HANUSSEN Ein Roman von Yvonne Viehöver nach dem Drehbuch von ISTVAN SZABÓ und PÉTER DOBAI
Originalausgabe
WILHELM HEY...
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HANUSSEN Ein Roman von Yvonne Viehöver nach dem Drehbuch von ISTVAN SZABÓ und PÉTER DOBAI
Originalausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01/7729 Dieses Buch entstand in Zusammenarbeit mit CCC Filmkunst GmbH, Berlin
Copyright © 1988 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1988 Umschlag- und Innenfotos: Tobis Filmkunst GmbH & Co. Verleih KG, Berlin Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Gesamtherstellung: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-453-02863-5
Der Roman erzählt vom Aufstieg und Fall Jan Eric Hanussens, des berühmten Hellsehers im vergnügungssüchtigen Berlin der dreißiger Jahre. Die Zeit ist reif für Demagogen, Heilsprediger und Propheten. So wird Hanussen eine der schillerndsten Figuren im Dritten Reich. Aber Hanussen scheitert an seiner Selbstüberschätzung, seinem maßlosen Ehrgeiz. Er mischt sich in die Politik ein, wird zum Propheten Hitlers und schließlich zum unliebsamen Mitwisser der Nazis. Damit ist sein Untergang besiegelt…
1 Ein Schützengraben vor einem Friedhof am Dorfrand, irgendwo in Polen. Gespanntes, zermürbendes Warten: Die österreichischen Soldaten in ihren feldgrauen Uniformen und Stahlhelmen starrten alle in eine Richtung, erwarteten endlich den Feind, endlich den Angriff. Szenen eines Krieges, des Ersten Weltkrieges. Mai 1915. Ein Soldat betete ein Vaterunser, bekreuzigte sich, umklammerte sein Gewehr, begann von vorne. Neben ihm ein Kamerad, der ein Amulett in der Hand hielt und stumm vor sich hin starrte. Ein junger Infanterist, der ein Stück abseits stand, streichelte selbstvergessen einen Hasenschwanz, der an seinem Bajonett befestigt war, ein älterer Soldat betrachtete voller Sehnsucht und Resignation abgegriffene Fotografien von nackten Frauen. Inmitten einer kleinen Gruppe saß Zugführer Schneider und gab Tricks zum Besten. Ein perfekter Illusionist; geschickt zauberte er Karten aus Rocktaschen, aus Helmen, Patronengurten und Kragen seiner Kameraden hervor, ließ sie wie von Zauberhand wieder verschwinden und ganz woanders zum Vorschein kommen. Schließlich legte der 27jährige jedem der Männer die Karten und sagte ihm die Zukunft voraus. Hatten sie denn noch eine? Gab es für diese Kinder des Krieges noch eine Zukunft? Würden sie ihre Heimat jemals wiedersehen, ihre Frauen, ihre Kinder? Diese bange Frage ließ die Soldaten gebannt an den Lippen des Zugführers hängen. »In deiner Karte steht, daß du nächstes Jahr Roggen säen sollst«, wandte sich Schneider an einen etwas grobschlächtigen Mann.
»Ich soll Roggen säen und keinen Weizen?« Ein Paar Augen strahlten Schneider erst ungläubig, dann mit neuer Zuversicht an. »Das bedeutet, daß ich nächstes Jahr wieder zu Hause bin!« »Genau. Na, siehst du.« Bei aller Fröhlichkeit schien Schneider vor allem sich selbst aufheitern und beruhigen zu wollen. Er wandte sich dem nächsten Soldaten zu. »War das deine Karte?« »Ja.« Gespannte Erwartung; Schneider machte es spannend, schien zu zögern, schüttelte verwundert den Kopf. »Diese Karte verstehe ich nicht. Sie sagt mir: Glückliches Windröschen‹. Was das wohl heißen mag?« Der Soldat erstarrte, lächelte dann. »So nannte ich meine Frau vor unserer Hochzeit: ›Windröschen‹! Sie mochte den Namen allerdings gar nicht und sagte immer: ›Nenn mich nicht Windröschen!‹« Schneider lachte. »Na, wenn ich in der Karte sehe, daß sie glücklich ist, werdet ihr euch sicher wiedersehen. Das ist doch die Hauptsache, oder?« Der Soldat starrte immer noch verwundert die Karte an und drehte sie hin und her, als plötzlich aus verschiedenen Richtungen ein Schrei laut wurde: »Sturmangriff! Sturmangriff! Sturmangriff!« Die Erde schien zu beben – so jedenfalls schien es den Männern, als wildes Geschrei sich mit Schüssen mischte. Vom Hügel her prasselten Maschinengewehrsalven auf die stürmenden Männer nieder; einer nach dem anderen stürzte zu Boden. »Um den Hügel herum! Vorwärts, verdammt noch mal!« brüllte ein Offizier. Stolperte selbst, rappelte sich wieder auf und lief schlammverschmiert weiter. Die Männer folgten ihm. Hinter dem nächsten Gebüsch ein Friedhof. Im Schutz der Grabsteine blieben sie stehen, um Luft zu schöpfen.
»Vorwärts! Auf den Hügel!« schrie jetzt ein anderer Offizier. Zwischen den Gräbern hindurch liefen die Männer den Berg hinauf. Ein Selbstmordkommando, denn von dort kamen die Schüsse; aus der Kapelle auf dem Hügel knatterte ein feindliches Maschinengewehr und lichtete die Reihen der Hinauf stürmenden. Schneider war schon ganz in der Nähe der Kapelle, als neben ihm eine Handgranate explodierte. Mit blutüberströmtem Gesicht fiel er zu Boden, kämpfte gegen die Schwäche in Kopf und Schulter, zog sich mühsam durch den Dreck vorwärts, den Blick immer nach oben, zur Kapelle, gerichtet. Und sah, wie einer der Kameraden jetzt von hinten den Feind erreichte. Er stach mit seinem Bajonett zu: einmal, zweimal, dreimal. Und übergab sich in der folgenden Stille würgend, hysterisch, schluchzend. Mit letzter Kraft zog Schneider sich durch die Tür der Kapelle, wischte sich das Blut aus dem Gesicht und sah direkt in die toten, weit aufgerissenen Augen des MG-Schützen. Mein Krieg ist das nicht, dachte er benommen. Es muß doch für die da oben noch andere Wege geben, als uns arme Teufel zu zwingen, andere arme Teufel abzuschießen, die nichts mit dem Erzherzog, seiner Ermordung/ und den Serben zu tun haben, die nicht mal wissen, wie man ›Sarajewo‹ schreibt und wo das liegt. Schneider sah den Toten an und dachte weiter: Hätten wir uns in Wien beim Heurigen getroffen, wären wir vielleicht Freunde geworden… Seine Gedanken verloren sich. Er wollte leben! Schneider versuchte, sich aufzurichten, schaffte es nicht, fiel der Länge nach wieder in den Schmutz. »Helft mir!« rief er mit letzter Kraft, bevor er das Bewußtsein verlor und eine gnädige Ohnmacht ihm Schmerzen und Furcht nahm. Irgendwann fanden ihn zwei Kameraden, verbanden ihn notdürftig und zogen ihn fort. Andere hatten den Angriff nicht überlebt. Zwischen den Gräbern, auf den alten Grabhügeln und im Schlamm der
zertrampelten Fußwege lagen tote Soldaten. Unter ihnen auch der, der gebetet hatte. Und der mit dem Amulett. Nur ein paar Soldaten – von etwa 100000 Toten, die diese Schlacht auf österreichischer Seite gefordert hatte. Die Toten der Gegenseite hatte man nicht gezählt – man hatte gewonnen.
2 Der Tag war so dunkel und trübe wie die Stimmung im Krankensaal des Notlazaretts in Tarnow-Gorlice. In den ehemaligen Prunksälen des Schlosses hörte man verzweifelte Schreie, das Stöhnen Verwundeter, das Röcheln Sterbender, Hilferufe: ein schreckliches, grauenerregendes Stimmengewirr. Hier lagen hauptsächlich Hirn- und Schädelverletzte, aber auch andere Schwerverwundete. Szenen eines Krieges: Zwischen den Kolonnen dicht zusammengedrängter Feldbetten bahnten sich junge Frauen in österreichischer Schwesterntracht ihren Weg. Sie bemühten sich, meist vergeblich, um Linderung: mit feuchten Tüchern wischten sie die Gesichter der Verwundeten ab, reichten ihnen Getränke, schoben Bettpfannen unter. Einer riß sich den gerade angelegten Verband wieder vom Körper, ein anderer jagte den über ihn gebeugten Geistlichen fort. »Scher dich zum Teufel!« schrie er. »Es gibt keinen Gott! Alles Schwindel!« Und er begann, ein einfältiges Kinderlied zu singen, während der Pfarrer sich hinkniete, um zu beten. Die Stimme des Sterbenden wurde immer lauter, bis er schließlich abbrach, nach Luft rang und Blut spuckte. »Warum singst du nicht weiter, du Ochse?« brummte ein Bettnachbar. Ein anderer griff nach der Brust einer Schwester, die gerade versuchte, ihm Blut aus dem Gesicht zu wischen. »Laß mich los, Soldat«, murmelte sie unbeeindruckt und fuhr fort, sein Gesicht zu säubern. Einer zweiten Schwester versuchte ein anderer gerade, unter den Rock zu greifen; eine dritte verband einen Beinstumpf. »Man bringt mich um! Man bringt mich um!« schluchzte ein Verwundeter. Neben einem anderen stand hilflos, verzweifelt und voll Mitleid eine weitere Freiwillige. Was sollte sie tun?
Der Verletzte klammerte sich an ihrem Arm fest und redete in einer fremden Sprache, auf slowakisch, beschwörend auf sie ein. »Was sagen Sie?« fragte sie immer wieder. »Ich verstehe Sie nicht… was wollen Sie?« Nichts zu machen, es gab keine Möglichkeit der Verständigung. Mit verbundenem Kopf lag Zugführer Klaus Schneider auf seiner Pritsche und zitterte am ganzen Körper: Schüttelfrost: Mit der Hand griff er nach seinen zusammengepreßten Lippen, ohne jedoch das Zittern seines Gesichts, seines ganzen Körpers in den Griff zu bekommen. Gesicht und Augen hinter den bebenden Lidern verrieten das Grauen, das er empfand, die Schmerzen, die ihn quälten, die Angst. Auf der Nachbarliege wälzte sich ein Epileptiker, Schaum vor dem Mund, hin und her. Neben ihm ein Arzt mit Brille und grauen Schläfen: der Neurologe, Psychiater und jetzige Militärarzt Dr. Emil Bettelheim. Er preßte dem Soldaten ein Tuch zwischen die Zähne und drückte die verkrampften Arme mit voller Kraft nach unten. »Schon gut… Beruhigen Sie sich… alles in Ordnung. Guten Morgen. Wie heißen Sie? Sagen Sie mir Ihren Namen. Ist schon gut… Guten Morgen…« Die Stimme des etwa 45jährigen Arztes war sanft und beruhigend und verfehlte ihre Wirkung nicht ganz. Auf der anderen Seite des Epileptikers stand Schwester Betty, eine schöne, dunkelhaarige, schlanke junge Frau, bemüht, dem Arzt zu helfen. Sie hielt den Kranken fest. »Wissen Sie, wer dieser Mann ist?« fragte der bärtige Mediziner, ohne eine Antwort abzuwarten. »Der ungarische Meister im Turnen. In Budapest galt er als Nationalheld. Wenn er ein Lokal betrat, klatschten die Gäste. Tja, und das wird aus uns…« Leise und mit unendlicher Ruhe sprach der Arzt weiter auf den Kranken ein.
»Und jetzt wachen wir schön auf… machen die Augen auf… Sagen Sie mal Ihren Namen… Ist ja gut, ist alles gut…« Wie ein erschrockenes kleines Kind sah der Soldat jetzt zu ihm auf. »Ich bin so müde…«, flüsterte er. »Ja, Sie sind sehr müde… das ist doch ein schönes Gefühl… Und jetzt schlafen Sie ein bißchen.« Der Arzt stand auf, und auch die Schwester ließ den Kranken los. Draußen regnete es jetzt in Strömen, und der Wind rüttelte an den inzwischen geschlossenen Fensterscheiben. Dr. Bettelheims Blick fiel auf den zitternden Klaus Schneider. Er beobachtete ihn eine Weile, während ein Soldat im Hintergrund rief. »Einen Pfarrer…! Hochwürden, kommen Sie zu mir!« Der Geistliche eilte zu dem Soldaten. Der richtete sich auf, griff nach der Hand des Pfarrers und zog ihn zu sich herab. »Bitte erteilen Sie mir die Absolution! Bleiben Sie bei mir!« bat er, ohne den Priester loszulassen. Der Arzt trat zu Schneider. »Seit wann zittert dieser Mann so?« fragte er Schwester Betty. »Seit zwei Tagen, seit seiner Einlieferung. Auch sein Fieber geht nicht zurück«, sagte diese besorgt. Dr. Bettelheim beugte sich über Klaus Schneider und pustete ihm ins Auge. Das Zittern hörte für einen Moment auf, setzte aber sofort wieder ein. »Zugführer!« rief der Arzt. »Hören Sie mich?« Zögernd öffnete Klaus Schneider die Augen. »Schauen Sie mich an, sehen Sie mir in die Augen!« Ein Schock, überlegte der Arzt, ausgelöst durch Streß, Übermüdung, die Verletzung und die lange Bewußtlosigkeit. Die Folge: ein Tremor, ein unkontrolliertes Zittern der Gliedmaßen.
Schneiders verängstigter Blick begegnete dem ruhigen, lächelnden des anderen, klammerte sich an ihm fest. Das Zittern ließ unmerklich nach, hörte schließlich ganz auf. Dr. Bettelheim nickte zufrieden, lächelte, drückte behutsam die Schulter des Zugführers und ging langsam weiter. Die Störung geht vom Hirn aus, dachte er. Das kriegen wir schon wieder hin. Wozu war er schließlich Neurologe? Doch daß dieser Klaus Schneider nicht nur sein interessantester Fall werden, sondern auch unter seiner Anleitung ungeahnte Kräfte entwickeln würde, das ahnte Dr. Bettelheim damals noch nicht.
3 Monate später bot ein sonniger Tag zwar kein friedliches, aber doch ein friedvolles Bild. Genesende Soldaten schlenderten durch den Park des Schlosses, andere schleppten sich, auf Krücken oder auf Schwestern gestützt, über die einst gepflegten Wege des Anwesens. Klaus Schneider, der noch einen leichten Kopfverband und den verletzten Arm in einer Schlinge trug, fröstelte und zog den Armeemantel enger um sich. Dann sah er auf, weil er eine Bewegung im Gebüsch bemerkt hatte. Eine Zigeunerin mit einem kleinen Mädchen an der Hand trat auf ihn zu. »Zeig mir deine Hand, Soldat. Hast du zwei Kreuzer? Dafür sage ich dir die Zukunft voraus.« Die Stimme der schwarzhaarigen Frau klang kehlig und bestimmt. Klaus Schneider musterte sie prüfend, bevor er ihr seine Hand überließ. Die Zigeunerin betrachtete sie eingehend. »Herr Soldat, du wirst ein berühmter Mann«, sagte sie schließlich. »Reichtum, Frauen, viele Reisen. Du wirst die ganze Welt bereisen, und man wird dir überall zu Füßen liegen… Trotzdem wirst du einsam bleiben.« Ernst sah sie Klaus Schneider ins Gesicht und fuhr zögernd fort. »Du wirst erst nach deinem vierzigsten Lebensjahr sterben… Ich sehe ein rotes Gesicht, ja, ein ganz rotes. Ist es Schminke…? Oder vielleicht… Blut? Ist es blutüberströmt? Rot ist es jedenfalls. Und jetzt gib die zwei Kreuzer her, Soldat!« Klaus Schneider kramte in seiner Manteltasche und reichte der Zigeunerin zwei Münzen. Sie nahm sie und verschwand so schnell, wie sie gekommen war, ihr Kind noch immer an der Hand. Vom Schloß her näherte sich jetzt Schwester Betty.
Schneider strahlte und ließ die junge Frau nicht aus den Augen. Betty fühlte, daß sie beobachtet wurde, sah ihn an und blieb schließlich stehen. Klaus Schneider errötete verlegen. Unsicherheit lag jetzt in seinem Blick, reine Neugier in dem von Betty. »Erinnere ich Sie an jemanden?« fragte sie. »An Ihre Mutter vielleicht? Oder haben Sie nur den Verstand verloren?« Sie hatte richtig geraten, doch Schneider blieb stumm. Sein flehender Blick erregte ihr Mitleid. Betty kam auf ihn zu. »Was haben Sie denn, Zugführer?« »Ich habe Angst. Aber wenn ich Sie anschaue, dann vergeht sie, diese Angst…« »Schauen Sie eine andere an, ich mag das nicht. Schließlich bin ich nicht die einzige Frau hier, außer mir gibt es im Lazarett noch mindestens 30 andere Schwestern.« Bettys Stimme klang schnippisch, aber nicht unfreundlich. Doch Schneider hatte ihr gar nicht zugehört. »Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan«, gestand er mit unsicherer Stimme. »Ich spürte einen furchtbaren Druck auf der Brust: hier… und ich wurde erst ruhiger, als ich an Sie dachte.« »Und in Ihren Gedanken war ich wohl nackt, was?« Schneider nickte verlegen. »Rechnen Sie nicht mit meinem Mitleid, Sie Ferkel. An Ihrer Verwundung sterben Sie ganz sicher nicht mehr.« Betty verlor langsam die Geduld. »Davor habe ich auch gar keine Angst…«, begann Schneider. »Sondern?« fragte Betty neugierig. »Davor, daß ich mit dieser Panik werde leben müssen… davor, daß sie nicht vorbeigeht.« Schneider sah zu Boden. Würde sie ihn verachten – ihn, einen Feigling? Doch Betty hatte schon viel Schlimmeres erlebt seit Kriegsbeginn.
»Sie müssen sich nur mal richtig ausschlafen«, sagte sie wieder freundlicher. »Ich kann nicht einmal einschlafen«, wandte Schneider ein. »Dann begleite ich Sie jetzt zu Dr. Bettelheim«, sagte Betty entschieden und nahm seinen Arm. »Sie werden soviel Schlafmittel bekommen, daß ein Pferd ohnmächtig umfallen würde.« Die Schwester stützte den Soldaten, und gemeinsam gingen sie zum Schloß zurück. Das Sprechzimmer des Arztes war spartanisch eingerichtet: eine Liege, ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein Schrank, eine Lampe, eine Lesetafel. Dr. Bettelheim, der Krankenhauskommandant, trug seine Majoruniform, den weißen Arztkittel hatte er lose über die Schultern geworfen. Klaus Schneider saß auf dem Untersuchungsbett, der Doktor auf einem Hocker neben ihm. Irgendwie, dachte Schneider, sah der Arzt aus wie ein jüdischer Rabbi. »Seit wann haben Sie nicht mehr geschlafen?« fragte Dr. Bettelheim freundlich. »Seit Tagen…«, antwortete Schneider. »Manchmal schlafe ich draußen ein, auf der Gartenbank, aber wenn ich dann wieder aufschrecke, ist es noch schlimmer.« »Was? Was ist noch schlimmer?« wollte der Arzt wissen. »Hier…«, sagte Schneider und deutete auf seine Brust. »Dieser Druck… und mein Kopf.« Der Arzt nickte. »Tut er weh?« »Sehr.« Dr. Bettelheim zeigte auf ein Plakat an der Wand. »Lesen Sie mal diese Buchstaben dort«, forderte er seinen Patienten auf. Klaus Schneider sah die Tafel an und starrte dann wortlos vor sich hin. Der Arzt wurde ungeduldig. »Haben Sie mich nicht verstanden? Lesen Sie!«
Der Zugführer begann langsam die Buchstaben vorzulesen, kam dann aber durcheinander, fing an zu stottern, Angst und Unsicherheit gewannen die Oberhand, sein angestrengtes Bemühen um Konzentration wurde immer aussichtsloser. Verzweifelt schüttelte er den Kopf, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Dr. Bettelheim unterbrach ihn. »Ist Ihnen schwindlig?« »Nein.« Sehr überzeugend wirkte Schneider indes nicht. »Was fühlen Sie?« Der Arzt musterte den blassen Zugführer forschend. Der zögerte. »Eine Leere…«, murmelte er schließlich. »Eine dunkle, tiefe Leere… und ich habe panische Angst hineinzufallen…« Dr. Bettelheim beugte sich vor. »Wo genau ist diese Leere?« Schneider machte eine vage, unbestimmte Handbewegung. »In mir.« »Und diese Leere ist immer da?« versuchte der Arzt, das Krankheitsbild genauer zu bestimmen. Der Zugführer nickte und hob die Schultern. »Und ich möchte so gerne schlafen, aber ich kann einfach nicht.« »Beruhigen Sie sich«, bat Dr. Bettelheim. »Sie bekommen ein Medikament und werden wunderbar schlafen. Aber wenn Sie wach sind, müssen Sie versuchen, sich zusammenzunehmen .« Er nahm die Hand des Zugführers und betrachtete sie, während er den Puls fühlte. »Woran denken Sie jetzt?« »Ich habe Angst…«, sagte Schneider leise, »Angst davor, an die Wand gestellt und erschossen zu werden.« »Hatten Sie das auch früher schon – solche Bilder, vor denen Sie sich fürchteten?« wollte der Arzt wissen.
Schneider nickte. »Ja, oft.« Und er dachte an sein Geburtshaus im Arbeiter- und Hurenviertel Wien-Ottakring, an die schäbige Umgebung, an die Prügeleien mit asozialen Kindern in der Schule, an seine weinende, verbrauchte Mutter, an den verhaßten Vater, der seine Frau betrog und auf Vertreterreisen die kleine Familie kümmerlich ernährte. Er dachte an die Depressionen seiner Mutter, die sich schließlich das Leben genommen hatte, an das Elend, die Armut, die Alpträume, aus denen er immer wieder schreiend aufgewacht war, damals schon, weil er wußte: Hier gehörst du nicht hin. Die Frage war nur: Wo gehörte er hin? Gehörte er ins Variete, in den Zirkus, in dem er zwar alles gelernt, aber doch sehr kümmerlich sein Leben gefristet hatte? Nein. Denn eines hatte er immer gewußt: daß er etwas Besonderes war, etwas ganz Besonderes… Der Arzt riß ihn aus seinen Gedanken. »Sehen Sie, das passiert mir auch«, behauptete er. »Träumen Sie auch manchmal?« »Ja.« »Wovon?« »Von einem brennenden Haus«, gab Schneider zur Antwort. »Und… davon, daß ich fliehen muß…« Seine Stimme verlor sich. »Was ist das für ein Haus?« forschte der Arzt weiter. »Ich weiß nicht genau«, sagte Schneider. »Ich glaube, eine Apotheke. Das Schlimmste kommt erst: Ich will wegfahren, aber ich verpasse den Zug…« Der Major wurde plötzlich verlegen. Er dachte eine Weile nach und entschloß sich dann, seinem Patienten die Wahrheit zu sagen. »Etwas Ähnliches habe ich auch vor kurzem geträumt«, gestand er. »Zweimal hintereinander sogar. Ich wollte ein
Schiff besteigen, das aber dann vor meinen Augen ablegte…« Der Arzt wechselte das Thema. »Was haben Sie zuletzt geträumt?« »Meinen Tod«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Ich habe mich selbst dabei beobachtet, entfernte mich immer weiter von mir selbst, während ich mich gleichzeitig tot daliegen sah. Und dann gelangte ich irgendwie in meinen Körper zurück.« »Haben Sie auch früher schon von Ihrem eigenen Tod geträumt?« fragte Dr. Bettelheim. »Ja, in meiner Kindheit«, bestätigte Schneider. »Ich spielte mit anderen Kindern auf dem Friedhof- und stand plötzlich vor meinem eigenen Grab. Ich wußte, daß ich tot war.« »Können Sie dieses Gefühl beschreiben?« fragte der Arzt weiter. »Das Gefühl, tot zu sein?« Der Zugführer schwieg, überlegte angestrengt, während Schweißtropfen auf seiner Stirn erschienen. »Alle Farben sind plötzlich anders«, sagte er dann leise. Dr. Bettelheim konnte seine Erregung kaum verbergen. »Sie werden tiefer, intensiver – stimmt’s?« »Ja«, stimmte Schneider überrascht zu. »Woher wissen Sie das?« »Sehen Sie – das, was Sie da beschreiben, kommt auch bei anderen Menschen vor«, erklärte der Major. »Auch bei mir. Und es hat ganz normale Ursachen. Sie zum Beispiel sind verwundet, haben viel hinter sich, sind erschöpft. Aber denken Sie daran, daß Sie jetzt in Sicherheit sind. Lassen Sie Ihre Erschöpfung zu, geben Sie ihr nach. Legen Sie sich hin, schließen Sie die Augen und denken Sie nur daran, daß Sie wieder gesund werden wollen. Denken Sie daran, daß Sie wieder im Park spazieren und sich mit netten Menschen unterhalten werden, sobald Sie wieder in Ordnung sind. Was
waren Sie eigentlich von Beruf – vor dem Krieg?« Echtes Interesse lag im Blick des Arztes. »Ich war Illusionist, in Varietes«, sagte Schneider, Resignation in der Stimme. »Da werden Sie bald sehr gefragt sein«, meinte Dr. Bettelheim. »Die Menschen wollen sich endlich wieder amüsieren, wollen lachen, Kunststücke sehen, sich ablenken. Sie haben genug vom Krieg.« Aufmunternd lächelte er seinem Patienten zu. Am liebsten würde ich ihn hypnotisch behandeln, dachte er. Die Hypnose umgeht das Bewußtsein und wird nicht durch den Willen blockiert. Ich komme sonst nicht weiter.
4 Major Bettelheim genoß das Privileg einer eigenen Wohnung im Schloß. Und damit auch die Möglichkeit eines erfüllten Liebeslebens. Ein paar Tage später lag er entspannt im Bett, neben sich Schwester Betty, die mit dem Rücken im Schein einer Nachttischlampe an einem Wandteppich lehnte. »Er sieht einen… so seltsam an«, überlegte sie laut. Sie sprachen über ihren gemeinsamen Lieblingspatienten. Klaus Schneider. »Seltsam?« fragte der Arzt. »Ich fühle ständig seinen Blick auf mir«, erklärte das Mädchen. Bettelheim lachte. »Vielleicht hat er sich ja in dich verliebt? Das wäre mir ganz recht für seine Genesung – solange du seine Gefühle nicht erwiderst! Aber paß auf, der Bursche ist sehr sensibel. Du darfst ihn nicht kränken.« »Sensibel – so wie du?« neckte ihn Betty. »Ja, so wie ich… Aber im Ernst, dieser Schneider ist in jeder Hinsicht ein interessanter Fall. Er ist wie ein Terrier, der fast ersäuft worden wäre, sich aber, nachdem er gerettet wurde, nur schüttelt und weiterläuft. Ich bin sicher, daß ich ihn mit Hypnose wieder völlig hinkriegen könnte. Mit der Analyse seines Falles kann ich vielleicht sogar mein Buch abschließen…« »Was ist das – Hypnose?« fragte Betty neugierig. »Nicht meine Idee«, sagte der Arzt. »Den hypnotischen Heilschlaf kannten schon die Priester im alten Delphi. Wir haben das nur vergessen.« Er betrachtete das Mädchen und streichelte zärtlich Bettys Schultern. Dann hatte er eine Idee.
»Unterhalte dich doch mal mit ihm«, bat er. »Dir erzählt er vielleicht Dinge, die er mir nicht anvertrauen würde. Notier dir alles, was wichtig sein könnte. Aber um Gottes willen nicht während des Gespräches, sondern erst hinterher, wenn du allein bist; – oder bei mir…« Beide lachten, und der Arzt zog Betty an sich.
5 Am nächsten Tag stand Klaus Schneider totenbleich vor dem Major. Er zitterte am ganzen Körper, seine Worte überschlugen sich, als er versuchte, dem Arzt sein Dilemma begreiflich zu machen. »Herr Major – ich kann nicht mehr! Ich bin am Ende!« Er zeigte auf Brust und Nacken. »Ich habe Angst, daß ich verrückt werde!« »So schnell geht das nicht, mein Junge«, sagte Dr. Bettelheim gelassen. »Bleiben Sie ganz ruhig. Und jetzt legen Sie sich erst einmal hier aufs Bett.« Er führte den verstörten Mann zur Untersuchungsliege. »Warum läßt man uns nicht am Leben?« rief Schneider verzweifelt. »Die Monarchie ist doch am Ende!« Der Arzt sah auf, als die Tür sich einen Spaltbreit öffnete. »Warum glauben Sie das?« fragte er ruhig. »Sehen Sie denn nicht, Herr Major, daß alles zugrunde geht? Ich sehe schwarz für Österreich, für Deutschland, für diese Kaiserreiche. Für die bürgerliche Gesellschaft, für Europa – für uns alle!« Dr. Bettelheim stand auf, ging zur Tür, schloß sie vorsichtig und setzte sich wieder zu Schneider. »Damit sind Sie nicht allein. Das wissen außer Ihnen noch ein paar andere, Schneider.« Seine Stimme war leise, sein Blick, der den Schneiders festhielt, beruhigend, aber auch zwingend und fesselnd, erlaubte keine Flucht. »Auch ich hatte immer Angst vor dem, was kam«, gab er zu. »Auch vor meinen Augen entstehen manchmal Bilder, Schreckensvisionen, die mich mit Furcht erfüllen. Auch Erinnerungen. Ich bin Arztsohn, großgeworden in einer
Kleinstadt. Einmal hetzte man die Bevölkerung gegen die Juden auf, die Synagoge wurde in Brand gesteckt, ein kleiner Krämerladen und zwei Kneipen wurden zerstört, die verängstigten Juden wurden ans Flußufer getrieben und ins Wasser gedrängt. Ein Junge konnte fliehen und kletterte auf einen Baum. Doch die Menschen steckten den Baum in Brand, standen um ihn herum und warteten darauf, daß der Junge herunterfallen würde. Dieses Bild, diese Erinnerung fällt mir immer wieder ein, bei gewissen Menschen und gewissen Ereignissen. Manchmal sehe ich mich auch selbst – dort oben auf dem Baum. Manchmal sehe ich mich im Wasser. In Ihrer Vorstellung brennt eine Apotheke. Wem gehört sie übrigens, diese Apotheke?« »Den Leuten von gegenüber, Töths.« »Warum brannte ihre Apotheke?« fragte Dr. Bettelheim weiter. »Ich weiß nicht.« Schneider dachte nach. »Ich war erst sechs Jahre alt. Wir wohnten vorübergehend in Böhmen. Aber ich weiß, daß ich vor dem Feuer zu Töths hinüberlief und ihre Tochter in unser Haus holte.« »Erinnern Sie sich daran?« Der Arzt war sichtlich interessiert. Schneider schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht sicher. Meine Mutter hat es mir öfter erzählt.« »Lieben Sie Ihre Mutter?« fragte Dr. Bettelheim weiter. Schneider zögerte. »Sie war Sängerin«, sagte er dann erklärend, »und interessierte sich nur für sich selbst.« Sie war neurotisch und depressiv – aber ich habe sie sehr geliebt, dachte er weiter. »Und Ihren Vater – lieben Sie den?« wollte der Arzt wissen. Jetzt kam die Antwort schneller. »Der liebe Gott hat ihn sehr früh zu sich gerufen.« Dem Himmel sei Dank, fuhr er in Gedanken fort.
Das Verhör ging weiter. »Sind Sie religiös? Glauben Sie an Gott?« »Er fehlt mir bloß«, sagte Schneider. »Er fehlt Ihnen?« fragte der Arzt überrascht. »Das heißt also, daß es ihn Ihrer Meinung nach gibt? Denn was uns fehlt, das hat uns einmal gehört, deshalb vermissen wir jetzt etwas, deshalb fehlt es uns.« Schneider, der zwischendurch ruhiger geworden war, begann wieder, am ganzen Körper unkontrolliert zu zittern. Sein Blick war flehend. »Bitte heilen Sie mich, Herr Major!« »Denken Sie immer an das Gesetz der Natur«, bat Dr. Bettelheim. »Alles, was existiert, funktioniert nach demselben Prinzip, nach der gleichen Ordnung. Was das für Sie bedeutet? Ihre Angst zeigt, daß die Ordnung in Ihnen aus den Fugen geraten ist. Vielleicht kennen Sie Ihren Platz innerhalb des ganzen Systems noch nicht? Haben Sie schon mal an Selbstmord gedacht?« Schneider nickte. »Ja… aber jetzt will ich leben.« »Was wollen Sie tun, wenn Sie entlassen werden?« »Auftreten.« Jetzt war Schneiders Stimme fest und entschieden. – »Ist das gut?« Dr. Bettelheims Stimme klang zweifelnd. Schneider lächelte zaghaft und nickte dann. Dr. Bettelheim lächelte zurück und nickte ebenfalls. »Nichts für mich«, sagte er dann. »Mir hat man immer eingetrichtert, ja nicht aufzufallen, weil das angeblich nur Unheil bringt. Was gar nicht so verkehrt ist: Auch im Krieg wird zuerst auf den Soldaten geschossen, der unter den anderen herausragt oder auffällt.« »Geschossen wird auf alle«, widersprach Schneider. »Ein Gymnasiast schoß in Sarajewo auf einen Erzherzog. Und was
wird daraus? Ein Weltkrieg! Hatten Sie auch schon mal das Gefühl, die Zukunft voraussagen zu können, Herr Major?« »Nein, Gott sei Dank nicht, ich bin kein Wahrsager. Aber Vorahnungen – die habe ich leider manchmal. Oft bestätigen sie sich dann auch. Wann sind Sie denn zum ersten Mal aufgetreten?« »Mit fünf Jahren. Als Sänger.« »Mit Erfolg?« fragte der Arzt neugierig. »Ja. Ich sang im Chor solo und bekam großen Beifall.« »Und warum sind Sie dann nicht Sänger geworden?« fragte Dr. Bettelheim gespannt. Schneider sah ihn erstaunt an. »Dafür reichte mein Talent dann wieder doch nicht.« »Nein? Und woher wissen Sie das?« »Ich weiß es eben.« Schneider gab sich stur wie ein bockiges Kind und ging zu der Frage über, die ihn jetzt viel mehr beschäftigte: »Heilen Sie mich, Herr Major? Können Sie mir helfen?« Dr. Bettelheim nickte. »Haben Sie denn noch Kopfschmerzen?« »Ja.« »Entspannen Sie sich«, bat Dr. Bettelheim. »Vor allem Ihren Nacken, Ihre Schultern. Wie das geht? Lassen Sie einfach die Arme fallen.« Der Arzt machte es ihm vor, dehnte sich, straffte Arme und Schultern, ließ sie fallen, schüttelte sie aus. »Ihr Wille muß geschult werden, Ihr Körper muß Ihnen wieder gehorchen. Das ist die wichtigste Waffe, die der Mensch hat. Vor allem dann, wenn er ein Staatsbürger zweiten Ranges ist.« »Zweiten Ranges?« Schneiders Blick war erstaunt. »Wen meinen Sie damit?« »Na, zum Beispiel Sie, einen Künstler. Sind Sie müde?« »Ja…«, antwortete Schneider gedehnt.
Der Arzt beugte sich über ihn, sah ihm ins Gesicht, hielt seinen Blick fest. »Atmen Sie langsam, ruhig«, befahl er. »Haben Sie keine Angst vor der Müdigkeit. Es kann Ihnen nichts geschehen. Sie werden schlafen. Sie sind erschöpft. Ruhen Sie sich einfach ein wenig aus.« Klaus Schneider holte tief Luft, atmete dann ruhiger, tiefer und war nach ein paar Minuten eingeschlafen. Dr. Bettelheim betrachtete ihn zufrieden. Da klopfte es an der Tür. Betty. Sie steckte ihren Kopf herein und winkte Dr. Bettelheim zu. Der stand behutsam auf, um Schneider nicht zu wecken, und verließ das Zimmer. Zu spät – Schneider öffnete langsam die Augen. Ja, dachte er – sie erinnert mich wirklich sehr an meine Mutter… Zwei Offiziere standen in Dr. Bettelheims Sprechzimmer und salutierten. »Hauptmann Trantow-Waldbach«, stellte sich der eine vor, »Hauptmann Tibor Nowotny«, der andere. »Herr Major«, sagte der erste, »wir haben einen Befehl erhalten, der Ihr Lazarett betrifft.« »Ja, bitte?« Dr. Bettelheim machte sich auf alles gefaßt. »Seine Majestät der Kaiser hält demnächst eine Inspektion dieses Frontabschnittes ab und plant, auch Ihrem Lazarett einen Besuch abzustatten. Immerhin war die Schlacht hier ein Wendepunkt, zum ersten Mal wurden die Russen zurückgeschlagen. Wahrscheinlich wird er einigen Verwundeten Auszeichnungen verleihen, und seine Hofdamen werden die Kranken beschenken und trösten.« O Gott! dachte Dr. Bettelheim und zuckte zusammen. Nun ergriff Nowotny das Wort. »Deshalb sind wir hier. Der Kaiser und seine Gefolgschaft müssen formvollendet begrüßt werden, mit einer schönen, feierlichen, dem Anlaß entsprechenden Zeremonie. Spalier,
Hurra, Soldatenlieder, Meldungen, ein oder zwei spontane, menschliche Momente… Dafür sorg’ ich schon, darum brauchen Sie sich nicht zu kümmern, Herr Major. Wichtiger und schwieriger: ein Heldenfriedhof muß angelegt werden, eine Grabstätte, die seine Majestät weihen wird. Dazu brauch’ ich ein paar Leute – und ich bin der Meinung, daß den Genesenden ein bißchen Arbeit an der frischen Luft bestimmt nicht schaden wird.« »Ein Heldenfriedhof? Was soll das?« fragte der Arzt fassungslos. »Die Opfer der letzten Schlachten in dieser Gegend liegen doch in Massengräbern«, erklärte der Offizier geduldig. »Sie werden ganz einfach exhumiert und auf diesem Heldenfriedhof beigesetzt.« Dr. Bettelheim schüttelte sich ein wenig. »Keine Arbeit, um die ich Sie beneide.« »Halb so schlimm. Ich habe mal zwei Jahre lang Fronttheater organisiert. Die Vorbereitung des Kaiserbesuchs ist eine Auszeichnung für mich.« Nowotny war im Zivilberuf Theater- und Varieteagent, ein begabter Veranstalter mit besonderen organisatorischen Fähigkeiten und weitreichenden Verbindungen. Doch wen interessierte das jetzt? Es war Krieg. Die beiden Offiziere salutierten und traten ab. Der Krieg, dachte Nowotny, ist auch nichts anderes als eine Supershow. Das größte Feuerwerk der Welt, bei dem niemand danach fragt, was es kostet. Doch diesen Gedanken sprach er nicht aus. In diesen Zeiten wußte man nie, wem man trauen konnte – und diesem feschen Grafen in Offiziersuniform traute er ganz sicher nicht…
6 Ein paar Wochen später studierten Unteroffiziere mit Gruppen von Verwundeten im Schloßpark das Programm ein. »Hurra, links um, rechts um!« Hauptmann Nowotny ging zwischen den Gruppen auf und ab und ließ den einen oder anderen Soldaten aus der Reihe treten. »Treten Sie vor, Junge!« rief er. »Marsch, zurück ins Krankenzimmer!« Dr. Bettelheim trat zu Nowotny und deutete auf Klaus Schneider. »Der Mann dort drüben, der mit dem Kopfverband, der kommt vom Theater. Überanstrengen Sie ihn nicht, aber setzen Sie ihn ständig ein. Das tut ihm gut. Und es erspart ihm, wenn Sie ihn offiziell anfordern, eine vorzeitige Rückkehr an die Front.« Nowotny nickte zustimmend. »Ja, Herr Major.« Graf von Trantow-Waldbach kam, gemeinsam mit Schwester Betty, von den Nebengebäuden. Vor einer Tür saßen in einem Halbkreis Dorfbewohner und schälten Kartoffeln. »Wie kommen die denn hierher?« fragte der Graf. »Die sind aus dem Dorf«, erklärte Betty. »Ohne sie können wir die Küchenarbeit nicht bewältigen.« Der Graf protestierte. »Feindliche Bevölkerung im besetzten Gebiet, die für uns arbeitet? Das geht nicht. Die müssen weg, und zwar sofort. Ihre Küchenarbeit müssen Sie schon anders organisieren.« Der Graf und Schwester Betty erreichten die übenden Soldaten; Zugführer Klaus Schneider beobachtete sie vom Rand der Reihe aus.
Der Graf war inzwischen bei Nowotny und betrachtete die Männer abschätzend. »Die brechen doch zusammen, wenn sie fünfzehn Minuten strammstehen müssen«, gab er zu bedenken. »Oder sie machen sich in die Hosen. Hier können unmöglich so viele Krüppel mit einem Bein oder auf Krücken herumstehen, wenn seine Majestät kommt.« »Es sind Verwundete«, wandte Nowotny ein. »Schließlich haben sie Beine und Arme für die Monarchie geopfert. Es sind Symbole der Treue, der Loyalität für den Kaiser.« »Es sind zu viele«, beharrte der Graf. »Laß einfach die Hälfte von ihnen verschwinden!« Nowotny gab nach – und zwar sofort. »Sie drei dort!« rief er. »Zurück in den Saal! Sie dort auch! Und Sie! Und Sie…« Einer der Einbeinigen begann plötzlich zu schreien. Es war der Epileptiker, der Landesmeister im Turnen. »Zum Krepieren bin ich gut genug«, schrie er, »aber nicht mehr gut genug, dem Kaiser in die Augen zu sehen? Ich denke nicht daran zurückzugehen!« »Diskutieren Sie nicht herum, guter Mann«, sagte Nowotnybegütigend. »Legen Sie sich schön brav ins Bett. Sie wollen doch nicht als Soldat vor dem Kaiser umfallen, oder?« »Ich falle nicht um!« wehrte sich der Mann. »Ich will den Kaiser sehen!« »Legen Sie sich wieder hin!« Nowotny begann, die Geduld zu verlieren. »Er soll mich ruhig so sehen«, protestierte der Ungar. »Er soll sich genau ansehen, was aus mir geworden ist, was aus uns allen geworden ist!« »Bringen Sie den Mann zurück in den Krankensaal«, rief Nowotny. »Er soll den Mund halten!«
Der Ungar wurde immer wütender. »Ich habe der Monarchie genug gegeben. Ich habe das Recht, meine Meinung zu sagen.« Doch seine Argumente nützten ihm nichts; schon packten ihn zwei Feldwebel und brachten ihn ins Schloß zurück. Wieder im Krankensaal, beugte sich der Turnmeister, mit dem Oberkörper halb aus dem Bett hängend, über seine Holzkiste, fand, was er suchte und sah sich aufgeregt um. Dann drückte er das Ding in seiner Hand eng an sich: eine Handgranate! Der Ungar steckte den Finger in den Entsicherungsring, schaute einen Moment lang starr vor sich hin und brüllte dann los. »Keine Angst, Jungs – es dauert nicht mehr lange! Ich helfe auch euch, Kameraden!« Er hob die Handgranate hoch und zeigte sie allen. »Kommt näher, dann ist es sicherer. Wir machen Schluß, Schluß mit allem – gemeinsam!« Einige erfaßten blitzschnell die Situation und versuchten zu fliehen. Ein anderer schrie in plötzlicher Todesangst so laut auf, daß Verwundete von draußen hereineilten und mit den Flüchtenden zusammenprallten. Ein Kranker kroch auf dem Boden in Richtung Tür, ein anderer blieb wie gelähmt wimmernd im Bett sitzen. Der Blick des Turnmeisters war irre geworden. »Einen Augenblick noch, und alles ist vorbei!« Er hob die Handgranate hoch und sammelte Kraft für den Wurf. Doch eine entschiedene Stimme ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten. »Warte! Einen Moment!« Der Ungar sah auf: Am anderen Ende des Saales stand Zugführer Klaus Schneider. »Nicht so schnell, Kamerad. Einen Augenblick. Ich komme zu dir.« Schneider ging langsam los, sein Blick ließ die flackernden Augen des anderen nicht los; er strahlte eine seltsame Kraft
aus, eine Faszination. Die beiden Menschen schienen von einem unsichtbaren Band zusammengehalten, einem glühenden Strahl, der Schneider langsam, aber sicher zum Bett des Kameraden zog. »Du hast recht – diese Welt ist nicht die unsere«, sagte er ruhig. »Es regieren Bosheit und Hinterhältigkeit, Hochmut und Herrschsucht, Verrat und Angst. Diese Welt ist zum Tode verurteilt, doch sie mordet und zerstört, um sich zu erhalten, solange es noch geht. Auch du bist ein Opfer, ebenso wie ich…« Zugführer Schneider erreichte den Kameraden, fixierte ihn mit seinem Blick, in dem überirdische Kraft lag. »Es ist sehr schwer, was du dir da vorgenommen hast«, murmelte er. »Überleg dir genau jedes Detail. Hol tief Luft, ganz langsam, so wie ich. Siehst du? Wir wollen gemeinsam überlegen, gemeinsam handeln. Wir wollen tief durchatmen. Einatmen… ausatmen… einatmen… gut… enspann dich. Deine Schultern, deine Arme, deine Finger. Und jetzt… reich mir deinen Arm…« Schneiders Blick ließ den des Turnmeisters nicht los, als er ihm schnell, aber behutsam die Handgranate wegnahm. »Du bist sehr erschöpft«, sprach er leise weiter. »Merkst du es? Wie ich… Hab keine Angst vor der Müdigkeit, laß dich fallen, gib ihr nach, leiste keinen Widerstand… Du schläfst ein… Du legst dich einfach hin und schläfst ein… So… Und nun ruh dich aus, Kamerad…« Schneider legte seine freie Hand auf die Stirn des Soldaten und blieb unbeweglich am Bettrand sitzen, in der anderen Hand die Granate. Auf seiner Stirn glitzerten Schweißtropfen, sein Blick wurde müde, sein Gesicht spiegelte Schmerzen und Erschöpfung wider. Schließlich stand Schneider auf und ging zur Tür, rang nach Luft, übergab dem nächsten Kameraden die Granate und brach ohnmächtig zusammen. In der Tür: Dr.
Bettelheim und Fragezeichen.
Schwester
Betty,
ihr
Gesicht
zwei
7 Klaus Schneider lag wieder einmal auf der Untersuchungsliege in Dr. Bettelheims Sprechzimmer. Er kniff mit schmerzverzerrtem Gesicht die Augen zusammen, sein Blick war unstet, keine Spur mehr von der Kraft, mit der er eben noch die lebensbedrohliche Situation gemeistert hatte. »Was Sie da getan haben, hätte ich nicht geschafft«, sagte Dr. Bettelheim leise, mit Anerkennung im Blick. »Sie müssen Ihre Kraft unbedingt in den Dienst der Heilkunst stellen«, fuhr er eindringlich fort. »Sie sind ein großes Talent und könnten Hunderten von Menschen das Leben retten. Gleich nach dem Krieg können Sie alles lernen. Kommen Sie zu mir in die Klinik; ich übernehme die Kosten. Hören Sie mir überhaupt zu?« Schneider nickte benommen. Warum hatte ich diese Kraft nicht schon früher, fragte er sich. Warum konnte ich meine Mutter nicht daran hindern, sich umzubringen? »Haben Sie immer noch so quälende Kopfschmerzen?« fragte der Arzt teilnahmsvoll. Der andere senkte nur die Augen. »Ich schicke Sie in die Stadt zur Untersuchung – zu meinem ehemaligen Professor. Schwester Betty wird Sie begleiten. Abgemacht? Und dann sehen wir weiter. Mit Ihrer Begabung werden Sie in der Lage sein, die Menschen mit wissenschaftlicher Hypnose zu heilen.« In Schneiders Blick lag ein dankbares Lächeln, als er flüsterte: »Was ich mit dem Ungarn gemacht habe… nennt man das… Hypnose?« »Ja.«
»Wie kann man das noch besser lernen?« fragte Schneider weiter. »Sie müssen Ihre eigene Person vollkommen vergessen und Ihre Aufmerksamkeit ganz auf andere konzentrieren«, antwortete der Arzt ernst. »Sie sollen auch nicht lernen, andere zu beurteilen, sondern sie kennenlernen und verstehen. Beobachten Sie das Leuchten in ihren Augen, die Veränderungen in ihren Gesichtern, ihre Gesten, ihren Tonfall. Ich habe einmal in einem Zigeunerzirkus eine Attraktion gesehen, die mich sehr beeindruckt hat. Ein Mann forderte die Zuschauer auf, in seiner Abwesenheit einen Gegenstand zu verstecken, den er nicht kannte. Auf seine Bitte hin wählte das Publikum dann ein Medium aus, eine Person, die er darum bat, intensiv an den Gegenstand zu denken. Der Magier nahm dann die Hand des Mediums und fand den versteckten Gegenstand. Am nächsten Tag ging ich wieder in den Zirkus – und richtete es so ein, daß ich als Medium gewählt wurde. Und fand dabei heraus, daß der Mann nur das Publikum zu beobachten brauchte: Je mehr man sich dem gesuchten Gegenstand näherte, um so stiller wurde es. Ging man daran vorbei, ging ein enttäuschtes Raunen oder ein verlegenes Lachen durch die Bankreihen. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit erklären will?«
8 Gegen Mittag waren sie in der kleinen Stadt angekommen. Klaus Schneider saß im Hof des Kleinstadthospitals und wartete auf Schwester Betty. Er rutschte ungeduldig auf seiner Bank hin und her, als die junge Frau endlich aus dem Haus kam. »Der Chefarzt kann Sie erst morgen untersuchen«, sagte sie. »Er erwartet uns morgen um acht. Wir müssen uns jetzt nach einem kleinen Hotel umschauen. Er sagt, es hat keinen Sinn, Sie ins Spital aufzunehmen; Platz wäre nur auf dem Flur.« Schneider nickte. »Danke…« Betty nahm seinen Arm. »Gehen wir.« Später Abend. Es klopfte an die Tür des kleinen Hotelzimmers, und Schneider sah auf. Er war gerade dabei, sich auszuziehen, saß mit nacktem Oberkörper und in Uniformhose auf dem Bettrand und zog sich die Stiefel aus. »Ja?« rief er. »Geht es Ihnen gut?« Schwester Bettys Stimme. »Alles in Ordnung?« »Ja«, sagte Schneider. Doch Betty war noch nicht zufrieden. »Ich würde mir gern noch Ihren Kopfverband ansehen.« Schnell streifte Schneider sein Hemd wieder über, ging zur Tür und öffnete sie. Verlegen sah er Betty an, die im Morgenrock auf dem Flur stand. Unbefangen betrat sie das Zimmer und blieb vor der Nachttischlampe stehen. »Kommen Sie, setzen Sie sich hier hin«, bat sie. Schneider schloß die Tür und setzte sich aufs Bett, während Betty zu ihm trat. Sie sah sich den Verband an und zog seinen Kopf dicht zu sich heran, um den Knoten neu zu binden. Durch
ihren leicht geöffneten Morgenrock sah Schneider Bettys Schenkel und ihren Bauch unter dem durchsichtigen Nachthemd. Verlegen sah er auf – auch über ihrer Brust hatte sich der Mantel jetzt geöffnet. Mit leuchtenden Augen lächelte die junge Frau ihn an. »Na?« Ihre Stimme war eine einzige Aufforderung. Schneider griff nach ihren Hüften, sah dem Morgenrock nach, den Betty einfach fallenließ, und begann, sie hingebungsvoll zu streicheln, während sie in die Hocke ging und Schneiders Gürtel öffnete. Später, im Bett, beugte sich Betty über Klaus Schneider. »Jetzt siehst du, daß du vor mir keine Angst zu haben brauchst, oder?« »Wieso Angst?« fragte Schneider. »Du hast dich doch nicht getraut, zu mir zu kommen«, erklärte Betty. »Dabei habe ich es dir schon lange angesehen, wie sehr du es wolltest… Ich wußte auch, was auf dieser Reise geschehen würde…« »Woher wußtest du das?« fragte Schneider naiv. »Man hat eben so seine Vorahnungen«, erwiderte Betty geheimnisvoll. »Warst du dir so sicher?« wollte Schneider wissen. Betty nickte. »Aber ich hatte Angst, was passieren würde, wenn es passiert…« »Wovor hattest du Angst?« fragte Schneider neugierig. »Daß du dich zu sehr in mich verlieben und Forderungen stellen würdest«, sagte Betty. »Darf ich denn keine Forderungen stellen?« fragte Schneider erstaunt. »Nein«, sagte Betty, »ich muß aufpassen. Private Beziehungen zu den Soldaten sind streng verboten.« »Ich hatte wirklich Angst vor dir«, gestand Schneider jetzt. »Warum?«
»Wegen Dr. Bettelheim. Wir haben uns sehr angefreundet«, erklärte Schneider. »Ich weiß«, stimmte Betty zu. »Er hat es mir erzählt.« »Was ist, wenn er es erfährt?« Diese Vorstellung machte Schneider offensichtlich etwas nervös. »Er muß es nicht erfahren«, beruhigte Betty ihn und erklärte ihm ihre Beziehung zu Dr. Bettelheim. »Als man mir mitteilte, daß mein Mann an der russischen Front verschollen ist, drehte ich durch. Dr. Bettelheim half mir; er war sehr lieb und zärtlich. Eines Abends fragte er: Na, wollen Sie nicht mit mir schlafen? Ich ging wortlos mit. Und er war sehr gut. Dieser Mann weiß genau, was eine Frau braucht.« Schneiders männliche Eitelkeit regte sich. »Und ich?« wollte er wissen. Betty lächelte. »Du weißt es auch«, versicherte sie. »Sehr gut sogar.« Aber Schneider war noch nicht zufrieden. »Wie viele Geliebte hattest du schon?« »Fünf.« Die Antwort kam klar und präzise. »Und welcher war der beste?« »Das weiß ich noch nicht«, sagte Betty unentschlossen. »Vielleicht du?« Schneider setzte das Kreuzverhör fort. »Warum hast du mit mir geschlafen?« Betty schloß die Augen und überlegte. »Als wir uns im Park zum ersten Mal in die Augen sahen, überlegte ich, ob du am Krieg schuld bist. Aber dann stellte ich mir vor, wie ein Zugführer mit einem magischen Blick wohl einen Krieg ausgelöst haben könnte. Egal, ich wußte, daß ich mich ganz schnell in dich verlieben würde, wenn ich nicht aufpaßte.« »Und Dr. Bettelheim?« »Er ist ein sehr kluger Mann«, wich Betty aus. »Und er ist gut. Deshalb kränke ihn bitte nicht.«
»Willst du ihn heiraten?« fragte Schneider. »Er ist schon verheiratet«, antwortete Betty. »Und er ist nicht der Typ, der sich scheiden läßt. Trotzdem kränke ihn nicht.« »Ich werde ihn niemals kränken. Ich verspreche es dir«, gab er ihr sein Wort. Betty sah ihn an, den nackten Mann an ihrer Seite, und mußte lachen. Schneider stimmte mit ein.
