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Öffentlichen Band 24
Recht
Grundrechte als Institution Ein Beitrag zur politischen Soziologie
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Schriften
zum
Öffentlichen Band 24
Recht
Grundrechte als Institution Ein Beitrag zur politischen Soziologie
Von
Niklas Luhmann
Zweite Auflage
DUNCKER &
HTJMBLOT
/ BERLIN
Unveränderter Nachdruck der 1965 erschienenen ersten Auflage Alle Rechte vorbehalten © 1974 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1974 bei fotokop, W i l h e l m weihert, Darmstadt Printed in Germany ISBN 3 428 00959 2
Inhaltsübersicht Einführung 1. Kapitel: Das politische System in der differenzierten Sozialordnung ..
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2. Kapitel: Die Legeshierarchie und die Trennung von Staat und Gesellschaft 26 3. Kapitel: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Grundrechtsbegründung 38 4. Kapitel: Die Individualisierung der Selbstdarstellung: Würde und Freiheit 53 5. Kapitel: Die Zivilisierung der VerhaltenserWartungen: Kommunikationsfreiheit 84 6. Kapitel: Die Monetisierung der Bedarfsdeckung: Eigentum und Beruf 108 7. Kapitel: Die Demokratisierung der Herrschaft: politisches Wahlrecht .. 136 8. Kapitel: Die Begründung der Staatsentscheidungen: Gleichheit vor dem besetz 162 9. Kapitel: Theorie der sozialen Differenzierung
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10. Kapitel: Soziologie und Grundrechtsdogmatik
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Sachverzeichnis
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Einführung Die großen Themen des neueren Rechts- und Staatsdenkens sind soziologisch keineswegs uninteressant. Sie sind nicht nur Dogmen und als solche der Interpretation und der historischen Erklärung zugänglich. Sie haben zumeist einen Realitätssinn oder beziehen sich auf Realitäten in einer Weise, die mehr Aufmerksamkeit verdiente, als sie gegenwärtig findet. Die einfache Entgegensetzung von Dogma und Realität ist in sich selbst natürlich unbefriedigend, ja fast nichtssagend, da keine Interpretation ganz irreal und keine Realität ganz uninterpretiert erscheint. Die Unterscheidung gewinnt eine gewisse Schärfe erst dadurch, daß sie Ansatzpunkte verschiedener Methoden trennt. Der Sinn von Dogmen wird ausgelegt, wird hermeneutisch entfaltet; Realitäten werden auf empirisch nachprüfbare Kausalbeziehungen und deren Alternativen hin erforscht. Diese Methodentrennung spännt weit divergierende Verständnishorizonte auf, sie scheidet Wissenschaften, ja ganze Gedankenwelten voneinander und fordert dem Forscher eindeutige Zuordnungsentscheidungen ab: Er muß seine Methode angeben und sich auf ein bestimmtes grundbegriffliches Bezugssystem festlegen; sonst kann er weder Klarheit noch Verständlichkeit erreichen. Rechtsdogmen sind, schon wegen ihrer komplizierten Sinnverflechtung, in die man nur durch langes Spezialstudium einzudringen vermag, eine Domäne der juristischen Interpretation. Sie werden von den empirischen Sozialwissenschaften mit einer gewissen Scheu gemieden . Diese Vorsichtsgrenze läßt sich auch in anderen Regionen verfolgen, etwa im Verhältnis der Soziologie zu den Wissenschaften vom rationalen Wirtschaften und vom rationalen Organisieren . Die Wissenschaften vom 1
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Vgl. David Riesman, Toward an Anthropological Science of Law and the Legal Profession, The American Journal of Sociology 57 (1951), S. 121—135, neu gedruckt in: ders., Individualism Reconsidered and other Essays, Glencoe 111. 1954, S. 440—466. In diesem Falle hängt die Zurückhaltung der Soziologie offenbar mit einer Uberschätzung des empirischen Gehaltes der reinen ökonomischen Theorie zusammen. Dazu vgl. Hans Albert, Nationalökonomie als Soziologie: Zur sozialwissenschaftlichen Integrationsproblematik, Kyklos 13 (1960), S. 1 bis 43. Siehe z. B. Renate Mayntz, Die Organisationssoziologie und ihre Beziehungen zur Organisationslehre, in: Erich Schnaufer/Klaus Agthe (Hrsg.), Organisation, Berlin und Baden-Baden 1961, S. 29—54. 2
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Einführung
faktischen Verhalten und seinen sozialen Beziehungen erheben, um ihre „Wertfreiheit" besorgt, keinen Anspruch auf Feststellung richtigen Verhaltens. Sie sparen jene Themen, bei denen es um normative Modelle, um Dogmeninterpretationen oder um Rationalisierungstechniken geht, sorgfältig aus. Allenfalls übernehmen sie anerkannte Resultate, die in die Tat umgesetzt worden sind — so wie der Begriff der „formalen Organisation" die Ergebnisse der klassischen betriebswissenschaftlichen Organisationslehre in die Organisationssoziologie einführt ; aber sie enthalten sich eines eigenen kritischen Urteils über die Richtigkeit des Handelns. 4
Die Rechtswissenschaft ist dagegen dogmatisch geblieben, auch wenn sie es zunehmend lernt, die Funktion ihrer Dogmen in einem Problemlösungszusammenhang selbst zu analysieren. Faktenveränderungen, die sich ihr aufdrängen, werden als Hilfsvorstellungen bei der Normauslegung hinzugezogen. Welche Fakten aber und in welchem Grade sie Berücksichtigung finden, hängt ab vom Unbestimmtheitsgrad der jeweils interpretierten Norm und von der Beweglichkeit der anerkannten Auslegungsmethoden. Deshalb muß „die Frage nach den Grenzen der Rezeption der Sozialordnung durch die Grundrechtsnorm . . . weitgehend offen und dem Einzelfall überlassen bleiben" . 5
Die Fixierung solcher Themen wie der Grundrechte in der Verfassung entzieht sie der Diskussion, mögen sie auch Gegenstand achtungsvoller Auslegung bleiben. Ihre dogmatische Behandlung als unantastbare Werte verstärkt dieses Tabu und gibt ihm eine moralische Weihe. Die Soziologie eröffnet dagegen mit ihrer Frage nach der Funktion den Blick auf andere Möglichkeiten. Sie behandelt Heiligtümer als variabel, um in den Bedingungen ihrer Ersetzbarkeit den Sinn ihrer Realität zu finden. Sie sucht Erkenntnissicherheit nicht mehr in unwandelbaren, höchsten Begriffen, sondern durch Einsicht in die Struktur eines Feldes von Variationsmöglichkeiten. Mit ihrem Vordringen setzt eine neue Vernunft des Vergleichens sich an die Stelle der alten Vernunft des Vernehmens. Was da als Mangel an Ehrfurcht erscheint, könnte aber in Wahrheit ein neuer Denkstil sein, der den Ausdruck seiner Ehrfurcht 4
Dabei unterlaufen begreiflicherweise Mißverständnisse, wenn Soziologen normativ oder strategisch gemeinte Modelle als Wirklichkeitsbeschreibungen kritisieren; so in der Kritik der rationalen Organisationslehre — dazu Martin Irle, Soziale Systeme: Eine kritische Analyse der Theorie von formalen und informalen Organisationen, Göttingen 1963, insb. S. 15 ff. •—, und oft auch in der Kritik der reinen Wirtschaftstheorie. 5
Christian Graf von Pestalozza, Kritische Bemerkungen zu Methoden und Prinzipien der Grundrechtsauslegung in der Bundesrepublik Deutschland, Der Staat 2 (1963), S. 425—449 (440). Vgl. dazu auch Hans W. Baade, Social Science Evidence and the Federal Constitutional Court of West Germany, The Journal of Politics 23 (1961), S. 421—461.
Einführung
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noch zurückhält. Denn die Sprache der Ehrfurcht ist durch den Untergang der Metaphysik diskreditiert. Für welche Seite soll das Staatsdenken sich entscheiden? Angenommen, die Alternative von dogmatischer Auslegung und funktionaler Sozialwissenschaft sei sinnvoll gestellt, dann kann man dieser Frage nicht ausweichen — es sei denn, daß man zwei Staatswissenschaften konzediert , die, auch wenn von einer Fakultät, nicht miteinander verkehren. Das gegenwärtige deutsche Staatsdenken ist in weitem Umfange Staatsrechtswissenschaft. Es hat sich dogmatisch-interpretativen Methoden verschrieben und sucht seine Entwicklung innerhalb des so gesteckten Rahmens durch eine Ausweitung des argumentativen Stils der Interpretation voranzutreiben. Nicht nur die streng juristischen, sondern auch weitergreifende, freiere, geisteswissenschaftliche oder historische Verfahren der Sinndeutung gelten, wenn auch umstritten , als legitim. Diese Erweiterung scheint jedoch, obwohl die geistigen Fronten schon in den zwanziger Jahren festgelegt worden sind, das B e dürfnis nach Fortschritt und Modernität zu absorbieren. Die revolutionierenden Forschungen und Theorieversuche auf den Gebieten der Politikwissenschaft, der politischen Soziologie und der Organisationswissenschaft gelten, sofern man von ihnen überhaupt Notiz nimmt, als Themen anderer (hauptsächlich „amerikanischer") Wissenschaften und werden damit aus dem Blickfeld geschoben. 6
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Darin liegt die Gefahr einer bedenklichen Isolierung gegenüber jenen Forschungszweigen, die im letzten Jahrzehnt die stärksten Entwicklungen aufzuweisen haben und, wenn nicht alles täuscht, auf internationaler Ebene die Führung an sich reißen werden. Durch breite Sicherheitsgräben der Unkenntnis geschützt, droht die Staatsrechtslehre sich in eine Diskussion von Auslegungsfreiheiten und -methoden und in den Aufbau einer kunstvollen Dogmatik des Grundrechtsteils des Verfassungsgesetzes zu verlieren. Andererseits fehlt den vorwärtsstürmenden 0
Noch versöhnlicher Konrad Hesse, Die normative Kraft der Verfassung, Tübingen 1959, der beide Aspekte in einer einheitlichen Staatslehre vereinigen will. Auch auf Seiten der Politikwissenschaft gibt es solche Bestrebungen. Vgl. Kurt Sontheimer, Politische Wissenschaft und Staatsrechtslehre, Freiburg/Br. 1963. Siehe namentlich die Alarmrufe, die Forsthoff den allzu sorglos Werte auswertenden Geisteswissenschaftlern nachgesandt hat: Ernst Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, Festschrift für Carl Schmitt, Berlin 1959, S. 35—62; ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961; ders., Der introvertierte Rechtsstaat und seine Verortung, Der Staat 2 (1963), S. 385—398, die erste und dritte Studie neu gedruckt in ders., Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1964. Vgl. auch die nach beiden Seiten kritische Würdigung durch Peter Lerche, Stil, Methode, Ansicht, Deutsches Verwaltungsblatt 76 (1961), S. 690—701, und die in e i n e r (der Forsthoffschen) R i c h t u n g kritische Würdigung durch Alexander Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung, Archiv des öffentlichen Rechts 85 (1960), S. 241—270. 7
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Einführung
Sozialwissenschaften der Kontakt mit jenem Erbgut an Kenntnissen und Erfahrungen, das bei uns in Gestalt von Dogmen und Verfassungsartikeln gepflegt und immer wieder neu poliert wird. So hätte, um nur ein Beispiel zu geben, die funktionale Soziologie mit einem Blick auf die Geschichte des ius eminens bzw. des Staatsnotrechtes erkennen können, daß die Formel ,vom „Bestand" eines sozialen Systems kein scharfes, deduktiv ergiebiges Kriterium ist, und sich damit eine lange, unfruchtbare Diskussion ersparen können . Wer seine Geschichte vergißt, ist, nach dem Wort Santayanas, dazu verurteilt, sie neu zu durchleben. 8
In dieser allgemeinen Situation dürfte sich der Versuch lohnen, damit zu beginnen, den Trenngraben zuzuschaufeln, der mitten durch das einheitliche Wissenschaftsthema des neuzeitlichen Staates läuft und Empirie und Dogmatik, Verhaltenswissenschaften und „verstehende" Sinnwissenschaften voneinander scheidet. Dabei muß ein rein eklektisches Verfahren und jeder Anschein von Methodensynkretismus vermieden werden; denn mit einer Verunklärung der Fronten wäre nicht geholfen. Ein solches Unternehmen kann nur gelingen, wenn seine Ausgangspunkte, seine Fragestellung und sein begrifflicher Bezugsrahmen hinreichend präzise angegeben werden. Deshalb wählen wir nicht den Weg einer umfassenden Synthese, sondern den Weg einer exemplarischen Analyse, die — so ist zu hoffen — verständlich und nachprüfbar bleiben wird. Wir beginnen auf dem Ufer der Soziologie politischer Systeme und setzen hier die Anwendbarkeit des soziologischen Systembegriffs auf Staatsbürokratien voraus . Das geschieht, weil die funktionale Systemanalyse jene Variante der soziologischen Forschung ist, welche die Politikwissenschaft, insbesondere ihre vergleichenden Forschungen, so stark beeinflußt, daß die Grenzen zwischen beiden Forschungsbereichen gegenwärtig kaum zu ziehen sind . Außerdem stellt die funktionale 9
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Dazu näher Niklas Luhmann, Funktion und Kausalität, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 14 (1962), S. 617—644 (629 ff.). Einige Bemerkungen dazu in meinem Aufsatz Zweck — Herrschaft — System: Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, Der Staat 3 (1964), S. 129—158. Vgl. zu diesen Abgrenzungsproblemen besonders Reinhard Bendix/Seymour M. Lipset, Political Sociology: A Trend Report and Bibliography, Current Sociology 6 (1957), S. 79—169, und Seymour M. Lipset, Sociology and Political Science: A Bibliographical Note, American Sociological Review 29 (1964), S. 730—734; weiter die Aufsätze im Band 8, Heft 3 (1956) der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie; Otto Stammer, Gesellschaft und Politik in: Werner Ziegenfuss (Hrsg.), Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 530—611; Hans-Peter Schwarz, Probleme der Kooperation von Politikwissenschaft und Soziologie in Westdeutschland in: Dieter Oberndörfer (Hrsg.), Wissenschaftliche Politik: Eine Einführung in Grundfragen ihrer Tradition und Theorie, Freiburg/Br. 1962, S. 297—333; W. G. Runciman, Social Science and Political Theory, Cambridge, England, 1963. Als neuere Beispiele für Theoriebildung und Forschungstendenzen David Easton, An 9
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Einführung
Systemtheorie den Forschungsansatz dar, mit welchem sich die Soziologie am stärksten den Wissenschaften vom rationalen Handeln zu nähern scheint . 11
Als Thema unserer Untersuchungen sei ein Problem des gegenüberliegenden Ufers der dogmatischen Staatsrechtswissenschaft anvisiert: die Institution der Grundrechte. Diese Auswahl erfolgt aus verschiedenen Gründen: Einerseits scheinen die Grundrechte, im Gegensatz etwa zum Organisationsteil der Verfassung, sich besonders schlecht für eine erfahrungswissenschaftliche, nichtnormative Analyse zu eignen. Jedenfalls spielen sie bisher in der Bürokratieforschung keine Rolle. Wir stehen hier vor einem noch unbestrittenen Reservat der Jurisprudenz , dessen soziologische Erschließung, wenn sie gelingt, besondere Aufschlüsse verspricht. Außerdem stehen die Grundrechte zur Zeit im Mittelpunkt des dogmatischen Interesses, sei es, weil der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz hier seinen Schwerpunkt hat, oder auch, weil die Grundrechtsauslegung besonders schwierig und besonders reizvoll ist. Schließlich ist für diese Themenwahl bestimmend, daß es bisher mit rein interpretativen Methoden nicht recht gelungen ist, den Sinnzusammenhang des Grundrechtsteils mit den sonstigen Verfassungsvorschriften in einer einheitlichen Theorie darzustellen . Gelänge es, vom Boden 12
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Approach to the Analysis of Political Systems, World Politics 9 (1957), S. 383—400; David E. Apter, A Comparative Method for the Study of Politics, The American Journal of Sociology 64 (1958), S. 221—237; Gabriel A. Almond, Introduction: A Functional Approach to Comparative Politics, in: Gabriel A. Almond/James S. Coleman (Hrsg.), The Politics of Developing Areas, Princeton N. J. 1960, S. 3—64; Fred W. Riggs, The Ecology of Public Administration, London 1961; Herbert J. Spiro, Comparative Politics: A Comprehensive Approach, The American Political Science Review 56 (1962), S. 577—595; William C. Mitchell, The American Polity: A Social and Cultural Interpretation, New York-London 1962; Francis X. Sutton, Social Theory and Comparative Politics, in: Harry Eckstein/David E. Apter (Hrsg.), Comparative Politics, New York-London. 1963, S. 67—81; S. N. Eisenstadt, The Political Systems of Empires, London 1963, und eine Anzahl von Studien in: Joseph LaPalombara (Hrsg.), Bureaucracy and Political Development, Princeton N. J. 1963. " Diese Vermutung habe ich näher zu begründen versucht in: Funktionale Methode und Systemtheorie, Soziale Welt 15 (1964), S. 1—25. Für die Schrift von Erich Fechner, Die soziologische Grenze der Grundrechte, Tübingen 1954, würde ich nur sehr zögernd eine Ausnahme einräumen. Sie zieht soziologisches Gedankengut zwar heran, benutzt es aber, ohne Kontakt mit den neueren Entwicklungen der funktionalen Systemtheorie, lediglich unter dem Gesichtspunkt einer kausalen Erklärung der Entstehung und Gefährdung der Grundrechte durch Kräfte der Sozialordnung. So kann Fechner ein unsoziologisches „Bekenntnis" zu Grundrechten nicht entbehren. In der hier vorgelegten Untersuchung soll dagegen eine soziologische Analyse der Funktion von Grundrechten versucht werden. Dafür sind in dem Jahrzehnt, das seit Fechners Schrift verstrichen ist, die wichtigsten Voraussetzungen geschaffen worden. Siehe dazu Horst Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 20 (1963), S. 53—102 (insb. 89 ff.) und ders., Wirtschaft und Verfassung, Karlsruhe 1961, 12
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Einführung
der funktionalen Systemtheorie aus zu verdeutlichen, daß Grundrechte nicht einfach überpositive Normen geheimnisvoller Herkunft sind, welche die Natur dem Staat als Recht aufoktroyiert, sondern daß sie für den Staat eine wesentliche Funktion erfüllen, wäre damit zugleich ein wichtiger Beitrag zum Gesamtverständnis des politischen Systems unserer Sozialordnung und seiner Rechtsverfassung geleistet, ein Beitrag, der dann vielleicht auch die interpretierende Dogmatik befruchten könnte. In soziologischer Sicht erscheinen die Grundrechte als Institution. Dieser Begriff bezeichnet in der Soziologie nicht einfach einen Normenkomplex , sondern einen Komplex faktischer Verhaltenserwartungen, 14
S. 56 ff. mit dem Vorschlag, die Brücke nach amerikanischem Muster im Kompetenzgedanken zu suchen. Ob der Kompetenzbegriff jedoch interpretativ besonders ergiebig ist, mag bezweifelt werden. Im übrigen ist dieser Gedanke getragen durch die alte „government" Konzeption, die man in Amerika gerade aufzugeben und durch die des „political System" zu ersetzen im Begriff ist. Dies muß ausdrücklich hervorgehoben werden, da der Begriff der Institution namentlich seit Maurice Hauriou auch in der juristischen Dogmatik als eine Art Kontaktbegriff zur sozialen Realität verwendet wird. So neuerdings besonders Peter Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz: Zugleich ein Beitrag zum institutionellen Verständnis der Grundrechte und zur Lehre vom Gesetzesvorbehalt, Karlsruhe 1962. Wegen dieser Kontaktfunktion bleibt der juristische Institutionsbegriff jedoch mit erheblichen Unklarheiten belastet. Wie auch der Begriff des Rechtsinstituts (dazu neuerdings Jens Meyer-Ladewig, Justizstaat und Richterrecht: Zur Bindungswirkung richterrechtlicher Institute, Archiv für die civilistische Praxis 161 (1962), S. 97—128 (100 ff.)) scheint er lediglich einen Normenkomplex zu bezeichnen, der unter bestimmten Konsistenzforderungen steht, die von der sozialen Realität ausgehen. Dabei wird unterstellt, daß die Norm unabhängig vom faktischen Konsens „gilt". Dadurch geht das Charakteristische des soziologischen Institutionsbegriffs verloren: daß Institutionen durch Verbreitung des Konsenses eine Konsensvermutung legitimieren und dadurch eine tragfähige Handlungsgrundlage abgeben, solange niemand erfolgreich eine gegenteilige Einstellung behauptet und seiner Kontaktbereitschaft zugrunde legt. 14
Die historische Ursache für diese Diskrepanz scheint unter anderen in Haurious Auffassung der Institution als Rechtsquelle zu liegen, die eine neuthomistische Deutung nahelegt, ferner in seinen unglücklichen Polemiken gegen Duguit, die ihm auch den Zugang zu Dürkheim versperrten. Spätere Umdeuter wie Santi Romano, L'ordinamento giuridico I, Pisa 1918 oder Georges Renard, La théorie de l'institution: Essai d'ontologie juridique, Bd. I, Paris 1930, haben diese Kluft nicht mehr überbrücken können bzw. verstärkt (obwohl bei Romano die entscheidenden Korrekturen — Kritik der Rechtsquellentheorie und der Auffassung des Rechts bzw. der Institution als Normenkomplex; Auffassung der Institution als Struktur eines sozialen Systems — eigentlich vorliegen). Dazu auch Julius Stone, Two Theories of „the Institution", in: Essays in Jurisprudence in Honor of Roscoe Pound, Indianapolis — New York 1962, S. 296—338. Zur Verschiedenheit des juristischen und des soziologischen Institutionsbegriffs vgl. ferner einige Bemerkungen bei Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 172 f., während eine ältere Arbeit von Helmut Schelsky, Die Aufgaben einer Familiensoziologie in Deutschland, Kölner Zeitschrift für Soziologie 2 (1949—50), S. 218—247 (238 ff.) damals noch weitgehende Übereinstimmung feststellen zu können glaubte.
Einführung
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die im Zusammenhang einer sozialen Rolle aktuell werden und durchweg auf sozialen Konsens rechnen können . Die Grundrechtsschlagworte „Eigentum", „Meinungsfreiheit", „Gleichheit" usw. und die entsprechenden Verfassungsartikel symbolisieren institutionalisierte Verhaltenserwartungen und vermitteln ihre Aktualisierung in konkreten Situationen. Die Institutionalisierung der Grundrechte ist mithin, darüber darf auch die Aufnahme der Grundrechte in das Verfassungsgesetz nicht hinwegtäuschen, zunächst ein faktisches Geschehen, das wir auf seine Funktion in der modernen Sozialordnung (und also nicht allein: auf seinen gemeinten normativen Sinn) hin untersuchen wollen. 15
Institutionen sind zeitlich, sachlich und sozial generalisierte Verhaltenserwartungen und bilden als solche die Struktur sozialer Systeme. Insofern — und nur insofern — sind sie möglicher Gegenstand rechtlicher Positivierung. Zugleich sind sie als Strukturkomponenten der Frage nach ihrer Funktion in der Sozialordnung ausgesetzt, die ihrerseits eine gedankliche Kontrolle des Vorgangs der Rechtspositivierung ermöglicht. Auf diesem Zusammenhang beruht unsere These, daß eine Grundrechtsanalyse mit den Mitteln der strukturell-funktionalen Systemtheorie die Grundrechtsdogmatik befruchten könnte.
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G e n a u g e n o m m e n ist sozialer K o n s e n s als V a r i a b l e z u v e r s t e h e n . U m das zum Ausdruck zu bringen, wird in der neueren Soziologie oft auch von „Institutionalisierung" (von Handlungen, Erwartungen, Rollen) gesprochen.
Erstes Kapitel
Das politische System in der differenzierten Sozialordnung Man kann sehr Verschiedenes als „Staat" bezeichnen. Eines ist jedoch sicher: daß die öffentlichen Angelegenheiten unserer Sozialordnung nicht mehr im alten und undifferenzierten Sinne als res publica zu verstehen sind. Unseren Verhältnissen würde es wenig entsprechen, im Staat die res publica der Sozialordnung, das volle Gemeinwohl oder auch nur die hierarchische Spitze der Gesamtgesellschaft zu erblicken . Tatsache ist, daß sich in der Gesellschaft besondere Sozialsysteme gebildet haben, welche die relativ spezifische Funktion erfüllen, verbindliche Entscheidungen zu treffen und dadurch soziale Probleme zu lösen . In dem Maße, als der Differenzierungsgrad der Sozialordnung es erlaubte, sind überall. Staatsbürokratien entstanden, welche die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten in Abtrennung von religiösen, wirtschaft1
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Den Staat als „Selbstorganisation der Gesellschaft" zu bezeichnen, ist nicht nur empirisch falsch, sondern auch als Tendenzannahme verfehlt und schließlich auch deshalb wenig nachahmenswert, weil Carl Schmitt durch diesen Gedanken zum „totalen Staat" hingeführt wurde; vgl. Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931, S. 79. Für die Grundrechte folgte daraus ihre Darstellung als „fundamentales Verteilungsprinzip" (C. Schmitt, Verfassungslehre, München-Leipzig 1928, S. 158), also willkürliche politische Entscheidung. Nahestehende Formulierungen findet man z. B. bei Almond (Einf. Anm. 10); Spiro (Einf. Anm. 10); Riggs, in: Fred W. Riggs/Edward W. Weidner, Models and Priorities in the Comparative Study of Public Administration, Chicago 1963, S. lO.f.; Stephane Bernard, Esquisse d'une théorie structurelle-fonctionelle du Systeme politique, Revue de l'Institut de Sociologie 36 (1963), S. 569—614. Andere Autoren bestimmen die Funktion des Politischen durch Konsensbeschaffung bzw. Legitimierung der Macht (zu verbindlichem Entscheiden). Wie der Klammerzusatz schon zeigt, kommt darin keine sachliche Divergenz zum Ausdruck, sondern nur die unglückliche Doppeldeutigkeit des Begriffs „politisch", der als Gegensatz zur Verwaltung, aber auch sie einschließend verstanden werden kann. Das Abstellen auf „Problemlösung" durch Entscheidung hat den Vorzug, die Blicke der Forschung auf die Umwelt des politischen Systems zu lenken, die Probleme stellt und Lösungen abnimmt. Dieser Ansatz hat sich in der vergleichenden Forschung als fruchtbar erwiesen, weil er den Sinn für historisch oder regional bedingte Unterschiede der Problemstellung, und demgemäß: der Strukturierung politischer Systeme schärft. Er fügt sich gut in die entstehende Theorie sozialer Differenzierung ein. Und er bezeugt schließlich, auf allgemeiner Ebene, ein Umdenken des Systembegriffs, der heute bereits in vielen Disziplinen nicht mehr als Ordnung von Teilen zu einem Ganzen, sondern als teilweise selbstgesicherte Identität in einer komplexen und veränderliehen Umwelt aufgefaßt wird. 2
l.Kap.: Politisches System in der differenzierten Sozialordnung
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liehen und kulturellen Belangen in der Form verbindlichen Entscheidens zum Gegenstand kontinuierlichen berufsmäßigen Handelns von dazu bestimmten Personen machen. Daneben, und in bezug darauf, hat sich ein besonderes politisches Leben entfaltet, das sich relativ abgetrennt von sonstigen sozialen Rollen an einer eigentümlichen, spezifisch-politischen Rationalität mit eigenen Erfolgskriterien und eigenen Sanktionen orientiert. Diese Staatsorganisationen und der sie umgebende politische Handlungskreis können anhand ihrer spezifischen Funktion in der Sozialordnung begriffen und rationalisiert werden; sie können nicht mehr mit der Sozialordnung gleichgesetzt werden: weder durch Identifikation als res publica, noch durch die Zweckbestimmung „Gemeinwohl", noch durch das Oben/Unten-Schema des Hierarchiemodells. Sie sind als funktional-spezifische Untersysteme der Gesamtordnung ausgebildet und setzen andersartige Untersysteme neben sich voraus. Das Zusammenschrumpfen des politisch Bedeutsamen auf spezifizierte Entscheidungszusammenhänge ist ein typisches Merkmal des allgemeinen geschichtlichen Prozesses der sozialen Differenzierung — in ähnlicher (und damit zusammenhängender) Weise auch zu beobachten als Präzisierung der religiös relevanten Themen durch organisierte Interpretation oder als Funktionsverluste der Familie. An die Stelle älterer, relativ geschlossener, umfassender institutioneller Orientierungen treten abgegrenzte Kommunikationssphären, die alternativenbewußt an spezifischen Funktionen ausgerichtet und für sich allein daher nicht sinnvoll sind. Diesen faktischen Prozeß der Einschrumpfung und Spezifikation hat die deutsche Staatsvorstellung nicht mitvollzogen. In ihr ist der alte, umfassende Ordnungsanspruch des Politischen noch aufspürbar, obwohl er sich nicht mehr als Wahrheit zur Geltung bringt. Man hat auch den Eindruck — empirische Untersuchungen fehlen leider —, daß dieser Staatsbegriff als historisch geprägte Erwartenshaltung die Stellungnahme zu den heutigen Problemen der staatlich-politischen Ordnung noch weitgehend dirigiert: wenn zum Beispiel das politisch motivierte Handeln häufig in Gefahr ist, als illegitim oder doch unsauber zu gelten; wenn die Verfassungsdogmatik ihren Gesetzestext auf Werte bezieht, die sie nicht nur als Entscheidungsregeln, sondern als letzte, höchste Sinn vorgaben verstanden wissen will; wenn Ausmaß und Intensität des notwendigen Wechselhandelns zwischen Politik und Verwaltung noch weithin verkannt werden und statt dessen der Staatsapparat, Parlamente und Gerichte eingeschlossen, als der eigentliche, politisch neutrale Vertreter des Gemeinwohls angesehen wird; wenn man für die besondere Moral der Machtbildung entweder zu wenig oder zu viel Verständnis aufbringt; wenn man gegen die „Interessenten" in der „pluralistischen" Gesellschaft polemisiert . 3
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Siehe hierzu auch den Essay „Demokratie und Sozialstruktur in Deutsch-
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l.Kap.: Politisches System in der differenzierten Sozialordnung
Im Fortschreiten der sozialen Differenzierung sind jedoch Funktionsabgaben in allen Teilsystemen der Gesellschaft unvermeidlich, und solche Funktionsverluste müssen zu einer Umorganisation der leitenden Normen und Wertvorstellungen dieser Untersysteme führen. Wo dies nicht hinreichend oder nicht rechtzeitig geschieht, bilden sich romantische Ideologien, die als „Index unvollständiger Institutionalisierung umstrukturierter Werte" von soziologischem Interesse sind. Die Übertragung des alten Ordnungsideals der res publica auf den modernen politisch-administrativen Entscheidungsapparat ist jedoch nicht nur ein Irrtum ungeschichtlichen Denkens (gerade übrigens auch: des Historismus!), sondern hat zudem gefährliche Konsequenzen. Die Spezialisierung des politischen Systems auf Problementscheidungsaufgaben bedeutet einerseits eine funktionale Spezifikation, also einen Funktionsverlust gegenüber älteren weniger differenzierten Sozialordnungen; andererseits — und das ist kein Widerspruch, sondern gerade das Kennzeichen dieser Umstrukturierung — eine gewaltige Steigerung der Staatsauf gaben und des Staatseinflusses. Denn in einer differenzierten Sozialordnung entwickeln sich zahlreiche Spannungen und ein solcher Alternativenreichtum, daß in allen Sphären der Gesellschaft mehr Probleme durch Entscheidung gelöst werden müssen. Die wachsende Macht, Komplexität und Bewußtheit des Staates ist nicht als ein Hineinwachsen in das alte Ordnungsideal zu deuten, sondern gerade durch dessen Zerlegung bedingt. Die Übernahme der traditionellen Gesamtkonzeption politisch-menschlicher Ordnung auf den Staat mußte diesen nicht nur überlegitimieren, sondern zugleich den Blick für die spezifischen Bedingungen seiner effektiven Rationalisierung trüben — namentlich im Bereich des eigentlich politischen Handelns. Die funktionsspezifische Rationalisierung der politischen Prozesse und des amtlichen Entscheidungsvorganges geben dem politischen System heute mehr Macht, als einer Politeia zukömmlich gewesen wäre. 4
Das deutsche Staatsdenken scheint in dieser Spannung von alten Wahrheiten und neuen, komplizierteren Wirklichkeiten zwischen Ideoland" von Dahrendorf, neu gedruckt in Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 260—299. Mit Recht sieht Dahrendorf im deutschen Staatsbegriff eine der Komponenten im Scheitern der Weimarer Demokratie. Die von ihm und zuvor von Talcott Parsons, Demokratie und Sozialstruktur in Deutschland vor der Zeit des Nationalsozialismus, Dt. Ubers, in: Talcott Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied-Berlin 1964, S. 256—281, analysierten Strukturbedingungen des Versagens der deutschen Demokratie würden wahrscheinlich schärfer zusammengefaßt und pointiert werden können, wenn man am Staatsbegriff nicht nur die „utopische Haltung zu sozialen und politischen Konflikten" (so Dahrendorf a.a.O., S. 278) auszusetzen hätte, sondern das, was diese Haltung erst utopisch macht: das Überholtsein durch den Entwicklungsstand der sozialen Differenzierung. Wie Talcott Parsons, Some Considerations on the Theory of Social Change, Rural Sociology 26 (1961), S. 219—239 (238), unnachahmlich formuliert. 4
l.Kap.: Politisches System in der differenzierten Sozialordnung
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logisierung und überbewußten Ernüchterungen zu oszillieren. Mit Recht ahnt man einen unverzichtbaren Kern in dem an den Staatsbegriff geknüpften Ordnungspostulat. Das Problem liegt in der Adresse. Als an „den Staat" adressierte Herstellungserwartung setzt sie eine Einsichtsund Entscheidungszentralisierung voraus, die in der modernen, differenzierten Sozialordnung nicht gegeben ist, ja nicht sinnvoll sein kann. Es ist denn auch kein Zufall, daß die Wahrheitsmöglichkeiten der Wissenschaften vor dieser Aufgabe versagen . Über den Platz, den bei uns der Staatsbegriff besetzt hält, ohne darin durch die Entwicklung des Denkens und der Institutionen noch gehalten zu sein, muß anders verfügt werden, vermutlich durch eine soziologische Theorie der differenzierten Gesellschaft, welche einen Einblick in das komplizierte Geflecht von Institutionen ermöglicht, die zur Erhaltung, zur Stabilisierung und zur Rationalisierung (Problementlastung) einer solchen Sozialordnung erforderlich sind. Erst im Rahmen einer derartigen Theorie können die besonderen Aktionsbedingungen und Leistungen des politischen Systems, das mit dem Staatsbegriff gemeint war, ermittelt werden. 5
Hellers Auffassung des Staates als „organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit" hatte diese Reduktion der politischen Ordnung auf spezifische Funktionen bereits treffend charakterisiert . Aber die vollen Konsequenzen dieser Konzeption lassen sich erst heute übersehen. Zu ihrem Verständnis ist die soziologische Orientierung unentbehrlich. Die Staatslehre mußte stehen bleiben und abwarten, bis die soziologische Theorie nachgereift war. Denn die Probleme, welche eine funktionalspezifische Staatsorganisation als besonderes Aktionssystem in der Sozialordnung aufwirft, ergeben sich aus der allgemeinen soziologischen Problematik der gesellschaftlichen Differenzierung. Die Ausbildung eines relativ autonomen Systems berufsmäßiger Verwaltung von Entscheidungskompetenzen ist ein Teil des allgemeinen Prozesses gesellschaftlicher Differenzierung . Sie ist nur möglich, wenn die Sozialordnung insgesamt die Voraussetzungen für funktional-spezifische Differenzierung erfüllt; und sie ist zum Scheitern verurteilt, wenn der gesell6
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Auch die in sehr viel bescheidenerem Rahmen geführte amerikanische Diskussion der „public interest"-Formel — siehe dazu den Überblick bei Glendon Schubert, The Public Interest, Glencoe III. 1960 —, muß als gescheitert angesehen werden, gescheitert an derselben Überanstrengung. In hochdifferenzierten Sozialordnungen ist es nicht möglich, Strukturprobleme und -bedingungen adäquat in Entscheidungsinstruktionen wiederzugeben. Man muß lernen, diese beiden Ebenen der Generalisierung zu unterscheiden. Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, insb. S. 228 ff. Siehe dazu den allgemeinen Aufriß einer evolutionären Theorie der sozialen Differenzierung von Talcott Parsons in: Talcott Parsons/Edward Shils/ Kaspar D. Naegele/Jesse R. Pitts, Theories of Society: Foundations of Modern Sociological Theory, New York 1961, Bd. I, S. 236—264, und ders., Evolutionary Universals in Society, American Sociological Review 29 (1964), S. 339—357. 6
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l.Kap.: Politisches System in der differenzierten Sozialordnung
schaftliche Entwicklungsstand dafür nicht ausreicht, wenn, mit anderen Worten, die politische Sphäre gewaltsam aus einer noch relativ undifferenzierten Sozialordnung herauslöst und verfrüht autonom gesetzt wird . 8
Die Gründe für diesen Zusammenhang der Herausbildung einer besonderen Staatsbürokratie mit der allgemeinen gesellschaftlichen Differenzierung lassen sich genauer angeben. Jede soziale Ordnung muß, will sie fortbestehen, eine Reihe von Problemen lösen. In bezug auf solche Probleme spricht man von gesellschaftlichen Funktionen. Gesellschaftliche Funktionen lassen sich wirksamer und rationaler erfüllen, wenn sie als solche erkannt, als Aufgabe formuliert und zum Gegenstand eines besonderen Einsatzes von Handlungen gemacht werden . Bei etwas umfangreicheren Aufgaben führt dieses Gesetz der Spezialisierung zu Formen sozialer Kooperation, die bei einiger Dauer den Charakter von besonderen sozialen Systemen annehmen. Deren Funktion für die Sozialordnung wird dann in einer besonderen Form, nämlich als Leistung an eine Umwelt, erbracht . Im Blickfeld auf diese Leistung kann das System sich intern rationalisieren, und zugleich ist die Leistung der Gesichtspunkt, unter dem das spezialisierte System von seiner Umwelt toleriert, gefördert, erhalten oder seinerseits mit Leistungen versorgt 9
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Vgl. die Untersuchungen von Eisenstadt (Einf. Anm. 10) über die Bedingungen des Aufstiegs und Verfalls geschichtlicher bürokratischer Reiche. Das gleiche Problem behandeln zahlreiche Berichte aus Entwicklungsländern, welche die Spannung aufdecken, die eine nach modernem Muster aufgestellte Staatsbürokratie in einer sie noch nicht tragenden Sozialordnung erzeugt. Als eine theoretisch durchgearbeitete Version dieses Themas vgl. Riggs (Einf. Anm. 10); ders., Agraria and Industria, in: "William J. Siffin (Hrsg.), Toward the Comparative Study of Public Administration, Bloomington Ind. 1957, S. 23—116; ders., Prismatic Society and Financial Administration, Administrative Science Quarterly 5 (1960), S. 1—46; ders., An Ecological A p proach: The „Sala" Model, in: Ferrel Heady/Sybil L. Stokes, Papers in Comparative Public Administration, Ann Arbor 1962, S. 19—36 und — in unseren Untersuchungen noch nicht berücksichtigt — ders., Administration in Developing Countries: The Theory of Prismatic Society, Boston 1964. Als Vorläufer siehe auch die ältere Studie von Sutton (Einf. Anm. 10). Hiermit ist keineswegs gesagt, daß alle Funktionen auf diese Weise in Aufgaben umgewandelt werden müßten oder auch nur könnten. Dazu sind die Bedürfnisse der Gesellschaft zu komplex. Jedes Streben nach Vollständigkeit würde die erkannten Aufgäben in hohem Maße mit inneren und äußeren Widersprüchen belasten und ihre Rationalisierungsfunktion, die auf eindeutige Zwecksetzungen angewiesen ist, zunehmend einschränken. Es wird daher immer latent bediente Funktionen geben, welche in anderen Zwecken gewidmetem Handeln unbeachtet miterfüllt werden. Die Auswahl der anerkannten Aufgaben gibt der Sozialordnung ihre Struktur und ein Netz von offenkundigen, rechtfertigungsfähigen Rollen, deren Durchführung den Handelnden jedoch stets in nur implizierte Rollen mit latenten Funktionen verflicht. Auf die damit angedeutete Spannung von funktionalen Bedürfnissen und Strukturierungsmöglichkeiten kommen wir im 9. Kapitel zurück. Zu bemerkenswerten Parallelen beim Aufbau biologischer Systeme vgl. Wolfgang Wieser, Organismen, Strukturen, Maschinen, Frankfurt 1959, S. 70 f. 9
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wird. Dabei trennen sich die Probleme interner Rationalität von denen des externen Leistungsgleichgewichts. Jene mögen in die Form der Zweckrationalität, diese in die Form des Tausches gebracht werden; aber auch andere Formen der Problemlösung sind denkbar. Entscheidend ist, daß eine Innen/Außen-Differenz, eine Systemgrenze, gezogen und stabil gehalten wird; denn das ist die Voraussetzung für eine rationale Differenzierung von Problemlösungstechniken. Daran schließen dann unterschiedliche Arten des Erwartens und Zumutens, des Einflußnehmens und Motivierens und unterschiedliche Auswahlgesichtspunkte für Erfahrung und Kommunikationen im Innen- und Außenbereich an, deren Aufgliederung das Erreichen einer größeren Intensität in der Einzelleistung ermöglicht. Eine funktional-spezifische Differenzierung der Gesellschaft führt mithin zu einer eigenartigen Strukturierung der Sozialordnung: zur Bildung von leistungsorientierten Untersystemen, deren Grenzen als Leistungsschwellen konstant gehalten werden und der Rationalisierung dienen . Wegen ihrer höheren Rationalität verdrängt die funktional^spezifizierte Struktur mit ihren verschiedenartigen Untersystemen nach und nach den älteren Strukturtypus bloßer Segmentierung, welcher die Gesellschaft in eine Vielzahl gleichartiger Untersysteme (Prototyp: Familie) aufteilt . Diese Umstrukturierung intensiviert die Interdependenzen in der Gesellschaft^ und damit wachsen die Kommunikationslasten so erheblich, daß ganz neuartige, generellere, abstraktere, indirekter wirkende Kommunikationsweisen ausgebildet und institutionalisiert werden müssen . 11
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In bezug auf dieses Problem der Grenzerhaltung habe ich die Funktion der „formalen Organisation" zu klären versucht in: Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964. Vgl. zu dieser Unterscheidung Emile Dürkheim, De la division du travail social, 7. Aufl. Paris 1960, S. 149 ff. und nach ihm besonders Talcott Parsons/ Neil J. Smelser, Economy and Society, Glencoe III. 1956, S. 255 f.; Talcott Parsons, An Outline of the Social System, in: Talcott Parsons/Edward Shils/ Kaspar D. Naegele/Jesse R. Pitts, Theories of Society, New York 1961, Bd. I, S. 30—79 (44 f.); ders. (Kap. 1 Anm. 7 — 1964 —), S. 346. 12
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Der Begriff der sozialen Differenzierung dient der funktionalen Soziologie als Strukturbegriff und als Entwicklungsbegriff zugleich. Die Probleme der Differenzierung strukturieren Chancen und Gefahren der gesellschaftlichen Entwicklung. Vgl. die Ausarbeitung dieses Themas bei Neil J. Smelser, The Sociology of Economic Life, Englewood Cliffs N. J. 1963, S. 105 ff. und S. N. Eisenstadt, Social Change, Differentiation and Evolution, American Sociological Review 29 (1964), S. 375—386. Damit versucht man nicht etwa eine Wiederbelebung des Evolutionismus des 19. Jahrhunderts, den der Funktionalismus gerade überwunden hatte. Der Unterschied liegt im Verzicht auf die Thesen kausaler Determination (historischer Gesetzlichkeit) auf makrosoziologischer Ebene und im Verzicht auf die Annahme einer streng linearen, universell gültigen Entwicklung. Soziale Differenzierung wird als eine vorteilhafte Gesellschaftsstruktur angesehen, die von verschiedenartigen Ausgangskonstellationen aus zustande kommen, z.B. im religiösen, politischen
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Die differenzierte Gesamtordnung prägt die Bedingungen der Kommunikation auch für den Fall, daß das gesellschaftliche Interesse an verbindlichen Problementscheidungen zur Ausdifferenzierung eines relativ autonomen, leistungsfähigen politischen Systems treibt. Eine als Aktionssystem eigener Art aufgebaute politische Ordnung muß demnach nicht nur in sich selbst funktionsadäquat organisiert sein, das heißt hier: verbindliche Entscheidungen treffen können. Sie muß nicht nur in der Lage sein, durch die Art ihrer Leistungen Beitragswilligkeit und Anerkennung (Legitimität) für ihre Entscheidungen zu erreichen. Sie muß außerdem sehr viel fundamentalere, von den Wellenschlägen einzelner politischer Ereignisse kaum berührter Voraussetzungen der allgemeinen Differenzierbarkeit der Sozialordnung beachten. Das politische System ist ein Untersystem nicht nur auf der Ebene eines funktionierenden Leistungsaustausches mit anderen Bereichen der Sozialordnung. Auf dieser Ebene des bewußt gesteuerten Zweckhandelns kann ein Gleichgewicht sich nur einspielen, wenn zuvor die Sozialordnung im ganzen differenzierungsbereit ist. Als Untersystem der Sozialordnung hängt das politische System primär davon ab, daß allgemeine Erlebensund Verhaltensbereitschaften in geeigneter Weise vorstrukturiert sind. Den Zugang zu diesen Vorbedingungen können wir uns durch eine hochabstrakte Zwischenüberlegung erleichtern. Die allgemeine Theorie sozialer Systeme, ja die Systemtheorie schlechthin, ist nicht zufällig in einer Zeit entstanden, die zugleich der zwischenmenschlichen Kommunikation wachsendes theoretisches Interesse zuwendet. Obwohl es an einer anerkannten Synthese beider Theoriebereiche auf allgemeinster begrifflicher Ebene noch fehlt und der Begriffsapparat der meisten Forscher entweder der einen oder der anderen Theorie nahesteht, drängt sich ihr enger Zusammenhang doch auf . Handlungssysteme sind Systeme nicht durch die physischen Handlungszusammenhänge der Einheit des Organismus oder des wechselseitigen Sichanstoßens, sondern durch den kommunikativen Sinn des Handelns, mag er wie beim Sprechen oder Schreiben, Hauptinhalt des Handelns sein oder nicht, mag er intentional oder 14
oder wirtschaftlichen Funktionsbereich beginnen kann, die aber, wenn dies geschieht und wenn Institutionen geschaffen werden, die die Folgeprobleme der Differenzierung erfolgreich meistern, kaum mehr reversibel ist — es sei denn als Folge des Zusammenbruchs jener Institutionen.' Die Hypothese einer bestimmten Reihenfolge der Ausdifferenzierung funktionsspezifischer Untersysteme findet sich bei Parsons (Kap. 1 Anm. 7 — 1961 —): zuerst religiös oder politisch, dann wirtschaftlich, und in detaillierterer Form bei Bert F. Hoselitz, Economic Policy and Economic Development, in: Hugh G. J. Aitken (Hrsg.), The State and Economic Growth, New York 1959, S. 325—352 (333 ff.). 14
Und vielleicht ist gerade diese Kongruenz der Grund, weshalb Forscher, die von der Systemtheorie ausgehen, die Kommunikationstheorie vernachlässigen können und umgekehrt. Im Bezugsrahmen der einen sind die Begriffe der anderen implizit schon enthalten.
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unbewußt-expressiv zustande kommen . Kommunikationen sind das systembildende Moment am faktischen Handlungsvollzug, wie umgekehrt Systeme die Kommunikationsprozesse strukturieren und dadurch überhaupt erst intersubjektiv verständlich machen. Wenn dieser allgemeine Ausgangspunkt richtig ist, muß die Problematik der sozialen Differenzierung sich in den Kommunikationsprozessen wiederfinden und in den Anforderungen an das gesellschaftliche Kommunikationswesen zum Ausdruck kommen. Funktional-spezifische Differenzierung ist nur möglich, wenn eine gewisse „Freizügigkeit" der Erwartungsbildung und der Kommunikation institutionalisiert ist; wenn der Einzelne seine Rollenpartner in gewissem Umfange wählen und im Zusammenhang damit über seine Selbstdarstellung, seine_sonstigen Mitteilungen und über die Erwartungen, die er an andere richtet, verfügen (oder durch andere verfügen lassen) kann . Dazu gehört die Einstellung auf rollenspezifischen (und insofern „unpersönlichen") sozialen Verkehr , Verständnis für ein hohes Maß an Rollentrennung in 16
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Obwohl die Kommunikationstheorie sich bisher hauptsächlich mit absichtlichen, zumeist sogar nur mit sprachlichen Mitteilungen befaßt hat, — als typisches Beispiel siehe etwa Hans Gerth/C. Wright Mills, Character and Social Structure: The Psychology of Social Institutions, New York 1953, S. 81 ff. —, läßt sich diese Beschränkung auf der hier gewählten Ebene der Abstraktion nicht halten, weil man bedenken muß, daß sprachliche und nichtsprachliche, intendierte und unbewußt-expressive Sinnübermittlungen im Rahmen eines Systems funktional äquivalent sein können. Als Beispiel für das wachsende Interesse an unbeabsichtigten kommunikativen Darstellungen sind besonders die Schriften von Erving Goffman zu nennen; vgl. namentlich: The Presentation of Self in Everyday Life, 2. Aufl. Garden City N. Y. 1959; Encounters, Indianapolis Ind. 1961; Stigma: Notes on the Management of Spoiled Identity, Englewood Cliffs N. J. 1963 und Behavior in Public Places: Notes on the Social Organization of Gatherings, New York-London 1963. Vgl. auch die eigens auf dieses Problem bezogene Studie von Gregory P. Stone, Appearance and the Self, in: Arnold M. Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes, Boston 1962, S. 86—118. Eisenstadt (Einf. Anm. 10); — vgl. auch ders., Bureaucracy and Bureau- i cratization, Current Sociology 7 (1958), S. 99—164 und ders. (Kap. 1 Anm. 13), S. 376 f. — spricht in bezug hierauf verschiedentlich von „free floating resources". Gemeint ist etwa: Die Befreiung der Handlungsorientierung aus partikularen Bindungen an bestimmte Personen oder Personengruppen. Siehe außerdem den Begriff der „uncommitted resources", den Karl W. Deutsch, The Nerves of Government: Models of Political Communication and Control, New York-London 1963, S. 96, 164 seiner Theorie der Lernfähigkeit von Systemen zugrunde legt. Manches dazu auch bei Talcott Parsons, Some Principal Characteristics of Industrial Societies, in: Cyril E. Black, The Transformation of Russian Society, Cambridge Mass. 1960; ähnlich auch in: Talcott Parsons, Structure and Process in Modern Societies, Glencoe 111. 1960, S. 132—168. 16
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Vgl. hierzu die vergleichende Untersuchung von Arbeitsorganisationen nichtindustrieller Sozialordnungen von Stanley H. Udy, Jr., Administrative Rationality, Social Setting, and O r g a n i z a t i o n a l Development, T h e A m e r i c a n Journal of Sociology 68 (1962), S. 299—308, mit dem Ergebnis, daß in der Spezifizierbarkeit von Rollen und Motivationsstrukturen die wichtigste ge-
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den sozialen Beziehungen , die gleichsam automatische Beachtung der entsprechenden Kommunikationsschranken und die Ausrichtung an sachlichen (statt an persönlichen) Handlungszusammenhängen in allen Kontakten außerhalb der Intimsphäre. Solch ein Zuschnitt der Kontakte auf spezifische Rollen und Aktionszusammenhänge limitiert Konsensbedarf und Konsenschancen auf Minimalerfordernisse. Man braucht und sucht für die Mehrzahl der Kontakte nur noch einen begrenzten modus vivendi, findet diesen leichter und rascher und lernt im übrigen darüber hinwegzusehen, daß man in allen anderen Hinsichten, auf die es hier und jetzt nicht ankommt, weit divergiert. Ansichten und Verhaltenserwartungen, die in bestimmten Situationen keine Konsenschancen haben, werden gar nicht erst geäußert, und diese soziologische Parallele zur innerpsychischen Verdrängung gestattet eine reibungslose Kontaktführung, ohne daß die Verschiedenartigkeit der Erlebnishorizonte laufend zu Konfliktsentscheidungen zwänge. Die Sicherheit des sozialen Verhaltens beruht dann nicht mehr auf innerem Vertrauen in eine fundierende Gemeinsamkeit der Erfahrung und der Weltsicht, sondern auf spezifischen Systemgarantien, die in den jeweiligen Rollenzusammenhängen korrespondierende Verhaltensmotive sicherstellen. Die Durchbildung solcher Einstellungen zu sozial erwartbaren Verhaltensmustern erfordert die Fähigkeit und Bereitschaft, sich an indirekten Rücksichten zu orientieren, im normalen Verkehr den unmittelbaren Ausdruck von persönlichen Bedürfnissen und Gefühlen zu beherrschen und in einem relativ weitgespannten Zeithorizont die Lebensführung zu planen. Erhöhte Disponibilität der Kommunikation und entsprechend gesteigerte Selbstdisziplin sind die fundamentalen Verhaltensaspekte des allgemeinen Prozesses zivilisatorischer Differenzierung . 18
sellschaftliche Vorbedingung organisatorischer Rationalität liege. Manche treffenden Feststellungen auch bei Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —). Rollentrennung besagt, daß nicht ohne weiteres von einer Rolle einer Person auf andere Rollen derselben Person geschlossen werden kann oder darf (und zwar weder im Sinne einer Vorhersage noch im Sinne einer normativen Verhaltenszumutung), bloß weil es sich um verschiedene Rollen ein und derselben Person handelt. Mit anderen "Worten: Die Identität der Person dient nicht mehr wie in allen elementaren Gesellschaften zugleich als Garant eines sozialen Rollenzusammenhanges. Rollentrennung ist zunächst vom expressiven Stil her als „unpersönliches" Verhalten beschrieben worden — so namentlich durch Max Weber. Aber der Begriff des „Unpersönlichen" ist als Negativbegriff unbestimmt und unbestimmbar, zumal er natürlich nicht sagen will, daß das Verhalten sich überhaupt nicht mehr auf Personen beziehen lasse. So bringt die Ablösung des Weberschen Begriffs der Unpersönlichkeit durch den der Rollentrennung eine wesentliche Klärung. Vgl. dazu auch Roy G. Francis/Robert C. Stone, Service and Procedure in Bureaucracy, Minneapolis 1956. Vgl. dazu Norbert Elias, Uber den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Basel 1939. 18
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Diese allgemeinen Vorbedingungen der sozialen Differenzierung, deren Analyse wir in den folgenden beiden Kapiteln noch vertiefen wollen, bilden sich im Verlauf der geschichtlichen Entwicklung, im Zuge des Aufbaus und Verfalls von Organisationen mit aus. Der Staat allein erzeugt und gewährleistet sie nicht. Sie sind nicht das Ergebnis von Rechtsgewährung und Problementscheidung. Aber sie gehören auch nicht einer „rein gesellschaftlichen" Sphäre an, die den Staat „nichts anginge". Die Staatsbürokratie muß an ihren Grenzen auf Gefahren der Entdifferenzierung, der Reibung und der Strukturverschmelzung achten, welche das allgemeine Differenzierungspotential der sozialen Ordnung mindern und damit, von allem anderen abgesehen, in einer Kette mittelbarer Rückwirkungen auch die Leistungsfähigkeit der Bürokratie untergraben könnten. Auf diese Gefahr der Entdifferenzierung bezieht sich — das ist das Thema unserer Untersuchung — die Funktion der Grundrechte. Grundrechte dienen als eine unter vielen funktional äquivalenten Institutionen der industriell-bürokratischen Sozialordnung dazu, das Kommunikationswesen so zu ordnen, daß es im großen und ganzen für eine Differenzierung offen bleibt. Die Garantie von Freiheiten ist nichts anderes als eine Garantie von Kommunikationschancen. Sie hat_zwar nicht den erklärten Zweck, wohl aber die latente Funktion, eine^gewisse Disponibilität und damit Motivierbarkeit von Kommunikationen sicherzustellen. Sie setzt eine Entbindung der Kommunikationsmöglichkeiten aus allzu engen persönlichen, gruppenmäßigen, emotional_stabilisierten Ausdrucksbahnen voraus. Auf diesen gesellschaftlich-zivilisatorischen Entwicklungsstand beziehen sich die Grundrechte—sie sind deshalb alles andere als „ewige Menschenrechte" — und sie bestätigen ihn, indem sie gewissen Rückfalltendenzen zu begegnen suchen, die in solch einer Ordnung angelegt sind . Sie verhindern die_Ausrichtung aller Kommunikationen an den besonderen Handlungszwecken der Staatsbürokratie und ermöglichen gerade dadurch die Rationalisierung dieser Zwecke im Sinne einer funktional-spezifischen Leistung, die immer andere Leistungen, andere Systeme der Interessenverfolgung, andere Quellen der Macht und des Sozialprestiges in der Sozialordnung voraussetzen muß. 20
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Auch Eisenstadt (Kap. 1 Anm. 13), S. 381 f., sieht in den Expansionsbestrebungen des politischen Systems Tendenzen zur Entdifferenzierung der Sozialordnung. Siehe dazu auch die durch Immigrationsprobleme in Israel angeregten Studien über Tendenzen zur Verschmelzung von Bürokratie und Gesellschaft: S. N. Eisenstadt, Bureaucracy, Bureaucratization, and Debureaucratization, Administrative Science Quarterly 4 (1959), S. 302—320 und Elihu Katz/S. N. E i s e n s t a d t , S o m e Sociological O b s e r v a t i o n s on the R e s p o n s e of Israeli Organizations to New Immigrants, Administrative Science Quarterly 5 (1960), S. 113—133.
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Die Gefahr der Entdifferenzierung, der Politisierung des gesamten Kommunikationswesens, ist in der gesellschaftlichen Emanzipation und Autonomsetzung des politischen Systems angelegt, ist mithin ein Merkmal des Differenzierungsprozesses selbst. Die ausdifferenzierte politische Ordnung weist Tendenzen zur Unstabilität auf, nämlich durch 1. die Unbestimmtheit dessen, was ein politisch entscheidungsbedürftiges Problem werden kann — die politische Funktion ist keine inhaltlich fest umrissene Sachaufgabe, sondern ihre Thematik hängt davon ab, welche Probleme jeweils politisiert werden, weil keine besseren Lösungen institutionalisiert sind , 21
2. die Zentralisierung der legitimen Macht zu verbindlichem Entscheiden, 3. die Generalisierung dieser Macht, ihre Verwendbarkeit für viele und auswechselbare Zwecke, 4. die Abstrahierung einer eigentümlich politischen Rationalität, einer politischen Sondersprache, in die Erwägungen anderer gesellschaftlicher Sphären erst übersetzt werden müssen, um politisches Gewicht zu erhalten, und 5. durch das Fluktuieren der politischen Unterstützung, deren Beweglichkeit durch die Konstruktion einer allgemeinen Wählerrolle — in Abtrennung von sonstigen sozialen Rollen des Wählers — institutionalisiert ist, um die Möglichkeit des Machtwechsels zu erhalten. Das Zusammenwirken dieser Komponenten begründet die Autonomie des politischen Systems und begründet zugleich die Möglichkeit des unerwarteten Ausbrechens aus dem gesellschaftlichen Rahmen . Die Erhaltung der sozialen Differenzierung erfordert daher korrigierende und blockierende Institutionen, die dieser Gefahr entgegenwirken. Die Gewaltentrennung ist eine der bekanntesten; die Trennung von Politik und Verwaltung , die schon Goodnow der Gewaltentrennung vorzog, eine der wirksamsten. Allen voran ist jedoch die Institution der Grundrechte zu nennen, die von der neueren deutschen Verfassungslehre mit Recht in den Mittelpunkt ihrer Staatskonzeption gestellt wird. 22
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Bernard (Kap. 1 Anm. 2), S. 582, weist mit Recht darauf hin, daß die Problemstellung und damit auch die Grenzen des politischen Systems eine Sache der gesellschaftlichen Einstellungen seien, geschichtlich und vergleichsweise wechselten und theoretisch nicht generell festgelegt werden könnten. Dies ist auch der Grund, weshalb die Auffassung des politischen Systems als Problementscheidungssystem sich so gut als Modell für vergleichende Forschungen eignet. Siehe auch die Rückführung der Möglichkeit politischer „crazes" auf diese Strukturbedingungen bei Neil J. Smelser, Theory of Collective Behavior, New York 1963, S. 180 ff. Dazu eingehender unter S. 148 ff. Frank J. Goodnow, Politics and Administration: A Study in Government, New York-London 1900. 22
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Eine solche Deutung der Grundrechte als Institution der Erhaltung einer differenzierten Kommunikationsordnung wird nur akzeptierbar sein, wenn man die Bedeutung der zwischenmenschlichen Kommunikation richtig einschätzt. Kommunikation ist der elementare soziale Prozeß der Konstitution von Sinn in zwischenmenschlichem Kontakt, ^ ohne welchen weder Persönlichkeiten noch Sozialsysteme denkbar sind . Die allgemeine Kommunikationstheorie bietet für das Verständnis der Grundrechte ein tragfähiges Fundament, das die bisherigen Deutungsversuche aufnehmen kann, zugleich eine präzisere Ausarbeitung erlaubt und es außerdem möglich macht, den in der juristischen Dogmatik verlorenen Kontakt mit den empirischen Wissenschaften wiederzugewinnen. 25
Um den Sinn und die Tragweite dieser Umdeirtung klar hervortreten zu lassen, werden wir die nächsten beiden Kapitel den metajuristischen Grundlagen der herrschenden Grundrechtsdogmatik widmen und sie auf System- und kommunikationstheor^tische Problemformulierungen zurückführen. Im wesentlichen haben wir es mit zwei Vorstellungen zu tun, die, wie die Grundrechte selbst, im Prozeß der Auflösung der mittelalterlichen Lehre von der Rechtsquellenhierarchie entstanden sind und dieser Übergangssitution ihre eigentümliche Problematik verdanken: zum ersten die Theorie der Trennung von Staat und Gesellschaft, die eine vorläufige und noch inadäquate Formulierung des Problems der Differenzierung von Kommunikationssphären gibt; zum anderen die Versuche einer nicht mehr onto-theologischen Grundrechtsbegründung, unter denen nach dem Zusammenbruch des Vernunftsrechts der Äufklärungszeit heute die werttheoretische bzw. geisteswissenschaftliche Dogmatik hervorragt, die eine vorläufige und noch inadäquate Formulierung des Problems der Generalisierung von Kommunikationen gibt.
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Siehe den Überblick über wichtige Entwicklungsstationen dieses Gedankens bei Hugh Dalziel Duncan, Communication and Social Order, New York 1962. Manche gute Beiträge finden sich auch in dem Sammelband Arnold M. Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes: An Interactionist Approach, Boston 1962.
Zweites Kapitel
Die Legeshierarchie und die Trennung von Staat und Gesellschaft Die Entstehung des neuzeitlichen Staates als speziell politische Organisation in der Gesellschaft, als besonderes Sozialsystem zur Anfertigung verbindlicher Entscheidungen, hat sehr bald bewußten und aufmerksamen Widerhall in der Staatslehre gefunden. Unabweisbar drängte die Einsicht vor, daß der neue Staat nicht als das öffentliche Wesen des Menschen, des zoon politikon, verstanden werden könne; daß er sich andererseits aber auch nicht erschöpfe in den traditionellen Rollenbildern des Herrschers und seines Haushalts, seiner Ratgeber und seiner Truppe, oder in den republikanischen Ämtern antiker Tradition. Existenz und Entscheidungen des Staates werden als begründungsbedürftig empfunden. Jede Begründung aber hat sich abzustützen in Haltepunkte eines anderen Bereichs; denn „der Grund fällt, zufolge des bloßen Denkens eines Grundes, außerhalb des Begründeten" . 1
Die Versuche der Begründung können wir im einzelnen hier nicht nachzeichnen. Sie lösen sich nach und nach von dem überkommenen hierarchischen Rechtsquellendenken, der Ordnung von lex divina, lex aeterna, lex naturalis und lex positiva, ab und steuern zu auf die Dichotomie von Staat und Gesellschaft, die, weil weniger integrierend, der neuartigen Systemdifferenzierung angemessener zu sein scheint . Die an antike und mittelalterliche Lehren nur äußerlich anknüpfenden neuen Staatsvertragslehren, die puritanische Auffassung des Staates als In2
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Johann Gottlieb Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre, § 2. Ausgew. Werke (Hrsg. Medicus), Darmstadt 1962, Bd. 3, S. 8. 2
Ein typisches und besonders wirksames Beispiel: Die Ablehnung der Unterscheidung von naturrechtlicher und positivrechtlicher Rechtsbegründung als Kriterium des Eigentumsschutzes gegenüber dem Staat bei Hugo Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, lib. II c. 14 § 7. Weitere Hinweise bei Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 5. Aufl., Aalen 1958, S. 268 ff. Zur Unangemessenheit dieser Unterscheidung für das Verständnis der I öffentlichen Ordnung des Mittelalters und zu ihrem Aufkommen im Zeitalter des Absolutismus vgl. Otto Brunner, Land und Herrschaft: Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, 3. Aufl., Brünn-München-Wien 1943, S: 124 ff. 3
2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft
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strument zur Verwirklichung der Freiheit in Form von Rechten, die schottische Soziologie leiten über . Letztlich ist es die Notwendigkeit der Begründung, deren tiefe Wurzeln in der Scheidung von Sein und Denken hier nicht freigelegt werden können, die mit bohrender Kraft die soziale Wirklichkeit aufspaltet in eine Sphäre des Staates und eine Sphäre der Gesellschaft. Der Staat hat sich in der Gesellschaft und an der Gesellschaft zu rechtfertigen. (Die Auffassung Hegels, die das Trennschema übernimmt, aber das Begründungsverhältnis umkehrt, blieb ohne reale Folgen.) 4
In dieser geschichtlichen Situation des Übergangs aus dem legeshierarchischen Denken in die Dichotomie von Staat und Gesellschaft sind die Grundrechte geboren worden. Sie sind Ausdruck einer tiefreichenden Umorientierung vom alten ethischen Bindungsdenken zu einem neuen Anspruchsdenken, mit welchem die Lehre von Politik und Staat auf die Zerstörung ihrer Wahrheitsgrundlagen durch die strenge Wissenschaftskonzeption der Neuzeit reagiert . Selbst Freiheit — Bindungslosigkeit — wird jetzt als Recht vorstellbar, und Bindungen müssen in Rechtsgrenzen, in auferlegte Schranken umgedacht werden. Das Umdenken wird aber vorerst noch vom Glauben an die Vernunft getragen. 5
Dieser einmaligen, unwiederholbaren Konstellation verdanken die Grundrechte ihre Prägung, verdanken sie die Möglichkeit, hohes Rechtspathos in den Dienst einer trennenden Dichotomie zu stellen, verdanken sie Ausdrucksform und Ideologie — aber nicht ihre Funktion. Wir können die Funktion der Grundrechte daher weder mit dem legeshierarchischen Modell noch mit dem Modell der Trennung von Staat und Gesellschaft zureichend erfassen. Beide Modelle bestimmen zwar nicht mehr als Glaubensartikel, wohl aber als Frageschema unser Denken. Sie müssen umgangen werden, wenn man ein zeitnahes Verständnis der Grundrechte gewinnen will. Die erkannte Unzulänglichkeit der legeshierarchischen (oder in weiterem Sinne: naturrechtlichen) Staats- und Rechtsbegründung be4
Vgl. die dogmengeschichtlichen Hinweise bei Herbert Krüger, Allgemeine > Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 341 ff., ferner Adalbert von Unruh, Dogmenhistorische Untersuchungen über den Gegensatz von Staat und Gesellschaft vor Hegel, Leipzig 1928; Horst Ehmke, „Staat" und „Gesellschaft" als verfassungstheoretisches Problem, Festgabe für Rudolf Smend, Tübingen 1962, S. 23—49, und Erich Angermann, Das Auseinandertreten von Staat und Gesellschaft im Denken des 18. Jahrhunderts, Zeitschrift für Politik 10 (1963), S. 89—101. Vgl. dazu Michel Villey, Leeons d'histoire de la Philosophie du droit, Paris 1957, S. 249 ff. Zur Bedeutung von Hobbes für diese Wendung vgl. Leo Strauss, The Political Philosophy of Hobbes: Its Basis and its Genesis, 2. Aufl. Chicago 1952, S. 155 ff., und ders., Naturrecht und Geschichte, Stuttgart 1956, insb. S. 188 f. Zur Ambivalenz der Übergangszeit vor Hobbes treffend Roman Schnur, Individualismus und Absolutismus: Zur politischen Theorie vor Thomas Hobbes' (1600—1640), Berlin 1963. 5
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2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschalt
steht in der Unmöglichkeit, das Sein von höherrangigem Recht mit Methoden zu beweisen, die im Sinne der neuzeitlichen Wissenschaftsauffassung zu wahren Erkenntnissen führen können. Wir können zum Naturrecht nicht zurückkehren — auch deshalb, weil unser Horizont sich erweitert hat und wir die Möglichkeit der Auswahl nicht mehr los werden. Nur die Problemstellung bleibt erhalten. Die Abhängigkeit vom legeshierarchischen Frageschema dauert fort. Sie zeigt sich einmal daran, daß wir nach wie vor den Gedanken der „Quelle" des Rechts von dem der Rechtsgeltung nicht zu trennen vermögen, obwohl die Voraussetzung dieser Einheit, die Auffassung der Wahrheit als Erscheinen des Seins, die wir der griechischen Philosophie verdanken, längst zerfallen ist . Vor allem aber wirkt die Hierarchievorstellung darin nach, daß die Rechtfertigung von Staat und Recht weiterhin in höherrangigem Recht gesucht, wird; daß — mit anderen Worten — das Rechtfertigen überhaupt am hierarchischen Modell orientiert wird . 6
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Die hierarchische Orientierung überlebt vermutlich deshalb, weil sie den wichtigen Vorzug hat, ein Schema begrenzter Flexibilität und Änderbarkeit des Rechts anzubieten. Sie kommt damit einem wichtigen Bedürfnis differenzierter Sozialordnungen entgegen. Diese müssen in ihren Normordnungen unterschiedliche Ebenen der Generalisierung institutionalisieren in dem Sinne, daß niedrigere Normen spezifiziert und nach Bedarf geändert werden können, ohne daß höherrangige Werte dadurch in Frage gestellt würden . Der Wunsch nach Rechts ander ung 8
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Das wird man trotz aller neueren Bemühungen um eine phänomenologische Philosophie sagen dürfen. In der heutigen kritischen Wissenschafts Philosophie ist man jedenfalls nicht mehr bereit, die alten „Quellen" des wahren Wissens: Erfahrung und Vernunft, unbesehen auch als Rechtfertigungsgründe zu akzeptieren. Gerade der Dualismus dieser Quellen und die sich daran anschließende Diskussion hat zu dieser Trennung gezwungen. Dem Begriff der Rechtsquelle ist eine ähnliche Zersetzung bisher erspart geblieben, obwohl auch hier die Identifikation von Quelle und Grund zu wohl unlösbaren Schwierigkeiten und zu weit divergierenden, vielfach auch „pluralistischen" Rechtsquellentheorien geführt hat. 7
Wichtig wäre, hierbei die allgemeine Neigung des ontologischen Denkens zu bedenken, sich die Seinsfrage durch eine Rangeinteilung des Seienden zu erleichtern — und zu verstellen. Dazu Gutes bei Eugen Fink, Alles und Nichts: Ein Umweg zur Philosophie, Den Haag 1959. Unter die historischen Vorläufer der modernen rationalen Rechtskultur sind daher nicht nur römische Begriffsschärfe und frühneuzeitliches Systemdenken zu rechnen, sondern gleichrangig auch die mittelalterliche Anwendung der elastischen Hierarchievorstellung auf das Recht, die die Mobilisierung und Positivierung des Rechts eingeleitet hat. Zur soziologischen Seite vgl. auch Smelser (Kap. 1 Anm. 22), S. 278 ff., der die Institutionalisierung eines Unterschiedes von Normen und Werten als ein erhaltungswichtiges Merkmal differenzierter Sozialordnungen und zugleich als strukturelle Vorbedingung sozialer Reformbewegungen behandelt. Siehe zur Künstlichkeit dieser Unterscheidung ferner Robert N. Bellah, Religious Aspects of Modernization in Turkey and Japan, The American Journal of Sociology 64 (1958), S. 1—5. 8
2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft
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darf nicht gleich Hochverrat sein; er muß sich im Rahmen anerkannter Werte legitim ausdrücken lassen. Der ständige Rekurs auf Werte (statt auf Normen!) in der heutigen Grundrechtsdiskussion ist deshalb funktional sinnvoll, selbst wenn er sich wissenschaftlich nicht ausreichend explizieren und begründen läßt. Die Unzulänglichkeit der Trennung von Staat und Gesellschaft ist besonders durch das starke Anwachsen der Interdependenzen zwischen beiden „Sphären" deutlich geworden. Im Hinblick darauf wird eine Überwindung des Gegensatzes proklamiert . In Wahrheit folgt man weiterhin dem Sog des zugrunde liegenden Frageschemas, solange man das dichotomische Kontrastmodell in der einen oder anderen Form, als Individuum vs. Kollektiv, als Freiheit vs. Planung etc. weiterpflegt. Dem schließt sich für gewöhnlich die Auffassung an, daß der Bürger vom Staat zunehmend abhängig werde und der Staat zunehmend abhängig vom Bürger, soweit dieser sich in Form von Interessenverbänden organisieren kann; und beides wird gleicherweise für bedrohlich gehalten — vermutlich einfach deshalb, weil Lebensgefühl und Denkmodelle noch nicht auf das Phänomen wachsender Differenzierung und wachsender Interdependenz in der gesamten Sozialordnung eingestimmt sind. Unser Grundproblem: die Erhaltung des Differenzierungspotentials der Gesellschaft erhält dann die zu einfache Fassung, die Gehlen ihm gibt: Was hindert den Staat, in der Vielzahl seiner gesellschaftlichen Funktionen aufzugehen? 9
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Ferner lebt die These der Trennung von Staat und Gesellschaft unerkannt in unserem Rechtsstaatsbegriff fort. Seinen eigentümlich unpolitischen Charakter verdankt er vor allem dem Umstand, daß die Gesellschaft in Abtrennung vom Staat nicht mehr als politisches Gemeinwesen (societas civilis) gesehen wurde, andererseits aber auch noch keine überzeugende soziologische Konzeption vorhanden war, die Funktion und Grenzen des politischen Systems in der Gesellschaft hätte deutlich machen können. So blieb der Gesellschaft nur ein Angstkomplex vor der Politik: Sie mußte dem Staat überlassen und alsdann von außen gedrosselt werden. 11
Die Formel der Trennung von Staat und Gesellschaft ist außerdem deshalb ein unzureichendes Vorstellungsmodell, weil sie ihre Ver9
Siehe z. B. C. Schmitt (Kap. 1 Anm. 1 — 1931 —), S. 73 ff.; Karl Mannheim, Freedom, Power, and Democratic Planning, New York 1950, S. 42 ff.; Hans Huber, Recht, Staat und Gesellschaft, Bern 1954, S. 27f.; Arnold Gehlen, Industrielle Gesellschaft und Staat, Wort und Wahrheit 11 (1956), S. 665—674 (669); Hans Freyer, Das soziale Ganze und die Freiheit des Einzelnen unter den Bedingungen des industriellen Zeitalters, Göttingen-Berlin-Frankfurt 1957. (Kap. 2 Anm. 9), S. 667. Dazu nochmals unten S. 137. 1 0
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ständnismöglichkeiten und ihre begrifflichen Hilfsmittel mit der These der Trennung verausgabt. Sie kann die Trennung selbst und die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Möglichkeit nicht analysieren, sondern nur registrieren, wie weit sie reicht. Es fehlt ihr auch der begriffliche Bezugsrahmen, mit dem sie erläutern könnte, was denn nun eigentlich getrennt wird: Handlungen oder Erwartungen, Systeme oder Institutionen, Gruppen oder Loyalitäten. Und weil sie den Angelpunkt der behaupteten Trennung nicht spezifiziert, fehlt es ihr an Verständnis für das Entscheidende: daß Trennung im Sinne funktionaler Differenzierung eine verstärkte wechselseitige Abhängigkeit des Getrennten zur Folge hat, daß also Trennung und Abhängigkeit sich nicht gegeneinander aufheben, sondern miteinander wachsen. Damit steht im engen Zusammenhang, daß subjektive Rechte, besonders Grundrechte, zwar als Grenzen des staatlichen Gesetzgebungsvorgangs vorstellbar sind, der Gesetzgebungsvorgang aber von diesen Grenzen her nicht gesteuert und rationalisiert werden kann (was man eigentlich von „Grenzen" erwarten müßte). Beachtung der Grundrechte ist noch keine Richtigkeitsgarantie. Insofern ist eine Funktion verloren gegangen, als man die hierarchische Kontrolle der Rechtspositivierung mittels übergeordneten objektiven Rechts aus höherrangigen Quellen durch die Grundrechtskonzeption verdrängte. Diese Lücke kann heute durch eine soziologische Analyse der Grundrechtsfunktion geschlossen werden. Die funktionale Systemtheorie ermöglicht ein Abwerfen dieser alten Fragestellungen und damit ein unbefangenes Neuprüfen der Sachverhalte. Sie behandelt die politische Sphäre nicht mehr, wie die ältere politische Soziologie, als ein „Epiphänomenom der Gesellschaft" , nicht nur als Resultat und Faktor gesellschaftlicher Kräfte (und insofern das Trennschema Staat — Gesellschaft in Form des Unterschieds von Ursache und Wirkung voraussetzend); sondern sie sieht gerade umgekehrt den neuzeitlichen Staat als Ausbildung der politischen Sphäre zu relativer gesellschaftlicher Autonomie, als Untersystem der Gesellschaft, das eine spezifische Funktion in der Gesamtordnung erfüllt und dafür ausdifferenziert und freigestellt ist . Das Verständnis der Autonomie des Politischen setzt das Verständnis gesellschaftlicher Differenzierung voraus. So kann die Theorie sozialer Systeme den eigentlichen Stein des Anstoßes: die wachsende Differenzierung und Interdependenz, unmittel12
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Nach einer Formulierung von Siegfried Landshut, Zum Begriff und Gegenstand der politischen Soziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 8 (1956), S. 410—414 (413). Daß diese Sicht für die neuere politische Soziologie charakteristisch ist, bezeugt auch Seymour M. Lipset, Soziologie der Demokratie, Dt. Übers. Neuwied und Berlin-Spandau 1962, S. 16 f. 13
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bar zum Thema machen, und zwar in der Form eines Systemproblems, für das eine Sozialordnung, will sie fortbestehen, Lösungen finden muß. Damit zugleich werden jene Denkansätze, auf denen die Ausdrucksform der Grundrechte und ihre Auslegung beruht, verlassen. Die Grundrechte werden durch die Frage nach ihrer Funktion hintergangen; sie werden an ihnen inkongruenten Perspektiven gemessen. Und gerade dadurch reichert sich unser Verständnis an. Soziale Differenzierung setzt Generalisierbarkeit von Kommunikationen voraus . Das heißt: Kommunikationen müssen einen Sinn vermitteln können, der allgemein ist insofern, als er in verschiedenen Situationen trotz Wechsels der Umstände als derselbe festgehalten werden kann. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der Wiederholung von Erfahrungen, der Einprägung, des Lernens . Bestimmte Symbole, aber auch vage erfaßte Hintergrundsvorstellungen oder Verhaltensmotive, sind in verschiedenen Situationen brauchbar und werden durch Wiederholung zu einem gefestigten Bestandteil der Erlebnisstruktur, die die Auswahl der täglichen Erlebnisthemen leitet und daher nicht leicht in Frage gestellt werden kann. 14
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Elementarste Vorbedingung für die Generalisierung von Kommunikationen ist die Sprache, das heißt: die Strukturierung zwischenmenschlichen Verhaltens durch die Differenz von allgemein feststehenden Bedeutungen (code) und konkretem Ausdruckshandeln, das diese Bedeutung in unzähligen Konstellationen aktualisiert . Mit Hilfe dieser Differenz ist es möglich, die Fesseln der konkreten Situation abzuwerfen (ohne deswegen weniger konkret zu handeln) und die Einmaligkeit der Situation in einer Form auszudrücken, die auch zu anderer Zeit, in andersartigen Situationen, für andere Menschen denselben Sinn gibt. 18
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Das ist eine Grundthese der Parsonsschen Soziologie; vgl. z. B. Talcott Parsons, The Point of View of the Author, in: Max Black (Hrsg.), The Social Theories of Talcott Parsons, Englewood Cliffs N. J. 1961, S. 311—363 (343 f.). Das bringt in der behavioristischen Theorie des Lernens der Begriff des „generalized reinforcers" zum Ausdruck. Vgl. z. B. die Darstellung von Alfred Kuhn, The Study of Society: A Unifled Approach, Homewood III. 1963, S. 84 ff.; ferner allgemein Franz Josef Stendenbach, Soziale Interaktion und Lernprozesse, Köln-Berlin 1963, insb. S. 90 ff., und zur Herkunft des Gedankens I. P. Pavlov, Conditioned Reflexes, Engl. Ubers. Oxford 1927, S. 110 ff. Dahinter steht der allgemeine Gedanke, daß ein Handlungssystem sich nur durch eine gewisse Indifferenz gegen Unterschiede in der Umwelt als identisches System erhalten könne, daß es also in jeder Beziehung von System und Umwelt „generalisierende Mechanismen" geben müsse. In diesem Sinne spielt der Begriff in der Systemtheorie von Talcott Parsons eine zunehmend wichtige Rolle. Siehe z.B. Talcott Parsons, The Social System, Glencoe III. 1951, S. 10 f., 201 ff.; Talcott Parsons/Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge Mass. 1951, insb. S. 126 ff.; Talcott Parsons/ Robert F. Bales/Edward A. Shils, Working Papers in the Theory of Action, Glencoe III. 1953, z. B. S. 41 f., 81. Vgl. dazu z. B. Roman Jakobson/Morris Halle, Fundamentals of Language, Den Haag 1956, S. 5. 15
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Sprache ermöglicht eine Abstraktion von Situationsrelevanzen unter spezifischen Gesichtspunkten und damit die Zusammenordnung verschiedener Situationen unter gemeinsamen Leitgedanken. Alle soziale Differenzierung gruppiert in dieser Weise Situationen unter Relevanzgesichtspunkten (die immer zugleich auch Regeln des Ausschlusses von Irrelevantem, also Regeln der Grenzziehung sind). Soziale Differenzierung erfordert stets einen Verhaltenskodex, der die prinzipielle Form der Sprache hat und dadurch Kommunikationen generalisiert. Doch das allein ist nicht genug. Wenn die soziale Differenzierung den Weg funktional-spezifischer Untersystembildung gehen soll, ist zur Generalisierung von Kommunikationen mehr als nur Sprache erforderlich. Untersystembildung differenziert die sozial angebotenen Ausdrucksbahnen so stark, daß die Wahl zum Problem wird; daß die Definition der sozialen Situation nicht mehr allein der gemeinsamen Sprache überlassen werden kann, sondern zusätzliche soziale Mechanismen das kommunikative Verhalten steuern müssen. Situationsrelevanzen müssen in hohem Maße durch sehr viel indirektere Systemrelevanzen ersetzt werden. Und deren Aktualisierung kann nicht mehr allein dem spontanen Einfall oder dem momentanen Bedürfnis überlassen bleiben; sie muß gesteuert werden. Andererseits ist in anbetracht der Einheit und Unzerreißbarkeit der Person, die von verschiedenen unkoordiniert nebeneinanderwirkenden Systemen aus angesprochen wird, an Steuerung durch einfachen Zwang nicht zu denken. Differenzierte Systeme können noch viel weniger als undifferenzierte Systeme jede Intensität und Richtung der Mitteilungen, die sie benötigen, mit Zwangsmitteln motivieren; denn Zwang macht schweigsam. Sie müssen sich weitgehend auf die Selbststeuerung des kommunikativen Verhaltens verlassen, das heißt: darauf, daß dieses sich von selbst an Systemrelevanzen generalisiert. Die Alternative von spontaner Freiheit und auferlegtem Zwang ist als Verständnisgrundlage für diesen Vorgang unzureichend, ja deplaciert. Das soziale Terrain muß, damit funktional-spezifische Untersysteme sich ansiedeln können, durch Institutionen gestaltet werden, die weder aus Freiheit noch aus Zwang entstehen und deren Verständnis nur verdunkelt wird, wenn man versucht, sie unter diese Rubriken zu bringen. Es handelt sich um Zusatzinstitutionen der Sprache. Ein solcher Ausbau der Sprache, der die Generalisierungs- und Differenzierungsfähigkeit der sozialen Kommunikationen sicherstellen soll, erfolgt in der allgemeinen Richtung der Entbindung und Befreiung des kommunikativen Verhaltens aus allzu engen Fesseln sozialer oder emotionaler Art . Dem liegt ein breitfließender zivilisatorischer Prozeß 17
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Siehe hierzu eine Feststellung, die häufig gemacht worden ist: daß diffuse, nichtdisponible Bindungen an Familienzusammenhänge, die den Einzel-
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der Mobilisierung von Sachbindungen und Personbindungen zugrunde, der sich in dem Maße auswirkt, als Sachbindungen durch Geld und Personbindungen durch Mitgliedschaft in Organisationen vermittelt werden. Dadurch wächst das Kommunikationspotential der Gesellschaft und ihYe Fähigkeit zu unterschiedlichen, wechselnden Situationsdefinitionen. 18
Die bloße Auflösung partikularer Bindungen reicht jedoch — das wissen wir seit Dürkheim — nicht aus, um eine differenzierte Sozialordnung zu erhalten. Die Freiheiten des Vertragsabschlusses setzen die soziale Normierung nichtdisponibler Vertragsbestandteile voraus. Die in einer differenzierten Sozialordnung benötigten Wahlfreiheiten und Verfügbarkeiten erfordern die Institutionalisierung korrespondierender Rechte und Pflichten sowie zahlreicher Vermittlungsmechanismen, von denen wir soeben Geld und disponible Mitgliedschaften erwähnten. Solche Vermittlungen lösen die alten, starren Rollenbedingungen ab. Sie machen es möglich, daß der Einzelne in verschiedenen, je spezifischen Funktionszusammenhängen (z. B. Familie, Beruf, Politik, Vereinswesen) mitwirkt, ohne daß die eine Mitwirkung nach Art oder Erfolg Bedingung für die Zulassung zur anderen wäre. Trotz dieses Verzichts auf feste Verknüpfung ist durch eine übergreifende Ordnung der Verhaltenserwartungen dafür gesorgt, daß die Anforderungen und Tätigkeiten im wesentlichen kompatibel bleiben . 19
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Damit zugleich muß das Unterscheidungsvermögen im Wahrnehmen, Erklären (Zurechnen) und Reagieren wachsen, so daß Enttäuschungen auf medizinischem Gebiet nicht ohne weiteres der Politik, Enttäuschungen auf familiärem Gebiet nicht ohne weiteres der Religion, Enttäuschungen auf wirtschaftlichem Gebiet nicht ohne weiteres dem Bereich kultureller Symbole und Werte zur Last gelegt werden, sondern dies allenfalls geschieht, wenn spezifische Gründe für solche Zusammennen voll beanspruchen, ihm aber auch in allen Lebenslagen Sicherheit gewähren, der fortschreitenden Industrialisierung und allgemeiner: der sozialen Differenzierung, hemmend im Wege stehen. Vgl. z. B. Marion J. Levy, The Family Revolution in Modern China, Cambridge Mass. 1949; Wilbert E.Moore/ Arnold S. Feldman (Hrsg.), Labor Commitment and Social Change in Developing Areas, New York 1960, S. 314 ff. Siehe dazu aber auch unten S. 103 ff. J Die These, daß eine solche Mobilisierung zugleich eine Vermehrung der Kommunikationen im System darstelle und deshalb sozial nützlich sei, die bei Karl Deutsch oft anklingt — vgl. z. B. Nationalism and Social Communication: An Inquiry into the Foundations of Nationality, New York-London 1953, S. 100 — hat manches für sich, bedarf aber noch sorgfältiger empirischer Prüfung. Es darf jedenfalls nicht übersehen werden, daß Disponibilität auch als solche schon nützlich ist. 8
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Siehe besonders Dürkheim (Kap. 1 Anm. 12). Dieser Feststellung gibt Talcott Parsons besonderen Nachdruck. Vgl. z. B. Parsons (Kap. 1 Anm. 4), S. 229 ff. 20
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hänge aufweisbar sind — im Zweifel also nicht —, während in diffus institutionalisierten, unistrukturellen Sozialordnungen die Vermutung / für einen solchen Deutungszusammenhang spricht . Die Notwendigkeit solcher Separatbehandlung von kommunikativen Zusammenhängen zwingt ferner dazu, die expressiven Komponenten des Verhaltens schärfer in die Kontrolle zu bekommen, zumindest in den Bereichen außerhalb von Intimgruppen. Das alles kann nicht der Einzelperson überlassen bleiben. Soziale Institutionen müssen Verhaltensstützen gewähren. Aus sich selbst heraus würde der Einzelne solchen Anforderungen nicht genügen können, ständen nicht vorgeformte Rollen und Deutungsschablonen für ihn bereit, die ihm die Erfindung passender Verhaltensmöglichkeiten weitgehend abnehmen. 21
In einer differenzierten Sozialordnung reichen also weder Zwangsgewalt noch partikulare Bindungen als Motivationsgrundlage aus. Beide enthalten in bezug auf das Handeln, das sie kontrollieren, funktional unspezifische Sanktionsmittel, deren Wirkung sich nicht auf eine ausdifferenzierte Kommunikationssphäre beschränken läßt. Zwang läßt sich zur Motivation fast aller menschenmöglichen Handlungen einsetzen und schafft dabei einen Brennpunkt primär emotionaler Probleminteressen, der sich nicht auf bestimmte Sachzusammenhänge isolieren läßt. Auch Bindungen der Loyalität und Treue wirken in diesem Sinne funktional diffus. Eine weitblickende Rationalisierung des Handelns ist nur möglich, wenn statt dessen in getrennt bleibenden Kommunikationssphären je spezifische Rationalitätskriterien und Sanktionsmechanismen entwickelt werden. Das führt zu indirekter und komplexer wirkenden Motivationsstrukturen und zugleich zur Spezifikation der Ziele und Risiken. Dem dienen zum Beispiel im Bereich der persönlichen Selbstdarstellung das Kriterium des Ansehensgewinnes oder -Verlustes, im Bereich der Wirtschaft das Kriterium des Geldgewinnes oder -Verlustes, im Bereich der Politik das Kriterium des Machtgewinnes oder -Verlustes, die alle relativ getrennt operieren, ohne sich wechselseitig zu stören, und jeweils nur den ihnen zugeordneten Handlungsbereich sanktionieren. Differenzierte Sozialordnungen haben somit die Tendenz, nur noch Teilschicksale zuzulassen, die von je konstant bleibenden Strukturen aus überwacht und repariert werden können. Dadurch ist eine langfristige und weiträumige Berechenbarkeit der Handlungsfolgen erreichbar, ohne daß partikulare Mechanismen wie der Druck ausgesprochener Befehle und Sanktionsdrohungen oder eine Erwartungssicherheit auf Grund persönlicher Bekanntschaft oder lebenslänglicher Treue vorausgesetzt werden müßten; sie werden entbehrlich. 21
Siehe hierzu Parsons Ausführungen über die „Beweislast"-Regel als Kriterium der Abgrenzung von „specificity" und „diffuseness" in: Parsons/ Shils (Kap. 2 Anm. 15), S. 87. Zu diesen Begriffen ferner unten Kap. 8 Anm. 17.
