KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANZ PLANER
SCHICKSALE UM MENSCH...
54 downloads
593 Views
892KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
FRANZ PLANER
SCHICKSALE UM MENSCH UND WERK
V E R L A G S E B A S T I A N LUX MURNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • ÖLTEN
„Ich bin der Sohn eines Kohlenarbeiters!"
GEORGE STEPHENSON Am Eingang zu den Stollen der Kohlenwerke des Lords Ravensworth standen ein paar Arbeiter und sahen besorgt auf den Förderkorb. Die Maschine, die ihn betätigen sollte, war in Unordnung. Vergeblich versuchten die Leute, von denen sich jeder heimlich für einen Sachverständigen hielt, sie wieder zur Vernunft zu bringen. Schließlich sagte einer: „Man muß John holen, er ist der einzige, der etwas davon versteht. Er wird sich zwar wieder gebärden wie der Hahn auf dem Mist, der aufgeblasene Bursche, aber was sollen wir tun? Wir finden doch nicht heraus, wo der Schaden liegt." „ L a ß t mich's nochmals versuchen", schlug ein anderer vor, „vielleicht gelingt's mir. Es ist sicher nichts! Man "braucht nur die Stelle herauszufinden, an der man das Ding streicheln m u ß . " Aber alles Streicheln und Herumprobieren half nichts. Der Mann prüfte die Halteseile, untersuchte die Zahnräder, beklopfte die Achsen. Vergeblich — er gab es auf. • „Ich finde nichts", sagte er. „Es wird nicht ohne John gehen." Einer machte sich auf den Weg und rief in alle Richtungen: „John, J o h n ! " Aus einer entlegenen Halle antwortete jemand: „ E r ist nicht da. John ist vor einer Stunde nach Hause gegangen." Schöne Bescherung! John war nicht da, und der Aufzug 6 ' n 8 nicht. Betreten sahen die Arbeiter einander an. Da meldete sich ein schmächtiger Junge, der kaum älter war als 12 Jahre, ein Bleichgesicht, verlegen, leise und ein bißchen stotternd: „Darf ich's probieren?" Die Männer wußten nicht, ob sie sich ärgern oder ob sie lachen sollten. i I „George will den Aufzug reparieren", spöttelte einer, der sich zum Lachen entschlossen hatte; jetzt lachten auch die andern. Denn das war zu komisch: ein 12jähriger Junge, der sich einbil2
dete, man könne mit einer so komplizierten Maschine umgehen wie mit dem Inhalt eines Baukastens. Aber George blieb dabei: „Ich glaube, ich kann es machen." „So laßt ihn's mal versuchen! Aber Junge, wenn du was kaputt machst an der Geschichte, dann Gnade dir Gott!" Sie sahen neugierig zu, wie er sich anstellte, und sie sahen: das waren die kundigen Hände eines Arbeiters, der wußte, was er zu tun hatte. Nach genau 14 Minuten war der Aufzug wieder in Ordnung. „Teufelskerl!" sagten die Arbeiter und schlugen George auf die Schulter. Sie erzählten die Geschichte dem Vorarbeiter, dieser erzählte sie einem Ingenieur, und der Ingenieur berichtete dem Direktor. Die Folge war, daß man den 12jährigen George Stephenson, den Sohn-eines Grubenarbeiters des gleichen Bergwerks, als Lehrling in die Maschinenwerkstätte schickte. Alle waren sich einig darüber, daß der geschickte Bub seinen Weg machen werde, aber keiner konnte ahnen, daß der schüchterne Junge, der vor ihnen stand, einmal der leitende Direktor des Kohlenbergwerkes werden sollte. Geheimnisvolles W o r t : Lokomotive Direktor einer großen Kohlengrube — das ist eine angesehene Stellung, aber im Grunde ist es sehr wenig im Vergleich zu dem, was George Stephenson im Laufe seines Lebens werden sollte: der Bahnbrecher einer neuen Zeit, der Mann, der dem Zeitalter des Verkehrs die Tore öffnete. Dem kleinen Jungen, der schon früh die Schafe hüten mußte, um zu den Kosten der Haushaltung beizusteuern, hatte einmal ein alter Schäfer von James W a t t erzählt und ihm erklärt, wie dieser große Erfinder auf den Gedanken gekommen war, eine Dampfmaschine zu bauen, als er in der Küche seiner Mutter sah, daß der Dampf aus einem Topf kochenden Wassers den Deckel hob. George hatte versucht, eine in seinen Augen wundervolle Maschine zu konstruieren, indem er an den Griff des Deckels einen Bindfaden band, den er über selbstgeschnitzte Holzrollen zu einem Papierrädchen führte, das durch das Auf und Ab des Dekkels in drehender Bewegung gehalten wurde. Georges Mutter zeigte nicht viel Verständnis für diese unnütze Spielerei und gab ihm durch ein unsanftes Kopfstück deutlich zu verstehen, daß er sich
3
mit Nützlicherem beschäftigen möge. Obwohl George versprach, was die Mutter begehrte — der Gedanke an die Dampfmaschine ließ ihn nicht mehr los. > Um mehr von ihr zu erfahren, hätte er Fachwerke lesen müssen. Aber selbst im Alter von 17 Jahren konnte er weder lesen noch schreiben. Er war zum Heizer avanciert. Sein Dienst währte täglich 12 Stunden. Trotz seiner ermüdenden Tätigkeit fand er noch Zeit, eine Abendschule zu besuchen, um die versäumten Lernjahre nachzuholen. In seiner übrigen Freizeit beschäftigte ihn die Dampfmaschine, die er bald in allen Einzelheiten kannte. Er wußte, daß mutige und erfinderische Menschen sie hier und dort, an vielen Orten Englands, in einen Wagen eingebaut hatten, der ohne, Pferde lief. Warum sollte man sie nicht auch im Bergwerk benutzen können, damit sie hier statt der langsamen Pferde vor die „Grubenhunde", die kleinen mit Kohlen beladenen Karren gespannt würden. Natürlich sollte das wie bisher auf Schienen geschehen, aber es müßten eiserne Schienen sein, nicht die hölzernen, die man in der Grube hatte, da sie das Gewicht des Dampfwagens nicht aushalten würden. Es gelang ihm, den Besitzer des Werkes von seiner Idee zu überzeugen. Der Dampfzugwagen, den er dann baute, wurde nach dem Vorschlag eines klassisch gebildeten Herrn der Direktion Lokomotive genannt, weil er sich von der Stelle (locus = Stelle) bewegt (motio = Bewegung). Stephenson nahm das neue, geheimnisvoll schöne Wort an — und dabei blieb es bis heute, nur daß wir, die wir Abkürzungen lieben, heute meist kurz von einer Lok sprechen. Rocket war ihr Name Die erste Lokomotive befriedigte in hohem Grade. Sie ächzte und fauchte, aber sie lief und zog rascher als die Pferde. Als Futter 1 verlangte sie nichts als die Kohle, an der es im Bergwerk nicht mangelte. Manchmal kam es vor, daß sich der eine oder der andere Arbeiter, der mit dem Lokomotivführer befreundet war, neben ihn stellte, um rascher aus dem Werkgelände zu kommen. So standen eines Tages Stephenson und Mr. Pease, der ihm beim Bau der Maschine geholfen hatte, neben dem Lokomotivführer. Pease, der in Stockton, einige Kilometer von der Grube entfernt, sein Landhaus hatte, sagte: 4
„Rocket", die Rekord-Lokomotive Stephensons vom Jahre 1829
