Fritz H. Frimmel Margit B. Müller Heil-Lasten Arzneimittelrückstände in Gewässern
Fritz H. Frimmel Margit B. Müller Herausgeber
Heil-Lasten Arzneimittelrückstände in Gewässern 10. Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung
Mit 55 Abbildungen
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Professor Dr. Fritz H. Frimmel Universität Karlsruhe (TH) Engler-Bunte-Institut Bereich Wasserchemie Engler-Bunte-Ring 1 76131 Karlsruhe Deutschland
Dr. Margit B. Müller Universität Karlsruhe (TH) Engler-Bunte-Institut Bereich Wasserchemie Engler-Bunte-Ring 1 76131 Karlsruhe Deutschland
E-mail: Fritz.Frimmel
E-mail: Margit.Mueller
@ebi-wasser.uka.de
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ISBN 10 3-540-33637-0 Springer Berlin Heidelberg New York ISBN 13 978-3-540-33637-2 Springer Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.com © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006 Printed in The Netherlands Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutzgesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg Herstellung: Almas Schimmel, Heidelberg Satz: Druckreife Vorlage der Herausgeber Gedruckt auf säurefreiem Papier 30/3141/as 5 4 3 2 1 0
Vorwort
Der Einsatz synthetischer Pharmaka ist in der industrialisierten Welt fester Bestandteil medizinischer Diagnostik und Therapie, und ihm sind viele Heilerfolge zu verdanken. Er hat darüber hinaus aber auch ‚Nebenwirkungen‘, die im Beipackzettel nicht erwähnt sind: Bis zu 95 Prozent der verabreichten Wirkstoffe werden vom Menschen wieder ausgeschieden und gelangen zusammen mit Arzneimittelrückständen aus der pharmazeutischen Forschung und Produktion in den Gewässerkreislauf. Hinzu kommen Antibiotika aus Tiermedikamenten, die über die Ausscheidung, z.B. über das Ausbringen von Gülle auf die Felder, in die Umwelt gelangen. Diese Stoffe, aber auch Substanzen aus Kosmetika und UV-Filter aus Sonnenschutzmitteln können in den Kläranlagen nicht vollständig entfernt oder abgebaut werden. Noch ist ungeklärt, ob und in welchem Maße Arzneimittelrückstände im Wasser ein Risiko für Mensch und Natur darstellen. Eine unmittelbare Gefährdung wird von vielen Wissenschaftlern zwar ausgeschlossen, die langfristigen Auswirkungen aber sind noch nicht erforscht. Die Autoren des vorliegenden Buches befassen sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit diesem Thema. Forscher aus Hochschulen und Industrie sowie Wissenschaftler aus Verbänden und der Wasserwirtschaft beleuchten Fragen der Produktion von Arzneimitteln und ihres Verbrauchs, der Krankenhaushygiene, der Wirkungen von Arzneistoffen auf die Umwelt und der Abwasserreinigung bzw. der (Trink-)Wasseraufbereitung. Auf dem 10. Berliner Kolloquium der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung am 17. Mai 2006, aus dessen Anlass dieses Buch erscheint, werden die Autoren ihre Beiträge zur Diskussion stellen. Seit 1997 erörtern die Berliner Kolloquien aktuelle wissenschaftliche Fragen. Eingeladen hierzu sind Wissenschaftler und Experten aus Politik, Wirtschaft oder Verwaltung. Gemeinsamer Bezugspunkt dieser Themen sind die „Wechselbeziehungen zwischen Mensch, Umwelt und Technik“. Die Stiftung hat das Ziel, durch die Förderung von Wissenschaft und Forschung zur Klärung dieser Wechselbeziehungen beizutragen.
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G. Frhr. zu Putzlitz, R., Dietrich, D. Schade
Die Stiftung richtet das 10. Berliner Kolloquium gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Wasserchemie am Engler-Bunte-Institut der Universität Karlsruhe und der Wasserchemischen Gesellschaft, Fachgruppe in der Gesellschaft Deutscher Chemiker, aus. Wir danken Professor Fritz Frimmel vom Engler-Bunte-Institut für die wissenschaftliche Leitung der Tagung und – gemeinsam mit Dr.-Ing. Margit Müller – für die Herausgabe dieses Buches. Unser Dank geht auch an alle Autoren und Referenten, die das Kolloquium möglich gemacht haben.
Prof. Dr. Gisbert Frhr. zu Putlitz Prof. Dr. Rainer Dietrich Dr. Diethard Schade Vorstand der Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung
Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis .............................................................................. XIII Einführung ................................................................................................. 1 Fritz Frimmel.......................................................................................... 1 Demographische Entwicklung und Heilmittelverbrauch....................... 3 Theo Dingermann ................................................................................... 3 Einleitung ........................................................................................... 3 Verlauf und Faktoren der demographischen Entwicklung ................. 4 Warum werden Menschen älter? .................................................... 4 Der Rückgang der Sterblichkeit ..................................................... 5 Die Alterung der Gesellschaft ........................................................ 6 Konsequenzen der demographischen Entwicklung ............................ 7 Konsequenzen für den Arzneimittelmarkt und -konsum................ 7 Verschiebung des Krankheitsspektrums: Multimorbidität und Zunahme der Bedeutung chronischer Erkrankungen ..................... 8 Selektives Überleben ...................................................................... 9 Die Spreizung der Zeitspanne zwischen Morbidität und Mortalität ............................................................................... 10 Die steigende Anspruchshaltung der Bevölkerung auf der Basis eines umfassenden Versicherungsschutzes............. 10 Die steigende Bedeutung an Vorsorgemedikation mit der Konsequenz der „pharmakotherapeutischen Behandlung Gesunder“................................................................. 11 Die Nachfrage nach „Lifestyle-Medikation“, die biologische Entwicklungen verlangsamt oder korrigiert ........ 12 Das Heilmittelangebot in einer sich demographisch wandelnden Bevölkerung ................................................................. 14 Heilmittelgebrauch in verschiedenen Lebensabschnitten............. 14 Entwicklungstendenzen für neue Arzneimittel............................. 16 Wirkstoffe, die die Physiologie des Zentralnervensystems beeinflussen .................................................................................. 17 Arzneimittel, die auf das Herz/Kreislaufsystem wirken............... 22 Arzneimittel zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen ...... 24 Antiinfektiva................................................................................. 24 Antitumor-Mittel (Zytostatika)..................................................... 25 Zusammenfassung ............................................................................ 26 Literatur ............................................................................................ 27
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Abfall- und Abwassermanagement bei der Arzneimittelproduktion der Schering AG................................ 29 Hans-Peter Böhm.................................................................................. 29 Einleitung ......................................................................................... 30 Gesetzliche Anforderungen .............................................................. 31 Integriertes Managementsystem der Schering AG ........................... 32 Managementsysteme .................................................................... 32 Das Integrierte Managementsystem der Schering AG ................. 33 Stoffstrommanagement ................................................................ 34 Interne Qualitäts-, Sicherheits- und Umweltschutz-Audits.......... 34 EG-Öko-Audit (EMAS) und Zertifizierungen nach der Umweltmanagementnorm ISO 14001.......................................... 34 Abfallmanagement in der Schering AG ........................................... 35 Abfälle aus der Wirkstoffproduktion............................................ 35 Abfälle aus der pharmazeutischen Produktion ............................. 36 Röntgenkontrastmittelhaltige Abfälle .......................................... 37 Abwassermanagement in der Schering AG...................................... 38 Wirkstoffproduktion Bergkamen.................................................. 38 Die Behandlung von Abwässern im Werk Bergkamen................ 39 Umgang mit Abwässern aus speziellen Wirkstoffsynthesen........ 42 Abwässer aus der Mikronisierung von Wirkstoffen..................... 44 Abwassermanagement in der Arzneimittelproduktion ..................... 44 UV-aktivierte Oxidation für Abwässer aus der Tablettenproduktion ..................................................................... 45 Die Membran-Filtration zur Behandlung von RKMReinigungslösungen ..................................................................... 45 Aktivitäten außerhalb Europas ..................................................... 46 Zusammenfassung ............................................................................ 47 Danksagung ...................................................................................... 48 Literatur ............................................................................................ 49 Pro und Contra der Antibiotikagabe in der Krankenhaushygiene..... 51 Christiane Höller................................................................................... 51 Einleitung ......................................................................................... 51 Krankenhaushygiene vor der Entdeckung der antibakteriellen Chemotherapeutika ................................................. 51 Krankenhaushygiene nach der Entdeckung der antibakteriellen Chemotherapeutika ................................................. 53 Nosokomiale Infektionen ................................................................. 55 Antibiotikaanwendung im Krankenhaus und im ambulanten Bereich.............................................................. 58 Antibiotikaresistenzen und nosokomiale Infektionen ...................... 59
Inhaltsverzeichnis
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Multiresistente Erreger ..................................................................... 61 Maßnahmen bei Auftreten von multiresistenten Erregern................ 65 Sinnvolle Antibiotikagabe bzw. Antibiotikaprophylaxe .................. 66 Alternativen zur Antibiotikagabe ..................................................... 68 "Antibiotic policy"............................................................................ 68 Literatur ............................................................................................ 69 Arzneimittelrückstände in Gewässern – eine Herausforderung für die Toxikologie ............................................ 73 Tamara Grummt ................................................................................... 73 Einleitung ......................................................................................... 73 Komplexität der biologischen Systeme ............................................ 75 Teststrategie – ein pragmatischer Ansatz für neue Umweltschadstoffe ........................................................................... 76 Das Beispiel der Gentoxizitätsprüfung von Arzneimittelmetaboliten ............................................................ 78 Theoretisches Konzept ................................................................. 78 Substanztestung ............................................................................ 81 Wissenschaftliche Bewertung ...................................................... 84 Beispiel – Schutzgut „menschliche Gesundheit“ ............................. 86 Vorkommen und Herkunft von Arzneistoffen in Fließgewässern....... 89 Thomas Ternes, Hansruedi Siegrist, Adriano Joss ............................... 89 Zusammenfassung ............................................................................ 89 Einleitung ......................................................................................... 90 Belastung von kommunalen Kläranlagenabläufen und Fließgewässern .......................................................................... 91 Kommunale Kläranlagenabläufe .................................................. 91 Fließgewässer ............................................................................... 91 Eliminationsprozesse in der kommunalen Kläranlage ..................... 97 Dank ............................................................................................... 102 Literatur .......................................................................................... 102 Tierarzneimittel in der Umwelt: Vorkommen, Verhalten, Risiken .......................................................... 105 Gerd Hamscher ................................................................................... 105 Einleitung ....................................................................................... 105 Eintragspfade für Tierarzneimittel in die Umwelt...................... 105 Gesetzliche Grundlagen für den Einsatz von Tierarzneimitteln ........................................ 106 Verbrauchserhebungen ............................................................... 108
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Detaillierte Untersuchung verschiedener Eintragspfade für Tierarzneimittel......................................................................... 109 Eintrag von Antibiotika in Wirtschaftsdünger ........................... 109 Eintrag und Verhalten von Tierarzneimitteln in Böden ............. 111 Transfer von Antibiotika in Nutzpflanzen.................................. 114 Eintrag von Tierarzneimitteln in die aquatische Umwelt........... 114 Eintrag von Antibiotika in Stallstaub ......................................... 116 Mögliche Effekte und Risiken von Antibiotika in Gülle, Boden, Grundwasser und Stallstaub............................................... 117 Zusammenfassung und Schlussfolgerungen................................... 118 Literatur .......................................................................................... 119 Ökotoxikologische Wirkungen von Pharmazeutikarückständen auf aquatische Organismen................................................................... 125 Karl Fent ............................................................................................. 125 Zusammenfassung .......................................................................... 125 Einleitung ....................................................................................... 126 Pharmazeutika in der Umwelt ........................................................ 127 Wirkungsweise von Pharmazeutika bei Mensch und Tier ............. 131 Ökotoxikologische Effekte ............................................................. 133 Akute Toxizität........................................................................... 134 Chronische Toxizität .................................................................. 136 Wirkungen in Modellökosystemen................................................. 140 Toxizität von Arzneimittelmischungen .......................................... 140 Vergleich von Umwelt- und Wirkungskonzentrationen................. 141 Regulatorische Aspekte .................................................................. 143 Diskussion und Schlussfolgerungen............................................... 144 Dank ............................................................................................... 147 Literatur .......................................................................................... 147 Arzneimittelrückstände und Gewässerschutz..................................... 155 Harald Irmer, Hans-Dieter Stock, Rolf Reupert, Annegret Hembrock-Heger ................................................................ 155 Einleitung ....................................................................................... 155 Humanarzneimittel ......................................................................... 157 Veterinärarzneimittel ...................................................................... 161 Zur chemischen Analyse von Arzneimittelrückständen ................. 163 Gewässerbelastungen in Nordrhein-Westfalen und deren Reduktion....................................................................... 168 Fazit ................................................................................................ 171 Literatur .......................................................................................... 173
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Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung ................................................................... 175 Thomas Heberer ................................................................................. 175 Einleitung ....................................................................................... 175 Vorkommen und Entfernbarkeit von Arzneimittelrückständen in konventionellen Kläranlagen...................................................... 178 Stand der Klärwerkstechnik ....................................................... 178 Abbaubarkeit pharmazeutischer Rückstände in konventionellen kommunalen Kläranlagen............................ 180 Konzentrationen pharmazeutischer Rückstände in den Abläufen kommunaler Kläranlagen................................. 186 Frachten an Pharmakarückständen in kommunalen Abwässern 189 Verwendung zusätzlicher Reinigungsverfahren zur verbesserten Entfernung von Arzneimittelrückständen aus kommunalen Abwässern .......................................................... 192 Ozonung ..................................................................................... 193 Membranfiltration ...................................................................... 195 Abschließende Betrachtungen ........................................................ 202 Literatur .......................................................................................... 203 Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Trinkwasseraufbereitung ......................................................... 207 Christian Zwiener ............................................................................... 207 Einleitung ....................................................................................... 207 Vorkommen von AMR................................................................... 208 Verfahrensstufen der Trinkwasseraufbereitung.............................. 211 Verhalten von AMR bei der Uferfiltration und Untergrundpassage .............................................................. 212 Verhalten von AMR bei der Flockung – Filtration .................... 213 Verhalten von AMR bei der Adsorption an Aktivkohle............. 214 Verhalten von AMR bei der Oxidation ...................................... 215 Verhalten von AMR bei der Desinfektion – Chlorung............... 218 Zusammenfassung .......................................................................... 220 Literatur .......................................................................................... 222
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Inhaltsverzeichnis
Fazit......................................................................................................... 225 Fritz Frimmel, Margit Müller ............................................................. 225 Einleitung ....................................................................................... 225 Identifizierung wichtiger Schaltstellen in den Stoffströmen der Arzneimittel ............................................. 226 Produktion .................................................................................. 226 Gebrauch .................................................................................... 227 Entsorgung.................................................................................. 228 Verbleib ...................................................................................... 230 Ausblick.......................................................................................... 232 Literatur .......................................................................................... 232
Autorenverzeichnis Dr. Hans-Peter Böhm Schering AG, Werg Bergkamen Ernst-Schering-Straße 14, 59192 Bergkamen
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Prof. Dr. Theo Dingermann Institut für Pharmazeutische Biologie, Biozentrum Universität Frankfurt Marie-Curie-Straße 9, 60439 Frankfurt
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PD Dr. Karl Fent Institut für Ecopreneurship, Hochschule für Life Sciences, Fachhochschule Nordwestschweiz St. Jakobs-Straße 84, CH-4132 Muttenz
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Prof. Dr. Fritz H. Frimmel Engler-Bunte-Institut, Bereich Wasserchemie Universität Karlsruhe (TH) Engler-Bunte-Ring 1, 76131 Karlsruhe
[email protected]
Dr. Tamara Grummt Forschungsstelle Bad Elster Umweltbundesamt Dr. Heinrich-Heine-Straße 12, 08645 Bad Elster
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Autorenverzeichnis
PD Dr. Gerd Hamscher Institut für Lebensmitteltoxikologie und Chemische Analytik, Zentrum für Lebensmittelwissenschaften, Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover Bischofsholer Damm 15, 30173 Hannover
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PD Dr. Thomas Heberer FG55: Rückstände von Arzneimitteln Bundesinstitut für Risikobewertung Thielallee 88-92, 14195 Berlin
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Prof. Dr. Christiane Höller Sachgebiet Hygiene (GE1) Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit Veterinärstraße 2, 85764 Oberschleißheim
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Dr. Harald Irmer, Dr. Hans-Dieter Stock, Dipl.-Ing. Rolf Reupert, Dr. Annegret Hembrock-Heger Landesumweltamt Nordrhein-Westfalen Wallneyer Straße 6, 45133 Düsseldorf
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Dr.-Ing. Margit B. Müller Engler-Bunte-Institut, Bereich Wasserchemie Universität Karlsruhe (TH) Engler-Bunte-Ring 1, 76131 Karlsruhe
[email protected]
Autorenverzeichnis
PD Dr. Thomas Ternes Bundesanstalt für Gewässerkunde Kaiserin-Augusta-Anlagen 15-17, 56068 Koblenz
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PD Dr. Christian Zwiener Engler-Bunte-Institut, Bereich Wasserchemie Universität Karlsruhe (TH) Engler-Bunte-Ring 1, 76131 Karlsruhe
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Einführung Fritz Frimmel Universität Karlsruhe (TH), Karlsruhe
Die Bedeutung der Medizin in unserer heutigen Zeit ist unübersehbar. In den Medien erscheinen täglich Berichte über brisante Themen wie die Vogelgrippe, den Ärztestreik oder auch über die Reformierung des Gesundheitssystems. Bei all diesen Themen spielen Arzneimittel – ob direkt oder indirekt – eine Rolle. Sie sind in unserer industrialisierten Gesellschaft allgegenwärtig und werden von ihr in hohem Maße genutzt. Die Heilung kurzzeitiger Erkrankungen, die Behandlung chronischer Leiden, Chemotherapien, die Bekämpfung von Epidemien, aber auch Operationen mit intensivmedizinischer Hilfe – all dies wäre ohne Arzneimittel nicht möglich. Neben dem therapeutischen Bereich gibt es – teils innig mit ihm verwoben – das Einsatzfeld von pharmazeutischen Produkten für die Krankenhaushygiene, für die medizinische Diagnostik und die Fertilitätskontrolle. Die verbreitete und vielseitige Anwendung von Arzneimitteln führt dazu, dass sie über verschiedene Eintragspfade den Weg in die Umwelt, und hierbei insbesondere in die aquatischen Systeme, finden. Die Untersuchungen verschiedener Gewässer auf das Vorliegen von Pharmaka ergab Konzentrationen von wenigen Milliardstel Gram bis zu Millionstel Gramm in einem Liter Wasser. Was bewirken diese Spuren in den Gewässern? Für viele Wirkstoffe ist diese Frage nach wie vor unbeantwortet, vor allem was längerfristige Effekte angeht. Das Beispiel einiger Steroidhormone, für die gezeigt werden konnte, dass sie schon in extrem niedrigen Konzentrationen nachteilige Effekte auf bestimmte aquatische Organismen ausüben können, mahnt jedoch zur Vorsicht. Es ist daher davon auszugehen, dass unsere derzeitigen Kenntnisse trotz zahlreicher Forschungsarbeiten immer noch nicht ausreichen, um das Risiko, das von solchen „Spuren“ für aquatische Lebewesen, aber auch für die menschliche Gesundheit, resultiert, abschließend zu bewerten. Es ist somit unverzichtbar, den Problemen nachzuspüren, die sich aus der Heilnotwendigkeit medizinisch nutzbarer Syntheseprodukte einerseits und der aus ihrer Produktion und Anwendung abzuleitenden Belastung unserer Lebensräume andererseits ergeben. Ihre Erörterung erhält durch die demographische Entwicklung und die zumindest in Zentraleuropa ver-
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Fritz Frimmel
breitete Einstellung: „Gut älter werden durch mehr Arzneimittel“ eine besondere zukunftsgerichtete Aktualität. In dieser Erkenntnis hat die Gottlieb Daimler- und Karl Benz-Stiftung mit dem 10. Berliner Kolloquium zum Thema „Heil-Lasten – Arzneimittelrückstände in Gewässern“ das Forum für einen Diskurs geschaffen, bei dem Fachleute auf den Gebieten der Produktion und des Gebrauchs von Arzneimitteln sowie der Umweltanalytik, der Toxikologie, der Wasseraufbereitung und des rechtlichen Umweltschutzes über den aktuellen Stand der Dinge berichten und Fakten liefern. Die transdisziplinäre Diskussion dieser Fakten soll eine zukunftsverträgliche Entwicklung des Umgangs mit Pharmaka sichern helfen. Die Bereitschaft der Autoren, die Herausforderung anzunehmen und sich auf das Experiment interfachlicher Auseinandersetzung einzulassen, zeugt von einem hohen ökologischen und sozialen Verantwortungsbewusstsein, wie es auch vom Mitveranstalter des 10. Berliner Kolloquiums, der Wasserchemischen Gesellschaft, seit geraumer Zeit praktiziert wird. Als Fachgruppe in der Gesellschaft Deutscher Chemiker (GDCh) befasst sich die Wasserchemische Gesellschaft sowohl mit dem Stoffhaushalt der Gewässer als auch mit verschiedensten Verfahren zur Wasseraufbereitung und somit auch zur Entfernung von Problemstoffen wie Arzneimittelrückständen. Dies gilt auch für den Lehrstuhl für Wasserchemie des Engler-Bunte-Instituts der Universität Karlsruhe (TH) an dem seit vielen Jahren die Grundlagen der Wasseranalytik und –aufbereitung erforscht werden. Gesamtziel der Beiträge zum Kolloquium ist eine Standortbestimmung zur derzeitigen Praxis im Umgang mit pharmazeutischen Produkten und zu ihrem Verbleib, um rechtzeitig Fehlentwicklungen erkennen und Handlungsempfehlungen ableiten zu können.
Demographische Entwicklung und Heilmittelverbrauch Theo Dingermann Universität Frankfurt, Frankfurt
Einleitung Die deutsche Bevölkerung wird in den kommenden Jahrzehnten erheblich schrumpfen. Gleichzeitig wird es eine dramatische Verschiebung zwischen den verschiedenen Altersklassen geben. Einem Rückgang der Gesamtbevölkerungszahl, der in erster Linie aus den niedrigen Geburtenraten resultiert, wird ein deutlicher Anstieg der Zahl älterer Mitbürger entgegenstehen (Abb. 1).
Abb. 1. Bevölkerungspyramiden für Deutschland aus dem Jahren 1950 und 2050 [Quelle: Statistisches Bundesamt Deutschland].
Die Zunahme ist besonders ausgeprägt für die Gruppe der Hochaltrigen (80 Jahre und älter), deren Zahl sich binnen 50 Jahren mehr als verdoppeln und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung sich mehr als verdreifachen wird (Abb. 2). Im Jahr 2050 wird mehr als jeder 11. Einwohner Deutschlands 80 Jahre oder älter sein. Auf Hundert 20- bis 59-jährige werden min-
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Theo Dingermann
destens 80 Personen im Alter von 60 oder mehr Jahren kommen (gegenüber 43 im Jahre 2000) (Statistisches Bundesamt 2000).
Abb. 2. Vorausgeschätzte Entwicklung der Gesamtbevölkerung Deutschlands nach Altersklassen. Im Jahre 2000 entfielen auf 100 Menschen im Alter von 20 bis 60 Jahren 43 Menschen im Alter über 60 Jahre. Im Jahr 2050 werden es mindestens 81, wahrscheinlich über 90 sein (Birg 2000).
Diese Entwicklung ist natürlich nicht auf Deutschland beschränkt. Alle Industrienationen – und nach und nach auch die Entwicklungsländer – sehen sich mit diesem Trend konfrontiert.
Verlauf und Faktoren der demographischen Entwicklung Warum werden Menschen älter? Die Existenz spezifischer Gene, die das Altern aktiv fördern, ist unwahrscheinlich. Altern ist nicht programmiert, sondern resultiert größtenteils in der Anhäufung somatischen Schadens. Schaden kann so lange abgewendet oder begrenzt werden, so lange Systeme funktionieren, die Fehler korrigieren oder schädliche Einflussparameter inaktivieren. Werden diese Korrektur- und Abwehrsysteme selbst geschädigt, beschleunigt sich der Alterungsprozess. Obwohl Langlebigkeit somit nur indirekt von Genen gesteuert wird, besitzt auch das Altern – ebenso wie Krankheit – ein genetisches Korrelat, das sich molekular ausprägt und somit durch Moleküle
Demographische Entwicklung und Heilmittelverbrauch
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beeinflusst werden kann. Diese Moleküle sind Arzneimittel, die entweder eingesetzt werden können, um die Kontroll- und Abwehrsysteme zu stärken (beispielsweise durch die Gabe von Vitaminen, Immunmodulatoren oder Antioxidantien) oder um in Krankheiten manifest gewordene Schäden zu korrigieren bzw. deren Auswirkungen zu modulieren. Aus diesem Grund stehen das zunehmende Altern der Bevölkerung einerseits und Qualität wie Quantität von Arzneimittel andererseits mindestens zum Teil in einem direkten Zusammenhang. Der Rückgang der Sterblichkeit Hunger, Seuchen und Infektionskrankheiten, an erster Stelle die Malaria und die Tuberkulose, haben über die Zeit mehr Todesfälle verursacht als alle Kriege der Menschheitsgeschichte. An Malaria starben noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts jedes Jahr mehrere Millionen Menschen. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Anwendung von Brechwurz und Chinarinde die einzigen therapeutischen Optionen zur Behandlung der Malaria. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen im Wesentlichen die Acetylsalicylsäure (Aspirin®), das Aminophenazon (Pyramidon®), das Arsphenamin (Salvarsan®), die Diethylbarbitursäure (Veronal®), ein Diphtherieserum, Morphin, das Procain (Novocain®), das Strophanthin (Kombetin®) sowie zahlreiche Phytopharmaka zur Verfügung. Dramatisch vollzog sich danach in den entwickelten Ländern der Rückgang der Sterblichkeit. Hier einige Zahlen für den Zeitraum von 1965 bis 2000. x Die Säuglingssterblichkeit nahm in diesen 35 Jahren um 80 % ab. x An rheumatischem Fieber und rheumatischen Herzerkrankungen verstarben 75 % weniger Patienten. x Atherosklerose und Hypertonie führen jeweils zu 68 % seltener zum Tod. x Todesursachen durch Magen- und Zwölffingerdarmgeschwür nahmen um 61 % ab. x Und an ischämischen Herzkrankheiten und Emphysem verstarben im Jahre 2000 41 % bzw. 31 % weniger Patienten als noch 1965. Beeindruckend ist auch der Rückgang um 60 % bei der Sterblichkeit von an Leukämie erkrankten Kindern in den letzten 25 Jahren. Die Menschen werden immer älter (Abb. 3). Seit 1986 ist die durchschnittliche Lebenserwartung der US-Amerikaner um zwei Jahre gestiegen. 40 % dieses Anstiegs sind auf die Entdeckung und/oder auf die Ent-
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wicklung immer besserer und spezifischer wirksamer Wirkstoffe und Arzneimittel zurückzuführen (Lichtenberg 2003).
Abb. 3. Entwicklung der Lebenserwartung für Männer und Frauen in einem Zeitraum von 1960 bis 2050 [Quelle: Eurostat].
Darüber hinaus belegen Studien, dass rationale Arzneimitteltherapien Krankenhausaufenthalte verkürzen und dadurch die Gesundheitssysteme signifikant entlasten. Diese Ersparnisse übersteigen bei weitem die Kosten für moderne Medikamente, obwohl dies von vielen Versorgungsträgern so nicht akzeptiert oder auch ignoriert wird – auch, weil die Ausgaben im Gesundheitswesen nicht global sondern in hohem Maße partikulär verwaltet werden. Die Alterung der Gesellschaft Waren für den Rückgang der Sterblichkeit eine deutliche Verbesserung des Gesundheitswesens mit einem dramatischen Rückgang der Kindersterblichkeit und die enormen Fortschritte in der Medizin – insbesondere die Fortschritte bei den Arzneimitteln, in der Anästhesie und in der Chirurgie verantwortlich, so lag der Grund für die langsame aber stetig steigende Verformung der Alterspyramide nach oben hin vor allem in der bewussten und unbewussten Geburtenkontrolle. In allen westlichen Industriestaaten liegen die Geburtenraten unter den Raten, die erforderlich wären, um eine „gesunde“ Alterspyramide zu gewährleisten. Eine Geburtenrate, die das Älterwerden der Bevölkerung gerade zu kompensieren in der Lage wäre, müsste für Industrienationen der-
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zeit bei mindestens 2,1 Kindern für jede Frau im gebärfähigen Alter liegen. Das ist allerdings praktisch nirgendwo mehr der Fall. Fast überall in der Welt wächst der Anteil der Bürgerinnen und Bürger, die 65 Jahre und älter sind, schneller als der jeder anderen Altersgruppe. Die größte relative Wachstumsgeschwindigkeit zeigt die Gruppe derjenigen, die 80 Jahre und älter sind. Dies ist letztlich eine Folge des so genannten double ageing, dem Resultat aus einer gestiegenen Lebenserwartung und einer fallenden Geburtenrate.
Konsequenzen der demographischen Entwicklung Konsequenzen für den Arzneimittelmarkt und -konsum Derartige Perspektiven für den Wandel der Altersstrukturen haben für die Abschätzung der Heilmittelqualität und des Heilmittelverbrauches enorme Bedeutung: Bevölkerung und Patienten mit ihren spezifischen Bedürfnissen, Präferenzen und nicht zuletzt auch Zahlungsbereitschaften werden in den kommenden Jahren einer der wichtigsten "Treiberfaktoren" für Entwicklungen im Gesundheitswesen sein. Änderungen in der Altersverteilung in einer Gesellschaft und die Arzneimittelentwicklung korrelieren nicht nur, sie befördern sich auch gegenseitig. Sobald neue Medikamente für bis dahin unmet medical needs entwickelt und zugelassen werden, hat dies Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur. Umgekehrt wird sich auch der Wandel in der Bevölkerungsstruktur auf die Arzneimittelforschung – und damit auf den Arzneimittelgebrauch – auswirken. Keineswegs spielt dabei nur der steigende Anteil an „Alten“ die entscheidende Rolle. Auch die Jüngeren werden neue Ansprüche und Bedürfnisse geltend machen, und wer gestern noch als „alt“ galt, wird sich morgen „noch jung“ fühlen und Ansprüche stellen, die teilweise nicht mehr kongruent mit der biologischen Entwicklung verlaufen. Wir werden mit der Zeit immer stärker zu differenzieren haben zwischen dem „gefühlten Alter“ und dem „biologischen Alter“, wobei das „gefühlte Alter“ die Ansprüche bestimmt. Andererseits lassen sich aber Konsequenzen des „biologischen Alters“ nur bedingt kompensieren, so dass das für das Alter so typische Auftreten mehrerer Leiden – und vor allem das häufig gleichzeitige Auftreten körperlicher und psychischer Erkrankungen (hierbei insbesondere demenzieller und depressiver Erkrankungen) – derzeit noch nicht zu verhindern ist. Dies ist für die medizinische Versorgung älterer und sehr alter Menschen von größter Bedeutung. Oft geht eine solche Koinzidenz mit einer erschwerten Diagnosestellung somatischer Erkrankungen, einer verminderten compliance im Rahmen der Therapie sowie mit einem be-
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trächtlich erhöhten Bedarf an medizinischen und pflegerischen Behandlungsressourcen einher. Eine Vielzahl von Gründen lässt sich anführen, warum sich das Spektrum der Arzneimittel und deren quantitativer Einsatz als Konsequenz aus der demographischen Entwicklung ändern werden, ohne dass signifikante Teile des derzeit verfügbaren Arzneimittelschatzes vom Markt verschwinden. Es wird nicht etwa eine „Anpassung durch Ersatz“, sondern mit großer Sicherheit eine Ausweitung der Heilmitteloptionen geben. Dabei werden wir einen Trend zur Individualisierung des Arzneimitteleinsatzes erleben, der ganz besonders auch dem stetig steigenden biologischen Alter mit seinen physiologischen Konsequenzen Rechnung trägt, was heute noch weitgehend ignoriert wird. Verschiebung des Krankheitsspektrums: Multimorbidität und Zunahme der Bedeutung chronischer Erkrankungen Neben der mit dem Alter zunehmenden Inzidenz und Prävalenz vieler chronischer Erkrankungen ist das gleichzeitige Auftreten verschiedener chronischer Erkrankungen, die Multimorbidität, ein wichtiges Charakteristikum des älteren Menschen. Fast jeder alte Mensch (Alter 70+) ist behandlungsbedürftig krank. Dies unterstreicht der Befund, dass bei 96 % aller Studienteilnehmer der Berliner Altersstudie mindestens eine behandlungsbedürftige internistische, neurologische, orthopädische oder psychische Erkrankungen diagnostiziert wurde. Immerhin 30 % der Studienteilnehmer litten an fünf oder mehr behandlungsbedürftigen Krankheiten (Steinhagen-Thiessen und Borchelt 1996), von denen jede einzelne im Rahmen der zumeist auf eine „Hauptdiagnose“ fokussierten medizinischen Betreuung nur selten ausreichend behandelt wird. Charakteristisch ist zugleich jedoch die teilweise sehr starke Diskrepanz zwischen objektiven Diagnosen und subjektiven Beeinträchtigungen. Während beispielsweise unter den objektiven Diagnosen die Herz-KreislaufErkrankungen und ihre Risikofaktoren im Vordergrund stehen, sind unter den als subjektiv deutlich relevanter eingeschätzten Erkrankungen Leiden des Bewegungsapparates (insbesondere Arthrosen, Dorsopathie und Osteoporose) am häufigsten. Chronische Erkrankungen im höheren Lebensalter gehen häufig mit funktionellen Defiziten einher, deren Art und Ausprägung für die Lebensqualität der Betroffenen und die Inanspruchnahme von medizinischen und pflegerischen Leistungen vielfach sehr viel entscheidender ist als die genaue medizinische Diagnose. Bei der Ermittlung des medizinischen und pflegerischen Versorgungsbedarfs finden sie jedoch
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vielfach keine adäquate Berücksichtigung (Brenner et al. 1996, Kliebsch et al. 1998, Kliebsch et al. 2000). Selektives Überleben Nicht bei allen chronischen Erkrankungen ist eine Zunahme der Prävalenz bis in die höchsten Altersstufen zu verzeichnen. So nimmt beispielsweise die Prävalenz der Hyperlipidämie oder der arteriellen Hypertonie in den höchsten Altersstufen wieder ab, was zumindest teilweise durch einen selektiven Überlebensvorteil von Personen ohne diese Erkrankungen zu erklären ist. Ferner leben immer mehr Menschen gesünder, indem sie das Rauchen aufgeben und sich gesünder ernähren. Dadurch beugen sie möglicherweise Altersbehinderungen vor. Darüber hinaus lässt sich körperlicher Verfall durch Korrekturen aufhalten, die auf der Basis schwerer Defekte einen erstaunlichen Grad an Aktivitäten zulassen, ohne die der Alterungsprozess dramatisch schneller fortschreiten würde. Hierzu zählen beispielsweise Interventionsmöglichkeiten wie das Einsetzen von Herzschrittmachern oder von künstlichen Hüft- und Kniegelenken.
Abb. 4. Die Rektangularisierung der Mortalitätskurve. Die durchgezogenen Linien beschreiben den prozentualen Anteil der Bevölkerung in Abhängigkeit vom jeweiligen Alter für die Jahre 1889 und 1992) (Heinzen 2003). Die gestrichelt gezeichneten Linien markieren die entsprechenden Morbiditätskuren.
