschrieben. Soll die Gesundheit im Alter erhalten und gefördert werden, sind gezielte Maßnahmen bei den Älteren und Hochbetagten als auch in der Bevölkerungsgruppe im mittleren Lebensalter erforderlich. Ihre Umsetzung und nachhaltige Verankerung im Gesundheits- und Sozialsystem erfordert zudem den Einbezug der relevanten Professionen. Vermehrte Anstrengungen zur Realisierung einer zielgruppenorientierten Prävention und Gesundheitsförderung von Prävention und Gesundheitsförderung sind in Deutschland jedoch nur ansatzweise zu verzeichnen. Zwar wurde die Entwicklung von Prävention als vierte Säule im Gesundheitswesen propagiert, eine tatsächliche finanzielle Umschichtung hin zu mehr Prävention erfolgte bislang jedoch nicht. Allerdings erfuhr Prävention gerade auch im Rahmen der Diskussion um das Präventionsgesetz eine verstärkte Aufmerksamkeit. Eine übergreifende Mehr-Ebenen-Strategie mit abgestimmten Maßnahmen für verschiedene Zielgruppen zur Gesundheit im Alter besteht derzeit nicht. Vielmehr sind in den vergangenen Jahren vereinzelte Aktionen zu diesem Thema zu verzeichnen. So wurde z.B. 2004 eine Informationsbroschüre zu „Gesund altern“ vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (2004) herausgegeben. Diese knüpft an die 1999 zum Weltgesundheitstag für die Bevölkerung entwickelten „Regeln für gesundes Älterwerden“ (www.gesund-imalter.de, Kruse 1999) sowie an eine Expertise zu Strategien der Prävention und Gesundheitsförderung im Alter an (Kruse 2002). Potenziale und Ansätze der Prävention und Gesundheitsförderung im und für das Alter wurden im 3. Altenberichts der Bundesregierung (Walter/Schwartz 2001) sowie im Gutachten des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen 2001/2002 erstmals differenziert erörtert. Im Rahmen des vom Bundesministerium für Gesundheit eingerichteten Deutschen Forums Prävention und Gesundheitsförderung erfolgte die Etablierung einer Arbeitsgruppe zu „Gesund altern“. Der gemeinsam von der Bertelsmann Stiftung, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und dem Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung verliehene Präventionspreis wurde 2005 zum Themenfeld „Gesund in der zweiten Lebenshälfte (50plus) vergeben. Ebenfalls widmete sich die dritte Ausschreibungsrunde (2006) der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Präventionsforschung dem Alter, das nun im Rahmen von 14 praxisbezogenen
Gesundheitsförderung und Prävention im Alter
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Forschungsprojekten eine vertiefende Betrachtung erfährt. Gerade die beiden letzten Aktivitäten verdeutlichen die immer noch geringe Präsenz von Praxisprojekten in Deutschland. So konstatiert der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (Sachverständigenrat 2007: 699), dass sichtbare Primärprävention für Ältere weitgehend im Rahmen von Förderprojekten und Initiativen stattfindet.
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Präventionspotenziale und sozioökomischer Status
Die Relevanz von Prävention und die Bedeutung des sozioökonomischen Status auf die Mortalität zeigen Phelan et al. (2004) in ihrer Studie auf. Datengrundlage bilden die National Longitudinal Mortality Study (n=370.930) und der National Death Index in den USA. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass trotz Elimination wichtiger proximaler Risikofaktoren sozioökonomische Unterschiede in der Mortalität bestehen bleiben. Die Studie zeigt, dass prinzipiell mehr Personen an hoch prävenierbaren als an wenig prävenierbaren Krankheiten sterben und verdeutlicht damit das erhebliche unausgeschöpfte präventive Potenzial. Die kumulativen Überlebensraten nehmen jeweils schneller bei Personen mit geringem als mit höherem sozioökonomischen Status ab, wobei der Abstand zwischen geringem und höherem Status bei prävenierbaren Erkrankungen größer ist als bei Erkrankungen mit wenig bzw. keinem Wissen zu ihrer Prävention (siehe Abb. 1). Für Erkrankungen, bei denen bislang wenig zu ihrer Prävention und Behandlung bekannt ist, ist der sozioökonomische Status weniger stark mit der Mortalität assoziiert als bei prävenierbaren Ursachen. Das mit geringem sozioökonomischem Status assoziierte relative Risiko ist damit für hoch prävenierbare Ursachen größer als für wenig prävenierbare. Personen mit einem höheren sozioökonomischen Status verfügen über eine Reihe von Ressourcen wie Geld, Wissen, Prestige, Macht und nützliche soziale Kontakte, die zur Förderung und zum Erhalt ihrer Gesundheit eingesetzt werden können. Diese Ressourcen sind flexibel und können von ihnen an sich verändernde und neue gesundheitsbezogene Bedingungen angepasst, d.h. effektiv genutzt werden. Der Gradient zwischen dem sozioökonomischen Status und vorzeitiger Mortalität bleibt damit über die Zeit trotz sich verändernder Bedingungen erhalten.
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Abbildung 1:
Ulla Walter, Nils Schneider
Kumulative Überlebensrate nach Bildung und prävenierbaren Todesursachen; 45- bis 64-Jährige (Baseline); Quelle: Phelan et al. 2004
Die Studie von Phelan et al. (2004) zeigt eine geringere Relevanz des sozioökonomischen Status im höheren Alter, was auf eine selektive Sterblichkeit mit zurückgeführt werden kann. Dieses Ergebnis deckt sich mit anderen Studien. Aufgrund der sich verändernden Morbiditätsprofile und geringerer vorzeitiger Mortalität wird allerdings zukünftig eine Zunahme der sozioökonomischen Unterschiede im Alter erwartet (Sachverständigenrat 2007). Die Verminderung sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen ist prinzipiell eine politische Aufgabe. Sie ist zugleich Ziel der Gesundheitsförderung nach der Ottawa Charta der WHO (World Health Organization 1986). In Deutschland wurde sie als Teilziel der kassenbezogenen Primärprävention im § 20 SGB V (Fünftes Buch Sozialgesetzbuch) gesetzlich verankert. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung im Gesundheitswesen weist in seinem aktuellen Gutachten 2007 auf die Notwendigkeit hin, die Abstände zwischen den Gruppen mit hohem und niedrigem sozioökonomischen Status zu verringern bei gleichzeitiger Verbesserung der Gesundheitschancen aller Gruppen. Nach wie vor nehmen Personen mit erhöhten Risiken seltener an Präventionsmaßnahmen teil. Zur Erhöhung der Erreichbarkeit und Teilnahmebereitschaft besonders vulnerabler Zielgruppen müssen Informationen nicht nur verständlich aufbereitet sein, sondern auch die Lebenslage und Motivationen der Zielgruppe berücksichtigen (Kontextbezug) und ggf. neue, aktive Zugangswege beschritten werden.
Gesundheitsförderung und Prävention im Alter
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Zu den Gruppen mit problematischen Gesundheitschancen im Alter zählen besonders arme, sozial isolierte und gesundheitlich beeinträchtigte Ältere wie Alleinstehende, Frauen, pflegende Angehörige und Hochaltrige. Besondere Beachtung bedürfen auch ältere Migranten (Sachverständigenrat 2007).
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Handlungsfelder sowie Anforderungen an Prävention und Gesundheitsförderung
Ziele für Gesundheit im Alter sind die Vermeidung von Erkrankungen, Funktionseinschränkungen, Behinderungen und Hilfebedürftigkeit, die Bewahrung der Unabhängigkeit und Selbständigkeit, der Erhalt einer aktiven Lebensgestaltung sowie die Aufrechterhaltung eines angemessenen Unterstützungssystems (Kruse 2006; Walter 2007). Zur Förderung der Gesundheit im Alter entwickelte die WHO (World Health Organization 2002) das Konzept des Aktiven Alterns (Active Ageing). Active Ageing bezeichnet den Prozess zur Optimierung der Chancen für mehr Gesundheit, Partizipation und Sicherheit mit dem Ziel, die Lebensqualität alternder Menschen zu verbessern. Wesentliche Determinanten sind u.a. gesundheitliche und soziale Versorgung, Verhalten, persönliche Aspekte sowie soziale umfeldbezogene Faktoren. Entsprechend dieser Komplexität sollten Maßnahmen zur Prävention und Gesundheitsförderung verschiedene Dimensionen berücksichtigen. Wesentliche Handlungsfelder sind der Erhalt und die Förderung der körperlichen Funktionsfähigkeit und Bewegung sowie der mentalen Gesundheit (Voelcker-Rehage et al. 2006) und eine ausgewogene Ernährung. Die Bedeutung eines funktionierenden sozialen Netzwerkes wurde lange Zeit unterschätzt, ist aber zentral für die physische und psychische Gesundheit (s. zusammenfassend Walter 2007). Prinzipiell bestehen in der Prävention und Gesundheitsförderung im Alter verschiedene, sich ergänzende Ansätze, die in den nachfolgenden Kapiteln weiter ausgeführt werden: 1.
2.
bevölkerungs- bzw. (hoch-)risikogruppenbezogener Ansatz, z.B. zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz und Optimierung des Gesundheitsverhaltens, versorgungsbezogener Ansatz mit dem Ziel der Optimierung der gesundheitsbezogenen Versorgung, z.B. durch die Integration präventiver Maßnahmen in die bestehende kurative, rehabilitative und pflegerische Versorgung und die Qualifizierung der Professsionellen,
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Ulla Walter, Nils Schneider lebensweltbezogener Ansatz zur Beeinflussung und gesundheitsförderlichen Gestaltung von Kontextfaktoren, z.B. im Betrieb, in der Kommune oder im Pflegeheim.
Selbstverständlich gelten auch für die präventiven und gesundheitsfördernden Maßnahmen zur Förderung eines aktiven Alterns den im Gutachten des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen (2002) dargelegten Anforderungen zur Priorisierung. Danach sollte (1) die zu vermeidene Gesundheitsstörung in einer auf die Bevölkerungsgruppe und die Fragestellung bezogenen angemessenen Häufigkeit vorliegen. Sie sollte (2) medizinisch relevant und (3) volkswirtschaftlich bedeutend sein. Wesentlich ist auch (4) die Wirksamkeit der Maßnahme, deren Aufwendungen (5) einen akzeptablen Kosten-Nutzen-Aufwand aufweisen sollten. Zentral für die Wirksamkeit von Maßnahmen sind die Art der Intervention, ihr Umfang, ihre Intensität und die Form ihrer Vermittlung. Nicht zuletzt sind auch die Auswahl und Identifikation besonders belasteter Zielgruppen sowie eine zielgruppengerechte Adressierung der Maßnahmen für ihre Wirksamkeit entscheidend. Auch hier sollte sich die Qualität der Maßnahmen nach dem „state of the art“ richten. Nicht in allen Bereichen besteht jedoch hinreichend Evidenz. Für viele Aspekte und präventive bzw. gesundheitsfördernde Ansätze liegen nur vereinzelt oder noch gar keine Studien vor. Dies ist nicht zuletzt auf die jahrzehntelang auch international vernachlässigte Priorität präventiver Forschung zurückzuführen. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2007) schlägt deshalb in Anlehnung an Empfehlungen des Institute of Medicine (Washington 2001) in seinem aktuellen Gutachten vor, dass neben wirksamen Interventionsformen (proven interventions) auch plausible Interventionen eingesetzt werden sollten, wenn ihnen ein theoretisch schlüssiges Wirkungsmodell zugrunde liegt, für das zumindest partiell empirische Evidenz vorliegt (promising interventions).
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Bevölkerungs- bzw. (hoch-)risikogruppenbezogener Ansatz
Wesentlich für den Erhalt der Gesundheit sind die Verfügbarkeit und Nutzung von Ressourcen. Dies umfasst auch die Gesundheitskompetenz (Health Literacy). Durch die Verbesserung von Gesundheitswissen, des Verstehens und der Handlungsfähigkeit kann das Niveau der Gesundheitskompetenz eines Menschen erhöht werden (Osborne 2004). Fachlich qualifizierte, die Motivation und das Lebensumfeld der Zielgruppe berücksichtigende gesundheitsbezogene Informa-
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tionen in leicht verständlicher Sprache stellen dabei einen Baustein eines niedrigschwelligen Zugangs zur Förderung der Gesundheit dar. Nach Auswertungen des telefonischen Bundesgesundheitssurveys 2003 und 2004 nimmt die Informiertheit der Bürger/innen hinsichtlich Gesundheit mit dem Alter zu. Ca. 40% der über 65-jährigen Männer und Frauen aller Schichten informieren sich manchmal bzw. häufig über gesundheitsbezogene Themen. Als Informationsquellen werden vor allem Rundfunk/Fernsehen, Informationen der Krankenkassen und Broschüren der Apotheken genutzt (Horch/Wirz 2006). Daneben stellt der (im Bundesgesundheitssurvey nicht abgefragte) Arzt eine wichtige Informationsquelle dar (Böcken et al. 2004). Ältere scheinen demnach prinzipiell gesundheitsbezogenen Informationen zugänglich zu sein. Nicht bekannt ist jedoch, wie Informationen gestaltet sein müssen, um Ältere für spezifische Maßnahmen zu gewinnen und inwiefern es einer differenzierten, z.B. altersund genderbezogenen Adressierung bedarf. Neben einer reinen Information sind auch gruppenspezifische Maßnahmen wie z.B. Kursangebote der Krankenkassen diesem Ansatz zuzurechnen. Diese können sich außer an die Älteren auch an Angehörige richten, z.B. zur psychosozialen Unterstützung bei der Pflege und zum besseren Verständnis von Einschränkungen und Krankheitsbildern wie Demenz. Neben einer hinreichenden Gesundheitskompetenz ist auch die Einstellung zum Alter(n) wichtig. Auswertungen des Alterssurvey zeigen, dass unabhängig von guter bzw. schlechter Gesundheit, die Bewegungsaktivität bei Personen mit einer negativen Sicht auf das Älterwerden deutlich geringer ist als bei Personen mit einer positiven Sichtweise (Tesch-Römer et al. 2006). Das Altersbild in der Gesellschaft wird wesentlich durch die Medien mit geprägt. Während noch vor einigen Jahrzehnten ein eher negatives, von der Vorstellung eines psycho-physischen Abbaus und Verlustes geprägtes Altersbild vorherrschte, liegt heute in der Bevölkerung ein differenziertes und eher positiv akzentuiertes persönliches und generalisiertes Altersbild vor (Kruse/Schmitt 2005). Mit der Ausprägung des Altersbildes in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Professionen sowie Möglichkeiten seiner Beeinflussung befasst sich die 2007 neu eingerichtete Kommission für den 6. Altenbericht der Bundesregierung.
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Versorgungsbezogener Ansatz
Eine Analyse der derzeitig häufigsten ambulanten und stationären Diagnosen und ihre Entwicklung in den vergangenen Jahren zeigt für die Zielgruppe der Älteren einen steigenden Versorgungsbedarf in internistischer, kardiologischer,
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psychiatrischer und urologischer sowie endokrinologischer und neubildungsbezogener Hinsicht auf (Walter et al. 2006). Damit sind wesentliche Versorgungsbereiche aufgezeigt, die hinsichtlich Prävention verstärkter Aufmerksamkeit bedürfen. Die höheren Altersgruppen haben zu über 90% engen Arztkontakt (TeschRömer et al. 2006). Daraus ergibt sich unmittelbar, dass alters- und krankheitenspezifische ärztliche Präventionsformen selbstverständlicher sowie fachlich und edukativ kompetenter Bestandteil (fach-)ärztlicher Versorgung werden müssen. Nicht in allen ärztlichen Disziplinen ist die Prävention und Rehabilitation bereits hinreichend ausgebildet, obwohl diese in den Weiterbildungsordnungen erwähnt werden. Ärztliche Prävention reicht von primärpräventiver Beratung über frühzeitige Diagnostik bis hin zu präventiver Medikation und Behandlung. In der Realität erfolgt Prävention bislang unsystematisch, wobei vor allem sekundärpräventive Maßnahmen im Vordergrund stehen. Ursachen sind neben fehlenden Unterstützungsstrukturen – gesetzliche Rahmenbedingungen, mangelnde Vergütung insbesondere (primär)präventiver Interventionen, fehlende Handlungsorientierungen – auch vielfach mangelndes Wissen. Als hilfreich zur systematischen, stetig wiederkehrenden Integration von Prävention in die ärztliche Praxis hat sich das 5-A-Konzept (Ask-Advice-AssessAssist-Arrange) erwiesen. Zudem sollten Informationen und verhaltensbezogene Interventionen individuell an das jeweils vorliegende Stadium der Verhaltensänderung angepasst werden (Baum/Keller 2007). Im Hinblick auf die Pflegeprofession sind Zielgruppen von Prävention und Gesundheitsförderung nicht nur Pflegebedürftige und noch nicht pflegebedürftige Ältere, sondern auch die Berufsgruppe der professionell Pflegenden selbst sowie pflegende Angehörige. Entsprechend vielfältig sind die Handlungsfelder. Sie liegen in der Vorbeugung von Pflegebedürftigkeit, z.B. durch Beratung und Aktivierung. Hierzu zählen auch zugehende Angebote auf Gemeindeebene wie präventive Hausbesuche. Die Hauptzielgruppe von präventiven Hausbesuchen sind nicht-pflegebedürftige, selbstständig lebende ältere Menschen, die in ihrem sozialen Umfeld aufgesucht werden. Ein Assessment berücksichtigt sowohl physischfunktionelle, psychisch-mentale und soziale Dimensionen als auch präventives Verhalten, z.B. hinsichtlich gesunder Ernährung und körperlicher Aktivität. Damit sollen der allgemeine Gesundheitszustand, Risikofaktoren und Beeinträchtigungen ebenso erfasst werden wie vorhandene Ressourcen. Es wird versucht, Möglichkeiten zur Reduktion der identifizierten Risiken und zur Optimierung der Gesundheit aufzuzeigen und ggf. entsprechende Unterstützungen zu vermit-
Gesundheitsförderung und Prävention im Alter
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teln. Wiederholte, kontinuierliche Besuche und Folge-Assessments über einen Zeitraum unterstützen diesen Prozess (Dapp et al. 2005). Rehabilitationsmaßnahmen werden mit zunehmender Arbeitsunfähigkeit und Morbidität ab der Lebensmitte vermehrt in Anspruch genommen. Wesentliche präventive Elemente in der (medizinischen) Rehabilitation sind Patientenschulungen und strukturierte Nachsorgeprogramme. Ziel von Patientenschulungen ist es, die Compliance der Betroffenen bei der medizinischen Behandlung zu verbessern und ihre Fähigkeit zum selbstverantwortlichen Umgang mit ihrer Erkrankung in Kooperation mit professioneller Hilfe zu stärken. Schulungsprogramme vermitteln u.a. Wissen über die Krankheit und ihre Therapie, motivieren zu einem gesundheitsförderlichen Lebensstil, verbessern die Stressbewältigung, trainieren soziale Kompetenzen und geben psychologische Unterstützung. Erfolge wurden nachgewiesen u.a. bezüglich einer Steigerung der subjektiven Lebensqualität, einer Reduktion der vorzeitigen Mortalität, der Reinfarktrate bei der koronaren Herzkrankheit und der Häufigkeit von Spätkomplikationen bei Diabetes mellitus. In der (in 2007 gesetzlich verankerten) geriatrischen Rehabilitation werden gesundheitsfördernde (edukative) Angebote bislang allerdings nur selten eingesetzt (Meinck 2003). Ziel muss es sein, Prävention und Gesundheitsförderung in die ambulante als auch stationäre kurative, rehabilitative und pflegerische Versorgung zu integrieren. Dieses ist aufgrund der zunehmenden Gleichzeitigkeit von Gesundheit und Krankheit im Alter besonders relevant.
