Elisabeth von Heyking
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Als Vorlage diente [Elisabeth von Heyking], G...
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Elisabeth von Heyking
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Elisabeth von Heyking
Gewesen
Als Vorlage diente [Elisabeth von Heyking], Gewesen,
aus: Der Tag Anderer, S. 33 – 64, Verlag von Gebrüder Paetel, Berlin , 6. Auflage 905, aus Milalis’ Bibliothek.
© eBOOK-Bibliothek 2005 für diese Ausgabe.
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littera scripta manet
Mexiko ist eine Stadt, die noch mancherlei Baudenkmale aus alter Zeit enthält. Aber die Mexikaner sind wie andre Leute auch, die nie zu schätzen wissen, was sie besitzen. Daher zerstören sie alljährlich eine gewisse Anzahl der altertümlichen Bauten und ersetzen sie durch moderne Konstruktionen, bei denen Wellblech, Stuck und Eisen eine hervorragende Rolle spielen. Liebhaber der Altertümer sind die Diplomaten, die in Mexiko Muße haben, über Vergangenheit und Gegenwart nachzudenken, und ferner die Touristen, die jedes Jahr in größerer Anzahl von jenseits der Nordgrenze in das Land strömen. Sie staunen die alten, zinnengekrönten Paläste an, die Kirchenkuppeln, auf denen bunte Kacheln durch Sonne, Staub und Regen der Jahrhunderte zu mildem, warmen Schmelz verschwimmen, die grauen Kreuze und die verwitterten Heiligenstatuen in ver-
schnörkelten Nischen, die noch manches Eckhaus zieren. Und die Leute von jenseits der Nordgrenze wundern sich, wie so etwas überhaupt in ihren Weltteil hineingeraten ist, und überlegen mit praktischem Sinn, was der Marktwert eines solchen alten Bauwerkes wohl in New-York sein würde, wenn die nötigen Maschinen nur erfunden wären, um es, wie es dasteht, aufzuheben und die paar Tausend Meilen weiter fort zu transportieren. Die Touristen sind eilige Leute, was sich aus ihrem Nationalcharakter und der Schlechtigkeit mexikanischer Hotels erklärt. Sie machen die Hauptstadt, das melancholische Cuernavaca und Puebla, die Fromme, in ein paar Tagen ab, werfen dann noch einen Blick auf die Bahn, die von Mexiko, der Stauberfüllten, durch tropische Berggegend hinab zu Veracruz, der Tödlichen, führt, und fassen dann ihre Eindrücke mit den Worten zusammen: »Sehr kurios, sehr interessant und was für infam schlechtes Essen.« Die Diplomaten sind gar nicht eilig und sehen all diese Dinge und noch manches andre, was die Touristen nie sehen, mit großer Gemächlichkeit. Von Zeit zu Zeit verabreden sie untereinander, irgend eine Sehenswürdigkeit zu besichtigen, und zwar tun sie das nicht zu häufig, denn in Mexiko erlernen sie alle die schwere Kunst, wenig Vergnügungen weise über lange Zeiten zu verteilen, so daß ihre Leben Brötchen ähneln, die sehr dünn mit Kaviar bestrichen worden sind.
Zu Ehren eines vor kurzem angekommenen Kollegen war abgemacht worden, an einem Herbstnachmittag die alte Schule der Valencianos zu besuchen. Der dicke Kutscher Pedro von der Xschen Gesandtschaft lenkte mit Geschick und Gleichmut die großen, nordamerikanischen Braunen durch die neuen, im Entstehen begriffenen Straßen, sorgfältig die tiefsten Löcher vermeidend. Neben ihm saß der kleine Diener Luis mit korrekt gekreuzten Armen, den Zylinder mit der Nationalkokarde seiner Herrschaft auf dem hübschen, braunen Kopf. Pedro und Luis waren einfache Indianer, denen es als einzig natürlicher, menschenwürdiger Zustand erschien, in zerlumptem Sarape und spitzem, hohen Hut am Schanktisch einer Kneipe zu lehnen und große Gläser voll blauweißen Pulques zu leeren; nur um sich diesen Genuß in möglichst reichlichem Maße verschaffen zu können, ergaben sie sich darein, zu dienen und alltäglich die Verkleidung mit sich vorzunehmen, die sie dem klassischen Vorbilde der Kutscher und Diener von Rotten Row nahe brachte. Die Viktoria bog in den breiten Paseo ein, und im scharfen Trabe ging es den älteren Stadtteilen zu, durch die Allee hoher, im Herbstwind rauschender Eucalyptusbäume und zwischen der doppelten Reihe von Postamenten, auf denen abwechselnd Vasen und Statuen berühmter Männer stehen, von deren Ansprüchen auf Verewigung durch dreiviertel lebensgroße Abbildung außerhalb ihres Heimatslandes wenig bekannt sein dürfte.