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Alle Einzelsysteme, Personen ebenso wie Organisationen, können durch Spezifikation ihrer Interessen und dank der Voraussehbarkeit ihrer Umwelt sich einen weiten Bereich der Indifferenz gestatten, der sie koalitionsfähig macht . Sie fügen sich so ohne große Spannungen, also ohne Inanspruchnahme von Gefühlen, ineinander. Die generalisierte Bereitschaft, Rollen zu übernehmen und sie nach den Anforderungen der Organisation, in die man eintritt, zu erfüllen, zeichnet die industrielle Arbeitswelt auf der personalen Seite aus . Auf Seiten der Organisation entspricht dem die wachsende Unabhängigkeit von individuellen und damit unterschiedlichen Motivationsstrukturen: Die benötigten Leistungen werden als Mitgliedspflichten formalisiert und zur Bedingung der Fortsetzung der Mitgliedschaft gemacht . Natürlich bleiben der Indifferenz Grenzen gesetzt. Aber wo die Toleranzschwelle erreicht wird, ist ein Wechsel der Beziehung leicht möglich. Der Gewinn an Freiheit ist beträchtlich. 22
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In der Tat stoßen wir hier auf einen Aspekt des Freiheitsproblems . Bestimmte Institutionen der Differenzierung müssen dafür sorgen, daß
die Untersysteme der Gesellschaft füreinander disponibel bleiben, denn nur dadurch wird wechselseitige Interdependenz möglich. Dies geschieht zum Teil durch Normierung wechselseitiger Rechte und Pflichten, zum Teil durch Erzeugung ungebundener Leistungsüberschüsse (politisch nicht festgelegte Macht, emotional nicht gebundene Interessen, abschöpfbare wirtschaftliche Gewinne usw.), vor allem aber auf allgemeinerer
Ebene durch Institutionalisierung von Freiheiten in den einzelnen Untersystemen. Wo die Institutionalisierung von Freiheiten gelingt, ist damit ein Bereich der Indifferenz geschaffen, dessen Ausgestaltung fremden Interessen folgen kann, ohne durch deren Auswahl dem institutionalisierenden System zu schaden. Dadurch entsteht in der Gesamtordnung innere Elastizität. Die Gewährleistung von Freiheiten der 22
Einsichtige Bemerkungen zum Zusammenhang wachsender Voraussehbarkeit des Verhaltens mit wachsender Toleranz und stärkerem Verlaß auf indirekte Motivationsmittel finden sich bei Michel Crozier, Le phénomène bureaucratique, Paris 1963, S. 244, 370, 378. Vgl. dazu Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 89 ff., mit Literaturhinweisen (S. 93 Anm. 5 und 6), ferner Daniel Katz, The Motivational Basis of Organizational Behavior, Behavioral Science 9 (1964), S. 131—146 (insb. 135 ff.). Dazu Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 89 ff., 377 ff. Siehe die Verwendung des Fechnerschen Schwellenbegriffs im Sinne einer Indifferenzgrenze (Grenze der Möglichkeit, Verschiedenes als gleich zu behandeln) bei William Stern, Person und Sache: System des kritischen Personalismus, Bd. I (2. Aufl. Leipzig 1923), S. 353 ff., Bd. II (3. Aufl. Leipzig 1923), S. 190 ff., Bd. III (Leipzig 1923), S. 301. Neben der Indifferenzfunktion der Freiheit, die die Anpassung erleichtert, bleibt die Autonomiefunktion z u beachten, die d e r I n t e g r a t i o n dient. Diese Unterscheidung folgt aus der Innen/Außen-Differenz, die mit jeder Systembildung gegeben ist. 23
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politischen Entscheidung (Macht), der Disposition über Geld oder über eigene Arbeitsleistung im Vertragsschluß, des Anschlusses an meinungsbildende Gruppen usw., bezieht sich primär auf das Handeln in spezifischen Teilsystemen der Gesellschaft, garantiert aber zugleich, indem sie einen Spielraum des Nichtfestgelegtseins institutionalisiert und in diese Systeme einbaut, die wechselseitige Beeinflußbarkeit und Anpassungsfähigkeit der Teilsysteme. Freiheiten des einen Bereichs sind Einflußchancen, sind Möglichkeiten der Inpfhchtnahme für den anderen. In diesem Sinne wird in differenzierten Sozialordnungen Freiheit zur Notwendigkeit. Und umgekehrt wird soziale Handlungsfreiheit erst durch Differenzierung des sozialen Systems möglich . 27
Von vornherein ist nicht zu erwarten, daß der Ausbau der Sprache durch Zusatzinstitutionen der beschriebenen Art einen einzigen und geraden Weg nimmt, soll doch auf diese Weise gerade der sozialen Differenzierung Rechnung getragen werden. So handelt es sich nicht um eine einzige Institution, vielmehr um ein kompliziertes Geflecht von Einrichtungen, deren je besondere Funktion sich daraus ergibt, daß sie zwischen verschiedenen Untersystemen zu vermitteln haben. In diesem Sinne wirken so heterogen anmutende Einrichtungen zusammen wie: die wachsende Selbstdisziplin und Ausdruckskontrolle angesichts von bewußt erkannten Alternativen, das Geldwesen, die Mobilität der Mitgliedschaften, die Institutionen, welche eine Meinungsbildung trotz Kenntnis anderer Möglichkeiten erleichtern (Institutionen der Autorität und der selektiven Informierung) und nicht zuletzt die Formen der Unterstützung politischer Macht. Wie schon diese Aufzählung deutlich macht, stehen die Grundrechte in enger Beziehung zu allen diesen Medien generalisierender Kommunikation. Deren Vielzahl, letzlich also die soziale Differenzierung, erklärt die Vielzahl der Grundrechte und die Unmöglichkeit, sie auf eine einzige ideologische oder dogmatische Formel zu bringen. Deshalb kann es kein dogmatisches „System der Grundrechte" geben und deshalb sollte die Auslegung der Grundrechtsbestimmungen das soziologische Vorfeld nicht länger vernachlässigen. 27
Wir berühren uns hier eng und bestätigend mit der marxistischen These, daß die wirkliche Freiheit des Individuums vom Entwicklungsstand der Gesellschaftsordnung abhängt. So richtig dies ist, so unzulänglich ist es, die gesellschaftliche Entwicklung lediglich in der Auflösung des Eigentums zu erblicken. Dabei handelt es sich um einen wichtigen Schritt sozialer Differenzierung, nämlich um die Trennung von Persönlichkeitsinteressen und Entscheidungsrechten im Wirtschaftssystem, bei weitem aber nicht um den Gesamtprozeß der sozialen Differenzierung. So gibt der Marxismus in ähnlicher Weise wie die Theorie der Trennung von Staat und Gesellschaft einem grob vereinfachten und verabsolutierten Ausschnitt aus dem Gesamtkomplex sozialer Differenzierung, zu deren Vorläufer-Theorien beide zu rechnen sind, ein unberechtigtes Monopol.
2. Kap.: Legeshierarchie und Trennung von Staat und Gesellschaft
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Eine differenzierte Gesellschaftsordnung wird in mindestens vier Sphären Mechanismen der Generalisierung von Kommunikationen gewährleisten müssen: in bezug auf die Selbstdarstellung der Person; in bezug auf die Bildung verläßlicher Verhaltenserwartungen; in bezug auf die wirtschaftliche Bedarfsbefriedigung; und in bezug auf die Möglichkeit, gemeinsam-verbindliche Entscheidungen zu treffen . Die Grundrechte haben nicht die Funktion, generalisierende Mechanismen in diesen Sphären zu schaffen. Sie setzen einen gesellschaftlichen Entwicklungsstand voraus, in dem es sie gibt, und sie dienen lediglich dazu, ihre Korrumpierung durch das politische System zu verhindern. Wir müssen, um ein ausreichend durchgezeichnetes Bild zu gewinnen, auf diese vier verschiedenen Richtungen der Grundrechtsfunktion näher eingehen. Dabei wird zu zeigen sein, wie das überlieferte Muster der Grundrechtstypen sich in diesem soziologischen Bilde wiederfindet und aus ihm heraus verständlich wird. Bevor wir uns im vierten bis siebten Kapitel dieser Aufgabe zuwenden, muß jedoch unsere Auseinandersetzung mit den Grundlagen der herrschenden Verf assungsdogmatik durch einen weiteren Gedankengang vervollständigt werden. 28
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Diese Aufzählung ist hier zunächst induktiv gemeint. Die Erörterung einer Möglichkeit ihrer theoretischen Rechtfertigung wird weiter unten folgen (Kap. 9).
Drittes Kapitel
Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Grundrechtsbegründung So deutlich, wie man es sich wünschen möchte, wird die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion der Grundrechte selten gestellt. Ein typisches Beispiel für diese Fragestellung gibt die Staatslehre von Herbert Krüger . Aber sie gibt zugleich einen Beleg dafür, daß die herkömmliche Disziplin der „Allgemeinen Staatslehre" sich damit selbst überfragt. Die Erörterung bemüht sich um den Nachweis, daß Grundrechte nicht nur eine Funktion für das Individuum in seiner gesellschaftlichen Sphäre, sondern als Integrationsfaktoren auch eine Funktion für den Staat haben. Sie läßt sich dabei leiten von der Orientierung am Gegensatz der liberalen, zunächst naturrechtlichen, dann positivistischen juristischen Methode einerseits, der geisteswissenschaftlich-wertethischen Methode andererseits. Aber sie verfügt weder über eine ausgearbeitete, kritisch durchdachte Methodologie der funktionalen Analyse noch über empirisch kontrollierbare Problemreferenzen. Und, wie jetzt gezeigt werden soll, reicht auch ihr begrifflicher Bezugsrahmen mit wenigen einfachen Dichotomien und Grundannahmen über Naturrecht, Menschenwesen und „geistige" Wirklichkeit nicht aus, um die Fülle der Folgeprobleme gesellschaftlicher Differenzierung und darin vor allem: der Staatsbildung, einzufangen. Der Gegensatz von naturrechtlicher und geisteswissenschaftlicher Grundrechtsbegründung — den dazwischenliegenden juristischen Positivismus können wir hier übergehen, da er auf eine Grundrechtsbegründung bewußt verzichtet — spielt auf 1
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Krüger (Kap. 2 Anm. 4), S. 536 ff. Siehe ferner die Betonung der Grundrechtsfunktion bei Häberle (Einf. Anm. 14), S. 8 ff. und passim. Der Funktionsbegriff selbst bleibt dabei Undefiniert. Der Zusammenhang läßt jedoch erkennen, daß der durch Leon Duguit in die Jurisprudenz eingeführte Durkheimsche Funktionsbegriff ( = „objektiver" Zweck) gemeint ist, den die Soziologie außerhalb Frankreichs wegen seiner teleologischen Implikation seit langem aufgegeben hat. Vgl. auch Albert Pierce, Dürkheim and Functionalism, in: Kurt H. Wolff (Hrsg.), Emile Dürkheim, 1858—1917, Columbus, Ohio 1960, S. 154—169. Dazu ist jedoch eine Anmerkung nötig: Weil wir im folgenden die Positivität der Grundrechte scharf akzentuieren und darüber hinaus Recht in einer differenzierten Sozialordnung nur als positives Recht für funktions2
3. Kap.: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung
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jener Ebene der in sich selbst ruhenden Dogmatik, von der wir unsere Darlegungen abheben wollen. Den Titel „naturrechtlich" kann nur eine Theorie beanspruchen, die es unternimmt, Aussagen über das Sein von Rechtsnormen als wahr zu beweisen. Dieses Unternehmen ist jedoch durch die Einengung des neuzeitlichen Wahrheitsbegriffs auf intersubjektive Gewißheit in Schwierigkeiten geraten, welche unter anderem in der Grundrechtslehre zutage treten. Den Versuch, aus der Basis einer empirischen Faktenwissenschaft eine normative Staatslehre abzuleiten, wie es in komplizierten, schwer zu entlarvenden Denkschritten Hobbes noch einmal unternommen hatte, wird heute niemand mehr ernsthaft beginnen. Man weiß nicht zuletzt dank Kelsen im voraus, daß das nicht geht . So bleibt vom Naturrecht nur das normative Postulat unverletzlicher und unveräußerlicher Grundrechte, zu denen sich das Grundgesetz (Art. 1 Abs. 2) im Namen des deutschen Volkes „bekennt". 3
Der das Naturrecht tragende Gedanke der Wahrheitsfähigkeit des Rechts bezeugte eine relativ undifferenzierte Vorstellungsordnung, in der die Sozialwissenschaft (und der Sozialwissenschaftler!) für dieselben Gedankeninhalte kompetent war wie die Religion, die Moral und das Recht. Diese einheitliche Vorstellungswelt mußte im Wesentlichen als unveränderlich konzipiert sein, weil sie nämlich nicht so differenziert fähig halten, sei hier einer Verwechselung vorgebeugt: Wir vertreten damit nicht etwa den juristischen Positivismus im Sinne einer Theorie des Rechts, die glaubte, die Frage nach dem Grunde der Rechtsverbindlichkeit nicht stellen zu können bzw. zu dürfen. Der Grund des Rechts liegt in seiner Funktion, das heißt: in den Bedingungen, die die Ersetzbarkeit des Rechts regeln. Und diese Bedingungen lassen sich nur soziologisch klären. Vgl. für diese von Kelsen immer wieder prononciert vorgetragene These z. B. Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz, 2. Aufl. Tübingen 1923, insb. S. 7 ff., oder ders., Reine Rechtslehre, Leipzig-Wien 1934, S. 4 ff. Im Grunde weiß man das, wenn man will, aber schon seit Kant. Auch in der Nationalökonomie gibt es übrigens eine entsprechende Kritik der naturrechtlichen Seinsbewertung: Vgl. Gunnar Myrdal, Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, 2. Aufl. Hannover 1963. 3
Kern dieses Trennungsdenkens ist jedoch nichts weiter als die Wechsel- f seitige logische Unableitbarkeit von Sein und Sollen. Diese Einsicht verbietet nur eine spezifische Art der Verbindung von empirischer und normativer Wissenschaft; sie schließt andere nicht aus. Sie schließt insbesondere eine funktionale Verbindung nicht aus, die darin bestehen könnte, daß die Faktenwissenschaften die Bezugsprobleme definieren, im Hinblick auf welche die Funktion des Normativen schlechthin sowie die Funktion bestimmter Normen untersucht werden kann. Eine solche Vorstellung trägt diese Arbeit. Sie liegt m. E. auch dem Versuch von Ryffel zugrunde, Bezugspunkt für die Begründung der Richtigkeit des Rechts in anthropologischen Einsichten über die fehlende Instinktausstattung und daher: Weltoffenheit des Menschen zu finden. Vgl, z. B. Hans Ryffel, Der Mensch als politisches Wesen, Festschrift Emge, Wiesbaden 1960, S. 56—71. Siehe auch Heinrich Popitz, Soziale Normen, Europäisches Archiv für Soziologie 2 (1961), S. 185—198 (186 ff.).
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3. Kap.: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung
war, daß Teile ohne Rückwirkung auf andere Teile hätten geändert werden können. Deshalb erscheint ihre Gesamtproblematik im Horizont der „Natur". Solch eine Immobilisierung der Kultur ist für stärker differenzierte Sozialordnungen untragbar. Die Ablösung des Rechts von religiösen, moralischen und wissenschaftlichen Vorstellungs- und Begründungszusammenhängen und seine Positivierung ist eine neuzeitliche Errungenschaft . Sie läßt sich nicht rückgängig machen. Wäre sie nicht schon eingetreten, würde man sie fordern müssen. Nur auf diese Weise kann das Recht als autonome Normordnung funktional spezifiziert und rational gesteuert werden . Und gerade auch die Grundrechte erfordern diese Positivierung, sollen sie an spezifischen Brennpunkten unserer Sozialordnung bestimmte Probleme lösen und dafür möglichst treffsicher ausgerüstet werden . 4
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Andererseits ist nicht zu verkennen, daß die Positivierung dem Recht gewisse Funktionen nimmt, die es in einer funktional-diffus institutio4
Wichtigste geschichtliche Vorbereitung dafür war: die Ausbildung des römischen Rechts als einer von der Religion zunehmend abgetrennten Sphäre normativer Ordnungsbegriffe und Entscheidungsregeln, die den Zusammenbruch der alten Welt überlebten und sich nach ihrer Rezeption systematisieren ließen. Dabei war zweifellos bedeutsam, wenn nicht ausschlaggebend, daß die Ausarbeitung dieses autonomen Rechtsgebäudes durch Rechtsgelehrte in Sonderrollen erfolgt, so daß die gefährliche, für ältere Zeiten völlig undenkbare politische Zentralisierung der Rechtsetzung zunächst nicht nötig war: Der neuzeitliche „Staat" konnte die Positivierung des Rechts mit „Kodifikationen" einleiten. Die Ablösung des Rechts von seinen religiösen Grundlagen und die Positivierung des Rechts hätten wohl niemals gleichzeitig durchgeführt werden können. Sehr instruktiv ist hierzu die genaue Parallele zur Entwicklung des Geldwesens, auf die wir unten S. 112 f. zurückkommen werden. Auch das Geld ist erst dadurch in die volle rationale Kontrolle geraten, daß man darauf verzichtete, Geldsymbole als eine Art naturgeschaffenes Tauschgut oder als Wert zu behandeln. In beiden Fällen bedeutet die Wertkonzeption eine Bindung an Vorgegebenes und damit an etwas, das man sich als unbeherrschbar vorstellt. Um so fragwürdiger ist der Versuch des Grundgesetzgebers, das von ihm geschaffene positive Recht auf Naturrecht zu stützen. Einmal setzt er sich durch Bezugnahme auf seiendes Recht, das er nicht selbst geschaffen hat, dem Nachweise des Irrtums aus. Zum anderen wird die Geltungsfrage dadurch logisch zu einer formal unentscheidbaren Aussage, ohne daß diese Paradoxie wie in manchen Logiksystemen unausweichlich wäre (hierzu namentlich Kurt Gödel, Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I, Monatshefte für Mathematik und Physik 38 (1931), S.173—198). Denn Geltung kraft Seins und Geltung kraft Entscheidung schließen sich wechselseitig aus — schon weil beiden Geltungsgründen unvereinbare Formen der Widerlegung zugeordnet sind. Positives Recht, das behauptet, es sei Naturrecht, ist eben damit kein positives Recht, so daß die Behauptung keine Geltung hat, es also doch wieder positives Recht sein könnte, wenn es nicht behaupten würde . . . Man kann sich diesem Dilemma nur entziehen, wenn man entweder von dem guten Recht des Juristen Gebrauch macht, auf logische Genauigkeit zu verzichten, oder wenn man die Bezugnahme auf das Naturrecht als ein unverbindliches, die Rechtsetzungsabsicht nicht tragendes Glaubensbekenntnis des Grundgesetzgebers ansieht. Beide Auswege befriedigen wenig. 5
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3. Kap.: Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung
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nalisierten Sozialordnung miterfüllen konnte, und daß man sich insofern nach Ersatzleistungen umsehen muß. Die Positivierung ist nur durch Überantwortung der Rechtsetzung an das politische System möglich und dadurch droht das Recht seine alten Funktionen, politische Macht zu legitimieren und zu begrenzen, zu verlieren. Der Staat, der Recht setzt, kann sich nicht mehr auf Recht berufen. Nichts in der gegenwärtigen geistigen Situation deutet darauf hin, daß diese Gefahr rechtsimmanent, durch überzeugende gedankliche Begründung des Rechts, gebannt werden könnte, von Versuchen, das Naturrecht wiederzubeleben, ganz zu schweigen . Sie kann nicht durch Restauration und nicht mehr mit so einfachen Mitteln wie der alten Rechtsquellenlehre behoben werden, sondern nur auf eine Art und Weise, die dem erreichten Grad sozialer Differenzierung angemessen ist: durch Zusammenwirken zahlreicher sozialer (und keineswegs nur: rechtlicher) Institutionen, welche die Differenzierung der Sozialordnung als solche stabilisieren, die notwendigen Freiheiten, Elastizitäten, Auswahlmechanismen und Interdependenzen erhalten und in diesem Rahmen das politische System auf seine spezifische Funktion beschränken. Im Zusammenhang dieser Institutionen, von denen wir einige untersuchen werden, behalten die Grundrechte ihre alte Funktion, die Staatsmacht zu begrenzen, auch und gerade dann, wenn diese Funktion als positive und stets prekäre Leistung des politischen Systems selbst begriffen werden muß. 7
Die Funktion der Staatsmachtbegrenzung enthält mithin den fortwirkenden Kern der älteren „naturrechtlichen" Grundrechtstheorie. Sie bleibt sich gleich und kann in ihren Denkvoraussetzungen dargestellt werden, auch wenn man die Frage der Begründung des normativen Postulats offen läßt oder mit wechselnden Meinungen zudeckt. Auch hier zwingen uns aber neuere Erkenntnisse der Sozialwissenschaft, die Prämissen des naturrechtlichen Problemverständnisses zu korrigieren. Hinter dem Bestreben, die Staatsmacht zu begrenzen, stand die Vorstellung einer Konfliktssituation, eines diametralen Interessengegensat7
Daß man nach 1945 Sicherheit vor einer Wiederkehr des „totalen Staates" im Naturrecht suchte, war nicht nur eine wenig überzeugende, sondern zugleich eine politisch gefährliche Illusion: Sie lenkte von der Einsicht ab, daß solche Sicherheit nur in den politischen Institutionen selbst, letztlich nur im politischen Handeln gefunden werden kann. Überzeugend ist auch der Hinweis von Martin Draht, Grund und Grenzen der Verbindlichkeit des Rechts, Tübingen 1963, S. 13 ff., daß diese Auffassung letztlich bei einem naturrechtlichen Widerstandsrecht des Individuums — als Einzelnen! — gegen das positive Recht endet und die faktischen Verhaltensmöglichkeiten in ihrem sozialen und politischen Kontext völlig außer acht läßt, — ein Beispiel für die auch sonst, z. B. in den Entscheidungstheorien, aufgedeckte Überforderung ; des Individuums durch den vorsoziologischen Rationalismus. Siehe dazu auch das erregende Experiment von Stanley Milgrgtm, Some Conditions of Obedience and Disobedience to Authority, Human Relations 18 (1965), S. 57—76 : mit seinen nachdenklich stimmenden Ergebnissen.
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zes von Staat und Bürger. Daß der Staat auch Rechtsschutz- und Wohlfahrtszwecke erfüllt, daß er die Interessen seiner Bürger auch fördert, ist natürlich niemals bestritten, ja nicht einmal als problematisch angesehen worden. Als Problemfall galt der Konfliktsfall, und auf ihn allein bezog die naturrechtliche Grundrechtskonzeption den Sinn der Rechtsordnung, deren Funktion in der Programmierung von Konfliktsentseheidungen gesehen wurde. Nur weil sie verletzt werden kann, wird die Natur des Menschen in einzelnen Aspekten als „unverletzlich" normiert. Der tief angelegte Versuch des 18. Jahrhunderts, das Verhältnis von Mensch und Staat im Horizonte der Natur aus Vernunft in Rechtsform zu bringen, wird mit jenen Einseitigkeiten bezahlt, die sich aus der Faszination des Rechts durch den Konfliktsfall ergeben. Dem entspricht, daß die Politikwissenschaft Macht als Übermacht im Konflikt (und nicht einfach als veranlassende Kommunikation) deutet. Die Beurteilung des Machtwertes von Situationen, Handlungen und Ereignissen geht dabei von der Machtsummenkonstanz-Hypothese aus, wonach der eigene Machtverlust automatisch einen entsprechenden Machtgewinn des Gegners mit sich bringt und vice versa . Die Grundrechte werden wie das Prinzip der Gewaltenteilung und die Volkswahl von Staatsorganen als Gewicht zur Äquilibrierung eines Machtverhältnisses verstanden, welche das Mißbrauchspotential staatlicher Übermacht institutionell eindämmt. Die scharfe Konsequenz, die Hobbes aus dem Konfliktsbegriff der Macht zieht, wird durch Grundrechte und ähnliches praktisch wirkungsvoll aber theoretisch unerklärbar aufgehoben. 8
Die nebenherlaufende Kritik dieser Konzeption hat ihr trotz dieser offensichtlichen Mängel das Wasser nicht ganz abgraben können. Die Polemik hat zumeist mit den Modevorwürfen des Rationalismus oder gar des mechanistischen Denkens gearbeitet und damit das Entscheidende verfehlt. Wenn man, statt solcher Angriffe von umgekehrten Prämissen des „Geschichtlichen" oder „Geistigen" aus zu führen, das Problem der politischen Macht als Kommunikationsproblem behandelt, tritt die Eigenart der „klassischen" Grundrechtskonzeption deutlich vor Augen: Sie orientiert sich einseitig an einem kommunikationstheoretischen Grenzfall, dem direkten Konflikt in einem geschlossenen System, in dem der Überlegene immer ganz überlegen ist und deshalb durch das Recht in Schranken gehalten werden soll. Der Grund des Grundrechtsschutzes ist dann die Notwendigkeit einer Machtregelung. 8
Zur Kritik dieser These vgl. etwa Franz L. Neumann, Zum Begriff der politischen Freiheit, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 109 (1953), S. 25—53 (41). Auf diese Konstanzprämisse ist es auch, wie wir weiter unten ( ausführen werden, zurückzuführen, daß die herrschende Auffassung sich ! nicht vorstellen kann, daß der Staat selbst die gegen ihn gerichteten GrundI rechte setzt.
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Ohne daß wir den Rang dieses Problems und seiner Lösung abschwächen wollen, läßt uns der Grenzfallcharakter dieser Theorie doch vermuten, daß sie die Funktion der Grundrechte nicht vollständig beschreibt. Sie mögen in Konfliktssituationen eine Brems- und Abwehrfunktion haben, aber das allein erschöpft ihre Bedeutung nicht. Schon eine kurze Überlegung: daß die Garantie von Grundrechten das Vertrauen in den Staat stärken und dessen Macht dadurch steigern kann, dürfte davon überzeugen. Die Machtsummenkonstanzthese setzt besonders strukturierte Situationen voraus, wie sie sich im freien Feld des sozialen Lebens kaum ergeben . Sie versagt jedenfalls, wenn es Einrichtungen gibt, welche die Macht der beiden potentiellen Gegner zugleich stärken, also der Intensivierung des wechselseitigen Einflusses dienen. Zu diesen Einrichtungen zählt die Institution der Grundrechte. Grundrechte schützen nicht nur das Individuum vor dem Staat; sie strukturieren ineins damit die Umwelt der Staatsbürokratie in einer Weise, die den Bestand des Staates als Untersystem der Gesellschaft festigt und insgesamt eine wirksamere und einflußstärkere Kommunikationstätigkeit ermöglicht. 9
Denn uneingeschränkte, „absolute" Macht ist keineswegs mächtiger als eingeschränkte Macht. Vielleicht gilt sogar typisch das Gegenteil . Kommunikationen haben Machtwert nur in einer dafür aufgeschlossenen Umwelt, und zu dieser Erschließung gehört: daß sie verstanden und befolgt werden können, daß gewisse Rolleneinstellungen, gewisse generalisierte und disponible Motivationsstrukturen institutionalisiert sind und daß der Machtgebrauch in diesem Rahmen erwartbar und beeinflußbar ist. Nur so ist zu verstehen, daß die Grundrechte im Widerspruch zu der Konfliktskonzeption, die ihnen zugrunde liegt, ein gemeinsamer Erfolg von Staat und Bürger geworden sind. 10
Die zweite Grundrechtstheorie, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben, versucht den politischen Pragmatismus und die rein positivrechtliche Betrachtungsweise, in die das Naturrecht auszulaufen droht, zu überwinden. Sie bezeichnet sich als „geisteswissenschaftlich" und kann als herrschende Lehre gelten. Sie hat eine ernstzunehmende Aus9
Ein Beispiel wäre: die Wahl von Kandidaten im Zweiparteiensystem, wo jeder Stimmgewinn der einen Partei genau entsprechenden Stimmverlust, für die andere bedeutet. Siehe dazu auch Talcott Parsons, On the Concept of Influence, Public Opinion Quarterly 27 (1963), S. 37—62 (59 ff.). Im übrigen sind die Grenzen solcher Nullsummenthesen namentlich im Rahmen der Spieltheorie diskutiert worden. Vgl. z. B. Thomas C. Schelling, The Strategy of Conflict, Cambridge Mass. 1960, S. 83 ff., wo dargelegt wird, daß selbst im Rahmen der Konfliktstheorie die Nullsummenprämissen keine brauchbaren Ergebnisse bringt, wenn die Gegner wechselseitig voneinander abhängig sind. So namentlich Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —). Vgl. auch Crozier ( K a p . 2 Anm. 22) mit Ausführungen über den Zentralismus der französischen Bürokratie: Deren Zentralgewalt sei „à la fois absolue et paralysée (S. 107). 1 0
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arbeitung in der Integrationslehre von Rudolf Smend erfahren , lebt aber heute fast nur noch von dem Wohlklang des Wertbegriffs und mangelnder Konkurrenz . Es genügt für unsere Zwecke, wenn wir sie in der Smendschen Version zur Diskussion stellen, da die heutige Werttheorie sich unter Verzicht auf eine vollständige Staatslehre in eine Dogmenanalyse des Grundrechtsteils der Verfassung zurückgezogen hat und ihre Besonderheit nur noch darin findet, daß sie freiere, vor allem historisch orientierte Auslegungsmethoden anwendet. 12
Unter Integration versteht Smend die Konstitution einer übergreifenden geistigen Einheit im Erleben von Individuen, und zwar vornehmlich die Begründung der geistigen Wirklichkeit des Staates in ständigem Neuerleben seiner Sinneinheit und Wertfülle. Der Staat lebt danach eine rein geistige Existenz im Erleben von Individuen. Politische Ereignisse und Machtkämpfe, Akte der Willensbildung und Entscheidung, Wertsetzungen, Symbole und Rituale haben neben ihren intendierten Zwecken eine mehr oder weniger latente Bedeutung für die Integration des Staates. Unter diesem Gesichtspunkt reihen sich auch 13
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Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928, zitiert nach: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, Berlin 1955, S. 119—276; ders., Integrationslehre, Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 5 (1956), S. 299—302. Wir wenden uns hier selbstverständlich nicht gegen den Wertbegriff als Begriff, sondern nur gegen seine Mystifikation und gegen seine gedankenlose Verwendung zur Verschönerung von Argumenten und zum Nachweis guter Absichten. Selten findet man in der Grundrechtsdiskussion Werttheoretiker, die sich mit der nötigen Härte klar machen, daß Werte Regeln des Vorziehens, also Regeln des Verzichtens sind. Als Regeln für wählende Entscheidungen sind Werte unentbehrliche Orientierungsgesichtspunkte menschlichen Handelns und gerade in einer zunehmend rationalisierten Welt, die fast für jede Situation Handlungsalternativen offen hält, von unabschätzbarer Bedeutung. Vgl. Niklas Luhmann, Wahrheit und Ideologie, Der Staat 1 (1962), S. 431—448. Grundrechte sind zweifellos Werte in diesem funktional verständlichen Sinne. Worin aber ihr Besonderes liegt — im Gegensatz zu Produktionsplänen, Verkehrszeichen, Parteiprogrammen, militärischen Schlachtplänen oder Vergnügungszielen — läßt sich aus dem Wertbegriff nicht entnehmen. Und gerade darauf kommt es an. Die Abgrenzung zu anderen geistigen Akten der Sinnkonstitution bleibt unklar, und schon dadurch verfehlt Smend das Wesen des Politischen. Der Staat wird lediglich auf der Ebene des konstituierten Sinnes als eine besondere Art von geistiger Wirklichkeit ausgewiesen. Der Rückgriff auf das konstituierende Erleben trägt zum Verständnis seiner Besonderheit nicht bei, sondern dient lediglich dem Verschmelzen von Problemen und Widersprüchen zu einer undifferenzierten Sinnganzheit. Was Smend meint, wenn er von Leben oder lebendiger Wirklichkeit spricht, wird nicht klar. Daß er damit nicht die Kompetenz der Biologie für Probleme des Staatswesens anerkennen will, ist sicher. Im Gegenteil dient ihm der Begriff des Lebens gerade zur Vermeidung von wissenschaftlich schon bearbeiteten Seinsbegriffen (besonders der empirischen Kausalwissenschaften) und damit der Flucht vor empirischer Kontrolle. Auch in der heute toten Lebensphilosophie hat der Begriff des Lebens über diese Abwehrfunktion hinaus keinen verständlichen Inhalt gewonnen. 12
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die Grundrechte als integrierende Sachgehalte in eine geschlossene geisteswissenschaftliche Theorie des Staates ein. Unbefriedigt läßt, daß die begriffliche Fassung dieser Lehre keine ausreichende Nachprüfung ermöglicht . Der Grundvorgang der Integration läßt sich nicht mehr aufbrechen, nicht weiter analysieren. Sein Bezugsbegriff der „geistigen Wirklichkeit" ist dazu zu elastisch, und auch die hegelartige „Aufhebung" des Gegensatzes von Individuum und Kollektiv in einer notwendigen dialektischen Polarität schluckt widerstandslos jeden Versuch der Differenzierung. Die Unterscheidung einzelner Integrationsfaktoren vermag diesen Mangel nicht zu beheben, da sie, eine kausale Deutung sorgsam vermeidend, in einer äußerlichen Beschreibung stecken bleibt. Die Integration ist als Integration immer dieselbe. Smends Analysen bleiben daher notgedrungen deskriptiv. 15
Die undifferenzierte Ganzheitlichkeit dieser Lehre ist in ihrem Ansatz zwingend angelegt; denn sobald man Integration, wie es zumeist geschieht, präziser als notwendige Funktion oder gar als Leistung versteht, kann man der verhängnisvollen Folgerung nicht mehr ausweichen, daß die integrierenden Faktoren wirksame, funktional äquivalente Mittel sind und daß, wie geschehen, Grundrechte durch Paraden ersetzt werden können. Will man dieses Abgleiten vermeiden, dann wird der Integrationsvorgang als geheimnisvolles Lebensagens des Staates unverständlich — oder man muß ihm die Prätention einer alleinigen Basis der Staatswirklichkeit absprechen und ihn, etwa auf dem Boden einer soziologischen Systemtheorie, mit einer Vielzahl andersartiger funktionaler Bedürfnisse konfrontieren. Die äußeren Gründe dieser Problematik der Integrationslehre wurzeln, wie es scheint, im ungleichen Entwicklungsstand der Sozialwissenschaften in den zwanziger Jahren, vor allem in der Unausgereiftheit der damaligen soziologischen Theorie und Methode . Hauptursache 16
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Das ist der führende Gesichtspunkt in der Kritik der „geisteswissenschaftlichen" Methode durch die analytische Erkennenstheorie — vgl. Karl R. Popper, The Poverty of Historism, London 1957, oder Hans Albert, Probleme der Wissenschaftslehre in der Sozialforschung, in: René König (Hrsg.), Handbuch der Empirischen Sozialforschung Bd. I, Stuttgart 1962, S. 38—63 (38 ff.), und ders. in seiner Einführung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband: Theorie und Realität, Ausgewählte Aufsätze zur Wissenschaftslehre der Sozialwissenschaften, Tübingen 1954, S. 3—70. Diese Kritik ist vernichtend und doch nicht überzeugend, weil sie die besonderen Schwierigkeiten der positivistischen Methodenlehre auf dem Gebiete der Handlungswissenschaften entweder übersieht oder — so z. B. Ernest Nagel, The Structure of Science: Problems in the Logic of Scientific Explanation, New York 1961 — vor ihnen halt macht. 19
Siehe auch kritische Bemerkungen von Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen, Jahrbuch für Sozialwissenschaft 3 (1952), S. 1—21 (12), über die bei Smend fehlende Berücksichtigung anthropologischer und soziologischer Strukturzusammenhänge.
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jener einfarbigen Geistigkeit ist die absichtliche und durchgehaltene Ablehnung des kausalen Denkmodells, das als mechanisch charakterisiert und verworfen wird. Dessen Umformung durch die funktionale Methode war für Smend noch nicht sichtbar. Mit der Unterscheidung von Ursachen und Wirkungen geht jedoch eine bisher unersetzbare innere Kontrollstruktur der wissenschaftlichen Forschung über Bord, die der Analyse zugleich als Schema der Differenzierung dient. Dazu kommt, daß die Frage, auf die Smend antwortet (und die infolgedessen seine Untersuchung entscheidend bestimmt) trotz aller dialektischen Vermittlung immer noch das alte Problem des Verhältnisses von Individuum und Kollektiv ist. Solange diese Fragestellung offen oder heimlich herrsehte, konnte keine Handlungswissenschaft entstehen; denn sie schiebt, ganz deutlich bei Smend, den Handlungsbegriff in eine ungünstige Position auf der Seite des Individuums — nur Individuen können handeln —, während alles Überindividuelle als rein geistige Wirklichkeit erscheint. So ist es für Smend nicht denkbar, den Staat als System spezifischer Handlungen von Individuen in besonderen Rollen zu begreifen. 17
Trotz allem hat die Integrationslehre ihr Schicksal, als Hintergrundsicherung einer geistesgeschichtlichen Dogmenanalyse der Grundrechte fortzuvegetieren, nicht verdient. Ihr geschieht Unrecht, wenn man sie in den Dienst einer angeblich vorgegebenen Wertordnung stellt und sie so in eine Abart des Naturrechts zurückbiegt. Integration meinte Konstitution, nicht Verehrung von Sinn. Smend hatte ein zentrales staatsbildendes Phänomen gesehen, das genauer analysierbar wird, sobald man es von der Ebene des Erlebens in die Ebene des informativen Verhaltens transponiert, sobald man es nicht nur beschreibt, sondern seine Funktion für Problemlösungen in Handlungssystemen zu klären sucht. Integration ist ohne Kommunikation nicht nur undenkbar; sie ist nichts anderes als ein informatives Geschehen, ist Konstitution von Systemen durch Kommunikation von Sinn in sozialen Kontakten. Ob diese Kommunikation absichtlich erfolgt oder nicht, ob also eine Mit17
Besonders dem Rollenbegriff der neueren Soziologie ist die theoretische Überwindung der alten Antithese von Individuum und Kollektiv zu danken. Das wird fast in jeder grundsätzlichen Exposition des Rollenbegriffs festgestellt. Vgl. z. B. Daniel J. Levinson, Role, Personality, and Social Structure in the Organizational Setting, The Journal of Abnormal and Social Psychology 58 (1959), S. 170—180, und aus der deutschen Literatur etwa Helmuth Plessner, Soziale Rolle und menschliche Natur, in: Festschrift für Theodor Litt, Düsseldorf 1960, S. 105—115, oder Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus: Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 3. Aufl. Köln-Opladen 1961. Dahinter steht die Einsicht, daß die Generalisierung von Verhaltenserwartungen zu Rollenkomplexen für den intersubjektiven Kommunikationsprozeß, und damit sowohl für die Strukturierung der Sozialordnung als auch für die Konstitution individueller Persönlichkeiten von tragender Bedeutung ist.
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teilung von Sinn intendiert ist oder dem Verhalten nur abgelesen werden kann und ob die Mitteilungsabsicht mitausgedrückt oder verschwiegen wird, ist dabei von sekundärer Bedeutung. Auch das Systembewußtsein — im Unterschied zur bewußten Vorstellung des unmittelbaren Kommunikationsinhalts und des Kommunikationszweckes — kann unterschiedlich stark ausgebildet sein oder ganz fehlen. Der Bewußtheitsgrad des Integrationsprozesses kann in gewissen Grenzen zunehmen, ohne daß die Funktion dadurch beeinträchtigt würde. Die integrierende Funktion der Kommunikationsprozesse besteht darin, daß ihr Mitteilungssinn direkt oder indirekt auf Handlungssysteme verweist; daß im sprachlichen und im nichtsprachlichen Ausdrucksverhalten die Existenz bestimmter Handlungssysteme impliziert und dargestellt wird, so daß im Austausch der Kommunikationen mehr oder weniger bewußt zugleich eine Verständigung über das Vorausgesetzte, eine Konstitution des Systems erfolgt. Auf dieser begrifflichen Grundlage läßt sich der Integrationsvorgang als Generalisierung von Kommunikationen begreifen. Die darstellenden, sinnvermittelnden, informativen Aspekte des Verhaltens im politischen Raum werden durch die Herausdifferenzierung eines autonomen politischen Systems zugleich „generalisiert", also, wie erörtert , aus partikularen, emotionellen, gruppenmäßigen Bindungen gelöst und auf das politische System als System bezogen. Ohne das System zu implizieren, ist keine sachliche Äußerung möglich. Jede Sachdarstellung enthält aber zugleich eine Selbstdarstellung des Handelnden. Diese wird durch den Sog der Ausdrucksbedingungen mitgeneralisiert. Die Chancen für verständliche, sinnvolle Kommunikation in politisch relevanten Angelegenheiten ( z . B . in Wahlen, in einer Kommentierung politischer Ereignisse, im Bezug staatlicher Leistungen, in der Benutzung legaler Abwehrmittel oder in der Beteiligung oder Mchtbeteiligung an Entscheidungen) sind so strukturiert, daß ihre Ausnutzung, wie auch immer man sich entscheidet, eine Art Selbstverpflichtung auf das System zum Ausdruck bringt und den Handelnden an diese seine Selbstdarstellung fesselt. Er kommt von ihr, ohne sich selbst durch Widersprüche zu diskreditieren, nicht wieder los. Selbst vollständige Passivität, zur Schau getragene Indifferenz hat den Effekt einer Bestätigung des Status quo. Und nicht abgegebene Stimmen kommen der Mehrheit zugute. 18
Das Zwangsläufige am Integrationsprozeß ist nicht ein Gefälle zum Optimum an Wertverwirklichung ; es liegt in der Tatsache, daß alles 19
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Vgl. oben S. 31 f. So Smend (Kap. 3 Anm. 11 — 1955 —), S. 170; s. aber auch die stärkere A k z e n t u i e r u n g d e r S p a n n u n g zwischen N o r m a t i v e m und P a k t i s c h e m bei Smend (Kap. 3 Anm. 11 — 1956 —), die Zweifel aufkommen läßt, ob Smend an der zitierten Formulierung festhalten würde. 19
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Verhalten im staatlichen Relevanzbereich einen generalisierten, systembezogenen Ausdruckswert hat, ob es will oder nicht, weil die Kommunikationschancen entsprechend strukturiert und institutionalisiert sind. Diese Darstellungsgeneralisierung — und das gilt für jede Generalisierung durch spezifische Systeme — erfaßt das menschliche Verhalten jedoch nur partiell, nur in einer spezifischen Rolle. Neben seiner Rolle als Bürger hat der Mensch auch andere Rollen zu spielen. Er muß an mehreren Untersystemen der Gesellschaft teilnehmen. Deren Differenzierung spiegelt sich in den Schwierigkeiten seiner Rollenverwaltung. Er muß im Wirtschaftssystem mitproduzieren, Kultur überliefern, in zahlreichen unpolitischen öffentlichen Angelegenheiten mitwirken, ein Familienleben führen und dies alles ohne zu zerfallen, ohne von widerstreitenden Verhaltenspflichten zerrissen zu werden. Das kann er nur, wenn er in allen Rollen sich selbst als ein und derselbe darstellen kann. Dazu benötigt er ein eigenes generalisierendes System, eine individuelle Persönlichkeit, welche eine besondere Rollenkombination in der persönlichen Ausformung verschiedener Rollen als sinnvoller Lebenszusammenhang plausibel machen kann . 20
Umgekehrt gesehen, benötigen differenzierte Sozialordnungen eine Vielheit unterschiedlicher Persönlichkeiten für die zahlreichen speziellen, auseinandergelegten Funktionen, die sie erfüllen müssen. Auf der Basis der uniformen Persönlichkeitsstrukturen einfacher Sozialordnungen würden sie verkümmern, weil ihnen die nötige Vielfalt an Arten von Begabungen, Einstellungen und Motivationen fehlen würde. Daher müssen sie die Unterschiedlichkeit der einzelnen Persönlichkeiten legitimieren und als Recht auf Individualität bewußt machen. Es ist vermutlich kein Zufall, daß der abendländische Individualismus aus dem mittelalterlichen Dualismus von Staat und Kirche hervorgetrieben wurde , von dem sich bald darauf noch autonome Rollenanforderungen des wirtschaftlichen Sektors ablösten. Die drei Stände: 21
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Wir rühren hier an alte soziologische Einsichten in den Bedingungszusammenhang von sozialer Differenzierung und Individualismus. Siehe z. B. Georg Simmel, Über sociale Differenzierung, Leipzig 1890, insb. S. 45 ff., und ders., Soziologie, 2. Aufl. München-Leipzig 1922, S. 527 ff.; Dürkheim (Kap. 1 Anm. 12), insb. S. 336 ff., 398 ff.; Cecil C. North, Social Differentiation, Chapel Hill — London 1926, S. 14 f.; ferner etwa Gerth/Mills (Kap. 1 Anm. 15), S. 100 ff. oder Peter Heintz, Einführung in die soziologische Theorie, Stuttgart 1926, S. 185 ff. (190). 21
Dieser Dualismus ist nur möglich geworden, weil auch die Religion nun Züge eines exklusiven Systems annimmt. Damit wird im Bereich der Religion individuelle religiöse Entscheidung, Aktivität und Verantwortung für das eigene Heil als Prinzip unvermeidlich, auch wenn ursprüngliches religiöses Erleben immer wieder über die Grenzen dieses Prinzips hinausblickt — vgl. z. B. Claudels Soulier de Satin.
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der Status ecclesiasticus, politicus und oeconomicus treten als verschiedene Hierarchien nebeneinander. Weil nun die divergierenden Verhaltenszumutungen auf der Ebene der Sozialordnung nicht mehr in einer einheitlichen Struktur ausgeglichen werden konnten, mußten zunehmend individuelle, persönliche Problemlösungen gefunden werden, für die man nicht mehr auf unbestrittene institutionelle Verhaltensmuster zurückgreifen konnte. Die besondere Intensivierung von Freundschaften in der Übergangszeit des 18. und 19. Jahrhunderts ist von Tenbruck aus dieser Problemkonstellation heraus verständlich gemacht worden. Am Ende dieser Entwicklung findet man im 19. Jahrhundert die Soziologie und den Dandy. Die Persönlichkeit wird nun als Individuum idealisiert (und nicht nur in 'der Optimalerfüllung sozialer Rollen: als Held, Heiliger, Künstler oder Philosoph), weil sie als Individuum für die strukturelle Koordination der Sozialordnung funktionswichtig wird. Der Einzelne macht sich selbst zu einem konsequent durchgehaltenen Selektionsprinzip: Er ist Designer, wählt sozialdemokratisch, fährt einen Porsche, trägt ein Béret usw. Die funktionale Sinngebung des Individualismus baut also durchaus auf der Verschiedenheit des Individuellen auf; sie ist nicht, wie der rationale Individualismus des 18. Jahrhunderts, genötigt, zur Begründung der Möglichkeit einer Sozialordnung die Gleichheit der Individuen in ihrer höchsten Möglichkeit: der Vernunft zu postulieren. Der neuzeitliche Rationalismus hatte das Problem des Individualismus zunächst als Problem der Freiheit von sozialer, vornehmlich politischer Bestimmung aufgefaßt und deshalb den Anforderungen des sozialen Zusammenlebens nur über die These der Gleichheit der Individuen gerecht werden können. Diese Problemstellung ist, besonders seit Dürkheims bahnbrechenden Forschungen über die Notwendigkeit institutioneller Stützen des Individualismus , überholt. Damit wird auch das Problem der Integration, bei Dürkheim wie bei Smend der Mittelpunkt des theoretischen Interesses, in tieferem Sinne faßbar. Es geht dabei letztlich um die Frage der „Institutionalisierung des Individualismus" , 23
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Zu dieser lutherischen Ständelehre vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Ges. Schriften Bd. I, Neudruck Aalen 1961, S. 522 f. mit weiteren Hinweisen. Sie war jedoch noch als personale, nicht als rollenmäßige Ordnung gedacht. Friedrich H. Tenbruck, Freundschaft: Ein Beitrag zu einer Soziologie der persönlichen Beziehungen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 431—456. Siehe namentlich Emile Dürkheim, Le suicide: Etude de sociologie, Paris 1897. Auch Robert K. Merton, Social Structure and Anomie, in ders., Social Theory and Social Structure, 2. Aufl. Glencoe III. 1957, S. 131—160, trifft auf dieses Problem, behandelt es jedoch nicht ausgesprochen unter dem Gesichtspunkt des Individualismus. 23
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E i n e Formulierung von Talcott Parsons, Durkheim's Contribution to the
Theory of Integration of Social Systems, in: Kurt H. Wölfl (Hrsg.), Emile Dürkheim, 1858—1917, Columbus Ohio 1960, S. 118—153 (146).
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um die Frage nach den sozialen Institutionen, die notwendig sind, damit der Einzelne als konkretes'Individuum (und nicht nur in vorgezeichneten Rollen oder durch Ausführung von Vorschriften).. Funktionsträger der Sozialordnung sein kann. Einfache Sozialordnungen, in welchen die Persönlichkeiten sich in typischen Rollen und strukturell festliegenden Rollenkombinationen darstellen, hätten eine solche Betonung der Individualität des Einzelmenschen vermutlich als fragwürdige Abstraktion erlebt. Sie hatten keine Möglichkeit sich eine persönliche Eigenart des Einzelnen, die nur ihm zugehört, unabhängig von einem sozialen Kontext zu veranschaulichen. In differenzierten Sozialordnungen erscheint dagegen gerade umgekehrt das Individuum als das Konkrete, von dem in sozialen Rollen stets nur spezifische und insofern abstrakte Ausschnitte sichtbar werden. Und gerade deshalb, weil die Struktur unserer Sozialordnung das Erleben und die Erlebniserwartungen auf die konkrete Einmaligkeit des Menschen lenkt, finden wir da unsere Enttäuschungen. Das unentwegte Suchen nach „echten Persönlichkeiten" und der Jammer mit dem „Massenmenschen" sind Folgen dieser sozial präformierten Optik. Individuelle Selbstbewußtheit kann die soziale Bestätigung einzelner Handlungen, kann einzelne Selbstdarstellungserfolge in eine Bestätigung der ganzen eigenen Person transformieren. Die daraus fließende Selbstsicherheit vermag den Außenhalt an genau definierten sozialen Erwartungen, Rollen und Institutionen mehr oder weniger weitgehend zu ersetzen und den Menschen in diesem Sinne innerlich frei zu machen. So ist ein hohes Maß an Regulierbarkeit der Angst auch in sozial nicht eindeutig determinierten Situationen erreichbar; und Angstbeherrschung ermöglicht, nach allem, was man davon weiß, ein emotional entspanntes, „objektives" Auftreten, eine Orientierung an allgemeinen sachlichen Kriterien und spezifischen Relevanzen, ein Akzeptieren von Tatsachen und eine Entlastung der Erlebensverarbeitung von defensiven, selbstbezüglichen Funktionen — alles Verhaltensqualitäten, die in einer differenzierten Sozialordnung zunehmend wichtig werden, weil sie deren strukturellen Anforderungen entsprechen. Andererseits ist aus genau den gleichen Gründen eine Entpersönlichung des Alltagsverhaltens erforderlich . Weil die sozialen Rollen 26
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Vgl. dazu als Darstellung dieser Ambivalenz der individuellen Freiheit durch einen Psychologen Erich Fromm, Die Furcht vor der Freiheit, Dt. Übers. Zürich 1945. Dort auch ein guter Überblick über die kulturhistorische Individualismus-Diskussion (S. 48 ff.). Interessant ist ferner die Erörterung eines Kompensationszusammenhanges von neuartigen Sicherheiten (das sind: Systemsicherheiten) mit Selbstbewußtsein und Entpersönlichung, der die alte Geborgenheit in immobilen kleinen Gruppen (Familien) ersetzt, bei James S. Plant, Personality and the Cultural Pattern. New York — London 1937, S. 149 ff.
3. Kap. : Naturrechtliche und geisteswissenschaftliche Begründung 51 unkoordiniert an den Einzelnen herangetragen werden, kann in einzelnen Rollen kein allzu persönliches, die Selbstdarstellung allzu sehr bindendes Auftreten erwartet werden. Eine Sozialordnung, welche die individuelle Persönlichkeit strukturell strapaziert, muß sie zugleich entlasten, indem sie ihre Anforderungen begrenzt. Außerdem kann der Einzelne, je individueller er sich versteht, desto weniger allgemeines Interesse für seine Individualität in allen sozialen Kontakten voraussetzen; er muß gerade deshalb unpersönlich auftreten. Wenn er zu viel von sich selbst redet, wirkt er unkultiviert. Es wird, wie schon erwähnt, weithin ein „unpersönlicher" Verkehrston institutionalisiert, die Konsenspflichten werden spezifiziert, und es wird ein hohes Maß an persönlicher Indifferenz in der Rollenausführung toleriert, ja sogar erwartet. Der Einzelne kann seiner Selbstdarstellung Rückzugsmöglichkeiten offen halten, indem er zeigt, wie stark sein Verhalten durch „sachliche" Zusammenhänge regiert wird, so daß es ihm selbst nicht angerechnet werden kann. Daneben bürgert sich eine äußere Verhaltenskonformität ein, die konventionell akzeptiert wird, ohne daß man den wahren inneren Einstellungen nachspürt: Sie sind als Vertrauensgrundlage entbehrlich . 27
Die Gleichzeitigkeit eines hochgetriebenen Persönlichkeitsindividualismus und eines weithin unpersönlichen Verhaltens ist nur scheinbar ein widerspruchsvoller Befund . Das anders nicht auflösbare Paradox bekräftigt vielmehr unsere Diagnose: daß die Darstellungsanforderungen durch ein einheitliches Grundproblem, nämlich die soziale Differenzierung, regiert werden. Eine soziologische Einsicht, die sich auch sonst vielfach bewährt, besagt, daß gegenläufige Tendenzen funktional äquivalent sein können, daß sie sich entweder ablösen oder sich bedingen, wenn ihnen ein und dasselbe soziale Problem zugrunde liegt. 28
Unter derartigen sozialstrukturellen Funktionsanforderungen und Verhaltensbelastungen benötigt die individuelle Persönlichkeit (nicht zuletzt in ihrer Freiheit zur Unpersönlichkeit) besonderen Schutz. Damit wären wir erneut beim Problem der Grundrechte angelangt. Inzwischen hat sich unsere These, daß Grundrechte der Erhaltung eines sozialen 27
Die sogenannte Soziologie des abweichenden Verhaltens sucht diesem Phänomen dadurch gerecht zu werden, daß sie die alte Dichotomie Übereinstimmung/Abweichung verfeinert und mehrere Abweichungs- bzw. Konformitätstypen unterscheidet; so Robert K. Merton, Social Conformity, Deviation, and Opportunity-Structures: A Comment on the Contributions of Dubin and Cloward, American Sociological Review 24 (1959), S. 177—189 (178 ff.), z. B. Einstellungskonformität, Ausdruckskonformität und Handlungskonformität. Darin kommt zum Bewußtsein, daß das Individuum unter komplexen gesellschaftlichen Anforderungen sich verschiedener Strategien bedienen kann, um seine Identität zu bewahren. Ähnlich urteilt Arnold Gehlen, Mensch trotz Masse, Wort und Wahrheit 7 (1952), S. 579—586. 28
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Differenzierungspotentials und insofern der Stabilisierung einer differenzierten Sozialstruktur dienen, mit einigen Vorstellungen angereichert. Es mag sich lohnen, diesen Gedanken im Hinblick auf die Einzelformen des Grundrechtsgedankens näher auszuarbeiten.
Viertes Kapitel
Die Individualisierung der Selbstdarstellung: Würde und Freiheit Die Grundlage für eine Erörterung der Probleme persönlicher Selbstdarstellung, in einer differenzierten Gesellschaftsordnung haben wir im vorigen Kapitel bereits gelegt. Darauf können wir hier aufbauen. Von jedem Menschen wird unter den genannten gesellschaftlichen Bedingungen erwartet, daß er imstande sei, sein Handeln auf mehrere soziale Systeme zu beziehen und deren unausgeglichene Anforderungen in einer persönlichen Verhaltenssynthese zu vereinen. Er kann dies tun in dem Maße, als er in die Lage versetzt wird, seinem Verhalten in den verschiedensten sozialen Situationen eine durchgehende persönliche Linie zu geben und diese zu sozialer Darstellung und Anerkennung zu bringen. Diese Linie muß nicht originell und einmalig sein. Für fast alle Probleme gibt es Vorbilder und Muster. Sie muß jedoch persönlich sein in dem Sinne, daß sie auf die individuelle Konstellation sozialer Anforderungen paßt, in der ein Mensch sich jeweils findet. Für Standardprobleme genügen Standardlösungen , genügt eine Persönlichkeit von der Stange. Aber die Erfahrung lehrt, daß manchen Menschen etwas Besonderes gelingt , ein Mehr an Persönlichkeit, und daß sie damit auch ungewöhnlich schwierige Lagen auf einleuchtende Weise meistern können . Sie 1
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Ein gutes Beispiel dafür: die Erörterung des Selbstverständnisses und der Ideologie des amerikanischen Geschäftsmannes durch Francis X. Sutton/Seymour E. Harris/Carl Kaysen/James Tobin, The American Business Creed, Cambridge Mass. 1956, die sich mit ihren Prämissen genau in den hier zugrunde gelegten theoretischen Bezugsrahmen einfügt. Das Problem scheint mithin umgekehrt zu liegen, als düstere Prognosen eines „Massenzeitalters" uns glauben machen wollen: Die moderne Sozial-' Ordnung stellt strukturell mehr Chancen für Individualität bereit, als durch \ Persönlichkeiten verarbeitet werden können, so daß nach wie vor nur eine i Elite die Individualisierung ihrer Selbstdarstellung schafft. Diese optimi- ' stische Sicht teilt auch Richard F. Bohrend, Dynamische Gesellschaft, BernStuttgart 1963, S. 52 ff. Bezeichnend femer die Ausführungen über „Ersatzindividualität" von Karl Bednarik, Der junge Arbeiter von heute — ein neuer Typ, Stuttgart 1953, S. 33 ff. In der soziologischen Rollentheorie ist diese Konfliktlösung durch P e r s ö n lichsein bisher nicht ausreichend gewürdigt worden. Man erörtert vor allem Techniken der Trennung von Situationen und Zuschauern, des Rückzugs aus 2
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erreichen ein persönliches Verhaltensniveau, das als Entscheidungsgrundlage überzeugt. Ich, Adam Kunze, mache das so! Und ich habe auf Grund meiner Lebens- und Leistungsgeschichte, meines Aussehens und meines Auftretens, meiner Ausbildungszertifikate, meiner Erfolge und meiner Intelligenz, meiner Beziehungen und meiner inneren Unabhängigkeit ein Recht, in dieser Entscheidung respektiert zu werden. Solche von persönlichem Niveau getragenen Entscheidungen werden immer wieder akzeptiert, gerade wenn die innere persönliche Konsequenz an ihnen deutlich wird und damit zugleich deutlich wird, daß man die Entscheidung nicht ablehnen kann, ohne die Person abzulehnen. Zu einer derart „langfristig" wirkenden Ablehnung besteht im Einzelfall zumeist kein hinreichender Anlaß. So kann, wer den Mut hat, persönlich aufzutreten und sich als verwundbar zu zeigen, gerade damit seine sensible Umgebung tyrannisieren, weil er ihnen auf diese Weise die so unangenehme Entscheidung über eine kränkende Ablehnung zuschiebt. Eine gewisse Sensibilität in bezug auf das Persönliche muß freilich in der Sozialordnung und durch sie gewährleistet sein; anderenfalls hat man nur die Möglichkeit, seine Persönlichkeit auf dem Wege des Heroismus, durch Überleistung in festgelegten Rollen, triumphieren zu lassen. Es besteht kein Grund zu meinen, daß unsere Sozialordnung persönlichkeitsfeindlich institutionalisiert sei . Eher trifft das Gegenteil zu . 4
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Rollenbeziehungen, des Kompromisses, der Ausnutzung von Machtdifferenzen in der Umwelt, der Bestimmung von Wertprioritäten usw. Vgl. als repräsentative Beispiele für diese Forschung Robert K. Merton, The Role-Set: Problems in Sociological Theory, The British Journal of Sociology 8 (1957), S. 106 bis 120, und William J. Goode, A Theory of Role Strain, American Sociological Review 25 (1960), S. 483—496. Der viel benutzte Begriff der Rollenlast (role strain) bringt jedoch das hier Gemeinte indirekt zum Ausdruck : daß die Sozialordnung in unterschiedlichem Maße ungelöste Probleme auf den Einzelnen abwälzt und damit dessen individuelle Persönlichkeit als Problemlösungssystem einspannt. Siehe dazu auch Alvin L. Bertrand, The Stress/Strain Element of Social Systems: A Micro Theory of Conflict and Change, Social Forces 42 (1963), S. 1—9, und als stimulierende Einzeluntersuchungen etwa William F. Whyte, Human Relations in the Restaurant Industry, New YorkToronto-London 1948 (Kellnerinnen betreffend) und Oscar Grusky, Managerial Succession and Organizational Effectiveness, The American Journal of Sociology 69 (1963), S. 21—31 (Baseball team manager betreffend). — Wesentlich darüber hinausführend Gerhard Wurzbacher, Sozialisation — Enkulturation — Personalisation, in: ders. (Hrsg.), Der Mensch als soziales und personales Wesen, Stuttgart 1963, S. 1—34, mit der Einsicht, daß Personalisation und Sozialisation nicht allein aus der Mitgliedschaft in Primärgruppen ableitbar sind, sondern ihre Funktion gerade aus dem Rollenpluralismus differenzierter Sozialordnungen gewinnen. -
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Das wird jedoch sehr häufig als Selbstverständlichkeit gleichsam im Nebensatz behauptet. Typisch etwa Josef M. Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, Köln-Opladen 1957, S. 14. An diesem Vorurteil ist einmal die unklare Vorstellung eines „Massenmenschen" schuld, die offenbar deshalb unausrottbar ist, weil in unserer Sozialordnung jedermann mit mehr Men-
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Jede differenzierte Gesellschaft, die soweit entwickelt ist, daß sie zentral nicht mehr ausreichend koordiniert werden kann, muß sich auf Persönlichkeiten als Knotenpunkt sozialer Anforderungen stützen. Das führt zu erhöhten Investitionen in den Einzelnen. Die Dynamisierung seiner Ansprüche wird sozial legitimiert. Es entwickelt sich eine gesteigerte Sensibilität gegenüber persönlichen Verhaltensbedingungen und Schonungsbedürfnissen. Takt, Toleranz und psychologisches Einsichtsvermögen gewinnen ersichtlich an Boden. Die Situation, in denen man andere grob behandeln und dabei auf die Zustimmung der Umstehenden rechnen kann, nehmen ab. Selbst das Strafrecht und das Strafverfahren werden humanisiert . Die Entwicklung geht nicht den oft angeprangerten Gang vom stolzen Individuum zum Massenmenschen. Sie nimmt den Weg zu bewußterer Selbstdarstellung und damit zugleich zu bewußte6
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sehen Kontakt hat, als er persönlich kennen kann. Zum anderen wirkt das „heroische" Persönlichkeitsbild nach, das in Wirklichkeit ein sehr schematisches, unpersönliches Rollenbild war und nur durch den Roman für kurze Zeit individualisiert wurde; siehe aber die literarische Behandlung des Heldenthemas von Tolstoi über Shaw bis Anouilh. Zur Entartung des Helden auch: Orrin E. Klapp, Heroes, Villains, and Fools: The Changing American Character, Englewood Cliffs N. J. 1962. Heute sind Helden selbst im Krieg nur noch bedingt tauglich. So z. B. Friedrich Karrenberg, Verantwortung und Möglichkeiten des Einzelnen in der modernen Gesellschaft, Festschrift Gerhard Weisser, Berlin 1963, S. 229—248, oder Dietrich von Oppen, Das personale Zeitalter, StuttgartGelnhausen 1960. Es genügt jedoch nicht, mit einer gewissen Wärme auf die Bedeutung der individuellen Persönlichkeit hinzuweisen. Die Kontroverse Massenmensch oder Persönlichkeit wird viel zu allgemein und daher unentscheidbar geführt. Die interessante Frage lautet, welche Chancen der Persönlichkeitsbildung durch die Struktur des industrialisierten Systems eröffnet (bzw. verbaut) werden, und wie es um die psychischen Möglichkeiten steht, sie zu nützen. Ich erinnere die Glosse einer juristischen Fachzeitschrift, die mit Berufung auf die Würde des Menschen und die Grundrechte forderte, daß der Strafrichter den Angeklagten (wie auch den Staatsanwalt!) mit „Herr" anrede. Daran ist weniger die juristische Deduktion als das Ausmaß sozial erwartbarer Selbstbeherrschung zu bewundern. In bezug auf Strafgefangene siehe dazu das Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg vom 14.12.1964, Neue Juristische Wochenschrift 18 (1965), S. 647 (ablehnend). Weil in einer differenzierten Sozialordnung die Darstellungsanforderungen wachsen, gehen die expressiven Aspekte des eigenen Selbst zunehmend in das Selbstbewußtsein ein. Wir können deshalb die romantische Auffassung von Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 4. Aufl. Berlin 1954, S. 511 f., nicht teilen, daß der Eigenwert der Person sich direkter Intention entziehe. Zwar setzt jeder intentionale Akt ein im gleichen Augenblick nicht intendiertes Agens voraus. Die Grenzen der SelbstBewußtheit und Selbst-Intention sind aber durchaus variabel, wie namentlich die Erfolge der Psychotherapeutik bei ihrer Verschiebung beweisen. Von einem bloß mitlaufenden Bewußtsein der eigenen Vorhandenheit kann der Mensch zu hoher Bewußtheit der Probleme seiner Persönlichkeitsstruktur und, was hier interessiert, der Weise, wie er auf andere wirkt, gelangen. Er kann dann mit Umsicht die kommunikativen Aspekte seines Selbst überwachen und auf eine Linie bringen. Dabei darf er natürlich die Bewußtheit seiner Selbstdarstellung nicht mitdarstellen, denn damit würde er zu er5
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ren Komplexeinstellungen gegenüber dem anderen Menschen als einem besonderen System — einen Weg, den wir mit dem Kennwort Generalisierung der Darstellung zu bezeichnen suchten. Erste und wichtigste Vorbedingung dieses zivilisierten Gesellschaftszustandes ist — um bekannte Gedanken kurz zu skizzieren — die Zentralisierung der Entscheidungen über die Anwendung physischer Gewalt . Sie erst gewährt ein ausreichendes Maß an Sicherheit der Verfügung über den eigenen Körper (vor allem, aber nicht nur, als Darstellungsmittel und Persönlichkeitssymbol). Sie erst erlaubt eine affekt-neutrale, entspannte Durchführung der Normalkontakte. Erst unter dieser Voraussetzung ist es einigermaßen wahrscheinlich, daß Menschen sich zueinander „objektiv" einstellen . 8
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Die Zentralisierung der Gewaltanwendungsentscheidungen läßt sich nur durch Ettisdieidufigszentralisierung (niemals: als Gewaltantuendunc/szentralisierung) durchführen. Sie erfordert außerdem effektive Herrschaft über ein hinreichend großes Territorium bzw. Pazifizierung der gesamten Umwelt. Um dieser Bedingung willen kann sie nur durch Aufbau einer staatlichen Organisation zur Anfertigung verbindlicher Entscheidungen erfolgen, die in der Lage ist, politische Unterstützung für ihre Entscheidungsprogramme zu mobilisieren. All diese Gründe haben den Staat in die Form eines funktional-spezifischen Handlungssystems der Entscheidungsfertigung gedrängt. Als solches ist er konstikennen geben, daß er auch anders sein könnte, also unzuverlässig ist, und würde so seine eigene Darstellung diskreditieren. Schelers Theorie von der Nichtintendierbarkeit des Selbstwertes ist nur als Theorie der Nichtdarstellbarkeit der Intention des Selbstwertes haltbar, ist im Grunde also nur der Widerhall einer sozialen Norm der Selbstdarstellung, ein Ausdruck des sozialen Wunsches nach Stabilität. — Im übrigen ist die Funktion eines nichtintendierbaren Wertes nicht verständlich zu machen, von seinem „Sein" ganz zu schweigen. Die Kritik an SchelgtJiängt eng damit zusammen, daß wir seine Unterscheidung von Sozialperson und Intimperson als ontischen Unterschied nicht anerkennen können (vgl. unten Anm. 26). Letztlich geht sie darauf zurück, daß wir an die Stelle der noch ontologisch-substantiell ausgerichteten Werttheorie eine funktional orientierte Kommunikationstheorie gesetzt haben. Vgl. dazu besonders Elias (Kap. 1 Anm. 19) Bd. II. Zur wichtigen Ausnahme der Familie vgl. unten Kap. 7 Anm. 15. Die Bedeutung dieser Grundvoraussetzung gesicherten Friedens wird, weil uns selbstverständlich geworden, leicht unterschätzt. Doch lassen sich auch in unserer Zeit aufschlußreiche Gegenbeispiele finden. Siehe z. B. die hervorragende Arbeit von Germán Guzman/Orlando Fals Borda/Eduardo Umaña Luna, La Violencia en Colombia: Estudio de un Proceso Social, Bogotá 1962, mit dem wichtigen Ergebnis, daß permanente, staatlich nicht kontrollierbare Gewaltanwendung nicht etwa, wie Hobbes meinte, jede Ordnung auflöst, sondern ein darauf eingestelltes soziales System hervorbringt, das vom Standpunkt der offiziellen staatlichen Ordnungsideologie aus als korrumpiert erscheint, in sich selbst aber durchaus Züge einer problembezogenen sozialen Ordnung aufweist. 8
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tuierendes Moment jenes Dauerfriedens, in dem allein Zivilisation sich entfalten kann. Damit allein wird das Problem der Generalisierung von Selbstdarstellungen und Einstellungen zwar nicht gelöst; aber ihre Vorbedingungen bekommen — und auch das ist eine kennzeichnende Funktion sozialer Differenzierung, die sehr allgemeine Bedeutung besitzt — eine konzentrierte, spezifisch greifbare und damit rational lösbare Fassung. Auf den Staat können sich nun die Bemühungen um Sicherheit dessen, was man Freiheit nennt, zentrieren. Die Grundrechte werden angesetzt, um die Freiheit gegen den Staat zu sichern; aber das setzt voraus, daß zunächst einmal eine Gegeninstanz, ein Monopol auf Freiheitsbedrohung, geschaffen ist, mit deren Bändigung man nicht ins Leere greift, sondern den positiven Erfolg, die Freiheit, wirksam herstellen kann. Der Staat ist, was immer wieder vergessen wird, Vorbedingung aller Freiheit ; nicht weil er sie schon partiell oder in elementaren Vorformen gewährleistet, sondern weil sie in der Form des Entscheidungsprogramms für staatliche Organisation rational regulierbar wird. Der Staat faßt das Potential an Freiheitsbedrohung, das in der Gesellschaft diffus und ungreifbar verstreut vorhanden ist, zusammen und macht die Freiheitsfrage entscheidbar — was im Einzelfall Gewinn oder Verlust der Freiheit bedeuten kann. 10
Was aber ist „Freiheit"? Und was ist „Würde" des Menschen? Welchen Sinn können diese Begriffe in einer industriell-bürokratischen Gesellschaft haben? Und welche Funktion haben die durch sie bezeichneten Tatsachen in einer differenzierten Sozialordnung? Die heutige Verfassungsdogmatik interpretiert diese Begriffe erstaunlicherweise ohne jede Rücksicht auf die Wissenschaften, welche sich mit dem Menschen und der menschlichen Gesellschaft befassen . Sie ist aristotelisch geblieben . Gewisse Modifikationen, gewisse Unterschiede 11
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Siehe dazu Krüger (Kap. 2 Anm. 4), S. 537 f. Das beklagt mit ganz anderen Intentionen auch Wilhelm Wertenbruch, Grundgesetz und Menschenwürde, Köln-Berlin 1958, z. B. S. 170, 183 ff., ohne selbst jedoch einen Augenblick daran zu denken, die zuständigen Fachwissenschaften zu befragen; statt dessen kehrt er zur Theologie und zum legeshierarchischen Denken des Mittelalters zurück. Immerhin scheint die Notwendigkeit, die Wertfrage wieder durch die Wahrheitsfrage zu ersetzen, in Theologenkreisen stärker empfunden zu werden. Vgl. auch Ernst Wolf, Die Freiheit und Würde des Menschen, in: Hermann Wandersieb (Hrsg.), Recht-StaatWirtschaft Bd. 4, Düsseldorf 1953, S. 27—39 (38). Aber von dort führt sie nicht in die empirischen Wissenschaften. 11
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Im übrigen ist sie gerade dann, wenn sie sich verehrungsvoll in die große ontologische Rechtstradition des Abendlandes hineinstellt — als Beispiel siehe e t w a R e n é M a r c i e , D e r u n b e d i n g t e R e c h t s w e r t des M e n s c h e n : S e i n e W ü r d e
und Freiheit als präpositive Strukturelemente der positiven Rechtsordnung, Festgabe für Eric Voegelin, München 1962, S. 360—394 — am wenigsten in der
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der Lesart, die sich im Laufe der Jahrhunderte ausgebildet haben, und selbst die Übernahme des erst im 19. Jahrhundert aufgekommenen, also ganz modernen Wertbegriffs, haben die traditionellen Annahmen über die menschliche Natur und das ihr Geschuldete kaum beeinflußt. Das heißt vor allem: daß die menschliche Persönlichkeit nach wie vor als Substanz gedeutet wird — als Seiendes, das in einer Weise ist, die seine Negation ausschließt. Dadurch fällt der Tod und mit ihm auch das Gewissen aus dem Kreis der Tatbestände heraus, die der Menschenwürde das Profil geben. Als Substanz ist der Mensch zunächst er selbst. Das aber bedeutet, daß die soziale Natur des Menschen erst nachträglich hinzugedacht werden kann . Man mag ihre Wichtigkeit und Unausweichlichkeit noch so sehr unterstreichen, sie wird doch immer nur als Bedingung seiner Lebenshaltung, als Schranke seiner Selbstentfaltung oder als idealistische bzw. normative Überformung seiner existentiellen Persönlichkeit zur guten, richtigen Persönlichkeit gesehen; aber nicht als konstituierende Sphäre seiner Individualität selbst (wie etwa: Zeit und Raum). 13
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Lage, ein Gespräch mit den Denkern der Vergangenheit zu führen, das ihrem Rang angemessen wäre. Verständnis setzt In-Frage-Stellen, setzt Einsicht in Alternativen voraus. Und zwar durchaus im Sinne der Schulphilosophie als individuelle Substanz rationaler Natur; siehe etwa Thomas von Aquino, Summa Theologiae I q. 29 Art. 1 (ed. Caramello, Turin-Rom 1952 Bd. I, S. 155 f.) unter Berufung auf Boethius. Dieser Festlegung liegt — und das gilt selbst für die Anthropologie Arnold Gehlens noch — die Frage nach dem Unterschied des Menschen vom Tier zugrunde. Mehr Sinn, als in der Frage enthalten war, vermag sie nicht zu erschließen. Ob wir aber fortfahren sollen, das Wesen des Menschen in seinem Abstand zum Tier zu erblicken, ist seit Heidegger fragwürdig geworden. Vgl. näher unten S. 76 f. Selbst Heideggers radikale Kritik der ontologischen Interpretation des „Daseins" als Selbstsein und ihrer neuzeitlichen Ausformung zur Subjektität des Selbstbewußtseins geht an der Sozialdimension vorbei, läßt sie nur für das „alltägliche" und uneigentliche Dasein gelten, und darum wird Sprachphilosophie bei Heidegger zur Seinsmystik. Vgl. insb. Sein und Zeit I, 6. Aufl. Tübingen 1949, S. 113 ff. Siehe dazu auch Werner Maihofer, Recht und Sein: Prolegomena zu einer Rechtsontologie, Frankfurt 1954, und ders., Vom Sinn menschlicher Ordnung, Frankfurt 1956, dessen Kritik an Heidegger zwar zu der notwendigen Aufwertung der Sozialdimension menschlicher Existenz führt, sich aber ihrerseits verfängt in einer „Existentialdialektik" von Individualperson und Sozialperson und einem entschlossenen „sowohl — als auch", in Banalitäten also, über welche die empirische Forschung längst hinaus ist. Hierzu als ein Beispiel für viele: Walter Hamel, Die Bedeutung der Grundrechte im sozialen Rechtsstaat: Eine Kritik an Gesetzgebung und Rechtsprechung, Berlin 1957, mit all den Unklarheiten, die entstehen, wenn man einerseits auf der scholastischen Linie ens et verum et bonum convertuntur argumentiert und andererseits den damit nicht zu vereinbarenden Wertbegriff verwendet. Das Ergebnis ist, daß Art. 2 Abs. 1 GG nicht die Freiheit der Persönlichkeit, sondern die christliche Persönlichkeit schützt. Eine vorsichtige und unverbindliche Kritik dieser Tendenzen findet man in dem Vortrag von Wilhelm Weischedel, Recht und Ethik, Karlsrühe 1956. 13
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Dieser Ausgangspunkt erschließt eine bestimmte Fragestellung, ein Auffassungsschema, das sich durch die genannten Denkvoraussetzungen als ohtolögisch) ausweist. Die Grundrechtsargumentation erhält von da her jene wohlbekannte „Zwar-aber"-Struktur, die sich zum Beispiel in Art. 2 Abs. 1 GG formuliert findet, die der Auslegung aber auch sonst durchweg als Vorstellungsmodell dient: Der Mensch ist zwar (von sich aus) frei bzw. zur Freiheit berechtigt, aber er hat die Rechte anderer zu respektieren; er hat zwar Eigentum, muß aber im Gebrauch seines Eigentums soziale Bindungen akzeptieren. Selbst kräftige Schübe, die den Pflichtgehalt der Rechte und ihre sozialen Bindungen bis in das Rampenlicht der Verfassungsartikel gebracht haben — es sei nur an Friedrich Naumann erinnert —, haben sich darauf beschränkt, das „aber" zu betonen, und haben das zugrunde liegende Vorstellungsmodell eben damit akzeptiert. Im Ergebnis wird dadurch die Entscheidung über den Sinn der Grundrechte vertagt und delegiert, denn wenn ein Widerspruch in die Prämissen eingebaut wird, ist jede Deduktion möglich . So müht sich die Dogmatik wie Sisyphus, die von den Gipfeln der Grundrechte herabrollende Problematik aufzufangen und wieder nach oben zu wälzen, stets in Versuchung, schon auf halber Höhe ein Pathos anzuwenden, das nur Göttern ziemt. Die Wesensgehaltsperre des Art. 19 Abs. 2 GG bietet dabei kaum eine Hilfe, denn der Wesensbegriff ist ebenfalls durch die Auflösung der ontologischen Denkvoraussetzungen unseres Philosophierens betroffen und zur „Leerformel" geworden . Das Wesen des Wesens 17
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Solche Widersprüche trüben auch an anderen Stellen die Argumentation; so wenn Hans Carl Nipperdey, Die Würde des Menschen, in Franz L. Neumann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte Bd. II Berlin 1954, S. 1—50 folgert: Die Würde ist das Wesen des Menschen, also hat der Mensch ein Recht auf Würde; denn beide Sätze schließen sich wechselseitig aus. Man kann Rechte nur haben auf etwas, was man verlieren kann; als Wesen wird aber gerade die unverlierbare Eigenart einer Substanz bezeichnet. Beispiele für solche Gedankenlosigkeit in Grundfragen ließen sich beliebig vermehren. Vielleicht sind manche Autoren sich der Tatsache bewußt, daß es für die integrierende Funktion der Grundrechte auf die Korrektheit des Denkens nicht ankommt. 18
Das zeigt sich besonders deutlich an dem umstrittenen Versuch des Bundesgerichtshofs — siehe insb. den Beschluß vom 17.10.1955, Die öffentliche Verwaltung 8 (1955), S. 729 ff. —, dem Wesensbegriff mit Hilfe des „Erforderlichkeitsprinzips", also einer Abwägungsformel, praktikablen Inhalt zu geben. Dazu kritisch Peter Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht: Zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit, Köln — Berlin — München — Bonn 1961, S. 34 ff. mit Hinweisen auf den Stand der Diskussion. Auf gleicher Linie liegt der Versuch von Häberle (Einf. Anm. 14), das Güterabwägungsprinzip als immanente (!) Schranke und damit als Wesen der Grundrechte auszugeben. Ähnlich Eike von Hippel, Grenzen und Wesengehalt der Grundrechte, Berlin 1965. Im G r u n d e läuft d a s a u f die paradoxe — u n d d a h e r j e d e b e l i e b i g e F o l g e r u n g
zulassende — These hinaus, daß die Relation das Wesen der Substanz sei. Selbst der scheinbar so bestechende Interpretationsvorschlag von Günter
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ist unbekannt. Was hilft, ist allein das Erreichen von Konsens in der Dogmendiskussion und die Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. 19
Was radikaler helfen könnte, wäre eine Umbesinnung in den Grundfragen. Die neuzeitliche Wissenschaft hat im Grunde seit langem die Prämissen der ontologischen Metaphysik gesprengt. Der Funktionsbegriff impliziert eine Umkehrung der Denkvoraussetzungen des Substanzbegriffs, nämlich eine Ausrichtung der menschlichen Vernunft (und damit letztlich: des menschlichen Selbstverständnisses) auf das, was anders sein könnte . Der Sinn des Identischen liegt nicht mehr im InSich-Selbst-Ruhen, sondern in seiner Kraft, andere Möglichkeiten zu ordnen . Nicht ohne Zusammenhang damit beginnen in der modernen Psychologie, Anthropologie und Soziologie Theorien an Boden zu gewinnen, welche die Selbstidentifikation des Menschen als Vorgang begreifen, der sich im sozialen Kontakt — und in Auseinandersetzung mit den dadurch eröffneten Gefährdungen — vollzieht, also im Wissen darum, daß man mit jeder einsehbaren Lebensäußerung absichtlich oder unabsichtlich eine Aussage über sich selbst verbindet. Die Unterscheidung von Sein und Schein — ebenfalls ein ontologisches Denkschema — ist für das Verständnis dieses Vorgangs ungeeignet. Der Mensch wird die Persönlichkeit, als welche er sich darstellt . 20
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Dürig, Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, Archiv des öffentlichen Rechts 81 (1956), S. 117—157 (136 ff.): eine Wesensverletzung liege vor, wenn der Grundrechtsträger vom Staat lediglich als Objekt behandelt wird, erweist sich als Leerformel, da man Menschen überhaupt nur als Objekt behandeln kann, denn jedes Behandeln setzt Vergegenständlichung voraus. Es bleibt weiterhin Dürig oder anderen überlassen zu entscheiden, wann ein solches Behandeln so skandalös ist, daß eine wesentliche Grundrechtsverletzung vorliegt. Leerformeln verdecken zumeist apokryphe Normen oder, was schlimmer ist, Normbildungskompetenzen. Das schält sich immer deutlicher als ultima ratio der modernen Methodendiskussion heraus. Vgl. z. B. den Begriff der „Ansichtendeckung" bei Lerche (Einf. Anm. 7) oder das Abstellen auf den „Konsens aller ,Vernünftig- und Gerechtdenkenden' " bei Ehmke (Einf. Anm. 13 — 1963 —), S. 71 f. Dazu auch Graf von Pestalozza (Einf. Anm. 5), S. 429 ff. und die Gedankenentwicklung bei Reinhold Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, München — Berlin 1962, von vorgefundenen Aufgaben der Interessenabwägung über Wertungsprobleme zu einer „herrschenden Rechtsmoral". Doch fasziniert diese Umdeutung von Methodenschwierigkeiten in Konsensprobleme, die man seit Hume kennt, immer nur ein begrenztes Publikum. Dazu etwas ausführlicher Luhmann (Einf. Anm. 8), S. 639 ff. und (Kap. 3 Anm. 12). Whitehead hat diesen schon in Leibnizens Monadologie angelegten Gedanken durch den Begriff des „prehension" formuliert. Vgl. Alfred N. Whitehead, Science and the Modern World, 1925, Mentor Book Ausgabe New York 1954, S. 70 ff., und ders., Process and Reality: An Essay in Cosmology, Cambridge Mass. 1929, insb. S. 24 ff., 309 ff. Der Kürze halber überspringt diese Skizze ein wichtiges Zwischenstadium der Entwicklung der funktionalen Persönlichkeitstheorie. Eine ältere, 19
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Es ist nicht schwer, von hier aus die Begriffe Freiheit und Würde ziemlich klar und mit Bezug auf empirische Forschungen bzw. Forschungsmöglichkeiten zu bestimmen. Beide Begriffe bezeichnen Grundbedingungen des Gelingens der Selbstdarstellung eines Menschen als individuelle Persönlichkeit . Als Organismus ist der Mensch schon Individuum (weil er als System zur Umwelt in einem Verhältnis relativ unabhängiger Variabilität existiert) — aber nur individuelles Objekt. Selbstbewußte Individualität gewinnt er nur dadurch, daß er sich als Interaktionspartner selbst darstellt. Er muß dabei nicht nur mitteilen, was er ist, sondern in dem, was er von sich selbst erkennen läßt, zugleich in Aussicht stellen, daß er die Erfordernisse kommunikativer Kontakte beachten wird, daß er Interesse an Interaktionen hat, daß er sich ihren Normen fügen wird und — was das Wichtigste ist — daß er als Individuum konsequent, erwartbar, zuverlässig auftreten wird: daß er in seiner Individualität konsistent bleibt. Die Notwendigkeiten und Bedingungen der Interaktion individualisieren und sozialisieren den Menschen zugleich . Der Mensch gewinnt seine Individualität als Persönlich23
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an den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts orientierte Psychologie funktionalisierte den Persönlichkeitsbegriff durch die Vorstellung knapper oder doch konstanter psychischer Energie, wobei der Energiebegriff (wie immer) keine qualitative Aussage, sondern nur die Konstanzprämisse selbst fixierte. Diese Prämisse erklärt auch den oft „armseligen" Eindruck älterer psychoanalytischer Theorien. Sie wird heute zunehmend ersetzt durch den Identitätsbegriff, der System/Umwelt-Probleme zum Angelpunkt der funktionalen Persönlichkeitsanalyse macht. Dadurch rücken Darstellungsfragen in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses. 23
aber wie gesagt: funktional, nicht substantiell! Wir können in diesem Zusammenhang keine adäquate psychologische Persönlichkeitstheorie bieten und müssen deshalb auch auf eine Auseinandersetzung mit dem wohl wichtigsten Problemkomplex dieser Theorie, den Fragen der internen Differenzierung der Persönlichkeitsstruktur, verzichten. Daß Persönlichkeiten differenzierte Systemstrukturen sind, kann als weithin akzeptiert gelten; es sei nur auf die bahnbrechenden Theorien des Persönlichkeitsaufbaus von Sigmund Freud und George H. Mead verwiesen. Ohne selbst eine strukturell differenzierte Einheit zu sein, könnte die menschliche Persönlichkeit sich nicht in einer differenzierten Umwelt als relativ autonomes System konstituieren. Die Art der Strukturierung, vor allem die Funktion des bewußt vergegenständlichten Ichs und seiner sozial orientierten Darstellung für den Gesamtaufbau und der Umfang von Kompensationsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Sphären der Persönlichkeit, ist derzeit noch so umstritten, daß wir nicht auf anerkannte Gesamtkonzeptionen verweisen können. Wir begnügen uns deshalb im folgenden mit den groben Begriffen „Persönlichkeit" und „Selbstdarstellung" und setzen voraus, daß darunter eine hochkomplexe und differenzierte Struktur der Erlebnisverarbeitung verstanden wird, die in einem bestimmten Augenblick weder in vollem Umfange bewußt, noch in vollem Umfange sozial dargestellt werden kann. 24
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Um nur ein erläuterndes Beispiel zu geben: Nachlässige Kleidung, situationsmäßig nicht zu begründende Unsauberkeit sind unwürdig nicht nur deshalb, weil sie mangelnde S e l b s t a c h t u n g z u b e k u n d e n scheinen. Sie stellen — untrennbar damit verbunden — zugleich mangelnde Bereitschaft zur Interaktion zur Schau. Die Einstellung zu sich selbst wird typisch aus Symbolen
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keit nur im sozialen Verkehr , indem auf seine Selbstdarstellung, sei es durch Konsens, sei es durch Dissens, eingegangen wird . 27
Die im sozialen Verkehr, das heißt: durch Rollenspiel, konstituierte persönliche Identität darf jedoch nicht mit der situationsgebundenen Rollenidentität verwechselt werden — eine Gefahr, die ein verwirrender Sprachgebrauch in der neueren amerikanischen Forschung heraufbeschwört . Man verliert seine Identität nicht, wenn man falsch handelt, wenn man in eine falsche Rolle gerät oder sich in einer richtigen Rolle falsch bewegt — wenn man etwa als Dame versehentlich einen für Herren reservierten Raum betritt. Ein solcher Mißgriff kann nicht als Rollenfehler, sondern nur deshalb in peinliche Verlegenheit bringen, weil er die Möglichkeit in sich birgt, daß der sich Vergreifende, der sich überall und immer als derselbe präsentieren muß, nach Maßgabe dieses Verhaltens identifiziert wird, die Schande also an ihm haften bleibt. Nicht nur die Zukunft der Situation, sondern die Zukunft der Persönlichkeit steht auf dem Spiel, wenn auch der Mißgriff beide zuweilen so verbindet, daß nur beide zugleich gerettet werden können — zum Bei28
abgelesen, die zugleich die Einstellung zur Interaktion bezeugen. Man schließt deshalb aus unziemlichem Verhalten auf mangelnde Selbstachtung und wird so dem nicht gerecht, der seine Selbstachtung gerade durch unziemliches Verhalten ausdrücken möchte. Daß jener Schluß auch gezogen wird, wenn er falsch ist, beweist im übrigen, daß er, wenn er zutrifft, nicht deswegen gezogen wird, weil er zutrifft. Ob falsch oder richtig, der Schluß verrät das soziale Interesse an der Protektion fremder Selbstdarstellungen. 26
Deshalb können wir auch hier — wie schon in der Frage der Bewußtheit — der Wertethik Schelers nicht folgen, die den Unterschied von Intimperson und Sozialperson als „ontischen" Unterschied substantialisiert. Siehe Scheler (Kap. 4 Anm. 7), S. 567. Anzuerkennen ist natürlich, daß mit diesen Begriffen ein bedeutsamer Darstellungsunterschied bezeichnet werden kann. Daß man seine Selbstdarstellung auch im Dissens bestätigt finden kann — jedes Kind im Trotzalter versucht diesen Weg — steht einer allzu oberflächlichen sozialkonformistischen Persönlichkeitstheorie im Wege. Nicht der soziale Konsens mit Einzelhandlungen oder Verhaltenserwartungen (darüber im nächsten Kapitel) ist das konstituierende Moment, sondern die soziale Anerkennung der Person als Generalisierungszentrum, die darin besteht, daß Partner sich — zustimmend oder ablehnend — auf eine projizierte Situationsdefinition oder Rollenauffassung einlassen. Ähnlich unterscheidet Plant (Kap. 3 Anm. 26), S. 94 ff. zwei Ebenen der sozialen Bestätigung, die sich darauf beziehen kann, was und wer jemand ist. 27
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Gemeint ist die Beschränkung des Begriffs der „Identität" auf die Einheit von je situationsmäßigen Rollenerfordernissen mit der mehr oder weniger deutlich ausgesprochenen Implikation, daß darin sich die Substanz des „Selbst" konstituiert — ausdrücklich ausgesprochen z. B. bei Edward Gross/Gregory P. Stone, Embarrassment and the Analysis of Role Requirements, The American Journal of Sociology 70 (1964), S. 1—15 (3). Vgl. auch Anselm Strauss, Mirrors and Masks: The Search for Identity, Glencoe 111. 1959. So fruchtbar der Gedanke ist, die Konstitution des Selbst im „identityswitching" bzw. in einer „Karriere" wechselnder Identitäten zu erforschen, so unnötig ist es, durch den Begriff der Identität die wechselnden gesellschaftlichen Situationsmoralen zu ontiflzieren.
