Norah Lofts
Haus der sieben Leben Inhaltsangabe Ein Haus, nicht größer, nicht schöner, nicht auffallender als andere. ...
28 downloads
1205 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Norah Lofts
Haus der sieben Leben Inhaltsangabe Ein Haus, nicht größer, nicht schöner, nicht auffallender als andere. Doch ein Haus, erfüllt von Menschen und ihren Zeiten. Sieben Generationen schildern sich selbst. Mehr als zweihundert Jahre, die das Haus prägen und deren Menschen das Haus erlebt. Elende Armut, rauschender Reichtum, Unvermögen, Geldsucht, Habgier, teuflische Niedertracht, Mord. Die Bewohner des Hauses spiegeln die Skala menschlicher Leidenschaften wider. Beruflicher Aufstieg, hingebungsvolle Liebe, zerrüttete Ehe. Das Haus hat sich inzwischen äußerlich verändert. Läden sind entstanden, kleine dürftige Wohnungen. Das Haus soll abgerissen werden. Da kauft es eine Frau, deren Ehemann sie verlassen hat, mit den letzten Ersparnissen einer Erbschaft. Eine Geschichte - breit, weitläufig und stark, wie eben ein Haus.
Aus dem Englischen übersetzt von Maria Raschke. Die Originalausgabe erschien unter dem Titel THE HOUSE AT SUNSET. Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln
© 1972 by Norah Lofts © 1975 für die deutsche Ausgabe by Franz Schneekluth Verlag KG, München Gesamtherstellung: Bercker Graph. Betrieb GmbH, Kevelaer Schutzumschlag: Roberto Patelli Printed in West-Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
Erster Teil Felicity Hattons Geschichte (um 1740)
1
M
it sieben Jahren war ich eine geschickte Taschendiebin. Ich konnte ferner recht ordentlich nähen, leidlich schreiben und ein wenig tanzen, ich konnte einen Knicks machen und mich artig vorstellen sowie einfache Liedchen auf dem Cembalo klimpern. Für mich lag kein Widerspruch darin, daß ich mich in den übel riechenden Gassen in der Gegend um Aldermanbury Postern ebenso zu Hause fühlte wie in den Salons der St. Albans Street, und ich fand nichts dabei, einen Tag barfuss herumzulaufen und am folgenden in Seidenstrümpfen und Brokatschuhen zu stolzieren. Meine sieben stürmischen Lebensjahre waren im jähen Wechsel zwischen Armut und Wohlstand vergangen, je nachdem, ob das Glück meinem Vater am Spieltisch hold war oder nicht. Als ich sieben und Vater achtunddreißig war, spielte er seit einundzwanzig Jahren Karten, seit dem Tage nämlich, da er als siebzehnjähriger Bursche in die Stadt geschickt wurde, um bei einem Fleischer in Smithfield das Geld für ein Paar Ochsen abzuholen, die für den Weihnachtsmarkt bestimmt waren. In einer Kneipe geriet er unter Kartenspieler, verlor das ganze Geld und brachte die Nacht auf der Straße zu. Anderntags verkaufte er Mantel, Hut, Weste und Hemd und kehrte mit dem Erlös in der Faust zum Spiel zurück. Wie er lachend zu erzählen pflegte, brauchte er drei Tage, um die Summe zurückzugewinnen. Er schickte das Geld seinem Vater in Suffolk mit der Botschaft, er habe seine Berufung entdeckt und komme nicht mehr nach Hause. »Niemand hat mich vermisst, wir waren acht Kinder«, sagte er dann wohl. Vaters gute Laune war unerschütterlich trotz seiner roten Haare, die angeblich ein jähzorniges Temperament anzeigen sollen. Ich weiß nur, daß ich ihn niemals fassungslos gesehen habe. Er kam heim und sagte 2
zu Mutter: »Annabel, wir sind ruiniert«, oder »Annabel, wir sind reich« mit solcher Gelassenheit, daß ein zufällig in der Stube weilender tauber Gast nicht gewußt hätte, ob er eine gute oder schlechte Nachricht brachte. In zwei Dingen war er Mutter und mir voraus. Wenn unser Glück sich abgewandt hatte und wir im Elend lebten, konnte er weiter seine Stammlokale und Bekannten aufsuchen, denn seine guten Kleider wurden nie verkauft oder verpfändet: der Anzug, die goldene Uhr und der Stock mit der Silberkrücke waren sein Einsatzkapital, ohne das ihm alle Türen verschlossen gewesen wären. Durch seine Kleidung und sein elegantes Auftreten hob er sich dann leuchtend vom dunklen Hintergrund unserer Not ab. Aus dem schmutzigen Hinterhofzimmer eines Elendsquartiers tauchte er ebenso adrett, sauber und selbstbewusst auf wie ein Rassekater. Jedermann kannte ihn unter dem Namen ›Gentleman Johnny‹ – in Wirklichkeit hieß er Christopher –, und seine Ansichten über die Vorzüge eines Rennpferdes oder Preisringers wurden begierig aufgenommen und hoch geschätzt. Heute weiß ich, daß meine Mutter ihn unwiderruflich und tief geliebt haben muß, denn das ständige Auf und Ab, alle Umschwünge, Demütigungen und Erschütterungen nahm sie ohne Klagen hin. Dabei war sie eine stolze Frau mit einem starken Charakter. Ich hatte stets ein wenig – und oft mehr als nur ein wenig – Angst vor ihr. Es klingt beschämend, aber in unseren bösen Zeiten freute ich mich, wenn sie über kurz oder lang Arbeit suchen mußte und sich ihrer Aufgabe, mich ordentlich zu erziehen, nicht mehr genügend widmen konnte. Die Erziehung, mit der sie mich in Vaters reichen Zeiten überhäufte, konnte nämlich sehr langweilig sein. Mutter selbst hatte eine gute Erziehung genossen. Als sie Vater heiratete, war sie Waise und verfügte über ein zwar kleines, aber sicheres Einkommen, welches seither längst den Weg allen Geldes gegangen war, das Christopher Hatton jemals in die Finger bekommen hatte. In Zeiten, in denen es uns schlecht ging, verdiente Mutter ein wenig hinzu dank zweier Fertigkeiten, die sie sich angeeignet hatte: sie konnte gut frisieren und verstand sich auf das Waschen und Bügeln feinster Leibwäsche. Manchmal gelang es ihr, bei einem Theater unterzu3
kommen, wo sie beide Gaben entfalten konnte, oder sie warb Kundinnen unter den Damen gehobenen Standes, die keine Zofe beschäftigten und nur hin und wieder gepflegt aussehen wollten. Wenn sie dann endlich einen mehr oder weniger ständigen Kundenstamm aufgebaut hatte, wendete sich das Glück zu Vaters Gunsten, und wir zogen um in jene andere Welt, in der nun sie ihr Haar richten und ihre Wäsche waschen lassen konnte. Nun hatte sie auch Zeit, mit aller Energie und Zielstrebigkeit die versäumte Erziehung bei mir nachzuholen. Wir hatten keine Freunde, die Zeit war zu kurz. Wohl ergab sich in den vornehmen, oft sogar luxuriösen Logis, in denen wir unsere Wohlstandsperioden zubrachten, manche Bekanntschaft mit Hausgenossen und Nachbarn. Es gab Teegesellschaften, Musikabende, Theaterbesuche und Landpartien. Aber alle Freundschaften brachen bald ab, denn unweigerlich kam der Morgen, an dem Vater sagte: »Annabel, wir sind ruiniert.« In solchen Momenten erlaubte sich Mutter einen kurzen Abstecher von ihrer sonst so großen Wahrheitsliebe und verkündete allen, die sich für unser Wohlergehen interessierten, wir zögen uns aufs Land zurück. Danach begann die lange verzweifelte Suche nach einer jener seltenen, billigen Unterkünfte, in der keine Prostituierten hausten. Mutter verabscheute Dirnen und erkannte sie auf fünfzig Meter Entfernung. Zu ihrer Rechtfertigung sei erwähnt, daß sie ein ebenso scharfes Auge für die Art weiblicher Wesen besaß, die sie als ›anständige arme Frauen‹ bezeichnete und deren Obhut sie mich anvertraute, wenn es wieder einmal soweit war und sie sich nach Arbeit umsehen mußte. Die Regeln, nach denen sich mein Betragen in den besseren oder übelsten Wohngegenden zu richten hatte, waren verschieden, aber gleichermaßen streng. In Houndsditch, Aldermanbury oder irgendeinem anderen verrufenen Viertel hatte ich für mich zu bleiben und durfte nicht mit anderen Kindern auf der Gasse spielen. Mir war auch verboten, mit jemand zu sprechen oder in eine fremde Wohnung zu gehen, ausgenommen in die jener gewissen ›anständigen Frau‹, falls es sie in der Nachbarschaft gab. Natürlich hielt ich mich nicht an die Vorschriften. Unwiderstehlich lockte mich das Leben der Straße, ich war jung, neugierig und jeder4
zeit bereit, mich meiner Umgebung anzupassen. Vater spielte weiter seine Rolle als Gentleman Johnny, und Mutter brachte es fertig, immer als eine Art höheres Wesen über mir zu stehen. Was auch geschah, sie blieb die kühle und vernünftige Mrs. Hatton, die genau wußte, was zu tun war. Sie war freundlich, aber so, daß man sich neben ihr oft albern vorkam. Ich war ja nur ein Kind, viel zu klein geraten für mein Alter und im Besitz eines leuchtend roten Haarschopfes. Hätte ich gehorcht und die Gebote eingehalten, insbesondere das Verbot, allen anderen Leuten fernzubleiben, das Leben hätte für mich allen Reiz verloren. Wer kann genau sagen, an welchem Tag er die Gesetze der Welt zu verstehen beginnt? Irgendwann, noch vor meinem fünften Geburtstag, hatte ich erkannt, daß es in jeder Gasse eines Slumviertels zwei Banden gibt, jede angeführt von einem Jungen, der seinen Anspruch auf den Rang eines Anführers so offen zur Schau trägt, als hinge ihm ein Abzeichen um den Hals. Und zwar ist es immer der kleinere, körperlich unterlegene der beiden Anführer, der am meisten zu fürchten ist. Jeder Neuling in der Gegend tat gut daran, sich so bald wie möglich mit diesem Jungen anzufreunden. Nachdem ich das begriffen hatte und meine Erfahrung in die Tat umsetzte, hatte ich ein leichtes, ja vergnügliches Leben auf der Straße. Alle Banden, denen ich vor meinem siebten Jahr kurzfristig angehörte, bestanden aus sehr jungen Mitgliedern, da die Kinder der Armen früh zur Arbeit angehalten werden. Unser Treiben erschöpfte sich in lärmenden Spielen und recht harmlosen Streichen, manchmal bettelten wir. Als ich sechseinhalb war, zogen wir nach einer längeren Wohlstandsperiode in ein Haus in der Tun's Yard, einer Sackgasse, die hinter dem Markt von Covent Garden gelegen ist. Dort lernte ich einen Jungen namens Fingers kennen. Sogar für mich war neu, daß er niemals ein Zuhause gehabt und, wie er sagte, seine Eltern nie gekannt hatte. Er behauptete, auf einem Sack in einer Marktecke geboren worden zu sein, wo man ihn wie ein lästiges junges Kätzchen liegen ließ. Ich sagte: »Irgend jemand muß dir zu essen gegeben haben, sonst wärst du gestorben.« Das gab er zu, sagte jedoch, als erstes erinnere er sich daran, daß er an einer ro5
hen Rübe nagte. Das mochte stimmen, wenn er auch als neugeborenes Baby Milch bekommen haben mußte. Jedenfalls aß er mit Vorliebe Rüben, auch dann, wenn unsere Bande einen guten Fischzug gemacht hatte, und Fingers zwischen Fleischpastete, Schweinsfüßen und Räucheraal hätte wählen können. Wie alt er war, wußte er nicht. Mir schien er groß, fast erwachsen. Seine Bande gab sich nicht mehr mit Spielen oder Streichen ab, jeder Junge war ein geübter Taschendieb. Innerhalb von zwei Wochen gehörte ich dazu und wurde zum anerkannten Bandenmitglied. Wir waren überall, wo eine Menge zusammenlief. Gab es keine, dann sorgten wir selber dafür, etwa indem einige Jungen ein Rad schlugen oder sich prügelten. Wir sangen Spottlieder auf bekannte Persönlichkeiten, und einer verstand es, die Predigt eines verrückten Pfarrers nachzuahmen. Und so weiter; was immer die Leute zum Stehen und Gaffen brachte, war uns recht. Dann drängelten sich zwei oder drei von uns dahin, wo es am dichtesten war. Es klang merkwürdig, wenn einer schimpfte: »Paß doch auf, du Flegel, du trittst mir auf die Füße«, anstatt zu rufen: »Er hat meine Börse gestohlen!« Besonders kam mir zustatten, daß ich so klein war – noch mit sieben sah ich wie eine Fünfjährige aus – und außerdem zwar ärmlich, aber immer sauber und adrett gekleidet war. Keiner hielt mich für ein Straßenkind. Damals war ich hübsch und konnte lispeln, wenn es nötig schien. Als ich einmal auf frischer Tat ertappt wurde, kam ich, ohne den geringsten Argwohn zu erregen, davon. Mein Opfer an jenem Tag war ein überaus vorsichtiger Mann, der an alle Eventualitäten gedacht und seine Uhr an der Tascheninnenseite befestigt hatte, so daß sie mir nicht in meinen federleichten Zugriff glitt, sondern einen Ruck an der Weste verursachte. Er schaute herab und sah mich, noch mit der Hand in seiner Westentasche. Zum Überlegen war keine Zeit, und es muß Instinkt gewesen sein, daß ich meine Hand nicht zurückriß, sondern ihn anlächelte und sagte: »Die is hübs.« »Du bist auch hübsch, Kleine«, antwortete er. Ich machte einen Knicks. »Dankesön.« »Wo ist denn deine Mutter?« 6
Ich erkor eine würdige Matrone am Rande des Gedrängels. »Da drüben. Wiedersehen.« »Du solltest lieber dicht bei ihr bleiben«, rief er mir nach.
Zum anderen verdankte ich meine Beliebtheit bei der Bande der Tatsache, daß ich nie meinen vollen Anteil der Beute beanspruchte. Was ich nach Hause brachte, wollte erklärt sein, deshalb begnügte ich mich gewöhnlich mit so viel, wie nötig war, um mich an Pfefferkuchen oder Fleischpastete satt zu essen. Als wir einmal daheim völlig blank waren, brachte ich einen Shilling mit und sagte, ich hätte ihn auf der Straße gefunden. Als ich älter war und nicht mehr so oft von ›anständigen armen Frauen‹ beaufsichtigt wurde, kam ich oft mit Lebensmitteln heim, für die ich jedes Mal eine andere Geschichte erfand. »Da war ein Heringsverkäufer, sein Korb brach auseinander. Ich half ihm beim Auflesen, und da schenkte er mir vier Fische für die Mühe.« – »Eine Frau im Backhaus bat mich, ich solle ihr einen Kuchen heimtragen. Dafür hat sie mir die Brötchen geschenkt.« Auch hütete ich mich sehr, jemals in Mutters Hörweite ein Schimpfwort zu benutzen oder so zu sprechen, wie ich von meinen Freunden aufgeschnappt hatte. Ich wuchs sozusagen zweisprachig zwischen der Gaunersprache der Cockneys und dem affektierten Gerede eines behüteten kleinen Mädchens auf. So führte ich mein Doppelleben, und der einzige Hinweis dafür, daß mit mir etwas nicht ganz geheuer war, zeichnete sich im Verhalten jener echten wohlerzogenen Mädchen ab, mit denen ich in unseren guten Zeiten zusammenkam. Gewaschen und gekämmt, im Musselinkleidchen mit Seidenschleifen wurde ich von Zeit zu Zeit in die Tanzschule, in zwei Fällen sogar in eine richtige Mädchenschule geschickt. Es war stets dasselbe: im Nu witterten die anderen Kinder den Eindringling in mir. Ich meinerseits verachtete sie, wenn ich mir vorstellte, wie lange sie sich wohl in Tun's Yard durchgesetzt hätten. Ich war gewohnt, das Blaue vom Himmel zu lügen, wenn auch bis zu meinem elften Geburtstag meine Lügen mehr einen praktischen 7
Zweck erfüllten, als völlig frei erfunden waren. An diesem Tag war unsere Familie tiefer als je in Bedrängnis. Vater hatte seit endlosen Wochen nichts gewonnen, und Mutter mußte sich anstatt mit feiner Leinenwäsche mit groben Stücken plagen. Wir waren eine Wochenmiete für unser winziges Zimmer schuldig und mußten ausziehen, wenn wir nicht bis Samstag bezahlten. Vater betrachtete sein letztes gutes Hemd und stellte fest, daß es völlig abgetragen war. Mutter seufzte: »Nun, da hilft nichts, jetzt ist es soweit.« Sie nahm eine Schere, trennte damit eine Naht ihres Mieders auf und zog einen Ring hervor. »Meine Großmutter Allison gab ihn mir auf dem Sterbebett«, sagte sie. »Er war mir immer zu klein, deswegen hab' ich ihn nie getragen.« Ich bekam den Auftrag, den Ring ins Leihhaus zu bringen. Mutter gab mir genaue Instruktionen. Es handle sich um einen goldenen Ring mit einem Smaragd, und ich dürfe nicht weniger als ein Pfund für ihn nehmen. Sie steckte ihn mir an den Mittelfinger, und ich mußte die Hand zur Faust ballen. Schwer zu sagen, warum uns der eine oder andere Gegenstand plötzlich begehrenswert erscheint. Selten in meinem Leben habe ich mir etwas so heiß gewünscht wie diesen Ring an meinem Mittelfinger, der meine knochige, braungebrannte Kinderhand verzauberte. Das war sein Platz und dort sollte er, soweit ich zu bestimmen hatte, auch weiterhin bleiben. Ich rannte los, um Fingers zu suchen, den ich schließlich auf einem Hof, wo er gelegentlich schlief, aufstöberte. Ich erklärte ihm, daß ich ein Pfund brauchte, und erinnerte ihn daran, wie oft ich mich mit weniger als meinem vollen Anteil an der Beute beschieden hatte. Er stimmte mir zu und sagte, daß er mir sogar mehr als ein Pfund schuldig sei, im Augenblick jedoch keinen Penny in der Tasche habe. Wenn ich das Geld sofort haben wollte, mußten wir ein Ding drehen. Da wir nur zu zweit waren, entschieden wir uns für den Trick mit dem Anfall. Fingers' Anfälle wirkten erstaunlich echt. In letzter Zeit war mir der Spaß an Taschendiebstählen vergangen, je mehr mir bewußt wurde, daß dies kein Spiel war. Aber an jenem Tag 8
ging alles gut, wenn man davon absah, daß eine gutherzige Frau Fingers einen Eimer Wasser über den Kopf goß, um ihn wieder zu sich zu bringen. Wir erbeuteten zwei Uhren, die eine mit schweren Anhängern an der Goldkette, und ein Armband, und Fingers zog wie immer allein ab, um die Beute zu verhökern. Niemand von uns wußte, zu wem Fingers das Diebesgut brachte. Ich wartete auf ihn, wie er befohlen hatte. Es dauerte lang, bis er wiederkam und mir einen Sovereign in die Hand drückte. Mittlerweile war es spät geworden, aber noch nicht spät genug für meinen Plan. Wir verzehrten eine große Portion Schweinsfüße und tranken Kaffee an einem Stand, bevor wir uns trennten. Kurz vor unserer Behausung rieb ich mir Augen und Nase, bis sie rot und geschwollen aussahen. Meine Eltern warteten voll ängstlicher Erregung auf mich. Ich erzählte, ich sei in ganz London herumgelaufen, in jedem Leihhaus, bei jedem Gold- und Silberschmied sei ich gewesen und überall habe man gesagt: der Ring sei wertlos, die Einfassung kein Gold, sondern eine geschickte Nachahmung, und der grüne Stein sei Glas. Niemand wollte mir auch nur einen Shilling dafür geben. Mochte Vater auch ein leichtsinniger Spieler sein, soweit ich ihn kannte, war er grundehrlich, und Mutter war die Aufrichtigkeit in Person. Keinem der beiden fiel ein, mir zu misstrauen. Vater ärgerte sich, daß er ohne ordentliches Hemd nicht aus dem Haus konnte. Mutter war betroffen über meinen Misserfolg. Wieso, fragte sie, ein billiges Metall hätte in all der Zeit anlaufen müssen, und der Stein wäre längst verkratzt, wenn er aus Glas wäre? »Warum hätte mir Großmutter den Ring geschenkt, wenn er nichts wert ist?« »Gefühlsduselei«, sagte Vater. »Alle Frauen neigen dazu.« In seiner Stimme klang leise sein Ärger darüber an, daß Mutter den Ring in so vielen kritischen Situationen vor ihm verschwiegen hatte. Ich ließ die schlechte Nachricht lange genug wirken und verkündete dann: »Aber ich hab' das Geld.« »Was für Geld?« 9
»Das Pfund, das ihr braucht.« »Um Himmels willen, wie ist das möglich?« »Ein Herr hat es mir geschenkt. Ich weinte laut, da blieb er neben mir stehen und fragte, was los sei. Da hab' ich ihm alles erzählt.« Ich schniefte durch die Nase und warf Vater einen verstohlenen Blick zu. »Er sagte, er habe gerade eine hübsche Summe beim Hahnenkampf gewonnen, und auf ein Pfund mehr oder weniger würde es ihm nicht ankommen.« »Genauso habe ich auch oft getan, wenn ich Glück gehabt hatte«, warf Vater ein. »Einmal war da in der Drury Lane ein altes Weib…« »Wo ist das passiert?« unterbrach ihn Mutter. »Vor der St.-Anna-Kirche«, erzählte ich weiter. »Ich kam gerade aus einem Laden in der Leicester Street.« Ich hoffte, durch die Erwähnung einer Kirche meinem Märchen einen Schimmer von Ehrbarkeit aufzupfropfen. Aber Mutter gab sich noch lange nicht zufrieden. Hatte ich den Mann früher einmal schon gesehen? Würde ich ihn wieder erkennen? Hatte er sich nach meinem Namen erkundigt? Und so fort. Ich blieb fest bei meiner einfachen Erklärung: ich hatte vor Enttäuschung geweint, und der Mann hatte, um mich zu trösten, mir das Geld geschenkt. »Waren noch andere Leute in der Nähe?« »Aber ja, eine ganze Menge. Sie kamen aus der Kirche; ich glaube, der Gottesdienst war grade zu Ende.« Das schien sie zu beruhigen. Ich wußte sehr wohl, woran sie dachte, und war nicht überrascht, als sie einige Tage später ein aufklärendes Gespräch begann über die Gefahren, die auf einsame und unvorsichtige Mädchen lauern. Meine arme Mutter war schrecklich verlegen und wurde hin und her gerissen zwischen ihrer natürlichen Zurückhaltung in diesen Dingen und ihrer Pflicht, mich davor zu warnen. Hätten wir uns wirklich gut verstanden, so hätte ich sagen können: »Mach dir keine Mühe, das alles weiß ich längst.« Das war ganz unmöglich, also schwieg ich, und sie stotterte errötend und entschuldigte sich fast bei mir, daß die Menschen nun einmal so seien. Es war eher ein Beweis für ihre eigene Unschuld, daß sie glauben konnte, ich 10
hätte bei unserer Lebensweise elf Jahre alt werden können, ohne etwas zu bemerken. In unserem Viertel war es nichts Ungewöhnliches, daß sich ein Paar unter einem Torbogen liebte und nicht weit von der Stelle, wo Mutter mit ihrem roten Gesicht saß, hätte ich ihr ein Mädchen zeigen können, das in einschlägigen Kreisen unter dem Namen ›Polly macht es für zwei Penny‹ bekannt war. Allerdings beruhte mein Wissen nur auf Hören und Sehen, ich selbst hatte keinerlei eigene Erfahrung. Wohl lief ich mit Fingers und seiner Bande herum, wir alle gebrauchten hässliche Wörter und unflätige Redensarten und lachten über dreckige Witze, jedoch kam es innerhalb der Bande nie zu sexuellen Beziehungen. Vielleicht ging es gegen die Gaunerehre, ich vermute heute aber eher, daß die unterernährten Burschen, die den ganzen Tag unterwegs waren, um sich den Magen voll stopfen zu können, und nachts irgendwo unterkrochen, viel zu erschöpft waren. Zumindest wurden ich und noch ein oder zwei Mädchen, die vorübergehend zur Bande gehörten, immer wie Jungen angesehen und behandelt. Wenn Fingers und seine Kumpane überhaupt an Sex dachten, schwärmten sie von fetten, aufgedonnerten Huren. Mutter schloß ihre Rede mit der Bemerkung, es sei ein Zeichen mangelnder Erziehung, hemmungslos auf offener Straße zu weinen. Sie bemerkte nicht den Widerspruch und die Komik in ihren Worten. Um sie nicht anschauen zu müssen, starrte ich auf meine nackten Füße. Dann wagte ich zu fragen: »Und was ist mit dem Ring?« »Ich will ihn nicht mehr«, sagte sie bitter. »Er hat mir in der Stunde der Not auch nichts genützt.« »Aber er ist hübsch.« »Wenn er dir gefällt, kannst du ihn behalten«, antwortete Mutter. Von da an trug ich den Ring in schlechten Zeiten tagsüber an einem Band um den Hals und nur nachts am Finger; in guten Tagen trug ich ihn offen zur Schau und überredete Mutter sogar einmal, mir ein Samtkleid zu nähen, dessen Farbe genau zum Smaragd paßte.
11
2
Z
wei weitere, wechselvolle Jahre gingen vorüber. Mutter begann sich um meine Zukunft zu sorgen und nannte immer häufiger den ominösen Namen einer Miss Bellsize. Mutter entschied, daß ich ein ordentliches Handwerk erlernen sollte, und bedauerte nur, selber nichts gelernt zu haben, was ihr in geldknappen Zeiten wirklich weiterhalf. Durch ihre Arbeit beim Theater und bei den Bürgersfrauen wußte sie gut Bescheid über die neueste Mode. Von Jahr zu Jahr wurden die Kleider pompöser gefältelt und gerafft, immer größere Stoffmengen wurden von Tausenden Stichen gehalten. Eine gut ausgebildete Schneiderin, überlegte sie, würde nie über Arbeitsmangel klagen. Ich sollte zu Miss Bellsize in die Lehre, einer Frau, die Mutter insgeheim glühend beneidete. Mir waren alle Näharbeiten von Grund auf verhaßt. Zu den Plagen unserer Wohlstandsperioden gehörten kunstvolle Stickereien, die Mutter mir in ihrer Freizeit beibrachte. Daß die Handarbeiten trotzdem ordentlich ausfielen, lag nur daran, weil ich Mutters Missfallen vermeiden wollte, und wohl auch, weil etwas in mir sich gegen Schludrigkeiten sträubte. Angesichts der drohenden Aussicht, Schneiderin werden zu müssen, faßte ich mir ein Herz und gestand, daß ich Näharbeiten nicht mochte. »Weißt du was Besseres?« fragte Mutter. Ich murmelte etwas von »Schauspielerin«. Mutter war entsetzt. »Gott behüte!« rief sie. »Im großen und ganzen sind Schauspielerinnen nicht viel besser als Straßenmädchen, mag sein, die eine oder andere ausgenommen. Sogar die großen Tragödinnen sind hinter der Bühne meist bedauernswerte Wesen mit schlechten Manieren und lockeren Sitten.« 12
»Ich könnte ja so eine Ausnahme sein.« »Das wird sich nie erweisen, darauf lassen wir es gar nicht ankommen. Schlag dir das aus dem Sinn.« »Dann würde ich noch lieber kochen als nähen.« »Jede Frau kann kochen, wenn sie die nötigen Zutaten hat. Vier Pfund Lohn im Jahr und von morgens bis abends auf den Beinen. Und du könntest nie selbständig werden. Miss Bellsize fordert fünf Pfund Lehrgeld, das zeigt schon, was sie wert ist. Wenn ich das nächste Mal so viel Geld habe, werde ich mit ihr sprechen. Und wenn du dann alles von ihr gelernt hast, und Vater hat Glück im Spiel gehabt, werde ich ihn dazu überreden, daß er dir einen hübschen Laden einrichtet. Ich könnte dann bei meinen Damen um Kundschaft für dich werben.« Mutters Stimme klang gewöhnlich etwas dunkel und schleppend. Als sie ihren Plan darlegte, hob sich ihre Stimme; sie sah sich schon in Zukunft, wie sie das Haar einer Dame puderte und ihr erzählte, ihre Tochter habe eine eigene Schneiderei und warte darauf, zeigen zu dürfen, was sie könne. Zweimal entkam ich Miss Bellsize um Haaresbreite. Das erste Mal stand Vater mir bei. »Wir haben jetzt so lange in der Patsche gesteckt«, sagte er, »lass doch das Kind ein bißchen genießen!« »Einverstanden, wenn ich fünf Pfund für sie sicher anlegen darf«, antwortete Mutter. Er gab ihr das Geld. Aber bald verließ ihn das Glück wieder, und er mußte nicht nur die fünf Pfund zurückfordern, sondern sogar seine Uhr versetzen. Er gab sie mir mit den Worten: »Und komm mir ja nicht damit zurück, daß sie nichts wert ist. Tompion hat sie gemacht, sein Name ist innen eingraviert.« Als Mutter das nächste Mal über das Geld verfügte, litt ich an Nesselsucht und sah aus, als hätte ich die Pocken. So kam es, daß ich mit dreizehn immer noch zu Hause war. Es war Juni, und wir wohnten wieder einmal in Tun's Yard… Es war an einem jener heißen Sommertage, die draußen im Grünen so zauberhaft sein können, aber in den stinkenden Gassen der Slums kaum zu ertragen sind. Morgens hatte ich ein großes Bündel Wäsche, 13
Musselinhauben und -tücher, Schürzen und Morgengewänder, aus einem Haus in der Bridge Street abgeholt. Mutter und ich hatten den ganzen Tag gewaschen und die Stücke einzeln auf einer Leine vor unserem kleinen Fenster getrocknet. Um fünf hatten wir gegessen, und Vater, der immer noch aussah, als verfüge er über tausend Pfund im Jahr, war ausgegangen. Mutter hatte eine Stunde lang gebügelt und war dann zu einer Kundin gegangen, um sie für einen Ball zu frisieren. Ich bügelte die Wäsche fertig und legte die Stücke sorgsam auf ein Leinentuch, in das wir die saubere Wäsche einschlugen. In den vergangenen Monaten hatte ich Mutter tüchtig geholfen und war ihr zur Hand gegangen in der stillen Hoffnung, ich könnte ihr so unentbehrlich werden, daß sie mich nicht zu Miss Bellsize schickte. Auch hatte die Straße ihren Zauber für mich verloren. Als wir nach Tun's Yard zurückkehrten, traf mich wie ein Schlag die Nachricht, Fingers sei beim Stehlen erwischt und zu Tyburn gehängt worden. Wie die alten Kameraden erzählten, starb er tapfer und trotzig und unterhielt die Zuschauer bis zuletzt mit seinen Possen. Das tröstete mich kaum, ich mußte immer an ihn denken, wie er ohne Eltern und Zuhause, ja ohne Namen aufgewachsen war. Und doch war er auf seine spröde Art froh und lebenstüchtig gewesen. Ich dachte an den Tag, an dem er mir zu dem Pfund verhalf, und drehte versonnen an meinem Ring, den ich letzten Endes ihm verdankte. Ein anderer Junge war verschollen, und ein Mädchen namens Emma, kaum ein Jahr älter als ich, gehörte zu den öffentlichen Dirnen. Unsere Gruppe hatte sich in alle Winde zerstreut und war zu einem Stück Vergangenheit geworden, das mir aus der Ferne wie eine Reihe glücklicher Sonnentage vorkam, obwohl mir natürlich klar war, daß die Wirklichkeit anders ausgesehen hatte. Ich war an diesem Abend nach dem Bügeln müde und verschwitzt und wusch mich drunten im Hof in einem Eimer Wasser. Wir waren noch nicht lange hergezogen, und ich besaß noch zwei Kleider, von denen das eine frisch gewaschen war. Ich zog es an und genoß das Gefühl des sauberen, kühlen Gewebes auf der Haut. Dann kämmte ich mein Haar, das mir den Spitznamen ›Ingwer‹ eingetragen hatte. Vaters helles Kastanienbraun und Mutters aschblonde Haarfarbe hatten 14
sich bei mir zu einem karottenroten Schopf vermischt. Als Kind war ich hübsch, jetzt war ich zu dünn, und mein Gesicht hatte eine sonderbare Gestalt angenommen: zu breit in den Schläfen und mit einem spitzen Kinn, sah ich aus wie eine magere rote Katze mit forschendem, argwöhnischem Blick. Manchmal zu wild, ein andermal lieb und anschmiegsam. Ich ging ins Zimmer hinauf, knotete die Enden des Leinentuches so zusammen, daß genug Platz für meinen Arm blieb, hängte das Bündel über und machte mich auf den Weg. Vom Fluss her wehte ein erfrischender Wind, der in die übervölkerte Stadt den Geruch frischen Grüns mitbrachte. Mein Weg führte eigentlich am Ufer entlang, doch war es schon spät, und ich nahm eine Abkürzung durch ein schmales ungepflastertes Gässchen, das größtenteils zwischen hohen Gartenmauern dahinführte. Auf halber Strecke lief plötzlich ein Gassenjunge auf mich zu, griff nach meinem Bündel und riß es mit solcher Gewalt vom Arm, daß er ihn mir fast ausrenkte, und ich benommen gegen die Wand taumelte. Ich sah ihm nach, wie er fortrannte, in der Hand die Wäsche, mit der Mutter und ich uns den ganzen Tag geplagt hatten. Das hieß, heute abend ohne Geld dazusitzen und Ärger mit der Kundschaft, denn selbst wenn die Dame nicht den Ersatz der Wäsche verlangte, würde sie uns nie wieder etwas anvertrauen. Der Gedanke brachte mich in Fahrt. Ich war damals leichtfüßig und flink und holte den Kerl noch vor dem Ende des Gässchens ein. Im nächsten Moment merkte er, daß er kein hilfloses Wäschermädel beraubt hatte. Ich kratzte, biss, trat ihn mit Füßen und trommelte mit den Fäusten auf ihn ein, bis er das Bündel fallen ließ. Der Knoten löste sich, die Wäsche verstreute sich im Straßenstaub. Natürlich war ich ihm keineswegs gewachsen, er war viel größer und kräftiger als ich. Er packte mich bei den Oberarmen, preßte mich gegen die Wand und beutelte mich so heftig, daß ich den Kopf weit vorstrecken mußte, um nicht mit dem Hinterkopf gegen die Mauersteine zu prallen. Da nahte Hilfe; einen Spazierstock mit goldener Krücke vor sich her schwingend, trat ein eleganter junger Mann um die Ecke in das Gässchen. Er fragte nicht nach Recht oder Unrecht, sondern stellte sich als Kavalier auf die Sei15
te der schwächeren Partei. Er zog dem Burschen zwei tüchtige Stockschläge über die Schultern, so daß dieser von mir abließ und davonrannte, wobei er die feine Musselinwäsche noch tiefer in den Schmutz trat. »Was für ein Spektakel«, sagte mein Retter. »Bist du verletzt?« »Vielen Dank, nein, Sir«, keuchte ich, noch atemlos vom Kampf. »Nur gut, daß ich gerade vorbeikam und der Sache ein Ende machte. Du siehst sehr angegriffen aus.« »Danke, Sir, mir ist nichts. Ich bin Ihnen ja so dankbar.« »Keine Ursache. Oder soll ich sagen, es war mir ein Vergnügen? Man fragt sich, wie es in der Welt weitergehen soll, überall diese jugendlichen Verbrecher!« Ich bückte mich und begann die verschmutzte Wäsche einzusammeln. Der junge Mann schaute mir zu. Meine Oberlippe blutete, und da ohnehin alles neu gewaschen werden mußte, drückte ich die Ecke eines sauberen Tuches auf die Wunde. »Ich wohne gleich hier in der Nähe«, bemerkte er. »Wenn du mitkommst, lasse ich dir von der Haushälterin eine Tasse Tee aufgießen. Magst du Tee?« Ich trank sehr gerne Tee. Und er gehörte zu den Dingen, die wir uns in armen Zeiten nicht leisten konnten. Die Einladung klang unverfänglich, in besseren Häusern trank die Dienerschaft den zweiten Aufguss von den Teeblättern der Herrschaft. Zeit hatte ich genug, die Wäsche konnte ich heute abend ohnehin nicht mehr abgeben. Das Bild einer großen, gut gelüfteten Küche erstand vor meinen Augen, in der eine volle Tasse erquickenden Tees auf mich wartete. Ich machte einen Knicks und sagte: »Sehr freundlich von Ihnen, Sir.« Ich band das Bündel fest zu und ging neben meinem neuen Bekannten her. Vielleicht konnte ich ihn als Kunden gewinnen, darum erzählte ich ihm, daß Mutter und ich uns auf die Pflege feinster Wäsche verstanden und Halskrausen bügelten, so daß sie wie neue wirkten. Er meinte, ich sei viel zu ernst für mein Alter. Stolz verkündete ich ihm, ich sei schon dreizehn. 16
Am oberen Ende des Gässchens öffnete er ein kunstvoll geschmiedetes Gartentor, das auf beiden Flügeln ein Lilienmuster zeigte, und führte mich durch einen kleinen, hübsch angelegten Garten zum Haus. Blühende Rosenbüsche säumten die Wege und den Rasen, der Duft ihrer roten, gelben, weißen und rosafarbenen Blüten hing schwer in der warmen Abendluft. Durch eine weit aufstehende Terrassentür traten wir in die Bibliothek des Hauses ein. Ich war mir bewußt, daß ich in meinem Kattunkleidchen und mit dem Bündel am Arm nicht in den eleganten Rahmen paßte, wenn es mich auch nicht befangen machte; in Vaters Glücksperioden hatten wir oft ähnliche Zimmer bewohnt. Auch glaubte ich, ich würde nicht lange hier im Zimmer bleiben. Mein Begleiter würde gleich dem Diener klingeln und mich in die Küche bringen lassen. Er legte jedoch Hut und Stock auf einen Stuhl neben der Tür und hieß mich auf einem Sofa Platz nehmen, das vor dem Kamin stand. Er sagte, über die Schulter gewandt, er komme gleich wieder, und verschwand durch eine Tür ins Innere des Hauses. Ich tupfte meinen Mund mit dem Tuch ab und untersuchte meine übrigen Verletzungen. Mein Rücken schmerzte, das Schienbein war angeschlagen, und auf den Armen zeigten sich die ersten blauen Flecke. Alles in allem war ich glimpflich davongekommen, außerdem war die Wäsche gerettet. Ich betrachtete die langen Bücherreihen mit dem Gedanken, wer wohl die Zeit hatte, alle Bände zu lesen, und schaute in die blicklosen weißen Augen zweier Büsten… Die Tür ging auf, und mein Retter kam wieder, angetan mit einem gelbseidenen Schlafrock, auf dem sich blaue Drachen tummelten. Mit der Vorsicht eines Menschen, der solche Arbeiten nicht gewohnt ist, setzte er ein Tablett mit einer Flasche und zwei Gläsern auf ein Tischchen ab. »Ich hatte ganz vergessen, daß die Diener heute Ausgang haben«, erklärte er. »Tee gibt es nicht, aber ein Glas Wein, frisch aus dem kalten Keller, wird dir ebenso gut tun.« In dem Augenblick dämmerte es mir, daß irgend etwas nicht geheuer war. So ein Herr konnte doch ein Wäschermädchen, das er auf der Straße aufgelesen hatte, in die Küche schicken und sagen: »Hier ist der 17
Teekessel, brüh dir eine Tasse auf.« Daß er selber in den Keller stieg, um mit einer Wäscherin eine Flasche Wein zu trinken, war zumindest sonderbar, oder… »Sie sind sehr gütig, Sir«, wehrte ich ab. »Aber ich habe Mutter versprochen, keinen Wein zu trinken, bevor ich erwachsen bin.« Amüsiert schaute er mich an. »Das dürfte nicht schwer zu halten sein. Oder kommst du öfter in Versuchung?« Mir gefiel weder sein Blick noch seine Bemerkung. Ich griff nach dem Bündel, das neben dem Sofa auf dem Boden lag, und stand auf. »Ich glaube, ich muß jetzt nach Hause«, sagte ich. Als nächstes weiß ich nur, daß er plötzlich auf mir lag und sich wie ein Wahnsinniger benahm. Sogar da begriff ich zunächst noch nicht, was mit mir passierte. Und als ich begriff, durchfuhr mich ein Entsetzen, weit größer als die Angst bei der Rauferei mit dem Jungen, wie ich es noch nie erlebt hatte. Genauso plötzlich wich der Schreck wieder, und ich konnte wieder denken. Ich tat, als gäbe ich nach, bis es mir gelang, ein Knie hochzuziehen und ihn mit aller Kraft in jene Körperstelle zu treten, an der er in diesem Moment am empfindlichsten war. Ich rollte mich vom Sofa, sprang auf, strich die Kleider glatt und entfloh, das Wäschebündel und meinen feinen Kavalier, der stöhnte und sich vor Schmerz krümmte, hinter mir lassend. Ich rannte nach Hause, ohne zu überlegen, was ich meinen Eltern sagen sollte. Es würde ja niemand zu Hause sein. Ich lief blindlings wie ein Tier, das in seiner Höhle Schutz sucht, und merkte dabei nicht einmal, daß ich laut weinte. Vater war daheim. Sein guter Rock hing über der Stuhllehne; wie immer trug er zu Hause ein altes, ausgefranstes Hemd und speckige Hosen. Als ich hereinstürzte, drehte er sich um und rief: »Mein Gott, Kind! Was ist geschehen?« Mutter hätte ich nichts weiter erzählt, als daß ich die Wäsche beim Streit mit dem Burschen aufgeben mußte. So verstört war ich nicht, um ihr etwas mitzuteilen, was sie im Innersten aufgewühlt hätte. Ich glaubte, Vater sei weniger leicht zu erschüttern, und erzählte ihm alles. 18
Es tat gut, mir das Erlebnis von der Seele zu reden, ich hörte auf zu weinen und riskierte, als ich die genauen Umstände meiner Flucht schilderte, sogar ein eingeweihtes Lächeln. Vater ging nicht darauf ein und fragte ernst: »Er hat dich also nicht verletzt?« »O nein.« »Bist du sicher?« »Ganz sicher. Das da und das«, ich zeigte auf die blauen Flecke und die aufgesprungene Lippe, »hat der Bursche getan.« Vater dachte einen Augenblick nach. »Es wäre wohl besser, wenn Mutter nichts von der Sache erfährt.« »Ihr hätte ich es gar nicht erzählt. Nur daß ich die Wäsche verloren und mein Mieder beim Raufen zerrissen habe. Aber, sag, Vater, wieso bist du heute so früh zurück?« Zu meinem Staunen sagte er: »Ich habe dreißig Pfund in drei Stunden gewonnen. Dann bekam ich Hunger.« »Du hättest in ein Restaurant gehen können.« »Davon hättet ihr nichts gehabt. Das Essen war erbärmlich heute, und ich dachte, du könntest uns mit dem Geld etwas Gutes zu essen holen.« Ich starrte ihn sprachlos an. Noch nie war er am frühen Abend nach Hause gekommen, solange er Geld in der Tasche hatte. Deshalb fragte ich besorgt, ohne den leisesten Schimmer von Ironie in meiner Stimme: »Vater, fühlst du dich ganz wohl?« »Aber ja doch. Ich habe nur Hunger. Kannst du zur Garküche hinüberlaufen oder soll ich mich anziehen?« »Ich gehe schon«, sagte ich überglücklich. Meine Nöte waren vergessen, und sogar der Verlust der Wäsche bedeutete nichts gegen das Wunder, daß Vater von sich aus mit dreißig Pfund heimgekommen war. Er gab mir Geld und fragte, als ich schon in der Tür stand: »Würdest du das Haus wieder erkennen?« »Natürlich. Ich habe mir gemerkt, wie das Torgitter aussah. Drei eiserne Lilien an jeder Seite, eine schöne Arbeit.« 19
»Und der Mann? Wie sah er aus?« »Jung. Er hatte rote Wangen, ein tiefes Grübchen im Kinn und schwarze Augen. Er trug eine Perücke mit Zopf. Ja, und er hatte einen Ring mit einem schwarzweißen Stein am Finger, ich glaube, mit einem Tierkopf. Sein kleiner Finger sah verkrüppelt aus…« Ich bog meinen Finger, um zu zeigen, wie er aussah. »Na gut«, sagte Vater. »Jetzt lauf schon.« Als Mutter todmüde von der Arbeit kam, war sie freudig überrascht über die Mahlzeit auf dem Tisch, Vaters frühe Heimkehr und sein Kartenglück. Es gelang mir, ihre Aufmerksamkeit von mir abzulenken. Ich sagte nichts von der verlorenen Wäsche, das hatte Zeit bis morgen. Später einmal sollte ich froh darüber sein. Erst am nächsten Tag zeigte ich Mutter die Blutergüsse am Arm und die schmerzende Stelle am Rücken, die von den kantigen Mauersteinen herrührte. Sie bedauerte mich, ohne in Ärger zu geraten, und sagte fast dasselbe wie der junge Mann im Gässchen: Was sei das für eine Welt, in der nicht einmal ein junges Mädchen mit einem Wäschebündel auf offener Straße sicher ist. »Mrs. Frisby wird mit Recht verlangen, daß wir den Schaden ersetzen. Hoffentlich hat sie Verständnis. Und wenn nicht, macht es auch nichts. Hauptsache, daß Vater endlich wieder einmal Glück hatte.«
Als wir von Mrs. Frisby, die sich keineswegs einsichtsvoll benommen hatte, zurückkehrten, war Vater ausgegangen. Wir verzehrten die Reste vom vergangenen Abend und räumten hinterher auf. Als Mutter Vaters alte Hose von der Stuhllehne hob, klimperte es darin. Sie fuhr mit der Hand in die Tasche und lachte auf. Ihre Hand war voller Münzen. »Da siehst du«, sagte sie, »daß man mit Geduld sogar Löwen zähmen kann. Seit siebzehn Jahren predige ich deinem Vater, daß wir keine Sorgen hätten, wenn er von seinem Gewinn einen Teil zurücklegte. Wieviel, sagst du, hat er gestern gewonnen?« 20
»Dreißig Pfund.« Sie legte die Münzen auf den Tisch, griff nochmals in die Tasche und zählte. »Hier sind zwanzig. Das Wunder nimmt kein Ende. Vielleicht kommt er endlich zu Verstand.« Und ein zweites Mal gingen wir froh und mit unserem Los ausgesöhnt ins Bett. Als wir erwachten, war Vater nicht da. Das hatte nichts zu sagen, er hatte schon bis zu sechsunddreißig Stunden hintereinander am Spieltisch gesessen. Der Tag war wiederum sehr heiß, und als er zum Essen wieder nicht erschien, betrachtete Mutter sein Hemd, das sie gerade frisch gewaschen und gebügelt hatte, und sagte nachdenklich: »Er hätte wenigstens mal frische Wäsche anziehen können.« Es wurde Abend und Nacht, und ein weiterer Morgen kam, ohne daß Vater sich sehen ließ. Mutter sagte zu mir: »Heute mußt du die Wäsche allein besorgen. Ich gehe ihn in allen Restaurants und Pubs suchen, von denen er zu erzählen pflegte. Ich habe das noch nie gemacht, aber er ist auch noch niemals so lange ausgeblieben.« Ich schaute sie an, als sähe ich sie zum ersten Mal. In ihr blondes Haar mischten sich bereits graue Fäden; Anstrengung und Müdigkeit gruben die ersten harten Linien in ihr Gesicht. Betroffen gewahrte ich, wie sie mit ihrer ärmlichen, aber sauberen Kleidung jenen ›anständigen armen Frauen‹ zu ähneln begann, in deren Obhut sie mich früher so oft gegeben hatte. Ich konnte sie mir nicht vorstellen, wie sie die mit Pfeilern geschmückte Vorhalle von Whaddon's Restaurant betrat. »Es wird ihm nicht recht sein«, gab ich zu bedenken. »Mir ist es auch nicht recht, von Mittwoch bis Freitag morgen nichts von ihm zu hören. Er könnte krank sein. Er ist zwar ein Narr und ein Schaumschläger, wenn es um Geld geht, aber er hat mich noch nie mit Absicht gekränkt. Es muß ihm etwas passiert sein.« Aufrecht und würdevoll im Bewußtsein, ihre Pflicht zu tun, ging Mutter hinaus. Volle fünf Stunden später kam sie niedergeschlagen und enttäuscht zurück. 21
»Sie haben mich von einem Lokal ins andere geschickt, an sieben Stellen habe ich nachgefragt. Niemand hat ihn seit Mittwochnachmittag gesehen. Da ging es ihm gut, er aß eine Taubenpastete in Cathcarts Speisehaus in der Southampton Street. Und danach nichts…« Sie preßte die Hände aneinander. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, ich werde noch verrückt!« Ich versuchte sie zu trösten. »Vielleicht ist die ganze Spielgesellschaft aufs Land gefahren, und Vater ist dabei.« »In solchen Fällen hat er mir immer Nachricht geschickt. Er war sehr zuverlässig, außer in Geldsachen… Geld… Geld…« Sie wiederholte das Wort, als brächte es sie auf einen Gedanken. »Zwanzig Pfund hat er dagelassen, noch nie hat er das getan. Er hat gewußt, daß er nicht zurückkommt…« Sie setzte sich an den Tisch, legte den Kopf auf die Arme und brach in Weinen aus. Unter Schluchzen stieß sie bittere, unzusammenhängende Worte aus, furchtbare Beschuldigungen und zuletzt ihre Herzensangst: daß Vater uns wegen einer anderen Frau verlassen hatte. »Er ist jung und lustig und sieht immer so gut aus«, jammerte sie. »Und ich bin verbraucht und ungepflegt. Vor lauter Arbeit hatte ich keine Zeit, mich zurechtzumachen. Alles habe ich ertragen, das Unglück, die Arbeit und die Schande. Denn man hat mich gewarnt, Großmutter Allison sagte schon, er wolle mich bloß wegen des Geldes heiraten. Aber ich hörte nicht, ich liebte ihn. Und was ist das Ende? Zwanzig Pfund in seiner zerrissenen Hose und nicht einmal ein Abschiedswort.« So ging es weiter. Wenn ein massives Steingebäude einstürzt, ist der Lärm größer, als wenn eine Lehmhütte zusammensinkt. Der Zusammenbruch meiner immer so starken Mutter war furchtbar anzusehen. In meiner Hilflosigkeit bot ich ihr an, Tee für sie aufzubrühen. Und zu all den Schicksalsschlägen versetzte sie mir einen weiteren Schock, als sie sagte: »Branntwein würde mir besser helfen.« Ich nahm einen Krug und einen Shilling und brachte ihr das Ver22
langte aus einem nahen Wirtshaus. Zuerst schien der Branntwein überhaupt nicht zu ›helfen‹, sie weinte nur noch heftiger und schalt Vater mit harten Worten. Dann beruhigte sie sich langsam, ihre Wangen wurden rot, und die Augen bekamen einen abwesenden Blick. »Wir müssen uns damit abfinden«, sagte Mutter mit belegter Stimme. »Gott sei Dank hat er Geld dagelassen. Ich werde Miss Bellsize das Lehrgeld bezahlen und dich ordentlich ausstatten.« »Ich will nicht Schneiderin werden. Ich bleibe lieber bei dir und helfe dir beim Waschen.« Plötzlich wurde sie so wütend, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Ihre Wangen wurden hochrot, sie schrie und schlug mit der Faust auf den Tisch: Ich hätte ihr zu gehorchen, als Wäscherin lebe man von der Hand in den Mund. Sie habe es satt, so zu leben; wenn ich sicher untergebracht sei, könne sie eine Stelle als Haushälterin annehmen. Und ich solle ja nicht glauben, daß ich jetzt, wo Vater mich nicht mehr verwöhne und auf und davon sei, auf ihrem Kopf herumtanzen könne… Unvermittelt brach sie ihre Rede ab und ging mit unsicheren Schritten zum Bett, wo sie innerhalb einer Minute einschlief. Ich lag lange Zeit hindurch wach mit dem Gefühl, auf einen Schlag beide Eltern verloren zu haben.
Ende der Woche erfuhren wir, was mit Vater geschehen war. An dem Mittwochnachmittag, als er verschwand, suchte er den Eigentümer des Hauses mit der liliengeschmückten Gartenpforte auf, lud ihn in einen Club in St. James's Square ein und ohrfeigte ihn dort in Gegenwart dreier anderer Herren, wobei er ihn als Kinderschänder beschimpfte. Um sieben Uhr desselben Abends trafen sich Vater und mein verhinderter Verführer auf einer Wiese hinter Piccadilly, wo Vater durch einen Schuß ins Herz getroffen wurde. Die Nachricht erreichte uns so spät, weil keiner von Vaters Kumpanen seine Adresse kannte oder wußte, daß er verheiratet war. Erst als der Mann, der Vaters Sekundant gewesen war, bei Whaddon's hörte, 23
daß eine Mrs. Hatton aus Tun's Yard sich nach ihrem Mann erkundigt hatte, kam die Verbindung zustande. Da war Vater bereits beerdigt. Obwohl Duelle an der Tagesordnung waren, wurden sie in aller Heimlichkeit ausgetragen und die Verwundeten und Toten möglichst schnell vom Schauplatz fortgeschafft. Das Geld in Vaters Tasche reichte zu einem ordentlichen Begräbnis; Uhr und Stock hatte der Freund an die einzige Adresse geschickt, die Vater je vor seinen Freunden erwähnt hatte: an einen Ort namens Mortyboys in Suffolk.
Seit Mutter und ich wußten, was geschehen war, verband uns das gemeinsame Gefühl von Schuld und Reue. Aber während sie laut weinen und sich anklagen durfte, Vater noch nach seinem Tod verdächtigt zu haben, mußte ich schweigen, ich, die ich doch die eigentliche Schuld an seinem Tod trug. Wäre ich damals nicht mit meiner Geschichte herausgeplatzt und hätte ich vor allem das Tor und den Mann nicht so genau beschrieben, Vater wäre heute noch am Leben. Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht, als daß Vater das Bündel vielleicht zurückbekäme. Ach, in praktischen Dingen, wie Arbeit und Geldverdienen, kannte ich mich aus, aber von der Ehre eines Gentlemans, auch wenn dieser nur einen Anzug besaß und Frau und Tochter für das tägliche Brot mitsorgen ließ, hatte ich keine Ahnung. Mutter hatte die Möglichkeit, sich durch Weinen und Branntwein ihren Kummer zu erleichtern, ich mußte schweigen. Das erdrückende Schuldgefühl machte mich schwermütig. Ich hatte keinen Appetit, konnte nicht schlafen und zeigte mich allem gegenüber so gleichgültig, daß ich keinen Widerstand leistete, als Mutter meinen Lehrvertrag mit Miss Bellsize abschloss. Zudem verriet mich auch mein Körper und stieß mich über jene Schwelle, welche die Kindheit vom Leben der erwachsenen Frau trennt. Felicity Hatton gab es nicht mehr, an ihre Stelle war ein haltloses Häufchen Unglück getreten, das mit jener nichts mehr zu schaffen hatte. Vier Jahre Lehrzeit für den Preis von fünf Pfund, Kost und Logis 24
bei Miss Bellsize inbegriffen. Mutter kaufte mir zwei wollene und zwei baumwollene Kleider sowie alle anderen Gegenstände einer Grundausstattung wie Schuhe, Hemden und Taschentücher. Ich betrat das Haus in der Carlisle Street am ersten August des Jahres 1738 und brauchte volle zwei Monate, um meine Lage in ihrer ganzen Schrecklichkeit zu erfassen. Miss Bellsize beschäftigte sechs Lehrmädchen, zwei Mädchen, die ausgelernt hatten, und eine ältere Frau, die ihr in Geschick beim Zuschneiden um nichts nachstand. In der Küche hielten sich die Köchin, ein Hausmädchen und ein kleiner Negerjunge auf, der ein silbernes Halsband mit Namen und Adresse von Miss Bellsize trug. Diese Erniedrigung blieb uns erspart, aber im übrigen waren wir ebensolche Sklaven wie er. Bis heute frage ich mich, wieviel Damen wohl beim ersten Anziehen eines neuen Kleides an die schmerzenden Augen und Rücken jener denken, die lange Stunden daran gestichelt hatten. Wir arbeiteten nie weniger als vierzehn Stunden im Tag; wenn das Geschäft gut ging, waren auch sechzehn oder achtzehn Stunden nicht selten. Manchmal schliefen Mädchen über der Arbeit ein oder fielen besinnungslos vom Stuhl. Unser Arbeitszimmer lag direkt unter dem Hausdach und wurde von einer großen Glaskuppel erhellt. Da es, wie unser Schlafzimmer im Keller, nicht gelüftet werden konnte, herrschte im August eine stickige Hitze, während es in allen anderen Jahreszeiten zu kalt war. Unten freilich gab es einen eleganten Salon und ein Anprobezimmer mit Spiegelwänden. Die Kundinnen tranken Tee und knabberten Biskuits, während sie den Stoff und das Modell für ein neues Kleid aussuchten. Andere wollten zu Hause bedient werden, dann machte sich Miss Bellsize auf den Weg, gefolgt von dem Negerknaben, der einen Ballen Samt oder Seide oder ein halbfertiges Kleid in einem Leinentuch auf dem Kopf balancierte. Miss Bellsize bevorzugte Stoffe aus ihrem eigenen Lager, bei denen sie außerdem den Gewinn des Tuchhändlers in ihre eigene Tasche schieben konnte, und zeigte durch kritisches Heben der Augenbrauen oder Vorschieben der Unterlippe an, 25
was sie von den Stoffen hielt, die ihre Kundinnen selbst eingekauft oder geschenkt erhalten hatten. Ich habe nie begriffen, warum sie so hinter dem Geld her war. Sie hatte weder Familie noch Freunde. Die Hälfte der Arbeit hätte genügt, sie wohlhabend zu machen, selbst wenn sie ihre Mädchen besser behandelt hätte. Sie tat, als sei jeder Auftrag der erste und einzige im Jahr, von dem ihre Existenz abhing. Als Schneiderin war sie sehr geschickt; sie verstand sich darauf, einen dicken Bauch durch einen andersfarbigen Einsatz im Vorderteil nahezu verschwinden zu lassen oder einem flachen Busen durch einen Wasserfall aus Spitzen mehr Ansehen zu verleihen. Die besten Ideen kamen ihr, wenn das Kleid schon halb fertig war, so daß es auseinandergetrennt, neu zugeschnitten und zum zweiten Mal zusammengenäht werden mußte. Was zählten eine halbe Million Stiche? Wir, die Lehrmädchen, mußten sie ja machen. Dabei handelte es sich durchaus nicht um Armeleutekinder oder Gemeindewaisen, die sich für Miss Bellsize abrackerten. Solche lehnte sie ab, sie hätten ja den guten Ruf ihrer Schneiderei beeinträchtigen können. Neben mir saßen die Töchter kleiner Beamter, Handwerksmeister oder kinderreicher Gutsbesitzer. Alle stöhnten sie über das harte Leben, und doch hielt jede einzelne sich für bevorzugt. Miss Bellsize tat ihr Bestes, um mir ihre Barmherzigkeit vor Augen zu halten; sie habe mich nur genommen, weil mehrere vornehme Damen meine Mutter empfohlen hatten, und habe wegen des schweren Schicksalsschlages, der unsere Familie getroffen hatte, mindestens zwanzig Namen auf ihrer Warteliste übergangen… In den ersten beiden Monaten war ich so tief in Apathie versunken, daß es mir völlig gleich war, ob ich lebte oder nicht. Meine Arbeiten müssen ordentlich gewesen sein, sonst hätte es sicher Ärger gegeben, aber ich ließ alles über mich ergehen, ohne den Mund aufzumachen. Weshalb sollte ich sprechen? Hätte ich den Mund gehalten und nicht leichtsinnig die angebotene Tasse Tee angenommen, Vater wäre heute noch am Leben. Man kann nach innen weinen, und so weinte ich bei jedem Stich, den ich tat. 26
Sonntags blieb die Arbeit ruhen. Morgens hatten wir Gelegenheit, unsere eigenen Sachen zu waschen und auszubessern. Danach gingen wir gemeinsam zur St.-Anna-Kirche. Am Nachmittag wurde geputzt. Miss Bellsize bestand darauf, daß das ganze Haus so sauber gewaschen und poliert wurde, daß während der restlichen Woche ein wenig Fegen und Staub wischen genügte. Immer zwei von uns hatten den Nachmittag und Abend frei, so daß wir alle vier Wochen unsere Angehörigen besuchen konnten. Bei meinem ersten Ausgang war ich viel zu niedergeschlagen und mit mir selbst beschäftigt, um viel zu erzählen. Mutter schwieg ebenfalls und wurde erst gesprächiger, als sie für sechs Penny Branntwein getrunken hatte. Sie erwähnte ihren Plan, als Haushälterin in Stellung zu gehen, und sah sich schon im schwarzen Kleid mit einem Schlüsselbund hantieren und den Zimmermädchen Anweisungen erteilen. Es wurde Oktober und November, ohne daß Mutter ihre Pläne in Taten umsetzte. Mittlerweile hatte ich mich endlich gefangen und war wieder ich selbst geworden. Nun erst fiel mir auf, wie sehr sich Mutter und das Zimmer verändert hatten; Mutter wirkte mager und durchaus nicht ordentlich, ja, man konnte sagen, schlampig, und das Zimmer, das bisher trotz seiner ärmlichen Ausstattung immer einen sauberen Eindruck machte, hatte alle Gemütlichkeit verloren. Auf dem Tisch standen eine Mahlzeit und ein Krug Brandy. Als Mutters Schwermut sich diesmal legte und sie sonderbar geschwätzig wurde, erzählte sie mir, sie habe sich schon in vielen Häusern beworben, doch keines schien ihr zu passen für eine anständige Frau. Sie glaubte, jeder allein stehende Mann, der eine Haushälterin suchte, habe es nur auf die Tugend des armen Wesens abgesehen. »Sie haben alle diesen lüsternen Blick. Ich weiß, was dahintersteckt.« Verglichen mit ihren Enttäuschungen, erschien mein Kummer gering. Trotzdem versuchte ich, Mutter mein Herz auszuschütten. »Das Leben und die Arbeit bei Miss Bellsize sind fürchterlich«, klagte ich. »Ich halte es dort nicht lange aus.« Mutter ließ meine Einwände nicht gelten. Die überlange Arbeitszeit und die harte Disziplin mochten ja nicht angenehm sein, aber dafür 27
würde mir das Leben später um so leichter erscheinen. Hätte sie damals nur etwas Ordentliches gelernt! Um den Klatsch solle ich mich nicht weiter kümmern. Und das Essen? Mutter sah mich prüfend vom Scheitel bis zu den Fußspitzen an. »So schlecht, wie du mir vorjammerst, kann es nicht sein. Du hast mächtig zugenommen.« Das stimmte. Falls irgendwer gegen Miss Bellsize die Anklage erhoben hätte, sie ernähre ihre Zöglinge unzureichend, so wäre ihr der Beweis leicht gefallen, daß jede von uns mehr wog als beim Einstand. Schuld daran waren einesteils der fast vollständige Bewegungsmangel und zum anderen die Zusammensetzung unserer Kost: Haferflockenbrei, Brot, Klöße, Schweinebauch mit mehr Fett als Fleisch, Erbsensuppe, fingerdick mit flüssigem Hammelfett Übergossen, und Kartoffeln, die Mutter nicht einmal in unseren ärmsten Tagen auf den Tisch brachte. Sie hießen ›Röstkartoffeln‹ und schmeckten nach gar nichts. Zur Abwechslung gab es alle vierzehn Tage sehr stark gesalzenen Stockfisch. Bei solcher Ernährung mußten wir unweigerlich dick werden. Das Haar wurde stumpf und farblos, wir hatten rote, entzündete Augenlider, und im Mundwinkel und zwischen den Fingern und Zehen bildeten sich wunde Stellen, die nicht abheilten. Trotzdem waren wir immer ausgehungert, und der Entzug einer Mahlzeit war die schlimmste Strafe für uns. Eine falsche Naht oder eine mürrische Miene konnten die gefürchteten Worte ›Kein Frühstück morgen!‹ nach sich ziehen. Miss Bellsize freilich mitsamt ihren älteren Gehilfinnen ließ sich nichts abgehen. Oft stieg aus der Küche der verführerische Duft schmackhafter Speisen empor. An jenem Novembernachmittag schlug ich Mutter vor: »Wenn du eine Stelle hast, könnte ich hier zu Hause die Wäsche übernehmen.« »Das Frisieren bringt jetzt mehr ein als das Waschen.« »Das könnte ich doch auch lernen.« »Du müsstest in fremde Häuser, wo überall Versuchungen auf dich lauern. Und Miss Bellsize würde dich gar nicht fortlassen, ein Lehr28
vertrag ist durch das Gesetz festgelegt und kann nicht willkürlich gebrochen werden. Du mußt dich dreinfinden, auch wenn dir mal etwas nicht paßt. Eines Tages wirst du mir dafür dankbar sein.«
Mir blieb nichts anderes übrig, als zurückzugehen. Einfach davonlaufen ging nicht. Vor ein paar Jahren wäre mir die Straße noch vertraut und sicher gewesen; daß diese Zeiten vorbei waren, hatte ich am eigenen Leibe erfahren. In den folgenden Tagen lenkte ich öfter wie zufällig das Gespräch auf entlaufene Lehrlinge. Neben mir saß zumeist ein Mädchen, etwas älter als ich und die Tochter eines Großbauern, das besonders gut Bescheid wußte. Emily hieß sie. »Sie werden immer gefaßt«, berichtete sie. »Sonst würden wir alle davonlaufen, nicht? Sie werden bei der Polizei gemeldet, und wenn man sie erwischt, müssen ihre Eltern noch einmal das ganze Lehrgeld zahlen. Ich weiß nicht, was du gezahlt hast, aber für mich hat mein Vater runde acht Pfund auf den Tisch gelegt.« »Mein Vater ist tot«, sagte ich leise. Anscheinend hatte Miss Bellsize mich tatsächlich bevorzugt. Nur fünf statt acht Pfund! »Ich hab' ja nur gefragt«, sagte ich vorsichtig, um keinen Argwohn zu erregen, »weil ich gehört habe, daß viele Mädchen von ihren Meisterinnen nach deren Lust und Laune verprügelt werden. Warum laufen die nicht weg?« »Wir werden niemals geschlagen«, erwiderte Emily ernst. »In der Beziehung haben wir Glück.« Im Dezember hatten wir gemeinsam den Weihnachtstag frei. Als ich zu Hause anlangte, stieg in mir zum ersten Mal der Verdacht auf, daß es um Mutter sehr schlecht bestellt sein mußte. Auch in unseren schlimmsten Zeiten hatte sie es stets fertig gebracht, diesen Tag durch etwas Besonderes auszuzeichnen, etwa durch einen grünen Zweig über der Tür, durch eine Wachskerze statt des Unschlittlichtes und durch eine Mahlzeit, die noch so billig und einfach sein konnte, 29
aber immer hervorragend schmeckte. In diesem Jahr war nichts da, sie entschuldigte sich nicht einmal dafür. Ihr seit dem Sommer stark ergrautes Haar hing in Strähnen um ihr Gesicht. Es mußte schon eine sehr vertrauensselige Dame sein, die ihr eigenes Haar einer solch ungekämmten Person überließ. Ich fragte nach Mutters Kundinnen. »Die habe ich aufgegeben«, war die Antwort. »Ich mußte zu viel stehen und spätabends über die dunklen Straßen nach Hause.« »Aber du hast gesagt, daß es mehr einbringt als das Waschen.« »Da habe ich noch mehr gegessen. Jetzt brauche ich nicht mehr viel. Ein halbes Pfund Brot langt für Tage.« Ich stellte die Frage, die mich seit meiner Ankunft bewegte: »Was gibt es heute zu essen?« »Schau im Speiseschrank nach«, sagte sie. Unser ›Speiseschrank‹ war älter als ich. Mutter hatte ihn anfertigen lassen, als sie das erste Mal in Räumlichkeiten zog, die verdächtig nach Ratten und Ungeziefer aussahen. Es war ein kleines Schränkchen aus festem Holz mit einer abschließbaren Tür, in der ein Dutzend Löcher frische Luft hereinließ. Solange es uns gut ging, stand das Möbel mit flach gegen den Boden geklappten Beinen in einem Winkel und harrte des Tages, an dem es hervorgeholt und wieder in Ehren eingesetzt wurde. Ich öffnete die Tür in der vagen Hoffnung, Mutter könnte vielleicht doch eine Überraschung für mich parat haben. Nichts Kostspieliges natürlich, eine Scheibe Sülze oder Schweinebacke. Jedes Fleisch außer Schweinebauch, jeder Fisch außer Stockfisch wäre ein Festmahl für mich gewesen. Aber da lag nichts außer einem alten Brotkanten und einem Stück vertrockneten Käse. Und dann stand da noch der Krug, dreiviertelvoll mit Wasser, was mich wunderte, da wir unser Trinkwasser im Eimer vom Brunnen im Hof heraufholten. »lass das stehen«, sagte Mutter. »Das ist Gin, er ist viel billiger als Brandy und hat dieselbe Wirkung.« Man behauptet, junge Menschen könnten auch schwerste Schläge des Schicksals aushalten, ohne zu zerbrechen. Da stand ich nun vor dem 30
fast leeren Speiseschrank und mußte hinnehmen, daß Mutter, meine stolze, selbstsichere Mutter, der Madam Geneva verfallen war, jener hinterlistigen Verführerin, die jeden Tag neue Opfer in ihren Klauen fängt und nie eines auslässt. Madam Geneva heißt der Spottname für Gin, und über den wußte ich besser Bescheid als Mutter. Von Fingers und seinen Kameraden hatte ich erfahren, daß Gin das billige Getränk der Allerärmsten war, überall für ein paar Penny zu haben. Wie Fingers sagte, fühlte man sich fröhlich und besser danach. Er selber trank es oft, um sich aufzumuntern, allerdings nie vor der ›Arbeit‹, da es ihn übermütig gemacht und daran gehindert hätte, Gefahren richtig einzuschätzen. Sobald die Wirkung des Getränks nachließ, fiel man in Trübsinn, aus dem nur eines errettete: ein Glas Gin. Schließlich zählte nichts anderes mehr auf der Welt als das Verlangen nach dem Fusel, und der Unglückliche, der hier angelangt war, beging jedes Verbrechen und erduldete jede Demütigung, wenn sie ihm die paar Pennies brachten, die er brauchte, um sich mit Gin zu betrinken. Nun war mir klar, weshalb Mutter das Frisieren aufgegeben hatte, warum sie nicht an Weihnachten gedacht und wieso sie mit einem Kanten Brot mehrere Tage auskam. Irgendwann würde sie auch das Waschen sein lassen und betteln oder, noch fürchterlicher auszudenken, sich als eine alte, verschlampte Hure für ein paar Pennies verkaufen. Meine Mutter! Und wenn man nach der Wurzel all dieses Elends grub, so stieß man auf meine Schuld, daß ich mir damals eine Tasse Tee von einem fremden Mann hatte anbieten lassen. Ich tat, was in meinen Kräften stand, um den trostlosen Weihnachtstag wenigstens etwas aufzuheitern. Ich zündete ein kleines Feuer an, röstete darauf das Brot und dann den Käse und legte sie so appetitlich wie möglich zurecht. Ich überredete Mutter, wenigstens davon zu kosten. Mitten im traurigen Mahl begann sie zu weinen. Die Weihnachtsfeste vergangener Jahre erstanden in ihrer Erinnerung, wobei sie zwischen den Weihnachten in Aldermanbury Postern mit Fleischpaste31
te und einem Fest in der Downing Street mit gebratener Gans keinen Unterschied machte. Sie hörte auf zu essen, und ich fühlte mich sehr jämmerlich und gierig, als ich meine Portion Käsetoast hungrig verschlang. Fast war es eine Erleichterung, als sie nach einer Stunde den Krug holte und trank. Und bald darauf schon schwätzte sie zuversichtlich von einer Stellung bei einer alten, verkrüppelten Dame. Obwohl ich wußte, daß es sinnlos war, hörte ich ihren Phantasien lieber zu als ihrem Jammern um vergangene Weihnachten.
Am Morgen nach diesem schrecklichen Festtag ließ ich, wie bei uns üblich war, durch die ältere Zuschneiderin um ein Gespräch mit Miss Bellsize bitten. Abends empfing sie mich. »Was gibt es?« fragte Miss Bellsize. Ich erzählte so knapp und höflich, wie mir möglich war, daß Mutter krank sei und außer mir niemand auf der Welt hatte, der für sie sorgte. Ob ich nach Hause dürfte, um sie zu pflegen? »Dein Vertrag läuft über vier Jahre«, entgegnete sie. »Ein Lehrvertrag kann nur vom Friedensrichter aufgekündigt werden und nur aus triftigen Gründen. Die Krankheit deiner Mutter ist kein solcher Grund, nicht einmal ihr Tod.« »Aber sie braucht mich«, bat ich. »Mag sein. Ich brauche dich auch. Du bist jetzt fünf Monate hier und beginnst gerade etwas nützlich zu werden. Soll ich wieder von vorn anfangen mit einem Mädchen, das eine Kappnaht nicht von einem Hohlsaum unterscheiden kann?« »Dafür war das Lehrgeld«, wandte ich ein. »Sicher, fünf Pfund. Und du warst fünf Monate hier. Den Platz möchte ich sehen, an dem man dich für ein Pfund im Monat durchfüttert mitsamt der Unterkunft! Wenn jeder Lehrvertrag gekündigt würde, wo ein Elternteil erkrankt, würden alle Mädchen nach ein paar Monaten, wenn sie was gelernt haben, davonziehen unter dem Vorwand, Va32
ter oder Mutter sei pflegebedürftig. Nein, wenn deine Mutter wirklich schwer krank ist, kommt sie ohnehin ins Krankenhaus.« Sehr demütig sagte ich: »Danke, Madame, ich hielt es für meine Pflicht, Sie zu fragen.« »Daran hast du recht getan, Felicity.«
Von nun an zerbrach ich mir bei der Arbeit den Kopf darüber, wie ich meinem Gefängnis entrinnen könnte. Immer wieder brachte ich durch gezieltes Fragen die Rede auf Lehrverhältnisse und wie sie gelöst werden könnten. Die Tochter eines Maklers kannte sich am besten aus. Sie erzählte, ein Lehrverhältnis ende nur durch den Tod oder Bankrott des Lehrmeisters oder aber durch einen Unfall oder eine Krankheit des Lehrlings, wenn dieser dadurch arbeitsunfähig wurde. Als Beispiel erwähnte sie den Fall eines schwachsinnigen Jungen, der nach einem Jahr von seinem Meister, einem Kunsttischler, als unbelehrbar entlassen wurde. »Aber das geschah in aller Form vor dem Friedensrichter«, fügte das Mädchen hinzu. Nie ließ ich durchblicken, daß mich all dieses Gerede über Gesetze und Lehrverträge mehr interessierte als der Tagesklatsch, merkte mir aber die wichtigsten Punkte. Bei meinen Besuchen im Januar und Februar sah ich mit Entsetzen, wie rasch es mit Mutter abwärtsging. Noch immer wusch sie gerade so viel, um die Zimmermiete und den Gin zu bezahlen, und immer noch sprach sie von Stellen, die sie in Aussicht hatte. Sie ahnte nicht, wie rapide sich ihr Aussehen verschlechterte. An einem der ersten Märztage brach, ungewöhnlich für die Jahreszeit, ein heftiges Gewitter aus. Die einfachen Leute decken beim Unwetter alle Gegenstände aus Metall zu und verhängen die Spiegel, da sie den Widerschein der Blitze für schädlich halten. Wir unter unserer Kuppel waren den zuckenden Blitzen schutzlos ausgesetzt, Nadel und Scheren blinkten bei jedem Blitzstrahl auf, denn Miss Bellsize dachte nicht daran, wegen einer Wetterlaune die Arbeit einzustellen. 33
Plötzlich fuhr ein gewaltiger Blitz nieder, gefolgt von Donnergrollen, das sich wie ein Weltuntergang anhörte. Emily, die neben mir saß, kreischte auf: »Das war ein Blender!« Vor mir tat sich ein Tor auf. Ich ließ die Arbeit fallen, schlug die Hände vors Gesicht und klagte leise: »Ich sehe nichts mehr, er hat mich geblendet.«
Die folgenden Tage verlangten mir das höchste Maß an Selbstbeherrschung ab, das ich je im Leben aufbringen mußte. Um meine Blindheit glaubhaft zu machen, mußte ich meine Augen zu einem blicklosen Starren zwingen und stundenlang müßig herumsitzen. Ein Schauspieler hätte sich nicht besser in die Rolle eines Blinden einleben können, wie es mir innerhalb weniger Minuten gelang. Mit allen Kräften stellte ich mir vor, unmittelbar vor mir hänge ein schwarzer Samtvorhang. Wenn mich jemand anredete oder meine Schulter berührte, nahm ich, während ich mich ihm zuwandte, immer den Vorhang mit. In diesem Fall wirkte sich das Gesetz der Lehrverträge zu meinen Gunsten aus. Wenn es nach Miss Bellsize gegangen wäre, sie hätte mich wie einen kranken Hund auf die Straße gejagt. Da wir vor Gericht mußten und sie großen Wert auf ihren tadellosen Ruf legte, behielt sie mich bis dahin bei sich. Sie brachte mich auch zu einem Arzt, einem älteren Mann, dem offenbar an meinem Schicksal nicht viel gelegen war. Er sah mir in die Augen, drückte oberflächlich etwas an den Lidern herum und fuchtelte dann plötzlich mit der Hand vor meinem Gesicht. Es gelang mir, dabei nicht zu blinzeln. Dann verlangte er nach einer Kerze, und ich erschrak. Ich wußte wohl, daß die Pupillen sich bei starkem Licht zusammenziehen, was bei Blinden, die wirklich keinen Schimmer mehr sehen, nicht der Fall ist. Nun würde er mich entlarven. Aber dann fiel mir noch etwas ein, etwas Sonderbares, das ich als Kind vor dem Spiegel beobachtet hatte. Meine Augen waren grünblau, aber wenn ich wütend oder aufgeregt war, weiteten sich die Pupillen so sehr, daß man mich für schwarzäugig halten könnte. Während die Kerze gebracht und angezündet wurde, steigerte 34
ich mich in eine gewaltige Aufregung. Ich stellte mir vor, was passierte, wenn der Doktor meine Täuschung merkte und herausbekam, daß ich nicht blind war. Miss Bellsize würde mich wegen des Betrugs grausam bestrafen und für vier weitere Jahre einsperren, und in dieser Zeit würde Mutter durch Gin und Unterernährung sterben. Fast merkte ich nicht, wie der Arzt zweimal mit der Kerze vor meinen Augen hin und her strich, ich starrte auf den schwarzen Samtvorhang, hinter dem das Entsetzen lauerte. Es war Bedauern in seiner Stimme, als er sagte, hier könne man leider nichts mehr machen.
Miss Bellsize verlor nun keine Zeit mehr. Zu dritt, sie, ich und meine hoffnungslos verstörte Mutter, fanden wir uns bei der Behörde ein, die über mein weiteres Schicksal entschied. Ich trug meinen verhängten Blick vor mir und vermied geflissentlich, den Leuten ins Gesicht zu schauen. Dennoch erhaschte ich aus dem Augenwinkel das Gesicht des Friedensrichters, ein freundliches Gesicht mit etwas zu breitem Mund, das mir einen mitleidigen Blick zusandte. Mr. Timothy Sales gehörte zu den Beamten, die auch nach langen Amtsjahren nicht gleichgültig auf ihre Mitmenschen herabschauen. Er wandte sich nach Abschluß der Formalitäten vielmehr an Miss Bellsize mit den Worten: »Madam, was immer auch dieses arme Mädchen von Ihnen gelernt haben mag, sie wird es nie verwerten können. Sicher werden Sie unter diesen Umständen einen Teil des Lehrgeldes zurückgeben wollen.« »Ich habe das Mädchen acht Monate lang in meinem Haus verköstigt«, erwiderte Miss Bellsize mit süßsaurer Miene. Nach einem raschen Blick auf die Gesichter der Anwesenden fuhr sie fort: »Lehrlinge machen in der ersten Zeit viele Fehler. Aber unter diesen außergewöhnlich tragischen Umständen will ich ihr vier Pfund zurückerstatten.« Der Richter dankte ihr überaus höflich. Mutter weinte ein wenig, und sogar ich murmelte »Vielen Dank« mit einem Anflug echter Herzlichkeit. 35
»Jetzt wollen wir mal sehen, was wir übrig haben«, sagte der Richter und legte ein paar weitere Münzen zu dem Geld. »Leute, die ein Sinnesorgan verlieren, sind auf einem anderen Gebiet oft besonders geschickt«, überlegte er. »Manche Blinden flechten hübsche Körbe, andere stricken oder knüpfen Netze. Vielleicht kann die Kleine hier Blumen verkaufen…« Mir war plötzlich, als wäre mein Schwindel wahr geworden, und ich stünde da, dazu verdammt, den Rest meiner Tage in Dunkelheit zu verbringen. Rasch verging das Gefühl wieder, und ich dachte an jene, die tatsächlich erblindeten und deren Los sich in Netzeknüpfen und Blumenverkaufen erschöpfte.