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Lebensweltbezogener Ansatz
Lebenswelt- oder settingbezogene Ansätze in der dritten bzw. vierten Lebensphase beziehen sich auf den Betrieb bzw. den Arbeitsplatz insbesondere für jüngere Ältere (s. ausführlich auch Fünfter Altenbericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006), auf die Kommune (gesunde Stadt) sowie auf Institutionen wie Senioreneinrichtungen und – insbesondere für ältere Ältere – auf Pflegeheime. Die gesetzlich verankerte Verlängerung der Lebensarbeitszeit erfordert eine spezifische Unterstützung der gesundheitlichen Ressourcen der älteren Arbeitnehmer. Dies kann einerseits über Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung erfolgen. Zum anderen ist ein Altersmangement erforderlich, dass die vorhandenen Ressourcen z.B. durch ein kontinuierliches Training weiter entwickelt und Belastungen durch organisatorische Unstrukturierungen reduziert werden. Ilmarinen (2005) schlägt hierzu ein lebensphasenbezogenes Konzept vor, bei dem ältere Arbeitnehmer ein selbstverständlicher Teil der Belegschaft eines
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Unternehmens werden. Wesentliche Maßnahmen sind abnehmende Wochenarbeitszeit im Lebenslauf, eine erhöhte Flexibilität der Arbeitszeiten, Arbeitszeitkonten, lebenslanges Lernen sowie eine den Fähigkeiten angemessene Arbeit. Zudem sollte die Exposition gegenüber physikalischen Belastungen und körperlich anstrengender Arbeit für ältere Arbeitnehmer reduziert werden. Auch für Ältere sollte das psychologische Arbeitsumfeld so gestaltet sein, dass die Arbeit motivierend und herausfordernd ist. Zentraler Bezugsrahmen im Alter ist der unmittelbare Nahraum – der fußgängig erreichbare Wohnraum oder das Dorf – in dem die Versorgung für das tägliche Leben erfolgt und zwischenmenschliche Kontakte bestehen. Gesundheitsförderung in der Kommune bezieht die Stadtentwicklung ein, die Wünsche und Bedürfnisse älterer Menschen zu berücksichtigen hat. Hierzu zählen nicht nur altersgerechte Wohnformen, Mehrgenerationenhäuser und neue Konzepte für das Wohnen von Pflegebedürftigen, sondern auch angepasste Freiräume mit Angeboten für Ruhe, Kommunikation, Bewegung und Beschäftigung. In den vergangenen Jahren fand der Stadtteil für soziale und gesundheitliche Interventionen vermehrt Beachtung. So wurden in Modellprojekten Organisationsnetzwerke errichtet und vielfältige Initiativen in den Bereichen Bewegung, Kultur, Bildung und Soziales entwickelt und verzahnt. Dennoch ist eine systematische Konzept- und Methodenentwicklung einschließlich Qualitätsmanagement und Evaluation noch nicht gegeben, eine stadtteilbasierte Prävention für benachteiligte Ältere stellt eher eine Ausnahme dar (Sachverständigenrat 2007). Noch weniger Beachtung als städtische fanden dörfliche Strukturen. Aufgrund des geringeren Versorgungsgrades werden hier zukünftig alternative Wege unter Nutzung neuer Technologien (z.B. interaktive Unterstützung per Computer) zu beschreiten sein (Walter/Altgeld 2000).
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Anforderungen an Professionen
In der Praxis stehen der Umsetzung präventiver bzw. gesundheitsfördernder Maßnahmen im Alter derzeit zahlreiche Barrieren entgegen. Dazu zählen in erheblichem Maße Wissens- und Qualifikationsdefizite auf Seiten der Gesundheitsprofessionen in Folge unzureichender Aus-, Fort- und Weiterbildung in Prävention. Erschwerend hinzu kommen eine ,,negative Beobachtungsfalle“ wegen kurzfristig ausbleibender Erfolge von Prävention sowie inadäquate Rahmenbedingungen und Anreizstrukturen innerhalb des dominierenden kurativ ausgerichteten Versorgungssystems. Wesentlich ist deshalb eine Qualifizierung der Professionellen hinsichtlich der Wirksamkeit gezielter Prävention im Alter und ihrer Umsetzung in der Pra-
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xis. Mit der kürzlich erfolgten Integration spezifischer alters- sowie präventions-/ gesundheitsförderungsbezogener Inhalte z.B. in die ärztliche und pflegerische Ausbildung wird versucht, diesem Defizit zu begegnen. Weiterhin ist von erheblicher Bedeutung, die Zusammenarbeit zwischen und innerhalb von Fachdisziplinen, Institutionen und Professionen zu verbessern. Chronisch und multimorbid kranke alte Menschen haben einen hochkomplexen medizinischen, pflegerischen und psychosozialen Versorgungsbedarf, der eine optimale Vernetzung der unterschiedlichen Leistungserbringer erfordert. Hier bestehen allerdings, trotz einiger Ansätze z.B. im Rahmen der integrierten Versorgung in jüngerer Vergangenheit, erhebliche Defizite im deutschen Gesundheitswesen (Schneider 2006).
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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit Maßnahmen zur Förderung von Gesundheit zwischen Anspruch und Wirklichkeit Hans Günther Homfeldt, Sandra Steigleder
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Ein veränderter Auftrag für die Soziale Arbeit?
Im Zuge der sozialstaatlichen Veränderungsprozesse sowie weit reichender Umstrukturierungsmaßnahmen im Sozial- und Gesundheitswesen sieht sich die Soziale Arbeit mit einer aus traditioneller Perspektive befremdlichen sozialstaatlichen Wirklichkeit konfrontiert. Dies ist für sie auf Disziplin- und auf Professionsebene spürbar, denn sowohl ihr bisheriges Aufgabenspektrum als auch das damit einhergehende Selbstverständnis als sozialpolitisches Instrument steht durch die allgegenwärtigen Entstaatlichungstendenzen zur Disposition. Autoren wie Winkler (2006) sehen die Sozialpädagogik bereits „aus dem Zusammenhang mit dem Staat entlassen und strukturell sowohl im Blick auf die ihr zur Bearbeitung aufgegebenen Probleme wie die dafür nötigen Pragmatiken auf Gesellschaft verwiesen. Sie muss ihren Ort in einem gesellschaftlichen Zusammenhang neu organisieren, in einer Situation gleichsam nach dem Staat“ (Winkler 2006: 60). Das bedeutet, wenn der Staat als Orientierungsrahmen nicht mehr zur Verfügung steht, ist die Soziale Arbeit gefragt, sich – fernab institutioneller Sicherheit – einen anderen, möglicherweise eigenen, neu definierten Rahmen zu (er-)schaffen. Diese Notwendigkeit wird jedoch durch die veränderte gesellschaftliche Realität erschwert. Denn es wird in diesem Kontext beispielsweise proklamiert, dass „mit dem Ende der wohlfahrts- und sozialstaatlichen Organisationsform (…) [auch] die mit dieser verbundenen (erzeugten und erlernten) kulturellen wie menschlichen Deutungsmuster zugrunde[gehen]“ (vgl. ebd.: 61). Winkler (2006) spricht weiter von „der bitteren Realität von Klassengesellschaften“ und der „Dramatik einer doch neuen Armut“ (ebd.: 60f.). Er sieht die Gefahr, dass die Umstrukturierung des Sozialstaats in der gegenwärtigen Art und Weise in der „systematischen Desintegration“ (ebd.: 62) ganzer Bevölkerungsgruppen mündet. Denn es sei soweit, dass „man (…) Gesellschaftlichkeit und Kultur den Individuen geradezu didaktisch präsentieren (müsse), damit diese eine Gesellschaft aneignen können, um sich dieser erwehren zu können und substanziell Autonomie für sich zu gewinnen, die ihnen formal schon angetan wurde. (…) Dies stärkt sie (so seine Vermutung) gegen die ihnen auferlegte
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Verarmung und Verelendung, kräftigt gegen die Zwänge des Konsums, welche ihnen in aller Individualität und um dieser Willen eine Selbstgestaltung des Leibes und der Seele auferlegen, die zerstörerisch wirken“ (Winkler 2006: 63, Hervorhebung im Original). Im Fokus steht nunmehr ein Subjekt, das für sich weitgehend allein verantwortlich ist: für seine Lebenswelt und ihre Bezüge sowie den Erfolg seiner Integration in die Gesellschaft. „Gesellschaftlich zur Individualität gezwungen, sind Individuen auf sich gestellt, um so wiederum der Gesellschaft ausgeliefert zu sein“ (ebd.: 62f.). Tatsächlich besteht das Problem der Sozialpädagogik darin, dass sie „so den Bedingungen einer Moderne [gehorcht], die den Beteiligten gesellschaftlich Autonomie gibt, aber die für diese nötigen institutionellen Sicherheiten ebenso verweigert wie die Rahmenbedingungen, welche erforderlich werden, um sich in dieser Situation erfolgreich bewegen zu können. Man soll sich dann – wie die zynische Empfehlung lautet – fit machen; die Fitness-Trainer muss man aber selbst bezahlen, bereitgestellt werden nur noch die Testverfahren zur Feststellung der Fitness“ (ebd.: 61). Winkler fragt daher: „Aber stehen überhaupt Hilfe- und Förderangebote zur Verfügung oder sollen die Tests nicht bloß die tauglichen von den untauglichen Subjekten trennen, um die Unfähigen auszusondern?“ (Winkler 2006: 64). In der Konsequenz hat sich Soziale Arbeit bewusst zu machen, dass sie zum einen durch ihre Einbindung ihren Teil zu dem Aussonderungsprozess beiträgt und sie es zum anderen mit einer veränderten Zielgruppe zu tun hat. Denn ihre traditionelle Zielgruppe der so genannten sozial schwachen Bevölkerungsteile wird ergänzt durch prinzipiell jeden, der durch eine Krisenerfahrung ins Elend abrutschen könnte bzw. abgerutscht ist. Denn es ist zu beobachten, dass „jede Situation (…) zu einem Sonderfall werden kann, der ins Elend führt. Es gibt keine Stabilität mehr, die Empfehlung, eigene Vorsorge zu treffen, wird zum Zynismus: Wenn die Gewährung (sic!) von öffentlicher Unterstützung davon abhängt, das man das für den Ruhestand erworbene Haus oder die angesparte Lebensversicherung wieder verkauft, zeigt sich das System der zerstörten Sozialstaatlichkeit“ (Winkler 2006: 65). Das in einem aktivierenden Sozialstaat verankerte Handlungsprinzip des Förderns und Forderns (vgl. Homfeldt/Steigleder 2007), das sowohl in der Sozialpolitik als auch im Gesundheitswesen allgegenwärtig ist, hat unter den beschriebenen Zeichen der Veränderung nur noch bedingt Geltung. Vor dem Hintergrund der sozialpolitischen Umstrukturierungsmaßnahmen und Reformen im Gesundheitswesen erhalten daher Laienkonzepte von Gesundheit (vgl. Waller 2006: 13f.), aber auch gesundheitsbezogene Handlungsstrategien Sozialer Arbeit eine neue Tragweite. Auch wenn Kaufmann (2005: 126) (noch) die Entwicklung sozialer Kompetenzen durch pädagogische Intervention als die „wahrscheinlich (…) effektivste
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Form präventiver Wohlfahrtspolitik“ sieht, da sie sich sowohl unter politischen als auch wirtschaftlichen Gesichtspunkten auszahle – Ausgangspunkt hierfür ist die Sichtweise, dass „defizitäre Kompetenzen (…) eine Hauptursache persistierender Formen sozialer Schwäche“ (ebd.) sind – liegt doch etwas anderes näher: Die sozialstaatlichen Umstrukturierungsbemühungen legen letztlich die Implementierung des folgenden Konzeptes nahe: „Du sollst entscheiden, dich als Unternehmer deiner selbst zu begreifen, Subjekt sein, das Verantwortung übernimmt unter Bedingungen, über die es nie verfügt“ (Winkler 2006: 63). Und Soziale Arbeit hat sich in enger Zusammenarbeit mit ihren Zielgruppen sowohl mit den hierdurch auftretenden Schwierigkeiten als auch Chancen und Möglichkeiten zu beschäftigen. Nichtsdestotrotz war und ist Soziale Arbeit immer noch an den Schnittstellen von Sozialstaat, Ökonomie, Pädagogik und Therapie tätig. An diesen Schnittstellen finden sich auch die Bürger wieder, weil ihre Lebensgegebenheiten zum Teil öffentlich, zum Teil privat arrangiert sind und sie zunehmend stärker gefordert sind, Konzepte von Selbstmanagement zu entwickeln (etwa in Bezug auf ihre gesundheitliche Versorgung). Auch wenn dahinter das Anliegen steht, die sozialstaatlichen Leistungen zu verschlanken, so sind die Bürger dieser Intention in unterschiedlicher Weise aufgrund unterschiedlicher gesellschaftlich bedingter Voraussetzungen gewachsen. Im Folgenden soll daher betrachtet werden, was dies für eine methodenbezogene Sicht gesundheitsbezogener Sozialarbeit bedeuten kann.
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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit – Konzeption und Methodik
2.1 Handlungsfelder und Zielgruppen einer gesundheitsbezogenen Sozialarbeit Die gesundheitsbezogene Sozialarbeit untergliedern wir in ‚Gesundheitsarbeit im Sozialwesen’, ‚Sozialarbeit im Gesundheitswesen’ und ‚sozialpädagogische Gesundheitsförderung’ (vgl. Homfeldt/Sting 2006: 17).
a) Gesundheitsarbeit im Sozialwesen Das Handlungsfeld der Gesundheitsarbeit im Sozialwesen beschäftigt sich mit der Verhinderung bzw. Verminderung sozial bedingter, gesundheitlicher Ungleichheit und den daraus resultierenden Problemen in der Gesamtbevölkerung. Empirische Studien belegen seit langem einen signifikanten Zusammenhang zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit (vgl. Mielck 1994, 2000; Mielck/Bloomfield 2001). Dieser wird in Einrichtungen der Familien- und Er-
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Hans Günther Homfeldt, Sandra Steigleder
ziehungshilfe, Kinder- und Jugendarbeit, aber auch ganz konkret in Kindergärten, Schulen und Jugendzentren sichtbar. Gesundheitsarbeit im Sozialwesen arbeitet präventiv und gesundheitsfördernd mit verschiedenen Zielgruppen aus der Gesamtbevölkerung und kann mit ihrer Zielsetzung grundsätzlich in allen sozialen Einrichtungen tätig werden (vgl. Ortmann/Waller 2005: 4). Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Gruppe der sozial benachteiligten Bevölkerung. Nach Homfeldt und Sting (2006) weist Soziale Arbeit „eine professionelle Nähe zu sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen auf, während die KommStrukturen des Gesundheitswesens für sozial Benachteiligte eine Zugangsbarriere darstellen“ (Homfeldt/Sting 2006: 157f.). Wie Studien beispielsweise über die Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen zeigen, sind Angehörige benachteiligter Bevölkerungsgruppen dort unterrepräsentiert.
b) Sozialarbeit im Gesundheitswesen Die vornehmlich in Einrichtungen des Gesundheitswesens tätige Sozialarbeit im Gesundheitswesen hat es mit erkrankten Menschen und vermehrt auch mit deren Angehörigen zu tun (vgl. v. Kardorff 1999: 346). Akutkrankenhäuser, Psychiatrien, Hospize und Einrichtungen der Rehabilitation sowie der Suchtkrankenhilfe sind gängige Arbeitsfelder in diesem Kontext. Hier kooperiert die Soziale Arbeit – um Augenhöhe bemüht – tagtäglich mit vielen anderen Professionen. Um ihre professionsbezogenen Ziele, z.B. die Stärkung und Aktivierung persönlicher und kollektiver Kompetenzen sowie gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten auf Seiten der Individuen, zu erreichen, gehören zu ihren Hauptaufgaben u.a. die Information und Aufklärung, Betreuung und Beratung, Aktivierung und Unterstützung sowie Psychoedukation, Krisenintervention, Konfliktbearbeitung oder konkrete Hilfen zur Bewältigung von Alltag und Krankheit, aber auch strukturbezogene Aufgaben wie der Aufbau von Netzwerken sowie die Koordination und Vernetzung der am Genesungsprozess beteiligten Disziplinen und Professionen (vgl. Lützenkirchen 2005: 15f.; Ansen et al. 2004). Sozialarbeit im Gesundheitswesen entstand ursprünglich, „um das mit Krankheit verbundene Risiko einer sozialen, beruflichen und finanziellen Benachteiligung zu vermeiden bzw. abzumildern“ (Ortmann/Waller 2005: 2).
c) Sozialpädagogische Gesundheitsförderung Sozialpädagogische Gesundheitsförderung ist am Setting-Ansatz orientiert und richtet sich an die Menschen in ihrer unmittelbaren Lebenswelt. Mit Hilfe der
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Methoden des Empowerment, Case Management sowie Konzepten der Prävention soll positiv und nachhaltig auf ihre Gesundheit eingewirkt werden (vgl. Franzkowiak 2006). Initiiert durch den ‚Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan (1990)’ und verstanden als „gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe (…), die eine Beteiligung aller möglichen Instanzen erfordert“, hat sich in diesem Handlungsfeld beispielsweise die Suchtprävention nach Homfeldt und Sting (2006: 169) „in der Praxis (…) (als) der am häufigsten und am breitesten ausgebaute Bereich der sozialpädagogischen Gesundheitsförderung“ entwickelt. Verankert in den vielfältigsten Einrichtungen des Sozial- und Bildungswesens, dominieren hier die Ansätze der primären und sekundären Prävention (vgl. ebd.: 169). Sowohl kommunale als auch freie Träger widmen sich der Suchtprävention mit unterschiedlichen Programmen und Konzepten. Unterschieden wird hier beispielsweise zwischen dem Konzept der abschreckenden Information, dem Konzept der funktionalen Äquivalente und der Risikoalternativen, dem Konzept der Lebenskompetenzförderung oder der Suchtprävention als Bildungsaufgabe (vgl. Sting/Blum 2003: 69ff.). Die flächendeckendste Suchtprävention findet hierbei in der Schule statt (vgl. Homfeldt/Sting 2006: 176). Nach Angaben von Altgeld (2006) werden seit etwa 15 Jahren Settings wie Krankenhäuser, Betriebe, Schulen, Städte, Gefängnisse, Hochschulen u.a. in Zusammenarbeit mit der WHO konzeptionell gesundheitsfördernd entwickelt (vgl. Altgeld 2006: 77). Dabei geht es um die „Entwicklung neuer Strategien und Handlungskonzepte“ (Homfeldt/Sting 2006: 17) in den jeweiligen Handlungsfeldern. Die zentralen Ziele und die mit ihnen einhergehenden Arbeitsprinzipien sind in der gesundheitsfördernden Schule wie in anderen Organisationen, Einrichtungen und Betrieben auch, beispielsweise die Betrachtung des Klienten als Akteure, die Initiierung von Lern- und Reflexionsprozessen, die Lebenskompetenzförderung, die Sensibilisierung des gesundheitlichen Bewusstseins. Die Grundlage für Konzepte, die sich am Setting-Ansatz orientieren, wie es auch das Konzept der gesundheitsfördernden Schule tut, bildet die Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der WHO von 1986. Sie setzt nämlich in ihrer Konzeption nicht nur auf der Ebene von Individuen und Gruppen an, sondern darüber hinaus auch an den gesundheitsförderlichen Rahmenbedingungen (vgl. Altgeld 2006: 76). Im GesundeStädte-Netzwerk beispielsweise wurde dies 1986 von der WHO konkretisiert und im Rahmen der Prinzipien der ‚Gesunden Stadt’ realisiert (vgl. ebd.: 76). Die Beispiele zeigen, dass Gesundheit im Rahmen des Setting-Ansatzes nicht als „abstraktes Ziel“ formuliert wird, sondern im Alltag herzustellen und aufrechtzuerhalten ist (vgl. ebd.: 76). Als Kernstrategien nennt Altgeld (2006: 77): a) den Einbezug und die Beteiligung aller relevanten Gruppen im jeweiligen Setting; b) eine Orientierung am Prozess statt vorgegebener feststehender Pro-
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gramme, der gemeinsam mit allen Beteiligten konzipiert und gestaltet wird; c) Systeminterventionen, welche die individuellen Verhaltensweisen genauso beeinflussen sollen wie die Verhältnisse innerhalb des Settings; d) die Verankerung von Gesundheit als Querschnittsanforderung an die Kernroutinen des jeweiligen Settings (vgl. Altgeld 2006: 77). Gesundheitsbezogene Maßnahmen finden in Schulen bereits seit langem statt – zumeist im Rahmen von Gesundheitserziehung (ebd.: 82; vgl. Beitrag von G. Hensen in diesem Band). Thematisiert werden hier in informierender und dadurch abschreckender Absicht z.B. das Rauchen, AIDS, ungesunde Ernährung o.Ä. Die Schule als gesundheitsförderlicher oder gesundheitsschädigender Ort wird jedoch mit den Schülerinnen und Schülern kaum diskutiert, obwohl es Hinweise darauf gibt, „daß es gerade dieser traditionelle Rahmen ist, der gesundheitsschädigende Wirkung hat“ (Kamps 1998: 120). Begründet wird dies damit, weil die Menschen darin „nicht entsprechend ihrer eigenen Bedürfnisse handeln können“ (ebd.: 120). Nach Kamps (1998: 121) zeigen Studien sogar, dass Schülerinnen und Schüler die Schule als einen Ort erleben, an dem eigene Bedürfnisse und Interessen kaum eine Bedeutung haben und der Stress in ihnen auslöst (vgl. ebd.: 121). Ein Erfolg versprechendes Konzept im Sinne des Setting-Ansatzes ist das der ‚Organisationsentwicklung’. In diesem tragen Menschen dazu bei, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen mitzugestalten und fördern auf diese Weise ihre eigene Gesundheit. Wie aber sieht die Förderungsrealität in den Handlungsfeldern gesundheitsbezogener Sozialarbeit aus? Die sozialstaatliche Wirklichkeit gestaltet sich für die drei dargestellten Arbeitsfelder der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit sehr unterschiedlich. Bevor nun vor dem Hintergrund der sozialstaatlichen Veränderungen im Sozial- und Gesundheitswesen exemplarisch im Handlungsfeld ‚Sozialarbeit im Gesundheitswesen’ ausgewählte Arbeitskonzepte der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit betrachtet und im Hinblick auf ihre nachhaltig positive gesundheitliche Wirkung diskutiert werden, sollen zuerst wesentliche Eckpunkte, Grundprinzipien und Handlungsstrategien einer gesundheitsbezogenen Sozialarbeit vorgestellt werden, die ihr als Orientierungsrahmen in einem entgrenzten Sozialstaat dienen.
