Berte Bratt
Gewagt – gewonnen!
Astrid hat bisher noch nicht den richtigen Beruf für sich gefunden. Als sie eine Anzei...
15 downloads
478 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Berte Bratt
Gewagt – gewonnen!
Astrid hat bisher noch nicht den richtigen Beruf für sich gefunden. Als sie eine Anzeige liest, über die der Tierarzt Dr. Mostvedt eine Sprechstundenhilfe sucht, bewirbt sie sich sofort. Die Arbeit macht ihr großen Spaß. Sie kommt einfach mit jedem Tier zurecht. Und zu dem jungen Tierarzt fühlt sie sich auch sehr hingezogen. Astrid entwickelt sich vom schüchternen Mädchen zu einer jungen Frau, die weiß, was sie will.
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Bratt, Berte: Gewagt – gewonnen!: Berte Bratt. Bindlach: Loewe (LeseRiese) ISBN 3-7855-2696-2 ISBN 3-7855-2696-2 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Erika Klopp Verlag GmbH, Berlin © 1972 by Erika Klopp Verlag GmbH, Berlin © für diese Ausgabe 1994 by Loewes Verlag, Bindlach Umschlagillustration: Ulrike Heyne Umschlaggestaltung: Karin Roder Satz: DTP im Verlag
Das wäre etwas für Astrid Tante Hildur schenkte sich eine Tasse Kaffee ein, rückte ihre Brille zurecht und entfaltete die Zeitung. Ihrer Gewohnheit getreu ging sie schnell über den Leitartikel des Tages hinweg, streifte nur kurz die Überschriften des politischen Teils, interessierte sich eine Weile für das Lokale und widmete sich dann lange und andächtig den Todesanzeigen. Als sie auch damit fertig war, nahm sie sich die letzte – die eigentlich wichtige – Seite vor: Zu verkaufen – Zu kaufen gesucht – Zu vermieten – Offene Stellen – Tante Hildur las das alles langsam und sehr gründlich. Nach einer Weile war ihr eine gewisse Aufregung anzumerken. Sie setzte die Tasse so schnell aus der Hand, daß diese mit dem Teelöffel und der Untertasse zusammenstieß, faltete die Zeitung in der Mitte zusammen und las noch einmal, was tief unten auf der Seite stand. „Schau her!“ sagte Tante Hildur laut. „Das wäre etwas für Astrid!“ Sie leerte die Tasse in einem Zug und ging ans Telefon. Die kleine, seit kurzem erst verheiratete Helga streckte sich und gähnte. Sie hatte ihrem Mann, der ins Büro mußte, vom Fenster aus noch nachgewinkt, war dann schnell wieder ins Bett gekrochen und gab sich nun dem Genuß einer Tasse extra starken Kaffees, einer guten Zigarette und der Morgenzeitung hin. Die Zigarette war bald aufgeraucht, der Kaffee ausgetrunken, und was die Zeitung anbetraf, so war sie auf der letzten Seite angelangt. „Sieh an!“ dachte die kleine Helga. „Das wäre etwas für Astrid!“ Sie steckte die kleinen Füße mit den rotlackierten Nägeln in die weichen Hausschuhe, hüllte sich in den hübschen neuen Morgenrock und lief zum Telefon. Frau Liberg, die Abteilungsleiterin im Modesalon „Schick“, machte Frühstückspause. Sie hatte ein paar turbulente Morgenstunden hinter sich und ließ sich nun mit ihren Butterbroten, der Teetasse und der Zeitung in dem bequemen Sessel ihres kleinen Kontors nieder. Eine lange Ruhepause konnte sie sich nicht gönnen. Es waren viele Kundinnen im Geschäft, und ständig wurde nach der Abteilungsleiterin gefragt. Nun ja. Es war ja in einer Art recht gut, daß viel zu tun war, und es war ein schönes Gefühl, zu wissen, daß man nicht entbehrt werden
konnte. Sie hatte eine gute und sichere Stellung und eine gute und sichere Einnahme. Das war aber auch sehr wünschenswert. Alles war jetzt so teuer geworden, und zwei erwachsene Kinder kosteten viel Geld. Hein zwar war gut untergebracht – er war bei einem Goldschmied in der Lehre –, aber für Astrid hatte sich noch keine passende Stelle gefunden. Und sie brauchten beide Kleidung, sie brauchten Essen und etwas Taschengeld. Frau Liberg blätterte in der Zeitung und nahm nur halb auf, was sie las. Sie legte die Zeitung zusammen, um sie Fräulein Johannsen in der Nähstube zu geben. Als sie sie auf den Tisch legen wollte, fiel ihr Blick zufällig auf eine Anzeige auf der letzten Seite. Sie nahm die Zeitung noch einmal auf und las das Inserat. Nachdenklich trank sie ihren Tee aus. „Mein Gott!“ sagte sie halblaut. „Das wäre wirklich etwas für Astrid!“ „Entschuldigen Sie, Frau Liberg… was sagten Sie?“ „Ach, Sie sind es, Fräulein Johannsen? Ich habe wohl mit mir selber gesprochen. Wissen Sie, ich las gerade eine Anzeige in der Zeitung, und mir scheint, das müßte etwas für meine Tochter sein.“ Frau Generalkonsul Fredenhjelm saß im Modesalon und wünschte ein paar Abendkleider zu sehen. Sie verlangte aber, von der Abteilungsleiterin persönlich bedient zu werden. Es blieb Frau Liberg also nichts anderes übrig, als ihre Frühstückspause schleunigst zu beenden. Und mit ihrem freundlichen, ruhigen Lächeln bediente sie die Frau Generalkonsul, während ihre Gedanken um Astrid kreisten. „Ich glaube, gnädige Frau werden mit dieser Machart zufrieden sein“, sagte Frau Liberg in ihrer zuvorkommenden Art. „Gerade diese einfachen Linien…“ Es war schon drei Jahre her, daß Astrid die Realschule hinter sich hatte, und noch immer hatte sie sich für nichts entscheiden können, obwohl die Mutter viele Vorschläge gemacht hatte. Sie hatte Maschinenschreiben und Buchhaltung gelernt und bei der Prüfung auch ganz gut abgeschnitten, aber sie konnte sich nicht entschließen, eine Stelle in einem Büro anzunehmen. Dann folgten der Webkursus und die kaufmännische Handelsschule. O ja, Astrid war so ordentlich, so pflichtbewußt; aber auf keinem Gebiet war sie überdurchschnittlich gewesen. „Ich hatte mir eigentlich eine etwas hellere Farbe gedacht“, sagte
die Frau Generalkonsul. „Da haben wir, glaube ich, das Richtige… einen kleinen Augenblick, gnädige Frau…“, sagte Frau Liberg und ging zu der Vitrine mit den Modellen. Am schlimmsten war, daß die Überzeugung, alle anderen wären so viel tüchtiger als sie, bei Astrid einen richtigen Minderwertigkeitskomplex entwickelt hatte. Es tat der Mutter weh, ihre resignierte Stimme zu hören, wenn sie sagte: „Ich bin nun einmal nicht begabt genug“, oder: „Du weißt ja doch, wie dumm ich in der Schule war“ – oder wenn Hein mit der ganzen Grausamkeit seiner sechzehn Jahre zu ihr sagte: „Du hast nun mal ‘ne lange Leitung, Astrid.“ Knisternde blaue Seide wurde über den Kopf der Frau Generalkonsul gestreift. Sie betrachtete sich kritisch im Spiegel. „Wenn hier etwas ausgelassen wird…“ „Ja, das läßt sich gut machen, gnädige Frau; die Nähte sind trotzdem noch breit genug…“ Aber es war dummes Gerede, daß Astrid zu nichts taugen sollte. Sie war so ordentlich, so zuverlässig bei allem, was sie unternahm, so durch und durch solide. Frau Liberg war überzeugt, daß Astrid sich gut bewähren würde, wenn sie nur auf den richtigen Platz käme. Und dies hier mußte der richtige Platz für sie sein! Astrid zog die Hände aus dem Waschbottich und trocknete den Seifenschaum ab, bevor sie den Hörer von der Gabel nahm. „Oh, guten Tag, Tante Hildur!… Ob ich schon… Nein, ich habe noch keine Zeit gehabt, die Zeitung zu öffnen… So? Hast du das?… Ja, ich werde nachsehen… Nein, daran habe ich noch nie gedacht… Ja, Tante, ich werde gleich mal in die Zeitung blicken… Und vielen Dank auch, Tante, daß du angerufen hast… Ja, danke… Fein!… Aber entschuldige, Tante, ich habe einen Topf mit kleiner Wäsche auf der Platte stehen… ja, Tante… ich werde sofort nachsehen…“ Soso – Tante Hildur hatte also eine Stelle für sie gefunden. Eine Stelle? O ja, das wäre sicher eine Erleichterung für die Familie. Astrid lächelte etwas bitter, als sie den Topf mit der Wäsche beiseite schob und ins Wohnzimmer ging, um in die Zeitung zu schauen. Bevor sie aber noch einen Blick hatte hineinwerfen können, läutete das Telefon schon wieder. „Hallo, Astrid!… Hier ist Helga. Du, hast du die Zeitung gesehen? Die Anzeige von Tierarzt Mostvedt? Du, wäre das nicht etwas für dich? – Nun hör aber auf, du! Du mit deinen
Minderwertigkeitskomplexen! Ist ja einfach nicht auszuhalten! Sieh mich an! Habe ich etwa Minderwertigkeitskomplexe? Was, glaubst du, wäre wohl aus mir geworden, wenn ich nicht zufällig von zu Hause durchgebrannt wäre und geheiratet hätte?… Also, nun rede keinen Unsinn, Astrid! Hier bietet sich dir die Möglichkeit zu einer Arbeit, die dir liegt. Und nun überlege nicht erst lange, sondern mach dich sofort auf die Strümpfe! Das hier ist genau der richtige Platz für dich… Sei endlich mal vernünftig, hörst du? – Aber entschuldige. Ich friere. Ich habe nichts weiter an als den Morgenrock, und das Fenster steht auf. Sieh dir die Anzeige an, und dann nichts als los! Morgen, Astrid! Mach’s gut!“ Als das Telefon schließlich zum dritten Male läutete, seufzte Astrid. Bangte denn tatsächlich die halbe Stadt um ihre Zukunft? Und atmete die halbe Stadt nun erleichtert auf, weil sich endlich eine Gelegenheit zu bieten schien, die arme Astrid unterzubringen? „Bist du es, Mutti?“ sagte Astrid. „Du rufst doch wohl nicht an, um meine Aufmerksamkeit auf die Anzeige von Tierarzt Mostvedt zu lenken?“ „Wie kannst du das wissen?“ „Weil das Telefon keinen Augenblick Ruhe gibt. Alle Menschen wollen mich durchaus bei Tierarzt Mostvedt unterbringen.“ „Ja, aber, liebes Kind, ist das nicht eine ganz ideale Sache für dich, wo du dich doch so gut mit Tieren verstehst? – Ja, ich wollte dich bloß darauf aufmerksam machen. Aber Schluß jetzt, Astrid, ich bin mal eben schnell weggerannt… die Schneiderin sieht gerade Frau Fredenhjelms Kleid an… wir sprechen uns später, mein Kind.“ Glücklicherweise gab das Telefon jetzt einen Augenblick Ruhe, so daß Astrid endlich in die Zeitung blicken konnte. Sie suchte unten auf der letzten Seite. Da stand es: „Saubere und ordentliche junge Dame, Tierfreundin, mit Büroarbeit etwas vertraut, findet Stellung bei Tierarzt Mostvedt. Persönliche Vorstellung zwischen 1 und 2.“ Astrid ließ die Zeitung sinken. Sauber? – Das war sie. Ordentlich? – Du lieber Gott, so ordentlich, daß es schon beinahe langweilig war! Mit Büroarbeit etwas vertraut? Nun ja, Maschinenschreiben und Buchhaltung hatte sie ja gelernt. Tierfreundin? Astrid lächelte. Tierfreundin? Ja! – Sie mußte daran denken, wie einmal die ganze Familie über sie und ihre Tierliebe die Hände über dem Kopf
zusammengeschlagen hatte. Sie war damals fünf Jahre alt und mit ihrer Mutter bei Bekannten auf dem Lande zu Besuch gewesen. In einem unbewachten Augenblick war sie zu dem Hofhund getrippelt, einem großen, kräftigen Tier, das an der Kette lag. „O Gott!“ schrie die Mutter, als sie es entdeckte. „Astrid, Astrid! Komm sofort her!“ „Großer Gott! Nero ist ja so bissig!“ schrie Tante Hedwig. Und Mutter und Tante rannten über den Hof, daß die Röcke nur so flogen. Aber als sie bei der Hundehütte anlangten, hatte Astrid ihre Arme um Neros Hals geschlungen, und er leckte ihr begeistert das Gesicht. Astrid konnte zu einem bösartigen Stier gehen und ihn zwischen den Hörnern kraulen. Sie konnte die scheueste Wildkatze auf den Arm nehmen und streicheln. Die Familie machte die Entdeckung, daß Astrid ein „Tiermensch“ war. „Wenn ihr nur die Schule nicht so schwer gefallen wäre!“ sagte Tante Hildur einmal vertraulich zu Tante Hedwig. „Sie hätte eine ideale Tierärztin werden können.“ Aber Astrid war nun einmal nicht schulbegabt. Und sie wußte selber, daß sie versagte. Ihre Freundinnen waren so tüchtig. Eine nach der anderen machten sie gute Examina. Sie selber aber kam sich so ungeschickt und unfähig vor, und sie stand der Zukunft ganz ratlos gegenüber. Ihre Minderwertigkeitsgefühle wurden immer stärker und machten sie verschlossen und unzugänglich. „Astrid ist mehr praktisch begabt“, meinte die Familie; und Astrid wußte, daß man das von jungen Menschen sagte, die sich auf der Schule als hoffnungslos unbegabt erwiesen hatten. Das Telefon läutete wieder. Aber jetzt hatte sie wahrhaftig keine Lust mehr, den Hörer abzunehmen. Sicher war es wieder so eine wohlwollende und mitleidige Seele, die eine Möglichkeit gefunden zu haben glaubte, wie sich die arme Astrid endlich unterbringen ließ. Es war außerdem schon spät. Sie hatte der Mutter ja versprochen, einzukaufen und das Essen fertigzumachen. Am besten ging sie gleich. Sie zog den Mantel an, warf einen Blick in den Spiegel und betrachtete achselzuckend das Bild, das er ihr zeigte: ein glattes, ganz nettes, regelmäßiges und langweiliges Gesicht; gewöhnliche graublaue Augen, mittelgroße Figur – überhaupt alles mittelmäßig. Pah! Sie warf die Wohnungstür hinter sich ins Schloß und ging in die Stadt.
Der richtige Platz Sie hatte Fisch und Gemüse gekauft. Jetzt fehlten nur noch das Brot und die Milch. Eigentlich hatte sie noch genug Zeit. Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr. Halb eins! Hm! Halb eins. Mutter kam vor halb fünf nicht nach Hause, Hein um halb sechs. Sie hatte also wirklich viel Zeit. Wo hatte eigentlich Tierarzt Mostvedt seine Praxis? Aber sie wußte es ja! Sie hatte sein Schild schon oft gesehen – das blanke Schild an dem stattlichen Neubau. Eine vornehme Gegend! Sich mit lebendigen Tieren abgeben! Kleine ängstliche Kätzchen streicheln, ihnen die Angst nehmen; zitternde Hunde halten, mit ihnen sprechen, sie beruhigen; kranken Tieren helfen, wieder gesund zu werden! Lebendige Geschöpfe, klopfende kleine Herzen, blanke, um Hilfe flehende Tieraugen… Ohne daß Astrid wußte, wie es zugegangen war, stand sie plötzlich vor dem Neubau mit dem Schild „P. Mostvedt, Tierarzt. Sprechstunden 10-1“. Sie trat in ein leeres Wartezimmer. Nebenan hörte sie ein klägliches Winseln, dann ein schmerzvolles Aufheulen. Die Tür öffnete sich. „Sie wollen wohl den Hund holen? Eigentlich hätten Sie wissen sollen, daß der Besitzer selber zugegen sein muß, wenn ein Tier so ängstlich ist. Kommen Sie herein und halten Sie ihn! Er ist ja ganz hysterisch.“ Die Gestalt im langen weißen Kittel bückte sich schnell und ergriff einen kleinen grauen Hund am Halsband. Astrid hockte sich nieder, streckte die Hand aus und ließ den Hund an ihr schnuppern. Dann fuhr sie ihm sanft über den Nacken, und im nächsten Augenblick bohrte er seine Schnauze in ihre Hand. „Komm!“ sagte Astrid mit leiser, ruhiger Stimme. „Komm, mein Kerlchen! Jetzt soll der Doktor dich einmal besehen!“ Sie hob den Hund auf und trug ihn in das Sprechzimmer. „Das hätten Sie gleich tun sollen“, brummte der Tierarzt, „statt das Dienstmädchen zu schicken und… Wie heißt der Hund eigentlich?“ „Das weiß ich nicht“, sagte Astrid.
„Das wissen Sie nicht?!“ Jetzt erst sah der Tierarzt Astrid richtig an. „Ich habe ihn nie in meinem Leben gesehen. Aber ich kann ihn gut halten.“ „Sie müssen entschuldigen!“ Der Tierarzt wurde rot. „Sehen Sie, es ist nur eine Kleinigkeit. Eine Wolfsklaue muß beschnitten werden. Aber der Hund ist so nervös, und ich möchte nicht gern Gewalt anwenden, denn dann bekommt er nur Angst.“ Astrid strich immer wieder über das struppige Fell. „Ist es diese Pfote?… Natürlich!… Da haben wir es ja!“ Immer wieder streichelte sie den Hund, und schließlich barg er seinen Kopf unter ihrem Arm. Mit schneller und geübter Hand beschnitt der Tierarzt die Wolfsklaue und zog die Spitze heraus, die sich in die Pfote gebohrt hatte und im Begriff war, eine Entzündung zu verursachen. Der Hund jaulte laut auf und wollte sich losreißen. „So… so!“ sagte Astrid. Sie hielt das Tier fest, redete aber sanft und freundlich mit ihm. „Etwas mußt du noch stillhalten, kleiner Bursche. Siehst du! Es ist ja schon alles überstanden!“ Der Hund beruhigte sich und ließ es sich gefallen, daß die Wunde gewaschen und mit einem kleinen Verband versehen wurde. „Fertig!“ sagte der Tierarzt. Sie setzte den Hund auf den Fußboden. Er beschnupperte sie, setzte sich vor sie hin und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. „Vielen Dank für die Hilfe!“ sagte Tierarzt Mostvedt. „Ich bitte tausendmal um Entschuldigung. – Und was kann ich für Sie tun?“ Das kleine Zwischenspiel mit dem Hund hatte Astrid gerade soviel Mut verliehen, wie sie benötigte. Sie dachte daher nicht daran, erst noch lange Umschweife zu machen. „Ich komme wegen der freien Stelle“, sagte sie. Per Mostvedt nahm die Brille ab und betrachtete sie. Dann lächelte er. „Es klingt natürlich etwas dumm, wenn ich Sie jetzt nach Ihren Fähigkeiten frage“, sagte er. „Aber… verstehen Sie etwas von Büroarbeit?“ „Maschinenschreiben und Buchführung“, sagte Astrid. „Und sind Sie…?“ „Sauber… und so ordentlich, daß es schon beinahe langweilig ist“, sagte Astrid, indem sie, ohne es selber zu merken, einen Ausdruck gebrauchte, den ihr Bruder Hein gern verwandte, wenn
von ihr die Rede war. Mostvedt lachte. „Name? – Alter?“ Astrid machte ihre Angaben. „Und weshalb bewerben Sie sich gerade um diese Stelle?“ „Weil ich Tiere gern habe und mich gut mit ihnen verstehe.“ „Aber sind Sie sich auch klar darüber, daß so eine Wolfsklaue eine Bagatelle ist? Sie sagen, Sie haben Tiere gern. Können Sie aber auch ruhig zusehen und mir helfen, wenn wir einem Tier einmal wirklich weh tun müssen? Es ist nun einmal so, daß sich das nicht immer vermeiden läßt. Können Sie bei einer Operation assistieren? Und was sagen Sie, wenn Sie einen bösartigen Hund vor sich haben, der so groß ist wie ein Kalb?“ Astrid lachte. Sie hatte sich nie so froh und frei gefühlt. „Nur her damit!“ sagte sie. „Und was Ihre übrigen Fragen angeht, so glaube ich schon, daß ich das kann. Ich falle nicht in Ohnmacht, wenn ich Blut sehe. Und ich weiß ja, daß Schmerzen sich nicht immer vermeiden lassen. Aber dürfte ich Sie fragen… haben Sie immer nur Hunde zu behandeln?“ „Hier in meiner Sprechstunde werden nur Hunde und Katzen behandelt. Selbstverständlich habe ich aber auch eine große Praxis außerhalb der Stadt. Doch damit bekommen Sie nichts zu tun, Fräulein Liberg. Wollen wir einen Versuch machen? Sagen wir: einen Monat auf Probe?“ „Furchtbar gern“, sagte Astrid, und ihr Herz klopfte wild vor Freude. Nun führte Mostvedt sie in seinem blanken, vor Sauberkeit glänzenden Sprechzimmer herum. Er zeigte ihr, wie die Instrumente ausgekocht würden, und klärte sie über die Bedeutung all der Flaschen und Näpfe auf, die in dem großen gläsernen Eckschrank standen. Sie wurden einen Augenblick unterbrochen, als der kleine graue Hund abgeholt wurde. Dann nahm die Unterweisung ihren Fortgang. „Sie übernehmen diese Kartothek. Ich führe natürlich über all meine vierbeinigen Patienten Buch und…“ Es wurde an die Tür geklopft. Ein junges Mädchen kam etwas zaghaft herein. „Entschuldigen Sie! Ich komme wegen der freien Stelle…“ „Bedaure“, sagte Mostvedt. „Ist schon besetzt.“ „Oh?“ sagte das junge Mädchen. Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „In der Anzeige hieß es: zwischen 1 und 2 Uhr – und
es ist erst fünf Minuten vor 1.“ Da sie keine Antwort bekam, rümpfte sie ein wenig die Nase und zog sich wieder zurück. Mostvedt und Astrid blickten einander an und lächelten. Astrid hatte plötzlich das Gefühl, als wären sie Verschworene. Mostvedt blinzelte Astrid zu. Da machte sie die Entdeckung, daß in seinen Augenwinkeln ein Schelm lauerte. „Fehlstart!“ sagte Mostvedt.
Hier bei Tierarzt Mostvedt… „Fräulein Liberg, schauen Sie doch bitte einen Augenblick herein!“ Astrid, die im Wartezimmer an dem kleinen Schreibtisch saß, stand auf und ging in das Sprechzimmer. „Könnten Sie wohl dieses kleine Ding hier halten und überreden, seinen Mund zu öffnen?“ Das kleine Ding war ein halb erwachsenes Kätzchen, das sehr energisch gegen jede Form der Behandlung protestierte. Die Besitzerin liebte das kleine Wesen zärtlich und war fürchterlich aufgeregt. „Ich habe ja zuerst gar nichts davon gemerkt“, jammerte sie. „Erst als sie zu schreien anfing und sich mit den Pfoten im Gesicht herumfuhr, wurde ich aufmerksam. Ich versuchte, ihr den Mund zu öffnen, aber sie biß zu und riß sich los, und ich wagte es nicht, ihr den Finger in den Hals zu stecken.“ „Fischgräte?“ fragte Astrid. Ja, das mußte es wohl sein. Sie nahm die Katze auf den Arm. Zuerst fauchte sie ein wenig, aber dann besann sie sich anders und machte sogar einen schwachen Versuch zu schnurren, als Astrid sie hinter dem Ohr kraulte. „Mach‘s Mäulchen auf!“ sagte Astrid lächelnd und schob ihr sanft einen Finger ins Maul. „Seien Sie vorsichtig!“ sagte die Besitzerin. „Sie beißt!“ „Vorläufig nicht“, sagte Astrid. Sie hielt die Katze mit der linken Hand im Nackenfell gepackt, während diese fragend und neugierig an dem kleinen Finger ihrer rechten Hand saugte. Da schob ihr Astrid unbemerkt noch einen zweiten Finger ins Maul, und im nächsten Augenblick war dieses weit geöffnet. Blitzschnell war der Tierarzt mit Hohlspiegel und Pinzette zur Stelle, und wenige Sekunden später war die scheußliche Gräte entfernt. „Sie haben vor Tieren keine Angst“, sagte die Besitzerin des Kätzchens vergnügt und erleichtert, als sie ihren Liebling glücklich wieder in ihrem Tragkorb hatte. „Das fehlte auch noch!“ antwortete Astrid lächelnd und zog sich dann bescheiden zurück, um sich wieder an ihren Schreibtisch im Wartezimmer zu setzen. Sie war nun schon eine ganze Woche bei Mostvedt, und sie fühlte sich in ihrer Stelle äußerst wohl. Sie brauchte bloß das helle,
schmucke Sprechzimmer und das hübsche Wartezimmer zu sehen, und sogleich war sie in der besten Stimmung. „Als ich mich hier niederließ“, sagte Mostvedt eines Tages, „da stand eins für mich fest. Ich wollte es ebenso hell und behaglich und sauber haben wie jeder beliebige Menschendoktor. Ich vergesse nie einen alten Tierarzt, zu dem ich einmal mit meinem Hündchen ging, als ich noch klein war. Sein Sprechzimmer war dunkel und verstaubt und ungemütlich und fürchterlich unordentlich. Und dann er selber in seinem schmutzigen weißen Kittel mit den großen Blutflecken! Nein, danke! Das ist nichts für mich!“ Astrid pflegte eine halbe Stunde vor Mostvedt zu kommen, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Sie liebte diese halbe Stunde, in der sie schalten und walten konnte, wie es ihr gefiel. Sie liebte es, die blanken Nickelbeschläge abzureiben und den großen Untersuchungstisch aus rostfreiem Stahl. Die Instrumente schimmerten im Glasschrank, alles lag an seinem bestimmten Platz. „Ich könnte mich ja hier mit verbundenen Augen zurechtfinden“, sagte Mostvedt einmal. Im Wartezimmer war der Telefonblock mit Astrids deutlicher, sauberer Schulmädchenschrift bedeckt: lauter Bestellungen für den Tierarzt. Daneben stand die Kartei, deren leere Fächer sich nach und nach mit Karten füllten, die Astrid sorgfältig und genau ausfüllte. Ja, Astrid fühlte sich bei ihrer Arbeit wohl. Hier kamen ihre besten Eigenschaften zur Geltung: Ordnungsliebe, Zuverlässigkeit, Sauberkeit, und hier fand ihre grenzenlose Tierliebe ein reiches Betätigungsfeld. Das Telefon läutete. „Hier bei Tierarzt Mostvedt…“ Astrid lauschte, notierte. Sie sagte nicht viel, aber sie faßte alles richtig auf und richtete genau aus, was ihr aufgetragen wurde. „Um wie viele Tiere handelt es sich?“ Pause. „Haben Sie Würmer nachweisen können, oder wollen Sie nur Vorbeugungsmaßnahmen treffen?“ Wieder Pause. Astrid notierte. „Ich werde es ausrichten. Wahrscheinlich morgen nachmittag. Auf Wiederhören.“ Ein Mann mit einem Schäferhund trat ins Wartezimmer und fragte nach dem Tierarzt. Astrid nahm eine neue Karte und notierte den Namen und die Adresse des Besitzers sowie den Namen, das
Geschlecht, die Rasse und das Alter des Hundes. Die Ausfüllung der Rubrik „Diagnose“ blieb dem Tierarzt überlassen. „Bitte!“ Die Karte wurde auf Mostvedts Tisch gelegt, und Astrid glitt beinahe lautlos aus dem Sprechzimmer. Sie hoffte immer im stillen, daß sie assistieren dürfe. Denn wenn sie die reine Büroarbeit auch gern verrichtete, so war doch der Kontakt mit den lebendigen Tieren der interessanteste Teil ihrer Tätigkeit. Sie hatte schnell die verschiedenen Instrumente kennengelernt und war stets bemüht, medizinische Ausdrücke aufzufassen und soviel wie nur irgend möglich zu lernen. „Fräulein Liberg!“ Wie schön! Sie sollte assistieren. Mostvedt lächelte, als sie eintrat. „Wäre es nicht eine reizvolle Aufgabe für Sie, diesen Burschen hier auf den Tisch zu bekommen, ohne daß wir Gewalt anwenden müssen?“ „Sehen Sie sich vor!“ warnte der Besitzer des Tieres. „Er ist Fremden gegenüber sehr mißtrauisch.“ Astrid tat, was sie stets zu tun pflegte: Sie streckte dem Hund ihre Hand hin und ließ ihn schnuppern. Er blickte sie argwöhnisch von der Seite an und knurrte leise. Aber sie zog ihre Hand nicht zurück. „Nun denn, Pascha!“ sagte Astrid. Ihre Stimme war ruhig und freundlich. Und sie redete mit dem Hund, sie streichelte ihn und ließ sich Zeit. Mostvedt ließ sie gewähren. Seine Arbeit wurde bedeutend erleichtert, wenn es Astrid gelang, die Tiere zu beruhigen. Die Minuten, die sie dazu benötigte, waren gut angewandt. Es dauerte denn auch nicht lange, so hatte sie den Hund am Untersuchungstisch. Sie schlug mit der Hand leicht auf den Tisch: „Hopp, Pascha!“ Der Rüde blickte sie unschlüssig an. „Zeig einmal, wie tüchtig du bist!“ sagte Astrid. „Hopp!“ Ihre Stimme war ebenso ruhig wie zuvor; aber das hellhörige Tierohr spürte doch, daß es sich hier um ein, wenn auch nur schwach angedeutetes, Kommando handelte. Und im nächsten Augenblick stand der Hund auf dem Tisch. Jetzt hatte sie die Herrschaft über ihn erlangt. Sie konnte ihn leicht dazu bringen, daß er sich hinlegte, und dann folgte das rein Routinemäßige: das Festspannen mit den breiten, weichen Riemen. „Das muß sein, du“, sagte Astrid. „Habe keine Angst!“
„Glauben Sie etwa, die Tiere verstehen, was Sie ihnen da alles erzählen?“ hatte Mostvedt eines Tages gefragt. „O nein“, hatte Astrid lachend geantwortet. „Ganz so dumm bin ich denn doch nicht. Es kommt auf den Klang der Stimme an, und etwas muß ich ja sagen. Ich könnte auch das Einmaleins dazu verwenden. Nur fürchte ich, es dürfte schwerfallen, dabei den richtigen Ton zu finden.“ Astrid sah Mostvedt gern arbeiten. Er verstand es selber recht gut, mit Tieren umzugehen. Er war ruhig, freundlich und, wenn es sein mußte, bestimmt. Aber es fehlte ihm doch jenes gewisse Etwas, das den Tieren unbegrenztes Vertrauen einflößt und das Astrid in so hohem Maße besaß. „Narkose“, sagte Mostvedt. Astrid holte die Maske und das sonstige Zubehör und arbeitete nach den ständigen Anweisungen, die der Tierarzt ihr erteilte. Sie begriff schnell, und alles ging ihr flott von der Hand. Es handelte sich um einen schweren Abszeß, und Mostvedt mußte mit dem Messer ziemlich tief gehen. Sowohl Blut wie auch Eiter spritzten auf Astrids fleckenlosen weißen Kittel, aber sie verzog keine Miene. Das Telefon läutete im Wartezimmer. „Lassen Sie es sich austoben“, sagte Mostvedt nur. Und Astrid reichte ihm die Instrumente, während sie gleichzeitig das betäubte Tier im Auge behielt. Der Hund war noch ganz benommen, als der Verband angelegt und die Riemen gelöst waren. Nach und nach kam er zwar so einigermaßen zu sich, aber er war ziemlich unsicher auf den Beinen, als er die Treppe hinunterging, um im Auto nach Hause gefahren zu werden. Astrid räumte auf, wusch den Tisch ab, legte die Instrumente in den Kocher, holte für Mostvedt und sich selbst einen reinen Kittel. Sogar ihre weiße Haube war von den Blutspritzern nicht ganz verschont geblieben. Sie nahm ein reines weißes Tuch und band es um ihr Haar. Als sie vor dem Spiegel stand, erblickte sie in ihm Mostvedts Gesicht. Er stand hinter ihr und betrachtete ihr Spiegelbild. „Sie sind mächtig tüchtig“, sagte er nur. Astrids Wangen glühten. „Das höre ich sehr gern“, sagte sie. Mostvedt kam näher. Er sah jetzt sich selbst im Spiegel und zog den Taschenkamm durch sein schwarzes Haar.
„Haben Sie wirklich keinerlei Vorkenntnisse auf diesem Gebiet mitgebracht?“ fragte er. „Ich habe an einem Kursus in Erster Hilfe teilgenommen“, antwortete sie. „Aber Sie wissen ja, ich habe Tiere sehr gern, und so…“ „Tiere kann man auf verschiedene Weise gern haben“, sagte Mostvedt. „Ich habe genügend junge Damen kennengelernt, deren Tierliebe sich nur darin zeigte, daß sie ihrem Hund Zucker gaben und die Katze nachts bei sich im Bett schlafen ließen, die aber hysterisch wurden, wenn sie ein krankes Tier halten sollten, damit es untersucht werden könnte.“ „Aber das muß doch sein“, sagte Astrid. „Und ich finde es einfach genug.“ „Das finden Sie… ha!“ Das Telefon meldete sich wieder. Aus irgendeinem Grunde klopfte Astrids Herz ungewöhnlich heftig, während sie mit einem Bauern sprach, der durchaus wollte, daß der Tierarzt seine besten Milchkühe ansähe. Am Schluß der Sprechstunde legte sie Mostvedt den Telefonblock zur Kenntnisnahme vor. „Kapseln von Silberfüchsen bei Guttorm Ospedal. Bestand von 30 Tieren. Würmer nicht nachgewiesen.“ „Zwei Kühe bei Sigvald Stenfoss. Vermutlich Euterentzündung.“ „Direktor Brandt-Jensen. Unerklärliche Lähmung bei vier Jahre alter Airedalehündin. Temperatur nicht gemessen. Tier zu nervös. Krank seit gestern.“ „Frau Dr. Regstadt bestellt Impfstoff für drei Monate alten schottischen Terrier.“ Mostvedt blickte von dem Telefonblock auf. „Impfstoffbestellungen brauchen Sie mir nicht vorzulegen“, sagte er. „Tragen Sie sie nur ein, und sorgen Sie von sich aus dafür, daß wir eine angemessene Zahl von Ampullen im Kühlschrank haben. Dasselbe gilt für Penicillin. Im übrigen sind Ihre Notizen erfreulich klar. – Und jetzt muß ich der Airedalehündin wohl einen Besuch abstatten. Die Silberfüchse können bis morgen warten.“ Mostvedt verabschiedete sich mit ein paar freundlichen Worten und verschwand. Astrid begann aufzuräumen. Sie war unsagbar froh und zufrieden. Es war aber auch gar zu schön, daß der Tierarzt sie so gelobt hatte. Eigentlich geschah es zum ersten Male, daß sie ohne jede
Einschränkung gelobt wurde. Gewiß, die Mutter hatte oft gesagt: „Du bist ein flinkes Mädchen, Astrid!“, und in der Schule war sie wegen ihrer Ordnungsliebe und Pflichterfüllung gelobt worden. Aber das hier war etwas ganz anderes. Hier handelte es sich nicht lediglich um Ordnungsliebe und Zuverlässigkeit; hier hatte sie noch etwas darüber hinaus geleistet, und das machte sie glücklich. Einen Monat Probezeit, hatte der Tierarzt gesagt. Nun ja. Sie konnte nicht behaupten, daß sie fürchtete, sie würde nach Ablauf dieser Probezeit an die Luft gesetzt werden. Aber der bloße Gedanke, ihre Arbeit hier könne einmal ein Ende finden, erfüllte sie mit einer solchen Angst, daß ihr dabei glühend heiß wurde. Bei dieser Arbeit gab sie ihr Bestes. Hier hatte sie eine Aufgabe gefunden, die ihr lag. Bisher hatte sie ja gar nicht gewußt, was Arbeitsfreude war. Was sollte sie anfangen, wenn alles dies eines Tages ein Ende hatte? Sie schaltete den Strom des Instrumentenkochers ab, fischte die Instrumente heraus und rieb sie mit einem Stück keimfreien Mulls blank, bevor sie sie in den Schrank legte. Die Injektionsnadeln wurden in den Sterilisator gesetzt, die gebrauchten Handtücher in den dazu bestimmten Korb geworfen und reine an den Haken aufgehängt. Das Staubwischen besorgte sie am Morgen. Nun war sie für heute fertig. Ach, der Arbeitstag war gar zu kurz! Sie hätte nichts dagegen gehabt, wenn der Tierarzt sie bei seinen Rundfahrten zu kranken Kühen und zu den Silberfüchsen hätte brauchen können. Aber sie war ja als Bürokraft angestellt – wenn auch immer mehr Tätigkeiten unter den Begriff „Büroarbeit“ fielen! Astrid verstand nicht und suchte auch gar nicht zu begreifen, weshalb eine so überströmende Freude ihr Herz erfüllte. Aber die Freude war da. Und als das Telefon wiederum läutete – nach Schluß der Bürozeit, aber das kam ja vor –, machte die Freude ihre Stimme hell und liebenswürdig, als sie die gewohnten Worte sprach: „Hier bei Tierarzt Mostvedt…“
Was sollte ich wohl ohne Sie machen? „Fachsimpelei!“ sagte Hein und reckte die Hand nach der Kartoffelschüssel. „Fach… Meinst du mich? Fachsimple ich?“ „Natürlich. Glaubst du, ich meinte Mutti? Was würdest du wohl sagen, wenn ich anfangen wollte, von Goldschmelzen und Silberhämmern zu erzählen?“ „Hein!“ sagte Frau Liberg streng. „Vergiß bitte nicht, daß ich Astrid gebeten habe zu erzählen. Ich höre ihr gern zu.“ Aber Astrid wurde feuerrot. Pah! Da hatte sie nun jeden Tag beim Mittagessen alles mögliche von der Arbeit des Tages erzählt: von den kranken Katzen und Hunden, von geängstigten und scheuen Tieren und von merkwürdigen und dummen und komischen Menschen, die mit ihren vierbeinigen Lieblingen angezogen kamen; sie hatte von Behandlungen erzählt und von Operationen und… nun ja, von allem möglichen, und jetzt mußte sie hören, daß sie fachsimpelte. Sie blickte auf ihren Teller und biß sich auf die Lippe. Frau Liberg sandte Hein einen strafenden Blick, aber er sah es nicht. Astrid war immer empfindlich gewesen, und dieses Neue – ihre Arbeit, die Lob und Anerkennung fand – war noch so frisch und ungewohnt, ihre Freude war so rührend und ihre Vertrauensseligkeit, mit der sie die unbedeutendsten Kleinigkeiten nicht minder eifrig erzählte als die wesentlichen Begebenheiten, so grenzenlos das Leuchten ihrer Augen, die Glut in ihren Wangen so überzeugend, daß die Mutter ihre Freude daran hatte. Und nun mußte dieser gedankenlose Junge mit einer so taktlosen Bemerkung kommen! Astrid wußte, was die Mutter dachte. Und sie wußte auch, daß sie sich bei der ersten Gelegenheit Hein unter vier Augen vornehmen würde. „Du sollst dich wirklich schämen, Hein! Wie konntest du ihr nur ihre ganze Freude verderben… jetzt, wo sie endlich eine ihr zusagende Arbeit gefunden hat! Du solltest nett zu deiner Schwester sein und Verständnis für sie haben, denn im Grunde kann sie einem doch leid tun, die Ärmste…“ Ja, so etwa würde sie sprechen! Die Ärmste… Leid tun… Ha! Wie sie diese Worte haßte! Sie wollte keine „Ärmste“ sein, sie wollte nicht bedauert werden, und Hein konnte lange warten, wenn er glaubte, sie würde beim
Mittagessen je wieder den Mund aufmachen! Jedenfalls die Wörter „Hund“, „Katze“ oder „Tierarzt“ sollten nie mehr über ihre Lippen kommen! Sie hatte richtig geraten. Einige Zeit nach dem Mittagessen ging Frau Libert – wie zufällig – in Heins Zimmer. Ha! Jetzt wurde über Astrid diskutiert! Jetzt wurde sie bedauert! Wenn es doch erst morgen wäre und sie ins Büro gehen könnte! Wenn Tierarzt Mostvedts Sprechstunde doch doppelt so lange und noch länger dauern würde. Sie war am nächsten Tage frühzeitig an ihrer Arbeitsstätte, so frühzeitig, daß sie tatsächlich eine halbe Stunde untätig dasaß und darauf wartete, daß Mostvedt kam. Aber kurz vor dem Beginn der Sprechstunde klopfte es an die Tür, und eine junge Dame trat ein. „Ist der Tierarzt zu sprechen?“ „Noch nicht. Die Sprechstunde beginnt erst in etwa zehn Minuten.“ „So? Hören Sie! Wollen Sie ihn bitten, sich diese Kaninchenleber hier anzusehen? Ich habe gestern geschlachtet und dabei die Entdeckung gemacht, daß zwei von den Tieren krank sein müssen. Entweder haben sie die Kaninchenpest oder Pseudotuberkulose – wenn ich das Buch über Kaninchen richtig verstanden habe. Wenn das ansteckend ist – was ich fürchte –, dann muß Herr Mostvedt so freundlich sein, so bald wie möglich zu mir herauszukommen.“ Astrid notierte. „Haben Sie einen großen Bestand?“ „Vorläufig nicht. Nur sechsunddreißig Tiere. Aber es sind große Chinchillakaninchen, und die sind schwer zu bekommen. Ich habe im Sinn, eine Pelztierfarm einzurichten, und es wäre eine Katastrophe für mich, wenn mir die Tiere eingingen, bevor ich auch nur einen einzigen Pelzkragen bekommen habe.“ „Ihr Name, bitte?“ „Gerda Harder. Herr Mostvedt kennt meinen Vater gut. Aber ich muß jetzt gehen. Ich habe meinen Wagen unvorschriftsmäßig geparkt. Ich komme kurz vor eins wieder. Vielen Dank, Fräulein.“ Astrid lächelte vor sich hin. Ein flottes Mädchen – Fräulein Harder! Klar im Ausdruck und geschäftsmäßig. Ihr vom Wetter gebräuntes Gesicht war ganz natürlich, ohne jede Aufmachung. Astrid waren auch ihre Hände aufgefallen. Es waren starke, von der Sonne gebräunte, richtige Arbeitshände. Schade, wenn die Kaninchenpest ihren Bestand befallen haben sollte!