Der kleine, dicke Herr von Tredern saß gerade und selbstgefällig in der linken Wagenecke. Er trug den Ernst zur Schau, der Leuten eigen ist, die von der Wichtigkeit aller Dinge und besonders von der eigenen überzeugt sind, und für die es keine Zweifel, sondern nur unerschütterlich feststehende Wahrheiten gibt. Zu seiner Rechten lehnte müde und lässig die schlanke, blasse Frau von Tredern. Im Gegensatz zu ihrem Manne sah sie meist aus, als fände sie an nichts viel Gefallen, und um ihre Lippen spielte das halb spöttische, halb wehmütige Lächeln derer, denen das ganze Leben als großes Fragezeichen erscheint, auf das eine Antwort zu finden sie längst aufgegeben haben. Vera von Tredern stand in den Jahren, in denen der mildernde Schatten breitkrempiger Hüte und großgetupfte Schleier der Frauen beste Freunde sind, weil sie verhüllen, was ist, und erraten lassen, was gewesen – Jahre, in denen, was bisher erfreut hat, schal erscheint, und der Rückblick auf das verflossene Leben nur ein Warten und Suchen dessen zeigt, was doch nie kam – Jahre, in denen Frauen beginnen, zum Witz oder zur Wohltätigkeit ihre Zuflucht zu nehmen, je nach persönlicher Anlage oder äußeren Lebensumständen. Zwischen rasch dahinsausenden elektrischen Straßenwagen fuhr die Viktoria über einen kreisförmigen Platz, in dessen Mitte sich das Reiterstandbild des Königs Karl V. von Alt- und Neuspanien erhebt. Loyalen Vizekönigen, die an die Dauer des Bestehenden glaubten, verdankt die Statue ihre Entstehung. Unter Glockengeläut und Böller-
schüssen, mit allem Pomp vereinter geistlicher und weltlicher Macht, ward sie einst auf dem großen Platz vor der Kathedrale aufgestellt und enthüllt. Aber die arme Statue war bestimmt, seltsame Schicksale zu erleben: bald nach ihrer Errichtung mußte sie unter einem blaubemalten Holzgehäuse versteckt werden, um also ihren Anblick jahrelang einem Volk zu verbergen, das inzwischen neue Überzeugungen und Regierungsformen angenommen hatte; hierauf zur Verbannung in einen entlegenen, halbdunkeln Hof verurteilt, ward das Königsstandbild endlich auf seinen jetzigen Ruheplatz gebracht, wo es aber, wie eine Inschrift besagt, nur seines künstlerischen Wertes halber bewahrt wird. Vera schaute auf zum flimmernden mexikanischen Himmel, von dessen zitterndem Licht der patinabezogene Bronzereiter mit dem wehenden Mantel und Lorbeerkranz sich dunkelgrünblau abhob und, halb Gedanke, halb Empfindung, ging es ihr durch den Sinn, daß von Glauben und Institutionen an bis zu Bildwerken alles auf Erden wechselnder Wertschätzung unterworfen ist, weil sich um uns und in uns selbst eine beständige Veränderung vollzieht. Und sie hörte kaum, wie ihr Mann, dem alles Gegenstand unabänderlicher Überzeugungen war, sagte: »Vera, es kann kein Zweifel bestehen, daß die Mäntel unsrer Leute doch eine viel bessere Farbe haben als die französischen Livreen.« Pedro und Luis, die sich unter den strengen Augen ihres Herrn doch immer schon tadellos hielten, richteten sich nun besonders stramm auf,
und unter einer leichten Berührung der Peitsche fielen die Braunen schärfer in die Zügel, denn man näherte sich dem elegantesten Klub der Stadt, unter dessen Torweg an allen Nachmittagen jahraus jahrein die unbeschäftigte Herrenwelt, Zigaretten rauchend, müßig lehnt und durch kritische Beurteilung der Vorbeifahrenden das Heimweh nach der Eleganz von Paris zu vergessen sucht. Herr von Tredern tauschte Grüße und Lächeln mit den blassen, schläfrig blickenden Jünglingen, die zum völligen Erwachen auf den Beginn der abendlichen Bakkaratpartie warteten. Frau von Tredern grüßte mit flüchtigem Nicken. Immer, wenn sie an dieser Ecke vorbeikam, erfaßte sie von neuem der Zauber des alten, zum Klub eingerichteten Palastes, zwischen dessen grauen, feingemeißelten Steinfriesen Felder weißblauer Kacheln sich wie festlich ausgehängte Teppiche abheben. Frau von Tredern gehörte zu den Menschen, deren eigene schönste Lebenskapitel in der Vergangenheit liegen und die sich daher unwillkürlich auch viel mehr für die Vergangenheit von Ländern und Völkern, als für deren Gegenwart und Zukunft interessieren. Das Seiende und das Künftige erschien ihr gering im Vergleich zum Gewesenen – sie zählte zu denen, die gern an eine gute, alte Zeit glauben. Und immer, wenn sie wie heute ausfuhr, übersah sie die modernen, grellgestrichenen Läden, die Schaufenster, deren Inhalt für einen noch unreifen, am Bunten und Blitzenden Freude findenden Geschmack berechnet schien. Ihre Blicke suchten immer
