HORST H.BERNHARDT
Halbhoch ins Netz
VEBLAG
NEUES LEBEN 19 5 3
BEBL1N
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1953 b...
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HORST H.BERNHARDT
Halbhoch ins Netz
VEBLAG
NEUES LEBEN 19 5 3
BEBL1N
Alle Rechte vorbehalten
Copyright 1953 by Verlag Nevies Leben
Lizenz Nr. 303 • Gen.-Nr. 305/62/53
Umschlagzeichnung: Heinz Rammelt, Bernburg
Gestaltung und Typographie: Kollektiv Neues Leben
Druck: Karl-Marx-Werk, Pößneck, V 15/30
-L/autlose Spannung lag über dem weiten Stadion. Eben noch hatten die Dreißigtausend aufgeschrien, eben noch schwebte der Torruf auf aller Lippen. Bredow, der Halblinke von Turbine Berlin, hatte sich, den Ball am Fuß, durch den doppelten Sperriegel der Dresdner Chemie-Mannschaft ge wunden. Er hatte noch einmal kurz aufgeblickt und dann abgeschossen. Die Richtung, die das braune Leder nahm, schien auch durchaus in Ordnung. Schon rissen zwei Turbine-Stürmer überglücklich die Arme hoch . . . Doch sie hatten die Rechnung ohne den Wirt, ohne Chemies hochklassigen Stop per, gemacht. Mit mächtigem Spreizschritt warf er sich in den Schuß, und der Ball drehte in toller Spirale ins Aus. Ecke also! Nun lag der Ball unmittelbar an der Eckfahne. Bruchteile von Sekunden schienen zu Minuten zu werden. Endlich pfiff der Schiedsrichter, und dreißigtausend Stimmen verschmolzen zu einem einzigen Laut. Der Ball senkte sich bedrohlich unmittelbar hinter dem Elfmeterpunkt. Da stieg auch schon der Dresdner Torwart aus einer Traube von Spielern empor, reckte die Fäuste in die Höhe und faustete das Leder weit aus der Gefahrenzone. Die Läufer Turbines waren aufgerückt. Schon hatten sie den Ball erneut unter ihre Kontrolle gebracht und trieben ihn nach vorn. Der ChemieStopper jedoch und seine Abwehrgefährten standen eisern. Sie ließen sich auf nichts mehr ein. Längst hatte die Mannschaft das betonte Angriffsspiel aufgegeben. Defensive, haarscharfes Abdecken jedes einzelnen Mannes der Gegenseite und weites Wegschlagen des Balles - das war nun die Devise. Man mußte über die Zeit kommen, mußte das wertvolle 3 :2 über die letzten zehn Spielminuten hinweg retten. Turbine aber ließ nicht locker. Immer wieder wühlten sich die jungen Spieler nach vorn, immer wieder versuchten sie den Riegel aufzubrechen, den die gegnerischen Stopper so meisterhaft aufgebaut hatten. Nur merkwürdig, gerade jene Aktiven, von denen man am meisten er wartet hatte, jene, die so etwas wie die „Korsettstangen" der jungen Tur bine-Elf sein sollten, die mehrfachen Auswahlspieler Kieninger und Bre dow, gerade sie hielten nicht so recht mit. Es schien ihnen an Kondition zu fehlen. Sie wirkten müde und abgekämpft. Gewiß, dieses Spiel zehrte an den Kräften, verlangte letzte Reserven. Doch was die Jungen konnten, die vor wenigen Wochen noch in der Jungligamannschaft gestanden hatten, das sollte auch Bredow und Kieninger möglich sein.
„Ja, ja", sagte jemand im Publikum, „Kieninger holt sich seine Kondition des Sonnabends in den Lokalen am Bahnhof Zoo." Und als einige etwas zweifelnd aufblickten, spielte der andere seinen Trumpf aus: „Die Freund schaft Hasselroths bringt halt etwas ein. Der Dicke tauscht mit keinem." Er lachte herausfordernd laut und schob die Mütze ins Genick. Man überlegte. Hasselroth, Hasselroth? Was hatte denn der dicke Hassel roth noch immer mit Kieninger zu schaffen? Doch das Spiel ging weiter. Da blieb keine Zeit zum Überlegen. „Acht Minuten noch", seufzten die Anhänger Turbines. Der Zeiger der Uhr nahm seinen Weg, und die Sekunden wurden zu Minuten, zu wert vollen, unwiderbringlichen Minuten. Wieder blieb Bredow hängen. Er „fummelte", daß einem die Haare zu Berge standen. Wie konnte er das nur tun? Jetzt, in solcher verzweifelten Lage, wenige Minuten vor Schluß! Mit gelungenem Trick ließ gerade Turbines blutjunger Linksaußen Wagner einen Läufer stehen. Er jagte die Außenlinie entlang, schlug noch einen Haken und gab dann blitzschnell nach innen. Doch Bredow war viel zu umständlich, viel zu „pomadig". Statt sofort anzunehmen und abzu schießen, ließ er sich mit dem gegnerischen Mittelverteidiger in einen höchst überflüssigen Nahkampf ein. • Schon war's vorbei und eine Tor chance dahin! „Fünf Minuten noch!" Es klang wie eine Beschwörung. Auf der Aschenbahn - das war eigentlich unzulässig, aber es gab halt Leute, die ihre Bedeutung überschätzten, die sich alles herausnahmen schritt Johannes Hasselroth gewichtig daher. Der schwere Hängermantel wölbte sich über dem ansehnlichen Bäuchlein, sein halbsteifer Hut und die dicke Zigarre ließen ihn wie einen Börsenjobber vomKu-Damm erscheinen. „Da ist er ja, der Hasselroth", meinte ein Besucher. „Ich möchte wissen, was er noch immer hier,zu suchen hat. Wohnt der nicht schon seit langem drüben?Undhat er nicht auch sein Geschäft irgendwo inderUhlandstraße?" „So genau weiß man das wohl nicht", antwortete der Nachbar, „Der macht schon seine lohnenden Fischzüge", wendete ein Dritter ein. „Wenn ich nur wüßte, wie er's anstellt." Dem dicken Hasselroth aber waren solche Überlegungen gleichgültig. „So sieht's aus", empörte er sich dort unten auf der Aschenbahn, und das an sich schon aufgedunsene rote Gesicht bekam einen Stich mehr ins Erd beerfarbene. „Das also ist der Erfolg der sowjetischen Methodik." Er lachte laut und hohnvoll. Die Männer an der Barriere hatten Mühe, an sich zu halten. Sie waren ständige Besucher der Spiele hier im demokratischen Sektor und kannten Johannes Hasselroth von früher her. Sie wußten, daß er vor Jahren, in der Nazizeit noch, Vorsitzender des Spindlersfelder VfB war, jener Mannschaft, die auf Turbines heutiger Platzanlage spielte und die gleichen rot-weißen Farben trug. Sie ahnten auch, daß Hasselroth noch immer einen gewissen 4
Einfluß auf einzelne Spieler vom alten Stamm ausübte. Dabei hielt sich hartnäckig das Gerücht, daß der Dicke inzwischen längst enge Beziehungen zum Vorstand des Westberliner Vertragsligavereins „Titania" angeknüpft hatte, daß er es gewesen war, der nach Abschluß der letzten Spielzeit Turbines Mittelstrümer Heiiniich an die Titanen „vermittelte". Ja, über all das sprach man und noch über vieles mehr. Aber Hasselroth bewegte sich nach wie vor ungeschoren auf den Sportplätzen des demo kratischen Sektors und der Deutschen Demokratischen Republik. Wie lange sollte das noch so gehen? Wer gab ihm die Sicherheit des Auftretens? Der Dicke im wolligen Hänger sog an seiner Zigarre. „Vielleicht hat diese und jene sowjetische Mannschaft Erfolg mit dem System des ununter brochenen Herumwirbeins. Mag sein. Für Turbine ist's jedenfalls Gift. Bre dows Fähigkeiten liegen im Aufbau aus der Tiefe. Er muß zurückhängen. Dieses mörderische Angriffsspiel nimmt ihm die Luft - und ein schneller Mann ist Bredow ja noch niemals gewesen." „Dann muß er es eben lernen, muß er sich umstellen. Achtundzwanzig Jahre sind noch kein Alter für einen Spieler", wendete einer der Zu schauer ein. „Haben Sie das gehört?", höhnte Hasselroth. „Umstellen! Ein Spieler wie Bredow soll sich umstellen. Na, dann Prost Mahlzeit!" Gerade wieder hatte Bredow durch Langsamkeit den Ball verloren und blieb resigniert stehen. „Bitte! Der wird nie ein schneller Mann. Nie! Da sehen Sie's ja wieder." Hasselroth triumphierte-und der andere schwieg. Was sollte er auch sagen? Turbines Mannen rannten sich hoffnungslos fest, und es blieben nur noch zwei Minuten. Zwei kurze Minuten. Stopper Kieninger hatte den Ball. Doch statt vorwärts, spielte er zurück. Kieninger war überhaupt einer von denen, die seit Wochen schon das heiße Bemühen, den unbändigen Willen vermissen ließen, die allein es möglich machen, Berge zu versetzen. Wolf Kieninger aber schien beinahe interesse los. Er spielte sein Pensum herunter, ohne Einsatz, ohne Kampfgeist. Doch diesmal gelang dem Stopper ein weicher Paßball. Wagner, der junge Linksaußen, erlief ihn, trickte sich vorwärts und drang in den Straf raum ein. „Schießen! Schießen!" tönte es von den Rängen. Wagner lief noch ein, zwei Schritte. Dann, ehe der wild angreifende Verteidiger ihn erreichte, holte er zum Schuß aus. Doch Chemies rechter Läufer hatte die Gefahr er kannt. Er wußte, daß nun das 3:3 in der Luft lag, daß niemand mehr Wagner am Einschuß hindern konnte, wenn er es nicht tat. Mit regulären Mitteln aber konnte auch er den jungen Stürmer nicht mehr halten. Also blieb nur eine Wahl - die letzte W a h l . . . Der Läufer schnellte sich vor, sein „langes Bein" fuhr wie der Blitz in die Parade des Angreifers, und Wagner überschlug sich. „Wegrasiert", wie man in Süddeutschland sagt. 5
Ein Schrei der Empörung gellte auf. Doch da kam schon der Pfiff des Schiedsrichters. Schrill und schneidend. Der Turbine-Stürmer lag meterweit innerhalb des Strafraumes. Es konnte demnach keine Diskussion geben. Der Fall war klar: Elfmeter! Elf meter - neunzig Sekunden vor Spielschluß! Schwer atmend gruppierten sich die Männer von Turbine und Chemie um jenen Punkt, dessen richtige Markierung nun noeh einmal vom Schieds richter durch Abschreiten überprüft wurde. Das Stadion kochte und brodelte wie ein Hexenkessel. Sechzig Sekunden nur noch. Aber ein Elfmeterball wird vollstreckt, auch wenn die Spielzeit herum ist. So schreibt es die Regel vor. Die Anhänger Chemies bissen sich auf die Lippen. „So ein Pech", wet terte einer für sich. Die Freunde von Turbine aber waren voller Hoffnung. Ihre Blicke richteten sich auf das Spielfeld. Wer wird den Elfmeterball treten, wer die Vollstreckung in diesem höchst wichtigen Augenblick über nehmen? Was wollte nur der dicke Hasselroth dort unten am Spielfeldrand? Eben noch hatte er sich an die Barriere gelehnt und an seiner Zigarre gekaut nun lief er über die Aschenbahn und rief Kieninger etwas zu. Wolf Kieninger aber, der bis jetzt an der Mittellinie stand, die Hände in die Seiten gestemmt und an all dem anscheinend nicht mehr interessiert, lief plötzlich nach vorn und stieß den kleinen, stämmigen Eberhardt beiseite, der sich gerade an schickte, den Strafstoß auszuführen. Was soll das? dachten die Zuschauer. Was soll das? dachte auch Trainer Wittmann, der drüben auf der anderen Seite hinter dem Tor hockte. Seit Monaten schon hatte Kieninger keinen Elfmeter mehr getreten. Und heute, ausgerechnet heute, wollte er es tun? Trainer Wittmann sprang auf. Er wollte hinüberlaufen, wollte Kieninger zurückhalten, rufen. Doch das wäre zwecklos. Der Weg zum anderen Tor war weit, und der Lärm der Menge übertönte alles. Die Sekunden verrannen. Der große Augenblick war da! Das Diskutieren auf den Rängen verebbte. Es wurde totenstill. Und nun lief er an, der Elfmeterschütze! Die lähmende Stille wich einem einzigen Aufschrei. Um mindestens 50 Zentimeter stieg der Ball über den Querbalken. Die Turbine-Spieler hiel ten sich die Köpfe. Nur Kieninger blieb unberührt. Er brachte es sogar fertig zu lächeln. Im Stadion begann es wieder zu brodeln. Aber es war nicht mehr die Atmosphäre kaum zu ertragender Spannung, es war mehr ein Abklingen, es war Aufbruchstimmung. Und da schrillte auch schon der Pfiff über den Platz. Schiedsrichter Hermann hatte abgepfiffen und Turbine ein weiteres Spiel verloren. Das sechste in ununterbrochener Folge! Eben noch winkte das Unentschieden. Und nun? Die Spieler verließen mit hängenden Köpfen den Rasen. Vereinzelte Pfiffe der enttäuschten Anhänger begleiteten sie. Doch jener, dem sie am R
