Sean Beaufort
Goldrausch im Küstennebel Die Indianer kauerten auf ihren bunten Decken und tauchten die Finger in Näpfe...
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Sean Beaufort
Goldrausch im Küstennebel Die Indianer kauerten auf ihren bunten Decken und tauchten die Finger in Näpfe, in denen sich fettige Erdfarben befanden. Mit denen bestrichen sie ihre Körper und Gesichter, so daß auf der Haut breite Streifen entstanden. »Wenn der Nebel verschwindet«, sagte der Anführer, »steigen wir in die Kanus, um gegen die großen Kriegskanus zu kämpfen. Wir scbützen unsere Frauen, die Kinder und das Land.« Die Jäger, die sich in entschlossene Krieger verwandelten, murmelten zustimmend. »Wir werden tapfer kämpfen«, sagte Starke Schlange in kaltem Zorn. »Wir werden die Männer mit der bleichen Haut töten«, erklärte Kluger Fisch. Kaimanwürger legte den Kopf in den Nacken und summte das Kriegslied. »Viele von uns werden getötet werden«, sagte er. Über das Wasser glitt das große Kanu mit den Feuerrohren . . .
Die Hauptpersonen des Romans: William Godfrey - ist zwar adligen Geblüts, aber das rettet ihn nicht vorm Zappeltod an der Rah. Atkinson Grey - als ihn der Profoshammer mit der Wucht einer Ramme trifft, verblassen seine Träume von Gold und Wohlleben. Alec Morris - für ihn zahlt sich gar nichts aus, am wenigsten sein adliges Großmaul. Starke Schlange - befindet sich mit seinen Stammesbrüdern auf dem Kriegspfad, aber das letzte Gefecht brauchen sie nicht mehr zu führen. Ben Brighton - der Erste Offizier übernimmt die »Explorer« und muß sich mit den Gefangenen herumärgern. Philip Hasard Killigrew - um das Recht durchzusetzen, trifft er eine schnelle und harte Entscheidung.
1. Philip Hasard Killigrew kniff die Augen zusammen und suchte nach einer Lücke in den dichten Nebelschleiern. In der Bucht herrschten noch immer Nebel und Windstille. Eben hievte die Crew den Anker an Steuerbord hoch und belegte ihn, das Spill gelangte zur Ruhe. Die langen Riemen wurden durch die Dollen geschoben. „Den Anker nicht säubern!" rief Hasard. „Das erledigt die Brandung besser und schneller." „Aye, Sir", tönte es vom Bug. Die Trosse wurde aufgeschossen, aufgeklart und verstaut. Unaufhaltsam, aber langsam stieg das Wasser mit der aufbrausenden Flut. Die Schebecke schwamm bereits. Das „Geisterschiff" konnte entweder die „Pilgrim" oder die „Explorer" gewesen sein. Es schien undenkbar, daß sich an diesem Stück der Küste eine andere Galeone aufhielt. Es wäre ein Zufall gewesen, zu groß, als daß man daran glauben konnte. „Wir pullen die Schebecke ins freie
Wasser!" rief Ben Brighton. „Draußen wird es Wind geben!" „Und dann sehen wir, wer hier herumgeistert", sagte Dan O'Flynn. Das lange Warten in der kleinen Bucht war ohne jedes aufregende Ereignis vorübergegangen. Der dichte neblige Dunst, der vom Festland erschienen war, mit wechselnden Gerüchen, hatte sich immer dann ein wenig verdünnt und war stellenweise verschwunden, wenn das Schiff trokkengef allen war. Schließlich hatte Hasard die Schebecke in tieferes Wasser verholen lassen. Aber es kam kein Wind auf, und wieder versteckte der Nebel das Schiff und die Ufer. Die Crew, und das stellte einen unzweifelhaften Vorteil dar, war ausgeruht und ausgeschlafen, und jeder Winkel des Schiffes war wieder einmal aufgeklart und sauber. Daß Al Conroy seine Artillerie in bestem Schuß hatte, verstand sich von selbst. „Wir werden nicht nur die Galeone entdecken, sondern auch herausfinden, was sie hier sucht", sagte der Seewolf. Die Seewölfe wunderten sich. Es
5 war mit Drinkwater und Toolan vereinbart worden, daß die Galeonen auf die Schebecke warten sollten. Schließlich ging es um das Leben und die Existenz von mehr als zweihundert Siedlern, wegen denen sie die erschöpfende Reise auf sich genommen hatten. Und wenn jetzt einer der beiden aus dem Kurs gelaufen war, dann mußte das einen wichtigen Grund haben. „Und alle wichtigen Gründe sind gefährlich. So. Jetzt wißt ihr's", murmelte Old Donegal. „Anker klar!" schrie jemand vom Bug her. „Wartet noch! Wir wollen nicht auflaufen!" rief Hasard zurück. „Aye, aye, Sir." Vor eineinhalb Stunden war die Sonne aufgegangen. Trotzdem reichte ihre Kraft noch nicht aus, den Nebel schnell aufzulösen. Man nahm an, daß die unbekannte Galeone nach Süden gesegelt war, aber Sicherheit gab es nicht. Wie auch die Schebecke, mußte die Galeone gegen südliche Winde kreuzen, doch es war ungewiß, ob sich die Galeone tatsächlich auf Südkurs befand. Die Crew ging an die Riemen. Fast unmerklich langsam drehte die Schebecke, bis der Bugspriet auf die Passage zwischen den Felsen und Klippen zeigte. In den Löchern der Nebelwand sah man die ersten schäumenden Brandungswellen, die mit der Flut herangewirbelt wurden. Dan stützte das langsame Manöver, indem er Kompaß und Ruderstellung kontrollierte. „Diesen Kurs halten!" rief er. Das Wasser stieg, und schließlich schwamm die Schebecke so hoch auf, daß Hasard seine Befehle geben konnte.
„Pullt an!" schrie Carberry. „In meinem Takt, ihr Affenärsche!" Die Crew stemmte sich gegen die Riemen und pullte das schlanke Schiff aus der Bucht. Das Rauschen der Wellen wurde schärfer und lauter. Der Bug hob sich, und der Geruch, den der Nebel mit sich trug, verflüchtigte sich in dem Maß, in dem das Schiff auf das freie Wasser zuglitt. Auch der Nebel wich zurück und wurde aufgelöst. Minuten später, als die ersten großen Wogen das Schiff gehoben hatten und unter dem Heck landwärts gerollt waren, als der Atlantik gegen die Planken schlug, wurde der Blick freier. Ein erster Windstoß brachte frische, salzgetränkte Luft aus dem Süden. Der Wind war nicht stickig, aber wärmer als erwartet. „Wind aus der Karibik", sagte der Seewolf andächtig. „Bald sind wir dort, Freunde." Aufmerksam betrachtete die Crew die Wasseroberfläche. An Steuerbord voraus kräuselte sich im zunehmenden Wind das Wasser. Während ein Teil der Crew weiterpullte, eilten die anderen an die Schoten und Taljen. Achtern hoben Ben Brighton und der Seewolf die Spektive und fingen an, die Kimm abzusuchen. „Wo ist diese verdammte Galeone?" rief der Seewolf. „Nicht zu sehen", antwortete der Erste mürrisch. Während die Schebecke, deren Rahruten und Segel herumgeschwungen wurden, die Luvzone zu erreichen versuchte, sahen die Seewölfe nichts anderes als die Linien, Erhebungen und anderen Zeichen der Küste, die sie schon kannten. Sie suchten die Markierungen jenseits der weißen Brandung mit den Augen ab, und
6 konnten weder den Rauch von Feuern noch die Mastspitzen der Galeone sehen. Hasard starrte Ben fragend an und wußte, daß er keine befriedigende Antwort erwarten durfte. „Zurück nach Norden? Oder weiter nach Süden?" fragte er. Beide wußten, daß zumindest für eine Handvoll Seemeilen im Süden keine Bucht existierte, in der die Siedler ausgebootet werden konnten, es sei denn, sie wären alle lebensmüde. Sollte die Galeone nach Süden unterwegs gewesen sein, würde der Kapitän das gleiche feststellen. „Wäre ich der Kapitän", meinte der Erste zögernd, „würde ich nach Süden nicht weiter vorstoßen. Auch wegen des Windes." Das eine konnte so falsch wie das andere sein. Hasard, der sich seit der Sichtung des „Geisterschiffes" unablässig diese Frage vorgelegt hatte, mußte im Verlauf der nächsten halben Stunde entscheiden, welcher Kurs gesegelt werden sollte. Er entschied sich. „Wenn wir nichts finden, dann segeln wir zurück zur Siedlung. Jedenfalls gehen wir auf Nordkurs. Die Küste an Backbord, Männer." „Alles klar, Sir", erwiderte der Erste. Er war sichtlich erleichtert über diesen Entschluß seines Kapitäns. In den Sommermonaten herrschten entlang dieser Küsten Winde aus Süden vor. Sie wehten, wie in jedem Teil der Welt, heftiger oder milder. Auch gab es eine starke Strömung, die in der Hauptrichtung nach Norden setzte. Jeder Seemann, der diese Küste befuhr, kannte diese Besonderheiten. Der Südwind blies auch an Land den Nebel weg, und als die Segel ge-
setzt waren und sich die Schoten ächzend strafften, zeichneten sich deutlicher und in satteren Farben die langsam wechselnden Bilder an der Küste ab. „Nichts ist klar", murmelte der Seewolf und versuchte, durch sein Spektiv etwas mehr zu erkennen als Brandungswellen, Felsen, Bäume und Wolken. Weiter im Landesinneren hing noch Nebel zwischen den Ästen. „Gar nichts ist klar." Der Seewolf war von dieser neuen Entwicklung alles andere als begeistert. Er sah nichts anderes als Schwierigkeiten. Und er haßte es, dem unbekannten Schiff oder besser der Galeone mit unbekanntem Ziel und Zweck hinterherzusegeln. „Es war also doch ein Geisterschiff, wie?" fragte Old Donegal. „Nur im Nebel zu sehen, unter dem sich Nixen und Seejungfrauen tummeln." „Auf der Galeone finden wir alles andere als Nixen", entgegnete Ben Brighton gallig. „Eher hundert oder mehr ungeduldige Kolonisten." „Ich lasse mich überraschen", sagte Old Donegal und rieb sich die Augen. Die Schebecke segelte vor achterlichem Wind und lief gute Fahrt. Der Südwind pfiff durchs Rigg, die Leinwand trocknete innerhalb der nächsten Stunde völlig auf. Wer von den Seewölfen nichts zu tun hatte, stand an Backbord, am Bug oder achtern und blickte zum Ufer hinüber. Die Untiefen, Riffs und Felsen waren bekannt. Der Kurs führte in weniger als einer Seemeile Abstand entlang des Landes. „Mit einigem Glück laufen wir heute abend oder in der Nacht wieder in die Bucht, in der die Siedler warten", erklärte Dan O'Flynn eine Weile später.
7 „Wenn nichts dazwischenkommt", antwortete der Seewolf grimmig. „Es wird schon was passieren", meinte Don Juan de Alcazar hoffnungsvoll. „Wahrscheinlich hast du recht, Juan", sagte der Seewolf. „Fragt sich nur, was das sein wird." Sein Blick fiel auf Al Conroy, der zusammen mit seiner kleinen Crew wieder einmal die Culverinen und die Drehbassen inspizierte und, gründlich und ohne Hast, einige neu lud. Die Schebecke krängte nach Backbord und folgte der zurückspringenden Uferlinie. Die gewaltige Dünung des Atlantik hob und senkte das Schiff und schmetterte die auslaufenden Brandungswellen weit in die leeren Buchten und gegen die Felsen. „Also", Hasard sah sich auf dem Deck um und war eine Spur zuversichtlicher, „jeder weiß, was los ist. Wir suchen weiter, bis wir diese verdammte Geistergaleone gefunden haben. Und wenn wir bis zur Eisgrenze verholen müssen." „Wir finden sie vorher", versicherte Dan ernsthaft. 2. Sir William Godfreys bleiches Gesicht war bezeichnend für seinen Zustand. Vor Wut und Enttäuschung zitternd, schrie er seine Flüche heraus. Aber niemand schien darauf zu achten. „Ihr wollt Seeleute sein?" kreischte er mit letztem Atem. „Ihr seid Stümper. Alles könnt ihr, bloß nicht segeln!" Zwei Dutzend Männer waren nicht in der Lage, die „Explorer" zu führen. Das erkannte sogar der Adelige mit der roten Säufernase, die jetzt gera-
dezu leuchtend aus seinem kalkweißen Gesicht hervorstach. „Halt's Maul!" schrie jemand aus der Takelage. „Wer war das?" keifte Sir William, aber er erhielt keine Antwort. Atkinson Grey hatte sich entschlossen, nur mit der Fock dem Großmarssegel und Großsegel zu segeln. Zu mehr Tuch reichten die Hände nicht aus. Überdies gab es auf dem Schiff nur fünf Leute, die etwas von der Seefahrt verstanden. In einem kurzen lichten Augenblick erinnerte sich Sir William an die blitzschnellen Manöver, die er während der langen Überfahrt auf dem Seewolf-Schiff erlebt hatte. Hier erfuhr er das krasse Gegenteil. „Nach rechts wollen wir!" schrie Sir William schrill. Er spürte noch den sauren Wein von der vergangenen Nacht in der Gurgel und im Magen. „Nach rechts!" Die Männer an Bord der Galeone dachten nicht an das Gestern, sondern an das Morgen. Es gab für sie keine Beschränkungen mehr, sie waren frei und konnten tun, was sie wollten. An dieser Küste gab es für sie nur Vorteile. Sie suchten Gold und wollten ein leichtes Leben haben. Bisher hatten sie tun können, was sie wollten. Es schien ihnen, ohne daß sie es aussprachen, daß sich langsam und kaum spürbar die Umstände änderten. Ein Fehler war zweifellos gewesen, die Seeleute von Bord zu treiben. „Er meint Steuerbord!" rief Alec Morris. Er stolzierte über Deck, stieg auf die Kuhl und fing an, voller Ratlosigkeit an den Enden zu ziehen, die unaufgeschossen auf den Planken lagen oder an den Nagelbänken hingen. „Weiß ich schon!" brüllte Randy Gordon, der am Kolderstock stand
8 und auch nicht wußte, welches Ziel ihr seltsamer Kapitän ausgesucht hatte. Er wartete auf neue Befehle und dachte nicht daran, Ruder zu legen. „Was sollen wir an Steuerbord?" schrie Jameson Kidd aus der Takelage nach unten. „Dort ist eine Bucht, denke ich", erwiderte Sir William. „Und was willst du in der Bucht?" „Ich habe das Segeln gründlich satt. Mit euch schaffen wir's nicht", erklärte Godfrey. „Offenbar sind wir zu wenige." Sein Bart, grau und struppig, war schneller gewachsen, als er je gedacht hatte. Mit rotentzündeten Augen starrte er über den verfluchten Ozean, dann glitt sein Blick über die Wuhling an Deck, und schließlich richtete er die seltsam farblosen Augen auf das Ufer. Ohne daß er wußte, wie sie es fertiggebracht hatten, näherten sie sich diesem Gelände, das aus Sumpf, Felsen und Wald bestand. „Ein häßliches Land", sagte er leise zu sich selbst und rülpste laut, „aber ein Dorado für mich, den Anführer dieser bemerkenswerten Gruppe von Abenteurern." „Kannst du etwas sehen, William?" rief Frank Davenport, der schwankend die Wanten niederenterte. „Nein." Die „Explorer" kreuzte gegen den Wind von Süden. Durch das Knattern der killenden Leinwand drangen schwach die Rufe, mit denen sich die Seeleute verständigten. Frank Rosebery hastete über die Planken und schrie den Rudergänger zu: „Du sollst einen Strich abfallen, Randy! Nach Steuerbord!" „Hab's mitgekriegt", lautete die mürrische Antwort.
„Aber dort ist die Küste!" schrie Godfrey. „Rechts, ihr Tölpel!" Er verstand die Welt nicht mehr. Die Kerle gehorchten nur widerwillig seinen klaren Kommandos. Atkinson Grey will mir die Führerschaft entreißen, dachte Sir William. Aber das würde er nicht zulassen. Überdies waren sie bisher, was die Goldschätze der Neuen Welt betraf, nicht sehr erfolgreich gewesen. Wo Indianer waren, dort würde auch das Gold zu finden sein. Also galt es, Indianer zu suchen. „Wenn wir aufs Meer hinaussegeln, dann finden wir keine Indianer", sagte er und schüttelte, als er die wenigen Segel anschaute, verwirrt den grauhaarigen Kopf. Spencer Taffe trat aufs Achterdeck, musterte den Adeligen in seiner vollständigen Bewaffnung mit offener Verwunderung und erklärte: „Der Wind steht gegenan, Sir." „Das tut er meistens. Na und?" antwortete Godfrey mürrisch. „Warum geht es dort hinaus?" „Weil wir kreuzen müssen. Einen Schlag hinaus auf den Atlantik, du Landratte, der nächste Schlag wieder zurück nach Steuerbord." „Aber dort ist das Land." Godfrey zeigte nach Steuerbord. „Das haben wir inzwischen alle klar und deutlich gesehen. Land, in dem niemand wohnt", erklärte ihm Spencer, als ob er einem Kind die Anfangsgründe des Segelns beibringen wollte. „Ihr müßt nach Rauch Ausschau halten. Wo Feuer ist, steigt auch Rauch auf. Klar?" „Habe ich vorher nicht gewußt", maulte Spencer. „Gut, daß du es mir gesagt hast." Mit dem Spektiv, das sie Kapitän Toolan abgenommen hatten, betrach-
9 tete Sir William die Küste. Während er nach Zeichen suchte, die ein Indianerlager oder eine der reichen Goldstädte verrieten, klarten die neuen Mitsegler unter der Anleitung der fünf Männer, die wirklich etwas von der Seefahrt und vom Schiff verstanden, fluchend das Deck auf. Sie schleppten Pulverfässer und Geschosse aus den Laderäumen aufs Geschützdeck und zerrten einige Culverinen von den Stückpforten zurück. „Sehr gut." Sir William rieb sich die Hände. „So werden wir's den Wilden zeigen." Die fünf Kerle von der Karavelle, die nicht nur an Land und auf See gezeigt hatten, daß sie hart, geschickt und rücksichtslos waren, schienen restlos erschöpft zu sein. In den vergangenen Nächten waren sie halb im Nebel, halb im Sternenlicht, kreuz und quer an der Küste entlanggetörnt. In alle Richtungen der Windrose hatte sie der wechselnde Wind geführt, davon war jedenfalls Sir William Godfrey überzeugt. Er wußte nicht, was er mehr haßte: die beschwerlichen Märsche zu Fuß, durch sumpfiges Land und Wälder oder die verdammte endlose Schaukelei auf dem Schiff. Immerhin brauchte er hier seine Ausrüstung nicht ständig mitzuschleppen. Aber jetzt? Wie ging es weiter? Er wandte sich an den Mann am Kolderstock und schrie: „Wohin fahren wir eigentlich?" „Wir kreuzen südwärts", lautete die unwirsche Antwort. „Sonst gelangen wir nicht voran." „Wir sind schon die ganze Zeit herumgeirrt wie die Blinden!" brüllte Sir William. Er merkte nicht, daß gelblicher Schaum in seine Mundwinkel trat. „Wir suchen die Indianerstädte, Kerl!"
„Sag mir, wohin ich steuern muß, und ich versuche mein Bestes", erwiderte Randolf Gordon ungerührt. „Außerdem sagt mir Atkinson, was ich zu tun habe, nicht du - Landratte." Im selben Augenblick tauchte der frühere Takelmeister Atkinson Grey auf dem Achterdeck auf, grinste breit und zwirbelte die Spitzen seines mächtigen Schnurrbarts. Er nickte dem grauhaarigen Abenteurer zu. „Und du verziehst dich jetzt in die Kombüse und kochst für uns alle eine leckere Sache! Oder hast du etwa als einziger keinen Hunger?" Sir William starrte ihn fassungslos an. „Ich?" fragte er tonlos. „Wer sonst? Du bist der einzige, der nichts zu tun hat. Oder willst du dein blödsinniges Herumschreien etwa als harte Knochenarbeit bezeichnen? Wir haben mindestens vierundzwanzig Stunden lang kein Auge zugetan. Du hast immerhin ein paar Stunden gepennt, Sir." „Bemerkenswerte Ungerechtigkeit", murmelte Sir William, der das Funkeln in Greys braunen Augen durchaus richtig deutete. „Schön. Gut. Ich werde euch etwas Leckeres zubereiten - wenn ich etwas Eßbares finde." „Daran sollte es nicht fehlen, werter Sir." Sir William Godfrey stolperte davon, klammerte sich an jedem Tampen an, den er erwischte, und irgendwie schaffte er es, ohne lang hinzufallen, unter Deck zu verschwinden. Einer der neuen Männer blieb neben Atkinson Grey stehen und sagte brummig: „Unser Anführer? Was kann der eigentlich?" „Er ist, was du noch nicht ganz verstanden hast, bemerkenswert rück-
10 sichtslos. Wenn uns jemand zum Gold bringt und dafür sorgt, daß wir reich werden, dann er. Vom Segeln versteht er nichts, da hast du recht." „Aha. Und vom Kochen?" „Wenn du ihm nicht traust, geh runter und hilf ihm. Ist wohl besser, wenn du dafür sorgst, daß wir nicht verhungern." „Ich glaube, das tue ich wirklich. Einverstanden." Grey biß sich auf die rissigen Lippen. Es wäre wahrscheinlich schwieriger, aber auf jeden Fall klüger gewesen, wenn sie nicht alle Besatzungsmitglieder und sämtliche Siedler vom Schiff gejagt hätten. Jetzt war es zu spät. Sie mußten so weiter verfahren wie in den letzten Tagen und Stunden. Vorläufig segelte die „Explorer" mehr schlecht als recht südwärts. Atkinson Grey kratzte sich im Genick, hob die Schultern und rief dann zu seinen Kerlen hinunter: „Macht weiter mit den Kanonen! Wenn sie alle schußbereit sind, kann ein einzelner Mann sie abfeuern. Kümmert euch auch um die Drehbassen." „Aye", ertönte ein Chor aus rauhen Stimmen. „Tun wir." Atkinson Grey zog das Spektiv hervor, lehnte sich über das Schanzkleid und suchte die Küste nach verräterischen Einzelheiten ab. Mittlerweile kannten sie die einzelnen Geländemerkmale gut und wußten, wo sie ein Indianerlager erwarten konnten und an welchen Stellen nur das Wild auf unsichtbaren Pfaden umherzog. Die Sonne zwischen den treibenden weißen Wolken strahlte heiß herunter. Die Männer an Deck gerieten ins Schwitzen. Flache, morastige Ebenen zogen vorbei, dann Waldstücke, Felsen und winzige Inselchen, die aus den Wellen hervorragten und gefähr-
lich funkelten, wenn das Wasser von ihren Flanken ablief. Spätestens in einer halben Stunde mußten sie wieder durch den Wind gehen und die Segel trimmen. Sie entfernten sich zu weit von der Küste. Jameson Kidd enterte aufs Achterdeck und balancierte einen Krug, Becher und dicke Bratenscheiben auf einem Eßbrett. „Sonst gibt es nichts in der Kombüse", sagte er mürrisch. „An Land würden wir besser essen." „Schon gut", brummte Grey. Er schien zufrieden zu sein, wenn er überhaupt etwas zwischen die Zähne kriegte. Aber Kidd, der ihn seit Jahren kannte, ließ sich nicht täuschen. Sein Gegenüber, etwa dreißig Jahre, alt, war eiskalt und kannte kein Erbarmen, wenn sich ihm jemand in den Weg stellte. Sein Ziel würde Grey niemals aus den Augen verlieren. Kidd goß den verdünnten Wein in die Becher und wies aufs Land. „Hast du schon etwas gesehen?" fragte er undeutlich und kaute auf dem zähen kalten Fleisch herum. Grey schüttelte den Kopf. Der Kerl vor ihm gehörte zu seinen bedingungslosen Anhängern. Aber auch der Mann mit der Narbe unter dem rechten Auge konnte aus den wenigen Vorräten keine Festmahlzeit kochen, so geschickt er sonst war. „Nichts gesehen?" Frank Rosebery brachte dem Rudergänger Essen und einen vollen Becher. Die Crew hockte in der Kuhl zusammen und kaute auf dem Zeug, das Godfrey in der Kombüse und in der Proviantlast gefunden hatte. „Nein", antwortete Grey endlich. „Wir sollten ein paar Weiber fangen und unter Deck einsperren. Die könnten für uns kochen, wie?"