nach den oft nur durch Zufall erhaltenen Resten aus früherer Zeit. Sie kannte die vielen malerischen Höfe und Winkel der Stadt, das verfallende Gemäuer einstmaliger Klöster. Und sie liebte es, an den halbversteckten Fassaden alter Kirchen hinaufzuschauen, zu verfolgen, wie die Linien des überreichen churrigueresken Stiles sich winden und verschlingen, die Ornamente sich häufen und drängen und zwischen den zahllosen Schnörkeln der Türme bläuliche Schatten spielen. All diese alten Dinge redeten eine Sprache, die sie verstand, und sie las in ihnen so manche halbvergessene Geschichte. Es gab für sie ein altes Mexiko, von dem in Wirklichkeit nur noch wenige, rasch verschwindende Spuren vorhanden sind, das ihr aber durch die Macht ihrer Vorstellungsgabe zu einer lebenden Realität geworden war; ein altes Mexiko, in dem ihr dem Gewesenen zugewandter Geist viel heimischer war als in dem modernen Staatengebilde, mit dessen Regierung die Traditionen freundschaftlicher Beziehungen aufrechtzuerhalten, Herr von Tredern von seiner Regierung betraut worden war. Der Wagen hatte das elegantere Geschäftsviertel hinter sich gelassen, war durch allerhand Gassen zwischen hohen, düsteren Häusern mit vergitterten Fenstern gefahren und hielt nun in einem ziemlich entlegenen Stadtteil vor der Schule der Valencianos. Einen ganzen Straßenblock nahm das mächtige Bauwerk ein, dessen Architekten einem Volke angehört haben, das damals die Welt besaß, und das daher den Begriff der Raumersparnis nicht
kannte. Etwas Finsteres und Dräuendes hatte das Gebäude, obschon die dunkelrote Fassade durch flache Säulen und Friesen aus hellem Sandstein gegliedert war; man merkte ihm an, daß es aus Zeiten stammte, da Klöster und Schulen immer gleichzeitig kleine Festungen waren. Wie alle alten kolonialen Bauten, die kirchlichen Zwekken gedient oder adligen Herren gehört haben, war auch die Schule der Valencianos mit spitzen, turmähnlichen Zinnen gekrönt. Geschnitzte Steinungeheuer sprangen an den Dachrinnen hervor und waren dazu bestimmt, aus weitaufgerissenem Rachen das Regenwasser auf die Straße herabzuspeien. Reiche, weitausladende Ornamente bauten sich um das große Mittelfenster auf und verliefen in allmählicher Verjüngung nahe am Dach als Stützen eines Schildes, auf dem einst das gemeißelte Wappen der spanischen Krone geprangt hatte. Aber das Schild war leer. Gleich so vielen andern war auch dieses Wappen laut Dekret der Republik abgehauen worden. In der Mitte der vorderen Front der Schule befand sich ein hohes Portal, das nachts durch wuchtige, mit großen Nägeln und schwerem Bronzeklopfer besetzte Türen geschlossen wurde. Durch dieses Tor trat man in einen ersten weiten Hof, um dessen vier Seiten sich schlanke Säulen erhoben, die in der Höhe des ersten Stockwerkes einen breiten Bogengang trugen. Die Gesellschaft hatte sich bereits in diesem Hof versammelt. In gedämpften Tönen schwirrten französische, englische und spanische Phrasen durcheinander.
»Ich versichere Sie,« sagte Monsieur de Brionne, der in mehr als gewöhnlichem Maße die allgemeine Diplomatenmanie für Antiquitäten besaß und sie mit weiser Sparsamkeit zu paaren wußte, »der Padre hatte keine Ahnung, daß das Meßgewand mindestens fünfhundert Pesos wert ist; er war so glücklich, als ich ihm sechzig gab, daß es mir nachher leid tat, ihm nicht nur fünfzig geboten zu haben – all diese hiesigen Priester stehen doch auf schrecklich niedrigem Bildungsniveau.« »Ich komme eben von Donna Manuela,« erzählte die kleine, runde Madame de la Linotte der mageren Baronin Fastenheim, die immer aussah, als müßten die Kleider von ihrer aller Vorsprünge baren Gestalt herabrutschen, »und denken Sie nur, die arme Donna Manuela erwartet schon wieder ein Baby – das fünfte in vier Jahren!« »Gottlob, daß Babies nicht ansteckend sind wie Typhus, gelbes Fieber und all die andern mexikanischen Krankheiten,« antwortete die Baronin, an ihrer langen, überschlanken Figur hinab schauend. »Als wir hierher versetzt wurden,« fuhr die kleine de la Linotte fort, »sagte mir meine Cousine Melanie: ›Fifi, Mexiko ist eine Stadt mit flachen Dächern, wo man sich sehr langweilt und viele Kinder kriegt‹.« »Was mögen wohl die flachen Dächer damit zu tun haben?« sagte die Baronin Fastenheim sinnend, und ihr Verehrer, der feiste, kahlköpfige Vicomte de la Ruade, rief: »Babies, fi, quelle horreur! Sie verderben unwiederbringlich die weibliche Schönheit.«