9 Auf einem Hügel sollte der Heldenfriedhof entstehen inmitten einer wunderschönen Landschaft mit Bergen und Talkesseln in der Ferne. Auf einer Seite des Hügels wurden gerade Gräber ausgehoben, auf der anderen Seite waren sie fertig, auf der Bergkuppe sah man schon Grabkreuze in militärischer Ordnung. Hier heben wir Gräber für die Toten aus, dachte Schneider – und wissen nicht, ob sie nicht schon für uns, die Lebenden, bestimmt sind… Mit nacktem Oberkörper, in der Hand einen Blechnapf und eine Feldflasche, erklomm Schneider den Hügel und ging auf einen Leiterwagen zu, der neben dem entstehenden Denkmal oben auf dem Berg stand. Im Schatten des Wagens saß Hauptmann Nowotny auf einem Feldstuhl, neben ihm ein Architekt, ebenfalls Offizier, mit dem er einen Entwurf studierte. Hinter ihnen wurde gerade ein Podest mit einem schwarzen Tuch überspannt, Kreuze wurden gezimmert. Klaus Schneider erreichte die schon fertigen Gräber, blieb stehen und betrachtete die Anordnung der Kreuze. Das Werk gefiel ihm. Doch dann las er eine Aufschrift und schien seinen Augen nicht zu trauen, trat näher und las die Aufschrift noch einmal genauer: ›Franz Josef‹. Schneider las eine andere Tafel; auf ihr stand in Schönschrift der Name ›Franz Ferdinand‹. Auf einer dritten stand ›Conrad von Hötzendorf‹, es folgten die Namen des Generalstabes. Schneider mußte laut lachen, und Nowotny sah irritiert zu ihm herüber. »Was wiehern Sie da?« rief er. »Melde gehorsamst, ich habe gute Laune«, antwortete Schneider lachend.
»Und warum, wenn ich fragen darf?« »Wegen der Kreuze«, sagte Schneider, noch immer lachend. »Und was ist daran so lustig?« Nowotny schien Schneiders Erheiterung gar nicht komisch zu finden. Dieser wurde unsicher. »Haben Sie die Tafeln denn nicht gelesen, Herr Hauptmann?« »Was?« Nowotny stand mißtrauisch auf und trat zu den Gräbern. Er erstarrte. »Verflucht nochmal, wer war das Rindvieh? Ich komme vors Kriegsgericht, aber Sie gehen alle mit. Nehmen Sie ein Werkzeug und schlagen Sie sofort sämtliche Tafeln ab!« Außer sich vor Zorn brüllte Nowotny ins Tal hinunter: »Wachtmeister Kovacs, verflucht, wozu sind Sie denn hier? Halten Sie mich für einen Idioten?« Ein sehr erschrockener Wachtmeister kam angelaufen. »Herr Hauptmann – Sie haben doch gesagt, es sei egal, was wir draufschreiben, Hauptsache, es wären Namen.« »Idiot!« schrie Nowotny. »Ich werde Sie erschießen! Dann haben wir wenigstens eine echte Leiche! Ich will anständige Namen sehen – wie Wajda, Menzel, Jancso… verstanden?« »Melde gehorsamst, ich habe verstanden!« Der Wachtmeister stand stramm. Schneider freute sich. »Herr Hauptmann, melde gehorsamst: Die Namen, die Sie eben aufgezählt haben, kenne ich alle… Es sind Illusionisten, Magier…« Nowotny wurde verlegen. »Woher kennen Sie die?« fragte er. »Melde gehorsamst: Ich habe im Variete gearbeitet.« Der Hauptmann nickte: »Sehen Sie, da bestätigt sich wieder einmal meine Theorie: Ein Künstler läuft immer mit offenen Augen durch die Welt. Wetten, daß das hier die Ungarn
waren? Stellen Sie sich vor, Seine Majestät wäre zu den Grabsteinen gegangen und hätte vor seinem eigenen Grab salutiert… Ich kenne die kleinen Provinzzirkusse und Varietes übrigens auch. Ich bin Direktor Nowotny vom Variete Nowotny, in Prag-Brunn. Ich will ein Frontkabarett auf die Beine stellen. Wenn Sie eine gute Nummer haben, können Sie mitkommen.« Schneiders Augen leuchteten auf. »Willensübertragung«, vermutete er. »Was meinen Sie damit?« fragte Nowotny erstaunt. »Hypnose… Telepathie…« »Sie glauben an diese Dinge?« fragte Nowotny interessiert. »Wenn ich mal Zeit habe, können Sie es mir zeigen.« Schneider hob bedauernd die Schultern. »Leider habe ich Dr. Bettelheim schon versprochen, bei ihm zu bleiben. Er hat mir das übrigens beigebracht.« »Ach – Sie sind das! Er hat mir von Ihnen erzählt. Wissen Sie, alter Junge, die beste Arznei für alles ist das Lachen. Wer wieder lachen kann, wird auch wieder gesund. Auch dem Wunder zu begegnen, der Magie zu glauben und in Ekstase zu fallen – das alles führt zur Heilung. Die Menschen hungern geradezu nach Ekstase. Erinnern Sie sich, wie wir vor vier Jahren an die Front gezogen sind? Mit dem Krieg ist es wie mit der Liebe. Wenn man sie genossen oder davon gar den Tripper bekommen hat, ist die Begeisterung nicht mehr so groß. Und dennoch fängt man immer wieder an.«
10 In der Vorhalle des Schloßlazaretts trug „eine hübsche Sängerin, von einem Stehgeiger begleitet, ein anzügliches Couplet vor. Die verwundeten Soldaten lauschten ihr mit staunenden Augen und offenen Mündern. Das Programm lief auf einer provisorisch aufgestellten Bühne ab, die Soldaten saßen ringsum auf Bänken, Stühlen, auf dem Boden oder lagen auf Betten und Bahren. Begeistert verfolgten sie das Programm – besonders dann, wenn die Sängerin sich vorbeugte und den Blick auf ihre vollen Brüste freigab. Manchmal hob sie auch ihren Rock, so daß die Waden frei wurden, drehte sich um, wackelte mit dem Po, wiegte sich in den Hüften, zwinkerte den Soldaten zu und warf ihnen Küsse zu. »Komm zu mir!« hörte man jemanden aus dem Publikum rufen. »Einen für mich!« einen anderen. Jemand flüsterte seinem Nachbarn zu: »Oh, der würd’ ich’s gern besorgen!« Die Augen der Krankenschwestern brannten vor Eifersucht. Schneider bereitete sich indessen hinter der Bühne auf seinen Auftritt vor. Er trug ein geliehenes Operettenkostüm, seine Augenbrauen hatte er blaugrün und goldfarben geschminkt. In einem riesigen Kleiderkorb suchte er einen Umhang, zog purpurrote, schwarze, goldene und pelzgeschmückte Mäntel hervor, war jedoch mit keinem zufrieden. Ratlos sah er Betty an, die neben ihm in einem anderen Kleiderkorb herumwühlte und schließlich einen glänzenden, dunkelgrünen Umhang hervorholte. Schneider warf ihn über – und beide waren nun mit seiner Erscheinung zufrieden.
Die Sängerin feierte draußen einen Riesenerfolg, doch Hauptmann Nowotny trat auf die Bühne und bremste mit einer Handbewegung den tosenden Beifall. »Sie werden der Künstlerin heute noch einmal begegnen«, kündigte er an. »Jetzt aber sehen Sie erst einmal einen alten Kameraden wieder, einen Helden der letzten Schlacht. Er lebt schon seit langer Zeit mitten unter Ihnen – ohne daß Sie wußten, daß er Hellseher ist.« Jetzt betrat Schneider die Bühne und ging vor bis an den Rand, während ihn der dunkelgrüne Umhang geheimnisvoll umflatterte. »Das ist doch Schneider!« riefen die Kameraden erstaunt. »Zugführer Schneider!« Schneider hob die Hand und bat um Ruhe. Die Geste war noch nicht sehr professionell, drückte aber Kraft aus. Innerhalb von Sekunden herrschte gespannte Stille. Schneider zog ein schwarzes Tuch aus seinem Umhang hervor, reichte es Hauptmann Nowotny, der neben ihm stand, und ließ sich von diesem mit theatralischen Bewegungen die Augen verbinden. Nowotny führte Schneider zur Mitte der Bühne und drehte ihn herum, so daß er jetzt dem Publikum den Rücken zukehrte. »Meine Freunde«, wandte Nowotny sich wieder an das Publikum. »Ich habe eine Bitte. Verstecken Sie irgendeinen Gegenstand unter den Zuschauern. Der Zugführer wird dann diesen Gegenstand mit Hilfe eines Mediums finden.« Ein Raunen ging durch die Zuschauerreihen. Die Soldaten hielten verschiedene Gegenstände in die Hohe: Tabaketuis, Brieftaschen, Brillen usw. Stumm gaben sie sich Zeichen. Schließlich wurde man sich einig und signalisierte Nowotny das Ergebnis der Beratung. Dieser drehte Schneider wieder um und führte ihn zur Treppe. »Jetzt wählt der Hellseher ein Medium aus«, sagte er laut. »Er geht durch die Zuschauerreihen. Der, den er als ersten mit
verbundenen Augen berührt, wird ihn zu dem versteckten Gegenstand führen, ohne ein Wort zu sagen.« Mit Nowotnys Hilfe stolperte Schneider die Stufen hinab und ging dann vorsichtig allein weiter in Richtung der Zuschauerreihen. Er tastete sich vor und berührte – Dr. Bettelheim. Der Arzt lachte und stand auf. Schneider befahl ihm: »Geben Sie mir Ihre Hand! Und jetzt denken Sie an den Gegenstand, der eben versteckt wurde. Nicht so unsicher! Denken Sie ganz fest an diesen Gegenstand. Ich will ihn genau sehen. Seine Form, sein Material, sein Gewicht, seinen Umfang. Wovor haben Sie Angst? Dieser Gegenstand geht doch nicht in die Luft! Gehen Sie los, nicht nach rechts, nach links. Halt! Zurück! Gehen Sie nach oben!« Das Publikum war unruhig. Wenn Schneider und Bettelheim in der Nähe des Versteckes waren, herrschte angespannte Stille, gingen sie weiter, machte sich erleichtertes oder auch enttäuschtes Aufatmen breit, wenn Schneider den Arzt anhielt oder ihm neue Befehle gab, wurde es wieder mucksmäuschenstill. Schneider ging, den Arzt an der Hand, zweimal an den Reihen entlang, bis er endlich stehenblieb – genau an der richtigen Stelle. Er ging in die Reihe hinein, ging weiter und wieder zurück, stand schon fast vor dem Soldaten, der sein Taschenmesser versteckt hatte, als Nowotny die Darbietung mit einem Zwischenruf unterbrach. Der Hauptmann sprang auf die Bühne, in der Hand einen Morsestreifen. »Leute, hergehört!« brüllte er. »Der Krieg ist aus! Waffenstillstand! Der Befehl seiner Majestät Karl IV. Kaiser von Österreich und König von Ungarn, an alle unter Waffen stehenden Einheiten: Die Verhandlungen der im Krieg stehenden Mächte waren erfolgreich, die Kriegshandlungen sind an allen Frontabschnitten einzustellen.«
Nowotny kam nicht dazu, den Morsestreifen zu Ende vorzulesen. Überall brach Euphorie aus, Menschen schrien, Soldaten und Krankenschwestern fielen sich um den Hals, lachten und weinten. Ekstase, wie Nowotny sie Schneider beschrieben hatte, herrschte überall. Schneider jedoch stand hilflos unter den Zuschauern. Vergeblich versuchte er, sich von dem schwarzen Tuch, das noch immer sein Gesicht bedeckte, zu befreien, riß es sich schließlich gewaltsam von den Augen. Verstört betrachtete er den freudigen Trubel. Den versteckten Gegenstand brauchte er nun nicht mehr zu suchen, er interessierte niemanden mehr: Man hatte ihm die Freude gründlich verdorben. Zwei Sängerinnen und zwei Sänger eilten auf die Bühne und improvisierten eine Freudenode aus irgendeiner K.u.K.Operette. Das tobende Publikum sang mit.
11 Ein Kleinstadtbahnhof Monate danach. Eingezwängt saß Schneider in einem überfüllten Eisenbahnabteil, zwischen Bauern, die offensichtlich von Hamsterfahrten kamen, Frauen mit Körben und Säcken, hier und da ein Soldat. Die meisten Reisenden schliefen, und auch Schneider hatte sich fest in seinen Mantel gehüllt, als der Zug jetzt hielt. Er schreckte auf, versuchte, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Jemand zog die beschlagene Scheibe herunter. Die Reisenden sahen jetzt, daß sie am Ende einer Bahnstation auf einem Abstellgleis standen. In der Ferne waren undeutlich Bewegungen auszumachen. Schneider beschloß, der Sache nachzugehen. Er kletterte aus dem Zug, dehnte und streckte die verkrampften Muskeln und ging dann, gemeinsam mit anderen Reisenden, zum Stationsgebäude. Gutgekleidete Männer und Frauen, manche sogar in Festkleidung, standen auf dem Bahnsteig und warteten offensichtlich auf einen Zug, jedoch hatte keiner Reisegepäck bei sich. Als Schneider sich umsah, erkannte er, daß von der Straße her immer mehr Menschen kamen. Er sprach einen der Männer an. »Auf welchen Zug warten Sie?« fragte er. »Auf den aus Wien«, sagte der andere. »Und wohin fährt der?« fragte Schneider weiter. »In die Schweiz.« Schneider sah sich wieder um. »Fahren Sie alle in die Schweiz?« wollte er erstaunt wissen. »Nein, mein Herr«, sagte der Fremde. »Wir wollen nur den Kaiser ein letztes Mal sehen. Er verläßt jetzt das Land.«
Und schon hörte man das Rattern des nahenden Zuges, der am Horizont auftauchte und in die Station einfuhr. Die Wartenden drängten nach vorn. Der Zug verlangsamte sein Tempo, hielt aber nicht an, sondern rollte langsam am Bahnsteig vorüber. Ein alter Herr schrie auf: »Es lebe der Kaiser!« Jemand überschrie ihn: »Es lebe die Republik!« Doch der alte Herr ließ sich nicht so einfach niederschreien. »Es lebe der Kaiser!« brüllte er noch lauter. Verschwommen sah man in einem der Fenster zwei dunkel gekleidete, stehende Gestalten, eine Frau und einen Mann, näher am Fenster einen Jungen. Alle drei standen bewegungslos, wie erstarrt. »Kaiserin Zita«, sagte jemand. »Karl«, ein anderer. »Es lebe Österreich!« rief eine Frau. »Es lebe die Republik!« schrie ein Mann. Empört wandte sich der alte Herr an den jungen Mann, der die Republik hochleben ließ. »Meinen Sie denn, es wird jetzt etwas besser?« fragte er ihn. Diese verzweifelt gestellte Frage brachte alle zum Schweigen. Das einzige Geräusch war plötzlich der sich schneller entfernende Zug, der am Horizont verschwand. Doch der alte Herr war noch nicht fertig. »Denken Sie denn, die Zukunft gehört jetzt Ihnen?« fragte er weiter. Schneider betrachtete den Alten in seinem prophetischen Zorn. »Jetzt kommt die Republik, und mit ihr das Elend. Aber genau das wollten Sie ja«, fuhr der alte Herr fort. Ein Student mit rotglühendem Gesicht mischte sich ein. »Lieber Elend als Unterdrückung durch den Kaiser!« rief er. »Es lebe das Elend!«
Klaus Schneider lächelte, plötzlich ergriff ihn gute Laune. Leise murmelte er: »Du weißt noch nicht, was Elend bedeutet. Wie wirst du noch flehen um eine harte Hand, um ein bißchen Unterdrückung, nur um etwas zu essen zu bekommen…« Langsam gingen die Reisenden wieder zum Zug zurück. Viele Stunden später, endlich am Ziel! Schneider eilte durch das schmiedeeiserne Tor einer Budapester Klinik. Das rote Backsteingebäude trug die Aufschrift: »Budapester Medizinische Universität«. Durch den Garten lief Schneider auf einen Eingang zu.
12 Eine Tür zum Flur öffnete sich, und Dr. Bettelheim, unter dem geöffneten Arztkittel nun in Zivil, in Hemd und Krawatte, trat heraus. Seine Haltung schien jetzt menschlicher, weicher, sein Gesicht strahlte, als er den Besucher erkannte. »Zugführer Schneider!« rief er, ehrlich erfreut. Klaus Schneider kam vom anderen Ende des Ganges auf ihn zu. Er selbst wirkte noch mehr verändert als der Arzt; seine abgetragene Zivilistenkleidung trug er mit einer sonderbaren, würdevollen Eleganz, der dunkle Anzug streckte seine Figur – auch ein Smoking hätte nicht nobler wirken können. Im Gesicht schien Schneider schmaler, geworden zu sein, seine tiefliegenden Augen hatten einen geheimnisvollen Glanz. Jetzt blieb er respektvoll einige Schritte vor Dr. Bettelheim stehen, richtete sich auf, nahm Haltung an und sagte mit überwältigender Herzlichkeit: »Herr Major, melde mich gehorsamst zur Stelle!« Dr. Bettelheim trat vor und umarmte den anderen. »Grüß Gott, Klaus«, sagte er salopp. »Herzlich willkommen bei uns!« »Vor einer Stunde ist mein Zug eingelaufen«, erklärte Schneider. »Ich bin direkt zu Ihnen gekommen.« »Großartig!« rief Dr. Bettelheim. »Haben Sie schon ein Zimmer?« Schneider schüttelte den Kopf. »Nein.« »Ich lasse Betty rufen«, sagte der Arzt. »Ich habe sie mit hergebracht. Sie wird schon alles organisieren…« Er wandte sich an die in der Tür stehende Krankenschwester. »Schicken Sie bitte Schwester Betty zu mir!«
Dann wandte er sich wieder Schneider zu und lachte ihn an. »Na, jetzt sind wir drei ja wieder zusammen!« Eine Entwicklung, die ihn ganz offensichtlich entzückte. Schneider lachte ein wenig verlegen; so leicht konnte er die gemeinsame militärische Vergangenheit und den höheren Rang des anderen Mannes nicht wegstecken. »Jawohl, Herr Major«, stimmte er steif zu. »Ach, hören Sie doch auf mit dem Herrn Major«, protestierte der Arzt. »Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei… Hier ist jetzt Revolution… alles, was von der Monarchie übriggeblieben ist, wird niedergerissen. Es ist unglaublich, was hier von einem Tag zum anderen passiert.« »Vor dem Bahnhof war irgendeine Kundgebung«, berichtete Schneider mit einem fragenden Blick. »Regen Sie sich nicht auf«, empfahl ihm Dr. Bettelheim. »Das hier ist ein Krankenhaus, in dem wir jetzt machen können, was wir wollen. Wir haben eine Station für Selbstmörder eingerichtet, in der wir mit Ihrer Begabung Wunder vollbringen könnten. Sie haben hier nichts anderes zu tun, als an sich selbst zu glauben… Haben Sie eigentlich noch Beschwerden?« Schneider schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe schon fast vergessen, daß ich mal verwundet war.« Dr. Bettelheim nickte beifällig. »Ein Beweis für die Richtigkeit unserer Methoden.« »Ich bin Ihnen sehr dankbar«, sagte Schneider ernst. »Mir…?« fragte der Arzt erstaunt. »Der liebe Gott hat vielleicht gemeint: Der Bursche kann etwas. Mal sehen, was er mit diesem Können anfängt. Laß ihn noch ein, zwei Runden drehen!« Beide Männer lachten. Vom Treppenabsatz her eilte Betty auf sie zu, erkannte dann Schneider und blieb überwältigt stehen.
»Zugführer!« rief sie und fiel ihm einfach um den Hals. »Wie gut Ihnen Zivilkleidung steht!« »Danke«, sagte Schneider verlegen: »Und Sie sind noch schöner geworden.« »Zugführer, wir haben schon einmal Brüderschaft getrunken. Wissen Sie das nicht mehr?« »Verzeihung«, murmelte Schneider. Dr. Bettelheim sah die beiden erstaunt an. »Wo denn?« »Na, an der Front«, antwortete Betty unbefangen, mit natürlicher Fröhlichkeit. Ein paar Tage später ging eine Gruppe von Ärzten über den Hof der Budapester Klinik: fünf, sechs Männer in weißen Kitteln, unter ihnen Dr. Bettelheim und Klaus Schnei der, der ebenfalls einen weißen Kittel trug. Schwester Betty öffnete ihnen die Tür des gegenüberliegenden Gebäudes. Die Männer betraten das Haus. Die Innentür öffnete ihnen eine Schwester mit einem Schlüssel und ließ sie in den Flur, in dem sich Kranke aufhielten. Sie saßen still auf Bänken, in sich zusammengesunken, ein oder zwei Patienten standen vor den vergitterten Fenstern und sahen blicklos ins Nichts. Hoffnungslosigkeit erfüllte den Raum. Das wenigstens, dachte Schneider, ist meiner Mutter erspart geblieben… Ein Mann in mittlerem Alter bemerkte die Ärzte, eilte ihnen entgegen und verstellte ihnen den Weg. Unschlüssig und gespannt blieben die Männer stehen, während der Patient sie nacheinander vorwurfsvoll ansah. Dann drehte er sich um und sprach Klaus Schneider an. »An allem, was geschehen ist, sind die schuld, die gesagt haben, ich sei an allem schuld, was geschehen ist.« Die Stimme des Mannes war böse und bitter. Dr. Bettelheim trat zu ihm und ergriff seinen Arm.
»Sehen Sie, Herr Linka«, sagte er begütigend, »ich denke genauso darüber. Nach der Visite möchte ich mit Ihnen sprechen.« Der Mann ließ sich von dem Mediziner zur Seite führen, sah aber noch einmal zurück und sagte zu Schneider: »Ich wußte nicht, daß ich – für wessen Zukunft auch immer – so wichtig bin, daß ich sterben muß.« Die Männer betraten einen riesigen Krankensaal. Auf den Betten lagen Frauen, die völlig apathisch wirkten, die Augen geschlossen, obwohl sie nicht schliefen, und sich für ihre Umwelt absolut nicht mehr zu interessieren schienen. Die Ärzte blieben in der Mitte des Saales stehen. Dr. Bettelheim wandte sich an die Schwester und deutete auf eine Patientin, die am Ende des Saales aufrecht in ihrem Bett saß. »Hat sie schon etwas gegessen?« fragte er. »Sie nimmt nichts an«, antwortete die Schwester. »Sie sitzt nur regungslos da, so wie schon gestern und vorgestern den ganzen Tag.« Dr. Bettelheim warf Schneider einen bedeutungsvollen Blick zu. »Herr Schneider… das ist sie. Wenn Sie erreichen könnten, daß sie etwas ißt, wäre das schon ein riesiger Fortschritt.« Schneider betrachtete die Patientin – nach ihren langen, offenen Haaren zu urteilen, handelte es sich um eine noch junge Frau. Sie hielt ihren Kopf nach vorn geneigt, so daß von ihrem Gesicht fast nichts zu sehen war; nur der Blick auf ihre Schultern und ihre in den Schoß hängenden Arme war frei. Gefolgt von den Ärzten mit zweifelnden Gesichtern, ging Schneider auf das Bett der Frau zu und setzte sich hinter sie auf den Bettrand. An ihrem Hals erkannte er jetzt schreckliche blaue Flecken – die Spuren des Stricks, mit dem sie versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Behutsam berührte Schneider sie an der Schulter, strich über ihr Haar und wartete. Die Ärzte
beobachteten ihn aufmerksam. Auf dem Gesicht des einen breitete sich ein zufriedenes, spöttisches Lächeln aus, während ein anderer sagte: »Sie reagiert nicht.« Langsam drehte die Frau ihren Kopf zu Klaus Schneider um. Sie hatte ein schönes Gesicht, das jetzt geprägt war von Angst und Unsicherheit. Klaus Schneider lächelte sie kaum merkbar an, versuchte, ihr mit seinem Blick Ruhe, Interesse und Offenheit zu vermitteln. Die beiden Blicke verschmolzen miteinander, und aus den Augen der Frau begannen ganz, ganz langsam Tränen hervorzuquellen. Schneider zog die weinende Frau zart an sich, und sie schluchzte an seiner Schulter weiter. Schweißperlen standen auf Schneiders Stirn, er war ergriffen. Eine Schwester kam später mit einem Teller, und die Frau aß ein wenig. Klaus Schneider fütterte sie liebevoll, wie einen kleinen Vogel, der aus dem Nest gefallen ist…
13 Betty beugte sich über Klaus Schneider – die beiden lagen im Bett in ihrem Zimmer. »Nimmst du mich mit, wenn du eines Tages ein berühmter Psychiater bist und eine eigene Klinik hast?« fragte sie. Schneider widersprach entschieden. »Ich werde kein berühmter Psychiater.« Da war Betty anderer Meinung. »Ich würde schwören, daß du einer wirst.« Schneider sah sie interessiert an und ging auf ihr Spiel ein. »Was willst du dann bei mir werden?« »Sagen wir mal…« Betty überlegte. »Oberschwester!« »Ich nehme dich mit als Oberschwester«, stimmte Schneider zu. »Und was wird mit Dr. B.?« Auch diese Antwort hatte Betty sich schon überlegt. »Er bleibt bei seiner Frau.« Schneider schüttelte den Kopf über soviel Undankbarkeit. »Er hat dich mit nach Budapest genommen«, gab er zu bedenken. »Ja, ins Krankenhaus«, sagte das Mädchen abfällig. »Von morgens um acht bis abends um sechs. Und einmal pro Woche Nachtdienst. Er hält es für ganz normal, daß ich dann mit ihm zusammen bin.« »Er liebt dich«, wandte Schneider ein. »Ja… Und er vertraut nur mir allein«, sagte Betty. »Aber seine Familie wird er nie verlassen. Dazu ist er zu feige und zu bequem. Er beklagt sich über seine Frau; es sei eine überstürzte Ehe gewesen, sie hätten einander nicht viel zu sagen – und dann geht er morgens schön brav nach Hause!« »Liebst du ihn nicht mehr?«
»Doch«, widersprach Betty. »Im Krieg war es auch schön… aber jetzt? Wie lange kann man so leben? Ich möchte ein Kind.« »Von Dr. B.?« fragte Schneider. »Oder von dir«, nannte Betty die Alternative. »Machst du mir eines?« »Jetzt gleich?« wollte Schneider wissen. »Ja, jetzt gleich«, bestätigte Betty. Sie schien es ernst zu meinen. »Und was wird Dr. B. dazu sagen?« Schneider plagten Skrupel. »Vielleicht freut er sich?« mutmaßte Betty. »Du kennst ihn nicht. Aber vielleicht schmeißt er mich auch hinaus.« »Wohin gehst du dann?« »Ich gehe mit dir«, kündigte Betty entschlossen an. Schneider lachte. »Und wohin gehe ich?« »Du bist ein großes Talent«, sagte Betty voller Überzeugung. »Weißt du, was er zu mir gesagt hat? ›In Schneider steckt eine charismatische Kraft, sie strahlt aus ihm. Ich habe nur viel gelernt und bin sehr intelligent.‹ Doktor B. kommt mit dir viel weiter als allein. Das hat er mir selbst gesagt.« »Und wenn er sich irrt?« fragte Schneider. »Wenn dieses Etwas nur für gewisse Dinge reicht? Bei übersensiblen Menschen? Die das gleiche fürchten wie ich?« Betty nickte verständnisvoll. »Ja, Dr. B. hat gesagt, daß man auch auf dich aufpassen muß. Wenn du nicht an dich glaubst, geht deine Kraft verloren.« Ungläubig schüttelte Schneider den Kopf. »Sprecht ihr so viel von mir?« Betty nickte ernst. »Deine Person beschäftigt ihn… wie auch mich. Ich glaube, er hat dich sehr gern… Wir haben dich beide sehr gern. Ist das schlimm?« »Nein, gar nicht.«
»Er hat schon mehrere Karteikarten über dich geschrieben für sein Buch, weißt du.« Nein, das hatte er nicht gewußt – Schneider musterte sie neugierig. »Was schreibt er denn da?« »Frag ihn doch, wenn es dich interessiert«, forderte Betty ihn auf. »Es interessiert mich nicht!« Er hob den Kopf. »Was ist das für ein Lärm?« Von draußen drang ein merkwürdiges Geräusch herein, das schon lange leise zu hören gewesen war, jetzt aber wirklich laut und störend wurde. Betty ging zum Fenster, gefolgt von Klaus Schneider, und zog den Vorhang zur Seite. Auf der Straße vor dem Haus drängten sich in breiten Reihen Menschenmassen mit Fahnen und Transparenten, deren Aufschriften Betty und Schneider von oben nicht lesen konnten. Unter den Demonstranten waren auch Soldaten und einige humpelnde Kriegsinvaliden.
14 Eine Abendgesellschaft saß am reich gedeckten Tisch in Bettelheims altdeutsch eingerichtetem Eßzimmer. Am oberen Ende der Tafel saß die Gattin des Arztes, eine schöne junge Frau mit einer riesigen Haarkrone, ihr gegenüber ihr Mann, Dr. Bettelheim. Zu beiden Seiten saßen hauptsächlich Männer, darunter auch Klaus Schneider und eine ältere grauhaarige Dame, die Frau eines der Professoren. Ein Dienstmädchen mit einem Spitzenhäubchen trug das Essen auf. Man unterhielt sich über Politik und die Demonstrationen der vergangenen Tage. »Es kann passieren, daß diese Bewegung auch das Bürgertum hinwegfegt«, sagte einer der Männer. »Sehen Sie, es kann aber auch passieren, daß die Macht in die Hände gewisser Kräfte gerät, die die Monarchie wiederherstellen«, befürchtete ein anderer. »Meine Herren«, sagte Dr. Bettelheim, »das ist ausgeschlossen.« »Nicht die Monarchie, die schon einmal gestürzt ist, sondern eine neue«, beharrte der zweite Mann. »Am Anfang vielleicht mit anderen Parolen. Aber mit ähnlichen Zielen und Methoden.« »Das würden die Massen nicht mehr zulassen!« widersprach ein Dritter. »Die Massen lassen alles zu«, warf ein älterer Herr ein. »Höchstens eine Weile, Herr Professor«, sagte ein jüngerer. »Den Herren wird hier alles aus den Händen gleiten«, vermutete der erste.
»Dann kommt eine harte Hand, die Ordnung schafft«, prophezeite der zweite. »Und die Massen selbst werden das fordern.« »Kassandras, wir alle sind Kassandras«, sagte Frau Bettelheim. »Meine Liebe, ich habe Jeremias nie mehr verehrt als im letzten Kriegsjahr«, bekräftigte ein Herr zu ihrer Rechten. »Aber das ist jetzt Ihre Welt, die Sie herbeigesehnt haben. Die Sie wollten!« wandte ein anderer ein. »Das Schlimme ist nur, daß die Herren, die es auf die Macht abgesehen haben, nicht allzu vertrauenswürdig sind«, gab ein anderer zu bedenken. »Sie haben es nicht auf unser Vertrauen abgesehen, Herr Medizinalrat, sondern auf das der Massen, und sie finden schon den richtigen Ton, um die Massen für sich zu gewinnen. Es kann leicht passieren, daß wir für sie genauso feindlich werden, wie es die Monarchie für uns war.« Dr. Bettelheim sah die Zukunft offensichtlich ein wenig düster, politisch zumindest. »Das kann sehr leicht passieren. Damit müssen Sie rechnen«, sagte jetzt unerwartet Klaus Schneider. Alle sahen den jungen Mann an, der zum ersten Mal das Wort ergriffen hatte. Einen Augenblick lang herrschte Stille. »Woher nehmen Sie das, Herr Schneider?« fragte der ältere Professor. Schneider wand sich verlegen. »Ich weiß nicht…«, murmelte er. »Ich habe plötzlich ein Bild vor mir gesehen, wie Sie da stehen – und Sie sind die Feinde.« »Und Sie?« fragte der Professor erstaunt. »Ich? Vielleicht… ich auch«, sagte Schneider. »Was heißt das: ›Wir stehen da‹? Wo denn?« fragte ein junger Mann in die Stille hinein. »Vielleicht an einer Mauer?« vermutete ein Herr, ironisch lächelnd.
»An einer Exekutionsmauer vielleicht?« ergänzte sein Nachbar, ebenfalls mit einem ironischen Unterton. Klaus Schneider rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, war aber nicht bereit, den Rückzug anzutreten. »Ich weiß nicht warum, aber ich habe an den Korso gedacht«, antwortete er leise: »An das nebelverschleierte Donauufer. Da stehen all die Intellektuellen, Bürger im dunkelgrauen Anzug, Hut und Mantel, und sie sind die Feinde…« Ein junger Mann lachte laut auf. »Ein gutes Bild«, sagte er gönnerhaft. »Und wo stehe ich persönlich? Mehr zur Elisabeth- oder mehr zur Kettenbrücke?« Schneider ließ sich nicht irritieren. Ernst sah er den jungen Mann an, bevor er ihm eine Antwort gab. »Sie werden nicht dort stehen. Sie sind bis dahin längst in Amerika.« Der junge Mann wurde blaß. »In Amerika? Wie kommen Sie denn darauf?« Schneider lächelte in sich hinein. »Sie haben heute abend, hier an diesem Tisch, mehrmals daran gedacht, auszuwandern. Stimmt’s?« Die Gesellschaft lauschte fasziniert der Stimme Schneiders, die leise und ruhig geworden war, faßte das Ganze aber als ein Spiel auf. »Stimmt das?« fragte einer. »Stimmt es? Ehrlich!« forderte ein anderer den jungen Mann auf, seine Gedanken preiszugeben. »Ich habe diesen Gedanken heute abend wirklich gehabt«, gab der junge Mann jetzt zu. »Woher wußten Sie das?« »Ich weiß auch nicht«, erwiderte Schneider. »Ich habe Sie einmal angeschaut, und da haben Sie gerade daran gedacht.« Betroffenes Schweigen herrschte im Raum. Einer der älteren Herren ergriff schließlich das Wort.
»Können Sie mir auch sagen, woran ich während des Gespräches gedacht habe?« fragte er Schneider. »Nein«, gab dieser zu. »Entschuldigen Sie, Herr Medizinalrat, aber ich habe Sie nicht beobachtet.« Doch damit war der alte Herr noch nicht zufrieden. »Und woran denke ich jetzt?« Klaus Schneider sah den anderen lange an. »Sie denken jetzt daran, daß Sie Angst vor der Zukunft haben«, sagte er dann ruhig. »Sie haben zwei Töchter, Therese und Edith, und Sie haben Angst um sie.« Verblüfft sah der alte Herr Klaus Schneider an; es hatte ihm für eine Weile die Sprache verschlagen. »Ja… So ist es«, gab er dann zu. »Was wird aus meinen Töchtern?« »Sie werden heiraten«, antwortete Schneider bestimmt. Der alte Herr wurde immer aufgeregter. »Werde ich Enkel haben?« »Hoffentlich«, lachte Schneider und fügte ernst hinzu: »Zwei.« Schweißperlen standen auf seiner Stirn, wie immer, wenn eine Aufgabe ihm höchste Konzentration abverlangte. Leise, wie in Trance, begann jetzt Frau Bettelheim zu sprechen. »Herr Schneider…«, sagte sie. »Werde ich ein Kind bekommen?« Gespannt sah die junge Frau ihn an. Schneider wandte sich ihr zu und betrachtete sie aufmerksam. Doch in diesem Moment beendete Dr. Bettelheim das heikle Thema, hob unvermittelt die Tischglocke und schwenkte sie durch die Luft. »Zu Kaffee und Zigarren gehen wir besser hinüber in den Salon«, forderte er seine Gäste auf. Klaus Schneider sah ihn an – verstört, benommen und offensichtlich nicht ganz bei sich. Dr. Bettelheim ignorierte die Enttäuschung seiner Frau und die Verwirrung seines
Mitarbeiters und machte eine aufmunternde Geste, ihm ins andere Zimmer zu folgen.
15 Die Reihen des Hörsaales in der Budapester Universität waren überfüllt. Durch die weit offenen Fenster flutete Sonnenlicht herein. Auf dem Podest vor der schwarzen Tafel stand Dr. Bettelheim und hielt voller Enthusiasmus einen Vortrag, in den ersten Bankreihen ältere Professoren der Medizin, ein paar jüngere Ärzte und Klaus Schneider, weiter oben Medizinstudenten. »Heute kann niemand mehr bezweifeln, daß es Hypnose und suggestive Beeinflussung gibt und daß sie wichtige Hilfsmittel der Medizinwissenschaft sind«, sagte Dr. Bettelheim, offensichtlich gerade bei einem seiner Lieblingsthemen. »Noch vor wenigen Jahren waren diese Phänomene von einem dunklen, mystischen Schleier verhüllt. Es gibt noch andere Erscheinungen, die wir aufgrund unseres heutigen Wissensstandes nicht erklären können. Aber eins steht fest: Der Mensch und die Phänomene der Seele stehen in enger Beziehung zueinander.« Dr. Bettelheim machte eine kleine Pause, als von der Straße her plötzlich lautes Geschrei durch die Fenster in den Saal drang. »Fremde raus aus der Universität!« hörte man laute Stimmen. Dr. Bettelheim sah irritiert und aus dem Konzept gebracht zum Fenster. Eine andere Stimme fiel in das Gebrüll ein. »Überall drängeln sich Dahergelaufene nach vorn!« lautete die öffentliche, laut herausgeschriene Anklage. »Wir fordern eine reine Universität!« wurden andere Stimmen laut.
Klaus Schneider sah verblüfft aus dem Fenster. Dr. Bettelheim tat so, als ob er nichts gehört und nur eben eine Verschnaufpause eingelegt hätte. »Die menschlichen Konflikte können niemals von nur einem einzigen Ausgangspunkt untersucht werden«, fuhr Dr. Bettelheim fort, als ob nichts geschehen wäre. »Alles, was lebt, ist doch ständig in Bewegung. Deshalb versuchen wir, unsere Aufmerksamkeit auf die Entwicklung zu konzentrieren; und so ist die Zukunft oft berechenbar. An der Front waren Nervenzusammenbrüche und Geistesstörung infolge der schrecklichen Erlebnisse und der Angst alltägliche Erscheinungen. Zugführer Schneider kam mit einer schweren Kopfverletzung zu uns. Mit der Methode der Hypnose gelang es mir, ihn von seinem Schock und später von seinem Nervenzusammenbruch zu heilen. Nachdem er geheilt war, wandte er selbst mit Hilfe seiner besonderen Fähigkeiten die Hypnose bei seinen verwundeten Kameraden an. Ich persönlich bin ihm zu großem Dank für die mutige Anwendung seiner Fähigkeiten verpflichtet. Unsere Erfolge haben wir gemeinsam erreicht, und ich habe nicht das Recht, alleine vor Ihnen zu stehen. Gestatten Sie mir, Klaus Schneider nach vorn zu rufen.« Klaus Schneider erhob sich und ging, vom Beifall der anderen begleitet, nach vorn zu Dr. Bettelheim. Der Beifall wurde stärker, als er sich neben den Arzt auf den Katheder stellte. Glücklich lachte Schneider und verbeugte sich. Das Blitzlicht eines Fotografen leuchtete auf und hielt den Moment des Triumphes für die Nachwelt fest. Ein Foto, das am nächsten Tag die Titelseite einer Tageszeitung schmückte: Klaus Schneider und Dr. Bettelheim, die glücklich lächelnd nebeneinander standen. Die Bildunterschrift lautete: »Dr. Bettelheim mit seinem
ehemaligen Patienten und jetzigen Mitarbeiter Klaus Schneider, die in Budapest mit Hypnose erfolgreich selbstmordgefährdete Patienten behandeln.«
16 Das kleine Café ›Hungaria‹ in Budapest strahlte noch die Atmosphäre der Monarchie aus; hier schien sich nichts verändert zu haben: Plüschsessel waren malerisch um Marmortische gruppiert, an den alten Garderoben hingen Zeitungshalter, die Wände waren bedeckt mit Autogrammen von berühmten Künstlern und illustren Stammgästen. In der Luft stand auch an diesem Abend Zigarrenqualm, aus dem Nebenraum hörte man das Klacken der Billardkugeln. An einem der kleinen Tische aus der Gründerzeit saß Klaus Schneider mit Betty. Gegenüber hatte eine große Gesellschaft eine Reihe kleiner Tische zusammengeschoben. Die festlich gekleideten Menschen applaudierten, als der Kellner jetzt mit einer riesigen Schokoladentorte kam und sie vor eine wunderschöne Dame auf den Tisch stellte. Die Dame stand auf und pustete die brennenden Kerzen auf der Geburtstagstorte aus, was erneut Beifall und Lachen zur Folge hatte. Lächelnd und offensichtlich an Applaus gewöhnt sah sie sich um, bevor sie ihren Platz wieder einnahm. »Das ist zur Zeit die berühmteste Schauspielerin in Budapest«, flüsterte Betty Schneider zu. Sie beugte sich aufgeregt zu ihm hinüber. »Man erzählt sich, Studenten hätten die Pferde vor ihrer Kutsche ausgespannt und sie selbst ins Stadtwäldchen gezogen.« An einem anderen Tisch neben Klaus Schneider redeten zwei junge Männer auf ein Mädchen ein, das immer wieder den Kopf schüttelte. »Sie haben nichts anderes zu tun, als meinen Freund auf eine Tasse Tee zu besuchen«, sagte der eine eindringlich. »Er lädt
auch den Direktor ein. Sie treffen sich zufällig, zeigen, was Sie können, und der Vertrag kann unterzeichnet werden. Bei wem haben Sie singen gelernt?« »Bei Genesi«, sagte das Mädchen. »Warum bringen Sie mich nicht zu ihm ins Büro?« »Weil er Sie dort rauswerfen würde. Er haßt alle, die zum Vorsingen kommen. Wenn Sie mir nicht glauben, können Sie den Herrn Direktor ja in einer halben Stunde anrufen. Vielleicht läßt er sich auch durchs Telefon vorsingen…« Ein Herr aus der großen Gesellschaft, der neben der berühmten Schauspielerin gesessen hatte, sprang auf und wandte sich an alle Gäste des Kaffeehauses. »Meine Damen und Herren!« Er klatschte in die Hände, um die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und wirklich wurde es nach ein paar Sekunden still, alle hörten ihm zu. »Meine Damen und Herren!« wiederholte er. »Wir bitten um Verzeihung, daß wir Sie in Ihrer Unterhaltung stören, doch an unserem Tisch, wo wir den Geburtstag der Künstlerin feiern, haben zwei unserer Freunde, die Herren Sandor Korda und Bela Lugossi, eine Wette über Gedanken- und Willensübertragung abgeschlossen. Herr Korda behauptet, er könne Herrn Lugossi mit -Hilfe von Gedankenübertragung anweisen, wohin er gehen und was er tun soll. Herr Lugossi glaubt nicht, daß man ihn dazu bewegen könnte. Es geht um eine Flasche Champagner. Bitte beteiligen Sie sich an dem Experiment. Zwei Herren mögen sich bitte bereit erklären, mit Herrn Lugossi hinauszugehen, damit er tatsächlich nichts hört. Wir besprechen solange, wozu ihn Herr Korda mit Hilfe der Telepathie auffordern soll.« Alle lachten, applaudierten, stimmten zu, allgemeines Flüstern und Raunen ging durch den Raum. Drei, vier junge Männer sprangen auf, um mit Herrn Lugossi hinauszugehen.
Als sie den Raum verlassen hatten, stand ein anderer junger Mann neben der Schauspielerin auf und bat um Gehör. »Bitte, ich bin Korda«, stellte er sich vor. »Diese Willensübertragung gibt es natürlich nicht, aber wir wollen uns mit Herrn Lugossi einen Scherz erlauben. Wenn er hereinkommt, bitte ich Sie, ständig Beifall zu spenden, egal, wo-(hin er geht und was er tut. Schreien Sie und staunen Sie laut über das Wunder. Wenn es gelingt, laden wir Sie alle zu einem Glas Sekt ein. Vielen Dank im voraus.« Gelächter, wieder Beifall; die Café-Gäste freuten sich über den Spaß. Jemand rief Lugossi hinein. Er blieb in der Tür stehen und trat dann ins Zimmer. Schon beim ersten Schritt schrien einige laut »Bravo!« Und so ging es weiter. Was er auch tat – stets folgte ein begeistertes »Hoch!« und »Hurra« und Beifall. Der Mann wurde natürlich immer verwirrter und ging schließlich zu seinem Platz zurück, was wiederum gewaltigen Beifall auslöste. »Ich habe nichts gespürt«, wunderte er sich. »Ich bin dorthin gegangen, wohin ich wollte.« »Das ist eben Willensübertragung«, sagte die Künstlerin lachend. Doch in Klaus Schneiders Augen leuchtete jetzt ein seltsames Feuer, eine Idee nahm in seinem Kopf Gestalt an. Eines war sicher – er würde auch seinen Spaß haben! »Denen werde ich jetzt was zeigen«, sagte er zu Betty. Er erhob die Stimme, blieb jedoch sitzen. »Meine Herren«, begann er. »Gestatten Sie mir auch einen Versuch? Herr Korda, Sie eignen sich tatsächlich zur Gedankenübertragung. Wenn Sie wirklich wollen und sich entsprechend konzentrieren, haben Sie die Kraft, Ihren Willen zu verwirklichen. Vor allem, wenn der Betreffende, den Sie leiten, es erwartet, ja geradezu will, daß ihn jemand leitet. Wenn Sie wollen, können wir es ausprobieren. Ich gehe mit
jemandem von Ihnen hinaus, der sich davon überzeugt, daß ich nichts höre. Sie besprechen, wohin ich gehen und was ich tun soll, rufen mich wieder herein, und die Gedanken von Herrn Korda führen mich, wenn er sich stark auf die Aufgabe und auf mich konzentriert, an die entsprechende Stelle. Herr Korda, ich sehe, Sie eignen sich zur Suggestion, versuchen Sie es. Haben Sie keine Angst vor sich selbst. Ich helfe Ihnen.« Herr Korda stand blaß auf, die ganze Sache schien ihn erschöpft zu haben. »In Ordnung«, stimmte er zu. »Die beiden Herren begleiten mich bitte!« bestimmte Klaus Schneider und winkte zwei der Herren der Gesellschaft zu sich heran. Dann ging er schnell zur Tür hinaus, gefolgt von den beiden jungen Männern. Im Foyer stand gegenüber der Garderobe ein Telefon. Die aufgetakelte Dame, die eben am Tisch neben Schneider gesessen hatte, hatte den Hörer in der Hand und sang eine Arie aus der ›Lustigen Witwe‹. Einer der beiden jungen Männer stand neben ihr und gab ihr offensichtlich genaue Anweisungen. »Lauter, Fräulein!« befahl er. »Mehr Bewegung! Jetzt leiser, weicher!« Das Mädchen hörte schlagartig auf zu singen. »Wie bitte? Aus der Csardasfürstin? Ja.« Sie trompetete etwas aus der Csardasfürstin. Im Saal war inzwischen eine eifrige Diskussion im Gange, man wurde sich nicht einig. »Er soll sich hinsetzen und einen Kaffee mit Schlagobers bestellen«, schlug einer vor. »Er soll einen Champagner bestellen und bezahlen!« rief ein anderer. »Er soll in den Billardraum gehen und spielen«, meinte ein dritter.
»Er soll die Künstlerin küssen!« forderte ein junger Mann. Diese schüttelte empört den Kopf. »Mich?« »Ja. Nur einen flüchtigen Kuß…« Allgemeine Zustimmung, und mit einem Lächeln ergab sich die Schauspielerin in ihr Schicksal. Der junge Mann holte Klaus Schneider herein. Langsam kam er durch die Tür, blieb stehen, wandte sich Korda zu und suchte seinen Blick. Lange sah er ihm in die Augen und bat dann, ihn weiter fixierend: »Konzentrieren Sie sich, Herr Korda. Sie müssen mich anweisen wollen. Nicht so unsicher!« Langsam setzte er sich in Bewegung, wechselte plötzlich die Richtung, blieb stehen, schlug erneut die vorherige Richtung ein, löste seinen Blick jedoch keinen Augenblick von dem Kordas. Plötzlich richtete er sich auf und ging entschlossen auf die Tür zum Billardraum zu, drehte sich jedoch wieder um, um Korda fragend anzusehen. Er wartete und beobachtete Korda, blickte dann zur Künstlerin und ging langsam auf sie zu. Gedankenverloren blieb er vor ihr stehen und gab ihr dann einen leidenschaftlichen Kuß. Applaus brandete auf. »Das sollte ich doch machen, oder?« fragte er laut und sah sich siegessicher um. Der Beifall dröhnte und nahm kein Ende. Klaus Schneider verbeugte sich ein paarmal und wies auf Herrn Korda, der verlegen neben der Schauspielerin saß. Diese sah begeistert zu Schneider auf. Betty dagegen war verstört, die Eifersucht schnürte ihr fast die Kehle zu. Sie sah wütend zu Boden und vermied es, Schneiders Blick zu begegnen. Der hatte sowieso einen anderen Gesprächspartner. Aus dem dunklen Billardzimmer kam nämlich jetzt ein Herr und trat zu Schneider, um ihn zu umarmen. Es war Tibor Nowotny, offensichtlich schon leicht angeheitert.