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Als Konsequenz dieser Entwicklung verschob sich die Mortalitätskurve in den letzten 100 Jahren signifikant nach rechts und änderte zudem noch ihren charakteristischen Verlauf. Man spricht hier von einer Rektangularisierung der Mortalitätskurve (Abb.4). Die Spreizung der Zeitspanne zwischen Morbidität und Mortalität Die Verschiebung der Mortalitätskurve macht es allerdings erforderlich, zusätzlich einen genaueren Blick auf die Morbiditätskurven zu werfen (siehe Abb. 4, gestrichelte Linien), da diese von entscheidender Bedeutung für das Gesundheitssystem sind. Sobald sich nämlich die Morbiditätskurve nicht in gleichem Umfang nach rechts bewegt, wie die Mortalitätskurve (compression of morbidity), steigen die Anforderungen an das Gesundheitssystem. Dass genau dieses im Verlauf der Jahre 1889 bis 1992 passiert ist, lässt sich daran erkennen, dass die Lücke zwischen Mortalitätsund Morbiditätskurve erheblich größer geworden ist (expansion of morbidity). Starben früher die Leute quasi „gesund“ – oder anders ausgedrückt: „wer erkrankte, starb kurze Zeit später“ – haben wir heute dank hervorragender Medikamente die Möglichkeit, auch krank – und dies bedeutet in aller Regel chronisch krank – noch erheblich länger zu leben. Und dieser Trend wird sich weiter ausprägen – nicht nur, weil die Therapieoptionen weiter verbessert werden, sondern weil Krankheiten künftig eigentlich neu definiert werden müssen. Evidenz-basierte medizinische Daten weisen eindeutig darauf hin, dass man von einigen medikamentösen Interventionsstrategien signifikant profitieren kann, wenn man mit der Intervention zu einem Zeitpunkt beginnt, an dem man sich subjektiv noch völlig gesund fühlt, an dem aber Biomarker bereits eindeutig ein Problem erkennen lassen. Krankheiten neu zu definieren, wäre zweifelsohne konsequent, wenn man die Daten konsequent interpretieren würde – dies allerdings mit der Konsequenz, dass sich die Morbiditätskurve noch weiter nach links und die Mortalitätskurve wahrscheinlich noch weiter nach rechts verschieben würde – ein Horrorszenario für Gesundheitsökonomen. Die steigende Anspruchshaltung der Bevölkerung auf der Basis eines umfassenden Versicherungsschutzes Für Überlegungen hinsichtlich des Heilmittelgebrauchs wird es relevant sein, nicht nur die Bedürfnisse zu betrachten, sondern auch die Ansprüche. Aus einer steigenden Anspruchshaltung gegenüber einer Inanspruchnahme
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von Gesundheitsleistungen, die vor allem durch den umfassenden Versicherungsschutz geschürt wird, resultiert nicht nur ein gewaltiges Verschwendungspotential dringend notwendiger Ressourcen, sondern auch eine potentielle Belastung mit Xenobiotika, die der Organismus gar nicht benötigt. Ein Grund, dieses Problem ernst zu nehmen, liegt darin, dass sich die Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich ihrer Therapiebedürfnisse immer weniger von Fachleuten „leiten“ lassen, sondern darauf bestehen, sich größtenteils auch selbst zu therapieren. Wirkstoffe aller Qualitäten werden durch die steigende Freizügigkeit in den Handelswegen immer leichter zugänglich und immer weniger kontrolliert verteilt. Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass in einigen Ländern (beispielsweise den USA) auch für verschreibungspflichtige Arzneimittel – also Arzneimittel, die auch bei korrekter Anwendung schwere Nebenwirkungen verursachen können – direct to consumer-Werbekampagnen nicht nur gestattet sind sondern auch in großem Stil durchgeführt werden. Nicht wenige Bürger lassen sich durch derartige Kampagnen „krank reden“, und nicht wenige Fachleute (Ärzte und Apotheker) werden sich überreden lassen, diesem Anspruchsdenken nachzugeben und überflüssige Arzneimittel zu verordnen oder zu verkaufen. Die steigende Bedeutung an Vorsorgemedikation mit der Konsequenz der „pharmakotherapeutischen Behandlung Gesunder“ Vorsorgemedizin wird ein immer stärkeres Gewicht bekommen, da Möglichkeiten, Risiken in Form geeigneter Biomarker zu detektieren, immer stärker genutzt werden (siehe weiter oben). Je nach dem Zeitpunkt einer präventiven Intervention spricht man heute von Primär-, Sekundärund Tertiärprävention (Fischer et al. 2005). x Eine Primärprävention zielt darauf ab, die Eintrittswahrscheinlichkeit für eine Krankheit (die Inzidenz) zu senken. x Bei der Sekundärprävention versucht man Frühstadien einer Krankheit zu erkennen und diese bereits zu therapieren, um die Inzidenz manifester bzw. fortgeschrittener Erkrankungen oder Krankheitsstadien zu reduzieren. x Unter Tertiärprävention versteht man die Behandlung einer Krankheit mit dem Ziel, ihre Verschlimmerung zu vermeiden oder zu verzögern oder Einschränkungen und Funktionseinbußen, die aus einer Krankheit resultieren, zu kompensieren (Rehabilitation).
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Alle drei Präventionsformen werden künftig stärker genutzt. Dabei stellt sich allerdings die Frage, welche präventiven Strategien verfolgt werden sollen. ‚Präventionskampagnen‘ zielen häufig auf die Modifikation verhaltensbezogener Risikofaktoren wie Tabak- und Alkoholkonsum, Fehlernährung und Mangel an Bewegung. Diese Maßnahmen sind hinsichtlich der Kosten überschaubar, erfordern aber Motivation bei den Betroffenen. Mögen solche Maßnahmen im Bereich der Primärprävention nach als ausreichend angesehen werden, wird spätestens im Bereich der Sekundärprävention eine z.T. komplexe medikamentöse Interventionsmaßnahme in Betracht zu ziehen sein. Und da die Übergänge von der Primärprävention zur Sekundärprävention nicht scharf zu definieren sind, wird man davon ausgehen können, dass mit wachsendem Erkenntnisgewinn der Eintritt in die Sekundärprävention immer früher als sinnvoll – wenn nicht gar als notwendig – erachtet werden wird. Diese Entwicklung wird sich beschleunigen, wenn sich Methoden der prädiktiven Diagnostik weiter etablieren. Zwar wird dieser Art der Diagnostik, die zu großen Teilen als Gendiagnostik angelegt ist, noch mit erheblicher Skepsis begegnet. Dies wird sich aber ändern, wenn Variationen in den Genomen besser verstanden werden und wenn das dadurch stetig steigende Potential dieser relativ neuen Methoden besser bekannt wird. Als Konsequenz wird sich ein langsamer Übergang von der ausschließlichen Behandlung Kranker zur Behandlung „Gesunder“ einstellen, weil man in der Lage ist, zu erkennen, dass diese „vermeintlich Gesunden“ genetische Risiken tragen, die durch eine prophylaktische Therapie möglichst klein gehalten werden sollten. Dies wird – wie weiter oben schon angesprochen – bereits heute im Zusammenhang mit der Festlegung neuer „Normwerte“ beispielsweise für Serumlipide oder für den Blutdruck diskutiert. Künftig werden genetische Marker hinzukommen, die sich phänotypisch (noch) nicht äußern, die aber für Vorsorgestrategien – auch im Sinne einer medikamentösen Intervention – relevant sein können und relevant werden sollten, will man die zur Verfügung stehenden Optionen umfassend nutzen. Die Nachfrage nach „Lifestyle-Medikation“, die biologische Entwicklungen verlangsamt oder korrigiert Ein wesentliches Segment des Heilmittelkonsums in einer sich demographisch ändernden Bevölkerung wird von so genannten LifestyleMedikamenten eingenommen werden. Derartige Medikamente korrigieren nicht Krankheits–, sondern Alterungsphänomene, mit denen man sich aber
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nicht abfinden muss oder abfinden will. Es werden Wirkstoffe eingesetzt, die körperliche Fitness und Aussehen positiv korrigieren. Zu dieser Gruppe von Medikamenten werden Wirkstoffe gehören, die eine sexuelle Aktivität auch in fortgeschrittenem Alter ermöglichen. Dazu zählen die PDE5-Hemmer und andere Wirkstoffe gegen erektile Dysfunktion, deren potentielles Patientenklientel beispielsweise in den USA auf 10-30 Millionen Männer im Alter von 40-70 Jahren und in Deutschland auf 5-10 Millionen Männer geschätzt wird. Dazu zählen Östrogen-Präparate, die nicht nur eingesetzt werden, um die Beschwerden des so genannten klimakterischen Syndroms zu behandeln, ein heterogener Beschwerdekomplex, der von psychovegetativen über vasomotorischen bis zu organischen Symptomen mit dem Leitsymptom Hitzewallungen (hot flushes) reicht (Birkhauser 1997, Freedman 2002, Bachmann und Leiblum 2004). Neben der Kurzzeittherapie des klimakterischen Syndroms werden Östrogen-Präparate – obwohl aufgrund neuerer Daten zunehmend kritischer betrachtet (Million Women Study Collaborators 2005) – auch im Sinne von Lifestyle-Medikamenten eingesetzt, die erwiesenermaßen viele der physiologischen Folgen des abrupten Abfalls der ovariellen Hormonproduktion zu kompensieren vermögen. Dazu zählt auch die Vorbeugung chronischer Alterskrankheiten durch eine HRT (hormone replacement therapy), weil in verschiedenen Studien den Östrogenen ein protektiver Effekt bei der Senkung des Erkrankungsrisikos (z.B. bei Herz-Kreislauf-Krankheiten, bei Osteoporose und Morbus Alzheimer) nachgewiesen werden konnte (Magri et al. 2005). Eine ganze Palette (meist illegal eingesetzter) Hormonpräparate werden auf der Welle der Körperertüchtigung mit großen gesundheitlichen Risiken in Fitness-Studios konsumiert, um dem Ideal eines schönen Körpers möglichst schnell und mit möglichst geringem Trainingsaufwand näher zukommen. Es werden höchstwirksame Neurotoxine gespritzt, um Falten zu glätten oder eine überaktive Schweißproduktion zu normalisieren. Und es wird einen steigenden Bedarf an Wirkstoffen geben, die nach übermäßigem Genuss von Lebensmittel und Alkohol den normalen Stoffwechsel so modifizieren, dass sich die Konsequenzen dieser unvernünftigen Ernährung gemäßigt auswirken. Teilweise sind diese Wirkstoffe bereits verfügbar. Mit Sicherheit werden wir in diesem Sektor aber erstaunliche neue Optionen realisiert sehen.
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Das Heilmittelangebot in einer sich demographisch wandelnden Bevölkerung Man kann davon ausgehen, dass das derzeitige Spektrum an Wirkstoffen und Arzneimitteln auch bei einer sich wandelnden Altersstruktur weitestgehend erhalten bleibt. Man kann aber auch davon ausgehen, dass dieses Wirkstoff- und Arzneimittelspektrum deutlich erweitert wird, wobei sich diese Erweiterung an den so genannten unmet medical needs orientieren wird, die auch bestehen würden, wenn die relative Alterstruktur weitgehend konstant bleiben, die Lebensspanne jedoch aufgrund des Fortschritts steigen würde. Heilmittelgebrauch in verschiedenen Lebensabschnitten Wegen einer zunehmenden Morbidität mit steigendem Alter ändert sich auch der Heilmittelgebrauch. Dies betrifft sowohl die Art als auch die Menge der eingenommenen Arzneimittel. Die aktuellste Analyse liefert der Arzneiverordnungsreport 2005 (Nink und Schröder 2006), in dem Arzneimittelverordnungen mit der Zahl der GKV-Versicherten in unterschiedlichen Altersgruppen korreliert wurden (Abb. 5). Danach wurden im Jahre 2004 in Deutschland im Durchschnitt 8,1 Arzneimittelpackungen mit 376,2 definierten Tagesdosen (DDD) für jeden GKV-Versicherten verordnet. Je nach Altergruppe variierte der Arzneimittelkonsum zwischen 59 DDDs bei den 20- bis unter 25-Jährigen bis zu 1.120 DDDs bei den 80- bis unter 85-Jährigen. Dies korrespondiert mit 0,2 bis 3,1 Tagesdosen pro Tag. Hinsichtlich der Kosten bedeutet eine solche Ungleichverteilung, dass auf ca. 10 % der Versicherten bereits 53 % der Arzneimittelausgaben entfallen (Berg 1986). Versicherten mit einem Lebensalter ab 60 Jahren, die 2004 (noch) lediglich 26,6 % der Gesamtpopulation darstellen, wurden 54,9 % des gesamten GKV-Fertigarzneimittelumsatzes verschrieben. Im Durchschnitt wird jeder über 60-Jährige mit knapp 2,4 Arzneimitteln (DDD) täglich als Dauertherapie behandelt. Auf jeden Versicherten in der Altersgruppe 65 bis 75 Jahre entfielen 2004 im Mittel 17 Arzneipackungen im Wert von 697 € (Nink und Schröder 2005).
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Abb. 5. Arzneimittelverordnungen (DDD) der GKV-Versicherten aufgeschlüsselt nach Altersgruppen (5-Jahresschritte) [Quelle: Arzneiverordnungsreport 2005].
Besonders häufig werden im Alter Betablocker/Calciumantagonisten/ Angiotensinhemmstoffe, Antihypertonika, Diuretika, Lipidsenker und Koronarmittel verordnet, die vor allem zur Behandlung von Herz-KreislaufErkrankungen eingesetzt werden. Häufig eingenommen, wenn auch immer weniger von den Krankenkassen erstattet, werden Thrombozytenaggregationshemmer. Weitere bedeutsame Wirkstoffgruppen für 70- bis unter 75Jährige sind Antidiabetika, Analgetika/Antirheumatika, Broncholytika/ Antiasthmatika und Magen-Darm-Mittel. Der Verbrauch all dieser Arzneimittel nimmt mit steigendem Alter nicht gleichförmig zu. Während er bei Analgetika/Antirheumatika, Diuretika, Koronarmitteln und Magen-Darm-Mitteln mit steigendem Alter weiter ansteigt, nimmt er bei Lipidsenkern und Antidiabetika mit steigendem Alter ab. In den übrigen genannten Wirkstoffgruppen bleibt der Gebrauch weitgehend konstant. Das ist keineswegs rational – besonders was den geringeren Einsatz von Lipidsenkern und Antidiabetika betrifft – sondern lässt vielmehr auf eine Unterversorgung schließen. Hier erweist sich der alte Mensch als schwaches Glied in der Gesellschaft. Viele Autoren sehen den demographischen Wandel nicht unbedingt als die treibende Kraft für den steigenden Arzneimittelgebrauch. Dieser steigt
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– unabhängig vom Alter – besonders mit der Nähe zum Tod (Braun et al. 1998, Zweifel 2001, Nink und Schröder 2003). Da jedoch mehr Bürgerinnen und Bürger immer länger leben, wird die Todesnähe ins höhere Alter verschoben, so dass der demographischen Entwicklung vor allem hinsichtlich der größeren Lebenserwartung sehr wohl eine Steigerung des Heilmittelkonsums geschuldet werden muss. Entwicklungstendenzen für neue Arzneimittel Im Folgenden sollen exemplarisch einige der unmet medical needs andiskutiert werden, ohne dass diese Darstellung einen Anspruch auf Vollständigkeit einfordern würde. Tabelle 1. Behandlungsoptionen ausgewählter Erkrankungen (nach Mutschler 2004). Krankheit oder Symptom Bakterielle Infektionen Virale Infektionen Pilzerkrankungen Schmerz Parkinson’sche Krankheit Demenz Psychische Erkrankungen Epilepsie Autoimmun-Erkrankungen Blut-Hochdruck Koronare Herzkrankheit Herzversagen Schlaganfall Dyslipidämie Gicht Diabetes mellitus Bronchialasthma Krebs
Behandlung symptomat. kausal +++ + ++ +++ +++ +++ + +++ +++ ++ +++ +++ + +++ + +++ +++ + +++ + +++ + ++ +
Behandlungsdefizite + ++ + + ++ +++ +++ ++ ++ + ++ ++ +++ + + + +++
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Wirkstoffe, die die Physiologie des Zentralnervensystems beeinflussen Psychopharmaka Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie es in einer “Nervenheilanstalt” zuging, bevor die modernen Psychopharmaka zur Verfügung standen. Hier kann man den Wandel, den diese neuen Wirkstoffe ausgelöst haben, durchaus als revolutionär bezeichnen. Und trotzdem ist die derzeitige Situation keineswegs als befriedigend zu bezeichnen. Denn fast alle derzeit verfügbaren Wirkstoffe vermögen zwar Symptome teils erstaunlich gut zu behandeln, die Ursachen bleiben jedoch bestehen. Und noch längst nicht gehört das Attribut „der chemischen Keule“, mit dem man die ersten Psychopharmaka zu apostrophieren pflegte, der Vergangenheit an. Dieser Konflikt ließe sich mit beliebig vielen Beispielen belegen. Stellvertretend soll hier das Antidepressivum Fluoxetin genannt sein, das 1988 von Lilly als Prozac® eingeführt wurde. Zu diesem Arzneimittel existieren mehr als 10 populärwissenschaftliche Bücher mit teils extrem kontroversem Inhalt. Während Peter Kramer in seinem Buch „Listening to Prozac“ aufzeigt, wie gut dieser Wirkstoff Depressiven hilft, mit ihrer Persönlichkeit wieder besser „in Einklang“ zu kommen (Kramer 1993), stellt Peter Breggin in seinem Buch „Talking back to Prozac“ Nebenwirkungen, Risiken und besonders das Suchtpotential von Fluoxetin in den Vordergrund und kritisiert den Wirkstoff, das Unternehmen Eli Lilly und die FDA in äußerst polemischer Form (Breggin und Breggin 1995). Hier zeigen sich auch die Herausforderungen. Wir brauchen Psychopharmaka, die noch besser verträglich sind, die ein noch geringeres Suchtpotential besitzen und die sich so dosieren lassen, dass alte wie junge Menschen gleich gut behandelt werden können. Da Psychopharmaka nicht selten zusätzlich zu anderen Medikamenten eingesetzt werden, ist der Aspekt der Kompatibilität zu anderen Wirkstoffen relevant. Gerade unter diesem Aspekt ist ein deutliches Verbesserungspotential bezüglich der derzeit verfügbaren Wirkstoffe gegeben. Stehen derart optimierte Wirkstoffe künftig zur Verfügung, ist davon auszugehen, dass der Arzneimittelverbrauch steigen wird, denn derzeit ist die Versorgung in diesem Bereich als suboptimal anzusehen. Sicherlich wurde auch mit den modernen Neuroleptika ein neues Kapitel der Therapieoptionen bei der Behandlung Schizophrener geschrieben. Hier handelt es sich nicht zwingend um ein Patientenkollektiv alter Menschen. Bei den Neuroleptika wird zwischen konventionellen und den neueren, „atypischen“ Antipsychotika, sowie zwischen hoch- und niederpotenten Antipsychotika unterschieden. In unterschiedlicher Ausprägung zeigen
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die Substanzen Nebenaktivitäten, die meist nicht gewünscht sind. Das Profil der neueren atypischen Antipsychotika zeichnet sich aus klinischer Sicht durch weniger oder fehlende extrapyramidalmotorische Wirkungen, einer verbesserten Wirkung auf die so genannte „Negativsymptomatik“ sowie auf kognitive und affektive Symptome aus. Das Risiko extrapyramidaler Nebenwirkungen ist gerade für ältere Patienten bedeutsam, da die Vulnerabilität gegenüber Parkinsonismus und tardiven Dyskinesien mit dem Alter zunimmt. Clozapin als Substanz ohne extrapyramidale Nebenwirkungen hat wiederum Nachteile, da sedierende Effekte und selten Agranulozytose auftreten können, die eine besondere Überwachung der Patienten notwendig machen. Obwohl die neuen Wirkstoffe als wesentlich besser verträglich und wirksamer einzustufen sind, so dass vor allem auch viele der noch jüngeren Patienten wieder ins Berufsleben eingegliedert werden können, erkennt man durchaus ein Potential für Innovationen. Anti-Parkinson-Mittel Die modernen Behandlungsoptionen der Parkinson-Krankheit verdeutlichen, wie wichtig Grundlagenforschung ist und wie konsequent man die Erkenntnisse aus dieser Forschung in Therapiestrategien umsetzen kann. So steht erfreulicherweise mit Levodopa, Dopaminrezeptor-Agonisten, Amantadin, Budipin, Catechol-O-Methyl-Transferase-Hemmern (COMTHemmer), Monoaminooxidase-B-Hemmer (MAO-B-Hemmer) sowie mit den Anticholinergika ein beachtliches Arsenal an sehr unterschiedlich angreifenden Wirkstoffen zur Behandlung der Parkinson-Krankheit zur Verfügung. Und dennoch ist noch immer nicht zu verhindern, dass die Krankheit weiter fortschreitet. So rücken bei der Therapie von Patienten im fortgeschrittenen Stadium Faktoren wie das Alter, die Schwere der Symptomatik, die Ausprägung der Kardinalsymptome, die Krankheitsdauer und Progredienz, insbesondere aber die Begleiterkrankungen, die Begleitmedikation sowie die persönliche Situation des Patienten, die Verträglichkeit der Medikamente und deren Kosten Therapie-bestimmend in den Vordergrund Wie wichtig eine stetig zu optimierende Behandlung der ParkinsonKrankheit ist, kann man aus einer Aussage der Englischen ParkinsonSelbsthilfeorganisation ableiten, die sinngemäß sagt, „dass die ParkinsonKrankheit zwar nicht tötet, einem aber das Leben nimmt“. Die Herausforderung der Zukunft liegt daher in der Neuroprotektion. Denn ähnlich wie bei der Alzheimer-Krankheit ist die Parkinson-Krankheit eine neurodegenerative Erkrankung, die erst dann erkannt wird, wenn der Schaden bereits immens ist.
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Erste Ansätze zu einer neuroprotektiven Intervention sind bereits gemacht. Dazu zählt die Entwicklung von Wirkstoffen, die mit einer bestimmten Gruppe von Glutamat-Rezeptoren – den so genannten NMDARezeptoren – interagieren. Antidementiva Die stetig steigende Zahl der im Alter an einer Demenz erkrankten Patienten signalisiert ohne Zweifel eines der größten Herausforderungen, will man dem Ziel näher kommen, Menschen ein „Altern in Gesundheit“ zu ermöglichen. Was heute zur Behandlung dieser zweiten großen neurodegenerativen Erkrankung zur Verfügung steht, ist alles andere als optimal. Moderne Therapieansätze sind auch hier durchaus rational: x So greifen die meisten heute verfügbaren Wirkstoffe – die Cholinesterase-Inhibitoren Donepezil (Aricept®) Rivastigmin (Exclon®) und Galantamin (Reminyl®) – dort ein, wo das biochemische Problem liegt, indem sie den Abbau der nicht mehr ausreichend verfügbaren Neurotransmitter-Substanz Acetylcholin zu blockieren versuchen. x Alternativ kann durch Einsatz des Glutamatmodulators Memantine (Axura®, Ebixa®) in physiologischer Weise der NMDA-Kanal blockiert werden, so dass dieser zwar für Glutamat-vermittelte Lern- und Gedächtnisvorgänge noch voll verfügbar ist, gleichzeitig aber gegen die exzitotoxischen Wirkungen von pathologisch erhöhten Glutamatkonzentrationen geschützt ist. Die sich hieraus ergebende Neuroprotektion ist gut belegt (Reglia und Winblad 2003). Dennoch sind neue Strategien dringend erforderlich. Eine dieser Strategien zielt dahin, die Synthese des ß4-Amyloids zu inhibieren. Hierbei handelt es sich um ein Protein, das ganz maßgeblich an der Entstehung der Alzheimer-Erkrankung und an deren Fortschreiten beteiligt ist. Auch wird versucht, die Aggregatbildung dieses Proteins zu verhindern, denn letztlich sind es die enormen Ablagerungen der ß4-Amyloid-Aggregate, die ein Absterben der Neuronen in den betroffenen Hirnaggregaten zur Folge haben. Nach allem, wie man die Krankheit aber heute einzuschätzen vermag, scheint ein wirklicher Durchbruch erst dann möglich zu sein, wenn ein früheres Erkennen des Krankheitsgeschehens möglich ist. So sind beide großen neurodegenerativen Erkrankungen – die Alzheimer-Krankheit und die Parkinson-Erkrankung – Beispiele dafür, dass Fortschritte von einer besseren Diagnostik und/oder von effizienteren Präventionsstrategien abhängen werden, was weiter oben unter dem Stichwort
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„Behandlung Gesunder“ diskutiert wurde und was für den zukünftigen Heilmittelkonsum extrem relevant sein wird. Die Behandlung von Schlafstörungen Schlafstörungen werden auch in Zukunft junge wie alte Bürgerinnen und Bürger betreffen. Für den Einsatz bei älteren Patienten kommen im Prinzip die gleichen Stoffgruppen in Frage wie bei jüngeren. Noch immer dominieren hier – besonders bei älteren Patienten – die BenzodiazepinHypnotika, auch weil sie relativ preiswert sind. Gerade bei dieser Patientengruppe ist allerdings die Benzodiazepin-Behandlung mit speziellen Risiken verbunden, die über das allgemeine Nebenwirkungsprofil (Abhängigkeitspotential, Rebound-Insomnie bei plötzlichem Absetzen, Interaktion mit Alkohol) dieser Stoffgruppe hinausgehen. Die muskelrelaxierende Wirkung erhöht die Sturz- und damit die Frakturgefahr beim nächtlichen Aufstehen. Häufiger als bei jungen Patienten kann es zu paradoxen Reaktionen mit Antriebssteigerungen und Erregungszuständen kommen. Dieses Risiko ist bei Demenzpatienten besonders hoch. Die atemdepressive Wirkung kann eine bestehende, eventuell unerkannte Atemregulationsstörung (z. B. Schlafapnoe-Syndrom) verstärken. Durch den veränderten Metabolismus im Alter kann es auch bei Substanzen mit mittellangen Halbwertszeiten zur Kumulation und zu Überhangeffekten kommen. Die neueren Benzodiazepin-Rezeptor-Agonisten Zopiclon, Zolpidem und Zaleplon sind chemisch nicht mit den Benzodiazepinen verwandt. Gerade bei älteren Patienten weisen sie gegenüber den Benzodiazepinen eine günstigere Nutzen-Risiko-Relation auf: Bei vergleichbarer hypnotischer Potenz sind Muskelrelaxation und Atemdepression geringer ausgeprägt, Abhängigkeit und Rebound-Insomnien nach Absetzen treten seltener auf. Sedierende Antidepressiva kommen bei sekundären Schlafstörungen auf dem Boden einer Depression, aber auch bei chronischen psychophysiologischen Insomnien in Betracht. Die schlaffördernde Wirkung dieser Medikamente tritt schon in den ersten Behandlungsnächten ein, deutlich vor dem antidepressiven Effekt. Speziell bei älteren Patienten ist der Einsatz trizyklischer Antidepressiva als Schlafmittel jedoch limitiert durch die ausgeprägten anticholinergen Eigenschaften dieser Stoffgruppe. Auch niederpotente Neuroleptika haben ihren Platz in der Behandlung von Schlafstörungen bei älteren Patienten. Neben dem schlaffördernden Effekt ist ihnen die Wirkung auf psychomotorische Erregungszustände, Verwirrtheit und Agitiertheit gemeinsam. Liegen ausgeprägte nächtliche Verhaltensauffälligkeiten vor, so sind auch hochpotente Neuroleptika indiziert.
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In Deutschland werden relativ häufig Phytopharmaka als Schlafmittel verordnet. Die relativ spärlich vorliegenden Untersuchungen zur Wirksamkeit dieser Substanzen zeigen einen vergleichsweise schwach ausgeprägten Effekt bei weitgehendem Fehlen von Toxizität oder unerwünschten Wirkungen. Behandlung von Schmerzen Der Behandlung chronischer Schmerzen wird in Deutschland immer noch nicht adäquat Rechnung getragen. Offensichtlich hat die häufig (noch) bei Patienten und Ärzten anzutreffende Überzeugung, Schmerz sei ein unabdingbarer Begleiter des hohen Lebensalters und daher schicksalhaft zu akzeptieren, einen negativen Einfluss auf die diagnostischen und therapeutischen Bemühungen genommen. Die Zahl älterer Menschen, die über ständig vorhandene oder rezidivierende Schmerzen klagen, liegt nach Schätzungen zwischen 25 % und 50 % (Basler 1993). Aber natürlich sind auch jüngere Menschen betroffen. Bei der Behandlung chronischer Schmerzen gilt es als Kunstfehler, Medikamente nach Bedarf und nicht nach einem festen Zeitschema zu verordnen (Tölle 2003). Daraus leitet sich ab, dass eine Schmerztherapie, wird sie denn lege artis durchgeführt, eine sehr geordnete Dauertherapie darstellt, wobei der Typ und die Menge an Wirkstoffen jedoch sehr unterschiedlich sein können. Da die Probleme bei der Behandlung von Schmerzen prinzipiell erkannt sind, kann hier wohl mit deutlichen Veränderungen gerechnet werden, was sich wieder auf den Heilmittelgebrauch auswirken wird. Behandlung des ADHS-Syndroms Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine biologische Störung des Gehirns, von der nicht nur Kinder sondern auch immer mehr Erwachsene betroffen sind. Man nimmt an, dass sie auf ein Ungleichgewicht verschiedener Botenstoffe zurückgeführt werden kann (Krause et al. 1998). Die Symptome von ADHS schließen sowohl hyperaktive/ aggressive Verhaltensweisen als auch Aufmerksamkeitsdefizite ein. Die meisten Personen mit ADHS haben eine Mischung dieser Symptome, andere hingegen können lediglich hauptsächlich eine Art davon haben (Dulcan et al. 1997). Neben nichtmedikamentösen Therapiemaßnahmen, Bildungs- und Lifestyle-Änderungen, wird die medikamentöse Therapie einen stetig steigenden Stellenwert erlangen. Derzeit stehen als Optionen Stimulanzien, trizyklische Antidepressiva mit ausgeprägtem noradrenergem Wirkmechanismus, Lithium, andere Antidepressiva (Atomoxetin, Bupropion), Phenyl-
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alanin, Nikotinpflaster und Nikotin-Rezeptor-Agonisten zur Verfügung. Allerdings wird derzeit nur die Stimulanzienbehandlung mit Methylphenidat bei den gegebenen Optionen mit der Evidenzstufe 1 B als wirksam bewertet und als medikamentöse Therapie der 1.Wahl empfohlen. Die anderen pharmakologischen Therapien sind nach Expertenkonsens aufgrund des Nebenwirkungsprofils oder wegen geringerer oder fehlender Wirksamkeit bzw. nicht ausreichender Datenlage in der klinischen Praxis 2.Wahl oder nicht empfehlenswert (Leitlinien der DGPPN 2003). Daraus wird ersichtlich, dass in diesem Bereich ein großer Innovationsbedarf besteht. Seit März/April 2005 steht in Deutschland mit dem Wirkstoff Atomoxetin eine völlig neue Behandlungsmöglichkeit der ADHS zur Verfügung. Das Medikament muss nur einmal täglich eingenommen werden und wirkt dann über den ganzen Tag bis zum nächsten Morgen auf die Kernsymptome der ADHS – Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Atomoxetin ist auch für Kinder und Jugendliche zugelassen und das bislang einzige Medikament zur Behandlung der ADHS, das nicht dem Betäubungsmittelgesetz unterliegt. Der neue Wirkstoff ist ein hochselektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, der im Gehirn die beiden Neurotransmitter Noradrenalin und Dopamin reguliert, die bei der Entstehung der ADHS eine zentrale Rolle spielen. Anders als bislang eingesetzte Medikamente wie Methylphenidat ist Atomoxetin kein Psychostimulanz und besitzt kein Abhängigkeitspotential. Die Wirksamkeit von Atomoxetin scheint aber mit der von Metylphenidat vergleichbar zu sein. Arzneimittel, die auf das Herz/Kreislaufsystem wirken Antihypertensiva Werden diese Medikamente bei entsprechender Indikation konsequent eingenommen, sind sie in der Lage, die Inzidenz von Herzinfarkten um 30 bis 40 % und die von Schlaganfällen um 50 % zu senken. Das ist eine gewaltige Zahl, und die Tatsache, dass dies so betont wird, macht deutlich, dass es mit der compliance bei der Einnahme dieser Medikamente längst nicht zum Besten steht. Das liegt auch daran, dass sich die Patienten subjektiv kaum krank fühlen. Tatsache ist aber, dass diese Medikamente mehr Menschenjahre retten könnten, als dies der Fall wäre, wenn man alle Tumorerkrankungen heilen könnte. Und dennoch geht die Suche nach noch besseren Antihypertensiva unvermindert weiter, weil alle verfügbaren Wirkstoffe auch ihre spezifischen Nebenwirkungen haben, aber auch, weil der Markt für diese Wirkstoffe riesig ist und weiter wächst. Eine interessante Wirkstoffklasse, die die Behandlungsoptionen der Hypertonie erweitern könnte, sind so genannte Endothelin-Antagonisten (Tostes und Mus-
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cara 2005). Endothelin ist eine körpereigene Substanz, die zur Verengung von Blutgefäßen führt. Endothelin-Antagonisten werden mit diesem Biomolekül um die Bindung an den spezifischen Rezeptor konkurrieren und somit dessen Wirkung abschwächen. Pharmakotherapie bei Herzversagen Eine moderne Behandlung des Herzversagens ist heute eine komplexe Kombinationstherapie. Hier hat es in den letzten Jahren mehrere Paradigmenwechsel gegeben, was unterstreicht, dass die Medizin in weiten Bereichen eine empirische Wissenschaft ist, die aber sehr wohl auch bereit ist, neue Erkenntnisse bedingungslos in stetig zu optimierenden Leitlinien umzusetzen. Heute wird die Herztherapie geleitet von einer Entlastung des Herzens und von der Hemmung der Überstimulation des sympatischen Nervensystems, des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems und des VasopressinSystems. Der Paradigmenwechsel bestand u.a. darin, dass man heute mehr und mehr davon absieht, das geschwächte Herz zu stimulieren. Im Gegenteil: der gefürchteten Hypertrophie des Herzens als Folge eines immer stärker arbeitenden Herzens, die im Fachjargon als Remodelling bezeichnet wird, versucht man mit modernen Aldosteron-Antagonisten wie dem Spironolacton und dessen Analoga entgegenzuwirken (Croom und Perry 2005). Dies hat nicht nur therapeutische Fortschritte gebracht, die sich in physiologischen Parametern niederschlagen. Durch diese neuen Strategien wurde auch die Lebensqualität der Patienten erheblich verbessert. Und dennoch sind auch hier dringend neue Strategien erforderlich, die beispielsweise darin bestehen könnten, die Geschwindigkeit des myocardialen Zelltods zu verlangsamen und so die Progression der Krankheit, die sich ähnlich auswirkt wie eine Tumorerkrankung, zu reduzieren. Behandlungsoptionen für den Schlaganfall Die Behandlungsoptionen für einen Schlaganfall sind alles andere als zufrieden stellend. Nur wer sehr schnell nach einem Schlaganfall einer Spezialtherapie zugeführt wird, hat eine Chance, mit moderaten Hirnschäden davonzukommen. Als Optionen stehen heute thrombolytische Therapieregime an erster Stelle, um so schnell wie möglich die Ischämie, d.h. die Unterversorgung des betroffenen Hirnareals mit Blut, zu korrigieren. Diese Option hat aber auch ihre Kehrseite, denn verständlicherweise ist die Gefahr einer therapieinduzierten Blutung durchaus gegeben. Gelingt es,
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für diese Indikation neue Therapieoptionen zu entwickeln, werden diese sicherlich den Heilmitteleinsatz gewaltig beeinflussen. Arzneimittel zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen Chronisch entzündliche Erkrankungen, wie Rheumatoide Arthritis, oder Morbus Crohn, sind therapeutische Herausforderungen für die Zukunft. Zwar kann man in diesem Indikationsfeld, das in jüngster Zeit durch viele rekombinante Wirkstoffe signifikant bereichert wurde, den Fortschritt quasi „erleben“. Aber dennoch kann man noch längst nicht von einem Durchbruch sprechen. Basis für die neuen Entwicklungen war auch hier eine intensive Grundlagenforschung, die zu einem detaillierten Verständnis der Pathomechanismen auf molekularer Ebene geführt hat. Dies war die Basis für die Zulassung gentechnisch hergestellter Antagonisten für Signalmoleküle, die in diesem Krankheitsgeschehen unphysiologisch stark produziert werden und die somit einen circulus viciosus aufrechterhalten. Gentechnisch hergestellte Wirkstoffe wie Infliximab (Remicade®), Etanercept (Enbrel®) und Adalimumab (Humira®) neutralisieren sehr effizient den Tumornekrose-Faktor-D (TNF-D), einen der Hauptakteure in diesem fehlgesteuerten Kommunikationsnetzwerk. Zwar sind diese gentechnisch hergestellten Moleküle sehr gute Wirkstoffe. Sie sind aber nur bedingt gute Arzneimittel. Denn alle Proteine müssen parenteral appliziert werden, sie sind chemisch labil und müssen daher besonders vorsichtig gelagert werden. Ferner sind sie wegen des sehr aufwendigen Herstellungsprozesses extrem teuer. So bietet auch dieses sehr große Indikationsfeld viel Raum für Innovationen, z. B. in Form von TNF-D- oder IL-1-Synthesehemmern oder von Inhibitoren des Interleukin-1-converting Enzyms (ICE, Caspase1) (Randle et al. 2001). Zu Bedenken ist aber auch, dass alle modernen Strategien in das sehr subtile immunologische Netzwerk eingreifen, so dass alle bisher verfügbaren Therapieoptionen als Immunsuppressiva zu klassifizieren sind. Der Einsatz solcher Substanzen hat auch seine Nachteile, die u.a. darin bestehen können, dass die Inzidenz für die Bildung eines Tumors steigt. Antiinfektiva Antibakterielle Wirkstoffe (Antibiotika) Wie weiter oben bereits diskutiert, hat die Entdeckung der Antibiotika die Behandlung bakterieller Infektionen revolutioniert, und dies mit unglaublichen Konsequenzen für die Lebenserwartung. Und dennoch gibt es
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keinen Grund sich zurückzulehnen. Denn die Entwicklung von Multiresistenzen in einer dafür prädestinierten Umgebung wird zu einem immer relevanteren Problem. Verlieren wir den Kampf gegen die Mikroorganismen? Diese Frage ist völlig offen. Dringend und ständig benötigen wir neue Wirkstoffe. Eine dieser neuen Gruppen sind die Oxazolidinone mit dem ersten Wirkstoff Linezolid. Ein anderer Ansatz besteht darin, die Bakterien biologisch zu „entwaffnen“, indem man versucht, die Virulenzfaktoren zu inaktivieren (Hung et al. 2006). Antivirale Wirkstoffe (Virustatika) Die Entwicklung von Virustatika ist sicherlich in besonderem Maße durch die AIDS-Epidemie vorangetrieben worden. Die Fortschritte, die die entsprechenden Wirkstoffe gebracht haben, sind außerordentlich beeindruckend. Und dennoch bleibt der Druck, neue Wirkstoffe zu entwickeln, extrem hoch, denn immer wieder entkommen die Viren wegen ihres enormen Mutationspotentials den Interventionsstrategien. Hinzu kommt, dass andere virale Erkrankungen keineswegs so gut therapierbar sind, wie die HIVInfektion. Aktuell droht eine Pandemie, die ebenfalls durch ein Virus mit einem RNA-Genom verursacht werden könnte. Die Erreger der Vogelgrippe und der Influenza sind so ähnlich, dass sie zu neuen, extrem gefährlichen Virus-Spezies kombinieren könnten. Zwar stehen hier mit den Neuraminidasehemmern Zanamivir und Oseltamivir interessante Wirkstoffe zur Verfügung. Ob diese sich jedoch bei einer Pandemie bewähren, ist noch unbekannt. Antitumor-Mittel (Zytostatika) Je älter die Bevölkerung wird, um so mehr wird die Behandlung von malignen Erkrankungen zur Herausforderung. Denn eines der größten Risiken, an einem Tumorleiden zu erkranken, ist nun einmal das Alter. Auf diesem Gebiet erleben wir derzeit auch einen bemerkenswerten Paradigmenwechsel, der allerdings auch dringend geboten ist. So genannte smart drugs drängen in den Markt. Diese zielen nicht „nur“ darauf ab, Tumorzellen zu töten, sondern sie unterbinden das Tumorwachstum, indem sie wichtige Signaltransduktionswege blockieren, Systeme inaktivieren, die der Tumorzelle einen selektiven Wachstumsvorteil verleihen oder wichtige Versorgungsstränge unterbrechen. Vielfach handelt es sich hier um rekombinante Proteine. Allerdings wurden auch verschiedene niedermolekulare Wirkstoffe für die Behandlung bestimmter Tumoren zugelassen. Dazu
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zählen die Tyrosin-Kinase-Inhibitoren (z.B. Gefitinib, Erlotinib oder Imatinib), oder auch der Proteasom-Inhibitor Bortezomib. Ähnlich wie die antivirale Therapie, ist auch die zytostatische Therapie eine komplexe Kombinationstherapie, da auch Tumoren ein enormes Mutationspotential besitzen und immer wieder Interventionsstrategien entkommen. Eine große Herausforderung wird darin bestehen, optimale Kombinationspartner zu identifizieren und diese zeitlich optimal zueinander abgestimmt einzusetzen. In diese Kombinationstherapien sind selbstverständlich klassische Zytostatika mit einzubeziehen.