»O, da sind ja Trederns!« rief Graf Willestad, der Vera zuerst erblickt hatte, wie sie aus dem dunkeln Torweg in die Helle des Hofes trat. Und während der momentan eintretenden Stille hörte man die schöne Mrs. Stevens zu Jack Mc. Dougall sagen, der den Spitznamen »The Irrepressible« trug und zum diplomatischen Korps nur in seiner Eigenschaft als persönlicher Attaché Mrs. Stevens gehörte: »Ja, Jack dear, Tugend mag freilich sehr langweilig sein, aber darum ist das Gegenteil noch lange nicht anziehend.« Graf Willestad war Vera und Herrn von Tredern entgegengegangen und, auf einen großen, wettergebräunten Mann weisend, der ihm folgte, sagte er: »Erlauben Sie mir, Ihnen meinen Freund, Herrn Ralph Herbert vorzustellen, der mir die große Freude gemacht hat, mich hier für ein paar Tage zu besuchen. Er war nämlich in New York, im Begriff über San Francisko nach Ostasien zu fahren, aber ich schrieb ihm: Was ist für einen Forschungsreisenden wie du ein kleiner Umweg nach Mexiko? – Und – da ist er.« Herr von Tredern blickte den neuen Bekannten halb bewundernd, halb gönnerhaft an: »Freue mich außerordentlich, Sie kennen zu lernen, habe noch auf meinem vorjährigen Urlaub gehört, daß Majestät sich sehr lobend über ihr letztes Buch ausgesprochen hat, war – glaube ich – über … Durchquerung? … von … Afrika?« »Neuguinea,« korrigierte der Reisende, während Vera, die sehr blaß aussah, ihm die Hand reichte, und mit leise
zitternder Stimme, der sie sich bemühte, einen scherzenden Ton zu geben, sagte: »Wir sind doch wohl alte Bekannte … Herr Herbert?« »Gewiß … gnädigste Frau – falls Sie sich zu erinnern geruhen.« Der spanische Gesandte, der sich als Hausherr in der mexikanischen Vergangenheit zu fühlen pflegte, übernahm nun die Führung. Aber während man die breite Doppeltreppe hinaufschritt, trat Herr von Tredern rasch an seine Frau heran und flüsterte ihr leise zu: »Mach den Weltenbummler auf meine Schrift über die Nephrytgötzen der Azteken aufmerksam und lad ihn zu Tisch ein – kann von großem Nutzen für Karriere sein, wenn er mich in seinem nächsten Buch erwähnt.« Darauf gesellte er sich seinem spanischen Kollegen und der voranschreitenden Oberin zu, und man hörte ihn sagen: »Ja, ein vorsichtig bemessener Grad von Unterricht für die weibliche Jugend muß ein Ziel jeder weisen Regierung sein.« Unterricht und Aufklärung wurden in dieser Schule offenbar nicht in unvorsichtigem Übermaß verabreicht. Handarbeiten schienen den Hauptlehrgegenstand zu bilden, und Herr von Tredern bemerkte, daß sie, seiner Überzeugung nach, auch stets das natürliche Tätigkeitsfeld unbemittelter Weiblichkeit bleiben müssen. Die Besucher wurden zwischen Reihen junger Mädchen entlang geführt, die über Stickrahmen gebeugt saßen; unter ihren Händen entstanden auf weißem Atlasgrund buntseidene Vögel und Blumen, mit sinnigen Sprüchen vermischt.
Man fragte sich unwillkürlich, wer die Unglücklichen seien, die diese Resultate großer Mühe und noch größerer Geschmacklosigkeit einst kaufen würden. Vor den Stößen gehäkelter Bettdecken, gestickter Kissen, durchbrochener Tischdeckchen konnte Mrs. Stevens das Gähnen nicht unterdrücken. »Jack,« sagte sie, »heute haben wir wirklich eine sterbenstraurige Zerstreuung gewählt. Ob Nelly in Newport es wohl glauben wird, wenn ich ihr schreibe, daß wir hier keine andren Vergnügen haben als Wohltätigkeitsschulen zu besuchen?« »Keine andren? Sie sind heute sehr hart gegen mich,« antwortete der Irrepressible; »aber Sie haben wohl recht, dieser Platz bedarf es offenbar, etwas aufgeschüttelt zu werden. I guess, es wird schon ein bißchen lebhafter werden, wenn wir mal hier einmarschieren.« Und indem er eine neue Flucht von Sälen entlang schaute, setzte er hinzu: »Bei all diesen alten Scheunen denke ich immer, was wir mal draus machen werden; diese hier müßte man sich für eine Kaserne merken – Raum für ein paar Regimenter – feine Ventilation.« »Oder ein Depot für Petroleumkisten,« schlug Mrs. Stevens vor. »Ach, wer weiß, ob Petroleum zu der Zeit überhaupt noch viel Wert haben wird,« meinte Jack geringschätzig. »O, Jack, wie häßlich von Ihnen, solche Möglichkeiten überhaupt zu erwähnen, Sie wissen doch, daß Stevens an der Standard Oil Company beteiligt ist.«
Aus dem ersten Hof war man in einen zweiten gekommen, der älter und verwahrloster aussah. In den Bogengängen hatte sich der Fußboden stellenweise gesenkt, ein paar Risse zeigten sich an den Wänden. Die großartige Anlage, die ursprüngliche Schönheit waren noch wohl zu erkennen, und doch lag schon in allem der Beginn kommenden Verfalls. Die Oberin erklärte, daß in den Jahren, da eine liberale Regierung die geistlichen Güter einzog, und so der Grund zu manch weltlichem Reichtum gelegt ward, auch das Vermögen dieser Schule konfisziert worden sei und nun die Mittel zu den nötigen Reparaturen fehlten. »Scheinbar hält noch alles,« sagte sie, »weil der Bau von Anfang an so wunderbar schön und solide ausgeführt worden ist, aber ich sehe doch die allmählichen kleinen Veränderungen, die jedes neue Jahr unsrer armen, alten Schule bringt.« Monsieur de Brionne, der für die nähenden und häkelnden jungen Schülerinnen gänzliche Gleichgültigkeit gezeigt hatte, war ganz verändert und voller Interesse, seitdem der geheimnisvolle Zauber hohen Alters mehr und mehr an dem Gebäude zu Tage trat. Er gewahrte an den Mauern die Spuren früherer Türen, die seitdem zugemauert worden waren, klopfte mit seinem Stöckchen gegen die Wände, um hohle Verließe zu entdecken, und sagte: »Was gäbe ich nicht darum, hier mal alles gründlich durchsuchen zu können – ich bin sicher, es müssen hier wahre Schätze an alten bibelots verborgen sein.«