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spiel durch Weglaufen. Selbstdarstellung läßt sich — das ist für unser Argument entscheidend wichtig — nicht in Rollenspiel auflösen, obwohl sie immer im Rollenspiel erfolgt. Sie projiziert eine Persönlichkeit dadurch, daß sie eine rollenverbindende und rollenkonkretisierende, ja unter Umständen auch Rollenpflichten verletzende Identität darstellt. Freiheit und Würde sind Vorbedingungen dafür, daß der Mensch sich in diesem Sinne als Individuum sozialisieren (bzw. als Interaktionspartner individualisieren) kann. Sie beziehen sich auf spezifische Kommunikationsprobleme, die stets zu erwarten sind, wenn ein Handeln Symbolwert für die Präsentation eines Systems haben soll. Dazu muß das Handeln nämlich Aspekte aufweisen, die nicht als unmittelbar umweltveranlaßt erscheinen; es muß in diesem Sinne „frei" sein. Und es muß eine gewisse Darstellungskonsistenz aufweisen. Es darf nicht erkennbar widersprüchlich oder fehlerhaft sein, keine nachteiligen Einblicke freigeben. Es muß in diesem Sinne „Würde" prästieren. Die Begriffe Freiheit und Würde sind, wie wir näher ausarbeiten müssen, werthaft formulierte Bezeichnungen für die Außen- bzw. die Innenproblematik menschlicher Selbstdarstellungen. 29
Freiheit ist keine Sache der Kausalität , nicht einfach eine Unterbrechung des Kausalzusammenhanges durch originären Ursacheneinsatz, sondern eine Frage der Zurechnung . Das Freiheitserleben richtet sich danach, ob das Handeln einem personalen oder einem sozialen Aktionssystem und welchem es zugerechnet wird. Das Determinismus/ Indeterminismus-Problem läßt sich letztlich in ein Problem der Systemreferenz auflösen . Die Bedeutung der Freiheit liegt nicht in der Ebene 30
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Damit distanzieren wir uns auch von einer modernen Auffassung der Psychologie und Anthropologie, die menschliche Freiheit als Unabhängigkeit von instinktmäßigen Handlungsbestimmungen versteht. Vgl. z. B. Fromm (Kap. 3 Anm. 26) oder Arnold Gehlen, Der Mensch: seine Natur und seine Stellung in der Welt, 6. Aufl. Bonn'""1958. So richtig diese Auffassung des Ursprungs möglicher Freiheit ist, so wenig besagt sie für die Funktion der anerkannten Freiheit im Raum des sozialen Erlebens. Dieser Satz klingt sehr nach Kelsen — vgl. Hans Kelsen, Kausalität und Zurechnung, österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht 6 (1955), S. 125 bis 151 •—, meint aber etwas ganz anderes. Kelsen versteht unter Zurechnung lediglich die gesollte Verknüpfung von Unrecht und Unrechtsfolge, also eine dem Kausalnexus entsprechende Relation, in der die Naturnotwendigkeit durch die Norm ersetzt ist. In Wahrheit ist jedoch Normanwendung keine Zurechnung, sondern setzt sie voraus.. Die vorausgesetzte Zurechnung der Handlung auf den Handelnden kann, braucht aber keineswegs im Dienste sanktionierender Rechtsanwendung stehen; sie kann, braucht aber keineswegs selbst normiert zu sein. Sie besteht aus den Sozialprozessen, die Freiheit konstituieren. Kelsen selbst kommt dieser Einsicht zuweilen sehr nahe, z. B. in Vergeltung und Kausalität, Den Haag 1941, S. 43 ff. So beruht auch die durch den deutschen Idealismus ausgelöste Kontroverse, ob Freiheit in Handeln nach Lust oder Handeln nach Pflicht bestehe, auf einem heimlichen Austausch der Systemreferenz des Freiheitsbegriffs: Statt Freiheit auf den Aktionsspielraum der Person zu beziehen und die 30
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des Herstellens, sondern in der Ebene der symbolischen Präsentation, also in der Ebene des sozialen Kontakts oder der Kommunikation. Daher besteht jener enge Zusammenhang der Freiheit mit der Allgemeinheit, die niemals bewirkt, wohl aber aufgezeigt werden kann. 32
Freiheit und Zurechnung bezeichnen dasselbe Problem . Deshalb konnte die traditionelle Rechts- und Sozialphilosophie ohne Risiko und mit Überzeugung sagen, daß nur freies Handeln vorwerfbar, nur ein „voluntarium" zurechenbar sei. Darauf gründet sie ihre Straftheorie, ohne sich durch die daraus folgernden Konstruktionsschwierigkeiten bei Fahrlässigkeitstaten und Unterlassungsdelikten beirren zu lassen . Sie äußerte damit nur eine Tautologie und ließ offen, welche Handlungen als frei bzw. zurechenbar gelten sollten. Diese Handlungen wählte man, durch die tautologische Begründung gedeckt, nach latenten sozialen Normierungsinteressen aus. Die kausale Auslegung der Freiheit hatte dabei die Funktion, eine „natürliche" Grundlage des Urteils zu suggerieren, die Tautologie gegen Entlarvung und die wirklichen Zurechnungsnormen gegen Aufdeckung zu schützen. Es handelte sich mithin um einen charakteristischen Fall vorsoziologischer Rationalisierung von Perspektiven und Einstellung des täglichen Lebens: Unerwartetes, unwillkom33
Funktionsbedingungen des sozialen Systems als Schranken zu empfinden, sah man nun plötzlich die Schranken in den Funktionsbedingungen des personalen Aktionssystems (seinen Gefühlen oder Leidenschaften). So ist es nur konsequent, wenn der dialektische Materialismus die Freiheit nicht mehr auf die individuelle Persönlichkeit bezieht, sondern auf das soziale System, das sie „verwirklicht". Inzwischen wäre es aber an der Zeit, die Kontroversen i selbst zu durchschauen: Die Wahl einer Systemreferenz ist eine abstrahierende Entscheidung, keine Erkenntnis/und kann deshalb andere Systemi referenzen nicht ausschließen. Kant definierte zwar die Person durch Zurechnung und bezog Freiheit nur auf die „moralische" Person (im Unterschied zur psychologischen Person); vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Einleitung in die Metaphysik der Sitten IV, Philos. Bibliothek Bd. 42 (Hrsg. v. Kirchmann) Leipzig 1870, S. 23 f. Aber die Unterscheidung von moralischer und psychologischer Person bleibt abstrakt, weil jeder Mensch zugleich beides ist. Sie stützt bei Kant den Versuch, das Wesen des Menschen aus seiner höchsten Möglichkeit: der Freiheit in Vernunft, zu bestimmen. Die Zurechenbarkeit des Handelns rückt dadurch, obwohl sie den Oberbegriff der „Person" definiert, in die sekundäre Position einer Ableitung aus dem Freiheitsbegriff. Zur Dogmengeschichte vgl. namentlich Werner Hardwig, Die Zurechnung: ein Zentralproblem des Strafrechts, Hamburg 1957. Ob man allerdings der Ethik des Aristoteles dadurch gerecht werden kann, daß man ihn unter die Vorläufer der Vertreter des Prinzips der Willensfreiheit und der Auffassung des Handelns als Bewirkens von Wirkungen einreiht, ist mir nicht sicher. Vgl. auch H. L. A. Hart, The Ascription of Responsibility and Rights, in: Antony Flew (Hrsg.), Essays on Logic and Language, Oxford 1951, S. 145—166, der aus der Sicht des britischen Juristen bezweifelt, ob das Prinzip des freien Willens (im Sinne eines bestimmten psychischen Tatbestandes) die Gründe der juristischen Zurechnung zutreffend erfaßt. Zur neueren deutschen Diskussion vgl. auch Karl Engisch, Die Lehre von der Willensfreiheit in der strafrechtsphilosophischen Doktrin der Gegenwart, Berlin 1963. 3 2
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menés, normwidriges Handeln wird, da es aus den erwarteten Situationskonstanzen herausfällt und sich nicht einordnen läßt, als erklärungsbedürftig erlebt, dem Handelnden als freiwillig zugerechnet , und die Philosophie der Freiheit gibt dieser „Erklärung" ihren Segen, statt die dadurch stabilisierten sozialen Normen aufzudecken und zu begreifen. Eben deshalb vermochte die Philosophie der Freiheit die politischsoziale Freiheit nicht wirklich zu fördern. Erst wenn man diesen zirkulär in sich geschlossenen Argumentationszusammenhang aufbricht, erst wenn man die Freiheit nicht als „natürliche", ontisch vorgegebene Kausalrelation, sondern als symbolische Implikation des Handelns versteht, kann man die Aufgabe ermessen und anpacken, die einer Sozialordnung gestellt ist, welche die Freiheit des Menschen ermöglichen will. 34
Soziales Handeln erschöpft sich nicht im Augenblick. Sobald es von anderen Menschen (oder auch in Refiektion von dem Handelnden selbst) wahrgenommen werden kann, erhält es einen Ausdruckswert, der den Handlungsvollzug transzendiert. Es bekommt einen verständlichen Sinn und wird dadurch in weitere Zusammenhänge eingeordnet ; denn nur durch eine solche Generalisierung kann die notwendige Komplementarität des menschlichen Rollenverhaltens gesichert werden. Diese Einordnungsvorgänge sind als Prozesse symbolischer Zurechnung nicht nur Thema sozialphilosophischer Spekulation, sondern durchaus empirischer Erforschung zugänglich. Sozialpsychologische Untersuchungen haben zeigen können, daß der Ausdruckswert des vorgeschriebenen, sozial standardisierten, rollenmäßigen Verhaltens, das offenkundigen Erwartungen entspricht, nicht der Person zugerechnet wird . Sie zeigt 35
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Vgl. hierzu die Beziehung des Zurechnungsproblems auf gestörte Normalitätserwartungen bei Felix Kaufmann, Methodenlehre der SozialWissenschaften, Wien 1936, insb. S. 181 ff. Vgl. dazu Alfred Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932; George Herbert Mead, Mind, Self, and Society, Chicago 1934; ders., The Philosophyl of the Act, Chicago 1938, als wegweisende, wenn auch in manchen Einzelheiten veraltete Ausarbeitungen dieses Gedankens. Zu der damit angedeuteten Problematik vgl. Parsons/Shils (Kap. 2 Anm. 15), S. 141, 65, 105, 153 f., 175, 190 f., 350 u. ö.); Siegfried F. Nadel, The Theory of Social Structure, Glencoe 111. 1957, S. 50 ff.; Alvin W. Gouldner, The Norm of Reciprocity A Preliminary Statement, American Sociological Review 25 (1960), S. 161—178. Wir selbst werden im nächsten Kapitel näher darauf eingehen. Vgl. namentlich Edward E. Jones/John W. Thibaut, Interaction Goals as Bases of Inference in Interpersonal Perception, in: Rena to Tagiuri/Luigi Petrullo (Hrsg.), Person Perception and Interpersonal Behavior, Stanford Cal. 1958, S. 151—178, und Edward E. Jones/Keith E. Davis/Kenneth J. Gergen, Role Playing Variation and their Informational Value for Person Perception, The Journal of Abnormal and Social Psychology 63 (1961), S. 302—310. Siehe zur Entpersönlichung durch Rollenorientierung auch H e l e n M. Lynd, On Shame and the Search for Identity, London 1958, S. 186 ff. Man könnte ferner den Gehlenschen Gedanken einer „Entlastung" des Menschen durch Institu35
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sich nicht als sie selbst, wenn sie rollenmäßig, also selbstverständlich handelt. Dagegen wird sie in der Art, wie sie ihre Rolle konkret moduliert, in ihren Initiativen und besonders in abweichendem Handeln, das andere enttäuscht und gegen sie aufbringt, persönlich sichtbar . Aus diesen Gründen gibt zum Beispiel hoher Status mehr Chancen zur Persönlichkeitsentfaltung (und wird deshalb gesucht bzw. gefürchtet), weil er mehr Gelegenheit zur individuellen Rollenstilisierung und zu initiativenreichem oder abweichendem Verhalten bietet . 38
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Selbstdarstellung setzt mithin Freiheit von offensichtlichem Zwang und Freiheit von genau durchgezeichneten sozialen Erwartungen voraus , nicht aber Freistellung von latenter Determination. Die Entdekkung einer Vielzahl von sozial latenten oder gar unbewußten Verhaltensmotiven durch die neuere Sozialwissenschaft und Psychologie macht die hier vorgenommene Umdeutung des Freiheitsbegriffs, seine Verlagerung von der Ebene reiner Kausalität in die Ebene der sozialen Kommunikation unausweichlich. Freiheit kann heute nicht mehr Freiheit von jeder wissenschaftlich aufdeckbaren Ursache des Handelns bedeuten, denn dann gäbe es keine, sondern nur: Freiheit von sozial manifesten Außenursachen , weil nur diese die persönliche Zurechnung des Handelns einschränken und damit die Selbstdarstellung der Person, die soziale Konstitution einer individuellen Persönlichkeit behindern. 40
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tionsbildung (vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956) hier heranziehen. Institutionen entlasten nicht nur von schwierigen Verhaltensentscheidungen im Einzelfall, sondern damit zugleich von der Verantwortlichkeit für die Selbstdarstellung im präformierten Handeln. Zu solchen Gründen persönlicher Zurechnung des Handelns als „absichtlich", „böswillig", „freiwillig" vgl. Fritz Heider, Social Perception and Phenomenal Causality, Psychological Review 51 (1944), S. 358—374. Vgl. auch ders., The Psychology of Interpersonal Relations, New York-London 1958, insb. S. 79 ff. Siehe ferner Strauss (Kap. 4 Anm. 28), S. 45 ff., über die Notwendigkeit der Beischaffung persönlicher „Motive" für problematisches, nicht-selbstverständliches Handeln. Dadurch läßt sich erklären, daß hoher Status des Handelnden die Wahrnehmung seiner Handlungen in Richtung auf persönliche Zurechnung beeinflußt. Vgl. John W. Thibaut/Henry W. Riecken, Some Determinants and Consequences of the Perception of Social Causality, Journal of Personality 24 (1955), S. 113—133. Daran liegt es, daß die Mitgliedschaft in großen Organisationen der Selbstdarstellung besondere Schwierigkeiten bereitet, eine Einsicht, die zumeist mit dem Begriff „Entfremdung" ausgedrückt wird.. Vgl. Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 390 ff. Angemerkt sei, daß diese Grenze zwischen manifesten und latenten Ursachen keineswegs ein für allemal feststeht, sondern kulturell variabel ist. Der Zug der modernen Wissenschaften zur Aufdeckung immer weiterer Latenzbereiche und zu ihrer Publizierung und Popularisierung führt seinerseits zu einer Wandlung der Freiheitskonzeption, weil die Entscheidung, welche Handlungsaspekte persönlich zugerechnet werden, damit aus dem unmittelbaren sozialen Rollenkontext herausgelagert und wissenschaftlich überprüfbar wird. Am deutlichsten kann man diese Wandlung vielleicht an der Psychiatrisierung der schwierigeren Strafverfahren ablesen. 38
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SelbstdarStellungen sind jedoch, nicht allein von außen bedroht; sie in sich selbst schwierig und stets dem Scheitern nah. Die Innengefährdung rührt daher, daß über ein Aktionssystem, besonders über einen Menschen, stets mehr Informationen verfügbar sind, als die Darstellung des Systems aufnehmen, integrieren und idealisieren kann. Selbstdarstellung ist daher, bewußt oder unbewußt, stets eine selektive Leistung und infolgedessen stets durch inkonsistente und daher peinliche Informationen bedroht . Mit jeder Kommunikation riskiert der Mensch seine Würde. In Anwesenheit anderer muß er sich zusammennehmen. Er kann nicht jede Körperbewegung vpllziehen, nicht jedem Bedürfnis nachgeben. Er hat seine Worte abzuwägen und nicht zu viel von sich selbst preiszugeben. Und er muß gegen Einsicht schützen, was verborgen bleiben soll. sind
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Selbstdarstellungen sind in aller Regel, besonders aber in zivilisierten Sozialordnungen, so kunstvoll gebaut, sind in ihrer Integrität und Eindruckskraft von so vielen Voraussetzungen abhängig, daß sie gegen Entgleisungen des Ausdrucks und gegen Indiskretionen äußerst empfindlich sind. Sie können in dieser Form ohne disziplinierte soziale Kooperation weder Zustandekommen noch erhalten~werden. Dem.'dient vor allem die Institutionalisierung gewisser Wahrnehmungs- und Kommunikationsschranken, welche die Intimsphäre schützen—intim ist eben jener Komplex von Informationen, der nicht öffentlich zugänglich gemacht werden kann, ohne die öffentliche Selbstdarstellung zu diskreditieren — und ferner das Gebot taktvollen Verhaltens. Man stellt keine peinlichen Fragen, dringt nicht ungerufen in „private" Räume ein, in denen Darstellungen vorbereitet oder aufgefrischt werden oder Nichtdarstellbares getan werden muß. Man behandelt die Darstellung ariderer als volle Wirklichkeit, solange es irgend geht, und überhört geflissentlich falsche Töne. Solche Konventionen können ein so hohes Maß an Verläßlichkeit gewinnen, daß man sie als Fundament für um so kühnere Bauten der Selbstdarstellung benutzen kann. Das gilt vor allem, wenn die Scham des anderen als eigene Peinlichkeit einverseelt ist und deshalb auch dann nicht provoziert wird, wenn institutionelle Verbote fehlen . 43
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Dazu finden sich gedanken- und materialreiche Ausführungen in fast allen Veröffentlichungen von Erving Goffman. Vgl. besonders: On Face Work, Psychiatry 18 (1955), S. 213—231; Embarrassment and Social Organization, The American Journal of Sociology 62 (1956), S. 264—271; (Kap. 1 Anm. 15, 1959 und 1963). Auch in der gehobenen Sphäre der Philosophie von Karl Jaspers erscheint der Gedanke, daß der Mensch seine Würde aus mehr oder weniger existentiellen Gründen durch Kommunikation aufs Spiel setzt — vgl. Karl Jaspers, Philosophie, 2. Aufl. Berlin-Göttingen-Heidelberg 1948, S. 361 ff. « Vgl. dazu die Ausführungen von Elias (Kap. 1 Anm. 19), Bd. II, S. 397 ff., über das Vorrücken der Scham- und Peinlichkeitsschwelle im Laufe des Zivilisationsprozesses. Dieses Vorrücken zeugt davon, daß Darstellungen per-
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Mehr noch als „Freiheit" ist „Würde" ein Wunschbegriff, der — das Problem nicht nennend, weil schon das ein Darstellungsfehler wäre — die gelungene Selbstdarstellung bezeichnet. Die Würde des Menschen ist keineswegs eine Naturausstattung wie vermutlich gewisse Grundanlagen der Intelligenz. Sie ist auch nicht einfach ein „Wert", den der Mensch wegen einer bestimmten Naturausstattung „hat" oder „in sich trägt" . Die überlieferte Beschreibung der Würde als Wesenszug des Menschen entspricht allerdings einem Darstellungserfordernis: Alle Idealisierungen müssen den Aspekt des Lernens und Herstellens unterdrücken, weil dessen Mitdarstellung Zweifel aufkommen läßt. Deshalb gilt Würde als Eigenschaft des Menschen, obwohl im Grunde nur das Problem, nicht der Erfolg universell ist. 44
Würde muß konstituiert werden. Sie ist das Ergebnis schwieriger, auf generelle Systeminteressen der Persönlichkeit bezogener, teils bewußter, teils unbewußter Darstellungsleistungen und in gleichem Maße Ergebnis ständiger sozialer Kooperation, die ebenfalls bewußt oder unbewußt, latent oder durchschauend — niemals aber in Form offener 45
sönlicher und individueller werden, daß daher auch Reaktionen auf Darstellungen persönlicher werden und mithin ein gemeinsames Interesse daran besteht, die bruchlose Kontinuität der ineinander verzahnten Darstellungen zu sichern. Denn wenn einer seine Würde verliert, flattert die Würde seiner Partner plötzlich im Leeren. Sie sind in ihrer Selbstdarstellung ebenfalls gefährdet, zumindest der Frage ausgesetzt, wie sie mit so jemandem verkehren konnten. Außerdem ist das Vordringen des Peinlichkeitsbewußtseins ein Indiz dafür, daß die Regieanforderungen der Selbstdarstellung wachsen und schließlich nicht mehr ganz der unbewußten Steuerung überlassen bleiben können. In der juristischen Literatur wird zuweilen versucht, aus diesem Phänomen der Peinlichkeit (der Scham für andere) zu folgern, daß das Recht auf Menschenwürde kein individuelles, sondern ein allgemein-menschliches Bezugsobjekt habe und daß der Einzelne deshalb nicht wirksam auf seine Würde verzichten kann, weil das dem Mitmenschen die Peinlichkeit nicht erspart. Siehe Fritz Münch, Die Menschenwürde als Grundforderung unserer Verfassung, o.O., o.J. (1951), S. 8. Konsequent durchdacht, würde dieses Argument dahin führen, daß das Bezugsobjekt des Würdeschutzes die KommunikationsOrdnung ist (und nicht etwa: ein „Wert"). So die herrschende Auffassung. Vgl. statt anderer Günter Dürig, Die Menschenauffassung des Grundgesetzes, Juristische Rundschau 1952, S. 259— j 263, und ders. (Kap. 4 Anm. 18), S. 125 ff. Die Folge dieses Ansatzes ist eine merkwürdige Statik und Abstraktheit des Würdebegriffs. Es scheint sich um eine angeborene Wertqualität zu handeln, die immer schon da ist und mithin nur (!) Respektierung verlangt. Damit kommt man jedoch gerade an das Phänomen nicht heran, das man bannen will: daß der Staat den Menschen zur Selbstentwürdigung bringen kann. Dagegen ist mit unveränderlichen Wertideen nichts zu machen. Nur ein dynamischer Würdebegriff, der Würde als Leistung in ihrer Labilität voll aufdeckt, kann den Boden bereiten für eine wirklichkeitsnahe, problembezogene juristische Abwehrtechnik. 44
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Wie bei der Freiheit ist auch bei der Würde das Bewußtseinsmoment eine sozio-kulturelle Variable. Und vielleicht kann man auch hier ein unmerkliches Vorrücken der Würdebewußtheit feststellen, etwa von Hindenburg zu Heuss.
4. Kap.: Würde und Freiheit
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Kommunikation, weil das ein Darstellungsfehler wäre — praktiziert werden kann. Sie ist eines der empfindlichsten menschlichen Güter, weil sie so stark generalisiert ist, daß alle Einzelheiten den ganzen Menschen betreffen. Eine einzige Entgleisung, eine einzige Indiskretion kann sie radikal zerstören. Sie ist also alles andere als „unantastbar". Gerade wegen ihrer Exponiertheit ist sie einer der wichtigsten Schutzgegenstände unserer Verfassung. Daß sie zahlreiche Sicherungen benötigt, in gewissem Umfange mit rationalen Mitteln geschaffen und erhalten werden kann, und daß sie sogar von manchen kulturellen Requisiten, z. B. von Kleidung , abhängt, sollte Anlaß sein, nicht geringer, sondern höher von ihr zu denken. Denn Selbstdarstellung ist jener Vorgang, der den Menschen in Kommunikation mit anderen zur Person werden läßt und ihn damit in seiner Menschlichkeit konstituiert. Ohne Erfolg in der Selbstdarstellung, ohne Würde, kann er seine Persönlichkeit nicht benutzen. Ist er zu einer ausreichenden Selbstdarstellung nicht in der Lage, ^scheidet er als Kommunikationspartner aus und sein mangelndes Verständnis für Systemanforderungen bringt ihn ins Irrenhaus . 46
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Die natürliche Reaktion auf eigenen Würdeverlust ist demnach, daß der Betroffene seine Persönlichkeit aus dem Verkehr zieht. Er schränkt seine Kommunikationstätigkeit ein, vor allem auf Partner in ähnlicher Lage, und bemüht sich um Wiederherstellung seiner Würde in engem Kreise und nach Maßgabe von besonderen Darstellungsbedingungen. Er verzichtet auf die Freiheit der Kontaktwahl, führt seine. Freiheit sozusagen auf das Maß seiner Würde zurück. Er erholt sich in seiner Familie. Oft eröffnen die Umstände des Würdeverlustes ihm auch den Zugang zu exzentrischen Kreisen der Halbwelt, die durch Institutionalisierung von Kontaktgrenzen und durch einen bis in Sprache und Gestik hineinreichenden absonderlichen Verhaltensstil in der Lage sind, gebrochenen Existenzen eine neue Würde zu verleihen . Solche Würde48
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Es sei erinnert an Thomas Carlyles Sartor Resartus, wo Kleidung — wie wir in Anlehnung an eine weiter unten (Kap. 6 Anm. 5) zitierte Formulierung von Kenneth Burke sagen könnten — als „technical Substitute for god" behandelt wird. Wenn man darin die Formulierung einer Frage sehen darf, so hätte sie philosophischen Rang, was man der Bestimmung der Würde durch den Wertbegriff kaum nachsagen kann. 47
Gerade dort, wo sie nicht erfüllt werden können, hat Erving Goffman deshalb wesentliche Studien über die hohen Normalanforderungen der Selbstdarstellung getrieben. Vgl. insb. Asylums, New York 1961. Daß in solchen Kreisen die verlorene Freiheit in der Gesellschaft als Freiheit von der Gesellschaft zum Stilmoment ausgebaut wird, ist bezeichnend genug und bringt die Ersatzfunktion dieser „Subkulturen" deutlich zum Ausdruck. Der Bohemien z. B. ist eine Variante der bürgerlichen Kultur — und zwar nicht im Sinne einer Revolte — das ist seine Selbstdarstellung •—•, sondern im Sinne eines Selbstdarstellungsasyls — das ist seine Funktion. 4 8
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4. Kap.: Würde und Freiheit
Asyle sind Extremfälle der allgemeinen Regel, daß jeder seine Kontakte nach Maßgabe seiner Darstellungschancen aussucht. Die Sozialordnung, und besonders die differenzierte, mobile Individuen erfordernde Sozialordnung, ist jedoch daran interessiert, Persönlichkeiten intakt und kontaktfähig zu erhalten, und zwar nicht nur für ein unpersönliches Auftreten als Passant in der Öffentlichkeit, sondern auch für soziale Zusammenhänge, in denen die individuelle Persönlichkeit Orientierungsfaktor für andere wird. Sie diskreditiert daher jene Auswege der Selbstdarstellung, die mehr oder weniger interaktionsunfähig machen und Würdeverluste mit Freiheitsverzichten kompensieren. Sie erreicht dieses Ziel vor allem dadurch, daß sie Freiheit und Würde im Sinne einer uneingeschränkten Kontaktfähigkeit der Persönlichkeit als Werte institutionalisiert: Der Mensch soll sich vor jedermann sehen lassen können! Nach diesen Darlegungen läßt sich vielleicht deutlicher erkennen, daß und weshalb Freiheit und Würde des Menschen einander wechselseitig bedingen. Es handelt sich nicht um angeborene natürliche Qualitäten des Menschen und auch nicht (oder nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung) um sich implizierende Werte , sondern um die äußeren und inneren Vorbedingungen der Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit im Kommunikationsprozeß. Freiheit hätte keinen Sinn, wenn sie nur zu inkonsistenten Selbstdarstellungen oder zu solchen führte, mit denen der Mensch sich nirgendwo sehen lassen kann. Und Würde fände kein Darstellungsmaterial, wenn es keine freien Handlungen oder Handlungsaspekte gäbe . Auf diesem Zusammenhang beruht denn auch die bekannte Möglichkeit, sich den beträchtlichen Anforderungen einer individuellen Würde-Regie durch Flucht in die vorgeprägte — und insofern unfreie — Form zu entziehen, sei es durch Flucht in die gesellschaftliche Pose oder, heute zunehmend, durch Flucht in die funktionale Rolle. 49
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In Freiheit und mit Würde kann der Mensch eine generalisierte Einstellung zu sich selbst entwickeln und seinem kommunikativen Verhalten in den verschiedenartigsten sozialen Situationen zugrunde legen. In dem Maße, als dies gelingt, kann er ziemlich heterogene Rollen übernehmen, wenn sie ihm nur genug Darstellungsspielraum gewähren. Durch mehr Achtsamkeit und Ausdrucksdisziplin und durch Eingewöh49
So die wohl vorherrschende Auffassung. Vgl. z. B. Theodor Maunz/Günter Dürig, Grundgesetz, München-Berlin ab 1958, Art. 2, Rdnr. 1 ff. Es sei nochmals erwähnt, daß wir FreiheiLals_. symbolischen Aspekt des Handelns definiert haben. Daraus folgt für die Würdepröblerhätik, daß es darstellbare Freiheitsverzichte gibt, die mit der Würde durchaus vereinbar sind, z. B. Ordensgelübde. Wesentlich für die Würde ist dann aber, daß die Durchführung dieses Verzichts nicht erzwungen werden darf wie im Falle der Sklaverei. Der Verzicht muß als kontinuierlich frei darstellbar sein. 50
4. Kap.: Würde und Freiheit
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nung eines Verhaltensstils, der zu ihm selbst und seiner Darstellungsgeschichte paßt, kann der Mensch auch sehr widerspruchsvolle soziale Anforderungen erfüllen, indem er zum Beispiel einmal unpersönlichsachbezogen, im anderen Falle liebevoll und zärtlich und dann wieder geistvoll-sarkastisch handelt und dabei seinen eigenen Charakter jeweils so mitdarstellt, daß die Verschiedenheiten der Handlungen den Situationen, ihre innere Zusammengehörigkeit aber ihm selbst zugerechnet werden. So ist es auch in differenzierten Sozialordnungen, die keine personalen Rollenkombinationen mehr institutionalisieren können , noch möglich, sich an personvermittelten Zusammenhängen (und nicht nur an Sach- und Leistungszusammenhängen) auszurichten und damit in die Sachstrukturen Querverbindungen hineinzulegen, die als Orientierungshilfe dienen und wichtige Koordinationsfunktionen erfüllen. Der beste Beweis dafür ist, daß gerade in großen Bürokratien ein zwar affektneutrales, aber dennoch sehr intensives Interesse an Personen lebendig bleibt. Wir haben gesehen, daß kunstvoll-konsistente individuelle Selbstdarstellungen nur möglich sind, wo der Staat den Frieden garantiert; und daß andererseits die funktional-spezifische Ausdifferenzierung eines dazu fähigen Staatsapparates differenzierte Loyalitäten erfordert und damit die Gesellschaft vor ein Problem stellt, das letztlich nur in individuellen Verhaltenssynthesen gelöst werden kann. Staat und individuelle Persönlichkeit bezeichnen verschiedene Richtungen der Generalisierung von Kommunikationen, verschiedene Systembüdungen, die sich wechselseitig zwar voraussetzen, sich aber nicht in vollem Umfange bewirken und gewährleisten können. Das gleiche Bild werden wir in den nächsten beiden Kapiteln gewinnen ^wenn wir das Verhältnis des politischen Systems zu den \Kommunikationsprozessen der Erwartungsbildung und der Bedarfsbefriedigung daraufhin überprüfen. Diese Einsicht ist nichts anderes als die Erkenntnis des Strukturprinzips funktional-spezifischer Differenzierung, der Bildung von funktional differenzierten Untersystemen in der Gesellschaft, und muß sich deshalb, wenn unser theoretischer Ausgangspunkt zutrifft, als durchgehender Befund aufweisen lassen. Gerade daraus ergibt sich nun die Funktion der, Grundrechte: Sie bezieht sich 'nicht auf die Herstellung der Differenzierung in relativ autonome Kommunikationsstrukturen , sondern auf die Erhaltung der 51
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Siehe auch unten S. 180. Die gegenteilige Meinung: daß der Staat durch Grundrechte autonome Lebensbereiche schaffe, wird in Deutschland häufig vertreten. Vgl. z. B. Erich Kaufmann, Grundrechte und Wohlfahrtsstaat, in: Hermann Wandersieb (Hrsg.), R e c h t — S t a a t — Wirtschaft, B d . 4, Düsseldorf 1953, S. 77—87 (79 i.). Sie geht letztlich auf Hegels Konzeption des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft zurück. 52
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4. Kap.: Würde und Freiheit
die Gesamtordnung konstituierenden Differenzierung gegenüber Gefährdungen, die aus den Systemtrennungen und den damit verbundenen wechselseitigen Abhängigkeiten entstehen. Grundrechte gewährleisten weder Freiheit noch Würde. Das steht nicht in der Macht des Staates. Dieser muß voraussetzen, daß der Mensch genug Verstand und Erfahrung besitzt, um seine Persönlichkeit richtig zu handhaben. Insofern ist es sinnvoll, Freiheit und Würde als vorstaatliche Rechtsgüter zu betrachten. Der geisteswissenschaftliche oder rechtsdogmatische Sinn derartiger Charakterisierungen der Grundrechte als vorstaatlich, allmenschlich, naturrechtlich, nicht disponibel mag .unklar und umstritten sein und bleiben. Die Funktion dieser Symbolik ist eindeutig. Sie interpretiert und veranschaulicht unausweichliche Folgeprobleme des Strukturprinzips unserer Sozialordnung, vor allem die Tatsache, daß die strukturelle Differenzierung der Sozialordnung Bedingung der Möglichkeit des Staates, nicht aber umgekehrt der Staat Entscheidungsinstanz für die Wahl des Strukturprinzips ist. Soziologisch gesehen spiegelt sich in dieser Grundrechtssymbolik mithin die Ausdifferenzierung und funktionale Spezifikation des Staates als Handlungssystem eigener Art in der Gesellschaft. Die gesellschaftliche Differenzierung tendiert dazu, ihre eigenen Grundlagen zu korrumpieren. Ihr Ausbau läßt Folgeprobleme entstehen und bedarf zunehmend künstlicher Absicherungen. Die Einrichtung eines relativ autonomen Handlungssystems für die Herstellung verbindlicher Entscheidungen kann die Chancen zu persönlicher Selbstdarstellung gefährden. Vor allem in ihren Außenbedingungen; denn im Akzeptieren verbindlicher Entscheidungen ist man nicht frei, ja sogar als unfrei sichtbar. Und daran ändert die Kompensation der Annahmebereitschaft durch Mitwirkungschancen am Prozeß der politischen Entscheidungsvorbereitung nicht das geringste. Denn, wie wir noch sehen werden , bietet die politische Mitwirkung, jedenfalls in ihrer offiziellen Form: den Wahlen, der Selbstdarstellung wenig Chancen. Daher braucht die „demokratische" Ordnung, die sich mit zunehmender sozialer Interdependenz überall einstellt: der Eintausch der selbständigen Freiheit gegen Mitwirkung, der unabhängigen Macht gegen Kommunikationsprivilegien (namentlich: Status), gewisse korrigierende „liberale" Begleitinstitutionen — eine Einsicht, die in der politischen Literatur vor allem auf dem von Rousseau geschaffenen Forum diskutiert wird. 53
Hier ordnen sich die Freiheitsrechte des Grundgesetzes und sein normatives Bekenntnis zur Menschenwürde ein und erhalten eine sinnvolle Funktion. S3
Vgl. unten S. 148.
4. Kap.: Würde und Freiheit
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Daß Freiheit besser normierbar ist als Würde, die das Grundgesetz nur einmal (Art. 1 Abs. 1), nur als normatives Leitbild, ohne jede Vorschau auf ein konkretes Handeln und ohne jede Einschränkung (also: entsprechend unbestimmt!) nennt, das dürfte nach den vorangegangenen Erwägungen ohne weiteres einleuchten. Als Freiheit soll ein Spielraum eigenen Handelns abgesteckt werden, der gegen Übergriffe juristisch abgesichert werden kann. Würde dagegen verliert man durch symbolische Implikationen des eigenen Verhaltens in einer Weise, die staatlich schwer zu erfassen und zu beeinflussen ist . Das liberale Verfassungsrecht hatte deshalb die äußeren Bedingungen der Selbstdarstelluiig,' die Freiheitsproblematik, ernstgenommen, die inneren Probleme der Würde dagegen ganz dem Individuum überlassen. Erst der „totale" Staat ist hinterlistig in die Regie der Würde eingedrungen, indem er zum Beispiel „freiwilliges" Handeln veranstaltet, das gänzlich unpersönlich und unindividuell ist, von unbezahlten Sonderleistungen angefangen bis zu Schuldbekenntnissen vor Gericht. Freiheit unter Fremdregie ist das Ende der Würde, jedenfalls der öffentlichen Würde des Menschen , weil sie ihn zu persönlichen Darstellungen veranlaßt, die ihn in die Alternative zwingen, entweder inkonsistent zu sein und in ein öffentliches und ein privates Selbst zu zerfallen oder seine Eigenheit ganz zugunsten der geforderten Linie aufzugeben. Dazu kommt die Verbindung öffentlicher Verleumdung, die es überall gibt und die als 54
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Seine Würde hat der Mensch also in erster Linie selbst zu verantworten. Da gerade diese Verantwortung die Würde ist, können ihr direkte Angriffe zumeist nichts anhaben. Es ist deshalb falsch, schon in Handlungen, die Ausdruck einer Mißachtung sind, eine Verletzung der Menschenwürde zu erblicken. Eine solche liegt nur vor, wenn der respektlos Behandelte dadurch in Korrespondenzrollen gezwungen wird, die er mit einer achtungswürdigen Selbstdarstellung nicht vereinbaren kann; ferner natürlich bei allen Eingriffen in die private Regie der Selbstdarstellung, z. B. durch unerlaubte Veröffentlichung privater Aufzeichnungen, der Ergebnisse medizinischer Untersuchungen, durch unbemerkte Tonbandaufnahmen usw. Die herrschende Meinung, die Würde als objektiven Wert auffaßt, kann diesen Unterschied nicht machen. Ihre Kasuistik — vgl. z. B. die Übersicht bei Andreas Hamann, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, 2. Aufl. Neuwied-Berlin 1960, Art. 1 Anm. B — gerät in das Dilemma, die praktische Würdeproblematik entweder im Rückzug auf einen tiefliegenden Wesenswert zu unterschätzen oder bei der Ausarbeitung auf Schlangenlinien um die unvermeidlichen Beeinträchtigungen herumzuführen und so jede dogmatische Konsistenz zu verlieren. 55
Man darf natürlich nicht verkennen, daß im „totalen" Staat die Sensibilität für Darstellungen sich d e n Gegebenheiten anpaßt u n d in eine Richtung verfeinert wird, die zum Beispiel den Ankömmlingen aus den westlichen Siegerstaaten im Jahre 1945 gänzlich unverständlich bleiben mußte. So gab es im „Dritten Reich" zahlreiche Variationen des Hitlergrußes, von denen einige recht eindeutig waren; und Möglichkeiten, sein „freiwilliges" Handeln so zu stilisieren, daß die Unfreiwilligkeit erkennbar wurde, ohne zur Rede gestellt werden zu können. Doch w a s half d a s ! G e r a d e diese E r i n n e r u n g e n zeigen, wie stark die Ausdrucksmittel der Würde u n d damit sie selbst beschnitten werden können, wo es keine Freiheit gibt.
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4. Kap.: Würde und Freiheit
solche die Würde nicht tangiert, mit einem Monopol auf öffentliche Kommunikation. Das macht es möglich, Menschen so wirksam zu diskreditieren, daß sie kein Echo für ihre eigene Selbstdarstellung mehr finden. Derartigen Entwürdigungen ist die juristische Tatbestandstechnik der liberalen Verfassungskonstruktion nicht gewachsen , und auch das Bonner Grundgesetz vermag sie im Grundrechtsteil nur zu perhorreszieren, während die wirklichen Sicherungen im Organisationsrecht liegen. 56
Dennoch besteht kein vernünftiger Grund, an der Juridifizierbarkeit des grundrechtlichen Würde-Schutzes zu zweifeln oder die Würde des Menschen zwar als normativen Leitgedanken, nicht aber als Grundrecht anzusehen . Man muß nur darauf verzichten, die gesetzliche Bestim57
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Das gilt um so mehr, wenn man Würde als Wert des Menschen deutet. Zu den daraus sich ergebenden Schwierigkeiten tatbestandsmäßiger Aufgliederung vgl. Josef M. Wintrich, Die Bedeutung der „Menschenwürde" für die Anwendung des Rechts, Bayerische Verwaltungsblätter 5 (1957), S. 137—140 (138). Ebenso wenig ergibt die von der herrschenden Meinung rezipierte Regel der Kantischen Ethik: der Mensch dürfe nicht als Mittel zu einem außer ihm selbst liegenden Zweck benutzt werden, irgendwelche Entscheidungshilfen. Diese Regel ist nur unter zwei Voraussetzungen instruktiv: wenn man die universelle und stets relative Anwendbarkeit des Zweck/Mittel-Schemas verkennt; und wenn man sie nicht auf den empirischen Menschen, sondern auf ein ideales Menschenbild bezieht, dem man, ohne auf Widerspruch zu stoßen, | zudiktieren kann, was sein Selbstzweck zu sein hat — zum Beispiel: als Soldat sein Vaterland zu verteidigen! Zur Kritik jener Kantischen Interpretation vgl. Weischedel (Kap. 4 Anm. 16), S. 10ff.; ferner Peter Badura, Generalprävention und Würde des Menschen, Juristenzeitung 19 (1964), S. 337—344 (339 ff.), der unter Verzicht auf eine sächlich fundierte Begriffsdeutung als Auslegungsmaßstäbe die historischen Gefahrpunkte heranzieht, gegen die man den Satz über die Würde, des Menschen aufgestellt hat. Das überzeugt jedoch nur, solange man nichts Besseres weiß. 57
So jedoch eine oft vertretene Meinung. Vgl. z. B. Münch (Kap. 4 Anm. 43), S. 4; Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Aufl. Berlin-Frankfurt (Main) ab 1955, Art. 1 GG Anm. III 2; Dürig (Kap. 4 Anm. 18); Wertenbruch (Kap. 4 Anm. 11), S. 29 ff. Dagegen mit Recht Konrad Löwe, Ist die Würde des Menschen im Grundgesetz eine Anspruchsgrundlage? Die öffentliche Verwaltung 11 (1958), S. 516—520. Wenn Dürig (Kap. 4 Anm. 18), S. 119, meint, daß durch jene Interpretation die spezifische Anspruchsgrundlage zwar verloren gehe, aber eine „Basis für ein ganzes Wertsystem" gewonnen werde, so würde ich vom praktisch juristischen Standpunkt aus diesen Tausch für glatt unvorteilhaft halten. Wieso ein Wertsystem, zumal ein „lückenloses" (S. 122), überhaupt einer „Basis" bedarf, ist unklar. In welchem Sinne Werte überhaupt ein „System" bilden können (außer im Sinne einer Hierarchie von Vorzugsregeln für Konfliktsentscheidungen) ist schwer zu erkennen. Daß Wertbegriffe bei der Verwendung in logischen Schlüssen (jedenfalls in den zur Zeit bekannten Logiken) außerordentliche Schwierigkeiten bereiten, ist bekannt. Am ehesten könnte man noch aus dem umgekehrten Befund: aus der Annahme einer ganz lockeren und deduktiv unbrauchbaren Wertegruppierung, folgern, daß eine einheitliche Phrasierung der Grundrechtsrhetorik vom Würdegedanken h e r einen gewissen dogmatischen und forensischen Wert haben kann. Siehe auch die kritischen Ausführungen von Badura (Kap. 4 Anm. 56), S. 339 ff.
4. Kap.: Würde und Freiheit
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mung mit Pathos zu überlasten, denn mit Bannsprüchen allein ist kein Prozeß zu gewinnen. Hier wie auch sonst muß die juristische Dogmatik an meta juristische, regelungsbedürftige Probleme anknüpfen, und sie findet diese Problematik nicht in der fundamentalen Natur grundsätzlicher Werte, sondern im sozialen Leben . Das Problem der Würde aber ist die Schwierigkeit einer konsistenten und überzeugenden Selbstdarstellung und die Eigenverantwortung des Menschen für die Lösung dieser Aufgabe. Über ihm zurechenbare Darstellungen muß der Mensch selbst entscheiden können, denn nur er kann bestimmen, was er ist . Darin gewährt die Verfassung ihm Schutz vor dem Staat . 58
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Beim Hochtreiben des Würde-Wertes kommt es im übrigen nicht selten zu einer bezeichnenden Geringschätzung menschlicher Fähigkeiten — so wenn Max Schreiter, Gehorsam für automatische Farbzeichen, Die öffentliche Verwaltung 9 (1956), S. 692—694, glaubt, daß der Mensch nicht imstande sei, vor automatisch geschalteten Verkehrszeichen anzuhalten, ohne seine Würde zu verlieren. Gegen solche Thesen sollte man im Namen des Menschen protestieren — und nicht im Hinblick auf eine gebotene Güterabwägung (so Hans Peter Bull, Verwaltung durch Maschinen: Rechtsprobleme der Technisierung der Verwaltung, Köln 1964, S. 93 ff.), womit man implizit eine Verletzung der „unantastbaren" Menschenwürde bejaht. 59
So ist denn mit Recht das auch für freiheitliche Demokratien heikle Paradebeispiel die Würdebedrohung im Strafverfahren, und zwar besonders in bezug auf die Techniken der Geständniserwirkung und des Aufdeckens von Lügen durch Kontrolle organischer Körperfunktionen. Durch Art. 1 Abs. 1 GG ist es verboten, Kommunikationen zu erwirken, die der Täter nicht in seine Selbstdarstellung eingliedern kann. (Vgl. die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 16. 2.1954, BGHSt 5, S. 332 ff., und § 136a StPO.) Ihm muß die Möglichkeit gelassen werden, seine Selbstprojektion mit den nachweisbaren Fakten selbst in Einklang zu bringen. Auch ein Einverständnis des Beschuldigten mit dem Gebrauch solcher Mittel ist unzulässig — nicht weil er selbst über seine Würde nicht verfügen könnte, sondern weil aus der Verweigerung des Einverständnisses Rückschlüsse gezogen werden könnten. Für unsere Theorie ist dies ein repräsentatives Anwendungsbeispiel, während die herrschende Auffassung nicht so recht verständlich machen kann, warum gerade damit die Würde des Verbrechers in so besonderer Weise getroffen wird. Zum Gesamtkomplex und zu weiteren Würdeproblemen des Strafverfahrens vgl. Hubert Schorn, Der Schutz der Menschenwürde im Strafverfahren, Neuwied-Berlin 1963. Ein anderes Beispiel: Die Fernsehüberwachung von Arbeitsräumen, wird von Bull (Kap. 4 Anm. 58), S. 137, gegen Dieter Gaul, Rechtsprobleme der Rationalisierung mit ihren Lohn- und Personalfragen, Heidelberg'1961, S. 211 ff., mit Recht für problematisch gehalten, weil sie dem Menschen die Möglichkeit nimmt, sich begrenzt auf Beobachtung einzustellen, ihn vielmehr in die Dauerspannung eines ununterbrochenen Darstellungszwangs versetzt. Zum interessanten Grenzfall psychologischer Eignungsprüfungen bei der Zulassung zum Führen von Kraftfahrzeugen vgl. die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 20. 12. 1963, Neue Juristische Wochenschrift 17 (1964), S. 607 f. = Deutsches Verwaltungsblatt 79 (1964), S. 938 ff. Dazu R. Hörstel, Wird die Würde des Menschen durch psychologische Untersuchungen im Auftrage der Verwaltung angetastet? Deutsches Verwaltungsblatt 79 (1964), S. 1009—1014. Man wird nach unserer Theorie des Würdeproblems darauf abstellen, ob der Test spezifische Fähigkeiten oder die Gesamtpersönlichkeit betrifft und ob er symbolischkommunikativ isoliert werden kann. 60
Und zwar: nur vor dem Staat. Daß die Würde jedes Menschen jeden
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4. Kap.: Würde und Freiheit
Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang der Versuch von Scholler , die hier behandelte Problematik des Schutzes einer geheimen Intimsphäre dem Art. 4 Abs. 1 GG (Gewissensfreiheit) zu unterlegen. Daß Würde und Gewissen eng verbundene Tatbestände sind, ist evident. Unter Gewissen wird man jedoch nicht die Geheimsphäre als solche zu verstehen haben . Das reine Geheimhalten ist für sich selbst nicht schutzwürdig, es sei denn, daß man im Sinne der Mystik das Geheimnis als Symbol für die Unnennbarkeit von etwas anderem auffaßt. Das Gewissen betreut einen sozialen, kommunikativen Tatbestand. Es wird angerufen in dem Bewußtsein, daß der Mensch mit bestimmten kritischen Verhaltensweisen etwas darüber aussagt, was er ist, die Erwartungen in bezug auf sich selbst im Ablauf des Lebens zu Tatsachen macht und dadurch die eigene Person unwiderruflich identifiziert. Das Gewissen stellt das eigene Sein zur Entscheidung. Daher spricht es nur im Blick auf den Tod. Es muß ihn erwägen als Alternative zu einem Handeln, das es als eigenes nicht wollen kann. Rentenkonkubinate zum Beispiel sind niemals eine Gewissensfrage. 61
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Menschen verpflichtet, ist unvorstellbar — es sei denn mit Hilfe eines überzogenen, von aller Empirie abgelösten Würdebegriffs. Warum und wie soll ich als Privatmann gehindert werden, jemanden, der seine Würde zu sehr aufbläst, mit sanfter Hand auf Glatteis zu führen? Man kann diese These nur vertreten — und die herrschende Meinung tut das leider —, wenn man zugleich auf einen empirisch präzisierten Würdebegriff verzichtet und sich darauf beschränkt, Achtung vor Werten zu proklamieren. Damit wird aber der Würde gegen Anfechtungen durch private Tücke wenig geholfen, und der viel wichtigere Schutz gegenüber dem Staat ins Konturlose verunsichert. Im übrigen wäre es sinnlos, dem Staat nicht nur die Achtung, sondern auch den Schutz der Menschenwürde aufzugeben, wenn ohnehin jedermann rechtlich verpflichtet wäre, sie zu achten. Vielmehr hat der Staat — ggf. auch durch Rechtsetzung, die konkrete Pflichten der Bürger gegeneinander statuiert — leigens und im Rahmen seiner Möglichkeiten dafür zu sorgen, daß im gesellschaftlichen Verkehr die Menschenwürde nicht untergeht. Dem dient z. B. das zivilrechtliche Persönlichkeitsrecht, das auch einen gewissen Schutz gegen besonders krasse Formen der Indiskretion gewährt, ohne damit freilich die faktische Würdeproblematik in voller Breite zu erfassen. Vgl. dazu etwa Heinrich Hubmann, Der zivilrechtliche Schutz der Persönlichkeit gegen Indiskretion, Juristenzeitung 12 (1957), S. 521—528. 61
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Heinrich J. Scholler, Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958.
Sogar Scholler selbst kann seinem Begriff nicht treu bleiben. Er füllt ihn heimlich mit Mystik und Wärme, so daß das Heimliche eine heimelige Note bekommt. So kann er auch Gewissenlosigkeit ablehnen (z.B. S. 195), ohne daran zu denken, daß er darunter eigentlich nur die Publizität des Innenlebens versteht. Er folgert aus der Gewissensfreiheit die Versammlungsfreiheit (S. 209), wobei er offenbar nicht nur schweigende Quakerversammlungen im Auge hat. Und die Auffassung des Sittengesetzes als „Pflicht zur Gewissensanspannung" (S. 203) soll das Sittengesetz sicher nicht auf Geheimschutzvorkehrungen reduzieren. Überhaupt stößt sich diese Gleichsetzung von Gewissen und Geheimsphäre hart an der Tatsache, daß das Grundgesetz vom Kriegsdienstgegner gerade die Offenbarung seiner Gewissensentscheidung verlangt.
4. Kap.: Würde und Freiheit
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Es ist aber nicht unverständlich, daß man in diesen und ähnlich entlegenen Bereichen nach Gewissensproblemen sucht. Echte Gewissenssituationen, in denen der Mensch ernsthaft den eigenen Tod als Alternative erwägen muß, sind selten geworden. Man braucht das Gewissen eigentlich nur noch als Argument bei Verteilungsverhandlungen. Der Vorrat an Handlungsalternativen ist so groß, daß es fast immer vertretbare Auswege gibt. Und die ärgste Feindin des Gewissens, die Gewissensfreiheit, verhindert nach Möglichkeit, daß der Mensch überhaupt in Situationen kommt, in denen er die Gewissensentscheidung zu treffen hat . Von Gewissensnot wird er durch die Struktur der differenzierten Gesellschaft normalerweise entlastet. Denn der Tod hat keine Funktion. So kann unter den Bedingungen einer Sozialordnung, die Grundrechte kennt, das Gewissen in die breitere, alle Einzelheiten des sozialen Rollenspiels erfassende Würdeproblematik des Menschen aufgelöst — und sein Tod vorläufig ignoriert werden. 03
Unsere Interpretation des Würdebegriffs und seines Bezugsproblems leistet etwas, was der herrschenden Werttheorie nicht gelungen ist: eine klare Abgrenzung des Würdebegriffs und des Freiheitsbegriffs und damit der Art. 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG voneinander zu ermöglichen, eine Abgrenzung, die zugleich die eigentümliche Interdependenz, das Aufeinanderangewiesensein beider verständlich macht. Die Würde bezieht sich auf die inneren, die Freiheit auf die äußeren Bedingungen und Probleme der Selbstdarstellung als individuelle Persönlichkeit. Die Gefährdungen der Selbstdarstellung und die Richtungen ihrer Hilfsund Sichexungsbedürftigkeit unterscheiden sich deutlich, weil alle Handlungssysteme, auch das der menschlichen Persönlichkeit, sich durch eine Innen/Außen-Differenz konstituieren. Das geschützte Rechtsgut aber ist in beiden Fällen dasselbe: die sich in ihrer Selbstdarstellung individuell konstituierende Persönlichkeit. Während in der Behandlung des Würde-Phänomens ein Blick auf soziologische und sozialpsychologische Erkenntnisse uns von den Grundannahmen der herrschenden Verfassungsinterpretation weit abgeführt hat, ist dies bei den Freiheitsrechten weniger zu befürchten. Auch hier wäre grundsätzlich zwar zu sagen, daß Freiheit als „Wert" nicht ausreichend charakterisiert ist, weil jeder Wert Freiheit, nämlich Freiheit zur Wahl, schon voraussetzt . Doch abgesehen von dieser Frage letzter 64
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Zu dieser Interpretation des Grundrechts der Gewissensfreiheit, das Gewissensentscheidungen ersparen (nicht: fördern!) soll, weil sie zu unberechenbaren Unterbrechungen in den Rollenbeziehungen führen, vgl. meinen im Archiv des öffentlichen Rechts erscheinenden Aufsatz: Die Gewissensfreiheit und das Gewissen. Daß Freiheit als Wert proklamiert und zur Geltung gebracht werden kann, um Entscheidungen auf das Bewirken oder Fördern der Freiheit hin 64
zu orientieren, sei nicht bestritten. Aber diese Entscheidungen müssen schon frei sein, wenn die Frage der Geltung des Wertes der Freiheit diskutiert
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4. Kap.: Würde und Freiheit
begrifflicher Verankerung gibt uns die rechtsstaatliche Doktrin der Freiheitsrechte und ihre positivrechtliche Ausformung im Grundgesetz eine treffliche Illustration des soziologischen Problems und seiner Lösungsmöglichkeiten. Sinn der Freiheitsrechte, die das Grundgesetz mit einem glücklichen Griff in Art. 2 Abs. 1 wie in einem Brennpunkt zusammengezogen und als Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit umschrieben hat, ist vor allem die Gewährleistung eines Handlungsspielraums, dessen Ausfüllung dem Menschen als Person zurechenbar ist. Ihm ist dadurch die Möglichkeit gegeben, sich selbst nicht nur als veranlaßte Handlungsserie, sondern als identische Persönlichkeit zu begreifen und in den symbolischen Implikationen seines Handelns sozial zu konstituieren. Freiheit ist Handlungsfreiheit, ist aber nicht um der Beliebigkeit des physischen Handlungsvollzug oder um dessen physischer Wirkungen willen gewährt, sondern als Zurechnungsgrund für den kommunikativ erfaßbaren Sinn des Handelns. Auch hier können aus psychologischen und soziologischen Vorerwägungen Ansätze zu einer Präzisierung der dogmatischen Fragestellungen gewonnen werden. Wenn es gelingt, den Persönlichkeitsbegriff des Art. 2 Abs. 1 GG auf einen wirklichkeitswissenschaftlichen Tatbestand , zu beziehen, braucht man die genannte Bestimmung nicht länger als Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit zu verstehen, also zu einer pathetischen Wiederholung des Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung zu entleeren —was dem Persönlichkeitsbegriff des Grundgesetzes jede charakteristische Bedeutung nimmt und außerdem den unerwünschten Effekt hat, die Verfassungsbeschwerde wegen Grundrechtsverletzung zu einer allgemeinen Gesetzmäßigkeitskontrolle des Staatshandelns auszuweiten . Auf der anderen Seite können auch die Unbestimmtheiten und wertethischen Einseitigkeiten der sagenannten Persönlichkeitskerntheorie, vor allem ihre Beschränkung des Persönlichkeitsbegriffs auf ein sittliches Leitbild bestimmter Ausprägung, vermieden werden. Eine Theorie, die den Persönlichkeitsbegriff normativ anreichert, kann^ 65
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wird. Der Wertbegriff verstellt den Zugang zu einer viel ursprünglicheren und tieferen Freiheitskonzeption, weil er sie impliziert, aber nicht entfaltet. Und zugleich schneidet die Dogmatik sich den Kontakt mit den Sozialwissenschaften ab, wenn sie Werte als letzte Grundbegriffe behandelt und die Frage nach der Funktion von Werten als Profanierung des Höchsten, mit einem Tabu belegt. Dieser Einwand auch bei von Mangoldt/Klein (Kap. 4 Anm. 57) Art. 2 GG Anm. III 6a. So bekanntlich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit der Entscheidung vom 16.1.1957, BVerfGE 6, S. 32 ff., und im Schrifttum z. B, Wintrich (Kap. 4 Anm. 4), S. 22 ff.; Maunz/Dürig (Kap. 4 Anm. 49) Art. 2 GG, Rdnr. 6 ff. 65
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4. Kap.: Würde und Freiheit
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nicht recht verständlich machen, wieso das Persönlichkeitsrecht noch der Einschränkung durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz bedarf . Zwischen diesen beiden Polen, welche die dogmatische Diskussion des letzten Jahrzehnts bestimmt haben, kann man mit Hilfe eines wirklichkeitswissenschaftlichen Kompasses hindurchsteuern (ohne daß der Charakter der Verfassungsbestimmung, als einer Norm dadurch in irgendeiner Weise angetastet würde). Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ist das Recht des Menschen auf eine ihm zurechenbare Handelnssphäre, die er braucht, um sich als Persönlichkeit, als selbstbewußte individuelle Einheit darstellen zu können. 67
Dieser Bedarf an selbstbezüglicher Symbolik ergreift selbst das scheinbar so physikalische oder doch biologische Recht der freien Bewegung des eigenen Körpers. Es heißt nicht zufällig „Freiheit der Person" (Art. 2 Abs. 2 GG), denn es ist das Basisrecht der Selbstdarstellung, die sich primär durch Verfügung über Aufenthalt, Haltung und Ausdruck des eigenen Körpers vollzieht . Glaubens- und Meinungsfreiheit, die Freiheiten der Kontaktaufnahme, des Erwerbens und Besitzens und der politischen Mitwirkung schließen sich an. Sie alle haben eine Funktion als Garantie von Ausdruckschancen der Persönlichkeit. Sie schützen die symbolisch-expressiven Komponenten des freien Handelns und sind insofern auf das allgemeine Recht der freien Persönlichkeitsentfaltung zurückbezogen. Die besonderen Freiheitsrechte sind mithin, in der Perspektive der allgemeinen Freiheitsklausel des Art. 2 Abs. 1 GG gesehen, Chancen der absichtlichen und unabsichtlichen Kommunikation des individuellen Wesens der eigenen Persönlichkeit und damit Chancen, für die eigene Selbstauffassung soziale Anerkennung und Bestätigung zu gewinnen. 68
Sie sind jedoch weit mehr als das. Ihre Auffächerung in Einzelgrundrechte spiegelt außerdem die soziale Differenzierung in mehrere relativ autonome Sphären gesellschaftlicher Sinnbildung wieder. Sie haben nicht allein die genannte Funktion für die Selbstdarstellung der Persönlichkeit — das dafür spezifisch ausgesonderte Grundrecht ist das der Verfügung über den eigenen Körper —; sondern sie reichen in jene anderen Sondersphären der Gesellschaft, nämlich die der Meinungsbildung (Kultur, Institutionen), der Kapitalbildung (Wirtschaft) und der Machtbildung (Staat) hinein, deren Behandlung wir für die nächsten 67
Vgl. namentlich Hans Peters, Die freie Entfaltung der Persönlichkeit als Verfassungsziel, Festschrift für Rudolf Laun, Hamburg 1953, S. 669—678, und ders., Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, Köln-Opladen 1963; Hamel (Kap. 4 Anm. 16), S. 30 ff. Siehe dazu eine bedenkenswerte B e m e r k u n g v o n P a r s o n s (Kap. 3 Anm. 9) S. 47, wonach der Sinn der Gefängnisstrafe hauptsächlich in der Beschränkung und Kontrolle von Kommunikationsmöglichkeiten bestehe. 6 8
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4. Kap.: Würde und Freiheit
Kapitel zurückgestellt haben. Jene Sphären stellen eigene Anforderungen an die Generalisierung von Kommunikationen, die sich von denen der persönlichen Selbstdarstellung wesentlich, zuweilen kraß, unterscheiden, die in unserer Verfassungsordnung aber ffotedem durch die Institution der Freiheitsrechte mitgesichert werden. Die Beziehung der Freiheitsrechte auf das Grundrecht der Persönlichkeitsentfaltung und damit auf die Selbstdarstellungsproblematik ist mithin nur eine von mehreren gleichwichtigen Untersystem-Referenzen in der Gesamtgesellschaft. Diese multifunktionale Verwendung der Grundrechtsinstitution in einer differenzierten und daher von komplexen, widerspruchsvollen Untersystembedürfnissen regierten Sozialordnung ist einer der bezeichnendsten Charakterzüge unserer politischen Verfassung und damit unseres Gesellschaftssystems. Er wird verfehlt, wenn man alle Freiheitsrechte unter das Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG oder unter den Würdewert des Art. 1 Abs. 1 GG subsumiert und sie von da her dogmatisch systematisiert. Damit greift man an allem, was wir heute über den Menschen wissen, vorbei. Eine unbefangene Analyse der menschlichen Persönlichkeit, ihrer Struktur, ihrer Probleme und Bedürfnisse, ihres Erlebnis- und Erlebensverarbeitungspotentials würde niemals zu dem Grundrechtskatalog mit seinen Aufteilungen und Akzentsetzungen führen. Die Annahme, daß er als „System" von Werten aus dem Wesen des Menschen folge, ist schlechthin illusionär. Legt man sie zugrunde, dann interpretiert man, ohne andere Möglichkeiten zu sehen, den Freiheitsschutz lediglich von angenommenen Interessen der individuellen Persönlichkeit her. Man muß dann alle Interessen der Gesellschaft im ganzen oder ihres politischen Systems als Gegeninteresse formulieren, die sich als Grundrechtseinschränkungen gegen eine vermutete Freiheit des Individuums juristisch durchzusetzen haben — immer in Gefahr, daß ein Individuum seine Persönlichkeit entfaltet und die öffentlichen Interessen in die enger und enger geflochtenen Maschen des Verfassungsrechts treibt. Die in der dogmatischen Jurisprudenz heute herrschende Auffassung geht diesen Fehlweg — und ein gewisses Recht dazu kann man ihr angesichts der Vorstellungswelt des Verfassungsgebers kaum abstreiten. Sie deutet das Persönlichkeitsgrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG als eine Generalklausel, als Grundsatzbekenntnis zur Freiheit, das dann in den besonderen Freiheitsrechten konkretisiert und juristisch griffig ausgemünzt wird . Man denkt von vornherein dogmatisch in Begriffsverhältnissen, nicht soziologisch in Handlungssystemreferenzen, und hat 69
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Siehe z. B. von Mangoldt/Klein (Kap. 4 Anm. 57), Art. 2 GG Anm. III, insb. 1 und 5c.
4. Kap.: Würde und Freiheit
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daher auch keine Möglichkeit, soziologische Analysen in eine wirklichkeitsbezogene juristische Dogmatik (die selbst natürlich nie soziologisch arbeiten kann!) umzudenken. Man bekennt sich zwar durchaus zu dem Gedanken, daß die Freiheit des Einzelnen auch der Gesellschaft im ganzen diene, hat für diesen Gedanken aber eigentlich nur die alten Denkmodelle des Staatsvertrages oder des wie auch immer umrahmten Laissez-faire — Automatismus zur Verfügung. So dient er allenfalls zur Rechtfertigung der Institution der Grundrechte (falls diese nicht als Werte jedem Rechtfertigungsbedürfnis enthoben werden), nicht aber als Leitfaden ihrer Interpretation. Der Blick auf komplizierter gebaute neuere soziologische Theorien wird blockiert durch Orientierung an den einfachen Dichotomien von Gesellschaft und Staat oder von Individualinteresse und sozial gebotener Einschränkung. Wir gehen auf den gegenwärtigen Stand der Grundrechtsdogmatik nicht so sehr in polemischer Absicht ein als vielmehr, um die innere Konsequenz dieser Position deutlich zu machen: Die Freiheitsrechte werden deshalb auf einen einzigen Zentralpunkt, das Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, hin ausgerichtet, weil die Dichotomie von Staat und Gesellschaft keine andere Wahl läßt. Diese Ausrichtung zwingt einerseits dazu, den Bezugspunkt, das Freiheitsrecht der individuellen Persönlichkeit, vieldeutig, unbestimmt und tiefsinnig auszulegen, damit er als Quelle aller Freiheitsrechte glaubhaft wird. Damit verliert die Dogmatik den Kontakt mit den wissenschaftlich kontrollierbaren Wahrheiten, mit der Persönlichkeitstheorie, wie sie in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften ständiger Überprüfung und Verfeinerung unterworfen ist. Sie bevorzugt statt dessen vorwissenschaftliche Dogmen über die Natur des Menschen. Und andererseits nötigt diese Polarisierung auf ein einheitliches Freiheitsprinzip dazu, die sich aufdrängenden Probleme mit Hilfe der Dichotomie von Individualrecht und Sozialbindung zu explizieren. Die Erläuterung dieses Zusammenhanges der Freiheitsrechte und ihrer Einschränkungen ist nur mit sehr elastischen Methoden der Textinterpretation oder der Werteinterpretation zu bewerkstelligen, welche die nun unvermeidliche Interessenabwägung faktisch auf den Richter delegieren. Die Geschlossenheit dieses Vorstellungszusammenhanges wird erst bei einer Betrachtung von außen sichtbar, und diese leitet, wenn ihr Standpunkt richtig gewählt ist, unversehens seine Überwindung ein. Nicht jede Soziologie kann freilich diese Orientierungsaufgabe erfüllen. Besonders jene Sozialphilosophien und frühsoziologischen Theorien, welche die Gesellschaft als Agglomerat kausal wirkender Kräfte betrachteten, die in Form von Bedarfsanmeldungen und Interessengruppierungen gegen den hoheitsvoll abwartenden Staat anbranden, vermochten
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4. Kap.: Würde und Freiheit
der Verfassungsdogmatik wenig zu geben; sie bekräftigten die wechselseitige Isolierung vom Methodischen her und bauten die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zu einer Unterscheidung von Staatswissenschaften und Gesellschaftswissenschaften aus . 70
Die moderne Strukturtheorie gesellschaftlicher Systeme eröffnet ganz andere Möglichkeiten. Sie läßt jene traditionellen Dichotomien von oikos und polis, Land und Herrschaft, civil society und government, Gesellschaft und Staat, die der Politikwissenschaft bisher den Rahmen gaben, hinter sich . Statt dessen stellt sie jene Probleme in den Mittelpunkt, die sich aus dem Ausbau des gesellschaftlichen Leistungspotentials durch funktional-spezifische Differenzierung ergeben. Sie kommt dadurch zu einem relativ komplizierten Verständnis sozialer Vorgänge und Sinnbeziehungen, dem die System- und Problemrelativität der funktionalen Methode am besten'zu entsprechen scheint. 71
In diesem Kapitel haben wir, um diese Zwischenbilanz zu ziehen, erst eine gesellschaftliche Sphäre behandelt, die mit dem Problem der individuell-persönlichen Selbstdarstellung bezeichnet ist. Die Grundrechte der Freiheit und Würde haben eine wichtige Funktion des Schutzes dieser Sphäre gegen staatliche Eingriffe, welche das symbolischkommunikative Ausdruckspotential der Persönlichkeit entscheidend lähmen könnten. Ein bedeutsamer Vorgang der Gerreralisierung von Kommunikationen, der Sinngebung durch Systemreferenz, wird damit abgesichert. Doch ist das individuell-persönliche Aktionssystem keineswegs das einzige Untersystem, das in einer differenzierten Gesellschaft Schutz verdient, und seine Selbstdarstellung nicht die einzige Form der Kommunikationsgeneralisierung, die wir beachten müssen. Die funk70
Vgl. Robert von Mohl, Gesellschafts-Wissenschaften und Staats-Wissenschaften, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 7 (1851), S. 1—71; ders., Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, Erlangen 1855, Bd. I, S. 67 ff., und die Gegenschrift von Heinrich von Treitschke, Die Gesellschaftswissenschaft, Leipzig 1859. Bald darauf wurde dieser Gegensatz durch die juristische Ausrichtung der Staatswissenschaft so selbstverständlich, daß er nicht mehr diskutiert werden brauchte, obwohl die „Allgemeine Staatslehre" seit Georg Jellinek bereits wieder mit nichtjuristischen sozialen Gegebenheiten und Prozessen zu liebäugeln begann. 71
Daß die Vorstellung des politischen Systems als Untersystem der Gesellschaft gerade in Amerika entwickelt werden konnte, ist freilich nicht zuletzt der dafür günstigen Ausgangslage in der Dichotomie von civil society und government zu danken. (Zu deren Unterschied im Vergleich zur deutschen Auffassung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft vgl. Ehmke (Kap. 2 Anm. 4).) Gleichwohl handelt es sich um einen völlig neuen Ansatz. Er geht nicht von Reflektionen über die menschliche Natur, sondern vom Handlungsbegriff und von einer bestimmten Systemkonzeption aus und übertrifft daher im Abstraktionsgrad, in der Kompliziertheit und im Problemreichtum alle bisherigen Theorien. Um so seltsamer berührt, daß die angelsächsische „governmenf'-Konzeption gerade jetzt, wo man sie aufzugeben beginnt, in Deutschland Anklang zu finden scheint.
4. Kap.: Würde und Freiheit
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tionale Differenzierung der Gesellschaft geht mit einer strukturellen Differenzierung einher und setzt daher typverschiedene Untersystembildungen in einer Mehrheit von gesellschaftlichen Sphären voraus. Wir werden uns daher, um ein vollständiges Bild zu gewinnen, anderen Sphären zuwenden und die dort benötigten Einrichtungen der Systembildung und Kommunikationsgeneralisierung studieren müssen.
Fünftes
Kapitel
Die Zivilisierung der Verhaltenserwartungen: Kommunikationsfreiheit Eine Sozialordnung kann sich nicht damit begnügen, der individuellen Selbstdarstellung Chancen zu eröffnen; sie muß außerdem für ein ausreichendes Maß an Komplementarität der Verhaltenserwartungen sorgen. Sie muß die Erwartungshorizonte in bezug auf eigenes und fremdes Handeln so koordinieren, daß zueinander passende Handlungen verläßlich erwartet werden können. Jeder braucht für die Durchführung seiner Rollen Partner in entsprechenden Korrespondenzrollen, die anders, aber sinnbezüglich handeln. Nicht daß alle dasselbe tun müssen, sondern daß alle verschieden handeln, sich in der Erwartung des Verschiedenen aber abstimmen müssen, ist das Problem. Und das bedeutet, daß die notwendige Koordination nicht auf der Ebene des Handelns, sondern nur auf der Ebene eines differenzierten und generalisierten Erwartens von Handlungszusammenhängen erzielt werden kann; denn Übereinstimmung läßt sich wegen der unüberwindbaren Ich-Du-Verschiedenheit nicht im Handeln, sondern nur in Verhaltenserwartungen erreichen. 1
Daß die Abstimmung des Handelns nicht durch Angleichung der Handlungen, sondern abstrakter durch Angleichung von Verhaltenserwartungen erfolgt, eröffnet den Entfaltungsbereich für soziale Differenzierung. Dadurch ist es vor allem möglich, die Individualisierung der Persönlichkeiten und die Institutionalisierung eines immer komplizierteren Netzes von Rollen, Erwartungen und Symbolen nebeneinander zu entwickeln. Es liegt aber auf der Hand, daß die Förderung individueller Selbstdarstellungen und der Bedarf an Komplementarität in Verhaltenserwartungen unterschiedliche, ja divergierende Anforderungen stellen. In sehr einfachen Sozialordnungen bleibt diese potentielle Diskrepanz latent. Es gibt nur wenige Rollentypen. Diese sind mangels Alternativen fest institutionalisiert und einverseelt. Sie erhalten ihre Einheit von der Anschaulichkeit des konkreten und bekannten Handelns her und nicht durch relativ abstrakte, zum Beispiel auf innere (morali1
Vgl. zu diesem Begriff die Literaturhinweise oben Kap. 4 Anm. 36.
5. Kap. : Kommunikationsfreiheit
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sehe) Einstellungen, Zwecke oder Mitgliedschaftsbedingungen bezogene Erwartungen. Und wie der Bedarf an Abstraktion, so ist auch der Bedarf an individueller Stilisierung der eigenen oder fremden Persönlichkeit gering. Mit zunehmender Differenzierung der Gesellschaft tritt jedoch die latente Diskrepanz des Selbstdarstellungsinteresses und der Komplementaritätserfordernisse immer stärker hervor und schließlich ins Bewußtsein. Zwar gilt nach wie vor ein zusammenhaltendes Gesetz: daß Selbstdarstellungen nur im sozialen Kontakt, also nur auf der Grundlage komplementärer Verhaltenserwartungen erfolgen können. Aber die Vielfalt der Möglichkeiten erfordert nun einerseits mehr bewußte Individualität und führt andererseits dazu, daß der soziale Konsens nicht mehr mit jedem Kontakt von vornherein als gesichert angenommen werden kann, also besonders gesucht, hergestellt und immer wieder getestet werden muß. Mit dem Ausbau der Gesellschaftsordnung in Richtung auf funktionalspezifische Differenzierung und der damit zunehmenden Rationalität der Lebens- und Handlungsauffassungen werden in mehr und mehr Situationen Wahlmöglichkeiten eröffnet. Für die Gesamtordnung ist es sinnvoll, den Einzelnen mit offenen Verhaltensaltemativen zu konfrontieren, die so strukturiert sind, daß es für die Gesellschaft insgesamt verhältnismäßig belanglos ist, welche Alternative er wählt. Die Sozialordnung verwendet, wie ein kybernetisches System, limitierten Zufall als konstruktives Element, um Komplexität zu reduzieren. Für den Einzelnen werden damit aber nicht nur seine eigenen Wahlen (die er durch seine, individuelle Persönlichkeit als Selektionsprinzip ordnen kann), sondern mehr noch die Wahlen seiner Partner zum Problem; hat er es doch immer wieder mit Menschen zu tun, die von ihrer individuellen Persönlichkeit besessen sind. Es entsteht, da die Komplementarität gefährdet ist, eine Verhaltensunsicherheit, der die Sozialordnung entgegenwirken muß (selbst wenn sie den Einzelentscheidungen gegenüber indifferent bleiben kann), da es nicht in der Kraft der Persönlichkeit liegt, die Folgeprobleme mangelnder Komplementarität in sich selbst auszutragen . 2
Eine Reihe von Einrichtungen der „Generalisierung von Kommunikationen", die auf dieses Problem bezogen sind, gehören deshalb zur notwendigen Ausstattung differenzierter Sozialordnungen. Besonders die sachliche Generalisierung von Verhaltenserwartungen im Rahmen 2
Natürlich gibt es auch individuelle Verhaltensstrategien, die auf das Problem mangelnder Komplementarität bezogen sind. Siehe dazu die Untersuchung von John P. Spiegel, The Resolution of Role Conflict within the Family, Psychiatry 20 (1957), S. 1—16.
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5. Kap.:
Kommunikationsfreiheit
dessen, was Anthropologen Kultur nennen, die Spezifizierung des Konsensbedarfs, die Mobilisierung der Kontakte und Zusammengehörigkeiten sowie gewisse Formen der Organisation des öffentlichen Kommunikationswesens haben in diesem Problemkontext eine wichtige Funktion. In einzelnen Sozialordnungen mag der eine oder andere Mechanismus der Generalisierung dominieren und die Gesellschaft in erster Linie prägen — so für die bürgerliche Zivilisation im beginnenden 19. Jahrhundert zweifellos die „Kultur"; ganz fehlen wird in einer voll differenzierten Sozialordnung keiner, weil sie sich wechselseitig als funktional äquivalent entlasten und das Bezugsproblem zu wichtig ist, als daß man auf die eine oder andere Erleichterung verzichten könnte. Auch hier wird uns die Frage beschäftigen müssen, welche Schranken dem politischen System dadurch gezogen werden, daß diese Einrichtungen mit der einen oder anderen Schwerpunktbildung funktionsfähig erhalten werden müssen. Zuvor sind jedoch einige Erläuterungen zu den einzelnen Generalisierungsmechanismen notwendig. Sachlich generalisiert sind Verhaltenserwartungen, wenn sie um Kernvorstellungen geordnet sind, die das Verhalten als zusammengehörig, als Ausfluß eines Grundgedankens erweisen, es aber im einzelnen nicht spezifisch festlegen . Die Komplementarität, die unbedingt gesichert sein muß,, wird sozusagen auf einen Rollenkern beschränkt, so daß man sich auf das „Wesentliche" verlassen und die Einzelheiten dem Kontakt in der konkreten Situation, also dem Wechselspiel der Selbstdarstellungen, überlassen kann. 3
Als sachlich generalisierende Rollenkerne dienen zum Beispiel Einstellungserwartungen: Man erwartet je nach der Situation verschiedenartige Handlungen, die auf eine bestimmte „innere" Einstellung — etwa: des guten Vaters oder des nationalgesinnten Bürgers — zurückgeführt werden können und sie durchgehend ausdrücken und symbolisieren . Sobald man sich auf die „rechte Gesinnung" verlassen kann, ist ein hohes Maß an Toleranz für unterschiedliche Rollenausführung, ja selbst für gelegentliche Entgleisungen möglich. Die Verinnerlichung der Moral 4
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Wie hier nicht näher dargelegt werden kann, korrespondiert die sachliche Generalisierung als Prinzip der Rollenbildung mit der zeitlichen Generalisierung als Prinzip der Normbildung und der sozialen Generalisierung als Prinzip der Institutionsbildung. Dazu näher Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 54 ff. Die Begriffe Norm, Rolle und Institution werden hier nach Maßgabe der dort gegebenen funktionalen Bestimmungen gebraucht. Vgl. dazu William J. Goode, Norm Commitment and Conformity to RoleStatus Obligations, The American Journal of Sociology 66 (1960), S. 246—258 (249, 256 f.); Friedrich H. Tenbruck, Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 13 (1961), S. 1—40 (12 ff.); Ralf H.Turner, Role-Taking: Process Versus Conformity, in: Arnold M. Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes, Boston 1962, S. 20—40 (28). 4
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im Laufe der abendländischen Kulturgeschichte ist ein typisches Korrelat des Prozesses sozialer Differenzierung, zunächst: der Trennung von Politik und Religion. Ein weiteres Beispiel für generalisierende Rollenkerne ist überlegener Rang, der als sozialer Status institutionalisiert wird. Auch er tendiert dazu, sich im Gesamtverhalten eines Rollenzusammenhanges durchzusetzen ungeachtet der Sachfragen, um die es im einzelnen geht. Deshalb können Rangdifferenzen als relativ konstantes Strukturprinzip benutzt werden. Auch das ist in differenzierten Sozialordnungen ein unentbehrliches Mittel generalisierter Orientierung und Integration. Außerdem lassen sich Rollen durch Zweckbestimmungen generalisieren. Sie erhalten ihren Sinn dann durch spezifische Wirkungen, die im Hinblick auf einen Wert geschätzt werden, ungeachtet der Mittel, die je nach den Umständen angewendet werden müssen, um den Zweck zu erfüllen. Die dem zugrunde liegende Auslegung des Handelns als Bewirken einer Wirkung hat genau diesen Sinn einer Generalisierung der Handlungsorientierung durch Folgenspezifikation: Sie neutralisiert einen Teil der Folgen der Mittel, so daß sie für die Entscheidung irrelevant werden . Nicht zufällig beherrscht gerade diese Handlungsauslegung die zivilisierte Sozialordnung der Neuzeit und hat ein unbestrittenes Monopol darauf, als rational zu gelten (das heißt: der eigentlichen Bestimmung des Menschen zu entsprechen). In dieser Form werden namentlich Berufsrollen generalisiert. Schließlich muß auch die Mitgliedschaft in Gruppen, sofern sie unter spezifische Eintritts- und Austrittsbedingungen gestellt wird, als eine Form sachlicher Rollengeneralisierung von ungewöhnlicher Elastizität und Variierbarkeit erkannt werden. Denn Mitgliedschaft kann als solche motiviert und so attraktiv gemacht werden, daß die Mitglieder relativ indifferent dagegen werden, was sie im Einzelfall tun müssen, 5
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<£/Vgl. dazu Herbert A. Simon/Donald W. Smithburgh/Victor A. Thompson, Public Administration, '^.ewjfo'rk 1950, S. 488 ff., und die weiterentwickelte Theorie der Zwecksetzung von Herbert A. Simon, On the Concept of Organizational Goal, Administrative Science Quarterly 9 (1964), S. 1—22; ferner Luhmann (Kap. 3 Anm. 12), S. 436 ff. Sehr betont haben bereits Gunnar Myrdal, Das Zweck-Mittel-Denken in der Nationalökonomie, Zeitschrift für Nationalökonomie 4 (1933), S. 305—329, und im Anschluß an ihn Hans Albert, Ökonomische Ideologie und politische Theorie, Göttingen 1954, S. 27 ff. — vgl. auch ders.. Die Problematik der ökonomischen Perspektive, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 117 (1961), S. 438—467 (459 ff.), und Wilhelm Weber/Hans Albert/Gerhard Kade, Wert, Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 11, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1961, S. 637—658 (641.1) — die Neutralisierungsleistung der Zwecksetzung, freilich weniger im Hinblick auf die praktische Generalisierungs- und Vereinfachungsfunktion als zum Nachweis der Unzulänglichkeit des Zweck/Mittel-Schemas als Theoriemodell. 8
die Martin Heidegger in der Einleitung seines Briefes „Über den Humanismus" (Frankfurt 1949) in Frage stellt.