Draußen schüttelte ich alle Sorgen von mir ab. Noch sagte ich nichts, ich weiß nicht, warum ich mich dazu entschlossen hatte, Mutter erst zu Hause die Wahrheit zu sagen. Sie kehrte in zwei Kneipen ein, da sie meinte, der Gin würde sie aufmuntern, aber sie weinte nur noch heftiger. Als wir zu Hause anlangten, war sie in einem Zustand, in dem meine Worte kaum zu ihrem Bewußtsein vordrangen. Sie sah mich verständnislos an, als ich sagte: »Mutter, ich bin nicht blind. Ich hab' nur so getan, um von Miss Bellsize loszukommen und bei dir bleiben zu können.« »Der Richter hat etwas von Netzeknüpfen gesagt. Da war irgendwo eine alte Frau, ich muß herausfinden, wie sie heißt…« »Aber versteh doch, Mutter! Ich bin nicht blind, ich brauche keine Netze zu knüpfen. Ich kann dir beim Waschen helfen. Schau her.« Und ich lief, ohne zu zögern, im schmutzigen Zimmer umher, berührte die Gegenstände und nannte sie beim Namen. »Was für ein Haufen Wäsche«, rief ich aus. »Das ist ja viel zuviel für dich. Freust du dich denn gar nicht, daß ich wieder bei dir bin?« Für einen Augenblick kehrte der Schatten jener Frau, die sie noch vor kurzem war, zurück, als sie sagte: »Das war sehr unrecht von dir. Von Rechts wegen sollte ich dich sofort zurückschicken.« 36
»Ich gehe nicht zurück. Nichts auf der Welt bringt mich jemals wieder dahin.« Ich blieb vor dem Speiseschrank stehen, öffnete ihn und schaute hinein. Er war leer. Ich fragte mich, wann Mutter wohl das letzte Mal gegessen haben mochte. »Gib mir Geld«, forderte ich. »Ich sehe zu, daß wir endlich wieder einmal etwas Richtiges zu essen bekommen.« »Kauf dir, was du willst«, sagte Mutter, »mir langt ein Stückchen Brot und für zwei Penny Gin.« Die folgenden Wochen waren fürchterlich. Noch heute plagt mich hin und wieder der Alptraum, ich lebe wieder mit Mutter in Tun's Yard und versuche sie durch Schmeicheln, Überreden oder Zanken vom Alkohol abzuhalten. Jeden Morgen erwachte sie unter Tränen und weinte so lange, bis sie das erste Glas Gin hinuntergespült hatte. Das brachte sie seltsamerweise sowohl körperlich als auch geistig zu sich, sie arbeitete, gab klare Antworten und aß ein wenig von den Speisen, die ich ihr aufdrängte. Nicht lange danach brauchte sie ein zweites Glas, dann ein drittes, ein viertes, bis sie erneut in den Zustand übertriebener Zuversicht und Heiterkeit abglitt, in dem sie von einer neuen Lehrstelle für mich schwärmte und sich selber eine Stelle als Gesellschafterin bei einer alten Dame suchen wollte. Von Zeit zu Zeit bekam sie Weinkrämpfe und beschuldigte sich, daß sie allen Menschen nur Unglück brachte. Hatte nicht ein Unstern meinen Vater verfolgt, seit er sie geheiratet, und war nicht ihre einzige Tochter, die sie in eine gute Lehre untergebracht hatte, mit Blindheit geschlagen worden? Ich schwieg und arbeitete. Ich überredete alte Kunden, uns wieder Arbeit zu geben, und warb um neue. Ich war den ganzen Tag beschäftigt, konnte aber nicht verhindern, daß das Verhältnis zwischen Mutter und mir, das nie sehr innig gewesen war, sich zusehends verschlechterte. »Wer hat dich zu meinem Aufpasser bestellt?« fuhr sie mich manchmal an. »Ich trinke nur, um meinen Kummer zu betäuben. Findest du das vielleicht weniger anständig, als so zu lügen und zu betrügen, wie du getan hast? Ja, Felicity, du bist eine Betrügerin, aber mich und dich 37
selber hast du dabei am meisten betrogen. Du hast kein Recht, dich so aufzuspielen, das lass dir gesagt sein.« Einmal platzte mir die Geduld, und ich rief zornig aus: »Aber du bringst dich damit selber um.« »Nichts kann mich umbringen. Ich werde noch hundert mitsamt dem Schmerz, der hier drinnen nagt.« Sie klopfte sich an die flache Brust. »Er war schon tot und begraben, und ich habe ihn wegen seiner Treulosigkeit verflucht. Welche Frau muß mit einer solchen Schuld auf dem Gewissen weiterleben?« »Du hast es nicht gewußt, du konntest das nicht wissen«, versuchte ich ihre Schuldgefühle zusammen mit meinen eigenen zu beschwichtigen. Wie anders wäre alles gekommen, hätte ich damals im Gässchen gesagt: Danke, Sir, aber ich muß nach Hause. Ich schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Das ist vorbei, vorbei! Begreif das doch endlich. Wir können doch nichts dafür. Das Jammern bringt ihn nicht zurück, wir müssen weiterleben und versuchen, das Beste aus unserem Leben zu machen.« »Da sieht man es«, erwiderte Mutter gehässig, »du bist genauso herzlos wie alle Hattons. Deinen Vater ausgenommen.«
Mit dem Sommer kamen die warmen Tage, an denen die Wäsche in wenigen Stunden trocknete. Leider war dies auch die Jahreszeit, in der viele Leute die Stadt verließen und vor der Hitze aufs Land oder in einen Badeort flüchteten. Unsere Einnahmen gingen zurück, und die vier Pfund von Miss Bellsize, ergänzt durch die Guineen des Richters, schwanden ebenfalls dahin. Der Tag war nicht mehr fern, an dem wir uns überlegen mußten, wofür wir eine Münze ausgaben, für Seife, Brot oder Gin. Damals spielte sich die Szene ab, die ich im Traum immer wieder erlebe. Eines Abends hatte ich zehn Penny bekommen für ein großes Bündel feinsten Leinenzeuges, das ich in aller Frühe gewaschen und das Mut38
ter nach ihrer ersten Ginration sorgsam gebügelt und zusammengelegt hatte. Auf dem Heimweg kaufte ich für einen Penny Brot und für zwei Penny gebackenen Fisch. Die Besitzerin des Ladens hatte reichlich gewogen, und ich stürmte mit dem ganzen Appetit meiner jungen Jahre die Treppe hinauf. Mutter empfing mich in dem Zustand kurzer Nüchternheit, der, wie ich wußte, zwischen zwei Anfällen von Trunkenheit aufzutreten pflegte. »Hast du Geld bekommen?« fragte sie. »Ja. Sieh mal, was ich mitgebracht habe.« »Du hast doch nicht etwa alles ausgegeben?« »Natürlich nicht. Drei Penny von zehn.« »Gib mir den Rest«, forderte sie und streckte die Hand aus. Ich wich zurück. »Das ist für morgen«, sagte ich. »Wir müssen Seife kaufen…« »Wer hat alles gebügelt? Jede Schlampe kann waschen. Wir werden uns doch nicht streiten? Ich will nur meinen Teil, ich habe ja auch nichts dagegen, wenn du essen willst. Ich will trinken. Komm, wir teilen ehrlich, gib mir fünf Pence.« Plötzlich tauchte vor mir ihr Bild aus früheren Tagen auf. In meiner Einfalt bildete ich mir ein, sie könne, wenn sie nichts zu trinken bekäme, wieder gesund werden und sich in die bewunderte Mutter meiner Kinderzeit zurückverwandeln. »Nein, Mutter«, wehrte ich ab. »Komm lieber essen. Das Brot ist noch ganz frisch und der Fisch auch. Die sieben Penny brauchen wir morgen für Seife und Nahrung.« »Mach, was du willst, mit deiner verdammten Seife«, schrie sie wütend. Ich sah sie entsetzt an. »Ich will das Geld sofort.« »Du kriegst es nicht von mir«, sagte ich und hoffte, ich könnte sie zwingen, nur einmal, ein einziges Mal nüchtern ins Bett zu gehen. »Na schön. Ich gehe jetzt. Ich werd' mich doch nicht mit dir um Geld raufen.« Sie drehte sich um und stolzierte in übertrieben würdevoller Haltung zur Tür hinaus. Ich ließ sie gehen und dachte: Niemand wird ihr Fusel geben, wenn sie kein Geld hat. Vielleicht war dies die Krisis, nach der sich alles zum 39
Guten wandte. Sie würde heimkommen und froh sein, eine Mahlzeit auf dem Tisch zu finden. Ich teilte den Fisch genau in zwei Hälften, schnitt das Brot in Scheiben und wartete. Eine Stunde, zwei Stunden. Mein Appetit war längst vergangen, mit Widerwillen blickte ich auf das Essen. Wo war Mutter? Was tat sie? Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und ging sie suchen. Ich brauchte nicht weit zu gehen, sinnlos betrunken saß sie auf einem Prellstein an einer Straßenecke. Wie sie das Geld beschafft hatte, habe ich nie erfahren und auch nie versucht, es herauszubekommen. Ich konnte nur hoffen, daß sie gebettelt hatte, die andere Möglichkeit war so furchtbar, daß ich nicht daran zu denken wagte. Mutter sträubte sich nicht, als ich ihr auf die Beine half und sie nach Hause führte. Das war keine leichte Aufgabe. Sie wog zwar wenig, sackte aber bei jedem Schritt wie eine Stoffpuppe in sich zusammen. Irgendwie brachte ich sie ins Zimmer hinauf und legte sie ins Bett, wo sie sofort in tiefen Schlaf fiel. Ich lag noch lange wach in verzweifeltem Grübeln über unser hoffnungsloses Schicksal. Als ich schließlich doch einschlief, war mein Schlaf so tief, daß mich erst der neue Tag daraus erweckte. Mutter lag hellwach neben mir, und auf ihrem Kissen breitete sich ein großer Blutfleck aus. Ich sprang auf und machte mir Vorwürfe, daß ich ihre Verletzung am vorigen Abend nicht bemerkt hatte. »Es ist keine Verletzung«, sagte Mutter leise, »es kam aus mir heraus. Ich werde sterben, Felicity.« Ihre Stimme klang ruhig und gelassen wie früher, wenn sie mir mitteilte, daß sie nur mal auf einen Sprung zum Bäcker wolle. Ich zweifelte nicht an ihren Worten. Auch ohne das Blut auf dem Kissen sah sie mit ihrer ledergrauen Hautfarbe und dem ausgemergelten Körper wie eine Sterbende aus, ja hatte wohl schon seit langem so ausgesehen, ohne daß es mir im täglichen Umgang mit ihr aufgefallen war. Mit der Tatsache, daß sie sterben mußte, fand ich mich ab. Es war nicht so sehr der Kummer über den eigenen Verlust, der mich peinigte, als vielmehr der quälende Schmerz darüber, daß ihr Leben so hart und leidvoll gewesen war und nun viel zu früh sinnlos zu Ende 40
ging. Ein ganzes Jahr lang hatte sie ihr tödliches Leiden mit sich geschleppt und in ihrem Bestreben, Linderung zu finden, den Weg zum sicheren Tod eingeschlagen. Für sie war ihr Hinscheiden eine Erleichterung, aber für mich? Ich drängte die Gedanken beiseite und sagte zuversichtlicher, als ich war: »Davon kann nicht die Rede sein, Mutter. Ich mache dir einen Brei aus Milch und Brot und dann hole ich einen Arzt.« Mit der Stimme jener Autorität, die meine Kindheit gelenkt hatte, sprach sie: »Hör mir zu, ich habe keine Zeit zu verlieren. Richte mich etwas auf.« Ich schob mein eigenes Kissen und ein schnell zusammengerolltes Wäschebündel hinter ihren Rücken. Währenddessen sprach sie weiter, als fürchte sie, nicht mehr alles sagen zu können. »Ich habe immer geglaubt, daß du dich für die Rolle der armen Verwandten nicht recht eignest, aber wenn du uns deine Blindheit so echt vorspielen konntest, wirst du auch Dankbarkeit und Bescheidenheit vortäuschen können.« Wie sie sagte, würde ich in Vaters altem Reisekoffer, der uns wie der Speiseschrank durch alle Höhen und Tiefen begleitet hatte, die Papiere finden, die Vaters Heirat und meine eheliche Geburt bewiesen. Mit ihnen müsse ich in einem Haus namens Mortiboys, in Suffolk nahe der Stadt Baildon, vorsprechen. Dort würde ich Vaters Familie antreffen, und sie würden weiter für mich sorgen. Sie hustete, während sie sprach, und das Tuch, das sie mit ihrer mageren Hand zum Munde führte, färbte sich mit roten Flecken. »Ich hole dir einen Arzt«, rief ich. Noch hatte ich den Ring mit dem Stein, von dem Mutter gesagt hatte, es sei ein Smaragd. Ich konnte ihn versetzen, um den Arzt zu bezahlen. Aber eine innere Stimme fragte, wozu das nütze? Selbst wenn Mutter diesmal davonkam, ihr erster Gang würde sie in eine Kneipe führen. »Nein, Felicity. lass mich sterben. Das ganze lange Jahr hindurch habe ich den Tod herbeigesehnt. Ich wollte dich gut versorgt in einem einträglichen Beruf wissen, aber die Chance hast du vertan.« Sie hustete wieder. »Versprich mir, daß du zu den Hattons gehst. Das Ster41
ben fällt mir schwer, wenn ich daran denke, daß du hier allein zurück bleibst. Du bist noch zu jung. Versprich es mir.« »Ja, Mutter, ich verspreche es«, sagte ich fest. Das letzte grauenvolle Jahr war weggewischt, mein kurzes, nie sehr sicheres Gefühl der Überlegenheit war dahin. Hier lag die Mutter, die ich achtete und verehrte und die über jeden Zweifel erhaben war. »Du hast es versprochen«, bestätigte sie und hob die Hand, um sie mir zu reichen. Ich umklammerte sie mit beiden Händen, sie war eiskalt. »Du wirst…« sie vollendete den Satz nicht, ihr Kopf fiel seitwärts aufs Kissen. Die Augenlider zuckten noch einige Male, und aus der Brust brach ein letzter, rasselnder Atemzug. Dann war es still.
Aus dem Erlös des grünen Ringes bereitete ich Mutter ein ordentliches Begräbnis. Ich kannte die Armenbegräbnisse zu gut. Sie lassen nicht den geringsten Zweifel daran offen, daß hier eine für die Gemeinde lästige Sache beseitigt wird. Und obwohl mir bewußt war, daß es im Grunde auf dasselbe hinauslief, war der Gedanke unerträglich, Mutter von gleichgültigen Händen in ein Massengrab verscharren zu lassen. Wie immer sie auch zuletzt gewesen war, ihr Leben hatte die traurige Würde eines Einzelgrabes verdient. Ich machte fertig, was an Wäsche noch herumlag, verkaufte unsere wenigen Habseligkeiten und zog dann mein frisch gestärktes Baumwollkleid an. Die Papiere aus dem Koffer und ein paar Kleidungsstücke band ich mit Mutters Schal zu einem Bündel, das ich mir über den Arm hängte. Ich suchte eine Wirtschaft am Rande der Stadt auf, wo viele Fuhrwerke hielten. Ich hatte nicht genügend Geld, um den ganzen Weg mit einem Fahrzeug zurückzulegen, ich wollte nur die Richtung wissen, die ich einzuschlagen hatte, und so bald wie möglich aus der Nähe der Großstadt herauskommen. Ich bezahlte einen Platz bis Ware. Dort stieg ich ab und ging zu Fuß weiter. Manchmal hielt ein Wagen und nahm mich unentgeltlich ein Stück mit. Vermutlich hielten mich die Leute für ein unerfahrenes Dienstmädchen auf dem Weg 42
zur neuen Herrschaft. Die letzte Wegstrecke legte ich auf einem Transportwagen zurück, der an einem herrlichen Sommerabend vor der Wirtschaft mit dem Namen Hawk in Hand in Baildon anhielt.
3
W
art mal hier draußen«, sagte der freundliche Fuhrmann. »Ich will nachfragen, wo das Haus ist. Mortiboys, sagtest du?« »Und die Leute heißen Hatton.« Er verschwand in der Wirtschaft und kehrte, einen Bierkrug in der Hand, in Begleitung eines Mannes, offenbar des Wirtes, zurück. Nun bekam ich meine erste Lektion, wie sehr sich das Stadtleben von dem auf dem Lande unterscheidet. In London ist jeder viel zu sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, um sich um den Nachbarn zu kümmern, während auf dem Land das Wohl und Wehe der anderen die Hauptquelle der Unterhaltung ist. Der Wirt sah mich lange prüfend an, bevor er sich erkundigte: »Gehst du in Stellung nach Mortiboys?« Ich konnte ihm die Frage nicht verdenken, wußte ich doch selbst nur zu genau, wie ich aussah. Dennoch antwortete ich in abweisendem Ton: »Meine Verwandten wohnen dort. Ich heiße Felicity Hatton.« Der Mann schaute nachdenklich drein wie einer, der eine Reihe Zahlen im Kopf addiert. Ein- oder zweimal schüttelte er den Kopf, das Ergebnis schien nicht zu stimmen. Schließlich fragte er tastend: »Da wüsste ich nur Chris Hatton, bist du mit ihm verwandt?« Ich sagte voller Würde, und, da ich noch auf dem Wagen saß, auch von oben herab: »Mr. Christopher Hatton war mein Vater.« »Sooo«, zog er das Wort in die Länge. »Soosoo. Und du… und Sie werden auf Mortiboys erwartet?« 43
Ich hätte viel darum gegeben, jetzt mit ja antworten zu können. Aber dann hätte man mich wohl abgeholt. »Nein«, mußte ich zugeben. »Na ja, geht mich ja nichts an. Aber hoffentlich rechnen Sie nicht mit einem Willkommen? Der alte Herr ist ein harter Bursche, stur und unversöhnlich. Es muß jetzt ein Jahr her sein, da kam mal hier einer aus London vorbei, um die Sachen von Master Chris zu bringen. Nachher erzählte er mir, was der Alte damit gemacht hatte. In die Pferdeschwemme hat er sie geworfen!« Mein Gesicht mochte meine Gefühle verraten, denn hastig setzte er hinzu: »Entschuldigen Sie, Miss, das hätte ich wohl nicht sagen dürfen. Aber es ist besser, Sie wissen gleich, woran Sie sind, anstatt daß Sie die Tür vor die Nase geknallt kriegen. Und außerdem wird es dunkel, bis Sie da draußen sind.« Mit einer Abweisung hatte ich nicht gerechnet. Die Hattons waren für mich bis dahin ein Sammelbegriff, ein Familienverband, aus dem sich Vater losgesagt hatte und zu dem Mutter mich zurückschickte, damit ich in Sicherheit war. Da stand ich, mutterseelenallein auf der Welt mit einem Shilling in der Tasche. Nein, doch nicht ganz. Der Fuhrmann trank sein Bier aus und meinte: »Ziemlich trübe Sache das. Morgen fahre ich über Colchester nach London zurück. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie mit.« »Ich weiß nicht recht«, sagte der Wirt unschlüssig. »Vielleicht sollten Sie es einmal in Old Vine probieren?« »Was ist das, Old Vine?« fragte ich und stieg nun doch vom Wagen ab. »So heißt das Haus von Mr. Rupert Hatton, lassen Sie mal sehen…« Diesmal war die Rechnung kürzer. »Er ist der Cousin Ihres Vaters, muß aber ein gutes Stück älter sein. Er hat auch so seine Marotten, aber er ist wenigstens kein Knauser. Er wird Ihnen zumindest eine Mahlzeit und ein Bett für die Nacht geben. Vielleicht fährt er morgen früh mit Ihnen nach Mortiboys hinüber.« »Anschauen kostet nichts«, ermutigte mich auch der Fuhrmann. 44
»Und wenn's nichts ist, können Sie immer noch mit mir fahren. Um sieben fahr' ich ab.« Ich dankte ihm herzlich und erkundigte mich danach beim Wirt, wie man zu Old Vine gelangte. Er wies mir den Weg. »Und nach Mortiboys?« Es lag in derselben Richtung, nur viel weiter. Der Wirt fragte noch, ob ich Hunger oder Durst hätte. Und ob ich hungrig und durstig war, aber ich hatte meine Würde zu wahren und lehnte höflich dankend ab. Ich schlug den angegebenen Weg ein, der mich über den leeren Marktplatz und durch einen überdachten Bogengang in die Southgate Street führte. Wie der Wirt gesagt hatte, stand das Haus an vierter oder fünfter Stelle zur Linken und war nicht zu verfehlen mit seinen beiden Giebeln und dem kleinen Vorgarten. Im Gehen fielen mir Mutters Worte ein. ›Alle Hattons sind herzlos, abgesehen von deinem Vater. – Ich glaubte nie, daß du dich zur armen Verwandten eignetest, aber du wirst ihnen Dankbarkeit und Bescheidenheit vorspielen können.‹ Nun merkte ich erst, wie ernst die Worte gemeint waren, und wünschte, ich hätte London nie verlassen. Ich war fest entschlossen, nicht nach Mortiboys zu gehen. Ein alter Mann, der bei der Nachricht vom Tode seines Sohnes dessen Uhr und Stock ins Wasser warf, würde auch von der Enkelin nichts wissen wollen, das hatte mir der Wirt deutlich genug zu verstehen gegeben. Und von dem Hatton in Old Vine hatte er gesagt: ›Er hat auch so seine Marotten.‹ Was damit gemeint war? Mittlerweile war ich auf der anderen Straßenseite gegenüber Old Vine angelangt. Ich hielt an. Dann sah ich das Haus. Die letzten Strahlen der Abendsonne fielen schräg auf den Backsteinbau und glitzerten in einigen Fensterscheiben auf. Die verborgenen Rottöne der Ziegel leuchteten, das ganze Haus strahlte in allen Farbtönen zwischen Orange bis tiefstem Purpur in einer imaginären Wirklichkeit, wie uns die Dinge im Traum vorkommen. Der Doppelgiebel und die massigen Schornsteine hoben sich scharf vom fahlblauen Abendhimmel ab, und im Gärtchen vor dem Haus verströmten Hunderte vollerblühter Rosen ihren Duft. Abermals überkam mich das Gefühl wie damals bei dem Ring, nur diesmal tausendfach stärker: Daß eben dies hier zu mir paßte und mir 45
gemäß war – die Sehnsucht, das Haus zu besitzen und – sehr tief, jenseits aller Grenzen der Vernunft – die Gewissheit, daß es sich mit ein wenig Schlauheit und etwas Glück einrichten ließe, zu dem Haus zu kommen. Natürlich war es absurd. Da stand ich, vierzehnjährig, mit meiner ganzen Habe in einer Hand und erhob Anspruch auf solchen Besitz. Aber das Gefühl hatte mich gepackt und dauerte lang genug an, um mich über die Straße und den kurzen Gartenpfad zwischen den Rosen zur Tür zu treiben, an der ich schellte. Ein Diener öffnete. Er gehörte zu der Sorte muskulöser Männer, die vor Scham darüber, daß sie ihre Körperkraft im Beruf nicht einsetzen können, eine überhebliche Miene zur Schau tragen und ihre Verlegenheit hinter herablassendem Benehmen tarnen. Bevor er seiner Mißbilligung Ausdruck verleihen und mich an den Hintereingang verweisen konnte, sagte ich rasch: »Ich bin Miss Felicity Hatton und möchte Mr. Hatton sprechen.« Er starrte auf mein Bündel, dieses Symbol der Unterschicht. Wieder kam ich ihm zuvor und hielt es ihm hin mit den Worten: »Ja, nehmen Sie das hier.« Der Arme konnte nicht ahnen, daß ich mich an ihm mit dem Mut der Verzweiflung für die vielen Demütigungen rächte, die ich von Dienern an den Haustüren erlitten hatte. Er war so verblüfft, daß er das Bündel wortlos übernahm. Er trat einen Schritt zurück. »Wenn Sie hier warten wollen, Miss Hatton. Miss Felicity Hatton, wenn ich recht verstanden habe?« Der Diener ließ mich in der geräumigen, reich ausgestatteten Halle allein. Mir gegenüber führte eine herrliche Treppe ins Obergeschoß. Mehrere Tischchen und eine Anzahl Stühle und Sessel luden zum Verweilen ein, aber ich war viel zu aufgeregt, um mich zu setzen. Ich ging auf und ab, sog den Duft eines Rosenstraußes ein und betrachtete eine nackte, dunkle Mädchenfigur, die einen siebenarmigen Leuchter emporhielt. Vor einem Spiegel mit Goldrahmen blieb ich stehen. Nein, lieber nicht, das Bild war zu entmutigend. Auf einem Tischchen neben der Treppe stand ein kleines Bild. War ich das als Kind? Nein, das klei46
ne Mädchen hatte dieselben kastanienbraunen Haare wie früher mein Vater. Sie war ausländisch gekleidet und hatte das gleiche unschuldige Kindergesicht, das mir bei meinen Taschendiebstählen so oft zustatten gekommen war. Das meine hatte sich zu einem misstrauischen, hungrigen Katzengesicht ausgewachsen, das ihre war möglicherweise, da sie sicher einmal genug zu essen bekam, zu einem teigigen Puddinggesicht auseinander geflossen. Der Diener kam wieder und sagte mit hergestellter Würde: »Mr. Hatton empfängt Sie. Bitte, folgen Sie mir.« Wir gingen nach rechts in einen kleinen Korridor, wo er eine Tür öffnete und mich mit kaum unterdrückter Ironie anmeldete: »Miss Felicity Hatton.« Verwirrt schaute ich in das von Dutzenden von Kerzen hell erleuchtete Zimmer. Am Kamin standen zwei Männer, ein älterer und ein junger. Da mir der Wirt den Cousin meines Vaters als einen älteren Mann beschrieben hatte, ging ich einige Schritte auf diesen zu und ließ mich, trotz meiner klobigen Schuhe und dem ausgewachsenen Waschkleidchen, mit einem vollendeten Hofknicks nieder. »Mein Gott, schau dir das an«, sagte der junge Mann sichtlich angewidert und ließ sich in einen Sessel fallen. Der ältere schaute mich prüfend an, überlegte eine Weile und fragte schließlich barsch: »Felicity Hatton? Sie wollen mit mir verwandt sein? Wie denn das?« Er redete in kurzen, abgehackten Sätzen, die, zusammen mit seiner sonderbar steifen Haltung, sofort in mir den Eindruck eines körperlichen Gebrechens entstehen ließen, wenn ich auch noch nicht zu sagen wußte, worin es bestand. »Wieso heißen Sie Hatton?« »Ich bin die eheliche Tochter von Christopher Hatton und seiner Frau Annabel, ich kann das beweisen.« »Ach ja, Chris, den hatte ich vergessen. Das ist möglich, sicher. Nun erkenne ich auch eine gewisse Ähnlichkeit. Andrew, mein Junge, sag mal, fällt dir in diesem Gesicht nicht etwas auf?« Der junge Mann stand auf und kam mit tänzelnden Schritten näher. 47
»Doch. Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mädchenporträt in der Halle. Aber die Züge von der da sind ziemlich gröber.« Er betrachtete mich mit weitaus größerer Verachtung, als selbst meiner schäbigen, von Reisestaub bedeckten Erscheinung angemessen war. Damals wußte ich noch nicht, daß manche Männer alle Frauen hassen und daß Andrew Sawston mich mit derselben Geringschätzung gemustert hätte, wenn ich in Samt und Seide gekleidet gewesen wäre. Ich spürte, wie es in mir zu kochen begann. Ich war hungrig, durstig, müde und enttäuscht, also ohnehin nicht gerade in sanfter Stimmung. Da bemerkte Rupert Hatton auf seine spöttisch-kühle Art: »Meinst du? Ja, vielleicht hat der arme Chris seine Wäscherin geheiratet? Er war immer so heikel mit seiner Wäsche. Wie sonst hätte er bei seiner Lebensweise in London zweimal täglich ein sauberes Hemd kriegen sollen?« Das tat um so mehr weh, als es der Wahrheit recht nahe kam. Mir war nun alles einerlei, ich ließ meiner Wut freien Lauf. »Nun hört mal her, ihr beiden da«, begann ich mit einer Stimme, die man am anderen Ende eines vollen Marktplatzes gehört hätte. Und damit setzte ich ihnen klipp und klar auseinander, wie achtbar und ehrenwert meine arme Mutter gewesen war (wenn auch in Ausdrücken, über die sie sich entsetzt hätte). Ich beschimpfte die ganze Hatton-Sippe, Vater ausgenommen, im übelsten Cockneyslang. Was war das für ein Vater, der das Vermächtnis seines toten Sohnes in einen Tümpel warf? Wenn uns in den schlechtesten Zeiten ein müder und hungriger Verwandter ins Haus geschneit wäre, wir hätten unser Brot mit ihm geteilt. Und so weiter. Ich warf ihnen sämtliche Schimpfwörter an den Kopf, die ich je auf der Gasse aufgeschnappt hatte, und das waren nicht wenige. Ich hielt erst inne, als ich bemerkte, daß sich die Männer halb tot vor Gelächter in die Arme fielen. Mein Zorn erreichte den Höhepunkt. »Ach was, eure ganze Familie Hatton kann mich im…« Ich machte kehrt und lief zur Tür. Rupert Hatton rief, atemlos vor Lachen: »Halt sie fest, Andrew! Halt sie! Das ist ja einzigartig, wie du zugeben mußt. Die Kleine ist ein Unikum, ein richtiger Schatz!« 48
Der junge Mann glitt über den polierten Fußboden auf mich zu. »Fassen Sie mich bloß nicht an, sonst werden Sie's bereuen!« drohte ich und griff nach dem Türknopf. Hätte er sich, wie alle mir bis dahin bekannten, von links nach rechts gedreht, so wäre mein weiteres Leben vermutlich anders verlaufen. Aber das vertrackte Ding ging gerade in die andere Richtung, und ich kriegte die Tür nicht sofort auf. Während ich noch an ihr rüttelte und zerrte, hatte Rupert Hatton, geistesgegenwärtig, bereits nach dem Diener geschellt. Als ich endlich die Tür aufriss, stand er dicht vor mir. Hinter mir sagte die ruhige, etwas abgehackte Stimme Rupert Hattons: »Plant, meine Cousine Felicity Hatton bleibt vorläufig hier. Ich glaube, das Gelbe Zimmer dürfte ihr gefallen. Und das Abendessen heute so früh wie möglich, Miss Felicity hat eine lange Reise hinter sich.« Ich hatte eine Sekunde Zeit, um mich zu entscheiden. Sollte ich in meinem gerechten Zorn hinaus auf die Straße rennen, die Nacht unter einem Busch verbringen und morgen mit dem Fuhrmann nach London in eine ungewisse Zukunft fahren? Oder ins Gelbe Zimmer mitgehen und abwarten, wie sich die Sache hier anließ? Ich wählte das Gelbe Zimmer.
Beim Abendessen bestätigte sich meine Vermutung, Rupert Hatton war in der Tat behindert. Die linke Hand, die ihm den Dienst versagte, steckte stets in der Hosentasche, auch den linken Fuß zog er nach. Der Fuß beeinträchtigte sein Leben kaum, um so mehr aber die Hand: Rupert Hatton war Violinvirtuose gewesen, hatte jedoch im Alter von fünfundzwanzig Jahren einen Schlaganfall erlitten, der seiner Laufbahn ein Ende setzte. Die Einzelheiten seines Schicksals erfuhr ich nach und nach im Laufe der folgenden Wochen und Monate. An diesem ersten Abend sah ich lediglich, daß ihm das Fleisch vorgeschnitten wurde. Zu allen anderen Verrichtungen an der Tafel bediente er sich ausschließlich der rechten Hand. 49
Meine Stimmung war die denkbar beste. Das mir zugewiesene Gelbe Zimmer war ein prachtvoller, luxuriös eingerichteter Raum, das Abendessen setzte sich aus einer Folge erlesener Speisen zusammen, und Rupert Hatton entwickelte eine Liebenswürdigkeit, als wolle er mich den schlechten Empfang vergessen machen. Ich sollte bald herausfinden, daß auf seine wetterwendischen Launen kein Verlass war. Sein Wesen war derart widersprüchlich, daß man sich oft zu Recht fragte, ob er noch geistig gesund sei oder nicht. An diesem Abend jedoch entsprach er ganz dem Bild, wie ich mir hin und wieder meine vornehmen Verwandten vorgestellt hatte. Er erkundigte sich nach meinem bisherigen Leben, und ich gab Antwort, wenn auch hier und da mit leichten Abweichungen von der Wahrheit. Ich sprach offen über unsere Armut, verschwieg aber die Affäre meiner Lehrlingszeit mit ihrem betrügerischen Ausgang; ich erzählte, daß Mutter an gebrochenem Herzen gestorben sei, und hütete mich, den Gin zu erwähnen. Ich stellte unsere Wohlstandsperioden so glänzend wie möglich dar, in denen ich zur Schule gegangen war und Tanz- und Musikunterricht genossen hatte. Als ich die Musik erwähnte, fragte Rupert interessiert: »Kannst du gut spielen?« »Ich fürchte, nein, es ist sicher schon über ein Jahr her, seit ich das letzte Mal ein Cembalo berührt habe.« »Du mußt üben«, sagte er. »Wir haben hier eine Art Liebhaberorchester, in dem wir dich gut brauchen könnten.« Andrew, der sich bislang in trotziges Schweigen gehüllt hatte, warf mit maulendem Gesicht ein: »Thomas wird es nicht haben wollen, er leidet es nicht, wenn jemand auf seinem Cembalo spielt.« »Thomas wird sich damit abfinden. Im übrigen habe ich den vagen Eindruck, daß das Cembalo immer noch mein Eigentum ist.« Ihre Blicke trafen sich über dem Tisch. Rupert schaute sein Gegenüber kühl und spöttisch an, während der widerspenstige Ausdruck auf Andrews Gesicht langsam einem nachgiebigen Lächeln wich. Einen Augenblick lang sah er beinahe weibisch aus, und ich fürchtete schon, er werde in Schluchzen ausbrechen. 50
Rupert Hatton wandte sich wieder zu mir. »Du gefällst mir, Felicity, und wen ich mag, der kann über meinen gesamten Besitz verfügen. Aber ich will offen sein, es gibt noch einen Grund für mich, dich bei mir aufzunehmen. Es wird meinen guten Onkel Barnabas, er ist nebenbei dein Großvater, mächtig ärgern. Der bissige alte Geizkragen würde dich wie ein lästiges Fürsorgekind behandeln, das heißt, genauso wie sein eigenes Weibervolk. Ich werde dich in Seide gekleidet und mit Schmuck behangen der Nachbarschaft vorstellen.« Mir gefiel sein Ton nicht, und ich ergänzte deshalb: »Wie einen französischen Pudel.« Er lachte. Ich hörte auf zu essen, lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mir scheint, daß ich auch in diesem Haus nicht sehr willkommen bin. Dann wäre es besser, ich reise morgen ab, solange ich eine Fahrgelegenheit habe. Später trifft es sich vielleicht nicht so günstig.« »Du bist sehr empfindlich, Felicity. Schau her…« Er langte in seine Hosentasche und zog vier Guineen hervor. »Steck die sicher weg. Damit kannst du jederzeit, wenn du es bei uns nicht mehr aushältst, einen Platz in der Postkutsche nach London bezahlen und hast nichts verloren.« Ohne auf meinen Dank zu achten, sagte er zu dem jungen Mann: »Kopf hoch, Andrew, das ist noch lange nicht der Einbruch einer grässlichen Weiberarmee, sondern ein höchst seltenes Exemplar der Gattung.«
Als sich mit der Zeit das Leben Rupert Hattons stückchenweise aus Andeutungen und kleinen Episoden vor mir wie ein Puzzle zusammensetzte, erkannte ich die Tragik seines Schicksals. Von frühester Jugend an hatte er sich dem Geigenspiel verschrieben, für das er eine außergewöhnliche Begabung zeigte. Seine früh verwitwete Mutter erfüllte ihm jeden Wunsch; mit zwölf Jahren wurde er Schüler eines be51
kannten Geigenvirtuosen, der ihn viele Stunden täglich üben ließ. Vor der Öffentlichkeit hielt er ihn lange zurück, mag sein, daß Eifersucht dabei im Spiele war. Als Rupert Hatton endlich vor das Publikum trat, wurde sein Name fast über Nacht in ganz Europa berühmt. 1695 erhielt er die Einladung, im Spiegelsaal von Versailles vor Ludwig XIV. und seinem Hof ein Konzert zu geben. Mitten in der Aufführung brach er zusammen und mußte besinnungslos hinausgetragen werden. Als er sein Bewußtsein wiedererlangte, wurde klar, daß er nie wieder eine Geige in Händen halten werde. Eine schreckliche, eine traurige Geschichte, und doch konnte ich mir den Hintergedanken nicht verkneifen, daß es ja keinen Armen getroffen hatte. Gewiß, der Schlaganfall vereitelte seine hochfliegenden Pläne und stürzte ihn in tiefe Schwermut, aber Rupert Hatton brauchte deswegen nie zu hungern und hatte immer ein Dach, und zwar kein schlechtes, über dem Kopf. Als er seinen Kummer endlich überwand, besaß er die Mittel, um weltweite Reisen zu unternehmen, von denen er kostbare Gegenstände für sein Haus mitbrachte. Die kleine Nubierin mit dem siebenarmigen Leuchter hatte einstmals in einem florentinischen Palast gestanden, und die Teppiche im Musikzimmer stammten von den Wänden eines Hauses in Isfahan. Das erste Piano Baildons, vermutlich ganz Suffolks, befand sich in Ruperts Besitz. Langsam begann ich zu ahnen, weshalb er nicht geheiratet hatte. Auch die unterkühlteste Vernunftehe erfordert noch ein wenig Beständigkeit und Anpassung und setzt in unserer monogamen Gesellschaft Grenzen, die Rupert nie eingehalten hätte. Niemals hätte er, wie er es bei seinen Günstlingen zu tun pflegte, drei bis vier Frauen gleichzeitig gegeneinander aufhetzen und ausspielen können. Vielleicht tue ich ihm unrecht, wenn ich vermute, daß er das Geigenspiel hauptsächlich deshalb so meisterlich erlernte, um mit seiner Kunst das Publikum zu beherrschen und die Empfindungen der Zuhörer nach seiner Willkür zu erwecken, anzuspornen und nach dem Höhepunkt wieder zu besänftigen. Als sich diese Gelegenheit zur Machtausübung vor ihm verschloss, suchte er Ersatz. Er fand sie in zweierlei Arten von jungen Leuten. Da waren einmal 52
die hübschen Burschen niederen Standes, die er wegen ihres ansprechenden Äußeren in sein Haus aufnahm und die er, wenn er sie eine Zeitlang verwöhnt und für den Rest ihres Daseins gründlich verdorben hatte, mit Spott und Gezänk davonjagte. Allen Burschen gemeinsam war ihre unersättliche Habgier. Was Rupert ihnen auch schenkte, sie verlangten mehr und mehr, bis er ihrer überdrüssig wurde. Zur anderen Gruppe gehörten die jungen Männer aus guter Familie, die sich wegen irgendeiner Sache mit den Angehörigen überworfen hatten. Da war der enttäuschte Sohn, dessen Vater ihm eine ersehnte Reise verweigerte, das Muttersöhnchen, das gegen die weibliche Übermacht von Mutter und Schwestern revoltierte, und die große Schar abgewiesener und gekränkter Liebhaber. Alle fanden in Old Vine eine reichgedeckte Tafel, gesellige Musikabende, nächtelange Diskussionen und vor allem Verständnis für ihren Kummer. Keiner von den Gästen zeigte jemals Interesse für mich. Die Schönlinge wollten ohnehin von Frauen nichts wissen, und die anderen waren mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt. Ein normal erzogenes Mädchen aus guter Familie wäre todunglücklich gewesen unter den Bedingungen, unter denen ich aufblühte. Immer schon war ich ohne Freundinnen ausgekommen, ich war gerissen genug, um mich gegen die Lügen und Intrigen der zeitweiligen Hausgenossen mit gleicher Waffe zu behaupten, und hatte lange genug Not gelitten, um den Luxus zu genießen. Einmal ergab sich eine Gelegenheit, Rupert Hatton und Old Vine zu verlassen. Etwa vierzehn Tage nach meinem Eintreffen erschien mein Großvater in der Absicht, mich von hier weg und in sein Haus zu bringen. Er ähnelte meinem Vater, sah aber natürlich viel älter und auch entschlossener aus. Er tobte, daß Rupert mich unpassend gekleidet zu einem Musikabend mitgenommen und mich der halben Stadt vorgestellt hatte, ohne daß er, mein leiblicher Großvater, von meinem Hier sein wußte. »Ich hatte Angst«, sagte Rupert mokant, »du könntest sie in die Pferdeschwemme werfen.« Mein Großvater befahl mir, meine Sachen zu packen und mitzukom53
men. Irgend etwas in mir, sicherlich ein Erbteil meiner Mutter, sehnte sich nach Schutz und Geborgenheit, und seien sie noch so streng und knauserig dargeboten. Aber dann gewann mein Leichtsinn die Oberhand, und ich verkündete, daß ich lieber hier bliebe. Großvater drehte sich zu Rupert um und schnaubte: »Du Wüstling mußt alles beschmutzen, was dir in die Hände gerät. Ich schäme mich, den gleichen Namen wie du zu tragen.« »Aber, lieber Onkel, doch nicht gleich so melodramatisch«, erwiderte Rupert mit seinem affektiertesten Lächeln. Großvater geriet nun erst recht in Fahrt und überschüttete Rupert mit Beschimpfungen, unter denen mir der Ausdruck ›Du verdammter Sodomit‹ neu war. Bis dahin hatte ich weder in der Sonntagsschule noch auf der Gasse den Namen dieser Stadt und seine versteckte Bedeutung erfahren. Noch heute glaube ich nicht, daß Rupert eigentlich pervers war. Auch widernatürliche Beziehungen gründen sich auf menschlichen Gefühlen wie Wärme und Zuneigung. Außerdem hätte jeder physische Kontakt, wenn auch nur für kürzeste Zeit, die Macht und Überlegenheit meines Onkels über seine Günstlinge untergraben.
In dieser sonderbar unwirklich anmutenden Atmosphäre verbrachte ich zwei ruhige, glückliche Jahre, bis sich nach meinem sechzehnten Geburtstag die Ereignisse überstürzten. Rupert hatte unterdessen einen neuen Freund gefunden, diesmal keinen ›schönen Jungen‹ oder unzufriedenen Nachbarssohn. William Talbot ging auf die fünfzig zu, hatte eine gelbliche Hautfarbe und gelb getönte Augäpfel infolge einer Krankheit, die er sich auf Reisen zugezogen hatte. Was Rupert für die Jugend der Umgebung war, bedeutete William Talbot für Rupert: Er hatte die Welt bereist, er kannte Indien und hatte sich im Malaischen Archipel herumgetrieben. Er konnte stundenlang amüsant erzählen und legte vollendete Manieren an den Tag, sogar mir gegenüber. Außerdem war er musikalisch, außer54
ordentlich belesen und sehr selbstbewusst. Da er sich keinen Moment von Rupert abhängig fühlte, hatte er es nicht nötig, dankbar zu sein oder ihm zu schmeicheln. Auch das andere Laster der Schmeichler, die Unverschämtheit, lag ihm fern. Rupert hatte ihn eingeladen, hier war er. Sobald einer den anderen langweilte, würde man sich trennen und zu nichts weiter verpflichtet sein. Rupert, der mit jedem, auch mit mir, sein Spiel nach Belieben trieb, hatte in William einen ebenbürtigen Partner gefunden. Einmal hörte ich, wie Rupert zu ihm sagte: »Aber William, begreif doch, was mir gehört, gehört auch dir.« Also auch das Haus, dachte ich, auch Old Vine. Es traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Immerhin hatte ich heimlich gehofft, er würde mir, dem einzigen verwandten Menschen, mit dem er sich vertrug, das Haus hinterlassen. Die ›hübschen Burschen‹ waren gekommen und gegangen, William Talbot war der erste, der meine Zukunftsträume ernsthaft gefährdete. Als ich nachrechnete, wie alt Rupert sein mochte, kam ich zu dem unglaublichen Ergebnis von nahezu siebzig Jahren. Der frühe Schlaganfall hatte seine Jugend frühzeitig beendet, aber seither hatte ihm die Zeit kaum etwas anhaben können und ihn vor dem schleichenden Verfall der fortschreitenden Jahre verschont. Sein altersloses Gesicht sprühte vor Temperament und Begeisterung, obwohl er älter war als alle seine Freunde. Irgendwann zu der Zeit betrat George Turnbull erstmals unser Haus. Er war ein Neffe von Ruperts Anwalt und half seinem Onkel bei dessen Amtsgeschäften. An dem großen, breitschultrigen jungen Mann wirkte jedes Kleidungsstück, als habe er es ausgewachsen. Er sah nicht übermäßig gut aus, erschien jedoch mir, die ich bis dahin nur affektierte Schöntuer und zwei ältere Männer kannte, durchaus anziehend. Rupert lobte seinen scharfen Verstand und seine Geschicklichkeit, auch verfahrene Fälle so gerissen zurechtzubiegen, wie es dem alten Mr. Turnbull nie eingefallen wäre. Rupert richtete es so ein, daß George im Laufe der Zeit zunehmend seine Rechtsangelegenheiten übernahm. Hin und wieder lud er George zum Essen ein. Mir gegenüber 55
benahm sich George stets äußerst korrekt, viel zu korrekt nach meinem Geschmack. Und wie schon oft bedauerte ich zutiefst, daß ich nicht hübscher war. Auf dem Marktplatz in Baildon gab es seit kurzem ein Kaffeehaus. Als ich eines Morgens von Stand zu Stand ging und einkaufte, tauchte George Turnbull in der Tür des Kaffeehauses auf und grüßte, offensichtlich erfreut, zu mir herüber. Er trat auf mich zu und erkundigte sich nach Ruperts Gesundheit, wobei er ihn selbstverständlich Mr. Hatton nannte, und setzte hinzu: »Nach Ihrer Gesundheit braucht man gar nicht zu fragen, Miss Felicity. Sie sehen aus wie das blühende Leben.« Zum ersten Mal sagte er mir etwas, was man als Kompliment empfinden konnte, und prompt schoß mir zu meinem Ärger die Röte ins Gesicht. »Ich habe meinen Onkel überzeugt«, plauderte er weiter, »daß die Stunden im Kaffeehaus keine vergeudete Zeit sind. Auf dem Markt wird mancher Handel abgeschlossen, und Leute fragen mich um Rat, die sich vor der Anwaltskanzlei scheuen. Ich habe Sie schon mehrmals aus dem Fenster beobachtet. Sie gehen oft dorthin weiter.« Mit dem Kopf deutete er auf eine Ecke, an der ein enges Gässchen auf den Marktplatz mündete. Die lästige Röte ergoss sich abermals über meine Wangen. Ich hatte guten Grund, in jenem Gässchen, der Pound Lane, spazierenzugehen, aber ich hielt ihn noch geheim. »Entschuldigung«, unterbrach er mein verlegenes Schweigen, »es sollte keine Neugier sein, nur Interesse.« Endlich gewann ich meine Selbstbeherrschung wieder. »Wenn mein Plan dort in der Pound Lane jemals Gestalt annimmt«, erwiderte ich, »werden Sie der erste sein, der es erfährt.« Seit ich nicht mehr mit dem Haus rechnen konnte, hatte ich den Plan gefaßt, nach Ruperts Tod eine Teestube für Frauen, entsprechend dem Kaffeehaus für Männer, einzurichten. Ein kleines Haus in der Pound Lane schien ideal für diesen Zweck geeignet. Es lag gleich um die Ecke zum Markt und hatte ein großes Bogenfenster neben dem Eingang. Zu Beginn würden einige Tische und Stühle sowie ein paar hübsche Kannen und Tassen genügen. 56
Ich hatte mit kleinen Schwindeleien auf dem Markt und anderen Tricks schon über fünf Pfund gespart. Die übliche Bargeldquelle der Damenschaft, die gefälschte Schneiderrechnung, konnte ich nicht anzapfen, da Rupert Vergnügen daran fand, meine Garderobe mit mir zusammen auszuwählen. Er liebte den Umgang mit zartfarbigem, feinem Gewebe. »Sie sind nicht die einzige, die Pläne schmiedet, Miss Felicity«, sagte George Turnbull, »auch ich habe die meinen, und ich hoffe, daß ich Ihnen eines Tages mehr darüber erzählen darf.« Ich war gleichermaßen geehrt wie überrascht. »Selbstverständlich interessieren mich Ihre Pläne«, antwortete ich. Gewiß ließen sie die meinen an Zielstrebigkeit und Ehrgeiz weit hinter sich. »Kaufen Sie nächsten Samstag wieder am Markt ein?« »Ich gehe jeden Mittwoch und Samstag einkaufen.« »Könnten wir uns nachher die Tulpen im Botanischen Garten anschauen? Sie sollen dieses Jahr besonders schön blühen.« Vor Zeiten hatte es in Baildon ein Kloster gegeben. Die eingefallenen Gebäude und verwilderten Gärten waren in den Besitz eines Lord Bowdegrave übergegangen, der aus den Ruinen eine Orangerie und aus dem Gestrüpp eine blühende Insel geschaffen hatte, die man für zwei Penny besichtigen konnte. Aber da die Armen von Baildon weder Zeit noch Geld, die Reichen aber ihre eigenen Gärten besaßen, war der Botanische Garten meist menschenleer. So waren George und ich am folgenden Samstag wie auch bei einigen weiteren Gelegenheiten allein, abgesehen von den Gärtnern. Wir saßen auf einem alten Mauerrest und unterhielten uns. Zunächst erschien mir George mehr als Freund, gewissermaßen als Ersatz für Fingers, und ich war froh, wenn er mir aufmerksam zuhörte. Erst allmählich merkte ich, daß es mit der Freundschaft nicht ganz stimmte. Obwohl, oder vielleicht gerade weil ich nicht hübsch im landläufigen Sinn war, konnte ich mich nicht ständig mit einem jungen Mann an einem so abgeschiedenen und romantischen Ort treffen und dabei nichts weiter als einen Freund in ihm sehen. Gewiß, ich schätzte seine Freund57
schaft hoch, und doch kränkte sie mich gleichzeitig. Nichts beleidigt ein junges Mädchen mehr, als wenn ein Mann lediglich seine Freundschaft anbietet. Offenbar war ich auf meine Art nicht weniger verrückt als Rupert. An den Abenden vor den Treffen mit George brachte ich Stunden vor dem Spiegel zu mit Versuchen, durch eine andere Haartracht oder etwas Wangenrot mein Aussehen zu korrigieren. Was im Abendlicht vorteilhaft aussah, schien mir im Tageslicht albern und abgeschmackt, und ich fand mich im Botanischen Garten ein, wie ich immer zu gehen pflegte. Es handelte sich ja nur um Freundschaft, nichts weiter. George vertraute mir seine geheime Absicht an, ein Stück Land zu kaufen. Er verachtete den Anwaltsberuf und wollte sich, sobald es anging, selbständig machen. Ich wiederum teilte ihm meine Pläne über das Teehaus mit. Sie gefielen ihm. Rupert, so meinte er, werde mir sicherlich dabei helfen. »Ich glaube nicht«, sagte ich. »Vielleicht jeder andere außer Rupert würde das tun. Er verhält sich immer anders, als man erwartet.« »Wie sind Sie beide eigentlich verwandt? Für einen Cousin erscheint er mir doch zu alt.« »Er ist der Cousin meines Vaters.« »Und jener William Talbot? Was hat er in Ihrem Haus zu suchen?« »Genau genommen gar nichts. Er ist ein Freund Ruperts, ein ganz besonderer Freund allerdings, und ich fürchte, daß Rupert ihm sein Vermögen hinterlässt.« Ich gestand George sogar meine Liebe zum Haus ein. »Wenn ich nur das Haus hätte, und so viel Geld, um darin zu leben. Ja, ein Pferd möchte ich mir halten, und einen großen Hund zum Jagen und einen kleinen zum Verhätscheln.« »Sie wissen es aber genau«, lachte George. »Ist das alles?« Am liebsten hätte ich ergänzt: ›Und dich zum Mann und viele Kinder.‹ Aber so etwas konnte ein junges Mädchen unmöglich sagen, das war selbst mir klar. Laut entgegnete ich: »Ich habe viel Zeit zum Denken und Träumen.« Zornig und enttäuscht ging ich an dem Abend nach Hause. Wenn 58
George nur einen Bruchteil von dem für mich empfand, was ich für ihn fühlte, hätte er nicht auf diese Weise mit mir über die Zukunft gesprochen. Nicht unter den grünen Bäumen und vor den großen, farbigen Blumenbeeten, während in der Ferne ein Kuckuck endlos seinen Ruf wiederholte…
Seit William Talbot bei uns zu Gast war, herrschte Ruhe und Frieden im Hause. Wenn er sich hin und wieder mit Rupert in die Wolle geriet, spielte Rupert den Gekränkten. Als wir an einem heißen Maitag im Garten saßen, streckte sich William in seinem Sessel aus und meinte, er sei eigentlich ein Sonnenanbeter und nichts könne ihn dazu bringen, noch einen kalten Winter in England zu verbringen. Rupert brauste auf: »Was hast du gesagt?« »Daß ich nicht noch einen Winter hier in England bleiben möchte«, wiederholte William. Rupert, der seit dem Auszug des letzten schönen Jünglings keine dramatische Szene improvisiert hatte, nutzte hocherfreut die Gelegenheit. Er überschüttete William mit Vorwürfen, die dieser mit den Worten: »Aber, Rupert, du bist nicht ganz bei Trost« zunächst abwehrte. Als Rupert nicht aufhörte, stand William auf und ging auf das Haus zu. Rupert griff nach seinem Stock und hastete ihm nach, aber bereits nach einigen Schritten wankte er, gab seltsam stammelnde Töne von sich und fiel der Länge nach zu Boden. Erschrocken wandte sich William um, ich rief nach Plant, und gemeinsam brachten wir Rupert zu Bett. Der rasch herbeigeholte Arzt bestätigte unseren Verdacht. Ja, es war ein Schlaganfall, wenn auch ein leichter. Nach dem Aderlass kam Rupert wieder zu sich und lag bleich, mit vorwurfsvoller Miene im Bett. William entschuldigte sich zerknirscht, obwohl er von seiner Schuld nicht überzeugt war. Schließlich vergab ihm Rupert mit leidender Stimme. Die Komödie war perfekt. Abgesehen von dem Schlaganfall, denn dieser war echt, hatte sich alles so abgespielt wie unzählige frühere Male in Old Vine, und William hatte seine Rolle endlich gelernt. 59
Als dramatischen Abschluß der Vorstellung ließ Rupert den alten Mr. Turnbull rufen. Obwohl er dabei geheimnisvoll tat, war uns allen klar, daß er sein Testament aufsetzte oder änderte.
Bei der nächsten Begegnung mit George fiel mir sofort sein verändertes Benehmen auf. Er behandelte mich schonend, ja, mitleidig, als hätte ich seit unserem letzten Zusammensein einen Schicksalsschlag erlitten. Obwohl die Sonne wieder heiß nach einem Regenschauer schien, bestand er darauf, seine Jacke über die Mauersteine zu breiten, bevor ich mich setzte. Das ›Miss‹ vor meinem Namen ließ er weg. Ich zog meine Schlüsse: George wußte, was in Ruperts Testament stand! Ich packte den Stier bei den Hörnern und fragte geradeheraus: »Rupert hat alles diesem William Talbot vermacht, nicht wahr?« George legte seine große Hand auf die meine und drückte sie tröstend. »Felicity«, sagte er warm. »Sie wissen, daß ich das Vertrauen der Kunden nicht missbrauchen darf. Falls überhaupt ein Testament gemacht wurde, hat es mein Onkel.« »Es wurde eins gemacht, und Sie und ich wissen genau, was drinsteht. Ja, George, Sie auch. Sonst würden Sie nicht so herumglucken, als sei ich krank.« Ich fühlte mich tatsächlich angegriffen, nicht das Geld, das Haus tat mir leid. Er hielt meine Hand noch immer fest. »Sie verstehen mich falsch, Felicity. Bevor wir weiterreden, sagen Sie, habe ich Ihnen jemals Andeutungen über die Rechtsangelegenheiten Ihres Onkels gemacht?« »Was braucht es da noch Andeutungen? Der Fall liegt klar: Rupert und William haben sich nach dem Streit versöhnt. Rupert ist krank, er läßt den Notar, Ihren Onkel, holen. Und jetzt kommen Sie mit Ihrer mitleidigen Tour. Ich kann mir an den Fingern abzählen, was geschehen ist.« »Glauben Sie denn wirklich, daß man Ihnen gegenüber nur Mitleid 60
empfinden kann? Felicity, machen Sie's mir doch nicht so schwer. Ich hab' nicht viel Übung in diesen Dingen.« Ich schaute auf. Seine Augen blickten mich gespannt und bittend an. Ich dachte, nein, das kann nicht wahr sein… »Ich kann Ihnen im Augenblick nicht viel bieten…« Er gab sich einen Ruck. »Felicity, ich versuche Ihnen eben klarzumachen, daß ich Sie liebe und Sie heiraten möchte.« Mir schwindelte. Der grüne Garten drehte sich mit wahnsinniger Geschwindigkeit um mich herum, und ich wäre gefallen, wenn George mich nicht in die Arme genommen hätte. Er küßte mich ungeschickt, und ich gab den Kuß zurück. Die folgenden kostbaren zehn Minuten brauchten wir zu Erklärungen. George gestand, daß er mich seit langem liebe, aber wegen meiner zurückhaltenden Art nicht gewagt habe, davon zu sprechen. Nie hätte ich ihm das kleinste Zeichen der Ermutigung gegeben. Ich erwiderte, ich hätte mich nicht getraut. Ich sei nicht hübsch und hätte nie geglaubt, daß ich jemals mehr für ihn bedeuten könne als eine Zufallsbekanntschaft. »Nicht hübsch?« Er hielt mich mit ausgestreckten Armen an den Schultern und sah mich an. »Nein, das bist du nicht. Dein Gesicht hat eine seltsame, stille Schönheit.« Ich fühlte mich wie verklärt. Nun konnte ich mich zurechtmachen, Rot auflegen und meine Haare in Locken drehen, ohne mir selber wie eine Närrin vorzukommen. Ich war wie neu geboren. Wir lachten und redeten durcheinander, über unser Zögern, unsere überflüssigen Ängste. Plötzlich wurde George sehr ernst. »Auch jetzt werden wir es nicht leicht haben«, behauptete er. »Mein Onkel ist dagegen, daß sich ein Anwalt in jungen Jahren bindet. Er sagt, damit verbaue er sich seine ganze Karriere.« »Dann warten wir eben noch«, sagte ich zuversichtlich. Nun, da ich mich geliebt wußte, konnte ich jahrelang warten. »Wir sind jung.« »Warum sollen wir unsere besten Jahre vergeuden?« »Was können wir tun? Es sei denn, du versuchst deinen Onkel umzustimmen?« 61
»Der ändert seine Meinung nicht. Er würde es als eine persönliche Beleidigung auffassen und mir tatsächlich Steine in den Weg legen. Dann wäre meine Karriere erst recht dahin. Es gäbe noch eine Möglichkeit, aber«, er schaute auf die Uhr, »dafür ist es heute zu spät. Wann sehen wir uns wieder? Kannst du abends kommen?« »Ich kann kommen, wann ich will. Kein Mensch kümmert sich darum, was ich tue.« »Sag so was nicht«, bat George. »Das klingt so verzweifelt. Vergiß nicht, daß ab heute ich mich um dich kümmere.« Noch nie in meinen sechzehn Lebensjahren war ich mir selber so wertvoll und bedeutend erschienen wie in dieser Stunde.
Beim nächsten Treffen teilte mir George mit, er habe nachgedacht und sei zu dem Schluß gekommen, in unserem Fall wäre wohl eine sogenannte ›Fleet-Trauung‹ das beste. Ich stimmte zu. Ich hätte allem zugestimmt, was George vorschlug. »Weißt du auch, was das ist?« fragte er. »Fleet? Ich kenne ein Schuldgefängnis in London, das so heißt.« »Genau das meine ich. Es gibt auch Priester, die wegen Schulden ins Gefängnis geraten. Sie sind erpicht darauf, nebenbei etwas Geld zu verdienen. Das geht am leichtesten, wenn sie ihr Amt weiter ausüben. Denn auch im Schuldgefängnis bleibt ein Priester im Amt. Der fragt dann nicht viel nach Erlaubnis oder Verboten.« »Sind die Ehen gültig?« »O ja. Wir Anwälte wissen das vor allem aufgrund der vergeblichen Bemühungen, solche Ehen zu annullieren. Die Priester führen ein Register.« »Dann ist es gut. Aber für mich wird es schwer sein, nach London zu fahren. Rupert schert sich zwar nicht viel darum, was ich tu' oder lasse, aber er ist furchtbar neugierig. Wenn er nur den geringsten Wind von der Sache kriegt, hinterbringt er sie schon aus purer Bosheit deinem Onkel.« 62
»Daran habe ich auch schon gedacht. Aber du brauchst gar nicht mitzukommen, Felicity.« »Nicht mitkommen? Zu meiner eigenen Trauung?« »Es kennt dich dort ja keiner. Man kann eine Stellvertreterin für dich mieten, nur die Eintragung in das Register zählt.« Urplötzlich brach ich in Tränen aus. Daran mußte meine neue weibliche Gemütsverfassung schuld sein, denn ich hatte nie nahe am Wasser gebaut. Wie armselig das alles war. Ein Pfarrer aus dem Schuldgefängnis, die Heimlichtuerei, als wäre unsere Heirat ein Verbrechen, und dazu kein Hochzeitskleid, keine Glocken und keine Gratulationen. Nicht einmal ich, die Braut, sollte dabeisein. So schluchzte ich an Georges Schulter. Er sprach mir gut zu und wischte mir die Tränen mit seinem Taschentuch ab, bis ich mich endlich beruhigte und mich sanft und dankbar wie eine richtige Frau in die Arme des Mannes schmiegte, der mich zum Weinen gebracht hatte. Natürlich mußte ich einsehen, wie vorteilhaft Georges Vorschlag war. Das Geschehen konnte nicht rückgängig gemacht werden. George konnte fortan Familien mit jungen Mädchen besuchen, sooft er wollte. So hübsch sie auch sein mochten, er gehörte mir, nur ich hatte ein Recht auf ihn. Nicht daß ich ihm direkt misstraut oder an seiner Liebe gezweifelt hätte, aber ich war schon immer mehr fürs Sichere. »Kannst du denn nach London, ohne daß es auffällt?« fragte ich. »Ich muß sogar. Eine Prüfung muß ich noch ablegen, deshalb ist der Termin so günstig. Habe ich dich auch nicht zu früh überredet? Hast du wirklich keine Bedenken? Aber so eine Gelegenheit ergibt sich nicht so bald wieder…« Hastig wehrte ich ab, nein, ich hatte keinerlei Bedenken. Verlegen druckste George noch herum, bis er endlich gestand, er habe nicht genug Geld, um den Pfarrer zu bezahlen. Der Onkel sorgte zwar für seinen Lebensunterhalt, von Taschengeld hingegen hielt er nicht viel. »Einen Platz auf dem Kutschbock und einen Schilling pro Tag ist das höchste, was er herausrückt«, sagte George. 63
Ich vertraute ihm meine gesamten Ersparnisse an: fünf Pfund, fünf Schilling und sechs Pence. »Suche wenigstens ein ordentliches Mädchen als Stellvertreterin aus«, bat ich. Vor meinem inneren Auge tauchte Polly-für-zwei-Penny auf. George gab zu bedenken, daß ordentliche Mädchen kaum für einen solchen Zweck zu haben waren, aber er wolle versuchen, kein gar zu abgebrühtes Weibsbild aufzutreiben.
Die Kutsche nach London fuhr morgens um acht von Baildon ab. An dem Tag, als George abreiste, erwachte ich frühzeitig und beschloß, ihn nochmals aus der Ferne zu grüßen. Die Poststation lag gegenüber der alten Abtei, wo ich im Schatten des Torbogens unbemerkt der Abfahrt zusehen konnte. Nach der sorgfältigen Morgentoilette blieb mir Zeit genug, um mein Bett zu machen und das Zimmer aufzuräumen, eine Aufgabe, die ich sonst nach dem Frühstück erledigte. Wie zufällig schlenderte ich zur Abtei und trat in den dunklen Torbogen. Mir gegenüber, auf der anderen Straßenseite stand die Kutsche im vollen Licht der Morgensonne. Ich sah, wie George in seinem besten Anzug, der wie immer etwas zu klein wirkte, und mit einem Handkoffer einen Außensitz des Wagens bestieg. Mir fielen Ruperts anerkennende Worte über ihn ein. Er würde das Examen glänzend bestehen und sich bald unabhängig von seinem Onkel eine Existenz aufbauen. Alles würde sich zum Besten fügen, unsere Zukunft lag viel versprechend vor uns wie dieser gleißend helle Sommermorgen. Als sich die Kutsche in Bewegung setzte, kam ich aus meinem Versteck hervor und grüßte George mit einem langen Blick. Ohne mich zu beeilen, spazierte ich zu Old Vine zurück. Obwohl es erst Viertel nach acht war, saßen Rupert und William schon beim Frühstück auf der Terrasse, Rupert mit seiner mürrischsten Miene. »Wo bist du gewesen?« 64
»Spazieren«, antwortete ich. Das war zwar ungewöhnlich, aber nicht verboten. Dennoch stieg mir die Röte ins Gesicht. »Wo?« »Nicht weiter als bis zum Südtor.« »Das ist eine Lüge. In zehn Minuten ist man hin und zurück, und du bist länger fortgewesen. Vor einer guten halben Stunde war ich in deinem Zimmer, dein Bett war unberührt. Nochmals von vorn. Wo warst du?« »Ich habe schon gesagt, ich war spazieren.« Es klang wohl trotziger, als ich beabsichtigte, denn Rupert geriet völlig außer sich. Er beschimpfte mich voller Argwohn, ich solle ja nicht glauben, daß ich ihn zum Narren halten könne. Längst schon beobachtete er mein ständiges Herumtreiben, die Wickellocken und das bemalte Gesicht. Er wisse schon, was er davon zu halten habe. »Rupert«, unterbrach William die Tirade, »du solltest dich in acht nehmen. Die Aufregung schadet dir. Ein Morgenspaziergang ist schließlich kein Verbrechen.« Das war Öl ins Feuer. »So ist's recht, nimm du sie nur in Schutz«, zeterte Rupert los. »Ihr seid doch alle gleich…« Plötzlich waren es keine Wörter mehr, die über seine Lippen kamen, sondern wieder die Stammellaute, wie damals bei der Auseinandersetzung mit William. Der Zorn auf seinem Gesicht ging in hilfloses Entsetzen über, während er vornüber auf die Tischplatte sackte. Im selben Moment trat Plant auf die Terrasse und meldete: »Der Wagen steht bereit. Wenn Sie… Mein Gott!«
Da zwischen Rupert und mir nie echte Anhänglichkeit aufgekommen war – ich hatte ihn bestenfalls amüsiert –, verursachte mir sein Tod weniger tiefen Kummer als vielmehr Reue. Gewiß, es war nicht meine Schuld, daß Rupert vor Hitze früh erwacht war und geplant hatte, mit William und mir nach Bywater hinauszufahren, und uns deshalb durch den Diener wecken ließ. Aber mein leeres Zimmer hatte 65
seinen Verdacht, meine patzige Antwort seinen Zornanfall hervorgerufen, der zum Tode führte. War ich also schuld? Zumindest hatte ich ihm übel vergolten, daß er mich in sein Haus aufgenommen hatte. Bei der Verlesung des Testamentes flammte meine Reue erneut heiß auf. Rupert hatte mir seinen gesamten Besitz hinterlassen und seinen Freund William Talbot mit einem Legat von fünftausend Pfund bedacht, ›um ihm die Rückkehr ins sonnige Jamaika zu ermöglichen‹. Mit Bestürzung erkannte ich Georges Handschrift. Er hatte es gewußt, deshalb also sein plötzlich verändertes Benehmen. Schlagartig wurde mir klar, was ich innerlich längst verspürt hatte: George hatte mich nur betrogen, weil ich betrogen sein wollte. Die Wahrheit schaute mich aus dem Spiegel an. ›Seltsame, stille Schönheit‹, hatte er gesagt. Wäre ich durch Pockennarben oder durch einen Buckel verunstaltet gewesen, mit dem Besitz im Hintergrund war ich in Georges Augen immer schön. Es war wie im Märchen, wo einer seine Wünsche erfüllt bekommt und trotzdem, oder gerade deshalb, schlimmer dran ist als zuvor. Nun hatte ich alles, was ich mir wünschte, das herrliche Haus und genügend Mittel, um sorglos zu leben. Den Preis dafür zahlte ich mit meinem verletzten Stolz und meiner zu Tode beschämten jungen Liebe. Ich durfte George nicht wieder sehen, nur zu gut wußte ich, wie sehr ich ihm verfallen war. Nach einigem Überreden hätte er mich wieder dort gehabt, wo er wollte: schwach und gefügig zu seinen Füßen. Typisch Frau. Mein eigentliches Wesen gewann allmählich die Oberhand, und ich wurde wieder das zähe, mit allen Wassern gewaschene Kind der Gosse. Nicht einmal Miss Bellsize hatte Felicity Hatton kleingekriegt, ich würde auch George Turnbull eins auswischen.
Ich sah es den Leuten an, daß sie mich für leicht verrückt hielten, sie schrieben es aber wohl dem Kummer über Ruperts Tod zu. Außerdem war ich jetzt eine reiche Erbin, der man ihre Schrullen nachsah. 66
Die erste dumme Frage richtete ich an den alten Mr. Turnbull, als ich mich erkundigte, wer das Testament geschrieben habe. Er bestätigte, daß George es nach seinen Notizen ins reine geschrieben hatte. »Meine Handschrift ist in letzter Zeit nicht mehr die beste«, sagte er mit Bedauern. Auf meine Bitte unterschrieb er kopfschüttelnd eine Notiz mit Namen und Datum, daß ich ihn an diesem Tag aufgesucht und um Rat gebeten hatte. Nun sorgte ich dafür, daß ich jeden späten Vormittag mit jemand zusammentraf und ließ mir unter den fadenscheinigsten Vorwänden diese Tatsache schriftlich bestätigen. Als George aus London zurückkehrte, vermutlich mit dem Trauschein, der mich als seine rechtlich angetraute Ehefrau auswies, schickte ich ihm die Abschriften meiner Beweise vor, die bezeugten, daß ich Baildon keinen Tag verlassen hatte. Er verstand. Aber auch er war gerissen. Noch am selben Tag schickte er mir das Geld zurück mit der lakonischen Botschaft, er habe leider meinen Auftrag nicht ausführen können. Wieweit das stimmte, habe ich nie erfahren. Aber als George ein paar Jahre später die Ehe mit der einzigen Tochter eines reichen Kaufmannes einging, belustigte mich der Gedanke, der viel versprechende, vertrauenswürdige junge Anwalt könnte Bigamie verübt haben und rechtsgültig mit einer Polly-für-zwei-Penny verheiratet sein. Aber mir machten viele Dinge Spaß, seit ich meine kindische Jugendliebe überwunden hatte.
Zwischenspiel Jenen philosophisch veranlagten Gemütern, die auf dem Lande so gern nach Motiven und Erklärungen für das Verhalten ihrer Mitmenschen suchen, schien das sonderbare Leben der Miss Felicity Hatton durchaus verständlich. Rupert Hatton, so erläuterten sie, habe die Vierzehnjährige damals zu sich genommen, ohne an eine standesgemäße Erziehung für das junge Mädchen zu denken. Hatte er sich als weibischer 67
Sonderling aufgeführt, so war es nicht verwunderlich, daß sie ins andere Extrem verfiel und sich als Mann gebärdete. Niemals sah man sie im Kleid, sondern immer nur im strengen Schneiderkostüm mit glattem Rock, wie es andere Frauen allenfalls zur Jagd trugen. Sogar das einzig wirklich Schöne an ihr, das fuchsrote, lockige Haar, bürstete sie streng nach hinten zu einem Knoten, auf den sie einen Männerhut drückte. Wenn sie im Einspänner ihr blankgestriegeltes Pferd namens George Brown lenkte, konnte man sie leicht für einen Knaben mit einem etwas ältlich verkniffenen Gesicht halten. Sie hatte eine Vorliebe für den Namen George, ihren Jagdhund nannte sie George Schnappdashuhn, ihr Schoßhündchen hieß George Kläff. Trotz ihrer männlichen Allüren interessierten sich viele junge Männer und sogar manche um ihren Sohn besorgte Mütter für sie. Wie böse Zungen flüsterten, sammelte sie Heiratsanträge wie ihr Cousin Rupert Kunstgegenstände und ihr Großvater auf Mortiboys Ackerland. Im Gegensatz zu vielem anderen Klatsch stimmte das sogar. In der Bibliothek von Old Vine stand ein schmales Lederbändchen ohne Titel, das auf der ersten Seite die Überschrift ›Heiratsanträge an Felicity Hatton‹ trug. Die erste Eintragung lautete: George Turnbull, Mai 1741. Dann folgte eine lange Reihe von Namen, die meisten mit einem Datum aus den vierziger und frühen fünfziger Jahren. Gegen Ende des Jahrzehntes wurden die Eintragungen spärlicher, die letzte schrieb sie mit siebenunddreißig Jahren. Der Name des Mannes, den sie im Alter von achtunddreißig Jahren schließlich heiratete, steht nicht im Büchlein, vermutlich, weil dieser Antrag von ihr ausging. Felicity Hatton führte ein offenes Haus. Sonntags lud sie die Lehrlinge des Städtchens zum Essen ein, immer abwechselnd die Burschen und Mädchen, und setzte ihnen schmackhafte Fleischgerichte vor. Die Fleischmenge, die an diesen Sonntagen vertilgt wurde, stand in keinem Verhältnis zur Zahl der jungen Gäste. Die Gastlichkeit, ohnehin stets von den Lehrherren und Behörden mit scheelen Augen betrachtet, nahm ein jähes Ende, nachdem einmal die Burschen auf dem Heimweg eine handfeste Prügelei veranstaltet hatten und ein andermal bei einer kleinen Putzmacherin die Masern ausbrachen. Die Ein68
wände von Miss Hatton, die Buben prügelten sich auch zu anderen Gelegenheiten, und Masern könne man sich auch in der Kirche holen, wurden zurückgewiesen, ausnahmsweise waren sich alle Lehrmeister und Amtsstellen darin einig, daß diese Brutstätte des Aufruhrs und der Unzufriedenheit ausgemerzt werden mußte. Von da an fütterte Miss Hatton ihre Schützlinge heimlich an der hinteren Gartenpforte. Auch unter den Bettlern und Scherenschleifern sprach sich die Kunde über ihr offenes Herz und Geldtäschchen herum. Und als ihr Neffe Christopher Hatton, der spätere Erbe von Mortiboys, einmal bis zum Hals in Spielschulden steckte, man munkelte von tausend Pfund, gab sie ihm das Geld unter der Bedingung, daß er nie wieder eine Karte anrühre. Er hielt sein Versprechen genau vierzehn Tage. Bis dahin hatte der leidlich hübsche, aber einfältige junge Mann auch als ihr Erbe gegolten, und nach dem Bruch mit ihm fragten sich die Leute, wer nun wohl für den Besitz in Frage käme. Außer Christopher gab es keine jungen Hattons, Strenge und Geiz des alten Barnabas Hattons hatten zur Folge, daß seine Töchter ihr Dasein als alte Jungfern beschlossen. Mit den Jahren nahm auch die Wahrscheinlichkeit ab, daß Miss Hatton eines Tages heiraten und eigene Nachkommen haben würde. An einem Wintertag des Jahres 1763 ging ein Mann in der Southgate Street von Tür zu Tür und bot sich an, jede erwünschte Arbeit für ein paar Münzen oder eine Mahlzeit zu erledigen. Er war ein hochgewachsener, magerer Geselle mit schwarzem, kurz geschnittenem Haar und finsteren Augen. Sein heiserer Husten ging über das Maß einer gewöhnlichen Erkältung hinaus, sein linker Arm endete in einem Stumpf. Meist schickte man ihn weiter, ohne auch nur zu fragen, welche Arbeit der Einhändige verrichten konnte. Endlich gelangte er zu Old Vine, wo niemand ohne ein Wort der Hausherrin abgewiesen wurde. Felicity, die man zum Hintereingang geholt hatte, fragte ihn: »Was können Sie arbeiten?« »Was für ein Fortschritt«, sagte der Mann. »Sie fragen wenigstens, bevor Sie ›nein‹ sagen. Vielen Dank, Madam. Was ich kann? Fast alles. Holz sägen und hacken, Geschirr flicken, Messer und Scheren schlei69
fen, einen Kessel löten…« Er wandte sich ab, um sich auszuhusten, und sah dann der Miss offen in die Augen. In seiner Stimme fehlte der weinerliche Unterton der gewöhnlichen Hausierer, es klang fast stolz, als er aufzählte, was er konnte. Felicity sah ihn genauer an. Er trug eine altmodische braune Lederjacke, um den Hals hatte er ein rotgelbes Tuch geknüpft und sah damit so sauber und frisch gewaschen aus, als käme er aus dem Bad. Ein Mann, der seine Behinderung als Herausforderung des Schicksals annahm und den Eindruck erweckte, trotz aller Armut zufrieden zu sein. Der Einfall überraschte sie selber. Sie war gewohnt, ihren Launen nachzugeben, ohne nach der Meinung der Dienstboten oder Nachbarn zu fragen, und trat deshalb zurück. »Kommen Sie herein«, sagte sie. »Ich denke schon, daß ich Arbeit für Sie finde. Zuerst essen Sie aber was Anständiges.« Sie führte den Fremden in die Bibliothek, wo ein großes Feuer im Kamin brannte, und läutete nach dem Mädchen, das an die Stelle des überheblichen Plant getreten war. »Ich habe heute einen Gast zum Essen.« Als Felicity sich nach ihm umwandte, stand er vor dem Fenster und sah in den Garten, wo dicke Schneeflocken im Wind trieben. Seine Haltung war ungezwungen, als speise er tagtäglich mit der Herrschaft an einem Tisch. Er spürte ihren Blick auf sich und sagte, ohne sich umzudrehen: »Er bleibt schon liegen. Welchen Tag haben wir heute?« »Den sechzehnten Dezember.« »Das könnte fünf weiße Wochen geben.« »Woher wissen Sie das?« Der Mann zuckte die Achseln. »Man lernt das, wenn man bei jedem Wetter auf der Straße ist.« Er stellte seine Tasche, die er bisher in der Hand gehalten hatte, auf den Boden und sah sich um. »Ein schönes Haus haben Sie«, sagte er anerkennend. »Und die vielen Bücher. Man könnte sein Leben lang lesen, ohne fertig zu werden.« »Können Sie lesen?« »Grad was ich brauche.« Er lachte. »Wegweiser, Steckbriefe in den Dörfern, durch die ich komme. Einmal habe ich im Krankenhaus von 70
Leicester fast ein ganzes Buch gelesen. Robinson Crusoe hieß es. Eine gute Geschichte, aber ich wurde früher gesund, als ich damit durch war.« »War das… damals?« Felicity wies mit den Augen auf den Armstumpf. »Nein, das war vor zwei Jahren. Meine Hand verlor ich, als ich vierzehn war. Ein Hund hatte mich gebissen, die Wunde heilte schlecht und wurde brandig. Damals lebte mein Vater noch, wir zogen zusammen von einem Markt zum anderen. Er schliff sein Messer, schüttete ein Bierglas voll Rum, und ließ es mich austrinken, und dann…« Mit der Rechten machte er die Geste. »Davor hatte ich die Fiedel gespielt wie mein Vater. Entschuldigen Sie, Madam, das ist nichts für Damenohren. Ich wollte Sie nicht erschrecken.« »Sie haben mich nicht erschreckt. Es ist nur sonderbar, Sie sind nun schon der Zweite…« mit knappen Worten erzählte sie Ruperts Geschichte. Er nickte. »Ja, manchem wird das Glück nicht in die Wiege gelegt. Rancon Follet, so heiße ich, hatte beschlossen, der Welt auf seiner Fiedel vorzuspielen. Aber ein kleiner gelber Hund biss in seiner Angst zu, und aus war's mit Träumen. Die Welt scheint ganz gut ohne Rancon Follets Lieder auszukommen.« »Sie waren noch jung. Mein Cousin war fünfundzwanzig und ein berühmter Virtuose, als ihn das Unglück traf. Ich glaube, er hat es nie überwunden und war zeitlebens nicht mehr froh.« »Froh.« Follet wiederholte das Wort, als höre er es zum ersten Mal. »Kommt drauf an, was man drunter versteht. Im Krankenhaus war ich nicht froh, trotz des Crusoe, ich wurde fast verrückt. Froh bin ich nur auf der Straße, jeden Tag andere Leute in einer anderen Stadt.« »Wollen Sie damit sagen, daß Sie Ihr Leben genießen?« »Ich lebe, wie ich kann, ich bin zufrieden.« »Und wenn Sie eines Tages…« Felicity fuhr nach einer kleinen Pause gedankenvoll fort »… eines Tages eine größere Summe Geld hätten, einen Gewinn vielleicht, oder eine Belohnung von, sagen wir, fünfhundert Pfund, was würden Sie tun?« 71
»Dasselbe wie immer. Mit dem Unterschied vielleicht, daß ich mir auch an Tagen, an denen mir niemand Arbeit gibt, eine warme Mahlzeit leisten kann. Und im Sommer könnte ich durch die einsamen Gegenden von Cornwall und Nordschottland wandern, wo unsereiner sonst nicht durchkommt, weil die Leute dort selber nichts zu essen haben.« Er schüttelte den Kopf. »Aber fünfhundert Pfund? Ich habe einmal einen Steckbrief gelesen, in dem hundert Pfund auf den Kopf eines Mannes gesetzt wurden. Aber das war ein mehrfacher Mörder.« »Sie kämen nicht in Versuchung, sich mit dem Geld anzukaufen und sich ein Zuhause zu schaffen?« »Kaum. Mir bedeutet so was nicht viel, Madam. Hier in der Tasche habe ich ein paar gute Werkzeuge, es langt, daß ich mir neue kaufen kann, wenn sie stumpf werden. Mehr Besitz will ich nicht.« »Sie sind ein seltsamer Mensch.« »Möglich. Ich bin nun einmal so.« Das Mädchen im weißen Häubchen meldete, das Essen sei angerichtet. Bei Tisch erinnerte sich Felicity an Rupert und wollte ihrem Gast das Fleisch aufschneiden lassen. Aber er wußte sich zu helfen. Er klemmte die Gabel geschickt zwischen Stumpf und Körper und hielt den Braten fest, während er mit der Rechten das Messer handhabte. Dann vertauschte er es mit der Gabel und aß rasch, aber mit sichtlichem Genuss. Unterdessen fragte Felicity weiter: »Und was wird sein, wenn Sie alt und gebrechlich sind?« »Dann lege ich mich hin und sterbe.« »Das ist leicht gesagt.« »Es ist auch leicht getan. Wer in der Natur lebt, weiß, wann seine Stunde gekommen ist. Mein Vater zum Beispiel wußte es. Er spielte die Fiedel, wenn irgendwo Jahrmarkt war. Eines Abends rutschte seine Hand immer wieder von den Saiten ab. Die Bauern merkten nichts davon. Als wir die Stadt verließen, sagte er zu mir: ›Junge, ich bin erledigt. Wir suchen einen Platz, wo ich mich hinlegen kann.‹ In einem Buchenwald legte er sich auf die dicke Blätterschicht und starb. Wenn 72
meine Zeit gekommen ist, werde ich mich genauso hinlegen. Im Krankenhaus wußte ich, daß ich wieder gesund werde und wieder auf die Straße kann. Sonst wäre ich liegen geblieben.« Sie dachte nach. »Aber ist es nicht sinnlos, ohne irgendein Ziel auf den Straßen herumzuziehen?« Um die Lippen des Mannes kräuselte sich ein Lächeln. »Madam, können Sie mir sagen, welches Leben nicht sinnlos ist? Da sitzt einer Tag und Nacht am Webstuhl, und die Stoffe, die er webt, sind über kurz oder lang zerrissene Lumpen. Oder ein anderer ackert seine Jahre lang, und kaum liegt er in der Grube, da wuchert das Unkraut aus der Furche. Was ist da viel Unterschied, wenn mich der Hund nicht gebissen hätte und ich ein Geiger geworden wäre wie mein Vater? So und so vergessen mich die Leute noch an dem Tag, an dem sie mich gesehen haben.« Nicht einmal Rupert mit all seinem Zynismus war soweit gegangen. Er hatte nie daran gezweifelt, daß seine Laufbahn als Geiger wichtig war. Nie war ihm Besitz, waren ihm seine Kunstschätze und sein Haus gleichgültig gewesen. Und sie selbst, Felicity? Hatte sie nicht den Kopf hoch getragen als die Erbin von Old Vine, die genügend Geld besaß, um zu tun, was ihr beliebte. Da kam nun auf einmal dieser Mann, ein Bettler und Tagelöhner an die Hintertür und stellte alles in Frage. Sie dachte an die Augenblicke, an denen sie zu Pferd in die Straße einbog und ihr Haus erblickte. Noch immer durchfuhr sie jedes Mal das stolze Gefühl, daß alles ihr gehörte. Sie würde altern und sterben. Was dann? Ja, wenn sie ein Kind hätte. Aber ihr schauderte davor, ihre Selbständigkeit, und wohl auch den Besitz, einem Mann auszuliefern. Und ein Kind ohne Vater, ein Bankert, wäre das Gespött der ganzen Stadt. Nun war sie achtunddreißig, viele Frauen bekamen nach vierzig keine Kinder mehr. Vielleicht zeichnete sich hier eine dritte Möglichkeit ab? Noch einmal vergewisserte sie sich, ob er Besitz und Heimat ein für allemal ablehnte. »Wie können Sie wissen, was Sie tun werden?« fragte sie mit etwas 73
schriller Stimme. »Möglicherweise denken Sie anders, wenn sich eine Gelegenheit bietet?« »Die hat sich geboten«, erwiderte er mit leicht zusammengekniffenen Augen. »Zweimal sogar.« »Unter welchen Umständen?« Sein Blick gab ihr zu verstehen, daß sie zu weit gegangen war. »Ich bin nicht neugierig. Ich habe Gründe, Sie zu fragen.« »Einmal ging in York das Pferd eines kleinen Mädchens durch. Es war eines jener Biester, auf die man kein Kind setzen sollte. Ich war zufällig bei der Hand und hielt das Pferd fest. Der Vater, ein wohlhabender Lederhändler, der sein Kind abgöttisch liebte, bot mir an, als Teilhaber in seinem Geschäft zu bleiben. Sein Dank hätte mich für den Rest meiner Tage in York festgenagelt.« »Und das andere Mal?« »Einsame Witwe auf abgelegener Farm, Sie wissen schon.« »War sie alt und hässlich?« »Sie war schmuck wie eine Heckenrose.« »Sie sind also nicht verheiratet?« »Ein Mann von der Straße sollte nicht heiraten. Meine Mutter hielt es achtzehn Monate bei meinem Vater aus und gebar mich auf einem Acker in Epping Forest. Dann ging sie mit einem Pferdehändler fort, und ich blieb bei meinem Vater.« Eine Sekunde schneller, als sie fragen konnte, setzte er hinzu: »Und wenn ich je mal eine Frau nach meinem Geschmack finde, möchte ich einen Sohn haben. Er wird an den Wegweisern lesen lernen, und ich werde ihm zeigen, wie man sich am besten vor dem Wind schützt, und alles andere, was ich kann und weiß.« »Wie alt sind Sie?« Er überlegte. »Vielleicht dreiunddreißig, kann aber auch fünf- oder sechsunddreißig sein.« »Dann haben Sie noch Zeit.« »Zeit genug. Und wenn es anders kommt, macht es auch nichts. Was kommt, wird hingenommen wie Wetter und Regen.« Er blickte auf die Speisen, die noch auf der Platte lagen. 74
»Vielen Dank, Madam, es hat ausgezeichnet geschmeckt. Was kann ich dafür tun?« Felicity schob ihren Teller fort, stemmte die Ellbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn auf die gefalteten Hände. »Nun hören Sie mir zu, aber lachen Sie mich nicht aus.«
75
Zweiter Teil Hatton Follets Geschichte (um 1781)
1
I
ch stand nicht allein mit meiner Überzeugung, meine Schwester Annabella sei wunderschön. Leider gehörte Tante Dorothea, eigentlich unsere Großtante, die uns erzogen hatte, zur anderen Partei. Ihre Ansichten über die Schönheit junger Mädchen waren sehr altmodisch, und sie bedauerte zutiefst, daß Annabella mit ihrer hochaufgeschossenen, dünnen Figur und dem länglich-zarten, bleichen Gesicht ihren Vorstellungen nicht im geringsten entsprach. Hinzu kam, daß Annabella um keinen Preis der Welt ihr Haar lang wachsen ließ, und in einer Epoche, in der die jungen Damen hoch toupierte, phantastische Frisurengebilde mit Federn, Bändern und Agraffen trugen, ihre silberblonden Locken so kurz zurückschnitt, daß sie ihr Köpfchen wie eine Mütze aus zartem Lammfell umschlossen. Abgesehen von dem hohen Körperwuchs ähnelten wir uns in keiner Weise. Wie man mir sagte, war ich ein typischer Hatton mit scharfen Gesichtszügen und rotem Haar. Unbekannte kamen nie auf den Gedanken, daß Annabella und ich Zwillinge waren, jeder hielt mich für Jahre älter. Auch die Art, wie wir miteinander umgingen, leistete dem Irrtum Vorschub: seit ich mich erinnere, hielt ich es für meine Pflicht, auf Annabella achtzugeben, was sie sich, von einigen Trotzausbrüchen abgesehen, gern gefallen ließ und mich in meiner Rolle als überlegener älterer Bruder anerkannte. Wie ich schon andeutete, wuchsen wir elternlos in der Obhut unserer Großtante auf. Unsere Mutter war wenige Wochen nach unserer Geburt gestorben, und unser Vater war schon Monate vorher verschwunden. Über der Ehe unserer Eltern schwebte ein Geheimnis, auf das Tante Dorothea von Zeit zu Zeit anspielte mit Bemerkungen wie: »Obwohl ich eure Mutter sehr lieb hatte, muß ich gestehen, daß sie eine 77
überaus exzentrische Frau war« (exzentrisch war eines ihrer Lieblingswörter). Ein andermal, als Annabella ihren Willen mit Gewalt durchsetzen wollte, sagte sie: »Es taugt nicht, wenn ein Mädchen halsstarrig ist. Wie eure Mutter, als sie einen Landstreicher heiratete.« Vor ihrem Tod hatte Mutter Tante Dorothea zur Erzieherin und einen Rechtsanwalt namens Steward zum Vormund für uns bestellt und in beiden Fällen die richtige Wahl getroffen. Tante Dorothea, die jüngste Tochter meines sagenhaft gestrengen Urgroßvaters, konnte ihr Glück kaum fassen, als sie seiner Fuchtel entrinnen und in Old Vine einem eigenen Haushalt vorstehen durfte. Eingedenk der Strenge, die ihre Kindheit vergällt hatte, erzog sie uns in Güte und mit bemerkenswertem Verständnis. Mich mochte sie etwas lieber als Annabella, wohl weil ich besser auf sie hörte und ihre Anordnungen williger befolgte. Annabella war eigentlich nicht ungehorsam, eher zerstreut und vergesslich, und im Ärger schimpfte Tante Dorothea sie manchmal dumm und einfältig, was weitaus übertrieben war. Als ich später in der Schule mit anderen Knaben über ihre Schwestern sprach, erkannte ich, was für ein Glück ich mit meiner Kindheitsgefährtin gehabt hatte, die alle Spiele und Streiche verwegen mitmachte, ohne je auf ihre Kleider Rücksicht zu nehmen. Tante Dorothea lehrte uns Lesen, Schreiben und ein wenig Rechnen. Als wir acht Jahre alt geworden waren, erteilte ein junger Vikar uns viermal in der Woche Unterricht. Mit zwölf kam ich nach Harrow ins Internat. Ich hing sehr an meinem Zuhause und hatte mich im voraus vor Heimweh gefürchtet, nach drei Wochen hatte ich mich jedoch eingelebt und entpuppte mich zu meiner Überraschung als guter Schüler. Weder mir noch dem Hauslehrer war jemals der Gedanke gekommen, daß sich der Fortschritt unserer Studien nach Annabellas langsamerer Auffassung richtete. Auch mit den anderen Jungen kam ich gut zurecht und genoß es, ohne die Verantwortung des Älteren an ihren derben Spaßen und Raufereien teilzuhaben. Während meine ehrgeizigeren Kameraden die Schule mit siebzehn verließen, um sich für eine Laufbahn in der Armee, der Politik oder Wissenschaft fortzubil78
den, hegte ich die Absicht, nach Baildon zurückzukehren und dort ein beschauliches Leben mit viel Musik und Büchern zu führen, hin und wieder durch Jagdvergnügen und Reisen aufgelockert. Ich gedachte zu heiraten und Kinder in derselben Atmosphäre von Sicherheit und Glück zu erziehen, in der ich aufgewachsen war.