11 „Das ist ein guter Einfall", stimmte Kidd zu. „Ein paar junge Weiber. Aber nicht nur zum Kochen, sondern auch für ein paar schöne Stunden oder so zum Zeitvertreib." Seine Zunge fuhr über die Lippen. Er grinste bei der Vorstellung. Der Wind blies sein blondes Haar in sein Gesicht, er schüttelte die feuchten Strähnen zurück in den Nacken. „Von mir aus. Warum nicht?" meinte Grey und setzte den Kieker wieder ans Auge. „Ein paar gute Seeleute brauchen wir allerdings dringender, Jameson." „Da hast du auch wieder recht." Die Explorer" stampfte auf ein felsiges Kap zu, hinter dem vermutlich die Küstenlinie nach Südwesten zurücksprang. Für die Männer an Bord bedeutete diese kurze Ungewißheit immer wieder, daß sie sich hinter dem Kap eine Indianersiedlung herbeiwünschten. Eine Siedlung nämlich, in der sie fanden, was sie suchten. Die Zeit, bis das bauchige Schiff die Landmarke erreichte, schien noch langsamer dahinzuschleichen als sonst. „Ich sehe Rauch", sagte Atkinson Grey etwa eine halbe Stunde später. „Tatsächlich. Drei Rauchfahnen." „Wo?" wollte Kidd wissen. Grey gab ihm den Kieker. „Hinter dem niedrigen Wald, Backbord vom Kap." Das runde Bild der Vergrößerung zeigte Jameson Kidd vor der Kulisse eines hochstämmigen Waldrandes tatsächlich drei oder vier dünne, graue Rauchfäden. Der Wind über den Baumkronen löste den Rauch auf, so daß er in dieser Höhe nicht mehr zu erkennen war. „Drei Feuer. Das ist bestimmt keine große Stadt", murmelte Kidd. Vom Ruderstand her schrie Ran-
dolf Gordon: „Wann löst mich endlich einer ab? Ich stehe hier schon hundert Tage. Grey, tu endlich was." Atkinson Grey stieß ein meckerndes Gelächter aus und winkte Alec Morris von der Kuhl zu sich herauf. „Übertreib nicht so maßlos, Randy. Alec wird dich ablösen." Beim letzten Versuch hatte der schlanke, braunhaarige Besserwisser gezeigt, daß er mit seinen weichen Fingerchen das Ruder einigermaßen zuverlässig handhaben konnte. Am Kolderstock war er druchaus brauchbar. „Ablösung", sagte Grey knapp. „Bis wir die Goldstadt vor uns haben. Ich denke, daß sie an einer der nächsten Buchten liegt." „Goldstadt?" schrie Alec begeistert. Seine blaßblauen Augen riß er weit auf und schaute sich suchend um. „Wo?" „An Land", knurrte Grey. „In ein paar Stunden sind wir dort, wenn du richtig steuerst. Los, löse Randy ab." „Wenn's sein muß." Nach einem langen Blick in die Richtung der Rauchfahnen verschwand Alec Morris unter Deck und löste den Rudergänger ab. Atkinson Grey, der am meisten vom Navigieren verstand, ließ den müden Männern so viel Zeit wie möglich. Sie beschäftigten sich damit, ihre Waffen und die wenigen Musketen und Pistolen, die sie an Bord der „Explorer" gefunden hatten, in Ordnung zu bringen, zu laden und an geschützten Stellen zu verstauen. Einige schliefen unter Deck. Im Augenblick befanden sich nur die fünf Überlebenden der Karavelle und ihre drei adeligen Genossen auf den Beinen. Auch Davenport, der unaufhörlich gähnte, verzog sich in eine der Offizierskammern.
12 Randolf Gordon trug seinen Becher unter Deck und warf sich auf das nächste Lager. Eine Minute später war er eingeschlafen. Er wußte jetzt schon, daß sie ihn wieder brauchten, wenn das Schiff in die Bucht segelte zum Backbrassen und Bergen der Segel. Und zum Ausbringen des Ankers natürlich auch. Atkinson Grey und seine fluchende Crew schafften es, nachdem sie die Culverinen und Drehbassen, die Musketen und Pistolen schußbereit hatten, die Galeone einigermaßen gut auf Kurs zu halten. Schließlich, am frühen Nachmittag, lagen die Kaps der Passage recht voraus. Die Rauchsäulen stiegen hinter einer weiteren Landzunge auf, die sich von Südosten in die Bucht vorschob. Frank Rosebery packte die Schot und wartete auf das nächste Kommando von Grey. Hoffentlich taugte die Siedlung etwas. Er wußte schon, was er suchen würde - und wo. „Großmarssegel aufgeien!" schrie Grey. „Aye, aye." „Wir werfen Anker in Sicht der Siedlung", erklärte Sir William. „Und dann geht's los." Mit einigen Schwierigkeiten brachten der Rudergänger und die durcheinanderhastenden Seeleute und Landratten die Galeone mit killenden Segeln und wildem Geschrei durch die Passage in ruhiges Fahrwasser. Die Galeone hob das Heck und schob sich mit der auslaufenden Welle in die Bucht. „Gut gemacht!" rief Sir William. Atkinson Grey schüttelte nur den Kopf und zerrte an dem Ende in seinen Händen. „Ob sie uns schon gesehen haben?
Die Indianer stecken doch hinter jedem Busch?" fragte Alec Morris. Auch in der Bucht mußte die „Explorer" mit gerade noch drei Segeln kreuzen. Während der einzelnen Schläge herrschte riesige Unruhe. Die Wuhling war fast vollständig, die Männer rannten hin und her, prallten gegeneinander und zerrten ständig am falschen Ende. Der Rudergänger versuchte, das Schlimmste zu verhindern. Mit ihrem Schwung schob sich die Galeone vorwärts und schlug zögernd den neuen Kurs nach Steuerbord ein. Hinter den ersten Felsen öffnete sich eine große, langgezogene Bucht, fast ein Fjord. Kein Mann an Deck hatte Zeit und Gelegenheit, die Ufer zu beobachten, denn Grey scheuchte sie unbarmherzig herum. Er selbst schuftete am meisten und sagte jedem, was er zu tun hatte. Auch das Großsegel wurde eingeholt und einigermaßen richtig festgelascht. Mit den beiden übriggebliebenen Segeln versuchte Atkinson Grey so zu manövrieren, daß das Schiff mit langsamer Fahrt weiter in die Bucht gleiten konnte. Zuerst drehte die „Explorer" um drei Strich nach Steuerbord und schien direkt auf einen Felsen zuzudriften, der eine Handbreit unter dem Wasserspiegel lag. Nur ein leichtes Wellenkräuseln und die fast unsichtbaren Strömungslinien zeigten den Felsen an. Minuten nach dem letzten Segelmanöver richtete Spencer Taffe zufällig seinen Blick nach unten. Er turnte gerade über die Wanten ab und wollte zum Bug, um die Ufer einer genauen Musterung zu unterziehen. Von seinem Standort blickte er nahezu senkrecht ins Wasser und sah den gezackten Felsen an Backbord.
13 „Abfallen!" brüllte er. „Felsen unter Wasser! Backbord voraus! Schnell!" Der Rudergänger handelte schnell und richtig. Dem „Kapitän" Grey kam beim Manövrieren keine Landratte an den Kolderstock. Das Ruder wurde hart gelegt, und Taffe, der schon auf das Krachen und Knirschen splitternder Planken gewartet hatte, sah, daß sich die Planken dem Felsen nicht näherten. Der Steinbrokken, schwarz und weiß geädert, schlich drei Fuß an Backbord vorbei nach achtern. Taffe. spürte, wie sein Schweiß eiskalt wurde. „Verfluchte Idioten", keuchte er und enterte mit zitternden Knien ab. „Die bringen uns noch ohne Mühe auf Legerwall." Er schwang sich hinunter auf die Kuhl und schüttelte den Kopf. Wieder war das knatternde und knallende Killen der restlichen Segel das lauteste Geräusch an Bord. „Keine Meile sollte ich mitsegeln", brummte der Gehilfe des Stückmeisters und ging unter Deck, um die Luntenstäbe und die Lunten fertig zu wickeln und vorzubereiten. Er war sicher, daß ihnen die Indianer nicht mit Blütenkränzen entgegenschwimmen würden. Aber noch gab es nicht das geringste Anzeichen dafür, daß das große Schiff überhaupt von Land aus gesichtet worden war. Ganz langsam bewegte sich die Galeone tiefer in den Sund hinein. Mittlerweile stand Frank Davenport am Bug und hielt nach weiteren Hindernissen Ausschau. Mit einem neuerlichen Gemisch aus Flüchen, Kommandos, wildem Gerenne und Geschrei schaffte es Atkinson Grey, die Galeone tiefer in den
Fjord zu bugsieren und den Anker klar zu kriegen. Zum erstenmal stiegen Randolf Gordon wirkliche Zweifel auf. Er vertraute Grey und erkannte ganz richtig, daß sich Sir William Godfrey wenn er die nächsten Monate überlebte - in jedem Fall durchsetzen würde. Aber auf die Dauer konnten zwei Dutzend Männer selbst unter größter Anstrengung nicht mit der „Explorer" klarkommen. Jetzt sahen die Kerle und Goldsucher die Rauchsäulen von fünf Feuern deutlich hinter einer schmalen Zunge aus überwuchertem Kies aufsteigen. Die Galeone umrundete diesen vorgekrümmten Finger und befand sich kurze Zeit später im Mittelpunkt der Bucht. Als Grey tief Atem holte, um sein nächstes Kommando auszurufen, sahen sie alle die Siedlung der Indianer. Sie befand sich auf der Oberfläche einer schräg zum Wasser abfallenden Felsplatte, hinter der sich im Uferwald eine geräumige Lichtung auftat. „Klar zum Ankern!" schrie Grey. „Anker klar." „Laßt fallen!" Fünf Mann bemühten sich, den schweren Anker loszuschäkeln. Zwei Kerle kriegten die Ankertrosse klar. Der Anker kippte, riß sich los, verschwand polternd und klatschend im Wasser und riß die Trosse hinter sich her. Rosebery zog im letzten Augenblick seinen Fuß aus einer hochschnellenden Schlinge und fluchte. Dann griff der Anker, der Schaum und die Blasen aus dem Grund lösten sich auf, und Kidd und Taffe belegten seemännisch einwandfrei die dicke Trosse. „Macht das Beiboot klar!" rief Grey etwas leiser. „Sir William?" „Hier. Bei der Arbeit", meldete sich
14 der Adelige, der mit übergeschlagenen Beinen auf der Gräting saß und seine Fingernägel mit der Spitze des Dolches säuberte. „Wir werden unter Beachtung aller Sicherheitsregeln an Land gehen und nachsehen, was die Rothäute vor uns verstecken. Klar?" „Nichts war klarer, Mister Grey", erwiderte Sir William. „Wir werden bemerkenswerte Schätze finden, denke ich." Eine reichlich bemessene halbe Seemeile betrug die Entfernung zwischen dem Ufer und der Galeone, die vermutlich gut vor Anker lag. Unmerklich war die Bewegung, die von der Stömung herrührte und die Galeone um den Anker schwojen ließ. Die Männer würden Schwierigkeiten haben, die Geschützrohre auf die Siedlung auszurichten. Sir William Godfrey schlenderte hinüber zu den Seeleuten, die das Beiboot in einzelne Tauschlingen - Enden hieß das wohl oder Augen? - einhängten. Er kannte die richtigen Bezeichnungen noch immer nicht genau. War ja auch egal. „Vielleicht müssen wir den Freunden dort drüben erst zeigen, wer hier den Ton angibt", sagte er und spielte auf das vernichtende Bombardement an, mit dem sie erhebliche Verwirrung unter den Küstenbewohnern hervorgerufen hatten. „Wir sollten das Pulver nicht verschwenden!" rief Grey und hängte sich an das Ende. Der Bug des Beibootes hob sich um eine Handbreite. „Die Indianer wissen schon, daß wir keinen Spaß verstehen", sagte Taffe. Auch Sir William hängte sich an das Ende und half mit, das Boot von Deck zu Wasser zu bringen. „Spricht sich schnell herum, klar."
Das Indianerlager, das sie vom Ufer aus unter Beschuß genommen hatten, war die schärfste Warnung für die Eingeborenen. Sie würden nicht wagen, den Eroberern ihr Gold vorzuenthalten oder gar Widerstand zu riskieren. Mit ihren lächerlichen Pfeilen konnten sie gegen eine scharfe Streuladung aus einer Culverine nicht das Geringste ausrichten. In seiner Erinnerung mußte Sir William breit grinsen. Die zerfetzten Zelte, ein Hagel aus brennenden und funkenstiebenden Holzscheiten, als die Geschosse in die rauchenden Feuer fuhren, das war vom Feinsten gewesen! Und dann das Geschrei. Die Weiber hatten ihre Kinder gepackt und waren in alle Richtungen davongelaufen. Einige waren liegen geblieben, andere im Wald verschwunden. Und die Krieger, die zunächst wie erstarrt dagestanden hatten, waren schließlich herumgehastet und hatten ihre Spielzeugwaffen gesucht. Aber Gold hatte es ihnen nicht eingebracht. Sir William hob die Schultern und wußte, daß sie dieses Mal ganz anders vorgehen würden. Der Erfolg würde nicht ausbleiben. „Packen wir sie am Tag? Oder in der Nacht?" fragte Alec Morris und trug die Musketen zum Schanzkleid. „Weiß ich noch nicht. Haben wir's eilig?" erwiderte der Adelige überheblich näselnd. Atkinson Grey stand auf dem höchsten Punkt des Achterdecks, der Kampanje, hielt das Spektiv an die Augen und schaute sich in Ruhe das Indianerlager und dessen Umgebung an. Mit lautem Rumpeln wurden die Lafetten der Culverinen ausgerannt, nachdem die Stückpforten geöffnet worden waren. Die Landratten schleppten die Riemen für das Bei-
15 boot an Deck und stapelten sie längs des Schanzkleides. Einige ältere Indianerfrauen waren aus dem Halbdunkel der Lichtung erschienen, standen auf einem vorspringenden Felsen und starrten zur Galeone. Zwischen einigen spitzen Zelten und den großen Gestellen, an denen Tierhäute ausgespannt waren, brannten kleine Feuer. Sie waren mit einer dicken Ascheschicht bedeckt und rauchten nicht stark. Kinder liefen herum, und je länger das Schiff in der Bucht ankerte, desto mehr rothäutige Leute unterbrachen ihre Arbeit und beäugten die unbekannten Besucher. Mehr als fünf Fadenlängen betrug der Abstand zwischen der Bordwand und dem Ufer. Ein paar Kanus waren an Land gezogen worden und lagen dort wie die Rückenpanzer von fremdartigen Wassertieren. „Ich habe keine Eile", erwiderte Alec Morris gleichgültig. „Aber nachts erobert es sich schlecht." „Stimmt." Noch gut zwei Stunden waren bis zum Sonnenuntergang und zur Abenddämmerung. Die Lichtung, auf der vom höhergelegenen Standort an Deck auch einige Hütten oder Häuser zu sehen waren, lag inzwischen im Schatten. Das Sonnenlicht hatte sich rötlich gefärbt. Atkinson Grey rief nach einer Weile zu seiner Crew hinunter: „Diese Affen haben richtige Häuser. Was heißt das? Dort hausen viele Rote, und wo viele Rote hausen, gibt es auch viel Beute." „Da hast du hoffentlich recht", murmelte Davenport. Die Häuser waren auffallend lang und hatten spitze Giebel. Die Dächer waren mit Strohbündeln oder mit einem ähnlichen Material gedeckt. Lö-
cher gab es in den Dächern, zum Einstieg in die Räume, die tief in die Erde versenkt sein mußten, und Abzüge für den Rauch. Auf den Dächern saßen viele Vögel mit buntem Gefieder. Einige Teile der äußeren Balken waren geschnitzt. Am Rand der Siedlung - durch die Linsen sah Grey sieben solcher Häuser - standen wuchtige Holzsäulen, grell bemalt, auf denen dämonische Gesichter, Vogelköpfe und verkrümmtes Getier riesengroß geschnitzt die Fremden anstarrten. Die Augen schienen ausnahmslos Bosheit und Angriffslust auszustrahlen. „Sir William!" schrie Atkinson zur Kuhl hinunter. Der Adelige schaute auf. „Ja?" „Komm zu mir herauf. Wir müssen überlegen, was wir tun." „Bin schon unterwegs." An den schlammigen, nassen Ufern wimmelte es von kleinem Getier. Wasserschildkröten und Schlangen glitten durch das schwarze Wasser. Unmengen kleiner und großer Vögel flatterten und schwebten über dem flachen Land. Zwischen den Büschen und Ranken am Ufer lauerten gepanzerte Reptilien mit langen Schwänzen und riesigen, zahnstarrenden Rachen. Alles war fremd und so völlig anders als in England. Godfrey stellte sich neben Grey, ließ sich den Kieker geben und schaute lange hindurch. „Sie werden denken, daß wir jetzt ausruhen und schlafen wollen", sagte er nach einer Weile. Er sah, wie sich die Männer der Siedlung ohne Hast zu Gruppen zusammenfanden und miteinander gestikulierten. Sie trugen keine Waffen. „Wahrscheinlich. Also packen wir sie im Morgengrauen?" fragte Grey. „Ich bin dafür."
16 „Ich auch. Wir überraschen sie mit einigen gutgezielten Schüssen. Das wird sie wohl aufwecken." „Einverstanden. Und ein paar hübsche Weiber holen wir uns auch." „In Ordnung. Ich hab's allerdings nicht mit den ungewaschenen Wilden", bemerkte der Adelige und schneuzte sich über das Schanzkleid. „Sei's drum. Vielleicht kochen sie besser als ich." „Dazu gehört nicht viel", sagte Grey grinsend. „Also? Wir gehen im Morgengrauen an Land, einverstanden?" „Das wird das beste sein. Und wenn sie nachts erscheinen und an Bord klettern?" Godfrey packte seine Pistole und zog sie halb aus dem Gürtel. „Dann gibt's in dem Lager bald nur noch Witwen", versicherte Atkinson Grey und enterte von der Kampanje zur Kuhl ab. Er versammelte die Küstenpiraten um sich und besprach mit ihnen, wie sie in den nächsten Stunden vorgehen würden und die Aktion im Morgengrauen verlaufen sollte. Ein Siedler verließ mit einer brennenden Funzel die Kombüse und entzündete die dicken Dochte der Schiffslaternen. „Jetzt wäre etwas zum Essen recht. Dringend. Mein Magen knurrt wie ein Wolf", sagte Sir William. „Aber mit meiner Kunst bin ich am Ende. Soll ein anderer kochen." Jameson Kidd nickte und sagte halblaut: „Das übernehme ich, Leute. Und ihr sucht nach dem Wein, den dieser Toolan versteckt hat." „Aye", versprach Randolf Gordon. 3. Die Vorräte reichten für zwei Dutzend Leute, aber das Essen war nicht
gerade abwechslungsreich. Der heiße Tee war trinkbar, und es fand sich noch genug Brandy in Toolans Verstecken, so daß die Freiwache keine Schwierigkeiten beim Schlafen hatte. „Und ihr Kerle geht Wache", befahl Grey, während der andere Anführer ihm nickend zustimmte. „Ich rechne damit, daß sich Indianer hier sehen lassen. Sie haben Kanus. Und sie werden als gute Jäger keinen Lärm verursachen. Also holt euch Fackeln." „Und zündet mir die Segel damit nicht an, ihr Landratten." Sir William kehrte wieder einmal sein Seefahrerkönnen hervor. Die Siedler, die sich nur sehr langsam an das Leben auf dem Wasser gewöhnten, versuchten mit der neuen Umgebung klarzukommen. Sie hockten auf Pulverfässern, Geschoßkisten und auf den Planken und kauten den heißen Braten. „Keine Sorge", antwortete einer und wischte das Fett aus seinem Bart. „Wir wissen, wie man mit den Algonkins umgehen muß." „Das haben wir gesehen", pflichtete ihm Alec Morris bei. Trotz des lausigen Ankermanövers lag die „Explorer" ruhig an der Trosse und hatte sich gedreht, weil die Strömung eines unsichtbar mündenden Flusses durch die Bucht floß. Die Steuerbordbreitseite wies in die Richtung der Lagerfeuer, die wie rote Augen über dem Wasser glühten. Hin und wieder hörten die Kerle die Stimmen der Indianer, das Bellen von Hunden, und einmal schrie ein Kind. Und die Indianer hörten das Gelächter der Weißgesichter, das zusammen mit ihren Flüchen bis zum Waldrand laut und deutlich zu hören war. Die Männer beruhigten die Frauen: Wer so laut lacht, hat nichts
17 Böses im Sinn, wie ein altes Sprichwort ihres Stammes sagte.
Frank Davenport gehörte zur ersten Wache. Während er langsam mit geschulterter Muskete entlang des Schanzkleides hin und her ging, dachte er an seine Berufung, an die Zukunft und an die vielen Goldkörner, die von den emsigen Indianern seit vielen Jahren aus dem Sand und dem Kies der Flüsse gewaschen und in bestickten Lederbeuteln gesammelt worden waren. Wozu sie es brauchten, blieb ihm unklar, denn kaufen konnten sie damit nichts. Außerdem war es ihm und den anderen völlig gleichgültig. „Ich weiß, was ich mit dem Gold anfange", sagte er leise zu sich und schaute hinüber zu den Feuern, die sich im stillen Wasser des Fjordes spiegelten. Bisher hatte sich kein Indianer herangetraut. Es gab nur das ewige Plätschern des Wassers, das ferne Rauschen der Brandung und die Laute, an die er sich auch schon gewöhnt hatte. Unzählbar viele kleine Tiere entlang der Ufer und im Wasser verursachten diese störenden Geräusche. „Das weißt du auch, Samuel, nicht wahr?" fragte er, als er im Licht der Funzel den ehemaligen Fallensteller erkannte. Der Angesprochene hob den Kopf. „Was weiß ich?" fragte er schläfrig. „Daß man mit Gold alles kaufen und alles haben kann. Je mehr, desto besser." „Da hast du recht, Mister Davenport", antwortete der bärtige Siedler unruhig. Überall standen und lagen Schuß-
waffen und Blankwaffen. In einem leeren Faß steckten angekohlte Fakkeln. Aus dem Vorschiff ertönte ein sägendes Schnarchen von erheblicher Lautstärke. „In sechs Stunden haben wir Gold. Dann segeln wir weiter", erklärte der zukünftige Statthalter. „Mit Gold." „Wir holen es uns", sagte der Siedler und setzte einen bissigen Fluch hinzu. Er hatte berichtet, daß die Indianer in den Moorwäldern seinen Bruder umgebracht hatten. Deshalb haßte er sie und zielte besonders gut, wie er sagte. Die Wachen wurden abgelöst. Längst hatten die Kerle die Sanduhr nicht mehr regelmäßig umgedreht, sie richteten sich nach dem Stand der Sterne, des Mondes und ihrer Erfahrung. Die Wachen lehnten sich weit über den Rand des Schanzkleides und spähten in die Dunkelheit. Die Lagerfeuer der Indianer waren ausgegangen. Kein Kanu wurde über die Bucht gepullt, kein einziger Pfeil zischte durch die Luft. Noch vor Ende der Nacht rollte die Jakobsleiter klappernd über die Planken, und Spencer Taffe zündete die Lunten an. „Ich brauche vier Leute, Grey", sagte er unterdrückt, „die vom Schießen was verstehen." „Ich", erklärte Morris. „Mit den Drehbassen kenne ich mich aus." „Noch drei. Sonst können wir die Lafetten nicht bewegen", erklärte der Stückmeistergehilfe. Grey packte ihn am Arm und flüsterte drängend: „Du wartest, bis wir anlegen. Wir kommen von Backbord. Also reißt euch zusammen, klar?" „Ich werde doch nicht meinen eigenen Anführer mit dem Geschütz erledigen", sagte Taffe grinsend. Einer nach dem anderen enterte an
18 der Seite ab, die dem Lager abgewandt war. Die Waffen wurden hinterher gereicht, dann folgten die Riemen und wurden leise durch die Dollen geschoben. Auf die Bugducht setzte sich Atkinson Grey. Sir William hockte sich neben die Pinne und sicherte die Ölfunzel und die Stöcke der Fackeln. Kidd, Rosebery und Gordon setzten sich, schoben die Musketen zur Seite und packten die Riemen. Samuel und vier seiner wilden Genossen stiegen mit klirrenden Säbeln in die Jolle und verteilten sich im schwachen Licht der Funzel. „Fertig?" stieß Atkinson hervor. Er hatte in einem Laderaum einen zerbeulten, verrosteten Helm gefunden und aufgesetzt. „Leinen los." Die Enden wurden losgemacht und flogen ins Beiboot hinunter. Das Boot wurde ums Heck der Galeone gepullt und von den Planken abgestoßen. Dann versuchten die Rudergasten, das Boot so leise wie möglich zum Land zu bringen. Schweigend pullten sie und blieben im Takt, so daß die Riemen nicht gegeneinander schlugen. In einem flachen Bogen näherten sie sich dem Felsen, an dessen Seite das Gelände flach abfiel. Die Ebbe war abgelaufen und hatte eine halbe Fadenlänge nassen Boden zurückgelassen. In den flachen Pfützen spiegelten sich die Pünktchen der Sterne und das Mondlicht. Sir William richtete sich auf und versuchte, einen Kurs zu finden, der das Beiboot möglichst nahe an das Ufer heranbrachte. Er haßte es, das schwere Boot über den Schlick zerren zu müssen. Am Ende der Strecke pullten die Rudergasten das Beiboot im Zickzackkurs auf jene Stelle zu, an der ge-
stern abend die umgedrehten Kanus im Gras gelegen hatten. „Veranstaltet keinen Lärm. Noch nicht", wandte sich Grey an seine Truppe. Ein Murmeln war die Antwort. Mit einem leisen Scharren glitt der Kiel über das nasse Geröll und den Sand. An beiden Seiten glänzten nasse große Kiesel. „Die Fackeln", drängte Sir William und zündete eine nach der anderen an dem flackernden Flämmchen an. Noch bevor die Fackeln rauchend brannten, warf er einen kurzen Blick zur „Explorer". Dort scharten sich die Leute um zwei Culverinen. Die Männer, die sich an beiden Seiten über das Dollbord schwangen, versanken bis zu den Knöcheln im morastigen Grund, packten das Boot und zogen es ein paar Schritte mit sich. Dann ging es nicht mehr weiter. „Hinter mir her. Dort hinüber", sagte Atkinson Grey scharf. Die Kerle formierten sich und wateten durch den nassen Untergrund auf das Indianerlager zu. Nach einigen Schritten waren die Abfälle und der kalte Rauch des Lagers zu riechen. Noch war keiner der halbwilden Hunde auf die Männer aufmerksam geworden. Die Kette der knisternden, flackernd brennenden Fackeln bewegte sich hintereinander entlang der feuchten Büsche, bis Grey die Trittsteine erreichte und aufwärts stapfte. In der Stille klangen die harten Geräusche, mit denen die Hähne der Pistolen und der Musketen gespannt wurden, doppelt laut. „Nicht lange überlegen. Gleich schießen!" rief Sir William und schwenkte die Fackel über seinem Kopf. Es war das Signal.