»Dieu, qu’il est assommant avec sa manie d’antiquités, vot’chef,« murmelte ein vorwitziger Attaché zu Brionnes Sekretär; »wer mag sich nur mit altem Gerümpel abgeben, inmitten all dieser hübschen Mädels?« Dabei drehte er seinen kleinen Schnurrbart keck in die Höhe und warf durch sein Monokel eroberungslustige Blicke auf die dunkelhaarigen, schwarzäugigen Mädchen, die beim Erscheinen der Gäste von den Bänken aufstanden und sich mit der angeborenen Höflichkeit ihrer Rasse verneigten. »Décidément, cela devient grisant,« fuhr der Attaché fort, indem er mit der Stumpfnase in der Luft schnüffelte, wie ein Hühnerhund, der Wild wittert, als er nun hinter den andern durch die Schlafsäle schritt. Reihen weißer Betten standen da. Aber es herrschte nicht die nüchterne Einförmigkeit, die in ähnlichen Instituten nordischer Länder einen so betrübend lieblosen Eindruck hervorruft, sondern dem Ausdruck der persönlichen Eigenart war etwas Spielraum gelassen. Durch leichte Lattenverschläge, die bis zu halber Höhe des Saales reichten, war um jedes Bett ein Zimmerchen gebildet, und ein jedes war verschieden dekoriert, je nach Geschmack und bescheidenen Mitteln der Inhaberin. Blumen, die in Mexiko den billigen Luxus der Armen bilden, standen in kleinen Vasen vor den bunten Bildern der heiligen Schutzpatroninnen; verzückte heilige Cäcilien sah man, steife Madonnen del Rosario in breitabstehenden Krinolinröcken, schmerzliche Madonnen della Soledad in schwarzen Schleiern. Jeder der kleinen Räume war zugleich Stätte eines intimen Kultes,
und die Heiligen mochten den armen Mädchen wie ferne, sehr mächtige Freundinnen erscheinen, denen man mit bescheidenen Gaben naht, in der Hoffnung, daß sie sie tausendfach vergelten werden. Die großen Türen, die auf die Veranden mündeten, standen weit offen, und durch alle Räume fluteten Luft und Licht. »Scharmant, ganz scharmant,« sagte die kleine de la Linotte zur Oberin, indem sie alles durch ihre langstielige Lorgnette musterte, »wenn ich doch nur gleich hier bei Ihnen bleiben und mein ganzes mühseliges Leben hinter mir lassen könnte!« Und dabei seufzte sie wie unter einer schweren Last, raffte ihr langes, mit Spitzenvolants besetztes Kleid auf, weil es in den engen Abteilungen kaum Platz fand, und man gewahrte die winzigen Füßchen in hellgrauen Schuhen, auf denen Madame de la Linotte durch die großen Mühseligkeiten ihres Lebens trippelte. »Wie oft ich wohl schon diesen Wunsch von Fifi habe äußern hören, « dachte dabei Monsieur de la Linotte, »und das Komische ist, daß sie es immer ganz aufrichtig meint, einmal vor einer Sennerinhütte, das andre Mal vor einem norwegischen Holzhaus, heute in einer mexikanischen Wohltätigkeitsschule.« »Ja, es würde Ihnen vielleicht wirklich bei uns gut gefallen,« antwortete die Oberin, die die Menschen ernst zu nehmen pflegte und nichts vom plötzlichen Entzükken und raschen Vergessen vornehmer Damen wußte; »manche unsrer Schülerinnen besuchen mich, nachdem
sie sich verheiratet haben, und pflegen dann oftmals zu sagen, daß ihre glücklichste Zeit doch hier war.« »Die Ehe ist ja überhaupt eine so überschätzte Institution,« seufzte die Baronin Fastenheim, und der Vicomte de la Ruade setzte hinzu: »Ja, Baronin, wie alle menschlichen Erfindungen, und sie hat schon so viel Mißverständnisse und Kollisionen verursacht – mehr noch als drahtlose Telegraphie und Automobils.« »Verheiraten sich die Menschen auch immer noch in all den kuriosen Ländern, in denen Sie herum gereist sind, Herr Herbert?« fragte die kleine de la Linotte. »Auch dort, gnädige Frau, haben die Menschen noch nichts Besseres gefunden und auch nichts Schlimmeres, je nachdem,« antwortete der Reisende. Vera ging neben ihm. Sie schritt wie im Traume. – Ja, nichts Schöneres als was man einst geträumt, nichts Schlimmeres, als was man dann gefunden – je nachdem. Er hatte recht. Nach all den Jahren sich endlich wiedersehen! hier in dem fernen Lande, inmitten der Gesellschaft, die nun schon so lange ihre Welt bildete und die ihr heute so unverständlich fremd vorkam. Was hatte der heutige Tag ihr doch so plötzlich gebracht! und er hatte begonnen wie alle andern auch, war ihr nur wie ein Schritt weiter erschienen auf einem Wege ohne besonderes Ziel. Keine leise Stimme hatte ihr zugeflüstert, daß dieser Tag bestimmt sei, sich für immer aus der Leere ihres Daseins abzuheben.