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um ihre Mitgliedschaft zu erhalten. Auf diesem Ordnungsprinzip beruht, wie ich an anderer Stelle zu zeigen versucht habe , das moderne Organisationswesen und mit ihm die Industrialisierung und Bürokratisierung unserer gesamten Sozialordnung. Durch Einstellungserwartungen, Rangerwartungen, Zweckerwartungen oder Mitgliedschaftserwartungen kann demnach eine Auswahl von relevanten Verhaltensaspekten erfolgen, auf die es in spezifischen Zusammenhängen für ein Komplementärverhalten gerade ankommt, ohne daß der Spielraum der Selbstdarstellung völlig in das sozial Geforderte absorbiert würde. Eine gewisse Freiheit bleibt durch Indifferenz möglich. Entfremdend wirkt nicht so sehr, daß die Selbstdarstellung ausgeschlossen, als daß sie im Bereich der nun spezifizierten sozialen Relevanz nicht beansprucht wird. 7
Die anderen Generalisierungsmechanismen bauen auf dieser Grundlage auf. In dem Maße, als sachliche Relevanz spezifiziert werden kann, können auch Konsensnotwendigkeiten auf spezifisch Relevantes beschränkt werden. Man kann sich dann auch in eigenwilligen Selbstdarstellungen sicher fühlen, weil man weiß, daß man in den für die Kontaktfortführung notwendigen Aspekten übereinstimmt. Man braucht nicht in jeder Hinsicht zu harmonieren, wenn ein modus vivendi gesichert ist. Einer der schwerwiegendsten Mängel der Smendschen Integrationslehre ist in soziologischer Sicht, daß sie durch ihren Begriff des Staates als „geistiger Wirklichkeit" den Konsensbedarf gleichsam ontifiziert und sich dadurch die Möglichkeit nimmt, ihn als funktionale Variable zu behandeln . Die neuere Soziologie weiß, daß der Fortbestand sozialer Systeme nur in begrenztem Umfange Konsens erfordert und daß wegen der Vielzahl von Problemen, die zu lösen sind, ein Maximieren des Konsenses mit Unterleistung in anderen Hinsichten bezahlt werden muß, zum Beispiel die Differenzierbarkeit des Systems und gewisse Möglichkeiten der Umweltanpassung behindert . Deshalb muß auch in 8
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Luhmann (Kap. 1 Anm. 11). Daß gerade die Integrationslehre trotzdem wichtige Beiträge zur Konsenstheorie geliefert hat — etwa durch ihre Einsichten über die integrierende Bedeutung gewisser Konflikte oder über die Dissens stabilisierende und dadurch Konsens straffende Funktion der Grundrechte, darf freilich nicht verkannt werden. Doch gibt der Bezugspunkt dieser Analysen: die Konstitution einer geistigen Wirklichkeit durch Integration, keine Fragestellung in die Hand, mit deren Hilfe man das Ausmaß des Konsensbedarfs ermitteln und seinen Zusammenhang mit anderen Strukturvariablen und die sozialen Kosten übermäßiger Konsensanforderungen in bestimmten Sozialsystemen kritisch prüfen könnte. Eine bedeutsame Durchbruchstelle für diese Einsicht war die Symbolund Sprachtheorie — als Beispiel: Charles L. Stevenson, Ethics and Language, New Häven 1944, insb. S. 174ff.; eine andere die Kritik der allzu harmoni8
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der empirischen Forschung, besonders beim Vergleich sozialer Systeme, Konsens als Variable behandelt werden. Wenn die soziale Differenzierung durch zunehmende Spezifikation des Konsensbedarfs erleichtert wird, ändert sich der Verhaltensstil des sozialen Verkehrs tiefgreifend. Er wird unpersönlicher, sachlicher. Verhaltensformen, die diffusen Konsens voraussetzen, das persönliche Ausfragen zum Beispiel, oder das Scherzen, treten zurück. Die sozialen Kontakte widmen sich zunächst und vor allem dem Abtasten etwaiger Rangansprüche und der vorsichtigen Konstruktion einer gemeinsamen Plattform, der Exploration von Konsensmöglichkeiten . Solche Umstellungen des Kontaktstils werden gefordert und stimuliert durch ein hohes Maß an Kontaktmobilität , einem der wichtigsten Phänomene differenzierter Sozialordnungen. Die Wahl sozialer Berührungen, von flüchtigen Begegnungen bis zu langfristigen Bindungen, bleibt mehr denn je dem Einzelnen überlassen, und die Möglichkeiten zu wechseln, werden erleichtert. Jeder kann im Rahmen einer Vielfalt von Chancen versuchen, Partner zu finden, die auf seine Selbstdarstellung eingehen, und damit den Konsens für sich und in der gesamten Sozialordnung zu mehren . Und wer sich keine Initiative zutraut, wird einsam. 10
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sehen Anfangstheorien des Funktionalismus — vgl. z. B. Irving Louis Horowitz, Consensus, Conflict and Cooperation: A Sociological Inventory, Social Forces 41 (1962), S. 177—188, oder Gösta Carlsson, Reflections on Functionalism, Acta Sociologica 5 (1962), S. 201—224; eine dritte die Organisationssoziologie mit ihrer Kritik des Konsenswertes von Organisationszwecken — vgl. Chester I. Barnard, The Functions of the Executive, Cambridge Mass. 1938, z.B. S. 88 f.; Neal Gross/Ward S. Mason/Alexander W. McEachern, Explorations in Role Analysis, New York 1958, als empirische Untersuchung der Konsensstruktur einer Rolle oder Amitai Etzioni, A Comparative Analysis of Complex Organizations: On Power, Involvement, and their Correlates, New York 1961, S. 128 ff., als eine grundsätzliche Formulierung; eine vierte die bekannte These von Talcott Parsons, daß Integration nur eines von vier Systemproblem sei; dazu näher unten S. 190. Vgl. John W. Thibaut/Harold H. Kelley, The Social Psychology of Groups, New York 1959, S. 64 ff.; Peter M. Blau, Exchange and Power in Social Life. New York-London-Sydney 1964, S. 34 ff. Die üblicherweise unter dem Kennwort der „sozialen Mobilität" behandelte Problematik — siehe z. B. Seymour M. Lipset/Reinhard Bendix, Social Mobility in Industrial Society, Berkeley-Los Angeles 1959 — setzt ein hierarchisch strukturiertes Positionensystem voraus, nach dessen Maßgabe die Einzelpersonen oder Gruppen sich bewegen. Das ist jedoch nur ein Ausschnitt aus der sehr viel allgemeineren Problematik der Kontaktmobilität. Die Möglichkeit, soziale Beziehungen zu lösen und neu einzugehen oder gar im Interesse spezifischer Gesichtspunkte — etwa: des eigenen Aufstiegs —• zu mobilisieren, ist beim Begriff der sozialen Mobilität im üblichen Sinne von Statusveränderung vorausgesetzt. 10
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Vgl. hierzu die sozialpsychologische bzw. soziologische These der Konsensmehrung durch Untergruppenbildung, zum Beispiel bei: Leon Festinger/ John Thibaut, Interpersonal Communication in Small Groups, The Journal of Abnormal and Social Psychology 46 (1951), S. 92—99; Theodore M. Newcomb, The Study of Consensus, in: Robert K. Merton/Leonard Broom/Leonard
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Ein bahnbrechendes Prinzip der Kontaktmobilität ist die Institutionalisierung der Liebe (im Sinne einer individuellen Passion) als Ehegrundlage. Nicht zufällig im späten Mittelalter aufkommend und zunächst mit utopischen, dann komischen, dann krisenhaften Aspekten erlebt, hat dieses Postulat erst in einer voll differenzierten Sozialordnung seine Sprengkraft verloren. Seine Institutionalisierung bedeutet, daß Ehen auf der Basis einer diffusen, persönlichen Zuneigung zustande kommen und geführt werden sollen und darin ein eigenes Systemprinzip generalisierender Orientierung besitzen . Die Wahl des Partners wird dadurch den Ehegatten selbst überlassen . Daß Entscheidungen von solcher Tragweite ohne zuverlässige soziale Steuerung durch Familien-, Standes- oder Arbeitsrollen und ihre Zusammenhänge gelassen werden können — die Beeinflussung durch vorgefertigte Gefühlsclichés ist keine Steuerung, sondern nur eine Entscheidungserleichterung — verdient als Indifferenzphänomen hochdifferenzierter Sozialordnungen die gleiche Bewunderung wie der freie Markt wirtschaftlicher Bedarfsbefriedigung. Nur weil das politische Eingriffsinteresse bei Eheschließungen geringer ist als bei wirtschaftlichen Verfügungen, kennen unsere Verfassungen kein Menschenrecht auf Liebesheirat. 13
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Eine andere, gleichwichtige^K^ontaktfrei^abe betrifft den Eintritt in Organisationen, die in reicher Zahl zur Ordnung des wirtschaftlichS. Cottrell, Jr. (Hrsg.), Sociology Today, New York 1959, S. 277—292, und ders., The Acquaintapce Process, New York 1961; George Caspar Homans, Social Behavior: Its Elementary Forms, New York 1961, S. 102, 118. Natürlich kann persönliche Sympathie auch in Sozialordnungen Berücksichtigung finden, die es sich nicht leisten können, Liebe als Auswahlprinzip zu institutionalisieren. Die Institutionalisierung aber verleiht der (erwiderten) Liebe den Charakter eines sozial legitimierten Anspruchs. Sie zeigt sich auch darin, daß es schamvoll verborgen werden muß, wenn eine Ehe aus anderen Gründen als Liebe geschlossen wird. Dieser Freistellung des Individuums zur Liebeswahl entspricht im spätmittelalterlich-neuzeitlichen Verständnis der Liebe ihre Deutung als Passion (für deren Entstehen man sozial nicht rechenschaftspflichtig ist) und ihre Funktion als magische Glücksgarantie (außerhalb rational-technischer Einwirkungsmöglichkeiten und daher: ohne soziale Folgenverantwortung). Solange diese Auffassung nicht selbstverständlich war, konnte in der Don JuanLegende die Ahnung wach bleiben, daß die Passionierung der Liebe liebesunfähig macht. Eine gewisse „informale" Steuerung durch elterlich-fürsorgende Kontaktbahnung bzw. -erschwerung bleibt den Oberschichten möglich, die naturgemäß ein stärkeres Interesse an standesmäßiger Kontrolle von Eheschließungen haben und zugleich über Mittel verfügen, die sie den Jugendlichen gewähren oder vorenthalten können. Siehe dazu auch William J. Goode, The Theoretical Importance of Love, American Sociological Review 24 (1959), S. 38—47 (43 ff.). Diesen Punkt verfehlen Hegels kritische Bemerkungen zur Geschlechtsliebe als Grundinteresse in der Ehe; vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts (Hrsg. Hoffmeister), 4. Aufl. Berlin 1956, § 162. Hegel vermißte, weil er die soziale Funktion dieser Institution nicht sah, darin objektiven Geist und konnte sich deshalb nicht entschließen, sie „an sich" für wichtig zu halten. 13
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berufsmäßigen, geselligen, politischen oder humanitären Handelns entstanden sind und in vielen gesellschaftlichen Bereichen bereits ein Oligopol auf Zulassung zu den entsprechenden Rollen besitzen. Auch hier kann der Einzelne nach Kongenialität wählen. Weil seine Wahl frei und der Austritt möglich ist, macht er mit Art und Anzahl seiner Mitgliedschaften zugleich eine Aussage über sich selbst. Andererseits ist seine Wahlsituation sozial strukturiert und generalisiert, da er zumeist nicht zwischen Handlungen, sondern nur zwischen Organisationen wählen kann. Und zugleich können die Organisationen durch Regelung derjenigen Erwartungen, die er freiwillig anerkennen muß, will er seine Mitgliedschaft aufrechterhalten, ihn eingehenden Rollenvorschriften unterwerfen, die in ihrer Detailliertheit, Differenziertheit und zugleich in dem Maße an zugestandener Entscheidungsfreiheit weit über alles hinausgehen, was durch Zwang gesichert werden könnte. 17
Die Freigabe von Mitgliedschaften als entscheidungsfähige Angelegenheit ist namentlich in zwei Hinsichten bedeutsam: Sie verstärkt das Konsenspotential der Gesellschaft, indem sie jedem erlaubt, sich dort anzuschließen, wo er zustimmen kann. Auf diese Weise werden zugleich Autoritäten und Repräsentationschancen geschaffen: Möglichkeiten, zu einer Gruppe und für eine Gruppe zu sprechen. Das politische System profitiert davon durch Verdichtung seiner EntscheidungsSituation. Zum anderen werden auf diese Weise Motivationsstrukturen für relativ autonome Arbeitsrollen aufgebaut, wie sie in differenzierten und technisch komplizierten Produktions-, Verwaltungs-, Dienstleistungs- oder Forschungsorganisationen für nichtprogrammierbare Aufgaben laufend benötigt werden, deren sachgerechte Ausführung aber nicht erzwungen werden kann . 18
Ein dritter und besonders augenfälliger Bereich der Kontaktmobilisierung ist der Konsummarkt mit seinen beiden Aspekten der Beschaffung und der Darstellung des Verbrauchs von Konsumgütern. Auch hier wird, vor allem durch Oberflächendifferenzierung der Konsumware, mehr Freiheit der Selbstdarstellung symbolisiert, als tatsächlich gegeben ist, zugleich aber doch ein ganz ungewöhnliches Ausmaß an individueller Stilverschiedenheit mit strengen Komplementaritätsanforderungen kombiniert. Mit der Zunahme der Rollendifferenzierung und der Kontaktmobilität wird die Institutionalisierung einer gemeinsamen Zeitrechnung unentbehrlich, in der jedes menschliche Verhalten einen bestimmten Stel17
Es sei hier nochmals an die oben behandelte Wurdeproblematik erinnert, die mit freiwilligem, aber unausweichlichem Handeln verbunden ist. Siehe im Zusammenhang damit auch Max Webers bekannte These, daß zum Aufbau rationaler Arbeitsbetriebe „formal freie" Arbeit notwendig sei: Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl., Tübingen 1956, S. 71 f., 86 f. 1 8
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lenwert erhält, der bei allem Erwarten und Handeln automatisch miterlebt wird und viele Konflikte in ein Nacheinander auflöst. Dadurch wird Zeit knapp, genauer gesagt: als bestimmte knappe Menge erlebbar und in dieser Form Ordnungsgesichtspunkt für zahlreiche rationale Verhaltensstrategien . Die zunehmende Interdependenz setzt sich in gesteigertes Verhaltenstempo um ; ihre Problematik läßt sich bis zu gewissen Grenzen durch Beschleunigung des Handelns und durch zeitliche Präzisierung der wechselseitigen Ansprüche lösen. Das wiederum erfordert eine hohe Verhaltensdisziplin, die sich nicht mehr primär von Gefühlen und erlebten Bedürfnissen, sondern durch den Blick auf die Uhr motivieren läßt. Festgelegte Erholungszeiten gleichen diese Anstrengungen aus, werden aber ebenfalls nach der Uhr begonnen und beendet. 19
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Schließlich ist zu bedenken, daß mit der sozialen Differenzierung die Fülle der verhaltensrelevanten Informationen und Informationsmöglichkeiten ins Ungeheure wächst und daher allein schon ihre Quantität die Komplementarität des Verhaltens gefährdet. Der Einzelne wird mit Anregungen, Reizen und Informationen überschüttet. Ihm selbst kann die Auswahl dessen, was er aufnimmt und bewußt verarbeitet, nicht völlig überlassen bleiben, denn sonst würde es ein reiner Zufall werden, wenn Rollenpartner sich mit übereinstimmenden Informationen begegnen. Zufall aber ist in differenzierten Sozialordnungen nur in funktionsgerechter Begrenzung erträglich. So wird die öffentliche Kommunikation in allen wichtigeren Sparten der Gesellschaft besonderen Organisationen oder Organisationsabteilungen anvertraut, die sich speziell mit der Vorauswahl, Vereinfachung und suggestiven Aufmachung von Kommunikationen befassen. In weiten Bereichen gelangt nicht mehr die Tatsache, sondern der Kommentar, nicht mehr die Wareninformation, sondern die Werbeschrift, nicht mehr die wissenschaftliche 19
Die darin enthaltene Konstanzprämisse findet Parallelen in der Wirtschaft (Geld) und in der Politik (Macht). Vgl. dazu unten S. 110 bzw. S. 151. In all diesen Fällen verhilft eine künstliche, aber institutionell gesicherte Mengenkonstanz dazu, daß menschliche Verhalten durch abstrakte Orientierung zu rationalisieren. Das menschliche Problemerleben wird abgelenkt von der unmittelbaren Selbstbehauptung in der Natur, auf zwischenmenschliche Beziehungen gerichtet und dort an Knappheitsvorstellungen in den Kommunikationsmedien Zeit, Geld und Macht orientiert. Diese Problemverschiebung ist nur möglich, wenn die Gesellschaft als differenziertes System eingerichtet wird und dadurch in der Lage ist, die Überlebenschancen des Menschen wirksamer zu gewährleisten. Anteile an den konstant gesetzten Mengen fungieren dann als sekundäre Güter, über die man leichter disponieren kann. Verfügungen über Zeit-, Geld- oder Machtanteile haben in bezug auf Primärbedürfnisse den Charakter von Zwischendispositionen, mit deren Hilfe die Gesellschaft eine rationalere Organisation erreichen kann. 20
Dazu gute Bemerkungen bei Elias (Kap. 1 Anm. 19), Bd. II, S. 337 f. Zum Zusammenhang von Rollenspezialisierung und Zeitknappheit vgl. ferner Wilbert E. Moore, Man, Time, and Society, New York-London 1963, S. 16 ff.
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Argumentation, sondern ein „abstract" des Ergebnisses, nicht mehr die Persönlichkeit, sondern nur noch ihr „image" an das Publikum. Indirektheit und Zwisehenbearbeitungen im Kommunikationswesen erweisen sich als Einrichtungen der Generalisierung von Informationen, die aus einer differenzierten Sozialordnung nicht wegzudenken sind. Am Ende dieses kursorischen Überblicks über einige Institutionen der Generalisierung von Verhaltenserwartungen müssen wir uns noch einmal die ihnen vorausliegende Problematik und ihre Wirkungsweise verdeutlichen; denn das läßt verständlich werden, weshalb Einrichtungen dieser Art in differenzierten Sozialordnungen vorhanden sein müssen und weshalb das politische System in dem Maße, als es sich als relativ autonomes Untersystem der Gesellschaft ausdifferenziert, in seiner Umwelt solche Einrichtungen als Vorbedingung der eigenen Existenz tolerieren, ja erhalten und pflegen muß. Wenn die soziale Differenzierung eine gewisse Schwelle überschreitet, kann die Institutionenbildung nicht mehr dem elementaren Spiel der Selbstdarstellüngen in sozialen Kontakten überlassen bleiben, weil Situationen zu speziell und zu unterschiedlich aufgefaßt werden und weil zugleich damit das Bedürfnis nach rein individuellen Verhaltenssynthesen wächst. Die Komplementarität der Rollenauffassungen versteht sich dann nicht mehr von selbst, kann aber angesichts der Kompliziertheit der Verhältnisse auch durch zentrale Planung, durch einheitliche Gesamtkonstruktion der Gesellschaft nicht sichergestellt werden (obwohl Tendenzen in dieser Richtung, zum Beispiel für Produktionszwecke, wirksam werden). In die Lücke treten die erörterten Einrichtungen, welche den Einzelnen mit zwar wählbaren aber schon stark generalisierten und gebündelten Relevanzen umgeben, wobei er in der Wahl und der Kombination von Wahlen sich selbst darstellt, im damit verbundenen Eingehen auf generalisierte und konsequenzenreiche soziale Strukturen, namentlich auf Systemzusammenhänge, aber ein komplementäres Verhalten verspricht. Er entscheidet im Rahmen vorgenormter Variablen. Auf diese Weise kommt es weiterhin zu freien und daher die Selbstdarstellung verpflichtenden Bindungen an soziale Systeme, die gleichwohl eine beträchtliche bis ins Einzelne gehende Sicherheit des Komplementärverhaltens garantieren können. Individuum und Kollektivum sind keine Substanzen mit festliegenden gegensätzlichen Interessen, wie das der Grundrechtsdiskussion vielfach mehr oder weniger deutlich vorschwebt. Soziale Identitäten und Systeme jeder Art, Persönlichkeiten eingeschlossen, konstituieren sich erst im Prozesse sozialer Kommunikation und also: nach Maßgabe gegebener Kommunikationsmöglichkeiten, insbesondere sprachlicher und nichtsprachlicher Symbole. Die Vielfalt der so entstehenden Sinngebilde ist deshalb keine feste Größe. Sie kann wachsen, wenn die
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Kommunikationen an zunehmend generellen und doch spezifizierbaren (in ihrer Relevanz begrenzten) Gesichtspunkten orientiert werden, wenn die Sprache und ihre Zusatzinstitutionen sich darauf einstellen und wenn eine passende Auswahl von verträglichen Kombinationen für die meisten Situationen gewährleistet ist.. Eine solche Ordnung stellt an den Seelenhaushalt des Einzelnen wie an die sozialen Institutionen besondere Anforderungen. Sie erfordert und begünstigt deshalb die Unterhaltung einer Vielzahl von abstrakten, spezifizierten, situationsrelativen und austauschbaren Einstellungen, eine immer feinere Ausarbeitung der Symbolordnung und eine entsprechend feine Unterschiedsempfindlichkeit des sozialen Erlebens, weiter: die Organisiertheit der sozialen Leistungen, eine starke Indirektheit der Kommunikationen (die Symbolbildung, Machtbildung, Kapitalbildung, Systemerhaltung als solche zum Ziele haben können), und sie begünstigt auf lange Sicht die Ablösung der emotionalen durch funktionale Formen der Systemstabilisierung, das heißt: die Umstellung von Sicherheit durch Fixierung auf Sicherheit durch Austauschbarkeit aller notwendigen Leistungen.
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Unsere allgemeine These, daß das politische System der machtbildenden Prozesse und der Entscheidungsbürokratie nur stabilisiert werden kann, wenn die Sozialordnung eine entsprechende Differenzierungsfähigkeit aufweist, gewinnt nun etwas deutlichere Konturen. Vorausgesetzt werden muß, daß Kommunikationen hinreichend differenzierbar, spezifizierbar und generalisierbar sind, daß sie durch „sekundäre Systeme" , also indirekt, motivierbar sind, und daß die Disposition über Kommunikationen nicht durch allzu enge Sozialbindungen und Gefühlsfixierungen behindert wird. Die Spezialisierung des politischen Systems erfordert, mit anderen Worten, eine starke Mobilität des Kommunikationswesens in seiner Umwelt . Es muß zum Beispiel ohne Schwierigkeiten möglich sein, sich auch mit Unbekannten relativ rasch und reibungslos zu verständigen . Die Einverseelung und Institutionalisierung der benötigten Kommunikationsweisen erfolgt durch Zivilisierung der Erwartungen. 21
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Im Sinne von Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955. Vgl. dazu Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —), S. 73 ff.; Karl W. Deutsch, Soziale Mobilisierung und politische Entwicklung, Politische Viertel] ahrsschrift 2 (1961), S. 104—124. Siehe ferner die von Lipset (Kap. 2 Anm. 13), S. 36 ff. (eingehender in ders., Some Social Requisites of Democracy: Economic Development and Political Legitimacy, The American Political Science Review 53 (1959), S. 69—105) zusammengestellte Statistik über wirtschaftliche Voraussetzungen stabiler Demokratien, die in der Hauptsache kommunikationsrelevante Faktoren erfaßt. Leider fehlt es zu dieser wichtigen Frage: durch welche sozialen Institutionen persönliche Bekanntschaft als Handlungsgrundlage ersetzt werden kann, an systematischer soziologischer Forschung, obwohl im Schatten der alten Unterscheidungen von Gemeinschaft und Gesellschaft oder primary groups und secondary groups manche einschlägige Beobachtung gediehen ist. 22
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Eine gewisse Zivilisation der Erwartungen muß der moderne Staat in seiner „ambiance" vorfinden. Seine Existenz hängt in mannigfacher Weise davon ab . Der Staat muß zur Durchführung des Staatsbetriebs auf gesellschaftlich vorgeformte Bereitschaften, Rollen-in-Systemen zu übernehmen, zurückgreifen können . Es müssen jeweils in ausreichendem Maße unverpflichtete oder unterverpflichtete Selbstdarstellungsbedürfnisse vorhanden sein, die auf hauptsächlich politisches oder bürokratisches Handeln festgelegt werden können. Der Staat muß weiterhin mit passenden Komplementärrollen in der Gesellschaft rechnen können, mit verständigem, rationalem Verhalten als Antragsteller, Zeuge, Wähler, Kläger oder einfach als Interessent, der seine Interessen konsistent und langfristig verfolgt, so daß ihm auf vorhersehbare Weise Motive suggeriert oder abgedrosselt werden können. Die Staatsbürokratie muß, da sie sich nicht selbst versorgen kann, ohne ihre spezifischen Aufgaben zu vernachlässigen, der Gesellschaft Kapital entziehen können. Das setzt frei verfügbare (nicht an dringende Bedürfnisse gebundene, emotional eingewurzelte oder organisatorisch fest verplante) Kapitalmittel voraus. Ferner ist der Staat ohne Uhren und ohne ein ihnen folgendes Zeiterleben undenkbar. Und schließlich muß der Staat, um sich selbst spezialisieren zu können, der Gesellschaft andere B e dürfnisse zu autonomer (unpolitischer) Befriedigung überlassen, auch wenn diese Autonomie politisch relevant werden kann: Er muß aktuelle Entlastung mit potentieller Gefährdung bezahlen — ein allgemeines Risiko differenzierter Systeme. Besonders gilt dies für Bedürfnisse der Deutung der Welt und des Lebens und der Erklärung von Enttäuschungen , in geringerem Maße auch für die wirtschaftliche Bedarfsbefriedigung, die Erziehung, die Heilung und Pflege von Kranken, die Geselligkeitsbedürfnisse. Daß eine umfassende Zivilisation der Erwartungen in Deutschland im Nullpunkt 1945 vorhanden war, hat das „Wirt24
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Hierher gehören auch sehr indirekte Abhängigkeiten. Der Überblick über die Gesamtheit der im Text erörterten Abhängigkeiten ginge durch eine Begriff sentscheidung verloren, wollte man mit Herbert Krüger (Kap. 2 Anm. 4), S. 346 ff. Gesellschaft von vornherein massiv als staatshervorbringende Gesellschaft definieren — ein gutes Beispiel dafür, wie notwendig es ist, die Perspektiven der Allgemeinen Staatslehre durch die der politischen Soziologie zu ersetzen. Diese Fragen werden neuerdings zuweilen unter dem Stichwort „Political Socialization" erörtert. Vgl. z. B. Herbert Hyman, Political Socialization, New York 1959; Lewis A. Froman, Jr., Political Socialization, The Journal of Politics 23 (1961), S. 341—352; Mitchell (Einf. Anm. 10), S. 145 ff.; Gabriel Almond/Sidney Verba, The Civic Culture: Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton N. J. 1963, S. 323 ff. In Deutschland bemüht man sich dagegen kennzeichnenderweise mehr um politische „Bildung". Siehe hierzu Eisenstadt (Einf. Anm. 10) mit interessanten Feststellungen über den Entwicklungsstand von Religion und Kultur, der die e r s t e Bildung historischer bürokratischer Reiche erlaubte, sie aber gerade durch die neue Autonomie des Glaubens und Denkens auch wieder gefährdete. 25
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5. Kap.: Kommunikationsfreiheit
schaftswunder" möglich gemacht; daß sie in Entwicklungsländern weithin noch fehlt, vermag zu erklären, weshalb ein entsprechendes Entwicklungswunder ausbleibt und weshalb bei der Übernahme einzelner Organisationsmuster, Kapitalien, Pläne und Ausrüstungsgegenstände jene viel erörterten Schwierigkeiten sinngemäßer Verwendung auftreten. Wie der Staat einen gewissen Individualismus der Selbstdarstellung, die Fähigkeit des Menschen, seinem Auftreten eine langfristig-konsistente persönliche Linie zu geben, voraussetzen muß, so muß er auch mit einer gewissen Zivilisiertheit des Erwartens rechnen können. Er selbst kann eine ausreichende Komplementarität der Verhaltenserwartungen in solcher Differenziertheit, wie eine komplexe Sozialordnung sie erfordert, mit seiner spezifischen Leistungsform: der verbindlichen Entscheidung, nicht sicherstellen. Auch hier finden wir also die schon im vorigen Kapitel behandelte Eigentümlichkeit differenzierter Sozialordnungen wieder: daß sie verschiedene und divergierende Richtungszüge der Generalisierung von Kommunikationen gleichzeitig unterhalten müssen: neben dem politischen, machtbildenden Generalisierungsprozeß den der persönlichen Selbstdarstellung und den der Generalisierung von Verhaltenserwartungen zu Normen, Rollen und Institutionen. Außerdem kommt, wie das nächste Kapitel zeigen wird, noch die Generalisierung der wirtschaftlichen Kommunikationen durch das Geldwesen hinzu. 27
Solche ihm fernstehenden Generalisierungsleistungen kann der Staat nicht gewährleisten, wenn er sich selbst funktional spezifiziert und als System für die Anfertigung verbindlicher Entscheidungen institutionalisiert. Aber er muß gewisse Folgeprobleme der Differenzierung ins Auge fassen und durch deren Lösung die Gesamtstruktur mit tragen helfen. In diesem weitausgreifend herangeholten Funktionszusammenhang stoßen wir erneut auf die Grundrechte. Sie stabilisieren an kritischen Stellen die erforderliche Distanz des politischen Systems zu jenen gesellschaftlichen Prozessen, welche die genannten Differenzierbarkeitsvoraussetzungen aktualisieren. Nicht jeder Aspekt dieser Problematik ist grundrechtsbedürftig oder grundrechtsfähig. Wir haben schon gesehen, daß es kein Menschenrecht auf Liebesheirat gibt, weil sie nicht durch das politische System, sondern durch die Familie gefährdet wird. Sie wird daher durch weniger prominente Rechtsinstitute, etwa die Geschäftsfähigkeit, indirekt gesichert . Obwohl mancher junge Mensch für ein solches Menschenrecht 28
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auf den wir im übernächsten Kapitel näher eingehen werden. Neuerdings auch mit der verfassungsrechtlichen Sanktion des Grundrechtes auf Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG), das die Freiheit der Wahl 28
5. Kap.: Kornrnunikationsf reiheit
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gerne etwa die Pressefreiheit hergeben würde — die Grundrechtsordnung hört nicht auf die natura humana, sondern entspricht der Problemkonstellation, die sich aus der sozialen Differenzierung ergibt. Die Grundrechtsformulierungen heften sich an bestimmte Gefahrpunkte, in denen das politische System dazu tendiert, über seine spezifische Funktion der Herstellung verbindlicher Entscheidungen hinauszugreifen, soziale Prozesse in sich hineinzuziehen und sie unter politischen Gesichtspunkten (also: Untersystemgesichtspunkten) zu integrieren. Hier sind Kautelen besonders deshalb erforderlich, weil die politische Funktion, verbindliches Entscheiden zu ermöglichen, von sich her keine scharfen Konturen hat, sondern wesentlich davon abhängt, in welchen Hinsichten eine Sozialordnung Probleme produziert, die verbindlich entschieden werden müssen. Die Spezifikation eines politischen Systems für diese Aufgabe setzt also voraus, daß die politische Ordnung nicht mehr der öffentlichen Ordnung gleichgesetzt ist, sondern als Problementscheidungseinrichtung auf eine Umwelt bezogen ist, in welcher entscheidungsbedürftige Probleme entstehen. Wie eben schon gesagt, muß das politische System im Interesse seiner besonderen Rationalität sich von politisch nicht aktuellen Fragen entlasten und diese Spezialisierung mit Gefährdung bezahlen; es muß gesellschaftliche Vorgänge aus seiner Herrschaft entlassen, obwohl sie politisch relevant werden können. Solche Toleranz scheint zweierlei vorauszusetzen: Der einheitliche Kosmos wahrer Überzeugungen muß zerfallen sein, so daß aus dem Wahrheitsanspruch einer Meinung nicht unmittelbar ein politischer Wirkungsanspruch hergeleitet werden kann. „Gewissensfreiheit" konnte nur gewährt werden, nachdem das Gewissen so weit verinnerlicht war, daß es nicht mehr zu Revolten neigte . Im Zusammenhang damit wird die Problemstellung aus der Ebene der Wahrheit in die der Kommunikation verlegt und dadurch entschärft. Wahrheiten sind exklusiv, Kommunikationen kann widersprochen werden. Durch Neutralisierung der Wahrheitsfrage und durch Gewährung von Kommunikationsfreiheiten gewinnt das Problem der Erwartungs29
des Partners einschließt — vgl. z.B. Erna Schettler, Ehe und Familie, in: Karl August Bettermann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner, Die Grundrechte, Bd. IV, 1, Berlin 1960, S. 245—323 (281) oder Theodor Maunz, Die verfassungsrechtliche Gewähr von Ehe und Familie (Art. 6 GG), Ehe und Familie 3 (1956), S. 1—3 (1) — damit aber natürlich die sozialen Schranken der Liebeswahl nicht wirksam abbauen kann. Sie wurde daher zunächst als Recht zur Hausandacht eingeführt. Zum entsprechenden Einschrumpfen der Religion im 17. Jahrhundert treffend Schnur (Kap. 2 Anm. 5), insb. S. 39. Siehe auch Michael Freund, Die Idee der Toleranz im England der großen Revolution, Halle 1927, z.B. S. 84: „Die Säkularisation des sozialen Lebens w a r in der T a t eine d e r wesentlichsten Voraussetzungen für den Duldungsgedanken." Und dieser ging historisch der Gewährung eines Rechts auf Gewissensfreiheit voraus. 29
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5. Kap.:
Kommunikationsfreiheit
komplementarität eine Fassung, die der fortschreitenden sozialen Differenzierung entspricht. Auch in dieser Beschränkung: als Verzicht auf vorbeugende Kontrolle aller Kommunikationen, fällt die Toleranz dem politischen System jedoch nicht leicht. Daher ist zu erwarten, daß Tendenzen aufkommen, den Herrschaftsbereich des politischen Untersystems auf alle öffentlichen Kommunikationen auszudehnen und auf diese Weise das Kommunikationswesen unter politischen Gesichtspunkten zu entdifferenzieren. Besonders an zwei Stellen läßt sich gesellschaftliches Geschehen, das politisch zu werden verspricht, im Keime erfassen und dem akzeptierten Modus, politische Fragen zu stellen, anpassen, nämlich bei der Wahl von Kommunikationsthemen und bei der Wahl von Kommunikationspartnern . 30
Die Freigabe dieser beiden Wahlen sichert daher an kritischer Stelle die soziale Differenzierung vor den durch die Differenzierung selbst geweckten Expansiontendenzen des politischen Untersystems. Die klassischen Grundrechte der Glaubens- und Meinungsfreiheit einerseits, der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit andererseits, mitsamt ihren Sonderformen wie Pressefreiheit, Freiheit von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre, Freiheit familiärer Erziehung, Koalitionsfreiheit, Parteibildungsfreiheit und in gewissen Hinsichten auch die Berufsfreiheit sind nicht allein Ausformungen des Selbstdarstellungsschutzes der Persönlichkeit, sondern gleichrangig Schutzeinrichtungen der politisch unabhängigen Erwartungsbildung. 31
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Wachsende Bedeutung gewinnt daneben neuerdings die Freiheit der Wahl von Kommunikationsmedien. Vgl. nicht nur die Aufzählung einzelner Mittel in Art. 5 Abs. 1 GG, sondern auch die gegenüber Art. 118 WRV neue Betonung des Rechts auf Verbreitung von Kommunikationen. Die Wirkungsintensität des Fernsehens stellt wegen der technisch notwendigen Zentralisierung besondere Probleme. Auch Glaubensfreiheit ist, obwohl die Formulierung von Art. 4 Abs. 1 GG durch Unterscheidung von Glauben und Bekenntnis das Gegenteil suggeriert, lediglich eine Freiheit der Kommunikation. Sie bezieht sich auf Themen- und Partnerwahlen. Die religiöse Erfahrung selbst kann weder als frei noch als unfrei qualifiziert werden. So auch die herrschende Auslegung. Vgl. Wertenbruch (Kap. 4 Anm. 11), S. 108 ff. Selbst die Gewissensfreiheit wird zumeist — Nachweise bei Scholler (Kap. 4 Anm. 61), S. 91 f. — als Bekenntnisfreiheit angesehen, da das reine forum internum keine Rechtsprobleme stellt. Daß der herrschenden Meinung das eigentliche Gewissensproblem — dazu oben S. 76 f. — dabei entgleitet, ist ihr schmerzlich bewußt. Daß wir auch die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit als Kommunikationsfreiheiten ansehen (und zwar als solche, die primär Partnerwahlen im Auge haben) dürfte aus unserer allgemeinen Einschätzung des Kommunikationswesens verständlich sein. Es handelt sich bei diesen Rechten nicht nur um Sonderformen der körperlichen Bewegungsfreiheit für Versammlungsräume oder Vereinslokale. Vereine und Versammlungen interessieren nicht als Orte, sondern als strukturierte und dadurch besonders attraktive Kommunikationschancen. 31
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5. Kap.: Kommunikationsfreiheit
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Themenwahl und Partnerwahl können nur zusammen freigegeben werden. Einige Grundrechte, wie das der Meinungsfreiheit, sind primär vom Kommunikationsthema her, andere, nämlich die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, sind primär vom Kommunikationspartner her konzipiert. Aber es handelt sich um komplementäre Rechte. Denn in einer differenzierten Sozialordnung muß jeder, der Mitteilungen machen oder sich informieren will, mit vorstrukturierten Partnerschaften von begrenztem Interessen- und Aufmerksamkeitshorizont rechnen. Er muß also seine Themen mit Rücksicht auf seine Partner oder seine Partner mit Rücksicht auf seine Themen wählen. Würde er in einer Hinsicht gebunden werden, wäre er es in der anderen auch. Mit der Aufrechterhaltung einer funktional-spezifischen Differenzierung durch Kommunikationsfreiheiten wird keineswegs bezweckt, daß politisch Bedeutsames, das in gesellschaftlich freigegebenen Kommunikationen auftritt, unpolitisch zu behandeln sei, daß der Staat politisch erhebliche Kommunikationen und Gruppierungen außerhalb des politischen Systems ignoriere, als gingen sie ihn nichts an. Soziale Differenzierung ist kein Abhacken jeder Verbindung zwischen Untersystemen; sie führt gerade umgekehrt zu einer Intensivierung von Wechselbeziehungen. Insofern ist das Dogma der Trennung von Staat und Gesellschaft höchst irreführend, weil es nicht zu erkennen gibt, daß die Differenzierung einer Sozialordnung nicht zu einer Verminderung, sondern im Gegenteil zu einer Intensivierung von Kontakten und Interdependenzen führt. Die zunehmende wechselseitige Interdependenz von Staat und Gesellschaft beweist nicht die Überlebtheit dieser Unterscheidung, wie zumeist angenommen wird , sondern gerade ihre Verfestigung in Form von miteinander kommunizierenden Systemen. 33
Nicht die politische Neutralisierung der Gesellschaft außerhalb des selbständig organisierten Systems politischer Handlungen ist das Ziel der Kommunikationsfreiheit. Ihr Sinn ist vielmehr nur: daß das Interesse des Staates für politisch relevante gesellschaftliche Vorgänge eine Form erhält, welche die Differenzierung der Sozialordnung nicht aufhebt, sondern ihr angemessen ist. Der Staat muß akzeptieren können, daß seine Umwelt politische Probleme aufwirft und politische Macht erzeugt, die er zu absorbieren hat. Nicht Herrschaft, sondern Sensibilität ist seine Losung. Wollte er jegliche politische Bedeutung von Kommunikationen im voraus erfassen und lenken, müßte er die gesellschaftliche Differenzierung weitgehend aufheben und durch eine bürokratische Differenzierung des politischen Systems ersetzen. Manche Entwicklungsländer, in denen der Staat die gesellschaftliche Differenzierung und das, was wir Zivilisation der Erwartungen nannten, erst schaffen muß, 33
Siehe die Nachweise oben Kap. 2 Anm. 9.
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5. Kap.:
Kommunikationsfreiheit
scheinen diesen Weg zu gehen, allen voran die Sowjetunion mit ihrem Dualismus von Partei und Staatsverwaltung. Will man diesen Effekt vermeiden (und erlaubt der gesellschaftliche Entwicklungsstand es), dann muß man das politische System negativ an einer Beherrschung aller Kommunikationen hindern und es positiv mit Organen der Sensibilität ausrüsten, die in der Lage sind, Kommunikationen von inhaltlich oder machtmäßig politischer Relevanz in ihrer gesellschaftlichen Umwelt aufzuspüren, sie als politisches Problem zu artikulieren und der Staatsbürokratie zur Entscheidung zuzuführen. Während wir das Problem der politischen Sensibilitierung des Staates bis zur Behandlung der aktivbürgerlichen Grundrechte zurückstellen, sind wir hier noch einige Erläuterungen zur Freiheit der Themenund Partnerwahl im Kommunikationsprozeß schuldig. Beide Freiheiten sind mit jenen Errungenschaften, die wir als Zivilisation der Erwartungen bezeichnet haben, auf vielfältige, zum Teil sehr indirekte und schwer durchschaubare Weise verbunden. Sie dienen dadurch der Lösung des Problems, von dem wir in diesem Kapitel ausgingen: wie in stark differenzierten Sozialordnungen bei entsprechend individualisierten Selbstdarstellungsinteressen ausreichende Komplementarität der Verhaltenserwartungen sichergestellt werden kann. In einer differenzierten Sozialordnung wird es infolge der Vielfalt von speziellen Themen und speziellen Interessen immer schwierig sein, für Kommunikationen Zuhörer oder Leser und für Verhaltenserwartungen Konsens zu finden. Man kann deshalb versuchen, alle öffentlichen Kommunikationen vom politischen System aus zu homogenisieren und eine sehr ins Detail gehende Ordnung amtlicher Verhaltenserwartungen konsenspflichtig zu machen. Vom Problem der Komplementarität aus gesehen, ist das eine übermäßige Anstrengung, die nicht nur den erstrebten Effekt hat, sondern zur Politisierung der gesamten öffentlichen Ordnung führt. Eine Differenzierung ist nur als zugelassene, organisierte Differenzierung, vor allem als Arbeitsteilung, möglich — und als heimlich sich durchsetzende Unterscheidung der offiziellen Struktur verbindlicher Verhaltenserwartungen einerseits und der informalen Anpassungen an die nachteiligen Folgen dieser Einseitigkeit andererseits. Die Ausbildung solcher adaptiven Gegenstrukturen ist jedoch dadurch erschwert, daß sie zur Illegalität verurteilt sind und in öffentlichen Kommunikationen nicht (oder nur nach schubweise erfolgten Änderungen der amtlichen Erwartungsdarstellung) eingestanden und diskutiert werden können. Eine solche Ordnung wird vermutlich durch die zunehmende soziale Differenzierung zur Sinnentleerung der offiziellen Doktrin und zu 34
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Vor allem scheint es, daß der dialektische Materialismus als offizielle Theorie der Gesellschaft den Zugang zum Problem der sozialen Differenzierung erschwert, und zwar nicht wegen des wenig aussagefähigen Materie-
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einer damit verbundenen Legitimation widerspruchsvoller Tendenzen durch nichtssagende Dachformeln geführt werden . Wenn nicht, hält sie den Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung auf. Und selbst wenn eine ausreichende Abstraktion der Ideologie gelingt, wird die Rückbildung des politischen Systems zu einem funktional-spezifischen Untersystem für verbindliche Problementscheidungen Schwierigkeiten bereiten — schon wegen der Selbsterhaltungstendenz bürokratischer Systeme' und auch deshalb, weil die öffentliche Kontrolle des Kommunikationswesens allen Problemen einen politischen und insofern entscheidungsnahen Aspekt verleiht. Der „Staat" stirbt vermutlich nicht von selbst. 35
Manche Entwicklungsländer begeben sich heute auf diesen Weg der Politisierung. Sie benutzen eine politische Bewegung — nicht selten die des Nationalismus und „Antiimperialismus" — als Hebel, um die Wandlung ihrer traditionellen in eine technisch-zivilisatorische Lebensgestaltung in Gang zu bringen; und sie versuchen, dieser Bewegung durch Politisierung des gesamten öffentlichen Lebens Nachdruck zu geben, was angesichts der unermeßlichen Schwierigkeiten einer solchen Umstellung nur allzu verständlich ist . Die Mobilisierung aller Kräfte ist nur durch das politische System zu erreichen. Andererseits besteht die Modernisierung nicht allein im Erreichen höherer Produktionsziffern und eines reicheren Massenkonsums. Im Grunde scheint das wirksamste Mittel der Entwicklung, die politische Mobilisierung der Gesellschaft, dem End36
begriffs, sondern wegen des dialektischen Entwicklungsprinzips. Die hegelsche Dialektik ist im Grunde noch der alten ontologischen Denktradition verhaftet darin, daß sie Widersprüche als unstabil ansieht und in einen zeitlichen Entwicklungsprozeß auflöst. Daher neigt diese Theorie in der Formulierung von Errungenschaften und Entwicklungszielen zu Identifikationen. Die dialektische Entwicklung absorbiert alle Widersprüche und verzehrt damit auch den Ordnungswert von Widersprüchen. Die Theorie der sozialen Diffe-
renzieTühgIst "dagegen"eine Theorie der simultanen Stabilisierung von Wider-
sprüchen.
Einen weiteren Aspekt dieser Fixierung des dialektischen Materialismus an einfache (und vorübergehende) Widersprüche hatten wir oben Kap. 2 Anm. 27 bereits gestreift: daß ihm das komplexe Problem der sozialen Differenzierung zu einem einzigen Trennprozeß zusammenschrumpft: zur radikalen Trennung von Persönlichkeitsinteressen und wirtschaftlichen Entscheidungsrechten, von deren Durchführung alles Heil erwartet wird. Auch deshalb kommt es bei allen anderen Differenzierungsproblemen zu ideologischen Identifikationen. Siehe die allgemeine Analyse dieses Vorgangs bei Dürkheim (Kap. 1 Anm. 12), insb. S. 272 ff. Siehe z. B. David E. Apter, Ghana in Transition, New York 1963. Anregungen hierzu verdanke ich auch einer hektographierten Studie von Alfred Diamant, Bureaucracy in Developmental Movement Regimes: A Bureaucratic Model for Developing Societies, Okt. 1964, die von der Comparative Administration Group der American Society for Public Administration verteilt worden ist. 35
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ziel, eine stärker differenzierte Sozialordnung zu verwirklichen, nicht angemessen zu sein. Die Faszination durch die Problematik der wirtschaftlichen Entwicklung verdeckt diese Diskrepanz; sie läßt vergessen, daß das wirtschaftliche Teilsystem der Gesellschaft nicht für sich allein ausdifferenziert und modernisiert werden kann. Die Ausbildung und Durchrationalisierung der Wirtschaft als System ist letztlich nur im Rahmen eines Fortschreitens der gesamtgesellschaftlichen Differenzierung erreichbar, und dazu gehört auch die funktionale Spezialisierung und Begrenzung des politischen Teilsystems der Sozialordnung. Vielleicht muß eine stoßkräftige Bewegung einseitig ansetzen. Aber die Gefahr ist dann groß, daß das Mittel der Politisierung zu undifferenzierten Institutionen gerinnt und daß es von einem gewissen Punkte ab dem Fortschritt zum Hindernis wird, wenn alle nicht wirtschaftlichen Aspekte des sozialen Systems undifferenziert und politisch verschmolzen bleiben. Vor diesem Hintergrund einer problembeladenen Alternative läßt sich herausheben, was es bedeutet, wenn freiheitliche Sozialordnungen durch die genannten Kommunikationsfreiheiten die Bildung komplementärer Verhaltenserwartungen in weitem Umfange gesellschaftlichen Prozessen überlassen, die zunächst als unpolitisch gelten. Durch die Freiheit der Themenwahl und der Partnerwahl wird es dem Einzelnen anheimgegeben, Ausdrucks- und Konsenschancen für seine spezifischen Auffassungen zu suchen. Er kann sich dort anschließen, wo er gehört, verstanden, gebilligt und gefördert wird, ohne schon deshalb, weil ein solcher Anschluß Meinungen intensiviert und Macht erzeugt, politisch behindert zu werden. So können zwangslos und in bunter, widerspruchsreicher Fülle Normen, Rollen und Institutionen gebildet und ausprobiert werden. Man kann versuchen, in spezifischen Sparten der Gesellschaft Rollenkomplementarität zu erreichen, ohne daß alle Erwartungen sich an einer durchgehenden Gesamtordnung legitimieren lassen müssen. Im freien Spiel der Themen- und Partnerwahlen, der Meinungsdarstellungen und Zusammenschlüsse entstehen einflußkräftige Autoritäten. Auffassungen können für fluktuierende Anhängerschaften formuliert und gegebenenfalls sogar umformuliert werden. Manche Darstellungen, etwa Pressekommentare, haben eine vermutete aber unbestimmte Resonanz; andere, etwa Verbandsmitteilungen, können wie einstimmige Äußerungen eines bestimmten Personenkreises behandelt werden. Auf Grund der gewährleisteten Kommunikationsfreiheiten kann angenommen werden, daß solche Stellungnahmen von freiem Konsens einer unbestimmten oder bestimmten Anhängerschaft getragen sind. Und deshalb haben sie im politischen Prozeß einen Machtwert, da sie mögliches Wählerverhalten indizieren. Um diesen Machtwert zu erhalten, müssen sie konsensfähig dargestellt, also suggestiv oder interessennah formuliert wer-
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den, was am einfachsten in der Form von Forderungen geschieht. Zugleich verpflichten solche Äußerungen die Anhänger auf eine nicht mehr ganz persönliche, sondern schon generalisierte Linie. So werden Gruppen auf Grund der Kommunikationsfreiheiten durch eine gewisse Darstellungsgeneralisierung politisch verhandlungsfähig. Sie können „interne" Konflikte ausgleichen und „externe" Konflikte ins Offene bringen. Das politische System muß solche Forderungen absorbieren und Konflikte lösen. Es kann mit schon artikulierten Interessen rechnen und sie zu binden suchen, verliert aber mit der Freigabe der öffentlichen Kommunikationen zugleich die Herrschaft über die Problemformulierung. Es ist damit stets in Gefahr, die Initiative zu verlieren. Und es kann die Fähigkeit zu großen Entscheidungen einbüßen. Jede Sozialordnung muß einer Vielzahl von widerspruchsvollen Anforderungen genügen. Differenzierte Sozialordnungen bringen dadurch, daß sie für besondere Bedürfnisse besondere Untersysteme bilden, diese Widersprüchlichkeit ins Offene. Und sie werden das menschliche Handeln unter diesen strukturellen Bedingungen durch Zivilisierung des Erwartens steuern müssen. Erst innerhalb dieser wichtigen Koordinaten der neuzeitlichen industriell-bürokratischen Gesellschaftsordnung gibt es Möglichkeiten unterschiedlicher Gestaltung. Die hier erörterte Problematik der Komplementarität kann mit oder ohne Kommunikationsfreiheit gelöst werden. Jede Lösung wird mit unterschiedlichen Folgeproblemen zu rechnen haben. In dem Maße, als es einer Ordnung gelingt, ihre Folgeprobleme abzuarbeiten, wird die Frage der Strukturentscheidung an Bedeutung verlieren. Wir wollen dieses Kapitel schließen mit einem Sprung zu dem scheinbar sehr andersartigen Grundrecht auf Schutz von Ehe und Familie. Ein Zusammenhang des Familiengrundrechts mit den bisher erörterten Grundrechtskomplexen Würde und Freiheit einerseits, Kommunikationsfreiheiten andererseits, ist für die Werte-Dogmatik kaum erkennbar — es sei denn in dem Sinne, daß auch dieses Grundrecht wie alle anderen als „Ausformung" der Hauptgrundrechte auf Würde, Freiheit und Gleichheit interpretiert wird . Erst die soziologische Analyse kann, die Ergebnisse der neueren Familiensoziologie heranziehend, verständlich machen, daß und inwiefern die Familie in diesen Grundrechtsbereich gehört. 37
37
Vgl. z. B. Scheffler (Kap. 5 Anm. 28), S. 267. Die Nachteile einer solchen wertharmonischen Betrachtungsweise sind hier wiederum deutlich greifbar als Verzeichnungen der Wirklichkeit. In der Wirklichkeit bestehen zwischen den Bezugswerten dieser Grundrechte, z. B. zwischen individueller Würde und Freiheit auf der einen, der Familienordnung auf der anderen Seite, häufig schwere Konflikte. Man denke etwa an den tragischen Fall, daß eine Ehefrau dem raschen beruflich-sozialen Aufstieg ihres Mannes innerlich und verhaltensmäßig nicht folgen kann und dann als sichtbares Relikt seiner Vergangenheit seine neue Würde und Freiheit belastet.
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5. Kap.:
Kommunikationsfreiheit
Die fortschreitende soziale Differenzierung hat der Familie zahlreiche Funktionen genommen, so die politischen, auf wirtschaftlichem Gebiet die produktiven, auf kulturellem Gebiet die meisten Ausbildungsfunktionen . Damit zugleich hat die Familie ihren Charakter als prominente oder gar einzige Rollenordnung der Gesellschaft eingebüßt. Dieser Funktionsverlust darf jedoch nicht als ein reines Manko, als zerstörend gedeutet werden. Ihm entspricht auf der anderen Seite ein Prozeß funktionaler Spezifikation, in welchem die Familie neue Grundlagen ihrer Stabilität findet . Im wesentlichen scheint die Funktion der Familie für die Gesamtordnung auf zwei miteinander verbundene Leistungen hinauszulaufen: auf die Fundierung einer sozialisierungsfähigen Persönlichkeit im Kleinkind und auf die Entspannung der Familienmitglieder durch ganz persönliche Selbstdarstellung im Familienkreis . 38
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Während der erste Gedanke der Kleinkindsozialisierung durch psychoanalytische Vorarbeiten gut gesichert ist, handelt es sich bei der Vorstellung der Familie als Raum für persönliche (das heißt aber nicht notwendig: ungezwungene, sich „abreagierende") Selbstdarstellung um eine relativ neue, empirisch noch zu erforschende Theorievorstellung. Ihr Kern ist die Annahme, daß eine differenzierte Gesellschaft nicht 39
Dazu besonders Helmut Schelsky, Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft, Würzburg 1957, S. 31 ff. Empirische Belege für diese Stabilität und ihre Deutung als gegenläufiger, und insofern funktional komplementärer Prozeß der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung verdanken wir Helmut Schelsky, Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart: Darstellung und Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Dortmund 1953. Die scharfe Kontrastierung von Massengesellschaft und Intimgruppe, die durch das Erhebungsmaterial der Nachkriegszeit suggeriert wurde, wird man jedoch nicht als letzte theoretische Problemfassung stehen lassen dürfen. Wir sehen die Familie weniger in der Funktion eines Gegenpols als vielmehr in ihrem funktional-spezifischen positiven Beitrag zur Gesamtordnung, der seinerseits erst erfordert, daß die Familie gegenstrukturell, nämlich als diffus-persönlich orientierte Intimgruppe, aufgebaut wird. Vgl. ferner die Erhebungen von Hilde Thurnwald, Gegenwartsprobleme Berliner Familien, Berlin 1948, und ihre Auswertung, insb. S. 181 ff. Zu diesen beiden Funktionen des „socialization" und des „tension management" vgl. Talcott Parsons/Robert F. Bales, Family, Socialization and Interaction Process, London 1956 (grundsätzlich insb. S. 16 ff.). Wertvoll auch Dieter Ciaessens, Familie und Wertsystem: Eine Studie zur „zweiten, soziokulturellen Geburt" des Menschen, Berlin 1962, der in manchen Punkten, z. B. in der für uns wichtigen Interpretation der Entspannung als „Selbstdarstellung" (S. 122 ff.) über Parsons hinausführt. In Parsons' Gesamttheorie nimmt im übrigen die Familiensoziologie den Platz ein, den wir der Persönlichkeitsbildung zugewiesen hatten. Für Parsons' Stellungnahme ist seine Theorie der Untersystembildung bestimmend, die ausschließt, daß die Einzelpersönlichkeit als Untersystem eines Sozialsystems (hier: der Gesellschaft) interpretiert wird. Wir haben jedoch Zweifel, ob die soziale Differenzierung durch eine Theorie der Untersystembildung nach Art chinesischer Kästchen angemessen und vollständig dargestellt werden kann, und fühlen uns deshalb nicht genötigt, im Rahmen einer Theorie sozialer Differenzierung nur soziale Systeme als Untersysteme zur berücksichtigen. 39
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ausreichend Gelegenheit zu rein persönlichem Auftreten gibt, da man stets nur in Speziairollen erscheint. Die Familie ist der einzige Ort, wo alle Rollen eines Menschen zusammen bekannt sind, als persönlich vermittelt dargestellt und über Anforderungen an ihn selbst sozial kontrolliert werden können. Und damit ist die Familie zugleich ein soziales System, das Entscheidungen über einen Rollenwechsel mitzutragen vermag und die Persönlichkeit insofern entlastet . 41
Diese Doppelfunktion der modernen Kleinfamilie wird durch eine einheitliche Systemstruktur erbracht (wodurch zugleich die hohe Stabilität der Familie als Institution gesichert wird, da sie nicht unter dem Gesichtspunkt einer spezifischen Funktion durch Äquivalente ersetzt werden kann). Die Familie ist ein relativ autonomes Kleinsystem auf der Basis intim-persönlicher Zuneigung . Sie rückt dadurch in den Kreis grundrechtsrangiger Einrichtungen, daß sie auf Zentralprobleme der sozialen Differenzierung bezogen ist , darin ihre spezifischen Funktionen und in diesen Funktionen ihre Stabilitätsbedingung hat. Sie muß deshalb gegen Politisierung geschützt werden, etwa dagegen, daß sie, wie im „Dritten Reich", ausschließlich unter bevölkerungspolitischen Aspekten legitimiert und geordnet wird . 42
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Gerade hierzu findet sich sehr gutes Material bei Schelsky (Kap. 5 Anm. 39). Darüber hinaus dürften Aussagen über eine typische Familienstruktur der modernen Sozialordnung sich kaum verantworten lassen. Weder sind sie logisch aus der Funktion zu folgern noch empirisch eindeutig zu belegen. Auch läßt sich die Kleinfamilie mit getrennter Haushaltsführung keineswegs exklusiv der Industriegesellschaft zuordnen. Vgl. die Warnungen von Raymond Firth und Peter Townsend in: Paul Haimos (Hrsg.), The Development of Industrial Society, Keele Staffordshire 1964, S. 65 ff. bzw. 89 ff. Wir wissen hier noch viel zu wenig und vermutlich wird eine hohe wechselseitige Strukturunabhängigkeit von Familie und Sozialordnung ein wichtiges Merkmal differenzierter Sozialordnungen bleiben. Um so vorsichtiger sollte man sein, wenn man in Art. 6 GG eine Familienverfassung hineinlegt oder eine Familienplanung herauszieht. 42
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Gute Bemerkungen über den Zusammenhang von Individualisierung (= Autonomie) des Familienlebens und sozialer Differenzierung finden sich bei G. A. Kooy, Urbanization and Nuclear Family Individualization: A Causal Connection? Current Sociology 12 (1963/64), S. 13—24, während die herrschende Diskussion sich noch ziemlich unergiebig mit den unklaren Begriffen der Verstädterung und Industrialisierung in ihren Auswirkungen auf das Familienleben herumschlägt. 44
Es sei nur an den ominösen § 53 des Ehegesetzes von 1938 erinnert, wonach ein Ehegatte wegen vorzeitiger Unfruchtbarkeit des anderen die Scheidung verlangen konnte. Ein sehr viel instruktiveres, radikaleres Gegenbeispiel ist die Einrichtung der chinesischen Kommunen, welche die Familie gänzlich dem Ziel der technischen Entwicklung unterordnet und dabei selbst an der Kleinfamilie westlicher Prägung, die sich doch als relativ industrie-adäquat erwiesen hat, vorbeizuführen sucht. Vgl. die Angaben bei Wilhelm J. Goode, World Revolution and Family Patterns, New York-London 1963, S. 270 ff. Das wird verständlich,
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5. Kap.: Kommunikationsfreiheit
Andererseits ist die Familienverfassung selbst, zum Beispiel die aktuelle Frage der Gleichordnung von Mann und Frau, kein echtes Grundrechtsproblem — ebensowenig wie entsprechende Fragen der Wirtschaftsverfassung, womit natürlich die Bedeutung dieser Verfassungsfragen nichtpolitischer Systeme in keiner Weise herabgesetzt werden soll. Das gleiche gilt für die Verwaltungsprogramme eines Familienministeriums. Der Grundgesetzgeber, der nach ganz herrschender Meinung diese Fragen in Art. 6 (vgl. auch Art. 3 Abs. 2) mitregeln wollte, hat sich juristisch wie politisch übernommen. Es ist nicht recht einzusehen, weshalb Themen dieser Art mit Verfassungsrang zementiert werden sollen . Eher enthält diese Überdehnung der Grundrechtsfunktion die Gefahr des Rückfalls in die Politisierung der Familie, indem der Familienartikel als Wohlwollensbeweis zur Rechtfertigung bzw. zur „Integration" der politischen Ordnung benutzt, die Familienförderung zu einem parteipolitischen Programmpunkt gemacht und als Motiv für Wahlentscheidungen suggeriert wird, während den wirklichen Konfliktstellen zwischen Familie und politischem System, etwa in der Frage des Wehrdienstes oder der Gefängnisverwahrung von Vätern bzw. Müttern kleiner Kinder, ausgewichen wird . 45
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Demgegenüber liegt das eigentliche Ziel des Grundrechtsschutzes in den beiden genannten Funktionen der Familie, deren eine auf die Individualisierung der Selbstdarstellung, deren andere auf die Zivilisierung der Verhaltenserwartungen bezogen ist. Geschützt wird die Familie einmal als Bereich der persönlichen Selbstdarstellung, als Ort der Ausdrucksübung, der Selbst-Vergewisserung, als Umkleideraum für die verschiedenen sozialen Rollen, die man mit individuellem Geschmack und persönlichem Stil nur übernehmen kann, wenn man irgendwo Gelegenheit hat, sich selbst in allen Rollen darzustellen und ratifizieren zu lassen. Zum anderen dient die Familie der Vorbereitung zivilisatorischer Lern- und Rollenfähigkeit, indem sie dem Kleinkind die Möglichkeit gibt, eine Persönlichkeit auszubilden und einen Bestand an Werthaltungen zu fragloser Selbstverständlichkeit einzuverseelen — eine wenn man bedenkt, gegen welche Familientradition sich die industrielle Revolution in China durchzusetzen hat. Siehe dazu auch C. K. Yang, A Chinese Village in Early Communist Transition, Cambridge Mass. 1959. Sehr instruktiv sind in diesem Zusammenhang die von Scheffler (Kap. 5 Anm. 28) berichteten Zahlen, wonach von 250 auf Art. 6 GG gestützten Verfassungsbeschwerden bis damals nur zwei erfolgreich (und 25 noch nicht entschieden) waren, die überdies das gleiche Problem betrafen — ein deutlicher Beweis dafür, wie stark Art. 6 die juristische Phantasie überreizt. Frau Scheffler, sonst durchaus familienfreundlich, hält es z. B. für „abwegig" (Kap. 5 Anm. 28), S. 280, im Hinblick auf Art. 6 GG auf die Familie von Strafgefangenen Rücksicht zu nehmen, selbst wenn es nur um die Wahl des Strafvollzugsortes geht. Sehr zurückhaltend auch Ingo von Münch, Die Grundrechte des Strafgefangenen, Juristenzeitung 13 (1958), S. 73—76 (75). 45
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Kommunikationsfreiheit
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Basis, von der aus alle späteren Lern- und Anpassungsleistungen vorgenommen, aber auch limitiert werden. Das Familiengrundrecht läßt sich mithin weder dem Themenkreis des vorigen Kapitels, noch diesem Kapitel allein zuordnen. Es hat seine Auszeichnung darin, daß es den Bezugsproblemen beider Kapitel dient.
Sechstes
Kapitel
Die Monetisierung der Bedarfsdeckung: Eigentum und Beruf Jeder Mensch ist ständig darauf angewiesen, zur Befriedigung von Bedürfnissen über Sachen (oder über Menschen wie über Sachen) verfügen zu können. Das gilt für Bedürfnisse jeder Art, mögen sie lebenswichtig sein oder nur in Form von mehr oder weniger leicht verzichtbaren Wünschen auftreten. Die gesellschaftliche Ordnung der Kommunikationen, welche diese Verfügungen regulieren, wollen wir „Wirtschaft" nennen und in diesem Kapitel sie in ihrem Zusammenhang mit der Institution der Grundrechte behandeln. Wir beziehen den Begriff Wirtschaft mithin nicht, wie es oft und besonders im alltäglichen Sprachgebrauch geschieht, auf eine besondere Art von menschlichen Bedürfnissen (zum Beispiel „materielle" Bedürfnisse) und erst recht nicht auf eine besondere Art von Werten, denn die Abgrenzung solcher spezifisch wirtschaftlicher Bedürfnisse, Werte oder Zwecke bereitet zu große Schwierigkeiten. Und weil diese Abgrenzung nicht gelingt, kann das Eigentümliche des Wirtschaftlichen auch nicht im Instrumentalen oder allgemeiner: in der zweckmäßigen Handlungsrationalität liegen . Jedes menschliche Bedürfnis, das heißt: jedes erlebte Motiv, Sachen zu benutzen, kann wirtschaftlich relevant werden. Ein „immaterielles" Bedürfnis stellt zuweilen — wenn es sich etwa darum handelt, den Sonnenuntergang vom Pincio aus zu erleben — sehr viel schwierigere wirtschaftliche Probleme als ein einfaches Abendessen. Das Wirtschaftliche an solchen Vorgängen sehen wir nicht in dem Be1
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Zur Kritik dieser Auffassung vgl. Lionel Robbins, An Essay on the Nature and Significänce of Economic Science, 2. Aufl. London 1952, S. 4 ff. Wirtschaftswissenschaftliche Theorien wie z. B. die von Robbins (Kap. 6 Anm. 1), die sich bei der Abgrenzung ihres Gegenstandes allein am Zweck/ Mittel-Schema und gewissen formalen Prämissen über eine Wertordnung orientieren, haben daher die Tendenz, in eine allgemeine Entscheidungslogik auszumünden. Vgl. dazu Hans Albert, Marktsoziologie und Entscheidungslogik: Objektbereich und Problemstellung der theoretischen Nationalökonomie, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 114 (1958), S. 269—296. Siehe auch ders., Die Problematik der ökonomischen Perspektive, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 117 (1961), S. 438—467 (441 ff.). 2
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dürfnis selbst und auch nicht im rein physischen Vorgang des Verbrauchs oder im technologischen Aspekt der Produktion, sondern darin, daß der Sachaufwand, der zur Bedürfnisbefriedigung notwendig ist, Kommunikationen erfordert, welche nach einer bestimmten Ordnung die Verfügung über Sachen regeln. Wir schließen damit alle Probleme der Bedarfsbefriedigung, die auch ein Robinson zu lösen hätte, aus unserem Begriff der Wirtschaft aus . 3
Letzter Grund dafür, daß zur Verwendung von Sachen aktuelle oder potentielle Kommunikationen erforderlich sind, ist die Seltenheit geeigneter Sachen. Dieser Mangel strukturiert soziale Situationen im Hinblick auf Möglichkeiten des Kampfes um Sachen oder der Kooperation an Sachen und suggeriert schließlich jene geniale Erfindung der kooperierenden Konkurrenz: den Tausch. Konkurrenz-, Kooperations- und Tauschsituationen haben eine Kommunikationsstruktur, die durch Institutionalisierung von Verhaltenserwartungen so geregelt werden kann, daß mehr und mehr Bedürfnisse befriedigt werden können. Gewisse Formen des Kampfes werden ausgeschlossen, so daß Vorratsbildung, langfristig berechenbarer Sachbesitz, schließlich Kapitalbildung möglich werden; Kooperation wird geplant, schließlich langfristig arbeitsteilig organisiert; der Tausch wird durch Verwendung indirekter Tauschmittel, schließlich Geld, aus der Abhängigkeit von Situationen, in denen sich zufällig passende Bedürfnislagen und Befriedigungschancen unmittelbar gegenüberstehen, befreit. In diesem Entwicklungsprozeß schälen sich Institutionen heraus, die sich besonders dazu eignen, soziale Kommunikationen in Richtung auf ein Höchstmaß an Bedarfsbefriedi3
Damit also auch jede Art von einsamer Urproduktion, die es heute wohl nur noch in der Form des Angel- und Jagdsports gibt (und selbst hier setzt der Zugang zu solchem Handeln heute einen erheblichen wirtschaftlichen Aufwand voraus). Wollte man solches Handeln in den Begriff des wirtschaftlichen Handelns einschließen, müßte man eine engere Gruppe von Bedürfnissen als Definitionsmerkmal verwenden. Auch der von Weber (Kap. 5 Anm. 18), S. 31 ff. und S. 199 ff., versuchte Ausweg, jedes an knappen Verwendungsmöglichkeiten orientierte Handeln wirtschaftlich zu nennen, überzeugt letztlich nicht, da der Begriff der Knappheit, sofern er nicht so etwas wie Sonnenfinsternis als Gegenstand der Erbauung und Belehrung einbeziehen soll, entweder im Hinblick auf bestimmte Bedürfnisse oder im Hinblick auf soziale Konkurrenz und Befriedigungschancen präzisiert werden müßte. Wir verwenden den Knappheitsbegriff daher im folgenden nicht zur Bezeichnung einer Orientierung des Handelns (und in diesem Sinne als definierendes Merkmal der Wirtschaft), sondern nur zur Erklärung der Tatsache, daß Sachverwendung so gut wie unvermeidlich aktuelle bzw. potentielle Kommunikationen voraussetzt. Ob ein solcher Ausschluß der einsamen Urproduktion für eine Theorie des rationalen Wirtschaftens erträglich ist, steht hier nicht zur Debatte. (Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit dem „Robinson-Crusoe-Modell" bei John v o n N e u m a n n / O s k a r M o r g e n s t e r n , Spieltheorie u n d w i r t s c h a f t l i c h e s V e r h a l -
ten, Dt. Übers, der 3. Aufl. Würzburg 1961, S. 9 ff.) Für eine Soziologie der Wirtschaft liegt darin nicht nur kein Opfer, sondern eine Notwendigkeit.
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6. Kap.: Eigentum und Beruf
gung zu steuern. Die Gesellschaft bildet funktional-spezifische Wirtschaftsinstitutionen, schließlich ein funktional-spezifisches Untersystem der „Wirtschaft" aus, das in mancher Beziehungen autonomen Verhaltensgesetzen folgt. Die Auffassung der Wirtschaft als Kommunikationsstruktur der Bedarfsbefriedigung läßt verständlich werden, daß der wirtschaftliche Aspekt des Handelns zunächst mit familiären, religiösen, rechtlichen und politischen Rollenaspekten in einem institutionalisiert ist . Die Institutionalisierung erfolgt im Hinblick auf Nahziele der Besitzsicherung und der kooperativen Produktion. Sie bedient sich dabei familiärer und politischer Bindungen. Ihre normative Vorstellungswelt läßt sich nicht einseitig als religiös, moralisch oder rechtlich beschreiben; sie ist all dies zusammen. Erst die Erfindung und Ausbreitung eines spezifisch wirtschaftlichen Mediums der Kommunikation, des Geldes, erlaubt es, die Wirtschaft für sich zu systematisieren. Sie wird relativ autonom dadurch, daß sie das Kommunikationsmittel Geld als „technical Substitute for god" zu ihren Systemprinzip macht. 4
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Durch Institutionalisierung des Kommunikationsmediums Geld wird das elementare Existenzproblem des Menschen in ein Knappheitsproblem umdefiniert. Es wird aus dem Horizont der Natur, wo es vordem als Ungewißheit des Erfolgs, als feindliches Naturereignis, als Versagen von Hilfsmitteln usw. erschien und in dieser Form zugleich religiös erlebt wurde, herausgenommen und in die Gesellschaft verlegt. Wirtschaftliche Knappheit ist jetzt ausschließlich Knappheit von Geld, dessen Gesamtsumme als konstant institutionalisiert ist . Dadurch wird das Problem der Ungewißheit der Bedarfsbefriedigung prinzipiell gelöst. Das menschliche Handeln der Güterbeschaffung und des Verbrauchs wird an Geldknappheit orientiert und insofern aus dem persönlich-individuellen Motivationskontext herausgenommen. Trotz sehr verschiedenartiger Rollenverflechtungen und Motivationsstrukturen wird das Handeln im wirtschaftlichen Kontext dadurch auf einen Nenner gebracht und berechenbar . In den Rollen des Wirtschaftssystems handelt der 6
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Siehe als Belege aus der kulturanthropologischen Forschung z. B. Bronislaw Malinowski: Argonauts of the Western Pacific, London 1922; Raymond Firth, Economics of the New Zealand Maori, 2. Aufl. Wellington, New Zealand, 1959; ders., Primitive Polynesian Economy, London 1939; ders., Malay Fishermen: Their Peasant Economy, London 1946 (insb. S. 24 ff.). So Kenneth Burke, A Grammar of Motives (Meridian Books Ausgabe), Cleveland-New York 1962, S. 108 ff. Als Parallelvorgang haben wir die Institutionalisierung der Zeitrechnung (oben S. 91 f.) bereits kennengelernt. Im politischen System hat die Institutionalisierung von Machtsummenkonstanzen eine entsprechende Funktion. Dazu unten S. 151. Insofern hatte die klassische Wirtschaftstheorie ein gewisses Recht, für ihr Modell des rationalen Wirtschaftsmenschen empirische Geltung zu be5
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Mensch nach dessen Systembedingungen. Durch solche Ausdifferenzierung der Wirtschaft wird mithin ein Rollensystem für rationales — sei es kooperierendes, sei es konkurrierendes — Verhalten geschaffen, mit dessen Hilfe Bedürfnisse insgesamt wirksamer befriedigt werden können. Geld ist die Abstraktion der in einer Gesellschaft vorhandenen Tauschchancen. Diese Abstraktion ermöglicht eine quantitative (und insofern durchaus künstliche) Aufteilung und bindende Verteilung der Gesamtchancen nach bestimmten Regeln. Dadurch erhält das Geld die charakteristische Struktur und Funktion einer Sprache, indem eine allgemeine Ebene der Sinndefinitionen und Verwendungsregeln sich abheben läßt von den konkreten, an ihr orientierten Kommunikationshandlungen . Das Geld kann so die bekannte Doppelfunktion als Wertmesser und als Tauschmittel erfüllen. Es bleibt als Tauschmittel ein Hilfsmittel der Bedarfsbefriedigung, wird aber zu einer indirekten Chance abstrahiert und dadurch ein Standard normativer Kontrolle, Regulierung und Verteilung von Werten. Während die bedarfsnahen Befriedigungsmittel wie Konsumartikel oder Werkzeuge allein von ihrem Zweck her gesteuert werden können, wird das Mittelpotential durch Umdenken in Geld systemmäßig regulierbar. Damit tritt eine Ablösung von den alten Formen ethischer Handlungssteuerung ein: Das Geld ist ein zweckindifferentes, wertneutrales, aber in sehr empfindlicher Weise systemabhängiges Mittel . Auch insofern wird die Wirtschaft durch Geld zum System. 8
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Wenn das Geld als Spezialsprache richtig institutionalisiert — und heute muß man sagen: organisiert — ist, garantiert es eine hohe Sicherheit im abstrakten Wertbesitz, im Zugang zu noch unbestimmten Tauschchancen, mit denen man „rechnen" kann, ohne die getauschten Leistungen, Tauschpartner, Orts- und Zeitumstände und Tauschbedingungen zu kennen. Bedürfnisse und Leistungsfähigkeiten brauchen sich anspruchen. Ihr Recht bleibt jedoch relativ auf eine sozial durchgeführte Rollentrennung. Es deckt zudem nur die Vernachlässigung individueller und außerwirtschaftlicher Motivationsunterschiede, nicht jedoch die Überforderung menschlicher Wissens- und Rechenkapazitäten, die für die klassische Theorie kennzeichnend ist. Zur Institutionalisierung des Eigeninteresses als Rollenrequisit des Wirtschaftssystems und zur Neutralisierung (nicht: Aufhebung!) der Unterschiede persönlicher Motivierung, die dadurch eintritt, vgl. auch Talcott Parsons, Die Motivierung des wirtschaftlichen Handelns, in: ders., Beiträge zur soziologischen Theorie, Dt. Übers. Neuwied — Berlin 1964, S. 136—159. Diese wichtige Einsicht ist Talcott Parsons zu verdanken. Vgl. Parsons (Kap. 1 Anm. 12 —1961—), S. 51 f., 66 und (Kap. 3 Anm. 9), S. 38 ff. Auch in dieser Hinsicht besteht eine genaue Parallele zum Umdenken der physischen Zwangsgewalt in legitime Macht, auf das wir unten S. 139 ff. näher eingehen werden. 8
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nicht mehr ad hoc gegenüberzutreten. Tauschchancen können deshalb ohne Rückkehr auf Bedürfnisse oder Leistungsfähigkeiten als „Kapital" akkumuliert werden. Die Kommunikationschance Geld wird als solche Gegenstand von Kommunikationen über mögliche Kommunikationen. So lassen sich in zunehmender Abstraktion die organisatorischen Vorteile der Indirektheit gewinnen. Diese Abstraktion des Wirtschaftspotentials wirkt sich nicht nur in der Einrichtung immer größerer und indirekter tauschender „Märkte" aus, durch welche die Wirtschaft sich als Kommunikationssystem verselbständigt . Sie ermöglicht weiter dadurch, daß sie ein abstraktes Motivationsmittel zur Verfügung stellt, den Aufbau großer Produktions-, Dienstleistungs- und Verwaltungsorganisationen. Da Geld die Bedürfnisstruktur nivelliert und zeitunabhängig macht — Geldbedarf ist in diesem Sinne ein „chronischer" Mangel —, kann durch Geld zu regelmäßiger, von aktuellen Bedürfnissen unabhängiger Arbeit motiviert werden . Da außerdem Geld nicht nur chronischer Mangel, sondern zugleich auch jederzeit vorhandene Kaufkraft des Marktes ist, können solche Großbetriebe „für den Markt" statt nur für konkret erlebte oder mitgeteilte, situationsgebundene Bedürfnisse produzieren und ihr Verhalten durch Voraussicht relativ gleichmäßiger Absatzchancen langfristig rationalisieren. Das Geldwesen gleicht die/5§Eu¥punktabhängigkeit menschlicher Bedürfnisse aus. Dadurch ist es möglich geworden, die moderne Naturwissenschaft in den Dienst der Güterproduktion zu stellen, was seinerseits wieder dazu beigetragen hat, daß nahezu alle Gegenstände des menschlichen Bedarfs käuflich geworden sind und ständig erneuert werden müssen. Die gesamte g^ehsphäre, v. Grundbesitz eingeschlossen, wird mitsamt dem menschlichen Arbeitshandeln von der wirtschaftlichen Kommunikationsstruktur her monetisiert. Geld wird zum Symbol des Nutzens schlechthin, und alle wirtschaftliche Relevanz läßt sich in ihrem Wesen als Geldsumme ausdrücken. 10
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Ihren vorläufigen Abschluß scheint diese Ausdifferenzierung der Wirtschaft durch Institutionalisierung des Geldmechanismus darin zu finden, daß man die Vorstellung und Behandlung der Geldsymbole als Tauschgut mit eigenem Wert zumindest auf der Ebene des Gesamtsystems aufgibt. Was wir schon bei der Erörterung des Übergangs vom 10
Vgl. Karl Polanyi/Conrad M. Arensberg/Harry W. Pearson, Trade and Market in the Early Empires, Glencoe III. 1957, eine Studie, die auch sonst für die Zusammenführung der Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie bedeutsame Anregungen gibt. Siehe dazu auch Neil J. Smelser, A Comparative View of Exchange Systems, Economic Development and Cultural Change 7 (1959), S. 173—182. 11
Siehe ausführlicher Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 93 f.
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Naturrecht zum positiven Recht gesehen hatten , gilt auch hier: Wertannahmen bedeuten stets eine Bindung an Vorgegebenes und insoweit einen Verzicht auf rationale Beherrschung. Erst durch Aufhebung der Vorstellung eines Eigenwertes der Geldsymbole wird das Geldwesen zum rational — aber natürlich nicht beliebig! — variierbaren Steuerungsmittel der Wirtschaft, und damit gerät sein „Wert" und seine Funktion in die Abhängigkeit von staatlichen Entscheidungen. Die Wirtschaft läßt sich — eine Einsicht, die seit Keynes zum unverlierbaren Besitz der Wirtschaftswissenschaft gehört — auf diese Weise als System auf sehr genereller Ebene steuern, ohne daß dazu unmittelbare Eingriffe in die konkreten Rollenstrukturen, Sachgüterverteilungen oder Rechtsansprüche erforderlich sind. Dieser notgedrungen kurze Abriß der Entwicklung der Wirtschaft zu einer besonderen Kommunikationsstruktur der Gesellschaft mußte vorausgeschickt werden , damit wir die Problematik des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft und die Funktion gewisser Grundrechte in bezug auf diese Problematik näher erläutern können. 13
Staat und Wirtschaft geraten dadurch, daß sie sich als Handlungssysteme durch spezifische Kommunikationsweisen in der Sozialordnung herausspezialisieren und verselbständigen, in ein problematisches Verhältnis wechselseitiger Interdependenz, das auf zwei verschiedenen Ebenen der Abstraktion betrachtet werden kann. Auf der Ebene spezifischer Leistungen ist die Staatsbürokratie auf Geldzahlungen bzw. auf mit Geld bezahlbare Sachleistungen der Wirtschaft angewiesen . Das Geldwesen löst hier die alten Grundlagen der Rekrutierung politischer Mittel: Zwang und Treue, ab. Es tritt als generalisiertes Medium an die Stelle partikularer Beziehungen mit der Folge, daß die Inanspruchnahme für politische Zwecke weniger Rollenkonflikte verur14
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Vgl. oben S. 40. Vgl. auch Eduard Heimann, Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme, Tübingen 1963, der unter „Wirtschaftssystem" jedoch nicht nur die gesellschaftlich emanzipierte Wirtschaft versteht, sondern zugleich einen Primat der Wirtschaft voraussetzt in dem Sinne, daß von ihr her die obersten Werte der Gesellschaft bestimmt werden. Dahinter steckt die interessante, aber schwer zu beweisende Hypothese, daß die Wirtschaft durch ihre Autonomsetzung notwendigerweise (?) den gesellschaftlichen Primat erhält, weil ihre Autonomsetzung es ihr erlaubt, über wirtschaftliche Überschüsse selbst, und das heißt: zum Zwecke der Kapitalakkumulation, zu verfügen. Zu den Krisen des politischen Systems, die unvermeidlich sind, wenn in der Gesellschaft nicht ausreichend disponibles Kapital vorhanden ist, vgl. Eisenstadt (Einf. Anm. 10). Es muß im übrigen Kapital nicht nur vorhanden sein, es muß auch „umlaufen", da es ohne Bewegung steuertechnisch kaum zu fassen ist. Das rationale Steuerwesen des modernen Staates knüpft primär an Zahlungsvorgänge an. Vgl. hierzu auch die immer noch lesenswerte Studie von Joseph A. Schumpeter, Die Krise des Steuerstaates (1918), neu gedruckt in: ders., Aufsätze zur Soziologie, Tübingen 1953, S. 1—71. 13
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sacht . Die Wirtschaft ihrerseits bezieht vom Staat verbindliche Problementscheidungen, vor allem — aber nicht nur — die Rechtsentscheidungen und Vollstreckungsentscheidungen der Staatsbürokratie und all jene Entscheidungen, welche die Einrichtung des Geldwesens selbst betreffen . Diese wechselseitige Leistungsbereitschaft von Wirtschaft und Staat läßt sich jedoch nicht als „Tausch" motivieren. Die Unabhängigkeit, Sachlichkeit und Neutralität der staatlichen Problementscheidung mit ihren wichtigen Vorzügen beruht ebenso wie die Rationalität des Wirtschaftsbetriebes darauf, daß das Entscheiden von fallweise gegebenen Tauschchancen unabhängig gemacht wird. Einzeltauschrelationen mit ihrer Konsequenz: daß die Staatsentscheidung vorgenommen oder abgelehnt wird je nach dem, wer was dafür bietet, würden die Umwelt für den Staat wie für die Wirtschaft derartig verunsichern, daß keine rational arbeitenden Großorganisationen aufgebaut werden könnten . Die Interdependenz von Staat und Wirtschaft kann deshalb nicht tauschförmig organisiert werden. Sie muß ihre Handlungsmotive und ihre Rationalität aus Systemzusammenhängen gewinnen, die je für sich leistungsspezifisch eingerichtet und als System generalisiert sind, aber als solches von ihrer Umwelt abhängig bleiben. Die Handlungsinterdependenzen hochdifferenzierter Sozialordnungen 16
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Man kann sich diese Entspannungswirkung veranschaulichen, wenn man an den Grenzfall denkt, in dem die Finanzierung des Staates versagt: die militärische Dienstpflicht. Hier sind noch all die Probleme des Konflikts zwischen politisch bedingten Anforderungen und Familenrollen, Berufsausbildungsrollen, wirtschaftlichen Rollen und individuell-persönlichen Einstellungen ad hoc zu lösen bzw. ungelöst zu ertragen. Siehe hierzu besonders die Untersuchungen Max Webers über die Entwicklung des Kapitalismus unter dem Schutze einer bestimmt gearteten (formalen und rationalen) staatlichen Rechtsverwaltung; Wirtschaft und Gesellschaft (Kap. 5 Anm. 18), S. 181 ff., 387 ff., und Wirtschaftsgeschichte, München — Leipzig 1923, S. 289 ff. Wegen dieser Abhängigkeit des Geldwesens von Staatsentscheidungen konnte man unter rein rechtlichen Gesichtspunkten eine „Staatliche Theorie des Geldes" aufstellen. Vgl. die unter diesem Titel veröffentlichte berühmte Arbeit von Georg F. Knapp, Leipzig 1905. Aber das sagt natürlich sehr wenig über die komplexen Kräfte, welche die Funktionsfähigkeit des Geldwesens faktisch bestimmen. Genannt seien nur: (1) die abstrakte Programmierbarkeit (= rationale Begrenzung des Informationsbedürfnisses); (2) Berechenbarkeit für die Umwelt (= Ermöglichung von Systembildungen in der Umwelt); (3) bestmögliche Chancen der Anerkennung als legitim (= Entlastung des staatlichen Zwangsapparates). Ein lebendes Exempel dafür bieten wiederum manche Entwicklungsländer mit ihrer Korruptionsproblematik, die aus manchen Gründen schwer zu lösen ist — nicht zuletzt deshalb, weil das Tauschverhalten als Prototyp rationalen Handelns institutionalisiert ist und für stärker generalisierte Formen der Systemrationalität wenig Verständnis, geschweige denn Rollenkomplementarität vorhanden ist. Vgl. etwa Ralph Braibanti, Ref lections onBureaucratic Corruption, Public Administration 40 (1962), S. 357—372; Riggs (Einf. Anm. 10), insb. S. 98 ff. 16
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werden durch sehr indirekt wirkende Systeminterdependenzen vermittelt. Aus diesem Grunde sind zum Verständnis des Leistungszusammenhanges von Staat und Wirtschaft, wie schon angedeutet, zwei Ebenen der Abstraktion erforderlich: Nicht nur in ihren Einzelleistungen, sondern auch als Systeme sind Staat und Wirtschaft voneinander abhängig. Sie müssen daher im Verhältnis zueinander nicht nur Leistungen erbringen, sondern außerdem eine Politik des Respektes vor dem Generalisierungsprinzip der anderen Seite treiben . 20
Die Wirtschaft muß, will sie nicht ihre Systeminteressen ihren unmittelbaren Interessen opfern, die politischen Prozesse der Bildung legitimer Macht, welche die verbindlichen Entscheidungen des Staates trägt, respektieren. Sie muß das darin enthaltene Prinzip der Interessengeneralisierung achten und nicht der Versuchung nachgeben, welche ihre dezentralisierte Entscheidungsstruktur nahelegt: durch Sondertausch spezifische Vorteile herauszuwirtschaften. Sie muß, mit anderen Worten, ihre Interessen so anmelden, daß der Staat die politische und juristische Verantwortung für eine Entscheidung tragen kann. Der Staat seinerseits muß die Funktionsbedingungen des Kommunikationsprinzips der Wirtschaft, des Geldwesens, beachten. In bezug hierauf läßt sich einiges über die Funktion der wirtschaftlichen Grundrechte, besonders des Eigentumsschutzes, ausmachen. Diese Funktion verdichtet sich freilich nicht zu einer förmlichen „Wirtschaftsverfassung". Wenn man unter Verfassung eine positiv gesetzte Normordnung versteht, welche die strukturwichtigen Verhaltensregeln eines Handlungssystems bindend vorschreibt, so kann man kaum annehmen, daß das wirtschaftliche Teilsystem der Gesellschaft durch eine Verfassung geordnet sei . Das Systemprinzip der Wirtschaft ist das Geld. Das Geld bedarf nicht im gleichen Sinne einer Verfassung wie das Systemprinzip des politischen Systems: die Macht, weil es ein Einfluß21
20 Vorgreifende Formulierungen dieser. Einsicht finden sich sowohl bei Eisenstadt (vgl. Anm. 14) als auch bei Weber (vgl. Anm. 16) insofern, als Eisenstadt die Differenziertheit des wirtschaftlichen Sektors (also eine Systemqualität) als Vorbedingung der Autonomie des politischen Systems, Weber dagegen die Rationalisierung der rechtsförmlichen Entscheidungstätigkeit des Staates (und das ist ebenfalls eine Systemqualität) als Vorbedingung der Entwicklung des modernen kapitalistischen Wirtschaftssystems unterstreicht. Andere Verfassungsbegriffe ermöglichen andere Stellungnahmen. Wenn man mit Krüger (Kap. 2 Anm. 4), S. 575 f. dem normativen einen faktischen Verfassungsbegriff entgegensetzt, der „eine gewisse Gleichmäßigkeit, Stetigkeit und Regelmäßigkeit des Wirtschaftens einer Gruppe" meint, hat natürlich jede Wirtschaft eine Verfassung. In diesem Sinne spricht auch die wirtschaftswissenschaftliche Literatur häufig von Wirtschaftsverfassungen. Vgl. z. B. Herbert von Beckerath, Politische Wirtschaftsverfassung, Schmollers Jahrbuch, Festgabe für Werner Sombart, 1932, S. 258—276. 21
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mittel ist, das grundsätzlich Konsens im Einzelfall voraussetzt und daher nicht gebunden werden muß. Sicher ist, das haben wir gesehen, das Geldwesen von staatlichen Problementscheidungen abhängig; dies aber nicht in dem Sinne, wie das politische System eine eigene Verfassung voraussetzt, sondern in dem Sinne, wie jedes funktional-spezifische Teilsystem der Gesellschaft Leistungen anderer Teilsysteme voraussetzen muß. Man würde diesen wesentlichen Unterschied verwischen, wollte man die Problementscheidungen der Staatsbürokratie, welche die Wirtschaft auf jeder Rangebene der Wichtigkeit hinnehmen muß, als „Verfassung" der Wirtschaft bezeichnen . Wir werden deshalb den ohnehin umstrittenen Begriff der „Wirtschaftsverfassung" meiden , ohne damit die absurde Position zu beziehen und anzunehmen, daß die Wirtschaft keiner eigenen Ordnung bedürfe oder daß sie ohne Hintergrundsicherung durch verbindliche Staatsentscheidungen funktionieren könne. 22
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Im Grundrechtsteil, aber auch sonst im Grundgesetz, wird man denn auch nach Vorschriften, welche die Kommunikationsstruktur der Wirtschaft, das Geldwesen, konstituieren und in diesem Sinne „verfassen", vergeblich suchen . Der Sinn des Eigentumsschutzes und anderer geldwerter Freiheitsrechte liegt nicht darin, das Geldwesen zu begründen — so wenig wie der Würdeschutz das Gelingen von individuellen Selbstdarstellungen oder die Kommunikationsrechte die Zivilisierung des Erwartens gewährleisten konnten. Die Funktion der Grundrechte besteht hier wie in den zuvor behandelten Fällen (und in auffälliger Parallele 24
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Verwischend ist z. B. die Frage von Krüger (Kap. 2 Anm. 4), S. 579: „Soll der Staat sich eine Wirtschaf tsverfassung geben?" (Hervorhebung von mir). Schuld an dieser Unklarheit ist der klassische deutsche Staatsbegriff, der verhindert, daß das politische System als gleichrangiges Untersystem der Gesellschaft neben der Wirtschaft gesehen wird. Vgl. dazu Ernst Rudolf Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht, Bd. I Tübingen 1953, S. 20 ff.; ders., Der Streit um das Wirtschaftsverfassungsrecht, Die öffentliche Verwaltung 9 (1956), S. 97—102, 135—143, 172—175, 200—207; Ulrich Scheuner, Die staatliche Intervention im Bereich der Wirtschaft, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 11 (1954), S. 1 bis 74; Kurt Bailerstedt, Wirtschaftsverfassungsrecht, in: Karl August Bettermann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte Bd. III, 1 Berlin 1958, S. 1—90; Walter Leisner, Grundrechte und Privatrecht, München 1960, S. 178 ff.; Hans C. Nipperdey, Soziale Marktwirtschaft und Grundgesetz, 2. Aufl. Köln — Berlin — München — Bonn 1961; Krüger (Kap. 2 Anm. 4) S. 575 ff. und besonders die kritische Würdigung der bisherigen Kontroversen durch Ehmke (Einf. Anm. 13 — 1961 —), S. 7 ff. 23
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Nipperdey (Kap. 6 Anm. 23) kann nur deshalb die „Verfassung" der Wirtschaft dem Grundrechtsteil, besonders dem Freiheitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG entnehmen, weil er sich die Vorstellung der Wirtschaft mit Hilfe des Reklamebegriffs der „sozialen Marktwirtschaft" vereinfacht. In Wirklichkeit "sTncTes aber nicht die Grundrechte, die Staat und Wirtschaft trennen und die Wirtschaft dadurch „verfassen", sondern die divergierenden Prinzipien der ) Kommunikationsgeneralisierung: Geld und politische Macht. Die Grundrechte • dienen nur der Aufrechterhaltung dieser Trennung gegen Gefahren, die sich aus der Trennung selbst ergeben.