„So rasch möchte ich Samstagabends von hier nach Stockton kommen können! Sie bauen zwar jetzt eine Pferdebahn dorthin, aber wenn die Pferde viele Leute und Lasten zu ziehen haben, traben sie so langsam, daß man daneben hergehen könnte." „Vielleicht könnte man ihnen eine Lokomotive verkaufen?" regte Stephenson an. Zuerst witzelten sie darüber, weil sie sich vorstellten, wie die Pferdehändler protestieren und die Fouragehändler, die mit dem Verkauf des Heus und des Strohs ein gutes und sicheres Geschäft hatten, Krach schlagen würden; wie die Bauern Einspruch erhöben und alle andern auch, weil eine Lokomotive dikken Rauch von sich bläst und die Gegend mit Ruß überstreut. Aber je länger sie über das Projekt nachdachten, um so reizvoller wurde es für sie. „Man müßte es versuchen", sagte Stephenson, der immer fürs Versuchen war. Er ging zu den Direktoren der Stockton-Darlington-Railway und redete, seine natürliche Schüchternheit überwindend, so lange, bis sie nachgaben. Am 27. September 1825 star5
tete der erste von einer Lokomotive gezogene Personenzug, dessen Wagen aussahen wie die damals üblichen Landkutschen und für je 18 Personen Platz hatten. Die Lok, die den Zug über die Strecke brachte, hieß Active, sie steht noch heute als Denkmal auf der North Road Station in Darlington. Das große Aufsehen, das sie erregte, veranlaßte viele Maschinenbauer, sich mit der Konstruktion von Lokomotiven zu beschäftigen. Als einige Jahre später die Leitung der LiverpoolManchester-Bahn nach Vollendung des Schienenwegs die Konstrukteure zu einem Wettfahren der Lokomotiven einlud, bei welchem dem Sieger ein Preis von 500 Pfund winkte, nahmen Zeitungen und Publikum die Nachricht von dem Ereignis mit größter Anteilnahme auf. Am Tag des Wettfahrens war die ganze Strecke von einer aufgeregten Menge umsäumt, es war ein Volksfest. Die Leute schrien, winkten mit den Hüten, feuerten die Lokomotivführer an; die Passagiere in den Versuchszügen waren stolz wie die Spanier, weil sie bei einem so denkwürdigen Ereignis mitwirken durften. Stephensons Maschine ging aus dem Wettbewerb als überlegener Sieger hervor. Sie zog einen von 30 Reisenden besetzten. Zug mit 40 bis 48 Stundenkilometer Geschwindigkeit, die für damalige Zeiten sensationell war und durchaus den Namen rechtfertigte, den Stephenson seiner neuen Lokomotive gegeben hatte: „Rocket" — die Rakete. Die Gesellschaft bestellte acht Lokomotiven von ihm, alle von derselben Konstruktion. Sie wurden lin ihren Grundzügen das Vorbild der modernen Dampflokomotiven. Es regnete Proteste Was Stephenson vorhergesagt hatte, traf ein: Alle Welt protestierte. Die Bauern blieben nicht bei Protesten, sie rebellierten und verlangten drohend ein behördliches 'Verbot, weil das Getöse des Zuges ihre Pferde scheu mache, Dampf und Ruß ihre Felder ruinierten und das Vieh unter die Räder gerate. Die Proteste sollten sich später wiederholen, als andere Bahnstrecken gebaut wurden, nicht nur in England, sondern überall, wo man Eisenbahnen verlegte. Oft forderten und erreichten Dörfer und Städte, daß die Geleise der Bahn in weitem Bogen um sie herum gelegt wurden. Man bedauerte die armen Fuhrwerker, die auch wirklich eu bedauern waren, weil sie um ihren Verdienst kamen; Ärzte cr6
klärten das Fahren mit der Eisenbahn für gesundheitsschädlich, ja lebensgefährlich, weil Lunge und Herz des Menschen dem Luftdruck der sausenden Fahrt nicht gewachsen seien. Aber das alles nutzte nichts: Eisenbahnen wurden gebaut: viele Strecken Europas nach Stephensons Ratschlägen. 1829 wurde die erste amerikanische Eisenbahn eröffnet: dann folgte 1834 Belgien. Der erste deutsche Eisenbahnzug dampfte 1835 von Nürnberg nach Fürth ab; zwei Jahre später folgte die erste französische Eisenbahn von Paris nach St. Germain; und wieder zwei Jahre danach die eiste italienische von Neapel nach Portici. In der Schweiz ergaben sich für das neue Verkehrsmittel wegen des bergigen Geländes so große Schwierigkeiten, daß die erste schweizerische Eisenbahn erst 1844 in Betrieb genommen werden konnte. Sie führte von Basel nach der elsässischen Grenze. Seither hat sich gerade das schweizerische Eisenbahnwesen zum Vorbild für ganz Europa entwickelt. Klein ist die Erde geworden! Gegen das Jahr 1844 kam es auf der ganzen zivilisierten Erde zu einem wahren Eisenbahnfieber. Stephenson erhob seine warnende Stimme; er war nicht weit davon entfernt zu glauben, daß die Welt daran sei, sich an Eisenbahnen „den Magen zu verderben". Langsam! Langsam! predigte er, dem es sonst nie schnell genug gehen konnte. Die Gründung von Eisenbahngesellschaften war vielfach zu einer Angelegenheit des Börsengeschäftes, ja des Börsenschwindels geworden. Alle Welt wollte sich an Eisenbahnaktien bereichern. Eisenbahnen wurden ohne volkswirtschaftliche Notwendigkeit gebaut, oft in ganz entlegenen, wenig bevölkerten Gegenden, — nicht weil sie dort gebraucht wurden, sondern weil man die Aktien mit Sicherheit einem begeisterten, gewinnlustigen und naiven Publikum andrehen konnte. Manchmal stiegen die Papiere der Bahnen, noch bevor der erste Spatenstich für ihren Bau getan war. So waren Zusammenbrüche unvermeidlich. Dieses wenig erfreuliche Zwischenspiel konnte den Siegeszug der Eisenbahnen nicht aufhalten. Stephenson war inzwischen ein sehr reicher Mann geworden, Besitzer von Lokomotivfabriken, Eisenbahnlinien und Kohlenbergwerken. Sein Name wurde weltberühmt. Aber die Verlegenheit, die den 17jährigen kennzeichnete, der sich schamvoll bewußt war, weder lesen noch schreiben zu
7
können, haftete ihm zeitlebens an. Dem Mädchen aus angesehener Familie, das er heiraten wollte, wagte er keine Liebeserklärung zu machen. Schließlich entschloß sie sich dazu, ihn zu fragen, ob er sie heiraten wolle. Das war in jenen Tagen ein ganz unerhörter Vorgang. Erschüttert von soviel unerwartetem Glück, stammelte er: Wollen Sie mich wirklich haben? Ich bin nur der Sohn eines Kohlenarbeiters. Den Mitgliedern seiner einfachen Familie ebnete er den Weg zu großen Erfolgen. Seinen Neffen Robert' George nahm er in seinen Betrieb auf und machte ihn zu einem bedeutenden Ingenieur. Sein Sohn Robert ist als Lokomotivenbauer, namentlich aber als kühner Konstrukteur von Brücken, zu so großer Berühmtheit gelangt, daß er in der Westminster-Abbey, der Grabkirche und Ruhmeshalle großer englischer Persönlichkeiten, beigesetzt wurde. George Stephenson hat die letzten Jahre seines Lebens in Zurückgezogenheit verbracht. Er hat den Aufschwung des Verkehrs, den die Einführung der Lokomotive ermöglichte, in ihren stürmischen Anfängen miterlebt, aber er hat sicherlich nicht ahnen können, daß seine geniale Erfindung für ein ganzes Jahrhundert dem Leben auf dieser Erde neue Formen geben werde — auf dieser Erde, die für ihn und seine Mitmenschen noch unendlich groß war und die den Nachkommen so viel kleiner geworden ist, seit Schienenstränge alle Kontinente durchqueren.
„Achtung,
Weltall!"