2
A
nnabella und ich feierten den siebzehnten Geburtstag im November des Jahres 1781. Längst war beschlossen, daß Annabella gelegentlich des Osterballes in der Festhalle in die Gesellschaft eingeführt werden sollte. Unser Städtchen hatte, und hat heute noch, seine geschlossene Clique alter Familien, die Hattons, Whymarks, Fennels, Shelmadines und noch ein halbes Dutzend andere, die sich untereinander sozusagen seit Urväterzeiten kannten. Dies nur zum Verständnis des nachfolgenden Disputes zwischen Tante Dorothea und Annabella. Tante Dorothea: »Alle wissen, wie exzentrisch deine Mutter war, und werden sagen, wie die Mutter so die Tochter. Kein Tänzer wird dich auffordern.« Annabella: »Gerade weil alle wissen, wie mein Haar aussieht, werden sie mich auslachen, wenn ich eine Perücke aufsetze.« Tante Dorothea: »Aber mit einer Perücke wirst du wie die anderen aussehen.« Annabella: »Ich will aber nicht aussehen wie alle anderen!« Was die Perücke anging, siegte Annabella, in allen anderen Punkten, als da waren Schuhe mit flachen Absätzen und ein kompliziertes Durcheinander von Volants, Biesen und Spitzen am Mieder ihres Kleides, um ihrer Figur etwas Fülle zu verleihen, unterlag sie dem Diktat Tante Dorotheas. Für mich war sie das schönste Mädchen auf dem 79
Ball. Wenn ich nicht gerade meine ›Pflicht‹ absolvierte bei jenen armen Wesen, die das doppelte Pech hatten, zuerst keinen Tänzer zu finden und dann mit mir vorlieb nehmen zu müssen, stand ich in einer Ecke des neuen Ballsaales und verfolgte Annabella mit den Augen. Sie feierte Triumphe und sah nach dem Abendessen, als sich manche rosige Wange hochrot gefärbt hatte und die prachtvollen Phantasiefrisuren unserer einzigen Friseusin, Mrs. Bolt, verrutschten und auseinander fielen, noch immer frisch wie eine Wasserlilie aus. Trotz Tante Dorotheas Unkenrufen holte sie ein Tänzer nach dem anderen. Als wir vom Fest nach Hause fuhren, wurmte mich nur der Gedanke, daß Annabella zweimal mit Richard Shelmadine getanzt hatte, den ich nicht leiden konnte, obwohl er mir persönlich nie Grund zur Abneigung gegeben hatte. Auch andere junge Männer unserer Kreise spielten, hatten Schulden und verführten Mädchen. Was mich gegen ihn einnahm, war seine rücksichtslose Grausamkeit. Gewiß, er hatte Witz, aber seine Einfälle verletzten den Betroffenen immer zutiefst. Mehrmals war ich Zeuge, wie er ein Pferd grundlos misshandelte. Richards Vater, Sir Charles Shelmadine, hatte im letzten Winter die Schulden seines Sohnes beglichen unter der Bedingung, daß dieser mit seinem Ehrenwort versprach, nicht mehr zu spielen, sich auf dem Familiensitz niederzulassen und möglichst bald zu heiraten. Aber nicht Annabella, das möge Gott verhüten, flehte ich stumm.
Ende Juni erreichte mich in der Schule ein Brief in Annabellas kindlichem Gekrakel, in dem sie mir mitteilte, sie und Richard hätten sich verlobt und wollten Weihnachten heiraten. Sie schrieb: ›Alle freuen sich, sogar sein mürrischer alter Vater ist entzückt, und ich bin so froh, daß ich dir's schreiben kann, es ist nicht plötzlich gekommen, wie du denkst, ich liebe ihn heimlich seit drei Jahren und hatte immer Angst, er könne eine andere nehmen, bevor ich alt genug bin, und da habe ich lieber niemand was davon gesagt.‹ 80
Ich weiß noch, wie ich dastand im leeren Klassenzimmer und dachte, das ist furchtbar, das darf nicht geschehen. Annabella darf nicht einen Mann heiraten, dem ich meinen letzten Ackergaul nicht anvertrauen würde. Wie konnte man von einem Mädchen, das nicht einmal das Wort ›entzückt‹ richtig schreiben konnte, erwarten, daß sie mit Umsicht und Überlegung die wichtigste Entscheidung ihres Lebens traf? Ich saß und grübelte den ganzen Tag, was mir einen saftigen Verweis wegen Unaufmerksamkeit einbrachte. Abends schrieb ich einen beschwörenden Brief, der mir am anderen Morgen so töricht und schülerhaft vorkam, daß ich ihn zerriss. Ein paar Tage später traf ein Jubelbrief von Tante Dorothea ein, in dem fast jedes dritte Wort unterstrichen war: ›Unsere Annabella strahlt vor Glück. Es ist ja so ein hübsches Paar. Natürlich wissen wir von Richards stürmischer Vergangenheit, aber es ist besser, wenn ein junger Mann sich vor der Ehe austobt.‹ Und so weiter. Von ihrem Standpunkt aus gesehen hatte sie allen Grund zu Stolz und Zufriedenheit. Der Erfolg ihres Schützlings war auch der ihre: Drei Monate nach Annabellas erstem Ball war sie verlobt mit einem Nachbarssohn, der einen Titel und ein Rittergut erbte. In Dingen der Welt hatte Tante Dorothea etwa so viel Erfahrung wie eine Henne.
Als ich endlich drei Wochen später an einem glühendheißen Hochsommertag in Old Vine anlangte, erfuhr ich, daß Annabella das Wochenende in Mortiboys verbrachte. Unser Cousin Chris Hatton hatte die Tochter eines wohlhabenden Großbauern zur Frau genommen, wegen ihres Geldes hieß es, was aber nicht stimmte, da Chris nicht der Mann war, um sich über Geld Sorgen zu machen. Sie hatten ein Kind von anderthalb Jahren. »Du bist ebenfalls eingeladen«, sagte Tante Dorothea. »Annabella konnte es nicht erwarten, hinauszukommen, sie und Clara haben sich neuerdings so viel zu erzählen.« 81
Ich bemerkte bitter: »Hoffentlich klärt unsere Cousine sie darüber auf, wie es ist, mit einem Spieler verheiratet zu sein.« »Aber, mein lieber Hatton, Richard spielt nicht mehr, er hat sich vollständig geändert.« »Trotzdem ist meiner Meinung nach die Verlobung überstürzt. Er ist kein Mann für Annabella.« »Was hast du bloß gegen Richard? Die beiden sind wie füreinander geschaffen.« »Annabella ist noch so jung und…« Ich suchte nach dem passenden Wort. ›Dumm‹ wollte ich nicht sagen, ›einfältig‹ noch weniger. Als mir ›unreif‹ einfiel, redete Tante Dorothea längst weiter. »Mädchen werden nun einmal schneller erwachsen als Knaben. Auch wenn du mir böse bist, Hatton, es muß einmal gesagt sein. Vergiß nicht, ihr seid Zwillinge und habt immer besonders eng aneinander gehangen. Kein Mann wäre dir für Annabella gut genug, du wärest auf jeden eifersüchtig.« Ich überlegte kurz, bevor ich abwehrte: »Ich bin nicht eifersüchtig. Ich wünsche nichts weiter, als daß sie einen freundlichen, besonnenen Mann heiratet, der sie glücklich macht.« »Dummer Bub, Annabella ist glücklich. Sie ist ganz außer sich vor Glück.« »Ist Richard auch auf Mortiboys?« »Er wollte von Samstag bis Montag hinkommen.« Das bewog mich, erst Montag nach Mortiboys zu reiten. So kam es, daß ich nicht anwesend war bei dem Spiel, das an dem Wochenende in Mortiboys stattfand und das noch heute mit scheuem Entsetzen von den Leuten erwähnt wird. Nachdem abends zuvor ein Gewitter niedergegangen war, versprach der Montag wieder heiß zu werden. Ich ritt mein kräftiges junges Pferd, das der Tradition halber George hieß. Mein Weg führte über die geliebten Heimatfelder, bald würde ich Annabella sehen, und ich wäre vollkommen glücklich gewesen, wenn es keinen Richard Shelmadine gegeben hätte. Ich nahm mir vor, meine Worte sorgfältig zu wählen, keinesfalls 82
durften meine Bedenken wie Befehle klingen. Ich erinnerte mich an einen der seltenen Fälle, wo Annabella mir getrotzt hatte. Ich hatte ihr zuerst verboten und sie dann, als es nichts nützte, mit Gewalt davon abgehalten, ein Pferd zu besteigen, das als gefährlich bekannt war. Als ich sie festhielt, kratzte und trat sie mich und rief schluchzend vor Wut: »Nur weil du der Stärkere bist…« Abends lockte sie das Pferd mit einem Apfel zum Weidegatter, schwang sich auf seinen Rücken und ritt dreimal, an die Mähne festgeklammert, im Kreise, bevor sie sich zu Boden gleiten ließ und mir hochmütig zurief: »Siehst du, es war nicht im mindesten gefährlich.« Ich war zu weit weg gewesen, um eingreifen zu können, und hatte Todesängste ausgestanden. Hinterher mußte ich die Kleider wechseln. Vielleicht war es am besten, wenn ich sie dahin zu überreden versuchte, eine Sommerhochzeit im folgenden Jahr sei viel festlicher und lustiger als zum geplanten Wintertermin. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, wenn ich nur für Aufschub sorgte, würde sich alles zum Besten wenden. In Gedanken ritt ich an reifenden Kornfeldern entlang. Am Wegrand blühten Mohn und Kornblumen, im Wildklee summten geschäftige Bienen. Ich hatte die alte Steinbrücke bereits überschritten, als ich von fern eine Reiterin auf mich zugaloppieren sah. Annabella. Ich winkte und rief. Sie ritt herbei, hielt aber nicht an, sondern stieß atemlos hervor: »Kehr bitte gleich um, Hatton. Ich bin so froh, daß ich dich getroffen habe, du wirst mir helfen.« Ich wendete meinen Braunen und schloß auf. Ja, sie war außer sich, aber nicht vor Glück. »Was gibt es?« »Ich erzähle dir's unterwegs. Komm, wir wollen rasch zu Mr. Steward.« »Zu unserem Vormund? Weshalb?« »Hör mir zu«, sagte Annabella und erzählte. Während des gestrigen Regens hatten sich Chris, seine Freunde Nick Helmar, Sir Edward Foliesmark und Richard Shelmadine zu einem Kartenspiel an den Tisch gesetzt, das von sieben Uhr abends bis zum 83
Morgengrauen andauerte. Cousin Chris hatte, als ihm das Bargeld ausging, seinen Besitz Mortiboys, auf dem seine Vorfahren seit dreihundert Jahren lebten, auf eine Karte gesetzt und an Nick Helmar verloren. Richard Shelmadine hatte ebenfalls verloren und schuldete seinem Partner zweitausend Pfund. »Mr. Steward muß mir mein Erbteil auszahlen.« »Das kann er nicht«, hielt ich ihr vor, »wir können nicht an unser Geld, bevor wir einundzwanzig sind.« »Du vielleicht, bei mir ist das anders. Mein Geld gehört mir, sobald ich heirate. Wir warten einfach nicht bis Weihnachten, sondern heiraten in drei Wochen. Mr. Steward kann mir die Summe sicher so lange vorstrecken. Du weißt, was passiert, wenn Richards Vater davon erfährt. Und der fürchterliche Kerl will das Geld sofort haben. Spielschulden müssen binnen vierundzwanzig Stunden bezahlt werden, wusstest du das?« »Selbstverständlich. Und Richard wußte es gleichfalls.« Annabella warf mir von der Seite her einen Blick zu. »Meinetwegen. Wenn Mr. Steward uns aus der Patsche hilft, ist es weiter nicht schlimm.« »Nicht schlimm? Wie kannst du nur so reden?« fragte ich aufgebracht. »Zweitausend Pfund sind ein Haufen Geld. Und für nichts und wieder nichts. Er hat seinem Vater versprochen, nicht mehr zu spielen.« »Wenn du so denkst, kannst du gleich fortbleiben. Ich hatte gehofft, du würdest mir bei Mr. Steward helfen. Du hast keine Ahnung von der Liebe. Und wenn es fünfzigtausend Pfund wären, ich würde sie Richard mit Freude und Stolz geben, wenn ich sie hätte.« »Ein Mann von Ehre würde sie nicht annehmen.« Ohne zu antworten, galoppierte Annabella davon. Ich setzte ihr nach und holte sie erst vor dem Haus von Mr. Steward ein. Als wir die Pferde zügelten, warnte sie mich: »Wenn du jetzt ein Wort gegen mich sprichst, Hatton, werde ich dich für den Rest meines Lebens hassen.« »Was mir immer noch lieber wäre, als dich von diesem Schurken ausplündern zu lassen.« 84
Sie wartete nicht einmal ab, bis ich die Pferde an den Gartenzaun festgebunden hatte, und lief ins Haus. Zum Glück brauchte ich nichts zu sagen. Das erledigte an meiner Stelle Mr. Steward oder, genauer gesagt, unsere Mutter, die schon seit siebzehn Jahren im Grabe lag. Das für uns schattenhafte Wesen, das alle Hunde und Pferde George genannt und eine mysteriöse Ehe geschlossen hatte, die Frau, die Old Vine ebenso heiß wie ich geliebt hatte und von Tante Dorothea als exzentrisch bezeichnet wurde, erstand an diesem Sommermorgen in unserer Sicht als vorausschauende, lebenskluge Person. Sie hatte vorgesorgt, daß ihre Tochter nicht des Geldes wegen geheiratet wurde und niemand ihr Erbe erschlich. Annabellas Vermögen war in Pfandbriefen auf dreißig Jahre festgelegt. Nur die Zinsen, über vierhundertfünfzig Pfund im Jahr, standen ihr nach der Heirat oder nach dem einundzwanzigsten Geburtstag zur Verfügung. Niemand konnte die Briefe vorzeitig kündigen, und nicht einmal Mr. Steward konnte ihr die zweitausend Pfund verschaffen, die Annabella für Richard Shelmadine brauchte. Mr. Steward erklärte ihr mehrere Male, was es mit Pfandbriefen auf sich hatte, während ich stumm dem Geist unserer Mutter dankte, der sich in der Not als mein Bundesgenosse erwiesen hatte. »Bei Ihnen liegt die Sache anders, Mr. Follet«, wandte sich Mr. Steward nun an mich. »Ihr Erbe ist durch keine Klausel gebunden, Sie können bei Volljährigkeit Ihr Geld, in gewissen Grenzen natürlich, frei abheben.« Sofort wandte Annabella sich mir zu. »Bitte, tu es für mich, Hatton, ich zahle es dir zurück. In drei Wochen bin ich verheiratet, dann überlasse ich dir so lange meine Zinsen, bis die zweitausend Pfund getilgt sind.« Auf ihr Gesicht, das während Mr. Stewards Ausführungen aschgrau geworden war, kehrte etwas Farbe zurück. Es war furchtbar. Für Annabella hätte ich bedenkenlos meinen letzten Penny hergegeben, aber für Richard Shelmadine? Diesmal rettete mich Mr. Steward aus der Verlegenheit. Höflich fragte er: »Wenn ich recht verstanden habe, Miss Annabella, brauchen Sie das Geld sofort?« 85
»Noch heute morgen.« »Dann befürchte ich, daß Ihr Bruder nicht helfen kann. Der Tag seiner Volljährigkeit ist noch weit.« »Haben wir denn überhaupt kein Geld?« fragte Annabella matt. »Das Taschengeld fürs nächste Quartal kann ich Ihnen vorzeitig auszahlen«, sagte Mr. Steward. Annabella erhielt 15 Pfund Nadelgeld, während ich als Schüler dank der Fürsprache von Cousin Chris zwanzig Pfund im Vierteljahr ausgeben konnte. »Was willst du mit fünfzehn Pfund?« fragte ich. »Richard sprach davon, nach London zu gehen. Nach Hause kann er nicht mehr, das mußt sogar du einsehen. Fünfzehn Pfund sind besser als gar nichts.« lass ihn nach London fahren, dachte ich. Wenn er nur erst fort ist, werde ich mit Annabella schon zurechtkommen. Laut sagte ich: »Kann ich auch mein Geld für das nächste Quartal bekommen?« Mr. Steward schloß seine eiserne Kassette auf. Draußen vor der Tür lehnte Annabella den Kopf an ihr Pferd und schloß die Augen. »Ich hab's ihm versprochen«, jammerte sie. »Ich sagte, sorge dich nicht, ich bringe es in Ordnung. Was wird er sagen?« »Dankbar sollte er sein, verdammt noch mal«, fuhr es aus mir heraus. »Du hast bis Weihnachten keinen Penny, und ich werde auf der Schule halb verhungern. Was willst du ihm lange erklären? Komm nach Hause, Annabella, er hat seinem Vater das Wort gebrochen…« Sie hörte gar nicht zu. Ihre Augen zeigten den abwesenden Blick, über den sich Tante Dorothea sooft geärgert hatte. »Richard braucht nicht nach London zu reisen, er kann zu uns nach Old Vine kommen, das Haus gehört mir so gut wie dir. In drei Wochen sind wir verheiratet, und ich bekomme meine Zinsen.« Im nächsten Augenblick schwang sie sich auf mein Pferd. »Leih mir bitte George, er ist schneller und frischer.« Bevor ich im Sattel saß, war Annabella auf und davon. Ich hätte heimreiten können, aber ich sagte mir, daß Annabella, die ihrem jäh86
zornigen Bräutigam eine schlechte Nachricht brachte, vielleicht meine Unterstützung brauchte. Mortiboys war ein herrlicher Besitz. Oftmals hatte ich es bewundert, ohne Neid, denn mein Herz hing an Old Vine. Nun graute mir davor, hinzugehen und Chris zu begegnen, den der Verlust wie die Amputation eines seiner Gliedmaßen getroffen haben mußte. Aber er empfing mich, als sei nichts geschehen. Er murmelte lediglich, es täte ihm leid, mich heute das letzte Mal in seinen vier Wänden zu sehen. Ich stotterte einige Worte des Bedauerns und kam gleich auf den Zweck meines Kommens: »Wo ist Annabella?« »Nach Clevely zu Richard, soviel ich weiß. Der Arme wird einen schweren Stand bei seinem Vater haben.« Das war echt Chris, er, der sich völlig ruiniert hatte, sorgte sich um Richard! Ich schaute, daß ich hinauskam. Draußen begegnete ich Clara und drückte ihr unbeholfen mein Mitgefühl aus. »Wir haben zumindest ein Dach über dem Kopf«, sagte sie bitter. » Green Farm gehört mir, den Gutshof kann er nicht verspielen.«
Ich ritt weiter nach Clevely. Sir Charles, ein Landedelmann alten Formats, war zu Hause. Wie er sagte, hatte er seinen Sohn seit Samstag nicht gesehen. »Weshalb suchen Sie ihn?« Er hatte offensichtlich noch nichts von dem Spiel gehört. »Er ist mit meiner Schwester ausgeritten, ich muß sie verfehlt haben«, versuchte ich mich herauszureden. Er blickte mich argwöhnisch an und läutete nach dem Diener. Ja, Master Richard sei bald nach Mittag hier gewesen, habe einige Kleidungsstücke in einen Koffer geworfen und sei wieder fort. Nein, die junge Dame sei nicht mit ihm gewesen. »Wo er hin ist?« schrie Sir Charles, während sein Gesicht puterrot 87
anlief. »Das kann ich Ihnen sagen. Zu seinen Flittchen nach London wird er sein. Dachte ich mir's doch, daß er nicht lange aushält, es wäre zu schön gewesen. ›Du verdienst dein Glück nicht‹, habe ich ihm gesagt. Ihre Schwester, Hatton, ist so ein liebes Mädchen.« Ich überließ ihn seinem Groll und ritt auf Annabellas müdem Pferd nach Baildon, im Grunde zufrieden mit dem Gang der Ereignisse. Annabella würde Richard einige Zeit nachweinen, aber dann würde ihr Stolz ihr helfen, daß sie sich ins Unvermeidliche schickte. Aber Annabella war nicht in Old Vine angekommen. Ich wartete eine, zwei Stunden, bis mir nichts anderes übrig blieb, als Tante Dorothea meinen Verdacht mitzuteilen. Ihrer Vermittlerrolle gedenkend, gebrauchte ich barschere Wörter, als mir hinterher selber lieb war. Als sie sich vom Schock erholt hatte, traf sie, wie ein Feldherr auf dem Rückzug, ihre Anordnungen. »Niemand darf davon wissen. Nur das ist jetzt wichtig. Ihr guter Ruf, ihre ganze Zukunft steht auf dem Spiel. Wir haben Verwandte in Bures; wir können sagen, Annabella sei nach Bures gegangen. Obwohl es möglich ist, daß sie sich in London trauen lassen.« »Das verhüte Gott«, sagte ich. »Gott verhüte, daß sie Richard nachgelaufen ist und unverheiratet zurückkommt! Der Skandal wäre unbeschreiblich!« »Ich reite sofort nach London ab. Das Pferd ist müde, aber bis Newmarket könnte ich's heute noch schaffen.« »Nach Bures, Hatton. Du reitest nach Bures, denk an das Dienstbotengetratsche. Du folgst Annabella nach Bures. Was wirst du in London anfangen? Wieviel Geld hat Annabella bei sich, sagtest du? Ihre fünfzehn und deine zwanzig Pfund? Damit wird Richard, wie ich ihn kenne, sein Glück versuchen. Warte mal. Mein Bruder Christopher – dein Großvater – hat lange Jahre als Spieler in London gelebt. Wenn unser Vater auf ihn schimpfte, nannte er oft die Namen solcher Spielhöllen, Watton's oder Whaddon's hieß eine, eine andere Mariana's. Hast du Geld?« »Ein paar Schillinge.« »Ich habe einen Notgroschen.« Sie lief die Treppe hinauf und kam 88
mit einer wohlgefüllten Börse zurück. »Das ist alles. Ich glaube, die Spiellokale sind meistens am Soho Square.« Obwohl ich nicht zum ersten Mal in London war, fühlte ich mich befangen, da man, wie ich wohl wußte, meiner Kleidung und meinem Benehmen von weitem ansah, daß ich vom Lande kam. Und ich linkischer Bursche sollte mich in vornehmen Lokalen umtun! Ich ging zuerst nach Mariana's, das mich trotz des billigen Pompes beeindruckte. Man kannte Richard, hatte ihn jedoch seit nahezu einem Jahr nicht mehr gesehen. Ich drückte dem Portier ein Halbkronenstück in die Hand mit der Bitte, mir Bescheid zu sagen, falls er aufkreuzte. Hinterher besuchte ich Whaddon's, wo ich mich bei einer Tischgesellschaft nach weiteren Adressen erkundigte, an denen Richard möglicherweise zu finden war. So ging das eine Woche. Ein Hinweis ergab sich aus dem anderen, und ich ging jedem nach. Hier und da erinnerte sich jemand, ihn vor kurzem gesehen zu haben, wußte aber nicht, wo er wohnte oder wann er wiederkam. Der Reihe nach besuchte ich die Pfarrämter, ob irgendwo ein Aufgebot für Richard und Annabella bestellt war. Auch hier schien mir kein Erfolg beschieden. In den Lokalen kannte man mich mittlerweile so gut, daß Kellner und Portiers ungefragt den Kopf schüttelten: »Nichts Neues, Sir.« In einem kleinen Restaurant, wo man Richard in den ersten Tagen gesehen hatte, sagten mir das Essen und der mäßige Preis zu, so daß ich öfter dort meine bescheidene Mahlzeit einnahm. Als ich am Ende der zweiten Woche wieder einmal dort mein Sprüchlein aufsagte und eine abschlägige Antwort erhielt, sah ein Mann am Nebentisch interessiert auf. Meine Befangenheit war seither gewichen, und ich hatte mich daran gewöhnt, daß ich neugierig oder spöttisch betrachtet wurde. Von zu Hause war noch immer nicht die ersehnte Nachricht eingetroffen, daß Annabella nach Old Vine zurückgekehrt sei. Nach einer Weile stand mein Nachbar auf und kam an meinen Tisch. Er räusperte sich und sagte: »Entschuldigen Sie, Sir, aber es war nicht zu überhören, daß Sie sich nach Mr. Richard Shelmadine erkundigten.« 89
»So ist es«, bestätigte ich. »Können Sie mir etwas über ihn sagen? Wissen Sie, wo er sich aufhält?« »Das grade nicht. Aber ich habe selber ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Ich bin Schneider«, fuhr er fort, als er mein Interesse bemerkte. »Ich heiße Mifflin.« »Bitte, nehmen Sie Platz, Mr. Mifflin.« Er dankte und begann zu erzählen. Seit Jahren hatte er Richards Garderobe angefertigt. Richard hatte hier und da bezahlt, schuldete ihm jedoch zuletzt eine Summe, die Sir Charles im Dezember mit der Versicherung bezahlt hatte, nie wieder einen Penny an jene Dummköpfe auszuzahlen, die seinem Sohn Kredit gewährten. »Vor vierzehn Tagen, Sir, kam Mr. Shelmadine zu mir und sagte, er brauche einen neuen Anzug. Er versprach hoch und heilig, bei Ablieferung zu zahlen, so ging ich das Risiko ein. Er gab mir eine Adresse, an die ich die Kleider schicken sollte. Als der Bote das Paket hinbrachte, war Mr. Shelmadine fort. Nur eine junge Dame war da, aber sie sagte, sie nehme die Kleider nicht an. Nun stehe ich hier mit den Sachen.« »Wie lautete die Adresse?« rief ich erregt und sprang auf. »Charles Street, Pension Petters.« »Vielen Dank, Mr. Mifflin«, sagte ich, warf ein Geldstück auf den Tisch und eilte hinaus. Die Straße lag in einer guten Wohngegend, das Haus sah ordentlich aus. Eine ältere Frau in schwarzem Seidenkleid öffnete auf mein Läuten. Atemlos fragte ich: »Wohnt Miss Follet hier?« »Ich nehme keine allein stehenden Damen, das ist ein anständiges Haus.« »Entschuldigen Sie, bitte, ich meinte natürlich Mrs. Shelmadine. Ich bin ihr Bruder.« Sie sah mich sonderbar an. »Kommen Sie lieber erst herein.« »Ist sie hier?« meine Stimme drohte zu ersticken. Die wochenlange Spannung löste sich, und ich fürchtete, in Tränen auszubrechen. »Ja, sie ist hier.« 90
Wie ich ins Haus gekommen, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, daß ich im Salon auf einem Sessel saß und Mrs. Petters zuhörte. »… Sie verstehen, ich hielt es fürs beste. Wenn ich sie auf die Straße gesetzt hätte in ihrem Zustand, hätte alles mögliche passieren können.« »Kann ich sie sehen?« »Gleich bringe ich sie her. Aber da sind noch Schulden.« Mrs. Petters ging hinaus, und ich trocknete mir mit dem Taschentuch Stirne und Hals. Auf einmal stand Annabella vor mir. »Hatton!« schrie sie auf und schlang mir die Arme um den Hals. Ich drückte sie an mich und spürte, wie sie heftig schluchzte. Ich klopfte ihr auf den Rücken und sagte immer wieder: »Ist ja gut, mein Liebling, wein jetzt nicht mehr. Jetzt habe ich dich doch gefunden«, und dergleichen mehr. Sie war immer sehr schlank, nun aber hatte ich das Gefühl, ein halbverhungertes Kätzchen in den Armen zu halten. Ich ließ sie eine Weile weinen und sagte schließlich fest: »Annabella, du mußt jetzt aufhören. Es ist vorbei.« »Ja, Hatton, alles ist vorbei.« Ich löste ihre Arme von mir und sah sie an. Sie war sehr mager und unterhalb der rotverschwollenen Augen totenbleich. Noch immer trug sie das Reitkleid mit grünem Jäckchen, in dem sie Baildon vor mehr als zwei Wochen verlassen hatte. Es sah aus, als hätte sie es inzwischen niemals abgelegt. Über dem Rock trug sie eine Schürze aus grobem Leinen, unter den hochgekrempelten Ärmeln schauten die dünnen Arme mit roten, aufgedunsenen Händen hervor. »Was hat er mit dir getan?« »Niemand hat mir etwas getan. Richard wollte nicht, daß ich mitkomme. Ich schwieg und dachte, nachher würde er… aber es half nichts. Wir stritten uns, und er ging fort. Seither ist er nicht wiedergekommen.« »Seid ihr verheiratet?« »Nein. Darüber haben wir gestritten. Ich dachte, nachher würde er mich heiraten. Aber er sagte, ich hätte es selber gewollt, ihm sei es immer um mein Geld gegangen. Mich allein wolle er nicht.« Verzweifelt schaute sie mich an. 91
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte ich in meiner Einfalt. »Du kommst mit mir nach Hause.« »Ich kann nicht nach Hause. Alle werden mich auslachen und mit dem Finger auf mich zeigen.« »Kein Mensch weiß, daß du in London bist. Tante Dorothea hat überall verkündet, du hättest die Verlobung gelöst, weil Richard dich enttäuscht habe. Jeder glaubt, du seist in Bures, um den Schock zu überwinden. Du kommst nach Hause und trägst eine stolze Miene zur Schau als Beweis dafür, daß er dir nichts mehr bedeutet.« »Ich habe keinen Stolz mehr, Hatton«, sagte sie leise. »Du wirst sehen. Wenn du eine ordentliche Mahlzeit im Leibe hast, sieht die Welt wieder anders aus. Ich zahle dem alten Drachen da draußen, was du schuldest, und dann nichts wie fort von hier.« »Sie hat es gut gemeint.« Ich zog die Glocke, und Mrs. Petters, die nicht weit gewesen sein konnte, trat ein. »Macht zusammen fünf Guineen, eine Woche für den Mann, fünf Tage für Ihre Schwester. Die Tage nachher berechne ich nicht. Als der Schneider kam und ich merkte, was los war, habe ich sie in der Küche helfen lassen. Sehr geschickt war sie grade nicht. Aber was sollte ich mit ihr anfangen? Ich konnte sie doch nicht auf die Straße setzen.« »Ich bin Ihnen sehr verbunden, Mrs. Petters«, sagte ich höflich, wenn auch innerlich kochend. »Durch Ihre Güte habe ich meine Schwester gefunden.« Ich legte fünf Guineen auf den Tisch und eine sechste dazu. »Für Ihre Mühe«, sagte ich, »komm, Annabella.« Mrs. Petters war nun doch betroffen. »So können Sie nicht mit ihr auf die Straße, Sir.« Mir fiel auf, daß Mrs. Petters immer über Annabella hinweg sprach, als sei sie noch ein kleines Kind oder schwachsinnig. Annabella hatte sich inzwischen nicht einmal bemüht, die Schürze abzubinden oder die Ärmel herunterzulassen. »Ich bringe die Sachen in Ordnung. In einer Stunde sind sie gereinigt und frisch gebügelt. Annabella kann inzwischen ein Bad nehmen und sich die Haare waschen.« »Ist dir das recht, Annabella?« fragte ich. 92
»Wie du willst, Hatton.« »Gut. Ich schicke inzwischen einen Eilbrief an Tante Dorothea, daß sie uns morgen erwartet.« Da fiel mir noch etwas ein. »Was ist mit George geschehen?« »Richard hat ihn verkauft. Sein eigenes Pferd auch, gleich am ersten Tag. Ich sagte, er dürfe das nicht, es sei dein Pferd. Aber er lachte mich nur aus.« Mein Groll gegen Richard Shelmadine wuchs, soweit das noch möglich war. George war ein hervorragendes Reitpferd, das ich selber zugeritten hatte. »Weißt du, wem er es verkauft hat?« »Einem Pferdehändler, nicht weit von hier.« »Das muß Hawkins sein«, mischte sich Mrs. Petters eifrig ein. »Nach rechts die Straße entlang und an der vierten Ecke links in der kleinen Gasse.« »In einer Stunde bin ich zurück«, versprach ich. »Kommen Sie«, sagte Mrs. Petters und führte Annabella wie eine Schlafwandelnde an der Hand hinaus. George stand noch bei Hawkins im Stall. Obwohl er ungepflegt aussah, war er das beste Pferd von allen, und Hawkins verlangte einen gepfefferten Preis, von dem er erst abließ, als ich ihn darauf verwies, mir sei das Pferd gestohlen worden und ich könne ihn wegen Hehlerschaft anzeigen. Für Annabella stand ihr Pferd bereit, das sich in einem guten Stall von den Strapazen ausgeruht hatte.
Auf der Heimreise, die wir in zwei Tagesritten zurücklegten, kam ich mir vor wie ein umsichtiger Hausvater. Ich ritt wieder meinen guten George und brachte Annabella heim, die unterwegs schwieg und meist in Gedanken versunken war. Erst kurz vor Baildon fragte sie: »Müssen wir Tante Dorothea die volle Wahrheit erzählen?« »Nicht nötig. Soweit mir bekannt ist, hat niemand dich mit Richard Baildon verlassen sehen.« 93
»Ich habe vor Clevely in einem Hohlweg gewartet.« »Sagen wir doch einfach, du seist ihm nachgeritten und habest ihn in London nicht getroffen. Danach hätte man dir die Börse gestohlen und die Wirtin ließ die Rechnung abarbeiten. Das kommt der Wahrheit ziemlich nahe und erklärt auch deine roten Hände. Aber wenn man dir die Geschichte abnehmen soll, darfst du nicht dreinschauen, als wäre die Welt untergegangen.« »Für mich ist sie untergegangen.« »Sei nicht albern. Für mich bist du immer noch das schönste, liebenswerteste Mädchen…« »Hör auf, Hatton«, schnitt sie mir das Wort ab. »Ich weiß jetzt nur zu gut, was ich ohne Vermögen wert bin.«
3
N
iemand blickte uns nach, als wir in Baildon einritten. Die Leute kümmern sich weit mehr um die Geld- als um die Herzensangelegenheiten ihrer Mitmenschen, und im Städtchen hatte man noch längst nicht alle Aspekte über das von Chris verspielte Mortiboys und über das Zerwürfnis zwischen Sir Charles und Richard durchgehechelt. Es schien nur selbstverständlich, daß Annabella das Verlöbnis gelöst hatte. Tante Dorothea bestand darauf, daß Annabella sich in der Öffentlichkeit zeigte. Wir nahmen Einladungen an und luden zum Tee bei uns ein. Unser Cousin Chris gab mit unerschütterlicher Gleichmut eine ›Abschiedsparty‹ auf Mortiboys, die wir ebenfalls besuchten. Annabella war nie sehr geschwätzig oder ausgelassen gewesen, so daß ihr stilleres Betragen kaum auffiel, nur ich wußte, welche Selbstbeherrschung es sie kostete, sich vor anderen unbekümmert und heiter zu geben. Als wir in einer warmen Septembernacht von einem Gartenfest in 94
Ockleys heimkehrten, bat Annabella: »Mir ist so heiß, ich kann jetzt noch nicht schlafen. Kommst du noch ein wenig in den Garten, Hatton?« Ich sah keinen Grund, ihr die Bitte zu verweigern, und folgte ihr in den hintersten Gartenbereich, wo wir uns vor der Sonnenuhr auf einer alten Steinbank niederließen. Nach einer Weile fragte Annabella lebhaft: »Hast du Geld, Hatton?« »Tante Dorothea hat den Rest der Börse mit mir geteilt. Es sind etwa zwölf Pfund.« »Willst du mir helfen? Außer dir habe ich niemand, den ich um Hilfe bitten kann. Und wenn ich selber gehe, ist alles umsonst.« »Heraus mit der Sache. Was kann ich für dich tun?« »Geh bitte für mich zu Mrs. Bolt.« »Zur Friseuse?« »Ja, sie… sie kann auch anderes. Aber sie ist habgierig und erpresst die Mädchen, die zu ihr gehen. Mary Felton mußte ihr eine Diamantenbrosche geben.« Was redete Annabella nur für ungereimtes Zeug? Jeder Satz für sich war richtig, und doch gaben sie zusammen keinen Sinn. Oder vielleicht doch? »Worüber sprichst du eigentlich?« »Es ist so schrecklich, Hatton. Ich glaube, ich bekomme ein Kind. Und Mrs. Bolt fertigt gewisse Pillen an…« Nun war ich es, der verlegen und einfältig dreinschaute. Ich schwieg so lange, daß Annabella ängstlich sagte: »Bitte, Hatton, du bist meine letzte Hoffnung. Denk nicht nur an uns, auch an Tante Dorothea. Es würde sie umbringen.« »Ja, doch, ich gehe«, erwiderte ich endlich tonlos. »Natürlich gehe ich für dich zu Mrs. Bolt.« »Oh, vielen, vielen Dank. Weißt du, wenn sie dich sieht, kommt sie gar nicht auf die Idee, daß die Pillen für mich sind. Das ist keine Gefälligkeit, die ein Bruder für seine Schwester tut. Auch wenn sie weiß, wer du bist, wird sie denken, daß du…« 95
»Schon gut, ich verstehe. Ich sorge schon dafür, daß sie das glaubt. Aber, Annabella, wie sicher sind die Pillen?« »Mary Felton war zwei Wochen lang krank, nachdem sie die Pillen genommen hatte. Dann war alles vorbei.« »Morgen gehe ich hin.« »Hatton, wenn du das für mich tust, werde ich's mein Leben lang nicht vergessen. Weißt du, bei einem Mann ist es doch ganz anders. Sie wird nicht wagen, über dich zu tratschen oder dich zu erpressen. Ich kann nicht sagen, wie erleichtert und dankbar ich bin…« Sie umarmte mich schluchzend und lief dann ins Haus zurück.
Anderntags machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum Nordtor, in dessen Nähe Mrs. Bolt wohnte. Ich fragte einen Mann nach ihrem Haus. Er musterte mich scharf, und ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß er den Zweck meines Kommens erriet. Das war natürlich Unsinn, Mrs. Bolt hatte als Friseuse eine große Kundschaft. Als ich vor ihr im kleinen Wohnzimmer saß, begriff ich, warum Annabella Angst vor dieser Frau hatte. Bis dahin hatte ich sie nur von weitem gesehen, erst jetzt, in der Nähe, bemerkte ich ihre steinharten Züge und lauernden Augen. »Ziemlich jung angefangen, was?« fragte sie. Da mich die Leute gewöhnlich für weitaus älter als siebzehn Jahre hielten, mußte sie mich erkannt haben. Nun tat ich mich mit meiner Geschichte noch schwerer als zuvor, aber vermutlich wirkten mein Stottern und mein Erröten besonders echt. Das Mädchen, so sagte ich, lebe in Harrow und ich hätte ihr versprochen, die Pillen zu bringen. Mrs. Bolt nahm drei Sovereigns und gab mir dafür ein Schächtelchen. Dann sah sie mich drohend an. »Und damit wir uns recht verstehen, junger Herr. Wenn was schief geht, sind Sie schuld, nicht ich. Ich mache nur Kräuterpillen wie meine Mutter und Großmutter, gut gegen Pickel, verstanden?« »Was kann da schief gehen?« 96
»Was raufgegangen ist, muß wieder runterkommen. Neun Monate dauert das gewöhnlich. Und wenn die Arbeit von neun Monaten in neun Tagen vollbracht werden soll, ist das schon ein bißchen riskant.« »Sie, das Mädchen, kann sie sterben?« fragte ich entsetzt. »Frauen halten viel aus, ohne gleich zu sterben. Noch verliebt in das Frätzchen, he? Die meisten kümmern sich einen Dreck darum, ob das Mädchen dabei draufgeht oder nicht. Sie ist jung?« »Ein Jahr jünger als ich.« »Jedes Jahr fangen sie jünger an. Na, mir soll's recht sein. Und falls Sie das junge Ding noch mögen, nachdem die Pillen gewirkt haben, so rate ich Ihnen…« Und sie gab mir einen Rat in so obszönen Ausdrücken, daß ich sie hier nicht wiederholen kann. Sonderbarerweise geschieht es hin und wieder, daß mir die Wasserspeier der Marienkirche in erregten Träumen dieselben Worte zurufen. Die Schachtel enthielt zehn Pillen, die fünf Tage hindurch jeweils abends und morgens genommen werden mußten. Die Wirkung sollte innerhalb von sieben bis zehn Tagen eintreten. Ich gab die Pillen Annabella und schrieb einen Brief an den Direktor meiner Schule, daß ich außerstande sei, in sein Internat zurückzukehren. Egal, wie es von nun an weiterging, ich war kein Schüler mehr. Mir war, als sei ich hundert Jahre alt.
Annabella ging es von Tag zu Tag schlechter. Als sie ihre ständige Übelkeit nicht mehr verhehlen konnte, forschte Tante Dorothea nach einer Ursache: vielleicht der Fisch oder das zu fette Schweinefleisch oder eine nicht gründlich gesäuberte Kupferpfanne, und vergaß dabei, daß wir anderen ja dasselbe wie Annabella gegessen hatten. Ich nehme an, sie wußte längst Bescheid, denn eines Abends, als wir die totenbleiche und von Krämpfen geschüttelte Annabella auf ihr Zimmer gebracht hatten, schlug ich vor, den Arzt zu holen. Tante Dorothea richtete sich hoch auf und sagte mit einer Stimme, die ich nie zuvor gehört hatte: »Nein, Hatton, du wartest!« 97
Sie ging wieder zu Annabella hinein und kam nach einer Weile blaß, mit Augen wie ein geprügelter Hund, aus dem Zimmer. »Was sollen wir jetzt bloß tun?« jammerte sie, indem sie alle Verstellung aufgab. Im Gegensatz zu ihr hatte ich Zeit genug gehabt, um zu überlegen, was wir bei einem Versagen der Pillen tun könnten. Mit gespielter Heiterkeit sagte ich: »Uneheliche Kinder kommen in den besten Familien vor.« »Und in den schlechtesten!« gab Tante Dorothea zurück. »Nicht in unseren Kreisen. Sieh dich um, Hatton, weißt du irgendwo bei unseren Bekannten ein solches Kind? Die ganze Gesellschaft wird uns schneiden. Auf mich fällt die Schande, die Leute werden sagen, ich hätte euch maßlos verwöhnt und nicht auf sie aufgepaßt. Ich sei halt nicht die rechte Mutter, werden sie sagen.« Ich nahm sie in die Arme. Mir war die Vorstellung gar nicht so schrecklich, von der Gesellschaft geschnitten zu werden. Ich sah uns drei schon auf der Sonnenterrasse sitzen, zu unseren Füßen ein niedliches Kindchen. Laut sagte ich: »Du hast mehr für uns getan als jede Mutter.« »Niemand wird das glauben. Sie werden mir die Schuld an dem Unglück geben. Die Schande überleb' ich nicht.« »Komm, Tante Dorothea, rede keinen Unsinn. Wir können von hier fortziehen und sagen, Annabellas Mann sei früh verstorben!« »Die Wahrheit kommt doch irgendwann ans Licht. Irgendeiner kommt immer drauf.« Sie hielt inne und überlegte. Gefasster fuhr sie fort: »Aber wir können vielleicht jemand finden, der Annabella rasch heiratet.« »Kommt nicht in Frage!« »O doch. Wir sagen, sie hat jemand in Bures kennen gelernt. In einem Monat kann sie verheiratet sein, und das Baby kommt wie viele andere als Siebenmonatskind auf die Welt.« Um sie aufzuheitern, ging ich auf ihre Idee ein: »Jetzt brauchen wir nur noch eine Kleinigkeit: einen passenden Mann!« »Das wird schwer sein«, gab Tante Dorothea in vollem Ernst zu. 98
»Aber ausgeschlossen ist es nicht. Morgen fahre ich nach Bures und bitte meine Cousine, daß sie uns hilft.« »Aber du kannst Annabella doch nicht auf diese Art verheiraten. Sie wird unglücklich dabei.« »Annabella«, erwiderte meine Tante mit ungewohnter Strenge, »hat ihr Recht auf Glück verscherzt. Sie hat eigensinnig und egoistisch gehandelt und muß dankbar sein, wenn wir ihr Leben wieder einigermaßen zurechtbiegen.« Zu meiner Verblüffung willigte Annabella in den phantastischen Plan ein. Wie eine Sterbende lag sie reglos auf ihrem Bett und sagte immer nur: »Ja, Tante; wie du willst, Tante.« »Morgen fahre ich zur Cousine. Man kennt uns dort nicht. Und ehrgeizige junge Männer ohne Vermögen gibt es überall. Vielleicht ein junger Arzt ohne eigene Praxis, oder ein angehender Rechtsanwalt. Irgend jemand halt, der eine Frau mit einem guten Jahreseinkommen brauchen kann.« »Was kann das schon für einer sein, der sie bloß wegen der vierhundertfünfzig Pfund im Jahr nimmt? Wie wird er sie behandeln?« »Nicht mit dem Respekt natürlich, wie ohne eine solche Affäre, aber wenn Annabella sich als gute, pflichtbewusste Ehefrau erweist, wird er sie über kurz oder lang schon zu schätzen wissen.« »Dann könnten wir ja ebensogut nach Amerika auswandern, wo uns keiner kennt.« »Auf meine alten Tage wurzellos in die Fremde ziehen? Hab' ich das nun um euch verdient? Und das arme Kind wird auch dort drüben sein Leben lang ein Bankert bleiben. Nein, mein Plan ist besser, morgen fahre ich.« Wir diskutierten in Annabellas Gegenwart, die über sich verfügen ließ, als sei sie ein willenloses Kind. Ich wandte mich ihr zu und fragte: »Wie entscheidest du? Schließlich ist es dein Leben und deine Zukunft.« »Mir ist alles recht, was ihr beschließt«, entgegnete sie matt. »Ich habe bisher alles nur falsch gemacht.« 99
»Daß du es endlich einsiehst«, fuhr Tante Dorothea sie mit schriller Stimme an. Sie schluckte und begann zu weinen. »Du hattest alles, was ein Mädchen braucht, um glücklich zu werden. Du bist hübsch, hast Vermögen und kommst aus einer guten Familie, die alles für dich tut. Und du? Wirfst dich in deinem Eigensinn dem Kerl an den Hals!« Ohne daß sie selber es gewahr wurde, sprach der Groll der Zukurzgekommenen aus ihren Worten. Ich faßte sie um die Schulter und führte sie hinaus. »Vorläufig könnten wir vielleicht sagen«, schlug ich ihr vor, »Annabella hätte eine schwache Lunge und müsse den Winter in Italien verbringen.« »Und danach? Denk an das arme Kind! Wenn geschieht, was ich sage, wächst es in einer Familie auf und bekommt einen Vater. Morgen früh lasse ich anspannen.« »Bitte. Aber dann lasse ich durch den Ausrufer in der Stadt bekanntmachen, daß Annabella Follet schwanger ist.« Sie starrte mich mit solchem Grauen an, als sei ich ein Mitternachtsgespenst. »Sie hatten doch recht«, murmelte sie, »die Leute, die damals munkelten, im Schneesturm sei ein Teufel mit einer Hand zu deiner Mutter gekommen. Nachdem er sie verhext hatte, sei er wieder verschwunden. Wie könntest du sonst so herzlos sein.« Sie ließ mich stehen und lief in ihr Zimmer, wo sie sich, zum ersten Mal seit ich denken konnte, fest einriegelte.
Aber am frühen Morgen taten die Pillen von Mrs. Bolt ihre Wirkung und nach weiteren zehn Tagen kam Annabella die Treppe herab, blaß und schmächtig, wie nach einer so schweren Magenverstimmung nicht anders zu erwarten war. Schweigend saßen wir zu dritt am Tisch, jeder von uns mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Äußerlich hatte sich nichts geändert, und doch war es nicht wie zuvor. Während Tante Dorothea ihren Ausfall gegen mich bereute und mir 100
daher betont freundlich entgegenkam, konnte sie Annabella nicht verzeihen und ließ keine Gelegenheit zu einer verächtlichen oder gehässigen Bemerkung ungenützt. Annabella trug das Ihre zur trüben Stimmung bei, meist überließ sie sich tiefer Schwermut, der sie nur für kurze Augenblicke eine närrische Fröhlichkeit entgegensetzte. Dennoch gab Tante Dorothea die Hoffnung nicht auf, Annabella möglichst bald zu verheiraten. Wieder wurden Einladungen pünktlich befolgt und ebenso geflissentlich erwidert. Annabella betrug sich manchmal so gleichgültig, daß sie alle Interessenten abschreckte, und ein andermal so überdreht und ausgelassen, daß sie die Leute noch mehr vor den Kopf stieß. Sie schloß eine enge Freundschaft mit der jungen Mrs. Helmar, deren Mann nun Mortiboys bewirtschaftete und deren freizügiges Benehmen alle Klatschtanten der Stadt mit Gesprächsstoff versorgte. Tante Dorothea brachte Stunden damit zu, klarzustellen, was sich eine verheiratete Frau gerade noch herausnehmen durfte und was sich für ein junges Mädchen keinesfalls schickte, wenn es nicht die Folgen davon ausbaden wollte. »Mich nimmt sowieso keiner«, maulte Annabella schnippisch zurück. »Ich bin eine Bohnenstange und habe nicht die passenden Haare. Und was mit meinem Vermögen los ist, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Da kann ich genauso gut tun und lassen, was mir paßt.« Die Jahre vergingen. Wir feierten den achtzehnten, den neunzehnten und zwanzigsten Geburtstag. Tante Dorotheas Rheumatismus verschlechterte sich zusehends, was ihre Laune auch nicht gerade hob. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte sie hin und wieder. »Wie soll das hier weitergehen, wenn du heiraten willst?« »Ich habe bisher noch kein Mädchen getroffen, das ich mir als meine Frau vorstellen könnte«, antwortete ich einmal, um sie zu beruhigen. »Wirst du auch nicht, solange du nur Augen für deine verrückte Schwester hast.« »Annabella ist nicht verrückt. Du darfst nicht so reden.« »Ich möchte wissen, wie man sie sonst nennen könnte.« Oft kam es zu stürmischen Auftritten, die mit Tränen von Tante Dorothea oder Annabella, meist aber von beiden endeten. Wie gern wäre ich davon101
gelaufen, um nichts mehr zu sehen oder zu hören, aber dazu liebte ich mein Haus zu sehr. Jedes Zimmer, jede einzelne Stufe meiner schönen alten Treppe war mir ans Herz gewachsen; auch die Sträucher und Blumen, die im Garten wuchsen, und sogar das Licht, das je nach der Jahreszeit in einem anderen Winkel durch die Scheiben einfiel. Wie hätte ich an einem anderen Ort der Erde leben können?
Niemand war erfreuter als ich, als sich Tom Mallow im Herbst des Jahres 1785, einige Wochen vor unserem einundzwanzigsten Geburtstag, in der Nähe ansiedelte. In den Augen der Gesellschaft, das heißt, in denen Tante Dorotheas, paßte er nicht in unsere Kreise. Er durfte um die vierzig sein, war hässlich und trotz seines forschen Auftretens arm wie eine Kirchenmaus. Er hatte die Marine als Captain verlassen müssen, angeblich, weil er einen Befehl missachtet oder doch derart falsch verstanden hatte, daß ein Unfall die Folge gewesen war. So erzählte jedenfalls Chris, der sich als erster von uns mit Tom Mallow anfreundete. Tom erwarb in Suffolk ein halbverfallenes Landhaus namens Nudd's Hall, das sich ohne die dazugehörigen Ländereien wie ein gestrandeter Wal ausnahm, der auf einem kleinen Hügel lag. Tom besaß ein Einkommen von dreißig Pfund im Jahr, das er mit etwas Geflügel- und Ferkelzucht aufbesserte. Sein Vater, ein Baronet und Admiral, hatte sich vom Sohn losgesagt. Trotz der misslichen finanziellen Lage kleidete sich Tom seinem Stand entsprechend und nahm an Fuchsjagden teil. Er wurde deshalb, wenn auch mit einigem Vorbehalt, von den besseren Kreisen Baildons akzeptiert. Was Tante Dorothea von ihm hielt, drückte sie mit den Worten aus: »Noch vor vier Jahren hätte ich gesagt, er sei unerträglich dreist. Jetzt bin ich froh, wenn Annabella überhaupt einen Mann bekommt.« Denn Tom zeigte unverhohlen seine Bewunderung für Annabella. Ich freute mich sehr darüber, denn ihr Selbstbewußtsein war auf einem Tiefpunkt angelangt, an dem jede Art von Aufmunterung zu begrüßen war. Mir gefiel außerdem, wie Tom ihre Launen hinnahm: wie 102
Regenwetter, gegen das man sich zwar schützt, aber sich weiter nicht darum kümmert. Er wäre der Mann, so dachte ich, ihr den Schutz zu bieten, den sie so notwendig brauchte. Ich mochte Tom gern, was beweist, daß Tante Dorothea unrecht hatte mit ihrer Behauptung, daß ich auf jeden Bewerber um Annabella eifersüchtig sei. Annabella und ich sprachen bereits über die Möglichkeit dieser Ehe, als Tom die ersten schüchternen Anzeichen seiner Neigung für Annabella zu erkennen gab. Ohne eine Spur von Begeisterung stellte sie fest, daß er wohl der einzige Mann im weiten Umkreis sei, den sie sich als Gatten denken konnte. »Und irgendeinen muß ich wohl nehmen, wenn ich hier in dieser Gegend weiter eine Rolle spielen will.« »In meinen Augen nicht gerade ein zwingender Heiratsgrund«, gab ich zurück und hoffte im stillen, daß sie vielleicht doch mehr für ihn empfand, als sie zugeben wollte. Vermutlich fürchtete sie eine abermalige Enttäuschung. Aber wie schon so oft in unseren Gesprächen beantwortete Annabella meine Gedanken nicht, auch nicht, was ich aussprach. »Nein, Liebe ist es nicht. Gott sei Dank werde ich wohl nie mehr einen Mann lieben.« Aber es verdross sie dann doch, als Tom sie nach einer Weile offensichtlich zu meiden begann. Er tanzte auf dem Michaelisball lediglich eine Ehrenrunde mit ihr, fuhr mehrere Male an unserem Haus vorbei zum Markt, ohne anzuhalten, und lehnte die Einladung zu unserer Volljährigkeits-Party ab mit der Begründung, er sei an diesem Tag verhindert. Annabella verbarg ihren Ärger, so gut es ging, und kaufte sich eine junge Fuchsstute, die sie selber zuritt und an der sie stundenlang ihre Nervosität auslassen konnte. Heute mache ich mir Vorwürfe, daß ich es wieder einmal nicht lassen konnte, lenkend in das Schicksal meiner Mitmenschen einzugreifen. Ich besuchte Tom unter dem Vorwand, ich sei auf dem Weg nach Green Farm zu Chris und wolle mal eben bei ihm hereinschauen. Weshalb habe er sich so lange nicht bei uns sehen lassen? Nudd's Hall war ein stattliches Anwesen, nur leider zum größten Teil dem fortschreitenden Verfall preisgegeben. Alle Räume außer Toms 103
Schlafzimmer und der großen Küche, die auch als Wohnzimmer diente, waren praktisch in unbewohnbarem Zustand. Wir setzten uns ans Feuer, und Tom bot mir ein Glas Ale an, das er erhitzte, indem er einfach einen rotglühenden Schürhaken in das Getränk tauchte. Ohne Umschweife begann er in seiner herben, männlichen Art über seine Gefühle zu Annabella zu sprechen. Er sagte wörtlich, er sei über die Ohren in sie verliebt, habe jedoch eingesehen, daß er sie nicht heiraten könne. Was könne er ihr schon bieten? Und mit einer resignierten Handbewegung deutete er auf seine kleine, mit Möbeln aller Art voll gestopfte Behausung. Deshalb müsse er die Freundschaft zu uns abbrechen. Ich murmelte, Annabella sei nicht völlig mittellos. »Um so schlimmer«, entgegnete Tom. »Ein Mann muß Herr im eigenen Hause sein. Und wie kann er das, wenn er und seine Frau wissen, daß er nichts als ein verdammter Parasit ist?« Wir sprachen beide dem heißen, starken Oktoberbier zu, bis wir gegen Ende unseres Zusammenseins wohl kaum mehr nüchtern waren. Tom rechnete mit viertausend Pfund, die nötig wären, um das Haus instand zu setzen und einige Äcker zurückzukaufen, die ursprünglich zum Gut gehörten. Die Summe wäre darüber hinaus auch noch für Ackergerät, Saatgut und ein paar Stück Großvieh ausreichend, mit denen er sich auf eigene Beine stellen könnte. Leicht benommen rutschte ich in die Stimmung hinüber, mit der ich früher für Annabella eine Geburtstags- oder Weihnachtsüberraschung vorbereitet hatte. Auch Tom ließ sich anstecken, und so beschlossen wir in aller Heimlichkeit, niemand solle erfahren, daß ich Tom die erforderliche Geldsumme lieh. Sogar Annabella wollten wir im Glauben belassen, Tom habe eine Erbschaft gemacht. (Das würde auch Tante Dorotheas spitze Zunge im Zaum halten, dachte ich mit Genugtuung.) Mit dem Hochgefühl eines jungen Gottes zog ich meine Uhr und sagte: »Fahre jetzt nach Baildon und bitte um Annabellas Hand. Ich muß heute noch nach Green Farm. Wenn ich am Nachmittag zurückkomme, könnt ihr mir die Überraschung mitteilen.« 104
Noch während ich mich verabschiedete, stöberte Tom in allen Schubladen nach einem sauberen Hemd und geflickten Strümpfen. Auf dem Weg nach Green Farm kam ich junger Schnösel mir wieder einmal wie ein gütiger Vater vor, der die Geschicke seiner Lieben zum Besten wendet. Um Tom nicht in seinem Stolz zu kränken, hatte ich von einem Darlehen gesprochen. In Wirklichkeit hatte ich vor, ihm das Geld zu geben, sagen wir, nicht als Geschenk, sondern als Kapitalanlage für Annabellas Glück, das mir so sehr am Herzen lag. Die junge Ehe sollte nicht von einer Belastung überschattet sein.
Als das junge Paar in das rundum erneuerte, gegen Regen und Wind abgedichtete Haus einzog, stand mir eines der hübschen Schlafzimmer ständig als ›Hattons Zimmer‹ zur Verfügung. Im Schrank befanden sich mein Hausanzug und Wäsche, auf dem Waschtisch lag mein Reisenecessaire, so daß ich jederzeit unangemeldet hereinschneien konnte. Nudd's Hall wurde meine zweite Heimat, wo ich viele frohe Stunden und Tage verbrachte. Mich freute der Anblick, wie Annabella als junge Hausfrau in Küche und Kammern wirtschaftete und den verwahrlosten Garten allmählich in ein blühendes Fleckchen Erde verwandelte; und ich bewunderte Tom, der Rückschläge in der Wirtschaft gefaßt hinnahm und bescheidene Erfolge mit überschwänglicher Freude feierte. In dieser Zeit wandte ich mich ebenfalls Geschäften zu. Die viertausend Pfund, um die ich mein Erbe geschmälert hatte, hoffte ich durch Spekulationen wieder einzubringen. Ich legte einen Teil meines Vermögens in einer neugegründeten Hutfabrik und mehreren Mietshäusern an. Nach und nach wandelten sich die Methoden der Landwirtschaft in unserer Gegend. Man trieb nicht mehr im Herbst das Vieh von der Weide in den Stall, wobei man die überzähligen Tiere schlachtete und für den Winter einpökelte und räucherte, sondern das Vieh blieb das 105
ganze Jahr über im Stall und wurde gemästet, während der Dung auf die Felder geschafft wurde und den Kornertrag in einem bis dahin ungeahnten Ausmaße steigerte. Hatte es bislang höchstens zwei Viehmärkte im Jahr gegeben, so wurde nun wöchentlich Markt gehalten an einem dafür bestimmten Platz, wo sich auch Kornhändler und Bauern zu Handelsgeschäften trafen. Mir kam der Gedanke, ein paar der alten Mietshäuser abzureißen und an ihrer Stelle eine Markt- und Kornhalle zu errichten, wo Handel und Versteigerungen unbeeinträchtigt vom Wetter stattfinden konnten. Für diese Bequemlichkeit gedachte ich Miete zu fordern, welche die Kosten der Halle mit der Zeit decken und mir Gewinn abwerfen sollte. Für die Baukosten veranschlagte ich rund fünfzehnhundert Pfund, aber als die Halle endlich stand, hatte sie mich sechstausend Pfund gekostet, und ich konnte mir ausrechnen, daß die Mieten in etwa hundert Jahren den Bauwert einbringen würden.
Darüber verstrich ein weiteres Jahr. Ich kann nicht mehr genau sagen, wann ich zum ersten Mal merkte, daß die Verstimmung zwischen Annabella und Tom weit über einen gewöhnlichen Ehezwist hinausging. Zunächst übersah und überhörte ich geflissentlich die bösen Blicke und stichelnden Worte, die von beiden Seiten fielen. Ich stand keineswegs, wie Tante Dorothea und Tom mir später vorhielten, von Anfang an auf Annabellas Seite. Zu genau wußte ich, wie störrisch und launenhaft sie oftmals war. Nein, meine Sympathie gehörte damals eher Tom, denn er liebte sie mehr als sie ihn und war deshalb leichter zu verletzen. Er beschwerte sich nie, es war nicht seine Art, zu klagen. Hin und wieder zeigte er jedoch mit einer Miene oder einer Andeutung, daß ihm aufgegangen war, wie wenig Annabella für ihn übrig hatte. Anfangs gestand er es sich nicht ein und gab vor, seine Frau nicht zu ›verstehen‹. »Was mag wohl in ihrem hübschen Köpfchen vorgehen?« fragte er 106
mich einmal nach einem ihrer grundlosen Dispute. »Ich gäbe viel darum, wenn ich wüsste, was sie wirklich denkt.« »Bestimmt nicht mehr als das, was hinter der üblichen Geheimnistuerei der Frauen steckt«, versuchte ich zu beschwichtigen. »Meinst du? Nein, Hatton, ich habe seinerzeit viele Frauen gekannt und bin über kurz oder lang noch jeder auf ihre Schliche gekommen. Nur bei deiner Schwester weiß ich nie, woran ich bin.« In seinem unbestimmten Gefühl, daß ihrer Ehe ein wesentlicher Faktor fehle, neigte Tom einerseits zu krankhafter Eifersucht, zum anderen aber dazu, Annabella zu umwerben und ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, was die Grillen meiner Schwester ins Uferlose anwachsen ließ. Tom war eifersüchtig auf alles, was Annabella liebte, auf ihre Hunde, ihr Pferd und zu guter Letzt auch auf mich. Hinzu kam, daß Annabella ihre Freundschaft mit Mrs. Helmar erneuerte, als sie bemerkte, wie sehr Tom diesen Umgang ablehnte. Oft sah man den armen Kerl förmlich zwischen seinen widersprüchlichen Gefühlen, Annabella zuliebe ihre Freundin höflich zu behandeln, dann wieder sie zur Hölle zu wünschen, hin und her gerissen. »Sie ist eine üble Person, Hatton«, klagte er mir. »Ein Blinder kann das erkennen. Was zum Teufel können meine süße Annabella und das angemalte Flittchen gemein haben?« Ich hätte es ihm sagen können. Beide liebten nicht den Mann, den sie geheiratet hatten, beide waren jung und lehnten sich gegen die starren Regeln der Gesellschaft auf. Hatte schon Tante Dorothea durch ihre Missfallensbekundungen die Freundschaft der beiden nur gefestigt, so verfiel Tom nun in denselben Fehler und beschwor Annabellas Trotz herauf. Ich versuchte es ihm beizubringen. Er wehrte sich: »Sprich doch du mit ihr! Du bist noch der einzige, von dem sie sich etwas sagen läßt.« »Ich bin im Grunde nicht gegen die Freundschaft. Junge Frauen brauchen gleichaltrige Freundinnen, und Mrs. Helmar war sehr nett zu Annabella, als…« »Als was?« 107
»Als Annabella mit Tante Dorothea zerstritten war. Du weißt, die beiden verstehen sich auch nicht immer.« Mittwochs pflegte Tom in seinem neuen, hochrädrigen Einspänner auf den Markt nach Baildon zu fahren. Oft begleitete ihn Annabella und stieg bei mir ab, während Tom seinen Geschäften nachging. Am späten Nachmittag holte er sie wieder ab. An einem Septembermittwoch des Jahres 1786 hatten Annabella und ich einen schönen Tag zusammen verlebt. Annabella hatte Stoff für zwei Winterkleider eingekauft, und danach hatten wir den Bau meiner Markthalle besichtigt, deren Mauern schon mannshoch aus dem Boden ragten. Als Annabella sich nach dem Abschied an Toms Hand in den Wagen schwang, hörte ich auf einmal, wie sie leise sagte: »Du hast schon wieder getrunken. lass mich fahren!« Ich tat, als ob ich nichts bemerkte, und verstaute die Päckchen hinten im Wagen. »Steig ein«, knurrte Tom verhalten, woraus ich schloß, daß er seinen Zustand vor mir verbergen wollte. »lass meine Hand los«, zischte Annabella und schrie dann plötzlich auf: »Hatton!« Ich sprang vor und sah gerade noch, wie Tom sie am Arm emporriß. Einen Augenblick lang hing sie über dem Boden wie eine Puppe in der Hand eines Kindes. Dann fiel sie vornüber auf die Knie in den Wagen. Tom klatschte mit den Zügeln auf den Rücken des Pferdes, so daß es davonschoß, den Wagen hinter sich herzerrend. Obenauf leuchtete eine Wolke von Annabellas Unterröcken, hinter ihnen stiegen die aufgewirbelten Staubschwaden in die Luft. In meiner ersten Wut wollte ich ihnen zu Pferd nach, überlegte dann aber, daß Tom, sobald er sich verfolgt sähe, um so wilder das Pferd antreiben würde. Ich versuchte mir einzureden, daß ein anderer Mann sich möglicherweise ebenso betragen hätte. Trotzdem sorgte ich mich um Annabella und kaufte anderntags im Kurzwarengeschäft drei Yard blaues Seidenband. Unter dem Vorwand, Annabella hätte es liegenlassen, wollte ich es nach Nudd's Hall hinüberbringen. Als ich im Hof mein Pferd sattelte, ritt Annabella herein. 108
»Ich habe Tom erzählt, ich hätte ein Päckchen bei dir vergessen«, rief sie von weitem. »Mit was darin?« »Blaues Seidenband. Habe ich wenigstens gesagt.« »Hier ist es. Drei Yard blaues Seidenband.« Ich hielt ihr das verschnürte Paketchen entgegen. Wir schauten uns verblüfft an. Hin und wieder hört man zwar erstaunliche Geschichten über Zwillinge, die gegenseitig die geheimsten Gedanken errieten, aber uns war dergleichen noch nie passiert. Allerdings hatte diesmal der Gedanke nahe gelegen, da Annabella ja gestern blauen Wollstoff gekauft hatte. Wir brachen erleichtert in fröhliches Lachen aus. Annabella stieg ab. Immer noch lachend fragte ich: »Tom war gar nicht so betrunken, wie?« »Zumindest gab's keinen Unfall. Aber es war ungemütlich genug. Ich werde nicht mehr mit ihm fahren.« »Komm, jetzt übertreibst du wieder«, sagte ich beschwichtigend. Sie sah mich mit einem eiskalten Blick an. »Ich fahre nie wieder mit Tom«, wiederholte sie. »Einmal hat er uns mit der Kutsche schon in den Graben gefahren. Ich bin heute vor allem deswegen gekommen, um mir bei Jackson einen leichten Phaeton zu bestellen. Mein guter Burke hier wird mich schon ziehen, nicht wahr?« Sie zog den Kopf des großen Pferdes dicht an ihr Gesicht. Plötzlich verstand ich, weshalb Tom das Pferd eine widerliche Mähre schimpfte. (Übrigens rechtfertigte Burke später Annabellas Vertrauen und zog willig das leichte Wägelchen hinter sich her.)
Mit der Zeit wurde Tante Dorotheas Rheumatismus immer heftiger. Teils um ihre Gesundheit zu schonen, teils auch wegen der Überredungskünste meines Architekten, der meine Kornhalle baute, ließ ich im Treppenabsatz eines jener neumodischen Wasserklosetts einbauen. Aber die Tante, für die es eigentlich gedacht war, lehnte derartige Ört109
lichkeiten innerhalb eines Wohnhauses als unhygienisch ab und hinkte auch weiterhin bei jedem Wetter zum Häuschen neben dem Holzschuppen. Seit Weihnachten riet ihr der Arzt zu einer Kur in Bath. Sie verschob die Abreise von Monat zu Monat und wäre wohl bis Weihnachten nächsten Jahres nicht gereist, wenn ich sie nicht an einem schönen Märztag warm verpackt in den Wagen gesetzt hätte. Ich besorgte ihr in Bath ein bequemes Zimmer in einem guten Hotel. Nach sechs Wochen linderte sich ihr Leiden etwas. Wie sie schrieb, hatte sie eine Leidensgefährtin, eine Dame gleichen Alters, gefunden, die sie überredete, den Lebensabend mit ihr gemeinsam in einem Häuschen nahe den wohltuenden heißen Quellen zu verbringen. »Wie dir bekannt ist, lieber Hatton«, schrieb sie, »hatte ich nie die Absicht, auch noch in Old Vine zu bleiben, wenn du und Annabella mich nicht mehr benötigt. Bath tut mir gut, und Lady Frances ist eine ideale Freundin. Wir haben schon ein hübsches kleines Haus entdeckt. Das alte Hausmädchen von Lady Frances würde uns den Haushalt führen und uns beide versorgen.« Ich erkannte, was meine Pflicht war. Obwohl es mit meinen Finanzen im Augenblick nicht zum besten stand, kaufte ich das Haus, da Lady Frances außer ihrer Leibrente mittellos war. Nachts schreckte ich oft aus dem Schlaf auf und grübelte stundenlang nach über die Hutfabrik, die, soweit ich das als Laie beurteilen konnte, mit Verlust arbeitete; über meine Markthalle, die bisher nur Geld verschlungen hatte; sowie über den ›todsicheren‹ Börsentipp, mit dem ich auf einen Schlag dreitausend Pfund losgeworden war. Auch dieser Winter verging, und es wurde Sommer. Es war an einem jener seltenen Juniabende, an denen der blutfarbene Sonnenuntergang in einen wolkenlos klaren Sternenhimmel überwechselt. Im Garten reiften die ersten Erdbeeren, und ich trug einen großen Korb davon zu den Arbeitern in meiner nun fast fertigen Markthalle, deren Eröffnung in einigen Monaten stattfinden sollte. Die Außenarbeiten waren getan. Die Leute hatten sich hemdsärmelig im Innern der luftigen Halle beschäftigt und waren im Begriff, Feierabend zu machen. 110
Ich bestellte rasch ein Fässchen Bier und stellte die Erdbeeren als Erfrischung daneben. Als die Leute gegangen waren, unterhielt ich mich noch mit dem Architekten über die Bemalung: ich hatte sinnigerweise an einen Fries aus Ähren und Feldblumen gedacht. Um neun Uhr schloß ich die Halle ab und verließ als letzter den Ort. Trotz meiner prekären Finanzlage war ich von Stolz erfüllt, daß gerade ich meine Heimatstadt um ein solch bedeutsames Bauwerk bereicherte. Wieder befand ich mich in der gehobenen Stimmung, die schon so oft irgendeinem Unheil vorausgegangen war. Während ich langsam nach Hause schlenderte, ballten sich am Horizont dicke Wolken zusammen. Morgen würde es regnen. Mich focht das nicht mehr an, die Halle war unter Dach und den Feldern würde ein kräftiger Regenguß nur gut tun. Ich hoffte, daß Tom dieses Jahr endlich eine reichliche Ernte einbringen konnte. Mit einem Mal fiel mir gegen den letzten Rotschimmer des Abendhimmels eine weiße Frauengestalt auf, die mich an Annabella erinnerte. Aber Annabella ging nie zu Fuß, sie ritt auf ihrem Pferd oder kutschierte den Phaeton. Und doch war es Annabella, die im Straßenstaub einherstapfte. Ich traute meinen Augen kaum, als ich sie einholte. Auf ihrem vor Anstrengung geröteten Gesicht stand der Schweiß in dicken Tropfen, die Augen blickten mich weit aufgerissen wie im Fieber an. Ich griff nach ihren Händen und bestürmte sie mit Fragen. »Endlich, Hatton, jetzt habe ich es doch geschafft«, seufzte sie. »Jetzt bin ich in Sicherheit.« Ihr weißes Musselinkleid war staubig und zerrissen, in ihrem wirren Haar hingen Gras- und Blätterreste. »Was ist geschehen? Warum kommst du zu Fuß? Weshalb kommst du überhaupt um diese Zeit hierher?« »Gehen wir erst hinein«, drängte sie mich ängstlich. »Drinnen erzähle ich dir alles. Tom ist nicht hier gewesen?« »Nicht, daß ich wüsste. Aber ich bin über zwei Stunden fortgewesen.« »Schau bitte erst nach.« Ich schloß die Haustür auf, die Halle war leer. Annabella lief an mir 111
vorbei die Treppe hinauf und rief über die Schulter: »Ich gehe in mein Zimmer. Wenn er da ist, schick ihn fort.« Ich schritt durch die Bibliothek und das Esszimmer, ohne jemandem zu begegnen. Dann schellte ich nach dem Mädchen. Ohne meine Frage abzuwarten, berichtete sie: »Gut, daß Sie kommen, Sir. Captain Mallow war da und suchte nach Miss Annabella. Er glaubte mir nicht und schaute selber in den Zimmern und im Garten nach.« »Ist er gegangen?« »Ja. Er hat schwer geflucht.« Ich ging hinauf zu Annabella. Sie hatte die Tür verriegelt und öffnete erst, nachdem ich ihr versichert hatte, ich sei allein. »Und jetzt erzähle mir der Reihe nach, was mit euch beiden los ist.« »Tom ist verrückt geworden. Er hat mich eingesperrt. Mich hat er eingeschlossen.« Sie brach in schrilles Gelächter aus, das meinen Ohren weh tat. Genauso unvermittelt hielt sie inne und sagte kleinlaut: »Das war gestern abend. Seither habe ich nichts gegessen oder getrunken.« »Dann komm herunter, iß und trink etwas und sage mir endlich, was passiert ist«, erwiderte ich kurzangebunden. Mir schwante, was da auf mich zukam, und ich wollte schnellstens Bescheid wissen. »Bitte, Hatton, sei nicht böse. Ehrlich, es ist nicht meine Schuld. Bitte, schließ alle Türen ab.« »Tom ist nicht im Haus und kommt heute sicherlich nicht mehr zurück. Warum hast du solche Angst vor ihm?« »Schau her«, sagte Annabella dramatisch und löste ihr Halstuch. »Er wollte mich erwürgen.« In der Abenddämmerung erkannte ich zwei dunkle Flecken auf ihrem weißen Hals, die allerdings zu weit unten am Schlüsselbein saßen, um als Würgegriff gelten zu können. Ich begriff sofort, was geschehen war. Tom hatte in seiner Aufregung Annabella hart an den Schultern gepackt und sie geschüttelt, die blauen Flecke waren die Eindrücke seiner Daumen. »Und du? Was hast du getan?« »Gar nichts. Wir waren nach Mortiboys zu den Helmars eingeladen, 112
und auf einmal sagte Tom, er gehe nicht mit. Ich sagte, dann würde ich eben allein hinfahren. Und dann packte er mich plötzlich und versuchte mich zu würgen.« »Zu schütteln, Annabella. Er hat dich nur geschüttelt. Tom liebt dich viel zu sehr, als daß er dir ernsthaft weh tun würde.« »Glaub mir, Hatton, es war so, wie ich dir sage. Er packte mich und zerrte mich die Treppe hinauf. Dann schloß er mich in mein Zimmer ein. ›Da bleibst du drin‹, schrie er immer wieder. Ich sagte dir schon, Tom ist verrückt geworden.« »Das war gestern abend. Und weiter?« »Ich schob die Kommode vor die Tür, so daß er nicht hereinkonnte, als er mich Stunden später holen wollte. Er lachte nur und meinte, ich würde mir's schon anders überlegen, wenn ich Hunger hätte. Als er heute früh zum Heumachen hinausfuhr, bin ich am wilden Wein aus dem Fenster geklettert und dann über die Felder hierher gelaufen. Mittags habe ich mich in einem Busch versteckt. Ich will nie wieder zurück, Hatton, niemand kann mich zwingen. Du ahnst nicht, was ich die letzten Monate durchgemacht habe.« Sie begann zu weinen. »Ich hatte mir fest vorgenommen, dir nie wieder im Leben Kummer zu bereiten, und nun kann ich doch nicht anders.« Schluchzend erzählte sie weiter, was sie bisher mir zuliebe verschwiegen hatte. »Tom hat meinen Hund erschossen. Er entschuldigte sich, es sei ein Unfall gewesen, aber das ist nicht wahr. Dann hat er meinen Burke vor den Jauchewagen gespannt, und als das Tier sich weigerte, schlug er ihm mit der Peitsche den Rücken blutig. Und dann war da noch diese Phoebe Tunstall.« »Wovon sprichst du?« »Hatton, ich weiß nicht, ob du mich verstehen kannst, du warst ja nie verheiratet. Es ist mir so peinlich, darüber zu sprechen. Ich weiß, das ist mein Fehler. Ich sagte dir damals, Tom sei der einzige Mann, den ich als Ehegatten ertragen könnte. Ich habe das ehrlich gemeint, aber weißt du, ertragen und lieben ist nicht dasselbe. Tom merkte das natürlich bald, und ich glaubte, wenn Phoebe ihn besser… zufrieden stellen kann als ich, dann meinetwegen. Aber Phoebus wurde zu mir frech 113
und benahm sich auch vor anderen so, daß jedermann sich einen Reim auf die Sache machen konnte.« Stück für Stück entrollte sich die Geschichte ihrer Ehe vor meinen Augen, und es war tiefe Nacht, als wir endlich zu Bett gingen.