19 Als sich die Männer noch zwischen den Stämmen des Uferwaldes befanden und jetzt der Lichtung näherten, hatte Spencer Taffe die Culverine auf dem Backbordgeschützdeck genau ausgerichtet und senkte die glimmende Lunte auf das Zündloch. Die Feuerzunge erhellte die Luft und das Wasser vor dem Schiff und riß für einen Augenblick die Umrisse der Galeone aus der Finsternis. Dann, als der betäubend schmetternde Krach der Entladung sich ausbreitete, verhüllte der graue Rauch das Bild. Die Streuladung heulte und kreischte durch die Luft und schlug an mehreren Stellen im Indianerlager ein. Die Kerle hoben die Köpfe und warteten auf Geschrei, Schmerzensrufe, Hundegebell und Aufregung. Es hagelte Trümmer in alle Richtungen. Die Männer stürmten den Hang hinauf. Einige Atemzüge lang, während noch das Echo der Detonationen in ihren Ohren klingelte, waren sie nicht überrascht. Aber ihre Verblüffung wuchs, als sie den oberen Rand des Hanges erreichten, auseinanderschwärmten und den Rand der Lichtung überwanden. Vor ihnen lag, undeutlich zu erkennen, das Lager. Zwischen den Häusern breiteten sich nur große Haufen roter, schwarzgefleckter Glut aus. Die Männer liefen auseinander und näherten sich den Zelten. „Die sind alle abgehauen! In der Nacht müssen sie sich weggeschlichen haben!" schrie Atkinson Grey wütend. „Egal. Wir durchsuchen alles." „Sie vergraben das Gold gern in ihren Tipis!" rief ein Siedler. „Dort müßt ihr nachsehen."
„Zwei Mann zum Wald hin - Wache stehen", befahl Sir William mit schnarrender Stimme. „Wird's bald, Gentlemen?" Ein Mann packte dürres Reisig und einige Scheite und warf sie nacheinander in die Glut. Schon während er davonrannte und sich dem Einstieg eines der halb versenkt gebauten Langhäuser näherte, loderten wilde Flammen in die Höhe und verbreiteten Helligkeit. Godfrey und Samuel stolperten durch den Eingang in die Finsternis des Zeltes. Sie hatten das schwere, bestickte Lederdreieck, das zwischen den Zeltstangen hing, halb abgerissen und trampelten darauf herum, als sie mit den lodernden Fackeln eindrangen. „Hier stinkt's, daß einem schlecht werden kann", stöhnte der Siedler. „Aber das ist so in den Zelten." „Auch nicht schlimmer als aus der Bilge", antwortete Sir William und riß die Schnüre, Werkzeuge, Fleischstreifen und Felle von den Gestellen. Er scharrte mit dem Stiefel das Reisig und die geflochtenen Matten zur Seite, die unter den Fellen den Boden der Unterkunft bedeckten. Der Rauch der Fackel zog durch das Loch in den Fellen ab. Funken sprangen aus den Flammen. Die beiden Männer durchwühlten das Innere des Zeltes, zerbrachen irgendwelche Gegenstände aus Holz und Leder und versengten das Zeug, das von oben herunterhing. „Verdammt! Nichts gefunden", fluchte Sir William und stocherte mit seinem Dolch im festgetretenen Boden herum. Er grub einen flachen Stein aus und warf ihn über die Schulter. Als er die Fackelflamme herumschwenkte, sah er den Hohlraum an der Stelle, an der dieser
20 Stein sich im Boden abgedrückt hatte. „Oder doch?" Seine Hand fuhr in das Loch und packte die Schnüre von weichen Lederbeuteln. Schnell zog er sie in die Höhe und merkte, daß sie ungewohnt schwer waren. „Ich glaube, da habe ich etwas", murmelte er und schüttelte die Beutel. Im Inneren klirrte es. Er riß einen Beutel auf und schüttelte die Hälfte des Inhalts auf die Handfläche. „Gold! Sie haben es im Boden versteckt, Samuel", stieß der Adelige hervor. „Hast du auch Goldbeutel gefunden?" „Noch nicht." Auch Samuel wurde wie von einem Rausch gepackt. Die Eindringlinge wühlten und kratzten mit Dolchen und Händen im Boden des Zeltes. Die Felle und Matten hatten sie achtlos zum Eingang hinausgeschleudert. Die Flammen der Fackeln wurden länger, und die Hitze faßte nach den herunterbaumelnden Verschnürungen an den Zeltstangen. „Jetzt - ich habe einen Beutel!" schrie Samuel. „Und noch einen." „Recht so. Wir finden alles." Wie die Verrückten stocherten und scharrten Samuel und Sir William. Jeder hatte drei verschieden große und unterschiedlich schwere Beutel gefunden und schob sie in die Taschen. Die Fackelflammen hatten jetzt einige trockene Schnüre entzündet. Kleine Flammen liefen an den Zeltstangen aufwärts, verlöschten und brannten stärker. Der Rauch wirbelte durch die enge Zeltspitze davon. Draußen schrien die anderen Kerle wild durcheinander. Samuel stolperte, als er sich rückwärts nach draußen bewegte, über
Sir William. Er packte die Fackel und sprang auf die Füße. Der Boden innerhalb der Stangen und Lederhäute war vollständig durchwühlt. Die schäbige Einrichtung war zerbrochen und zertrampelt. Die Flammen hatten das Leder erfaßt. Es schmorte und brannte, und die Glut breitete sich hellrot aus. „Hier finden wir nichts mehr!" rief Sir William und griff sich die Fackel. Als er sah, daß der obere Teil des Zeltes zu brennen anfing, spuckte er aus und fing laut zu lachen an. „Das Zelt wird bald nicht mehr stinken, Samuel!" rief er. „Los, weiter. Dort hinüber, zum Haus!" Schwer waren die Beutel in den Taschen und an den Gürteln. Die Männer schauten einige Atemzüge lang zu, wie sich das Feuer durch die ledernen Zeltteile fraß und hell aufloderte. „Hat sich diesmal gelohnt", sagte Samuel zufrieden und schaute nach oben. Die Sterne waren verschwunden, aber der Himmel hatte seine Farbe noch nicht gewechselt. Jetzt tauchten zwei Feuer und viele Fackeln den freien Raum der großen Lichtung in helles Licht. Atkinson und zwei andere seiner Kerle waren in das erste Langhaus eingedrungen und suchten dort, lautstark fluchend und polternd. „Los, sehen wir noch im ersten Zelt nach", sagte Sir William gierig. Samuel nickte. Sie gingen nebeneinander zwischen den vielen Stangen, Gerüsten, Fellen und Knochen hindurch, über den schlammigen Boden und an einem Haufen Gehörn und Klauen vorbei und auf das Zelt zu, das am weitesten am Wasser stand. Ein Geschoß hatte die obere Hälfte der Stangen, Schnüre und Felle weggerissen. Eine tiefe Spur,
21 die an einem halb zerfetzten Baumstumpf endete, stammte von einem anderen Geschoßsplitter. Am Felsabsturz blieb Sir William stehen und schaute sich um. Er sah deutlich die beiden Fackeln am Rand der Lichtung. Die Männer bewachten das ausgestorbene Lager. Kein Indianer ließ sich blicken. Die nackte Angst hatte sie mitsamt der Kinder und Hunde vertrieben. Sir William konnte keinerlei Anzeichen für einen Gegenangriff entdekken. Über dem Meer färbte sich im Osten ein grauer Streifen an der Kimm. Samuel war bereits in das Zelt eingedrungen. Der annähernd runde Boden hatte einen Durchmesser von einem Dutzend Fuß. Der Jäger rammte die Fackel in der Mitte des Wohnraums in den Boden und fing an, wütend alle Matten und Felle zum Eingang hinauszuschleudern. Sir William sprang fluchend zur Seite und glitt in einem Knäuel weißlicher Därme aus. Sein Fluchen wurde noch lauter, als er ins Zelt stürmte und seinen Dolch herausriß. „Schweine", sagte er. „Lassen sogar die vollen Därme beim Zelt liegen. Brrr!" „Wir suchen Gold, kein Gedärm", knurrte Samuel, der schon wieder mit dem langen Messer den Boden grub. Moosfetzen und Steine flogen zur Seite. Der Jäger nahm nicht wahr, daß ihm gegenüber Sir William im Erdreich wühlte. Diesmal fanden sie in kleinen Höhlungen unter geschnitzten Brettchen ihre Beutel, die, erstaunlich genug, aus überaus sauberem und weichem Leder bestanden, das reich bestickt und mit Steinchen, Muscheln, Horn- und Knochenteilen und anderem Kleinkram ver-
ziert war. Die insgesamt sieben Beutel, die nicht eigentlich versteckt, sondern nur besonders sorgfältig aufbewahrt worden waren, blieben die gesamte Beute aus diesem Zelt. Sir William stieß mit dem Ellbogen seinen neuen Freund in die Rippen. „Wenn wir noch ein paar Monate lang hier die Indianer besuchen, sind wir alle reiche Leute." „Wir haben eben erst angefangen", entgegnete der Jäger. „Und ich traue den Rothäuten nicht. Sehen wir zu, zum Schiff zurückzukehren." Sie drehten sich um und hielten nach dem Boot und dem Wasser der auflaufenden Flut Ausschau. Die Tide war gekippt, und die ersten schäumenden Zungen schoben sich über den Schlick der Bucht. „Hat noch Zeit", murmelte Sir William, schneuzte sich in die Glut und wirbelte mit der Fackel. Vom Waldrand winkten die beiden Posten. Samuel gab ein Zeichen, daß sie etwas gefunden hätten. Dann drangen sie in das Langhaus ein, das links von ihnen stand. Im anderen Bauwerk rumorten noch Grey und seine Leute» Ihr Gelächter bewies, daß sie etwas gefunden hatten. Das Zelt war inzwischen völlig heruntergebrannt und hatte sich in einen Ring aus schwelenden Resten verwandelt. Samuel und der Rotnasige enterten über einen eingekerbten und halbierten Baumstamm in das Dunkel des langgestreckten Hauses. Wieder schwenkten sie ihre Fackeln und sahen sich um. Zwischen unzähligen geschnitzten Balken und Streben standen und hingen Gegenstände, von deren Sinn und Zweck sie nichts wußten. Sie sahen eine rußige Feuerstelle, aus Lehm gestampfte Sitzbänke und merkwürdige Fächer in den Wänden aus Holz und geflochtenen Zweigen.
22 „Und wo soll hier Gold sein?" fragte Sir William und drehte sich hin und her. Mit einer Faust fegte er Schalen, Krüge und große Becher aus Ton von einem Brett. Sie klapperten und klirrten in Scherben zu Boden. „Irgendwo haben sie's versteckt", erwiderte Samuel und wütete auf den Brettern und hinter den geflochtenen Teilen. Er hob eine Urne auf, von der ihn eine indianische Fratze anstarrte. Im Inneren des dickbauchigen Kruges klapperte es. „Hier! In den Töpfen steckt das Zeug!" rief er verblüfft und schüttelte den halben Inhalt in seine Hand. Die stumpf schimmernden Körner, die erbsengroßen Stücke und der feine und grobe Sand - alles war schieres Gold. „Also dann. Da wissen wir ja, wo wir suchen müssen." Nebeneinander hoben sie jeden Becher und jeden Krug auf, untersuchten ihn und schütteten, was sie an Gold fanden, in die beiden größten Töpfe. Es dauerte keine halbe Stunde, dann verließen sie das ausgeplünderte Langhaus. Die Sonne überschüttete die Lichtung mit ihrem grellen Licht. Samuel und Sir William warfen die abgebrannten Fakkeln ins Feuer. „Das laß ich mir gefallen", sagte Sir William grinsend und sah, daß die beiden Posten am Waldrand zurückkehrten. Sie drehten sich immer wieder um und hoben die Musketen. Das Beiboot schaukelte in fünf Handbreit hohem Wasser. „Zum Boot", sagte Samuel. „Schnell, sonst schwimmt es weg." „Du hast recht. Geh voraus. He! Helft ihm!" schrie Sir William und bedeutete Gordon und einem Jäger, sich um das Beiboot zu kümmern. Verblüfft gehorchten die Männer und
rannten zum Boot und durch das aufspritzende Wasser auf die Leinen zu, die sich in den Wellen drehten und vertörnten. Die Männer zogen das Beiboot mühsam bis zum Ufer und belegten die Bugleine. Mit nassen Stiefeln stapften sie wieder aufwärts. Aus dem Eingang des letzten durchsuchten Langhauses tauchten Grey und seine Männer auf. „Ein schöner Erfolg, meine Freunde", sagte er. „Hat jeder genug gesammelt? Oder müssen wir zusammenwerfen und teilen?" Er grinste wie ein Wolf. Sir William hob die Schultern und antwortete: „Ist mir egal. Es gibt an dieser Küste mehr als genug für jeden. Was jetzt, Grey?" Er zeigte mit dem Daumen zur „Explorer", auf deren Geschützdeck die Kerle wieder die Rohre der Culverinen ausrichteten. „Haben wir überall gesucht?" fragte Atkinson laut und musterte seine Männer, die sich in der Mitte der Siedlung in einem Kreis aufgestellt hatten. „Da in dem Zelt noch nicht", erwiderte Kidd. „Oder wart ihr schon drin?" Er nickte Rosebery und Gordon zu. „Nein." Die Sonne stand eine Handbreite über der Kimm und strahlte vom Meer über die Bucht in jeden Winkel der offenen Lichtung. Die Kerle mußten blinzeln, wenn sie zum Schiff schauen wollten. Die Nebelschicht über dem Moorgebiet löste sich auf, während die Wellen der steigenden Flut schmatzend in die Bucht und die flachen Fjorde eindrangen. Aus allen Bereichen des Lagers breitete sich fauliger Gestank aus, der sich mit dem Rauch der ausgegangenen Feuer und des heruntergebrann-
23 ten Zeltes mischte. Ein leichter ablandiger Wind mischte Nebel und Gerüche und wehte sie zur Galeone hinüber. „Auf was warten wir noch? Geht zum Boot und legt die Riemen klar", ordnete Sir William an. Noch immer wunderte er sich darüber, daß die Indianer ihr winziges Dorf verlassen hatten. Wenn er richtig geschätzt und gezählt hatte, bestand diese Siedlung aus nicht mehr als etwa zwanzig Dutzend Bewohnern. Das bedeutete, daß sie etwa hundert Männer auf die Beine brachten, wenn es darum ging, das Schiff anzugreifen. Sir William folgte den Seeleuten, die zum Beiboot hinunterstiegen. Grey und Rosebery waren in das Zelt eingedrungen und wühlten dort die möglichen Verstecke durch. Sir William hatte plötzlich das Gefühl, als ob ihn unzählige Augen aus dem dunklen, nebligen Wald anstarrten, wahrscheinlich über die gespannten Bögen hinweg. Er schüttelte sich und dachte an das Gold. Zwei Männer saßen auf den Duchten und versuchten, mit den Riemen zu staken und das Beiboot zu drehen. Sir Williams Stiefel versanken halb im Schlamm des Uferstreifens, als er die Bugleinen packte und anzog. Langsam drehte sich das Boot. Der Kiel schrammte über den Boden. „Alles klar?" Einer nach dem anderen kletterte in die schwankende Nußschale, legte die Muskete ab und faßte nach einem Riemen. Sir William hockte sich an die Pinne, stützte den Kolben der schweren Waffe auf seinen Oberschenkel und spähte mißtrauisch zum Indianerdorf. Eben traten die beiden letzten Plünderer zwischen den Zeltstangen ins Freie.
„Von den Rothäuten wird wohl auch keiner fett", sagte Jameson Kidd. „Wie meinst du das?" fragte Sir William und gähnte. „Wir haben nichts gesehen und nichts gefunden. Kein Essen, keine Vorräte, meine ich", erwiderte Randolf Gordon mürrisch. „Die Vorräte haben sie wahrscheinlich in Sicherheit gebracht", meinte Samuel. „Aber du hast recht. Sie sind Jäger. Sie kennen nicht viel mehr als luftgetrocknetes Fleisch. Alles andere verdirbt schnell und läßt sich nicht lange aufbewahren." „Deshalb haben wir also nichts gefunden", sagte Sir William. „Bloß ein paar vertrocknete Pilze." Allerdings hatten sie alle nur nach Gold oder wertvollen Besitztümern gesucht und ihr Augenmerk nicht auf Vorräte gerichtet. Grey und sein Kumpan sprangen halb rutschend den Abhang hinunter und wateten durch das Wasser zum Boot. „Erfolg gehabt, Mister Grey?" fragte Sir William leutselig und legte das Ruder nach Backbord. „Leidlich, nur drei Beutel. Aber schwere Dinger", erwiderte Grey und schwang sich gleichzeitig mit Rosebery ins Boot. „Zurück zum Schiff!" sagte er laut. „Wir haben genug. Mehr ist hier nicht zu holen." „Hier nicht. Aber an anderen Stellen. Los. Im Gleichtakt!" schrie Sir William und lehnte sich zurück. Die Rudergasten pullten langsam und müde. Der Aufbau und die Masten der „Explorer" warfen einen unheimlich langen Schatten auf das Wasser. An diesem Morgen achtete keiner der Eindringlinge auf die Laute der Natur, aber es schien ungewöhnlich ruhig zu sein. Als der Bug des Bootes, etwa auf
24 halber Entfernung zwischen Schiff gen, die er von den Seeleuten kannte, und Ufer, nach Nordwesten drehte, aber er gab es auf und zurrte einen zeigte Grey in den Fjord und rief: Landrattenknoten. Ehe er sich auf „Dort geht es tiefer ins Land! Nach- der zerwühlten Liege ausstreckte, her sehen wir, ob wir mit dem Schiff ohne sich auszuziehen, suchte er nach verholen können." einem passenden Versteck für das „Zuerst müssen wir wissen, ob es Gold der Indianer. sich lohnt", entgegnete Sir William. Er fand kein besseres als unter der schmalen Pritsche. Minuten später „Das finden wir schon heraus." Das Beiboot wurde im engen Bogen schlief er und schnarchte donnernd. um das Schiff gepullt und legte an Steuerbord, also zur offenen See hin, neben der Jakobsleiter an. Ächzend Einzeln bogen die Kanus um den und leise fluchend kletterten die Männer an Bord und ließen sich Rie- Landvorsprüng. Die Indianer, die men und schwere Waffen nach oben fast lautlos ihre Stechpaddel einsetzten, hatten ihre Oberkörper und Gereichen. „Ich brauche dringend ein paar sichter mit farbigen Streifen und Stunden Schlaf", sagte Sir William Wellenlinien überzogen. Es zeigte jeund marschierte, ohne eine Antwort dem, der die Küstenjäger kannte, daß abzuwarten, zum Heck. Spencer sie sich auf dem Kriegspfad befanTaffe, der neben dem am weitesten den. achtern ausgerannten Geschütz Ihre Haut glänzte schweißnaß. Ihre stand, schaute ihm kopfschüttelnd Köpfe hatten sie gesenkt, um nicht in nach. die grelle Sonne blicken zu müssen. „Blöder Angeber", murrte er. Jetzt schlossen die beiden schmalen „Grey wird es dir schon zeigen, du Boote, in denen jeweils sechs Männer alte Säufernase." mit ihrem Federschmuck saßen, zum William Godfrey hörte es nicht. Er ersten Kanu auf. schloß die Tür der Offizierskammer, „Haltet an. Nicht näher zu den legte die Waffen ab und zog die kleine Fremden." Kiste des Offiziers aus dem Schapp. Die Stimme des hageren Mannes Er leerte den Inhalt auf den Klapp- mit den zerfurchten Gesichtszügen, tisch, sortierte alles aus, was ihm aus denen helle Augen blitzten, war wertvoll erschien und wog jeden Beu- gewohnt, knappe Befehle auszuteitel voll Gold in der Hand, ehe er ihn len. Der Häuptling saß im Heck des mit zufriedenem Grinsen in die Kiste Kanus und hielt kein Paddel, sondern legte. drei Speere in der rechten Hand. „Das hat sich gelohnt", murmelte Einige Hände griffen nach den er. „Bemerkenswerte Beute. Das muß Bordrändern der Kanus. Die drei so weitergehen an diesen gesegneten Boote bildeten eine Gruppe. Alle JäKüsten." ger wandten ihre Gesichter dem Er klappte den Deckel zu, schob mit Häuptling zu. Der Mann mit dem eisdem Fuß den wertlosen Kleinkram in grauen Haarkamm in der Mitte des einen Winkel und wickelte ein dün- Kopfes musterte seine Jäger schweines Ende um die Kiste. Dreimal ver- gend und in tiefem Nachdenken. suchte er, einen der Knoten zu schlinDann sagte er: „Diese Fremden. Sie
25 werden in der Einfahrt bleiben. Sie waren in unserer Siedlung. Was sie gesucht haben, fanden sie." „Das Metall, das wir im Sand und zwischen den Steinen gefunden haben. Sie stehlen es. Sie töten für dieses Metall." Der Häuptling nickte. „Sie haben mit ihren großen Donnerrohren ein Dorf zerstört. Viel Blut, viele Verletzte, viele Tote. Wir müssen sie vertreiben." „Das werden wir, Starke Schlange." „Aber nicht jetzt", widersprach Häuptling Starke Schlange. „Sie sind müde. Sie schlafen. Sie werden die Feuer in der Nacht gesehen haben und jetzt den Rauch der anderen Feuer." Der kleine Stamm war nach Anbruch der Nacht in einer endlos langen Reihe durch die Uferwälder gewandert und hatte Unterschlupf und Essen bei den Leuten vom Bach gefunden. Neunzig kampffähige Männer legten jetzt ihre Waffen zurecht und warteten auf das Zeichen, das Starke Schlange geben würde. Er hatte ihnen berichtet, was er gesehen hatte. Den Donner der kleinen, der fast mannslangen und der riesigen Feuerrohre auf dem Schiff hatten sie schon gehört. „Dann werden sie zum Lager der Bachleute vorstoßen, Starke Schlange." „Erst dann, wenn der Wind günstig steht. Das große Kriegskanu braucht viel Wind, wenn es sich bewegen will." „Richtig", murmelten die Krieger. „Ich will nicht, daß viele von uns zu den Geistern der Ahnen versammelt werden. Mit ihren Metallstöcken töten sie schnell wie ein Pfeil." „Wir wissen es, Häuptling."