SAMUEL MORSE '„Morse, warum machen Sie eigentlich nichts aus Ihren technischen Fähigkeiten?" fragte ein Maler den Berufskollegen, der Präsident der New Yorker Zeichenschule geworden war. Aus dieser Frage war eine lebhafte Diskussion entstanden, bei der Morse sehr entschieden erklärte: „Wenn man Künstler ist, kann man nichts anderes sein. Man kann nicht zwei Herren dienen. Ein KünjStleri gehört seiner Kunst mit Haut und Haaren, geniale Einseitigkeit! ist das Merkmal jeder großen Kunst." Auf seinem einsamen Heimweg mußte er unwillkürlich lächeln, 8
er, dem das Lächeln und Lachen nicht oft auf die Lippen und noch seltener in die Seele kam. Wieder einmal hatte er sich hinreißen lassen, zu widersprechen — aus purem Vergnügen am W i derspruch. Er mochte sagen, was er wollte, immer machte sich seine Eigenart geltend, sich im Rechte zu glauben. Ähnlich wie» heute hatte er sich schon früher einmal ausgedrückt: „Liebe und Malerei sind zwei streitsüchtige Genossen. Das Haus meines Herzens ist zu klein für beide, darum habe ich dem Fräulein Liebe die Tür gewiesen." Das hatte ihn freilich nicht gehindert, um die, schöne Lukretia Walker zu werben und sie zu heiraten — mit knapp hundert Dollar in der Tasche. Seine Mutter hatte ihm damals geschrieben: „überleg doch! Ich könftte nicht lange von der Luft leben!" — Nun ja, seine Mutter hatte ihn stets für einen feigen Hasen gehalten, der immer davonlaufe und nie wisse, wohin er eigentlich laufen solle — ganz im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Sidney, den sie mit einer Schildkröte verglich, an deren hartem Panzer alles abpralle. Das hatte ihn schon als Knaben gekränkt, und er hatte sich vorgenommen, seiner Angst und Verlegenheit Herr zu werden. i Morse war auch jetzt noch gar nicht so sicher, wie er sich gab, aber die Maske der Sicherheit, die er angenommen hatte, um sich vor Angriffen zu schützen, begann doch schon zur zweiten Natur zu werden. Er galt überall als streitbarer Herr, weil er immer gegen etwas wetterte, bald gegen das Theater, das die Sitten verderbe, gegen die öffentlichen Lotterien, die die Moral der Armen untergrüben, gegen die eingewanderten Iren, weil sie keine Amerikaner waren, bald gegen den Fortschritt, der die gottgewollte Ordnung zerstöre. Viele zweifelten damals an seinem Menschentum, an seinem Glauben, ja sogar an seinem Patriotismus. Dabei konnte es keinen überzeugteren Amerikaner geben, als er es war, und keinen besseren Patrioten. > Morse liebte seine Kunst, aber für sie zu hungern war er nicht bereit. Er sagte: „Ich kann vielleicht unter Schicksalsschlägen malen, aber nicht unter Geldsorgen." Die Malerei brachte wenig ein. Darum hatte er oft an einen Berufswechsel gedacht, und er erwog, sich mit technischen Arbeiten zu beschäftigen. Talent dazu besaß er, das wußte er, wie er überhaupt niemals an seinen Fähigkeiten zweifelte. Mit seinem Bruder hatte er zusammen einmal 9
eine Pumpe gebaut, die auch als Feuerspritze zu verwenden war. In jugendlicher Selbstverspottung hatten sie die Erfindung als „morsepatentierten, in Metall ausgeführten, zweiköpfigen, ozeantrinkenden, sintflutverscheuchenden Ventilapparat" genannt. Geld hatte das nicht eingebracht — und Geld, viel Geld zu verdienen, war sein Lebensziel geworden. Es mußte ihm gelingen. Immer wieder ist er von der Malerei zur Technik, von der Technik zur Malerei hinübergewechselt. Der Erfolg blieb aus. Er ging nach England, um ihn dort zu suchen, und fand ihn auch in London nicht. Aber auf dem europäischen Festland,sah er etwas, was sehr großen Eindruck auf ihn machte: den optischen Telegraphen des Monsieur Chappe, der von Hügel zu Hügel durch bewegliche)
Morsetelegraph aus dem vorigen Jahrhundert 10
Holzbalken Signale gab und mit dem man eine Nachricht in wenigen Minuten von Lille nach Paris weitergeben konnte. Das erste Modell Vielleicht war die Technik doch eine bessere Nährmutter als die Kunst? Was hatte er schon von der goldenen Medaille, die ihm für seinen „Sterbenden Herkules", seinen ersten Versuch in der Bildhauerei, verliehen worden war? Er mißachtete diese hohen Herren, die die öffentlichen Aufträge zu vergeben hatten und die sie nicht ihm, dem ,Begabtesten' unter allen Bewerbern, zusprachen. Von einem sagte er einmal unmutig: „ E r hat nicht mehr Verstand als eine K u h ! " Er wollte ihnen schon zeigen, daß er hundertmal klüger war als sie alle zusammen. Auf der langen Seereise an Bord eines Seglers namens „Sully", der ihn nach New York zurückbrachte, fand Morse reichlich Gelegenheit, über seine Pläne nachzudenken. p]in zufälliges Gespräch mit einem technisch bewanderten Passagier brachte Morse auf die Idee, einen elektrischen Telegraphen zu erdenken, mit kurzen und langen Klopftönen, ails denen sich leicht ein Alphabet bilden ließ. Wie immer ganz seiner Arbeit hingegeben, sah er nicht das Schiff, sah er nicht das Meer, hatte er, ganz gegen seine Gewohnheit, nicht einmal Angst davor, seekrank zu werden. Er berechnete, zeichnete, dachte nach. Als er das Schiff verließ, sagte er mit großartiger Handbewegung: „ J a , mein lieber Kapitän, sollten Sie in der nächsten Zeit vom Weltwunder des Telegraphen hören, dann vergessen Sie nicht, daß die Erfindung an Bord der ,Sully' gemacht worden ist." Zu Hause bastelte er sein erstes Modell. Als Rahmen benutzte er eine alte Malerstaffelei. Man kann dieses denkwürdige Gerät, einen der ersten Telegraphen der Welt, noch heute im Deutschen Museum in München sehen, wo es für alle Telegraphisten zu einem ehrwürdigen Schaustück geworden ist. Morse ist gewiß nicht der alleinige Erfinder des Telegraphen. Der Tasterapparat, mit dem man Klopfzeichen auf weite Entfernungen übertragen konnte, war zu einem großen Teil auch das Verdienst Vails, seines späteren Mitarbeiters. Vail sagte sogar verärgert, als er wieder einmal mit Morse im Streit war: „Professor Morse weiß ganz gut, daß er ohne mich nicht telegraphieren könnte!" Aber der „Morse-Code", das System von Strichen und 11
Punkten, die man als Morse-Alphabet bezeichnet, ist sicherlich seine ureigene Erfindung. Es hat die Welt erobert und ihm alles gebracht, wonach er sich sehnte: Ruhm, Bewunderung, Ansehen und Reichtum. Zunächst waren freilich noch viele Widerwärtigkeiten zu überstehen, so daß er es von neuem mit der Malerei versuchte und gelegentlich auch mit der Politik, die ihn lange in ihren Bann schlug. Mit dem Hut auf dem Kopf Auch mit seinem zweiten Kompagnon, mit F. 0. Smith, der ein zwiefach geriebener Geschäftsmann war, ist Morse nicht lange ohne Streit ausgekommen; ebensowenig mit Joseph Henri, dem er die tatkräftige Unterstützung, die er ihm gewährt hatte, mit Undank lohnte. Es lag in seiner Art, jeden Dienst, den man ihm er-i wies, als pflichtschuldigen Tribut zu empfangen. Vielleicht wäre ihm sein Leben ohne den ewigen Kampf mit Behörden, Künstlern, Technikern, anderen Erfindern, Konkurrenten, Freunden und Widersachern öde vorgekommen. Der Protest war sein Element. Ganz plötzlich starb in dieser Zeit seine Gattin, während er von Hause abwesend war. Nach längerer Zeit des Wartens band er sich zum zweitenmal und heiratete seine Cousine, die um mehr als zwanzig Jahre jünger war als er. Sie war schwerhörig, fast taub. Aber Klopfzeichen konnte sie gut hören, und insgeheim erlernte sie das Morse-Alphabet. Oft unterhielten sich die beiden miteinander, indem sie mit den Fingern auf die Tischplatte klopften — ein scharfes Klopfen bedeutete einen Strich, ein minder scharfes einen Punkt. Liebende finden immer eine Sprache, um sich zu verständigen. Inzwischen war er ein begüterter Mann geworden, ein bißchien böse darüber, daß andere an seinem Telegraphen mehr verdienten als er selbst. Er sagte: ,,Der Telegraph ist ein gewinnbringendes Geschäft und daher der direkte Weg zum Raub. Wo Honig ist, da sammeln sich die Bienen, und nicht nur die Bienen, sondern auch alle Arten von Schmeißfliegen, widerliche Mücken und Motten." Die Erfolge und die Ehrungen haben aber schließlich auch das Ungestüme seiner Angriffe gemildert. Wenn zuerst durch bewußte Selbsterziehung aus dem Angsthasen ein energischer Tatmensch wurde, so ist später aus dem Draufgänger ein sehr wür12
diger Herr geworden. Immer wiederholte er: „Ich bin nur ein Werkzeug Gottes!", aber ganz echt klang es nie. Und auch jetzt noch schmerzte ihn jede Enttäuschung. Als er sich um den Posten eines Bürgermeisters von New York bewarb und bei den Wahlen durchfiel, konnte er sich damit nur abfinden, indem er sich sagte: „Ich bin zu Höherem geboren!" Tatsachlich ist ihm eine Ehre zuteil geworden, wie sie nur wenige empfangen: Seine Mitbürger haben ihm schon zu Lebzeiten ein Denkmal errichtet. Manchmal mag er nachdenklich vor seinem Abbild gestanden und die Inschrift gelesen haben, die es trägt, die Worte, die er an seinen Mitarbeiter Vaile bei der Erprobung seines endgültigen Apparates telegraphiert hat: „Was Gott erwirkte!" Sein erstes Telegramm mit dem ersten Apparat war viel pathetischer gewesen und hatte mit dem Aufruf begonnen: „Achtung, Weltall!" Immer bestrebt, seinen Besitz zu vermehren, hat Morse sich an allen möglichen Unternehmungen beteiligt, an Erdölquellen in Kentucky und in Kalifornien, an Bergwerksunternehmungen, an einer Versicherungsgesellschaft. Auf der Höhe seines Ruhmes beschlossen mehrere europäische Staaten, ihm eine Ehrengabe von 400000 Goldfranken zuzuwenden. Morse sah aber nicht viel von dem Geld. Ein Drittel davon bekam sein Pariser Agent, der die Ehrung in die Wege geleitet hatte, ein weiteres Drittel nahmen Smith und Vaile auf Grund eines alten Geschäftsabkommen für sich in Anspruch. Morse starb hochbetagt. Der Arzt, der ihn kurz vor seinem Ende untersuchte, beklopfte ihm den Rücken und sagte: „Sehen, Sie, das ist die Art, wie wir Ärzte telegraphieren!" Morse lächelte schwach und antwortete: „Hoffentlich hört man Sie noch nicht drüben — bei der Empfangsstation.''