ehesten galten, Stopper Kieninger nämlich, ging hocherhobenen Hauptes vom Platz. Man hatte nicht den Eindruck, als berührte ihn der ElfmeterFehlschuß sonderlich. Als Kieninger und Bredow nebeneinander durch die schmale Pforte gingen, die den Tribünengang von der Aschenbahn trennt, sagte der Halb linke zu seinem Sportkameraden im Mannschaftszentrum: „Was war nur mit dir los, Wolf? Einen Elfmeter zu verschießen! Und das dreißig Sekunden vor Schluß." Doch Kieninger machte nur eine wegwerfende Handbewegung: „Na, wenn schon." Das klang unglaublich überlegen. So, als stände er hoch über den Dingen. Erich Bredow musterte den langen Stopper von der Seite. Gewiß, auch er machte sich manchmal seine eigenen Gedanken. Auch ihm paßte vieles an Wittmanns Trainingsmethodik nicht, aber so betont gleichgültig wie Wolf Kieninger konnte er doch nicht sein. Das aufgedunsene, puterrote Gesicht Hasselroths tauchte plötzlich im Gedränge auf. „Wann sehen wir uns, Wolf?" rief er dem Spieler zu, und ehe der Stopper antworten konnte: „Ein prima Schuß war das eben. Nur 'n biß chen zu hoch." Er lachte unangenehm auf, als hätte er den besten Witz ge macht. „Dieses Spiel dürfte Turbines Abstieg besiegelt haben." Kieninger zuckte die Schultern. Er beugte sich zu Hasselroth hinüber und flüsterte: „Was macht mein Vertrag?" Wieder lachte Hasselroth. „Erst die Unterschrift, Wolf. Dann das Geld. Bei der Titania herrschen saubere Geschäftsmanieren." Die halblaut ge wechselten Worte waren im allgemeinen Lärm untergegangen. Man war in zwischen vor den Umkleideräumen angelangt. Hier endete Hasselroths Ge schäftigkeit, denn vor der offenen Tür stand Trainer Wittmann. Hasselroth hielt den langen Stopper noch einmal am aufgekrempelten Ärmel des Jerseys fest. „Bring Bredow mit! Vielleicht auch gleich noch den Märten, hörst du?" raunte er. „Es lohnt sich!" „Das hätte ich sowieso getan", murmelte Kieninger und stolperte über die Schwelle der Umkleidekabine, ohne 'Wittmann auch nur eines Blickes zu würdigen. Dem Trainer aber war es, als bekomme er einen Stich. Da wühlte sich doch tatsächlich wieder jener ekelhafte Kerl, der Johannes Hasselroth, durch's Gedränge. Was wollte der widerliche Patron nur? Wittmann spie angeekelt aus. Dann ging er hinter den Spielern her in die Kabinen. Die Stimmung bei der Turbine-Mannschaft war auf dem Nullpunkt an gelangt. Eine Atmosphäre, als sei die Luft elektrisch geladen, schwebte in dem engen Raum. Die jungen Spieler, die auch heute mehr als ihre Pflicht getan hatten, sprachen nicht, aber ihre Blicke waren eine Anklage an die Stars, die glaubten, auf ausgetretenen Wegen, unter sturem Beharren an
ihren im Zeitlupentempo zum besten gegebenen Mätzchen und „aus dem Stand" zum Erfolg zu kommen, die Trainer Wittmanns Ratschläge besten falls rein äußerlich anwandten, es aber ganz einfach an Bereitschaft, an Kon dition fehlen ließen, um im Wirbel des modernen Spiels mitzuhalten. Kieninger und Bredow ihrerseits sparten nicht mit Vorwürfen. Und selbstverständlich suchte besonders Kieninger die Schuld überall, nur nicht bei sich selbst, nur nicht im eigenen schematischen und erstarrten Spiel. Heinz Wittmann wußte sehr wohl, daß es in solchen Augenblicken dar auf ankam, keine Panikstimmung entstehen zu lassen. Noch war ja nichts verloren. Fünf Spiele mußte Turbine bis zum Ende der Spielzeit austragen. Wenn es gelang, daraus etwa sechs Punkte heimzubringen, so konnte die Rettung vor dem Abstieg möglich sein. Gewiß, ein schwieriges Vorhaben, wenn man bedachte, daß die letzten sechs Spiele nicht einen einzigen Punkt eingebracht hatten und Turbine vom gesicherten achten auf den beäng stigend gefährlichen drittletzten Platz gestürzt war. So war denn Wittmann vor allem auf Hebung der Stimmung aus. „Nun Schluß mit den Anpflaumereien, Jungens", sagte er und lehnte sich ans Fen ster. „Solch eine Umstellung im System geht halt nicht ohne Pannen ab. Man muß Lehrgeld zahlen. Das ist anderen Mannschaften auch so gegangen. Heute klappte es übrigens schon weitaus besser. Ich war eigentlich recht zufrieden. Wenn Bredow und Märten sich schneller vom Ball getrennt hätten . . . " Er brach ab und überblickte die Schar der Spieler. Als sie schwiegen, fuhr er fort: „Unser System steht und fällt nun einmal damit, daß die Halbstürmer mitwirbeln, daß sie nicht stur zurückhängen, nicht aus dem Stand spielen. Wenn schon die Außenläufer sich in das Sturmspiel ein schalten, dann müssen es die Halben erst recht tun! Dazu gehört aber Kon dition und nochmals Kondition." Er blickte zu Bredow, zu Märten, zu Kieninger hinüber. „Die Luft muß halt für neunzig Minuten reichen, Wolf", Wittmann lachte, als wollte er damit den wenigen Worten der Kritik die Schärfe nehmen, „nicht in jeder Halbzeit nur für dreißig oder fünfund dreißig Minuten." Die Augen sämtlicher Spieler richteten sich auf den Stopper der Mann schaft, den vielerfahrenen Wolf Kieninger, dem seit Jahr und Tag kein Trainer mehr etwas zu sagen gewagt hatte. Sie wußten auch, ahnten es zu mindest, daß längst etwas in der Luft lag und nach Klärung drängte. Ob das Gewitter nun niedergehen würde? Es ging nieder! Kieninger lachte schallend auf. „Was? Ich hätte nicht genügend Luft? Daß ich nicht lache. Vielleicht hatten Sie schon, ehe Ihnen die Ehre zuteil wurde ...", er sprach betont ironisch, „diesen Haufen hier zu trainieren, einmal Gelegenheit, in eine Fachzeitung hineinzusehen. Dann wüßten Sie nämlich, daß Kieninger so ziemlich als der ausdauerndste Spieler aller deut schen Ligen gilt. Aber ...", er lachte wieder hart und trocken auf, „ich
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wundere mich hier schon über gar nichts mehr. Außerdem habe ich die Nase seit langem voll. Gründlich voll." Heinz Wittmann spürte, daß es sich hier nicht um einen momentanen Ausbruch, um einen vielleicht sogar verständlichen Ausbruch nach ver lorenem Spiel handelte. In diesem entscheidenden Augenblick ging es um die ganze Mannschaft, um den Bestand und die innere Festigkeit der ersten Elf von Turbine Berlin. Wann jemals hätte eine Mannschaft mit solcher Ein stellung, wie sie Kieninger hier bewies, mit Spielern, denen es so augen fällig an Bewußtsein fehlte, Spiele gewonnen? Die Stimme des Trainers wurde messerscharf. „Was soll das heißen, Kieninger? Wie soll ich das verstehen? Sind für Sie die Beobachtungen, die Erkenntnisse des Trainers Ihrer Mannschaft nicht verbindlich?" Der Stopper hielt dem Blick stand. „Nun, wenn Sie's so genau wissen wollen: Ich habe die Schurigelei, das Führen am Gängelband satt. Schließlieh bin ich auch kein heuriger Hase mehr auf dem Fußballplatz. Neue Methoden ...! Sowjetische Erfahrungen ...!" Jedes Wort war nun offener Hohn. „Als ob wir früher mit geschlossenen Augen Fußball gespielt hätten. Sechs verlorene Spiele hintereinander. Es ist ein Skandal. Hatten wir denn im vergangenen Jahr Abstiegssorgen?" Er wendete sich an die anderen. „Hatten wir nicht eine mustergültige Kameradschaft, solange wir unseren Stil spielten? Ohne neue Methoden?" Der kleine Wagner sprang auf. „Kieninger, das ist Blödsinn, was du da sagst. Es sind nicht Wittmanns Trainingsmethoden, die uns die Niederlagen bringen, es ist vielmehr die Einstellung gewisser Spieler zu diesen, solcher Spieler, die sich nicht einzuordnen vermögen, die kein Bewußtsein haben und die sich auch nicht im geringsten darum bemühen. Ohne Bewußtsein aber wird jede Methodik zum bloßen Schema, zur Schablone. Und wen ich damit meine, das weißt du - glaube ich - ganz genau." „Grünschnabel", sagte Kieninger wegwerfend. „Ich habe schon Fußball gespielt, als du noch im Steckkissen lagst. Fragen wir doch die Spieler vom alten Stamm des Spindlersfelder VfB. Nun los, Bredow, Märten! Sprecht schon. Es ist ein Aufwaschen." Die Jungen gruppierten sich um Wittmann. Und nun, da sie sahen, wie der Hase lief, schlugen sie desto überzeugter in 'Wagners Kerbe. „Wir glauben, entscheidend ist, wer das meiste für die Mannschaft leistet. Und zwar im gegenwärtigen Augenblick. Verdienste, die zurückliegen, sind gut. Ohne Zweifel. Doch wir dürfen uns nicht auf die Vergangenheit beschränken. Wir leben heute!" Der Trainer hatte die Hand erhoben. „Bredow, Märten! Was sagt ihr dazu? Kieninger hat euch zu Zeugen angerufen. Seid auch ihr der Meinung, daß unser methodischer Spielaufbau wertlos ist?" Der immer etwas ausweichende Bredow zuckte die Schultern: „Ganz so kraß möchte ich es nicht ausdrücken. Immerhin, besser war's im vorigen Jahr schon." 9