Als ich am folgenden Morgen beim Frühstück saß, erschien Tom. Er sah derart übernächtigt und elend aus, daß ich ihm impulsiv mitteilte: »Sie ist hier, heil und gesund.« Er setzte sich hin und legte das Gesicht in die Hände. Als er endlich aufschaute, berichtete er, daß er sie seit gestern überall gesucht habe. Während der Nacht hätte er mit Knechten die Felder und Wäldchen abgesucht. Mit der Schilderung ihres Streites bestätigte er im großen und ganzen Annabellas Erzählung. Dann aber sagte er etwas, das mich aufhorchen ließ. »Eigentlich glaubte ich, sie sei nach Mortiboys. Gerade jetzt, wo sich dein Freund Shelby wieder dort herumtreibt.« »Charles Shelby ist nicht mein Freund, sondern mein Architekt. Was hat der damit zu tun?« »Sag bloß, du wüsstest von nichts. Annabella ist in ihn verliebt.« »Das ist kompletter Unsinn«, wehrte ich heftig ab. »Da sieht man, wie wenig du meine Schwester kennst. Wenn sie wirklich in Shelby oder sonst wen verliebt wäre, würde sie keine Minute länger bei dir bleiben.« Mir fiel es leicht, so zu reden, denn Shelby hatte mir einmal in einer vertraulichen Minute angedeutet, daß ihn zarte Bande mit Mrs. Helmar verknüpften. »Du bist blind, weil es um deine Schwester geht. Du hältst sie für vollkommen und dabei hast wahrscheinlich du sie derart verzogen, daß sie so schwer zu behandeln ist.« »Schwer zu behandeln? Ja, weil du es falsch anfängst. Du warst ganz schön grob vorgestern abend!« »Sie hat mich in Rage gebracht.« »Wer würde sich nicht dagegen wehren, wenn du dich wie ein Narr 114
aufführst und den Haustyrannen spielst? Wenn du deine verrückten Anschuldigungen in bezug auf Shelby nicht aufgibst und mir ehrenwörtlich versprichst, sie nicht mehr anzurühren, kann nicht einmal ich sie dazu überreden, zu dir zurückzukehren.« Ärger, Zweifel und ein Schimmer von Hoffnung kämpften sichtlich in Toms Zügen. »Meinst du? So unbegründet, wie du denkst, ist mein Verdacht gar nicht. Du müsstest sie einmal sehen, wenn der Kerl um sie herumscharwenzelt. Wenn sie ihn trifft, zieht sie die neuesten Kleider an und lacht und plaudert wie ein junges Mädchen.« »Shelby ist unterhaltend und geistreich, mich regt er auch immer an. Er weiß immer die neuesten Londoner Histörchen. Ist das ein Grund zur Eifersucht?« »Ja«, gab Tom nach kurzem Schweigen zu, »ich bin eifersüchtig. Jeder Mann an meiner Stelle wäre es. Es gibt Situationen, wo ein Mann mehr von seiner Frau verlangt, als lediglich geduldet zu werden. Gut, ich bin zu weit gegangen. Ich verzeihe Annabella und will versuchen, mich in Zukunft besser zu beherrschen.« »Du verzeihst Annabella? Wäre es nicht an dir, sie um Verzeihung zu bitten?« »Meinetwegen«, seufzte Tom ergeben. »Ich entschuldige mich und bitte um Verzeihung. Willst du sie jetzt holen?« Annabella wollte ihn zunächst nicht sehen, aber ich schilderte ihr, wie betrübt und reumütig Tom sich zeigte. Ich ließ die beiden allein und ging auf die Terrasse hinaus, wo ich durch das offene Fenster zwar ihre Stimmen von weitem hörte, aber keine Worte verstand. Nach einer Weile vernahm ich ein Krachen und dann einen Schrei, der sofort erstickt wurde. Ich rannte ins Zimmer. Der Frühstückstisch war umgeworfen, dahinter stand Tom, eine Hand auf Annabellas Mund, den anderen Arm um ihre Taille geschlungen und versuchte, die sich heftig Wehrende aus dem Zimmer zu ziehen. Annabella hielt sich an allem fest, was in ihre Reichweite geriet, an einer Gardine, einem Stuhlrücken, bevor sie von ihm weitergezerrt wurde. »Hör auf, Tom! lass sie sofort los!« 115
Er sah aus wie ein Wahnsinniger, die Augen rot unterlaufen, die Oberlippe hoch über die fletschenden Zähne gezogen. Er hörte mich nicht einmal. Ich versuchte, seine Hände von Annabella zu lösen, aber er hielt sie so fest umklammert, daß ich ihre Qual nur erhöhte. Mir blieb nichts anderes übrig. Ich ließ ihn los, sah zu, daß ich hinter ihm zu stehen kam und griff nach einem Leuchter. Er taumelte, als ihn der Schlag am Hinterkopf traf. Der Griff seiner Hände lockerte sich, Annabella rutschte zu Boden. Er selber tat noch drei, vier Stolperschritte rückwärts bis zur Wand, wo er ebenfalls zusammensackte. Ich half Annabella auf die Füße. Ihre Lippe war aufgerissen und blutete stark. Sie wischte mit der Hand über den Mund und sah entsetzt auf das Blut. »Lauf zu und schließ dich ein!« rief ich ihr zu. Sie gehorchte stumm und floh aus dem Zimmer. Erst jetzt sah ich nach Tom. In seinem bis dahin hochroten Gesicht zeichneten sich weiße Flecken ab. Er tat mir nicht im geringsten leid. Wenn jemals ein Schlag gerechtfertigt war, so dieser. Aber ich wollte ihn aus dem Haus haben, deshalb zog ich ihn an den Armen hoch und drückte ihn in den nächsten Stuhl. Dann ging ich zum Schrank und schenkte etwas Brandy in ein Glas, das ich vor seinen Mund hielt. »Hier, trink das, und nimm dich zusammen.« Er zitterte am ganzen Leib und verschüttete die Hälfte, als er das Getränk zum Munde führte. Dann lallte er, erstaunt und anklagend zugleich, mit tonloser Stimme: »Sie will… nicht… will nicht mitkommen…« »Das gibt dir noch kein Recht, sie mit Gewalt zu entführen.« »Ein Mann… kann seine eigene Frau… nicht entführen…« »Quatsch nicht so viel! Trink aus und verschwinde!« Tom nahm noch einen Schluck. Die Farbe kehrte allmählich in sein Gesicht zurück, als er das Glas fortstellte und sagte: »Ich gehe erst, wenn ich hier fertig bin. Ich muß dir noch was sagen.« »Ich will nichts mehr hören. Ich wünsche lediglich, daß du mein Haus verläßt.« »Himmel noch mal! Was glaubst du eigentlich, wer du bist?« 116
»Immerhin der Bruder deiner Frau. Und solange ich atmen kann, wirst du sie nicht mehr anrühren.« »Ich bin ihr rechtlich angetrauter Ehemann. Begreif das endlich mit deinem Suffolk-Dickschädel. Sie ist meine Frau! Du hast überhaupt kein Recht, dich einzumischen.« »Und mir scheint, du hast deine Rechte verspielt, nachdem du sie vor meinen Augen misshandelt hast. Bis jetzt war ich auf deiner Seite, aber das ist nun ein für allemal vorbei. Ich bin fertig mit dir.« »Aber ich noch lange nicht mit dir, du arroganter junger Stutzer! Ich warne dich! Das Recht steht auf meiner Seite.« Drohend stand er auf. Mein Hieb hatte ihn zwar zu Boden gestreckt, aber unbewaffnet war er mir mit seinen kräftigen Muskeln überlegen. Ich tat einen Schritt rückwärts in Richtung Klingelzug. Mein Diener mußte den Lärm gehört haben und nicht allzu weit sein. Tom dachte anscheinend dasselbe, denn er nahm sich zusammen und sagte etwas leiser: »Ich gebe dir eine letzte Chance. Gib sie mir heraus, sonst verstößt du gegen das Gesetz, indem du mir meine Ehefrau gewaltsam vorenthältst. Ich schwöre dir, ich bekomme Annabella zurück, und wenn ich mit meinem letzten Penny vor den Obersten Gerichtshof gehen müßte!« »Geh, wohin du willst, aber geh endlich!« »Das wirst du bereuen«, sagte Tom grimmig, wobei er das Zimmer verließ. Als er fort war, rannte ich die Treppe hinauf zu Annabella, die ihr Gesicht mit kaltem Wasser benetzte. Gott sei Dank, sie weinte wenigstens nicht. »Jetzt hast du es selber gesehen«, sagte sie vorwurfsvoll, aber gefaßt. »Er ist verrückt. Zu dem soll ich zurück? Natürlich kann ich auch nicht hier bleiben, Tom wird dir Schwierigkeiten machen.« Sie tupfte ihr Gesicht mit einem Leinentüchlein trocken. »Hat er was von gewaltsamem Zurückhalten gesagt?« »So ähnlich. Aber er war außer sich. Kein Mensch, der die näheren Umstände kennt, wird von dir verlangen, daß du zu ihm zurückkehrst.« 117
»Ich weiß nicht recht. Die Gesetze sind von Männern für Männer gemacht. Am besten ist wohl, Hatton, du gibst mir Geld, und ich verschwinde von hier.« »Wo willst du hin?« »Weit weg, wo er mich nicht findet.« Gebrochen ließ sie sich auf den Bettrand sinken. »Hätte ich ihn doch nie gesehen. Hatton, hilfst du mir noch dieses eine Mal?« »Ich werde Mr. Steward aufsuchen und ihn um Rat und Beistand bitten.«
Mr. Steward hörte sich meinen Bericht mit unbewegter Miene an. »Nun möchte ich wissen, was mich erwartet«, endete ich. »Was kann mein Schwager gegen uns unternehmen?« »Einzelheiten lassen sich natürlich nicht darüber voraussagen.« Mr. Steward strich mit dem Zeigefinger über die Nase und zog nun doch die Stirn in Falten. »Aber manches kann man vermuten. So könnte Captain Mallow beispielsweise das Kirchenrecht zur Wiederherstellung seiner ehelichen Rechte in Anspruch nehmen, sicher mit Erfolg. Er kann Sie außerdem verklagen, weil Sie ihm seine Ehefrau vorenthalten. Sie dagegen können nur vorbringen, daß Sie Mrs. Mallow bei sich behalten, um ihr Schutz zu gewähren. Ein Beispiel liefert der Rechtsfall Williams gegen Johnson, wo die Ehefrau wegen Gefahr an Leib und Leben von ihrem Mann getrennt wurde.« »Na also«, atmete ich erleichtert auf. »Das dürfte auf uns zutreffen.« »Wenn ich richtig verstanden habe, hat Captain Mallow heute morgen in Ihrem Hause durchaus berechtigte Gewalt angewendet, um seine Ehefrau zur Rückkehr in ihr gemeinsames Haus zu veranlassen. Im oben erwähnten Fall hatte der Ehemann sein Gewehr abgedrückt in der Absicht, seine Frau zu töten. Jedermann ist berechtigt, ja verpflichtet, eine Frau vor dem Tode oder schweren Verletzungen zu schützen. Aber wenn ein Mann seine Frau hart an den Schultern fasst oder ihr den Mund zuhält… Mr. Follet, wenn man solche Banalitäten in Be118
tracht ziehen wollte, lebte die Hälfte aller Ehefrauen in England von ihrem Mann getrennt.« »Banalitäten!« »Verstehen Sie mich bitte recht, Mr. Follet. Es handelt sich nicht um meine persönliche Meinung. Vor dem Gesetz gelten geringfügige Handgreiflichkeiten unter Eheleuten nun einmal als Banalitäten. Unser Gesetz gesteht dem Ehemann sogar das Recht zu, seine Frau zu züchtigen, wenn er dies für notwendig hält. Und von einer Züchtigung kann bei Mrs. Mallow wahrlich nicht die Rede sein.« Bislang war ich mit Mr. Steward immer gut ausgekommen. Nicht, daß ich ihn besonders liebte, aber ich schätzte seine sachliche Art, die Dinge zu betrachten. Dieselbe Kühle stieß mich nun ab. »Vermutlich wird Ihr Schwager, Captain Mallow, Ihnen zunächst die höflich formulierte Aufforderung zugehen lassen, die Beeinträchtigung seiner ehelichen Rechte einzustellen. Ich rate Ihnen, überlegen Sie sich's genau, bevor Sie diese ablehnen! Wenn der Fall vor Gericht kommt, sind Sie der Angeklagte und haben kaum Aussicht auf Freispruch. Behalten Sie dann Mrs. Mallow weiterhin bei sich, können Sie wegen Missachtung eines gerichtlichen Beschlusses mit Gefängnis bestraft werden. Und was können Sie dann gegen Captain Mallow ausrichten? Ganz zu schweigen davon, daß Sie natürlich auch sämtliche Gerichtskosten zu tragen hätten.« Ich verspürte einen Druck in der Magengegend. Mr. Steward war alt und übervorsichtig, sagte ich mir. Kein einziges Mal hatte er Annabella meine Schwester genannt, sondern sie stets als Mrs. Mallow bezeichnet. Das allein zeigte deutlich, wie voreingenommen er war. Auf dem Heimritt fiel mir ein, daß in Baildon noch ein zweiter Rechtsanwalt amtierte, Mr. Turnbull, wohl jünger als Mr. Steward. Er hatte den Ruf, selbst schwierigste Fälle zu meistern, wenn auch seine Methoden nicht immer ganz durchsichtig waren. Er empfing mich überrascht, was verständlich war. Als ich ihm unsere Situation geschildert hatte, pflichtete auch er Mr. Steward bei, daß das Recht auf Seiten Toms stünde. »Aber zwischen dem geschriebenen und dem angewandten Recht 119
ist oft eine breite Lücke. Durch ein Loch im Paragraphengestrüpp ist schon so mancher hindurchgeschlüpft.« Er sprach noch eine Weile solche Allgemeinheiten, bis er wieder auf unseren Fall zurückkam. »Lassen Sie sofort den Arzt zu Ihrer Schwester kommen. Eine Wunde, die von einem Arzt betreut wurde, macht vor Gericht immer mehr Eindruck. Und wie stand es mit den Nerven? Kein Zusammenbruch? Aber angegriffen ist Ihre Schwester doch sicherlich, weisen Sie den Arzt auf entsprechende Beschwerden hin. Ärzte sind immer zuverlässige Zeugen, obwohl ich hoffe, daß der Fall gar nicht vor Gericht kommt.« Er begleitete mich bis vor die Haustür, wo er sich vom Anwalt in einen Landmann mit Pferdeverstand verwandelte. Er lobte meinen Braunen und fragte mit einem Zwinkern in den Augen: »Heißt der Prachtbursche etwa auch George?« »Allerdings«, erwiderte ich erstaunt. »Wir haben die Angewohnheit von meiner Mutter übernommen, sie nannte alle Pferde und Hunde George…« »Mir bekannt«, sagte er schlicht. Hinter ihm auf dem Messingschild an der Tür stand sein Name ausgeschrieben: George Turnbull. Ich dachte mir nichts dabei. Ich für mein Teil wäre sicher nicht gekränkt gewesen, wenn jemand seine Hunde und Pferde mit meinem Vornamen bedacht hätte. Manche Leute behaupten, George Turnbull sei mein heimlicher Feind und habe mir mehr geschadet als genützt. Ich bin anderer Meinung. Er gab mir fundierte Ratschläge, und wenn diese so sehr von denen Mr. Stewards abwichen, so mochte das an dem unterschiedlichen Charakter der beiden Männer liegen. Hätte mir Mr. Turnbull nicht weitergeholfen, ich wäre zu einem anderen Anwalt gegangen. Seit Annabella ihn verlassen hatte, betrank Tom sich jeden Abend. Vom Gericht hielt er offenbar weniger, als Mr. Steward befürchtet hatte, denn ehe er diesen Weg einschlug, machte er den absurden Versuch, Annabella zu entführen. Ich sage absurd, obwohl ich mit so etwas rechnete und meine Vor120
kehrungen traf. Zwar kam ich mir selber lächerlich vor, als ich darauf bestand, daß Annabella niemals das Haus und den Garten verließ. Ich sicherte die Haustür mit einer Kette ab und ließ das Hoftor auch tagsüber verriegeln, obwohl unsere Leute über das ewige Auf- und Zusperren murrten. Ich stellte einen neuen Hilfsgärtner neben Bill Cooper ein und befahl, daß beide Männer nachts im Hause schlafen und ständig einen derben Knüppel zur Hand haben sollten. Natürlich fühlte ich mich wie ein Schmierenkomödiant, als ich immer wieder kontrollierte, ob meine Anordnungen auch befolgt wurden. Die schließlichen Ereignisse gaben jedoch meinen Vorsichtsmaßnahmen recht. Eines Abends, als Annabella und ich gerade im Garten auf und ab spazierten, kam Polly, unser Mädchen gelaufen mit der Nachricht, eine junge Frau und ein Mann wären da und hätten Kleider von Mrs. Mallow gebracht. »Bleib hier«, sagte ich zu Annabella. »Ich schaue zuerst mal nach.« Gemäß meinem Befehl hatte Polly die Haustür nur mit vorgelegter Kette einen Spalt geöffnet. Draußen warteten ein Mädchen und ein Mann, die einen mit Koffern und Schachteln beladenen Schubkarren vor sich stehen hatten. »Die Kleine da hat gemeint«, sagte der Mann und deutete auf das Mädchen neben ihm, »Mrs. Mallow könne ihre Sachen da sicher brauchen. Der Captain ist heut über Nacht fort, da haben wir sie halt hergebracht.« »Mrs. Mallow war immer so nett zu mir«, sagte das Mädchen schüchtern. Ich war gerührt von solcher Anhänglichkeit, öffnete die Tür und wies die beiden an, ihre Ladung in einer Ecke der Halle abzustellen. »Ich hole gleich Mrs. Mallow, damit sie Ihnen selber dankt.« Annabella lief freudig auf die beiden zu und gab ihnen die Hand. »Jimmy, Jenny, wie lieb und aufmerksam von euch!« »Ist doch klar, Madam«, sagte das Mädchen verlegen. »Das sind ja Sachen, die Sie brauchen.« Das stimmte. Annabella trug ihre alten Kleider, die ihr damals nicht gut genug erschienen waren, um sie in ihr neues Zuhause bei Tom mitzunehmen. Ich ging in die Küche, um diesen treuen Seelen ein kühles Bier und 121
Pastetchen auftischen zu lassen. Auch hatte ich vor, jedem fünf Shilling in die Hand zu drücken. Als ich die Tür, welche die Halle von den Wirtschaftsräumen trennte, schon hinter mir zuzog, fiel mir noch etwas ein und ich machte kehrt. Die Klinke in der Hand, hörte ich, wie der Mann zu Annabella sagte: »Da liegt noch was draußen im Karren, wovon wir nicht wissen, ob es der Madam gehört. Wenn Sie selber mal schaun wollen?« Mit einem Satz stand ich mitten in der Halle und schrie: »Annabella, nicht hinausgehen!« Aber es war zu spät, Annabella stand schon auf der Schwelle und hinter ihr, im Rahmen der Türöffnung, sah ich Toms Einspänner mit dem nervös tänzelnden Pferd. Der Mann packte Annabella bei den Oberarmen und schob sie vor sich her. Mit einem zweiten Sprung war ich hinter ihm und faßte ihn mit beiden Händen um den Hals. Er war so stark, daß er, Annabella vor sich und mich hinter sich herzerrend, seinen Weg fortsetzte. Schon stemmte ich mich gegen die Schwelle. Ich ließ los und setzte ihm die Daumen an die Schläfe. Ein kräftiger Druck mit den übrigen Fingern auf die Augen bewirkte, daß er aufstöhnend die Hände vors Gesicht schlug. Annabella kam frei und flüchtete sich ins Haus zurück. Ich gab dem Kerl einen Tritt in den verlängerten Rücken, so daß er mit Wucht nach vorn flog und gerade im richtigen Moment heftig auf Tom prallte, der ihm zu Hilfe kommen wollte. Ihre Benommenheit dauerte lang genug, um mir Gelegenheit zu geben, die Tür zuzuschlagen und mit Kette und Riegel abzusichern. Annabella preßte die Hände auf den Leib, als hätte sie Seitenstechen. »Das war wieder mal knapp«, keuchte sie. »Wie oft muß ich dir noch beweisen, daß er verrückt ist? Und hast du sein Gesicht gesehen, als er glaubte, er hätte mich geschnappt?« Nur zu gut hatte ich den irren Triumph in Toms Augen bemerkt, als sie auf Annabella gerichtet gewesen waren. »Du mußt mich ziehen lassen, ich habe Angst. Er wird nicht nachgeben, und einmal erwischt er mich doch. Wir können nicht immer Glück haben. Und wenn ich ihm in die Hände falle… Nein, ich wür122
de es nicht aushalten. Hatton, du mußt mir Geld geben. Wenn es dunkel ist, fahre ich nach Bywater und von da weiter nach Frankreich oder sonst wohin, wo er mich nicht findet. Er kann nichts gegen dich ausrichten, wenn ich nicht mehr bei dir bin.« In meiner Brust stürmte und tobte es. Überredete ich sie zu bleiben, und Tom brachte mich mit seiner Anklage ins Gefängnis, wie Mr. Steward prophezeit hatte, so war Annabella diesem Wahnsinnigen schutzlos preisgegeben. Das Risiko konnte ich nicht eingehen, Annabellas Sicherheit durfte nicht aufs Spiel gesetzt werden. Ich sah mich in der Halle um und sagte leise: »Wir fahren zusammen, Annabella?« »Nein!« schrie sie bestürzt auf. »Das darfst du nicht! Ich weiß, wie du an deinem Besitz hängst. Ich habe dein Leben ruiniert. Widersprich nicht, es ist die Wahrheit! Ich bringe dir nichts als Unglück und Schwierigkeiten.« Und dann sprach diese spröde, anscheinend nur mit sich selber beschäftigte junge Frau aus, was sie in all diesen langen Jahren ebenso gespürt hatte wie ich. »Du hast viel für mich getan, Hatton, aber von dir kann ich das annehmen. Du und ich, wir sind eins. Keiner von uns kann je mit einem anderen glücklich sein…« Entsetzt über den Abgrund, der sich durch ihre Worte vor uns auftat, hielt Annabella inne. Aber ich nickte ihr wehmütig lächelnd zu. Nun war ausgesprochen, was wir beide von jeher gewußt hatten: wir waren eine Person, durch irgendeine Laune des Schicksals in zwei Wesen gespalten. Und obwohl wir durch Erziehung und Geschlecht getrennt waren, konnte keiner ohne den anderen sein; und jeder Dritte war ein lästiger Störenfried. Die Einsicht kam spät, aber nicht zu spät. Natürlich unterschieden wir uns in dem einen oder anderen Punkt; während Annabella zeitlebens Richard, ihrer einzigen Liebe nachtrauern würde, traf es mich, daß ich unter dem Verlust von Old Vine bis in meine alten Tage würde leiden müssen. Aber das war nun nicht mehr wichtig. Vielleicht konnten wir einmal irgendwo zufrieden in der warmen Sonne sitzen, wie zwei alte Seeleute, in Sicherheit vor den Stürmen des Meeres. 123
Zwischenspiel Nachdem er seinen Entschluß gefaßt hatte, ging Hatton Follet sozusagen automatisch, der Gewohnheit langer Jahre gehorchend, zu Mr. Steward. Dieser nahm gleich wieder seine bedächtige Haltung ein. Er äußerte abermals seine Überzeugung, er sähe nur dann einen Ausweg, wenn Mrs. Mallow zu ihrem Ehemann zurückkehren und sich bemühen würde, dessen Zuneigung zurückzugewinnen. Captain Mallows Betragen sei seiner außergewöhnlich starken Gefühlsbindung zuzuschreiben. Hatton wollte nichts davon hören. Unvermittelt stellte er die Frage, wie er seine Liegenschaften in Baildon am besten veräußern könnte. »Aber lieber Freund«, wandte der alte Rechtsanwalt ein. »Sehen Sie nicht, daß Captain Mallow über das, was Sie vorhaben, sofort Bescheid weiß, wenn Sie Ihre Objekte öffentlich zum Kauf anbieten?« »Ich will sie nicht öffentlich, sondern unter der Hand verkaufen.« »Ein Haus wie Old Vine? Ihre Markthalle? Gut, die Mietshäuser mögen noch angehen. Von der Markthalle habe ich Ihnen schon immer abgeraten; ob Sie das Gebäude behalten oder verkaufen, Sie zahlen auf jeden Fall drauf. Mit Old Vine steht die Sache völlig anders. Eine gut formulierte Anzeige in einigen Londoner Tageszeitungen würde sicherlich Käufer anziehen, etwa wohlhabende Kaufleute aus den Kolonien, die ihren Lebensabend in der Heimat verbringen wollen. Aber ohne Annoncen und öffentliches Angebot? So können Sie es höchstens für den halben Preis an einen Roßhändler oder Handwerker losschlagen.« Dem entsetzten Hatton, der über den bevorstehenden Verkauf seines schönen Hauses todunglücklich war, bereitete die Vorstellung, ein Viehhändler könne darin ein und aus gehen, zusätzliche Qualen. »Es muß doch irgendeine Zwischenlösung geben«, murmelte er voller Ungeduld. 124
»Das ist nicht ausgeschlossen. Ich wollte Sie nur darauf hinweisen, wie nachteilig ein Verkauf unter der Hand für Sie sein könnte.« »Wie mir scheint, Mr. Steward, neigen Sie dazu, die Schwierigkeiten eines Auftrags zu hoch zu bewerten.« Mr. Stewards Wangen wurden um einige Farbtöne dunkler, als er entgegnete: »Und Sie hätten gut daran getan, Mr. Follet, wenn Sie meine Einwände ernst genommen hätten. Ich habe Ihnen von Ihrem Plan, eine Markthalle zu bauen, von jeher abgeraten. Und hätten Sie meinen ersten Rat, Mrs. Mallow zu ihrem Gatten zurückzuschicken, befolgt, so müßten Sie jetzt nicht das Land heimlich verlassen, wobei Sie übrigens das Delikt begehen, eine verheiratete Frau zu entführen…« Weiter kam er nicht. Hatton sprang auf und verließ wortlos die Kanzlei. Er begab sich schnurstracks zu Mr. George Turnbull, wo er auf jene tröstlichen Versicherungen und jenes Verständnis stieß, nach denen sein Herz sich sehnte. Annabella und Hatton verließen Baildon bei Nacht und legten die Verfügungsgewalt über ihre gesamte Habe in Mr. Turnbulls Hände. Wie er später schrieb, konnte er Hattons Besitz dann doch nicht so günstig verkaufen, wie er gehofft hatte. Natürlich bedaure er dies zutiefst, aber die Umstände… Die Stadtgemeinde, welche die Markthalle schließlich erwarb, und der Viehaufkäufer, der in Old Vine einzog, hatten allen Grund zur Zufriedenheit. Glücklicherweise war der Lebensunterhalt in Italien, wo die Geschwister Zuflucht suchten, überaus billig. Sie kauften eine kleine Villa an einem Hang über Florenz, wo sie ihre Tage in bescheidenem Wohlstand verbrachten. Sie hatten genug übrig, um eine ständig wachsende Schar streunender Hunde und lahmer Esel durchzufüttern. Die Einwohner des Dörfchens hielten die Geschwister für hochgradig exzentrisch, eine Eigenschaft, die alle Welt den Engländern zuschreibt und zugesteht. Annabella und Hatton lebten zurückgezogen und allem äußeren Anschein nach sehr glücklich in ihrem selbstgewählten Exil. Annabella starb mit zweiunddreißig Jahren an den Folgen einer Erkältung, die 125
sich ihr auf die Lunge geschlagen hatte. Obwohl Hatton nun der Weg nach England offen gestanden wäre, verspürte er nicht die geringste Lust, dorthin zurückzukehren. In Baildon brüstete sich Job Walker in schlecht verhohlenem Stolz, daß ihm seine Mittel erlaubt hatten, ein derartiges Herrenhaus zu erwerben. Aber als seine anfängliche Hochstimmung abflaute, entdeckte er, daß die Küche der einzige Platz inmitten der vielen Räume seines neuen Domizils war, wo er sich zu Hause fühlte.
126
Dritter Teil Lydia Walkers Geschichte (um 1850)
1
I
ch hasse die Eisenbahn. Wo und wann immer ich das sage, glauben die Leute, ich sei nicht ganz richtig im Kopf, und fragen mich: »Was hat dir denn die Eastern Union Railway getan, Lyddy? Hat sie dich nicht reich gemacht?« Gut, ich gebe zu, sie hat mir viel Geld eingebracht, aber was ist schon Geld? Für mich sind andere Dinge wichtiger, und dazu gehört Old Vine. Aber während ich oft und leicht aussprechen kann: »Ich hasse die Eisenbahn«, wollen mir die Worte: »Ich liebe Old Vine« nicht über die Lippen. Der Hass macht zornig und stark, wogegen einen das Geständnis, etwas zu lieben, rasch schwach und verletzlich erscheinen läßt. Vor allem dann, wenn der Gegenstand der Liebe ein altes Haus ist und man unter Leuten wohnt, die das Wort ›Liebe‹ nur benutzen, wenn sie mit jemandem ins Bett gehen wollen. Deswegen, und weil der Hass mir Kraft gibt, sage ich, ich hasse die Eisenbahn. Ich bin lediglich eine einfache Frau und halte mich an die schlichten Tatsachen. Mein Großvater war ein Viehaufkäufer, der mit seinem Handel viel Geld verdiente. Weil er seine alten Tage in Baildon verleben wollte, ersteigerte er Old Vine, wobei er alle anderen Interessenten überbot. Aber dann saß er doch nur in der Küche herum und benutzte die Hintertreppe, wie er es zeitlebens bei herrschaftlichen Häusern gewohnt war. Dann und wann, zur Mastviehausstellung oder zum Rindermarkt, ließ er das ganze Haus hell erleuchten und in allen Zimmern mächtige Feuer anzünden, um seinen Gästen, den ehemaligen Berufsgenossen, zu imponieren. Mein Vater, der Haus und Handel von ihm übernahm, behielt diesen Brauch ebenfalls bei. 128
Im Jahre 1830 wurde ich in Old Vine geboren, sehr zur Enttäuschung meiner Eltern, die einen Sohn erhofft hatten. Vor mir waren zwei Brüder nach wenigen Lebenswochen gestorben, und Vater bemerkte einmal: »Unkraut gedeiht, wo Stecklinge eingehen«, und obwohl die Worte nicht an mich gerichtet waren, fühlte ich doch, daß sie mich angingen. Er nahm mir nicht eigentlich übel, daß ich am Leben blieb, sondern bedauerte nur, daß seine Söhne nicht ebensoviel Lebenstüchtigkeit besessen hatten. Gott allein weiß, warum Mädchen Brechdurchfall und Masern überstehen, während die Knaben im Sarg hinausgetragen werden. Seit ich denken kann, lebte ich in zwei verschiedenen Welten. Die eine, alltägliche bot sich offen dar für jedermann, die andere hielt ich streng geheim. Auf der einen Seite lag die große, stets unaufgeräumte und doch so gemütliche Küche, in der Mutter ständig kochte und buk. Vater hielt viel auf gutes Essen, und die beiden Treiberburschen, die an unserem Tisch mitaßen, nicht weniger. Mutter war in einer Lehmhütte auf dem Lande aufgewachsen und betrachtete die große Küche von Old Vine als den herrlichsten Ort der Erde. Nie kam ihr in den Sinn, auch den restlichen Teil des Hauses in Besitz zu nehmen, und wenn wir ein Fest in den großen Zimmern des Vorderhauses gaben, saß sie schüchtern da wie eine Besucherin und sprach mit verhaltener Stimme. Ich hingegen fühlte mich im restlichen Teil von Old Vine zu Hause, seit ich das erste Mal die schwere Verbindungstür zwischen dem Vorderhaus und den Wirtschaftsräumen hatte aufmachen können. Was mich dort so magisch anzog, weiß ich nicht; vielleicht die zartfarbenen Tapeten und Vorhänge oder die Deckenbilder, die in einem Zimmer leichtgeschürzte Mädchen mit Lämmern, in einem anderen flöteblasende Knaben in einer Landschaft voller Blumen und Früchte zeigten. Ein drittes Zimmer war mit einem Fries geschmückt, der sich aus Harfen, Geigen, Flöten und anderen, mir unbekannten Musikinstrumenten und kunstvoll verschlungenen Bändern ergab. Sogar die Holzplättchen des Fußbodens waren zu einem vielzackigen Sternenmuster zusammengefügt. Und erst die Möbel! Großvater hatte einen Teil des ursprüngli129
chen Mobiliars mit dem Haus erstanden und hinzugekauft, was ihm auf Auktionen gefallen und ihm nicht zu teuer gedünkt hatte. Freilich paßte manches nicht zusammen, aber für mich war jeder einzelne der zierlichen Tische und Sessel mit seinen Klauenfüßen und den geschnitzten Muschel- und Rankenornamenten ein märchenhaftes Wunderwerk. Wie anders waren die klobigen Möbel, die wir tatsächlich benutzten, etwa der vierkantige Stuhl in der Küche, dessen Lehne und Sitzfläche erst von Großvaters und nun schon seit Jahren von Vaters derber Arbeitskleidung blankgerieben wurden. Fast alle kleinen Mädchen bauen Häuser zum Spielen, unter einem Tisch, in einem Heuschober oder auf dem Dachboden. Mir fiel das sagenhafte Glück zu, in einem richtigen Haus für mich allein spielen zu dürfen. Wenn man mich ungestört ließ, spielte ich stunden- und tagelang mit Freunden und Besuchern, die besser zu den Deckengemälden und seidenen Vorhängen passten als Vaters Kollegen, wenn sie mit gespreizten Knien steif und feierlich auf den gestickten Polstersesseln hockten. Meine Gäste wußten, wie man sich in einem solchen Haus benimmt. Zwei Freundinnen wohnten ständig bei mir in den Prachtzimmern, Lizzie und Ethel genannt. Obwohl ebenso wie die übrige Gästeschar meiner Einbildung entsprungen, waren sie für mich in gleicher Weise lebendige Wesen, wie etwa meine Mutter in der Küche. Lizzie war die gutmütigere und hübschere der beiden, Ethel war etwas älter und sehr auf tadellose Manieren bedacht. Wenn es mir gelang, heimlich etwas Kuchen und Himbeersaft aus der Küche zu schmuggeln, hielten wir zusammen ein Festmahl. Natürlich war ich es, die letzten Endes die Leckereien vertilgte, aber das störte mich nicht im mindesten. Kinder kennen Wirklichkeiten, von denen die Erwachsenen nichts ahnen, weil sie ihre eigenen Träumereien längst vergessen haben. Ich habe nichts vergessen, aber ich bin keine Mutter. Und ob ich eine gute Mutter geworden wäre, ist die Frage. Eine Mutter hat mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Wirklichkeit zu stehen. Hätte meine Mutter von der Existenz meiner Freundinnen gewußt, sie wären mir gleich weniger lieb gewesen. Solange ich klein war, spielte ich nur im Vorderhaus. »Lauf mir nicht 130
dauernd vor den Füßen herum«, schalt mich Mutter, wenn sie beschäftigt war, und nur zu gerne verschwand ich nach vorne, wo mich keiner störte. Als ich auf Zehenspitzen an das Tellerbord in der Küche hinaufreichte, sagte Mutter eines Tages: »Wenn du dich schon andauernd vorne herumtreibst, kannst du auch mal ein Staubtuch nehmen und das Gröbste abwischen.« Das gefiel mir ebenso gut wie das Besucherspiel. Jetzt bereitete ich das Haus auf eine Party vor. Zum Schluß wischte ich nicht nur Staub, sondern putzte die Fenster und bohnerte den Fußboden, während mir Lizzie und Ethel zusahen. Als ich um die zwölf Jahre alt war, fiel es mir wie Schuppen von den Augen, daß ich ebenso wenig in den vornehmen Rahmen paßte wie meine Eltern mit ihren Freunden. Ich saß genauso deplaciert auf dem Stuhl, riß den Mund beim Lachen ebenso weit auf und redete den gleichen Dialekt, der unter Viehhändlern üblich ist. Ich wartete deshalb, bis Vater einmal gutgelaunt bei Tisch saß, und bat ihn: »Ich möchte gern zur Schule gehen.« »Du meine Güte«, sagte er überrascht. »Wozu das?« »Um lesen und schreiben zu lernen.« Ich konnte nicht gut sagen, um so sprechen zu lernen wie die Mädchen aus gutem Hause. »Und was haste nachher davon?« fragte er mit vollem Mund. »Stopfst dir den Schädel mit lauter Unsinn voll und kostest mich einen Haufen Geld.« Zu meiner Verwunderung ergriff Mutter meine Partei. »Fred Clopton schickt seine Mädels zu Miss Brooks in die Töchterschule. Was der kann, kannst du schon lange.« Mr. Clopton war ein Bauer, mit dem Vater häufig Geschäfte machte. »Möglich«, brummte Vater. »Ist aber doch was anderes. Die Cloptons sitzen schon ewig auf Clevely.« »Einmal muß jeder anfangen.« »Soll jeder bei seinen Leisten bleiben. Wie schon mein Vater sagte, als er das Haus gekauft hatte: ›So, das gehört mir, aber es soll mir keiner sagen, daß ich mir was drauf einbilde‹. Und recht hatte er, was sollen wir die feinen Herren spielen.« 131
»Du spielst doch nicht den feinen Herrn, wenn du deine Tochter zur Schule schickst. Soll sie doch lernen, wenn sie Lust hat. Vorige Woche erst hast du gesagt, wenn du schreiben könntest, würdest du dem alten Toby Backhouse einen Brief verpassen, den er sich nicht hinter den Spiegel steckt. Schick das Mädel ein Jahr zu Miss Brooks, und sie schreibt, was du ihr sagst.« »Hör endlich damit auf!« knurrte Vater sie an. »Und lass mich in Ruhe essen!« Aber der Gedanke machte ihm doch zu schaffen, denn nach etwa zehn Tagen kam er abends heim mit seinem Schlechtwettergesicht. Wenn seine Stirn Falten zeigte und er die Mundwinkel einkniff, wußten wir, daß er Ärger gehabt hatte: die Preise waren gefallen oder ein Tier war erkrankt. Mutter und ich schlichen dann auf Zehenspitzen herum. Vater war sonst durchaus kein Familientyrann, nur wenn er schlecht gelaunt war, konnte man ihm nichts recht machen. Redeten wir, so fuhr er uns an: »Haltets Maul!« und schwiegen wir daraufhin, dann schimpfte er nach einer Weile: »Was macht ihr wieder für saure Gesichter.« Auch das Essen schmeckte ihm an solchen Tagen nicht. Wir nahmen die Hauptmahlzeit am Abend ein, wie es in den besseren Kreisen üblich ist, aber in Wahrheit ergab sich bei uns das aus Vaters Gewerbe. Tagsüber war er meist unterwegs und kam dann abends zwischen sechs und sieben nach Hause. An jenem Tag hatte Mutter seine Lieblingsspeise gekocht, Ochsenfleisch, Karottengemüse und Klöße, wie nur Mutter sie zu machen verstand: außen flockig und mit brauner Bratensoße Übergossen, innen weiß und flaumig wie eine Feder. Vater schaute auf den Teller, als läge Froschlaich darauf, kostete einmal davon und stellte dann den Teller auf den Fußboden. »Da haste, Nip«, sagte er zu dem Collie, den niemand von uns, nicht einmal ich, streicheln durfte. Mutter schaute, dem Weinen nahe, vor sich hin. Eine Zeitlang vernahm man kein anderes Geräusch als das Schmatzen Nips, wie er die Mahlzeit verschlang. Die Treiberbuben, die sonst am Tisch mitaßen, waren an diesem Tag zufällig noch mit 132
einem späten Auftrag beschäftigt, sonst hätte man sie ebenso laut gehört wie Nip. Schließlich räusperte sich Vater und sagte zu mir: »Die Schule kannste dir aus dem Kopf schlagen, Lyddy. Ich habe Miss Brooks gefragt, aber die verdammte alte Schachtel will keine Viehhändlerstochter in ihrem feinen Laden haben.« »Jack Walker«, rief Mutter in einem Ton, den sie nur höchst selten ihm gegenüber anschlug. »Was willste denn? So is es doch. Hättste dir wohl auch denken können.« »Miss Brooks hat es bestimmt nicht so gesagt.« »So freilich nicht«, lenkte Vater ein. »Sie sagte, sie hätte keinen freien Platz. Was braucht unsere Lyddy schon Platz? Ein Stückchen Tisch, den Hocker hätte sie von zu Hause mitbringen können. Ich weiß sehr gut, was Miss Brooks damit meinte.« »Nimm's nicht schwer, Lyddy«, tröstete mich Mutter. Aber natürlich ließ ich den Kopf hängen. »Wir gehören halt nicht zu denen, merk dir's. Sei zufrieden, daß du genug zu essen und ein warmes Bett zum Schlafen hast. Die Flausen schlag dir aus dem Kopf. Und iß jetzt endlich auf.« Ich würgte das Essen in mich hinein. Hätte ich bloß auch meinen Teller vor Nip hinstellen können! Das Fleisch schmeckte wie ein alter Stiefel, die Klöße waren schwer wie Gips. Ja, war es denn ein solches Unglück, die Tochter eines Viehhändlers zu sein? Vater war ein rechtschaffener Mann und behandelte die Tiere gut. Niemals gab er ihnen vor dem Markt drei Tage lang salziges Heu zu fressen und ließ sie dann in letzter Stunde saufen, was in sie hineinging, damit sie ein paar Kilo mehr auf die Waage brachten. Er war auch stets darauf bedacht, kranke Tiere von den übrigen abzusondern, um Seuchen zu verhüten, und verkaufte sie erst, wenn sie wieder gesund waren. Ich blickte über den Tisch zu Vater hinüber und versuchte zu lächeln. »Jedenfalls vielen Dank, Vater«, sagte ich. »Du hast es wenigstens versucht.« Und dann schluckte ich und log: »Es macht mir auch gar nichts aus.« 133
»Bist halt meine Tochter.« Er blickte mich stolz mit seinen dunklen Augen an. Und nach einer Minute fragte er Mutter: »Ruth, haste noch 'nen Kloß übrig?« »So viel du willst. Auch Fleisch ist genug da, die Burschen kommen ja auch noch.« »lass sie kommen. Gib 'nen sauberen Teller her.« Die Welt war wieder im Lot. Da hatte sich mein bärbeißiger Vater tatsächlich meinethalben so gegrämt!
Nicht lange danach hatte ich ein merkwürdiges Erlebnis. Ich habe noch nie davon erzählt, und so weiß ich nicht, was andere Leute davon halten. Es ist passiert, obwohl ich andererseits wieder ganz sicher weiß, daß so etwas nicht passieren kann. Zwei oder drei Tage vor dem großen Viehmarkt trug mir Mutter auf, das Vorderhaus zu putzen. Bei unseren Festen benutzten wir stets zwei der großen Zimmer. Im Esszimmer wurde aufgetragen, und im Salon, den wir anschließend aufsuchten, wurde Tee und Kuchen serviert. Mutter sagte zu mir, ich solle gründlich lüften und in den Zimmern ein großes Feuer machen. Die Absage von Miss Brooks saß mir noch so in den Knochen, daß ich vergaß, Lizzie und Ethel herbeizurufen. Oder war ich beleidigt und wollte ich heute nichts von ihrem feinen Getue wissen? Ich schleppte Kienspäne und Holzscheite herbei; Viehhändlers Tochter richtete die Zimmer für den Besuch von Rindvieh- und Pferdehändlern her. Hier würden sie sitzen, sich auf die Schenkel schlagen und wiehern vor Gelächter, wenn einer einen Witz erzählte. Und dann die endlosen Palaver über eine verkaufte Kuh, wie schwer sie wog, wie oft sie gekalbt hatte, wieviel sie eingebracht und wer sie gekauft hatte und so fort. Und in einer Ecke war mein Platz, dort würde ich sitzen mit dem bohrenden Gefühl, daß keiner von uns, ich ebenso wenig wie alle anderen hier, in dieses Haus gehörte. Ich kniete vor dem Kamin im Salon und blies das Feuer an, das heute 134
nicht brennen wollte. Es glomm und flackerte, als ich merkte, daß Lizzie und Ethel in der Nähe waren und mich zum Spielen aufforderten. Zum ersten Mal erfasste ich mit dem Verstand, daß sie unmöglich im Zimmer sein konnten, und doch spürte ich deutlich ihre Nähe. »Haut ab, alle beide!« sagte ich laut. »Es ist vorbei. Euch hätte Miss Brooks bestimmt nicht fortgeschickt, mich wollte sie nicht haben. Schaut, daß ihr rauskommt! Ihr könnt lesen und schreiben und euch in Gesellschaft benehmen. Ich bin keine Freundin für euch.« Hatte ich mich bisher bemüht, ihre feinen Redensarten nachzuahmen (manchmal hörte ich auf der Straße oder im Laden, wie sich Damen miteinander unterhielten), so sprach ich jetzt, wie mir der Schnabel gewachsen war. Und genauso hell und deutlich wie den Stundenschlag der Marienkirche hörte ich Lizzies Stimme: »Mein Großvater hat mich lesen gelehrt«, und Ethel flüsterte von ferne: »Ein alter Priester hat mir Unterricht gegeben.« Ich hörte nicht auf sie, sondern beugte mich weit vor, um das schwelende Feuer anzufachen. Ich hatte keinen Großvater und kannte keinen Priester. Was sollte das Gerede? Ich kam zu mir, als Mutter mich an den Schultern rüttelte. Das Zimmer war voller Rauch und meine Hände waren rußig. Mutter riß die Fenster auf und rief aufgeregt, der Kaminfeger müsse endlich ins Haus. Mir war schlecht, wie betrunken wankte ich in mein Zimmer und legte mich eine Weile aufs Bett. Der Rauch war also schuld an der Erscheinung. Übrigens ließen Ethel und Lizzie nie wieder von sich hören. Ich hatte sie mit groben Worten fortgeschickt, was sie mir anscheinend verübelten. Und wieder stellte ich mir Damenkränzchen und Teegesellschaften vor, wenn ich mit dem Staublappen über die geschwungenen Sesselkanten strich oder den Parkettfußboden bohnerte. Aber diesmal war ich erwachsen und verheiratet mit einem Mann, der nicht mit aufgekrempelten Hemdsärmeln am Küchentisch lümmelte, sondern in eleganter Kleidung am Kamin lehnte oder abends im Musikzimmer in einem Buch blätterte. Ein Buch… war es denn so schwer, lesen zu lernen? Wieder ging mir 135
durch den Kopf, was Ethel und Lizzie vor ihrem Verschwinden im raucherfüllten Zimmer gesagt hatten. Und eines Tages, als Vater mir einen Shilling spendiert hatte – in guter Laune konnte er sehr freigiebig sein –, betrat ich einen kleinen Laden in der Innenstadt, wo ein alter Mann namens Tom Rigby irdenes Geschirr und Weidenkörbe, aber auch Schiefertafeln und Griffel, Papier und Bleistifte feilhielt. Er verkaufte sogar Bücher. Rigby gehörte als Laienprediger zu den wenigen Leuten, die fließend lesen und schreiben konnten. Ich legte meinen Shilling auf die Theke und bat um ein Buch, aus dem ich lesen lernen könne. »Das gibt es nicht, Lyddy«, lachte er. »Ich habe keine Lehrer auf Lager.« »Da sind doch Bücher?« »Was willst du mit Büchern anfangen? Schau her!« Er schlug eine Fibel vor mir auf, die auf jeder Seite ein Bild zeigte. Oben in der linken Ecke stand ein großes rotes Zeichen, darunter ein kleineres schwarzes, das manchmal ähnlich, oft aber auch ganz anders aussah. Das erste Bild zeigte einen Apfel, das zweite einen Ball, das dritte ein Cembalo, das vierte einen Dachs und so weiter. »Na?« holte mich Mr. Rigby aus meinem Grübeln. »Bist du schlauer geworden?« Ich überlegte. »Sind die Dinger da die Buchstaben? Oder bedeuten sie den Namen?« Wenn man das Wort Apfel durch ein rotes und ein schwarzes Zeichen ausdrückte, war mein Vorhaben wohl mühsamer, als ich geahnt hatte. »Das mit den Buchstaben war richtig, Lyddy. A für Apfel, ein kleines und ein großes A. Aber das hättest du allein nie herausgekriegt, nicht wahr? Das meinte ich, wenn ich sagte, du brauchst einen Lehrer dazu.« Er zog ein anderes Buch aus der Reihe. Ich sah Linien und Schlaufen, ähnlich einem zu Boden geworfenen Springseil. »So muß man schreiben«, erklärte Mr. Rigby. »Geschriebenes sieht ganz anders aus als das Gedruckte in den Büchern. Siehst du, dazu braucht man noch ein Heft und schreibt das hier fein sauber ab. Vier 136
Pence kostet ein Buch. Und viele würden dir jetzt acht Pence abknöpfen und dich mit den Büchern nach Hause schicken, wo du nichts mit ihnen anfangen könntest.« »Das wäre Beschiss.« Dieses Wort für Betrug war auf unserem Hof nicht selten zu hören. Mr. Rigby lächelte ein wenig spöttisch. »Ich will dir mal was sagen. Wenn ich nicht viel zu tun habe, kannst du zu mir herkommen, und ich erkläre dir's ein bißchen.« »Wann haben Sie nicht viel zu tun, Mr. Rigby?« »Um sieben mache ich Schluß. Danach magst du kommen.« »Sie sind sehr freundlich, Mr. Rigby«, dankte ich und fuhr, als ich mich daran erinnerte, daß er Laienprediger war, fort: »Wie der gute Samariter. Mir paßt die Zeit ausgezeichnet, um sieben bin ich gerade mit dem Abwasch fertig.« Ich bezahlte die Bücher und rannte nach Hause, um Mutter den neu erworbenen Schatz zu zeigen. Sie war von Mr. Rigbys Angebot, mich zu unterrichten, nicht so begeistert, wie ich erwartet hatte. »Nach sieben ist es dunkel. Das muß Vater bestimmen. Aber ich glaube nicht, daß er dich bei Dunkelheit aus dem Haus läßt.« »Ich laufe ganz schnell. Dann sind es keine fünf Minuten.« »Wir warten ab, was Vater sagt.« Beim Abendessen trug Mutter mein Anliegen vor. Vater lehnte sich zurück. Diesmal saßen auch die beiden Treiberburschen mit am Tisch und schmatzten geräuschvoll beim Hammeleintopf. Ich ging beiden aus dem Weg, wenn auch Jack Plant mit seinen blauen Augen und dem offenen Gesicht besser aussah und auch nicht so grob war wie der andere, der Freddie Baker hieß. Vater hakte genau dort ein, wo Mutter es vorausgesagt hatte: »Mir wäre lieber, wenn du bis zum Sommer wartest, bis die Abende hell sind. Jedenfalls war es nett vom alten Tom. Wenn wir das nächste Mal schlachten, bringst du ihm eine fette Schweinsrippe.« »Aber ich fürchte mich nicht im Dunkeln.« »Mag sein. Aber ich dulde nun mal nicht, daß meine Tochter bei Nacht in den Gassen herumstreunt.« »Warum nicht?« Meine Oberlippe begann zu zucken. 137
Vater blickte mich finster an. »Weil ich's nicht haben will. Schluß damit!« Jack Plant wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und fragte zögernd: »Mr. Walker?« »Was ist?« »Wenn es Ihnen recht ist, könnte ich Lyddy abends hinbringen und wieder abholen.« Jack stotterte ein wenig, wenn er aufgeregt war. Vaters Blick verriet weniger Ärger als Nachdenklichkeit. »Von mir aus denn«, willigte er schließlich ein. »Aber eines lass dir gesagt sein, Jack. Daß du mir genauso nüchtern heimkommst, wie du fortgegangen bist.« »Darauf können Sie sich verlassen, Mr. Walker.« »Wir werden sehen.«
Später entschuldigte sich Vater nahezu, daß er mir nicht angeboten hatte, mich zu Mr. Rigby zu begleiten. »Aber wenn ich mal aus den Stiefeln bin und den Hintern auf dem Stuhl habe, bringen mich keine zehn Pferde noch mal hoch.« Das konnte ich gut verstehen. Vater war den ganzen Tag unterwegs, meist zu Pferd, aber er mußte außerdem auch noch viel auf den Beinen sein, und abends schwollen davon seine Füße oftmals dick an. Nie kam mir der Gedanke, daß Jack Plant genauso viel, wenn nicht noch mehr gelaufen war. Er war siebzehn oder achtzehn und hatte einen wippenden Gang, als ob er Stoßfedern in den Fersen trüge. Den ganzen Winter über ging ich von nun an zweimal wöchentlich zu Mr. Rigby. Sobald ich erfasst hatte, daß man die Namen der Buchstaben beim Lesen anders ausspricht, hatte ich kaum noch Mühe damit. Das Schreiben fiel mir schon schwerer. Ich schrieb die Aufgaben zunächst auf eine Schiefertafel mit einem Griffel, bei dessen Quietschen es mir kalt über den Rücken lief. Aber erst wenn ein Satz fehlerlos auf der Tafel stand, erlaubte mir Mr. Rigby, ihn ins Heft zu übertragen. 138
Im Januar feierte ich den dreizehnten Geburtstag. Ich bekam gleich zwei neue Kleider, da mein Körper aus den alten herausgewachsen war. Erschrocken stellte ich fest, wie er sich an mehreren Stellen wölbte und rundete, und nahm mir fest vor, weniger zu essen. Mutter lachte mich nur aus. »Stell dich nicht so an. Das geht jedem Mädchen so.« Ein karger Trost für mich, die ich es immer darauf anlegte, nicht wie alle anderen zu sein. Immer noch hielt ich mich für etwas Besseres, auch wenn mich Ethel und Lizzie im Stich gelassen hatten. jedes Mal wenn ich zu Mr. Rigby ging, schickte Mutter ihm einen Leckerbissen mit: ein Stück Kuchen, ein paar Würste oder eine dicke Schnitte kalten Bratens. Nach einer Stunde Unterricht machten wir eine kurze Pause, in der wir eine Kleinigkeit aßen. Mr. Rigby war seit langen Jahren Witwer. Die Töchter waren längst verheiratet und wohnten auswärts. Er war stolz auf seine Kochkünste und bot mir, seit ich einmal seine Haferplinsen gelobt hatte, immer wieder kleine Leckereien an, die ich zunächst dankbar verzehrte, später aber ablehnte, um nicht noch dicker zu werden. Einmal fragte er im Spaß, ob ich denn verliebt sei, weil ich nichts äße? Ich schaute ihn verständnislos an. Ich war doch erst dreizehn. Verliebt sein hieß für mich einem jungen Mann aus den besseren Kreisen mein Interesse zuzuwenden, der mich heiraten und mit mir in die Vorderzimmer von Old Vine ziehen würde. Nur seinetwegen bemühte ich mich jetzt schon, Lesen und Schreiben zu lernen und mich wie eine junge Dame zu benehmen, wenn das auch noch nicht immer glückte. Aber dann würde ich leise reden und mit geschlossenem Mund essen und beim Lachen mich nicht mehr rücklings in den Stuhl werfen, so daß sämtliche Zähne sichtbar wurden. Wir würden Kinder haben und die Buben auf die Oberschule, die Mädchen aber zu Miss Brooks in die Töchterschule schicken. So sah für mich die Liebe aus! Meine Zukunft lag so offen und in allen Einzelheiten vorausgedacht vor mir wie… ja nun… wie meine ehemalige Freundschaft mit Lizzie und Ethel. Aber das konnte ich dem alten Herrn natürlich nicht eingestehen. Auch als die Abende länger wurden, holte mich Jack Plant weiterhin 139
vom Unterricht ab. Ich wußte, daß er die Gelegenheit nutzte, um in der Wirtschaft Rose and Crown ein oder zwei Glas Bier zu trinken. Vater war sehr streng und erlaubte den Treiberburschen nur am Wochenende auszugehen. Aber Jack Plant hielt Wort. Sein Atem roch nach Bier, aber er war genauso nüchtern, wenn er mich abholte, wie zwei Stunden zuvor. Der Juni brach an, und mit ihm kamen die heißen Tage. Ich hatte ein neues Sommerkleid bekommen, hellgelb mit weißen Röschen und grünen Blättern und weißen Volants am Ausschnitt und an den Ellenbogen. Als ich es zum ersten Mal anzog, hielt Mutter mir eine ihrer ›Damals zu meiner Zeit‹-Reden. Ihr Vater, ein Schäfer von Beruf, hatte neun Kinder großgezogen. Ihr erstes neues Kleid erhielt sie zur Hochzeit, und das auch nur, weil mein Vater es bezahlt hatte. »Ja, ja«, erwiderte ich ungeduldig. »Ich weiß schon, ich hab's gut und muß dankbar dafür sein.« Mir lag mehr daran, daß meine Aufgaben richtig waren, als an meinem neuen Kleid. Zur gewohnten Stunde schlug ich allein den Weg zu Mr. Rigby ein. Jack würde mich später abholen. Mutter und ich hatten den Tag damit zugebracht, die Erdbeeren einzukochen, die hinter dem Haus auf einem großen Beet wuchsen. Ich trug einen Topf noch warmer Erdbeermarmelade für meinen Lehrer in der Hand. In der Stube hinter dem Laden, wo wir gewöhnlich unsere Stunden abhielten, wartete er schon auf mich mit aufgeschlagenem Schreibheft. Zunächst diktierte er mir einen kurzen Text auf die Tafel, ließ mich zwei Fehler ausbessern und die Sätze dann ins Heft übertragen. Als mir das fehlerlos gelang, klopfte er mir auf die Schulter und lobte: »Du bist ein tüchtiges Mädchen. Die Wissenschaft geht in dich rein wie Wasser.« Ich war stolz, daß er mit mir zufrieden war, mochte aber nicht, daß er mich anrührte. In letzter Zeit blieb seine Hand immer wieder mal auf meiner Schulter liegen. In unserer Familie gab es keine Zärtlichkeiten, nicht einmal Nip, der Hund, wurde jemals gestreichelt. Vater wäre jederzeit mitsamt den Stiefeln in den Fluss gesprungen, um Nip herauszuholen, aber ihn streicheln? Und wenn Mutter einmal 140
die Hand auf meine Stirn legte, so nur, um festzustellen, ob ich Fieber hatte. Dennoch duldete ich die Liebkosungen von Mr. Rigby. Er war ja so freundlich und hatte mir so vieles beigebracht. Ich blickte auf seine Hand. Die Haut war vertrocknet und mit vielen kleinen braunen Flecken übersät. »Wenn du schon nichts essen magst, Lyddy«, redete er weiter, »willst du an diesem heißen Abend wenigstens nicht etwas trinken? Ich habe hausgemachten Brombeerwein.« Mutter setzte zu Hause jedes Jahr Kräuter und verschiedene Beerensäfte zum Gären an, von denen ich ab und zu ein halbes Gläschen zu trinken bekam. Brombeermost mochte ich am liebsten. Es wunderte mich zwar ein wenig, daß Mr. Rigby als Laienprediger ein so weltliches Getränk wie Brombeerwein genoß, aber ich ließ zu, daß er mein Glas voll schenkte. Ich hatte Durst und trank das Glas in einem Zuge leer. Obwohl der Most weniger süß und doch schwerer war als der von Mutter, nahm ich noch ein zweites Glas, das ich allerdings langsamer leerte. Bald machten sich sonderbare Veränderungen meines Befindens bemerkbar: Mein Kopf schien anzuschwellen und fühlte sich hohl und leer an wie eine aufgeblasene Schweinsblase. Dann begann das Zimmer sich zu drehen, schneller und immer schneller um mich herum. Als ich Mr. Rigby ansah, hatte er sich verdoppelt, so daß zwei Mr. Rigbys, die nahtlos ineinander überflossen, mir zulächelten. Seine Stimme kam von weit her, als er sagte: »Jetzt machen wir weiter mit Lesen.« Ich dachte bei mir: Na, das kann heiter werden. Die Wörter und Zeilen tanzten wild vor meinen Augen auf und ab, und mir wurde sehr heiß. Mr. Rigby setzte sich, wie er es immer tat, dicht zu mir, um über meine Schulter den Text mitzulesen. Auf einmal legte er mir den Arm um den Rücken und griff unter meiner Achsel hindurch nach einer meiner kleinen Brüste, die er knetete und quetschte, als wolle er sie melken. In mancher Hinsicht war ich mit dreizehn noch so unschuldig wie ein fünfjähriges Kind. Wenn Vater fluchte, benutzte er nur deftige, aber 141
nie obszöne Wörter. Mutter wußte als Schäferstochter über manches Bescheid, war aber viel zu verschämt, um mich aufzuklären. So hatte mein Verstand, oder was nach dem Brombeerwein davon noch übrig war, keine Ahnung, was Mr. Rigby von mir wollte, während mein Körper es nur zu gut zu wissen schien. Einen Augenblick lang saß ich wie erstarrt in einer heißen Welle da, dann sprang ich auf, um hinauszulaufen, das heißt, ich wollte laufen, aber mein Kopf dröhnte wie eine Glocke, und meine Knie knickten unter mir ein, so daß ich hingefallen wäre, hätte ich nicht im letzten Moment die Klinke erwischt. Mr. Rigby kam mir nach und faßte mich am Arm. »Nun komm schon. Mach kein Theater. Was ist denn passiert? Setz dich und lies weiter.« Ich hielt mich an der Tür fest, außerstande, etwas zu antworten. Mr. Rigby baute sich drohend vor mir auf. »Wenn du deinem Vater Unsinn erzählst, lasse ich die ganze Stadt wissen, was du auf dem Heimweg mit dem jungen Plant treibst.« Ich und Jack Plant? Was trieben wir? Er wartete auf mich vor dem Haus und fragte höchstens einmal: »Na, Lyddy, wie war's heute in der Stunde?« »Schön«, sagte ich dann wohl und erkundigte mich höflich: »Und was hast du getan?« »Zwei Penny gewonnen« oder »Zwei Penny verloren«, sagte Jack, wenn er im Wirtshaus gewürfelt hatte. Danach schwiegen wir meist, bis wir zu Hause angelangt waren. Ich konnte mir nicht vorstellen, was Mr. Rigby mit seiner Drohung meinte. Allmählich sah ich wieder deutlicher und kriegte endlich die Tür zum Laden auf. »Daß du mir ja den Mund hältst, verstanden!« rief Mr. Rigby hinter mir her. Ich schüttelte mich vor Ekel. Wie hätte ich jemand von dieser Demütigung erzählen können? Wie eine Kuh hatte er mich behandelt. Ich blieb stehen und sagte: »Ich werde niemandem was davon sagen, es ist viel zu abscheulich.« Dann war ich draußen auf der Straße. Obwohl ich eigentlich erst in einer halben Stunde hätte kommen sollen, lehnte Jack Plant schon an der Mauer. Er sah mich überrascht an. 142
»Du bist früh fertig heute.« »Du bist ja auch schon da.« Ich holte tief Atem. Mein Kopf pochte noch, aber ich konnte wenigstens wieder normal reden. »Ich bin oft früher da, wenn mir das Geld ausgegangen ist. Wo sind deine Bücher? War heut keine Stunde?« Da erst fiel mir ein, daß ich alles auf dem Tisch hatte liegenlassen. »Es war meine letzte Stunde, Jack«, erklärte ich. »Ich weiß jetzt alles, was Mr. Rigby selber kann. Von jetzt an werde ich allein weiterlernen. Und außerdem habe ich Kopfweh.« »Ist ja eine Wucht, was du alles kannst«, sagte Jack bewundernd. Ein wenig später setzte er hinzu: »Dann ist es das letzte Mal, daß ich dich heimbringe?« Er schien bedrückt, und ich vermutete, er bedaure sicherlich die Gelegenheit, eine Stunde im Wirtshaus zu sitzen, ohne daß Vater darüber schimpfte. Ich sagte: »Vater weiß jetzt, daß er dir trauen kann. Du hast kein einziges Mal einen Tropfen zu viel getrunken.« »Daran hab' ich nicht gedacht, Lyddy. Ich bin alt genug und wenn ich ins Wirtshaus will, lasse ich mich von keinem zurückhalten, nicht mal von deinem Vater. Wenn ich vor dem Laden des alten Rigby herumgetrappst bin, dann nur, um dir einen Gefallen zu tun.« »Ich danke dir auch vielmals, Jack.« »Na ja, jetzt ist's vorbei. Du bist noch ein kleines Mädchen, Lyddy, aber merk dir's für später: Hier vor dir steht ein Bursche, der hundert Meilen zu Fuß laufen würde, um dir einen Gefallen zu tun. Wirst du dich in zwei oder drei Jahren noch dran erinnern?« »Natürlich, Jack. Das vergesse ich dir nie.« Ich überlegte kurz. »Wenn du willst, kannst du mir morgen schon einen Gefallen tun. Wo geht ihr hin?« »Nach Bury.« »Gibt es dort Läden?« »Jede Menge. Was möchtest du haben?« »Wenn ich dir das Geld gebe, könntest du für mich ein Schreibheft und den vierten Band des ›Lesebuches für Kinder‹ besorgen?« Der dritte Band war auf Mr. Rigbys Tisch liegen geblieben. 143
»Lesebuch für Kinder, vierter Band. Und ein Schreibheft«, wiederholte Jack. »Sag mal, warum kaufst du's nicht bei dem Alten?« »Ich weiß nicht. Vielleicht ärgert er sich, wenn er sieht, daß ich weiterkommen will als er selber.« Als ich den Eltern berichtete, ich wüsste nun so viel wie Mr. Rigby und brauchte nicht mehr zur Stunde (von Kopfweh zu reden war nicht mehr nötig), lachte Mutter stolz, und Vater klatschte sich auf die Schenkel. Er sagte fast dasselbe wie Jack: »Ist ja eine Wucht, Mädchen!« Von da an setzte ich meine Studien allein fort. Wie ein Ball nach dem ersten Anstoß allein den Berg hinunterrollt, so fiel mir das Lernen immer leichter, nachdem ich einmal in Fahrt war. Ehe das Jahr um war, konnte ich fließend lesen und schrieb eine lesbare Handschrift. Allerdings… es muß gesagt werden, wenn es mir auch noch so schwer fällt, es ergaben sich auch Missklänge. Jeder, der auf irgendeine Weise aus seiner Umgebung herauswächst, muß erfahren, wie er sich eben dadurch dieser entfremdet. Gewiß war Vater froh, wenn ich ihm mit einem Brief einen Weg ersparte. Versuchte ich jedoch, die Meinen an den Gedanken teilhaben zu lassen, die ich in den Büchern fand – und ich verschlang alles, was mir an Gedrucktem in die Finger kam –, so starrte mich von allen Seiten her blanke Verständnislosigkeit an. Mutter zuckte mit den Achseln und murmelte etwas von »War doch bisher auch alles in Ordnung«, und Vater knurrte mich nach einigen schüchternen Anläufen zur Konversation an: »lass mich in Frieden mit dem neumodischen Zeugs, ich bin müde«, und gähnte dabei mit sperrangelweit geöffnetem Mund. Von da an schwieg ich. Es war mein Vater, ich aß sein Brot und hatte sein Dach über dem Kopf, auch wenn wir uns nichts mehr zu sagen hatten. Hätte mich im Alter von vierzehn, fünfzehn Jahren jemand angeleitet, grammatikalisch richtig zu sprechen und mich damenhaft zu benehmen, vielleicht wären meine hochfliegenden Pläne Wirklichkeit geworden. Aber so träumte ich von einer Festtafel mit Kerzenschimmer und Silberbesteck, während ich mit aufgestützten Ellenbogen meine Suppe am Küchentisch schlürfte. 144
Mit der Zeit wuchs mein Aufgabenbereich; neben dem Vorderhaus kümmerte ich mich jetzt auch noch um den Garten. In meiner Freizeit, versteht sich, nach meiner Tagesarbeit in der Küche oder am Waschbrett. In den Stunden, die andere Mädchen damit zubringen, ihr Haar in Locken zu wickeln und mit Burschen herumzuziehen, jätete ich Blumenrabatte und hielt die Ausläufer der Erdbeerpflanzen in Schach, oder ich putzte und wienerte die geliebten Sesselchen und Tische mit den Klauenfüßen. Die Jahre zogen dahin, und immer noch zeigte sich keinerlei Wende in meinem Schicksal. Ich wußte, nur ein Wunder konnte mir helfen, aber ich hatte Zeit. Hin und wieder machte mir der eine oder andere Bursche aus Vaters weitläufiger Bekanntschaft schöne Augen, aber natürlich kamen sie für mich nicht in Betracht. Die Schüchternen lachte ich aus, die zudringlicheren Verehrer vergraulte ich. Mutter meinte manchmal, sie werde wohl nicht mehr sehr lange leben und sähe mich deshalb gern noch vor ihrem Tod versorgt. Aber in der nächsten Minute jammerte sie, sie wisse nicht, was sie ohne mich in dem großen Haus und bei dem ständigen Gekoche anfangen solle. Die Wechseljahre machten ihr schwer zu schaffen, aber danach lebte sie noch lange Jahre bei bester Gesundheit. Mit achtzehn blühte ich auf, wie jedes Mädchen dieses Alters. Eine Schönheit war ich sicherlich nicht, aber ich war schlank gewachsen, hatte hübsche, grünlichbraune Augen, mit schwarzen Wimpern, und dunkelbraunes, leichtgewelltes Haar. Obwohl ich ihn nicht sonderlich beachtete, merkte ich wohl, daß Jack Plant in mich verliebt war. Er wohnte noch immer bei uns. Unter den vielen Treiberjungen, die bei uns kamen und gingen, wuchs Jack Plant allmählich zu Vaters rechter Hand heran, den dieser seinerseits als Ersatz für den versagt gebliebenen Sohn anzusehen begann. Vater redete Jack immer häufiger im Ton eines Geschäftspartners an und fragte ihn hin und wieder nach seiner Meinung. In letzter Zeit lud mich Jack gelegentlich ein, mit ihm zum Tanzen oder auf ein Fest zu gehen. Ich wußte stets eine Ausrede vorzubringen, und er sah mich dann an, als ob ich ihm eine Ohrfeige gegeben hätte. Sein unterwürfiger Blick ging 145
mir so auf die Nerven, daß ich ihm oft tatsächlich gern eine runtergehauen hätte. Eines Abends tranken Vater und Jack zusammen ein Glas Bier in einer Kneipe. Das Geschäft lief gut, und Vater war bester Laune, so daß Jack sich ein Herz faßte und Vater fragte, ob er etwas gegen ihn als Schwiegersohn einzuwenden hätte. Vater versicherte ihm, er habe nichts dagegen, müsse aber die Entscheidung mir überlassen. Als er nach Hause kam, fragte er Mutter und mich um unsere Meinung. »Ich glaube, Jack hat Angst, dich selber zu fragen, Lyddy«, meinte Vater. Aber Mutter setzte sich für ihn ein: »Jack hat ein Gefühl dafür, was sich gehört. Und es schickt sich nun einmal, daß ein Bursche zuerst den Vater fragt. Ich muß sagen, das gefällt mir an ihm.« »Ich hab' ihm gesagt, von mir aus könnt ihr beide heiraten. Jetzt liegt die Sache bei dir, Lyddy. Du würdest nicht schlecht mit ihm fahren. Wir kennen ihn, seit er als kleiner Bengel zu uns gekommen ist. Er ist sauber und gutmütig, und im Geschäft kennt er sich aus. Er ist der Mann, um weiterzumachen, wenn meine Beine mich mal im Stich lassen.« »Du wirst sehen, Lyddy«, fiel Mutter wieder ein, »du kannst ihn um den Finger wickeln. Denk dran, wie oft er dich von Mr. Rigby abgeholt hat.« Ich hatte bis dahin geschwiegen. Ich wollte keinen Mann, den ich als kleinen Bengel gekannt hatte und den ich um den Finger wickeln konnte. Ich wartete immer noch auf den Märchenprinzen, der mich an der Hand in die Prachtzimmer des Vorderhauses führte. Laut sagte ich: »Ich habe nichts gegen Jack. Aber ich liebe ihn nicht.« »Tja, dann ist da wohl nichts zu machen.« Für Vater war der Fall abgeschlossen, aber Mutter gab nicht so rasch auf. »Was heißt hier Liebe! Das ist auch so ein Blödsinn aus deinen verflixten Büchern. Liebe! Ein Mädchen braucht einen Mann, der gut zu ihr ist und ihr ein sorgloses Leben bietet. Alles andere ist Mumpitz.« Zu spät merkte sie, was sie wider Willen herausgeplappert hatte, und 146
sah aus den Augenwinkeln zu Vater hinüber, während sich eine ihrer Wallungen über ihr Gesicht ergoss. »Schon gut«, wehrte Vater gutmütig ab. »Brauchst nicht rot zu werden, Ruth. Keiner von uns hat je dem anderen was vorgemacht. Wir brauchen einander, heute wie damals, und sind immer gut miteinander ausgekommen.« »Genau das wollte ich damit sagen. Schau, Lyddy, Grillen in einem Mädchenkopf und das wirkliche Leben sind zwei verschiedene Dinge. Überlege gut, bevor du Jack einen Korb gibst. Oder hast du einen anderen im Sinn?« Sie sah mich scharf an. »Nein, Mutter. Ich hab' niemanden. Und ich hab' es mir schon überlegt.« »Wer zu lange wählt, bringt einen krummen oder gar keinen Stecken aus dem Wald. Oder willst du eine alte Jungfer werden?« »Lieber eine alte Jungfer als verheiratet mit einem Mann, den ich nicht mag«, antwortete ich. »Na, dann mach nur so weiter«, seufzte Mutter. »Mir tut der arme Jack leid.« »Du mußt es ihm schon selber sagen«, sagte Vater streng. Da hatte ich wieder den Ärger mit Jack. Ich wußte, ich war ungerecht. Schließlich konnte er nichts dafür, daß ich ihn nicht liebte, weil er meinem Traumbild nicht ähnelte. Es wurde schlimmer, als ich befürchtet hatte. Als ich ihm meine Absage mitteilte, geriet Jack außer sich und beteuerte immer wieder, er liebe mich seit Jahren, als ich noch ein kleines Mädchen war, er habe nur auf mich gewartet und sich nie nach anderen Mädchen umgesehen. »Was ich für deinen Vater getan habe, das war alles nur deinetwegen, Lyddy. Wie Jakob um Rachel habe ich um dich gedient. Was hast du gegen mich?« »Nichts, Jack. Gar nichts. Aber ich bin nun mal nicht in dich verliebt.« »In wen denn?« Es hätte albern geklungen, zu sagen: In Old Vine. So antwortete ich: »In niemand.« 147
»Dann versuche es doch wenigstens mit mir. Komm mit zum Tanzen oder ins Grüne, dann sehen wir schon, ob wir zueinander passen.« »Warum gehst du nicht mit Alice Saunders ins Grüne? Die macht immer solche Stielaugen, wenn sie dich sieht.« »Alice Saunders! Was soll ich mit der? Für die habe ich nicht so 'n bißchen übrig.« Er schnippte mit den Fingern. »Tja, dann…« Ich schwieg und sah ihn bedeutungsvoll an. Jack erblasste. Er hatte verstanden. »So ist das also?« »Tut mir leid, Jack, aber so ist es.« »Dann bleib' ich nicht hier. Solang ich auf dich hoffen konnte, machte es mir nichts aus, für einen Hungerlohn die Drecksarbeit für deinen Vater zu tun. Aber wenn das keinen Sinn hat, geh' ich fort. In Amerika braucht man Leute, die was vom Vieh verstehen.« Mir war völlig einerlei, wohin er ging, wenn ich ihn nur los wurde. Endlich hatte ich Ruhe vor den Schafsaugen, die mich bei jeder Mahlzeit verfolgten. Old Vine war der eigentliche Grund, daß ich Jack Plant so unbarmherzig abwies. Und hätte mir damals irgendwer gesagt, daß Jack meine Sehnsucht, die Herrenzimmer von Old Vine zu bewohnen, unwiederbringlich mit sich nach Amerika hinübernehmen würde, ich hätte ihn ungläubig ausgelacht.
Und doch war es so. Vater mußte sich zu seinem großen Bedauern von seinem besten Gehilfen trennen. Treiberburschen gab es dreizehn auf ein Dutzend, aber die einen verstanden nicht mit dem Vieh umzugehen, und die das beherrschten, verlangten mehr Lohn, als Vater zahlen konnte oder wollte. Vater mußte sich um alles kümmern, was er vordem Jack überlassen hatte. Seine Beine machten ihm zunehmend Beschwerden. Wenn er abends heimkam, zerrte er sofort die Stiefel von den bös angeschwollenen Füßen und nahm ein salziges Fußbad. Im Laufe der Nacht gingen die Schwellungen dann 148
so weit zurück, daß er am nächsten Morgen die Stiefel wieder anziehen konnte. Mutter sah besorgt zu, wie Vater sich immer mehr mit dem Schuhwerk abmühte. »Du solltest deine Füße mal dem Arzt zeigen.« »Red keinen Unsinn«, schnauzte Vater sie an. Aber beharrlich, wie Mutter war, ließ sie ihm keine Ruhe und drängte immer wieder zum Doktor, bis er endlich eines Abends, als die Schwellung bis zu den Knien hinaufreichte, knurrend nachgab: »Damit du endlich den Mund hältst, meinetwegen lass den Quacksalber kommen. Lyddy, lauf mal zum Doktor rüber!« Dr. Cornwall kam und warf nur einen beiläufigen Blick auf Vaters Füße. Er griff nach seinem Puls und horchte das Herz ab. Als der Arzt sich wieder aufrichtete, erklärte er, die geschwollenen Füße seien lediglich ein Symptom, die Krankheit sitze im Herzen. »Sie dürfen nicht mehr so schwer arbeiten, Mr. Walker. Keine tagelangen Ritte, kein Herumstehen auf den Märkten. Wenn Sie sich nicht schonen, können Sie von heut auf morgen umfallen.« Als er zur Tür hinaus war, brummte Vater: »Aber wie wir leben sollen, wenn ich nicht mehr auf den Markt geh', davon hat der Klugschwätzer nichts gesagt.« »Das kriegen wir schon hin«, sagte Mutter eifrig. »Ich kann Kuchen backen und sie verkaufen. Lyddy ist groß genug, um sich nach einer Arbeit umzusehen. Nähen kann sie leider nicht, aber mit ihrer Schreibkunst kann sie vielleicht Erzieherin werden.« »Lieber fall' ich tot um, bevor ich mich von meinem Weibervolk erhalten lasse.« Als Vater zu Bett gegangen war und ich mit Mutter allein in der Küche zurückblieb, herrschte sie mich mit Tränen in den Augen an: »Da siehst du nun, was du angerichtet hast. Hättest du Jack Plant geheiratet, so könnte Vater sich jetzt zur Ruhe setzen und Jack den Handel übergeben.« Was konnte ich darauf erwidern? Stumm räumte ich die letzten Gläser vom Tisch. Und plötzlich durchfuhr mich die Erkenntnis, daß ich neunzehn Jahre alt war, ohne daß sich irgendwo ein Wunder anzeigte. 149
Ich weiß nicht, ob wir Vater nun nur besser beobachteten oder ob sein Leiden sich tatsächlich so rasch verschlechterte. Nach jeder kleinen Anstrengung keuchte er vor Atemnot, und die Lippen liefen bläulich an. Er regte sich schneller auf und nahm sich jeden Ärger zu Herzen. Ging ein Handel nicht ganz so günstig aus, wie er erwartet hatte, so klagte er schon, wir kämen nun an den Bettelstab.
Über Nacht verbreitete sich in Baildon das Gerücht, die Eisenbahnlinie werde von Bury bis Baildon verlängert. Es kamen Männer mit Meßlatten und Nivellierinstrumenten, und plötzlich hieß es, die Trasse werde so über die Kornfelder und Wiesen gelegt, daß sie unsere Straße, die Nettleton Road, am unteren Ende rechtwinklig kreuzen werde. Dort solle auch das Bahnhofsgebäude errichtet werden. Ganz Pfiffige wußten bereits, daß man die Strecke so plane, um sie gegebenenfalls bis Bywater verlängern zu können. Das Städtchen geriet in Aufruhr. Wo man hinsah, debattierten die Bürger in Gruppen auf der Straße das Dafür und Dagegen. Ob die Bahn überhaupt und wenn ja, wo sie an unserem Städtchen vorbeiführen solle. Dabei war die Entscheidung längst gefallen. Am Wochenende brachte Vater ein Exemplar der Baildon Free Press mit und ließ mich den Artikel, in dem die Bahnangelegenheit klipp und klar erläutert wurde, zweimal laut vorlesen. Dann nickte er zufrieden. »So sieht's schon anders aus. Jeder, der vom Bahnhof zum Markt und vom Markt zum Bahnhof will, muß durch unsere Straße. Paßt auf, die Nettleton Road wird noch die größte Ladenstraße Baildons. Und ich hab' ausgerechnet da ein Haus mit dem Grundstück von fast einem Hektar. Es wird nicht lange dauern, dann ist es das Doppelte wert. Und dann setze ich mich zur Ruhe und schau nur noch zum Fenster hinaus. Lies den Artikel noch mal von vorn, Lyddy.« Gehorsam begann ich: »Alle fortschrittlich gesonnenen Bürger unserer Stadt werden mit Freuden vernehmen, daß…« Ich stockte. »Lies weiter. Was hast du denn?« 150
»Willst du etwa… Old Vine verkaufen?« »Ich habe nicht die Absicht, es zu verschenken«, scherzte Vater gutgelaunt. »Aber du brauchst nicht so zu erschrecken, Lyddy. Wir werden auch dann ein Dach überm Kopf haben. Ich denke an ein kleines hübsches Häuschen am Stadtrand, wo ich am Fenster sitzen und den Kerlen zuschauen kann, wie sie bei Wind und Wetter das Vieh treiben müssen. Sollen sich mal andre damit plagen.« Vor Freude sah er richtig jung aus. Was konnte ich ihm entgegenhalten?
2
N
atürlich begann ich später, als meine Benommenheit gewichen war, zu kämpfen. Ich schlug vor, Old Vine zu einem Teehaus umzubauen. Oder eine Pension aufzumachen, wo Reisende von auswärts übernachten konnten. Wer die Arbeit übernehmen würde? Ich natürlich. Nein, weder Vater noch Mutter sollten dadurch mehr Arbeit bekommen oder irgendwie gestört werden. Aber alles Beschwören und Bitten half nichts. Es war, als hätte ich meinem Vater sechs Penny geboten für etwas, für das er zehn Schillinge bekommen konnte. Auch die Nachbarn verkauften ihre Häuser. Bis dahin war unsere Straße eine ruhige Wohngegend gewesen. Nun fürchteten aber die Besitzer den aufkommenden Straßenbetrieb ebenso sehr wie das Pfeifen der Lokomotiven und das Rollen der Züge. Unmittelbar neben dem zukünftigen Bahnhof wurde ein hübsches Bürgerhaus abgerissen. An seiner Stelle erstand später das Bahnhofshotel, ein abscheulicher Kasten mit Türmchen und Erkern. Vater verkaufte Old Vine ebenso ungerührt, wie er ein Kalb von der Mutterkuh fortverkauft hatte. Das prächtige alte Gebäude wurde ähnlich einem Kuchen in fünf Teile zerschnitten: die Eingangshalle und die vier 151
zur Straße liegenden Zimmer wurden zu fünf Läden umgebaut, hinter denen sich Lagerräume und ein hässlicher Treppenaufgang zu den winzigen Wohnungen im Obergeschoß anschlossen. Meine geliebten, großen Zimmer wurden durch Bretterwände in zwei oder drei Stuben aufgeteilt. Und ich mußte das alles hilflos mit ansehen, wie ein besiegter Soldat, dessen Weib geschändet und dessen Kinder verschleppt werden. Aus dem Erlös kaufte Vater ein hübsches Häuschen am alten Marktplatz, der längst zu klein für den Marktbetrieb geworden war. Er hielt sich an seine Vorhersage und ließ den Lehnsessel ans Fenster stellen, durch das er das Geschehen auf der Straße aufmerksam verfolgte. Ich hatte ihn gebeten, die Möbel für mein Zimmer aus Old Vine mitnehmen zu dürfen. »Willst du nicht lieber neue Sachen statt des alten Gerümpels haben? Ich kaufe dir sie gern. Nein? Meinetwegen, dann such dir aus, was du mitnehmen willst.« Das tat ich denn auch so gründlich, daß man sich in meinem kleinen Hinterstübchen nur mit artistischem Geschick zwischen den vielen Möbeln hindurchschlängeln konnte. Was übrig blieb, wurde auf Auktionen verkauft. Einzelstücke erzielten zum Teil beachtliche Liebhaberpreise. Die Übersiedlung ließ mich altern. Das heißt, natürlich nicht der Umzug an sich, sondern vielmehr das, was er bedeutete: das Ende meines Jugendtraumes. Immer hatte ich geglaubt, auf mich warte ein besonderes Schicksal und mein Leben würde sich nicht wie das der anderen nur in Sorgen und Alltag erschöpfen. Aber nun sah mich aus dem Spiegel das spitze, scharfgeschnittene Gesicht eines ältlichen Mädchens an, dessen einziger Lebensinhalt darin bestand, den Eltern die alten Tage zu verschönern. Die Viehhändlerstochter, die so lange von Glück und Glanz träumte, daß sie das Leben darüber verpasste. Vater legte das Geld, das ihm nach dem Kauf des Häuschens übrig blieb, in Eisenbahnaktien an, deren Kurswert seither auf das Doppelte gestiegen ist, während sie an Dividende sieben Prozent erbringen. 152
Wie man sieht, schütteln die Leute mit allem Recht den Kopf, wenn sie mich sagen hören, ich hasse die Eisenbahn.
Zwischenspiel Die fünf Läden, in die man das alte Haus aufgeteilt hatte, erbrachten ihren Eigentümern nicht so bald den hohen Gewinn, den sie sich erhofft hatten. Anfangs nahmen, wenn man von einigen Neugierigen absah, nur die ärmeren Bevölkerungsschichten die neuerbaute Bahn in Anspruch, während die wohlhabenden nach wie vor nicht auf die Bequemlichkeit des eigenen Reisewagens verzichten wollten. Außerdem fehlte den neuen Geschäften jener Hauch von Alteingesessenheit und Gediegenheit, der die Geschäfte der Innenstadt auszeichnete. Erst als im Jahre 1854 die Nebenlinie nach Bywater in Betrieb genommen wurde, erfolgte ihr jäher Aufstieg. Es war Mode geworden, den heißen August an der See zu verbringen, und der Weg zur Küste führte über Baildon. Außerdem entstand zu dieser Zeit ein reges Interesse an den mittelalterlichen Kulturschätzen des Landes, so daß als ungebildet galt, wer durch Baildon fuhr, ohne die Überreste des alten Benediktinerklosters oder die kostbar bemalte Kassettendecke der Marienkirche zu besichtigen. Und jeder, der zu diesem Zweck einen Zug überschlug, mußte durch die Bahnhofsstraße ins Städtchen pilgern. Seltsamerweise nahm trotzdem die Anzahl der Geschäfte ab. Im Haus gegenüber Old Vine gab die Gemischtwarenhandlung auf, und eine Bank richtete sich ein, was den Reisenden zur Küste (oder auch weiter) sehr zustatten kam, da neuerdings aus dem kleinen Hafen von Bywater ein Postboot den Kanal überquerte. Und da die durchreisenden Herrschaften, die im Bahnhofshotel für eine Nacht abzusteigen pflegten, sich nicht immer bester Gesundheit erfreuten, hielt es der junge Dr. Cornwell nach dem Tode seines Vaters für angezeigt, seine Praxis in das Haus neben der Bank zu verlegen, das er zu diesem 153
Zweck erwarb. Ferner fand sich ein Rechtsanwalt aus London ein, der mit seinem Schild den beiden ansässigen Anwaltskanzleien von Turnbull und Steward Konkurrenz machte. Nachdem es der Straße gelungen war, einen Schimmer ihres verblichenen Glanzes zurückzuerobern, wollte der profane Name ›Bahnhofsstraße‹ nicht mehr recht zu ihr passen. Stammten doch die meisten Häuser aus einem Zeitalter, das von Dampflokomotiven nicht einmal zu träumen gewagt hatte. »Mein Haus zum Beispiel«, mutmaßte Dr. Cornwell im Gespräch mit Nachbarn, »stammt zumindest aus der elisabethanischen Epoche, und Old Vineyard da drüben dürfte noch um einiges älter sein.« Wie hatte die Straße damals geheißen? Es fanden sich zwei Namen: Nettleton Road, weil sie in Richtung dieses Dörfchens führte, und Out Southgate, weil an ihrem Anfang einmal vor Zeiten das Südtor der Stadt gestanden hatte. Den Anrainern waren jedoch beide Namen nicht ›romantisch‹ genug, und so blätterte man noch weiter in der Geschichte Baildons zurück. Aus alten handschriftlichen Aufzeichnungen ging hervor, daß der letzte Abt des Klosters die Steinbrücke am Ende der Nettleton Road hatte erbauen lassen. Sicherlich hatte er den Stand der Bauarbeiten hin und wieder besichtigt und den kurzen Weg dorthin zu Fuß zurückgelegt. Was lag näher, als die Straße Klosterallee zu nennen? Darin schwang Geschichte mit, und außerdem nahm sich ›Klosterallee‹ auf Briefköpfen viel besser aus als der Allerweltsname ›Bahnhofsstraße‹. Da aber der Ostbrite ebenso zäh und schwerfällig ist wie der fruchtbare Ackerboden, den er bearbeitet, erntete ein Fremder noch nach fünfzig Jahren auf seine Frage nach der Klosterallee zunächst einen verständnislosen Blick, dann erst, nach kurzer Pause, die Antwort: »Ach so, Sie meinen die Bahnhofsstraße.« Nur das Haus Old Vine nahm am allgemeinen Aufschwung nicht teil. Zwar warfen die schmalen Läden nun endlich den errechneten Gewinn ab, aber die Besitzer knauserten und sparten jeden Penny, bis sie im Alter von fünfzig oder sechzig ein Haus in der Weststadt kaufen konnten, wo sie ihren Lebensabend im Wohlstand verbrachten. Das 154
heißt, wenn sie nicht schon vorher an Überanstrengung oder Trunksucht gestorben waren. Sie übergaben den Laden ihrem Sohn oder verkauften ihn an den Meistbietenden. Manche brachten es sogar bis zum Ratsherrn, und wenn sie das Zeitliche segneten, erschien in der Baildon Free Press mit Balkenlettern der Nachruf: Tod eines hervorragenden Geschäftsmannes. Und so manche Witwe, die jahrzehntelang Zucker und Mehl in Tüten abgewogen hatte, vermerkte inmitten ihres großen Schmerzes mit Genugtuung, daß die Honoratioren der Stadt am Grabe ihres verblichenen Ehegatten erschienen waren. Natürlich gab es Ausnahmen. Da betrieb zum Beispiel ein gewisser Samuel Armstrong ein Kolonialwarengeschäft in der ehemaligen Eingangshalle von Old Vine. Mit seiner Frau, dem Sohn und den beiden Töchtern bewohnte er den vormaligen Großen Saal, der nun in drei winzige Schlafkammern und eine etwas größere Wohnküche abgeteilt war. Im Jahre 1886 war sein Sohn David Armstrong siebzehn Jahre alt.
155
Vierter Teil David Armstrongs Geschichte (um 1887)
1
E
s war eines von Vaters mildtätigen Werken, das mich mit Miss Lydia Walker bekannt machte. Und falls es einen Gott im Himmel geben sollte, muß er sich vor Lachen die Seite gehalten haben. Als wir an einem kalten Novemberabend die Kirche verließen, erwähnte Mutter, wie kränklich und arm Miss Walker aussah. »Das ist mir neulich schon aufgefallen«, pflichtete Vater ihr bei. »Vermutlich ist sie halb verhungert.« »Hast du das schmutzige alte Cape gesehen, das sie umhatte? Und die Schuhe ganz schiefgetreten. Aber wie man sagt, hätte sie es gar nicht nötig, so herumzulaufen. Sie soll eine ordentliche Summe auf der hohen Kante haben.« »Die Leute reden viel, wenn der Tag lang ist«, meinte Vater nachdenklich. »Vielleicht hatte sie mal Geld und hat es verloren. Jedenfalls ist die arme Frau…« – ich wußte, jetzt kam eine von Vaters eigentümlichen Auslegungen – »ist die arme Frau genauso übel dran, wenn sie Geld hat und es nicht ausgeben kann, als wenn sie gar keines besäße.« »Wieso? Das sehe ich nicht ein, Samuel«, widersprach Mutter. »So etwas gibt es. Ich kann es sogar verstehen. David, erinnere mich bitte morgen, daß ich ihr was zusammenpacke.« Ich hörte Mutter aufseufzen. Es war nicht immer leicht für sie, mit einem tugendhaften Manne verheiratet zu sein. Ich seufzte ebenfalls, wenn auch aus einem anderen Grund. Ich wußte sehr wohl, wer sich morgen nach Feierabend mit einem Korb zu der alten Schachtel begeben würde: ich natürlich. Mir war längst klar, daß man hinter dem Geld her sein und es festhalten mußte, wenn man es auf dieser Welt zu etwas bringen wollte. Vater betrachtete das Geld als eine schmutzige, ja unanständige Sache, 157
die man sozusagen nur mit spitzen Fingern anfassen sollte. Es ging uns nicht gerade schlecht, wir hatten immer genug zu essen und auch feste, warme Winterkleidung. Aber obwohl Vater und ich (und in Stoßzeiten auch Mutter und Marty) uns im Laden abrackerten, kamen wir auf keinen grünen Zweig. Wie sollten wir auch Gewinn machen, wenn Vater den Frauen der arbeitslosen Bahnarbeiter anderthalb Pfund Speck zuwog und nur ein Pfund berechnete? Oder einer Witwe monatelang anschrieb, obwohl er genau wußte, daß sie niemals auch nur die Hälfte davon bezahlen konnte? Was das Geld anging, war ich entschieden anderer Ansicht. Einmal predigte Vater – er war ein redegewaltiger Laienprediger seiner Gemeinde –, daß man sich auf Erden keine Schätze zulegen sollte, die von Motten zerfressen oder von Rost zerstört wurden. Ich hingegen überlegte im stillen, welchen Schaden Motten oder Rost wohl an einer Guinea aus gediegenem Gold anrichten konnten?