Zusammenfassung Der Wandel der Altersstrukturen in unserer Gesellschaft ist nicht mehr aufzuhalten. Dies wird sich auswirken auf die Heilmittelqualität und auf den Heilmittelverbrauch. Neben Patienten werden auch in immer stärkerem Maße (noch) Gesunde Arzneimittel konsumieren. Denn Dank neuer diagnostischer Verfahren, die gezielt auch zum Erkennen von Krankheitsrisiken entwickelt und eingesetzt werden, wird das Bewusstsein für eine individuelle Gesundheitsvorsorge steigen. Änderungen in der Altersverteilung in einer Gesellschaft werden auch die Arzneimittelentwicklung beeinflussen, und umgekehrt wird sich eine noch bessere Arzneimittelversorgung auch wieder auf die Alterstruktur auswirken. Dabei wird nicht nur der steigende Anteil an „Alten“ die entscheidende Rolle spiele. Auch die Jüngeren werden neue Ansprüche und Bedürfnisse geltend machen, und wer gestern noch als „alt“ galt, wird sich morgen „noch jung“ fühlen. Lifestyle-Medikamente werden antreten, diese Diskrepanz so gut wie möglich zu überdecken. Trotz der vielen zu erwartenden Neuentwicklungen ist kaum abzusehen, dass signifikante Teile des derzeit verfügbaren Arzneimittelschatzes vom Markt verschwinden werden. Es wird nicht etwa eine „Anpassung durch Ersatz“, sondern mit großer Sicherheit eine Ausweitung der Heilmitteloptionen geben. Dabei werden wir einen Trend zur Individualisierung des Arzneimitteleinsatzes erleben, der ganz besonders auch dem stetig steigenden biologischen Alter mit seinen physiologischen Konsequenzen Rechnung trägt, was heute noch weitgehend ignoriert wird.
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Abfall- und Abwassermanagement bei der Arzneimittelproduktion der Schering AG Hans-Peter Böhm Schering AG, Bergkamen
Kurzfassung Die pharmazeutische Industrie – Wirkstoff- und Arzneimittelproduktion – ist reguliert wie wenige andere Bereiche. Die zu beachtenden Gesetze und Verordnungen gehen in die Tausende, besonders für international tätige Hersteller. Die Einhaltung aller Anforderungen wird ständig sowohl durch nationale und internationale Behörden als auch durch Kunden überprüft. Wer im Pharma-Markt bestehen will, vor allem unter den bekannt kritischen Augen der deutschen Medien, kann sich keine 80 %-Mentalität nach dem Motto "merkt schon keiner" leisten. Als Dienstleister in Sachen Gesundheit ist die pharmazeutische Industrie über rechtliche Anforderungen hinaus in besonderem Maße dem Leben und der Umwelt verpflichtet. Deswegen haben zahlreiche Firmen „Nachhaltigkeit“ in ihre Unternehmensziele aufgenommen. Die Umsetzung dieser papierenen Willenserklärung in die Praxis wird belegt durch die Zertifizierung nach ISO 14001 und/oder die Validierung nach EMAS (EG Öko Audit) durch unabhängige Stellen. In diesem Zusammenhang haben alle großen Pharmahersteller beträchtliche Investitionen getätigt. Technologisch optimale Lösungen zur Abluftund Abwasserbehandlung werden in Abstimmung mit den Aufsichtsbehörden realisiert; in manchen Fällen sogar öffentlich gefördert. Der Erfolg ist messbar: Aus der Wirkstoff- und Arzneimittelherstellung werden inzwischen umweltrelevante Stoffe nicht mehr oder nur noch in um Größenordnungen reduzierten Konzentrationen in die Umwelt abgegeben. Im Abwasserbereich geht es grundsätzlich um firmenspezifische Lösungen, im Abfallbereich ist häufig eine Kooperation mit spezialisierten Entsorgungsunternehmen die wirtschaftlichere Lösung. Nicht unerwähnt bleiben soll eine weitere Triebfeder für die systematische Rückhaltung von Reststoffen: Die allgemeine Preissteigerung für
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Rohstoffe zwingt die Hersteller, wenn irgend möglich, wertstoffhaltige Stoffströme zurückzuhalten und aufzuarbeiten. Iod als kontrastgebendes Element in den Röntgenkontrastmitteln ist dafür ein prominentes Beispiel.
Einleitung "Arzneimittel1 in der Umwelt" sind seit den frühen 90er Jahren im Gespräch und die Besorgnis über die Auswirkungen dieser Substanzen führte zu zahlreichen Diskussionen und Untersuchungen im internationalen und nationalen Rahmen. So haben auf EU-Ebene viele Mitgliedsstaaten z. B. hormonell wirkende Chemikalien und Wirkstoffe als Problem erkannt, was Ausdruck findet in der "Gemeinschaftsstrategie für Umwelthormone" vom 17.12.1999 (Europäische Kommission 1999). Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung im August 2000 gebeten, den Eintrag von Chemikalien, die nachweislich auf das endokrine System wirken, über das Abwasser in Gewässer stufenweise drastisch zu reduzieren (Bundestagsdrucksache 14/1471 2000). Endokrin wirksame Substanzen in Abwässern können sowohl aus dem industriellen als auch aus dem kommunalen Bereich stammen. Relevante Substanzen sind Chemikalien unterschiedlichster Stoffklassen, Pharmazeutika sowie in besonderem Maße natürliche und synthetische Estrogene. In den letzten Jahren sind die chemisch-analytischen Voraussetzungen geschaffen worden, um in Wasser-, Schlamm- und Sedimentproben die gesuchten Substanzen bis in den ng/L-Bereich (ppt) nachweisen zu können. Angesichts dieser analytischen Empfindlichkeit gibt es praktisch nichts mehr, was nicht messtechnisch nachgewiesen werden kann. In den letzten 10 Jahren sind auf dieser Basis unzählige Untersuchungen von Behörden, Universitäten und anderen Forschungsinstituten zum Auftreten von Wirkstoffen in der Umwelt (Gewässer, Sedimente) durchgeführt und publiziert worden, so dass heute eine gute Übersicht vorliegt, welche Wirkstoffe in welchen Konzentrationen und in welchen Kompartimenten in der Umwelt auftreten. Während die qualitative und quantitative chemische Bestimmung von pharmazeutisch wirksamen Stoffen in Kläranlagenabläufen weitgehend sicher möglich ist, ist für die meisten dieser Stoffe noch ungeklärt, ob ihr Vorkommen Wirkungen auf die Biozönose in den Gewässern hat, in die diese Abläufe einmünden. Im Folgenden wird die Vermeidung des Eintrags von pharmazeutischen Wirkstoffen in die Umwelt im Laufe der Herstellung beleuchtet. Mit den 1
eigentlich Arzneimittelwirkstoffe als aktive Bestandteile, hier fortan als Wirkstoffe bezeichnet
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aus der bestimmungsgemäßen Verwendung von Arzneimitteln zur Therapie oder Diagnose resultierenden Einträgen in Umweltmedien beschäftigen sich andere Beiträge dieses Bandes.
Gesetzliche Anforderungen Die Herstellung von Arzneimitteln (= Darreichungsformen) unterliegt in Deutschland dem Arzneimittelrecht und wird im Detail geregelt durch die Betriebsverordnung für pharmazeutische Unternehmer. In dieser Vorschrift werden vorwiegend Qualitätsanforderungen beschrieben. Eine Ausdehnung der Betriebsverordnung auf den Bereich der Wirkstoffherstellung ist aktuell in der Diskussion, ein Entwurf liegt vor. International tätige Unternehmen müssen darüber hinaus den im ICH-Prozess2 festgelegten Qualitätsanforderungen für Arzneimittel genügen. Über die Anforderungen des Arzneimittelrechts hinaus ist von den Herstellern der Arzneimittel und Wirkstoffe eine Vielzahl weiterer gesetzlicher Anforderungen zu erfüllen, für die im Zusammenhang mit (möglichen) Emissionen in die Umwelt Anforderungen aus Immissionsschutz-, Gewässerschutz-, Bodenschutz-, Abfall-, Chemikalien- und Gefahrgutrecht gelten. Die Anforderungen an Bau und Betrieb der Produktionsanlagen sind hinsichtlich der umweltrelevanten Anforderungen im Bundesimmissionsschutzgesetz und seinen Verordnungen festgelegt. Die Genehmigungsbescheide mit den zugehörigen Nebenbestimmungen stellen die dauerhafte Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen sicher. Für den Fall, dass bei der Herstellung Abwasser anfällt, welches in ein Gewässer eingeleitet werden soll, ist darüber hinaus eine Einleitungserlaubnis gemäß Wasserhaushaltsgesetz notwendig. Für die Wirkstoffproduktion sind im Anhang 22 zur Abwasserverordnung die Anforderungen hinsichtlich der Summenparameter CSB/TOC und AOX, für Phosphor und Stickstoff sowie für einige Schwermetalle festgelegt. Dazu kommen die Anforderungen in Form der Gx-Werte3 und des umu-Tests4, die auch die ökotoxikologische Wirkung pharmazeutischer Wirkstoffe erfassen.
ICH = International Conference on Harmonization; seit 1990 laufender Abstimmungsprozess zwischen Europa, Japan und USA 3 Gx-Werte beschreiben toxikologische Wirkungen auf im aquatischen Bereich lebende Organismen (Algen, Leuchtbakterien, Daphnien und Fischeier) 4 umu = uv-Mutagenese; mit dem umu-Test kann die gentoxische Wirkung von chemischen Substanzen und komplexen Stoffgemischen erfasst werden 2
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Individuell kann die Behörde darüber hinaus einzelstoffbezogene Begrenzungen in die Einleitungserlaubnis aufnehmen, die sich aus den Anforderungen des Anhangs X der Wasserrahmenrichtlinie und der Gewässerqualitätsverordnung ergeben. Die behördlichen Zulassungen für die Abwassereinleitung, den Kläranlagenbetrieb, den Betrieb von Produktions- und Abfall-/Abwasserbehandlungsanlagen einschließlich aller Nebenbestimmungen zum Schutz der Umweltmedien sind für den Betreiber verbindlich. Ihre Einhaltung wird durch die zuständige Aufsichtsbehörde regelmäßig kontrolliert. Verstöße werden ordnungs- bzw. strafrechtlich geahndet. Die von den Behörden durchgeführten Kontrollen beziehen sich aber nicht nur auf die Inhalte der Genehmigungsbescheide, sondern auch auf die Erfüllung des Standes der Technik bzw. der europaweit geltenden Anforderungen bezüglich der Best Available Techniques (BAT). Im Falle deutlicher Weiterentwicklungen im Rahmen der BAT können die Aufsichtsbehörden auf dem Wege der nachträglichen Anordnung eine Nachbesserung bestehender Anlagen fordern und auch durchsetzen.
Integriertes Managementsystem der Schering AG Managementsysteme Die EU Kommission beschreibt im BAT-Dokument Managementsysteme als das Instrument der Wahl für die Erfassung von und den Umgang mit umweltrelevanten Emissionen (Amtsblatt der EU 2003): „Umweltmanagement ist eine Strategie zum Umgang mit der Freisetzung (oder deren Vermeidung) von Abfallstoffen aus den Tätigkeiten der (chemischen) Industrie unter Berücksichtigung der lokalen Bedingungen, durch die die integrierte Leistung eines Chemiestandortes verbessert wird. … Ein Umweltmanagementsystem besteht in der Regel aus einem sich kontinuierlich wiederholenden Prozess, dessen einzelne Schritte sich auf eine Reihe von Managementinstrumenten stützen …“ Dieser repetitiv zu durchlaufende Prozess findet sein Pendant in den Inspektionssystemen EMAS5 und ISO 14001, die zwecks Aufrechterhaltung der Validierung bzw. Zertifizierung ebenfalls periodisch erneut absolviert werden müssen.
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EMAS = Environmental Management and Audit Scheme
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Das Integrierte Managementsystem der Schering AG Schering als weltweit tätiges Unternehmen mit Niederlassungen in ca. 140 Ländern hat für die Erreichung der Unternehmensziele eigene hohe Qualitätsstandards festgelegt und überprüft regelmäßig deren Einhaltung. Alle relevanten Anforderungen, die sich durch die Qualitäts-, Sicherheitsund Umweltschutzstandards ergeben, beschreibt das Integrierte Managementsystem (IMS), das Schering bereits 2001 konzern-, d. h. weltweit, eingeführt hat (Schering AG 2002). Es berücksichtigt internationale Standards wie z. B. die Normenreihe ISO 9001 (für Qualität) und ISO 14001 (für Umweltschutz). Dieses integrierte System dient zugleich als Orientierung und Maßstab für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Abb.1).
Handbuch
Richtlinien
Konzern-SOPs
lokale SOPs
Abb. 1. Hierarchie von Vorgaben im IMS-System.
Zum besseren Verständnis des Managementsystems wurde weltweit ein klar formuliertes Handbuch eingeführt. Mit ihm können sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schnell und umfassend über die Grundsätze und Regeln informieren und nachgeordnete Richtlinien und SOP’s6 recherchieren. Das Handbuch liegt in Englisch, Deutsch und Spanisch vor. Um ein gemeinsames Verständnis der Standards sicherzustellen, werden alle Produktionsstandorte in die kontinuierliche Aktualisierung der internen Regeln einbezogen. 6
SOP: Standard Operating Procedure; Standardablaufbeschreibung
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Stoffstrommanagement Am Standort Bergkamen – dem größten Standort für die Wirkstoffproduktion der Schering AG – wird der Verbleib der Reststoffe (Abfall, Abwasser) durch die Funktion Stoffstrom- und Entsorgungsmanagent geregelt. Diese Funktion gewährleistet die praktische Umsetzung des IMSSystems. x x x x x
Recycling Nutzung als Brennstoff betriebsnahe Vorbehandlung vor Ableitung in die Abwasserbehandlung direkte Ableitung in die Abwasserbehandlung Verbrennung (intern oder extern).
Interne Qualitäts-, Sicherheits- und Umweltschutz-Audits Um überall auf der Welt einen vergleichbaren Standard der ScheringProduktionsstätten sicherzustellen, führen interne Experten regelmäßig Qualitäts-, Sicherheits- und Umweltschutz-Audits durch. Audits sind eine systematische und dokumentierte Methode zur Überprüfung der Managementsysteme und dienen der Einhaltung interner und gesetzlicher Qualitäts-, Sicherheits- und Umweltschutz-Vorgaben sowie zur Ermittlung von Schwachstellen und Verbesserungspotenzialen. Im Rahmen dieser Audits werden alle sicherheits- und umweltschutzrelevanten Bereiche überprüft: Produktionsanlagen, Technikumsanlagen, Laboratorien, Läger, Energieund Wasserversorgungsanlagen, Abfallentsorgungsanlagen, Abluft- und Abwasserreinigungsanlagen. EG-Öko-Audit (EMAS) und Zertifizierungen nach der Umweltmanagementnorm ISO 14001 Neben der Durchführung von internen Sicherheits- und UmweltschutzAudits wurde im Jahr 2000 mit der Zertifizierung der Produktionsstandorte nach ISO 14001 begonnen. Die Funktion Qualitäts-, Sicherheits- und Umweltschutzaudit, die die Zertifizierungsaktivitäten unterstützt, hat einen ISO 14001-Leitfaden erstellt, der an alle Produktionsstandorte verteilt wurde. Die Produktionsstandorte in Weimar und Bergkamen sind sowohl nach ISO 14001 zertifiziert als auch nach EMAS validiert. Der wesentliche Unterschied beider Testate besteht darin, dass die Umweltdaten und die
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selbstverpflichtenden Ziele bei dem EMAS-Verfahren in einer schriftlichen Umwelterklärung für jedermann transparent zu machen sind. Die Bergkamener Erklärung fasst die Ergebnisse der umfangreichen Prüfung durch den Gutachter des TÜV Rheinland zusammen. Neben europäischen Schering-Standorten sind auch bereits etliche Standorte in Lateinamerika nach ISO 14001 zertifiziert.
Abfallmanagement in der Schering AG Seit 1999 existieren bei Schering für die nachsorgende Abfallwirtschaft weltweit gültige Standards. Die Umsetzung der Konzernstandards vor Ort erfolgt durch standortspezifische Regelungen in der Landessprache, wobei zusätzlich auch nationale Vorschriften berücksichtigt werden. Bereits zu Beginn der 90er Jahre wurde die „Schering Reststoffbörse“ gegründet, die nicht mehr benötigte sortenreine Reste von Chemikalien und anderem Material mit Hilfe des Intranets weitervermittelt. Größere Bestände werden darüber hinaus auch extern angeboten. Ziel der Reststoffbörse ist die konsequente Umsetzung des Grundsatzes „Verwertung vor Entsorgung“. Abfälle aus der Wirkstoffproduktion Große Mengen verschiedenster Abfälle fallen in der (chemischen) Wirkstoffproduktion an. Da diese Abfälle zum Teil als besonders überwachungsbedürftige Abfälle eingestuft sind, wurde u. a. zur Vermeidung von externen Transporten bereits 1977 am größten Standort in Bergkamen eine Sonderabfallverbrennungsanlage gebaut. Diese wurde in der Zwischenzeit mehrfach nachgerüstet, um neueren Erkenntnissen zu Spurenemissionen aus Verbrennungsanlagen (z. B. zur Vermeidung von Dioxinen) Rechnung zu tragen und um bei der Verbrennung iodhaltiger Abfälle eine Freisetzung elementaren Iods zu vermeiden (s. u.). Die Anlage wird heute in erster Linie für die Verbrennung fester Abfälle aus der Wirkstoff- und der Arzneimittelproduktion eingesetzt und für die Iodrückgewinnung aus Abfällen der Röntgenkontrastmittel- (RKM) Produktion. Im standorteigenen Kraftwerk werden seit 2001 in einem speziellen Kessel flüssige Abfälle thermisch verwertet und tragen so in nicht unerheblichem Maße zum Ersatz von Primärbrennstoffen bei. Dadurch hat sich die Struktur der Abfallentsorgung deutlich zugunsten der thermischen Verwertung von Abfällen verändert (Abb. 2).
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11%
stoffliche Verwertung
39% 26%
thermische Verwertung
Verbrennung
Deponierung
24% Abb. 2. Kategorien der Abfallbeseitigung 2004.
Abfälle aus der pharmazeutischen Produktion Bei der Herstellung von formulierten Arzneimitteln (Darreichungsformen) fallen in erster Linie hausmüllähnliche Verpackungsreste an, die über externe Partner entsorgt werden. Daneben entstehen aber auch wirkstoffhaltige Abfälle, die wegen ihres pharmakologischen Potenzials einer gesonderten Behandlung bedürfen. In diese Kategorie fallen auch Rückstände aus der Arzneimittelproduktion oder Rücklieferungen von Arzneimittelchargen. Neben das Risiko der Kontamination von Bearbeitern und Umwelt mit Wirkstoffen bei unsachgemäßer Entsorgung tritt bei derartigen Abfällen die Gefahr des Missbrauchs für Arzneimittelfälschungen. Um diesen Risiken sicher vorzubeugen, sind strikte Vorgaben erlassen worden: Einzig zulässiger Entsorgungsweg ist Shreddern in einer werkseigenen Anlage und anschließende Verbrennung, intern oder bei einem vertraglich gebundenen Partner7. Die weltweite Einhaltung dieser Vorgaben wird laufend überprüft.
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Nur ausnahmsweise ist die Verbrennung ohne vorherige Zerstörung zulässig, dabei muss aber der externe Transport bis zur Entladung in die Verbrennungsanlage unter Aufsicht eines verantwortlichen Schering-Mitarbeiters erfolgen.
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Röntgenkontrastmittelhaltige Abfälle Bereits seit 1997 ist die Abfallverbrennungsanlage in Bergkamen durch Nachrüstung der Rauchgaswäsche in der Lage, iodhaltige Abfälle zu verbrennen, ohne dass es zu Iodemissionen im Abgas kommt. Durch geeignete Steuerungsmaßnahmen ist der integrierte Abgaswäscher in der Lage, das freigesetzte Iod quantitativ zu binden. Die so gewonnene Iodidlösung wird auf dem Weltmarkt verkauft, so dass eine echte stoffliche Verwertung möglich geworden ist. Feste und flüssige Abfälle aus der Röntgenkontrastmittelproduktion sowie Rücklieferungen von RKM-Fertigwaren werden auf diese Weise umweltneutral entsorgt und das enthaltene Iod dem Markt erneut zugeführt8. In Coslada bei Madrid befindet sich die Produktionsanlage der Schering AG für das weltweit bedeutendste ionische Kontrastmittelmolekül. Die bei der Synthese anfallenden wirkstoffhaltigen Abfälle wurden bis 2004 deponiert. Seit 2005 werden sie in Bergkamen unter Iodrückgewinnung verbrannt, so dass das Deponieaufkommen gegenüber 2004 zurückgegangen ist. Abbildung 3 zeigt die zunehmende Verwertung von Produktionsabfällen über die letzten 5 Jahre. Die Tendenz ist deutlich, der Anteil der Verwertung (stofflich und thermisch) ist in den 5 Jahren von ca. 50 % auf 75 % gestiegen: 80 70
Verwertung
Beseitigung
60
[%]
50 40 30 20 10 0 2001
2002
2003
2004
2005
Abb. 3. Verwertung vs. Beseitigung im Zeitraum 2001 bis 2005. 8
Ein direkter Einsatz des zurückgewonnenen Iods in der RKM-Produktion ist unter dem Gesichtspunkt der Guten Herstellungspraxis („GMP“) nicht möglich.
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Die Verbrennungsanlage in Bergkamen bietet noch freie Kapazität zur Iodrückgewinnung, daher wird diese Kapazität inzwischen auch anderen Herstellern angeboten. Somit haben auch kleinere Firmen die Möglichkeit, ohne eigene Investitionen RKM-haltige oder andere iodhaltige Rückstände umweltgerecht und kostengünstig zu entsorgen.
Abwassermanagement in der Schering AG Die bereits 1994 formulierten Anforderungen zur Reinhaltung der Gewässer wurden 1998 in einer für den Gesamtkonzern gültigen Gewässerschutzrichtlinie zusammengefasst und so die Mindestanforderungen an den Gewässerschutz für alle Standorte weltweit vorgegeben. 1996 begann die jährliche konzernweite Datenerhebung zum Wasser (Verbrauch, Belastung, Reinigungsanlagen, Programme im Gewässerschutz usw.). Wirkstoffproduktion Bergkamen Das Werk Bergkamen ist der größte Produktionsstandort im ScheringKonzern, dort wurde mit wenigen Ausnahmen die schering-eigene Wirkstoffproduktion zusammengeführt. Das Produktionsprogramm umfasst ca. 300 verschiedene Wirkstoffe und Zwischenprodukte. Dabei werden in Kampagnen wechselnde Produktionen gefahren, wobei für jeden Wirkstoff eine Vielzahl von Synthesestufen erforderlich ist. Aufgrund dieser Fahrweise ist die Zusammensetzung des Gesamtabwassers ständigen Schwankungen unterworfen. Typischerweise wird Wasser im Wirkstoffbetrieb in folgenden Bereichen eingesetzt: x Innerhalb der Produktion als Lösemittel, als Reagenz, zur Fällung bzw. Reinigung der Produkte und als Extraktionsmittel. x Zur Reinigung der Anlagen und zur Reinigung des Gebäudes. x Zur Abluftwäsche und im Abluftsammelsystem (wassergefüllte Tauchungen als sicherheitstechnische Einrichtungen). x Als Betriebsmittel zur Unterdruckerzeugung in Wasserringvakuumpumpen. Die Abwässer werden im Stoffstrom- und Entsorgungsmanagement nach Inhaltsstoffen bewertet und einer geeigneten Aufarbeitung zugeführt.
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Die Behandlung von Abwässern im Werk Bergkamen Am Standort Bergkamen sind neben Schering auch die Firmen Chemtura/Crompton und Huntsman mit ihrer Produktion von Industriechemikalien ansässig. Die Abwasserbehandlung erfolgt mehrstufig (Abb. 4): x firmen- und abwasserspezifische Vorbehandlung x chemische und mechanische Vorklärung (Neutralisation und Flockung) x mikrobiologische Behandlung.
Schering
Crompton Chemtura
PWA
v un
mo
d
nd erä
ert
4 00 t2 ier s i ern
Huntsman
Dezentrale Vorbehandlung
Dezentrale Vorbehandlung
Zentrale Vorbehandlungsstufe: Neutralisation und Primärschlamm-Abtrennung
Biologische Stufe (PAA-Membran-Belebungsanlage)
Abb. 4. Schematische Darstellung der Abwasserbehandlung im Werk Bergkamen. PWA: Prozesswasseraufarbeitungsanlage, PAA: partiell aerob-anaerob.
Prozesswasseraufarbeitungsanlage (PWA) Belastete Prozessabwasserströme werden aus den Schering-Wirkstoffbetrieben zunächst der 1993 in Betrieb genommenen zentralen Prozesswasseraufarbeitungsanlage zugeführt, in der die verunreinigten Prozesswässer aufgearbeitet werden. Dafür werden die Prozesswässer getrennt nach Inhaltsstoffen in 4 separaten Leitungssystemen angeliefert und in 100-m³-Tanks zwischengelagert, um sie den spezifischen Aufbereitungs-
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verfahren zuführen zu können. Es werden Lösemittel, geruchsintensive und biologisch schwer abbaubare Stoffe aus dem Prozesswasser separiert, so dass insgesamt eine deutliche Reduzierung der CSB-Fracht des zur Werkskläranlage zur Endreinigung abgeleiteten Abwassers erreicht wird. Der anzuwendende Aufarbeitungsprozess wird durch die Eigenschaften bzw. die Zusammensetzung der jeweiligen Prozesswässer bestimmt und ist auf eine optimale Abtrennung der abwasserbelastenden Komponenten ausgerichtet. Hierzu ist die PWA mit folgenden Teilanlagen ausgerüstet: x x x x
Stripper für chlorierte Kohlenwasserstoffe Rektifikationsanlagen für Niedrigsieder Extraktionsanlage für Fällwässer mit hochsiedenden Lösemitteln und Schlammbehandlungsanlage (Dünnschichtverdampfer, Dekantierzentrifuge und Rührbehälter).
Die in der Prozesswasseraufarbeitung abgetrennten Stoffe werden separiert und – soweit möglich und wirtschaftlich sinnvoll – zum Wiedereinsatz aufgearbeitet. Nicht wieder einsetzbare Stoffe werden nach Möglichkeit thermisch oder stofflich verwertet oder entsorgt. Die PWA mit den apparativen Ergänzungen der letzten Jahre hat insgesamt Investitionen von rund 23 Millionen Euro erfordert. Die jährlichen Betriebskosten liegen bei 3,7 Mio. €. Die Zentrale Abwasserbehandlungsanlage (ZABA) der Schering Wirkstoffproduktion Der ZABA werden sämtliche Prozess- und häuslichen Abwässer zugeleitet, die bei den auf dem Werksgelände angesiedelten Firmen anfallen. Bis Mitte 2004 war das Werk Bergkamen Indirekteinleiter in die Lippe. In dieser Zeit wurde das Betriebsabwasser in der Werkskläranlage nicht vollständig biologisch abgebaut. Die endgültige Reinigung erfolgte in der kommunalen Kläranlage des zuständigen Abwasserverbands (Lippeverband). Die geklärten Abwässer wurden anschließend in die Lippe eingeleitet. Im Zuge des vom Land NRW beschlossenen Vorflut-Renaturierungsprogramms wurde die Schering AG in Absprache mit der oberen Wasserbehörde zum Direkteinleiter. Seit Mitte 2004 wird das gereinigte Abwasser des Standorts Bergkamen durch eine Druckrohrleitung unmittelbar in die Lippe eingeleitet. Die hierfür notwendige Abwasserqualität wurde durch die Erweiterung der bestehenden Kläranlage um das von Schering entwickelte „PAAMembran-Belebungsverfahren“ zur biologischen Abwasserreinigung erreicht. PAA (partiell aerob - aerob) bezeichnet eine spezielle Betriebsweise
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der biologischen Behandlungsstufe (Abb. 5). Diese wird ergänzt um eine Membranfiltration mit Hohlfasermembranen zur vollständigen Rückhaltung der Biomasse (Achtabowski und Neuhaus 2005).
Zweistufiges PAA-Belebungsverfahren Zulauf
Partiell-Aerob
Aerob
CSB-Abbau
Nitrifikation
+ Denitrifikation
Membran Ablauf (Filtrat)
Luft Rezirkulation + Rücklaufschlamm
¾ Partiell-A erob betriebene Hochlaststufe (CSB-Abbau bei simultaner Denitrifikation) ¾ Aerob betriebene Schwachlaststufe (Nitrifikation) ¾ Biomasserückhaltung durch nachgeschaltete Membranstufe
Die Rückhaltung ermöglicht Biomassegehalte in der Anlage von 9 - 13 g TS/L und damit .... Ö ... eine Reduzierung der Schlammbelastung und der Überschussschlammproduktion Ö... eine geringere Empfindlichkeit der Biologie gegenüber toxischen Substanzen Ö… die Rückhaltung von Abbauspezialisten
Die durch das hohe Schlammalter (> 25 d) mögliche Anreicherung der Abbauspezialisten .... Ö ...bewirkt einen verbesserten Abbau von schwer abbaubaren Stoffen in der Biologie
¼ Das in die Vorflut abgegebene Wasser (Filtrat) ist frei von Feststoffen
Abb. 5. Das PAA-Membran-Belebungsverfahren.
Die in der Anlage eingesetzten Membranmodule bestehen aus flexiblen Hohlfasern, die jeweils in mehreren Kassetten zusammengefasst sind und die direkt in das Abwasser-/Belebtschlammgemisch aus der Nitrifikationsstufe eingehängt werden. Aufgrund des Porendurchmessers von ca. 0,1 Pm werden die Mikroorganismen des Belebtschlamms in der Membranstufe vollständig zurückgehalten, was zu einer deutlichen Erhöhung des Schlammalters führt. Das aus der Membrananlage ablaufende Abwasser ist frei von Feststoffen und weitgehend keimfrei. Der CSB, der die Anlage verlässt, wird nur noch durch biologisch nicht mehr abbaubare Stoffe verursacht. Die ZABA ermöglicht die Kombination von hoher Biomassekonzentration, hohem Schlammalter und dem Wechsel zwischen partiell-aeroben und aeroben Bedingungen und kann daher zur Etablierung von Abbauspezialisten führen. Diese sind in der Lage, im Vergleich mit konventionellen Belebungsverfahren zusätzliche Abwasserinhaltsstoffe abzubauen.
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In Abbildung 6 ist die Gesamtleistung der Abwasserbehandlung dargestellt; lediglich 2 % des in den Rohabwässern enthaltenen CSB werden in die Lippe abgegeben:
Leistung der integrierten Abwasserbehandlung 100%
100%
52% 50%
46%
2% 0%
CSB-Fracht Elimination Rohabwasser PWA
Elimination ZABA
CSB-Fracht zur Vorflut
Abb. 6. CSB-Eliminationsleistung (Zeitraum Juli bis Dez. 2004).