»Zugführer Schneider!« begrüßte er den alten Bekannten. »Herr Hauptmann!« gab Schneider zurück. »Was suchen Sie denn in Budapest?« fragte Nowotny, froh über diese unerwartete Begegnung. »Ich arbeite an der Klinik für Neurologie, bei Dr. Bettelheim«, erzählte Schneider, nicht ohne Stolz. Nowotny lachte. »Hat Sie der alte Schurke verführt? Wie ich sehe, hat er Ihnen auch gleich die kleine Schwester ausgeliehen.« Schneider lächelte unbefangen zurück. »Und Sie?« »Ich arrangiere die Tournee einer Hindu-Dame. Das war wirklich sehr gekonnt! Willensübertragung… Hellsehen… ausgesprochen gekonnt. Haben Sie keine Lust mitzukommen? Die Leute haben es gern, wenn jemand die Geheimnisse beim Namen nennt und sie führt. Ich organisiere für Sie ein, zwei Auftritte. Aber nicht hier – in Wien! Hier sieht es jetzt nicht gut aus. Ich bin seit zwei Wochen hier und habe alles gesehen. Nichts wie weg von hier! Ich pachte ein Theater am Ring. Liefern Sie ihnen Wunder… Den Krieg haben wir überlebt, alter Junge. Nun müssen wir nur noch den Frieden überleben.«
17 Auch im Budapester ›Lido‹ war von Revolution nichts zu spüren. Goldverzierungen, dunkelroter Plüsch, schummrige Lichter auf den Tischen und indische Musik beherrschten die Atmosphäre. Auf der Bühne tanzten verschleierte Mädchen in durchsichtigem Tüll. Die Figuren wechselten sich ab. Mal bildeten sie Zweier- und Dreiergruppen und symbolisierten, sich umarmend, die Posen der Liebe, mal faßten sie einander an den Händen und tanzten im Kreis herum. Doch die elfenhaften Tänzerinnen waren nicht die Hauptpersonen des Abends, dienten eigentlich nur als Kulisse; denn vor ihnen bewegte sich eine dunkelhäutige Frau mit weichen, langsamen Gesten. Ihr Gesicht war seltsam und exotisch geschnitten und hatte eine starke Faszination; ihr Blick war geheimnisvoll, und im Gegensatz zu den Mädchen trug sie ein langes, leichtes Seidenkleid. Ab und zu trat eine der Tänzerinnen aus dem Hintergrund hervor, wurde von der Frau berührt und schwebte dann nach oben, in Richtung Decke. Dann schwang die Frau ihr Tuch durch die Luft, woraufhin das Mädchen wieder auf den Boden zurückkehrte. Dort lagen zwei Mädchen auf dem Bauch, auf ihrem Rücken ein drittes. Als die anderen es berührten, erhob es sich in die Luft, als sie sich entfernten, sank es wieder zurück. Die dunkelhaarige Frau sprach während der Darbietung mit samtener Stimme und einem fremden Akzent. »Die Kraft der Liebe… ist Zärtlichkeit… the force of love… la force de l’amour… Spüren Sie es? Venez avec nous. Santierez avec nous. Come with us! Feel it with us.« Ein Teil der Mädchen blieb auf der Bühne und hielt sich an den Händen, während die anderen ins Publikum gingen und die
Hände der Zuschauer ergriffen. Die dunkelhaarige Frau, die ihnen folgte, legte die Hände der nebeneinandersitzenden Gäste ineinander, als inszeniere sie eine Kommunion. Als sie bei Klaus Schneider ankam, sah sie ihm lächelnd in die Augen und legte seine Hand in die von Tibor Nowotny, bevor sie weiterging. Musik erklang, Bühne und Publikum schienen nun durch all die Hände miteinander verbunden. Die Dame ging zurück auf die Bühne, reichte ihre Hände den beiden Mädchen, stellte sich in die Reihe und lächelte. »Fühlen Sie, wie die Kraft der Liebe von uns in ihre Hände hinüberstrahlt? Fühlen Sie es? Do you feel it?« Verzauberte, benebelte Blicke, staunende Gesichter im Publikum, allgemeine Faszination. Auch Klaus Schneider wurde von der Euphorie mitgerissen. Später betrat Dagma eines der Separées und begrüßte Nowotny. »Ich möchte Ihnen Klaus Schneider vorstellen«, sagte der ehemalige Hauptmann. »Wollen Sie ihm etwas sagen?« »Nein…«, antwortete die Inderin gedehnt, fuhr dann aber fort: »Ich sage Ihnen nichts. Lassen Sie niemals zu, daß man Ihnen aus der Hand liest. Ihre Handfläche ist nackt, man kann darin alles sehen. Gehen Sie weg von hier. Gehen Sie und tun Sie, wozu Sie Lust haben, damit Sie leuchten können. In jedem echten Menschen steckt ein Kern voll strahlender Energie, und er erstrahlt in dem Maße, wie man ihn befreien kann. Sie sind ein strahlender Mensch. Tun Sie, was Sie zu tun haben.« Klaus Schneider stand glücklich und verlegen vor der Fremden. Er suchte nach Worten. Tibor Nowotny, der den Worten der Inderin aufmerksam gelauscht hatte, sprach zuerst. »Jetzt muß die Zukunft planmäßig durchdacht werden. Eine Strategie auf lange Sicht.«
Unentschlossen hob Schneider die Schultern. »Ich habe keinen Plan«, sagte er unsicher. »Ich arbeite, wie ich Ihnen schon sagte, an der Klinik, in der Station für Selbstmörder.« »Sind Sie Pfleger?« fragte die Frau. »Nein«, sagte Schneider einsilbig. »Was denn dann?« fragte Nowotny. »Ich behandle die Patienten«, sagte Schneider stolz. »Sie hypnotisieren sie doch nicht etwa wie an der Front?« Nowotny starrte Schneider ungläubig an. Nur zu gut erinnerte er sich noch an den ungarischen Epileptiker, den Schneider daran gehindert hatte, sich und andere umzubringen. »Doch, so könnte man es sagen«, gab dieser zu. Nowotny lachte schallend. »Der alte Gauner hängt Ihnen seine Patienten auf. Warum behandelt er sie nicht selbst?« »Weil ich das besser kann«, sagte Schneider selbstbewußt. »Würde ich nicht mit ihm zusammenarbeiten, könnte er nicht solche Ergebnisse erreichen. Das hat er selbst gesagt. In einem bestimmten Zustand kann man nur mit einer besonderen Kraft auf Menschen wirken, und das ist nicht erlernbar. Diese Kraft hat man, oder man hat sie nicht.« Schneider hatte viel hinzugelernt, seit er nach Budapest gekommen war; er war sich seines Wertes und seiner Kräfte bewußt. »Genau so ist es«, warf Dagma ein. »Bettelheim weiß alles; er ist der intelligenteste Mann, den ich kenne… Aber ich kann wirken… Ich weiß nicht, warum.« Nowotny dachte eine Weile nach, bevor er Schneider antwortete. »Warum wollen Sie dann nicht gleichzeitig auf mehrere Menschen wirken? Die Menschen fürchten das Leben, sie haben Angst vor morgen. Und Sie haben die Fähigkeit, ihnen zu suggerieren, was sie sehen wollen. Dafür würden Sie gut bezahlt. Was ist daran so schwer zu verstehen? Warum
verstecken Sie sich in einer provinziellen Klapsmühle, wo Sie doch Abend für Abend Hunderten helfen könnten, wenn Sie Ihre Worte geschickt wählen?«
18 Klaus Schneider hatte in dieser Nacht keinen Schlaf gefunden. Nowotnys Angebot war verlockend, und er hatte es im Verlauf des Abends noch gebührend ausgeschmückt. Reich würde Schneider werden, hatte er gesagt, reich, mächtig und berühmt, die Frauen würden ihm zu Füßen liegen und die Prominenten seine Freundschaft suchen. Alle Türen würden ihm offenstehen, wenn er sich entschloß, die Klinik zu verlassen und eine Laufbahn als Magier, als Illusionist einzuschlagen bzw. wieder aufzunehmen, denn Schneider war ja nicht neu in der Branche. Schon vor dem Krieg hatte er in Varietes gearbeitet. Und arm – nein, arm wollte er nie wieder sein… Was sollte er tun? Dr. Bettelheim im Stich lassen, um sich an seiner eigenen, strahlenden Karriere zu versuchen? Oder auf die Karriere verzichten, um Dr. Bettelheim und seine Patienten nicht zu enttäuschen? Auch, um Betty nicht zu enttäuschen, die immer noch davon träumte, daß er ein berühmter Psychiater werden würde? Wovon träumte er selbst? Schneider wußte es einfach nicht, auch nicht am nächsten Morgen, als er mit Dr. Bettelheim in einer Fensternische im Flur der Klinik stand und versuchte, ihm seine Wünsche plausibel zu machen. Klaus Schneider war verlegen. »Ich fürchte, Sie überschätzen mich«, sagte er, als Dr. Bettelheim geendet hatte. »Geben Sie klein bei, Zugführer?« fragte der Arzt und benutzte ganz bewußt wieder den militärischen Grad in der Hoffnung, den anderen damit zur Vernunft zu bringen, zur Ordnung zu rufen. »Was haben Sie hier erwartet? Hier gibt es keinen Applaus. Deshalb wollen Sie weggehen? Ruhig Blut… Vielleicht war es
ein bißchen zu viel für Sie in letzter Zeit. Ruhen Sie sich ein paar Tage aus.« Schneider zögerte, bat dann: »Geben Sie mir einen Monat… oder zwei… damit ich ein wenig darüber nachdenke.« Der Arzt klopfte Schneider auf die Schulter und nickte.
19 Die Entscheidung war gefallen. Klaus Schneider stand mit seinem Koffer ungeduldig vor einem Eisenbahnwaggon auf dem Westbahnhof in Budapest. Über ihm beobachtete Tibor Nowotny aus dem offenen Fenster den Bahnhofseingang. Da kam endlich Betty angelaufen, außer Atem und in Eile. Man sah, daß sie geweint hatte. »Wo ist dein Koffer?« fragte Klaus Schneider nervös und unfreundlich. »Klaus…«, begann Betty unglücklich. »Ich habe die ganze Nacht gegrübelt. Ich kann Dr. B. nicht verlassen.« Klaus Schneider erstarrte. Damit hatte er nicht gerechnet, nicht mehr. »Was willst du von ihm?« fragte er grob. »Er ist doch verheiratet.« »Ich warte. Klaus… Bleib bei Dr. B. Komm zurück…« Ihre Stimme klang flehend, inständig, als ob von seiner Entscheidung ihr ganzes Glück abhinge. Schneider lachte verstört, abwesend. Es war nichts mehr zu ändern. Er konnte nicht mehr zurück, wollte es auch nicht. Betty streichelte ihn. Sie sah, daß sie ihn nicht mehr aufhalten konnte. »Gib acht auf dich…«, bat sie. »Die Kraft… ist nicht so sicher… Es sind nicht alle so wie Dr. B. Und es wird dich nicht jeder mögen.« Jetzt streichelte Klaus Schneider Betty, ungeschickt und mit einem mißlungenen Lächeln, Traurigkeit in den Augen. Doch er schwieg. Ein Signal ertönte. »In Richtung Györ-Wien, bitte einsteigen!«
Ein zweites Signal erschallte. Betty und Klaus Schneider fielen sich noch einmal voller Verzweiflung in die Arme. Würden sie sich jemals wiedersehen? Oder war es ein Abschied für immer? Klaus Schneider und Tibor Nowotny saßen sich im Zugabteil gegenüber. Nowotny wandte sich nach einer Weile des Grübeins an Schneider. »Ich will Sie nicht kränken«, sagte er, »aber ich denke schon seit Tagen über Ihren Namen nach. Klaus Schneider… das klingt nicht gut.« Schneider sah ihn verständnislos an. »Er ist nicht interessant genug«, erklärte Nowotny geduldig. »Das ist nun mal mein Name«, erwiderte Schneider. Was war daran zu ändern? »Nehmen Sie es mir nicht übel«, fuhr Nowotny fort, »aber das ist ein kleinbürgerlicher Name. Sie brauchen einen Namen, der etwas bedeutet.« »Nero«, schlug Schneider spöttisch vor und verbeugte sich mit einer imposanten Geste vor dem anderen. Doch der lachte nicht. »Ich meine es ernst«, sagte Nowotny. »Einen Namen, der besonders ist, originell, der jeden sofort aufhorchen läßt und den man sich merkt. Den es nur einmal gibt.« »Meinen Sie Artistennamen wie Baldini oder Captain Wembley?« fragte Schneider. »Nein. Ich dachte eher an einen ausgefallenen; er darf aber nicht gewollt klingen. Es müßte ein europäischer Name sein, von dem man meint, er sei echt, in dem aber doch etwas Geheimnisvolles steckt. Ein italienischer Vor- und ein deutscher Nachname. Lucino Schneider oder Hans-Jürgen de Santis… Eventuell ein holländischer Name… Van der… oder ein klassisch klingender…«
»Ein aristokratischer?« schlug Schneider vor, dem das neue Spiel Spaß zu machen begann. »Nein, das wäre Hochstapelei«, wehrte Nowotny ab. »Und das gehört eh der Vergangenheit an. Er müßte ans Lateinische anlehnen… international klingen…« »Wie Vitalis Gallinus?« versuchte Schneider. »Ja!« rief Nowotny. »Gallinus… Hallinus… Naussen… Wie finden Sie das: Hanussen? Da brauchen wir nur einen mystischen, nordischen Vornamen dazu…« »Eland… Erik…« probierte Schneider. »Alf?« schlug Nowotny vor. »Knut? Ingmar? Jan?« »Erik-Jan«, sagte Schneider mit plötzlicher Bestimmtheit. »Ja!« rief Nowotny begeistert. »Erik-Jan Hanussen! Das ist es!« »Erik-Jan Hanussen«, wiederholte Klaus Schneider. »ErikJan Hanussen.« Dann sprach er seinen eigenen Namen noch einmal aus – er wußte, daß er sich damit, in diesem Augenblick, von ihm verabschiedete. Und mit ihm auch von seiner Vergangenheit. Heute begann ein neues Leben. »Klaus Schneider!« rief er fröhlich. ›Auf Wiedersehen, Klaus Schneider‹, dachte er. Die beiden Männer schwiegen jetzt, jeder hing für den Rest der Fahrt seinen eigenen Gedanken nach.
20 Ein klarer Tag. Man sah das Rathaus, weiter hinten das Parlament und das Burgtheater, wenn man durch die geschliffenen Glasfenster des Café Landtmann in Wien sah. Klaus Schneider-Hanussen jedoch sah nicht aus dem Fenster, sondern war in das Studium einer Zeitung vertieft. Ab und zu hob er die große Tasse mit dem ›Einspänner‹ an den Mund, während sein Blick auf den bedruckten Seiten blieb. Begleitet von zwei jungen Herren kam jetzt Rudi ins Café, ein Freund aus frühen Wiener Tagen, den Hanussen zufällig wiedergetroffen hatte. Er wußte nicht recht, wovon Rudi lebte, hatte ihn aber im Verdacht, ein Polizeispitzel zu sein. Die drei gingen auf Tibor Nowotny zu, der Hanussen gegenüber an einem anderen Tisch saß. Rudi stellte die Herren vor. »Die Herren sind von der Neuen Freien Presse und von der Kronenzeitung. Herr Kapitän Nowotny, der Impressario von Herrn Erik-Jan Hanussen«, machte er bekannt. Nowotny, schneidig und elegant gekleidet, gab sich jovial. »Nehmen Sie Platz, meine Herren«, forderte er die Männer auf und fuhr entschuldigend fort: »Herr Hanussen ruht sich etwas im Hotel aus, er kommt vielleicht später. Denn für das, was er vor dem Publikum leistet, ist eine solche geistige Kraft und Konzentration nötig, daß er unbedingt regelmäßige Ruhe braucht.« Nowotny hatte sich schon völlig mit seiner neuen Rolle identifiziert – mit der des Beschützers, der seinen Künstler vor allem abschirmt, was diesem lästig oder unangenehm sein könnte, der ihm unangenehme Pflichten wie die Kontakte zur Presse abnimmt und ihn notfalls auch verleugnet, wenn der Star zu müde ist oder ganz einfach keine Lust hat. Und er hatte
sich vorgenommen, Hanussen immer und in jeder Situation so geheimnisvoll und undurchschaubar wie möglich erscheinen zu lassen. Seine Arbeit machte ihm Spaß und war erfolgreich. »Welcher Abstammung ist eigentlich Herr Hanussen?« fragte einer der beiden Journalisten. »Sein Name läßt keine Schlußfolgerungen zu.« Nowotny machte eine geheimnisvolle Geste nach oben. »Norden… Sein Vater kommt aus dem Norden«, deutete er an, »seine Mutter aus dem Süden. In der Monarchie war das noch natürlich. Seine Muttersprache ist Deutsch, doch kann er auch Italienisch, Ungarisch, Tschechisch, Französisch und Englisch. Ich habe ihn gefragt, wie er so viele Sprachen erlernen konnte. ›Ich habe eine Passion. Die Menschen zu verstehen, wo auch immer ich bin‹, hat er mir geantwortet. Doch das wichtigste ist – und das sage ich –, daß er die Geheimsprache der menschlichen Seele beherrscht, und die Sprache der Zukunft…« Hinter seiner Zeitung versteckt, lauschte Schneider-Hanussen amüsiert dem Gespräch. Ab und zu, wenn Nowotny gar zu sehr übertrieb, schüttelte er mißbilligend den Kopf. »Wo wurde Herr Hanussen geboren?« fragte der andere Journalist. »In Wien«, antwortete Nowotny sicher. »Hier wird man noch eine Straße nach ihm benennen.« »Sind Sie auch Hellseher?« fragte der andere Herr lächelnd, aber durchaus wohlwollend. »Nein«, sagte Nowotny, »ich glaube nur an IHN.« Und das war nicht einmal gelogen. Nowotny war von den übernatürlichen Fähigkeiten seines Schützlings trotz allem felsenfest überzeugt. »Wie wurde das Talent von Hanussen entdeckt?« lautete die nächste Frage der Presseleute.
Nowotny beugte sich vor, als wolle er den beiden etwas anvertrauen, was er noch nie einem Menschen erzählt hatte. »Ich verrate Ihnen ein persönliches Geheimnis«, sagte er mit gesenkter Stimme, »aber schreiben Sie bitte nicht darüber. Ich habe mit ihm an der Front gedient, und ich habe es mit eigenen Ohren gehört, wie er den Ausgang des Krieges vorausgesagt hat.« Die beiden Männer schwiegen beeindruckt. SchneiderHanussen lächelte in sich hinein.
21 Ein ganz anderes Lächeln lag ein paar Stunden später vor dem Theater auf seinem Gesicht, ein Lächeln der Vorfreude. Aus allen Richtungen strömten Menschen in das erleuchtete Gebäude. Hanussen stand, im eleganten Smoking, in der Nähe des Eingangs und beobachtete sein eintreffendes Publikum. Dann gab er seinen Beobachtungsposten auf und ließ sich mit den Leuten in das Foyer treiben. Er erreichte Tibor Nowotny, der mitten im Foyer stand und die Gesichter der Menschen prüfend betrachtete. Ohne auf die beiden zu achten, drängte die Masse aufgeregter, erwartungsvoller Menschen an ihnen vorbei. »Wenn das heute abend hier gelingt, dann sind Sie ein gemachter Mann«, sagte Nowotny. »Wenn nicht, können wir einpacken.« Hanussens einzige Antwort war ein kleines Lächeln. Ein Lächeln, das besagte: Nowotny kannte ihn noch nicht, kannte ihn noch längst nicht. Nicht gelingen? Das würde es für einen Hanussen nicht geben. Eine halbe Stunde später: Das Publikum hatte im Zuschauerraum Platz genommen. Die Menschen sahen noch so aus, wie man sie sich im ›alten Wien‹ vorstellte: Die Damen trugen elegante Abendkleider und kostbaren Schmuck, die Herren sahen so aristokratisch und vornehm aus, als hätte es ein Ende der Monarchie nie gegeben. Das Theater war an diesem Abend wieder einmal eine eigene Welt, eine Welt für sich, der die Zeit und politische Entwicklungen nichts hatten anhaben können.
Zufrieden beobachtete Hanussen das erwartungsvolle Publikum aus der ersten Loge, als Nowotny zu ihm trat. Aufgeregt räusperte er sich. »Rudi meint, es würden einige sehr vornehme Aristokraten in der rechten Loge sitzen«, flüsterte er. »Und in den ersten Parkettreihen sitzen einige Herren, die der gegenwärtigen Regierung sehr nahe stehen, darunter ein Staatssekretär.« Hanussen lächelte spöttisch. »Und in welche Richtung soll ich mich zuerst verbeugen?« fragte er mit leiser Ironie. Nowotny war jedoch nicht zu einem Scherz aufgelegt. »Aus welcher Sie Ihre Zukunft gesichert sehen«, sagte er ernst. »Meinen Sie, die sitzen schon hier?« fragte der andere, noch immer amüsiert. »Das müßten Sie besser wissen«, antwortete Nowotny, auf Hanussens hellseherische Fähigkeiten anspielend. »Also?« fragte der und machte eine aufmunternde Geste. »Das ist Wien«, erklärte Nowotny. »Titel sind die Hauptsache. Heute mehr denn je. Sie können zufrieden mit mir sein. Was Rang und Namen hat, ist anwesend. Sogar das vollständige Ensemble des Opernhauses und des Burgtheaters.« »Auch das Ballett?« fragte Hanussen anzüglich. Nowotny antwortete nicht – er war verschwunden, und Hanussen folgte ihm langsam. Sekunden später ging im Zuschauerraum das Licht aus. Zwei Scheinwerfer strahlten auf, der Vorhang hob sich, und auf der nachtschwarzen Bühne erschien Tibor Nowotny. Er ging zum Rand der Bühne und wandte sich feierlich an das Publikum. »Meine sehr geehrten Damen und Herren«, begann er. »Der Herr, den ich jetzt darum bitte, mit seiner besonderen Begabung vor Ihnen aufzutreten, verfügt über eine Vernunft und Logik übersteigende, geistige Kraft. Er ist fähig, unsere geheimsten Gedanken, Gefühle und Wünsche zu erkennen und
auszudrücken, er hört die Stimmen unserer Seele und versteht unseren Willen, ohne daß wir ihn aussprechen. Das ist telepathische Kraft. Wir tun, was er beschließt, er verknüpft unsere Kräfte miteinander und führt uns in eine gemeinsame Richtung. Das ist hypnotische Kraft, Gedankenübertragung, Willensübertragung, Geist der Zukunftsbilder: Erik-Jan Hanussen!« Erik-Jan Hanussen betrat die Bühne. Aus dem Zuschauerraum beobachteten ihn neugierige, mißtrauische Blicke, interessiert, aber kühl, eher feindlich. Nachdem kein Beifall kam, sprach Nowotny sofort weiter. »Meine Damen und Herren, stellen wir Herrn Hanussen ganz einfach mal auf die Probe! Ich verbinde ihm die Augen und verstopfe ihm die Ohren mit Watte. Sie verstecken dann im Zuschauerraum einen schwer auffindbaren Gegenstand. Herr Hanussen wird diesen Gegenstand mit Hilfe eines Mediums aus Ihren Reihen finden. Herr Hanussen, gestatten Sie mir, Ihnen die Augen zu verbinden! Bitte, meine Dame, oder Sie, mein Herr, würden Sie es bitte kontrollieren?« Nowotny holte ein schwarzes Tuch aus der Tasche. In der ersten Reihe erhoben sich eine Dame und ein Herr. Sie kamen auf die Bühne und überprüften das Tuch, das Nowotny inzwischen fest um Hanussens Kopf gebunden hatte. Die beiden nickten; ja, es saß fest, der Mann konnte absolut nichts mehr sehen. Nowotny holte jetzt Watte aus seiner Anzugtasche, zeigte sie den beiden Zuschauern und stopfte sie dann Hanussen in die Ohren. Nowotny machte den beiden anderen ein Zeichen. Gemeinsam drehten sie Hanussen im Kreis und führten ihn, mit dem Rücken zum Publikum, zum hinteren Teil der Bühne. Die beiden Gäste aus dem Publikum blieben auf eine Geste Nowotnys hin neben Hanussen stehen. Auf ein weiteres Zeichen von Nowotny begann der Pianist im Orchestergraben zu spielen. Nowotny ging in den
Zuschauerraum und bat mit gesenkter Stimme: »Verstecken Sie also irgendeinen beliebigen Gegenstand hier im Zuschauerraum. Machen Sie bitte Vorschläge, und entscheiden Sie sich dann!« Suchend glitten die Scheinwerfer über die Reihen; ein einziger blieb auf den unbeweglich hinten auf der Bühne stehenden Hanussen fixiert. Raunen erfüllte den Saal. Mehrere Zuschauer hielten Gegenstände in die Höhe. Tücher, Taschen, Schmuck, eine Brieftasche. Plötzlich stand ein eleganter Herr in mittleren Jahren in der Mitte des Zuschauerraumes auf, bat die anderen mit einer Handbewegung um Ruhe und flüsterte: »Bitte, Ruhe, bitte. Meine Damen und Herren, ich kenne diese Tricks. Erlauben wir uns einen Spaß mit dem Herrn Zauberkünstler. Wir werden unseren Spaß haben, das verspreche ich. Verstecken Sie nichts! Soll er doch das Nichts suchen!« Die Menschen sahen sich an, überlegten, manche lachten zustimmend, ablehnende Stimmen wurden übertönt. Man hatte beschlossen, den Magier als Schwindler zu entlarven, die ganze Vorstellung als Betrug hinzustellen. Die Besitzer der vorgeschlagenen Gegenstände steckten diese wieder ein. Nowotny war verstört, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Sollte denn alles umsonst gewesen sein? Doch was sollte er tun – er konnte nicht eingreifen. »Also bitte, das ist kein faires Spiel«, wagte er einen Versuch, die Blamage abzuwenden. »Wir können ihn nicht belügen.« »Warum nicht?« fragte jemand. »Er kann doch Gedanken lesen, oder nicht?« Die anderen Zuschauer stimmten ihm zu und lachten. Wohl oder übel mußte Nowotny dem Pianisten und den Technikern das verabredete Zeichen geben, das hieß: Die
Zuschauer haben eine Entscheidung getroffen, einen Gegenstand gewählt. Die Musik verstummte, die Scheinwerfer richteten sich erneut alle auf Hanussen, der wieder nach vorne, an den Rand der Bühne, geführt wurde. Nowotny hob seine Stimme. »Es melde sich bitte jemand als Medium!« rief er. Mehrere Zuschauer erhoben sich von ihren Plätzen, die meisten kamen von hinten, aus den letzten Reihen. Doch der elegante Herr, der zum heimlichen Boykott aufgerufen hatte, wählte selbst ein Medium. »Martha, bitte…«, bat er seine Begleiterin. Eine attraktive junge Frau Mitte 20 stand langsam auf, ging nach vorne und stieg auf die Bühne. Nowotny nahm jetzt Hanussen die Watte aus den Ohren. »Herr Hanussen, ich stelle Ihnen jetzt das Medium vor«, wandte er sich an den anderen. »Es steht hier vor Ihnen.« Hanussen streckte langsam und dramatisch seine rechte Hand aus, tastete nach der jungen Frau, berührte ihr Gesicht, ihre Stirn, ihr Haar und sagte dann, besonders liebenswürdig und charmant: »Danke, meine Dame, daß Sie mir behilflich sind. Denken Sie bitte an den Gegenstand, den Sie versteckt haben. Zuerst nur an den Gegenstand. Versuchen Sie, sich genau an seine Farbe, seine Form und sein Material zu erinnern.« Hanussens Stimme war ruhig, aber eindringlich, überzeugend. Es herrschte Stille. »Denken Sie daran, was Sie versteckt haben?« fragte Hanussen nach ein paar Minuten zweifelnd. »Ja, nur daran«, antwortete die Dame spöttisch. »Sie konzentrieren sich aber nicht genügend!« mahnte der Hellseher. »Wenn Sie mir wirklich helfen wollen, müssen Sie aufpassen.« Plötzlich fuhr er sie scharf an. »Denken Sie daran, worum ich Sie gebeten habe!«
»Ich denke daran!« protestierte die Dame. »Reichen Sie mir Ihre Hand«, forderte Hanussen. »Führen Sie mich in den Zuschauerraum!« Gemeinsam stolperten die beiden von der Bühne. »Bitte rechts lang«, sagte Hanussen jetzt. »Bleiben Sie stehen. Zurück… jetzt nach oben. Denken Sie an den Gegenstand, nur an den Gegenstand. Denken Sie daran?« »Ja.« Hanussen ließ sich nicht anmerken, daß er verunsichert war, daß seine bisherigen Erfahrungen ihm an diesem Abend nichts nutzten, daß sein Instinkt ihn im Stich zu lassen drohte. Nowotny trat nervös von einem Fuß auf den anderen, als Hanussen jetzt stehenblieb. Er ließ die stützende Hand los und streckte beide Hände nach der Frau aus. Er wartete, Schweißperlen auf der Stirn, ging dann ein paar Schritte zurück, blieb wieder stehen, ging weiter zurück, konzentrierte sich, wurde sichtlich immer bleicher. Tibor Nowotny auf der Bühne war schon kreidebleich, gleich würde ihm übel werden. Doch Hanussen erschauerte, schien in Trance, schwankte, am ganzen Körper zitternd, die Frau erschrak und trat ein paar Schritte zurück. »Meine Dame…«, sagte Hanussen dann mit tödlicher Ruhe, »warum wollten Sie mich hereinlegen? Sie… Sie haben nichts versteckt. Nichts! Nichts auf der Welt.« Nowotny atmete erleichtert auf. Einzelne Zuschauer begannen zu klatschen, andere stimmten ein, schließlich applaudierten alle. Hanussen kam zu sich, war wieder ruhig, das Zittern war verschwunden. Mit einer einzigen Bewegung riß er sich das Tuch von den Augen. Siegesgewiß sah er sich um: Ja, er hatte es ihnen gezeigt, hatte doch noch triumphiert. Die Frau schämte sich, stand verlegen neben ihm, klatschte ebenfalls zögernd. Hanussen verbeugte sich strahlend nach
allen Seiten und ging, eingehüllt in tosenden Applaus, auf die Bühne zurück. Der Ausdruck der Gesichter hatte sich in den letzten Minuten grundlegend verändert: Statt Zweifel und Mißtrauen las Nowotny in ihnen jetzt Begeisterung und Bewunderung. Alle Zuschauer lächelten, die feindliche Atmosphäre im Raum hatte sich durch die Begeisterung positiv verändert. Jetzt war es wirklich ein festlicher Abend, nicht nur optisch. Die Frau setzte sich wieder auf ihren Platz; ihr Begleiter, der elegante Herr und Erfinder des Scherzes, sah sie betreten an. »Eigenartig«, murmelte er. »Eigenartig – so ist es!« bestätigte sie unfreundlich. Sie nahm ihm übel, daß er sie dieser Situation ausgesetzt hatte, sie gezwungen hatte, einen Menschen zu täuschen, der ganz offensichtlich wirklich über magische Kräfte verfügte. Inzwischen wurde der Beifall, noch stärker, als Hanussen sich noch einmal dankend auf der Bühne verbeugte. »Meine Damen und Herren«, wandte er sich an sein jetzt aufmerksames, wohlwollendes Publikum. »Ich schlage vor, daß wir uns jetzt ein wenig mit der Zukunft befassen. Schreiben Sie Ihre Fragen bezüglich Ihrer persönlichen Zukunft auf ein Blatt Papier, natürlich ohne Namen, stecken Sie es in ein Kuvert, das Sie verschließen, und geben Sie es dann nach vorn. Ich suche aufgrund des Kuverts den Verfasser der jeweiligen Frage im Zuschauerraum und beantworte diese Frage. Ist die Frage so persönlich, daß es peinlich wäre, sie vor dem ganzen Publikum unter Nennung Ihrer Person zu beantworten, so nehmen Sie das Kuvert, bevor Sie es verschließen, ein paar Sekunden in die linke Hand, denken Sie intensiv an mich und wiederholen Sie ein paarmal die Bitte ›Herr Hanussen, nennen Sie meinen Namen nicht vor dem Publikum!‹. Ich werde diese Bitte fühlen und die Frage beantworten, ohne den Betreffenden zu nennen.«
Hanussen gab den livrierten Türstehern ein Zeichen, woraufhin sie unter den Zuschauern Briefpapier und Umschläge verteilten. Wieder erklang Musik. Hanussen stand lächelnd, Vertrauen erweckend auf der Bühne, während die Zuschauer nach Bleistiften und Füllhaltern suchten, sich Fragen überlegten, sie mit ihren Begleitern besprachen oder schnell aufschrieben. Stimmengemurmel und Papiergeraschel. Nach ein paar Minuten sammelten die Türsteher die Kuverts ein, legten sie alle auf ein großes Silbertablett und brachten dies Hanussen. Hanussen stellte das Tablett vor sich hin, machte eine beschwörende Geste, vermischte die Umschläge und nahm dann einen von ihnen. Das Publikum hielt gespannt den Atem an, kein Ton war zu hören. Hanussen untersuchte das Kuvert, hielt es gegen das Licht über seinem Kopf und fixierte dann eine Dame in der vierten Reihe. »Verehrtes Fräulein«, sagte er, »Sie bitten mich nicht um Geheimhaltung Ihrer Person.« Die Dame errötete und erhob sich zögernd. »Nein«, sagte sie. »Die Frage hier im Kuvert lautet, ob Ihre bevorstehende Ehe glücklich wird.« »Ja«, gab die junge Frau zu. »Verehrtes Fräulein, Sie sind eine zarte, feinfühlige Seele, die Konflikte meidet. Deshalb werden Sie leicht von draufgängerischen, zielbewußten Menschen überrollt. Das ist seit Ihrer Kindheit so. Doch später bereuen Sie, daß Sie sich der Gewalt nicht widersetzt haben, Sie begehren auf und sind unglücklich. Sie müssen aufpassen, daß Sie Ihre geheimen Wünsche nicht aufgeben, sich nicht mitreißen lassen, weil Sie dann unglücklich werden.« Hanussen hatte leise gesprochen, ruhig und bestimmt, seiner Sache ganz sicher.
Die junge Dame stand einen Augenblick verlegen da und setzte sich dann schnell wieder hin. Hanussen zog den nächsten Umschlag aus dem Stapel hervor. »Das ist ein Mann«, sagte er nach einem Blick auf das Kuvert. »Ein Soldat? Nein, das ist keine Uniform. Nur eine seltsame Ordnungsliebe… Ein ehemaliger Soldat. Ja, ein hoher Offizier. Welchen Rang hatten Sie im Heer, mein Herr? Waren Sie Oberst?« Der Mann, den Hanussen angesehen hatte, stand auf. »Jawohl, Oberst. Sie haben es erraten, Herr Hanussen.« Das Wort ›erraten‹ überging Hanussen mit einem Lächeln. »Sie würden gern Ihr Vermögen stabilisieren«, fuhr er fort. »Zumindest seinen Wert erhalten. Sie fragen nun, ob Sie eine Immobilie, ein Haus kaufen sollen?« »Ja…«, stimmte der Mann gedehnt zu. »Nein«, widersprach Hanussen. »Ihre Frage bezieht sich eigentlich darauf, ob Sie ins Immobiliengeschäft einsteigen sollen. Ob Sie versuchen sollen, Ihr Leben zu verändern, eine neue Sache anzufangen. Eigentlich steckt das in Ihrer Frage… Ja. Dazu sind Unternehmungslust und Kraft nötig. Probieren Sie es. Die Gelegenheit ist da. Vielleicht gelingt es Ihnen!« »Das ist unglaublich!« rief der Mann verblüfft und verriet damit, daß Hanussen wirklich seine Gedanken genau erfaßt hatte. Das Publikum applaudierte. Hanussen nahm wieder einen Umschlag auf und hob ihn gegen das Licht. Seine Bewegungen waren schnell und selbstsicher, als er das Kuvert zweimal umdrehte und sich dann an eine junge Frau in den hinteren Reihen wandte. »›Ein Teil meiner Familie ist letzte Woche nach Amerika ausgewandert‹«, sagte er. »›Werden Sie Millionäre? Soll ich ihnen folgen?‹ Nicht wahr, das wollen Sie von mir wissen?«
Die Frau stand auf und sagte nur: »Ja.« Wieder Applaus. Hanussen winkte mit ernstem Gesicht ab. »Fräulein, das Schiff…«, sagte er leise, warnend. »Was ist mit dem Schiff?« fragte sie bestürzt. »Ich weiß nicht, was passiert ist«, erwiderte Hanussen. »Ich sehe das Schiff nicht.« Unruhe irm Publikum. Blaß und unsicher fragte die Frau: »Ist es untergegangen?« »Ich sehe das Schiff nicht mehr«, wiederholte Hanussen. »Fräulein, Sie werden Wien jetzt nicht verlassen.« Im Theater herrschte Totenstille. Hanussen nahm noch ein paar Kuverts auf, sprach mit Menschen, machte ihnen Mut oder warnte sie – und immer wußte er mit absoluter Genauigkeit, welche Fragen die Briefe enthielten. Nach einer weiteren halben Stunde fuhr er sich erschöpft über die Stirn, bedankte sich bei seinem Publikum und verließ unter donnerndem Applaus die Bühne. Vor dem Theatereingang stand das Publikum applaudierend Schlange, um Erik-Jan Hanussen noch einmal zu sehen. Vor zwei Stunden erst war er als völlig Unbekannter durch diese Türen gegangen, unbemerkt und unerkannt hatte er unter den Menschen gestanden – nun schritt er, begleitet von Tibor Nowotny, auf einer beinahe sichtbaren Welle des Triumphes die Stufen hinab. Ein neuer Mensch war geboren: der erfolgreiche Magier Erik-Jan Hanussen, der seine übersinnlichen Fähigkeiten soeben vor einem kritischen Publikum unter Beweis gestellt hatte. Und daß dieser Beweis sich herumsprach – dafür würde Nowotny schon sorgen, Nowotny und die Journalisten, die im Zuschauerraum gewesen waren.
Am Fuß der Treppe stand eine junge Frau, die einen Schritt auf Hanussen zu machte. Hanussen erkannte sie sofort: Sie war das ›Medium‹ der ersten Programm-Nummer, Martha, die von ihrem überklugen Freund auf die Bühne geschickt worden war. »Herr Hanussen!« sprach sie den Magier an. »Ich bin Journalistin. Deshalb habe ich mich als Medium gemeldet«, behauptete sie. »Ich möchte Sie um ein Interview bitten!« »Suchen Sie mich morgen in meinem Hotel auf«, bat Hanussen freundlich. »In welchem?« »Im Imperial… um zehn im Foyer.« Hanussen nickte der jungen Frau und den anderen lächelnd zu und verschwand mit Nowotny in der Menge. Er hatte es geschafft; seine Vergangenheit, Wien-Ottakring und die Hungerjahre beim Zirkus lagen endgültig hinter ihm. In seinem Zimmer im Hotel ›Weiße Taube‹ erwachte Erik-Jan Hanussen am nächsten Morgen von einem lauten Klopfen. Er stieg aus dem Bett, ging zur Tür und drehte den Schlüssel im Schloß herum. Tibor Nowotny stürmte ins Zimmer. »Sehen Sie sich die Zeitungen an!« rief er aufgeregt und breitete einen Stapel Tageszeitungen auf dem Bett aus, bevor er zum Fenster ging und die Vorhänge zur Seite zog. Hanussen kniff vor der plötzlichen Helligkeit die Augen zusammen und setzte sich aufs Bett. »Ozeandampfer nach Amerika gesunken«, las er gedankenverloren. »Tausende Passagiere vom Ozean verschluckt.« »Bei erneuter Schiffskatastrophe Hunderte ertrunken.« »Leck am amerikanischen Passagierschiff – unaufhaltsam gesunken.« »Statt Ankunft in New York – Tod in den Wellen.«
Erik-Jan Hanussen sah wie betäubt auf die Zeitungsseiten. Er war auf einmal blaß, Schweiß stand auf seiner Stirn, seine Kraft schien ihn verlassen zu haben. »Haben Sie das gestern abend schon gewußt?« fragte Nowotny ihn gespannt. Hanussen schüttelte erstaunt den Kopf. »Ich weiß gar nicht, warum ich gesagt habe, das Schiff würde sinken. Es ist mir einfach eingefallen, und ich habe es ausgesprochen. Nachträglich habe ich noch daran gedacht, daß das ein Fehler war.« Völlig verwirrt saß Hanussen auf dem Bettrand, unfähig, seine Gedanken zu ordnen. »Wie konnte das passieren?« fragte er Nowotny. »Sie kommen zu spät ins Imperial«, wich dieser aus. »Passen Sie auf, was Sie der Frau sagen.« Hanussen schüttelte den Kopf, stand auf und griff nach seinen Kleidern, die über einem Stuhl lagen. Nowotny nickte ihm zu und verließ den Raum. Außer Atem kam Hanussen vor dem ›Imperial‹ an und blieb stehen, als ein älterer Herr gerade durch die Drehtür das berühmte Hotel verließ. Der Herr sah Hanussen, erkannte ihn, lächelte erfreut und fragte: »Herr Hanussen?« Der Magier hielt erstaunt inne. »Ja?« »Welche Freude, Ihnen persönlich gratulieren zu dürfen«, sagte der andere herzlich. »Dank meiner Freunde konnte ich gestern Ihren Auftritt sehen, und ich muß Ihnen sagen, daß es schon gestern abend großen Eindruck auf mich gemacht hat. Aber was nun inzwischen mit diesem Schiff passiert ist… Ich bewundere Sie… Wenn wir Politiker die unerwarteten Ereignisse der Zukunft so voraussehen könnten, bliebe die Welt von vielen Tragödien verschont… Wenn Sie einmal in Berlin sind, suchen Sie mich bitte unbedingt auf… Gestatten
Sie, daß ich Ihnen eine Visitenkarte gebe? Dr. Rattinger. Sehr erfreut.« Der alte Herr lüftete seinen Hut und gesellte sich zu den Herren, die ihn erwarteten. Hanussen lächelte ihm nach und warf einen Blick auf die Visitenkarte. »Dr. phil. Walter Rattinger. Ministerialrat.« Durch die Drehtür betrat Hanussen das Hotel. Auch im ›Imperial‹ hatte die Ablösung der Monarchie keine Spuren hinterlassen. Das Foyer war immer noch ein riesiger, eleganter Raum, ausgestattet mit wertvollen antiken Möbeln und weichen Teppichen. Hanussen hatte einen kleinen Umweg gemacht und kam jetzt von der Rezeption her – so, als wohnte er hier und hätte gerade seinen Schlüssel abgegeben. Er sah sich um und entdeckte Martha, die bereits in einer Sitzecke neben einer Stehlampe Platz genommen hatte. Sie war sportlich gekleidet und wirkte bei Tageslicht noch hübscher. »Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte Hanussen und deutete eine Verbeugung an, »ich wurde aufgehalten.« Er warf noch einen Blick auf die Visitenkarte und steckte sie dann ein. »Sie haben sich nicht verspätet«, widersprach Martha, »ich bin zu früh gekommen.« Sie blickte sich um. »Ist es Ihnen recht hier?« »Hervorragend«, stimmte Hanussen zu und setzte sich in einen anderen Sessel. Martha lächelte ihn gewinnend an. »Zunächst einmal möchte ich mich für gestern abend entschuldigen. Der Herr, mit dem ich zusammen war, ist mein Chef. Von ihm erhalte ich Aufträge für den Anzeiger.« ›Aber das macht doch nichts‹, deutete Hanussen an und beruhigte sie mit einer weit ausholenden Geste. »Wer
öffentlich Aufträge annimmt, muß mit so etwas rechnen«, meinte er lässig. »Haben Sie die heutigen Zeitungen gelesen?« fragte die Journalistin gespannt. Hanussen nickte. »Beim Frühstück im Bett.« »Was sagen Sie dazu?« wollte Martha wissen. Hanussen wurde ernst. »Ich freue mich nicht immer, wenn ich recht behalte«, gab er zurück. »Hat es Sie erschüttert?« Martha sah ihn prüfend an. »Ja«, sagte Hanussen ruhig. Das erstaunte die junge Frau. »Aber Sie wußten es doch im voraus!« »Ich wußte es nicht«, stellte Hanussen richtig. »Ich habe es nur einen Augenblick lang gespürt.« Damit gab sich Martha nicht zufrieden. »Sie haben es gesagt. Ich habe es selbst gehört!« »Ich weiß.« Hanussen wirkte plötzlich müde. »Was heißt: Sie haben es gespürt?« Martha fragte unerbittlich weiter. »Das ist schwer zu erklären«, sagte Hanussen und suchte nach der richtigen Formulierung, »wenn jemand noch nie etwas im voraus gespürt hat.« Er betrachtete Martha prüfend, doch das Mädchen hielt seinem Blick stand. Sie lächelte. »Ich spüre auch manchmal Dinge. Deshalb frage ich«, erklärte sie. Hanussen wurde neugierig. »Was spüren Sie denn?« fragte er interessiert. »Bei Menschen… wie sie sind«, erwiderte Martha vage. »Was sie zu erwarten haben?« fragte der Magier. »Ja«, stimmte Martha zu, »aber Ereignisse nie.« »Ich spüre auch Ereignisse«, sagte Hanussen. »Auch ferne Ereignisse.« »Sehen Sie sie vor sich?« fragte Martha.
»Ja.« Sie sahen einander in die Augen, lange und herausfordernd. »Darf ich schreiben, was Sie sagen?« fragte Martha, die sich bisher noch keine einzige Notiz gemacht hatte. »Selbstverständlich«, stimmte Hanussen zu. »Seit wann wissen Sie, daß Sie hellsehen können?« fragte die junge Frau weiter. Hanussen dachte einen Moment nach. »Ich habe es schon in meiner Kindheit gefühlt, daß ich anders als die anderen bin. Ich hatte mehrmals das Gefühl, die Zukunft vorauszusehen, und bin erschrocken. Doch bewußt ist mir das erst seit dem Krieg. Im Frontlazarett ist mir klargeworden, was ich kann. Deshalb bin ich Herrn Stabsarzt Dr. Bettelheim zu großem Dank verpflichtet. Er hat mir die Möglichkeit geschaffen, mir darüber klar zu werden.« »Zweifeln Sie nie an dem, was Sie sehen? Haben Sie nie Angst?« Hanussen nickte versonnen. »Aber warum soll ich das Publikum damit belasten? Ich glaube, daß Unsicherheit und Angst mit zu meiner Begabung gehören.« Martha betrachtete ihn verständnisvoll. »Haben Sie je davon geträumt, daß Sie die Menschen so beeindrucken werden? Haben Sie das auch vorausgesehen?« Hanussen wirkte unentschlossen, aber durchaus amüsiert. »Bejahe ich jetzt diese Frage, schreiben Sie, ich würde an Größenwahn leiden«, vermutete er. Doch Martha ließ sich nicht irritieren, sie fragte unbeirrt weiter. »Gefällt es Ihnen, daß Sie die Zukunft anderer Menschen vorhersehen können?« Hanussen wurde wieder ernst. »Ja… es gefällt mir… Aber ich muß dafür viel von mir geben. Aufpassen, konzentrieren,
Kraft sammeln und im richtigen Moment ein setzen. Wie im Sport. Ich mag die Weltmeister.« Martha lächelte. »Fühlen Sie sich als Weltmeister?« »Ja«, gab Hanussen zu, »und ich versuche, in meinem Fach der Beste zu sein, trotz meiner O-Beine und meiner Halbglatze. Wäre ich ein Bankräuber, würde ich die Bank von England überfallen und nicht die Budapester Sparkasse.« »Kümmern Sie sich um Politik?« machte Martha im Fragenprogramm weiter. »Nein. Das werde ich auch nicht tun. Ich gehöre keiner Partei an und möchte auch keiner beitreten. Mich interessiert das Geheimnis des Lebens. Der Mangel, der uns treibt…« Hanussen brach ab. Martha hakte nach. »Der Mangel?« Hanussen nickte. »Der Mangel an Liebe, der Mangel an Glauben, der Mangel an Sicherheit.« Martha machte sich eine Notiz. »Mögen Sie die Menschen? Nennen Sie mir zwei, drei Menschen, die Sie lieben.« Hanussen zählte auf: »Herrn Stabsarzt Dr. Ignaz Bettelheim, Kapitän Tibor Nowotny…« »Lauter Soldaten«, warf Martha ein, »…und keine Frau?« Wieder sahen sie einander lange und aufmerksam in die Augen. In ihren Blicken mischten sich Spott und Herausforderung, Ernst und Ironie, Kampf und Frieden, Verführung und Absage, Verständnis, Angebot und Ablehnung – so wie schon während des ganzen Gespräches. Alle Unsicherheit hatte den ehemaligen Zugführer verlassen. Er schien wirklich ein neuer, ein anderer Mensch geworden zu sein. Ein neuer Anfang? Dabei erinnerte Martha ihn eher an seine Vergangenheit, an seine erste große Liebe Vali… »Ich kann Ihnen sagen, was morgen in den Zeitungen stehen wird«, kündigte Martha an, »und dafür brauche ich kein Hellseher zu sein. Morgen werden die Titel der Zeitungen
lauten: ›Erik-Jan Hanussen hat Schiffskatastrophe vorausgesagt‹ – ›Hellseher am Ring‹ – ›Er sah am Vorabend, daß das Schiff verschwunden war‹ – ›Die Prophezeiung von Erik-Jan Hanussen.‹« Und Martha sollte recht behalten. Es war der Durchbruch.
22 Hanussen betrat die Halle des Hotels ›Weiße Taube‹ und ging zur Rezeption. Der Portier gab ihm seinen Schlüssel. »Ein Herr hat schon mehrmals nach Ihnen gefragt«, berichtete er. »Er läßt Ihnen ausrichten, daß Sie auf jeden Fall auf ihn warten sollen…« Hanussen nickte und ging hinauf. Der Portier rief hinter ihm her: »Da ist er schon wieder!« Rudi hechelte die Treppe hinauf. »Endlich treffe ich dich an«, keuchte er. »Ich muß sofort mit dir reden.« Hanussen deutete nach unten, auf eine Sitzgruppe in dem engen Foyer, aber Rudi winkte ab und zog ihn zur Seite. In sicherer Entfernung vom Portier begann er aufgeregt zu flüstern. »Nun hör mal genau her!« sagte er eindringlich. »Die Österreichisch-Ungarische Bank ist ausgeraubt worden. Es sind mehr als eine Million Kronen verschwunden, aber man weiß nicht, wie und wann. Das Geld muß noch im Haus sein, weil es unmöglich ist, am hellichten Tag unbemerkt mit so vielen Geldsäcken zu verschwinden, und nachts wurde keine einzige Tür geöffnet. Die Siegel sind alle unverletzt, die Panzerschränke unberührt. Der Täter ist also im Haus, aber wo? Kommissar Klos hat das Haus dreimal durchsuchen lassen. Ich weiß, wer das Geld finden kann. Du.« »Bist du verrückt geworden?« Hanussen starrte den Freund entgeistert an. Der packte Hanussen am Arm. »Du findest alle versteckten Gegenstände… Theater oder Bank, ist das nicht egal?«
Hanussen schüttelte den Kopf. »Mit einem Medium, das weiß, wo man den Gegenstand versteckt hält. Vor einem Publikum, das ebenfalls alles weiß.« »Also, zuerst müssen wir das Medium finden, das es weiß. Alles andere machst du wie immer.« Hanussen war unschlüssig, die Gedanken überschlugen sich in seinem Kopf. Rudis Argumente hatten etwas für sich… Jetzt eilte auch noch Tibor Nowotny die Treppe hinauf. »Was war mit der jungen Dame?« keuchte er. »Was soll gewesen sein?« fragte Hanussen desinteressiert zurück. »Eine Gans… Man hat die Österreichisch-Ungarische Bank ausgeraubt. Rudi will, daß ich das Geld finde.« »Toll!« rief Nowotny. »Und wo ist das Geld?« »Das weiß niemand«, klärte Hanussen ihn auf. Nowotny überlegte angestrengt. »Wer ist der Täter?« Hanussen lachte schallend. »Na, sehen Sie! Sie können Fragen stellen!« Die drei Männer blieben noch eine Weile stehen und berieten sich.
23 Wer nichts wagt, der nichts gewinnt – zu diesem Schluß waren sie schließlich gekommen. Hanussen hatte sich gründlich in der Bank umgesehen, als er vor dem Direktionszimmer im Sekretariat stand und reglos die beiden Sekretärinnen beobachtete. Die eine schrieb auf der Maschine, die andere ordnete Papiere und beschäftigte sich mit der Ablage. Beide warfen immer wieder verstohlene Blicke zu dem Mann, der sie seit einer Weile nicht aus den Augen ließ. In der Tür stand jetzt auch noch Tibor Nowotny mit mehreren Polizisten in Zivil. Sie alle beobachteten wiederum Hanussen, den aufmerksamen Beobachter. Gespannte Stille, die Luft schien elektrisiert, niemand sagte ein Wort. Plötzlich verlor eine der Sekretärinnen die Nerven, und sie fragte: »Dürfen wir dem Gast etwas anbieten?« »Nein, danke«, sagte Hanussen, »lassen Sie sich nicht beider Arbeit stören.« Und er fuhr fort, beide Mädchen zu fixieren, mal die eine, mal die andere. Plötzlich jedoch drehte er sich um und ging auf den Flur hinaus. Nach einigen Schritten blieb er stehen und wandte sich an die Männer. »Wenn Sie mir unbedingt folgen müssen, bleiben Sie wenigstens so weit zurück, daß Sie mich nicht stören«, bat er. »Sonst verlasse ich das Gebäude… Ich habe nicht um Ihre Anwesenheit gebeten!« Als er weiterging, blieben die anderen verlegen stehen – sie wagten ganz einfach nicht, ihm zu folgen, waren beeindruckt von der Kraft seiner Persönlichkeit. Hanussen stand indessen vor einer Tür und sah in einen Saal. Mehrere Bankkaufleute saßen hier an Schreibtischen, schauten auf, blickten ihn an,
sahen verlegen wieder weg, während andere seinem Blick standhielten. Hanussen blickte allen aufmerksam in die Augen und ging dann weiter. Vom Ende des Flurs folgte ihm vorsichtig, behutsam und möglichst unauffällig die Polizei. Der Magier eilte eine Treppe hinab und öffnete eine Etage tiefer die Tür eines riesigen Großraumbüros. Die Reaktionen waren ähnlich wie schon ein Stockwerk höher: Allen war seine Anwesenheit peinlich, die Tatsache, daß hier ein Hellseher einen Täter suchen sollte, der offensichtlich unter den Angestellten der Bank vermutet wurde. Manche sahen ihn an, manche sahen weg. Hanussen blieb aufmerksam, ging langsam zwischen den Schreibtischreihen entlang, und keiner blieb von seinen Blicken verschont. Mehreren war die Angst anzusehen; sie fürchteten, daß der Hellseher ihre Gedanken lesen könnte, ältere Vergehen. Kleine und große Sünden hat schließlich jeder, kleine und große Geheimnisse, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Ein junger Mann erregte die Aufmerksamkeit des Magiers; Hanussen kehrte zweimal zu ihm zurück, schüttelte den Kopf, verließ aber den Raum dann. Die Polizisten, Nowotny und ein eleganter junger Mann folgten ihm leise, beinahe auf Zehenspitzen. Zwei Detektive lächelten einander spöttisch zu, als Hanussen den nächsten Raum ergebnislos verließ. Plötzlich jedoch rannte er zur Treppe zurück, lief die Stufen hinauf und schnellen Schrittes in das Sekretariat. Vor der älteren Sekretärin blieb er stehen und musterte sie forschend. Die Frau wurde zusehends blasser. Hanussen wirkte konzentriert, gleichzeitig aber auch abwesend. Er schloß für ein paar Sekunden die Augen und flüsterte dann: »Zögern wir es nicht länger hinaus!« Die Frau schluchzte auf, wimmerte wie ein verletztes Tier, das zu entkommen versucht. »Was wollen Sie von mir?« murmelte sie tonlos.
Hanussen sprach kein Wort, sah sie nur an. Die Frau erbebte und warf sich zitternd über ihre Schreibmaschine. Einer der Polizisten rannte ins Zimmer und herrschte die weinende Frau an: »Wo haben Sie das Geld versteckt? Wer sind Ihre Komplizen?« »Verschwinden Sie!« rief Hanussen aufgebracht. »Ich habe nichts getan! Gar nichts!« schrie die Frau. Hanussen hatte sich rasch wieder beruhigt. Er nahm ihre Hand und zog sie vom Stuhl hoch. »Wenn Sie nichts getan haben, dann helfen Sie mir jetzt«, bat er. »Sie trocknen sich jetzt die Augen, und wir gehen zusammen durch die Büros. Vielleicht finden wir ja gemeinsam etwas.« Die Frau bewegte sich nicht, sah nur entsetzt zu den Männern in der Tür, während Hanussen ihr die Hand reichte. Sie war nicht dumm und wußte: Der einzige Ausweg war die ihr dargebotene Hand. Sie ergriff sie und ging mit Hanussen durch die Tür, auf den Flur hinaus und durch die Säle. Hin und wieder blieben sie stehen, Hanussen ging einen Schritt zurück und wartete, ging wieder weiter, aber nie ließ er die Sekretärin los. Die Beamten sahen sich verblüfft an. An dem jungen Mann, der vorhin seine Aufmerksamkeit erregt hatte, ging er jetzt vorbei, ohne seinen Schritt auch nur zu verlangsamen. Doch da – nach einigen Schritten kehrte er zu ihm zurück, ging dann doch an ihm vorbei, kehrte wieder um und blieb vor ihm stehen. Dann herrschte er die Sekretärin an. »Er ist es also!« Die Frau versuchte, ihre Hand aus der seinen zu reißen – ohne Erfolg. »Ich habe nichts gesagt!« rief sie dem jungen Mann weinend zu. »Miststück!« zischte der, sprang auf und rannte zur Tür. »Haltet ihn! Er ist es!« rief Hanussen.