„Jetzt ruhen sie aus", fuhr der Häuptling fort, der das beifällige Murmeln der Jäger anscheinend nicht beachtete. „Der Wind weht erst dann zum Land, wenn die Sonne dort steht." Der Arm der Starken Schlange zeigte auf die Bäume im Westen. „Dann segeln sie zu den Bachleuten", sagte einer. „Das würde ich tun, wenn ich ihr Seehäuptling wäre", bestätigte Starke Schlange. „Und wenn ich wegen des gelben Metalls töten wollte." „Willst du sie jetzt belauern?" „Ja. Ein Boot nur. Wir verstecken uns bei den toten Büschen. Dann sehen wir ihr großes Kanu. Nur dieses Boot. Ihr wartet." Die Bucht war nur ein Teil eines Netzes aus tiefen und flachen Wasserarmen, die wie ein Baumstamm mit vielen Ästen ins Land ragten, mit dem endlosen Wasser als Wurzeln. An vielen Stellen lebten kleinere und größere Stämme. Die Felsenleute und die vom Schwarzen Bach zählten zu den größeren Stammesfamilien. Man hatte beschlossen, sich zu verbergen, die Kinder, Alten und Frauen in Sicherheit zu bringen und die Fremden zu besiegen. Die Indianer hatten endlos lange Zeit. Keiner von ihnen dachte daran, sich vor die feuerspuckenden Rohre zu stellen. Die Nachrichten von den Jägern im Norden hatten sie gewarnt. „Wir warten. Wie lange?" „Nicht länger, als bis die Sonne dort steht", antwortete Starke Schlange und zeigte senkrecht nach oben. „Paßt auf, daß euch die Fremden nicht sehen." „Wir warten hier, Häuptling", sagten die Jäger. Ihre Köcher waren gefüllt, die Bogensehnen eingefettet, die Steinspit-
26 zen der Pfeile und Speere frisch abgesplittert und geschärft. Natürlich kannte jeder Jäger hundert Verstecke, wohin sie flüchten und sich verbergen konnten. Das Wasser war an vielen Stellen so flach, daß ihre Kanus über den Grund glitten, das große Kanu aber, das mehr Platz unter dem Kiel brauchte, würde stekkenbleiben. Die Jäger ließen die Bordwände los, und das Häuptlingskanu wurde entlang des rechten Ufers so nahe wie möglich an den Steinen und ertrunkenen Bäumen vorbeigepaddelt. Die Bewegungen waren so behutsam, daß nur wenige Wasservögel sich gestört fühlten und aufflogen. Die Schilde der Jäger steckten unter ihren Schenkeln. Es gab kein blitzendes Metall, auf dem sich die Sonne spiegeln konnte. Nur eine schmale Bahn zeichnete die Fahrt des Kanus durch das langsam strömende Wasser nach. Büsche und Rohrgewächse glitten vorbei. Die Tropfen, die von den Paddeln geschleudert wurden, erzeugten sich vergrößernde Kreise im Wasser. „Langsamer", sagte der Häuptling mit einem Warnen in der Stimme. Zwischen einem einzeln stehenden Felsen, der von Ranken überwuchert war, und einer langgezogenen Kiesinsel, ebenfalls von Büschen bedeckt, schob sich der scharfe, gerundete Bug des Siebenmann-Kanus hindurch. Nach wenigen weiteren Paddelschlägen hielten die Krieger an. Vor ihnen lag der größte Teil der Bucht. Rechts konnten sie die Giebel der Langhäuser und ein paar Zelte sehen. Sie spiegelten sich ebenso wie das große Kanu der Fremden im ruhigen Wasser. Nach einer Weile sagte Starke Schlange: „Das Zelt von Mantaush
fehlt. Sie haben es umgeworfen oder verbrannt. Sie seien verflucht." „Wir rächen sein Tipi", versicherte der Sohn des Häuptlings und spuckte ins Wasser. Die scharfen Augen der sieben Indianer ruhten auf dem Schiff. Die Männer betrachteten es vom Bugspriet mit den vielen Tauen bis zum Ruder am anderen Ende. Die Jäger erkannten genau die drohenden Öffnungen in den mächtigen Donnerrohren und die kleineren Feuerrohre vorn und achtern. Sie sahen zu, wie sich die Wachen an Deck bewegten, und die Jäger verstanden, an welchen Stellen es vom Kanu oder vom Wasser aus möglich war, dieses mächtige Holzhaus mit den hoch aufragenden Bäumen und den vielen Querhölzern zu erklettern. Sie begriffen auch, daß sich die Leute ihres gesamten Stammes im Bauch des großen Kanus verstecken konnten. Jetzt war es unmöglich, sich dem großen Kanu zu nähern, ohne daß die Fremden es bemerkten. In der Nacht gab es weitaus bessere Möglichkeiten, denn dann würden die Jäger den Schutz der Dunkelheit auf ihrer Seite haben. „Nur im Nebel können wir sie töten", sagte der Häuptling nach einer langen Zeit. „Oder in der Nacht. Sie sind im Licht, wenn sie ihre Öldochte anstecken." „Wir kommen aus der Dunkelheit." Das große Kanu war alt und verwittert. Die geflochtenen Seile, die noch zahlreicher als die Lianen an den uralten Bäumen von den Holzteilen nach unten hingen, zu den Seiten und zu den gewebten Stoffteilen führten, verwirrten das Auge. Das Kanu bestand aus vielen dicken Holzstücken, nicht aus Ruten und Rinde, Lederschnüren und Knochenleim. Zwi-
27 schen den Hölzern sahen die Indianer fingerdicke Zwischenräume, die mit einem schwarzen Saft gefüllt waren, der getrocknet und an einigen Stellen heruntergetropft war. „Wie viele Männer? Könnt ihr es sagen?" fragte Starke Schlange. „Sechs Männer sind jetzt zu zählen", lautete die Antwort seines Sohnes. Kluger Fisch hatte in der Nacht zugesehen, wie die Fremden das Schiff verlassen und an Land gegangen waren. „Zwölf. Oder drei mehr. Oder zweimal beide Hände. Nicht mehr." „Wenn sich aber andere Männer im großen Kanu verstecken, so daß du sie nicht gesehen hast", murmelte der Häuptling nachdenklich. „Dann sind es mehr", erwiderte Kluger Fisch trocken. „Jeder, der nicht gezählt ist, kann unsere Männer töten", sagte Starke Schlange. „Wahr gesprochen." Eine Stunde um die andere verstrich. Die Indianer mitsamt dem Kanu verschmolzen mit den Gewächsen. Von Bord aus entdeckte sie niemand, auch Grey richtete das Spektiv nicht auf die Stelle ihres Verstecks. Er hätte auch nichts anderes gesehen als ein Gewirr grünender und abgestorbener Pflanzen. Jameson Kidd hantierte in der Kombüse und versuchte, aus den Vorräten ohne Hast eine möglichst wohlschmeckende Mahlzeit zuzubereiten. Der einfache Seemann, fanatischer Anhänger von Atkinson Grey, beherrschte mehr instinktiv als angelernt die Kunst, alles Eßbare zu abenteuerlichen, aber nahrhaften Gerichten zusammenzumischen. Als die Sonnenhitze am größten war, während der Küstenwind völlig einschlief und sich eine feuchte Hitze
auszubreiten begann, sagte Atkinson Grey zu Taffe: „Weiter landeinwärts, wahrscheinlich im Hauptteil des Fjordes, gibt es ein paar Feuer. Hier, sieh selbst. Peilung ein Strich weniger als Nordwest." Aufmerksam blickte Spencer Taffe abwechselnd mit dem linken und rechten Auge durch das Linsenrohr. Schließlich sagte er: „Drei dünne Rauchsäulen sehe ich. Also eine andere Siedlung, wie?" „Wahrscheinlich mit mehr Leuten. Das heißt, daß sie mehr Gold haben. Und vielleicht finden wir dort auch Vorräte. Nur - wie gelangen wir dorthin? Nicht mit dem Beiboot. Da könnten wir uns gleich selbst die Gurgeln durchschneiden." „Hast recht", meinte Taffe. „Nur mit Wind aus dem östlichen Quadranten können wir die ,Explorer' verholen. Weit ist es ja nicht. Vielleicht zwei, drei Meilen." „Wir haben keine Eile", sagte Atkinson Grey und dachte an seinen wachsenden Goldvorrat. „Warten wir auf den Wind. Aber dann müssen die Landratten verdammt gut zupakken." „Wir bringen sie schon dazu", versicherte Taffe. „Vielleicht lernen sie's doch noch." „Hoffentlich bald und gründlich." Auf Deck und unter den Planken der Galeone hatte sich die Mittagsruhe ausgebreitet. Obwohl die Culverinen feuerbereit blieben, bewachte sie niemand. Nur drei Mann gingen an Deck Wache. Alle anderen schienen zu schlafen, jedenfalls ertönte aus allen Richtungen das Schnarchen der Seeleute und der Jäger. In ein paar Stunden würde alles vorbei sein. Dann würden sie tief in das Gebiet der Indianer vorstoßen und holen, was es zu holen gab.
28 Eine einzige wirklich große Sorge quälte Atkinson Grey. „Der Seewolf", sagte er scheinbar übergangslos. „Dieser verdammte Killigrew. Er treibt sich irgendwo an der Küste herum." „Die Küste ist lang und voller Schlupfwinkel, Grey", meinte Taffe beschwichtigend. „Du willst doch nicht etwa behaupten, daß diese Bucht ein gutes Versteck sei? Wenn es der Teufel will, sieht man uns vom offenen Meer." „Du meinst, der Seewolf sucht nach uns? Allen Ernstes?" Auf dem Kopf des Stückmeisters wuchs inzwischen wieder dünner Haarflaum. Die schwarze Schattierung unterbrach das fleckige stumpfe Gelb seiner Haut, auf der Schweißtropfen perlten. „Ich bin sicher. Er segelt zuerst nach Süden, weil er vermutlich einen besseren Siedlungsplatz finden will. Dann kehrt er zurück. Und dabei könnte er uns sehen und hören, wenn wir auf die Rothäute feuern." „Ein Grund, weiter landein zu verholen", entgegnete Taffe. „Und zwar bald." „Heute vor dem Abend. Ich warte nur noch auf den Wind." Er hatte schon daran gedacht, alle Mann in das Beiboot zu scheuchen und die Galeone durch das träge Wasser schleppen zu lassen. Aber dann brachte er sich und die Mannschaft in weitaus größere Gefahr, als er verantworten konnte. Nur auf dem feuerspeienden Schiff waren sie wirklich sicher. „Meinst du, daß wir Seewind kriegen?" „Jedenfalls hoffe ich es", brummte Grey und schnupperte. „Dieser Teufel Kidd scheint tatsächlich noch ei-
nen kräftigen Tee kochen zu können. Riecht gut." „Ich weiß ja, daß er aus jeder Planke etwas Eßbares herstellt", sagte Taffe und grinste breit. „Und wo sind jetzt die rasenden Indianer?" „Wir erleben sie eher, als uns lieb ist", antwortete Grey sorgenvoll. „Darauf kannst du dich verlassen." „Wirklich?" „Was würdest du tun, wenn du eine Rothaut wärst? Zusehen, wie mächtige Fremde erscheinen und das Gold an sich reißen? Wenn sie mit den Culverinen die Lager in Fetzen schießen?" „Richtig. Zuschauen würde ich nicht lange." Sie lehnten am Schanzkleid und warfen in kurzen Abständen Blicke in alle Richtungen. Die Beute war unter Deck gut verstaut und versteckt. Ohne laut darüber gesprochen zu haben, erwarteten die neuen Besitzer der Galeone in den nächsten Stunden und Tagen eine Unterbrechung der augenblicklichen Ruhe. Sie mußten mit zwei Möglichkeiten rechnen. Die Indianer griffen an, oder der Seewolf entdeckte sie und schaute nach, was die „Explorer" an dieser Stelle zu suchen hatte. Wenn er bemerkte, daß Toolan nicht mehr das Kommando hatte, dann war die Hölle los. Und die geringste Gefahr? Daß sie an diesem Stück der Indianerküste kein Gold mehr fanden. Davor, sagte sich Atkinson Grey, sollten sie sich fürchten. Und zwar alle, die auf der „Explorer" segelten oder wenigstens so taten. Eine halbe Stunde später erklärte Grey: „Ich sehe nach, was unser Küchenmeister treibt. Randy Gordon soll mich ablösen." „Ich habe auch verdammten Hun-
29 ger", bestätigte Taffe. „Lassen wir uns ablösen." „Einverstanden." Taffe und Grey enterten von der Kampanje ab, rüttelten zwei Schläfer wach und schärften ihnen ein, beim geringsten Anzeichen von Gefahren oder beim Anspringen des Windes sofort Alarm zu geben. Auf den Stufen des Niederganges setzten sie sich und sahen einige Minuten lang zu, wie Kidd in der Kombüse hantierte und zuletzt die Becher abzählte. Er wirkte nicht im mindesten wie ein Seemann, sondern wie ein hart arbeitender Schankwirt. „Her mit dem Zeug, Jameson!" rief Atkinson. „Gut gekocht?" „Große Sprünge kann ich nicht machen", antwortete Kidd grämlich und zeigte seine Zahnlücken. „Aber der Tee taugt was, denke ich. Hier." Er schöpfte eine dunkelbraune, kräftig riechende Brühe in zwei Becher und gab jedem seiner Gäste eins der heißen Gefäße. Dann gähnte er und fragte: „An Deck alles ruhig?" „Noch", versicherte Taffe und kratzte nachdenklich an seiner Wangennarbe. „Aber in der Nacht wird's wahrscheinlich losgehen." Ruhe vor dem losbrechenden Sturm. Mehr oder weniger dachten sie alle das gleiche. Aber woher der Sturm kam, wußten sie nicht zu sagen. 4. Hasards eisblaue Augen blitzten vergnügt, als er sich an Old Donegal wandte und in gespielt strengem Tonfall fragte: „Das war doch wieder dein antikes Seemannsgarn, Old Donegal? Oder etwa nicht?"
Der „Admiral" schüttelte fassungslos den Kopf. „Du meinst, daß meine alten, schwachen Augen nicht mehr alles klar und deutlich erkennen? Daß ich, was Rasmus verhüten möge, etwas zu tief in den Becher geschaut habe? Ich sage dir: es war wirklich ein Schiff. Ich habe die Galeone wirklich gesehen." „Und wo ist sie jetzt? Untergegangen?" fragte Hasard. Natürlich war er inzwischen ebenfalls sicher, daß da etwas vorgefallen war, das nicht in seinen Plan paßte. „Was weiß ich? Wenn du mich allerdings ernsthaft fragst ...", begann Old Donegal mit listigem Kichern. Und Hasard fügte grinsend hinzu: „ . . . was ich hiermit tue." „ . . . dann schätze ich: Toolan oder Drinkwater ist die Zeit zu lang geworden. Oder die Indianer haben sie vertrieben. Und sie suchen auf eigene Faust nach einem besseren Platz. Also suchen wir sie in einer der Buchten dort drüben." Zwischen spätem Morgen und frühem Mittag war der Südwind schwächer geworden und schließlich fast völlig eingeschlafen. Die Schebecke mühte sich bei achterlichem Wind in Schleichfahrt nach Norden. An Backbord schrumpfte gegenwärtig der Abstand zur Küste. Außer den schon vertrauten Bildern der Landschaft hinter den Buchten war nichts zu entdecken, das Hasard veranlassen konnte, den Kurs zu ändern. „Daran habe ich auch schon ein paarmal gedacht", gab Hasard zu. „Wenn sie nicht weiter nach Süden gesegelt sind, werden wir die Galeone finden, verlaß dich drauf." „Na also. Wenn wir jede Bucht ansteuern, dann findest du auch die Galeone."
30 „Dann sind wir noch einen Monat unterwegs", übertrieb der Seewolf. „In zwei, drei Tagen ist alles vorbei. Wenn nicht etwas Außergewöhnliches passiert." „Du sagst es. Ein, zwei Tage und Nächte, dann sind wir wieder in der Siedlerbucht." Die letzte Wache war völlig ereignislos verlaufen. Die meisten Seewölfe ruhten sich aus, flochten Fancywork oder ließen ihre Haut von der Sonne bräunen. Die dösenden Männer träumten von der Karibik. Hasard hob die Schultern und wußte, nachdem er die Segelstellung und den Kurs sorgfältig beobachtet hatte, daß sie nicht viel unternehmen konnten. Er drehte sich halb zum Rudergänger um und sagte: „Versuche, einen Strich nach Backbord abzufallen, Piet. Wir sollten näher an die Indianerküste heran." „Ich versuch's, Sir." Piet Straaten legte das Ruder, und zögernd gehorchte das schlanke Schiff. Vorn befand sich Dan O'Flynn und langweilte sich damit, Bäume und Felsen zu beobachten, jagende und tauchende Vögel und das Spiel der weißen Wolken zu studieren, die sich über dem Festland bildeten und über dem Atlantik wieder auflösten. Hasard setzte den Kieker ab und rief durch das Klatschen und Zischen der langgezogenen Wellen: „Siehst du so wenig wie ich, Dan?" Dan winkte kurz und bückte sich, um unter den Segeln nach achtern schauen zu können. „Gar nichts, Sir." „Weiterhin aufpassen!" rief der Seewolf. Wenn der Wind nicht auffrischte, würde auch ihm nichts anderes übrigbleiben, als in eine Bucht zu schlei-
chen und vor Anker zu gehen. Die entspannte Stimmung an Bord täuschte bis zu einem bestimmten Punkt: die Seewölfe und die Fletcher-Family trauten dem Frieden nicht. Auch die fünf Landratten hatten längst begriffen, wie lebensgefährlich die Seefahrt sein konnte, selbst entlang der Küste. Denn diese Küste war so fremd und so voller unwägbarer Rätsel wie die ferne Zukunft. „Weiterhin aufpassen", wiederholte David Fletcher, der auf der Kuhl saß und sich bequem gegen das Schanzkleid lehnte, einen Arm auf die Lafette des Geschützes gestützt. „Was sollen wir sehen außer Wellen und Fischen?" „Weißt du, Dave", antwortete Susan, die neben ihm lehnte und, was jeder an Bord deutlich erkennen konnte, seit den schlimmen Nächten auf der Galeone eine deutliche Veränderung erfahren hatte, „das alles ist nicht wirklich wichtig. Wir waren schon so gut wie tot und leben immer noch. Unsere Kinder sind glücklich zwischen den Männern hier. Du bist zu einem halben Seemann geworden. Wir haben alles verloren - und so vieles wiedergefunden." David schaute seine Frau an, als sähe er sie zum erstenmal. Der Druck seines Armes und seiner Finger um ihre Schultern verstärkte sich. „Ich höre zu", murmelte er. „Du hast zwischen den Seewölfen sogar das Sprechen gelernt, Sue." „Auch das", sagte sie mit einem Lächeln, das ebenfalls neu an ihr war. „Ich bin schlanker und kräftiger geworden. Die Luft hat uns allen geholfen. Wir haben keine Sorgen. Uns wird nicht mehr schlecht, wenn das Schiff wackelt - oder stampft, giert oder krängt, wie es richtig heißt. Was wollen wir eigentlich noch mehr?"
31 David senkte den Kopf und überdachte das, was seine Frau deutlich genug ausgesprochen hatte. Sein Denken verlief langsam, aber es war gründlich, und wenn er es in seiner eigenen Hand hatte und genügend Raum zum Handeln fand, dann gelangte er zu Ergebnissen, die sich sehen lassen konnten. Er kümmerte sich um seine Familie und sich selbst. Und jetzt wußte er, daß die Zeit reif war, um an Land zu gehen und das eigene Glück zu schmieden. Aber da war seine Überraschung darüber, daß Sue klar aussprechen konnte, was er an undeutlichen Gedanken mit sich schleppte. „Was wollen wir eigentlich noch mehr?" wiederholte er nachdenklich. „Unsere Kinder waren noch nie so gesund und glücklich wie an Bord der Seewölfe-Schebecke." „Siehst du! Du sagst es selbst", bestätigte Susan fröhlich. „Und das letzte Stück unseres Weges finden wir uns auch zurecht. Meinst du nicht?" „Es ist nur ein paar Tage weit entfernt, Sue", sagte der schwarzbärtige Schmied und richtete seine Augen auf Sarah und Roebuck. Sie strahlten, weil Batuti ihnen gerade irgend etwas erzählte oder erklärte. Jeder der kleinen Familie trug die Merkmale des letzten Monats - schlank, gesund, kräftig und vor allem glücklich. „Ein paar Tage oder mehr", fuhr David fort. „Das macht keinen Unterschied. Wir sind nicht allein, wenn wir an Land gehen." „Und Hasard wird uns mehr helfen als den anderen", meinte Susan. „Ich koche weiter für unsere Freunde." David lachte schallend, als er begriff, was das Leben wirklich wert war.
„Und ich helfe Kapitän Killigrew, den Kurs zu berechnen und die Zukunft der Seewölfe zu planen." „Damit hast du genug zu tun, Mister Fletcher", sagte sie. Sie lächelten einander an und verstanden plötzlich, daß ihr altes Leben auf der Insel der Armut vorbei war. Alles, was jetzt und hier folgte, konnte nur noch besser sein. Ob es morgen, in drei Tagen oder einem halben Monat anfing, war bedeutungslos. Nach einer Stunde, in der sie glücklich vor sich hindösten, weckte sie die Stimme des Seewolfs. „Wir schaffen es heute gerade noch zu der Bucht, in der wir die Indianersiedlung auf dem vorspringenden Felsen gesehen haben. Weiter geht es nicht mehr. Hat jeder verstanden?" „Alles klar, Sir!" „Verstanden, Sir." „Aye, aye, Sir", antworteten die Seewölfe und lehnten sich wieder zurück. Sie warteten auf einen Wind, der seinen Namen verdiente.
Die Schatten der Wipfel wurden länger und länger. Die Sonne sank der Kimm entgegen. Mürrisch brummend, gähnend und augerireibend fand sich einer nach dem anderen an Deck ein. Man sah den Männern an, daß sie müde gewesen waren und jetzt noch einige Zeit brauchten, um klar denken zu können. Grey kannte das. Ihm selbst erging es nicht anders. Aber er wußte auch, daß alle Waffen im feuerbereiten Zustand waren und sich weit und breit nicht ein einziger Indianer zeigte. Die ersten Windstöße aus Südosten fuhren über das Wasser der Bucht und erzeugten lautloses Gekräusel.