Umgang mit Abwässern aus speziellen Wirkstoffsynthesen Abwasser aus der Estrogenproduktion Im Werk Bergkamen werden verschiedene estrogene Wirkstoffe hergestellt. Dabei geht es um vergleichsweise geringe Mengen; die hohe biologische Aktivität dieser Verbindungen macht aber eine separate Betrachtung sinnvoll. Die wichtigsten Wirkstoffe sind Estradiol und Ethinylestradiol. Estradiol ist ein körpereigenes Hormon; das für die Herstellung von Kontrazeptiva verwendete Ethinylestradiol ist synthetischer Natur. Während die Halbwertszeit des natürlichen Estradiols in der Natur rund vier Tage beträgt, liegt die für das synthetische Ethinylestradiol um einen Faktor 10 höher (Schering AG 2004). Aus diesem Grunde wurde bereits 1998 beschlossen, alle Abwässer aus der Herstellung von Ethinylestradiol separat zu sammeln und zu verbrennen. 2003 wurde die Verbrennung auf Abwässer aus der Herstellung von Estradiol- und Testosteronderivaten ausgedehnt. Diese Vorgehensweise gilt bis heute, da bisher keine Erfahrungswerte über die Abbauleistung der ZABA in Bezug auf Estrogene vorliegen.
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Die Emission von estrogenen Komponenten aus der Wirkstoffproduktion wird durch diese Sonderbehandlung sicher vermieden. Der jährliche Sonderaufwand für die Verbrennung (im Vergleich zur „normalen“ Abwasserbehandlung) beläuft sich – je nach Produktionsplan - auf mehrere Hunderttausend Euro. Abwasser aus der Röntgenkontrastmittelproduktion In Bergkamen wird der Wirkstoff Iopromid für das nichtionische Röntgenkontrastmittel Ultravist® für den weltweiten Bedarf hergestellt9. Die iodierten Kontrastmittel sind als Diagnostika wirkungsbedingt biologisch inert10. Der Nachweis der ökotoxikologischen Unbedenklichkeit hat seinen Niederschlag im Anhang 22 zur AbwasserVO derart gefunden, dass von der Begrenzung des Summenparameters AOX, adsorbierbare organische Iodverbindungen (AOI) aus der Kontrastmittelherstellung nicht erfasst werden. Trotz der ökotoxikologischen Unbedenklichkeit wird in Bergkamen das Abwasser jeder Iopromid-Stufe separat bewertet. Je nach Zusammensetzung wurden in den letzten Jahren für die wesentlichen Abwässer spezifische Behandlungsverfahren (Adsorption, Verbrennung, Thermolyse) entwickelt, die den Eintrag von Iopromid-Stufen in die ZABA drastisch vermindern und gleichzeitig die stoffliche Verwertung des enthaltenen Iods ermöglichen. Diese Verfahren werden sukzessive nach Installation notwendiger Zurüstungen eingeführt.
Ein weiteres, mengenmäßig unbedeutendes RKM ist Isovist® mit dem Wirkstoff Iotrolan 10 Jodhaltige Röntgenkontrastmittel-Rückstände in der Umwelt: Zur Abschätzung möglicher Umweltreaktionen, die der Eintrag jodhaltiger KontrastmittelRückstände bewirken könnte, führte Schering in den Jahren 1998 bis 2002 Studien zu Umweltverhalten und Umwelteffekten des Wirkstoffs Iopromid durch. Aus den Forschungsergebnissen lässt sich schließen, dass sich die Substanz weder in Wasserorganismen noch in Klärschlamm oder Sedimenten anreichert. Iopromid zeigte keinerlei toxische Effekte in Kurz- und Langzeit-Tests mit Bakterien, Algen, einer Krustentierart und zwei Fischarten - weder bei Konzentrationen von zehn Gramm pro Liter (in Kurzzeit-Tests) noch einem Gramm pro Liter (in Langzeit-Tests). Auf der Basis mehrjähriger ökotoxikologischer Untersuchungen durch Schering-Wissenschaftler lässt sich sagen, dass aufgrund des diagnostischen Einsatzes und der anschließenden Ausscheidung durch die Patienten nach derzeitigem Kenntnisstand keine Risiken für Mensch und Umwelt entstehen (Steger-Hartmann et al. 2002, 2001 und 1999). 9
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Abwässer aus der Mikronisierung von Wirkstoffen Die von Schering in „Hormonpräparaten“ (z.B. Antikontrazeptiva) eingesetzten Steroid-Wirkstoffe sind i. d. R. extrem schlecht wasserlöslich. Um die Bioverfügbarkeit im Körper zu erhöhen, werden die Wirkstoffe mikronisiert, d. h. auf Partikelgrößen < 20 µm gemahlen. Die Mahlung erfolgt aus historischen Gründen nicht in der Wirkstoffproduktion Bergkamen, sondern am Standort Berlin Charlottenburg. Der rein physikalische Mahlvorgang erzeugt kein Abwasser, allerdings fallen bei der Reinigung der Anlagen wirkstoffhaltige Spülwässer an. Zur Eliminierung dieser Wirkstoffanteile wurde 2004 eine UV / H2O2-Oxidationsanlage in Betrieb genommen. Die Technologie der UV-aktivierten Oxidation Die Eignung der Technologie der UV-aktivierten H2O2-Oxidation für den Abbau von Ethinylestradiol, Levonorgestrel und anderen SteroidWirkstoffen wurde gemeinsam von Schering und einem Anlagenhersteller nachgewiesen. Durch die UV-Bestrahlung entstehen aus zudosiertem H2O2 im Abwasser Hydroxylradikale. Deren starke Oxidationswirkung baut Schadstoffe im Abwasser schneller und vollständiger ab als konventionelle Klärtechnik oder H2O2 allein. Das Abwasser wird in die Bestrahlungskammer so eingespritzt, dass eine rotierende Wassersäule entsteht. Durch die starken Verwirbelungen werden die Inhaltsstoffe des Abwassers nahe an der UV-Strahlerquelle vorbeigeführt und gleichzeitig erfolgt eine nahezu ideale Vermischung des zugesetzten H2O2 mit dem Abwasser. Die Investitionssumme betrug ca. 200.000 €. Die jährlichen Betriebskosten liegen bei 30.000 €.
Abwassermanagement in der Arzneimittelproduktion Im Vergleich zur Wirkstoffproduktion fallen bei der eigentlichen Arzneimittelherstellung (Formgebung und Verpackung) keine prozessbedingten Abwässer an. Die Herstellung von Tabletten und anderen festen Arzneiformen erfolgt weitgehend wasserfrei, während bei der Herstellung von RKM Wasser zwar als Lösemittel verwendet wird, abgesehen von Restvolumina aber keine Abwässer anfallen.
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Aufgrund der hohen Hygieneanforderungen an die zum Einsatz kommenden Anlagen (mindestens 1 x tägliche CIP11-Reinigung) fallen jedoch unabhängig von der Arzneiform große Mengen Spüllösungen an, die zwar Wirkstoffe nur in geringen Konzentrationen enthalten, gemäß der Selbstverpflichtung zum Verantwortlichen Handeln aber nicht unbeachtet bleiben durften. Für die verschiedenen Arzneimittelproduktionen der Schering AG sind zu diesem Zweck in den letzten Jahren unterschiedliche Verfahren zur Abwasserbehandlung entwickelt und etabliert worden. UV-aktivierte Oxidation für Abwässer aus der Tablettenproduktion Um vermeidbare Belastungen für die Umwelt auszuschalten, hat Schering am Produktionsstandort Weimar zur Zersetzung von Hormonwirkstoffen, v.a. des schwer abbaubaren Ethinylestradiols eine Anlage für die UV-aktivierte Oxidation mit H2O2 installiert, die nach dem gleichen Prinzip arbeitet, wie die bereits für den Mikronisierungsbetrieb am Standort Charlottenburg beschriebene. Der Ablauf der Anlage wird regelmäßig durch ein externes Labor kontrolliert, die Konzentration von Ethinylestradiol liegt unter der Nachweisgrenze. Die Membran-Filtration zur Behandlung von RKM-Reinigungslösungen Im sogenannten Supply-Center in Berlin werden iodhaltige Röntgenkontrastmittel formuliert und abgefüllt. Zur dezentralen Aufreinigung der beim Reinigen der Produktionsanlagen anfallenden Abwässer wird eine Membranfiltration als physikalisches Trennverfahren eingesetzt (Abb. 7). Die RKM-haltigen Abwässer werden unter hohem Druck über zwei Stufen aufkonzentriert. Das Konzentrat kann dann gesondert entsorgt bzw. dem Iod-Recycling zugeführt werden.
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CIP = cleaning in place; Reinigung durch eine Vielzahl von Sprühdüsen ohne Demontage der Anlagen
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Konzentrierung Feed 1000 ppm
Grenzwerteinhaltung
1. Stufe
Permeat <3,6 ppm
2. Stufe |100 ppm
60 g/l
1 g/l
Konzentrat 60 g/L
Feed:
20 m³/d (bis 36 m³/d) 1 - 3 g/L Jod
Druck: Temperatur:
20 bar 30 °C
Konzentrat:
bis zu 60 g/L Jod Faktor 20 – 60
Membranfläche: 1.Stufe: 100 m²
Permeat:
< 3,6 ppm AOI Ausbeute 95 - 98%
Anzahl Module:
4
2.Stufe: 64 m² 2
Abb. 7. Prinzip und typische Betriebsdaten der Membranfiltration im Supply Center Berlin.
Der Investitionsbedarf für die reine Membrananlage lag bei 250.000 €, inkl. notwendiger Infrastruktur (getrenntes Abwassersystem, Steuerung, Einhausung) wurden insgesamt 800.000 € aufgewendet; die jährlichen Betriebskosten liegen bei 75.000 €. Aktivitäten außerhalb Europas Für die Reinigung von Spülwässern aus Arzneimittelfertigungen in Ländern mit weniger hoch entwickelten technischen Standards wird in der Schering-Gruppe die biologische Abwasserbehandlung in Form eines „Rotierenden Scheibenreaktors“ eingesetzt (Abb. 8). Es handelt sich hierbei um ein Festbettverfahren, der biologische Rasen wächst auf Trägerscheiben, die durch langsame Rotation abwechselnd gespült und belüftet werden. Da die Mikroorganismen bis zum Erreichen der kritischen Aufwuchsdicke quasi immobilisiert sind, werden auch in diesen Anlagen hohe Schlammalter und geringe Überschussschlammproduktion erreicht. Auch mit diesem Anlagentyp, der bei relativ gering belasteten Abwässern einge-
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setzt wird, werden also günstige Voraussetzungen für das Anreichern von Abbauspezialisten geschaffen. Die Abbauleistung der Anlage ist über die Verweilzeit in der Anlage steuerbar. Eine Wartung fällt praktisch nicht an, d. h. für den Betrieb der Anlagen wird kein hochqualifiziertes Personal benötigt. Derartige Anlagen sind bislang in Pakistan und Indonesien im Einsatz, weitere befinden sich in Planung.
Abb. 8. Prinzip des Rotierenden Scheibenreaktors.
Zusammenfassung Für die Herstellung von Arzneimitteln lässt sich feststellen, dass herstellungsbedingte Emissionen von Arzneimittelwirkstoffen in die Umwelt mit heutiger Technik so beherrschbar sind, dass eine Beeinträchtigung von Gewässern praktisch vollständig vermieden werden kann. Die Schering AG hat dafür an zahlreichen Produktionsstandorten weltweit in den letzten Jahren Investitionen im zweistelligen Millionen-Bereich aufgewendet. In der nachstehenden Tabelle sind die Investitionen in Deutschland zusammengefasst; die in anderen Ländern wurden wegen der Nichtvergleichbarkeit der Kostenstrukturen nicht aufgenommen.
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Tabelle 1. Übersicht über die Investitionen für die Abwasserreinigung und die laufenden Kosten. Anlage PWA Bergkamen ZABA Bergkamen UV-Oxidation Charlottenburg UV-Oxidation Weimar Nanofiltration Supply Center
Investition
Betriebskosten
[Mio. €] 23 12,5* 0,2 0,3 0,8
[T € / Jahr] 3200 6000 30 48 75
* zuzüglich 1,7 Mio. € Fördermittel
Besondere Aufmerksamkeit bei den Investitionsmaßnahmen wurde den estrogenen Wirkstoffen und den iodierten Röntgenkontrastmitteln gewidmet. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass heute weder aus der Wirkstoffproduktion noch aus der Arzneimittelherstellung nennenswerte Emissionen dieser Wirkstoffklassen stattfinden.
Danksagung Für die Beschreibung der Funktionsweise der PAA-Membrankaskade danke ich Annette Achtabowski und Otto Neuhaus, Christine Stoss für die korrekte Darstellung der genehmigungsrechtlichen Voraussetzungen für die Produktionsanlagen. Alle drei haben mich mit der sorgfältigen Durchsicht des Manuskripts sehr unterstützt. Gleichermaßen gilt mein Dank all den Kolleginnen und Kollegen, die durch Informationen, Diskussionen und Beisteuern von Unterlagen diese Darstellung überhaupt ermöglicht haben. Besonders genannt sei hier Thorsten Kopf, der rechtzeitig zum Redaktionsschluss die aktuelle Verwertungsstatistik erstellt hat.
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Literatur Achtabowski, A., Neuhaus, O. The PAA-membrane-activated sludge process – Conception and first experience with the realized plant. 10. Aachener Membran Colloquium, RWTH Aachen 16./17. März 2005, 99-106. Amtsblatt der EU vom 19. 2. 2003: Integrated Pollution Prevention and Control – “Reference Document on Best Available Techniques in Common Waste Water and Waste Gas Treatment / Management Systems in the Chemical Sector” nachlesbar unter http://www.umweltdaten.de/nfp-bate/commonwastebrefe.pdf. Bundestagsdrucksache 14/1471 vom 4. 8. 2000 Europäische Kommission: Mitteilung an den Rat und das Europäische Parlament über eine Gemeinschaftsstrategie für Umwelthormone. KOM(1999) 706 und Bull. 12-1999 http://www.eu.int/abc/doc/off/bull/de/9912/p102147.htm Kurzübersetzung: http://www.bvt.umweltbundesamt.de/archiv/Z_Abgas-uAbwasser.pdf Schering AG: Konzernumweltbericht 2000 – 2001, 22 ff., Berlin 2002. Schering AG: Konzernumweltbericht 2002 – 2003, 21, Berlin 2004. Steger-Hartmann, T., Länge, R., Schweinfurth, H., Tschampel, M., Rehmann, I. (2002): Investigations into the environmental fate and effects of iopromide (ultravist), a widely used iodinated X-ray contrast medium. Wat. Res. 36, 266274. Steger-Hartmann, T., Länge R., Schweinfurth, H. (1999): Environmental risk assessment for the widely used iodinated X-ray contrast agent iopromide (Ultravist). Ecotoxicol. Environ. Safety 42, 274-281. Steger-Hartmann, T., Länge, R., Schweinfurth, H. (2001): Iodinated X-ray contrast media in the aquatic environment: Fate and effects. In: Daughton C G, Jones-Lepp TL (Hrsg.): Pharmaceuticals and Personal Care Products in the Environment – Scientific and Regulatory Issues. ACS Symposium Series 791, American Chemical Society, Washington DC, S. 231-243.
Pro und Contra der Antibiotikagabe in der Krankenhaushygiene Christiane Höller Bayrisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Oberschleißheim
Einleitung Die Krankenhaushygiene hat die Verhütung und Bekämpfung krankenhauserworbener Infektionen, auch nosokomiale Infektionen genannt, zum Ziel. Dies klingt einfach, erfordert jedoch ein Zusammenwirken aller im Betreuungsprozess Beteiligter, um effektiv sein zu können. Durch den ständigen Wandel in der Medizin, sei es durch neue Therapien oder z.B. neue Geräte, ändern sich auch ständig die Anforderungen an die Krankenhaushygiene. Die Zeiten, als man glaubte, durch die Gabe von Antibiotika alle Probleme lösen zu können, sind seit dem Auftreten von resistenten Krankheitserregern schon lange vorbei und das Phänomen der Multiresistenz, die wir heute in den Krankenhäusern zunehmend finden, verschärft die Situation deutlich.
Krankenhaushygiene vor der Entdeckung der antibakteriellen Chemotherapeutika Mit dem Beginn des Christentums und seiner Verpflichtung zur Nächstenliebe wurden die ersten Einrichtungen gegründet, die mit heutigen Krankenhäusern vergleichbar sind. Im Mittelalter nahm die Zahl der Kranken- und Siechenstationen erheblich zu. Sie dienten nicht nur der Pflege Erkrankter, sondern auch durch Absonderung von z.B. Lepra- oder Pestkranken dem Schutz der Bevölkerung (Pulverer et al. 2001). Die hygienische Situation in diesen Krankenhäusern bot wegen Überbelegung, Befall mit Ungeziefer, ungenügender sanitärer Verhältnisse und katastrophaler Unsauberkeit einen guten Nährboden für das Auftreten von Infektionen. Vor allem Typhus, Fleckfieber und Rückfallfieber traten auf und, nachdem
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die Chirurgie wichtiger geworden war, Erysipel, Gasbrand, Tetanus, Wunddiphtherie und Sepsis. Teilweise starben selbst noch Ende des 19. Jahrhunderts bis zu 80% der Operierten nach einem Eingriff und die Erkenntnis, was man dagegen tun könnte, entwickelte sich nur langsam. Zwar existierte die Idee, dass einige Krankheiten durch unsichtbare Lebewesen hervorgerufen werden, bereits im ersten Jahrhundert vor Christus, der Nachweis gelang für die meisten Erreger jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. bzw. am Anfang des 20. Jahrhunderts (Bryksier 2005). Eine kausale Therapie war zu jener Zeit noch nicht möglich, so dass der Schwerpunkt auf das Vermeiden einer Infektion gelegt wurde. Als man noch an das Entstehen von Infektionen durch das Einatmen von Miasmen (schlechter Luft) glaubte, versuchte man durch Entflechtung innerhalb eines Krankenhauses und durch verbesserte Luftzirkulation Abhilfe zu schaffen. Man teilte Patienten in kleinere, räumlich abgetrennte Einheiten ein und baute viele Einzelgebäude mit großen Fenstern und zusätzlichen Ventilatoren, die für mehr frische Luft und Tageslicht im Krankenzimmer sorgen sollten (Pulverer et al. 2001). In einigen Krankenhäusern ist diese Pavillonbauweise auch heute noch erkennbar. Dies brachte zwar zweifellos eine Verbesserung in der Krankenversorgung mit sich, aber erst nach der Einführung antiseptischer Maßnahmen gelang es, die Zahl der nosokomialen Infektionen zu senken. Am bekanntesten dürften die Beobachtungen von Ignaz Semmelweis sein, der erkannt hatte, dass die Mortalität in der I. Wiener Gebärklinik, in der die Frauen von Ärzten und Studenten behandelt wurden, die auch Obduktionen durchführten, bei 11,4% lag, während sie in der II. Gebärklinik, in der die Hebammen die Geburt begleiteten, nur 2,8% erreichte. Als er 1847 die obligatorische Chlorwaschung der Hände einführte, sank die Sterblichkeit an Kindbettfieber auch in der Ärzteklinik auf 2,4% und später sogar auf 0,2%. Trotz dieses überwältigenden Erfolges konnte er sich nicht durchsetzen, und erst die Arbeiten von Sir Joseph Lister an der Universität Glasgow führten zu einem Wandel im Denken der Chirurgen. Lister weichte die Hände der Operateure in 2,5%ige Karbolsäure ein und sprühte mit dem Gedanken an die Auslösung von Infektionen durch Miasmen alle Gegenstände und Personen innerhalb des Operationsraumes mit Karbolspray ein. Unmittelbar nach Einführung dieser Maßnahme sank die Sterblichkeit bei Unterschenkelamputierten von 46% auf 15%, und primäre Wundheilungen, die vorher selten waren, wurden zur Regel. Durch die Entwicklung von festen Nährböden 1880 ließen sich die verschiedenen Erregerarten anzüchten und man konnte Herkunft und Verbreitungswege von Krankheitserregern genauer untersuchen. In der Folge wurden viele Verfahren zur Vermeidung einer Infektion, die auch heute noch Gültigkeit haben, wie z.B. die gezielte Desinfektion von Händen und
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Gegenständen, die Sterilisation von Materialien, die bei Operationen verwendet werden, die Einführung von Gummihandschuhen oder Mundschutz entwickelt. Dadurch konnten nosokomiale Infektionen zwar stark zurückgedrängt werden, aber sie waren immer noch vorhanden. Es zeigte sich jedoch ein Wandel im Infektionsgeschehen. Während durch konsequente Desinfektion und Sterilisation diejenigen Infektionen, die durch kontaminierte Hände oder Gegenstände übertragen werden, vermieden werden konnten, galt dies nicht für fakultativ pathogene Erreger, die ihren natürlichen Standort auf der Haut oder Schleimhaut von klinisch gesunden oder kranken Menschen haben und von dort in die Umgebung gelangen. In der Phase nach Einführung antiseptischer (Maßnahmen gegen Bakterien während eines Eingriffs, z.B. durch Hautdesinfektion) und aseptischer Maßnahmen (Maßnahmen vor einem Eingriff z.B. Sterilisation der Instrumente) überwogen Infektionen mit E-hämolysierenden Streptokokken, bei denen ein aerogener Übertragungsweg angenommen wurde (Pulverer et al. 2001). Die Gefahr, eine nosokomiale Streptokokken-Infektion zu bekommen, verdeutlichen Zahlen von Miles et al. (1940). Bei Kriegsverletzen des 2. Weltkriegs stieg die Rate von Infektionen mit hämolysierenden Streptokokken von 8 bis 15% kurz nach der Verwundung auf 20 bis 90% unter der Behandlung im Lazarett an. Nosokomiale Infektionen mit Gramnegativen Erregern waren damals noch eher selten, Infektionen mit Staphylokokken kamen an dritter Stelle nach E-hämolysierenden Streptokokken und Pneumokokken.
Krankenhaushygiene nach der Entdeckung der antibakteriellen Chemotherapeutika Die ersten wichtigen Mittel, die als anti-infektive Chemotherapeutika eingesetzt wurden, waren Arsenderivative. Bis zur Entdeckung des Penicillins wurden sie zur Behandlung der Syphilis verwendet. Antimalariamittel wie Plasmoquin und Chloroquin folgten am Anfang des letzten Jahrhunderts (Bryksier 2005). Die Entdeckung der antibakteriellen Wirkung der Sulfonamide und des Penicillins führte zu einer deutlichen Veränderung innerhalb der Krankenhaushygiene. Plötzlich war es möglich, Patienten weitgehend nebenwirkungsarm gezielt zu behandeln. Dies hatte auch erhebliche sozioökonomische Folgen. Die Einführung von Penicillin G und später Streptomycin reduzierte in England die Sterblichkeitsrate um 30%, wenn man die Jahre 1938 und 1947 vergleicht und verlängerte gleichzeitig auch die Lebenserwartung. Die Sterblichkeit von Kindern an angeborener Syphilis sank von 1,5 pro 1.000 in 1910 auf 0,01 pro 1.000 in
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1954 (Bryksier 2005). Durch die neuartigen Möglichkeiten der Therapie wurde die Indikation zu einer Antibiotikagabe immer großzügiger gestellt, gleichzeitig wurden die aseptischen und antiseptischen Maßnahmen weniger konsequent eingehalten. Zunächst kam es vermutlich durch die Empfindlichkeit von Streptococcus pyogenes und Pneumokokken zu einem Rückgang an Krankenhausinfektionen. Bald danach traten in den 40-iger und 50-iger Jahren des letzten Jahrhunderts allerdings Staphylococcus aureus-Infektionen in den Vordergrund. Bereits kurz nach Einführung des Penicillin G war in einigen Bakterienstämmen die Bildung von E-Lactamase, einem enzymatischen Inaktivator des Penicillin, beobachtet worden. Die besondere Bedeutung der Staphylococcus aureus-Infektionen, die epidemieartig auftreten konnten, wurde erstmals in den 50-iger Jahren bekannt. In den frühen 60-iger Jahren nahm die Zahl der Staphylococcus aureus-Infektionen wieder ab, der Grund hierfür ist nicht völlig klar (Eickhoff 1998). Die Überzahl der Staphylococcus aureus-Infektionen hatte das neuartige Auftreten von Infektionen, die durch Gram-negative Erreger hervorgerufen wurden, überdeckt. Letztere nahmen in den 60-iger und frühen 70-iger Jahren eine dominante Rolle ein. Als Gründe hierfür wurden die primäre und sekundäre Antibiotikaresistenz der Gram-negativen Erreger, die ihnen einen Selektionsvorteil im Krankenhaus verschaffte, ihre geringen Nährstoffansprüche, die ein Überleben im Umfeld des Patienten erlaubte, sowie die technisch komplexen Apparaturen, die erstmals in der Intensivmedizin eingesetzt wurden, genannt (Eickhoff 1998, Pulverer et al. 2001). In den Folgejahren nahm die Bedeutung von Staphylokokken wieder zu, die nach wie vor vor allem im Hinblick auf das Auftreten von Multiresistenzen eine wesentliche Rolle spielen. Seit den 90-iger Jahren werden verstärkt auch Infektionen mit früher eher ungewöhnlichen Erregern wie Enterokokken, Acinetobacter baumannii, Clostridium difficile oder Pilzen beobachtet. Häufig stammen diese Erreger aus der Flora des Patienten und rufen nur dann Infektionen hervor, wenn die Infektabwehr reduziert ist. Durch die Möglichkeit, Infektionen gezielt zu behandeln bzw. durch Antibiotikaprophylaxe zu vermeiden, aber natürlich auch durch andere Entwicklungen, hat sich die Medizin in den letzten Jahrzehnten enorm verändert. Ausgedehnte invasive Eingriffe sind in einem Maße möglich, wie sie früher undenkbar waren. Durch die Zunahme z.B. an minimal invasiven Eingriffen ist die Belastung für den Patienten geringer geworden, dadurch können ältere oder stärker vorgeschädigte Patienten eher operiert werden. Das bedeutet aber auch, dass das Risiko, an einer Infektion zu erkranken, steigt, da die Infektabwehr geschwächter sein kann. Die Aufbereitung der komplexen Instrumente, die für minimal invasive Chirurgie verwendet werden, ist schwierig und kann zur Übertragung von Krank-
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heitserregern führen. Dies ist nur ein Beispiel aus der Vielfalt geänderter Medizintechnik und Bedingungen, die das Infektionsgeschehen in einem Krankenhaus beeinflussen können.
Nosokomiale Infektionen Als nosokomiale Infektionen werden Infektionen bezeichnet, die im Zusammenhang mit einem Krankenhausaufenthalt auftreten. Infektionen, die bereits bei der Aufnahme vorhanden waren, fallen nur darunter, wenn ein Erregerwechsel während des Krankenhausaufenthaltes auftritt. Infektionen, die erst nach der Entlassung festgestellt werden, zählen jedoch dazu und sollten bei der immer kürzeren Liegezeit im Krankenhaus und der Verlagerung der Nachsorge in den ambulanten Bereich unbedingt miterfasst werden (Huang et al. 2003). Krankenhausinfektionen können durch Bakterien, Viren, Pilze und Parasiten hervorgerufen werden; das Vorkommen und Spektrum in den einzelnen Häusern ist u.a. abhängig von der Art der Einrichtung, den durchgeführten Therapiemaßnahmen und der Empfänglichkeit der Patienten. In den USA wurde Ende der 60-iger, Anfang der 70-iger Jahre erstmals versucht, das Ausmaß nosokomialer Infektionen in einzelnen Krankenhäusern abzuschätzen (Martone et al. 1998). Die Centers for Disease Control and Prevention (CDC) riefen das National Nosocomial Infections Surveillance System (NNIS) ins Leben, das seitdem regelmäßig die gemeldeten Infektionen und Resistenzen veröffentlicht (Anonymous 2003). In der Study on the Efficacy of Nosocomial Infection Control (SENIC) wurde festgestellt, dass in den USA ca. 5,7 Infektionen / 100 Einweisungen auftraten und dass ca. 4,5% aller hospitalisierten Patienten an einer nosokomialen Infektion erkrankten (Haley et al. 1985, Martone et al. 1998). In Deutschland wurde in der NIDEP-Studie eine Prävalenz nosokomialer Infektionen von 3,5% mit einer Variabilität von 0 bis 8,9% festgestellt (Rüden et al. 1995). Die häufigsten Infektionen waren Harnwegsinfektionen (42%), gefolgt von Pneumonien (21%), postoperativen Wundinfektionen (16%) und Sepsis (8%). Intensivstationen hatten mit bis zu 15% die höchsten Infektionsraten. Infektionen können durch exogene Erreger aus dem Umfeld des Patienten einschließlich Mitpatienten oder Personal hervorgerufen werden oder sie werden durch die patienteneigene Flora als endogene Infektion verursacht. Selbst bei bestmöglicher Disziplin des Personals und optimaler Therapie lässt sich nur ein Teil der Infektionen vermeiden. Das größte Reduktionspotential liegt sicherlich bei Infektionen, die durch exogene Erreger übertragen werden. Aber auch durch Einzelmaßnahmen am Patienten, wie
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z.B. der Oberkörperhochlagerung zur Vermeidung von Pneumonien, kann der Anteil an Infektionen, in diesem Fall endogener Natur, verringert werden (Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention 2000). Selbst wenn man nur nosokomiale Infektionen konsequent überwacht, die Einhaltung von Präventionsmaßnahmen kontrolliert oder genügend Hygienefachpersonal beschäftigt, kann das Auftreten von Infektionen gesenkt werden. Dieser Anteil wurde in der SENIC-Studie auf ca. 30% geschätzt (Haley et al. 1985). Exogene nosokomiale Infektionserreger können auf vielfältige Weise übertragen werden. Kontaminierte Geräte wie Lanzetten zur Überprüfung des Blutzuckerspiegels oder kontaminierte Medikamente wurden immer wieder als Ursache von Krankenhausinfektionen gerade auch bei gehäuftem Auftreten von Infektionen beschrieben (Martone et al. 1998, Hota 2004). Pseudomonas aeruginosa und Acinteobacter baumannii sind in der Umgebung des Patienten vorhanden und können möglicherweise besonders empfängliche Patienten infizieren. Insgesamt wird die Bedeutung der Umgebungskontamination für das Infektionsgeschehen im Krankenhaus z.Z. kontrovers diskutiert, da häufig eine Kausalität nicht eindeutig ableitbar ist (Hota 2004, Lemmen et al. 2004). Menschen können als Träger Krankheitserreger in einem Krankenhaus verbreiten, wie dies z.B. bei Staphylococcus aureus oder Streptokokken häufiger beobachtet wurde, die häufigste Ursache dürfte aber die Übertragung von Krankheitserregern durch Kreuzkontamination sein (Martone et al. 1998). Die Hände des Personals sind seit Ignaz Semmelweis immer wieder als der wichtigste Übertragungsweg genannt worden (Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention 2000). Pittet et al. (2000) konnten im Genfer Universitätsklinikum nach einem intensiven Schulungsprogramm erreichen, dass die Händehygiene zumindest beim nicht-ärztlichen Krankenhauspersonal stark verbessert wurde und beobachteten im Studienzeitraum eine Reduktion der nosokomialen Infektionen von 16,9% auf 9,9%. Als Grund für die fehlende Compliance der Ärzte wurde z.T. Arbeitsüberlastung genannt, verbessert werden konnte die Personaldisziplin durch die leichte Erreichbarkeit eines Händedesinfektionsmittels oder das Bewusstsein, eine Vorbildrolle zu haben (Pittet et al. 2004). Endogene nosokomiale Infektionserreger sind naturgemäß deutlich schwieriger zu bekämpfen als exogene Kontaminationsquellen. Weder rigorose Desinfektionsmaßnahmen noch teilweise umstrittene Isolierungsmaßnahmen reduzieren hier die Zahl von Krankenhausinfektionen. Man versucht durch Einzelmaßnahmen bei der Therapie des Patienten, wie die Wahl eines bestimmten Kathetermaterials, geringe Manipulationen an Insertionsstellen, adäquate Schmerztherapie zur Vermeidung einer postope-
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rativen schmerzbedingten Einschränkung der Atemfunktion, das Angehen einer Infektion möglichst lange herauszuzögern. Das Risiko eines Patienten, eine nosokomiale Infektion zu erwerben, hängt von vielerlei Umständen ab. Zum einen spielt natürlich die Grundkrankheit eine wesentliche Rolle, sei es eine chronische, die Infektion begünstigende Krankheit, wie z.B. Diabetes oder aber eine Immunsuppression .Zum anderen sind aber auch exogene Faktoren wie die Länge des präoperativen Krankenhausaufenthaltes, die Dauer einer Operation oder die Notwendigkeit, einen Patienten über einen längeren Zeitraum zu beatmen, von Bedeutung. Meist kommen mehrere Risikofaktoren zusammen, so dass es sich bei nosokomialen Infektionen häufig um ein komplexes Geschehen handelt, das nicht auf einfache Art und Weise beeinflussbar ist. Unabhängig vom persönlichen Leid eines Patienten, der an einer Krankenhausinfektion erkrankt, rücken in den letzten Jahren auch in Deutschland die Folgen von nosokomialen Infektionen stärker in den Vordergrund. Während früher die Kosten, die durch nosokomiale Infektionen entstanden, über die verlängerte Liegedauer an die Patienten bzw. Krankenkassen weitergegeben werden konnten, ist dies bei der Abrechnung über Fallpauschalen nicht mehr der Fall (Rüden et al. 1995). Durch Krankenhausinfektionen verlängert sich der Krankenhausaufenthalt durchschnittlich um 4 Tage, je nach Lokalisation der Infektion um 1 bis über 7 Tage. Andere Autoren ermittelten bei Pneumonien 1991 eine um 11,5 Tage und bei postoperativen Wundinfektionen um 13,9 Tage verlängerte Liegedauer (Kappstein et al. 1991, Martone et al. 1998). Heute ist die verlängerte Liegedauer kürzer, was aber durch andere Ursachen wie z.B. ein geändertes Abrechnungsverfahren mitverursacht sein dürfte. Die Kosten verlängerter Krankenhausaufenthalte werden je nach Studie auf 115 Millionen Pfund (UK, 1987) pro Jahr bzw. 4,5 Milliarden US Dollar geschätzt (Rüden et al. 1995, Martone et al. 1998). Die indirekten Kosten, die z.B. durch Verlust der Produktivität eines Patienten entstehen, sind weitaus schwerer zu ermitteln. Die Zahl derjenigen Todesfälle in den USA, bei der nosokomiale Infektionen die Haupttodesursache waren, wird von Martone et al. (1998) mit 0,9% aller Todesfälle angegeben, bei 2,7% der Todesfälle trugen nosokomiale Infektionen zum Tod bei. In Deutschland fand Daschner (1981) bei 13,7% der verstorbenen Patienten eine nosokomiale Infektion, Großer et al. (1994) bei 46% der verstorbenen Patienten eines Universitätsklinikums bzw. 35,7% der Verstorbenen aus vier städtischen Krankenhäusern. Die Letalität ist am höchsten bei Sepsis.