13
„Die Pferde essen keinen
Gurkensalat"
PHILIPP REIS UND GRAHAM BELL Indem er das volle, fleischige Kinn auf den steifen Kragen preßte, legte der Allgewaltige des großen Unternehmens sein Gesicht in würdige Falten, ü b e r seine Brillengläser sah er auf den Mann, der ihm gegenüber saß und sagte: „Es ist nicht das erste Mal, daß ich von Ihrem Telephon höre. Ich habe mit meinen Kollegen vom Industrieverband darüber gesprochen, aber wir sind sozusagen einstimmig der Meinung, daß Sie, Herr Generalpostmeister . . ." Er stockte, dann fuhr er entschlossen fort: ,,. . . daß Sie diesmal auf dem Holzweg sind. Entschuldigen Sie meine Offenheit, aber keiner von uns kann einsehen, welche Vorteile Ihr ziemlich teures Spielzeug bringen sollte. Was mich p e r J sönlich betrifft, so lege ich Wert darauf, daß das, was ich einem Kunden oder Lieferanten mitzuteilen habe oder was dieser mir sagen will, schriftlich niedergelegt wird. Ich schreibe, der andere antwortet, und das geht sehr rasch, denn Ihre Post, Herr Generalpostmeister, arbeitet musterhaft. Ich möchte von meinen geschäftlichen Unternehmungen immer etwas in der Hand haben, Briefe und Kopien von Briefen; von Telephongesprächen aber bleibt nichts zurück. Außerdem: In so gutgehenden Unternehmungen, wie es meine Fabrik ist, spielt der geringe Zeitgewinn, der sich durch Ihr Spielzeug vielleicht erzielen läßt, keine Rolle. Ich stemme mich gewiß nicht gegen den Fortschritt, aber in diesem besonderen Falle glaube ich bestimmt nicht, daß es sich um einen Fortschritt handelt." Der Berliner Generalpostmeister von Stephan mußte unverrichteter Dinge wieder weggehen. Es war nicht das erste Mal, daß er das erlebte. Vom Leiter des Londoner Telegraphenamtes hatte er vor einiger Zeit einen der neuen Telcphonapparate zum Geschenk erhalten. Er hatte ihn studiert und war zu dem Schluß) gekommen, daß dem Fernsprecher eine große Zukunft gewiß sei. Enttäuscht durch die Gleichgültigkeit der Wirtschaftskreise, die durchaus nicht seiner Meinung waren, hatte er sich die Mühe genommen, die großen Industrieherren persönlich aufzusuchen, um ihren W i 14
derstand zu überwinden. Aber es war vergebliche Mühe, überall fand er verschlossene Gesichter, höfliche, aber hartnäckige Ablehnung, oft genug leichten Spott und Verwunderung darüber, daß ein Mann wie Stephan seine Kraft und Überredungskunst für eine offenbar so aussichtslose Neuerung verschwenden wollte. Er hatte einen amtlichen Aufruf an die Banken, die Industriefirmen und die großen Handlungshäuser gerichtet und sie aufgefordert, sich für den Fernsprechverkehr anzumelden. Einige hatten es ohne Überzeugung getan, nur um dem l'ostminister einen Gefallen zu erweisen, aber nach Verlauf von vollen sechs Monaten lagen aus dem großen Berlin im ganzen nur 96 Anmeldungen vor. Ahnungslose Erfinder Man könnte sich versucht fühlen, über die kurzsichtige Beurteilung einer so zukunftsgroßen Erfindung, wie es das Telephon war, zu lächeln. Indessen hat sich der gleiche zermürbende Kampf zwischen Erfindergeist und Begeisterung auf der einen Seite und Unverständnis und Gleichgültigkeit auf der andern in der Geschichte der technischen Großtaten unzählige Male wiederholt. Als Stephan sich für das Telephon begeisterte und zunächst nur entmutigenden Widerhall hörte, wurde in Amerika über die neue Erfindung schon viel debattiert. In Europa ging die Sage, daß irgendwo im Taunus oder in Thüringen ein Mann etwas Ähnliches konstruiert habe. Es war wirklich so. Nur war dieser Mann nicht mehr unter den Lebenden; denn die Szene, die hier geschildert wurde, hat sich im Jahre 1879 abgespielt, fünf Jahre nach dem Tode dieses Mannes, der als der eigentliche Erfinder des Telephons gelten kann. Wer war dieser Mann? Er hieß Philipp Reis. Die wenigsten kennen seinen Namen, und in vielen Lexika ist er nicht zu finden. Und doch ist das Denkmal, das seine Vaterstadt Gelnhausen ihm nach seinem Tode errichtet hat, keine unverdiente Ehre. Reis hat wirklich das erste Telephon erfunden, aber er ist gestorben, ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben, zu welch riesiger Bedeutung nach wenigen Jahrzehnten das Fernsprechwesen in der ganzen Welt kommen sollte. Reis war eigentlich nur ein wissenschaftlicher Bastler. Er bastelte von Jugend auf. Dem jungen Reis war es bei seinen Basteleien 15
darum zu tun, Apparate zu bauen, mit denen sich die bekannten Naturgesetze erproben ließen und vielleicht auch unbekannte entdeckt werden könnten. Diese Neigung führte ihn fast zwangsläufig zum Studium der Physik — zunächst in seinen wenigen Freistunden, obgleich ihn die physikalischen Probleme den ganzen Tag begleiteten. „Woran denkst du, junger M a n n ? " fragte ihn der Farbenhändler in Frankfurt am Main, in dessen Geschäft Philipp arbeitete; denn der junge Angestellte war mitten in seiner Arbeit, die darin bestand, den Inhalt eines Eimers voll Ölfarbe in Dosen zu verteilen, stehen geblieben und sah mit geistesabwesendem Blick vor sich hin. Mit Farben, Benzin und Gipspulver zu hantieren, empfand er nicht als seine Lebensaufgabe; er wollte Physik studieren. Er tat es zuerst ganz auf eigene Faust, später unter fachlicher Anleitung. Reis beherrschte schließlich alle Gebiete der Physik, und vielleicht wäre er eines Tages Universitätsprofessor geworden, wenn er nur genug Ehrgeiz gehabt hätte, ein solches Amt anzustreben. Aber er war mit der Stellung eines Physiklehrers am Garnierschen Institut in Friedrichsdorf bei Homburg durchaus zufrieden. Dort bot sich Gelegenheit genug, zu basteln und jungen Menschen neben den Formeln die Liebe zum wissenschaftlichen Basteln beizubringen. Natürlich war er auch am Morsetelegraphen sehi* interessiert, und schon damals war er nicht der einzige, der darüber nachdachte, wie man es möglich machen könnte, nicht nur Klopflaute, sondern auch die menschliche Stimme durch elektrische Drähte auf weite Entfernungen hörbar zu machen. Die Entdeckung des Elektromagnetismus durch den großen dänischen Physiker H. G. Oersted machte zu jener Zeit viel von sich reden. Tatsächlich ist erst durch sie die Konstruktion eines leistungsfähigen Telephons möglich geworden. Auch Reis hat bei der Herstellung seines Telephonapparates die magnetische Wirkung des Stromes benutzt. Dazu kam eine Membrane, ein dünnes Häutchen, das ein durch den Strom zum Magneten gewordenes Eisenstück in Schwingungen versetzte und so die Töne naturgetreu wiedergab. Dieser erste Telephonapparat war wenig kompliziert. Er war roh gezimmert, aber in seinem Prinzip vereinigte er doch alles, was später zu so hoher 16
Oben: Heis-Telephon, rechts Sprechstelle, links Hörstelle. — Unten: BeilTelephon: rechts Sprechstelle, links Hörgerät
Vollkommenheit gebracht wurde. So primitiv sie war, ermöglichte die Apparatur dem jungen Physiker, etwas zu erleben, was vor ihm noch kein anderer Mensch erlebt hatte. „Kein Telegraph, keine Tochter" Mit seinem Freund, der Gesangslehrer an der gleichen Schule war und sich lebhaft für die Experimente seines Kollegen interessierte, unternahm Reis die entscheidende Probe. Ein Apparat wurde in der Wohnung des Freundes aufgestellt, ein zweiter im physikalischen Kabinett der Schule. Zwischen den beiden Apparaten wurden Drähte gespannt, für die ein einfach gebauter Generator den Strom lieferte. Es waren spannende Minuten. Würden die Apparate sprechen oder würden sie schweigen? Reis stand vor seinem Apparat im physikalischen Kabinett und sagte: 17