32 Atkinson Grey war, von einer innerlichen Unruhe getrieben, zuerst wach geworden und erschien als erster an Deck. Er blinzelte in die Sonne, suchte den Kieker und schaute sich um. „Alles in Ordnung?" brummte er mit trockenen Lippen und ausgedörrtem Hals. „Oder . . . ? " Der Wind zirpte durch die Takelage, zu lose durchgesetzte Fallen klatschten gegen die Masten. Unter Deck war Getrampel zu hören. Dann tauchten die Schläfer auf. Sie schleppten die Waffen mit sich und plierten ebenfalls dumpf in die Runde. „Männer! Es geht gleich los. Ich bin sicher, daß wir guten Wind kriegen!" schrie Atkinson Grey und sprang auf die Kuhl hinunter. „Ich sage euch, was wir vorhaben." Mehr als zwei Dutzend Kerls mit verklebten Haaren, struppigen Bärten und verschwollenen Augen, die Hände an den Griffen ihrer Waffen, latschten über die Planken und bildeten rund um den Großmast eine schwankende Gruppe. Sir William Godfrey und Atkinson Grey schoben sich in die Mitte. Der Mann mit der auffallend roten Nase schrie aufgeregt: „Der Wind ist gut! Wir segeln zur nächsten Siedlung. Dort gibt es mehr Gold als überall bisher." „Meinst du wirklich?" fragte Samuel, der Jäger. „Denk dran, daß es in zwei Stunden stockduster ist." „Ich weiß es", maulte Godfrey. „Wir holen uns das Gold im Morgengrauen. Oder noch vor dem ersten Licht, nicht wahr, Grey?" „So habe ich es geplant", erwiderte der ehemalige Takelmeister. „Es geht nur, wenn ihr alle zusammen helft, Leute."
„Daran soll es nicht fehlen", sagte Jameson Kidd. Er wartete darauf, daß die Männer sich ihr Essen abholten. Er war nicht dazu da, es ihnen zu bringen. „Also", fing Grey wieder an. „Wir gehen ankerauf. Das bedeutet, daß wir die Segel setzen und den Anker mit der Winsch an Bord ziehen. Klar?" „Klar", antwortete Frank Rosebery. „Wer geht ans Ruder?" Randolf Gordons Arm zuckte in die Höhe. „Ich. Wer sonst?" Grey zeigte mit der Spitze seines Säbels auf ihn und rief: „Geht in Ordnung! Du verstehst etwas davon, Randy. Wir verholen eine Seemeile weit in den Sund hinein. Dorthin, wo wir die Rauchfahnen gesehen haben. Wir schleppen das Beiboot mit. Wenn wir dort sind, sehen wir weiter. In dieser Nacht wird aufmerksam Wache gegangen. Sonst entern die verdammten Rothäute die Galeone." Sie hörten alle, was Sir William und Grey, der als Kapitän galt, zu sagen und zu erklären hatten. Geübte Seeleute hätten keine so langen und ausführlichen Erklärungen gebraucht. Aber die Mehrzahl der Crew bestand aus Männern, die mühsam mit vielen Befehlen dazu gebracht werden mußten, die richtigen Griffe auszuführen. „Alles klar, Mister Grey", bemerkte einer der Siedler. „Wann geht es endlich los?" „Und wann gibt es was zum Kauen?" schrie ein anderer. „Was denn noch?" fauchte Jameson Kidd. „Ihr habt gepennt und geschnarcht wie die Maulesel. Und ich habe schuften müssen, damit eure verdammten Zähne etwas zu beißen kriegen. Ärgert mich nicht. Sonst könnt ihr euren Fraß selber kochen."
Wie lange wir manchmal an Adressen herumrätseln! Vor allem an jenen, die so schmissige Unterschriften haben. So wissen wir zum Beispiel nicht, ob diese Adresse richtig ist: G W , D oderV , weg , 2190 Cuxhaven. Hier ist es also der Nachname, und zwar dessen erster Buchstabe, der leider nicht zu entziffern ist, auch nicht im Vergleich mit anderen Großbuchstaben aus seiner Zuschrift. Er schreibt: Hallo, Arwenacks! Bin arbeitslos und muß mich leider von einem Teil der Seewölfe trennen. Habe komplett die Nr. 466 - 520, 522 - 570, das heißt: 104 Hefte. Dazu lose folgende Nummern: 42, 62, 51, 69, 94, 105, 116, 117, 132, 136, 156, 159, 161, 163, 165, 166, 168,179, 189, 190, 207, 259, 269 und 312. Das sind weitere 24 Hefte. Ich trenne mich von allen Heften für DM 100,- plus Porto. Hoffe, daß sich ein Interessent findet, so daß beiden Seiten geholfen ist. Mit freundlichem Gruß- Ihr G W ,D oder V (Nachname unleserlich). Helfen würden wir ja gern - aber wenn die Adresse nicht stimmt? Hoffen wir, daß der Verkauf trotzdem klappt. Aber hoffen wir noch mehr, daß sehr sehr schnell eine neue Arbeitsmöglichkeit in Sicht ist Wir halten jedenfalls die Daumen. Einen Großverkauf plant M R , Straße , 2214 Hohenlockstedt. Er schreibt: Liebe Seewölfe-Redaktion und Autoren! Ich bin schon ein eifriger Sammler ab Band 34, bin aber erst elf Jahre alt. Mein Opa, der auch aus Rastatt kommt, sammelte sie für mich. Ich habe die Nummern 220, 223, 232, 233 und 234 zu verkaufen. Pro Stück DM 1,-. Vielleicht glauben Sie, daß sei Wucher, aber die Hefte sind in einem guten Zustand. Und ich hätte gern die Nummern 14, 96, 261, 410 und 564. Ich zahle bis zu einer D-Mark. Nun, auch ich wäre für eine zweite Auflage. Kritik habe ich keine. Meine Lieblinesfiguren sind:
Stenmark, Bob Grey, Hasard und Philip und Sam Roskill. Und noch was: Ich wäre ebenfalls für Zyklen. Das war's. Ein vierfaches Ar-we-nack - Euer M R Ein weiterer Verkäufer ist U W , Straße , 6730 Neustadt. Er schreibt: Sehr geehrte Damen undHerren! Um mir in meinem Regal wieder etwas Luft zu verschaffen, biete ich untenstehende Romane zu einem Stückpreis von DM 1,- an. Bei Komplettabnahme der Sammlung beträgt der Preis DM 300,-: 13, 18-26, 32, 39, 41, 43-49, 51, 53, 55-57, 61, 64, 65, 72, 77, 78, 80-82, 84, 86, 91-93, 97, 98, 101, 118, 119, 121, 123126, 128-130, 134-137, 139, 141-144, 146,147, 149152, 161, 171, 177, 182, 184, 185, 188-190, 194, 196, 198, 205, 206, 209-215, 217- 219, 221-226, 229-231, 234, 236, 238, 240-244, 246-250, 252, 254-257, 262289, 301, 302, 308, 316, 317, 327, 329, 332-342, 347349, 353, 354, 356, 358, 361, 362, 364-368, 370-386, 388-392, 395, 398, 400-508, 510-514, 517, 518, 521, 523, 526, 531-542, 544-554, 556-558, 566-571, 573575, 577 und 594-599. Außerdem biete ich die komplette Sammlung SW-TB's an, zu einem Stückpreis von DM 3,50. Wenn Sie diese Anzeige in Ihrem Forum abdrukken würden, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Mit freundlichem Gruß - U W Uff-uff, lieber Herr W , Sie können uns dankbar sein - bei den vielen Nummern: Hätten Sie alle Nummern von 13 - 599 im Besitz, dann wäre aus Ihrer Anzeige nur eine Zeile geworden. So einfach (oder schwierig) ist das. Nur werden wir wohl nie begreifen, warum ein Seewölfe-Leser beim Sammeln oder Lesen eine oder mehrere Nummern überspringt und dann wieder erneut einsteigt - und so fort. Gibt es dafür einen Grund? Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern Details vor, wie sie auf jedem Segelschiff früher üblich waren (und zum Teil noch sind). Die Nummern bedeuten: 1 Seiten- oder Positionslaterne. Sie haben die Aufgabe, die Lage eines Schiffes bei Dunkelheit erkennen zu lassen. Zu den Positionslaternen gehörigen farbigen Seitenlaternen (Steuerbord grün, Backbord rot), das Hecklicht (weiß) und bei maschinengetriebenen Fahrzeugen je nach Größe 1 oder 2 Topplaternen (weiß). 2 Patentlog - ein Gerät zur Messung der Fahrt durchs Wasser. Die Umdrehungen des an einer Leine nachgeschleppten Schraubenkörpers geben auf einer Meßuhr die Fahrt an. 3 Logglas (Sanduhr) - wird beim Messen der Geschwindigkeit mit dem Handlog benutzt und hat eine Durchlaufzeit von 14 Sekunden. 4 / 5 / 6 Logscheit oder Logbrett, Logleine und Logrolle. Alles zusammen stellt ein Handlog dar, bei dem das Logscheit zum Messen über Bord geworfen wird, senkrecht im Wasser stehen bleibt und die Logleine an der Logrolle zum Abspulen bringt. Gemessen werden die abgelaufenen Knoten an der Logleine innerhalb des Zeitraums von 14 Sekunden. 7 / 8 Kompaßhäuschen oder Nachthaus und Kompaßständer. Beide stehen vor dem Rudergänger, so daß er immer eine Kurskontrolle hat. 9 Sprachrohr oder »Flüstertüte«. 10 Nebelsignalhorn (für das man eine kräftige Lunge braucht). 11 Bootskompaß, der in einem Kasten gelagert ist. 12 / 13 Lot und Lotleine zum Messen der Wassertiefe. 14 Handspake zum Hebeln, aber auch zum Einsatz am Spill. 15 Kettenhaken. 16 Jakobsleiter. 17 Marlspieker zum Öffnen der Kardeele beim Spleißen, zum Lochspieken oder Aufspulen eines Knotens. 18 Belegnagel, auch Koffeinagel genannt - dient an den Nagelbänken zum Belegen von Tauwerk. 19 Korkfender - er ist mit Segeltuch und Tauwerk umkleidet und wird vor dem Vertäuen an der Pier oder Schiff an Schiff außenbords gehängt, um Reibungen und Stöße abzufangen und die Bordwand zu schützen. 20 Verhol- oder Lippklampe. Mittels der Rolle in der Mitte kann ein Festmacher oder jede andere Leine umgelenkt werden. 21 Bootsmannsstuhl - dient dazu, Arbeiten außenbords durchzuführen. 22 Schraper - zum Abziehen alter Farbe und Abkratzen von Bewuchs. 23 Eine Pütz. Steckt man eine Leine am Taugriff an, kann man von außenbords Wasser aufhieven. 24 Schenkelhaken - dient zum Anhängen von Stückgut usw. 25 Ballastschaufel (für Schüttgut). 26 Klampe - an ihr werden Taue und Leinen belegt. 27 Kleedkeule - mit ihr wird Tauwerk »bekleidet«, und zwar dort, wo es vor Reibung geschützt werden soll. 28 Kausch - dient zur Verstärkung von Augen im Segeltuch oder in Augspleißen von Tauwerk. 29 Kalfathammer. 30 Kalfateisen - mit dem Kalfathammer und dem Fisen wird das Werg in die Decksnähte getrieben. 31 Klotje - dient zum Leiten eines Falls längs des Mastes oder der Wanten., 32 Legel - verbindet das Vorliek eines Stagsegels mit dem entsprechenden Stag. 33 Gräting- ein Holzgitterrost zum Abdecken und Schutz von Luken oder Oberlichtern.
37 „Schon gut, Jameson", sagte Gordon. „Wir wissen, daß du der Beste von allen bist." „Wir können noch die ganze Nacht über den verfluchten Fraß sprechen", sagte Grey mit unheildrohender Stimme. „Dann greifen wir die Rothäute erst in drei Tagen an. Verdammt, Kerle! Es geht um unser Gold. Also tut gefälligst, was man euch befiehlt." „Geht in Ordnung", murmelten die Landratten. Die Seeleute wußten ohnehin, was wichtig oder unwichtig war. „In einer halben Stunde habt ihr alle gegessen und getrunken", schnarrte Sir William. „Aye, aye, Sir." „Und dann geht es los! Sonst können wir das Gold des anderen Stammes gleich vergessen!" rief Grey. „Kidd! Teil aus, was du gebrutzelt hast." Kidd deutete in die Richtung seiner Kochstelle. „Dort ist Essenempfang, Leute", sagte er. „Wer drängelt, kriegt was auf die Schnauze." Im Verlauf der nächsten Stunde wurden vier Segel losgeschlagen. Die Männer versammelten sich um das Gangspill und hievten die Ankertrossen auf. Endlich war der schwere Anker an Steuerbord hochgezerrt und konnte belegt werden. Der Wind war ausgesprochen lausig, aber besser als völlige Windstille. Mit erheblichem Geschick brachte Randy Gordon das Schiff auf Kurs, und nach einer fürchterlichen Wuhling fuhr der abendliche Wind in die beiden Segel am Großmast und straffte die Leinwand der Fock und der Blinde. Schwerfällig, als stünde das Wasser sieben Fuß hoch in der Bilge,
setzte sich die rundbauchige Galeone in Bewegung und glitt qualvoll langsam in den Fjord. Atkinson Greys Kerle versuchten, die Galeone richtig und fachgerecht zu führen, aber sie mußten unentwegt den Siedlern und Jägern zeigen, an welchem Ende man zog, warum und wie stark. Unerschütterliche Ruhe kennzeichnete in diesen Minuten den Rudergänger und Grey. Sie bemühten sich, knappe und dennoch verständliche Kommandos zu geben. Mit achterlichem Wind, der schwach war und in einzelnen, nicht berechenbaren Stößen wehte, törnte die „Explorer" tiefer und weiter in den Fjord. Am Bug lotete Frank Rosebery, der kleine und schwarzbärtige Schiffszimmermann. „Vierzig Fuß!" schrie er. „Weiter geradeaus!" „Verstanden!" Quälend langsam bewegte sich die Galeone fjordaufwärts. Einige Geschütze waren bemannt. Die Seeleute, die von ihrem Geschäft genügend verstanden, rannten wie die aufgescheuchten Hühner über die Planken. Aber nach einiger Zeit standen die Segel straff, und die Fahrt der Galeone wurde schneller. An Backbord und Steuerbord glitten die leeren Ufer vorbei. Vögel schwirrten in die Höhe, Reptilien flüchteten von den Uferbänken und zogen furchige Linien durchs Wasser, ehe sie abtauchten. „Welchen Kurs?" schrie der Rudergänger. „Ich sehe nichts." „Du steuerst den rechten Kurs!" dröhnte Grey. „Warte auf meine Kommandos. Ist ja nicht weit." Sir William Godfrey, der zweite „Kapitän" des Schiffes, hüpfte auf der Kuhl hin und her und schrie schrill seine Befehle, Befürchtungen und Hinweise. „Packt eure Waffen, Männer!
38 Dolche und Messer, Säbel und Pistolen ! Haltet sie bereit! Die Indianer geben ihr Gold nicht ohne Gegenwehr her." „Schon in Ordnung, Mister", motzte ein Jäger. „Wir wissen selbst, wie wir mit den Rothäuten zu verkehren haben." „Ihr seid alle Narren! An Land gehen und zuschlagen. Das ist unsere einzige Waffe. Die blutige Überraschung." „Ein Strich abfallen!" rief Grey. „Aye, aye." Die Galeone folgte der Krümmung der zerklüfteten Ufer und hielt sich in der Mitte des Fahrwassers. Aber die Tiefe konnte sich blitzartig ändern. Atkinson Grey überlegte: bei der schwachen Fahrt, die die „Explorer" lief, würde ein Aufsetzen lästig und unbequem sein, aber keine Katastrophe bedeuten. Überdies war der höchste Stand der Flut erst in einer Stunde erreicht. „Wenn wir querab von den Feuern sind", rief Alec Morris, der vorn stand und versuchte, von seinem erhöhten Standpunkt aus die Indianersiedlung zu entdecken, „müssen wir vor Anker gehen!" Kopfschüttelnd schrie Atkinson Grey zurück: „Wo sonst, du Blödmann?" Die Entfernung war jedenfalls nicht groß. Die Galeone folgte schwerfällig den Windungen des Fjordes, aber je tiefer sie ins Land vorstießen, mußten sie erkennen, daß sie auch hier das Schiff nicht verstekken konnten. Das Land, das sich an Steuerbord und Backbord näherschob, blieb flach und ohne hochragende Bäume. Die Mastspitzen der „Explorer" würden nach wie vor von See aus deutlich zu sehen sein. Es störte Atkinson Grey nicht son-
derlich. Nach ihrem Überfall würden sie sehr schnell ankerauf gehen und nach Süden segeln. „Habt ihr alles klar?" schrie er und deutete auf die einzelnen Culverinen und Drehbassen. „Die Geschütze sind feuerbereit", bestätigte Spencer Taffe. Ein stärkerer Windstoß straffte die Segel und schob die Galeone eine Spur schneller durchs Wasser. Die Tiefe nahm ab, aber da gab es keine Gefahr. Als das Schiff um die kleine Landzunge bog, die hart an Backbord zu einer weiteren dreieckigen Bucht führte, rief Randy Gordon vom Kolderstock: „Das Heck zu der Siedlung, Grey?" „Wenn du's hinkriegst, Randy!" rief Grey. „Das hängt von der Strömung ab." „Weiß ich. Wir versuchen es einfach." Über der offenen Wasserfläche packte der Wind ungehindert zu. Backbord voraus kam auf einer höher gelegenen grünen Fläche die nächste Siedlung in Sicht. Auf den ersten Blick schien sie etwa doppelt so groß zu sein wie jene andere auf der Lichtung. Zwischen den Spitzzelten und Langhäusern schwelten Feuer, aber die Kerle sahen nicht ein einziges Kanu auf dem Wasser. „Gefällt mir nicht", sagte Samuel. Zwei Pistolen steckten in seinem Gürtel. Er stand zwischen zwei ausgerannten Geschützen auf dem Batteriedeck. Eine sandgefüllte Pütz befand sich in Reichweite. Der Luntenstab steckte darin. „Mir auch nicht. Wo sind die Affen?" sagte Taffe. „Es muß doch viele Rote geben." „Wahrscheinlich haben sie sich versteckt. So wie dahinten", brummte
39 Timothy. „Was soll's! Wir werden das Boot nehmen und nachsehen, was es zu holen gibt." Sie blickten schärfer hin, während sich das Schiff näherschob. Es war auffallend, wie wenige Frauen und Kinder zwischen den Hütten herumliefen. Einige waren stehengeblieben und spähten zu dem Schiff. Ein paar junge Männer lungerten herum. „Schoten los! Klar zum Segelbergen!" Auch die Landratten packten an. Sie verstanden nicht viel, aber sie gaben sich Mühe. Die Seeleute enterten zur Großmarsrah und zur Großrah auf. In einem weiten Bogen näherte sich die Galeone dem Lager, schwang herum und richtete schließlich den Bugspriet auf den Ausgang des Fjordes. Dann wurde der Anker gesetzt. Nacheinander kehrten die Männer auf die Decksplanken zurück. Das Beiboot stieß mit dumpfem Poltern an die Planken im Heckbereich. „Gut gemacht", sagte Grey zu Gordon. „Die Hälfte der Crew geht ins Boot, und jeder, der etwas von den Geschützen versteht, gehorcht unserem Stückmeister Spencer Taffe. Klar?" „Davon verstehe ich zu wenig", erklärte Sir William, bewaffnete sich und schob sich zum Heck, um das Ende der Schleppleine zu suchen. Unruhig beobachteten Grey und Davenport das Lager und die bewegungslose Wasserfläche. Atkinson Grey winkte Taffe zu sich, während die ersten Kerle ins Beiboot abenterten. „Wir pullen zum Lager. Und ihr feuert auf jeden und alles, wenn wir in Gefahr geraten. Das gleiche gilt für einen Angriff auf die ,Explorer', klar?" „Selbstverständlich", entgegnete
grinsend der Stückmeister und zeigte auf die ölglänzenden Läufe der Musketen, die in Reih und Glied am Schanzkleid angebändselt waren. „Für jede Rothaut ein Stück Blei", versicherte er zuversichtlich. „Die Männer dort drüben, die Jäger und Fischer", sagte Atkinson Grey unsicher, „sie verstecken sich. Ich habe kein einziges Kanu gesehen. Eigentlich rechne ich nicht damit, daß sie es wagen, auf das Schiff loszugehen." Mehr als ein Dutzend Leute hatten sich an den Geschützen verteilt. Jeder war mit Säbel und Pistole bewaffnet. Von den glimmenden Lunten kräuselten sich dünne Rauchfäden in die Höhe. „Wahrscheinlich sind sie alle wieder in die Wälder gerannt, setzte Grey hinzu. „Du zeigst es ihnen, wenn wir dicht vor dem Ufer sind, Spencer." „Mit diesen beiden Rohren", versprach Taffe und zeigte auf die Culverinen rechts und links von sich. „Gut. Dann wollen wir mal." Der hochgewachsene Anführer drehte die Enden seines mächtigen Schnurrbarts und ging nach Steuerbord hinüber, wo die Jakobsleiter belegt war. Er enterte ins Beiboot ab und nahm seinen Platz achtern ein. Die Leine flog los. Die Männer stießen das Boot von der Bordwand und begannen zu pullen. Der Abstand zum Ufer betrug mehr als fünf Fadenlängen. Grey und Godfrey, der an der Pinne hockte, starrten über die Köpfe der Ruderer zum Land hin und wunderten sich über das, was sie sahen. Genauer darüber, was sie nicht sahen: keine Kanus voller bewaffneter Indianer, wenige Frauen und Kinder, kaum Aufregung an Land.