Als Vater am nächsten Tag eine frische Speckseite herunterholte, fiel ihm Miss Walker wieder ein, und er legte den Anschnitt beiseite. Im Laufe des Tages gesellten sich ein Päckchen Butter, ein Tütchen Tee und Zucker und einige Biskuits dazu, gerade wie's ihm jeweils unter die Hand kam. Abends packte er alles säuberlich ein wie für einen zahlenden Kunden und trug mir auf, es nach dem Tee zu Miss Walker zu bringen. Der Abendtee war unsere Hauptmahlzeit, die wir montags bis mittwochs gegen sieben, bei starkem Kundenandrang am Wochenende erst um halb neun oder neun Uhr einnahmen. Da es Montag war, konnten wir früh schließen. Ich sagte zu Vater: »Wenn sie wirklich am Verhungern ist, wird das bißchen da sie auch nicht retten.« »Man tut, was man kann. Junge, es gibt so viel Elend in dieser Welt, daß man froh sein muß, wenn man hie und da überhaupt ein wenig helfen kann.« Trotz meiner inneren Auflehnung hegte ich die größte Achtung vor 158
meinem Vater, denn er handelte stets so, wie er es von der Kanzel predigte. Eigentlich war es mir keineswegs zuwider, nach dem Abendessen nochmals auszugehen. Vater war sonst nicht streng, aber er gestattete nicht, daß wir ›bei Nacht auf der Straße herumlungerten‹. Obwohl ich bald achtzehn und meine Schwester Marty sechzehn war, behandelte er uns noch wie Schulkinder. (Unsere jüngste Schwester Sarah blieb ihres lahmen Beines wegen ohnehin fast immer zu Hause.) Wo es sich aber um die Gemeinde oder um Gottesdienst handelte, durften wir natürlich auch nach Einbruch der Dunkelheit hin. Oft beneidete ich meine ehemaligen Schulkameraden. Sie tranken Bier und gingen mit Mädchen. Wenn ich sie mit der Zigarette in der Hand vorbeischlendern sah, sehnte ich heiß den Tag meiner Volljährigkeit herbei, an dem ich Vater verlassen und mein eigenes Leben führen konnte. Nicht daß ich Angst vor Vater gehabt hätte. Eher scheute ich davor zurück, seine Gefühle zu verletzen. Er richtete seine Ansichten und sein Verhalten nach den Worten der Bibel aus und war zutiefst von deren Richtigkeit überzeugt. In meinen ersten zwölf Lebensjahren war ich ihm bedingungslos ergeben, dann aber kamen mir Zweifel, die er mit all seinen Sprüchen nicht auszuräumen vermochte. Seither verstärkte sich mein Hang zu allen weltlichen Dingen, während mein Widerwille gegen Traktätchen und das salbungsvolle Gerede der Gemeindemitglieder in gleichem Maße anwuchs. Miss Walker wohnte am Market Square Nummer vier in einem einstmals hübschen Häuschen, das schon seit Jahrzehnten keinen neuen Farbanstrich mehr erhalten hatte und entsprechend verkommen aussah. Vier Stufen, von einem wackeligen Geländer ergänzt, führten empor zur Haustür. Ich zog die Glocke und pochte, als sich etwa eine Minute lang nichts rührte, laut an die Tür. Ein Baby begann zu greinen, und jemand riß die Tür auf. Ich erkannte Mike Saunders, einen jungen Mann, mit dem ich einst zur Schule gegangen war. Er war mehrere Jahre älter, weil er einige Klassen hatte wiederholen müssen. Schon damals war er ein hochaufgeschossener, kräftiger Bursche gewesen, der nur deshalb auf dem Ehrenplatz der letzten Bank hatte sit159
zen dürfen, weil er seine Beine bei bestem Willen nicht in den vorderen Bänken hatte unterbringen können. Er war ein gutmütiger Kerl, aber strohdumm. Verärgert über den Lärm, der das Baby geweckt hatte, fuhr er mich an: »Was soll das… Aber das ist ja Dave!« »Hallo, Mike. Wie kommst du hierher?« »Ich wohne da«, sagte er und schaute mich mit seinem Schafsblick treuherzig an. »Im August hab' ich geheiratet.« Wenn das sein Baby war, hatte er rasche Arbeit geleistet. Laut erklärte ich: »Ich soll zur alten Miss Walker. Das Päckchen da ist für sie.« »Sie wohnt oben. Millie und ich haben nur die Erdgeschoßzimmer gemietet. Kostet 'ne runde Summe jeden Monat. Na ja, das Baby…« Einen Augenblick lang sah er verstört aus. Dann erhellte sich seine Miene, als ob ihm etwas einfiele, und er sagte leise: »David, tu mir 'nen Gefallen. Die Millie keift immer, wenn ich abends noch mal raus will. Wenn du oben fertig bist, hol mich hier raus. Sag, du hast 'ne Arbeit für mich, ja?« »Ist gut«, antwortete ich ebenso gedämpft. »Was kannst du denn?« »Ich bin Zimmermann. Sag, bei euch klemmt 'ne Tür oder so was.« »Ist recht.« Mit lauter Stimme fuhr Mike fort: »Die Treppe hinauf und dann gleich rechts.« Als er in das Zimmer zurücktrat und die Tür zuzog, wurde es stockdunkel in dem kleinen Flur, so daß ich mich mit den Händen zur Treppe und dann hinauf zur Tür der alten Frau tasten mußte. Ich klopfte ein-, zweimal, bis sie aufging und Miss Walker mit einer Kerze in der Hand vor mir stand. Bis dahin hatte ich sie immer nur von ferne gesehen und nie richtig betrachtet. Sie schien mir eine schwächliche Frau, so daß mich nun ihre volle, wohlklingende Stimme angenehm überraschte. Hätte ich nicht ihre schmächtige Gestalt in dem schmuddeligen Morgenrock vor mir gesehen, ich hätte geglaubt, mit einer Dame aus gutem Hause zu sprechen. 160
»Wer sind Sie und was wünschen Sie?« Ich fühlte mich ziemlich unbehaglich, als ich antwortete: »Ich bin der Sohn von Mr. Armstrong. Mein Vater schickt Ihnen das Päckchen mit Lebensmitteln.« »Soweit mir bekannt ist, habe ich nichts bestellt.« »Nein, ich weiß. Vater schickt es Ihnen… nur so.« »Was Sie nicht sagen. Wie außergewöhnlich aufmerksam. Wieso? Wer ist Ihr Vater?« »Mr. Armstrong«, wiederholte ich. »Der Inhaber des Kolonialwarengeschäftes.« Das Paket in meiner Hand fühlte sich zentnerschwer an. »Als wir Sie gestern in der Kirche sahen, meinte Mutter, das heißt, eigentlich sagte Vater es zuerst, nun, daß Sie hungrig aussähen, Madam. Mein Vater ist da ein bißchen eigen, er kann es nicht ertragen, wenn jemand hungert, während er den Laden voller Lebensmittel hat. Deshalb schickt er Ihnen das da.« Erneut hielt ich ihr ungeschickt das Päckchen hin. »So ist das. Ja, ich hatte in der Tat Hunger. Sehr freundlich, sehr aufmerksam von Ihrem Vater, junger Mann. Kommen Sie doch herein.« Sie trat zurück, und ich folgte ihr nach in das kleine Zimmer, das mit Möbeln aller Art voll gestopft war. Den meisten Raum nahm ein Himmelbett mit geschnitzten Pfosten und schweren Vorhängen in Anspruch, um das sich, dicht aneinandergerückt wie vor einem Umzug, mehrere Lehnsessel, ein Tisch und zwei Kommoden gruppierten. Es war bitter kalt. »Ihr Vater ist der Kaufmann, dem der Laden in der Mitte von Old Vine gehört?« »Ja, Madam. Und er glaubte…« »Was er glaubt oder nicht, tut nichts zur Sache«, fiel sie mir ins Wort. »Er ist einer von den Eindringlingen. Nein, persönlich habe ich nichts gegen ihn, das nicht. Aber er gehört nicht in das Haus, sowenig wie die vier anderen. Und es wird nicht mehr lange dauern. Lassen Sie mich nachdenken. Sie haben die ehemalige Halle, nicht wahr, aus der die geschnitzte Treppe nach oben führt. Dort oben war früher ein großer Saal. Ist Ihnen, junger Mann, beim Schmalzabwiegen nie der Gedanke 161
gekommen, daß Sie und Ihresgleichen in dem Haus nichts zu suchen haben? Sie sind jung, vielleicht ist in Ihnen noch ein Funke Gespür für das Schickliche vorhanden.« Weder in der Schule noch in der Gemeinde hatte ich je solche Worte gehört. Was hatte das Schmalzabwiegen mit der Treppe zu tun? Stumm blickte ich sie an und versuchte zum dritten Mal, ihr das Paket auszuhändigen. »Nein, ich lasse mich nicht bestechen. Ich will nichts von Ihnen. Ich kaufe nie in den Läden dort.« »Ich weiß. Aber Vater hat in der Kirche gesagt…« »Ich gehe nur zu dem Zweck in die Kirche, um mich aufzuwärmen. Nichts weiter. Sagen Sie ihm das dann werden ihm seine barmherzigen Anwandlungen schon vergehen.« »Sie wollen das hier nicht?« Miss Walker schüttelte den Kopf. Ich wollte mich verabschieden, als sie mir mit einem Wink Einhalt gebot, die Kerze hob und mir ins Gesicht leuchtete. »Ihr Gesicht kommt mir so bekannt vor.« »Sie haben mich in der Kirche gesehen.« »Das ist es nicht. Sie erinnern mich an irgend jemand. Wie heißen Sie gleich wieder?« »David Armstrong, Madam.« »Und der Mädchenname Ihrer Mutter?« »Der was?« »Wie hieß Ihre Mutter, bevor sie heiratete?« »Mary Plant.« »Deshalb also. Ja, das erklärt manches.« Sie kicherte, wie mir schien, grundlos und wirr. »Jetzt muß ich es allein besorgen. Hätte mir wohl geholfen damals, der Gute. Nun ja, das ist vorbei. Merken Sie sich das, junger Mann, wenn wir jung sind, erwarten wir die Verwirklichung unserer Pläne von außerhalb. Erst später erkennen wir, daß uns niemand helfen kann als wir uns selbst. Nur wenn wir uns auf keinen anderen verlassen, können wir unsere Träume wahrmachen. Gute Nacht.« 162
Sie leuchtete mir die Treppe hinunter und verriegelte die Tür hinter sich. Ich schlug mit der Handfläche auf Mike's Tür. Das Baby plärrte etwas weniger schrill, dazwischen ertönte eine weinerliche Frauenstimme. Mike öffnete. Er hatte den Mantel angezogen und trug einen zerfransten Schal um den Hals. »Du hast nicht genau gesagt, was bei euch los ist, Dave«, sagte er zwinkernd. »Die Hintertür ist vom Dampf aufgequollen und läßt sich weder aufnoch zumachen.« »Das wird seine Stunde dauern. Ich muß die Tür aushängen und abhobeln. Wiedersehen, Millie.« »Ich geh' schon solang ins Bett.« »Ist gut, Liebling.«
»Puuh«, sagte Mike, als wir auf der Straße standen. »Das hätte mir einer vor 'nem Jahr sagen sollen! Das Balg brüllt den ganzen Tag und die halbe Nacht, und Millie keift und zetert. Endlich eine Stunde Ruhe, wir gehn in die Rose and Crown, ich zahl' dir ein Glas.« Eigentlich befreundet war ich nicht mit Mike Saunders gewesen. Ich hatte seine Körperkraft respektiert, und er hatte mich hin und wieder bei einer Rechenaufgabe um Rat gefragt. Wenn ich jetzt gestand, daß Vater mir Wirtshausbesuche verboten hatte, sank ich sofort wieder auf den Rang eines halbwüchsigen Burschen herab. Vaters engere Freunde gingen nicht ins Wirtshaus, und falls mich sonst jemand erkannte, konnte ich es abstreiten und sagen, ich sei zu der Zeit bei Miss Walker gewesen. Ganz wohl war mir dennoch nicht, als ich forsch erwiderte: »Auf denn, nichts wie hin!« Und wir machten uns auf den Weg zur Lasterhöhle, ›diesem Vorposten von Satans Reich‹. Jedenfalls brannte dort ein tüchtiges Feuer, was mir gut gefiel. Es war warm und gemütlich. Mike drängte sich zur Theke vor und kam mit zwei großen vollen Bierkrügen zurück. Wir setzten uns 163
auf eine Bank neben dem Feuer, wo ich es so einrichtete, daß ich dem Eingang den Rücken zukehrte. Ein Mann rückte zur Seite und sagte: »Hab' dich lange nicht gesehen, Mike.« Und Mike antwortete: »Ich hab' viel zu tun neuerdings.« Nach einigem Schweigen begann Mike, mich über die Plagen des Ehestandes aufzuklären. Die Schlampe habe einen dicken Bauch gekriegt und behauptet, er sei dran schuld. Als er es abgestritten habe, sei sie mit ihrem Vater zu Mr. Platt gegangen, dem Baumeister, für den Mike arbeitete. Mr. Platt habe Mike kurzerhand vor die Wahl gestellt, entweder zu heiraten oder seinen Sack zu packen. »Und das am Ende des Sommers, Dave, wo man im Herbst nirgends Arbeit findet.« So war er nun mit einer zänkischen Frau verheiratet und hatte ein Kind. In Gedanken schalt ich Mike einen Narren, daß er sich hatte einfangen lassen. Das Bier schmeckte mir nicht sonderlich, aber nach einem halben Krug wurde das anders, und ich begann mich frei und unbekümmert zu fühlen. Als ich ausgetrunken hatte, liebte ich Mike geradezu und legte den Arm um seine Schulter. Er zählte sein Geld. »Lieber doch nicht«, meinte er. Ich hielt ihm das Päckchen hin. »Da, das verkauf ich dir für einen Shilling. Es ist vier Shillinge wert. Du kannst Millie sagen, mein Vater hätte es dir wegen der Arbeit für einen Shilling gelassen. Dann ist Millie zufrieden, und wir trinken noch eins.« »Gute Idee«, nickte Mike. »Hol du das Bier. Ich will nicht, daß mich einer sieht. Vater hat komische Ansichten über Wirtshäuser und Biertrinken.« »Genau wie Millie.« Mike zwinkerte verständnisvoll. Vom zweiten Krug nippte ich nur noch. In meinem Bauch begann es zu rumoren. Ich schob Mike den halbvollen Krug hin, den er austrank und dann bedrückt ansah: »Was machen wir jetzt? Millie wird riechen, daß ich getrunken habe.« 164
»Du lieber Himmel, Vater ja auch.« Er wartete sicher auf mich, um zu erfahren, wie Miss Walker das Paket angenommen hatte. »Knoblauch verdrängt den Biergeruch«, überlegte Mike. »Manche Leute nehmen ihn gegen Zahnweh.« Wie war es möglich, daß Mike manchmal so schlau war und trotzdem Millies uralten Trick nicht durchschaut hatte? Für mich wurde es Zeit, nach Hause zu gehen. Mike wollte noch eine Weile bleiben. Draußen wehte ein eisiger Wind. Mich schauderte von innen und außen. Mein Magen revoltierte, ich mußte mich übergeben. Danach wurde mir besser, wenn auch die Knie noch zitterten. Ich lief heim, erwischte im dunklen Laden eine Knoblauchzwiebel und kaute rasch eine Zehe durch. Dann ging ich nach oben. Vater saß in seinem Lehnsessel und fragte, warum ich so lange fortgeblieben war. Ich tat, als sei ich verärgert darüber, daß mich Miss Walker so lange aufgehalten hatte, und schilderte lang und breit, wie es in ihrem kalten, mit Möbeln vollgestellten Zimmer ausgesehen hatte. Als hätte sie es mir aufgetragen, berichtete ich zum Schluß: sie ließe vielmals für die guten Sachen danken, schäme sich aber so fürchterlich, daß sie auf die Wohltat anderer Leute angewiesen sei. Sie könne Vater nicht in die Augen sehen und bitte ihn, durch mich ihren Dank entgegenzunehmen. Vater murmelte etwas von einer armen Seele, der man ab und zu ein wenig unter die Arme greifen müsse. Dann schnüffelte er in meine Richtung. »Wieso riechst du nach Knoblauch?« »Ich hab' Zahnweh. Von der Kälte, glaub' ich. Aber es geht schon wieder.«
165
2
W
er wie ich von Kindheit auf zur Gottesfurcht und Tugend angehalten wurde, wird von zwiespältigen Gefühlen beherrscht, wenn er etwas Unrechtes anstellt. Einerseits macht das Verbotene mehr Spaß – ich wette, jener gewisse Apfel hat Adam besser geschmeckt als alle erlaubten –, andererseits wird man, zumindest anfangs, von Gewissensbissen geplagt. Naturgemäß neigte ich so stark zum Bösen, wie Vater zum Guten, und ich fragte mich oft, wie kam ein so rechtschaffener Mann zu einem solchen Sohn? Eine innere Stimme flüsterte mir zu, vielleicht gerade, weil er so beispielhaft lebte. Außerdem gab es diese Sache mit der höheren Schule. Irgend jemand hatte vor langer Zeit sein Vermögen der Gemeinde vermacht mit der Maßgabe, daß von den Zinsen arme, aber begabte Schüler studieren könnten. Einige Wochen vor Abschluß der letzten Volksschulklasse gab der Lehrer einigen von uns einen Fragebogen, den wir nach Schulschluss unter seiner Aufsicht ausfüllen mußten. Wie sich einige Tage später herausstellte, hatten ein Junge namens Barrowby und ich die besten Arbeiten abgeliefert, und wir zwei wurden deshalb für das Stipendium vorgeschlagen. Als Vater vernahm, daß die Summe zwar das Schulgeld, nicht aber die Kosten für die Bücher und die Bekleidung deckte – in jener Schule trug man einen kurzen schwarzen Rock und ein Barett –, hielt er sich dazu auch noch vor Augen, daß ich ihm nicht mehr abends und an den Wochenenden würde helfen können wie bisher, denn die Schüler mußten viel lernen. Das gab den Ausschlag. Vater konnte mich im Laden nicht entbehren. Und so sah ich morgens, wenn ich den Laden aufschloss und ausfegte, den Jungen mit der drittbesten Arbeit im Barett zur Schule gehen. Vater gab mir nie Geld in die Hand. Nicht daß er geizig war, er kauf166
te mir zum Beispiel das beste Angelgerät, als ich ihn um zwei Shillinge für eine Rute bat. Aber wozu brauchte ein Bursche, der daheim alles, was er benötigte, vorfand, auch noch schnöden Mammon in der Tasche? Er war schon ein sonderbarer Kauz, mein Vater. Eines Abends, als er einen Trunkenbold nach Hause geschleppt hatte, schnitt er sechs Schweinsrippen von unserem Sonntagsbraten ab mit den Worten: »Das ist für Bill, für seine Frau und für seine vier Kinder.« Daß für uns fünf Leute nur drei Rippen übrig blieben, kümmerte ihn wenig. Mutter kam neben ihm nie recht zu Wort. Wenn Vater seine Anordnungen traf, muckte sie wohl etwas auf, ließ sich aber von seinen Argumenten rasch überzeugen. Sie erinnerte mich an jene Jünger, die zwar ständig Jesus nachfolgten, aber höchst selten in der Bibel erwähnt werden. Einige Tage vor Weihnachten erinnerte sich Vater erneut an Miss Walker. Wieder packte er Lebensmittel ein und schickte mich damit zur alten Dame. Ich stellte mich mürrisch. »Das dauert wieder ewig«, maulte ich. »Wenn die in Fahrt kommt, erzählt und erzählt sie und findet kein Ende.« »Sie ist ein einsamer Mensch«, erwiderte Vater streng. »Vielleicht freut sie sich noch mehr darüber, daß du ihr zuhörst als über die Lebensmittel.« Das ging also in Ordnung. Aber wie bekam ich Mike frei? Diesmal mußte ich mir etwas anderes einfallen lassen. Auf mein Klopfen öffnete Millie die Tür. Sie war etwas älter als Mike, blond und hätte hübsch sein können, wenn sie gekämmt und weniger schlampig angezogen gewesen wäre. »Was ist?« »Ist Mike zu Hause?« Ich sah ihr an, daß sie mich fortschicken wollte, aber Mike schob sie schon zur Seite. »Da bist du ja, Mike!« tat ich erfreut. »Kannst du mir nochmals einen Gefallen tun? Ich möchte für meine Mutter einen Nähkasten basteln und kriege das Ding nicht hin. Es ist für Weihnachten. Du bist doch Zimmermann und verstehst dich auf Holzarbeiten?« 167
»Klar. Mach' ich gern für dich. Du hast doch nichts dagegen, Millie?« Ihr Gesicht sprach Bände, und ich merkte, wie sehr er unter dem Pantoffel stand. »Das könnte dir so passen«, zischte sie. »Für deinen Freund basteln, während mir das Feuer ausgeht. Oder soll vielleicht ich Kleinholz machen?« »Sie haben völlig recht, Mrs. Saunders«, redete ich beschwichtigend auf sie ein. »Damen gehen vor. Ich warte so lange.« »Kommen Sie meinetwegen so lange rein«, sagte sie unwirsch. Die Wohnküche sah fürchterlich aus. Auf dem Tisch stapelte sich ungewaschenes Geschirr, schmutzige Kleidungsstücke lagen überall herum, und in der Luft hing der scharfe Geruch von Windeln. Mike ging nach hinten zum Hof, und ich hörte, wie er mit der Axt kräftig zuschlug. Nach einer Weile kam er mit einem Arm voll Brennholz herein. »Reicht das heute abend?« fragte er und warf das Holz vor dem Herd auf den Boden. Das Baby erwachte und fing an zu wimmern. »Schau, was du wieder angerichtet hast«, raunzte Millie. »Komm, Dave, wir gehen«, und damit zog mich Mike zur Tür hinaus. »Heirate bloß nie«, seufzte er draußen. »Manchmal würde ich mich am liebsten aufhängen.« »Wäre schade um dich, alter Junge. Warum haust du ihr nicht eine runter und sagst, sie soll die Klappe halten?« »Dann rennt sie zu ihrem Vater. Weißt du, wer das ist? Der alte Finch, der Hufschmied.« »Den man ›Eisenfaust‹ nennt?« Tja, mit dem war nicht zu spaßen. Der legte trotz seiner Jahre noch jeden Rummelboxer auf den Rücken. Ich schwieg beeindruckt. »Machst du deiner Mutter wirklich ein Nähkästchen?« »Ach wo, das war nur ein Vorwand, um dich rauszuholen. Geld hab' ich wieder keins, aber da ist noch mal so ein Paket. Willst du?« »Ich bin selber blank. Und letztes Mal mußte ich Millie erklären, woher ich das Zeug habe. Warte mal, vielleicht kann ich es meiner Mutter anhängen. Es ist nicht weit.« 168
Ich wartete lange draußen in der Kälte und wurde allmählich ungeduldig. Endlich erschien Mike und zeigte mir zwei Shillinge. »Sie hat's genommen. Ich hab' gesagt, ich hätte für Millie das Falsche eingekauft und sie hätte mich deswegen ausgezankt. Mutter war von Anfang an gegen Millie.« »Dann können wir also los? Hier um die Ecke ist gleich eine Kneipe, die Pot of Flowers.« »Hör mal, Dave, könntest du nicht einfacher zu Geld kommen? Wenn du zwei Shillinge brauchst, warum holst du sie nicht aus der Kasse?« »Ja, warum eigentlich nicht?« Vater bewahrte das Geld tagsüber in einer Schublade unter der Theke auf und rechnete erst abends nach, wieviel er eingenommen hatte. Da er viel Kredit gab, stimmte die Rechnung ohnehin nie. Wenn ich im Laden allein war, konnte ich ohne weiteres einen Griff in die Kasse tun. ›Du sollst nicht stehlen.‹ Aber Geld aus der Schublade zu nehmen, war auch nicht viel schlimmer, als die Pakete zu verkaufen. Ich war sogar ein wenig verlegen, daß dieser sonst so dämliche Mike mich mit der Nase drauf stoßen mußte. Aber dafür kam mir ebenfalls ein guter Gedanke. Hinter der Wirtshaustür blieb Mike wie angewurzelt stehen. Ich fürchtete schon, er habe Bekannte entdeckt, als ihn eine helle Mädchenstimme anrief: »Hallo, Mike, da bist du ja. Wieder ein alter Kunde, der mir aus dem One Bull nachgelaufen ist.« Die Männer an der Theke lachten, und einer sagte: »Kein Wunder.« Mike, rot bis über die Ohren, ging zu dem Mädchen hinter der Theke. Ich schaute mich um. Tische und Bänke zogen sich hier an den Wänden entlang. Wer auf der Bank keinen Platz fand, griff sich einen Hocker. Mike stellte zwei weiße Krüge mit blauem Rand vor uns hin und murrte verdrossen: »Wenn ich geahnt hätte, daß sie in diesem Wirtshaus arbeitet, hätten mich keine zehn Pferde da reingekriegt.« »Warum? Magst du sie nicht?« »Red keinen Quatsch.« Er tauchte die Nase tief in seinen Krug. Mir dämmerte, daß er sie nur zu sehr mochte. Ich hatte nicht viel Erfah169
rung mit Mädchen. Meinen Schwestern und ihren Freundinnen ging ich möglichst aus dem Weg, andere kannte ich kaum. Neugierig musterte ich das Mädchen an der Theke. Ihr blasses Gesicht war nicht eigentlich hübsch, und doch ging ein sonderbarer, exotischer Reiz von ihr aus. Das glatte schwarze Haar umschloß ihren Kopf wie eine Lackhaube und war tief im Nacken zum Knoten verschlungen. Sie war adrett gekleidet; an dem hochgeschlossenen, dunkelvioletten Kleid glitzerten als einziger Schmuck kleine, goldfarbene Knöpfe. Auf den ersten Blick hätte man sie für ein Mitglied der Kirchengemeinde halten können, erst wenn man in die spöttischen dunklen Augen blickte, erkannte man den Irrtum. »Wie heißt sie?« »Lily Cattermole.« Der Name paßte nicht zu ihr. Ein gewichtiger Bibelname, wie Esther, Rebekka oder Jesabel hätte ihr besser angestanden. »Doch nicht eine von den Zigeuner-Cattermoles?« Mike nickte. Ich schaute mit gesteigertem Interesse zu dem Mädchen hinüber. Die Familie Cattermole war stadtbekannt. Vieles wurde ihnen nachgesagt, aber nie etwas nachgewiesen. Die Sippe hielt zusammen wie Pech und Schwefel. Wehe dem Baildoner Bürger, der ein abhanden gekommenes Ferkel oder Huhn bei ihnen suchte. Man nannte sie Zigeuner, obwohl das glatte Haar eher auf spanischen Einschlag deutete. Diesmal verhielt sich mein Magen friedlich, und mir wurde wieder leicht ums Herz. »Mike, ich habe eine Idee. Wir brauchen eine handfeste Ausrede, wenn wir öfters zusammen ausgehen wollen. Was hältst du davon, wenn wir uns zu einem Kurs beim ›Arbeiterfortbildungswerk‹ anmelden? Läßt dich Millie abends dorthin?« »Halts Maul. Was geht mich das Weibsstück jetzt an.« »Heut abend ließ sie dich nicht gern ziehen.« »Ich sag dir's im guten, lass mich in Frieden mit ihr.« »Ich mein' ja bloß«, beeilte ich mich, meinen Plan darzulegen, bevor Mike einen Koller kriegte, »du könntest ihr sagen, ein wenig Rechnen wäre dir als Zimmermann nützlich.« 170
»Jetzt sag mir bloß noch, ich sei auf der Schule ein Versager gewesen!« »Hör mir doch mal richtig zu…« »Halt endlich dein verdammtes Maul!« Das war deutlich, aber auch reichlich grob von ihm. Ich schwieg. Es ging auch ohne Mike. Ich konnte ebensogut allein einen Kurs belegen. Das Fortbildungswerk, in dessen Mauern strengstes Alkoholverbot herrschte, verfolgte das Ziel, Arbeiter den Wirtshäusern fernzuhalten und den Lernbeflissenen unter ihnen ein wenig Rechnen und Schreiben beizubringen. Vater würde sicherlich nichts dagegen einzuwenden haben. Mike trank sein Bier aus und stand auf, um Nachschub zu holen. Als er wiederkam, murmelte er etwas, das einer Entschuldigung ähnelte. »Sei nicht bös, Dave. Aber das Treffen mit ihr gibt mir den Rest. Ich bin nicht mehr im One Bull gewesen, seit ich geheiratet habe.« »Ich verstehe nicht, warum du…« Verlegen hielt ich inne. Für den Zeugungsvorgang kannte ich nur ein hässliches, kurzes Straßenwort und biblische Umschreibungen, wie ›fleischliche Lust‹, ›Blöße aufdecken‹, ›beim Weibe liegen‹ und was es sonst von der Sorte gab. Sie kamen mir in dieser Umgebung alle so läppisch vor, daß ich das kurze Wort benutzte. »Warum in aller Welt hast du Millie ge… wenn du in Lily verliebt warst?« Mike blickte mich verächtlich an. »Was verstehst du Rotznase schon davon. Lily heizt einem erst tüchtig ein und beginnt dann zu lachen. Und wenn du dann ein Ding wie eine Fahnenstange vor dir herträgst, kommt Millie und fällt über dich her wie eine läufige Katze. Hinterher stehst du dann da und kannst wählen, ob du dich lieber vom Schmied zum Krüppel schlagen oder vom Boss hinauswerfen läßt. Ach, hör auf damit!« »Ich glaube, ich wäre ausgerissen.« »Das fiel mir damals gar nicht ein. Wäre vielleicht besser gewesen.« Wir tranken aus und machten Anstalten, zu gehen. Lily rief uns nach: »Gute Nacht, Mike. Gute Nacht, Hübscher.« Zum Glück merkte keiner, wie ich errötete. Auf der Straße zog ich 171
Pfefferminzpastillen aus der Tasche und gab Mike ein paar davon. Er hatte vorhin doch zugehört, denn er fragte: »Was hast du vom Arbeiterwerk gesagt?« Ich erläuterte meinen Plan. Ich wußte gut Bescheid über das ›Arbeiterfortbildungswerk‹, da Mr. Phipps, ein guter Bekannter Vaters und Superintendent der Sonntagsschule, dort ebenfalls unterrichtete. Es war eher ein Temperenzlerclub als eine Schule, jedermann konnte im Rahmen der Öffnungszeiten kommen und gehen, wie es ihm paßte. Es gab kurze Vorträge sowie die Gelegenheit, die oft dürftigen Kenntnisse im Schreiben oder Rechnen zu ergänzen. »Wir könnten eine Stunde oder so dort bleiben und uns danach zu einem Bier verdrücken. Für mich ist es die einzige Möglichkeit, außer der Kirche, aus dem Haus zu kommen.« »Armer Kerl, du hast es auch nicht leicht.« »Na, du mußt mit Millie und dem quäkenden Baby auch einiges aushalten.« Mike lachte. »Wir sitzen im selben Boot, was, Dave?« Ich nickte. Bei mir dachte ich, nicht ganz im selben Boot, Gott sei Dank. »Im Januar beginnt ein neuer Kurs. Schau, daß du Millie herumkriegst, und ich versuche, Vater weichzumachen.« »Moment mal. Wir hatten zwei Shillinge. Davon haben wir acht Pence ausgegeben.« »Den Rest teilen wir. Erzähle Millie, ich hätte dir das Geld für die Hilfe beim Kästchen gegeben. Vielleicht wird ihre Laune davon besser.« »Die und bessere Laune? Ich bin schon heilfroh, wenn sie keine ganz schlechte Laune hat.«
172
3
M
it dem folgenden Jahr, man schrieb 1887, begann für mich das eigentliche Leben. Vater war einverstanden, daß ich einen Kurs im ›Arbeiterfortbildungswerk‹ belegte. Nach wenigen Tagen erzählte ich ihm, ein ehemaliger Schulfreund von mir, Mike Saunders mit Namen, nehme ebenfalls an dem Kurs teil. Er sei schon verheiratet und habe ein Baby. Zufällig wohne er im selben Haus wie Miss Walker. Ob ich hin und wieder eine Tasse Kakao bei ihm trinken dürfe? Das klang so unverfänglich, daß Vater seine Zustimmung gab. Von da an trafen wir uns jeden Donnerstag. Anfangs befiel mich oft die Angst, einer von Vaters Kunden oder Bekannten oder ein Bekannter eines Bekannten könnte mich in der Wirtschaft ertappen. Auch sorgte ich mich, Mr. Phipps könnte Anstoß daran nehmen, daß wir den Kurs meist schon nach einer Stunde verließen. Aber da die anderen Teilnehmer meist nur wenige Klassen besucht hatten, waren ich und sogar Mike ihnen weit überlegen. Wir erledigten die Aufgaben, zu denen die anderen Stunden brauchten, in Minutenschnelle. Mr. Phipps nickte zufrieden, wenn wir unsere Arbeiten abgaben – daß die von Mike stimmten, dafür sorgte ich – und anschließend verschwanden. Ich lebte mit der Gefahr und lernte sogar, sie zu genießen. Acht Pence aus der Schublade ergaben zwei Glas Bier für jeden von uns, weitere zwei Pence reichten für zehn Zigaretten. (Vater weigerte sich, Tabakwaren in seinem Laden zu führen. ›Du sollst deinem Bruder kein Ärgernis geben…‹) Eines Abends hörte ich, wie ein Mann zu Lily sagte: »Trinken Sie eins auf meine Rechnung, Miss.« Lily lächelte ihn freundlich an und goß sich ein kleines Glas Portwein ein. Von da an erhielt Lily jedes Mal ein Glas Portwein von mir. Vater bemerkte nichts. Ich hatte mich für den Fall, daß er doch einmal 173
dahinter kommen sollte, gerüstet. Ich war bald achtzehn und arbeitete wie ein Erwachsener. Von Rechts wegen stand mir Lohn zu. Das hätte ich ihm vorgehalten, wenn es zum Äußersten gekommen wäre. Gelegentlich gab er mir ein paar Sachen für Miss Walker mit, die ich meist Millie aushändigte. Überhaupt war sie nun freundlicher gesinnt wegen meines ›guten‹ Einflusses auf Mike, hatte ich ihn doch dazu veranlasst, einen Weiterbildungskursus zu besuchen. Im April erhielten die Ladeninhaber von Old Vine ein Schreiben von Mr. Turnbull, in dem er sich erkundigte, ob sie gegebenenfalls, und wenn ja, zu welchem Preis, ihren Laden verkaufen würden. Angeblich interessierte sich ein Käufer für das ganze Haus. Vater regte sich fürchterlich auf. »Da steckt sicher die Genossenschaft dahinter, die United Provision Retailers. Die haben sich schon in Bywater eingenistet. Sie verkaufen billigen Schund, geben keinen Kredit und unterbieten jeden ehrlichen Geschäftsmann. Nein, an die verkaufe ich nicht.« »Kein Mensch zwingt dich zum Verkauf«, besänftigte ihn Mutter. »Mich nicht, aber Robin und Steggles könnten auf sie hereinfallen.« Das waren die beiden Läden unmittelbar neben uns. »Und was dann? Dann ekeln die uns über kurz oder lang raus.« Aber als Vater sich mit Robin besprach, stellte sich heraus, daß dieser seinerseits einen Konkurrenten, nämlich eine Londoner Apothekenfirma, in Verdacht hatte. Während so jeder Eigentümer seine persönliche Theorie über den geheimnisvollen Käufer aufstellte, bekam auch die Baildon Free Press Wind von der Sache und veröffentlichte ihrerseits einen Artikel über den Fortschritt und Zusammenschluss gewisser Handelsfirmen. Ein paar Tage später geriet die Zeitung in die Hände von Miss Walker, die in einem Anfall von Verzweiflung alle fünf Läden aufsuchte, in die sie bisher nie einen Fuß gesetzt hatte. Sie flehte jeden Inhaber unter Tränen an, niemand anderem als ihr zu verkaufen. Sie begann bei Ashworth, dem Tuchhändler, dann waren wir an der Reihe. Als sie vor unserer Tür anlangte, war sie von einem Schwarm kreischender und johlender Kinder umringt. 174
Vater griff tief in das Bonbonglas und warf eine Handvoll in den Haufen. Während sich die Kinder balgten, zog er Miss Walker an der Hand in den Laden herein und schloß die Tür hinter ihr ab. Sie jammerte verstört vor sich hin, so daß Vater den Arm um sie legte und sie zu einem Sessel führte. Mit ihrem struppigen weißen Haarschopf und dem verschrumpelten Affengesichtchen, welches vom Weinen nicht eben verschönt wurde, sah Miss Walker wie eine schrullige Alte aus dem Witzblatt aus. Vater behandelte sie aber, als wäre sie Ihre Majestät die Königin persönlich. »Bitte verkaufen Sie nicht. Sie dürfen nur mir verkaufen«, winselte Miss Walker. »All die Jahre hab' ich nun gespart und gehungert, um das Geld zusammenzukratzen. Ja, ich hab' das Geld, ich habe die viertausend Pfund, für die mein Vater damals Old Vine verkauft hat. Versprechen Sie, daß Sie nur mir verkaufen?« Flehentlich sah Miss Walker zu Vater auf, der vor ihr stand. »Bitte, beruhigen Sie sich doch, Miss Walker. Regen Sie sich nicht auf, ich habe nicht die Absicht zu verkaufen.« »Es stand in der Zeitung. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Die ganzen Jahre habe ich gespart und gehungert…« »Spring mal rauf zu Mutter, David«, sagte Vater. »Und sag ihr, sie soll für eine Tasse Tee sorgen.« Aber Mutter stand bereits oben auf der Treppe und hörte zu. Mr. Ashworth tauchte in der Hintertür auf, wohl um Vater zu warnen, begriff, daß er zu spät kam, und setzte einfach über den Gartenzaun hinüber zu Robin. »Vielen Dank, ich möchte keinen Tee«, wies Miss Walker Vaters Anerbieten zurück. »Ich erwarte nichts als Ihr Versprechen, daß Sie niemand anderem als mir Ihr Geschäft verkaufen.« »Liebe Miss Walker«, begann Vater behutsam, »selbst wenn Sie die viertausend Pfund haben sollten… gut, gut, ich zweifle ja nicht daran, ich sage nur, wenn Sie die viertausend Pfund haben, reicht das heute nicht mehr. Mag sein, daß Ihr Vater damals viertausend Pfund für Old Vine erhalten hat, aber das ist vierzig Jahre her. Die Zeiten haben sich geändert, die Preise sind gestiegen. Fünf gut gehende Läden mit einem festen Kundenstamm sind viel mehr wert als der damalige Kaufpreis. Weinen Sie doch nicht schon wieder, beruhigen Sie sich!« 175
»Sie weisen mir wenigstens nicht die Tür. Sie sind ein guter Mensch«, schluchzte die Alte. »Bitte, versprechen Sie mir, daß Sie nicht verkaufen.« »Aber ich will nicht verkaufen, verstehen Sie doch. Das Geschäft geht ausgezeichnet, ich habe einen Sohn, der mein Nachfolger werden soll. Weshalb sollte ich es aufgeben?« »Es war ein so schönes Haus. Ein Haus, um darin zu leben, nicht, um Geschäfte zu machen. Aber das kann keiner verstehen. Schaut die Treppe da an. Abgetreten und zerkratzt. Ich habe sie damals jede Woche gebohnert, und jetzt ist alles abgenutzt und ungepflegt.« Sie weinte heftiger als manche Witwe am offenen Grab ihres Gatten. »Sehen Sie mal, Miss Walker«, sagte Vater. »Wir sind immer in Eile. Außerdem ist meine jüngste Tochter lahm an der Hüfte. Gebohnerte Holztreppen sind gefährlich, man rutscht so leicht darauf aus.« Mutter erschien mit einer Tasse Tee, von der Miss Walker jedoch keine Notiz nahm. »Das bringt mich ins Grab«, klagte sie weiter. »All die Jahre umsonst gehungert und gefroren.« Vater holte tief Atem und setzte mit ernstem Gesicht zu einer Predigt aus dem Stegreif an, die nicht einmal übel war. Wenn sie tatsächlich so viel Geld ihr eigen nannte, ließ sich damit viel Elend lindern oder aus der Welt schaffen. Was nützen der Seele irdische Schätze? Ein Narr, wer sein Herz an vergängliches Gut hängte! Nackt kamen wir auf die Welt und mußten sie in einem Hemd verlassen. Seine Rede war vertane Zeit. Miss Walker hörte nicht eine Sekunde zu, wie die von ihr hie und da eingeworfenen Worte erkennen ließen. Jemand rüttelte an der Tür. »Sie müssen heim, Miss Walker«, sagte Vater freundlich. »Ich muß den Kunden bedienen. David wird Sie nach Haus begleiten.« »Aber Sie haben nichts versprochen.« »Das eine kann ich Ihnen versprechen: Ich verkaufe nicht, ohne Ihnen rechtzeitig Bescheid zu sagen.« »Damit läßt sich was anfangen, das ist gut. Wenn ich die anderen auch dazu überreden kann, ist schon viel gewonnen. Ich muß 176
nachdenken, muß irgendeine Lösung finden«, brabbelte sie vor sich hin. Vater ließ den ungeduldigen Kunden ein, und wir machten uns auf den Weg. Miss Walker bestand darauf, auch die beiden letzten Geschäfte aufzusuchen, aus denen sie aber ohne viel Federlesens hinauskomplimentiert wurde. »Alle sind gegen mich, sind es immer schon gewesen. Miss Brooks hat mich nicht in die Schule aufgenommen. Zehn Jahre später, als zwei Lehrerinnen erkrankten, da schickte sie zu mir, ob ich nicht aushelfen könne. Aber ich genoß es richtig, ihr die Bitte abzuschlagen. Ich hatte selber zu viel mit meinen Privatschülern zu tun.« Der Gedanke an ihren Triumph bereitete ihr offenbar auch nach Jahrzehnten noch Genugtuung. Als wir an Thorley's Bank vorbeikamen, fragte ich: »Haben Sie Ihr Geld auf der neuen oder auf der alten Bank liegen, Miss Walker?« »Ich gebe mein Geld nicht auf die Bank. Ich habe aus bitterer Erfahrung gelernt. Auf einer Bank kann das Geld unversehens über Nacht verschwinden. Nein, was mir nach dem Verlust übrig blieb, habe ich in kleine, billige Häuser gesteckt, von deren Miete ich gelebt und gespart habe. Und vor kurzem habe ich alle verkauft.« Sie sah sich um, ob niemand in der Nähe war, und neigte sich dann vertraulich zu mir: »Wenn ich sage, ich habe viertausend Pfund, dann sind das viertausend Pfund in harter Währung, lieber Junge.« Wir gingen weiter. »Es ist schon sonderbar«, spann sie ihre Gedanken fort, »letzten Endes habe ich immer erreicht, was ich mir vorgenommen hatte. Auf Umwegen und unter Opfern, aber ich habe es geschafft. Ich kann lesen und schreiben, ich habe gelernt, mich wie eine Lady zu benehmen, und ich besitze viertausend Pfund.« Plötzlich lachte sie wie besessen auf. »Und das soll jetzt auf einmal nicht mehr genug sein. Wie der freundliche Kaufmann sagte, sind viertausend Pfund nicht genug. Jahrelang hab' ich gerechnet, ich habe von der Zahl geträumt, und jetzt reicht sie 177
nicht hin. Ich bin eine dumme alte Frau. Der Kaufmann, der freundlich zu mir war« – sie hatte anscheinend vergessen, daß sie von meinem Vater sprach –, »sagte etwas von einem festen Kundenstamm. Was meinte er damit?« »Wenn die Leute sich an ein Geschäft gewöhnt haben, kommen sie auch weiter dorthin, wenn der Besitzer wechselt. Der braucht die Kunden aber nicht mehr anzuwerben, aber natürlich muß man dafür bezahlen.« »Ich will niemandem etwas verkaufen.« »Nein, aber es ist immerhin ein Wert, der beim Verkauf eine Rolle spielt.« Als wir zum Marktplatz einbogen, blieb sie stehen. »Ich bin wirklich dumm. Ich habe ja noch anderen Besitz.« Sie packte mich beim Arm. »Hören Sie, junger Mann, wollen Sie die Leute bitten, nicht gleich zu verkaufen? Die sollen nur warten, ich kann alles zahlen, was sie verlangen. Natürlich sollen Sie als mein Bote nicht leer ausgehen. Warten Sie.« Mittlerweile hatten wir das Haus erreicht. »Kommen Sie herein, aber warten Sie unten an der Treppe.« In Mikes Wohnung plärrte das Baby. Ich wartete eine Weile, bis Miss Walker auf der Treppe erschien. »Hier.« Sie drückte mir eine Münze von der Größe eines Sechspennystückes in die Hand und sagte beschwörend: »Vergessen Sie es nicht! Sagen Sie denen da, sie sollen warten. Wenn es gelingt, wird es Ihr Schaden nicht sein!« Draußen sah ich mir im Zwielicht des sinkenden Apriltages das Geldstück näher an: ein goldener Halfsovereign. Als ich es in die Tasche gleiten ließ, erinnerte ich mich an ihr verändertes Verhalten. Bei meinem ersten Besuch hatte sie mich in ihr Zimmer gebeten, heute mußte ich unten warten. Es war durchaus denkbar, daß die närrische alte Schraube einen Haufen Bargeld im Zimmer aufbewahrte und deshalb auf der Hut war. Während des Abendessens kam Vater auf Miss Walker zu sprechen. Er meinte, sie sei ja noch verworrener, als selbst er angenommen hätte. Robin, unser Nachbar, hatte ihm während meiner Abwesenheit er178
zählt, daß Miss Walker ihr Geld mit Spekulationen verloren hatte. Sie war damals vor zwanzig Jahren nicht die einzige gewesen, die ihr Vermögen eingebüßt hatte. »Solche Menschen entwickeln oft eine fixe Idee. Ihr Verstand bleibt auf einer Ziffer stehen wie eine kaputte Uhr. Denkt daran, wie oft sie von den viertausend Pfund sprach! Nicht für das Doppelte könnte sie heute Old Vine erstehen! Ich möchte wetten, daß sie nicht den zehnten Teil zusammengescharrt hat.« »Sie sagte aber…« Mir ging ein Licht auf. Ich stockte. »Ja?« »Sie sagte, ihr sollt alle warten. Sie könnte noch andere Sachen verkaufen.« »Was habe ich gesagt?« Vater nickte bestätigend. »Sie glaubt, ihre alten Sachen sind ein Vermögen wert.« »Wieviel sie auch erspart haben mag«, bemerkte Mutter mit vorwurfsvollem Unterton, »es dürfte sicher mehr sein, als wir je ersparen werden. Wenn du schon Lebensmittel verschenkst, solltest du dich nach echten Armen umsehen.« »Leider hast du recht. Und doch tut mir die alte Dame leid.«
Die folgende Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich überlegte und rechnete, bis es mir gelang, die wirr in meinem Kopf kreisenden Gedanken zu ordnen. Bisweilen setzte ich mich im Bett auf, um mich davon zu überzeugen, daß ich nicht träumte oder fieberte, sondern wachen Verstandes ein Stück zum anderen fügte, bis der ganze Plan fertig war und keine Lücke mehr aufwies. Und als der Morgen dämmerte, erschien mir mein Vorhaben bei Tageslicht ebenso durchführbar wie im Dunkel der Nacht. Wieder und wieder durchging ich alle Einzelheiten, aber ich konnte keinen Fehler, keine schwache Stelle entdecken. Wenn ich behutsam vorging und einen klaren Kopf behielt, mußte mein Plan gelingen. Außerdem war Donnerstag und ich würde Lily sehen, was mir als gutes Vorzeichen erschien. 179
Kurz vor sieben begab ich mich zu Mike, um ihm mitzuteilen, daß ich weder zum Kurs noch ins Wirtshaus käme. Damit hoffte ich Lily für mich allein oder doch ohne Mike zu haben. In letzter Zeit hatten wir Lily ein paar Mal nach Hause begleitet. Als Mike einmal bei Glatteis auf dem rutschigen Straßenpflaster nach ihrem Arm griff, riß sich Lily mit einem Ruck los und schnaubte: »Lehnt euch doch aneinander, wenn ihr zu besoffen seid, um grade zu stehen!« Dennoch ließ sie sich offenbar gern begleiten, denn sie richtete sich ihre Arbeit so ein, daß sie fertig war, wenn wir aufbrachen. Vater hatte ich weisgemacht, Mike zeige mir nach dem Kurs noch, wie man tischlert. Mike erzählte Millie dasselbe Märchen. Vater glaubte, wir wären in Mikes Wohnung, und Millie war der Ansicht, wir wären bei mir, um das Baby nicht zu stören. Als Beweis für meine Ausrede fertigte Mike ein einfaches Wandbrett an, das ich Vater als meiner Hände Arbeit überreichte. Vater war gerührt und stolz und brachte seine Gebets- und Gesangbücher darauf unter. Mike gab ich hin und wieder einen Shilling, den er Millie als ›Lehrgeld‹ weitergab. Alle waren zufrieden. Vater legte sein Haupt auf sein sauberes Kissen, voller Genugtuung, daß sein Sohn ein nützliches Steckenpferd ritt – stammte doch unser Herr selber aus einer Zimmermannsfamilie –, während Millie ihr Köpfchen wohl auf ein schmuddeliges Kissen bettete, mit dem befriedigenden Gedanken, daß ihr einfältiger Mike ein paar Pence hinzuverdiente. Unterdessen lehnten wir an der Theke oder marschierten, Lily zwischen uns, zum anderen Ende der Stadt. Als ich diesmal zu Mike hereinschaute, war Millie nicht da. Mike aß eine Käsestulle am klebrigen Küchentisch. »Schau dir das bloß an«, sagte er mit vollem Mund und zeigte mit dem Daumen auf ein Durcheinander von Kleidern und Wäsche, das ein hübscher blauer Strohhut, rundum mit Stiefmütterchen garniert, krönte. »Wo wir ohnehin bis zum Hals im Dreck stecken, mußte sie sich das Ding da kaufen.« Ich sah mich um. Das mit dem Dreck stimmte. »Nein, ich meine die Kündigung.« »Von deinem Chef?« 180
»Von dem alten Drachen da oben. Kommt die gestern abend runter und sagt, wir sollen in zwei Wochen draußen sein, sie will die Bude verkaufen. Millie will zu ihrem Vater ziehen. Ohne mich, sag' ich dir. Aber wer sonst nimmt schon so 'ne Schlampe mit 'nem ewig brüllenden Balg. Wenn wir keine Wohnung finden und Millie zu ihrem Alten zieht, pack' ich meine Sachen und hau' ab. Schlimmer kann es anderswo auch nicht sein.« Gestern noch hätte ich ihn ratlos bedauert, denn immer noch scheute ich mich, allein ins Wirtshaus zu gehen. Aber nach dieser Nacht focht mich nichts dergleichen mehr an, deshalb bemerkte ich gelassen, daß ich an seiner Stelle das längst getan hätte. »Ich Dussel hatte Angst vor Millies Vater. War ich doch damals gleich auf und davon, als sie mir mitteilte, ich hätte ihr ein Kind angehängt. In London hätte mich keiner so schnell gefunden.« Ich nickte kühl. Verglichen mit mir war er ein Trottel ohne Phantasie und Verstand. Ich sagte mein Sprüchlein auf, daß ich heute abend verhindert sei, verabschiedete mich und schlich auf Umwegen zum Pot of Flowers. Da es noch sehr früh war, traf ich Lily allein in der Wirtsstube an. Wir unterhielten uns eine Weile über das Wetter, über Mike und über unsere Familien. Wir mußten lachen, als sich ergab, daß wir beide unsere Familie hassten: Lily, weil ihre Leute zu wenig, ich, weil die Meinen zu sehr ›ehrbar und anständig‹ waren. Lily versuchte ihre Herkunft durch Stolz auszugleichen. Wie Mike mir gestanden hatte, war es trotz ihrer unnahbaren Haltung zwischen ihnen früher oft zu heimlichen Küssen gekommen. Vermutlich hätte sie ihn geheiratet, wenn die Sache mit Millie nicht dazwischengekommen wäre. Seither hatte ich Mike manchmal neidisch von der Seite her beobachtet: ein großer, starker Bursche mit hellem Haar und bräunlicher Haut, blauen, nicht allzu ausdrucksvollen Augen. Es gab Dutzende von der Sorte. Und doch hatte Lily gerade ihn geküßt. Ich hatte eine Weile nicht hingehört und wurde erst wieder aufmerksam, als Lily sehnsuchtsvoll von einem Ball erzählte, den sie abends zuvor durch die offenen Fenster des Ballsaales beobachtet hatte. Die 181
Damen trugen, so berichtete sie, helle Seidenkleider und funkelnden Schmuck im Haar und auf dem tiefen Dekolleté. In ihren Augen spiegelte sich das Verlangen, sich ebenso geschmückt nach den Klängen der Musik zu wiegen. In zehn Jahren vielleicht konnte ich ihr den Wunsch erfüllen. Nichts sprach dagegen, daß ich als Ladeninhaber ebenso erfolgreich sein würde wie Mr. Propert, unser Vorgänger, der ein schönes Haus in der Weststadt bewohnte und seine Frau im Zobelpelz ausfahren ließ. Zehn oder fünfzehn Jahre. Aber ich lebte hier und jetzt. Ich betrachtete Lily, die sich in der Schilderung der Damentoiletten nicht genug tun konnte. Mit ihrer leichten Hakennase und dem vorstehenden Kinn würde sie mit fortschreitendem Alter der Hexe aus dem Märchenbuch immer ähnlicher werden. Aber heute war sie noch schön, zumindest in meinen Augen. Ich träumte deshalb davon, nein, nicht sie zu heiraten, sondern mit ihr in einem vornehmen Londoner Hotel abzusteigen, wo die Vorhänge aus Samt und das Bettzeug aus Seide waren. Ich würde auf dem Bett liegen und zusehen, wie Lily ein Kleidungsstück nach dem anderen ablegte, bis sie nackt, nur in ihr langes schwarzes Haar gehüllt, vor mir stünde. ›Komm her‹, würde ich heiser flüstern. Und Lily würde sich über mich beugen, bis der schwarze Haarschleier über mein Gesicht fiele und ich ihren weichen Leib an den meinen preßte. Ich war erst achtzehn und noch unerfahren, trotzdem verfiel ich nicht in den Fehler, meine Nachtträume und meine Alltagswirklichkeit miteinander zu vermengen. Ich war nicht verliebt in Lily, sonst wäre nicht das Bild der Märchenhexe und des Londoner Hotels vor meinen Augen aufgestiegen, sondern das einer einzigen Zweizimmerwohnung. Ich begehrte sie hoffnungslos, das heißt, seit heute nacht hatte ich eine Chance. Lily trug an diesem Aprilabend ein neues Kleid aus hellrosa Wollstoff, das sie zugänglicher und weicher erscheinen ließ als ihre dunkelstrengen Winterkleider. »Sag mal, David, kommt Mike heute nicht?« »Ich glaube nicht. Er hat Kummer mit seiner Hauswirtin.« »Gekündigt?« 182
»Ja.« »Kein Wunder. Ich hätte Millie mit ihrem Saustall schon längst an die Luft gesetzt. Die alte Walker hat eine Engelsgeduld.« »Weißt du was? Heute leiste ich dir beim Portwein Gesellschaft. Ein großes Glas für jeden von uns.« Damit legte ich das Goldstück von Miss Walker vor sie hin. »Alle Achtung«, sagte sie anerkennend. »Du hast es aber dick.« »Noch immer nicht so, wie ich möchte. Kommt aber noch, vielleicht schon bald. Eine alte Tante in Brighton hat mich als Erben eingesetzt.« Die Tante in Brighton stimmte, nur zu erwarten war von ihr nichts. »Da hast du ja erfreuliche Aussichten«, meinte Lily. Sie kniff prüfend die Augen zusammen. »Wenn es soweit ist. Die Tante ist über achtzig. Ich rede nur nicht darüber, irgendwie paßt es mir nicht, auf den Tod eines anderen zu warten. Aber was hilft es? Ich muß dauernd an das Geld denken. Dann fahre ich endlich einmal nach London.« »Dort möchte ich auch mal hin«, antwortete Lily träumerisch und warf mir abermals einen verhangenen Blick zu. Sie griff zu einem Tuch und begann, die nassen Gläser zu polieren. »Hat Mike schon eine andere Wohnung?« »Millie will zu ihrem Vater ziehen.« »Du meine Güte, Mike wird kaum davon entzückt sein.« »Ist er auch nicht.« Ein paar lärmende Gäste kamen ins Lokal, die Lily mit Getränken versorgte. Als sie fertig war, wandte sie sich wieder mir zu und setzte unser Gespräch fort, als sei es nicht unterbrochen worden: »Als ich noch im One Bull arbeitete, amüsierte sich Millie mit der halben Stadt. Daß ausgerechnet Mike ihr auf den Leim gehen mußte! Das Baby kann von jedem anderen sein.« »Vielleicht schreit es deshalb so viel –, es weint nach seinem richtigen Vater.« Lily lachte. »Für dich ist alles lustig, was?« »Alles nicht. Übrigens ist es gleich, ob wir über Mike lachen oder weinen. Millie und das Baby wird er damit nicht los.« 183
»Da hast du leider recht«, stimmte Lily mir zu. Ich trank ein weiteres Glas Portwein und ging, als immer noch mehr Gäste erschienen und Lily alle Hände voll zu tun hatte, ungewöhnlich früh nach Hause. Im Bett überdachte ich nochmals meinen Plan und fand, daß nichts schief gehen konnte, wenn mir nicht irgendein völlig unvorhersehbarer Zufall in die Quere kam. Zuversichtlich überließ ich mich dem tiefen, gesunden Schlaf meiner Jugend.
Am folgenden Morgen erwähnte ich scheinbar nebenher: »Mike Saunders erzählte mir gestern von einer armen Frau, die eine Stelle bekommen könnte, wenn sie nur ein ordentliches Kleid besäße, um sich vorzustellen.« Ich sah, wie Mutter innerlich kämpfte. Der Fisch hatte angebissen. »Ich hab' da noch das Graue. Unter den Ärmeln ist es zwar zerrissen, ich wollte es für Marty ändern. Aber wenn es darum geht, daß jemand eine Stelle bekommt oder nicht… Ich flicke den Riß nachher, wenn ich Zeit habe.« Nun stieg mir doch die Schamröte ins Gesicht. Mutter war ein zweites Opfer von Vaters religiöser Besessenheit, wenn auch in genau entgegengesetztem Sinne wie ich. »Spar dir die Mühe. Die Frau kann sich das Kleid selber zurechtflicken. Einem geschenkten Kleid schaut man nicht unter die Ärmel.« Das war genau die Art von Witz, die in unserer Familie ankam. Sogar Vater lachte. Marty sah mich mit einem Blick tiefsten Dankes an, daß ich sie vor dem alten Kleid bewahrt hatte. Ihre Aussichten auf ein hübsches Sommerkleid waren beträchtlich gestiegen. Ähnliches spielte sich im Köpfchen meiner jüngeren Schwester Sarah ab, denn sie sagte eilfertig: »Die Frau kann meinen braunen Hut dazu haben, der neulich so nass wurde, als der Regen mich überraschte und ich nicht schnell genug laufen konnte.« Sarah ließ nie eine Gelegenheit aus, auf ihr Gebrechen anzuspielen, wenn ein Vorteil in Sicht war. 184
»Mikes Mutter kennt die Frau«, beendete ich das Gespräch. »Ich bringe ihr die Sachen heute abend hin.«
Es war Freitag, ein langer Arbeitstag im Lebensmittelhandel. Erst nach neun Uhr abends kam ich dazu, mein Vorhaben auszuführen und, wie meine Familie glaubte, ein gutes Werk zu tun. Im Keller drehte ich den Hahn des großen Essigfasses auf und hielt das graue Kleid unter den Strahl, bis es völlig durchtränkt war und der Stoff eine erdige Farbe angenommen hatte. Dann drehte ich den Hahn so weit zu, daß er nur leicht tropfte. Den Hut und das Kleid rollte ich zu einem festen Bündel zusammen. Im Winter ist Baildon immer eine gut ausgeleuchtete Stadt, bis zu einem Tag im April, an dem die Lampen eingesammelt und für die Sommermonate in ein Lager gebracht werden. Da der Mond noch nicht am Himmel stand, war es unter dem Torweg, wo ich mir das Kleid überstreifte und den Hut aufsetzte, stockfinster. Ich zog die schweren, genagelten Schuhe aus und versteckte sie hinter einem Mauervorsprung. Da ich damals ziemlich schmächtig war, konnte ich für einen flüchtigen Beobachter durchaus als weibliches Wesen gelten. Ich eilte mit flinken Schritten, wie eine ängstliche Frau auf dem Heimweg, über die Straßen zum Marktplatz, wo ich gegenüber dem Häuschen von Miss Walker in einer dunklen Ecke verharrte. Ich schaute mich lange um und horchte. Keine Menschenseele war unterwegs. Die ordentlichen Familienväter lagen im Bett oder saßen noch im Kreise ihrer Lieben; die weniger ordentlichen hockten um diese Stunde noch fest in ihrer Stammkneipe. Die unteren Fenster waren dunkel, Millie und Mike waren anscheinend zur Ruhe gegangen. Hinter den Fenstern im ersten Stock waberte das schwache Licht einer dünnen Kerze. Wie ich längst wußte, war die Haustür nie verschlossen. Um so sorgfältiger sperrten die Hausbewohner ihre Wohnungstüren ab. Sicher hatte Miss Walker ihre Tür doppelt verschlossen und verriegelt. Geräuschlos öffnete ich die Haustür, schlich mich die Treppe hinauf und 185
pochte leise an die Tür, hinter der ich die Kerze vermutete. Nichts geschah. Ich klopfte etwas lauter, voller Besorgnis, daß Mike oder Millie etwas hören könnten. Endlich vernahm ich die schlürfenden Schritte von Miss Walker und ihre Stimme: »Wer ist da, was wollen Sie?« Ich legte meinen Mund an das Schlüsselloch und flüsterte, wobei ich möglichst Millies Sprechweise nachahmte: »Pst. Wecken Sie das Baby nicht auf. Ich möchte nur eine Kerze borgen.« Ich hörte, wie Miss Walker herumkramte und etwas von einem unverschämten Pack murmelte. Dann drehte sich der Schlüssel im Schloß, ein Riegel wurde zurückgestoßen und die Tür ging einen Spalt breit nach innen auf. Es war gelungen! Ich drückte kräftig gegen das Türblatt, so daß Miss Walker ins Zimmer zurücktaumelte. Sie vermochte noch zu sagen: »Aber Sie sind ja gar nicht…« als meine Hand ihr den Mund verschloss. Ich zog mit der anderen ein großes Taschentuch hervor und knüllte es zusammen. Als sie nach Atem schnappte, schob ich ihr es als Knebel in den Mund und band ihn mit dem Schal, den Miss Walker um den Hals trug, fest. Dann trug und zerrte ich sie zu einem der großen Lehnstühle und fesselte sie mit Stricken, die ich aus meiner Tasche zog, an Lehne und Stuhlbeine, so daß sie sich nicht mehr zu rühren vermochte. Ich war in Sicherheit. Festgebunden und außerstande, fremde Hilfe herbeizurufen, starrte mich Miss Walker aus ihrem Sessel an. In aller Ruhe begann ich zu suchen, etwa so wie zu Hause nach einem davongerollten Wäscheknopf. Mir konnte nichts geschehen. Irgendwann im Laufe des kommenden Tages würde es ihr schon gelingen, jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Der Polizei konnte sie nichts anderes berichten, als daß eine Frau in braunem Kleid und Hut in ihr Zimmer eingedrungen sei und ihr viertausend Pfund geraubt habe, eine Summe, die ihr ohnehin niemand glauben würde. Bestenfalls gestand man ihr den Verlust einiger weniger Pfund zu. Unter dem Bett befanden sich nichts als Flusen und ein Nachttopf. Das Schränkchen über dem Herd enthielt altes, teilweise angeschlagenes Geschirr und ein paar Arzneischachteln. Im Kleiderschrank hin186
gen schäbige Lumpen, eine Truhe barg Wäsche und Besteckteile, möglicherweise sogar aus Silber, aber daran lag mir nichts. Im Hochsekretär fand ich Bücher, stapelweise alte Briefe, Papier und Zeitschriften. Sonst nichts. Keine Beutel, kein schweres Paket. Verdammt, dachte ich, sie hat es im Fußboden oder in einem Wandloch versteckt. Wenn ich danach klopfte, wachten Mike und Millie möglicherweise auf. Ich nahm die Kerze in der Absicht, ihr ein wenig die Hand zu sengen, damit sie mir das Versteck verriet. Aber dem Affengesichtchen, das höhnisch über dem Schal hervorguckte, sah ich an, daß ich auch anders vorgehen konnte. Ich brauchte nur im Zimmer umherzugehen und zu beobachten, wann sich der Hohn in Besorgnis kehrte. Ich trat zum Bett, zum Kleiderschrank. Die Augen funkelten triumphierend. Da, endlich. Als ich mich dem Sekretär näherte, glomm Angst in ihren Augen auf. Es war wie das alte Kinderspiel ›Heiß und kalt‹. Das schwere Schreibmöbel ruhte auf massigen Füßen und war mit Intarsien aus verschiedenen Hölzern und Schildpatt verziert. Ich zog nochmals die Schubladen auf und räumte die Bücher von den oberen Regalen. Wiederum ohne Erfolg. Mir fiel auf, daß das Möbel an den Längsseiten mit Griffen versehen war, damit man es leichter von der Stelle rücken konnte. Ich zog erst an dem einen, dann am anderen Griff. Ich hörte, wie mein Opfer vor Verzweiflung stöhnte und sich im Sessel aufbäumte, was bewies, daß ich auf der richtigen Fährte war. Steckte das Geld etwa hinter dem Sekretär in einem Wandloch? Aber wenn ich den Klotz nicht vom Fleck brachte, wie hätte ihn die zarte Miss Walker fortziehen können? Mehr zufällig drehte ich an dem einen Griff. Es knarrte leise, und eine als Blende getarnte Schublade kam mir entgegen. Es waren Säckchen darin aus alten Stoffen, mit großen, ungeschickten Stichen aus schwarzem Garn zusammengenäht. Ich wog eines in der Hand. Es war schwer und klirrte. Kein Zweifel, ich hatte den Schatz entdeckt. Mein Herz hämmerte in der Kehle. Jetzt bloß keinen Fehler begehen, ganz ruhig bleiben! Besonnen steckte ich die Säckchen eines nach dem andern in den Mehlsack, den ich zu diesem Zweck mitgebracht hatte, als es plötzlich hinter mir rumpelte. Hatte es doch die alte Hexe fertig gebracht, sich so lange mit dem 187
Oberkörper hin und her zu schwingen, bis der Stuhl ins Schaukeln geraten war und die Sesselbeine mit einem dumpfen Ruck auf den Fußboden krachten. Einmal, ein zweites Mal. Ich ließ den Sack fallen, sprang zu ihr hin und legte ihr die Hände um die Gurgel. »Sei still oder ich erwürge dich«, raunte ich. Noch einmal bäumte sie sich auf und ließ die Stuhlbeine laut aufprallen. Ich drückte zu. Durch ihren Körper lief ein Zittern, aber ich hielt fest, bis ihre Glieder erschlafften und Miss Walker besinnungslos im Stuhl hing. Ich wartete eine Minute, aber sie rührte sich nicht wieder. Dann fuhr ich fort, die Geldsäckchen zu verstauen. Ich war fast fertig, als es an der Tür klopfte und Mike Saunders' schläfrige Stimme vor der Tür fragte: »Alles in Ordnung, Miss Walker?« Ich erstarrte. Mein Magen zog sich im Krampf zusammen, als sich die Klinke bewegte und die Tür aufging. Ich hatte einen tödlichen Fehler begangen: Ich hatte vergessen, die Tür abzuschließen. Mikes zerzauster Kopf sah herein. Überrascht stieß er die Tür ganz auf und trat ein. Er war im Nachthemd und trug eine Kerze in der Hand. Er blickte mich an, sah zu Miss Walker und wieder auf mich, während sich sein sonst nur einfältiges Gesicht vor Staunen zu einer Fratze verzerrte. »Was ist hier los? Wer sind Sie? Aber…« Sein Mund klappte auf. »Du, David?« Ich überlegte gespannt. Selbst wenn ich ihn niederschlug und entkam, war er Zeuge, daß ein Raubüberfall geschehen war. Die einzige Möglichkeit bestand darin, ihn so tief wie möglich in die Sache zu verwickeln. Ich legte den Finger auf die Lippen. Die Alte konnte jeden Augenblick aus der Betäubung erwachen. Seine Augen traten schier aus den Höhlen, aber er schwieg, als ich ihn auf den Treppenabsatz hinauszog und flüsterte: »Sprich leise, Mike. Hat Millie was gehört?« »Was machst du hier?« »Antworte! Ist Millie aufgewacht?« »Nein.« »Bist du sicher?« 188
»Sie hat für das Baby ein Beruhigungsmittel geholt und hat einen Teil davon selber eingenommen. Sag endlich, was tust du hier?« »Ich erleichtere deinen Hausdrachen ein bißchen. Tausend Pfund hab' ich gefunden.« »Tausend Pfund? Und mir jammerte sie vor, sie hätte keinen Penny und müßte deshalb das Haus verkaufen.« In diese Kerbe mußte ich hauen: »Da siehst du, was für eine gemeine, alte Wucherin sie ist. Geschieht ihr grade recht. Meinst du nicht auch, Mike?« »Hast du sie umgelegt?« »Aber wo. Sie klopfte mit dem Stuhl auf den Boden, und ich bekam Angst, daß einer von euch wach wird. Ich hab' sie ein bißchen eingeschläfert.« »Sie sah so komisch aus. Sollen wir ihr nicht Wasser ins Gesicht gießen, damit sie zu sich kommt?« »Und uns verpfeift? Nur zu, mein Lieber, dann gehn wir beide in den Knast, bis wir alt und grau sind.« »Wir beide? Ich doch nicht! Ich bin nur hergekommen, weil ich sie klopfen hörte.« »Kannst ja versuchen, ob dir die Polizei das Märchen glaubt. Die halbe Stadt weiß, daß wir Freunde sind. Und da soll einer von uns nichts dabei getan haben?« »Aber ich hab' doch wirklich nichts getan!« »Wir sitzen in einem Boot, Mike. Meinetwegen, weck die Alte auf und erzähl ihr, ich hätte sie ausgeraubt. Ich erzähle was ganz anderes. Mal sehen, wer zum Schluß recht behält.« Mike schaute mich verstört an. Was hier geschah, ging über seinen Horizont. »Ja, was soll ich dann machen, Dave?« »Gar nichts. Leg dich neben Millie und schlafe. Du weißt von nichts. Wenn du den Mund hältst, teile ich mit dir. Du bekommst die Hälfte der Beute. Ich wollte dir sowieso was davon abgeben.« »Du willst mir fünfhundert Pfund geben?« »Die Hälfte von tausend, ja.« 189
»Ohne daß ich dafür etwas tu?« »Dafür, daß du nichts tust! Die Alte wird sagen, sie sei ausgeraubt worden. Dabei glaubt ihr sowieso kein Mensch, daß sie wirklich Geld hatte. Ich weiß ein sicheres Versteck. Wir müssen nur warten, bis keiner mehr an die Geschichte denkt, dann erst dürfen wir es ausgeben. Dann kannst du dir meinetwegen ein ganzes Haus mieten.« »Nein, dann fahr' ich nach London und fang dort ein neues Leben ohne Millie an.« »Das kannst du sogar schon früher tun. Vorausgesetzt, daß du zunächst den Mund hältst.« Mike strahlte mich mit seinen blauen Augen an und sagte gerührt: »Gott segne dich dafür, Dave.« Das mutete unter diesen Umständen selbst mich sonderbar an. Auf der Treppe fiel ihm etwas ein. Er kehrte um und fragte: »Wann treffen wir uns?« »Wie immer, nächsten Donnerstag. Einen Monat lang müssen wir weitermachen, als sei nichts geschehen.« Aus seiner verständnislosen Miene schloß ich, daß ich ihm den Sachverhalt genau darlegen mußte. »Paß auf, Mike. Wenn der Sonntagsbraten fort ist und der Hund buddelt ein großes Loch im Garten, kannst du sicher sein, daß er das Fleisch gestohlen hat. Liegt er aber vor dem Ofen und schläft oder tut er auch nur so, als schliefe er, fällt kein Verdacht auf ihn. Verstehst du? So müssen wir jetzt handeln.« »Ich habe es kapiert. Gute Nacht, Dave.« Endlich tappte er die Treppe wieder hinunter.
Mein Leichtsinn hatte mich fünfhundert Pfund gekostet. Jetzt durfte nichts mehr passieren. Ich packte die letzten Säckchen ein und stellte den Mehlsack vor die Tür. Dann sah ich nach der alten Frau. Eigentlich wollte ich ihr noch einen Boxhieb auf den Kopf verpassen, damit sie noch ein paar Stunden weiterschlief, aber als ich herantrat, merkte ich, daß es nicht nötig war. Die Augen standen offen, ohne jedes Zeichen von Bewußtsein. 190
Obwohl ich noch nie einen Toten gesehen hatte, wußte ich, daß Miss Walker nicht mehr lebte. Mir war es völlig gleichgültig. Ich empfand nichts außer dem heißen Wunsch, den Tatort so rasch wie möglich zu verlassen. Schließlich war es nicht meine Absicht gewesen, sie zu töten. Miss Walker hatte ihr Schicksal selbst verschuldet, als sie mit dem Stuhl gepocht hatte. Kein Mensch in Baildon würde über den Tod der alten, lästigen Närrin betrübt sein. Ich löste die Stricke, knotete den Schal auf und zog das Taschentuch aus ihrem Mund. Es roch säuerlich nach Erbrochenem. Ich steckte alles in die Tasche des Kleides. Dann schaute ich mich nochmals um. Außer dem toten Affengesicht ließ nichts auf die Ereignisse der vergangenen Stunde schließen. Lange stand ich hinter der Tür, bevor ich mich auf die Straße hinauswagte. In der Ferne grölten ein paar Betrunkene. Bis zum Torweg trug ich den Sack eng an den Leib gepresst, wie eine Wäscherin ein Bündel schmutziger Wäsche. In der finsteren Ecke zog ich das Kleid aus und verstaute es mitsamt dem Hut im Mehlsack. Ich zog die Stiefel an und trug nun den Sack nach Männerart auf der Schulter weiter bis zur Nebengasse, die von hinten an den Garten von Old Vine heranführte. Robin, unser Nachbar, hatte den Garten gepachtet. Im vorderen Teil pflanzte er Rosen und Kräuter, auf die er sehr stolz war, den hinteren Bereich ließ er verwildern. Unter einem mächtigen Fliederbusch stand, von Efeu und anderen Schlingpflanzen bis zur Unkenntlichkeit überwuchert, eine Steinbank und davor eine alte Sonnenuhr. Ich schwang mich über den Zaun, hob die Zweige an und schob den Sack in den Hohlraum unter die Bank, wobei mir die ersten scharfen Brennnesseln die Hände verätzten. Als ich die Zweige hinunterließ, war nichts zu sehen. Ich brauchte nichts ein- oder auszugraben, wenn ich an meinen Schatz wollte. Soweit mich keiner sah, konnte ich jederzeit an mein Vermögen heran. Als ich zur Küchentür hereinkam, fuhr Vater mich an: »Wer war als letzter am Essigfaß?« »Warst das nicht du?« fragte ich harmlos. »Der kleine Arber wollte für zwei Penny Essig haben. Erinnerst du dich? Er hatte einen Krug ohne Henkel bei sich.« 191
»Du liebe Zeit, und ich habe auf dich geschimpft. Ich bemerkte die Pfütze erst, als ich Kerzen unten holen wollte. Das ganze Haus stinkt nach Essig.« »Ich habe es beim Hereinkommen gleich gerochen.« Ich gähnte herzhaft. »Huch, bin ich müde. Na, denn gute Nacht.« Wie immer schlief ich sofort ein. Erst gegen Morgen verfolgten mich Alpträume. Ich lag mit Lily im frisch gemähten Heu. Sie zog sich langsam aus, aber als sie ihr Hemd über den Kopf zog, schaute nicht ihr dunkles Köpfchen, sondern Miss Walkers totes Gesicht mit weit offenen Augen darunter hervor. Ich fuhr auf und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Das Herz klopfte mir bis in die Schläfen. Da ich doch nicht wieder einschlafen konnte, stand ich auf und sah zum Fenster hinaus. Der Morgen dämmerte bereits. In Robins Garten hoben sich die Büsche und Sträucher dunkel gegen den fahlen Himmel ab. Ich dachte an den Schatz, den sie bargen, und genoß den kommenden Tag, der sich mit einem purpurnen Streifen am Horizont ankündigte. Der Samstag war immer ganz besonders anstrengend. Die Bauern der umliegenden Dörfer kamen zum Markt und kauften auf dem Heimweg Zucker, Kakao, Tee und alle die anderen Dinge ein, die sie auf ihrem Hof nicht selbst erzeugten. Mittags erhielten die Arbeiter ihren Wochenlohn. Bald darauf stürzten die Frauen herein und kauften für den Sonntag das ein, was sie sich die Woche über versagen mußten. Kurzum, es wurde immer zehn Uhr, bis wir endlich todmüde hinter unserer Tasse Tee ausruhten. Vaters Gesicht war grau vor Ermattung, was Mutter zu der anzüglichen Bemerkung veranlaßte: »In einem netten kleinen Dorfladen brauchten wir uns nicht so abzurackern. Und für die Kirche hättest du auch mehr Zeit übrig.« Vater lachte gequält. »Die alte Geschichte. ›Das Weib verführte mich.‹ Dazu kann ich nur sagen, daß ich wirklich in großer Versuchung bin. Robin meint, er könne für fünftausend verkaufen. Ich könnte dasselbe verlangen, wenn ich sicher wäre, daß nicht die Genossenschaft dahintersteckt.« 192
»Das kann dir doch egal sein. Kein Mensch ist verpflichtet, billigen Ramsch zu kaufen.« »Das verstehst du nicht. Wenn wir kleinen Kaufleute nicht zusammenhalten, stecken uns die großen in den Sack. Jedem anderen gern, aber nicht der Genossenschaft!« Ich sah meine Chance. In einem kleinen Dorfladen brauchte Vater mich nicht. Wenn unsere nun seit zwei Jahrzehnten erstarrte Lebensweise plötzlich in Bewegung geriet, würde es für mich ein leichtes sein, mich von der Familie zu trennen und eigene Wege zu gehen. Der Sonntag kam, mit seinem üblichen Kirchgang und der Sonntagsschule, in der Marty und ich als Unterweiser tätig waren. Während mich die Angelegenheit furchtbar langweilte, war Marty mit Eifer dabei, da dies für sie eine Gelegenheit war, Mr. Phipps, den Leiter der Sonntagsschule, zu treffen, für den sie heimlich schwärmte. Ich teilte die Texte aus und ließ die Kinder die ewig gleichen Sprüche hersagen. Auch die Gebete und der Gesang der eher schrillen als hellen Kinderstimmen gingen einmal zu Ende. Als ich ins Freie trat, lehnte Mike Saunders am Gartenzaun des gegenüberliegenden Hauses. Ich wies Marty an, schon vorzugehen. Ich käme gleich nach. Sonntags tranken wir Tee mit selbstgebackenen Kuchen, zu dem sich neuerdings auch Mr. Phipps einfand. Froh über das unerwartete Alleinsein schlugen Mr. Phipps und Marty den Weg nach Hause ein. Mike kam auf mich zu. »Dave, ich muß dir sagen…« »Ist nicht abgemacht, daß wir uns erst am Donnerstag treffen?« schnitt ich ihm das Wort ab. »Dave, hör mir zu. Gestern kam nicht ein einziger Laut von oben. Nicht einmal die Miete hat sie einkassiert. Sogar Millie wunderte sich darüber. Da bin ich halt hinauf und hab' nachgesehen. Dave, sie liegt tot im Lehnstuhl!« Aus Mikes Stimme klang helles Entsetzen. »Und was willst du tun?« »Ich?« 193
»Ja, du. Du kommst zu mir und erzählst, du hättest deine Hauswirtin tot in ihrem Lehnstuhl gefunden. Was habe ich damit zu tun?« »Sag mir doch, was ich tun soll«, bat Mike. »Gar nichts. Du hast schon zuviel getan.« »Millie weiß von nichts«, verteidigte er sich. »Ich habe niemandem etwas gesagt. Aber es war so unheimlich, als alles still blieb.« »Zuerst sorgst du dich, weil du Geräusche hörst, und wenn es hinterher still bleibt, ist es dir auch nicht recht. Was hättest du getan, wenn die Alte ein andermal nicht um die Miete heruntergekommen wäre? Nichts hättest du getan. Du hättest gesagt, gut, wenn sie das Geld nicht will, soll sie es bleiben lassen. Nachtragen werde ich ihr's nicht. Stimmt's?« »Doch. Ich weiß selber nicht. Jetzt sag bloß noch, du hast nichts von fünfhundert Pfund gesagt.« »Die habe ich dir versprochen, und ich halte Wort. Aber nur unter der Bedingung, daß du dich um nichts kümmerst und die Dinge laufen läßt.« Sie sollte so lange wie möglich unentdeckt liegen bleiben, damit die Verwesung alle eventuellen Spuren an ihr verwischte. Ich wußte nicht, inwiefern die Polizei die Todesursache nachweisen konnte. Je länger die Leiche oben lag, desto eher war ein natürlicher Tod denkbar. Es gab nur eine einzige Spur, die von dem Verbrechen zu mir führte, und die lief über den Trottel da. Ich mußte ihn festnageln. Gerade setzte er erneut an. »Weißt du, es ist nicht schön, da unten im Bett zu liegen und sich vorzustellen, wie es über einem aussieht. Ich habe heut nacht kaum geschlafen. Es wird immer wärmer, bald beginnt sie zu stinken. Ich könnte das nicht aushalten.« Wie bald würde es soweit sein? Bei Lazarus heißt es, er stank bereits nach drei Tagen. Aber das war in wärmeren Ländern. Und es mußte schon ein deftiger Gestank sein, der Millies Baby übertrumpfte. Wie dem auch war, irgendwann würde sie es merken. »Hör mal«, schwatzte Mike weiter. »Könnte ich meinen Anteil nicht gleich haben? Ich würde sofort damit nach London abhauen.« 194
»Meinetwegen«, gab ich nach. »Ich muß abends noch mal in die Kirche. Nach acht ist es finster. Komm gegen neun in das Gässchen hinter unserem Haus. Aber lass dich nicht sehen.« »Morgen fahre ich nach London, mit dem ersten Zug. Mein Gott, Dave, endlich werde ich frei sein. Und das habe ich nur dir zu verdanken…«
Nach der Kirche schützte ich Kopfschmerzen vor und sagte, ich würde gern noch ein wenig Luft schnappen. Meine Eltern gingen mit den Mädchen nach Hause, während ich die entgegengesetzte Richtung einschlug und danach auf Umwegen zum Gartenzaun schlich. Die Fenster des Hauses waren hell erleuchtet. Drüben saßen meine Eltern mit Marty und Sarah am Familientisch. Auch Robin hatte offenbar Gäste, denn aus dem offenen Fenster drang fröhliches Gelächter. Ich sprang über den Zaun, griff unter die Bank und zählte fünfhundert Münzen für Mike ab. Eine einzige schob ich in die eigene Tasche. Dann stieß ich alles wieder tief in das Versteck und beeilte mich, über den Zaun zu kommen, denn Mike durfte nicht einmal ahnen, wo das Geld verborgen lag. Es dauerte noch fast eine Viertelstunde, bis er in dem Gässchen auftauchte. Als ich ihm seinen Anteil aushändigte, fehlte nicht viel, daß er zu weinen begonnen hätte. »Kaum zu glauben, daß ich nicht träume«, sagte er andächtig zu den Münzen in seiner Hand. »Echtes Gold, und so viel davon! Dave, du bist der beste Freund, den ich je im Leben getroffen habe. Tut mir leid, daß ich dich hier lassen muß.« »Bald komme ich dir nach. Ein Zimmermann wird ja wohl zu finden sein. Aber mach keine Dummheiten in London, hörst du, verrate keiner Seele, woher das Geld stammt, wenn du den Rest deines Lebens nicht hinter Gittern sitzen willst.« »Ich schwöre dir, daß ich keinem Menschen davon erzähle«, beteuerte Mike feierlich. Wir gaben uns die Hand und verabschiedeten uns. 195
Wenige Minuten später diskutierte ich mit Vater über die Predigt, die ein junger Bruder aus der Nachbargemeinde gehalten hatte.
Morgens hörte ich im Halbschlaf den Zug nach London abfahren. Er fuhr so früh, damit ihn viele Arbeiter benutzen konnten. Wenn Mike einen Funken Verstand hatte, würde er unter ihnen überhaupt nicht auffallen. Ich stellte mir vor, wie er mit hin und her schaukelndem Oberkörper auf einer Holzbank der vierten Klasse saß und zum Fenster hinausblickte. Abends war eine Temperenzlerversammlung angesetzt, von der ich mich unter dem Vorwand fürchterlicher Kopfschmerzen zu drücken suchte. Vater sah mich besorgt an. »Es wird doch hoffentlich nichts Ernstes sein, was du ausbrütest. Hast du Fieber? Nein? Lauf um ein paar Ecken, vielleicht tut dir die frische Luft gut.« Draußen war es noch hell, wie immer waren wir montags zeitig im Laden fertig geworden. Ich drehte eine Runde um die Stadt und richtete es dabei so ein, daß ich am Pot of Flowers vorbeikam. Der Wirt unterhielt sich mit zwei Männern an der Theke. Ich wartete und klopfte mit meinem Sovereign an eine Tischkante. Nach einer Weile drehte sich der Wirt, er hieß Bill Cobbold, zu mir um und fragte nach meinen Wünschen. »Ich habe Zeit«, winkte ich ab. »Ich warte auf Lily.« »Da können Sie aber lange warten.« Die Männer lachten. »Warum? Was ist passiert?« Meine Stimme klang dünn und gepresst, als stünde ich noch im Stimmbruch. »Lily ist fort.« »Fort? Wohin?« »Hat sie mir nicht gesagt. Interessiert mich auch nicht.« Bill Cobbold spuckte aus und ließ ein paar ungalante Äußerungen über Lily folgen. »Spurlos verschwunden, vielleicht ist sie auf einem Besenstiel davongeritten.« 196
Die Männer lachten erneut, und einer von den Gästen sagte: »Ich hab' mich immer schon gewundert, daß du der Cattermole-Dirne vertraut hast. Hab' ich's nicht gesagt?« Der andere nickte bestätigend. »Ich kann die schwarze Visage von dem Volk nun mal nicht ausstehen.« »Was ist nun wirklich passiert?« fragte ich und bemühte mich dabei, möglichst unbeteiligt dreinzublicken. »Passiert ist gar nichts«, erwiderte Cobbold. »Sie kam einfach nicht. Um zwölf schickte ich den Jungen rüber. Kein Mensch zu Hause. Was soll ich tun?« Er zuckte die Schultern. »Also, was trinken Sie?« »Geben Sie mir ein Glas Rum.« Mike, der vor seiner Heirat oft Rum getrunken hatte, sagte einmal, Rum stärke das Herz. Mir war ganz danach, als ob ich bald eine Stärkung brauchen konnte. Beim ersten Schluck erstickte ich schier. Ich hustete, bis mir die Tränen kamen. Die Männer lachten wieder. Entschlossen, aber vorsichtiger kostete ich zum zweiten Mal und spürte, wie das Getränk zwar brennend durch die Kehle rann, aber mich dann von innen her erwärmte. Ich zahlte. Ich mußte erfahren, was mit Lily los war. Seit Monaten wohnte sie nicht mehr bei ihrer Familie, sondern hatte sich ein Zimmer bei einer Mrs. Pagney genommen. »Miss Cattermole hat gestern gekündigt«, teilte mir die Wirtin auf meine Erkundigung hin mit. »Wo ist sie hin?« »Weiß ich nicht. Sie hat die Miete für die ganze Woche bezahlt und ist heute morgen fortgegangen.« »Ihre Sachen konnte sie doch nicht allein schleppen?« »Ein Bursche holte sie ab und half ihr den Koffer tragen. Hübscher Kerl, ich glaube, er ist Zimmermann.«
197
4
I
n einer kleinen Kneipe am Stadtrand, wo mich niemand kannte, kaufte ich eine Flasche Rum und verzog mich mit ihr in den Klostergarten. Nicht weil ich mich vor Bekannten scheute; meinetwegen hätten mir nicht nur Vater und Mutter, sondern auch Christus mitsamt seinen zwölf Aposteln beim Rumtrinken zusehen können. Ich wollte allein sein, niemand hören oder sehen und keine dummen Fragen beantworten müssen. Der Klostergarten sprach seinem Namen in jeder Beziehung höhn. Die Gemeinde rückte kein Geld heraus, um ihn instand zu halten, so daß Sträucher und Bäume der ehemals gepflegten Anlage nach Belieben wucherten. Auch ging es in dem Gestrüpp keineswegs klösterlich zu. In warmen Sommernächten gab es viel Geraschel und Gekicher im Schatten und auch auf den Lichtungen. Der Vorschlag, die Stadt solle wenigstens ein Eisengitter an den Überresten des Tores anbringen und es über Nacht verschließen lassen, wurde im Gemeinderat mit der Begründung abgelehnt, dann werde sich das verhurte Gesindel eben andere Plätze suchen. Entweder war es noch zu kalt oder zu früh, denn ich schien völlig allein zu sein. War wirklich erst eine Stunde vergangen, seit ich mich von Vater verabschiedet hatte? Die Turmuhr schlug acht. Allmählich dunkelte es. Ich setzte mich auf einen Mauerrest, der sich wie eine Bank dazu anbot, und trank von dem Rum. Ich war genauso ein Esel wie Bill Cobbold, als ich Lily vertraut hatte. Wo hatte ich meine Augen und Ohren gehabt? Wenn ich allein mit ihr war, hatte sie das Gespräch immer auf Mike und Millie gelenkt. Acht Uhr abends. Mike und Lily waren nun in London. Zum Narren hatten sie mich gehalten, alle beide. Ob sie wohl jetzt über den Tölpel lachten, der ihnen das selbst möglich gemacht hatte? Ruhig Blut, 198
ich durfte mich nicht aufregen. Klaren Kopf behalten und nachdenken, Dave! Liebende, die das erste Mal beisammen sind, gehen frühzeitig ins Bett. Ob sich Lily gerade in diesem Augenblick für Mike auszog? Nun würde er mit ihr im Bett liegen, ihr Haar wie einen Schleier über seinem Gesicht, und mit den Händen über ihr warmes, junges Fleisch streicheln… Fort damit, nicht weiterdenken! Das Blut pulsierte in Hals und Schläfen, mein Schädel drohte zu bersten. Wenn ich mich weiter in sinnlose Wut hineinsteigerte, würde ich verhängnisvolle Fehler begehen. Keine hirnverbrannte Idiotie, wo ein kluger Schachzug dieselbe Wirkung tat! Schauen wir uns die Lage an. Miss Walker lag seit Tagen tot in ihrer Wohnung. Mike, dem sie das Erdgeschoß vermietet hatte, war mit fünfhundert Goldstücken und seinem Flittchen nach London durchgebrannt. Wie die beiden Tatsachen miteinander verknüpfen, ineinander verweben? Außer mir wußte niemand davon, aber ich mußte mich hüten, mein Wissen an den Mann zu bringen. Wenn Mike den Spieß umdrehte und mich beschuldigte, die Alte umgebracht und ihr Geld geraubt zu haben, stand Aussage gegen Aussage. Aber Mike war ein Dummkopf und ich ein schlauer Fuchs. Wie wäre es, wenn eines seiner Stemmeisen im Sekretär steckte oder seine Lochsäge in der Brust der Alten? Aber davor schauderte mir doch, gar nicht zu reden davon, daß die Werkzeuge bei Millie in der Küche lagen. Millie. Hatte Mike nicht oft genug erzählt, er würde sie am liebsten mit diesen seinen beiden Händen erwürgen? Nicht nur ich hatte es gehört, auch Cobbold und andere. Was für Gedanken stiegen da in mir hoch? War ich es, der dachte, oder dachte ein anderer in mir? Ich tat einen kräftigen Zug aus der Rumflasche. Rum schmeckte noch besser als Portwein. Nun konnte ich Lily eine Flasche Portwein schenken, sie in Portwein baden lassen. Ihre elfenbeinfarbene Haut auf sattem Dunkelrot… Aber so kam ich nicht weiter. Zurück zu Millie. Miss Walker liegt erdrosselt in ihrem Sessel. Wenn Millie und das Baby gleichfalls er199
würgt in ihren Betten lägen, würde da nicht jedermann glauben, derselbe Täter sei oben wie unten am Werke gewesen? Und verlor Mikes Behauptung, ich hätte das Verbrechen ausgeführt, dadurch nicht jegliche Glaubwürdigkeit? Warum hätte ich seine Frau und sein Kind töten sollen, wenn er überall verkündet hatte, daß er sie los sein wolle? Hatte ich etwa Geld? Er war mit fünfhundert Pfund nach London geflohen. Um einen dreifachen Mörder zu fassen, würde man die Londoner Polizei schon in Trab versetzen. Solange Millie im Hause war, konnte sie den Mord an der Alten jeden Augenblick aufdecken. Würde sie sich aber ein paar Tage nicht bei ihrem Vater sehen lassen, so würde der sich irgendwann, wenn er Zeit hatte und sein Weg ihn in die Richtung führte, bei seiner Tochter einfinden. Falls das warme Wetter noch ein paar Tage anhalten sollte, würde es keine großen Unterschiede mehr geben. Der springende Punkt war die Frage, ob im Laufe des heutigen Tages irgend jemand Millie gesehen oder gesprochen hatte. Wie ich von Mike wußte, war sie oft zu faul, um sich anzuziehen, und lief den ganzen Tag in einer Nachtjacke herum, mit der sie natürlich nicht vor die Tür ging. Mit einem Ruck stand ich auf. In der Flasche gluckerte noch ein Rest Rum. Ich schob sie unter die Ranken des nächstbesten Busches. Vielleicht, daß ich sie an diesem Abend noch brauchen konnte.