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Antibiotikaanwendung im Krankenhaus und im ambulanten Bereich Es gab immer wieder Versuche, den Antibiotikaverbrauch in Krankenhäusern zu ermitteln. Allgemein kann man davon ausgehen, dass 25% bis 40% der Krankenhauspatienten zu irgendeinem Zeitpunkt systemisch Antibiotika erhalten (Eickhoff 1998). Aus der NIDEP-Studie ist bekannt, dass 1997 in den deutschen Studienkrankenhäusern 17,7% der erfassten Patienten antibiotisch behandelt wurden. 16,9% dieser Patienten erhielten wegen einer nosokomialen Infektion Antibiotika, 47,9% wegen einer nicht-nosokomialen Infektion. Allerdings lag bei 35,1% aller mit Antibiotika behandelter Patienten überhaupt keine Infektion vor (Rüden et al. 1995). Dies wird auch in anderen Studien beschrieben (Davey et al. 1997). Daten über den Antibiotikaverbrauch außerhalb des Krankenhauses zu erhalten war immer schwierig, vor allem in Ländern, in denen Antibiotika frei verkäuflich sind. Wegen der zunehmenden Resistenzproblematik in vielen Regionen hat der Rat der Europäischen Union die Mitgliedsstaaten aufgefordert, Daten über die Antibiotikaverordnungspraxis zu erheben. Außerdem wurden Projekte wie ESAC (European Surveillance of Antibiotic Consumption [http://www.ua.ac.be/ESAC]) gefördert, in denen Daten aus mehreren Ländern erfasst werden (de With et al. 2004). Im europäischen Vergleich liegt der Antibiotikaverbrauch in Deutschland im ambulanten Bereich im unteren Drittel mit 13,6 definierten Tagesdosen (DDD, "defined daily doses")/ 1.000 Einwohner und Tag. Ähnlich niedrig lagen die Werte auch in den Niederlanden, Österreich, Dänemark, Lettland, Irland, England, Norwegen und Schweden. Dagegen lag Frankreich 2001 mit 32,9 DDD/ 1.000 Einwohner und Tag an der Spitze der europäischen Antibiotikaanwender. Ebenfalls im oberen Drittel lagen Griechenland, Italien, Belgien, Luxemburg, Polen, Portugal und die Slowakei mit über 20 DDD/ 1.000 Einwohner und Tag. Die im ESAC-Projekt geschätzten Daten für den stationären Bereich liegen zwischen 0,8 DDD/ 1.000 Einwohner und Tag in den Niederlanden und 4,5 DDD/ 1.000 Einwohner und Tag in Lettland, wobei keine Korrelation zwischen ambulantem und stationärem Verbrauch sichtbar wird. Der geschätzte Anteil der stationär verordneten an allen verordneten Antibiotikatagesdosen liegt lediglich im Bereich von 5% bis 20%, in Deutschland wären dies 1-2 DDD/ 1.000 Einwohner und Tag (de With et al. 2004). Im Projekt SARI (Surveillance of Antibiotic Use and Resistance in Intensive Care [http://www.sariantibiotika.de]) werden seit dem Jahr 2000 in ausgewählten deutschen Krankenhäusern kontinuierlich Resistenz- und Antibiotikaverbrauchsdaten erhoben. Die mittlere Anwendungsdichte lag mit 130 bis 134 DDD/ 100
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Pflegetage in einem ähnlichen Größenordnungsbereich wie in Schweden oder Dänemark. Im Projekt ARPAC (Antibiotic Resistance Prevention and Control [http://abdn.ac.uk/arpac] wurden 140 europäische Krankenhäuser zu ihrem Antibiotikaverbrauch befragt. Für die beteiligten Krankenhäuser lag der Verbrauch allgemein zwischen 5 und 129 DDD/ 100 Patiententage, der mittlere Verbrauch lag im Süden (Griechenland, Israel, Italien, Türkei, Malta, Portugal und Spanien) bei 81 DDD/ 100 Patiententage, im Westen (Österreich, Belgien, Frankreich, Deutschland, Luxemburg, Schweiz und Großbritannien) bei 63 DDD/ 100 Patiententage und im Osten (Albanien, Bosnien, Kroatien, Mazedonien) bei 37 DDD/ 100 Patiententage (MacKenzie 2004).
Antibiotikaresistenzen und nosokomiale Infektionen Seit Einführung der antibiotischen Therapie wurden Resistenzen gegenüber einzelnen Wirkstoffen beobachtet. Dies führte anfangs zur Entwicklung immer neuer Substanzen, so dass in den Jahren 1978 bis 1981 ca. 12% der Arzneimittel innovative Antibiotika waren (Eickhoff 1998). Nachdem die ersten Resistenzen gegenüber Penicillin und anderen Antibiotika bekannt wurden, wurde schnell deutlich, dass die wichtigsten nosokomialen Infektionserreger entweder natürlicherweise gegenüber einzelnen klinisch wirksamen Substanzen resistent sind oder aber die Fähigkeit erwerben, gegen die eingesetzten Antibiotika Resistenzen zu entwickeln. Die Resistenzen können aufgrund von Mutationen entstehen, deren Häufigkeit durch viele Faktoren beeinflusst wird oder aber die Bakterienstämme nehmen exogenes, genetisches Material wie Plasmide oder Transposons, teilweise sogar über Speziesgrenzen hinweg, auf (Gold et al. 1996, Martinez et al. 2000). Der selektive Druck, der dazu führt, dass in einem Krankenhaus ein Resistenzproblem entsteht, ist einerseits zwar lokal begrenzt, reicht aber doch weit in die Gesellschaft außerhalb des Krankenhauses hinaus. Das Auftreten von Methicillin-resistenten Staphylococcus aureusStämmen (MRSA), Vancomycin-resistenten Enterokokken (VRE), ESBL (extended spectrum E-lactamases)-Stämmen Gram-negativer Erreger oder von Penicillin-resistenten Pneumokokken ist deutliches Anzeichen dafür. Nach der Entwicklung von Fluorchinolonen und der Weiterentwicklung der Cephalosporine in den 80-igern dachten viele, dass die Gefahren von bakteriellen Infektionen beherrschbar seien (Eickhoff 1998). Für die Pharmafirmen waren in dieser Zeit die Entwicklung anderer Medikamente lukrativer, so dass in den Jahren 1981 bis 2002 nur noch ca. 3% der neu entwickelten Arzneimittel Antibiotika waren. Reservemittel werden also
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bei der Bekämpfung nosokomialer Infektionen immer seltener (Gold et al. 1996, de With et al. 2004). Grundsätzlich sind schwere Infektionen wie z.B. Sepsis, die durch Antibiotika-resistente Erreger hervorgerufen werden, mit einer höheren Mortalität verbunden als vergleichbare Infektionen mit Antibiotika-empfindlichen Erregern. Es ist allerdings nicht klar, ob die erhöhte Mortalität auf eine erhöhte Virulenz des Erregers, auf eine verminderte Effektivität der antibiotischen Therapie oder auf beides zurückzuführen ist. Zusätzlich sind oft noch Faktoren wie längerer Krankenhausaufenthalt oder frühere antibiotische Therapie zu berücksichtigen (Eickhoff 1998). Das Entstehen von Antibiotikaresistenzen im Krankenhaus wird durch den Einsatz der Antibiotika in der jeweiligen Einrichtung mitbestimmt. Es ist jedoch ein komplexes Geschehen und wird nicht allein durch die Verwendung eines bestimmten Medikamentes ausgelöst. Es spielen auch Umgebungsfaktoren, wie Nährstoffmangel, Kontakt mit Detergentien, die Art der Besiedelung eines Habitats mit anderen Bakterien usw. eine Rolle. Prinzipiell tritt Antibiotikaresistenz häufiger im klinischen als im ambulanten Bereich auf. Durch die Therapie im ambulanten Bereich, z.B. dem weit verbreiteten Einsatz von Chinolonen, kann aber die Resistenzsituation im Krankenhaus beeinflusst werden. In Ausbruchssituationen haben Patienten, die Infektionen mit einem resistenten Erreger erleiden, in der Vergangenheit häufiger eine antibiotische Therapie erhalten als diejenigen Patienten, die mit einem empfindlichen Erregerstamm derselben Spezies kolonisiert oder infiziert sind. Veränderungen im Antibiotikagebrauch können das Resistenzspektrum der Erreger eines Klinikbereiches verändern, wobei solche Veränderungen auch reversibel sein können. Klinikbereiche mit dem höchsten Antibiotikaverbrauch haben meist auch die höchsten Raten an resistenten Erregern, allerdings sind dies auch meist Bereiche mit den empfänglichsten Patienten. Zu diesen Bereichen gehören Intensivstationen, Verbrennungseinheiten, onkologische Stationen und andere Spezialeinheiten. Je länger Patienten in diesen Bereichen antibiotisch behandelt werden, umso größer ist die Gefahr einer Kolonisierung oder Infektion mit einem resistenten Erreger (Baquero et al. 1998, Eickhoff 1998, Cristino 1999, French et al. 1999, Martinez et al. 2000, Meyer et al. 2005). Durch eine Antibiotikagabe in therapeutischen Dosen wird durch alle Wirkstoffe die patienteneigene Flora gestört und die Infektion mit resistenten Erregern begünstigt. Bei den meisten Patienten ist die Störung der eigenen Flora nur vorübergehend und hat keine ernsten Konsequenzen. Bei einigen Patienten treten jedoch schwere oder sogar tödliche Infektionen auf. Bekannt wurde dies erstmals, als unter Tetrazyklintherapie resistente Staphylokokken den Darm besiedelten und eine Enterocolitis hervorriefen (Eickhoff 1998). Clostridium difficile wurde erstmals 1978 als Verursacher
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einer pseudomembranösen Colitis beschrieben und gilt heute als häufigster Erreger einer nosokomialen Diarrhoe. Ungefähr 3% gesunder Erwachsener und 20% bis 40% der Patienten im Krankenhaus sind mit Clostridium difficile kolonisiert. Unter Antibiotikagabe, wie z.B. Cephalosporinen und zunehmend auch Fluorochinolonen wird die darmeigene Flora unterdrückt, Clostridium difficile entsporuliert und die vegetative Form des Bakteriums produziert Toxine, die das klinische Bild einer wässrigen Diarrhoe mit Krämpfen hervorrufen. Während dies zuerst nur bei einzelnen Patienten gesehen wurde, dann im Sinne eines Ausbruchsgeschehens auf einzelnen Stationen, treten jetzt Clostridium difficile-Stämme mit gesteigerter Virulenz überregional in verschiedenen Kliniken auf (Bartlett et al. 2005, Loo et al. 2005, McDonald et al. 2005). Die Gabe von Cephalosporinen und Breitbandpenicillinen der zweiten oder dritten Generation haben den größten Effekt im Hinblick auf Störung der anaeroben Darmflora. Dadurch wird die Besiedlung mit Gramnegativen, multiresistenten Erregern wie ESBL leichter möglich. Da man lange annahm, dass vor allem bei beatmeten Patienten die patienteneigene Flora aus dem Darm Pneumonien hervorruft, versuchte man, sich den sonst unerwünschten Effekt im Sinne einer selektiven Darmdekontamination mit der oralen Gabe topisch wirkender Antibiotika wie Aminoglykoside, Trimethoprim-Sulfamethoxazol, Polymyxin oder Aztreonam zu Nutze zu machen. Zwar wurde eine Abnahme der Pneumonierate in zahlreichen Studien nachgewiesen, die Mortalität ließ sich aber nicht senken und das Auftreten von Antibiotikaresistenzen wurde beobachtet. Aus diesen Gründen wird eine generelle selektive Darmdekontamination zur Pneumonieprophylaxe bei beatmeten Patienten nicht empfohlen (Eickhoff 1998, Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention 2000). Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass Bakterien aus dem Oropharynx eher als Ursache für nosokomiale Pneumonien anzusehen sind. Der Gefahr einer Infektion versucht man mit einer Oberkörperhochlagerung des Patienten entgegenzuwirken.
Multiresistente Erreger Nosokomiale Krankheitserreger sind häufig fakultativ pathogene Bakterien, wie Pseudomonas spp., Acinetobacter spp., Enterobacter spp. oder Stenotrophomonas spp., die in der Regel geringe Nährstoffansprüche haben und in der Umwelt gut überleben können. Sie vermehren sich in einem weiten Temperaturbereich und verfügen oft über eine natürliche Resistenz gegenüber diversen antibiotischen Substanzen. Zusätzlich können sie in
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der Umgebung des Patienten weitere Resistenzen erwerben und sind so prädisponiert, zu Problemkeimen im Krankenhaus zu werden. Grampositive Erreger wie Staphylokokken, deren Reservoir die Haut und Schleimhaut von Menschen sind, sind zwar natürlicherweise empfindlich gegenüber vielen antibiotisch wirkenden Substanzen, erwerben aber leicht Resistenzen und zählen schon lange zu den wichtigsten nosokomialen Infektionserregern. Die Zunahme an Enterokokken bei nosokomialen Infektionen wird mit der natürlichen Resistenz dieses Erregers gegenüber Cephalosporinen, Aminoglykosiden und Chinolonen und dem verbreiteten Einsatz gerade dieser Antibiotika gegenüber Gram-negativen Erregern in Verbindung gebracht (French et al. 1999). Die Entstehung von Multiresistenzen in Bakterien wird mit großer Sorge betrachtet, da nur begrenzt Antibiotika zur Therapie zur Verfügung stehen. Die breite und nicht immer indizierte Anwendung von Breitbandantibiotika wie Drittgeneration-Cephalosporinen und Carbapenemen wird z.B. dafür verantwortlich gemacht, dass sich die Gene für Metallo-E-Lactamasen (MBL) in Gram-negativen Bakterien ausbreiten. MBL-positive Stämme sind meist resistent gegenüber E-Lactam-Antibiotika, Aminoglykosiden und Chinolonen. Ein spezifischer Inhibitor für MBL existiert z.Z. nicht und wird auch in nächster Zukunft nicht zu erwarten sein, so dass Polymyxine die einzige therapeutische Alternative sein können (Walsh 2005). In einigen Ländern hat die Zahl von MRSA dramatisch zugenommen, während sie in anderen Ländern noch immer niedrig ist. Das wahre Ausmaß ist allerdings meist nicht bekannt, weil Screening-Programme aus Kostengründen häufig nicht oder nur begrenzt durchgeführt werden (Gould 2005). In einem seit 1998 von der Europäischen Kommission gefördertem Projekt zur Erfassung der Antibiotikaresistenzen in Europa (EARSS: "European Antimicrobial Resistance Surveillance System" [http://www.earss.rivm.nl]) werden die Daten der nationalen SurveillanceProgramme nach standardisierten Vorgaben abgefragt und regelmäßig veröffentlicht. In einigen Ländern wie z.B. den Niederlanden oder Dänemark ist die MRSA-Rate bisher über die Jahre sehr niedrig (<1%) geblieben, in einigen Ländern wie Griechenland oder Großbritannien dagegen konstant hoch (zwischen 31 und 51%). Im Jahr 2004 ist die Inzidenz von MRSA in allen Ländern jedoch leicht angestiegen und selbst die skandinavischen Länder und die Niederlande hatten erstmals mehr als 1%, Finnland sogar mehr als 3%. Die höchste Inzidenz hatte Rumänien mit 73%, in Großbritannien blieb die MRSA-Rate konstant auf hohem Niveau und nur Slowenien und Frankreich gelang es, die MRSA-Rate leicht zu senken. In Deutschland nimmt die Zahl an MRSA seit Jahren kontinuierlich von 8% in 1999 auf 19% in 2004 zu.
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Besonders beunruhigend ist die Tatsache, dass selbst in den traditionell wenig belasteten Ländern ein Anstieg an MRSA zu verzeichnen war, was daraufhin deutet, dass sich hier im Infektionsgeschehen etwas ändert. In Dänemark wurden alle MRSA näher typisiert und es stellte sich heraus, dass ein neuer Klon, der vor allem aus dem ambulanten Bereich stammt und über eine erhöhte Virulenz verfügt, neu aufgetreten ist (Faria et al. 2005). Auch aus anderen Ländern wird zunehmend über das Auftreten von cMRSA ("community-acquired" MRSA) berichtet, die jedoch multiklonal sind. Gemeinsames Merkmal ist das Panton-Valentin-Leukozidin (PVL), dessen Angriffspunkt die Zellmembranen von Monozyten, Makrophagen und neutrophilen Granulozyten sind. Typischerweise entstehen tiefe, rezidivierende Abszesse ohne erkennbare Eintrittspforte, in seltenen Fällen auch eine nekrotisierende Pneumonie oder Fasziitis. Die bei MRSA bekannten Risikofaktoren wie vorhergehender Krankenhausaufenthalt oder frühere Antibiotikatherapie scheinen hier keine Rolle zu spielen, außerdem sind ungewöhnlicherweise eher Kinder und junge Erwachsene betroffen. Welche Folgen das Auftreten dieses neuen Typs im Infektionsgeschehen sowohl eines Krankenhauses als auch im ambulanten Bereich haben wird, muss sich erst noch erweisen (Deresinski 2005, Raab et al. 2006). Beobachtungen, dass sich jemand vom Personal nach nur eintägigem Kontakt mit einem cMRSA-positiven Kind selbst einen Abszess zugezogen hatte (Irene Drubel, persönliche Mitteilung), verdeutlicht die Brisanz dieses Erregerwechsels für die Krankenhaushygiene. Die Kolonisierung mit konventionellen MRSA auf der Haut und Schleimhaut von Patienten führt zu einer Verbreitung des Erregers auch in der Umgebung des Patienten, die möglicherweise dann als Reservoir für die Infektion oder Reinfektion eines Patienten selbst eine Rolle spielen kann (Lemmen et al. 2004). Insgesamt ist die Gefahr, an einer MRSAInfektion zu erkranken, bei kolonisierten Patienten erhöht. In einer Studie, in der Patienten auch nach der Entlassung aus dem Krankenhaus nachverfolgt wurden, erkrankten in den darauf folgenden 18 Monaten 29% an einer MRSA-Infektion (Huang et al. 2003). Nicht nur für den Patienten, der mit MRSA besiedelt ist, ist die Belastung hoch, auch für das Krankenhaus. Durch die verlängerte Liegedauer, Antibiotikabehandlung und Präventivmaßnahmen zur Verhinderung einer Ausbreitung im Krankenhaus kommen erhebliche Kosten auf eine Einrichtung zu. Es gibt immer wieder Versuche, diese Extrakosten abzuschätzen und es werden Zahlen von 3.000 bis 30.000 $ pro klinischem Fall angegeben, je nachdem welche Präventionsmaßnahmen ergriffen wurden und wie schwer das Krankheitsbild war (Gould 2005). In einer Studie, in der die Folgen von MRSA auf Morbidität, Mortalität und Extrakosten im Rahmen von postoperativen Wundinfektionen untersucht wurden, hatten Patienten mit MRSA im Vergleich zu Pa-
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tienten mit Methicillin-sensiblen S. aureus (MSSA) eine höhere Mortalitätsrate in einem Zeitraum von 90 Tagen nach der Operation. Bei MRSABesiedlung verlängerte sich die mittlere Liegedauer um 5 Tage und verursachte im Mittel 13.901 $ Extrakosten im Vergleich zu MSSA-Patienten (Engemann et al. 2003). Enterokokken sind normale Bewohner des Gastrointestinaltraktes. Sie können jedoch Infektionen der Harnwege und von Wunden, Endokarditis oder Sepsis verursachen. Das Vorkommen von Vancomycin-resistenten Enterokokken (VRE) hat in Großbritannien und in den USA in den letzten Jahren dramatisch zugenommen. In einer 9-jährigen Studie nahm die Zahl VRE-positiver Blutkulturen in Großbritannien von 6,3% im Jahr 1993 über 20% in 1995 auf 28% in 1998 zu. Der Prozentsatz VRE, der in den USA von Intensivstationen an die CDC gemeldet wurde, nahm von 0,3% in 1989 auf 25,2% in 1999 zu. In einer internationalen Vergleichsstudie war der Prozentsatz an nosokomialen VRE in den USA bedeutend höher als irgendwo sonst auf der Welt (Harbarth et al. 2002). EARSS gibt im Jahresbericht von 2004 eine allgemeine Zunahme von VRE in Europa von 3,3% in 2001 auf 7,8% in 2004 an, Großbritannien hatte keine Zahlen gemeldet. Das Auftreten von VRE in den USA wurde mit dem weit verbreiteten Vancomycineinsatz zur Bekämpfung von MRSA in Verbindung gebracht, das Auftreten in Europa eher mit dem Einsatz des Leistungsförderers Avoparcin in der Tiermast, das jedoch 1998 verboten wurde. In einer Analyse vorhandener Studien kommen Harbarth et al. (2002) zu dem Schluss, dass die Gabe von Vancomycin zu Beginn der Epidemie möglicherweise auslösendes Agens einer Besiedelung mit VRE war, dass aber auch andere Antibiotika dies begünstigen. VRE weisen eine hohe natürliche Resistenz gegenüber verschiedenen Antibiotika auf, vor allem können sie aber leicht Resistenzen anderer Bakterien durch Aufnahme von Plasmiden oder Transposons erwerben (Gold et al. 1996). Durch die hohe VRE-Last in durchfälligen Stühlen kann der Erreger leicht in der Umgebung verteilt werden, dank seiner Tenazität lange überleben und leicht auf andere Patienten übertragen werden, auch wenn die meisten Infektionen durch die endogene Flora des Patienten selbst hervorgerufen werden (Harbarth et al. 2002, Cookson et al. 2006). Gram-negative Erreger wie Klebsiella spp., E. coli oder Enterobacter spp. können vor allem bei längerem Krankenhausaufenthalt den Darm, die Harnwege, den Respirationstrakt und die Haut von Patienten leicht kolonisieren, aber auch in der Umgebung des Patienten überleben. In letzter Zeit treten häufiger Resistenzen gegenüber Cephalosporinen auf, die durch Breitspektrum-E-Lactamasen (ESBL) hervorgerufen werden wie z.B. bei Ceftazidim, Cefotaxim oder Ceftriaxon (Gold et al. 1996). Diese Stämme sind außerdem häufiger resistent gegenüber allen E-Lactam-Antibiotika,
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Aminoglykosiden und Chinolonen. Sie können zu großen Ausbrüchen führen und die Resistenzen an andere Bakterienarten weitergeben. Ihr Auftreten wird außer mit langer Aufenthaltsdauer in einem Krankenhaus mit Aufenthalt in einer Intensivstation oder onkologischen Station oder Katheterbehandlung in Verbindung gebracht (Gold et al. 1996, French et al. 1999). Die Rate von ESBL E. coli wird von EARSS mit <5% als zwar noch niedrig aber mit steigender Tendenz angeben.
Maßnahmen bei Auftreten von multiresistenten Erregern Die Häufigkeit des MRSA-Nachweises in manchen Ländern und die hohen Folgekosten für die Krankenhäuser haben die Diskussion, welche Maßnahmen beim Auftreten von multiresistenten Erregern notwendig seien, immer wieder entfacht. In manchen Ländern mit einer hohen MRSAPrävalenz könnte man darüber diskutieren, ob nicht eher die Nicht-MRSAPatienten zu schützen seien. In Skandinavien und den Niederlanden dagegen werden seit vielen Jahren konsequent Risikopatienten auf das Vorhandensein von MRSA gescreent und bei Verdacht oder positivem Testergebnis isoliert. Die über Jahre hinweg niedrige MRSA-Rate, die erst in letzter Zeit ansteigt, hat diesen Ländern in ihrer Vorgehensweise recht gegeben. Prinzipiell kann man der Verbreitung von MRSA auf dreierlei Weise begegnen: durch konsequente Hygiene, durch Restriktion des Antibiotikaverbrauchs und durch das Entdecken, Isolieren und Sanieren von MRSApositiver Patienten oder auch derjenigen, die MRSA-verdächtig sind. Der hauptsächliche Übertragungsweg von MRSA oder auch VRE von einem Patienten zum anderen geschieht wahrscheinlich über den Kontakt mit den Händen des Pflegepersonals. Auf die überragende Bedeutung der Händehygiene bei der Infektionsprävention wurde bereits hingewiesen. Doch da Patienten Keime an die Umgebung abgeben und es zu einer Rekontamination aus der Umgebung kommen kann (Lemmen et al. 2004), wird in vielen Ländern empfohlen, dass Patienten mit MRSA oder VRE in einem Krankenhaus entweder in einem Einzelzimmer oder, wenn mehrere Patienten betroffen sind, als Kohorte isoliert werden. Teilweise wird auch das sog. "Barrier-Nursing", d.h. das konsequente Tragen von Schutzkittel, Handschuhen und ggf. Maske ohne Isolierung als ausreichend angesehen. Cooper et al. (2004) verglichen 46 publizierte Studien zu dem Nutzen von Isolierungsmaßnahmen. Sie kamen zu dem Schluss, dass wegen methodischer Mängel, d.h. noch andere Faktoren konnten zu einer Reduktion von MRSA geführt haben, da keine Studie als einzige Maßnahme den Effekt der Isolierung untersucht hatte, kein sicherer Beweis für den Nutzen er-
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bracht werden kann. Sie fanden jedoch Hinweise, dass selbst bei endemischer MRSA-Kolonisierung intensive Interventionen einschließlich Isolierungsmaßnahmen geeignet sein können, die MRSA-Rate zu senken, und empfahlen, die bestehenden Regelungen beizubehalten. Dies ist auch in Deutschland die übliche Empfehlung (Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention 1999), welche auch zusätzlich zur Isolierung den Versuch der Sanierung von MRSA-Trägern mit Hilfe von Mupirocin-Gabe und antiseptischer Behandlung fordert. Durch die leichte Verbreitung von VRE in der Umgebung des Patienten und der dadurch bestehenden Gefahr einer Übertragung von einem Patienten zum anderen, wird auch bei VRE nicht auf die Isolierung und das Tragen von entsprechender Schutzkleidung verzichtet (Cookson et al. 2006, von Baum et al. 2006). Wesentlich ist auch bei der Bekämpfung von multiresistenten Erregern, dass die mikrobiologische Diagnostik überhaupt durchgeführt wird und auch empfindlich genug ist, um Multiresistenzen zu erkennen. Das Routinemonitoring auf Vancomycin ist laut EARSS-Report 2004 z.Z. nicht geeignet, Vancomycin-Resistenzen sicher zu erfassen.
Sinnvolle Antibiotikagabe bzw. Antibiotikaprophylaxe Antimikrobielle Substanzen werden in großem Umfang in Krankenhäusern eingesetzt. Ob dieser Einsatz gerechtfertigt ist, wurde schon relativ früh nach Einführung der Antibiotikatherapie in Frage gestellt. Zwanzig bis vierzig Prozent der Patienten in amerikanischen Krankenhäusern erhielten eine antibiotische Therapie und dies machte 30% bis 50% der Kosten aus, die für Medikamente ausgegeben werden, doch hatten in einer Studie 70% der Patienten, die Antibiotika erhielten, überhaupt keine Infektion (Eickhoff 1998). Dies zeigt allerdings nicht, dass Antibiotika ohne Kenntnis der Grundsätze einer indikationsorientierten Therapie eingesetzt werden, sondern dass Antibiotika in Krankenhäusern häufig zur Vermeidung von potentiellen Infektionen, also zur Prophylaxe, verwendet werden. Die Entwicklung der modernen Chirurgie hat ermöglicht, dass immer weitreichendere Eingriffe an immer mehr infektionsgefährdeteren Patienten durchgeführt werden. Um die Gefahr einer Infektion abzuwehren, liegt es nahe, Antibiotika bereits im Vorfeld eines geplanten Eingriffes einzusetzen. Es stellt sich allerdings die Frage, inwieweit dies unter Berücksichtigung der Kosten und der möglichen negativen Auswirkungen einer gesteigerten Antibiotikaresistenz mit einem wirklichen positiven Effekt verbunden ist. Da Antibiotika weder fiebersenkende Mittel darstellen noch zur Senkung von Entzündungszeichen, die nicht unbedingt auf einen bak-
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teriellen Infekt zurückzuführen sind, geeignet sind, sollte ihr Einsatz prinzipiell kritisch hinterfragt werden. Auf eine Weiterführung der antibiotischen Therapie, wenn nach 3 bis 5 Tagen Fieberfreiheit besteht, eine klinische Besserung zu verzeichnen ist und die Entzündungsparameter zurückgegangen sind, kann in den meisten Fällen verzichtet werden (Lemmen et al. 2001). Die prophylaktische Antibiotikagabe hat sich nur in ausgesuchten Fällen als positiv herausgestellt. Die Vorstellung z.B., Pneumonien bei beatmeten Patienten durch die Ausschaltung endogener potentieller Infektionserreger, z.B. durch selektive Darmdekontamination, zu verringern, hat sich nicht durchgesetzt. Die Risiken einer Resistenzentstehung bei gleichzeitig fehlendem Überwiegen positiver Resultate hat dazu geführt, dass eine Empfehlung zur selektiven Darmdekontamination nicht ausgesprochen wird (Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention 2000). Während sich die antibiotische Prophylaxe in vielen Gebieten der Medizin unter Berücksichtigung der Einzelumstände einer Infektionsentstehung als nicht sinnvoll erwiesen hat (Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention 2002), gibt es sehr wohl Bereiche, wo sie eingesetzt werden sollte. In dem Bereich der prä-, peri- und postoperativen Infektionsprävention wurde der Nutzen der Antibiotikagabe besonders intensiv diskutiert. Es gibt zahlreiche Studien über das Für und Wider einer antibiotischen Therapie, aber es kristallisierte sich heraus, dass vor allem bei Eingriffen in potentiell kontaminierten Regionen wie z.B. bei der Eröffnung des Gastrointestinaltrakts oder bei Einsetzen von prosthetischem Material, z.B. bei Gefäßtransplantationen, eine prä-operative Antibiotikaprophylaxe sinnvoll ist. Die Antibiotika sollten ca. 30 Minuten vor Beginn einer Operation intravenös gegeben werden, eine zweite Gabe ist nur bei Operationen angezeigt, die länger als 3 bis 4 Stunden dauern. Eine Weiterführung der Antibiotikaprophylaxe nach der Operation ist mit keinem Vorteil verbunden, da zahlreiche Studien zeigen konnten, dass eine über 24 Stunden hinausgehende Antibiotikagabe zu keiner weiteren Senkung der Wundinfektionsrate führt (Lemmen et al .2001, Stratchounski et al. 2005). Bei der Auswahl der angewendeten Substanzen sollten prinzipiell Basisantibiotika mit schmalem Wirkungsspektrum und keine Breitbandantibiotika oder Reservemittel verwendet werden. Die therapeutische Gabe von Antibiotika bei Vorliegen von septischen Wunden ist von der Prophylaxe klar abzutrennen, da hier andere Gegebenheiten berücksichtigt werden müssen.
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Alternativen zur Antibiotikagabe Das Auftreten einer Infektion kann durch allgemeine hygienische Maßnahmen wie Einhalten der Basishygiene, Verwendung von sterilen Materialien bei Durchdringen der Haut oder Schleimhaut, strenge Indikationsstellung für den Einsatz von Kathetern, geringe Manipulationen an liegenden Kathetern und Verbänden oder pflegerische Maßnahmen wie die Oberkörperhochlagerung bei beatmeten Patienten zur Vermeidung einer Mikroaspirationspneumonie, um nur einige Maßnahmen zu nennen, verzögert oder vermieden werden. Die Verwendung von antiseptischen Mitteln stellt eine weitere Möglichkeit dar. Auch hier kann zwischen prophylaktischer Anwendung, z.B. bei der Mundpflege mit antiseptischen Mitteln zur Vermeidung einer absteigenden Infektion und der therapeutischen Gabe unterschieden werden. Lokale Infektionen wie Infektionen der Haut oder Spülungen bei eitriger Zystitis können auf diese Weise behandelt werden. Bei der Sanierung von kolonisierten MRSA-Patienten spielen antiseptische Waschungen eine große Rolle und können die Weiterverbreitung der Krankheitserreger im Krankenhaus vermeiden helfen. Antiseptika müssen zusätzlich zu ihrer antimikrobiellen Wirkung ausreichend lokal verträglich sein und dürfen keine toxischen oder allergischen Nebenwirkungen aufweisen. Bei einigen Erkrankungen kann durch die Kombination von Antiseptika und Gabe systemischer Antibiotika der antiinfektive Effekt gesteigert werden.
"Antibiotic policy" In zahlreichen Studien wurde festgestellt, dass Antibiotika im klinischen Alltag häufig nicht richtig angewendet werden. Als Fehler wurden z.B. die Gabe eines Antibiotikums bei fehlender Indikation, die Gabe eines falschen Antibiotikums, die Gabe der falschen Dosis, die Gabe eines ineffektiven Mittels, die falsche Applikationsform, die Gabe als empirisches Therapeutikum ohne mikrobiologische Diagnostik, das Übersehen toxischer Nebenwirkungen und der weitverbreitete unnötige Einsatz von Breitbandantibiotika genannt. Um dem entgegenzuwirken, wird schon lange versucht, auf verschiedenste Weise auf die verschreibenden Ärzte einzuwirken. In einigen Ländern werden Leitlinien zur Antibiotikagabe national vorgegeben, in anderen versucht man über die Förderung jeweils hausinterner Standards oder Bildung von Antibiotikakommissionen, die antibiotische Therapie zu beeinflussen. Ziel ist hierbei nicht nur der rationelle und kosteneffektive Einsatz von Antibiotika, sondern auch die Vermeidung o-
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der Reduzierung der Rate multiresistenter Erreger und die Schonung der Reservemittel (Davey et al. 1997, Eickhoff 1998). Die reine Information der Ärzte über das Versenden von Informationsmaterial hat sich nicht bewährt, Schulungen oder Feedback über verursachte Kosten hatten in manchen Fällen Erfolg (Davey et al. 1997). Die Kopplung einer definierten, Leitlinien-basierten Antibiotikagabe mit Rückerstattung der Kosten hatte in Belgien einen Rückgang der Antibiotikakosten und eine verstärkte Akzeptanz der empfohlenen Therapiegrundsätze zur Folge (Willems et al. 2005). Wichtig für eine breite Akzeptanz von Leitlinien scheint zu sein, wer diese entwickelt, welchen Spielraum sie dem einzelnen Arzt bei der Wahl der Therapeutika lassen, wie das Einhalten der Leitlinien überwacht wird und wie der Informationsrückfluss an den Kliniker vor Ort ist. Die Art und Weise der Antibiotikatherapie in einem Krankenhaus sollte einem ständigen Überwachungs- und Optimierungsprozess unterworfen werden, aber der ambulante Bereich, in dem der größere Anteil an Antibiotika verschrieben wird, darf bei den Bemühungen um eine qualitätsgesicherte Therapie nicht außer acht gelassen werden. Die Resistenzentwicklungen der letzten Jahre und die begrenzt verfügbaren Reserveantibiotika lassen sonst ein Szenario wie in vorantibiotischen Zeiten wahrscheinlicher werden (Davey et al. 1997, Eickhoff 1998).