„So? Es war besser? Und warum? Weil jeder beim Training im Grunde tat, was er wollte! Weil es nicht einmal genau darauf ankam, ob man über haupt erschien!" Wittmann stand nun wie ein Kampfhahn vor den dreien. „War es besser, im Durchschnitt zu versacken?" „Aber es wurden doch Spiele gewonnen. Vierzehn Spiele! Mehr als in diesen beiden Serien zusammen. Voriges Jahr standen wir im Mittelfeld. Ich denke, das ist entscheidend", schaltete sich Märten ein. „Der Durchbruch zur reinen Klasse kostet Federn, sagt eine ungarische Fußballerweisheit. Die Umstellung im System fiel zudem in eine heikle Periode der Meisterschaftsspiele. Solche Rückschläge überwindet man aber nicht, indem man sich schmollend in die Ecke stellt." „Aha, man überwindet sie wohl durch den Abstieg, wie?" Heinz Wittmann musterte den Mittelverteidiger scharf. „Sie sind un sportlich, Kieninger. So kann man über solche Dinge nicht sprechen. Suchen Sie sich bessere sportliche Ratgeber als Herrn Hasselroth. Ich rate es Ihnen." Der Trainer wendete sich an Pepi Wagner. „Und ihr? Was meint ihr dazu?" „Ich . . . " Wagner verbesserte sich, „wir sind der Meinung, daß der ein geschlagene Weg, ja, nur dieser allein, zum Erfolg führen muß." Der kleine Außen sprach für die jungen Spieler. Es überlief den Trainer warm. Diese Jungen, diese prachtvollen Jungen, die seit Wochen sein ganzer Stolz waren, standen zu ihm, vertrauten ihm! Sollte er da vor einzelnen Stars kapitulieren, die versuchten, die System losigkeit der Vergangenheit, die individuelle Schlamperei und den Per sonenkult zu erneuern und zu verewigen? „Wir werden uns über eure grundsätzliche Einstellung zur Sache unter halten müssen", sagte er, zu Kieninger gewandt. „Aber natürlich nicht jetzt, sondern im Beisein aller Mitglieder der Sektion. Ich glaube, das ist auch in eurem Sinne." Kieninger sah ihm frech ins Gesicht. „Unterhalten? Ich wüßte nicht, worüber wir uns noch unterhalten sollten. Anderswo wird auch Brot ge backen. Und nicht nur hier." Die drei waren umgezogen. Kieninger stieß die Tür auf. „Ich glaube, wir haben hier nichts mehr verloren. Bredow, Mär ten - kommt!" Die beiden trotteten hinter Kieninger drein. Es schien ihnen nicht recht wohl dabei zu sein. Aber wer A sagt, muß wohl auch B sagen? Mit hartem Krach fiel die Tür ins Schloß. Der Kalk rieselte von der Decke, und es wurde totenstill im Raum. Doch diese Stille war ganz anders als jener unheil schwangere, lastende Alpdruck, als Wittmann vorhin in die Kabine trat. Drei Spieler, drei bekannte und erfahrene Spieler der BSG, hatten sich ent schieden, eigene Wege zu gehen. Ein schwerer Verlust für die Mannschaft, ohne Zweifel. Und doch, war es nicht, als hätte sich das Gewitter verzogen, als bräche die Sonne durch dunkle Wolken? Heinz Wittmann blickte sinnend vor sich hin. Er hatte einen Fehler be gangen. Das wurde ihm nun klar. Die Auseinandersetzung mit Kieninger 10
mußte kommen - das stimmte wohl. Doch nicht jetzt, so kurz nach dem Spiel! Er hätte sich nicht herausfordern lassen dürfen. Der Trainer fühlte, er mußte die Jungen aufmuntern. Er ging zwei Schritte auf Wagner zu und klopfte dem Blondschopf auf die Schulter. „Jungens, diesen Aderlaß danken wir dem sauberen Herrn Hasselroth. Jetzt kommt es auf uns, auf euch an. Ihr könnt spielen, glaubt es mir. Jeder einzelne von euch beherrscht schon jetzt die technischen Finessen, hat das notwendige Ballgefühl. Es gibt wenige, die euch darin etwas vormachen könnten. Was noch fehlt, ist das traumhaft sichere Er fassen der Situation, ist die Erfahrung und die richtige Anwendung der Methodik. Doch das werdet ihr lernen! Gerade jetzt, in diesen harten Kämp fen, wo es um alles geht, wollen wir Herrn Hasselroth den Triumph nicht gönnen, daß unsere BSG absteigt. Nun erst recht nicht!" Am Montagmorgen saß Benno Eberhardt an seinem Arbeitsplatz im Personalbüro des Trafo-Werkes. Hier, an dem hellgelben, abgenutzten Schreibtisch im ersten Stockwerk des Verwaltungsgebäudes liefen die Mel dungen aus den einzelnen Abteilungen zusammen, und Benno Eberhardt war es, der immer am ehesten wußte, wer von der Mannschaft erkrankt und nicht spielfähig war, mit wem man rechnen oder nur bedingt rechnen konnte. Der kleine Eberhardt gehörte nicht ausgesprochen zum Nachwuchs, aber er war auch nicht einer von denen, die schon in der ersten Mannschaft des alten VfB gespielt hatten, wie Kieninger, wie Märten und Bredow. Immer hin kannte er die Ära Hasselroth recht gut und wußte um die Machen schaften des alten Vorsitzenden. Aber jeder erkannte diese anscheinend nicht, vor allem nicht Märten und Bredow. Dabei waren sie keine üblen Burschen. Sie konnten nicht nur spielen, sondern galten auch sonst als anständige Kerle. Nur etwas zu bieg sam waren sie, und sie unterlagen zu leicht denEinflüssen von Wolf Kieninger. Ja, der Kieninger. Er, schon vor zwölf Jahren als talentierter Jungspieler der verhätschelte Star des dicken Hasselroth, war ein besonderer Fall. Was hatte man nicht alles versucht, Wolf Kieninger in die rechten Bahnen zu leiten? Doch immer wieder gingen Gerüchte um Kieninger, Gerüchte, die von Westverbindungen wissen wollten, von dunklen Geschäften und un klaren Manipulationen. Und ohne daß Eberhardt es positiv wüßte, ver mutete er hinter all dem die feinen Drähte Johannes Hasselroths. Das Telephon schrillte durch die Stille des Zimmers. „Personalbüro. Eberhardt." Die Fahrbereitschaft meldete das Fehlen von Wolf Kieninger und Erich Bredow. „Danke", sagte Benno Eberhardt und legte den Hörer auf. Dann blickte er eine ganze Weile nachdenklich vor sich hin, und seine Gedanken waren eigentlich mehr bei Johannes Hasselroth als bei seinen beiden Opfern. Eberhardt hatte gerade den Meldebogen ausgefüllt, als es anklopfte und ein Bote aus der Werkhalle IV eintrat. 11
„Willi Märten ist nicht gekommen, soll ich bestellen", krähte er mit hoher Jungenstimme. Auch er war Fußballer und blickte besorgt drein. „Ich weiß", erwiderte Eberhardt in Gedanken und wurde erst aufmerk sam, als der Junge fragt: „Wieso? Ist etwas passiert?" Der kleine Eberhardt zuckte die Schultern. „Es könnte sein, Karli." Eberhardt griff, kaum daß der Junge die Tür hinter sich geschlossen hatte, erneut zum Telephonhörer. „Geben Sie mir bitte den Kollegen Wittmann. Den Trainer, ja!" Und als er gleich darauf die vertraute Stimme hört: „Kannst du mal zu mir her überkommen, Heinz? Es handelt sich um . . . " „Kieninger, Märten und Bredow", ergänzte der Trainer. „Woher weißt du?" „Ich weiß nichts. Ich denke es mir." „Hm! Also, kannst du kommen?" „Ich komme." Kaum drei Minuten später saßen sich die Männer gegenüber. „Du weißt, was das bedeutet, dieses Fehlen der drei?" Der Trainer nickte. „Sie müssen ihre Erfahrungen machen, Benno. Nur", Heinz Wittmarm wurde nachdenklich, „es tut mir um Märten leid und besonders um Bredow. Beide hätten sich diese Lehre, die sie nun be kommen werden, ersparen können." Benno Eberhardt blickte noch immer geradeaus. „Wir müssen jedenfalls künftig ohne die drei auskommen." Heinz Wittmann ging im Zimmer auf und ab. „Über die Aufstellung sprechen wir am Mittwoch, nach dem Training." Wieder schlug das Telephon an. Mechanisch nahm Eberhardt den Hörer ab. Dann hörte man abwechselnd sein „hm" und „ja". Wittmann war mitten im Zimmer stehengeblieben. Er fühlte, daß es hier um die Spieler ging, oder zumindest um einen von ihnen. „Willi Märten wird von seiner Wirtin entschuldigt. Er ist krank", sagte Eberhardt endlich. Der Trainer legte den Kopf schief. „Wir werden's ja sehen", erwiderte er, und sein Händedruck war fest wie immer. Beim Mittwoch-Training der BSG Turbine Berlin gab es eine Über raschung. Willi Märten, der Halbrechte, erschien wieder! Er tat, als wäre nichts geschehen, als wäre er niemals an der Seite Kieningers und Bre dows mit so deutlich vernehmbarem Krach aus der Umkleidekabine ge gangen. Märten packte mit größter Selbstverständlichkeit seinen Trainings anzug, seine Knieschützer und „Toppe" aus und begann leise vor sich hinzupfeifen. Das geschah zweifellos aus Verlegenheit. Doch Wittmann und all die anderen hüteten sich wohi, auch nur ein einziges Wort darüber oder über die Ereignisse am Sonntag zu verlieren. Wer seinen Fehler einsah, War ihr Kamerad und wurde auch als Kamerad behandelt. 12
Trainer Wittmann schenkte seinen Jungen nichts. Er nahm sie hart heran. Am späten Abend dann, nach dem Abschluß des Trainings, sah er immerhin ein wenig klarer. Durch Willi Martens Einsicht behielt der junge Sturm seine „Korsett stange". Ein erfahrener Spieler der alten Garde würde weiterhin Regie führen, und - so bedauerlich auch in diesem Augenblick der Abgang von Bredow sein mochte - die Schwierigkeiten bei der Besetzung der halb linken Position bereiteten Wittmann längst nicht so viel Sorgen, wie es im Falle des Austritts von Märten der Fall gewesen wäre. Hier konnte man bei spielsweise Werner Bürger einsetzen. Er war zwar erst neunzehn Jahre alt, galt aber bereits als „ausgefeilter Techniker" und besaß ein verblüffendes Ballgefühl. Allerdings war Bürger noch ungewöhnlich schmalbrüstig und benötigte gut und gerne zwei Jahre zur Reife. Nun, es würde sich erweisen, ob der Junge bereits robust genug war, oder ob die knochenharten Ver teidiger der Oberliga ihm den Schneid abkaufen würden. Für Kieninger aber konnte am nächsten Sonntag Toni Klager eingesetzt werden. Er hatte vor zwei Wochen eine Knöchelverletzung auskuriert und in der zweiten Mannschaft gute Kondition bewiesen. Toni Klager war zwar keine spielerische Offenbarung. Er galt als typischer Ersatzspieler und treuer Kämpfer, wirkte auf so ziemlich allen Posten und versagte eben sowenig jemals, w*ie er nie zu besonderen Leistungen auflief. Immerhin war mit dieser Umbesetzung die Schwächung auf das Mindest maß begrenzt. Und ob es überhaupt eine Schwächung sein würde, das mußte die Zukunft lehren. Auf alle Fälle brachten Bürger und Klager eine ganz andere Bereitschaft mit, als es letzthin bei Kieninger und Bredow der Fall gewesen war. Am Freitag würde der Trainer die beiden nun noch einmal vornehmen, und die Tips Heinz Wittmanns waren wohlüberlegt. Er kannte alle Ober ligamannschaften aus eigener Anschauung, registrierte gewissenhaft ihre Formschwankungen und Besonderheiten. Daraus ergaben sich dann mit unter Hinweise, die nicht mit Gold aufgewogen werden konnten. Eins jedenfalls war unzweifelhaft erreicht worden, und das durfte man beileibe nicht unterschätzen: Der Geist der Mannschaft, das Bewußtsein jedes einzelnen Spielers standen nun auf einem Niveau, das noch vor wenigen Tagen unerreichbar schien. — Nach dem Training, beim Verlassen der Waschräume, prallte Wittmann beinahe mit Wagner zusammen. „Na, Pepi. Wie sieht's aus am Sonntag?" fragte er. Die weißen Zähne des Jungen blitzten. „Wir werden's schon schaffen. Nun erst recht!" Am gleichen Abend, da Wittmann mit seinen Jungen die neue Mann schaft zusammenschweißte, traten zwei schlaksige Burschen, denen der Kundige sofort den Fußballer ansah, in die Gaststube eines Tempelhofer Speiselokals. Es war jetzt kurz nach acht Uhr und noch ziemlich ruhig in 13