5
M
illie zog rasch einen alten Morgenmantel über, als sie mich klopfen hörte. »Tag, Dave. Nein, Mike ist noch immer nicht zu Hause. Er sagte, er wolle sich nach Feierabend nach einer anderen Wohnung umsehen. Es paßt ihm nicht, daß wir zu meinem Vater ziehen. Warum Miete zah200
len, wenn dort die Zimmer leer stehen? Aber er will nicht. Ich mache mir gerade eine Tasse Kakao. Trinkst du mit?« »Vielen Dank, Millie, mir ist ohnehin schon zu heiß. Warst du heut bei dem schönen Wetter mit dem Baby spazieren?« »Ich hab' verschlafen. Wochenlang hat der Kleine die Nacht durchgeschrien. Mike hat sich die Ohren verstopft und sich auf die andere Seite gedreht, aber ich bin die ganze Nacht mit dem Kind auf dem Arm herumgewandert. Jetzt hab' ich was aus der Apotheke, davon schläft es durch.« »Hat dich denn der Milchmann nicht geweckt?« »In letzter Zeit stelle ich nur den Krug ins Fenster. Vorhin habe ich ihn erst reingeholt.« Sie rührte den Kakao um. »Heute dauerte es wirklich lange«, sagte sie nach einer Weile. »So spät ist es noch nie geworden. Den ganzen Tag sitze ich hier allein in der Bude rum. Schon deshalb möchte ich zu meinem Vater ziehen, in der Schmiede ist immer etwas los.« »Für eine junge Frau wie dich muß das langweilig sein. Oder hast du oft Besuch?« »Besuch? Vor vier Wochen hat meine Freundin mal auf eine halbe Stunde bei mir hereingeschaut. Aber sie mußte bald wieder gehen.« Wofür ich volles Verständnis aufbrachte. Zur Sicherheit fragte ich Millie noch einmal in bedauerndem Ton: »So hast du heute außer mir niemanden gesehen und mit niemandem gesprochen?« »Niemanden. Keine Menschenseele. Mike ist das gerade recht. Unter uns gesagt: er ist schrecklich eifersüchtig.« »Kein Wunder, Millie, du bist eine hübsche Frau.« »Ach, geh schon«, lachte sie kokett. »Ich war vielleicht mal hübsch. Wozu soll ich mich in diesem Loch herausputzen, wo mich doch keiner sieht.« »Ich sehe dich oft an, Millie. Du hast hübsches Haar.« Millie deutete den heiseren Klang meiner Stimme falsch. In ihren Augen sprühten schelmische Funken. »Ja, fühl mal, wie weich und seidig es ist. Gefällt es dir?« Und sie neigte ihr dummes Gesicht selber zwischen meine Hände. 201
Obwohl sie jung und kräftig war, starb sie leicht, mit einem tiefen Seufzer. Miss Walker hatte bis zum letzten Atemzug gegen mich gekämpft, Millie gab sich mir fast hin wie einem Liebhaber. Für das Baby genügte ein Kissen. Den Milchtopf füllte ich bis zum Sahnering, der sich tagsüber gebildet hatte, mit Wasser an und stellte ihn auf das Fenster. Ich löschte das Licht und wartete wiederum lange hinter der Tür, bis ich sie öffnete. Die Straße lag so still und reglos vor mir wie das dunkle Haus hinter mir. Im Torweg blieb ich einen Augenblick stehen. Es war getan. Niemand konnte mich im Verdacht haben. Das Geld lag sicher unter der Steinbank. Ich hatte mich an Mike für seine Treulosigkeit gerächt. Nur Lily würde ungeschoren davonkommen, aber wer war schon Lily? Es gab Hunderte, Tausende von schönen Frauen. Und ein paar von ihnen würde ich kennenlernen, eines Tages in London oder anderswo.
Zwischenspiel Mike Saunders wurde gehängt, obwohl er bis zuletzt seine Unschuld beteuerte. Als er verzweifelt vom Galgenpodest herabschrie: »Ich war es nicht, David Armstrong ist der Mörder!« glaubte ihm höchstens einer von tausend Zuschauern. Sogar die Zeitungen berichteten mit Abscheu über den hartnäckigen Widerstand des verstockten Verbrechers. Im Kolonialwarenladen Samuel Armstrongs bemerkte ein Kunde mehr schadenfroh als böswillig: »Komisch, daß der Kerl nicht davon abließ, Ihren Jungen zu beschuldigen.« »Er muß wohl den Verstand verloren haben«, erwiderte der verstörte Vater. »David war sein Freund. Er ging bei ihm aus und ein.« »Wie im Pot of Flowers.« »Das ist eine Verleumdung. Ich habe David zu einem gottesfürchtigen Menschen erzogen, und er hat mir geschworen, daß er nichts mit 202
der Sache zu tun hat. Wann hätte er im Wirtshaus sitzen sollen? Ich wußte immer, wo er sich aufhielt. Der Herr allein weiß, warum er uns das auferlegt.« Der Kunde brummte etwas Vieldeutiges, zahlte und ging. Als er fort war, setzte sich Mr. Armstrong hin, vergrub das Gesicht in den Händen und dachte nach. Eines stand fest: Mike und David waren Freunde gewesen. Sein Sohn war der Freund eines Mörders, Ehebrechers und Trunkenboldes. Und da war noch Marty. Mr. Phipps hatte empört die Beziehungen zur Familie abgebrochen. Seitdem weinte Marty sich die Augen aus. Der Sohn in schlechter Gesellschaft, eine Tochter unglücklich verliebt, die andere behindert, und dazu eine Frau, die ständig über die anstrengende Arbeit im Geschäft jammerte: Gott selbst wies die Richtung. Er hatte das Land geschaffen, Städte sind Menschenwerk. Einen weiteren Wink des Schicksals lieferte die Baildon Free Press mit der Kleinanzeige, daß in Minsham der einzige Laden des Dörfchens, einschließlich Posthalterei, für eine bescheidene Summe vergeben werde. Und wenige Tage später suchte eine andere Annonce ›ein Anwesen mit einer Räumlichkeit nicht unter 30 mal 24 Fuß, möglichst mit Garten‹. Als Samuel Armstrong daraufhin Fuß um Fuß seinen Laden ausmaß, zeigte sich, daß er in Länge und Breite den geforderten Maßen genügte. Ehrfürchtig erkannte Mr. Armstrong, wohin Gottes Finger zeigte.
Alfredo Chrispi, der das Inserat ausgetüftelt und aufgegeben hatte, verließ sich als lascher Katholik weniger auf die Vorsehung Gottes als auf seine eigene Nase, die ihn nur selten in die Irre führte. Vor über zwei Jahrzehnten hatte er seiner Geburtsstadt Neapel den Rücken gekehrt und statt dessen die nebligkalte Hauptstadt Britanniens als Wohnsitz erwählt. In einer Garküche stieg er vom Küchenjungen zum Chefkoch auf, heiratete die jüngere Tochter seines Brotgebers und erbte nach dessen Tod die Hälfte des gut gehenden Speiserestaurants. 203
Da seine Frau Elsie und ihre ältere Schwester Dora mehrmals täglich die Annahme widerlegten, die Briten seien ein phlegmatisches, friedfertiges Volk, trug sich Alfredo alsbald mit dem Gedanken, das Restaurant Schwager und Schwägerin zu überlassen und sich mit seinem Erbteil in der Provinz selbständig zu machen. Er träumte von einer gemütlichen, ländlichen Gaststätte, einer Art Trattoria mit Gartenlokal, wie man sie in seinem Heimatland an jeder Straßenecke findet. In zwanzig Jahren hatte er London nur ein einziges Mal, anlässlich der Hochzeitsreise mit Elsie, verlassen. Das junge Paar hatte damals auf seinem Weg zur Küste in Baildon umsteigen müssen, und Alfredo erinnerte sich dunkel an eine breite Straße, die vom Bahnhof in das Städtchen führte. Als nun eines Abends wieder einmal Elsie und Dora, in Tränen aufgelöst, in ihren ehelichen Schlafzimmern verschwanden, nahm Alfredo ein Blatt Papier und eine Feder zur Hand. Den Umschlag adressierte er an die ›Lokalpresse von Baildon, Suffolk‹. Auf seine Anzeige trafen zwei Angebote ein. Keines der beiden entsprach ganz seinen Vorstellungen: das Haus in der Klosterstraße besaß keinen Garten, das Anwesen auf dem Marktplatz verfügte nicht über eine Räumlichkeit von der Größe, die Alfredo zur Bedingung gestellt hatte. Er nahm sich einen Tag frei und fuhr nach Baildon, wo er mehrmals zwischen den beiden Häusern hin und her wanderte. Marktplatz vier war klein und schäbig, entsprach aber mit seinem laubumrankten Innenhof weitgehend Alfredos heimatlichen Erinnerungsbildern. Leider war es zu klein. Wenn man die Zwischenmauern im Erdgeschoß eingerissen und das Ganze zu einem großen Saal umgestaltet hätte, wären im Obergeschoß nur eine große und zwei winzig kleine Kammern mit schiefen Wänden geblieben. Alfredo aber hatte vier Töchter. Das Lebensmittelgeschäft lag günstig an der Hauptverkehrsstraße, es war geräumig und für seinen Zweck geeignet. Dafür war es aber kein eigenständiges Haus und ohne Garten. Mit sich unschlüssig, begab sich Alfredo Chrispi in das nächstgelegene Wirtshaus – zufällig war es das Rose and Crown – und bestellte, um nicht unliebsam als Fremder aufzufallen, statt des Weines, den er 204
sonst immer trank, einen Krug Bier. Ein Mann neben ihm an der Theke sprach ihn an: »Ich glaube, ich habe Sie gerade aus Marktplatz vier herauskommen sehen?« »Wird wohl so sein.« Alfredo nickte wortkarg. Elsie hatte in den Jahren ihrer Ehe so oft an seiner Aussprache herumgenörgelt, daß er sich auf einsilbige Antworten beschränkte. Die allerdings gelangen ihm ohne fremden Akzent. In Großstädten hätte er daher als Einheimischer gelten können, nicht aber in Baildon, wo schon die Bauern aus Nettleton als Fremde galten. »Sie sind von auswärts?« fragte denn auch der Mann. »Ich bin Italiener, lebe jedoch seit zwanzig Jahren in London.« »Sie wollen das Haus da drüben kaufen?« Mit dem Daumen zeigte er über die Schulter in Richtung Marktplatz. »Nein. Zu klein für mich.« »Da haben Sie nichts verpasst. Um ehrlich zu sein, ich möchte es nicht geschenkt. Drei Leute sind darin umgebracht worden, vor 'nem Jahr oder so. Zehn Tage lagen sie, bis man sie fand.« »Tatsächlich?« Ein anderer Gast schaltete sich in das Gespräch ein und erzählte mit dem dramatischen Pathos des Dabei gewesenen die Geschichte. Er war der Milchmann, der sich gewundert hatte, als der volle Milchkrug tagelang im Fenster stehen geblieben war. Er hatte geglaubt, die junge Frau sei vielleicht schon zu ihrem Vater umgezogen, wie sie mal erwähnt hatte. So hatte es ihn nicht gekümmert, daß die Milch im Fenster verdarb. Der Vater seinerseits hatte geglaubt, seine Tochter sei mit den Vorbereitungen für den Umzug beschäftigt. »Er selber hatte viel zu tun, und so war es gekommen, daß zehn Tage vergangen waren, denken Sie nur, Mister, zehn lange Tage, bis er die Tragödie entdeckt hatte. Seither ist er nicht mehr der alte.« Die Zuhörer nickten bekräftigend. Alfredo Chrispi freute sich, daß er sich bereits vorher für das andere Haus entschieden hatte. Er trank sein Bier aus und ging ins Old Vine. Er und Samuel Armstrong waren sich bald einig. Der Verkauf fand in einer Atmosphäre voller Vertrauen und guten Willens statt. 205
Elsie bestand darauf, daß ihr Mann seinen Namen mit dem Umzug änderte. »lass doch einfach die Endungen weg. Alfred Cris’ reicht vollkommen und klingt wie ein guter englischer Name.« Nie kam ihr in den Sinn, daß sie sich ebenfalls verändert haben könnte. Außer einer etwas schleppenden Sprechweise hatte sie sich den Umfang und die Grandezza einer waschechten italienischen Mamma angeeignet und stellte wie eine solche die innere Triebkraft des Hauses dar. Mit Ausnahme in der Küche, wo Alfredo regierte, galt ihr Wort als Gesetz. Die vier Töchter hörten auf englische Namen: Rose, Edith, Mary und Dorothy, und verstanden selbstverständlich kein Wort Italienisch. Niemals dachte Elsie, als sie nach und nach die italienischen Eigenschaften ihres Gatten ausmerzte, daran, daß sie sich höchst undankbar zeigte gegen eine Nation, die ihr einen so freundlichen und arbeitsamen Ehemann beschert hatte. Sie verspürte auch nie die Ironie des Schicksals. Ihr blondes Haar dunkelte erst nach und durchzog sich dann zunehmend mit weißen Fäden. Ihre würdige Geschäftigkeit und der Umstand, daß sie von der Familie ›Mamma‹ gerufen wurde (wogegen sie zeitlebens ankämpfte), umgaben sie mit einem Hauch von Fremdartigkeit. Und da sich das neue Speisehaus in der Klosterstraße dank der schmackhaften italienischen Gerichte bald eines guten Rufes erfreute und Alfredo zudem einmal etwas über Italien gesagt hatte, war man in Baildon der Ansicht, Alfred sei ein Cockney und habe eine italienische Frau.
Nachdem Samuel Armstrong den Laden in Minsham erworben hatte, zog er mit Frau und Töchtern auf das Land. Der Sohn weigerte sich, ihnen dahin zu folgen. »In Minsham wird man noch viel übler lästern. Alle wissen, daß Mike mir die Schuld gegeben hat. Wo mit Dreck geschmissen wird, bleibt immer etwas hängen. Der einzige Ort, wo ich vor dem Gerede sicher bin, ist London.« Nach London, in dieses Sündenbabel, sollte Samuel Armstrong sei206
nen einzigen ziehen lassen? Na ja, immerhin hatte der Junge einen guten Charakter, man konnte ihm vertrauen. Zudem konnte ein Methodist überall mit Glaubensbrüdern rechnen. Bei einem von ihnen, einem Geschäftsinhaber in Shoreditch, fand sich für David eine Lehrstelle mit Logis. Sonderbar mutete allerdings an, daß David schon nach wenigen Wochen die Stelle aufgab und nach Kensington überwechselte, wo er, wie er schrieb, ein besseres Auskommen fand. Daß er gut verdiente, zeigten die großzügigen Geschenke, die er zuzeiten an seine Familie schickte. Crisps Speisehaus florierte. Die Nachbarn betrachteten es mit scheelen Augen, nicht etwa, weil es unsauber gewesen wäre. Aber wenn der Wind von der Bahn her blies, brachte er den Geruch von heißem Öl und Knoblauch in Ashworts Leinenwarengeschäft und zog die Bänder und Spitzen, Taschentücher und Laken in Mitleidenschaft. Kam er vom Marktplatz, vermischte er die Küchendünste mit Robins Veilchen- und Lavendeldüften. Unter den jungen Leuten von Baildon ging bald die Kunde um von den herzhaft knusprigen Fisch- und Kartoffelspeisen, die Alfred Cris’ zubereitete, ganz zu schweigen von diversen Sahne- und Fruchteissorten. Ein weiterer Kundenstamm rekrutierte sich aus Handelsreisenden, die sich mit den preiswerten Nudelgerichten den Magen vollschlugen. Unbestritten war gleichfalls die Anziehungskraft, welche die vier jungen Mädchen auf die Jugendlichen ausübten. Drei von ihnen waren dralle, blonde Geschöpfe, die hinter Mammas Rücken manchen koketten Blick riskierten. Die vierte Tochter war dunkelhaarig und schlank. In ihren Augen lag so viel Stolz, daß den Gästen jedes deftige Wort in der Kehle stecken blieb. Und während ihre Schwestern auch nach der Heirat mit ihrem Taufnamen gerufen wurden, nannte sie jedermann mit dem Namen, der ihr lange verbleiben sollte: Miss Cris’.
207
Fünfter Teil Mary Crisps Geschichte (um 1914)
1
W
ieder einmal war es November, der Monat, der mir von allen am meisten zuwider ist. Als ich jünger war und noch über mehr freie Zeit verfügte, ging ich oft über die Felder spazieren, was selbst im November sehr reizvoll sein kann. Ich mochte es, wenn über der braunen Erde dampfiger Nebel lag, der alle Geräusche und Gegenstände verschluckte und nur die allernächsten Bäume und Büsche dem Blick freigab. Hier und da schimmerten mir daraus rote und blaue Beeren entgegen. In der Stadt hingegen, zumal in der Nähe des Bahnhofs, wo die stinkenden Rußschwaden von der feuchten Luft zu Boden gedrückt werden, ist der November schmutzig und widerwärtig. Die Frühlingssonne scheint hoffnungslos fern. Hinzu kam die bedrückende Tatsache, daß an jenem Tag mein dreißigster Geburtstag war. Dreißig Jahre, ein Meilenstein im Leben einer Frau. Seit einigen Jahren versuchte ich die Zeit zu überlisten; ich probierte etwa, durch ein hochgepriesenes neues Haarmittel ein paar Wellen in meine glatte Mähne zu zwingen, oder mit einem sehr feinen, körperfarbenen Puder die ersten Fältchen in den Augenwinkeln zu vertuschen, was um so besser wirkte, als ich jedes andere Schminken unterließ. Nun aber klingelte eine Glocke: dreißig Jahre, das Ende der Jugend. Was machte es aus, ob ich noch weitere vierzig Jahre auf Erden herumspazierte? Ich hatte die Zeit des Suchens und Findens, die Möglichkeit, mein Leben nach eigenem Gutdünken einzurichten, versäumt und vertan. Das Leben mit großem Anfangsbuchstaben war vorbei. Alle Leute sagen: Mary ist ja so vernünftig, Mary hat das Herz auf dem richtigen Fleck. Die Eltern loben mich: Was würden wir ohne unsere Mary anfangen? Ein Glück, daß wenigstens sie uns geblieben ist. Daß alle Welt mich für ein fischblütiges Neutrum hielt, verdankte 209
ich vermutlich meinem Aussehen. Zu Mammas hohem und, wie man sagt, früher einmal schlankem Wuchs habe ich Papas dunkle Haarund Hautfarbe geerbt. Schon damals fühlte ich mich nur in einfach geschnittenen Kleidern wohl ; Bänder, Fältchen und Federn passten nicht zu mir. Als einzigen Schmuck trug ich Granatohrringe und eine altmodische Uhr an einer Kette. Da Mamma nicht duldete, daß ihre Töchter wie Dienstmädchen aussahen, trug keine von uns bei der Arbeit eine Schürze. An diesem Novembertag des Jahres 1913 hatte ich mein neues Kleid aus dunkelrotem Wollstoff angezogen, hauptsächlich wohl, damit es meine Weltuntergangsstimmung etwas milderte. Unten im Speisesaal fand ich nicht mehr Zeit zum Trübsalblasen. Seit meine drei Schwestern verheiratet waren, blieb die Aufgabe des Servierens mir allein überlassen. Es war genug zu tun, auch wenn unsere Glanzzeit vorbei schien. Noch immer kochten wir Minestrone anstatt der graubraunen Einheitssuppe der anderen Hotels und boten Spaghetti oder Makkaroni mit Fleisch- oder Tomatensoße und Käse an. Aber die Zeiten waren dahin, in denen mein Vater zum Entzücken der Stammgäste jeden Tag eine andere italienische Spezialität auftischte. Die Feinschmecker suchten andere Lokale auf, geblieben waren uns nur Handelsreisende, Markthändler und ein paar minderbemittelte Stammgäste, welche unsere hochgefüllten Teller zu schätzen wußten. Hin und wieder fanden sich durchreisende Gäste ein, denen das Bahnhofshotel zu teuer oder zu vornehm erschien. Der Mann, der nach halbsieben an diesem Abend unser Lokal betrat, schien der letzteren Sorte anzugehören. Er setzte sich an den Tisch neben der Tür und kehrte mir, als ich ihn das erste Mal erblickte, den Rücken zu. Seine Gestalt war lang und hager. Er trug ein Kleidungsstück, das damals unter dem Namen › Norfolk Jacke‹ in Mode war. Neuerdings kleideten sich die Vertreter in dieselben Tweedjacken, wie man sie auf dem Lande sah. Ein Vertreter verriet mir einmal, daß die Bauern eher Vertrauen fassten zu einem Fremden, der ihnen ähnlich sah, als zu den feinen Pinkeln aus der Stadt. Als sich der Mann in seiner schon recht abgewetzten Jacke mit äußerster Vorsicht auf den Stuhl 210
niederließ, nahm ich an, einen Vertreter für Düngemittel oder Landmaschinen vor mir zu haben, dem die Knochen nach der langen Bahnfahrt schmerzten. Als ich seine Bestellung entgegennahm, war ich mir nicht mehr so sicher. Das war kein Vertretergesicht. Noch heute könnte ich nicht definieren, in welchen Zügen sich das Gesicht eines Händlers von dem eines Herrn unterscheidet, doch wußte ich von jeher instinktiv, wen ich vor mir hatte. Meine Schwester Dorothy erklärte das mit der wegwerfenden Bemerkung, ich sei eben der geborene Snob. Sein Benehmen erhärtete meine Vermutung. Er sagte nicht: »Bringen Sie mir von der Mine-Dingsdasuppe« und musterte mich nicht vom Scheitel bis zur Sohle, welche Chancen er wohl hätte, bei mir zu landen, sondern er entbot mir einen guten Abend und entschied sich für Spaghetti mit Käsesoße, dem billigsten Gericht auf unserer Speisekarte. Bei einem anderen hätte ich genickt und wäre gegangen. Nun erwähnte ich noch, scheinbar nebenhin: »Wir schenken den Chianti glasweise aus.« Das war Papas Einfall. Er selber liebte den Chianti über alles und entzog sich auf diese Weise Mammas Kontrolle, die mit all ihren Rechenkünsten nicht dahinter kam, wie viele Gläser eine der großen Korbflaschen faßte. »Wenn das so ist…« Der Fremde zögerte und schien zu rechnen. »Nun gut, bringen Sie mir ein Glas.« In der Küche achtete ich darauf, daß er seine Spaghetti auf einem der wenigen hübschen Teller mit Blumenrand erhielt, und gab ihm eines von unseren eigenen Weingläsern. Von da an hatte ich keine Zeit mehr, mich um ihn zu kümmern. Alle Augenblicke kamen und gingen Gäste. In der Küche waltete Papa mit dem Lehrjungen, der ihm bei der Arbeit mehr hinderlich als nützlich war, seines Amtes. Mamma thronte in ihrem Kassenverschlag, eine Decke über den schmerzenden Knien, während ich zwischen den Tischen umhereilte, die vollen Teller herantrug und die leergegessenen abräumte, wie an jedem geschäftigen Markttag im November. Wenn ich aus der Küche kam, folgte mir der Geruch des heißen Öls. 211
In früheren Zeiten, als Papa sich noch begeistert in seiner Küche tummelte, benutzte er zum Backen und Braten feinstes Olivenöl aus Lucca, das er jeden Abend durch ein dünnes Musselintuch goß, um die Bratgutpartikel herauszuseihen. Nun war es ihm einerlei, ob es klar oder trübe war, da er ohnehin nur billiges, namenloses Öl verwendete. Ich kenne die Stunde, mit der die Veränderung seines Wesens einsetzte, und habe mich oft gefragt, was in Papa damals vorgegangen sein mochte. Mr. Robin, unser Nachbar zur Linken, war uns von Anfang an feindselig entgegengetreten und hatte seinen Kindern verboten, mit uns zu spielen. Wir waren froh, als er seine Apotheke aufgab und den Laden an einen Sattler verkaufte. Da dieser bereits ein Haus am Stadtrand besaß, behielt er als Werkstatt nur den Laden und die vorderen Lagerräume und trat uns die übrigen Erdgeschoßräume, die ehemalige Küche und Wirtschaftskammern mitsamt dem Garten ab. Die oberen Zimmer vermietete er als ›Appartement‹, ein bis dahin in Baildon unbekannter Begriff. Ein Garten war immer Vaters sehnlichster Wunsch gewesen. Oft stand er am Fenster und schimpfte auf Robin, der seinen Garten einfach verwildern ließ. Eine Schande wäre das, was gäbe er darum, wenn das Fleckchen Erde dort ihm gehörte. Er würde Kräuter und Salat anbauen, und an der Südwand ein Gewächshaus errichten. An Maria Verkündigung des Jahres 1896 ging der Garten in Vaters Besitz über. Ich war damals dreizehn, meine Schwester Edith elf. Mamma und unsere älteren Schwestern Rose und Dorothy hatten im Haus zu tun, so daß wir drei als erste unser neues Eigentum besichtigten. Papa war so glücklich, daß er, wie er sich ausdrückte, am liebsten wie ein junger Hund über die Wege und Beete getollt wäre. Er begnügte sich damit, in großen Schritten auf und ab zu wandern, und setzte sich schließlich auf eine Steinbank, die unter dichten Sträuchern in der Nähe einer alten Sonnenuhr stand. Edith schlug mir auf die Schulter und rief: »Du bist Fänger.« Ich rannte ihr nach, holte sie ein und gab ihr durch einen Klaps die Fängerrolle zurück. Zum ersten Mal in unserem Leben tobten wir in einem Garten herum und vergaßen darüber die Zeit. Papa, der uns zuschaute, verlor sich ebenfalls in Gedan212
ken, bis endlich Rose aus der Küche rief, er solle kommen, der Nachmittagszug werde bald eintreffen. Es mag merkwürdig klingen, wenn ich behaupte, er stand als anderer Mann von der Bank auf. Als er sich gesetzt hatte, war er glücklich und zufrieden gewesen. Als er aufstand… was für Gedanken mochten seine Seele bewegt haben? Müde sagte er zu uns: »Freut euch nur, solange ihr könnt.« Mit gesenkten Schultern ging er zum Haus zurück. Ich blickte ihm etwas verwundert nach, ohne mir damals aber viel Gedanken über den Umschwung seiner Laune zu machen. Erst später, als sein verändertes Wesen auch anderen auffiel, verfolgte ich die Spur zurück bis zu jenem Nachmittag auf der Steinbank. Damals steckte mein dreizehnjähriger Kopf noch voller Grillen und Flausen, die ich aus romantischen Geschichten bezog. Ich stellte mir vor, der Steinsitz in unserem Garten sei ein verwunschener Ort, wer sich darauf setze und zur Sonnenuhr hinüberblicke, werde verhext oder verwandelt. Lange Zeit getraute ich mich nicht, auf der Bank Platz zu nehmen. Erst als ich einmal schlechte Noten nach Hause brachte und Mamma mich ausschimpfte, faßte ich den Mut dazu. Die sollten sich wundern, wenn ich plötzlich als Kröte davonhüpfte, dann würden alle ihre Lieblosigkeit bereuen. Natürlich passierte nichts. Stundenlang saß ich wie angewurzelt, bis Papas Stimme mich ins Haus befahl. Ehrlich gesagt, ich bewunderte meine Mutter, aber ich habe sie nie zärtlich geliebt. Als wir klein waren, rutschte ihr die Hand leicht aus. Für kleinste Vergehen erhielten wir solche Ohrfeigen, daß uns noch nach Stunden die roten Fingermale auf den Wangen brannten. Gerechterweise muß ich aber einräumen, daß Mamma uns andererseits gegen jeden verteidigte, der auch nur einen schiefen Blick auf uns zu werfen wagte. Mir imponierte auch die Art, wie sie gegen ihre Behinderung ankämpfte. Bald nach unserem Umzug nach Old Vine verspürte sie leichte Gelenkschmerzen, die sie mit heißen Umschlägen zu lindern versuchte. Die Anfälle vergingen und kamen wieder, jedes Mal ein wenig heftiger als zuletzt. An Ediths Hochzeit – ich war gerade fünfund213
zwanzig geworden – ging sie noch ohne Stock, wenn auch sehr langsam, an Vaters Arm zur Kirche. Ein paar Tage später fand sich plötzlich ein Stock ein, auf den sie sich bei Gängen außer Haus stützte. Nach weiteren Monaten benutzte sie zwei Stöcke und verzichtete einige Zeit später darauf, die Treppe ins Obergeschoß hinaufzusteigen. Sie richtete eine kleine Kammer im Erdgeschoß für sich ein. Nie diente ihr die Krankheit dazu, sich einer Arbeit zu enthalten. Als sie schließlich zum Ankleiden eine volle Stunde benötigte, stand sie einfach früher auf. Zweifellos war diese Tapferkeit der Grund, daß Papa, der ihr dafür Achtung entgegenbrachte, sich nicht völlig gehen ließ. Das alles kam mir in den Sinn, als ich von Gast zu Gast eilte. Wenn man das Servieren gewöhnt ist, geht es einem nahezu automatisch von der Hand. Außerdem stellte ich fest, daß es an der Zeit war, Papa zum Auswechseln des Backöls anzuhalten und ihn daran zu erinnern, daß die Gaslampe an der Tür einen Sprung in der Glaskugel bekommen hatte. Allmählich leerte sich das Lokal. Ich deckte die frei gewordenen Tische ab und lehnte die Stühle gegen die Platte. Zuletzt saß nur noch der hagere Fremde an seinem Platz. Ich wedelte ostentativ über die Nachbartische, Mamma hüstelte. Er hörte und verstand, denn er sagte: »Ich bedaure, aber ich kann nicht aufstehen.« Seit meinem zwölften Lebensjahr hatte ich nun im Speisesaal mitgeholfen und kannte jedes Stadium von Trunkenheit. Dieser Mann war nüchtern gewesen, als er hereingekommen war, und hatte seither ein Glas Wein zu den Spaghetti getrunken. Vor einer Stunde hatte er Kaffee bestellt. Betrunken konnte er also nicht sein. Deshalb erkundigte ich mich: »Warum nicht, Mister?« »Die Ärzte nennen es Lumbago, gewöhnliche Leute sagen Hexenschuss. Wenn es mich ab und zu überfällt, kann ich mich eine Weile nicht rühren. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern noch etwas sitzen bleiben.« »Mary«, rief Mamma von ihrer Warte. Ich ging zu ihr. »Was hat er? Betrunken?« 214
»Nein. Hexenschuss, sagt er.« »Ich habe auch Rheuma, aber deshalb mache ich noch kein Getue.« Sie griff nach ihren Stöcken und arbeitete sich aus dem Sitz empor. »Bist du ganz sicher, daß er nicht angesäuselt ist?« »Ganz sicher.« Mamma humpelte zu seinem Tisch und redete ihn an: »Na, junger Mann? Wollen Sie die ganze Nacht hier sitzen bleiben?« Ein junger Mann war er höchstens im Verhältnis zu Mamma, sein hellbraunes Haar ging an den Schläfen bereits in Silbergrau über. In dem sonst wohl bräunlichen, nun aber olivfahlen Gesicht verliefen die ersten tiefen Furchen. »Madam«, sagte er höflich, freilich auch mit einer Spur Ironie. »Wenn mich nicht ein Wunder in die Lüfte hebt, weiß ich wirklich nicht, wie ich hochkommen soll.« »Meine Tochter sagt, Sie hätten einen Hexenschuss. Können Sie sich nicht zusammenreißen?« »Ja, glauben Sie, ich versuchte nicht schon zehnmal, aufzustehen? Ich verpasse sowieso schon eine wichtige Verabredung.« »Vielleicht geht es, wenn wir nachhelfen. Mary, hol mal Papa und Jack aus der Küche.« Papa trocknete sich die Hände an der Schürze ab und stellte sich auf die eine, Jack auf die andere Seite des Mannes. »Ich glaube, mich bringt nur ein Lastkran in die H…« Er stöhnte laut auf, alles Blut wich aus seinen Wangen. Der helle Schweiß perlte in großen Tropfen auf seiner Stirn. Selbst Mamma war überzeugt. »So schlimm hatte ich mir's nicht vorgestellt«, entschuldigte sie sich. »Mary, bring bitte mal meine schwarze Dose.« Ich lief in ihr Zimmer und holte die Schachtel, in der sie ein starkes Mittel gegen Schmerzen aufbewahrte. Sie nahm es nur selten, wenn meine Schwestern zu Besuch kamen, oder an Markttagen, die mit besonderer Anstrengung verbunden waren. Ich rührte eine vorsichtig abgemessene Dosis des Pulvers in ein Glas Wasser und reichte es dem Gast. 215
»Trinken Sie es in einem Zug aus«, riet Mamma. »In zehn Minuten springen Sie wieder wie ein Rehkitz.« »Vielen Dank, Madam«, sagte er, schaute dabei aber mir in die Augen. »Ich bin zufrieden, wenn ich laufen kann.« »Bleiben Sie ruhig sitzen, bis das Medikament wirkt«, sagte Mamma. »Jack, mach die Lampen aus. Nein, die hier natürlich nicht, die anderen. Was ist mit dem Abendessen?« Daß Vater die ganze Zeit stumm und stocksteif neben uns gestanden hatte, waren wir längst gewöhnt. Manchmal redete er tagelang kaum ein Wort, außer kurzen Befehlen für Jack. Als er auf der Hochzeit meiner Schwester Dorothy ein paar Glas Chianti getrunken hatte, gestand er mir ein, daß für ihn nichts im Leben mehr zählte. Man schuftete und mühte sich ab, um an ein Ziel zu gelangen, und wenn man es dann erreicht habe, spüre man nichts, rein gar nichts, außer einem schalen Geschmack im Mund. Wozu also der Aufwand? Damals hatte ich ihm innerlich widerstrebend gelauscht, nun, da ich selber meine Hoffnungen dahinschwinden sah, verstand ich ihn besser. Genau besehen war er mit seiner Schwermut schlimmer dran als Mamma, die trotz ihrer Schmerzen am Leben noch Anteil nahm. Wie immer nahmen wir unsere Abendmahlzeit am großen Küchentisch ein. Ich war als erste fertig und stand auf. »Schau nach, wie es ihm geht«, sagte Mamma. »Und wenn er laufen kann, sag ihm, er soll zahlen, und schließ hinter ihm die Tür ab.« Plötzlich schlug sie mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Das ist es, er hat nicht bezahlt! Der wird längst über alle Berge sein.« »So sieht er nicht aus«, nahm ich ihn in Schutz. »Er ist ein Gentleman.« »Mal gewesen, vielleicht. Jetzt sieht er mehr nach einem Glücksritter aus. Wie konnte ich nur so dumm sein!« Aber Mammas Lamento war unnötig. Der Fremde saß noch genau so da, wie wir ihn verlassen hatten. »Geht es Ihnen besser?« fragte ich voller Teilnahme. »Hat das Medikament geholfen?« »Ungefähr wie eine Tapferkeitsmedaille bei einem zerschossenen 216
Bein. Aber im Ernst, ich komme noch immer nicht hoch. Haben Sie zufällig Telefon?« »Leider nein. Das nächste ist im Bahnhofshotel.« »Ob man Ihren Bruder mit einer Nachricht hinschicken könnte?« »Das ist nicht mein Bruder, sondern unser Küchenjunge.« Sein Blick streifte mich etwas verwundert. »Verzeihung. Glauben Sie, er könnte trotzdem etwas für mich bestellen?« »Wie ich ihn kenne, würde er den Apparat kaputtmachen oder sonst irgendein Unheil anstiften. Am besten ist, ich gehe selbst.« »Bitte, bemühen Sie sich nicht meinetwegen.« »Ein paar Schritte an der frischen Luft werden mir gut tun. Ich habe heute noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Einen Augenblick, ich ziehe mich schnell an.« Heutzutage mag es sonderbar klingen, aber im Jahre 1913 wäre keine Frau, die etwas auf sich hielt, ohne Hut und Handschuhe auf die Straße gegangen. Ich lief also in mein Zimmer hinauf, setzte mein neues Federhütchen auf und zog die Jacke mit Pelzbesatz an. So kam ich in die Küche zurück. »Alles in Ordnung. Es geht ihm besser. Ich laufe mal schnell ins Hotel rüber und rufe für ihn an.« Der Mann hatte unterdessen Notizen auf einen Zettel geschrieben. »Das ist die Nummer. Wenn Sie bitte nur ausrichten würden, Mr. Robert Fennel sei leider verhindert, zu der Verabredung zu kommen. Falls mein Onkel am Apparat ist und grob werden sollte, hängen Sie einfach ein.« »Soll ich was von Ihrem Hexenschuss sagen?« »Die Ausrede glaubt er mir doch nicht. Und bestellen Sie bitte im Hotel ein Zimmer für mich. Hier ist Geld für den Anruf.« Er legte einen Shilling auf den Tisch. »Ich bin Ihnen wirklich unendlich verbunden.« Auf dem Weg zum Hotel fiel mir eine Definition für das Wort ›Snob‹ ein: Ein Snob ist jemand, der lieber eine Besorgung für einen Herrn erledigt, als daß er sich von einem ordinären Flegel bedienen läßt. Typisch, nicht wahr? 217
Sir Albert Fennel war selber am Apparat. »Ja, Sie wünschen?« »Ich soll Ihnen etwas ausrichten. Mr. Robert Fennel läßt sich entschuldigen, er sei verhindert, heute abend zu kommen.« »Jetzt hören Sie mal zu, meine Dame, sagen Sie dem guten Robert, falls er nicht über Ihre Schulter mithört, ich hätte seine Eskapaden satt. Wenn er nicht innerhalb einer dreiviertel Stunde hier bei mir aufkreuzt, braucht er überhaupt nicht mehr zu kommen.« Die nörgelnde Greisenstimme begann plötzlich zu schreien, daß mir fast das Trommelfell platzte. »Hörst du mich, Robert? Natürlich hast du unterwegs wieder eine Halbseidene aufgegabelt. Gib ihr zehn Shillinge und komm her, verstanden?« »Sir Albert, Mr. Fennel steht nicht hinter mir. Ich rufe vom Bahnhofshotel an. Er sitzt bei uns im Italienischen Restaurant und kann nicht aufstehen, weil er einen Hexenschuss im Rücken hat.« »Erzählen Sie Ihre Märchen woanders!« »Ich sage die Wahrheit. Papa und der Küchenjunge haben versucht, ihn hochzukriegen, aber er wurde fast ohnmächtig vor Schmerz. Wir haben ihm ein Medikament gegeben, aber es hilft nicht viel. Deswegen rufe ich an.« Langes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann erklang die brüchige Stimme in schlauem Ton: »Wenn Sie wirklich aus dem Bahnhofshotel sprechen, muß Miß Formby in Rufweite sein. Ich bitte sie an den Apparat.« Miss Formby war in der Empfangshalle. Ich bat sie, ans Telefon zu kommen, und hörte zu, wie sie sagte: »Ja, Sir Albert… Nein, Sir Albert, Mary Cris’. Aus dem Speisehaus in der Klosterstraße… Ohne Zweifel, Sir, völlig zuverlässig… Vielen Dank, guten Abend, Sir Albert.« Sie drehte sich um und reichte mir den Hörer. »Er möchte Ihnen noch was sagen.« In völlig verändertem Ton sagte der alte Mann: »Verzeihen Sie, Miss Cris’. Sagen Sie meinem Neffen, ich müßte morgen nach Bywater fahren. Wenn ich zurück bin, kann er mich jederzeit aufsuchen. Viel Hoffnung soll er sich trotzdem nicht machen.« 218
Als ich die Tür zu unserem Lokal öffnete, wußte ich, wo Robert Fennel die Nacht zubringen konnte. Jack schlief in einem Kämmerchen neben Mamma, er konnte oben im Gästezimmer übernachten. Die paar Schritte würde Mr. Fennel mit unserer Hilfe schaffen.
2
A
n dieser Stelle muß ich den Gang meiner Geschichte unterbrechen, um ein Geständnis zu machen. Ich habe wohl schon erwähnt, daß ich in meiner kargen Freizeit eifrig Romane las. Ich las aber nicht nur welche, ich versuchte mich auch im Schreiben und nahm es als günstiges Omen hin, daß der Name meiner Lieblingsschriftstellerin Marie Corelli dieselben Initialen hatte wie der meine. Ich begann mehrere Romane, deren Fluss aber jedes Mal ins Stocken geriet, sobald der Held seiner Liebsten tief in die Augen blickte und sie an der Hand faßte. Immer wenn es zu dem obligaten ›Ich liebe dich‹ hätte kommen sollen, gab ich das Schreiben auf. Vielleicht, weil ich selber noch nie etwas Derartiges erlebt hatte. Auch jetzt, da ich meine eigene Lebensgeschichte niederschreibe, stecke ich in derselben Verlegenheit. Aber so weit bin ich noch nicht. Wie ich Mamma dazu überreden konnte, Robert Fennel bis zu seiner Genesung bei uns aufzunehmen, weiß ich nicht mehr genau. Überhaupt erscheinen mir die Ereignisse jener Wochen in der Erinnerung ziemlich unscharf. Ich weiß noch, daß ich spätabends Jacks kleine Kammer rasch durchputzte und lüftete und das Bett mit frischem Leinen bezog. Auch für eine Wärmflasche mit heißem Wasser war gesorgt. Mit Papas und Jacks Hilfe brachte ich Mr. Fennel irgendwie zu Bett. Als anderntags die Wirkung des Medikaments nachließ und er wieder steif vor Schmerzen dalag, ließ ich den alten Doktor Cornwell 219
von gegenüber holen. Er verschrieb Mr. Fennel ein ähnliches Pulver wie Mamma und Salbe zum Einreiben. »Unter uns gesagt, ich glaube nicht, daß die Arznei hilft«, sagte Dr. Cornwell, als er sich draußen von mir verabschiedete. »Das ist kein gewöhnlicher Hexenschuss.« »Was denn sonst?« »Eine alte Wunde im Rücken. Ohne gründliche Untersuchungen möchte ich mich nicht weiter darüber auslassen, aber es steht zu vermuten, daß die Kugel nicht sauber entfernt wurde.« »Sie meinen, eine Schusswunde?« »Eine alte Schusswunde, natürlich. Um die Jahrhundertwende gab es einige Kriege, an die Sie sich vielleicht nicht mehr erinnern.« Unser uralter Doktor hielt jeden unter fünfzig für ein Kind. Ich hatte jedoch die aufregende Zeit der Burenkriege in vollem Bewußtsein miterlebt. Als ich daraufhin zu Mr. Fennel in die Kammer trat, die wirklich nicht viel größer als ein Kleiderschrank mit Fenster war, fragte ich geradeheraus: »Haben Sie im Burenkrieg gekämpft?« »Psst. Darüber redet man heutzutage nicht mehr gern. Ja, ich war damals ein junger Kerl mit den üblichen Rosinen im Kopf und erhielt den Denkzettel, den ich verdiente. Die Kugel steckt noch immer drin und läßt ab und zu grüßen, wie Sie bemerkt haben. Was verstecken Sie da in der Hand? Wagenschmiere?« »Menschenschmiere. Der Doktor meint, eine Abreibung täte Ihnen gut.« »Einreibung meinen Sie wohl. Aber soweit heruntergekommen bin ich noch lange nicht, daß ich meine gotische Nacktheit vor Ihnen entblöße.« »Seien Sie nicht albern!« »Ach, lassen Sie mich albern sein. Die einzige Leidenschaft, der ich zur Zeit frönen kann.« So war seine Art zu reden. Schnodderig wie ein junger Rekrut, und manchmal, wenn man nicht darauf gefaßt war, ein paar Worte in ern220
stem Ton, deren er sich gleich darauf schon zu schämen schien. Aber mir gefiel er. Dem Blick des Kranken sah ich an, daß auch ich ihm nicht völlig gleichgültig war. Wenn sich nur für mich der Alltag nicht in gewohnter Weise hingezogen hätte. Noch am ersten Abend hatte Mama die Bedingung gestellt: »Also meinetwegen, nimm ihn auf, wenn du unbedingt willst. Aber ich dulde nicht, daß du deine Pflichten im Speisesaal deswegen vernachlässigst. Verstehen wir uns?« Kein Gast hatte Ursache, sich über mich zu beschweren. Um gelegentlich eine Minute für meinen Patienten zu gewinnen, lief ich doppelt geschäftig zwischen der Küche und den Tischgästen hin und her. Nicht einmal Mutters argwöhnischer Blick fand an mir etwas auszusetzen. Nach zwei Tagen ließ der Krampf in Mr. Fennels Rücken nach. Am vierten Tag stand er auf, zog sich an und kam, etwas wackelig und steif, zum Abendessen in den Gastraum. Später, als ich nochmals zu ihm hineinschaute, begann er über Geld zu reden. »Für Ihre Güte und Aufmerksamkeit werde ich zeitlebens Ihr Schuldner bleiben, aber Ihren Eltern muß ich mit klingender Münze zahlen. Um ehrlich zu sein, ich war gerade unterwegs zu Onkel Albert, um ihn anzupumpen, als mich der Hexenschuss außer Gefecht setzte. Ein Fingerzeig Gottes, hätte meine Tante gesagt. Es ist mir sehr peinlich, aber… dürfte ich mit dem Bezahlen noch ein paar Tage warten?« Ich dachte an Mammas Bemerkung über den ›Glücksritter‹. »Ich glaube, es wäre besser, ich strecke Ihnen die Summe bis dahin vor.« »Ich verstehe nicht, warum Sie das alles für einen hereingeschneiten Fremden tun wollen.« »Ich auch nicht. Kann sein, daß es mir einfach Spaß macht.« Er sah mich prüfend von der Seite her an. »Sie sind ein merkwürdiges Mädchen. Sobald ich kann, zahle ich das Geld zurück. Ganz wohl ist mir nicht bei der Geschichte. Wenn ich bislang eine Frau um Geld anging, so war das immer eine alte Tante. 221
Und ich mußte es mit einer langen Predigt von ihr abbüßen. Was, meinen Sie, werden Ihre Eltern fordern?« Ich überlegte, kannte ich doch Mammas Ansichten. »Drei Pfund?« »Außerdem brauche ich einen Wagen nach Ockley. Sagen wir, insgesamt vier Pfund. Sind Sie so begütert, daß Sie mir die Summe leihen können?« »Ich könnte Ihnen zweihundert Pfund leihen. Meine Eltern zahlen mir ein gutes Gehalt, und ich brauche nicht viel für mich.« Wieder dieser prüfende, gleichzeitig aber auch überraschte und belustigte Blick. »So, Sie könnten? Und würden Sie auch? Das müssen Sie mir noch verraten.« »Ich könnte und ich würde. Wenn Sie mich darum bitten, leihe ich Ihnen auch zweihundert Pfund.« »Und warum? Können Sie mir das erklären?« »Weil es mir so gefällt.« Er schüttelte lachend den Kopf. »Sie sind wohl die arroganteste Person, der ich je begegnet bin. Aber nicht nur deshalb. Da serviert sie mir die Spaghetti am ersten Abend mit einer Miene, als erteile sie mir den Ritterschlag.« »Unsinn«, sagte ich und lief hinaus. Damit endete unser trauliches Gespräch. Ich ging in mein Zimmer und entnahm einer kleinen, mit Schildpatt besetzten Schatulle fünf Pfund. Am folgenden Tag fragte er Mamma nach der Rechnung. »Zwei Pfund«, antwortete Mamma. Er legte drei Pfund hin, was aber ihre Meinung über ihn nicht im mindesten beeinflusste. »Wie gewonnen, so zerronnen«, sagte sie, als er den Einspänner, der ihn nach Ockley fuhr, bestiegen hatte.
Vierzehn Tage waren vergangen. Der November wurde mit jedem Tag düsterer. Fünf Pfund und eine Illusion verloren. Recht geschah mir, 222
was hatte ich denn erwartet? Ich hatte gesagt, weil es mir Spaß macht, weil es mir so gefällt. Ich war doch das eingebildetste Frauenzimmer meilenweit im Umkreis. Aber eines Morgens pochte der Briefträger an unsere Tür und händigte mir ein Päckchen aus. Als ich die Verpackung löste, fielen mir ein Brief und eine kleine Schachtel entgegen. Den Brief las ich zuerst: »Liebe Miss Cris’, ich hatte ursprünglich die Absicht, auf der Rückfahrt von Ockley bei Ihnen vorbeizukommen, aber Onkel Alfred machte die gewährte Unterstützung davon abhängig, daß ich sofort die Stelle, die er mir vermittelt hat, antrat. Und so sitze ich hier im tiefsten Wiltshire und hausiere mit Kraftfutter bei Bauern, die ihren Mund ebenso fest zukneifen wie ihre Börse. Mir ist aufgefallen, daß Sie gern Granatschmuck tragen, der Ihnen, nebenbei gesagt, ausgezeichnet steht. Bitte nehmen Sie die Kleinigkeit hier an als Zeichen meiner Dankbarkeit, die sich, ihrem Umfang entsprechend, nur durch den Kohinoor würdig ausdrücken ließe…« In der Schachtel lagen meine fünf Pfund, in Seidenpapier eingewickelt, sowie ein goldenes Armband, das mit fünf geschliffenen Granatsteinen, jeweils von der Größe einer halben Erbse, besetzt war. In ihrer Farbe und ihrem Glanz unterschieden sie sich erheblich von den meinen. Er hatte an mich gedacht und mir ein hübsches Geschenk verehrt! Als ich das Armband Mamma zeigte, meinte sie: »Wenn das Granate sind, freß ich einen Besen! Das sind Rubine!« »Mr. Fennel schreibt aber, es sind Granatsteine. Lies doch!« Ich fürchtete mich, Mamma könne auf abwegige Gedanken kommen. Sie las den Brief und bemerkte dann gehässig: »Er hat sich den falschen Beruf ausgesucht. Frauen kaufen kein Mastfutter. Und ich behaupte immer noch, das sind Rubine. Schau die kleinen Diamanten, mit denen sie eingefasst sind, an! Außerdem ist es alter Schmuck. Da, hier wurde die Sicherheitskette einmal repariert.« »Ist mir doch egal, ob alt oder neu, Granate oder Rubine! Das Armband ist jedenfalls hübsch, und ich freue mich darüber.« Diesmal war es Mutter, die mich mit einem langen Blick vom Schei223
tel bis zur Sohle musterte. Was gab es an mir zu sehen? Nichts. Den Kloß in meinem Hals verspürte nur ich. Das dahinschwindende Jahr brachte das Weihnachtsfest und nahm es mit sich fort. Das neue entschloß sich nach Monaten voller Graupel und Regen endlich dazu, sich dem Diktat des Frühlings zu beugen. Als die ersten Narzissen blühten, überfiel mich grundlose Trauer; noch schlimmer wurde es an dem Tag, an dem der Fliederbusch voll erblühte. Vor Jahren, da ich noch voller Zukunftsträume steckte, schien es mir, als ob zwei Dinge so gewiß wie mein erstes langes Kleid mich erwarteten: Daß ich eines Tages eine Schriftstellerin wie Marie Corelli sein würde und daß mir einmal im Leben der einzige Mann begegnete, der für mich in Frage kam. Mit den Jahren waren die Träume verblasst. Meine Romanfragmente verstaubten in einer Schublade. Und der Mann meiner schicksalshaften Liebe? Meine hübschen Schwestern hatten sich jedenfalls mit Männern abfinden müssen, die meinem Ideal nicht entfernt glichen. Ich mußte mich dreinschicken, eine Narzisse war eine Blume und nichts weiter. Aber das Haus bewahrte seine Erinnerung. An diesem Tisch hatte er an jenem ersten Abend gesessen, auf jener Klinke hatte seine Hand gelegen. Manchmal machte ich mir in Jacks Kammer zu schaffen und strich, wenn niemand mir zusah, über das Bett, in dem er Aufnahme gefunden hatte…
Plötzlich redete jedermann über Krieg. Wie immer in solchen Fällen gingen die Meinungen auseinander. Die einen sagten, nie würden wir gegen die Deutschen kämpfen, deren Kaiser ein Enkel unserer Queen Victoria war. Die Mehrzahl hielt aber den Krieg mit Deutschland, der schon seit Agadir schwelte, für unausweichlich. Mamma glaubte an Krieg. Sicher, letzten Endes würden wir als Sieger daraus hervorgehen, aber man mußte sich auf harte Zeiten gefaßt machen. Die Deutschen prahlten mit der Schlagkraft ihrer Flotte, und England war eine Insel. Mamma legte also Vorräte an von 224
allen haltbaren Lebensmitteln: Reis, Zucker, Tee, Makkaroni, Spaghetti, Kaffeebohnen, Kondensmilch, Fleischkonserven, Gewürzen und was weiß ich noch alles. Papa, der früher unseren Betrieb wie für eine Belagerung ausgerüstet hätte, sah ihr gleichgültig zu. Jack wartete, wie er uns keck zu verstehen gab, nur auf den Kriegsausbruch, um sich freiwillig zu melden. Ich für mein Teil hoffte, daß es nicht zum Krieg kommen würde. Was ich über Kriege und das Elend, das mit ihnen verbunden war, gelesen hatte, über Tote, Verwundete, Flüchtlinge und Hungernde, genügte, um den Krieg in jeder Form zu verabscheuen. Ende August war es dann soweit, Mamma schwoll vor Genugtuung: »Habe ich es nicht immer gesagt?«
Am sechzehnten Tag des Krieges öffnete sich abends die Tür. Ich weiß heute noch, ich stand gerade an einem Seitentisch und nahm eine Bestellung für kalten Braten mit roten Rüben und Kartoffeln entgegen, als er in Uniform hereinkam. Sie stand ihm wie angegossen. Tausend Gedanken gleichzeitig durchschossen mein Gehirn: Er war hier, er war wieder Soldat, er konnte fallen, erneut verwundet werden. Mein Herz dröhnte wie eine Trommel in den Ohren. Als ich mich endlich gefaßt hatte und nach einer schicklichen Pause auf den Tisch zuging, an dem er saß, fühlte ich meine Knie weich werden. »Hallo«, sagte ich. »Schnell bitte ein Bier. Ich kann jetzt nicht lange bleiben, draußen warten Leute auf mich. Haben Sie heute abend Zeit? Um zehn?« »Ja.« Stehend trank er sein Bier aus, warf ein Geldstück hin und eilte hinaus auf die Straße, wo stampfend und scharrend eine Gruppe junger Soldaten stand. Am liebsten wäre ich auf mein Zimmer gestürmt und, lachend und weinend zugleich, auf mein Bett gesunken. Auch hätte ich mich gern sorgfältig zurechtgemacht. Aber ich mußte wie gewohnt weiterbedie225
nen, bis der letzte Kunde abgefertigt war und Mutters argwöhnisches Auge von mir abließ. Als wir fertig waren, stellte ich mich vor ihre Kasse und verkündete: »Ich möchte heute kein Abendessen. Ich gehe noch aus.« »lass dich von dem Kerl nicht zum Narren halten«, sagte Mutter. »Ich weiß schon, was ich tu«, rief ich schon von der Treppe. Ich wusch und kämmte mich in Minutenschnelle, zog mein neues Seidenkleid an und setzte einen weißen Strohhut auf. Das Armband legte ich über meinem langen Handschuh an. Neun Monate hatte ich ihn nicht gesehen, nun kamen sie mir wie neun Stunden vor. Er wartete vor dem Haus auf mich und sagte: »Schön, Sie endlich mal wieder zu sehen. Wollen wir ins Hotel? Ich bin seit aller Frühe auf den Beinen, Sie wohl nicht minder. Wie geht es Ihnen denn?« »Wie gewöhnlich. Was haben Sie unterdessen getrieben?« »Allerlei Nützliches und Unnützes. Aber darüber später. Zuerst muß ich mit Ihnen über andere Dinge sprechen.« »Sie sind aber rasch wieder in Uniform geschlüpft. Was macht die Hexe mit ihrem Schuß?« Unser alter Scherz. »Danke, sie ist zur Zeit gnädig und läßt mich in Ruhe. Bei der Army ist man nicht wählerisch im Krieg. Meinen Chef kenne ich noch von früher, er weiß, wozu ich zu gebrauchen bin. Wir sind angekommen.« Er stieß die Glastür auf. Wir traten ein und gingen durch die Empfangshalle in den Speisesaal des Hotels, in dem eine Menge Offiziere der verschiedensten Ränge saßen. Einer von ihnen rief meinem Begleiter zu: »He, Bob!« Ein anderer: »Immer noch der alte, wie man sieht!« Mein Partner erhob die Hand zum Gruß und führte mich zu einem Tisch unter einer Palme, die, wie mein Hausfrauenauge selbst in diesem Moment bemerkte, dringend ein Staubtuch nötig gehabt hätte. Auf meinen Wunsch bestellte er Sherry für mich, für sich selber einen Whisky. Dann bot er mir eine Zigarette an. »Aber doch nicht vor aller Öffentlichkeit«, wehrte ich ab. In der Kammer hatten wir öfter zusammen geraucht. 226
»Unsinn. Schmeißen Sie endlich die Zimperlichkeit über Bord und wagen Sie eine Pioniertat. Also?« Ich dachte daran, daß ich ihn vielleicht nie mehr wieder sehen würde. So kam es, daß ich vermutlich eine der ersten Frauen von Stand war, die in der Baildoner Öffentlichkeit eine Zigarette anrührte. Wie damals begannen wir unser Gespräch mit Wortgefechten und Plänkeleien. Ich merkte aber bald, daß mein Gegenüber nicht ganz bei der Sache war. Sein Gesicht wurde immer ernster. Seine Stimmung schlug auf mich zurück, so daß ich ebenfalls einsilbiger wurde und zuletzt verstummte. Mehrmals setzte er an, um mir etwas zu sagen, räusperte sich, trank sein Glas aus, bestellte ein neues, zündete sich eine Zigarette nach der anderen an und lachte schließlich nervös auf. »Ob Sie mir glauben oder nicht, ich möchte Ihnen etwas sagen und habe Angst davor. Können Sie es erraten?« Er will sich verabschieden, dachte ich, er hat so oft von Dankbarkeit gesprochen. Nun ergreift er die Gelegenheit, um mir endgültig Adieu zu sagen. »Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren«, fuhr er mittlerweile fort, »zeichnet sich für mich eine Art Zukunft am Horizont ab. Sie mag nicht lange dauern und nicht allzu rosig aussehen. Aber solange ich lebe, beziehe ich Gehalt, und wenn ich umkomme, hinterlasse ich eine Pension. Und deshalb will ich Sie fragen, wollen Sie mich heiraten?« Ohne mich zu besinnen, antwortete ich: »Ja. Wenn es Ihnen wirklich ernst damit ist?« »Ich mache keine Heiratsanträge in der verkappten Hoffnung, daß mich die betreffende Dame abweist. Herrgott, ist das wahr? Haben Sie wirklich ja gesagt? Überlegen Sie's recht, ich bin keine sonderlich gute Partie. Und wenn der Krieg aus ist, das kann schon zu Weihnachten der Fall sein, fängt das alte Lotterleben in Unsicherheit wieder an. Meinen Sie… meinst du es ernst?« »Warum machst du so viel überflüssige Worte?« »Weil dies der einzige Grund war, weshalb ich dich nicht schon vorigen November gefragt habe. Ich lebe von der Hand in den Mund. 227
Kann ich es verantworten, dich aus deinem sicheren Dasein zu reißen und der Ungewissheit auszuliefern?« »Und ich glaubte schon, du machtest dir nicht viel aus einer Serviermamsell. Hör zu, lieber lebe ich mit dir zusammen in einem Zigeunerwagen als mit einem anderen in einer Villa.« »Mein Liebes.« Unsere Hände fanden sich. »Morgen besorge ich uns eine Heiratslizenz.« Wie der geneigte Leser sieht, war es auch diesmal nichts mit dem Liebesgeständnis. Keiner von uns beiden hatte von Liebe gesprochen. Auch eine Viertelstunde später, als Robert mich vor unserer Haustür in die Arme nahm und küßte und das ganze All mit seinen Sonnen und Spiralnebeln um uns herumwirbelte, fanden wir weder Zeit noch Atem für Liebesschwüre. Wir dachten gar nicht daran, als wir uns wie Schiffbrüchige in einem Sturm aneinanderklammerten; es war einfach gut so.
Mamma saß noch auf und wartete. »Na, wie war's?« »Wir heiraten. Morgen reicht Robert den Antrag auf eine Sonderlizenz ein.« »Du mußt ja wissen, was du tust«, seufzte Mamma. »Ich hoffe, dir ist klar, auf was du dich einlässt, Mary.« »Ja, Mamma«, sagte ich und sah ihr offen in die Augen.
3
I
nmitten meines großen Glückes durfte ich nicht vergessen, an meine Eltern und ihr Schicksal zu denken. Vater in seinem apathischen Zustand war durchaus willig, ein gewisses Maß an Arbeit zu leisten, 228
wenn ein anderer die Führung übernahm. Jack hatte sich in den ersten Kriegstagen zum Militär gemeldet. Und nun fand ich weder einen Küchenjungen noch ein zuverlässiges Frauenzimmer, das meine Arbeit übernommen hätte. In Baildon, als einem Knotenpunkt zwischen den Küstenorten und dem Binnenland, schwirrte es wie in einem aufgestörten Bienenstock, in dem niemand auf eine feste Arbeit Wert legte. Was gesucht wurde, waren Unterkünfte und Schlafstellen, die neuerdings auch von den Zivilisten als ›Quartier‹ bezeichnet wurden. Ehe Robert erschien, hatte man uns täglich darauf angesprochen, ob wir nicht Zimmer vermieteten oder Schlafgäste aufnähmen. Das brachte Mamma schließlich auf eine Idee. Im Oberstock hatten wir vier kleine Zimmer, von denen unsere Vorgänger eines als Wohnküche benutzt hatten. Als wir einzogen, ließ Vater den Lagerraum des ehemaligen Ladens als Küche herrichten, was diese vermutlich in früheren Zeiten auch schon gewesen war. Mamma meinte, mit Gottes und unserer Hilfe würde sie die Treppe wohl noch einmal hinaufsteigen können, und wenn sie dann oben mit Vater ein Zimmer und die Küche bewohnen würde, wären unten der Speisesaal, ihr Zimmerchen und die Kammer frei, während im Obergeschoß nochmals zwei Zimmer bereitstünden. In den Gastraum würde man Betten stellen und ihn mit Vorhängen abteilen können. Dort würden dann Soldatenfrauen logieren können, die ihren eingerückten Männern nachreisten, während die Zimmer für Offiziersfrauen gedacht waren. Papa wäre beweglich genug, um einzukaufen und nach dem Rechten zu sehen, soweit das unten erforderlich wäre. Wenn sie wollten, könnten die Frauen in der unteren Küche für sich kochen. »So müßte es gehen«, sagte Mamma befriedigt. »Papa wird auch froh sein, wenn er nicht mehr so viel zu kochen braucht. Von meinen Beinen ganz zu schweigen.« Ich stimmte allem zu. Und bald gehörte ich auch zu den ›Nachzüglern‹, wie Mamma die nachreisenden Soldatenfrauen nannte. Ich folgte meinem Mann nach Yorkshire, Wiltshire, Hampshire und alle die winzigen Nester von Norfolk und Salisbury, wo Robert als Ausbildungsoffizier seinen Dienst versah. Ich habe damals, wenn ich allein 229
in meinem Zimmer saß, ein Tagebuch geführt, das ich mich immer noch scheue, auszupacken. Abwechselnd logierte ich in eleganten Hotelzimmern oder hauste in Bretterbuden. Einmal verbrachte ich, obdachlos im wahrsten Sinne des Wortes, eine Nacht im Wartesaal eines Bahnhofs, ein andermal auf einem Feldbett in einer muffigen Zeugkammer. Mir war es einerlei. Ich wollte jede Minute, die Robert erübrigen konnte, mit ihm zusammen verbringen. Wir hatten keine Zeit zu vergeuden, ich war über dreißig, Robert nahezu vierzig. Auch wenn der Krieg demnächst enden sollte, war unser Leben immer noch zu kurz, falls wir unsere Liebe nicht auf die alten Tage verlegen wollten. Als es einmal hieß, Robert sei an einen derzeit geheimen Ort an die Küste beordert worden, beschwor ich ihn: »Du sagst mir Bescheid, sobald du ahnst, wohin?« »Natürlich. Aber die Oberen halten diesmal eisern dicht.« »Soll das heißen… Frankreich?« »Sieht beinahe so aus.« Diesmal wohnte ich in einem winzigen Zimmerchen bei einer alten Dame, ganz in der Nähe der Militärbaracken. Verzweifelt hielten wir uns umklammert in der Furcht, dies sei Roberts letzte Nacht in England. Aber dann wurde er doch nicht auf das Schiff, sondern zu einem Exerzierplatz in Amesbury beordert, wo man, wie Robert sagte, auch alte Kämpen brauchen konnte, wenn sie nur ein Gewehr von einer Schrotflinte unterscheiden konnten und ihr Wissen anderen beizubringen vermochten. Vielleicht gelang es uns auf diese Weise, wohl dank Roberts alter Verwundung, den Krieg heil zu überstehen. In den fünfzehn Monaten unseres Beisammenseins hatte Robert zwei Anfälle von der Sorte, die wir als Hexenschuss bezeichneten, und die ihn jedes Mal zu mehrtägiger Bettruhe zwangen. Herrliche Tage, trotz der quälenden Schmerzen. Niemand schenkte ihnen viel Beachtung, fast jeder alte Frontkämpfer hatte irgendein Wehwehchen. Als es ihn zum dritten Mal in Wiltshire stärker denn je überfiel, bestand sein Vorgesetzter, ein jüngerer, sehr pflichteifriger Offizier, darauf, daß Robert sich im Lazarett gründlich untersuchen und auskurieren ließ. Er lag noch nicht vierundzwanzig Stunden dort, als ich auch 230
schon zugegen war, und zwar in der nicht gerade erhabenen Position eines Küchenmädchens. Auch der ehrgeizige junge Chirurg nahm den Fall ernst. Er stellte die gleiche Diagnose, wie Dr. Cornwell vor nun schon zwei Jahren: Der Kugelrest mußte entfernt werden, wenn nicht eines Tages irreparable Schäden auftreten sollten. Er riet uns dringend zur Operation. Mir erschien der Arzt damals als guter Engel, der Robert für unbestimmte Zeit von der stets drohenden Gefahr der Verschickung auf den Kontinent befreite, und ihn, wer weiß, vielleicht sogar zum ständigen Dienst im Mutterland empfahl. Daß bei unserer Lebensweise meine Ersparnisse draufgegangen waren, kümmerte mich nicht weiter. Wenn Roberts Gehalt nicht ausreichen würde, müßte ich eben kurzfristig Arbeit suchen. Hauptsache, wir waren einander nahe. Drei Minuten, bevor sie Robert in den Operationssaal rollten, durfte ich ihn sehen. Er hatte bereits ein Beruhigungsmittel erhalten und war ziemlich benommen. Er erkannte mich jedoch und sagte mit einer Stimme, die von sehr weit her klang: »Trotz allem war es eine herrliche Zeit, nicht wahr?« Ich erschrak, das war ja wie ein Abschied. Wußte er mehr, als man mir gesagt hatte, überkam ihn eine Ahnung oder sprach nur das Betäubungsmittel aus ihm? Ich dachte an etwas, das ich ihm bisher verschwiegen hatte, obwohl ich meiner Sache längst sicher war. Aber ich fürchtete, er würde mich nach Hause schicken und mir verbieten, sein unstetes Leben weiterhin mit ihm zu teilen. Wenn ich mich zu ihm neigte und ihm mein Geheimnis ins Ohr flüsterte, würde es ihn freuen und seinen Lebenswillen anspornen? Oder würde es ihn ängstigen und Sorgen bereiten? Ehe ich mich entscheiden konnte, schob der Sanitäter die Bahre wieder an. »Nun, Mrs. Fennel?« Ich küßte ihn und kehrte zu meinem Abwaschbecken zurück. Er starb, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Trotz allem war es eine herrliche Zeit.
231
Ich kehrte zu meinen Eltern zurück. Die Flut der ›Nachzügler‹ war unterdessen weiter angeschwollen. Mutter kündigte den beiden Frauen, die sich in mein Zimmer teilten. Die altgewohnten Wände umgaben mich wieder, mir war es einerlei. Ich konnte nicht essen, nicht schlafen und an nichts anderes denken als an Robert, der nun tot war. Wenn ich heute an jene Zeit zurückdenke, stimme ich der Auffassung zu, daß eine schwangere Frau zu den zähesten Geschöpfen dieser Erde gehört. Nach ein paar grässlichen Tagen verschrieb mir Dr. Cornwell zögernd ein leichtes Schlafmittel und schärfte mir ein, die Tabletten für den äußersten Notfall aufzusparen. Sobald ich allein war, schüttete ich das ganze Röhrchen in einen Becher warmer Milch und leerte ihn in einem Zug. Dann legte ich mich mit dem Anflug eines Glücksgefühls aufs Bett. Es war getan, morgen brauchte ich nicht mehr aufzuwachen. Und doch erwachte ich wieder nach einem Gang durch die Hölle. Was ich in jenen Stunden sah, dachte, fühlte und erlitt, werde ich nie erzählen, auch an dieser Stelle nicht. Als ich wieder zu mir kam, kehrte sich mein Innerstes nach außen, und ich hing würgend über der Bettkante, während mich Dr. Cornwell kräftig ohrfeigte. Erst in den folgenden Tagen nahm ich wahr, daß Vater aus seiner Lethargie erwacht war. Er verbrachte Tage und Nächte an meinem Bett, redete mir gut zu und kochte mir kleine, schmackhafte Gerichte. Kurzum, er umsorgte mich wie ein krankes Kind. Als ich mich einigermaßen gefaßt hatte, nahm mich Mamma ins Gebet. Gradaus und ehrlich bis zur Grobheit, hielt sie auch diesmal mit ihrer Meinung nicht zurück. Sie sagte, ich könne Robert nicht wahrhaft lieben, wenn ich imstande sei, das einzige, was von ihm geblieben war, sein Kind, aus Selbstmitleid und Egoismus umzubringen. »Erst wenn dieses Baby nicht mehr lebt«, mahnte sie mich, »ist Robert unwiederbringlich und spurlos aus der Welt verschwunden. Gib dem Kind das Leben, und sein Vater ersteht lebendig vor dir.« Wir schwiegen lange. Auf einmal bemerkte sie: »Und wenn du weiter so wenig isst, bekommt es eine platte Nase.« 232
Ich sah sie verständnislos an. »Lach mich meinetwegen aus, erklären kann ich dir's nicht, aber die Babys von unterernährten Müttern haben alle eine platt gedrückte Nase, so daß sie uns auf den ersten Blick als arme Würmchen leid tun.« Auch die folgenden Monate müssen vergangen sein, denn im Juli gebar ich mein Baby. Es war ein Junge: Robert Fennel. An diesem Tag verließ mein Leben seine alte Bahn und kreiste von da an um eine neue Sonne. Wohl jede Mutter, die ihr Neugeborenes im Arm hält, wünscht ihm ein besseres, glänzenderes Schicksal als dasjenige, das ihr selber zuteil wurde. So auch ich. Als ich meinen Jungen ansah, schwor ich mir, daß er unter denselben Bedingungen aufwachsen sollte wie sein Vater, mit allen Vorzügen einer behüteten Kindheit. Es lag an mir, die Mittel und Wege dazu zu finden. Da Roberts Tod nicht unmittelbar durch den Krieg verursacht worden war, hatte ich nur eine winzige Pension zu erwarten. Nicht, daß es mir etwas ausgemacht hätte, den Lebensunterhalt für mich und mein Kind zu verdienen. Seit jungen Jahren hatte ich stets hart gearbeitet, ich war von Natur aus energisch und ausdauernd. Aber hier kamen andere Faktoren ins Spiel. Meiner Ausbildung nach – ich hatte nur die Grundschule – konnte ich keinen Anspruch auf eine gutbezahlte Stellung erheben. Sicher, in der Rüstungsindustrie verdiente man sehr gut, aber dann mußte ich mich von Bobby trennen und ihn meinen Eltern überlassen. Außerdem gab es natürlich die Möglichkeit, unser Lokal neu zu eröffnen und Vater an seinen Küchenherd, Mutter in den Kassenverschlag zurückzuverbannen. Dann konnte ich bei meinem Kind bleiben, wenn ich auch nie genug Zeit haben würde, um es so zu erziehen, wie mir das vorschwebte. Auch war es nicht die Umgebung eines Speisehauses, die ich mir für Roberts Sohn wünschte. Robert hatte zwar nie ausführlich von seiner Kindheit und seiner Jugend erzählt, vermutlich, um mich nicht zu kränken, aber wenn man fünfzehn Monate eng mit einem Menschen zusammenlebt, klingt unvermeidlich dann und wann ein Echo aus seiner Vergangenheit auf. Es hatte da einen grünen Rasen zum Ballspielen gegeben, Bäume, auf die er geklet233
tert, Ponies, von denen er gefallen war, Hunde, die er als Spielkameraden heiß geliebt hatte. Dies alles hatte in Roberts Jugend eine Rolle gespielt und sollte auch seinem Sohn nicht vorenthalten werden. Als ich endlich ausgehen konnte, stand mein Entschluß fest, mich mit Sir Albert Fennel in Verbindung zu setzen. Die Situation war ziemlich verfahren. Robert war seinem Onkel zuletzt in jenem November 1913 begegnet. Er hatte einen Scheck von ihm erhalten, mit der Bemerkung, dies sei endgültig die letzte Summe, die sich der Onkel aus der Nase ziehen lasse. Sir Albert hatte ihn dann mit einer Empfehlung an den Direktor einer Mastfutterfabrik fortgeschickt. Nicht einmal unsere Heirat hatte Robert ihm angezeigt. Außerdem lebte eine Tante Roberts in Bath. (Robert hatte mir die Geschichte des Armbands erzählt. Mamma hatte recht, die Steine waren Rubine. Die Tante konnte ihn, wie sie bedauernd sagte, zwar nicht finanziell unterstützen, löste jedoch ihr Armband vom Handgelenk und schenkte es ihrem Neffen, damit er es verkaufe. Robert hatte es mir geschickt, was ich nachträglich noch sehr rührend gefunden hatte.) Obwohl ich keinen Grund zu der Annahme hatte, Sir Albert oder die Tante würde mir bei der Erziehung seines Sohnes irgendwie beistehen, durfte ich den Versuch nicht unterlassen. Ich setzte mich hin und schrieb an beide einen langen Brief. Die Tante schrieb nach einigen Tagen zurück, wie tief sie sich durch den Tod ihres Neffen betroffen fühle. In dem Altersheim, ›der Vorhalle zum Friedhof, in dem sie lebe, könne sie nicht viel erübrigen, aber vielleicht reiche die beigefügte Note für ein Mäntelchen oder eine Rassel. Sir Albert ließ nichts von sich hören. Drei Wochen vergingen. Das Baby gedieh, und Mamma, die von ihren ständig wechselnden Schlafgästen allmählich genug hatte, besann sich auf die kaum angetasteten Vorräte in unserer Speisekammer und machte, als sie mich wieder gesund und arbeitsfähig wähnte, selber den Vorschlag, doch zu unserem eigentlichen Gewerbe‹ zurückzukehren und unser Lokal neu zu eröffnen. An Gästen würde es nicht mangeln. 234
Ich lehnte rundweg ab. Ihre Antwort war genauso aufrichtig: »Es tut nicht gut, wenn eine gesunde Frau, die ihr eigenes Auskommen haben könnte, sich von der Familie ihres Mannes durchfüttern läßt. Als ich deinen Vater heiratete, habe ich mich auch nicht hingesetzt und die Hände in den Schoß gelegt. Ich habe damals fest zugepackt und bin auch heute bereit, alles zu tun, was ich kann.« »Es geht ja nicht um die Arbeit. Ich will, daß Bobby unter besseren Verhältnissen aufwächst.« »Meinst du, als armer Schlucker bei seinen Verwandten hat er's leichter?« »Du verdrehst mir die Rede im Mund. Das läßt sich nicht mit ein paar Worten erklären.« Mamma schaute mich groß an. »Weil es nichts zu erklären gibt. Dein Mann war das lebende Beispiel dafür, was aus einem wird, der zum Nichtstun erzogen wird, ohne daß er die nötigen Mittel zu einem Herrenleben besitzt. Erst dieser fürchterliche Krieg gab ihm die Chance, dich zu heiraten. Er ist tot. Und du willst deinen Sohn zu einem ebenso haltlosen Menschen erziehen?« »Nein. Bobby soll eine glückliche Kindheit haben und später eine gute Ausbildung. Roberts Verhängnis war es, daß er nie gelernt hat, wie man sich die Voraussetzungen für ein besseres Leben selber schafft.« »Genau was ich sage. Wenn wir unseren alten Betrieb wieder aufmachen, lernt der Junge von kleinauf, wie seine Mutter und seine Großeltern für das tägliche Brot arbeiten. Soll er meinetwegen auf die höhere Schule gehen, aber am Wochenende und in den Ferien soll er mithelfen, damit er sieht, wie sauer das Geld verdient sein will.« Sie hielt inne, zuckte die Schultern und fuhr dann fort: »Die Zeit ist günstig. Du hast dich erholt, mir geht es nicht schlechter als vor zwei Jahren, und Vater ist ein anderer Mensch geworden, seit er auf meinen Rat gehört hat und in St. Egbert war.« Vater mutete uns an wie jemand, der nach einer langen, geheimnisvollen Krankheit endlich die richtige Medizin entdeckt hat. Im vergangenen März war ein deutscher Zeppelin über den Kanal geflogen und 235
hatte auf einige Ortschaften, darunter auch Baildon, Bomben abgeworfen. Vater hatte mich in den Keller geschickt und Mutter, die stark an Gewicht verloren hatte, mehr getragen als hinuntergeführt. Bei jedem Einschlag murmelte er »Oh, Gott!« Mir war damals noch immer alles gleichgültig, ja, ich hoffte still, auf diese Art ohne eigenes Mitverschulden vielleicht meinen Problemen zu entfliehen. Ich glaubte, Vater ängstige sich, und wunderte mich deshalb um so mehr, als er auf die Kunde, eine Bombe habe in der Nachbarschaft eingeschlagen und ein Haus in Brand gesetzt, gegen Mammas Protest hinauseilte und umsichtig die Löscharbeiten in die Wege leitete. Ihm war zu verdanken, daß nur das Dach und nicht die ganze Nachbarschaft abbrannte. Tags darauf begab er sich zur katholischen Kirche in der Westgate Street. Er hatte viel zu beichten. Er hatte eine Protestantin geheiratet und zugelassen, daß seine Kinder in der falschen oder ganz ohne Konfession aufwuchsen. Er selber hatte sich jahrzehntelang nicht um die Kirche gekümmert. Mit ihm kehrte ein verlorener Sohn reumütig in den Schoß der Kirche zurück. Als er nach Stunden wiederkam, strahlten Zufriedenheit und demütiges Glück aus seinem Gesicht. Ich beneidete ihn von ganzem Herzen. Wie glücklich wäre ich gewesen, in dem Glauben, Robert lebe im Jenseits und Gebete könnten die Verbindung zwischen uns wiederherstellen. Selbst später gab es mir noch manchen Stich, wenn ich Vaters abgeklärtes Lächeln sah. »Also gut«, antwortete ich Mamma. »Wenn ich bis Ende der Woche keine Nachricht aus Ockley erhalte, fangen wir nächsten Montag an.« Die Freitagspost brachte mir einen Brief, in dem Sir Albert Fennel mich am kommenden Samstag oder Sonntag zu sich nach Hause bat. Danach müsse er leider verreisen. Ich ging zum Bahnhof und meldete mich telefonisch für den Samstagnachmittag an.
Noch heute steigt mir die Schamröte ins Gesicht, wenn ich an meinen Besuch in Ockley denke. 236
Haus und Park ließen nicht die mindesten Spuren des Krieges erkennen, der nun schon zwei Jahre wütete. Der Rasen war kurz geschoren, die sorgsam gestutzten Hecken und die Blütenpracht der Rittersporne und Sommerastern ließen den Gedanken absurd erscheinen, daß drüben in erdigen Schützengräben sich junge Männer gegenseitig umbrachten. Der Tisch im Speisezimmer war festlich für zwei Personen gedeckt. Ein Butler und ein Stubenmädchen in schwarzweißer Tracht bedienten uns. Als wir gegessen hatten, setzte der alte Mann zum Angriff an. Was ich mir denn vorstellte? Ich erläuterte ihm, ich hoffe lediglich auf seine Unterstützung bei meiner Aufgabe, Roberts Sohn standesgemäß zu erziehen. Er knurrte, er habe selber einen Sohn. Oft genug habe er Robert aus der Patsche geholfen. Sogar seine Schwester habe von ihrer kargen Leibrente Robert etwas zugesteckt. Ob das denn nie ein Ende hätte? Jetzt, wo die Preise so gestiegen seien und die Vermögenssteuer drastisch erhöht worden wäre? Auf diese Art nörgelte er vor sich hin. Anscheinend behielt Mammas gesunder Menschenverstand wieder einmal recht. Als er innehielt, sagte ich daher: »Sie brauchen mir nichts vorzujammern, Sir Albert. Den Lebensunterhalt für mich und meinen Jungen verdiene ich schon selber.« Seine Äuglein blitzten mich listig an. »Da Sie schon vom Verdienen sprechen… Meine Haushälterin versieht nun schon über fünfundzwanzig Jahre bei mir den Dienst. Sie hat Stephen nach dem Tod seiner Mutter aufgezogen. Stephen ist an der Front, habe ich das schon gesagt?« »Nein, Sir Albert.« »Robert ist tot und Stephen an der Front, ja. Was wollte ich noch sagen? Ach ja. Mrs. Marjoram ist erkrankt, wird wohl nicht mehr richtig auf die Beine kommen. Schade, sehr schade. Sie scheinen eine vernünftige Person zu sein. Wollen Sie Mrs. Marjorams Stelle übernehmen?« Ich überlegte schweigend. Wenn ich ehrlich sein soll, dachte ich zuerst an die Angaben, die man bei der Anmeldung eines Jungen an ei237
ner Schule zu machen hat. Der richtige Name und eine gute Adresse wirken Wunder. War es nicht selbstverständlich, daß der Großneffe von Sir Albert Fennel auf dessen Gut Ockley aufwuchs? Keinem würde einfallen, daß seine Mutter dort als Haushälterin tätig war. Hier war Platz für Hunde und Ponies… »Das müßte man überdenken«, sagte ich vorsichtig. Hier bot sich die Gelegenheit, Bobby nach meinen Wünschen aufzuziehen, ohne daß wir als lästige Verwandte bei Roberts Familie schmarotzten. »Ist ja großartig«, erwiderte Sir Albert und sah mich von oben bis unten an. Plötzlich begriff ich. Ich war nie sonderlich hübsch, aber ich habe eine gute Figur, die auch in der schwarzen Witwenkleidung, die ich noch trug, vorteilhaft zur Geltung kam. Ich spürte, wie der alte Mann meinen Körper wie den eines Rennpferds musterte und wie dabei unverhohlene Lüsternheit in seinen Augen aufflackerte. Ganz abgesehen von meiner eigenen Abwehr und meinem Abscheu, standen wir vor einem Verhältnis der Art, für das sich Bobby später zu Recht würde schämen müssen. Vielleicht war ein Restaurant zwar immer noch nicht ganz das passende Elternhaus für einen Internatsschüler, aber wenigstens war es nichts Ehrenrühriges, sagte ich mir. Oder hatte ich mich getäuscht? Gehörte ich schon zu der Sorte ältlicher Frauen, die hinter jeder Anteilnahme eine Gefahr für ihre Tugend wittern? Sir Albert legte seine Hand auf die meine und zwängte den Zeigefinger in meinen enganliegenden Ärmel. »So ist es richtig. Überlegen Sie es gut, meine Beste.« Ich wollte es nicht zu einer Szene kommen lassen, deshalb erhob ich mich. Er mußte mich loslassen und stand ebenfalls auf. Ich brachte es noch fertig, mich lächelnd von ihm zu verabschieden. Zwei Tage darauf schrieb ich ihm einen Brief, ich bedauerte sehr, sein Angebot ablehnen zu müssen. Meine Eltern hätten die Absicht, ihren Betrieb neu zu eröffnen, und brauchten dazu meine Hilfe. (Manchmal, wenn ich morgens den Flur ausfege, sehe ich den Wagen von Ockley, der die neue Haushälterin zum Zug nach London bringt. Oft trägt sie einen Pelz aus Biberlamm. Sie hat einen weißen und einen 238
schwarzen Pudel und soll, wie man sagt, nach London fahren, um ihr Haar tizianrot färben zu lassen.) Aber auch die Adresse ›Old Vine, Baildon‹ nahm sich zusammen mit dem Namen Fennel gar nicht übel aus. Und da hier bei uns in England die richtige Schule entscheidend für die Karriere eines Mannes ist, hatte ich Bobby noch vor seinem ersten Geburtstag in Cumberland und Marlborough, wo der Name seines Vaters in alten Büchern verzeichnet steht, fest angemeldet. Hin und wieder erwachte ich nachts mit dem Gefühl, ich müsse an einem für mich zu großen Bissen ersticken. Und jeden Morgen nahm ich mir vor, diesen Bissen gründlich durchzukauen und hinunterzuschlucken, mochte kommen was wollte. In den beiden letzten Kriegsjahren arbeitete ich wie wahnsinnig. Da weder für die Küche noch für das Servieren eine Hilfe zu bekommen war, mußte ich die ganze Arbeit, mit Ausnahme des Kochens, allein bewältigen. Ich wusch ab und schrubbte, servierte und hielt das Haus sauber. Als die Lebensmittel knapp wurden und unser Vorrat aufgebraucht war, stellte ich mich frühmorgens in einer Schlange an. Ich habe mein Baby nie im Kinderwagen spazierengefahren, einfach weil ich keine Zeit dazu hatte. Zum Glück war Bobby ein gesunder, ruhiger Säugling, der stundenlang in seiner Wiege unter einem Baum stand und den Blättern zusah oder bei schlechtem Wetter in Mammas Stübchen vor sich hingurgelte. Wer von uns einen Augenblick Zeit erübrigen konnte, sah sich nach ihm um. Später turnte er in seinem Ställchen in einer Küchenecke und unterhielt den Großvater mit seinem Gebrabbel. Am Ende des Krieges waren wir wohlhabende Leute. Unser Geschäft florierte. Für meine Arbeit – die auch die Wäsche für die Familie mit einschloss – erhielt ich von den Eltern vier Pfund pro Woche, ein fürstliches Entgelt in jenen Tagen. Nur selten gab ich mehr als fünf Shillinge die Woche aus, und dann meist für Bobby. Vater trug jeden Penny, der nach Abzug der Betriebskosten und der Steuer blieb, in die St.-Egbert-Kirche. Der Pfarrer, Vater Minsham mit Namen, hatte Papa an seiner empfindlichsten Stelle, seinem Gewissen, 239
gepackt. Vater war mit neunzehn Jahren aus der Kirche nicht ausgetreten, sondern einfach fortgeblieben. Nun war er an die Siebzig. Vater Minsham rechnete ihm vor, welche Beiträge er in diesem halben Jahrhundert hätte leisten müssen: Vater stand also tief in der Schuld der Kirche und zahlte. Dennoch hatten wir nichts dagegen, das Geld war gut angelegt. Papa hatte seine Lebensfreude wieder gefunden und kochte mit dem Elan seiner Jugendjahre, so daß unser Haus bald landauf, landab wieder für seine ausgezeichnete Küche bekannt war. Samstagabend gab es kalte Platten, da ging er zur Beichte und kochte nicht. Bei Kriegsende, als die Soldaten nach Hause zurückkehrten, wurden sie als Helden und Sieger gefeiert. Wir hatten alle Hände voll zu tun, um die sich jagenden Feste und Feierlichkeiten mit erlesenen Mahlzeiten auszustatten. Papa übertraf sich selber. Und dann verebbte eines Tages der Jubel. Die Helden verloren ihren Glanz, Beruf und Alltag gewannen die Oberhand, und unsere Gäste stellten sich wie ehedem als Sommerfrischler auf der Durchreise oder Vertreter dar. Bobby war unterdessen vier Jahre alt geworden. Ich schickte ihn in den besten Kindergarten der Stadt.