2.2 Eckpunkte, Grundprinzipien und Handlungsstrategien einer gesundheitsbezogenen Sozialarbeit Salutogenese, Empowerment und das Prinzip der Ganzheitlichkeit Die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit verfügt im Bereich der Förderung von Gesundheit über die beiden Arbeitskonzepte der ‚Prävention’ und der ‚Interven-
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tion’. Trotzdem obliegt die Behandlung gesundheitlicher Probleme hauptsächlich der Medizin, der Pflege und der Psychologie (vgl. Homfeldt/Sting 2006: 158). In der Folge bleibt die gesundheitsbezogene Sozialarbeit – entgegen ihrer ganzheitlichen, biopsychosozialen Sicht auf den Menschen – zumeist im Bereich des dreistufigen Präventionsansatzes verhaftet (vgl. Franzkowiak 2006; siehe Franzkowiak in diesem Band). Nichtsdestotrotz ist gesundheitsbezogene Sozialarbeit durch ihre strukturelle Anlage und Methodenvielfalt besonders geeignet, sowohl auf der Ebene des Verhaltens als auch auf der Ebene der Verhältnisse anzusetzen, um zur Steigerung von gesundheitlicher Chancengleichheit und damit zur Verbesserung individueller Gesundheit beizutragen. Neben den unterschiedlichen Methoden und Konzepten trägt auch die professionsimmanente, salutogene Handlungsorientierung Sozialer Arbeit sowie ihre ganzheitliche, biopsychosoziale Sichtweise auf den Menschen zu dessen Unterstützung und Förderung von Gesundheit bei. Außerdem sind der Bezug auf den Akteur, die Aktivierung seiner Ressourcen und Unterstützung seiner Handlungsermächtigung für das Ziel der Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung des Menschen unter den Prämissen von Lebenslagen- und Biografieorientierung handlungsleitend. In all ihren Handlungsfeldern betrachtet die Soziale Arbeit den Menschen als Subjekt, das fähig ist, selbstbestimmt und aktiv zu handeln. Das bedeutet, der Akteur ist grundsätzlich in der Lage, seine Ressourcen zu mobilisieren und wird nicht als hilfloses Objekt gesehen, das nach einem Reiz-Reaktions-Modell handelt (vgl. Quindel 2004: 213). Auch im Bereich der gesundheitsbezogenen Sozialarbeit wird von der Sozialen Arbeit eine ressourcenorientierte, salutogene Haltung eingenommen, die den Prinzipien von Empowerment und Partizipation verpflichtet ist. Dabei setzt das Empowerment-Konzept eine dialogisch orientierte Beziehung zwischen Professionellen und Klienten voraus (vgl. Quindel 2004: 202). Die zentralen Handlungsstrategien der Sozialen Arbeit sind hierbei Beraten, Erziehen, Helfen, Vermitteln, Organisieren, Arrangieren, Informieren, Planen und Betreuen (vgl. Belardi 1999: 319). Darüber hinaus arbeitet Soziale Arbeit mit der feldübergreifenden Methode des Case Management und versteht sich sowohl als sozialpolitisches Instrument als auch als Berater und Anwalt ihrer Klienten. Die professionelle Grundhaltung des Empowerment bedeutet für ihren Arbeitsansatz, dass „der Adressat sozialer Dienstleistungen (…) nicht mehr allein im Fadenkreuz seiner Lebensunfähigkeiten und Hilflosigkeiten wahrgenommen (wird). Im Brennpunkt der Aufmerksamkeit stehen vielmehr seine Stärken und seine Fähigkeiten, auch in Lebensetappen der Schwäche und der Verletzlichkeit die Umstände und Situationen seines Lebens selbstbestimmt zu gestalten“ (Herriger 2006: 8). Empowerment meint „Selbstbefähigung und Selbstbemächtigung, Stärkung von Eigenmacht, Autonomie und Selbstverfügung“ (ebd.: 20) und bedeutet somit für die Soziale
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Arbeit als Handlungskonzept „das Anstiften zur (Wieder-)Aneignung von Selbstbestimmung über die Umstände des eigenen Lebens“ (ebd.: 8). Auch im Kontext gesundheitsbezogener Sozialarbeit sind die durch sozialpädagogische Intervention freigelegten „Erfahrungen von Selbstwert und aktiver Gestaltungskraft, von Ermutigung und sozialer Anerkennung“ von zentraler Bedeutung. Denn „der Rückgriff auf das positive Kapital dieser Erfahrungen macht es Menschen möglich, sich ihrer Umwelt weniger ausgesetzt zu fühlen und Mut für ein offensives Sich-Einmischen zu sammeln“ (ebd.: 20). Damit ist das Empowermentkonzept auch maßgeblich an der Entstehung oder Stärkung bzw. (Wieder)Herstellung von Empfindungen psychischen und sozialen Wohlbefindens beteiligt. In dieser Hinsicht ist das Empowerment-Konzept mit dem Konzept der Salutogenese von Antonovsky vereinbar, der die Frage stellt, weshalb Menschen trotz Belastung gesund bleiben. Er sieht das Kohärenzgefühl als zentrale individuelle, psychologische Einflussgröße, das für das Gefühl der Stimmigkeit zwischen der Person und seiner Umwelt verantwortlich ist. Es handelt sich um „eine allgemeine Grundhaltung der Welt und dem eigenen Leben gegenüber, eine Art ‚Weltanschauung’“ (vgl. Homfeldt/Sting 2006: 77). „Ein stark ausgeprägtes Kohärenzgefühl erlaubt eine flexible Reaktion auf Anforderungen, während ein schwaches Kohärenzgefühl eher starre und rigide Reaktionen hervorbringt“ (ebd.: 78). Das Kohärenzgefühl – verstanden als „flexibles Steuerungsprinzip, das die Copingstrategien eines Menschen bestimmt und so die Stressverarbeitung beeinflusst“ (ebd.: 78) – bildet sich bis zum Erwachsenenalter aus situativen Rahmenbedingungen (z.B. Familiensituation, Beschäftigungsverhältnis) und generalisierten Widerstandsressourcen (z.B. körperliche Konstitution, Bildung, soziale Unterstützung) (ebd.: 78). Beide Konzepte wenden sich gegen das Defizitmodell und sind stattdessen am Ressourcenansatz orientiert. Sie haben eine ganzheitliche biopsychosoziale Sichtweise auf den Menschen und seine Bedürfnisse und berücksichtigen seine individuelle soziale Lebenswelt. Dabei möchten diese Konzepte die Menschen zur selbstbestimmten Gestaltung ihrer eigenen Lebenswelt befähigen und sie in ihrer Handlungsbemächtigung (agency) unterstützen.
Partizipation, agency und das Konzept der sozialen Unterstützung Gesundheitsbezogene Sozialarbeit ist am partizipativen Prinzip orientiert. Sie betrachtet ihre Zielgruppe in ihren sozialen Bezügen mit unverwechselbar persönlicher agency (vgl. Homfeldt et al. 2006: 21ff.). Im Sinne von Handlungsmächtigkeit bündelt agency die Potenziale, „die unter veränderten Bedingungen oder in einem anderen Ressourcenset geweckt werden könnten“ (ebd.: 22). In
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diesem Sinne kann agency als Handlungsbemächtigung gesehen werden (vgl. Weltentwicklungsbericht 2006: 58). Der Sozialen Arbeit kommt die Aufgabe zu, ihre professionellen Kompetenzen einzusetzen, um die Handlungsbemächtigung zu unterstützen, die über die Entwicklung einer Eigendynamik die Klienten dazu befähigt, ihr Leben zu regeln und über das (wieder-)gefundene Selbstbewusstsein weitere Ideen und Kompetenzen zu entwickeln (vgl. Quindel 2004: 190). Das unterstützende Konzept von Empowerment kann unterschieden werden: a) als sozialpolitisches Konzept (Æ Gemeindepsychologie: vgl. Keupp 1987; Rappaport 1980), b) als kollektiver Prozess der Bemächtigung (Æ Selbsthilfebewegung: vgl. Stark 1996) und c) als professionelles Handlungskonzept für die Arbeit im psychosozialen Feld (Æ Professionelle Förderung der Selbsthilfe: vgl. Knuf/Seibert 2000, Miller/Pankofer 2000; Herriger 2006) (vgl. Quindel 2004: 190). „Der individuelle Aspekt ermöglicht es, eine Beziehung zwischen Gesundheitsförderung und dem Gedanken der Selbstverwirklichung herzustellen, der soziale Aspekt der Gesundheitsförderung erlaubt den Brückenschlag zum Empowermentkonzept sozialer Arbeit“ (Kamps 1998: 119). Zu verhaltensorientierter Gesundheitsförderung gehört demnach, die eigene Selbstverwirklichung anzuregen, in dem sich das Individuum in Selbstwahrnehmung und Selbstgestaltung übt und mit fremdbestimmten Sozialisationserfahrungen umzugehen lernt. Die Wahrnehmung und Artikulation individueller Bedürfnisse ist jedoch lediglich ein erster Schritt zur Förderung von Gesundheit. Es ist wichtig, dies in umfassende Programme und Konzepte einzubinden, wie es das angesprochene Empowerment-Konzept tut. Denn „’Empowerment’ beschreibt ein Konzept Sozialer Arbeit, welches soziale und politische Programme und Maßnahmen umfasst, die es Gruppen von Menschen ermöglichen, die Ressourcen, die ihr Leben betreffen, selbst zu erhalten und zu kontrollieren. Gesundheitsförderung in diesem Sinne zielt darauf ab, durch Gemeinschaftsaktionen sichere, anregende, befriedigende und angenehme Arbeits- und Lebensbedingungen zu schaffen“ (Kamps 1998: 120). Hinzu kommt, dass das Verständnis von Gesundheit und Krankheit kulturell bestimmt ist und – wie Faltermaier (1998) oder auch Flick (1998) zeigen konnten – subjektiven Deutungen unterliegt, die alters- und geschlechtsabhängig sind (vgl. v. Kardorff 1999: 345). Die beschriebenen Arbeitsprinzipien und Handlungsmaximen einer gesundheitsbezogenen Sozialarbeit sollen nun am Beispiel des Handlungsfeldes Krankenhaus verdeutlicht und bezüglich ihrer Umsetzung bzw. Umsetzungsmöglichkeiten überprüft werden.
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Sozialarbeit im Gesundheitswesen gehört zu den traditionellen Arbeitsbereichen Sozialer Arbeit (vgl. v. Kardorff 1999: 351; Ansen 2006: 96). Physisch und psychisch Kranke, alte Menschen oder Familien in komplexen Problemlagen gehören seit jeher zu den Zielgruppen Sozialer Arbeit. Gegenwärtig nehmen chronisch-degenerative Erkrankungen, Abhängigkeits- bzw. Suchterkrankungen sowie psychische und psychosomatische Erkrankungen im Gesundheitswesen mehr Raum ein (vgl. Homfeldt/Sting 2006: 24ff.; Ansen 2006: 96). Die Soziale Arbeit nimmt sich der mit diesen Krankheitsbildern einhergehenden körperlichen, psychischen und sozialen Folgen an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten sich aus der sozialen Betreuung von Krankenhauspatienten durch Ehrenamtliche zuerst der hauptamtliche Fürsorgedienst und anschließend der Sozialdienst im Krankenhaus (GödeckerGeenen 2005: 18). Gegenwärtig etabliert sich die Sozialarbeit im Krankenhaus als integraler Bestandteil des Gesundheitssystems und leistet auf diese Weise ihren Beitrag zu einer multiprofessionellen Teamarbeit am Patienten (vgl. Ansen et al. 2004: 22f.). Die Sozialarbeit im Krankenhaus zeichnet sich im Unterschied zu den anderen im Handlungsfeld des Krankenhauses tätigen Professionellen (Mediziner, Pfleger, Physiotherapeuten, Psychologen) mit ihrem eingeschränkt pathogenen, krankheitsbezogenen Blick auf den Patienten, durch eine tendenziell salutogene Haltung sowie ganzheitliche, biopsychosoziale Sichtweise auf den Krankenhauspatienten aus (vgl. ebd.: 17). Für sie sind in diesem Arbeitsfeld die Handlungsmethoden der sozialen Beratung, Betreuung, Begleitung, Unterstützung sowie des (Entlass-)Management zentral. Gerade für alte und pflegebedürftige Patienten, mehrfachbehinderte oder onkologische Patienten ist ein solches Methodenprofil von großer Bedeutung, da bei ihnen die mit der Krankheit einhergehenden Folgen auf mehreren Ebenen liegen. Vier Wege der Kontaktherstellung zwischen dem Sozialdienst und dem Patienten sind möglich: über das Klinikpersonal, Angehörige, den Patienten selbst oder sonstige Einrichtung des Sozialbzw. Gesundheitswesens (Gödecker-Geenen 2005: 19f.). Sozialarbeit im Krankenhaus nimmt ihre Beratungsfunktion mit Blick auf die sozialen und psychosozialen Konsequenzen wahr, die sich aus der Krankheit ergeben. Dabei orientiert sie sich zwar an den Interessen, der Lebenslage und der Biografie des Klienten, beschäftigt sich in diesem Kontext jedoch hauptsächlich mit den Folgeerscheinungen der Erkrankung (vgl. Ansen et al. 2004: 64). Das bedeutet, sie „unterstützt die Patienten bei der Verarbeitung der schwierigen Diagnose und bei der
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Bewältigung von Krankheitsfolgen“ (Gödecker-Geenen 2005: 19). Hierzu gehören zum einen psychosoziale Aspekte wie das Erleben der Krankheit als Lebenskrise, aber auch lebenspraktische Aspekte wie berufliche, wirtschaftliche und soziale Konsequenzen. „Die Soziale Arbeit ist nicht für jede Krankheit zuständig. Für die Soziale Arbeit sind solche Erkrankungen relevant, die komplikationsreich verlaufen und mit sozialen Konsequenzen verbunden sind, die die Patienten belasten und den Heilungsverlauf beeinflussen“ (Ansen et al. 2004: 13). In gemeinsamen Gesprächen wird zum einen damit begonnen, vorhandene Ressourcen zu (re-)aktivieren und zu stärken, sowie zum anderen im Sinne gleichberechtigter Partner versucht, den lebenspraktischen Umgang mit der Krankheit zu gestalten. So werden beispielsweise der Krankenhausaufenthalt inkl. möglicher Behandlungsstrategien besprochen, die Entlassung thematisiert sowie der Bedarf einer Rehabilitationsund/oder Pflegeeinrichtung für die Zeit nach dem Aufenthalt im Akutkrankenhaus geklärt und gegebenenfalls organisiert. Sozialarbeit im Krankenhaus „koordiniert dabei die Vernetzung zu sozialen Versorgungssystemen und verschafft Zugang zu unterstützenden persönlichen, gesellschaftlichen, sozialen und materiellen Ressourcensystemen“ (Gödecker-Geenen 2005: 19). Das Aufgabenspektrum des Sozialdienstes hat sich im Laufe der Zeit verändert bzw. ist ergänzt worden. Während zu ihren klassischen Aufgabenbereichen u.a. die Sozialanamnese und Problemdiagnose, sozialrechtliche Beratung, Gespräche mit den Patienten und Angehörigen gehören, zählen zu den neuen Aufgabenbereichen z.B. soziale Therapien, Gruppenangebote zur Krankheitsbewältigung, die Initiierung und Anleitung von Selbsthilfegruppen, der Aufbau und die Begleitung von Krankenhausbesuchsdiensten, Sterbe- und Trauerbegleitung sowie die Mitarbeit an Evaluation und Qualitätssicherung (vgl. v. Kardorff 1999: 352). Die Beratungsschwerpunkte der Sozialarbeit im Akutkrankenhaus liegen entsprechend neuer Klassifikationen nach Gödecker-Geenen (2005) in a) der psychosozialen Beratung und Betreuung, b) sozialrechtlicher Beratung, c) sozialer Rehabilitation, d) medizinischer Rehabilitation und e) beruflicher Rehabilitation (vgl. Gödecker-Geenen 2005: 20f.). Im Bereich der psychosozialen Probleme werden Ängste, Informationsdefizite, Kommunikationsschwierigkeiten, Hospitalismus, Fehlunterbringung und Gefühle der Entfremdung von der eigenen Person und der Lebenswelt thematisiert (vgl. Ansen et al. 2004: 37). Informationen und Aufklärung vermitteln den Betroffenen häufig Sicherheit und geben ihnen ihre Eigenverantwortung sowie die Ermächtigung zurück, um ihr Leben – wenn auch mit der Krankheit – wieder selbstbestimmt gestalten zu können. Dabei vollziehen sich die Interventionen der Sozialarbeit im Krankenhaus erstens zu jeder Zeit – wenn möglich – unter Einbindung der Hauptbezugspersonen bzw. des sozialen Netzwerkes des Patienten und erfolgen zweitens unter der Prämisse
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der Wiederherstellung und Stärkung der Autonomie des Klienten (vgl. ebd.: 61). Zu den konkreten Aufgaben gehört neben der dargestellten psychosozialen Betreuung und sozialen Beratung aber auch das Entlassmanagement. Über das Manual „Qualitätssicherung in der Krankenhaussozialarbeit“ vom DVSK (1999) werden die Aufgabenfelder und Ziele von Sozialer Arbeit im Krankenhaus konkretisiert (vgl. Gödecker-Geenen 2005: 20):
Die Mobilisierung der Eigenaktivität des Patienten Die Erarbeitung einer tragfähigen Entscheidung zur nachstationären Versorgung Die Erstellung eines individuellen Hilfe- und Behandlungsplans Die Aktivierung der Bezugspersonen Die Aktivierung nachstationärer Versorgungssysteme Die Einleitung geeigneter Rehabilitationsmaßnahmen Die Klärung der Finanzierung der nachstationären Maßnahmen Die Erreichung eines hohen Maßes an Patientenzufriedenheit
Nach der Darstellung der konzeptionellen Anlage, Zielsetzungen und Methodik der Sozialarbeit im Krankenhaus als einem Beispiel für gesundheitsbezogene Sozialarbeit aus dem Handlungsfeld der Sozialarbeit im Gesundheitswesen stellt sich die Frage, wie die sozialstaatliche Wirklichkeit für den Sozialdienst im Krankenhaus aussieht. Vor dem Hintergrund der sozialstaatlichen Rahmenbedingungen ergeben sich für die Sozialarbeit im Krankenhaus professionelle Engpässe. So wird die Soziale Arbeit im Krankenhaus nicht als eigenständige Leistung abgerechnet, sondern sie „zählt zu den allgemeinen Krankenhausleistungen“ (GödeckerGeenen 2005: 24) und wird daher – wie die gesamte Krankenhausfinanzierung auch – über die Fallpauschalen (DRG´s) abgedeckt. Dies erschwert eine individuelle Betreuung der Klienten, da die Finanzierung der durch den Sozialdienst des Krankenhauses getätigten Leistungen nicht adäquat abgerechnet werden können; schlimmstenfalls ist ihre Gewährleistung gefährdet. Da die Einnahmen von Krankenhäusern mit der Höhe ihrer Patientenzahl korrelieren, wird sich die Verweildauer verkürzen und die Arbeitsabläufe werden gestrafft. In der Konsequenz bleibt weniger Zeit für den einzelnen Patienten und seine Belange (vgl. ebd.: 24; Ansen et al. 2004: 55). Durch die Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen kommt dem Sozialarbeiter im Krankenhaus eine neue Rolle zu. Sein „Erfolg“ wird „daran gemessen, wie schnell er die Verlegung eines Patienten in eine andere Institution oder in seine häusliche Umgebung organisiert“ (Gödecker-Geenen 2005: 24), letztlich, auch um ökonomisch zu arbeiten und langfristig die Existenz der Einrichtung nicht zu gefährden (vgl. ebd.: 25). Das bedeutet,
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„stärker in den Mittelpunkt des Handelns treten Management- und Steuerungsaspekte im Rahmen der Krankenhausbehandlung, unter Berücksichtigung der Patienteninteressen“ (ebd.: 25). Doch wie lässt sich dies gestalten und mit dem eigenen Auftrag Sozialer Arbeit vereinbaren?