„Die Pferde essen keinen Gurkensalat." Vom anderen Ende der Leitung kam die Antwort: „Das weiß ich schon längst, Sie alter Schafskopf!" Das war das erste Telephongespräch, das auf dieser Erde geführt wurde. Und was machte Reis aus seiner Erfindung? Nichts! Die andern, die das erste Telephon gelegentlich zu sehen bekamen, machten ebensowenig daraus. Alle hielten es für eine amüsante Spielerei — bis ein nach gleichen Grundsätzen, aber unabhängig von Reis, erbautes Telephon von Amerika kam, vervollkommnet durch ein Mikrophon, um dessen Erfinderrecht Edison und Hughes in Streit lagen. Der Erfinder dieses Apparates war Graham Bell, ein gebürtiger Schotte. Er gilt heute fast auf der ganzen Erde als der Vater des modernen Telephons. Mit zäher Energie hat er jahrelang an der Konstruktion eines leistungsfähigen Fernsprechers gearbeitet, obgleich seine Verbissenheit ihn wiederholt in schwere Konflikte gebracht hat. Mehrmals ist es geschehen, daß Bell eine Verabredung, die er mit der bildhübschen Tochter des reichen Hubbard vereinbart hatte, vollkommen vergaß, weil er in seiner Werkstatt war und dort experimentierte. Aber er war trotzdem bis über die Ohren in sie verliebt, damals vielleicht noch mehr als in das Telephon, und es war kein Wunder, daß er sie in zärtlichen Gesprächen Phony nannte. „Warum bist du nicht gekommen?" fragte sie ihn. Er stammelte ein wenig herum, aber eine Erklärung konnte er nicht geben. Er hätte sagen müssen: „Weil ich dich bei meiner Arbeit vollkommen vergessen habe." Vielleicht wußte Phony das, denn sie sagte ihm: „Natürlich hast du dich wieder mit deinem Telephon beschäftigt. Du weißt doch, du sollst das nicht tun. Mein Vater ist böse darüber, er hält nichts davon. Er wünscht, daß du statt eines Telephons einen Telegraphen baust." Tatsächlich hatte Bell dem alten Hubbard, der ihm eine Menge Geld vorgeschossen hatte, zugesagt, daß er sich mit Verbesserunj e n am Telegraphen beschäftigen werde. Hubbard wollte nichts vom Telephon wissen. Für ihn war dieser SpreÄapparat wie für 18
fast alle anderen ein aussichtsloses Gerät; entschieden erklärte er: „No Telegraph, no daughter", kein Telegraph, keine Tochter! — womit er deutlich genug seinen Entschluß kundtat, seiner Tochter die Erlaubnis zur Heirat mit einem Manne zu verweigern, der seine Zusagen nicht hielt. Damals haben die Mädchen noch nicht gegen den Willen ihrer Eltern zu heiraten gewagt. Auch die Schüler Beils waren mit ihm sehr unzufrieden. Seine Erfindertätigkeit warf ihm keinen Ertrag ab, und nm leben zu können mußte er seinen Beruf als Taubstummenlehrer weiter ausüben. Im Grunde liebte er diesen Beruf. Seine Versuche, die Taubstummen sprechen zu lehren, hatten ihn ja dazu gedrängt, sich mit akustischen Problemen zu beschäftigen. Lange hindurch hatte er an nichts anderes gedacht, als den Taubstummen zu helfen, von denen man damals schon wußte, daß sie in Wirklichkeit nicht stumm sind, sondern nur deshalb nicht sprechen gelernt haben, weil sie nicht hören können. Im Augenblick aber ließ ihm das Telephon keine Zeit zum Unterricht. Oft mußten die Schüler vergeblich auf ihn warten, und schließlich verlor er seine Stellung. Ruhe im Hause Aber ein echter Erfinder hat immer etwas von einem Besessenen an sich. Tag und Nacht wird er von einer einzigen Idee geplagt. Man kann zahlreiche Beispiele dafür anführen, daß Erfinder ihre Familien vernachlässigten, um ihren Projekten nachzuhängen, daß sie selbst Speise, Trank und Schlaf vergaßen, während sie über ihrer Lebensaufgabe grübelten. Einen Augenblick sah es ganz so aus, als ob Graham Bell dasselbe Schicksal haben sollte wie so viele Erfinder vor ihm und nach ihm. Aber plötzlich, mit einem Schlage, wendete sich alles zum Guten. Das Telephon, noch in seiner heutigen Form wenig von dem Bellschen verschieden, begann seinen Triumphzug über die Erde. Mit dem Erfolg meldeten sich sofort Dutzende anderer Erfinder, die Bell des Diebstahls oder der Verletzung ihrer Patentrechte beschuldigten. Die ewigen Streitigkeiten, die manchen andern zu Boden geworfen hätten, waren aber merkwürdigerweise für ihn keine große seelische Belastung. Einmal sagte er lächelnd zu Phony, die er inzwischen geheiratet hatte: „Ich glaube, du bist der einzige Mensch, mit dem ich nicht streite.' 19
Bell hat das Telephon erfunden, aber selbst benutzte er es nur ungern. Auch darin gleicht er manchen andern Erfindern. Die Brüder Lumiere, ohne deren Arbeit der Film in seiner heutigen Gestalt nicht denkbar wäre, hatten eine ausgesprochene Abneigung, ins Kino zu gehen. Zu Branly, einem der Erfinder des Radios, sagte ein Zeitungsreporter einmal: „Es ist gar nicht auszudenken, daß man ohne Radio auskommen könnte. Was haben die Menschen gehabt, als es noch kein Radio g a b ? " Branly antwortete: >,Ruhe im Hause." Er duldete kein Radio in seiner Wohnung. Bell hätte ähnliches über den Fernsprecher sagen können. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er damit, Schafe zu züchten und die Gewohnheiten und seelischen Regungen dieser sympathischen Tiere zu studieren. Von technischen Problemen interessierte ihn nur noch das Fliegen. Auf seinem Gute Cap Breton vergnügte er sich damit, Drachen aufsteigen zu lassen, um herauszubekommen, wie der Mensch die Luft erobern könnte. Aber wenn es ihm gelungen wäre, das motorlose Flugzeug zu konstruieren, an das er dachte, so wäre er vermutlich doch dabei geblieben, lieber mit der Eisenbahn zu reisen. Auch in seinen besten Exemplaren bleibt der Mensch ein widerspruchsvolles, nie ganz begreifbares Wesen.
„Opfer müssen gebracht werden!"
OTTO LILIENTHAL Schmerzen hatte er nicht, aber er war unfähig, sich zu bewegen. Regungslos lag er auf dem Bett des trostlos gleichgültigen Zimmers in dem kleinen Dorfwirtshaus, unweit der Stelle, an der er verunglückt war. „Grüßen Sie meine Frau und meine Kinder und sagen sie ihnen, daß ich morgen komme!" sagte er zu seinem Mechaniker. Er kam nicht, denn am folgenden Tag war Otto Lilienthal tot. Der Arzt hatte zunächst keine Verletzung finden können. „Nichts gebrochen, alles ganz!" hatte er beruhigend gesagt, aber da der Abgestürzte bald das Bewußtsein verloren hatte und nicht wieder aufwachen wollte, ließ er ihn ins Krankenhaus bringen. Am näch20
sten Nachmittag starb er, und erst nach seinem Tode stellte man fest, daß sein Rückgrat gebrochen war. Zuerst hatte alles ganz harmlos ausgesehen. „Ich will nur ein bißchen ausruhen und dann wieder fliegen", hatte er nach dem Sturz gesagt. übertriebene Vorsicht war keine Eigenschaft dieses klugen und tollkühnen Waghalses. Andere aber hat er zur Vorsicht gemahnt und dabei gleichmütig von den vielen Verrenkungen, Verstauchungen und Fleischwunden gesprochen, die er sich selbst bei Stürzen zugezogen hatte. „Das rechnet nicht", sagte er, „das macht nicht lange arbeitsunfähig, aber bedenken Sie, daß Sie nur e i n Genick zum Zerbrechen haben!" Andere sollten es bedenken, Lilienthal selbst hat es nicht bedacht. Nach mehr als 2000 Flügen, die er mit seinen primitiven, aber wohldurchdachten Segelflugzeugen unternommen hatte, war das böse Geschick seiner Herr geworden. Was eigentlich geschehen war, das konnte der einzige Augenzeuge des Sturzes auch nicht sagen. Es war der Mechaniker Lilienthals, ein Sachverständiger, aber er wußte nur zu berichten, daß der Flug bis zur halben Strecke normal verlaufen, daß dann das Flugzeug plötzlich zum Stillstand gekommen und aus einer Höhe von 15 Metern pfeilschnell zur Erde gesackt war. Er konnte sich den Unfall nicht erklären, obwohl er mit dem gleichen Eindecker mehrmals von dem künstlich errichteten Hügel durch die Luft auf die Wiesen geglitten war. Eine Berliner Zeitung, die diese Flugversuche nicht ernst nehmen konnte, hatte schon vor Jahren geschrieben: Wenn Ihr zwei Verrückte sehen wollt, so müßt Ihr nach Lichterfelde-Ost gehen. Auch Gelehrte können irren Hin und wieder kamen wirklich Leute, die ihren Spaß haben wollten an den „Luftflöhen", wie man sie nannte. Die Zweifler und Spötter konnten sich übrigens auf einen großen Gelehrten berufen, auf Helmholtz, den berühmten Physiker, Präsidenten der Physikalisch-Technischen Lehranstalt in Berlin, der seine Meinung in die Worte zusammenfaßte: „Der Mensch hat wohl keine Aussicht, durch den geschicktesten flügelähnlichen Mechanismus, den er durch Muskelkraft bewegt, sein Gewicht in die Höhe pu, heben und dort zu erhalten." Noch viel bestimmter hatte eine vom 21