dem hellerleuchteten Raum. An den Wänden baumelten einige Spanner mit Zeitungen, darunter die Westberliner „Fußballwoche", der „Telegraf" und der „Abend". „Zwei Bock, zwei Kognak", bestellte der eine der Burschen und streckte die Beine weit von sich. „Hast du denn Westgeld?" fragte sein Gegenüber. „Du bist ein Anfänger, Erich. Das Westgeld haben Hasselroth und seine Leute. Genügt das nicht? Schließlich wollen sie etwas von uns und nicht wir von ihnen. Man soll sein Fell so teuer wie möglich verkaufen. Laß die ,ollen Titanen' nur ruhig blechen!" Erich Bredow war unangenehm berührt. Was für einen Ton Kieninger mit einemmal anschlug! Gewiß, Wolf war noch niemals ein Kind von Traurigkeit gewesen. Doch dies hier mutete wie ein billiger Kuhhandel an und nicht wie die Aufnahme in einen Fußballklub, der sich doch immer hin einiges darauf zugute hielt, zu den ältesten und ruhmreichsten deutschen Vereinen zu zählen. Kieninger griff nach der „Fußballwoche" und blätterte ein Weilchen darin. Dann nahm er den „Abend" vom Haken, und plötzlich lachte er auf. „Hör zu!" Der Ober kam, setzte zwei Glas Bockbier und zwei doppelte Kognaks ab. „Wie immer! Hasselroth übernimmt's", sagte Kieninger großspurig. „Gewiß, gewiß", dienerte der Ober. „Übrigens, haben Sie schon gelesen?" Er wies auf den „Abend". „Stimmt das nun so, oder ist's eine Ente?" „Nee, nee, stimmt schon. Die Absetzbewegung ist abgeschlossen. Mit Er folg abgeschlossen!" grinste Kieninger. Er setzte sich in Pose und begann vorzulesen. „DDR-Fußballstars nach Westberlin geflüchtet. Die beiden be kannten Spieler der ostzonalen Mannschaft Turbine Berlin, Wolf Kieninger und Erich Bredow, sind nach Westberlin geflüchtet und sollen die Absicht haben, sich dem BFC Titania anzuschließen. Nach unseren Informationen war Verfolgung aus politischen Gründen das Motiv zu der sensationellen Flucht." Erich Bredow lief es eiskalt über den Rücken. „Aber das ist doch gar nicht wahr, Wolf. Das ist doch . . . " Der Ober sah ihn überrascht an. Seine Miene wechselte von tiefer Be friedigung zu ebenso ausgeprägtem Mißtrauen. Doch da fuhr auch schon Wolf Kieninger seinem Gefährten über den Mund. „Sie müssen das ver stehen", sagte er entschuldigend. „Mein Freund Bredow kann es noch gar nicht fassen, im freien Westen zu sein. Er ist so daran gewöhnt, die Schnauze zu halten, daß er es auch jetzt noch nicht wagt, seine Meinung zu sagen." „Ja, ja", meinte der Ober liebedienerisch. „Furchtbar müssen dieser Zwang, diese seelischen Qualen sein." „Das kann man wohl sagen!" Doch wer Kieninger und Bredow hier sitzen sah, körperlich in bester Verfassung, jetzt schon, im März, braungebrannt von der Sonne im 14
thüringischen Trainingslager, mußte sich seine eigenen Gedanken machen. Und das tat nun sogar der Ober, hier im Tempelhofer Verkehrslokal des BFC Titania 88. Johannes Hasselroth schoß prustend durch den Friesvorhang am Ein gang des Lokals. Sein halbsteifer Hut war weit in den Nacken geschoben. Er hatte es eilig, wie immer. „Das ist gut, daß ihr schon hier seid'1, platzte er heraus, sah den „Abend" auf dem Tisch, liegen und tippte mit seinem dicken, fleischigen Zeigefinger auf die Notiz über Kieningers und Bredows angebliche Flucht. „Saubere Arbeit, wie? Tja, so arbeitet unsere Pressestelle. Umsonst hat die alte Titania da nicht einen gewissen Johannes Hasselroth zu sitzen." Er lachte schallend. „Bredow erschrak darüber, als begegne ihm der schwarze Mann", hieb Kieninger in die gleiche Kerbe. „So?" Hasselroths Kichern verstummte. Seine Augen bekamen einen lau ernden Ausdruck. Die Lider zuckten leicht. „Nun ist's zu spät", sagte er, und es schien Erich Bredow, als klänge die unverhohlene Drohung aus den Wor ten: „Nun ist's zu spät. Auf solche Rückkehrer wartet man drüben gerade." Erich Bredow senkte den Blick. Hatte er nicht A gesagt? Mußte er nun nicht auch . . . ? Wie oft war ihm dieser Gedanke in den Tagen seit Sonntag gekommen. Er verfolgte ihn bis in den Schlaf, ließ ihn nicht los, keine Minute. Der Dicke setzte sich auf einen der Stühle. „Drei Doppelte, Heinrich", rief er dem Ober zu. Er atmete schwer und stützte beide Ellenbogen auf die Tischplatte. „So, nun wollen wir erst mal das Geschäftliche erledigen." Er holte eine Brieftasche hervor und entnahm ihr sechs engbeschriebene Bogen. „Das sind die Verträge in dreifacher Ausführung. Über die Einzelheiten haben wir uns ja bereits unterhalten, Wolf. Du kannst das dem Erich noch mal erklären, falls du es bisher nicht getan hast. Jetzt brauchen wir das wohl nicht durchzukauen. Den Zuzug für Westberlin besorgt euch unser Vereinsvorsitzender. Er hat beste Beziehungen nach oben. Wohnung, also vorerst ein Zimmer, bekommt ihr zum fünfzehnten. Alles schon klar." Er richtete sich auf und sagte pathetisch: „Na, wie arbeiten wir?" „Großartig", beteuerte Kieninger wunschgemäß. Erich Bredow aber wagte noch eine Frage. „Und wie sieht's mit der Arbeit aus?" „Mit der Arbeit?" Hasselroth tat, als sei eine so unsinnige Frage noch niemals an ihn gerichtet worden. „Ich verstehe immer Arbeit. Mensch, du bist Vertragsspieler. Was willst du da noch arbeiten?" Doch Bredow war damit nicht ganz zufrieden. „Wenn man sich aber mal verletzt, wenn man nicht mehr spielfähig ist? Außerdem wurde bisher immer davon gesprochen, daß uns auch eine Arbeitsstelle vermittelt würde." Mit solchen Einwänden schien Hasselroth nicht gerechnet zu haben. Er druckste ein Weilchen, dann plötzlich erhellte sich sein feistes Gesicht. „Tja, man merkt halt, daß ihr aus dem Osten kommt. Du mußt dich erst 15
akklimatisieren, mein Junge. Hier gibt es soziale Unterstützungsfonds und karitative Verbände jeder Art, da kommt kein Mensch um, selbst wenn er als Vertragsspieler nicht mehr spielfähig ist. Außerdem . . . " „Als wenn's auf die Arbeit ankommt", warf Kieninger zynisch ein. „Ihr glaubt gar nicht, mit wie wenig Arbeit ich auskommen kann." Er lachte laut und unangenehm. Bredow wurde es immer unbehaglicher. Er fühlte sich verlassen und verraten. Die Gedanken wanderten zu Märten, der bereits am Dienstag seine Befürchtungen zu ihm geäußert hatte und gleich wieder zu rückgegangen war. Doch er, Erich Bredow, fand auch jetzt noch nicht die innere Kraft, das Gewebe von Lug und Trug zu zerfetzen und die allein richtigen Konsequenzen zu ziehen. Johannes Hasselroth hatte indes Wolf Kieninger die Verträge zu geschoben. Der Mittelläufer ergriff den Füller, überlegte keinen Augenblick und setzte seinen Namen unter die drei Schriftstücke. Nun war die Reihe an Bredow. Der Füller brannte in seinen Fingern. Doch was sollte er tun? Er war ja geflüchtet. Aus „politischen Gründen", wie es da eben Kieninger aus der verlogenen Verlautbarung des „Abend" vorgelesen hatte. „Nun los!" drängte der Freund. „Auf was wartest du noch? Glaubst du, durch langes Zögern deinen Preis zu erhöhen?" Kieninger und Hasselroth lachten erneut überlaut und gezwungen. Nun gab es wohl keine Wahl mehr. Bredow setzte die Feder an und unterschrieb. Der dicke Hasselroth zog ihm die Verträge unter den Händen weg, ehe noch die Tinte trocken war. So billig hatte der BFC Titania 88 schon lange keinen Star mehr ein gekauft. Mitten in der Nacht - es hatte bereits zwölf geschlagen, und draußen verlöschten die Lichtreklamen - traten Johannes Hasselroth und Wolf Kie ninger aus einer Nachtbar an der Joachimsthaler Straße. Sie hatten beide starke Schlagseite, und Hasselroth fiel das Sprechen schwer. „Ist ein naives Schaf, der Bredow", lallte er. „Das war ein lohnender Job für dich, mein Lieber. Sei nur zufrieden", entgegnete Kieninger. „Eigentlich solltest du dafür noch extra etwas sprin gen lassen." „Extra? Haben wir nicht schon den ganzen Abend auf meine Rechnung...?" „Saufen allein macht nicht selig." „Na, und die Fuhren mit meinem Wagen? Bringen die etwa nichts ein?" „Ist schließlich auch 'ne verdammt gefährliche Sache. Und jetzt, als Flüchtling ...", er grinste, „ist es damit ohnehin aus." „Dann findet sich was anderes. Ein guter Coup liegt immer auf der Straße, wenn man die richtigen Verbindungen hat. Du bist jedenfalls ein smarter Junge, Wolf. So etwas liebe ich." „Schade, daß der Märten wieder abgesprungen ist. Wir hätten ihn gut gebrauchen können." 16
„Der Junge ist weich wie Plumpudding und hat zuviel Hemmungen. Trotzdem - über kurz oder lang zieh ich ihn doch herüber." Sie gingen bis zum nächsten Taxenhalteplatz. „Wie lange willst du selbst denn noch drüben bleiben, Hannes?" Der dicke Hasselroth lachte selbstsicher. „Wer tut mir drüben etwas? Solange meine Beziehungen hinhauen, solange ich nach zwei Seiten hin lan cieren kann, geht doch alles in Ordnung. Die Stoffe werden im Osten ein gekauft und gehen als legales Interzonenhandelsgut nach Westberlin. Das alles zudem noch auf Johannes Hasselroths eigenem Wagen. Bitte! Größer kann die Quote doch gar nicht sein. Ich wäre ja blöde, wollte ich gerade jetzt endgültig nach dem Westen." „Und in dieser Schaukel sollte für Kieninger künftig kein Platz mehr sein?" „Aber Wolf." Hasselroth gab sich sehr jovial. „Hast du denn mit den Transporten nicht genug verdient? Nun ist's für dich damit aus. Schön, wir werden was anderes finden." Sie standen nun vor den Taxen. „Weißt du was?" sagte da plötzlich Kieninger. „Na?" „Ich habe Durst. Und was für einen!" Johannes Hasselroth kicherte. „Dem kann abgeholfen werden." Er drehte sich auf dem Absatz und kam ins Wanken. Das Neonlicht eines Cafes strahlte in die Finsternis. „Und so zieh'n wir mit Gesang ...", begann der dicke Hasselroth. Seine Stimme klang heiser und brüchig. Dann torkelten die beiden durch die Klapptür. Am Sonntag, genau um 15.30 Uhr, liefen die Mannschaften von Turbine Berlin und Empor Riesa ins Stadion Lichtenberg ein. Für die Riesaer stand nicht ganz soviel auf dem Spiel wie für Turbine. Die Mannschaft nahm einen gesicherten Mittelplatz ein und konnte es sich leisten, ohne nervliche Belastung ins Treffen zu gehen. Entsprechend war auch das Spiel. Flüssig, leicht und unbeschwert bei Riesa, übernervös und verkrampft bei Turbine. Den Berliner Verteidigern gelang kaum ein ein ziger klarer Schlag. Sie steckten durch ihre Unsicherheit auch den Torwart an. Er ließ mehrere gar nicht einmal sonderlich schwierige Bälle fallen, faustete, wenn er fangen mußte, und fing im dichtesten Gewühl, wenn es weitaus sinnvoller gewesen wäre, die Fäuste zu gebrauchen. Toni Klager versuchte zwar Ordnung in das Deckungsschema zu bringen und schlug weg, was nur irgendwie in seine Reichweite kam, aber es schien eben doch nur eine Frage der Zeit, wann die Treffer der Riesaer wie reife Früchte fallen würden. Vom Sturm erhielt die schwerschuftende Hinter mannschaft der Turbine-Elf zudem kaum Entlastung. Der kleine Wagner, sonst einer der Zielstrebigsten, sah buchstäblich keinen Ball. Bürger 17