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zu ihnen) lediglich darin, die soziale Differenzierung, das heißt: die verschiedenen Generalisierungsrichtungen der Kommunikationsstruktur, in ihrer Unterschiedlichkeit zu erhalten gegen Tendenzen zu simplifizierender Verschmelzung, die vom politischen System (wie natürlich auch von anderen Teilsystemen der Gesellschaft) zu erwarten sind. Die Gefährdungen, die vom politischen System für das autonome Funktionieren der wirtschaftlichen Kommunikationen ausgehen, sind aus mehreren Gründen besonders intensiv. Die Staatsbürokratie kann durch ihre Kompetenz zu verbindlichen Entscheidungen die Wirtschaft stark beeinflussen. Sie kann so weit gehen, den gesamten Produktionssektor der Wirtschaft zu verstaatlichen und den Konsum jedenfalls pauschal über Produktion und Löhne zu steuern. In dem Maße, als dies geschieht, wird der Wirtschaft eine andersartige Motivationsstruktur substituiert, die im Prinzip auf Teilnahmebedingungen und staatsinternen Machterwägungen beruht und das Geld nur noch in der spezifischen Funktion von Blankobezugsscheinen verwendet. Auch wenn man diesen Weg nicht oder nicht konsequent geht, wird das politische System bei seinen Entscheidungen typisch andersgerichtete Zweck/Mittel-Relationen und andere Zeithorizonte im Auge haben als die Wirtschaft und daher dazu neigen, nicht marktkonform zu entscheiden (z. B. zu beschlagnahmen statt zu kaufen). So zwingt die Unzuverlässigkeit der Bürokratie in dieser Hinsicht die Wirtschaft mancher Entwicklungsländer zum Beispiel zu unrationell kurzfristigen Planungen, etwa: enorm hohe Gewinne in kurzer Zeit zu suchen und dem Geschäft zu entziehen, was die kapitalbildende Funktion des Geldes lähmt. Schließlich ist zu beachten, daß die Staatsbürokratie selbst durch das Volumen an Geld und geldwerten Gütern, das sie beherrscht, ein mächtiger — und zwar bei weitem der mächtigste — Wirtschaftspartner ist. Ihr Umgang mit Geld kann in der Wirtschaft daher systemrelevante Folgen haben, die nicht aufgefangen und neutralisiert werden können. Ihr Wirtschaftspotential ist so groß, ihre Fähigkeit zu zentralisiertem Entscheiden mit entsprechend massiven Auswirkungen so folgenreich, daß sie es sich nicht erlauben kann, wie andere Wirtschaftssubjekte Geld einfach als Mittel zum Zweck zu behandeln. Die Charakterisierung eines Kausalfaktors als „Mittel" besagt nämlich nichts anderes- als eine Reduktion des Werthorizontes, als eine Ausrichtung auf einen spezifischen Zweck unter Ausschaltung anderer Wertaspekte der Folgen des Handelns . Eine solche Folgenneutralisierung kann ein Handelnder sich nur in einem bestimmten institutionellen Rahmen leisten. Im Bereich der Wirtschaft garantiert eben die Institution des Geldes diese Möglichkeit, Geldsymbole normalerweise als reine Mittel zu verwenden. Diese 25
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Vgl. dazu oben S. 87.
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Rahmengarantie des Alltagshandelns tritt jedoch außer Kraft, wenn das Handeln die Institution selbst tangiert, wenn die Schwelle kompensierbarer Einwirkungen auf das Wirtschaftssystem als System überschritten wird. Dieses Überschreiten kann durch „zufällige" Auswirkungen des Handelns Einzelner geschehen — die bekannte Konjunkturproblematik —, aber auch als Folge massiv „unwirtschaftlicher" Mittelverwendung durch das politische System . 26
Das politische System darf mithin bei seinem Umgang mit Geld die Funktion des Geldes im System der Wirtschaft nicht außer acht lassen. Es hat, ob es will oder nicht, durch seine Entscheidungskompetenzen und sein Wirtschaftspotential eine Verantwortung nicht nur für sparsamen Mitteleinsatz (also: minimale Anforderungen an die Wirtschaft), sondern darüber hinaus auch für die zentrale, systembildende Institution der Wirtschaft, für das Geld. Diese Verantwortung impliziert, daß der Staat das Geld nicht lediglich als Mittel der Bedarfsbefriedigung, sondern auch als hochempfindliche Institution mit komplexen Auswirkungen in allen Bereichen der Gesellschaft zu behandeln hat . 27
Auf die Problematik der Erhaltung einer Trennung und sinnvollen Interdependenz von Staat und Wirtschaft, von politischer Macht und Geld, bezieht sich die Rechtsinstitution autonomer Zentralbanken, eine Einrichtung, die ihre volle Tragweite erst mit dem Abgehen vom Goldstandard erhalten hat, also relativ jungen Datums ist und deshalb in 28
Daß das politische System gerade durch unwirtschaftliches Handeln wirtschaftlich sinnvolle Konjunkturpolitik treiben kann, ist eine Folge dieses Zusammenhanges. Die scheinbare Paradoxie löst sich auf, wenn man die oben genannten beiden Ebenen der Interdependenz von Staat und Wirtschaft: die spezifischen Leistungsbeziehungen und die Systeminterdependenz, unterscheidet. Der Staat kann die Wirtschaft mit unwirtschaftlichen Ausgaben belasten, um sie als System auszubalancieren. 27
Die eben genannte „Empfindlichkeit" des Geldes läßt sich auf seine Eigenschaft als generalisiertes Medium der Kommunikation zurückführen. Es handelt sich um eine Empfindlichkeit, die prinzipiell von der gleichen Art ' ist wie die Empfindlichkeit der Würde oder die Empfindlichkeit erwartungsbildender Autorität. In all diesen Fällen kann die Generalisierung nämlich partiell fiktiv werden, ohne an Wirksamkeit einzubüßen. Sie beruht dann zum Teil auf überzogenem Vertrauen. Die Potenzierung des Effekts von Kommunikationen: daß Banken mehr Geld ausgeben, als sie einlösen können, daß ein idealeres Selbst dargestellt wird, als es der Wirklichkeit entspricht, daß man Autorität für Äußerungen in Anspruch nimmt, die man nicht voll und ganz beweisen kann — dieses Leben auf Kredit ist Grundlage gesteigerten Erfolges und gesteigerter Gefährdung zugleich. Diese Übersteigerungen funktionieren auch dann, wenn sie durchschaut werden, sofern man darauf vertrauen kann, daß niemand die Konsequenz aus dem Durchschauen zieht, weil jeder weiß, daß sie trotzdem funktionieren. Mit unserer alten substantiellen Tugendmoral der Ehrlichkeit oder des „Mehr Sein als Scheinen" kann man sozialen Kunstbauten dieser Art kaum gerecht werden. Vielleicht kündigt sich in ihnen eine Art von „Transzendenz" an, die wir in der Philosophie der ontologischen Metaphysik vergeblich suchen.
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ihrer verfassungsmäßigen Bedeutung erst neuerdings diskutiert wird . Die Autonomie der Zentralbank, in der Bundesrepublik: der Deutschen Bundesbank , hat freilich nur eine begrenzte, das Problem nicht annähernd ausschöpfende.'Regelung erfahren, da sie nur einen geringen Teil staatlicher Entscheidungen, welche die Währung beeinflussen, gegen andere als geldpolitische Erwägungen abschirmt. Es liegt in der Natur der Sache, daß nicht alle währungsrelevanten Staatsentscheidungen aus dem Gefüge der allgemeinen Politik und Verwaltung herausgeschnitten und einem besonderen, autonomen Organ überantwortet werden können. Es würde jedoch ausreichen, wenn die Zentralbank ihre begrenzten Einwirkungsmöglichkeiten so placieren kann, daß sie die Funktion eines kybernetischen Regelungssystems erfüllt und wie ein Thermostat die Währung gegen Überhitzung und Unterkühlung schützt — nicht allein wirkend und nicht alles beherrschend, sondern beobachtend und kompensierend. 29
In diesem Sinne hat die Autonomie der Zentralbank eine nur organisatorische, verfahrensmäßige Bedeutung. Sie ist kein Grundrecht, sondern ein Grundrechtsäquivalent — und dies bisher ohne verfassungsrechtliche Sicherung. Sie läßt sich mit der Unabhängigkeit der Gerichte vergleichen. Aber es gibt im materiellen Recht bisher kein korrespondierendes kollektives Grundrecht auf eine stabile oder doch funktionsfähige Währung . Das zugrunde liegende, regelungsbedürftige Problem hat zwar durchaus Verfassungsrang — mit gleichem Recht wie die anderen bisher behandelten Probleme, die aus der sozialen Differenzierung entspringen. Das Problem der Erhaltung des Geldwesens hält gleichsam den Platz für ein mögliches Grundrecht offen. An einer positivrechtlichen Ausformung fehlt es jedoch, und dies nicht ohne Grund. 30
Das Grundgesetz tendiert deutlich zum Abbau bloßer Programmsätze und Wohlwollensbeteuerungen und zur Juridifizierung der Grundrechte im Hinblick auf möglichen gerichtlichen Rechtsschutz. Gerade daran würde es jedoch einem solchen Grundrecht notwendigerweise fehlen. Denn einmal bleibt weit offen, was die Funktionsfähigkeit des Geldes eigentlich erfordert und wo ihre Grenzen liegen. Sicher ist eine absolute (statische) Stabilität des Geldwertes im Vergleich mit einem willkürlich ausgewählten Standard nicht funktionsnotwendig. Eine gleichmäßig 88
Vgl. Hans-Joachim Arndt, Politik und Sachverstand im Kreditwährungswesen: Die verfassungsstaatlichen Gewalten und die Funktion von Zentralbanken, Berlin 1963, insb. S. 203 ff. mit weiteren Hinweisen. Nach § 12 Satz 2 des Bundesbankgesetzes vom 26. 7.1957. So jedoch Arndt (Kap. 6 Anm. 28), S. 204 ff. Vgl. auch Otto Veit, Pecunia in ordine rerum, Ordo 6 (1954), S. 39—77 (70 ff.). Siehe ferner den Versuch von Nipperdey (Kap. 6 Anm. 23), S. 41 f., eine (einklagbare?) Pflicht zur Erhaltung der Kaufkraft des Geldes und der Preisstabilität aus dem Sozialstaatsprinzip herzuleiten. 29 30
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schleichende Geldentwertung mag sogar erhebliche wirtschaftspolitische Vorteile haben. Gibt man den absoluten Maßstab auf, opfert man damit zugleich das allein eindeutige und juridifizierbare Kriterium . Außerdem ist die Funktionsfähigkeit des Geldes von zu vielen Faktoren abhängig — das Geld ist ein generalisiertes Medium —, als daß sie zum Gegenstand einklagbarer Entscheidungen, die zu spezifischem Handeln verpflichten, gemacht werden könnte. Gerade die intensive Verflechtung von Staatsentscheidungen aller möglichen Arten mit der Währung steht hier als Hindernis im Wege. Neuerdings gewinnt sogar die auswärtige Wirtschaftspolitik, ja selbst die Wirtschaftspolitk anderer Staaten und internationaler Organisationen für die Währungsstabilität im eigenen Lande wachsende Bedeutung. Mit einer Institutionsgarantie, die in der juristischen Praxis als Abwehrrecht gegen Extremeingriffe verstanden werden könnte — wie etwa beim Grundrecht der Ehe und Familie (Art. 6 Abs. 1 GG) — wäre es hier nicht getan. 31
In anderer Weise und mittelbar wird die Institution des Geldes indes grundrechtlich dadurch abgesichert, daß das individuelle Verfügungsrecht über Geld und über geldwerte Güter in ihrem Geldwert und damit die Vertrauensbasis des Geldsystems vor staatlichem Zugriff bewahrt wird. Das ist der eigentliche Sinn des Eigentumsschutzes nach Art. 14 GG. Er schützt den Einzelnen nicht in seiner Persönlichkeit und nicht in seinem spezifischen Sachbedarf, er garantiert ihm weder Nahrung noch Witterungsschutz, noch eine Mindestausrüstung mit kulturellen Symbolen, sondern er gewährleistet seine Teilnehmer rolle am Kommunikationssystem der Wirtschaft, weil ohne diese Garantie das Kommunikationssystem nicht generalisiert werden kann. Diese These stellt den Eigentumsschutz in ein für die interpretierende Dogmatik ungewöhnliches Licht. Sie bedarf daher einiger Erläuterungen. Seitdem man die mittelalterliche Vorstellung einer Rechtsquellenhierarchie und die Staffelung des Rechtsschutzes gegenüber öffentlichen Interessen nach Maßgabe der begründenden Rechtsquelle in der frühen Neuzeit aufgegeben hat , ist eine rechtsimmanente Begründung des Eigentumsschutzes nicht mehr möglich. Alle Versuche, trotzdem noch eine besondere Art von subjektiven Rechten, die sogenannten iura quaesita, zwar nicht mehr durch ihre rechtsquellenmäßige Begründung, wohl aber durch ihre individuelle Erwerbsbegründung (ihre „causa" in diesem neuartigen Sinne der juristischen Fachsprache) auszuzeichnen, wurden im 19. Jahrhundert aufgegeben, weil sie dem überzeugenden Argument: daß jedes Recht, das als solches anerkannt werde, auch ge32
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Vgl. Otto Veit, Grundriß der Währungspolitik, Frankfurt 1961, S. 194 f. Siehe dazu schon oben Kap. 2 Anm. 2.
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schützt werden müsse, nicht standhielten . Wenn aber Rechtsbesitz und Rechtsschutz gegenüber öffentlichen Interessen zusammenfallen , kann aus dem Recht keine spezifische Begründung des Rechtsschutzes mehr gewonnen werden — es sei denn in Form der Tautologie, daß Rechte als Rechte Schutz verdienen. Die Expansion des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs auf Rechte jeder Art hatte deshalb eine eigentümliche Begründungslosigkeit zur Folge mit der weiteren Konsequenz, daß die Rechtsprechung den verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff nur noch mit Hilfe des formalen Gleichheitsgedankens praktikabel machen kann . 34
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Der liberale und heute noch herrschend vertretene Ausweg aus dieser Problematik lautet: daß das Eigentum als individuelles Freiheitsrecht oder gar als Bedingung der Menschenwürde anzusehen sei . Das 37
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Vgl. als typisch das Argument des Reichsgerichts in seiner Entscheidung vom 28.6.1898, RGZ 41, S. 191 ff. (193): „Der Anspruch (auf Entschädigung) beruht auf der zwangsweisen Aufopferung des Einzelrechts im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt, und es ist kein innerer Grund ersichtlich, weshalb nur einzelne bestimmte Kategorien von Privatrechten die Grundlage eines Entschädigungsanspruchs bilden könnten." Was z. B. Thomas Hobbes (de cive c. 6 § 15, zitiert nach Opera latina (Hrsg. Molesworth) Neudruck Aalen 1961 Bd. 2, S. 227 f.) radikal und Samuel Pufendorf, De iure naturae et gentium libri octo lib. VIII c. 5 § 1, benutzte Ausgabe: Frankfurt-Leipzig 1744, in abgeschwächter Form bestritten hatten. Neuerdings sogar einschließlich der subjektiven öffentlichen Rechte, obwohl bei diesen natürlich unterschieden werden muß, ob sie wirklich individuellen Rechtsbesitz oder nur eine Abwehrposition gegen rechtswidriges Staatshandeln gewähren wollen. Vgl. dazu statt anderer Günter Dürig, Der Staat und die Vermögenswerten Berechtigungen seiner Bürger, in: Festschrift für Willibalt Apelt, München — Berlin 1958, S. 13—57. Siehe namentlich die Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofs vom 12. 6.1952, BGHZ 6, S. 270 ff. Dazu auch unten Anm. 49. Siehe z. B. von Mangoldt/KIein (Kap. 4 Anm. 57) Art. 14 GG Anm. II 4 a; Ulrich Scheuner, Grundlagen und Art der Enteignungsentschädigung, in: Rudolf Reinhardt/Ulrich Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, Tübingen 1954, S. 63—162 (63); Günter Dürig, Das Eigentum als Menschenrecht, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 109 (1953), S. 326—350 (334 ff.). Als grundsätzliche Formulierung vgl. auch Hegel (Kap. 5 Anm. 16), §§ 41 und 45 ff. Für die Ausbildung dieses Gedankens ist nicht nur Locke, sondern auch die kontinentale Dogmatik des subjektiven Rechts von Bedeutung gewesen. Vgl. dazu Helmut Coing, Zur Geschichte des Begriffs subjektives Recht, in: Helmut Coing u. a., Das subjektive Recht und der Rechtsschutz der Persönlichkeit, Frankfurt — Berlin 1959, S. 7—23, auch in: ders., Zur Geschichte des Privatrechtssystems, Frankfurt 1961, S. 29—55. Vgl. ferner Villey (Kap. 2 Anm. 5), S. 249 ff. Für römische Juristen wäre es dagegen undenkbar gewesen, die Freiheiten des Eigentümers oder des pater familias als „ius" zu bezeichnen, eben weil sie vom Recht her nicht gebunden sind. 34
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So z. B. Dürig (Kap. 4 Anm. 18), S. 142. Daß Würde etwas kostet, soll natürlich nicht bestritten werden. Zu ihrer Darstellung sind symbolkräftige Sachen erforderlich, die normalerweise nur durch Kauf beschafft werden können. Gleichwohl ist eine stärkere Trennung von Würde und Geld erforderlich, nicht nur weil das Grundgesetz die Unveräußerlichkeit der Würde voraussetzt (das könnte ein Irrtum sein), sondern hauptsächlich weil — die
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Eigentum wird aus dem Recht der Person auf sich selbst hergeleitet und hat daher als „Privateigentum" ein Dasein ohne öffentliche oder gar • politische Bedeutung. Es werden ihm nur nachträgliche Rücksichten abverlangt, die seinem Rechtsgehalt an sich widersprechen, ihn einschränken. Die soziale Funktion des Eigentums wird, obwohl in aller Munde, in Begriff und Begründung nicht mitgedacht. Der Gedanke, Persönlichkeitsinteressen mit wirtschaftlichen Verfügungsrechten zu verschmelzen, hatte als Triebfeder der kleinbetrieblichen frühkapitalistischen Entwicklung unabschätzbare Bedeutung . Der heutigen Wirtschaftsordnung ist er so wenig angemessen , daß er wohl nur aus Mangel an anderen Begründungen fortlebt. Niemand seiner Anhänger nimmt ihn so ernst, daß er die kritische Frage stellen würde, wieviel Eigentum zum Leben in Freiheit und Würde notwendig sei . Vor allem aber ist nicht einzusehen, weshalb Freiheit oder gar Würde unter den Menschen in horrender Ungleichheit verteilt sein sollen. Das Argument führt mithin unmittelbar zum Kommunismus — es sei denn, daß man durch eine Hintertür einen Ausblick auf den wahren Grund des Eigentumsschutzes gestattet: daß eine Ungleichheit des Erfolges mit der freien Teilnahme am Wirtschaftssystem unvermeidlich verbunden ist. 39
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Wir können jedoch der Verfassungsdogmatik durch eine andere Begründung ihr gutes Gewissen wiedergeben: Auf diese Teilnahme am Wirtschaftssystem und nicht auf eine Minimalausstattung mit Gütern Villa Hügel beweist es — die Mitdarstellung der Kosten den Würdeeindruck beeinträchtigt; denn Darstellungsziel ist die Konsistenz der Persönlichkeit und nicht die Käuflichkeit von Sachen. Man muß indes die Realität mitberücksichtigen. Die damalige wirtschaftliche Entwicklung wurde von Familienunternehmen beherrscht, welche die Unternehmerrolle nur unvollständig von anderen sozialen (insb. familiären) Rollen des Eigentümers trennten. Die juristische Freiheit des Eigentümers ruhte also, wie übrigens auch im römischen Recht, auf andersartigen sozialen Bindungen auf. Ohne diese Bindungen hätte der freie Eigentümer kaum die Weite des Zeithorizontes und die soziale Unterstützung gewinnen können, die zum Aufbau großer Unternehmen erforderlich waren. Die unvollständige gesellschaftliche Ausdifferenzierung der Wirtschaftsrolle des Eigentümers war ein notwendiges, heute freilich überwundenes Stadium der wirtschaftlichen Entwicklung — siehe auch Parsons (Kap. 1 Anm. 16), S. 148 f. — und manches scheint dafür zu sprechen, daß mit den nichtjuridiflzierten Bindungen auch die Auffassung des Eigentums als Freiheit schwindet. 39
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Vgl. dazu auch Fritz Morstein Marx, Eigentum als Machtgrundlage, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 49 (1963), S. 527—549; ferner die grundsätzlichen Ausführungen zur Differenzierung von Person und Besitz und zur Rolle des Geldes in diesem Prozeß bei Georg Simmel, Philosophie des Geldes, 3. Aufl. München-Leipzig 1920, S. 357 ff. Hegel hatte noch den Mut, die „rechtliche Zufälligkeit" dieser Frage zu begründen zu versuchen; vgl. (Kap. 5 Anm. 16) § 49. Nicht zufällig haben sich die englischen Sozialisten des 19. Jahrhunderts gerade auf Locke berufen können. Vgl. dazu Neumann (Kap. 3 Anm. 8), S. 45. 41
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kommt es dem Art. 14 GG an ; sonst wäre die Wieviel-Frage und die Gleichheits-Frage nicht zu umgehen; sonst wäre nicht zu verstehen, wieso würdewichtige Symbole, etwa der alte Schloßpark aus unvordenklichem Familienbesitz, überhaupt enteignet und wieso Gegenstände, die weder für die Würde noch für die Freiheit eines reichen Mannes eine Bedeutung haben, nur gegen Entschädigung enteignet werden dürfen. Auch die Veräußerbarkeit des Eigentums ist für ein Freiheitsrecht mindestens ungewöhnlich. Der Verfassungsschutz des Eigentums ist offensichtlich nicht auf die individuellen Persönlichkeitsbedürfnisse des Eigentümers zugeschnitten — nur die unklaren Wertbegriffe von Freiheit und Würde konnten das verschleiern —, sondern auf die spezifische Kommunikationsrolle des Einzelnen im Wirtschaftssystem: auf seine Möglichkeit nach bestimmten, vorhersehbaren Regeln über Geld oder geldäquivalente Sachwerte verfügen zu können. Das Geldwesen setzt eine entsprechende Rollenaufteilung voraus; die Quantifikation des Geldes als Wertmesser hat nämlich überhaupt nur Sinn, wenn die Verfügung über Geld unterschiedlich verteilt ist. Nur in seiner spezifischen Rolle als Teilnehmer an der Geldwirtschaft wird der Eigentümer geschützt, und das nicht um seiner Persönlichkeit willen (die ja keinerlei Kriterium für den Umfang des Schutzes abgibt), sondern um der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftssystems willen. Dieses erfordert einen absoluten Schutz der auf Geld beruhenden individuellen Kommunikationschancen gegenüber dem Staat; denn ohne solchen Schutz wäre kein Verlaß auf die Abstraktionen, die das Wirtschaftssystem tragen, und der Einzelne könnte auf die soziale Einbettung seines wirtschaftlichen Handelns in außerwirtschaftliche Institutionen nicht leicht verzichten, kurz: die Ausdifferenzierung der Wirtschaft als Untersystem der Gesellschaft wäre gefährdet. Das einzelne Eigentumsrecht ist mithin — und diese Auffassung dürfte der Interpretation des Wirtschaftsgutes durch die Wirtschaftswissenschaft entsprechen — ein Komplex von Verwendungsalternativen, der durch eine subjektive Präferenzstruktur geordnet wird . Es befindet sich jeweils solange in einer Ruhelage, als die gegenwärtig ak44
*' Das Recht auf eine solche Minimalausstattung ergibt sich im übrigen direkt aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG. So ist denn auch das Recht auf öffentliche Versorgung mit einem Existenzminimum nicht etwa aus Art. 14 GG sondern aus Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet worden. Vgl. Nipperdey (Kap. 4 Anm. 17), S. 5 ff. ** Die letzte Rechtfertigung der Eigentumsordnung liegt somit in der Subjektivität und Unvergleichbarkeit von Präferenzstrukturen oder, wenn man so will, in der Wahrheitsunfähigkeit der Werte. Siehe dazu auch Kenneth J. Arrow, Social Choice and Individual Values, New York — London 1951. Um so fragwürdiger ist der Versuch, Eigentum als Wert oder durch bezug auf Werte zu rechtfertigen.
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tuelle Alternative allen anderen vorgezogen wird und in diesem Sinne „maximale" Zufriedenheit gewährt . Die Substituierbarkeit anderer Alternativen wird durch den Geldmechanismus vermittelt. Dessen Funktionsfähigkeit ist im Enteignungsrecht vorausgesetzt. Der „enteignende" Eingriff verletzt nicht den Komplex von Verwendungsalternativen und auch nicht das damit verbundene Recht zur Beurteilung einzelner Alternativen als maximal befriedigend; er hebt nur eine einzelne Maximalbeurteilung auf, indem er das Recht zwangsweise remobilisiert. Er muß Ausnahme bleiben, weil sonst die rechtswesentliche Subjektivität der maximierenden Verwendungsentscheidung aufgehoben würde. 45
Diese Überlegung führt darauf hin, das Wesen des Enteignungsrechts — das was permanent und unangetastet bleiben soll — in der Erhaltung dieser Verwendungswahl, also im Geldwert zu erblicken. Die Wesensbestimmung des Eigentums durch seinen Geldwert muß im Zusammenhang gesehen werden mit der sozialen Differenzierung und mit der Abstraktion des Eigentumsbegriffs zu einem rollenunabhängigen (daher auch übertragbaren!) Recht an Sachen. Die volle Verschmelzung so verschiedener Komponenten wie der Ausschließlichkeit des Rechts, der Möglichkeit der Nutznießung und der Veräußerung einschließlich letztwilliger Verfügung zu einem abstrakten Eigentumsrecht ist nur tragbar in einer Sozialordnung, welche die Wirtschaft als Teilsystem der Gesellschaft relativ absondert. Dies setzt voraus, daß Eheglück, politische Macht, Bildung und Persönlichkeitsdarstellung auf andere Prinzipien gegründet sind und nicht grundsätzlich vom Eigentum abhängen, obwohl sie allesamt Sachmittel voraussetzen und sich dadurch Rückwirkungen ergeben können. Die Sozialordnung ist dann darauf eingerichtet, daß die Wirtschaft relativ eigengesetzlich abläuft. Familie, Staat und Kultur haben sich auf bestimmte Formen und Bedingungen des Zugriffs auf Wirtschaftsgüter eingestellt, und dieser Zugriff wird durch Geld vermittelt. Das Eigentum hat dann eine spezifisch wirtschaftliche Funktion — Grundeigentum gewährt zum Beispiel keine Gerichtshoheit mehr —; deshalb kann es abstrahiert werden, und deshalb ergeben sich seine Schranken primär aus dem Kommunikationsprinzip und Wertmesser der Wirtschaft: dem Geld. Umgekehrt ermöglicht die Monetisierung des Eigentums die relative Unabhängigkeit des Wirtschaftssystems, ohne daß dadurch die partikularen Bindungen des Eigentümers an seinen persönlichen Stil oder an seine Familie zerstört Das Argument setzt eine gegebene Verteilung wirtschaftlicher Werte voraus, rechtfertigt sie also nicht. Es wäre offensichtlich falsch, wollte man damit die Ideologie der „sozialen Marktwirtschaft" übertrumpfen und daraus folgern, daß die gegenwärtige Eigentumsverteilung maximales Glück für alle gewährleiste. 4 5
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(obschon: gewandelt) werden ; und ohne daß dadurch die Grundlagen der politischen Macht zusammenbrechen. Die Auslegung des Eigentumsrechts als Geldwert entspricht nicht nur der Verfassung , die ja die Reduktion des Eigentums auf Geld durch Enteignung mit der Wesensgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG für vereinbar hält, sie allein entspricht auch den Realitäten unserer Sozialordnung und ihrer Interpretation durch die Wirtschaftswissenschaft. In einer differenzierten Gesellschaft muß der Kern des Eigentumsrechts generalisiert werden, weil er nur dadurch allgemeine Bedeutung gewinnen kann. Das Eigentum kann zum Beispiel nicht länger in seinem Wesen Standesattribut sein. Es wird aus seiner alten Bindung an sozialen Rang gelöst, weil es keine geschlossene Statusordnung mehr gibt und der Besitz nicht mehr dem bestehenden sozialen Rang, sondern das Sozialprestige dem Besitz folgt . So sehr der Einzelne nach wie vor sein Herz an bestimmte Sachen hängen mag, das Wesen des Eigentumsrechts ist der jeweilige Geldwert . 47
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Es wäre mithin irrig, dem gängigen Zivilisationspessimismus zu folgen, der annimmt, daß die Geldorientierung oder ähnliche Abstraktionen alle konkreten Kleinwelten, jede intime Bindung, jede emotional ansprechende Situation zersetzen würde. Die Abstraktion der Geldorientierung bedeutet gerade umgekehrt, daß dies nicht geschieht, daß es möglich ist, Funktionskreise zu trennen und den alten Familienschrank zu ehren und zu lieben, obwohl man weiß, was etwa er bei einer Versteigerung erbringen würde. Vgl. dazu auch die Ausführungen oben S. 110 f. zur Trennung der Rolle im Wirtschaftssystem von der individuell-persönlichen Motivationsstruktur. Die herrschende Dogmatik traut sich diesen Gedanken allerdings nicht zu. Sie weicht vor ihm aus durch die höchst problematische Unterscheidung von Institutsgarantie und Einzelrechtsgarantie (siehe z. B. Werner Weber, Eigentum und Enteignung, in: Franz L. Neumann/Hans C. Nipperdey/Ulrich Scheuner, Die Grundrechte Bd. II Berlin 1954, S. 331—399 (355 ff.), oder Rudolf Reinhardt/Ulrich Scheuner, Verfassungsschutz des Eigentums, Tübingen 1954, S. 1, 68 f.) und läßt dann gelegentlich durchblicken — z. B. Diether Haas, Eigentum und Enteignung, Monatsschrift für deutsches Recht 5 (1957), S'. 650 bis 653 (651) —, daß das Einzelrecht wegen der verfassungsrechtlichen Enteignungsmöglichkeit überhaupt keinen Wesensschutz genieße. Vgl. dazu auch von Mangoldt/Klein (Kap. 4 Anm. 57) Art. 14 GG Anm. II 6 a. 47
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Vgl. Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —), insb. S. 70 ff. Die einzige gewichige Alternativdeutung des Eigentums von vergleichbarem Abstraktionsgrad wird gegenwärtig mit der „Sonderopferthorie" angeboten, die in der Enteignungsrechtsprechung des Bundesgerichtshofes entwickelt worden ist. Sie führt, konsequent durchdacht, das Wesen des Eigentums (im verfassungsrechtlichen Sinne) statt auf Geld auf den Anspruch auf Gleichbehandlung zurück. Dieses Verschmelzen zweier verschiedener Grundrechte widerspricht jedoch der klaren Trennung beider im Verfassungstext und der Verschiedenartigkeit ihrer Funktion (die wir für das Gleichheitsrecht im 8. Kapitel näher erläutern werden). Sie ist überdies teils zu abstrakt — da der Gleichheitsgedanke nahezu inhaltsleer ist — teils zu wenig 49
abstrakt, d a die S o n d e r o p f e r t h e o r i e n u r die B e z i e h u n g e n z w i s c h e n d e m E i g e n -
tümer und Staat behandelt und keine Deutung der Funktion des Eigentums im allgemeinen sozialen Verkehr zugrunde legt, die Art. 14 gerade schützen
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Geld ist ohne unmittelbaren Wert für die Bedarfsbefriedigung. Es ist ein generalisiertes Symbol für Kommunikationschancen, die — in vorläufig unentschiedener, aber nach festen Regeln entscheidbarer Weise — zur Bedarfsbefriedigung führen können. Die Institutionalisierung des Geldes setzt daher ein sicheres Vertrauen voraus, daß diese Kommunikationschancen honoriert werden, daß jedermann die Wahlfreiheiten, die sein Geld in Aussicht stellt, in die Wirklichkeit umsetzen kann. Jenes Vertrauen muß, soll die Funktionsfähigkeit des Geldes erhalten bleiben, gegen Beeinträchtigungen geschützt werden, welche nicht nach den Regeln des Wirtschaftssystems (also nicht marktmäßig), sondern machtmäßig erfolgen. Das Geldwesen erfordert zwar kein volles Vertrauen in die Stabilität des Geldwertes. Es kann zur Rolle eines klugen Wirtschaftsteilnehmers gehören, daß er sein Geld nicht ,im Strumpf, sondern auf der Sparkasse, ja unter Umständen nicht auf der Sparkasse, sondern in rentablen Sachwerten aufbewahrt. Das Wirtschaftssystem kann seinen Teilnehmern zumuten, das Wirtschaftsleben zu beobachten und über die beste Art der Geldanlage unter Umgehung der Entwertungsgefahr selbst zu disponieren. Und es wird den findigen Teilnehmer mit Vermögensmehrung belohnen. In dieser oder jener ! Form muß das Wirtschaftssystem jedoch Kapitalbildungsmöglichkeiten; stabilisieren. Es verträgt deshalb keine wegnehmenden Eingriffe vonj außen, die vom Wirtschaftssystem her gesehen irrational und zufällig' sind. Es hat seinen eigenen Stil der Rationalität, der von der Rationalität des politisch motivierten und durchgesetzten Eingriffs getrennt gehalten werden muß. Nicht wegen der Ungerechtigkeit des Einzeleingriffs — darauf kommen wir bei der Behandlung des Gleichheitssatzes zu sprechen — ist das Wirtschaftssystem gegen entschädigungslose Enteignungen, Sozialisierungen usw. empfindlich, sondern deshalb, weil die schwebende Möglichkeit solcher Eingriffe das gesamte Wirtschaftssystem verunsichern, entmutigen oder durch diese Gefahr meidende Ausflüchte verzerren würde. Das Wirtschaftssystem verträgt nur System-) konforme staatliche Geldentnahmen, und das sind vor allem Steuern j auf Grund von relativ generell und relativ langfristig festgelegten! Bemessungsgrundlagen. Es ist denn auch kein vernünftiger Grund er-, sichtlich, weshalb das Wirtschaftssystem durch vertrauensstörende spo- \ radische Wegnahmen belastet werden sollte, da es auf systemkonforme \ Weise durch Steuern belastet werden und aus Steuermitteln jeder Ein- I zeleingriff entschädigt, also in seinen wirtschaftlichen Folgen annulliert / werden kann. Ohne solches Vertrauen müßte, wer in Wirtschaftsdingen / langfristig disponieren will, sich die notwendige Sicherheit ad hoc und/ will. Eine eingehende Kritik dieser Rechtsprechung findet sich in: Niklas Luhmann, Öffentlich-rechtliche Entschädigung rechtspolitisch betrachtet, Berlin 1965.
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persönlich beschaffen. Er müßte entweder selbst politische Macht erwerben oder durch besondere Vereinbarung mit dem Machtinhaber Sicherheit kaufen — in jedem Falle ein Vorgang, der die Trennung von Wirtschaft und Politik, also die soziale Differenzierung, korrumpiert. Art. 14 GG garantiert demnach nicht die Erhaltung eines konkreten Bestandes an Sachen oder Rechten in der Verfügungsgewalt des Eigentümers, aber auch nicht, wie zuweilen angenommen wird, einen konstant bleibenden Wert des Vermögens , sondern nur die in Geld oder geldwerten Rechten symbolisierten Kommunikationschancen nach den jeweiligen Marktbedingungen. Die Verfassung gibt keinen Wertschutz, sondern nur einen Funktionsschutz. Die herrschende juristische Auslegung dieses Artikels stammt dagegen noch aus der Vorstellungswelt des absolutistischen Staates und seines „ius eminens". Sie deutet die Enteignung als ausnahmsweise auf Grund eines Notstandes oder auf Grund öffentlicher Interessen erlaubten Eingriffs in an sich schutzwürdige und garantierte Rechtspositionen, also als Rechtsverletzung, die leider wegen eines unvermeidlichen Interessenkonflikts erforderlich ist, zumindest aber durch Entschädigung geheilt werden muß. Diese Konstruktion hat sich als Grundlage der Formulierung von Entscheidungsprogrammen des Enteignungsrechtes bewährt. Aber sie ist vom Einzelrecht und vom Einzeleingriff her gedacht und trägt dem sehr viel schwerer wiegenden Problem nicht Rechnung, welches die soziologische Betrachtung aufdeckt: daß das Wirtschaftssystem in seiner generalisierten Kommunikationsstruktur durch die bloße Möglichkeit extern motivierter Eingriffe in Kommunikationschancen empfindlich erschüt50
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So die liberale Theorie. Siehe etwa Lorenz Stein, Die Verwaltungslehre Bd. 7, Stuttgart 1868, S. 298, mit der bezeichnenden Begründung, daß das Eigentum am abstrakten Wert niemals zur gesellschaftlichen Entwicklung in Widerspruch treten könne. An neueren Stimmen vgl. z. B. Günter Janssen, Der Anspruch auf Entschädigung bei Aufopferung und Enteignung, Stuttgart 1961, S. 64 f., mit weiteren Hinweisen. In der von Janssen angegebenen Literatur wird allerdings zumeist nur von Vermögensgarantie, nicht mit aller Deutlichkeit von Vermögenswertgarantie gesprochen, so daß die Reduktion des Schutzes auf den Geldwert nicht immer klar zum Ausdruck kommt. Von einer staatlichen Garantie des Geldwertes individueller Vermögen kann ernstlich natürlich nicht die Rede sein, selbst wenn man nur Wertveränderungen ins Auge faßt, die durch staatliche Entscheidungen herbeigeführt werden. Ein solcher Rechtsanspruch wäre angesichts der komplexen Kausalität staatlicher Wirtschaftspolitik nicht abzugrenzen. Vgl. dazu auch Arndt (Kap. 6 Anm. 28), S. 274 ff. 51
Die herrschende Auffassung findet ihre stärkste Stütze in diesem Erfordernis des Gemeinwohls als Eingriffsvoraussetzung. Damit ist im Grunde jedoch nicht festgelegt, daß die Enteignung als Durchbrechung eines an sich zugesagten Schutzes verstanden werden müsse; vielmehr nur, daß alle verbindlichen Staatsentscheidungen, sofern sie zu ungleicher Behandlung führen, einen G r u n d angeben müssen, ein Reehtspostulat, d a s im Gleichheitssatz u n d im Rechtsstaatsprinzip zum Ausdruck kommt und in einen ganz anderen Zusammenhang gehört. Dazu siehe unten Kap. 8.
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6. Kap.: Eigentum und Beruf
tert werden kann. Und sie verdeckt den wahren Sachverhalt: daß faktisch eben nicht das konkrete Recht, sondern nur die Marktchance, diese aber unbedingten Rechtsschutz genießt, und zwar nicht um der Freiheit und Würde der Persönlichkeit, sondern um der Funktionsfähigkeit der geldgesteuerten Wirtschaft willen. Der Staat gibt mit der Eigentumsgarantie kein Versprechen, daß er im Einzelfall aus besonderen Gründen und mit schlechtem Gewissen durchbrechen muß, sondern er gibt eine effektive und vollgültige Garantie für Rollen im Wirtschaftssystem. Damit stützt er an einer kritischen Stelle die Autonomie des Wirtschaftssystems, das seinerseits in vielfältiger Weise die Möglichkeiten strukturiert, in einer differenzierten Sozialordnung Mensch und individuelle Persönlichkeit zu sein. Mit all dem ist die Funktion des Eigentums in einer mobilen Wirtjedoch noch nicht scharf genug erfaßt. Es muß noch f bedacht werden, daß die Rolle des Wirtschaftsteilnehmers von der des I Eigentümers in hohem Maße abgelöst werden kann und diese Ablösung funktionsnotwendig zu sein scheint. Wenn man berücksichtigt, daß der Staat das Geld seiner Bürger, die Industrie das Geld ihrer Aktionäre, die Banken das Geld ihrer Sparer und die Frauen das Geld ihrer Männer ausgeben, dürften die Fälle, daß jemand sein eigenes Geld ausgibt, nach Zahl und Geldvolumen nicht mehr sehr hoch zu veranschlagen sein. Der Motor einer marktorientierten Wirtschaft wird nicht vom Eigentümer angetrieben . Das Eigentum dient eher einer Art von Notfallskontrolle oder Konfliktsregelung, ähnlich dem Recht des Staates auf Anwendung physischer Gewalt, das nur selten zum Einsatz kommt, gleichwohl aber durch die Potentialität dieses Einsatzes das System trägt. Gerade dieses Wirken durch Präsenz des Möglichen setzt aber — anders als die bloße Quantität des Gebrauchs — eine absolute Sicherung voraus. Ohne sie könnte der Eigentümer nicht delegieren, die Wirtschaft keine Mobilität gewinnen. ä
Schaftsordnung
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Nachdem hiermit die Hauptlinien der Argumentation dieses Kapitels ausgeführt sind, können wir einigen komplizierenden und modifizierenden Erwägungen Raum geben. Die Zuordnung des Grundrechts Eigentum zum Problem der Spannung zwischen politischem System und Wirtschaftssystem ist nicht in einem exklusiven, sondern in einem schwerpunktmäßigen Sinne zu verstehen. Konkrete Institutionen wie zum Beispiel Grundrechte können zwar funktional-spezifisch ausgerichtet und nach Maßgabe einer primären Funktion geprägt werden. Diese Hauptfunktion besitzt dann eine regulative Prominenz, aber keine exklusive Relevanz. An sie kann die juristische Dogmatik, die offizielle 52
Nicht zufällig hat denn auch die Eigentumsfrage beim Gelderwerb durch § 935 Abs. 2 BGB praktisch keine Bedeutung.
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Sinnbestimmung und Begründung, die Entscheidung von Zweifelsfragen anknüpfen, aber diese Orientierung bleibt abstrakt. Wenn man auf die faktische Wirksamkeit der Institution achtet, läßt sie sich nicht aus dem beziehungsreichen Gesamtzusammenhang der differenzierten Sozialordnung herauslösen; sie hat immer auch positive und negative Funktionen in anderer Hinsicht . So hat das grundrechtsgeschützte Eigentum auch Funktionen für die Individualisierung der Selbstdarstellung und für die Zivilisierung der Erwartungen, so wie umgekehrt die hierauf bezogenen Grundrechte mittelbar auch der Wirtschaft dienen. 53
Es ist zweifellos unrichtig, das Eigentum schlechthin als Ausdruck der Persönlichkeit des Eigentümers anzusehen, denn seine Verwendung wird nur unter bestimmten, näher angebbaren Umständen als freies Handeln zugerechnet. Die Rechtsposition als solche hat nicht in jeder Hinsicht sozial anerkannten Symbolwert . (Eben deshalb konnten wir die Funktion des Eigentums nicht primär auf die Persönlichkeit beziehen.) Unsere Einsichten über die Bedingungen und Probleme der Selbstdarstellung ermöglichen eine differenziertere und erfahrungsnähere Stellungnahme zu dieser Frage. 54
In gewissem Umfange dient der sozial bekannte Geldwert des Vermögens oder des Einkommens als Statussymbol . Der bloßen Ziffer läßt sich jedoch, sie sei denn extrem hoch, wenig Individualität abgewinnen. Zur individuellen Selbstdarstellung ist ein persönlich-charakterisierendes Handeln erforderlich. Nicht jede Eigentumsverwendung wird der Persönlichkeit als freies Handeln zugerechnet, gewiß zum Beispiel nicht das Zahlen von Steuern und Versicherungsbeiträgen, aber auch kaum noch die rational durchkalkulierte Investitionsentscheidung, die vom Wirtschaftssystem als vernünftig, vielleicht als unausweichlich gefordert 55
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Dieser Gedanke der Multifunktionalität aller konkreten Strukturen und Zweckleistungen ist eine bedeutsame These der strukturell-funktionalen Theorie, mit der diese sich selbst vor den Irrtümern einer rein begrifflichen Schematisierung der Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt von reinlich geschiedenen abstrakten Funktionen bewahrt. Vgl. dazu etwa Almond (Einf. Anm. 10), insb. S. 11, 14, 17 ff., 63, oder Riggs (Kap. 1 Anm. 2), S. 14 ff. Parsons spricht mit Rücksicht darauf von der „functional primacy" eines spezifischen Problemgesichtspunktes für bestimmte Untersysteme der Gesellschaft; vgl. z. B. Parsons/Smelser (Kap. 1 Anm. 12 — 1956 —), S. 15 f. Ähnlich Heimann (Kap. 6 Anm. 13). 54
Es sei nochmals daran erinnert, daß wir den kausalen Freiheitsbegriff aufgegeben haben. Nur dadurch ist es möglich, die in sich geschlossene gedankliche Konzeption der herrschenden Dogmatik (subjektives Recht-Wirkungsmöglichkeit-Freiheit) aufzusprengen. 55
Eine geläufige These der neueren Sozialwissenschaft. Sie findet sich indes zumeist in allgemeinen Untersuchungen über die Schichtung der Gesellschaft, und es fehlt an empirischen Untersuchungen der Frage, wie individuell und persönlich man sich in Geldziffern darstellen kann. Offenbar wird diese Möglichkeit so gering eingeschätzt, daß sie nicht untersucht wird. 9 Lnhmann
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6. Kap.: Eigentum und Beruf
wird. Die Eigentumsverwendung besitzt eine Symbolfunktion als frei und persönlich zurechenbar vielmehr primär auf dem Konsumsektor. Das von Thor stein Veblen scharfsichtig aufgezeigte Phänomen der „ conspicuous consumption" erklärt sich ganz einfach aus dem individuellen Selbstdarstellungsbedürfnis und der sozialen Strukturierung der Selbstdarstellungschancen in der Industriegesellschaft. Die individuelle Persönlichkeit zeigt sich in Art und Umfang ihres Geldverbrauchs . Dies gilt besonders in einer Zivilisation, in welcher die vorherrschende Wirtschaftsmoral nicht auf Verbrauch, sondern auf Erwerb gerichtet ist; und gerade deshalb, denn nicht das Befolgen sozialer Erwartungen, sondern das Abweichen wird persönlich zugerechnet. 56
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Schon diese kurze Analyse, die wir hier nicht vertiefen können , zeigt, welche Spannungen durch die herrschende Gleichsetzung von Freiheit und Eigentum gegen Einblick abgedeckt werden. Der Schutz des geldwerten Eigentums dient primär dem Wirtschaftssystem und erst sekundär individuellen Persönlichkeitsinteressen, die sich in Durchbrechung der Moral des Wirtschaftssystems zur Geltung bringen, gerade dadurch aber den Konsum in einer für das Wirtschaftssystem unentbehrlichen Intensität stimulieren. Ein solcher Sinnzusammenhang läßt sich nur funktional charakterisieren, nicht aber mit den Kategorien einer wertethisch fundierten normativen Dogmatik behandeln; denn er erschließt sich erst, wenn man auch die Funktion von Normabweichungen und widerspruchsvollen Orientierungen berücksichtigt. Ebenso wie der Eigentumsschutz auch den Persönlichkeitsinteressen und, wie sich zeigen ließe, auch der Zivilisierung von Erwartungen dient, haben umgekehrt die persönlichen und kommunikativen Freiheitsrechte wichtige Funktionen im Wirtschaftssystem . Die Bedeutung der Vertragsfreiheit und der Freizügigkeit für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist zu bekannt, als daß wir dabei lange verweilen müßten. Die Vereinigungsfreiheit hat gleiches Gewicht. Ein besonderes Schlaglicht wirft das Grundrecht der Berufs- und Arbeits59
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Siehe Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute, Dt. Übers. Köln-Berlin o. J. (Erste Ausgabe 1899). Gute Beobachtungen hierzu bei Hugh Dalziel Duncan, Language and Literature in Society, Chicago 1953, insb. S. 33 ff., 1161, 1291, besonders in der Richtung, daß mehr als der reine Geldbesitz die Fähigkeit, Kredit für Konsumzwecke zu mobilisieren, die Potenz der individuellen Persönlichkeit sichtbar macht: Sie zeigt, daß man ihr persönlich vertraut. Und auch nicht auf das parallelliegende Würde-Problem ausdehnen wollen, zumal wir oben Anm. 38 zum Zusammenhang von Würde und Geld schon einige Hinweise gegeben haben. Vgl. dazu die Literatur über den wirtschaftlichen Aspekt der allgemeinen Persönlichkeitsfreiheit, etwa Huber (Kap. 6 Anm. 23 — 1953 —), S. 660 ff.; ders. (Kap. 6 Anm. 23 — 1956 —), S. 135 ff.; Ballerstedt (Kap. 6 Anm. 23), S. 68 ff.; Nipperdey (Kap. 6 Anm. 23), S. 19 ff. 57
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freiheit auf unser Problem, da dieses Grundrecht mit jeder der behandelten Generalisierungsrichtungen annähernd gleich stark verbunden ist, so daß sich eine dominierende Ausrichtung nicht oder allenfalls auf Grund einer die Dogmatik bindenden Entscheidung des Gesetzgebers rechtfertigen ließe . 60
Arbeit und Beruf gehören heute zu den wichtigsten Faktoren des individuellen Selbstverständnisses, ja der individuellen Selbstachtung . Was jemand arbeitet und was er berufsmäßig „ist", formt sein persönliches Auftreten auch und gerade außerhalb der Arbeitsstätte. Arbeit und Beruf charakterisieren in vielen sozialen Situationen individuell, weil mit zunehmender Arbeitsteilung die Chance abnimmt, daß man außerhalb der Arbeitsstätte mit jemandem zusammentrifft, der auch Tierarzt oder auch Oberinspektor im Katasteramt ist; und selbst im Innern eines organisierten Arbeitszusammenhanges gewinnen die einzelnen Arbeitsplätze eine freilich nur für Kollegen verständliche 61
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Anders die herrschende Auslegung des Art. 12 GG, die in Ubereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (siehe namentlich das sogenannte Apotheken-Urteü vom 11.6.1958, BVerfGE 7, S. 377 ff.) die Berufs- und Arbeitsfreiheit in das Licht der Persönlichkeitsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG rückt, sie also individualistisch interpretiert. Vgl. Ulrich Scheuner, Grundrechtsinterpretation und Wirtschaftsordnung: Zur Auslegung des Art. 12 GG, Die öffentliche Verwaltung 9 (1956), S. 65—70, mit gleichwohl relativ bindungsfreundlichen Ergebnissen. Dagegen Walter Hamel, Das Recht zur freien Berufswahl, Deutsches Verwaltungsblatt 73 (1958), S. 37—44, und Otto Bachof, Freiheit des Berufs, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte Bd. III, 1 Berlin 1958, S. 155—265 (166 ff.). Siehe auch Nipperdey (Kap. 6 Anm. 23), S. 21, 30 ff. Daß konkurrierende Ausrichtungsmöglichkeiten überhaupt nicht gewürdigt werden, obwohl sie sich gerade hier aufdrängen, ist eine Folge der allgemeinen Faszination durch den Gegensatz von Freiheit und Sozialbindung. In dieser Alternative findet natürlich jede Ansicht Rechtfertigungsmöglichkeiten, so daß die Ausrichtung des Art. 12 auf Art. 2 Abs. 1 im Einzelfall keine zwingende Entscheidungsgrundlage hergibt. 41
Vgl. als interessante Kontrolluntersuchung dieser These die klassische Arbeitslosenstudie von Marie Jahoda/Paul F. Lazarsfeld/Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal, 2. Aufl. Allensbach — Bonn 1960. Ähnliche Ergebnisse bei E. Wight Bakke, Citizens Without Work, New Häven 1940. Beide Untersuchungen machen deutlich, daß das Problem der Arbeitslosigkeit etwas ganz anderes ist, als das alte Phänomen der Armut — anders insofern,. als es als Folgeproblem in eine differenzierte Sozialordnung gehört. Arbeitslosigkeit gefährdet die Differenzierung an der Grenze zwischen Wirtschaftssystem und persönlicher Selbstdarstellung bzw. der Persönlichkeitsbildung und -entspannung in der Familie. Differenzierung heißt institutionelle Trennung und Verselbständigung, und darin liegt die Forderung: daß individuelle Persönlichkeit und Familienleben nicht an den Wechselfällen des Wirtschaftssystems zugrunde gehen sollen. Gerade diese Verselbständigung von Teilschicksalen wird jedoch durch die Arbeitslosigkeit bedroht, da Arbeitslosigkeit unvermeidlich das individuelle Auftreten und den Gefühlshaushalt der Familie beeinträchtigt. Die mangelnde Isolierbarkeit gibt ihr in einer differenzierten Sozialordnung den Charakter eines strukturell-kritischen Problems — durchaus analog zum Problem drohender politischer Grenzüberschreitung, gegen das die Grundrechte errichtet sind.
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individuelle Note . Diesen Symbolwert besitzen Arbeits- und Berufsdarstellungen jedoch nur, wenn sie frei (das heißt natürlich niemals: ohne äußeren Anlaß, sondern nur: persönlich zurechenbar) eingegangene Verpflichtungen zum Ausdruck bringen. Wer zwangsweise zum Militär eingezogen wird, kann mit der Mitteilung: ich bin Soldat, über sich selbst nicht viel aussagen. Und hier liegt wohl auch der Grund, weshalb die Arbeit der Hausfrau keinen ausreichenden Symbolwert besitzt, um als Arbeit die verdiente Würdigung zu finden. Außerdem wird der Einzelne dagegen geschützt, daß die berufliche Einordnung zu einer persönlich-diffusen Unterordnung führt. Davor bewahrt der durch die Berufsfreiheit und die Vereinigungsfreiheit geschützte Arbeitsmarkt, der stets Alternativen offen hält und die Rückentwicklung in Wirtschaftssysteme mit „unfreier" Arbeit verhindert . Gleichwohl würde man den Sinn der Arbeits- und Berufsfreiheit verfehlen, wollte man sie primär als Persönlichkeitsrecht deuten. Sie dient gleichrangig der Sicherung komplementärer t Rollenerwartungen im Arbeitsleben. Die formale Sicherung der Freiheit der Arbeits- und Berufswahl gegen unmittelbaren physischen Zwang ermöglicht es, die Verteilung von Personen auf Arbeitsaufgaben nach Konsenschancen zu steuern. Man kann mit der Stereotypisierung und Regulierung der Arbeitsrollen stärker ins Detail gehen, wenn die Rolle als solche gewählt und wieder verlassen werden kann. Selbst wenn der Einzelne sich in seiner Entscheidung nicht wirklich frei fühlt, ist sein Verhalten doch so institutionalisiert. Die Gesamtordnung nötigt ihn, bei der Berufs- und Arbeitswahl als frei aufzutreten und dadurch sein eigenes Selbst auf die gewählte Rolle zu verpflichten. Es wird dann nicht durch Zwang und nicht nur durch hohen Lohn, sondern zumindest in den herausgehobenen Berufen auch durch die Konsequenz seiner Selbstdarstel63
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Die Organisationssoziologie hat besonders auf die fein nuancierten Statusunterscheidungen des organisierten Zusammenlebens aufmerksam gemacht, vor allem um den verbreiteten Widerstand gegen Änderungen zu erklären. Vgl. z. B. Carl Dreyfuss, Beruf und Ideologie der Angestellten, München — Leipzig 1933, S. 11 ff.; George Caspar Homans, Status Among Clerical Workers, Human Organization 12/1 (1953), S. 5—10; George Strauss, The Set-up Man: A Case Study of Organizational Change, Human Organization 13/2 (1954), S. 17—25; C. Wright Mills, Menschen im Büro, Dt. Übers. KölnDeutz 1955, S. 289 ff.; Hans Paul Bahrdt, Industriebürokratie, Stuttgart 1958, S. 114 ff.; Renate Mayntz, Die soziale Organisation des Industriebetriebes, Stuttgart 1958, S. 80 f. Darüber hinaus geben jedoch auch andere, nicht rangmäßige Aspekte des Arbeitsplatzes gewisse Gelegenheiten zu individueller Selbstdarstellung, besonders bei ausgeprägter Aufgabendifferenzierung und Fähigkeitsspezialisierung. Beim Zusammenbruch des Arbeitsmarktes in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit wird denn auch das Grundrecht der Berufsfreiheit illusorisch und in den Arbeitsorganisationen treten Symptome persönlicher Abhängigkeit und „unfreier" Arbeit auf. Wie das Grundrecht des Eigentums hängt auch das Grundrecht der Berufsfreiheit von der Funktionsfähigkeit eines Marktes ab — setzt also viel mehr voraus als bloße Nichtantastung durch den Staat. 63
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lungsgeschichte an die Arbeitsrolle gebunden. Er kann sich nicht zu sehr beklagen, nicht zu stark abweichen, ohne sich der Frage auszusetzen, warum er überhaupt Lehrer, Richter, Bauer usw. geworden ist. Und er kann sich nicht darauf berufen, daß die Familientradition in „zwang", Pastor oder Offizier zu werden; er würde mit diesem Argument sich selbst diskreditieren. Hieraus folgt, daß die Arbeits- und Berufsfreiheit auch für die Wirtschaft fundierende Bedeutung besitzt . Sie macht es möglich, die Verteilung von Personen auf Arbeitsaufgaben marktmäßig rational zu organisieren. Sie motiviert durch die gesicherte Aussicht auf freie Verwendung den Erwerb der benötigten langwierigen und kostspieligen Spezialausbildungen, die dann wie eine Art unverlierbares, wenn auch marktabhängiges Kapital ausgewertet werden. Außerdem zwingt sie den, der sich um fremde Dienstleistungen bewirbt, Bezahlung anzubieten, und das heißt: sie nur im Rahmen einer durch Geldrechnung vermittelten wirtschaftlichen Kalkulation in Anspruch zu nehmen. Dieser Rationalisierungszwang gilt auch für die Staatsbürokratie, während vorneuzeitliche Staatswesen ihre wirtschaftliche Basis hauptsächlich in direkter oder indirekter Verfügung über unfreie Arbeit besaßen. Wie die wirtschaftliche Entwicklung der westlichen Industriestaaten zeigt, tendiert diese Ordnung nicht dazu, aus einem gegebenen „Menschenmaterial" ein Höchstmaß an Arbeitsleistung für welche Zwecke auch immer herauszuholen, wohl aber dazu, Arbeitsleistung und Bedarfsbefriedigung in ein vernünftiges und im übrigen individuell abstufbares Verhältnis zu bringen. 64
Schließlich könnte die Berufs- und Arbeitsfreiheit das politische System von Aufgaben der Sicherstellung seiner Mitglieder entlasten und damit die Funktion übernehmen, die einst dem Landbesitz der Familien zufiel, aus denen die Akteure der, Politik und der Verwaltung rekrutiert wurden. Eine solche Sicherung der Politiker und Verwaltungskräfte durch professionelle Mobilität läßt sich am stärksten in den Vereinigten Staaten beobachten. In Deutschland steht dem die Auffassung des öffentlichen Dienstes als Spezialberuf entgegen, die zu einem Zusammenfallen von Beruf und Mitgliedschaft führt und deshalb zu einer juristischen Sicherung des Beamtentums gegen den Staat zwingt. 84
Vgl. dazu die von Udy aus umfangreichem Material vorindustrieller Gesellschaften gewonnene Feststellung: daß permanente, zweckspezifisch organisierte (also für differenzierte Gesellschaften typische) Produktionsarbeit nur durch Vertrag rekrutiert wird, während bei diffus orientierten Produktionsunternehmungen familiäre oder politisch-zwangsmäßige Rekrutierungsformen vorherrschen. Siehe Stanley H. Udy, Jr., The Organization of Work, New Haven Conn. 1959, S. 59 ff., und ders., Preindustrial Forms of Organized Work, in: Wilbert E. Moore/Arnold S. Feldmann (Hrsg.), Labor Commitment and Social Change in Developing Areas, New York 1960, S. 78—91 (82).
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6. Kap.: Eigentum und Beruf
Das Grundrecht der Arbeits- und Berufsfreiheit muß demnach im Vollsinne als multifunktionales Grundrecht angesehen werden. Das mag der unbemerkte Anlaß für die besonderen Interpretationsschwierigkeiten sein, welche die juristische Erläuterung des Art. 12 GG zutage gefördert hat. Die soziologische Analyse kann hier mehr zum Verständnis der Schwierigkeiten als zu ihrer unmittelbaren Auflösung beitragen . Das Grundrecht des Art. 12 GG ist nicht einer spezifischen Generalisierungsrichtung, nicht einem einzelnen Systemprinzip verpflichtet. Die Arbeits- und Berufsfreiheit setzt voraus, daß die Wahl des Berufs und des Arbeitsplatzes nicht institutionalisiert wird, daß vor allem Familienerwartungen, daß der Sohn dem.Vater im Beruf folge, keine allgemeine soziale Unterstützung finden. Gerade ein solcher Verzicht auf soziale Determination dient in differenzierten Sozialordnungen der Integration. Die Freiheit der Wahl hat den Sinn, die Entscheidung zu einer bestimmten Arbeitsrolle aus allzu drastischen und engen Bindungen herauszulösen und mittelbare Arbeitsmotive jenseits von Hunger, Peitsche und Gewohnheit zu erschließen. Dadurch wird die Arbeitsentscheidung der Steuerung durch generalisierte Motivationsstrukturen unterworfen, aber nicht von einem einzigen Standpunkt aus, sondern im Hinblick auf die Individualität der Selbstdarstellung, die Zivilisiertheit der Verhaltenserwartungen und die Rationalität der Wirtschaft zugleich. Die Freiheit der konkreten Entscheidung über Arbeit und Beruf ermöglicht es, den Kongruenzpunkt dieser drei divergierenden Generalisierungsrichtungen zu finden. Ihre zentrale Funktion ergibt sich somit gerade aus der Divergenz dieser drei Generalisierungsrichtungen einer differenzierten Gesellschaft, und deshalb ist es nicht möglich, ihr den Stempel einer spezifischen Primärorientierung aufzudrücken. 65
Die Freiheit der Arbeits- und Berufswahl wird damit als eine Institution erkennbar, die das zentrale Problem einer differenzierten Sozialordnung, die Widersprüchlichkeit der Generalisierungsprinzipien 85
Immerhin lassen sich auch die wichtigsten juristischen Unterscheidungen innerhalb dieses Rechtskomplexes: die Unterscheidung von Beruf und Arbeit und die Unterscheidung von Berufswahl und Berufsausübung auf soziale Tatbestände, nämlich auf Stufen der Generalisierung zurückführen, die sich soziologisch näher erforschen lassen. Hinter der Unterscheidung von Beruf und Arbeit steht die Unterscheidung von Rolle und Handlung; die Unterscheidung von Berufswahl und Berufsausübung bezieht sich auf die Möglichkeit von Entscheidungsgeneralisierungen: Man kann eine Rolle wählen und sich auf sie verpflichten, ohne im einzelnen schon zu wissen, welche Handlungen in dieser Rolle auszuführen sein werden. Die soziologische Forschung könnte feststellen, daß in einer differenzierten Sozialordnung solche Stufen der Generalisierung mit je unterschiedlicher Verteilung von Freiheiten und Bindungen eingerichtet sein müssen, und so z. B. die These der Rechtsprechung stützen, daß die Freiheit der Berufsausübung stärker beschränkt werden dürfe als die Freiheit der Berufswahl — vgl. insb. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11. 6.1958, BVerfGE 7, S. 377 ff.
6. Kap.: Eigentum und Beruf
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ihrer Untersysteme, direkt betrifft . Ihre grundrechtliche Verankerung schützt die Arbeitsentscheidung vor regressiver Wiedereinführung allzu direkter und partikularer Arbeitsmotive mit Hilfe der Zwangsmittel des Staates. Auch diese Analyse bestätigt also erneut unsere allgemeine Konzeption der Grundrechtsfunktion: daß die Grundrechte die differenzierte Struktur der modernen Gesellschaft gegen Tendenzen zu simplifizierender Entdifferenzierung schützen, die vom politischen System ausgehen können.
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Ein zentrales Strukturproblem differenzierter Sozialordnung wird also durch Freiheit, das heißt: durch Verzicht auf soziale Normierung bestimmter
Entscheidungen, gelöst. Die stärkeren sozialen Interdependenzen einer differenzierten Sozialordnung erfordern in spezifischen Hinsichten zugleich mehr Freiheit. Die in der Verfassungsdogmatik heute noch herrschende Vorstellung eines strikten Gegensatzes von Sozialbildung und Freiheit würde die Formulierung dieser Erkenntnis nicht zulassen. Sie scheitert als Theorie einer differenzierten Sozialordnung daran, daß sie selbst analytisch nicht ausreichend differenzieren kann.
Siebtes
Kapitel
Die Demokratisierung der Herrschaft: politisches Wahlrecht 'Die aktivbürgerlichen, die eigentlich politischen Grundrechte, vor allem das Wahlrecht, denen wir uns nunmehr zuwenden wollen, haben immer eine etwas abgesonderte Stellung unter den Grundrechten eingenommen . Sie können in der naturrechtlichen Dogmatik nicht als vorstaatliche Menschenrechte aufgefaßt werden, da sie erst mit dem Staate und in bezug auf ihn entstehen . Sie gelten daher auch nicht als prinzipiell unbegrenzt (und nur einschränkbar) wie die Freiheitsrechte. Man hat bezweifelt, ob sie überhaupt zu den echten Grundrechten zählen . In dem von Bettermann, Nipperdey und Scheuner herausgegebenen Handbuch „Die Grundrechte" verschwinden sie zwischen den Kapiteln. Das entspricht der Anordnung des Grundgesetzes, wo sie sich, mit Ausnahme des Petitionsrechtes, außerhalb des eigentlichen Grundrechtsteils normiert finden, eine Anordnung, die jedoch für Rechtsschutzzwecke durch § 90 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes wieder ausgeglichen wird. Was haben wir von dieser Unsicherheit, von diesen Einordnungsschwierigkeiten zu halten? 1
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3
Zwei vorausliegende Entscheidungen machen sie unausweichlich: Die Begrenztheit der deutschen Rechtsstaatstradition und die Begrenztheit der juristisch-dogmatischen Methode. 1
Vgl. die weithin akzeptierte Unterscheidung von negativen, positiven und aktiven Statusrechten von Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 6. Neudruck, Darmstadt 1959, S. 419 ff. Diese theoretisch offensichtlich nicht bewältigte, rein induktiv gewonnene Klassifizierung ist von einer geradezu aufreizenden Unausgeglichenheit.'Schmitt (Kap. 1 Anm. 1 — 1928 —), S. 168 f., sondert die demokratischen Staatsbürgerrechte, zu denen er seltsamerweise auch den Gleichheitssatz rechnet, unter Berufung auf die angeblich dualistische, rechtsstaatlich-politische Struktur des liberalen Verfassungsstaates von den Freiheitsrechten ab. Die soziologische Analyse wird zeigen, daß sehr viel kompliziertere Problemkonstellationen zugrunde liegen. 2
Auch das ist nicht unbestritten. Anderer Meinung z. B. von Mangodt/ Klein (Kap. 4 Anm. 57) Vorbem. B V 2 vor Art. 1 GG; gegenteilig jedoch die Kommentierung zu Art. 38 GG Anm. III 1 a. Bejahend jedoch die herrschende Meinung. Vgl. z. B. die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. 4.1952, BVerfGE 1, S. 208 ff. (242). 3
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Für die im Begriff des Rechtsstaates zusammengefaßte Denkhaltung ist eine gewisse Machtfremdheit, eine innere Distanz zur politischen Sphäre kennzeichnend . Das Politische wird von der Rechtsstaatlichkeit nicht miterfaßt, sondern nur begrenzt. Wie Macht zustande kommt, ob sie geerbt oder in Cliquenfehden aufgebaut wird, erscheint dem Rechtsstaat unerheblich — man möchte fast sagen: in jedem Falle suspekt. Entscheidend ist ihm, daß gewisse Schranken der Auswirkung nicht überschritten werden. Voller Schutz der Individualrechte und strenge Beachtung des positiven Rechts (im Grunde also: der formal regulierten Rechtsänderungsverfahren) sind die wesentlichen Forderungen der deutschen Rechtsstaatstradition. Die Formen politischer Willensbildung bleiben außerhalb; ihre „Freiheitlichkeit" ist kein Rechtsstaatspostulat, sondern Sache der danebengesetzten Demokratie. So war im Jahre 1933 auch eine rechtsstaatliche Diktatur vorstellbar. Die Grundrechte werden im Horizont dieses Rechtsstaates interpretiert und das politische Wahlrecht daher als ein irgendwie untypisches, verirrtes Grundrecht betrachtet, das durch seinen Daueraufenthalt in der politischen Sphäre seine Bürgerschaft im Rechtsstaat fast verliert . 4
5
Der andere Grund für die Begriffsordnungsschwierigkeiten ist ein methodischer: Die Grundrechte werden von ihrer Begründung und ihrem qualitativen Inhalt her definiert und erweisen sich dadurch als heterogen. Die wenigen durchgehend-gemeinsamen Merkmale sind unspezifisch abstrahierte Art- und Gattungsbegriffe und als solche nahezu nichtssagend. Sie haben wenig Ordnungs- und Erkenntniswert. Die Dogmatik denkt kategorial, nicht funktional. Die funktionale Methode zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, daß sie gerade Verschieden4
Zu dieser Begrenztheit der deutschen Rechtsstaatstradition im Gegensatz zur angelsächsischen, französischen und schweizerischen Auffassung vgl. Ulrich Scheuner, Begriff und Entwicklung des Rechtsstaates, in: Hans Dombois/ Erwin Wilkens, Macht und Recht: Beiträge zur lutherischen Staatslehre der Gegenwart, Berlin 1956, S. 76—88 (80 ff.), und ders., Die neuere Entwicklung des Rechtsstaats in Deutschland, in: Hundert Jahre deutsches Rechtsleben, Festschrift Deutscher Juristentag, Karlsruhe 1960 Bd. II, S. 229—262, mit einer glänzenden Darstellung auch der ausdehnenden Tendenzen im früheren Liberalismus und in der Gegenwart — Tendenzen, die aber nirgends, auch bei Scheuner nicht, in die eigentlich politischen, machtbildenden Prozesse hineinreichen. Mit einer Erweiterung und Vertiefung der „Wertgrundlagen" des Rechtsstaates ist es nicht getan. Erst recht wäre es verfehlt, den Rechtsstaat in die politische Sphäre hineinzubauen und deren Handeln zu juridifizieren. Die Frage lautet, welche soziale Struktur die politischen Prozesse aufweisen müssen, damit in der Bürokratie die Rechtsstaatlichkeit ihren Sinn erfüllt. 5
Bezeichnend dafür ist auch, daß die Grundrechtsdogmatik mit der geisteswissenschaftlichen oder wertethischen Explikation der politischen Grundrechte, insbesondere des Wahlrechts, außerordentlich zurückhaltend gewesen ist. Vgl. z. B. die Kürze der Kommentierung bei Maunz/Dürig (Kap. 4 Anm. 49) Art. 38 GG Rdnr. 29—32. Wir haben daher im folgenden kaum Gelegenheit zu einer kritischen Auseinandersetzung; es fehlt der Gegner.
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artiges, qualitativ Heterogenes, ja begrifflich Entgegengesetztes auf einen identischen Problemgesichtspunkt bezieht, der ebenfalls abstrakt, aber spezifisch abstrahiert ist. So kann sie das Verschiedenartige ohne Rücksicht auf die Gemeinsamkeit gewisser Art- und Gattungsmerkmale als vergleichbar, nämlich als funktional äquivalent, behandeln und in einem Kontext von Bezugsproblemen und disjunktiven bzw. zusammenwirkenden Problemlösungen verständlich machen . 6
Als funktionales Bezugsproblem der Grundrechte hat sich in den vorangegangenen Untersuchungen das Problem der sozialen Differenzierung, verstanden als Problem divergierender Generalisierungsrichtungen der Kommunikation, bewährt. Die bisher behandelten Grundrechte dienen dazu, die strukturelle Differenzierung der Sozialordnung zu erhalten gegenüber Gefährdungen durch das politische System. Sie hatten ihre je spezifischen Bezugsrichtungen in den verschiedenen unpolitischen Generalisierungsprinzipien der Gesellschaft, den individuellen Persönlichkeiten, der Zivilisation der Verhaltenserwartungen, dem Geldwesen. Die aktivbürgerlichen Grundrechte haben, und das erklärt ihre Sonderstellung, die gleiche Funktion für das politische System selbst und für sein Generalisierungsprinzip: die Bildung legitimer politischer Macht. Sie bewahren die Spezifikation, die relative Autonomie der politischen Sphäre, durch Kanalisierung des gesellschaftlichen Einflusses in Bahnen, welche die Bildung politischer Macht als Grundlage verbindlicher Problementscheidungen erlauben, ohne daß rein individuelle Interessen, gesellschaftliche Konsenspflichten oder wirtschaftliche Kommunikationschancen ununterscheidbar in den Prozeß der Entscheidungslegitimation einfließen und dadurch die Autonomie staatlichen Entscheidens zerstören. Wir sind gewohnt, demokratische Institutionen, besonders das allgemeine Wahlrecht der Staatsbürger, als eine besondere Art von Herrschaft zu verstehen, als eine wie auch immer verwässerte und vermittelte Herrschaftsgewalt des Volkes über den Staat, die im Laufe der neueren Geschichte sich an die Stelle der monarchischen oder aristokratischen Herrschaft gesetzt hat. Diese Auffassung klingt auch in Jellineks Kategorie der aktwbürgerlichen Grundrechte an, die als Rechte der Willensausübung definiert werden. Wenn man indes dem Begriff der Herrschaft einen präzisen kommunikationstheoretischen Sinn gibt, der sich empirisch überprüfen läßt — etwa im Sinne der Weberschen Definition als „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden" —, zerfällt diese Vorstellung. Ob 7
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Diese Interpretation des Funktionalismus ist allerdings nicht allgemein anerkannt. Eine nähere Begründung habe ich in zwei bereits zitierten Aufsätzen (Einf. Anm. 8 und 11) zu geben versucht. Weber (Kap. 5 Anm. 18), S. 28. 7
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in vorneuzeitlichen Sozialordnungen durch Einzelne oder Gruppen nach autonom gebildeten Vorstellungen effektiv geherrscht werden konnte, ist mehr als fraglich ; das Volk jedenfalls hat niemals geherrscht. 8
Mit solchen Desillusionierungen im üblichen „realpolitischen" Sinne ist jedoch wenig zu erreichen, wenn nicht zugleich aufgedeckt wird, daß diese Vorstellung des Übergangs einer im politischen System konstituierten Herrschaftsgewalt auf das Volk den eigentlichen Vorgang verdeckt, der die Demokratisierung der politischen Ordnung nötig macht. Denn sie verdeckt die Vorfrage, wie überhaupt eine wirksame Kommunikation verbindlicher Entscheidungen möglich ist und wie sie unter verschiedenartigen Strukturbedingungen sozialer Ordnungen möglich ist . 9
In strukturell nicht oder kaum differenzierten Sozialordnungen wird die politische Funktion des verbindlichen Entscheidens im Rahmen von Rollen miterledigt, die zugleich familiäre, religiöse, wirtschaftliche, kriegerische Handlungszusammenhänge strukturieren . Die Gesamtrolle 10
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Vgl. als neuere Beurteilungen formal absoluter Herrschaft etwa Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —), S. 85 ff. und (1961), S. 73 ff.; E. E. Evans-Pritchard, The Divine Kingship of the Shilluk of the Nilotik Sudan, in: ders., Essays in Social Anthropology, New York 1963, S. 66—86 (72 ff.). Dieser Vorwurf ist auch den Nothelfern der klassischen Theorie, den 9
Begriffen der volonté générale und der Repräsentation nicht zu ersparen. Solange mit diesen Begriffen auf die falsche Frage geantwortet wird, wie das Volk trotz der Offensichtlichkeit des Gegenteils herrscht, kommen sie aus einer wenn auch geistvollen Romantik nicht heraus. Das wird zum Beispiel an Formeln wie der vom Sichtbarmachen des Unsichtbaren (Schmitt — Kap. 1 Anm. 1 1928 — S. 208 ff.) oder von der Reproduktion ideeller Werte in der Erfahrungssphäre im Sinne einer Versöhnung von Geist und Stoff (so Gerhard Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, Berlin — Leipzig 1929, insb. S. 36 f.) oder von der Dialektik des Richtigen (Krüger — Kap. 2 Anm. 4 — S. 234 ff.) deutlich. Das faktische Geschehen, das mit diesen Begriffen bezeichnet werden soll, erschließt sich der soziologischen Analyse erst, wenn man es als Generalisierung von Kommunikationen begreift. 19
Diese Feststellung entspricht dem analytischen Frageschema, mit welchem die moderne strukturell-funktionale Anthropologie archaische Sozialordnungen untersucht. Die politische Funktion gilt als stets schon vorhanden (weil sie aus der allgemeinen Theorie des Sozialsystems abgeleitet wird, also notwendig erfüllt werden muß, soll' das Sozialsystem fortbestehen), aber als noch ungeschieden mit anderen Funktionen vereint. Der Begriff des politischen wird also funktional, nicht strukturell oder institutionell definiert, weil das sowohl für den Vergleich verschiedener Sozialsysteme als auch für das Verständnis der geschichtlichen Entwicklung als Ausreifen funktional-spezifischer Rollenstrukturen den günstigeren Ausgangspunkt bietet. Vgl. dazu allgemein Sutton (Einf. Anm. 10); Parsons (Kap. 1 Anm. 7), S. 244 ff.; S. N. Eisenstadt, Primitive Political Systems, American Anthropologist 61 (1959), S. 200—220; ders. (Einf. Anm. 10), insb. S. 5 f.; im einzelnen besonders die Afrika-Forschungen der britischen Anthropologie, etwa Meyer Förtes/E. E. Evans-Pritchard (Hrsg.), African Political Systems, Oxford 1940, und Max Gluckman, Custom and Conflict in Africa, Oxford 1955. Weitere typische Beispiele: die traditionelle Sozialbürokratie Thailands, vgl. dazu James N. Mosel, Thai Administrative Behavior, in: William J. Siffln (Hrsg.).Toward the
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wird als Einheit erlebt. Die Einheit der Person, die sie ausübt, erlaubt Sinnübertragungen. Prominenz in einer Hinsicht ist zugleich Prominenz in anderer Hinsicht, Erfolge aus einem Gebiete rechtfertigen Forderungen auf anderen und Mißerfolge werden entsprechend diffus sanktioniert. Die Grundlage des wirtschaftlichen Handelns, etwa Landbesitz, ist zugleich Grundlage des politischen Handelns und beides wird in enger Bindung an Familien tradiert. Selbst Herrscher sind keineswegs ausschließlich oder auch nur hauptberuflich Politiker bzw. Entscheidungsinstanzen. Die sachliche Generalisierung des Rollenstatus reicht in alle Lebenssphären, so daß es keine Gegendruckpunkte gibt, von dehn aus die Legitimität des Status (aber natürlich sehr wohl: die Eignung der.Person) in Frage gestellt werden könnte. Ein Problem der Legitimität — und damit die Vorstellung der Legitimität oder Illegitimität — einer Herrschaft kann erst als Folge struktureller Differenzierung der Sozialordnung entstehen, welche unpolitische Chancen des Statuserwerbs eröffnet. Die Herausdifferenzierung des politischen Handelns zu einer Sonderstruktur der Gesellschaft steigert die soziale Sichtbarkeit, Interpretierbarkeit und damit auch: Fragwürdigkeit rein politischer Vorgänge. Das bringt sie über eine Bewußtheitsschwelle, jenseits derer die Darstellung des spezifisch politischen Geschehens problematisch und seine soziale Kontrolle möglich wird. Erst dadurch erhält das Legitimitätsproblem einen Rang, der es an der Radikalität neuzeitlichen Fragens und Zweifeins teilnehmen läßt. Es entfaltet sich im Horizont der Hobbesschen Frage nach der Möglichkeit sozialer Ordnung schlechthin, mit der Spannweite des Satzes vom Grunde und auf dem Boden der metaphysischen Gewißheitssicherung durch die bewußte Selbstbestätigung des Denkens . 11
Die soziale Differenzierung, welche die politische Herrschaft zunächst von der Beschränkung auf den Familienbereich, dann von religiösen, dann von wirtschaftlichen Rollen ablöst und sie schließlich auf sich selbst stellt, weckt das Bedürfnis, die Einheit und Allgemeinheit der sozialen Rollenordnung durch begründbare und anerkannte Legitimation spezifischer Kompetenzen zu ersetzen . Solche spezifische Legi12
Comparative Study of Public Administration, Bloomington Ind. 1957, S. 278 bis 331 (insb. 280 ff.), und auf primitiverer Ebene die von E. R. Leach, Political Systems of Highland Burma, Cambridge Mass. 1954, glänzend geschilderte Stammeskulturen des Kachin-Gebietes. Siehe hierzu Friedrich Jonas, Sozialphilosophie der industriellen Arbeitswelt, Stuttgart 1960, S. 69 ff. Im Gegensatz zu Max Weber, der das Bezugsproblem der Legitimität allein in der Effektivität der Herrschaft erblickte, sehen wir es — ohne diesen Zusammenhang zu leugnen, sondern gerade: um ihn zu begründen — in der sozialen Differenzierung, die überhaupt erst gesellschaftlich relativ autonome effektive Herrschaft möglich und zugleich legitimierungsbedürftig macht. Wegen jenes zu kurz gegriffenen Bezugsproblems konnte Weber seinen 11
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timation muß sich als diesseitig und als rational kontrollierbar geben, und sie muß eine vernünftige Herrschaft zu begründen suchen. Legitimation aber heißt faktisch: daß es in begrenztem Rahmen, im voraus und pauschal für richtig gehalten wird, Entscheidungen zu akzeptieren. Die Institutionalisierung einer bestimmten Form der Herrschaftslegitimation löst mithin ein charakteristisches Problem funktional differenzierter Sozialordnungen, und dies auf die uns vertraute Art und Weise: durch Generalisierung von Kommunikationen. Diesen Zusammenhang von sozialer Differenzierung, Spezifikation der politischen Sphäre und besonderem Bedarf an Institutionen der Generalisierung gesellschaftlicher Unterstützung des politischen Systems können wir noch von einem anderen Problem aus beleuchten, nämlich von der Antinomie des physischen Zwanges als Herrschaftsmittel her. Die Bereitschaft, fremde Entscheidungen als verbindlich zu akzeptieren, kann im Einzelfall sehr verschiedene Ursachen haben. Soll sie jedoch auf längere Dauer, für eine Vielzahl von noch offenen Problemlagen und für eine Mehrzahl von Personen gewährleistet, also normativ und rollenmäßig institutionalisiert werden, so bedarf sie einer AbsicheLegitimitätsbegriff in mindestens drei Hinsichten nicht zu Ende analysieren: in der Frage des funktionalen Zusammenspiels von Gehorsam und Freiwilligkeit, in der Frage nach den spezifischen gesellschaftlichen Prozessen, die legitime Macht schaffen und in der Frage nach den strukturellen Vorbedingungen der Legitimität; so Peter M. Blau, Critical Remarks on Weber's Theory of Authority, The American Political Science Review 57 (1963), S. 305—316 (311 f.). Das sind zugleich die offenen Probleme der klassischen (Machiavelli/ Hobbesschen) Theorie der politischen Macht. Vgl. auch Parsons, On the Concept of Political Power, Proceedings of the American Philosophical Society 107 (1963), S. 232—262 (232 f., 258). Mithin setzt Webers bekannte Typologie der traditionalen, charismatischen und rationalen Herrschaft eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklungsstufe voraus (was die in Anm. 10 erwähnte anthropologische Forschung bewußt gemacht hat). Vgl. auch die Darstellung der kulturellen Legitimation politischer Macht als universellen Schritt gesellschaftlicher Entwicklung bei Parsons (Kap. 1 Anm. 7 — 1964 —), S. 345 f., ferner die Unterscheidung von traditional orientiertem und traditionalistisch gerechtfertigtem Handeln bei Bert. F. Hoselitz, Tradition and Economic Growth, in: Ralph Braibanti/Joseph J.Spengler (Hrsg.), Tradition, Values, and Socio-Economic Development, Durham N. C. 1961, S. 83—113. Man wird demgemäß innerhalb des Typus der traditionalen Herrschaft die unbezweifelt-selbstverständliche Herrschaft auf Grund umfassender Prominenzrollen von der traditional-legitimierten Herrschaft, etwa des „angestammten Herrscherhauses", unterscheiden müssen. Diese Überlegungen ermöglichen es, verständlich zu machen, daß und warum auch nach dem Bewußtwerden des Legitimitätsproblems zunächst traditionale Legitimierungen durchaus vorherrschen (worauf Eisenstadt — Einf. Anm. 10 — die innere Widersprüchlichkeit frühbürokratischer Reiche zurückführt), nämlich weil die Reflektion auf den vorangegangenen Gesellschaftszustand diese Form der Legitimation eingibt und institutionalisierbar macht, und weil die Rollenbasis noch breit genug, n ä m l i c h noch nicht exklusiv politisch spezifiziert ist, u m sie tragen zu k ö n n e n . Exklusiv politische Herrschaft, wie sie in voll differenzierten Sozialordnungen unausweichlich ist, muß dagegen rational legitimiert werden.