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Arzneimittelrückstände in Gewässern – eine Herausforderung für die Toxikologie Tamara Grummt Umweltbundesamt, Bad Elster
Einleitung Der am häufigsten geäußerte Wunsch des Menschen dürfte der nach einer lebenslangen Gesundheit sein. Arzneimittel – das wissen wir – und im Falle einer Erkrankung hoffen wir es umso mehr, sind dafür nicht nur Garant, sondern häufig auch unverzichtbare Grundlage. Das verfügbare Spektrum an Pharmaka reicht von den schon als klassisch zu bezeichnenden Antibiotika zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten bis hin zu den modernen individualisierten Immun- und Krebstherapien. Gesellschaftlicher Konsens besteht darin, dass niemand hinter diese Entwicklung zurück kann und will. Verdanken wir ihr doch die Tatsache, dass die biologische Lebensspanne und Lebenserwartung so dicht wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte beieinander liegen. Im dialektischen Verhältnis dazu stehen der Anstieg des Arzneimittelverbrauches und eine alterskorrelierte und damit krankheitsbedingte Erweiterung der Wirkstoffpalette. Die Frage nach den Folgen dieser Entwicklung für die Umwelt, und in zwangsläufiger Rückkopplung für den Menschen, ist durch den sprunghaften Anstieg an Publikationen über Arzneimittelrückstände in der Umwelt auch in das öffentliche Bewusstsein gerückt. Die jetzt geführte Diskussion hat zunächst ihre Ursache vorrangig in den Entwicklungen der instrumentellen Analytik. Diese erlauben nicht nur den qualitativen Nachweis von „neuen“ Schadstoffen, sondern auch deren quantitative Bestimmung in immer niedrigeren Konzentrationsbereichen und unter dem Aspekt der verlässlichen Wissensgenerierung zur Risikobewertung nicht zu vernachlässigen in immer kürzeren Analysenzeiten. Aus toxikologischer Sicht sind die Arzneimittel kein Einzelphänomen, sondern sie gehören zu der inzwischen sehr umfangreichen und heterogenen Gruppe der per definitionem „neuen“ Umweltschadstoffe. Die Bezeichnung „neu“ steht hier wertfrei und kennzeichnet die Abgrenzung zu den klassischen Industriechemikalien, für die die Risikobewertung und Standardsetzung nach aktuellem Kenntnisstand abgeschlos-
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sen ist. Die konkrete Frage – warum sind diese neuen Umweltschadstoffe dennoch toxikologisch bedeutsam – lässt sich mit folgenden Argumenten beantworten: Die neuen Umweltschadstoffe treffen auf ein komplexes Schutzgut. Zum Schutzziel zählt der Mensch, besonders in sensiblen Entwicklungsphasen (z.B. im Kindesalter). Flächenhafte Expositionen über den Wasserpfad sind möglich. Die neuen Umweltschadstoffe besitzen (meist) problematische Stoffeigenschaften: Wegen (zumeist) hoher Polarität und geringer Sorptionsneigung sind diese Stoffe gut (trink)wassergängig. Zudem verfügen sie über eine relativ hohe biologische und chemische Persistenz. Einige der nachteiligen Wirkungen kann die Ökotoxikologie sehr frühzeitig aufspüren (z.B. die endokrine Wirkung im Oberflächenwasser), eine Extrapolation dieser Warnsignale auf den Menschen ist jedoch (meist) fraglich. Gleichwohl gibt es erste Hinweise auf nachteilige Wirkungen aus epidemiologischer Sicht. Noch besteht weitgehend Unkenntnis über den zeitlichen Verlauf zwischen Exposition und möglicher Wirkung und über die Anzahl jener Personen, die tatsächlich von einer Exposition über den Wasserpfad betroffen sind. Völlig unzureichend ist derzeit unser Wissen über die genauen Zusammenhänge innerhalb der Kausalkette von Ursache(n) und Wirkung(en). Mit anderen Worten: Für die neuen Umweltschadstoffe überwiegt derzeit das toxikologische Nichtwissen. Indes gibt es Gründe, den Arzneimitteln einen Sonderstatus einzuräumen. Einer dieser Gründe ist die Ambivalenz der geführten Diskussion. Dem angestrebten Nutzen der Arzneimittel für Leben und Gesundheit (ökonomischer Faktor) steht eine potenzielle Gefährdung der Umwelt und über die Umwelt des (gesunden) Menschen durch Arzneimittelrückstände gegenüber (ökologischer Faktor). Im Falle des Trinkwassers tritt aus anthropozentrischer Sicht eine ästhetische Dimension hinzu: Trinkwasser muss rein und genusstauglich sein. Deshalb fordert die Trinkwasserverordnung ein Wasser für den menschlichen Gebrauch, das durch seinen Genuss oder Gebrauch eine Schädigung der menschlichen Gesundheit nicht besorgen lässt. Darin kommt ein Qualitätsanspruch zum Ausdruck, der nicht allein auf die Abwehr bekannter und wissenschaftlich quantifizierbarer Gefährdungspotenziale abstellt, sondern zugleich die Vorsorge gegen solche Gefährdungspotenziale einfordert. Ein weiterer Grund für die Sonderstellung der Arzneimittel ergibt sich aus den methodischen Entwicklungen in der Zellbiologie, die in der Pharmaforschung bereits zu Arzneimitteln führen, die in die molekulare Steuerung der Zelle eingreifen. Die zeitnahe Einbeziehung dieser Wirkmechanismen in die umwelttoxikologischen Teststrategien ist auch unter dem Vorsorgeaspekt erforderlich, um die Relevanz der „neuen“ Arzneimittelrückstände hinsichtlich ihrer Langzeitwirkung beurteilen zu können. An
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dieser Stelle wird oft ein Gegenargument ins Feld geführt: Arzneimittel seien über den mehrstufigen Prozess der Prüf- und Zulassungsverfahren ausreichend untersucht, so dass keine weiteren Forschungsinitiativen notwendig wären. Das ist unzutreffend, denn die Standardsetzung im Umweltbereich im Allgemeinen und im Konkreten für die Arzneimittelrückstände in Gewässern auf der einen Seite und die Abläufe in der Arzneimittelzulassung auf der anderen sind als zwei voneinander unabhängige Verfahren zu betrachten, ohne dabei die überlappenden Instrumente und Informationen außer Acht zu lassen. Mit der nachfolgenden Abhandlung wird der Versuch unternommen, das theoretische Konzept für die notwendigen Forschungsaktivitäten hinsichtlich der wissenschaftlichen Bewertung neuer Umweltschadstoffe zu beschreiben.
Komplexität der biologischen Systeme Am Ende des mehrstufigen Prozesses der Risikobewertung steht ein numerischer Wert, u.a. ausgelegt als Vorsoge-, Richt- oder Grenzwert. Dabei wird leicht übersehen, dass die naturwissenschaftliche Basis der Entscheidungsfindung biologische Systeme sind. Diese Systeme wiederum sind organisiert in hochkomplexen und dynamischen Regelkreisen und Netzwerken. Die Aussage gilt mittlerweile als so selbstverständlich, dass wir es häufig nicht für notwendig erachten, sie in ihrer Konsequenz zu diskutieren. Maßgebend für die Regulation der Lebensabläufe sind die Gene, die den Rahmen für alle Lebensvorgänge vorgeben. Nicht singuläre Mechanismen, sondern ihre Interaktion in Regelkreisen bestimmen die Komplexität der biologischen Wirkungen. Diese Netzwerke steuern nicht nur die physiologischen Abläufe im intakten Organismus, sie sind auch maßgeblich an der Ausprägung solcher toxischen Effekte beteiligt, die unter dem Begriff neuartige Wirkungen zusammengefasst werden (Abb. 1). Wir wissen heute, dass sowohl innerhalb eines Regelkreises als auch in Wechselwirkung zwischen den Regelkreisen hierarchisch geordnete Kaskaden mit spezifischer Rückkopplung ablaufen, die u.a. in ihrem Ergebnis zu komplexen Strukturen und Funktionen, z.B. zu Proteinen, führen. Für all diese Mechanismen und Abläufe sind hochspezifische Raum-ZeitAktivierungsmuster determiniert. Im Analogieschluss müssen wir uns bei der Bewertung von Umweltschadstoffen mit der Frage auseinandersetzen, welche (schad)stoffspezifischen Ereignisse die Wirkkaskaden induzieren, destabilisieren bzw. in der Folge fehlerhaft regulieren könnten.
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Tamara Grummt
Theoretische Ansätze, die diese Komplexität der variablen, rückgekoppelten Wirkkombinationen einbeziehen, können den Bewertungsrahmen für neue Umweltschadstoffe, wie die Arzneimittelrückstände, erweitern.
Regelkreise ZNS, Nerven
Neuartige Wirkungen
Neurotoxisch
Hormone
Gene Gene
Reproduktives Reproduktives System System
Endokrine Disruptoren
Gentoxisch
Reprotoxisch
Immunsystem Immunotoxisch
Abb. 1. Schematische Darstellung physiologischer Regelkreise im (höheren) Organismus (hellgrau unterlegt) und neuartige Wirkungen von Umweltnoxen (dunkelgrau unterlegt).
Teststrategie – ein pragmatischer Ansatz für neue Umweltschadstoffe Eine Antwort auf die Frage, was wir mit unserem Wissen über die Komplexität der toxischen Wirkungen anfangen, gibt schon die Kapitelüberschrift. Pragmatischer Ansatz heißt zunächst, eine deutliche Problemeingrenzung und eine klare Definition der toxikologischen Fragestellung vorzunehmen. Grundlage dieser Überlegungen ist das im gesundheitsbezogenen Umweltschutz formulierte Ziel des langfristigen Schutzes von menschlicher Gesundheit und Umwelt. Eindeutige, monokausale Umweltkrankheiten sind in Deutschland eher selten zu beobachten, was nicht zuletzt das Ergebnis einer hochentwickelten und dicht regulierten Umwelthygiene ist.
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Die generelle Rolle des Umweltzustandes für die Gesundheit darf deswegen keinesfalls gering geschätzt werden, denn was in der Umwelt bisher nicht gefunden und daher nicht reguliert ist, muss nicht automatisch ohne langfristige Wirkung auf die menschliche Gesundheit sein. Deutliche Wissenslücken und bestehende Bewertungskontroversen, wie im Falle der Arzneimittelrückstände, sollten Anlass sein, die Diskussion über die Einbeziehung neuer Konzepte, entsprechend des aktuellen methodischen Entwicklungsstandes, in die regulative Entscheidungsfindung zu beginnen. Die bisher nachgewiesenen Stoffmuster der Arzneimittelrückstände belegen durchgängig eine Exposition im Niedrigdosis-Bereich. Daraus lässt sich plausibel ableiten, dass toxikologische HochdosisMechanismen nicht relevant sind. Eine Schlussfolgerung, die zunächst banal erscheinen mag, aber in Bezug auf die Ausrichtung der Teststrategien, und konsequenterweise auch der Bewertungsstrategien, noch zuwenig berücksichtigt ist – was insofern nicht überrascht, da sie zunächst in der Chemikalien- und Arzneimittelprüfung entwickelt worden sind. Eine Adaption dieser Prüfstrategien an die Erfassung und Bewertung der neuen Umweltschadstoffe sollte von der Maxime ausgehen, dass nicht vorrangig das toxikologische Risiko einer Substanz, sondern ihre toxikologische Sicherheit charakterisiert werden soll. Pragmatisch für die experimentelle Umsetzung dieses Grundsatzes heißt, den Nachweis von primären Schlüsselmechanismen unter realistischen Expositionsmustern (Niedrigdosis-Bereich) auf zellulärer und molekularer Ebene zu führen. Auf dieser Ebene lassen sich jene initialen Mechanismen identifizieren, die maßgeblich die im hierarchischen Verhältnis zueinander stehenden Differenzierungs- und Entwicklungsprozesse beeinflussen und letztlich auch zur Schadensetzung und –ausprägung führen können (Abb. 2). Relativ kurzfristig werden in diesem Bereich Ergebnisse verfügbar sein. Noch befinden wir uns bei der Erfassung und dem Verstehen der dynamischen Abläufe am Anfang der experimentellen Grundlagenforschung, in manchen Fragen sogar noch im Stadium theoretischer Überlegungen. Dennoch zeigen die Ansätze, dass sich reale Möglichkeiten einer frühzeitigen Erfassung von Schadstoffwirkungen und damit eines vorsorgenden Umwelt- und Gesundheitsschutzes eröffnen.
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Tamara Grummt Exposition
Kumulatives Risiko
Präkursor-Ereignisse
Physiologische Signale Funktionsstörungen
Pathologische Veränderungen
Krankheit Tod
Zelle Molekül
Gewebe Organ
Organismus
Reversibilität Zeit
Abb. 2. Von der Struktur- und Funktionsstörung auf molekularer Ebene zu Krankheit und Tod des Gesamtorganismus.
Das Beispiel der Gentoxizitätsprüfung von Arzneimittelmetaboliten Theoretisches Konzept Die Gentoxizität nimmt auf Grund der biologischen Konsequenzen innerhalb der Kausalkette ‚Exposition – Effekt’ (hierzu zählen mutagene, kanzerogene und teratogene Wirkungen) unter den bewertungsrelevanten Endpunkten den ersten Platz ein. Krebserkrankungen sind in den westlichen Industrieländern (nach den kardiovaskulären Erkrankungen) die zweithäufigste Todesursache. In der Zell- und Molekularbiologie ist Krebs eine Erkrankung der zellulären Signalmechanismen, deren Ursache sich auf Veränderungen am genetischen Apparat zurückführen lässt. Dass Krebs sowohl ohne äußere Einflüsse spontan entstehen kann als auch von chemischen, physikalischen und biologischen Umwelteinflüssen induziert wird, ist hinreichend nachgewiesen. Die maligne Transformation wird vor allem durch Defekte in den ProtoOnkogenen und Tumor-Supressor-Genen ausgelöst. Beide Gentypen sind normale zelluläre Gene. Ihre Genprodukte üben Schlüsselfunktionen an verschiedenen Stellen der wachstumsstimulierenden Signalketten aus, kon-
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trollieren und hemmen die Zellvermehrung. Tumor-Supressor-Gene sind an der Abwehr von Mutationen und am Erhalt der genetischen Integrität der Zellen beteiligt. In der gesunden Zelle ist das Zusammenspiel von Proto-Onkogenen und Tumor-Supressor-Genen ausgewogen. Dies lässt den dualistischen Charakter der Krebsrisikofaktoren deutlich werden: einerseits die endogene, onkogen- und regulationsabhängige Empfindlichkeit des Individuums für eine Krebsbildung, andererseits die exogenen, mutations- und promotionsbedingenden Kanzerogene der Umwelt. Somit wird Krebs zum Ereignis eines Prozesses genetischer Veränderungen und Fehler, deren Akkumulation zu Zellentartung und ungebremstem Zellwachstum führen kann. Die Kanzerogenese wird heute als ein Mehrstufenprozess angesehen, bestehend aus den drei Hauptschritten Initiation, Promotion und Progression. Die somatische Mutationstheorie geht bei der Initiation von einem irreversiblen Mutationsereignis aus. Initiatoren stellen meist DNA-reaktive Substanzen dar, deren Wirksamkeit auch schon bei der geringsten Konzentration zu erwarten ist. Die Fortentwicklung der permanent veränderten latenten (initiierten) Tumorzellen zu einem Tumor wird durch die Promotion gewährleistet. Definitionsgemäß führt die Tumorpromotion ohne vorherige Initiation nicht zu Tumoren. Tumorpromotoren beschleunigen die Kanzerogenese nicht durch Mutation, sondern durch stärkere Selektion initiierter Zellen. Im Unterschied zur irreversiblen Wirksamkeit initiierender Kanzerogene stellt die Promotion ein reversibles Ereignis dar. Da zudem Tumorpromotoren keine primäre gentoxische Wirkung aufweisen, also nicht mit der DNA reagieren, sind Dosen unterhalb einer bestimmten Schwellenkonzentration nicht wirksam. Der Wirkbereich von Tumorpromotoren reicht von der Induktion von Enzymaktivitäten und der Mitose, Hemmung der Apoptose bis hin zu Gewebeschäden und nachfolgender Zellregeneration und Beeinflussung der DNA-Reparatur. In einer dritten Stufe des Kanzerogeneseprozesses, der Progression, werden dann die Präneoplasien und gutartigen Tumoren, die während der Initiation und Promotion entstehen, nach weiteren zahlreichen genotypischen und phänotypischen Veränderungen in maligne Geschwülste umgewandelt. Die meisten menschlichen Tumoren sind exogen von chemischen Substanzen verursacht. Kanzerogene Umweltschadstoffe wirken auf allen drei Stufen des Kannzerogeneseprozesses sowohl über gentoxische (Initiation) als auch nichtgentoxische Mechanismen (Promotion und Progression). Gentoxizität, obwohl nicht einheitlich definiert, steht hier für die direkte Interaktion mit der DNA. Gentoxische Substanzen können wegen ihrer Elektrophilie direkt an der DNA reagieren und, z.B. durch chemische Veränderungen der Basen oder durch Basenverlust, Mutationen auslösen. Während einige Substanzen eine unmittelbare DNA-Schädigung ausüben,
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muss die Mehrheit der Stoffe durch die körpereigene Biotransformation erst zum ultimativen Kanzerogen metabolisch aktiviert werden. Nichtgentoxische Kanzerogene weisen keine DNA-Reaktivität auf, ihr krebsinduzierendes Potenzial beruht auf anderen biologischen Mechanismen. Hierzu zählen Veränderungen im DNA-Stoffwechsel, in den DNAReparaturmechanismen, in der DNA-Replikation sowie im weiteren Sinne Vorgänge, die in die Zellproliferation, die Immunantwort und den Hormonstatus eingreifen. Konsens besteht, dass die Wechselbeziehungen zwischen Gen und Umwelt sehr entscheidende Komponenten des Krebsrisikos sind. Im Unterschied zu den endogenen Faktoren kann auf äußere, umweltbedingte Risikofaktoren der Kanzerogenese viel leichter und gezielter Einfluss genommen werden. Das Aufspüren und Vermeiden von Expositionen gegenüber ausgemachten oder vermeintlichen kanzerogenen Noxen bestimmen daher noch heute die entscheidenden Maßnahmen in der Krebsprävention. Für die Identifizierung von kanzerogenen Noxen stehen zwei methodische Ansätze zur Verfügung: die Substanztestung und die epidemiologische Studie. Letztere kann jedoch vielfach nur retrospektiv einen Zusammenhang von Exposition und Krebs herausarbeiten oder einen anfänglichen Krebsverdacht als unbegründet beurteilen. In der Substanzprüfung sind international weitgehend standardisierte und harmonisierte Teststrategien festgeschrieben (www.oecd.org). Sie sind im Prinzip hierarchisch strukturiert, weil man davon ausgeht, dass ein Testsystem allein nicht ausreicht, das mögliche gentoxische Potenzial einer Substanz einigermaßen sicher voraussagen zu können. Mit zwei bis drei In-vitro-Verfahren verschiedener biologischer Endpunkte (Gen- und Chromosomenmuationen) können die primären Mechanismen der Gentoxizität hinreichend sicher identifizieren werden (Abb. 3). Die In-vitro-Gentoxizitätsprüfung ermöglicht also erste Aussagen über den Wirkmechanismen einer Substanz im Sinne einer Ja- oder NeinAntwort (gentoxisch oder nichtgentoxisch). Was heißt das für den regulativen Bereich? Bei gentoxischen Substanzen wird von einer Dosis-Wirkung-Beziehung ohne Wirkschwelle ausgegangen. Die praktischen Konsequenzen sind weitreichend, denn, ist keine Wirkschwelle vorhanden, sind enorme Anstrengungen zur Vermeidung oder Verringerung der Exposition und ein umfangreiches Überwachungsprogramm notwendig. Eine Wirkschwelle wird hingegen bei den nichtgentoxischen Kanzerogenen angenommen. Für sie lassen sich nach Aufnahme von Dosis-Wirkung-Beziehungen im Prinzip toxikologisch begründbare Grenzwerte festlegen.
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Erste Phase der Teststrategie zur Gentoxizitätsprüfung In-vitro-Kurzzeittests
Bakterieller Test
Zellkultur
(Ames-Test)
(Chromosomenaberrationen)
1.
Negativ
Negativ
Test ausreichend bei geringer oder vermeidbarer Exposition und Einstufung der Testsubstanz als nicht gefährdend. Nicht relevant für nichtgentoxische Kanzerogene! 2.
Positiv Positiv Negativ
Positiv Negativ Positiv
Hinweis auf Möglichkeit einer gentoxischen Wirkung gegeben Prüfung der Notwendigkeit für eine weitere Gentoxizitätstestung in einer zweiten Stufe Abb. 3. Basisstrategie der Gentoxizitätsprüfung.
Substanztestung Da hier die Entwicklung des theoretischen Konzeptes für die wissenschaftliche Bewertung neuer Umweltschadstoffe abgehandelt werden soll, darf an dieser Stelle auf eine detaillierte Einzeldarstellung der Ergebnisse verzichtet werden. Zudem sollen auch die drei untersuchten Arzneimittelmetabolite chemisch nicht spezifiziert werden, um nicht, wie im wissenschaftlichen Alltag oft erfahren, alles verfügbare methodische Instrumentarium auf den Stoff zu lenken. Nun drängt sich für einen Nichttoxikologen bei der Nennung der Zahl „drei“ unweigerlich die Frage auf, warum nur drei angesichts der Vielzahl an analytisch identifizierten Stoffen. Die Antwort ist einfach zu geben. Biologische Testverfahren brauchen stabile Substanzen, oftmals Substanzmengen im Milligrammbereich und diese wenn möglich in einem für biologische Systeme verträglichen Lösungsmittel. Eine Forderung, die den Synthesechemiker all zu häufig vor kaum lösbare Probleme stellt. Die Ergebnisse der Substanztestung zeigt Tabelle 1. Zur Erfassung der Gentoxizität wurden der Salmonella/Mikrosomen-Test (Nachweis von Genmutationen) und die Bestimmung der Chromosomenaberrationsrate in der Säugerzellkultur gewählt. Der Nachweis nichtgentoxischer Effekte er-
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folgte über die Bestimmung der Zytotoxizität, der Apoptose und der Zellproliferation. Tabelle 1. Summarische Bewertung von Arzneimittelmetaboliten nach Gentoxizitätsprüfung. Testsystem Gentoxizität Salmonella/ Mikrosomen-Test Chromosomenaberrationen Nichtgentoxische Mechanismen Zytotoxizität Proliferation Apoptose
Metabolit 1
Metabolit 2
Metabolit 3
Negativ
Negativ
Negativ
Negativ
Positiv
Positiv
Negativ Negativ Negativ
Positiv Positiv Negativ
Positiv Positiv Negativ
Der Metabolit 1 ließ weder im Salmonella/Mikrosomen-Test noch in der Säugerzellkultur gentoxische Effekte erkennen. Auch für nichtgentoxischen Mechanismen wurden keine positiven Befunde erhoben. Damit ergeben sich für den Metaboliten keine Hinweise auf Gentoxizität oder tumorrelevante, promovierende Wirkungen. Für die Metabolite 2 und 3 zeigte sich hingegen ein anderes Bild. Beide Substanzen erwiesen sich als negativ im Salmonella/Mikrosomen-Test, führten aber zu einer Zunahme der Chromosomenaberrationsrate im Vergleich zur Kontrolle. Der Anstieg der Chromosomenaberrationsrate war verbunden mit einer gleichzeitigen Zunahme der Zytotoxizität. Beim Metabolit 3 war die Zunahme der Chromosomenaberrationsrate bereits bei geringer Zytotoxizität zu beobachten. Im Gegensatz dazu induzierte der Metabolit 2 eine deutlich stärkere Zunahme der Chromosomenaberrationsrate erst bei höherer Zytotoxizität. Aus In-vivo-Experimenten weiß man, dass Substanzen mit geringer Zytotoxizität häufiger kanzerogen wirken als jene mit einem höheren zytotoxischen Potenzial. Der direkte Zusammenhang zwischen Zytotoxizität (nichtgentoxischer Mechanismus) und Induktion von Chromosomenaberrationen (gentoxischer Mechanismus) lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Erhöhung der Aberrationsrate als sekundärer Mechanismus einzustufen ist, induziert in seiner Stärke durch das zytotoxische Potenzial der Testsubstanz. D.h., beide Metabolite wirken primär über nichtgentoxische Mechanismen, für die ein Schwellenwert angenommen wird. Die nachgewiesenen Wirkmechanismen weisen auf eine tumorpromovierende Wirkung hin. Unterstützt
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wird diese Annahme weiterhin durch die beobachtete Beeinflussung der Zellproliferation. Eigene Untersuchungen an polaren Verbindungen aus der Gruppe der Desinfektionsnebenprodukte und Nitroaromaten weisen ebenfalls vorrangig auf die Induktion nichtgentoxischer Mechanismen hin. So könnte für polare, biologisch reaktive Substanzen ein neues Paradigma für die Risikobewertung im Niedrigdosis-Bereich gelten, wonach als primäre Wirkung die Beeinflussung verschiedener zellulärer Mechanismen mit jeweils eigenen Dosis-Wirkung-Beziehungen anzunehmen ist. Derzeit werden diese nichtgentoxischen Mechanismen als „low risk“Mechanismen eingestuft. Inwieweit diese Annahme Bestand haben kann, wird sich durch die systematische Charakterisierung dieser Prozesse zeigen. Wesentlich für die weiteren Untersuchungen muss folgende Zielstellung sein: x Bestimmung der Wirkschwellen für den prioritären Schlüsselmechanismus x Charakterisierung, wie „low risk“-Mechanismen den Prozess der Kanzerogenese modulieren x Charakterisierung, wie die Kombination von spezifischen Expositionen („low risk“-Expositionen?) das Krebsrisiko beeinflussen. Die umfassende Analyse von 48 endokrinen Disruptoren machte deutlich, dass die Trennung zwischen Kanzerogenese und anderen Toxizitäten artifiziell ist (Abb. 4). Multiple Wirkmechanismen induzieren multiple Manifestationen von Toxizitäten. Einmal mehr wird damit im Sinne der Regelkreise die Forderung nach der schadstoffassoziierten Identifikation des Initialmechanismus deutlich. Auf dieser Basis kann die Kategorisierung der Wirkmechanismen als Bewertungsgrundlage erfolgen. Deutlich wird diese Problematik am Beispiel der hormonabhängigen Tumore. Während die Imbalance im Hormonsystem durch eine chemische Noxe ausgelöst werden kann, läuft dann die Tumorbildung unabhängig von dieser primären Noxe ab. Von da an führt die Biologie Regie.
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Regelkreise 50 %
Unerwünschte Wirkungen
Neurotoxisch
48 Hormone Vertreter im Test
Gene 79 %
81 %
Endokrine Disruptoren
Gentoxisch
Reprotoxisch
52 % Immunotoxisch
Abb. 4. Toxikologische Charakterisierung endokriner Disruptoren. (nach: Choi, S. M. et al. (2004), J. Toxicol. Environ. Health Part B, 7: 1-32).
Wissenschaftliche Bewertung Mit dem sich rasant entwickelnden molekularen Methodenspektrum kommt ein Problem auf die bewertende Toxikologie zu. Nicht nur, dass die Anzahl der nachweislich biologisch wirksamen Substanzen stark zunimmt (Beispiel endokrine Disruptoren), liegt zudem der beobachtete Effekt, auch als Präkursor-Ereignis bezeichnet, in seiner zeitlichen und funktionalen Dimension weit vor den bisher als bewertungsrelevant angesehenen adversen Effekten. Nach WHO-Definition ist eine adverse Wirkung „eine Veränderung in Morphologie, Physiologie, Wachstum, Entwicklung oder Lebensdauer eines Organismus, mit der Folge einer Beeinträchtigung der funktionellen Kapazität, der Fähigkeit, zusätzlichen Stress zu kompensieren, oder einer Steigerung der Empfindlichkeit gegenüber schädlichen Einwirkungen anderer Umwelteinflüsse. Die Entscheidung darüber, ob ein Effekt advers ist oder nicht, ist durch ein Expertenurteil zu treffen.“ Damit ist zwar eine Definition vorgegeben, deren Interpretation hinsichtlich neuartiger Wirkungen aber noch aussteht. Die obige Feststellung, dass zwei Arzneimittelmetabolite tumorpromovierende Wirkung zeigen, ist von statischer Natur und wird in diesem Sin-
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ne schon in den derzeitigen Bewertungskonzepten berücksichtigt. Tatsächlich sind die tumorpromovierenden Wirkungen aber Teil der hier vielfach erwähnten Wirkkaskaden. Abbildung 5 zeigt eine der denkbaren Reaktionsfolgen, die über die Zeit zum Schadensbild Mutation führen kann. Die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erhöht sich durch anhaltende Exposition. Die Krebszelle ist gekennzeichnet durch eine Störung der normalen Zellproliferation und –differenzierung. Gleichzeitig ist es ihre Kinetik, die in der normalen Zelle für den Kanzerogeneseprozess sehr wichtig ist. Eine ansteigende Zellteilungsrate kann zu einem Anstieg an kritischen mutativen Ereignissen führen. Bleibt der kompensierende Anstieg in der Zelldifferenzierung oder dem programmierten Zelltod aus, dann bedingt gleichzeitig die vermehrte Zellteilung ein Mengenwachstum an kritischen, zur Entartung befähigter Zellpopulationen. Das heißt, das innerhalb des Krebsprozesses jeder Mechanismus, der zu einer gestörten Zellkinetik beiträgt, die Manifestation weiterer Mutationen befördert. Während eine chronische Exposition gegenüber Schadstoffen im Niedrigdosis-Bereich die Reparaturleistung der gesetzten Schäden induziert und in dessen Folge sich ein Gleichgewicht zwischen Schadenssetzung und Schadensreparatur einstellen kann, stören zusätzliche Expositionen bzw. Koexpositionen dieses Gleichgewicht.
Schadstoff Zellproliferation
Tumorpromotoren
DNA-Reparatur
Präkanzerogene Läsionen
Intakte DNA
Mutation Kanzerogenität
Abb. 5. Hierarchische Reaktionsfolge am Beispiel der Gentoxizität/ Kanzerogenität.
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Im gleichen Maße wie unsere Kenntnisse über die zellulären und molekularen Mechanismen zunehmen, entstehen Fragen zur Bewertung dieses Wissens. In einfacher Lesart heißt das zum Beispiel, wie viel an Zellproliferation über welchen Zeitraum braucht es, um zu einer Mutation und den bekannten/unbekannten Folgen zu kommen. Die wissenschaftliche Diskussion über den zentralen Bezugspunkt bisheriger Bewertungskonzepte, den NOAEL (No observed adverse effect level), muss unter folgender Fragestellung zeitnah zur Testentwicklung erweitert werden: x Wo ist der NOAEL anzusetzen, wenn so genannte „Präkursor“Ereignisse, mit immer sensitiveren Methoden nachgewiesen, einbezogen werden? x Kann der Begriff „advers“ für diese Mechanismen mit z.T. hoher biologischer Variabilität (z.B. immuntoxische und endokrine Wirkungen) adäquat beschrieben werden? Antworten auf diese Fragen können nur durch experimentelle Forschung gefunden werden. Das so gewonnene Orientierungswissen ermöglicht verlässliche Aussagen zur toxikologischen Sicherheit von neuen Umweltschadstoffen.
Beispiel – Schutzgut „menschliche Gesundheit“ Wenn durch die Substanztestung mögliche reale Gefährdungspotenziale aufgezeigt werden konnten, besteht in Bezug auf das Schutzgut „menschliche Gesundheit“ vorsorgender Handlungsbedarf nicht nur aus politischer, sondern auch aus wissenschaftlicher Sicht. Wie aber geht man mit Latenzzeiten zwischen Initialexposition und Manifestation der Krankheit von mehr als 20 Jahren um? Zur Entwicklung von vorsorgenden Präventionsstrategien gehören zwei Betrachtungsebenen: erstens der Schutz von Risikogruppen, zweitens die Expositionsfester. Jeder Mensch besitzt ihm eigene morphogenetische Merkmale, die seine Reaktion auf Umwelteinflüsse und seine Anfälligkeit für Krankheiten prägen. Unterschiede im Metabolismus und in den Wirkmechanismen von Schadstoffen bilden eher die Regel als die Ausnahme. Die individuelle Antwort auf eine Umweltbelastung wird davon bestimmt, welche DNASequenzvarianten (Polymorphismen) in den kritischen Genen des Individuums auftreten und welche Wechselwirkungen zwischen den Genen und der Umwelt be- und entstehen. Diese natürlich vorkommenden Polymor-
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phismen variieren die Expression, die Struktur oder die katalytische Aktivität von Stoffwechsel- oder Reparaturenzymen und die individuellen Empfindlichkeiten bei Infektionen, nach Arzneimitteltherapien oder im Fremdstoffwechsel. Ebenso bleiben Polymorphismen nicht ohne Einfluss auf das individuelle Krebsrisiko. Auf jeder Stufe des Kanzerogeneseprozesses bestehen angeborene oder erworbene Variabilitäten in der Schadenssetzung und – abwehr, die eine jedem Individuum eigene Empfindlichkeit für DNASchäden und Erkrankungsrisiko bewirken. Viele Polymorphismen üben nur einen moderaten Effekt aus, sind aber in vielfältige Wechselbeziehungen eingebunden. Der genetische Hintergrund der menschlichen Population ist sehr heterogen und macht es vielfach schwierig, den eindeutigen Zusammenhang von Polymorphismus und Erkrankungsrisiko nachzuweisen. Heute verfügen wir in der experimentellen Forschung über Zellkulturen mit (human)spezifischen Enzymmustern. Derzeit fast ausschließlich in der Pharmaentwicklung eingesetzt, um Wechselwirkungen zwischen variablen Enzymmustern und Arzneimittelwirkungen zu definieren, eignen sich solche In-vitro-Modelle auch im umweltbezogenen Gesundheitsschutz für die Wirkanalyse von Umweltschadstoffen, insbesondere im NiedrigdosisBereich. Deren Anwendung steht aber noch aus. Vieles spricht dafür, dass Kinder, insbesondere Neugeborene, aus biologischen Gründen auf eine vergleichbare toxische Belastung durchaus empfindlicher als Erwachsene reagieren können. Kinder sind physiologisch aktiver. Expositionen, die fast ausschließlich zur Schädigung des kindlichen Organismus geführt haben, lassen sich meist auf unsachgemäße Anwendung oder Missbrauch pharmakologisch aktiver Substanzen zurückführen (wie exzessiver Alkoholkonsum oder Medikamentenmissbrauch während der Schwangerschaft). Im Allgemeinen reagiert der menschliche Säugling etwa bis zum sechsten Lebensmonat sensitiver auf toxische Einflüsse als der Erwachsene. Viele Chemikalien führen wegen noch unzureichender Biotransformations- und Eliminationsleistungen zu höheren Blutkonzentrationen über einen längeren Zeitraum. Eine metabolische Kapazität ist bereits vor und nach der Geburt vorhanden, wenn auch noch sehr schwach ausgeprägt und mit anderem Enzymmuster ausgestattet, ein Aspekt, der in der Pharmaentwicklung noch zu wenig berücksichtigt wird, der aber gleichzeitig auch ein Ansatzpunkt in der Risikobewertung von Arzneimittelrückständen sein muss. Für einige Organe wie Gehirn, Knochen und Hormonsystem bestehen entwicklungsabhängige Suszeptibilitäten bis zur Geschlechtsreife fort. Epidemiologische Beobachtungen führten zu der Hypothese, dass die Entwicklung von chronischen Erkrankungen nicht nur mit genetischen
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Faktoren und dem Lebensstil im Alter erklärt werden kann. Vielmehr werden Umweltfaktoren, die in frühen und empfindlichen Entwicklungsphasen auf den menschlichen Organismus einwirken, dafür mit verantwortlich gemacht. Epigenetische Mechanismen spielen hier eine entscheidende Rolle. So werden die Genaktivitätsmuster (auch zelluläres Gedächtnis genannt) durch eben diese Mechanismen kontrolliert und reguliert. Die Wechselwirkung zwischen Umweltschadstoffen und epigenetischen Prozessen kann dann wiederum zu Fehlfunktionen von bestimmten Genen und über die Zeit noch verstärkt bei anhaltender Exposition zur Erkrankung führen. Die zu Beginn des Abschnitts gestellte Frage, wie können wir umweltbedingten Krankheiten begegnen, insbesondere jenen, die eine Latenzzeit von mehr als 20 Jahren haben, ist im Falle der Arzneimittelrückstände relativ leicht zu beantworten. Eine effiziente Strategie ist die Prävention, die einen anderen Umgang der Bevölkerung mit Medikamenten anstrebt, um vermeidbare Umwelteinträge von Arzneimittelrückständen und unnötige Expositionen zu minimieren und möglichst zu unterbinden.
Vorkommen und Herkunft von Arzneistoffen in Fließgewässern Thomas Ternes1, Hansruedi Siegrist2, Adriano Joss2 1
Bundesanstalt für Gewässerkunde (BFG), Koblenz Swiss Federal Institute for Environmental Science and Technologie (EAWAG), Duebendorf, Switzerland
2
Zusammenfassung Aufgrund der verbesserten chemischen Analytik werden in Kläranlagen und Gewässern vermehrt Pharmazeutika und hormonaktive Stoffe nachgewiesen. Bereits zwischen 1995-1999 konnten in einem umfassenden Monitoringprogramm 36 von 55 analysierten Arzneistoffen und 5 von 9 Metaboliten in deutschen Kläranlagenabläufen nachgewiesen werden. Die höchste Konzentration der Arzneistoffe wurde mit über 6 Pg/L für das Antiepileptikum Carbamazepin ermittelt; als Maximalwerte der Diagnostika waren 15 Pg/L Iopamidol und 11 Pg/L Iopromid zu beobachten. In 40 untersuchten deutschen Fließgewässern waren 31 Pharmaka und 5 Metabolite in zumindest einer Probe nachweisbar. Spitzenwerte von über 1 Pg/L waren jedoch keine Seltenheit. Die Belastung der als Vorfluter genutzten Fließgewässer steht offenbar in direktem Zusammenhang mit dem kommunalen Abwasseranteil. Neben dem Eintrag über kommunale Kläranlagen kann für größere Fließgewässer wie Rhein oder Main auch eine Belastung durch industrielle Abwässer von Arzneimittelproduzenten erfolgen. In der Kläranlage werden die Pharmazeutika durch Sorption an den Klärschlamm und biologischen Abbau teilweise eliminiert. Mit steigendem Schlammalter verbessert sich signifikant der Abbau von Östrogenen und Medikamenten. Gewisse Pharmazeutika werden jedoch sogar bei Stickstoffeliminationsanlagen ungenügend abgebaut und können nur durch die Ozonung des Ablaufs mit vertretbaren Kosten entfernt werden. Maßnahmen an der Quelle wie die Einführung des Umweltlabels bei Medikamenten und die Urinseparation wären weitere Maßnahmen, welche die Frachten zukünftig wesentlich vermindern helfen, da Arzneimittel und Hormone zum größten Teil vorwiegend über den Urin ausgeschieden werden.