„Guten Morgen, Fräulein Liberg!“ Astrid war dermaßen in das Studium der geheimnisvollen Kaninchenleber vertieft gewesen, daß sie den Tierarzt nicht hatte kommen hören. Jetzt fühlte sie, wie die Röte ihr in die Wangen stieg. Das ärgerte sie; und weil es sie ärgerte, errötete sie nur noch mehr. „Machen Sie anatomische Studien, oder haben Sie zum Mittagessen eingekauft?“ fragte Mostvedt, mit dem Kinn auf die Kaninchenleber deutend. Astrid erklärte den Sachverhalt, und der Tierarzt nahm die Schachtel mit dem „Geheimnis“ an sich und ging in sein Sprechzimmer. „Ich glaube wahrhaftig…“ Er holte das Mikroskop, schnitt ein kleines Stück von der Leber ab, schob Glasplatten zurecht, hantierte mit Pinzetten und blickte durch das Okular. „Wer, sagten Sie, hat diese Leber gebracht?“ „Fräulein Harder.“ „Harder? Das ist ja ganz in der Nähe des Mannes mit der Silberfuchsfarm. Ich werde heute nachmittag hinfahren und mir diese Kaninchenzucht ansehen. Sagen Sie das Fräulein Harder, wenn sie wiederkommt.“ „Man möchte fast wünschen, Sie brauchten da draußen auch eine Assistentin!“ entfuhr es Astrid, und als diese Worte ihr entschlüpft waren, errötete sie über ihre eigene Kühnheit. „Schwärmen Sie etwa für Kaninchen? Oder glauben Sie, Sie könnten auf diese Weise billig zu einem Silberfuchspelz kommen?“ neckte Mostvedt sie. „Nein, ich… ich denke es mir sehr amüsant, alle diese süßen kleinen Chinchillakaninchen zu sehen…“ „Dann kommen Sie doch mit“, sagte Mostvedt ruhig, während er die Glasplatte aus dem Mikroskop nahm. Ihr Herz machte einen wilden Sprung. „Ist das Ihr Ernst?“ „Klar. Wenn Sie Lust haben, heißt es. Es ist eine scheußlich weite Autotour bis da draußen.“ „Ja… mächtig gern…“ „Hatten Sie auch nicht für heute nachmittag etwas Besseres vor?“ „Nein… ganz und gar nicht…“ Die Tür wurde geöffnet. Der erste vierbeinige Patient des Tages kam, und der übliche Tagesablauf begann. Er war diesmal nicht sehr aufregend. Die meiste Zeit saß Astrid an ihrem Schreibtisch, trug
Protokolle ein und füllte Karteikarten aus. Und das war nur gut. Denn es war etwas in ihrem Innern geschehen, etwas, das sie selbst nicht näher bezeichnen konnte. Es verwirrte und beängstigte sie, und gleichzeitig war es unsagbar köstlich. Die Freude, die sie bei dem Gedanken an die Nachmittagsfahrt fühlte, war gar zu groß, gar zu beklemmend, als daß sie sich nur auf eine Silberfuchsfarm und eine Kaninchenfarm hätte beziehen können. Astrid machte keinen Versuch, sich darüber klarzuwerden, was mit ihr geschehen war. Sie ließ ihrer Freude nur freien Lauf. Sie breitete sich aus, erfüllte sie, pochte in ihrem Blut. Und alle Leute, die an diesem Tage zu Tierarzt Mostvedt kamen, fanden, das junge Bürofräulein habe ein ungewöhnlich strahlendes Lächeln und ihre Stimme klänge besonders fröhlich, lebhaft und zuvorkommend. Als Fräulein Harder wiederkam, hatte Mostvedt gerade zu tun. „Das macht nichts“, erklärte Fräulein Harder. „Er soll ja nicht mich untersuchen, sondern die Kaninchenleber. Was sagte er?“ „Er fürchtet, es könne die Kaninchenpest sein. Aber er wird heute nachmittag hinkommen und sich Ihre Tiere ansehen.“ „Fein!“ Fräulein Harder nickte kurz und verschwand. Natürlich konnte Fräulein Harder einem leid tun, wenn sie fürchten mußte, ihre schönen Tiere zu verlieren. Und natürlich mußte man wünschen, sie hätte nie über eine Krankheit unter ihrem Bestände zu klagen gehabt. Aber dennoch – es fiel Astrid etwas schwer, sich lange bei der Schattenseite der Kaninchenpest aufzuhalten. Denn sie hatte auch eine lichte Seite, und diese wurde lichter und immer lichter, je länger Astrid über sie nachdachte. „Schön“, sagte Mostvedt, als der letzte Sprechstundenpatient des Tages behandelt war. „Ich hole Sie also gegen vier Uhr ab. Das heißt natürlich, wenn Sie wirklich Lust haben mitzufahren.“ „Sicher…“ Astrid sagte nichts weiter, ganz einfach deshalb nicht, weil ihre Stimme vor Freude gezittert hätte. „Ich komme etwas zu früh“, sagte Mostvedt, als er zwanzig Minuten vor vier Uhr läutete. „Ich konnte nicht wissen, daß ich mit Ingenieur Lundbys Setter so schnell fertig werden würde.“ „Oh…“, sagte Astrid erfreut. „Ging es glatt?“ „Fein. Acht Junge, und ich brauchte die Zange nur für das erste. Die übrigen kamen wie Perlen auf einer Schnur. Quicklebendig alle miteinander. Das müssen Sie einmal mitmachen, Fräulein Liberg.
Sie würden eine großartige Hebamme werden!“ „Ja, das würde mir Spaß machen! – Wollen Sie nicht eine Tasse Kaffee trinken, bevor wir losfahren?“ „Hebammen-Kaffee“, lächelte Mostvedt. „Das wäre sehr schön!“ Astrid führte ihn ins Wohnzimmer, und er sah sich zufrieden um. „Wie gemütlich Sie es haben“, sagte er, als sie die Kaffeekanne brachte. „Ja, ich habe eine tüchtige Mutter“, sagte Astrid. „Die Zimmer sind zwar nicht groß, aber es ist schön, ein Häuschen für sich allein zu haben, wenn es auch klein ist.“ „Ja, unbedingt“, stimmte Mostvedt zu. Er ließ sich den Kaffee schmecken und griff tüchtig beim Kuchen zu. „Übrigens ist das Haus nicht direkt winzig“, fügte er hinzu. „Ja, doch. Dieses Zimmer und dann ein Eßzimmerchen, Bad, Küche und drei winzige Schlafzimmer. Das ist alles. Ja, und dann ein geräumiger Keller, wenn Sie den auch mitrechnen.“ „Und ob! Ich hatte meine erste Praxis in einem Keller! Jetzt haben wir es aber feiner, nicht?“ „Ja, wunderbar. Das sagen ja auch die Patienten. Ich meine: die Besitzer der Patienten.“ „Die Herrchen und Frauchen“, lächelte Mostvedt. Er stellte die leere Kaffeetasse hin. „Ja, fahren wir dann zu den Kaninchen?“ Der kleine Wagen fuhr ruhig und gleichmäßig. Astrid genoß dieses seltene Vergnügen. „Wissen Sie auch, daß ich Ihnen gegenüber ein etwas schlechtes Gewissen habe?“ sagte Mostvedt, nachdem sie beide eine Weile schweigend ihren Gedanken nachgehangen hatten. „Ein schlechtes Gewissen?“ wiederholte Astrid; und sie machte ein so ehrlich erstauntes Gesicht, daß Mostvedt lachen mußte. „Ja. Ich annoncierte nach einer Bürokraft – die ich ja auch brauchte –, und nun nutze ich Sie aus! Ich denke dabei natürlich nicht an die saubere, ästhetische Büroarbeit, sondern daß ich Sie mit Blutflecken auf dem Kittel herumlaufen lasse, daß ich Ihre Hilfe in Anspruch nehme, wenn ich bösartige Hunde und fauchende Katzen zu behandeln habe…“ „Aber das ist ja gerade das Schöne an meiner Arbeit! – Es ist viel amüsanter, als im Büro zu sitzen…“ „Das mag wohl sein. Aber wissen Sie auch, daß Sie fürchterlich unvorsichtig sind?“ „Ah bah! Ich habe noch nie vor Tieren Angst gehabt.“
„Das glaube ich Ihnen. Ich könnte mir ganz gut vorstellen, daß Sie einen ausgehungerten Löwen, der Ihnen in der Wüste begegnete, hinter dem Ohr kraulen und ,Na, Musch?’ zu ihm sagen würden.“ Astrid lächelte. „Es hört sich sicher wie ein Wahnsinn an, aber ich könnte mir tatsächlich denken, daß ich einen Löwen hinter dem Ohr kraulte. Denn es ist mir einfach nicht möglich, mir vorzustellen, daß ich vor einem Tier Angst haben könnte.“ Mostvedt nickte. „Sie gehören zu den ungeheuer seltenen Menschen, die als ,Tiermenschen’ geboren werden. Ich kann mich selber beglückwünschen, daß ich Sie erwischt habe. Wissen Sie auch, daß meine Praxis sich recht ansehnlich erweitert hat, seitdem Sie bei mir eingetreten sind?“ Astrid errötete wieder. „Sie dürfen mich nicht so loben… ich… ich…“ Sie errötete noch mehr und verstummte. „Weshalb nicht? Man hat keinerlei Hemmungen, wenn man sagen möchte, daß man unzufrieden ist. Warum sollte man da nicht ebenso frei aussprechen, daß man zufrieden – außerordentlich zufrieden ist?“ Das Auto fraß die Kilometer. Astrid blickte Mostvedt von der Seite an. Es war etwas Neues, neben ihm im Auto zu sitzen und mit ihm über andere Dinge als Abszesse und Impfstoffe und Augenkatarrh zu sprechen. Er sah im weißen Kittel gut aus, aber im gewöhnlichen Anzug noch besser. Der Zugwind, der durch das halboffene Seitenfenster hereindrang, spielte mit seiner Haarlocke. Das sah nett aus. Seine Hände auf dem Lenkrad waren lang, kräftig und schlank, und das vergnügte Lächeln machte sein Gesicht so hübsch. Sie hatten beide eine Weile geschwiegen. Da fragte Mostvedt plötzlich: „Was haben Sie eigentlich gemacht, ehe Sie zu mir kamen?“ „Nichts. Das heißt, ich verrichtete etwas Hausarbeit und wartete darauf, daß sich einmal eine passende Beschäftigung für mich bieten würde. Eigentlich hatte ich zu gar nichts Lust.“ Astrid sprach langsam und mit gedämpfter Stimme. Sie dachte nicht gern an ihre Mutlosigkeit zurück und an das scheußliche Minderwertigkeitsgefühl, das endlich zu überwinden sie auf dem besten Wege war. „Daß Sie nicht selber Tierärztin geworden sind?“ „Ich habe nicht den Kopf dazu“, sagte Astrid ruhig. „Bin mehr
praktisch begabt, wie man so schön von jemand sagt, der unterbegabt ist.“ „Dummes Zeug!“ sagte Mostvedt. „Wo haben Sie denn diese Zwangsvorstellungen her? Sie haben in der kurzen Zeit, die Sie bei mir sind, unglaublich schnell und viel gelernt.“ „Ja. Rein praktische Dinge“, sagte Astrid. „Wenn ich meine Hände statt des Kopfes gebrauchen kann, pflegt es ganz gutzugehen.“ „Jetzt reden Sie Unsinn!“ sagte Mostvedt kurz und bestimmt. „Ich…“, begann Astrid. „Es ist wohl richtig, daß Sie Ihre Hände zu gebrauchen wissen, aber – Sie zwingen mich geradezu, sentimental zu werden – , aber Sie gebrauchen nicht nur die Hände: Sie gebrauchen Ihr Herz noch mehr.“ Seine Stimme hatte einen warmen Unterton, den Astrid wohl vernahm. Sie schloß eine Sekunde die Augen. Sie war unsagbar, unendlich glücklich. Mostvedt aber fuhr im munteren Plauderton fort: „Sie werden übrigens einen schönen Besitz zu sehen bekommen. Ich bin schon mehrere Male bei Gutsbesitzer Harder gewesen und habe nach seinen Kühen gesehen. Er hat aber auch einen prachtvollen Bestand an Federvieh, Gänsen und Truthühnern. Und jetzt hat sich also seine Tochter auch noch eine Kaninchenzucht zugelegt.“ „Kennen Sie Fräulein Harder auch?“ „Nein. Sie war im Ausland, als ich draußen war. Aber wenn sie nach ihrem Vater geartet ist, muß sie recht tüchtig sein. Ein komischer Einfall übrigens, eine Kaninchenfarm einzurichten.“ „Das kann ich eigentlich nicht finden.“ „Ja, Sie! Ich glaube, Sie würden es fertigbekommen, es einmal mit der Züchtung von Ratten zu versuchen.“ „Tja… wenn das einen Sinn haben würde. Auf jeden Fall habe ich vor Ratten keine Angst.“ „Wovor haben Sie eigentlich Angst?“ fragte Mostvedt lächelnd und blickte sie kurz von der Seite an. Sie blickte unverwandt vor sich hin und schwieg so lange, daß Mostvedt schon glaubte, sie habe seine Frage überhört. Dann sagte sie plötzlich leise und stockend: „Vor… Menschen… glaube ich…“ Astrid besah sich Guttorm Ospedals Silberfuchsfarm mit dem größten Interesse. Sie ging von Käfig zu Käfig und hatte an den
gepflegten Tieren mit ihren schimmernden Fellen viel Freude. Es ergab sich ganz von selbst, daß sie Mostvedt beim Kapseln assistierte. „Aber hören Sie!“ sagte Mostvedt. „Ich verbiete Ihnen hiermit auf das nachdrücklichste, daß Sie sich den Tieren nähern, solange ich sie nicht in der Zange habe. Hier gibt es kein Hinter-dem-OhrKraulen und kein Gib-mal-Pfötchen! Haben Sie mich verstanden?“ Astrid bewunderte Mostvedts sichere, flinke Arbeit. Mit geübten Händen schloß er die Zange um den Nacken des Fuchses. Dann mußte Astrid das Tier halten, während Mostvedt die Maulsperre anbrachte und die Kapsel einführte. Es ging alles sehr schnell, und Astrid muckte nicht, wenn sie gelegentlich einen Tritt oder einen Kratzer erhielt. „Es ist eigentlich eine Schande, daß ich das nicht allein machen kann“, sagte Guttorm Ospedal. „Die Sache ging einmal schief, und da habe ich den Mut verloren. Wie schnell Sie übrigens damit fertig geworden sind!“ „Ist das ein Wunder, wenn man eine so tüchtige Assistentin hat?“ erwiderte Mostvedt lächelnd. „Sie haben übrigens einen schönen Bestand, Herr Ospedal, und die Tiere machen einen vortrefflichen Eindruck.“ „Ich habe mich auch nicht wenig mit ihnen abgeplagt“, sagte Ospedal, über das Lob erfreut. „Natürlich habe ich auch Glück gehabt, und die Mühe hat sich gelohnt. Ich habe ganz hübsche Preise für die Felle erzielt.“ Er dankte Mostvedt und seiner „Assistentin“ und begleitete sie zu ihrem Wagen. Die Fahrt ging weiter. „Nun kommen die Kaninchen dran“, sagte Mostvedt. „Darf ich die wenigstens hinter dem Ohr kraulen und mit ihnen ein paar Worte sprechen?“ fragte Astrid lachend. „Wenn Sie glauben, daß die Kaninchen Wert darauf legen? Übrigens ist es noch nicht ausgemacht, daß ich es Ihnen erlauben kann. Denn wenn es sich tatsächlich um Kaninchenpest handelt, muß ich es mir sehr energisch verbitten, daß Sie mit Ihrem Hinter-demOhr-Kraulen zu einem Bazillenträger werden.“ Sie fuhren durch ein großes und solides eisernes Tor. Der Weg führte in einem Bogen an gepflegten Rasenflächen vorbei zum Wohngebäude, einem alten, langen und niedrigen Hause, das mit Klematis und wildem Wein bewachsen war. „Wie hübsch ist es
hier!“ sagte Astrid. „Ja. Es ist ein schöner Besitz.“ Ehe sie noch läuten konnten, kam eine schlanke Gestalt um die Ecke. Es war Fräulein Harder im Overall und mit hohen Schaftstiefeln. Ihr volles Haar wurde von einem breiten Band zusammengehalten. „Wenn ich nicht irre, sind Sie der Tierarzt“, sagte sie. „Nett, daß Sie gekommen sind!“ Sie tauschten einen Händedruck aus, und Mostvedt stellte vor. „Wir haben ja schon miteinander gesprochen. Ich wußte nur nicht, daß Sie Fräulein Liberg heißen. – Und nun gehen wir wohl am besten gleich zu meinen Untieren?“ Die „Untiere“ hatten ihr Heim in einem Kaninchengehege, das jedem Kaninchenzüchter als Vorbild hätte dienen können. „Wie sind Sie darauf gekommen?“ fragte Mostvedt, indem er auf die Reihe von Außenkäfigen deutete, die mit dem eigentlichen Kaninchenstall durch Luken in Verbindung standen. „Ich habe das in zoologischen Gärten im Ausland gesehen“, antwortete Gerda Harder. „Die Geschichte war verflixt teuer, aber wenn schon, denn schon! Und glauben Sie nur ja nicht, daß die Kaninchen so dumm sind, wie die Leute immer sagen. Mehrere von ihnen haben es schon gelernt, die Luke mit dem Maul zu öffnen, so daß sie nach Belieben von drinnen nach draußen und von draußen nach drinnen wechseln können. Diese Tiere sehen gesund aus. Die verdächtigen Exemplare habe ich dort drüben isoliert.“ Fräulein Harder wirkte energisch, sachlich und intelligent, und Astrid fühlte sich hier überflüssig. Fräulein Harder nahm selbst die Kaninchen aus den Käfigen. Sie hatte flinke und geübte Hände. Sie kannte ihre Tiere und gab kurze Erläuterungen. Der Tierarzt ließ sich Zeit. „Ich glaube, ich kann Sie beruhigen“, sagte er, als er mit seiner Untersuchung fertig war. „Das Allgemeinbefinden ist so gut, daß es der Annahme, es könne sich um Kaninchenpest handeln, widerspricht. Wenn es Pseudotuberkulose ist – und ich glaube, wir dürfen das voraussetzen –, dann haben Sie Ursache, zufrieden zu sein. Mit der werden wir schon fertig. Aber halten Sie diese verdächtigen Tiere zur Sicherheit noch eine Weile isoliert. Und waschen Sie sich sorgfältig die Hände, wenn Sie sie versorgt haben.“ „Das ist selbstverständlich“, sagte Fräulein Harder. „Ich wechsele auch den Overall und koche die Freßnäpfe aus.“ Sie führte ihre Besucher anschließend stolz im Kaninchenstall herum. Jeder Käfig
war mit einem Pappschild versehen, auf dem Alter und Stammbuchnummer des Tieres verzeichnet standen. In einem abgeteilten Raum befanden sich ein Schreibtisch, ein Regal mit Kaninchenliteratur und Waschgelegenheit mit fließendem Wasser. Ein anderer, recht geräumiger Raum diente als Futterkammer. „Das ist doch etwas anderes als drei Kaninchen in einer alten Kiste auf dem Hinterhof“, sagte Astrid. Gerda Harder lachte. „Einer meiner Grundsätze lautet: ,Wenn schon – denn schon!’ Und mein Herr Papa mußte sich fügen, wenn er auch etwas erschrak, als er die Rechnungen sah. Aber ich treibe die Kaninchenzucht ja nicht zu meinem bloßen Vergnügen. In ein bis zwei Jahren müßte ich so weit sein, daß Sie sich ein paar Felle kaufen können, wenn Sie für Chinchillapelze etwas übrig haben. Und das Fleisch läßt sich ja auch leicht verkaufen. Hier ist übrigens meine Schlachterei.“ Die „Schlachterei“ war ein kleiner Schuppen in der Nähe des Stalles. Sie war praktisch eingerichtet und enthielt alles, was zu diesem Zweck benötigt wurde. Vier frische Felle hingen zum Trocknen ausgespannt. „Schlachten Sie selbst?“ fragte Astrid. „Gewiß. Müßte ich mir dazu jemand mieten, so würde die Sache zu verwickelt. Im übrigen halte ich es auch für eine Art Ehrensache, daß man das selbst erledigt. Bisher ist alles glattgegangen. Ehe die Tiere wußten, wie ihnen geschah, waren sie schon tot.“ Der Tierarzt lächelte. „Sagen Sie, Fräulein Harder, das haben Sie wohl in Paris gelernt?“ „In Paris?“ „Ja. Als ich das letztemal hier war, erzählte Ihr Vater, Sie wären in Paris.“ „Ja, das stimmt. Aber wenn Sie glauben… Nein, wissen Sie! Mein neuer Beruf ist eher ein lauter Protest gegen alles, was ich im Ausland zu lernen versuchte. Aber was sollte mein armer Papa tun? Irgendwo mußte er seine mutterlose und eigenwillige achtzehnjährige Tochter ja doch unterbringen! So schickte er sie denn auf eine Internatsschule – erst in Belgien, dann in der Schweiz. Als ich das überstanden hatte, studierte ich Kunstgeschichte in Paris und Gott weiß was in Grenoble – jedenfalls waren es Dinge, für die ich keine rechte Begabung hatte. Schließlich ließ Papa mich nach Hause kommen, weil er meinte, er brauche jemand, der die Pflichten
einer Hausfrau und Wirtin übernehmen könne. Ich habe mir dann eine Kaninchenfarm zugelegt, weil ich etwas haben wollte, das mir ganz allein gehört; und außerdem hält diese Betätigung mich zu Hause fest – was ja eben der Zweck meiner Heimkehr war.“ Sie wandte den Kopf, da sie auf einmal Schritte hörte. „Hallo, Papa!“ „Papa“ sah verblüffend jung aus. Er war groß und breitschultrig. Die Familienähnlichkeit war auffallend. „Nein, Sie sind es? Guten Tag, Herr Mostvedt. Wir haben uns lange nicht gesehen – ich muß wohl sagen: glücklicherweise. Ja, richtig, meine Tochter hat ja ihre eigene Menagerie. Sind die Tiere krank? Aber was sehe ich? Geht der Laden so gut, daß Sie jetzt eine Assistentin haben?“ Mostvedt stellte Astrid vor. „Übrigens ein merkwürdiger Beruf für ein reizendes junges Mädchen…“ „Ja, das kann man wohl sagen“, sagte Mostvedt lächelnd. „Die Sache ist nur die, daß Fräulein Liberg auf dem besten Wege ist, eine so tüchtige Tierärztin zu werden, daß ich von ihr noch etwas lernen kann.“ „Sieh einer an! Haben Sie Tiere gern, kleines Fräulein? Kommen Sie mit mir in den Pferdestall, damit ich Ihr Urteil über meine Tiere höre! Sie können sich dann auch gleich meine Truthühner ansehen ja doch, Jean…“ Die letzten Worte galten einer riesigen dänischen Dogge, die sich gravitätisch näherte. „Welch prächtiger Hund!“ rief Astrid unwillkürlich. Jean beachtete Gerda nicht, auch schien er sich für Mostvedt nicht sonderlich zu interessieren. Ja, nicht einmal für Harder. Er blickte nur auf Astrid und beschnupperte sie. Dann richtete er sich auf den Hinterbeinen auf und legte die Vorderpfoten auf ihre Schultern. „Sie brauchen keine Angst zu haben…“, beeilte Harder sich zu versichern. Da lachte Mostvedt laut heraus. „Sie werden Tiere von ganz anderen Dimensionen auffahren müssen, wenn Sie Fräulein Liberg Angst machen wollen, Herr Harder! Verfügen Sie zufälligerweise über eine Riesenschlange? Dann probieren Sie es! Ich zweifle freilich, daß Fräulein Liberg anders auf sie reagieren wird, als daß sie ihr den Kopf tätschelt und ihr irgendeinen Kosenamen gibt.“ Astrid lachte und wurde rot, während sie Jean den mächtigen Kopf streichelte. Er aber fuhr ihr mit seiner breiten Zunge so
stürmisch über das Gesicht, daß sie husten und niesen mußte. Dann besah sie sich in Harders Begleitung den Pferdestall, den Kuhstall und den Geflügelhof. Jean folgte ihr getreu auf den Fersen. Sie sprach nicht viel, aber sie stellte ein paar Fragen, aus denen Harder ersehen konnte, daß sie sich auf Tiere und Tierpflege verstand; und er antwortete bereitwillig. Das stille und bescheidene junge Mädchen, das ihm so aufmerksam zuhörte, gefiel ihm. Es war etwas Weiches an dem kleinen Fräulein Liberg, etwas so ganz Weibliches, das er bei seiner tüchtigen und robusten Tochter vermißte. Als Harder und Astrid nach beendetem Rundgang in die Walle traten, fanden sie Mostvedt und Gerda vor dem großen Kamin sitzend. „Es ist spät geworden“, sagte Mostvedt. „Wir sollten jetzt wohl…“ „Noch nicht jetzt gleich“, unterbrach ihn Fräulein Harder. „Sie müssen erst mit uns Tee trinken.“ Es wurde recht gemütlich. Astrid war für das schöne, luxuriöse Milieu sehr empfänglich. Das Speisezimmer war hoch und sehr geräumig – wie übrigens alle Zimmer des Hauses. Das großzügige Schalten mit dem Raum, das einem hier überall auffiel, stand in scharfem Gegensatz zu dem Platzmangel moderner Wohnhäuser. Harder war aufgeräumt und liebenswürdig. Er machte einen erstaunlich jugendlichen Eindruck, obwohl er doch nicht mehr weit bis zu den Fünfzig haben konnte. Seine Tochter hatte erwähnt, daß sie zweiundzwanzig Jahre alt sei. Mostvedt und Astrid blieben bis zum Abendessen, und hinterher tranken sie noch alle eine Tasse Kaffee vor dem Kamin. Harder zeigte Astrid Bilder von seinen Jagdpartien, und sie folgte unterdes mit halbem Ohr dem Gespräch, das Mostvedt mit Gerda führte. Gerda erzählte von Paris und von der Schweiz. Mostvedt kannte Paris ebenfalls: sie waren in denselben Theatern, denselben Museen, denselben Cafés gewesen. Plötzlich spürte Astrid in ihrem Innern einen Schmerz. Als sie aufbrachen, fragte Gerda, was sie mit den Kaninchen machen solle. „Nichts“, antwortete Mostvedt. „Pflegen Sie sie wie immer, und beobachten Sie sie genau. Sollte ein Tier anfangen zu kränkeln, dann isolieren Sie es sofort. Ich werde in einer Woche wieder herauskommen. Es wäre betrüblich, wenn Ihre schöne Kaninchenfarm von einer Krankheit heimgesucht werden sollte.“
„Sie müssen wieder mit herauskommen, Fräulein Liberg“, meinte Harder. „Vielleicht assistieren Sie immer bei den Krankenbesuchen?“ „Nein“, sagte Astrid. „Das ist heute eine Ausnahme.“ „Sollte man es glauben?“ antwortete Harder und schüttelte den Kopf. „Sie verstehen es aber schlecht, Ihre Chancen wahrzunehmen, Herr Mostvedt! Wenn man eine so reizende Assistentin hat, dann sollte man dafür sorgen, daß man stets ihrer Hilfe bedarf.“ Er lachte gutmütig. „Es war nett, Sie kennenzulernen, Fräulein Liberg. – Kommen Sie recht bald wieder… Sie auch, Herr Mostvedt…“ Es war schon fast dunkel, als sie sich auf den Heimweg machten. Sie mußten die Scheinwerfer einschalten. „Was meinen Sie?“ sagte Mostvedt nach einer Weile. „Hätten Sie wohl Lust, öfter einmal mitzukommen, wenn ich meine Krankenbesuche mache? Es war für mich äußerst angenehm, daß Sie bei den Silberfüchsen halfen. Ich habe schon manches Mal gewünscht, ich hätte jemand, der mir assistierte. Selbstverständlich würde ich Ihr Gehalt erhöhen…“ „Aber nein“, erwiderte Astrid. „Eine Gehaltserhöhung verlange ich nicht. Es macht mir doch ein riesiges Vergnügen, Sie bei Ihren Krankenbesuchen zu begleiten!“ „Fein!“ sagte Mostvedt. Und dann schwieg er wieder eine Weile, da er seine ganze Aufmerksamkeit auf den Weg richten mußte. Plötzlich aber lachte er laut auf. „Es ist schrecklich, kleines Fräulein Liberg. Sie bringen mich ja so weit, daß ich schließlich gar nicht mehr ohne Sie auskommen kann!“ Astrid schloß die Augen. Sie saß ganz still. Sie mußte seinen Worten Zeit lassen, sie zu durchdringen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie etwas sagte. „Ich kann das nicht recht verstehen. – Wenn ich eine Dame wie Fräulein Harder sehe, dann komme ich mir so… so dumm vor… und so schwach… und… ich könnte nie ein Kaninchen schlachten…“ Mostvedt lachte. „Nein – Gott sei Dank nicht! – hätte ich beinahe gesagt. Sie können doch genug andere Dinge! Ja, Fräulein Harder ist tüchtig, das ist sicher, und geradezu und vernünftig…“ „Und… schön“, fiel Astrid ein. „Schön? - Ja, auch schön… aber doch… Eine Frau sollte doch auch etwas… ja… etwas Frau sein!“
Wieder langes Schweigen. „Ich freue mich auf das nächste Mal“, sagte Astrid. „Das heißt natürlich, wenn Sie mich wieder mithaben wollen…“ „Mithaben wollen?“ wiederholte Mostvedt. „Wissen Sie, was Ihr größter Fehler ist, Fräulein Liberg? Sie sind so bescheiden, daß man wahrhaftig Lust bekommen könnte, Sie hin und wieder einmal tüchtig zu schütteln. Schaffen Sie sich nur eine ganze Kleinigkeit Selbstvertrauen an! Denn das können Sie gut gebrauchen. Und Sie haben wirklich Grund genug, es zu hegen!“ „Ich? Selbstvertrauen? Ich, die ich…“ „Ja, Sie, die Sie… Füllen Sie ihren Platz nicht auf eine schlechthin vollkommene Weise aus?“ Sie hatten die Stadt mit ihren hell beleuchteten Straßen erreicht. In wenigen Minuten würden sie zu Hause sein. „Es war ein wunderschöner Nachmittag und Abend“, sagte Astrid leise. „Ja, nicht wahr? Das finde ich auch. – Und nun wären wir angelangt.“ Astrid reichte ihm die Hand. „Herzlichen Dank für den heutigen Tag!“ „Nicht Sie – ich habe zu danken!“ Er drückte ihr die Hand. Dann ließ er auch mit der linken Hand das Lenkrad los und strich ihr leicht über die Wange. „Sie sind ein famoses Mädchen, Fräulein Astrid. Gute Nacht!“ „Gute Nacht…“ Astrid flüsterte den Gutenachtgruß so leise, daß Mostvedt ihn kaum hörte. Um seinen Mund zog ein schwaches Lächeln, als er den Wagen wieder startete und nach Hause fuhr.