Die Polizisten erwischten den jungen Mann am Treppenabsatz. Ein anderer kam ins Zimmer, ging zum Schreibtisch des Täters und zog die Schubladen auf. »Meinen Sie etwa, der hat seine Millionen hier versteckt?« fragte Hanussen spöttisch, doch seine Stirn war naß vom Schweiß. Er wandte sich an die Sekretärin, die er noch immer festhielt. »Sagen Sie bitte, wo das Geld ist. Wenn Sie gestehen, wird Ihre Strafe bestimmt milder ausfallen.« »Ich weiß es nicht«, beteuerte die Frau schluchzend. »Er hat es mir nicht verraten.« Hanussen bemerkte in einer der geöffneten Schubladen eine Kerze und lange Streichhölzer. »Kommt es vor, daß es hier zu dunkel ist, um zu arbeiten?« fragte er einen der Beamten. »Wenn es nötig ist, schalten wir das elektrische Licht an«, antwortete dieser. »Haben Sie keine Kerzen?« wollte Hanussen wissen. Die Beamten sahen ihn verständnislos an. »Gibt es in dem Gebäude unbeleuchtete Räume?« fragte der Magier weiter. »Es ist überall elektrisches Licht«, warf der elegante junge Mann, der Leiter des Sekretariats, ein. »Auch im Keller?« Hanussen musterte ihn forschend. »Natürlich.« Hanussen schloß einen Moment die Augen, dachte nach und verließ dann den Raum. Die Männer folgten in einiger Entfernung. Hanussen ging einen muffigen Gang hinunter, der direkt zum Tresor führte. Konzentriert betrachtete er die kleinen Lagernischen und den staubigen Boden. Bei einem Abfallhaufen blieb er stehen, sah sich interessiert die
aufeinandergeworfenen Kisten an und entdeckte schließlich eine lange Kerze. Mit dem Fuß schob er den Abfall beiseite, stieß an den eisernen Deckel eines Abflusses, betrachtete ihn lange und rief dann nach hinten: »Herr Kommissar!« Der eilte herbei. »Lassen Sie das hier aufmachen!« befahl Hanussen. Ein Wink, und die anderen Polizisten kamen heran. Der Kommissar deutete mit der Hand auf den Abfluß. Ein Polizist hob den eisernen Deckel, zwängte sich durch die Öffnung und kletterte in die Tiefe hinab. Hanussen rief ihm etwas nach, beugte sich hinunter und reichte ihm eine Schachtel Streichhölzer hinterher. Schon war der Polizist verschwunden, und alle warteten gespannt, bis man ein paar Minuten später seine Stimme hörte. »Verflucht!« kam es von unten. Kurz darauf reichte er den ersten Geldsack herauf. Der Kommissar nahm ihn entgegen, und schon übergab ihm der Polizist den zweiten. Die Männer sahen sich an, lächelnd und erleichtert die einen, ungläubig und mißtrauisch die anderen, müde und erschöpft Hanussen. Inzwischen war ein Mann zu der Gruppe getreten, einer der Bankangestellten, der die Szene von weitem verfolgt hatte. Er ging zu Hanussen, packte ihn am Jackett und flehte ihn an: »Bitte, suchen Sie meine Frau! Sie ist mir davongelaufen. Vor zwei Monaten. Und sie hat mir nur einen Abschiedsbrief hinterlassen. Ich gebe Ihnen alles, was Sie verlangen, wenn Sie mir sagen, wohin und zu wem sie gegangen ist…« Jetzt nicht – Hanussen schüttelte den Kopf und ging langsam, ganz langsam in Richtung Ausgang, während der Polizist noch immer Geldsäcke nach oben reichte. Vali, dachte Hanussen – und suchte ein Telefon, um Martha anzurufen.
24 Am nächsten Morgen streckte Martha sich neben Hanussen im Bett in seinem Hotelzimmer. Ein Sonnenstrahl fand seinen Weg durch einen Spalt zwischen den Gardinen. Hanussen wachte auf und löschte die Nachttischlampe, die sie am Abend hatten brennen lassen. Auch das Mädchen schreckte jetzt durch die Bewegung auf. Die beiden lächelten sich an. Hanussen stützte sich auf die Ellenbogen und musterte das Mädchen forschend. »Warum bist du zu mir gekommen?« Was sollte denn diese Frage? Martha schüttelte den Kopf und erwiderte sachlich: »Um mit dir zu schlafen!« »Warum mit mir?« wunderte sich Hanussen. »Weil du auf mich gewirkt hast«, erklärte sie geduldig. Hanussen war neugierig. »Wie denn?« wollte er wissen. »Du hast mich hypnotisiert«, sagte Martha. »Du hypnotisierst alle, die du willst, nicht? Hast du den Dieb vielleicht nicht hypnotisiert?« »Nein«, antwortete Hanussen entschieden. »Und das Geld?« fragte Martha. »Sag mir, wie du es gefunden hast!« »Was willst du wirklich wissen?« versuchte er, ihre Frage zu präzisieren. »Alles!« forderte das Mädchen. »Wäre ich eigentlich ein gutes Medium?« Hanussen wechselte das Thema, das ihn nicht sonderlich interessierte. Er wollte mehr über seine Gefährtin erfahren. »Warum heißt du Martha? Es ist ein nichtssagender Name.« »Nenne mich doch, wie du willst«, schlug sie vor. Hanussen dachte nach. Dachte an seine große Liebe… »Vali«, probierte Hanussen.
»Wally?« fragte Martha gedehnt. »Schön…« »Ich bin Erik-Jan und du bist Wally«, stellte Hanussen fest. »Was willst du von mir?« Martha legte sich in die Kissen zurück und sagte provozierend: »Du kannst mit mir machen, was du willst.« »Ja?« Hanussen sah sie neugierig, aber auch prüfend und mißtrauisch an und befahl dann: »Steh auf!« Das Mädchen lächelte nur und rührte sich nicht. Hanussen zog ihr die Decke weg und stieß Martha grob aus dem Bett. Verwirrt erhob sie sich vom Boden, stand nackt vor dem Mann und sah ihn verständnislos an. »Mach das Fenster auf!« befahl er. Wortlos ging sie zum Fenster und öffnete es. »Klettere auf das Fensterbrett!« herrschte Hanussen sie an. Martha zögerte einen Moment, überlegte und gehorchte dann. Nackt stand sie im geöffneten Fenster und wartete auf weitere Kommandos. Leise sagte Hanussen: »Spring hinaus!« Das Mädchen ging in die Knie, um Schwung für den Sprung zu holen, schnellte nach vorn, klammerte sich dann aber im letzten Moment am Fensterkreuz fest, blieb stehen und lächelte Hanussen an. »Warum springst du nicht?« fragte er böse. »Weil ich nicht verrückt bin«, erwiderte Martha ruhig. »Wenn du wirklich unter Hypnose stündest, wie du sagst, würdest du springen«, erklärte er ihr das Experiment. »Aber du willst doch gar nicht, daß ich springe!« protestierte Martha. »Doch«, widersprach Hanussen. »Man würde dich verurteilen«, wandte sie ein. Hanussen mußte lachen, als er versuchte, sich die Zeitungsmeldung vorzustellen. »›Der telepathische Mann jagt eine Frau in den Tod‹, würden sie schreiben. Alle würden mich
hören und sehen wollen. Na – tust du es? Wenn du mich so bewunderst?« Martha schüttelte den Kopf. »Vielleicht eines Tages. Heute noch nicht. Ich möchte dich noch lebend genießen«, sagte sie lächelnd. Trotzdem – sie wäre ein ideales Medium, dachte Hanussen. Es klopfte an der Tür. Martha schlüpfte schnell wieder zu Hanussen ins Bett und zog die Decke über sich. Wieder klopfte es ungeduldig. »Ja, wer ist da?« rief Hanussen. »Ich. Nowotny.« Und schon betrat er das Zimmer. »Hier, die Zeitungen!« rief er aufgeregt. »Alle schreiben über Sie!« Erst jetzt bemerkte er, daß Hanussen nicht allein war. »Oh, Verzeihung«, sagte er verlegen. »Sie kennen sich ja schon«, meinte Hanussen gelassen. »Das ist mein Freund Tibor Nowotny. Das ist Wally… Journalistin.« Martha reichte Nowotny aus dem Bett heraus die Hand… »Wally.« »Ach ja, aus dem Theater«, erinnerte sich Nowotny jetzt. »Sehr erfreut.« Dann wandte er sich wieder an Hanussen. »Nicht alle Artikel sind enthusiastisch, aber Hauptsache ist, es wird überhaupt geschrieben. Und zwar auf den Titelseiten.« Er schlug die Zeitungen auf und las einige Zeilen vor. »›Sieg des Okkultismus über die Kriminalistik!‹ Das ist die Überschrift. ›Das große Medium E. J. H. und die Polizeibeamten. Ein Mann von mittelmäßiger Intelligenz, schaffte in einer Stunde, was unseren gutbezahlten Beamten in Tagen nicht gelang. Der Fall beweist nicht, daß Herr Hanussen Hellseher ist, sondern, daß unsere großmächtigen Detektive Hohlköpfe sind. Unbefriedigend – dieses Zeugnis stellte
Hanussen der Wiener Polizei durch seine Telepathie aus.‹« Nowotny ließ die Zeitung sinken. »Das ist alles nicht wirklich gut für uns. Wir dürfen uns nicht mit der Polizei überwerfen.« »Nicht ich habe die Bank ausgeraubt!« erinnerte ihn Hanussen. »Ich habe das Geld gefunden!« Aber Nowotny war noch nicht fertig. »Warten Sie! ›Hat der okkultistische Herr etwa Kontakte? Ist die ganze Geschichte vielleicht nur Reklame? Vielleicht gar von der Bank selbst organisiert, um wieder ins öffentliche Interesse zu rücken, nachdem sie den Sturz der Monarchie überlebt hat?‹« »Wien ist die Stadt der Intrigen«, wehrte Hanussen mit einer abwertenden Geste ab. »Hier hat sich nichts geändert – nur daß jetzt die Kleinbürger intrigieren.« Und die Journalisten, dachte er. Aber auch das war nicht neu. Wien hatte schon immer den Ruf gehabt, die übelste Gerüchteküche im europäischen Raum zu sein. »Schauen wir mal weiter«, fuhr Nowotny unbeirrt fort. »Das ist gut: ›Wir können erneut über Grenzfragen des Seelenlebens diskutieren. E. J. Hanussen sieht mehr als wir, das ist Tatsache. Welche Kräfte er besitzt, wissen wir nicht. Das weiß er vielleicht selbst nicht. Doch fühlt er all das, was wir nicht fühlen.‹ Soviel zur Presse. Aber kommen Sie später mal zu mir hinüber. Es kommen unzählige Anfragen, ob Sie Privatleute empfangen wollen«, sagte Nowotny, stand auf und ging zur Tür. Als sie sich hinter ihm geschlossen hatte, seufzte Hanussen tief auf und sah Martha an. »Wenn hier noch ein Bankraub passiert«, stöhnte er, »dann reise ich sofort ab!« »War es so schwer?« fragte das Mädchen und nahm die Unterhaltung von vorhin wieder auf. Hanussen dachte nach und sagte, unbewußt, völlig aufrichtig: »Es war entsetzlich!«
»Aber du hast das Geld doch gefunden«, sagte Martha verwundert. »Das ist die Hauptsache.« »Meinst du?« Unsicher sah Hanussen die Journalistin an. »Dann lies doch mal die Zeitungen«, forderte sie ihn auf. »Finde dich damit ab, was die Leute von dir glauben.« Hanussen war sich nicht so sicher. »Und wenn sie morgen wollen, daß ich Kaiser Franz Joseph zum Leben erwecke?« »Ach wo, Erik«, beruhigte ihn Martha. »Das will keiner.« Und wenn schon – auch das würde mir gelingen, dachte Hanussen in leiser Selbstironie, bevor er sich wieder dem Mädchen zuwandte, das sich provozierend unter der Decke räkelte. Später holten Hanussen und Wally Tibor Nowotny in seinem Zimmer ab, um mit ihm im ›Café Eiles‹ zu frühstücken. An einem der Nachbartische saß eine ältere Dame mit zwei jungen Mädchen; alle drei starrten immer wieder zu Hanussen herüber, der sich in Ruhe seinem Frühstück widmete. Nachdem die beiden Mädchen eine Weile miteinander geflüstert hatten, stand eines schließlich auf und ging zu Hanussen. »Entschuldigen Sie, Herr Hellseher. Könnte ich ein Autogramm bekommen?« fragte sie. Hanussen sah auf, lächelte, kritzelte seinen Namen auf eine Serviette und gab sie dem Mädchen. »Dankeschön«, sagte sie artig und ging zu ihrem Platz zurück. Doch ihre Bitte hatte auch andere ermutigt. Eine ältere Dame trat zu Hanussen. »Könnte ich auch eines bekommen, Herr Hellseher?« fragte sie, jetzt von fast allen Gästen im Café beobachtet. »Natürlich«, sagte Hanussen freundlich. »Aber dann würde ich gerne frühstücken.« In diesem Moment kam Rudi herein und eilte zu Hanussen. »Ich muß mit dir unter vier Augen sprechen!« kündigte er an.
»Nimm Platz!« forderte ihn Hanussen auf. »Setzen wir uns etwas beiseite«, bat Rudi. »Ich habe gesagt, nimm Platz! Was willst du?« Hanussen fühlte sich offensichtlich gestört, war ärgerlich. »Die Polizei ist wütend wegen der Presse«, rückte Rudi mit seinen Neuigkeiten heraus. »Was heißt ›die Polizei‹?« fragte Hanussen. »Wer genau?« »Alle«, gab Rudi Auskunft. »Sie sagen, du hast sie lächerlich gemacht.« »Das ist ihre eigene Schuld«, gab Hanussen mit stoischer Ruhe zu bedenken. Aber Rudi war besorgt. »Es wäre besser, wenn du jetzt aus Wien verschwinden würdest«, riet er. »Bevor sie einen Grund suchen…!« Er beugte sich zu Hanussen hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: »Wenn sich herausstellt, daß ich da mit drinhänge, macht man mir den Garaus, verstehst du?« Hanussen beugte sich zurück, Rudis schlechter Atem verursachte ihm Übelkeit. »Komm mir nicht so nahe!« befahl er. »Gut«, stimmte Rudi zu. »Hast du verstanden?« »Ja… natürlich…« Hanussen drehte sich, nun doch nervös geworden, zu Nowotny um und stieß dabei eine Porzellantasse vom Tisch, die klirrend auf dem Boden in tausend Scherben zersprang. Ein Kellner eilte herbei, um sie aufzusammeln. Rudi bückte sich und half ihm. Eine peinliche Szene. Hanussen wartete, bis der Kellner fort war, und sagte dann mit leiser Stimme zu Nowotny: »Rudi sagt, es wäre besser, Wien jetzt zu verlassen.« »Ja, das glaube ich auch«, sagte Nowotny ruhig. »Die Polizei wird Ihretwegen zu laut beschimpft.« Rudi nickte, dankbar über diese unerwartete Unterstützung. »Wohin soll ich denn gehen?« fragte Hanussen.
»Nach Berlin«, erwiderte Nowotny schnell. »Das ist das richtige Pflaster für Sie!« Hanussen war nicht begeistert. »Ich kenne Berlin nicht«, wandte er ein. Nowotny machte eine Geste, die besagen sollte: Dann wird es Zeit, daß Sie es kennenlernen! Martha sah unsicher von einem zum anderen – würde sie Hanussen schon wieder verlieren? Doch der erriet ihre Gedanken und schüttelte den Kopf. Was Martha noch nicht wußte: ›Wally‹ würde als sein neues Medium Karriere machen…
25 Hanussen sollte in Berlin eine alte Bekannte treffen: Dagma Klistavi, die indische Magierin, trat zur Zeit in Berlin auf; bunte Leuchtreklamen warben flackernd für die Vorstellung der fernöstlichen Künstlerin. Bevor Hanussen jedoch den Kontakt zu Dagma suchte, erneuerte er eine andere Bekanntschaft. Er holte die Visitenkarte hervor, die ihm Ministerialrat Rattinger vor dem ›Imperial‹ in Wien gegeben hatte, und suchte ihn kurz nach seiner Ankunft in Berlin auf. Rattinger empfing Hanussen sofort, ehrlich erfreut über den Besuch des Mannes, dessen Darbietung er noch in bester Erinnerung hatte. Das Zimmer war eingerichtet mit dunklen, schweren geschnitzten Möbeln und einem riesigen Bücherschrankes gab seinen Besitzer als einen Menschen mit Geschmack und Bildung zu erkennen. Dr. Rattinger und Hanussen saßen sich an einem Rauchertischchen gegenüber und sprachen über ein Thema, das Rattinger sehr zu beschäftigen schien. »Es ist möglich, daß das denkende menschliche Hirn elektrische Energie freisetzt«, sagte er. »Aber vielleicht gibt es auch ein Hirn, das die von anderen ausgestrahlten Wellen aufnehmen kann?« »Das ist sehr wahrscheinlich«, antwortete Hanussen, überzeugt. Rattinger fuhr fort: »Die Welt jenseits der Sinne, aber auch der Okkultismus haben mich immer interessiert. Ich bin Mitglied eines Freundeskreises – auf unseren Zusammenkünften beschäftigen wir uns vor allem mit solchen Fragen. Es sind hochgebildete Ärzte, Juristen, Politiker… Und
ich habe eine Frage, die mich beschäftigt, seit ich Ihnen begegnet bin. Darf ich Sie Ihnen stellen?« »Gern«, sagte Hanussen und beugte sich neugierig vor. »Zweifeln Sie nicht an sich?« fragte Rattinger. »Haben Sie keine Angst?« »Doch«, gab Hanussen zu. »Die meisten Menschen leben unter dem Druck irgendeiner Angst. Und wenn ich ausspreche, wovor sie Angst haben, fühlen sie sich befreit. Vielleicht ist das mein Lebensziel. Glauben Sie mir, Herr Ministerialrat, es öffnen sich manchmal ungeahnte Tiefen im Menschen, unbedeutende Dinge werden erschreckend, und die Menschen sehen ratlos und voller Furcht ins Ungewisse. Das füllt dann auch die Kirchen. Denn ohne Glauben, Zukunft und Ziel kann man nicht leben. Und diese Lebensangst – die kenne auch ich.« »Meine Freunde und ich sehen das«, sagte Rattinger. »Wie lange halten die Menschen diesen Zustand noch aus? Wohin führt diese Krise? Welche Politik wird als Sieger hervorgehen? Was wird aus unseren Werten? Sagen Sie mir das! Sehen Sie, auch heute noch werden Propheten gebraucht, oder Hellseher wie in Delphi…« Rattinger schwieg eine Weile, dann fiel ihm eine andere Frage ein, die er schon lange auf dem Herzen hatte. »Sagen Sie doch bitte, warum lassen Sie sich die Augen mit einem schwarzen Tuch verbinden, wenn Sie auftreten?« »Damit mich nichts stört«, erwiderte Hanussen. »So kann ich nach innen horchen und nehme jede Schwingung wahr. Und so sehe ich richtig.« Und schon waren die beiden Herren in ein ausführliches Gespräch über die Methoden vertieft, die die Hellseher schon zu allen Zeiten benutzt hatten, um sich zu konzentrieren und ihre Seele den Gedanken und Einflüssen anderer zugänglich zu machen.
Rattinger überredete Hanussen, an einem der nächsten Abende Gast im Herren-Club zu sein. Es war ein vornehmer, eleganter Club, eine Begegnungsstätte führender Persönlichkeiten der Weimarer Republik und die wichtigste gesellschaftliche Einrichtung Berlins. Seine Mitglieder waren Adlige und Großgrundbesitzer, nationalistische Industrielle und andere führende Persönlichkeiten aus dem rechten Lager, auch Kabinettsmitglieder und konservative Barone, während Männer wie Hitler und Goebbels für diesen Club nicht fein genug waren. Die Clubräume waren im englischen Stil gehalten, bedient wurde von einem Ober im Frack. Abgesehen von den Reichswehr-Generälen und Obristen, die in der Minderzahl waren, sah man hier keine Uniformen. Fast alle Herren trugen akkurate Anzüge nach englischem Vorbild. Die dunkelbraune Wandverkleidung, schwere Ledersessel, dunkle Stimmungslampen, Rauchertischchen und wertvolle Teppiche strahlten Wohlstand und Gediegenheit aus. Hanussen stand so, daß alle ihn sehen konnten. Sein Publikum – vor allem ältere, gutgekleidete Herren -lauschte ihm aufmerksam. Hanussens Gesicht glühte, noch nie hatte er so voller Enthusiasmus gesprochen, noch nie so prophetisch. Je deutlicher er die Erwartung der Menschen spürte, um so mehr steigerte er sich in seine eigene Euphorie hinein. »Ich sehe Hunderttausende von Mark im Kanal schwimmen«, sagte er, »ein zerlumpter Bettler hat sie weggeworfen. Am Morgen kostet eine Zeitung noch hunderttausend, nachmittags bereits fünfhunderttausend. Wer sparsam ist, kommt an den Bettelstab, wer Schulden hatte, ist sie nun los. Wer etwas von Bestechung versteht, spekuliert und betrügt, kommt vorwärts. Tugenden gibt es keine mehr. Ich sehe, wie eine Mutter ihr Kind unterrichtet: ›Sei skrupellos‹. Ich sehe, wie auf dem Kurfürstendamm geschminkte Jungen sich in Frauenkleidung
feilbieten. Unter sechzehnjährigen Gymnasiastinnen ist es eine Schande, noch unberührt zu sein, und stolz erzählen sie, welche Perversionen ihnen den größten Genuß bereiten. Doch wenn ich sie genauer betrachte, sehe ich, daß sie lieber heiße Schokolade mit Schlagsahne als Schnaps trinken würden, daß sie lieber die Zärtlichkeit ihrer Eltern genießen würden als die von Männern in Toiletten oder Fahrstühlen. Ich sehe, daß Arbeitslose und arme Rentner vor den eleganten Restaurants stehen und voller Haß zu den Fenstern hineinsehen. Und die drin sitzen, schämen sich nicht; dabei können draußen die Mütter ihren Kindern nicht einmal eine welke Frucht kaufen. Und ich sehe die Schaufenster, sie sind nicht leer, nein, sie sind voll. Ein Ei kostet soviel wie früher ein Luxuswagen, und trotzdem schießen die Geschäfte wie Pilze aus dem Boden. Ich sehe die überfüllten Theater, die Nachtlokale, die Eisessenden auf den Terrassen der eleganten Hotels, denn die Raffinierten sind reich geworden. Die Unterschiede werden’ von Tag zu Tag größer, die Korruption wischt öffentliche Interessen vom Tisch, und dort, wo früher unsere Werte standen, klafft nun eine Lücke. Und in dieser Lücke rotten sich dahinsiechende Alte und chancenlose Jugendliche zusammen, die von jedem Demagogen ausgenutzt werden können; denn ich sehe den Haß, den sie auf die Republik empfinden, weil sie die Zügel losgelassen hat. Keiner will diesen Seiltanz über dem Abgrund – alle brauchen Sicherheit, brauchen Ordnung, und sie erwarten die Rache. Dies ist die Zeit des Abwartens, der Platzsuche. Eine schlimme Zeit. Ich sehe, daß hier in Kürze solches Elend herrschen wird wie auf dem Balkan oder in Österreich. Das also wäre die Zukunft.« Hanussen machte eine Pause und setzte sich dann unvermittelt.
Mehrere Herren spendeten Beifall. Hanussen blieb unbeweglich sitzen und bedachte die Applaudierenden mit einem glühenden Blick. »Bravo!« kam es da von mehreren Seiten. »Bravo!« sagte auch Dr. Rattinger laut. Er beugte sich zu Hanussen, drückte freundschaftlich dessen Schulter, hob dann die Hand und bat um Ruhe. »Meine Herren, haben Sie nach diesen Visionen noch Fragen an Herrn Hanussen?« Ein Herr hob die Hand. »Die Republik und die Demokratie sind bei uns noch ganz neu, und schon fällen Sie ein Urteil über sie!« rief er. »Halten Sie es für möglich, daß das deutsche Volk, nachdem es das Kaisertum zum Sturz gebracht hat, nun gegen die Republik antreten wird?« Hanussen antwortete langsam und bedächtig. »Wenn das deutsche Volk in noch tieferes Elend sinkt als unter dem Kaiser, möchte es den Schuldigen kennen.« »Wen wird Ihrer Meinung nach das deutsche Volk für schuldig halten?« fragte der Herr. Hanussen sammelte sich einen Moment. »Wenn die Menschen keine glaubwürdige Erklärung für die Ereignisse bekommen, erfinden sie sich eine, die ihnen gefällt, das ist ganz einfach. Organisieren Sie ein schockierendes Ereignis und sagen Sie den Grund nicht – die Menschen erfinden einen aus den in ihnen steckenden Haßgefühlen. Und das kann man mißbrauchen.« Der Herr antwortete leidenschaftlich: »Die heutige Jugend kann man nicht mehr mit solchen Dingen hereinlegen wie die vorangegangene Generation!« »Auch nicht mit dem Maschinengewehr?« fragte Hanussen zurück.
»Die nehmen keine Waffe mehr in die Hand«, wandte der andere ein. »Sie sind frei.« Ein anderer Herr rief dazwischen. »Freiheit heißt, überall hinzukotzen!« »Und unsere Freiheit, da nicht hineinzutreten«, ergänzte Hanussen. »Wird sich die Lage der deutschen Wirtschaft merklich verschlechtern?« fragte ein anderer mit Besorgnis in der Stimme. »Ja, mein Herr«, erwiderte Hanussen. »Was ist wertbeständig?« wollte der Frager noch wissen. »Nur die ewigen Werte bleiben erhalten«, sagte der Magier, »was sich in den Jahrtausenden herauskristallisiert hat.« »Brillanten«, flüsterte ein Herr seinem Nachbarn zu, »möglichst lupenrein.« »Was würden Sie gegen die Unsicherheit und die Zukunftsangst der Menschen empfehlen?« fragte der erste Herr nun. Hanussen dachte wieder einen Moment nach, bevor er antwortete. »Es müßten Institute gegründet werden, in denen Menschen mit stählernem, unbestechlichem Charakter sitzen und wo alle Hilfe und Rat bekommen könnten.« Langsam verstummten die Fragen, Gespräche untereinander setzten ein, Diskussionen um Hanussens Visionen, die sie alle beeindruckt hatten. Still, leise und möglichst unauffällig bahnte Hanussen sich seinen Weg zur Rückseite des Raumes in Richtung Garderobe. Er zog gerade seinen Mantel über und verabschiedete sich von Dr. Rattinger und zwei anderen Herren, als ein untersetzter Mann verlegen zu der Gruppe trat. »Entschuldigen Sie, meine Herren!« sagte er. »Gestatten Sie? Ich hätte eine private Frage.« Er zog Hanussen zur Seite,
flüsterte aber vor lauter Aufregung so laut, daß die anderen mithören konnten. »Mein Name ist Baron Stadler. Mein Herr, Sie sehen in die Zukunft. Können Sie mir sagen, wie hoch der Preis für Baumwolle morgen an der Börse sein wird?« Hanussen schüttelte verwundert den Kopf. »Das weiß ich nicht. Davon verstehe ich nichts.« »Scherzen Sie doch nicht!« sagte der Mann aufgebracht. »Wenn Sie die Zukunft sehen, müssen Sie auch die Zahlen wissen!« Hanussen wehrte ab. »Glauben Sie mir, mit so etwas befasse ich mich nicht.« Doch der Herr ließ sich nicht so leicht abwimmeln. »Sagen Sie nur eine Zahl«, bat er. »Heute sind es 93. Und morgen?« Hanussen wurde ungeduldig. »Wenn Sie wollen, sage ich Ihnen gerne eine Zahl, aber die wird nichts mit Baumwolle zu tun haben. Darf es eine Hausnummer sein?« schlug er vor. »Ja.« »Feuerwehrstraße 25. Das ist das Haus meiner Großmutter.« »25?« fragte der Mann verblüfft. »Das ist unmöglich!« »Es tut mir leid«, entschuldigte Hanussen sich. »Aber so etwas weiß ich besser. Sie wollten eine Zahl wissen.« »Danke. Danke vielmals«, murmelte Baron Stadler etwas ungläubig, ging aber doch sehr zufrieden davon. »Bitte, gern geschehen«, rief Hanussen ihm lachend nach. Die anderen beiden Herren und Dr. Rattinger stimmten in sein Lachen mit ein.
26 Hanussen gab im Café des Hotels ›Astoria‹ seine Bestellung auf. Im sonnendurchfluteten Raum saß er an einem für das Frühstück gedeckten Tisch und bat den Kellner: »Ich möchte Kaffee mit heißer Milch.« Er sah sich neugierig um, nahm dann eine Zeitung aus dem Halter und vertiefte sich in die Nachrichten. Auf der Titelseite unten sah er in großen Buchstaben die neuesten Börsenberichte. »Eine unerwartete Wende«, stand da. »Der Preis für Baumwolle ist auf 25 gefallen.« Hanussen wurde blaß und sah verstört auf. Doch natürlich hatte niemand etwas gemerkt, niemand sah ihn an, die Hotelgäste frühstückten ruhig und plauderten miteinander. Hanussen sah noch einmal in die Zeitung und nahm dann eine andere vom Halter. Titel der Börsennachrichten auch hier: »Baumwollpreis überraschend auf 25 gesunken!« Hanussen blickte den Kellner, der den Kaffee brachte, verwirrt an. Der konnte sich das ratlose Gesicht des Gastes natürlich nicht erklären. »Ist etwas passiert, mein Herr?« fragte er höflich. »Nein… nichts. Danke«, antwortete Hanussen. Der Kellner schenkte kopfschüttelnd1 den Kaffee ein und ging wieder. Wie gelähmt blieb Hanussen sitzen, seine Gedanken überschlugen sich, während er überlegte, wie er dieses Ereignis einordnen, wie er es verwerten sollte. Eine alte, gebeugte Frau kam ins Café, blieb an den einzelnen Tischen stehen und verkaufte den Leuten Lose. Auch bei Hanussen hielt sie an und hielt ihm den Korb mit den Losen hin. »Ein Los, mein Herr?« fragte sie freundlich.
»Zehn bitte!« bat Hanussen entschlossen. Die Alte zählte erfreut die Lose ab, nahm das Geld, das Hanussen ihr reichte und ging weiter. »Dankeschön.« Hanussen betrachtete die Lose und die Zahlen, die er ankreuzen müßte. Nein! Er nahm sie und zerriß sie in kleine Schnipsel. Hanussen verließ das Café und ging zur Rezeption. Der Portier deutete auf einen Mann, der in einer Ecke am Pult lehnte. »Der Herr hier wartet auf Sie, Herr Hanussen.« Eigenartig sah er aus, der Besucher, mit seinem völlig kahlen Kopf und seinem sonderbaren Gesichtsausdruck, unordentlich und nachlässig gekleidet. So, wie er dastand, schien er jeden Moment auf dem Sprung zur Flucht. Als er jetzt den Namen ›Hanussen‹ hörte, eilte er zur Rezeption und steckte eine Zigarre zurück in die Jackentasche. »Herr Hanussen?« Der Mann sprach mit einem fremdartigen Akzent. »Ja?« fragte Hanussen, nicht sehr interessiert. »Ich bin Redakteur Fabian«, stellte der Mann sich vor. »Ich arbeite für mehrere Abendblätter. Sie haben gestern abend im bürgerlich-demokratischen Club angekündigt, daß der Baumwollpreis auf 25 fallen würde…« Unbefangen fragte Hanussen: »Woher wollen Sie das wissen?« »Ich habe gute Beziehungen«, deutete der Mann an. »In der Garderobe?« fragte der Magier. »Überall«, erwiderte der Reporter. »War es so oder nicht?« »Ja, na und?« sagte Hanussen. »Der Preis ist wirklich auf 25 gesunken«, wiederholte der Reporter.
»Ich hab’s doch gesagt«, erklärte Hanussen unfreundlich. »Was denn noch?« »Woher wußten Sie es?« insistierte der Reporter. Hanussen sah ihn verwundert an. »Hat man Ihnen das denn nicht erzählt? Ich bin Hellseher. Ich sehe die Zukunft.« Hanussen wandte sich ab, doch der Mann hielt ihn am Ärmel fest. »Könnten wir uns darüber unterhalten?« fragte er bittend. »Ich habe jetzt keine Zeit«, erwiderte Hanussen unwirsch. »Kommen Sie morgen nachmittag um drei wieder. Ins Café dort.« Der Reporter schüttelte den Kopf – der vorgeschlagene Termin war ihm viel zu spät, »Das geht nicht«, sagte er, »dann kommt es nicht mehr in die Abendausgaben.« Das wiederum interessierte Hanussen herzlich wenig – was kümmerten ihn die Termine und Nöte eines Journalisten? »Na und?« fragte er deshalb gleichgültig. »Ich bin auch morgen noch ein gutes Thema.« Dessen war sich der andere nicht so sicher. »Das steht noch nicht fest«, meinte er abschätzig. »Außerdem kann es auch sein, daß Sie inzwischen noch jemand anderem ein Interview geben. Dann würde mich die Angelegenheit sowieso nicht mehr interessieren.« Hanussen zögerte, musterte den anderen nachdenklich und überlegte. Die Macht der Presse hatte er schon kennengelernt, ganz verärgern wollte er diesen Reporter denn doch nicht. »Gut… zehn Minuten«, schlug er vor. »Reicht das?« Der Mann nickte. »Können wir uns hinsetzen?« Die beiden Männer ließen sich auf einer Couch im Foyer nieder. »Sie sind also Prophet?« begann Herr Fabian das Interview. Hanussen war auf der Hut. »Das würde ich nicht sagen«, meinte er vorsichtig. »Ich fühle gewisse Dinge. Ich sehe die
menschliche Seele, verstehe etwas von Telepathie und weiß, was die Leute denken, mit denen ich spreche.« Neugierig sah der Journalist ihn an. »Und woran denke ich jetzt?« fragte er. Hanussen lachte. »Sie würden sich liebend gerne eine Zigarre anstecken.« Der Mann sah ihn verdutzt an und vergaß beinahe sein Interview. »Woher wußten Sie das?« »Ich bin so geboren«, erwiderte Hanussen. »Ich weiß immer, was die Leute denken.« Der Reporter erinnerte sich wieder an den Grund seines Besuches. »Warum haben Sie bei den bürgerlichen Demokraten Ihre Voraussagen gemacht?« fragte er. »Sind Sie Parteimitglied? Oder arbeiten Sie für sie?« Jetzt konnte Hanussen ganz ehrlich sein, die Antwort fiel ihm nicht schwer. »Ich sage, was ich sehe – dem, der mich danach fragt. Mich interessieren keine Gruppeninteressen und keine Parteien. Ich sage einfach die Wahrheit, und die ist allerdings manchmal unangenehm.« So leicht war Fabian jedoch nicht zufriedenzustellen. »Was Sie gesagt haben, entspricht vollkommen deren Politik«, erklärte er, erkannte aber, daß er von seinem Gegenüber keine politische Stellungnahme erhalten würde. Er wechselte das Thema. »Weshalb sind Sie nach Berlin gekommen?« »Um die Stadt zu erobern«, erwiderte Hanussen bescheiden. »Das gelingt nur den Besten«, wandte Fabian ein. »Ich gehöre zu ihnen«, erklärte Hanussen geduldig. »Kann sein«, stimmte der Reporter zu. »Aber wenn man Ihren Namen hier nicht kennt, sind Sie hier ein Niemand. Denken Sie an Ihren Landsmann Adolf Hitler, den kannte auch niemand. Da fuhr er mit ein paar Lastwagen voll junger
Burschen nach München und rief dort die Revolution aus, im Bewußtsein der kommenden Niederlage. Man stellte ihn vor Gericht – und das brachte ihm die erhoffte Sensation, sein Name wurde bekannt.« »Soll ich vielleicht jemanden umbringen, um bekannt zu werden?« fragte Hanussen ironisch. Der Reporter nickte beifällig. »Wenn Sie mir vorher Bescheid sagen, wen und wann, bekommen Sie eine Schlagzeile.« Hanussen dachte nach. »Gut«, sagte er dann ernst, »geben Sie mir Ihren Namen und Ihre Adresse. Wenn dieser Artikel heute abend mir gefällt, verständige ich Sie immer vorher, wenn ich etwas Interessantes vorhabe. Es hat mich gefreut, Herr Fabian.« Hanussen streckte dem anderen die Hand hin, die dieser schüttelte. »In Ordnung.« Warum nicht, dachte Hanussen, als er sich erhob. Warum sollte er sich eigentlich nicht mit der Presse verbünden? Oder zumindest mit einigen ihrer Vertreter? Ein paar einflußreiche Freunde konnten immer hilfreich sein, und wer war einflußreicher als die Zeitungen? Er brauchte Reklame, und er brauchte Verbündete. Daß dieser Verbündete ihm einmal das Genick brechen würde, ahnte er damals noch nicht. Wie sollte er auch? Seine eigene Zukunft interessierte den Hellseher nicht. Daß Fabian ihm nicht zuviel versprochen hatte, konnte Hanussen abends, als die ersten Zeitungen ausgeliefert wurden, sehen. ›Wer ist E. J. Hanussen, der den Börsensturz der Baumwollaktien voraussagte, wirklich?‹ stand in großen Lettern auf den Titelseiten.
27 Auch Dagma hatte die Zeitung gelesen, Dagma, die indische Tänzerin und Seherin, die Hanussen zusammen mit Nowotny in Budapest kennengelernt hatte. Schon als er bei seiner Ankunft in Berlin die Leuchtreklamen mit der Ankündigung ihrer Vorstellung gesehen hatte, hatte er beschlossen, die geheimnisvolle Frau zu besuchen. Diesen Entschluß hatte er nun in die Tat umgesetzt, war zum Revuetheater ›Scala‹ gefahren und war nun auf der Suche nach der Garderobe der Künstlerin. Hanussen stolperte über die Kulissen, die an die Wände gelehnt waren, tastete sich im Halbdunkel weiter und fand schließlich eine Tür mit ihrem Namensschild. Energisch klopfte er an die Tür. »Ja?« hörte man eine einladende Stimme. Hanussen betrat den Raum. Vor dem erleuchteten Theaterspiegel saß Dagma, neben ihr auf einer Couch rekelte sich eine mit Schmuck behängte, etwa 50jährige Dame. Hanussen räusperte sich verlegen. »Entschuldigen Sie die Störung. Ich möchte mich den Damen vorstellen…« »Machen Sie keine Witze, Hanussen«, unterbrach ihn Dagma amüsiert. »Kapitän Nowotny hat Sie uns doch in Budapest vorgestellt.« »Verzeihung – aber ich durfte doch nicht annehmen, daß Sie sich noch an mich erinnern werden«, murmelte Hanussen, sichtlich erfreut, daß er offensichtlich Eindruck gemacht hatte. »Natürlich erinnere ich mich, im Gegensatz zu Ihnen«, lachte Dagma und fuhr fort: »Darf ich Ihnen Baronin Stadler vorstellen?« Erfreut reichte die Dame ihm die Hand.
»Welch ein Zufall!« rief sie. »Wissen Sie, wer ich bin? Sie haben meinem Mann gestern den Baumwollpreis vorhergesagt. Wir haben dadurch ein Vermögen verdient… ein Vermögen, und zwar durch Sie. Was für einen Blick Sie haben! Mein Mann sagte, Sie seien ein Messias… Warum nehmen Sie nicht Platz? Dagmalein, du gestattest doch? Oh, und kommen Sie doch bitte am Samstag zu unserer Soiree! Meine Tochter veranstaltet sie, sie wird bestimmt schrecklich modern, aber das mögen die Jugendlichen ja heutzutage. Aber schließlich sind wir auch da, ganz in der Nähe, ein oder zwei Salons entfernt. So viele Leute möchten Sie gern kennenlernen und wären begeistert, wenn Sie kämen! Diese Sache mit der Baumwolle – und dann haben wir auch von dem Schiff gehört, dieser Katastrophe, die Sie vorausgesagt haben. Unglaublich! Dagma kommt auch, ganz bestimmt, oder, meine Gute?« Hanussen atmete auf, endlich hatte der Redefluß der Frau ein vorläufiges Ende gefunden. »Ja…«, stimmte Dagma zu. »Kommen Sie nur hin.« Und dann, interessiert: »Was ist mit Nowotny?« »Er ist noch in Wien«, berichtete Hanussen. »Er trifft morgen ein.« »Wunderbar«, freute sich Dagma. »Bringen Sie ihn auch mit! Aber darf ich Sie jetzt bitten, einen Moment hinauszugehen, bis ich mich umgezogen habe? Dann kommen Sie wieder herein, und wir reden weiter.« »Natürlich!« rief Hanussen glücklich und stürmte hinaus. Draußen auf dem Flur sah er sich um und bemerkte gegenüber die Stufen, die zur Bühne führten. Und zögerte keine Sekunde. Hanussen tastete sich hinter der Bühne im Halbdunkel zwischen den Kulissen hindurch, schnupperte, erkannte den vertrauten Geruch wieder. Auf einem metallisch glänzenden Tisch lag Jongleur-Zubehör. Hanussen nahm entzückt ein paar
Ringe in die Hand und begann, sie in die Luft zu werfen, genoß seine Kunst, die er sich aus alten Zirkuszeiten bewahrt hatte, freute sich am Spiel mit den Ringen wie ein kleines Kind. Mit der Eleganz eines großen Stars verneigte er sich dann vor einem imaginären Publikum und griff nach den Keulen. Der Magier ließ eine fallen, bückte sich nach ihr – und bemerkte plötzlich, daß er nicht allein war im Hintergrund der Bühne lag auf einem vergoldeten Kanapee eine Frau und beobachtete ihn interessiert. »Verzeihung!« murmelte Hanussen unsicher. »Macht gar nichts«, sagte die Frau und setzte sich auf. »Sie müssen Hanussen sein. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Dagma hat mir erzählt, daß sie Sie noch aus Budapest kennt.« Sie reichte ihm die Hand. »Ich bin Valery de la Meer.« Die Frau hatte einen eigenartigen Akzent, eine weiche und doch rauhe Stimme, ihr Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Nur ihre Augen – die sah Hanussen im Zwielicht schimmern und funkeln. »Dagma sagt Ihnen eine große Zukunft voraus«, erzählte Valery de la Meer. »Sie sagt, in Ihnen steckt etwas Teuflisches, etwas, was heute gebraucht wird. Stimmt das? Haben Sie es gern, wenn man Angst vor Ihnen hat? Außerdem kommen Sie mir irgendwie bekannt vor.« »Ich sehe Sie leider kaum«, erwiderte Hanussen. Valery stand auf, langsam und geschmeidig, trat ins Licht. Sie standen einander jetzt in dem schwachen Lichtstrahl, der aus dem Garderobenflur drang, gegenüber. Hanussen zögerte einen Moment, wurde dann aber zunehmen sicherer, auch wenn die feuerroten Haare der Frau jetzt nämlich kurz geschnitten waren. »Vali Toth!« sagte er dann. Valery fing an zu lachen, bis ihr die Tränen übers Gesicht liefen.
»Vali Toth aus Eisenstadt!« wiederholte Hanussen. »Du bist die Apothekerstochter!« »Und du Klaus Schneider!« lachte Valery. Die beiden fielen sich um den Hals, lachten und sprachen durcheinander, setzten sich dann gemeinsam aufs Kanapee und erinnerten sich an gemeinsame Erlebnisse ihrer Kindheit. »Weißt du noch, das Feuer…?« fragte Hanussen irgendwann. »Na klar, unsere Apotheke ist doch abgebrannt«, bestätigte Valery, immer noch lachend. »Und du hast mich gerettet!« Hanussen besann sich schließlich auf den Grund seines Besuchs. Dagma wartete schließlich in ihrer Garderobe auf ihn. Doch für Hanussen stand fest, daß er Valery wiedersehen würde, die einzige Verbindung zu seiner Jugend und seiner Heimat würde er nicht so schnell wieder aufgeben.
28 Die Villa Stadler war am darauffolgenden Samstag festlich erleuchtet, aus den Fenstern drang Musik, auf dem Gartenweg gingen Gäste in Abendgarderobe und Kostümierte auf den Haupteingang zu, unter ihnen auch Hanussen und Nowotny. In einem der Säle spielte ein Kosakenorchester in aus Seide genähten, russischen Kostümen auf. Ein schnauzbärtiger Mann um die 60, in der Hand eine Balalaika, sang mit tiefer, männlicher Stimme ein altes russisches Volkslied. Das Orchester stand auf einem Podest, am Ende zweier ineinander übergehender Säle, die beherrscht wurden von wertvollen Leuchtern, deren Kerzenlicht in unzähligen, riesigen Spiegeln reflektiert wurde. Im ersten Saal streckte die Baronin Stadler pathetisch beide Arme nach Hanussen aus. »Lieber Hanussen, ich freue mich ja so, daß Sie gekommen sind!« rief sie. »Darf ich Sie meiner Tochter vorstellen? Wir feiern heute ihren Geburtstag.« Ein blasses Mädchen, gerade 18, mit Bubifrisur und einem unreifen Gesicht trat zu ihnen. »Sehr erfreut. Kiki Stadler.« »Herzlichen Glückwunsch«, sagte Hanussen freundlich und nahm ihre Hand. Hinter ihm standen die vor ein paar Stunden angekommenen Freunde, Wally und Tibor Nowotny. Frau Stadler ignorierte sie und sprach weiter. »Was Sie heute hier sehen, erscheint Ihnen vielleicht etwas eigenartig«, gab sie zu, »aber es ist ja Kikis Party. Wir Alten ziehen uns bald zurück, und Sie können selbst entscheiden, welcher Gruppe Sie die Ehre zu geben wünschen…«
Plötzlich gingen alle Kerzen aus, und im Licht eines einzigen Scheinwerfers erschien Valery de la Meer auf dem Podest. »Oh, Valery!« flüsterte die Baronin ergriffen. »Gehen Sie schnell nach vorn, damit Sie sie besser sehen können. Sie ist einfach fantastisch!« Die Baronin schob Hanussen in Richtung der kleinen Bühne und folgte ihm selbst mit nach vorn. Nowotny griff nach Wallys Arm, um sie in der Menge nicht zu verlieren. Gespannt suchte Hanussen sich einen Platz mit Sicht auf seine Jugendfreundin, die jetzt zu tanzen begann. Die Bewegungen der Grotesk-Tänzerin waren lasziv, schwülerotisch und melancholisch; begleitet wurde sie nur von einem einzigen Saxophon. Das Instrument heulte, jauchzte und flehte zu den vollkommenen Figuren des wunderschönen Mädchens: Valery hatte von Dagma alles gelernt, was diese ihr hatte beibringen können. Und sie war schöner als diese, noch viel schöner. Hanussen verschlug es den Atem. Was er nicht wußte: Valery war der Star des Berliner Nachtlebens, die Verkörperung der wilden zwanziger Jahre, eine verrückte, emanzipierte Frau: halb Hexe, halb Kumpel. Was er wußte, war nur das eine: Er wollte sie besitzen… Nacheinander gingen jetzt die Leuchter wieder an, warfen ihr Licht auf glühende, begeisterte Gesichter, auf Menschen, die in Gruppen diskutierend zusammenstanden, einige in Abendkleidung, die meisten in verschiedenen Kostümen. Mädchen mit bunten Frisuren, in Kleidern aus Metallplättchen, Straß und Glasperlen, feminin wirkende Männer mit geschminkten Gesichtern. In der Mitte des Saales stand eine Riesentorte mit 18 brennenden Kerzen, in der Mitte ein Dienstmädchen mit goldfarben angemaltem Körper, das von dort aus die Gäste bediente. Einige von ihnen widmeten sich ihren Tortenstücken. Dagma stand im Gedränge und unterhielt sich mit zwei
Mädchen, die eine besonders hübsch, weiblich und feminin, die andere eher maskulin, mit männlicher Kurzhaarfrisur und im Smoking. Hanussen verbeugte sich vor den Damen. »Nun, wie gefällt es Ihnen hier?« fragte Dagma, entdeckte Nowotny und lachte ihn an. »Herr Hauptmann! Ich habe Sie schon erwartet. Berlin ist grandios.« Nowotny nickte. »Na, das habe ich Ihnen doch gleich gesagt!« »Und Ihr Liebling hatte auch einen guten Start hier«, informierte ihn Dagma. »Ja, Gott sei Dank.« Und fügte hinzu: »…und dank auch den Umständen!« »Was meinen Sie damit?« fragte Hanussen beleidigt. »Mißverstehen Sie mich nicht«, bat Nowotny. »Sie sind ein großes Talent. Aber gestern waren noch andere Begabungen gefragt. Und morgen werden es wieder andere sein. Nutzen Sie Ihre Chance, nutzen Sie die Zeit. Ihr Geheimnis ist die Furcht vor Ihnen. Und genau das ist es, was jetzt gebraucht wird, was die Leute wollen.« »Angst vor mir?« fragte Hanussen erstaunt. »Die braucht nun wirklich niemand zu haben. Ich habe mehr als genug Angst vor mir selbst.« »Ja, und genau das ist das Schlimme«, stimmte der andere zu, »aber auch das Gute. Denn Hochmut mag keiner der Götter, auch der Ihre nicht.« Beifall brauste rings um sie auf, als Valery jetzt, gekleidet in eine wallende Abendrobe, wieder den Saal betrat. Jeder Schritt ließ die Bewegungen ihres Körpers ahnen, enthüllte das Spiel von Muskeln über sanften Kurven. Jetzt trat sie zu Dagma, die ihr zärtlich über den Arm streichelte. »Du warst heute wieder sehr gut, meine Kleine«,lobte sie. Valery strahlte sie dankbar an.
»Und wie habe ich dir gefallen?« wandte sie sich an Hanussen. »Du warst atemberaubend, Valery, du hast mich verführt wie schon einmal vor… nein, sagen wir nicht, vor wieviel Jahren.« Valery stimmte lächelnd zu. »Nein, das verraten wir niemandem, das bleibt unser Geheimnis. – Weißt du, daß wir schon als Kinder befreundet waren?« fragte sie nun Dagma, die interessiert zugehört hatte. »Als kleine Kinder!« fügte Hanussen hinzu. »Wirklich?« fragte Dagma. Ein kleiner Schatten legte sich über ihr Gesicht, eine Überlegung, die ihre gute Laune zu beeinträchtigen schien. »Es besteht auch eine gewisse Ähnlichkeit zwischen euch«, sagte sie. Valery wunderte sich. »Worin denn?« Dagma schüttelte den Kopf. »Ich weiß es noch nicht.« Verlegene Stille herrschte, die Hanussen unterbrach. »Darf ich vorstellen?« fragte er. »Die Damen und Herren kennen einander noch nicht.« »Tibor Nowotny«, sagte der Kapitän höflich und verbeugte sich vor Valery. Valery reichte Wally alias Martha die Hand. »Valery…« »Walli!« sagte die andere. »Vali…« wiederholte Valery. Beide Mädchen lachten irritiert. Und Martha ahnte, warum Hanussen ihr diesen Namen gegeben hatte – Wally, Vali… Ein junger Mann, der Hanussen bekannt vorkam, trat jetzt zu ihnen: Graf von Trantow-Waldbach, ehemaliger Offizier, der seine Militärlaufbahn nicht hatte fortsetzen können, jetzt SAFührer. »Valery, Sie sind wunderbar!« rief er. »Entschuldigung, wenn ich Ihre Unterhaltung gestört habe, Dagma. Dieser Schönling an meiner Seite war bisher mein Flügeladjudant, aber jetzt scheinen wir Rivalen zu werden. Er schwärmt für
Valery, und dabei ist ihm nichts heilig.« Lachend wandte er sich zu Hauptmann Becker um, der neben ihm stand. Mit einem Blick auf Hanussen fragte er neugierig: »Und Sie… wir kennen uns doch?« »Ja… von der russischen Front«, stimmte Hanussen zu. Nowotny wollte nicht zurückstehen und brachte sich dem Graf ebenfalls in Erinnerung. »Herr Graf, melde gehorsamst: Hauptmann Nowotny!« Der Graf lachte. »Sieh an, sieh an, hat man die ganze Mannschaft von Trantow-Gorlice nach Berlin verlegt? Und ich dachte, der Krieg sei vorbei…« »Sie scheinen sich alle zu kennen«, stellte Dagma mit einem Lächeln fest. »Klar«, sagte Nowotny, »Mitteleuropa ist ja auch nur ein großes Dorf, wenn man die richtigen Leute kennt. Beziehungen sind eben alles.« »Was wollen die Herren denn in Berlin?« fragte der Graf nun wieder ernsthaft. Alle sahen sich an. »Haben Sie wirklich noch nichts von Erik-Jan Hanussen gehört?« fragte Nowotny mit gespielter Fassungslosigkeit und zeigte auf Hanussen. »Sie sind das?« fragte der Graf überrascht. »Sagen Sie mal – hätten Sie nicht Lust, mit der Polizei zusammenzuarbeiten? Sie sagen voraus, wann und wo ein Mord oder ein Bankraub stattfindet, wir brauchen auf die Verbrecher nur noch zu warten, und dann ab mit ihnen, in Handschellen in den Sack…« »Ich glaube nicht, daß ich Ihnen von Nutzen sein könnte«, wehrte Hanussen ab. Die Zusammenarbeit mit der Polizei in Wien hatte seinen Bedarf an Detektivarbeit fürs erste gedeckt, und auch seine Flucht vor der Rache der Behörden hatte er nicht vergessen.