„fummelte", und wenn einer der Verteidiger ihm zu nahe kam, „kniff" er gottserbärmlich. Die große Zahl der Anhänger Turbines starrte schweigsam auf die Spielfläche hinunter, und die wenigen Parteigänger Riesas, die ihre Mannschaft begleitet hatten, machten Lärm für ein paar tausend. In der zweiundzwanzigsten Minute war es dann soweit! Die Riesaer kamen auf dem rechten Flügel durch. Ihr Außen flankte. Der Mittel stürmer ließ geschickt passieren, und nun stand der Halblinke in kaum fünf Meter Abstand ganz frei vor dem Turbine-Tor. Vielleicht, wenn Torwart Grosser sich sofort von der Linie gelöst hätte . . . Er zögerte aber, und schon zappelte das Leder im Netz. 0:1. Das Begräbnis allererster Güte schien zu beginnen. Zwar straffte sich nun das Spiel Turbines. Die Verteidiger wur den sicherer, das Läuferspiel aufmerksamer, und auch der Sturm stieß des öfteren aussichtsreich vor. Doch alles in allem diktierte „Empor" auch weiterhin das Geschehen, spielte sein Spiel, ohne allzu große Einengung seitens der Turbine-Elf. In der einundvierzigsten Minute - schon hoffte man, wenigstens ohne weiteren Torverlust die Pause zu erreichen - entstand ein beängstigendes Gewühl im Turbine-Strafraum. Eine Vielzahl von Beinen mühte sich um den Ball. Da trudelte das tückische Objekt Toni Klager vor die Füße. Er wollte es kurz zum Torwart zurückgeben. Doch Grosser war bereits unter wegs, und flach glitt das Leder unmittelbar an ihm vorbei ins Netz. 0:2! Durch ein Selbsttor des unglücklichen Klager! Es war nur gut, daß die Pause kam. Turbine schien aus allen Fugen. Man spielte schwach wie lange nicht, und Heinz Wittmann, der trotz aller äußer lichen Ruhe aufgeregt war, schüttelte ein ums andere Mal den Kopf. Wo waren die guten Vorsätze seiner Jungen, wo aller Eifer und alle Kampf entschlossenheit? In der Kabine gab Wittmann nun die Order für die zweite Halbzeit. 0:2, das bedeutete ja beinahe die sichere Niederlage. Es war also nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen. „Ruhiger werden, Jungens! Viel ruhiger. Ihr seid während der gesamten ersten Hälfte ein einziges Nervenbündel gewesen. So kann's nicht klappen. Wir werden nun stürmen. Mit allen Kräften! Und laufender Stellungs wechsel! Beide Außenläufer schalten sich von Anfang an ins Sturmspiel ein und pendeln gegebenenfalls sofort wieder in die Deckung zurück", befahl Wittmann. „Und dann aus allen Rohren schießen. Verstanden? Das kurze Hin- und Hergespiele ohne Saft und Kraft hört jetzt auf. Sonst könnt ihr heute noch die Oberliga quittieren." Oh ja, sie verstanden ihn. Sie hatten es ja selber gemerkt, wie auseinander sie waren. Die Nerven! Die Nerven! Als der Schiedsrichter zum Wiederanpfiff an die Tür pochte, erhob sich Pepi Wagner als erster. Heinz Wittmann klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. „Los Pepi! Du weißt doch: nun erst recht!" Ehe aber der Umschwung kam, hätte es um ein Haar gleich nach Halb zeit 0:3 gestanden. Die nun etwas gelockerte Hintermannschaft Turbines konnte den angreifenden Innensturm der Riesaer nicht vom Ball trennen. 18
Schließlich wagte der Halbrechte einen knallharten Direktschuß aus zwanzig Metern. Doch Grosser „rettete" so toll, daß man ihm alles verzieh, was er vorher verpatzt hatte. Der höchst wichtige Anschlußtreffer Turbines fiel schließlich wie der Blitz aus heiterem Himmel. Werner Bürger versuchte einen Balltrick, täuschte damit den Riesaer Verteidiger und gab besonnen nach innen. Märten erwischte den Ball so glücklich mit dem Spann, daß Schuß und Einschlag praktisch eins waren. Es stand nur noch 1:2. Und alles war wieder offen! Fast eine halbe Stunde lang rangen beide Mannschaften um die Ent scheidung. Endlich zog Wagner - um vieles besser gegenüber der ersten Halbzeit - unwiderstehlich los. Er hatte bald einen Vorsprung von zwei Metern vor dem ihn verfolgenden Läufer. Gerade als der ihn erreichte, schoß Pepi lang und flach in die äußerste Ecke. Es war ein sehr überlegter, ein sehr eindrucksvoller Treffer, der Turbine zudem gewaltigen Auftrieb gab. Außerhalb und innerhalb der Barrieren lag man sich in den Armen. Unentschieden! 2:2 stand es nun. Und noch zehn Minuten waren zu spielen. In der achtundachtzigsten Minute - wieder in der achtundachtzigsten, wie am Vorsonntag - verwirkte einer der Riesaer Deckungsspieler durch Handspiel einen Strafstoß hart an der Strafraumlinie. Märten legte sich das Leder zurecht, nahm einen weiten Anlauf und schmetterte es, durch eine Lücke in der etwas nachlässig gezogenen Mauer, so völlig unhaltbar ins Netz, daß der Riesaer Torwart nicht einen Finger zu rühren vermochte. Was sich nun im Stadion Lichtenberg tat, ist schwer zu beschreiben. Mit turbulenten, aber erfolglosen Riesaer Angriffen klang das Spiel aus. Turbine hatte erstmals wieder nach sechs Wochen gewonnen, hatte mit neuformierter, blutjunger Mannschaft zwei wertvolle Punkte eingebracht, hatte etwas erreicht, was man am Abend des Vorsonntags für unmöglich gehalten hätte. Zugegeben, es war kein großes Spiel, und eine gewisse Lässigkeit, eine allzu selbstsichere Überheblichkeit der Riesaer, nament lich in der zweiten Hälfte, kam Turbine entgegen. Doch gewonnen war gewonnen. Die einmal gewonnenen Punkte würde niemand den Berlinern streitig machen können. Heinz Wittmann vermochte lange nichts zu sagen, als er bei seinen Jungen in der Umkleidekabine saß. Er ließ die Blicke über die kleine Schar schweifen. Wie „lütt", wie „spillerig" doch einige noch waren! Eher Jungspieler als Mitglieder einer Oberligavertretung der Deutschen Demokratischen Republik. Aus diesen Jungen würde er schon etwas machen, wenn er sie in der Hand behielte. Er würde sie individuell trainieren. Er würde die Periodisierung des Trai nings noch sorgfältiger auskalkulieren, würde in Vorbereitung auf die Spielzeit, in Hauptperiode und Übergang zur Spielpause den denkbar besten Modus zu finden versuchen, um aus den Jungen das Höchstmögliche herauszuholen, ohne sie jedoch überzutrainieren. Da erhob sich der kleine m
/ Wagner wieder, ging auf den Trainer zu und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen: „Wenn Sie nicht gewesen wären, noch vorhin in der Pause — wir hätten auch dieses Spiel niemals gewonnen." Heinz Wittmann winkte bescheiden ab. Eine beinahe festliche Stim mung lag über der nüchternen Umkleidekabine der BSG Turbine Berlin. Der erste Sieg nach sechs Wochen! Der erste Sieg unter widrigsten Um ständen. Wie hatte doch Heinz Wittmann neulich gesagt? „Jetzt müssen wir es schaffen. Nun erst recht!" An diesem Sonntag, nach dem Spiel des BFC Titania 88 gegen den Wil mersdorfer SV, hatte Bredow zum erstenmal Gelegenheit, einen Blick hinter die Kulissen des Westberliner Vertragsligarummels zu werfen. Er erfuhr beispielsweise, daß die Titania zu Beginn dieser Saison achtund zwanzig Spieler unter Vertrag genommen hat und auf manchen Posten dreifach besetzt war. Dazu kam eine Heerschar von Amateuren, und der Trainer hatte die gewiß nicht beneidenswerte Aufgabe, aus diesem Kon glomerat von fertigen Cracks und versprechenden Jungmannen, die aus allen Hirnmeisrichtungen zusammengeströmt waren, die jeweils beste Be setzung herauszufinden. Das ergab zwangsläufig Experimente über Ex perimente, und in den Meisterschaftsspielen verursachte die Mannschaft ihrem zunächst so hoffnungsvollen Anhang eine unliebsame Überraschung nach der anderen. Trainer Ärgert - ein tüchtiger Mann, aber Sklave des gewichtigen Vorstandes - hatte vor den sinn- und wahllosen Spieler einkäufen gewarnt, doch Vereinsvorsitzender Lingenau stellte eigene Be rechnungen an. Ihm ging es ja nicht um den vernünftigen Aufbau der Mannschaft. Er war Aktionär eines großen Betriebes, auf dessen Dach zwar längst der Pleitegeier saß, der sich jedoch durch Kredite nach außen hin noch immer recht respektabel ausnahm. Wenn er, der Herr Direktor Lin genau, nun für Spielereinkäufe sagen wir 25 000 DM aus dem Betrieb her auszog und damit „Titania" zum Meister machte, so amortisierte sich das Kapital in den Spielen um die „Deutsche Meisterschaft" mit - vorsichtig geschätzt - 150 000 Emmchen, und damit konnte Herr Lingenau dann schon wieder etwas anfangen. Nun war die Rechnung allerdings nicht aufgegangen. Titania lag nur an vierter Steile der Vertragsliga, das Verhältnis von Vorstand zu Trainer und Mannschaft war gespannt, die Stimmung unter den Spielern schlecht und die Unzufriedenheit allgemein. Kam doch der einzelne Spieler infolge des „Überangebots" viel zu selten zum Einsatz und damit zwangsläufig um die ersehnten Aktivitäts- und Torprämien. Vom Vertragsligagrundlohn allein aber konnte man beim besten Willen nicht leben. Dem Vorstand, besonders Herrn Lingenau, rauchte der Kopf, und man sah nur einen Weg der Rettung aus dieser Kalamität: Billiger Einkauf von Spielern im Osten, und „Abstoßen" der teuren Stars, deren Eigenwilligkeit zudem jede Mannschaftsbindung unmöglich gemacht hatte. Da war 20
Johannes Hasselroth mit seinen Ostberliner Verbindungen gerade der rechte Mann. Am Ende der vorigen Spielzeit hatte er bereits „Turbines" da maligen schußgewaltigen Mittelstürmer Hellmich den Titanen in die Hände gespielt, und diesmal „vermittelte" er nun um ein Butterbrot den naiven, unerfahrenen Bredow. Leute wie Hasselroth brauchte man. Sie würden schon dafür sorgen, daß der Aderlaß an Spielern im Osten zugunsten der westdeutschen und Westberliner Ligen ein dauernder und wohlorganisier ter blieb. Auch Kieninger war ja im Grunde noch recht billig. Zwar ließ er nicht ganz so schamlos mit sich handeln. Da er aber gleichzeitig „Geschäfts partner" Hasselroths war, stellte sich die „Übernahme" für Titania immer hin sehr „preiswert". Das alles begriff Erich Bredow nun allmählich. Nicht daß es ihm jemand gesagt hätte. So töricht war der Vorstand der ollen Titanen nun wirklich nicht. Doch wer Ohren hatte zu hören, der hörte. Wann jemals hätten unzufriedene Menschen den Mund gehalten? Und das galt naturgemäß erst recht für die verwöhnten Titania-Stars. Erich Bredow kam sich vor wie in einer Unterweltskneipe. Da sprach man mit erschreckender Offenheit vom Angebot eines vom Abstieg be drohten Konkurrenzvereins, das Spiel beider Mannschaften am kommen den Sonntag „zu verschaukeln". Für Titania, so hieß es, sei das Resultat sowieso ohne größeres Interesse, da weder nach oben noch nach unten hin etwas auf dem Spiele stände. Für die anderen jedoch wäre der Ausgang „lebenswichtig". Was ginge einem also ab, wenn man ...? Zumal die Ab stiegsbedrohten sich nicht kleinlich zeigten. Als Erich Bredow und Wolf Kieninger in dieser Nacht gemeinsam der Pension zusteuerten, in der man sie übergangsweise untergebracht hatte, fielen zum erstenmal harte Worte zwischen den langjährigen Mannschafts kameraden. „Das nennst du ein Leben?" sagte Bredow angewidert und spie aus. „Pfui Teufel! Die Gladiatoren im alten Rom hatten es besser. Vor allem, waren sie menschlich nicht so hoffnungslos verrottet." „Du Kindskopf, du lächerlicher Kindskopf! Wo Geld verdient wird, da pulsiert das wahre Leben. Merk dir das! Alles andere ist Phrase", erwiderte Kieninger und legte die Hände auf den Rücken. Da sprach Erich Bredow zum erstenmal aus, was ihn seit Tagen schon bewegte. „Wenn ich das geahnt hätte . . . Wenn ich das nur geahnt hätte . . . " „Es gibt Menschen, die nicht für die Freiheit geboren sind", entgegnete Wolf Kieninger salbungsvoll. „Ich jedenfalls fühle mich hier wohl, sau wohl!" Sie waren vor der Tür der kleinen Pension angelangt, schlössen auf und traten in ihr Zimmer. Erich Bredow war jeder Appetit vergangen. Er warf sein Jackett auf einen Stuhl und begann sich auszukleiden. Wolf Kieninger aber saß schon lange am Tisch und machte sich schmatzend über die beleg ten Brote her. Dazu trank er Bier, viel Bier. 21