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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Schlussfolgerungen für Konzeption und Methodik
Um ihren Status im Vergleich zu den anderen Professionen, die auch zur Förderung von Gesundheit des Menschen beitragen, zu stärken, muss gesundheitsbezogene Sozialarbeit erstens ihre Kompetenzen in Forschung und Praxis weiter ausbilden und sie nach außen vertreten, um einmischungsfähiger zu werden. Sie muss zweitens zur Qualifizierung der in den Arbeitsfeldern engagierten Professionellen beitragen und sich dabei an ihren professionsimmanenten Handlungsmethoden orientieren, um sich von anderen Professionen abgrenzen zu können und ihren Status zu legitimieren. Drittens muss sie ihre Aufgabe als sozialpolitisches Instrument prüfen, dabei aber wie bisher – bei aller Umstrukturierung im Sozialund Gesundheitswesen – ihrer Aufgabe als Anwalt ihrer Akteure treu bleiben und in ihrem Interesse mit den am Fall beteiligten Professionen kooperativ, reflexiv, vermittelnd und vernetzend umzugehen wissen. Wesentliche professionelle Kompetenzen für die Sozialarbeit im Gesundheitswesen sieht v. Kardorff „neben sehr guten Fähigkeiten zur Gesprächsführung, einem Überblick über die gängigen Konzepte von Krisen- und Krankheitsbewältigung (…) (in einer) Weiterqualifikation zur Sozialen Therapie, die jenseits spezialisierter psychotherapeutischer Techniken Aspekte lebenspraktischer Krisen- und Krankheitsbewältigung betont, einen systemorientierten Blick auf die Partnerschaft und die Familien-, Freundschafts- und Bekanntschaftsnetzwerke und ihre Pflege richtet und milieuspezifische kulturelle Repräsentationen und Praktiken als Ressourcen gesundheitsförderlicher Lebensweise nutzt“ (v. Kardorff 1999: 355f.). Ausgehend von der Arbeit mit kranken Menschen gehören für v. Kardorff aber auch Kompetenzen im Bereich der Planung, Koordination und Verhandlung zu einer präventiven und gesundheitsförderlichen Arbeit mit bestimmten Zielgruppen (vgl. ebd.: 356). Die Zukunftsaufgaben sieht er zudem beispielsweise im Bereich der Qualitätssicherung, Fortbildung, Organisationsentwicklung und der Klinischen Sozialarbeit (vgl. ebd.: 357). Ortmann und Waller (2005) schlagen vor, das Konzept der ‚Sozialen Unterstützung’ als „das Schlüsselkonzept zur besseren theoretisch-konzeptionellen Fundierung der gesundheits-bezogenen Sozialarbeit“ (Ortmann/Waller 2005: 12, Hervorhebung im Original) anzusehen. Zudem sei es für „alle Felder der Gesundheitsversorgung“
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(ebd.) gültig. Denn nur mit einer auf Professions- und Disziplinebene präsenten sowohl konzeptionell als auch methodisch starken Sozialen Arbeit, die den Kontakt zu ihren Akteuren hält, kann sie ihrer Aufgabe als sozialpolitisches Instrument gerecht werden. Auf diese Weise wird das stetige Dilemma zwischen Hilfe und Kontrolle auch vor dem Hintergrund sozialstaatlicher Veränderungsprozesse im Gesundheits- und Sozialwesen nicht zur Falle, sondern zur Chance. Lützenkirchen (2005) fasst die an die Soziale Arbeit gestellten Herausforderungen im Bereich des Gesundheitswesens wie folgt zusammen: „Nur wenn Gesundheitsund Sozialwesen multidimensional, interdisziplinär, interprofessionell und anwendungsorientiert denken und handeln, werden die geschilderten drängenden Probleme aufgefangen, bearbeitet und gemeistert werden können. Eine Erweiterung des professionellen Handlungsspektrums der Sozialarbeit im Gesundheitssektor ist also zwingend erforderlich“ (Lützenkirchen 2005: 14). In welche Richtung geht eine solche Erweiterung eingedenk der Feststellung in unserer Hinführung zum Thema, dass mit der Umstrukturierung des Sozialstaates und damit einhergehend dem Umbau des Solidarsystems institutionelle Sicherheiten brüchig geworden sind? Eine Einengung professioneller Möglichkeiten wäre, sich für eine defensive Variante, nämlich für paternalistische Konzepte zu entscheiden, in denen nicht mehr Feld- und Sozialkontexte grundlegend sind, sondern das Individuum einzig „nackter Fall“ ist, mit der Folge, dass zwar ein diesem Prinzip folgendes professionelles Handeln einem betriebswirtschaftlich begründeten Modell von Qualitätssicherung entspricht, aber die im „sozialpädagogischen Jahrhundert“ errungenen Konzepte Sozialer Arbeit preisgegeben sind. Wir nehmen die Überlegung „einer neuen Wendung zur Subjektivität“ von Winkler (2006: 77) auf, jedoch nicht im Sinne eines Subjekts, das außerhalb gesellschaftlicher und kultureller Zusammenhänge zu begreifen ist (ebd.: 76) und auch nicht als „elendes Subjekt“ verstanden wird, vielmehr knüpfen wir an die agency-Diskussion an (vgl. Hirschler/Homfeldt 2006: 41-54). Agency im Sinne von Handlungsbemächtigung wird nicht nach gängigen gesellschaftlichen Standards bewertet, sondern aus der Perspektive der Akteure selbst, z.B. ihrer Ressourcen, um diese mit der Gestaltung sozialer und zivilgesellschaftlicher Entwicklungen zu verknüpfen. In der Folge werden Menschen „nicht mehr als AdressatInnen, KundInnen oder KlientInnen wahrgenommen, sondern als Akteure, agents“ (Hirschler/Homfeldt 2006: 52). Eine akteursbezogene Perspektive rückt den Menschen mit seinen Rechten, Interessen, Kompetenzen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt. Agents der Sozialen Arbeit können als Akteure im Rahmen eines komplexen Wechselspiels von „Struktur und Handeln verortet und die Stärken und Ressourcen als auch Begrenzungen und Behinderungen sowohl auf der Ebene des (individuellen) Handelns als auch auf der strukturellen Ebene im Hinblick auf die Gestaltung und Bewältigung ihrer je
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spezifischen Lebenssituationen, in die Richtung einer sozialen Entwicklungsperspektive thematisiert [werden]“ (Böhnisch et al. 2005: 282). Das Potenzial einer agency-bestimmten Sozialen Arbeit beruht auf der Kategorie sozialer Unterstützung des Akteurs in seinen Lebenskontexten: einer Unterstützung in der Differenzierung ihrer Verwirklichungschancen, den sozialen wie den materiellen, den persönlichen wie den kollektiven. Sens agency-Konzept berücksichtigt, „dass sich ein hohes Maß an Verwirklichungschancen nicht nur zugunsten eigener Belange einsetzen lässt“, sondern auch „die Unterstützung Dritter oder zugunsten noch weiter gehender gesellschaftspolitischer Ziele, Verpflichtungen und Aktivitäten“ (Volkert 2005: 134), die dazu beitragen, dass zunehmend mehr Personen ihre Eigenmacht nutzen können, um ihre Lebensvorstellungen umzusetzen. Wir empfehlen der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit, eine in diesem Sinne agency-bezogene theoretische Rahmung zu entwickeln (vgl. dazu auch Franzkowiak 2006: 145f.). Dringend geboten dafür ist professionspolitisch flankierend die Entwicklung von berufsverbandlichen Strukturen in der gesundheitsbezogenen Sozialen Arbeit, um zum einen verinselten „Arbeitsfeldern, für die keine verbindlichen Rahmenempfehlungen bzw. Arbeitsplatzbeschreibungen vorliegen“ (Franzkowiak 2006: 23), entgegenzutreten, zum anderen jedoch auch, sich eine für Professionalisierung unerlässliche theoretische Rahmung insgesamt zu geben. Eine wesentliche Chancenstärkung würde die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit schließlich durch die Verabschiedung des Bundespräventionsgesetzes erfahren. In der Legislaturperiode der rot-grünen Bundesregierung (bis Herbst 2005) sollte ein solches Gesetz als vierte Säule der Gesundheitspolitik ausgebaut werden. Dieses Gesetz sollte u.a. nationale Präventionsziele schaffen, den Finanzrahmen für Prävention benennen, verbindlicher als der § 20 SGB V, und eine „Bundesstiftung Prävention“ einrichten (vgl. Hajen 2006: 4). Die Gesetzgebung scheiterte vorläufig im Mai 2005 im Bundesrat, da er neben anderem Landeskompetenzen berührt sah und die Gefahr einer weiteren Bürokratisierung durch den Aufbau zusätzlicher Verwaltungsstrukturen befürchtete. Dieser Vorgang vollzog sich parallel zur Arbeit der Föderalismuskommission, die eine gesetzliche Vorlage zur Entflechtung von Entscheidungsbefugnissen von Bund und Ländern erarbeitete. Ein weiteres Problem des geplanten Präventionsgesetzes lag in seiner „Top-down-Mentalität“. An der Steuerung von Gesundheitsförderung wie auch Prävention sind unterschiedliche Akteure beteiligt, die nur sehr unzulänglich eingebunden worden wären. Zum Beginn des Jahres 2007 ringt die Große Koalition der Bundesregierung um die Gesundheitsreform. Ein nach ihrer Verabschiedung – dann hoffentlich – wieder auf die Agenda politischer Entscheidungsfindung gesetztes Gesundheitsförderungs- und Präventionsgesetz sollte zum Ziel haben (vgl. Hajen 2006: 9f.), die Möglichkeiten der Koordination
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und Kooperation unter Hinzuziehung (auch der bis Mai 2005 nicht berücksichtigten Agentur für Arbeit) der Akteure zu verbessern, die Settingidee zu stärken, die föderale Grundstruktur zu wahren und schließlich in ressourcenaufsuchender Weise die Handlungsmächtigkeit (agency) der Zielgruppen zur Grundlage für Prävention und Förderung zu nehmen und nicht ein reduktionistisches Normalitätsmodell von Gesundheit und Krankheit. Trotz aller strukturellen Widrigkeiten bleibt die Erschließung von agency auch in Zukunft eine zentrale Aufgabe Sozialer Arbeit.
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Gesundheitsbezogene Sozialarbeit
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Pädagogische Handlungsansätze der Gesundheitsförderung Gesundheitspädagogik als individualisierte Bildungsanforderung Gregor Hensen
Gesundheitserziehung als Gesundheitsförderung? Gesundheitserziehungsprogramme an Schulen, in Kindertagesstätten und an andern Orten außerschulischer Bildung sollen junge Menschen auf gesundheitliche Risiken aufmerksam machen und Krankheiten und damit verbundene Folgen (und Folgekosten) vermeiden. Prävention von personalen und gruppenbezogenen Entwicklungsrisiken spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Es sind vor allem primärpräventive, kompetenzbasierte Programme, die auf die Erweiterung von sog. „life skills“ (soziale und allgemeine Lebenskompetenzen) zielen (vgl. Hurrelmann 2003; Bauer 2005). Hierbei wird der Schwerpunkt vor allem auf die Veränderung von Verhalten und die Erweiterung personaler Kompetenzen – unabhängig der Berücksichtigung praktischer Einschränkungen des Individuums und des sozialen Umfelds – gelegt. Im Bereich der schulischen Gesundheitsförderung und -pädagogik sind diese Formen individualisierter Kompetenzerweiterung mittlerweile etablierte Maßnahmen, um gesellschaftliche Folgeprobleme („soziale Kosten“) abzufedern (Bauer 2005). Sie werden wahrgenommen in unterschiedlichen Aktions- und Vorbeugeprogrammen an Schulen zu Themen wie Krankheit, Sucht oder Gewalt. Die Studie von Bauer (2005) belegt: Die Rezeption unter Schülern wie Lehrern variiert in Abhängigkeit von den sozialen Ausgangsbedingungen. Dies ist bedeutend, denn Schule fungiert als Instanz zur Vermittlung von Wissen und Formalqualifikationen und ist somit verantwortlich für die Allokation gesellschaftlicher Chancen (vgl. Hörmann 2004a). Der Zusammenhang zwischen sozialer Schichtung und Gesundheitsrisiko ist empirisch nachweisbar. So zeigen beispielhaft Ergebnisse der beiden Whitehall-Studien in Großbritannien
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Gregor Hensen eine höhere Morbiditäts- und Mortalitätsrate mit sinkendem Einkommen1, abnehmendem sozialen Status und geringerem Bildungsabschluss, riskanteres Verhalten mit sinkendem Sozialstatus sowie eine geringere Wirkung präventiver Programme bei Angehörigen niedriger Sozialschichten (vgl. zusammenfassend Marmot 1996; Schlicht 2000).
Die festgestellten schulform- als auch herkunftsspezifische Implementierungsschwellen gesundheitsbezogener schulischer Präventionsprogramme untermauern die von Bauer zugrunde gelegte Hypothese des „Präventionsdilemmas“: „Obwohl Heranwachsende in sozial benachteiligter Lebenslage von einem erhöhten Risiko der Ausbildung selbst- und fremdschädigender Verhaltensweisen betroffen sind, ist die Erreichbarkeit dieser Klientel mit Angeboten der Gesundheitsförderung besonders defizitär.“ (Bauer 2005: 14) Der zunehmenden Zahl junger Menschen, die in prekären Lebenslagen heranwachsen, „wird man die skandalöse Tatsache nahe bringen müssen, dass geringe gesellschaftliche Teilhabe und individuelle Selbstverwirklichungschancen auch in modernen Gesellschaften fast zwangsläufig mit vermehrter Risikoexposition und deren körperlichen, seelischen und sozialen Begleiterscheinungen verbunden sind“ (Schnabel 2001: 82). Für die Entwicklung pädagogischer Konzepte der Gesundheitsförderung werden Erkenntnisse der Sozialisations- und Identitätsforschung benötigt, da sie eine lebensgeschichtliche Perspektive beinhalten und nach langfristigen Entwicklungszielen fragen. Vor allem die biographisch relevante Bedeutung (soziale Erfahrungen) für die Konstruktion von Identität zeigt, dass Gesundheitsförderungskonzepte nicht eindimensional institutionell verortet (z.B. Setting Schule oder Tageseinrichtung) und durch verhaltenspräventive Maßnahmen verkürzt dargestellt sein sollten. Der im Zuge des paradigmatischen Wechsels der Gesundheitsförderung durch die Ottawa-Charta entstandene Setting-Ansatz hat an vielen Stellen visionäre Elemente, die hochgradig sozialpolitisch motiviert sind. Der Setting-Ansatz ist stark geprägt durch Verhältnisprävention, in dem das soziale Umfeld des Subjekts in das gesundheitsfördernde Kalkül einbezogen wird (Betriebe, Schule, Gemeinde etc.) (vgl. Bauch 2004). Durch gezielte Veränderungen des Umfelds – so das Ziel – sollen Stress hervorrufende Faktoren vermindert, abgefedert oder vermieden werden. Die Berücksichtigung derartiger lebensweltlich orientierter Ansätze zeichnen sich durch eine hohe Adressatennähe aus; soziale und marktliche Organisationen, die dem Setting-Ansatz folgen, 1 Klein und Unger (2006) warnen vor dem Hintergrund ihrer Untersuchungen vor einer blinden Übernahme der häufig zitierten Kausalitätsvermutung zwischen Einkommen und Mortalität, die nicht immer per se gegeben sein muss und verweisen auf die sehr vielschichtigen und komplexen Mechanismen, die den Einkommenseinfluss auf das Mortalitätsrisiko erklären.
Pädagogische Handlungsansätze der Gesundheitsförderung
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stehen allerdings vor dem Problem, ihre Funktionsbestimmung und Handlungsabläufe gleichzeitig in Einklang mit den gesundheitlichen Zielen ihrer Mitglieder (Mitarbeiter) zu bringen (vgl. Hensen 2008). Ein häufig verfolgter Ansatz ist die Gesundheitserziehung und –aufklärung, die häufig synonym für Gesundheitsförderung eingebracht wird. Bauch (2004: 90) unterscheidet: „Während Gesundheitserziehung auf einzelne Aspekte und Ausschnitte einer Person zielt (auf das Wissen, auf die Einstellung, auf einzelne Ängste) macht Gesundheitsförderung die Person insgesamt zu ihrem Interventionsobjekt. (…) Während Gesundheitserziehung glaubt, durch die Vermittlung von einzelnen Fertigkeiten und Fähigkeiten das Gesundheitsverhalten beeinflussen zu können, muss sich nach Maßgabe aktueller Gesundheitsförderung die Persönlichkeit insgesamt ändern, um Effekte im Gesundheitsverhalten zu erzielen.“ Dieses Unterfangen (hier: Persönlichkeitsveränderung) ist kaum allein mit erzieherischen Mitteln zu bewerkstelligen. Der visionäre Ansatz, der gerade aus dem Konzept der Gesundheitsförderung ableitbar ist, gibt Hinweise für eine moderne Gesundheitspädagogik, die als Teil von ihr gesehen werden kann.