»Nur nichts überstürzen, vor allem keine Absagen«, bat ihn der Graf. »Ich lese auch die Wiener Zeitungen aufmerksam. Ich bin zum Beispiel sicher, daß Sie mir unter fünf Verdächtigen den Täter eindeutig sagen können.« »Da bin ich nicht so sicher«, sagte Hanussen unbehaglich. Die Wende, die dieses eher private Gespräch genommen hatte, paßte ihm nicht. »Sie können doch Gedanken lesen – ja oder nein?« insistierte der Graf. Hanussen lächelte und beschloß, sich nicht aufs Glatteis führen zu lassen. »Wenn ich will«, formulierte er es vorsichtig. Der Graf sah ihm lange in die Augen. »Wir werden noch Zeit und Ruhe finden, uns über dieses Thema zu unterhalten«, kündigte er an. »In Berlin ist es momentan ziemlich schwer, Ruhe wiederherzustellen und zu halten. Alles ist durcheinander, es sind viele Fremde hier, es herrschen Chaos und eine viel zu große Freiheit, die keinem guttut, die wir alle nicht verkraften. Dabei bin ich durchaus der Meinung, daß das Abartige und Kranke zugrunde gehen kann und soll, wenn dadurch das Reine und Starke sich entfalten und leben kann.« »Zur Musik von Richard Wagner?« fragte Hanussen spöttisch. »Mögen Sie Wagner nicht?« fragte der Graf ernst, heftig Partei für den Komponisten ergreifend. »Oder mögen Sie nur die nicht, die Wagner mögen?« Hanussen überlegte, was er von der heftigen Äußerung des ehemaligen Hauptmanns zu halten hatte. So entschieden und für eine Auffassung kämpfend hatte er ihn gar nicht in Erinnerung gehabt; an der Front war der eher unscheinbare verarmte Adlige kaum aufgefallen. Was hatte diese Wandlung zu bedeuten? Hanussen grübelte noch über eine Antwort nach, als jetzt ein nacktes Paar an ihnen vorbeikam, das die
Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Die Frau trug lediglich eine venezianische Maske, der Mann einen Lendenschurz. Hanussen sah den beiden noch nach, als Musik ertönte – ein Charleston. Unbeeindruckt wandte sich der Graf wieder an Hanussen. »Welches Wunder können wir demnächst von Ihnen erwarten?« Valery lachte auf, das Gespräch begann, sie zu langweilen. »Charleston!« rief sie. »Wer tanzt mit mir? Hanussen?« Und schon griff sie nach seinem Arm und zog ihn zur Tanzfläche. Die Beleuchtung hatte sich wieder geändert, das Licht war verschwunden und durch ein paar farbige Scheinwerfer ersetzt worden, die Tanzenden wirkten wie farbige Schatten. Der Graf sah Valery nach, innerhalb von Sekunden war sein spöttischer Ausdruck einer Maske leidenschaftlicher Eifersucht gewichen. Auch Wally sah dem tanzenden Paar mit gemischten Gefühlen nach – ihr war klar, daß die andere eine ernstzunehmende Konkurrenz für sie bedeutete. Mit einem auffordernden Blick wandte sich der Graf an Hauptmann Becker. Dieser verstand sofort, ging zur Tanzfläche und forderte Valery dem Magier ab. Hanussen verließ die Tanzfläche, sah Kiki Stadler allein am Rand stehen und trat zu ihr. »Haben Sie nicht eben um Hilfe gerufen?« fragte er herzlich. Das Mädchen erstarrte – ihr Hilfeschrei war stumm, akustisch nicht hörbar gewesen… »Wie meinen Sie das?« versuchte sie abzulenken. »Das kann ich hier nicht sagen, es könnte uns jemand hören«, erwiderte Hanussen. »Schließlich handelte es sich um Ihre intimste Privatangelegenheit…« Kiki errötete. »Stimmt es, daß Sie in Budapest Selbstmörder gerettet haben?«
»Wenn man das sagt, wird es wohl stimmen… Möchten Sie tanzen?« »Nein… danke.« Kiki ging verwirrt weiter, sah sich aber noch ein paarmal nach dem Magier um. Entschlossen ging dieser ihr nach und gelangte über eine Holztreppe in eines der oberen Stockwerke. Vom Ende des Flurs her hörte er seltsame Geräusche, denen er langsam folgte, an einem in Zärtlichkeiten versunkenen Paar vorbei durch eine offene Tür in ein dunkles Zimmer. Im schwachen Licht, das von draußen kam, erkannte er mehrere Menschen im Zimmer, unter ihnen Kiki, die sich gerade von einem Jungen küssen ließ, während ein anderer ihr Kleid aufknöpfte. Hanussen schüttelte den Kopf, wandte sich ab und ging langsam wieder zu den anderen in den Saal hinunter. Valery fand er vor einem der großen Spiegel im Ballsaal. »Wer sind eigentlich die Stadlers, unsere Gastgeber?« fragte er sie. »Sie waren Rinderhändler und wurden im Krieg und durch den Schwarzmarkt reich«, gab Valery bereitwillig Auskunft. »Jetzt kauft er alles, was ihm gerade einfällt. Wenn du mich fragst, hat er auch seinen Baron-Titel im Krieg gekauft. Warum fragst du?« Valery streichelte ihm zärtlich über die Wange. Vom anderen Ende des Saales wurden sie vom Grafen beobachtet, der im Mittelpunkt einer Gesellschaft stand, und auch“ Wally, die gerade mit Nowotny tanzte, ließ die beiden nicht aus den Augen. Der Himmel färbte sich schon hell, als Hanussen, Wally und Nowotny das Fest verließen und aus dem Haus ins Morgengrauen traten. »Es sieht nur so aus, als ob Sie die Stadt erobert hätten«, rief Nowotny, offensichtlich reichlich angeheitert. »Wenn Sie hierbleiben und Karriere machen wollen, müssen Sie noch viel
lernen, müssen Sie mehr können als alle anderen. Doch mit dem Ruhm aus der Hauptstadt können wir in der Provinz groß herauskommen. Dort sind Sie ein gemachter Mann. Zum Beispiel in Karlsbad… Dort gibt es ein herrliches Theater. Stellen Sie sich dieses Programm vor: Der Triumph des menschlichen Willens über die Materie. Fakire, Feuer- und Wasserschlucker – und Sie, als der Star. Die Attraktion des Abends: Hypnose, Willensübertragung. Der Hellseher…« Hanussen unterbrach ihn verärgert. »Auf keinen Fall«, sagte er. »Von der Provinz habe ich für den Rest meines Lebens die Nase voll!« Aber Nowotny war nicht so leicht von seinem Plan abzubringen. »Wenn Sie wollen, daß die Berliner zu Ihnen kommen, müssen Sie in der Provinz anfangen. Warum nicht Karlsbad?« Laute Rufe übertönten ihre Unterhaltung, militärische Befehle, röchelnde Schreie, Stiefelgetrampel. Sie erreichten die Umzäunung eines Sportplatzes und warfen neugierig einen Blick durch die Büsche. Auf dem Platz standen vier nagelneue Lastwagen, junge Männer in Zivil übten das Auf- und Abspringen, schwangen sich auf Befehl über das Geländer, kamen gleichzeitig auf dem Boden an, stürmten gemeinsam wieder los, schwer atmend, zogen Knüppel hervor, teilten Hiebe gegen imaginäre Feinde aus, sprangen wieder auf die LKWs. Die Bewegungen waren genau eingeübt, keiner behinderte den anderen, jeder kannte seinen Platz und wußte, was er zu tun hatte. Verblüfft beobachteten die drei die frühmorgendliche Übung. »Das sieht ja aus wie Krieg«, murmelte Hanussen, während entsetzliche Erinnerungen an seinem inneren Auge vorbeizogen. »Was sind das für Typen?« fragte Wally. Doch niemand antwortete ihr.
»Nagelneue Lastwagen, gutgenährte, gutgeschulte Jungs – wer die wohl bezahlt?« dachte Nowotny laut nach. Unbeantwortete Fragen schwirrten durch die Gedanken der drei Menschen, als sie jetzt den Heimweg antraten. Von Hitlers Privatarmee, die später allein in Berlin an die 20000 Mann zählte, hatten sie noch nichts gehört. Aber sie hatten gerade einer ihrer Übungen beigewohnt.
29 Die Aufmerksamkeit der Gäste des Opernrestaurants war geteilt. Die einen unterhielten sich mit ihren Begleitern, die anderen warfen immer wieder Blicke zur Mitte des Raumes, in dem eine große Vitrine stand. In ihr saß eine klapperdürre Gestalt, in leichte Seide gehüllt, zu ihren Füßen ein Schild mit der Aufschrift: ›Hungerkünstler. Nimmt seit drei Wochen keine Nahrung zu sich.‹ Durch einen Spalt im Glas konnte man Spenden werfen, ein beachtlicher Haufen Geld hatte sich schon auf dem Boden der Vitrine gesammelt. Jahre waren vergangen, in denen Berlin sich sehr verändert hatte. An einem der Tische des gutbesetzten Restaurants saßen Hanussen, Nowotny und Wally und verhandelten mit Theaterdirektor Professor Tabor. Hinter ihnen sah man ab und zu durch die Fensterscheibe einen schlechtgekleideten jungen Mann auftauchen, der auf Rücken und Vorderseite ein Schild trug und’ Feuer schluckte, um auf sich aufmerksam zu machen. Ab und zu steckte ihm jemand eine Münze zu. Ähnliches war man gewohnt im Berlin dieser Zeit. »Wann wollen Sie anfangen?« fragte Nowotny den Professor. »Morgen«, antwortete der ruhig. Nowotny schüttelte den Kopf. »Wie wollen Sie bis morgen ein neues Plakat fertigstellen?« »Überlassen Sie das nur mir«, erwiderte der Professor. »Ich bin seit 40 Jahren in dieser Branche. Wir haben genug Plakate überall in der Stadt hängen – wir überkleben sie einfach mit einem Streifen: ›Hanussen‹.« Hanussen war sich dessen nicht so sicher. »Wenn ich bei Ihnen auftrete, Herr Professor, lassen Sie neue Plakate drucken«, warf er ein. »Sie schreiben meinen Namen mit
Lettern, die dreimal so groß sind wie die Namen der anderen, und mit anderer Farbe. Sonst müssen Sie auf mich verzichten.« Der Professor wurde nervös – zu sicher war er sich seiner Sache, der Verpflichtung des berühmten Hellsehers, schon gewesen. »Meine Herren, das kostet ein Vermögen!« protestierte er. »Und es würde mindestens zwei Wochen dauern. Was soll ich denn in der Zeit spielen? Zumachen kann ich nicht, mein Theater war in 25 Jahren keinen einzigen Tag geschlossen. Und dies ist unser Jubiläumsjahr! Auch für Sie eine Ehre. Stellen Sie sich vor – im 25. Jahr Gast bei Professor Tabor: Hanussen.« »Erik-Jan Hanussen«, korrigierte ihn der Magier. »Ja… natürlich…« Von der Straße her drang Gesang in den Raum, der Boden erbebte unter den Schritten einer uniformierten Mannschaft. Am Arm trugen die Männer Hakenkreuzbinden. Rücksichtslos drängten sie Passanten und Feuerschlucker zur Seite – und waren schon wieder verschwunden. Die Menschen auf der Straße sahen ihnen entgeistert nach, der Feuerschlucker rappelte sich vom Boden hoch und versuchte, seine zerbrochenen Tafeln notdürftig zu reparieren. »Die tauchen jetzt überall auf«, stöhnte der Professor. »Und man läßt sie einfach randalieren. Wann kehrt nur endlich wieder Ordnung ein? Warum sorgt niemand für Ordnung? Man ist ja hier seines Lebens nicht mehr sicher!« Nowotny war offensichtlich nicht an diesem Thema interessiert, jedenfalls jetzt nicht. Ihn interessierten einzig und allein das bevorstehende Engagement seines Schützlings und dessen Karriere, von der auch er selbst abhing. »Hören Sie mal zu!« wandte er sich deshalb an den Professor. »Wir geben eine Annonce in allen größeren Zeitungen auf – und veröffentlichen Hanussens Telefonnummer.
Seelenprobleme, Schicksal, Zukunft – es können beliebige Fragen gestellt werden, und Sie beantworten sie abends im Scala-Theater. Wally nimmt die Fragen als Medium entgegen und gibt Ihnen die Antworten persönlich weiter.« Professor Tabor war Feuer und Flamme. »Wunderbar!« rief er begeistert. »Eine fabelhafte Idee!« Hanussen dachte noch mit geheimnisvoller Miene nach, während ein Zeitungsjunge am Fenster vorbeilief. »Veränderungen in der Regierung«, rief er. »Walter Rattinger ist neuer Staatssekretär für Auswärtiges!« Hanussen blickte auf, ein Lächeln überzog sein Gesicht. O ja, er wußte, wen er bald besuchen würde – er wußte es ganz genau. Und um seiner Sache so sicher zu sein, brauchte er keine hellseherischen Begabungen…
30 Rattinger stand vor seinem Schreibtisch, während er sprach. »Es ist mir nicht leichtgefallen, dieses Amt zu übernehmen, glauben Sie mir«, sagte er voller Überzeugung zu seinem Gast. »Die Lage ist momentan nicht so, daß einer von uns viel ausrichten könnte. Aber das Land steht vor einer entscheidenden Wende, und wir dürfen den richtigen Moment nicht verpassen… Leider gibt es immer mehr immer einflußreichere Leute, die uneingeschränkte Macht für sich fordern, und zwar im Namen der Demokratie – die dieses Land aber jeglicher Demokratie berauben, um selbst an die alleinige, uneingeschränkte Macht zu kommen. Seit der Ermordung Engelmanns wissen wir, daß dieses Schicksal jedem von uns blühen kann. Aber was soll’s, ich bin alleinstehend und habe keine Kinder… Wenn ich mir auch manchmal überlege, bei wem ich mich wohl verstecken könnte, wenn ich fliehen müßte… Wir leben in einer schlimmen Situation. Ein Übergang, ein Abwarten. Alle versuchen, sich jetzt einen Platz zu erkämpfen, zu erstehlen, zu ergaunern. Schrecklich… Ich frage mich täglich, wo auf einmal diese Massen von Ariern herkommen… Und niemand weiß, wohin dies alles führen wird…« Es klopfte, und ein eleganter Herr trat ein, blieb aber stehen, als er sah, daß Rattinger Besuch hatte. »Kommen Sie dann zu mir herüber?« fragte er. »Ich komme gleich«, versprach Rattinger. »Herr Hanussen, darf ich Sie dem Außenminister der Weimarer Republik vorstellen?« Hanussen verneigte sich. »Erik-Jan Hanussen.«
»Aha – der Hellseher! Ich erinnere mich: der Baumwollpreis… Sagen Sie uns Gutes voraus, vielleicht hilft es«, sagte der Mann mit einem Lächeln, das seine Worte Lügen strafte. »Ich erwarte Sie also«, sagte er noch zu Rattinger und ging hinaus. Die beiden standen an der Tür; Rattinger bedauerte, sich von Hanussen verabschieden zu müssen. »Die Menschen hungern nach Gutem«, sagte er abschließend. »Man muß sie ja auch nicht dauernd an ihre Ausweglosigkeit erinnern. Sprechen Sie von Dingen, die ihnen Hoffnung machen. Denken Sie darüber nach!« Herzlich verabschiedeten die beiden Männer sich voneinander – mit dem Versprechen, sich bald wiederzusehen.
31 Auf der Bühne des Scala-Theaters führten Zwerge eine Szene aus der Oper ›Figaros Hochzeit‹ vor. Der Zuschauerraum war überfüllt, festlich gekleidete Menschen verfolgten die Vorstellung der Liliputaner mit großen Augen und offenen Mündern. Professor Tabor saß in der Direktionsloge und sah mit Genuß zu; sein Blick schweifte von der Bühne zum Publikum und wieder zurück. Auch Hanussen befand sich in der Loge, er stand im Dunkel und beobachtete die Zuschauer aufmerksam. Unten im Parkett saßen Dagma, Valery und Graf Trantow-Waldbach. Nowotny betrat jetzt die Loge und zog Hanussen auf den Gang hinaus. Die Zwerge sangen inzwischen ein großes Finale. Hanussen war schon hinter der Bühne, überprüfte sein schwarzes Tuch, preßte es sich vor die Augen und reichte die Enden Nowotny. Am Eingang zur Bühne stand Wally in einem schlichten schwarzen Abendkleid, das ihre makellose Figur betonte. Unter dem Beifall der Zuschauer gingen die Liliputaner von der Bühne, Kulissen wurden gehoben und geschoben, ein schwarzer Vorhang senkte sich über das allgemeine hektische Durcheinander, jemand lief noch schnell auf die Bühne, weil er etwas vergessen hatte. Dann war es soweit: Der Vorhang hob sich wieder, und Nowotny trat vor das Publikum. »Meine Damen und Herren«, sagte er so leise, daß die Zuschauer zur Ruhe gezwungen wurden, und wartete, bis allgemeine Stille eingekehrt war. »Meine Damen und Herren, ich habe nur eine einzige Aufgabe, und diese Aufgabe ist, ihn anzukündigen: Erik-Jan Hanussen!« Brausender Applaus ertönte, die Zuschauer tuschelten miteinander. Lichter glitten wie suchend über die Bühne und
›fanden‹ schließlich eine goldene Statue: eine stilisierte Nachahmung des altägyptischen Horus-Adlers mit Augen aus faustgroßen Kristallen vor einem schwarzen Samtvorhang. Aller Augen richteten sich gebannt auf diese seltsame Erscheinung, als Hanussen unbemerkt die Bühne betrat. Plötzlich, wie von Geisterhand auf die Bühne gezaubert, stand er im Smoking im Licht der Scheinwerfer und verbeugte sich tief. Im Publikum beugte sich Valery zu Dagma hinüber und streichelte anerkennend ihre Hand. »Das ist ein toller Gag!« lobte sie. »Hast du dir den ausgedacht?« Dagma antwortete nicht und berührte nur mit der Hand das Gesicht Valerys. ›Der hat ausgelernt und braucht mich nicht mehr‹, wollte sie sagen. Mit einer Handbewegung bedankte sich Hanussen für den Beifall. In der folgenden Stille glitt ein neuer Lichtstrahl über die Bühne und richtete sich auf Wally, die mit dem schwarzen Tuch in der Hand vor Hanussen stand. Nowotny meldete sich wieder zu Wort. »Erik-Jan Hanussen wird als erstes die Kraft des menschlichen Geistes vorführen«, kündigte er an. »Wir verbinden ihm jetzt die Augen. Bitte, Wally…« Wally trat zu Hanussen, legte ihm das schwarze Tuch über die Augen, zog es am Hinterkopf fest und verknotete die Enden. »Ein billiger Trick!« rief jemand aus dem Zuschauerraum. Valery und Dagma sahen sich um, um den Zweifler zu identifizieren. Der Graf saß mit unbeweglichem Gesicht auf seinem Platz. Nowotny ließ sich indes nicht irritieren. »Bitte, wenn jemand den Wunsch hat, das Tuch zu überprüfen, soll er auf die Bühne kommen«, bot er an.
»So was habe ich schon gesehen«, sagte dieselbe Stimme und imitierte ein gelangweiltes Gähnen. »Das wage ich zu bezweifeln«, sagte Valery in die allgemeine Stille hinein. Hanussen trat nun mit verbundenen Augen vor und wandte sich in Richtung der fremden Stimme. Nowotny fuhr fort. »Ich bitte nun eine Dame oder einen Herren aus dem hochverehrten Publikum, sich bereit zu erklären…« Da unterbrach ihn ein lautes Niesen. »Gesundheit!« rief die erste Stimme, demonstrativ laut. Nowotny wurde langsam nervös und machte sich an seiner Krawatte zu schaffen. Valery und Dagma sahen sich empört an. »Also ich bitte eine Dame und einen Herren…«, begann Nowotny noch einmal von vorne. »Das haben Sie schon einmal gesagt«, rief jemand, »hier schläft man ja ein vor Langeweile!« Hanussen, der die ganze Zeit unbeweglich am Rand der Bühne gestanden hatte, schob nun mit einer einzigen Bewegung das Tuch von den Augen und gab dem Beleuchter einen Wink, einen der Scheinwerfer auf den Störenfried zu richten. Innerhalb von Sekunden hatte der Mann, der die Szene aufmerksam verfolgt hatte, ihn gefunden: Hauptmann Becker, der keineswegs verlegen, sondern mit frechem, herausforderndem Gesicht mitten im Zuschauerraum saß. Valery sah fragend zum Grafen hinüber; der jedoch zuckte nur mit den Schultern. Hanussen nickte Becker freundlich zu. »Sagten Sie nicht eben, Sie seien müde?« versicherte er sich. »Da haben Sie richtig gehört«, antwortete Becker. »Wovon wohl?« fragte Hanussen ruhig.
»Ich bin gerade jetzt müde geworden«, meinte Becker gedehnt, immer noch spöttisch. »Sie möchten also schlafen?« fragte der Hellseher. »Sie sind erschöpft? Es fällt Ihnen sogar schwer, den Mund zu öffnen!« »Ich habe Eintritt bezahlt!« protestierte Becker. »Ich habe das Recht zu sagen, was ich will!« »Natürlich«, sagte Hanussen, unvermindert freundlich. »Sicher würden Sie es gern hier auf der Bühne sagen, im Scheinwerferlicht. Oder fehlt Ihnen der Mut dazu?« Becker war überrascht, irritiert, faßte sich dann jedoch, stand auf und ging zur Bühne. Hilfsbereit reichte Hanussen ihm die Hand, doch der offensichtlich durchtrainierte Hauptmann übersah sie und war mit einem Satz auf der Bühne. Hanussen lächelte Wally auffordernd an. »Einen Stuhl für unseren Gast!« bat er. Dann trat er zu Becker. »Denken Sie nur daran, was Sie dem Publikum sagen wollen«, ermahnte er ihn freundschaftlich. »Denken Sie an nichts anderes, damit Sie auch genau die richtigen Worte wählen!« »Ich wollte nur sagen, daß Sie…«, begann Becker, doch Hanussen unterbrach ihn sanft, aber eindringlich. »Vorsicht!« rief er. »Sie sind sehr müde! Setzen Sie sich lieber hin.« Verwirrt folgte Becker der ernsten Anweisung und setzte sich auf den Stuhl, den Wally ihm jetzt hinschob. Hanussen wandte sich erklärend an das aufmerksam wartende Publikum. »Er möchte etwas sagen, etwas Wichtiges, aber er ist sehr müde«, schien er die Zuschauer um Verständnis für den Hauptmann zu bitten. »Er fühlt, daß er sehr müde ist. Erst einmal muß er schlafen, um sich ein wenig auszuruhen. Danach ist er dann frisch und ausgeruht und kann endlich sagen, was er will.«
Einige Zuschauer kicherten, während Becker Hanussen verstört ansah. Der Hellseher hatte ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen und fixierte ihn immer noch mit der ihm eigenen Kraft, das Gesicht völlig ausdruckslos. Vergeblich versuchte Becker, sich von Hanussens Blick zu lösen. »Ruhen Sie sich aus, niemand stört Sie«, fuhr Hanussen nun fort. »Entspannen Sie sich. Spüren Sie, wie schwer Ihr Arm ist? Lassen Sie ihn ruhig in Ihren Schoß fallen. Ruhen Sie sich aus. Spüren Sie, was für eine wohltuende Erschöpfung Sie nun überkommt? Geben Sie ihr nach… schlafen Sie ruhig ein…« Hanussen wandte sich wieder an sein Publikum, das seinen Worten gebannt gelauscht hatte. »So… er schläft jetzt ruhig und tief. Er fühlt sich wohl. Schläft er?« Beckers Kopf war zur Seite gerutscht; er atmete tief und gleichmäßig. Es gab keinen Zweifel: Der Mann schlief tief und fest. »Wenn er ausgeschlafen hat, normalerweise gegen Morgengrauen, wird er wieder aufwachen«, erklärte Hanussen jetzt zufrieden. »Aber er kann immer erst aufwachen, wenn der Hahn kräht. Und woher nehmen wir nun einen Hahn? Ach, ich weiß es: Er selbst wird der Hahn sein, denn bis zum Morgengrauen wollen wir doch nicht warten, oder?« Beschwörend wandte sich der Hellseher jetzt wieder an den Schlafenden. »Wenn die Glocke läutet, stellen Sie sich auf den Stuhl und krähen dreimal«, sagte er eindringlich. »Davon wachen Sie dann auf. Sie sind dann sehr wach und ausgeschlafen und sagen uns, wer Sie dafür bezahlt, daß Sie meinen Auftritt stören.« Valery und Dagma sahen sich an: würde das Experiment gelingen? SA-Führer Graf Trantow-Waldbach rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her, zog seine Krawatte gerade, überlegte fieberhaft, fand aber keine Möglichkeit,
einzugreifen. Das Publikum beobachtete fasziniert die Vorgänge auf der Bühne. Hanussen trat jetzt zurück und wischte sich die schweißnasse Stirn mit dem schwarzen Tuch ab. Er beugte sich über den schlafenden Becker und strich ihm mit der Hand übers Gesicht. Dann zog er seine Taschenuhr hervor und ließ ein Glöckchen läuten, Becker bewegte sich auf seinem Stuhl, streckte und dehnte sich, kletterte dann auf den Stuhl und begann laut zu krähen. Das Publikum erstarrte, sah ihn teils entsetzt, teils belustigt an und fing an, wie wild zu klatschen. Man feierte Hanussen mit tosendem Beifall, während Becker, völlig verwirrt, vor dem Publikum auf dem Stuhl hockte. »Steigen Sie ab!« befahl Hanussen und fuhr, als Becker vor ihm stand, dann fort: »Erzählen Sie uns nun, warum Sie die Vorstellung gestört haben!« »Ich tue nur meine Pflicht…«, murmelte Becker und schüttelte sich. In diesem Moment war er aufgewacht. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand und was mit ihm geschehen war. Hanussen fuhr ihn an: »Sammeln Sie unten Ihre Kumpels ein und verschwinden Sie!« Becker stolperte von der Bühne, straffte sich dann und ging mit schnellen Schritten zum Ausgang. Zwei junge Männer erhoben sich von ihren Sitzen und folgten ihm eilig. »Sagen Sie Ihrem Auftraggeber, daß Erik-Jan Hanussen ihn gern kennenlernen möchte«, rief der Hellseher den drei Männern noch nach. Vom Beifall des Publikums begleitet, ging Hanussen wieder zur Mitte der Bühne und ließ sich von Wally das schwarze Tuch vor die Augen binden. Die Zuschauer klatschten noch immer, auch der Graf. Dagma jedoch flüsterte Valery ins Ohr: »Das war ein schwerer Fehler. In Becker hat unser Freund nun einen Feind
fürs Leben. Wollen wir hoffen, daß der Hauptmann sich nicht eines Tages fürchterlich rächen wird!« Die Vorstellung war, wie erwartet, ein Riesenerfolg. Wie immer zog Hanussen auch an diesem Abend das Publikum in seinen Bann. Eventuelle Zweifler hatte er schon durch seine Hypnose mit Becker überzeugt und zum Schweigen gebracht. Doch nicht nur Dagma machte sich Sorgen, was den Hauptmann betraf. Professor Tabor eilte Hanussen und seiner Begleitung nach der Vorstellung auf dem Gang zu den Garderoben leichenblaß entgegen. »Wissen Sie, wer der Mann war, den Sie haben krähen lassen?« fragte er den Hellseher verstört. »Nein – aber es interessiert mich auch nicht«, erwiderte Hanussen gleichgültig. »Es sollte Sie aber interessieren«, insistierte der Professor. »Er ist nämlich bei der Polizei. Die lassen jetzt sicher mein Theater schließen… die finden schon einen offiziellen Grund! Aus feuerpolizeilichen Gründen, weil die Türen nicht breit genug sind… oder sie lassen sich irgend etwas anderes einfallen, um mich zugrunde zu richten… Sie haben mich ruiniert, Mann!« Das Gesicht des Professors war eine einzige Anklage. Hanussen wurde wütend. »Hören Sie mal zu, Sie kleine, graue, feige Maus!« sagte er böse. »Erstens hören Sie auf, mich anzuschreien! Zweitens: Ich verlasse jetzt dieses Theater und betrete es nie wieder, solange Sie hier Direktor sind! Habe ich mich klar und verständlich genug ausgedrückt, Professor?« Hanussen ging in seine Garderobe und schlug die Tür hinter sich zu. Wally folgte ihm. »Was hast du jetzt vor?« fragte sie den Hellseher neugierig.
Der lachte. »Wir nehmen ganz einfach die Einladung nach Karlsbad an«, informierte er seine Assistentin und zog sie an sich. »Liebe mich!« bat er sie. »Ich brauche Zuneigung, viel Zuneigung und ehrliche Gefühle – damit ich die Menschen nicht nur deshalb hereinlege, weil sie hereingelegt werden wollen. Weil sie vor einer Zukunft Angst haben, die ich ihnen für ein paar Stunden schön und glücklich malen kann, auch, wenn sie es nicht ist. Andererseits: Was schadet ein wenig Selbstbetrug? Ich kann nichts an dem, was auf uns alle zukommt, ändern. Ich kann den Menschen nicht helfen, wenn ich nicht einmal mir selbst helfen kann…« Verständnisvoll schlang Wally die Arme um den Mann, tröstete den großen Hellseher Erik-Jan Hanussen, der in stillen, unbeobachteten Momenten auch nur ein einsamer Mensch voller Angst war. Und Wally war stolz, daß dieser Mann, den so viele verehrten, diese Angst mit ihr teilte, ausgerechnet mit ihr… Hanussen blieb konsequent und setzte seinen Entschluß in die Tat um. Mit Wallys Hilfe packte er in der Garderobe seine wenigen Sachen, um nie mehr wiederzukehren. Nowotny war mehr erleichtert als enttäuscht. Auch er fürchtete die Rache Beckers, vor der Hanussen in Karlsbad sicherer sein würde als in Berlin. Außerdem erhoffte er sich von einem großen Erfolg in der Provinz immer noch einen sicheren Start zu einer internationalen Karriere; zumindest aber wäre dies ein Sprungbrett für die großen Theater der Städte. Und die Berliner vergaßen Hanussen nicht, schon gar nicht die, denen er einmal geholfen hatte. Eines Nachmittags kurz darauf überquerte Baron Stadler die Karlsbader Promenade und stieg schwitzend die Treppe zur Tageskasse des Theaters hinauf. Wortlos zeigte die Kassiererin auf ein Schild im Fenster mit der Aufschrift: ›Ausverkauft‹.
»Ich komme aus Berlin«, rief Stadler erschöpft. »Hier kommen alle aus Berlin oder aus Wien«, entgegnete die Frau gelassen. »Ich habe keine einzige Karte mehr. Für die ganze Woche nicht.« »Wo ist Hanussen?« fragte Stadler. »Im Hotel. Aber da werden Sie auch nicht mehr Glück haben. Für einen Termin in seiner Sprechstunde beträgt die Wartezeit momentan einen Monat.« Baron Stadler blieb unschlüssig einen Moment stehen und ging dann die Stufen wieder hinunter. Der Baron war kein Mann, der so leicht aufgab, und so hatte er wenig später sein Ziel erreicht: Er war bei Hanussen. Der Hellseher saß in seinem Hotelapartment hinter seinem Schreibtisch in einem hohen Lehnsessel, hinter ihm ein kunstvoll beleuchtetes Bild mit den einzelnen Sternzeichen, auf beiden Seiten astrologische Karten, auf einem Sockel in der Nähe eine goldene Shiva-Statue wie in Budapest und Berlin auf Dagmas Bühne. Auf dem Schreibtisch vor ihm stand ein erleuchteter Globus, der Hanussen in ein eigenartiges Licht hüllte. Baron Stadler saß vor dem Schreibtisch in einem besonders niedrigen Sessel und sah zu Hanussen auf. Er lockerte gerade seinen Hemdkragen am verschwitzten Hals und sah sich im Zimmer um. Der Raum war groß, mit verschwenderischem Luxus eingerichtet und ziemlich finster; durch die schweren Vorhänge drang kaum Tageslicht, obwohl draußen die Sonne schien. Wally stand im Hintergrund und beobachtete den Baron; sie war sich nicht sicher, was sie von seinem Besuch zu halten hatte. Hanussen verhielt sich zurückhaltend und würdevoll; er gab sich den Anschein, über allen Dingen zu stehen, schien eins zu
sein mit dem Bild von sich, das er der Öffentlichkeit präsentierte. Baron Stadlers Stimme war heiser vor Erschöpfung. »Sagen Sie mir, was ich tun soll, um eine Million wertbeständig anzulegen – für meine Frau und meine Tochter«, bat er. Hanussen deutete schweigend auf die glänzende ShivaStatue, auf die goldfarbene Gottheit. »Sehen Sie sie an – sie hat 2000 Jahre überdauert«, sagte Hanussen ruhig. »Weder Feuer noch Wasser noch die Zeit konnten sie zerstören. Über Jahrhunderte hinweg hat sie die Erde vor dem Zugriff religiöser Fanatiker bewahrt, bis man sie vor einigen Jahren wieder ausgrub.« Baron Stadler sah verständnislos zwischen der Statue und dem Hellseher hin und her. Was hatte das alte Ding mit seinem persönlichen Problem, mit seiner Frage zu tun? Lange und stumm beobachteten die beiden Männer einander – bis es in den Augen des Dicken plötzlich aufleuchtete. »Erde«, wiederholte er nachdenklich. »Gold… Schmuck?« Der Hellseher lächelte nur geheimnisvoll, und der Baron fuhr fort: »Sehr gut möglich, daß Sie recht haben. Soll ich das Gold jetzt gleich kaufen – oder lieber noch warten?« Hanussen schüttelte abwehrend den Kopf. »Mit geschäftlichen Dingen befasse ich mich nicht.« »Machen Sie keine Witze!« protestierte der Baron. »Sagen Sie schon: Wie lange wird der Goldpreis noch ansteigen? Wann stagniert er, wann fällt er? Ich verspreche Ihnen, Sie bekommen von mir als Provision 15 Prozent der angelegten Summe, mein Wort darauf!« Hanussen lächelte ihn nur mitleidig an. »25 Prozent!« steigerte der Baron sein Angebot. »Ich weiß doch, warum ich nicht zu Wahrsagern und Astrologen gehe, sondern zu Ihnen! Ich bin durch Schaden klug geworden. Wissen Sie, wieviel Geld die mir aus der Tasche gezogen
haben? Die Nazis, meine ich? Da kommt doch gestern dieser Graf von Trantow-Waldbach zu mir, dieser geschniegelte Lackaffe, der ein Verhältnis mit Valery de la Meer hat, Sie kennen sie ja auch – und der sagt, ich solle 20 Milliarden in die nationalsozialistische Bewegung investieren. Woher soll ich soviel Geld nehmen? Und überhaupt, was will der Graf bei den Nationalsozialisten? Wo er doch aus einer so vornehmen alten Familie stammt? Die Zukunft des Deutschtums verpflichte ihn dazu, sagt er. Und er würde auch mir raten, sie zu unterstützen, es sei zu meinem eigenen Besten. Hat man dafür Worte: Er wagte es doch tatsächlich, mir zu drohen!« Hanussen überraschte diese menschliche und politische Entwicklung des Grafen wenig. Schon lange hatte er Ähnliches kommen sehen. Der Graf hatte nach dem Krieg keine Stellung im Heer mehr erhalten, hatte seine militärische Karriere nicht fortsetzen können und erhoffte sich nun durch seinen Eintritt in die Gestapo das, was die Weimarer Republik ihm nicht zu geben bereit war: Macht, Ansehen und Reichtum. Denn auch wenn der Seher viel zu klug war, sich öffentlich über politische Themen oder seine Meinung dazu zu äußern – er war bestens informiert und verfolgte die politische Berichterstattung mit wacher Aufmerksamkeit, nutzte auch terminfreie Nachmittage, um, still und unerkannt, ins Kino zu gehen. Und dabei galt sein Hauptinteresse keineswegs dem Spielfilm, sondern dem, was das Vorprogramm bot: die ›Wochenschau‹, die ›Ereignisse aus aller Welt‹ präsentierte, unter ihnen immer öfter Adolf Hitler. Hitler, der Reden hielt und Versammlungen einberief, Hitler, der aß, trank und sprach. Hanussen verfolgte jede Geste, die Mimik, jede Handbewegung des Mannes, von dem er dumpf ahnte, daß er bald an die Macht kommen, daß man bald mit ihm zu rechnen haben würde.
32 In der Dämmerung des Spätnachmittags kam Hanussen wieder einmal nachdenklich aus dem Kino. Unter den Bäumen der Promenade zeigten heruntergekommene Straßenkünstler ihre Kunst, ohne von den gleichgültigen Passanten wirklich beachtet zu werden. Ein junger Mann schluckte Feuer, eine Familie musizierte, vor sich ein tanzendes junges Mädchen, das ihre Tochter zu sein schien, ein paar Schritte weiter drehte sich ein ›Roboter‹ – mit Wachsmaske und Zylinder – unermüdlich und mit eckigen Bewegungen um die eigene Achse. Schräg gegenüber bot ein mageres Mädchen mit einem Papagei auf der Schulter Wahrsagekünste an. »Leben Sie nicht weiter in Unsicherheit!« krächzte sie heiser. »Ich sage Ihnen, was Ihnen die Zukunft bringt!« Hanussen ging an einem riesigen Plakat vorbei mit der Aufschrift: ›Erik-Jan Hanussen, der Hellseher‹. Er sah einen Mann mit entblößtem Oberkörper, der mit einer schweren Eisenkette so gefesselt war, daß er sich kaum bewegen konnte, jedoch mit einem Fuß alles Geld zusammenkratzte, das ihm die Leute hinwarfen. Dann schien er seine Kräfte zu konzentrieren, begann zu tanzen – und sprengte schließlich die eisernen Ketten um Körper und Gelenke. Auch Hanussen warf etwas Geld in den Hut des Entfesselungskünstlers, ging weiter, überlegte es sich anders, ging noch einmal zurück und warf dem Mann alles Geld hin, das er bei sich hatte. In diesem Moment tauchte ein Polizist in Zivil an seiner Seite auf, hinter ihm zwei Polizisten in Uniform und der Hotelportier. »Herr Erik-Jan Hanussen?« fragte der in Zivil. »Ja?«
»Im Namen des Gesetzes der Tschechoslowakischen Republik sind Sie verhaftet. Hier ist der Haftbefehl.« Ungläubig starrte Hanussen ihn an. »Warum denn, um Himmels willen?« Ungerührt las der andere den Text auf dem Papier vor. »Betrug an mehreren Personen, irreführende Manipulationen, absichtlicher Mißbrauch der Gutgläubigkeit anderer Menschen.« Verstört nahm der Hellseher das Schriftstück in die Hand. »Sie kommen jetzt mit!« befahl der Polizist barsch. Die Tatsache, daß Hanussen hier in Karlsbad schon zu einer gewissen Berühmtheit gelangt war, interessierte ihn herzlich wenig. Er befolgte nur seine Anordnungen. Hilflos blieb Hanussen stehen. »Ich muß erst noch jemanden verständigen«, bat er. »Sie verständigen niemanden«, lehnte der Polizist ab. »Sie kommen mit!« Hanussen ergab sich in sein Schicksal. Vage dachte er an den Grafen Trantow-Waldbach, der gerade Karriere in der Gestapo machte und ihn in Berlin, Valerys wegen, immer so eifersüchtig beobachtet hatte. Vage dachte er auch an Hauptmann Becker, den er damals in der ›Scala‹ vor aller Augen lächerlich gemacht hatte, indem er ihn coram publico hatte krähen lassen… Und er überlegte sich auch, ob er Wally einen Gefallen getan hatte, als er sie vor ein paar Tagen, im engsten Kreis und im Rahmen einer kleinen Feier, geheiratet hatte. Sowohl in Wien als auch in Berlin war er, direkt oder indirekt, aus Furcht vor Ärger mit der staatlichen Gewalt geflüchtet – um hier, in Karlsbad, verhaftet zu werden? War der junge Staat der Tschechoslowakei seiner selbst so unsicher, daß ein Magier, ein Hellseher seine Oberen nervös machen konnte? Fürchtete man vielleicht, Hanussen könnte die Bürger
dieser Stadt hypnotisieren und zu Regimegegnern oder zu Spitzeln umfunktionieren? Bald darauf wurde Hanussen gegen Kaution freigelassen, doch er durfte die Stadt nicht verlassen. Das irritierte ihn nicht weiter – in aller Stille und unbehelligt hielt er private Sprechstunden ab, mit denen er sein Leben finanzierte. Der Prozeß, der von der Staatsanwaltschaft mit Akribie vorbereitet und recherchiert worden war, ließ zwei Jahre auf sich warten. Und er machte Karlsbad zum Nabel der Welt – für ein paar Tage. Am Tag der Verhandlung schien strahlend die Sonne, helles Licht fiel auch durch die Fenster des Gerichtssaales und auf das Richterpult. In den Bankreihen drängten sich Schaulustige aus aller Welt, vor dem Gerichtsgebäude standen sie Schlange, um den berühmten Hellseher einmal aus der Nähe und kostenlos sehen zu können. 500 Gendarmen waren draußen, auf den Fluren und im Saal zur Absperrung aufgeboten, Hanussen selbst stand vor der Anklagebank, umringt von Polizisten, als ob es sich um einen gemeingefährlichen Kriminellen handelte. Ungeachtet der entwürdigenden Situation war Hanussen wie immer elegant und sorgfältig gekleidet. Hinter ihm in der ersten Reihe saßen eine sehr blasse Wally und ein sehr nervöser Nowotny, weiter hinten der Berliner Journalist Fabian und andere Reporter, auch viele Zuschauer ehemaliger Hanussen-Vorstellungen, die dem Hellseher schon einmal Fragen gestellt hatten – eine Versammlung von Anhängern und Gegnern. Das Gericht bestand aus drei Herren: in der Mitte Dr. Jires, ein älterer, grauhaariger Herr und Präsident des Bezirksgerichts, ein Gerichtsnotar und der Staatsanwalt, ein Mittfünfziger, der dem Angeklagten spöttische Fragen stellte und deren Wirkung auf das Publikum sichtlich genoß. Ein
Jurist, der, wie so viele andere auch, besser und lieber Schauspieler geworden wäre, dem seine Wirkung auf die Zuschauer wichtiger war als das Recht. »Sie haben doch noch einen anderen Namen«, erinnerte er Hanussen zu Anfang, »den, den Sie bei Ihrer Geburt bekommen haben. Hätten Sie die Freundlichkeit, ihn dem Gericht zu verraten?« »Klaus Schneider«, erwiderte Hanussen gelassen. »Klaus Schneider!« wiederholte der Staatsanwalt langsam und genüßlich, wobei er jeden Buchstaben auf der Zunge zergehen ließ. »Ist es nicht Hochstapelei, wenn aus einem Klaus Schneider über Nacht ein Erik-Jan Hanussen wird?« »Nein«, entgegnete Hanussen ruhig. »Was heißt hier: Nein!?« wiederholte der Staatsanwalt aufgebracht. »Wer hat Ihnen denn diesen adlig klingenden Namen verliehen? Doch nicht etwa der liebe Gott persönlich?« »Ich habe ihn gewählt«, erklärte Hanussen. »So, wie auch mehrere namhafte Politiker, Künstler und historische Persönlichkeiten sich für einen anderen Namen entschieden, weil sie der Ansicht waren, daß er sie und ihre Ziele besser zur Geltung brachte und bringt.« »Vielleicht verdeckt er aber auch nur Ihr wahres Ich?« vermutete der Staatsanwalt. »Und stimmt es, daß Ihre Eltern Gaukler waren, daß Sie im Huren- und Zuhältermilieu zur Welt gekommen sind?« Gelächter im Publikum, während der Gerichtspräsident den anderen rügte: »Bitte, Herr Staatsanwalt, enthalten Sie sich einer persönlichen Beurteilung!« »Jawohl, Herr Gerichtspräsident«, sagte der, scheinbar folgsam, und fuhr in seinem Verhör fort: »Sie, Herr Schneider, sind also vor dem Krieg als Possenreißer im Zirkus und in Varietes aufgetreten?«
Wieder lachten einige im Publikum. Hanussen holte tief Atem. »Als Künstler«, korrigierte er. Und er dachte voll Dankbarkeit an seine harten Lehrjahre; er hatte beim Zirkus alles gelernt, was er lernen konnte. Der andere lächelte ironisch und wandte sich an das Publikum. »Als Künstler? Mit billigen Tricks Kaninchen aus einem Zylinder zu zaubern – nennen Sie das allen Ernstes ›Kunst‹? Oder mit einem Regenschirm in der Hand über ein Seil tanzen? Wegen dieser Betrügereien wollen Sie sich mit Schiller und Beethoven vergleichen?« »Herr Staatsanwalt, Ihren Ausführungen entnehme ich, daß Sie gerne in den Zirkus gehen«, sagte Hanussen beherrscht und nicht weniger spöttisch. »Aber dann sollten Sie eigentlich wissen, daß in diesen kleinen Trapezvorstellungen mehrere Jähre harter Arbeit stecken. Für einen Doppelsalto zum Beispiel sind mehr Disziplin und Ausdauer nötig als für die schönste und ausgefeilteste Anklagerede, und wenn man einen einzigen Tag Training versäumt, stürzt man beim nächsten Mal in die Tiefe. Wenn Sie dagegen sich irren, unvorbereitet in eine Verhandlung gehen oder einen sachlichen Fehler machen, ist man höchstens unzufrieden mit Ihnen, während eine falsche Bewegung im Zirkus das Leben kosten kann. Oder man ist für den Rest dieses Lebens ein Krüppel…« Still lauschte das Publikum den leidenschaftlich vorgebrachten Worten des Hellsehers, der Kraft seiner Stimme. Nur der Staatsanwalt blieb unbeeindruckt. »Sie halten sich also für einen Künstler?« wollte er wissen.
Hanussen hob die Schultern. »Es ist schwer, eine Trennungslinie zu ziehen – die Grenze, wo Inspiration aufhört und wissenschaftliche Fundierung anfängt«, antwortete er. Der Staatsanwalt nickte, scheinbar verständnisvoll, aber mit einem bösen Lächeln. »Also sind Hypnose und Telepathie, wie Sie sie verstehen und betreiben, weder Kunst noch Wissenschaft?« versuchte er, den Angeklagten festzunageln. Hanussen wagte einen Versuch der Erklärung. »Niemand zweifelt heute noch daran, daß Hypnose und suggestive Beeinflussung existieren und nützliche Hilfsmittel der Wissenschaft sind. Genauso verhält es sich mit dem Phänomen der Telepathie – auch, wenn all diese erwiesenen Tatsachen noch immer von einem mystischen Schleier verhüllt sind oder verhüllt werden. So geheimnisvoll ist dies alles gar nicht.« Der Staatsanwalt wechselte das Thema. »Warum mußten Sie Wien verlassen?« fragte er. »Nachdem doch anstelle der Wiener Polizei angeblich Sie den Bankräuber gefunden hatten?« »Wegen der Intrigen«, erwiderte Hanussen kurz. »Und wie intrigierte wohl die Wiener Polizei, wenn ich fragen darf?« insistierte der Staatsanwalt. »Doch nicht etwa mit ihren Kenntnissen darüber, daß Sie Verbindung zur Wiener Unterwelt hatten? Und warum haben Sie dann das ScalaTheater in Berlin verlassen? Vielleicht wegen der Intrigen der Berliner Polizei?« Hanussen ignorierte den triefenden Hohn in der Stimme des Staatsanwaltes. »Von der Polizei habe ich nichts gesagt«, korrigierte er, »ich habe nur Intrigen erwähnt.« Der Staatsanwalt lachte spöttisch auf. »Gibt es nicht ein paar Intrigen zuviel in Ihrer Umgebung? Warum stehen Sie wohl heute hier vor Gericht? Vielleicht auch wegen einer Intrige?«
Hanussen nickte ernst. »Das halte ich für durchaus wahrscheinlich.« »Ach!« rief der Staatsanwalt triumphierend. »Und ich intrigiere wohl auch, was? Und welche Intrige führte Sie kürzlich in die Städte der deutsch-böhmischen Grenze? Welche nach Karlsbad? Was wollen Sie in unserem Land?« »Die Fragen der Menschen beantworten«, sagte Hanussen einfach. »Sonst nichts?« fragte der Staatsanwalt scharf. »Welche Staatsangehörigkeit haben Sie?« »Die österreichische.« »Lieben Sie Ihre Heimat?« fragte der Staatsanwalt weiter. »Ja.« »Warum treten Sie dann nicht daheim auf?« ging das Kreuzverhör weiter. »In Salzburg, in Graz oder in Linz? Haben die Menschen dort denn keine Fragen an Sie? Oder haben sie keine persönlichen Probleme, die Sie lösen können? Wohin gehören Sie denn eigentlich, Herr Schneider? Wo ist Ihre Heimat, wo fühlen Sie sich wohl?« »In Mitteleuropa, Herr Staatsanwalt«, sagte Hanussen. »In einem Länderverbund, in dem wir seit geraumer Zeit das gleiche Schicksal haben. Darf ich denn nun wissen, was genau man mir vorwirft, wessen ich beschuldigt werde?« »Vorläufig nur der Hochstapelei und des mehrfachen Betruges«, klärte der Staatsanwalt ihn auf und fügte hinterhältig hinzu: »Aber wir werden ja sehen, was wir noch alles ans Tageslicht holen werden. Bitte haben Sie doch die Güte, mir jetzt zu verraten, was Sie als Ihren Beruf bezeichnen, womit Sie Ihr Brot verdienen.« »Ich bin Hellseher.« »Und was heißt das genau: Hellseher zu sein?« fragte der andere.
»Es handelt sich um eine besondere Fähigkeit, die nur sehr wenigen Menschen gegeben ist«, erklärte Hanussen geduldig. »Bei mir paart sich jahrelange Erfahrung der Menschenbeobachtung mit der Fähigkeit, anderen in die Seele zu schauen, mich in sie hineinzuversetzen, etwas vorauszuahnen.« Der Staatsanwalt witterte eineSpur. »Sie behaupten also, die verborgenen Gedanken der Menschen zu kennen?« Hanussen lächelte freundlich. »Ja.« »Und sie auch zu beherrschen?« bohrte der Staatsanwalt. »Gewissermaßen«, gab Hanussen zurück. »Sie sehen auch Ihre Zukunft?« wollte der Staatsanwalt jetzt wissen. »Ja.« »Darf ich Sie fragen, wie meine Zukunft aussieht?« fragte der Staatsanwalt, wieder beißende Ironie in der Stimme. Hanussen sagte völlig ernst: »Sie werden jetzt einen Prozeß verlieren.« Im Publikum breitete sich Gelächter wie ein Lauffeuer aus, die Stimmung war umgeschlagen, die Zuschauer standen jetzt zum größten Teil auf der Seite des Angeklagten, was den Staatsanwalt bis zur Weißglut reizte. Der Vorsitzende klopfte mit dem Hammer auf sein Pult. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie vor Gericht stehen«, rügte er Hanussen. »Sie stehen unter Anklage und sind nicht berechtigt, hier auf Kosten des Gerichts Scherze zu machen.« »Ich mache keine Scherze«, verteidigte sich Hanussen. »Herr Präsident, der Herr Staatsanwalt weiß ganz genau, daß er im Unrecht ist – und nur deshalb spricht er in diesem Ton mit mir. Sie wollen mich hier als Hochstapler verurteilen. Warum? Weil ich Hunderten von Menschen geholfen habe? Sicher ist es möglich, daß man in manchen Fällen etwas ganz anderes
von mir erwartet hat als das, was ich dann geben konnte. Der Herr Staatsanwalt beschuldigt mich aber des Betrugs. Warum? Weil ich behaupte, die Ängste und Wünsche der Menschen zu kennen. Ja, ich kenne sie wirklich. Weil auch ich aus diesem Volk stamme, weil auch ich hier, mitten in Europa, lebe, auf dem Gebiet der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie, in einem der vom Krieg zerstückelten Länder, getroffen von der Inflation, ohne jede Möglichkeit eines menschenwürdigen Sicherheitsgefühls. Ich kenne die Ängste und Wünsche der Menschen, die hier im Saal sitzen, denn auch ich habe Angst, und wenn ich sie ansehe, diese Menschen, strömt all die unlösbar scheinende, versteckte, unterdrückte Angst der menschlichen Seele in mich ein. Ein Phänomen, das in früheren Zeiten die Kirchen und die Stuben der Wahrsager füllte. Alles, was ich tue, ist, das auszusprechen, was andere nicht auszusprechen wagen, und mit meinen Gedanken in eine unbekannte Richtung, nämlich unsere Zukunft, vorzudringen. Die Zukunft der Kriegswitwen, der Waisen, der Verbrauchten, der Verlassenen in dieser aus ihren Angeln gehobenen Welt. Soll das denn das Leben sein, das wir alle herbeigesehnt haben, soll das die vielgelobte Freiheit sein? Nein. Mir begegnet in den Blicken der Menschen eine Frage: Was wird aus uns? Ich wage es, an ihrer Stelle diese Frage auszusprechen, und sie erheben sich mit mir.« Mit einer weit ausholenden Geste hob Hanussen beide Arme – und geschlossen erhob sich hinter ihm das gesamte Publikum. Stumm und gebannt blieben sie stehen, bis eine alte Frau aufschrie und kreidebleich, mit zuckenden Gliedern und Schaum vor dem Mund, zwischen die Bänke stürzte. »Einen Arzt!« rief eine Frau entsetzt. »Einen Arzt!« riefen auch andere und beobachteten die Unglückliche hilflos. Der magische Augenblick war gebrochen.