„Wolf, du bist als Sportler nicht mehr der Jüngste. Laß das Trinken, sonst war diese Spielzeit gleichzeitig deine letzte." Doch Kieninger lachte nur. „Je mehr ich saufe, desto besser spiele ich." Da ließ Erich Bredow von dem Kameraden ab. Er legte seine Hose zu sammen und hing sie über den Stuhl. Als er sich bückte, um die Schuh riemen zu lösen, bemerkte er einen Zettel, ein Notizbuchblatt, das anschei nend aus seiner Hose gefallen, war. Bredow erhob sich nur so weit, daß ein Lichtstrahl auf den Zettel fiel. Mit Bleistift waren wenige Worte auf das Papier geworfen. Wenige, hastig niedergeschriebene Worte. „Lieber Erich! Ich muß Dich dringend sprechen. Aber so, daß niemand vom Verein etwas davon erfährt. Auch Kieninger nicht. Sei morgen, Montag, um 20 Uhr, im ,Cafe Isola' am Tempelhof er Damm. Kurt Hellmich." Erich Bredow ließ den Zettel wieder in die Tasche gleiten. Kieninger saß noch immer am Tisch, aß und trank. Er kümmerte sich nicht um Bre dow, so restlos ging er in seiner nahrhaften Beschäftigung auf. Erich Bredow war schon lange vor 20 Uhr im „Cafe Isola". Er wußte nicht, was er machen sollte. Kieninger hatte wieder irgendein Geschäft abzuwickeln, mit Hasselroth, wie er sagte. Und daß es dabei nicht sauberer zugehen würde als bei den Tischgesprächen der Titanen, das ahnte Bredow längst. Gestern hatte man sein Handgeld - für Informierte eine lächerlich geringe Summe - ausgezahlt. Das ermöglichte ihm wenigstens diesen Kaffeehausbesuch und ein paar Stunden außerhalb des kahlen, unpersön lichen Pensionszimmers. Was hatte er nur angestellt mit dieser Übersiedlung? Hatte ihn ein Phantom genarrt? Ein geordnetes, ein sinnvolles Leben war von ihm auf gegeben worden, weil er den trügerischen Sirenenklängen vertraut hatte: Den RIAS-Sendungen, den hier und da eingeschmuggelten Exemplaren der Westspresse, den honigsüßen Einflüsterungen so falscher Freunde, wie Hasselroth und Kieninger es waren. Da trat auch schon Kurt Hellmich in das Lokal. Der gleiche Hellmich, der ihm in diesen Tagen stets so auffallend aus dem Wege gegangen war, daß Bredow schon glaubte, er zürne ihm aus irgendeinem Grunde. Heute aber, hier im „Cafe Isola", schien Hellmich alles andere als zu geknöpft. Er war wieder ganz so, wie Bredow ihn kannte. Nur nervös schien er zu sein, übernervös. Seine Hände zitterten, und er sog den Rauch der Zigarette mit der Gier passionierter Raucher ein. „Du hast unterschrieben, Erich?" begann er das Gespräch. „Ich hatte keine Wahl. Du weißt, was im ,Abend' stand. Ich bin jetzt drüben unmöglich. Man sperrt mich ein, sobald ich mich sehen lasse." Hellmich wurde ärgerlich. „Rede keinen Unsinn. Das ist doch alles Quatsch. Denke an Werner, denke an Rebentisch von ,Aufbau' Halle. Die sind auch zurückgegangen. Man hat ihre Angaben überprüft. Sie haben die 22
übliche Spielsperre erhalten. Aber getan? Getan hat ihnen niemand etwas. Auf alle Fälle ist das besser, als sich unglücklich zu machen, wie ich mich unglücklich gemacht habe." Bredow glaubte nicht recht gehört zu haben. „Wie, du hast dich unglück lich gemacht? Du, der hochbezahlte Paradestar der Titania, mit dessen Glück in Westberlin Hasselroth und Kieninger drüben handeln gehen?" „Hasselroth und Kieninger!" Es klang sehr verächtlich. „Die beiden wissen, warum sie das tun. Ein sauberes Pärchen, die zwei, das kann ich dir sagen. Oder glaubst du etwa, der Kieninger wäre jemals hierhergekom men, wenn ihm nicht drüben der Boden unter den Füßen gebrannt hätte?" Und dann packte Hellmich aus. Er wußte viel zu erzählen. Mochte auch Hasselroth verschwiegen sein - Wolf Kieninger plauderte, sobald er ein Glas über den Durst getrunken hatte, und das kam oft genug vor in den letzten Wochen. So erfuhr Bredow, daß Hasselroth einen gewissen Hans Krüger durch gelegentliche Zuwendungen „an der Strippe" hielt. Dieser Krüger saß in einer Dienststelle des demokratischen Magistrats, und durch ihn erhielt Hasselroth seine einwandfreien Ausfuhrbescheinigungen. Auf diese Weise brachte er in aller Offenheit seine Textiltransporte nach Westberlin, wo die Aufkäufer schon darauf lauerten. Wolf Kieninger selber aber war Hasselroths Vertrauensmann. Natürlich auch nicht ohne Grund, denn einem bekannten Sportler öffnen sich manche Türen, die andere nur mit Gewalt aufzubrechen vermögen. Ja, Hasselroth war schon ein kluger Mann. Nun allerdings, so erzählte Hellmich weiter, sei Kieninger wohl doch einen Schritt zu weit gegangen und mußte Abstand zwischen sich und den demokratischen Sektor legen. Daß er dabei seinen Auftraggebern noch eine kleine Morgengabe in Gestalt des Halbstürmers Bredow mitbringen wollte, paßte ganz in die Richtung. Die beiden kamen vom Hundertsten ins Tausendste. „Warum hast du mir das alles nicht eher gesagt?" fragte Bredow. „Ich bin prompt in die Falle gegangen, wie so viele vor mir." „Hast du eine Ahnung, wie man mich von dir zu isolieren versuchte!" Die Empörung Hellmichs brach sich erneut Bahn. „Westliche Freiheit! Es ist die Freiheit der Sklaven auf den Baumwollplantagen und in den Ölraffinerien." Erich Bredow stierte vor sich hin. Kurt Hellmich atmete tief. Er setzte erneut zum Sprechen an, ließ es dann aber. „Wolltest du noch etwas sagen?" Da ermannte sich Hellmich. Eben noch hatte er gezögert. Nun aber, da er den alten Sportkameraden vor sich sah, im besten Zuge, jenen tristen Weg einzuschlagen, den jeder anständige Sportler hier über kurz oder lang zu gehen gezwungen war, sprudelte es aus ihm heraus. Lang aufgespeicherte Empörung und heilige Wut. „Weißt du, was man tun müßte? Zu Wittmann müßte man gehen, mit ihm reden, und - wenn möglich - zurückkehren. Und 93
noch eins", er ballte die Fäuste, „diesem Hasselrath das Handwerk legen. So gründlich, daß ihm Hören und Sehen vergeht." Bredow nickte abwesend. Das wäre schon recht, dachte er. Doch es ging ja nicht. Er war Flüchtling, politischer Flüchtling! Warum eigentlich sollte man ihn drüben verurteilen? Weil er einer Lüge aufgesessen war? Weil man in der Westpresse etwas über ihn verbreitet hatte, um ihm den Rückzug abzuschneiden? Gewiß, er und Hellmich wür den bekennen müssen. Sie würden in dieser Spielzeit drüben nicht mehr zum Zuge kommen. Doch Furcht? Wovor sollten sie sich fürchten? Es war, als sei das Licht der elektrischen Birnen plötzlich doppelt so stark, als scheine draußen die Sonne, als sei es heller Mittag. „Du hast recht, Kurt. Wir gehen zurück." Bredow und Hellmich steckten die Köpfe zusammen. Ein Plan war durch Kurt Hellmichs Worte ausgelöst worden. Sie beide kamen sich nun vor wie Verschwörer. Wie Verschwörer einer guten Sache. . Johannes Hasselroth und Wolf Kieninger kauerten auf einem Barhocker und waren im Gespräch. Dabei tranken sie Gin und rauchten. „Zu dumm, daß du nicht mehr in den Osten kannst, Wolf", klagte der Dicke. „Das Ge schäft wird dadurch erschwert. Wir müssen einen neuen Mann einstellen. Und der kostet nicht nur Geld, er sieht womöglich auch zuviel." Ein bißchen Schadenfreude schien aus Kieningers Zügen zu sprechen. Johannes Hasselroth merkte es wohl. „Außerdem hätte ich es natürlich gern gesehen, wenn du die letzten Spiele Turbines noch mitgemacht hättest." „Warum?" „Nun, ein Stopper nimmt die Schlüsselposition in der Mannschaft ein. Er kann den Spielverlauf einigermaßen lenken, vielleicht sogar korrigieren." Hasselroth lachte hämisch und klatschte sich auf die Schenkel. „Wenn Tur bine absteigt, werden die Spieler billig, mein Lieber. Wir könnten noch diesen oder jenen aus der Konkursmasse brauchen. Ich denke da nach wie vor an Märten, dann auch an Eberhardt, vielleicht sogar an Wagner. Der Junge ist spritzig und hat eine Zukunft." „Doch was anderes", sagte der Dicke. „Am Sonntag machen wir die nächste Fuhre. Acht Tonnen! Den Fahrer habe ich bereits gechartert. Aus hilfsweise vorerst." „Am Sonntag?" wunderte sich Kieninger, denn „Liefertag" war bisher immer der Sonnabend. „Ausnahmsweise", entgegnete Hasselroth und schüttete einen doppelten Gin hinunter. „Der Sonntag ist diesmal der sicherste Tag. Es handelt sich nämlich um eine kitzlige Fracht. Wir haben zwar Papiere, wie immer, aber, du verstehst, Aufstellung und Ladung stimmen nicht ganz überein. Da möchte ich lieber dabei sein. Am Sonntag macht zur fraglichen Zeit ein Be kannter an der Kontrollstelle Dienst. Der weist mich nötigenfalls schon aus." 24