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7. Kap.: Politisches Wahlrecht
rung durch die Möglichkeit, physischen Zwang anzuwenden; denn Normen sind als symbolische Generalisierungen, als Darstellungen, zu enttäusdrungsempfindlich, als daß offener Ungehorsam in Einzelfällen unsanktioniert bleiben könnte. Legitime Herrschaft ist auf ausreichende Zwangsmöglichkeiten angewiesen — um der Effektivität in problematischen Grenzfällen willen, vor allem aber zum Schutze ihrer Darstellung als ausnahmslos verbindlich. Andererseits ist die Drohung mit Zwang und erst recht die nackte Gewalt als Herrschaftsgrundlage unzureichend . Dies nicht nur, weil sie zu großen Aufwand erfordert, also wirtschaftlich unrationell und deshalb nicht expansionsfähig ist. Ebenso wesentlich ist: daß sie die Motive des Gehorsams faktisch und sozial sichtbar einengt auf ein Vermeiden der angedrohten nachteiligen Folgen. Zwangsherrschaft bleibt damit, ähnlich wie der geldlose Tausch , an ein partikulares, nur situationsmäßig überzeugendes Verhältnis, an eine sehr enge Korrelation von spezifischen Befehlen und spezifischen Zwangslagen gebunden . Zwang ist kein generelles, sondern nur ein konkret einsetzbares Herrschaftsmittel. Selbst wenn man in Betracht zieht, daß es unausgesprochene Drohungen und ein Rechnen mit möglichem Zwang gibt, so sind das lediglich kommunikationstechnisehe Entlastungen, nicht aber echte Herrschaftsgeneralisierungen, weil die enge Motivationsstruktur dadurch nicht verändert wird. Dazu kommt, daß Drohung mit Zwang oder gar Zwangsanwendung zweischneidige Waffen sind, die durch ihre sym13
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Beides: die Notwendigkeit und das Nichtausreichen des Zwanges ist in der politischen Theorie wohl stets bewußt gewesen, obwohl die Akzente im einzelnen sehr unterschiedlich und zuweilen nahe an die Extreme heran gesetzt wurden. Vgl. den Überblick bei E. V. Walter, Power and Violence, The American Political Science Review 58 (1964), S. 350—360. Es dürfte wenig fruchtbar sein, diese Frage als Alternative zu sehen und weiter zu diskutieren, ob das „Wesen" der politischen Herrschaft in der Zwangsmöglichkeit oder in der Verfügung über freiwilligen Gehorsam liegt. Tatsache ist, daß jedes politische System sich von den Schwankungen der faktischen Konsenslage in gewissen Grenzen unabhängig machen muß. Dieser Funktion dient die Fundierung der Herrschaft auf Konsens und Zwang zugleich, ferner aber auch z. B. die Institutionalisierung eines Machtwechsels nach Maßgabe von Konsenschancen und einer Trennung von Politik und Verwaltung, Institutionen, die damit ihrerseits wiederum die Zwangsmittel des Staates entlasten. 14
Zu diesem Vergleich siehe Parsons (Kap. 7 Anm. 12), S. 240. Diese Kennzeichnung des Zwanges als partikularisierendes Motivationsmittel wird übrigens bestätigt durch eine ebenso wichtige wie lehrreiche Ausnahme vom staatlichen Monopol physischer Gewaltanwendung, die zumeist völlig übersehen wird: die Familie. Natürlich hat der Familienvater mit der Abgabe der politischen Funktion auch das Recht über Leben und Tod der Familienangehörigen verloren. Die physische Überlegenheit der Eltern über ihre nicht erwachsenen Kinder und das Recht, in Maßen von ihr Gebrauch zu machen, bleibt jedoch wichtig genug. Es ist für die soziale Differenzierung von Staat und Familie (vgl. oben S. 104 ff.) bezeichnend, daß dagegen keine Bedenken bestehen. 15
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bolischen Implikationen die Herrschaft gefährden; machen sie doch deutlich, daß es Menschen gibt, welche die Herrschaft nicht freiwilligpflichtmäßig akzeptieren, also mögliche Verbündete im Kampf gegen sie . 10
Dieser antinomische, funktional-dysfunktionale Charakter der Zwangsgewalt konnte in archaischen Sozialordnungen latent bleiben, weil in ihnen Entscheidungsbedürfnisse ohnehin nur fallweise und nur in engem, partikularem Rahmen von Familien- oder Stammesbeziehungen auftraten und, wo die institutionelle Ordnung versagte, ohne weiterwirkenden Schaden ausgekämpft werden konnten. Wenn dagegen diese Voraussetzungen sich ändern, wenn die Gesellschaft sich so weit differenziert, daß ein spezifisch politisches Aktionssystem mit einem Monopol auf Anwendung physischer Gewalt errichtet werden kann, wird die Legitimität der Herrschaft ein unabweisbares Problem. In einem solchen System kristallisiert und verdichtet sich die erörterte Antinomie. Sie wird greifbar und bewußt. Man muß und man kann Institutionen schaffen, die speziell darauf zugeschnitten sind. Es muß, mit anderen Worten, besondere Institutionen geben, die verhindern, daß der Staat zu einer Zwangsanstalt zusammenschrumpft, die von Fall zu Fall Befehle gegen widerstrebende Motive zwangsweise durchsetzt, denn in dieser Form kann der Staat seine hochkomplizierten und vielfältigen Problementscheidungsaufgaben nicht erfüllen. Das Zwangspotential muß auf die spezifische Funktion einer Notfallskontrolle reduziert werden (die freilich unentbehrlich bleibt) . Und zugleich damit müssen Einrichtungen der Generalisierung von Kommunikationen institutionalisiert werden, die darauf spezialisiert sind, legitime politische Macht zu schaffen, die sich in verbindlichen Entscheidungen äußert, welche nicht allein mit Rücksicht auf drohenden Zwang, sondern primär wegen ihrer Verbindlichkeit, also wegen eines kommunikativen Symbols akzeptiert werden, über das der Staat unter spezifischen, genau geregelten Voraussetzungen „verfügen" kann. Dank dieser Einrichtungen kommen hochdifferenzierte Sozialordnungen im Verhältnis zu der immensen Zahl von Kommunikationen, die sie benötigen, mit einer verschwindend geringen Zahl von Zwangsakten aus . 17
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Mit Rücksicht darauf findet man häufig Warnungen vor der autoritätsuntergrabenden Wirkung des Sanktionsgebrauchs. Vgl. z. B. Barnard (Kap. 5 Anm. 9), S. 183; Peter M.Blau, The Dynamics of Bureaucracy, Chicago 1955, S. 174; John M. Pfiffner/Frank P. Sherwood, Administrative Organization, Englewood Cliffs N. J. 1960, S. 335 f. Siehe dazu Deutsch (Kap. 1 Anm. 16), S. 122 ff. über „gold and force as damage-control mechanisms" in Anlehnung an die von Parsons aufgedeckten strukturellen Parallelen des Geldwesens und des Machtwesens. Obwohl vergleichende Untersuchungen fehlen, ist anzunehmen, daß diese Relation im Übergangsstadium von der archaisch-undifferenzierten zur 17
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7. Kap.: Politisches Wahlrecht
Wenn wir diesen Sachverhalt verstehen wollen, müssen wir zunächst von einer Prämisse abrücken, welche die bisherige Diskussion des Legitimitätsproblems beherrscht hat: daß die faktische Legitimität einer Herrschaft einfach die Folge des faktischen Glaubens an das Prinzip der Legitimierung sei. Max Weber war ein prominenter Vertreter dieser Ansicht , Guglielmo Ferrero ein anderer . Die Radikalität der Frage nach der Legitimation zerstört jedoch den Wahrheitsanspruch aller bestimmten Gründe, zerstört vor allem die Gründung der Legitimität auf ein Gemeinsames in Sein oder Bewußtsein und hebt damit ihre Bindung an die „Öffentlichkeit" und an sachliche Grenzen auf. Dadurch wurde das Problem der Legitimierung in der Praxis zu einem Problem der Indoktrination. 19
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Eine andere Konsequenz des Verlustes wahrer Prinzipien ist: daß es notwendig wird, die Legitimation als faktischen Prozeß zu verstehen und die Institutionen zu prüfen, die ihn im Rahmen der Gesamtordnung funktionsfähig erhalten. Damit wird eine komplizierte, vielschichtige Wirklichkeit sichtbar. Legitimation kommt nicht allein durch Prinzipienglauben zustande, sondern durch eine kommunikative Ordnung, welche die Akzeptierung der Staatsentscheidungen trägt und weiterträgt . Legitimität der staatlichen Herrschaft heißt mithin: daß das Kommunikationssymbol „verbindliche Entscheidung" einen festen, all21
modernen Sozialordnung, in den Fällen also, in denen das politische System zwar schon eine gewisse Autonomie besaß, sich aber noch nicht auf eine volldifferenzierte Sozialordnung stützen konnte, sehr viel ungünstiger war. Eine ähnliche Hypothese erörtert Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —), S. 86. Einige empirische Feststellungen über die durchgehend vorhandene Bereitschaft zum fraglosen Akzeptieren von Staatsentscheidungen finden sich bei Morris Janowitz/Deil Wright/William Delany, Public Administration and the Public — Perspectives Toward Government in a Metropolitan Community, Ann Arbor 1958, insb. S. 102. 19
Siehe auch die Ausarbeitung gerade dieses Punktes bei Johannes Winckelmann, Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 1952, insb. S. 43 ff. Guglielmo Ferrero, Macht, Bern 1944, S. 208 ff.; als weitere Beispiele etwa Heller (Kap. 1 Anm. 6), insb. S. 175 ff., 191 u. ö.; Talcott Parsons, Authority, Legitimation, and Political Action, in: Carl J. Friedrich (Hrsg.), Authority, Cambridge Mass. 1958, neu gedruckt in und zitiert nach Talcott Parsons, Structure and Process in Modern Societies, Glencoe III. 1960, S. 170—198 (175), mit erläuternden Bemerkungen, die im Grunde diesen Begriff bereits sprengen; Carl J. Friedrich, Die Legitimität in politischer Perspektive, Politische Vierteljahresschrift 1 (1960), S. 119—132, und ders., Man and His Government, New York-San Francisco-Toronto-London 1963, 232 ff. 20
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Auch Deutsch (Kap. 1 Anm. 16), S. 151 ff., unterstreicht die Tatsache, daß der Legitimitätsglaube den faktischen gesellschaftlichen Kontakten zugrunde gelegt werden müsse, soll er politische Macht legitimieren. Zu ähnlichen Ergebnissen ist die Gruppentheorie gekommen mit der Feststellung, daß die Legitimation der Autorität von Führern auch von Beziehungen der Untergebenen zueinander abhänge. Vgl. z.B. Homans (Kap. 5 Anm. 12), S. 295; Blau (Kap. 5 Anm. 10), S. 199 ff.
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gemein anerkannten Kurswert hat. Das ist nur möglich, wenn derjenige, der staatliche Entscheidungen als Prämissen des eigenen Verhaltens übernimmt , sicher ist, darin Anerkennung zu finden — in der durch die Staatsentscheidung regierten Situation ebenso wie in anderen Situationen, am Stammtisch oder seiner Frau gegenüber. Die Einengung seiner Handlungsalternativen, die er erleidet, muß im sozialen Verkehr wie eine Tatsache, wie eine natürliche Schranke des Handelns behandelt werden. Sie darf dem Handelnden (1) nicht auf seine individuelle Selbstdarstellung angerechnet werden; das Sichfügen muß ohne symbolische Implikationen für den Charakter der individuellen Persönlichkeit erlebt werden, eine Selbstverständlichkeit sein. Der Handelnde erhält, mit anderen Worten, als Gegenwert für seine Annahmebereitschaft eine Verantwortungsentlastung, die im sozialen Verkehr honoriert wird. Die Anpassung darf ferner (2) keine Brüche in der sozialen Rollenkomplemen tari tat verursachen; die staatliche Festlegung von Entscheidungsprämissen darf im sozialen Verkehr nicht zu Verständigungs- und Verhaltensschwierigkeiten führen, sie muß als Argument (daß man nicht anders handeln konnte) überall Geltung besitzen und als Handlungsrechtfertigung wie eine Münze weitergegeben werden können. Sie darf schließlich (3) nicht dä'sWirtschaftspotential fest zugesagter Rechtspositionen beeinträchtigen, nicht das ausbalancierte Verhältnis von Schulden, Forderungen, Besitz und Bedarfsdeckungsmöglichkeiten der Einzelperson verändern. Der Generalisierungsprozeß der Herrschaftslegitimation muß, mit anderen Worten, im Prinzip mit den drei zuvor behandelten Generalisierungsrichtungen abgestimmt sein. Es darf keine zu starken wechselseitigen Störungen geben. Auf dem Ausmaß, in dem diese Abstimmung gelingt, und nicht etwa auf der Stärke des staatlichen Potentials zu Zwangsausübung, beruht das Ausmaß der Generalisiertheit staatlicher Herrschaft, der Grad ihrer Legitimität. Nicht durch 22
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Vgl. hierzu die Definition der Autorität als Festlegung fremder Entscheidungsprämissen (nicht: vollständiger konkreter Entscheidungen!) bei Herbert A. Simon, Models of Man: Social and Rational, New York-London 1957, insb. S. 75 f. Sie geht auf Barnard (Kap. 5 Anm. 9), S. 161 ff. und auf dessen Entscheidungsbegriff als „narrowing of the limitation of choice" (S. 38 ff.) zurück. Vgl. auch Herbert A. Simon, Das Verwaltungshandeln: Eine Untersuchung der Entscheidungsvorgänge in Behörden und privaten Unternehmen. Dt. Ubers. Stuttgart 1955, S. 80 ff., und ders., Authority, in: Conrad M. Arensberg u. a. (Hrsg.), Research in Industrial Human Relation, New York 1957, S. 103—115. Wichtig und neu ist an diesem Begriff nicht das von Barnard und Simon selbst in erster Linie betonte unkritische Akzeptieren — das ist vielmehr eine sehr alte Komponente des Autoritätsbegriffs; sondern die Vorstellung, daß fremdes Entscheiden stets nur -partiell, nur in seinen „Prämissen" regiert werden kann, so daß der Gehorchende immer noch selbst entscheidet; denn daraus folgt: daß es besondere soziale Institutionen geben muß, die ihn trotzdem von der Verantwortlichkeit für seine Entscheidung entlasten, und daß es diese Institutionen sind, welche die Legitimation der Autorität ermöglichen.
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eine Vermehrung der.Polizeitruppe, sondern durch die Institutionalisierung der Entscheidungsverbindlichkeit als gängiges Symbol, das im sozialen Verkehr fraglos und routinemäßig akzeptiert wird, wächst die Legitimität der staatlichen Entscheidungstätigkeit. Diese Überlegungen erlauben es, etwas schärfer zu formulieren, worin das besondere Legitimitätsproblem differenzierter Sozialordnungen besteht. Es hängt damit zusammen, daß die soziale Differenzierung die einheitliche Sozialhierarchie zerbricht. In einfachen Sozialordnungen ohne herausdifferenziertes politisches System wird Entscheidungsautorität typisch durch eine allgemeine Statusordnung institutionalisiert . In solcher Ordnung wird Fügsamkeit gegenüber höherem Status im sozialen Verkehr ohne weiteres honoriert, weil der höhere Status durchgehend für jede Beziehung, also auch für ganz andere Situationen und für Beziehungen zu anderen Partnern relevant ist. Differenzierte Sozialordnungen müssen dagegen die Statusverhältnisse mobilisieren und mehrere Aufstiegswege institutionalisieren. Das in ihnen verselbständigte politische System kann zwar eigene Aufstiegsmöglichkeiten schaffen, muß aber auf eine durchgehende Kontrolle des Statuserwerbs in der 23
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Sutton (Einf. Anm. 10), S. 71, spricht in bezug darauf von einem „deferential" stratification system of diffuse impact. Vgl. auch die Ausarbeitung dieses Gedankens bei Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —). Diese Ordnung von alle Beziehungen in gleicher Weise erfassenden Rangunterschieden ist insofern „natürlich", als sie dem Wesen des elementaren Ranges als Verteilung der Situationsherrschaft im Interesse der Selbstdarstellung (dazu Luhmann — Kap. 1 Anm. 11 —, S. 156) am besten gerecht wird. Es ist ausgesprochen schwierig und setzt eine besondere Art von Verhaltensdisziplin voraus, wenn man jemanden in einer Situation als überlegen anerkennen, ihn in anderen Situationen dagegen als gleichrangig oder gar unterlegen behandeln muß. Daher herrscht in differenzierten Sozialordnungen selbst in Situationen mit starkem Ranggefälle ein relativ egalitärer, „menschlicher", informaler Verhaltensstil. Die sozialpsychologische Forschung erfaßt dieselbe Problematik durch ihre Hypothese einer Tendenz zur „Statuskongruenz" (d. h. zur Übereinstimmung der verschiedenen Kriterien, nach denen Status zuerkannt wird) und behandelt die Verhaltensprobleme und Spannungen, die aus unvollständiger Statuskongruenz entstehen. Vgl. z.B. E. Benoit-Smullyan, Status, Status Types and Status Interrelations, American Sociological Review 9 (1944), S. 151—161; Everett C. Hughes, Dilemmas and Contradictions of Status, The American Journal of Sociology 50 (1945), S. 353—359; Stuart Adams, Status Congruency as a Variable in Small Group Performance, Social Forces 32 (1953), S. 16—22; Gerhard E. Lenski, Status Crystallization: A Non-vertical Dimension of Social Status, American Sociological Review 19 (1954), S. 405 bis 413; ders., Social Participation and Status Crystallization, American Sociological Review 21 (1956), S. 458—464; Gerd H. Fenchel/Jack H. Monderer/Eugene L. Hartley, Subjective Status and the Equilibration Hypothesis, The Journal of Abnormal and Social Psychology 46 (1951), S. 476—479; Ralph V. Exline/ Robert C. Ziller, Status Congruency and Interpersonal Conflict in Decision — making Groups, Human Relations 12 (1959), S. 147—162; Leonard Broom, Social Differentiation and Stratification, in: Robert K. Merton/Leonard Broom/Leonard S. Cottrell, Jr., Sociology Today, New York 1959, S. 429—441; Homans (Kap. 5 Anm. 12), S. 232 if.
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Gesellschaft verzichten. Politiker und Verwaltungsbeamte müssen sich daher nicht selten gegen höherrangige Mitglieder der Gesellschaft durchsetzen und benötigen deshalb besonders legitimierte Rechte zu verbindlichem Entscheiden. Es bilden sich in der Sozialordnung funktionsspezifische Statusverhältnisse und damit Statusinkongruenzen. Infolgedessen versteht es sich nicht mehr von selbst, daß die Hinnahme fremder Entscheidungen allgemeine Anerkennung findet. Es müssen besondere Institutionen geschaffen werden, die dies sicherstellen, die sozusagen den durchgehenden Charakter der alten Statusordnung, der sich nicht mehr halten läßt, in einer seiner spezifischen Funktionen ersetzen. Wenn man die Legitimität in dieser Weise auf die Struktur eines Feldes sozialer Kommunikation zurückführt (wie wir es in ähnlichem Sinne für die Individualität der Persönlichkeit, für die Zivilisiertheit der Erwartungen und für das Geldwesen getan haben), dann wird offenbar, daß die Legitimität nicht allein durch die Institutionen des politischen Systems, nicht allein durch die richtige Art von Demokratie geleistet werden kann, geschweige denn, daß sie von einem Bekenntnis zu den richtigen Werten oder dem Glauben an bestimmte Prinzipien abhinge. Selbst die nicht unwichtige Frage, ob das politische System als Einparteiensystem mit Beifallszwang oder als Mehrparteiensystem mit echten Wahlmöglichkeiten eingerichtet wird, hat demgegenüber durchaus sekundären Rang. Denn dieser Unterschied ist für die sozialen Prozesse, die staatliches Entscheiden legitimieren, nicht konstitutiv. Vielmehr ist das einfache Hinnehmen verbindlicher Entscheidungen in einer stark differenzierten Sozialordnung ebenso unvermeidlich wie jene anderen Generalisierungsprozesse, und dies allein schon deshalb, weil der Einzelne dem staatlichen Entscheiden hauptsächlich und am schärfsten auf indirekte Weise ausgeliefert ist: Warum also sollte er gerade gegen die Entscheidungen rebellieren, die ihm persönlich zugestellt werden, und mit welchem Sinn? Unter den allgemeinen strukturellen Bedingungen differenzierter Sozialordnungen ist die Legitimität der Staatsentscheidung im großen und ganzen ein sich selbst tragender Prozeß, und zwar eine Art Sprache, die nicht durch persönlichen Entschluß, sei es akzeptiert, sei es boykottiert werden kann, sondern im Gefüge der Institutionen unvermeidlich ist. Jede andere Auffassung würde dem Unterschied der Staatsverfassungen eine zu große Bedeutung für das Alltagsverhalten beimessen und verkennen, daß das Verhalten des entscheidungsbetroffenen Staatsbürgers durchweg gleichförmig ist, nämlich: kampflos akzeptierend , weil andere Reaktionen sinnlos sind und keine 24
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Das schließt nicht aus, daß er gegebene Rechtsmittel ausschöpft, geder Einflußnahme nutzt und sich dabei als agil und kritisch erweist. Das sind eröffnete Beteiligungen am Entscheidungsprozeß, während wir hier nur von definitiv verbindlichen Entscheidungen handeln. gebene Möglichkeiten
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sozialen Stützen finden. Die Gefährdungen des politischen Systems und der Gesamtordnung gehen nicht von unzufriedenen oder rebellierenden Staatsbürgern wie Von einem spontan sprudelnden Urquell aus, wenngleich sie auf diese Weise zum Ausdruck kommen können; sondern sie ergeben sich aus der Diskrepanz zwischen den verschiedenen Generalisierungsrichtungen der Kommunikationen, die, wenn sie unerträglich werden würden, eine Regression der Gesamtordnung auf eine niedrigere Entwicklungsstufe mit geringerer Differenzierung erzwingen würden. Dies vorausgesetzt, erscheinen auch die politischen Grundrechte als Funktionen jener allgemeinen Problematik der sozialen Differenzierung: mehrfache Gener alisierungsrichtungen der Kommunikation getrennt zu erhalten. Wir wollen diese Auffassung am Hauptbeispiel des aktiven Wahlrechts näher darlegen. Die Funktion des Wahlrechts kann nur durch Einsicht in eine komplex differenzierte Kommunikationsordnung begreiflich gemacht werden. Sie ist als einfache Betätigung individueller Freiheit, als Berechtigung zu freien Willenshandlungen nicht zu verstehen; schon gar nicht, wenn man unseren Freiheitsbegriff (persönlich zurechenbares Handeln) annimmt . Die Wahlbeteiligung des Einzelnen "ist sozial so fest strukturiert, sie ist vom Einzelnen her gesehen nahezu folgenlos und wird im übrigen geheim gehalten, während Freiheit gerade öffentliches Handeln erfordert , so daß man sie nicht als irgendwie wesentliche persönliche Selbstdarstellung des Wählers begreifen kann. Die latente Funktion des Wahlrechts ist eine andere: Es dient dazu, die innere Differenzierung des politischen Systems in Prozesse politischer Kommunikation und Prozesse bürokratischer Entscheidungsfertigung sicherzustellen. Mit dieser Innendifferenzierung entspricht das politische System der gesellschaftlichen Differenzierung. Es wird durch Innendifferenzierung an die spezifische Funktion des Problementscheidens gebunden, und erst dadurch, also höchst mittelbar, wird es von Übergriffen in andere Generalisierungsnotwendigkeiten, darunter die der individuellen Selbstdarstellung, abgehalten. 25
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Auch hier sei wiederum als Nebenreflexion der Hinweis gestattet, daß der kausale Freiheitsbegriff die übliche Auffassung des Wahlrechts als Freiheitsbestätigung scheinbar deckt und damit die herrschende Wahlrechtsideologie stützt, die Funktion des Wahlrechts aber verdeckt. Vgl. dazu oben S. 63 ff. Als Schutz der kausal verstandenen Freiheit eingeführt, hindert das Wahlgeheimnis die Zurechenbarkeit des Handelns, also die symbolische Implikation freien Handelns. Nicht ohne Grund hatte sich deshalb die liberale Staatslehre — Nachweise bei Krüger (Kap. 2 Anm. 4), S. 251 — darüber gewundert, daß der Bürger in seiner öffentlichen Funktion durch das Wahlgeheimnis gleichsam privatisiert werde. In Wirklichkeit dient das Wahlgeheimnis denn auch nicht der Freiheit, sondern der Rollentrennung. Siehe unten S. 159. 26
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In diesem mehrfach vermittelten Funktionszusammenhang nimmt das politische Wahlrecht eine Schlüsselstellung ein, deren Bedeutung nicht deshalb unterschätzt werden darf, weil sie nur indirekt wirksam wird. Im Gegenfall des Einparteiensystems mit nur akklamativem „Wahl"Recht tritt der Staat dem Bürger geschlossen gegenüber. Er entwirft seine Entscheidungsprogramme und verlangt und erhält dafür Beifall und Mitwirkung. Politische Erwartungen werden unvermittelt in politische Pflichten umgesetzt. Der Bürger hat kein Wahlrecht. Was so genannt wird, benutzt lediglich das Wahlzeremoniell für ganz andere Zwecke. Politisches Gewicht hat allenfalls ein Petitionsrecht. Der Bürger kann die politische Partei als Beschwerdekanal gegen die Staatsbürokratie benutzen; aber da die Programme der Partei und der Staatsbürokratie sich im Prinzip decken, bleibt diese Differenzierung der Kommunikationswege in Ansätzen stecken. Soweit sie reicht, ist Kommunikationsfreiheit institutionalisiert, darüber hinaus jedoch nicht Da* politische System ist gegen offenes, mobiles Kommunizieren mißtrauisch, weil es nicht in der Lage ist, jede beliebige Kommunikation in politische Stabilität zu transformieren. Es tendiert dazu, das gesamte Kommunikationswesen politisch zu infiltrieren, also politische Sphäre und gesellschaftliche Kommunikation zu verschmelzen, statt sich funktionsspezifisch so zu institutionalisieren, daß es sich im allgemeinen Indifferenz gegenüber gesellschaftlichen Kommunikationen leisten kann, sie seien denn für spezifische Problementscheidungen relevant. Außerdem verlangt die Ordnung ohne Wahlrecht, daß der Bürger sich in seinen Kommunikationen mit dem politischen Handlungssystem (und nicht etwa nur mit einer normativen Rahmenordnung: der Verfassung) identifiziere, sich selbst also als vollkommen loyal darstelle. Das alles sind Züge einer nicht vollständig durchgeführten gesellschaftlichen Differenzierung. Eine solche Ordnung vermag durchaus das staatliche Problementscheiden zu legitimieren; aber sie vermag ihm nicht ein funktional Spezifiziertes Maß an Konsens zuzuführen: nicht weniger als benötigt wird und nicht mehr, als mit einer differenzierten Kommunikationsstruktur der Gesellschaft vereinbar ist. Auf die Dauer wird die Fortentwicklung der sozialen Differenzierung sehr behindert werden, wenn man als tragendes Strukturprinzip lediglich die Trennung von Partei und Bürokratie nach dem Schema von Zweck und Mittel anerkennt; denn dieses Schema ist in seiner linearen Einfachheit kaum geeignet, die komplexen Probleme differenzierter Sozialordnungen in Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten umzusetzen. Die Risse dieses Systems sind im Verhältnis der quasi-religiösen Einheitspartef zur Bürokratie und zum Expertentum zu erwarten. Wird dem Bürger dagegen das politische Wahlrecht gewährt, so hat das die unmittelbare, aber weittragende Folge einer Spaltung des Kon-
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7. Kap.: Politisches Wahlrecht 1
taktes zwischen Bürger und Staat. Der Bürger nimmt eine Doppelstellung als Entscheidungsabnehmer und als Wähler ein . Gegenüber der Staatsbürokratie formuliert er seine spezifischen Interessen als Hausbesitzer, Gewerbetreibender, Steuerzahler, Sozialleistungsempfänger usw. und erhält programmäßig spezifizierte verbindliche Entscheidungen. Als Wähler steht er in einer stärker generalisierten Beziehung zum Staat. Durch die Struktur des Kommunikationsweges der politischen Wahl wird er genötigt, seine persönlichen Motive und Interessen abzustreifen . Er kann und wird aus persönlich bedingten Motiven handeln, aber er kann seinen Interessen keinen Ausdruck geben. Sie passieren den Schlitz der Wahlurne nicht, sondern bleiben davor zurück. Wirksam wird nur eine Wahl zwischen wenigen, vorbereiteten Komplexprogrammen und Personengruppen (Parteien), welche durch den Ausgang der Wahl gegebenenfalls in die Lage versetzt werden, die Staatsbürokratie besonders nachdrücklich zu informieren . Dem Bürger wird mithin ein auf das Ganze gehender, aber minimaler, unspezifischer und wenig treffsicherer Einfluß eingeräumt, und es wird von ihm erwartet, daß er deshalb die Legitimität der verbindlichen Staatsentscheidungen anerkennt, die als Ergebnis eines langwierigen, von ihm weder kontrollierten noch eingesehenen Prozesses der Informationsverarbeitung herauskommen. 27
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Ob diese Erwartung psychologisch plausibel ist, könnte man bezweifeln . Glücklicherweise beruht, wie wir sahen, die Legitimität staat30
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Diese Doppelstellung wird im allgemeinen, aber sehr zu Unrecht, durch den Unterschied eines passiven und eines aktiven Status charakterisiert. Ein solcher Eindruck entsteht, wenn man nur auf die rechtlich relevanten Willenserklärungen anstatt auf die Gesamtheit der faktischen Kommunikationen schaut. In Wahrheit ist der Bürger auch als Entscheidungsabnehmer aktiv in das Verwaltungsgeschehen verflochten: er richtet laufend eigene Mitteilungen an die Verwaltung. Und andererseits wird er als Wähler mit politischen Informationen geradezu überschüttet. Normalerweise entfaltet er in seinem aktiven Status weniger Initiative als in seinem passiven. Der Unterschied ist also mit diesen Begriffen nicht zu erfassen. Er liegt, wie der Text zeigen wird, in der unterschiedlichen Generalisierung beider Kontaktbahnen. 28
Vgl. dazu Talcott Parsons, „Voting" and the Equilibrium of the American Political System, in: Eugene Burdick/Arthur J. Brodbeck (Hrsg.), American Voting Behavior, Glencoe III. 1959, S. 80—120. In einer Vorlesung hat Parsons anschaulich auch von der „Flaschenhals-Funktion" politischer Wahlen gesprochen. Nachdrücklich, aber keineswegs exklusiv! Selbst die politische Besetzung der Verwaltungsspitze bedeutet keineswegs eine volle Determination der Verwaltung durch die siegreiche Partei. Auch die Oppositionsparteien sind mit Rücksicht auf ihre politischen Chancen zumeist in der Lage, politisch relevante Informationen in die Verwaltung hineinzuschleusen, und außerdem richtet sich die Verwaltung natürlich auch nach unpolitischen Informationen. Sie wäre es sicher nicht, wenn man den Menschen als rationales, seinen Vorteil kalkulierendes Individuum voraussetzen müßte. Gerade die frühliberale Staatslehre müßte hier also an sich selbst zweifeln. Anders und schwieriger ist die Frage zu beurteilen, wenn man ein realistischeres Men29
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lieher Entscheidungen nicht allein auf dieser Spekulation, sondern auf einer Art von unvermeidlichem, halb indifferentem Vertrauen, das sich mit gewissen Globalvorstellungen über das Funktionieren des politischen Systems begnügt. Für die Stärkung dieses Vertrauens ist vermutlich eine zweite Folgenreihe des politischen Wahlrechts von Bedeutung. Auf die erörterte Teilung der Kommunikationsbahnen des Bürgers gründet sich nämlich eine innere Differenzierung des politischen Gesamtsystems, die dessen Aktionsradius begrenzt. Die eigentliche politische Auseinandersetzung knüpft an die Wahl an. Sie wird als Kampf um eine fest begrenzte Zahl von Parlamentssitzen, also als Spiel unter Nullsummenvoraussetzung , institutionalisiert mit der Folge, daß der Gewinn einer Partei in gleichem Umfang ein Verlust für andere ist. Das ermöglicht eine spezifische Art der Rationalisierung des politischen Handelns, namentlich seine Ablenkung von Sachzielen auf substituierte Formalziele (Wahlgewinne), so daß Zwecke und Mittel gegenüber der „natürlichen" gesellschaftlichen Erwartung vertauscht und Wahlgewinne nicht um bestimmter Sachziele willen gesucht, sondern Sachziele um der Wahlgewinne willen verfolgt werden . Dadurch und 31
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schenbild zugrunde legt, in welchem das Moment der Notwendigkeit und Fähigkeit, Vertrauen zu schenken, nicht fehlen darf. Mit Recht hat kürzlich Wilhelm Hennis, Ämtsgedanke und Demokratiebegriff, Festgabe für Rudolf Smend, Tübingen 1962, S. 51—70, die Bedeutung des Vertrauensgedankens für die politische Theorie wieder in die Erinnerung gebracht. Auch die Soziologie beginnt, sich auf empirischer und theoretischer Ebene mit dem Problem des Systemvertrauens zu befassen; man denke etwa an die „Betriebsklima"Fofscfrung.Tn differenzierten Sozialordnungen gehört eine Mischung von Vertrauen und Indifferenz gegenüber Großsystemen, von denen man abhängt, ohne sie kontrollieren zu können, unvermeidlich zur Lebenshaltung des Alltags. 31
Die Bedeutung der Nullsummenprämisse für das Problem der politischen Macht bedürfte einer eingehenden Untersuchung. Ansätze dazu bei Parsons (Kap. 7 Anm. 12), S. 250 ff. Mit einer Verweisung auf die mathematische Spieltheorie ist es nicht getan. Für die folgenden Überlegungen sind drei Thesen bestimmend, die wir hier jedoch nicht näher begründen können, nämlich: (1) daß die Voraussetzung konstanter Machtsummen, um deren Teilung der politische Kampf geführt wird, nicht, wie die klassische politische Theorie annahm, sich von selbst versteht; daß sie vielmehr, (2) durch besondere institutionelle Vorkehrungen, nämlich durch Einrichtungen einer begrenzten Zahl von „Stellen" mit spezifischen Kompetenzen, ins Werk gesetzt werden muß; und daß sie (3), wenn das geschieht, nicht nur eine Rationalisierung des konkurrierenden Handelns, sondern zugleich auch eine relative Isolierung des Konfliktes nach Art eines „Spiels" gegenüber anderem gesellschaftlichen Geschehen ermöglicht, also systembildenden Charakter hat. 32
Eine bekannte Ausarbeitung dieses Gedankens ist: Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Bern 1946, S. 427 ff. Einen weniger bekannten Versuch, unter dieser Voraussetzung Rationalmodelle politischen Handelns zu entwerfen (der leider ausschließlich den Rationalitätsbegriff der klassischen ökonomischen Theorie zugrunde legt und dadurch
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7. Kap.: Politisches Wahlrecht
außerdem durch die Bindung an Ziele, die nach den Spielregeln als Parteiziele proklamiert werden müssen, wird die Legitimität des engeren politischen Spiels problematisch. Das sollte jedoch kein Anlaß zu Vorwürfen sein. Im Grunde versteht es sich von selbst, daß ein System, das Legitimität leisten soll, Legitimität nicht besitzen kann. Die unsichere Legitimation des Politikers bezeugt nur den Funktionsverlust, der als Folge jeder Spezifikation, jeder Bildung von Untersystemen zu erwarten ist. Die Politik bedarf zur Vollegitimation der Transformation ihrer Ergebnisse durch bürokratisches Entscheiden in Parlament oder Behörde. Für sich allein hat sie nur noch die Funktion, tragfähige Machtgrundlagen zu bilden. 33
Das Spiel in der politischen Arena schließt sich durch seine Regeln, welche die jeweiligen Chancen strukturieren, in sich selbst ein. Es isoliert sich bereits durch seine Kompliziertheit; es setzt so viel detaillierte und laufend auf dem Aktuellen zu haltende Kenntnisse — insbesondere Personalkenntnisse — voraus, daß es allein dadurch schon von außen uneinsehbar wird. Gewöhnliche Kommunikationen, Interessenformulierungen, Bedarfsmitteilungen, verärgerte Proteste müssen erst „überunrealistisch wird) hat Anthony Downs, An Economic Theory of Democracy, New York 1957, vorgelegt. Auch hierzu wäre mehr an Erläuterung erforderlich, als im Rahmen dieser Arbeit gegeben werden kann. Eine solche „Vertauschung von Zwecken und Mitteln" wird im allgemeinen ungern gesehen und mit Vorwürfen bedacht. Sie ist besonders von der Bürokratieforschung kritisch behandelt worden. (Vgl. insb. Robert K. Merton, Bureaucratic Structure and Personality, Social Forces 18 (1940), S. 561—568, neu gedruckt in ders., Social Theory and Social Structure, 2. Aufl. Glencoe III. 1957, S. 195—206; Peter M. Blau, Bureaucracy in Modern Society, New York 1956, S. 93 ff.; David L. Sills, The Volunteers, Glencoe III. 1957, S. 64 ff.; Heintz (Kap. 3 Anm. 20), S. 172 ff. und den scheiternden Versuch einer empirischen Verifikation bei Francis/Stone (Kap. 1 Anm. 18), insb. S. 37 ff.). Sie findet aber, in interessanter Parallele dazu, auch in der politischen Sphäre statt, wenn und soweit deren Rationalisierung durch die Nullsummenprämisse gelingt. (Die klassische Studie dieses Problems ist natürlich: Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens, Neudruck der 2. Aufl., Stuttgart o.J. (1957), die nicht nur als Studie der Parteibürokratie gelesen werden sollte.) Es handelt sich dabei nicht etwa nur um eine beklagenswerte Schwäche der menschlichen Natur, um ein kurzsichtiges Sichgefangennehmenlassen durch Nahziele, sondern um eine Umgruppierung von
Wertgesichtspunkten, die ein rationaleres Handeln nach systemspezifischen (aber nicht allgemeingültigen und insofern ausgleichbedürftigen) Relevanz-
gesichtspunkten ermöglicht. Diese Art der Rationalisierung ist ein charakteristischer Wesenszug des allgemeinen Prozesses der sozialen Differenzierung durch Bildung von Untersystemen mit divergierenden Relevanzgesichtspunkten und Generalisierungsregeln und insofern durchaus positiv zu beurteilen. 33
Dieser Legitimitätsmangel des nur einen „Teil" Darstellenden läßt sich freilich dadurch abschwächen, daß der Parteienunterschied formalisiert wird. Die Parteien vertreten dann alle Ziele der anderen Parteien auch und unterscheiden sich nur noch als Organisationen. Ihre Werbekraft beruht auf dem Vertrauen in den guten Willen und das Können ihrer leitenden Personen und auf ihrem Geschick in der situationsmäßigen Auslegung jener Ziele.
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7. Kap.: Politisches Wahlrecht
setzt" werden, um in der Sprache der Politik Aussagewert zu gewinnen. Sie werden durch die Übersetzung in andere Zusammenhänge vermittelt, mit anderen Tatsachen konfrontiert, verändert, generalisiert, und dasselbe geschieht ein zweites Mal, wenn sie als politisch relevante Information an die Verwaltung weitergegeben werden. Dadurch entsteht ein Verhältnis wechselseitiger struktureller Unabhängigkeit (relativer Invarianz bzw. unabhängiger Variabilität) zwischen Politik und anderen Gesellschaftssphären namentlich der Wirtschaft . Die soziale Differenzierung findet darin eine sehr starke, unbemerkt wirksame institutionelle Stütze. 34
Die Institutionalisierung jenes eigentümlichen Stils des rationalen Verhaltens in Machtangelegenheiten hat nicht zuletzt den Sinn, den Wechsel in der Ausübung der Macht zu regulieren und in seiner Sprengkraft zu entschärfen . Auch das ist eine Folge der Regel, daß das Machtspiel um zu besetzende Stellen — und nicht primär: um Sachzwecke — geführt wird. Auf diese Weise ist es nicht möglich, sich im politischen System unter Berufung auf Zwecke rational zu verhalten, indem man trotz einer Wahlniederlage die Macht nicht übergibt. Eine Normalisierung des Machtwechsels durch Unterordnung des Programmdenkens unter die Stimmzahlen- und Stellenorientierung hat jedoch zur Voraussetzung, daß neben der eigentlich politischen Sphäre ein anderes Untersystem geschaffen wird: die Staatsbürokratie (Parlamente, Verwaltungen, Gerichte), die programmatisch denkt und entscheidet. Sie erfordert, mit anderen Worten, eine interne Differenzierung des politischen Systems in die Bereiche Politik und Verwaltung. 35
Das politische Wahlrecht hat demnach nicht die Funktion, dem einzelnen Bürger ein Mittel der persönlichen Interessen- und Meinungs34
So ist es wohl kein Zufall, daß die oben skizzierte Auffassung von Politik besonders von wirtschaftswissenschaftlich orientierten Autoren vertreten wird, denen daran liegt, die strukturelle Kompatibilität politischer Demokratie mit sowohl kapitalistischen als auch sozialistischen Wirtschaftsordnungen (also: eine relative Strukturunabhängigkeit von Politik und Wirtschaft) nachzuweisen. Siehe außer Schumpeter namentlich Albert (Kap. 5 Anm. 5 — 1954 —), insb. S. 113 ff. 35
Regulierung des Machtwechsels in politischen Systemen bedeutet Differenzierung des politischen Konsenses in Systemkonsens und Personenkonsens. Dadurch ist jener Effekt begrenzter Mobilität erreichbar, den wir schon am Beispiel der Rechtsquellenhierarchie (oben S. 28f.) kennengelernt haben: Es werden Änderungen ermöglicht, die die Grundwerte des Systems nicht tangieren. Die Hierarchie ist nicht die einzige Form, in der solche strukturgesicherte Variabilität institutionalisiert werden kann; und die alte Doktrin, daß das Volk dem Parlament, dieses der Regierung und diese der Verwaltung „übergeordnet" sei, ist deshalb keineswegs ein unersetzbares Vorstellungsmodell der politischen Ordnung. Zur Bedeutung der Regulierung des Machtwechsels für die Konsens- und Machtbildung im politischen System vgl. im übrigen Rudolf Wildenmann, Macht und Konsens als Problem der Innenund Außenpolitik, Frankfurt-Bonn 1963.
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durchsetzung an die Hand zu geben. Es ist als individuelles Freiheitsrecht nicht zu begreifen. Es gewährt ihm vielmehr eine Teilnehmerrolle im politischen System, die für die Erhaltung bestimmter in sich differenzierter Prozesse der Informationsverarbeitung strukturwichtig ist. Der Bürger verteilt die Karten des politischen Spiels. Er profitiert nur generell davon, daß Informationen überhaupt auf diese besondere Weise behandelt werden. Sein Vorteil liegt nicht in der Chance, bestimmte Wirkungen zu bewirken; er wird durch das politische System vermittelt. Die Systematisierung der politischen Sphäre als Arena mit eigenen Relevanz- und Rationalitätskriterien, mit einer eigenen „Sprache", verbürgt zugleich eine gewisse politische Neutralität der danebengesetzten Staatsbürokratie, die sich als interessiert-betroffener Zuschauer des politischen Spiels erweist. Die Verwaltung bleibt zwar politisch hellhörig, aber sie kann nicht jedem Zug des politischen Kräftespiels widerstandslos folgen. Sie hat direkten und sehr spezifisch formulierten Kontakt mit dem Bürger als „Publikum" . Von ihr wird also Sensibilität nach zwei Richtungen und das heißt: eine gewisse Unabhängigkeit des Urteils, erwartet, und sie erfüllt diese Erwartungen im wesentlichen durch Rückzug auf zunehmend spezifische Entscheidungsprogramme, seien es Zweckprogramme oder Routineprogramme , in denen die Verwaltung ihre eigene Sprache findet, die auch der Politiker und das Publikum benutzen müssen, wenn sie die Verwaltung wirksam informieren wollen . 36
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Unserer Bundesverwaltung fehlt dieser Kontakt weitgehend. Sie lebt in einer Welt von politisch oder doch verbandsorganisatorisch schon bearbeiteten Informationen. Die Konsequenzen dieser Lage — insbesondere für ihre innere Unabhängigkeit — wären eine sorgfältige Untersuchung wert. Darüber hinaus läßt die weitgehende juristische Programmierung des Handelns der deutschen öffentlichen Verwaltung die Frage aufkommen, ob sie dadurch nicht außerstande gesetzt wird, von ihrem Publikum neue (unerwartete) Informationen zu erhalten. 37
Daneben gewinnt eine dritte Grenze des Verwaltungssystems, nämlich die zu den seelischen Bedürfnissen der arbeitenden Verwaltungsangehörigen, zunehmende Bedeutung und Legitimität. Zum Sinn und Unterschied dieser beiden Programmformen vgl. Niklas Luhmann, Lob der Routine, Verwaltungsarchiv 55 (1964), S. 1—33. Die Bedenken gegen diese Flucht in das Spezialprogramm mit der ihr eigenen Zweck-Mittel-Verschiebung liegen auf der Hand. Sie sind, aus alter politischer Abneigung gegen den Spezialisten, namentlich in der angelsächsischen Literatur erörtert worden. Das führt vor die Frage, worin sonst Garantien der inneren Unabhängigkeit und der politischen Neutralität der Verwaltung liegen können. Ganz folgerichtig entwickelt deshalb Fritz Morstein Marx, The Higher Civil Service as an Action Group in Western Political Development, in: Joseph LaPalombara (Hrsg.), Bureaucracy and Political Development, Princeton N. J. 1963, S. 62—95, aus Vorbehalten gegen den Spezialisten die Konzeption einer allgemein orientierten, prestigegewichtigen und deshalb handlungsfähigen, aber politisch unabhängigen Aktionsgruppe höherer Beamter als Kern des Verwaltungssystems. Siehe auch die in der 38
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Die Trennung von Politik und Verwaltung ermöglicht weiter, daß die Fähigkeitsanforderungen;' Erfolgsbedingungen und Verhaltensmoralen in beiden Untersystemen je für sich und daher verschiedenartig institutionalisiert werden können. Politische Agilität und Darstellungskunst auf der einen Seite, professionelles Fachwissen und positionsbedingte Detailkenntnisse auf der anderen Seite, würden unter einem Dach nicht zusammenleben können. Getrennt lassen sie sich vervollkommnen. Ein anderer Gesichtspunkt bezieht sich auf die interne Organisation der Verwaltung. Die Verwaltung muß um der Einheitlichkeit, Generalisierbarkeit und Effektivität ihres Entscheidens willen hierarchisch organisiert sein. Hierarchische Systemstrukturen sind jedoch asymmetrisch und dadurch typisch unbalanciert. Sie setzen zu ihrer Ausbalancierung eine externe Machtgrundlage der Spitze voraus. Diese kann bei kleineren Verhältnissen (Gruppen) in ungewöhnlichen persönlichen Fähigkeiten des Führers liegen, sie kann in Eigentumsrechten, sozialem Prestige oder was immer fixiert sein. Sie kann auch elastisch, funktional-spezifisch und problemnah durch besonders dafür bestimmte soziale Prozesse aufgebaut werden, und das geschieht für die Staatsverwaltung durch das Vorfeld der politischen Prozesse, in dem über die Besetzung der leitenden Verwaltungsstellen entschieden wird. Die vielleicht wichtigste Funktion dieser Trennung von Politik und Verwaltung liegt jedoch darin, die Entscheidungsunabhängigkeit der Verwaltung gegenüber ihrem Publikum sicherzustellen. Das politische Spiel organisiert die Machtgrundlage der Bürokratie, die Basis, von welcher aus die Bürokratie nach universell gültigen, abstrakten, speziell ausgearbeiteten Programmen ohne Ansehen der Person entscheiden kann, ohne dabei von den Wünschen und den besonders angebotenen Gegenleistungen des Publikums abhängig zu sein. Die Trennung von Politik und Verwaltung ermöglicht die praktische Anwendung des Gleichheitssatzes, den wir im nächsten Kapitel untersuchen werden. Ohne diese Trennung, oder überall dort, wo es der politischen Sphäre nicht gelingt, die Bedarfsmitteilungen der Gesellschaft zu absorbieren und in Entscheidungsmacht zu verwandeln, entwickeln sich an den Grenzen der Verwaltung zum Publikum partikulare Kontaktsysteme mit Tauschcharakter. Auch hier kann wieder das Beispiel der Entwicklungsländer illustrieren , wie schwierig es ist, Institutionen zu schaffen, 40
Schriftenreihe der Hochschule Speyer erscheinende Arbeit desselben Verfassers über „Das Dilemma des Verwaltungsmannes"; dazu ferner Bernard Gournay, Un Groupe Dirigeant de la Société Française: Les Grands Fonctionnaires, Revue Française de Science Politique 14 (1964), S. 265—242. Ein anderes Beispiel: Das langwierige Ringen der absoluten Monarchie des frühneuzeitlichen Europas mit der traditionell und in partikularen Rechtsbeziehungen denkenden Aristokratie — ein Ringen, das um die gesellschaftliche Autonomie der politischen Entscheidung geführt wurde und in die 40
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die das Kommunikationssystem der politischen Macht aus partikularen Bindungen befreien und generalisieren. Die Spaltung der Kommunikationswege, die dem Bürger im Verhältnis zum Staat zur Verfügung stehen, ist demnach der Ausgangspunkt des Aufbaus einer sehr komplizierten Struktur für Prozesse der Informationsverarbeitung, welche Teilsysteme mit verschiedenen Sprachen und intensiven wechselseitigen Kommunikationsbeziehungen durchlaufen. Die strukturwichtige Spannung, die in dieser Ordnung zwischen Politik und Verwaltung besteht, wird dadurch erzeugt, daß dem Bürger zwei Ausdrucksmöglichkeiten von verschiedenem Generalisierungsgrad offengehalten werden, und daß es ihm selbst überlassen bleibt, seinen Beifall oder seine Enttäuschung über spezifische Staatsentscheidungen, die ihn direkt oder indirekt betreffen, in eine Wahlentscheidung zu transformieren. Er wird damit in seiner Individualität, aber auch als Teilnehmer kleingruppenmäßiger Meinungsbildungsprozesse , für eine Funktion im Kreislauf der politisch-administrativen Kommunikation beansprucht, ohne daß jedoch seine individuelle Selbstdarstellung oder seine außerstaatlichen Kommunikationsbeziehungen dadurch politisiert würden* . Für die Erhaltung der Dynamik des politischen Systems ist vielmehr entscheidend wichtig, daß dies nicht geschieht, weil nur so'die Möglichkeit des Wechsels in der Macht und nur dadurch die Trennung der politischen Arena von der Staatsbürokratie erhalten bleiben kann. 41
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Demokratisierung der Herrschaft und die Innendifferenzierung des politischen Systems ausmündete (unabhängig davon, ob im Einzelfall der Monarch oder die Aristokratie Sieger blieb). Wichtige Aufschlüsse darüber sind namentlich der amerikanischen Forschung über Wählerverhalten zu danken, vor allem seit den beiden Erhebungen zur Präsidentenwahl 1948 bzw. 1952 von Bernard Berelson/Paul F. Lazarsfeld/William N. McPhee, Voting, Chicago 1954, und Angus Campbell/ Gerald Gurin/Warren E. Miller, The Voter Decides, Evanston III. 1954. Siehe auch die Sekundäranalysen in Burdick/Brodbeck (Kap. 7 Anm. 28) und die Forschungsübersichten bei Robert E. Lane, Political Life, Glencoe III. 1959 und bei Lipset (Kap. 2 Anm. 13), insb. S. 191 ff.; ferner Herbert McClosky/ Harold E. Dahlgren, Primary Group Influence on Party Loyalty, American Political Science Review 53 (1959), S. 757—776, und William Erbe, Social Involvement and Political Activity: A Replication and Elaboration, American Sociological Review 29 (1964), S. 198—215. 11
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Vgl. dazu das interessante Ergebnis der Forschungen von Almond/Verba (Kap. 5 Anm. 25), insb. S. 288 ff., 492, daß in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten — stärker als in Deutschland, Italien und Mexiko — die Bevölkerung sich gegen eine Politisierung ihrer privaten menschlichen Beziehungen (Familie, Freundeskreis) ausspricht, obwohl gerade in jenen Ländern die Bedeutung der „primary groups" für die politische Meinungsbildung besonders hoch eingeschätzt wird. Die Einstellung: politische Meinungen den engeren persönlichen Beziehungen zu entnehmen, sie aber dort nicht zum Brennpunkt möglicher Konflikte zu machen, scheint mit i h r e r inneren Widersprüchlichkeit zur erfolgreichen Trennung und Verbindung des politischen Systems und der übrigen Gesellschaftsordnung beizutragen.
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Wichtigste Vorbedingung dafür ist: daß der soziale Anspruch auf politische Zustimmung in seiner natürlichen Entwicklung zur Norm gehemmt wird. Entgegen dem, was man in allen einfachen Sozialordnungen erwarten müßte, wird das Bekenntnis zu bestimmten Programmen oder bestimmten Führern (die sich jeweils durchgesetzt haben) nicht als Pflicht behandelt . Trotz stärkster Interessen, trotz mit Verve vorgetragener Zustimmungserwartungen bleibt deren Anerkennung zugestandenermaßen frei — eine Einrichtung, deren Künstlichkeit und deren Einführungsschwierigkeiten man sich vor Augen führen muß, will man die komplizierten Voraussetzungen verstehen, von denen die soziale Differenzierung auch hier abhängt. 43
Hieraus ergeben sich Folgerungen für die Rolle des Wählers, welche die Vorstellung des „rationalen Wählers" und die entsprechenden Verhaltenszumutungen der liberalen Staatslehre beträchtlich abschwächen . Die Rolle des Wählers setzt nicht, wie man oft hört, einen aufgeklärten, urteilsfähigen oder gar „politisch gebildeten" Zeitungsleser voraus. Haben mehr als zwei Parteien politisches Gewicht und müssen infolgedessen Koalitionen gebildet werden, ist die politische Konstellation für den Wähler so unübersichtlich, daß er eine Partei nicht auf Grund eines abgewogenen Urteils über ihr politisches Verhalten wählen kann, sondern nur auf Grund ihrer proklamierten Ideologie; die Parteien müssen sich ideologisch differenzieren, um dem Wähler nichtrationale Entscheidungshilfen zu geben. Im Zweiparteiensystem dagegen unterscheiden sich die Alternativen programmäßiger Art, die dem Wähler gestellt werden, so wenig, daß er ohnehin nur aus mehr oder weniger irrationalen Gründen wählen kann . Ein gewisser common sense, der Extremfälle und skandalöse Mißgriffe aussiebt, ist natürlich unerläßlich, ebenso wie eine gewisse Rollenkenntnis, die weiß, welche Mitteilungen auf welchen Weg gehören. Die Anforderungen intellektueller und informativer Art können aber erheblich herabgesetzt werden. 44
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Als Kontrast vgl. Max Webers Ausführungen über die Pflicht zur Anerkennung des Charismas (Kap. 5 Anm. 18), S. 140 und S. 663. Auch bei traditionaler Legitimität wird — obwohl unter weniger problematischen Bedingungen und daher weniger ausdrücklich — die Anerkennung normativ gefordert. Nur wo es gelingt, die Anerkennung des Systems von der Anerkennung der Zwecke und Führer im System institutionell zu trennen, kann die letztere auch normativ der individuellen Entscheidung überlassen werden. Daß diese Vorstellung einst den praktischen Sinn hatte, Volksschichten ohne „Bildung und Besitz" von der Wahl fernzuhalten, vermag ihre heutige Verbreitung ebenfalls nicht zu erklären. Zur wachsenden Kritik vgl. die oben Anm. 41 und 42 zitierte Literatur. Hierzu trägt Parsons (Kap. 7 Anm. 28), S. 94 ff., den wichtigen Gedanken 44
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bei, d a ß diese N o t w e n d i g k e i t n i c h t r a t i o n a l e r E n t s c h e i d u n g s h i l f e n bei d e r W a h l
das politische System abhängig macht von Ordnungsleistungen, die in anderen Sektoren der Gesellschaft erbracht werden.
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Statt dessen zeigen Überlegungen der funktionalen Theorie in Übereinstimmung mit den Ergebnissen der empirischen Wahlforschung immer deutlicher, daß die Fähigkeit zur Rollentrennung das entscheidende Strukturmerkmal ausmacht. Erst die Trennung der politischen Rolle des Wählers von seinen anderen, seinen wirtschaftlichen, berufsmäßigen, familiären, assoziativen, kulturellen Rollen, wie sie in der gesamten Wählerschaft in sehr verschiedener Streuung und Kombination vorhanden sind, gibt der politischen Auseinandersetzung die Eigenart eines relativ unabhängigen, riskanten und dadurch disziplinierten Geschehens. Das politische Handeln ist dann nicht fest an spezifische, wirtschaftliche, lokale, konfessionelle Interessen gebunden, obwohl es sie alle berücksichtigen muß. Es besteht zwischen Staat und Gesellschaft mithin kein Verhältnis „invarianter Korrelation", sondern ein Verhältnis „unabhängiger Variabilität", das durch Entscheidungen zu koordinieren ist. Erst dadurch kommt die Chance des Gewinnens und Verlierens im politischen Kampf, des Wechsels der Mehrheit, zustande . Und erst diese Rollenvielfalt und Rollentrennung gewährleistet, daß der Gegensatz der Parteien, vor allem im Zweiparteiensystem, auf die politische Sphäre beschränkt bleibt, sich nicht mit genau der gleichen Frontenbildung in die religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen, familiären, vereinsmäßigen Beziehungen fortsetzt und so die Gesellschaft durchgehend zerreißt . 46
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Rollentrennung bedeutet natürlich nicht, daß der Wähler seinen anderen Rollen keine Motive für die Wahlentscheidung entnimmt oder entnehmen sollte; vielmehr nur: daß diese Übertragung sich nicht automatisch vollzieht, weil der Zusammenhang evident ist — wie v/enn ein Arbeiter sozialdemokratisch wählt, ohne Alternativen zu sehen. Das heißt also, daß die Wahl einer Überlegung und Entscheidung angesichts 48
Vgl. zu dieser Ubereinstimmung besonders Parsons (Kap. 7 Anm. 28). Hier sei an das in der Wahlsoziologie viel diskutierte und sehr unterschiedlich beurteilte Phänomen der „floating votes" erinnert. Vgl. den Forschungsüberblick bei Max G. Lange, Politische Soziologie, Berlin-Frankfurt 1961, S. 122 ff. Hierzu sei angemerkt, daß differenzierte Gesellschaften zwar ein größeres Innenkonflikts-Potential aufweisen als undifferenzierte Gesellschaften, trotzdem aber stabiler sein können, weil (1) die Konfliktslinien mannigfach gebrochen sind, so daß es schwierig ist, für einen offenen Streit Verbündete zu finden, die nicht zum Gegner irgendwelche Rollenbeziehungen unterhalten müssen; und weil (2) die Interessen stärker spezifiziert sind, so daß sich mehr Kombinations- und Kompensationsmöglichkeiten als Grundlage einer Verständigung finden lassen. Siehe dazu manches schon bei Georg Simmel, Soziologie, 2. Aufl. München-Leipzig 1922, S. 186 ff. Ferner Lewis A. Coser, The Functions of Social Conflict, Glencoe III. 1956, und die interessanten Feststellungen von Gluckman (Kap. 7 Anm. 10), daß bei einigen afrikanischen Volksstämmen schon eine geringfügige Differenzierung der Loyalitäten durch ein weit verzweigtes System von Familienbindungen praktisch ausreicht, um die Friedensfunktion einer politischen Herrschaft zu erübrigen. 47
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von Alternativen bedarf. Durchweg disponieren den Wähler eine Mehrheit von Rollen und nicht zuletzt auch sein Selbstverständnis als individuelle Persönlichkeit zur Wahl, und dies nicht selten in einem widerspruchsvollen Sinne. Die individuelle Entscheidung trägt mithin die Spannung eines Schnittpunktes verschiedener Kommunikationskreise, ein Dilemma, aus dem die detachierte Rationalität der vermeintlich sachlichen Wahlentscheidung, die indifferente Apathie dessen, der sich durch das letzte Plakat beeinflussen läßt, die Linientreue dessen, der immer die gleiche Partei wählt und sich auf diese Weise vor der Entscheidung drückt, die Wahlenthaltung und die hektische Hingabe an Modeströmungen oder beliebte Führerpersönlichkeiten verschiedene, funktional äquivalente Auswege anbieten. Die Stabilität der politischen Ordnung beruht vermutlich vor allem darauf, daß nicht eine dieser Tendenzen einseitig und langfristig dominiert. Erleichtert wird dieses Dilemma im übrigen durch die Institution des Wahlgeheimnisses, wie ja stets in Positionen, die widerspruchsvollen Erwartungen ausgesetzt sind, der Bedarf nach einer Geheimsphäre entsteht . Geschichtlich gesehen, hatte das Wahlgeheimnis den Sinn, in einer Lage mit noch unvollständiger Trennung von Staat und Gesellschaft den Wähler vor den Rollenerwartungen des politischen Systems zu schützen. Aber das ist nur eine der möglichen Druck- und Verschmelzungstendenzen. Die liberale Theorie rechtfertigt das Wahlgeheimnis als Bedingung „wahrer" Meinungsäußerung, sah also die Wahrheit als Leistung des sozial unbeeinflußten Individuums . In der neuen soziologischen Perspektive erscheint es als Mechanismus der Rollentrennung, der in den politischen Grundrechten verankert ist. Der Schutz gegen Einblick erleichtert praktisch die Wahlentscheidung unter widerspruchsvollen Zumutungen, indem er dem Einzelnen überläßt, wie, wem und welchen Aufschluß er über seine Entscheidung gibt . 49
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Das gilt z. B. für Verbindungsrollen in Organisationssystemen; vgl. Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 212 ff., 234. Zum Teil mag auch der bürgerliche Wunsch nach privater Häuslichkeit und geschützter, unzugänglicher Intimsphäre hier seine Erklärung finden. Siehe den Rückblick auf die Geschichte des Instituts von Erwin Jacobi, Zum geheimen Stimmrecht, Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, München 1955, S. 141—153. So namentlich Stein Rokkan, Mass Suffrage, Secret Voting, and Political Participation, Europäisches Archiv für Soziologie 2 (1961), S. 132—152 (133) und ders., The Comparative Study of Political Participation: Notes Toward a Perspective on Current Research, in: Austin Ranney (Hrsg.), Essays on the Behavioral Study of Politics, Urbana III. 1962, S. 45—90 (insb. 66 ff., 77 ff.). Eine eigene Beobachtung vermag diese These zu stützen: In dem Dorf, in dem ich wohne, das konfessionell einheitlich ist und intensive soziale Verflechtungen aufweist, war es trotz weiter Unzufriedenheit mit dem Gemeinderat nicht möglich, zur letzten Kommunalwahl eine Wahlliste d e r Oppositionspartei aufzustellen, weil nicht genügend Kandidaten bereit gewesen wären, persönlich sichtbar und politisch-prinzipiell sich mit einer 50
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Das politische Grundrecht der allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahl vermag nach all dem gewiß nicht als nacktes geschriebenes Recht, wohl aber unter angebbaren weiteren Voraussetzungen eine echte Grundrechtsfunktion zu erfüllen, nämlich: die gesellschaftlichen Prozesse der Bildung legitimer Macht durch Generalisierung politischer Kommunikationen getrennt zu halten von anderen Rollenpflichten und Kommunikationsnotwendigkeiten und ihnen eben dadurch eine gewisse Autonomie und eine spezifische Rationalisierbarkeit zu gewähren. Die systeminterne Rationalisierung des Problementscheidens nach eigenen Kriterien tritt an die Stelle einer Orientierung an rein externen Schranken des Handelns, den Grenzen physischer Zwangsgewalt oder vorhandener Loyalitäten. So kann die Ümweltproblematik des politischen Systems weitgehend intern verarbeitet werden; die Verlagerung der Probleme von außen nach innen ermöglicht größere Systemautonomie und bessere Leistungen in spezifischen Funktionen. Unter den Voraussetzungen dieser Leistung ist ein hohes Maß an gesellschaftlicher Rollendifferenzierung die wichtigste . Ohne sie ist es, wie auch hier wieder Erfahrungen aus Entwicklungsländern lehren, kaum möglich, der politischen Wahl den Sinn der Konstitution eines neuartigen Handlungskreises zu geben. Und wenn das nicht geschieht, bleibt die Verwaltungsbürokratie, soweit es überhaupt gelingt, sie aufzubauen, zwar dominierende Staatsanstalt ; aber sie wird durch un52
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abweichenden Richtung zu identifizieren. Die Liste einer „unpolitischen" freien Wählergruppe errang dagegen fast die Hälfte aller Stimmen. Für Kandidaturen gibt es naturgemäß nicht den Schutz des Wahlgeheimnisses. Nicht zu unterschätzen ist natürlich auch die Notwendigkeit eines zuverlässigen, politisch neutralen Verwaltungsapparates, der die Registrierung der Bevölkerung und die Wahlen selbst durchführt. Hierzu aus der Perspektive der britischen Kolonialverwaltung T. E. Smith, Elections in Developing Countries: A Study of Electoral Procédures Used in Tropical Africa, South-East Asia and the British Caribbean, London 1960. Siehe auch W. J. M. Mackenzie/Kenneth Robinson (Hrsg.), Five Elections in Africa, Oxford 1960; Jaques J. Maquet/Marcel d'Hertefelt, Elections en société féodale: Une étude sur l'introduction du vote populaire au Ruanda-Urundi, Brüssel 1959. 52
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Vgl. Lucian W. Pye, The Political Context of National Development, in: Irving Swerdlow (Hrsg.), Development Administration: Concepts and Problems, Syracuse N. Y. 1963, S. 25—43, und die Studien in dem schon zitierten, von Joseph LaPalombara herausgegebenen Sammelband, welche sehr deutlich die amerikanischen Besorgnisse über den ungleichen Entwicklungsstand des demokratisch-politischen Lebens und der Verwaltungsbürokratien in Entwicklungsländern widerspiegeln. Ein ausbalanciertes Miteinanderwachsen beider Teile des politischen Systems kann aber gewiß nicht allein durch Einführung politischer Grundrechte und Institutionen nach westlichem Muster erreicht werden. Der Gedanke, die politische Sphäre zunächst einmal durch Einheitsparteien zu aktivieren, erscheint selbst den Amerikanern heute nicht mehr als völlig unverständlich, obwohl natürlich niemand sagen kann, was daraus werden wird. Siehe auch den wichtigen Hinweis von Parsons (Kap. 1 Anm. 7), S. 248, daß die geschichtlichen Anfänge der Bürokratie und der
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vermittelte Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen Sonderinteressen und partikularen Bindungen gefesselt. Es fehlt ihr dann die Eigenschaft eines Systems mit mehreren Grenzen, die es ihr gestatten würde, einen neutralen Standpunkt und eine unabhängige Leistungsfähigkeit zu gewinnen. Und sie muß sich ihre Legitimitätsgrundlagen selbst beschaffen, kann also nicht bloß entscheiden, sondern muß werben und anregen, belehren und Interessen artikulieren, überreden und zwingen, kurz: politische Funktionen miterfüllen . 64
Die viel erörterten Schwierigkeiten bei der Kombination von Bürokratie und politischer Demokratie legen demnach eine wichtige Hypothese nahe: Beide Teilsysteme der politischen Gesamtordnung lassen sich nur dann gemeinsam ausbilden und verbinden, wenn das politische System insgesamt funktionsspezifisch begrenzt und gesellschaftlich ausdifferenziert ist. Nur wenn es dadurch einerseits von Problemen entlastet, andererseits gesellschaftlich relativ autonom gestellt wird, kann die Koexistenz so heterogener Elemente wie Politik und Verwaltung gelingen. Die Innendifferenzierung des politischen Systems in Politik und Verwaltung setzt die allgemeine gesellschaftliche Differenzierung voraus.
politischen Demokratie in verschiedenen Gesellschaften, also getrennt, entstanden sind, und daß der erste Versuch ihrer Verbindung in Rom mißlang. Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Problems of Emerging Bureaucracies in Developing Areas and New States, in: Bert F. Hoselitz/Wilbert E. Moore, Industrialization and Society, o.O. (UNESCO-Mouton) 1963, S. 159—174; Alvin H. Hanson, The Administration of Planning, Indian Journal of Public Administration 9 (1963), S. 149—161; H a m z a h M e r g h a n i , P u b l i c Administration in Developing Countries — The Multilateral Approach, in: Burton A. Baker, Public Administration: A Key to Development, Washington 1964, S. 25—40. 54
Achtes Kapitel
Die Begründung der Staatsentscheidungen: Gleichheit vor dem Gesetz Dem klassischen Katalog der Grundrechte haben wir zunächst die sogenannten Freiheitsrechte entnommen und die Gleichheitsrechte dabei übergangen. Die soziale Funktion der Freiheitsrechte steht in ihrer Einheitlichkeit und ihrer Verzweigung, wenngleich nicht so unkompliziert persönlichkeitsbezogen, wie die herrschende Dogmatik annimmt, nunmehr vor Augen. Damit ist die Grundlage gewonnen, von der aus wir uns mit einem nächsten Schritt den Gleichheitsrechten zuwenden können. Hierbei wird uns die Frage leiten, ob wir die bisher gewonnene Bestimmung der Grundrechtsfunktion als Schutz der gesellschaftlichen Differenzierung gegen regredierende Verschmelzungstendenzen des politischen Systems beibehalten können; oder ob wir sie erweitern müssen, um die Gleichheitsrechte einbeziehen zu können; oder ob die Funktionen beider Grundrechtsgruppen gar so heterogen sind, daß sie sich nicht in einer geschlossenen Konzeption zusammenfassen lassen, sondern sich als ein zufälliges, nur historisch bedingtes Nebeneinander erweisen. Das 18. Jahrhundert hatte die Rechte auf Freiheit und Gleichheit in der Natur des Menschen als Vernunftwesen verankert. In ihrer Vernunft erschienen alle Menschen gleich — das wurde bewiesen durch die Möglichkeit, im Fortschritt der Wissenschaft Konsens zu erzielen —, und durch ihre Vernunft seien sie, so konnte man annehmen, in der Lage, ihre Freiheit an der gleichen Freiheit anderer zu begrenzen. Das konkrete Individuum spielte in dieser sehr zu Unrecht als „individualistisch" verschrieenen Lehre keine Rolle. Erst die Proklamation des Gefühls — eines ganz individuellen Äquilibrierungsprozesses — als Grundbestand der Menschlichkeit des Menschen durchbrach diese Konzeption, und im 19. Jahrhundert zerbrach sie auch angesichts der sozialen Fakten. Das Individuum und die Gesellschaft treten konkreter, aber damit auch spannungsgeladener und dynamischer in den Blick. Freiheit und Gleichheit wurden nun als divergierende Wertrichtungen begriffen, deren Widerspruch als Antrieb der Entwicklung, deren Ausgleich als Aufgabe gesehen wurde. Das 20. Jahrhundert hat seine Auffassung zu dieser Frage noch nicht enthüllt.
8. Kap.: Gleichheit vor dem Gesetz
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Vielleicht beginnen wir am besten mit der Einsicht, daß die glatte begriffliche Gegenüberstellung von Freiheit und Gleichheit eine allzu einfache und schon darum unbrauchbare Fassung des Problems darstellt — insofern vergleichbar mit der ihr eng verwandten Annahme eines strikten Gegensatzes von Individuum und Kollektiv. Ein so formuliertes Problem kann man allenfalls dialektisch ausspielen, aber nicht eigentlich lösen. Wir haben diese Formel auf seiten der Freiheit untersucht und herausgefunden, daß ihr eine komplex differenzierte Rollenstruktur zugrunde liegt, die nach verschiedenen Richtungen: durch Individualisierung der Persönlichkeit, Zivilisierung der Verhaltenserwartungen, Geldorientierung des wirtschaftlichen Bedarfs und durch Legitimierung der politischen Macht generalisiert werden muß, um die Sozialstruktur einer differenzierten Gesellschaftsordnung tragen zu können. Die Gleichheitsforderung stellt dem nicht eine weitere schutzbedürftige Generalisierungsrichtung an die Seite, sondern sie bezieht sich auf alle vier zusammen. Ihr Unterschied zu den Freiheitsrechten liegt nicht in der Funktion, also nicht im letzten Grund des Rechtsschutzes, sondern in der geregelten Handlungssphäre. Die Freiheitsrechte formulieren ein Handlungsrecht des Bürgers. Sie sehen die unmittelbare Gefahr in einem fehlgelenkten Handeln des Einzelnen und verpflichten deshalb den Staat, eine Freiheitssphäre des Bürgers zu achten und zu bewahren. Das Recht des Bürgers ist das primäre Rechtsgut; der Staat wird um seinetwillen verpflichtet. Mit dem Gleichheitsrecht verhält es sich entgegengesetzt. Sein Bezugsproblem ist unmittelbar das Handeln des Staates, sofern es den strukturellen Anforderungen einer differenzierten Gesellschaft nicht gerecht wird, und erst sekundär erhält der Bürger als Reflex dieses Ordnungsinteresses ein subjektives Gleichheitsrecht, um die primäre Pflicht des Staates kontrollieren und sanktionieren zu können. Die im Grundrecht verankerte Willensmacht des Bürgers hat hier deshalb nur juristische, nicht sein eigenes faktisches Handeln leitende Bedeutung. In beiden Fällen korrespondieren Recht und Pflicht zwar genau; aber das Regelungsinteresse und die Formulierung des Gesollten setzen im einen Fall beim Recht des Bürgers, im anderen bei der Pflicht des Staates an. Wenn diese Auffassung zutrifft — und wir werden sie im folgenden näher zu begründen versuchen —, ist die Unterscheidung von Freiheits- und Gleichheitsrechten durch die Konstitution des Staates als eines spezifisch-politischen Aktionssystems bedingt. Sie ist mithin selbst ein Folgeproblem der sozialen Differenzierung. Das bestärkt unsere Ver1
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Vgl. auch meine stärker auf die gegenwärtige Diskussion und die Rechtsprechung zum Gleichheitssatz eingehenden Ausführungen in: Luhmann (Kap. 6 Anm. 49), S. 52 ff.
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8. Kap.: Gleichheit vor dem Gesetz
mutung, in der sozialen Differenzierung das letzte Bezugsproblem nicht nur für die Freiheitsrechte, sondern auch für die Gleichheitsrechte, ja sogar für die Unterscheidung dieser beiden Rechtsgruppen zu finden. Wenn sich in einer Sozialordnung ein relativ autonomes Teilsystem für verbindliches Entscheiden herausbildet, können von ihm zwei Arten der Gefährdung ausgehen. Die eine liegt darin, daß der Bürger durch verbindliches Entscheiden zu einem Verhalten genötigt wird, das der differenzierten Sozialstruktur nicht entspricht — dem wirken die Freiheitsrechte entgegen; die andere liegt darin, daß die Entscheidungen des Staates selbst sich mit den strukturellen Anforderungen einer differenzierten Sozialordnung nicht vertragen — dem wirken die Gleichheitsrechte entgegen. Dieser Unterschied wird von der Rechtsordnung „objektiviert", aus einem Unterschied von Bezugsproblemen in einem Unterschied von Rechtsgütern und von subjektiven Rechten transformiert, deren Verschiedenheit dann die Einheit der Funktion verdeckt und latent bleiben läßt . 2
Die Dogmatik des Gleichheitsgrundsatzes interpretiert demgemäß wie jede Dogmatik einen schon konstituierten Sinnzusammenhang. Sie nimmt vor allem zwei Ausgangspunkte als gegeben hin: daß das Gleichheitsprinzip ein Grundrecht im Sinne eines subjektiven Anspruchs gegen den Staat sei, und daß Gleichheit ein Wert sei, wobei man gemeinhin an die Komponente des Wertkomplexes der Gerechtigkeit denkt. Diese beiden Prämissen stehen einem unbefangenen Zugang zum Sinn des Gleichheitsgedankens im Wege. Ihre Überprüfung wird daher der beste Weg sein, eine funktionale Analyse des Gleichheitsprinzips einzuleiten. Die Vorstellung der Gleichheit als eines subjektiven Rechtes ist im 18. Jahrhundert aufgekommen im Zuge der Herauslösung des Rechtsdenkens aus der ethischen Denktradition und der Umstellung vom Pflichtnorm-Denken auf ein Anspruchs-Denken . Sie ist bis heute von der Rechtsdogmatik, und hier namentlich von der Theorie der subjektiven Rechte, nicht eigentlich absorbiert worden. Es bleibt rätselhaft, wieso jemand, der ein bestimmtes subjektives Recht hat, nicht nur Behandlung nach Maßgabe seines Rechts, sondern außerdem und daneben noch beanspruchen kann, gleich behandelt zu werden. Die Auflösung des Eigentumsbegriffs durch die Enteignungsrechtsprechung ist eine eindrucksvolle Illustration dieser Problematik. Wo der Gleichheitsgedanke in Anspruchsform Fuß faßt, scheint er mit der Zerstörung individuell-prägnanter, wohlerworbener subjektiver Rechte bezahlt werden zu müssen. 3
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Diesen Gedanken werden wir im 10. Kapitel wieder aufnehmen und ausarbeiten. Dazu bereits oben S. 27. 3
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D a r ü b e r sollte m a n sich nicht w u n d e r n . D e n n der G l e i c h h e i t s g e d a n k e ist i m o b j e k t i v e n R e c h t z u H a u s e u n d h a t d o r t eine s o g r u n d s ä t z l i c h e B e d e u t u n g , daß er die F a s s u n g s k r a f t eines s u b j e k t i v e n E i n z e l r e c h t s n o t w e n d i g sprengt. E r dient als P r i n z i p d e r G e n e r a l i s i e r u n g des o b j e k t i v e n Rechts, u n d läßt sich in dieser F u n k t i o n in der engen P e r s p e k t i v e eines besonderen s u b j e k t i v e n Rechts, u n d sei es eines G r u n d r e c h t s , schlechterdings nicht begreifen. V e r s u c h t m a n das, so löst m a n das s u b j e k t i v e R e c h t d a m i t a u f oder m a n b e h a n d e l t den G l e i c h h e i t s g e d a n k e n i n a d ä q u a t . W i e m a n i n d e n Wirtschaftswissenschaften u n d i n d e r S o ziologie „ M a k r o " - u n d „ M i k r o " - E b e n e n d e r P r o b l e m f o r m u l i e r u n g u n terscheidet, so w i r d m a n auch in d e r Rechtswissenschaft l e r n e n müssen, daß gewisse S t r u k t u r p r o b l e m e des o b j e k t i v e n R e c h t s nicht u n m i t t e l b a r als s u b j e k t i v e R e c h t e f o r m u l i e r t w e r d e n k ö n n e n — eine E i n s i c h t , die besondere O p e r a t i o n e n der T r a n s f o r m a t i o n v o n einer E b e n e i n die a n dere nicht ausschließt, s o n d e r n gerade f o r d e r t . D e r Gleichheitssatz besagt natürlich nicht, daß j e d e r m a n n die gleichen Rechte h a b e n soll (in w e l c h e m F a l l e der C h a r a k t e r des Rechtes als R e c h t u n v o r s t e l l b a r w ü r d e ) , w o h l a b e r : d a ß die R e c h t s o r d n u n g einer differenz i e r t e n Gesellschaft nach b e s t i m m t e n s t r u k t u r e l l e n A n f o r d e r u n g e n generalisiert sein m u ß . U n t e r diesen A n f o r d e r u n g e n ist die wichtigste die „ E n t z e i t u n g " des Rechts. D a s R e c h t m u ß zeitlich generalisiert w e r den i n d e m S i n n e , daß die Rechtsentscheidung i m P r i n z i p nicht v o n d e m Z e i t p u n k t a b h ä n g t , i n d e m sie getroffen w i r d . E i n Rechtsfall m u ß a m 1 7 . J u n i ebenso entschieden w e r d e n w i e a m 18. J u n i , e s sei d e n n , daß das d e n F a l l regierende R e c h t i n z w i s c h e n g e ä n d e r t w u r d e . D i e s e E n t z e i t u n g des Rechts ist d i e G r u n d p r ä m i s s e rationaler R e c h t s v e r w a l t u n g . O h n e sie k ö n n t e m a n Rechtsentscheidungen nicht e r w a r t e n , sich a n 4
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Sehr vorsichtig interpretiert, könnte Gerhart Husserls Begriff der „Entzeitung" zur Orientierung dienen. Vgl. Recht und Welt, in: Festschrift für Edmund Husserl, Halle 1929, S. 111—158, neu gedruckt in: Gerhart Husserl, Rechtsphilosophische Abhandlungen, Frankfurt 1964, S. 67—114, und ders., Recht und Zeit, Frankfurt 1955. Im Grunde meinen wir aber nicht einen erkenntnistheoretischen Begriff, sondern eine konstituierende Leistung, die sich primär in Prozessen sozialer Kommunikationen vollzieht. Siehe auch die kritischen Bemerkungen von Heller (Kap. 1 Anm. 6), S. 190. Die Wendung, die Edmund Husserl selbst in seinen letzten Lebensjahren zur „Intersubjektivität" des Bewußtseins hin vollzog, könnte hier jedoch eine Brücke bilden. 5
In ähnlichem Sinne übrigens, wie die Entzeitung der Kausalität Grundprämisse der neuzeitlichen Naturwissenschaften ist. Sie bedeutet nämlich: daß der Zeitpunkt selbst nicht kausal wirkt (daß es in diesem Sinne kein „Glück" gibt). Erst unter der Voraussetzung eines akausalen Zeitbegriffs war es möglich, für jede Veränderung der Natur eine spezifische, empirisch feststellbare Ursache zu postulieren. Die Entzeitung der Kausalität und die Entzeitung des Rechts durch den Gleichheitssatz sind parallel entwickelte Anwendungsformen des allgemeinen Satzes vom Grunde, und es ist somit kein Zufall, daß diese drei Axiome etwa gleichzeitig in das geschichtliche Bewußtsein treten.
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ihnen nicht vorwegnehmend orientieren. Ohne sie wäre weder ein zeitverbrauchendes Rechtsentscheidungsverfahren noch eine Rechtsetzung oder eine Änderung geltenden Rechtes denkbar. Ohne Gleichheit in diesem zeitlichen Sinne wäre es unmöglich, zwischen Rechtsänderung und Willkür zu unterscheiden. Diese Möglichkeit sachlicher Rechtsänderung (im Unterschied zum willkürlichen Rechtsspruch in einem konkreten Zeitpunkt) wird durch die Zeitgleichheit des Rechts geschaffen. Und damit wird die alte Sicherung des Rechts durch die Vorstellung ewiger, unabänderlicher Geltung entbehrlich, das Recht wird positivierbar. Der Sinn der zeitlichen Generalisierung des Rechtes liegt also nicht in der ontologischen Überspannung des Gleichen zu ewiger Permanenz, sondern in der Spezifizierbarkeit von Rechtsänderungen, letztlich in der Möglichkeit, das Recht ohne Verlust an Geltungssicherheit durch Überantwortung an staatliche Entscheidungsinstanzen zu positivieren. Es gilt dann jeweils gesetztes Recht so lange unverändert und gleich, bis es auf vorgeschriebene Weise geändert wird. Das Gleichheitsprinzip ist insofern Vorbedingung zentralisierter, rationaler, im politischen System kontrollierbarer (und in diesem Sinne: verantwortlicher) Herrschaft des Menschen über das Recht. Die antike Auslegung der Gerechtigkeit als Gleichheit trug im Keime die Möglichkeit in sich, das Recht zur Sozialtechnik eines politischen Systems zu entfalten. Zeitliche Generalisierung setzt ein Mindestmaß an sachlicher und sozialer Generalisierung voraus. Sie zwingt zu mehr oder weniger abstrakter Normbildung; denn konkrete Fälle wiederholen sich nicht. Sie kann daher nicht auf alle Umstände des Einzelfalles und nicht auf die volle Individualität der beteiligten Personen Rücksicht nehmen. Auch das schließt jedoch — wie in der Zeitdimension — Unterschiede keineswegs aus, sondern besagt nur: daß sie spezifiziert werden müssen. Eine solche Generalisierung des Rechts ist um so unausweichlicher, je schwieriger es wird, die notwendige Rollenkomplementarität zu sichern, je stärker also die Sozialordnung sich differenziert. In dem Maße, als die Differenzierung die Ausbildung eines relativ autonomen politischen Entscheidungssystems ermöglicht, erzwingt sie dann auch die Uberführung des Rechts in die Verwaltung dieses Systems . Die verschärften strukturellen Anforderungen, die eine hochdifferenzierte Sozialordnung an das Recht stellt, lassen eine Generalisierung nach Art der mittel6
• Der Umschlag vollzieht sich im übrigen relativ rasch. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatte keine Staatsbürokratie der Weltgeschichte die volle Souveränität über das Recht beansprucht. Seit dem 19. Jahrhundert ist diese Souveränität dagegen so selbstverständlich, daß das Grundgesetz sich als Gesetz (!) bewogen fühlte, ihr ausdrücklich abzuschwören.