Hanussen drehte sich um und betrachtete, die epileptische Frau. Plötzlich fiel ihm etwas ein: der Krieg, das Lazarett! Dr. Bettelheim am Bett des Epileptikers! Ohne zu zögern, sprang Hanussen mit einem Satz über das Geländer, das ihn vom Zuschauerraum trennte, kniete neben der Frau nieder, drückte ihr ein Taschentuch zwischen die Zähne, damit die zuckende Frau sich nicht die Zunge durchbiß, und versuchte, ihre krampfhaft zitternden Glieder festzuhalten. Als das nichts nutzte, kniete er sich auf die Beine der Frau und drückte ihre Arme mit dem Gewicht seines ganzen Körpers zu Boden. Langsam beruhigte sich der bebende Körper. Hanussen streichelte die Stirn der Frau und klopfte ihr behutsam auf die Wangen. »Guten Morgen«, sagte er leise, ganz so, wie er es bei Dr. Bettelheim gelernt hatte. »Es ist alles gut. Bitte aufwachen… Sagen Sie mir Ihren Namen… sehr gut… Sie sind jetzt sehr erschöpft. Am besten wäre es, wenn Sie schlafen könnten, aber jetzt stehen wir erst einmal auf und gehen zu dem Stuhl dort drüben…« Gehorsam folgte die Frau seinen Anweisungen, „setzte sich auf, ließ sich von Hanussen beim Aufstehen helfen und zu einem Stuhl führen. Hanussen sah ihr tief in die Augen. »Jetzt ist es schon besser, nicht wahr?« fragte er herzlich. »Ruhen Sie sich jetzt aus. Schlafen Sie! Sehen Sie – Sie schlafen ja schon…« Der Kopf der Frau war vornüber gefallen, ihr Atem ging tief und gleichmäßig. Hanussen richtete sich erschöpft auf und sah sich im Saal um. Die Zuschauer standen in einem Kreis um ihn herum und schauten ihn voller Bewunderung an, das Gesicht des Präsidenten drückte Erstaunen aus.
33 Wenn sich auch die Stimmung im Saal grundlegend geändert hatte, so ließ dies noch keine Rückschlüsse auf die Entscheidung des Richters zu. Während sie auf das Urteil warteten, saßen Hanussen, Nowotny und Wally, bewacht von zwei Polizisten, im Warteraum vor dem Gerichtssaal. Hanussen lehnte sich auf der Bank zurück und lächelte. »Ich bin ganz einfach zur falschen Zeit geboren worden, Kapitän«, sagte er. »In einer anderen Welt hätte ich eine Religion gründen können oder ein Gott unter Wilden werden. Oder ein Magier – ich würde dem Pharao einen Stock zuwerfen, der im Flug zur Schlange würde, ich könnte die Hohepriester hypnotisieren oder eine Heuschreckenplage heraufbeschwören, am besten natürlich nach der Regenzeit, denn ich wüßte ja, wann die Larven ausschlüpfen. Ich könnte Ebbe und Flut berechnen und so trockenen Fußes über das Meer gelangen… Solche Tricks würden mir nicht schwerfallen, genausowenig wie heute. Die Masse will vergewaltigt werden wie eine Frau: Leg mich auf den Rücken, nimm mich, liebe mich. Verstehen Sie, was ich meine?« Nowotny sah Hanussen lange an. »Ich werde für Sie beten«, sagte er. »Sie sind ein begabter Bursche.« Hanussen schüttelte den Kopf. »An Gott glaube ich seit meinem zehnten Lebensjahr nicht mehr.« Nowotny lächelte. »Wenn dieser Prozeß gut ausgeht, gehe ich mit Ihnen in eine Kirche, damit Sie für Ihre Begabung Dank sagen können.« »Wem denn?« fragte Hanussen neugierig. »Egal…«, antwortete Nowotny. »Hauptsache, Sie bedanken sich!«
»Gut«, willigte Hanussen ein, »ich werde mich also bedanken.« »Hoffentlich kommt es nicht zu spät«, warnte der Freund. Der Gerichtsdiener kam in den Flur und gab den Polizisten ein Zeichen. Hanussen hatte es verstanden. »Wir können gehen«, sagte er zu den anderen und erhob sich. Wally seufzte – mit ihr, mit seiner Frau, hatte er kein einziges Wort gesprochen. Doch schon lange war ihr klar, daß sie hinter allem, was er seine Berufung nannte, selbst hinter jedem Gespräch, das diese Berufung betraf, zurückstehen mußte. Ihr waren die Momente vorbehalten, in denen Hanussen Ruhe und Trost brauchte, in denen er sich unsicher und voller Angst fühlte. Dann durfte sie ihn in die Arme nehmen und trösten wie ein kleines Kind. Und das war ja auch schon etwas, eine ganze Menge sogar… Alle Zuschauer erhoben sich, als das Gericht den Saal betrat und Dr. Jires mit dem Hammer um Ruhe bat. Laut und mit geübter Stimme gab er das Ergebnis der Beratungen bekannt. »Das hohe Gericht hat entschieden, als Bestandteil der Beweisaufnahme den Angeklagten seine telepathischen Fähigkeiten unter Beweis stellen zu lassen. Der Angeklagte hat das Recht, diese Forderung zurückzuweisen. Angeklagter ErikJan Hanussen! Sind Sie zu einer Demonstration vor Gericht bereit?« Gespannte Stille herrschte, als Hanussen langsam und wirkungsvoll aufstand. »Selbstverständlich«, erwiderte er ruhig. Ein Raunen ging durch das Publikum. Ein paar Journalisten liefen zum Telefon, schoben sich gegenseitig zur Seite, um als erste die aufsehenerregende Meldung an ihre Redaktion durchgeben zu können.
»Telepathie im Verhandlungssaal! Der Moment der Wahrheit ist gekommen! Das muß morgen auf die erste Seite! Einzelheiten folgen!« schrie der erste Reporter ins Telefon. Dr. Jires klopfte wieder mit dem Hammer aufs Pult. »Ruhe, bitte!« Hanussen flüsterte dem Gerichtsdiener etwas zu. Der verschwand und kam kurz darauf mit einem schwarzen Tuch zurück, mit dem er dem Hellseher die Augen verband. Im Grunde war es für Hanussen eine Vorstellung wie jede andere in den letzten Jahren. Der Staatsanwalt versteckte seine Krawattennadel unter der Anklagebank, nachdem Hanussen nach draußen geführt worden war. Wieder im Raum, bat er um die Hand einer Frau aus dem Zuschauerraum, schritt tastend mit ihr die Zuschauerreihen ab, fand innerhalb von Minuten sowohl das Versteck als auch die Nadel – der Beweis war erbracht, das Urteil schnell gesprochen, sicher auch ein Verdienst seiner Erste-Hilfe-Leistung bei der Epileptikerin. Der Staatsanwalt tobte – vergeblich. Der Anstiftung zur Spionage gegen den jungen tschechoslowakischen Staat hatte er Hanussen nicht überführen können. Ein lautes »Bravo!« ertönte, als Hanussen später im Portal des Karlsbader Gerichtshofes erschien, eine riesige Menschenmenge hatte sich angesammelt, um den Sieg des Hellsehers zu feiern. Man bahnte ihm einen Weg, und Hanussen kam glücklich und siegestrunken die Stufen hinunter. Die Stadt war stolz auf Hanussen. Die Menschen klatschten und jubelten, einige wollten ihn berühren, aus der Nähe sehen, ihm die Hand geben. Auch Nowotny und Wally, die ihn flankierten, waren von der Siegesstimmung mitgerissen, Wally liefen Freudentränen die Wangen hinab. Zu groß war in den letzten Tagen die Angst gewesen, den geliebten Mann für Jahre hinter Gittern zu sehen.
Hanussen näherte sich dem Fuß der Treppe, kehrte wieder um, blieb noch einmal stehen – er wollte diese herrlichen Minuten voll auskosten. Der Berliner Reporter Fabian bat ihn, sich einen Moment lang zu seinem Fotografen umzudrehen. »Was haben Sie jetzt für Pläne, Herr Hanussen?« fragte er. »Ich schlafe gründlich aus, und zwar in meinem eigenen Bett«, erwiderte der Hellseher. »Und morgen früh geht’s ab nach Berlin!« »Was haben Sie in Berlin vor?« forschte der Reporter. »Ich will die Menschen für das Gute gewinnen, sie vom Bösen weglocken – wenn sie mir dabei helfen.« »Sind Sie nicht ein wenig zu idealistisch?« fragte Fabian erstaunt. »Finden Sie?« gab Hanussen zurück. »Glauben Sie an die Zukunft? Sind Sie Optimist?« fragte Fabian weiter. »Natürlich«, sagte Hanussen. »Das Leben ist Optimismus. Sie sehen doch: Ich lebe!« An seinem Freispruch hatte er keinen Moment gezweifelt. Im Zirkus hatte er Raubtiere hypnotisiert; da würde er doch mit ein paar einfältigen Juristen noch fertigwerden! Am nächsten Morgen löste Hanussen sein Versprechen ein – nach langen Jahren betrat er zum ersten Mal eine Kirche, betrat ein Gotteshaus, um – wem auch immer – für seine Begabung zu danken. Und dafür, daß er den Prozeß gewonnen hatte. Die Kirche war überfüllt, es wurde gerade eine Messe gelesen. Hanussen, Nowotny und Wally standen an einem Seitenaltar hinter den Sitzbänken, in den hohen Leuchtern flackerten viele kleine Flammen. Nowotny betete mit gesenktem Kopf, Wally und Hanussen sahen zur Kanzel und hörten der Predigt des Pfarrers zu.
Der Priester zitierte gerade eine Stelle aus der Bibel. »Ihr dürft niemanden unter euch dulden, der wahrsagt oder aus Vorzeichen die Zukunft deutet, der zaubert, Geister beschwört oder Tote befragt. Wenn aber ein Prophet in meinem Namen etwas sagt, was ich ihm nicht aufgetragen habe, oder im Namen anderer Götter spricht, dann muß er sterben.« Fasziniert, erstaunt und immer erschrockener hörte Wally den Bibelworten zu und sah dann ihren Mann an: auch Hanussen war kreidebleich… Es war ein heißer Tag im August. Hanussen war 39 Jahre alt.
34 Stumm verließen die drei Menschen eine halbe Stunde später die Kirche und gingen in ihr Hotel, um die schon gepackten Koffer zu holen. Auch die lange Fahrt im Zug verbrachten sie größtenteils schweigend, nachdenklich. In Berlin angekommen, machte Nowotny sich gleich an die Arbeit: Er organisierte eine Pressekonferenz anläßlich der Rückkehr des berühmten Magiers Erik-Jan Hanussen, der sogar vor Gericht seine telepathischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte. Wochen später war es soweit. Die Konferenz sollte in einem Sondersaal des Hotels Kempinski stattfinden. Hanussen stand hinter dem Vorhang, der eine offenstehende Tür verdeckte, und beobachtete die Reporter, die im Saal warteten. Den Reportern gegenüber saß Nowotny an einem mit grünem Tuch bespannten Tisch und bat um Ruhe und Geduld. Hanussen übte hinter dem Vorhang noch einmal seinen Text ein. »Ich will Sie für das Gute gewinnen«, reklamierte er. »Sie vom Bösen weglocken. Denn schon bald werden neue Gesetze erlassen werden, Gesetze, die die Schlucht überbrücken, die das Gute heute noch vom Bösen trennt. Bitte helfen Sie mir, dem Guten den Weg zu ebnen, es stärker zu machen als das Böse!« Aus dem Saal hörte er ungeduldige Rufe. »Wie lange sollen wir denn noch warten?« »Ich habe gleich Redaktionsschluß!« »Jetzt warten wir schon eine halbe Stunde! Ich habe auch noch andere Termine!« Jetzt fegte Hanussen den Vorhang zur Seite und betrat den Saal, wie immer elegant gekleidet, im dunklen Zweireiher und
mit einem schwarzen Schal, der die dämonische Blässe seines Gesichts besonders deutlich hervorhob. »Da bin ich. Ich bitte um Entschuldigung – aber der Staatsminister für Auswärtiges hatte mich rufen lassen.« Es wurde unruhig im Saal. »Hat er sie um Rat gebeten?« fragte jemand. »Nein. Schreiben Sie bitte nicht darüber – es, handelte sich um eine Privatangelegenheit«, bat Hanussen. »Worüber sprachen Sie?« insistierte ein anderer. »Über mich«, gab Hanussen Auskunft. »Nur über mich.« »Sind Sie wieder im Engagement bei Professor Tabor am Scala-Theater?« fragte ein Reporter. »Ich – bei Tabor?« fragte Hanussen entgeistert. »Ich bin nicht der Ansicht, daß mein zukünftiger Platz unter Zwergen und mittelmäßigen Sängern in Schmierentheatern sein wird!« Die Fragen kamen jetzt gleichzeitig, überschlugen sich. »Wissen Sie wirklich alles vorher?« »Wie verkraften Sie das?« »Warum sind Sie nach Ihren Vorstellungen immer so erschöpft?« »Stellen Sie sich vor, wie anstrengend es auch für Sie wäre, wenn Sie nicht nur die äußere Wirklichkeit, sondern auch die innere sehen könnten!« antwortete Hanussen auf die letzte Frage. »Wie sehen Sie das alles, wie geht das vor sich?« fragte ein Reporter. »So, wie ein Komponist Töne hört, spüre ich jene Kräfte, die aus Instinkten, Wünschen und Gedanken zu mir strömen«, erklärte Hanussen geduldig. »Aber woher kennen Sie dann die Zukunft?« wollte der Mann wissen. »Das Leben ist ständig in Bewegung«, sagte der Hellseher, »es läuft jedoch logisch ab, wie eine Straße: die sogenannte
Zeitspur. Ich konzentriere mich auf die Entwicklung, auf diese Spur, und kann so das Kommende genau berechnen.« »Heutzutage gibt es so viele Hellseher«, wandte ein anderer ein. »Was halten Sie von ihnen, was halten Sie von Ihrer Konkurrenz?« »Betrüger und Hochstapler hat es immer gegeben«, sagte Hanussen, »vor allem in schweren Zeiten, wenn die Menschen Hilfe brauchten.« »Seit wann wußten Sie, daß Sie hellsehen können?« »Ich entdeckte diese Fähigkeit während des Krieges, wenn ich auch als Kind schon ahnte, daß ich sie hatte: weil ich immer wieder Vorahnungen hatte, die sich dann als richtig herausstellten. Aber im Frontlazarett schlug mir ein ungarischer Arzt, ein Neurologe, der mich selbst durch Hypnose geheilt hatte, erstmals vor, meine eigenen Fähigkeiten zu nutzen. Ich hatte Erfolg – denn ich bezwang meine eigenen Ängste und konnte so meinen Kameraden helfen, auch ihre in den Griff zu bekommen. Dann begann ich, mich mit den internationalen Methoden der Parapsychologie zu beschäftigen… auch mit Erfolg. Später entwickelte ich meine eigenen Methoden, wagte auszusprechen, was ich vor meinem inneren Auge sehe – und das waren und sind oft Bilder der Zukunft, künftige Ereignisse.« Ein Reporter wollte den Hellseher auf die Probe stellen, wieder einmal. »Wenn Sie die Zukunft sehen können, sagen Sie uns doch, wer im Januar Kanzler von Deutschland wird!« »Ich befasse mich nicht mit Politik«, lehnte Hanussen ab. »Wissen Sie es – oder wissen Sie es nicht?« hakte der Reporter nach. »Ich mische mich in dieses Spiel nicht ein«, erwiderte der Hellseher ruhig. »Also wissen Sie es nicht«, provozierte ihn der andere.
Hanussen schüttelte den Kopf über soviel Unverstand. »Ich habe es Ihnen doch gerade gesagt: Parteikämpfe liegen mir fern, ich will nichts mit ihnen zu tun haben, will auch nichts von ihnen wissen.« Doch der Reporter gab nicht auf. »Sie wagen es nicht zu sagen, weil Sie befürchten, daß sich Ihre Prognose im Januar als Irrtum herausstellt!« »Ich irre mich nie!« widersprach Hanussen. »Dann sagen Sie es!« forderte der junge Mann. »Das geht nicht«, wehrte der Hellseher ab. »Sind Sie feige?« fragte der Reporter. »Verstehen Sie doch: Ich bin Österreicher, bin Gast in Ihrem Land…«, bat ihn Hanussen um Einsicht. »Da sind Sie nicht der einzige!« Alle lachten. »Warum geben Sie nicht einfach zu, daß Sie keine Ahnung haben?« fragte jetzt ein anderer. »Weil ich es weiß«, antwortete Hanussen ruhig. »Es interessiert mich nur nicht.« »Gar nichts wissen Sie – sonst hätten Sie es längst gesagt!« Hanussens Gesicht glühte. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Ihm war klar, daß seine ganze Arbeit vergeblich, auch diese Pressekonferenz umsonst gewesen war, wenn er die Meute der Journalisten jetzt nicht zufriedenstellte. »Gut…«, murmelte er. »Ich sage es Ihnen: Adolf Hitler. Adolf Hitler wird Reichskanzler von Deutschland.« Von der Seite warf ihm Nowotny einen entsetzten Blick zu.
35 Ganz klar: Hanussens Freund, Manager und Berater war verärgert. Eine Verärgerung, der er später, in Hanussens Suite im Kempinski, wortreich Ausdruck verlieh. »Wir haben ausgemacht, daß Sie sich nicht in die Politik einmischen!« rief er aufgebracht. »Wie können Sie nur so einen Schurken unterstützen! Er beutet die niedrigsten Instinkte der miesesten Kleinbürger aus. Wissen Sie denn überhaupt, was Ihre Prognose für Auswirkungen auf die Masse haben wird?« Hanussen blieb ruhig. »Halten Sie mich für einen dummen August, der nicht weiß, was er redet? Ich spreche nicht das aus, was ich mir erwünsche, sondern das, was ich vor mir sehe. Nicht mal vor meinem inneren Auge, sondern mit meinen beiden ganz normalen Augen, verstehen Sie? Sehen Sie nicht dasselbe? Jeder kann es sehen, der bereit ist, seine Augen aufzumachen. Hitler gehört hier die Zukunft, und kein Mensch kann es ändern!« »Aber du hättest es nicht öffentlich auszusprechen brauchen«, warf Wally ein, die in einer Ecke saß und von den beiden Männern beinahe vergessen worden wäre. »Die Wahrheit ist eben manchmal schlimm«, erklärte Hanussen, »aber man muß sie trotzdem aussprechen, ob einem das gefällt oder nicht. Sie, Nowotny, haben sich diese Pressekonferenz ausgedacht, sie war Ihre Idee. Sie waren es, der die ›Eroberung Berlins‹ organisieren wollte. Bitte, nun haben Sie sie. Erst zerren Sie mich vor einen Haufen Idioten, die keine vernünftigen Fragen stellen können, vor denen ich nicht dazu kam, zu sagen, was ich sagen wollte, worauf ich vorbereitet war – und nun werfen Sie mir vor, Hitler zu
unterstützen, nur, weil ich die Wahrheit gesagt habe! Ich habe ihn mit keinem Wort unterstützt oder gelobt!« Nowotny war keineswegs besänftigt. »Gelobt nicht – nur mitgeteilt, daß er Kanzler wird. Das ist, bei Ihrem Ruf, doch die reine Wahlpropaganda! Aber bitte, tun Sie nur, was Sie für richtig halten! Sind Sie vielleicht insgeheim Mitglied der nationalsozialistischen Partei? Zeigen Sie uns doch mal Ihr Parteibuch!« Jetzt wurde auch Hanussen langsam zornig. »Ich habe in meinem Leben noch kein Parteibuch gesehen!« rief er. »Ich bin auch nicht bereit, mich irgendwelchen Organisationen anzuschließen. Ich bin weder für Hitler noch gegen ihn. Ich bin ich! Und das bleibe ich auch! Und wenn Ihnen das nicht paßt, tut es mir leid! Dann müssen wir uns eben trennen!« Nowotny nickte und machte eine zustimmende Geste. »Keine Angst, wenn morgen die Zeitungen von Ihrer Prognose berichten, reise ich ab, und Sie sehen mich nie wieder. Sie erwarten doch nicht etwa, daß ich vorhabe, mit den Propaganda-Leuten von Hitler zusammenzuarbeiten? Man wird Sie für einen Nazi halten, auch im Ausland; Ihre internationale Karriere ist hiermit beendet!« Hanussen regte sich nun seinerseits immer mehr auf angesichts dieser seiner Ansicht nach ungerechten Beschuldigungen. »Hören Sie mal genau her!« forderte er. »Was ich mache, ist gut! Ich weiß sehr genau, was ich sage, wem ich es sage und wie ich es sage! Und was ich sage, trifft ein. Weil ich gut bin. Verstanden? Weil ich der Beste bin. Ich habe alle gewarnt – und das hat nichts mit Propaganda zu tun! Aber wenn Sie es durchaus wollen – bitte, mir soll es recht sein! Auf Wiedersehen, Herr Kapitän!« »Wie kannst du so mit Tibor sprechen?« fragte Wally entsetzt.
Hanussen winkte ab. »Ich werde auch mit dir so sprechen, wenn du anfängst, mir Vorwürfe zu machen!« »Was bilden Sie sich eigentlich ein?« mischte Nowotny sich wieder ein. »Halten Sie sich für einen biblischen Propheten? Oder für Christus? Wissen Sie, was Sie sind? Ein zweitklassiger Magier mit geschickten Tricks und sehr viel Glück. Sie sind nicht besser als Ihre Kollegen. Dank Dr. Bettelheim können Sie sich nur besser verkaufen!« Hanussen ging auf diesen persönlichen Angriff nicht ein. Er wußte, daß Nowotny ihm nur seine Voraussage bezüglich Hitler übelnahm. »Deutschland will Ordnung«, sagte er, wieder ruhiger. »Hier herrscht das Chaos. Doch Ordnung bedeutet in Deutschland mehr als Freiheit oder Macht. Und wer Ordnung schafft, der siegt auch. Deshalb: Hitler!« Wally weinte. »Warum mußt du dich nur plötzlich in die Politik einmischen?« schluchzte sie. »Du halt den Mund!« fuhr Hanussen sie an. »Vielleicht haben Sie recht«, gab Nowotny zu, »aber begreifen Sie mit Ihrem eitlen Hirn denn nicht, welche Werbung, welche Propaganda Sie heute für Hitler gemacht haben? Sehen Sie sich doch einmal seine Leute an! Überlegen Sie, wer alles zu ihnen überlaufen wird – aufgrund Ihrer Voraussage! Und dann wollen Sie ruhig zusehen, wenn die kommen? Die Katastrophe, die Sie selbst mit heraufbeschworen haben, einfach abwarten?« »Sind Sie plötzlich der Hellseher hier?« fragte Hanussen spöttisch. »Dürfen nur Sie Prognosen stellen?« fragte Nowotny zurück. »Es ist besser, wenn Sie das mir überlassen«, erwiderte der Hellseher hochmütig. »Gut, wie Sie wollen. Begleiten Sie mich, Wally? Mit Ihnen bin ich fertig, Hanussen. Vielleicht sehen wir uns im nächsten
Krieg wieder. Wenn er bald genug ausbricht, bin ich vielleicht noch nicht zu alt für ein Fronttheater!« Wally war aufgestanden, blieb aber nun stumm und verzweifelt stehen und schüttelte den Kopf. Nowotny knallte die Tür hinter sich zu. Hanussen schrie seine Frau an. »Und du? Warum gehst du nicht mit ihm? Warum bleibst du noch hier?« »Damit so etwas nicht noch einmal vorkommt«, sagte Wally gefaßt. Hanussen war blaß, fiel in sich zusammen. Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß er eben seinen einzigen wirklichen Freund fortgeschickt hatte, den einzigen Menschen, dem er blind hatte vertrauen und auf dessen Loyalität er jederzeit hatte rechnen können. Hanussen wußte: Er hatte einen großen Fehler gemacht, vielleicht den größten seines Lebens. Doch es gab keinen Weg zurück. Und Wally tat, was sie immer tat: Sie tröstete ihn, ermunterte ihn, baute ihn wieder auf. Und Nowotnys Ahnungen wurden am nächsten Tag schreckliche Wirklichkeit. ›Der Prophet sagt voraus: Adolf Hitler wird Kanzler!‹ lautete die Schlagzeile einer Zeitung. ›Der Prophet prophezeit Hitlers Machtübernahme‹ die einer anderen. ›Erik-Jan Hanussen: Ich sehe Hitler auf dem Kanzlerstuhl‹, eine dritte. Was war zu tun? Hanussen beschloß, sich mit einem alten Bekannten über den Ernst der Lage zu unterhalten. Einen Tag später betrat er Rattingers Büro, der hinter seinem Schreibtisch aufstand, um Hanussen entgegenzugehen. »Ich habe leider nicht viel Zeit«, bedauerte er. »Doch wenn Sie Lust haben mitzukommen, können wir uns im Auto weiterunterhalten. Doch – es war richtig, daß Sie von Hitler
gesprochen haben. Die Unsicheren haben einen Schrecken bekommen und wissen nun, was sie zu fürchten haben, wenn sie sich nicht wehren. Sehen Sie, genau das ist die Aufgabe der Intelligenz. Stimmung zu machen. Die Massen nicht zu beschwichtigen, sondern aufzurütteln. Hitler hat nämlich keine echte Basis in den Massen. Die Grobheit seiner Sturmtruppen und seine fehlende Bildung schrecken das Volk ab, machen ihm Angst. Hitler kann nur eine Übergangsfigur, eine flüchtige Erscheinung dieser Zeit sein.« Hanussen atmete erleichtert auf, die Meinung des anderen galt ihm viel. »Meinen Sie das wirklich?« Rattinger sah ihn, zog die Augenbrauen hoch und lächelte bitter. Die Frage hatte ihn irritiert – schließlich war das, was er eben gesagt hatte, auch nur eine Beschwörung gewesen, ein verklärtes Bild der Wirklichkeit, so, wie er sie gern für sich, seine Familie und sein Land gesehen hätte… Später, im Auto, setzten sie ihre Unterhaltung im Fond fort. Rattinger sprach leise, obwohl sie vom Chauffeur durch eine Glaswand getrennt waren. »Die Inflation hat das Volk so mit Haß erfüllt«, flüsterte er Hanussen zu. »Sie hat Demütigung und Erniedrigung über die Menschen gebracht, sie hat die Menschen aufgewühlt und schlimme Dinge an die Oberfläche getrieben. Haß gegen die Demokratie. Suche nach dem Schuldigen, Rassenhaß, die Sehnsucht nach einer starken Hand. Ich ahnte, daß es so kommen würde, dennoch habe ich immer noch gehofft.« »Und jetzt?« fragte Hanussen, ebenso leise. »Jetzt verlieren wir – man darf es nur nicht laut sagen. Wir haben keine Chance. Alle kennen die Zukunft. Die verschiedensten Gruppen schreien nach Macht. Ein Varietedirektor will Kultusminister werden und schreit nach
Zensur – da hat es einer, der für Ordnung sorgt, leicht bei den Menschen…«
36 Hanussen richtete sich eine kleine Beratungspraxis ein. Tagsüber hielt er Sprechstunden für Frauen, Geschäftsleute und Künstler ab; Seancen veranstaltete er nachts, um jede visuelle Störung auszuschalten und ›geistige Bildsendungen‹ aufnehmen zu können. Er erfand den Begriff ›Mentalfunk‹ und behauptete – was ihm wieder Presseberichte in allen Zeitungen des Landes einbrachte –, daß empfängnisfähige Menschen Mitteilungen aus dem Raum des Unsichtbaren ebenso aufnehmen könnten wie ein Rundfunkempfänger Radiowellen. Vor allem Frauen mit privaten Problemen, aber auch verunsicherte Industrielle, die Angst vor der wirtschaftlichen Zukunft Deutschlands hatten, zählten zu seinen Stammkunden, einem Kreis, der ihm bald ein sorgloses Auskommen sicherte. Und der ihn ermutigte, den ›Hanussen-Verband‹ zu gründen, der im Lauf der nächsten Jahre auf 5 Millionen Mitglieder anwachsen sollte. Nach ihrer Rückkehr nach Berlin hatten Wally und Hanussen auch den Kontakt zu Baron Stadler wieder aufgenommen, der sie zu einer Gesellschaft in sein Haus einlud. Bombenstimmung herrschte in der Villa an diesem Abend. In einer Ecke spielte eine Negerband einen bekannten Schlager, in einer anderen gab Valery Graf von Trantow-Waldbach einen Kuß, ließ ihn dann einfach stehen und begann zu singen. Die Umstehenden klatschten. Mitten in ihrem Lied bemerkte Valery jemanden und warf ihm einen Handkuß zu: Hanussen. Der Hellseher betrat gerade mit Wally den Saal. Graf von Trantow-Waldbach bemerkte das Paar und ging auf die beiden zu.
»Haben Sie einen Leibwächter?« fragte er, nachdem er sie begrüßt hatte. »Nein«, erwiderte Hanussen erstaunt. »Sie werden einen brauchen«, versicherte der Graf. »Ich kümmere mich darum, ich werde Ihnen einen besorgen. Übrigens hat Hitler mich gefragt, ob Sie Parteigenosse sind.« »Und was haben Sie geantwortet?« fragte Hanussen neugierig. »Ich sagte ihm, daß Sie es nicht sind und auch nicht vorhaben, es zu werden, weil Sie sich aus Prinzip keiner Partei und keiner Organisation anschließen.« »Ach!« staunte Hanussen. »Und woher wissen Sie das? Sie können wohl Gedanken lesen?« Der Graf lächelte. »Sie sind schließlich der, der Sie sind, nicht wahr? Außerdem hört man so manches…« Hanussen wurde verlegen, wußte nicht, woher der andere seine Informationen bezog. »Der Propagandachef der Partei möchte Sie kennenlernen«, sagte der Graf jetzt. »Wenn es Ihnen recht ist, bringe ich Sie zu ihm. Er ist ein talentierter Kleinbürger, der sehr gut reden kann und sehr viel Energie besitzt. Ich glaube, er war vorher Volksschullehrer. Auf jeden Fall hat er einen Doktortitel, und das ist viel wert, oder nicht? Kommen Sie!« Der Graf hakte sich bei Hanussen ein und führte ihn zum anderen Ende des Saals, gefolgt von einer mißmutigen Wally, der die ganze Entwicklung nicht paßte und um die sich wieder einmal niemand kümmerte. Hanussen hatte seine Frau völlig vergessen, als er mit dem Graf zu der kleinen Gruppe trat, in deren Mitte ein hagerer Mann mit seiner Gattin stand. »Herr Doktor, gestatten Sie, daß ich Ihnen den Hellseher Erik-Jan Hanussen vorstelle?« Goebbels lächelte. »Oh, sehr erfreut«, sagte er und reichte Hanussen die Hand. »Adolf Hitler gratuliert Ihnen dazu, daß
Sie die Zukunft dieses Landes so klar und präzise vor sich sehen. Aber wem sage ich das? Die Zukunft ist Hitler, und Sie wissen am besten, daß man immer auf die Zukunft setzen muß. Haben Sie Kinder?« »Nein«, erwiderte Hanussen kurz. Er wußte noch nicht so recht, was er von diesem neu ernannten Propagandaminister zu halten hatte. »Warum nicht?« fragte Goebbels. »Sie kennen die Zukunft, Sie können alles – nur keine Kinder machen? Geben Sie sich Mühe! Ich habe fünf.« »Gratuliere«, sagte der Hellseher, noch immer verschlossen. »Wir brauchen Kinder, viele Kinder«, fuhr der Doktor fort. »Das sichert die Zukunft Deutschlands. Stimmt’s, meine Damen….?« Die Umstehenden und seine Frau stimmten ihm lächelnd zu. »Können wir ein paar Worte unter vier Augen sprechen?« fragte Goebbels und zog Hanussen ein Stück zur Seite. »Das Gute an Ihnen ist«, sagte er dann mit gesenkter Stimme, »daß Sie keiner Organisation oder Gruppierung angehören. Das macht Sie so glaubwürdig, man kann Ihnen keine Voreingenommenheit vorwerfen. Das ist gut, das ist sehr gut. Ich freue mich, daß Sie Hitlers Rolle erkannt haben. Noch sind nicht alle soweit; in diesem Land, wo Rang und Bildung soviel bedeuten, kann man sich kaum vorstellen, daß ein einfacher, bisher unbekannter Soldat Führer eines ganzen Volkes werden kann. Wir jedoch stellen die mystische Kraft Hitlers dem Hochmut der Aristokraten und Großbürger gegenüber. Woher kennen Sie eigentlich den Grafen?« »Von der russischen Front«, sagte Hanussen einsilbig. Der Mann gefiel ihm immer weniger. »Und war er ein guter Soldat?« wollte der Propagandaminister wissen. »Oder nur – elegant?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Hanussen wahrheitsgemäß, »ich war nur Zugführer.« »Ich auch«, sagte Goebbels und klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. Dann kam er wieder auf sein Lieblingsthema zurück. »Sie sehen es ganz richtig: Hier steht alles vor dem Zusammenbruch. Sagen Sie den Menschen die Zukunft des neuen Deutschlands voraus, und Sie werden es nicht zu bereuen haben.« Hanussen hob die Schultern. »Es sieht nur leider alles sehr aussichtslos aus, nicht wahr?« Goebbels winkte ab. »Je schlechter es aussieht, umso besser für uns, umso näher rückt unsere Stunde. Die um ihr Geld geprellten kleinen Leute, die mittellosen Beamten, die Arbeitslosen und die Soldaten, alle, aber auch wirklich alle sind bereit, einem neuen Führer zuzujubeln – Hauptsache, es herrscht endlich wieder Ordnung. Das deutsche Volk ist ein Volk der Ordnung, es kann mit dieser großen, aber chaotischen Freiheit nichts anfangen und kann es kaum erwarten, von ihr befreit zu werden. Natürlich alles im Interesse der Zukunft des deutschen Volkes! Sobald wir die Macht übernommen haben, werden wir ein Institut für Zukunftsforschung organisieren. Stimmen Sie mir zu?« Doch Goebbels hatte, noch während er sprach, schon Bekannte entdeckt und sah nicht, daß Hanussen sich nur ein gequältes Lächeln abrang. Wally betrachtete ihn vorwurfsvoll – immer tiefer verstrickte er sich ihrer- Ansicht nach in Dinge, die ihm eines Tages sehr gefährlich werden konnten. Später tanzte Hanussen mit Valery und sah ihr forschend in die Augen. »Bist du auch der Ansicht, ich hätte das mit Hitler nicht sagen dürfen?« fragte er sie. »Allerdings«, erwiderte die Jugendfreundin spöttisch.
An der Bar, wo der Hellseher einen Drink nahm, sprach ihn eine junge Dame an. »Ich bin Henni Stahl, Fotografin und Regisseurin – ich weiß nicht, ob Ihnen mein Name etwas sagt.« »Oh, aber natürlich!« rief Hanussen. »Sie sind eine der besten…« Die aparte junge Frau war angenehm berührt. »Danke. Aber wenn Sie mir nicht böse sind, würde ich Ihnen gerne einen Vorschlag machen; damit Sie sich ins richtige Licht setzen können, sozusagen. Sie sollten sich nie von oben beleuchten lassen. Wenn Sie sich von unten beleuchten lassen, wird Ihr Gesicht in ein mystisches Licht getaucht, in ein geheimnisvolles Leuchten, und riesige Schatten werden jede Ihrer Bewegungen begleiten. Das Licht ist der größte Zauberer, wissen Sie.« »Gewiß«, stimmte Hanussen freundlich zu. »Es beschäftigt mich sehr«, fuhr die Künstlerin fort, »ob diese persönliche Kraft, die von Ihnen ausgeht, auch im Film zur Wirkung kommt oder nur im Leben. Denn das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Hitlers Stimme im Radio zum Beispiel ist faszinierend – auf Bildern wirkt er nur, wenn man ihn in der richtigen Position fotografiert. Es würde mich reizen, Ihre wirkungsvollste Pose zu finden. Rufen Sie mich doch einmal an!« Henni Stahl war ganz verlegen ob ihres eigenen Eifers. Schnell zog sie ein Kärtchen aus der Tasche, drehte sich um und ging davon. »Wer war denn das?« fragte Wally hinter ihm. »Henni Stahl«, sagte Hanussen verwirrt. »Sie will mich fotografieren.«
37 Nach langem Hin und Her hatte Hanussen sich entschieden, zu seinen Ursprüngen zurückzukehren, wenigstens, was den äußeren Rahmen betraf. Und so leuchtete sein Name ein paar Wochen später groß über dem Zelt des Berliner Zirkus, unter dem Namenszug eine Leuchtreklame mit den Worten: ›Der Mann, der weiß, wer Kanzler wird: der Prophet.‹ Aus dem ganzen Land kamen die Menschen, um ihn zu sehen und um sich beraten zu lassen. Vor dem Künstlereingang drängelten sich die Autogrammjäger. Ein erwartungsvolles Raunen ging durch die Menge, als Hanussen ins Freie trat. Er versuchte, sich einen Weg durch die Menschen zu bahnen, verteilte Unterschriften, kam nur langsam voran. Eine junge Frau klammerte sich kreischend an seinen Arm, halb ohnmächtig vor Glück, daß sie ihn berühren durfte. Ja, er hatte es geschafft: Er war ein Star. Jemand berührte ihn sacht am Arm, eine Geste, die sich von denen der Fans unterschied. »Klaus!« Hanussen drehte sich um. Vor ihm standen Dr. Bettelheim und Betty. Hanussen fiel beiden um den Hals, erst dem Doktor, dann Betty. Später saßen sie im Opern-Café zu viert an einem kleinen Marmortisch: Dr. Bettelheim, Betty, Hanussen und Wally. Die Sonne drang durch die hohen Fenster und beleuchtete ein friedliches Bild. Dr. Bettelheim erzählte, Betty musterte Wally abschätzend, nicht ohne Eifersucht. Nein, daran, daß Hanussen geheiratet haben könnte, daran hatte sie wirklich nicht gedacht.
»Man hat mich aus meiner Stellung gefeuert und sich darauf berufen, daß ich während der Revolution vor mehr als zehn Jahren die Versorgung der Verwundeten organisiert habe«, berichtete der Arzt. »Dabei ist es ganz klar: Ich durfte meiner Abstammung wegen nicht Chefarzt bleiben!« Hanussen nickte nachdenklich. Er hatte immer gewußt, daß Dr. Bettelheim Jude war – doch es hatte nie einen Unterschied für ihn gemacht. »Sie hatten doch so großen Erfolg«, warf er ein. »Meine Erfolge gehörten schon längst nicht mehr mir«, wehrte Dr. Bettelheim ab. »Mir gehört von meiner Arbeit so viel wie von dem Land, in dem ich aufgewachsen bin und gelebt habe. Ich hatte befürchtet, daß ich mit Unannehmlichkeiten zu rechnen haben würde, aber ich habe nicht einen Bruchteil von dem, was sich dann ereignet hat, in meinen schlimmsten Alpträumen vorausgeahnt. Innerhalb kürzester Zeit verlor ich alle Patienten, und meine Freunde gingen mir aus dem Weg. Meinen Sie, daß ich vielleicht hier in Berlin eine Praxis eröffnen kann…?« Ein Kellner trat zu ihnen und stellte eine Flasche Sekt auf den Tisch. Fragend sahen die vier ihn an. »Wir haben keinen Sekt bestellt«, sagte Wally. »Der Chef schickt ihn Herrn Hanussen«, erklärte der Kellner. »Es ist eine große Ehre für uns, daß Sie uns mit Ihren Freunden aufsuchen. Würden Sie sich in unser Gästebuch eintragen?« »Natürlich«, sagte Hanussen und kritzelte seinen Namen in das Buch. Mehrere Gäste sahen zu und lächelten zu ihm herüber. Zwischen den Tischen stolperte indessen ein lumpig gekleideter Mann mit einem weißen Stock, stieß ab und zu an die Tische, ergriff die Hände der Gäste und sprach auf sie ein. »Sie haben Erfolg«, bemerkte Dr. Bettelheim ohne jeden Neid. »Sind Sie auch glücklich?«
»Ja, Erfolg habe ich…«, pflichtete Hanussen ihm bei und fügte hinzu: »Aber glücklich – nein, glücklich bin ich nicht.« »Berlin ist jetzt der Mittelpunkt der Welt«, überlegte der Arzt laut. »Hier ist auch das neueste psychiatrische Institut, eine ausgezeichnete Universität… Betty kennt den Grafen TrantowWaldbach noch von der Front sehr gut. Vielleicht hilft er uns? Zum Glück habe ich alle meine Schriften, meine Veröffentlichungen und meine Unterlagen dabei, und auch meine Patientenkartei konnte ich mitbringen.« Und Betty, dachte Hanussen. Seine Frau schien der Arzt in Budapest gelassen zu haben. So hatte Bettys Geduld doch noch gesiegt… »Ist meine Karte auch dabei?« fragte er laut. »Ihre… sicher«, überlegte Dr. Bettelheim. »Ich habe auch Geld. Vielleicht kaufe ich eine Wohnung oder ein kleines Haus? Wie legen die Leute hier denn ihr Geld an? In Gold, Silber, Immobilien, Gemälden? Teppichen? Was behält seinen Wert?« »Brillanten!« rief Betty. »Die passen in jede Tasche. Und dann nichts wie weg! Aber er hört nicht auf mich…« »Weg? Wohin denn?« fragte Hanussen und griff nach Bettys Hüfte. Wally bemerkte es und wurde blaß. »Nach Amerika!« erwiderte Betty lachend und schmiegte sich an Hanussen. Und ihr Plan war in Deutschland Anfang der 30er Jahre durchaus noch realisierbar. »Und was soll ich in Amerika?« fragte der Arzt. »Ich bin und bleibe ein gebürtiger Budapester. Wenn ich an das Donaukorso, an die Elisabethbrücke, an die Burg in der Abenddämmerung denke… An den täglichen Spaziergang durch die Ülli-Straße zu den Kliniken… Warum will man mir das nehmen? Unser Mitteleuropa hat schon viel durchgemacht… Was wird aus mir…?«
»Was wird aus uns?« korrigierte ihn Betty, mißtrauisch beäugt von Wally. Welches Recht hatte die Fremde, Hanussen neckend zuzuzwinkern, seine Hand zu streicheln, sieh an ihn zu schmiegen – wenn sie doch zu diesem Arzt zu gehören schien? Wally verstand die Welt nicht mehr. »Hier brechen harte Zeiten an«, sagte jetzt Hanussen. »Es fragt sich nur, wer für all das, was jetzt geschieht, eines Tages den Sündenbock spielen muß.« »Den Sündenbock?« wiederholte Dr. Bettelheim. »Ach, das kenne ich schon. Das ist jemand, den man einfach die Treppe hinunterstoßen kann.« »Ein paar Bankiers oder Börsenspekulanten«, vermutete Hanussen. »Oder die Intelligenz«, fuhr Dr. Bettelheim fort. »Künstler, die sich haben verführen lassen. Bürgerliche Schriftsteller, die sich zum Schlechten haben überreden lassen. Schauspieler der Mittelmäßigkeit, die den Götzen gedient haben… liederliche kleine Tänzerinnen…« »Und was ist mit den Krankenschwestern?« warf Betty ein. Alle schwiegen, der Arzt sah zum Fenster hinaus. Lauf, so schnell und so weit du kannst, dachte Hanussen, sagte es aber nicht. Zu groß war seine Freude, den alten Freund aus schöneren Zeiten in seiner Nähe zu wissen. »Wie es wohl sein mag, in Frieden zu leben, keine Angst vor der Zukunft zu haben?« fragte Wally leise. Der Mann mit dem weißen Stock trat jetzt an ihren Tisch. In seiner schwarzen Brille spiegelte sich das Sonnenlicht; alle sahen ihn an. »Ich sage Ihnen Ihre Zukunft, lieber Gast, wenn Sie mir Ihre Hand reichen«, versprach er. Er streckte die Hand aus und griff nach Hanussens Arm. Dieser sprang auf und riß dem anderen
die schwarze Brille von den Augen. Haßerfüllt sah ihn der Mann an. »Betrüger!« schrie Hanussen. »Schämen Sie sich!« »Sie sind selbst ein Betrüger!« gab der Mann zurück und wollte zuschlagen. Doch blitzschnell versetzte Hanussen ihm eine schallende Ohrfeige, und der Mann taumelte ein paar Schritte zurück. »Werfen Sie ihn hinaus!« rief Hanussen dem Kellner zu. »Keine Sorge – er sieht besser als wir alle, er ist ein Betrüger!« In hohem Bogen warf er den weißen Stock hinter dem Mann her. »Mit der Hellseherei treibt man kein falsches Spiel!« Hanussen war außer sich, und Dr. Bettelheim sah den Freund verblüfft an. Zwei Kellner packten den Mann gerade, als ein Zeitungsjunge ins Café kam. Er hielt die Zeitungen vor sich und gab krächzende Laute von sich: ein Taubstummer. Der Junge ging an den Tischen vorbei und kam auch zu Hanussen, der in Riesenlettern auf der Titelseite las: ›Staatssekretär Rattinger auf offener Straße ermordet. Die Mörder konnten flüchten. Wer steht hinter diesem Verbrechen?‹ In der Mitte ein Foto von Rattinger – ein blutverschmiertes, entseeltes Gesicht auf einem Autositz. Hanussen fuhr sich über die Augen. Nichts hatte er geahnt, nichts hatte er vorausgesehen – aber Rattinger, der hatte ihn vorausgeahnt, seinen Tod, der hatte gewußt, was seine Zukunft war – er hatte gewußt, daß er keine mehr haben würde. Hanussen war traurig, betroffen, entsetzt. Und wandte sich in seinem Kummer dem Menschen zu, dem einzig und allein er seine Schwäche eingestehen konnte, der ihn verstehen würde, ohne zu fragen. Und dabei dachte er keineswegs an seine Frau, an Wally, sondern an eine andere, eine, die ihn schon getröstet
hatte, als er dachte, es ginge zu Ende mit ihm; als er befürchtete, verrückt zu werden.
38 »Ich dachte schon, du hättest mich ganz vergessen«, sagte Betty, nachdem sie sich, verborgen von einem Baum und dicken Sträuchern, im Wald leidenschaftlich geliebt hatten. »Dich kann man doch nicht vergessen!« murmelte Hanussen voller Überzeugung. »Um ganz ehrlich zu sein: Ich habe oft an dich gedacht, glaubte aber, du seist für mich endgültig verloren.« »Neben so vielen schönen Frauen, die dich anbeten?« lachte Betty. »Und was ist mit deiner Frau, mit Wally?« Hanussen lachte und machte eine abwertende Geste. Betty schlang die Arme um ihn. »Ich bin eben ein Genie; Genies brauchen viel Liebe«, sagte er. »Ich dachte, ich probiere mal aus, wie so ein berühmter Mann es mit einer Frau macht«, erklärte sie. »Und – wie war ich?« fragte Hanussen neugierig. »Wie ein Zugführer«, erwiderte Betty trocken. »Ist ein Zugführer nicht besser?« fragte Hanussen. »Nein – im Gegenteil. Als berühmter Mann müßtest du viel wilder sein, nicht so schüchtern.« Hanussen lachte wieder. »Und wie ist ein Chefarzt?« »Ein Chefarzt ist anders«, sagte Betty nachdenklich. »Siehst du, ich habe dir damals gesagt, ich warte ab. Ich habe abgewartet und bin belohnt worden.« »Hat er sich scheiden lassen?« fragte Hanussen. »Es war mir peinlich, ihn danach zu fragen.« »Seine Frau hat ihn verlassen«, berichtete Betty. »Sie wollte ein Kind. Er nicht – in diesen unsicheren Zeiten.« Hanussen nickte. »Ich kann sie verstehen. Sie war eine schöne Frau und noch jung genug.«
»Ich wünsche sie dir nicht«, zischte Betty eifersüchtig. Doch sie beruhigte sich wieder, als Hanussen sie an sich zog. Hand in Hand gingen sie später über eine Lichtung – und stockten plötzlich. Hinter den Bäumen kamen junge Männer hervorgestürmt, große Knüppel schwingend, überschwemmten die Lichtung in militärischer Formation und rissen für einen Moment auch Betty und Hanussen mit. Einen Augenblick später war der Spuk vorbei, die Männer waren verschwunden. Hanussen und Betty blieben kreidebleich stehen. Ein paar hundert Soldaten von Hitlers Privatarmee mußten das gewesen sein, die da ›Sturm‹ übten… Dann erblickten sie hinter den Bäumen eine Waldgaststätte. Ein überfülltes Gartenlokal, wie sie beim Näherkommen feststellten. Am Zaun standen Braunhemden und Zivile, auch die Tische waren von ihnen besetzt. Nun sahen die beiden auch den Grund: In der Mitte der Menschenansammlung stand der Propagandachef und hielt eine Ansprache. Der Doktor war in Zivil, neben ihm nagelten zwei Braunhemden Bücher an einen Holzpfahl, Bücher, die sie von einem großen Haufen auf dem Boden nahmen. Goebbels sprach mit erhobener Stimme. »Diese Bücher, die wir an diesen Schandpfahl nageln, müssen Sie nach Ihrer Rückkehr in die Heimat auch dort in jedem Ort, in jeder Gemeinde auf dem Hauptplatz öffentlich anprangern, um sie aus dem Bewußtsein unseres Volkes auszumerzen. Ein unserem Volke fremder, perverser und giftiger Geist, eine fremde Rasse hat sie zu Papier gebracht. Wissen Sie, was so ein Schriftsteller, Künstler, Verleger oder Theaterdirektor alles in seine Tasche stecken konnte, während Sie hungern mußten, die Miete nicht zahlen konnten und Ihre alten Eltern betteln schicken mußten? Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele der Ausbeutung. Stefan Zweig: fünf Millionen alte Mark. Franz Werfel: viereinhalb Millionen. Thomas Mann: acht Millionen,
und Lion Feuchtwanger: zweieinhalb Millionen. Und jetzt wollen wir mal den Leuten von Film und Theater auf die Finger schauen!« Goebbels hielt einen Moment inne, um eine andere Liste in die Höhe zu halten. Betty und Hanussen sahen sich entsetzt an und suchten nach einer Geste der Verständigung das Weite, bevor der Propagandaminister sie bemerken konnte. Für ein paar Stunden hatte Hanussen seine Trauer um Rattinger vergessen, doch sie holte ihn bald wieder ein. Und sein Verhalten, zu dem er und die Umstände ihn zwangen, gefiel ihm gar nicht. Doch was half es? Die Zeiten waren schwer und wurden nicht besser…
39 In der Berliner Kempinski-Suite standen Wally, Dr. Bettelheim, Betty, Dagma und Valery ratlos vor Hanussen, der zum Fenster hinaussah. Er war so erregt, daß es ihm schwerfiel, Atem zu holen. Wally brach schließlich die Stille. »Du kannst doch nicht einfach seiner Beerdigung fernbleiben«, sagte sie energisch. »Komm wenigstens als Zeichen deiner Anteilnahme an seine Bahre!« »Was soll ich denn dort?« fragte Hanussen aufgebracht. »Soll ich da stehen und schreien: ›Tod seinen Mördern!‹ Ich weiß nicht mal, wer seine Mörder sind.« »Du weißt genausogut wie wir, wer seine Mörder sind«, widersprach Wally ruhig. »Warum wollen Sie nicht hingehen?« fragte nun Dr. Bettelheim. »Ich mag jetzt keine Menschenmassen«, erklärte Hanussen. »Die gaffen mich immer an, dauernd muß ich Autogramme geben und alle möglichen, angeblich wichtigen Leute grüßen.« »Und genau deshalb mußt du hingehen«, insistierte Wally, ungewohnt energisch. »Damit sie sehen, daß du da bist. Durch diese Geste kannst du demonstrieren, daß du nicht zu den Nationalsozialisten gehörst.« Valery begriff die ganze Diskussion nicht. »Du gehst hin, gehst durch die Menge, grüßt ein paar Leute und fertig«, schlug sie vor. »Und dann gehst du wieder nach Hause. Und ich komme mit.« »Du?« fragte Hanussen erstaunt. »Alle wissen doch, daß du seit Jahren ein Verhältnis mit dem Grafen Trantow-Waldbach hast. Und der ist den Mördern Rattingers nicht gerade feindlich gesinnt…«
»Keiner weiß, wie lange dieses Verhältnis noch dauert«, erwiderte Valery gelassen. Dagma griff nach Valerys Hand und streichelte sie zärtlich. »Es wäre richtig, wenn Sie hingehen«, sagte sie zu Hanussen. »Dann würde man sehen, daß Sie Ihrem Freund und seiner Idee treu bleiben.« »Genau!« rief Wally. »Man muß diese Treue demonstrieren!« »Ich demonstriere nicht«, winkte Hanussen ab. »Na gut. Dann geh Rattinger zuliebe hin!« »Ach, der war schon so alt, der verstand wahrscheinlich gar nicht mehr, was um ihn herum vorging…«, versuchte Hanussen noch eine Ausflucht. Dr. Bettelheim trat zu ihm und sah ihm in die Augen. »Gehen Sie, Klaus.« »Ja«, sagte dieser und ergab sich in sein Schicksal. »Gut«, nickte Bettelheim. »Wir begleiten Sie.« Wenig später standen sie auf dem Platz vor dem Berliner Ministerium, wo unter den Arkaden des Hauptportals, von den Menschen abgesperrt durch einen Kordon, eine Totenbahre stand. Vor dem Gebäude fand eine Demonstration statt: Transparente, die die Republik hochleben ließen, den Militarismus verneinten und die Aufklärung des Mordes an Rattinger forderten. Hanussen, gefolgt von Wally, Dr. Bettelheim und Betty bahnte sich einen Weg durch die stumme Masse, immer wieder nach rechts und links grüßend. Etwas weiter hinten kamen Dagma und Valery, sich an den Händen haltend. Am Rande der Menschenmenge stand ein junger Mann mit einer Tafel um den Hals: ›Ich übernehme jede Arbeit. Ich kann Englisch und Französisch, Stenographie und Maschineschreiben, Buchhaltung und Autofahren sowie Saubermachen.‹
Auf der anderen Seite des Platzes standen ein paar gefährlich aussehende Typen, die die Ecke absperrten. Nur langsam kamen Hanussen und seine Freunde durch die Menge und landeten endlich in einer Seitengasse. Hanussen atmete erleichtert auf. In einer Nische stand ein alter, schäbig gekleideter Mann mit einem sympathischen Gesicht. Über seinem Arm hingen ein Wintermantel und ein Anzug. Er hielt den Menschen die Kleidungsstücke hin. »Englisches Tuch«, pries er seine Ware an. »Ich verlange nicht viel.« Dr. Bettelheim sah ihn verstört an. So könnte es mir auch eines Tages gehen, dachte er. Auch der alte Mann, offensichtlich ein Herr, hatte einmal bessere Zeiten gesehen…
40 Doch Hanussen gelang es bald wieder, sich abzulenken. Er hatte das Hotelleben satt und beschlossen, sich endlich irgendwo niederzulassen. Und zwar dort, wo ›man‹ wohnte, wo die Reichen und Schönen zu Hause waren: im Grunewald. Einige Angebote hatte er schon abgelehnt, als er sich an diesem Tag eine leerstehende Villa ansah. Natürlich nahm er seine Freunde mit. Die Zimmer standen leer in der alten Grunewald-Villa, nirgends ein Möbelstück, die Wände waren kahl, die Türen sperrangelweit geöffnet. Wally, Dagma, Valery und Hanussen sahen neugierig überall hinein. Hanussen lief die aus dem Salon in die obere Etage führende Holztreppe hinauf, blieb auf der Galerie stehen und rief hinab: »Na, was sagen Sie dazu, meine Damen?« »Wunderbar!« rief Wally, der das Leben im Hotelzimmer schon lange auf die Nerven ging. Hier würde sie ein gemütliches Nest für sich und ihren Mann bauen können… Hanussen ging auf den Balkon, die Frauen folgten ihm und blieben in der Balkontür stehen, um den üppigen Garten zu betrachten. Inzwischen war Hanussen schon in den oberen Zimmern und dachte über die Einrichtung nach. »Hier kommt eine geheime Tür hin«, überlegte er laut, »… dahinter die Deckenbeleuchtung… Da kommt eine große Buddha-Statue hin… Was meinen Sie, Dagma?« Doch er brauchte ihren Rat gar nicht. Hanussen sah jetzt schon sehr klar vor sich, was später unter dem Namen ›Haus des Okkultismus‹ berühmt werden und Anhänger und Verehrer in ganz Deutschland finden sollte.