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Einleitung Zwei mengenmäßig äußerst bedeutende Gruppen blieben bislang in bezug auf ihre Umweltverträglichkeit weitgehend unbeachtet. Hierbei handelt es sich um Rückstände von Arzneimitteln und kosmetischen Inhaltsstoffen (Daughton und Ternes 1999). Zu beiden Gruppen gehören eine Vielzahl an unterschiedlichen chemischen Verbindungen, die häufig im Tonnenbereich produziert und auch angewendet werden. Die Produktionsmenge kosmetischer Inhaltsstoffe wird beispielsweise allein in Deutschland nach Daten des Statistischen Bundesamtes/Wiesbaden für 1993 auf 559.100 t geschätzt (Ternes 2000). Im folgenden möchten wir uns jedoch weitgehend auf die Arzneimittel beschränken. Im Human- und Veterinärbereich sind in Deutschland derzeit über 2900 unterschiedliche Arzneimittelinhaltsstoffe zugelassen (Rote Liste 2000). Im humanmedizinischen Bereich kann man im Gegensatz zum Veterinärbereich auf Statistiken der jährlichen Verordnungszahlen zurückgreifen, die auf den ärztlichen Verschreibungen basieren und in dem jährlich erscheinenden Arzneimittelverordnungsreport veröffentlicht werden (z. B. Schwabe und Paffrath 1999). In einzelnen Fällen können allein die in Deutschland über Rezept verordneten Arzneistoffmengen Spitzenwerte von über 100 t/a erreichen. Ein nicht zu vernachlässigender Anteil an Medikamenten ist ohne Rezept, d. h. direkt im Handel erhältlich und wird daher in der Statistik nicht erfasst. Die ersten Veröffentlichungen von Arzneimittelrückständen in Kläranlagenabläufen und Umweltkompartimenten beschränkten sich weitgehend auf die Salicylsäure und die Clofibrinsäure, ein aktiver Metabolit von drei Lipidsenkern. In Deutschland wurde die Clofibrinsäure in Fluss-, Grundund sogar im Trinkwasser mit bis zu 0,165 Pg/L detektiert (Stan et al. 1994). In den Übersichtsartikeln Halling-Sørensen et al. (1998), Heberer, 2002 und Daughton und Ternes (1999) wird die aktuelle Literatur zu einer breiten Palette an Pharmaka dargestellt.
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Belastung von kommunalen Kläranlagenabläufen und Fließgewässern Kommunale Kläranlagenabläufe Die Expositionsdaten (Tabelle 1) von 49 untersuchten hessischen Kläranlagen verdeutlichen, dass Arzneimittelrückstände offensichtlich in bedeutenden Konzentrationen im gereinigten Abwasser kommunaler Kläranlagen vorliegen, und zwar bis in den Pg/L-Bereich (Ternes 1998, 2000). 36 von 55 analysierten Pharmakawirkstoffen und 5 von 9 Metaboliten konnten in mindestens einem Kläranlagenablauf quantifiziert werden. Zu den nachgewiesenen Verbindungen zählen 3 Lipidsenker mit den aktiven Metaboliten Clofibrinsäure und Fenofibrinsäure, 9 Antiphlogistika (Analgetika und Antirheumatika), 7 Betablocker, 4 Bronchospasmolytika, das Psychopharmakon Diazepam, das Antiepileptikum Carbamazepin, 2 Zytostatika, 5 Antibiotika und 6 Röntgenkontrastmittel. Des weiteren war permanent der Antibiotikum-Metabolit Dehydrato-Erythromycin nachweisbar. Zusätzlich konnten drei natürliche Östrogene und zwei Kontrazeptiva im unteren ng/L-Bereich quantifiziert werden. Die höchste Konzentration der Arzneimittelwirkstoffe wurde mit 6,3 µg/L für das Antiepileptikum Carbamazepin detektiert; Maximalwerte der Diagnostika waren mit 15 Pg/L für Iopamidol und 11 Pg/L für Iopromid zu beobachten. Die ubiquitäre Verbreitung der Arzneistoffe in den Abläufen kommunaler Kläranlagen zeigte sich darin, dass 25 Pharmaka und 4 Metabolite in über 50 % der untersuchten Proben nachweisbar waren. Fließgewässer In 40 untersuchten deutschen Fließgewässern konnten 31 Pharmaka und 5 Metabolite in zumindest einer Probe nachgewiesen werden (Tab. 2, Ternes 1998, 2000). Die Medianwerte von 6 Pharmaka, 4 Röntgenkontrastmitteln, dem Metabolit Dehydrato-Erythromycin und der Clofibrinsäure, dem gemeinsamen Metabolit von drei unterschiedlichen Lipidsenkern, lagen sogar über 0,05 Pg/L. Alle in den Tabelle 2 aufgeführten Verbindungen, für die ein Medianwert über der Bestimmungsgrenze ermittelt wurde, müssen als ubiquitär verbreitete Umweltchemikalien eingestuft werden. Auch wenn die Medianwerte größtenteils unter 0,1 Pg/L lagen, waren Spitzenwerte von über 1 Pg/L keine Seltenheit.
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Die in den Tabellen 1 und 2 aufgelisteten Arzneimittelrückstände stellen nur einen Bruchteil der zugelassenen Wirkstoffe und der relevanten ausgeschiedenen Metabolite dar. Das vollständige Erfassen der zugelassenen Wirkstoffe und der wichtigen Metabolite in einem Monitoringprogramm ist derzeit wegen der überaus großen Anzahl an Substanzen (über 2900 sind im Human- und Veterinärbereich zugelassen) und der begrenzten Anzahl der für Umweltmatrizes zur Verfügung stehenden analytischen Methoden relativ problematisch. Ein flächendeckendes Untersuchungsprogramm für ausgewählte Leitsubstanzen sollte jedoch bereits wertvolle Informationen liefern. Mit deren Hilfe könnten dann Expositionsmodelle erarbeitet und validiert werden, um für weitere Arzneimittelwirkstoffe Umweltkonzentrationen abschätzen zu können. Vergleich größerer und kleinerer Fließgewässer In Abbildung 1 ist die Belastung kleiner Flüsse und Bäche im Hessischen Ried mit ausgewählten Antiphlogistika, Betablockern und der Clofibrinsäure im Vergleich zu den Konzentrationen in größeren Fließgewässern wie Rhein oder Main dargestellt (Ternes 1998). 2,0 Metoprolol Bezafibrat Diclofenac Propranolol Clofibrinsäure Ibuprofen
Konzentration in µg/l
1,8 1,6 1,4 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0,0
Rhein
Main
Winkelbach Weschnitz Landgraben
Schwarzb. Lohrraingraben
Abb. 1. Vergleich der Konzentrationen ausgewählter Pharmaka (Betablocker, Lipidsenker, Antiphlogistika) in kleinen Flüssen und Bächen im hessischen Ried mit denen in großen Flüssen wie Rhein (Mainz) und Main (Bischofsheim).
Für die kleineren Gewässer und den Main wurden die Ergebnisse von drei Beprobungen und für den Rhein die Konzentrationen aus einer Beprobungsperiode über ein dreiviertel Jahr gemittelt. Sowohl die sauer anreicherbaren Lipidsenker und Antiphlogistika als auch die Betablocker waren
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in den kleinen Fließgewässern in deutlich höheren Konzentrationen nachweisbar als im Rhein oder Main. Mit Ausnahme von Phenazon und Dimethylaminophenazon wurden die Maximalwerte von allen untersuchten Pharmaka (Tabellen 1, 2) in Bächen oder kleinen Flüssen detektiert. Da in den kleinen Fließgewässern mit hohem Abwasseranteil für nahezu alle detektierten Pharmaka und Röntgenkontrastmittel eine deutliche Konzentrationszunahme zu beobachten war, steht die Belastung dieser als Vorfluter genutzten Fließgewässer offenbar in direktem Zusammenhang mit deren Abwasseranteil. Die Abläufe kommunaler Kläranlagen sind wegen der unvollständigen Eliminierung mit einer überaus großen Anzahl an Pharmakarückständen und Röntgenkontrastmitteln belastet, sodass die Einträge in die Gewässer maßgeblich über die Kläranlagen erfolgen. Dies bedeutet gleichzeitig, dass die Verbindungen vor allem aus der Humanmedizin und nicht aus der Veterinärmedizin stammen. Der Anteil an gereinigtem und ungereinigtem kommunalem Abwasser ist demnach entscheidend für die Pharmakabelastung der als Vorfluter genutzten Fließgewässer.
Eliminationsprozesse in der kommunalen Kläranlage Die Eliminationsleistung von Spurenstoffen ist abhängig vom Ausbaustandard der biologischen Stufe einer kommunalen Kläranlage. In den letzten 40 Jahren hat sich die biologische Abwasserreinigung schrittweise an die sich verschärfenden Abwassereinleiterbedingungen angepasst. Die wichtigsten Eliminationsprozesse für die polaren Pharmazeutika sind die Sorption an den Klärschlamm und die biologische Mineralisation bzw. Transformation. Die Sorption von organischen Spurenstoffen ist größtenteils abhängig von hydrophoben Wechselwirkungen der aliphatischen und aromatischen Gruppen einer Verbindung mit der lipophilen Zellmembran der Mikroorganismen und den Fettfraktionen des Schlammes (Absorption) sowie elektrostatischen Wechselwirkungen von positiv geladenen Gruppen der Chemikalien mit den negativ geladenen Oberflächen der Biomasse (Adsorption). Die sorbierte Spurenstoffkonzentration ist angenähert linear zur gelösten Konzentration einer Verbindung: Csorbiert= Kd·SS·Cgelöst. Die Sorptionskonstante Kd (L gSS-1) kann bei überwiegend hydrophoben Wechselwirkungen aus dem Oktanol-Wasser Verteilungskoeffizient KOW abgeschätzt werden. Ansonsten muss sie aus Sorptionsversuchen bestimmt werden. SS ist die Konzentration der suspendierten Stoffe bzw. die Schlammproduktion in gSS L-1 Abwasser (Abb. 2).
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Thomas Ternes, Hansruedi Siegrist, Adriano Joss Vorklärung
Rohabwasser 0.25 gSS L-1
Belebung
Primärschlamm 0.15 gSS L-1
Sekundärschlamm 0.10 gSS L-1
Verbindung
Kd (l gSS-1)
Diclofenac
0.45 / 0.05
10
6
Östrogen
0.35 / 0.27
8
5
3
Tonalid
5.5 / 2
58
45
17
Norfloxacin
2 / 25
33
23
72
sorbierter Anteil in % 0.5
Abb. 2. Sorptionskonstante und sorbierter Anteil einiger Verbindungen an die suspendierten Stoffe im Zulauf und im Primärschlamm (bezogen auf Zulauf Vorklärung) sowie Sekundärschlamm (bezogen auf Ablauf Vorklärung) (Golet et al. 2003; Siegrist et al. 2003, Ternes et al. 2004).
Das Beispiel des Antibiotikums Norfloxacin verdeutlicht (Tab. 2), dass der KOW alleine für eine Modelierung des Sorptionsverhaltens nicht ausreicht. Dieses Antibiotikum sorbiert zu 80% an den Sekundärschlamm (ca. 0.15 gSS L-1, Kd | 25 L gSS-1), was vermutlich größtenteils auf elektrostatischen Wechselwirkungen zwischen der positiv geladenen Aminogruppe von Norfloxacin und den negativ geladenen Oberflächen der Biomasse beruht. Beim Primärschlamm, der wesentlich weniger Biomasse und ein große Fettfraktion enthält, ist der sorbierte Anteil und die Sorptionskonstante wesentlich kleiner (Kd | 2), da die Verbindung nicht hydrophob ist (KOW | 0.1). Norfloxacin ist bei einem Schlammalter von 10 bis 12 Tagen nicht biologisch abbaubar und wird auch im Gewässer sowie nach Ausbringen des Schlammes auf dem Feld schlecht abgebaut (Golet al. 2003). Die Transformation bzw. der Abbau kann sich sowohl durch die zufällige Affinität eines Spurenstoffs mit einem vorhandenen Enzymen ergeben, wie auch durch gezielte mikrobielle Produktion von Enzymen. Allerdings wird erwartet, dass die vorliegende Konzentrationen der einzelnen Schadstoffe zu gering sind, um eine gezielte Enzyminduktion zur bewirken (Egli 2001). Wahrscheinlicher erscheint, dass mit steigendem Schlammalter die Chance eines Abbaus größer wird, weil die Artenvielfalt der Bakterienpopulation wächst oder weil wegen der geringeren Verfügbarkeit an Substrat die Vielfalt der exprimierten Enzymen zunimmt (Abb. 3). Dies zeigt sich beispielsweise beim Antiphlogistikum Diclofenac (Wirkstoff bei Voltaren) und dem Kontrazeptivum 17D-Ethinylestradiol (Abb. 4), die erst bei nitrifizierenden Anlagen mit einem aeroben Schlammalter von mehr als 8 Tagen signifikant abgebaut werden.
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Bei steigendem Schlammalter sinkt die Schlammbelastung, und die Bakterien konkurrieren um komplexere, schlechter abbaubare Verbindungen. In Gegenwart von leicht abbaubarem Substrat und bei starken temporären Substratbelastungen kann daher der Abbau von Spurenstoffen auch bei einem hohen Schlammalter beeinträchtigt werden. abbaubar bei 15°C und
biologischer Abbau / Transformation
100%
SAmin
SAmin = 2 - 5 d Bezafibrat Sulfamethoxazol Ibuprofen SAmin = 5 -15 d Diclofenac Ethinylestradiol Iopromid Roxithromycin
0%
Schlammalter (SA)
nicht abbaubar bei SA < 20d Carbamazepin Diazepam
Abb. 3. Der biologischer Abbau bzw. die Transformation einer Verbindung ist abhängig vom Schlammalter (SA) des Belebtschlammes (Siegrist et al. 2003).
Viele Arzneimittelrückstände stellen polare Substanzen dar, die weder biologisch gut abgebaut noch sorbiert werden. Dies führt dazu, dass sie beim Durchlaufen der Kläranlage nur unbedeutend eliminiert werden und zu einer Kontamination der Gewässer führen. Zur Eliminierung dieser Substanzen bietet die bestehende Abwassertechnologie nur relative geringe Erfolgschancen. Bei ungenügender Verdünnung mit Oberflächenwasser oder Infiltration von gereinigtem Abwasser kann daher das Gewässer bzw. das Grundwasser nur durch Maßnahmen an der Quelle und/oder durch eine weitergehende chemische oder physikalische Behandlung des Ablaufs entlastet werden.
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Vorklärbecken (VKB) 0.7 0.5 Zulauf
Denitrifikation 1. Reaktor 2. Reaktor 0.4 0.3
Ablauf VKB
1.3
1.2
< 0.1
< 0.07
0.5
1.5
<0.17
Nachklärbecken (NKB)
Nitrifikation
<0.15
0.7
Interne Rezirkulation und Rücklaufschlamm
Ablauf NKB
< 0.03 0.5
Faulturm 0.02
0.04
Primärschlamm
Sekundärschlamm (Überschussschlamm) <0.03 Faulschlamm
gelöst sorbiert
Abb. 4. Stofffluss und Abbau des Kontrazeptivums 17D-Ethinylestradiol in der Kläranlage Wiesbaden (300'000 EW) in g/d (Andersen et al., 2003). Etwa 30% der Zulauffracht kommen nicht in freier Form vor, sondern sind konjugiert mit Glucuronsäure, welches in der biologischen Stufe wieder abgespalten wird. Die Zulauffracht von 0.7g d-1 korrespondiert etwa mit den 50 kg, die in Deutschland jährlich konsumiert werden.
Maßnahmen an der Quelle x Umweltlabel für Arzneimittel: In Schweden wird unter Mithilfe der chemischen Industrie ein Umweltlabel eingeführt, das es dem Arzt und dem Patienten ermöglichen soll, bei Vorhandensein von ähnlich wirkenden Medikamenten das umweltfreundlichste für eine Behandlung auszuwählen (Wennmalm 2003). x Vorbehandlung von Krankenhausabwässern: Krankenhausabwässer haben meist stark erhöhte Medikamentenkonzentrationen, die bei Antibiotika sogar die Resistenzbildung bei Bakterien ermöglichen (Giger et al. 2003). Zudem ist der Anteil an Bakterien mit Antibiotikaresistenzen deutlich höher als im häuslichen Abwasser. Eine separate Behandlung von Krankenhausabwässern, z.B. mit Membranverfahren zur Abtrennung der Keime und Ozonung des Ablaufs zur Oxidation der gelösten, persistenten Arzneimittel ist zu erwägen. Durch die direkte Ableitung und die Wiederverwendung von behandeltem Abwasser für die Toilettenspülung und den Garten könnte das Spital einen Teil der Investitionsund Betriebskosten mit Einsparungen bei den Trinkwasser- und Abwassergebühren abdecken.
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x Urinseparation: Da Arzneimittel und Hormone zum größten Teil über
den Urin ausgeschieden werden, wird eine Separierung und separate Behandlung des Urins (Larsen und Guier 1996) die Medikamentenbelastung des Abwassers stark reduzieren. Weitergehende Maßnahmen bei der kommunalen Abwasserreinigung x Aerobes Schlammalter der Biologie von mindestens 8-10 Tagen bzw. totales Schlammalter von 12-15 Tagen: Da eine deutliche Verbesserung des Abbaus von organischen Spurenstoffen bei über 8 Tagen aerobem Schlammalter beobachtet wird (Abb. 4), ist ein Ausbau der kommunalen Kläranlagen auf Nitrifikation und wegen energetischen Gründen kombiniert mit Denitrifikation empfehlenswert. Im Einzugsgebiet von sensitiven Gewässern wie dem Rhein wird von der EU bei größeren Anlagen ohnehin bereits eine 70 bis 80 %-ige Stickstoffelimination gefordert. x Teilozonung des biologisch geklärten Ablaufs: Bei ökotoxikologischen Bedenken, ungenügender Verdünnung der Abwässer im Vorfluter, starker Vorbelastung und direkter Infiltration in das Grundwasser ist eine Teilozonung des Ablaufs zu erwägen. Nach der Behandlung von biologisch gereinigtem kommunalem Abwasser mit 5-10 mg Ozon m-3 Abwasser waren weder Antibiotika, Lipidsenker, Betablocker, Moschusduftstoffe, Hormone, Antiepileptika, noch Antiphlogistika nachweisbar (Ternes et al. 2003). Lediglich die iodierten Röntgenkontrastmittel konnten nicht vollständig oxidiert werden. Die Wirksamkeit des Ozons ist abhängig vom Hintergrund-DOC des Abwassers und den chemischen Eigenschaften der Verbindung (Huber et al. 2003). Bei den in der Schweiz vorkommenden niedrigen DOC-Werten ist ein Einsatz von 5 g Ozon m-3 meist genügend. Kostenmäßig ist zwar nur mit einem Preis von einigen Cent pro m3 Abwasser zu rechnen; der Energieaufwand liegt jedoch bei etwa 0.1 kWh m-3 ist also im Vergleich zum gesamten Energieverbrauch einer Anlage bedeutend, weshalb die Anwendung des Verfahrens auf kritische Fälle begrenzt werden sollte. Vor einer großtechnischen Anwendung ist der Verbleib von Oxidationsprodukten der Teilozonung zu untersuchen. x Weitergehende Verfahren wie Nanofiltration und Aktivkohleadsorption sind zu teuer und nur interessant bei Wiederverwendung des Abwasser als Brauch- oder Trinkwasser.
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Kurzfristig werden sicherlich bei umweltkritischen Bedingungen weitergehende Maßnahmen in der Kläranlage schneller zu einem Erfolg führen. Längerfristig sind jedoch die nachhaltigen Maßnahmen an der Quelle zu bevorzugen. Bedeutende Mengen an Abwasser durchlaufen wegen Leckagen im Kanalnetz und während Regenwasserentlastungen keine biologische Abwasserreinigung und würden nur durch Maßnahmen an der Quelle erfasst.
Dank Unser Dank gilt dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie (BMBF) und dem Hessischen Ministerium für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit für die Finanzierung der umfangreichen Monitoringstudien sowie der EU Kommission für die Finanzierung des EU Projektes Poseidon (EVK1-CT-2000-00047), welches im 5. Rahmenprogramm gefördert wurde.
Literatur Andersen, H., Siegrist, H., Halling-Sørensen, B., Ternes, T. (2003): Fate of estrogens in a municipal sewage treatment plant. Environ. Sci. Technol. 37, 40214026. Daughton, Ch. G.; Ternes, T. A. (1999): Pharmaceuticals and Personal Care Products in the Environment: Agents of Subtle Change? Environ. Health Perspect., 107, 907-938. Egli, T. (2001): Biodegradation of metal-complexing aminopolycarboxylic acids. J. Biosci. Bioeng. 92, 89-97. Giger, W., Alder, A., Golet, E., Kohler, H., McArdell, C., Molnar, E., Pham Thi, N., Siegrist, H. (2003): Antibiotikaspuren auf dem Weg von Spital- und Gemeindeabwasser in die Fliessgewässer: Umweltanalytische Untersuchungen über Einträge und Verhalten. Tutzing Symposium, Deutschland, März. Golet, E., Xifra, I., Siegrist, H., Alder, A., Giger, W. (2003): Environmental exposure assessment of fluoroquinolone antibacterial agents from sewage to soil. Environ. Sci. Technol. 37, 3243-3249. Halling-Sørensen, B., Nielsen, S. N., Lanzky, P. F., Ingerslev, F., Holten Lützhøft, H. C., Jørgensen, S. E. (1998): Occurrence, fate and effects of pharmaceutical substances in the environment - A Review. Chemosphere, 36 (2), 357-393. Heberer, T. (2002): Occurrence, fate, and removal of pharmaceutical residues in the aquatic environment, a review. Toxicol. Lett. 131, 5-17.
Vorkommen und Herkunft von Arzneistoffen in Fließgewässern
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Tierarzneimittel in der Umwelt: Vorkommen, Verhalten, Risiken Gerd Hamscher Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover, Hannover
Einleitung Eintragspfade für Tierarzneimittel in die Umwelt Arzneimittel werden in der Human- und Veterinärmedizin in großen Mengen eingesetzt. Nach Applikation können diese Substanzen und ihre Metaboliten ausgeschieden werden und so in die Umwelt gelangen (Abb. 1). Erst in den letzten Jahren sind größere Studien zu Vorkommen, Verhalten und Effekten von Tierarzneimitteln in der Umwelt durchgeführt worden, obwohl diese Substanzen bereits seit vielen Jahrzehnten eingesetzt werden (Übersichten geben Boxall et al. 2003 und 2004; Thiele-Bruhn 2003; Kümmerer 2004). Im Gegensatz zu den Humanarzneimitteln, bei denen der Eintrag in die Umwelt hauptsächlich über Kläranlagenabflüsse in die Oberflächengewässer erfolgt (Übersichten geben Daughton und Ternes 1999; Heberer 2002; Kümmerer 2004) ist für Tierarzneimittel der Eintragsweg über die Wirtschaftsdünger (z. B. Schweine- und Rindergülle, Hühnermist) in den Boden und dann in das Grundwasser von höchster Relevanz (s. a. Abb. 1). Aktuelle Arbeiten über antibiotikabelastete Stallstäube (Hamscher et al. 2003a) und Nutzpflanzen (Grote et al. 2005; Kumar et al. 2005) zeigen allerdings, dass durchaus auch andere Eintragswege für Tierarzneimittel vorhanden sind und hier noch großer Forschungsbedarf besteht.
106
Gerd Hamscher
Grundwasser
Arzneimittel Aquakultur
Lokale Kläranlagen von Fischfarmen
Ausbringen von Gülle oder Klärschlamm
Mensch, Tier ??
Effekte auf Bodenlebewesen
Auswaschung
Arzneimittel zur Behandlung von Tierbeständen
Exkremente auf landwirtschaftlichen Nutzflächen Oberflächengewässer
Arzneimittel als Leistungsförderer oder Kokzidiostatika
Exposition
Effekte auf Wasserlebewesen
Gülletank Grundwasser
Deposition
Effekte
Abb. 1. Mögliche Eintragspfade für Tierarzneimittel in die Umwelt (modifiziert nach Jørgensen und Halling-Sørensen 2000).
Gesetzliche Grundlagen für den Einsatz von Tierarzneimitteln Aus den beiden ersten Paragraphen des Tierschutzgesetzes lässt sich die gesetzliche Verpflichtung ableiten, dass kranken (leidenden) Tieren geholfen werden muss: Tierschutzgesetz § 1: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“. Tierschutzgesetz § 2, Absatz 1: „Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, muss das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend angemessen ernähren, pflegen und verhaltensgerecht unterbringen“. Von rechtlicher Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die unter anderem auf dem Tierschutzgesetz basierende Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung (TierSchNutztV) zum Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere und anderer zur Erzeugung tierischer Produkte gehaltener Tiere bei ihrer Haltung. In § 4 dieser Verordnung ist unter den allgemeinen Anforderungen an Überwachung, Fütterung und Pflege geregelt: „Wer Nutztiere hält, hat ... sicherzustellen, dass soweit erforderlich, unverzüglich Maßnahmen für die Behandlung, Absonderung in geeignete Haltungseinrichtungen mit trockener und weicher Einstreu oder Unterlage
Tierarzneimittel in der Umwelt: Vorkommen, Verhalten, Risiken
107
oder die Tötung kranker oder verletzter Tiere ergriffen werden sowie ein Tierarzt hinzugezogen wird.“ Eine Verbesserung des Wohlbefindens von Haus- und Nutztieren ist im Krankheitsfalle häufig nur durch den Einsatz von Tierarzneimitteln zu erreichen. Bei lebensmittelliefernden Tieren dürfen seit dem 1.1.2000 nur noch Arzneimittel eingesetzt werden, die entsprechend dem Arzneimittelgesetz (AMG) für die jeweilige Tierart und Anwendung zugelassen worden sind. Darüber hinaus müssen diese Arzneimittel in Anhang I, II oder III der Verordnung Nr. 2377/90 EWG zur Schaffung eines Gemeinschaftsverfahrens für die Festsetzung von Höchstmengen für Tierarzneimittelrückstände in Nahrungsmitteln tierischen Ursprungs aufgenommen worden sein (Europäischer Rat 1990). Voraussetzung hierfür ist, dass die Substanzen nach aufwändiger Prüfung ihrer pharmakologisch-toxikologischen Eigenschaften und ihres Rückstandsverhaltens in verschiedenen essbaren Geweben keine Gefahr für die Gesundheit der Verbraucher darstellen. Dies kann im Einzelfall dazu führen, dass einem für das Tier gut verträglichen und hochwirksamen Arzneimittel aufgrund eines ungünstigen Rückstandsverhaltens die Zulassung für lebensmittelliefernde Tiere versagt wird. Tierarzneimittel werden aber nicht nur zu therapeutischen sondern auch zu prophylaktischen und metaphylaktischen Zwecken eingesetzt. Da bei dieser Behandlungsweise, die vor allem in der intensiven Tierhaltung eingesetzt wird, auch gesunde Tiere medikamentiert werden, sind hier möglicherweise Konflikte mit dem Tier- und Umweltschutz zu erkennen. Zu den prophylaktischen Behandlungen zählen allerdings auch Impfungen und Verabreichungen von Antiparasitika. Deren Nutzen für die Tiergesundheit wird allgemein nicht in Frage gestellt. Der weltweite Einsatz von pharmakologisch aktiven Stoffen als Futterzusatzstoffe („Leistungsförderer“) in subtherapeutischen Konzentrationen beinhaltet ein anderes Konfliktpotenzial. Insbesondere wegen der Gefahr der Resistenzbildung bei human- und veterinärmedizinisch relevanten Keimen wurden die bis Ende 2005 in Deutschland noch erlaubten Substanzen Avilamycin, Flavophospholipol, Monensin, Salinomycin nach einem Beschluss der EU-Agrarminister mit Wirkung vom 1. Januar 2006 EU-weit verboten. Die Tiergesundheit lässt sich jedoch auch durch zahlreiche andere Faktoren positiv beeinflussen. So kann durch die Auswahl der Tiere, Optimierung von Haltungs- und Managementbedingungen sowie durch die Fütterung der Tiere ein hoher Gesundheitsstand erreicht werden, der den Tierarzneimitteleinsatz nur in Ausnahmefällen erfordert.
108
Gerd Hamscher
Verbrauchserhebungen Nach Angaben der FEDESA für 1997 (Anonymus 2000, s. a. Tab. 1) machte die Wirkstoffgruppe der Tetracycline bei den Tierarzneimitteln mit 2.294 t fast zwei Drittel der eingesetzten antimikrobiell wirksamen Substanzen aus, es folgen Makrolid-Antibiotika (424 t), E-Laktame (322 t) und Aminoglykoside (154 t). Erhebungen in Deutschland (basierend auf Herstellungsaufträgen für Fütterungsarzneimittel) über den Einsatz von Tierarzneimitteln in der Region Weser-Ems, Brandenburg und SchleswigHolstein zeigen ähnliche Verbrauchsmuster, allerdings werden hier als zweithäufigste Gruppe Sulfonamide genannt (Winckler und Grafe 2000; Kratz et al. 2001; Broll et al. 2002). Diese Zahlen werden auch durch eine vergleichbare Erhebung aus Kenia bestätigt: hier wurden im Mittel der Jahre 1995–1999 insbesondere Tetracycline (54,7%) und Sulfonamide (21,3%) eingesetzt (Mitema et al. 2001). Der weltweite Einsatz vor allem dieser beiden Substanzklassen läßt sich nahezu ausschließlich mit den sehr günstigen Preisen dieser Mittel erklären. Der therapeutische Nutzen ist aufgrund der ausgeprägten Resistenzen von Krankheitserregern gegenüber Tetracyclinen und Sulfonamiden umstritten, oftmals wird nur noch bei höherer Dosierung eine Wirkung erzielt (Löscher et al. 1999). Tabelle 1. Erhebungen der FEDESA zum Antibiotika-Einsatz in der Europäischen Union einschließlich der Schweiz in den Jahren 1997 und 1999 (Anonymus 2000). Einsatzgebiet Tierarzneimittel Antibiotische Futtermittelzusatzstoffe (Leistungsförderer) Humanarzneimittel Gesamt
1997
1999
t 3.494 1.599
% 27,4 12,5
t 3.902 786
7.659 12.752
60,1 100,0
8.528 13.216
Änderung 1997/1999 % % 29,5 + 11,7 5,9 - 50,8 64,6 100,0
+ 11,3 + 3,6
Tierarzneimittel in der Umwelt: Vorkommen, Verhalten, Risiken
109
Detaillierte Untersuchung verschiedener Eintragspfade für Tierarzneimittel Eintrag von Antibiotika in Wirtschaftsdünger Antibiotika und insbesondere Tetracycline werden nur geringfügig im Tier metabolisiert und gelangen in die Wirtschaftsdünger. Tabelle 2 gibt eine Übersicht über die maximal nachgewiesenen Konzentrationen verschiedener Antibiotika in Wirtschaftsdüngern von Schweine- und Rindermastbetrieben. Aus Modellrechnungen ergibt sich, dass Mastschweinegülle bei einer Bestandsbehandlung über 10 Tage zwischen 23 und 52 g/m³ Tetracyclin enthalten kann. Untersuchungen an 181 Schweinegülleproben ergaben Positivbefunde (Nachweisgrenze: 0,6 mg/kg) in 24 % der Fälle. Es wurden Gehalte bis 66 mg/kg gemessen (Winckler und Grafe 2000 und 2001). Tabelle 2. Maximale Konzentrationen (Max. Konz.) verschiedener Antibiotika in Wirtschaftsdüngern von Schweine- und Rindermastbetrieben. Substanz Tetracycline Chlortetracyclin Doxycyclin Oxytetracyclin Tetracyclin Sulfonamide Sulfadiazin Sulfadimethoxin Sulfamethazin N4-Acetyl-Sulfamethazin Sulfathiazol Makrolide Tylosin Sonstige Lincomycin Salinomycin Tiamulin Trimethoprim
Probenzahl [n]
Max. Konz. [mg/kg]
Literatur
7 3 1 181
2,7 0,04 19 66
Höper et al. 2002 Aga et al. 2003 De Liguoro et al. 2003 Winckler u. Grafe 2001
6 8 ? 6 6
1,1 0,003 40 2,6 12,4
Höper et al. 2002 Campagnolo et al. 2002 Berger et al. 1986 Haller et al. 2002 Haller et al. 2002
7
< 0,05
Höper et al. 2002
8 4 4 6
0,24 0,011 0,043 < 0,1
Campagnolo et al. 2002 Schlüsener et al. 2003 Schlüsener et al. 2003 Campagnolo et al. 2002, Haller et al. 2002
Auch für die Substanzgruppe der Sulfonamide liegen nur vereinzelte Untersuchungen zum Eintrag in die Gülle vor. Berger et al. (1986) zeigten, dass 46 % des Schweinen verabreichten Sulfamethazins (Struktur s. Abb.
110
Gerd Hamscher
2) in die Gülle gelangt, 50 % davon als N4-Acetyl-Sulfamethazin. Darauf aufbauende Untersuchungen ergaben, dass nach 8-tägiger Medikation von Schweinen mit Sulfamethazin/Sulfathiazol Rückstände der beiden Wirkstoffe von 39 mg/L Gülle auftreten (Langhammer et al. 1988). Untersuchungen in der Schweiz (Haller et al. 2002) weisen Sulfamethazin, N4Acetyl-Sulfamethazin und Sulfathiazol in 5 von 6 Gülleproben nach (Summe der Wirkstoffe: 0,3–23,7 mg/kg). Pfeifer et al. (2002) wiesen in 2 von 4 Proben Sulfadiazin (11–80 Pg/kg), N4-Acetyl-Sulfadiazin (10– 270 Pg/kg) und Sulfamethazin (11–62 Pg/kg) nach. Cl
HO
CH3
N(CH3)2
H
HO
CH3
N(CH3)2
H
OH
OH
CONH2
CONH2
OH OH
O
OH
OH O
OH
Chlortetracyclin O
O
O N HN
HN N
Sulfadiazin
O
S
N
H2N
OH
Tetracyclin
O S
O
N
H2N
Sulfamethazin
Abb. 2. Strukturen von in der Schweinemast häufig eingesetzten Tierarzneimitteln.