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alterlichen Legeshierarchie im Aufstieg zu inhaltlich verallgemeinerten, immer unbestimmteren und gerade insofern höherrangigen, ewig geltenden Normen nicht zu. Sie erfordern in der Positivität des Rechts ein formales Generalisierungsprinzip, das eine Spezifikation nicht ausschließt, sondern gerade als Schema für sie dient . Und sie zwingen dazu, Entscheidungsinstanzen zu schaffen, welche die erforderliche Spezifikation leisten, sie rational kontrollieren und nach Bedarf dem Wechsel der Umstände anpassen. 7
Sozialstrukturelle Notwendigkeiten dieser Art lassen sich schlechterdings nicht in einem spezifischen subjektiven Recht auf Gleichheit unterbringen. Das Gleichheitsprinzip ist von Hause aus kein subjektives Recht. Deshalb hatte man sich lange Zeit hindurch auch damit begnügt, das Grundrecht auf „Gleichheit vor dem Gesetz" als Recht auf Anwendung des Rechts, also leerlaufend zu deuten. Doch ging diese Einschränkung des Gleichheitsrechtes auf Rechtsanwendungsgleichheit zu weit. Im Gleichheitsprinzip sind ja durchaus und gerade Forderungen an den Gesetzgeber enthalten; ist es doch seine Sache, dem positiven Recht eine Form zu geben, die den strukturellen Anforderungen der Sozialordnung entspricht, also zeitlich-sachlich-sozial generalisiert und spezifizierbar ist. Mit dem wachsenden Mißtrauen gegen den Gesetzgeber hat sich noch unter der Weimarer Verfassung die Auffassung vorgedrängt, der Gleichheitssatz binde auch den Gesetzgeber . Sie kann heute als ganz herrschende Meinung gelten, zumal sie in Art. 1 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG auch in der Verfassung zum Ausdruck zu kommen scheint. 8
Eine Klärung des Gleichbehandlungsanspruchs in seinem Inhalt und seinem Verhältnis zur Theorie subjektiven Rechts ist damit freilich picht erreicht. Praktisch erweitert das Gleichheitsgrundrecht die Möglichkeiten der Verteidigung subjektiver Rechte um die Befugnis, eine verfassungsgerichtliche Kontrolle der Rechtsetzungsgründe der Legislative zu erwirken. Es würde sich daher dogmatisch am besten als grundrechtsrangiger Aspekt eines jeden subjektiven Rechtes (und nicht als ein besonders geartetes subjektives Recht neben anderen) auffassen lassen — so wie man ja auch den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz nicht zum Anlaß nimmt, subjektive Rechte doppelt zu sehen. Um ermessen zu können, welchen spezifischen Sinn dieser Grundrechts7
Daß positives Recht in diesem Sinne nicht als „lex positiva", nicht als gleichsam übriggebliebene unterste Stufe der Legeshierarchie begriffen werden kann, sollte sich eigentlich von selbst verstehen. Sähe man das ein, dann könnte man auch ein Vorurteil aufgeben, das die neuere Naturrechtsdiskussion beherrscht, nämlich: daß positives Recht weniger wert sei als Naturrecht. Siehe dazu statt anderer: Gerhard Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, 2. Aufl. München-Berlin 1959. 8
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schütz subjektiver Rechte durch das Gleichheitsprinzip hat, müssen wir die zweite Prämisse der herrschenden Verfassungsdogmatik antasten: die Auffassung der Gleichheit als Wert. Wer Grundrechte in ihrem Wesen als Werte ansieht und sie damit ausreichend begründet zu haben glaubt, wird diese Auffassung auch für das Gleichheitsgrundrecht vertreten wollen. Darin kann ihn die allgemeine Ansicht bestärken, welche die Gerechtigkeit als Wert deutet und den Gleichheitsgedanken als wesentliche Komponente der Gerechtigkeitsvorstellung behandelt. Gleichheit wäre danach zu suchen und Ungleichheit zu meiden. In dieser einfachen Form wird freilich die werttheoretische Auslegung des Gleichheitsgrundrechtes kaum vertreten. Man war sich schon in der Antike im klaren darüber, daß der Gleichheitsbegriff eine unvollständige Aussage enthalte, die einer Ergänzung bedürfe durch Angabe der Vergleichshinsicht; daß also jede Gleichheitsfeststellung an Ungleichem erfolge und abhänge von der Auswahl von Eigenschaften, auf die hin Seiendes verglichen werden soll. Die werttheoretische Konzeption des Gleichheitssatzes wird daher zumeist in der ausweichenden Form vertreten, daß jedes Gleichheitsurteil Wertgesichtspunkte voraussetze, welche die Auswahl der relevanten Qualitäten leiten, im Hinblick auf welche der Vergleich durchgeführt werden soll . Damit verbindet sich dann zumeist die — logisch keineswegs zwingend zu folgernde — Vorstellung einer abgeleiteten Werthaftigkeit des Gleichen: Wenn die Auswahl des Vergleichsgesichtspunktes von einem Wert geleitet sei, müsse deshalb das unter diesem Gesichtspunkt Gleiche auch gleich behandelt werden. 8
Selbst eine sorgfältige Lektüre wichtiger neuerer Publikationen zum Gleichheitsprinzip im Recht läßt es kaum zu, diesem undurchsichtigen Gedanken eine präzisere Fassung zu geben. Daß es Werte gibt, deren Werthaftigkeit gerade darin besteht, jemanden zum Vergleichen und zur Gleichbehandlung des Gleichen zu bestimmen, wird als Axiom 10
0
Wenn Vergleichsgesichtspunkte als „Werte" bezeichnet werden, so sagt dies im Grunde nicht mehr, als daß ihre Wahl subjektiv erfolgt. Uber die Funktion eines Vergleichsgesichtspunktes für den Vergleich und über sein Verhältnis zu der Frage, ob der Vergleich auf der Suche nach Gleichem (z. B. zur Zusammenstellung einer gleichartigen Gruppe) oder nach Ungleichem (z. B. zur Auswahl des Besten) durchgeführt wird, ist damit nichts gesagt. Man könnte deshalb ohne Verlust an Einsicht oder Klarheit den Wertbegriff auch weglassen, denn der Begriff des Vergleichsgesichtspunkts betont die Subjektivität und Entscheidbarkeit der Auswahl bereits deutlich genug. Vgl. insb. Hans Nef, Gleichheit und Gerechtigkeit, Zürich 1941; Konrad Hesse, Der Gleichheifsgrundsatz im Staatsrecht, Archiv des öffentlichen Rechts 77 (1951/52), S. 167—224; Hans Peter Ipsen, Gleichheit, in: Franz L. Neumann/Hans C. Nipperdey/Ulrich Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, Berlin 1954, S. 111—198; Werner Böckenförde, Der allgemeine Gleichheitssatz und die Aufgaben des Richters, Berlin 1957; Zippelius (Kap. 4 Anm. 19). 10
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unterstellt — so wie die vorneuzeitliche Ethik bei aller Anerkennung der Notwendigkeit selektiver Relevanzgesichtspunkte unterstellte, daß es in der Natur qualitativ Gleiches gebe, welches es verdiene, gleich behandelt zu werden. Beide Prämissen haben trotz ihres Unterschiedes, der mit der cartesianischen Wendung der ontologischen Metaphysik zur Subjektität des Selbstbewußtseins zusammenhängt, eines gemeinsam: Sie setzen voraus, daß die Natur bzw. die Wertperspektive auf instruktive Weise vorschreibe, was als gleich auszuwählen und entsprechend zu behandeln sei. Daß Gleiches gleich (und Ungleiches ungleich) zu behandeln sei, ergibt sich mithin letztlich aus der Natur der Sache bzw. der Wertvorschrift, die gerade diesen Vergleichsgesichtspunkt relevant erscheinen läßt. Diese Vorauswahl wird dann unter dem Druck der im Gleichheitsgedanken angelegten Relativität auf ein Minimalnaturrecht eingeschränkt, dem Volksgeist oder den „billig und gerecht Denkenden" anvertraut in zögernden Konzessionen an die universell-beliebige Anwendbarkeit der Gleichheitsanalyse, der man sich jedoch nicht völlig überlassen möchte. In Wahrheit läßt sich auf der abschüssigen Bahn der traditionellen ontologischen Metaphysik dieser „Relativismus" nicht mehr aufhalten. Jeder Versuch dazu gleicht einem verzweifelten Pesthalten an Voraussetzungen, die ihre Glaubwürdigkeit längst verloren haben und die nur noch festgehalten werden, weil man sich an ihnen festhalten zu müssen meint. Man kann den „Relativismus" nur im Durchstoß nach vorn überwinden, indem man zunächst einmal die Relativität der Gleichheitsvorstellung konsequent zu Ende denkt. Wenn man einsieht, daß das gleich/ ungleich-Schema beliebig anwendbar ist, wird die Frage unabweisbar, welchen Sinn seine Anwendung überhaupt besitzen kann. Wenn man darauf verzichtet, in der Natur oder in einer Wertordnung feste Gesichtspunkte vorauszusetzen, die normativ diktieren, was als gleich und was als ungleich zu behandeln ist, muß der Sinn dieses Schemas in der vergleichenden Orientierung selbst zu finden sein. Und er zeigt sich dann darin, daß das gleich!ungleich-Schema als bestimmt geartetes Schema der Frage nach einem zureichenden Grunde dient. Gerade die Entleerung des Gleichheitssatzes: daß er keinerlei Hinweis darauf enthält, was als gleich und was als ungleich zu behandeln ist, gibt ihm seine spezifische Funktion: die zureichende Begründung jeglicher Ungleichbehandlung zu fordern. In jedem Falle, in der traditionellen und in der hier vorgeschlagenen Blickweise, handelt es sich beim Gleichheitssatz um die Begründung von Rechtsentscheidungen. Wir kehren lediglich im Rahmen dieser Sinnbestimmung gegenüber dem traditionellen Denken Standpunkt und Fragerichtung um und vertauschen damit abhängige und unabhängige Variable. Dort, wo man bisher festen Boden zu finden glaubte, in den
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Relevanzgründen, sehen wir das Entscheidungsproblem; und das, was man bisher für problematisch hielt, das Gleichheitsurteil, dient uns, zu einem Urteilsschema abstrahiert, als Basis. Diese Umkehrung bedeutet, daß die Gleichheitsfeststellung der Rechtsentscheidung keine zureichende Begründung mehr vermittelt, sondern daß die Ungleichheitsfeststellung eine Frage nach zureichenden Gründen enthält, nach Gründen, die geeignet sein müssen, die Ungleichheit zu rechtfertigen. Mit dieser Interpretation des Gleichheitssatzes klären sich wichtige Probleme der Verfassungsdiskussion, und eine Reihe von bisher weniger beachteten Eigentümlichkeiten des Gleichheitsgrundrechts rücken in ein scharfes Licht. Als erstes wird sofort verständlich, weshalb der Gleichheitssatz sich primär an den Gesetzgeber wendet und als sogenannte Rechtsanwendungsgleichheit leerläuft. Normales Staatshandeln ist als Anfertigung von Entscheidungen an Entscheidungsprogramme gebunden, die im Interesse der Entscheidungsvereinfachung und im Interesse zentralisierter Kontrolle gleichsam als Ersatz für Gründe dienen. Eine Entscheidung ist richtig, wenn sie dem Programm entspricht. Das Programm schirmt sie ab gegen die Verunsicherung, die in der Frage nach einem zureichenden Grunde liegt. Und es wirkt zugleich der Verselbständigung des Untergebenen entgegen, die unvermeidlich wäre, wenn er selbst nach Gründen — und damit: nach Alternativen — Ausschau halten dürfte. Die Programmierung stützt die rationale Präzision und die hierarchische Ordnung der Entscheidungsverwaltung. Eine Abwägung von Gründen gibt es mithin nur bei unprogrammiertem Handeln oder bei programmfreien Entscheidungskomponenten, also, institutionell gesprochen, bei der Gesetzgebung und im Ermessensbereich der Verwaltung . Bei den normalen „Begründungsschwierigkeiten" juristischer Entscheidungen handelt es sich nicht eigentlich um ein Abwägen von Gründen, sondern um Schwierigkeiten der Programmauslegung — was sich schon daran zeigt, daß die nackten Folgen der Entscheidung für sich genommen kein zulässiges Argument sind. 11
Als Nächstes läßt sich ermessen, was es bedeutet, daß das Grundrecht gerade die Gleichheit (und nicht etwa die ebenso wichtige Ungleichheit) herausstellt. Damit ist nicht gesagt, daß Gleichheit mehr wert sei als Ungleichheit, und auch nicht: daß Gleichheit die Regel bilden und Ungleichheit die Ausnahme bleiben solle. Weder eine generelle Wertpriorität, die sich in dieser Abstraktionslage gar nicht rechtfertigen ließe, noch eine empirische Häufigkeitserwartung ist gemeint. Vielmehr 11
Diese Feststellung schließt natürlich nicht aus, daß es dem Programmanwender aufgetragen werden kann, die Rechtsgültigkeit seines Programms u. a. auch an der Verfassungsnorm des Gleichheitssatzes selbst zu prüfen.
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besagt das Recht der Gleichheit aller nur: daß die Gleichheit selbst keiner Begründung bedarf. Sie wird — im Text des Art. 3 Abs. 1 GG und in seinen klassischen Vorbildern kommt das deutlich zum Ausdruck — nicht normiert, sondern in Form einer Feststellung postuliert. Sie soll also wie eine Tatsache behandelt werden. Darin liegt nicht etwa ein Verzicht auf Begründung für bestimmte Arten von Entscheidungen. Es gibt praktisch kaum rechtswirksames Staatshandeln, das sich auf alle Menschen gleich auswirkt. Vielmehr wird die Selbstverständlichkeit der Gleichheit nur festgestellt, um die Begründungsbedürftigkeit jeder Ungleichheit dagegen ins Relief treten zu lassen. Das Gleichheitsprinzip hat mithin eine Kontrastfunktion, ähnlich der des Trägheitsprinzips der Physik, das ebenfalls keine normale Hypothese mit empirischen Geltungsanspruch ist, sondern lediglich dazu dient, eine Ursache für jede Veränderung (nicht aber für das Gleichbleiben) eines Zustandes zu fordern. Auf diese Weise wird der Frage nach Gründen der notwendige Anlehnungspunkt und eine spezifische Richtung gegeben. Es ist nämlich nicht möglich, eine Begründung für Gleichbehandlung und für Ungleichbehandlung zugleich zu fordern , weil beides wie Licht und Schatten zusammengehört, so daß die eine Begründung die andere entbehrlich machen würde. Die Ausschaltung der Begründungsbedürftigkeit und damit auch der Begründungsfähigkeit der Gleichheit ist unerläßlich, weil in jedem Einzelfall sich Gleiches und Ungleiches mischen. Sie ist eine elementare Vorbedingung der Spezifikation der Begründung als Begründung der Ungleichheit. Gälte sie nicht, könnte man sich das Begründen dadurch erleichtern, daß man die Gleichheiten in einer Situation herausstellt, statt die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. 12
Die Tragweite dieser Umdeutung des Gleichheitssatzes wird durch einen Rückblick auf unsere überlieferte Rechtsphilosophie ersichtlich, die sich in ihrer Eigenart, ja Wohl im Kern ihrer Problematik, dahin charakterisieren läßt, daß sie keinen scharfen Schnitt zwischen dem formalen Gleichheitssatz und den Gründen der Rechtsentscheidungen gezogen hat. Für sie ist der Gleichheitssatz als Interpretation der Gerechtigkeit zugleich Zentralnorm rechtsethischer Begründung, eine Verschmelzung, die als ein gewiß nicht absichtsloses Werk der sophistischen 12
So jedoch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, besonders seit der Entscheidung vom 16. 3.1955, BVerfGE 4, S. 144 ff. (155). Danach bleibt es dem Richter überlassen, ob er das Problem eines Falles mehr in der Gleichbehandlung oder mehr in der Ungleichbehandlung sieht, und das Grundrecht der „Gleichheit vor dem Gesetz" könnte ebensogut auch „Ungleichheit vor dem Gesetz" heißen. Bedenklich ist diese Auffassung besonders deshalb, weil es dem Richter danach freigestellt wird, sich die leichtere Form der Begründung seiner Entscheidung mit Hilfe der Gleichheits- oder der Ungleichheitsargumentation auszusuchen.
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Rhetorik bis in die Gegenwart gehalten hat. Deshalb haben wir eine ethische Rechtstradition. Aber dadurch, daß die Rechtsphilosophie in der Gleichheitsnorm selbst einen Rechtsgrund vermutete — und vermuten mußte, weil die fundierende Auslegung der Gerechtigkeit ihr keine andere Wahl ließ —, hat sie sich selbst in die allergrößten Schwierigkeiten gebracht, deren Erörterung den Hauptbestand ihrer gedankenreichen Lehrtradition ausmacht. Wenn man nämlich der Gleichheit einen Begründungsvorrang vor der Ungleichheit zuspricht (statt in ihr nur eine Vorentscheidung über die Art der erforderlichen Begründung zu sehen), treibt man unausweichlich auf ein Dilemma zu: daß dann die Gerechtigkeit, als Gleichheit interpretiert, der Spezifikation und Individualisierung des Rechts eine prinzipielle Schranke zieht, wodurch es nötig wird, mehrere Arten von Gerechtigkeit zu unterscheiden oder ein Gegenprinzip der konkreten Billigkeit auf den Plan zu rufen. Die Größe unserer Rechtsphilosophie besteht in ihrer Fähigkeit, das in ihrem Ansatz liegende Problem ausgehalten zu haben; und dabei hat sicher geholfen, daß die mächtige Gestalt des Aristoteles, der das schon konstituierte Problem zerlegt, ihr den Blick auf die Ursprünge verdeckte. Eine weitere Reflexion knüpft an den Sinn des Vergleichens als Entscheidungsbegründung an. Er ist nicht ohne weiteres durchsichtig. Normalerweise begründet man sein Handeln durch Hinweis auf einen Zweck, der seinerseits im Hinblick auf einen Wert geschätzt wird. Dadurch werden ausgewählte spezifische Folgen des Handelns zur Rechtfertigung herangezogen, während andere Folgen als irrelevant abgetan, in ihrem Wertgehalt zu in Kauf genommenen bloßen „Kosten" neutralisiert werden. Diese Rechtfertigungsbasis ist jedoch für ein Handeln in sozialen Systemen durchweg zu schmal. Es geht nicht an, daß jeder einfach seine Zwecke verfolgt. Besonders in komplexen Sozialsystemen, die selbst nicht zweckspezifisch strukturiert sind, sondern verschiedenartigen widerspruchsvollen Wertrichtungen genügen müssen, bedarf die rein kausaltechnische, einwertige Handlungsorientierung der Erweiterung. Diese Erweiterung aber nimmt die Form des Vergleichs an. Ein berühmtes Beispiel solcher vergleichender Horizonterweiterung ist das Wirtschaftlichkeitsprinzip. Es fordert einen Vergleich sämtlicher Folgen des Handelns und der Handlungsalternativen, genauer: daß die Kosten aller Handlungsalternativen untereinander und mit dem Zweck verglichen werden, daß sie also zwar qualitativ, aber nicht quantitativ neutralisiert werden dürfen. Eine andersartige Korrektur der reinen Zweckorientierung tritt uns im Gleichheitssatz als Strukturprinzip der Rechtsordnung entgegen. Er besagt, daß eine Entscheidung nicht allein durch Angabe einer bezweckten Folge begründet werden kann, sondern daß ihre Rechtfertigung außerdem einer Begründung der ungleichen
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Auswirkung ihrer Folgen auf die Rechtspositionen anderer bedarf, einer Begründung, durch welche die Konsistenz dieser Entscheidung mit anderen Entscheidungen gewährleistet werden soll . Subjektive Rechte dürfen nicht allein wegen spezifischer Zwecke ungleich belastet werden. Die Ungleichheit muß vielmehr im Rechtssystem nach universell anwendbaren und zugleich spezifischen Kriterien gerechtfertigt werden können. 13
Ähnlich wie das Wirtschaftlichkeitsprinzip dient also das Gleichheitsprinzip der korrigierenden Absicherung einer rein technisch verstandenen Handlungsrationalität in einer Systemrationalität komplizierterer Art, die nicht nur spezifische wertvolle Wirkungen, sondern darüber hinaus die Konsistenz des Entscheidens und Handelns in komplexen Systemen sicherstellen soll. Gleichheitsprinzip und Kausalprinzip sind formal ähnliche, funktional äquivalente und komplementäre Systemstrategien. Ihre Funktion liegt, in schärfster Abstraktion formuliert, darin, die Komplexität der Systemumwelt als eine in bestimmter Weise schematisierte Unendlichkeit abzubilden und so dem System Ansatzpunkte für die Bewältigung des Komplexitätsproblems zu bieten. Beim Kausalprinzip wird die Komplexität der Umwelt als Unendlichkeit zusammenhängender Ursachen und Wirkungen dargestellt, beim Gleichheitsprinzip als Unendlichkeit möglicher Vergleichsbeziehungen. Beide Umweltdeutungen sind für sich selbst noch keine Ordnung, sondern nur ein Schema möglicher Ordnung. Sie sind nicht anwendungsreif, geben keine sichere Entscheidungsgrundlage, sondern nur ein Verständnispotential, auf dessen Basis die jeweilige Ordnung dann konstituiert und mit der Umwelt „ausgehandelt" werden kann: im Falle des Kausalprinzips durch Zwecksetzung, im Falle des Gleichheitsprinzips durch Institutionalisierung von Gründen für relevante Vergleichshinsichten. Diese Konkretisierungen führen in ein vorstrukturiertes Feld von Variationsmöglichkeiten Konstanten ein. Sie werden durch das voraus konstituierte Ordnungsschema ermöglicht, aber nicht gerechtfertigt. Sie müssen sieh bewähren und gegebenenfalls geändert werden. Und beide Arten von Konstanten korrigieren sich wechselseitig in dem Sinne, daß ein Zweckhandeln an bestimmten Gleichheiten oder Ungleichheiten in der Umwelt Entscheidungshilfen und Begrenzungen findet, umgekehrt 13
Unter Konsistenz verstehen wir hier und im folgenden nicht die nachweisbare logische Widerspruchsfreiheit — in diesem Sinne hat namentlich Hans Kelsen in der ihm eigenen Überschätzung des Logischen im Recht den Gleichheitssatz als Prinzip der Konsistenz der Rechtsordnung interpretiert; vgl. W a s ist Gerechtigkeit? Wien 1953, S. 26 f.; General Theory of L a w a n d State, New York 1961, S. 439 f. —; Konsistenz soll vielmehr nur Vereinbarkeit nach den anerkannten Regeln juristischer Rhetorik bedeuten.
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aber auch die Kausalstruktur mit ihren festgelegten Invarianzen es erst möglich macht, Gleichheiten bzw. Ungleichheiten zu begründen. Die Unvollständigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit der Grundauslegung ist jedoch nicht als ein Mangel zu verstehen. Die Zweistufigkeit der Anwendung, die im Kausalprinzip ebenso wie im Gleichheitsprinzip angelegt ist, ergibt sich vielmehr aus ihrer Funktion. Beide Schemata haben den Sinn, das System von dem unmittelbaren Druck der Umweltkomplexität mit ihren wirren und diffus einwirkenden Zufälligkeiten zu befreien und ein systeminternes Problementscheiden zu ermöglichen. Sie verlegen die Problematik des Bestandes eines Systems in einer hochkomplexen Umwelt teilweise von außen nach innen, aus der Situation in die Entscheidung. Sie ermöglichen eine relative Autonomie des Systems in seiner Umwelt, die durch Entscheidung über Zwecke und über Gleichheiten bzw. Ungleichheiten ausgeübt wird. Und dadurch erweisen sich Kausalprinzip und Gleichheitsprinzip in dieser neuzeitlichen, systemrelativen Auslegung als charakteristische Begleiterscheinungen der fortschreitenden sozialen Differenzierung, die zur Autonomsetzung von Teilsystemen führen muß. Diese Befunde, die wir in einer Art begrifflich-dogmatischer Interpretation des Gleichheitssatzes erarbeitet haben, sollen nunmehr in die soziologische Theorie eingefügt werden, die unsere Gesamtuntersuchung bestimmt. Dadurch erst erhalten sie ihr eigentliches Gewicht. In einer differenzierten Sozialordnung, in welcher die politische Funktion einem spezifischen Handlungssystem aufgetragen wird, das verbindliche Entscheidungen zu treffen hat, kann das Entscheiden nicht allein dem machtgedeckten Belieben überlassen werden. Es genügt nicht, die Macht, also das, was das politische System von der Gesellschaft erhält, zu begrenzen; auch seine Entscheidungen, also das, was das politische System für die Gesellschaft leistet, muß gewissen strukturellen Anforderungen genügen. Man kann sich, wie schon mehrfach angedeutet, das politische System in seiner besonderen Funktion als System der Informationsverarbeitung vorstellen, das mehrere Grenzen besitzt, über welche Kommunikationen aus der Umwelt in das System und aus dem System in die Umwelt fließen . Im vorigen Kapitel hatten wir das Generalisierungsprinzip für eine dieser Grenzen behandelt, für die machtbildende Grenze, über welche „politische" Informationen in das Entscheidungssystem ge14
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Dieses sog. Input/Output-Modell verdankt seinen Siegeszug in den letzten Jahren einer Verschmelzung von Kommunikationstheorie (Informationstheorie) und Systemtheorie, wie sie auch diesen Untersuchungen zugrunde liegt. Eine kurze Charakterisierung habe ich gegeben in: Zweck-HerrschaftSystem: Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, Der Staat 3 (1964), S. 129 bis 158 (149 f.). Dort auch weitere Hinweise.
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schleust werden. Es besteht im Prinzip der allgemeinen, gleichen und geheimen Wahl. Die andere Grenze, über die der Ausstoß verbindlicher Entscheidungen erfolgt, wird durch den Gleichheitssatz regiert. Gleiches Wahlrecht und Gleichheitssatz — oder wie man umfassender auch formulieren könnte: Mehrparteiendemokratie und Rechtsstaat — sind komplementäre, funktional äquivalente Institutionen des politischen Systems, deren Verschiedenheit durch den Unterschied zweier Systemgrenzen des politischen Systems vorgezeichnet ist. Diese Doppelstellung des Gleichheitsprinzips an beiden Grenzen des politischen Systems läßt sich durch eine weitere Überlegung noch verdeutlichen, wenn man die entsprechende Innendifferenzierung dieses SystemSnach Politik und Verwaltung mit in den Blick zieht. Die Gleichheit des Wahlrechts kann, selbst wenn das politische Spiel als Kampf um gleichzählende Wählerstimmen rationalisiert wird, niemals effektive Gleichheit des Einflusses der Wählenden bedeuten. Allein schon dadurch, daß in politischen Entscheidungssituationen, bei der Wahl ebenso wie bei der eigentlich politischen Aktivität, mit einem hohen Maß an Ungewißheit gerechnet werden muß, verschieben sich die Einflußgewichte. Die Rückwirkung politischer Entscheidungen auf künftige Wah- ( len läßt sich nicht exakt berechnen, und darin liegt die Quelle der Un- j gleichheit des politischen Einflusses. Die lauten oder die organisierten oder die wirklich oder vermutlich einflußreichen Stimmen finden eher Gehör. Diese Ungleichheit ist unter der allgemeinen Bedingung des Informationsmangels ein wesentliches Moment der Situationsvereinfachung, der Herausbildung politischen Konsenses und politischer Macht, und zwar gerade dann, wenn das gleiche Wahlrecht institutionalisiert ist und die politischen Parteien nach den Regeln des politischen Spiels rational (und nicht ideologisch) handeln, das heißt: Stimmgewinne erzielen wollen . Da diese Ungleichheit des Einflusses sich, obwohl wesentliche Komponente des politischen Kampfes, nicht begründen läßt, muß die Ungleichheit der Behandlung des Bürgers begründet werden. Jedenfalls ist das leichter. Das politische System wird in „Politik" und „rechtsstaatliche Verwaltung" geteilt und der Informationsfluß an der Grenze zwischen Politik und Verwaltung juristisch kontrolliert, so daß unbegründbare Ungleichheiten, die im Prozeß der politischen Konsensbildung entstehen, wieder herausgefiltert werden. 15
Die Gefahr, die mit diesem Umweg der Informationsverarbeitung und der Endkontrolle durch den Gleichheitssatz vermieden wird, liegt im rein zweckrationalen einwertigen Staatshandeln von Fall zu Fall; sie liegt in der damit verbundenen Problematik der Entdifferenzierung. Der Staat würde, dächte er nur daran, mit seinen Entscheidungen unter 15
Hierzu treffend Downs (Kap. 7 Anm. 32), S. 93 f.
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Einsatz seiner politisch gebildeten Macht spezifische Wirkungen in der Gesellschaft zu erzielen, in seinem Wirken sich mit der Gesellschaft verschmelzen. Er ginge in der Befriedigung partikularer Wünsche und Interessen auf, von denen er sich nicht distanzieren könnte. Demgegenüber zwingt die Pflicht, jede Ungleichbehandlung zu begründen, ihn dazu, Abstand zu nehmen und eine besondere Art von Entscheidungsautonomie zu suchen. Er muß sein unmittelbares Entscheiden so disziplinieren, daß er konsequent bleiben kann. Und Konsequentsein distanziert. Es kommt für diese Trennfunktion zunächst nicht darauf an, an welchen inhaltlichen Prinzipien die Staatsentscheidungen sich orientieren. Der Gleichheitssatz legt sie nicht auf eine bestimmte Moral fest , wohl aber auf bestimmte formale Eigenarten, die sich näher charakterisieren lassen. Die Gründe der Ungleichbehandlung müssen universalistisch und spezifisch sein (und nicht das Gegenteil: partikularistisch und diffus) . Das heißt: Sie müssen in jeder Situation Anwendung finden, 16
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" Diese inhaltliche Neutralität des Gleichheitssatzes darf indes nicht zu dem Schluß mißbraucht werden, daß der Gesetzgeber dann nicht an das Grundrecht der Gleichheit vor dem Gesetz gebunden sein könne. So z. B. Wolfgang Zeidler, Die Aktualität des Gleichheitssatzes nach dem BGG, Die öffentliche Verwaltung 5 (1952), S. 4—7, dem die herrschende Meinung zu Recht, jedoch mit falscher Begründung, nicht folgt. Falsch ist nicht die Prämisse, sondern die Folgerung. Selbst wenn vom Gesetzgeber nichts weiter als die Begründung jeder Ungleichbehandlung durch Gesichtspunkte verlangt wird, die mit der Rechtsordnung verträglich sind — hinzu kommen noch die gleich zu erörternden Kriterien universeller und spezieller Geltung —, so ist damit bereits ein hohes Maß an Bindung erreicht. Man kann sich das an einem Gedankenexperiment verdeutlichen: Welche Freiheiten besäße ein Gesetzgeber, der nur die bezweckten Folgen seiner Entscheidungen an der Rechtsordnung zu rechtfertigen hätte! Wir nähern uns hier —, ohne allerdings die Normqualität des Art. 3 GG anzuzweifeln, der Auffassung von Ipsen (Kap. 8 Anm. 10), daß der Gleichheitssatz seine Justiziabilität erst im Zusammenwirken mit anderen Normen der Verfassung erhält, nämlich jenen, an denen die Gründe der Ungleichbehandlung kritisch geprüft werden können. Ähnlich Ernst-Werner Fuß, Gleichheitssatz und Richtermacht, Juristenzeitung 14 (1959), S. 329—339. Zumeist beruft man sich dagegen nur ganz unbestimmt auf die Wertentscheidungen des Grundgesetzes — so z. B. Hans Justus Rinck, Gleichheitssatz, Willkürverbot und Natur der Sache, Juristenzeitung 18 (1963), S. 521—527, und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17.1.1957, BVerfGE 6, S. 55 ff. (71). 17
Diese Begriffe sind Parsons' Theorie der Orientierungsrichtungen (pattern variables) des Handelns entnommen. Vgl. namentlich Talcott Parsons, The Social System, Glencoe III. 1951, S. 58 ff.; Parsons/Shils (Kap. 2 Anm. 15), insb. S. 76 ff.; Parsons/Bales/Shils (Kap. 2 Anm. 15); Talcott Parsons, Pattern Variables Revisited, American Sociological Review 25 (1960), S. 467—483 (als z. Z. letzte und ausgereif teste Darstellung); siehe auch den zum Teil bereits überholten Bericht von Burkhart Holzner, Amerikanische und deutsche Psychologie: Eine vergleichende Darstellung, Würzburg 1958, S. 298 ff.; ferner Peter M. Blau, Operationalizing a Conceptual Scheme: The UniversalismParticularism Pattern Variable, American Sociological Review 27 (1962), S. 41—55 als kritische Würdigung. Als Beispiele für ihre Verwendung in der
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die bestimmte abstrakte (situationsunabhängig definierte) Merkmale aufweist, und sie müssen diese spezifischen Merkmale als Handlungsgrundlage wählen, ohne daß der Handelnde sich dadurch beirren läßt, daß andere Eigenarten der konkreten Situation vielfältig wechseln . Das bedeutet vor allem, daß die Gründe der Ungleichbehandlung nicht in einer besonderen „Nähe" des Handelnden zum Behandelten liegen dürfen. Es darf sich nicht etwa um seine Verwandten, Freunde oder Feinde, Corpsbrüder, Stammesangehörige oder Konkurrenten handeln, sondern z. B. um Kraftfahrzeugbesitzer oder um Personen, die einer bestimmten Krankheit verdächtig sind . Die Diskriminierung darf ihren Leitgesichtspunkt also nicht im Entscheidenden selbst haben, seinen Gefühlen, Vorlieben, Zugehörigkeiten oder den entsprechenden Aversionen, denn das führt zu diffus-partikularistischer Orientierung. Sie soll ihre Gründe in der objektiven Situation haben, die nach unpersönlich-abstrakten selektiven Standards beurteilt wird. Der Entscheidende darf nicht nur „Seinesgleichen" gleich behandeln; er muß, mit anderen Worten, in seiner Entscheidung sich selbst als austauschbar voraussetzen. Das ist gemeint — und nicht etwa die Unerheblichkeit jener Merkmale vorgeschrieben —, wenn Art. 3 Abs. 3 GG formuliert: 18
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politischen Theorie Sutton (Einf. Anm. 10) und Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —); für die Rechtsentwicklung Parsons (Kap. 1 Anm. 16), S. 143 f., und Eisenstadt (Einf. Anm. 10), S. 98 f.; für die Wirtschaftsentwicklung Bert F. Hoselitz, Sociological Aspects of Economic Growth, Glencoe III. 1960, S. 23 ff.; ferner die Auswertung für den Autoritätsbegriff bei Heinz Hartmann, Funktionale Autorität: Systematische Abhandlung zu einem soziologischen Begriff, Stuttgart 1964, S. 63 ff. Die Theorie besagt im wesentlichen, daß jedes menschliche Handeln sich in vier — und nur vier — Dimensionen einordnen lasse, welche durch die vier Gegensatzpaare speciflcity-diffuseness, neutrality-affectivity, universalism-particularism und quality-performance bezeichnet sind. Obwohl das erste und das dritte Paar für das hier behandelte Gleichheitsproblem die wichtigsten sind, ließe sich vermutlich auch zu den übrigen eine Beziehung herstellen. Sicherlich ist z. B. eine zulässige Ungleichbehandlung typisch affektiv-neutral und nicht gefühlsbestimmt, möglicherweise auch eher durch die Leistungen als durch Qualitäten des Objekts bestimmt (so schon das berühmte Flötenspielerbeispiel bei Aristoteles, Politik Buch III Kap. 12). Diese Einstellungscharakterisierung hat für differenzierte Sozialordnungen im übrigen durchgehende Bedeutung. Sie ist nicht auf den Bereich der ausdrücklichen Anwendung des Gleichheitssatzes beschränkt, sondern enthält wohl einen ihrer wichtigsten Unterschiede zu undifferenzierten Sozialordnungen. So namentlich Riggs (Kap. 1 Anm. 8 — 1957 —), S. 61 ff. 18
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- Parsons sieht in seiner letzten Darstellung (Kap. 8 Anm. 17 — 1960 —), S. 471, die spezifische Orientierung als primär außenbestimmt, die diffuse Orientierung dagegen als primär innenbestimmt. In diese Richtung geht auch die Weiterentwicklung der Unterscheidung universalistisch-partikularistisch durch Blau (Kap. 8 Anm. 17) und (Kap. 5 Anm. 10), insb. S. 265 ff.: Universalistisch diskriminierende Wahlen sind solche, die unabhängig von eigenen Attributen des Wählenden bestimmten Attributen des Gewählten den Vorzug geben, partikularistisch dagegen solche, bei denen der Wählende sich danach richtet, ob der Gewählte die gleichen Attribute hat wie er selbst.
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„Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden." Diese Überlegung findet man bestätigt, wenn man auf die Programmform des juristischen Entscheidens achtet: Es wird nicht durch Zwecke, sondern konditional programmiert . Wenn gewisse Tatbestandsmerkmale erfüllt sind, dann darf oder muß in vorbestimmter Weise entschieden werden . Darin kommt dieselbe Generalisierung zum Ausdruck, die auch den Gleichheitssatz trägt, und diese Konvergenz beweist, daß der Gleichheitssatz in der Tat die Quintessenz des positiven Rechts wiedergibt. Die Konditionalisierung hält das Programm für eine unbestimmte Vielzahl von Anwendungen offen; die Wenn-Dann Form besagt: jedesmal wenn, dann! Die Entscheidung wird durch diese Programmierung von zugleich universellen und spezifizierten Bedingungen abhängig gemacht, deren ungleiche Auswirkungen nach dem Gleichheitssatz gerechtfertigt werden müssen. 20
21
Die Funktion des Gleichheitssatzes als Strukturprinzip staatlicher Entscheidungsordnung wird nunmehr deutlich sichtbar. Er unterbindet, soweit er wirksam wird, unmittelbare, partikulare, persönliche Verflechtungen an der Grenze zwischen Staatsbürokratie und Publikum . Er bestimmt den Entscheidenden, vor allem den, der Entscheidungsprogramme entwirft, die Konsistenz der Entscheidungen mit anderen Entscheidungen in ihren Gründen der Ungleichbehandlung m_wahren und seine persönlicheTIötivationsstruktur in dieser Rolle als auswechselbar zu behandeln . Er stützt die erforderliche Rollentrennung und das Verhältnis relativer Invarianz zwischen Staatsbürokratie und den verschiedenen gesellschaftlichen Sphären. Er gehört damit wie auch die anderen Grundrechte in den allgemeinen Problemzusammenhang der 22
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Daß es nur diese beiden Formen der Programmierung gibt, habe ich aus der Systemtheorie abzuleiten versucht in: Luhmann (Kap. 7 Anm. 38), S. 6 ff. 21
Zur Rückführung des- juristischen Entscheidens auf diese Darstellung vgl. auch Alf Ross, On Law and Justice, London 1958, insb. S. 170, und Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1960, S. 160, 195 ff. Umgekehrt macht die Stärke dieser Bindungen, wie sich namentlich in Entwicklungsländern gezeigt hat, die Durchsetzung der gleichmäßigen Rechtsorientierung schwierig. Das wird heute oft betont. Vgl. z. B. Edward Shils, Political Development in the New States, Den Haag 1963, S. 13. 22
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Das bedeutet natürlich, daß eine andere Motivationsgrundlage geschaffen werden muß, die insbesondere in den allgemeinen Bedingungen und Vorteilen der Mitgliedschaft im Arbeitssystem zu finden ist. Zur Bedeutung der Kollegengruppe als Rückenstärkung vgl. Peter M. Blau, The Dynamics of Bureaucracy, 2. Aufl. Chicago 1963, S. 85 f., 106 ff.
8. Kap.: Gleichheit vor dem Gesetz
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sozialen Differenzierung durch Bildung funktional-spezifischer, relativ autonomer Untersysteme in der Gesellschaft. Die Forderung der Spezifikation universell anwendbarer Gründe der Ungleichbehandlung hat danach zunächst den Sinn, die Rollentrennung an der Grenze zwischen Staatsbürokratie und Publikum zu stabilisieren. Durch die Art, wie dies geschieht, wird aber zugleich die Rollentrennung in der Gesellschaft, also die gesellschaftliche Differenzierung, in anderer Hinsicht gestützt. Die Forderung spezifischer Gründe heißt nämlich zugleich: daß beim staatlichen Entscheiden die gesellschaftliche Rollentrennung zu beachten ist. Es ist grundsätzlich nicht erlaubt, jemanden in einem Rollenzusammenhang zu bevorzugen oder zu benachteiligen, weil er andere Rollen wahrnimmt — es sei denn, daß spezifische Gründe einen solchen Zusammenhang sinnvoll machen. Ein Unternehmer darf nicht deshalb bevorzugt Subventionen erhalten, weil er sich zu einer bestimmten Konfession bekennt; ein Schüler darf nicht deswegen versetzt werden, weil seine Eltern zur Honoratiorenschicht der Stadt zählen; aber ein Strafmandat darf höher ausfallen, weil der Kraftfahrer wohlhabend ist (weil die Empfindlichkeit der Buße von seinem Vermögensstand abhängt). Jede Orientierung an einer nicht einleuchtenden, nicht strukturell relevanten, sondern gleichsam zufälligen, nur in der Person sich ergebenden Rollenkombination ist eine Verletzung des Gleichheitssatzes. Damit werden normalerweise auch gesellschaftlich begründete Rangund Prestigeansprüche gegenüber dem Staat neutralisiert. Das ist in einer differenzierten Sozialordnung unerläßlich . Die Gesellschaft läßt sich nicht mehr in einer einheitlichen Statuspyramide zusammenfassen, in der jeder seinen festen Platz hat. Vielmehr kennt sie in der Hauptsache nur noch mobile Statusprinzipien wie Geldbesitz oder Mitgliedschaft und Stellung in Organisationen, die in Konkurrenzkämpfen auf sehr verschiedene Weise erworben und verloren werden können und die nur noch in spezifischen Situationen Geltung und Gewicht besitzen. Daher ist das Rangschema der Außenbeziehungen des politischen Systems an allen Grenzen typisch unvorhersehbar und in sich inkonsistent. Die Gleichheit des Wahlrechts, die Gleichheit vor dem Gesetz oder auch so einfaclie Verwaltungsmaxime wie die Bearbeitung der Anträge nach der Reihenfolge ihres Eingangs sind in dieser Lage strukturnotwendige Prinzipien der Rangindifferenz, die ihrerseits die Distanz und die Autonomie der staatlichen Entscheidungstätigkeit gegenüber gesellschaft24
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Zum Teil einfach technisch unerläßlich. Die Polizei kann z. B. den heutigen Straßenverkehr nicht in der Weise regeln, daß sie dem jeweils Ranghöheren die Vorfahrt gibt.
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liehen Werten zum Ausdruck bringen . Faktisch wird dadurch natürlich nicht ausgeschlossen, daß von externem Status (z. B. Mitgliedschaft und Rang in anderen Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften usw.) ein Druck auf die Verwaltung ausgeht, aber das Nachgeben ist nicht eine natürliche und legitime Selbstverständlichkeit, sondern bedarf einer Entscheidung, die zumeist als problematisch erlebt wird und durch andersartige Erwägungen gerechtfertigt werden muß. Das Gleichbehandlungsgebot ist mithin auf eine Sozialordnung zugeschnitten, in der Rollenkombinationen in einer Person, und vor allem solche mittels eines sozialen Ranges der Person, typisch keine Legitimität mehr besitzen, nicht mehr institutionalisiert werden können, weil die Rollen wegen der fortgeschrittenen Differenzierung und Spezialisierung nur noch nach sachlich erforderlichen Partnerschaften geordnet werden können . Der Sinn des Gleichheitssatzes kann, unter diesem Blickwinkel, auch dahin formuliert werden, daß der Mensch als Individuum, als Träger von zufällig zusammentreffenden Rollen vorausgesetzt wird, deren Zusammenhang nur noch ausnahmsweise sozial sinnvoll ist, und daß die Menschen sich in dieser Rollenträgerschaft prinzipiell gleichen. Auch darin spiegelt sich das allgemeine Strukturgesetz sozialer Differenzierung, dem der Gleichheitssatz zugeordnet ist. 26
Diese Ergebnisse stechen auffällig ab von dem alten Gerechtigkeitspathos, das dem Gleichheitsbegriff trotz aller erzwungenen Relativierungen auch heute noch anhaftet und das im Wertbegriff ein schwaches Echo rindet. Im Gerechtigkeitsbild der Antike waren jedoch die Wesenszüge des Menschen in einer Weise zusammengefaßt gewesen, die wir heute nicht mehr als Einheit zu sehen vermögen. Die Anforderungen an rechtes Handeln sind in einer volldifferenzierten Sozialordnung zu immenser, widerspruchsreicher Kompliziertheit angewachsen. Niemand kann sie überblicken. Wir können uns daher ein gleichsam punktuelles Vertrauen in die erkennbare höchste Idee guten Handelns, in die Tugend des gerechten Herrschers oder in die Weisheit der aus sich selbst heraus einleuchtenden Entscheidung nicht mehr leisten. Unsere Existenz hängt von funktional differenzierten Großsystemen der Informationsverarbeitung ab. Deren Erhaltung im Transzendieren aller ontischen Faktizität ist das, was wir als Menschen leisten. In ihnen und durch sie müssen wir uns auf die Welt beziehen. Die Aussagen über das, was uns 25
Gegenüber den eigenen Mitgliedern, also an der „Personalgrenze" der Verwaltung, wird diese Distanzierung dadurch erreicht, daß der Status in der Organisation „formalisiert" wird, also nur durch ausdrückliche Entscheidung erlangt werden kann, bei der es sich nicht von selbst versteht, daß extern begründete Rangansprüche, z. B. Herkommen, Klubzugehörigkeit, Reichtum, Beziehungen honoriert werden. Dazu näher Luhmann (Kap. 1 Anm. 11), S. 156 ff. Vgl. dazu grundsätzlich Nadel (Kap. 4 Anm. 36), S. 68 f. 28
8. Kap.: Gleichheit vor dem Gesetz
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als Menschen das Wichtigste ist — und seien es Grundrechte —, müssen dieser unserer Realität und dem, was wir tun, entsprechen — oder wir bleiben uns selbst unglaubwürdig. Wir beleidigen die Größe dessen, was man einst und ursprünglich als Gerechtigkeit dachte, wenn wir den Hinweis auf jenes Denken zur Rechtfertigung eines schablonenhaften Wertpathos benutzen. Gerechtigkeit war nie und nimmer ein „Wert". Sie war vielmehr gedacht als Maß der Besinnung gegenüber den exzessiven Ansprüchen aller Werte. Falls es unserer Zeit vergönnt sein wird, das Gerechte in ursprünglicher Weise selbst zu denken, wird dieses Denken sich nicht auf das Maß des Gleichen richten, sondern auf die Technik der Systeme. Denn die Erwartens- und Verhaltenssicherheit, die das Recht dem Menschen gewähren will, kann nicht mehr aus der Unverbrüchlichkeit bestimmter Einzelrechte, aus der Unantastbarkeit einer eigenen Dispositionssphäre fließen. Die sozialen Voraussetzungen, unter denen verläßliche Verhaltenserwartungen gebildet und Handlungen geplant werden können, sind dafür zu stark angewachsen. Sie sind zu wichtig, zu komplex. Sie werden in ihrer Problematik zunehmend bewußt und dadurch zu Aufgaben. Die gesamte ethische Rechtstradition, die von der Frage nach der richtigen einzelnen Handlung dirigiert war und nach deren Zwecken, Prinzipien oder neuestens: Werten suchte, steht damit im Umbruch. Das, was das Recht zu sein suchte, kann heute nicht mehr durch einzelne Konstanzzusagen, sondern nur noch durch eine rationale Systemordnung erreicht werden. Und so findet der Mensch seine Sicherheit nicht mehr in den Grenzen seines eigenen Rechtsgehäuses, die der starke Arm des Staates schützt, sondern in der Funktionsfähigkeit des gesellschaftlichen Systems, an dem er teilnimmt. Dessen Struktur zu sichern, ist die Aufgabe des Rechts, und dessen Ordnung ist das Gerechte. Diese Umstrukturierung unserer Gesellschaftsordnung auf der Ebene rechtlicher Normen und Werte wird man als Folge einer zunehmenden Rollen- und Systemdifferenzierung zu begreifen haben. Das Fortschreiten der Differenzierung löst alte, einheitlich strukturierte Orientierungskomplexe des Handelns auf und zwingt zur Neuorientierung an abstrakteren Bezugsgesichtspunkten umfassenderer Systeme, die allein sehr spezifische Funktionen legitimieren und integrieren können. Gerade das Recht scheint sich nun in besonderer Weise für diese Aufgabe zu eignen, weil es einerseits abstrahierbar, andererseits durch Entscheidungszentralisierung positivierbar ist, so daß als Systemreferenz seiner Funktion die (differenzierte) Gesellschaftsordnung als Ganzes gewählt werden kann. Deshalb wird das Recht von seiner alten Basis richtiger, traditionell gefestigter Handlungsformen und -gesinnungen um-
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8. Kap.: Gleichheit vor dem Gesetz
gestellt auf eine zugleich abstrakt-begriffliche, beliebig spezifizierbare und universalistische Orientierungsform, die nicht mehr ohne weiteres motivfähig ist . Ineins damit entwickeln sich neue Rechtsinstitute mit der spezifischen Funktion, Probleme zu lösen, die durch die soziale Differenzierung gestellt werden. Die Grundrechte gehören also sowohl nach ihrer universalistischen und funktional-spezifischen Form als auch nach ihrer besonderen Funktion in diesen Problemzusammenhang der sozialen Differenzierung. 27
Stellt man sich auf diese Betrachtungsweise ein, rückt auch das Problem der Positivität der Grundrechte, das wir oben in wenig befriedigender Weise offen lassen mußten, in andere Dimensionen. Positives Recht ist als allein übriggebliebene unterste Stufe einer Hierarchie von Rechtsquellen nicht mehr angemessen zu begreifen. Es ist eine für spezifische Funktionen gesellschaftlich ausgesonderte Normordnung, deren relative Autonomie durch die differenzierte Struktur der Sozialordnung getragen wird. Positives Recht heißt: daß soziale Verhaltenserwartungen den Filter einer ausdrücklichen staatlichen Entscheidung durchlaufen müssen, bevor sie „Recht" werden, und daß die den Filter passierenden Normen sich dadurch von anderen unterscheiden. Das Problem der Positivität ist kein solches der wertmäßigen Höhenlage. Es bezieht sich auf die Bedingungen und Grenzen unabhängiger Variabilität eines Teilsystems gesellschaftlicher Kommunikation. 28
Das positive Recht kann durch verbindliche Entscheidung des politischen Systems geändert werden — anscheinend unbegrenzt geändert werden. Die Möglichkeit der Änderung läßt sich weder durch Verfassungsartikel noch durch Beschwörung von Werten in eine Unmöglichkeit verwandeln. Diese Problematik kulminiert in den Grundrechten. Sie versteigen sich in das scheinbar paradoxe Unterfangen, das politische System durch eigene Rechtsetzung zu begrenzen. Die Tatsache, daß die Grundrechte gegen den Staat gerichtet sind, hat denn auch die herrschende Meinung zu dem Schluß gedrängt, daß sie deshalb nicht vom Staat gewährt sein können . Dieser Schluß ist jedoch falsch, und zwar nicht nur logisch, sondern auch deshalb, weil er ein unangebrachtes Identitäts- und Trennungsdenken voraussetzt. Er verkennt das Phänomen der Differenzierung auf zweierlei Weise. Er übersieht, daß der Staat in einer differenzierten Sozialordnung ein eigenes 29
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Ein deutliches Beispiel dafür, daß das Recht dort, wo es den technisch notwendigen Regelungsbedarf erfüllen will, die Grenzen menschlicher Motivfähigkeit überschreitet, bietet das heutige Straßenverkehrsrecht. Es dürfte nicht schwer sein, andere Beispiele zu finden. Vgl. S. 40 f. Als ein Beispiel unter vielen vgl. Georg Brunner, Die Grundrechte im Sowjetsystem, Köln 1963, S. 106. 2 8
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Interesse an Grenzstabilisierung entwickeln muß, weil er sich anders nicht als System rationalisieren kann; daß es bei Grundrechten also nicht wie bei Privatrechten um die Wurst geht, die man nur entweder haben oder nicht haben kann, sondern" daß der Staat durch richtig angesetzte Verzichte und Indifferenzen nur gewinnen kann . Zum anderen wird die Möglichkeit interner Differenzierung des Staates verkannt . Die geschichtliche Grundlage dafür ist eine gewisse Abtrennung der Rechtsentscheidungsrollen von den Hauptströmungen des politischen Geschehens, eine Trennung, die heute jedoch nicht mehr wie im römischen Recht und im common law eine institutionelle Selbstverständlichkeit ist, sondern nur noch mit bewußten, mehr oder weniger künstlichen politischen Sicherungen aufrecht erhalten wird. Die Entwicklungsländer, in denen diese geschichtliche Grundlage fehlt, allen voran die Sowjetunion, werden diese Trennung heute schwerlich institutionalisieren können. So fehlt ihnen verständlicherweise das Vertrauen in die Möglichkeit, gerade das Recht zum Strukturträger der differenzierten Sozialordnung machen zu können; sie behandeln es als ein Mittel des politischen Systems unter anderen. Und auch wir müssen uns der Frage stellen, ob gewisse positivrechtliche Unabhängigkeitsgarantien der Justiz auf die Dauer ausreichen, um an sehr zentraler Stelle die differenzierte Struktur der Sozialordnung gegen Tendenzen zu politischer Überflutung aller Kommunikationssphären mit Hilfe des positiven Rechts abzusichern. 30
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,0
• Letztlich geht die übliche Argumentation also auf die oben (S. 42) behandelte Machtsummenkonstanzprämisse zurück, welche die Macht als eine Art knappe Gütermenge substantialisiert, so daß man sich dann nicht recht vorstellen kann, daß der Staat Rechte begründet, die gegen ihn selbst gerichtet sind und ihm etwas von seiner Macht wegnehmen. " Obwohl die herrschende Auffassung das Gewaltenteilungsprinzip stark betont, hat sie vergessen, daß es zur Ablösung des Naturrechts erfunden worden ist. Gerade weil man der natürlichen Rechtsbindung der Staatsgewalt nicht mehr trauen konnte, hatte man sich im 18. Jahrhundert nach äquivalenten Sicherungen gegen Machtmißbrauch umgesehen und war dabei auf die Möglichkeit einer Innendifferenzierung des politischen Systems gestoßen. Heute will man beides als eine Art Doppelsicherung, überlegt aber nicht genug, ob die funktional äquivalenten Mittel sich auch kombinieren lassen. Das alte Naturrecht war Bestandteil einer hierarchischen Weltkonzeption und setzte eine entsprechend hierarchische Ordnung des politischen Systems voraus, dessen Spitze es band. Gewaltentrennung ist genau das Gegenteil hierarchischer Ordnung. Sie organisiert nicht einen vertikalen,. sondern einen horizontalen Fluß des Entscheidungsprozesses (Planung, Ausführung, Kontrolle) zwischen drei unabhängigen Gewalten. Diese Ordnung kann es sich, ohne aus dem Gleichgewicht zu kommen, nicht leisten, ein notwendigerweise unbestimmtes Naturrecht dem Richter anzuvertrauen; denn die Unbestimmtheit der Entscheidungsgrundlagen muß am Anfang, nicht am Ende eines Entscheidungsprozesses absorbiert werden. In der gewaltengeteilten Staatsordnung wird daher nur ein Zerrbild des alten Naturrechts entscheidungswirksam. Im Grunde handelt es sich um eine immanente Selbstkritik im positiven Recht.
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8. Kap.: Gleichheit vor dem Gesetz
Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich davon ab, wie stark diese Tendenzen sind. Sie läßt sich also nur empirisch geben. Wir müssen uns auf einige Hinweise beschränken, die im Anschluß an unsere bisherigen Untersuchungen zunächst einmal die Fragestellung selbst zu klären bestimmt sind. Der Zusammenhang der Grundrechte mit der differenzierten Struktur der Sozialordnung ist ein zweiseitiger. Die Grundrechte erhalten nicht nur, wie wir bisher betont haben, die Trennung der Kommunikationssphären der Gesellschaft; sie werden auch durch diese Differenzierung selbst erhalten. Differenzierte Sozialordnungen sind — ebenso wie undifferenzierte auch — im ganzen und in ihren einzelnen Sphären selbsttragend institutionalisiert. Sie erzeugen erwartungsgemäß Verhaltensmotive, die zur Fortsetzung der Ordnung des Zusammenlebens nötig sind, und türmen Verhaltensschwierigkeiten, Durchsetzungshindernisse und Folgeprobleme auf, wo das Handeln auf strukturwidrige Bahnen zu geraten droht. Die in der Persönlichkeitssphäre, der Kultur, der Wirtschaft institutionalisierten Formen kommunikativer Generalisierung kann der Staat nicht schaffen, daher auch nicht durch genuin politische Programme ersetzen. Er muß sie respektieren oder die soziale Ordnung, sich selbst eingeschlossen, auf eine niedrigere Stufe der Entwicklung zurücksteuern. Hinter Art. 79 Abs. 3 GG, der die Änderung anderer Verfassungsartikel, nicht aber die Änderung des Art. 79 Abs. 3 GG verbieten kann , stehen keine rechtlich faßbaren Sanktionen, sondern die Gefahren sozialer Regression, die man, wenn man sie sieht, nicht ernsthaft wollen kann. 32
Diese Lage spiegelt sich in der gegenwärtigen politischen Ordnung. Politische Eingriffe in die Intimsphäre, in die tragenden Symbole der Erwartens- und Verhaltenszivilisation oder in die Vertrauensgrundlagen der Wirtschaft sind, wenn nicht ausgeschlossen, so doch politisch schwierig. Diese Schwierigkeit ist als Verhaltensgrenze im politischen System selbst institutionalisiert, und dies nicht nur durch Werttafeln sondern mit gleicher Wirkung durch Strukturierung der politischen Chancen. Auf dem Wege zur Macht ist es unnötig und unklug, jene Grenzprobleme aufzugreifen oder auch nur zur Diskussion zu stellen. Außerrechtliche Ordnungszusammenhänge begrenzen also die Möglichkeiten der Rechtsetzung durch das politische System — und zwar nicht nur durch Verbotsnormen, sondern gleichsinnig dadurch, daß eine Ausdehnung der politischen Sphäre zunehmend in funktionierende Institutionen einbrechen würde, deren Leistung sie dann ersetzen müßte, und daß sie dadurch mit Folgeproblemen belastet würde, die ein sol32
Siehe auch Art. 146 GG, der doch wohl klarstellt, daß es sich in Art. 79 Abs. 3 GG nur um eine provisorische Ewigkeit handelt.
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8. Kap.: Gleichheit vor dem Gesetz 33
ches Handeln sehr bald als nicht mehr rational erscheinen ließen . Die soziale Differenzierung ruht nicht allein auf den schlanken Säulen der Grundrechte. Das entlastet die Positivität des Rechts und damit auch die Grundrechte von dem sozialen Druck, der bei rein abstrakter Betrachtung ihres Prinzips denkbar wäre. Die Positivität des Rechts setzt als soziale Institution ein ausbalanciertes Verhältnis zu anderen Institutionen der Sozialordnung, genauer: gefestigte soziale Differenzierung voraus. Das positive Recht ist nur eine Art Sicherheitsverstärker. Die Sicherheit, die es gewährt, hängt von der Sicherheit derjenigen Institutionen ab, die es sichern soll, letztlich aber von der Funktionsfähigkeit der Gesamtordnung. In dieser Form finden wir das Paradox der Positivität der Grundrechte wieder. In dieser Fassung ist es jedoch von der Ebene des logischen Widerspruchs heruntergeholt in die Realität und empirisch definierbar. Solange wir dabei bleiben, daß die Differenzierung der Sozialordnung durch Grundrechte abgesichert werden soll — und einstweilen ist keine andere Möglichkeit sichtbar, geschweige denn ausprobiert worden —, wird die eine oder andere Fassung des Problems der Rechtspositivität das politische Handeln und hoffentlich in zunehmendem Maße auch die sozialwissenschaftliche Forschung beschäftigen.
83
Auf die Gefahr zu wiederholen sei nochmals angemerkt, daß diese Begrenzung der Positivierbarkeit des Rechts keine solche der Rechtsgeltung ist und nicht absoluten Schutz verspricht. Keine Institution kann den Menschen von der Handlungsverantwortung gänzlich und auf die Dauer freistellen. Verbote können infolge schwacher Institutionalisierung, Rationalitätsbedingungen durch mangelnde Voraussicht unwirksam werden. Beide Schwächen haben, zusammentreffend, das Weimarer System zusammenbrechen lassen.
Neuntes Kapitel
Theorie der sozialen Differenzierung Mit der Erörterung des Gleichheitssatzes ist die Untersuchung der einzelnen Grundrechte abgeschlossen. Es bleibt die Aufgabe, das gewonnene Bild als Ganzes vorzustellen. Dieses Vorhaben ist aus zwei Gründen für die soziologische Betrachtungsweise schwieriger auszuführen als für die dogmatische. Einmal ist das soziologische Bild differenzierter als das dogmatische. Es droht auseinanderzufallen. Während die Dogmatik sich mit wenigen unbestimmten Leitbegriffen wie Freiheit oder Gleichheit krönt und ihren Zusammenhang darin findet, alle Einzelgrundrechte als Variationen zu diesen zentralen Themen zu begreifen, geht die hier vorgelegte soziologische Analyse von dem wohl wichtigsten Strukurmerkmal unserer Gesellschaftsordnung, der sozialen Differenzierung, aus. Sie gewinnt dadurch Einblick in die divergierende Schutzfunktion der Grundrechte, die nicht mehr durch eine inhaltlich-gemeinsame Anspruchscharakterisierung zusammengehalten werden können. Sie versteht zum Beispiel das Wahlrecht oder das Eigentum nicht als partiellen Ausdruck der Würde oder der Freiheit des Menschen, sondern ordnet es je anderen Kommunikationskreisen zu, ohne damit zu leugnen, daß es störende oder fördernde Beziehungen zwischen den einzelnen Kommunikationssystemen der Gesellschaft, also etwa zwischen Eigentum und Persönlichkeit, gibt. Dieser Unterschied ist, methodologisch gesehen, die Folge des Übergangs von qualitativ-kategorialer zu systemtheoretisch-funktionaler Abstraktion. Zusammenhang erscheint dann nicht mehr als Ähnlichkeit des Wesens, sondern als Interdependenz der Leistungen. Von diesem veränderten Ausgangspunkte her ist es problematischer, aber auch reizvoller und, wie wir meinen, ergiebiger, nach der Einheit der Grundrechte zu fragen. Ein anderer bezeichnender Unterschied der dogmatischen und der soziologischen Betrachtungsweise besteht darin, daß jene die Normen und die Rechte in ihrem gemeinten Sinn interpretiert, sie also so erläutert, wie der Handelnde sie verstehen soll; während der Soziologe
9. Kap.: Theorie der sozialen Differenzierung
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das Erwarten und Handeln an „inkongruenten Perspektiven" , an nicht notwendig mitbedachten Strukturen der Sozialordnung mißt, dem Erleben des Handelnden also sehr viel distanzierter gegenübersteht. Die Soziologie hat den weiteren Horizont, Sie kann die Dogmatik in ihrer sozialen Funktion zum soziologischen Thema machen und sie insofern kritisch beurteilen, während das Umgekehrte nicht möglich ist. Sie kann zum Beispiel fragen, was die Grundrechte als Institution leisten und warum ihre Leistung gerade so und nicht anders erbracht werden muß, welchen Sinn es hat, dafür die Form des „subjektiven Rechts" zu wählen, welche Funktion der rechtswissenschaftlichen Dogmatik in diesem Zusammenhang zufällt, wie weit die Funktion der Grundrechte durch die Dogmatik bewußtseinsfähig gemacht werden kann und wie weit sie latent bleiben muß. In diesen beiden Fragen: nach der Einheit und nach der Bewußtseinsgrenze der Grundrechte, wird der Unterschied zwischen dogmatischer und soziologischer Betrachtungsweise am deutlichsten sichtbar. Nur wenn die soziologische Behandlung dieser beiden Fragen befriedigt, kann die soziologische Methode als ernsthafte Konkurrentin der Dogmatik in ihre traditionelle Domäne der Verfassungsauslegung eindringen. Wir wählen daher diese beiden Fragen zum Leitfaden der beiden abschließenden Kapitel, in denen wir die vorangegangenen Analysen zusammenfassen und vertiefen wollen. Den Zusammenhang der Grundrechte haben wir in der Einheit ihrer Funktion gefunden, das heißt: in der Identität des Bezugsproblems, an das sie gebunden sind. Sie verhindern eine Entdifferenzierung und Simplifizierung der Sozialordnung, indem sie verschiedene Untersysteme der Gesellschaft mit ihren getrennten Kommunikationskreisen und unterschiedlichen Sondersprachen gegen Tendenzen zur Politisierung der Sozialordnung abschirmen. Mit dieser Feststellung wollen wir uns indes nicht begnügen, sondern sie durch eine genauere Analyse des Bezugsproblems ausbauen und absichern. Es ist vermutlich kein Zufall, daß eine Analyse der Grundrechtsfunktion uns auf das zentrale Problem der sozialen Differenzierung geführt hat. Was wir bisher an Gedankengut über den Zusammenhang des modernen Rechts mit der modernen Sozialstruktur besitzen, gibt dem Problem der sozialen Differenzierung die gleiche Schlüsselstellung. Die großen heute schon „klassischen" Dichotomien von Status und Vertrag , 2
1
Ein Ausdruck mit dem Kenneth Burke, Permanence and" Change, New York 1935, S. 95 ff., die eigentümliche Wandlung des Erkenntnisinteresses in der zweiten H ä l f t e des 19. J a h r h u n d e r t s glücklich kennzeichnet. Siehe Sir Henry Maine, Ancient Law, 1861, neu gedruckt in: The World Classics, London-New York-Toronto 1954, S. 141. 2
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9. Kap.: Theorie der sozialen Differenzierung 3
von repressiven und restitutiven Sanktionen und von formalen und materialen Rechtskomponenten sind entweder ausdrücklich unter diesem Gesichtspunkt entwickelt worden oder doch, wie im letztgenannten Falle, nur durch ihn befriedigend zu erklären. Die Verlagerung der Rechtsanknüpfung aus Statusrollen in Verträge hängt mit der Auflösung der funktional-diffusen, familienmäßigen und insofern einheitlichen Sozialstruktur zusammen. Die Ersetzung repressiver durch restitutive Sanktionen ist Ausdruck der Auflösung dieser einheitlichen Struktur und ihrer Vorstellungswelt in stärker differenzierte Handlungskreise, deren Integration spezifischere und elastischere Rechtsformen erfordert. Die zunächst paradoxe Beobachtung, daß das moderne Recht formale und materiale Rechtsprinzipien trotz der Widersprüchlichkeit ihres Stils nebeneinander pflegen und steigern muß, klärt sich, wenn man bedenkt, daß eine differenzierte Sozialordnung sowohl sichere Erwartungsgrundlagen als auch ansprechende Formeln für Interessenausgleich und Lastenverteilung benötigt und zwar um so mehr, je weiter die Differenzierung voranschreitet. 4
Diesen wichtigen Entdeckungen der Rechtssoziologie fügt unsere Bestimmung der Grundrechtsfunktion sich an. Der Zusammenhang liegt in der Einheit des Bezugsproblems. Während aber die genannten Dichotomien an formale Kennzeichnungen des Prozesses der Differenzierung: funktionale Spezifikation und Interessenartikulierung, Mobilisierung und wachsende Handlungsfreiheit, Integration von relativ autonomen Untersystemen, anknüpfen konnten, also Problemgesichtspunkte benutzen, die für jedes Untersystem der Gesellschaft gelten, kann und darf die Forschung auf dieser besonderen Ebene der Abstraktion nicht stehen bleiben. Eine umfassende Theorie, welche die schon vorliegenden Einsichten in sich aufnimmt, wird man nur gewinnen, wenn man es lernt, die Abstraktionslage ihrer Fragestellung zu variieren. Man wird einerseits ins Grundsätzliche zurücktragen und den Zusammenhang von Recht und Gesellschaftsstruktur klären müssen. Das erfordert ein Umdenken unserer ethischen, auf das im Handeln zu erstrebende Gute gerichteten Rechtstradition in eine systembegriffliche Theorie. Andererseits ist ein Vorstoßen in die entgegengesetzte konkretisierende Richtung notwendig. Nicht bei allen Problemen können die sachlichen Unterschiede der Untersysteme, die Gesichtspunkte der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, vernachlässigt werden. Das Grundrechtsthema ist ein Beispiel dafür: Es zwang uns, auf die Eigenart der Kommunikationssphären, die Schutz vor Politisierung verdienen, einzugehen. 3
Siehe Dürkheim (Kap. 1 Anm. 12). Siehe Weber (Kap. 5 Anm. 18), S. 503 ff., oder Max Weber, Rechtssoziologie (Hrsg. Johannes Winckelmann), Neuwied 1960, S. 275 ff. 4
9. Kap.: Theorie der sozialen Differenzierung
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Die speziellen Schutzfunktionen der Grundrechte hatten sich in vier Richtungen aufgliedern lassen: die Konstitution der Persönlichkeiten, die Generalisierung der Verhaltenserwartungen, die wirtschaftliche Bedarfsdeckung und die verbindlichen Pröblementscheidungen. Die damit bezeichneten Kommunikationsinteressen mögen in undifferenzierten Sozialordnungen ungetrennt und ununterschieden beieinander liegen. -In differenzierten Sozialordnungen nehmen sie eine besondere Form an, die sie trennbar und bewußtseinsfähig macht: Die Persönlichkeit wird individualisiert, die Verhaltenserwartungen werden zivilisiert, die wirtschaftliche Bedarfsdeckung wird durch Geld geordnet und die verbindlichen Entscheidungen werden einem bürokratischen Staatsbetrieb aufgetragen, der teils direkt, teils durch Prozesse politischer Machtbildung mit der Gesellschaft verbunden ist. Wir stehen zunächst vor der Frage, ob und wie dieses strukturelle Arrangement durch die soziologische Theorie begründet werden kann . 5
Die einzige soziologische Theorie, die dafür in Frage kommt und die sogar ein ganz ähnliches Grundschema anzubieten vermag, ist die Theorie der Aktionssysteme von Talcott Parsons. In der Tat geht die Übereinstimmung der hier induktiv gewonnenen Ergebnisse mit der deduktiv entfalteten Theorie von Parsons so weit, daß diese Kongruenz ebensogut zur theoretischen Begründung unserer Grundrechtsanalyse wie zur Verifikation der Parsonsschen Theorie benutzt werden könnte — freilich mit Einschränkungen, die wir im folgenden darlegen werden. 6
Parsons' Grundgedanke lautet: daß aus dem Wesen des Handelns als orientiertem Sichverhalten eines Handelnden-in-einer-Situation und 5
Eine ähnliche These, die sich bei Ernst Rudolf Huber, Rechtsstaat und Sozialstaat in der modernen Industriegesellschaft, Oldenburg 1962, S. 12, findet: Die moderne Industriegesellschaft bestehe aus einem Wirtschaftssystem, einem Gesellschaftssystem, einem Kultursystem und einem Staatssystem, enthält leider keinerlei Hinweise auf ihre theoretischen Grundlagen. Siehe ferner die nahestehende Unterscheidung von population system, exchange system, threat system und learning system einer Gesellschaft bei Kenneth E. Boulding, The Relation of Economic, Political and Social Systems, Social and Economic Studies 11 (1962), S. 351—362, und die Aufgliederung bei Marion J. Levy, The Structure of Society, Princeton N. J. 1952, in: Solidarity, Economic Allocation, Political Allocation und Integration and Expression, die wegen starker Überschneidung des ersten und letzten Gesichtspunktes weniger zu empfehlen ist. 6
Siehe hierzu und zum folgenden namentlich Parsons u. a. (Kap. 2 Anm. 15); Parsons/Smelser (Kap. 1 Anm. 12) ; ferner Robert F. Bales, Interaction Process Analysis: A Method for the Study of Small Groups, Cambridge Mass. 1951; Parsons/Bales (Kap. 5 Anm. 40) ; Talcott Parsons, General Theory in Sociology, in: Robert K. Merton/Leonard Broom/Leonard S. Cottrell, Jr., Sociology Today, New York 1959, S. 3—38; Max Black (Hrsg.), The Social Theories of Talcott Parsons, Englewood Cliffs N. J. 1961. Zu Parsons' Handlungsbegriff und seinem Verhältnis zum amerikanischen Behaviorismus vgl. ferner John Finley Scott, The Changing Foundation of the Parsonian Action Scheme, American Sociological Review 28 (1964), S. 716—735.
190
9. Kap.: Theorie der sozialen Differenzierung
aus den Erfordernissen jeder Systembildung ein" vollständiges und zwingendes Problemschema abgeleitet werden kann. Das Schema wird gewonnen, indem man die Innen/Außen-Unterscheidung der Unterscheidung von Handelnden-in-Situationen und Handlungssystemen gegenüberstellt . Daraus ergeben sich, wie die beigefügte Tabelle zeigt, 7
internal
external
system
integration
adaptation
actor in Situation
pattern maintenance
goal attainment^
vier Kombinationsmöglichkeiten, die Parsons als lösungsbedürftige Probleme, als Systemfunktionen versteht, denen jedes Handlungssystem Genüge tun muß, wenn es fortbestehen will. Parsons deutet diese Probleme — und bereits das ist nicht mehr logisch zwingende Deduktion, sondern eine Interpretation des eigenen Ausgangspunktes — als: Erhaltung der grundlegenden Orientierungsmuster, Zweckerreichung, Integration und Anpassung. Wenn dieses einfache Grundschema für jedes Aktionssystem zutrifft und vollständig ist, wenn es also keine anderen Systemprobleme gibt, die sich nicht darauf zurückführen lassen, muß alle weitere Problembehandlung die Form der Unterscheidung von Untersystemen annehmen, die sämtlich ihrerseits vier Grundprobleme lösen müssen. Alle weiteren Probleme ergeben sich in vielfältigen und komplizierten interchange relations" zwischen Untersystemen, die sich nur beurteilen lassen, wenn man die „Systemreferenzen" der jeweiligen Leistungen klar auseinanderhält. Die Einfachheit des Problemschemas wird mithin durch eine Vielheit von Systembeziehungen gebüßt . Das hat aber einen wichtigen Vorteil: Durch die Abstraktion seiner Ausgangsrubriken und durch den Zwang des deduktiven Räsonnements wird Parsons zu einem 8
7
Die Bezeichnungen dieser Rubriken haben im Laufe der Ausarbeitung der Theorie gewechselt. Lange Zeit — so noch (Kap. 9 Anm. 6 — 1959 —), S. 7 — hatte Parsons die Innen/Außen-Differenz mit derjenigen von instrumentaler und Konsum-Orientierung konfrontiert. Das ergab eine andere Aufgliederung. Ein wesentlicher sachlicher Unterschied soll mit diesem Wechsel der Rubriken nicht verbunden sein. Er ermöglichte eine Verbindung der Lehre von den Pattern Variables mit der Systemtheorie. Die Darstellung im Text stützt sich auch auf eine Vorlesung im Jahre 1960/61. Siehe auch die Verwendung aller drei Rubrikenpaare bei Parsons (Kap. 2 Anm. 14), S. 327 ff., und ders. (Kap. 8 Anm. 17). Vgl. hierzu auch den kritischen Hinweis von Florence R. Kluckhohn/ Fred L. Strodtbeck, Variations in Value Orientations, Evanston III. — Elmsford N. Y. 1961, S. 34, daß Parsons alle systeminternen Variationen mit Hilfe des System/Subsystem-Schemas als Veränderung in Beziehungen zwischen Systemen erkläre. 8
9. Kap.: Theorie der sozialen Differenzierung
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dominierenden Interesse an Fragen der strukturellen Differenzierung geführt, und damit trifft er in außerordentlich fruchtbarer Weise auf die Strukturproblematik der modernen Gesellschaftsordnung. In Anwendung seines Schemas auf die Gesellschaft im ganzen , deutet Parsons die Untersysteme als Systeme religiös-kultureller Motivprägung, als Integrationssystem, als politisches System und als Wirtschaftssystem. Seine Hauptveröffentlichungen des letzten Jahrzehnts dienen der Erforschung dieser Untersysteme der Gesellschaft und ihrer zahlreichen Tauschbeziehungen. 9
Wir brechen diese notgedrungene unzulängliche Skizze hier ab. Üblicherweise wird gegen diese Theorie vorgebracht: sie enthalte ein konservatives, statisches Vorurteil und sei zu harmonisch und widerspruchsfrei angelegt, um der Wirklichkeit des sozialen Lebens gerecht werden zu können . Doch gehen diese Einwendungen fehl . Durch den Abstraktionsgrad der Grundprobleme und durch die Anerkennung einer Mehrzahl divergierender Bedürfnisse ist in dem Schema für jede Entwicklung und für jeden Konflikt Raum -. Dagegen wird man fragen müssen, ob die vier Ausgangsrubriken wirklich unabhängig voneinander definierbar sind, ob zum Beispiel der Begriff des Handelnden-in10
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Genau gesprochen muß die Theorie des Sozialsystems, die für jedes Sozialsystem Geltung beansprucht, unterschieden werden von der Theorie der Gesellschaft, die das Globalsystem sozialen Handelns als einen Anwendungsfall der allgemeinen Theorie darstellt. Soziologie ist nicht Theorie der Gesellschaft, sondern in einem abstrakteren Sinne Theorie des Sozialsystems. Vgl. dazu auch D. F. Aberle/A. K. Cohen/A. K. Davis/M. J. Levy, Jr./F. X. Sutton, The Functional Prerequisites of a Society, Ethics 60 (1950), S. 100—111, und Levy (Kap. 9 Anm. 5), S. 111 ff. So von deutschen Autoren namentlich durch Ralf Dahrendorf, Struktur und Funktion: Talcott Parsons und die Entwicklung der soziologischen Theorie, Kölner Zeitschrift für Soziologie 7 (1955), S. 491—519 und ders., Out of Utopia: Toward a Reorientation of Sociological Analysis, The American Journal of Sociology 64 (1958), S. 115—127, beide Aufsätze neu gedruckt in ders., Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S.49ff. Das Argument war aber auch in Amerika in der ersten Welle der Reaktion auf Parsons durchaus geläufig. Heute haben die Funktionalisten im allgemeinen nur noch mit dem Einwand zu kämpfen, daß ihre Theorie sozialer Änderungen nicht spezifisch genug formuliert sei, um kontrollierbar zu sein. Eine sorgfältig gearbeitete Widerlegung gibt Dietrich Rüschemeyer in seiner Einleitung zu: Talcott Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie (Dt. Ubers, von: Essays in Sociological Theory, 2. Auflage, Glencoe III. 1954), Neuwied-Berlin 1964, S. 21 ff. Daß Parsons Darstellung, die zumeist auf die Darlegung von Zusammenhängen gerichtet ist, seinen Kritikern manche Nahrung bot, sei zur Abmilderung dieser Gegenkritik angemerkt. Ein anderer Einwand wäre übrigens eher berechtigt: daß eine Theorie, die so stark auf ein Schema sozialer Differenzierung hinausläuft, für die Erforschung undifferenzierter Sozialördnungen wenig vorteilhaft ist und insofern die geschichtliche Perspektive d e r Neuzeit in sich aufgenommen hat; siehe ein ähnliches Bedenken bei Heimann (Kap. 6 Anm. 13), S. 30. Doch dies ist ein Einwand, dem wohl keine sozialwissenschaftliche Theorie entgeht. 10
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9. Kap.: Theorie der sozialen Differenzierung
einer-Situation ohne Voraussetzung des Systembegriffs und dieser ohne Voraussetzung der Innen/Außen-Differenz gedacht werden kann oder, wenn man auf Parsons' ältere Terminologie zurückgreift: ob nicht in der Unterscheidung von instrumentaler und konsumgerichteter Orientierung der Begriff des Handelnden und der Begriff des Systems schon impliziert ist. Zum anderen wäre auf das Moment der Selbstinterpretation und Problemverdichtung hinzuweisen, das in den vier Grundproblemen zutage tritt. Sie sind keineswegs rein definitorische Benennungen der Rubrikenkombinationen, sondern spekulative Ausfüllungen der durch die Konfrontierung der Grundbegriffe gewonnenen Leerplätze, Ausfüllungen, die im Laufe der weiteren Ausarbeitung eigenes Leben gewinnen. Parsons ist zwar zuweilen der Vorwurf gemacht worden, daß er zu tautologischen Formulierungen neige . Das würde der deduktiven Darstellung seiner Theorie entsprechen, ist jedoch nur sehr begrenzt richtig. In Wahrheit konkretisiert er seine Theorie durch verdichtende Interpretationen seines Ausgangsschemas, das als Grundlage für die Herstellung neuartiger Zusammenhänge, für das Aufdecken von bisher übersehenen Querverbindungen und Analogien, für das Entdecken latenter Probleme und funktionaler Beziehungen in der Sozialordnung exzellenten Wert besitzt, aber nicht die Anforderungen der Theorie eines hypothetisch-deduktiven Aussagensystems erfüllt . 13
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Mit diesen wenigen Bemerkungen kann die anspruchsvollste soziologische Theorie der Gegenwart nicht angemessen gewürdigt werden. Aber selbst wenn man die gestellten Fragen als offen behandelt, bleibt ein wesentlicher Erkenntniszusammenhang bestehen, der sich als Differenz des Menschseins und der Systembildung oder, wenn man so will, als „Transzendenz" des Menschen formulieren ließe. Systeme bestehen niemals aus Dingen (bzw. Personen), sondern aus Zuständen an Dingen (Personen) und ihren Variationsmöglichkeiten . Wenn aus menschlichen Handlungen Systeme gebildet werden, ist daher eine Grundproblematik zu erwarten, die von allen Aktionssystemen geteilt wird: daß nämlich 15
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So z. B. von Deutsch (Kap. 1 Anm. 16), S. 49 f., oder von Runciman (Einf. Anm. 10), S. 40, 109 ff. Weitere Nachweise bei Luhmann (Einf. Anm. 8), S. 643, Anm. 26. Vgl. auch Georges Gurvitch, Déterminismes sociaux et liberté humaine, 2. Aufl. Paris 1963, S. 56 ff. Parsons selbst hat sich im übrigen mehrfach sehr deutlich von der mathematisch-naturwissenschaftlichen Theorieform distanziert, und für die strukturell-funktionale Theorie nur den Status einer vorläufigen und unvollkommenen Erkenntnis in Anspruch genommen. Siehe z. B. Parsons' Einführung zu: Max Weber, The Theory of Social and Economic Organization, LondonEdinburgh-Glasgow 1947, S. 20 f., oder Talcott Parsons, Systematische Theorie in der Soziologie: Gegenwärtiger Stand und Ausblick in: Talcott Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie, Neuwied — Berlin 1964, S. 31 ff. Siehe die ausdrückliche Formulierung dieser wichtigen Ausgangserkenntnis bei Kuhn (Kap. 2 Anm. 15), S. 50, oder bei W. Ross Ashby, Design for a Brain, London 1952, Neudruck 1954, S. 15. 14
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die orientierungsnotwendigen Grenzen der Handlungssysteme in die Erlebniswelt der beteiligten Mensehen hineinschneiden und mit ihr nicht zu voller Kongruenz zu bringen sind. Einerseits transzendiert der Erlebnishorizont des an seinem Handeln notwendig beteiligten Menschen jede Systembildung — auch die seiner eigenen Persönlichkeit: Er kann sich selbst untreu werden. Zum anderen — und diese Seite betont Parsons besonders — ist sein Transzendieren nur subjektiv, standpunktrelativ, nur Aspekt einer Wirklichkeit, die für andere Subjekte gegenständlich wird. Und insofern transzendiert die Systembildung den Menschen, als sie die handelnden Subjekte in ihrer Subjektivität und ihrer Gegenständlichkeit zugleich erfaßt und diesen Gegensatz aufhebt. Diese Systemleistung ist notwendig mit der Konstitution einer Innen/ Außen-Differenz verbunden, weil das den Sinn eines Systems ausmacht und die Stabilisierungsfähigkeit der Systeme bedingt. Daraus folgt, daß Sinn und Bestand aller Aktionssysteme in relativer Absonderung von ihrer Umwelt problematisch ist und verschiedenen, voneinander unabhängigen Anforderungen genügen muß. 10
Ob sich aus diesem Grund der Problematik die Art der Probleme zwingend ableiten läßt, wie Parsons annimmt, mag hier offen bleiben . Jedenfalls scheint sich in bezug auf dieses Ausgangsproblem ein Prozeß struktureller Differenzierung als Problemlösung zu bewähren. Ein erster Schritt der Differenzierung liegt bereits in der Innen/Außen-Unterscheidung , also in der Systembildung selbst. Sie enthält das elementarste Schema der Weltbewältigung. Für soziale Systeme bedeutet sie, daß die besonderen Bedürfnisse des Einzelmenschen, soweit sie das System transzendieren, als externe Probleme, und die Koordinierungsnotwendigkeiten als interne Probleme behandelt werden können, wobei durch die Trennung und die Unterschiedlichkeit der Problemauffassung unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten gewonnen werden. 17
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Vgl. z. B. Parsons/Shils (Kap. 2 Anm. 15), S. 4 f. Wenn man die funktionale Methode als Technik der Entdeckung von funktional äquivalenten Problemlösungen versteht — siehe dazu Luhmann (Einf. Anm. 8 und Anm. 11) — sprechen auch methodologische Erwägungen gegen eine solche Deduktion. Man würde dann den Sinn eines Problems gerade darin erblicken, daß es auf verschiedene Weise gelöst werden kann, so daß die Folgeprobleme, die mit einzelnen Lösungen verbunden sind, nicht zwingend aus der Grundproblematik abgeleitet werden können. Vgl. dazu auch die zurückhaltenden Bemerkungen eines diesem Versuch sonst nahestehenden Autors: Sutton (Einf. Anm. 10), S. 70. Mit diesem Begriff verbinde ich nicht, wie Parsons, die Vorstellung, daß jedes System durch seine Umwelt im Sinne der Einordnung in eine Hierarchie normativ kontrolliert wird. Durch die Gleichsetzung der Innen/AußenDifferenz der Systembildung mit dem „hierarchy of control"-Gedanken (vgl. z. B. Parsons (Kap. 2 Anm. 14), S. 324 und 333) stellt Parsons jene Weiche, die ihn zu seiner viel diskutierten harmonischen Gesamtauffassung führt. System/ Umwelt-Beziehungen sind für ihn daher begrifflich-notwendig durch ein umfassendes System reguliert. 17
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9. Kap.: Theorie der sozialen Differenzierung
. Bei näherem Zusehen lassen sich die externen und internen Probleme des Sozialsystems — ebenfalls im Interesse einer differenzierten und dadurch wirksameren Technik der Problemlösung — weiter aufgliedern. Die Bedürfnisse des Einzelmenschen haben eine physisch-gegenständliche und eine psychisch-symbolische, man könnte auch sagen: eine materielle und eine informationelle Seite. Die Koordinierungsnotwendigkeiten des Sozialsystems können, einmal durch Generalisierung von Verhaltenserwartungen, zum anderen durch Problementscheidungen im Einzelfall gelöst werden . Bei allen Wechselbeziehungen, die zwischen diesen Unterproblemen zu erwarten sind — die symbolische Persönlichkeitskonstitution ist auch auf Sachmittel angewiesen, der Bedarf an Problementscheidungen kann durch Institutionalisierung von Verhaltenserwartungen entlastet werden usw. — ist doch eine wirksamere Problembehandlung möglich, wenn die Lösungstechniken problemspezifisch entwickelt werden, wenn also gewisse Kommunikationsformen für die Befriedigung des wirtschaftlichen Bedarfs, andere für die soziale Darstellung der Persönlichkeit, andere für die Pflege akzeptabler Verhaltenserwartungen und wieder andere für verbindliche Problementscheidungen reserviert werden. Es sind demnach zwar nicht die Wesensmerkmale des Handelns, wohl aber die Vorteile der strukturellen Differenzierung, welche eine Aufgliederung der Gesellschaft in diese vier Kommunikationssphären nahelegen und von einem gewissen Entwicklungsstand ab unausweichlich machen. Die einzelnen Kommunikationsbereiche .lassen sich nur in relativer Isolierung vervollkommnen. 19
In welchem Sinne diese vier Kommunikationssphären Untersysteme der Gesellschaft bilden, bedarf noch einiger klarstellender Bemerkungen. Parsons spricht von Systemen im analytischen Sinne, die nur in der wissenschaftlichen Analyse als Systeme erscheinen und im Gegensatz zu den Systemen, die Parsons „collectivities" nennt, keine Handlungsfähigkeit als System besitzen . Funktionale, das heißt: problembezogene Untersysteme der Gesellschaft brauchen und können in der 20
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Diese Unterscheidungen geben ebenso wie Parsons' Distinktionen ein vollständiges Schema. Es gibt keine „dritten Möglichkeiten", für den Einzelmenschen keine Bedürfnisse, die nicht materiell oder informationell sind, für das Sozialsystem keine Koordinierungsnotwendigkeiten, die nicht entweder durch Generalisierung von Verhaltenserwartungen oder durch Problementscheidung geregelt werden können. Darauf gründet sich die Annahme, daß diese Theorie den Problembereich erschöpfend erfaßt — wodurch andersartige Theorien natürlich nicht ausgeschlossen werden. 20
Vgl. die Unterscheidung von concrete System and analytical System bereits in Talcott Parsons, The Structure of Social Action, Glencoe III. 1937, S. 35, 731 f.; ferner namentlich Parsons/Smelser (Kap. 1 Anm. 12), S. 14 ff., und Parsons (Kap. 1 Anm. 12 — 1961 —), S. 36 f., sowie Levy (Kap. 9 Anm. 5), S. 199 ff., und die Erläuterungen bei Harry M. Johnson, Sociology, New York 1960, S. 56 ff.
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Tat nicht zugleich strukturelle Untersysteme, zum Beispiel Einzelpersönlichkeiten oder Organisationen sein . Diese Unterscheidung gewährleistet eine besondere Elastizität des theoretischen Instrumentariums; ihre Handhabung erfordert allerdings auch besondere Sorgfalt, soll vermieden werden, daß den analytischen und funktionalen Untersystemen . der Gesellschaft — etwa den Persönlichkeiten insgesamt (bei Parsons: dem kulturbestimmten Motivationssystem) im Gegensatz zur hand- • lungsfähigen Einzelpersönlichkeit, oder der Wirtschaft insgesamt im Gegensatz zum Einzelbetrieb — unversehens Eigenschaften unterstellt werden, die nur strukturierten konkreten Aktionssystemen zukommen . 21
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Es liegt im Sinne dieser Unterscheidung, daß die Frage, wie weit die funktionale Differenzierung in eine strukturierte Wirklichkeit übersetzt, also durch konkrete Untersystembildung verwirklicht wird, als empirisches Problem offen gelassen wird. Parsons hält für dessen Bearbeitung ein Schema von vier Ebenen der systembildenden Einheiten (Werte, Normen, Kollektivitäten und Rollen) bereit, die in absteigender Ordnung spezifisch gedacht sind . Die funktionale Differenzierung kann auf den einzelnen Ebenen unterschiedlich stark verwirklicht sein, woraus sich Spannungen im Gesamtsystem ergeben können — wenn zum Beispiel die Normbildung der Wertdifferenzierung noch nicht entspricht oder umgekehrt; oder wenn die Rollendifferenzierung zur Ordnung der Kollektivitäten, der Gruppen und Organisationen, in Widerspruch tritt. Wir haben unabhängig von diesem Schema von verschiedenen Generali23
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Darauf bezieht sich auch der oben S. 129 Anm. 53 erwähnte Begriff des Primats einer funktionalen Orientierung struktureller Üntersysteme. Diese können niemals in einer einzigen Problembeziehung ganz aufgehen, wohl aber ihr besondere Relevanz zuerkennen. Parsons selbst nimmt zum Beispiel an — und das ist einer der problematischsten Aspekte seiner Theorie —, daß auch analytische Untersysteme sich durch Tauschbeziehungen nach Maßgabe des Input/Output-Modells im -Verhältnis zu ihrer Umwelt stabilisieren. Da diese Systeme jedoch nicht als Systeme erlebt werden und nicht handeln können, können solche Tauschbeziehungen nur in latenten Strukturen liegen. Ihnen fehlt die Tauschabsicht. Mit dieser Annahme, die wahrscheinlich aus der ökonomischen Theorie (z. B. Marshall, Schumpeter) kommt und m. E. vermeidbar ist, erschwert Parsons sich die empirische Uberprüfung seiner Theorie erheblich und verlegt das Hauptgewicht seiner Forschung aus dem Erlebnishorizont des Handelns heraus. Ein typisches Beispiel für ein vorschnelles Umdeuten funktionaler in strukturelle Untersysteme bietet auch Heimann (Kap. 6 Anm. 13) in bezug auf das Wirtschaftssystem. 22
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Vgl. etwa die Darstellung dieser „hierarchy of control" strukturbildender Systemeinheiten bei Parsons (Kap. 3 Anm. 25), S. 122 ff. Eine etwas abweichende Aufteilung der Differenzierungsebenen in sets of activities, roles und collectivities findet sich bei Neil. J. Smelser, Social Change in the Industrial Revolution: An Application of Theory to the Lancashire Cotton Industry 1770 bis 1840, London 1959, S. 10 f., und bei Smelser (Kap. 1 Anm. 22), S. 32, in values, norms, mobilization into organized roles und situational facilities.