Während Dagma und Wally auf die Terrasse gingen, hielt Valery Hanussen zurück. »Ich will dir als erste viel Glück zu deinem Haus wünschen!« sagte sie herzlich. »Na, dann wünsch es mir doch!« lachte Hanussen. Valery nahm den Kopf des Jugendfreundes zwischen beide Hände und küßte ihn auf den Mund. »Werde glücklich in diesem Haus!« Jetzt nahm Hanussen ihren Kopf in seine Hände und sah ihr in die Augen. »Wenn du willst, ist es auch dein Haus!« murmelte er. Valery musterte ihn überrascht. »Und Wally?« fragte sie leise. »Ach, die ist wie eine Schwester«, sagte Hanussen abwertend. »Sie akzeptiert mich so, wie ich bin.« Valery schüttelte den Kopf. »Und der Graf – was würde der wohl dazu sagen?« »Und was würde vor allem – Dagma dazu sagen?« fragte Hanussen spöttisch. Valery seufzte, der Zauber war gebrochen. »Du verstehst nichts von Liebe, Prophet…« Hanussen dachte flüchtig an die Zigeunerin im Frontlazarett, die ihm damals Erfolg und Gesellschaft, aber auch Einsamkeit vorausgesagt hatte. Doch er verdrängte diesen Gedanken rasch wieder. »Ich würde dich lieben, wenn du es zuließest«, sagte er leise. »Ich kann nicht mit jemandem zusammenleben, der meine Gedanken lesen kann«, wehrte Valery spöttisch ab. »Dagma sieht genauso viel wie ich«, wandte der Hellseher ein. »Vielleicht noch mehr, zumindest, wenn es dich betrifft.« »Aber Dagma hat auch Verständnis für alles«, erklärte Valery. »Sogar für dich. Laß Dagma in Ruhe. Mit euch
Männern ist doch nichts mehr los. Ihr wißt nicht, was Frauen brauchen.« Dagma rief jetzt von der Terrasse: »Kommt ihr nicht?« Hanussen küßte Valery die Hand. »Das Angebot gilt, vergiß es nicht!« Hanussen verschloß nach der gründlichen Besichtigung die Haustür wieder mit dem Schlüssel, den ihm der Makler gegeben hatte, und verließ mit seiner Begleitung das Grundstück. Auf der Straße hielt er die drei Frauen an und sagte geheimnisvoll: »Und jetzt schließen alle die Augen -es wird gezaubert!« Fröhlich machten die drei Frauen das Spiel mit und schlossen gehorsam die Augen. Hanussen gab jemandem in der Nähe ein Zeichen – und ein herrliches weißes Cabriolet mit offenem Dach rollte herbei und hielt vor der kleinen Gruppe an. »Meine Damen, Sie dürfen jetzt die Augen wieder aufmachen«, sagte Hanussen. »Oh…!« bewunderten die drei Frauen das nagelneue Auto. »Steigen Sie ein, meine Damen«, forderte Hanussen sie stolz auf. Kurz danach glitt das Auto durch den vornehmen Grunewald, durch die Straßen der Stadt, Hanussen triumphierend am Steuer, neben ihm Valery, hinten Dagma und Wally. Hanussen begann zu singen, und die Damen stimmten fröhlich ein. Die Fröhlichkeit hielt auch noch an, als sie Hanussens Suite im Hotel Kempinski erreicht hatten. Nachmittagssonne schien zum Fenster herein, ein Grammophon spielte. Valery, Wally und Dagma bewegten sich, Sektgläser in der Hand, zu den Klängen der Musik durch den Raum. Hanussen stand in der Mitte und öffnete eine Champagnerflasche.
Der Korken flog durch die Luft, Sekt bespritzte Hanussens Hemd, die Damen lachten schallend. Valery knöpfte ihm das Hemd auf und trocknete mit zärtlicher, streichelnder Hand seine Brust. Dann zog sie ihm das durchnäßte Hemd ganz aus. Hanussen sah Valery tief in die Augen, küßte ihre Hand, knöpfte ihre Bluse auf und streifte sie ihr ab. Valery trat nun zu Wally, die mit den Tränen kämpfte, streichelte sie beruhigend und begann auch ihre Bluse aufzuknöpfen. Hanussen half ihr beim Ausziehen. Valery lächelte Wally ermutigend zu und nahm sie bei der Hand. Alle drei traten nun zu Dagma, deren Sari Valery langsam öffnete, so, wie sie es schon oft getan hatte. Alle drei bewegten sich zum Klang der Musik und begannen, sich gegenseitig zu streicheln. Die Zeit schien stillzustehen, während Hanussen dachte: Vielleicht ist dies das neue Bewußtsein, das ich brauche, die andere Dimension, die mich inspirieren wird. Egal, was es war – er war von unendlicher Liebe erfüllt, für diese drei Frauen und alle anderen auf dieser Welt… Ich bin eben mit anderen Maßstäben zu messen, dachte er. Nicht umsonst sagt man, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen sexueller Energie und übersinnlichen Kräften…
41 Und tatsächlich begann der Hellseher, mit ganz anderen Kräften zu experimentieren, ganz andere Geister zu beschwören. Die Auffindung von versteckten Gegenständen hatte er längst nicht mehr nötig, über psychologische Tricks war er hinausgewachsen. Und so war eines Abends die Bibliothek von Baron Stadler wieder einmal in rätselhaftes Licht getaucht. In der Mitte stand ein runder Tisch, auf ihm eine astrologische Karte. Rings um den Tisch saßen vor allem Frauen, aber auch Hanussen, neben ihm Wally, gegenüber Dagma, Valery, die Baronin Stadler und die Frau des Propagandachefs. Ein paar andere standen hinter ihnen, wieder andere an die Wände gelehnt. Hanussen hatte eine der Teilnehmerinnen durch Hypnose in Trance versetzt und zum Medium für Außerirdische gemacht. Die ältere Dame, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, fuhr mit der Hand über die astrologische Karte, verband mit einer Geste die verschiedenen Zeichen miteinander und sprach dann die Frau des Propagandachefs an. »Die Morgenstunden sind die besten, um Ihre Wünsche zu verwirklichen«, sagte sie. »Der Mittag bietet Möglichkeiten, um Details zu erfahren, die die größte Hilfe zur Verwirklichung Ihrer Ambitionen bieten. Der Nachmittag ist nicht Ihre Zeit. Schließen Sie keine Vereinbarung zu später Stunde, nehmen Sie sich nichts vor und seien Sie vorsichtig mit allen Äußerungen außerhalb Ihres Hauses…« »Und was bringt mir das nächste Jahr?« fragte die Frau des Propagandachefs, die einmal mit einem Industriellen verheiratet gewesen war.
Die ältere Dame verband mit ihrem Zeigefinger wieder zwei Linien auf der Karte. »Erfolg«, sagte sie. »Aufstieg. Ungeahnte Höhen…« Die dünne kleine Frau errötete. »Haben Sie noch Fragen?« wollte Hanussen wissen. »Nein«, sagte Magda Goebbels. »Wer ist der nächste?« fragte Hanussen. Dagma stieß Valery an. »Valery, du bist dran!« Valery nickte und beugte sich vor. »12. September«, sagte sie. »Im Zeichen der Jungfrau«, sagte die grauhaarige Dame ernst, musterte Valery forschend und fuhr fort: »Sie hatten eine schwere Kindheit und waren mehrmals auf der Flucht. Ihre sichere Stütze starb früh. Ich sehe mißlungene Beziehungen, sehr früh schon, und eine starke Schutzbedürftigkeit. Und, vielleicht, einen viel älteren Partner. Einen großen Hunger nach Zärtlichkeit. Unklare Beziehungen… Sie verwickeln sich in äußerst verwirrende und schwierige Verhältnisse, wenn Sie nicht aufpassen. Wegen ganz besonderer Eigenschaften und Ihrer faszinierenden Ausstrahlung möchte jeder Sie erobern – aber keiner bleibt bei Ihnen.« Valery war blaß geworden, doch die alte Dame fuhr unbeirrt fort. »Die meisten Enttäuschungen verursachen Ihnen Männer. Ihre Gesundheit ist gefährdet. Sie können kein Kind haben. Sie sind herzkrank. Seien Sie vorsichtig mit denen, die Sie nur besitzen wollen und Sie deshalb erniedrigen…« Valery brach in Tränen aus, sprang auf und rannte aus der Bibliothek. Verblüfft sahen die anderen ihr nach, Dagma lächelte. »Ich wollte die Dame nicht kränken«, entschuldigte sich das Medium. »Ich kann nur sagen, was ich sehe. Wer hat noch Fragen?« »Vielleicht Herr Hanussen?« schlug Dagma vor.
Hanussen hüstelte verlegen. »Nein, danke.« Noch nie hatte er jemandem eingestanden, daß die einzige Person, in deren Zukunft zu sehen er sich seit Jahren weigerte – er selbst war. Er wollte nehmen, was das Leben ihm bot, unbeeinflußt von Ängsten und Ahnungen. Oder – Gewißheiten. »Warum nicht?« fragte Wally. »Das wäre doch interessant!« »Nein«, wehrte er ab. »Sie haben doch nicht etwa Angst?« fragte eine im Hintergrund stehende Dame. »Oder glauben Sie vielleicht selbst nicht daran?« fragte die Frau des Propagandaministers. Hanussen machte eine abwehrende Geste. »Ich möchte ganz einfach nicht persönlich teilnehmen…« »Warum nicht?« insistierte die Dame im Hintergrund. »Sagen Sie Ihr Geburtsdatum«, bat Dagma leise. »19. April 1889«, sagte Wally leise. Sieh an, dachte die Frau des Propagandaministers, einen Tag vor Hitler war dieser erstaunliche Mann auf die Welt gekommen, und auch noch im selben Land… Haßerfüllt sah Hanussen Wally an, Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn. »Ich möchte nicht daran teilnehmen!« schrie er, sprang auf und eilte zur Tür hinaus. »19. April? Das ist ja das Sternzeichen von Adolf Hitler!« sprach die Baronin aus, was alle dachten. »Mit nur einem Tag Unterschied!« »Ist Ihr Mann nicht auch Österreicher?« wandte sich die Dame im Hintergrund an Wally. Die machte eine hilflose Geste und nickte schließlich. Inzwischen war der erregte Hanussen im Salon auf Valery gestoßen, die an der Bar saß und Wodka in sich hineinschüttete.
Aufgewühlt trat er zu ihr und lehnte sich an sie. »Gehen wir?« fragte er leise. Valery sah zu ihm auf, erhob sich und folgte ihm wortlos. »Wohin fahren wir?« fragte sie, als sie neben ihm im weißen Cabrio saß, doch Hanussen lächelte nur. Er hatte seine innere Ruhe gefunden und sehnte sich nur noch nach Trost und Zärtlichkeit… Valerys Schlafzimmer sah der Hellseher an diesem Abend zum ersten Mal. Es war elegant, ganz in Weiß gehalten und wurde dominiert von einem riesigen Ehebett. Überall an den Wänden hingen große Spiegel, auch Türen und Schränke waren verspiegelt. Valery und Hanussen lagen steif und unbehaglich fern voneinander in dem großen Bett. »Warum hast du mich mitgenommen?« fragte Hanussen unbehaglich. Nein, das hatte er sich alles ganz, ganz anders vorgestellt. »Weil du es von mir erwartet und dir auch verdient hast«, antwortete Valery. »Du hast lange genug gewartet. Aber jetzt ist mir auf einmal elend. Ich habe das Gefühl, mein Herz zerspringt und ich ersticke.« »Du mußt zum Arzt«, schlug Hanussen sachlich vor. »Die Ärzte wollen auch nur alle mit mir ins Bett«, lehnte Valery ab. Manchmal kotzte Valery ihr Leben an, ihr Job, die Männer, die sie mit gierigen Blicken bedachten, die Frauen, die sie begehrlich beobachteten. Manchmal fühlte sie sich erniedrigt und gedemütigt. Was für sie der Ausdruck reiner Lebensfreude war, wurde für andere der Auslöser schmutziger Gedanken. »Ist das schon öfter vorgekommen, so ein Anfall?« fragte Hanussen besorgt. »Schon einmal, ganz genauso«, bestätigte die junge Frau. »Der Graf hatte mich fast umgebracht… Aber laß uns von etwas anderem reden, ich komme schon wieder in Ordnung.«
»Bleiben wir beim Grafen«, schlug Hanussen vor. »Was sucht eigentlich ein Aristokrat bei den Nazis?« »Er bewundert Hitler«, sagte Valery. »Er glaubt an ihn…« »Oder er baut auf ihn«, korrigierte Hanussen. »Sie sind doch alle gleich«, sinnierte Valery. »Und ich hasse alle, die sich roher Gewalt bedienen, die Schlägereien auf der Straße anfangen. Als wir vor den Kommunisten geflohen sind, haben solche Kerle meine Eltern umgebracht. Auf offener Straße, mit einem Ochsenziemer.« Auch Hanussen hing seinen Gedanken nach. »Ich glaube manchmal auch, man müßte weg von hier… Wann werde ich für sie der Feind sein? Wie in Karlsbad… Vielleicht renne ich eines Tages mit dem Kopf an eine Wand aus Wut darüber, daß ich nicht rechtzeitig die Flucht ergriffen habe… Manchmal sehe ich in alles hinein wie in eine Schlucht… und mache trotzdem weiter. Manchmal weiß ich, daß ich etwas nicht sagen dürfte -und ich sage es trotzdem. Ich weiß, daß ich an einen bestimmten Ort nicht gehen dürfte – und ich gehe trotzdem hin. Ich weiß, daß ich nicht mitmachen dürfte – und mache trotzdem mit. Und ich sage jedem über dieselbe Angelegenheit etwas anderes, ich lüge und betrüge…« »Du hast ganz einfach Angst um dein beschissenes Leben«, sagte Valery verständnisvoll. Hanussen nickte. »Ich war immer zu feige, mein eigenes Horoskop zu erstellen, in meiner eigenen Hand zu lesen. Ich will es nicht wissen, will nichts wissen. Ich habe auch schon öfter mit dem Gedanken gespielt, mit allem Schluß zu machen und wieder in ein Krankenhaus zu gehen, um dort zu arbeiten, den Menschen zu helfen, so wie früher, als mein Leben noch einen Sinn hatte. Welchen hat es denn heute? Wozu bin ich überhaupt auf der Welt?« Valery richtete sich auf und schüttelte Hanussen.
»Jammere hier nicht herum, sonst schmeiß’ ich, dich aus dem Bett!« befahl sie. »Die Zukunft interessiert mich überhaupt nicht. Es gibt nämlich keine Zukunft. Leben kann man nur heute. Einmal. Und diese Zeit muß man nutzen. Außerdem hasse ich jammernde Männer.« »Gut, hasse mich!« lächelte Hanussen. »Wenn ich dir zwei Ohrfeigen verpassen und dich vergewaltigen würde, würde es dir besser gefallen, was?« »Mich kann man nicht vergewaltigen«, erwiderte Valery überheblich. »Nur, wenn ich es will… Du bist ein Egoist, du beschäftigst dich nur mit dir selbst, und von der Liebe hast du überhaupt keine Ahnung!« »Richtig«, stimmte Hanussen zu, »davon habe ich keine Ahnung. Ich habe sie einmal gefühlt, in einem Lazarett an der russischen Front, aber es ist schon lange her. Aber der Herr, Graf, der scheint wohl viel zu verstehen von der Liebe?« »Ja, allerdings«, gab Valery schnippisch zurück. »Ich hasse sie, die ganze Bande«, murmelte Hanussen. »Sie wollen nur Macht, nichts anderes.« »Ach! Und was willst du denn?« fragte Valery spöttisch. »Ich und Macht?« fragte Hanussen entgeistert. »Was denn sonst?« fragte Valery zurück und warf den Kopf in den Nacken. »Du Prophet!!!« »Aber ich sehe es doch… Ich sehe ganz genau, was hier passiert. So sicher wie die Tatsache, daß zweimal zwei vier ist.« »Und warum sagst du dann fünf und sechs? Oder drei? Wenn du weißt, daß es vier ist?« Valerys Stimme triefte vor Hohn. »Du bist mir zu emanzipiert«, sagte Hanussen und richtete sich auf. Innerhalb von Sekunden wechselte Valerys Stimmung, ihr Blick wurde zärtlich. »Wenn wir eines Tages von hier fliehen müssen, werde ich dich mit meiner Tanzerei ernähren«, sagte
sie. »Dann bringe ich dir noch andere Dinge bei, und wir werden viel Spaß miteinander haben.« Ihr Blick war verheißungsvoll – da ertönte plötzlich ein schrilles Klingeln. »Wer ist das?« fragte Hanussen erschrocken. »Egal, kümmere dich nicht darum«, beruhigte sie ihn. »Er wird schon wieder gehen.« Hanussen war unruhig, es hatte ihm endgültig die Stimmung verdorben. Dennoch blieb er. Am Morgen verließ er Valerys Wohnung, im Flur geblendet durch die grelle einfallende Sonne. Valery folgte ihm, warf die Tür ins Schloß und drehte den Schlüssel um. Dann blieb sie im Sonnenlicht stehen und sah sich überrascht um. »Komisch«, murmelte sie, »mir fällt gerade ein Traum ein: Ich stand hier in der Tür und hielt ein Kind in den Armen.« Sie küßte Hanussen, griff nach seinem Arm, und sie liefen gemeinsam die Treppe hinunter. Doch der Besucher hatte gewartet. Unten im Foyer saß Dagma unter einem Spiegel. Verlegen sahen Valery und Hanussen sich an – sie hatten nicht damit gerechnet, in flagranti erwischt zu werden. Dagma erhob sich. »Guten Morgen«, sagte sie ruhig. »Heute nacht wurde das Variete, in dem ich auftrete, kurz und klein geschlagen. Auch die Zuschauer wurden verprügelt. Ich habe schon gepackt. Kommst du mit, Valery?« »Jetzt?« fragte diese fassungslos. »Wohin denn?« Dagma hatte schon alles beschlossen. »Nach Paris.« »So plötzlich?« Valery fühlte sich überrumpelt. »Ich bin doch schon so oft umgezogen, dir zuliebe. Und mit dem Grafen kann ich ganz sicher rechnen, wenn es Schwierigkeiten gibt.« Dagma lächelte spöttisch. »Dein Glück, daß ich heute nacht hier saß – und nicht er!«
Valery war die Situation peinlich. »Entschuldige!« sagte sie. »Warum bist du nicht heraufgekommen? Du hast doch einen Schlüssel…« »Ich wollte nicht stören«, erklärte Dagma. »Aber Sie wissen doch…«, begann Hanussen, wurde aber von Dagma unterbrochen. »Wie lange bleiben Sie noch?« »Solange es geht«, erwiderte der Hellseher vage. »Dann verabschiede ich mich also«, sagte Dagma gefaßt. »Laß mich dich einen Augenblick anschauen, Valery, ein letztes Mal, denn ich werde nicht zurückkommen….« Mit einem eindringlichen Blick sah sie Valery lange an und wandte sich dann wieder an Hanussen. »Frauen brauchen Zärtlichkeit, Hanussen«, ermahnte sie den Mann. »Sehr, sehr viel Zärtlichkeit.« Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging zur Tür hinaus.
42 Viele Wochen später war das Haus, die Villa im Grunewald, endlich eingerichtet, und es sah so aus, als ob Hanussen sich doch entschlossen hatte, in Deutschland zu bleiben. Niemand, der in Zukunft dieses ›Haus des Okkultismus‹ betrat, würde es je wieder vergessen können. Eines Abends stand Hanussen im Smoking in seinem Lieblingsraum. Grünliches Licht beleuchtete ein riesiges Aquarium mit Fischen und Polypen, gelbes Licht eines mit Spinnen und Skorpionen. Ein versteckter Scheinwerfer nach dem anderen flammte nun auf, tauchte Tropenpflanzen, Schlangen, Echsen und Leguane im Käfig in verschiedenfarbiges Licht; ein anderer Scheinwerfer beleuchtete eine astrologische Karte, die die ganze Zimmerdecke bedeckte und auf der strahlend hell Sterne aufleuchteten. An diesem Freitag abend im Dezember 1932 überprüfte Hanussen an der Schalttafel die Wirkung der einzelnen Lichtquellen. Er hatte Gäste geladen zur Einweihungsparty und wollte sicher sein, daß seine Besucher beeindruckt waren. Jetzt bediente er einen weiteren Schalter, und aus der Finsternis tauchte eine riesige goldene Buddha-Statue auf – Dagmas erstes Bühnenbild. Hinter Hanussens Schreibtisch glänzte eine Büste des Hellsehers im Licht, in einem überdimensionalen Aquarium am anderen Ende wurde jetzt eine zähnefletschende Muräne sicht- bar, eines der ältesten und geheimnisvollsten Tiere unserer Erde. Hanussen nickte zufrieden und lief über die Holztreppe ins Obergeschoß.
Im Vorraum und im Salon gingen jetzt auch die Lichter an, die ersten Gäste betraten das Haus und sahen sich interessiert um. Der Salon füllte sich mit Menschen, die Damen in Abendroben, die Männer im Smoking. Kellner reichten auf silbernen Tabletts Getränke herum. An der Tür stand der Reporter Fabian und notierte die Namen der Anwesenden, unter denen sich ein großer Teil der Berliner Prominenz befand, wichtige Leute aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Hanussen war inzwischen wieder in seinem Arbeitszimmer im Keller. Er drehte an verborgenen Schaltern, um über einen Lautsprecher die Gespräche im Salon mithören zu können – dort nämlich hatte er winzige Mikrofone verteilt. »… und keiner weiß, wie mächtig er wirklich ist«, sagte jemand mit gesenkter Stimme. »… man muß sich gut mit ihm stellen«, sagte ein anderer. »… es gibt große Meinungsverschiedenheiten innerhalb der SA«, wechselte jemand das Thema. »Kanzler Schleicher wird jetzt sicher zurücktreten, er hat es mir gegenüber angedeutet«, meinte eine ältere Stimme. »Elend wird über Deutschland hereinbrechen, wenn nicht bald ein Erlöser kommt«, sagte eine junge Stimme. »Erlöser?« fragte jemand verächtlich. »Hier muß Kraft her! Hier muß jemand auf den Tisch hauen und Ordnung schaffen!« Hanussen drehte an einem Hebel; anstelle der Gesprächsfetzen drang jetzt leise Musik aus dem Lautsprecher. Dann kehrte er wieder zu seinen Gästen zurück. Wenig später gingen die Lichter im Salon nacheinander aus, die Musik wurde lauter. Begleitet von der Ouvertüre zu ›Tannhäuser‹ erschienen Hanussen und Wally, bestrahlt von zwei Scheinwerfern, auf der Galerie. Die Gäste klatschten, doch Hanussen bat mit einer Geste um Rühe. »Meine Damen und Herren«, begann er. »Als Sie die Schwelle dieses Hauses überschritten, haben Sie gleichzeitig
Berlin verlassen. Nun bitte ich Sie, auch sich selbst zu vergessen, denn Sie sind meine Gäste, und ich habe einige Überraschungen vorbereitet. Lassen Sie sich gehen, und es wird einiges geschehen…« Hanussens hypnotisierende Stimme verklang, die Musik wurde noch lauter, begleitet von der Musik Richard Wagners lief Hanussen die Treppe hinab. Unten stand in einer chinesischen Vase ein Rosenstrauß – die nicht mehr frischen, verwelkten Blumen ließen, beleuchtet von einem einzigen Scheinwerfer, müde die Köpfe hängen. Der Hellseher stellte sich hinter die Vase, schloß die Augen, hob die Hände langsam über den Rosenstrauß und ließ sie über ihm kreisen. Allmählich, aber deutlich sichtbar erhoben sich die Blumen, richteten sich samt ihren Stielen auf und wurden eindeutig frischer. »Kiki, ich rieche Rosenduft«, rief Frau Stadler. »Ja, Mama«, erwiderte das Mädchen. Und wirklich: Duft wie von 1000 Rosen verbreitete sich im Raum. Die Musik erreichte jetzt ihren Höhepunkt, die Blumen dufteten, die Scheinwerfer gingen aus, und der große Leuchter tauchte den Salon in helles Licht. Beifall brauste auf, die allgemeine Spannung löste sich, die Gäste flüsterten miteinander. »Jetzt sind Sie dran, meine Damen und Herren«, forderte Hanussen seine Gäste auf. »Bitte, folgen Sie mir.« Würdevoll schritt er, den Gästen voran, in das Untergeschoß, in den ›Tempel des Okkultismus‹, und blieb unter dem erleuchteten Buddha stehen, mitten in einer von unten emporstrebenden Lichtsäule. Die Menschen scharten sich um ihn. Aus den Lautsprechern drangen fremdartige Geräusche, in den Aquarien schlug das Wasser plötzlich Wellen, ein Windstoß ging durch den Raum, die Fische zuckten unruhig im Wasser, und der Polyp wirbelte wie hysterisch mit seinen Fangarmen.
»Wir erleben die letzten Minuten des Jahres«, sagte Hanussen. »Meine Damen und Herren, überlegen Sie es sich genau, was Sie vom kommenden Jahr erwarten, damit Sie in der ersten Minute des neuen Jahres klar und deutlich der Natur, den Sternen und der kosmischen Kraft um uns Ihre Wünsche mitteilen können. Bereiten Sie sich auf die Begegnung mit dem neuen Jahr vor, das uns alle in eine neue Welt bringen wird.« Die kuriosen ›kosmischen‹ Geräusche wurden lauter, dann erklang ein Gong. »Meine Damen und Herren, ich heiße Sie willkommen im neuen Raum der neuen Zeit.« Hanussens Stimme klang metallisch. »Reisen Sie weiter.« Die Lichtsäule erlosch, das Wasser in den Aquarien beruhigte sich wieder, der Raum versank in schummriges Zwielicht. Hanussen verschwand, und der Scheinwerfer tauchte nun Wally in glühendes Licht. Unter dem goldenen Zeichen der Sonne und dem silbernen des Mondes waren Bücher zu sehen und in der Mitte ein runder Tisch, von unten beleuchtet. Rätselhaft wirkend, von unten angestrahlt, sah man nun Hanussen am Tisch sitzen. Wally winkte die faszinierten, teils auch erschreckten Gäste einzeln herbei und wies ihnen ihren Platz am Tisch an. Graf von Trantow-Waldbach, die Frau des Propagandachefs, Kiki Stadler, Baronin Stadler, Valery, Dr. Bettelheim, Betty und ein paar andere setzten sich nacheinander an den leuchtenden Tisch, die übrigen blieben hinter ihnen stehen. Wally ließ sich gegenüber von Hanussen nieder. Auf einen Wink des Hellsehers legten nun alle ihre Hände auf die gläserne Tischplatte, die gespreizten Finger berührten einander, der Kreis war geschlossen. Hanussen begann leise, aber natürlich zu sprechen und erklärte, daß Wally an diesem Abend sein Medium sein würde. »Was bringt das neue Jahr?« fragte er dann. Wally erstarrte und hob langsam den Kopf.
»Es stehen große Veränderungen bevor«, sagte sie dann deutlich. »Ein Stern steigt empor.« »Wir Menschen sind nur das Spielzeug des Schicksals. Leben wir in Chaos und Unsicherheit?« fragte Hanussen weiter. »Wir stehen an der Schwelle einer neuen Epoche«, übermittelte Wally die Botschaft, Silbe für Silbe artikulierend. »Was bringt die neue Epoche?« fragte Hanussen leise. Die Antwort Wallys kam rasch: »Ordnung!« Die Gäste durften nun einzeln Fragen stellen, die sie persönlich interessierten. Später ging man wieder in den Salon. Ein Kellner füllte die Sektgläser. Dr. Bettelheim war von mehreren eleganten Herren umringt, die ihn nicht kannten und nicht wußten, wer er war. »Wenn Hitler siegen würde, würde er nach ein, zwei Monaten stürzen und die Sozialisten wieder an die Macht kommen«, erklärte ein Herr energisch, keinen Widerspruch duldend. Dr. Bettelheim sagte leise: »Hitler wird siegen und bleiben. Das ist die Strafe Gottes. Das kommende Jahr wird schrecklich, ganz gleich, was die Sterne sagen.« Ein anderer wandte sich an den Arzt. »Gestatten Sie mir eine Frage? Stimmt es, daß Hanussen alles Ihnen zu verdanken hat?« Dr. Bettelheim schüttelte verlegen den Kopf. »Nein, das stimmt nicht.« Jetzt trat der Graf zu Hanussen. »Sagen Sie, lieber Hanussen, stammt dieser Herr dort nicht aus dem Volke Mose?« fragte er und deutete auf Dr. Bettelheim. »Soll ich ihn fragen?« gab Hanussen spöttisch zurück. »Das war nur eine rhetorische Frage«, erwiderte der Graf. »Ich sehe mir diese Menschensorte an und wundere mich immer wieder, wie häßlich sie altert. Im Ernst, meine eigentliche Frage lautet: Was hat ein Jude in diesem Kreis zu
suchen? Nicht wahr, das werde ich Sie doch nie wieder zu fragen brauchen, oder?« Der Graf bückte sich und hob einen Briefumschlag, adressiert an Hanussen, vom Boden auf. »Haben Sie das verloren?« Hanussen betrachtete den Umschlag, froh über die Ablenkung, und öffnete ihn. Ein kurzer anonymer Brief: ›Du verfluchter Scharlatan. Du Satyr, der sich für einen Abgott der Frauen hält. Wir schlagen Dir die Fresse ein, wenn Du Dich weiter so aufspielst!‹ Seltsam – er hatte den Brief gar nicht auf dem Boden liegen sehen… Der Graf sah ihm über die Schulter und bemerkte: »Ich habe Ihnen doch geraten, sich einen Leibwächter anzuschaffen! Aber keine Sorge, wir passen schon auf Sie auf!« Hanussen beruhigten diese Worte jedoch nicht, im Gegenteil – sie kamen ihm eher vor wie eine Drohung. Und er nahm sich vor, noch mehr auf der Hut zu sein. Angelegentlich schlenderte er zu Betty und zog sie zur Seite. »Es wäre besser, wenn ihr jetzt gehen würdet, du und der Doktor«, sagte er leise. »Der Graf hat schon ein unfreundliches Auge auf ihn geworfen und ist schon ziemlich angetrunken.« Erschrocken sah Betty sich nach Dr. Bettelheim um. Hanussen schämte sich. Einerseits benahm er sich illoyal, indem er seine besten und ältesten Freunde nach Hause schickte; andererseits wußte er, daß es, auch für die beiden, besser sein würde. Der Abend war ihm jedenfalls verdorben, auch wenn seine Gäste sich bis in die frühen Morgenstunden köstlich amüsierten. Als alle gegangen waren, zog Hanussen sich zurück und schloß sich in sein Zimmer ein. Er mußte zu seinen Ursprüngen zurückkehren, um zu sich selbst zu finden. Nimm dir kein Vorbild! hatte ihm einst sein Lehrmeister im Zirkus gesagt. Hör nur auf dich selbst. Paß dich nicht an, wie die
anderen Sklaven. Laß dich nicht verbiegen. Laß dir nichts einreden. Klopf alles ab, ob es nicht hohl ist. Trau dir alles zu, auch das Unmögliche. Dann kannst du wie Moses in der Wüste Wasser aus einem trockenen Felsen schlagen. Mißtrau dem Publikum und seinem Jubel. Das Publikum ist eine Bestie, du mußt es immer treten, damit es dich nicht anfällt. Erst wenn du es trittst, frißt es dir aus der Hand. Und vor allem mußt du eines sein: schneller, intelligenter, mutiger – und unverwechselbar, wenn du alle in deinen Bann ziehen willst! Hanussen atmete tief durch. Ja, das war es. Er war schneller, mutiger, intelligenter. Und er würde überleben. Weil er überleben wollte!
43 Ein paar Wochen später sollte Hanussens Prophezeiung Wahrheit werden: Hitler wurde Reichskanzler. Die ›Wochenschau‹ in den Kinos brachte ausführliche Berichte von der Ernennung, den Glückwünschen und Hitlers Danksagung an die Massen. Tosender Applaus begleitete seine öffentlichen Auftritte. »Siehst du, genau, wie ich es vorausgesagt habe«, sagte Hanussen zu Wally. »Und ihr habt es nicht geglaubt…« Doch in diesem Fall war der Hellseher gar nicht so glücklich darüber, recht behalten zu haben. In dieser Zeit der allgemeinen Euphorie besuchte Hanussen Henni Stahl, die Fotografin und Regisseurin, die ihm damals ihre Karte gegeben hatte, jene Frau, auf deren Rat hin er sich bei Seancen von unten beleuchten ließ. Die berühmte Frau hatte ihr Atelier in einer modernen, relativ neuen BauhausVilla aus Backstein. Ein Dienstmädchen führte Hanussen, nachdem er seine Karte abgegeben hatte, durch den Salon ins Fotoatelier. Der Salon war mit Stahlrohrmöbeln eingerichtet, eine Wand des riesig wirkenden Ateliers war aus Glas, dahinter sah man die winterkahlen Bäume im Garten, den bewölkten Himmel. Vor der Glaswand standen nackte Jungen und Mädchen, zu einer Pyramide formiert, während Henni Stahl sie, auf dem Boden liegend, fotografierte. »Gut…«, lobte sie. »Und jetzt bitte die Mädchen…« Die Pyramide gruppierte sich schnell um, die Jungen traten zur Seite. Das Dienstmädchen sagte leise zu Henni: »Der Herr ist eingetroffen.« Henni begrüßte Hanussen. »Nehmen Sie bitte Platz, ich bin gleich fertig.«
Dann gab sie weitere Anweisungen und machte noch ein paar Aufnahmen. »Und jetzt die Jungen, und dann die letzte gemeinsame Pyramide!« Die Jungen stellten sich in Positur, spannten die Muskeln an, dann traten auch die Mädchen hinzu. Aus den ineinander verklammerten, durchtrainierten jungen Körpern schien Kraft zu strömen. Und genau das wollte Henni Stahl erreichen und optisch festhalten. »Ihr beide da vorn, ihr seht jetzt ganz nach oben, so, als ob ihr eine Fackel halten und sie anschauen würdet!« Das Mädchen und der Junge reckten sich nach oben. »Wunderbar!« rief Henni entzückt. »Danke, wir sind fertig.« Sie stand auf und trat zu Hanussen. »Was sagen Sie zu dieser vor Gesundheit strotzenden, geballten Schönheit, zu diesem Kunstwerk, das wir aus menschlichen Körpern schaffen können? Die kosmische Kraft der Natur strahlt uns aus ihnen entgegen. Ich habe die Nase voll von der Dekadenz…« Hanussen nickte lächelnd. »Na, dann kommen Sie mal!« Henni hakte sich vertraulich bei ihm ein. »Die Wirkung des Bildes ist eine neue Qualität. Die Frage ist nur: Wie kann diese dämonische Kraft auf Fotos oder auf der Leinwand am wirkungsvollsten zur Geltung kommen? Nur diese Frage beschäftigt mich noch. Aber jetzt legen Sie erst einmal den Mantel ab. Und dann stellen Sie sich vor den Spiegel! Was ist das Geheimnis eines charismatischen Menschen?« Henni zog einen Vorhang zu, schaltete Scheinwerfer an und musterte Hanussens Gesicht prüfend. Einen starken Scheinwerfer stellte sie auf den Boden, einen anderen hinter Hanussen. Dann stellte sie ihre Kamera ein. Und dann fotografierte sie ihn zwei Stunden lang. Von vorn, aus dem Profil, zurückblickend, in die Ferne schauend, in die Tiefe und in die Höhe sehend, gestikulierend, von unten, von
oben, von der Seite. Hanussen machte die Arbeit Spaß, für ihn war sie ein Spiel, das ihm keinerlei Anstrengung abverlangte. Und er war neugierig auf das Ergebnis. Das jedoch würde ein paar Tage auf sich warten lassen – Henni versprach, sich bei ihm zu melden. Wochen später erzählte Hanussen Dr. Bettelheim von seinem Abenteuer. Der lachte. Beide saßen im Salon der Grunewald-Villa vor dem Kamin, tranken Whisky und waren schon etwas angeheitert. Dr. Bettelheim räusperte sich verlegen. »Ich brauche Geld…«, begann er. »Ich war noch nie in einer so unangenehmen Lage… mein Geld reicht nicht… ich habe aber noch nie jemanden darum gebeten… Ich muß sofort weg, das hat Betty mir klargemacht. Ich will in die Schweiz, zu Freunden.« Hanussen lächelte beruhigend. »Wieviel brauchen Sie?« fragte er sachlich. »Ich weiß nicht… was meinen Sie?« fragte der Arzt unsicher. »Ein paar tausend Schweizer Franken vielleicht?« »Kein Problem«, erwiderte Hanussen. »Ich sage Stadler Bescheid, daß er es nach Zürich überweisen soll.« »Stadler?« fragte Dr. Bettelheim erstaunt. »Der dicke Ochse, der an Silvester mit dieser Kuh von Frau da war, er kümmert sich um meine Finanzen«, sagte Hanussen abfällig. »Ich erinnere mich nicht«, meinte Dr. Bettelheim. »Es waren so viele Notabilitäten hier.« Der Arzt nahm noch einen tiefen Schluck aus dem Glas. »Notabilitäten?« fragte Hanussen ironisch. »Aristokraten ohne Rang und verschüchterte Bürger, die jetzt diesen Spießer hofieren. Ich habe selten so viele Feiglinge auf einem Haufen gesehen.«
»Warum haben Sie sie dann eingeladen?« fragte der Arzt erstaunt. »Sie amüsieren mich«, gab Hanussen zurück. Dr. Bettelheim schüttelte den Kopf. »Sind Sie nicht ein wenig hochmütig?« »Warum?« fragte Hanussen zurück. »Weil ich sie so sehe, wie sie sind?« »Und was sagen Sie über mich, wenn ich nicht anwesend bin?« wollte der Arzt wissen. »Und meinen Sie, die Nazis sehen Sie nicht genauso?« »Sie sind mein Freund«, beantwortete Hanussen die erste Frage und fuhr dann fort: »Die Nazis sind auch hochnäsig. Aber glauben Sie wirklich, diese Welt geht nicht vorüber? Gut, jetzt wird die Arbeitslosigkeit abgeschafft. Und wie? Man wird aufrüsten. Wie lange kann man aufrüsten – ohne einen Krieg? Wen wollen sie überfallen? Die Franzosen? Die Polen oder die Russen? Wie Napoleon? Sie werden Europa wieder in einen Trümmerhaufen verwandeln. Und die Deutschen werden es auch diesmal wieder perfekt machen, so wie alles, was ihnen befohlen wird. Denn das ist ihre Religion: jeden Befehl perfekt auszuführen, ganz egal, ob er vom Kaiser kommt, vom Weimarer Chaos oder von einem Terrorregime. Auch dies wird perfekt gemacht. Aber auch die Strafe wird perfekt ausfallen. Die Hälfte der Männer wird durch Waffen sterben, die andere Hälfte gerät in Gefangenschaft. Flucht, Grauen, abgebrannte Häuser, Hunger und Seuchen sind unsere Zukunft.« »Es hat noch nicht einmal angefangen, und Sie prophezeien bereits das Ende!« rief Dr. Bettelheim aufgebracht. »Aber in Hitler steckt dämonische Kraft. Und das deutsche Volk fühlt sich durch Dämonen angezogen.« Der Arzt schwieg einen Moment. »Es fühlt sich auch zu dem hingezogen, der Ordnung zu schaffen verspricht«, fuhr er fort. »Ach, beinahe hätte ich es
vergessen…« Er zog ein Fotomagazin aus der Tasche, blätterte es auf und hielt es Hanussen hin. »Schauen Sie mal!« Auf dem Bild war Adolf Hitler zu sehen, in hellseherischen Posen, mystisch beleuchtet – genauso, wie es Henni mit Hanussen ausprobiert hatte. Der sah sich die Fotografien verblüfft an, lief die Treppe hoch ins Erdgeschoß und kam mit einem Stoß Fotos zurück. »Sehen Sie sich das einmal an«, bat er den Arzt. Die Bilder, die Henni Stahl von ihm gemacht hatte, und die Aufnahmen von Hitler waren, mit Ausnahme des Objektes, völlig identisch. Die gleichen Posen, dieselbe Beleuchtung, der gleiche Hintergrund. Die beiden Männer verglichen alle Bilder miteinander. »Fantastisch!« rief Hanussen begeistert. »Das veröffentlichen wir jetzt in einem anderen Blatt!« »Sind Sie wahnsinnig?« schrie Dr. Bettelheim fassungslos. »Warum? Die magische Kraft auf allen Fotos ist gleich. Er ist Politik und Geschichte – und ich bin die menschliche Seele!« Hanussen sprang auf, lief zum Telefon und wählte eine Nummer. »Herrn Redakteur Fabian bitte!« verlangte er. »Sind Sie es? Nehmen Sie sich ein Taxi und kommen Sie sofort zu mir! So etwas haben Sie noch nie gesehen! Fotos – mehr sage ich nicht… gut, dann in einer Stunde!« Er legte auf und nahm einen großen Schluck aus der Whiskyflasche, »Sie haben den Verstand verloren«, meinte der Arzt sorgenvoll. »Und diesmal ist es wirklich, nicht nur eingebildet…« »Nein«,, widersprach Hanussen, »ich weiß sehr genau, was ich tue.« »Sie reden Unsinn«, gab Dr. Bettelheim zurück. »Ich rede nie Unsinn«, verteidigte Hanussen sich. »Das hätte Ihnen eigentlich schon auffallen sollen.«
»Gut«, sagte Dr. Bettelheim seufzend, »dann gehe ich jetzt.« »Moment mal«, bat Hanussen, wieder freundlicher. »Sollen wir nicht erst das mit dem Geld erledigen?« »Ich brauche Ihr Geld nicht!« rief der Arzt voller Verachtung. Er stand auf, schwankte einen Augenblick, ging dann aber entschlossen los. Hanussen griff nach seiner Hand. »Machen Sie doch keinen Unsinn!« bat er. »Sie wissen doch, wie gern ich Sie habe! Sie sind der intelligenteste Mensch, dem ich je begegnet bin… Ich habe Sie aufrichtig gern, verstehen Sie?« Er hob die Hand des Arztes an seine Lippen, an sein Gesicht. »Lassen Sie das!« fuhr der ihn an. »Trinken Sie doch noch ein Gläschen…«, schmeichelte Hanussen. »Ist es übrigens nicht eigenartig, daß wir noch immer ›Sie‹ zueinander sagen?« »Sie waren mein Patient«, erklärte der Arzt, etwas besänftigt. »Wollen Sie, daß wir uns duzen?« Er hob sein Glas. »Prost!« Sie nickten sich über die Gläser hinweg zu. »Ein hervorragender Whisky«, lobte Dr. Bettelheim. »Nimmst du auch deine Karteikarten mit?« kam Hanussen wieder auf ihr Ausgangsthema zu sprechen. »Vielleicht…«, überlegte der Arzt. »Aber nur die wichtigsten.« »Gehört meine dazu?« fragte Hanussen neugierig. Doch die Eitelkeit des Hellsehers interessierte Dr. Bettelheim jetzt wenig. »Viel Zeit zum Sortieren habe ich nicht«, sagte er. »Betty wird sie mir irgendwie nachbringen… Wäre ich Künstler, hätte ich jetzt keine Sorgen. Die setzen sich ans Klavier, egal wo – Mozart ist überall Mozart, und die Noten sind überall gleich. Oder sie treten in Varietes auf wie Sie.« »Wie du«, korrigierte ihn Hanussen. »Hypnotisieren kann ich auch«, hing der Arzt weiter seinen Gedanken nach. »Ich weiß, was Hypnose ist. Du kannst besser
auf Menschen wirken als ich, das steht fest. Aber ich weiß besser, was man damit anfangen kann. Ich bin kein Genie, das alles hat Freud erfunden, aber vieles hängt von der individuellen Anwendung ab… Moral? Du hast eine Gabe, die man eigentlich nur für das Gute verwenden dürfte. Wir sollten zusammenbleiben…« »Vielleicht arbeiten wir eines Tages wieder zusammen?« überlegte Hanussen. Dr. Bettelheim lächelte wehmütig. »Wenn wir überleben – wenn… Vielleicht melde ich mich in einem Zirkus? Ich lerne ganz einfach ein paar Tricks und ein bißchen Hokus-Pokus und vergesse den Eid des Hippokrates… Und warum willst du hierbleiben? Du kannst nur ein falscher Prophet sein, weil du nur noch sagen darfst, was die wollen. Und wenn du das nicht mehr tust, werden sie dich zertreten, und keiner wird es wagen, dir zu helfen. Du weißt, was passiert, und willst es nicht glauben. Und ich sitze immer noch hier in Berlin, sitze betrunken hier, statt zu fliehen, und bin vor Angst schweißgebadet…« »Du bist müde«, sagte Hanussen begütigend, »und wir haben beide zuviel getrunken. Willst du dich nicht hinlegen?« »Wohin denn?« fragte der Arzt. »Hier! Komm, du bist ganz naß! Zieh das Hemd aus!« »Du auch«, sagte der Arzt mit schwerer Zunge. Sie halfen einander aus den verschwitzten Hemden, Hanussen zog dem Arzt auch die Schuhe aus, und gemeinsam fielen sie auf das Sofa. Kurz darauf waren sie eingeschlafen, und das Schnarchen zweier Männer erfüllte das mystische Haus… Und der Reporter Fabian mußte minutenlang klingeln, bis ihm ein verschlafener Hanussen mit nacktem Oberkör-1 per die Tür öffnete und sich beim besten Willen an keine Verabredung erinnern konnte. Doch als Fabian ihm den Wortlaut des Telefonats wiedergab, war der Hellseher schnell wieder wach.
Er ging mit dem Reporter ins Foyer, um Dr. Bettelheim nicht zu stören, und holte leise die Fotos und das Magazin aus dem Salon. Wie erwartet, war Fabian begeistert. Er witterte eine sensationelle Geschichte, die er teuer würde verkaufen können. Hanussen gab ihm sämtliche Unterlagen mit und ahnte nicht, daß die Story etwas anders aussehen würde, als er geplant hatte. In seiner Hellseher-Pose war Hanussen ein paar Tage später auf dem Titelbild einer großen Illustrierten zu sehen. Darüber stand in großen Lettern: ›Ein Scharlatan will Berlin erobern‹. Im Text fanden sich Sätze wie ›Der Betrüger will Hitler ähneln‹ – ›Das neue Deutschland braucht keine Gaukler und Variete-Magier‹ – ›Geheimnis der Grunewald-Villa und des nagelneuen weißen Mercedes‹. Ein Artikel voller Hohn und Häme – unterzeichnet war er mit ›L. Fabian‹. Hanussen, der das Blatt eher zufällig gekauft hatte, war sofort klar, daß diese Unterstellungen ihm ernsthaften Ärger machen konnten, daß all die Vorsicht, mit der er die Anhänger Hitlers bisher behandelt hatte, vielleicht umsonst gewesen war – nun, da man ihm unterstellte, mit Hitler Geschäfte machen zu wollen. Und am meisten ärgerte ihn, daß ihn, was den Reporter betraf, seine Menschenkenntnis so völlig im Stich gelassen hatte. Er zog sich an und fuhr zu Valerys Wohnung. Im langen Hausmantel machte die Tänzerin auf und sah ihn überrascht an. »Was ist los?« »Ich bin in Schwierigkeiten«, gab er zurück und hielt Valery die Illustrierte vors Gesicht. »Komm herein«, forderte sie ihn auf. Sie nahmen im Salon Platz und sahen einander ratlos an.
»Ruf sofort den Grafen an!« riet Valery ihm nach einigen Minuten des Schweigens. »Sag ihm, daß du mit ihm sprechen willst.« »Er mag mich nicht besonders«, wandte Hanussen ein. »Das stimmt… Dann melde dich beim Propagandachef. Er kennt dich – und er fühlt sich geschmeichelt, wenn man sich mit Problemen an ihn wendet.« Hanussen schüttelte den Kopf. »Aber der Artikel kommt doch aus dieser Ecke, der stammt doch von denen, der ist doch bestellt!« »Reg dich nicht auf!« bat Valery. »Soll ich mit dir fliehen, gleich am Wochenende? In den Harz, oder nach Österreich? Da kannst du dich ausruhen, und die Zeit arbeitet für dich.« »Nein«, widersprach Hanussen. »Die Zeit arbeitet nicht für mich – ganz im Gegenteil!« Nervös stand er auf, ging im Zimmer hin und her, erwog und verwarf. Vielleicht hatte Valery gar nicht so unrecht?
44 Nachdem Hanussen ein paar Stunden ziellos durch die Straßen gefahren war, hatte er einen Entschluß gefaßt, den er ein paar Tage später in die Tat umsetzte. An seinen Schreibtisch gelehnt, stand der Propagandachef vor Hanussen und beobachtete den Gast. »Nehmen Sie Platz«, forderte er ihn auf. »Und jetzt hören Sie mal her. Ich weiß, daß Sie gestern mit Graf Trantow-Waldbach zu Abend gegessen haben. Ich weiß auch, was Sie besprochen haben, was Sie mir heute sagen wollen. Ich weiß auch, wer was gesagt, wer was gegessen und wer was getrunken hat, so daß Sie sich die Details sparen können. Sie haben gewisse Verdienste – ich denke da an eine Pressekonferenz, in der Sie Hitlers Sieg prophezeit haben. Jetzt aber haben Sie einen großen Fehler gemacht. Hitler kann niemandem ähnlich sehen und niemand ihm – denn sonst wäre er ja nicht der einzig mögliche Führer des deutschen Volkes!« Er umkreiste Hanussens Sessel. Nervös sah der Hellseher zu ihm auf. Der Propagandachef fuhr fort. »Es werden Hellseher und Propheten gebraucht, das wissen wir sehr gut. Aber Sie können hier kein Prophet sein, nicht in diesem Land. Hier ist Hitler der Prophet! Ja, auch Hitler erfüllt eine Rolle – und zwar die Rolle, die die Geschichte ihm zugedacht hat. Und Hitler erfüllt diese Rolle mit genialem Talent. Ist Ihnen aufgefallen, wie er die Menge beobachtet, bevor er zu sprechen beginnt? Wie er die Stimmung und die Wünsche der Menschen in sich aufsaugt? Sein Blick ist wahrhaft prophetisch; es ist der eines Menschen, der seine Aufgabe in der Geschichte genau erkannt hat. Er ist wirklich ein Hellseher. Das Zukunftsbild Hitlers ist ein tausendjähriges
Reich, neue Städte anstelle der hinweggefegten alten; eine neue, gesunde, arische Menschenrasse, eine große Gemeinschaft eines neuen Volkes, neue Grenzen für den deutschen Lebensraum. Und wonach richten sich Ihre Zukunftsvisionen? Nach den Wünschen wohlhabender Bürger, nach noch mehr Geld und aristokratischen Allüren. Oder nach den Sehnsüchten heruntergekommener Aristokraten, die sich vom Kaiserreich in die Republik hinüberretten wollen. Nach der Sehnsucht unbefriedigter Damen nach freier Liebe. Nach den Sehnsüchten der Homosexuellen und Lesben. Das soll die Zukunft sein? Der Unterschied zwischen Ihnen und Hitler besteht darin, daß Sie ein schwacher Amateur sind, ein Dilettant. Hitler ist besser. In einem Land, das neue Ufer anstrebt, kann nur ein einziger Mann die Zukunft verkünden, und das ist hier Hitler. Sie dürfen nur sagen, was Hitler sagt – aber Sie müssen hinzufügen, daß Sie es von ihm übernommen haben. Und sagen Sie auch Ihren anderen weissagenden Freunden, sagen Sie allen in Ihren Kreisen, daß wir hart durchgreifen werden. Was wollen die Leute in den Varietes und bei Ihren Seancen? Rauch, Wunderkerzen, Lichterglanz. Aber haben Sie schon mal einen Fackelzug mit 20000 Jugendlichen gesehen? Einen Gedenkscheiterhaufen aus tausend Holzscheiten? Man hat einen jungen Kameraden umgebracht. Die anderen aus Hitlers Privatarmee haben uns gebeten, seine blutige Uniform in kleine Streifen zerschnitten als Reliquie unter ihnen zu verteilen. Ich habe zwanzig Waggons Uniformen zerschneiden lassen, und das war noch nicht genug. Aber dieser kleine Schwindel bleibt unter uns. Was wollen Sie mit 200 Leuten im Theater erreichen? Der Film kommt, er fegt durchs Land, durch die Welt, und in allen Kinos ist zu sehen, was wir wollen, und so, wie wir es wollen. Das ist Wirkung – nicht Ihre Hypnose! Ich kann Ihnen mal ein, zwei echte Hypnotiseure vorstellen: unsere
Filmregisseure, die das Publikum in Ekstase versetzen, in eine Ekstase, die dem Orgasmus gleicht… In Ihren Kreisen hingegen zeigt man einander an. Jeden Tag bekomme ich Anzeigen paketweise. Gegen Sie habe ich auch schon eine Menge.« »Wer hat sie geschrieben?« fragte Hanussen, am Ende seiner Nerven. Er wußte jetzt, was er schon lange geahnt hatte: Man hatte ihn nur benutzt und war nun bereit, ihn fortzuwerfen wie eine alte Zeitung. »Ein anderes Mal«, wehrte der Propagandaminister ab. »Wenn ich nicht gerade wütend auf Sie bin, zeige ich Ihnen vielleicht eine oder zwei.« Und nun setzte Hanussen alles auf eine Karte. »Darf ich Sie für Samstag abend ins Theater einladen?« fragte er. »Ich habe ein neues Programm.« Überrascht nickte der Propagandaminister.