Staat eingesetzte Kommission erklärt: Der Mensch kann nicht fliegen und wird nie fliegen können! So ziemlich alle waren der Meinung: Was schwerer als die Luft ist, das ist und bleibt an die Erde gebunden; die Zukunft gehört dem gasgefüllten Lenkballon, der leichter ist als die Luft und keiner fremden (Kraft bedarf, um sich von der Erde zu lösen. Lilienthal war andern Glaubens. Er verstand Flugzeuge zu bauen, die ein sicheres Durchgleiten der Luft von erhöhten Punkten ermöglichten; er wollte andere Maschinen bauen, mit denen der Mensch sich stundenlang hoch über der Erde schwebend in der Luft halten konnte. Das war sein Denken und seine Arbeit. Deshalb rechnete er, konstruierte er, probierte er. Deshalb dichtete er: ,,Es kann Deines Schöpfers Wille nicht sein — Dich, Ersten der Schöpfung, dem Staube zu weih'n, — Dir ewig den Flug zu versagen . . ." Obwohl er nichts ohne gründliche wissenschaftliche Überlegung in Angriff nahm, war Lilienthal doch kein Schreibstubenflieger. Er wußte: durch die Theorie allein ließ sich das Problem des Fliegens nicht lösen. Auch hier ging Probieren über Studieren. Beim damaligen Stand der Dinge mußte der Flugkünstler nicht nur Techniker, sondern auch Akrobat sein. Lilienthal war das alles: ein hervorragender Mathematiker und Physiker, ein einfallsreicher Beobachter, ein gewiegter Konstrukteur, ein Wagehals mit akrobatischen Fähigkeiten, der die Gefahr verachtete. „In der Flugtechnik ist zu viel gerechnet und zu wenig versucht worden", sagte er. „Das Fliegen muß von Fliegern erfunden werden, nicht von Mathematikern oder Alchimisten, wie das Schießpulver erfunden wurde." Machen wir's den Störchen nach! Trotzdem hat er studiert — studiert und probiert, seit seinen Kinderjahren. Waren es die Störche seiner pommerschen Heimatstadt Anklam, denen der Knabe neidvoll nachsah, wenn sie hoch in den Lüften in elegantem Fluge majestätisch und ruhevoll dahinsegelten; waren es versprengte Nachrichten von Flugversuchen kühner Pioniere in fernen Ländern, die in ihm den Wunsch lebendig werden ließen, sich über die Erde zu erheben? Heimlich bauten die beiden Brüder Lilienthal, 12 und 14 Jahre alt, Schwingen aus Holzsparren und Vogelfedern. Mit ihrer Hilfe 22
wollten sie sich in die Luft erheben. In einer Sommernacht versuchten sie es zum ersten Male auf dem Exerzierplatz der kleinen Garnisonstadt. Das kindliche Unternehmen mißlang natürlich, aber Otto, der beharrlichere der Brüder, sagte voll männlicher Überzeugung: „ W i r werden es schon schaffen!" Mühsam und unermüdlich basteltc»i sie, schneiderten, nähten und formten sie neue Flügel, die sie den Störchen ihrer Heimat abguckten. Aus vier Meter Höhe, vom Fenster eines Schuppens, wollten sie langsam zu Boden gleiten. Ihre Mutter war außer sich, sie untersagte das gefährliche Spielzeug, sie bat und drohte. Ein Onkel warnte, und er sollte auf die Dauer recht behalten: „ J u n gens, ji stött jug (ihr stoßt euch) noch mal Gnick und Gnack af!" Aber alles war vergeblich. Die Knaben wollten fliegen. Wieder blieb es beim Wollen, trotz der großen Erwartungen, mit denen sich Otto die künstlichen Flügel an die Arme geschnallt hatte. Mit den ausgebreiteten Schwingen saß er auf dem Fensterbrett, sah rund um sich und sprang. Er fiel zu Boden, aber nicht so hart, wie er bei einem freien Fall gestürzt wäre: Die Flügel hatten den Sturz gemildert. Geld wächst nicht auf Bäumen Danach glaubte er mehr als je, daß er bald wirklich fliegen werde. In Gedanken daran wurden die Hausaufgaben der Schule manchmal kaum zur Hälfte fertig. Und wenn er in seinem Goethe las, der ihm lieber war als alle Hausaufgaben der Erde: „Ach, zu des Geistes Flügeln wird so bald kein körperlicher Flügel sich gesellen", so lächelte er und dachte: Ich werde es dir schon zeigen, alter Goethe! Er war überzeugt, daß der Vogel nicht durch irgendwelche geheimnisvollen Muskelkräfte, sondern durch die Form seiner Flügel dazu befähigt wird, sich schwebend in der Luft zu halten. Wenn man die richtigen Flügel bauen könnte, so müßte auch der Mensch fliegen können! Noch viele Jahre später schrieb er: „Die ruhig gehaltenen, ausgebreiteten Fittiche dienen wirklich ohne eigentliche Kraftanstrengung als Träger des Vogelleibes". Mit der Beobachtung der Vögel, deren Flug er „auswendig kannte", mit dem Studium der Form der Vogelschwingen vergingen Tage, Mo23
nate und Jahre. Bis tief in die Nacht saß er oft bei seinen Zeichnungen, er baute Modelle, von denen er schließlich sagen konnte, daß „sie aus der Hand fraßen", weil sie so zahm, d. h. windschnittig gebaut waren, daß sie auch im Winde auf der Hand sitzen blieben und nicht fortgeweht wurden. Aber da der Mensch essen muß, um leben zu können, und da das Essen Geld kostet und das Geld nicht auf den Bäumen des W a l des wächst, mußte Otto Lilienthal zunächst daran denken, sich eine Lebensstellung zu schaffen. Sein Interesse für das Fliegen drängte ihn zu einem technischen Beruf, er wurde Ingenieur und Maschinenbauer, schließlich brachte er es zum Fabrikbesitzer. Daneben versuchte er sich als Erfinder. Er erfand eine Art bautechnischer Spielzeuge, die unter dem Namen des Fabrikanten Richter als Anker-Steinbaukasten durch mehrere Generationen zum beliebtesten Weihnachtsgeschenk in allen Familien wurden, in denen Jungen heranwuchsen. Ein Jahrzehnt lang hat ihn diese angestrengte Tätigkeit verhindert, sich mit dem Problem des Fliegens zu befassen. Aber sobald er seine Existenz als Unternehmer und Familienvater gesichert sah, kehrte er zu seinen Lieblingsideen, zur Leidenschaft seines Lebens, zurück. Ein großer Teil seiner Einkünfte, vielleicht der größte, floß von da an in den Bau neuer Flugzeuge. Er erprobte die verschiedenen Formen, auch Flugzeuge mit Flügelschlag, zuerst in den Rhinower Bergen, die, eigentlich keine Berge, sondern nur bescheidene Hügel sind, und» später in Lichterfelde in Berlin. Oft klagt er in dieser Zeit: „Man hat zu viel mit dem Broterwerb zu t u n ! " Es war ein großer Tag, als ihm der erste Gleitflug gelang. Schließlich brachte er es dazu, 350 Meter zurückzulegen und sich bis zu acht Minuten schwebend in der Luft zu halten. Die ersten Kinderschritte Jetzt lachten die Leute nicht mehr, jetzt bewunderten sie ihn, nannten ihn den „fliegenden Menschen", „Fhomme volant", „the flying m a n " ; denn seine gelungenen Versuche hatten die Aufmerksamkeit der Fachleute auf der ganzen Erde erregt. Er flog bei jedem Wetter, bei Windstille und bei Sturm. „Herr Lilienthal, heute geht es wirklich nicht, Sie riskieren Ihr Leben!" beschwor man ihn. „Sie haben es doch nicht nötig, sich solcher 24
Lebensgefahr auszusetzen, denken Sie an Ihre Familie!" Aber er wollte nicht hören. Natürlich fehlte es nicht an Kritikern, während unkritische Leute wieder glaubten, das Problem des Fliegens sei durch ihn endgültig gelöst. Von Reportern geschickt aufgenommene Photographien zeigten ihn hoch in den Lüften. Er, selbst wußte, woran er war. Er sagte: „Meine Segelf lüge sind für den freien Flug nichts mehr, als die ersten unsichern Kinderschritte für den Gang des Menschen sind." Viele haben Lilienthal einen Phantasten genannt, manche haben gesagt, daß es ihm in erster Linie darauf angekommen sei, von sich reden zu machen. Daß er nichts dagegen hatte,' einiges Aufsehen zu erregen, das bewies er schon als Student, als er mit seinem Bruder auf einem selbstkonstruierten dreirädrigen Tretwagen in