Die Leere des Daseins – die große Zwecklosigkeit. – Sie empfand sie ja immer. Aber heute erst fühlte sie ganz, wie sehr sie darunter gelitten – all die Jahre hindurch. Die Jahre, die ihre Spuren zurückgelassen, die die große Müdigkeit gebracht und in vielen einsamen Stunden ganz feine, beinah noch unsichtbare Linien auf ihre Züge geschrieben hatten. Würde er diese Schrift lesen und ihre tiefe Wehmut verstehen können? Würde ihm der Zauber der Vergangenheit die Gegenwart zu verklären vermögen? Beinah zaghaft blickte sie zu ihm auf. Zuerst erschien er ihr kaum verändert. Ganz dieselben lieben Züge von einstmals waren es – und doch – auch da Fremdes, Verändertes, auch da Spuren der Jahre. Scharfe Striche und die Härte derer, die sich nicht vom Leben bezwingen lassen, die nicht nur mit andern, sondern auch mit sich selbst fertig zu werden wissen, die geborene Kämpfer sind und manchmal Überwinder werden. »Sie haben ganz recht,« sagte die Oberin zu Monsieur de Brionne, »unsre Anstalt besitzt wirklich einen verborgenen Schatz und ganz ausnahmsweise will ich ihn Ihnen zeigen.« Dabei öffnete sie eine verschlossene Türe, und die Gesellschaft trat in einen Raum, der einstmals Küche gewesen sein mußte, denn an der einen Wand standen noch die Reste eines bunten Kachelherdes, über dem sich ein weit vorspringender, von längst erloschenen Feuern rußig gewordener Rauchfang wölbte. Stühle mit eingetriebenen Sitzen, dreibeinige Tische, eine wacklige Modellpuppe standen herum; allerhand altes Gerümpel, Vogelbauer,
Laternen, zerschlagene Schüsseln lagen am Boden, und gegen die Wände waren verstaubte, durchlöcherte Bilder gelehnt. Die Oberin schob eines der alten Gemälde beiseite, und man gewahrte an der Mauer dahinter eine niedere Türe. Erst nach langen Versuchen gelang es, sie aufzuschließen; sie führte in eine kleine einstmalige Speisekammer, die durch ein blindes, vergittertes Fenster nur spärlich Licht empfing. Eine verhüllte Figur stand auf einem Tisch in der Mitte, und als die Oberin das verstaubte Tuch von ihr lüftete, glitzerte und gleißte es plötzlich in dem halbdunkeln Raume von Gold und Silberglanz, von weichem Perlenschimmer, von dem Feuer funkelnder Smaragde. Auf hohem feinziselierten Silberpostament, dessen Ecken musizierende Amoretten zierten, erhob sich eine Madonna, die, auf goldener Mondessichel stehend, in die Lüfte zu schweben schien. Es war, als berührten ihre Fußspitzen kaum noch den Sockel, als finge sich der Wind in ihrem goldenen Mantel und trüge sie aufwärts; die Hände waren über der Brust gekreuzt, der gekrönte Kopf leicht zurückgebogen, und die ganze Gestalt schien zitternde Erwartung der Mysterien auszudrücken, die es jenseits von Mond und Sternen geben mag. Zuerst herrschte staunendes Schweigen, dann aber drängten sich bewundernde Ausrufungen und Fragen: »Wie schön!« »Wie entzückend!« – »Woher stammt die herrliche Madonna?« – »Wie kam sie hierher?« – »Welcher Künstler hat sie angefertigt?« Und die Oberin erklärte: »Sie soll nach einem Entwurf des Salcillo angefertigt wor-
den sein, und das Gold und Silber, das dabei verwendet worden, und die vielen Geschmeide, die unsre Madonna trägt, stammen alle aus frommen Stiftungen.« »Aber warum wird sie nur gerade hier in diesem elenden Winkel bewahrt, wo niemand all den begeisternden Schmuck sieht?« fragte die kleine de la Linotte. »Früher stand sie auf dem Altar in der Kapelle,« antwortete die Oberin, »aber als dann die lange Revolutionsära anbrach, in der nichts mehr sicher war und auch unsrer Anstalt so manches abhanden kam, da beschlossen die damaligen Schuldirektoren, unsre Madonna wohl zu verbergen, und dieser Platz hier erschien als einfachstes und gerade deshalb als unwahrscheinlichstes Versteck.« »Diese Perlenketten könnten allerdings manchen lokken,« meinte Brionne. »Es ist einfach empörend!« rief Mrs. Stevens, »wie würden wir in Newyork auf solch eine Statue stolz sein.« Jack sah seine schöne Landsmännin schmachtend an und sagte: »Als Gegenstand für unsre Bewunderung bedürfen wir Amerikaner keiner importierten Artikel.« Ralph Herbert hatte die Madonna schweigend betrachtet und sagte nun leise vor sich hin, als beende er ein Selbstgespräch: »So vielem Schönen geht es nicht anders: zuerst stellt der eine es auf einen Altar, dann läßt es der andre im Winkel verkommen. Und dies ist wenigstens nur eine leblose Puppe, die Selbstbedauern und innere Revolte gegen das Schicksal nicht zu empfinden vermag.«