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sierurigsrichtungen der Kommunikation gesprochen, die als solche in der heutigen Gesellschaftsordnung unterschieden werden können, die sich aber nicht notwendig und nicht in gleicher Weise zu strukturierten sozialen Handlungssystemen verfestigen, welche über eigene Einrichtungen der Selbsterhaltung verfügen. Jene Differenz von funktionsanalytischer und struktureller Betrachtungsweise ist für unser Thema der Grundrechte besonders wichtig. Denn die Tatsache, daß nicht alle Funktionen in der Sozialordnung durch strukturelle Untersysteme ohne Verlust übernommen und reibungslos erfüllt werden können, daß vielmehr eine gewisse Diskrepanz zwischen funktionalen Bedürfnissen und strukturellen Systembildungsmöglichkeiten unvermeidlich ist, gibt uns die letzte Erklärung der Grundrechte. Die Möglichkeiten funktional - spezifischer Differenzierung durch strukturelle Untersystembildung sind begrenzt, weil jedes Untersystem wiederum aus konkreten Handlungen besteht, die konkrete Menschen involvieren. So kann nicht jedes Problem der Gesellschaft einem konkreten Handlungssystem in dem Sinne überantwortet werden, daß es dort wie ein eigenes Problem behandelt und durch die Selbsterhaltungseinrichtuhgen des Systems gleichsam mitgedeckt und mitgelöst wird. Die Selbstfürsorge konkreter Handlungssysteme löst zwar zahlreiche Probleme: Die individuelle Persönlichkeit verteidigt ihre Selbstdarstellung weitgehend selbst —• und sei es mit Hilfe von Neurosen; die Generalisierung von Verhaltenserwartungen wird teils in die Selbstdarstellung übernommen, teils organisierten Vereinigungen aufgetragen, teils betriebsmäßig gelehrt und gelernt; die Wirtschaft existiert dank des strukturell kanalisierten Eigeninteresses der Beteiligten; und das politische System gruppiert Politiker und Bürokraten ebenfalls um eigene Systemziele, mit denen doch zugleich Prozesse politisch-administrativer Informationsverarbeitung im allgemeinen gesellschaftlichen Interesse verbunden sind. Dazu kommt, daß hochdifferenzierte Sozialordnungen in sich selbst ein strukturelles Beharrungsvermögen entwickeln, das es zum Beispiel fast unmöglich macht, ein Leben ohne Geld oder ohne Anerkennung verbindlicher Staatsentscheidungen oder ohne jede zivilisierte Ausdrucksdisziplin zu führen. Wie in jeder Sozialordnung ist auch in der modernen differenzierten Gesellschaft die Sozialstruktur mit ihren Mechanismen kommunikativer Generalisierung im wesentlichen eine selbsttragende Ordnung, die, einmal institutionalisiert, fortlaufend Motive für adäquates Handeln erzeugt. Gleichv/ohl versteht sich die Erhaltung dieser Ordnung nicht von selbst. Sie ist, mit anderen Worten, nicht in beliebiger Form möglich. In dem Maße, als die soziale Differenzierung fortschreitet, zerfällt die
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24
archaische Kongruenz von Struktur und Funktion . Es entstehen Spannungen zwischen den (durchaus sinnvollen) Selbsterhaltungs- und Selbstentfaltungstendenzen der konkreten Aktionssysteme, welche die Struktur der Sozialordnung ausmachen, und den Bestandsvoraussetzungen der Gesamtordnung. Die Kommunikationssphären müssen in einer Weise generalisiert werden, die in einzelnen konkreten Handlungssystemen keine ausreichende Stütze mehr findet. Kein Mensch und keine Organisation können für sich allein Individualität, Zivilisation, Geld oder legitime Macht gewährleisten. Hier haben die Grundrechte als gesamtgesellschaftliche Institution ihren Platz. Sie hemmen die strukturell bedingten Expansionstendenzen des politischen Systems im Interesse der Erhaltung einer differenzierten Kommunikationsordnung, die in ihren einzelnen Sphären auf spezifische funktionale Probleme der Gesellschaft bezogen ist. Sie finden ihre Daseinsrechtfertigung also im Dilemma von Struktur und Funktion, im Problem der funktionsgerechten Struktu/ierung der Sozialordnung, also in einem Problem, das erst in differenzierten Sozialordnungen auftauchen kann. Der Sinn der Grundrechte ist demnach weder von den Interessen des idealisierten Einzelmenschen, noch von denen des Staates oder von einer dialektischen Verbindung beider her zu verstehen. Grundrechte sind nicht lediglich Träger der Sollsuggestion von Werten dieser Untersysteme der allgemeinen Gesellschaftsordnung. Ihre Funktion ergibt sich letztlich aus den Problemen der Systembildung und der sozialen Differenzierung . In einer differenzierten Sozialordnung wird die Existenzmöglichkeit der Untersysteme durch die Gesamtordnung vermittelt. Darauf gründet sich die Möglichkeit, daß sie im Verhältnis zueinander relativ autonom gesetzt und an eigenen Wertideen ausgerichtet werden können. Das bedeutet aber für die wissenschaftliche Analyse, daß diese Wertideen, z. B. die Würde und Freiheit der Persönlichkeit oder die Unantastbarkeit des Eigentums, nicht letzter Bezugspunkt des Grundrechtsverständnisses bleiben können. 25
24
Das viel kritisierte harmonische Gesellschaftsbild des frühen Funktionalismus ging von dieser Kongruenz von Struktur und Funktion aus. Es beruhte darauf, daß die damals führenden' Kulturanthropologen archaische Kulturen ohne wesentliche Innendifferenzierung und ohne strukturbildende Umweltkontakte untersucht hatten und bei diesem Blickfeld verständlicherweise annehmen konnten, daß soziale Strukturen sich durchweg funktional sinnvoll zu einem System zusammenfügen. Dem heutigen Funktionalismus kann man dieses Vorurteil nicht mehr zur Last legen. 25
Darüber hinaus wird man allgemein fordern müssen, daß unser Begriff von Kultur aus seiner alten Bindung an eine icleale, allgemeinverbindliche P e r s ö n l i c h k e i t s s t r u k t u r h e r a u s g e l ö s t u n d a u f die P r o b l e m e des H a n d e l n s
in Systemordnungen bezogen wird. Vgl. eine entsprechende Bemerkung von Crozier (Kap. 2 Anm. 22), S. 20.
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9. Kap.: Theorie der sozialen Differenzierung
Entsprechend wird die geschichtlich-wirksame Sanktion der Grundrechte nur vordergründig durch die Gerichtsbarkeit vermittelt. Dahinter steht die Gefahr einer Regression des gesellschaftlichen Gesamtsystems zu einer niedrigeren, weniger differenzierten Entwicklungsstufe . Grundrechte müssen nicht sein, und ob sie sein sollen, kann man endlos diskutieren. Ihr Daseinsrecht läßt sich nicht auf letztverbindliche Werte zurückführen; denn Werte sind nicht wahrheitsfähig, und es gibt Werte genug, die eine Gesellschaftsordnung legitimieren, welche ohne Grundrechte auskommt. Auf der Ebene der Werte läßt sich eine vernünftige Diskussion mit der grundrechtslosen Welt des Ostens nicht fuhren. Die Theorie gesellschaftlicher Differenzierung könnte dafür eine tragfähige Basis bieten. Es ist eine gesunde wissenschaftliche Hypothese zu vermuten, daß differenzierte Sozialordnungen das Problem des menschlichen Daseins in der Welt wirksamer zu lösen vermögen als undifferenzierte Sozialordnungen. Und wenn die Differenzierung in dem gegenwärtig erreichten Ausmaße erhalten werden soll, sind Grundrechte — oder bisher unentdeckte funktionale Äquivalente — vonnöten. 26
27
Gesellschaftliche Differenzierung ist ein Entwicklungsprozeß , der in seinen einzelnen Schritten weder zwingend aus Vorhergegangenem abgeleitet werden kann, noch unerläßliche Voraussetzung des Überlebens ist. Der Ausgangspunkt dieser Theorie: die Annahme einer undifferenzierten Sozialstruktur als Beginn, ist eine mehr oder weniger methodologische Hypothese , die jedoch zu den geschichtlichen Tatsachen 28
sfVgl. dazu Eisenstadt (Kap. 1 Anm. 13), S. 378 ff., mit einem Überblick über Entwicklungsmöglichkeiten, die eintreten können, wenn die Institutionalisierung mit der sozialen Differenzierung nicht Schritt hält. Siehe dazu den — allerdings nicht ungefährlichen •—• Begriff des e v o lutionary universals", den Parsons (Kap. 1 Anm. 7 — 1964 —) zur Diskussion stellt: „An evolutionary u n i v e r s a l , i s a complex of structures and associated processes the development of which so increases the long-run adaptive capacity of living systems in a given class that only systems that develop the complex can attain certain higher levels of general adaptive capacity". Parsons selbst sieht den Anwendungsbereich dieses Begriffs allerdings mehr im Bereich der generalisierenden Medien der Kommunikation, etwa: Hierarchiebildung, Legitimation von politischer Macht, Geldwesen, universell rationalisiertes Recht, als in der sozialen Differenzierung selbst. Doch findet man bei Parsons und in seinem Einflußkreise häufig die Auffassung, daß soziale Differenzierung die tragende Variable des Fortschritts ist. Vgl. z. B. Parsons (Kap. 1 Anm. 7 — 1961 —), S. 239 ff.;Riggs (Kap. 1 Anm. 8 —1957—) und ders., Bureaucrats and Political Development: A Paradoxical View, in: LaPalombara (Einf. Anm. 10), S. 120—167 (122 ff.); Smelser (Kap. 9 Anm. 23) und ders. (Kap. 1 Anm. 13), S. 106 ff.; Almond (Eihf. Anm. 10); LaPalombara (Einf. Anm. 10), S. 39 ff.; Eisenstadt (Kap. 1 Anm. 13). 27
28
Man sollte nicht verkennen, daß man über die Lebenswelt archaischer Sozialordnungen damit nichts Positives aussagt, daß man sie als „undifferenziert" oder „einheitlich-diffus strukturiert" bezeichnet. Diese Charakterisierung dient lediglich der Abhebung unserer Probleme. Auch wenn sie nicht direkt falsch ist, beweist ihre Inhaltsleere ihren methodologischen Sinn. Sie
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weniger im Widerspruch steht als ihre Vorläuferin: die Hypothese eines „status naturalis" . Die eigentliche funktionale Analyse hebt sich davon ab; sie ist nur unter der Voraussetzung einer beginnenden sozialen Differenzierung — einer Zuordnung von bestimmten Verhaltensweisen zu bestimmten Funktionen — sinnvoll. Sie enthüllt, daß die soziale Differenzierung keinen reinen Gewinn bringt, sondern ihre typischen Fölgeprobleme hat, welche die weitere Entwicklung bestimmen. Wenn eine Sozialordnung sich jedoch auf diese Folgeprobleme eingestellt hat — und dazu liefern die Grundrechte ihren Beitrag —, ist insgesamt eine Form des Lebens zu erwarten, in welcher das menschliche Dasein durch funktionale Rationalisierung von den schwersten Belastungen der natürlichen und sozialen Umwelt befreit ist, die unsere Geschichte geprägt haben. 29
Man kann diese Geschichtssicht mit etwas anderen Worten auch folgendermaßen formulieren: Die soziale Differenzierung tritt an die Stelle einer ursprünglich-einheitlichen Rollenstruktur, in der alle notwendigen sozialen Funktionen miteinander — und daher wenig wirksam — erfüllt wurden. Für deren Ordnungsleistung muß die soziale Differenzierung in jeder Hinsicht funktionale Äquivalente bereitstellen. Der Prozeß der Differenzierung vollzieht sich als Prozeß der Substitution funktionaler Äquivalente. Die ursprüngliche Einheit lebt daher als eine Art Systemzwang fort: Sie kann nur durch ein komplexes Netz von ausdifferenzierten, funktional spezifizierten und aufeinander abgestimmten Strukturen ersetzt werden. Die Schwierigkeit der Entwicklung liegt darin, daß sie im Grunde nicht partiell vollzogen werden kann. Obwohl es relativ günstige „Übergänge" gibt , fehlt es in Über30
ist, insofern vergleichbar gewissen Extremthesen unerreichbarer Glückszustände, mit denen manche psychoanalytische Theorien alle wirklichen Probleme in einen funktionalen Zusammenhang zu bringen suchen — etwa der Theorie voller Befriedigung der Urlibido vor der Geburt bei Sigmund Freud i und Otto Rank. Die neuzeitliche status naturalis-Lehre ist eine Reaktion auf den modernen Staat — und keineswegs mehr eine nur rechtfertigende oder erbauende Legende. Sie hat den bleibenden Sinn, den Bruch des Staates mit der Natur und der in ihr erscheinenden Wahrheit zu dokumentieren. Aber im einzelnen ist sie natürlich nicht auf dem Laufenden gehalten worden. Ein gründlicher Vergleich der älteren status naturalis-Lehre mit den Prämissen der funktionalen Evolutionstheorie könnte vermutlich wesentliche Einsichten erbringen über den sowohl methodischen als auch sachlichen Fortschritt der Wissenschaft seit jener Zeit, in der die Grundrechte geschaffen wurden. Das würde die Notwendigkeit unterstreichen, dem Fortschritt der Wissenschaft auch in der Dogmatik der Grundrechte Rechnung zu tragen. 29
30
Man denke z. B.i an Max Webers These, daß die protestantische Religiosität eine solche Überleitung möglich machte; heute ist sie in dieser Funktion nicht mehr notwendig,, sondern durch selbsttragende Institutionen der sozialen Differenzierung ersetzt. Ein anderes Beispiel findet man in der oben erörterten Kontinuität der Familie als Basis der Persönlichkeitsbildung und -entspannung, die in diesen speziellen Funktionen durch Ausdifferenzierung
200
9. Kap.: Theorie der sozialen Differenzierung
gangszeiten häufig an funktionalen Äquivalenten für Leistungen, die in den zerbrochenen älteren Institutionen miterfüllt wurden. Geschichtliche Erfahrung lehrt, daß partielle Ausgliederungen unstabil sind. Die Entwicklung zu stärkerer gesellschaftlicher Differenzierung beginnt zwar nicht in allen Funktionsbereichen zugleich; sie mag zunächst den religiösen, den politischen oder den wirtschaftlichen Kommunikationszusammenhang funktionsspezifisch erfassen und absondern . Ein baldiges Nachziehen der übrigen Bereiche zu ebenfalls stärkerer Autonomie, stärkerer Generalisierung, rollenmäßigen Absonderungen und besserer Ausrüstung für wechselseitige Abhängigkeit ist dann jedoch erforderlich, um die Gesamtordnung auszubalancieren und von zu starken inneren Spannungen zu entlasten. Das haben Eisenstadts Untersuchungen über die Schwierigkeiten bei vorschneller Autonomsetzung des politischen Systems gezeigt. Auch die Expansion der Geldwirtschaft wäre, wie man weiß, ohne Rückhalt an einem entscheidungskräftigen politischen System, ohne hinreichend abstrakte Stabilisierung von Verhaltenserwartungen und ohne individuell motivierte Konsum- und Arbeitsbereitschaft kaum denkbar . 31
32
Diese Interdependenzen nötigen zur Institutionalisierung einer Mehrzahl von Grundrechten, welche die Individualität der Persönlichkeit, die Zivilisiertheit der Verhaltenserwartungen, die Geldorientierung der Wirtschaft und die demokratische Grundlage der Herrschaft miteinander vor der Einbeziehung in den Machtkreis des politischen Systems bewahren. Wäre die Schutzrichtung beschränkt, wäre sie zum Beispiel auf den reinen Persönlichkeitsschutz beschränkt, wie die herrschende Dogmatik annimmt, könnte das die Gesamtordnung schwerlich stabilisieren. Und deshalb liegt gerade in der Vielzahl getrennter Grundrechte derjenige Wesenszug der Institution, der die Gesamtgesellschaft integriert. Erst wenn man die geschichtliche Dimension mit in den Blick zieht, läßt sich die Frage nach der funktionalen und institutionellen Einheit der Grundrechte zureichend beantworten: Sie dienen dem Prozeß der sozialen Differenzierung.
politischer, wirtschaftlicher und kulturell-erzieherischer Punktionen offenbar nicht entscheidend getroffen worden ist. Dazu vgl. etwa Sidney M. Greenfield, Industrialization and the Family in Sociological Theory, The American Journal of Sociology 67 (1961), S. 312—322. Bessere Beispiele für die Uberleitungsbedeutung auch der Großfamilie würde man vermutlich in den europäischen Oberschichten finden. So namentlich Parsons (Kap. 1 Anm. 7 — 1961 —), S. 244 ff. Siehe ferner oben Kap. 1 Anm. 13. Ähnliche Auffassungen über die Unstabilität von Übergangszeiten und partieller Differenzierung finden sich bei Riggs (Einf. Anm. 10) oder bei Smelser (Kap. 1 Anm. 13), S. 106 ff. 31
32
Zehntes
Kapitel
Soziologie und Grundrechtsdogmatik Das Schlußkapitel soll dem Problem des Bewußtheitshorizontes des Grundrechtsdenkens gewidmet sein und damit zugleich die einleitende Frage nach dem Verhältnis von Verfassungsdogmatik und politischer Soziologie beantworten. Die vorangegangenen Untersuchungen haben den Umkreis der Vorstellungen, welche die dogmatische Grundrechtsauslegung für relevant hält und zu ihrer Orientierung heranzieht, an manchen Stellen verlassen. Die Erörterung mußte weit ausholen, um die Strukturbedingungen der Gesellschaftsordnung anzudeuten, welche für die Institution der Grundrechte soziologisch erheblich sind. Grundrechte waren zwar von je her ein Thema, das den Rahmen einer einfachen juristischen, und sei es verfassungsrechtlichen, Entscheidungsvorbereitung sprengte. Wer von Grundrechten handelt, kann nicht nur von Grundrechten handeln. Der Umfang, in dem der Soziologe nichtjuristische Vorstellungen oder gar Tatsachen heranziehen muß, eine Notwendigkeit, die uns über Seiten hin scheinbar vom Hauptthema abführte, wird jedoch für die juristische Dogmatik mit Recht befremdlich sein. Ist das nicht unnötiger Ballast, eine vermeidbare Überforderung oder, schlimmer noch, eine gefährliche Verunsicherung der Entscheidungsgrundlagen juristischer Verfassungsinterpretation, an welchen doch die politische Wirksamkeit der Verfassung weitgehend hängt? Unmittelbare Ursache dieser Horizonterweiterung ist das soziologische Interesse an „latenten" Funktionen und Strukturzusammenhängen — ein besonders wichtiges, vielleicht das konstituierende Merkmal der Soziologie als Wissenschaft . Seit ihren Anfängen hat die Soziologie 1
1
Vgl. F. A. von Hayek, Scientism and the Study of Society I, Economica 9 (1942), S. 267—291' (276 ff.); Alvin W. Gouldner, Theoretical Requirements of the Applied Social Sciences, American Sociological Review 22 (1957), S. 92 bis 102; Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 2. Aufl. Glencoe 111. 1957, insb. S. 60 ff.; Levy (Kap. 9 Anm. 5), S. 83 ff., und für die Entstehung dieses Begriffs der latenten Beziehungen aus dem Problemkreis- der unbedachten Handlungsfolgen namentlich Robert K. Merton, The Unanticipated Consequences of Purposive Social Action, American Sociological Review 1 (1936), S. 894—904. Das Problem unbewußter Wirksamkeit ist natürlich vor-
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10. Kap.: Soziologie und Grundrechtsdogmatik
sich bemüht, von den Realitätsverzeichnungen freizukommen, die in den teleologischen, wertmäßigen oder normativen Perspektiven des Handelns begründet sind . Nicht von Werten schlechthin macht sie sich frei, wie die unselige Formel von der Wertfreiheit zu sagen versuchte , sondern von der Enge des Aktionshorizontes mit seinen gebundenen Orientierungen und seiner eigentümlichen Rechtfertigungslogik. Sie unterscheidet sich dadurch wesentlich von allen der traditionellen Ethik entwachsenen Handlungswissenschaften, welche die Perspektive des Handelns als solche rationalisieren wollen: der älteren Politischen Wissenschaft, der Nationalökonomie, der Betriebswissenschaft, der Rechtswissenschaft. All diese Wissenschaften bemühen sich darum, dem Handelnden sein richtiges Handeln vorzustellen. Die Soziologie etabliert sich in dem schon aufgeteilten Gegenstandsfeld durch eine andersartige Perspektive. Sie legt dem Handeln einen inkongruenten Maßstab an, um gerade dadurch eine eigentümliche Art von Rationalität zu gewinnen, die bisher nicht gesehen wurde: die Rationalität eines nicht an Handlungszwecke gebundenen, abstrahierenden Vergleichs mit anderen Handlungsmöglichkeiten. 2
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Daraus erklärt sich auch der rasche Siegeszug der Systemtheorie und der funktionalen Methode in der Soziologie: Sie konnten die dazu ersoziologisch. Es hat auf mancherlei Weise: als Unerforschlichkeit der Ratschlüsse Gottes, als List der Vernunft, als still wirkende Kraft der Geschichte, als Wohlstandsförderung durch marktkonforme Eigensucht oder als selektive Entwicklungsförderung durch Kampf ums Dasein Ausdruck gefunden. Die Problemformulierung der funktionalen Soziologie hat demgegenüber jedoch den wichtigen Vorteil, mit der Einsicht in die Latenz der Funktion der Frage nach der Funktion der Latenz und damit die Suche nach funktionalen Äquivalenten für Ignoranz verbinden zu können. Vgl. dazu Wilbert E. Moore/ Melvin M. Tumin, Some Social Functions of Ignorance, American Sociological Review 14 (1949), S. 787—795, und Louis Schneider, The Role of the Category of Ignorance in Sociological Theory: An Exploratory Statement, American Sociological Review 67 (1962), S. 492—508. 2
Vgl. dazu einige Bemerkungen von Helmut Schelsky (Kap. 3 Anm. 16), S. 13 ff., und ders., Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf — Köln 1959, S. 122; ferner die treffende Charakterisierung dieser Forsch ungseinstellung als „refusal to take purposes at their face value" durch Kingsley Davis, The Myth of Functional Analysis as a Special Method in Sociology and Anthropology, American Sociological Review 24 (1959), S. 757—772 (765). Im Grunde ist diese Formel selbst wie schon die ihr vorausgehende Unterscheidung des Seienden und der Werte, des Wahrheitsfähigen und des bloß Geltenden, ein gedankliches Korrelat der sozialen Differenzierung. Weil die Differenzierung das Handeln zersplittert und damit wichtige Sinnkomponenten des Handelns dem allgemeinen Konsens entzieht, werden diese als nicht mehr wahrheitsfähig, als nur noch wertmäßig geltend erlebt. In der eigentümlichen Strenge der methodischen Anforderungen an den Wahrheitsbeweis, die sich mit dem Beginn der Neuzeit durchsetzen, spiegelt sich das Konsensproblem, aber auch der reduzierte Konsensbedarf einer differenzierten Gesellschaft. Daß von dieser Wendung zunächst vor allem die Naturwissenschaften profitierten, ist hoffentlich keine dauernde Verzerrung der Forschungschancen. 3
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forderliche theoretische Basis und eine Vergleichstechnik anbieten. Während die von der Ethik herkommenden, im Zuge der neuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung sie ablösenden Handlungswissenschaften die Richtigkeit konkreter Handlungen sich durch vorweg akzeptierte Auswahlgesichtspunkte, namentliche Werte, garantieren lassen und deshalb einen Vergleich allenfalls im Rahmen von zweckgebundenen Wirtschaftlichkeitserwägungen kennen, zielt die Soziologie auf eine methodisch bewußte Ausweitung des Handlungshorizontes ab. Sie konfrontiert unter den Problemgesichtspunkten der Systemerhaltung, die nicht die Werte des Handelnden zu sein brauchen, alles Handeln mit anderen Möglichkeiten. Eine so anspruchsvolle Ausweitung des Gesichtskreises fordert im Gegenzug eine rationale Entscheidungstechnik heraus, welche der Reduktion von Alternativen dient und die bestmögliche Art des Umgangs mit unbekannten Tatsachen, mit sozialen Verhaltenserwartungen und mit Entscheidungsrisiken herausfindet. Die alten Handlungswissenschaften werden, dadurch in die komplementäre Rolle von Entscheidungswissenschaften gedrängt. In der Nationalökonomie ist diese Entwicklung am weitesten fortgeschritten ; die Politische Wissenschaft folgt — man denke etwa an ihre Koalition mit der Spieltheorie; und auch in der neueren rechtswissenschaftlichen Methodendiskussion werden ähnliche Neigungen sichtbar . Die arbeitsteilig differenzierte Forschungskombination von Soziologie und Entscheidungstechnik gewährleistet die Rationalität nicht mehr in der guten (weil wertorientierten) Einzelhandlung, sondern in der Form von Handlungssystemen, in welchen Einzelhandlungen und ihre Orientierungsbegriffe wie Tatsachen, Werte, Zwecke oder Normen spezifische Funktionen übernehmen. Im Rahmen einer solchen an Systemprobleme gebundenen Entscheidungstheorie könnten dann auch der mögliche Sinn und die Anwendungs4
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Vgl. hierzu die bereits (Einf. Anm. 2 und Kap. 6 Anm. 2) zitierten Studien, von Albert, in welchen die wissenschaftlich tragfähigen „Sprachspiele" der Nationalökonomie auf Entscheidungslogik und Marktsoziologie reduziert werden. Darin liegt eine interessante Parallele zu der hier vorgestellten Komplementarität von Rechtsdogmatik und politischer Soziologie — eingeschränkt freilich durch den Umstand, daß Albert Soziologie noch streng kausalwissenschaftlich (nach Poppers Kriterium: als nicht zu schnell falsifizierbare Kausaltheorie) und nicht funktionalistisch versteht. 5
Dabei ist weniger an die allzu drastische Übertragung behavioristischer Entscheidungstheorien in den Gerichtssaal zu denken, wie sie in Amerika aufkommt, sondern vorerst einmal an die Beziehungen zwischen juristischer Dogmatik und juristischem Problementscheiden, deren Erforschung in der zivilrechtlichen Methodenlehre so vielversprechend angeregt wird. Vgl. Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 2. Aufl. München 1963, und Josef Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, Tübingen 1956. Besonders Esser steuert die Dogmatik juristischer Probleme in eine überraschende Parallellage zum soziologischen Problemfunktionalismus.
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bedingungen von Werten als Entscheidungskomponenten mit der nötigen Sorgfalt erforscht werden; und es wird kaum ausbleiben, daß das einfache Bild, als ob die „Anwendung" von Werten vor allem eine Sache des guten Willens sei, dabei sehr rasch zerfällt . Die juristische Dogmatik hätte es demnach ähnlich wie die reine Wirtschaftswissenschaft oder die politisch-strategische Theorie mit Kalkülmodellen des Entscheidens zu tun, die ihre Problemgesichtspunkte und Daten letztlich von der Soziologie beziehen; während die Soziologie unter anderem mit den sozialen Strukturbedingungen befaßt ist, unter denen rationale Sondersprachen in den einzelnen Kommunikationssphären als Rollenhandeln Wirklichkeit werden können. 6
Wenn dieses Urteil über die gegenwärtige Wissenschaftsentwicklung zutrifft — zweifellos extrapoliert es im Sinne angenommener Tendenzen und ist daher nicht frei von spekulativen Zügen —, dann ist eine Einebnung des Unterschiedes von soziologischer Forschung und dogmatischer Interpretation nicht abzusehen. Selbst wenn der Problemfunktionalismus und die vergleichende Methode sich- auf beiden Gebieten durchsetzen sollten — und davon kann zur Zeit nicht die Rede sein — würden begrifflicher Bezugsrahmen und die Art der erstrebten Resultate weiterhin divergieren müssen. Mit anderen Worten: Ein soziologisches Naturrecht ist nicht zu erwarten. Es würde auch der Einschätzung der Positivität des Rechts widersprechen, die dieser Arbeit zugrunde liegt: Differenzierte Sozialordnungen können fEinsichten nicht unvermittelt in Rechfsgeltung überführen'; sie müssen filternde Entscheidungsprozesse dazwischenschalten Und es würde der tragenden Absicht unserer Untersuchung, das Bewußtsein für Differenzierung zu schärfen, widersprechen, wollten wir an dieser Stelle eine Verschmelzung akzeptieren. Der Begriffsapparat der soziologischen Forschung, auf 6
Vgl. dazu etwa David Braybrooke/Charles E. Lindblom, A Strategy of Decision: Policy Evaluation as a Social Process, New York — London 1963, wo die Art der naiven oder deduktiven Wertargumentation, wie sie unsere Grundrechtsauslegung kennzeichnet, schon auf den ersten Seiten und vor Eintritt in die eigentliche Erörterung als völlig unzureichend abgewiesen wird. Das intellektuelle Raffinement, das zum rationalen Umgang mit Werten erforderlich ist, übersteigt die Kunstgriffe der juristischen Auslegungsmethoden bei weitem. Zu ihrem Glück irren sich die Juristen, wenn sie glauben, sich (wie Politiker oder gelegentlich Verwaltungsbeamte) an Werten zu orientieren. Sie orientieren sich an Entscheidungsprogrammen, in denen zuweilen werthaltige Begriffe eine mitbestimmende Rolle spielen. Nie aber ist der Jurist in der schwierigen Lage, eine Handlung suchen zu müssen, die eine unbestimmte, fluktuierende, in sich widerspruchsvolle, nur partiell konsentierte Konstellation von Werten einigermaßen (und besser als bekannte Alternativen) befriedigt. Juristische Entscheidungsprogramme haben allenfalls die Form: Wenn Wert A (Grundrecht A) verletzt, dann B (Aufhebung des Hoheitsaktes B). Darin liegt jedoch keine Wertanwendungsentscheidung in dem Sinne, daß eine bestimmte Handlung wegen eines bestimmten Wertes (und zum Nachteil anderer) vorzuziehen sei.
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Entdeckung und Systemvergleich gerichtet, hat andere Aufgaben als der Begriffsapparat der Dogmatik, der die Entscheidungsfindung erleichtern und berechenbar machen soll. Eine stufenlose Harmonie ablehnen heißt jedoch nicht jeden Kontakt unterbinden. Wer die Komplementarität der Aufgaben von Soziologie und Dogmatik sieht , wird diese Kontakte fordern . Die Spezifikation der wissenschaftlichen Funktion und die Eigenständigkeit des Begriffsapparates machen, wie bei aller Differenzierung so auch hier, Kontakte überhaupt erst möglich und sinnvoll. Dabei können soziologische Einsichten nicht eo ipso Aüslegungswert beanspruchen, so wenig wie Auslegungen rein als solche schon soziologisch relevant sind. Die Funktion einer Institution ist noch kein Entscheidungsprogramm, keine juristische Anspruchsgrundlage, und entsprechend unterscheiden sich die Mittel begrifflicher Explikation. Aber bei dieser negativen Feststellung darf es nicht bleiben; es müssen Möglichkeiten der Übersetzung von einer Welt in die andere, Möglichkeiten der Transformation von Problemstellungen und Resultaten geschaffen werden. So drängt sich zum Abschluß die Frage auf, die uns bei den bisherigen Überlegungen schon unausgesprochen begleitet hatte: ob die Grundrechtsdogmatik in ihrer gegenwärtigen Gestalt zu einem solchen Gedankenaustausch bereit und gerüstet ist. 7
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Das ist zum Teil gewiß eine Frage des Informationsstandes, des wechselseitigen Vorstellungsvermögens, der akademischen Organisation und Lehrstuhleinteilung. Lassen wir all dies beiseite, so bleibt zu untersuchen, ob die grundbegriffliche Struktur und die allgemeine gedankliche Ausrichtung der Dogmatik Offenheit und Aufnahmefähigkeit gewährleistet. Die Vorstellungswelt der Grundrechtsdogmatik ist durch die Anspruchsform bestimmt. Ein Grundrecht steht dem Bürger als subjektives Recht zu und richtet sich gegen den Staat als Verpflichteten . Es 9
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Diese Komplementarität ist natürlich nicht identisch mit der von Recht und außerrechtlichen Institutionen, von der Dietrich Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, 3. Aufl. Zürich 1950, gehandelt hat. Vor einer solchen Verwechslung muß man sich hüten, weil damit die Soziologie den außerrechtlichen Institutionen zugeordnet und die Möglichkeit einer Rechtssoziologie abgeschnitten werden würde. Am ehesten geschieht dies heute im Rahmen der Bemühungen um Rechtsvergleichung. Vgl. namentlich Ulrich Drobnig, Rechtsvergleichung und Rechtssoziologie, Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht 18 (1953), S. 295—309. Die Begrenzung der Kontakte auf Rechtssoziologie ist freilich zu eng. Die Probleme, die die Sozialordnung dem Recht vorgibt, werden keineswegs stets als Rechtsprobleme erlebt. 8
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Die F r a g e der sogenannten Drittwirkung der Grundrechte können wir
hier außer acht lassen. Sie ist, wie man im einzelnen auch zu ihr stehen mag, in jedem Falle untypisch.
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ist in dieser Form auf den Konfliktsf all zugeschnitten und impliziert ein eindeutiges Entweder-Oder von Recht und Unrecht. Sofern das Grundrecht besteht und soweit es reicht, hat der Bürger recht und der Staat ist entsprechend verpflichtet; jenseits dieser Grenzen kann der Staat frei handeln und der Bürger muß die Auswirkungen hinnehmen. Mit der Entscheidung über den Inhalt der Grundrechte, mit der Auslegung ihres Sinnes fällt eine aktuelle oder potentielle Konfliktsentscheidung zwischen Staat und Bürger. Ist es aber deswegen eine Bedingung der Entscheidbarkeit eines solchen Konfliktes, daß die gesamte Vorstellungswelt der Dogmatik um diese Achse geordnet wird, daß die Wirklichkeit, die die Dogmatik voraussetzt 'und auf die sie ihre Interpretationen bezieht, als Welt des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft, von öffentlichem und privatem Interesse aufgefaßt wird? 1
Die Anspruchsform und die Tatsache, daß die Rechtsentwicklung sich seit eh und je am Konfliktsfall orientiert hat, und nicht zuletzt der Umstand, daß andere Vorstellungsgrundlagen fehlten, haben die Grundbegriffe und Leitvorstellungen der Dogmatik im Sinne eines durchgehenden Gegensatzes von Staat und Bürger polarisiert. Das Bedenkliche daran ist nicht die Annahme eines Interessengegensatzes, der keineswegs geleugnet werden kann. Auch das hohe Maß an Interessenkongruenz sollte zwar stärker im Blick bleiben, ist aber für die Dogmatik relativ uninteressant, weil es keine entscheidungsbedürftigen Probleme stellt. Sie kann solche Kongruenz zugeben, ohne ihre Orientierung wesentlich zu ändern. Die Verzeichnung der Wirklichkeit liegt vielmehr in der Annahme von nur zwei einander gegenüberstehenden Interessensphären, die jeweils durch den Kläger bzw. den Beklagten vertreten werden. Auf diese Weise wird die Prozeßsituation in die Sozialordnung projiziert, damit aus der Sozialordnung Entscheidungsgesichtspunkte reflektieren. Die Folge dieser Frontenbildung ist zunächst eine Überanstrengung des leitenden Schutzbegriffes der Bürgersphäre, eine übermäßige Abstraktion des Freiheitsbegriffs. Er verliert jede innere Begrenzung, weil er allzu Heterogens in sich aufnehmen und decken muß. Er wird entleert zu einer Vermutung, die mit besonderen Gründen ausgeräumt werden kann. Das Freiheitsrecht gerät dadurch in eine überraschende Nähe zum Gleichheitsgedanken, und fast scheint es, als ob mit dieser Wiederversöhnung von Freiheit und Gleichheit das 19. Jahrhundert hinter uns liegt. Beide bezeichnen nichts weiter als leicht unterschiedlich abgetönte Aspekte der Begründungsbedürftigkeit des Staatshandelns mit dem Hauptakzent auf Konsistenz der Gründe im Rahmen der geltenden Rechtsordnung. So kann heute in fast jeder Verfassungsbeschwerde neben präziseren Einwendungen die Verletzung der. Art. 2 Abs. 1 und 3 Abs. 1 GG gerügt werden. Hinter der gleichbleibenden
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Wortfassade der liberalen Ideologie vollzieht sieh ein Funktionswandel der beiden Hauptgrundrechte: Sie verlieren ihre sachliche und gewinnen eine prozessuale Funktion. Sie dienen nicht mehr als Entscheidungskriterium, sondern als Einfallstor der Verfassungsbeschwerden: Sie eröffnen den Zugang zur verfassungsgerichtlichen Überprüfung von Gesetzen auf ihre Gründe hin. Und damit verwandelt sich das Freiheitsrecht des Bürgers in ein Freiheitsrecht des Richters. Dieses Bild ist natürlich überzeichnet. Es wird dem Bemühen des Bundesverfassungsgerichts und der Rechtslehre um sachliche Anhaltspunkte der Argumentation und um bindende Leitsätze nicht gerecht. Es will lediglich andeuten, daß diese Versuche auf Flugsand gebaut sind. Wenn die Notwendigkeit, zwischen Kläger und Beklagtem zu entscheiden, allzu abstrakt in die Entscheidungsprämissen hineinverlegt wird, kann man ihnen als Instruktion nur schlecht verhüllte Tautologien entnehmen. Dann ist jede Entscheidung möglich — was vom Standpunkt der Entscheidungsfindung aus auch als Vorteil gebucht werden kann —, und alle Begründungen kommen ins Gleiten. Die oben erörterten Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Sinnes der Wesensgehaltssperre des Art. 19 Abs. 2 GG illustrieren dieses Problem mit einer Deutlichkeit, die wenig zu wünschen übrig läßt. 10
Eine intensivere Sinnerfüllung der grundrechtlichen Entscheidungsprämissen wird sich kaum durch geisteswissenschaftliche oder geistesgeschichtliche Deutung ausgelaugter Formeln erreichen lassen, wohl aber durch Orientierung an den empirischen Wissenschaften, die unserer Zeit ihr Gepräge geben. Wie anders will man entscheiden, welchen schutzwürdigen Sinn Würde und Freiheit unter den allgemeinen B e dingungen der modernen Gesellschaftsordnung überhaupt haben können? Wie anders will man entscheiden, ob es angemessen ist, das Wesen des Eigentums in seinem jeweiligen Geldwert zu erblicken? Wie anders vor allem will man staatliche Entscheidungsinstanzen zu selbstinteressierter Beachtung der Grundrechte motivieren, wenn man diese ihnen lediglich als von außen auferlegte Rechtsschranken des Handelns vorstellt, hinter denen der Gerichtsspruch droht, und sie nicht als funktionale Institutionen durchsichtig.macht, welche der Erhaltung der gesellschaftlichen Differenzierung und damit auch der Erhaltung des politischen Systems dienen? In den vorangegangenen Kapiteln haben, wir versucht, mit einigen Anfangsüberlegungen eine solche Verbindung' zwischen Dogmatik und empirischer Wissenschaft herzustellen. Nicht zufällig zwang dieser Versuch dazu, die Bezugsprobleme der Grundrechte stärker zu differenzieren. Wir mußten die einfache Dichotomie entgegengesetzter Interessen, 1 0
Vgl. S. 59 f.
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die im Grunde nur das Klageschema widerspiegelt, aufgeben, weil sie mitsamt ihren Abwägungsratschlägen den Zugang zu der viel komplizierteren Wirklichkeit unserer Gesellschaftsordnung versperrt. Würde die Grundrechtsdogmatik einen solchen Durchbruch unternehmen — es sei aber nochmals daran erinnert, daß soziologische Funktionsaussagen allein noch keine juristische Dogmatik sind —, könnte sie vermutlich erhebliche Gewinne an sachlicher Einsicht und an stichhaltigen Begründungen ernten. Vor allem aber erlaubt es die soziologische Analyse der Grundrechtsinstitution und ihrer Funktion, die Frage nach der gesetzlichen Ausführung der Grundrechte neu zu stellen . Und darin liegt vielleicht ihr wichtigster Beitrag zur Grundrechtsdogmatik. 11
Sicherlich sind Grundrechte nicht einfach Wohlstandserrungenschaften und in ihrer prekarischen Zuteilung Objekt gesetzgeberischer Planung. Das etwa ist die Grundrechtssicht des Ostens. Dort wirft man der westlichen Grundrechtsdogmatik denn auch „Formalität" im Sinne mangelnder Durchführungsvorsorge und Verwirklichung durch den Staat vor. Nicht in diesem Sinne ist hier von gesetzgeberischer Ausführung die Rede. Andererseits sind die Fixierungen des Verfassungstextes zweifellos ausfüllungsbedürftig, und dabei müssen politische Entscheidungen getroffen werden, die man nicht der politischen Verantwortung entziehen und in den Gerichtssaal verweisen sollte. Es handelt sich nicht um einen Vorgang der Erkenntnis, der prinzipiell unabhängig davon ist, wer erkennt, sondern um die Bestimmung der Grenzen des politischen Systems. Die gegenwärtige Verfassungsauslegung hält die Grundrechte ganz oder doch teilweise für subjektive Rechte, die der Gestaltung durch 12
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Das tut in der neueren verfassungsrechtlichen Literatur auch Häberle (Einf. Anm. 14). Er betont mit Recht den institutionellen Charakter der Grundrechte und ist dadurch in der Lage, von der herrschenden Auffassung der Vorbehaltsgesetzgebung als Eingriff in vorkonstituierte Grundrechte abzurücken und eine breiter ansetzende Grundrechtsausführungsgesetzgebung zu fordern. Und doch weist seine Schrift den Weg nicht; denn sie bringt keinerlei Anhaltspunkte für den Inhalt einer solchen Gesetzgebung. Das rein formale Prinzip der Güterabwägung, auf das Häberle sich beruft, gibt dafür nichts her, auch dann nicht, wenn es als „immanente" Schranke der Grundrechte ausgegeben wird. Siehe dazu oben Kap. 4 Anm. 18. Diese von Häberle nicht gestellte und nicht beantwortete Frage nach dem Inhalt der Ausführungsgesetzgebung wird die Soziologie zu beantworten haben. 12
Die scharfe Trennung von Freiheitsrechten und institutionellen (und insofern ausführungsbedürftigen) Garantien war bekanntlich eine der schneidigsten Thesen Carl Schmitts; vgl. (Kap. 1 Anm. 1), S. 170 ff. und Freiheitsrechte und institutionelle Garantien in: (Einf. Anm. 14), S. 140—171. Zur Fortwirkung siehe etwa Ernst Forsthoff, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsreehtsleh-
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Staatsentscheidung grundsätzlich entzogen und als vorstaatliche Rechte zwar schutzbedürftig aber nicht ausführungsbedürftig sind. Nur nach Maßgabe eines eigens formulierten Vorbehaltes darf die einfache Gesetzgebung (die als potentieller Feind der Grundrechte gesehen wird) in diese eingreifen. Ein solcher Eingriff wird als eine Art rechtmäßiger Rechtsverletzung verstanden. Im Schutz gegen gesetzliche Eingriffe (und nicht etwa: in der verbindlichen Programmierung von Ausführungsentscheidungen) drückt sich der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Gesetz aus. Die Aktualisierung der Grundrechte wird damit dem rechtsbewußten, notfalls klagenden Bürger überlassen und die nähere Ausformung des Inhalts der Grundrechte der rechtsprechenden Gewalt überantwortet. Je tiefer der Einblick in das komplizierte Geflecht von offenen und latenten Funktionen der Grundrechte dringt, desto zweifelhafter wird es aber, ob man sich auf die Dauer diesen Denkbahnen und ihren begrenzten Aktualisierungsmöglichkeiten anvertrauen kann. Gewiß wird niemand die Denkform des subjektiven Rechtes und den ihr zugeordneten individuell auslösbaren Rechtsschutz aufgeben wollen. Aber die Entscheidung darüber, was als Inhalt solcher Rechte legitimiert und mit staatlicher Sanktion ausgestattet werden soll, erfordert eine breitere Orientierung. Man kann diese Orientierung in der Auffassung der Grundrechte als funktionswichtiger Institution der Sozialordnung finden. Aus einer funktionalen Analyse läßt sich zwar im allgemeinen keine einzig-richtige Entscheidung deduzieren; wohl aber gibt sie hinreichende Anhaltspunkte für die Beurteilung brauchbarer Problemlösungen. Wenn die Bezugsprobleme der einzelnen Grundrechte klargestellt sind, lassen sich die Grundrechtsbestimmungen der Verfassung als Aufgaben mit bestimmten Konturen begreifen und ausführen. Und zugleich ist damit ein Kriterium gewonnen, an Hand dessen, wenn die Verhältnisse sich wandeln, die Notwendigkeit einer Gesetzes- oder gar Verfassungsänderung abzulesen ist, während die herrschende Dogmatik den Verfassungswandel eigentlich nur als historisches Faktum widerwillig hinnehmen muß, ohne den Versuch zu machen, ihn zu rationalisieren. Dazu bedarf es verfassungsexterner Maßstäbe. Die Orientierung an der sozialen Funktion der Grundrechte dürfte daher eine Ausführungsgesetzgebung ermöglichen, die politisch verantwortet wird und zugleich problembewußter und faktenbewußter ist als die an den Einzelfall gebundene richterliche Entscheidung und so in rer 12 (1955), S. 8—36; neu gedruckt in: ders., Rechtsstaat im Wandel, Stuttgart 1964, S. 27—56; ferner die nicht ganz durchdringende Kritik von Gerd Roellecke, Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, Heidelberg 1961, S. 116 ff.
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einem weitergezogenen Horizont für die Lösung der den Grundrechten vorausliegenden sozialen Probleme Sorge tragen kann. Typische Engpässe der herrschenden Doktrin, zum Beispiel die oben erörterte grundrechtsrangige Problematik der Funktionsfähigkeit des Geldes, lassen sich nur auf diese Weise beseitigen. Die Ordnung des Berufswesens könnte sich dann offen als Ausführungsgesetzgebung zu Art. 12 GG zu erkennen geben. Das Gleiche gilt für die zahllosen Gesetze und Verordnungen, die Inhalt und Schranken des Eigentums im Sinne von Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG näher bestimmen. Ihnen sollte das Odium der (leider notwendigen) Einschränkung eines Vollrechts genommen werden. Dann ließe sich besser erkennen, an wie vielen und häufig sehr versteckten Orten die Durchführung des verfassungsrechtlichen Eigentumsprogrammes durch die einfache Gesetzgebung erfolgt. Auch Pressegesetze dienen keineswegs nur der Einschränkung, vielmehr der Etablierung der Pressefreiheit. Die Beispiele ließen sich vermehren. Es kommt hier jedoch nur darauf an, ihr Prinzip zu erkennen. Die soziologische Analyse könnte der Grundrechtsdogmatik dazu verhelfen, von der Bindung an das Eingriffs- und Schrankendenkens freizukommen, die Komplexität und Verschiedenartigkeit der Grundrechtsprobleme besser zu erkennen und im Zusammenhang damit einen Teil der Ausführungs- und Detaillierungslast von der Rechtsprechung weg auf die Gesetzgebung zu verlagern. Damit ist zugleich ein Weg gezeigt, die Entscheidungssicherheit in der Grundrechtsausführung zu verbessern. 13
Die Entscheidbarkeit von Rechtsstreitigkeiten wird durch eine soziologische Vororientierung der Dogmatik nicht notwendig erschwert. Die Ausdehnung des Bewußtseinshorizontes braucht das Entscheiden nicht zu verunsichern, wenn eine bewußte Schwelle der Transformation von Vorstellungen und Argumenten eingebaut ist und man sieh hütet, soziologische Einsichten als solchen schon Rechtsgeltung zu unterstellen. Damit ist jedoch erst ein Bedenken behandelt. Das andere läßt sich dahin formulieren, ob nicht latente Strukturen und Funktionen latent bleiben müssen, wenn sie ihren Sinn erfüllen sollen; ob nicht das Licht der Bewußtheit, ihre Auswertung in einem expliziten juristischen Argumentationszusammenhang ihre Wirksamkeit schmälert oder gar aufhebt. Werden sich noch Kläger finden, welche die Differenzierung der Gesellschaft, die Zivilisierung der Erwartungen usw. auf eigenes Prozeßkostenrisiko zu fördern bereit sind? Die Entscheidbarkeit von Grundrechtsstreitigkeiten würden wenig nützen, wenn das individuelle Interesse so stark ausgebootet würde, daß es an Rechtsverfolgungsmotiven fehlen oder sie gleichwichtige Grundrechte ungleich stark aktivieren würden. 13
Vgl. oben S. 119 f.
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Damit stoßen wir auf das allgemeine Problem der Funktion der Latenz von Funktionen. Obgleich die Soziologie sowohl in Einzeluntersuchungen als auch grundsätzlich diese Frage schon häufig aufgegriffen hat , kann man kaum sagen, daß viel mehr geschehen ist, als sie zu stellen. Immerhin scheint sich ein entscheidendes Kriterium herauszuschälen, das eine differenzierte Bearbeitung dieser Frage und empirische Untersuchungen möglich macht: Man muß sich fragen, ob funktionswichtige Handlungen durch Kenntnis der Funktion ihre Attraktivität oder ihre Motivierbarkeit einbüßen . Man wird also mit James Woodard zwei Arten von kulturellen Fiktionen zu unterscheiden haben: Die eine Art, die der Stammesgötter, der Monarchie oder der Überlegenheit der weißen Rasse, wird durch Entlarvung zerstört. Die Aufdeckung führt zu einem andersartigen Verhalten. Andererseits wird niemand seine Uhr wegwerfen, wenn man ihm den fiktiven Charakter der Zeiteinteilung nachweist. 14
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So weit gelangt, können wir zuversichtlich behaupten, daß die Abstraktionen der juristischen Dogmatik in die letzte Gruppe gehören. Auch eine Grundrechtsdogmatik, die an soziologische Forschungen anknüpft, wird an der Kategorie^ des subjektiven Rechts festhalten, das jedem Staatsbürger zusteht, und zwar in allen Grundrechtssphären. Die Zuerkennung eines subjektiven Rechts ist nicht davon abhängig, daß der Bürger damit die'Individualität seiner Persönlichkeit verteidigt. Es kann ihm auch zum Schutze seiner Spezialrollen als Teilnehmer am gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß, an der Wirtschaft oder an den politischen Prozessen der Machtbildung an die Hand gegeben werden. Die Begriffsbauten der Anspruchsbegründung dienen nur der Darstellung der Klage und der Entscheidung. Motivmäßig zählt, was dabei herauskommt. Für den Entschluß zum Prozeß ist bestimmend, daß, nicht womit sich eine Klage begründen läßt. Zwischen den Leitgedanken der dogmatischen Anspruchskonstruktion und den praktischen Verhaltens14
Außer den oben Anm. 1 bereits zitierten Aufsätzen von Moore/Tumin und Schneider, die diesem Problem speziell gewidmet sind, vgl. als grundsätzliche Formulierung etwa Merton (Kap. 10 Anm. 1), S. 51 oder Dorothy Emmet, Function, Purpose and Power, London 1958, S. 106 f. (mit dem guten Beispiel der sozialen Funktionen der Kunst) und als Einzelfalluntersuchungen etwa Blau (Kap. 7 Anm. 16), S. 8, 81, 112 oder Pamela Bradney, The Joking Relationship in Industry, Human Relations 10 (1957), S. 179—187 (185 ff.). Schneider (Kap. 10 Anm. 1) spricht in diesem Sinne von der empfindlichen ..attractiveness of intermediates". Siehe auch Schelskys Formulierung (Kap. 3 Anm. 16) S. 14, die Kategorien des Rechts müßten so gebaut sein, „daß sie zugleich Motivbewußtsein des Handelnden werden können". The Role of Fictions in Cultural Organization, Transactions of the New York Academy of Sciences Series I Vol. 6, New York 1944, S. 311—344 (343). Manche einschlägige Beobachtung findet sich auch bei Gehlen (Kap. 4 Anm. 37), angeregt durch seine grundsätzliche Trennung von Motiv und Institutionszweck. 15
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motiven liegt eine ausreichende Pufferzone wechselseitiger Indifferenz, die allzu unmittelbare Rückwirkungen verhindert. Solche Auswirkungen sind demnach nur, und dann mit Recht, zu gewärtigen, wenn das Überdenken der dogmatischen Prämissen in Einzelfällen zu einer anderen Beurteilung der Pflichten des Staates und der Rechte des Bürgers führen würde. Die Konfrontierung der dogmatischen Prämissen mit soziologisch aufgefaßten Strukturproblemen braucht demnach weder die Entscheidungssicherheit noch das Klageinteresse zu gefährden. Vermutlich wird die Dogmatik ihren eigenen Sinn und den Sinn der positivrechtlichen Normentscheidungen, die sie auslegt, besser erfassen und verstehen können, wenn sie durch Einblick in soziologische Funktionen über andere Möglichkeiten der Problemlösung unterrichtet ist. Denn erst im Vergleich kann sie den Sinn der Rechtsordnung als Entscheidung für gerade diese und jene Problemlösung begreifen. Manches deutet darauf hin, daß diese Umstellung durch den Tatbestand selbst, den wir analysiert haben, durch die Differenzierung der Gesellschaft, gefordert wird. Differenzierte Sozialordnungen benötigen mehr und umfassendere Bewußtheit als Sozialordnungen alten Stils mit traditionell gefestigten Institutionen und fremdenfeindlicher Außeneinstellung. Diese Bewußtheit löst die absolut geglaubten Anhaltspunkte auf. Andererseits läßt sich im Rahmen von stabilen Großsystemen jene Lebensführungssicherheit gewährleisten, die es möglich macht, auf solche Konstanten zu verzichten und den eigenen Standpunkt voll und ganz der Erwägung von Alternativen auszusetzen. Die Annahme von absolut unwandelbaren Daseinsgrundlagen kann fallen, wenn man auf ein System vertrauen kann, in dem zwar alles geändert werden kann, aber nicht alles auf einmal, nichts ganz überraschend und nichts ohne Ersatz. j Der Erlebnis- und Entscheidungsstil differenzierter Sozialsysteme scheint dahin zu tendieren, nach und nach die starren durch bewegliche Scheuklappen zu ersetzen. Sie tun den gleichen Dienst, werden aber auf ihre spezifische Funktion zugeschnitten, bestimmte Perspektiven zu schützen, ohne deswegen den Zugang zu anderen Blickweisen, die in anderen Denk- oder Handlungszusammenhängen sinnvoll sein könnten, gänzlich zu versperren. Auch das ist ein typisches Merkmal differenzierter Systeme, das bereits Simmel aufgefallen ist: Während einfache Gesellschaften mit einzelnen Handlungen oder Institutionen ein hohes Maß unnötiger Überschußbelastung in Kauf nehmen müssen: zu scharfe Gegensätze, zu harte Reaktionen, zu weitgehende Verantwortlichkeiten, erlaubt es die Differenzierung, durch funktionsspezifische Dosierung des Einsatzes eine Minimisierung des Risikos, der wechselseitigen Belastung, 17
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(Kap. 3 Anm. 20 — 1890 —) S. 25 f. u. ö.
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der unerfreulichen Nachteile zu erreichen. Die Begrenztheit menschlicher Orientierungshorizonte ist prinzipiell nicht zu überwinden. Eben deshalb nimmt die Rationalisierung den Weg der Systembildung. Aber man kann im Bewußtsein der Auswechselbarkeit der Perspektiven und der Mehrheit möglicher Systemreferenzen leben und handeln. Eine solche letzte Freiheit zu anderen Möglichkeiten ist unter den Denkvoraussetzungen der ontologischen Metaphysik, welche die Wahrheit des Seienden gerade im Ausschluß anderer Möglichkeiten suchte, nicht vorstellbar. Was aber verpflichtet uns, im philosophischen Fragen bei diesen Denkvoraussetzungen zu bleiben und die Freiheit nur als Freiheit des Herstellens oder gar als Wert zu denken? Die herrschende Grundrechtsdogmatik interpretiert die Grundrechte als Werte. Sie sucht eine absolute Verankerung des politischen Handelns in vorgestellten Gesichtspunkten, welche die Richtigkeit der Wahl bestimmter Handlungen begründen. Daß Grundrechte die Auswahl des richtigen Handelns anleiten, also als Werte dienen sollen, steht außer Frage. Die Frage aber ist, ob diese Charakterisierung nicht vordergründig bleibt, selbst wenn man sie ins Höchste und Letzte im Sinne des nicht weiter Ableitbaren übersteigert . Mit Werten kann man leicht und billig argumentieren; das sollte Warnung genug sein. 18
Die Vordergründigkeit des Wertdenkens zeigt sich zunächst daran, daß es mit handlungsnahen Begriffen wie Wert, guter oder böser Wille und Sanktion auszukommen sucht, daß es die menschliche Situation auf motivfähige Themen vereinfacht und infolgedessen viel zu unstrukturiert ansetzt. Die Werttheorie überschätzt daher die Freiheit des Handelns. Sie erweckt den Eindruck, als ob es allein darum ginge, ob wir gewisse Wertpostulate anerkennen und befolgen wollen oder ob wir ihnen böswillig die Gefolgschaft versagen und anderen Werten nachstreben. Und so sind die Anhänger der Werte darauf angewiesen; sich mit Geboten und Sanktionen zu helfen. Die Staatsverwaltung, die hin und wieder Grundrechte verletzt, erscheint dann als böse und voll schlechter Absichten. Die Rückführung der Grundrechtsdogmatik auf eine soziologische Theorie, die sehr komplexe und nicht unmittelbar motivfähige Sachzusammenhänge heranziehen kann, verdeutlicht demgegenüber, daß wir in bestimmte Problemkonstellationen hineingezogen sind, die nur einen begrenzten Aktionsspielraum als sinnvoll erscheinen lassen. Sie ermöglicht eine Analyse dieses Spielraums, seiner Bezugsprobleme, Grenzen, Alternativen und möglichen Strategien. Und sie erhellt, daß wir, wenn wir unser System wollen, Werte nicht mehr beliebig wählen können, daß vielmehr sehr viel weiterreichende Folgen 18
Vgl. hierzu die Beurteilung der Wert-Metaphysik in Heideggers Nietzsche-Studie: Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt 1950, S. 193 ff.
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als nur Sanktionen gegen den Schuldigen auf dem Spiel stehen, wenn die Institution der Grundrechte gelockert wird. Der Wertbegriff bezeichnet einen Gesichtspunkt der Bevorzugung von Handlungsfolgen und damit: von Handlungen. Als solcher ist er in Sollform institutionalisiert. Das heißt: Ein Wert wird für richtig gehalten auch dann, wenn die wertvollen Handlungsfolgen faktisch nicht eintreten (wenn das Handeln enttäuscht) oder wenn faktisch ein anderes Handeln wegen anderer Folgen gewählt wird (wenn der Handelnde enttäuscht). Werte sind also kontrafaktisch stabilisierte Erwartungen und haben insofern eine Ähnlichkeit mit Rechtsnormen, für die das Gleiche gilt. Diese Ähnlichkeit darf jedoch nicht von einem wichtigen, weittragenden Unterschied ablenken. Rechtsnormen implizieren ein eindeutiges Entweder/Oder von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit . In die Welt der Werte kann dagegen eine solche Entweder/Oder-Struktur nicht eingeführt werden. Das widerspräche der natürlichen Entscheidungssituation und ihrer Wertordnung. Eine Vorzugsregel ist sinngemäß immer zugleich eine Verzichtsregel. Wer sich nach einem Wert richtet, stellt andere zurück. Jedes Soll entlastet zugleich von Verantwortlichkeit. Wäre ein solcher Verzicht nicht erforderlich, brauchte man auch keine Wertorientierung; das richtige Handeln verstünde sich dann von selbst. Ein Verzicht kann aber nur gesollt werden, wenn der zurückgestellte Wert ebenfalls in gewissem Maße schon erfüllt ist und sozusagen nur im Augenblick vernachlässigt wird . Wenn ich aus Scheu vor dem Ärger eines Prozesses auf ein bestimmtes Recht verzichte, heißt das nicht, daß mir Ruhe mehr Wert ist als Recht. Man kommt nie in die Situation, zwischen Ruhe und Recht in abstracto, also ein für allemal entscheiden zu müssen. 19
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Die Attraktivität bestimmter Werte ist also stets relativ auf den Erfüllungsstand kollidierender Werte zu verstehen. Das gilt ganz offensichtlich für alle materiellen Güter. Man kann sich nicht ausschließlich für Nahrung oder für Kleidung interessieren. Die gleiche Abhängigkeitsrelation muß aber auch bei immateriellen Werten konstatiert werden. Das Streben nach Freiheit hat erst Sinn, wenn ein gewisses Maß 19
Dasselbe galt übrigens für die traditionelle Ethik, solange man sie für wahrheitsfähig hielt. Deshalb brauchten Recht und Ethik bis in die Neuzeit hinein nicht getrennt zu werden. Als Bereich der Erkenntnis unterstand die Ethik der zweiwertigen ontologischen Logik. Die Ziele, die das Handeln erstreben sollte, galten als entweder wahr oder unwahr und insofern (!) zugleich als gut oder nicht gut. Man muß sich also davor hüten, die Unterscheidung von Rechtsnorm und Wert mit der von Recht und Moral zu verwechseln. Siehe dazu Braybrooke/Lindblom (Kap. 10 Anm. 6), S. 21 ff. 20
10.Kap.: Soziologie und Grundrechtsdogmatik
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an Frieden gesichert ist. Man kann also Freiheit nicht grenzenlos auf Kosten des Friedens verlangen und umgekehrt; und Wahrheit nicht grenzenlos auf Kosten der Tugend und umgekehrt. Diese Interdependenzen ergeben sich aus der Unmöglichkeit, alle Werte zugleich maximal zu befriedigen, mit anderen Worten: aus der Kondition des Menschen. Es ist im Grunde dieses Problem (wenn auch nicht in dieser begrifflichen Fassung), auf das sich die Bestimmung der Gerechtigkeit als Gleichmaß bezog — eine Rückbesinnung, die deutlich machen kann, wie sehr die moderne Auffassung der Gerechtigkeit als Wert den Rang des aristotelischen Rechtsdenkens verfehlt. Eine Wertrangordnung kann daher immer nur situationsrelativ praktiziert werden. Nur die Werte selbst, nicht aber ihre Rangbeziehungen lassen sich abstrakt formulieren, und die Abstraktion des einen ohne das andere ist ziemlich nutzlos. In sehr einfachen Lebensverhältnissen, wo Grundbedürfnisse wie Nahrung, Unterkunft oder friedlicher Sozialkontakt unbefriedigt zu bleiben drohen, kann man solche Verallgemeinerungen praxisnah und instruktiv gebrauchen. Je selbstverständlicher elementare Werte ausreichend erfüllt sind, desto breiter und bunter wird die Skala der erreichbaren Werte, desto situationsnäher müssen die Rangverhältnisse der Werte institutionalisiert werden. Wir müssen in immer rascheren Wechseltempo und in immer kleinerer Dosierung den Wohlstand auf Kosten der Freiheit, die Freiheit auf Kosten des Wissens, das Wissen auf Kosten des Wohlstandes, die Familie auf Kosten des Berufs und den Beruf auf Kosten der Familie, das Individuum auf Kosten der Allgemeinheit und die Allgemeinheit auf Kosten des Individuums fördern. Die Wertverwirklichung muß somit zunehmend opportunistisch werden. Das aristotelische Maß der Mitte ist gleichsam in Bewegung geraten. Darin scheint sich eine neue Bestimmung des Verhältnisses von Sein und Zeit anzubahnen. Das Maßvolle läßt sich nicht in der Form der „Anwendung" eines abstrakten Ideals, einer starren Maxime verwirklichen, sondern nur unter Ausnutzung von Zeitverschiedenheiten in umsichtigem Wechsel der Präferenzen. Die Grundrechtsdogmatik hält, ohne zu wissen warum, durch ihre Interessenabwägungsformel und durch ihr Regel/Ausnahme-Denken diesem Opportunismus der Wertnäherung die Türen offen. Sie kann jedoch den Sinn, der darin liegt, nicht begreifen, wenn sie bei der Berufung auf Werte stehen bleibt und nicht nach dem fragt, was wir an die Stelle des Maßes der Gerechtigkeit zu setzen haben. Der Wertbegriff setzt zwar voraus, erklärt aber nicht, daß ein Handlungsraum und eine Handlungszeit mit Vergleichsmöglichkeiten konstituiert ist. Er setzt wie selbstverständlich die Erschließung der Welt des Handelns durch die Wissenschaften voraus. Die Strukturierung des Bereichs möglicher Handlungen durch offene Möglichkeiten und Pro-
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10. Kap.: Soziologie und Grundrechtsdogmatik 21
bleme ist das primäre Phänomen . Die Orientierung an Werten wird erst dadurch möglich und notwendig. Sie erhält ihren Sinn durch ihre Funktion als Handlungsorientierung . Denn bloßes Vergleichen mit anderen Möglichkeiten reicht als Erklärung und Rechtfertigung einer j Entscheidung nicht aus. Insofern ist das Bestreben, die Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten durch eine Wertorientierung zu reduzieren, durchaus verständlich. Die Notwendigkeit der Wertfunktion zwingt aber keineswegs dazu, gerade in dieser Form der Darstellung des Seins durch Werte die letzte Aussage über den Sinn des Mensehseins zu suchen. Weder die Wissenschaft noch das Philosophieren unserer Zeit ermutigen uns zu einer solchen These. 22
Was mit dem Wertbegriff gesucht wird, ist die Schließung des unendlich-offenen Horizontes der Handlungsmöglichkeiten, letztlich: die Gesamtkonstruktion der Welt. Diese Konstruktion aber erfolgt durch Systembau. Das begründende Absolute, das im Wertbegriff postuliert ist, findet sich in der Funktionsfähigkeit der Systeme. Diese begründet desto sicherer, je umfassender das System gedacht ist und im Handeln aktualisiert wird. Solche Ausdehnung erfordert Differenzierung. Je umfassender Systeme menschliches Erleben und Handeln ordnen wollen, desto stärker müssen sie differenziert werden, desto stärker und vielfältiger müssen sie Kommunikationen generalisieren, desto künstlichere Verhaltensgrundlagen müssen sie suchen. Die Bedingungen derDifferenzierbarkeit, in deren Rahmen wir die Grundrechte erörtert haben, treten an den Platz, den die Wertphilosophie vergeblich allein auszufüllen versuchte. In den Strategien individueller Selbstdarstellung, in den taktvoll-durchschauenden gefühlsneutralen Rücksichten der Erwartungszivilisation, im Vertrauen auf den fiktiven Befriedigungswert des Geldes, in der gelassenen Indifferenz angesichts der Fülle von staatlichen Problementscheidungen und in der Empfindlichkeit all dieser Einstellungen gegenüber kritischen Störungen, welche die Funktionsfähigkeit der Systeme in Frage stellen, kündigt sich-ein neuartiges Verhalten des Menschen zur Welt an, dessen Deutung die Philosophie vor neue Aufgaben stellt.
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Siehe dazu die Unterscheidung von offenen und problematischen Möglichkeiten im allgemeinen Rahmen der phänomenologischen Lebensweltanalyse bei Edmund Husserl, Erfahrung und Urteil, Hamburg 1948, S. 105 ff., und dazu auch Alfred Schutz, Choosing Among Projects of Action, Philosophy and Phenomenological Research 12 (1951) neu gedruckt in: ders., Collected P a p e r s Bd. I, Den Haag 1962, S. 67—96 (79 ff.). Dazu einige weitere Erläuterungen bei Luhmann (Kap. 3 Anm. 12). 22
Sachverzeichnis Abweichendes Verhalten 66, 130 Alternativen 85, 91, 93, 123 f., 158 f., 212 f.; s. auch Freiheit Angst 50 Anspruchsdenken 27, 164, 205 ff. Arbeitsfreiheit 130 ff. Arbeitslosigkeit 131 Anm. 61, 132 Anm. 63 Arbeitsmarkt 132 Ausbildung 133 Ausdrucksdisziplin 22, 34, 36, 67 ff. Autonomie 174, 197 — des politischen Systems 24, 30, 138, 160 — der Wirtschaft 110, 113 Anm. 13, 128 Autorität 36, 91, 102 f., 118 Anm. 27, 145 Anm. 22 Beamtentum 133 Begründung von Entscheidungen 162 ff., 206; s. auch Entscheidungen, verbindliche Bekanntschaft, persönliche 34, 94 Berechenbarkeit der Handlungsfolgen 34; s. auch Rationalisierung Berufsfreiheit 98, 130 ff., 210 Bestandsformel 10 Billigkeit 172 civil society/government 82 Demokratie 72, 137, 139, 147, 160 Anm. 53, 161; s. auch Wahlrecht Deutsche Bundesbank 119 Dialektik 45 f. dialektischer Materialismus 64 Anm. 31, 100 Anm. 34; s. auch Marxismus Dienstpflicht, militärische 114 Anm. 15, 132
Differenzierung, soziale 14 ff., 31 ff., 84 f., 93 f., 96, 134 f., 138, 178., 186 ff., 212 f. — der Statusprinzipien 179 f.; s. auch Statuskongruenz; Statusordnung diffus/spezifisch 33 f., 176 f. Diktatur, rechtsstaatliche 137 Disponibilität von Kommunikationen 22, 23; s. auch Entbindung; Mobilisierung Dogmatik, juristische 7 ff., 1361, 203 Anm. 5, 204 f.; s. auch Grundrechtsdogmatik Ehe 90, 96 —, Grundrechtsschutz der 103 ff. Eigentum 36 Anm. 27, 116, 120 ff., 164, 260; s. auch Enteignung Eignungsprüfungen, psychologische 75 Anm. 59 Einparteiensystem 147, 149 Einstellungen, innere 86 f. Ein tritt/Austritt-Mobilität 90 f., 132 f.; s. auch Organisationsmitgliedschaft Empfindlichkeit generalisierter Medien der Kommunikation 118 Anm. 27 Entbindung des Kommunikationswesens 21 Anm. 16, 23, 321, 94 Entdifferenzierung, Gefahr der 23 f., 98, 135, 148, 175 1 — als Sanktion 184, 198 Enteignung 124, 127 f., 164 Entlastung 51, 65 Anm. 37, 95, 97, 145 Entpersönlichung, s. Unpersönlichkeit Entscheidungen, verbindliche 14 f., 56, 72, 96, 143 ff., 164, 174 f.; s. auch Begründung; politisches System; Problementscheidungsfunktion Entscheidungsprogramme 170, 178, 204 Anm. 6 Entscheidungstheorie und -technik, rationale 203 f.
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Sachverzeichnis
Entspannung, persönliche 104 f. Entweder/Oder-Struktur des Rechts 206, 214 Entwicklung, soziale 19 Anra. 13, 23, 198 ff. Entwicklungsländer 18 Anm. 8, 96, 991, 101 f., 114 Anm. 19, 117, 1551, 160 1, 178 Anm. 22, 183 Entzeitung des Rechts 165 f. Erholungszeit s. Freizeit Erklärungen 33, 65, 95 Erwartungen, s. Verhaltenserwartungen Erwartungsbildung 21 Ethik/ Recht 214 Anm. 19; s. auch Rechtstradition, ethische Evolution 19 Anm. 13; s. auch Entwicklung, soziale Expansionstendenzen des politischen Systems .23 f., 97, 98, 100 ff., 117 f., 197 Familie 15, 19, 32 Anm. 17, 48, 50 Anm. 26, 69, 96, 98, 104 ff., 110, 124 f., 131 Anm. 61, 140, 142 Anm. 15, 199 Anm. 30 — Grundrechtsschutz der 103 ff. Familienunternehmen 122 Anm. 39 Forderungen, als Stil der Interessenvertretung 1021 formales/materiales Recht 188 Freiheit 351, 57 ff., 1341, 213, 2141 — /Gleichheit 49 f., 162 f., 206 f. — der Person 79 Freiheitsrechte 23, 27, 72 f., 77 ff., 121 f., 130, 148, 154, 162 f l , 206 f., 208 Anm. 12 Freizeit 92 Freizügigkeit 130 Frieden 56 f., 71, 214 Funktion 8, 18 —, der Grundrechte 13, 23, 27, 37, 38, 71 f., 116 f., 148, 162, 182, 187 fl, 196 f., 200 —, latente 18 Anm. 9, 148, 201 f l , 2101. — /Struktur 18 Anm. 9, 194 fl funktional-diffuse Struktur 110, 1391, 198 Anm. 28, 1991; s. auch Statusordnung, geschlossene funktionale Methode 46, 82, 137 f., 186, 193 Anm. 17, 202 f.
— Spezifizierung; s. Differenzierung, soziale Funktionsabgaben 16, 104, 152 Funktionsbegriff 38 Anm. 1, 60 Gefühle 35, 92, 94, 162 Gehorsam, freiwilliger 142 f. Geisteswissenschaften 9, 25, 43 ff., 207; s. auch wertethische Grundrechtsbegründung Geld 33, 34, 36, 40 Anm. 5, 109 fl, 189 Gemeinwohl 141, 17 — als Enteignungsvoraussetzung 127 Anm. 51 Generalisierung 19, 31, 96 — von Kommunikationen 25, 31 ff., 47 f., 85, 141, 143 — der Macht 24, 143 f l ; s. auch Legitimität — der Motivation 35, 8 7 1 ; s. auch Mitgliedschaft — von Verhaltenserwartungen 13, 84, 85 fl, 194, 196 —, zeitliche des Rechts 165 f. Gerechtigkeit 164, 166, 168, 171 f., 1801, 215 Gesetzgebung als Grundrechtsausführung 208 ff. Gesetzgebungsschranken 27, 30, 137, 207; s. auch Staatsmachtbegrenzung Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 78 Gesinnung 86 f. Geständniserwirkung und Menschenwürde 75 Anm. 59 Gewalt, physische, s. Zwang Gewaltentrennung 24, 42, 183 Anm. 31 Gewissen 58, 761 Gewissensfreiheit 76 f., 97, 98 Anm. 31 Glaubensfreiheit 79, 98 f. Gleichheit, Grundrecht der 162 ff. — /Freiheit 49 f., 162 f., 206 f. — der Individuen 49 f. Gleichheitsbegriff 168 Gleichberechtigung von Mann und Frau 106 Gleichheitsprinzip 121, 125 Anm. 49, 155, 162 ff. Government-Konzeption, angelsächsische 12 Anm. 13, 82 Anm. 71 Grundrechte, Positivität der 40 f., 182 ff. 1
Sachverzeichnis —, Systematik der 36, 80, 186 —, Vielzahl von 36, 200 —, Wesensgehalt der, 59 f., 207 Grundrechtsausführung, s. Gesetzgebung Grundrechtsdogmatik 11, 25, 57 ff., 80 f., 201 ff.; s. auch Dogmatik; Geisteswissenschaften; Naturrecht; wertethische Grundrechtsbegründung Grundrechtsschutz, s. Rechtsschutz; Verfassungsgerichtsbarkeit Grund, Satz vom 26, 140, 165 Anm. 5 Güterabwägung, s. Interessenabwägung Halbwelt 69 Handlungswissenschaften, rationale 202 Hausfrauenarbeit 132 Heroismus 54 Herrschaft 138 ff. Hierarchiemodell 141, 281, 153 Anm. 35, 183 Anm. 31, 193 Anm. 18; 195 Anm. 23; s. auch Legeshierarchie; Rang hierarchische Organisation der Verwaltung 155, 170 homo oeconomicus 110 Anm. 7 Ideologie 16 f., 157 Indifferenz 35, 85, 87, 88, 90, 151, 183 Indiskretionsschutz 76 Anm. 60 Individualität 48 ff., 53 ff., 189 Individuum/Kollektiv 29, 46, 93, 163 Informationsverarbeitungssystem 174 f. Innen/Außen-Differenz 19, 35 Anm. 26, 77, 174, 190, 193 Input/Output-Modell 174 f., 195 Anm. 22 Institution 12 f., 86 Anm. 3 institutionelle Garantien 208 Anm. 12 Institutsgarantie/Einzelrechtsgarantie 125 Anm. 47 Integration (Parsons) 190 — (Smend) 44 ff., 88 Interdependenzen 19, 29 f., 35, 92; s. auch Differenzierung, soziale — von Staat und Wirtschaft 113 f l , 118 Anm. 26
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Interessenabwägung 59 Anm. 18, 81, 208 Anm. 11, 215 Interessenvertretung 102 f., 115, 150 Intimperson/Sozialperson 58 Anm. 7, 62 Anm. 26 Intimsphäre 67, 76, 159 Anm. 49 iura quaesita 120 ius eminens 10, 127 Kapital 95, 109, 112 Kausalität 46, 165 Anm. 5, 173 f. —, latente 66 Kleinkindsozialisierung 104 Knappheit 109 Anm. 3, 110; s. auch Mengenkonstanzen Koalitionsfreiheit 98 Kollektiv/Individuum 29, 46, 93, 163 Kommunikation 19, 201, 25, 46f.; s. auch Entbindung; Generalisierung; Mobilisierung; Spezifizierung; Sprache Kommunikationsfreiheit 84 ff., 149 Kommunikationsmedien, Wahl von 98 Anm. 30 Kommunikationspartner, Wahl von 98 f., 100 ff. Kommunikationspotential, wachsendes 33, 931 Kommunikationsthemen, Wahl von 98 f., 100 ff. Kommunikationstheorie 20 f., 25 Kommunikationswesen, Organisation des 86, 921 Komplexität der Umwelt 173 f. Komplementarität von Verhaltenserwartungen 33, 84 f., 93 konditionale Programmierung 178; s. auch Entscheidungsprogramme Konflikte 158 Konformität 51 Konkurrenz 109 Konsens 13, 22, 85, 89 Anm. 12, 91, 142 Anm. 13, 202 Anm. 3; s. auch Spezifizierung Konsistenz von Entscheidungen 173, 176, 178 Konsum 91, 130 Kontaktmobilität, s. Mobilisierung Kooperation 109
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Sachverzeichnis
Korruption 114 Anm. 19 Kultur 86, 197 Kunstfreiheit 98 latente Funktion 18 Anm. 9, 148, 201 ff., 210 f. — Kausalität 66 Legeshierarchie 25, 26 ff., 120, 166 f., 182 Legitimität 20, 140 ff.; s. auch Staatsbegründung Liebe 90 Loyalität 34, 149, 160 Lügendetektor 75 Anm. 59 Macht 16, 34, 35, 36, 42, 79, 99, 102, 136 ff.; s. auch Legitimität; Zwang —, „absolute" 43, 139 Anm. 8 —, Generalisierung der 24, 143 ff. Machtsummenkonstanz-Hypothese 42 f., 151, 183 Anm. 30; s. auch Mengenkonstanzen Machtwechsel 24, 142 Anm. 13, 153, 156, 158 Markt 112 „Massenmensch" 50, 53 Anm. 2, 54 Anm. 4, 55 Marxismus 36 Anm. 27; s. auch dialektischer Materialismus Meinungsbildung 36, 79 Meinungsfreiheit 79, 98 f. Mengenkonstanzen 42 f., 61 Anm. 22, 92, 110, 151 Menschenrechte 23, 136; s. auch Vorstaatlichkeit Menschenwürde, s. Würde Metaphysik, ontologische 60, 213; s. auch Wahrheitsfähigkeit Methode, auslegende 7 ff., 81, 137; s. auch Dogmatik —, funktionale 46, 82, 1371, 186, 193 Anm. 17, 202 f.; s. auch Funktion —, geisteswissenschaftliche 9, 25, 38, 137 Anm. 5; s. auch wertethische Grundrechtsbegründung —, juristische 9, 38, 201 ff.; s. auch Grundreehtsdogmatik —, soziologische 7 ff., 186 f., 201 ff. Mitgliedschaft, s. Organisationsmitgliedschaft
Mobilisierung des Kommunikationswesen 21, 32 f., 94 — der Kontakte 86, 89 ff. Moral, Verinnerlichung der 86 Motivation, Generalisierung der 35, 87 f.; s. auch Generalisierung; Organisationsmitgliedschaft Multifunktionalität konkreter Strukturen 129 Anm. 53 Naturrecht 271, 38 ff., 167 Anm. 7, 183 Anm. 31, 204 Neutralität der Verwaltung 154, 161 Normbegriff 86 Anm. 3 Normen 195, 214 Normwissenschaft/Faktenwissenschaft 39 Nullsummenprämisse, s. Mengenkonstanzen Nutzen, s. Subjektivität von Präferenzstrukturen Opportunismus, Gerechtigkeit als 215 Organisation, formale 8, 19 Anm. 11, 33, 91, 109, 112 Organisationsmitgliedschaft 33, 35, 36, . 66 Anm. 40, 87 f., 90 f., 178 Anm. 23: s. auch Eintritt/Austritt-Mobilität Parteibildungsfreiheit 98 Parteien 150, 151 f. Peinlichkeit 67 Persönlichkeit 25, 48 ff., 53 ff., 193; s. auch Individualität; Selbstdarstellung Persönlichkeitsrecht, zivilrechtlich 76 Anm. 60 Persönlichkeitstheorie 60 Anm. 22, 61 Anm. 24 Petitionsrecht 149 Politik/Verwaltung 15, 24, 142 Anm. 13, 148 ff., 175 Politikwissenschaft/politische Soziologie 9, 10 f., 203 politische „Bildung" 95 Anm. 25 — Sozialisierung 95 — Soziologie 9, 10 f., 201 ff. politisches System 14 ff., 82 Anm. 71, 136 ff., 174 f., 194, 196 —, Autonomie des 24, 30, 138, 160 —, Expansionstendenzen des 23 f., 97, 98, 100 fl, 1171, 197
Sachverzeichnis —, Innendifferenzierung des 148 ff., 183; s. auch Gewaltentrennung; Politik/Verwaltung politisches Vorfeld der Bürokratie 15, 151 ff. Positivierung des Rechts 13, 30, 40 f., 166 f., 181 f., 204 Positivität der Grundrechte 40 f., 182 ff.; s. auch Vorstaatlichkeit Positivismus, juristischer 38 Pressefreiheit 98, 210 Problembezug der funktionalen Analyse 18, 138, 187, 209; s. auch Systemprobleme Problementscheidungsfunktion 14 f., 24, 56, 72, 97, 114, 116, 138, 148, 174, 189, 194; s. auch Entscheidungen, verbindliche; politisches System Problemverschiebung 174 Publikum 154, 155 f., 178 f. Rang 87, 125, 146 Anm. 23, 179 rationales Handeln 87; s. auch Zweckrationalität Rationalisierung 8, 19, 23, 34; s. auch Systemrationalität Rationalität, politische 15, 24, 151 ff., 160 —, des Wirtschaftssystems Ulf., 126 Recht/Ethik 214 Anm. 19; s. auch Rechtstradition, ethische Recht als Konfliktregelung 42, 205f.; s. auch Entweder/Oder-Struktur Rechte, subjektive 27, 30, 120 f., 164 ff., 205 ff., 209 —, subjektive öffentliche 121 Anm. 35 Rechtsphilosophie 171 f. Rechtspositivierung, s. Positivierung Rechtsquellen 28 Rechtsquellenhierarchie, s. Legeshierarchie Rechtsschutz durch Gerichte 119 f., 209; s. auch Verfassungsgerichtsbarkeit Rechtsstaat 29, 137, 175 Rechtstradition, ethische 171 f., 181, 188, 214 Anm. 19 Rechtsverwaltung, rationale 166 Rechtswissenschaft 8, 202 ff. Relativismus des Gleichheitsprinzips 169
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Religion und soziale Differenzierung 15, 48 f. 87, 95 Anm. 26, 97, 200 Repräsentation 139 Anm. 9 Repräsentationschancen 91, 102 f. repressive/restitutive Sanktionen 188 res publica 14 f., 16 Rollen 62 f., 84, 195 Rollenbegriff 46 Anm. 17, 86 Anm. 3 Rollendifferenzierung, s. Differenzierung, soziale Rollenkern 86 Rollenkonflikt 53 Anm. 3, 113 f. Rollenlast 54 Anm. 3 Rollenspezifizierung 21 f., 48; s. auch Spezifizierung Rollentrennung 24 f., 33, 158 ff., 178 f. Sanktionsmechanismen 34 Scham 67 Schranken der Gesetzgebung 27, 30, 137, 207; s. auch Staatsmachtbegrenzung Segmentierung 19 Sein/Schein 60 Selbstdarstellung 21, 34, 37, 47, 53 ff., 84 f., 104 f., 129 f., 131 f., 148, 194; s. auch Individualität; Persönlichkeit Selbstdisziplin 22, 36, 50; s. auch Ausdrucksdisziplin Selbststeuerung 32 Sensibilität gegenüber Persönlichkeiten 54 f. —, politische des Staates 99 f., 154 spezifisch/diffus 33 f., 1761 Spezifizierung, von Entscheidungsprogrammen 154 —, funktionale; s. Differenzierung, soziale — von Interessen 35 — von Kommunikationen 93 f. — des Konsensbedarfs 22, 51, 86, 881, 149 — des Rechts 1661, 176 ff. — von Rollen 21 f., 48 — von Sanktionsmechanismen 34 Sprache 31 f., 93 1, 1 1 1 , 147 Sonderopfertheorie 125 Anm. 49 Sondersprachen 24, 111, 147, 153
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Sachverzeichnis
Soziologie, s. Differenzierung, soziale; Methode; Systemtheorie; Theorie, soziologische —, politische 9, 10 f., 201 ff. Staat/Bürger 41 f., 149 f., 163, 205 ff. — /Gesellschaft, Trennung von 25, 26 ff., 81 f., 99 —, als politisches System 14 ff., 30, 561, 72; s. auch politisches System; Problementscheidungsfunktion —, Wachsen des 16 Staatsbegriff, deutscher 15, 161, 116 Anm. 22; s. auch Rechtsstaat Staatsbegründung 26 f.; s. auch Legitimität Staatsmachtbegrenzung 41 ff., 1821, 207; s. auch Schranken der Gesetzgebung Staatsrechtswissenschaft 9 Staatsvertragslehren 26 Staatswissenschaften/Gesellschaftswissenschaften 82 Statuskongruenz 146 Anm. 23; s. auch Differenzierung Status naturalis 199 Statusordnung, geschlossene 125, 140, 1461, 179; s. auch Differenzierung; funktional-diffuse Struktur Statussymbol, Eigentum als 129 f. Status/Vertrag 187 f. Steuern 126 Strafverfahren 55, 75 Anm. 59 Struktur/Funktion 18 Anm. 9, 194 ff. — sozialer Systeme 13, 194 ff. Subjektivität von Präferenzstrukturen 123 f. Substanz, Mensch als 58 Substanzbegriff 60 Summenkonstanzen, s. Mengenkonstanzen System, s. auch politisches System Systembegriff 10 f., 14 Anm. 2 Systemgarantien 22, 50 Anm. 26, 212 Systemgrenzen 19 Systemprobleme 18, 31, 174, 190 ff., 203 f.; s. auch Problembezug Systemrationalität 181, 203 f. Systemtheorie 10 f., 13, 20 f., 30 f., 45, 47, 189 f l , 2021; s. auch Theorie, soziologische
Takt 55, 67 Tausch 109 f., 114, 142, 195 Anm. 22 Theorie, soziologische 10 f., 17, 81 f., 186 ff.; s. auch Systemtheorie Tod 58, 76 f. Toleranz 55, 86, 97 f. Tradition 141 Anm. 12 Transzendenz 192 f. Treue 34, 113 Umwelt von Systemen 18 f., 31 Anm. 15, 173 ff., 193 Anm. 18; s. auch Innen/Außen-Differenz Ungewißheit, der Bedarfsbefriedigung 110 — in der politischen Kalkulation 175 universalistisch/partikularistisch 1761 Unpersönlichkeit 21, 22 Anm. 18, 50 f., 651, 89, 177 ff. Unterstützung, politische 24, 36, 56; s. auch Legitimität Untersystembildung 194 f.; s. auch Differenzierung, soziale Verantwortungsentlastung 145 Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit 981, 130, 132 Verfassungsbeschwerde 78 Verfassungsgerichtsbarkeit 119 f., 167 f., 198, 206 f. Verfassungswandel 209 Vergleich als Begründungsverfahren 172 f. Vergleichsgesichtspunkt 168 f. Verhaltenserwartungen 37, 84; s. auch Institution; Legitimität; Rollen —, Komplementarität von 33, 84 f., 93 Vermögenswertgarantie 127 Vernunftrecht 25, 27; s. auch Naturrecht Vertragsfreiheit 33, 130 Vertrauen 43, 51, 118 Anm. 27, 126 f., 150 Anm. 30, 151; s. auch Systemgarantien Verwaltung/Politik, s. Politik volonté générale 139 Anm. 9 Vorbehaltsgesetzgebung 208 Anm. 11, 209 Vorstaatlichkeit der Grundrechte 23, 2081; s. auch Menschenrechte; Positivität
Sachverzeichnis Wählerrolle 24, 72, 156 ff. Wahlgeheimnis 148, 159 Wahlmöglichkeiten, s. Alternativen Wahlrecht 136 ff., 148 ff., 175 Wahrheit/Kommunikationsordnung 97 f. Wahrheitsfähigkeit 27, 39, 144, 198, 202 Anm. 3; s. auch Metaphysik, ontologische Währungsstabilität 119 f., 210 Wert 15, 281, 44 Anm. 12, 113, 181, 195, 202 Anm. 3, 203, 204, 213 ff. Wertbegriff 58, 214 wertethische Grundrechtsbegründung 25, 29, 38, 68, 70, 75, 771, 103, 123 Anm. 44, 130, 137 Anm. 5, 164, 168 f., 197, 198, 213 ff. Wertfreiheit 8, 202 Wesensgehalt der Grundrechte 59 f., 207 widersprüchliche Bestandsbedingungen 103 Widerstandsrecht 41 Anm. 7 Wirtschaft 34, 37, 48, 79, 102, 108 f l , 194, 196 —, Autonomie der 110, 113 Anm. 13, 128 Wirtschaftlichkeitsprinzip 172
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Wirtschaftslenkung, staatliche 113 Wirtschaf tsverfassung 115 f. Wissenschaft, Forschung und Lehre, Freiheit der 98 Würde 57 fl, 118 Anm. 27, 121 — als Grundrecht 74 f. Zeit 215 — /Kausalität 165 Anm. 5 zeitliche Generalisierung des Rechts 165 1 Zeitrechnung 91 f., 95 Zentralbanken 1181 Zentralisierung, der Gewaltanwendungsentscheidung 56 — der Macht 24 — der Rechtsentscheidung 166, 170, 181; s. auch Positivierung Zivilisierung von Verhaltenserwartungen 22, 84 f l , 189 Zurechnung 63 ff. — von Enttäuschungen 33 f., 641 Zwang 32, 34, 56, 91, 113, 132, 135, 141 f l , 160 Zwar-aber Argumentation 59, 80 f. Zweck 87, 172, 190 — /Mittel-Vertauschung 151 f. Zweckrationalität 87, 108, 117, 172 f.