Herausforderungen moderner Gesundheitspädagogik Die Suche nach einer Theorie der Gesundheitspädagogik verbleibt nach wie vor auf einer deskriptiven Ebene und pendelt zwischen den Polen einer Gesundheitspädagogik als theoretischer Summationsbegriff gesundheitsbezogener Maßnahmen (Wulfhorst 2002) und einer Gesundheitspädagogik als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin (Zwick 2004). Gesundheitserziehung im klassischen Sinn orientierte sich in der Vergangenheit in erster Linie an der Prävention medizinisch vordefinierter Krankheiten, deren Entstehung im Zusammenhang mit individuellen Fehlverhalten gesehen wurde (Hörmann 2002: 92). Auch die WHO hat sich zur Gesundheitserziehung geäußert und spricht in dem „Glossar Gesundheitsförderung“ von bewusst gestalteten Lernmöglichkeiten, die gewisse Formen der Kommunikation einschließen und sowohl auf die Verbesserung von Gesundheitsalphabetisierung als auch auf die Erweiterung und Entwicklung von Alltagskompetenzen (life skills) zielen (vgl. Wulfhorst 2002: 27). Die anvisierten Ziele lassen sich nur zum Teil erschließen, denn es ist festzustellen, dass trotz guter Gesundheitserkenntnisse und Vermittlungsprogramme, die auf Verhaltensund Bewusstseinsänderungen aus sind, viele Formen von Risikoverhalten weiter fortbestehen. Zahnhygiene im Kindergarten, Aidsprävention in der Unterstufe und Anti-Raucher-Kampagnen in der Pubertät zeigen häufig keine nachhaltige Wirkung oder gehen an der eigentlichen Zielgruppe vorbei (vgl. Lindner/Freund 2001). Auch die Zielgruppenstimulation durch ausgeklügelte pädagogische Mo-
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Gregor Hensen
tivationstechniken und gruppendynamische Verfahren zeigten nur mäßigen Erfolg (Hörmann 2002). Diese kommunikative „Umzingelung“ der Probanden (Bauch 2004: 89) erweitert die Gesundheitserziehung zwar durch partizipative und emanzipatorische Elemente, in dem sie die Perspektive der anvisierten Bevölkerungsgruppen in Maßnahmen einbezieht; das asymmetrische Verhältnis zwischen Vermittler und Rezipient – was als ein klassisches pädagogisches Grundproblem (häufig allerdings zu unrecht) in der Kritik steht – wird dadurch nicht aufgelöst. Gesundheitsbezogene Präventionsprogramme zeigen sich wirkungsvoller, wenn sie entwicklungsrelevante und milieuspezifische Voraussetzungen mit dem anvisierten Gegenstandsbereich (z.B. Gesundheit, Gewalt- oder Suchtvorbeugung) in einem „zielgruppenorientierten Präventionssetting“ verknüpfen. Diese Hinweise sollten in eine wirksame zielgruppenorientierte Gesundheitspädagogik integriert werden (vgl. Bauer/Bittlingmayer 2006). Als gewinnbringend werden für die Ermittlung von Bedarfen und Bedürfnissen qualitative Untersuchungsansätze wie Biographie-, Lebenswelt- und Milieuanalysen eingeschätzt (Filsinger/Homfeldt 2001). Es gibt Hinweise darauf, wie gesunde Jugendliche typische Belastungen zu bewältigen versuchen. Dabei spielt die aktive Nutzung von sozialer Unterstützung bei der Überwindung alterstypischer Belastungen ein große Rolle (Salewski 2004: 23). Soziale Unterstützung beeinflusst die Bereitschaft für gesundheitsförderliches Verhalten, und zwar auf Seiten von jungen Menschen und Erwachsenen, wobei der Einfluss auf Jugendliche am größten zu sein scheint. Der Zusammenhang von sozialer Bindung (Beziehungen) und Gesundheitsverhalten konzentriert sich auf a) soziale Integration und gesellschaftliche Teilhabe (activity involvement), Beteiligung und Engagement in Gruppen, Vereinen und öffentlichen Einrichtungen, b) den bereit gestellten Unterstützungsgrad von sozial vertrauten Personen sowie c) eine verstärkte Unterstützung und emotionale Fürsorge durch enge Bezugspartner. Jede dieser Kategorien sozialer Bindung und Beziehungen hat das Potenzial für die Vermittlung gesundheitsbezogener Werte und Normen und gesundheitsförderliches Verhalten (Gottlieb 1985). Weyers (2007) kann aktuell diese Befunde zum Zusammenhang zwischen (natürlicher) sozialer Beziehung und Gesundheitsverhalten teilweise bestätigen, weist aber darauf hin, dass ihre Manipulation in Interventionen nicht immer von Erfolg gekrönt sei (ebd.: 180). Im Kontext mit sozialen Beziehungen und außerschulischen Netzwerken bekommt der Sport bzw. der gemeinschaftliche Sport in Sportvereinen häufig eine grundsätzliche „gesunde“ Rolle zugeschrieben. Brinkhoff (1998) hat in seinen Untersuchungen festgestellt, dass Sport auf vielfache Weise Moderatorfunktionen sowohl in der sozialisationstheoretischen Perspektive als auch in der stresstheoretischen Perspektive wahrnehmen kann; allerdings kann Sport auch – und das zeigen seine Ergebnisse ebenso – zu Stressoren werden, wenn es bspw.
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zu erheblichen Diskrepanzen zwischen individueller Handlungskompetenz und externen Handlungsaufforderungen kommt (ebd.: 312f.). Die pädagogische Anleitung und Orientierung auf diese vor allem körperlich bezogene Gesundheitsentwicklung kann demnach nicht als generelles Prinzip zur Lösung alters- und entwicklungsabhängiger Schwierigkeiten eingesetzt werden. Auf lange Sicht allerdings ist durch sportliche Aktivitäten bei Jugendlichen eine allgemeine Förderung der Gesundheit zu erwarten (Schmid 2002). Dem Sport wird überdies eine Kompensationsfunktion hinsichtlich Problem verursachendes Verhalten zugeschrieben (Raithel 1997). Bei chronisch Kranken haben sich bspw. gezielte Schulungsmaßnahmen bewährt, die neben der Vermittlung von Kenntnissen auch Raum für das Erlernen von krankheitsbezogenen Bewältigungskompetenzen geben. Im Rahmen internationaler Forschungsarbeiten wurde ein Modell (Chronic Care Model, CCM) zur Verbesserung der Versorgung chronischer Erkrankungen entwickelt (Wagner et al. 2001; Bodenheimer et al. 2002b; 2002c), das neben strukturellen und prozessualen Parametern der Leistungserbringung die Stärkung der Patientenrolle, insbesondere die Aspekte der Selbstwirksamkeit und Handlungsfähigkeit, die unter dem Begriff Selbstmanagement zusammengefasst werden, berücksichtigt (Jayasuriya 2001; Epping-Jordan 2004). Ausgehend von internationalen Studien lässt sich folgender aktueller Forschungsstand zu diesem Thema zusammenfassen (Bodenheimer et al. 2002a): Schulungsprogramme, die Selbstmanagement-Fähigkeiten berücksichtigen sind wirksamer als alleinige Informationsveranstaltungen. Die Förderung von Selbstmanagement führt zu OutcomeVerbesserungen an relevanten Endpunkten. Nicht zuletzt verspricht man sich nachweisbare Kostensenkungen bei bestimmten Patientengruppen, die durch die Investition in diverse Schulungsprogramme erzielt werden sollen. In Abgrenzung von der medizinischen Therapie (als beabsichtigte Heilung oder Linderung einer bestimmten Krankheit) und der Psychotherapie als flankierende Maßnahmen für evtl. psychische Störungen, die durch eine unangemessene Krankheitsverarbeitung entstehen, „hilft Pädagogik durch Schulung nicht nur im Erlernen des alltäglichen Umgangs mit der Krankheit, sondern die Verarbeitung einer Lebenserfahrung“ (Hörmann 2002: 95). Dieser Hinweis ist entscheidend, da gerade der pädagogische Ansatz immer mit einer biographischen – und in dem Sinne sozialisationsabhängigen – Perspektive verbunden ist, die nicht nur retrospektiv nach den Bedingungen und Verläufen des Heranwachsens fragt, sondern individuelle, zukunftsbezogene Entwicklungsziele zulässt. Es geht darum, einen normativen und zielgerichteten Bezugsrahmen für die Krankheitsbewältigung zu entwickeln, die über das Erlernen verhaltensmedizinischer und –therapeutischer Akutbefunde hinausgeht (vgl. Hörmann 2004a). Dieser Ansatz kann als eine Art „Krankenpädagogik“ bezeichnet werden, der als Teilgebiet der Gesundheitspädagogik wahr-
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zunehmen ist und zum Ziel hat, den Umgang mit Krankheit und ihre Bewältigung zu lernen. „Neben der Einbeziehung von Krankenpädagogik unterscheidet sich Gesundheitspädagogik von einer als Erfüllungsgehilfen der Medizin titulierten Medicopädagogik oder „Psychoedukation“ durch Reflexion von Zielen und Inhalten gesundheitlicher Thematiken.“ (Raithel et al. 2005: 239)
Bildung als Gesundheitsförderung Gesundheitswissen allein ist zwar eine notwendige, „aber keinesfalls hinreichende Bedingung zur Veränderung gesundheitsbezogener Einstellungen und zur Entwicklung gesundheitsförderlicher Verhaltensweisen“ (Hörmann 2002: 95). Die gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse spiegeln sich auch in der Pädagogik wider, die Gefahr läuft, unter dem Einfluss ihr verwandter Wissenschaften ihr Proprium zu verlieren. Erziehung an sich ist „verdächtig“ geworden (vgl. Raithel et al. 2005: 10). Ihr haftet ein autoritärer Charakter an, der sich die Asymmetrie von Lehr-Lern-Beziehung zu Nutze macht und angesichts der aktuellen Diskussion über die „Erziehungskatastrophe“ zu scheitern droht. Mit der Diskussion um eine „Psychologisierung der Pädagogik“ werden Strömungen gekennzeichnet, die seit vielen Jahren versuchen, pädagogische Schemata und Spezifika zu durchbrechen (bzw. zu „modernisieren“) und die häufig nichts anderes meinen als die Ersetzung bestehender Verhaltens- und Deutungsmuster durch psychologische Kategorien (Reichenbach 2002). Verbunden sind damit drei zentrale Tendenzen, die häufig handlungsleitend für heutige pädagogische Programme sind: So ist festzustellen, dass a) die unmittelbaren Bedürfnisse des Kindes und jungen Menschen zum Leitkriterium pädagogischen Handelns geworden sind, b) die gegenwärtige Situation und die akute Bedürfnisbefriedigung Primatstatus vor einer Zukunftsperspektive erlangt hat und c) die Idealvorstellung einer symmetrischen Beziehung in der Lehr-Lern-Interaktion zum (Denk)Gebot erzieherischer Kommunikation geworden ist (Reichenbach 2002: 9). Eine Gesundheitspädagogik, die lediglich auf der Verhaltensebene ansetzt und hier kurzfristige Modifikationen anvisiert, trägt dieser Entwicklung Rechnung. Die einzelne pädagogische Beziehung ist eine höchst individuelle Form der Interaktion, in der sich Bildung – abgekoppelt von seiner normativen Grundlage – als zentrales und umfassendes Kernelement, quasi als Aneignungsprozess, konstituiert. Hier wird zugleich ein sozialwissenschaftlicher Blick als Ergänzung unverzichtbar, da er den Blick darauf lenkt, dass Pädagogik und Erziehung nie wertund ideologiefrei verläuft und nicht abzukoppeln ist von den sozialstrukturellen Umweltbedingungen, in denen sich die Akteure bewegen.
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Aus der Perspektive der Pädagogik ist der Begriff der Identität eng verknüpft mit dem der Bildung. Erziehung und Bildung als zwei grundlegende pädagogische Konstituenten für die Konstruktion von Identität dienen aus gesellschaftstheoretischer Sicht als Methoden der Reproduktion und Integration (vgl. Gröll 1975). Während Erziehung sich weitestgehend als ein Vorgang der Einpassung der heranwachsenden Generation in einen konkreten gesellschaftlichen Kontext zeigt, ist die Intention, die mit Bildung verbunden sind, sehr viel weit reichender. Sie geht aus der Erziehung hervor und ist mit ihr lebenslang verknüpft. Bildung zielt dennoch weiter, nämlich auf die Entstehung von Bewusstsein (Bernhard 2001). „Durch Bildung können die Heranwachsenden in die Lage versetzt werden, sich diese Welt selbst geistig zu erschließen, sie sich bewusstseinsmäßig verfügbar zu machen. Ist Erziehung fremdbestimmtes Ausrüsten des Menschen für vorab gegebene Verhältnisse, so kann Bildung in die bewusste Freisetzung des heranwachsenden Subjekts münden.“ (ebd.: 67) Bildung muss also in zweierlei Hinsicht beachtet werden. Einerseits in engerem Sinne als Ausbildung, andererseits in einem weiteren Sinne als individuelle Selbstgestaltung (Zwick 2004: 73). Bildungsprozesse sollten so angelegt sein, dass sie es gleichzeitig schaffen, aus der lebensweltlichen Perspektive der Lernenden hervorzugehen, andererseits die Vermittlung des von der Gesellschaft bereit gestellten Wissens nicht zu vernachlässigen, um so Identität zulassen zu können. Hörmann (1999; 2002; 2004b) plädiert vor diesem Hintergrund für eine bewusste Abgrenzung der modernen Gesundheitspädagogik gegenüber des traditionellen Verständnisses von Gesundheitserziehung, das mit einer Form der „Medicopädagogik“ gleichzusetzen sei (vgl. Tab. 1). Gesundheitspädagogik
Medicopädagogik
Gesundheit und Krankheit ergänzen sich
Gesundheit und Krankheit schließen sich aus
Gesundheit und Krankheit als Prozess
Gesundheit und Krankheit als Zustand
Gesundheit als kulturelle Leistung
Gesundheit als medizinische Norm
Gesundheitsaufklärung, -erziehung, -bildung, -beratung, -förderung
Medizinische Aufklärung
Tabelle 1: Merkmale und Teilbereiche der Gesundheits- und Medicopädagogik, Quellen: Raithel et al. 2005: 237; Hörmann 2004a: 29.
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Auch zeitgemäße Formen der Gesundheitsberatung und -aufklärung zeigen – zumal sie Fragen der Lebensqualität und des Wohlbefindens zumeist völlig vernachlässigen und in ihrer Wirkung kaum messbar sind – eine ebenso versteckte Krankheitsorientierung und nicht minder ausgeprägten Autoritarismus (Hörmann 2002). Gegenüber der Medicopädagogik, die hauptsächlich auf medizinische Aufklärung und Prophylaxe zielt, rücken zunehmend Konzepte der Gesundheitsbildung in den Vordergrund. Sie beinhalten eine positive Bestimmung von Gesundheit und betonen förderungswerte protektive Faktoren auf Seiten der Rezipienten in Form einer besonderen Betonung des Bildungsbegriffs mit den wichtigen Momenten der Selbstaneignung und Eigenständigkeit. Die negativen Konnotationen, die auf der Ebene der Rezipienten mit dem Begriff der Gesundheitserziehung verbunden sind (z.B. Fremdbestimmung, Belehrung, Umerziehung etc.) umgeht von Haug (1991: 31ff.) mit der Betonung auf den Bildungsaspekt. Gesundheitsbildung zielt vielmehr auf den Prozess einer aktiv-partizipierenden Selbstbildung sowie auf selbstbestimmtes, mit- und eigenverantwortliches Handeln (ebd.). Bildung als selbst gesteuerte Gestaltung des eigenen Lebens und als Ausformung eines gesunden Lebensstils setzt allerdings eine Vielzahl von strukturellen, persönlichen und kulturellen Lebensbedingungen voraus. Menschen können sich selbst gesundheitlich schaden bzw. sie nutzen Gesundheitsbildungsangebote häufig nicht, auch wenn sie niederschwellig angeboten werden. Vor dem Hintergrund von Bourdieus Forschungsarbeiten zur Bildungsungleichheit und Lebensstilen (Bourdieu 1982) kann dies erklärt werden, und zwar wenn erkannt wird, welche Veränderungsträgheit Lebensstil- und Mentalitätsmuster beinhalten (Hysteresis), die auf Vorsorge, Prophylaxe und die Strategien zur Erhaltung von Gesundheit überhaupt nicht ausgerichtet sind (siehe ausführlich Bauer 2005). Gesundheitsbildung ist nicht wertfrei und vernachlässigt zudem die Ungleichheitstatsache sozialer Strukturen. Diesen Aspekt hat sie mit den medicopädagogischen Ansätzen gemeinsam. Moderne Gesundheitspädagogik, die das Bildungselement ernst nimmt, orientiert sich aber nicht per se an der Verhütung von medizinisch vordefinierten Krankheiten und schreibt deren Entstehung individuellem Fehlverhalten zu. Im Mittelpunkt steht die Gesundheit (und nicht die Krankheit), was sich vor allem auf die Vermittlung von Strategien zur Erlangung von Wohlbefinden und Lebensqualität fokussiert (Hörmann 2004b).
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Grenzen bildungspädagogischer Interventionen für Gesundheit Gesundheit ist nach wie vor eines der höchsten Güter der Menschen und bedingt unstreitig die Entwicklung von Menschen. Gesundheit ist allerdings mehr als das Produkt einer Gesundheits- und Krankheitsindustrie bzw. des medizinischindustriellen Komplexes (Keupp 1997). Sie ist in den speziellen Lebensweisen verankert und ist ebenso in ihrer kulturellen Dimension Teil des Subjekts (Hörmann 2004a). Keupp (1997: 44) sieht bspw. die Ich-Identität als eine zentrale Widerstandsquelle, quasi als eine Art „emotionale Sicherheit“ in Bezug auf die eigene Person. Ergänzend ist mit dem Konzept der „Teilidentität Gesundheit“ von Höfer (2000) zu argumentieren: Gesundheit kann nicht nur als Folge von Stresserfahrungen und –verarbeitungen gesehen werden, sondern „als aktiver Prozess der eigenen Gesunderhaltung, der eine theoretische, selbstreferentielle Basis erfährt und aufgrund von einem motiviertem Gesundheitshandeln zu einem relativ bewussten Prozess der Gesunderhaltung beitragen kann“ (ebd.: 224f.). Mit der Bildung gelungener Ich-Identitäten und dem hier genannten Bewusstwerdungsprozess von Selbstwirksamkeit in Richtung Gesundheit scheinen viele junge Menschen vor dem Hintergrund der o.g. Risiken im Prozess des Aufwachsens, die durch die Widersprüchlichkeiten und Unsicherheiten postmoderner Lebensentwürfe geradezu verstärkt werden, überfordert. Es sind Strategien und Konzepte erforderlich (so die allseits konstatierte und logische Schlussfolgerung), die junge Menschen dabei unterstützen, geeignete Abwehrmechanismen gegen Gesundheitsrisiken im Sozialisationsprozess zu entwickeln. Dieser – aus der sozialisationstheoretischen Perspektive sowie der Identitätsforschung abgeleitete und oft rezipierte – Ansatz entspricht, ebenso wie Konzepte der Selbstsozialisation und Selbstbildung, einem strukturvergessenen Verständnis von Subjektentwicklung (Bauer 2002), das nahezu seit über drei Dekaden in der wissenschaftlichen Rezeption seinen Siegeszug feiert: „Das gegenwärtige Sozialisationsverständnis richtet sich zu einseitig auf die Perspektive des Subjekts, beschränkt sich allenfalls auf ein Katalogisieren des Alltagsbewusstseins und vernachlässigt die Analyse der häufig invisibilisierten, differenzierten Struktur der Sozialisationsbedingungen.“ (Bauer 2006: 245) Auch Keupp sieht in den unterschiedlichen sozialen Ausgangslagen und den ungleichen Teilhabechancen ein zentrales Problem: Die Fähigkeit zur Erprobung und Konstruktion von Projekten der Selbstorganisation ist ohne ausreichende materielle Absicherung nicht möglich. So wird „Identitätsbildung zu einem zynischen Schwebezustand, den auch ein ‚postmodernes Credo’ nicht zu einem Reich der Freiheit aufwerten kann“ (Keupp 1997: 67). Gesundheitspädagogische Ansätze zur Prävention und Gesundheitsförderung sind häufig auf die Änderung von gesundheitsbezogenem Verhalten ausgerichtet, das den gruppenspezifischen Lebensstil
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gehobener Sozialmilieus widerspiegelt. Verhaltensänderung kostet Geld und ist stark mit den Werthaltungen dieser Gruppen verknüpft (z.B. Ausdauer, Disziplin, Triebbeherrschung und Belohnungsaufschub) (Schlicht 2000). Gesundheitsförderung ist – folgt man dem Setting-Ansatz – in hohem Maße sozialpolitisch motiviert und sozialstaatlich funktional. Sie ist nicht zu trennen von dem Zusammenhang zwischen Armut, Herkunft, Bildung und Sozialstruktur. Gesundheitsrisiken, mit denen sich Heranwachsende im Sozialisationsprozess konfrontiert sehen, sind status- und altersabhängig und korrespondieren mit der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben (vgl. auch Lampert/Richter 2006). Dieses Konzept der Sozialisationstheorie ist allerdings nicht auf die Phase der Kindheit und des Jugendlichenalters beschränkt, sondern zeigt sich als lebenslanges Konstruieren der eigenen Identität. Staatliche Förderprogramme zeigen sich diesbezüglich nur mäßig wirksam und verweisen damit zwangsläufig auf die Herausbildung neuer Strategien der individuellen Ressourcenstärkung. Moderne gesundheitspädagogische Ansätze können diese Aufgaben erfüllen, da sie nicht institutionell gebunden sind, gleichzeitig aber versuchen, biographische und sozialisationsbedingte Elemente für eine umfassende Gesundheitsbildung und Bewusstwerdung zu integrieren. Dennoch zeigt sich, dass die Schwelle, die durch sozialstrukturelle ungleiche Voraussetzungen und Herkunftsmilieus entsteht, die Rezeption pädagogischer Maßnahmen zur Gesundheitsförderung auch in diesem Konzept für „Individualisierungsverlierer“ sehr hoch ist. „Eigenverantwortung für Gesundheitshandeln hat Grenzen, wenn die zu erbringende Leistung strukturell ungleich definiert ist.“ (Schmidt 2007: 90) Es bleibt also zunächst die Aufgabe pädagogischer Institutionen, Bildungsprozesse – und in diesem Sinne Aneignungsvorgänge kultureller gesundheitsförderlicher Lebensweisen (Hörmann 2004a) – so umzusetzen, dass Gesundheitsrisiken und gesundheitsschädigendes Verhalten ungleiche Sozialisationsverläufe nicht noch verstärken. Die Vermeidung individueller Gesundheitsrisiken und die Förderung von Gesundheit verbleiben zum großen Teil auf der Ebene des Individuums, was ebenso politisch gewollt wie unvermeidbar erscheint und Eingang in das Konzept des „aktivierenden Staates“ findet. „Der individualisierungstheoretische Konsens ist praktisch geworden“, so Bauer (2006: 246) und verweist auf die hegemoniale Kraft einer akademischen, politischen und ökonomischen Allianz, für die ausschließlich das individuelle Veränderungspotenzial im Mittelpunkt steht. Die Entdeckung des Individuums und der Identität als veränderbare und anpassungsfähige Größe erweitert das Bild und fordert eine „aktive Selbstbiographisierung“ der Akteure, ohne allerdings die darauf wirkenden Struktureffekte zu berücksichtigen. Pädagogik hat vor diesem Hintergrund den Auftrag, Heranwachsende bei dem Erwerb von Unsicherheitsbewältigungskompetenzen zu
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unterstützen. Doch dieser Vorgang ist – legt man bspw. die konservative Struktur von Schule zugrunde, die sich auch nach der Bildungsexpansion und PisaDiskussion konsequent beständig zeigt – nach wie vor hochgradig selektiv und gesellschaftlich allokativ (vgl. Böttcher/Klemm 2000). Bildung und Wissen begründen, so die Ausführungen von Bittlingmayer (2002: 237), an der Schnittstelle zwischen individuellen Kompetenzen und Ressourcen einerseits und dem skizzierten gesellschaftlichen Wandel andererseits ein neues Fundament sozialer Ungleichheit. Das Primat des Individuums und die damit verbundene hohe Bedeutung von Identität in der wissenschaftlichen Analyse verschleiern und verfestigen diesen Zusammenhang. Personenbezogene Gesundheitsstrategien und Verhaltensweisen stehen nicht zur Wahl, sondern sind Verpflichtung geworden und fokussieren sich in dem „Gesundheitsimperativ“ (siehe Mazumdar in diesem Band). Die unkritische Übernahme eines subjektzentrierten Sozialisationsverständnisses erfüllt die gesellschaftspolitische Forderung nach mehr Eigenverantwortung und Selbststeuerung, die auf ein Versagen sozialpolitischer bzw. gesundheitspolitischer Steuerungsinstrumente hindeutet. Der Verweis auf die Stärkung von Bildungsprozessen bedient die Zeitdiagnose „Wissensgesellschaft“ und passt sich ihrer Forderung nach lebenslangen Lernprozessen an, die im Bereich Gesundheit zunehmend darüber entscheiden, ob und in welcher Form gesellschaftliche Teilhabe realisierbar ist. Gesundheitsbezogene Subjektbildung wird – im Spiegel gesellschaftlicher Verlagerungsprozesse, in denen Identität zunehmend riskant und damit relevant wird – zur statusabhängigen, privatisierten und somit hochriskanten Daueraufgabe.