»Kommen Sie, Jack, lassen Sie uns aus all dieser Gespensterluft etwas herunter ins Freie gehen,« sagte Mrs. Stevens, die, aus dem Fenster der Küche schauend, einen kleinen verwilderten Garten erblickt hatte, in dem Schlingpflanzen an hohen Bäumen emporrankten und leere, verwitterte Steinpostamente an Unkraut überwucherten Wegen standen. Jack eilte diensteifrig nach, und während er neben Mrs. Stevens schritt, sagte er: »Endlich habe ich die rechte Verwendung für diesen alten Kasten gefunden! Wir machen Schuppen daraus für die Waggons der künftigen elektrischen Popocatepetlbahn.« Ralph Herbert und Vera folgten den beiden in den Garten hinab, während oben in der kleinen Speisekammer der spanische Gesandte und Herr von Tredern mit der Oberin eine gelehrte Diskussion über spanische Skulptur fortführten und Brionne mit Kennerblick die Perlen und Smaragden der Madonna abschätzte. Als Ralph und Vera unten im Gärtchen erschienen, schauten ihnen oben vom Küchenfenster aus der Attaché und der Sekretär nach. »Zu manchen Frauen gehört immer eine bestimmte Landschaft,« sagte der letztere; »sehen Sie nur, wie all diese herbstlichen Färbungen, der blasse Himmel und das graue Gemäuer mit den alten gemeißelten Steinwappen eine Ergänzung zur ganzen Erscheinung von Frau von Tredern bilden. Gott, was muß die Frau schön gewesen sein!«
»Und Tredern, dieser pomphafte Esel, hat’s wahrscheinlich nie gesehen,« meinte der kleine Attaché, »und wird ihr wohl immer Nephrytgötzen vorgezogen haben.« »Herr von Tredern«, sagte der Sekretär, »ist wie eine wandelnde Absolution für alles das – was seine Frau leider Gottes stets zu tun unterlassen hat.« »Stets unterlassen? Sie scherzen wohl, mein Bester?« fragte der kleine Attaché, der noch sehr jung war und Skepsis, wo es sich um Frauen handelte, für einen Beweis weltmännischer Erfahrung hielt. »Genau wie ich es Ihnen sage«, antwortete der andre. »Natürlich haben sich viele in sie verliebt, aber da könnte Don Juan in Person kommen, ich glaube, sie merkt’s nicht mal.« »Aber warum? Sie werden mir doch nicht einreden wollen aus Passion für den dicken Tredern, oder gar aus Grundsätzen?« »Soll ja auch manchmal vorkommen. Aber in diesem Fall hat es, glaube ich, einen andern Grund. Meine Tante Tegenberg, die mit Frau von Trederns Mutter befreundet war, hat mir erzählt, daß die schöne Vera mal eine grande passion gehabt hat. Ich glaube, es war für irgend einen ganz obskuren Menschen – kein Vermögen, kein Namen – kurzum eine Unmöglichkeit. Sobald die Mama es bemerkte, hat sie der Sache schleunig ein Ende gemacht. Frau von Tredern ist ja eine geborene Dettlingen, aber von der ganz verarmten Linie, und als dann nach Jahren der dicke Parvenü Tredern sich und sein Geld anbot, hat
Mama Dettlingen zugeredet, bis ihn die Tochter genommen.« »Ganz schön, aber tout ça erklärt mir nicht die Treue?« »Ja, sehen Sie, es gibt Männer, denen um ihrer selbst willen kaum ein Weib auf Erden treu wäre, die aber den unerhörten Dusel haben, eine Frau zu finden, die an ihrer Seite einer früheren Erinnerung treu bleibt. – Da haben Sie meine Theorie über das Ehepaar Tredern.« »Sie sind wirklich ultramodern und dekadent«, sagte der kleine Attaché bewundernd. Unten im herbstlichen Garten war es Vera, als wandle sie im Traume. Ihr langes, graues Kleid schleifte über das welke Laub, dessen Rascheln von ferne her zu klingen schien, Jahre überbrückend. In den hohen Bäumen flüsterte der Wind; um die alten verwischten Steinwappen, die die Gräber der einstmaligen Stifter kennzeichneten, wanden sich bräunlichrote Schlingpflanzen; verwittert schauten die Mauern zwischen den letzten Blättern hervor. Alles redete von Vergangenheit. Dachte auch er gewesener Zeiten? Sie schaute zu ihm auf, und ihre Blicke trafen sich. Nun standen sie an einem breiten, achteckigen Wasserbecken, das von hoher Steinbrüstung umgeben war. Früher hatte ein Springbrunnen darin geplätschert. Aber er war längst verstummt. Ein paar gelbe Blätter trieben auf der Wasserfläche, durch deren grünliche Tiefe weißblaue Kacheln auf dem Grunde des Brunnens schimmerten.