40 „Ob die uns erwarten?" fragte Grey. „Dann haben sie sich sehr gut versteckt", antwortete Sir William. „Jede Handbreit der Ufer habe ich genau beobachtet. Nichts war zu sehen." „Ich traue diesen Wilden nicht. Ich sage euch, sie werden angreifen", flüsterte Alec Morris. „Und dann geht's uns schlecht." „Angst, Alec? Oder Todesahnung?" erkundigte sich Sir William höhnisch. „Weiß ich nicht", erwiderte der adelige Schnösel brummig. Büsche, unzählige Felder von Binsen und Kolbengewächsen, die Äste und hochragenden Wurzeln von rindenlosen, weißen Bäumen, auf denen Massen von Vögeln saßen, einige Felsen und schlammige Streifen vor den Uferlinien, langgezogene Inseln aus Kies, über und über bewachsen - so zeigten sich die Ufer der Bucht. Grey nahm eine Probe und schmeckte Brackwasser. Also mündete irgendwo am Ende der verästelten Bucht ein Fluß. Oder es waren viele kleine Bäche. „Ist alles ganz egal", murmelte Grey. „Wasser haben wir genug an Bord." Das Beiboot bewegte sich seitlich auf die Siedlung zu. Einige Frauen rannten schreiend, die Kinder auf dem Arm oder mit sich zerrend, entlang der Zelte und ins freie Gelände hinaus. Als der Bug des Bootes einen Pistolenschuß weit von dem zertrampelten Uferstück entfernt war, an dem Fischspeere, grobe Netze und zwei Kanurümpfe ohne Beplankung oder Bespannung lagen, krachte der erste Schuß aus der Flanke der Galeone. Im grellen Sonnenlicht war die
Feuerlanze kaum zu sehen, aber der Rauch zeichnete sich scharf ab. Das Geschoß, das sich im Flug zerteilte, heulte über das Wasser. Schmetternde Schläge und berstende Trümmer, herumfliegende Erdbrocken und die Fetzen eines Hüttendaches, aufgerisssene Furchen und die brennenden Scheite eines Feuers - für einige Herzschläge lang verwandelte sich die Indianersiedlung in ein lärmerfülltes Chaos. Unwillkürlich duckten sich die Kerle und hörten mit dem Pullen auf. Sie sahen das Mündungsfeuer, die hochwirbelnde Wolke des verbrannten Pulvers, dann krachte die Detonation des Abschusses über die Bucht und schreckte die Vögel zum zweitenmal auf. Spencer Taffes Leute hatten das Geschütz gut ausgerichtet. Wieder verwüsteten die einschlagenden explodierenden Geschosse einen Teil des Lagers. Durch das Dröhnen, Bersten und Krachen erklangen die kreischenden Schreie der Indianerfrauen, die von ihren Männern im Stich gelassen worden waren. „Sehr gut, Taffe", murmelte Godfrey und nahm die Handflächen von seinen roten Ohren. „Gut gezielt." Ein dritter Schuß fegte das Dach in ganzer Länge von einem ärmlichen Langbau weg und köpfte einen dünnen Baum jenseits der Siedlung. Das Geschrei der flüchtenden Kinder und Frauen hörte auf, als die Männer das Boot weiterpullten. Sie schwiegen und keuchten, die Riemen knarrten und ächzten in den Dollen. Mit weniger als zwei Dutzend Schlägen überwand das Beiboot die kurze Strecke und stieß auf die schlammbedeckten Kiesel. „Hinaus und umdrehen", sagte William Godfrey. Er stand mühsam auf,
41 wackelte und sprang ins aufspritzende Wasser. Nacheinander verließen die Männer das Boot, zogen die Pistolen und sahen sich lauernd um, während sie in die Siedlung stürmten. Sir William stieß einen Fluch aus und zerrte solange an dem schweren Bootskörper, bis er es mit dem Heck auf das Ufer ziehen konnte. „Ich schufte ja gern für euch, ihr Mistkerle!" schimpfte er und schlang irgendeinen Knoten. Dann rannte er schnaufend hinter ihnen her. Wer zuerst suchte, fand das meiste Gold. Er fürchtete, zu spät zu kommen und vielleicht nichts mehr zu finden, das er in die schön geschnitzte Offizierskiste packen konnte. Die Kerle zerstreuten sich. Einzeln oder zu zweit stürmten sie zu den Zelten und auf die schäbigen Erdhäuser zu. Atkinson Grey kletterte auf ein durchsackendes Dach hinauf und spähte in die Runde. Aber auch jetzt sah er keine Anzeichen eines bevorstehenden Angriffs aus irgendeinem Versteck. Er zuckte mit den Schultern, kletterte nach unten und drang in die Behausung ein. Fluchend und rücksichtslos fingen ein Dutzend Männer mit ihrer Plünderung an und durchwühlten alle Verstecke, Töpfe, Vorratsbehälter, den Boden, die Räume hinter den Matten. Auf dem Schiff hatten sie begeistert erzählt, wie einfach die Goldbeutel und der gesammelte Goldsand zu finden wären. Sie rissen von den geschnitzten und bemalten Figuren von irgendwelchen Fisch- und Vogelgöttern die breiten Armreifen, Amulette und Verzierungen herunter und stopften sie wahllos und hastig in die Taschen. Wie die Rasenden suchten sie alle, vergaßen die Umgebung, die Indianer, das Schiff
und die Bedrohung durch die unsichtbaren oder versteckten Indianer. Sie suchten Gold und alles Wertvolle, und sie fanden genug. Wie blind hasteten sie hin und her und stocherten schwitzend mit den Messern im hartgetretenen Boden. Aber sie schreckten alle auf, als das Dröhnen des unerwarteten Geschützfeuers die Zelte und Dächer erschütterte. Sir William und Grey waren die ersten, die ins Freie stürzten und an ein furchtbares Mißgeschick glaubten. Es dauerte nicht lange, bis sie einsehen mußten, daß sie so gut wie alles falsch bedacht und eingeschätzt hatten. 5. Der alte Häuptling mit dem verwitterten Gesicht und den harten Muskeln hob seinen runden Schild. Er hielt den Kopf gesenkt und dachte nach. Ein tonloses Summen erklang von seinen Lippen. Es waren die Anrufungen an die Ahnen und an den Wassergeist, der bisher alle ihre Kämpfe siegreich begleitet hatte. Dann hob er sein Gesicht in die Sonne und murmelte: „Starke Schlange sagt, daß wir die Fremden töten sollen. Sie sind nicht in der Nacht gekommen. Also kämpfen wir am Tag." „Nur die Hälfte der Diebe und Räuber sind auf dem großen Kanu", erklärte Mantaush. „Die andere Hälfte raubt in deinem Dorf, Starke Schlange", sagte der Häuptling der Wasserleute. „Wir stoßen zu wie der Adler", sagte Starke Schlange. „Jetzt! Gib das Zeichen, Kluger Fisch."
42 Die Kanus voller Krieger und Jäger hatte der Häuptling rund um die Ufer der Bucht zwischen dem Schilf und den Büschen verstecken lassen. Die Frauen und Kinder, auch die Alten, waren wie bei der Siedlung der Wasserleute in Sicherheit gebracht worden. Die Fremden wagten sich nicht tief ins Land hinein. Kluger Fisch stieß dreimal das durchdringende Trompeten des Sumpfkranichs aus. Elfmal tönte aus verschiedenen Richtungen die Antwort. Starke Schlange senkte seine Streitaxt. Die Paddler setzten die Stechriemen ein und schoben das Kanu aus dem Schilfversteck hervor. Das große Kriegskanu der Fremden war drei Bogenschußweiten vor ihnen. Fast gleichzeitig stießen die anderen Kanus aus den Verstecken. Alle paddelten wie wild. Von allen Seiten außer aus der Richtung des Lagers schossen knapp achtzig Krieger in zwölf Kanus auf das Schiff zu. Starke Schlange hatte mit den Jägern beider Stämme genau abgesprochen, wie sie vorgehen wollten. Der Fischadler war ihr Vorbild. Gegen die Donnerrohre waren sie machtlos. Sie griffen an und zogen sich wieder zurück, um den zweiten Schlag zu führen. Die Augen der Angreifer hingen an dem großen Kanu der Fremden. Zunächst, während die Jäger ihre Muskeln anspannten und in rasendem Tempo die Paddel einstachen und durchzogen, schienen die Gestalten auf dem großen Kanu nichts zu sehen und nichts zu merken. Aber als sich die Entfernung fast halbiert hatte, sprangen die Fremden auf ihrem Schiff hin und her. Sie duckten sich, und dann zuckten die ohrenbetäubenden Flammen, der
Rauch und die Brocken, die aus dem schwarzen Loch geschleudert wurden, auf die Kanus zu. Das Wasser der Bucht, in dem nur die Kielspuren der Kanus und die ringförmigen Markierungen der Paddel zu sehen gewesen waren, schien zu kochen und zu brodeln. An unzähligen Stellen zuckten riesige Wasserfontänen in die warme Luft. Die Kanus wurden hin und her geworfen, bäumten sich auf und schlugen wieder zurück in die hochgewirbelten Wellen. Einige Indianer, die im Bug der federnden und leichten Boote saßen, warfen die Paddel zwischen ihre Füße und nahmen die Waffen auf. Bögen und Pfeile erschienen in den Händen der Krieger, als sie durch den Gischt und die Tropfenhagel preschten. Die Indianer schossen wie die Teufel. Von jedem Boot zielten und schossen die Jäger ihre langen, gefiederten Pfeile auf jedes Ziel ab, das sich bewegte. Ein Boot kippte, zerbrach, und die Männer schnellten sich seitwärts ins Wasser. Sofort tauchten sie unter. Die kleinen, blitzenden Rohre, die ihre tödliche Ladung ins Wasser schmetterten, verschwanden hinter den hellen Rauchwolken, durch die unaufhörlich Pfeile zuckten. Dann krachte wieder eins der großen Feuerrohre, und irgendwo zwischen den Booten schoß das Wasser in zahllosen Tropfen, vermischt mit Schlick und Schlamm, peitschend wie ein Hagel aus kleinen Steinen, so hoch wie die Wände des großen Kanus in die Höhe. Die Pfeile zischten über die kurze Distanz, schlugen mit trockenem Krachen ins Holz ein, fauchten durch die Leinwand der Segel und durch die Unterbrechungen in der hölzernen
43 Mauer, die um das gesamte Schiff lief. „Zurück!" schrie der Häuptling und drosch mit seiner Streitaxt hämmernd gegen den Schild, aber er merkte schon, daß weder seine Krieger noch die des anderen Stammes ihn hören konnten. Wieder dröhnten die kleinen oder die großen Donnerrohre auf. Die Kanus waren inzwischen so nahe an der Bordwand, daß die Kugeln der langen, dunkel schimmernden Rohre über die Boote und die Köpfe der Indianer hinwegrasten, die Luft durcheinanderwirbelten und die Büsche an den Ufern zerfetzten. „Dreht um! Zurück!" schrie Häuptling Starke Schlange. Jetzt hörten ihn die Jäger und feuerten ihre letzten Pfeile ab. Auch die kurzen Wurfspeere flogen durch die Luft, in geraden und gekrümmten Flugbahnen, und wieder prasselten die einfachen Waffen auf das Deck hinunter. Die Paddler griffen erneut nach ihren Paddeln und rissen die Boote herum. Einzelne scharfe, peitschende Explosionen ertönten vom Deck, als die Indianer versuchten, in ihre Uferverstecke zurückzurudern. Es war nicht viel Zeit vergangen. Der Häuptling wußte nicht, wie viele Krieger verletzt, wie viele in die ewigen Jagdgründe versammelt worden waren. Die Kanus fuhren sternförmig auseinander, während die Fremden aus kleinen Feuerrohren hinter den Kriegern herschossen. Die kleinen Geschosse, die man nicht sah und die durch die Luft summten wie tödliche Hummeln, rissen winzige Fontönen aus der Wasseroberfläche. Die Pfeilköcher waren halb geleert, viele
Speere steckten im Holz des großen Kanus. Die Boote wurden im Zickzack zum Ufer gepaddelt und stießen zwischen die hochstehenden Gewächse, die nach links und rechts auseinanderschnellten und sich hinter dem Heck der Kanus wieder schlossen. Als die Kanus verschwunden waren, herrschte plötzlich Ruhe. Ein einzelner Schuß, viel zu leise, wie es schien, peitschte über das Wasser. Dann ertönten aufgeregte, wilde Schreie aus der Richtung des Lagers. Die Plünderer hockten alle in der Jolle und versuchten, so schnell wie möglich zur Galeone zurückzurudern. Als sie über die hölzernen Sprossen der Jakobsleiter auf enterten, erreichten gerade die letzten Indianer schwimmend das Ufer. Zerbrochene Pfeile, drei Schilde aus Flechtwerk und Leder und die Trümmer eines Kanus trieben langsam in der Strömung. Das Wasser löste die Bemalung auf und bildete mit den ineinander verschwimmenden Farben seltsame Muster.
Edwin Garberry, der halb wach und halb dösend auf der Kuhl hockte und seine langen Beine ungeniert ausstreckte, öffnete das linke Auge und blinzelte Bob Grey an. „Hast du's auch gehört?" fragte er, gähnte und rekelte sich ergiebig. „Was soll ich gehört haben? Dein Geschnarche etwa?" fragte Bob Grey. „Ich bin hellwach, stocknüchtern und ganz bei Sinnen", brummte der Profos. „Da! Schon wieder! Ich bin sicher . . . " Er richtete sich auf, und plötzlich
44 war er ganz gespannt und aufmerksam. Er legte die Pranken an die Ohren und fuhr aufgeregt fort: „Das ist Donner. Aber weit und breit sehe ich kein Zeichen von einem Gewitter." „Dann kann es nur ...", sagte Bob beunruhigt. „... dann handelt es sich um Geschütze!" unterbrach ihn der Profos. Sie starrten sich gegenseitig in die Augen und hielten den Atem an. Nach wenigen Atemzügen hörten sie es deutlich und unverkennbar. „Tatsächlich. Da feuert jemand Culverinen ab. Unverkennbar", sagte Bob Grey. „Ausnahmsweise hast du keinen Schlick in den Ohren!" dröhnte Carberry. „He, Sir! Habt ihr das auch gehört?" Mit dem auffrischenden Wind hatte die Schebecke wieder Fahrt aufgenommen und sich der Küste genähert. Der Wind wehte aus Süden und drehte bisweilen nach Ost. Er wehte und verschwand, wie er wollte, aber immerhin war es ein kräftiger, feuchter Südwind. Das Kap, dessen Linien und Umrisse den Seewölfen schon vertraut waren, rückte näher. Dahinter lag jene Bucht, in der sie zum erstenmal eine richtige Indianersiedlung gesehen hatten. Gerade schob sich die südliche Landmarke der Passage an Backbord ins Blickfeld. „Ja", erwiderte Hasard. „Ich bin noch nicht sicher, was es ist." „Klingt wie Geschützdonner, Sir!" rief Bob Grey. „Höre mal richtig hin." Die Meldung alarmierte jeden, der an Deck stand oder saß. Die Männer standen auf. Auch Sarah und Roebuck Fletcher lauschten aufmerksam. „Das ist Geschützdonner", sagte
Hasard nach einigen Atemzügen. Er war nicht einmal verwundert. „Das war also doch keine Gespenster-Galeone, die Old Donegal gesehen hat." „Kommt vom Land, Sir!" schrie Dan O'Flynn vom Bug her. „Ohne Zweifel. Und zwar aus Westen." Hasard wandte sich halb um und bedeutete dem Rudergänger, die Passage anzusteuern. Sven Nyberg nickte und stemmte sich gegen das geschwungene Holz der Pinne. Inzwischen standen alle Seewölfe, die nicht Freiwache hatten, auf den Decksplanken und versuchten, zwischen den Geräuschen des Riggs und des Wassers etwas herauszuhören, zu unterscheiden. Aber die nächsten Minuten beseitigten jeden Zweifel. „Kurs durch die Passage!" rief der Seewolf und zog das Spektiv aus dem Gürtel. „Und landeinwärts. Der Wind steht gut." „Aye, aye, Sir." Die Crew eilte an die Schoten. Die Schebecke änderte ihren Kurs um zwei Strich nach Südwesten und stemmte sich auf einen Wellenkamm hinauf. Sie wurde ruckartig schneller und blieb eine Weile auf dem Kamm der Welle. Hasard brauchte nicht viel zu befehlen, die Crew wußte, was getan werden mußte. Ben Brighton erschien achtern und erklärte: „Also, Sir. Al Conroy meint, daß wir unsere Geschütze brauchen werden, wenn die anderen, wer auch immer, wie wild in der Gegend herumfeuern. Er wird alle Culverinen und Drehbassen schußbereit haben, wenn es nötig ist. Meinst du, daß eine unserer beiden Galeonen dort drinnen in einen Kampf verwickelt ist?" „Fast nichts ist unmöglich", erwiderte der Seewolf skeptisch. „Gegen wen, verdammt noch mal?" rief der Erste aufgebracht und ratlos.
45 Hasard hob vielsagend die breiten Schultern. „Keine Ahnung. Aber vielleicht sind es die Indianer. Was weiß ich? Oder mit wem sollten sich die Leute schießen und bekriegen? Ich habe keine Vorstellung davon, was in Toolan oder Drinkwater gefahren ist. Aber in einer Stunde wissen wir es, verlaß dich drauf." „So etwa sehe ich es auch, Sir", meinte Ben. „Alles klar soweit. Noch vier, fünf Stunden, bis es dunkel wird." Sie waren dicht unter Land. Der Wind heulte leiser, und so konnten sie alle deutlich genug das dumpfe Dröhnen von Culverinen und das hellere Schmettern von Drehbassen hören. Der Schall kam in verzerrten Wellen. Aber jetzt gab es keinen Zweifel mehr. „Vielleicht haben wir nicht alles richtig gehört", sagte Don Juan. „Aber zehnmal haben die Culverinen gefeuert. Das habe ich ganz sicher vernommen." „Klingt nach einem respektablen Seegefecht", sagte der Seewolf und überprüfte seine Vorstellungen und Gedanken. „Wir sind doch nicht mitten in dem Gefecht mit spanischen Schiffen." „Wir können nur eins tun", warf Philip junior ein. „Und? Was schlägst du vor?" wollte Ferris Tucker wissen. „Auf alles vorbereitet sein. Uns überraschen lassen und dann richtig handeln." „Ein guter Einfall", sagte sein Zwillingsbruder trocken. „Ich hatte ihn auch schon." Die Schebecke kreuzte noch einen Schlag nach Steuerbord, dann glitt sie mit guter Fahrt in die Bucht. Dan O'Flynn sah schon kurze Zeit später, daß ein Teil der kleinen Indianer sied-
lung verwüstet worden war. Ben und Hasard richteten ihre Spektive auf die zerfetzten Dächer und die aufgeschlitzten Wände einiger Zelte. „Kein Feuer. Sie sind geflüchtet", stellte Batuti nüchtern fest. „Aber hier gab es keine Schießerei." „Du hast recht", antwortete der Seewolf. „Weiter in den Sund hinein. Nach Steuerbord, Sven." „Verstanden, Sir." In der Bucht, jenseits der Barre, nahm die Stärke des Windes innerhalb weniger Minuten ab. Aber er reichte noch aus, die Schebecke voranzubringen, es brauchte nicht gepullt zu werden. Die Arwenacks rüsteten sich aus und starrten immer wieder nach voraus. Das Krachen der Culverinen und Drehbassen hatte aufgehört, aber während der nächsten Minuten wurden zweimal Musketenschüsse abgefeuert. Die Spannung und Neugierde an Bord nahmen zu. Schließlich, als das Schiff wieder eine Landzunge an Backbord rundete und nach Westen glitt, schrie Big Old Shane auf. „Galeone voraus, Sir!" „Entfernung?" „Etwa zwei Seemeilen!" Als das Schiff an den letzten Bäumen und an der schwarzen Felsnase vorbeizog, konnten alle Seewölfe die Masten und den gedrungenen Rumpf deutlich sehen. Die Entfernung war nicht so groß, wie der Schiffsschmied zunächst geschätzt hatte. Dan O'Flynn schrie: „Das ist einwandfrei die ,Explorer'! Das darf doch nicht wahr sein!" „Offensichtlich ist es doch wahr", sagte Hasard verblüfft. Zahllose Gedanken schossen durch seinen Kopf. Daß sich Kapitän Toolan mit den Indianern einen derartigen Kampf lieferte, hielten sie alle
46 für undenkbar. Und was hatte ihn getrieben, hierher zu segeln, entgegen aller Vereinbarungen und klarer Befehle? Hasard legte die Hände an den Mund und rief: „Klar Schiff zum Gefecht! Alle Mann in Waffen an Deck. Ich erwarte reichlichen Ärger. Da ist etwas ganz Unwahrscheinliches passiert!" Schritte hasteten über die Planken. Kurze Kommandos waren zu hören, während im schwachen Wind immer wieder die Segel killten. Aufgeregt sprang Plymmie zwischen den Männern herum. Die Fletchers traten zum Grätingsdeck, und David fragte: „Können wir helfen, Sir? Es gibt Kampf, nicht wahr?" „Die Kinder gehen sofort unter Deck, noch bevor der erste Schuß fällt", befahl Hasard grimmig. „Das gilt auch für Little John. Susan soll ihren Kopf ebenfalls verstecken, und du kannst bei Al Conroy mithelfen, zusammen mit den Zwillingen. Einverstanden?" Der Schwarzbart grinste und nickte. „Irgendwie muß ich ja meine Passage abbezahlen." Der Seewolf schlug ihm auf die Schulter und lachte. „Das hat deine Frau längst mit ihrer Kochkunst erledigt, David." Er schob sie von den Planken des Achterdecks und sah zu, wie der Schimpanse Arwenack von Batuti eingefangen und unter Deck gebracht wurde. Dann eilte er zum Vorschiff und stellte sich neben Dan O'Flynn. Sie schauten auf die Szenerie, die sich ihnen bot. „Wir wollten ja nicht in den Fjord segeln", sagte Dan halblaut, „weil wir einen Landeplatz im Süden suchten,
sonst hätten wir dieses zweite Indianerlager schnell entdeckt." „Aber Toolan ist hierhergesegelt." „Bist du sicher, Sir?" fragte Dan. „Schau dir mal die Segel an, die Tagelage, das ganze Geschirr." Das Wasser in der großen Bucht, die von flachem Land umgeben war, erstreckte sich glatt und offenbar strömungslos weit nach Westen. Zahlreiche langgezogene Inseln deuteten darauf hin, daß es sich auch hier um ein Flußdelta handelte. Als der Seewolf seinen Blick auf die Wuhling richtete, sah er, was Dan meinte. Offensichtlich gab es auf dem Schiff nicht genügend Deckshands. Oder gar keine? Das konnte nur bedeuten, daß weder Toolan noch seine Crew auf der Galeone segelten. Oder daß sie unter Deck eingesperrt waren. Meuterei? „Du hast recht. Das ist nicht mehr Toolans Schiff", sagte der Seewolf. „Ich kann noch keinen genau erkennen. Aber Toolan ist wohl nicht darunter." Vom Heck der Galeone hingen einige Tampen ins Wasser. Das Beiboot lag neben der Jakobsleiter, unordentlich vertäut. Eine Gruppe hastete an Deck herum und lud die Culverinen und Drehbassen. Dann erschien am Bug, der seewärts wies, eine Gestalt, die Hasard blitzartig wiedererkannte. Er stieß einen Fluch aus. „Sir William Godfrey, mit Säufernase und waffenbehängt!" rief er. „Es wird ernst." „Ich sehe ihn", bestätigte Dan. „Und ich sehe auch Atkinson Grey, den Überlebenden der Jolle. Die Kerle haben wohl ein paar Siedler überredet und das Schiff gekapert." „So oder ähnlich muß es sein", erwiderte der Seewolf, drehte sich um und sprang auf die Kuhl, um den an-
48 deren die bösen Neuigkeiten mitzuteilen. Dan rief, daß er etwa zwei Dutzend Männer gezählt hätte. Darunter waren natürlich die drei adeligen Herrschaften und die Crew der Rabaukenkaravelle. Und eine Menge Männer, die er nicht kannte und vorher nie gesehen hatte. Sir William, der auf dem Galionsdeck stand, schien im selben Augenblick die Schebecke zu entdecken. Er fing wild zu schreien und herumzufuchteln an. Es gab keine Schwierigkeiten, in dem schlanken Schiff mit den Dreieckssegeln die Schebecke der Arwenacks zu erkennen. Als sich die Galeone wenige Augenblicke später in der Strömung bewegte, bot sie der Schebecke die Backbordbreitseite. Dan entdeckte das Vorhaben des Adeligen fast augenblicklich. „Sir! Sie schießen auf uns!" schrie er durchdringend. Hasard rief: „Ruder hart Backbord." „Aye, Sir." Das Schiff drehte so weit ab, bis er dem Gegenüber nur noch die schmale Silhouette bot. Aber unverändert glitt die Schebecke näher. Inzwischen hatten die Arwenacks einen guten Überblick. Tatsächlich gab es nur rund zwei Dutzend Leute auf der „Explorer". Aber sie waren entschlossen, schnell zu handeln. Sir William senkte eine Lunte auf das Zündloch der ersten Culverine auf dem Mitteldeck. Feuer zuckte auf, Rauch qualmte hoch, und das Massivgeschoß heulte drei Fuß über der Rahrute des Großsegels durch die Luft, verschwand über dem Ufersaum und verwandelte irgendwo das krachende Unterholz in Splitter und Bruch. Fast gleichzeitig wurde die nächste
Culverine gezündet. Ihr Rohr war besser ausgerichtet worden. Die Kugel schlug ein paar Handbreiten vor dem Bug der Schebecke ins Wasser, erzeugte eine gewaltige Fontäne und eine Wellenbewegung, die das Schiff erzittern ließ. Die Seewölfe wurden von einem Regen aus faulig riechendem Wasser überschüttet. „Jetzt ist meine Geduld vorbei!" dröhnte die Stimme Hasards. Man mußte sie sogar auf der Galeone vernehmen. „Feg das Deck frei, Al!" „Aye, aye, Sir!" Während sich die Männer hinter das Schanzkleid duckten, schwang die Schebecke langsam wieder herum. Al Conroy visierte über das schlanke Rohr und bedeutete den Zwillingen, den Richtstock einzusetzen. Dann zündete er die Culverine. Mit einer riesigen Feuerzunge, stechendem Qualm und einem ohrenbetäubend schmetternden Schlag peitschte eine Ladung von gehacktem Schrot zur Galeone und über deren Kuhl. Ein Mann wurde von mehreren Geschossen getroffen und fast quer über die gesamte Schiffsbreite rückwärts geschleudert. Am gegenüberliegenden Schanzkleid rutschte er sterbend in sich zusammen. Auf einem breiten Streifen rund um den Großmast wirbelten Fetzen und Trümmer durch die Luft. Wutgeheul und laute Schmerzensschreie hallten über das Wasser. „Alles klar zum Entern, Freunde!" rief der Seewolf. „Gib ihnen eine Breitseite, Mister Conroy!" Die Kerle auf der Galeone eröffneten jetzt das Feuer aus Musketen. Zwischen den Schüssen war fast nur die Stimme von Godfrey zu hören, der den Seewolf verfluchte und seinen Helfern Befehle gab, zu laden
49 und zu schießen. Aber offensichtlich waren noch nicht alle Geschütze nach dem Schußwechsel wieder feuerbereit. Kein Wunder, bei dieser verschwindenden kleinen Mannschaft, sagte sich Hasard und sah, wie Sir William mit Frank Davenport den Niedergang zu den bugwärts montierten Drehbassen hinaufhastete. Kugeln aus den Musketen, die Ben Brighton und Ed Carberry abfeuerten, rissen Spähe aus dem Holzwerk und zerfaserten Taue. Die beiden Kerle warfen sich auf die Planken und krochen weiter. In das Dauergeräusch von Musketen- und Pistolenschüssen mischten sich das Zischen der Pfeile von Batutis und Big Old Shanes Bögen und das Donnern weiterer Geschütze. Al Conroy löste einen Schuß nach dem anderen aus, zielte mit großer Sorgfalt und jagte die Splitterladungen knapp über die Decks der Galeone. Die Seewölfe hatten sich ausgerechnet, daß sie es waren, von denen die Schäden der Galeone später repariert werden mußten. Ein Treffer riß zwei Fuß vom oberen Handlauf des Schanzkleides am Bug der Schebecke weg. Drei oder vier Geschosse landeten im Wasser. Langsam schwangen die Rahruten auf und nieder. Die Schebecke schob sich mit schwacher Fahrt schräg auf die Breitseite der „Explorer" zu und würde, so hatten Hasard und der Rudergänger vereinbart, die Galeone sanft rammen. Das Dauerfeuer bewirkte, daß sich weder an Deck der Schebecke noch bei den Gegnern jemand aus der Dekkung wagte. Drei Männer lagen jammernd auf den Planken und hatten Pfeile in den Armen, Schultern oder Schenkeln. Sven Nyberg blutete aus einer Schulterwunde.