Wenn schon – denn schon Es war ein klarer, kühler Herbstnachmittag, als sie wieder zu Harder fuhren. Astrid trug ein neues Kostüm und kam sich sehr elegant vor. Die Mutter war wirklich lieb. Eigentlich hatte Astrid sich jetzt, wo sie selbst genügend verdiente, für ihr eigenes Geld ein Kostüm kaufen wollen. Aber vor ein paar Tagen – noch bevor sie erzählt hatte, daß sie wieder mit zu Harders fahren sollte – hatte Frau Liberg gesagt: „Weißt du, Astrid, wir haben gerade ein paar ganz besonders hübsche Herbstkostüme hereinbekommen. Komm doch morgen ins Geschäft. Es könnte gut sein, daß ich dir ein neues Kostüm schenke.“ Noch nie hatte Astrid auf das Aussuchen eines neuen Kleidungsstückes so viel Mühe verwandt. Schließlich entschied sie sich für ein erikafarbenes Kostüm mit weichen, typisch weiblichen Linien. Alle strengen und betont sachlichen Modelle lehnte sie auf der Stelle ab. Das heidekrautfarbene Kostüm, mit einem kleinen weichen Filzhut und einer Lederblume im Jackenaufschlag, gefiel ihr am besten. Sie schloß die Mutter in ihre Arme und drückte sie einen Augenblick fest an sich. Dann verließ sie glückstrahlend das Geschäft mit der großen Pappschachtel unter dem Arm. Sie wußte nicht, daß die Mutter ihr mit blanken Augen nachschaute. Die kleine Astrid! Theater spielen hatte sie nie gekonnt. Ihre Jugend und Unerfahrenheit und ihre unbedingte Gutgläubigkeit und Vertrauensseligkeit hatten sich aber noch nie so deutlich offenbart wie jetzt. Frau Liberg lächelte. Astrid hatte von Gerda Harder erzählt und sie himmelhoch gepriesen. Fräulein Harder war so wunderschön und so tüchtig und so schneidig in dem schicken Overall, und Fräulein Harder konnte alles, und Fräulein Harder wußte alles. „Ja, ja“, dachte Frau Liberg. „So überschwenglich lobt ein junges Mädchen nur die Frau, auf die sie maßlos eifersüchtig ist.“ Frau Liberg war eine verständige und aufgeweckte Dame. Eine gute Psychologin war sie auch. Man wird zu einer Psychologin, wenn man fast ein Menschenalter lang Kleider an Frauen verkauft hat: an junge und alte, frohe und betrübte, verliebte und glückliche und enttäuschte Frauen. Frau Liberg konnte es einer Kundin fast auf den ersten Blick ansehen, ob sie ein Kleid haben wollte, um den Geliebten zu betören, den Verlorenen oder Unbeständigen
zurückzugewinnen, ihr eigenes Selbstvertrauen zu kräftigen oder sich in einer Periode der Niedergeschlagenheit zu trösten. Und Frau Liberg wußte auf der Stelle, weshalb Astrid das jugendlichste und weiblichste und reizendste Kostüm wählte, das sie finden konnte, während sie alles Grelle und Aufdringliche ablehnte. Frau Liberg war glücklich. Per Mostvedt war ein tüchtiger und liebenswürdiger Mann in einer guten Stellung. Sein Ansehen in der Stadt festigte sich immer mehr. Sie würde sicher nichts dagegen einzuwenden haben, wenn aus der Sache zwischen ihm und Astrid etwas werden sollte. Und nun diese Eifersucht auf Fräulein Harder. Du lieber Gott! Mostvedt war doch nur in seiner Eigenschaft als Tierarzt draußen auf dem Gut gewesen. Die kleine Astrid hatte sicherlich keinen Grund zur Besorgnis. Der steinreiche Gutsherr aus der alten, vornehmen Familie hatte ohne Zweifel mit seiner Tochter etwas anderes im Sinn, als sie an einen gewöhnlichen Tierarzt aus einer völlig uninteressanten und unbedeutenden Familie zu verheiraten. Ja, Frau Liberg war glücklich. Sie hatte sich aufrichtige Sorgen um ihre Tochter gemacht. Um so mehr erfreute es ihr Herz, ihr Kind jetzt so fröhlich, so für ihre Arbeit interessiert und - bis über die Ohren verliebt zu sehen. Mostvedt bemerkte das neue Kostüm. Er gratulierte Astrid. „Es steht Ihnen fabelhaft“, sagte er. „Ich muß schon sagen: Sie haben einen guten Geschmack.“ Astrid errötete und war selig. In der vergangenen Woche hatte sie den Tierarzt dreimal auf seinen Krankenbesuchen begleitet. Einmal zu einem Pferd, das sich das Bein an einem Stacheldrahtzaun aufgerissen hatte. Einmal zu einem Hund, der sich die Hüftknochen ausgerenkt hatte. Und einmal zu einer sehr wertvollen Angorakatze, die Junge werfen sollte und tierärztlicher Hilfe bedurfte. „Es ist sehr viel angenehmer, wenn der Besitzer eines Tieres bei der Behandlung nicht zugegen sein braucht“, erklärte Mostvedt. „Läßt es sich nicht vermeiden, daß dem Tier Schmerzen zugefügt werden müssen, dann ist es immer besser, es geschieht ihm von Fremden, damit es nicht das Vertrauen zu seinem Herrn verliert. Außerdem sind die Besitzer oft nervös und unglücklich und schaden mehr, als sie nützen.“ Astrid arbeitete gern mit Mostvedt zusammen. Nichts wurde ekelhaft, nichts unästhetisch. Dies war Berufsarbeit, und sehr
interessante Berufsarbeit obendrein. Die tiefe Befriedigung die Astrid jedesmal fühlte, wenn sie mit einer Arbeit fertig waren, die gut durchgeführt und erfolgreich gewesen war schenkte ihr eine Freude, wie sie sie nie zuvor in ihrem Leben gekannt hatte. Und nun saß sie wieder im Wagen und begleitete Mostvedt, der Fräulein Harders Kaninchenfarm einen zweiten Besuch abstatten wollte. „Eigentlich brauchen Sie mich heute doch gar nicht“, sagte Astrid. „Fräulein Harder ist ja so geschickt.“ Per Mostvedt lachte. „Das mag wohl stimmen“, sagte er. „Aber Sie wissen doch, daß der Gutsherr selbst Sie eingeladen hat. Das allein ist doch wohl ein ausreichender Grund für Sie, mich zu begleiten. Außerdem aber ist es auch für mich sehr angenehm, Gesellschaft zu haben. Das können Sie doch sicher verstehen.“ Astrid war froh, daß er sein ganzes Augenmerk auf das Fahren richten mußte, denn so konnte er nicht sehen, wie ihr das Blut in die Wangen schoß. Das erste, was sie von Gerda Harder sahen, war ein Paar lange Beine, das unter einem kleinen Sportwagen hervorschaute. Sie lag auf dem Rücken. Der Kopf und der Oberkörper waren unter dem Auto verborgen. Sie wand sich heraus und kam mit einem beschmierten Gesicht und dreckigen Händen zum Vorschein. „Ich kann Ihnen im Augenblick leider nicht die Hand geben“, lachte sie. „Gehen Sie nur schon voraus. Ich komme sofort.“ Die dänische Dogge kam herbei – nicht mit gravitätischen Schritten wie das erste Mal, sondern mit gewaltigen Sätzen. Sie steuerte zielbewußt auf Astrid los und zeigte ihre Freude, so gut sie es nur vermochte. Astrid streichelte und tätschelte sie und kraulte sie am Halse. „Sie machen ein so bedenkliches Gesicht“, sagte Mostvedt. „Ja“, gab Astrid zu. Sie suchte nach Worten, stotterte etwas, und dann kam es: „Es ist… alles ist so… so wunderbar in Ordnung… und die Tiere sind in so guter Form und werden so gut gepflegt – sehen Sie sich Jean an! Man kann es ihm doch anmerken, daß er ordentlich gefüttert und daß auch sonst in jeder Weise für ihn gesorgt wird. Und er ist ruhig und vertrauensvoll; aber es ist alles gleichsam… gleichsam gar zu praktisch eingerichtet und zu vernünftig. Ich habe das Gefühl, daß
Jean sich gern mit weniger gutem Futter begnügen würde, wenn man ihn nur hin und wieder etwas streicheln wollte.“ „Hm!“ sagte Mostvedt. Er blickte auf den Hund, der seinen schweren Kopf in Astrids Schoß legte und sie bewundernd anstarrte. „Vielleicht haben Sie nicht ganz unrecht“, sagte er. Es entstand eine Pause. Mostvedt dachte an das tüchtige junge Mädchen, das Kaninchen schlachten, ein Auto reparieren und augenscheinlich einen großen Haushalt führen konnte. Er konnte sie sich nicht gut in der Rolle Astrids vorstellen, die in diesem Augenblick nichts weiter tat, als daß sie still dasaß, einen Hund streichelte und mit ihm plauderte. „Die Tiere haben es gern, daß man mit ihnen spricht“, sagte Astrid. Es klang, als bäte sie um Entschuldigung, weil sie die Herrin des Hauses kritisiert hatte. Dann kam Gerda mit frisch gewaschenem Gesicht und sauberen Händen. Jean reagierte überhaupt nicht, als er sie sah. Er wich nicht von Astrids Seite. Und sie hatte Muße genug, sich mit ihm zu beschäftigen, da man ihrer Hilfe bei der Untersuchung der Kaninchen nicht bedurfte. „Freuen Sie sich“, sagte Mostvedt, als er die Kaninchen untersucht hatte. „Von der Kaninchenpest wurden Sie verschont. Ich hätte beinahe gesagt: Wie hätte sie auch wohl eingeschleppt werden können, wo es hier doch gar keine Ansteckungsmöglichkeiten gibt?“ „Ich habe nie ein fremdes Kaninchen hier“, sagte Gerda. „Und feuchtes Futter oder andere Unregelmäßigkeiten können hier unmöglich vorkommen. Sehen Sie sich diesen Wurf einmal an! Es sind die prächtigsten Jungen, die ich je gehabt habe. Wenn das nicht ganz erstklassige Felle gibt, dann weiß ich wirklich nicht.“ Gerda blickte mit sachlich abschätzenden Augen auf die kleinen Tiere. Astrid aber dachte im stillen, es müsse doch eigentlich viel schöner sein, Tiere zu halten, die nicht erst dem Augenblick ihren Wert erhielten, da sie tot waren. „Nun?“ sagte Gerda zu ihr. „Finden Sie nicht auch, daß ich mir einen schönen Beruf ausgesucht habe? Die Pelzfarm soll nämlich mein Beruf werden, verstehen Sie?“ „Es muß sehr interessant sein“, sagte Astrid. Aber dann fuhr sie fort: „Ich könnte mir ganz gut denken, daß ich selbst eine Kaninchenfarm anlegte. Nur müßten es Angorakaninchen sein.“ „Warum denn das?“ „Weil sie nur geschoren werden. Man braucht sie nicht zu
schlachten, um Nutzen aus ihnen zu ziehen.“ Gerda lachte. „Sie sind aber eine sentimentale kleine Person!“ sagte sie. „Wie können Sie nur ein so weichherziges Mädchen bei Ihrer Arbeit gebrauchen?“ wandte sie sich an den Tierarzt. Sie sagte das nicht auf eine boshafte Art. Es klang eher wie gutmütiger Spott. Und doch tat es Astrid irgendwie weh. „Fräulein Liberg besitzt zuviel Vernunft, als daß zu befürchten wäre, ihre Sentimentalität könne die Oberhand gewinnen“, sagte Mostvedt. „Ich glaube, Jean ist in Sie verliebt, Fräulein Liberg“, begann Gerda aufs neue. „Er weicht ja nicht von Ihrer Seite.“ „Ja, wir sind recht gute Freunde geworden“, antwortete Astrid. „Er hat es gern, wenn man mit ihm spricht.“ „Nun, und darin besitzen Sie sicherlich Übung“, sagte Gerda. „Aber ich denke, da wir hier fertig sind, könnten wir wohl gehen. Der Kaffee wartet.“ Der Gutsherr wartete auch schon. Es wurde eine gemütliche Kaffeestunde vor dem Kamin. Gerda war eine ausgezeichnete Wirtin, und sie verstand es, eine nette Plauderei in Gang zu halten. „Es ist nur gut, daß du nach Hause gekommen bist und deinem alten Vater das Haus führst“, sagte Harder lächelnd, und die anderen lächelten auch. Denn „alt“ war wohl das letzte Wort, das auf des Gutsherrn schlanke, geschmeidige Erscheinung mit dem dichten dunkelbraunen Haar, das sich an den Schläfen ein ganz klein wenig grau zu färben begann, gepaßt hätte. „Sie müssen sich hier doch auf die Dauer etwas einsam gefühlt haben“, meinte Mostvedt. „O ja. Aber darüber kann ich wirklich nicht mehr klagen, seit das Mädel nach Hause gekommen ist. Übrigens haben wir am kommenden Samstag eine größere Gesellschaft. Es ist die erste Gesellschaft, seitdem Gerda eine junge Dame geworden ist…“ „Papa hat auf dieser Gesellschaft bestanden“, unterbrach ihn Gerda. „Ich soll nämlich als erwachsene und würdige Hausfrau, in Freiheit dressiert, vorgeführt werden. Die Freunde meines Herrn Papa haben mich nur als einen etwas aufgeschlossenen und sehr schlecht erzogenen Backfisch in Erinnerung. Und nun will Papa ihnen also den Beweis vor Augen führen, daß aus mir doch noch etwas ganz Annehmbares geworden ist. Mir graut schon heute. Es wird sicherlich ein schrecklicher Abend.“
„Wenn dir vor meinen alten Freunden so graut, dann bitte doch Fräulein Liberg und Herrn Mostvedt, ebenfalls zu kommen, gleichsam als Vertreter der fröhlichen Jugend.“ „Eine glänzende Idee!“ rief Gerda. „Ich Schaf! Daß ich nicht schon längst daran gedacht habe! Keine Widerrede! Natürlich kommen Sie! Also am nächsten Samstag Punkt acht Uhr. Vergessen Sie nicht, ein reines Taschentuch einzustecken und die Fingernägel gründlich zu säubern!“ „Aber Gerda!“ unterbrach sie Harder stirnrunzelnd. „Laß nur, Papa!“ fuhr Gerda unbekümmert fort. „Ich bin nun einmal so. Habe ich Sie etwa beleidigt?“ wandte sie sich an ihre Gäste. „Nicht die Spur!“ lachte Mostvedt. „Ich finde, Sie sind eine erfrischend natürliche junge Dame. Wie sollte man da beleidigt sein?“ „Als ich klein war, hieß es ungezogen“, lächelte Gerda. „Aber jetzt, da ich erwachsen und nicht häßlich geworden bin und als reiche Erbin gelte, jetzt hat man entdeckt, daß die Ungezogenheit frischer und natürlicher Charme ist. Übrigens kannst du ganz unbesorgt sein, Papa. Ich werde mich am Samstag musterhaft benehmen. Und wenn es mir zu dumm wird, dann gehe ich zu Herrn Mostvedt und Fräulein Liberg und flüstere ihnen ,zum Teufel’ ins Ohr.“ „Ist es denn wirklich Ihr Ernst, daß Fräulein Liberg und ich am Samstag kommen sollen?“ fragte Mostvedt. „Selbstverständlich“, erwiderte Gerda. „Was dachten Sie? Wenn mir Menschen gefallen, dann mache ich kein Hehl daraus. Sie sind doch hoffentlich ein guter Tänzer?“ „Gut dürfte zuviel gesagt sein“, erwiderte Mostvedt lächelnd. „Es kommt darauf an, wie hoch Ihre Anforderungen sind.“ „Wir werden es gleich einmal feststellen“, rief Gerda. Und ohne eine Antwort abzuwarten, lief sie ans Radio und schaltete es ein. Als hätte der Apparat ihren Wunsch erraten, ertönte ein schmachtender Tango. Gerda streckte ihre Hände nach Mostvedt aus, und Harder legte, ihrem Beispiel folgend, den Arm um Astrid. „Es ist nur gut, daß wir hier keinen Platzmangel haben“, sagte Gerda. „Aber mir graut doch ein wenig vor all den Pflichttänzen mit deinen alten, dicken Freunden, Papa. Ich rechne stark damit, daß Herr Mostvedt sich recht oft meiner erbarmt.“ Harder senkte den Blick auf Astrids dunkelblonden Kopf. „Sie
sind über meine ungezogene Tochter sehr erschrocken, Fräulein Liberg?“ Sie blickte zu ihm auf und lächelte. „Aber nein. Ich finde es sehr lustig, daß es Menschen gibt, die so sein können… ich meine: so…“ Sie fand nicht den richtigen Ausdruck. „Hemmungslos, meinen Sie?“ „Ja…“ „Sie selbst sind wohl eher etwas… schüchtern?“ „Manchmal ja…“ „Kommen Sie! Wir wollen uns hinsetzen.“ Harder führte sie zu einem Sessel vor dem Kamin. Er selber ließ sich auf einem Polster zu ihren Füßen nieder. „Hören Sie auf einen alten Mann, der einige Lebenserfahrungen besitzt, Fräulein Liberg. Sie dürfen keine Minderwertigkeitsgefühle aufkommen lassen. Dazu haben Sie keinerlei Veranlassung. Ich kann es verstehen, daß ein junges Mädchen von Gerdas Kraftnatur eingeschüchtert wird und sich in ihrer Gegenwart klein vorkommt. Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß Sie ebenfalls Ihre Vorzüge haben, und, wer weiß, vielleicht erweisen diese sich auf die Dauer als beständiger denn die meiner etwas robusten Tochter.“ Er beugte sich nieder und legte einen neuen Holzklotz auf das Feuer. „Ich… ich komme mir so dumm vor“, sagte Astrid. „Fräulein Gerda kann alles, und ich… ich kann nichts.“ Harder wandte den Kopf nach ihr herum und lächelte, bevor er erwiderte: „Sie kleines Dummchen! Wenn Sie nichts könnten, dann würde Mostvedt Sie bestimmt nicht gebrauchen können. Außerdem sollten Sie sich eins merken: Es kommt überhaupt nicht so sehr darauf an, daß man etwas kann, als vielmehr darauf, daß man etwas ist!“ „Aber ich bin ja nichts.“ „Sie sind eine ganz kleine Flasche Nervenmedizin“, sagte Harder. „Woher, glauben Sie, kommt es wohl, daß unser unnahbarer Jean Sie liebt? Von Ihnen geht etwas Ruhiges, Gütiges aus. Deshalb können die Tiere Sie leiden – und die Menschen übrigens auch, sofern sie nur ein ganz klein wenig Verstand haben.“ Astrid schwieg. Harder brauchte ziemlich viel Zeit, bis er den Holzklotz endlich in die richtige Lage gebracht hatte. Dann setzte er sich auf einen Stuhl und wischte die Hände an seinem Taschentuch
ab. „Vielleicht“, sagte er langsam, „vielleicht muß man ein gewisses Alter erreicht und gewisse Erfahrungen gemacht haben, um richtig verstehen zu können…“ „Um was verstehen zu können?“ fragte Astrid. Harder blickte sie an und lächelte. „Jean“, antwortete er. „Wie ist das?“ fragte Mostvedt, als sie aufbrachen. „Was zieht man am Samstag an?“ „Gala natürlich“, lachte Gerda. „Frack mit weißer Weste und so weiter. Wer welchen hat, legt seinen Christbaumschmuck an. Wenn schon – denn schon!“
Eine Symphonie in Blau „Bist du nicht ein Glückspilz, Astrid?“ sagte Frau Liberg. Harder und die Kaninchen und das Auto und Jean und die Gesellschaft am Samstag – alles hatte Astrid kunterbunt kurzatmig berichtet. Die Mutter betrachtete lächelnd ihr kleines Mädchen. „Und Gala am nächsten Samstag?“ fuhr Frau Liberg fort. „Also ein neues Kleid!“ „Ja, das muß ich haben“, sagte Astrid. „Aber diesmal bezahle ich es selbst.“ Sie ging nach Geschäftsschluß in den Modesalon, und die Mutter geizte nicht mit ihrer Zeit. Astrid starrte lange auf ein Wunderwerk aus smaragdgrünem Moiré mit eingewebten Goldfäden. „Nein, mein Kind“, sagte Frau Liberg. „Das ist nichts für deinen Typ. Sieh selbst!“ Sie schob ihre Tochter vor den Spiegel. „Nun nimm an, was du da im Spiegel siehst, wärest nicht du, sondern es wäre ein fremdes Mädchen, das ein Abendkleid haben möchte. Studiere ihren Typ. Was, meinst du, paßt für das junge Mädchen dort?“ Astrid war durchaus nicht umsonst die Tochter ihrer Mutter. Sie hatte einen guten Geschmack, wenn sie ihn zu Worte kommen ließ. „Etwas Einfaches und Helles“, sagte sie. „Richtig. Und ein leichter Stoff. Mit anderen Worten: nichts enges. Etwas jugendlich Schäumendes. Nun wollen wir sehen.“ Schließlich wurden sie sich einig. Das Kleid war aus Taft, hellblau, fast Wasserfarben, mit entzückenden kleinen Ärmeln, herzförmigem Ausschnitt, sehr weitem Rock. „Warte noch!“ sagte Frau Liberg. Mit geübten Händen und sicherem Blick befestigte sie einen kleinen Mandelblütenzweig auf der Schulter. Dann trat sie etwas zurück und betrachtete ihr Werk. „Silberschuhe mit niedrigen Absätzen“, sagte sie. „Silberne Tasche. Kein Schmuck. Kein Pelzwerk.“ Astrid lachte. „Das kommt bei mir ohnehin nicht in Frage.“ „Du hättest ja meinen Umhang leihen können und… halt… den Aquamarin. Den Aquamarin genau im Ausschnitt. Aber sonst nichts.“
Astrid hatte Herzklopfen. Ihre Augen waren blank. Ihre Wangen hatten Farbe bekommen. Per Mostvedt machte die Entdeckung, daß seine Assistentin nicht nur tüchtig und lieb war, sondern auch hübsch. Und wieder beglückwünschte er sich selbst, daß er einen so guten Griff getan hatte. Auch er freute sich auf den Samstag. Es war wahrhaftig keine Kleinigkeit, zu Gutsbesitzer Harder eingeladen zu werden. Daß er einen solchen Bekanntenkreis bekommen würde, hatte er denn doch nicht gedacht. Ohne daß es ihm richtig bewußt war, fühlte er ein gewisses Wohlbehagen bei dem Gedanken, als ein gerngesehener Gast in Harders eleganten Räumen zu weilen und mit der schönen Gerda Harder befreundet zu sein. So weit dachte Astrid nicht. Sie wußte nur, daß sie in Gesellschaft gehen sollte und besser aussehen würde als je in ihrem Leben; und sie fragte nicht die Spur nach den feinen Gästen, dem guten Essen und all dem andern, sie wußte nur, daß sie mit Per Mostvedt tanzen würde. Und sie würde auf der Hinfahrt mit ihm die freudige Erwartung teilen, und auch auf der Rückfahrt von der Gesellschaft würde sie den ganzen weiten Weg bis zur Stadt an seiner Seite sitzen. Sie würden als gute Kameraden, als zwei Menschen, die einander kannten und verstanden, von allem, was sie gemeinsam erlebt hatten, angeregt miteinander plaudern, und vielleicht würde er sagen, wie gut sie ausgesehen habe, und vielleicht… vielleicht würde er… Und so kam der Tag heran. Astrid sah wirklich gut aus, als sie in das Zimmer trat, in dem Per Mostvedt auf sie wartete. Das Haar umrahmte das Gesicht in weichen Wellen. Und das blaue Kleid saß fehlerfrei und ließ ihre schlanke Gestalt voll zur Geltung kommen. „Du hast den Aquamarin vergessen!“ sagte Frau Liberg. Sie legte ihrer Tochter die dünne Kette mit dem klaren blaßblauen Stein um den Hals. „Sie sehen aus, als wären Sie ganz und gar Aquamarin“, sagte Mostvedt lächelnd. „Wie wohltuend ist diese kühle Farbe! Sie sind… eine Symphonie in Blau!“ In Frau Libergs Mundwinkeln zitterte ein kleines Lächeln. Im Innern aber war Astrid alles andere als kühl. Das Herz klopfte ihr wild in der Brust. Ihr war, als müsse sie vor Glück tot umsinken. Auf der Hinfahrt zu Harders plauderten sie gemütlich miteinander, und viele hübsche und schmeichelhafte Worte fanden
den Weg zu Astrids kleinem, ungefestigtem und unerfahrenem Herzen. „Angelangt!“ sagte Mostvedt, indem er den Wagen zum Stehen brachte. Er blickte Astrid lächelnd an. „Viel Vergnügen in dem höheren Gesellschaftsleben!“ sagte er. Und plötzlich legte er den Arm um ihren Hals. „Großer Himmel! Wie süß du doch aussiehst, Astrid!“ Und unversehens gab er ihr einen Kuß. Es war ein schneller und leichter Kuß. Aber es war Astrids erster. Die prickelnde, leichte Nervosität, die Astrid gespürt hatte, war verschwunden. Die Gesellschaft war nicht länger ein Ziel und eine Begebenheit an sich. Sie war nur noch der Rahmen um ihr und Pers Glück. Und das Glücksgefühl, das sie so ganz erfüllte, verlieh ihr Ruhe und Sicherheit, gab ihr Haltung, erhöhte den Glanz ihrer Augen. In dem Gastzimmer, in dem die Damen ablegten, warf Astrid einen Blick in den Spiegel. Sie erhob die Arme, um das Haar zu glätten, gab es aber auf. Es war gut, wie es war. Und sie betrachtete sich selbst, etwas fragend, verwundert. Das Bild, das sie erblickte, war ganz anders als jenes, das ihr der Spiegel daheim vor einer Stunde gezeigt hatte. Zum ersten Male in ihrem Leben entdeckte Astrid, daß sie schön war. Ein stolzes Glücksgefühl erfüllte sie, und sie ging leicht und mit erhobenem Kopf die Treppe nach der Halle hinunter, wo sie Per zu finden hoffte. Zusammen würden sie jede Einzelheit genießen, und sie würden um eine gemeinsame schöne Erinnerung reicher werden. Aber nicht Per stand am Fuße der Treppe, sondern Gutsbesitzer Harder. Sein Gesicht hellte sich auf, als er sie sah. „Herzlich willkommen, Fräulein Liberg! Ich freue mich, Sie bei uns zu sehen. – Darf ich vorstellen? Herr Ingenieur Heier. Rolf, dies ist Fräulein Liberg, deine Tischdame. Haben wir nicht gut für dich gesorgt?“ Ingenieur Rolf Heier war ein flotter, gut aussehender junger Mann Anfang Zwanzig. Er blickte mit unverhohlener Bewunderung auf die schlanke, schöne Gestalt in Blau mit den glänzenden Augen und dem zarten Rot auf den Wangen. Astrid fühlte sich schmerzlich enttäuscht. Sie war keinen Augenblick auf den Gedanken gekommen, sie könne jemand anders zum Tischherrn haben als Per. Aber sie bemühte sich, der Enttäuschung Herr zu werden. Natürlich mußte man die Gäste nach
Möglichkeit mischen. Sollten sie und Per nicht die Jugend und die gute Laune beisteuern, damit die Gesellschaft nicht zu steif und vielleicht gar langweilig würde? Sie wollte das Ihre dazu tun! Und Astrid lächelte ihr strahlendstes Lächeln. Ihr neues Glück verlieh ihr Sicherheit, und so brachte sie es denn fertig, ein paar lustige Bemerkungen zu Rolf Heier zu machen. Diese Fröhlichkeit stand ihr gut. Es fiel Harder schwer, die Augen von ihr abzuwenden. Die Flügeltüren zwischen den drei tiefen Zimmern standen offen. Glühbirnen und Wachskerzen in einer raffinierten Mischung schufen eine eigenartige Feststimmung. Nie hatten die schönen Möbel und Kunstgegenstände sich so gut ausgenommen wie an diesem Abend. Und nie zuvor hatte Harders Heim seine Solidität, seine Platzvergeudung, sein verfeinertes Gepräge so deutlich offenbart. Mitten in dem großen Salon stand Gerda. „Ist es möglich?“ murmelte Rolf Heier. „Mich trifft der Schlag!“ Der junge Heier hatte wohl Ursache zu starren. Seine Augen klebten förmlich an der schlanken Gestalt unter dem Kronleuchter. Von der jungenhaften, unbekümmerten, im Overall herumlaufenden Gerda war nichts übriggeblieben. Die Gestalt dort unter dem Kristallüster, die auf eine vollendete Weise jeden einzelnen Gast begrüßte, war ganz Frau. Und was für eine Frau! Ihre hohe, schlanke Figur war in enganliegendem saphirblauem Samt gekleidet. Es war eine leuchtende, beinahe aufdringliche Farbe, die alle Farben ihrer Umgebung aufsog. Das Kleid war tief ausgeschnitten. Die festen, wundervollen Schultern und der gerade Rücken und Hals hatten einen schwachen mattgoldenen Schimmer. Erst jetzt entdeckte Astrid, wie schön Gerdas Haar war. Bisher hatte sie stets ein Tuch oder ein breites Band um den Kopf getragen. Jetzt aber waren ihre hellblonden Locken in einer raffinierten Frisur hoch aufgesetzt. In ihren kleinen rosaroten Ohrläppchen glitzerten zwei riesige Diamanten, und auf dem blauen Samt funkelte ein blendender Diamantschmuck um die Wette mit dem schweren Armband, das ihr linkes Handgelenk umschloß. Ein federleichter Hermelinumhang war nachlässig über einen Stuhl hinter ihr geworfen. „Es ist das erste Mal, daß sie die Diamanten ihrer Mutter trägt“, hörte Astrid eine Stimme hinter ihrem Rücken. „Aber man muß schon sagen: Sie weiß sie zu tragen.“ Ja, Gerda trug ihr wundervolles Kleid und ihren Schmuck genauso natürlich und selbstverständlich,
wie sie den Overall und das rote Kopftuch getragen hatte. Sie begrüßte die Gäste der Reihe nach und fand für jeden von ihnen die richtigen Worte. Als Astrid vor der strahlenden Erscheinung stand, kam sie sich plötzlich ganz klein und blaß und farblos vor. Die neugewonnene Sicherheit verließ sie. Sie war ein kleines Mädchen in einem bescheidenen Kleide, ein kleines Mädchen, dem man erlaubt hatte, an einer Gesellschaft von Erwachsenen teilzunehmen… Vorstellung, liebenswürdige Redensarten, routinierte Konversation. Sichere, erfahrene Menschen, die wußten, was man sagen mußte, um das Eis zu brechen, freundliche Augen von Herren in den mittleren Jahren, mütterlich beschützender Tonfall reifer Frauen gegenüber dem kleinen, etwas unbeholfenen jungen Mädchen. Eine Versammlung gebildeter, taktvoller und kultivierter Menschen – eine auserlesene Gesellschaft der Oberschicht der kleinen Stadt. Da erblickte Astrid Per Mostvedt. Er stand mit einem älteren Schiffsmakler und dem neuen Chefarzt des Krankenhauses zusammen am Kamin. Er sah Astrid nicht, aber sie sah sein Gesicht. Es zeigte einen lebhaft interessierten – einen etwas zu interessierten, zu artig lauschenden Ausdruck. Abgerissene Worte der Unterhaltung drangen an Astrids Ohren. Aktienkurse, Frachten, Schiffsreeder Tommessens neuer Zehntausendtonner. Dinge, die Per unmöglich interessieren konnten. Dinge, die meilenweit von seinem Beruf und von seinen Liebhabereien – Skilaufen und Badminton – entfernt waren. Astrid überkam ein Gefühl des Unbehagens, ein Gefühl, das sie selbst nicht begründen und erst recht nicht in Gedanken übertragen konnte. Nicht ihre Intelligenz, sondern ihre Intuition sagte ihr, Per mache jetzt die ersten mühsamen und nicht ganz geglückten Schritte auf dem Wege zur obersten Gesellschaftsklasse. Und Astrids Herzensbildung wie auch ein ihr nicht bewußtes Gefühl für das Schickliche bewahrten sie davor, ihn nachzuahmen. Sie blieb, was sie war: ein anspruchsloses junges Mädchen in einem einfachen und anspruchslosen Kleid und mit einem einfachen und ungekünstelten Wesen. War sie nicht gut genug, wie sie war – nun, dann verzichtete sie lieber auf die große Ehre, mit Gutsbesitzern und Schiffsreedern verkehren zu dürfen. Aber Astrid war gut genug.
Rolf Heier war mit seiner allerliebsten Tischdame mehr als zufrieden, und die Blicke des Gutsherrn selbst richteten sich häufiger und häufiger auf die kleine, hellblau gekleidete Gestalt. Auf der anderen Seite des Tisches saß Per und unterhielt sich lebhaft und eine Kleinigkeit zu laut mit Frau Großhändler Grehner über Picassos Kunst. Astrid fing vereinzelte Worte auf und warf einen verwunderten Blick auf Per. Hatte er nicht neulich erst gesagt, er verstände nicht das geringste von moderner Malerei? Astrid wußte selbst nicht, warum, aber ihr eigenes Wesen wurde nun nur noch ruhiger, noch gedämpfter und so unendlich einfach. Sie ahnte nicht, daß in der Tiefe ihres Unterbewußtseins ein unerklärlicher Drang dawar, eine Art Gegengewicht zu bilden, damit Harders Freunde dennoch von ihnen – dem Tierarzt und seiner Assistentin – einen einigermaßen günstigen Eindruck bekämen. Rolf Heier und Astrid tanzten. Und dann kam Harder und bat um den nächsten Tanz. Und kaum war der Tanz zu Ende, so war auch schon der Chefarzt zur Stelle. Astrid war begehrt. Ihre Augen suchten Per. Dort tanzte er mit Gerda. Er beugte sich vor, flüsterte ihr etwas zu, und Gerda lächelte. Bald darauf tanzte er mit der Gattin des Chefarztes. Und dann wieder mit Gerda. Astrid sagte sich, natürlich müsse er mit der Gastgeberin tanzen, das war ja so sonnenklar, und natürlich… Es war ja alles so natürlich Endlich forderte Per sie auf. Und sie tanzten. Und sie spürte seinen Atem und seine Wärme. Sie senkte halb die Lider. Der wunderbare Augenblick vorhin im Auto stand plötzlich wieder lebendig vor ihrem Geiste, und sie bebte ob des jungen, unfaßbaren Glücks. Aber Per merkte es nicht. Nichts in seinem Wesen verriet, daß sie beide ein kleines Geheimnis teilten. Und nichts deutete darauf hin, daß auch er daran dachte, daß… Als die Musik einen Augenblick pausierte, ließ er sie los, machte eine kurze Verbeugung und steuerte wieder auf Gerda mit ihrem blauen Samtkleid, Platinhaar und funkelnden Diamanten los. Astrid blieb nur eine Sekunde allein. Dann nahm Harder Pers Platz ein; und sie fühlte sich geborgen, als sein starker Arm sich um sie legte. Merkwürdig jung sah der Gutsherr aus. Vielleicht war er erst
fünfundvierzig Jahre alt. Aber man konnte ihn auch ganz gut für einen Achtunddreißiger halten. Schlank und von der Sonne gebräunt und durch Sport gestählt war er. Von der Würde des gereiften Mannes hingegen war ihm nichts anzumerken. Er war ungemein charmant. Auf dem Büfett standen eine große, kühle Bowle und Mineralwasser für die Tanzenden. Dort trafen sich Rolf Heier mit Astrid und Per mit Gerda am Arm. Gerda beugte sich vor und sagte etwas zu Per, während sie gleichzeitig ihre Hand auf seinen Arm legte. Es war etwas Vertrauliches, etwas Intimes an dieser kleinen Handbewegung. „Du, Gerda“, sagte Rolf lachend. „Wenn einer vor sieben Jahren gesagt hätte, der tolle Wildfang von der zweiten Realklasse würde einmal so aussehen, wie du heute aussiehst, dann wäre ich jede Wette eingegangen, das wäre einfach ausgeschlossen.“ „Ich nehme an, daß das ein Kompliment sein soll“, sagte Gerda lächelnd. „Das kannst du glauben“, sagte Rolf. „Auf dein Wohl, Gerda! Und schönen Dank auch, daß du mir eine so reizende Tischdame gegeben hast!“ Astrids Augen suchten die Pers. Aber sie fanden sie nicht. Sie waren auf Gerda gerichtet. Es ging etwas Strahlendes von Gerda aus. Astrid hatte noch nie etwas so vollkommen Schönes gesehen. Und sie und Per paßten zueinander. Die lodernde Flamme in Astrids Innerem sank zusammen. Sie wurde schwächer und immer schwächer, und zuletzt flackerte sie nur noch matt. „Sie sehen müde aus, Fräulein Astrid“, sagte Harder, als er sie zum nächsten Tanz aufforderte. „Wollen Sie lieber diesen Tanz auslassen und sich mit mir in einen stillen Winkel setzen? Ich bringe Ihnen etwas Fruchtsalat…“ Im Gartenzimmer fanden sie eine warme Ecke. Sie wechselten nicht viele Worte; aber Harder blickte Astrid unverwandt an. „Wissen Sie, Fräulein Astrid, wie ich mich fühle, wenn ich still neben Ihnen sitze? Als ruhte ich nach einer langen Wanderung über staubige Landstraßen auf einer grünen Wiese aus.“ Astrid lachte. „Sie wollen Ihre Gesellschaft doch wohl nicht mit einer staubigen Landstraße vergleichen?“ „So weit habe ich nicht gedacht, aber eigentlich ist der Vergleich gar nicht einmal so unpassend. Sie glauben gar nicht, wie wohl es
mir tut, Sie hier bei mir zu sehen.“ Harders Stimme klang so aufrichtig, und sein Blick ruhte so ehrlich bewundernd auf ihr, daß es Astrid warm ums Herz wurde. Sie blieben sitzen, bis der Tanz zu Ende war und nach kurzer Pause ein neuer begann. „Wollen Sie tanzen, Fräulein Astrid?“ „Ich denke, ich werde wohl erst mein Haar etwas in Ordnung bringen müssen. Mir scheint, es ist etwas wirr, und mir ist auch sehr warm…“ Vor dem großen Toilettenspiegel blieb Astrid stehen. Sie strich das Haar glatt, puderte sich und rückte die Mandelblüten auf der Schulter zurecht. Ihr Kleid war gar zu hellblau, und der Aquamarin war so klein und farblos, und ihr Haar hatte eine solche Durchschnittsfarbe… Und wo waren der Glanz in ihren Augen und die Röte auf ihren Wangen geblieben? Sie ging langsam die Treppe hinunter, stand einen Augenblick in der Halle. Dort tanzten Per und Gerda vorüber. Gerda lachte ihm direkt ins Gesicht, und er hielt sie dicht an sich gedrückt. Astrid wandte sich still ab. Sie mußte allein sein. Eine kurze Weile. Nur eine kurze Weile. Sie ging ins Rauchzimmer. Da war es halbdunkel und leer. Aber im Kamin glühten ein paar Kohlen. Es war warm und friedlich drinnen, und der Raum wirkte anheimelnd mit seinem schweren Teppich und den tiefen Sesseln. Im Halbdunkel rührte sich etwas. Astrid schrak zusammen. Aber dann ging sie schnell zum Kamin, wo Jeans mächtiger Körper sich aufrichtete. „Jean“, sagte Astrid, und zu ihrer eigenen Verwunderung merkte sie, daß ihre Stimme verschleiert klang. Sie setzte sich auf ein rundes Polster vor dem Kamin. Jean legte den Kopf an ihre Schulter. Da beugte sie sich zu dem Hund hinunter und streichelte ihn. Jean rührte sich nicht. Astrid legte ihm die Arme um den Hals, drückte ihren Kopf an den warmen Tierkörper und fand so Ruhe und Frieden. Sie dachte nicht, sie saß nur still im Halbdunkel, sie wollte nicht denken, wollte nicht fühlen, sie wollte nur ruhen – ruhen Sie wußte nicht, wie lange sie so gesessen hatte, als sie plötzlich zusammenzuckte. Sie hatte die leichten Schritte auf dem Teppich des Nebenzimmers mehr geahnt als gehört. Eine kräftige, schlanke Hand mit rotlackierten Fingernägeln und einem glitzernden Ring griff nach
dem Vorhang und zog ihn halb zur Seite. Dann folgte ein Lachen, und eine klare, aber gedämpfte Stimme sagte: „Nein, wirklich, Per. Ich muß mich einen Augenblick hinsetzen, ich bin etwas müde.“ Eine weiche, einschmeichelnde Stimme antwortete: „Du… müde? O nein, Gerda. Du wirst nicht müde. Nur noch einen Tanz, Gerda! Du tanzt hinreißend!“ Voller Panik drückte Astrid sich fester an Jean. Sie wollte nicht, daß sie sie hier fänden – allein, nur mit dem Hund zusammen –, sie wollte Frieden haben. Und außerdem war noch etwas in ihr, dem sie selber keinen Namen zu geben wußte, ein Gefühl, das noch kaum ein Gedanke geworden war: die Angst, gedemütigt zu werden. „Hörst du, Gerda, was sie spielen? Komm! Wenn du nicht tanzen willst, dann mußt du es wenigstens hören. Was sie da spielen, das bist ja du… Rhapsody in Blue…“ Die Schritte entfernten sich über den weichen Fußbodenbelag. Jean rieb sich behutsam an Astrid. Sie lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. Er stand ganz still. „… das bist ja du! – Rhapsody in Blue!“ „Wie wohltuend kühl ist diese Farbe! Sie sind… eine Symphonie in Blau!“ Symphonie in Blau – Rhapsody in Blue – Symphonie in Blau Per war auf der Heimfahrt stumm. Er legte das Plaid mit einem fernen und zerstreuten Blick über Astrids Knie und nahm selbst Platz, ohne sie zu fragen, ob sie gut säße. Er startete den Motor, beugte sich vor und winkte einer hohen Gestalt zu, deren weiße Jacke im nächtlichen Dunkel leuchtete. Sie waren schon eine gute Weile unterwegs, als Astrid mit einer leisen, spröden Stimme zaghaft bemerkte: „Es war eine sehr schöne Gesellschaft…“ „Ja“, sagte Per; und damit war das Gespräch erschöpft. Ein dumpfer, nie gekannter Schmerz überkam Astrid. Alles, was sie an diesem Abend erlebt hatte, von dem Augenblick an, als Per gekommen war, sie abzuholen, bis zu ihrer Verlassenheit in dem halbdunklen Herrenzimmer, wo sie bei Jean Trost gesucht hatte, das alles floß zusammen in einer großen, blassen Müdigkeit, einer wunderlichen, matten, wehen Müdigkeit. Sie sahen die Lichter der Stadt. Astrid öffnete den Mund, um etwas zu sagen, gab es aber auf. Sie war müde. So hoffnungslos müde.
Sie waren vor Astrids Haus angelangt. „Gute Nacht, Fräulein Liberg!“ „Gute Nacht, Herr Mostvedt!“ Astrid ging langsam ins Haus. Sie knipste das Licht in ihrem Zimmer an, legte die Silbertasche aus der Hand, zog die silbernen Schuhe aus. Sie vermied jede heftige und schnelle Bewegung. Es war, als habe sie vor etwas Angst. Sie streifte das Kleid ab, hängte es in den Schrank und betrachtete es einen Augenblick. Es sah merkwürdig verblaßt aus. Sie sah sich selbst flüchtig im Spiegel. Ihr Gesicht war bleich. Symphonie in Blau – Rhapsody in Blue Hinter dem Vorhang brach die bleiche Morgendämmerung an.
Warum… Warum… Frau Liberg war in Sorge. Bei ihrer Menschenkenntnis fiel es ihr nicht schwer, die Zusammenhänge zu erkennen. Daß Astrid – sehr milde ausgedrückt – in ihren Arbeitgeber verliebt war, das hatte sie längst bemerkt. Ihre erwartungsvolle, freudige Stimmung vor dem Gesellschaftsabend bei Harders hatte eine deutliche Sprache gesprochen. Und ihre Wortkargheit und ihr bleiches Gesichtchen nach der Gesellschaft sprachen eine ebenso deutliche Sprache. Zu allem Überfluß hatte Frau Liberg zufällig ein Gespräch belauscht, das zwei Kundinnen eines Tages in ihrem Geschäft miteinander geführt hatten. Die eine Kundin war Frau Grehner gewesen, die einer Freundin von der Gesellschaft bei Harders erzählt hatte. „Ich sage dir, Gerda sah prachtvoll aus, einfach prachtvoll! Und wie sie sich zu benehmen wußte! Ja, ich habe mir meine Gedanken gemacht. Sie tanzte ja den ganzen Abend mit Tierarzt Mostvedt, sie hatte ihn auch zum Tischherrn. Ja, wenn er diesen Goldvogel erbeuten kann! Ja, er ist ein gutaussehender junger Mensch; und stell dir vor, was es für seine Stellung bedeuten würde, wenn er sich mit der Tochter des Gutsbesitzers Harder verheiratete! Und ein Tierarzt wäre ja für sie mit ihren Kaninchen und wer weiß, was sie sonst da draußen züchtet, gerade das richtige…“ Es schnitt Frau Liberg ins Herz. Nun wußte sie auf einmal, wie der Abend verlaufen war und welche Rolle die kleine Astrid gespielt hatte – ihr Mädel in dem anspruchslosen und doch so allerliebsten Kleide. Ein bleiches Nichts war sie gewesen, wenn man sie mit der strahlenden Gerda in Samt und Diamanten verglich. O ja! Gerda Harder war für einen strebsamen jungen Mann sicherlich begehrenswerter als die kleine, bescheidene Astrid. Astrid machte im Sprechzimmer Ordnung, nachdem Per gegangen war. Sie ging still hin und her. Ihr Gesicht war blaß, und sie hatte dunkle Ringe um die Augen. Per war freundlich wie immer zu ihr. Das war es also nicht. Aber heute war Gerda wieder am Telefon gewesen. Per hatte sehr lange mit ihr gesprochen, als hätte er absolut nichts zu Tun gehabt, und Astrid hatte sein leises, vertrauliches Lachen gehört. Seine Worte konnte sie durch die Wand hindurch nicht verstehen,
aber sie hatte den Eindruck, daß sie irgendeine Verabredung trafen. Am Nachmittag wollte er wieder einen Krankenbesuch machen. Es handelte sich um eine Nerzfarm in der Nähe von Harders Gut. Diesmal hatte er Astrid nicht aufgefordert, ihn zu begleiten. Astrid fischte die Instrumente aus dem Kocher heraus. Sie verrichtete ihre Arbeit mechanisch. Es war keine Freude mehr damit verbunden. Ein Instrument nach dem andern wurde sorgfältig abgetrocknet und in dem Schrank auf die glänzenden reinen Glasborde gelegt. Warum hatte Per sie an jenem Abend im Auto geküßt? Warum? Ihre Gedanken kreisten immer um dasselbe Problem. Er hatte Astrid und „du“ zu ihr gesagt. Er hatte gesagt, sie sähe wie eine Symphonie in Blau aus. Er hatte sie geküßt. Und ein paar Stunden später war sie nur noch Luft für ihn gewesen. Man muß seine Erfahrungen gemacht haben und eine gute Portion Dickfelligkeit besitzen, um mit solchen Enttäuschungen fertig zu werden. Astrid hatte keine Erfahrungen, und sie war jung und weich. Per sagte nicht mehr, sie sähe reizend aus. Er war liebenswürdig, aber auf eine ganz unpersönliche Weise, und seine Stimme hatte nicht mehr den warmen Klang, wenn er mit ihr sprach. Am nächsten Tage gab es viel zu tun. Es erfolgte eine Reihe von Telefonanrufen. Astrid notierte. Sie machte ihre Arbeit, wenn möglich noch genauer als sonst. Gegen Schluß der Sprechstunde legte sie, wie gewöhnlich, Per den Schreibblock vor. Sie glitt still wieder aus dem Sprechzimmer hinaus und schickte sich an, die Tür zuzuschließen. Da wurde diese stürmisch aufgerissen, und Gerda drang wie ein Wirbelwind ein. Diesmal trug sie keinen Overall. Sie trug ein Kostüm, von einem erstklassigen Schneider gearbeitet, einen großen Platinfuchspelz und einen ungemein flotten Hut. „Guten Morgen, Fräulein Liberg. Hat Per vierbeinigen Besuch? Nicht? Fein! Nein, Sie brauchen mich nicht anzumelden. Ich komme als freudige Überraschung." Sie klopfte nicht an, sondern stürmte ohne weiteres in das Sprechzimmer. Die Tür blieb angelehnt. „Hallo, Per!" Astrid hörte den Stuhl über den Fußboden schurren, als Per aufsprang.