Wolf Kieninger staunte. Ein toller Bursche, dieser Hasselroth. Überall hatte er seine Bekannten zu sitzen. „Hm! Wann übernehmen wir?" fragte er. „Ich nehme doch an, daß ich hier auf euch warten soll?" „Versteht sich. Also hör zu! Um 18 Uhr passiere ich mit der Karre die Kontrollstelle. Um 18.30 Uhr bin ich schätzungsweise hier. Ein lohnender Braten übrigens", fügte er hinzu und schnalzte mit der Zunge. „Das glaube ich. Sonntagsarbeit muß aber auch besser bezahlt werden." Hasselroth kicherte in sich hinein. „Du lernst ganz hübsch hinzu, mein Junge." Die Barfrau schob zwei Gin herüber. „Also nochmal, wann geht's los?" „Sonntag achtzehn Uhr am Brandenburger Tor. Achtzehn Uhr dreißig steigst du zu, und anschließend wird gleich noch geliefert. Dann sind wir die Klamotten wenigstens los! Es wird so viel gestohlen heutzutage." „Top!" Die beiden besiegelten das Geschäft mit kräftigem Händedruck. Dann glitt Kieninger vom Barhocker. „Ich bin müde. Gute Nacht!" „Es war eine anstrengende Woche", heuchelte Hasselroth Teilnahme. Als aber Wolf Kieninger dem Ausgang zustrebte, murmelte er hinter ihm her: „Du wirst mir langsam unangenehm, Bursche. Man sollte sich nach Ersatz umsehen." Am Freitag nachmittag und bis weit in den Abend hinein unterzog Trainer Wittmann seine Mannschaft nochmals einem Training. Es wurde hart gearbeitet in diesen Stunden, und die Jungen spürten ihre Knochen. Gerade war Wittmann damit beschäftigt, Tormann und Sturm im Herein geben von Flankenbällen und Ecken zu trainieren, als auf dem Rasen hinter dem Tor Bewegung entstand. „Hellmich und Bredow", hörte Wittmann die Spieler flüstern, als er am Pfosten stand und die Haltung des Tormanns korrigierte, der eben einen Eckball weggefaustet hatte. Wittmann hörte die beiden Namen nennen, aber er machte sich keine Gedanken darüber. Als der Trainer sich umwendete, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Dort, über die Steinstufen des Stadions, stiegen langsam zwei junge Männer in hellen Sakkos zur Spielfläche hinab. Sie blickten etwas unsicher drein, aber jeder kannte sie, kannte sie seit Jahren von den Berliner Fuß ballfeldern her: Kurt Hellmich und Erich Bredow. Dem Trainer entglitt die Trillerpfeife. Sie baumelte nun an der gewirk ten Strippe. Wittmann bückte sich und kroch unter der. Barriere hindurch. Auch die „Reservisten" eilten hinzu. Mit Mienen, aus denen das ungläubige Staunen sprach, gingen sie auf beide zu. Wittmann erreichte sie als erster. Der Schalk blitzte aus seinen Augen: „Auf Besuch aus dem goldenen Westen?" Die beiden lächelten wie dumme Jungen. Bredow winkte ab, und Hell mich sagte, verlegen von einem zum anderen blickend: „Wir möchten mit euch reden. Doch jetzt wird das wohl nicht gehen?" 25
„Warum nicht?" entgegnete Wittmann sofort und sah sich um. Freudig erregte, abwartende Gesichter umgaben ihn. „Oder ist jemand anderer Meinung?" Man ging zu den Umkleidekabinen hinüber und hockte sich auf Bänke und Stühle. Die Blicke der Turbine-Spieler waren auf Hellmich und Bredow gerichtet. Der ehemalige Mittelstürmer, der nun eine ganze Spielzeit beim BFCTitania88 wirkte, der die Methoden des Vertragsspielerunfugs kennen gelernt hatte, räusperte sich. Er fühlte die Blicke der Kameraden und wußte, daß er nun sprechen mußte. „Wir möchten zurück", stieß Hellmich hervor, und er blickte dem Trainer offen ins Gesicht. „Was meint ihr dazu? Können wir mit eurer Unterstützung rechnen?" Es war totenstill für Augenblicke. „Wir haben eine Dummheit begangen", sagte nun auch Erich Bredow. „Es tut uns leid." Heinz Wittmann war ernst geworden. „Wir werden niemals jemanden zurückstoßen, der sich nicht an uns, an unserer demokratischen Ordnung vergangen hat, Freunde. Das zu prüfen, ist natürlich nicht unsere Sache. Doch ...", er blickte sich um, „die Spieler der BSG Turbine werden euch gewiß nichts nachtragen." Dann saßen sie zusammen. Achtzehn Turbine-Spieler und die beiden Rückkehrer. Sie hörten von den Versprechungen und vom wahren Leben der Vertragsspieler in Westberlin. Sie hörten, wie der Mensch zur Ware, zum Sklaven wird, wie Herr Lingenau, der allmächtige Vereinsvorsitzende der Titanen, Kurt Hellmich erst nach einem halben Jahre der Mitglied schaft zum erstenmal die Hand zu geben geruhte, wie Johannes Hasselroth zwischen Ost und West pendelte, wie er das alles durchaus nicht zufällig tat, sondern im Auftrag seiner Hintermänner, die am Auskauf der Sport gemeinschaften der Deutschen Demokratischen Republik nur allzu inter essiert waren. Der Ekel überkam die jungen Spieler. Sie hatten einen Blick ins „Para dies" getan, in das Paradies einer verfaulenden Ordnung. Als man endlich aufbrach, war es zwar nur ein kurzer Trainingstag. Der Nutzen des Ge hörten für jeden einzelnen, für sein künftiges Leben aber könnte nicht größer sein. Vor dem Büfett des Erfrischungskioskes sprachen Bredow und Hell mich den Trainer noch einmal an. „Wir haben noch etwas zu klären, etwas sehr Wichtiges: den Fall Hasselroth!" Heinz Wittmann sah die beiden Spieler aufmerksam an - nickte ihnen aufmunternd zu, dann verließen sie in angeregter Unterhaltung das Stadion. Das Spiel gegen Rotation Leipzig wurde für Turbine zur Zerreißprobe. Heinz Wittmann konnte sich nicht entsinnen, seine Mannschaft jemals vorher so gut spielen gesehen zu haben. Der Sturm wirbelte, daß es eine 25
Augenweide war. Jeder Spieler hatte das Höchstmaß an körperlicher Bereit schaft erreicht, und außerhalb der Barrieren verstummten alle, die Trainer Wittmanns Methode des forcierten Angriffspiels bisher immer glaubten leichthin abtun zu können. Aber gerade, als alles zum Besten ging, als Turbine durch zwei pracht volle Treffer von Eberhardt und Wagner mit 2:0 führte und der Großteil der Zuschauer bereits im stillen zwei Punkte notierte, brach es über die Mannschaft herein. „Lotti" Grosser, der Tormann, riskierte beim Heraus laufen zu viel. Er warf sich dem angreifenden Rechtsaußen von Rotation tollkühn in den Schuß und wurde verletzt. Fünf Minuten wankte er noch in seinem Gehäuse herum, dann - nach einem erneuten Zusammenprall mußte er endgültig vom Platz. Turbine war in größter Verlegenheit. Seit Wochen schon fehlte es an einem vollwertigen Tormannersatz. Wolfgang Mechling, der Schlußmann der „Zweiten", galt als nervenschwach in so bedeutungsvollen Spielen, und die mögliche Verletzung Grossers war schon seit langem Trainer Wittmanns Alpdruck. Nun hatte der Unfall sich tat sächlich ereignet. Noch dazu in einem Augenblick, da das Barometer deut lich auf Schönwetter stand. Sofort bekam Rotation Oberwasser. Turbines Spielfaden riß, und die brenzligen Situationen vor Wolfgang Mechlings Tor häuften sich beängsti gend. Die Abwehrspieler jedoch standen durch, warfen ihre Leiber in die Kombinationen der Leipziger und retteten, was zu retten war. Als kurz vor Halbzeit der Druck zunahm, half auch Märten noch als Deckungsspieler aus, und oft waren es nur zwei Stürmer, die vorn auf Vorlagen lauerten. Zur Halbzeit nahm Heinz Wittmann seine Schützlinge ins Gebet, und nach Wiederanpfiff hatte sich Turbine wenigstens einigermaßen gefangen. Das Sturmspiel begann erneut zu laufen. Aber es ist nun mal eine alte Er fahrung, daß es äußerst schwerfällt, eine im Kommen befindliche Mann schaft zu halten. Und Rotation Leipzig „kam", daß man auf den Rängen den Atem anhielt. In der sechzigsten Minute spitzelte einer der Leipziger das Leder so raffiniert ins Dreiangel, daß Mechling keine Hoffnung blieb, und knapp zehn Minuten später war gegen einen Schuß aus Nahdistanz kein Kraut ge wachsen. Trainer Wittmann saß mit brennenden Augen auf der Spieler bank. Neben ihm hockten Kurt Hellmich und Erich Bredow. Ihre Nägel preßten sich in die Handflächen, und sie merkten es nicht einmal. Wenn es doch wenigstens beim Unentschieden bliebe! Ein Punkt war immer noch besser als gar keiner. „Wenn die Jungen doch nur ruhiger wären. Viel ruhiger", stöhnte Witt mann. Da brüllten die Massen auf. Zugleich aber lagen sich Wittmann, Hell mich und all die anderen in den Armen. Das Bangen und Zagen war ver gessen. Ganz überraschend, ganz unvermutet, war Turbines drittes Tor gefallen. 27
Da hatte der kleine Wagner sich viel zu weit in Richtung der Eckfahne abdrängen lassen. Als eigentlich schon gar keine Hoffnung mehr bestand, dem Verteidiger zu entgehen, schoß er entschlossen ab. Das Leder segelte in hohem Bogen herein, wurde vom Winde abgefälscht und senkte sich unmittelbar vor dem hinteren Torpfosten ins Netz. Was nutzte es, daß die Leipziger ihrem Torwart bittere Vorwürfe mach ten, weil er die kurze, anstatt die lange Ecke gedeckt hatte. Zu spät war halt zu spät. Es stand 3:2 für Turbine, und in fünfzehn Minuten würde das Ende des Kampfes sein. Doch sagten wir nicht, daß dieses Spiel zu einer Zerreißprobe werden sollte? Kaum hatte der Beifall sich gelegt, kaum lag der Ball zum Anstoß auf der Mittellinie, da hielt man erneut den Atem an. Leipzigs starker Mittelstürmer blieb, obwohl von zwei Abwehrspielern angegriffen, am Ball. Er steuerte dem Tor zu und schoß, ehe ihn jemand zu hindern vermochte. Zwar erreichte Mechling das Leder, doch der Schuß war ungemein scharf. Er drehte über die Finger des kleinen Tormanns - und über die Linie 3:3. Und wieder war alles offen wie zu Beginn. Heinz Wittmann ließ seine Blicke über die Massen gleiten. Entlang der Tribünenplätze, entlang der Aschenbahn. Um seiner Aufregung Herr zu werden, konzentrierte er sich plötzlich auf einen anderen Gedanken. Hasselroth war nicht zu sehen! Zum erstenmal, solange Wittmann zurück denken konnte, fehlte er bei einem Spiel der BSG. Also schien es zu stim men, was Bredow in Erfahrung gebracht hatte: daß der Dicke nämlich gerade heute ein Geschäft startete, daß irgendwo am Bahnhof Lichtenberg seine vollgepfropfte Fuhre wartete. Wenn die Volkspolizei nur aufpaßte...! Wenn sie die Meldung nur ernst nahm . . . Doch da packte den Trainer auch schon wieder gebieterisch das Spiel. Zerreißprobe! Ja, es war wirklich eine Zerreißprobe. Mehrfach noch lag der Torruf auf den Lippen der Tausende, weiteten sich die Herzen, er starrten die Glieder, je nachdem, ob ihre Lieblinge angriffen oder sich in der Defensive befanden. In der fünfundachtzigsten Minute dann stieß Willi Märten den Ball im Fallen zum Siegestreffer über die Linie. Ein böser Rempler war der Szene vorausgegangen, aber Schiedsrichter Schlosser aus Jena bewies Finger spitzengefühl, ließ weiterspielen und ermöglichte so den Einschuß. Willi Märten wurde von seinen Gefährten umringt. Für Sekundenbruch teile schien es, als wolle man ihm den Kopf abreißen, so arg nahm man ihn her. Dann aber hieß es wieder, sich zu konzentrieren. Vier Minuten waren noch zu spielen, und jetzt mußte es endgültig reichen. Mit neun Mann verteidigte Turbine den knappen Vorsprung über die letzten Minuten. Dann liefen Hellmich und Bredow ihren neuen, alten Sportkameraden entgegen, umhalsten sie und geleiteten sie im Triumph in die Kabine. 23