Es war an einem Abend des Januar 1920. Bobby kuschelte sich in sein Bettchen, nachdem wir die Zeremonie des Badens in der alten Sitzwanne durchexerziert hatten. Das war unsere Stunde. Ich achtete darauf, daß uns niemand störte, und genoß das kindliche Geplauder meines Jungen. Zum festen Brauch gehörte immer eine Geschichte, die ich Bobby vor dem Einschlafen erzählte. Ich löschte das Licht, schaute in die Küche, wo Papa geschäftig am Herd hantierte und mir fröhlich zuwinkte, und ging dann zu Mamma, die wieder in ihr altes Stübchen hinuntergezogen war. In letzter Zeit schmerzten sie die Arme sogar schon, wenn sie sie beim Kämmen über den Kopf emporhob. Da sie sich strikt weigerte, ihr Haar abschneiden zu lassen (ich hatte als eine der ersten einen Bubikopf, der mir täglich manche Minute ersparte), steckte ich ihr Haar morgens zu einem Dutt auf 240
und flocht es abends in einen Zopf. Außerdem hatte ich durchgesetzt, daß sie sich früher zu Bett begab. Mit den paar Gästen, die sich nach sieben Uhr noch einfanden, wurden Papa und ich allein fertig. Auch an diesem Abend zog ich die mahagonibraunen Schildpattkämme aus ihrem Haar, das einstmals von derselben Farbe war. Nun stach es grau dagegen ab. Als ich den Zopf geflochten und mit einem Gummibändchen abgebunden hatte, erhob sich Mamma wie üblich aus ihrem Sessel, indem sie sich an der Kante der Kommode hochstemmte, die ihr als Toilettentisch diente. Noch immer lehnte sie es ab, sich bei einer Bewegung helfen zu lassen, die sie selber noch zustande brachte. Diesmal aber glitten ihre Hände plötzlich kraftlos ab, die Stöcke schlugen klappernd auf den Boden und Mamma sank ächzend in den Stuhl zurück. »Jetzt ist was passiert«, sagte sie sonderbar unbeteiligt. »Ich glaube, es ist das Schlüsselbein.« Mit dem rechten Arm umklammerte sie die linke Schulter. »Ich könnte schreien, aber ich will nicht, der Bub könnte aufwachen. Lauf, Mary, lauf zu Dr. Cornwell… lange halt ich das nicht aus…« Sie wurde kreidebleich. Dr. Cornwell war unser junger Arzt, der nach seinem Militärdienst die Praxis seines Vaters und Großvaters übernommen hatte. Als ich durch den Speisesaal stürmte, sah ich zwei Gäste an einem Tisch Platz nehmen. »Ich bin sofort wieder da«, rief ich ihnen zu und lief hinaus. Dr. Cornwell, der seine Abendsprechstunde bereits beendet hatte, folgte mir sofort. Als wir durch das Lokal liefen, sah ich weitere Gäste auf mich warten. Papa, der sich gewundert hatte, wo ich blieb, war zu Mamma gegangen und hatte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht halb ohnmächtig in ihrem Sessel angetroffen. Als wir die Tür öffneten, kniete er vor ihr und hielt ihr die gesunde Hand, während er sie tröstete: »Es wird gleich besser, Elsie, gleich wird der Arzt hier sein.« Der Fisch und die Pommes frites, die Spaghetti und die Käsesoße standen fertig bereit. Ich bediente die Gäste, denen mittlerweile durch den Besuch des Doktors klar geworden war, daß etwas bei uns passiert sein mußte. Sie nickten verständnisvoll, als ich bat: »Legen Sie bitte das Geld nachher auf den Tisch«, und wieder zu Mamma eilte. 241
Dr. Cornwell versorgte erst Mammas Arm und half uns dann, sie zu Bett zu bringen. Er gab eine einleuchtende Erklärung für den Unfall: Mammas Arme und Schultern hatten jahrelang die Hauptlast ihres Gewichtes getragen, so daß es schließlich zum Bruch gekommen war. Mit mir draußen redete Dr. Cornwell eine andere Sprache. Er sprach von einem spontanen Bruch, der schwere Komplikationen zur Folge haben konnte. Seine Vermutung bestätigte sich, Mamma starb innerhalb von drei Wochen. Vom ersten Augenblick an hatte sie gewußt, daß ihr Tod nahte, und hatte, während ich den Arzt holte, Papa gebeten, sie nicht ins Krankenhaus zu bringen, sondern sie in ihren eigenen vier Wänden sterben zu lassen. Papa und ich teilten uns in der Pflege, so daß wir die Gaststätte vorübergehend schließen mußten. Papa war verzweifelt. Er klagte sich an, so viele Jahre in selbstsüchtiger Melancholie vertan zu haben, anstatt seine Frau und seine Kinder dem wahren Glauben zuzuführen. Seine Klagen schnitten mir ins Herz. Auch in seiner düstersten Zeit hatte er für uns gesorgt und seine Familie nie mit Launen geplagt. Nach Mammas Tod konnte man mit ihm über profane Dinge, etwa wie es mit uns und dem Lokal weitergehen sollte, nicht sprechen. Er hörte nicht einmal hin. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich nun Zeit, nachmittags mit Bobby zu spielen oder mit ihm in der frischen Winterluft spazierenzugehen. Als wir schließlich auf mein Drängen das Lokal wieder öffneten, hatten sich unsere Stammgäste verlaufen. Papa kochte nur noch Spaghetti mit Fleisch oder Käsesoße, anderes gab es nicht. Abends ging er in die Kirche. Eines Abends, als ich mich aus dem trostlos leeren Gastzimmer zu Bobby hinauf geflüchtet hatte, hörte ich die Glocke schellen. Ich lief hinunter. Aber anstatt des erhofften Gastes traf ich Vater Minsham an. Ich sagte, Papa sei nicht zu Hause. Aber er bedeutete mir, er habe extra drauf gewartet, bis Vater in der Kirche erscheinen würde, um mich aufzusuchen und ungestört mit mir sprechen zu können. Ich führte ihn in Mammas Zimmer und bot ihm eine Tasse Kaffee an, die er annahm. Er wartete, bis ich mir gleichfalls eine Tasse ein242
geschenkt hatte, und fing dann an. Er gab seiner Sorge um Papa Ausdruck. Es sei zu befürchten, daß die Trauer um Mamma ihn erneut in Lethargie versinken ließe. Ich nickte zustimmend. Dasselbe hatte auch ich schon gedacht. »Wir wollen nichts beschönigen«, sagte Vater Minsham salbungsvoll und faltete dabei die Hände über den Bauch. »Ihr Vater hat ein Menschenalter lang in Sünde und Irrtum gelebt.« Wie immer, wenn mich die Wut packte, stieg mir leichte Röte ins Gesicht. Nach meinem Dafürhalten war Papa in seinem Leben zwei verhängnisvollen Irrtümern erlegen: als er auf der Steinbank im Garten zu dem Schluß kam, es lohne sich nicht, irdischen Gütern nachzujagen, da der Mensch ohnehin dem Grabe zuwandere; und als er in seine rückständige und abergläubische Religionsgemeinschaft zurückkehrte. Ich für meine Person hatte keinerlei philosophische Neigungen, außer der Ansicht, daß wir dieses eine Leben, das uns geschenkt war, so sinnvoll und angenehm wie möglich zu gestalten hätten. Die ganze mit Robert verbrachte Zeit hatte auf den Fundamenten dieser Anschauung geruht. Vater Minsham, der mein Erröten als schamhaftes Schuldeingeständnis deuten mochte, fuhr besänftigend fort: »Aber ich weiß einen Weg, wie Ihr Vater seine Schuld abtragen und doch auf seine alten Tage ein beschauliches, zufriedenes Leben führen könnte. Da Sie ebenfalls davon betroffen sind, hielt ich es für richtig, meinen Plan zuerst mit Ihnen zu erörtern.« »Ich bin mit allem einverstanden, wenn Vater dadurch glücklich wird.« »Die Antwort habe ich erwartet. Ich will Ihnen aber nicht verhehlen, daß sich dadurch Ihr Leben von Grund auf verändert. Sie müßten das Lokal aufgeben…« »Das uns sowieso im Stich gelassen hat«, warf ich bitter ein. »Das erleichtert meine Aufgabe.« Allmählich rückte er mit seinem Vorschlag heraus. Nicht weit von Baildon hatte sich eine Gruppe Benediktinermönche in dem verlassenen Gemäuer einer uralten Abtei niedergelassen. Eigenhändig hatten sie die eingestürzten Mauern hochge243
zogen, und so gut es gegangen war, eine kleine Kirche mitsamt einigen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden errichtet. Für ihren Lebensunterhalt kamen sie selber auf. Sie hielten Kühe, aus deren Milch sie einen besonderen Käse herstellten, sie züchteten Bienen und verkauften den Honig, und sie bauten Kräuter und Heilpflanzen an, die sie an Reformhäuser und Gesundheitsfanatiker reißend loswurden. Außerdem erregten sie öffentliches Aufsehen; schaffte doch ein Mönch, der immerhin durch seine Kutte noch behindert war, am Bau etwa das doppelte Tagespensum eines durchschnittlichen Gewerkschaftsmitgliedes. Die Zahl der Neugierigen, Kauflustigen und Trostsuchenden stieg von Jahr zu Jahr, so daß man daran dachte, außer dem geistlichen Zuspruch auch leibliche Stärkung zu spenden. Kurzum, es ging um eine Klosterschenke, wo die Pilger einfache Hausmannskost zu sich nehmen konnten. Ob Papa sich zutraute, die Küche zu übernehmen? Nein, Mönch müßte und könnte er nicht werden, aber als Laienbruder wäre er ein vollwertiges Mitglied der Klostergemeinschaft, das seine Arbeit als Sühne für die Versäumnisse seines Mannesalters einbringen könnte. »Wenn Papa einverstanden ist und dabei sein Glück findet«, erwiderte ich achselzuckend. Als Vater aus der Kirche kam, griff er mit beiden Händen zu. Auch hatte er nicht die Absicht, mittellos in das Kloster einzutreten. Es war, als hörte ich Mammas Stimme aus mir sprechen, mit der ich ihm vorhielt: »Wenn du das Haus verkaufst, was soll aus mir und Bobby werden? Ich habe hier nicht jahrzehntelang geschuftet, nur damit du das Geld den Mönchen in den Rachen wirfst.« Den Blick, den er mir zuwarf, werde ich nie vergessen. Seine noch im Alter großen schwarzen Augen sahen mich vorwurfsvoll und zärtlich zugleich an. »Mary, als du dem Ruf deines Herzens folgtest, habe ich dir auch kein Hindernis in den Weg gelegt.« Ich schwieg beschämt. »Wenn ich das Lokal verkaufe, gehört dir die Hälfte des Erlöses.« Aber es waren schlechte Zeiten, um zu verkaufen. Mancherlei Leu244
te kamen herein, sahen sich um und verschwanden wieder unter dem Vorwand, sie wollten sich es ›überlegen‹. Nach einigen Wochen erschienen jedoch zwei Männer, die sich ernsthaft für unser Angebot interessierten. Der eine war Mr. Swallow, der Inhaber eines Maklerbüros, der hin und wieder bei uns speiste; der andere wies sich als ein Mr. Corby aus. Für Papa waren die beiden nachlässig gekleideten Männer der Erzengel Michael und sein Gehilfe in Person. Nachdem sie durch alle Zimmer getrampelt waren und in alle Ecken, manchmal kopfschüttelnd, geschaut hatten, boten sie Papa zweitausend Pfund für das Ganze, ein Drittel der Summe, die er vor Jahrzehnten für den Teil ohne die Erdgeschoßzimmer und den Garten bezahlt hatte. Wie sie versicherten, hatten sich die Zeiten geändert. Damals hätte Old Vine im Mittelpunkt einer aufstrebenden Stadt gelegen. Seit sich aber sogar schon wohlhabende Bauern den Luxus eines Automobils erlauben könnten, kämen Bahnreisen immer mehr aus der Mode. Ob wir denn nicht gemerkt hätten, wie das Bahnhofsviertel seine Noblesse mehr und mehr einbüße? Ich saß dabei, als sie Vater wortreich von der Kulanz ihres Angebotes überzeugten, aber meine Gedanken gingen eigene Wege. Begonnen hatte es bald nach Vater Minshams erstem Besuch. (Er fand sich in der Folgezeit noch öfters bei uns ein.) Ich hatte wenig zu tun, und die Abende waren lang. Eines Tages begann ich, unsere Schränke einer Musterung zu unterziehen. Ich kramte in Kommodenschubladen und fand am Boden einer großen Schachtel meine alten Schreibhefte. Ich las die alten, mit roter Tinte geschriebenen Zensuren: Englische Sprache – sehr gut; Aufsatz – hervorragend; Diktat – fehlerlos. Da saß ich mit den alten Heften in der Hand und erinnerte mich, wie oft ich meine Arbeiten der Klasse vorlesen durfte. Damals gab es für mich keinen Zweifel an meiner Zukunft als Schriftstellerin. Hatte sich das alles in Nichts aufgelöst? Beim Servieren, in der Ehe mit Robert, während des Pläneschmiedens für Bobby und der Sklavenarbeit der letzten Jahre? Obwohl ich ohne Religion aufgewachsen war, kannte ich mich in der 245
Bibel gut aus. Unser Vorgänger, ein Kaufmann, hatte in einem Wandschrank eine alte, zerlesene Bibel hinterlassen, die beim Umzug wohl vergessen worden war. Als mir einmal der Lesestoff ausgegangen war, hatte ich voller Neugier darin geblättert und mich in die interessanten, wenn auch nicht immer jugendfreien Geschichten des Alten Testamentes vertieft. Nun fiel mir die Parabel des vergrabenen Talentes wieder ein. Ich hatte mein Talent wortwörtlich in Tischtüchern erstickt und in Spülwasser ertränkt. Ich schob die Lade zu, holte mir einen Block Papier und setzte mich zum Schreiben hin. Ich schrieb die Geschichte meiner Liebe nieder, allerdings so verkleidet, daß niemand uns darin erkennen konnte. Die junge Frau meiner Novelle verzweifelte gleich mir am Leben, als ihr Mann im Felde gefallen war, und schöpfte erst wieder Mut, als sie gewahrte, daß sie ein Kind erwartete. Die Geschichte endete mit den Worten, die Mamma mir damals gesagt hatte: »Wenn mein Kind geboren ist, wird mein Mann wieder leben.« Heute mag das allzu pathetisch klingen. Damals legte ich mein ganzes Herz, meine Gedanken und Gefühle in das Opus, noch einmal erlebte ich die herrliche Zeit mit Robert und die grauenhaften Monate nach seinem Tod. Ich wußte mich nicht allein. Wie viele Bräutigame und Ehemänner waren aus dem Krieg nicht heimgekehrt? Ihre Bräute und Frauen waren meine Schwestern. Es kostete mich eine Woche, um mein Werk aufzusetzen, und drei weitere Abende, an denen ich es fehlerlos niederschrieb. Als ich fertig war, lag eine Erzählung vor mir, wie ich sie gelegentlich in Zeitschriften gelesen hatte. Da ich dazu seit Jahren nicht mehr gekommen war, strich ich anderntags um einen Zeitungsstand herum und merkte mir den Titel einer solide aussehenden Wochenzeitschrift, der ich meine Geschichte unter meinem Mädchennamen Mary Cris’ einsandte. Kurz bevor Mr. Swallow und Mr. Corby bei uns auftauchten, hatte ich einen Brief erhalten, in dem mir der Herausgeber des Magazins mitteilte, daß die Redaktion gewöhnlich handgeschriebene Manuskripte ungelesen in den Papierkorb befördere. Rein zufällig habe er aber dennoch einen Blick auf meine Geschichte geworfen und sie zu 246
Ende gelesen. Leider passe sie nicht in den Rahmen seines Blattes, er fände jedoch die Geschichte so flott geschrieben und menschlich ansprechend, daß er sie mit meiner nachträglichen Zustimmung an einen Bekannten, den Herausgeber der Zeitschrift Today's Women, weitergereicht hätte. Vielleicht fände man dort Verwendung dafür. Ein paar Tage später erreichte mich der Brief von Today's Women. Ob ich mit dem Honorar von fünfzehn Pfund einverstanden wäre? Sie würden gern weitere Arbeiten von mir annehmen, müßten aber dann darauf bestehen, daß diese in Maschinenschrift eingereicht würden. Wie alle Neulinge auf diesem Gebiet rechnete ich mir aus: fünfzehn Pfund für neun Abende! Wenn ich tagsüber arbeitete, brauchte ich nicht länger als drei Tage für eine Novelle. Ich übersah dabei, daß meine erste Arbeit weniger der Phantasie entstammte, als meine eigenen Lebenserfahrungen widerspiegelte. Der nächste Schritt war, mir eine Schreibmaschine zu kaufen und ihre Handhabung zu erlernen. Wenn Bobby im Januar 1924 ins Internat nach Cumberland kam, konnte er seinen Mitschülern stolz berichten: Mein Vater ist im Krieg gestorben und meine Mutter ist Schriftstellerin. Nicht die schlechteste Visitenkarte. Aber zuerst mußte ich mich nach einem Zuhause für Bobby und mich umsehen. Papa war froh, daß er die Tische und Stühle des Lokals an einen neugegründeten Club verkaufen konnte. Auch von unseren Möbeln veräußerten wir, was ich nicht mit mir nehmen wollte. Als ich ein kleines Häuschen an einem Ort namens Steeple Strawless für fünfhundert Pfund erstand, ahnte ich nicht, daß ich damit den Traum aller Schriftsteller und Möchtegern-Schriftsteller verwirklichte. Im Erdgeschoß befanden sich ein großes Zimmer und die Küche, unter dem schrägen Dach zwei Schlafzimmer und, mein größtes Entzücken, ein Badezimmer. Da Vater nie danach fragte, verriet ich ihm nichts von meinen hochfliegenden Zukunftsplänen. Weil es nun einmal soweit war, legten wir beide Wert darauf, so bald wie möglich aus Old Vine wegzukommen. Zuvor hatten wir noch eine letzte Hürde zu nehmen: ein Abschiedsfest für die Familie. Erst un247
längst waren wir bei Mammas Beerdigung zusammengekommen. Die neuerliche Begegnung riß die kaum verharschten Wunden wieder auf. Außerdem spielte mal diese, mal jene meiner Schwestern darauf an, wieso eigentlich ich die Hälfte von Vaters Geld erhielt und sie nichts, außer Erinnerungsstücken, wie Mammas Kommode, ihr silbernes Teeservice und ein Paar Silberleuchter. Daran, daß Papa ihnen seinerzeit eine großzügige Ausstattung mitgegeben und ein prachtvolles Hochzeitsfest bezahlt hatte, dachten sie nicht mehr. Auch daß ich nun bald zwei Jahrzehnte hindurch die Hauptlast des Unternehmens getragen hatte, galt nicht viel in ihren Augen. Es fehlten nur die Weihnachtsdekorationen, als sich die Familie das letzte Mal um einen Tisch in Old Vine versammelte. Die Kinder quengelten und zappelten, die Erwachsenen schwankten zwischen Wehmut und Trauer einerseits und missgünstigem Neid andererseits hin und her. Als Beispiel für unsere Stimmung mag folgendes Gespräch gelten: »Was wirst du da draußen in dem Kaff anfangen?« fragte meine Schwester Edith. Bevor ich antworten konnte, fiel Dorothy ein: »Bei dem Geld braucht sie ja nichts mehr zu tun.« Roses Mann bemerkte: »Wenn man vom Kapital lebt, ist es schnell verbraucht. Die Zeiten sind schlecht und werden immer schlechter. Ich habe Sorgen genug, wie ich meine Familie die nächsten Jahre durchbringe.« Mit anderen Worten: von uns hast du nichts zu erwarten. »So groß ist das Kapital nun wirklich nicht, um davon leben zu können«, erwiderte ich schließlich, als mich alle ansahen. »Ich habe auch nicht die Absicht, es anzugreifen. Ich werde arbeiten.« »Draußen in dem Dorf? Was kann man da schon anfangen?« »Ich weiß noch nicht«, wich ich aus. »Ich werde schon etwas finden.« »Ich glaube, du bist verrückt«, sagte Dorothy, die Mamma immer ähnlicher wurde. Daß man mir wiederholt unter die Nase rieb, ich verwöhne Bobby maßlos, focht mich nicht weiter an. Immerhin war er der einzige in der großen Kinderschar, die Halbwüchsigen eingeschlossen, dessen Tisch248
manieren nichts zu wünschen übrig ließen und dessen Stimme nicht in unseren Ohren gellte. Wenn so das Familientreffen auch mit einem Mißklang endete, versorgte es mich doch mit Stoff für eine neue Geschichte. Unter dem Titel Eine glückliche Familie beschrieb ich die Zänkerei erwachsener Familienmitglieder, deren Kinder sich im Nebenzimmer mit friedlichem Papa- und Mamaspielen unterhalten. Als ich sie mühevoll mit zwei Fingern abgetippt hatte, sandte ich das Manuskript voller Zuversicht ein. Die Redaktion der Today's Women schickte es aber zurück: Leider fehle ihm die frische Naivität meines ersten Versuches. Entmutigt legte ich es weg und verkaufte es fünf Jahre später, als es mir zufällig in die Hände geriet, durch meinen Agenten für zweitausend Dollar an ein amerikanisches Magazin. So verließen wir denn Old Vine. Papa trug sein bißchen Habe in einem Koffer, mit dem er den Bus nach Abbas bestieg. Bobby und ich fuhren im Taxi dem Möbelwagen voran, der die von mir ausgewählten Möbelstücke nach Steeple Strawless brachte. Vor Mr. Swallows Büro ließ ich anhalten und gab den Schlüssel von Old Vine an ihn ab. Zwei Männer waren gerade damit beschäftigt, über der Tür ein Schild anzubringen mit der Aufschrift: Baildoner Immobiliengesellschaft m.b.H.
Zwischenspiel Ganz allmählich, aber unaufhaltsam vollzog sich der Abstieg von Old Vine. Die wenigen Reisenden, die noch mit dem Zug in Baildon anlangten, bestiegen am Bahnhof den städtischen Bus, der sie zum Marktplatz brachte. Gleichgültig fuhren sie an dem alten Gebäude vorbei, dessen Läden von Jahr zu Jahr schäbiger und verkommener aussahen. Mit einer Ausnahme: das Café in der Mitte erhielt jedes Mal einen neuen Anstrich, wenn der Besitzer wechselte. Auch die Namen änderten sich jeweils. Blauweiß gestrichen hieß das Lokal Peg's Pantry, in purpurnen und orangefarbenen Tönen stellte es sich als Sunshine Café vor, und es 249
erstand nach einer graugrünen Epoche als Coffee Bar mit viel blitzender Chromverzierung wie ein Phönix aus der Asche. In dieser Verfassung erfreute sich das Unternehmen regen Zulaufs. Mittags bevölkerten es Scharen von kleinen Angestellten und Schreibdamen, die ihr mitgebrachtes Brötchen oder heiße Würstchen verzehrten, nebst einer Tasse Kaffee. Abends war das Café Treffpunkt junger Leute beiderlei Geschlechts und sämtlicher Zwischenschattierungen. Die Polizei behielt es milde im halb zugedrückten Auge, bis eines Abends eine Schlägerei ausbrach, bei der ein Mädchen zu Boden getrampelt, ein junger Mann niedergestochen (er war bald wieder auf den Beinen) und alle Fenster und Spiegel eingeschlagen wurden. Zu der Zeit, als im Jahre 1955 ein junger Mann namens Jonathan Ruper dem Zug entstieg und zu Fuß in die Stadt schlenderte, hob sich das Café trotz des mittlerweile abblätternden Chroms noch immer stolz von seiner Nachbarschaft ab: der Flickschusterei und dem Zeitungsladen auf der einen, der Trödlerbude auf der anderen Seite, an die sich eine seit Monaten ungeputzte Scheibe mit einem Plakat ›Laden zu vermieten‹ anschloss. Mr. Ruper, der aus Gesundheitsgründen gern spazierenging (außerdem sparte er jeden Penny und hatte Zeit im Überfluss), streifte das Anwesen mit einem fachmännischen, wenn auch unbeteiligten Blick. Die Zeitungen interessierten ihn nicht, sein Schuhwerk war tadellos in Ordnung, er trank lieber Tee als Kaffee, für Trödelkram hatte er nichts übrig, und einen Laden gedachte er nicht zu mieten. Wie die Pharisäer aus dem Bibelgleichnis ging er ›an der Stätte vorüber‹, ohne zu ahnen, daß er an dem Prüfstein seines Daseins vorbeischlenderte. Auf dem Marktplatz nahm er Kurs zur Stadtverwaltung, die er zwei Stunden später im Privatwagen des Bürgermeisters in seiner Eigenschaft als neueingestellter Inspektor des Gesundheitswesens in Baildon und Umgebung verließ. Für den Posten hatten sich drei Bewerber eingefunden. Seine beiden Mitkandidaten waren älter, erfahrener und, wie Mr. Ruper ehrlich zugab, von weitaus ansprechenderem Äußeren als er selber. Mr. Ruper wußte genau, wie er aussah: er ähnelte einem weißen Kaninchen. 250
Klein und unscheinbar von Statur, hatte er ein fliehendes Kinn und trug seit frühester Kindheit dicke Brillengläser, in deren Ringen seine Augen wie kleine Vögel gefangen saßen. Mit den unveränderlichen Mängeln seiner Erscheinung hatte er sich seit seinem zwölften Lebensjahr abgefunden; was zu korrigieren war, hatte er besorgt. Er sprach mit tadellosem, aber keinesfalls übertriebenem Oxfordakzent, was ihn fünfzehn Pfund Honorar an eine alternde Schauspielerin gekostet hatte; er kleidete sich peinlich sauber und trug orthopädische Schuhe, die ihm einige zusätzliche Zentimeter an Körpergröße verliehen. Es hätte ihn keineswegs erstaunt zu erfahren, daß die Wahl der Gemeinde gerade auf ihn gefallen war, weil er so ›harmlos‹ aussah. Er sah immer so aus, als könne er keiner Fliege etwas zuleide tun. Genauso hatte er ausgesehen, als er Sam Baldmann, der seine Mutter beschimpft hatte und, nebenbei gesagt, doppelt so schwer war wie er selber, mit einem Boxhieb in den Magen zu Boden gestreckt hatte. Die dicken Brillengläser und das fliehende Kinn, beides, wie man weiß, ein Zeichen mangelnder Charakterstärke, verliehen seinem Gesicht einen geradezu stupiden Ausdruck. Trotzdem empfahl Mr. Stubthorn, der amtierende Bürgermeister Baildons, den jungen Kandidaten dem Magistrat mit den Worten, man müsse auch der Jugend eine Chance geben. Außerdem war Mr. Ruper nicht verheiratet und würde nicht sofort Anspruch auf eine billige Wohnung in den stadteigenen Mietshäusern erheben. (Mit den Beamten war das immer so ein Kreuz. Bekamen sie die Wohnung, so wetterte alsbald die Baildon Free Press über die Vetterles-Wirtschaft gewisser Kreise, verweigerte man sie ihnen, so ließen sie sich umgehend an einen Ort versetzen, wo man auf ihre Wünsche einzugehen versprach.) Also wurde Mr. Ruper auserkoren, um das Gesundheitswesen von Baildon zu überwachen. Man drückte ihm die Hand, und der Bürgermeister ließ ihn als Zeichen seiner Wertschätzung im eigenen Wagen zum Bahnhof bringen. Bürgermeister und Magistrat waren wohl nicht die ersten, die sich von der Ähnlichkeit eines Löwenbabys mit einem niedlichen Stubenkätzchen täuschen ließen. Sie vermeinten, einen schwächlichen Mann 251
mit guten Manieren eingestellt zu haben, der sich leicht in ihrem Sinne beeinflussen lassen würde. Erst später merkten sie, was sie sich eingehandelt hatten: einen fanatischen Kämpfer, der, wie Mr. Stubthorn am Ende seufzend eingestand, total verrückt war.
252
Sechster Teil Jonathan Rupers Geschichte (um 1955)
1
V
iele Leute geraten ins Schwärmen, wenn sie über das ›Land‹ sprechen. Sie verstehen darunter irgendein Fleckchen Erde außerhalb Londons oder einer anderen Großstadt. Als ich meinen Kollegen bekannt gab, daß ich in Baildon, einem Ort mit knapp zwanzigtausend Einwohnern, eine Stelle anzunehmen gedachte, reagierten sie sehr unterschiedlich. Die einen sagten mit schlecht verhohlenem Neid: »Was für ein Glück Sie haben, daß Sie von nun an auf dem Land leben können«, während andere skeptisch fragten: »Werden Sie es dort überhaupt aushalten?« Beide Parteien waren sich darin einig, daß ich beruflich rosigen Zeiten entgegensah. In Kleinstädten gab es weder Slums noch überfüllte Mietskasernen. Dort lebte man noch in Fachwerkhäusern mit bleiverglasten Fenstern und einem Rosenbusch vor der Tür. Höchstens, daß ich zuweilen Ärger mit einem Verstoß gegen das Lebensmittelgesetz bekäme… Nun ist Baildon tatsächlich eine hübsche Stadt mit ihren Häusern aus Georgianischer Zeit, die über der Haustür mit einem farbigen Glasfenster geschmückt sind. Es gibt aber auch noch eine beträchtliche Anzahl älterer Gebäude. Da es in Baildon nie Industrie gab, sieht man nur wenige jener tristen Mietsbauten, die man zu Anfang des vorigen Jahrhunderts für die Fabrikarbeiter aus dem Boden stampfte und die zum Symbol für Slums oder Elendsviertel geworden sind. Wer mit romantischen Blicken durch die Straßen des Städtchens wandelte, konnte sich kaum vorstellen, daß der Inspektor für Gesundheitswesen an den Baulichkeiten etwas auszusetzen fand. Und doch versteckten sich hinter den malerischen Fassaden so manches Notquartier und manche menschenunwürdige Behausung, wie man sie in der Großstadt kaum zu sehen bekommt. 254
Selbstverständlich gibt es gesetzliche Richtlinien, bis zu welchem Punkt ein Haus als menschliche Wohnstätte noch angemessen erscheint. Aber was heißt schon angemessen? Man kann das Maß von weitem, mit zugekniffenem Auge anpeilen, und man kann millimetergenau ausmessen. Ich gehöre zu den Leuten mit Maßband. Meiner Meinung nach reichen die gesetzlichen Bestimmungen keineswegs aus, wenn es um die Überbelegung von Wohnraum und den erforderlichen sanitären Einrichtungen geht. Ich spreche aus Erfahrung: ich bin im Slum geboren und habe meine Jugend dort verlebt. So hielt ich es immer für unzumutbar, daß sich mehrere Familien mit einer gemeinsamen Toilette begnügen müssen. In dem Mietshaus in Shoreditch teilten wir die Toilette mit einer Familie Baldmann. Wir waren vier, sie drei Personen, was sich also durchaus im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften hielt. Aber wer zählte nach, wie oft meine Mutter das Örtchen mit Scheuerpulver sauber schrubbte, und hinterher kam Ted Baldmann betrunken nach Haus und kotzte und pinkelte alles voll? Oder wie oft Shirley Baldmann etwas ins Becken warf, das die Toilette verstopfte? Ich halte schon eine Wohnung für unangemessen, die nicht Platz genug bietet für ein Kind, das seine Schularbeiten ungestört machen soll. Wie oft sagte Mutter, wenn ich meine Bücher und Hefte auf unserem Esstisch ausgebreitet hatte: »Rück mal zur Seite, Jon, ich möchte Papas Teegedeck auflegen.« Oder meine Schwester Carol: »Mama, Jon soll den Tisch frei machen, ich muß meine Bluse bügeln.« Oder Vater: »Hau ab, Junge, ich will meine Toto-Zettel ausfüllen.« Zähneknirschend machte ich Platz und schrieb mit dem Atlas auf den Knien weiter. Aber ich war zäh und hatte mich entschlossen, trotz der widrigen Umstände zu studieren. Wie viele gescheite Jungen und Mädchen geben vorzeitig auf, weil sie keinen ruhigen Platz zum Lernen finden? Sooft ich eine Gruppe gelangweilter junger Menschen an einer Straßenecke herumlungern sehe, denke ich, wer wohl von ihnen das Zeug gehabt hätte, etwas Rechtes zu lernen? Dabei bin ich durch255
aus kein Kommunist. Wenn man den Zeitungen trauen darf, sind die Verhältnisse im Osten noch viel schlimmer als bei uns. In Baildon erging es mir wie einem Mann, den man für eine Arbeit, die einen Schaufelbagger erfordert, mit einem Teelöffel ausrüstet. Wenn er ehrlich und entschlossen ist, beginnt er trotzdem mit seinem Löffel loszukratzen. Mittlerweile haben sich die Ereignisse zu einem Drama solchen Ausmaßes ausgeweitet, daß ich, der Urheber und Augenzeuge, selber kaum glauben kann, so etwas könne sich in unserem Jahrhundert in einem kleinen Marktflecken Englands noch zutragen. In den letzten Tagen bin ich zweimal rein zufällig bei einem ›Unfall‹ davongekommen. Ein dritter Versuch könnte den erwünschten Erfolg haben. Aus diesem Grund sehe ich mich veranlasst, gewisse Dinge niederzuschreiben, die aus den Annalen Baildons nicht hervorgehen dürften.
2
M
it frohem Eifer trat ich meine Arbeit in Baildon an. Mein Vorgänger war ein alter Mann gewesen, der in den letzten Jahren vor seiner Pensionierung allen Scherereien aus dem Wege gegangen war. Danach waren auch die Zustände in seinem Bezirk, nebst der Art und Weise, in der die Leute von Mr. Padmore sprachen! »Der gute Mr. Padmore«, sagten sie, »war keiner von denen, die in jeder Suppe ein Haar finden.« Oder: »Er mochte es gar nicht, wenn es Aufregung gab.« Nun, auch mir war nicht an Ärger und Aufregung gelegen, und ich kenne nur zu gut das Sprichwort von dem neuen Besen. Aber die Vorschriften existieren nun einmal und sind für einen gewissenhaften Gesundheitsinspektor ebenso verbindlich wie die Dienstvorschriften für einen Offizier der Army. In Baildon wurde alles immer gleich persönlich aufgefasst. Wenn ich 256
in einer Bäckerei Unrat entdeckte und den Bäcker vor die Wahl stellte, den gesundheitsschädlichen Zustand zu beseitigen oder den Betrieb zu schließen, hieß es in der ganzen Nachbarschaft: »Der arme alte Jim Hobbs. Hat so viel Pech gehabt, der arme Kerl. Die Frau nicht ganz klar im Kopf und dann dauernd der Ärger mit seinem Jungen. Und jetzt findet dieser hergelaufene Mr. Ruper auch noch seine Tröge zu dreckig…« Bereits in den ersten Monaten war mir klar, daß ich in einem Wespennest herumstocherte. Die Leute sahen mich lieber gehen als kommen und zitierten in meiner Hörweite oft die ›Güte‹ des alten Mr. Padmore. Einmal sagte mir einer der Stadträte in trügerischem jovialem Tonfall: »Ich frage mich seit langem, was so ein tüchtiger junger Mann in unserem ruhigen Nest verloren hat. Ihr Platz ist im Kohlenrevier oder in London, da können Sie Ihre überschüssige Energie besser loswerden als bei uns.« Daß ich diesen Wink mit dem Zaunpfahl geflissentlich überhörte, hatte drei Gründe. Erstens hatte Baildon einen Mann wie mich bitter nötig. Zweitens hatte ich in dem Haus Marktplatz Nummer vier eine günstige Bleibe gefunden. Angeblich spukte es in dem Haus, das in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Schauplatz eines dreifachen Mordes gewesen war. Da in Baildon seitdem kein Mord, will sagen, kein erwiesener Mord, mehr vorgekommen war, hatte die Stadt das Verbrechen noch bestens in Erinnerung. Meine Wirtin, eine liebenswerte alte Dame, hatte das Haus wegen seines schlechten Rufes für einen Pappenstiel erworben. Als ich mich auf ihre Anzeige hin bei ihr vorstellte, sah sie sich verpflichtet, mich zu warnen: »Bevor Sie einziehen, muß ich Ihnen noch mitteilen, daß in dem Haus Gespenster umgehen sollen. Ich wohne allerdings nun schon ein halbes Menschenalter darin und habe nie etwas Erschreckenderes gesehen als mein eigenes Spiegelbild. Vielleicht liegt's daran, daß ich nicht übersinnlich veranlagt bin.« »Das dürfte bei mir wohl auch nicht der Fall sein.« »Ich möchte aber kein Risiko eingehen, deshalb warne ich jeden Mie257
ter rechtzeitig. Einmal ist nämlich etwas passiert, was dem Gerücht neue Nahrung gab. Eine junge Dame, die sich abends schnurstracks vom Bahnhof zu mir begab und vorher mit keinem Bürger Baildons gesprochen hatte, erwachte in der ersten Nacht – im selben Zimmer übrigens, Mr. Ruper, das ich Ihnen vermiete –, also sie erwachte schreiend vor Entsetzen. Wie sie mir zitternd erzählte, hatte sie ein junger Mann bei der Kehle gepackt und gewürgt. Sie verbrachte den Rest der Nacht im Wohnzimmer und verließ das Haus am anderen Morgen fluchtartig. Deshalb sage ich jedem offen alles. Die drei wurden nämlich erwürgt, hier in dem Haus.« »Wir wollen es drauf ankommen lassen«, sagte ich und war später froh, daß ich geblieben war. Meine Wirtin kochte vorzüglich und jagte nicht hinter jedem Penny her. Sie legte eine Wärmflasche in mein Bett, wenn kalter Wind blies, und stellte, wenn ich abends länger ausblieb, eine Thermosflasche mit Tee und belegte Brötchen in mein Zimmer. Auch die Bekanntschaft mit Katie hatte ich dem Umstand zu verdanken, daß ich im Spukhaus wohnte. Katie war der dritte Grund. Da aller Voraussicht nach niemand außer mir diese Zeilen zu lesen bekommt, lasse ich meiner Feder freien Lauf. Immer schon hatte ich gehofft, einmal einem Mädchen wie Katie zu begegnen, das auf Äußerlichkeiten keinen Wert legt. Mir ist stets gegenwärtig, daß ich vom Traumbild eines Mannes auch für das bescheidenste Mädchen himmelweit entfernt bin. Auch in Schuhen mit hohen Absätzen erreiche ich kein Gardemaß. Außerdem bin ich mager; die beste Kost schlägt bei mir nicht an. Ohne Brille kann ich nahezu überhaupt nichts sehen. Aber wenn ich auch schwächlich aussehe, bin ich in Wirklichkeit doch zäh, ausdauernd und gesund. Daß ich harte Knochen und Muskeln besitze, hat der Sohn unserer Nachbarn, Sam Baldmann, erfahren müssen, der auf meinen Schlag hin wie ein Sack zu Boden ging. Von da an hütete er sich, frech über meine Mutter zu reden. Ähnlich wie ich war auch Katie ein Stiefkind der Natur. Sie hatte zwar eine wundervolle, schlanke Figur, an der sich jedes Kaufhausfähnchen wie ein Modellkleid ausnahm. Leider besaß sie aber ein viel 258
zu flaches, breites Gesicht mit einer winzigen Stupsnase und asiatisch verhängten Augen. (Ihre Vorfahren hatten über drei Generationen hinweg als Missionare in China gelebt.) Sie war bei der Finanzbehörde angestellt, wohnte bei Verwandten auf einem nahen Landgut und fuhr einen uralten Morris Minor, der eines Abends, als ich vom Büro nach Hause ging, nicht anspringen wollte. Obwohl ich nicht viel von Autos verstehe, bot ich meine Hilfe an und schob den Wagen hügelabwärts über den Marktplatz. Sie legte einmal, zweimal den Gang ein, bis es endlich klappte und der Motor zu tuckern begann. Katie winkte mir durchs Fenster zu und sagte: »Vielen Dank. Ich glaube, ich habe Sie von Ihrem Weg abgebracht.« »Im Gegenteil. Hier hinter dieser Tür wohne ich.« Sie ließ den Motor aufheulen, lauschte hin, nahm dann das Gas weg und fragte: »Wie denn, hier bei Miss Burr?« »Warum nicht?« »Wissen Sie, daß es bei ihr spuken soll?« Sie blickte über meine Schulter auf das Haus. »Ja, sie hat mir davon erzählt. Aber, wie Miss Burr sich auszudrücken pflegt, etwas Schlimmeres als mein eigenes Spiegelbild ist mir bislang nicht darin begegnet.« Die junge Dame lachte. »Trotzdem würde ich dort nicht gern wohnen. Und wenn mir schon kein Gespenst begegnete, so würde ich mir wahrscheinlich alles mögliche einbilden.« Das Eis zwischen uns war gebrochen. Aus dem unverbindlichen Wortwechsel zweier Zufallsbekannten hatte sich ein Gespräch entwickelt, das mir gestattete, bei den darauf folgenden ›zufälligen‹ Begegnungen meinem Gruß einige persönliche Worte hinzuzufügen. Nach zwei Wochen faßte ich mir ein Herz und lud Katie zu einem Konzert mit anschließendem Abendessen im Abbot's Head ein. An einem der nächsten Wochenenden revanchierte sie sich mit der Einladung, sie auf dem Gut, wo sie mit ihrer Tante und einem ältlichen Cousin wohnte, zu besuchen. Die Familie war arm, aber ebenso offensichtlich alt eingebürgert. Alle Gegenstände im Haus waren faden259
scheinig oder abgegriffen, aber von bestem Herkommen. Vielleicht konnte ich Katie eines Tages eingestehen, daß mein Vater Dockarbeiter war; an diesem ersten Sonntag war es dazu aber noch entschieden zu früh.
3
A
n einem windigen Oktobermorgen betrat ich zum ersten Mal den Gebäudekomplex, der seit Menschengedenken unter dem Namen Old Vine, Alter Weinberg, bekannt ist. Das Haus stand in einer Straße, die in jeder normalen englischen Stadt Bahnhofstraße heißen würde, die aber hier in Baildon, wo jedermann über seine Schulter in die Vergangenheit blickt, Klosterstraße genannt wird. Die übrigen Häuser waren gepflegte Anwesen mit Banken, Anwaltskanzleien und Büros im Erdgeschoß und Wohnungen in den oberen Etagen. Das wohl älteste Gebäude der Reihe, das allem Anschein nach der frühesten TudorEpoche entstammte, hob sich wie ein Bauernstiefel unter Tanzschuhen von seiner Nachbarschaft ab. Es beherbergte vier Läden und ein Café. Am Dach zeigten sich verräterische Buckel und Senkungen, die zu Befürchtungen Anlass gaben, wenngleich ich zugeben muß, daß viele dieser uralten Häuser solider gebaut sind, als man auf den ersten Blick annehmen möchte. Einer der Läden war zu vermieten. Wer aber in dieser verkommenen Nachbarschaft einen Laden mieten wollte, mußte entweder sehr unerfahren oder verrückt sein. Mein erster Weg führte in das Café, das, wie oft in solchen Fällen, Aufschlüsse über die Zustände im übrigen Teil des Gebäudes zuließ. Der Inhaber, ein dicklicher Mann mittleren Alters mit Namen Cliff Finch, zeigte sich störrisch und abweisend, dennoch fand ich weder am Lokal noch an seiner Ausstattung etwas auszusetzen. Auch die beiden Toiletten waren in tadellosem Zustand, öffneten sich aber nur 260
nach Einwurf einer Münze, was mir die Frage nahe legte, ob der Wirt und seine Angestellten eine separate Toilette benutzten. »Im Hof«, war die knappe Antwort. Auch hier war alles in bester Ordnung. Dahinter allerdings, nur durch einen baufälligen Zaun vom Hof des Cafés getrennt, erstreckte sich eines jener verwahrlosten Grundstücke, in deren Gebüsch man von der verrotteten Matratze bis zum verrosteten Fahrradgestell jeden möglichen Unrat antrifft. In einem Hühnerstall scharrten sechs Hennen, die mit nackten Hälsen wie kleine Geier aussahen, in ihrem eigenen Mist herum. Ein Hund, mager wie ein Gerippe, war mit einem Strick an den Stamm eines alten Birnbaumes festgebunden. Rundherum stank's fürchterlich. Cliff Finch, der breitbeinig in der Hintertür stand, sah mir höhnisch zu. Noch bevor ich etwas gegen dieses Rattennest aufbringen konnte, streckte er die Hand aus und sagte: »Das da geht mich nichts an. Ich habe nur das Erdgeschoß gemietet.« Im Inneren des Cafés war mir eine breite Treppe mit geschnitztem Geländer aufgefallen, die ins Obergeschoß führte. Auf dem Treppenabsatz befand sich ein grell bemalter japanischer Wandschirm, dessen Funktion mir nicht einleuchtete. Ich hatte angenommen, die Treppe führe in die Privaträume des Cafétiers. »Sie wohnen nicht hier?« »Fällt mir gar nicht ein.« »Wer wohnt dort oben?« Der Mann zuckte die fetten Achseln. »Woher soll ich das wissen? Mit denen hab' ich nichts zu schaffen. Manchmal schmeiß' ich dem Hund oder den Hühnern was zum Fressen rüber. Das müßte der Tierschutzverein sehen.« »Da bin ich Ihrer Meinung. Das da«, ich wies mit den Daumen auf das Grundstück, »ist ein öffentliches Ärgernis. Wer ist dafür zuständig?« »Das müssen Sie schon selber rauskriegen. Bei mir in der Küche haben Sie auch genug rumgeschnüffelt. Strengen Sie Ihren Grips ruhig an.« »Wohnen die Leute über Ihnen? Benutzen Sie Ihre Treppe?« 261
»Keine Sorge. Die klettern da oben rauf.« Er zeigte auf eine Eisentreppe, wie man sie auch als Feuerleiter verwendet. Sie führte zu einer Tür im Obergeschoß, die von einem grünlichen Schimmer, dem Zeichen zeitweiliger Feuchtigkeit, umrahmt war. Ein Blick weiter nach oben erreichte die Quelle: eine alte bleierne Dachrinne, mit einem großen Loch dicht oberhalb der Tür. Die dadurch bei Regen ständig entweichende Nässe nährte einen Moos- und Flechtengarten, dessen Artenreichtum jeden Botaniker entzückt hätte. Mich weniger. »Ich schaue mich am besten mal da oben um«, bemerkte ich. »Denken Sie daran, das alles geht mich nichts an. Mr. Padmore kümmerte sich auch nie um die Leute. Er kam herein, gratulierte mir zum saubersten Lokal Baildons, trank einen Kaffee und ging durch die Vordertür wieder hinaus.« »Die Sauberkeit Ihres Unternehmens steht außer Frage, Mr. Finch.« Ich stieg die Eisentreppe hinauf und klopfte an die dünne Holztür. Nach mehrmaligem Klopfen öffnete mir ein schlampiges Frauenzimmer in einem abgetragenen Bademantel. Ihr Gesicht trug verwischte Spuren eines großen Make-ups. Sie sah mich mißtrauisch an und fragte: »Wer sind Sie, was wollen Sie?« Ich gab mich zu erkennen, worauf sie den Kopf zurückwarf: »Na und?« »Ich möchte mich im Hause ein wenig umsehen.« »Wer hindert Sie daran?« Wieder eine Person, die nichts als Abweisung erkennen ließ. »Sie wohnen hier, Mrs. …?« »Cattermole. Miss Cattermole. Ja, was denken Sie, was ich in der Robe hier mach'? Ne Morgenvisite vielleicht?« Ich überhörte den Ton. »Mieten Sie das ganze Stockwerk?« »Heiße ich Rothschild? Ein Zimmer hab' ich, das da.« Sie zeigte auf eine Tür. Wir standen in einem langen, engen Flur, der von einem großen Fenster erhellt wurde. An den Wänden reihten sich wackelige Regale und Schränke mit verzogenen Türen. »Wer wohnt hier außer Ihnen?« 262
»Weiß ich? Ich hab' gesagt, wo ich wohne.« »Gut, beginnen wir bei Ihnen.« »Braucht man keine Vollmacht, wenn man in anderer Leute Wohnung eindringt?« »Die habe ich, Miss Cattermole, schauen Sie her. Würden Sie mir bitte jetzt Ihr Zimmer zeigen?« Das Kämmerchen war höchstens neun Quadratmeter groß. Die Außenwand hatte eine uralte Eichenholztäfelung, die anderen Wände bestanden aus billigem Mauerwerk. An allen vier Wänden und der Decke zeigten sich feuchte Spuren und Flecken. Eine Kochgelegenheit war nicht zu sehen. »Wozu? Brauch' ich nicht. Ich esse unten im Café. Heißes Wasser kriege ich von der alten Mrs. Woody nebenan. Pro Woche zahl' ich ihr einen Shilling dafür.« »Wo schütten Sie das Wasser aus? Wo ist die Toilette?« »Unten auf der Treppe ist ein Klo mit einem Waschbecken.« »Das benutzen Sie alle gemeinsam?« »Auf den Hof hockt sich niemand von uns.« »Wieviel Miete zahlen Sie?« Zum ersten Mal leuchtete ein Schimmer von Interesse in ihren Augen auf. Beinahe freundlich antwortete sie: »Sehn Sie, die ist viel zu hoch. Ich hab's ja immer gesagt.« »Was haben Sie gesagt, Miss Cattermole?« »Zwei Pfund sind zu viel für das Loch. Und wenn's regnet, rauscht das Wasser da runter wie ein Wasserfall.« Sie deutete auf die dunkelste Stelle der Decke. »Zwei Pfund pro Woche oder Monat?« »Pro Woche natürlich. Mann, wo leben Sie? Schrecklich, nicht?« »Da muß ich Ihnen zustimmen.« »Können Sie was dagegen tun?« »Schon möglich«, sagte ich vorsichtig. Wenn ich einschritt, würde sie die erste sein, die laut zeterte. Aber in diesem Augenblick war sie noch meine Verbündete und riet mir wohlwollend: »Haun Sie nebenan fest an die Tür. Die Alte ist stocktaub.« Obwohl ich bei Miss Cattermole mein Augenmerk hauptsächlich auf 263
die baulichen Mängel gerichtet hatte, war mir die Unordnung in ihrem Zimmer keineswegs entgangen. Um so erfreulicher war der Anblick bei ihrer Nachbarin. Als Mrs. Woody, eine kleine, verhutzelte Frau von etwa sechzig Jahren, mir öffnete, trat ich in eine Wohnküche mit einem altmodischen Herd. Das Feuer knisterte, leichter Speisengeruch hing in der Luft. Unter dem Fenster befand sich ein alter Steinausguß, das Wasser lieferte ein blankgeputzter Messinghahn. Auf dem Fenstersims standen blühende Geranien. Der Raum war so schmuck und sauber wie seine Bewohnerin, die ihr schlohweißes Haar zu einem ordentlichen Dutt hochgesteckt trug und eine saubere, geblümte Kleiderschütze anhatte. Sie lauschte mir mit jenem aufmerksamen Ausdruck, der Schwerhörigen, die den Kontakt zu den Mitmenschen nicht verlieren möchten, eigen ist. Als ich ihr erklärte, was mich zu ihr führte, antwortete Mrs. Woody bereitwillig: »Sehen Sie sich ruhig ein bißchen bei uns um, Sir. Das Zimmer dahinten gehört auch dazu. Macht es Ihnen was aus, wenn ich so lange weiterarbeite? Die Kundin will den Vorhang heute nachmittag abholen.« Sie zeigte auf die Nähmaschine, die von einer Wolke geblümten Kretonnes umgeben war. Auch in dieses Zimmer war Feuchtigkeit eingedrungen. Eine Bretterwand teilte das Zimmer von der Wohnküche ab. Die Tapete darauf zeigte wie eine Landkarte an, wie weit die Nässe schon vorgedrungen war: dort flossen die Rosenknospen und Vergißmeinnicht zu einer graugrünen Landschaft ineinander. Das Zimmer hatte kein Fenster. Durch eine Glasrosette in der Decke drang etwas fahler Lichtschein. Das schmale Bett war ordentlich zurechtgemacht, auf einer kleinen Kommode lagen ein Rasierapparat und andere Gegenstände, die nur einem Mann gehören konnten. Das Rattern der Nähmaschine hielt inne, als ich in die Küche zurückkehrte. »Sie wohnen nicht allein?« »Wie bitte?« Ich trat näher und sprach lauter. »Sie wohnen hier nicht allein?« 264
»Mein Jüngster wohnt noch bei mir. Ich hab' drei Jungen, die anderen sind schon verheiratet.« »Seit wann wohnen Sie hier?« »Seit dem Tod meines Mannes. Das ist jetzt, warten Sie mal… achtzehn Jahre ist das schon her.« Mit drei Buben in der kleinen Bude, dachte ich, aber die Vergangenheit ging mich nichts an. Aber Mrs. Woody erzählte ungefragt weiter. »Ich weiß, was Sie denken. Wie wir geschlafen haben? Damals hatte ich noch ein großes Bett da drin stehen, die zwei Kleinen schliefen zusammen, der Große in dem da, das jetzt noch da ist. Seit die beiden fort sind, habe ich das Bett auf den Speicher gegeben und den Schrank hineingestellt.« »Und Sie, Mrs. Woody?« »Dort.« Sie zeigte auf einen wuchtigen Lehnstuhl. »Man kann ihn auseinanderklappen, wissen Sie. Eine kleine Person wie ich hat dann gut Platz auf ihm.« »Haben Sie sich nie um eine andere Wohnung bemüht?« »Wissen Sie, hier habe ich es nicht weit in die Stadt, und die Kundinnen finden auch leicht her. Ich nähe Bettzeug und Gardinen, wie Sie sehen.« »Sie benutzen die gemeinsame Toilette?« Die grünblauen Äuglein verfinsterten sich. »Bis vor kurzem gab's auch keinen Ärger. Ich hab' meine drei Buben von Anfang an so erzogen, daß niemand was über sie sagen konnte. Vielleicht ist es nicht nett von mir, wenn ich mich beschwere, aber die Leute neben uns gehören einfach nicht in ein ordentliches Haus. Sie ist eine arge Schlampe, und die Kinder sind Rowdys.« Betrübt schaute sie auf ihr Fensterbrett. »Ich hatte eine hübsche Fuchsie. Als es mal regnete, stellte ich sie auf die Treppe hinaus. Wissen Sie, was die Kerle damit gemacht haben? Fußball haben sie mit ihr gespielt. So ein Pack! Und dann der Hof! Von den Hühnern könnte ich kein gekochtes Ei runterwürgen. Und wozu halten die einen Hund, wenn sie ihn halb verhungern lassen?« Ich lenkte das Gespräch auf das, was mich anging, zurück. »Mie265
te? Ich zahle siebenunddreißig Shillinge die Woche. Aber nur, weil ich schon so lange hier wohne. Von den Neuen wollen sie mehr, Miss Cattermole schimpft jedes Mal darüber.« Da es immer guten Eindruck macht, wenn man die Leute an der Tür mit ihren Namen anredet, fragte ich Mrs. Woody nach der Nachbarin auf der anderen Seite. »Huddlestone heißen die«, die alte Frau kicherte leise. »Aber das ganze Haus nennt sie hinter ihren Rücken Schmuddelstone, das paßt besser. Und klopfen Sie fest. Sie hat sicher mitgekriegt, daß jemand hier oben ist, und denkt, er ist von der Hausverwaltung oder vom Tierschutzverein. Sie hatten schon mehrmals Ärger. Seither macht sie nicht mehr auf.« Ich verabschiedete mich von Mrs. Woody und klopfte laut an die nächste Tür. Stille. Ich pochte, schlug, hämmerte. Plötzlich weinte ein Kind laut auf und wurde sofort wieder zur Ruhe gezischt. Ich drückte auf die Klinke, die zu meinem Erstaunen nachgab. Dicht vor mir stand eine große, massige Frau, die mich ärgerlich und erschrocken anblickte. Sogleich begann sie, sich mit geheuchelter Beflissenheit zu entschuldigen: »Ich komme ja schon, Sir, hab' Sie nicht gleich gehört, tut mir leid, daß Sie warten mußten.« Hinter ihrem Rock lugte ein kleines Kind hervor, den Nuckel im Mund. Es mochte etwa zwei Jahre alt sein und trug als einziges Kleidungsstück ein schmutziges Unterhemdchen, das knapp bis unter den Nabel reichte. Unverkennbar ein Junge. Den Kontrast zum üblichen Durcheinander einer solchen Wohnung bildete auf einer Kommode ein neuer Fernsehapparat. Ich schluckte zweimal und grüßte dann höflich: »Guten Morgen, Mrs. Huddlestone.« »Sie habe ich noch nicht gesehen«, erwiderte sie grußlos. »Woher kommen Sie? Tierschutzverein, Schulbehörde, Immobiliengesellschaft?« Als ich ihr den Zweck meines Kommens erklärte, atmete sie sichtlich auf. »Oh, wegen der Feuchtigkeit. Da habe ich Glück, Sir, bei mir sickert es nirgends durch.« Ich versicherte ihr, daß mich das freute, ich müßte jedoch auf mei266
ner Inspektionsroute auch andere bauliche Mängel überprüfen. Ihre Miene verdüsterte sich, und sie forderte mich mürrisch auf, hereinzukommen. »Bevor Sie damit anfangen, sage ich Ihnen gleich, daß Susie jetzt bei Miss Cattermole drüben schläft, so daß Alfie und Tom nur zu zweit in einem Bett liegen. Dagegen haben Sie doch nichts, was?« »Vorläufig jedenfalls nicht.« Offensichtlich war ich nicht der erste, der sich mit den häuslichen Verhältnissen der Huddlestones beschäftigte. »Momentan interessiert mich nur der Zustand der Wände oder wo Sie kochen und solche Sachen.« »Kochen tu' ich da.« Sie wies auf einen Kamin mit marmorner Verkleidung und breitem Sims, auf dem sich Mehl- und Zuckertüten, Kindernährmittel, Geschirr und ein paar fettige Lumpen zusammengefunden hatten. Hinter dem Kamingitter türmten sich zerknüllte Chipspackungen, leere Zigarettenschachteln, Stummel und ein Haufen anderer Abfall, den ich lieber nicht allzu genau betrachtete. Was die Unordnung anbelangte, so hätte Shirley Baldmann, die von meiner Mutter für die größte Schlampe der Welt gehalten wurde, bei Mrs. Huddlestone noch in die Lehre gehen können. Neben dem Kamin stand ein Gaskocher auf einem Schränkchen. »Wenn's nicht kalt ist, heize ich erst abends ein.« »Sie kochen auf dem Gas?« »Ja.« »Woher holen Sie das Wasser?« »Kommt drauf an. Oma Woody hat einen Hahn. Aber in letzter Zeit hatten wir Ärger miteinander, da hole ich mir's lieber aus dem Waschraum.« Auch hier eine Wohnküche mit einer fensterlosen Kammer dahinter. Das Bett war ungemacht, obwohl es inzwischen Mittag geworden war. Neben dem Bett hatte man ein Kinderbettchen aufgestellt. »Da drüben«, Mrs. Huddlestone zeigte auf ein Möbelstück, das ich unter einem Berg von Kleidern und Bettwäsche als Couch erkannte, »schlafen Alfie und Tom. Jerry schläft bei uns im Zimmer. Bis er aus dem Bettchen herausgewachsen sein wird, sind wir umgezogen.« 267
»Sie wollen ausziehen?« »Wir wollen zurück aufs Land. Mein Mann hat schon eine Stelle als Traktorfahrer in Aussicht. Da kriegen wir ein Häuschen mit Garten. Deswegen halten wir uns jetzt schon Hühner und einen Hund.« Sie ging auf das Kind zu, das mit den Händchen zur Einschalttaste des Fernsehgerätes hinauflangen wollte, und gab ihm einen Klaps. Ich erfuhr von ihr noch, daß sie seit sechs Monaten hier wohnten und zwei Guineen die Woche zahlten. Mit den Nachbarn hatten sie oft Krach. Zuletzt mit Mrs. Woody, als die Jungen eine ihrer verdammten Pflanzen umgeschmissen hatten. »Ich frage Sie, warum tut die Alte das Grünzeug raus auf die Treppe? Da muß man ja drüber stolpern.« »Die Toilette möchte ich noch sehen.« »Ach so… Ich glaube… Wollen Sie nicht einen Augenblick warten? Ich bin grad diese Woche dran und hatte heute noch keine Zeit, da unten zu putzen. Wir wechseln jede Woche ab«, sagte Mrs. Huddlestone verlegen. Ich sagte ihr, daß ich keine Luxustoilette erwarte. Mrs. Huddlestone zeigte auf die vierte Tür des Flurs. Als ich sie öffnete, stand ich auf der obersten Stufe der Holztreppe, die zu Cliffs Café hinunterführte. Nun erkannte ich auch die Funktion des Wandschirmes, dahinter öffnete sich die Tür zur besagten Örtlichkeit. In einem Vorraum, so groß wie eine der Schlafkammern, befand sich ein Wasserhahn mit einem vorsintflutlichen Waschbecken, das keinen Zweifel daran ließ, daß es seit der Installierung nicht mehr gescheuert worden war. Die Toilettenschüssel hatte einen Sprung, durch den die Nässe heraussickerte. Über das Weitere möchte ich hier den Mantel wohltätigen Schweigens breiten. Wenn mich mein Ortssinn nicht täuschte, lag diese fürchterliche Stätte genau über Cliff Finchs mustergültiger Küche. Nachdem sich schon hinter dem sauberen Café solcher Schmutz verbarg, was steckte hinter den anderen Läden? Zum Essen ging ich lieber ins Bahnhofshotel. Am Abend war mir klar, daß die fünf Läden mit den Wohnungen darüber einstmals ein geräumiges Bürgerhaus gewesen sein mußten. Mit einer Treppe – in Cliffs Café; einer Toilette – auf dem Treppen268
absatz; einer großen Speisekammer – jetzt hinter dem Trödlerladen; und einer riesigen Küche, über die nun der Zeitungsmann verfügte. Später hatte man das Haus in fünf längliche Abschnitte aufgeteilt, die den bescheidenen Bedürfnissen der fünf viktorianischen Kaufleute und ihrer Familien durchaus entsprochen hatten. Vor nicht allzu langer Zeit hatte man die meisten Wohnungen nochmals unterteilt und jedes Zimmer für sich vermietet. Hinter den Höfen der Flickschusterei und des Zeitschriftenladens entdeckte ich einen hübschen Garten mit hohen Mauern. An eine der Mauern lehnte sich ein schmuckes Häuschen, vermutlich eine umgebaute Scheune oder ein ehemaliges Gartenhaus, das mit seiner frischen Farbe inmitten der Rosen- und Lavendelsträucher wie eine Postkarten-Idylle aussah. Der Abort mit Senkgrube paßte allerdings nicht recht dazu, obwohl sich Rosen und Lavendel über die zusätzlichen Dungstoffe freuen konnten. Bewohnt wurde das Häuschen von einer pensionierten Lehrerin aus London, die, wie sie mir versicherte, ihr Leben lang davon geträumt hatte, ihre alten Tage auf dem ›Land‹ zu verleben. Miss Barstew zahlte zwei Pfund Miete für ihr Schmuckkästchen. »Mitsamt dem Garten. Ist es nicht himmlisch hier? Mitten in der Stadt und doch so still und abgelegen?« Gegen ihre Unterkunft war ebenso wenig einzuwenden wie gegen die des Altwarenhändlers, der mehr alte Nähmaschinen und gebrauchte Fahrräder umsetzte, als unsereiner sich vorstellen kann. Er bewohnte mit seiner Familie eine nicht weiter unterteilte ›Hausschnitte‹. Die Schlafzimmer im Obergeschoß wiesen allerdings die gleichen feuchten Wände auf wie alle oberen Räume in Old Vine. Der Zeitungshändler hauste in einem Zimmer hinter seinem Laden und vermietete die Schlafzimmer an Untermieter, eine Witwe mit Tochter und eine allein stehende Dame. Die riesige Küche benutzten alle gemeinsam. Dort fiel mir eine alte Schwengelpumpe auf, die das Wasser in die Küche leitete. »Von der Wasserleitung?« »Das nicht. Die Pumpe steht über einem Brunnen. Das ist noch die Wasserleitung unserer Urahnen, verstehen Sie? Funktioniert ausgezeichnet. Das Wasser ist herrlich weich, die Frauen vom ganzen Haus 269
holen es zum Haarewaschen.« Ich überschlug in Gedanken den Grundriss. Nur einige Schritte weiter, an der anderen Seite der Hofmauer befand sich die Senkgrube von Miss Bartley! Auch gegen die Bewohner der Schusterei war im Grunde nichts einzuwenden. Zwei verheiratete Brüder mit ihren Familien teilten sich in die Schlafräume, die Küche benutzten sie gemeinsam. Acht Personen auf vier Zimmer galten als normal. Blieb noch der letzte, unvermietete Laden, dessen schmutziges Fenster blind zur Straße hinausstarrte. Die Fenster im Obergeschoß waren aber geöffnet, ein Zeichen, daß dort jemand wohnte. Die Tür war nicht abgeschlossen. Ich ging durch den Laden nach hinten und machte mich durch Rufen bemerkbar. Eine Frau kam die Treppe herab. Sie winkte mir von weitem fröhlich zu, als sei ich ein alter Bekannter. Als ich mein Sprüchlein aufsagte, bekamen ihre nachtdunklen Augen einen sonderbaren Ausdruck. Sie war Jüdin, mittleren Alters und durchaus noch attraktiv. »Ach so? Na, dann kommen Sie meinetwegen halt herauf.« Sie bot mir eine Zigarette, dann eine Tasse Kaffee an, beides lehnte ich höflich ab. Wie sie mir erzählte, war sie vor dem Krieg vom Kontinent nach England geflohen und hier geblieben. »Wenn man im Leben so viel durchgemacht hat wie ich, hat man ein Herz für andere Leute, nicht wahr? Ich bringe es einfach nicht fertig, jemanden fortzuschicken, der mich um Hilfe bittet. Die Mädchen wissen das. ›Nur für eine Nacht, Mrs. Friedland‹, sagen sie, ›nur damit ich ein Dach über dem Kopf habe.‹ Und dann sind sie da und bleiben da. Was kann ich alte Frau tun?« Kokett hob sie die Schultern. Die drei üblichen Schlafkabinen und eine größere Wohnküche, in der ebenfalls ein Bett aufgeschlagen war. Vor dem Fenster stand eine Nähmaschine. Mrs. Friedland änderte Damenkleider. »Hier wohne und schlafe ich«, erklärte sie. »Wieviel Schlafgäste haben Sie im Durchschnitt?« Ein junges Mädchen kam mit einem Arm voll Näharbeit herein und legte sie auf den Tisch neben der Maschine. Auf einen Wink von Mrs. Friedland blieb sie gehorsam stehen. 270
»Mit Miss Morgan hier zur Zeit sieben. Aber Miss Morgan verläßt uns nächsten Montag, wenn sie ihre neue Stelle antritt.« Das Mädchen schaute sie entgeistert an und öffnete den Mund. »So ist es doch, Miss Morgan, nicht wahr?« sagte Mrs. Friedland rasch. Ich drehte mich um und erhaschte gerade noch einen sehr lebendigen, drohenden Blick von ihr, mit dem sie das Mädchen bedachte. »Gewiß, Mrs. Friedland. Am Montag«, plapperte das Mädchen. Sonderlich überzeugt war ich nicht, als ich die Damen verließ.
Einen ganzen Tag hatte ich mit Old Vine und seinen Bewohnern zugebracht. Später warf man mir vor, ich hätte keine Ahnung von den Verhältnissen in dem alten Haus, mein Vorgehen sei das eines mitleidlosen Bürokraten. Das trifft nicht zu. Ich kannte meine Pflicht und tat sie, nichts weiter.
4
D
a ich diesen Bericht hauptsächlich meinen persönlichen Erlebnissen widme, übergebe ich die Wirkungsweise der Maschinerie, die in Gang kommt, wenn ein Gesundheitsinspektor den Abbruch eines Hauses beantragt, das er für eine menschliche Wohnstätte ungeeignet erachtet. Wer will, mag Genaueres in den Akten des Gesundheitsministeriums nachlesen. Zunächst teilte ich mein Anliegen dem Leiter der Wohnbaubehörde mit. Er gehörte zum Typus der überhöflichen, aalglatten ehemaligen Offiziere und nahm meinen Bericht schweigend zur Kenntnis. Schließlich bemerkte er: 271
»Nanu, mein Freund, ich merke, Sie sind darauf aus, mir zusätzliche Arbeit zu verschaffen.« »Tut mir leid, Mr. Colney, wenn das der Fall ist. Die Zustände in Old Vine sind himmelschreiend.« »Geschäfte. Gehen mich gottlob nichts an.« »Sie werden staunen, Mr. Colney.« Ich legte ihm die lange Liste der Hausbewohner vor. Er schaute sie sich nicht einmal an. »Unter uns, ich gebe Ihnen einen freundschaftlichen Rat. Lassen Sie die Finger von Old Vine. Dasselbe gilt für die Häuser Alma Court, Mafeking Terrace und noch ein paar andere.« »Wieso?« »Weil Sie sich verdammt unbeliebt machen. Wissen Sie, wem die Häuser gehören?« »Old Vine jedenfalls gehört der Baildoner Immobiliengesellschaft.« »Kluger Junge. Nun seien Sie auch weiterhin klug und lassen Sie Hornissennester in Ruhe.« »Aber das Haus ist eine Bruchbude!« »Wenn Sie die Mietbücher genau angeschaut haben, müssen Sie bemerkt haben, daß es eine Goldgrube ist. Niemand läßt sich seine Goldgrube von einem Dahergelaufenen zuschütten.« Ich schluckte. Das war deutlich. »Denken Sie mal ein bißchen darüber nach. Auf Wiedersehen.« Ich verfasste einen Bericht über die Mängel, die ich in Old Vine festgestellt hatte, und sandte sie der Eigentümerin, der Baildoner Immobiliengesellschaft, mit der Bemerkung, das Haus sei wegen seines schlechten Zustandes unbewohnbar, ich würde daher bei der Gesundheitsbehörde einen Antrag auf Abbruch stellen. Das Verhalten der Gesellschaft überraschte mich. Normalerweise bricht in solchen Fällen eine Flut verärgerter oder bittender Briefe über alle möglichen Ämter herein, oder die Eigentümer versprechen schleunige Sanierung, um das Haus zu retten. Die Baildoner Immobiliengesellschaft rührte sich nicht. Oder täuschte ich mich? 272
Mittags aß ich meist eine Kleinigkeit in einem nahen Selbstbedienungsrestaurant. Etwa eine Woche nachdem ich meinen Bericht abgeschickt hatte, rempelte mich ein Mann an, so daß mein Kaffee überschwappte. Er entschuldigte sich, bestand darauf, mir eine neue Tasse zu bringen und setzte sich ohne viel Umstände an meinen Tisch. Er redete viel über Baildon und Umgebung, und vertraute mir nach einer Weile seinen Plan an: ein Vergnügungslokal zu eröffnen, wo sich jüngere Leute wohl fühlten. Café, Tanzfläche, leichte Getränke, daneben ein paar größere Säle, die man für Hochzeiten oder Partys vermieten konnte. »Heute habe ich ein ideales Haus gefunden. Es heißt Old Vine. Kennen Sie es?« Bis dahin hatte ich ihn für einen jener Allerweltsfreunde gehalten, die ich nicht ausstehen konnte. Jetzt horchte ich auf. »Doch, ich kenne es«, gab ich zu. »Ich hab' mir's genau angesehen. Es ist nicht sehr einladend im Augenblick. Die Zwischenmauern hinauswerfen und ein neuer Verputz. Die alten Mauern sind stark und gesund.« »Ich fürchte, da bin ich anderer Meinung.« »Ja, Sie als Laie sehen natürlich nur die hässliche Schale. Auf den Kern kommt es mir an, und der ist hart.« Ich erklärte dem Fremden, daß ich keineswegs als Laie urteilte. Das Haus sei durch und durch verrottet. Übrigens sei der Abriss schon beantragt worden. »Das kann Ihr Ernst nicht sein? Zwölfhundert Pfund für die Fassade und fünfzehnhundert fürs Innere, und Sie erkennen den Kasten nicht wieder, das schwöre ich Ihnen.« »Und ich versichere Ihnen, es lohnt nicht. In den Dachbalken steckt der Holzbock; wenn Sie neue Ziegel auflegen lassen, bricht Ihnen der ganze Dachstuhl ein. Außerdem darf es nicht verkauft werden, solange es als unbewohnbar gilt.« »Jetzt bin ich schon seit einem halben Jahr dahinter her. (Eben hatte er noch gesagt, er habe es heute gefunden.) Sagen Sie mal ehrlich, was müßte man in den Laden hineinstecken, damit es den Vorschriften entspricht?« 273
»Das ist schwer zu schätzen. Ein neues Dach samt Dachstuhl, die Wasserleitung muß erneuert, die Wände müssen trockengelegt werden. Ich würde sagen, sechstausend Pfund, eher noch mehr als weniger.« »Wenn Sie meinen… Tja, dann ist das doch zu teuer für mich. Schade. Jedenfalls danke schön für die Auskunft.«
Immerhin bewog mich dieses Gespräch dazu, Old Vine einen abermaligen Besuch abzustatten. Die Leute würden sich wehren, daß man ihre Goldgruben zuschüttete. Es waren Proteste und Untersuchungen zu erwarten. Jedermann weiß, wie leicht man einen Experten findet, der für gutes Geld genau das Gegenteil behauptet. Mein zweiter Besuch überzeugte mich aber stärker denn je von der Richtigkeit meines Verhaltens. Als ich vom Hof des Cafés die Hinterfront des Gebäudes inspizierte, kam Mrs. Woody die eiserne Treppe herabgetrippelt. »Es heißt, Sie wollen uns rauswerfen lassen, Sir? Das kann doch nicht wahr sein!« »Irgendwann werden Sie ausziehen müssen. Mrs. Woody. Nicht heute oder morgen, von Hinauswerfen ist nicht die Rede. Sie bekommen eine moderne, gesunde Wohnung.« »Draußen in der neuen Siedlung?« »Möglich. Das weiß ich nicht.« »So weit werden meine Kundinnen nicht laufen. Und für mich ist es auch viel zu weit in die Stadt. Ich bedaure, Sir, daß ich damals was über die Huddlestones gesagt habe. Sehen Sie sich die Toilette jetzt an, Sir. Wir haben sie gemeinsam mit Mrs. Huddlestone geputzt.« Mit einer plötzlichen Anwandlung von Heftigkeit fuhr sie mich an: »Wir sind hier zufrieden. Und gesund. Jawohl, keiner meiner drei Buben war jemals ernstlich krank.« Es war einer der Augenblicke, in denen ich innigst wünschte, ich hätte einen anderen Beruf erwählt. 274
Vier Tage später passierte der erste Unfall. Ich hatte dem Eigentümer eines kleineren Hauses zur Auflage gemacht, die Küche herzurichten und ein Bad zu installieren, wenn er das Haus weiterhin vermieten wolle. Er hatte sich an meine Bedingung gehalten und bat mich, zu kommen und mich davon zu überzeugen. Am Schornstein, einem weiteren ›Stein des Anstoßes‹, wurde noch gearbeitet. Die zum Ausbessern bestimmten Ziegel lagen schon oben auf der Kante des Flachdaches. Der Hausbesitzer, ein zuvorkommender, rundlicher, kleiner Mann, zeigte mir stolz die neue Küche und das aus der ehemaligen Waschküche umgebaute Bad. Ich nickte anerkennend. Beides konnte sich sehen lassen. »Kommen Sie bitte mit hinaus«, forderte er mich auf. »Wir wollen nachsehen, wieweit der Schornstein schon gediehen ist.« Wir gingen in den Hof und schauten hinauf. »Bill!« rief mein Begleiter, »Bill, wo steckst du denn?« Keine Antwort. »Der faule Kerl steht sicher wieder auf der anderen Seite und schäkert mit dem Dienstmädchen von nebenan. Dem werd' ich's zeigen!« Er kletterte die Leiter hinauf, die am Dach lehnte. Oben muß er dann gestolpert sein, denn ich hörte einen kurzen Ruf, darauf ein Poltern, und danach prasselte eine Lawine aus Backsteinen auf mich herab. Das geschah so schnell, daß mich die ersten sechs oder sieben Steine an Kopf und Schultern trafen, bevor ich mich geistesgegenwärtig in die einzige sichere Ecke, den Winkel zwischen Leiter und Wand, werfen konnte. Die Leiter milderte die Wucht der Steine. Aber es hatte genügt. Die ersten hatten mir den Hut vom Kopf gefegt, die Stirn aufgerissen und die Schultern verletzt. Meine Nase schwoll im Handumdrehen an, vermutlich war sie gebrochen. Hätte ich nicht blitzartig reagiert, wäre ich wohl ernsthaft verletzt worden. Aber auch so blutete ich aus der Stirnwunde wie ein Schwein. Bestürzt fuhr mich der kleine Dicke ins Krankenhaus, wo man mir eine Tetanusspritze verpasste und die Stirnwunde mit sieben, die Nase mit drei Stichen vernähte. Auch nach Hause brachte mich der Mann noch, wobei er unentwegt jammerte, wie unendlich leid es ihm tue, 275
wie schrecklich das für ihn jetzt wäre. Damals glaubte ich noch, sein Bedauern sei echt. Als Miss Burr meine Verbände erblickte, bestand sie darauf, daß ich mich sofort ins Bett legte. Um fünf, als die städtischen Beamten Dienstschluss hatten, kam Katie, die von meinem Missgeschick gehört hatte. Miss Burr, die sonst von Damenbesuch nicht viel hielt, meldete sie mir gerührt als ›Ihre junge Dame, Mr. Ruper‹. Katie legte mir einen Strauß Maiglöckchen auf die Bettdecke. In diesem Augenblick war ich dem Schicksal dankbar für den Unfall. Dazu muß ich sagen, daß sich das Verhältnis zwischen Katie und mir in letzter Zeit festgefahren hatte. Beide waren wir unerfahren und schüchtern. Ich lud Katie ins Kino oder in ein Konzert ein, Katie erwartete mich jeden zweiten Sonntag zum Essen. Wir gingen zusammen spazieren und redeten über alle Dinge der Welt, nur nicht über uns selber. Es ist eine Tatsache, daß schüchterne junge Leute einander anziehen und sich bis zu einem gewissen Punkt gut verstehen, ab diesem gewissen Punkt vertragen sie sich meist sogar noch besser. Aber dieser Punkt ist eine Hürde, die zwar von forschen Draufgängern im Sprung genommen wird, nicht aber von zwei jungen Leuten, die – jeder für sich – von ihrem unvorteilhaften Aussehen überzeugt und daher gehemmt sind, den entscheidenden Schritt zu tun. Ich war dem Schicksal nicht mehr gram, als Katie mir mit der Hand zart über die verbundene Stirn strich, sich danach auf die Bettkante setzte und meine Hand ergriff. Doppelsinnig sagte ich: »Ich weiß, ich sehe fürchterlich aus.« »Armer Junge«, erwiderte Katie leise. »Für mich sehen Sie wie ein blessierter Ritter aus.« In der Dämmerung dieses Nachmittages machten wir mehr Fortschritte als in den ganzen Wochen zuvor.