„Du, Gerda? Welch freudige Überraschung!" „Nicht wahr? Ich habe in der Stadt Einkäufe gemacht, und nun habe ich Lust, irgendwo den Lunch zu nehmen." „Großartig, meine Liebe! Ich werde im Bellevne anrufen und einen Tisch bestellen." Per telefonierte. Astrid sah im Geiste, wie Gerda sich im Sprechzimmer umschaute. Der Hörer wurde auf die Gabel gelegt, und nun hörte Astrid Gerda lachen. Ihre Stimme - sie sprach immer sehr laut - war im Nebenzimmer deutlich zu hören: „Großer Himmel! Welche Genauigkeit, Per!" Gerda las, mit einer ganz leichten Nachahmung von Astrids Stimme, laut vor, was auf dem Telefonblock stand: „Hofbesitzer Meland befürchtet Frühgeburt. Trächtige Kuh. Bittet Sie, möglichst bald zu kommen." - „Hellgaard klagt über Euterentzündung bei drei Kühen. Früher nie zu klagen gehabt." „Direktor Brandt-Jensen fragt an, ob Sie bei einer Zwangspaarung zugegen sein können. Nervöse Airedalehündin." Gerdas schallendes Gelächter drang durch die halboffene Tür und gellte Astrid schmerzhaft in den Ohren. Sie hörte Per gedämpft in ihr Lachen einstimmen: „Spotte nicht, Gerda! Die Kleine macht es, so gut sie kann. Laß ihr doch das Vergnügen, die Bestellungen so detailliert auszuarbeiten! - Sagtest du nicht, du wärest hungrig? - Also, gehen wir! Bist du mit deinem Wagen gekommen?" „Nein, mit dem Bus. Du darfst mich in deinem Wagen nach Hause fahren." „Es wird mir ein ganz besonderes Vergnügen sein. Ich bewundere deine Voraussicht." Es folgte eine kleine Pause. Astrid saß still, ganz still an ihrem Schreibtisch. Sie hatte die Lippen zusammengepreßt. Sie wollte den ekelhaften Klumpen, der ihr im Halse saß, mit aller Gewalt zurückzwingen. Da kamen sie, vergnügt, lächelnd, geschäftig. Gerda sagte ein paar freundliche Worte im Vorübergehen, Per nickte ihr zu und sagte, er wäre den Nachmittag besetzt. Krankenbesuche müßten auf morgen verschoben werden. Dann war Astrid allein. Sie hörte wieder Gerdas Lachen. Dann knallte die Fahrstuhltür zu. Nun fuhr der Fahrstuhl nach unten. Sie stand auf und trat an das
Fenster. Da kamen die beiden aus der Haustür. Per schob seinen Arm unter den Gerdas. Ihr Haar war so blendend hell unter dem flotten Hut, und der Platinfuchspelz hing so kleidsam über ihren geraden, breiten Schultern. Jetzt gingen sie zum Wagen. Per öffnete die Tür, half ihr beim Einsteigen, stieg selbst ein, lächelte, sagte etwas. Dann fuhren sie. Astrid starrte in den klaren Herbsttag hinaus. Auf Bellevue mußte es heute wunderschön sein. Sie sammelte die gebrauchten Instrumente, legte sie in den Kocher und schaltete den Strom ein. Alles geschah automatisch. Sie trat wieder ans Fenster und blickte auf den Platz hinunter, wo der Wagen geparkt hatte. Sie lehnte die Stirn gegen das Querholz. Und da kamen die Tränen. Frau Liberg ertrug es nicht länger, das blasse kleine Gesicht zu sehen. Hein war fortgegangen. Mutter und Tochter waren allein zu Hause. Klein und bleich und schmal saß Astrid am Nähtisch und stopfte Strümpfe. Die Mutter schaute zu ihr hinüber. Lange blieb es still. Dann stand Frau Liberg auf, ging zu Astrid und strich ihr über das Haar. „Mein Kind! Ich will mich dir nicht aufdrängen. Aber wenn du das Verlangen spürst zu reden, dann rede. Ich weiß genau, wie dir zumute ist." Astrid schluckte. Sie räusperte sich, schluckte wieder und sagte mit leiser, gequälter Stimme: „Es… es gibt nichts zu reden, Mutti.“ Frau Liberg schwieg eine Weile und überlegte. „Gewiß nicht. Nicht um deinetwillen. Aber siehst du, mein Mädchen: Wenn man merkt, daß einem Menschen weh ums Herz ist, und man möchte ihm gern helfen – und nun schon gar, wenn dieser Mensch das eigene Kind ist –, dann ist es doch scheußlich schwer stillzuschweigen. Kannst du das nicht verstehen?“ „Aber du kannst mir doch nicht helfen, Mutti. Niemand kann mir helfen. Und es liegt auch gar nichts vor, weshalb mir jemand helfen müßte.“ Frau Liberg biß sich auf die Lippe. Sollte sie trotzdem versuchen, alles zu klären? Sollte sie Astrid sagen, sie wisse – und habe es längst gewußt –, daß ihr Kind hilflos verliebt war, daß Mostvedt sich von Gerda hatte betören lassen, daß die Gesellschaft eine Enttäuschung gewesen war und daß es für sie keine Überraschung
bedeute, wenn Mostvedt bei seinen Krankenbesuchen an den Nachmittagen Astrids Hilfe nicht mehr bedurfte? Von alledem sagte sie nichts. Sie packte entschlossen das Kernproblem an und versuchte es mit einer Überrumpelung: „Aber wenn er nun wirklich so ist, Astrid, wenn Geld und Ansehen für ihn eine solche Rolle spielen, wenn er danach strebt, zu Gerdas Gesellschaftskreisen Zutritt zu erlangen… findest du, daß er es dann überhaupt verdient, daß du ihm nachtrauerst?“ Astrids Wangen röteten sich langsam. Sie schlug die Augen nieder. Aber die Überrumpelung war geglückt. „Es… es kann ja gut sein, daß er… sich in Gerda verliebt hat.“ „Kunststück, sich in ein Mädchen zu verlieben, das schön ist und obendrein schwer reich. Nein, Astrid, das ist nicht nach meinem Geschmack. Und im übrigen, mein Kind – es ist dein erster Liebeskummer. Er tut fürchterlich weh, solange er anhält; es ist eine fürchterliche Erfahrung, die man durchmachen muß. Aber man muß dergleichen nun einmal erleben. Es ist eine Stufe in der Entwicklung. Du tust mir schrecklich leid, wie du mir leid tatest, als du noch klein warst und Scharlachfieber und die Masern bekamst; aber ich wußte, daß du das nun einmal durchmachen mußtest. Das weiß ich auch jetzt, und ich weiß, daß du dich allein hindurchkämpfen mußt. Aber wenn du einmal mit einem anderen Menschen sprechen willst, dann hast du mich.“ Frau Liberg war eine kluge Frau. Nachdem sie gesprochen hatte, küßte sie Astrid leicht auf die Stirn und ging. In den ersten Tagen sagte Astrid nichts. Nach dem Verlauf einer Woche aber erzählte sie ruhig, wenn auch mit einer etwas gequälten Stimme, sie habe eine Woche Ferien. Mostvedt wolle verreisen, und seine Praxis solle für eine Woche geschlossen bleiben. „Soso“, sagte Frau Liberg und fragte nicht. Aber gerade deshalb fuhr Astrid fort: „Er fährt in die Berge. Auf die Jagd. Zusammen mit Gerda. Harder besitzt eine Berghütte…“ Ihre Stimme brach. „Schau an!“ sagte Frau Liberg, und sie fühlte ein inniges Verlangen, Per Mostvedt zu erwürgen. Am nächsten Tage sah Frau Liberg eine Anzeige in der Osloer Zeitung. Es sollte dort ein Kursus im Trimmen von Hunden beginnen. Ein englischer Trimmlehrer wollte nach Oslo kommen. Frau Liberg trug die Sache ein paar Tage mit sich herum.
Dann sprach sie mit Astrid darüber. „Aber ich habe ja Arbeit“, wehrte Astrid ab. „Glaubst du, daß sie eine Zukunft hat?“ fragte Frau Liberg vorsichtig. „Ich habe mir gedacht, es müsse dir doch Spaß machen, selbständig zu sein. Du könntest dir eine eigene Trimmanstalt einrichten. Die Arbeit wäre bei deiner Verliebtheit in Hunde doch gerade das richtige für dich. Und man hat nicht oft Gelegenheit, bei einem englischen Fachmann zu lernen.“ Astrid antwortete nicht. Die Mutter hatte ja recht. Es gab nicht einen einzigen Hundetrimmer in der Stadt. Es war gar nicht so selten vorgekommen, daß Hundebesitzer Per ihre Not geklagt hatten, wenn sie mit ihren Airedales, schottischen Terriern, Drahthaarterriern und Schnauzern in die Sprechstunde gekommen waren. O ja, es wäre schon eine Arbeit für sie, aber sie ertrug nicht den Gedanken, daß sie ihre Stelle aufgeben sollte. Denn das bedeutete ja nicht nur, daß sie ihre Arbeit verlor: Sie mußte ihre lieben Tiere, sie mußte… Per verlassen. Ja, trotz allem, Per… Aber vier Tage später schlug Frau Liberg auf den Tisch. „Jetzt soll Astrid nach Oslo“, sagte sie zu sich selbst. Was sie zu dieser Entscheidung veranlaßte, stand auf der dritten Seite der Zeitung zu lesen: „Verlobt haben sich Fräulein Gerda Harder, Tochter des Gutsbesitzers Eivind Harder und der verstorbenen Frau Irene, geborene von Plathen, und Tierarzt Per Mostvedt.“
Achten Sie auf Fräulein Liberg „Nein, nein, Fräulein Selmo, das geht nicht! – Wenn Sie vor dem Tier Angst haben, dann können Sie ebensogut gleich aufgeben. Schon die allergeringste Angst reicht aus, um alles zu verderben. Nähern Sie sich dem Hunde ganz ruhig. Achten Sie auf Fräulein Liberg…“ „Es ist nicht nötig, dem kleinen Cockerspaniel ein Schnauzenband anzulegen, Frau Verner. Er ist nicht böse. Er ist nur neugierig. Lassen Sie ihn nur ruhig an dem Trimmesser und dem Kamm etwas schnuppern. Lassen Sie ihm Zeit. Ach, Fräulein Liberg, wollen Sie sich dieses Cockers einen Augenblick annehmen…?“ „Einen Bouvier? Ja, das können wir wohl übernehmen; aber wir müssen bei ihm mit mindestens fünf Stunden rechnen. Ist er launisch? O ja, es wird schon gehen. Ich habe hier eine Dame, die wird wohl mit ihm fertig werden. Fragen Sie nach Fräulein Liberg…“ Die Trimmesser arbeiteten, der Lehrer ging zwischen seinen Schülerinnen umher und lobte, tadelte, half und gab Ratschläge. Blaffen und Knurren und Winseln, ängstliche Hunde und phlegmatische Hunde, gutmütige Hunde und starke, bissige Ziehhunde und Wachhunde. Ein solcher Hundetrubel! Scherzworte flogen zwischen den Tischen hin und her – über Hundeleben, Hundstage, Hundewetter. Junge Damen in weißen Kitteln und Kopftüchern plagten sich ab, und Hundewolle und Haarbüschel flogen durch die Luft. Astrid liebte diese Arbeit. Zuerst hatte sie sich in einer Art Verzweiflung auf sie gestürzt. Sie wußte ja selbst, daß es ihre Rettung sein sollte. Nach kurzer Zeit aber hatte die Arbeit sie gefangengenommen, und schon bald erkannte sie, daß sie hier in womöglich noch höherem Maße auf dem richtigen Platz war, als es bei Mostvedt der Fall gewesen war. Hier bedurfte sie ihrer ganzen Fähigkeit, mit Tieren umzugehen, und ihre flinken Finger arbeiteten schnell und doch schonend. Der Lehrer und ihre Mitschülerinnen überschütteten sie mit Lob. Sie hatte es nicht leicht, denn schon bald wurden ihr die schwersten Arbeiten aufgebürdet. Wenn es sich um artige kleine Pudel oder Bedlingtons handelte, dann waren die andern gern bereit, sie zu übernehmen; war es aber ein Fuchshund
mit feurigem Temperament, ein übernervöser Cocker, ein grimmiger Schnauzer oder gar ein bösartiger Riesenschnauzer, dann mußte Astrid herbei. Sie ließ sich das lange gefallen. Als aber zum vierten Male ein Pudel Fräulein Selmo überlassen wurde, erhob sie ihre Stimme: „Entschuldigen Sie, aber ich möchte ja auch gern lernen, wie man einen Pudel schert!“ Der Lehrer sah sie überrascht an. Dann lachte er: „Verzeihen Sie, Fräulein Liberg. Selbstverständlich sollen Sie lernen, einen Pudel zu scheren. Fräulein Selmo, Sie müssen den Pudel Fräulein Liberg überlassen. Sie nehmen statt dessen den Drahthaarterrier.“ Fräulein Selmo war nicht sehr erfreut, daß sie den zappelnden kleinen Terrier scheren sollte, während der gesetzte Pudel in Astrids Hände gelangte. Die Arbeitszeit verging im Nu. Astrid wurde ordentlich müde, und das war gut. Sie legte sich früh hin und konnte trotz der vielen schmerzlichen Gedanken gut schlafen. Sie wohnte in einer kleinen Pension, wo sie ein nettes Zimmer und gutes Essen hatte. Sie hielt sich ganz für sich. Am Abend saß sie in ihrem Zimmer und las – wenn sie ihre Gedanken beisammenzuhalten vermochte. Oder sie entwarf Pläne für ihre Trimmanstalt. Oder sie schrieb einen Brief an die Mutter. Liebe Mama! Denke Dir, jetzt bin ich schon einen Monat hier. Merkwürdig, wie schnell die Zeit vergangen ist! Meine Arbeit gefällt mir noch immer sehr gut, und ich lerne eine ganze Menge. Ich denke so oft an das, was Du an jenem Nachmittag zu mir gesagt hast, daß ich alles Schlimme durchmachen müsse. Aber Du weißt ja, daß es doch recht schwer ist. Und am schlimmsten für mich war, daß ich gar keine Mitteilung erhielt. Hättest Du es mir nicht gesagt, dann hätte ich es also durch die Zeitung erfahren müssen. Ich finde, das war gemein von Per. Aber es hat ja keinen Zweck, darüber zu reden. Ich sage mir immerzu, daß ich an die Zukunft denken muß, nicht an das Vergangene; denn die Welt geht ja nun einmal weiter. Findest Du nicht, daß ich sehr verständig geworden bin? Ja, Mutti. In einem Monat werde ich also mit dem Kursus fertig. Und ich zerbreche mir den Kopf darüber, wie ich mich einrichten soll, wenn ich nach Hause komme. Ich habe eine sehr feine Idee,
fürchte jedoch, die Sache wird zu teuer. Aber ich kann Dir ja trotzdem erzählen, wie ich es mir gedacht habe, nicht wahr? Zunächst einmal möchte ich ein hübsches Schild mit meinem Namen und dem Wort „Trimmanstalt“ an der Kellertür anbringen, also an der Tür, die vom Garten in den Geräteraum führt. Und den Geräteraum möchte ich weiß tünchen und als Arbeitsraum einrichten. Unmittelbar vor dem Fenster möchte ich einen Auslauf mit Drahtnetz anbringen, damit ich die Hunde nur aus dem Fenster zu lassen brauche, wenn ich sie an die Luft bringen möchte. Dann möchte ich einen Teil des Waschkellers durch eine Holzwand abtrennen und da ein Hundebad einrichten. Ich müßte haben: einen elektrischen Warmwasserspeicher, einen geräumigen Waschbottich und ein paar Kleinigkeiten – unter anderem eine Handdusche. Wenn es im Winter zu kalt wird, müßte ich einen kleinen Ofen haben, einen elektrischen. Mehr brauchte ich nicht. Die Möbel, die ich benötigen würde – einen Tisch, einen Stuhl für die Kunden, die auf ihre Hunde warten, einen Schrank, den Arbeitstisch –, könnten aus gewöhnlichem Kiefernholz sein. Ich kann sie selber mit bunten Farben streichen. Glaubst Du, das würde schrecklich teuer werden? Ich will Dich nicht anbetteln, Mutti, aber könntest Du mir das Geld dazu borgen? Ich bin sicher, daß ich gut verdiene und es sehr schnell zurückzahlen kann. Ich bin gesund und schlafe gut. Und sonst wüßte ich Dir nichts zu berichten. Bleibe gesund, mein Muttchen. Grüße Hein und schreibe bald! Deine Astrid Frau Liberg legte den Brief vor sich auf den Tisch und blieb noch eine Weile sitzen. Sie lächelte. Dann ging sie ans Telefon und rief einen Tischler und einen Installateur an. Eine Woche später war Astrids Arbeitsstätte fertig. Nur das Türschild fehlte noch. Aber das sollte angebracht werden, sobald Astrid nach Hause kam. Borgen, hatte Astrid gesagt. Davon konnte nicht die Rede sein. Die Einrichtung war Frau Libergs Geschenk für die kleine Astrid. Für ihr tapferes Kind. Astrid schlug den Mantelkragen hoch und kämpfte gegen den Regen an. Ihre Arme waren müde, die Hände taten ihr weh. Sie hatte sich den ganzen Nachmittag mit einem ungewöhnlich großen
Riesenschnauzer herumgeplagt. Jetzt hatte sie einen wahren Wolfshunger. Leider würde sie sich mit halbwarmem Essen begnügen müssen, denn die Essenszeit in der Pension war vorbei. Sie tauchte aus dem Umhangkragen auf. Ein hochgewachsener Mann stand mit ausgestreckter Hand vor ihr. „Wahrhaftig! – Ist das nicht Fräulein Astrid?“ Astrid wurde bleich. Sie fühlte, daß ihre Wangen kalt wurden. Sie reichte ihm langsam die Hand. „Guten Tag, Herr Harder. Das… ist eine Überraschung.“ Er nahm ihre Hand in seine beiden Hände. „Ja, es scheint meine und meiner Familie Bestimmung zu sein, Ihnen Überraschungen zu bereiten, kleines Fräulein Astrid. Wie geht es Ihnen? Und was machen Sie hier in Oslo?“ „Ich nehme an einem Trimmkursus teil. Ich gedenke, eine eigene Hundetrimmanstalt zu eröffnen, wenn ich wieder zu Hause bin.“ „Wirklich? Welch blendender Einfall! Rolf Heier wird Ihr bester Kunde. Er beklagt sich oft, daß er seine Lieblinge immer nach Oslo schicken muß. – Kommen Sie mit mir, Fräulein Astrid! Ich bin gerade im Begriff, irgendwo zu Abend zu essen, und ich brauche Gesellschaft. Sagen Sie nicht, Sie hätten schon zu Abend gegessen, denn dann wäre ich gräßlich enttäuscht.“ Astrid lächelte. „Im Gegenteil! Ich bin ganz ausgehungert!“ „Großartig!“ rief Harder begeistert. „Das soll ein Abendessen werden, das sich sehen lassen kann! Und ich werde selbst bestimmen, was gegessen wird. Ich habe nicht die Absicht, Sie nach Ihrer Meinung zu fragen!“ Sie gingen in kein Restaurant mit Musik und Lärm und vielen Menschen, sondern in ein kleines, in einem stillen Winkel gelegenes Schlemmerlokal, das Astrid noch nicht kannte. „Sie müssen wissen, daß dies mein Stammlokal ist, wenn ich mich in Oslo aufhalte. Ich garantiere Ihnen, daß wir hier das beste Essen bekommen, das in dieser Stadt zu haben ist. Sehen Sie sich die Gäste an! Haben Sie nicht auch den Eindruck, daß es lauter Kenner sind?“ Astrid blickte sich neugierig um. Es waren in der Tat nicht sehr viele Gäste, und diese – in der Mehrzahl ältere Herren – interessierten sich augenscheinlich im höchsten Maße für die blanken Metalltöpfe mit Deckeln, die bunten Schüsseln und tiefen Soßennäpfe, die vor ihnen auf den Tischen standen.
„Leider kann ich Sie nicht fragen, was Sie haben möchten“, sagte Harder lachend. „Denn ich allein kenne die Spezialitäten des Hauses und möchte mir die Wahl vorbehalten.“ Ein höflicher Kellner war schnell zur Stelle, und es folgte eine lange, mit leiser Stimme geführte Beratung. Es war nicht schwer zu merken, daß Harder hier ein bekannter und geschätzter Gast war. „Ich freue mich so, Sie wiederzusehen, Fräulein Astrid“, sagte Harder mit leiser, ruhiger Stimme. Astrid mußte an den Abend draußen auf dem Gut denken, da Harder in das Kaminfeuer geblickt und gemeint hatte, man müsse wohl ein gewisses Alter erreicht haben, um – Jean richtig verstehen zu können. „Ich freue mich auch“, sagte Astrid. „Ist das wirklich wahr?“ fragte Harder lebhaft. „Gewiß. Warum sollte es nicht wahr sein?“ Astrids Stimme klang fast ein wenig herausfordernd bei diesen Worten. Harder blickte sie lange an, ohne etwas zu sagen. Schließlich bemerkte er: „Ja – warum sollte es nicht wahr sein?“ Der Kellner brachte eine versilberte Suppenschüssel und füllte die Teller. In einer duftenden, warmen Brühe schwammen kleine Stücke gerösteten Brotes. „Echt französische Zwiebelsuppe“, sagte Harder. Zur Suppe tranken sie ein Glas Madeira. „Nun? Schmeckt es?“ „Wunderbar!“ „Das freut mich“, sagte Harder lächelnd, und er nahm einen Schluck Wein. „Aber nun sagen Sie, Fräulein Astrid: Haben Sie ein klein wenig Vertrauen zu mir?“ Astrid ließ den Löffel sinken und blickte Harder etwas verwundert an. „Gewiß. Sehr viel sogar.“ „Das ist gut. Sie müssen nämlich wissen, daß ich es etwas albern finden würde, wollten wir voreinander Komödie spielen. Ich muß wissen, wie es eigentlich um Sie steht. Sie ahnen ja gar nicht, wie oft meine Gedanken sich in der letzten Zeit mit Ihnen beschäftigt haben. Tut es sehr weh, kleine Astrid?“ Astrid fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Sie schlug die Augen nieder, und ihre Stimme war sehr leise, als sie antwortete: „Jetzt nicht mehr… Nicht mehr so sehr.“ Sie wurden unterbrochen, da der Kellner in diesem Augenblick
das nächste Gericht brachte. Eine halbe rote Hummerschale, mit einer goldbraunen Masse gefüllt und mit Gemüse garniert, wurde vor Astrid hingestellt. „Hummer Parisienne“, erläuterte Harder. Astrid ließ es sich munden. Ein warmer gebratener Hummer mit allerlei merkwürdigen Gewürzen konnte wirklich ganz wunderbar schmecken! Ein Kühler mit einer langhalsigen Weißweinflasche stand neben dem Tisch. Harder füllte die schlanken grünen Gläser. „Sie wissen ja, Fräulein Astrid: Gerda ist ein sehr selbständiges Mädchen.“ Astrid nickte. „Ich selbst habe natürlich auch nichts gegen diese Verlobung einzuwenden. Ich hätte mich sogar sehr über sie gefreut, wenn nicht… wenn nicht…“ Astrid schien von dem Hummer ganz in Anspruch genommen zu sein. Sie antwortete nicht. „Es wäre doch abscheulich, wenn Sie, kleine Astrid, für Gerdas Glück bezahlen müßten.“ Jetzt brachte Astrid ein Lächeln zustande. „So dürfen Sie nicht denken, Herr Harder. Wenn ich bezahle, dann bezahle ich wohl für meine eigene Dummheit, nicht aber für Gerdas Glück. Ich hoffe nur, daß sie wirklich glücklich ist.“ Harder erhob sein Glas und blickte Astrid in die Augen. Er trank ihr schweigend zu. Nach einer Pause fuhr er fort: „Vielleicht ist es nicht recht von mir, so mit Ihnen zu reden, Fräulein Astrid. Tue ich Ihnen weh?“ Seine Stimme hatte einen eigentümlichen, beinahe flehentlichen Klang. Astrid fühlte, daß ihm viel daran lag, sich einmal aussprechen zu dürfen. „Nicht die Spur“, antwortete sie. „Ich freue mich, daß Sie soviel Vertrauen zu mir haben, Herr Harder. Denn es handelt sich ja doch um Ihre eigene Tochter.“ „Ich hänge sehr an Gerda, Fräulein Astrid. Sie ist ja der einzige Mensch, der mir nahesteht. Aber wir sind sehr ungleich. Gerda ist nach ihrer Mutter geartet.“ Astrid antwortete nichts; ihre Augen aber waren aufmerksam auf Harder gerichtet. „Gerdas Mutter war… war auch sehr schön… und sehr beherrscht… und tüchtig und vernünftig – gerade so wie Gerda.“ Harder lächelte. „Nur mit der dummen Sentimentalität war es wohl so, daß ich sie allein repräsentierte. Genau wie jetzt.“ „Warum reden Sie von dummer Sentimentalität?“ fragte Astrid
leise. „Muß man denn warme Gefühle immer lächerlich machen?“ „Nein. Sie haben recht. Ich meine nur…“ Er brach ab. Die Hummerschalen wurden fortgeräumt, und der Kellner servierte „Rindsfilet Espagnolle“ mit gebratenen Tomaten und Zwiebeln. „Ich möchte so gern, daß Gerda glücklich wird“, sagte Harder, als der Kellner sich entfernt hatte. „Ich habe Mostvedt immer gut leiden können, aber… aber…“ Er verstummte. Vielleicht bewirkte es der Wein, daß Astrid den Mut bekam auszusprechen, was sie dachte. Vielleicht fühlte sie auch Mitleid mit dem stattlichen, reichen und eigentlich doch einsamen Mann, den es so sehr drängte, sein Herz zu öffnen. „Aber Sie fürchten, daß er diesmal mehr der Stimme der Vernunft als der des Herzens gefolgt ist?“ fragte sie leise. Harder biß sich auf die Lippe. Dann richtete er seinen Blick voll auf Astrid. „Sie haben es ausgesprochen“, sagte er langsam. „Aber weshalb glauben Sie das?“ fragte Astrid ruhig. „Es ist doch wirklich nicht erstaunlich, daß Mostvedt sich in Gerda verliebt hat. So schön wie sie ist… und so einnehmend… und so…“ „… reich“, sagte Harder plötzlich mit harter Stimme. „Würde nicht jeder Mann, der sich in ein reiches Mädchen verliebt, in den gleichen Verdacht geraten?“ wandte Astrid ein. „Er kann in dem Reichtum doch unmöglich ein ernstes Hindernis sehen, wenn er Gerda wirklich liebt!“ Es folgte eine lange Pause. Harder blickte Astrid forschend an. „Kleines Fräulein Astrid. Wenn ich wüßte, wieviel ich sagen darf, ohne… befürchten zu müssen, daß ich bei Ihnen eine offene Wunde berühre…“ „Das brauchen Sie nicht zu befürchten. Es hat sich über der Wunde schon eine ganz ordentliche Kruste gebildet.“ „Ich habe das Gefühl“, sagte Harder langsam, „daß Mostvedt, wenn Gerda nicht so… nun ja: so reich gewesen wäre, statt ihrer Sie gewählt hätte…“ Astrid schloß eine Sekunde die Augen. Was hatte die Mutter gesagt? Waren ihr Mutterinstinkt und Harders Vaterinstinkt zu genau dem gleichen Ergebnis gekommen? Da merkte Astrid zu ihrer eigenen Verwunderung, wie eine große, unsagbar wohltuende Ruhe über sie kam. Nichts tat mehr weh. Der unsägliche brennende Schmerz der ersten Zeit war völlig
verschwunden, und sie fühlte nur noch ein aufrichtiges Mitleid mit Per und Gerda. „Vielleicht“, sagte sie nur. Und sie lächelte, lächelte ehrlich und redlich, nicht zum Selbstschutz, nicht, um sich oder Harder etwas vorzumachen. „Da kann ich ja nur froh sein, daß es so gekommen ist“, sagte sie. „Wie schrecklich, wenn ich mich mit einem Mann verlobt hätte, der für mich nicht mehr empfand.“ Eine große braune Hand legte sich auf ihre kleine, die die Spuren der Arbeit trug. „Kleine Astrid“, sagte Harder leise. „Wir wollen nicht auf dumme Gedanken kommen, Herr Harder“, sagte sie, und sie kam sich plötzlich diesem Manne gegenüber, der alt genug war, um ihr Vater sein zu können, sehr erwachsen vor. „Und nun wollen wir ein Glas auf Gerdas und Pers Wohl leeren und wünschen, daß sie recht, recht glücklich werden mögen.“ Harder ergriff sein Glas. Er wollte etwas sagen, drückte aber statt dessen Astrid nur stumm die Hand. Sie gaben sich dem Genuß des ausgezeichneten Essens hin. Und auf einmal fragte Harder in einem ganz alltäglichen Plauderton, wie lange sie noch in Oslo zu bleiben gedächte und wie die neue Arbeit ihr gefiele. Astrid erzählte kleine drollige Geschichten vom Trimmkursus. Harder hörte belustigt zu, ohne viel dazu zu bemerken. „Du liebe Zeit, wie bin ich satt!“ seufzte Astrid plötzlich. „Das habe ich vorausgesehen“, sagte Harder lächelnd. „Sie bekommen deshalb auch nur einen ganz leichten Nachtisch.“ Astrid machte große Augen, als der „ganz leichte“ Nachtisch kam. Es war eine Schüssel voller frischer Pfirsiche und taufeuchter blauer Trauben. „Das war das großartigste Essen, das mir je in meinem Leben geboten wurde“, sagte Astrid überwältigt. „Das sollte es auch sein“, antwortete Harder ruhig. Es war für sie beide eine Erleichterung, daß sie sich ausgesprochen hatten. Sie kamen auf das Thema Per - Gerda nun nicht mehr zurück. Nachdem sie eine Tasse extrastarken Kaffee getrunken hatten, schlug Harder vor, ins Kino zu gehen. Es lief gerade ein guter und interessanter Film. Als Astrid nach Hause gebracht worden war – sie hatte in der Taxe wohlgeborgen neben Harder gesessen, der seinen Arm um ihre
Schultern gelegt hatte –, kroch sie sofort ins Bett und lag trotz ihrer Müdigkeit noch eine Weile wach. Sie starrte in die Dunkelheit und lächelte. Das Gespräch mit Harder hatte ihrem Schmerz den Stachel genommen. Es tat nun wirklich nicht mehr weh. Ihre Gedanken kreisten nicht länger um Per. Sie wanderten jetzt in die Zukunft. Sie dachte an ihre Trimmanstalt, an ihre selbständige Arbeit und an alle Möglichkeiten, die sich daraus ergaben. Und morgen war wieder ein Tag voller Arbeit mit allerliebsten kleinen Hündchen und gefährlichen großen Tieren, wieder der interessante Unterricht. Wieder würde der Lehrer von Tisch zu Tisch gehen, und vielleicht würde er wieder sagen: „Mehr viereckig der Schnitt auf dem Kopf, Frau Verner – hier muß kräftig abgeschnitten werden – nein, für den Kopf müssen Sie nicht die Schere benutzen – nehmen Sie das Trimmesser – achten Sie auf Fräulein Liberg…“
Ein kühler Quell Als Astrid am nächsten Tage zum Mittagessen in die Pension kam, begrüßte die Wirtin, Frau Nielsen, sie an der Wohnungstür. „Es wurde ein Blumenstrauß für Sie abgegeben, Fräulein Liberg“, sagte sie. „Ich habe mir erlaubt, das Papier zu entfernen und die Blumen ins Wasser zu stellen. Es wäre ja schade, wenn sie welk würden.“ Frau Nielsen verging fast vor schlecht verhohlener Neugierde. Sie stellte mit stiller Freude fest, daß Astrid rot wurde. Die Wirtin verfolgte mit lebhaftem Interesse das Wohl und Wehe ihrer Pensionäre. Daß das kleine, stille und bescheidene Fräulein Liberg Blumen bekam, wirkte wie eine Sensation. Und was für herrliche Blumen! Die ganze Pension hatte sie in Augenschein genommen, und man hatte allerlei Vermutungen angestellt. Die kräftige, steile Schrift auf dem Briefumschlag war studiert und erörtert worden, und Frau Nielsen dachte daran, daß Fräulein Liberg gestern erst sehr spät nach Hause gekommen war. Alles deutete daraufhin, daß man eine Sensation zu erwarten hatte, und jede Sensation wurde in der Pension mit Freuden willkommen geheißen. Astrid schloß sich in ihrem Zimmer ein. Sie blieb am Tisch stehen und betrachtete den Blumenstrauß. Ein Springquell von langstieligen blaßgelben Rosen. Welch reine, unaufdringliche Farbe! Kühl, ohne kalt zu sein. Etwas Helles und Keusches und unfaßbar Schönes. Sie riß den Umschlag auf. „Liebe kleine Astrid! Ich weiß nicht, weshalb diese Blumen mich so an Sie erinnern. Ich sah sie in einem Schaufenster, und ich muß sie Ihnen unbedingt schicken. Haben Sie Dank für den gestrigen Tag! Ob ich Sie noch einmal zu sehen bekomme? Ihr Eivind Harder.“ Astrid setzte sich auf einen Stuhl und betrachtete eine Weile still die köstlichen Blumen. Dann las sie den Brief noch einmal. Und wieder mußte sie an jenen Abend auf Harders Gut denken, da er, nachdenklich in das Feuer des Kamins blickend, gesagt hatte, man
müsse wohl ein gewisses Alter erreicht haben, um Jean verstehen zu können. Ob das die Erklärung dafür war, daß sie sich früher nie richtig Geltung hatte verschaffen können? Ihren Altersgenossinnen gegenüber hatte sie stets Minderwertigkeitsgefühle gehabt. In Harders Nähe dagegen war sie ausgeglichen, gab sich natürlich und brauchte sich nicht anzustrengen, um unterhaltend oder geistreich zu sein. Harder wollte sie nicht anders haben, als sie war. Plötzlich mußte Astrid an seine Hände denken. Es war etwas Behutsames, etwas Beschützendes an diesen Händen. Es waren Hände, die tragen, helfen, Schwierigkeiten aus dem Wege räumen wollten. Hände, die… die liebkosen konnten. Sie mußte sich ja für die Blumen bedanken. Selbstverständlich mußte sie sich bedanken. Sie mußte anrufen. Oder lieber schreiben? Nein. Eine schriftliche Danksagung wäre zu feierlich gewesen. Astrid wußte, daß die halbe Pension interessiert lauschen würde, wenn sie auf dem Korridor telefonierte. Sie ging zur nächsten öffentlichen Fernsprechzelle und rief mit klopfendem Herzen im Grandhotel an, wo Harder Wohnung genommen hatte. Ja. Herr Gutsbesitzer Harder war in seinem Zimmer. Einen Augenblick, bitte! Wen dürfe man melden? Harders Stimme hatte einen warmen Klang, und er sprach lange, als wolle er Astrid am Apparat festhalten. Er erzählte, er gedenke nächste Woche ins Ausland zu reisen. Geschäftlich. Ob er sie vor seiner Abreise noch einmal sehen könne? Wie wäre es zum Beispiel mit einer kleinen Autofahrt am Sonntag? Wenn sie nicht schon etwas Besseres vorhaben! „Vorausgesetzt natürlich, daß Sie einem alten Mann wie mir einen ganzen Sonntag opfern wollen“, fügte er schnell hinzu. Astrid mußte lachen. Harder – ein alter Mann! Hielt er nicht einen Vergleich mit jedem beliebigen jungen Menschen aus? Besaß er nicht ebensoviel Charme, Elastizität und – alle möglichen sonstigen Vorzüge? Plötzlich war Astrid ganz ruhig. Wie töricht, Herzklopfen zu bekommen! Harder war der reizendste Mensch, den sie kannte. So freundlich, so zurückhaltend, so ungewöhnlich nett! Er war genau das, was sie brauchte: ein älterer, väterlicher Freund, der Lebenserfahrung und Verständnis besaß. Von anderen als freundschaftlichen Gefühlen konnte natürlich nicht die Rede sein.