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Gregor Hensen
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Lebenslagenorientierte Gesundheitsförderung im Sozialraum in Berlin Zielorientierte, vernetzte Strukturen für die Gesundheitsförderung und Prävention Gerhard Meinlschmidt
1
Einleitung
Im vorliegenden Beitrag möchte ich einige grundsätzliche Ausführungen zum Thema Sozialstruktur im räumlichen Kontext machen und insbesondere auf die Themen Gesundheitsziele und die Vernetzungsnotwendigkeiten für eine erfolgreiche Gesundheitsförderung und Prävention eingehen. Die Darstellungen verdeutlichen den Gesamtzusammenhang an ausgewählten Berliner Daten und fachpolitischen Aktivitäten, die mit entsprechenden theoretisch-strukturellen Überlegungen angereichert werden. Ein wichtiger Begriff in diesem Zusammenhang ist der des Settings. Das Setting Sozialraum hat insbesondere in städtischen Ballungsräumen wie Berlin eine besondere Bedeutung. Unter einem Setting ist das Umfeld eines Menschen zu verstehen, in dem er lebt, arbeitet oder seine Freizeit verbringt. Klassische Settings sind von daher die Familie, die Schule, der Arbeitsplatz und der Sozialraum, der hier im Zentrum der Betrachtung steht. In der Gesundheitsförderung und Prävention geht man von einem epidemiologischen Setting aus. Es handelt sich um Zielgruppen mit identischen oder ähnlichen Risiko- bzw. gesundheitsfördernden Faktoren. Das Setting kann somit einerseits als Zugangsweg zu den Zielgruppen und andererseits für die Gestaltung des Umfeldes im Sinne einer partizipativen Organisationsentwicklung genutzt werden. In der praktischen Ausgestaltung von Politiken kommt es sinnvollerweise zu einer Kombination von Zielgruppenansätzen mit unterschiedlichen Settings. Eine besondere Notwendigkeit bei der fachlichen und politischen Gestaltung von räumlichen Settings besteht in der Vernetzung der Vorortstrukturen und deren Zielorientierung. In vier Punkten möchte ich dies darlegen: Der erste ist eine sozialraumorientierte Datenanalyse in Berlin, der Sozialstrukturatlas 2003. Hierbei werden nur die Grundprinzipien der Sozialraumanalyse kurz dargestellt. Anschließend werden die fachpolitischen Schlussfolgerungen aus dem Sozialstrukturatlas skizziert.
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Gerhard Meinlschmidt
Als drittes möchte ich ein theoretisches Modell der Vernetzung der regionalen Strukturen und in diesem Zusammenhang auch die Definition von Gesundheitszielen darstellen. Den Abschluss bilden die Voraussetzungen für den weiteren Prozess der Umsetzung von Gesundheitszielen.
2
Ausgangslage Sozialstrukturatlas
Die sozialwissenschaftliche Forschung hat in den letzten Jahren den Zusammenhang zwischen der genetischen, biologischen und psychologischen Konstitution der Menschen und den gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Lebens- und Arbeitsbedingungen belegt. Die empirischen Sozialwissenschaften und die Epidemiologie belegen in vielen Studien den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und dem Gesundheitszustand sowie der Mortalität (z.B. Mielck 2000; Helmert et al. 2000). Soziale Ungleichheit führt zu unterschiedlichen gesundheitlichen Beanspruchungen in der Arbeits- und privaten Lebenswelt und gleichzeitig zu unterschiedlicher Inanspruchnahme der gesundheitlichen Versorgung. Gesundheitliche Ungleichheit wiederum hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Bildungs- und Arbeitsmarktchancen sowie das verfügbare Einkommen und damit auf den Grad der sozialen Integration (Rosenbrock 2001). Theoretisch werden diese Zusammenhänge in Abbildung 1 verdeutlicht. Die Lebenslagen von Menschen lassen sich somit nicht in einem eindimensionalen Sinn charakterisieren – sie sind mehrdimensional und enthalten alle Facetten in einer Gesamtschau, die eine Lebenslage beschreiben. Wir haben es also mit zwei Ansätzen zur Beschreibung der Lebenslagen zu tun: eine Beschreibung und Quantifizierung einerseits auf der menschlich individuellen Ebene und auf der anderen Seite die räumlichen Soziallagen, die eine Abbildung der aggregierten individuellen Lebenslagen in den Raum hinein darstellen. Ich werde mich in dieser Arbeit ausschließlich auf die räumlichen Legenslagen konzentrieren.
Lebenslagenorientierte Gesundheitsförderung
Abbildung 1:
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Zusammenhänge zwischen sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit
Die Berechnungen zur Sozialstruktur in Berlin (Meinlschmidt et al. 2004) machen deutlich, dass in einem räumlichen Kontext die Indikatoren aus den Lebensbereichen Einkommen, Arbeit, Bildung, Gesundheit etc. sehr stark miteinander korrelieren und sich über Indizes beschreiben lassen. Mit diesen Indizes lassen sich die sozialen Disparitäten (soziale Brennpunkte) im Raum identifizieren. Als Ansatz für die Indexbildung wurde eine Faktorenanalyse verwendet (Sozialindizes). Aufbauend auf diese Sozialindizes können Planungsansätze für die räumliche Ressourcensteuerung entwickelt werden. Das grundsätzliche Vorgehen verdeutlicht die Abbildung 2.
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Abbildung 2:
Gerhard Meinlschmidt
Definition der räumlichen Sozialstruktur
Das Hauptziel der Sozialraumanalyse ist zunächst, die sozialstrukturellen Verhältnisse als sozialstrukturellen Querschnitt zu beschreiben und Gebiete mit besonderem Entwicklungsbedarf zu identifizieren. Die Berechung der Indizes erfolgte im Rahmen des regionalen Bezugssystems für Berlin, das auch eine kleinräumige Analyse des Stadtgebietes ermöglicht.1 Abbildung 3 stellt die Sozialindizes (geschichtet) in der kleinräumigen Gliederung des regionalen Bezugssystems dar. Dabei wird der innerstädtische Ballungsraum als besonders „belastet“ identifiziert. Neben der Berechung eines sozialstrukturellen Querschnitts für das Stadtgebiet ist auch dessen zeitliche Veränderung von Bedeutung. Mit der Dynamisierung des Sozialindex können Sozialräume benannt werden, die einer besonderen Aufmerksamkeit im Sinne von präventiven Gebieten bedürfen.
1 Zum regionalen Bezugssystem und zur methodischen Berechung der Indizes vgl. Meinschmidt (2004).
Lebenslagenorientierte Gesundheitsförderung
Abbildung 3:
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Sozialindex in der räumlichen Gliederung
An dieser Stelle möchte ich einige Eckpunkte der Sozialstruktur in Berlin darstellen, ohne auf die sehr umfangreiche kleinräumige Darstellung einzugehen. Das beginnt beim Thema Bildung: rund 27% der Berlinerinnen und Berliner haben keinen Schulabschluss bzw. nur einen Hauptschulabschluss. Das setzt sich fort: 23% haben keinen Berufsabschluss, 8% der Berlinerinnen und Berliner leben von der Sozialhilfe, die Arbeitslosenquote beträgt rd. 19% und die Armutsquote liegt bei rd. 18%. In all diesen Parametern liegt Berlin deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Betrachtet man die Gesundheitsindikatoren wie Morbiditäts-, Mortalitätsraten und die Lebenserwartung im Vergleich zum Bundesdurchschnitt, so ergibt sich auch hier das gleiche Bild. Am Parameter Lebenserwartung kann beispielhaft verdeutlicht werden, dass die Lebenserwartung zwischen „guten“ und „schlechten“ Stadtquartieren um gute fünf Jahre differiert. Eine Analyse der Daten für die sozialen Brennpunkte lässt das Bild noch deutlich dramatischer erscheinen.
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Gerhard Meinlschmidt
Diese Zusammenhänge machen auch deutlich, dass die explizite Gesundheitspolitik nur eine begrenzte Reichweite hat und es um integrierte, vernetzte Politikansätze im Sinne einer Querschnittsaufgabe in der Politik geht (implizite Gesundheitspolitik in allen betroffenen Ressorts).
3
Schlussfolgerungen aus der Sozialraumanalyse
Welche Schlussfolgerungen sind aus den Ergebnissen des Sozialstrukturatlasses zu ziehen? Erstens, wir sehen in diachroner Perspektive, dass sich die Sozialstruktur in Berlin im zeitlichen Ablauf generell verschlechtert. Die in die Berechnung der Sozialindizes eingehenden Parameter weisen auf eine Verschlechterung der sozialen Lage hin; die Herausbildung von sozialen Brennpunkten manifestiert sich immer deutlicher. In der zeitlichen Entwicklung verstärken sich die Disparitäten zwischen den Stadtgebieten; die Schere der sozialen Problemlagen öffnet sich weiter. Die durch die Berliner Verfassung zu gewährleistenden gleichen Lebensbedingungen in Sozialräumen stehen wieder auf der politischen Agenda ganz oben. Es geht um die Bestimmung der Gebiete mit besonderem Entwicklungsbedarf und darauf aufsetzend um die problemadäquate Mittelzuweisung für diese Gebiete. Die gesundheitlichen und sozialen Parameter in der räumlichen Ausdifferenzierung bedingen sich wechselseitig: Arbeitslosigkeit, Sozialhilfebezug, Armut, Sterblichkeit, Lebenserwartung, Bildung, Sprache, Kindergesundheit. Dies verdeutlicht zugleich die limitierten Interventionsmöglichkeiten der klassischen Gesundheitspolitik. Wir brauchen somit eine integrierte Sozialraumpolitik, die in einem allgemeinen Politikansatz der sozialen Stadt mündet. Wir müssen den räumlichen Problemen ressortübergreifend, an den sozialen Brennpunkten der Stadt orientiert und unter klarer Zielformulierung begegnen. Dem Gesundheitsministerium kommt hier eine Rahmen setzende und koordinierende Funktion zu. Mit der Etablierung der Landesgesundheitskonferenz sind hier erste strukturelle Voraussetzungen für eine Koordinierungsplattform geschaffen worden. Die Landesgesundheitskonferenz versteht sich als eine an Regeln gebundene Form der Zusammenarbeit, mit der die örtlichen Akteure des Gesundheits- und Sozialwesens, der Politik, der Verwaltungen und des Bildungswesens gesundheitsbezogene Ziele anstreben. Die Mitglieder stellen ihre Expertise und ihre Kompetenz gemeinsam in den Dienst dieser Ziele. In der Landesgesundheitskonferenz sind Leistungserbringer, Sozialleistungsträger, Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, Institutionen der Wirtschaft und der Arbeitnehmer, die Selbsthilfe, Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge und des Patientenschutzes, Institutionen
Lebenslagenorientierte Gesundheitsförderung
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der Wissenschaft sowie die politische Senats- und Bezirksebene vertreten. Die Verbesserung von Prävention, Gesundheitsförderung und Koordination als zentrale Anliegen machen die Landesgesundheitskonferenz zum organisatorischen Knotenpunkt. Die Landesgesundheitskonferenz ist eine Diskussionsplattform, die Interessen artikuliert und Transparenz schafft, Fachkompetenzen bündelt und anbietet, auf der die Mitglieder ihre Erfahrungshorizonte einbringen können. Vor allem aber ist sie ein Gremium, das dem vielfältigen gesundheitspolitischen Engagement und den zahlreichen Aktivitäten einen verbindlichen und zielorientierten Handlungsrahmen gibt. Damit ist ein weiterer Problembereich benannt, der im deutschen Gesundheitswesen in seiner Bedeutung und Ausgestaltung eher noch am Anfang steht: die Aufstellung von Gesundheitszielen.2 Gesundheitsziele haben in vernetzten Strukturen die Funktion der Orientierung, Priorisierung und der Evaluation von konkret ergriffenen Maßnahmen der Gesundheitsförderung und Prävention. Gesundheitsziele für Berlin werden zurzeit im Rahmen der Arbeitsgruppen der Landesgesundheitskonferenz erarbeitet. Im vierten Abschnitt dieser Arbeit werde ich auf die grundsätzlichen Elemente eines derartigen Prozesses eingehen und hier insbesondere wieder den sozialräumlichen Ansatz in den Vordergrund stellen.
4
Ein theoretisches Modell vernetzter Strukturen im regionalen Kontext
Eine Verortung der Prävention als gesamtgesellschaftliche Querschnittsaufgabe darf sich nicht auf die Krankenkassen und die übrigen Sozialversicherungsträger beschränken, sondern muss in die Strukturen aller Akteure des Gesundheits- und Sozialwesens eingepasst werden. Hierbei kommt der staatlichen Gesundheitspolitik eine koordinierende, planende und integrierende Funktion zu. Als gesetzliche Grundlage hierfür stehen auf der Landesebene die Gesetze über den öffentlichen Gesundheitsdienst zur Verfügung. Für eine Koordinierung als nationale Aufgabe müssten entsprechende Koordinierungsinstanzen (möglicherweise im Rahmen des Präventionsgesetzes) noch geschaffen werden. Das neue Berliner Gesundheitsdienstgesetz, welches am 1.7.2006 in Kraft getreten ist, enthält derartige Strukturelemente für eine vernetzte Koordinierung und Planung auch im räumlichen Kontext. In Abbildung 4 sind die Strukturelemente verdeutlicht.
2
Zu den theoretischen Grundlagen der Zieldefinition in Berlin vgl. Bergmann et al. (1996) und zu den Bundesaktivitäten das Projekt gesundheitsziele.de.
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Abbildung 4:
Ein theoretisches Ebenenmodell vernetzter Strukturen im regionalen Kontext
Als Leitlinien der integrierten Vernetzung sind zu nennen: Sie
übernimmt Verantwortung für die Gesundheitsbedürfnisse der Bevölkerung in der Region, wirkt auf die Sicherstellung und Herstellung gesunder Lebensverhältnisse hin, unterstützt den Auf- und Ausbau sozialer und gesundheitsbezogener Netzwerke und wirkt auf eine ressort-, träger- und institutionsübergreifende Zusammenarbeit hin, lenkt den Fluss von personellen und sachlichen Ressourcen an die Stellen, an denen sie benötigt werden (sozialkompensatorischer Ansatz), macht Informationen über Prävention und Gesundheitsförderung aktiv für jeden verfügbar, koordiniert und versorgt entlang des Interventions- und Versorgungskontinuums,
Lebenslagenorientierte Gesundheitsförderung
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produziert Informationen über sich selbst und stellt sie öffentlich bereit, besonders über Qualität und Verteilung von Leistungen, Kosten und Klientenzufriedenheit.
Sowohl wegen des Zusammenhanges als auch wegen der unterschiedlichen Akteure im Gesundheits- und Sozialwesen bedarf es einer integrierten Gesundheitsund Sozialpolitik, die sich an gemeinsam verabredeten Gesundheits- und Sozialzielen orientiert. Integrierte Politik bedarf einer entsprechenden Plattform, die mit der Landesgesundheitskonferenz in Berlin etabliert wurde (vgl. Abbildung 5). Für den Prozess der gemeinsamen Ziel- und Leitlinienfestlegung und der Evaluation der Zielerreichung mittels Indikatoren könnte die Methode der offenen Koordinierung analog für die beteiligten Akteure angewendet werden, so wie sie auf der EU-Ebene für die Beschäftigungs- und Sozialpolitik Anwendung findet. Eine zentrale Aufgabe der Landesgesundheitskonferenz ist es, Gesundheitsund Sozialziele für die Stadt zu vereinbaren, die sich auch an den bundesweiten Aktivitäten der anderen Bundesländer sowie des Bundes orientieren. Es geht also um die Festlegung von Zielen sowie um die Bestimmung von Indikatoren zur Evaluation und Messung der Zielerreichung. Es geht um die Bestimmung der zeitlichen und räumlichen Bezüge und konkreten Maßnahmen, was wann wo mit welchen Mitteln zu erreichen ist. Gemeint ist damit die Generierung eines gemeinsamen Wert-, Ziel- und Handlungsrahmens auf den unterschiedlichen Ebenen, unter Einbeziehung aller Akteure bei klarer Festlegung von: Prioritäten, Handlungsfeldern, Zielgruppen, zeitlichen, regionalen und institutionellen Bezügen, finanziellen Ressourcen und Zielerreichungsgraden. Auf der Bundesebene hat das Projekt gesundheitsziele.de exemplarische Gesundheitsziele entwickelt (vgl. Abbildung 6). Zu den sechs Schwerpunktthemen Brustkrebs, Diabetes mellitus, Tabakkonsum, gesund aufwachsen, Patientensouveränität und Depressionen sind Ziele, Teilziele und Vorschläge zur Umsetzung entwickelt worden. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen die Gesundheitsziele chronischer Rückenschmerz, Herzinfarkt und Impfen bearbeitet werden. Für die Berliner Situation ist der Bereich „Gesund aufwachsen – Gesundheitsziele für Kinder und Jugendliche“ besonders wichtig. Berlin kann auf eine differenzierte epidemiologische Datenlage zurückgreifen, so dass der Prozess der Gesundheitszielbestimmung gut unterstützt werden kann (vgl. Bettge et al. 2006).