»Wollen Sie sich nicht etwas ausruhen?« fragte er leise, und sie setzte sich auf die Steinbrüstung am Brunnen. Schatten sank auf die beiden. Nur auf den höchsten Zweigen der Bäume ruhte noch goldenes Sonnenlicht. Leise fiel von dort oben ein welkes Blatt herab, streifte Veras Schulter und sank ihr zu Füßen. Und da war es ihr, als verschwände die ganze Gegenwart, und vor ihren inneren Augen erstanden durch den Zauber der Erinnerung Bilder von einstmals Erlebtem. – Die kleine süddeutsche Stadt sah sie wieder, den Wald draußen vor dem Tore. Es war Frühling. Über das weiche Moos, unter dem sonnendurchflimmerten, hellgrünen Laubdach schritten zwei ganz junge Menschen, beinahe noch Kinder. Der herbe Geruch des blühenden Faulbaumes füllte die Luft. Und der Knabe schüttelte eines der schlanken Bäumchen, daß Hunderte der kleinen weißen Blüten herabfielen und sich in des Mädchens langen Haaren fingen. »Siehst du, Vera«, hatte der Knabe gerufen, »so wirst du aussehen, wenn du mal eine ganz alte Dame mit weißem Haar bist.« – Wie hatten sie doch beide gelacht! Alt werden? Das schien damals so fern. Vera schaute auf, denn sie fühlte, daß Ralphs Blick auf ihr ruhte, und als sie ihn ansah, nickte er leise, und sie wußte, daß auch er sich des Gewesenen entsann. Und ein andres Bild schien aus blassen Fernen aufzusteigen, bis es in greifbarer Deutlichkeit vor ihr stand. Ein paar Jahre später war es gewesen. Am Strande eines fernen nordischen Meeres hatten sie gesessen. Gedanken-
los zeichnete sie mit der Spitze ihres Schirmes Linien in den feinen Sand: Initialen waren es zuerst gewesen, und dann hatte sie träumend die Buchstaben zu einem Worte aneinandergereiht. »Glück« lasen sie beide und schauten sich so strahlend an, als seien sie die ersten jungen Menschen, die dies Wort gefunden. – Aber eine kleine Welle des großen, grauen Meeres war leise herangespült und hatte das Wort verwischt – denn es war ja nur in den Sand geschrieben. Und der Jüngling war aufgesprungen, hatte sich kräftestolz gereckt und so siegessicher gerufen: »Das Wort, Vera, wollen wir lieber in Felsen meißeln.« Wo war das Wort doch geblieben? Nicht in Stein gehauen, nicht in Sand geschrieben. Verloren. Und Vera fröstelte es. Fester zog sie den grauen Boa um sich, der sie wie eine helle Wolke umhüllte. Schatten und Schweigen umgaben die beiden. Oben auf den höchsten Zweigen erlosch das Licht und schien in den blassen, hellen Himmel zu flüchten. Der Mann, der neben ihr an der Steinbrüstung stand, murmelte vor sich hin: »Überall nur Ruinen gewesener Dinge.« Sie nickte und antwortete tonlos: »Und die traurigsten sind die des nie Gewesenen.« Er hatte sich neben sie gesetzt und griff nach ihrer herabhängenden Hand. Durchsichtig zart ruhte sie in der seinen. Weiß und schön war sie geblieben – die Jahre hatten ihr nichts anhaben können. Alte Härte und Kälte schmolzen von seinem Herzen, nur noch ein großes Mitleid erfüllte ihn ganz. Wie hilflos und schwach war doch
diese Hand – so gar nicht zum Festhalten, zum Eingreifen, zum selbständigen Formen geschaffen! Der eigenen Kraft, die Jugend überdauert und sich in herbster Enttäuschung gefestigt hatte, ward er sich plötzlich dankbar bewußt, und er erkannte, daß, wo zwei von hartem Schicksal getroffen werden, die Frau doch am schwersten trägt. Kalter Abendwind strich durch die Bäume und wehte die willenlos treibenden Blättchen auf dem Wasserspiegel. Dunkler ward es. Die Umrisse der Dinge verloren sich, vom Zwielicht aufgelöst. Auf der Steinbrüstung saß sie ihm gegenüber, grau und verschwommen, als flute sie, einer Nebelgestalt gleich, aus dem dunklen Wasser zu ihm empor. Wie das Sinnbild alten Leids erschien sie ihm, das in der Dämmerung aus den tiefen Brunnen des Herzens steigt und mit trostlosen, leeren Augen in der Nacht umgeht. Durch die Dunkelheit fühlte er diese Augen, fragend und doch nichts mehr hoffend, auf sich ruhen. Und eine große Sehnsucht erfaßte ihn, zu helfen, zu trösten. Doch was konnte er für sie tun? Der einzig wirkliche Trost, mit ihr weinend zusammen die verlorenen Jahre zu vergessen, der war unmöglich. In all seiner gestählten Kraft war doch auch er völlig machtlos – konnte ihr das Leid nicht abnehmen, noch es für sie bekämpfen und überwunden zu Boden werfen – konnte nichts, als sie lassen und weiterziehen, hinaus in die weite Welt. Doch ehe er ging, beugte er sich nieder und küßte noch einmal die lieben Hände.
Vieles hatte Vera im Leben geschmerzt, aber nichts hatte ihr je so weh getan, wie dieser Kuß – und er war doch so zart und sanft gewesen. Wie in einen Augenblick zusammengedrängt, übersah sie ihr Leben – es war Herbst in ihm geworden, ohne daß je voller Sommer gewesen. Aus weiter Vergangenheit winkten ihr nur einige blasse Erinnerungsbilder, verschwommen und ungreifbar – gleich verwehten weißen Blüten einstmaligen Frühlings.