Der Altersunterschied war Garantie genug. Kein Flirt. Kein Sichverlieben. Nur väterliche Güte von seiner Seite, und stille Anhänglichkeit von ihrer. Wie sie sich auf die Autofahrt am Sonntag freute! Astrid kehrte in die Pension zurück und schrieb einen langen Brief an ihre Mutter. Von Zeit zu Zeit blickte sie auf und betrachtete die blaßgelben Rosen. Jetzt tat nichts mehr weh. Alles war schön, ruhig und friedvoll. „Es ist nett von Ihnen, Fräulein Astrid, daß Sie mir altem Trottel Ihren Sonntag opfern wollen“, sagte Harder. Der Wagen glitt lautlos über die Landstraße nach Drammen dahin. Es war ein sonniger Herbsttag. „Nett sind doch nur Sie, weil Sie sich eines so dummen jungen Mädchens annehmen, wie ich es bin“, erwiderte Astrid. „Ich weiß sehr wohl, daß ich nicht die Spur unterhaltsam bin.“ „Hören Sie nun endlich einmal mit diesem törichten Gerede auf!“ sagte Harder mit ernster, beinahe strenger Stimme. „Es wird Zeit, daß Sie erstens sich selbst und zweitens uns Männer verstehen lernen. Sie sind nicht langweilig, und sie sind kein dummes junges Mädchen. Sie sind ein liebes und hübsches junges Mädchen. Sie haben ehrliche blaue Augen, und Sie haben den seltenen Vorzug, sich so geben zu können, wie Sie sind. Tun Sie das auch weiterhin! Und dann müssen Sie eins verstehen. Die Nervenanregung, die wir Männer brauchen – die finden wir zur Genüge bei unserer Arbeit, im Geschäftsleben und manche von uns beim Sport. Eine vor Temperament übersprudelnde, zapplige und raffinierte Frau kann für eine Weile ganz amüsant sein. Auf die Dauer aber wollen wir eine Frau haben, bei der wir uns ausruhen können – wenn Sie verstehen, wie ich das meine. Und außerdem möchten wir gern für unseren Beschützerdrang, unser Zärtlichkeitsbedürfnis Verwendung haben. Ob Sie das wohl verstehen können, Fräulein Astrid?“ „O ja“, sagte Astrid. Sie verstand nur zu gut. Sie begriff, daß dieser Mann mit dem warmen Herzen für seinen überwältigenden Zärtlichkeitsdrang niemals Verwendung gehabt hatte. Seine Frau war tüchtig und kalt und selbständig gewesen. Und Gerda? Jemand, der weniger zu Zärtlichkeiten – wie etwa, daß man ihr über das Haar strich – eingeladen hätte, ließ sich schwer denken. „Gewiß kann es Spaß machen, einer Frau zu begegnen, die so raffiniert ist wie ein erlesener Cocktail. Aber man kann mit einem Cocktail nicht seinen Durst löschen. Und Sie sind kein Cocktail,
Fräulein Astrid. Glücklicherweise.“ Astrid mußte lachen. „Kein Cocktail? Was bin ich dann? Eine Flasche Brauselimonade? Oder ein Glas Milch?“ „Nein. Sie sind ein Quell. Ein kühler, kristallklarer, sprudelnder Quell. Ein Quell, an dem man seinen Durst mit dem besten aller Getränke löschen kann – Wasser! Ja! Lachen Sie nicht! Gibt es für einen Menschen, der Durst hat, wohl etwas Besseres als reines, frisches Wasser? Sie sind ein solcher Quell, den der müde Wanderer segnet und an dem er sein Zelt aufschlägt und bleibt…“ Astrid blickte Harder verwundert an. Daß jemand so sprechen konnte! Harder führte die Sprache einer längst vergangenen Zeit, einer anderen Welt. Wie konnten in diesem prosaischen Zeitalter des Nylons und des Jargons derartige Worte laut werden? Harder merkte, daß sie ihn verwundert ansah. „Habe ich Sie erschreckt? Wenn Sie sich einmal etwas mit Psychoanalyse befaßt hätten, würden Sie wissen, was Verdrängungen sind. Was mich betrifft, so habe ich wohl den Zärtlichkeitsdrang und einen unglückseligen Hang zu – ich hätte beinahe gesagt: zur Poesie – verdrängt… verdrängt und in meinem Innern gut verschlossen… und da kommen Sie, schleichen sich in mein Dasein und schließen auf… Aber nun wollen wir von anderen Dingen reden. Stecken Sie Ihre Hand in meine Tasche. Sie finden da eine Tafel Schokolade. – Ich möchte das Lenkrad nicht loslassen.“ Astrid steckte ihre Hand in seine Manteltasche. Diese leichte Berührung erzeugte bei ihr ein Gefühl der Vertraulichkeit – sie wußte nicht, ob es ihr angenehm oder unangenehm war. „Wollen Sie mich hungern lassen?“ lachte Harder. „Könnten Sie mir nicht ein kleines Stück in den Mund stecken?“ Der Wagen fraß die Kilometer. Zum Lunch waren sie in Sundvollen. Während des Essens und des nachfolgenden Kaffees sprachen sie nur über ganz allgemeine Dinge, und Astrid hatte das befreiende Gefühl, daß Harder sie nicht aus Gutmütigkeit eingeladen hatte. Hier war nicht von Mitleid, von „arme kleine Astrid“ die Rede. Harder brauchte sie ganz einfach. Und das zu wissen tat wohl. Sie ließen den Wagen stehen und machten in der klaren, reinen Herbstluft einen Nachmittagsspaziergang. Harder nahm ihren Arm, und sie gingen langsam und plauderten leise und gemütlich miteinander. Sie konnten auch längere Zeit zusammen schweigen, ohne daß die Stille bedrückend wurde. Ganz beiläufig erwähnte Harder seine Tochter, und Astrid fragte,
wann sie und Mostvedt heiraten würden. „Darüber wird wohl noch einige Zeit vergehen“, sagte Harder. „Sie wissen ja, wie Gerda ist. Wenn schon – denn schon! Diesmal steht ihr der Sinn nach einem eigenen Haus mit einem großen Grundstück, einer Kaninchen-Musterfarm und dergleichen. So etwas braucht ja Zeit.“ „Ja. Natürlich.“ Sie ließen das Thema fallen. Und wieder konnte Astrid feststellen, daß sich über ihrer Wunde Borke gebildet hatte. Sie fuhren nach der Stadt zurück. Harder setzte sie vor der Pension ab und bat sie, ein Abendkleid anzuziehen. Er wollte sie in einer Stunde wieder abholen. „Ich will nur den Wagen in die Garage bringen“, erklärte er. „Heute abend nehmen wir ein Taxi… sonst darf ich ja kein Glas Wein mit Ihnen trinken!“ Nach dem Theater soupierten sie und tanzten. Astrid hatte zwei blaßgelbe Rosen auf der Schulter befestigt. Ihre Augen glänzten. Der Tag in freier Luft hatte ihren Wangen eine frische Röte verliehen. Und sie war so jung und so natürlich und unmittelbar, daß die Leute nach ihr hinblickten. Sie stach von all den geschminkten und zurechtgemachten und affinierten Damen an den verschiedenen Tischen rundum auffallend ab. Bei der Heimfahrt im Taxi legte Harder den Arm um sie und drückte sie an sich. „Was soll ich Ihnen aus dem Ausland mitbringen, Astrid?“ fragte er. „Mitbringen? – Mir? – Aber nein…“ „Das werde ich doch wohl noch dürfen? Mein Gott, kleine Astrid, ich könnte ja Ihr Papa sein! – Kann ich Sie da nicht adoptieren… wenigstens so halb? Ich brauche eine solche kleine Tochter wie Sie…“ Er preßte sie fester an sich. Astrid blickte auf und sah ihm ins Gesicht. Und da löste sie sich still aus seinem Arm. Sie wußte selbst nicht, warum. Harder ließ es geschehen. Vielleicht wußte er, warum.
Sie können ihn um eins abholen… „Hier Fräulein Liberg! - Ja, das ist richtig! - Ja, morgen habe ich Zeit. Paßt es um zehn? – Welche Rasse? – Da müssen Sie schon drei bis vier Stunden rechnen. – Das macht zwanzig Kronen. – Wie war der Name…?“ „Hier Fräulein Liberg! – Nein, das kann ich leider nicht! Dressuren übernehme ich nicht. – Es ist eine Trimmanstalt… eine Hundescheranstalt, wenn Sie wollen. – Bedaure, aber da kann ich Ihnen nicht dienen…“ „Hier Fräulein Liberg! – Gewiß! Einen Augenblick, bitte! Ich werde gleich nachsehen. – Montag um zwölf bin ich frei. - Nein, baden Sie ihn bitte nicht vorher. Das macht das Trimmen nur schwieriger. – Zwei Stunden werden genügen, wenn er nicht zu zottiges Haar hat. Fünfzehn Kronen. - Jawohl.“ Eigentlich hatte Astrid es Rolf Heier zu verdanken, daß der Start so gut gelungen war. Zuallererst natürlich der Mutter. Astrid war ganz sprachlos gewesen vor Überraschung, als sie bei der Heimkehr ihre Trimmanstalt schon fix und fertig vorgefunden hatte. Der Arbeitsraum war schimmernd weiß und hellgrün gehalten. Weder das fließende Wasser mit einem Porzellanwaschbecken und einem Warmwasserspeicher fehlte noch ein „Wartestuhl“ und ein „Wartetisch“, auf dem sogar Aschenbecher und Zeitschriften auf die Kunden warteten. Und Wand an Wand mit dem Arbeitsraum war ein allerliebstes kleines Hundebad eingerichtet. Das Schild war groß genug, um von der Straße aus gesehen zu werden. Es war ein sehr hübsches Schild. Es kam, wie Harder prophezeit hatte: Rolf Heier mit seinen beiden prämiierten Riesenschnauzern war ihr erster Kunde. Er war hinsichtlich des Trimmens sehr verwöhnt, und Astrid hatte heftiges Herzklopfen gehabt, als sie sich an die Arbeit gemacht hatte. Aber Rolf Heier war zufrieden gewesen und hatte Bemerkungen gemacht, die Erfahrung und Sachkenntnis bewiesen. Auch die Hunde hatten gezeigt, daß die Sache für sie nichts Neues war, und sich sehr manierlich benommen. „Sie haben einen riesigen Vorteil gegenüber anderen Trimmern“, sagte Rolf Heier. „Die Hunde haben zu Ihnen hundertprozentiges Zutrauen, und sie gehorchen Ihnen. Auf diese Weise können Sie in Ruhe arbeiten.“ „Das meinten sie auf dem Kursus auch“, sagte Astrid froh. Die
ersten Tage waren aufregend. Es war ja nicht gerade ein gleichmäßiger Strom von Kunden, und viele waren auch in einem großen Irrtum befangen, denn sie glaubten, Astrid habe eine Hundepension und befasse sich mit Dressuren. Aber die Kunden, die kamen, waren zufrieden, und Astrid gab sich auch die größte Mühe, sie zufriedenzustellen. Sie hatte auch seltsame Erlebnisse! Noch immer mußte sie lachen, wenn sie an die Dame dachte, die sie der Tierquälerei beschuldigte und die sich vom Gegenteil erst überzeugen ließ, als sie sah, wie ihr Hund vergnügt Astrids linke Hand beleckte, während sie mit der rechten trimmte. Und ihr schauderte bei dem Gedanken an den Mann, der seinem kleinen Cockerspaniel ein schweres Stachelhalsband umgebunden hatte und das damit begründete, das Tier wäre auf der Straße so wild und zöge immer an der Leine. Und sie seufzte – noch in der Erinnerung ganz verzweifelt – über die ältere Dame, die unter allen Umständen mit dabeisein wollte, wenn ihr fetter Schoßhund getrimmt würde, und die ihn dann ganz nervös machte, indem sie ihn grenzenlos bedauerte und die Arbeit alle fünf Minuten unterbrach, um ihrem Liebling Schokolade zu geben. O ja! Man erlebte schon so allerlei! Es war ein Samstagmorgen. Astrid hatte an diesem Tage nur einen einzigen Auftrag. Es handelte sich um einen kleinen Terrier, der um neun Uhr abgeliefert wurde und um elf wieder abgeholt werden sollte. Er war indessen schon nach einer Stunde fix und fertig und wurde in den Auslauf gesetzt, wo die Sonne schien. Astrid fegte die weiße Hundewolle zusammen und trocknete den Trimmtisch ab. Da ging hinter ihr die Tür auf. Ein graugelbes Knäuel schoß wie eine Rakete herein und flog mit wild wedelndem Schwanz auf Astrid los, sprang an ihr hoch und machte einen tapferen Versuch, ihr das Gesicht zu lecken. „Timian!“ rief eine Stimme, die sich vergeblich bemühte, streng zu klingen. Timian machte eine Kehrtwendung und flog auf den Besitzer der Stimme los. Astrid lachte und trocknete sich die Nasenspitze ab, die Timians Zunge erwischt hatte. Der Besitzer des Hundes hatte das Halsband zu fassen bekommen und hielt ihn einigermaßen in Schach. „Entschuldigen Sie…“, sagte er.
„Keine Ursache“, lachte Astrid. „Könnten Sie dieses merkwürdige Tier wohl trimmen? Ich weiß, er ist ein fürchterlicher Bastard und hat unter feinen rauhhaarigen Hunden nichts verloren, aber der arme Kerl tut mir so leid, wenn er mit diesen Zotteln herumlaufen muß.“ „Du lieber Gott!“ sagte Astrid. „Ich sehe doch wirklich nicht auf die Rasse. Für mich ist nur das Fell von Bedeutung. Komm her, Timian!“ Sie hatte den ruhigen, bestimmten Stimmklang, dem alle Hunde gehorchen. Timian schlenderte neugierig zu ihr hin. Sie befühlte das Fell. „Wirklich, du Ärmster“, sagte sie, „es wird dir guttun, wenn du etwas ausgelüftet wirst.“ Sie wandte sich an Timians Besitzer. „Ihr Hund hat übrigens ein ungewöhnlich schönes Fell. Es macht den Eindruck, als würde es mit größter Sorgfalt gepflegt.“ „Ich tue mein Bestes. – Aber sagen Sie, es trifft sich wohl nicht so glücklich, daß Sie ihn gleich vornehmen können?“ „Doch“, erwiderte Astrid lächelnd. „Es trifft sich so glücklich. Sie können ihn um eins abholen.“ „Vielen Dank. Und bekommen Sie keinen Schreck! Er ist fürchterlich lebhaft und leider nicht besonders gut erzogen; aber es findet sich nichts Böses in ihm.“ „Das brauchen Sie mir nicht zu sagen“, erwiderte Astrid. „Er ist lieb und vergnügt und etwas ungeschliffen. Ein herrlicher Typ. Außerdem ist er klug.“ „Können Sie ihm das sofort ansehen?“ „O ja“, sagte Astrid. „Diese Augen da sitzen in keinem dummen Kopf.“ Timians Besitzer lächelte. Astrid stellte fest, daß es ein ungewöhnlich schönes Lächeln war, wie man es mitunter bei Menschen sieht, die nur selten lächeln. „Timian!“ sagte er. „Braver Hund. Bleib bei der Dame! Hast du verstanden? Ich komme bald zurück.“ Timian winselte leise. „Nicht winseln, Timian! Paß auf die Dame auf! Verstehst du? Paß auf die Dame auf!“ Bei den Worten „Paß auf die Dame auf!“ spitzte Timian die Ohren. Er hielt den Kopf schief und sah seinen Herrn fragend an. „Wenn ich zu Timian sage, er solle auf etwas oder jemand aufpassen“, erklärte dieser Astrid, „dann bleibt er da. Ich hoffe, Sie
werden nicht zuviel Plage mit ihm haben!“ Er blickte auf seine Uhr und wandte sich schnell zur Tür. Offenbar hatte er es eilig. „Entschuldigen Sie! Wie ist Ihr Name?“ fragte Astrid. Er antwortete, aber in demselben Augenblick hielt Timian es für angezeigt, seinem Herrchen zum Abschied kräftig nachzubellen. Ob Timians Nachname Jensen, Jansen, Svendsen oder Hansen lautete, war unmöglich auszumachen, und im nächsten Augenblick war Herr Jensen-Jansen-Svendsen-Hansen verschwunden. Astrid nahm den Hund in Augenschein. Er war wirklich ein schnurriger kleiner Bursche. Der eine Teil seiner Eltern mochte ein Schnauzer gewesen sein, was aber der andere gewesen sein mochte, konnte Astrid nun wirklich nicht erraten. Nur eins schien sicher: Es mußte etwas sehr Zottiges gewesen sein, wenn man aus dem Ergebnis seine Schlüsse ziehen konnte. Timians Haarwuchs hätte jeder Haarwasserfirma als Reklame dienen können. Abgesehen von seiner unglaublichen Neugierde, die bei der Arbeit ziemlich hinderlich war, benahm Timian sich musterhaft, und er war ein allerliebster kleiner Kerl. Was stellte er nicht alles an! Bald mußte er an der Schere schnuppern oder das Trimmesser anblaffen, bald mußte er unbedingt seine Schnauze unter Astrids Arm bohren und sehr lieb tun, um im nächsten Augenblick mit dem Mute eines Löwen die mit Wachstuch bezogene Tischecke anzugreifen. Es wurde, mit anderen Worten, ein ziemlich anstrengender Vormittag. Aber langweilig war er auf keinen Fall. Timian war so urkomisch, wenn er mit schief gelegtem Kopf aufmerksam auf alles lauschte, was Astrid sagte, und einfach unwiderstehlich, wenn er ihr zum Dank für jedes freundliche Wort unbedingt das Gesicht lecken mußte. „Und da gibt es Leute, die behaupten, die Hunde kröchen vor den Menschen auf dem Bauch und hätten Angst vor ihnen“, dachte Astrid, als sie sich zum achten Male das Gesicht abwischte. Als es ein Uhr war, hatte Timian sich aus einem unendlich struppigen Knäuel in einen schlanken, höchst eleganten Hund mit geraden, feinen Pfoten, drolligen buschigen Augenbrauen und dem richtigen viereckigen Schnauzergesicht verwandelt. „Was bist du doch für ein flotter Hund geworden!“ sagte Astrid. „Nun kann Papa kommen und dich holen, wenn er will.“ „Papa“ ließ auf sich warten. Astrid setzte Timian in den Auslauf
und stellte ihm einen Napf mit Wasser hin. Sie begann die graugelben Zotteln zusammenzufegen, um sie in die große Kiste zu tun, in der sie die für den Verkauf an eine Sohlenfabrik bestimmte Hundewolle sammelte. Plötzlich aber blieb sie stehen, blickte nachdenklich auf die Wolle, nahm etwas davon auf und rieb es zwischen den Fingern. Diese Wolle war so langhaarig und weich und fein, daß man meinen sollte, sie könne zu Garn versponnen werden. Wirklich, sie mußte sich eine zweite Kiste für besonders feine Hundewolle zulegen. Vielleicht konnte sie sie gelegentlich spinnen lassen. Merkwürdig übrigens, daß Herr Hansen-Jensen-Svendsen-Jansen nicht kam! Es war fast zwei Uhr, und Timian winselte laut und mißvergnügt. Um drei Uhr läutete das Telefon, aber es war nicht Timians „Papa“, sondern eine Bestellung für Montag. Um vier Uhr kam Frau Liberg nach Hause. Zu dieser Zeit stand Timian in der Küche und verzehrte die Frikadellenreste vom vergangenen Tage. Um fünf Uhr begann Timian ernstlich unruhig zu werden. Er kratzte an der Tür und blickte Astrid flehend an. „Mein lieber Timian“, sagte sie. „Wie gern würde ich dich hinauslassen! Aber du weißt doch, ich trage die Verantwortung für dich. Ich lasse dich nicht aus den Augen, ehe nicht Papa kommt und dich holt!“ Timian heulte laut. Es wurde immer schlimmer, je weiter der Abend vorrückte. Astrid wußte nicht, was sie von der ganzen Sache halten sollte, und ihre Gedanken über Timians „Papa“ waren nicht besonders freundlich. Auch Rücksichtslosigkeit mußte doch ihre Grenzen haben! „Du wirst sehen, er dachte, du meintest ein Uhr nachts“, spottete Hein. „Du hättest natürlich dreizehn Uhr sagen sollen.“ Aber um ein Uhr nachts lag Astrid in ihrem Bett, und auf ihren Beinen lag etwas Graugelbes, Warmes, Saubergetrimmtes. Timian war am Abend so verzweifelt gewesen, daß Astrid ihn, um ihn zu beruhigen, auf den Schoß nehmen und immer wieder sagen mußte: „Du weißt doch, Timian, du sollst auf mich aufpassen!“ Schließlich war Timian so einigermaßen zur Ruhe gekommen, und Astrid hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn die Nacht über in der Küche oder im Keller liegen zu lassen. Und kaum war sie im
Schlafzimmer, so zeigte Timian, daß er wußte, wozu ein Bett da war. Sein ganzes Verhalten bewies, daß er es gewohnt war, seine Nächte am Fußende eines Bettes zu verbringen. „Du bist wirklich ein drolliger kleiner Mann, so zottig du auch ausgesehen hast“, sagte Astrid. „Wenn Papa dich ganz im Stich läßt, dann behalte ich dich. Du bist süß, Timian.“ Und Timian streckte sich behaglich auf dem Bett aus. Er reckte seinen schlanken, frisch getrimmten Hals so weit vor, daß Astrid ihm den Kopf streicheln konnte. Ihre Hand ruhte noch immer auf Timians Kopf, als sie beide schon längst schliefen.
Machen Sie sich um Timian keine Sorgen „Nein“, sagte Astrid. „Das einzige, was ich tun kann, ist, daß ich Timian vorläufig behalte und abwarte, ob das Geheimnis sich nicht doch noch lüftet. Zu dumm, daß ich den Namen seines Besitzers nicht verstanden habe. Das Merkwürdige ist, daß er an Timian sehr zu hängen schien. Ich halte es daher für ausgeschlossen, daß er ihn einfach im Stich lassen würde. Wenn ihm nur nichts zugestoßen ist!“ „Vielleicht hat er seine Hausgehilfin oder einen Jungen gebeten, den Hund abzuholen, und ist selber fortgefahren“, meinte Hein. Sie saßen beim späten Sonntagsfrühstück mit Timian neben Astrids Stuhl. Es war leicht zu merken, daß er es gewohnt war, bei Tisch gefüttert zu werden, und da es nicht Astrids Sache war, ihm Unarten abzugewöhnen, steckte sie ihm mit ruhigem Gewissen ein Stück Butterbrot ins Maul. Nach dem Frühstück machte sie mit Timian an der Leine einen Spaziergang. Aber hinterher schwor sie sich, es nie wieder zu tun, denn einen solchen Mangel an „Leinendisziplin“ hatte sie noch nie gesehen. Er zog und zerrte, rannte um Astrid herum und umschnürte ihre Beine mit der Leine, er bellte alles und alle an und führte sich im ganzen unglaublich unerzogen auf. Aber der kleine Unhold hatte einen unvergleichlichen Charme. Wenn er seine klugen nußbraunen Augen auf sie richtete, verflog ihr Ärger sofort. Und am Abend schlief Timian wieder auf ihrer Bettdecke. Früh am nächsten Morgen läutete das Telefon. „Verzeihen Sie“, sagte eine etwas unsicher klingende weibliche Stimme. „Werden bei Ihnen Hunde geschoren?“ „Ja. Bitte sehr!“ sagte Astrid. „Haben Sie vielleicht zufällig einen Hund bei sich, der Timian heißt?“ „In der Tat“, sagte Astrid gereizt, denn sie war wirklich böse. Es war aber auch eine Art, zwei volle Tage einen Hund bei ihr abzuladen und dann bloß anzurufen und so ganz beiläufig zu fragen! „Hier ist Abteilungsschwester Jenny vom Städtischen Krankenhaus. Die Sache ist nämlich die, daß am Samstag ein Patient eingeliefert wurde, der einen Unfall gehabt hatte. Er ist meistens ohne Bewußtsein und phantasiert viel von einem Hunde, der Timian heißt. Gestern abend war er etwas klarer, und da sagte er: ,Timian ist zum Trimmen!’ Und da habe ich mir gedacht, es müsse in der Stadt
wohl eine Hundetrimmanstalt geben…“ „Timian geht es ausgezeichnet“, unterbrach Astrid. „Grüßen Sie bitte den Patienten, und sagen Sie ihm, er könne Timians wegen ganz unbesorgt sein.“ „Vielen Dank!“ sagte Schwester Jenny, und ihre Stimme klang deutlich erleichtert. „Sie werden verstehen… unser Patient kann keine Ruhe finden, er richtet sich immer wieder im Bett auf und redet von diesem Hund. Und er muß unbedingt Ruhe haben…“ Astrid fragte nach dem Namen des Besitzers und erfuhr, daß er weder Hansen noch Jensen hieß, sondern Trahne – Polizeikommissar Trahne. Er hatte am Samstag gegen eins ein Taxi genommen (um pünktlich Timian abzuholen, dachte Astrid), und das Taxi war mit einer Straßenbahn zusammengestoßen. Trahne hatte eine schwere Gehirnerschütterung davongetragen und das Bewußtsein verloren. Nein, gefährlich war es wohl nicht, aber er mußte Ruhe haben, und nun hatte er sich seit beinahe achtundvierzig Stunden unruhig herumgewälzt und von dem Hunde phantasiert. Kein Wunder, daß er immer nervöser geworden war, die Temperatur war auch weiter gestiegen. „Wollen Sie ihm bitte einen Gruß ausrichten?“ sagte Astrid. „Ich wünsche ihm gute Besserung, und ich würde den Hund solange bei mir behalten, wenn er keine Familie hat, die sich Timian annehmen kann.“ „Eine Familie hat er hier wohl nicht“, erklärte Schwester Jenny. „Als er bewußtlos eingeliefert worden war, riefen wir bei der Polizei an und erkundigten uns. Er scheint ganz allein in der Stadt zu sein.“ „Glauben Sie, es wird ihn beruhigen, wenn ich ihn besuche und mit ihm spreche?“ fragte Astrid. Und in demselben Augenblick wunderte sie sich über sich selbst. Sie empfand plötzlich tiefes Mitleid mit dem jungen Mann, der ein so schönes Lächeln hatte und so an seinem Hunde hing. „Das wäre großartig“, sagte Schwester Jenny. „Riesig nett von Ihnen. Er liegt auf Nummer sechzehn in der zweiten Etage. Besuchszeit ist zwischen zwei und halb vier.“ „Schönen Dank für den Anruf, Schwester. Und sagen Sie Herrn Trahne also bitte, er brauche sich um Timian nicht zu sorgen.“ Sie lächelte, als sie den Hörer auflegte. Wie dumm sie gewesen war! Sie hätte doch wissen müssen, daß dieser Mann seinen Hund nicht freiwillig im Stich gelassen hatte! Sie erinnerte sich noch genau an alles. Wie ruhig und warm hatte seine Stimme doch geklungen,
als er sich von Timian verabschiedet hatte! Und sie wußte auch, was es bedeutet, wenn ein Tier so vergnügt und vertrauensvoll war wie der kleine Timian. Es bedeutet, daß es gut behandelt wurde. Astrid hatte an diesem Vormittag nur einen einzigen Hund zu trimmen: einen guterzogenen Airedaleterrier, der wenig Mühe machte. Als sie mit ihm fertig war, setzte sie Timian in den Auslauf, ließ aber das Fenster zu ihrem Arbeitsraum offen. Sie gab ihm Hundekuchen und Wasser und machte sich dann auf den Weg zum Krankenhaus. Unterwegs kaufte sie drei weiße Rosen; und bald darauf war sie am Ziel. Zu ihrer Verwunderung war Nummer sechzehn ein Einzelzimmer. Die Erklärung erhielt sie später: „Der Patient war nachts so unruhig, daß wir ihn isolieren mußten, damit die anderen Kranken schlafen können“, sagte Schwester Jenny. Der Kopf auf dem Kissen wandte sich herum, als die Tür aufging, und die Wangen des Kranken röteten sich leicht. Das Mitleid mit dem einsamen jungen Menschen verlieh Astrid Sicherheit und weckte ein Gefühl der Mütterlichkeit. Sie wollte Timians „Papa“ so gern eine Freude machen. Sie legte die drei Rosen auf den Nachttisch. „Das ist ein Gruß von Timian“, sagte sie lächelnd. „Ich hoffe, Sie finden es nicht zudringlich, daß ich gekommen bin. Aber ich wollte Ihnen gern selbst sagen, daß es Timian gutgeht.“ Trahne errötete noch mehr. Dann sagte er mit schwacher Stimme: „Es… es ist gar zu freundlich von Ihnen… Fräulein… Fräulein…“ Er blickte sie hilflos an. „Denken Sie! Jetzt habe ich Ihren Namen vergessen. Ich weiß nur, daß Sie Hunde trimmen…“ „Liberg“, half Astrid ihm. „Astrid Liberg. Sie dürfen glauben: Timian und ich sind sehr gute Freunde geworden.“ „Was mögen Sie eigentlich von mir gedacht haben, als ich ihn nicht abholte?“ sagte Trahne. „Zuerst konnte ich es nicht begreifen“, gestand Astrid. „Aber dann kam mir der Verdacht, es müsse Ihnen etwas zugestoßen sein. Und da ich Ihren Namen nicht verstanden hatte, wußte ich gar nicht, was ich tun sollte.“ „Es ist nur gut, daß Schwester Jenny soviel Grütze im Kopf hatte“, sagte Trahne, und ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. „Sie hatte Ihre Anzeige in der Zeitung gesehen, und da ich soviel von Timian und Trimmen phantasiert hatte, kam sie auf den Gedanken…“
„Sie Ärmster!“ sagte Astrid. „Ich kann mir wohl denken, wie nervös Sie waren. Sie hängen wohl sehr an Timian?“ Trahnes Augen leuchteten auf. „Ja“, sagte er. „Timian wurde als herrenloser junger Hund vor drei Monaten bei der Polizei abgeliefert. Da er nicht abgeholt wurde, war sein Schicksal besiegelt. Er ist ja nun wirklich kein Rassehund und sollte deshalb getötet werden. Aber ich hatte den kleinen Kerl liebgewonnen, und so bekam ich ihn. Ja – ich hänge sehr an ihm.“ Trahnes Stimme hatte jetzt wieder denselben warmen Klang wie an dem Tage, da er von Timian Abschied genommen hatte. „Die Anhänglichkeit dürfte gegenseitig sein“, sagte Astrid. „War er schrecklich unruhig?“ fragte Trahne und blickte Astrid ängstlich an. „Nicht gar zu arg“, beruhigte Astrid ihn. „Zuerst winselte er ja ziemlich viel, aber dann nahm ich ihn auf den Schoß und sagte ihm, er müsse auf mich aufpassen; und nachts liegt er auf meinem Bett!“ Jetzt wurde Trahne dunkelrot. „Ich schäme mich fürchterlich“, gestand er. „Ich hätte Timian das abgewöhnen sollen – auch daß er bei Tisch bettelt –, aber vielleicht können Sie mich verstehen… ich habe keine Familie hier… niemand, für den ich die Verantwortung trage…“ „Sie brauchen sich wirklich nicht zu verteidigen“, lachte Astrid. „Das ist doch ganz und gar Ihre eigene Sache. Und wenn es Sie beruhigt, so gestehe ich gern, daß ich an Ihrer Stelle sicher ebenso unvernünftig gewesen wäre. – Aber jetzt sind Sie wohl recht müde, Herr Trahne. Glauben Sie, daß Sie jetzt richtig schlafen können? Um Timian machen Sie sich doch wohl keine Sorgen mehr?“ „Ich… ich sollte eigentlich sehr viel Hübsches zu Ihnen sagen“, erwiderte Trahne. „Aber ich bin leider sozusagen noch etwas… schachmatt. Ich bin Ihnen sehr dankbar.“ Sein Gesicht sah plötzlich ganz verfallen aus vor Müdigkeit. Astrid stand auf. „Sprechen Sie nicht von Dankbarkeit. Es macht mir riesigen Spaß, Timian bei mir zu haben. Und Sie können ganz sicher sein, daß gut für ihn gesorgt wird. Wie fein er aussieht – so frisch getrimmt! Sie werden ihn kaum wiedererkennen. Recht gute Besserung, Herr Trahne! Und machen Sie sich keine Sorgen um Timian!“
Du bist ja ein ganz neuer Mensch Frau Liberg war von ganzem Herzen froh. Um ihr „kleines Mädchen“ brauchte sie sich keine Sorgen mehr zu machen. Astrid war richtig lebhaft geworden, sie wirkte ausgeglichen, ja glücklich, und sie hatte eine Sicherheit gewonnen, die ihr früher immer fehlte. Sie hatte nicht mehr die demütige und ängstliche Stimme von früher. Wenn Leute anriefen, um ihr einen Auftrag zu erteilen, war sie energisch, freundlich und geschäftsmäßig. Je mehr sie zu tun bekam, desto größer wurde ihre Sicherheit. Die Mutter freute sich. Der Name Per Mostvedt wurde nie mehr genannt. Ein paarmal hatte Astrid ganz beiläufig Gerda erwähnt. Ihre Stimme hatte dabei vollkommen natürlich geklungen. Die Arbeit in dem hellen Kellerraum ging ihr flott von der Hand und machte ihr nach wie vor Spaß. In einer Ecke lag Timian in seiner Kiste und führte sich verhältnismäßig artig auf. Er war im Laufe dieser wenigen Tage von Astrid ganz abhängig geworden, und er wurde nie müde, ihr seine grenzenlose Zuneigung zu zeigen. Astrid rief im Krankenhaus an und sprach mit Schwester Jenny. O ja, es ging Herrn Trahne recht gut. Wahrscheinlich würde er in einer Woche entlassen werden können. Astrid überlegte eifrig, während sie einen kleinen schwarzen Pudel in Arbeit hatte. Der arme Herr Trahne, der da so von aller Welt verlassen im Krankenbett lag, tat ihr unendlich leid. Aber natürlich konnte sie nicht gut noch einmal zu ihm gehen. Das hätte vielleicht aufdringlich gewirkt. Der Pudel wurde abgeholt. Seine Herrin strahlte vor Zufriedenheit. „Das hier ist eine kleine Zugabe“, sagte die Dame, nachdem sie bezahlt hatte. Das „hier“ war eine Schachtel mit auserlesenem Konfekt. Astrid protestierte; aber die Dame gab nicht nach. Ihr Mann habe ihr die Schachtel von einer Auslandsreise mitgebracht, erklärte sie. Es wäre ja sehr gut gemeint gewesen, aber sie wage es nicht, Süßigkeiten zu essen. – „Wegen der schlanken Linie“, fügte sie lächelnd hinzu. Und die Dame und der Pudel verschwanden, beide gleich vergnügt. Astrid schaute die Schachtel mit dem Konfekt nachdenklich an. Sie wußte wohl, was sie gar zu gern getan hätte. Wenn es nur nicht
zu aufdringlich wirkte! Beim Mittagessen war sie still und in sich gekehrt. Sie war so still, daß Frau Liberg fragte, ob ihr etwas fehle. „Im Gegenteil!“ antwortete Astrid. „Ich denke bloß nach. Ja doch, Timian… du bekommst gleich…“ Astrid tat Fisch, Kartoffeln und Soße in Timians Blechnapf und stellte diesen neben ihren Stuhl. Timian fraß gierig. „Ja“, dachte Astrid. „Ich tue es. Und wenn schon! – Er wird es sicher richtig auffassen.“ So schrieb sie denn auf eine Karte: „Liebes Herrchen! Mir geht es gut. Und ich bekomme ein Futter, mit dem ich zufrieden sein kann. Darum sollst Du auch einmal etwas Ordentliches bekommen. Gute Besserung und ein freundliches wau, wau von Deinem Timian.“ Die Karte wurde unter das Seidenband geschoben, mit dem die Schachtel verziert war, und dann wurde das Ganze manierlich in weißes Papier eingepackt. Astrid hatte sich selbst gelobt, Timian nie wieder mit auf die Straße zu nehmen. Als sie aber den Mantel anzog und sah, wie er vor Ungeduld am ganzen Leibe zitterte und sie durchaus begleiten wollte, tat er ihr leid. Sie erbarmte sich seiner also und machte die Leine an seinem Halsband fest. Sie wollte die Schachtel mit dem Konfekt beim Pförtner abgeben. Sie brauchte ja mit niemand zu sprechen. Als sie beim Krankenhaus anlangte, stand das Tor weit offen. Die Besuchszeit war längst vorüber. Wahrscheinlich war gerade ein Krankenwagen durch das Tor gefahren. Sie blickte in die Pförtnerloge. Sie war leer. Astrid konnte sich hinterher selbst nicht erklären, wie sie so keß hatte sein können. Ehe sie noch recht begriff, wie es zugegangen war, waren Timian und sie durch das Tor geschlüpft und gingen den halbdunklen Gartenweg hinunter. Sie begegneten keinem Menschen. Astrid blickte auf die Uhr. Sechs. Wenn sie sich nicht irrte, waren die Vorkehrungen für die Nachtruhe bereits getroffen. Wie war es gewesen, als sie selbst wegen ihrer Mandeln hier gelegen hatte? - Ja, die Stunde von sechs bis sieben war still und schrecklich langweilig. - Milde ausgedrückt, hatte sie sehr viel Glück gehabt. Als sie, Timian kurz an der Leine haltend, die Treppe hinaufging,
kam ihr der Gedanke, daß sie ja nach Schwester Jenny fragen könne, wenn jemand sie aufhalten wollte. Aber sie traf niemand. Und es war, als habe Timian den Ernst der Situation begriffen. Er verhielt sich ganz unwahrscheinlich still. Endlich standen sie vor Nummer sechzehn. Sie klopfte und lauschte. Ja. Von drinnen antwortete eine Stimme: „Herein!“ Sie klang lauter und kräftiger als vor ein paar Tagen. Trahne saß aufrecht im Bett. Die Nachtlampe brannte, und er hielt ein Buch in der Hand. „Das ist aber doch…“ Mehr konnte er nicht sagen. Denn schon hatte Timian sich losgerissen und war wie ein Unwetter über ihm. Astrid bekam ihn noch glücklich am Halsband zu fassen, bevor er die ganze Bettdecke zerknüllt hatte. „Aber Timian… Timian…“ Astrid mußte ihn festhalten, während Trahne ihm immer wieder den Kopf und Nacken streichelte. „Wie fein du aussiehst, Timian! – Aber wer hat dir erlaubt, mich zu besuchen?“ „Wir haben uns eingeschlichen“, sagte Astrid. „Und wir bekommen fürchterliche Schelte, wenn wir entdeckt werden. Wir wollten eigentlich nur schnell dieses kleine Paket für Sie abgeben… aber da stand zufällig gerade das Tor offen, und wir schlüpften hindurch.“ Sie legte die Schachtel mit dem Konfekt auf die Bettdecke. „Wie geht es Ihnen?“ „Danke. Vielen Dank. Es geht mir recht gut. Übermorgen soll ich entlassen werden.“ „Haben Sie…“ Astrid biß sich auf die Lippe. „Ob ich was habe?“ „Nein, entschuldigen Sie… das geht mich nichts an…“ „Sprechen Sie es doch aus! Wonach wollten Sie mich fragen?“ „Ich… ich mußte nur daran denken… haben Sie jemand, der für Sie sorgt… jetzt, wo Sie doch Rekonvaleszent sind…?“ „O ja. Ich habe eine nette Wirtin. Es wird schon ganz gutgehen.“ „Wollen Sie, daß ich Timian noch ein paar Tage behalte? Ich meine, wenn Sie wieder zu Hause sind? Vielleicht wäre es das beste für Sie…“ Jetzt wurde Trahne wieder rot, und Astrid hatte den Eindruck, daß er etwas befangen war. Da tat er ihr noch mehr leid, denn sie wußte aus Erfahrung, wie scheußlich es ist, wenn man sich befangen und unsicher fühlt. Und sie wußte, wie wundervoll es ist, wenn man
damit fertig wurde. „Finden Sie nicht, daß ich schon tief genug in Ihrer Schuld stehe?“ fragte Trahne. Er fingerte an der Schachtel herum, für die zu danken er vergessen hatte… „Nicht im geringsten“, sagte Astrid. „Ich kann Ihnen verraten, daß ich aus rein egoistischen Gründen frage. Ich habe Timian nämlich richtig liebgewonnen. Und mir graut bei dem Gedanken, daß ich ihn nun bald wieder hergeben muß.“ „Wenn es wirklich Ihr Ernst ist, dann… dann wäre es natürlich…“ „Gut“, sagte Astrid. „Ich behalte ihn also, bis ich von Ihnen höre. Es eilt nicht. Lassen Sie sich Zeit, und werden Sie erst wieder ganz gesund!“ Auf dem Korridor erklangen Schritte. Astrid und Trahne blickten einander erschrocken an und wagten kaum zu atmen. Astrid hatte plötzlich das Gefühl, als wären sie und Trahne gute Kameraden, als wären sie zwei Kinder, die gemeinsam einen Streich ausgeheckt hatten und nun in Angst schwebten, es würde alles herauskommen. Die Schritte gingen vorüber. Sie atmeten erleichtert auf und mußten lachen. „Ich glaube, wir müssen gehen“, sagte Astrid. „Das heißt: Wir müssen versuchen, uns unbemerkt aus dem Staube zu machen. Wenn wir einer gestrengen Oberschwester begegnen, falle ich vor Schreck in Ohnmacht. Ich habe einen riesigen Respekt vor allem, was eine weiße Haube und eine weiße Schürze trägt. Gar nicht zu reden von Oberärzten mit Brillen!“ Trahne lächelte. „Ist nur halb so schlimm“, sagte er. „Die Schwestern und die Ärzte sind auch bloß Menschen, und die, mit denen ich es zu tun hatte, waren wirklich reizend. Sie nennen mich übrigens nur ,Timian’ – kein Wunder, wo ich soviel dummes Zeug geredet habe, als die Schubladen meines Gehirns so arg in Unordnung geraten waren. Und die Oberschwester ist nicht die Spur gefährlich. Im Gegenteil. Sie hat mir ihren ganz besonderen Schutz angedeihen lassen, so daß ich das Einzelzimmer habe behalten dürfen, obwohl ich schon längst für den Saal reif war.“ Jetzt war es auf dem Korridor ganz still. Astrid reichte ihm die Hand: „Recht gute Besserung!“ Sie erhielt einen kräftigen Händedruck. „Vielen, vielen Dank, Fräulein Liberg. Sie… Sie…“ Er saß
rettungslos fest. Aber er versuchte es noch einmal: „Sie haben so unendlich viel für mich getan, daß… daß ich wirklich nicht weiß, wie ich es je wiedergutmachen kann…“ „Was reden Sie da!“ sagte Astrid. „Was ich getan habe, ist wahrhaftig nicht des Aufhebens wert. Ich habe Freude an Ihrem Hund, und das ist alles. Komm nun, Timian!“ Timian hatte die ganze Zeit über still dagesessen. Er hatte den Kopf auf den Bettrand gelegt, und Trahnes Hand ruhte auf seinem Nacken. Nach der ersten stürmischen Wiedersehensfreude war er vor lauter Glückseligkeit ganz andächtig gewesen. Er hörte wohl, daß Astrid mit ihm sprach, aber er reagierte auf keine andere Weise, als daß er mit dem rechten Ohr ein bißchen wedelte. „Timian“, sagte Trahne. „Du sollst mit der Dame gehen. Hörst du es? Paß gut auf Fräulein Liberg auf!“ „Sie müssen Astrid sagen“, erklärte sie. „Timian kennt mich nur als Astrid. Etwas anderes versteht er nicht.“ In Trahnes Augen trat ein eigentümlicher bläulicher Glanz. „Timian“, sagte er. „Geh mit Astrid. Paß gut auf Astrid auf!“ Timian stand auf, blickte von einem zum andern und schien unschlüssig zu sein. Dann ging er zu Astrid, und sie machte die Leine fest. „Braves Hundchen“, lobte sie ihn. „Bald kommst du wieder nach Hause zum Herrle.“ „Sie müssen Jörgen sagen“, sagte Trahne. „Timian kennt mich nur als Jörgen.“ An diesem Abend erhielt Timian den herrlichsten Knochen mit viel Fleisch daran, den er je in seinem Leben erhalten hatte. Frau Liberg bekam einen ziemlichen Schreck, als sie merkte, daß der Knochen verschwunden war, der für die Suppe des nächsten Tages bestimmt war. Astrid ging summend durch die Zimmer. Ihre Augen waren blank, die Wangen rot, und sie mußte unablässig Timian streicheln. Plötzlich merkte sie, daß der Blick ihrer Mutter auf ihr ruhte. „Was ist, Mutti?“ fragte sie. „Mich dünkt“, sagte Frau Liberg nachdenklich, „du bist ja ein ganz neuer Mensch…“
Trinken Sie eine Tasse Kaffee mit mir Astrid sah auf die Uhr. Halb zwei. Sie mußte sich beeilen. Um drei kam ein Kunde. „Puh, Timian!“ seufzte sie. „Dich mitzunehmen, wenn man Besorgungen macht!“ Wieder hatte sie Timians bittendem Blick nicht widerstehen können. Und jetzt hatte sie das zweifelhafte Vergnügen, mit Timian im Schlepptau von Geschäft zu Geschäft zu gehen. Timian war ein äußerst wißbegieriger Hund. Alles und jedes mußte beschnuppert werden, gar nicht zu reden von seiner Begeisterung für Laternenpfähle, denen er regelmäßig seinen Besuch abstatten mußte. „Hallo, Fräulein Liberg! Wohin wollen Sie denn so eilig?“ Astrid hatte um ein Haar einen Passanten umgerannt. Sie bremste auf der Stelle, soweit von Bremsen die Rede sein konnte, da Timian ja mit Leibeskräften an der Leine zog. Der Passant, den sie beinahe umgerannt hatte, war niemand anders als Per Mostvedt. „Oh! Sie sind es, Herr Mostvedt? – Guten Tag!“ „Wie geht es Ihnen, Fräulein Liberg?“ „Danke. Ausgezeichnet. Fürchterlich viel zu tun.“ „Es scheint so. Wo wollen Sie hin? Ich habe meinen Wagen hier. Kann ich Sie irgendwo hinfahren?“ „Nein, danke. Ich…“ „Ich habe im Augenblick genügend Zeit. Bitte, verfügen Sie über mich.“ Astrid wußte selbst nicht, was sie eigentlich veranlaßte, ja zu sagen. „Vorausgesetzt, daß es Ihnen nichts ausmacht, diesen kleinen Vagabunden mit in Ihren Wagen zu nehmen!“ Mostvedt betrachtete Timian kritisch. „Was ist denn das für ein seltenes Exemplar?“ lachte er. „Ist dies das Ergebnis der sorgsamen Wahl einer Sachverständigen für Hunde?“ „Nein“, erwiderte Astrid. „Ich habe ihn nur in Pension, er gehört einem Freund von mir.“ „Einem… ja so! – Mein Wagen steht auf der anderen Seite der Straße.“ Timian hopste sehr willig in das Auto und nahm auf dem Hintersitz Platz. Und Astrid setzte sich auf denselben Platz, auf dem
sie an jenem denkwürdigen Tag der Gesellschaft bei Harders gesessen hatte, als Per Mostvedt sie geküßt und eine Symphonie in Blau genannt hatte. Es war, als fachte die alte Umgebung gewissermaßen die Flamme wieder an, die sie längst erloschen glaubte. „Wo ist Gerda heute?“ fragte sie. „Sie ist auf ein paar Tage nach Oslo gefahren. Sie will bei einer Weberin, die sie kennt, einige Decken und Vorhänge bestellen.“ Mostvedts Stimme klang merkwürdig trocken und freudlos. „Wo wollen Sie hin, Fräulein Liberg?“ „Zu einem Scherenschleifer. Ich möchte ein paar Scheren nachschärfen lassen.“ „Wie geht es mit Ihrer Arbeit?“ „Fein. Macht riesigen Spaß. Sie wissen ja: ich und Hunde!“ „Ja“, sagte Mostvedt. Er fuhr langsam und vorsichtig in dem starken Verkehr und blickte unverwandt geradeaus. „Sie und Hunde.“ Es entstand eine kurze Pause. „Und Sie selbst?“ fragte Astrid. „Wie geht es Ihnen? Ich meine nicht als Mensch, denn daß es dem Menschen ausgezeichnet geht, weiß ich ja – sondern als Tierarzt?“ „Dem Tierarzt geht es ebenfalls gut“, sagte Mostvedt, und Astrid wunderte sich wieder, daß seine Stimme so trocken klang. „Haben Sie eine tüchtige Sprechstundenhilfe?“ „Behelfe mich im allgemeinen ohne. Das heißt: An drei Tagen in der Woche habe ich Gerda.“ „Dann sind Sie ja fein heraus. Eine bessere Hilfe können Sie ja gar nicht haben.“ „Nein. Natürlich nicht.“ Der Wagen hielt vor dem Geschäft, das Astrid hatte aufsuchen wollen. „Ich warte hier auf Sie“, sagte Mostvedt. Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. Astrid war sehr nachdenklich, als sie im Laden stand und einen Augenblick warten mußte. Pers Stimme hatte so wunderlich geklungen. Und seine Augen hatten nicht mehr den lebhaften Glanz, den sie in der ersten Zeit gehabt hatten. Er öffnete ihr die Wagentür und half ihr beim Einsteigen. „Und nun…?“ „Ich habe nichts mehr zu erledigen, was Eile hätte“, sagte sie.