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Abbildung 5:
Gerhard Meinlschmidt
Netzwerke einer integrierten Politik
Die stadtweiten Ziele müssen auf der Ebene des Bezirkes umgesetzt und dort möglicherweise durch regionale Gesundheitskonferenzen angereichert werden. Hierbei spielen die bezirklichen Organisationseinheiten für Planung, Qualitätssicherung und Koordination die entscheidende Rolle. Der Blick auf die nächste Ebene zeigt den Sozialraum, die sozialen Brennpunkte. Worum geht es unter Zielorientierungsgesichtspunkten, wenn wir diese Ebene betrachten? Es geht darum, die stadtweiten Ziele bis in den Sozialraum hinein zu implementieren und anzupassen. In diesem Zusammenhang müssen auch die sozialräumlichen Budgets diskutiert werden, die für die Umsetzung der Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden. Prinzipiell gibt es hierfür zwei Ansätze. In dem einen wird ein soziales Setting als Zugangsraum verstanden, in dem und für den Projekte generiert werden. Als konkretes Beispiel für diesen Weg steht: „FAKIR – Fördernde Angebote für Kinder in Regionen mit erhöhtem
Lebenslagenorientierte Gesundheitsförderung
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Hilfebedarf“ der Stadt Köln, wo es darum geht, das soziale Setting als Zugangsweg zu benutzen, um an den Lebenschancenparametern wie Bildung, Sprache und Gesundheit anzusetzen (vgl. Abbildung 7). Der zweite Ansatz geht von der Stärkung und besseren Vernetzung des Lebensraums selbst aus und möchte die Lebensqualität verbessern, so wie es auch der Hauptansatzpunkt des Quartiersmanagements ist.
Abbildung 6:
Bundesweite Gesundheitsziele: gesundheitsziele.de
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Gerhard Meinlschmidt
Abbildung 7:
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Arbeitsstruktur des FAKIR-Projektes
Voraussetzungen und weiterer Prozess für die Umsetzung von Gesundheitszielen in Berlin
Vieles von dem, was dargelegt wurde, ist unter dem Stichwort New Public Health zu fassen. Das gesundheitspolitische Stufen- und Ebenenmodell ist ein wesentliches Element der Reform des öffentlichen Gesundheitsdienstes in Berlin. Zu den Voraussetzungen, um einen solchen Prozess der Umsetzung von Gesundheitszielen in Berlin erfolgreich zu gestalten, gehört der politische Wille zur Problemlösung. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Dieser Wille kommt u.a. durch die Etablierung der Landesgesundheitskonferenz zum Ausdruck. Daneben ist vor allem die Bereitschaft, sich auf einen Konsensbildungsprozess aller Akteure einzulassen, notwendig. Es geht in diesem Prozess dann auch darum, konkrete Ziele zu formulieren, entsprechende Budgets dafür bereitzustellen, die vorhandenen Projekte zu koordinieren und neue zu gestalten.
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Die konsequente Sozialraumorientierung, ihre Budgetierung und der organisatorische Rahmen für ihre Umsetzung sind hierbei wichtig. Den Gesundheitswissenschaften kommen die prozessbegleitende Evaluation und auch die Evaluation der konkreten Maßnahmen zu.
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IV Epilog
Der Gesundheitsimperativ1 Pravu Mazumdar „Der freigewordene Mensch, um wie viel mehr der freigewordene Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen.“ Nietzsche2
Gleich zu Beginn dieser Überlegungen fallen einem zwei Filme ein, die vor ein paar Jahren die Stadt unsicher machten, indem sie erneut das Problem der Gesundheit aufwarfen. Coffee and Cigarettes von Jim Jarmusch erweckt beim Zuschauen den Eindruck eines riskanten Unternehmens. In der dunklen Geborgenheit des Kinosaals hat man plötzlich das Gefühl, in einem abgedunkelten Kellerloch inmitten einer Versammlung in Schwarz gehüllter Verschwörer zu sitzen und einen verbotenen Film zu sehen, in der bangen Erwartung, dass jeden Augenblick die Tür aufgestoßen wird und die Sittenwächter hereinstürmen, um die junge Rebellion gegen die mächtige Antikoffein- und Antinikotin-Republik gleich im Keim zu ersticken. Egal, wo sich das Kino befindet, scheint uns der Film zu sagen, ob in New York, London oder sogar München: Teheran ist überall3, zumindest in Fragen der Gesundheit. Der zweite Film, Supersize me von Morgan Spurlock, geht die Sache von der anderen Seite an. Ganz im Sinne der Tradition aufklärerischen Widerstands wird hier der eigene Körper, genauer, die Gesundheit des eigenen Körpers, eingesetzt: nicht gegen eine katholische Orthodoxie, nicht gegen einen Feudalherrn oder eine koloniale Gewaltherrschaft, sondern gegen das Fastfoodregime von McDonald’s.4 Wie bei Gandhi und seiner „Wahrheitstaktik“ wird hier – im Pan1 Teilweise erschienen in der Zeitschrift: Widerspruch, Nr. 42/2004, 11-24. Abdruck des überarbeiteten und aktualisierten Artikels mit freundlicher Genehmigung des Widerspruch-Verlages. 2 Friederich Nietzsche, „Götzendämmerung“, in: Nietzsche (1999), Bd. 6: 139f. 3 Wobei man munkeln hört, dass gerade im Iran zur Zeit ein amoklaufender Konsumismus, der sich in allen Gesellschaftsschichten breit macht, dem Mullahregime den Teppich unter den Füßen weg zu ziehen droht. 4 Am anderen Ende des Spektrums gesundheitsbezogener Aufklärung meldet sich der wellnesskritische Diskurs (siehe etwa Pollmer/Warmuth (2001) oder Pollmer et al. (2003). Für Pollmer ist die Gesundheits- und Ernährungsberatung in den Schulen genau das Problem, dessen Lösung zu sein sie vorgibt. Dabei bezieht er sich auf eine Jugendstudie, nach der nicht das Über-, sondern das Untergewicht bei Pubertierenden das Hauptproblem sei: bereits 7 bis 10 Prozent litten an Magersucht, was,
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Pravu Mazumdar
optikum des Kinos – die Macht ungesunder Ernährung in ihren Wirkungen auf den Körper sichtbar gemacht, indem man sich von ihr mästen lässt, bis sie an der einsetzenden Fettleibigkeit greif- und angreifbar wird. Auch im Kampf gegen die gesundheitsfeindlichen Mächte zählt das Maß physischer Opferbereitschaft. Spurlock frohlockte, dass Supersizing bereits eingestellt wurde, bevor der Film die Kinos erreichte, und rechnete mit der Zuwendung seiner Zuschauer, denn „viel Leid und Schmerz wurden ertragen (am meisten von mir selbst), um ihn [den Film, Verf.] zu machen.“5 Tatsächlich nahm McDonald’s quer durch England und bereits im Vorfeld des Films vegetarische Speisen in ihr Menü auf.6 All das scheint zu signalisieren, dass die Gesundheit ein (machtvolles) Objekt von nicht nur ökonomischen Machtkämpfen geworden ist, mit einer diffusen aber mächtigen Lobby auf ihrer Seite. Entscheidend ist aber nicht, diese Lobby dingfest zu machen und die Individuen, Gruppen, Institutionen zu identifizieren, die mittlerweile bereit sind, für die Gesundheit nicht nur eine Lanze zu brechen, sondern sie darüber hinaus als das höchste Gut und Ziel der Menschheit zu besingen.7 Entscheidend ist eher, dass die Jagd auf die Gesundheit im Herrschaftsbereich eines Imperativs stattfindet. Gleichgültig, ob man „dafür“ oder „dagegen“ ist, ob man für die eine oder die andere Auffassung von Gesundheit und Krankheit ist: man hat gesund zu sein.8 Lange hatte man den Eindruck, dass die Gesundheit als eine zugleich physiologische und ästhetische Norm funktionierte – als die Forderung nach Kraft und Schönheit, Kraft durch Freude9, wie es wieder einmal die Nazis auf den so Pollmer, lebensbedrohlich sei. Deshalb plädierte Pollmer auf einer wellnesskritischen Tagung in Österreich für ein „mindestens fünfjähriges Moratorium (…), eine Nachdenkpause und Forschungsphase in Sachen Ernährung.“ Wiener Zeitung, 18.06.2004, Bericht über die 23. „Goldegger Dialoge“ unter dem Titel „Wellness Wahn und Maß“. 5 Der Film “helped push McDonald’s to end Super Sizing before it even hit the theatres! (…) I hope you enjoy it – a lot of pain and suffering (mostly by me) was endured to create it.” Quelle: www.supersizeme.com , About the Director, März, 2004. 6 Ibid., Recent reviews & press, “McDonald’s adds vegetarian fare in Britain”, 10. Januar 2004. 7 Siehe dazu Lütz (2002). In diesem Buch wird die These vertreten, in der aktuellen Massenkultur sei der Gesundheitskult längst zur Ersatzreligion geworden, die reichlich aus dem Formen- und Ritenbestand eines marode gewordenen Christentums schöpfe, so dass es sinnvoll sei, reumütig zum guten alten Katholizismus zurückzukehren. Dass die Gesundheit eine quasireligiöse Macht geworden ist, ist mit einiger Berechtigung zu vermuten. Dass sie aber den höchsten Wert der zeitgenössischen Kultur darstellt, müsste eher der komplexeren Feststellung weichen, dass gegenwärtig die Gesundheit und das Glück um den obersten Rang unter den Werten zu streiten scheinen. Davon wird im Folgenden die Rede sein. 8 „Räsoniert so viel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!“ Bei Imperativen kann man nicht umhin, an diesen von Kant zitierten Satz Friedrichs des Großen zu denken. Siehe Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (A 484), in: Kant (1975), Bd. 9: 55. 9 So der Name der 1933 gegründeten nationalsozialistischen Gemeinschaft, die sich in Nazideutschland durch ihre organisierten Billigreisen profilierte.
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Punkt brachten , die nicht nur jeder Abweichung mit Ausschluss drohte, sondern sich förmlich über den Ausschluss konstituierte. Eine kapitalistische Gesellschaft musste zur Sicherung der Produktivität ihrer Produktivkräfte die Züge einer Wohlfahrtsgesellschaft annehmen, die sich unter anderem auch für die gesundheitliche Versorgung ihrer werktätigen Bevölkerung verantwortlich erklärte. In einem solchen ökonomischen und gesellschaftlichen Kontext genügte es, die Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit zu definieren. Ein enges Band knüpfte Gesundheit und Krankheit miteinander und das Bündnis zwischen Arzt und Laien schien bloß der Bekämpfung und Überwindung von Krankheit zu dienen. Wo aber die Krankheit bedingungslos zu verschwinden hatte, war freilich die Liquidierung des Kranken selbst nicht fern, was in den Euthanasiepraktiken der Nazis den Gipfel der Sichtbarkeit erreichte. Im Einklang mit der Logik dieser Verflechtung zwischen Krankheit und Gesundheit, nach der sich das Gesunde über den Ausschluss des Kranken definierte, meldeten sich in modernen Gesellschaften die allgemeine Tendenz einerseits zur Pathologisierung von Devianz und andererseits zur Verallgemeinerung des Pathologischen. Was nicht passte, geriet unter einen generellen Krankheitsverdacht. Dazu gehörten anthropologische Typen wie der Verbrecher, der Obdachlose, die ‚hysterische’ Frau, der Homosexuelle, das Problemkind. Dazu gehörten aber auch allgemeinere anthropologische Tatsachen wie die Sexualität, der Wahnsinn, das Denken. So geriet die Sexualität, die in diversen vormodernen Kulturen im Rahmen einer Kunst und Kultur des Erotischen reflektiert wurde, in das Kraftfeld zwischen Gesundheit und Krankheit, bis sie in Freuds Forschungen auf eine allgemein annehmbare Weise kodifiziert werden konnte. So sah sich der „Wahnsinn“ dem pathologisierenden Zugriff der medizinischen und psychiatrischen Wissenschaften ausgesetzt, wogegen bekanntlich das archäologische Projekt des jungen Foucault den Krieg erklärte, indem es versuchte, den „Wahnsinn“ von der „Geisteskrankheit“ zu lösen und als eine irreduzible Grenze jeder rationalen Existenz herauszustellen, die mit einer eigenen und eigentümlichen „Geschichte“ bzw. „Archäologie“ zu versehen war. Und so entfalteten sich die kulturdiagnostischen Höhenflüge Nietzsches zwischen den Mächten der Krankheit und der Gesundheit, bis er selbst in die „Krankheit“ abstürzte, um schließlich als der kranke und kränkelnde Arzt einer kranken Kultur identifiziert werden zu können.10 Selbst das Denken war in den Sog der Pathologisierungen hinein geraten. Doch scheint sich mittlerweile das Band zwischen Krankheit und Gesundheit gelockert zu haben, insofern sie unabhängig von einander ihre Spuren durch die gesellschaftlichen Räume ziehen. Auf der einen Seite meldet sich seit etwa 10
Siehe beispielsweise Falcke (1992); Volz (1990); Wurmser (1993).
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dem Beginn der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts die Krankheit in immer globalerem Ausmaß und schickt ihre Impulse durch die Nervenbahnen moderner Mediengesellschaften, um diese regelmäßig in Aufruhr zu versetzen. Es scheint, als hätte die „kopernikanische Mobilmachung“, die nach Sloterdijk zur Modernität moderner Gesellschaften gehört11, auch die Krankheiten erfasst. In regelmäßigen Abständen macht sich die Krankheit auf den Weg, die Viren steigen ins Flugzeug und jede neue Krankheit AIDS, BSE, SARS, um nur ein paar der medienwirksamsten zu nennen erscheint potentiell als eine globale Epidemie, worauf man mit den bekannten pathogenetischen Strategien reagiert: Definition und Identifikation der Krankheitserreger, Isolierung der Kranken, fieberhafte Suche nach dem rettenden Impfstoff. In diesem krisenhaften Kontext gilt weiterhin der Grundsatz: die Gesundheit ist nicht mehr und nicht weniger als Abwesenheit von Krankheit. Auf der anderen Seite aber setzt sich seit den achtziger Jahren eine neue Vorstellung von Gesundheit durch, sowohl im Gesundheitsdiskurs als auch in den diversen Formen alternativer Therapien, die mit den gerade einsetzenden ökologischen Auseinandersetzungen einhergingen und wie die Pilze aus dem gesundheitspraktischen Boden der achtziger Jahre schossen. Nach dieser neuen Vorstellung ist Gesundheit mehr als das summierte Fehlen von Krankheiten: sie ist von neuen und positiven Werten aufgeladen. Gegen Ende der achtziger Jahre mündete diese Vorstellung von Gesundheit in den Begriff Wellness, der mittlerweile längst die Gesundheitsdiskussion in den Medien beherrscht und in dem, so scheint es, (a) das Band zwischen Gesundheit und Krankheit sich gelockert hat und (b) die Beziehung zwischen Gesundheit und Glück enger geknüpft worden ist. So heißt es in einem der ersten Wellnessratgeber dieser Zeit: „Ein Verhängnisvoller Irrtum vieler Menschen ist die Annahme, Genuss und Gesundheit seien unvereinbare Gegensätze, das Erleben der einen Qualität bedeute Verzichten im anderen Bereich.“12 Als Alternative zur kritisierten Auffassung der Gesundheit als Fehlen von Krankheit gilt von nun an eine neue Bestimmung, mit der die Gesundheit und das Glück einander näher zu rücken scheinen: „Wellness heißt, Spaß an der Gesundheit zu haben und dabei Genießer zu bleiben.“13 Als unmittelbare Konsequenz dieser Neubestimmung der Beziehung zwischen Gesundheit und Krankheit auf der einen und Gesundheit und Glück auf der anderen Seite erscheint die Möglichkeit einer neuen Mündigkeit, da man nicht mehr wartet, bis man krank wird und die persönliche Suche nach Gesundheit nicht mehr ausschließlich der Macht der kurativen Medizin und der Pharmaindustrie unterworfen zu sein 11
Siehe Sloterdijk (1987). Siehe Lautenschläger et al. (1987: 9). 13 Ibid.: 8. 12
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scheint. Die neue Sorge um Wellness scheint geradezu ein Ethos anzuzeigen, einen spezifischen Lebensstil, auf den sich die Wellnessmanifeste emphatisch beziehen: „Mehr und mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Findung eines persönlich zufriedenstellenden Lebensstils, das Ausbalancieren von Genussansprüchen, eigenen Anstrengungen und bewusst/freiwillig gesetzten Einschränkungen die größte Chance biete, im umfassenden Sinne körperliche und seelisch-geistige Gesundheit zu erreichen. Und Gesundheit ist kein einmal erreichter Zustand, sondern muss ständig aufs Neue erworben werden.“14 Das klingt durchaus nach Arbeit, aber einer lustvollen, wie immer wieder betont wird. Nach Lutz Hertel, Vorsitzender des Deutschen Wellness Verbandes, lässt sich Gesundheit in diesem neuen Verständnis nicht passiv erreichen oder erhalten: „Wer dauerhaft gesund sein möchte, muss ständig daran arbeiten.“15 Prinzipiell ist damit jeder für seine eigene Wellness selbst verantwortlich, und beinahe scheint es, als wäre damit, zumindest im Bereich der Gesundheit, jenem Missstand abgeholfen, gegen den Kant in seinem Text über die Aufklärung zu Felde zieht.16 Doch geht dieser Anspruch einer andauernden Arbeit an sich selbst nicht aus einer freiwilligen und schicksalhaften Entscheidung des Einzelnen hervor, sondern wird vielmehr jedem Einzelnen nahegelegt: in einem dringlichen Kontext, in dem nur unmittelbar über Gesundheit, letztlich aber über Leben und Tod entschieden wird. Deshalb bleibt gerade der Anspruch einer anhaltenden gesundheitlichen Arbeit an sich selbst, dem sich niemand entziehen soll, auf Hilfe von Außen angewiesen, so dass schließlich ein neuer Bedarf entsteht nach neuen Formen von Beratung und Expertise und letztlich nach einem ganzen Markt neuartiger gesundheitsbezogener Dienstleistungen. Seit dem dramatischen Einsatz des Wellnessbegriffs gegen Ende der achtziger Jahre hat eine bis heute anhaltende Flut von Wellnesseinrichtungen eingesetzt. „Alle fünf Tage“, heißt es in der Wiener Zeitung, „wird im deutschsprachigen Raum ein Wellness-Zentrum eröffnet; rund 25 Milliarden Euro werden alleine in Deutschland pro Jahr in solchen Einrichtungen umgesetzt (...)“17 Die neue wellnessbezogene Mündigkeit gegenüber den alten Experten der kurativen Medizin ist rasch umgekippt in eine neue Abhängigkeit gegenüber dem boomenden Wellnessmarkt und ihren Fit14
Ibid.: 9. Zit. in „Wellness gegen den ‚Winter-Blues’“ in GMX Homepage > Themen > Wellness > Beauty > Entspannung, 07.10.2004. 16 „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen (...) gerne zeitlebens unmündig bleiben (...). Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w. so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen.“ Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (A 484), a.a.O.: 53. 17 Wiener Zeitung, 18.06.2004, a.a.O. 15
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nessangeboten. Dazu gehörte auch, dass generell die Fitnesswelle in den neunziger Jahren auf einen einmaligen Höhepunkt zusteuerte. Nach Manfred Lütz hat im Jahr 2000 in Deutschland erstmals die Zahl der Fitnessstudiomitglieder die Zahl der Besucher des katholischen Sonntagsgottesdienstes übertroffen.18 Im engeren Bereich des gesundheitswissenschaftlichen Diskurses meldete sich dieser Wandel der Definitionen und Einrichtungen als ein „Paradigmenwechsel“19, der auf drei Ebenen stattfand.20 Auf der Ebene der Pathologie wurden die ehemals privilegierten akuten Krankheiten von chronisch-degenerativen Krankheiten aus dem Zentrum ätiologischer Aufmerksamkeit verdrängt. Das implizierte einen Übergang von einer kurativen Medizin hin zu einer präventiven und eine verstärkte Berücksichtigung der psychischen und sozialen Krankheitsfaktoren sowie der Lebensumstände im therapeutischen Prozess, was insgesamt zu einer Lockerung des Bandes zwischen Krankheit und Gesundheit führte und der Gesundheit einen eigenständigen Prozesscharakter verlieh. Auf der Ebene der Gesundheitspraktiken, einschließlich der therapeutischen, trat die Gesundheit als eine lebenslange Tätigkeit sowohl von Gesunden, als auch von Kranken in Erscheinung. Damit wurde der Begriff der Gesundheit zusehends vom Begriff des Wohlbefindens absorbiert und das Band zwischen Gesundheit und Glück enger. Auf der Ebene der therapeutischen Relation wurde sowohl der Arzt als auch der Patient als gleichberechtigte Subjekte betrachtet und die Arbeit der Heilung als eine partnerschaftliche Zusammenarbeit beider. Historisch scheint sich dieser Paradigmenwechsel zwischen zwei Ereignissen vollzogen zu haben. Am Beginn des „Umdenkens“ über die Gesundheit stand der salutogenetische Ansatz von Aaron Antonovsky21 im Jahr 1979. Gemäß diesem neuen Ansatz tritt an die Stelle des pathogenetischen Dualismus von Gesundheit und Krankheit ein Kontinuum, in dem Gesundheit und Krankheit als fließende Zustände erscheinen. Darin erscheint die Gesundheit im Sinne Antonovskys eng verwandt mit dem ungefähr gleichzeitig auftauchenden Glücksbegriff von Mihaly Csikszentmihalyi22, in dem das Glück als flow23 bestimmt wird: als die vollständige Verschmelzung von Handlung und Bewusstsein, die unter bestimmten Bedingungen eintrifft. Jedenfalls erscheint in salutogenetischer Sicht die Gesundheit nicht als ein statischer Zustand, sondern als ein dynamisches Gleichgewicht zwischen den physischen, psychischen und sozialen Schutz- und Abwehrmechanismen des Organismus auf der einen Seite und den potentiell 18