Hasard schnappte sich eine brennende Lunte, lief zum Bug und packte die Richtgriffe der Drehbasse. Er richtete das messingglänzende Rohr auf die Stelle, die Sir William und Davenport zu erreichen versuchten. Weder die kämpfenden Männer auf der Schebecke noch die Kerle an Bord der Galeone sahen, daß sich die Indianer wieder zeigten. Binnen weniger Minuten schoben sich mindestens zwanzig Kanus voller bewaffneter Krieger aus den tarnenden Gewächsen hervor. „Bereit zum Entern?" schrie Hasard durch das Getümmel und den Lärm. Carberrys Entercrew drängte sich an Backbord hinter dem Schanzkleid und zwischen den rauchenden Culverinen zusammen. Der Profos hob den Arm. „Bereit, Sir." Der Seewolf berührte mit der glimmenden Lunte das Pulver im Zündloch. Die Drehbasse spuckte einen Hagel Metallschrot aus, der die Männer wieder in die Deckung zurückschleuderte. Aber schon befanden sich die beiden Adeligen in der Nähe der Drehbassen. Wieder flogen ein paar Pfeile hinüber zur Galeone. Die Bordwände waren nur noch fünfzehn Fuß entfernt. „Hinter mir her!" donnerte der Profos und schwang sich aufs Schanzkleid. Jeder andere an Deck der Schebecke zielte und feuerte. Pistolen bell ten auf, Musketen krachten. Eine Wand aus dünnem Rauch breitete sich zwischen Bug und Heck aus. Als sich die Schiffsseiten bis auf wenige Zoll genähert hatten, setzten die Seewölfe über, klammerten sich an die Sprossen der Jakobsleiter, an Teile der Rüsten oder des Schanzkleids. Ei-
50 nige Atemzüge später kletterte eine schreiende, furchterregende Horde von mehr als eineinhalb Dutzend Seewölfen über das Schanzkleid und stürzte sich auf den Gegner. Der Profos, die schwere Blankwaffe in der linken, die Pistole in der rechten Hand, wandte sich nach rechts und feuerte auf Atkinson Grey, der sich von einem Niedergang auf ihn warf. Grey blutete bereits aus mehreren kleinen Wunden. Der Schuß pfiff an der Schulter des Mannes vorbei. Als Grey den Profos ansprang, prallte er in den Profoshammer, der ihn mit der Wucht einer Ramme traf. Atkinson Grey torkelte über die Planken und stolperte über einen Toten, der in einer Blutlache lag. Erstaunt sah Carberry, daß es sich um den fünfundzwanzigjährigen Schnösel Alec Morris handelte, das Großmaul der drei ehrenwerten Gentlemen. „Ein Halunke weniger", murmelte Carberry und wirbelte herum. Der Kampf an Deck war nur noch eine Komödie, es gab zu viele Verwundete, und die Übermacht der. Seewölfe war zu groß. An einigen Stellen klirrten die Säbel gegeneinander. Big Old Shane schlug mit der Zimmermannsaxt Randolf Gordon den Säbel aus der Hand. Bob Greys Messer bohrte sich in den Oberarm von Spencer Taffe, der Gary Andrews von hinten angriff. Ein Hüne, der wie ein SiedlerJäger aussah, starb mit einer klaffenden Stirnwunde und kippte langsam über das Backbordschanzkleid. „Treibt sie auf der Kuhl zusammen!" rief Ben Brighton. Zugleich mit dem Profos enterte er die Back. Hinter ihnen folgten der Gambiamann und Don Juan de Alcazar. Ein letzter Schuß wurde aus
Richtung des Hecks abgefeuert, während die Schebecke mit dem letzten Schwung einen Halbkreis steuerte und auf der Seite des Indianerlagers längsseits vertäute. Ein kurzer Stoß erschütterte die Galeone. Im selben Augenblick sprangen Godfrey und Davenport auf. Sie hoben die Läufe von Musketen und feuerten die schweren Büchsen ab, ehe der Profos sie erreichte. Sie hatten auf Hasard gezielt. Er stand schräg unter ihnen noch an Deck der Schebecke und auf diese Distanz war es fast unmöglich, nicht zu treffen. Der Doppelknall ertönte dicht vor Carberry, der Godfrey an der Schulter packte und herumschleuderte. Eine Kugel bohrte sich neben Hasards Stiefel in die Planken, die andere prallte kreischend vom Handschutz der Blankwaffe ab. Hasard riß den Kopf in die Höhe und zeigte einen Sekundenbruchteil lang einen ziemlich verblüfften Gesichtsausdruck. Dann sah er in das haßerfüllte Gesicht Sir Williams, das kurz darauf verschwand, und er verstand, was passiert war. Er schwang sich aufs Schanzkleid, packte die Tauenden in den Rüsten und kletterte blitzschnell an Deck der Galeone. „Du verfluchter Hund", knurrte der Profos und schlug zu. Sir William wurde in die Höhe geschleudert, überschlug sich halb und krachte wie eine leblose Gliederpuppe auf die Planken. Ben Brighton hielt Frank Davenport erbarmungslos im Genick wie einen jungen Hund und stieß ihn vor sich her auf die Kuhl hinunter. Dort hatten sich die Mitglieder der Entermannschaft in einem Kreis um die Überlebenden aufgestellt und
51 richteten die Pistolen und Säbel auf die verluderten Kerle. Carberry hob den schlaffen Sir William auf, hakte seine Pranke in den Gürtel der Schnapsnase und schleifte ihn hinunter zu den anderen. Als er an Hasard vorbeiging, der einen langen, prüfenden Rundblick riskierte, ehe er sich wieder bewegte, grinste der Prof os kurz und eisig. Der Seewolf erwiderte dieses seltsame Lächeln und deutete über die Schultern. „Es wimmelt von Indianerkanus", sagte er. „Wir sollten nicht herumtrödeln." Er sprang hinunter auf die Kuhl. Big Old Shane sagte: „Sechs sind tot, Sir." Hasard zeigte den Männern die Indianerkanus. Sie bildeten einen lokkeren Ring um die Galeone und die Schebecke und warteten. Aber sie waren voller bewaffneter Männer, die nicht im mindesten den Eindruck erweckten, als wollten sie die Weißen auf den beiden Schiffen zum fröhlichen Umtrunk einladen. „Nehmt ihnen die Waffen weg und werft sie über Bord", sagte Hasard, ohne lange zu überlegen. „Wir müssen den Indianern zeigen, daß es nicht nur Verbrecher unter den weißen Männern gibt. Los!" Es ging blitzschnell. Die Toten wurden entwaffnet und ohne viel Federlesens über das Schanzkleid gekippt. Als die Alligatoren ihre Köpfe hoben, die riesigen Kiefer aufrissen und ihre Furchen durch das dunkle Wasser zogen, stießen die Indianer ein trillerndes Geheul aus. Sir William blinzelte und hob den Kopf. Atkinson Greys Hände wurden vom Profos schnell und sicher gefesselt. „Ihr habt die Indianer überfallen",
sagte er grimmig und warf Jameson Kidd einen Blick zu, der selbst diesen abgebrühten Halunken erschreckte. „Das zweite Lager, dort drüben, das geht auch auf eure Rechnung?" Kidd senkte den Kopf. „Wer sind eure Anführer?" fragte der Profos. Die Jäger aus der Siedlung schienen nur langsam zu begreifen, welche Wende die Dinge genommen hatten. „Der da", sagte ein Bärtiger und zeigte zu Grey. „Und der dort auch", erklärte Rosebery, der ebenfalls gefesselt war. Seine Wunden schienen nicht schmerzhaft und auch nicht gefährlich zu sein. Die Indianer warteten noch immer. Die Kanus wurden mit wenigen Paddelbewegungen praktisch auf der Stelle gehalten. Die Alligatoren stritten sich lautstark um die Leichen und zogen sie hinunter in das dunkle Wasser in Ufernähe. „Wer? Der ehrenwerte Sir William Godfrey?" fragte Hasard ein wenig irritiert. Sir William richtete sich auf, gelangte mühsam auf die Füße und spuckte in die Richtung des Seewolfs. „Ja, ich! Wir haben Gold gesucht und gefunden. Und niemand stellt sich uns in den Weg, Mister. Ich werde Sie an jeder Küste bekämpfen und töten." Er schwitzte, auf seinen Lippen stand Schaum, und seine Finger, mit denen er nach etwas Unsichtbarem zu greifen schien, zitterten wie im Fieber, Der Seewolf fühlte, wie seine Wut dahinschwand. Der Mann da vor ihm befand sich an der Grenze des Wahnsinns oder hatte, sie bereits überschritten. „Ihr Maß ist voll, Godfrey", sagte Hasard kalt. „Ich hatte Sie gewarnt.
52 Sie haben gemordet und geplündert, die Indianer in Aufruhr versetzt und provoziert und damit das Unternehmen der Siedler in verantwortungsloser Weise gefährdet. Der Tod englischer Kinder, Frauen und Männer in der Siedlung im Norden geht auf Ihr Konto. Ich wurde von Ihrer Majestät beauftragt, den Schutz der Siedler zu übernehmen. Kraft dieses Amtes verurteile ich Sie zum Tode durch den Strang. Knüpft ihn an die Großrah! Profos, walten Sie Ihres Amtes!" „Aye, aye, Sir!" rief Edwin Carberry, packte William Godfrey und ließ sich von Batuti und Smoky helfen. Sie schleppten den schreienden, winselnden und um sich schlagenden Mann hinüber zu den Wanten, knüpften rasch eine Henkersschlinge und zwangen Sir William, mit ihnen aufzuentern. Ein paar Atemzüge später war alles vorbei. Godfrey schwang am Ende der Rah langsam hin und her und drehte sich. Wieder stießen die Indianer ihr heulendes Trillern aus. „Alle anderen werden unter Deck eingeschlossen", befahl der Seewolf in kühler Härte. „Alle! Wir übernehmen die Galeone und segeln beide Schiffe zurück zur Siedlung. Taffe und Gordon!" Die beiden empfingen von hinten einen Stoß und taumelten auf Hasard zu. „Von euch will ich später wissen, was ihr mit Toolans Leuten und den Siedlern angestellt habt. Los, es eilt, Leute!" An Deck der Schebecke war schnell aufgeklart worden. Die Riemen lagen bereit, alle Geschütze und Musketen waren neu geladen worden. Das Mißtrauen und die Wut der Indianer waren fast körperlich zu spüren. Jetzt hielten sie noch still, vermutlich des-
halb, weil die Ereignisse sie überrascht hatten. Sie verstanden nicht, warum sich die weißen Männer in ihrer Bucht gegenseitig bekämpften und töteten. Carberrys Entercrew schaffte die gefesselten Gefangenen unter Deck und schloß sie in den untersten Laderäumen ein. Sie lagen im Dunkeln, direkt über dem Steinballast der Bilge. „So", sagte Hasard kurz. „Das wär's. Ich denke, wir halten es ebenso wie bei Übernahme einer spanischen Schatzgaleone. Juan und Ben! Ihr übernehmt die Galeone, klar?" „Klar, Sir", erwiderte der Erste. „Wir kommen mit dem schwimmenden Gerümpel schon zurecht." Er wandte sich an die Crew. „Ihr könnt gleich damit anfangen. Und ich versuche, mit den Indianern zu sprechen." Don Juan nickte und stieß ein Gelächter aus. „In welchem Dialekt?" Taffe und Gordon, die ans Schanzkleid gefesselt waren, grinsten ebenfalls. Niemand beachtete sie. Aber schon bewegten sich die Seewölfe über das Deck und klarten auf. Im Achterschiff kontrollierten sie schnell und gründlich, ohne sich irgendwo aufzuhalten, die Kammern des Kapitäns und der Offiziere. „Das wird sich zeigen", antwortete der Seewolf. Er spannte die Hähne des Drehlings und ging auf die Gefangenen zu. Die Indianer trieben ihre Boote langsam und lauernd auf die Schiffe zu. Die Nachmittagssonne ließ die vielen kräftigen Farben grell aufleuchten. „Ich hoffe, ich kann die Rothäute überzeugen. Auch ohne kluge Reden. Oder könnt ihr ein paar indianische Brocken?" Er wandte sich an die beiden Jäger der Crew, die so viel Wild für die
54 Seewölfe und die Siedler geschossen hatten. „Ein paar Worte", antworteten Batuti und Big Old Shane. „Vielleicht solltet ihr mitkommen", meinte Hasard. Inzwischen ordneten vier Seewölfe das laufende Gut, die anderen stöberten unter Deck. Bob Grey erschien aus der Offizierskammer und hielt eine Seemannskiste in den Händen. Er sagte aufgeregt: „Ich weiß nicht, wer in der Kammer gehaust hat. Aber das hier habe ich gefunden." „Der Adelige war's, der Angeber", sagte Taff leise. Hasard nickte. Vierzehn Männer, in Fesseln und teilweise verwundet, waren noch übrig. Er würde kein Risiko eingehen und ließ sie unter Deck. Erst einmal weg aus dieser Bucht, sagte er sich, dann sehen wir weiter. Wenn er fünfzehn oder sechzehn Mann auf der Galeone ließ, würde das genügen. Leise besprach er mit Don Juan und Ben Brightön , wer noch auf der „Explorer" mitsegeln sollte. Dann winkte er dem Gambiamann und Old Shane. „Vorwärts! Wir geben den Indianern das Gold zurück." Seine Leute brachten aus allen Teilen des Schiffes die Beute. Meist befanden sich Goldkörner in fein gearbeiteten Ledersäckchen. Dazu gesellten sich glänzende Amulette oder Schmuckstücke. Die Säckchen und die Talismane hingen alle an dünnen Lederschnüren. Hasard packte das Zeug und wickelte sich die Schnüre um den Unterarm. Batuti deutete nach Backbord und sagte: „Da sitzt ein alter Mann mit großem Schild und einer Streitaxt. Wenn du Glück hast, ist das der Häuptling, und er hat gute Laune."
Hasard hoffte, daß die Indianer richtig erkannten, was hier vorging. Die Männer in den großen Kriegskanus versuchten, mit beiden Schiffen die Bucht zu verlassen. Er schwang sich, die Seemannskiste unter dem Arm, über das Schanzkleid und enterte die Jakobsleiter ins Beiboot ab. Mit kurzen Blicken überzeugte er sich, daß ihm seine Männer nötigenfalls Feuerschutz geben würden. Batuti und Big Old Shane folgten ihm. Im Heck stellte sich der Seewolf breitbeinig hin und zeigte in Richtung des Häuptlingskanus, was er in der Faust hielt. Dann winkte er dem alten Mann mit dem weißen Haarschopf in der Mitte des kantigen Schädels zu. Wortlos packten der Gambiamann und Big Old Shane die Riemen und pullten los. „Wenn das nur gut geht", brummelte der Riese Old Shane. „Nicht, daß ich die Pfeile fürchte, aber unheimlich sind sie schon, die Paddler." „Und vor allem sind es so viele", sagte Batuti, der die Schultern krümmte und jeden Moment einen Pfeil oder Speer im Rücken zu erwarten schien. Hasard hielt die Pinne mit den Schienbeinen fest und federte in den Knien. Tatsächlich löste sich das einzelne Kanu aus dem Verband und glitt schnell heran. „Halt", sagte der Seewolf und setzte ein freundliches Lächeln auf. „Ihr müßt freundlich bleiben, verstanden?" Ihre Muskeln spannten sich, als sie zu pullen aufhörten und die Riemen zum Heck trieben. „Klar", murmelte Batuti heiser. „Großer Häuptling", sagte der Seewolf so ruhig und langsam wie möglich, denn seine Worte sollten beschwichtigend klingen, auch wenn sie
55 niemand verstand. „Hier ist das geraubte Gold." Das schmale Kanu aus Holz, Rinde und Leder glitt heran und wurde mit ein paar hart eingesetzten Paddelschlägen gestoppt. Die sechs Ruderer starrten die beiden Weißhäutigen und den Schwarzen mit versteinerten Gesichtern und aus dunklen, großen Augen an. Der Schweiß hatte die farbigen Linien auf den Körpern und Gesichtern verlaufen lassen. Die Krieger wirkten wie dämonische Wesen, aber der Sonnenschein des späten Nachmittags verwischte diesen Eindruck. „Wir bringen dir das Gold zurück", sagte Hasard betont ruhig und beugte sich weit über die Bordwand. Die einzelnen Beutel fielen vor dem Alten im Heck aus den Fingern des Seewolfes. Als er die Kiste übergab, mußte der Alte mit beiden Händen zupacken. Er ließ seinen Blick nicht von Hasards Gesicht und wirkte gelassen und selbstbewußt. Aber sein Blick blieb stechend scharf und abweisend. Hasard deutete, sich halb umwendend, auf die Schiffe und fuhr fort: „Dieses Schiff, das andere Schiff, wir alle", er führte entsprechende Gesten aus, „segeln aus der Bucht und hinaus aufs Meer." Der Häuptling sagte ein Wort, das wie „Hau" klang und nickte. Hasard zeigte zur Sonne und beschrieb ihren Weg über den Himmel. Dann gab er zu verstehen, daß die Schiffe die Bucht verlassen würden, bevor die Sonne den Horizont berührt hätte. „Hau", lautete wieder die Antwort, und auch ein paar der Krieger nickten zustimmend. Hasard breitete die Hände aus, zeigte die leeren Handflächen und hob die rechte Hand zu einem Gruß.
Dann griff er langsam nach dem Bordrand des Kanus, stieß es sachte vom eigenen Boot weg und setzte sich neben die Pinne. „Pullt an", sagte er und winkte mit der rechten Hand. „Ich glaube, wir haben das Gröbste hinter uns." „Sieht so aus, Sir", brummte Batuti erleichtert. Die Blätter der Riemen tauchten ein und schoben das Beiboot in einem engen Kreis herum und auf die Galeone zu. Die Indianer hatten also doch verstanden, was Hasards Gesten und der vorangegangene Kampf bestätigten: es gab gute und böse Weiße, und die Arwenacks waren - hoffentlich! - als die „guten" anzusehen. Der Seewolf warf nur einen einzigen Blick auf den baumelnden Sir William, dann zuckte er mit den Schultern und sagte: „Die Riemen nehmen wir an Bord. Das Beiboot wird natürlich nachgeschleppt." „Natürlich. Für die paar Seemeilen", entgegnete Big Old Shane. Sie pullten um das Heck der Galeone herum, legten neben der Schebecke kurz an und übergaben die Vorleine an Don Juan, der das Boot, nachdem er die Riemen übernommen hatte, im Heck sauber belegte. Vom Grätingsdeck aus schaute Hasard zur Siedlung. Einige Kanus wurden zum Ufer gepaddelt. „Also, Freunde, die Lage hat sich offensichtlich entspannt", sagte er. „Wann könnt ihr ankerauf gehen?" Am Schanzkleid der Galeone lehnten Ben Brighton, Don Juan und Carberry. „In einer halben Stunde", erwiderte Ben. „Wir haben die beiden Kerle ausgehorcht. Die Halunken, die wir aus der Siedlung gescheucht hatten, fanden einige Mitläufer unter den Siedlern und versprachen ihnen das
56 Blaue vom Himmel und überreiche Beute. Sie überwältigten Toolan und seine Leute, nahmen ein paar Geiseln, booteten die Crew aus und warfen nach dem Lossegeln die Geiseln in Ufernähe über Bord. Dann zogen sie plündernd von einer Siedlung zur anderen. Die Rothäute haben sich vorher schon in Sicherheit gebracht." „Das Strafgericht wird stattfinden", versicherte der Seewolf überaus deutlich, „wenn die Kapitäne miteinander beraten können. Paßt gut auf die Burschen auf. Sie sind zu allem bereit. Sie wissen, daß sie in ein paar Tagen baumeln." „Keine Sorge, Sir. Ich lasse Wachen aufziehen." „Schneidet den toten Halunken ab, sobald wir aus der Bucht draußen sind", sagte Hasard und sah zu, wie die Segel gesetzt wurden. „Wir versuchen, ohne die Riemen auszukommen. Wenn nicht, dann pullen wir, und ihr laßt euch vom Beiboot schleppen." „So halten wir es", antwortete Don Juan. „Mal sehen, aus welcher Richtung der Abendwind weht. Klar zum Ankerhieven, Freunde!" „Aye, aye!" Die Leinen flogen los, und Handbreite um Handbreite drifteten die Bordwände auseinander. Der kaum spürbare Wind drückte die Schebecke langsam von der Galeone weg. Dies änderte sich auch nicht, als sie aus dem Windschatten des Rumpfes gelangten. Aber jetzt hatten sie es nicht mehr eilig. An Deck der „Explorer" knarrte bereits das Gangspill. 6. Während die Schebecke mit schwacher Fahrt aus der langgezogenen
Bucht segelte und versuchte, die kaum spürbare Strömung eines unsichtbaren Flusses auszunutzen, klapperten unter Deck die Töpfe und Pfannen. Der Kutscher befand sich auf der Galeone. Er hatte sich sogar freiwillig bereit erklärt, seine Kameraden nicht verhungern zu lassen. Susan Fletcher half Mac Pellew, und zur Verbesserung der Stimmung hatte Hasard eine Lage Wein austeilen lassen. Aber die Seewölfe blieben wachsam. Die Lunten qualmten noch und befanden sich in der Nähe der schußbereiten Culverinen. „An ihrer Stelle wäre ich auch mißtrauisch, Dad", sagte Hasard junior und meinte die rund fünfzehn Kanus, die zu beiden Seiten des Schiffes ebenso langsam zwischen den Inseln, Sandbänken und dem Ufer entlanggepaddelt wurden. In der Siedlung rauchten bereits die ersten Feuer, die geflüchteten Bewohner waren zurückgekehrt. „Ich auch", antwortete Hasard und legte Little John den Arm um die Schulter. „Und du hast schon viel mehr gesehen als jeder andere in deinem Alter." Die Augen des jungen Fletcher leuchteten, als er antwortete: „Ich habe mir nie vorstellen können, Sir Hasard, daß es das alles überhaupt gibt. Und heute, dieser Kampf und die Indianer - ich glaube, ich träume, Sir." Auch der Vierzehnjährige hatte einen Schluck Wein empfangen. Seine Wangen leuchteten unter der gesunden Farbe, die er angenommen hatte. Immer wieder irrte sein Blick ab und richtete sich auf die halbvollen Köcher, die Bögen und den seltsamen Kopfschmuck der Küstenindianer.