„Das heißt doch – ich wollte noch ein paar Kuchen kaufen. Wenn es für Sie kein zu großer Umweg ist, dann könnten wir bei Gundersen vorbeifahren…“ Per Mostvedt antwortete nicht, aber über seine Züge huschte ein schwaches Lächeln, als er ihr ins Gesicht sah. Und dieses schwache, gleichsam verstohlene Lächeln bewirkte, daß Astrids Herz so merkwürdig klopfte. Sie wußte doch, daß die Vergangenheit für sie keine Bedeutung mehr hatte. Warum also plötzlich dieses Herzklopfen? Vor der Konditorei machte Mostvedt keine Miene, wieder einzusteigen, nachdem er Astrid behilflich gewesen war. Er verschloß die Wagentür. „Jetzt haben Sie so viel Zeit gespart, daß Sie mit mir eine Tasse Kaffee trinken können“, stellte er fest, und er folgte ihr in die Konditorei. Er bestellte Kaffee und kleine Kuchen. „Und ein Stück Kopenhagener Gebäck von gestern für Timian“, verlangte Astrid. Timian saß schon erwartungsvoll unter dem Tisch, den Kopf auf Astrids Schoß gelegt. „Fräulein Liberg“, sagte Mostvedt lachend. „Wie oft haben Sie mich wohl zu Hundebesitzern sagen hören, daß die Tiere keinen Kuchen bekommen dürfen?“ „Keinen Kuchen, keine Schokolade, keine Süßigkeiten, keine fetten Soßen und keine Fütterung zwischen den Hauptmahlzeiten“, sagte Astrid auf. „Ich habe es nicht vergessen. Aber wissen Sie auch, daß Timian als lebender Beweis für die Fehlerhaftigkeit Ihrer Theorien herumläuft? Er ist der verwöhnteste Hund der Welt und dabei kerngesund und ebenso lieb, wie er schlecht erzogen ist.“ Timian bekam sein Kopenhagener Gebäck. Es schien, als suche Mostvedt nach einem Gesprächsthema, weil er nicht von dem sprechen konnte, was ihm am Herzen lag. „Haben Sie viel zu tun, Fräulein Liberg?“ „Sehr viel. Aber das macht Spaß. Natürlich habe ich mich daran gewöhnt, daß die Tiere mir mit Vertrauen begegnen. Aber es rührt mich doch immer wieder, wenn ich sehe, wie sie sich ruhig alles gefallen lassen, was ich mit ihnen anstelle. Legt etwa ein riesiger Bouvier seinen Kopf in meine Hand oder schmiegt sich ein kleiner Drahthaarterrier an mich, als wolle er mich bitten, ich solle nett zu ihm sein… ja, ich bin sicherlich sentimental, aber ich gestehe es offen ein: Ebendies – die Freundschaft mit den Tieren, das Vertrauen, das sie mir bezeugen – macht mir noch mehr Freude als
die Arbeit selbst, obwohl sie wahrhaftig Spaß genug macht.“ Per Mostvedt saß still neben Astrid und blickte sie an. Ihr Gesicht leuchtete, und ihre Augen waren blank und froh. Ihr ganzes Wesen strahlte Wärme und Mitgefühl aus. „Dann haben Sie nun also das Richtige gefunden“, sagte Mostvedt mit belegter Stimme. „Ja, das habe ich sicher. Ich hätte es mir ja nie träumen lassen, daß es so viel Spaß machen könnte, Hunde zu trimmen. Freilich: Anstrengend ist es schon, manche Hunde sind nicht leicht zu trimmen; aber man bekommt kräftige Arme davon!“ Astrid lachte ein stolzes und glückliches Lachen. „Es gefällt Ihnen also jetzt besser als bei mir?“ „Sie wissen ja“, antwortete Astrid zögernd, als suche sie nach passenden Worten, „daß ich gern bei Ihnen gearbeitet habe. Sehr gern sogar. Aber dies hier ist doch etwas anderes. Jetzt trage ich ganz allein die Verantwortung. Hier werde ich nicht mehr auf einen Augenblick hereingerufen, um eine ängstliche Katze oder einen schwierigen Hund zu halten… hier bin ich selbst für das Tier verantwortlich von dem Augenblick an, da es abgeliefert wird, bis zu dem Augenblick, da der Eigentümer es wieder abholt.“ „Ich hätte beinahe etwas Dummes gefragt – aber haben Sie wirklich niemals Angst?“ Astrid lachte. „So dumm ist diese Frage vielleicht nicht einmal“, sagte sie. „Gestern nachmittag trimmte ich einen Hund, der fast so groß war wie ein kleines Pferd. Meine Mutter kam auf einen Augenblick zu mir herunter, und da knurrte das Tier dermaßen, daß ich sie bitten mußte, sich in respektvollem Abstand zu halten. ,Hast du denn gar keine Angst?’ fragte meine Mutter. ,Dieser Riese da könnte dich doch in einem Nu erledigen, wenn er wollte!’ – Da dachte ich darüber nach und fand, daß Mutter eigentlich recht hatte. Es ist nur so, daß ich von selbst gar nicht auf diesen Gedanken komme. Dieser Hund war wirklich sehr temperamentvoll, aber es fiel mir eben nicht ein, daß er mir etwas tun könnte. – Und das tat er denn auch nicht.“ „Nein“, sagte Mostvedt. „Sie sind nun einmal ein richtiger Tiermensch.“ Und plötzlich brach es aus ihm heraus: „Ich vermisse Sie ganz unsagbar, Fräulein Astrid.“ Da tat Astrids Herz einen kleinen Sprung in ihrer Brust. Aber merkwürdig! Gleich darauf war sie schon wieder ganz ruhig. Sie fühlte wohl eine Art Triumph, aber keine Schadenfreude.
„Ich freue mich, das zu hören“, sagte sie. „Rufen Sie nur ruhig bei mir an, wenn Sie eines Tages ein menschenfressendes Ungetüm von Hund in Behandlung haben. Ich werde dann gern kommen, ihn hinter dem Ohr kraulen und ,Na, du Kleiner?’ zu ihm sagen.“ „Ja, so sind Sie“, sagte Mostvedt. „Ich bin überzeugt, Sie hätten es bei den Silberfüchsen ebenso gemacht, wenn ich Sie nicht gehindert hätte…“ Plötzlich stand jener Nachmittag klar vor Astrids Augen. Es war das erste Mal gewesen, daß sie Per bei einem „Krankenbesuch“ begleitet hatte. Das erste Mal, daß sie eine Silberfuchsfarm gesehen, das erste Mal, daß Per ganz deutlich und ohne Vorbehalt gesagt hatte, er könne sie nicht mehr entbehren. Das erste Mal, daß sie auf Harders Gut gewesen war. Das erste Mal, daß Per Gerda gesehen hatte. Astrid sprang auf. „Wo habe ich bloß meine Gedanken?“ sagte sie. „In einer halben Stunde habe ich ja einen Hund zu trimmen. Vielen, vielen Dank für alles.“ „Warten Sie doch! Ich fahre Sie nach Hause…“ „Vielen Dank, Herr Mostvedt, aber ich möchte lieber zu Fuß gehen. Ich muß Timian etwas Bewegung verschaffen, und die Zeit reicht gerade. Es war sehr nett, Sie wiederzusehen, Herr Mostvedt. Bitte, grüßen Sie Gerda!“ Selten hatte Astrid mit einer solchen Ruhe gearbeitet wie an diesem Nachmittag. Sie begriff nicht, daß es daher kam, weil sie zum erstenmal in ihrem Leben mit sich selbst ganz zufrieden war. Per Mostvedt aber wanderte daheim in seinem Zimmer ruhelos auf und ab. Er hatte den Radioapparat angestellt, schaltete ihn aber mit einer heftigen Handbewegung wieder aus. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er schritt an seinem Schreibtisch vorüber und warf einen schnellen Blick auf das strahlende Mädchengesicht in dem Silberrahmen. Das strahlende Gesicht! Das Mondlicht kann auch strahlen, wenn es auch kalt ist. Er zwang sich, an das wunderschöne Haus zu denken, zu dem sie die Zeichnungen bekommen hatten. Er dachte an die Premieren, auf denen er sich mit seiner bildschönen Frau zeigen würde. Er dachte an Gerda in blauem Samt und an die Diamanten. Jagdausflüge zur Berghütte. Wochenende auf Harders Gut. Gesellschaften – Gerda an dem einen Tischende, er selber am andern.
Gerdas fabelhafte Fähigkeit zu repräsentieren. Gerda im Sportdreß mit dem Gewehr und den beiden Settern an ihrer Seite. Schöne Hunde – die Setter. Schade, daß sie in Pflege gegeben waren und nur zur Jagdzeit in die Berge mitgenommen wurden. Aber Gerda, die immer praktisch und vernünftig dachte, hatte ja ganz recht, wenn sie sagte: „Was sollen sie hier müßig herumlaufen? Sie haben es da, wo sie sind, viel besser, und sie werden in Form gehalten, so daß wir auf der Jagd an ihnen Freude haben können.“ Plötzlich hörte Per Mostvedt eine leise, warme und eifrige Stimme in seinem Ohr: „… ebendies… die Freundschaft mit den Tieren, das Vertrauen, das sie mir bezeugen… macht mir noch mehr Freude als die Arbeit selbst…“ „Zum Teufel!“ sagte Per Mostvedt ärgerlich. Und mit einer heftigen Handbewegung schleuderte er den Stummel seiner neunten Zigarette in den Kamin. Dann setzte er sich entschlossen an seinen Schreibtisch und schrieb einen warmen und liebevollen Brief an Gerda.
„Wuff!“ sagte Timian „Nun mußt du dich herumdrehen“, sagte Astrid, indem sie den kleinen schwarzen schottischen Terrier, der sich behaglich ausgestreckt und ein wenig geschlummert hatte, während sein Rücken und Kopf in Arbeit waren, in die Höhe hob. „Was meinst du? Deine Bauchseite muß ja schließlich auch einmal drankommen.“ „Wuff!“ sagte Timian in seiner Kiste. Er richtete sich auf und spitzte die Ohren. „Still, Timian!“ sagte Astrid. „Du warst nicht gemeint.“ „Wuff!“ sagte Timian noch einmal. Er stand jetzt ganz auf und lauschte. „Kommt jemand, Timian?“ fragte Astrid. Timian war mit einem Satz aus der Kiste, stürmte auf den Ausgang zu und begann aufgeregt an der Tür zu kratzen. Im nächsten Augenblick wurde diese geöffnet, und Timian flog dem Ankommenden mit einem wilden Freudengeblaffe entgegen. Er war ganz außer sich über dieses plötzliche Wiedersehen. Trahne griff nach seinem Halsband, und nach und nach glückte es ihm, Timian wenigstens so einigermaßen zu beruhigen. Endlich konnte er mit Astrid sprechen. „Ja“, sagte er, nach passenden Worten suchend. „Nun werde ich Sie also von meinem kleinen Biest befreien.“ „Pfui!“ lächelte Astrid. „Wie können Sie Timian nur ein Biest nennen! Er ist das süßeste kleine Geschöpf auf der weiten Welt.“ Bei dem Klange von Astrids Stimme spitzte Timian wieder die Ohren, und jetzt war sie an der Reihe, berannt und beleckt zu werden. Dann wandte er wieder den Blick auf seinen rechtmäßigen Herrn und wiederholte die Begrüßungsszene. „Der arme Timian!“ sagte Trahne. „Die Wahl wird ihm schwer werden. Es ist erstaunlich, wie er Sie in sein Hundeherz geschlossen hat.“ „Mir wird die Trennung auch schwer werden“, sagte Astrid. „Sie glauben nicht, wie lieb wir alle – meine Mutter, mein Bruder und ich – Timian gewonnen haben.“ „Ich war sehr in Sorge, er könne Ihnen zuviel Beschwerden machen“, sagte Trahne. „Beschwerden? Nicht die Spur! Im Gegenteil. – Übrigens hätte ich Sie längst zur Rückkehr ins Leben beglückwünschen sollen. Wie
geht es Ihnen? Sind die Schubladen Ihres Gehirns nun alle wieder in Ordnung?“ „Ich glaube es. Jedenfalls sagten sie es im Krankenhaus. Jetzt heißt es wieder arbeiten, und ich muß gestehen, daß ich meinen kleinen Kameraden schon recht vermisse.“ „Ja“, sagte Astrid. „Das kann ich gut verstehen.“ Sie führte den Stahlkamm nachdenklich durch das Fell des schwarzen Terriers auf ihrem Arbeitstisch. „Haben Sie es sehr eilig, Herr Trahne? Könnten Sie nicht die Viertelstunde warten, die ich noch brauche, um diesen kleinen Kerl hier fertigzumachen? Ich finde, Timian müßte meiner Mutter Lebewohl sagen, bevor er uns verläßt.“ „Ich kann gut warten“, sagte Trahne. „Ich möchte natürlich auch gern Ihrer Mutter für ihre Liebenswürdigkeit danken.“ Er setzte sich auf den „Kundenstuhl“. Timian aber pflanzte sich vor ihm auf und schaute ihn an. Astrid arbeitete ruhig weiter. Trahne sah ihr zu. „Ich muß sagen, Sie haben Übung“, bemerkte er schließlich. „Und Sie scheinen Ihre Arbeit gern zu tun.“ „Mehr als das. Ich liebe sie“, sagte Astrid. „Und Tiere wohl nicht minder?“ „Das einzige, was ich kann, ist: mit Tieren umgehen, ihnen helfen, sie betreuen.“ „Könnten es nicht ebensogut Menschen sein?“ „Das weiß ich nicht“, erwiderte Astrid. „Aber Tiere habe ich gern, und sie können auch mich gut leiden.“ Sie wurde mit dem Schotten fertig, und die Besitzerin holte ihren Liebling pünktlich zur verabredeten Zeit. Astrid zog den Arbeitskittel aus. „Wollen Sie nun mitkommen und meiner Mutter guten Tag sagen?“ Trahne stand auf. „Sehr gern. Aber könnten wir nicht erst unsere Rechnung in Ordnung bringen? Wieviel schulde ich Ihnen?“ „Wieviel Sie mir schulden? – Ach ja, es ist ja wahr, ich habe ja Timian getrimmt. Das hatte ich ganz vergessen. Zwölf Kronen, wenn ich bitten darf.“ Warum sage ich zwölf Kronen? fragte sich Astrid im stillen. Der gewöhnliche Preis für einen solchen Hund ist ja achtzehn. „Und die Pension?“ „Aber nun hören Sie! Ich habe Timian eingeladen, bei mir zu
wohnen, und es war nie die Rede davon, daß er dafür etwas bezahlen solle. Das kommt überhaupt nicht in Frage.“ „Aber nein“, sagte Trahne verlegen. „Das geht nun wirklich nicht an…“ „Doch, es geht an. Am liebsten hätte ich Timian für alle Zeit und Ewigkeit behalten. Er wird mir fürchterlich fehlen, wenn ich hier stehe und arbeite. Ich bin es jetzt so gewohnt, ihn in seiner Kiste in der Ecke zu wissen. – Und nun wollen wir nach oben gehen.“ Frau Liberg war gerade nach Hause gekommen, und sie war sehr nett zu Trahne und bedauerte lebhaft, daß sie ihren kleinen Gast verlieren sollten. „Und ich habe doch gerade ein so schönes Mittagessen für dich, Timian“, sagte sie. „Die herrlichsten Kotelettknochen. Die mußt du unbedingt erst noch hier abnagen, bevor du gehst. Wir haben sicher auch für Sie einen Knochen oder etwas Fisch übrig, wenn Sie mit einem ganz einfachen Werktagsessen vorliebnehmen wollen…“ „Vielen Dank, gnädige Frau, aber Sie sollen nicht…“ „Doch, ich soll“, sagte Frau Liberg mit dem freundlichen Lächeln, das ihren Kundinnen immer so viel Vertrauen einflößte. „Sie müssen wissen, daß wir Sie gut zu kennen glauben, nachdem wir Ihren drolligen kleinen Hund so lange bei uns gehabt haben.“ In der anheimelnden und mütterlichen Atmosphäre um Frau Liberg verlor Trahne seine anfängliche Befangenheit nach und nach. Beim Mittagessen kam er mit Hein ins Gespräch, und natürlich waren sie sehr bald beim Sport angelangt. Hein war nicht umsonst sechzehn Jahre alt! Es zeigte sich, daß Trahne aktiver Sportler war, und als Hein das hörte, war er sofort begeistert. Bald waren die beiden in ein Gespräch vertieft, in dem es um Meter und Millimeter, Sekunden und Zehntelsekunden sowie die neuesten Sportgrößen ging. Frau Liberg und Astrid hörten zu und amüsierten sich. Timian verteilte seine Gunstbezeigungen redlich zwischen „Herrchen“ und „Frauchen“. Er war aufgeregt und glücklich, weil er seine beiden besten Freunde an ein und demselben Tisch sitzen hatte. Als Trahne auch Frau Liberg erklärte, er müsse doch die Pension für Timian bezahlen, versicherte sie freundlich, aber bestimmt, davon könne unter gar keinen Umständen die Rede sein. Im Gegenteil: sie würden sich alle riesig freuen, wenn sie Timian gelegentlich „borgen“ könnten. Vielleicht ließe es sich einmal so einrichten? „Ist das wirklich Ihr Ernst, gnädige Frau?“ fragte Trahne erfreut.
„Und ob!“ „Das wäre für mich tatsächlich die Lösung eines recht schwierigen Problems“, sagte Trahne. „Es kommt ja bisweilen vor, daß ich längere Zeit abwesend sein muß und Timian nicht mitnehmen kann. Da ist er dann immer sehr traurig, und manchmal hat er so andauernd geheult, daß meine Wirtin sich beklagt hat.“ Eine dreistimmige neuerliche Einladung an Timian erfolgte. Und Timian begriff offenbar, daß er der Mittelpunkt der Situation und der Unterhaltung war, denn er machte vor lauter Freude die possierlichsten Männchen. Als aber der Kaffee getrunken war, schlug die bittere Abschiedsstunde. Timian wurde gestreichelt und abgeklopft und immer wieder aufgefordert, doch recht bald wiederzukommen. Und schließlich schloß sich die Tür hinter ihm und seinem Herrn. „Ein äußerst sympathischer junger Mann“, sagte Frau Liberg. „Der ist richtig“, sagte Hein. Astrid aber sagte gar nichts. Sie stand am Fenster und blickte Timian nach. Zwei Tage später rief Trahne an. Seine Stimme klang etwas unsicher, als er Astrid fragte, ob sie wohl Lust habe, am Abend mit ihm zur Premiere zu gehen. Der Polizeipräsident habe ihm zwei Eintrittskarten geschenkt. Astrid merkte, daß er nicht gewohnt war, eine Dame einzuladen. „Riesig gern“, sagte sie – und sie meinte es auch so. „Dann müssen wir wohl Mutter bitten, daß sie sich Timians annimmt, nicht wahr?“ „Ich glaube eigentlich nicht…“ „Aber ich glaube“, lachte Astrid. „Bringen Sie ihn nur her. Wir vermissen ihn alle ganz fürchterlich.“ Astrid summte und sang und lächelte, während sie sich umzog und ihr Haar richtete. Sie gab sich dabei sehr viel Mühe. Es war nur gut, daß man bei Premieren nicht mehr im Abendkleid zu erscheinen brauchte. Sie besaß nur das hellblaue, und das wollte sie nicht gern anziehen. Sie dachte sogar ungern an dieses Kleid. Trahne kam mit Timian. Die Wiedersehensfreude war grenzenlos. Draußen vor dem Haus stand kein Auto. Sie gingen zu Fuß und fuhren dann mit der Straßenbahn. Trahne war es nicht gewohnt, ein Taxi zu nehmen. Astrid war noch nicht oft auf diese Weise ausgegangen. Aber sie besaß doch immerhin etwas Erfahrung seit dem Tage in Oslo, an
dem sie von Harder ausgeführt worden war. Außerdem hatte sich ihre weibliche Einfühlungsgabe in den letzten Monaten mächtig entwickelt. So erkannte sie schnell, daß ihr Begleiter es in gar keiner Weise gewohnt war, mit Damen auszugehen, und wohl überhaupt selten irgendwo eine „Zerstreuung“ suchte. „Wie schön, daß Sie die Eintrittskarten zu der Premiere bekommen haben“, sagte sie unterwegs. „Der Polizeipräsident ist sehr nett“, erzählte Trahne. „Er verschenkt öfters Theaterkarten. Es geht im Turnus. Das letzte Mal bekam sie ein Kriminalinspektor.“ Trahne war groß, blond und blauäugig. Er sah sehr stark, aber gutmütig aus. Er hatte ein richtiges Jungengesicht. Als sie ihre Plätze im Parkett eingenommen hatten, blickte Astrid um sich. Sorgfältig frisierte Damenköpfe, Pelzumhänge, glatt rasierte Herrengesichter, dunkle Anzüge. Leise Unterhaltung. Rascheln von Programmen. Premierenstimmung. Das Stück hieß „Cyrano de Bergerac“. Astrid war nicht blasiert. Sie konnte ein Kunstwerk noch naiv genießen. Sie lebte mit in Rostands eleganten Versen, das Herz klopfte ihr im Halse bei der Duellszene, sie litt mit Cyrano, und in der Szene unter Roxanes Balkon war sie so ergriffen, daß sie, ohne es selbst zu merken, ihre Hand auf Trahnes Arm legte. Er merkte es. Er hörte Cyranos glühende Liebesworte, aber er blickte auf das junge Mädchen an seiner Seite, das so sichtlich alles miterlebte, was auf der Bühne vorging. Er war gerührt und fühlte den Drang, dieses junge Mädchen zu beschützen. Der Frau, die im Berufsleben stand und so tüchtig und selbstsicher war, hatte er sich unterlegen gefühlt. Aber jetzt war sie nur noch ein junges Mädchen, fast noch ein Schulmädchen, voller Illusionen, wie sie da an seiner Seite saß, von dieser großen, altmodischen, in Verse gekleideten Liebe berauscht, der Wirklichkeit völlig entrückt schien. Als der Vorhang fiel, war Astrid noch ganz benommen. „Es war schön“, sagte sie und blickte Trahne etwas unsicher an. „Ich habe beinahe vergessen, wo ich war.“ „Wollen wir ins Foyer gehen?“ Astrid war so wenig verwöhnt, daß die Theaterwelt für sie ein großes Erlebnis bedeutete. Mit glühenden Wangen stieg sie die mit einem dicken Teppich belegte Marmortreppe zum Foyer hinauf. Als Trahne sie zu einem Glas Limonade einlud, nahm sie dankend an.
Plötzlich entdeckte sie Gerda Harder in einem raffiniert einfachen, cremefarbenen Kleid, und neben ihr Per Mostvedt. „Hallo, Fräulein Liberg!“ „Guten Abend, Fräulein Harder. Sind Sie aus Oslo schon zurück?“ Astrid stellte vor. Sie war sich dessen nicht klar bewußt, aber es erfüllte sie mit einer stolzen Freude, daß ihr Begleiter so gut aussah. Er war etwas größer und jünger als Mostvedt. Trahne war sehr schweigsam und beschränkte sich auf die notwendigsten Höflichkeitsphrasen. „Drollig, ,Cyrano’ auf norwegisch zu hören“, sagte Gerda. „Die Übersetzung ist übrigens nicht schlecht. Aber der Duft des Originals ist eben doch verlorengegangen.“ „Haben Sie das Stück in der Originalfassung gesehen?“ „Ja. Zweimal in Paris und einmal in Genf.“ „Ich finde es auch auf norwegisch wunderschön“, sagte Astrid. Gerda zuckte die Achseln. „Für meinen Geschmack gar zuviel Romantik“, sagte sie. „Schließlich muß doch auch die Liebe in Grenzen bleiben. Was mich am meisten interessiert, ist die Form, die die verschiedenen Schauspieler der Cyranonase zu geben wissen. Und ich stehe die ganze Zeit eine wahre Todesangst aus bei dem Gedanken, das Wachs könnte zu schmelzen beginnen. Welches Malheur, wenn die Nase während der heißesten Liebesbeteuerung auf einmal herunterfiele!“ „Wenn du das sehen willst, mußt du in den Zirkus gehen“, sagte Per Mostvedt gereizt. Dann nahm er sich zusammen und zwang sich zu einem Lächeln. „Merkt ihr das Erdbeben? Es ist der arme Rostand, der sich im Grabe wendet.“ Sein Witz kam nicht recht an bei den Zuhörern. Astrid fragte Gerda, wie es ihrer Kaninchenfarm ginge. „Gut“, erwiderte Gerda. „Vier neue Würfe in den letzten Tagen. Es wird verteufelte Arbeit machen, die ganze Farm zu verlegen. Aber ich will die Kaninchenzucht weiterführen. Und ich will nicht auf Vaters Gut bleiben, ich will mein eigenes haben. – Oh, es klingelt…“ „Merkwürdig, was Fräulein Harder alles will“, sagte Trahne leise. Und das war seine einzige Anmerkung zu dem Zusammentreffen mit Gerda Harder und Per Mostvedt. Astrid aber dachte im stillen daran, wie schön Gerda doch war. Aber heute hatte sie noch kühler gewirkt als sonst. Lag es an dem
hellen Kleid? Oder an der kalten Farbe des Türkisschmucks, den sie trug? Gerda sollte sich erdbeerrot kleiden, dachte sie. Und der Vorhang ging wieder auf. Ein paar Reihen weiter zurück saß ein Herr in dunklem Gesellschaftsanzug neben einer Dame in cremefarbenem Kleide. Was hinter den platinblonden Locken an seiner Seite vorging, wußte Per Mostvedt nicht. Eigentlich hatte er es nie gewußt. Er achtete nicht auf die Vorgänge auf der Bühne. Er sah ein kleines Gesicht voller Wärme und Lebensfreude vor sich – ein kleines Gesicht mit dunkelblonden Locken –, ein kleines Gesicht mit funkelnden, blanken Kinderaugen. Und er hörte eine leise, melodische Stimme sagen: „Ich finde es wunderschön…“ Eine kleine Gestalt in einem schlichten, gutsitzenden Kleide. Einem Kleide, nach dem sich niemand umwandte. Eine Erscheinung, über die niemand eine Bemerkung flüsterte, weil an ihr gar nichts Auffallendes war. „Wonach siehst du?“ fragte Gerda, als der Vorhang wieder gefallen war. Per Mostvedts Augen ruhten auf ihrem schlanken, edel geformten Hals. „Nach deinen Türkisen“, sagte Per. „Bist du von ihnen so bezaubert?“ fragte Gerda. „Nein“, antwortete Per, und seine Stimme klang hart und scharf. „Ich kann Türkise nicht ausstehen.“ „Das ist aber schade“, sagte Gerda. „Und dabei habe ich das Kleid speziell für die Türkise entwerfen und nähen lassen! Weshalb magst du sie nicht?“ „Sie sind so kalt“, sagte Per. Gerda zuckte die Schultern. „Ich habe von meiner Großmutter eine alte Granatgarnitur geerbt“, sagte sie. „Ich werde sie anlegen, wenn wir das nächste Mal zusammen ausgehen.“ „Da werden wir wohl mit dem Ausgehen warten müssen, bis du auch für die Granate ein Kleid hast entwerfen und nähen lassen“, sagte Per. Gerda warf ihm einen Seitenblick zu und zuckte abermals die Schultern. Aha! dachte sie. Schlechte Laune! Um so schlimmer für dich selbst, mein Junge! Aber als die Vorstellung aus war, lächelte Per sein schönstes Lächeln. Und er war ausgesucht höflich, als er ihr den Pelzumhang um die Schultern legte und mit ihr zum Wagen ging. Er vergaß auch nicht, ihr innig den Arm zu drücken, den sie auf den seinen gelegt hatte.
Jörgen Trahne nahm in dem Gedränge des Vestibüls Astrids Arm und lotste sie nach draußen. Es war ein kühler, klarer Winterabend. „Ich weiß nicht…“, sagte er. „Ob wir nicht im Bristol zusammen noch eine Kleinigkeit essen, bevor wir nach Hause gehen? Oder…“ „Sehr gern“, sagte Astrid einfach. Sie war von den Eindrücken des Theaterabends noch immer ganz benommen. Sie gingen den kurzen Weg zu Fuß, und die ganze Zeit über behielt Trahne Astrids Arm, als müsse es so sein. Sie sprachen nicht viel, aber nach und nach kehrte Astrid zur Wirklichkeit zurück. Sie atmete tief und sagte dann mit einem glücklichen Lächeln: „Es war wunderschön. Ich habe noch nie in meinem Leben etwas so Herrliches gesehen.“ Im Bristol fanden sie mit Mühe und Not einen kleinen Ecktisch, der noch frei war. Astrid blickte sich im Saale um. An einem Tisch mit einem großen Blumenstrauß, der unmittelbar an der Balustrade stand, entdeckte sie ein cremefarbenes Kleid und einen platinblonden Kopf. Sie blickte weg und wandte sich lächelnd Jörgen Trahne zu. Sie war nun völlig in die Wirklichkeit zurückgekehrt und wieder die ruhige und besonnene Astrid, die auf eigenen Füßen stand und sich ihren Lebensunterhalt selbst verdiente. Ihr Taktgefühl und sicherer Instinkt halfen ihr, Jörgen Trahne durch alle Schwierigkeiten der komplizierten Speisekarte und der noch komplizierteren Weinkarte hindurchzulotsen. „Ich vertrage nur wenig Alkohol,“ erklärte sie. „Außerdem muß ich morgen früh frisch und gut in Form sein. Ich soll um neun Uhr einen prämiierten Bedlington trimmen.“ „Und ich“, sagte Trahne lächelnd, „soll um neun Uhr Moralpredigten halten und mit schonender Hand Bußen auferlegen.“ „Bußen auferlegen?“ „Ja. Ich werde das Vergnügen haben, die Arrestanten der Nacht, die zu tief ins Glas geguckt haben, zur Rechenschaft zu ziehen. Und da muß doch wenigstens einer von den Anwesenden frei von Katzenjammer sein.“ Astrid lachte. Sie einigten sich auf einen leichten weißen Bordeaux. „Leider bin ich kein besonders guter Tänzer“, sagte Trahne. „Aber wenn Sie es wagen wollen…“ Astrid wagte es, und es ging recht gut. Trahne war kein raffinierter Tänzer, und viel Übung besaß er offenbar auch nicht,
aber er war sehr musikalisch und hatte ein Gefühl für Rhythmus. Sie hatten das Fleischgericht gegessen und warteten auf den Nachtisch, als Per Mostvedt zu ihnen trat. „Entschuldigen Sie, Herr Kommissar“, sagte er lächelnd, „aber ist es nicht die Pflicht der Polizei, einem Staatsbürger zu Hilfe zu kommen, wenn er sich in einer Notlage befindet?“ „Wie soll ich das verstehen, Herr Mostvedt?“ fragte Jörgen Trahne verwundert. „Befinden Sie sich in einer Notlage?“ „Man hat mir meine Dame entführt, Herr Kommissar. Wäre unter diesen Umständen ein unbilliges Verlangen, wenn ich die Polizei bitte, mir mit der unter ihrem Schutz stehenden jungen Dame für die Dauer eines einzigen Tanzes auszuhelfen?“ „Wenn die, wie Sie sagen, unter dem Schutz der Polizei stehende Dame damit einverstanden ist?“ gab Jörgen Trahne zur Antwort. Astrid wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Aber da sah sie Gerda – platinblond, im Modellkleid, schöner denn je – vorübertanzen und stand auf. „Gut, aber nur einen Tanz“, sagte sie und nahm Pers Arm. Während des Tanzes sprachen sie kein Wort miteinander. Per hatte seinen Arm fest um sie gelegt, und sie spürte seinen Atem auf ihrer Wange. Als das Orchester pausierte, hielt Per ihren Arm mit dem seinen fest, während er gleichzeitig eifrig klatschte, und er zwang sie in dem Augenblick, da die Musik wieder einsetzte, mit ihm weiterzutanzen. „Ich will Jörgen nicht so lange allein lassen“, erklärte Astrid, und sie merkte es selbst nicht, daß sie nicht Herr Trahne, sondern Jörgen sagte. Per antwortete nicht. Aber kurz darauf machte er Astrid auf ein Paar aufmerksam, das an ihnen vorübertanzte. Ein cremefarbenes Kleid mit Jörgen Trahne im blauen Anzug. Es geschah auf Gerdas Veranlassung, dachte Astrid. Und sie hatte recht. Per sprach noch immer nicht. Aber sein Atem ging schnell, und seine Augen hatten einen eigentümlichen Glanz. Zögernd ließ er Astrid los, und als er sie an ihren Tisch zurückführte, drückte er ihren Arm. „Astrid!“ flüsterte er. Sonst nichts. Sie begegneten Jörgen und Gerda. „Ich sagte gerade zu Herrn Trahne, Sie könnten doch an unseren
Tisch kommen“, erklärte Gerda in ihrem entschiedenen Ton. Astrid warf einen schnellen Blick auf Jörgen, und sie fühlte sofort, was in ihm vorging. „Danke, Fräulein Harder“, sagte sie. „Aber wir wollten bald gehen. Wir haben beide morgen früh viel zu tun und möchten daher nicht so spät ins Bett kommen.“ Astrid tauschte einen schnellen Blick mit Jörgen Trahne aus, und sie sah, daß er sie verstanden hatte und ihr dankbar war. „Fräulein Liberg hat recht – wie immer“, sagte Trahne lächelnd. „Vielen Dank für den Tanz, den Sie mir geschenkt haben, gnädiges Fräulein.“ Er machte eine knappe Verbeugung vor Gerda Harder und reichte Astrid den Arm, um sie zurückzubegleiten. Jörgen Trahnes Augen hatten einen freudigen Glanz bekommen. Er war so erleichtert und froh, wieder mit Astrid allein zu sein. Er hatte Fräulein Harder den Tanz nicht abschlagen können, aber er hatte sich in ihrer Gesellschaft gar nicht wohl gefühlt. Weder für Gerdas etwas derbe Ausdrucksweise noch für ihre platinblonden Locken und Türkise besaß er die richtige Empfänglichkeit. Sie hatten sozusagen verschiedene Wellenlängen. Und als er nun die Blicke forschend auf Astrid ruhen ließ, schüttelte er unmerklich den Kopf. Er konnte nicht begreifen, wie Astrid zu einem solchen Bekanntenkreis kam. Sie und Gerda waren so verschieden wie der Tag und die Nacht. Astrid plauderte aber munter, unbefangen und zufrieden, und sie blieb dabei, ihn zu duzen. Als er in seiner Verwirrung „Sie“ sagte, lächelte sie ihm zu. „Schon im Krankenhaus waren wir doch per Vornamen - um Timians willen“, sagte sie. „Und Sie und Vorname, das geht nun einmal nicht!“ Und indem sie es sagte, wurde ihr klar, daß sie vor einem halben Jahr nie, nie den Mut gehabt hätte, einen jungen Mann so geradeheraus anzureden. Ein wunderbares Gefühl der Befreiung überkam sie. Sie schüttelte die letzten Reste der kleinen, befangenen Astrid mit den Minderwertigkeitskomplexen ab. In ihrem eigenen Bewußtsein stieg sie hervor, so wie sie jetzt war: eine glückliche, zufriedene, selbständige, berufstätige Frau. Und das bewußte Gefühl der Befreiung und Selbständigkeit machte sie unendlich froh… Es war doch ziemlich spät geworden, als sie endlich mit dem Aufbruch Ernst machten. Trahne wollte ein Taxi nehmen, aber Astrid schlug vor, lieber zu Fuß zu gehen. Es war sternenklar und
wunderbar still. Sie gingen also zu Fuß. Und sie wechselten ruhig und mit leiser Stimme von Zeit zu Zeit einige Worte. Astrid fragte nur wenig – gerade soviel, wie nötig war, wenn die Unterhaltung nicht ganz und gar ins Stocken geraten sollte. Sie erfuhr dabei von Jörgen nur wenig über sein Leben, aber sie zog aus dieser und jener Antwort ihre Schlüsse und reimte sich zusammen, was sie nicht wußte. Trahne hatte vor einigen Jahren seinen Vater verloren und sich während seines Studiums durchschlagen müssen, so gut es eben ging. Er war Gerichtsassessor und Anwaltsgehilfe gewesen, und seit August war er Polizeikommissar. Und er lebte ganz allein hier in der Stadt. Schulden aus der Studienzeit, dachte Astrid. Vielleicht eine Mutter oder Geschwister, die unterstützt werden mußten. Keine Mittel, um gesellschaftlichen Verkehr zu pflegen. Dieser Abend war für ihn genauso wie für sie selbst ein großes Erlebnis. Es war alles dunkel und still, als Astrid zu Hause anlangte. Kaum hatte sie aber die Tür geöffnet, kam Timian herausgestürzt. „Vielen, vielen Dank für den schönen Abend, Jörgen“, sagte Astrid und reichte ihm die Hand. „Ich habe zu danken, Astrid. Ich… ich stehe tief in deiner Schuld.“ „Hör auf!“ sagte Astrid. „Bilde dir nur ja nichts dergleichen ein. – Aber ja doch, Timian! Ich bin es, friß mich nur nicht bei lebendigem Leibe auf! Du mußt bald wiederkommen, Timian, und mich besuchen.“ „Wuff!“ sagte Timian. „Da hörst du es“, lachte Astrid. „Nun hat Timian es versprochen.“ Timian lief vergnügt an der Seite seines Herrn durch die nachtstillen Straßen. Jörgen Trahne hatte die Hände tief in die Taschen vergraben und hing seinen Gedanken nach. In seiner Bude angelangt, setzte er sich auf einen Stuhl und starrte vor sich hin. Timian legte ihm den Kopf auf die Knie. „Kannst du Astrid auch so gut leiden, Timian?“ „Wuff!“ sagte Timian. Aber in Anbetracht der späten Stunde sagte er es ganz leise. „Aber ich verstehe das mit dem Tierarzt und Fräulein Harder nicht, Timian. Ich begreife nicht, wie Astrid zu diesem Umgang kommt.“
Timian tat, als verstünde er Herrchens Worte und dächte nach. „Der Tierarzt sah sie mit merkwürdigen Augen an, Timian. Verstehst du?“ Timian hielt den Kopf schief. „Aber mir scheint, sie paßt besser zu dir und zu mir.“ „Wuff!“ sagte Timian.