45 Es war eine lebenswichtige Vorstellung. Hanussen stand Samstag abend hinter der Bühne des Scala-Theaters, das längst einen anderen Direktor hatte, und beobachtete durch den Vorhang das Gesicht des Propagandachefs. Goebbels saß im Smoking in der ersten Reihe, neben ihm seine Frau im Abendkleid und Graf Trantow-Waldbach. Der Dirigent erschien, und es wurde dunkel. Hanussen trat hinter die Kulissenwand und lächelte Wally, die auf die Bühne eilte, zerstreut zu. Der Vorhang hob sich, Wally verneigte sich im Scheinwerferlicht. »Meine Damen und Herren – Erik-Jan Hanussen!« kündigte sie den Mann an, den sie noch immer liebte, von dem sie aber inzwischen getrennt lebte. Sie hatte eingesehen, daß er ganz einfach keine Frau ständig in seiner Nähe ertragen konnte, daß er allein sein mußte, auch, wenn er diese Einsamkeit nur schwer ertrug. Sie hatte ihn kaum noch gesehen, nie hatte er Zeit für sie gehabt. Sein tägliches Leben sah so aus: zwei Vorstellungen im ›Scala‹, Proben, Interviews, morgens noch Sprechstunden für die Klienten, mitternachts seine Seancen. Dann mußte er lesen, meditieren, Atemtechniken einüben, sich ständig etwas Neues einfallen lassen. Und wenn sie, Wally, mal mit einem Problem kam, fuhr er aus der Haut, entnervt und übermüdet, denn nachts konnte er schon lange nicht mehr schlafen. Und seine neuen Freunde wie den heruntergekommenen Grafen, dem er immer wieder Geld lieh – nein, die ertrug sie nicht. Aber sie liebte ihn. Und sie würde ihn nie, niemals im Stich lassen.
Die plötzlich aufstrahlende Lichtsäule beleuchtete den in der Mitte der Bühne stehenden Hanussen. »Meine Damen und Herren«, begann er selbstsicher, »Sie sind heute Zeugen einer neuen telepathischen Experimentreihe. Unser Thema heißt: Können wir anderen unseren Willen aufzwingen? Ist Willen im Interesse eines Zieles übertragbar? Beginnen wir! Ich brauche jemanden als Medium für dieses Experiment. Vielleicht die Dame dort drüben? Sie – oder Sie? Nein, Sie, meine Dame… danke schön.« Eine junge Frau errötete und ging unsicher zur Bühne. »Sehr verehrtes gnädiges Fräulein«, sagte Hanussen, »gestatten Sie mir zunächst eine Frage. Wenn ich Sie bitten würde, das Theater in Brand zu setzen, jetzt, wo es voll ist – was würden Sie mir antworten?« »Ich würde Sie auslachen«, gab das Mädchen zurück. Im Zuschauerraum wurde es unruhig. »Haben Sie als Kind gern ins Feuer gesehen?« fragte Hanussen sein neues Medium. »Ja.« »Darf ich Sie bitten, ins Feuer zu sehen, wenn ich eine Fackel anstecke?« fragte Hanussen freundlich. »Natürlich«, antwortete das Mädchen. Hanussen zündete ein Streichholz an, steckte eine kleine Fackel in Brand und hielt sie dem Medium mit aus gestrecktem Arm entgegen. Das Mädchen sah ins Feuer der Fackel, die Hanussen unmerklich bewegte: vor und zurück, vor und zurück… »Eine schöne Flamme, nicht wahr, meine Dame?« fragte er leise. »Ja«, murmelte das Mädchen. »Wärme, Glut, sie verschlingt alles, was schlecht ist, was wir loswerden wollen. Alles wird zu einer herrlichen, großen Flamme. Schauen Sie mir in die Augen!«
Sie sah Hanussen an, in ihren Augen vibrierte ein seltsames Feuer. »Sie mögen Feuer?« fragte Hanussen schmeichelnd. »Ja«, flüsterte sie. »Sie würden am liebsten alles in Brand stecken, damit diese herrliche Flamme immer größer und für ewig lodert?« fragte er weiter, leise, zwingend. Das Mädchen schwieg, ihr Blick war verhangen und abwesend. »Nehmen Sie mir die Fackel ab!« befahl Hanussen. Gehorsam griff sie nach vorn und übernahm die Fackel. »Stecken Sie den Vorhang in Brand!« forderte Hanussen. »Na, bitte!« Das Mädchen visierte den Tüllvorhang der Bühne, an und setzte sich in Bewegung. Die Zuschauer hielten den Atem an. Hinter den Kulissen standen Feuerwehrleute und Ordner, gespannt und löschbereit, und verfolgten, wie die junge Frau den Vorhang in Brand setzte. Eine riesige Flamme loderte auf, und Hanussen schrie: »Feuerwehr!« Das Publikum kreischte, Wally, die Feuerwehrleute und die Ordner löschten rasch die Flammen. Hanussen trat zu seinem Medium, strich dem Mädchen über die Stirn, nahm ihm die Fackel ab und führte es wieder in die Mitte der Bühne. Das Mädchen blickte verstört um sich, als erwache es aus einem tiefen Traum. Es wußte nicht, wo es sich befand. »Danke, daß Sie mir geholfen haben«, sagte Hanussen freundlich. »Viel Spaß beim weiteren Programm heute abend!« Er verabschiedete sein Medium und küßte ihm die Hand. Beifall brauste auf, als Wally die junge Frau zu ihrem Platz zurückbegleitete. »Lächerliche Gaukelei!« flüsterte Trantow-Waldbach dem Propagandachef zu und verschwieg, daß er selbst es gewesen
war, der die feuerpolizeiliche Ausnahmegenehmigung erteilt hatte. »Meinen Sie?« fragte Propagandachef. Feuer, dachte er, Zerstörung, die ein anderer initiiert – vielleicht eine Möglichkeit, mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen? Vielleicht eine Gelegenheit, mehrere Feinde loszuwerden – sowohl einen Magier, dem man peinlicherweise verpflichtet war, als auch politische Gruppen, die man ausschalten wollte? Und wozu hatte man einen Apparat wie die SA, eine glaubwürdige Truppe wie die Berliner Polizei, wenn man sich ihrer nicht bediente? Als Hanussen nach der Vorstellung schweißüberströmt in den Gang kam, der zu seiner Garderobe führte, wurde er dort erwartet. Von einem alten Bekannten aus Wien, den er aus der Liste seiner Freunde längst gestrichen hatte, von Rudi, dem Freund aus Jugendtagen, von dem er glaubte, er hätte ihn aus Feigheit und Berechnung damals erst zur Polizei gebracht und dann die Polizei gegen ihn aufgehetzt. »Meister, meine Hochachtung…«, sagte Rudi einschmeichelnd. »Was suchst du hier?« gab Hanussen unfreundlich zurück. »Ich bin extra zu dir gekommen, und nun…«, sagte Rudi betreten. »Aus Wien?« wollte Hanussen wissen. »So kann man es auch sagen«, gab Rudi indifferent zurück. »Was willst du?« herrschte Hanussen ihn an. »Brauchst du Geld?« »Wenn du mix welches geben kannst – das kann nie schaden«, erwiderte der andere. »Aber können wir uns nicht ein wenig unterhalten?« »Worüber denn?« Hanussen wurde langsam ungeduldig, er war müde und erschöpft. »Sagen wir – über Berlin«, formulierte Rudi vorsichtig.
»Wer hat dich geschickt?« wollte Hanussen wissen. Rudi lächelte und breitete die Arme aus. Hanussen wollte diese unliebsame Erinnerung an seine Flucht aus Wien endlich loswerden. »Hau ab!« sagte er barsch. »Hier ist ein Hunderter! Verschwinde!« Rudi zog ein Gesicht. »Ein Hunderter?« fragte er gedehnt. »Mehr ist dir unsere Freundschaft nicht wert?« »Rudi, laß mich in Ruhe«, bat Hanussen. »Du trinkst, du lügst und betrügst und hast nicht mal eine Freundin…« »Du hast ganz recht«, stimmte Rudi zu. »Ich bin ein mieser Typ und werde es bleiben. Aber – ich lebe! Und ich werde überleben!« Seufzend zog Hanussen einige Scheine aus seiner Smokingjacke, ein Teil seiner Abendgage, stopfte sie Rudi wortlos in den Mantel und ging in seine Garderobe. Ein schlechtes Omen, dachte er deprimiert. Verstört blieb Hanussen stehen. Vor dem Klaiver in dem kleinen Raum saß der Propagandachef und klimperte auf den Tasten herum, hinter ihm standen seine Frau und Wally. Der Propagandachef sah auf. »Ich gratuliere«, sagte er herzlich. »Was Sie da geleistet haben, ist einfach toll!« Er reichte Hanussen die Hand, klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter,, setzte sich auf einen Stuhl und bat den Hellseher mit einer Handbewegung, sich auch zu setzen. »Sehen Sie, das habe ich vor ein paar Tagen gemeint«, erklärte er. »Was Sie heute gemacht haben, ist Ihr Metier, das beherrschen Sie perfekt. Stimmung erzeugen, Unsichtbares greifbar machen… toll!« Begeistert schlug er Hanussen auf die Knie und drückte ihm die Schenkel. Der Hellseher war unruhig, eine dumpfe Ahnung überkam ihn, daß er nicht der Sieger war, sondern ein Tier, das zur Schlachtbank geführt werden sollte. Vielleicht war die Feuer-Demonstration doch
keine so gute Idee gewesen? Doch er unterdrückte diese negativen Gefühle rasch – der Propagandaminister war hier, war in seiner, Garderobe, lobte ihn, und das allein zählte. »Ziehen Sie sich ruhig aus, Sie schwitzen ja«, forderte Goebbels ihn jetzt freundschaftlich auf. Verlegen sah Hanussen zu den Damen hinüber. »Die haben schon Männer gesehen«, winkte der Propagandaminister lässig ab. »Obwohl meine Frau noch immer so stolz auf ihre bürgerliche Erziehung ist… Aber das wirst du dir schon noch abgewöhnen, nicht wahr, Magda?« »Lassen Sie sich nicht stören, ich komme gleich wieder«, sagte die magere kleine Frau verlegen und verließ eilig die Garderobe. Hanussen legte Jackett und Krawatte ab. »Wir müssen die Stimmung der Massen schüren, notfalls bis zur Hysterie«, fuhr der ›Doktor‹ fort. »Die Leute glauben einfach alles, was sie mit eigenen Augen sehen. Deshalb muß man ihnen etwas Spektakuläres zeigen. Nichts, was nur erschreckend wirkt, wenn man es sieht, sondern etwas, was länger anhält in seiner Wirkung – über Tage, Wochen und Monate. Ein Bild, das Spuren hinterläßt, verstehen Sie?« Er machte eine auffordernde Geste, und Hanussen zog sich weiter aus, knöpfte sich das Hemd auf und zog es aus der Hose. Goebbels war in seinem Element. »Der Mensch will sich fürchten, er braucht das einfach, und in der Politik ist der Sieger, der diese magische Angst erzeugen kann. Dafür ist nur ein einziger sinnlicher Eindruck notwendig – einer wie dieses Feuer, und, natürlich, ein Brandstifter. Eines interessiert mich: Warum haben Sie diese unscheinbare Frau als Medium gewählt?« »Heute abend erschien sie mir als am geeignetsten«, erwiderte Hanussen einfach.
»Aha«, sagte der ›Doktor‹ und betrachtete Hanussen eingehend. »Könnte das jeder?« Hanussen nickte unbehaglich. »Mann, Sie sind aber dick«, tadelte der andere, »treiben Sie keinen Sport?« Er packte Hanussen an der Brust und kniff ihn in die Seite. Wally sah diese Vertraulichkeiten mit Schrecken. »Raus an die frische Luft, turnen Sie, Bleichgesicht!« befahl der Mann mit dem Klumpfuß. Und ging über iii eine politische Argumentation. »Trennen Sie sich von Freunden, die Ihnen gefährlich werden können, weil sie Ausgestoßene sind«, riet er dem verblüfften Hanussen. »Denn man braucht Schuldige, um sich selbst zu schützen. Nie ist der schuld, der etwas falsch gemacht hat. Immer hat ihn ein anderer überredet oder überrumpelt. Und dieser andere muß, will er glaubwürdig sein, anders sein als er selbst, fremd, nicht seinesgleichen. Er muß sich unterscheiden, und zwar sichtbar! Er muß andere Gewohnheiten haben, etwas anderes essen… Andererseits hat man ihn täglich vor Augen, stolpert auf der Straße über ihn. Und weil er eben da ist, kann man auch seine Emotionen an ihm abreagieren, denn er ist ja ›schuldig‹, man kann ihn strafen, auf der Straße ohrfeigen, man kann ihn an den Pranger stellen und der Masse ausliefern. Es gibt ihn wirklich, er ist nicht unfaßbar wie der Teufel in der Hölle. Der Jude lebt, er hat mich hereingelegt, und jetzt räche ich mich an ihm – ist doch ganz logisch. Das ist die Existenzbedingung für das seelische Gleichgewicht dieses erniedrigten Volkes. Das Geheimnis der Selbstachtung… Man muß dem Volk die Möglichkeit geben, selbst zu urteilen – und zu verurteilen. Das gibt ihm das Gefühl göttlicher Kraft, es fühlt sich eins mit dem Schöpfer. Haß verbindet: Wir haben es gemeinsam getan. Aber für diese Verurteilung braucht man, wie gesagt, einen Schuldigen, einen, der anders ist.« Außer sich, angesteckt von
seiner eigenen Euphorie, umklammerte er Hanussens Hals. »Das ist unser Ziel!« schrie er. »Ich werde Sie ein paar jungen Männern vorstellen. Erzählen Sie Ihnen etwas über Hypnose. Und besuchen Sie bitte meine Großkundgebung, damit Sie mal sehen, wie es ist, wenn wir ein magisches Feuer entfachen, wie bei uns die Scheinwerfer stehen, wie eine gemeinsame Zeremonie nach unserem Geschmack aussieht… Es ist unser Glück, daß Begabungen zu jeder Zeit geboren werden. Wir brauchen Sie!« Der Propagandaminister hatte in seinem Begeisterungstaumel ob seiner eigenen Worte ganz vergessen, daß auch Hanussen für ihn nur ein Mittel zum Zweck sein würde, ein Mensch, den er ausschalten wollte, sobald dieser Zweck erreicht sein würde. Und Hanussen dachte: ›Auch dieser kleine Mann ist nichts weiter als ein überheblicher Prolet‹ – und mit denen war er schon immer fertig geworden, seit seiner Jugend in den Unterweltkreisen von Wien-Ottakring. Der Hellseher, der sich weigerte, in seine eigene Zukunft zu sehen, verkannte die Situation, unterschätzte Goebbels, überschätzte sich. Gut, einige in der Partei mochten Angst haben vor dem Mann mit den magischen Begabungen. Um so mehr waren sie entschlossen, den Erzeuger dieser Angst zu eliminieren. In den Zeitungen stand an manchen Tagen mehr über Hanussen als über Hitler. Die Hanussen-Bewegung zählte bereits fünf Millionen Mitglieder – Menschen, die nach einem Halt suchten in dieser Zeit der Haltlosigkeit. Und daß dieser Halt für viele nicht Hitler hieß, gefiel dem Propagandaminister und seinen Freunden gar nicht. Kraft und gebündelte Energie, um die Massen zu faszinieren, durfte nur einer haben: der Führer!
46 Die angekündigte Großkundgebung fand auf einem großen Berliner Platz statt; für die Ehrengäste waren in den ersten Reihen Bänke und Stühle aufgestellt. Überrascht sah Hanussen eine Menge bekannter Gesichter, darunter die Stadlers, mehrere ihrer Gäste, auch der Reporter Fabian, dem Hanussen Angst, Unsicherheit und eine ungewisse Zukunft zu verdanken hatte. Schnell wandte er sich ab, als der andere zu ihm herübersah. Von der Rednerkanzel aus sprach der Propagandachef, hinter ihm ein riesiges Hitlerporträt in einem goldenen Rahmen, beleuchtet wie Hanussens Buddha-Statue in seinem ›Haus des Okkultismus‹. Über dem Porträt hing ein vergoldeter Adler mit ausgebreiteten Schwingen. In den Leuchtern zu beiden Seiten züngelten Flammen. Hinten, an den Seiten, standen lange, mit weißen Tischtüchern gedeckte Tische für den Empfang, darauf Stapel weißer Porzellan teuer und dampfende Kessel, dahinter junge Männer in weißen Kitteln, unter denen die Uniformen hervorblitzten. »Die Ordnung ist da«, schrie Goebbels jetzt. »Das reinigende Feuer, das wir entfacht haben, brennt. Jeder von uns muß jetzt seine Fackel hochhalten. Eine Fackel, die unserem Volk leuchtet, eine Fackel, mit der wir alles in Brand stecken, was den Verrätern dieser Nation gehört. Dieses gemeinsame Mahl soll das Symbol unseres gemeinsamen Kampfes sein. Keine Speise aus einer raffinierten internationalen Küche, kein vornehmes Menü, nein! Es ist ein einfaches Eintopfgericht, wie es unser schicksalgeprüftes Volk mag und wie es in diesem Lande seit jeher jede Familie für sich kocht.«
Tosender Beifall des hypnotisierten Publikums belohnte den Propagandaminister. Kurz darauf stand die Prominenz vor den langen Tischen Schlange. Man aß im Stehen aus den einfachen Tellern, die Blechlöffel paßten nicht zur eleganten Garderobe. Auch Hanussen aß und beobachtete aufmerksam die Gesichter der anderen. Ein ihm fremder, elegant gekleideter Herr trat zu ihm. Er hielt ebenfalls einen Teller in der Hand, aus dem er noch schnell einen Löffel aß, bevor er sich an Hanussen wandte. »Herr Hanussen, nicht wahr?« versicherte er sich. »Was Sie bei Ihren Vorträgen sagen, wühlt mich immer so auf. Diese Dinge betreffen mich genauso, verstehen Sie? Ich meine, im Privatleben…« Hanussen verstand nichts und sah den anderen verwirrt an. In großer Begleitung zog jetzt der Propagandachef an ihnen vorbei. »Na, wie gefällt es Ihnen bei uns?« sprach er Hanussen jovial an. »Ich stelle Ihnen jetzt ein paar junge Leute vor. Erklären Sie ihnen bitte die Grundbegriffe der Hypnose!« Er wandte sich an seine Begleiter. »Nur Mut, meine Herren!« Hanussen war unsicher, während die jungen Männer in Zivil ihn umringten und der Propagandaminister ihn erwartungsvoll ansah. »Hypnose ist ein Zustand, bei dem der Hypnotisierte das tun will, was ihm ein anderer sagt«, begann er zögernd. »Weiter!« forderte der ›Doktor‹ ihn auf. Hanussen fuhr gequält fort: »Mit ausreichender Kraft kann man auch mehrere Personen gleichzeitig hypnotisieren…« Der Propagandachef hob die Hand. »Sehen Sie sich die Feuerhypnose im ›Scala‹ an«, forderte Goebbels seine Begleiter auf. »Am besten schon heute abend!« Was hatte dieser Mann vor? Hanussen stellte seinen Teller ab – eine ungute Vorahnung kommenden Unheils hatte ihm den Appetit verdorben.
Später, auf dem Weg nach Hause, überkam ihn ein anderes Gefühl, und zwar ein ganz konkretes: das Gefühl, verfolgt zu werden. Er ging weiter, drehte sich vorsichtig um und bemerkte einen Schatten, der ihm folgte. Hanussen blieb stehen, um den Verfolger zu stellen – und bemerkte beschämt, daß er sich vor seinem eigenen Schatten gefürchtet hatte. Er beschleunigte seinen Schritt und ging weiter. Doch seine Ängste ließen ihn nicht los. Was hatte er falsch gemacht? Hanussen beschloß, unter allen Umständen weitere Fehler zu vermeiden, um nicht bald seine letzte Vorstellung zu geben. Auch wenn er überzeugt war, daß die Lage sich bald entschärfen und die Nazis sich wieder beruhigen würden, auch wenn er sicher war, in Graf Trantow-Waldbach, der ihm größere Geldbeträge schuldete, einen verläßlichen, weil gekauften Verbündeten zu haben – riskieren wollte er nichts, nicht seine Macht und seinen Reichtum, schon gar nicht sein Leben. Und verlassen wollte er weder sein erstes richtiges Zuhause noch die Stadt seines Triumphes, auch wenn er inzwischen nicht wenigen befreundeten Juden und Sozialdemokraten zur Flucht verholfen und sie mit Geld unterstützt hatte. Ein paar Tage später rief er Wally, Betty und Valery zu sich. Fasziniert hörten sie zu, während er aufgeregt erzählte. »Sie wollen irgendein Feuer legen«, vermutete er. »Etwas in Brand stecken, um dann an den Brandstiftern Rache nehmen zu können.« »Geht deine Fantasie nicht mit dir durch?« fragte Valery skeptisch. »Nein!« erwiderte der Hellseher überzeugt. »Ihr habt seine Augen nicht gesehen – in ihnen loderte der Widerschein des Feuers! Ich sah die Flammen in seinen Augen, ich sah auch die Festnahme des Brandstifters! Ich sah das Gebäude des Ministeriums. Oder ein Theater mit brennender Kuppel… Eine
Massenkundgebung… Ich weiß noch nicht, was – aber irgendwas wird er in Brand stecken lassen!« »Ach Klaus, das sind doch Visionen«, versuchte Betty ihn zu beruhigen. »Geh schlafen, du bist sehr abgespannt!« Doch Hanussen hatte ihr nicht zugehört. »Ich sah ihm in die Augen und merkte, wie er dieses höllische Bild suchte, das er uns allen unauslöschlich einprägen will… damit wir ihn dann für alle Zeiten fürchten. Er will vermutlich politische Feinde und Andersdenkende auf diese Weise loswerden, er will ihnen die Schuld für ein Verbrechen in die Schuhe schieben, damit er sie später grausam dafür bestrafen kann, und alles im Namen des Volkes. Nein! Diesen Triumph werde ich ihm nehmen!« »Was denn? Wie denn?« fragte Wally verständnislos. »Wir werden heute abend von der Bühne aus verkünden, daß hier innerhalb der nächsten Tage etwas brennen wird«, überlegte Hanussen. »Damit es in den Zeitungen steht! Damit alle es erfahren!« Die drei Frauen sahen ihn verblüfft an. Betty und Wally so, als hätte er den Verstand verloren, Valery mit aufkeimendem Verständnis. »War der Graf auch dabei?« fragte Valery nach Minuten des Schweigens. »Der Graf ist ganz unwichtig«, wehrte Hanussen ab. »Er wird vom Schachbrett gefegt werden – wenn ihm nicht vorher etwas zustößt.« »Warum sagst du das?« fragte Valery erschrocken. »Ich weiß es nicht…«, erwiderte Hanussen vage. »Jedenfalls vergeudest du deine Jahre mit ihm.« »Ich weiß«, stimmte Valery zu. »Aber du vergeudest deine Jahre auch…« Hanussen nickte. »Ja«, sagte er. »Ich auch. Ich vergeude alles.« Meine Begabung, mein Talent, Menschen zu helfen,
dachte er. Was ist aus meinen Idealen geworden? Ich lebe nur noch, um zu essen, zu schlafen, Geld zu verdienen, Macht zu sammeln und Ansehen. Was ist bloß aus mir geworden? Was hätte aus mir werden können? Wo ist meine große Mission geblieben? Wo mein Mut? Feige bin ich geworden, feige und arbeitsscheu. Ich habe mir Freunde gekauft, Menschen, vor denen mir graut, während ich die wenigen echten Freunde fortgeschickt habe. Wo ist Nowotny geblieben,, wo Dr. Bettelheim, wo die Kameraden aus dem Lazarett… »Du bist erschöpft«, warf Betty jetzt ein. »Nein, ich bin nicht erschöpft!« protestierte er. »Du zitterst wie damals an der Front«, erinnerte ihn Betty. »Egal!« Hanussen richtete sich auf. »Ich werde mich so lange auf ihn konzentrieren, bis ich weiß, was er vorhat. Wally, bitte besorge mir eine Fotografie vom ›Doktor‹! Aus irgendeiner Zeitung! Ich will sein Gesicht sehen!« Betty versuchte, Hanussen mit einem Scherz abzulenken. »In Galizien gab es mal einen Rabbiner«, sagte sie. »Eines Tages trommelte er seine Gemeinde zusammen und sagte, er hätte geträumt, daß in der Nachbarstadt die Synagoge in Flammen steht.« »Ja, und…«, fuhr Hanussen sie entnervt an. »Die Glaubensbrüder rannten mit Eimern los, um das Feuer zu löschen«, fuhr Betty ungerührt fort. »Sie kamen am nächsten Tag an.« »Und bis dahin hatte man das Feuer schon gelöscht?« fragte Wally. »Nein«, erwiderte Betty, »denn es brannte gar nichts. Trotzdem war es allerhand, daß er im Traum die Synagoge hatte sehen können – so, wie sie wirklich aussah…« »Aber hier wird etwas brennen!« schrie Hanussen, am ganzen Körper bebend. »Und ich bin verantwortlich, ich hatte die Idee
dazu. Ich habe ihm sogar den Tip gegeben, wie er einen geeigneten Brandstifter finden und ihn dann als Täter präsentieren kann! Ich war ein Schuft, ein niederträchtiger, gemeiner Schuft, daß ich mich überhaupt mit ihm eingelassen habe…« Hanussen war den Tränen nahe und fuhr mit erstickter Stimme fort. »Jeder läßt sich nur von seiner eigenen Angst leiten und verbündet sich ausgerechnet mit dem, den er am meisten fürchtet, aus Angst um sein eigenes Leben. Doch diese Sicherheit trügt. Ich war ein Schuft, ich bin ein Schuft, ein Feigling, ein Versager!« »Wieso solltest du denn ein Schuft sein?« beschwichtigte Betty. »Wieso? Adolf Hitler wird Reichskanzler«, zitierte Hanussen seine eigenen Worte. »Stimmt, das zu sagen, war ein Fehler«, sagte Valery sachlich. »Nun weißt du es endlich. Und jetzt packst du schön brav deine Sachen und gehst weg von hier… und mischst dich nie wieder in die Politik ein!« Hanussen schüttelte energisch den Kopf. »Soll ich fliehen? Jetzt?« fragte er. »Aus dem brennenden Haus? Noch vor dem Brand? Wenn noch niemand außer mir die Flammen sieht? Dann mußt eben du mir helfen, Valery.« Er deutete auf die beiden anderen Frauen und flüsterte: »Sagen wir auch ihnen nichts.« »Du bist wahnsinnig!« wehrte Valery ab. »Ich habe gesagt, du sollst dich raushalten aus der Politik!« »Das geht nicht mehr«, erwiderte Hanussen traurig. »Bis jetzt habe ich immer alles vorausgesehen und das auch laut gesagt. Gut, das war ein Fehler. Wenn ich jetzt aber nichts sage, werden sie behaupten, ich hätte nichts gewußt. Ist das vielleicht besser?« Herausfordernd sah er Valery an. »Es ist auch nicht besser, wenn du dich selbst belügst«, gab die Jugendfreundin zurück. »Du hast auch gesagt: ›Wir steuern
auf einen Abgrund zu.‹ Ist das jetzt vielleicht eine Genugtuung für dich?« In der folgenden Stille maßen sich die beiden mit Blicken. Jeder versuchte, den anderen zu überzeugen und zum Nachgeben zu zwingen. Plötzlich drehte Hanussen sich zu Wally um und zischte: »Sieh mal nach, wo das Dienstmädchen ist! Ob es uns nicht irgendwo belauscht!« »Wieso denn?« fragte Wally erstaunt. »Weil sie uns beobachtet«, gab Hanussen scharf zurück. Wally verließ gehorsam das Zimmer. Valery knöpfte die oberen Knöpfe ihrer Bluse auf und zog ein Medaillon aus dem Ausschnitt. »Ihr Männer«, seufzte sie, »ihr geilt euch regelrecht auf mit eurer Schwarzmalerei! Hör endlich auf damit!« Sie trat zu Hanussen und hielt ihm das kleine Goldplättchen vor die Augen. »Sieh es genau an!« forderte sie ihn auf. Hanussen nahm die Kette in die Hand und las die Inschrift: ›Das geht auch vorbei‹. Wieder sahen die beiden sich lange in die Augen, bis Hanussen den Blick senkte. »Ich habe keinerlei Einfluß auf die Dinge«, stöhnte er. »Wozu bin ich überhaupt auf der Welt?« Valery nahm seinen Kopf in beide Hände, obwohl Wally wieder hereinkam. »Sie werden dich vernichten«, warnte sie ihn eindringlich. »Bist du denn lebensmüde? Versprich mir, daß du heute abend nicht über Politik sprichst! Und auch nicht über das Feuer!« Hanussen nickte resigniert. Etwas weniger Selbstmitleid wäre auch nicht von Übel, dachte Valery, sagte es aber nicht. Sie fühlte, daß der Freund die Grenzen seiner physischen und psychischen Belastbarkeit erreicht hatte. Wozu ihn noch kritisieren, wenn es längst zu spät war, den Lauf der Dinge zu ändern?
47 Am nächsten Tag saß Betty dem Grafen Trantow-Waldbach in dessen Büro im Polizeipräsidium gegenüber, wie schon so oft. Betty hatte dem Grafen berichtet, was am Tag vorher geschehen war. Seit er ihr bei Dr. Bettelheims Flucht nach Zürich geholfen hatte, erstattete sie ihm regelmäßig Bericht. »Dann kam er zurück, er war sehr erschöpft, seine Hände zitterten, und er trank eine Menge. Später sagte er: ›Die wollen irgendein Feuer!‹« »Was für ein Feuer?« fragte der Graf verständnislos. Betty hob die Schultern. »Das sagte er wörtlich.« Der Graf nickte anerkennend, fürs erste zufrieden. Die Details würde er schon noch herausbekommen – und sie würden ihm den Weg ebnen an die Spitze dieser Organisation. Seine Ernennung zum Polizeipräsidenten würde nur noch eine Frage von Tagen sein… »Gut«, lobte er Betty. »Dieser Magier scheint Sie sehr liebgewonnen zu haben. Nutzen Sie diese Chance!« Betty schüttelte den Kopf. »Sie irren sich. Er liebt Valery.« Unmerklich zuckte der Graf zusammen, ließ sich aber nichts anmerken. Diese Information bestärkte ihn jedoch in seinem Entschluß, den verhaßten Rivalen, der ihn durch seine Schuldscheine in der Hand hatte, aus dem Weg zu räumen. Und zwar ohne Hinterlassung einer einzigen Spur. »Sie haben trotzdem Chancen«, ermutigte er Betty. »Denken Sie nur daran, wie Sie ihn im Lazarett gepflegt haben; er ist Ihnen zu Dank verpflichtet. Seien Sie viel mit ihm zusammen, zu seinem eigenen Besten. Wer mich von seinen Kontakten am meisten interessiert, ist die Frau von Hitlers engstem Vertrauten, die Frau des Doktors. Wenn Hanussen diese Frau
hypnotisieren könnte und würde, wäre sie in der Lage, durch ihren Mann die deutsche Politik, die gesamte Zukunft Deutschlands zu beeinflussen… Schließen Sie sich also enger an Hanussen an, werden Sie seine Geliebte!« Zu spät, dachte Betty und lächelte in sich hinein. Diese Zeiten waren vorbei, seit Hanussen ohne Valery nicht mehr leben zu wollen schien, seit Wally ihn verlassen hatte, seit Dagma fort war. Doch sie sagte nichts – schließlich war sie hier in der Absicht, Hanussen zu helfen und ihn vor unüberlegten Schritten zu bewahren. Und daß ihr seine Liebe zu Valery einfach so rausgerutscht war – dafür würde sie sich jetzt am liebsten die Zunge abbeißen. Aber es war zu spät. Der Graf stand auf und schrie zur Tür hinaus: »Schicken Sie Hauptmann Becker herein!« Er blieb in der Tür stehen und wartete, bis Betty hinausgegangen war. »Wenn Sie sich geschickt anstellen, können Sie Ihrem jüdischen Freund in die Schweiz folgen«, rief er ihr noch nach. Becker kam herein – der Mann, den Hanussen damals vor einem ganzen Publikum tödlich blamiert hatte, indem, er ihn erst in Hypnose versetzt und ihn dann hatte krähen lassen. Becker, der seitdem einen schwelenden Haß gegen den Österreicher mit dem dänischen Namen nährte… »Ad eins: Trommeln Sie die Herren zusammen, die vorgestern abend bei mir waren«, befahl der Graf. »Ad zwei: Schreiben Sie alle wichtigen öffentlichen Gebäude Berlins auf!« Krähen soll er, dachte Becker, krähen. Und er meinte nicht den Grafen…
48 Im Büro des Propagandachefs telefonierte der ›Doktor‹, vor ihm stand Hauptmann Becker stramm. »Ich glaube, wir müssen den Grafen aus Berlin entfernen«, sagte der Propagandachef ins Telefon. »Er hat Visionen über Feuer. Daß das Gericht, die Oper oder der Reichstag brennen werden. Er organisiert die Aristokraten unter den Offizieren, um einen eventuellen Brandstifter rechtzeitig zu entdecken. Einfach lächerlich… Er sagt, das wäre eine gute Gelegenheit, um die Kleinbürger aus der Nähe Hitlers zu entfernen… immer getreu der Volksweisheit: ›Du mußt deine Angehörigen schlagen, damit auch Fremde dich fürchten!‹« Daß der Graf ihn selbst im Verdacht hatte, an der geplanten Brandstiftung beteiligt zu sein – nein, das sagte der Propagandaminister nicht. Denn wie alle wußte auch er: Wo Rauch ist, ist auch Feuer, und er wollte mit der ganzen Angelegenheit nichts, aber auch gar nichts zu tun haben… Selbstverständlich schickte der Mann mit dem Klumpfuß auch an diesem Abend Beobachter in Hanussens Vorstellung. Und wie immer ging Hanussen auch an diesem Abend mit verbundenen Augen langsam durch den überfüllten Zuschauerraum. Er blieb neben einer hübschen blonden Frau stehen, berührte ihren Arm und sagte: »Der Gegenstand ist bei Ihnen, Madame. Ist er aus Gold? Nein. Silber? Auch nicht. Aber Metall… ja. Stahl. Ja, harter, kalter Stahl. Ein Stahlrohr. Es ist ein Revolver, Madame.« Der Hellseher riß sich das Tuch von den Augen. Die Frau lachte und zog aus ihrem Strumpfband die Waffe des neben ihr sitzenden Offiziers. Sie hielt sie hoch, dann nahm der Offizier sie ihr wieder ab.
Donnernder Beifall brandete auf, Hanussen betrachtete das sonderbare Paar. »Würden Sie bitte mit mir auf die Bühne kommen, meine Dame, und mir bei dem nächsten telepathischen Experiment helfen?« »Alleine?« fragte die Blondine. »Ja.« Sie erhob sich, und Hanussen führte sie auf die Bühne. Wally stand schon wartend im Rampenlicht und reichte Hanussen auf einem silbernen Tablett Kuverts. »Wally hat Ihre Fragen nach Ihrer Zukunft eingesammelt«, wandte Hanussen sich wieder an sein Publikum. Dann bat er die blonde junge Frau: »Bitte schauen Sie sich die geschlossenen Kuverts an, prüfen Sie, ob sie nicht durchsichtig sind, und reichen Sie sie mir dann einzeln. Zunächst finde ich die Fragen heraus, dann beantworte ich sie.« Der Scheinwerfer richtete sich auf Hanussen, dem Wally die Augen verband. Hanussen nahm einen Umschlag entgegen, preßte ihn zwischen seinen Handflächen und konzentrierte sich. »Mein Mann hat mich verlassen«, sagte er dann laut. »Kommt er zurück? Und wenn nicht – was wird dann aus mir?« Eine Frau in mittleren Jahren, die mit glühend roten Wangen im Zuschauerraum saß, seufzte hörbar auf. Hanussen hatte schon ein anderes Kuvert zwischen seinen Handflächen. »Habe ich die Krankheit meiner Mutter geerbt? Wie lange habe ich noch zu leben?« ›las‹ er. Im Zuschauerraum beugte sich ein blasser junger Mann aufgeregt vor. Hanussen nahm das nächste Kuvert entgegen. »Kann ich bleiben, wo ich bisher gelebt habe – oder ist es besser, ich gehe für immer fort? Ist es nicht zu spät…?«
Neue Kuverts. »Ich habe niemanden. Besteht Hoffnung?« »Soll ich das Abgeordnetenmandat annehmen?« Jetzt hielt Hanussen inne und erstarrte. »Abgeordneter?« fragte er ins Publikum. »Wo? Im Deutschen Reichstag?« Im Zuschauerraum erhob sich ein Herr und nickte. Hanussen fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. »Aber mein Herr!« rief er. »Im Reichstag?« Es verschlug Hanussen den Atem. Das war die Lösung! Im Reichstag hatten die Nazis noch keine Mehrheit. Die alten Parteien hatten eine Übernahme der Polizei durch SA und SS mit Mehrheit verhindern können. Die Schließung des Reichstags sei die erste Voraussetzung für die Erneuerung Deutschlands, hatte die Frau des Propagandaministers einmal zu ihm gesagt. Damals hatte er gelacht, aber nun… Bleich sah er sich im Zuschauerraum um. Eine eigenartige Kraft erfüllte ihn, alle Angst war wie fortgeblasen, und er hatte das Gefühl zu schweben. »Den Reichstag gibt es bald nicht mehr«, sagte er ruhig. »Er wird in Kürze in Flammen stehen.« Verblüfft sahen die Zuschauer ihn an – Menschen, von denen er sich auf einmal unendlich weit entfernt fühlte. Nein, mit dieser Welt hatte er nichts mehr zu tun, er war kein Künstler auf einer Bühne mehr – er war dem Himmel nahegerückt. »Ja, es ist der Reichstag«, wiederholte er, während Wally ihn angstvoll beobachtete. »Ich sehe die Flammen aus der Kuppel schlagen… Qualmwolken überall… Schwarze Rauchschwaden überziehen die ganze Stadt. Das Gebäude steht in Flammen. Wer hat es in Brand gesteckt?« Alle Warnungen, alle Versprechungen waren vergessen, als Hanussen jetzt aufschrie: »Der Reichstag wird brennen!« Gebannt saßen die Zuschauer vor ihm. Keiner wagte, zu klatschen oder zu reagieren. Angst lag über dem Saal.
Hanussen drehte sich um, verließ die Bühne und lehnte sich in den Kulissen an eine Säule. Er zitterte am ganzen Körper, sein Gesicht war naß von Schweiß, in seinem Blick lagen Erschöpfung, Erregung und – Triumph. Er war ein großer Hellseher, er hatte eine Mission erfüllt, er hatte die Wahrheit gesagt, als er seine Vision beschrieb. Ja -jetzt konnte er sich wieder in die Augen sehen.
49 Die Schlagzeilen des nächsten Tages ließen nicht lange auf sich warten. ›Hanussen sieht den Reichstag brennen‹ – ›Berlin in Flammen – eine okkultistische Vision bei Hanussen‹ – ›Feuer an der Spree? Der Reichstag in Flammen: Hanussens Vision‹ lauteten die Titelzeilen der Blätter am 27. Februar 1933. Den Propagandachef regte das alles nicht sehr auf – längst hatten ihm seine Spitzel die Ereignisse des vergangenen Abends genau geschildert. Nüchtern erteilte er nach der morgendlichen Konferenz Befehle durch das Telefon. Vor seinem Schreibtisch standen zwei Offiziere, einer von ihnen war Hauptmann Becker. »Alle Zeitungen sofort einziehen«, befahl der Propagandachef. »Die Exemplare bei den Zeitungsverkäufern vernichten, die bereits nach außerhalb geschickten wieder aus den Zügen holen. In den Nachmittagsausgaben alles zensieren, was sich auf Hanussen, Feuer, Prophezeiung und Zukunft bezieht. Ende.« Ein Urteil war gefällt. Nein, von diesem Wichtigtuer würde Goebbels sich seine Pläne ganz sicher nicht ruinieren lassen, von dem nicht. Denn er war sicher, daß Hanussen aufgrund von Informationen nichts ›gesehen‹, sondern ganz einfach Verrat begangen hatte. Und den würde im tausendjährigen Reich keiner überleben. Keiner, auch nicht die Verräter in den eigenen Reihen… Zum Auftritt bereit stand Hanussen am selben Nachmittag in seiner Garderobe. Wally trat ein, in der Hand eine Abendzeitung, die sie ihm blaß und wortlos reichte.
›Polizeioberst Graf von Trantow-Waldbach tödlich verunglückt‹ las Hanussen auf der ersten Seite. ›Mit dem Automobil in den Wannsee gestürzt.‹ Er riß seiner Frau die Zeitung aus der Hand und vertiefte sich in den Artikel. Da klopfte es an der Tür. Der Theaterportier trat ein, hinter ihm ein Offizier in Uniform. »Herr Hanussen – kommen Sie bitte mit!« sagte der Uniformierte. »Wohin?« fragte Hanussen. »Mein Vorgesetzter möchte dringend mit Ihnen sprechen«, erklärte der Offizier. Hanussen schüttelte den Kopf. »Gleich beginnt meine Nachmittagsvorstellung«, sagte er. »Kommen Sie doch danach wieder…« »Es tut mir leid, aber dies ist ein Befehl«, sagte der Offizier sachlich. »Verschieben Sie die Vorstellung.« Hanussen sah ihn entsetzt an. »Aber das Publikum sitzt schon drin!« »Dann ändern Sie eben die Reihenfolge – Sie treten später auf«, schlug der andere, nicht unfreundlich, vor. »Wie stellen Sie sich das vor?« Hanussen wollte seinen Ohren nicht trauen. Er hatte doch Freunde bei der Polizei – das würde ein Nachspiel haben! »Das ist nicht meine Sache«, bedauerte der Uniformierte. »Kommen Sie, wir müssen gehen!« Wally mischte sich ein. Schon im Bühnenkostüm, stellte sie sich zwischen die beiden Männer. »Wohin bringen Sie ihn? Ich komme mit!« »Sie erschweren uns die ganze Angelegenheit nur unnötig, meine Dame«, meinte der Offizier unbehaglich. »Das interessiert mich nicht«, insistierte Wally. »Ich komme mit!«
»Wer sind Sie?« »Seine Frau«, antwortete sie ruhig. »Gut, kommen Sie mit, wenn Sie unbedingt wollen.« Hintereinander verließen die vier Menschen die Garderobe. Der Portier in Richtung Direktion, um den Direktor zu informieren, die anderen in Richtung Bühneneingang, vorbei an den Kulissen, vorbei am goldenen Buddha. Die Bühnenarbeiter sahen ihnen verblüfft nach. Auf einen Wink des Offiziers stieg Hanussen auf den Beifahrersitz des großen Mercedes, während hinter ihm Wally und der Offizier Platz nahmen. Erst jetzt erkannte Hanussen den Chauffeur: Hauptmann Becker, der ihn mit einem bösen Lächeln begrüßte und Wally zuwinkte. »Herzlich willkommen… nicht gerade taktvoll von Ihnen, Hanussen, eine Dame mitzubringen!« »Wohin bringen Sie uns?« fragte Hanussen unbehaglich. »Es war ein Fehler, den Reichstagsbrand zu prophezeien«, sagte Becker statt einer Antwort. »Warum haben Sie das getan? Sind Sie Kommunist?« »Nein, das bin ich nicht«, antwortete der Hellseher. »Warum nicht?« wollte Becker wissen. »Ich glaube nicht an die Gleichheit«, gab Hanussen zurück. »In Ordnung«, stimmte Becker zu, »dann beschützen wir Sie jetzt vor den Kommunisten. Schade, daß wir Sie nicht vor sich selbst beschützen können… Ich beneide Sie um Ihre Hemmungslosigkeit, mit der Sie alles erreicht haben – bisher. Sie haben vornehme Damen gevögelt – oh, Verzeihung! Diese Damen mußten Sie natürlich vorher hypnotisieren, und außerdem waren sie alle dumme Gänse, Nutten in Nerzen, stimmt’s, junge Dame? Was würden Sie davon halten, jetzt von einem eifersüchtigen Ehemann umgebracht zu werden? Von einem Mann, der noch so viele andere Frauen hat…« Becker lächelte maliziös.
»Das würde Ihnen niemand glauben!« protestierte Hanussen. »Niemand! Mich mögen die Leute! Ich bin beliebt!« »Schon möglich«, stimmte Becker zu. »Aber ich möchte jetzt nicht in Ihrer Haut stecken!« Hanussen fand zu seinem gewohnten Hochmut zurück. »Es wird eine Zeit kommen, wo Sie nicht in Ihrer eigenen Haut stecken möchten«, kündigte er arrogant an. Becker warf ihm einen beinahe mitleidigen, aber auch grausamen Blick zu – endlich hatte er seine Rache, auf die er sich schon so lange gefreut hatte. »Wissen Sie denn nicht, bei wem Sie sich befinden?« fragte er. Wo er sich befand, wurde Hanussen nach einem Blick nach draußen bald klar. Der Wagen ließ Potsdam hinter sich und fuhr über einen Waldweg, erreichte eine Lichtung und blieb vor einem Abgrund stehen. Der junge Offizier stieg aus. Hinter den Bäumen traten mehrere Uniformierte hervor, die Wally und Hanussen unsanft aus dem Auto zerrten. Becker trat zu Hanussen. »Na, Hanussen, können Sie Ihre Zukunft schon sehen?« Seine Stimme triefte vor Hohn. Hanussen stand stumm und blaß da, ohne sich zu rühren. »Wir helfen Ihnen«, tröstete ihn Becker zynisch. »Wir verbinden Ihnen die Augen, da sehen Sie besser!« Der andere Offizier band Hanussen ein schwarzes Tuch vor die Augen. Schweiß rann ihm über die Stirn. Becker schüttelte besorgt den Kopf. »Unheimlich, wie stark Sie schwitzen«, stellte er fest. »Müssen Sie mal Wasser lassen? Oder sich übergeben? Ich habe mal gehört, wenn jemand seine Zukunft so genau kennt wie Sie, dann übergibt er sich oder macht sich in die Hosen. Sie haben große Angst, Hanussen. Hat Ihr Mann auch sonst soviel Angst, meine Dame?« Entsetzt, kaum hörbar flüsterte Wally: »Ja.«
»Wovor?« fragte Becker neugierig. »Ein so hemmungsloser, eingebildeter, aufgeblasener Gockel wie er?« »Er ist nicht eingebildet, das sieht nur so aus«, brachte Wally hervor. »Hat der Schwindler Sie auch hereingelegt?« wollte Becker wissen. »Ich bin kein Schwindler«, krächzte Hanussen heiser. »Dann haben wir uns eben geirrt«, bedauerte Becker. »Aber die Nachwelt wird Sie sicher rehabilitieren.« Hanussen richtete sich auf. »Mich können Sie nicht so einfach verschwinden lassen«, wagte er einen letzten Protest. »Ich bin hier jemand!« »Ja…?« fragte Becker gedehnt. »Also, sehr geehrter Herr Jemand – dann träumen Sie jetzt. Und Sie werden schlafen und auch nicht mehr aufwachen, bis der Hahn im Morgengrauen dreimal kräht. Nur – der Hahn sind Sie! Los, hinauf auf den Baum mit Ihnen!« Hanussen bewegte sich nicht. Becker zog seinen Revolver hervor und schoß in den Boden vor Hanussens Füßen. »Los, auf den Baum!« schrie er. Hanussen drehte sich zitternd um, tastete mit verbundenen Augen nach dem Baum und kletterte an den Ästen hoch. »So«, nickte Becker zufrieden. »Nun hocken Sie sich auf einen Ast, Sie Hähnchen! Und nun krähen Sie!« Hanussen klammerte sich krampfhaft an dem Ast fest. »O Gott«, flüsterte er, »hilf mir, daß ich nicht krähe! Hilf mir!« Becker schoß und traf Hanussen am Arm. Da begann dieser verzweifelt zu krähen. Die Soldaten grölten, Becker lächelte. Auf diesen Augenblick hatte er lange gewartet. »Noch mal!« verlangte er. »O Herr, gib mir die Kraft!« stöhnte Hanussen.
Der Hellseher preßte die Lippen zusammen und krähte nicht mehr. Becker schoß ein zweites Mal, und Hanussen stürzte von seinem Ast auf den Boden. Als Wally sich schreiend auf Becker stürzte, erschoß der andere Offizier sie kaltblütig mit einem einzigen Schuß. Er hatte präzise ins Herz getroffen, die junge Frau bewegte sich nicht mehr. Hanussen, der nichts sehen konnte, versuchte aufzustehen und sich das Tuch von den Augen zu reißen. Schließlich gelang es ihm soweit, daß er sehen konnte, was vorgefallen war. Mit einem irren Blick strahlte Becker Hanussen an und schrie: »Sie Magier, Sie sind kein Magier mehr! Hellseher, Sie sind kein Hellseher mehr! Sie sind kein Prophet mehr. Aus! Es gibt Sie überhaupt nicht mehr!« Mit letzter Kraft versuchte Hanussen, sich auf Becker zu konzentrieren, ihn zu fixieren, als wären sie zu zweit auf einer Bühne. Er blickte ihn intensiv an, und Becker erstaunte die lähmende Wirkung dieses Blickes. »Sie können mich nicht einschläfern?« fragte er dennoch spöttisch. »Versuchen Sie es doch… Ich würde noch ein wenig kämpfen an Ihrer Stelle. Nein, funktioniert es nicht? Aber die Zukunft – die können Sie noch sehen, oder?« Hanussen legte all seine Kraft in seinen Blick. »Ich werde überleben«, sagte er, kaum hörbar, »denn ich sage euch, ihr werdet untergehen! Ich habe es gesagt!« Becker grinste. »Na, dann sage ich Ihnen mal Ihre Zukunft voraus: Und die Heiden reißen dem Propheten Hanussen die Zunge heraus, damit er nichts mehr prophezeie, und sie drücken ihm die Augen aus, damit er die Zukunft nicht mehr sehe…« Becker winkte zwei Soldaten herbei. »Erledigt ihn!« befahl er. Hanussen nahm seine Kraft zusammen, richtete sich auf und lief wankend auf die Schlucht zu.
Die Soldaten richteten ihre Waffen auf ihn und schossen. Hanussen stürzte. Unter dem schwarzen Tuch strömte Blut hervor. Sein Gesicht war blutüberströmt – so, wie die Zigeunerin im Feldlazarett es ihm einst prophezeit hatte. Unbeweglich lag sein Körper am Rande der Schlucht, bis ihn Becker und der andere Offizier in den Abgrund stießen. Wally ließen sie einfach liegen.
50 Auch der Portier, der die Verhaftung miterlebt hatte, verschwand spurlos. »Mochte Hanussen ein Scharlatan gewesen sein oder nicht – daß man meinen Hauptdarsteller vor der Vorstellung einfach aus meinem Theater entführt, unterschreibe ich nicht«, sagte der Direktor des ›Scala‹ und emigrierte noch am selben Tag. Eine Pressemitteilung erregte die Gemüter: Hanussen habe einen Nervenzusammenbruch erlitten und könne einige Monate nicht auftreten. Betty reiste nach Zürich- zu Dr. Bettelheim. Sie sprachen oft von Hanussen. Valery verschwand aus Berlin – sie fuhr zu Dagma nach Paris. Wochen später wurden die Leichen von Hanussen und Wally gefunden. In einer Presse-Erklärung äußerte der Propagandaminister sein Bedauern über den Verlust und formulierte den Verdacht, Hanussen sei ›ein Opfer der Unterwelt‹ geworden. Lange vorher jedoch, einen Tag nach dem Mord, brannte der Reichstag.