57 „Du hast ebensowenig wie wir geträumt", sagte Hasard zurückhaltend. „Es sind wieder einmal Menschen getötet worden, weil andere davon überzeugt sind, daß es für sie keine Gesetze und keine Anständigkeit gäbe. Das ist eine Lehre dieses Nachmittages." „Daß du das Gold zurückgegeben hast, war richtig", sagte Dan und blickte sich um. Die Segel der Galeone wurden sauber und ohne Wuhling gesetzt, der Anker hing gekattet an Steuerbord. Auch die Galeone lief schwache Fahrt. Der Gehenkte an der Rah schaukelte heftig hin und her. Wahrscheinlich hatte die Ebbe vor kurzer Zeit eingesetzt, denn jetzt fühlten die Seewölfe, wie die Schebecke besser dem Ruder gehorchte und schneller zu werden schien. „Erinnere dich an den Kurs vom Einlaufen!" rief Hasard Pete Ballie zu, der die Pinne übernommen hatte. „Genau in der Mitte bleiben." „Weiß ich, Sir." „Dann ist es ja gut. Das Gold gehörte den Indianern", setzte Hasard hinzu und lehnte sich nur halb entspannt zurück. Falls sie etwas unternahmen, das die Krieger falsch verstanden, würden die nicht zögern, ihre Bögen einzusetzen. „Na ja, ich hätte schon Verwendung dafür gehabt", meinte Dan O'Flynn und überlegte, ob er das Innere dieser Bucht später aus dem Gedächtnis würde zeichnen können. Die Sonne berührte blutrot die Kimm, das Wasser färbte sich schwarz. „In der kurzen Zeit haben die zwei Dutzend Galgenvögel ganz schön was eingesackt, wie?" „Ich bin darüber erstaunt", erwiderte Hasard, während Little John aufgeregt zuhörte, „denn Gold gilt
hier höchstwahrscheinlich nicht als Zahlungsmittel. Das Einsammeln dürfte ziemlich mühselig sein. Aber das Metall ist leicht zu bearbeiten. Das hast du an dem Schmuck sehen können. Das gleiche würden die Rothäute auch mit Kupfer anstellen." „Das dachten sich auch Godfrey und seine Diebe", setzte Little John hinzu und hörte, wie sein Magen knurrte. „Wenn wir nicht erschienen wären, Sir." Hasard hob die Schultern und antwortete so gut er konnte. „Wahrscheinlich hätten die Indianer immer wieder angegriffen. Es geht um ihre Siedlungen. Mit sehr viel Glück wäre die Crew besiegt worden. Ich wundere mich, warum kein einziger Brandpfeil flog. Das Schiff wäre verloren gewesen." „Und die Männer auch", stimmte Dan zu. „Ein neues Gemetzel. Aber vorher hätten die Schurken noch viele Indianer getötet." „Als Folge werden die Indianer in Zukunft jedes Schiff, das sie sehen, mit blinder Wut angreifen. Das steht für mich fest", erklärte der Seewolf. „Jeder von uns würde nicht anders handeln. Nur können ihre Waffen nicht viel ausrichten. Ich würde die Schiffe der Weißen nur nachts und mit Brandpfeilen überfallen. Aber ich bin ja kein Küstenindianer." Er leerte den Becher und reckte sich. Aus Westen wehte ein warmer, aber deutlich spürbarer Wind. Die Segel killten mit flappenden Schlägen, das Tauwerk ächzte. „Eigentlich hatte ich damit gerechnet", sagte Dan O'Flynn, „daß wir in der äußersten Bucht vor Anker gehen." Hasard schüttelte den Kopf. „Wir segeln. Es ist besser für Ben Brightons kleine Crew."
58 „Einverstanden." Die Kanus begleiteten die Schiffe den langgezogenen Sund, umrundeten mit ihnen auch die Landspitze und fuhren, als die große Bucht erreicht wurde, schräg auseinander. In der einsetzenden Abenddämmerung schienen sich die Jäger in der Nähe der Ufer verstecken zu wollen. Als die Galeone um die Felsen bog, sahen Hasard und seine Mannen, daß William Godfrey nicht mehr an der Rah hing. Die Laternen wurden gesetzt. Als die Schebecke durch die Passage rauschte, befand sie sich schon im starken Sog der ablaufenden Ebbe. Die Seewölfe winkten zu den Kanus hinüber, aber da winkte niemand zurück. Als die Galeone ebenfalls das freie Wasser erreichte, lockerte sich die Spannung an Bord. Beide Schiffe gingen in einem weiten Viertelkreis auf Nordkurs.
„Daß Grey und seine finsteren Genossen den letzten Rest Brandy und Wein ausgesoffen haben, das ist mehr als traurig", sagte der Erste erbittert. Don Juan lachte nur. „Hast du etwa erwartet, daß sie Toolans Geheimvorräte nicht finden? Oder sie aus Ehrfurcht und Anständigkeit unangetastet lassen?" fragte er sarkastisch. „Das war wohl nicht zu erwarten", gab Ben zu. Die beiden Laternen vorn und achtern brannten hell. Weit draußen auf dem Atlantik reichte der Wind aus Süden für gute Fahrt. Steuerbord voraus waren die Lichter der Schebecke deutlich zu sehen. Nordkurs lag an. Die weiten Wellen hoben und senkten das rundbauchige Schiff mit seinem gefährlichen Inhalt.
„Diese Indianer", sagte Ben Brighton nach einer Weile, „haben wohl noch nie solche Schiffe wie unsere gesehen." „Und keine Geschütze erlebt", ergänzte Don Juan. „Das wird für die Naturkinder am erschreckendsten gewesen sein. Feuerrohre, aus denen metallener Tod kommt. Schnell wie der Blitz, laut wie der Donner." „Auch für diese Eingeborenen fängt so etwas wie ein neues Zeitalter an. „Auf die unangenehmste Art, wenn wir an die letzten Stunden denken." „Leider", murmelte Ben Brighton. Sie schwiegen, schauten zu den Sternen auf oder beobachteten den Mond, der sich hinter der Kimm hochschob. An Deck gab es kaum Bewegung. Die kleine Crew hatte so gut wie möglich aufgeklart und hielt zur Hälfte Freiwache. Die Vorräte erlaubten nur eintönige Mahlzeiten. Der Kutscher hatte die Sauerei in der Kombüse verflucht. An die Gefangenen waren Schiffszwieback und Wasser verteilt worden. Es gab sogar einigermaßen saubere Tücher, mit denen der Kutscher die Wunden verbunden hatte. Keine davon war lebensgefährlich. „Ich nehme meine Freiwache. Einverstanden, Juan?" „Geht in Ordnung, Ben", erwiderte der Spanier. „Ich bin in der weniger unordentlichen Offizierskammer." „Klar." Drei Tage würde es bei gleichbleibendem Wind dauern, bis sie die Siedlung erreichten. Die Männer dachten daran, welche Sorgen Toolan und Drinkwater plagten. Kapitän Amos Toolan mußte zu diesem Zeitpunkt sicher annehmen, daß er sein Schiff verloren und keine Chance mehr hatte, es jemals wiederzusehen.
59 Jetzt würde er vor Wut und Enttäuschung keinen Schlaf finden, aber in siebzig Stunden würde er sich wieder freuen können. Obwohl die Seewölfe die Küste mit ihren unzähligen Buchten gut zu kennen glaubten, hielt die Nacht über die Wache immer wieder die Spektive ans Auge. Vielleicht gab es doch ein Feuer an dieser leeren Küste.
Als Blacky aufwachte, war er zwar noch schläfrig, aber seine Ohren arbeiteten schon wieder mit der gewohnten Zuverlässigkeit. Das Nagen der Ratten hatte ihn geweckt. Er blieb in der Finsternis ruhig liegen, spürte die wiegenden Bewegungen der Galeone in den Atlantikwellen und lauschte einige Atemzüge lang auf das reibende Knarren des Geschirrs. An Bord schien alles ruhig zu sein bis auf die verdammten Ratten. Tief unten im Schiff nagten sie mit einer wahren Besessenheit. „Da soll sich doch Toolan selbst später drum kümmern", murmelte er gähnend. Er lag im Batteriedeck auf einer Unterlage aus Decken und Mänteln, die von den Aussiedlern stammten. Er drehte sich zur Seite und wollte versuchen, weiterzuschlafen. Weder durch die Planken noch am Niedergang war Licht zu sehen. Aber die Ratten hörten nicht auf. Jetzt gab es ein scharfes metallisches Geräusch. „Verfluchte Biester", sagte Blacky, richtete sich auf und stieß mit dem Kopf gegen einen Spant. Jetzt war er völlig wach. Er verbiß den Schmerz, wartete, kroch zum Niedergang und tastete sich mit Händen und Füßen
über die Stufen hinauf. Als sich seine Augen an das Halbdunkel an Deck gewöhnt hatten, tappte er entlang des Schanzkleides bugwärts, bis er den Abtritt erreichte. Nachdem er sich erleichtert hatte, suchte er Don Juan achtern und fand ihn, wie erwartet, auf der obersten Stufe des Niederganges sitzen. „Die Ratten, Juan", brummte Blacky und gähnte. „Sie vollführen einen Höllenlärm und wühlen im Werkzeug der Siedler. Ich hörte es klirren." Der Spanier zupfte an seiner Nase und fragte zurück: „Ratten? Bist du sicher, daß es Ratten sind, Blacky?" „Was sonst?" Don Juan war nicht sonderlich beunruhigt, als er entgegnete: „Hast du vergessen, daß wir vierzehn Gefangene haben? Wo hast du geschlafen?" „Geschützdeck an Backbord. Beim Bugankerspill." Don Juan lachte leise. „In der Last darunter sind die Bastarde eingesperrt. Und zwar seit acht Stunden." Jetzt verstand Blacky, daß er sich, die Ratten betreffend, womöglich irrte. Er sagte sich, daß sie alle Handfesseln trugen und in einem Laderaum lagen, der keinerlei Waffen enthielt. In der Nacht, wenn die Freiwache schnarchte, war die eindeutig günstigste Zeit für einen Überfall, denn was hatten sie noch zu verlieren. Die Männer um Atkinson Grey und Davenport? Langsam richtete sich Blacky auf und murmelte: „Sehen wir nach, Juan?" „Natürlich. Aber wir werden nicht so dumm sein, Lärm zu veranstalten oder unbewaffnet anzutreten. Geh nach unten und wecke Ben und Carberry auf. Wir brauchen ein paar geladene Pistolen. Laß Grey ruhig denken, daß er klüger als wir sei."
60 Im zuckenden Licht der Hecklaterne stieg Blacky ins Achterdeck, fand Ben und Carberry schlafend und weckte sie auf. „Diese Affenärsche", grunzte der Profos. „Hier ist nichts zu hören von von Ratten." „An Deck auch nicht", erklärte Blacky und schob zwei geladene Pistolen in den Gürtel. Carberry schnallte sich den Gurt um und prüfte seine Waffe, ehe er sie einsteckte. Dann nahm er die Tranlampe vom Haken und schob den Docht höher. Die Kammer füllte sich mit Helligkeit. „Leise. Wir müssen die Hundesöhne überraschen", sagte er. „Langweilig ist es dem Grey geworden. Nicht mit uns, Freunde." Ben Brighton trat aus der Kammer, rieb sich die Augen und war vollständig bewaffnet. Auf der Kuhl winkte Bob Grey. „Los!" Fünf Mann versammelten sich auf der Kuhl. Carberry hängte die Lampe ins Tauwerk und brummte: „Sicher ist sicher. Fünf gegen vierzehn Marodeure - ein schlechtes Verhältnis. Den Kutscher lassen wir schlafen, sonst taugt sein Fraß morgen nichts. Sam. Her zu uns!" Roskill glitt aus der Dunkelheit heran. „Hier. Was gibt's?" Brighton wandte sich an ihn und erklärte kurz. Dann sagte er: „Hole noch Jan und Mac. Ich denke, die Kerle sind inzwischen alle ohne Fesseln. Und sie haben nur ein Schott, das sie von innen öffnen könnten. Habt ihr Waffen?" „Aye, Sir", flüsterten Mac O'Higgins und Jan Ranse, die bereits erschienen waren. Eine zweite Funzel wurde gebracht,
dann schlichen die Männer auf Zehenspitzen und mit angehaltenem Atem schweigend zum Niedergang und hinunter in den muffigen Bauch der Galeone. Sie passierten die Kombüse, in der es nach saurem Wein und erkaltetem Feuer stank und enterten zum untersten Backbordladeraum ab. Je mehr sie sich dem verschlossenen Schott näherten, desto lauter wurde das Scharren und Nagen der „Ratten". Edwin Carberry schob sich an Don Juan vorbei und baute sich vor dem Schott auf. Er befestigte die Funzel rechts in einer Vertiefung und zeigte auf den Querriegel. Die Seewölfe drängten sich zusammen und spähten über die Schultern des Vordermannes. „Gar nicht dumm", hauchte Blacky. Eine lange, blitzende Messerklinge schob sich in einer halb fingerbreiten Spalte aufwärts und abwärts, verkantete sich und schabte lange Späne aus dem Holz. Die obere Grenze der Bewegungen bestand aus dem Kantholz, das sich um einen Zapfen drehte, und in zwei massive eiserne Winkel eingerastet worden war. Wenn der Spalt breit genug war, konnte das Schott nach innen angezogen werden. Dann lockerte sich der Sitz des wuchtigen Sperrbalkens, und mit einem Werkzeug würde von innen die Drehung eingeleitet werden. In einer knappen Stunde hätten sie es geschafft. Ein Werkzeug aus den Habseligkeiten der Siedler würde das Holz aus den eisernen Zungen gleiten lassen. Ben Brighton wandte sich mit einem grimmigen Lächeln wispernd an die Seewölfe: „Wollen wir sie weiterschnitzen lassen?"
61 Der Gefangene, der mit dem Messer schuftete, schien abgelöst zu sein. Sekunden später zuckte die Klinge wieder hervor, und die schabende Arbeit begann erneut, mit größerer Kraft. Don Juan schüttelte energisch den Kopf. „Es sind gefährliche Burschen. Waffen klar. Wir gehen kein Risiko ein, Ben." Ben und er schoben sich an beiden Seiten des Schotts nach vorn und stemmten sich gegen die Bohlen. Das Holz bekam mehr Spiel im Eisenwinkel, und mit einer Hand, langsam und lautlos, hob der Spanier den Sperrbalken an und drehte ihn bis in die Senkrechte. Dann schoß Carberrys Pranke vor, während die beiden Männer im engen Gang zurückglitten und die Hähne der Waffen spannten. Carberry riß mit einem einzigen Ruck das Schott auf. Drei Augenpaare blinzelten geblendet ins Licht, ein stechender Gestank schlug den Seewölfen entgegen. Ben Brighton feuerte einen Lauf seiner Waffe in die Dunkelheit und über die Köpfe der drei Kerle. Grey, Kidd und ein Siedler kauerten vor der Tür. „Zurück!" donnerte Carberry. Sein Arm zuckte hinunter, als er sah, was Jameson Kidd vorhatte. Der Lauf der Pistole traf die Hand, die das Messer schleuderte. Das Messer klirrte, überschlug sich und bohrte sich mit dumpfem Laut vor Jan Ranses Stiefelspitze in den Boden. Keiner der drei trug Fesseln, wie erwartet. Eine einzige, schnelle Bewegung, und Don Juan zog den Siedler in den Gang hinaus, bog seinen Arm auf dem Rücken in den Nacken und hielt das kalte Metall gegen den Hinterkopf des Mannes.
„Aufhören, ihr falschen Ratten", sagte er hart. „War gut gedacht, Grey, aber wir waren wachsam." Sam und Blacky zogen die Enden aus dem Gürtel und fesselten Hände und Füße des Siedlers. „Raus mit dir", schnappte Carberry, riß den enttäuschten Anführer am Gürtel zu sich heran und hob ihn ruckhaft an. Der Schädel Greys donnerte gegen die Planken, der Mann schrie würgend auf. Jan Ranse zog das Messer aus dem Holz und hob die Laterne. „Genug Pistolenkugeln für jeden von euch"; sagte er kalt. „Rührt euch nicht, wenn ihr noch etwas länger leben wollt." Auch Grey wurde sorgfältig verschnürt. Die Kerle schwiegen vor Enttäuschung. Im Hintergrund sahen die Seewölfe undeutlich die drei Verwundeten liegen. Sie waren zu schwach, um sich an dem Ausbruch beteiligen zu können, aber auch ihre Fesseln waren sauber durchtrennt. Carberry, Bob Grey mit zwei gezückten Stiletts und Blacky schoben sich in den Laderaum. Sie schauten sich gewissenhaft um. Die Habseligkeiten der Siedler, nur drei oder vier Ballen, waren aufgerissen und zerwühlt worden. In der Finsternis schienen die Marodeure die richtigen Werkzeuge ertastet zu haben. „Blacky! Sammle das Zeug ein", ordnete Ben an und schnitt ein neues Stück vom kräftigen Garn ab. „Es gibt keine zweite Chance für die Kerls." Blacky antwortete nicht und kroch zwischen den Bündeln herum. Er konnte es den Männern im Grunde nicht verübeln, wenn sie versuchten, sich zu befreien. Keiner der Seewölfe hätte - und hatte - sich im vergleichbaren Fall anders verhalten. Aber we-
62 gen solcher Vergehen und Verbrechen wie die Marodeure wäre keiner eingesperrt worden. Das war der grundlegende Unterschied. Er packte alle herumliegenden Werkzeuge und Gegenstände in eine Decke und schleppte das Bündel hinaus. Inzwischen waren die Verwundeten wieder gefesselt worden, zusätzlich auch noch an den Knöcheln. „Euch wird's böse ergehen", murmelte Davenport gebrochen. „Ihr macht einen Fehler, der euch bei Hofe den Kopf kosten wird." „Jawohl, Mister Gouverneur", entgegnete Ben Brighton in gemütlichem Tonfall. „Das werden wir bei Hofe erörtern. Aber dann werden Eure Lordschaft nur als toter Zeuge aussagen, klar?" Carberry versetzte Spencer Taffe, der sich wütend wehrte, einen Profoshammer mit halber Kraft, denn der Kahlköpfige würde sonst die nächsten Meilen nicht überleben. Der Stückmeister sackte zusammen und wurde sorgfältig gebunden. „Gehenkte Zeugen sind nämlich tote Zeugen", versicherte Sam Roskill mit unumstößlicher Logik. „Schuften müssen wir auch noch", beschwerte sich Mac O'Higgins und schleppte höchst unsanft einen Gefangenen tiefer in den Laderaum. Minuten später befanden sich alle vierzehn Männer, bewußtlos oder nicht, in jedem Fall von Fachleuten verschnürt, wieder auf den harten Planken des leeren Laderaumes. Ein paar Decken und gefaltetes Segeltuch, unter dem Blacky gesucht, aber nichts gefunden hatte, bildeten den einzigen Komfort der Gefangenen. „Alles klar, Ben?" fragte der Spanier und ließ vorsichtig die Hähne der Pistolen zurückschnappen. „Sieht so aus", antwortete der Erste
und richtete sich auf. Sein Kopf stieß fast an einen Decksbalken. „Diesmal werden wir sie nicht herausfordern. Hast du das Zeug, Ed?" Das Schott krachte zu. Der Schließbalken drehte sich im Viertelkreis und schob sich unter die schweren Eisen. Der Profos hatte sich von Blacky einen Krampen und einen Hammer geben lassen und trieb mit wenigen dröhnenden Schlägen das Eisen ins Holz. „Das sitzt", sagte er zufrieden. Von innen würde man das Schott nur mit einem Culverinenschuß aufsprengen können. Von draußen genügte ein eiserner Hebel, um die Klampe herauszuziehen. Vielleicht versuchten es die Gefangenen noch einmal, aber ihre Lage war aussichtslos. Ben Brighton nickte und deutete über die Schulter. „Fluchtversuch vereitelt", sagte er. „Und die Nachtruhe ist beim Teufel. Blacky, hast du noch etwas Trinkbares gefunden?" Nacheinander verließen sie in der langen Prozession den Gang und enterten an die frische Morgenluft an Deck. Noch standen Sterne in der Schwärze des Firmaments. „Bin selbst darüber verwundert", antwortete Blacky. „Es sollte eigentlich eine Überraschung für euch werden. Aber einer der Offiziere hatte ein Fäßchen Xereswein in der Proviantlast versteckt. ,Salz' stand darauf. Und es sah auch wie ein Salzfaß aus. Ich werde gleich servieren, Freunde." Eine Lampe wurde gelöscht, die andere baumelte am Großmast. Die Seewölfe sicherten die Waffen, rieben sich den letzten Schlaf aus den Augen und wuschen Gesichter und Hände im Süßwasser, das in einem halbleeren Faß am Mast schwappte.
63 „Und bringt dem Rudergänger auch etwas zu trinken!" rief Carberry. „Er hat's verdient." Blacky näherte sich mit einem Tuchbündel, in dem die Becher klapperten. Wie sich zeigte, hatte er geschickt das Fäßchen geöffnet. Die Seewölfe lehnten am Mast, am Schanzkleid oder hockten auf den Planken und genossen den starken Wein in winzigen Zügen. Nach einer Weile fragte der Erste: „Und was lernen wir aus einem solchen Zwischenfall? Daß ich eine Wache vor dem Schott hätte zurücklassen sollen. Spricht nicht für meine Erfahrung mit tüchtigen Schurken." „Seit seinem Inselspringen hat Blacky einen leichten Schlaf", sagte Bob Grey und musterte prüfend die Stellung der Segel. Die Galeone segelte unter straffen Segeln am Großmast, auch beide Vormastsegel standen gut. Bei Tagesanbruch würde der Wind, der die Nacht über zuverlässig gewesen war, sicher wieder schwächer werden. „Vergiß es, Ben", tröstete ihn der Spanier. „Das passiert auf den besten Schiffen. Denke an den verdammten
Granville, den die drei Adeligen auf der Schebecke befreit haben." „Ich denke daran, wie wenig er davon schließlich hatte", sagte Carberry und leerte den Becher. Wortlos hielt er ihn in Richtung Blackys. „Gar nichts", erklärte Blacky. „Ich meine, Granville hatte gar nichts von seiner Freiheit." „Aber genug Wasser hatte er. Atlantikwasser", schloß Mac O'Higgins dieses traurige Kapitel ab. Er leckte seine Lippen und setzte den Becher an. Die Seewölfe schwiegen und dachten an einige sorgenlose Tage und Nächte in den warmen Gewässern der Karibik. Aber solange die Siedler nicht an einem sicheren und fruchtbaren Stück Küste ausgebootet und mit dem Nötigsten versorgt, bevor nicht die Laderäume der Galeonen leer waren, brauchten sie an die Palmen und Sandstrände gar nicht erst zu denken. Diesem Ziel waren sie aber doch einen großen Schritt nähergerückt. Bug- und Hecklaterne der Schebecke blinkten von Backbord voraus durch die Dunkelheit. Im Osten
64
zeigte sich ein schmaler grauer Tagesstreifen an der Kimm. Die Sterne verschwanden, einer nach dem anderen. Noch immer war die Küste schwarz, abweisend und menschenleer. Aber dort, wo sich Indianer befanden, stellte sie eine tödliche Zone dar.
„Wenn wir diesen feinen Wein ausgetrunken haben", sagte der Erste, „werden wir uns mit Hasard darüber unterhalten, wie der nächste Tag aussehen soll." Sie wußten, daß es darüber keine Gewißheit gab. Weder an Land noch auf See. Schon gar nicht, wenn gefangene Verbrecher an Bord lauerten .. .
Nächste Woche erscheint Seewölfe Band 636
Die Marodeure von Sean Beaufort Es war nach menschlichem Ermessen nahezu unmöglich, aus einem verschlossenen Laderaum auszubrechen, es sei denn, man faßte einen so selbstmörderischen Plan wie Atkinson Gray, nämlich den Laderaum in Brand zu setzen und darauf zu spekulieren, daß die Seewölfe keinen ihrer vierzehn Gefangenen verbrennen lassen würden. Und so war es auch. Die Arwenacks stürzten sogar in den brennenden Laderaum und bargen die hustenden oder zum Teil schon bewußtlosen Kerle aus dieser verqualmten Hölle. Und sofort rückten sie mit Pützen voller Seewasser dem Brand zu Leibe - nicht ahnend, daß die Schnapphähne nur darauf lauerten, von Bord der »Explorer« verschwinden zu können. Denn kaum hatten sie wieder Frischluft in den Lungen, da brachen sie zum Oberdeck durch und stürzten sich über Bord . . .
ex libris
KAPTAIN STELZBEIN 2011
Printed in Germany. Juni 1988