Und das soll ich glauben? In Heins Zimmer hörte man ein kräftiges Plumpsen, dann eifrige Stimmen und schließlich ein dumpfes Krachen. Astrid vernahm es durch die Wand hindurch. Sie war für diesen Tag mit ihrer Arbeit fertig, zog sich um und machte Toilette. In der Küche stand die Mutter und kochte Kaffee. Die beiden Mannsleute, die in Heins Zimmer Jiu-Jitsu übten, konnten einen stärkenden Trank brauchen. Hein hatte mit Jörgen eine dicke Freundschaft geschlossen, und er sah zu ihm mit all der Hochachtung und Bewunderung auf, die ein Sechzehnjähriger notwendigerweise für einen tüchtigen Sportler von achtundzwanzig empfinden muß. Jörgen hatte sich gutmütig bereit erklärt, Hein Jiu-Jitsu beizubringen, und Hein ließ sich voller Wonne mit einem einzigen kleinen Griff zu Boden werfen und war glücklich, wenn es ihm einmal gelang, Jörgen zu überlisten. Timian fühlte sich bei Libergs ganz zu Hause. Bald war er in der Küche und erbettelte sich von Frau Liberg einen Kuchen, bald kratzte er an der Tür von Astrids Zimmer, um sich streicheln zu lassen und vielleicht verstohlen auf Astrids Bett ein kleines Nickerchen zu machen. Er war übrigens heute ungewöhnlich brav und still. Als Frau Liberg, Astrid und die beiden Kampfhähne um den Kaffeetisch versammelt waren, rollte Timian sich unter Jörgens Stuhl zusammen und versank in einen tiefen, ruhigen Schlaf. „Er holt die versäumte Nachtruhe nach“, erklärte Trahne. „Wir machten heute nacht einen Inspektionsrundgang. Daher ist er nicht viel zum Schlafen gekommen.“ „Inspektionsrundgang?“ fragte Hein. „Ja. Es gehört zu meinen Pflichten, von Zeit zu Zeit die diensttuenden Polizisten zu kontrollieren, und einmal monatlich muß es mitten in der Nacht geschehen. Timian liebt es nicht, um zwei oder drei Uhr morgens aus dem Schlaf aufgestört zu werden, aber er liebt es noch weniger, daß ich fortgehe und ihn allein lasse. Da trottet er denn eben mit.“ „Was ein Polizeikommissar doch alles zu tun hat“, sagte Hein. „Macht es Spaß?“ „Meinst du den nächtlichen Rundgang?“ „Nein. Ich meine die Arbeit bei der Polizei überhaupt.“ „Sie ist interessant. Man bekommt es mit vielen merkwürdigen
Menschen zu tun, weißt du. Das ist nicht schlecht für jemand, der seine Menschenkenntnis gern erweitern möchte.“ „Haben Sie auch Mord und so was aufzuklären?“ Trahne lachte herzlich. „Nein. Mit der Kriminalabteilung habe ich nichts zu schaffen. Wenn du ohne Konzession Branntwein verkaufst oder welchen heimlich brennst oder wenn du dich betrunken auf der Straße blicken läßt, dann bekommst du es mit mir zu tun, Hein. Wenn du aber stiehlst oder einbrichst oder jemand totschlägst, dann mußt du dich schon damit abfinden, daß ein anderer die Sache in die Hand nimmt.“ Frau Liberg freute sich. Jörgen Trahne benahm sich jetzt viel freier und ungezwungener als in der ersten Zeit, und er schien sich bei ihnen wohl zu fühlen. Sie konnte ihn gut leiden, und ihr Mutterinstinkt wurde wach, wenn sie daran dachte, daß der junge Mann keine Familie hatte und so gut wie gar keinen geselligen Verkehr. Plötzlich klingelte es. Astrid ging und machte auf. „Sie sind es, Herr Harder? Welche Überraschung! Wie schön, daß Sie uns einmal besuchen!“ Harder ergriff ihre beiden Hände. „Komme ich ungelegen, Fräulein Astrid?“ „Keineswegs, im Gegenteil: Wir trinken gerade Kaffee. Bitte, treten Sie näher!“ Harder zog den Mantel aus. Als Astrid aber die Stubentür öffnen wollte, hielt er sie zurück. „Warten Sie einen Augenblick, Fräulein Astrid! Sehen Sie… hier ist das Geschenk, das ich Ihnen aus dem Ausland mitzubringen versprochen habe. Ich hoffe, es wird Ihnen etwas Freude machen.“ Er steckte ein Etui in Astrids Hand. Sie öffnete es und schrie erschrocken auf. „Das geht aber wirklich nicht! Wo denken Sie hin?“ „Warum sollte das nicht gehen?“ erwiderte Harder ruhig. „Ich sagte doch, ich hätte Sie – in Gedanken wenigstens – adoptiert. Da muß ich mir doch wohl die Freiheit nehmen dürfen…“ Er ergriff ihre Hand und befestigte die winzige goldene Uhr an ihrem Handgelenk. „Wie ist sie doch allerliebst!“ stammelte Astrid. „Es ist nur so… so überwältigend. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll…“
„Wenn Sie sich nur ein klein wenig freuen, so ist das Dank genug“, erwiderte Harder lächelnd. „Und im übrigen haben Sie mir ja eine Tasse Kaffee versprochen.“ Wenn Frau Liberg verblüfft war, Gutsbesitzer Harder plötzlich in ihrer Stube stehen zu sehen, so zeigte sie es jedenfalls nicht. Sie empfing ihn genauso einfach und selbstverständlich, wie sie Astrids Freundinnen und Heins Freunde empfing. Sie schickte Hein in die Küche nach Tasse und Teller, während Harder Jörgen Trahne freundlich und völlig unbefangen begrüßte. Timian stand auf und begab sich zwecks näherer Untersuchung zu dem Neuankömmling. Das Ergebnis war offenbar zufriedenstellend, denn er legte anerkennend seinen Kopf einen Augenblick auf Harders Knie, um dann den unterbrochenen Mittagsschlaf wiederaufzunehmen. „Mutti!“ sagte Astrid. „Sieh bloß einmal, was Herr Harder mir aus dem Ausland mitgebracht hat!“ Sie hielt das Handgelenk mit der Uhr vor die Augen der Mutter, und Jörgen und Hein machten große Augen, als sie die elegante Uhr sahen. „Ich bin sprachlos“, sagte Frau Liberg. „Das kann Astrid aber unmöglich annehmen, Herr Harder!“ „Hören Sie, gnädige Frau!“ sagte Harder mit seinem gütigen, gewinnenden Lächeln. „Die kleine Astrid hat keinen Vater. - Könnte ich nicht diese Rolle übernehmen? Oder wenigstens die eines netten alten Onkels? Ich habe eine unleugbare Schwäche für Ihre junge Tochter…. daß Sie es nur wissen!“ Astrids Blick streifte Jörgen Trahne, und es entging ihr nicht, daß er sichtlich unangenehm berührt war. Frau Liberg aber erging es wie allen Frauen: Sie fand Harder ganz bezaubernd. „Sie dürfen mich nicht falsch verstehen“, sagte sie. „Selbstverständlich finde ich es überaus nett von Ihnen; ich war nur etwas erschrocken über… nun, Sie können sich schon denken, was ich meine. Kosten Sie diesen Honigkuchen, Herr Harder. Astrid hat ihn selbst gebacken.“ Harder fühlte sich in Frau Libergs einfacher, aber sehr gemütlicher Stube wohl, und es gefiel ihm, daß man sich in diesem Hause so ganz ungekünstelt gab. „Natürlich hat Astrid von Ihrem Gut erzählt“, sagte Frau Liberg. „Das können Sie sich doch denken! Es muß wundervoll draußen bei Ihnen sein.“
„Und einen flotten Hund haben Sie, eine dänische Dogge!“ ergänzte Hein. „Ja, Jean ist ein vornehmer Herr“, lachte Harder. „Fräulein Astrid ist übrigens seine große Liebe. Sie müssen alle bald einmal herauskommen und ihn besuchen. Der arme Jean ist zur Zeit ganz einsam und verlassen.“ „Einsam und verlassen?“ antwortete Astrid verwundert. „Ja, Gerda ist in Oslo, und ich selbst bin ja auch mehrere Wochen von zu Hause fort gewesen.“ „Sie hätten Jean doch zu uns schicken können“, meinte Frau Liberg. „Hier im Hause sind nämlich alle Hunde willkommen“, warf Jörgen Trahne ein. Es hatte ein kleiner Scherz sein sollen, aber der Tonfall war nicht ganz geglückt. Astrid lachte. „Du weißt nicht, was du sagst, Mutti!“ sagte sie. „Wir müßten die Wand zwischen der Wohnstube und dem Schlafzimmer niederbrechen lassen, damit Jean sich umdrehen kann. Und wenn es ihm etwa einfallen sollte, mit dem Schwanz zu wedeln, dann würde er alles, was nicht niet- und nagelfest ist, von Tisch und Schränken herunterwedeln.“ „Dann werden wir uns wohl an Timian halten müssen“, sagte Frau Liberg, und sie streichelte den struppigen kleinen Kopf, der sich ihr auf den Schoß legte und die Augen voller Verlangen auf die Kuchenschüssel gerichtet hielt. Harder heftete seine Blicke auf Frau Liberg. Astrid glich ihrer Mutter. In zwanzig Jahren würde sie ebenso aussehen. Sie würde dieselbe Ruhe, dieselbe Harmonie in ihrem Wesen haben und dasselbe schöne Lächeln, dieselben klaren Augen und dasselbe sichere Auftreten, das für die moderne, kultivierte Frau kennzeichnend ist. Unter den behutsamen Händen ihrer Mutter würde Astrid sich zu einer Frau mit Verstand und Einsicht entwickeln, deren Augen dieselbe Herzenswärme ausstrahlen würden wie die Frau Libergs. Aber Astrid war bezaubernd – gerade jetzt mit ihren einundzwanzig Jahren und mit all ihrer Unerfahrenheit und blonden Jugend. Harder merkte nicht, daß seine Augen unablässig zwischen der Mutter und der Tochter hin und her wanderten. Jörgen Trahne dagegen hatte es sofort bemerkt.
Harder brach auf. Frau Liberg bat ihn wiederzukommen, wenn er einmal Lust dazu habe, und Harder versicherte halb scherzend, halb ernsthaft, er würde sie sicher beim Wort nehmen. Jörgen Trahne blieb zum Abendessen. „Ich begleite dich ein Stück“, sagte Astrid, als er sich endlich verabschieden wollte. „Ich bin den ganzen Tag über nicht draußen gewesen, und ich brauche unbedingt etwas frische Luft.“ Sie gingen langsam. Astrid atmete die kühle, frische Luft in vollen Zügen. Jörgen war still. Er antwortete auf Astrids Geplauder sehr einsilbig. „Bist du so tief in Gedanken?“ fragte sie schließlich verwundert. „Ja“, erwiderte Jörgen. „Dann kann ich dich ja ruhig deinen Gedanken überlassen“, sagte Astrid. „Ich kehre jetzt nämlich um und lege mich schlafen. Ich muß zeitig auf.“ Sie blieb unter einer Straßenlaterne stehen, erhob ihren Arm und warf einen Blick auf die neue Armbanduhr. Jörgen ergriff ihre Hand und betrachtete die Uhr. Sein Gesicht war bleich, sein Mund verkniffen. „Ja, es gibt welche, die haben’s“, sagte er schließlich. „Wie gefällt es dir, von einem Herrn ein solches Geschenk zu erhalten?“ Astrid bemerkte sehr wohl den Stachel in seinen Worten. „Wie es mir gefällt? Das kannst du dir doch denken! Ausgezeichnet gefällt es mir. Harder ist immer riesig nett zu mir gewesen. Er sagt ja auch scherzweise, ich sei seine zweite Tochter.“ „Tochter… ist gut! Und auf den Leim kriechst du? Bildest du dir wirklich ein, die väterlichen Gefühle, die er angeblich für dich empfindet, hätten ihn dazu veranlaßt, dir ein solches Geschenk zu machen? Du mußt mich nicht falsch verstehen. Ich gönne dir natürlich alles Gute, und wenn du Harder auch dazu rechnest, dann gönne ich dir den auch. – Natürlich! Aber glaube nur ja nicht, daß er dich zur Tochter begehrt!“ „Was redest du da, Jörgen!“ „Ich bin ein Mann, Astrid, und ich verstehe auch etwas von Männern. Und du mußt dir einfach darüber klar sein, daß dieser Mann, der reichlich alt genug ist, um dein Vater sein zu können, der… der…“ „Ich will nichts mehr hören!“ sagte Astrid scharf. „Zwischen Harder und mir ist alles absolut in Ordnung. Wir sind in Oslo zusammen ausgegangen, und wenn er mir eine andere Freundlichkeit
hätte zeigen wollen als die rein väterliche, dann hätte er Gelegenheit genug dazu gehabt!“ „Puh!“ sagte Jörgen. „Mir wird ganz übel, wenn ich dieses Gewäsch von den väterlichen Gefühlen höre. Er hat für dich ebensowenig väterliche Gefühle wie… wie ich! Ich kann dir nur raten: Nimm dich vor ihm in acht! Glaubst du, er ist ein Mönch? Oder etwa ein Engel vom Himmel? Er kann dir Schmuck und Geld und Autos und wer weiß was alles unter die Nase halten und…“ „Jörgen!“ Astrid stampfte mit dem Fuß auf den Asphalt, so böse war sie. „Ich dulde es nicht, daß du so von einem Manne sprichst, der ein guter Freund von mir ist! Du weißt ganz genau, daß du nicht die geringste Veranlassung dazu hast! Du bist nach deiner nächtlichen Inspektionsrunde übermüdet. Das beste ist, du gehst nach Hause und legst dich hin. Es ist wahrhaftig schon spät genug.“ „Ja, das mußt du ja wissen, denn du hast ja eine so feine Uhr“, fauchte Jörgen Trahne. Er lüftete seinen Hut und verschwand mit einem äußerst verblüfften und verwirrten Timian im Kielwasser. „Väterlicher Freund!“ stieß Jörgen Trahne durch die Zähne. „Väterlicher Freund!!! Und das soll ich glauben?“
Du kannst dich auf mich verlassen… Astrid ärgerte sich. Daß Männer so dumm sein konnten! Nun hatten sie und Jörgen es so schön miteinander gehabt. Es war so gemütlich gewesen, wenn er nachmittags zum Kaffee kam, mit der Mutter und ihr plauderte und mit Hein trainierte. Und da wurde er nun plötzlich aus bloßem Mißverstehen so völlig durchgedreht! Bloß weil Harder sie gut leiden konnte und nett zu ihr war! Wie konnte er nur so töricht sein! Eigentlich hatte sie erwartet, er würde anrufen und einen Ausflug am Sonntag vorschlagen. Aber er dachte nicht daran. Als das Telefon am Sonntag morgen läutete, war nicht Jörgen am Apparat, sondern Harder. „Wollen Sie mir einen Gefallen tun, Fräulein Astrid?“ „Sehr gern!“ „Haben Sie heute etwas Besonderes vor?“ „Nicht das geringste.“ „Dann hören Sie! Jean hat sich eine Vorderpfote verletzt, und er will von einer Behandlung absolut nichts wissen. Der Gärtner hat es versucht, und ich habe es versucht, aber er hat uns nur böse angeknurrt. Wenn ich Sie mit meinem Wagen abhole, würden Sie dann wohl so freundlich sein und mit herauskommen, um die Wunde zu reinigen und einen Verband anzulegen?“ „Ja, gern. Aber…“ „Ich weiß, was Sie sagen wollen. Herr Mostvedt ist mit Gerda nach Oslo gefahren, um Aussteuer einzukaufen. Und ich glaube nicht, daß dazu ein Tierarzt nötig ist. Es handelt sich nur darum, die Wunde zu reinigen, damit keine Entzündung entsteht. Sie sind ja übrigens auch selbst ein halber Tierarzt.“ „Jetzt übertreiben Sie“, wehrte Astrid lachend ab. „Aber ich werde gern kommen. Riesig gern.“ Eine Stunde später fuhr das Auto vor dem Hause vor, und Harder klingelte. Frau Liberg fragte, ob er sich nicht vor der Rückfahrt etwas stärken wolle, aber er lehnte dankend ab. „Astrid soll sich also wieder einmal als Hundedoktor betätigen?“ meinte Frau Liberg lächelnd. „Ja - Astrid und Hunde!“ Und sie erzählte ein paar kleine Episoden aus Astrids Kindheit, die zeigten, daß sie mit den Tieren von klein auf gut Freund gewesen war. „Das zu beobachten, hatte ich selbst Gelegenheit“, sagte Harder.
„Sie hätten Jean sehen sollen, als er Fräulein Astrid zum erstenmal zu sehen bekam! – Es ist ja eigentlich etwas beschämend, daß ich ein junges Mädchen um Hilfe bitten muß, aber…“ „Nicht das junge Mädchen, sondern den Tiermenschen Astrid, Herr Harder. Und das ist ein großer Unterschied. - Weißt du, Astrid“, wandte sie sich dann an ihre Tochter, „für dein Mittagessen wirst du selbst sorgen müssen. Ich fürchte, ich werde bis spät in den Nachmittag hinein über meinen Abrechnungen sitzen müssen.“ Frau Liberg war genötigt, den Sonntag mit heranzuziehen, denn sie hatte im Geschäft den Rechnungsabschluß für das vergangene Vierteljahr fertigzustellen, und dazu reichte die Zeit an den Werktagen, an denen es soviel zu tun gab, nicht aus. „Ich glaube, bei uns werden wir wohl noch einen Bissen für Fräulein Astrid finden – vorausgesetzt, daß Sie sie mir solange anvertrauen wollen.“ „Das brauche ich wohl nicht erst besonders zu versichern“, erwiderte Frau Liberg mit ihrem gewinnendsten Lächeln. So kletterten sie denn alle drei in den Wagen. Harder setzte Frau Liberg vor ihrem Geschäft ab und fuhr dann mit Astrid weiter. Wie bequem saß es sich doch in diesem großen, wundervollen Wagen! Per Mostvedts kleines Wägelchen war ja auch ganz nett. Aber das hier war doch eine andere Sache! Astrid mußte an jenen Tag in Oslo denken, da sie zum ersten Mal in diesem Luxuswagen gesessen hatte. Und sie dachte auch an den Tag, da sie zum letzten Male mit Per Mostvedt in seinem bescheidenen Auto gefahren war. Mit welchen hochgespannten Erwartungen, war sie zu der großen Gesellschaft auf Harders Gut gefahren! Und wie klein und mutlos und enttäuscht war sie nach der Gesellschaft heimgekehrt? Jetzt hegte sie weder Erwartungen, noch hatte sie Enttäuschungen zu befürchten. Sie war ruhig und frohgelaunt, und sie fühlte sich in der Gesellschaft ihres älteren Freundes wohl und geborgen. Trotz der verletzten Pfote empfing Jean sie mit allen Zeichen der Wiedersehensfreude, und Astrid ließ sich Zeit mit ihm. Sie hockte auf dem Fußboden nieder, sie plauderte mit Jean, streichelte ihm Hals und Kopf, rührte aber zunächst die Pfote nicht an. Erst als Jean sich auf dem Kaminteppich ausgestreckt hatte und ihr nicht länger die Hände leckte, näherte sie sich vorsichtig der kranken Pfote. Es ging, wie es immer zu gehen pflegte, wenn Astrid sich eines kranken Tieres annahm. Ihre ruhige Stimme, ihre behutsamen Bewegungen, die Bestimmtheit, die keinen Widerspruch duldete, und ihr völliger Mangel an Furcht taten ihre Wirkung. Der Hund
verstand, was sie wollte, und gehorchte. Harder schaute mit ehrlicher Bewunderung zu, wie Astrid in aller Ruhe die Wunde reinigte. Jean zuckte zusammen, blieb aber still liegen. Harder reichte ihr, was sie verlangte: Mull, die Pinzette, die antiseptische Lösung, das Verbandszeug. Er blickte auf die ruhigen, flinken Hände, auf den schmalen gebeugten Nacken, das konzentrierte Gesicht. Wenn Jean einen Ansatz zum Knurren machte, unterbrach sie ihre Arbeit nicht einen Augenblick. Sie sagte nur: „Ruhig, Jean!“, ohne die Stimme zu erheben, und fuhr gelassen fort, die Wundränder zusammenzupressen und einen soliden Verband anzulegen. „Wissen Sie was, Fräulein Astrid?“ sagte Harder. „Ich würde Sie gern einmal Menschen behandeln sehen. Ich glaube, Sie wären eine ideale Krankenpflegerin.“ „Wir können ja einen Versuch machen“, sagte Astrid lachend. „Sie brauchen nur für eine verletzte Pfote zu sorgen. Aber hoffentlich knurren und schnappen Sie nicht nach mir, wenn ich Sie in Behandlung nehme!“ Harder gab keine Antwort, sondern blickte sie nur unablässig an. Er war so still, daß es anfing, peinlich zu werden, und Astrid war daher froh, als das Dienstmädchen kam und meldete, es sei angerichtet. Es war etwas Neues, mit Harder allein am runden großen Speisezimmertisch zu sitzen. Und etwas eigentümlich war diese Situation schließlich auch. Die Unterhaltung wollte gar nicht recht in Gang kommen. Da kam Harder auf den glücklichen Gedanken, Astrid von seiner Reise zu erzählen. Er war in England, Frankreich und der Schweiz gewesen. Dort hatte er auch die Armbanduhr gekauft. Als sie nach dem Essen vor dem Kamin saßen, zeigte er ihr Bilder und freute sich über das kindliche Interesse, das sie dafür bekundete. „Hätten Sie wohl Lust, auch einmal eine solche Reise zu machen?“ fragte er. Sie blickte ihn mit großen Augen an. „Ob ich Lust dazu hätte? Der bloße Gedanke an ein solches Erlebnis macht mich schon beinahe krank. Aber ich werde brav bei meinen Hunden zu Hause bleiben müssen. Das Höchste, wozu ich es bringen werde, ist ein Trimmkursus für Fortgeschrittene in England. Es würde mir riesigen Spaß machen, einmal einen richtigen englischen ,Kennel’ kennenzulernen. Vielleicht wird doch eines Tages etwas daraus.“
„An einen Trimmkursus für Fortgeschrittene habe ich dabei nun wirklich nicht gedacht“, sagte Harder leise, und seine Stimme klang verschleiert. „Ich meine, Sie könnten wohl auch eine etwas spannendere Reise machen, die nicht Berufszwecken dient.“ „In der Hoffnung leben kann man ja. Das ist einem nicht verwehrt“, erwiderte Astrid, und diese leeren Worte blieben in der Luft hängen, denn es kamen keine neuen, um sie zu verdrängen. Harder war still. Er saß in seinen Stuhl zurückgelehnt und betrachtete Astrid. Und ohne daß etwas gesagt wurde, spürte sie, daß sich etwas geändert hatte. Die Atmosphäre war plötzlich mit einer seltsamen Spannung geladen. Es lag etwas Neues, Unerklärliches in der Luft. Der Kaffee wurde hereingebracht, und Harder füllte die Likörgläser. Als sie die erste Tasse geleert hatten, erbot Astrid sich, Harder eine zweite Tasse einzuschenken. Er reichte ihr seine Tasse, und ihre Finger berührten sich unter der Untertasse. Diese flüchtige Berührung genügte, um Harder des letzten Restes von Selbstbeherrschung zu berauben. Er stellte ruckartig seine Tasse auf den Tisch, ergriff Astrids Hand und drückte sie so kräftig, daß es ihr beinahe weh tat. „Astrid…!“ Er stand auf, nahm ihre beiden Hände und preßte sie gegen seine Brust. „Astrid… glaubst du denn… ich hinaus Stein?“ Er zog sie von ihrem Stuhl hoch und legte den Arm um sie. „Astrid… ich muß es dir heute sagen – nein, sage du mir, daß du mich liebhast, Astrid, daß ich etwas für dich bedeute…“ „Seien Sie so gut…. mich… mich loszulassen…“ „Habe keine Angst, mein Kind! Nein, wie du zitterst. Du hast gar keinen Grund, Angst zu haben. – Ich will dir doch nichts zuleide tun… ich will dir doch nur Gutes tun… nichts als Gutes. Begreifst du es denn nicht, Astrid? – Ich allein weiß dich nach deinem wahren Wert zu schätzen… ich allein weiß, was für ein Kleinod du bist… Astrid, du bist noch jung, aber du bist doch schon erwachsen… du bist eine bezaubernde kleine Frau…“ Mit einem halberstickten Schrei versuchte Astrid, sich frei zu machen. Es gelang ihr nicht. „Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich doch los!“ Plötzlich begannen ihre Tränen zu strömen, und ihr ganzer Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Da trat Harder einen Schritt zurück. Astrid sank auf einen Stuhl und schlug die Hände vor ihr Gesicht.