Der „Fliegerhügel" Lilienthals bei Berlin-LichterXelde
25
Berlin über die Linden fuhr. Mit Genugtuung vermerkte er, daß der alte Kaiser Wilhelm I. dem merkwürdigen Gefährt sinnend nachgesehen habe. Lilienthal hatte nichts dagegen, bekannt, bewundert, berühmt zu werden. Er freute sich wie ein Schauspieler über den Beifall des Publikums, er war glücklich, wenn die Leute ihm nach einem gelungenen Fluge zujubelten. Der Ruhm hat ihn sicher gelockt, für ihn setzte er sich gerne der Gefahr aus. Als man ihn einmal wieder zur Vorsicht mahnte, antwortete er: „Sollte mir wirklich ein Ende besehieden sein, wie Sie es fürchten, so werden Sie meinen Namen in allen Büchern verzeichnet finden, die über die ersten Flugversuche berichten." Er hatte ein sehr großes Selbstbewußtsein und glaubte sich zu großen Dingen auserwählt. Aber die wertvolle, mühereiche wissenschaftliche Arbeit, die er dem Luftwiderstand und allen andern Fragen des Flugwesens widmete, sind Beweis dafür, daß es ihm in erster Linie doch nur darauf ankam, den uralten Traum der Menschheit zu verwirklichen, sich von der Erde zu erheben und es den Vögeln gleichzutun. Diesem Traum opferte er sein Leben. „Opfer müssen gebracht werden", war eines seiner Lieblingsworte. Sein Tod ereilte ihn in einem Augenblick, in dem er mit dem Gedanken beschäftigt war, leichte Motoren, vermutlich Kohlensäuremotoren, in seine Flugzeuge einzubauen und die Luftschraube zu benutzen. Vielleicht wäre er damit zum ersehnten Ziel, zum Dauerflug, gekommen.. Das Schicksal wollte es nicht, er starb wie der sagenhafte Ikarus, weil er der Sonne nahe sein wollte. Was Lilienthal versagt blieb, das haben die Brüder Wilbur und Orville Wright erreicht, die vier Jahr,e später, Lilienthals Erfahrungen klug und mutig verwertend, mehrere geglückte Gleitflüge durchführten, um dann im Jahre 1903 mit einem Motorflugzeug für uns die Luft zu erobern. Seither haben wir fliegen gelernt, anders als Lilienthal es sich gedacht hat. Tausende von Flugzeugen, mit kraftvollen Antriebsapparaturen ausgerüstet, durchqueren Tag und Nacht die Lüfte. Auch die Segelflieger haben Fortschritte gemacht, führen lange Überlandflüge durch, Hangwind und Aufwind benützend. Manche Fachleute meinen, daß Lilienthals kühne Experimente nur noch historisches Interesse haben; längst hat man es aufgegeben, den Flügelschlag des Vogels nachzuahmen, der Motor in der verschie26
densten Form hat das Problem gelöst, anders gelöst als die Natur die Vögel das Fliegen lehrte; Lilienthals theoretische Berechnungen sind längst überholt — sein Ruhm aber ist es, daß er der erste Mensch war, der sich auf Schwingen von der Erde erhoben hat, als der erste Flieger der Welt.
„Mein Laboratorium ist der Ozean"
GUGLIELMO MARCONI Victoria, Königin von England, schon damals ein wenig ungefüge von Gestalt, aber von großer Würde in Haltung und Blick, ging, von einer Hofdame begleitet, durch den Park des Schlosses. Unter einem rohgezimmerten Pavillon, der dicht am Wege lag, stand ein sehr junger Mann, der ein auffallend intelligentes Gesicht und übergroße Ohren hatte, und bastelte an einem seltsamen Apparat. Als er die Königin erblickte, machte er Front gegen sie und verbeugte sich tief. Aber Victoria ging vorüber, ohne den Gruß zu erwidern. Auch kluge Frauen, selbst wenn sie Königinnen sind, machen einmal einen törichten Fehler. Dem jungen Mann unter dem Pavillon war das Blut ins Besicht gestiegen. Aber er hatte gelernt, sich zu beherrschen. Er v irf das Werkzeug, das er in der Hand hielt, nicht hin, er legte es entschlossen auf den Handwerkstisch und ging mit großen, ruhigen Schritten ins Schloß, in das Büro des Haushofmeist ! J . „Ich bedauere", sagte er, „ich bin außerstande, meine Arbeit fortzusetzen." Der hohe Beamte war entsetzt. „Ihre Majestät wünschen mit ihrem Sohn, der auf dem Meere ist, Verbindung zu haben", sagte er. „Sie wissen, er war nicht unbedenklich krank, und die Königin ist besorgt. Sie haben sich bereit erklärt, eine drahtlose Verbindung herzustellen. Jetzt wollen Sie nicht weiterarbeiten. Was soll dieser Widerspruch?" Aber Marconi wollte keine Erklärung geben. „Das ist meine Angelegenheit!" entgegnete er kurz und gemessen. Und damit ging er seines Weges. 27
Als man der Königin den Vorfall meldete, sagte sie: „Gut, holen Sie einen andern Elektriker!" Der Haushofmeister antwortete: „Leider gibt es in England niemanden, der die Verbindung herstellen könnte. Das kann nur Marconi." '. Die Königin stutzte, besann sich einen Augenblick und ßagte dann: „So sagen Sie Herrn Marconi, daß die Königin von England sich freuen wird, wenn er morgen mit ihr dinieren will." Einer solchen Einladung konnte der stolze junge Mann nicht widerstehen. Er kam zum Diner, die Königin behandelte ihn gnädig und leutselig, aber als sie ihn bat, ihr zu erklären, wie man drahtlos telegraphiert, war er trotz besten Willens nicht imstande es zu tun. Die klugen Lords der Admiralität Marconi hat seine grundlegende Erfindung, die erste drahtlose Signalverbindung, gemacht, als er 21 Jahre alt war. Sein italienisches Vaterland hatte ihn zunächst enttäuscht, da er merkte, daß die italienische Marine ihn bei der Verwertung des Funkentelegraphen umgehen wollte. Deshalb reiste er, in Begleitung seiner Mutter, nach England, um seine Erfindung dort finanziell auszunutzen. Die britische Admiralität begriff sofort, welch ungeheuren Nutzen sie aus der Möglichkeit ziehen könnte, vom Land aus zu den Schiffen auf hoher See und von Schiff zu Schiff jederzeit eine augenblicklich verfügbare Verständigung aufrechterhalten zu können. Wer dieses unschätzbare Mittel besaß, konnte in einer Seeschlacht dem Feind selbst bei gleichem Kräfteverhältnis weit überlegen sein. Die Lords der Admiralität unterstützten mit ihrem ganzen Einfluß die Gründung einer englischen Gesellschaft für drahtlose Telegraphie, von deren Aktien der junge Erfinder die Hälfte erhalten sollte und erhielt, überdies zahlte man ihm als Ehrengabe einen Betrag von 15 000 Pfund in bar aus. Das war im Jahre 1897, Marconi war damals knapp 23 Jahre alt. Vier Jahre später, am 12. Dezember 1901, gelang Marconi die erste drahtlose Dberbrückung des Atlantischen Ozeans zwischen einer Sendestation in Poldhu in Cornwall, England, und der Empfangsstation St. John's in Neufundland. 28