Als der Sitzungstermin anberaumt wurde, auf dem über das weitere Los von Old Vine entschieden werden sollte, war ich zwar noch ein wenig angeschlagen, aber schon wieder bereit zum Gefecht. Die Kom276
mission hatte sich für einen Tag im Juli entschieden, und ich wandte mich inzwischen anderen Aufgaben zu. Deshalb war ich sehr erstaunt, als mir der Stadtsyndikus, Mr. Dysart, drei Briefe auf den Schreibtisch knallte. »Ich möchte gern wissen, warum die Leute mich damit belästigen«, sagte er verärgert. Der erste Brief beanstandete ein Stück Leber, das eine Mrs. Dearman beim Fleischer erstanden hatte. Der zweite Briefsteller, ein Mr. Pelham, beklagte sich über den Gestank eines Abwasserkanals. Der dritte Brief war anonym und lautete wörtlich: »Ihr Gesundheitsmann sollte sich mal was um die Küche des Gasthofs Myrtle Bank kümmern. Ein Dreck ist das, genug, um die Gäste zu vergiften.« Alle drei Briefe trugen dasselbe Stempeldatum. Wenn irgend jemand der Stadtverwaltung deutlich machen wollte, daß der ›Gesundheitsmann‹ seinen Pflichten nicht nachkam, so hatte er sich die wirksamste Methode ausgedacht. Mr. Dysart war nämlich ein wichtigtuerischer Schwätzer, von dem man sicher sein konnte, daß er in den folgenden Tagen in allen Verwaltungsbüros gefragt oder ungefragt verkünden würde: »Als ob ich selber nicht genug zu tun hätte. Jetzt muß ich mich auch noch um die Angelegenheiten unseres Gesundheitsbeamten kümmern.« Mein Verdacht erhärtete sich, als ich den Beschwerden nachging. Die widerstrebende Mrs. Dearman mußte, mit dem Fleischer konfrontiert, zugeben, daß sie das Stück Leber ausdrücklich für ihren Pudel verlangt hatte. Der Abwassergraben stank nur deshalb zum Himmel, weil ihn die Anrainer (und nicht nur die Kinder!) als Latrine benutzten, und gegen den Eigentümer der Myrtle Bank lief längst eine Anzeige. Der nächste Schachzug meines unsichtbaren Gegners war zumindest amüsant. Als ich wie immer spät an einem Sonntagnachmittag nach Hause kam, erwartete mich Miss Burr aufgeregt mit der Nachricht, Mr. Michael Hardtopp hätte zweimal angerufen und um meinen sofortigen Rückruf nach meiner Heimkehr gebeten. Es meldete sich eine freundliche, etwas schleppende Stimme. Mr. 277
Hardtopp sagte mir, er halte sich nur über das Wochenende in Baildon auf und möchte mich unbedingt sprechen. Ob ich mir die Mühe machen und sein bescheidenes Abendessen mit ihm in seiner kleinen Klause teilen würde? Sie sei ganz leicht zu finden. Er beschrieb mir den Weg. Als Miss Burr von der Einladung erfuhr, schlug sie die Hände zusammen. »Ja, wissen Sie denn nicht, wer Mr. Hardtopp ist?« »Keine Ahnung. Ich habe den Namen noch nie gehört.« »Er ist der Kandidat der Labour Party. Die letzte Wahl hätte er beinahe an Mr. Horley verloren.« Ich steckte den Kopf ins Waschbecken, zog mir ein frisches Hemd an und machte mich auf den Weg. Was konnte dieser Mr. Hardtopp von mir wollen? Die ›kleine Klause‹ entpuppte sich als Landhaus mittlerer Größe, das mit modernen skandinavischen Möbeln eingerichtet war. Mr. Hardtopp empfing mich in einem alten Jerseypullover und fleckigen Flanellhosen. Er war von mittlerer, schlanker Figur und trug sein welliges Haar bis auf die Schulter wallend. Auf den ersten Blick glaubte man einen Maler oder Bildhauer vor sich zu haben, worauf es Mr. Hardtopp offensichtlich auch anlegte. Er bedankte sich überschwänglich, daß ich noch zu ihm herausgefahren sei, und bat mich zu Tisch, wo der ›bescheidene Imbiss‹ auf uns wartete: Räucherlachs, Geflügelpastete und eine Flasche Rüdesheimer, eine Sorte, die ihm allerdings, wie Mr. Hardtopp klagte, nicht mehr so recht schmecken wolle, seit er sie auch schon an seinem Ursprungsort auf einer Rheinterrasse getrunken habe. Während des Essens gab sich mein Gastgeber geflissentlich jovial, wobei er von Zeit zu Zeit einen prüfenden Seitenblick zu mir herüberschickte. Schließlich lehnte er sich in seinen Sessel zurück und sagte: »Ich mußte Sie einfach persönlich kennenlernen, um Sie richtig einzuschätzen. Weiß Gott, was Sie von mir denken mögen?« »Wie meinen Sie das, Mr. Hardtopp?« »Wollen Sie sagen, Sie wüssten von nichts? Keinen Klatsch gehört? 278
Also denn: Ich besitze einen Packen Anteile der Baildoner Immobiliengesellschaft. Mit einem gewissen Recht können Sie daher auch mich für die Zustände in Old Vine verantwortlich machen.« Er schaute mich erwartungsvoll an. Ich schwieg aber, und er fuhr fort: »Vor etwa zwanzig Jahren hat mein Vater die Anteile von einem Mr. Corby erworben, der in finanzielle Schwierigkeiten geraten war. Weder mein Vater noch ich haben uns für die Gesellschaft interessiert. Ich muß schon sagen, es war ein Schock für mich, als ich erfuhr, daß sie ihre Häuser so verkommen läßt.« »Durchaus nicht alle Häuser, Mr. Hardtopp. Im Besitz der Gesellschaft befinden sich im überwiegenden Maße einwandfreie Anwesen. Allerdings auch einige Bruchbuden, wie Old Vine.« Mein Gegenüber nickte sinnend. »Das wollte ich von Ihnen hören, Mr. Ruper. In meiner Situation kann ich mir einen solchen Hintergrund nicht leisten. Wissen Sie, was ich vorhabe? Ich schenke meine Anteile dem Roten Kreuz.« Wieder dieser gespannte lauernde Blick. Was erwartete er von mir? Beifall? Meiner Ansicht nach verschenkte er einen lahmen Gaul, aber das war seine Sache. Er fuhr fort: »Ein guter Gedanke, finden Sie nicht?« »Soweit es Sie betrifft, ja. Sie retten sich aus einer peinlichen Situation. Ich kriege dadurch noch mehr Scherereien, aber das macht nichts. Ich bin Kummer gewohnt.« »Ich verstehe Sie nicht ganz, wenn ich ehrlich sein soll.« »Mit Ihrer Schenkung blasen Sie meinen Gegnern Wind in die Segel, Mr. Hardtopp. Reden wir offen. Es handelt sich um Old Vine, nicht wahr? Wenn Sie Ihre Anteile dem Roten Kreuz schenken, und ich bestehe weiter darauf, daß der Kasten abgerissen wird, dann erhebt sich sofort ein Geschrei unter den mildtätigen Seelen Baildons, ich raubte den Armen so und so viele Pfund jährlich. Nicht, daß mich das irremachen könnte. Ich bin Beamter und kenne meine Vorschriften. Wer Gewinn aus den Mieteinnahmen zieht, den läßt die Tatsache kalt, daß hier Menschen in unwürdigen und gesundheitsschädigenden Verhältnissen leben.« 279
»Wie Sie sagten, ist Old Vine nicht das einzige Besitztum der Gesellschaft. Auch wenn Old Vine abgerissen wird, bleibt das Grundstück und damit dem Roten Kreuz noch ein gehöriger Batzen übrig. Ich muß mit Anstand aus dieser Sache heraus, wenn ich bei der nächsten Wahl kein blaues Wunder erleben will. So, das wär's. Jetzt trinken wir in Ruhe unseren Kaffee und reden von etwas anderem. Nun habe ich Sie auch noch an Ihrem freien Tag mit geschäftlichen Angelegenheiten behelligt.«
Der zweite Unfall passierte am Sonntag darauf. Das Wetter war sommerlich warm. Katie und ich hatten uns verabredet, mit meinem Wagen ans Meer zu fahren. Der Mensch ist doch ein sonderbar veranlagtes Geschöpf. Sosehr ich mich darauf gefreut hatte, den ganzen Tag mit Katie allein zu sein, so sehr fürchtete ich mich nun vor dem Augenblick, in dem ich in der Badehose und barfuss vor ihr stehen sollte. Schon in meinen orthopädischen Schuhen war ich eine Handbreit kleiner als sie. Ich schalt mich einen eitlen Narren, als ich den Wagen aus der Garage holte. Da mir Miss Burr keine Unterstellmöglichkeit für einen Wagen bieten konnte, hatte ich eine Garage von einem Handwerker gemietet, der einen leeren Schuppen neben seinem Betrieb entsprechend umgestaltet hatte. Das Sträßchen, in dem die Garage lag, war so eng und winkelig, daß man es zur Einbahnstraße erklärt hatte. Vom Marktplatz aus konnte ich hineinfahren, wenn ich dagegen den Wagen holte, mußte ich um den ganzen Häuserblock herumkurven. Aus der Garage bis zur ersten scharfen Biegung des Gässchens fuhr ich im ersten Gang. Gerade als ich den zweiten einlegte, gab es einen Ruck, und der Wagen zog stark nach links, neigte sich vorne auch nach links unten, und ich spürte und hörte, wie er hart auf das Pflaster aufstieß, mit der Seite die Hauswand streifend. Ich riß das Steuer herum und trat auf die Bremse. Einen Augenblick zu spät. Wie im Zeitlupentempo kam die rechte Häuserzeile auf mich zu. Der Zusammen280
prall, bei dem die Motorhaube meines Wagens zur Ziehharmonika zusammengedrückt wurde, war unvermeidlich. Ich spürte einen harten Schlag gegen die Brust und saß dann zwischen Steuerrad und der Rücklehne des Sitzes festgeklemmt. Als der erste Schreck vorbei war, dachte ich: ›Gottlob, mir ist nichts geschehen.‹ Im selben Moment sah ich das linke Vorderrad des Wagens langsam die Gasse hinunterrollen, bis es von einer vorspringenden Hausecke gestoppt wurde. In meiner Erleichterung darüber, unverletzt davongekommen zu sein, begann ich über den ulkigen Anblick eines einsam dahinrollenden Autorades zu lachen. Doch dann erinnerte mich ein leichter Schmerz im Brustkorb daran, daß ich immer noch eingeklemmt war. Ich lockerte die Halterung des Sitzes und schob mich nach hinten. Ich war frei. Da beide Vordertüren verklemmt waren, kletterte ich in den Fond und stieg durch die linke Hintertür aus. Ein paar Leute kamen aus den Häusern angerannt. Als sie mich gesund und wohlbehalten beim Wagen stehen sahen, begannen sie eine ausführliche Diskussion, wie wohl der Unfall passiert war. Ich ließ sie nach ein paar Worten stehen und begab mich zu Fuß in die Autowerkstätte an der Southgate Street, wo ich von jeher meinen Wagen waschen und warten ließ. Die Tankstelle war geöffnet, der Meister saß in seinem Glashäuschen. »Das ist aber komisch«, sagte er, als ich ihm den Unfall geschildert hatte. »Wirklich komisch, muß ich schon sagen. Haben Sie das Rad gewechselt, seit der Wagen bei uns in Inspektion war?« »Nein.« »Auch sonst nicht dran herumgebastelt?« »Fällt mir nicht ein. Ich habe anderes zu tun.« »Dann verstehe ich das nicht.« Er schüttelte den Kopf. Auf dem Weg zur Unfallstelle versuchte er sich zu erinnern, wann seine Leute meine Räder nachgesehen hatten. »Das muß vor zwei Monaten gewesen sein. John hat die Hinterräder nach vorn umgewechselt. Aber die Schrauben habe ich selbst angezogen, hier mit meinen eigenen Händen. Darin bin ich sehr gewissenhaft.« 281
Die Grüppchen, die noch immer debattierend um den Wagen herumstanden, machten uns Platz, als wir anlangten. Der Meister meinte mit Kennerblick auf das Vehikel trocken: »Am billigsten kommen Sie weg, wenn Sie sich gleich einen neuen kaufen.« Er betrachtete die Schleifspuren auf dem Pflaster und an der Hauswand, sah mich dann freundschaftlich an und sagte: »Sie können von Glück reden, junger Mann. Sie sehen ein bißchen blaß und aufgeregt aus. Schmerzen haben Sie keine?« »An der Brust habe ich mich ein wenig gequetscht. Sonst ist alles in Ordnung.« Der Meister ging in die Hocke und suchte nach Schrauben. Er fand nur eine einzige. »Das hing ja an einem Faden. Wirklich sehr sonderbar.« Er blickte zu mir auf. »Haben Sie Ihren Wagen in letzter Zeit im Saxstead-Viertel allein gelassen?« Das kam oft vor, meine Inspektionstouren führten mich ja vor allem in die ärmeren Wohngegenden. Ich sagte ihm das. Er antwortete: »Dann waren es wieder die Halbstarken. Vor den Kerlen ist nichts sicher heutzutage.« Er versprach mir, das Wrack abzuschleppen. Ich ging nach Hause, um Katie anzurufen. Ihr Erschrecken tat mir wieder wohl. Ich beeilte mich, ihr zu versichern, ich sei unverletzt und würde trotzdem gern den geplanten Ausflug machen, nur müßten wir dann ihren Wagen benutzen. »Fehlt dir wirklich nichts weiter?« fragte Katie besorgt. »Also gut, dann hole ich dich ab. Ich habe übrigens einer Dame versprochen, daß wir unterwegs kurz zu ihr hineinschauen. Wer sie ist? Sage ich nicht. Du wirst von ihr bezaubert sein.« Als Katie hereinkam, sah sie in ihrem weißgelben Sommerkleid sehr elegant aus. Miss Burr flehte sie an: »Bitte, fahren Sie vorsichtig. Unfälle kommen immer zu dreien, und Mr. Ruper hat schon zwei hinter sich.« Katie versprach, sich sehr vorzusehen. Als wir auf der Straße in Richtung Bywater fuhren, fiel mir ein, daß 282
ich mein Badezeug im Auto gelassen hatte. Noch hätten wir umkehren können, aber ich schwieg. Es kam mir sehr gelegen, daß ich mich nun nicht auszuziehen brauchte. Nach einigen Meilen bog Katie in eine geschotterte Nebenstraße ein. »Wir verlieren kaum Zeit«, erklärte sie. »Hinter Miss Hattons Häuschen führt ein kleiner Weg direkt zum Meer. Dort gibt es eine richtige Bucht.« Miß Hatton bewohnte ein Puppenhäuschen in einem kleinen Fischerdorf. Sie war eine Schulkameradin von Katies Tante, aber im Gegensatz zu dieser ein verhuschtes, unterwürfiges Wesen, das nur allmählich auftaute, dann aber seinen ganzen Charme entfaltete. Mich störte anfangs ein wenig, daß Miss Hatton es zu offensichtlich darauf anlegte, mir zu gefallen und mir nach dem Mund zu reden. Sie mußte sehr arm sein, keines der alten Möbel war mehr als ein paar Shillinge wert. Miss Hatton bewirtete uns mit Kaffee und altbackenen Biskuits. Immer noch hielt ich den Abstecher für Zeitverschwendung und fragte mich, was Katie mit diesem Besuch bezwecken wollte. Ohne daß ich es merkte, änderte sich aber meine Meinung in kürzester Zeit. Miss Hatton entpuppte sich als die geistvollste und witzigste alte Dame, der ich je im Leben begegnet war. Ich kann und will hier auf keine Einzelheiten unserer Unterhaltung eingehen, dazu war sie doch zu flüchtig und aus dem Augenblick geboren. Miss Hatton und Katie warfen einander die Scherzworte wie Bälle zu, in einer kindlich unbeschwerten Heiterkeit, die niemanden, auch nicht Abwesende, verletzte. Wie schade, daß ich Miss Hatton an einem Tag kennen lernte, an dem mir nicht gerade zum Lachen war. Aus dem gelegentlichen Seitenstechen war inzwischen ein ständig bohrender Schmerz geworden, als stocherte mir jemand mit einer ziemlich dicken Stricknadel zwischen den Rippen herum. Etwa nach einer Stunde stand Katie auf und sagte: »Miss Hatton, wir müssen weiter. Vielen Dank für den Kaffee und die Unterhaltung.« Miss Hatton bestand darauf, daß wir ein Körbchen selbstgezogener Erdbeeren mitnahmen, die sie für uns kühlgestellt hatte. Unter vielem Winken fuhren wir weiter. 283
»Ist sie nicht goldig?« fragte Katie. »Und das nach einem Leben voller Unglück und Armut!« Was ich erfuhr, war die alte Geschichte: einzige und letzte Tochter einer verarmten alten Familie, nichts Rechtes gelernt, Bräutigam im ersten Weltkrieg gefallen, nach dem Tod der Eltern jahrzehntelange Plackerei als Gesellschafterin und Pflegerin schrulliger alter Damen. In einem kleinen Gasthof aßen wir zu Mittag und fuhren dann zu Katies Geheimtipp, der einsamen Bucht, wo sich selbst an diesem sonnigen Tag kein Mensch weit und breit blicken ließ. Als wir ausstiegen, ›entdeckte‹ ich mit geheucheltem Bedauern, daß mein Badezeug in meinem Wagen zurückgeblieben war. Katie entkleidete sich hinter einem Gebüsch an den Kalkfelsen und schwamm ins Meer hinaus. Sie tat es vorzüglich, und ich war doppelt froh, daß ich nicht mithalten mußte. Nach einer Weile kam sie zurück und legte sich auf ihr Handtuch neben mich in die Sonne. Ich saß im Sand, hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt und umfasste meine hochgezogenen Knie mit den Händen. Wir plauderten und schwiegen abwechselnd, aßen die Erdbeeren aus dem Körbchen und ließen die reifen, süßen Früchte auf der Zunge zergehen. Über unseren Köpfen kreisten und schrien Seemöwen, und der salzige Geruch der steigenden Flut vermischte sich mit dem Aroma der sonnenwarmen Erdbeeren. Es waren Stunden voller Glück und Einverständnis, die wir an diesem Nachmittag unbeschwert miteinander verbrachten. Ich faßte den Entschluß, Katie heute abend um ihre Hand zu bitten. »Katie, kennst du das kleine Lokal in der Westgate Street, wo man draußen im Hof unter den Bäumen essen kann?« »Ehern«, antwortete Katie schläfrig. »Wollen wir heute abend dort essen? Es wird sicher warm genug sein, um draußen zu sitzen.« Unter den blühenden Linden bei einer Flasche Rüdesheimer – ich war mittlerweile auf den Geschmack gekommen –, wollte ich sie fragen. Nicht, daß der Alkohol mir Mut einflößen sollte, ich wollte die schicksalbestimmende Frage unter möglichst romantischen Umstän284
den an Katie richten. Ihr Leben lang sollte sie sich an diesen Augenblick erinnern wie an einen schönen Traum. Plötzlich drehte sie sich auf den Rücken und setzte sich auf. »Jon, ich möchte dich etwas fragen. Das heißt, es ist vielmehr eine Bitte.« »Nur zu«, munterte ich sie auf. Ich war gerade in Stimmung, um ihr jeden Wunsch zu erfüllen. »Willst du, sag mal, willst du Old Vine tatsächlich schließen und abreißen lassen?« Die Stricknadel in meiner Brust stocherte doppelt schmerzhaft. »Katie, es geht nicht um mich. Ich persönlich habe in der Angelegenheit nichts zu sagen.« »Sei ehrlich. Old Vine steht nun schon seit Hunderten von Jahren und niemand, nicht einmal Mr. Padmore, hatte etwas dagegen. Erst seit du da bist, heißt es plötzlich, es sei unbewohnbar. Das kann doch nicht von heute auf morgen geschehen sein. Ein Haus verwahrlost nicht in ein paar Monaten. Also hat es doch etwas mit dir zu tun, du hast mit dem Ärger angefangen.« »Insofern hast du recht«, erwiderte ich, »daß ich es war, der die Baufälligkeit von Old Vine aufdeckte. Wenn du so willst, war ich das Werkzeug dazu.« Katie begann, Sand über meine Hand zu schütten. »Dann könntest du jetzt mal ein anderes Werkzeug sein und die Abrißverfügung widerrufen.« »Wie stellst du dir das vor?« »Nun, du könntest beispielsweise sagen, du hättest dich geirrt, so schlecht sei der Zustand des Hauses nicht, wie es dir auf den ersten Blick schien…« »Katie, das wäre eine Lüge! Je öfter ich hinkomme, desto mehr Mängel fallen mir auf. Ich nehme dich gern einmal mit, damit du dich selber überzeugen kannst. Aber warum fragst du? Was geht dich Old Vine an?« »Mich persönlich nichts. Aber du hast heute gesehen, wie Miss Hatton lebt, ich habe dir ihre Geschichte erzählt. Also gut. Eine der alten 285
Damen, die sie bis zum Tode gepflegt hat, hinterließ ihr ein paar Anteile der Baildoner Immobiliengesellschaft. Jon, es ist ihr einziges Einkommen auf ihre alten Tage, vierzig Pfund im Jahr. Du kannst ihr das nicht antun.« »Aber wenn Old Vine abgerissen wird, geht die Gesellschaft noch lange nicht pleite.« »Old Vine bringt viel Miete ein. Sie werden weniger Dividende ausschütten. Jedes Pfund tut Miss Hatton weh, und es wird vermutlich mehr als ein Pfund sein, das ihr fehlt. Wie ich die Brüder kenne, werden sie die Abrißkosten und das sonstige Drum und Dran ganz auf die stillen Gesellschafter abwälzen. Verdammt noch mal, wenn die arme alte Hattie zehn Pfund weniger bekommt, kann sie bald verhungern. Und die anderen hilflosen alten Leutchen, die froh sind, wenn sie in einem alten Haus billig unterkriechen können, an die denkst du auch nicht?« »Von billigen Mieten kann nicht die Rede sein, in einigen Fällen muß man schon von Wucher sprechen. Deine alte Freundin mag ein kümmerliches Einkommen haben, aber die Gesellschaft bereichert sich geradezu am Elend ihrer Mieter.« Katie hörte auf, mit meiner Hand zu spielen und sah mich an. »Ach daher weht der Wind? Jetzt weiß ich, was mit dir los ist. Du bist ein Sozialist!« Sie spuckte das Wort verächtlich aus, als sei es eine besonders abstoßende Krankheit oder Perversität. »Du glaubst, Miss Hatton verdient vierzig Pfund, wo sie nichts dafür gearbeitet hat. lass dir mal was sagen: Die alte Dame, die Miss Hatton die Anteile hinterlassen hat, litt zwei Jahre lang an einer widerwärtigen Krankheit, und die arme Hattie mußte sie füttern und säubern. Jeden Penny, den sie heute bekommt, hat sie doppelt und dreifach verdient, merk dir das! Sie gehört nicht zu den Ausbeutern oder wie du sie nennen magst.« »Ich habe nichts dergleichen gesagt oder auch nur gedacht. Miss Hatton tut mir ebenso leid wie die Leute, die auf ihre alten Tage in eine andere Wohnung umziehen müssen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß Old Vine ein verfallendes Gemäuer und eine Brutstätte für Krankheiten ist.« 286
Als Katie bemerkte, daß sie mich nicht umstimmen konnte, versuchte sie es mit Koketterie. Ein Fehler. Manchen Frauen steht ein wenig davon ausgezeichnet, leider gehörte Katie nicht zu denen. Sie schmeichelte: »Liebster, dann tu einfach mir den Gefallen. lass den Kasten noch, na, sagen wir fünf Jahre in Frieden. Miss Hatton ist zweiundsiebzig, in fünf Jahren haben sich ihre Probleme vermutlich auf andere Weise gelöst. Bitte, Jon, mir zuliebe, schieb die Sache noch ein paar Jahre hinaus. Bitte, ja?« Das war schlechtes Theater, Katie wußte nur zu gut, daß ihr diese Rolle nicht schmeichelte, und als sie prompt die Ablehnung in meinen Augen las, wurde sie wütend und ausfallend. Sie muß sich verraten und gekränkt gefühlt haben, aber ich bin nicht der Mann, der sich von seiner Pflicht abbringen läßt, auch nicht von einer Frau, die mir um den Bart geht. »Vielleicht dauert es ohnehin noch Jahre, bis das Haus endlich abgerissen wird«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Das ist egal. Ich habe dich um einen Gefallen gebeten, und du hast ihn mir abgeschlagen. Jetzt weiß ich wenigstens Bescheid. Gott sei Dank, daß ich dich noch rechtzeitig durchschaut habe.« Sie sprang auf und legte sich das Handtuch wie einen Umhang um die Schultern. Ich stand gleichfalls auf und faßte sie am Ellbogen. Sie riß sich los. »Bitte, Katie, versteh mich doch. Du weißt, ich liebe dich. Du darfst alles von mir verlangen, was ich mit gutem Gewissen tun kann. Einerlei, was es mich kostet, du weißt das.« »Meine Bitte kostet dich nichts. Du willst nicht. Warum?« »Weil ein Mann mit sich und seinen Prinzipien im Einklang leben muß, Katie.« »Da kratzt man ein bißchen, und schon sieht unter der Tünche der spießige kleine Verwaltungsbeamte hervor«, legte Katie los. »Tante Beate hatte recht. Als ich dich das erste Mal zu uns einlud, meinte sie, du seist ein sonderbarer Freund für mich. Ich habe dich damals verteidigt und gesagt, du seist eine Ausnahme. Aber Tante Beate meinte, 287
keiner könne aus seiner Haut, alle die Leute seien kleinlich und engstirnig. O Gott, wie recht sie hatte…« »Katie, lass es nicht so zu Ende gehen!« Ich suchte krampfhaft nach Worten, um sie zur Einsicht zu bringen. Aber ihre Augen sprühten vor Zorn. Wie schön doch diese fremdartig geschnittenen, bernsteinfarbenen Augen über den hohen Backenknochen funkelten. Der Zorn verschönte ihr Gesicht, sie war einzigartig, unvergleichlich. »Was kann nicht so enden?« fragte sie böse. »Ein Tag am Meeresufer? Warum nicht?« Sie verschwand hinter dem Gebüsch, in dem ihre Kleider hingen. Nach einer Weile kam sie wieder hervor, schlank, mit langen Beinen weit im Sand ausschreitend, ihr nasses Bündel in der Hand. »Katie!« bat ich. »Ich fahre nach Hause. Du kannst mitkommen. Die Busse sind sonntags überfüllt.« »Ich muß mit dir sprechen!« »Über Old Vine?« »Himmel noch mal, nein! Über uns beide.« »Ich fahre dich heim, aber unterwegs reden wir entweder über Old Vine – oder wir schweigen!« »Ist das dein letztes Wort?« »Ja.«
Natürlich stehe ich auf dem Standpunkt, daß alle Menschen gleich und einander ebenbürtig sind, zumindest theoretisch. Wenn ich jedoch ehrlich sein soll, muß ich zugeben, daß ich mich bei Auseinandersetzungen mit Leuten vom Schlage Katies, also aus den so genannten besseren Kreisen, stets unterlegen fühle. Weiß Gott, woran das liegt, vermutlich an ihrem Benehmen, ihrem ganzen Auftreten. Gegen ihre zurückhaltende Gelassenheit, die unsereinen stets ins Unrecht setzt, komme ich einfach nicht auf. (Eine kleine Begebenheit mag besser als alle Worte erklären, was ich 288
meine. Eine Nachbarsfrau arbeitete stundenweise im Haushalt eines hohen Regierungsbeamten. Als im Krieg während eines Luftangriffes eine Bombe nahe dem Häuschen der Putzfrau einschlug, zerbrachen die Fenster und fielen außerdem die Blumen und Nippes vom Fenstersims herab. Als sich die Frau anderntags bei ihrer Arbeitgeberin über den Schaden und die unruhige Nacht beklagte, hörte ihr die Dame geduldig zu, bedauerte den Verlust und öffnete dann eine Vitrine mit den Worten: »Ach, liebe Mrs. Stokes, suchen Sie sich doch davon aus, was Ihnen gefällt. Ich brauche es jetzt nicht mehr. Gestern kam die Nachricht, daß mein Junge gefallen ist.«) Habe ich früher irgendwann gesagt, daß Katie scheu ist? Schüchtern ist sie nur in ihrer Eigenschaft als Mädchen, ansonsten trägt sie dieselbe kühle Überlegenheit zur Schau wie jene Dame. Der ganze Trotz eines Gassenjungen aus Shoreditch sprach aus mir, als ich antwortete: »Wenn wir uns nichts mehr zu sagen haben, kann ich genauso gut mit dem Bus nach Hause fahren.« Wortlos wandte Katie sich ab und ging zu ihrem Wagen. Der Bus fuhr erst um halb sieben aus dem Fischerdörfchen ab. Auf seiner Route machte er ständig Umwege, um die umliegenden Dörfer zu berühren, so daß die Heimfahrt länger als zwei Stunden dauerte, Zeit genug für mich, um über den Bruch mit Katie nachzudenken. Mit jedem Schlagloch wurde der Schmerz zwischen meinen Rippen größer. Ich konnte bald nicht mehr durchatmen und hechelte leise wie ein erhitzter Hund. Der Bus war voll von übermüdeten, nervösen Frauen und lärmenden Kindern, an denen noch der Küstensand hing. Von ihrem Standpunkt aus, dem einer Frau, hatte Katie natürlich recht. Aus Liebe konnten andere sogar einen Mord begehen. Ich aber beteuerte ihr meine Liebe und war nicht einmal zu einigen Lügen für sie bereit. Deshalb war sie nun beleidigt und gekränkt. Ich müßte sie heute abend nur anrufen und ihr sagen, was sie zu hören wünschte, und alles wäre in Ordnung. Wirklich? Und später? Wenn ich jetzt nachgab, fand ich mich eines Tages als einer jener bedauernswerten, ihren Frauen Untertanen kleinen Männer wieder, von denen die Witzblätter voll sind. 289
Wer sich in moralischen Dingen einmal eine Blöße gibt, ist unrettbar verloren. Und wie hatte Katie gesagt? ›Sonderbarer Freund‹, ›spießiger kleiner Verwaltungsbeamter‹, ›ich verteidigte dich, du wärest anders‹. Da ich ihr nicht völlig zuwider war, hatte Katie sich, so schien's, quasi mit mir abgefunden. Sicher, ich war ihr sympathisch. Aber was war schon eine Sympathie wert, die so rasch in ihr Gegenteil umschlug? Meine Vernunft, die seltsamerweise mit der Cockney-Stimme meiner Mutter zu mir spricht, sagte mir, ich sei noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen. Zutiefst wußte ich jedoch, daß mein Stolz eine tödliche Niederlage erlitten hatte: insgeheim hatte ich mich ebenfalls für eine ›Ausnahme‹ gehalten. Endlich blieb der Bus auf dem Baildoner Bahnhofsvorplatz stehen. Jedermann erhob sich erleichtert. Als ich aufstand, ließ der Druck in meiner Brust ein wenig nach. Ein kurzer Spaziergang würde mir gut tun, dachte ich. Der Himmel hatte sich bezogen, wenn auch der Regen noch auf sich warten ließ. Ich sah zu, wie der Stadtbus ohne mich in Richtung Marktplatz weiterfuhr, und machte mich zu Fuß auf den Heimweg. Schon nach wenigen Schritten war mir klar, daß ich mich verrechnet hatte. Die Schmerzen meldeten sich beim Gehen stärker denn je wieder. Nun schien ihr Instrument keine Stricknadel mehr zu sein, sondern ein zweischneidiges Messer, das mir bei jedem Atemzug durch die Brust fuhr. Mit zwölf Jahren, als ich an einer Lungenentzündung darniederlag, hatte ich ähnliches erlebt. Konnte man von einer Quetschung aber Lungenentzündung bekommen? Vorsichtig setzte ich Fuß vor Fuß und bemühte mich, gerade nur so tief einzuatmen, daß ich nicht nach Luft schnappen mußte. Trotz der Schmerzen war mein Denkapparat nicht lahm gelegt. Ich sagte mir, daß man es auf mich abgesehen hatte; der Unfall heute war der zweite Anschlag auf mein Leben. Ach was, Unsinn. Das war schon das Fieber. Aber der Gedanke setzte sich fest. Waren die Backsteinlawine, die drei fehlenden Schrauben wirklich Zufall? Mittlerweile war ich gegenüber Old Vine angelangt. Wuchtig zeich290
neten sich die Konturen gegen den wolkenverhangenen Abendhimmel ab, das Bauwerk drohte mir förmlich. In alten Volksmärchen und Göttersagen, ja sogar in der Bibel gibt es Dinge, die tabu sind: »Öffne nicht diese Tür!« (Blaubart), »lass die Büchse verschlossen!« (Pandora), »Du sollst nicht essen diese Frucht!« (Adam und Eva). Das Tabu Baildons hieß Old Vine. Keuchend lehnte ich mich gegen den Gartenzaun des Hauses gegenüber Old Vine. In Gedanken schmähte ich das verfluchte Haus mit den hässlichsten, gemeinsten Schimpfwörtern meiner Kindheit. »Du Aas, du stinkendes«, schloß ich stumm meine Gassenrede. »Alles ist nur deinetwegen. Du hast mir mein Mädchen genommen, hast mich krank gemacht. Und jetzt glaubst du, ich gebe auf. Du irrst dich, ich kann warten, ich sehe dich noch dem Erdboden gleichgemacht…«
Zwischenspiel Selbstverständlich handelte es sich bei Mr. Ruper keineswegs um eine Lungenentzündung. Ein Autofahrer, der ihn mit wachsbleichem, schmerzverzerrtem Gesicht an einen Gartenzaun in der Klosterstraße gelehnt auffand, half ihm in den Wagen und fuhr ihn zum Krankenhaus. Der Röntgenbefund ergab, was sich Mr. Ruper in weniger aufgeregtem Zustand hätte selber sagen können: daß er sich nämlich zwei Rippen gebrochen hatte. Wie er mit Ärger bemerkte, erregte sein zweiter Unfall nur Gleichgültigkeit, ja sogar Heiterkeit; ein junger Arzt ließ in gewissem Ton den Ausdruck ›Stammkunde‹ fallen. Als Mr. Ruper nach entsprechender Rekonvaleszenz sein Amt wiederaufnahm, überfielen ihn widersprüchliche Gefühle bei der Vorstellung, irgendwann, irgendwo Katie zu begegnen. Einerseits erfüllte ihn Furcht davor, andererseits keimte die Hoffnung in ihm auf, Katie könnte ihr brüskes Benehmen bereuen und ihm dies bei einem zufälligen Treffen zu verstehen geben. Als dann aber das Ereignis eintrat und Katie dabei überdeutlich zeigte, daß er pure Luft für sie war, tru291
gen nicht die kaum verheilten Rippen Schuld an dem Stich in seiner Brust. Vorläufig hielt ihn nur noch der Gedanke an Old Vine davon ab, seinen Posten aufzugeben. Er gierte förmlich danach, den Abbruch des alten Hauses mit eigenen Augen zu erleben. Das Verfahren nahm langsam, aber stetig seinen Lauf. Die Ladeninhaber stellten Antrag auf Entschädigung oder Ersatz, den Mietern wurde versichert, es stünden angemessene Wohnungen für sie bereit. Nachdem Miss Barstew erfahren hatte, daß auch sie ihr Paradies im Hintergarten verlassen mußte, trank sie sich mit einer halben Flasche Gin Mut an und schluckte ein ganzes Röhrchen Digitalistabletten auf einmal. Dr. Cornwell, der die Tabletten gegen ihre Herzbeschwerden verordnet hatte, unterschrieb den Totenschein ohne Bedenken. Unterdessen zerfiel der Magistrat in zwei Parteien, eine für und eine gegen Old Vine, und lieferte sich gegenseitig heftige Debatten. Eine Flut aufgebrachter Briefe, nicht immer logischen Inhalts, ergoss sich über die Baildon Free Press, deren Auflage um dreißig Prozent stieg, solange sich die Vorgänge, die bezeichnenderweise als ›Schlacht um Old Vine‹ hochgespielt wurden, des regen Interesses der ganzen Stadt erfreuten. Mrs. Francise, die einzige Dame unter den Stadträten, sah ihre große Stunde gekommen. Mr. Ruper ahnte gleich zu Beginn jener schicksalsschweren Quartalssitzung, daß Mrs. Francise um das Wort bitten würde, denn sie trug einen Hut. Das bedeutete viel. Im allgemeinen kleidete sich Mrs. Francise unauffällig (Kamelhaarmantel, Tweedkostüme). Wenn es jedoch darauf ankam, zog sie ein Modellkleid aus London an, zu dem sie eine gewagte Hutkreation aufsetzte. Diesmal war es ein komplizierter Turban aus schwarzem Chiffon, den eine riesige, leuchtend rote Rose krönte. An seinem Ecktisch, der für die städtischen Beamten reserviert war, schloß Mr. Ruper daraus, daß Mrs. Francise sich in flammenden Worten gegen die Schließung von Old Vine wenden würde. (Hätte sie die Absicht gehabt, für den Abriss des Gebäudes zu plädieren, so hätte sie sich wohl kaum dermaßen aufgeputzt.) Als sich Mrs. Francise von ihrem Sitz erhob, blieb ihre Stimme fein und zart. Das war besonders wirkungsvoll. Sie sprach ergreifend über 292
die Grundrechte eines jeden Menschen und über die Grausamkeit der Gesetze: »Wie wir alle wissen, werden die Gesetze in London gemacht. Natürlich kann man von großstädtischen Bürokraten nicht erwarten, daß sie die Verhältnisse in einem Kleinstädtchen wie Baildon berücksichtigen. Aber die hiesigen Bürokraten« – hier hielt Mrs. Francise inne und schickte einen Blick zu Mr. Ruper hinüber – »die hiesigen Bürokraten sind nicht zu entschuldigen. Gut, das Gebäude mag nicht in allen Einzelheiten den Londoner Richtlinien entsprechen, aber es ist das Zuhause einiger braver Mitbürger, die es mitsamt seinen Mängeln ebenso lieben wie wir das unsere. Welchen Kummer, ja welche Tragödie es gerade für die Älteren unter ihnen bedeutet, ihr oft jahrzehntelanges Domizil von heut auf morgen verlassen zu müssen, darauf habe ich schon mehrmals in diesem Hause verwiesen. Nun kommt mir die traurige Aufgabe zu, Ihnen mitteilen zu müssen, daß dieses herzlose Vorgehen sein zweites Opfer gefunden hat. Mrs. Woody, die in einem kleinen Winkel von Old Vine ihr beschauliches, arbeitsames Leben verbrachte, wurde von den Aufregungen derart angegriffen, daß sie einen Herzschlag erlitt und gestern abend ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Ihr Zustand ist ernst. Ich darf wohl an den Tod von Miss Barstew erinnern…« Die letzten Worte sagte sie mit erstickter Stimme. Und dann plötzlich, sehr laut: »Hoffentlich sind Sie jetzt zufrieden.« Sie setzte sich. Man hörte verlegenes Getuschel im Saal. Ohne sich zu erheben, sagte der Vorsitzende: »Ich glaube, wir alle sind von Ihren Worten betroffen.« »Mr. Ruper wohl kaum, nachdem er sich so viel Mühe gegeben hat«, erwiderte Mrs. Francise ebenfalls im Sitzen. »Ich muß bitten, Abgeordnete Mrs. Francise!« Jemand sagte vernehmlich: »Bleiben Sie beim Thema! Ihr Vorgehen ist unstatthaft!« Mrs. Francise sprang auf, brach in Tränen aus und stürzte mit dem Ruf: »Herzlose Barbaren!« aus dem Saal. Betretenes Schweigen folgte. Der junge Reporter der Baildon Free Press machte sich wie wild Notizen, ein älterer Kollege, der die Eastern Daily News vertrat, malte ein 293
paar geheimnisvolle Zeichen auf seinen Block, schaute auf die Uhr und schlurfte dann hinaus zum nächsten Telefon. In der Saure-GurkenSaison ließ sich die Schlagzeile ›Szene im Baildoner Magistrat, Abgeordnete verließ weinend den Saal‹ gut verwerten. Möglicherweise litt das Fernsehen ebenfalls an Stoffmangel, denn einige Tage später erschien in der Regionalschau ein Interview mit Mrs. Francise, die dabei ein überwältigendes Gebilde auf dem Kopf balancierte. Übrigens bestritt sie im folgenden energisch, das Amt für Denkmalspflege auf den Fall ›Old Vine‹ aufmerksam gemacht zu haben. Wer das Amt damit aufgescheucht hatte, daß das Gebäude mindestens fünfhundert Jahre alt sei und somit den Kulturschätzen des Landes zugerechnet werden müsse, ließ sich nie ergründen. Jedenfalls wurde Old Vine nach einiger Zeit vom Ministerium für Wohnungsbau und Städtepflege als erhaltungswürdig anerkannt. Die Abrißverfügung wurde aufgehoben, die Schließungsverordnung blieb aber in Kraft. Länger als ein Jahr stand das alte Haus daraufhin leer und verlassen an seinem Platz. Die Baildoner Immobiliengesellschaft weigerte sich, das Geld für die erforderliche Renovierung bereitzustellen, der Magistrat fürchtete sich vor dem weißen Elefanten, und das Ministerium ließ nicht zu, daß das Haus abgerissen wurde. Allem Anschein nach konnte Old Vine stehen bleiben, bis es von selber zusammenfiel. »Wenn wir nicht«, wie der alte Mr. Swallow, behindert durch seine schlechtsitzende Zahnprothese, mummelnd sagte, »wenn wir nicht einen Dummen finden, der die nötigen Piepen reinsteckt. Lassen wir es mal im Sonntagsblatt für einen Tausender anbieten. Vielleicht beißt einer an.« Das Ehepaar Benyon langte an einem Vorfrühlingstag mit dem Bus in Baildon an, da der alte Wagen wieder einmal streikte. Frances hatte gehofft, ihr Bruder Peter, bei dem die Familie zur Zeit logierte, würde ihnen seine Limousine oder doch zumindest den Landrover überlassen. Aber Peter, der seinen Schwager Larry kannte, wußte, daß dieser darauf bestehen würde, zu fahren. Und Frances war keinen Vernunftgründen zugänglich, wenn es sich um ihren Mann handelte. So 294
kümmerten Peter die Anspielungen nicht, schließlich gab es eine ausgezeichnete Busverbindung nach Baildon. Als Frances sich daraufhin erbot, allein zu fahren, widersprach Larry: »Wenn du mich schon in einen alten Schuppen sperrst, will ich ihn mir wenigstens vorher ansehen. Deinen Geschmack kenne ich zur Genüge.« In diesem Ton sprach er neuerdings mit seiner Frau, sogar vor Peter und den Kindern. Paul, der demnächst sieben wurde und genau hinhörte, hatte entrüstet gefragt: »Was hast du angestellt, Mam, daß Daddy so böse auf dich ist?« Mitgefühl und Aufsässigkeit mischten sich in der Frage, was in Frances neues Unbehagen heraufbeschwor. Wie lange noch, bis die Kinder merkten, daß es in ihrer Ehe nicht stimmte? Aber jetzt ist er ja geheilt, tröstete sich Frances, seine Verdrossenheit soll ja gerade ein Zeichen der Genesung sein. Der Bus hielt auf einem großen Platz, den hübsche Bürgerhäuser aus der Zeit König Georgs säumten. Unter ihnen das Rathaus, ein Hotel, daneben eine riesige Plakatwand mit Aufforderungen wie ›Trinken Sie täglich Milch‹, ›Kinderlähmung trifft auch Erwachsene‹ und dergleichen mehr. Gegenüber befand sich das Tor der ehemaligen Abtei, die eines der schönsten Denkmäler aus der früheren Geschichte Englands war. Frances und Larry, die aus dem Bus stiegen, ahnten nicht, daß vor fünfhundert Jahren der Erbauer des Hauses, das zu besichtigen sie sich anschickten, den Großteil seines Vermögens darauf verwandt hatte, das Tor vor dem Abriss zu bewahren. Larry tat, als sei der Ausflug eine Marotte seiner Frau, auf die er sich nur aus Großmut auch mit eingelassen hatte. »Wohin jetzt?« Wohin es ihn zog, darüber gab es keinen Zweifel: Geradewegs in die Hotelbar. Einen Augenblick lang überwältigte ihn unwiderstehliche Begierde nach dem Alkohol. Nichts auf der Welt existierte momentan für ihn als die Sehnsucht nach einem Glas Whisky. Seit sechseinhalb Monaten hatte er nichts getrunken. Die Ärzte des Sanatoriums hatten gesagt, jeder Tag, den er ›trocken‹ bleibe, verringere die Gefahr eines Rückfalls. Zu guter Letzt hatten sie ihn als geheilt entlassen. Nichts wußten die Dummköpfe, gar nichts! Wie konnten sie auch? Fast immer hatten sie es mit bedauernswerten Burschen zu tun, die selber vom 295
Alkohol loskommen wollten, entweder weil sie von Magengeschwüren oder Gefäßverengungen geplagt wurden oder aber weil die Frau mit Scheidung, der Arbeitgeber mit Entlassung oder die Verwandten mit Enterbung drohten. Die armen Schweine betraten die Stätte ihrer Qual mit tausend guten Vorsätzen und der Hoffnung, gesund zu werden, und verließen sie tatsächlich zumeist geheilt. Nicht so er, Larry Benyon. Er hatte sich nur durch die Mühle drehen lassen, weil ihm nichts anderes mehr übrig geblieben war. Er hatte kein Geld, keine Stellung, das Häuschen, in dem er wohnte, quoll über von den Gören, die Frances in Kost genommen hatte. Und dann war da noch die Möglichkeit – und weit mehr als nur eine bloße Möglichkeit –, daß er sich wegen gewisser Machenschaften vor Gericht zu verantworten gehabt hätte, wenn er nicht die Flucht in die Heilanstalt vorgezogen hätte. (Gerade, als Frances ihre alte Tante beerbt hatte.) Sechseinhalb Monate langsam schleichender Qual. Das würdigte keiner. Es ist ja nur zu deinem Besten, mein Lieber. Reißen Sie sich zusammen, Sie sind doch ein Mann! – Heute würde er entkommen, es mußte gelingen, einerlei, was hinterher geschah. Frances, die den Busfahrer gefragt hatte, störte ihn in seinen Gedanken. »Wir müssen in diese Richtung. Es ist nicht weit.« »Also dann auf«, sagte Larry. »Der Wind bläst mich schier um.« Weil er so dünn ist, dachte Frances. Manchmal fragte sie sich, ob er wirklich so gesund war, wie die Ärzte behaupteten. Sogar im ersten, glücklichen Jahr ihrer Ehe, als Larry kaum trank und sie ihn mit ihren Kochkünsten verwöhnte, hatte er kein Pfund zugenommen. Und als er dann in dieser grässlichen Zeit Gott weiß wieviel Whisky täglich in sich hineingeschüttet hatte, blieb er erst recht nur Haut und Knochen. Überdies bekam er nie Katzenjammer. Legte man ihn abends besinnungslos ins Bett, so langte er anderntags beim Frühstück schon wieder kräftig zu. Höchstens, daß er leichte Kopfschmerzen hatte. »Ein hübscher Ort, findest du nicht?« fragte Frances. »Gewiß, wenn man Dickens mag. Ich kann ihn nicht ausstehen.« Frances schwieg. Nicht die Beleidigte spielen. Was habe ich ihm denn getan, daß er so gehässig gegen mich ist? Peter sagt, ich sei ver296
rückt. Er weiß eben nicht, was Larry mir bedeutet. Ich war jung damals, mein Kopf war voller Träume, die alle hoffnungslos schienen. Ich verbrachte meine Tage in Haus und Garten, im Jugendclub und mit Erste-Hilfe-Kursen, als Peter seinen Freund Larry auf ein Wochenende zu uns brachte. Als ob mich der Blitz getroffen hätte! Er war der Ritter in schimmernder Rüstung, der mich aus der Drachenhöhle befreite. Für dieses Glück und die beiden Kinder bin ich ihm zutiefst dankbar. Und für das eine, das einzige erste Jahr voller Seligkeit. Die schlechte Laune würde vergehen. Die Firma Tom Elliot hat versprochen, ihn wiederaufzunehmen. Larry würde nicht gern gehen, aber er würde gehen. Wir werden ein Haus finden, vielleicht dieses, vielleicht ein anderes in der näheren Umgebung. Gott sei gedankt für das Erbteil von Tante Madge. Frances kam sich immer schrecklich berechnend vor, wenn sie erleichtert an das Geld dachte. Oft noch wachte sie nachts mit Herzklopfen und dem beklemmenden Gedanken auf, wie sie die Miete bezahlen sollte. Und dann fielen ihr die viertausendfünfhundert Pfund ein, die sicher in der Obhut einer Bank lagen und ihr gehörten. Wie herrlich war es dann, sich umzudrehen und unbekümmert bis zum Morgen weiterzuschlafen. Die Benyons kamen auf ihrem Weg an einer Kirche mit einem alten Friedhof vorbei. Die alten, schiefen Grabsteine der eingesunkenen Gräber kündeten von den Reeds und Rancons, den Kentwoodes, Hattons und Walkers, die in vergangenen Jahrhunderten von ihrem Haus, Old Vine, zum Marktplatz gegangen waren. »Schau, wie dick die Knospen schon sind, Larry. Der Frühling ist nah.« »Mir ist kalt genug. Wie weit ist es denn noch?« »Der Fahrer sagte, wir könnten durch einen alten Torweg abkürzen. Hier ist er schon.« Und sie durchschritten den Torbogen, in dessen tiefstem Schatten sich ein junger Mörder nach der Tat umgekleidet hatte. »Das hier ist die Klosterstraße«, sagte Frances freudig. Zwischen neueren Gebäuden mit Dutzenden von Klingelknöpfen neben der Tür standen noch einige ältere Häuser. 297
»Platz genug haben sie hier in Baildon«, bemerkte Larry. »Das muß man ihnen lassen. Was erwartest du eigentlich für deine… Wie viele waren es doch?« »Tausend oder darunter, nach Vereinbarung. Ich werde ihnen achthundert bieten.« Wie sie nur so sprechen konnte? Was war mit ihr geschehen? Er hatte ein zärtliches, süßes Kind geheiratet, das sich über jede Kleinigkeit gefreut hatte und auch in Jubel ausgebrochen war, wenn er nichts mitgebracht hatte. Wie ein vom Spielen müdes Kätzchen hatte sie sich seiner wärmenden Umarmung anvertraut. Als er sie das erste Mal zum Essen ausgeführt hatte, hatte sie scheu die Speisekarte gelesen und sich das billigste Gericht ausgesucht. Als er ihr vorgeschlagen hatte, doch den Hummer zu nehmen, hatte Frances ihn entgeistert angestarrt. Am liebsten hätte er sie dafür auf der Stelle, vor allen Leuten in die Arme genommen und geküßt. Und nun dieser knappe Geschäftston. Er hasste sie. Da lief sie neben ihm her als seine Gefängniswärterin, die ihn in eine neue Zelle brachte. Nein, die Erbschaft allein war nicht schuld an dieser Verwandlung. Begonnen hatte es schon, als sie mit Paul schwanger gegangen war. Er hatte das Kind nicht gewollt, sie hatte es ihm abgetrotzt. Und mit der Geburt waren die frohen, sorglosen Tage für immer dahin. Frances begann zu sparen, wurde häuslich und fürsorglich. Sein verspieltes Kätzchen verwandelte sich über Nacht in ein fauchendes Muttertier. Frances beschleunigte ihre Schritte, als ein großes, allein stehendes Haus mit Vorgarten in Sicht kam. »Das muß es sein, der Fahrer sagte, auf halbem Weg zwischen dem Torweg und dem Bahnhof.« Eine Reihe blinder Ladenfenster starrte sie an. An einigen klebte noch das Spruchband: Ausverkauf wegen Aufgabe des Geschäftes, alles halbe Preise. »Sicher muß es das sein«, wiederholte Larry zynisch. »Ein anderes Haus steht hier nicht zu verkaufen.« »Der Mann am Telefon sagte, er wolle uns hier mittags um zwölf erwarten.« Sie kramte in ihrer Handtasche und zog ein zerknittertes 298
Zeitungsblatt heraus mit der Annonce: »Haus aus der frühen Tudorepoche, historisches Gebäude, in freundlichem Marktstädtchen zu verkaufen. Renovierung erforderlich. Kaufpreis 1.000,– oder nach Vereinbarung.« Erschüttert sah sie auf. »Das kann doch nicht ihr Ernst sein.« Während sie noch sprach, hielt ein kleiner Wagen vor ihnen, aus dem sich ein langer Mensch herauswand. Als er sie sah, setzte er ein geschäftsmäßiges Lächeln auf. »Mr. und Mrs. Benyon? Mein Name ist Simpkin. Hoffentlich habe ich Sie nicht warten lassen?« Statt einer Antwort erklangen zwölf dumpfe Glockenschläge von der Marienkirche. Larry trat zurück mit einer Miene, die zum Ausdruck brachte, daß ihn das Ganze nichts anginge. Frances sagte eisig: »Sie haben uns nicht warten lassen, aber Sie verschwenden Ihre Zeit. Wir wollen ein Haus kaufen und keine alten Läden.« »Die Läden«, sagte der Makler eilig, »sind nur Zutaten, Nebensache. Sie müssen das Haus von innen sehen. Eine prächtige Täfelung, große Kamine und eine wunderschöne Treppe. Das Treppengeländer allein ist den Preis wert. Wenn der Eigentümer es abreißen dürfte«, beantwortete er rasch ihre stumme Frage. »Ja, das ist der Haken dabei. Für das Haus könnte man gut und gern dreitausend, für das Grundstück dahinter noch einmal soviel verlangen. Leider steht das Haus unter Denkmalschutz und darf nur renoviert, aber nicht verändert oder umgebaut werden. Ein nationaler Schatz, sozusagen. Die Läden dürfen natürlich wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden. Wollen wir es uns nicht von innen ansehen?« »Wenn du nichts Besseres zu tun hast, als die alte Scheune anzusehen, bist du verrückt, mein Liebling«, sagte Larry scharf. Wie er seine Frau kannte, würde sie nun aus Trotz erst recht darauf bestehen. »Was, du gehst hinein? Na, meinetwegen, aber ohne mich. Ich warte hier so lange in der Sonne.« Seine List war geglückt. 299
Siebenter Teil Frances Benyons Geschichte (um 1957)
W
er wie ich eine religiöse Erziehung genossen hat und schon als kleines Kind zur Gewissenserforschung angehalten wurde, neigt auch später dazu, sich bei jedem Schicksalsschlag Vorwürfe zu machen und sich zu fragen: Wo liegt meine Schuld? Was hätte ich anders machen müssen? Wie oft habe ich mir diese Frage gestellt, ohne Antwort darauf zu finden. Nur für jenen Donnerstag im vergangenen März weiß ich ganz sicher: Hätte ich damals Larry zugestimmt, als er sich weigerte, Old Vine zu betreten, und hätte ich das Haus als unzumutbar abgelehnt, wäre alles anders gekommen. Ob besser oder schlechter, wer mag das im nachhinein beurteilen? Aber sicherlich völlig anders! Dabei hatte ich im ersten Moment ausnahmsweise einmal Larrys Ansicht geteilt. Ich war zurückgetreten, um mich von Mr. Simpkin abzuwenden, als ich aufgeblickt und über den schäbigen Läden im Erdgeschoß die alten roten Ziegelmauern und mitten darin die altehrwürdige Schönheit eines Erkerfensters gesehen hatte. Gefangen sagte ich: »Wenn wir schon da sind, schaue ich mir's mal an. Willst du nicht mitkommen, Larry? Vorhin hast du über den kalten Wind geklagt.« Larry erwiderte, vor dem Wind sei ihm weniger bange als vor der Grabeskälte, die in solchen, seit langem unbeheizten Häusern zu herrschen pflege. Der Makler öffnete eine Tür in der Mitte des Gebäudes. Mit einer weit ausholenden Handbewegung lud er mich zum Betreten des Hauses ein. Die Leute im allgemeinen und Larry mit seinen Kumpanen im besonderen halten mich für ein langweiliges, nüchternes Frauenzimmer, das sich nur von der Vernunft leiten läßt. Wenn ein Kind ins Wasser oder von der Schaukel gefallen ist, kommen die Nachbarn zu mir 301
gerannt. Niemand ahnt, daß mir vom Anblick einer heftig blutenden Wunde im Innersten schlecht wird und daß meine Ruhe in derartigen Fällen nichts weiter als Fassade ist. Ich glaube auch nicht, daß mir je ein Mensch Phantasie oder Einbildungsvermögen zugetraut hätte. Es mag deshalb sonderbar klingen, wenn ich sage, daß in dem Augenblick, in dem ich über die Schwelle von Old Vine trat, etwas mit mir geschah. Mein erster Impuls war, jetzt am liebsten allein zu sein und in mich hineinzuhorchen. Aber Mr. Simpkin als gewiefter Makler legte natürlich los mit einem Redeschwall, der mich auf die versteckten Schönheiten aufmerksam machte, die offenkundigen Mängel aber überging. Er redete und redete, während ich unterdessen zu ergründen versuchte, welche Gefühle von Sehnsucht und Erregung, von Vertrautheit und Verlangen mich da plötzlich erfüllten. Das Haus, ein Sammelsurium verschiedenster Wohn- und Arbeitsräume, befand sich in einem Zustand schlimmster Verwahrlosung. Aber es enthielt Dinge von großer Schönheit, die einem ans Herz rührten, wie z.B. ein römischer Mosaikboden unter Schutt und Gerümpel. Mit ihnen wollte ich mich auseinandersetzen, aber Mr. Simpkin ließ mir keine Zeit und führte mich treppauf, treppab, unter ständigem Geschwätz. Feuchte Stellen an den Wänden? Aber bitte schön, nichts als ein paar gesprungene Dachziegel. Solche alten Häuser seien weit solider gebaut, als selbst Fachleute für möglich hielten. Er für sein Teil gäbe lieber tausend Pfund für dieses Haus da als dreitausend für eines der neueren Objekte, die er mir ebenfalls offerieren könne. Ich stellte mir das Haus ohne die Wände, Türen und Holztreppen vor, die man nachträglich an den geräumigen Zimmern ›verbrochen‹ hatte, so daß hier ein Engel an der Decke, dort eine Wandgirlande zerschnitten worden war. »Soweit ich feststellen kann«, sagte ich schließlich sinnend, »gab es einst im Erdgeschoß eine große Halle mit jener Treppe da, drei oder vier Zimmer zur Straße, dahinter die Küche und die Wirtschaftsräume. Oben muß es sechs bis sieben Schlafzimmer gegeben haben. Stimmt das?« 302
Mr. Simpkin pflichtete mir eifrig bei, obwohl ich ihm ansah, daß er bisher keinen Gedanken an das ehemalige Aussehen des Hauses verschwendet hatte. »Jawohl, Mrs. Benyon, ein schönes Haus für eine große Familie.« Eigentlich viel zu groß für Larry, mich und die beiden Kinder. Mein Gott, Larry! Mein Begleiter mühte sich gerade ab, den Schlüssel für eine Tür zum Garten zu finden. »Bitte, warten Sie einen Augenblick«, bat ich ihn. »Vielleicht kommt mein Mann in den Garten mit.« Durch die Halle lief ich auf die Straße hinaus. Von Larry keine Spur. Wer lange Zeit hindurch mit einer ständigen Angst leben muß, fühlt sich immer und überall bedroht. Ich zwang mich, den Gedanken zu unterdrücken: »Jetzt ist er mir entwischt und läßt sich in irgendeiner Kneipe vol�laufen.« Ich schalt mich selber mißtrauisch und ungerecht, als ich wieder ins Haus zurückeilte. Larry war geheilt. Seit vierzehn Tagen war er aus der Anstalt entlassen und hatte bisher keinen Tropfen angerührt. Eine heimtückische Stimme in mir flüsterte: »Aber Peters Farm liegt vier Meilen vom nächsten Gasthof entfernt, außerdem war immer einer von uns in Larrys Nähe.« Unruhe stieg in mir auf. Ich hatte kein Auge für den Garten, solange ich nicht wußte, was mit Larry war, deshalb teilte ich Mr. Simpkin mit, ich würde später mit meinem Mann Haus und Garten nochmals gründlich besichtigen. Er gab mir die Schlüssel mit der Bitte, sie nachmittags im Büro abzugeben. »Die Adresse haben Sie?« »Ich habe Ihre Anzeige und den Brief. Ach ja, es heißt doch, tausend Pfund oder nach Vereinbarung. Achthundert Pfund könnte ich bieten. Meinen Sie, die Gesellschaft geht darauf ein?« »Vielleicht. Ich kann das schwer beurteilen. Leerstehende Häuser sind eine schlechte Reklame für eine Firma.« 303
Und dann fragte ich so unverfänglich, wie es mir nur über die Lippen ging: »Ist hier in der Nähe ein Lokal, wo man einen Schluck trinken kann?« »Das nächste ist das Bahnhofshotel. Außer dem Speisesaal gibt es eine Schankstube. Nach links immer weiter die Straße lang.« Mr. Simpkins verabschiedete sich hastig, vermutlich drängte ihn der nächste Termin. Ich eilte in die andere Richtung zum Bahnhofshotel. Unterwegs rief ich mir ein Gespräch ins Gedächtnis zurück, das ich mit dem Psychiater von Compter Hall geführt hatte und von dem Larry nichts wußte. Wie fast alle Psychiater suchte er den Grund für die Erkrankung in der Umgebung des Patienten. In Larrys Fall schien er es auf mich abgesehen zu haben. Seiner Ansicht nach war ich der dominierende Partner in unserer Ehe, was in Larry Minderwertigkeitsgefühle hervorrufen mußte. Larry trank nur deshalb, um diese zu kompensieren und sich selbst zu bestätigen. Es war, als ob er einer Frau, der man dreißig Shillinge gestohlen hatte, den Vorwurf machte, daß sie das Geld in der Handtasche bei sich getragen hatte. Aber das tat nun nichts zur Sache, wichtig war einzig der Rat, den mir der Psychiater zuletzt gegeben hatte: Es Larry nie merken zu lassen, daß ich ihn verdächtige, er könne jemals wieder anfangen zu trinken. Keine Vorhaltungen oder Anspielungen auf die Vergangenheit, unerschütterliches Vertrauen in die Standfestigkeit des Patienten. Ich nahm mir vor, das Hotel mit strahlender Miene zu betreten. Noch bevor ich die Tür zur Schankstube erreichte, hörte ich Larry lachen. Andere Männerstimmen fielen in das Gelächter ein. Es war immer dasselbe, in jeder Bar, auf jeder Party scharte sich ein lustiger Kreis von Bewunderern um Larry. Der Psychiater hatte das damit begründet, daß Larry ein starkes Bedürfnis nach Geselligkeit und Anerkennung empfand, das er nur zu befriedigen vermochte, wenn der Alkohol seine Hemmungen abgebaut hatte. Aber der Psychiater irrte sich. Larry war keineswegs ein Menschenfreund. Er genoß es zwar, im Mittelpunkt einer feuchtfröhlichen Runde zu stehen, in der die Leute sich um ihn drängten, seine Einfälle bewunderten und über seine Witze lachten, doch hinterher bedachte er jeden einzelnen mit schnei304
dendster Kritik. Anfangs war ich dumm genug gewesen, die Hecheleien als versteckte Komplimente für mich zu empfinden. Larry ist so kritisch, dachte ich, und doch liebt er mich, ich muß folglich ein ganz besonderes Wesen sein! Drei Männer lachten mit Larry an der Theke. Als er mich erblickte, winkte er mich fröhlich zu sich und sagte heiter und zuvorkommend: »Hier ist ja endlich meine Frau«, als ob er mich sehnsüchtig erwartet hätte. Er sah nicht im mindesten betreten oder beschämt drein, aber das tat er nie. In all den krisenreichen Jahren mit aufgegebenen und gekündigten Stellungen und noch weit Schlimmerem hatte er niemals ein Wort des Bedauerns oder der Abbitte gefunden. Als er in der Heilanstalt gewesen war, hatte ich mir eine eigene Theorie für dieses Phänomen gebildet. In gewissen Kliniklabors gibt es in Alkohol eingelegte Präparate, die einstmals lebende menschliche Organe gewesen waren. Indem man sie mit Alkohol durchtränkt, bringt man alle Prozesse, auch den des Verwesens, zum Stillstand. Sie hören auf, sich zu verändern und verlieren damit ihren menschlichen Charakter. Eine ähnliche Wirkung hatte der Alkohol auf Larrys Gemüt. Scham und Reue, Liebe und Sorge hatte der Whisky in ihm abgetötet. Er liebte nicht einmal seine Kinder, die ihn ihrerseits abgöttisch verehrten. Als Larry nach Compter Hall ging, war Paul gerade sechs geworden und weinte sich halb krank darüber, daß sein lieber Daddy ins Krankenhaus mußte. Eines Abends wandte er sich ab, als ich ihn vor dem Schlafengehen küssen wollte. Auf meine Frage brach es aus ihm heraus: »Du hast Daddy ins Spital gesteckt. Jan und Morris sagen, du bist schuld, daß er fort ist.« »Hör mal, Paul, du weißt doch, daß Daddy krank ist. Im Krankenhaus wird er wieder gesund.« »Mich hast du ja auch gepflegt, als ich Mumps hatte.« Es dauerte Tage, bis der lauernde Verdacht aus seinem Blick verschwand. »Was möchtest du trinken, Liebste?« fragte mich Larry. Meine spontane Antwort hätte gelautet: Strychnin. In dem Augenblick war ich zutiefst verzweifelt. Sechs Monate in Compter Hall, der berühmten und teuren Entziehungsanstalt (mein Gott, lass mich jetzt 305
bloß nicht dauernd an die siebenhundert Pfund denken!) und nach zwei Wochen alles wieder umsonst. »Tomatensaft, bitte«, sagte ich in einem Ton, als könnte ich mir kein erquickenderes Getränk vorstellen. Nur keine Zurechtweisung! »Eine vernünftige Wahl«, sagte Larry. »Einer von uns muß ja wohl nüchtern bleiben in dieser Stadt der reißenden Wölfe.« Er wandte sich an den Mixer: »Ein Glas Tomatensaft und nochmals dieselbe Runde.« Er stützte sich mit dem Ellbogen auf die Theke, als er mir berichtete: »Ich habe gerade die Geschichte von deinem Old Vine erfahren.« Der eine Mann, er hatte einen roten Setter neben sich an der Leine und sah auch sonst wie ein Farmer aus, ergänzte: »Tja, Madam, da ist schon viel passiert. Eigentlich schade, daß es so verschleudert wird. Aber was sollen sie machen? Das eine Ministerium erlaubt nicht, daß Leute drin wohnen, und das andere verbietet, daß es abgerissen wird. Vermutlich haben Sie einen schönen Saustall drin angetroffen, Mrs. Benyon.« Das war echt Larrys Art. Sich zwischen die Leute hinzustellen und zu sagen: ›Ich heiße Benyon, Larry Benyon.‹ Keine Frage, wie die anderen hießen. Was zählte schon deren Name? »Draußen sieht es schlimmer aus als innen«, wehrte ich gereizt ab. Warum nur? »Deswegen habe ich dich gesucht, Larry. Du solltest dir das Haus ansehen, ich glaube, es ließe sich was draus machen.« »Daran erkenne ich meine Frau«, lächelte Larry spöttisch. »Einmal durfte sie sich einen Welpen aus einem Wurf Dachshunde heraussuchen. Drei davon waren Prachtkerlchen, die reinsten Ausstellungsexemplare. Und was tat meine liebe Gattin? Sie nahm das vierte, dessen Beine irgendwie verkehrt herum standen.« Jawohl, und nie hatte ich einen besseren, intelligenteren Hund besessen. Er könnte heute noch leben, wenn wir nicht in das Reihenhaus an der Überlandstraße gezogen wären. Er wurde nach kurzer Zeit überfahren und ruht nun mit seinen einwärts gebogenen Beinchen und seinem treuen Herzen unter einem Rosmarinstrauch. Du meine Güte, ich werde doch jetzt nicht über einen Hund in Tränen ausbrechen, der seit anderthalb Jahren tot ist! 306
»Kann ich verstehen«, sagte der Farmer und nahm einen Schluck. »Bei einem Hund kommt es nicht auf das Aussehen an.« Er war der einzige, der Bier trank. Nach einer Weile leerte er sein Glas, wischte sich den Mund ab und verabschiedete sich. Larry hob erneut sein Glas. »Nein, Junge, diesmal ist es meine Sache«, wehrte der eine Whiskytrinker ab. Männer dieser Art gibt es an jeder Theke in England, sie warten förmlich darauf, daß einer wie Larry hereingeschneit kommt. »Larry«, bat ich leise. »Könnten wir jetzt etwas essen und dann zu…« Er unterbrach mich, indem er mir einen schmuddeligen Zettel unter die Nase hielt. »Hier, mein Herz, die Speisekarte. Darauf findest du alles, was gut und teuer ist. Braune Windsorsuppe mit Knochenleim eingedickt, Fische in Schmieröl, gekochtes Hammelfleisch mit Kapern von der Sorte, wie sie der Hammel zu Lebzeiten hinter sich herstreut…« Meinen Appetit konnten mir nicht einmal Larrys mäkelnde Bemerkungen verderben. Ein rascher Blick auf den Mann hinter der Theke zeigte mir, daß er nicht zugehört hatte. Ich versuchte ebenfalls zu scherzen: »Ich glaube nicht, daß ich besagtem Hammel allein gegenübertreten kann. Bitte, Larry, steh mir bei.« Er warf mir einen so gehässigen Blick zu, daß ich einen Augenblick Angst hatte, er würde mich hier, vor allen Leuten, anfahren und mir eine Szene machen. »So stark bin ich nun auch wieder nicht«, erwiderte er aber nur. »Setz dich hin und iß, was dir schmeckt. Ich halte es mit meinen Freunden, die mehr für flüssige Nahrung sind, nicht wahr?« »Sie haben recht«, sagte der eine Mann. »Und wenn ich Ihnen raten darf, lassen Sie die Finger von Old Vine. Das ist ein weißer Elefant. Wissen Sie, was ein weißer Elefant ist?« Obwohl Larry nickte, fuhr er fort: »Wenn irgendein siamesischer König einen Untertanen nicht leiden konnte, schickte er ihm einen weißen Elefanten. Von dem hatte der dann mehr Ärger als Nutzen, warum, weiß ich auch nicht. Interessant, was? Old Vine ist für das Geld geschenkt. Aber es frisst sie auf, wenn Sie nicht grade Rothschild heißen.« Ein Blick auf unsere Kleidung mußte ihn vom Gegenteil überzeugen. 307
Mein Kamelhaarmantel leistete mir seit sieben Wintern treue Dienste. Larrys Anzug war weniger betagt, aber von minderer Qualität. Vor zwei Jahren war Larry von einer Londoner Zechtour mit nichts als einem Hemd und zerrissenen Hosen auf dem Leib nach Hause gekommen, so daß er neu hatte eingekleidet werden müssen. Als Larrys Kumpan auf unsere finanzielle Lage anspielte, wurden mir die Knie weich. Mich schwindelte. Ich steuerte einen Ecktisch an und setzte mich. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher, dessen Anblick mich ein wenig aufmunterte. Denn auch ich habe meine Schwäche, die mich Larry gegenüber gleichzeitig toleranter und unerbittlicher stimmt. Vermutlich kommt meinem Rauchen ebenfalls eine psychologische Bedeutung bei. Mein Vater war strikt dagegen, daß eine Frau rauchte. Peter war anderer Meinung, und so rauchte ich heimlich an den Wochenenden, wenn er nach Hause kam. Allmählich wurde das Rauchen ein fester Bestandteil jener heiteren Tage, an denen mein Bruder daheim war und es statt des gekochten Rindfleisches Braten gab. Im ersten Jahr meiner Ehe, als es uns im Vergleich zu später glänzend ging, konnte ich mir ohne weiteres erlauben, meinem Laster zu frönen. Als Larry aber seine dritte Stelle verloren hatte, mußte ich es aufgeben. Damals hatte ich sieben auswärtige Schulbuben in Kost und Logis genommen. Ich erlaubte mir nur dann eine Schachtel Zigaretten, wenn ich das Geld für die Wäscherei wieder einsparte und die Bettwäsche selber wusch. Seit ich mir nach Tantes Tod wieder manches erlauben konnte, beschränkte ich meinen Konsum auf drei, höchstens fünf Stück pro Tag. Ich wollte nicht wieder süchtig werden. Oft dachte ich, wenn ich gegen mein Rauchen stark sein konnte, warum nicht auch Larry gegen seinen Whisky? Aber das war ungerecht, Larrys Trunksucht war eine Krankheit. Ich zündete eine Zigarette an und tat ein paar tiefe Züge. Wäre es richtig gewesen, einen Auftritt zu riskieren, um Larry von der Theke wegzulotsen? Das Teuflische an unserer Beziehung war: Was immer ich auch tat, war verkehrt oder zwecklos. Es gab Zeiten, in denen ich weinte und flehte, schmeichelte oder drohte und ihn fragte: »Sag endlich, warum trinkst du? Warum nur? Es muß doch irgendeinen Grund dafür geben.« 308
Larry hielt es nicht der Mühe wert, sich dazu zu äußern. Meist gab er keine Antwort, er saß still da oder ging mokant lächelnd im Zimmer auf und ab und ließ meine Vorwürfe von sich abprallen. Wenn es ihm zu lange dauerte, sagte er wohl: »Hör endlich auf!« oder »Halt den Mund!« Damals, als ich über die Erbschaft verfügen konnte und ihm zuredete, er solle nach Compter Hall gehen und sich einer Kur unterziehen, antwortete er nur: »Schon gut. Es macht mir nichts aus, ein Weilchen unter anderen Flaschenbrüdern zu sein.« Als sei seine Trunksucht nichts als eine lästige Unart, etwa wie Nägelbeißen, aus der nur wir anderen eine Staatsaffäre machten. In den acht Jahren unserer Ehe wechselte er sechsmal die Stellung, eine immer schlechter bezahlt als die vorige, bis er zum Schluß arbeitslos dastand. Zweimal hatte er sich Sachen zuschulden kommen lassen, für die er ins Gefängnis hätte kommen können. Nur mit knapper Not entging er einer Anzeige. In einem seiner zugänglichen Augenblicke bemerkte er einmal: »Nur gut, daß ich kein Anwalt oder Arzt bin. Ich hätte längst Berufsverbot bekommen.« Als Ingenieur mußte er diese Sorge nicht haben. Wenn jedoch eine renommierte Firma einem Mann wie Larry nach wenigen Monaten schon wieder kündigt, wissen die Personalchefs der anderen Betriebe automatisch, was sie von ihm zu halten haben.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Larry eine weitere Runde Whisky auffahren ließ. Woher hatte er das Geld? Hatte er so viel Einkommensteuer zurückerhalten? Steuern sind für mich eine undurchsichtige Angelegenheit. Da Larry in der Zeit, die er in Compter Hall verbracht hatte, nichts verdient hatte, erhielt er irgendwelche Steuern zurückerstattet, die nur er persönlich abheben konnte. Wieviel hatte er bekommen? Wie oft konnte er sich mit seinen Zechkumpanen damit sinnlos betrinken? Ich durfte nicht so von ihm denken. Ich mußte ihm vertrauen, durfte nicht an ihm zweifeln. Aber wie konnte man das? Ich drückte die zweite Zigarette aus und stand entschlossen auf. Ich 309
konnte hier nicht herumsitzen und darauf warten, bis Larry mit jedem Glas störrischer und uneinsichtiger wurde. Wie schon so oft, mußte ich ihn freundlich lächelnd am Arm nehmen und ihn mit Scherzworten hinausbugsieren. (Einmal, in einer Kneipe in Chelsea, begann ein ausgehungerter, junger Mann auf einer Gitarre zu improvisieren ›Mamma, komm und bring mich nach Hause‹. Später hörte ich das Lied mehrmals im Radio.) Diesmal blieb mir Schlimmeres erspart. Die beiden Whiskytrinker verabschiedeten sich und verließen schwankend das Lokal. Larry sah ihnen nach. Ich ging auf ihn zu: »Möchtest du wirklich nichts essen?« Nach irgendeiner Theorie war Alkoholismus auf Proteinmangel zurückzuführen. »Nein! Ich habe gesagt, bestell dir was, aber lass mich gefälligst in Ruhe!« »Allein schmeckt mir das Essen nicht. Dann komm wenigstens mit und schau dir das Haus an.« »Wenn es sich gar nicht vermeiden läßt.« Trotz seiner unwirschen Stimme machte er Anstalten aufzubrechen und kam tatsächlich mit mir heraus. Die kurze Strecke bis Old Vine legten wir schweigend zurück. Als wir auf dem Gehsteig warteten, bis uns der Verkehr die Straße zum Überqueren freigab, begann Larry wieder zu nörgeln: »Schau dir das bloß an. Das ist ja nur wieder eine deiner verrückten Ideen. Wenn du dir was in den Kopf setzt, meinst du, jeder muß nach deiner Pfeife tanzen. Ich nicht, meine Liebe, da täuschst du dich. Ich gehe nicht hinein.« »Bitte, Larry. Tu mir den Gefallen! Drinnen sieht es wirklich besser aus. Manches ist regelrecht faszinierend.« Ein leichtes Triumphgefühl beschlich mich, als er mir folgte. Bis er, schon in der Halle, in einem jener unvorhersehbaren Stimmungsumschwünge, die den fortgeschrittenen Zustand seiner Trunkenheit anzeigten, das Haus in hohen Tönen zu preisen begann: »In der Tat, faszinierend. Welch ein Gedanke, eine Wand mit sie310
ben verschiedenen Farben anzustreichen. Und hier, die museale Tür mit abblätternder Farbschicht. Die Wasserflecke dort oben sind frühes zwanzigstes Jahrhundert, als Kunstwerk würden sie in jeder Galerie Aufsehen erregen.« Und so fort. Nur wer tagtäglich mit einem Menschen wie Larry zusammenlebt, weiß, wie nervtötend ein solches Betragen sein kann. Am liebsten hätte ich laut aufgeschrien. Vergeblich wies ich Larry auf die guten Eigenschaften des Hauses hin, er spießte die abstoßenden Dinge auf, nannte sie wundervoll, bezaubernd und was weiß ich noch alles. Als wir an die hässliche, aber stabile Eisentreppe gelangten, die vom Hof zum oberen Stockwerk führte, brach Larry erneut in geheucheltes Entzücken aus: »Wie einmalig! Alle Besucher werden uns um dieses originelle Einrichtungsstück beneiden, findest du nicht, Frances?« »Es hat keinen Sinn, wenn du so weitermachst.« Sofort änderte sich Larrys Benehmen. Er wirkte fast nüchtern, als er sagte: »Ich bin froh, daß du es endlich einsiehst. Es hat einfach keinen Sinn. Mir war das schon in dem Augenblick klar, als du mit dem Inserat ankamst.« Ich verspürte den Wunsch, mich zu setzen. Die Stufen der Eisentreppe waren voller Schmutz und Abfall. Da erinnerte ich mich, daß ich aus einem der oberen Fenster eine steinerne Gartenbank weit hinten im Garten gesehen hatte. Ich öffnete auf gut Glück eine Pforte und gelangte tatsächlich in einen lang gestreckten Garten, in dem ich quer über die verkrauteten Beete lief, ohne mich nach Larry umzusehen. Mein einziger Gedanke war, die Bank zu erreichen, bevor die vor meinen Augen tanzenden Flecke zusammenflossen und meine Knie nachgaben. Es gelang. Mit einem Seufzer ließ ich mich nieder. Über den Rücken lief mir der kalte Schweiß, meine Ohren rauschten, die Zähne klapperten. Nach ein paar tiefen Atemzügen konnte ich wieder klar sehen und fühlte mich besser. Larry kam langsam über die Gartenpfade auf mich zugeschlendert. »Was ist denn jetzt schon wieder los?« erkundigte er sich interessiert, 311
als wäre mein Fortlaufen der Höhepunkt einer Reihe überraschender Ereignisse. »Nichts. Oder alles. Wie du willst«, entgegnete ich mit zitternder Stimme, als würde ich gleich losweinen, obwohl ich nie weiter davon entfernt war, in Tränen auszubrechen, als in dieser Minute. »Du mußt immer alles verspotten. Nichts nimmst du ernst.« »Verlangst du wirklich von mir, daß ich diese Trümmerbude ernst nehmen soll?« »Es ist ein Haus, das ich mit meinen Mitteln kaufen und herrichten lassen kann. Und das uns notfalls den Lebensunterhalt sichert.« »Oh«, seufzte Larry mit jener Art verzweifelten Langmuts, mit der man am Ende eines langen Tages einem quengeligen Kind begegnet, »sind wir wieder an dem Punkt angelangt?« Immer wenn Larry mir gegenüber diesen überlegenen und gleichzeitig leichtfertigen Ton anschlug, begann es in meinem Inneren zu kochen. Ich formulierte verletzende, gehässige Antworten, die ich allerdings nicht mehr aussprach. Oft haderte ich tagelang in Gedanken mit meinem Mann, ohne ihn davon etwas merken zu lassen. Ich schalt und beleidigte ihn innerlich für das, was er uns allen antat. Früher hatte ich ihm meine Meinung ins Gesicht geschrien, bis etwa vor fünf Jahren unser Hausarzt, den ich als ersten ins Vertrauen zog, mir auseinandersetzte, daß Alkoholismus eine Krankheit sei wie Krebs oder Tuberkulose, auch genauso schicksalhaft und bedauernswert wie diese. Bei meinem nunmehrigen Schweigen half mir der Gedanke viel, daß mein Bitten oder Zetern ohnehin nicht den mindesten Eindruck auf Larry gemacht hätte. Aber nun saß ich auf der kalten Steinbank und wunderte mich, als ich mich plötzlich Dinge aussprechen hörte, die ich sonst stumm mit mir selber abtat. »Ja«, sagte ich tonlos. »Wieder sind wir dort angelangt und werden wir immer wieder dorthin ankommen. Einer muß sich darum kümmern, daß die Familie ihr Auskommen hat. Ich habe nichts gelernt und keinen Beruf, ich kann mir keine Arbeit suchen. Paul und Sally will ich auch nicht allein lassen. Hier kann ich fortsetzen, was ich 312
in dem elenden kleinen Reihenhaus angefangen habe. Ich kann Schüler aufnehmen oder solche Kinder, deren Eltern sich aus irgendeinem Grund nicht um sie kümmern können. Das Haus bekomme ich für achthundert Pfund, nochmals achthundert oder meinetwegen auch tausend reichen aus, um es menschenwürdig herzurichten. Es muß ja nicht gleich alles auf einmal sein. Dann bleibt immer noch ein Notgroschen für Unvorhergesehenes. Du weißt, Peter hat gesagt, du könntest vorerst mit nicht mehr als siebenhundertfünfzig im Jahr rechnen. Das hier…«, ich streckte meine Hand nach Old Vine aus, »wird uns weiterhelfen. Ich kann nicht so weiterleben wie bisher, immer in Unsicherheit und Angst vor dem kommenden Tag.« In meinen stummen Monologen hörte ich mich jeweils mit klarer Stimme sprechen. Jetzt klang sie eher, als spielte man eine ausgeleierte Platte mit einer kratzenden Nadel ab. Larry hingegen sprach gefaßt und kühl wie auf einer Betriebsversammlung. »Ich habe nicht die geringste Absicht, hier in Baildon zu bleiben oder die Fürbitte meines gütigen Schwagers in Anspruch zu nehmen. Und schon gar nicht, meine Tage in einer alten Scheune unter einem Haufen kreischender Gören zu verbringen. Auch ich bin noch imstande, Zeitungsinserate zu lesen und zu beantworten. Hier, lies!« Er griff in die Tasche und zog einen Brief hervor. »Das gab mir der Briefträger, als du Mrs. Hooley sagtest, was sie den Kindern zu essen geben soll. Ich habe ihn erst in der Kneipe aufgemacht und gelesen.« Wie brachte es dieser Mann fertig, einen wichtigen Brief zwei Stunden lang ungeöffnet in der Tasche mit sich herumzutragen? Ich blickte meinen Mann an wie einen Fremden, an dem ich immer noch mehr unbekannte Züge, die mir bisher entgangen waren, entdeckte. Er gab mir den Brief, zusammen mit einer Seite der Times, auf der eine Anzeige rot umrandet war. Ich las: ›Nigeria‹ und ›Ingenieure gesucht‹ und ›außergewöhnlich hohe Dotierung‹. Der Brief bat in kurzen Worten um eine Unterredung in der folgenden Woche. »Die Länder dort«, sagte Larry, »stecken noch mitten in ihrer Entwicklung. Dort hat sogar ein Mann wie ich noch eine Zukunft. Nicht 313
wie hier, in diesem muffigen alten Land mit seinen engstirnigen Bewohnern.« Bisher war Larry sehr stolz auf sein Heimatland gewesen. In Geographie war ich nie besonders beschlagen, und von Nigeria wußte ich nur, daß es in Afrika lag. Eine verschwommene Vision von feuchter Hitze, geräumigen Landhäusern unter Palmen und schwarzen Mammies in farbenprächtigen Gewändern tauchte vor meinen Augen auf. Und noch etwas fiel mir ein: in den Tropen neigten selbst vernünftige Männer zu höherem Alkoholkonsum als zu Hause; außerdem war das Klima dort mörderisch für weiße Kinder, die nicht im Lande geboren waren. »Ich glaube nicht, daß die Kinder das Tropenklima vertragen.« »Wer spricht von den Kindern? Die bleiben hier im Internat und können die Ferien bei ihrem Onkel Peter auf der Farm verbringen. Wir sind nicht die ersten, die ihre Kinder in England auf die Schule schicken. Ja, Frances, jetzt mußt du wählen, mich oder die Kinder.« Ich schwieg betroffen. Immer war ich bestrebt gewesen, meinen Kindern eine gute, verständnisvolle Mutter zu sein. Ich betrachtete sie nicht als Eigentum, sondern als selbständige Geschöpfe, für die zu sorgen meine Aufgabe war. Der Gedanke, Paul und Sally sich selbst zu überlassen, brachte mich schier um den Verstand. Ich schaute zu Larry auf, der vor mir stand und Dinge von solcher Tragweite gelassen vorbrachte. Er beobachtete mich gespannt und, wie mir schien, etwas heimtückisch. »Natürlich könnt ihr alle auch bei deinem geliebten Peter bleiben. Dann habt ihr den Störenfried aus dem Haus und bekommt außerdem Geld. Denn für euren Unterhalt komme ich selbstverständlich auf.« (Wie lange wohl?) Also hatte er sich alles bereits zurechtgelegt und mir nichts von seinen Plänen gesagt. Es traf mich wie ein Keulenschlag. Ich hatte das verrückte Gefühl, mein Herz stände still. Mit meinen achtundzwanzig war ich zwar noch reichlich jung für einen Herzanfall, aber nach den vielen Aufregungen der letzten Monate wäre so etwas denkbar gewesen. Als ich wieder tief atmen konnte, kramte ich eine Zigarette aus 314
meiner Handtasche und zündete sie umständlich an. Ohne ihn anzusehen, fragte ich: »Es geht dir doch bloß darum, mich loszuwerden, nicht wahr?« Die Antwort ließ lange auf sich warten. »Nicht dich, Frances. Ich laufe vor der zärtlich besorgten Mammy von Paul und Sally davon, vor Peters kleiner Schwester und vor Dr. Parkers kopfschüttelnder Krankenpflegerin.« Es klang müde und verbittert. Larry ließ sich neben mich auf die Bank nieder. Ich dachte zurück an den Tag unserer Hochzeit. Es war Juni, die blumengeschmückte Kirche voller Bekannter. Der Kirchenchor sang, und Vaters Predigerstimme tönte: »… in guten wie bösen Tagen, bis daß der Tod euch scheidet.« Überwältigt vom Wunder unserer Liebe hatte ich damals jedes einzelne Wort zutiefst empfunden. Viele Leute lehnen die Kirche und ihre altmodischen Zeremonien ab. Ich aber dachte oft, wenn ich voll Bitterkeit verzweifeln wollte, an mein Gelübde und daran, daß ich es unter allen Umständen bis zum Tode einhalten würde. Nun lehrte mich die Erfahrung, daß es Tode gibt, die keiner Beerdigung bedürfen.
»Die Entscheidung liegt bei dir«, wiederholte Larry. Als stünde ich auf einer Klippe im Ozean und zwei Schiffe böten sich mir zur Weiterfahrt an. Das Schiff Nigeria, auf dem Larry das Kommando führte, mußte ich allein besteigen mit dem sicheren Wissen, daß es irgendwann Schiffbruch erleiden würde ; während ich auf meinem eigenen Schiff Old Vine, Kapitän und Mannschaft in einer Person war und es zusammen mit meinen Kindern schlecht und recht durch Gefahren und Stürme steuern konnte. Vielleicht, daß es mir mit etwas Glück und viel Ausdauer gelang, das Schiff über Wasser zu halten. »Larry, ich kann die Kinder nicht verlassen.« »Und ich kann in Baildon nicht leben.« Kein Wort des Bedauerns, nur Erleichterung. »Gut, also sind die Würfel gefallen.« Ich sah ihn flehentlich an. Konnten wir es nicht noch einmal irgend315
wo anders in England versuchen. Aber wie oft hatten wir schon alle Brücken hinter uns abgebrochen und neu angefangen? Und wo würde ich noch einmal ein Haus finden, das so billig zu haben war und sich derart gut für meine Zwecke eignete? Sprechen konnte ich nicht. »Es ist dann wohl sinnlos, wenn wir weiter noch da herumsitzen«, sagte Larry mit einem Blick auf die Uhr. Es war knapp zwei Uhr. Bis zur Abfahrt des Busses war noch eine Stunde Zeit. Ich wußte so gut wie Larry, daß er nur darauf wartete, ins Bahnhofshotel zurückzugehen und weiterzutrinken. Und wir beide wußten auch, daß nichts auf der Welt ihn davon abhalten würde. »Keine Sorge, irgendwann finde ich schon heim«, sagte Larry. »Und morgen fahre ich nach London.« Ich nickte stumm. Er stand auf und ging, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, mit wiegenden Schritten über den Gartenpfad zum Haus. Von hinten sah seine schmächtige Gestalt sehr jungenhaft und verletzlich aus. Der alte Instinkt bedrängte mich, ihm nachzulaufen, ihn in die Arme zu nehmen und ihn zu beschützen. Beschützen, wovor? Deutlich wie noch nie im Leben erkannte ich, daß es vergebliche Mühe wäre und daß er mich deswegen nur noch tiefer hassen und verachten würde. Wir beide waren in dieser Stunde füreinander gestorben. Das alte Seemannsliedchen fiel mir ein: Und lieg' ich dann da, ganz bleich und stumm, Begrabt mich in einer Buddel voll Rum. Lange noch saß ich in Gedanken auf der schicksalsträchtigen Steinbank. Es würde eine Weile dauern, bis Paul und Sally sich mit dem Verlust ihres vergötterten Vaters abfinden würden. Peter freilich würde aufatmen. Einmal, nachdem er unfreiwillig Zeuge einer unserer Szenen geworden war, hatte er gesagt: »Ich verfluche den Augenblick, an dem ich Larry ins Haus brachte.« Ich hatte Larry verteidigt. Meine Blicke schweiften halb unbewußt über den Garten. Ich sah, daß er noch vor nicht allzu langer Zeit liebevoll gepflegt worden sein mußte. In den Rabatten blühten Osterglocken und Krokusse, die Tulpen steckten ihre spitzen Blätter durchs Laub vom Vorjahr, und an den Rosenbüschen zeigten sich die ersten prallen Blattknospen. An einer 316
Seitenmauer stand ein überraschend hübsches Sommerhaus, ein idealer Spielplatz für eine Schar lärmender Kinder. Vor die Sonne schob sich eine dunkle Wolke, ein stärkerer Wind kam auf. Nun erst fühlte ich, welche Kälte aus dem Steinsitz emporstieg. Mich schauderte. Einen Augenblick lang überfiel mich tödliche, starre Verzweiflung, aber auch sie ging wieder vorüber. Vorhin hatte ich mir gewünscht, ich könnte das Haus allein besichtigen. Ich stand auf, klopfte den Staub von meinem Mantel und ging ins Haus zurück. Trotz allen Moders und Verfalls verspürte ich erneut das tröstliche Gefühl, heimgekehrt zu sein. Ich durchwanderte die leeren Räume und betrachtete sie mit dem Blick der Besitzerin. Ich würde achthundert Pfund für das Haus bieten, wußte aber schon, daß ich auch die vollen tausend herausrücken würde, wenn es nicht anders ginge. Old Vine war also mein Eigentum. Sorgsam verschloss ich die Türen und verweilte noch einen Augenblick in der ehemaligen Halle mit dem herrlichen Treppenaufgang. Meine hausbackene Vernunft kehrte zurück, und ich überlegte, wie vornehm und gediegen sich dieser Raum nach der Renovierung ausnehmen würde. Wenn Eltern ihre Kinder aus irgendeinem Anlass fremden Leuten überlassen, werden sie von Schuldgefühlen geplagt. Ich beispielsweise würde alles daransetzen, meine Kinder wenigstens zu liebevollen Leuten in ein gepflegtes Heim zu geben. Gepflegt… es würde viel Geld und Mühe kosten, bis Old Vine die heimelige Atmosphäre alter Herrenhäuser, die zweifellos einst darin geherrscht hatte, zurückgewonnen haben würde. Bei Peter auf dem Speicher stand die ebenfalls ererbte, riesige Regency-Vitrine mit der dazu passenden Kommode, die ich bisher in keiner Wohnung hatte unterbringen können. Hier diese Zwischenwand mußte weg, dann die Vitrine an die Längsseite, die Kommode gegenüber dem Eingang, und schon war die Halle stilvoll eingerichtet. Dazu ein paar passende Bilder und Lampen, vielleicht aus zweiter Hand oder von Auktionen… Wahrhaftig, da ertappte ich mich doch schon beim Pläneschmie317
den, anstatt todtraurig als verlassene Ehefrau vor mich hin zu weinen. Nein, ich ließ mich nicht unterkriegen. Mit Gottes Hilfe würde ich das Beste aus mir und diesem alten Haus machen. Meine Ehe war gescheitert. Lieber Gott, lass mich nicht auch noch an meinen Kindern scheitern! Ich lehnte mich an den geschnitzten Pfosten, der das Treppengeländer nach unten abschloss, und betete zu einem Wesen, das ich mir nicht vorzustellen vermochte. Lass mich nicht im Stich! Gib mir Mut und Kraft! Und lass auch Larry nicht untergehen! Wie lange ich dort stand, weiß ich nicht. Als ich mich besann, kroch die Dämmerung aus allen Ecken auf mich zu, und die Holztäfelung ächzte und knackte geheimnisvoll. Trotzdem fürchtete ich mich nicht. Das alte Haus war mir freundlich gesinnt, es hatte mir mein Selbstvertrauen und meine Entschlossenheit wiedergegeben. Wir beide waren vom Schicksal gebeutelt, aber nicht besiegt worden. Es hatte uns geschlagen und preisgegeben, und trotzdem waren wir bereit, es nochmals zu versuchen.
318