Heinz Wittmann aber saß bereits über der Tabelle. „24:28", stellte er befriedigt fest. „Nun müßte es reichen!" Das klang sehr befreit, und tat sächlich war es dem Trainer, als sei mit diesem Treffer Willi Martens ein riesengroßer Stein mit deutlich hörbarem Plumps von seinem Herzen gefallen. Johannes Hasselroth hatte seinen LKW nebst Anhänger in Lichtenberg beladen. Das war bereits am Vormittag geschehen, und nun wartete er, bis die Uhr halb fünf wäre. Zu dieser Zeit wollte der Fahrer kommen, und gegen halb sechs sollte es losgehen, Richtung Kontrollstelle. Um drei Viertel fünf kam der Chauffeur. Hasselroth hatte schon viel getrunken bis dahin. Er wußte selber nicht, wie er es sich erklären sollte. Er war unruhig heute, wie noch niemals zuvor. Mehrmals hatte er sich einen Narren gescholten, doch diese Unsicherheit kehrte immer wieder. Kurz vor drei Viertel sechs kletterte er schnaufend zu dem Fahrer in die Führerkabine, und der schwere LKW setzte sich in Bewegung. Man fuhr durch die Stalinallee, über den Alexanderplatz, dann die Münzstraße entlang, die Rosenthaler Straße und die Wilhelm-Pieck-Straße. Die Uhr auf der Telephonzelle an der Ecke Friedrichstraße zeigte 18.10 Uhr, als das Fahrzeug links abbog und mit knatterndem Diesel den „Linden" zusteuerte. An der Sowjetischen Botschaft sah Johannes Hasselroth ein letztesmal auf die Uhr. 18.18 Uhr. Er lächelte. Da stand auch schon ein Volkspolizist auf der Straße. Man fuhr rechts heran. Nun, die Papiere waren ja in Ordnung. Und wenn der Volkspolizei wachtmeister gar zu neugierig wäre, hatte Hasselroth noch immer seinen „guten Bekannten", Hans Krügers zuverlässigen Gewährsmann Erwin Baltenstetter, als Aktivposten zur Verfügung. Hasselroth reichte die Papiere hinaus und mit den Papieren sein wohl gefülltes Zigarettenetui. Der Volkspolizist dankte. Dann lächelte er ver bindlich. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich einmal für ein Weilchen hinausbemühen würden, Herr Hasselroth. Wir möchten uns nämlich Ihre Fracht doch einmal ein wenig genauer ansehen." Der Dicke lief rot an: „Erlauben Sie! Die Papiere sind in Ordnung. Die Ausfuhrgenehmigung liegt auch vor...!" „Eben. Um so schneller wird alles gehen." „Und außerdem können wir Herrn Baltenstetter..." Der Volkspolizist nickte. „Natürlich werden wir uns auch mit Herrn Baltenstetter unterhalten." Sein Ton sagte Hasselroth nicht zu. Der Dicke war abergläubisch, und seine Unruhe fiel ihm ein. Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wenn er... Wie diese Burschen nur alle guckten. Und reichlich viele Volkspolizisten waren es auch, die hier herumstanden. Noch dazu an einem Sonntag. 29
„Wenn Sie bitte vorgehen würden . . . " Der Volkspolizeiwachtmeister war von einer allzu verdächtigen Liebens würdigkeit. In der kleinen Kontrollbaracke saßen mehrere Uniformierte und, hinter einem Behelfsschreibtisch, Hasselroths „guter Bekannter" Erwin Balten stetter. „Herr Baltenstetter, ich finde dieses Verhalten der Polizei unerhört." Johannes Hasselroth legte mächtig los. Er spulte sein ganzes Vokabular an Anschuldigungen herunter und endete mit der empörten Feststellung: „... und so etwas passiert nun einem anständigen Staatsbürger und Steuer zahler." Doch Erwin Baltenstetter antwortete nicht. Er machte ein kreuz unglückliches Gesicht und ähnelte in nichts dem Manne, mit dem es sich sonst so fröhlich zechen ließ. Die Stille im Raum war peinlich. Da räusperte sich einer der Uniformierten am Tisch. Er hatte einen höheren Dienstgrad, doch darauf verstand sich Hasselroth nicht. „Nun fehlt uns eigentlich nur noch Herr Krüger. Dann sind wir alle bei sammen." Hasselroth überlief es eiskalt. Krüger? Was wußte die Volkspolizei von Krüger? Aus! ging es ihm durch den Sinn. Alles aus! Der schlechte Traum! Die Unsicherheit! Verdammt! Für Sekunden trug sich Hasselroth mit dem Gedanken, hinauszulaufen. Zu seinem LKW! Vielleicht gelang es ihm, durchzubrechen. Vielleicht... Eine Tür sprang auf. Drei Männer traten ein. Drei Männer in Zivil. Einer davon, der mittlere, war Krüger. Sein Gewährs mann Hans Krüger! Der Kopf Erwin Baltenstetters fiel schwer auf den Tisch. Er war mit seiner Beherrschung am Ende. Johannes Hasselroth sah sich hilflos um. Sein Blick fiel auf Krügers Handschellen, fiel auf die Gesichter der Männer, aus denen die Entschlossenheit sprach, mit jenen abzurechnen, die hinter dem Rücken der Werktätigen ihre schmierigen Geschäfte machten. „Ein sauberes Kleeblatt", sagte der Kommissar. „Einer gibt die Be scheinigungen, der zweite hält im Notfall die Polizei vom Leibe, und der dritte lädt, damit er beim Verteilen der Beute ein bißchen besser wegkommt als seine Komplicen, statt der vorgesehenen sechs Tonnen noch zwei v/eitere für eigene Rechnung auf. Tja, Pech, Herr Hasselroth! Schade um Ihren Schützling, Herrn Kieninger. Er wird vergeblich warten." Der Dicke möchte etwas erwidern, möchte sich verteidigen. Doch das Netz ist allzu feinmaschig. Es hat keinen Durchschlupf. Und selbst aus den Gesichtern von Krüger und Baltenstetter spricht nur Haß, abgrundtiefer Haß. Während im Klubraum der BSG Turbine zwei Dutzend überglückliche Fußballer den zweiten Sieg in vierzehn Tagen feierten, saß jenseits des Brandenburger Tores ein langer, schlaksiger Bursche, die Zigarette im 30
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Mundwinkel, in einem billigen Tingeltangel. Seine glasigen Augen stierten übermüdet und gerötet auf das halbleere Wasserglas. Rauchschwaden um nebelten ihn, und das Gegröle Betrunkener stieß mißtönend ins Ohr. Wolf Kieninger sah und hörte das alles kaum. „Mal oben, mal unten", lallte er und versuchte ein Lächeln. Sein hageres Gesicht verzog sich zur Grimasse. „Armer Hasselroth! Warst ja ein Aas. Immerhin, das hätte ich dir nicht gegönnt." Sein Stammeln wurde immer undeutlicher. Doch plötz lich, ehe er von dem hohen Barhocker herunterrutschte, straffte er sich noch einmal und redete so laut und deutlich, daß die aufdringlich und schlecht geschminkte Barfrau kopfschüttelnd aufsah. „Dabei sollte gerade ich dich zum Teufel wünschen. Hast du mich nicht auch auf dem Gewissen? Hast du nicht schuld, daß es für mich kein Zurück mehr gibt?" Er wankte zwischen den Tischreihen hindurch, schlug den Flauschvor hang zurück und trat auf die nächtliche Straße. Dort hockte ein Bettler im fallenden Nebel und streckte Kieninger die magere Hand mit einer Schachtel Streichhölzer entgegen. Die Straße war spiegelblank, und es begann zu regnen. Wolf Kieninger vergrub die Hände in den Taschen und schlug den Rockkragen hoch. Dann torkelte er unsicher an der Plauswand der halbdunklen Straße entlang . . . Den ganzen Abend über hatte Heinz Wittmann auf einen Anruf ge wartet. Hatte man nun endlich Johannes Hasselroth das Handwerk gelegt? Oder reichte das Material noch immer nicht? Als es zehn Uhr geworden war, ohne daß sich irgend etwas regte, rief der Trainer kurz entschlossen die Volkspolizeiinspektion an. Der Kommissar lachte in den Apparat hinein. „Längst erledigt, der Fall. Die drei sitzen seit drei Viertel sieben, genauer seit 18.51 Uhr, hinter Schloß und Riegel. Alles verlief reibungslos." Und dann nach einem erneuten Auf lachen: „Nächstes Mal geben Sie uns aber den richtigen Telephonanschiuß an. Dann hätten Sie sich jetzt zwanzig Pfennige erspart und wir viel Zeit. Ich habe hier nämlich schon sechs vergebliche Anrufe registriert. Immer meldete sich der Verband zur Bekämpfung des Alkoholismus." Nun lachten alle beide. „Und nochmals besten Dank für die wertvollen Informationen." Heinz Wittmann legte auf. Er ging über den teppichbelegten Flur und blieb vor der Klapptür stehen. Im Saal des Klubhauses spielte die Kapelle gerade einen Walzer, und Pepi Wagner hielt ein schlankes Mädel mit korn blondem Haar im Arm. Der Trainer lächelte. Nun konnte die Mannschaft zusammenwachsen. Niemand würde es mehr hintertreiben. Weder inner halb noch außerhalb der eigenen Reihen. Er trat wieder in den Saal. Eberhardt winkte herüber, und jetzt auch „Lotti" Grosser. Heinz Witt mann ging auf den Tisch zu. Da beugte sich Benno Eberhardt vertraulich vor. „Na, wie sieht's aus mit Hasselroth und Konsorten?" , 31
Auf den Mienen des Trainers lag tiefe Zufriedenheit: „Am Branden burger Tor erwischt. Genau wie Bredow es ermittelt hatte. Und zwar", er hatte sich die genaue Zeit tatsächlich gemerkt, „um 18.51 Uhr." Benno Eber hardt schlug in die Hände. Seine ehrliche Überraschung aber wandelte sich fast augenblicklich zu kameradschaftlicher Anteilnahme. „Das freut mich für Bredow, für Märten. Können die beiden nun wieder damit rechnen, daß . . . ? " Wittmann zögerte und blickte Eberhardt gespannt an. „Wir brauchen einen neuen Leiter der Fahrbereitschaft, und Kieningers Platz ist auch frei. Man könnte also - die Genehmigung der BGL voraus gesetzt - alle drei . . . " „Und den Erich Bredow etwa gar als . . . ? " „Als Fahrbereitschaftsleiter, ganz recht. Er hat seinen Fehler gutgemacht. Das Unschädlichmachen Hasselroths war ein Meisterstück." Vom Billardsaal her kamen Bredow, Hellmich und Märten. „Ich habe die Volkspolizeiinspektion angerufen", begann Bredow. Er war sehr aufgeregt und suchte nach Worten. „Hasselroth ist . . . Hasselroth hat . . . " Die Männer lachten. „Längst bekannt, Kollege Fahrbereitschafts leiter." Bredow, Hellmich und Märten sahen sich an. „Soll das bedeuten . . . ? " „Das soll bedeuten, daß ihr beiden, Hellmich und Märten, euch morgen früh um halb sieben beim Fahrbereitschaftsleiter Bredow zur Übernahme eurer neuen Tätigkeit meldet." Die drei zögerten nur wenige Sekunden. Dann hatten sie begriffen. „Das ist ja . . . Das ist ja . . . " Heinz Wittmann mischte sich gutgelaunt ein. „ . . . ein Volltreffer! Halb hoch - ins Netz!" Die Musik tönte leise herüber. Am Tisch Benno Eberhardts steckte man noch lange die Köpfe zusammen. Der Sonntag war ereignisreich gewesen - sehr ereignisreich!
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Ai a Tie-niu vor der Bude anlangte, war der dicke Krummbeinige noch darinnen. Er unterhielt sich mit einem zweiten, Jüngeren. Dieser trug einen neuen Sportmantel und hatte auf der Nase eine Sonnenbrille. Dabei scheint doch keine Sonne mehr! dachte Tie-niu. Neugierig trat er näher. Da drehte der Dicke sein wimpernloses Gesicht langsam Tie-niu zu und starrte ihn mit seinen roten, entzündeten Augen an. Der Blick stach wie ein spitzes Messer. Dieser Blick, dieses Gesicht gehörte einem Feind! Kläglich schlich Tie-niu weg. Er ist es! Er ist es! klopfte sein Puls. Ein paar Atemzüge lang verlor Tie-niu den Kopf. Dann zwang er sich zu ruhigem Nachdenken. Er kämpfte seine Angst nieder und kehrte um. Seine Knie schlotterten, aber er zwang sich zum Gehen. Vorsichtig machte er einen weiten Bogen, näherte sich der Bude von der Rückseite her. Die Bretterwände hatten Ritzen und Löcher. Tie-niu spähte durch ein Astloch und drückte dann sein Ohr da gegen. Jetzt konnte er einzelne Worte unterscheiden: „Legt Feuer . . . G i f t . . . am besten nachts . . . Dorf schläft . . ." Wen belauscht der chinesische Junge hier? Was haben diese beiden Männer vor? Sicher seid Ihr auf die Lösungen dieser Fragen gespannt. Ihr findet sie in dem Buch von Alex Wedding
Dieses Jugendbuch macht Euch nicht nur mit den abenteuerlichen Erleb nissen Tie-nius bekannt, sondern erzählt uns auch viel von den Menschen des neuen China.
Verlag N e u e s L e b e n • D e r Verlag d e r jungen Generation Berlin W 8 • Markgrafenstraße 30
Preis 0,25 DM