Eine Hand strich ihr über das Haar, leicht, behutsam. Und eine leise Stimme sprach: „Habe keine Angst, Astrid. Es ist vorüber. Ich wollte dich doch nicht ängstigen. – Glaube mir, kleine Astrid, ich hatte nichts Böses mit dir im Sinn…“ Er kniete vor ihrem Stuhl und ergriff ihre Hände. „Mein Kind, ich wollte dich ja nicht erschrecken. Schau, es ist nicht immer leicht, ein Mensch zu sein. Du wirst das verstehen… wenn du etwas älter geworden bist…“ Astrid versuchte aufzustehen, aber er hinderte sie daran. „Nur noch einen Augenblick! Höre mich an! Ich bin kein skrupelloser Verführer, das darfst du nicht denken! Ich bin ein ganz gewöhnlicher schwacher Mensch. - Und ich brauche dich. Du sollst wissen, daß ich die Absicht hatte, dich zu bitten, meine Frau zu werden; aber ich sehe jetzt ein, daß… Nein! Wir wollen darüber nicht mehr reden. Es ist vorbei, und du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Kannst du vergessen, Astrid? Kannst du mir vergeben? Und kannst du vergessen, daß der törichte alte Mann einen Augenblick die Besinnung verlor…?“ Die arme kleine Astrid! Sie war einundzwanzig Jahre alt und unerfahrener als die meisten jungen Mädchen in diesem Alter. Sie war nur verängstigt und erschrocken und verstand sehr wenig. Aber eine junge, zornige Stimme klang ihr die ganze Zeit im Ohr: „Er hat ebensowenig väterliche Gefühle für dich wie ich. Ich kann dir nur raten: Nimm dich vor ihm in acht! – Wie gefällt es dir, von einem Herrn ein solches Geschenk zu erhalten?“ Astrid machte ihre Hände frei und nahm die Armbanduhr ab. „Ich will die Uhr nicht haben…“ Harder legte seine Hand behutsam unter Astrids Kinn und beugte ihren Kopf ein wenig zurück, so daß sie ihm in die Augen blicken mußte. „Sei lieb, Astrid! Behalte die Uhr! Ich schenke sie dir jetzt zum zweiten Male, und ich gelobe dir: Solange du die Uhr trägst, werde ich an diese Stunde denken und wissen, daß du mir vertraust – trotz allem. Du kannst dich auf mich verlassen. Willst du mir dein Vertrauen schenken? Dann beweise es, indem du die Uhr behältst.“ Astrid blickte ihm fest in die Augen, und auf einmal war sie wieder ganz ruhig. Alle Angst wich von ihr, denn Harders Gesicht war milde und etwas müde wie nach einer großen Anstrengung. Astrid streckte ihren Arm aus, ohne etwas zu sagen. Er befestigte
die Uhr aufs neue am Handgelenk und küßte leicht ihre Hand. „Ich möchte gern nach Hause“, sagte Astrid mit leiser, etwas spröder Stimme. „Ich werde dem Chauffeur Bescheid sagen, daß er uns fährt.“ „Sie brauchen nicht mitzukommen.“ „Doch. Erlauben Sie mir das. Ich möchte Sie doch sicher nach Hause bringen. Und jetzt können Sie sich auf mich verlassen, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Von diesem Augenblick an können Sie sich immer auf mich verlassen. Wollen Sie das?“ Sie standen einander gegenüber, und Astrid sah ihm ernsthaft ins Gesicht. Sie nickte. „Und ich darf Sie wieder treffen? Bei Ihnen und Ihrer Mutter und Hein vorbeikommen?“ „Ja.“ „Danke, Astrid. – Dann lasse ich den Wagen vorfahren.“
Das ist unverantwortlich Frau Liberg wunderte sich über ihre Tochter. Astrid war nach dem Besuch auf Harders Gut so merkwürdig still gewesen. Sie hatte nur kurz „O ja!“ geantwortet, als die Mutter sie gefragt hatte, ob es nett gewesen wäre. Und als Harder ein paar Tage später vorsprach, war Astrid so beschäftigt, daß sie nicht einmal Zeit hatte, mit ihnen zusammen eine Tasse Kaffee zu trinken. Astrid hatte aber auch wirklich erstaunlich viel zu tun. Binnen kurzem sollte in Oslo eine Hundeausstellung stattfinden, und mindestens jeder zweite Hund in der Stadt sollte plötzlich von Astrid getrimmt werden. Das Telefon klingelte laufend, und Astrid arbeitete bis spät in den Abend hinein. Ihre Gedanken aber schweiften oft von der Arbeit ab. Was mochte Jörgen Trahne wohl treiben? fragte sie sich immer wieder. Weshalb rief er nicht an? Weshalb kam er nicht? Sie war beschämt, und sie war ärgerlich, und sie fühlte sich schrecklich verlassen. Zuerst hatte sie so viel erlebt: mit Per Mostvedt, mit Harder, mit Jörgen. Und jetzt? Per war verlobt, Harder gegenüber hatte sie ihre Unbefangenheit verloren, und Jörgen? Jörgen hatte sich unbeherrscht gezeigt und war seitdem verschwunden. Sie war Jörgen nicht mehr böse. Je mehr sie über alles nachdachte, desto mehr schwand ihr Zorn. Jörgen hatte ja recht gehabt. Und sie selbst war blind gewesen. Astrid bedauerte sich manchmal selbst. War sie vor kurzem noch reichlich naiv gewesen, so stürmten jetzt die Lebenserfahrungen nur so auf sie ein. Das Schicksal ging wirklich nicht sanft mit ihr um. So schwirrten die Gedanken in Astrids kleinem Kopf herum, während ihre Hände fleißig schafften. Und tagaus, tagein mußte sie den „Ausstellungskunden“ die Sachlage erklären. Sie kam sich schon beinahe wie ein Automat vor, weil sie immer dasselbe zu sagen hatte: „Sie müssen wissen: Ausstellungstrimmen ist etwas für sich. Ich muß den Hund zweimal in Arbeit nehmen. Heute ist das erste Mal, und dann müssen Sie ein paar Tage vor der Ausstellung noch einmal kommen.“ Sie verdiente jetzt sehr gut. Sie brachte Geld auf ihr Bankkonto und kaufte sich das eine und andere Kleidungsstück. Aber trotz der guten Einnahmen war sie froh, als das Ausstellungstrimmen endlich
vorüber war und sie etwas aufatmen konnte. Jetzt durfte sie doch wenigstens ein paar Stunden täglich Privatmensch sein. Astrid war müde und überanstrengt. Sie wunderte sich oft, daß Jörgen sich gar nicht mehr sehen ließ, brachte es aber auch nicht über sich, mit Hein darüber zu reden. Eines Tages läutete wieder das Telefon. Ob sie einen großen Ziehhund trimmen könne? Rasse? Tja, es sei wohl eine Kreuzung: der Vater war ein Grönlandhund, die Mutter ein Riesenschnauzer. Er hatte den struppigen Pelz der Mutter geerbt und mußte unbedingt getrimmt werden. Gewiß. Der Grönländer Riesenschnauzer sollte getrimmt werden! Übermorgen um neun Uhr. Nein, vor zwei Uhr konnte er kaum fertig sein, wenn er so groß war. Das Tier kam, und Astrid, die an Überraschungen gewöhnt war, ging doch beinahe die Puste aus, als sie es erblickte. Der Besitzer lächelte entschuldigend. „Ja – der Hund ist ja wirklich etwas groß“, räumte er verlegen ein. Nächstens werde ich einen Eisbären zu trimmen haben, dachte Astrid. Nur mit Hilfe des Besitzers konnte sie das riesige Tier auf den Trimmtisch bekommen. Es knurrte drohend. „Bösartig?“ fragte Astrid. „Nun – ein Schoßhund ist er ja nicht gerade. Aber wenn Sie energisch mit ihm reden, brauchen Sie keine Angst vor ihm zu haben.“ „Vor Hunden habe ich niemals Angst“, erwiderte Astrid. „Holen Sie also Ihren Schoßhund um zwei Uhr ab.“ Als sie beim Bauch angelangt war, entdeckte sie den Grund der Gereiztheit des Tieres. Es hatte Milch. Entweder hatte es Junge daheim, oder sie waren ihm gerade fortgenommen worden. Es ist unverantwortlich, eine Hündin in diesem Zustand zum Trimmen zu schicken, dachte Astrid. Natürlich ist sie übernervös. Sie sprach nett und freundlich mit ihr, und das Riesentier – Sonja hieß es – beruhigte sich langsam. Schließlich kapitulierte es völlig, legte den Kopf in Astrids Hand und blickte sie fromm an. „Brave Sonja“, sagte Astrid und kraulte ihr den Nacken. Da klopfte es an die Tür, und Sonja knurrte. Astrid beruhigte die Hündin, während die Tür sich öffnete. Dann aber hatte sie nicht einmal mehr Zeit festzustellen, daß der Besucher Jörgen war, denn nun entwickelte sich alles in atemberaubendem Tempo:
Timian stürmte auf Astrid los, entdeckte den fremden Hund, bellte laut. – Sonja erblickte das kleine Knäuel, spürte den Geruch des männlichen Artgenossen – das Fell auf ihrem Nacken sträubte sich, sie zeigte die Zähne, knurrte, schnappte nach Timian. Astrid wollte sie am Nackenfell packen und versuchen, sie zu beruhigen, aber nun war Sonja in Hitze geraten, und in der nächsten Sekunde schlossen sich die beiden mächtigen Kiefer um Astrids Arm. Sie schrie laut auf. Ein messerscharfer Schmerz jagte durch ihren Körper. Timian verkroch sich erschrocken in einer Ecke, Jörgen aber sprang blitzschnell zu und packte Sonja im Nacken. Selbst erschrocken über das, was sie getan hatte, öffnete sie den Rachen. Blut quoll aus Astrids Arm. „Ich glaube fast…“, flüsterte Astrid, konnte aber den Satz nicht mehr beenden. Ganz weiß im Gesicht, glitt sie zu Boden. Jörgen überlegte eine Sekunde und sah sich um. Gott sei Dank! Dort an der Wand stand ein Schrank mit Medikamenten. In Astrids Werkstatt fehlte nichts. Er kniete neben Astrid nieder, reinigte die Wunde mit Jod und machte einen Verband. Astrid schlug die Augen auf. „Astrid… meine kleine Astrid…!“ „Du… Jörgen? – Ich glaube, Sonja hat mich gebissen…“ „Ja, sie hat dich gebissen. – Jetzt will ich schnell nach einem Auto telefonieren. Glaubst du, daß du gehen kannst?“ Er hob sie auf, und sie schlang den Arm um seinen Hals. Da entdeckte sie den weißen Verband. „Wie fein du mich verbunden hast!“ sagte sie mit bebenden Lippen. „Du mußt sofort auf die nächste Unfallstation!“ „Aber Sonja…?“ „Die verdammte Töle! Mit der rechne ich später ab – oder vielmehr mit ihrem Besitzer!“ „Setze Sonja in den Auslauf, Jörgen!“ Er machte das angekettete Tier los und schloß es in dem Auslauf ein. Dann bestellte er telefonisch ein Taxi. Als er vom Flur Astrids Mantel geholt und ihr hineingeholfen hatte, hupte das Auto schon vor der Haustür. Er nahm sie in seine Arme. Sie war so klein und so leicht. Ihre Augen in dem bleichen Gesicht waren so groß und dunkel. „Astrid… kleine Astrid…!“
Er wußte plötzlich nur das eine: daß er ein bezauberndes junges Mädchen in seinen Armen hielt – ein junges Mädchen mit einer warmen, sanften Stimme und zwei großen ausdrucksvollen Augen. Und da er nur dies eine wußte und sonst nichts, tat er, was einzig und allein logisch und natürlich war: Er küßte sie. Er küßte sie immer und immer wieder. Und Astrid legte den gesunden Arm um seinen Hals und ließ es geschehen. Sie schloß die Augen und fühlte plötzlich nicht mehr den Schmerz in ihrem Arm. Das Auto hupte immer energischer. Da erst fand Polizeikommissar Jörgen Trahne in die Wirklichkeit zurück. Er brachte Astrid zur Behandlung auf die Sanitätswache. Inzwischen war Frau Liberg vom Geschäft gekommen und begriff nichts, als sie das Haus leer fand und einen halbgetrimmten, knurrenden Hund von der Größe eines Elefantenbabys im Auslauf entdeckte. Sie ahnte Unheil und wurde in dieser Ahnung bestärkt, als Sonjas Besitzer kam und Lärm schlug, weil sein Hund erst halb fertig war. Er erklärte barsch, er würde in zwei Stunden wiederkommen und erwarte sehr, seinen Hund dann fertig getrimmt vorzufinden. Zwei Stunden später aber lag Astrid in der Wohnstube auf dem Diwan und bekam ihr reichlich verspätetes Mittagessen. Timian saß an ihrer Seite und betrachtete sie teilnahmsvoll, während Jörgen Trahne stumm und mit umwölkter Stirn zusah wie Frau Liberg ihre Tochter fütterte. Da klingelte es an der Wohnungstür. „Astrid!“ meldete Hein, der geöffnet hatte. „Der Herr ist da, dem Sonja gehört.“ „Mit dem werde ich ein Wort reden!“ sagte Jörgen in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Frau Liberg, Astrid und Hein lauschten mit angehaltenem Atem. Sonjas Besitzer bekam nicht viel Angenehmes zu hören. Jörgen Trahne machte ihn darauf aufmerksam, daß er beinahe ein großes Unglück verschuldet habe. Wie könne er als Hundebesitzer eine bissige Hündin von den Jungen wegnehmen und sie Fremden überlassen? Könne er denn nicht begreifen, daß er mit dem Trimmen hätte warten müssen, bis die Jungen entwöhnt waren? Und ob er überhaupt etwas von Hunden verstünde? Denn er hätte sich doch sagen müssen, daß er selbst bei dem Trimmen zugegen sein mußte, wenn das Tier so gefährlich war. Fräulein Liberg sei als der tüchtigste „Hundemensch“ in der Stadt bekannt, und wenn Sonja sogar sie beiße, dann sei sie gefährlich. Er könne für eine solche
Fahrlässigkeit haftbar gemacht werden, und er solle heilfroh sein, wenn keine Infektion auftrete; denn das könnte eine ernste Geschichte werden! Jörgen mußte einen Augenblick abbrechen, um Atem zu holen, und die drei Zuhörer in der Stube hörten den erschrockenen Hundebesitzer leise etwas fragen. „Ja“, antwortete Jörgen Trahne. „Fräulein Liberg ist merkwürdigerweise bereit, Ihr Raubtier fertig zu trimmen, sobald sie ihren Arm wieder gebrauchen kann, und das ist wahrhaftig mehr, als Sie verdienen. Sie wird Ihnen telefonisch Bescheid geben.“ Astrid mußte plötzlich laut auflachen. Sie fand die ganze Angelegenheit urkomisch. Nie hätte sie geglaubt, daß der stille Jörgen plötzlich alle Hemmungen abstreifen könnte. Hein wurde in den Keller geschickt, um Sonja aus dem Auslauf herauszulassen, und Frau Liberg ging in die Küche. Jörgen und Astrid waren allein. Sie blieben beide stumm und atmeten schnell. Astrid streckte ihm den gesunden Arm hin. Er ergriff ihre Hand. „Jörgen… du… du warst schrecklich zornig…“ „Ja, ich war zornig. So etwas kann man nicht machen. Es ist unverantwortlich!“ Wieder schwiegen sie beide. Astrid drückte Jörgens Hand. „Jörgen!“ sagte sie. Er blickte ihr in die Augen und kam näher, aber plötzlich zuckte er zurück und setzte sich auf einen Stuhl neben dem Diwan. Zart streichelte er ihre Hand, sein Gesicht aber hatte einen verschlossenen, fast gequälten Ausdruck. „Es ist unverantwortlich, Astrid… unverantwortlich!“
Astrid macht ihrem Herzen Luft Per Mostvedt gab Gas. Er war müde und freute sich nicht im geringsten auf die Arbeit, die an diesem Nachmittag auf ihn wartete. Dummes Geschwätz! Warum sollte eine gesunde und gutgepflegte Hündin ihre Jungen nicht ohne Nachhilfe werfen können? Aber natürlich – wenn das Tier so viel Geld gekostet hatte! Weiß der Teufel, dachte er, wozu die Leute sich diese verwünschten Schoßhunde halten müssen! Nichts als Kosten und Verdruß. „Sie sind ja so süß!“ sagen die Frauensleute. Sie sollten sich lieber eine Puppe anschaffen! Mostvedt nahm Gas weg. Eigentlich wäre das etwas für Astrid gewesen, dachte er. Es hätte sie sicherlich sehr interessiert. Und wenn er sie gehabt hätte, dann hätte er die hysterische Besitzerin des Tieres wegschicken können. Er und Astrid hätten schon genügt. Plötzlich floß Per Mostvedts Herz von Mitleid über, als er an den kleinen Yorkshireterrier dachte, der so unter seinen Geburtswehen litt. Ob er Astrid einmal fragte? Das durfte er doch wohl noch! Er erinnerte sich noch gut an damals, da sie ihn zum ersten Male bei einem Krankenbesuch begleitet hatte. Wie ihr kleines Gesicht gestrahlt hatte! Mit der Haarlocke, die unter ihrer Baskenmütze hervorgequollen war, hatte sie wie ein Schulmädchen ausgesehen. Er biß die Zähne zusammen. Was war seither nicht alles geschehen! Vor der Tür mit dem Schild „Astrid Liberg, Trimmanstalt“ brachte er den Wagen zum Stehen und ging mit entschlossener Miene ins Haus. Astrid war müde. Der letzte Hund war abgeholt. Jetzt mußte sie noch fegen. Sie blickte sich um. Hundewolle, Haarbüschel, Locken lagen überall herum. Hier die bläulichen Seidenlocken eines Kerry Blues. Dort die struppigen rotbraunen des kleinen irischen Terriers. Und dort lagen die langen Korkenzieherlocken des schönen schwarzen Pudels. Sie streckte sich in dem „Kundenstuhl“ aus, ließ die Arme sinken und schloß die Augen. Sie konnte sich nicht einmal entschließen, ihren Kittel abzulegen. Drollig waren sie, ihre neuen Kittel. Hellgrüner Popeline mit
einem grotesk wirkenden gestickten kleinen Hund auf der linken Seite. Die Kittel hatten einen flotten Schnitt und kleideten sie gut. Da öffnete sich die Tür, und Astrid wandte resigniert den Kopf herum. „Sie sind es, Herr Mostvedt?“ „Störe ich?“ „Durchaus nicht. Ich bin gerade für heute fertig geworden. Ich freue mich, Sie zu sehen. Sollen Sie getrimmt werden?“ Er lächelte schwach und gab keine Antwort. „Oder vielleicht gebadet? Erstklassiges Hundebad gleich nebenan!“ Er blickte sie etwas verwundert an. Ihre Stimme klang so ungewohnt frisch, und eine so kesse Art, sich auszudrücken, hatte sie doch früher nicht gehabt? „Nein. Allerdings möchte ich Sie um etwas bitten, aber nicht gerade um ein Bad oder Trimmen.“ „Nanu! Dann werden Sie also einer Kreuzung zwischen einem Eisbären und einem Elefanten die Krallen schneiden und wollen, daß ich festhalte und hinter den Ohren kraule…“ „Festhalten und hinter den Ohren kraulen, das stimmt schon, aber es handelt sich um einen Kehrwischköter – einen Yorkshireterrier –, es sind keine Krallen, sondern Junge.“ „Armes Tierchen! Komplikationen?“ „Ich fürchte es.“ „Ja, wenn ich dabei helfen kann, dann selbstverständlich.“ Sie zog einen sauberen Kittel an, wusch sich die Hände und lief nach oben, um ihren Mantel zu holen. Der Mantel war übrigens ein Pelz, ein dunkelbrauner, weicher Antilopen-Hänger, der ihr gut stand. Es war fast eine halbe Stunde zu fahren. Anfangs schwiegen sie beide. Nach einer Weile aber bemerkte Per Mostvedt: „Es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie mir helfen wollen.“ „Nicht der Rede wert“, antwortete Astrid. Wieder folgte eine Pause. Per warf ihr einen verstohlenen Blick zu. Eine neue, erwachsene Astrid saß an seiner Seite. Eine Astrid, die bei all ihrer neugewonnenen Sicherheit und Überlegenheit nichts von der Herzenswärme des anspruchslosen jungen Mädchens, das er kannte, eingebüßt hatte. Und sie erschien ihm schöner und begehrenswerter denn je. „Wie geht es Gerda?“ „Ich glaube, gut. Sie ist verreist.“ Seine Stimme hatte einen seltsamen Klang, der Astrid gar nicht
gefiel. Sie war daher froh, als der Wagen mit einem Ruck hielt. Sie waren angelangt, und das Gespräch verstummte ganz von selbst. Sie wurden von einer verzweifelten Hundebesitzerin in Empfang genommen. Die arme Nippy litt ja so fürchterlich, und es sah gar nicht danach aus, als würde die Geschichte gutgehen. Mostvedt bat, sich die Hände waschen zu dürfen, bevor er an die Arbeit ging, und während er im Badezimmer war, bemühte sich Astrid, Nippys Herrin klarzumachen, daß es das beste wäre, wenn sie nicht zugegen wäre. Denn sonst hätte das Tier das Gefühl, daß Frauchen selbst ihm weh täte. Aus diesem Grunde nähme der Tierarzt eine Gehilfin mit, erklärte sie. Sie drückte sich sehr diplomatisch aus und erreichte auch, daß sie und Per ungestört arbeiten konnten. Die arme kleine Hündin hatte wirklich sehr zu leiden. Sie war ganz naß von Schweiß, das Fell war verklebt und im Augenblick gar nicht seidig glänzend. Mostvedt arbeitete schnell, gewandt und schonend. Astrid hielt das Hündchen und spürte, wie Zuckungen der Angst und des Schmerzes den kleinen Körper durchliefen. Ein gellendes, verzweifeltes Aufheulen – und Mostvedt hielt einen kleinen, leblosen Klumpen in den Händen. „Tot?“ fragte Astrid. „Ich fürchte, ja.“ „Kann ich das Tier loslassen und mir das Junge ansehen?“ „Das können Sie gut. Ich denke, der nächste kleine Bursche wird ganz von selbst kommen.“ Astrid nahm das winzige Neugeborenein die Hände. War es wirklich tot, oder bewegte es sich nicht ein ganz klein wenig? Klopfte nicht das Herz ganz schwach? Mostvedt war mit der Hündin beschäftigt. Daher handelte Astrid auf eigene Faust. Sie tauchte das Junge in kaltes Wasser, dann in warmes, dann wieder in kaltes, sie massierte es, trocknete es mit etwas Mull ab, massierte es wieder, und da… „Ich glaube…“, flüsterte sie. „Ja?“ „Ich glaube, es lebt!“ Astrids Stimme bebte. Vielleicht war sie zu sentimental. Aber wenn schon! Jedesmal, wenn ein neues lebendes Wesen geboren wurde – und wenn es auch nur ein winziges Hündchen war –, hatte sie das Gefühl, daß sie eines der großen Wunder der Natur miterlebte. Das zweite Junge war gekommen, und die Mutter zeigte für es Interesse. So erschöpft sie auch war, sie versuchte doch, es zu lecken. Kurz darauf kam Nummer drei. Die Mutter wurde immer
munterer. Sie leckte die beiden zuletzt Angekommenen, und jetzt legte Astrid auch den schwachen Erstgeborenen dazu. Die Mutter beroch ihn und leckte. Eine Weile war sie sehr geschäftig. Dann legte sie sich auf die Seite, und die drei Neugeborenen entdeckten mit ihrem wunderbaren Instinkt sehr schnell die lebenspendenden Milchquellen ihrer Mutter. Per Mostvedt öffnete die Tür zum Nebenzimmer. „Jetzt können Sie kommen, gnädige Frau!“ Und Nippy leckte Frauchens Hand. Frauchen war so glücklich, wie es nur eine kinderlose Hundebesitzerin sein kann, die alle ihre ungenützte Mutterliebe einem Tier zuwendet. „Nippy könnte jetzt gut einen Napf lauwarmen Haferschleim vertragen“, sagte Mostvedt. Er wurde in unwahrscheinlich kurzer Zeit herbeigezaubert und der glücklichen Hundemutter hingestellt. Und Per Mostvedt erzählte, es sei Astrids Verdienst, daß das erste Junge am Leben geblieben war. Astrid protestierte natürlich und schob alle Verdienste Per Mostvedt zu. „Drei Junge sind bestellt“, sagte die Frau. „Wäre das eine gestorben, so hätte das eine Einbuße von mindestens tausend Kronen bedeutet. Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll!“ Per Mostvedt und Astrid mußten unbedingt Kaffee trinken, bevor sie wieder wegfuhren, und sie mußten sich natürlich auch Nippys Stammbaum ansehen, der sich übrigens als ein echt imponierendes Dokument erwies. „Sie können sich wirklich glücklich preisen, daß Sie eine so tüchtige Assistentin haben“, sagte Nippys Frauchen beim Abschied zu Mostvedt. „Hätte ich Ihnen geholfen, so wäre ich vielleicht ein ganz klein wenig hysterisch geworden.“ „O ja, Fräulein Liberg ist ein Schatz“, sagte Per mit warmer Stimme, und er warf einen vielsagenden Blick auf Astrid. „Sie haben wirklich etwas geleistet“, sagte Per, als sie wieder im Wagen saßen. „Ich bewundere Sie.“ „Ei was!“ entgegnete Astrid. „Gerda hätte das nie geschafft!“ murmelte Per plötzlich. „Jetzt sind Sie ungerecht“, sagte Astrid vorwurfsvoll. „Gerade hier hätte Gerda sich sicherlich bewährt. Es galt ja doch, hart und ruhig und vernünftig zu sein, nicht wahr? Gerda, die selber Kaninchen schlachten kann, die stark und geistesgegenwärtig und unsentimental ist, wäre besser als jeder andere mit dieser Aufgabe fertig geworden.“
„Vielleicht haben Sie recht, Fräulein Liberg“, meinte er schließlich. „Ich… ich war wohl wirklich etwas ungerecht.“ Astrid blieb eine Weile stumm. Sie wußte wohl, was sie gern gesagt hätte, aber sie mochte nicht indiskret sein. „Woran denken Sie?“ fragte Mostvedt plötzlich, als habe er erraten, was in ihr vorging. „Darf ich es sagen?“ „Ob Sie es dürfen? – Ich bitte Sie darum!“ Vielleicht verlieh Astrid das Bewußtsein, gute Arbeit geleistet zu haben, den Mut auszusprechen, was sie dachte. Vielleicht spielte auch die unverhohlene Bewunderung, die Per ihr zollte, eine Rolle. Außerdem wünschte sie ihm ja zu helfen. „Wenn Sie meinen, ich sei zu indiskret, dann müssen Sie mich unterbrechen“, begann sie etwas zögernd. „Ich möchte nämlich von Dingen sprechen, die mich eigentlich nicht das geringste angehen.“ „Also?“ „Ich finde, Ihre Stimme klingt merkwürdig hart, wenn Sie von Fräulein Harder sprechen. Es tut ordentlich weh, das zu hören. Denn Gerda verdient das wirklich nicht…. und… und Sie wollen sie ja auch heiraten. Sie lieben sie ja doch!“ „Sprechen Sie weiter!“ sagte Per, als Astrid verstummte und ihn unsicher ansah. „Es ist gerade so, als wären Sie gereizt, weil sie nicht so… so sentimental ist wie ich. Weil sie die Kaninchen schlachtet, statt sie hinter den Ohren zu kraulen. Sie sehen sie nicht, wie sie wirklich ist. Selbst der Tonfall, in dem Sie von ihr sprechen, ist für sie eine Beleidigung.“ Per Mostvedt blieb stumm. Astrid blickte ihn forschend an und fragte vorsichtig: „Habe ich Sie beleidigt?“ „O nein. Die Bonbons, die Sie mir da zu kosten geben, sind ja zwar reichlich sauer; aber vielleicht sind sie für mich gerade das richtige. Sprechen Sie nur ruhig weiter!“ „Gerda ist eine grundehrliche Natur. Sie ist intelligent, und sie ist außergewöhnlich schön. Und sie hängt an Ihnen. Und – aber jetzt vermute ich nur, und Sie müssen mich unterbrechen, wenn ich mich irre – sie ist steinreich. Und daraus können Schwierigkeiten erwachsen. Aber Sie müssen beide diese Schwierigkeiten überwinden. Es wäre töricht, wollten Sie versuchen, sich auf dieselbe Plattform zu stellen, auf die das Geld Gerda gestellt hat. Vergessen
Sie nicht, daß Sie so, wie Sie sind, ihr Herz gewonnen haben! Darum müssen Sie auch bleiben, wie Sie sind. Es ist eine ganz ehrliche Sache, daß Sie ein tüchtiger Tierarzt und liebenswerter Mensch sind – und weiter nichts. Und es ist ebenfalls eine ehrliche Sache, daß Gerda ein reiches Mädchen ist und einer anderen Gesellschaftsschicht angehört. Das ist nun einmal so und läßt sich nicht ändern. Aber sie ist frei von Snobismus und gänzlich ungekünstelt. Und darüber sollten Sie froh sein.“ Astrid verstummte und wunderte sich über sich selbst. Sie wußte nicht, woher ihr die Worte gekommen waren, sie begriff nicht, daß das Problem in ihrem Unterbewußtsein geschlummert hatte und bereits gelöst war, als es jetzt aus dem Unterbewußtsein auftauchte und forderte, in Worte gekleidet zu werden. Per Mostvedt schwieg lange. Dann brachte er den Wagen zum Stehen. „Ich muß unbedingt einen Augenblick halten, um Ihnen die Hand zu drücken, Fräulein Astrid. Sie haben genau das gesagt, was mir zu hören not tat. Ich gestehe nämlich – jetzt spreche ich offen, und ich weiß, Sie werden mich nicht mißverstehen –, ich gestehe, daß ich in Gerda verliebt bin, daß ich sie sehr gern habe; aber… aber so vieles bei ihr geht mir auf die Nerven. Und dann fange ich immer wieder an, Gerda mit Ihnen zu vergleichen… und dann… ja… manchmal dünkt mich, eigentlich hätte ich Sie heiraten sollen…“ Astrid wunderte sich im stillen, daß ihr Herz bei diesen Worten Pers keineswegs vor Freude hüpfte. Sie fühlte mit ihrem sicheren weiblichen Instinkt, daß sie, wenn sie es gewollt hätte, in diesem Augenblick Per Gerda hätte ausspannen können. Es hätte dazu nicht einmal eines raffinierten Intrigenspiels bedurft; er wäre ihr wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen. Aber – sie wollte nicht! Von dem Gefühl, das sie einmal erfüllt hatte, war auch nicht der leiseste Hauch zurückgeblieben. In der Tiefe ihres Herzens wußte sie, daß sie mit ihm fertig war, daß sie nur noch ihm und Gerda alles Gute wünschte. Sie richtete ihre Augen voll auf Per. „Sie wissen recht gut, Herr Mostvedt, daß Sie nie in mich verliebt gewesen sind“, sagte sie ernst. „Sie fanden mich lieb und nett, und Sie waren von meiner Arbeit in Ihrer Praxis sehr begeistert. Aber Sie wären nie auf den Gedanken gekommen, in mir die Frau zu sehen, wenn Sie nicht plötzlich angefangen hätten, mich mit Gerda zu vergleichen. Sie wissen, daß Gerda, wenn sie sich etwas vornimmt, alles daransetzt, nicht? Und wenn sie Sie heiratet, wird sie auch alles
daransetzen, Sie glücklich zu machen. Tun Sie bei Gerda dasselbe, Herr Mostvedt, und stoßen Sie sich nicht an Kleinigkeiten, die sich leicht darauf zurückführen lassen, daß Sie beide nicht das gleiche gesellschaftliche Niveau gewohnt sind. Sie sollten wirklich Ihrem Schicksal danken, Herr Mostvedt, weil es Ihnen die tüchtige und schöne Gerda Harder beschieden hat!“ Astrid war über ihre Beredsamkeit wieder erstaunt und zugleich ein ganz klein wenig stolz. Und sie fühlte sich erleichtert, nachdem sie ihrem Herzen Luft gemacht hatte. Per Mostvedt war rot geworden. Er biß sich auf die Lippe. Es dauerte eine Weile, bis er etwas erwiderte. Dann aber sagte er: „Sie sind ein feiner Kerl, kleine Astrid!“ Astrid lachte. „Finden Sie das? - Aber hören Sie! Fahren Sie nicht zu weit! Mir scheint, Sie sind etwas zerstreut. Dies ist die Straße, in der ich wohne!“ Per Mostvedt verlangsamte die Fahrt und bog links um die Ecke. „Und dann noch eins!“ fuhr Astrid fort. „Ich schlage vor, wir löschen unser Gespräch völlig aus unserem Gedächtnis. Wir haben uns über alles mögliche unterhalten, nur nicht über Gerda!“ „Selbstverständlich!“ lächelte Per. „Wer wird sich denn auch mit einem jungen Mädchen ausgerechnet über seine Verlobte unterhalten? Sie haben recht, wie immer – Fräulein Liberg!“ Astrid war so froh und so leicht ums Herz, als sie die Haustür aufmachte. Im Wohnzimmer brannte Licht, also war Mutti zu Hause. Sie machte die Tür schnell auf, nahm sich nicht die Zeit, den Mantel auszuziehen, sondern kam mit glühenden Wangen und locker hängendem Pelz ins Zimmer. „Mutti, du kannst dir nicht denken… oh, ich dachte…“ Gutsbesitzer Harder stand lächelnd von einem Sessel auf. „Nanu, kleine Astrid, habe ich Sie erschreckt?“ Er gab ihrer Hand einen herzlichen Druck. „Und Sie sind bummeln gewesen?“ „Bummeln – ach wo! Ich bin Hebamme gewesen, habe einem jungen Tausendkronenhund das Leben gerettet und bin von Ihrem Schwiegersohn sehr gelobt worden.“ „Sieh an! Sie gehen meiner Tochter ins Gehege…“ Astrid wußte nicht, was sie dazu brachte, so zu antworten, wie sie es tat. Sie fühlte sich so froh, so frei, so jung und zugleich so erwachsen. Sie lachte Harder ins Gesicht und antwortete mit einem neckenden Schimmer im Auge: „Ihrer anderen Tochter, meinen Sie?“ Da lachte auch Harder.
Astrid strich ihre Haare zurück und wandte sich an die Mutter. „Jemand angerufen, Mutti?“ „Ja, Jörgen Trahne war am Telefon.“ „Ach…“ Eine tiefe Röte färbte Astrids Wangen. Sie drehte sich langsam um. „Ich…ich werde nur den Mantel ausziehen…“ Sie glitt zur Tür hinaus, und ihre Wangen brannten. Harder und Frau Liberg wechselten Blicke, Harder schmunzelte. „Eine Schauspielerin ist die kleine Astrid nicht“, lächelte er. „Nein“, sagte Frau Liberg. „Es besteht kein Zweifel darüber, was los ist.“ Harder schwieg etwas, dann lächelte er. „Übrigens ein feiner Kerl, der junge Trahne. Mein Freund, der Polizeipräsident, ist mit ihm sehr zufrieden. Ich habe neulich mit ihm gesprochen – mit dem Polizeipräsidenten, meine ich –, wir trafen uns in einer Gesellschaft. Trahne hat ja seine Examina mit Auszeichnung bestanden, ist ein hervorragender Jurist und ein sehr tüchtiger Polizeikommissar. Es hat mich gefreut, wie begeistert der Präsident war.“ Astrid kam wieder ins Zimmer. Es war etwas Stilles, Leuchtendes an ihr. Die weiche, zarte, weibliche Wärme war nie so ausgeprägt gewesen wie gerade jetzt. Und wieder gingen Harders Augen von der Mutter zur Tochter, von der Tochter zur Mutter. Die erwachsene Astrid. Reife, kluge, erfahrene Astrid. Die junge, schmächtige, erfahrene, fragende Astrid. Wie gut sie zusammenpaßten, wie die beiden sich ergänzten. Astrid sprach nicht viel. Aber sie fühlte sich glücklich, so unfaßbar glücklich. Frau Liberg schaute die Tochter an. Auch sie war glücklich.
Amor auf vier Beinen Astrid war mit dem Trimmen des einzigen Hundes, der für diesen Tag angemeldet war, fertig. Sie ließ sich bequem im Kundenstuhl nieder, um sich auszuruhen. Sie blickte auf die Uhr. Sollte sie…? Sie kam nicht dazu, sich über die Verwendung der freien Zeit Gedanken zu machen, denn die Tür ging auf, und Hein erschien, um den Abfall an Hundewolle zu holen. „Es ist nicht mehr allzuviel los“, sagte Hein. Er war mit der „stillen“ Zeit, die nun schon mehrere Tage anhielt, durchaus nicht zufrieden, denn er verdiente an dem Verkauf der Hundewolle und hätte es daher am liebsten gesehen, wenn Astrid Tag und Nacht gearbeitet hätte. Hein war übrigens sehr viel netter geworden. Ein guter Junge war er freilich immer gewesen, nur das Necken hatte er nicht lassen können. In dieser Hinsicht war es nun in der letzten Zeit viel besser geworden. Hein hatte vor seiner Schwester Respekt bekommen; und vielleicht spielte auch seine Freundschaft mit Jörgen Trahne dabei eine gewisse Rolle. War er doch Heins großes Vorbild als Leichtathlet und als Sportsmann überhaupt. „Ist das hier alles? Mir scheint, in der Kiste da hast du auch noch Hundewolle?“ „Ja, aber die bekommst du nicht. Die ist so lang und fein, daß ich glaube, ich lasse sie mir eines Tages spinnen.“ Hein besah die in der Kiste befindliche Hundewolle. „Ist die nicht von Timian?“ fragte er. „Ja.“ „Da könntest du sie ja so lange sammeln, bis du genug beisammen hast, um Jörgen daraus einen Pullover zu stricken. Glaubst du nicht, er würde das sehr zu schätzen wissen?“ Zu ihrem Verdruß merkte Astrid, daß sie rot wurde. „Dumm, daß Jörgen jetzt soviel zu tun hat. Er hat sich lange nicht mehr sehen lassen.“ Hein setzte sich auf die Kiste und erbettelte sich von seiner Schwester eine Zigarette. „Du, Astrid! Ich glaube, Jörgen ist ganz verrückt nach dir.“ „Was redest du da, Hein!“ „Nein, wirklich, du! Aber weißt du, Astrid“, Hein tat einen tiefen Zug aus der eigentlich nicht erlaubten Zigarette, „du verstehst es ordentlich, einen bescheidenen jungen Mann so einzuschüchtern, daß
er sich gar nicht an dich herantraut!“ „Verstehe ich das?“ „Klar! Ich werde dir eins sagen, Astrid. Jörgen Trahne hat es nicht leicht. Vielleicht hat er Schulden aus der Studienzeit oder Unterhaltsverpflichtungen oder sonst etwas. Auf jeden Fall kann ich es ihm nachfühlen, daß er abgeschreckt wird, wenn er sieht, wie schön du hier eingerichtet bist und daß du recht anständig verdienst. Und glaubst du etwa, es macht ihm Mut, wenn du im Pelz und großer Aufmachung angesaust kommst? Weißt du, deswegen habe ich ja die Bärbel fallenlassen! Obwohl sie ein prima Mädel war. Solange sie ein Schulmädchen war, in blauem Mantel und Baskenmütze, war alles schön und gut; aber dann wurde sie konfirmiert und trug den alten Pelz der Mutter und bekam Lippenstift und so – und das wurde mir alles zuviel. Ich verstehe sehr gut, daß Jörgen einfach nicht versucht, bei dir etwas zu erreichen.“ „Du redest so viel Unsinn, Hein.“ „Das tue ich eben nicht, und du weißt es! Danke für das Stäbchen, petze nicht bei Mutti!“ Hein verschwand mit einem Sack voll Hundewolle, und Astrid blieb mit klopfendem Herzen allein zurück. Sie begann, über das soeben Gehörte nachzudenken. Ob es richtig war, was Hein da gesagt hatte? Sollten seine wachen Jungenaugen die Dinge so gesehen haben, wie sie wirklich waren? Du lieber Gott! War das das einzige Hindernis? Dann brauchte sie ja Jörgen nur zu verstehen geben, daß die Geldfrage nicht die geringste Rolle spielte! Konnten sie jeder für sich essen und wohnen und existieren, dann konnten sie es doch sicherlich erst recht, wenn sie sich zusammentaten. Konnte sie etwa auf einmal nicht mehr so gut trimmen, wenn sie… verheiratet war? Plötzlich sah die Welt viel heller aus! Am nächsten Tag war Astrid mit ihrer Arbeit um drei Uhr fertig. Sie ging ans Telefon, nahm den Hörer ab, blieb einen Augenblick sinnend stehen – und legte ihn dann schnell wieder auf. Nein. Sie wollte nicht. Obwohl…. es war doch eigentlich gar nicht so sonderbar, wenn sie ihn zum Abend einlud? Wenn er nun aber nein sagte? Unsinn! Warum sollte er nein sagen?
Astrid zählte an den Knöpfen ab. Sie sagten nein. Ganz entschieden nein. Und mit der Logik aller Verliebten ging sie wieder zum Telefon, und diesmal wählte sie die Nummer des Polizeiamtes. Kommissar Trahne sei leider schon fortgegangen. Ob etwas bestellt werden solle? Nein, danke, es sei nichts zu bestellen. Astrid vergrub die Hände in den Taschen ihres Kittels, sank auf den „Kundenstuhl“ und überließ sich ihren Gedanken. Plötzlich erhob sie den Kopf. Hundegebell. War das auch ein Grund, Herzklopfen zu bekommen? Daß ein Hund vor dem Eingang zu einer Trimmanstalt bellte, war ja nur logisch und ereignete sich jeden Tag. Dieses Gebell aber klang in Astrids Ohren wie Musik. So munter bellte nur ein einziger Hund in der Stadt: der entzückendste, süßeste, drolligste kleine Hund von der Welt. Da ging die Tür auf, und wie aus einer Kanone geschossen flog Timian auf sie los. Er leckte und bellte, er war unbändiger denn je. Als er seine grenzenlose Freude über das Wiedersehen mit Astrid so einigermaßen ausgetobt hatte, schnappte er sich ein Wochenblatt, das auf dem Tisch lag, raste wie ein Besessener in der Trimm Werkstatt herum und schüttelte das Blatt dermaßen, daß die losen Seiten nur so flogen. „Timian!“ rief Jörgen. „Laß ihn nur spielen!“ sagte Astrid. Und das hätte sie sicherlich auch gesagt, wenn Timian ihren neuen, unverschämt teuren Hut zwischen den Zähnen gehabt hätte. „Nett, daß du kommst, Jörgen. Wie geht es?“ Astrids Stimme klang ganz ruhig. Sie wunderte sich selbst darüber. Hatte ihr Herz nicht so stürmisch geklopft, als sie am Telefon gestanden hatte? „Gut. Danke. – Ich bin vorbeigekommen, weil… hast du die Osloer Zeitung von gestern gesehen?“ „Nein…“ „Du hast doch die Riesenschnauzer für Heier getrimmt?“ „Ja…?“ „Beide erste Preise. Der eine außerdem Ehrendiplom. Gratuliere!“ „Wirklich?“ „Warte! Es kommt noch mehr. Der schottische Schäferhund, Besitzerin Frau Regstad – den hast du doch auch getrimmt?“ „Und ob! Du hast ja selbst zugesehen, als ich ihn in der Arbeit
hatte!“ „Der hat in seiner Klasse gewonnen. Erster Preis – oder war es Ehrenprämie…? Warte… ich habe die Liste mit den Prämiierungen ausgeschnitten. Ja – hier ist sie…“ Jörgen zog seine Brieftasche hervor. Astrid betrachtete ihn still. Wie schön sein junges, ernstes Gesicht war! Und seine Hände, diese starken, schlanken, feinfühligen Hände… Astrid schloß eine Sekunde die Augen. Sie erinnerte sich plötzlich deutlich, fast schmerzhaft deutlich daran, wie diese Hände über Wangen und Haar streichen konnten. Wo Timian zugegen war, blieb nie viel Zeit für sentimentale Anwandlungen. Er war so ausgelassen wie nur je. Das Wochenblatt, mit dem er sich versehen hatte, interessierte ihn nicht länger. Jetzt machte er eine Attacke auf den Trimmtisch, und es glückte ihm, Astrids neueste und feinste Nylon-Hundebürste herunterzureißen. „Höre, Timian!“ sagte Astrid. „Ich gönne dir alles, was schön und gut ist, aber alles hat seine Grenzen.“ Sie entriß ihm die Bürste. Timian stand den Bruchteil einer Sekunde still, während seine munteren, schelmischen Augen nach neuen Möglichkeiten Ausschau hielten. Unversehens war er mit einem mächtigen Satz bei seinem Herrn und Meister und riß ihm respektlos die Brieftasche aus der Hand. „Timian!“ sagte Jörgen streng. Timian schnurrte wie ein Kreisel herum und schüttelte die Brieftasche, als wäre sie eine Ratte. Papiere und Banknoten – diese in der Minderzahl – flogen durch die Luft. Im nächsten Augenblick krochen Jörgen und Astrid auf dem Fußboden herum und suchten den Inhalt der Brieftasche zusammen. Astrid nahm ein mehrfach zusammengefaltetes Blatt Papier auf. Da fiel etwas heraus, etwas, das ihr bekannt vorkam! Es war eine Karte mit ihrer eigenen Schrift. Und ein sehr kleines Bild. Jörgen streckte die Hand nach der Karte aus, aber zu spät. Astrid hatte gesehen, was für eine Karte es war, und sie hatte auch bemerkt, daß das kleine Bild, das Jörgen schnell aufnahm, eine Amateuraufnahme von ihr selbst war. Sie hatte in dem Album gelegen, das Hein vor ewigen Zeiten geholt hatte, um Jörgen ein paar Sportbilder zu zeigen. Astrid hockte noch immer auf dem Fußboden. Ihr unmittelbar gegenüber kniete Jörgen. Er nahm gerade das mehrfach zusammengefaltete Blatt Papier auf, das die Karte und das Bild
enthalten hatte. Astrid nahm seine Hand und drehte sie so weit herum, daß sie das Papier sehen konnte. Es war das Programm von dem Theaterabend, den sie zusammen besucht hatten. Astrid vergaß ganz, sich aufzurichten. Ihre Augen begegneten denen Jörgens, und er sah, daß sie strahlten. „Jörgen…“, sagte sie leise. Er war feuerrot. „Ja, Astrid?“ „Jörgen, du hast ja das Programm…“ „Ja, Astrid… du darfst über mich lachen… ich gebe ja zu, daß ich ein sentimentaler Tropf bin…“ „Jörgen…“ „Ich weiß, daß es unmöglich… es tut mir nur leid…“ Da geschah es. Timian ließ die Brieftasche fahren. Er starrte einen Augenblick auf sein geliebtes Herrchen und auf Astrid, die er beinahe ebensosehr liebte. Was sollte das bedeuten, daß sie auf dem Fußboden hockten, einander in die Augen sahen und dumme Gesichter machten, statt mit ihm, Timian, zu spielen? Er wollte unbedingt der Mittelpunkt sein! Mit einem kühnen Sprung landete er unmittelbar hinter Astrid, die offenbar an seine Existenz erinnert werden mußte. Zwei kräftige und sehr aggressive Hundepfoten pflanzten sich fest und bestimmt auf Astrids Schultern. Von hinten. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel vornüber… Jörgen fing sie auf, als sie mit dem Kopf direkt an seine Schulter sank. Sie blickte zu ihm auf und lächelte. Ihre Mundwinkel aber zitterten. „Astrid…“ „Ja, Jörgen…“ Ihr Arm schlang sich um seinen Hals. „Gott helfe mir, Astrid… ich halte es nicht länger aus.“ Astrid hätte gern gesagt: „Gott sei Dank!“, aber sie kam nicht mehr dazu, irgend etwas zu sagen, in diesem Augenblick nicht, und auf lange, sehr lange Zeit nicht… Timian schien den Ernst der Situation zu begreifen. Denn während Astrid und Jörgen auf der Kiste in der Ecke saßen – die Kiste war der einzige Sitzplatz, auf dem zwei Personen sitzen konnten –, lag Timian auf dem Fußboden und beobachtete sie in völligem Schweigen. Aber seine Augen verfolgten alles sehr aufmerksam, und seine Schwanzspitze, die
ständig in Bewegung war, verriet, daß er mit der Entwicklung der Dinge äußerst zufrieden war. „Lieber Gott, wie dumm du doch bist, Jörgen“, seufzte Astrid und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Mein Mädel!“ flüsterte Jörgen über ihr Haar hin. „Bist du dir auch darüber klar, was du zu erwarten hast? Weißt du auch, daß es noch mindestens drei Jahre dauert, bis meine Schulden aus der Studienzeit bezahlt sind?“ „Darauf pfeife ich“, sagte Astrid. „Und wenn es dreißig Jahre dauerte, so wäre es mir auch egal.“ „Bist du dir aber auch darüber klar, daß wir nie in guten Verhältnissen leben werden, solange ich für meine Mutter zu sorgen habe?“ „Hoffentlich dauert das noch recht, recht lange!“ sagte Astrid. „Ich freue mich schon riesig, sie kennenzulernen.“ „Astrid, wir werden uns keine Wohnung in einem Einfamilienhaus leisten können und kein Auto…“ „Schäfchen“, sagte Astrid. „Und wenn du mir nichts weiter als einen Keller und einen Strohsack bieten könntest, würde ich ja sagen. Außerdem könnte ich Hunde trimmen, bis wir die Kellerwohnung gegen eine gemütliche Klaviertransportkiste tauschen könnten. – Aber im Ernst, Jörgen. Du verdienst genug, um dich selbst und Timian versorgen zu können, und ich verdiene genug für meinen eigenen Unterhalt. Und du bist doch wohl nicht so verstockt altmodisch, daß du es deiner Frau verwehren willst, sich selbst zu versorgen?“ „Nein“, sagte Jörgen. „Ich möchte nur gern…“ „Ich weiß ganz genau, was du in diesem Augenblick gern möchtest“, sagte Astrid. „Also: Tue es!“ Timian beobachtete mit Begeisterung, daß sich Jörgens Gesicht wieder dem Astrids näherte. Er sah, daß sie beide die Augen schlossen. Und es wurde so merkwürdig still. Da hielt es Timian für an der Zeit, die beiden Menschen, die er über alles liebte, an seine Existenz zu erinnern. Er stand auf, legte die eine Pfote auf Jörgens Knie, die andere auf Astrids und streckte die Zunge weit heraus. Ob er Jörgen oder Astrid traf, wußte er selbst nicht. Aber er war ganz sicher, daß es die Hand seines Herrchens war, die ihn am Halsband ergriff. Auch über die Stimme, die zu ihm sprach, war er sich keinen Augenblick im Zweifel – wenn es auch eine neue, eine glückliche Stimme war, wie er mit seinen empfindlichen Tierohren
zu seiner großen Befriedigung feststellen konnte:
„Nein, danke, Timian! – Aber das besorge ich lieber selbst!“