Entweder alles oder nichts! Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, welche Begeisterung die Erfindung der drahtlosen Telegraphie überall hervorrief. Marconi wurde allenthalben wie ein Halbgott gefeiert, und das hat ihn begreiflicherweise mit großem Selbstbewußtsein erfüllt und ihn, der von Natur bescheiden war, zu einem eigenwilligen und vielfordernden Mann gemacht, der es liebte, wenn von ihm gesprochen wurde. „Ich bin im Grunde wie ein Künstler", sagte er zu seinem Freund und späteren Biographen Solari, „ich muß fühlen, daß das Publikum für mich Interesse zeigt." Jahrzehnte hindurch hat man sich für ihn mehr interessiert, als man sich heute für den berühmtesten Filmstar interessiert. Er war so gefeiert, daß die Leser einer großen amerikanischen Zeitung bei einer Rundfrage nach dem glücklichsten Manne der Welt ihn an erster Stelle nannten. Als er, 29 Jahre alt, nach Rom zurückkehrte, wurde er als Triumphator empfangen. Die Studenten spannten die Pferde seines-Wagens aus und zogen ihn durch die jubelnde Menge, trugen aber gleichzeitig eine junge Dame, die in Begleitung ihres Mannes dem gleichen Zugabteil wie Marconi entstiegen war, auf ihren Händen zum Hotel, weil sie die Dame für seine Verlobte hielten. Wie hätte ein solcher Mann nicht stolzerfüllt werden sollen? Als ihm gemeinsam mit dem Physiker Professor Braun 1909 der Nobelpreis verliehen wurde, begehrte er zunächst zornig auf und wollte den Preis nicht annehmen: „Entweder den ganzen pder nichts!" erklärte er. Es kostete Mühe, ihn umzustimmen. Er hatte eine Schwäche für Orden und war tief gerührt, als man ihn zum Senator und später zum Präsidenten der italienischen Akademie der Wissenschaften ernannte. Solari begrüßte ihn gleich danach mit der Anrede Exzellenz, was ihn deutlich befriedigte. Und als ihn schließlich der König zum Marchese erhob — einer Rangstufe zwischen Graf und Herzog —, trat eine offensichtliche Änderung in seinem Gehaben ein. Selbst gegenüber seinen engsten Freunden wurde er zurückhaltend, betont würdevoll. Es freute ihn, daß die elegante Yacht, die er Elettra nannte, früher einem Erzherzog gehört hatte. Auf ihr brachte er die Hälfte des Jahres zu, den Ozean durchquerend, der sein Laboratorium war. 29
Der „Marconi-Skandal" Geld schätzte Marconi sehr hoch. Er war der Überzeugung, daß ein Mann seine Arbeit nicht richtig einzuschätzen vermag, wenn er es nicht versteht, sie sich richtig zahlen zu lassen. „Ich betrachte das Geld als eine Macht", erklärte er, „und ich wäre ein Dummkopf, wenn ich andern gestattete, durch meine Erfindung, reich zu werden." Bei einer solchen Einstellung mußten Geldverluste ihn schwer treffen. Marconi ist ihnen nicht entgangen, aber immer waren sie nur vorübergehend. Die Funkgesellschaften, an denen er mit großen Aktienpaketen beteiligt war, haben wiederholt Krisen erlebt,; bei denen es auf Tod und Leben zu gehen schien. In einer besonders kritischen Lage mußte er sich dazu bequemen, den Vorsitz der englischen Gesellschaft mit dem Londoner Finanzmann Isaacs zu teilen. An der Londoner Börse gab es so etwas wie einen „Marconi-Skandal". Die Zeitungen gebrauchten dieses Wort, obgleich der Erfinder persönlich an den fraglichen Geschäften ganz unbeteiligt war. Die Marconiaktien, die einen Nennwert von 1 Pfund' hatten, fielen auf 10 Schilling. Ein Jahr später standen sie auf 10 Pfund! Dieses Auf und Ab rief in der Öffentlichkeit große Entrüstung hervor. Der Justizminister und Lloyd George, beide Großaktionäre der Marconigesellschaft, wurden beschuldigt, die ganze Bewegung inszeniert zu haben, um sich zu bereichern. Trotz all dieser Widerwärtigkeiten hat Marconi keinen Tag seine Arbeit eingestellt. Ständig war er auf der Suche nach Verbesserungen im Funkwesen. Alle, die ihn kannten, rühmten seine unermüdliche Arbeit. „Ich würde lieber ein beschauliches Leben führen", sagte er, „aber ich fühle mich zur Arbeit verpflichtet." Können Sie schweigen? Galileis Leitsatz: Versuchen — immer wieder versuchen!" war auch der Leitsatz Marconis. Diese Einstellung ermöglichte die großen Erfolge dieses Erfindergenies. Zwei weitere große Tage seines Lebens waren die ersten gelungenen funkentelephonischen Versuche zur See im März 1914 und die Eröffnung der Ausstellung von Sidney 16 Jahre später, gleichfalls im März. Das Schiff „Regina Elena", von dem er 1914 eine funkentelephonische Verbin-
30
düng zwischen Schiffen im Abstand von 73 Kilometern herstellte, trägt eine Tafel zur Erinnerung an dieses denkwürdige Ereignis. Ober alle Vorstellung der Zeit weit hinausgehend war die Verbindung, die er 1930 von Genua nach Sidney in Australien herstellte. Marconi befand sich auf seiner Yacht Electra; über eine Entfernung von 22 000 Kilometer erwartete er die drahtlose Nachricht des Ausstellungspräsidenten, der ihm das Zeichen zur Eröffnung geben sollte. Als die Meldung in Genua eintraf, drückte der Erfinder auf einen Knopf, und in Sidney flammten im gleichen Augenblick 2000 elektrische Lampen auf. Der Präsident, außer sich vor Begeisterung, funkte: „Herrlich, herrlich! Tausende Menschen jubeln Ihnen begeistert zu." Dann wünschte er gute Nacht. In Australien begann die Nacht, in Genua schien die Mittagssonne in die Kabine Marconis. Und was sagte er dazu? Nüchtern bemerkte er: „So kommen wir kostenlos zu einer großen Reklame in allen Ländern der Erde."
Marconi stellt die Verbindung Hafen Genua—Sidney her 31
Manche Zeitungen legten das Ereignis falsch aus. Sie berichte« ten, daß Marconi von Genua aus die elektrischen Lampen in Sidney nicht nur entzündet, sondern auch mit Strom gespeist habe. Das erheiterte ihn sehr. Er verachtete die Reklame nicht, die man für ihn machte, gc J legentlich liebte er es aber, allzu Neugierige und Zudringliche hinters Licht zu führen. Einmal sagte er zu ihnen: „Sagen Sie es niemandem, ich bin dabei, ein Verfahren auszuarbeiten, um mit dem Mars zu sprechen." ', Natürlich brachten am nächsten Tage fast alle Zeitungen der: Erde die sensationelle Nachricht. Ein andermal sagte er geheimnisvoll zu amerikanischen Journalisten: „Können Sie schweigen? Ich bin dabei, ein System zu erfinden, um durch die Mauern zu sehen." Auch das wurde von allen Leichtgläubigen geglaubt. Die Folge war eine Flut von empörten Briefen. So war dieser große Erfinder. Das Bild seiner Persönlichkeit! wäre weniger eindrucksvoll, wenn es aus lauter Lichtseiten be-1 stünde und einer süßlichen Photographie gliche. Gerade die kleinen menschlichen, allzu menschlichen Züge bringen ihn uns nahe und machen ihn im Verein mit seinem Genie zu einer kraftvollen Figur, wie ihrer in früheren Zeiten vielleicht viele gelebt haben mögen.
Umschlaggeataltung: Karlheinz Dobsky Bild auf der Umschlagseite 2: Philipp Reis bei Versuchen mit seinem Telephon (Zeichnung A. Wald) Bildnachweis: Historisches Bildarchiv Handke, Historia-Photo L u x - L e s e b o g e n 214 (Technik) — H e f t p r e i s 25 Pfg. Natur- und kulturkundllche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, München, Innsbruck, Ölten — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth
Neuerscheinung Im Verlag der Lesebogen
LUX HISTORISCHER BILDATLAS Karten, Texte und Bilder zur Weltgeschichte Aus der lanpjährlgen Arbelt an unserem Verlagswerk B I L D D E R J A H R H U N D E R T E , dem umfang-und erfolgreichsten Geschichtswerk der Nachkriegszeit (über 2 Mtll. Bände), entstand die Idee zu diesem kombinierten Karten-, Text- und Bildatlas der Weltgeschichte. L U X H I S T O R I S C H E R B I L D A T L A S Ist ein Geschichtsatlas, in dem man Geschichte lesend und schauend erleben kann. Der Textleil enthält eine interessant geschriebene Weltgeschichte von der Urzeit bis zur Gegenwart, jede der 131 sechsfarbigen GeschicMskarten ist deutlich in den Text einbezogen, jedes Zeitalter wird außerdem auf eigenen Bildseiten durch ausgewählte Bilder und historische Dokumente höchst anschaulich gemacht. Diese neuartige Verbindung macht Lux Historischen Bildatlas zu dem idealen Nachschlage-Kartenwerk und zugleich zu einem selbständigen Lese- und Studienbuch von hohem Bildungswert. Den Bearbeitern der Karten, Dr. Hans Zeissig und namhaften in- und ausländischen Historikern, isf es gelungen, nicht nur die staats- und völkergeschichtlichen Vorgänge, sondern auch das unpolitische geschichfsbildende Geschehen im Landkartenbild deutlich und leicht faßbar zu machen. Eingestreute vielfarbige GroBkarten ( 3 5 x 2 4 cm) zeigen besonders einprägsam die Schauplätze und geschichtlichen Zustände Im Wechsel von einem Zeitalter zum anderen. 131 sechsfarbige Karten. 4 6 0 Bilder. 52 Spalten Text. Format 1 8 , 5 x 2 5 , 5 (Querformat). Lux-Luxusernband. D M 1 9 . 8 0
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU
-
MÜNCHEN
-
INNSBRUCK
-
ÖLTEN