Lütz (2002: 12). Siehe Armstrong (1983). 20 Siehe Schüffel et al. (1998). 21 Siehe Antonovsky (1979). 22 Siehe Csikszentmihalyi (1982a; 1982b; 1982c). 23 „Als flow beschreiben Menschen ihren seelischen Zustand in Augenblicken, wenn das Bewusstsein harmonisch geordnet ist und sie etwas um der Sache selbst willen tun.“ Csikszentmihalyi (1992: 20). 19
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krankmachenden Einflüssen der physikalischen, biologischen und sozialen Umwelt auf der anderen. Gesundheit bzw. Gesundsein ist gewissermaßen nicht mehr ein Zustand, sondern eher ein Prozess. Die entscheidende Frage ist nicht mehr, wie die Risikofaktoren (Stressoren) auszuschalten sind, sondern, in welchem Maße der Organismus diese Faktoren zu bewältigen vermag. Deshalb kommt im Zusammenhang einer positiven Gesundheitstheorie dem Begriff der Bewältigung (coping) eine entscheidende Rolle zu. Die Gesundheit ist kein passiver Zustand, sondern ein labiles, aktives und sich dynamisch regulierendes Geschehen zwischen den Risikofaktoren und dem coping. Sie ist eine strategische Tätigkeit: eine strategische Ausübung der Stressbewältigung, die im Einzelnen auf spezifische menschliche Ressourcen zurückgreift und im Allgemeinen auf das Bewältigungsvermögen des Organismus, das für Antonovsky kaum noch unterscheidbar ist von der Glücksfähigkeit des Individuums. Parallel dazu taucht das Motiv der Bewältigung im eben erwähnten glückswissenschaftlichen Diskurs von Csikszentmihalyi auf: „Die Reaktion eines Menschen auf Belastungen bestimmt, ob er dem Unglück etwas abgewinnt oder unglücklich wird“24. Derlei diskursive Parallelität signalisiert erneut die allmähliche Absorption der Idee der Gesundheit durch den Begriff des Glücks in den achtziger Jahren. Auf den salutogenetischen Ansatz folgt im Jahr 1986 ein zweiter Wandlungsschub in der Gesundheitsdiskussion, als in der Ottawa Charta der Weltgesundheitsorganisation das Wort Wohlbefinden eingeführt wird, das von nun an die bisherige Stelle der Gesundheit einnehmen wird. Dieser Begriff treibt einerseits die Entmedikalisierung der Gesundheit um einen weiteren Schritt voran, gestattet aber andererseits kaum noch zwischen Gesundheit und Glück zu unterscheiden. Das Ziel der Gesundheitsförderung, so die Ottawa-Charta von 198625, ist ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden, das man in einen aktuellen und einen habituellen Zustand unterteilen kann26, die generell als Glückszustände zu kennzeichnen sind. Das aktuelle Wohlbefinden umfasst „positiv getönte Gefühle, Stimmungen und körperliche Empfindungen sowie das Fehlen von Beschwerden“27. Das habituelle Wohlbefinden „wird im Sinne des allgemeinen Glücklichseins bzw. der allgemeinen Lebenszufriedenheit erfasst und lässt sich am treffendsten als Lebensfreude charakterisieren (...)“28. So wird auf der Seite des Gesundheitsdiskurses die Gesundheit als ein dynamischer Zustand des sich Wohlfühlens bestimmt. Auf der Seite des glückswissenschaftli24
Ibid. Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung der WHO 1986, in: Hildebrandt und Trojan (1987: 1013). 26 Siehe „Theoretische Grundlagen“ in Abele-Brehm und Becker (1994: 13). 27 Ibid. 28 Siehe Wegener (2003: 50). 25
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chen Diskurses (Csikszentmihalyi) wird umgekehrt das Glück als ein Zustand bestimmt, in dem man sich wohlfühlt: „Was den Menschen wirklich befriedigt, ist nicht, schlank oder reich zu sein, sondern sich in seinem eigenen Leben wohlzufühlen.“29 In der Idee des Wohlbefindens wird also im Zuge der eben skizzierten zwei Ereignisse in den achtziger Jahren das Band zwischen Gesundheit und Glück enger gezogen. Zu diesem generellen Wandel im Gesundheitsdenken gehört eine bemerkenswerte Transformation des Gesundheitsimperativs. Was zunächst auffällt, ist, dass durch den genannten Wandel der Idee der Gesundheit hindurch eine gewisse Grundeinstellung erhalten bleibt. Ob die Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit erscheint und folglich nur negativ über deren Bekämpfung zu erlangen ist, oder als Anwesenheit von wellness oder Leben und folglich positiv durch die Arbeit an sich selbst zu generieren ist: die theoretische Scheue vor der prinzipiellen Unabwendbarkeit von Krankheit und Unglück bleibt in diesen Diskursen ungebrochen. Was den Paradigmenwechsel von dem pathogenetischen und reduktiven Begriff der Gesundheit zum biopolitischen und produktiven des Wohlbefindens unversehrt überlebt, ist der Wille zur Gesundheit. Bekanntlich heißt Wille bei Kant, sofern er dies nicht in seiner höchsten Form als „göttlichen“ oder „heiligen“ Willen im Sinne der Ununterscheidbarkeit von theoretischer und praktischer Vernunft zu bedenken gibt30, eine Art Schlachtfeld, auf dem die objektiven Gesetze der Vernunft und die zufälligen Triebfedern des einzelnen menschlichen Handlungswillens miteinander um die Vorherrschaft ringen. Siegt die Vernunft, um den Willen und seine Handlung maßgeblich zu bestimmen, so liegt eine Nötigung durch die notwendigen Vernunftgesetze vor, die über Imperative auf den handelnden Willen einwirken.31 Auch den Willen zur Gesundheit könnte man in gut Kantischer Manier auf einen Imperativ beziehen: den Gesundheitsimperativ, der nach Kant zu den von ihm so genannten technischen Imperativen oder Imperativen der Geschicklichkeit32 gezählt werden müsste. Diese Imperative, die den größten Teil alltäglicher Handlungen regeln und die Mittel zu möglichen aber ansonsten nicht eigens reflektierten Zwecken bestimmen, sind nach Kant als hypothetische Imperative und modallogisch als problematische Imperative zu kennzeichnen.33 Als problematischer oder technischer Imperativ sagt der Gesundheitsimperativ nicht, „ob der Zweck vernünftig und gut sei (...), sondern nur, was man tun müsse, um ihn zu 29 Siehe Csikszentmihalyi (1992: 18). Man erkennt auch hier das Tautologische der Wohlfühldefinitionen, die alle darauf hinaus laufen, dass man sich wohlfühlt, wenn man sich wohlfühlt. Darin meldet sich eine grundlegende philosophische Verlegenheit aller Glücksdefinitionen. Mehr dazu später. 30 Siehe Immanuel Kant, „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ in Kant (1975), Bd. 6: 43. 31 Ibid.: 41. 32 Ibid.: 44-46. 33 Ibid.: 48.
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erreichen. Die Vorschriften für den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Art gesund zu machen, und für einen Giftmischer, um ihn sicher zu töten, sind insofern von gleichem Wert, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu bewirken.“34 Das „Sei gesund!“ des Gesundheitsimperativs enthält beispielsweise im Rahmen der kurativen Medizin ein „Willst du gesund sein, so musst du Antibiotika schlucken.“ Doch ist Gesundheit gerade in diesem Rahmen nicht nur ein möglicher Zweck, sondern zugleich auch Mittel zum Glück: „Willst du glücklich sein, so sei gesund!“ Im Rahmen des pathogenetischen Diskurses ist also der problematische Gesundheitsimperativ in einem anderen (hypothetischen) Imperativ eingebettet: in dem pragmatischen Glücksimperativ, den Kant auch einen Imperativ der Klugheit nennt.35 Das Glück ist aber nicht nur ein möglicher Zweck, es ist der eigentliche, d.h. wirkliche Zweck hinter den technischen Imperativen, so dass man den Glücksimperativ modallogisch einen assertorischen Imperativ nennen müsste.36 Wenn jedoch im Zuge der oben skizzierten Transformation des Gesundheitsdiskurses der Gesundheitsbegriff und der Glücksbegriff in der Idee des Wohlbefindens zusammenfließen, dann findet eine bemerkenswerte Hybridisierung des Gesundheitsimperativs statt: er wird zu einem zugleich technischen und pragmatischen Imperativ, der zugleich problematisch und assertorisch ist. Die Annäherung zwischen Gesundheit und Glück im Begriff des Wohlbefindens führt dazu, dass sich die Beliebigkeit und Undefinierbarkeit des Glücksbegriffs zusehends am Gesundheitsbegriff abfärben und die Versuche, die Gesundheit zu definieren, immer stärker zur Zirkularität neigen. „Willst du dich wohlfühlen, so musst du dich eben wohlfühlen!“ Der Weg zur Gesundheit scheint zwar unter Zuhilfenahme des technischen Imperativs konkretisierbar. Zugleich aber verdunkelt sich der Weg, da das Ziel selbst, nämlich die Gesundheit, ebenso dunkel und unbestimmbar geworden ist wie das Glück. Der Weg zum Wohlbefinden ist eben das Wohlbefinden selbst. Es ist aber bekannt, dass die Kantischen Unterscheidungen zwischen dem guten und dem unvollkommen Willen; zwischen notwendiger Bestimmung und Nötigung; zwischen der Form und der Materie einer Handlung; zwischen objektiven moralischen Gesetzen und den zufälligen Triebfedern usw. auf die transzendentalphilosophische Isolierung eines vorempirischen und ungeschichtlichen Bereichs der Regeln zurückgehen, die man prinzipiell in Frage zu stellen hat. Diese Verpflichtung, die Unterscheidung der transzendentalen Ebene in Frage zu stellen, gehört seit dem Deutschen Idealismus beinahe zu den Grundpflichten modernen Denkens. Eine kritische Transformation der Transzendentalphiloso34
Ibid.: 44. Ibid.: 46-48. 36 Ibid.: 48. 35
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phie, wie dies seit Hegel eingesetzt und über Nietzsche, Heidegger, Adorno im poststrukturalistischen Diskurs ihren Höhepunkt (und vielleicht auch Abschluss) erreicht hat, hat erwartungsgemäß auch Konsequenzen für den Begriff des Imperativs, den Kant entschieden an die Idee der Repräsentation koppelt. Ein Imperativ in transzendentalphilosophischer Sicht ist die Formel (oder Repräsentation) eines Gebots, verstanden seinerseits als die Repräsentation eines Prinzips, „sofern es für einen Willen nötigend ist“.37 Der Imperativ ist also die Repräsentation einer Repräsentation, die doppelte Repräsentation objektiver und den Willen nötigender Prinzipien. Das heißt aber: Ein Imperativ ist die für den Willen vernehmlich Spitze eines Diskurses, wobei dieses Wort seinerseits im Sinne der repräsentationalistischen Semiologien und „Ideologien“ des achtzehnten Jahrhunderts zu verstehen ist: als die Doppelung der Repräsentation im Element der Zeit.38 Treten aber an die Stelle der transzendentalphilosophischen Vernunft eine historische Vernunft und ein historisches A priori, dann signalisiert der Imperativ nicht nur einen Diskurs, sondern auch dessen Einbindung in das strategische Feld eines Dispositivs, wie dies in den Forschungen Michel Foucaults zutage getreten ist. Die Implikationen dieses neuartigen Begriffs des Imperativs für die Analyse des Gesundheitsdiskurses sind nicht schwer zu erkennen. Aus Platzmangel können wir uns abschließend leider nur mit einer knappen Skizze dieser Implikationen begnügen. Solange der Wille zur Gesundheit von einem bloß problematischen Imperativ bestimmt war, wie im Falle des pathogenetischen Diskurses noch vor dessen Übergang in den salutogenetischen, konnte das Glück noch unter der Voraussetzung der Gesundheit verheißen werden. Der Gesundheitsimperativ funktionierte gewissermaßen im Rahmen eines „Zubringerdispositivs“, das an Glücksdispositive wie diejenigen des Tourismus, der Werbung oder der Sexualität gekoppelt war.39 „Nur wenn du gesund bist, kannst du den Weg zum Urlaubsparadies auf dich nehmen, das vom Tourismusdispositiv geboten wird!“ Oder: „Erst wenn du gesund bist, kannst du die Luxusgüter auch genießen, die das Werbungsdispositiv präsentiert.“ Oder: „Erst wenn du gesund bist, bist du qualifiziert für die sexuellen Freuden, die durch das Sexualitätsdispositiv verfügbar werden.“ Doch der Wandel des Gesundheitsdenkens führte zu einer Verschiebung der Position der Gesundheit in dieser Logik. Seitdem die Gesundheit kaum mehr vom Glück zu unterscheiden ist, seitdem sie ein gegebener und unhinterfragter aber kaum noch definierbarer Zweck ist, seitdem der Gesundheitsimperativ sich hybridisiert hat, kann sich das Verhältnis zwischen dem Gesund37
„Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ.“ (ibid.: 41). Siehe Foucault (1971: 98ff.). 39 Zur Erörterung moderner Glücksdispositive siehe Mazumdar (2003). 38
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heitsdispositiv und dem Glücksdispositiv jederzeit umdrehen. Jetzt kann es heißen: „Nutzt die Segen des Tourismus, denn die Reise ist förderlich für das Wohlbefinden!“ Oder: „Sind eure Körper von den neuesten Markenartikeln behangen, damit ihr euch wohlfühlt?“ Oder: „Mehr Sex, guten Sex, safen Sex – denn Sex hält fit!“ Somit werden wir seit den achtziger Jahren immer stärker einem kaum entscheidbaren Widerstreit zwischen den Glücks- und den Gesundheitsdispositiven überantwortet.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Bauer, Ullrich, Prof. Dr. PH, Jg. 1971, Juniorprofessor an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld in der Arbeitsgruppe „Versorgungsforschung und Pflegewissenschaft“. Arbeitsschwerpunkte: Health Inequalities, Ökonomisierung im Gesundheitswesen, Sozialisation/ Bildung/Ungleichheit, Präventions- und Beratungsforschung. Bittlingmayer, Uwe H., Dr. phil, Jg. 1970, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: empirische Sozialisations-, Bildungs-, Ungleichheits- und Gesundheitsforschung; Gesellschaftstheorie und Zeitdiagnose. Franzkowiak, Peter, Prof. Dr. disc. pol., Dipl.-Psych., Jg. 1952, Professor an der Fachhochschule Koblenz am Fachbereich Sozialwesen mit dem Lehrgebiet „Gesundheitswissenschaften und Sozialmedizin in der Sozialen Arbeit“. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitsbewusstsein und Risikoverhalten im Jugendalter; Risikokompetenz und Suchtprävention; Aidsprävention und Sexualpädagogik; Geschichte von Prävention und Gesundheitsförderung; Verhältnis von Sozialer Arbeit zu Prävention und Gesundheitswissenschaften. Hensen, Gregor, Dipl.-Päd., Jg. 1972, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Sozialwesen der Fachhochschule Münster. Arbeitsschwerpunkte: Frühe Kindheit und Familie, Familien- und Jugendpolitik, Chronische Erkrankungen und Gesundheitsförderung. Hensen, Peter, Priv.-Doz. Dr. med., M.A., Jg. 1972, Arzt - Medizinische Informatik, Privatdozent an der Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitsmanagement, Medizinische Informationsprozesse, Krankenhausfinanzierung, Qualitätsmanagement in der Gesundheitsversorgung, Gesundheitssystemanalyse, Versorgungsforschung.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Homfeldt, Hans Günther, Prof. Dr. phil., Jg. 1942, Professor für Sozialarbeit/Sozialpädagogik am Fachbereich I – Pädagogik der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Ausbildungsforschung in der Sozialen Arbeit, Gesundheit und Soziale Arbeit, Internationale Soziale Arbeit, Jugendhilfe und Schule, Migrationsforschung, Soziale Arbeit und Lebensalter, Altenhilfe/ Altenbildung in der Sozialen Arbeit. Klinke, Sebastian, Dipl.-Pol., Jg. 1967, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe „Public Health“, im Forschungsschwerpunkt Arbeit, Sozialstruktur und Sozialstaat des WZB. Arbeitsschwerpunkte: Wohlfahrtsstaatstheorie, Politikfeldanalyse, Sozialpolitik, Gesundheitspolitikforschung, stationärer Sektor, ordnungspolitischer Wandel im Gesundheitswesen. Kroll, Lars Eric, Dipl.-Soz., Jg. 1980, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Gesundheitsberichterstattung am Robert Koch-Institut, Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheitliche Ungleichheit, soziales Kapital, Mortalität. Lampert, Thomas, Dipl.-Soz., Jg. 1970, Stellv. Leiter des Fachgebiets Gesundheitsberichterstattung am Robert Koch-Institut, Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Soziale und gesundheitliche Ungleichheit, Kinder- und Jugendgesundheit, Gesundheitsverhalten und Lebensstil. Mazumdar, Pravu, Dr. phil., Jg. 1952, Freier Autor und Übersetzer, lebt in München. Arbeitsschwerpunkte: Ontologie der Sprache bei Michel Foucault, Literaturtheorien, Geschichte der Philosophie, Kunstinterpretationen. Meinlschmidt, Gerhard, Prof. Dr. rer. oec., Jg. 1953, Professor am Institut für Gesundheitswissenschaften der Technischen Universität Berlin, Leiter des Referats Gesundheits- und Sozialstatistik, Gesundheitsberichterstattung, Epidemiologie, Gesundheitsinformationssysteme in der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Gesundheits- und Sozialberichterstattung, empirische Wirtschaftsund Sozialforschung, Statistik, Evaluation und Qualitätssicherung. Rau, Ferdinand, Dipl.-Verwaltungswissenschaftler und Regierungsdirektor, Jg. 1966, Stellv. Referatsleiter im Bundesministerium für Gesundheit. Arbeitsschwerpunkte: Krankenhausfinanzierung, DRG-Einführung; Wirtschaftliche Fragen der zahnmedizinischen Versorgung, Heilmittel, Hilfsmittel, Rettungswesen; Empirische Wirksamkeit von Selbstbeteiligungsregelungen.
Zu den Autorinnen und Autoren
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Schneider, Nils, Dr. med., MPH, Jg. 1969, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der Medizinischen Hochschule Hannover, Arzt für Allgemeinmedizin und Palliativmedizin. Arbeitsschwerpunkte: Versorgungsforschung, Palliativversorgung, Gesundheit und Krankheit im Alter, Lehre im Medizinstudium. Steigleder, Sandra, Dipl.-Päd., Soz. (M.A.), Jg. 1976, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich I – Pädagogik der Universität Trier. Arbeitsschwerpunkte: Soziale Arbeit und Gesundheit, Sozialraumanalysen und Stadtentwicklung, Rechtsextremismus und fremdenfeindliche Gewalt, Methoden empirisch-qualitativer Sozialforschung. Tretter, Felix, Prof. Dr. rer. pol. Dr. phil. Dr. med., apl. Professor an der LudwigMaximilian-Universität München, Leitender Arzt der Suchtabteilung Isar Amper Klinikum, Klinikum München-Ost, Nervenarzt, Psychotherapeut. Arbeitsschwerpunkte: Sozialsystemforschung mit dem Schwerpunkt Gesundheitsökonomie und Gesundheitsmanagement, Neurokybernetik psychischer Störungen, Wissenschaftstheorie, Suchtforschung. Walter, Ulla, Prof. Dr. phil., Jg. 1960, Professorin am Institut für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung der Medizinische Hochschule Hannover, Leiterin des Stiftungslehrstuhls „Prävention und Rehabilitation in der System- und Versorgungsforschung“. Arbeitsschwerpunkte: Gesundheit im Alter, Prävention in der zweiten Lebenshälfte, Programmentwicklung, Zugangswege, Anreize, Bewertungskriterien und Qualitätsmanagement in der Prävention und Gesundheitsförderung.