In den USA werden Abwässer und Fäkalien in Mastbetrieben oftmals in sogenannten Gülle-Lagunen gesammelt. Meyer et al. (2000) konnten Tetracyclin in allen 13 untersuchten Gülle-Lagunen in Konzentrationen von 0,01–0,75 mg/kg nachweisen. Bestätigt wurden diese Ergebnisse von Zhu et al. (2001), die ebenfalls Tetracyclin in 23 von 26 untersuchten Gülle-Lagunen in Konzentrationen von 0,003–12 mg/kg nachweisen konnten. Eigene Untersuchungen von 11 Proben (10 Gülleproben, 1 Hühnermistprobe) mit einem erweiterten Substanzspektrum (Tetracyclin, Oxytetracyclin, Chlortetracyclin, Tylosin, Sulfadiazin und Sulfamethazin) zeigten, dass in acht der untersuchten Proben bis zu vier verschiedene Antibiotika vorhanden waren (Höper et al. 2002). Darüber hinaus lassen sich mit diesem hochselektiven Verfahren auch Epimerisierungs- und biologisch nicht
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111
aktive Abbauprodukte der Tetracycline (z. B. Isomere) nachweisen (Hamscher et al. 2003b). Die Gehalte in den Positivbefunden lagen zwischen 0,08 und 45,3 mg/kg für Tetracycline (Tetracyclin und Chlortetracyclin) sowie zwischen 0,34 und 2,87 mg/kg für Sulfonamide (Sulfadiazin und Sulfamethazin). Tylosin wurde in 2 der 11 Proben unterhalb der Bestimmungsgrenze (0,05 mg/kg) nachgewiesen. Schlüsener et al. (2003) berichten über den Eintrag von Salinomycin (11 Pg/kg) und Tiamulin (43 Pg/kg) in eine von 4 untersuchten Schweinegüllen. Die tatsächlich ermittelten Konzentrationen basierend auf den Angaben des Landwirtes lagen in dieser Studie deutlich unter den errechneten Konzentrationen (2000 Pg/kg) gemäß der EMEA-Leitlinie EMEA/ CVMP/055/96 (European Union 1996). Obwohl nur wenige publizierte Untersuchungen zum Eintrag von Antibiotika in Gülle vorliegen, ist jedoch in den meisten Untersuchungen festgestellt worden, dass sowohl Tetracycline als auch Sulfonamide nach bestimmungsgemäßer Anwendung Rückstandskonzentrationen im mg/kgBereich in der Gülle hinterlassen können. Tylosin, Salinomycin und Tiamulin wurden mit geringer Frequenz im Pg/kg-Bereich nachgewiesen. Eintrag und Verhalten von Tierarzneimitteln in Böden Umfangreiche Untersuchungen zum Verhalten von Sulfamethazin im Boden (Langhammer und Büning-Pfaue 1989; Langhammer et al. 1990) zeigten, dass die Substanz im Boden (abhängig von pH-Wert und organischem Kohlenstoffgehalt) zum überwiegenden Teil adsorbiert wird und wahrscheinlich biologisch nicht mehr verfügbar ist („bound residues“). In diesen Modellversuchen konnten signifikante Einträge von Sulfamethazin aus hochbelasteter Gülle (40 mg/L) in Böden nicht nachgewiesen werden. Erste Untersuchungen der Tierärztlichen Hochschule Hannover im Rahmen des BLAC-Programmes „Arzneimittel in der Umwelt“ in Niedersachsen ergaben, dass Sulfonamide in Ackerböden mit regelmäßiger Gülledüngung nur im unteren Pg/kg-Bereich nachgewiesen werden können (Höper et al. 2002). Durch die relativ hohen Tetracyclinkonzentrationen in der Gülle ist auch mit einem Eintrag dieser Substanzen in den Boden zu rechnen. Winckler und Grafe (2000) nehmen eine Expositionsabschätzung nach Phase I der EMEA-Leitlinie EMEA/CVMP/055/96 (European Union 1996) für Tetracyclin bei Schweinegülle und für Chlortetracyclin bei Putenkot vor und berechnen PEC-Werte (Predicted Environmental Concentration) für Gülle und Boden. Für Tetracycline ermitteln sie in Schweinegülle PEC-Werte im Mittel von 23 mg/kg und im Maximum von 52 mg/kg. Bei der Einarbei-
112
Gerd Hamscher
tung einer Menge an Schweinegülle in den Boden - entsprechend 170 kg Stickstoff pro Hektar - auf eine Tiefe von 5 cm berechnen sie für Tetracyclin PEC-Werte im Mittel von 0,9 mg/kg und im Maximum von 2,1 mg/kg. Für Putenmist ermitteln sie für Chlortetracyclin PEC-Werte (Gülle) im Mittel von 91 und im Maximum von 878 mg/kg, sowie PECWerte (Boden) im Mittel von 0,9 und im Maximum von 8,7 mg/kg. Die geschätzten Konzentrationen in Boden und Wirtschaftsdünger liegen, unter der Annahme einer vollständigen Verfügbarkeit, im Bereich der minimalen Hemmkonzentrationen für pathogene Mikroorganismen, die mit 0,5 bis 2,0 mg/L angegeben werden (Forth et al. 1996). In einer Pilotstudie (Hamscher et al. 2000) wurden in vier von 12 untersuchten güllegedüngten Ackerböden erstmalig „reale“ Tetracyclin- und Chlortetracyclinrückstände deutlich über 10 Pg/kg nachgewiesen. Keine Rückstände fanden sich in der unteren sandigen Bodenschicht (40–90 cm). Oxytetracyclin und Tylosin, die mit der entwickelten Methode ebenfalls bestimmt werden können, konnten in keiner Probe nachgewiesen werden. Die höchsten Tetracyclin-Konzentrationen fanden sich insbesondere in mit Schweinegülle beaufschlagten Flächen aus dem niedersächsischen Programm zur Boden-Dauerbeobachtung (Kleefisch und Kues 1997).
400
Tetracyclin [µg/kg TS]
300
200
100
0 05/00 11/00
05/01 11/01
05/02 11/02
05/03 11/03
05/04 11/04
05/05 12/05
Probenahme [Monat/Jahr]
Abb. 3. Tetracyclinkonzentrationen in der Ackerkrume (0–30 cm) einer BodenDauerbeobachtungsfläche nach Ausbringung von Schweinegülle jeweils im Frühjahr 2001–2005 sowie zusätzlich im Oktober 2001 (Daten zusammen gestellt aus Hamscher et al. 2002, 2005a sowie laufenden Untersuchungen).
Tierarzneimittel in der Umwelt: Vorkommen, Verhalten, Risiken
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Daher wurde in einer Folgestudie eine mit Schweinegülle gedüngte Boden-Dauerbeobachtungsfläche über einen Zeitraum von 12 Monaten sowohl unter Feld- als auch unter Laborbedingungen in vier definierten Kernflächen untersucht. Die auf diese Fläche aufgebrachten Güllen enthielten 4 mg/kg Tetracyclin und 0,1 mg/kg Chlortetracyclin im April 2000 und 3,2 mg/kg Tetracyclin und 0,09 mg/kg Chlortetracyclin im April 2001 (Hamscher et al. 2002). Ein signifikanter Abbau der Tetracycline konnte zwischen Mai und November 2000 nicht nachgewiesen werden (s. Abb. 3). Nach einer weiteren Gülledüngung im April 2001 waren die Werte im Mai 2001 erneut höher als im November und Mai des Vorjahres, was den erstmaligen Hinweis auf eine Persistenz dieser Substanzklasse im Boden erbrachte. Tetracycline werden stark in der Ackerkrume sorbiert und ein Eintrag in die obere Bodenschicht (0–30 cm) erfolgt vor allem durch das Unterpflügen der aufgebrachten Gülle. Die Untersuchungen dieser BodenDauerbeobachtungsfläche wurden u. a. im Rahmen des UBA-Projektes 20191217 bis zum Dezember 2005 fortgesetzt. Es konnte wie schon in der vorhergehenden Studie gezeigt werden, dass im Herbst im Vergleich zum Frühjahr kein signifikanter Rückgang der Tetracyclin- und Chlortetracyclinkonzentrationen erfolgte (Tetracyclindaten s. Abb. 3). Die untersuchte Fläche ist nunmehr seit ca. vier Jahren mit einer mittleren Tetracyclinkonzentration von über 100 Pg/kg in den oberen 30 cm kontaminiert. Mittels eines funktionellen mikrobiologischen Assays gekoppelt mit Hochleistungsflüssigkeitschromatographie (Sczesny et al. 2003) konnten bislang auch keine biologisch aktiven Tetracyclin-Metabolite nachgewiesen werden, die Hinweise auf Abbauwege im Boden geben könnten. Obwohl die zur Düngung eingesetzten Güllen zumindest in den Jahren 2000 und 2001 Sulfadiazin und Sulfamethazin enthielten (0,34–1,10 mg/kg), ließen sich nur Spurenkonzentrationen von Sulfamethazin im Boden nachweisen. Dies ist als ein erster wichtiger Hinweis zum unterschiedlichen Umweltverhalten von Tetracyclinen und Sulfonamiden in Böden anzusehen (Hamscher et al. 2005a). In der EMEA/CVMP/055/96-Leitlinie ist seit 1996 für die Zulassung neuer Tierarzneimittel eine umfassende ökotoxikologische Prüfung dann vorgeschrieben, wenn sich eine auf Worst-case-Szenarien beruhende vorhersagbare Arzneimittelkonzentration (PEC) im Boden von > 100 Pg/kg ergibt, die Halbwertzeit der Stoffe im Boden länger als 60 Tage ist und weniger als 90 % des Wirkstoffes innerhalb eines Jahres im Boden abgebaut werden. Die erhobenen Befunde mit maximalen Tetracyclinkonzentrationen von > 500 Pg/kg Boden (Hamscher et al. 2003c) sollten daher Anlass sein, eine ökotoxikologische Neubewertung für die „AltTierarzneimittel“ der Tetracycline durchzuführen.
114
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Transfer von Antibiotika in Nutzpflanzen Tracerstudien von Langhammer et al. (1990) zeigten am Beispiel von mit Sulfamethazin dotierten Bodenproben eine geringe Aufnahme der Radioaktivität in die Wurzeln von Pflanzen (3–15 %) und eine minimale Verlagerung in den Sproß (0,04 %). Aktuelle Studien aus Deutschland (Grote et al. 2005) und den USA (Kumar et al. 2005) stellten allerdings erstmalig fest, dass Chlortetracyclin von Pflanzen aufgenommen werden und sogar bis in die Körner von Winterweizen (44 Pg/kg, Grote et al. 2005) und Mais (ca. 2 Pg/kg, Kumar et al. 2005) gelangen kann. Da bei beiden Untersuchungen vergleichsweise hohe Chlortetracyclinmengen dem Boden über die Gülle zugeführt wurden, sollte die Relevanz dieser Ergebnisse bzgl. einer möglichen Belastung von pflanzlichen Lebens- und Futtermitteln mit Antibiotika durch Monitoring-Studien, z. B. an Getreideproben aus dem Handel, abgesichert werden. Eintrag von Tierarzneimitteln in die aquatische Umwelt Für Tetracyclin konnte am Beispiel der bereits vorgestellten relativ hochbelasteten Fläche gezeigt werden, dass diese Substanz nach vierjähriger Studiendauer trotz der starken Sorption im Oberboden auch in das oberflächenahe Grundwasser (1,40 m) gelangen kann (Hamscher et al. 2005b, Tab. 2). Untersuchungen des gleichen Standortes von April 2002 bis 2005 auf Sulfamethazin zeigten, dass trotz einer sehr niedrigen Konzentration dieses Stoffes im Oberboden (im Mittel < 1 Pg/kg) ein kontinuierlicher Eintrag in das oberflächennahe Grundwasser in Konzentrationen von bis zu 0,24 Pg/L erfolgte (s. Tab. 3, Hamscher et al. 2005a und laufende Untersuchungen). Tabelle 3. Maximale Konzentrationen verschiedener Tierarzneimittel in Grundwasser. Tierarzneimittel Sulfamethazin Tetracyclin
Max. Konzentration Literatur [Pg/L] 0,16–0,24 Hirsch et al. 1999, Kolpin et al. 2002, Hamscher et al. 2005a 0,13 Campagnolo et al. 2002, Hamscher et al. 2005b
Das in den USA weit verbreitete Anlegen von sogenannten GülleLagunen stellt hinsichtlich der Gefährdung des Grundwassers möglicherweise ein spezifisches lokales Risiko dar. Allerdings konnten im Grund-
Tierarzneimittel in der Umwelt: Vorkommen, Verhalten, Risiken
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wasser-Bereich dieser Anlagen bislang Tetracyline nur von Campagnolo et al. 2002 nachgewiesen werden, während Meyer et al. (2000) und Zhu et al. (2001) diese Substanzklasse nicht detektieren konnten. Die Sulfamethazin-Ergebnisse der von Hamscher et al. (2005a) durchgeführten Grundwasser-Untersuchungen decken sich im wesentlichen mit den Ergebnissen von Monitoring-Studien in Deutschland und kürzlich erschienenen Daten aus den USA. Hirsch et al. (1999) fanden in keiner von 69 Grundwasserproben Tetracycline und in zwei von 69 Proben Sulfamethazin in einer Konzentration von 0,16 Pg/L. In Oberflächengewässern werden Tierarzneimittel häufiger und in höheren Konzentrationen gefunden als im Grundwasser (s. Tab. 4). Lindsey et al. (2001) zeigten, dass Sulfonamide und Tetracycline in 9 von 144 Grundund Oberflächengewässern in Konzentrationen von 0,07–15 Pg/L nachweisbar waren. Nur in einer Grundwasserprobe wurde Sulfamethoxazol, nachgewiesen (0,22 Pg/L). Allerdings wird diese Substanz in der Regel nur in der Humanmedizin eingesetzt. Tetracycline wurden nur in Oberflächengewässern nachgewiesen (Oxytetracyclin 0,15 Pg/L, Tetracyclin 0,07–1,34 Pg/L und Chlortetracyclin 0,11 Pg/L). Die Autoren dieser Arbeit erachten einen Abfluss („Run-off“) der Substanzen in die Oberflächengewässer wahrscheinlicher als einen Eintrag in das Grundwasser durch Auswaschen der Böden. Tabelle 4. Maximale Konzentrationen verschiedener Tierarzneimittel in Oberflächengewässern. Tierarzneimittel
Max. Konzentration Literatur Pg/L]
Tetracycline Chlortetracyclin
0,11–0,69
Doxycyclin Oxytetracyclin
0,07 0,15–1,34
Tetracyclin Sulfonamide Sulfadimethoxin
0,11 0,08–15
Sulfamethazin
0,06–0,22
Sonstige Wirkstoffe Chloramphenicol Lincomycin Tylosin
0,06 0,73 0,28
Lindsey et al. 2001, Kolpin et al. 2002, Yang et al. 2004 Yang et al. 2004 Lindsey et al. 2001, Kolpin et al. 2002, Yang et al. 2004 Kolpin et al. 2002 Lindsey et al. 2001, Yang et al. 2004 Kolpin et al. 2002, Yang et al. 2004 Hirsch et al. 1999 Kolpin et al. 2002 Kolpin et al. 2002
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Aktuelle Studien zeigen, dass ein Run-off von Tierarzneimitteln in der Regel nur dann erfolgt, wenn in zeitlicher Nähe zur Gülleausbringung ein Starkregenereignis erfolgt (Burkhardt et al. 2005, Kay et al. 2005, Kreuzig et al. 2005). Daher verhindert ein schnelles Unterpflügen der Gülle in den Boden – wie es z. B. in Deutschland vorgeschrieben ist – einen Eintrag von unerwünschten Stoffen aus der Gülle in die Oberflächengewässer. Der Einsatz von Tierarzneimitteln in Aquakulturen stellt einen unmittelbaren Eintrag von Tierarzneimitteln in die aquatische Umwelt dar, da zur therapeutischen Behandlung die Wirkstoffe über das Futter oder direkt in das Wasser gegeben werden. Begründet in dieser speziellen Anwendungsform werden die Pharmazeutika kaum metabolisiert und aufgrund der relativ niedrigen Umgebungstemperaturen nur langsam abgebaut (Jacobsen und Berglind 1988). Der geschätzte Antibiotikaanteil, der sich direkt über das Fischfutter oder über die Ausscheidungen der Fische in den Sedimenten niederschlägt, liegt bei ~75 % (Richardson und Bowron 1985; HallingSørensen 1998). Einer der weltweit am häufigsten in der Aquakultur eingesetzten Wirkstoffe ist das Tetracyclinantibiotikum Oxytetracyclin. So detektierte Samuelson (1992) im Sediment einer Fischfarm nach einer Medikation diese Substanz in einer beträchtlichen Konzentration von 285 mg/kg. Andere Forschergruppen berichteten ebenfalls von Rückständen in marinen Sedimenten, allerdings mit deutlich niedrigeren Konzentrationen (Jacobsen und Berglind 1988; Capone et al. 1996). Diese Befunde deuten auf einen weit verbreiteten Eintrag von Oxytetracyclin in dieses Umweltkompartiment hin. Eintrag von Antibiotika in Stallstaub Ein bislang unbekannter Eintrag von Antibiotika in die Umwelt mit einem möglicherweise größeren Risiko für den Menschen wurde kürzlich für Stäube aus der Schweinehaltung entdeckt (Hamscher et al. 2003a). Die Belastung von Stäuben – die vom Institut für Tierhygiene, Tierschutz und Nutztierethologie der Tierärztlichen Hochschule Hannover in den Jahren 1981–2000 gesammelt wurden – mit bis zu fünf verschiedenen Substanzen konnte gezeigt werden. Als Quellen für Antibiotika in Stallstäuben sind getrocknete Güllepartikel und Tierfutterbestandteile anzusehen, die in Stallstäuben neben Hautpartikeln, Bakterien und Silikaten enthalten sein können (Hartung 1997 und 1998). In 80 % der Proben konnte Tylosin und in 65 % der Proben Sulfamethazin nachgewiesen werden. Beide Stoffe sind als Allergene bekannt und könnten somit zu einer gesundheitlichen Beeinträchtigung des Landwirtes
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durch die Inhalation von Stallstaub beitragen. Auch die zeitweilige Exposition gegenüber Chloramphenicol, dessen Einsatz insbesondere wegen seines genotoxischen Potenzials seit 1994 EU-weit in der Tierhaltung verboten ist, konnte über die Analyse von Staubproben nachgewiesen werden. Von einer amerikanischen Arbeitsgruppe wurde kürzlich gezeigt, dass 80 % der kultivierbaren Bakterien aus Stäuben tylosinresistent waren (Zahn et al. 2001).
Mögliche Effekte und Risiken von Antibiotika in Gülle, Boden, Grundwasser und Stallstaub Wiederholt wurde über Störungen beim Betrieb von Fermentern und Biogasanlagen bei der Verwendung antibiotikahaltiger Güllen berichtet (Massé et al. 2000; Lallai et al. 2002). Da dies auch zu beträchtlichen wirtschaftlichen Schäden führen kann, wäre eine Reduktion des Eintrages von Antibiotika in die Gülle ein prioritäres Ziel. Untersuchungen zur ökotoxikologischen Wirkung von Tetracyclinen auf Bodentiere, vor allem auf Regenwürmer, Collembolen und Enchyträen, ergaben beispielsweise für Oxytetracyclin sehr hohe NOEC-Werte (no effect concentration) der Mortalität und Reproduktion von 1000 bis 5000 mg pro kg Boden (Baguer et al. 2000). Da Tiere jedoch nicht die direkte Zielgruppe der eingesetzten Antibiotika sind, sind die vergleichsweise hohen Effektkonzentrationen nicht überraschend. Mögliche Effekte von Antibiotika in Böden können insbesondere Änderungen der Struktur bzw. der Funktion mikrobieller Biozönosen sein. Auch eine Erhöhung der Antibiotika-Resistenzgene im Genpool der Bodenmikroorganismen mit weiteren Auswirkungen auf die Zusammensetzung mikrobieller Gemeinschaften könnte auftreten (Nwosu 2001; Tolls 2001; Kümmerer 2003; Thiele-Bruhn 2003, Kümmerer 2004). Mittlerweile wurde gezeigt, dass Antibiotika trotz der starken Sorption im Boden biologisch aktiv bleiben (Chander et al. 2005). Darüber hinaus konnten einige der oben postulierten Effekte in Labor- und Felduntersuchungen auch nachgewiesen werden (Halling-Sørensen et al. 2005; ThieleBruhn 2005; Thiele-Bruhn und Beck 2005; Kong et al. 2006) allerdings lagen die eingesetzten Antibiotikakonzentrationen z. T. deutlich über denen, die bislang in Monitoring-Studien von landwirtschaftlichen Nutzflächen beschrieben worden sind (Hamscher et al. 2000, 2002 und 2005; Höper et al. 2002). Im Falle einer möglichen Induktion von Resistenzen in Bodenbakterien durch antibiotikabelastete Gülle zeigen erste Feld- und Mikrokosmenuntersuchungen, dass Resistenzen in erster Linie durch die
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mit der Gülle aufgebrachten (z. T. resistenten) Bakterien übertragen werden und auch in der Regel nur temporär auftreten (Sengelov et al. 2003; Schmitt et al. 2006). Im Falle des Sulfamethazins könnten allerdings die wiederholten Einträge in das Grundwasser im subtherapeutischen Konzentrationsbereich zu einer Resistenzbildung bei aquatischen Bakterien beitragen. Der erstmalige Nachweis von Tetracyclin in Grundwasserproben unterhalb einer seit vielen Jahren hochbelasteten landwirtschaftlichen Nutzfläche zeigt, dass auch der Faktor Zeit bei der zukünftigen Durchführung von Feldstudien eine wichtige Rolle spielen wird. Der erstmalig nachgewiesene Eintrag von Antibiotika über Stallstäube stellt möglicherweise – im Gegensatz zu den Einträgen von Humanarzneimitteln in Gewässer und von Tierarzneimitteln in Böden – ein unmittelbares Risiko für den Menschen dar. Aufgrund der retrospektiv analysierten Staubproben muss von einer langfristigen Exposition von Landwirten z. B. gegenüber allergen wirksamen Stoffen wie Tylosin und Sulfonamiden sowie gegenüber dem genotoxischen Chloramphenicol ausgegangen werden. Insofern sollten diese Erhebungen Grundlage sein für weitergehende Untersuchungen z. B. bezüglich des Allergie- oder Resistenzstatus von Personen, die im landwirtschaftlichen Bereich beschäftigt sind.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Antibiotika aus der intensiven Tierhaltung können aufgrund ihrer Persistenz über die Wirtschaftsdünger in beachtlichen Konzentrationen in die Böden gelangen sowie in Pflanzen und Grundwasser verlagert werden. Im Sinne eines vorbeugenden Verbraucher-, Boden- und Grundwasserschutzes sollte daher eine Reduzierung des Antibiotikaeintrages in die Wirtschaftsdünger realisiert werden. Dies würde auch zu einer Reduktion der Antibiotikagehalte in Stallstäuben führen. Einen wichtigen Beitrag hierzu könnten die „Leitlinien für den sorgfältigen Umgang mit antimikrobiell wirksamen Tierarzneimitteln“, die von der Bundestierärztekammer und der Arbeitsgemeinschaft der Leitenden Veterinärbeamten erstellt wurden, liefern (Anonymus 2000). Diese Leitlinien beinhalten wichtige Mindestanforderungen zum Einsatz von Antibiotika. Es werden die Auswahlkriterien für das richtige Antibiotikum festgelegt und Hinweise für die richtige Dosierung und Therapiedauer gegeben. Darüber hinaus beinhalten sie auch allgemeine Empfehlungen, um insbesondere die Ausbreitung von Antibiotika-Resistenzen zu vermindern. Durch das EU-weite Verbot antibiotischer Leistungsförderer in der Tier-
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mast ab 2006 wurde insbesondere diesem Aspekt auch von Seiten des Gesetzgebers bereits Rechnung getragen. Durch eine hohe Tiergesundheit in den Beständen lässt sich der Tierarzneimitteleinsatz ebenfalls weiter reduzieren. Dies kann nicht nur durch eine Optimierung von Haltungs- und Managementbedingungen erreicht werden sondern auch durch gezielte Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen aller in diesem Bereich tätigen Personen.
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Ökotoxikologische Wirkungen von Pharmazeutikarückständen auf aquatische Organismen Karl Fent Fachhochschule Nordwestschweiz, Hochschule für Life Sciences, Muttenz, und Eidgenössische Technische Hochschule (ETH) Zürich, Zürich, Schweiz
Zusammenfassung Pharmazeutika gelangen als Stoffwechselprodukte oder unverändert meist über das Abwasser in die Umwelt. Da in der Kläranlage meist kein vollständiger Abbau erfolgt und einige Pharmazeutika recht persistent sind, finden sich Spuren davon im geklärten Abwasser und in Oberflächengewässern in Konzentrationen von einigen ng/L bis Pg/L. Kaum bekannt sind mögliche unerwünschte Wirkungen auf Gewässerorganismen. Im Falle von natürlichen und synthetischen Steroidhormonen aus der Empfängnisverhütungspille können sie zu estrogenen Wirkungen bei Fischen und zur Verschiebung des Geschlechterverhältnisses führen. Das männliche Steroidhormon Trenbolon, in den USA Rindern verabreicht, führt zur Vermännlichung von Fischen in Bächen, die an Rinderfarmen angrenzen. Im Weiteren wurde die Entwicklung einer Antibiotika-Resistenz in und nahe von Kläranlagen und wegen der Verwendung von Antibiotika in der Tierzucht und Fleischproduktion, in terrestrischen Ökosystemen beobachtet. Bisher sind erst wenige Arzneimittel auf ihre Toxizität auf aquatische und terrestrische Organismen untersucht worden. Akute Effekte sind nur bei Unfällen zu erwarten. Sehr wenig ist jedoch bekannt über die chronische Toxizität und die Langzeitwirkungen von Pharmazeutika auf Wasserund Bodenorganismen. Auch die Wirkung von Mischungen ist kaum bekannt, obwohl dies die normale Umweltsituation darstellt. Die wenigen chronischen Toxizitätsdaten bei Algen, Zooplankton und Fischen zeigen, dass die gemessenen Effekte erst bei Konzentrationen auftreten, die etwa zwei Größenordnungen höher liegen als die maximal im geklärten Abwasser gefundenen Werte. Ausnahmen sind jedoch 17D-Ethinylestradiol, Di-
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clofenac, Propranolol und Fluoxetin, bei denen chronische Effekte bei solchen Konzentrationen auftreten, die im Bereich von maximal im Abwasser gemessenen Werten liegen. Allgemein sind die chronischen Wirkungen nur zu einem kleinen Teil bekannt, denn Toxizitätsstudien erfassen in der Regel die allgemeine Toxizität und sind nicht darauf ausgerichtet, die Wirkungsweise und Zielorgane der Organismen gezielt zu betrachten. Zudem werden nur einige wenige Spezies untersucht. Klassische Toxizitätstests sind daher nicht in der Lage, die chronischen Wirkungen auf die Umwelt im gewünschten Masse zu charakterisieren. Es braucht gezieltere Untersuchungen, die den Wirkungsmechanismus berücksichtigen, die auf chronische Effekte gerichtet sind und auch solche, die ökologisch realistischer sind, wie beispielsweise Studien mit Modellökosystemen. Immerhin lassen aber Reproduktionsstudien Schlüsse auf die Auswirkungen auf Populationen zu. Die Betrachtung spezifischer Toxizitätsparameter liefert eine bessere Einschätzung von möglichen unerwünschten Wirkungen von Pharmazeutika. Sie sind für eine aussagekräftige ökologische Risikoanalyse entscheidend. Aufgrund der vorliegenden, vor allem akuten Daten, scheint das Umweltrisiko auf einzelne Arzneimittel beschränkt zu sein. Große Kenntnislücken bestehen jedoch in der kombinatorischen Wirkung von Arzneimittel-Mischungen. Zukünftige Studien sollten vermehrt die Wirkungsweise von Arzneimitteln, bisher bekannte Nebenwirkungen beim Menschen und die chronischen Wirkungen gezielter berücksichtigen.
Einleitung Es war eine große Überraschung als im Jahre 2004 bekannt wurde, dass Rückstände des schmerz- und entzündungshemmenden Arzneimittels Diclofenac in Tierkadavern für den Populationsrückgang von drei endemischen Geierarten (Gyps bengalensis, G. indicus, G. tenuirostris) auf dem Indischen Subkontinent verantwortlich sind (Green et al. 2004; Oaks et al. 2004; Prakash et al. 2003). Ein weiträumiger, massiver Populationseinbruch von über 95 % begann in den 1990er Jahren (Risebrough 2004). Die Geier sterben infolge Nierenversagen und Gicht im Magen-DarmTrakt und im ganzen Körper lagerte sich Harnsäure ab. Abgesehen von diesem völlig überraschenden Effekt eines Nutztieren verabreichten Mittels sind mögliche ökotoxikologische Wirkungen von Arzneimittelrückständen auf Organismen in der Umwelt weitgehend unbekannt. Pharmazeutika werden zunehmend in der Human- und Veterinärmedizin verwendet; in der EU sind etwa 3'000 verschiedene Substanzen im
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Gebrauch. Aufgrund ihrer therapeutischen Anwendung haben sie biologische Aktivität und müssen eine bestimmte Verweilzeit im Körper aufweisen. Arzneimittel werden teilweise unverändert, zum großen Teil aber als Metaboliten ausgeschieden und gelangen ins Abwasser. Krankenhausabwässer sind dabei besonders belastet (Hartmann et al. 1998). Eine Quelle stellt aber auch die unsachgemäße Entsorgung im Haushalt über die Toilette dar, einschließlich abgelaufener Präparate (Bound and Voulvoulis 2005). Auch in der Veterinärmedizin ist der Gebrauch von Arzneimitteln steigend, vor allem bei Antibiotika und antiinflammatorischen Pharmaka. Allgemein sind Krankenhausabwässer, häusliche Abwässer und Abwässer aus der Pharmazeutikaproduktion Quellen von Arzneimittelrückständen, jedoch können auch Deponiesickerwässer belastet sein. Zudem gelangen Tierarzneimittel über die Jauche auf Böden und können über Abschwemmungen in Gewässer gelangen. Auch Antibiotika werden in hohen Mengen konsumiert. Im Jahre 1996 waren es über 10’000 t in der EU, wobei etwa die Hälfte in der Veterinärmedizin und als Wachstumsförderer eingesetzt wurden (Kümmerer 2001). Letzteres wurde größtenteils verboten. Die Entwicklung von Antibiotikaresistenz bei Mikroorganismen ist eine wichtige Folge des breiten Antibiotikaverbrauchs, was auch große Bedeutung für den Menschen hat. Tatsächlich wurden in Kläranlagen, Gewässern, Sedimenten und Böden resistente Keime festgestellt (Guardabassi et al. 1998; Witte 1998). Über die Wirkungen von Arzneimittelrückständen auf Gewässerorganismen ist sehr wenig bekannt (Fent et al. 2006). In diesem Kapitel wird ein Überblick über die heutigen Kenntnisse der ökotoxikologischen Wirkungen von Arzneimittelrückständen aus der Humanmedizin gegeben. Veterinärarzneimittel und Antibiotika werden nur am Rand betrachtet, da einige Übersichtsartikel darüber Auskunft geben (Boxall et al. 2003; Daughton and Ternes 1999; Halling-Sorensen et al. 1998; Hirsch et al. 1999; Montforts et al. 1999).
Pharmazeutika in der Umwelt Seit rund zehn Jahren werden verstärkt Umweltvorkommen und ökotoxikologische Wirkungen von Arzneimitteln untersucht. Rückstände werden in Gewässern überall dort gefunden, wo danach gesucht wird; z.B. im Po (Calamari et al. 2003), in der Elbe (Wiegel et al. 2004) und auch in der Nordsee und in Küstenbereichen (Thomas and Foster 2004; Weigel et al. 2004a; Weigel et al. 2004b; Weigel et al. 2002), genauso wie in Brasilien (Stumpf et al. 1999), Japan und vielen Flüssen der USA (Kolpin et al.
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2002; Kolpin et al. 2004). Über 100 verschiedene Wirkstoffe und deren Abbauprodukte, die medikamentös behandelte Menschen und Tiere ausscheiden, konnten bisher nachgewiesen werden, wie entsprechende Übersichtsarbeiten zeigen (Daughton and Ternes 1999; Fent et al. 2006; Halling-Sorensen et al. 1998; Heberer 2002; Kümmerer 2001; Kümmerer 2004). Eine breit angelegte Monitoringstudie in 139 Fliessgewässern der USA zeigt die hohe Frequenz des Auftretens (Kolpin et al. 2002). Mit der Weiterentwicklung der Analysetechnik werden in Zukunft wohl weitere der rund 3000 zugelassenen Wirkstoffe in der Umwelt gefunden. Die Konzentrationen von Schmerzmitteln, Lipidsenkern, Beta-Blockern, Psychopharmaka, Antibiotika und anderen Arzneien sind am höchsten im Abwasser (Ternes et al. 2004; Ternes 1998; Ternes et al. 1999) und bewegen sich meist zwischen wenigen und einigen hundert ng/L. Maximale Konzentrationen erreichen jedoch Werte im Mikrogrammbereich (Abb. 1). Obwohl die Konzentration von synthetischen Steroidhormonen gering sind, haben sie eine sehr große Bedeutung, weil sie schon in Spuren negativ auf die Geschlechtsentwicklung und Reproduktion von Fischen wirken können. Laut einer neuen Studie in Italien wiesen von den 26 analysierten Arzneien neben den Antibiotika Ciprofloxacin, Ofloxacin und Sulfamethoxazol auch Atenolol, Ibuprofen, die Diuretika Furosemid und Hydrochlorthiazid, Ranitidin und der Lipidsenker Bezafibrat die höchsten Umweltkonzentrationen auf (Castiglioni et al. 2006). Zusätzlich zum (geklärten) Abwasser finden sie sich auch in Fliessgewässern und Seen, wo Konzentrationen von wenigen ng/L auftreten. Die Abbildungen 1 und 2 zeigen die Konzentrationen verschiedener Medikamentenrückstände in Abwasser und Oberflächengewässern. Besonders verunreinigt sind kleine Flüsse und Kanäle in dicht besiedelten Gebieten, die oft einen hohen Abwasseranteil haben. Neben der Verdünnung des Abwassers, der Klärtechnik und der Abbaubarkeit der jeweiligen Substanz beeinflusst auch der saisonal und regional unterschiedliche Medikamentenverbrauch die Rückstandskonzentrationen. Im Gewässer selbst scheinen Sorption und Biodegradation die wichtigsten Eliminationsprozesse zu sein. Dabei spielt auch der Photoabbau bei gewissen Arzneien (z.B. Diclofenac) an der Wasseroberfläche eine Rolle (Buser et al. 1998).
Ökotoxikologische Wirkungen von Pharmazeutikarückständen Acetylsalicylsäure Salicylsäure Dextropropoxyphen Diclofenac Fenoprofen Ibuprofen Indometacin Ketoprofen Mefenaminsäure Naproxen Paracetamol Phenazon Acebutolol Metoprolol Nadolol Oxprenolol Propranolol Atorvastatin Bezafibrat Clofibrinsäure Fenofibrat Gemfibrozil Carbamazepin Diazepam Fluoxetin Cyclophosphamid Ifosfamid Tamoxifen Albuterol Koffein Cotinin Ethinylestradiol
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Konzentration (ng/L)
Abb. 1. Konzentrationen (als Maximal-, Median- oder Mittelwerte) von nachgewiesenen Pharmazeutikarückständen im Kläranlagenablauf (verändert nach Fent et al. 2006).
Auch Medikamente aus der Veterinärmedizin oder Fischzucht (HoltenLützhoft et al. 1999) gelangen in die Umwelt. Veterinärarzneimittel erreichen über Jauche und Mist aus Wiesen und Feldern die Gewässer. Tierarzneimitteln gelangen jedoch zur Hauptsache in die Böden. Von dort können sie ins Grundwasser gelangen. Punktuell können dabei Rückstände bis zu einigen Pg/L auftreten, sonst ist das Grundwasser aber nur gelegentlich mit Spuren kontaminiert. Medikamente aus der Humanmedizin können jedoch auch über den Klärschlamm auf den Boden gelangen. Zudem können sich Pharmazeutika im Boden anreichern, wenn dieser mit geklärtem Abwasser bewässert wird (Kinney et al. 2006).
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Karl Fent Acetylsalicylsäure Salicylsäure Diclofenac Fenoprofen Ibuprofen Indometacin Ketoprofen Mefenaminsäure Naproxen Paracetamol Phenazon Metoprolol Propranolol Bezafibrat Clofibrinsäure Gemfibrozil Carbamazepin Diazepam Fluoxetin Tamoxifen Albuterol Koffein Cimetidin Codein Cotinin Metformin Ranitidin Ethinylestradiol
Max Medianwert Mittelwert
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Konzentration (ng/L)
Abb. 2. Konzentrationen (als Maximal-, Median- oder Mittelwerte) von nachgewiesenen Pharmazeutikarückständen in Oberflächengewässern (verändert nach Fent et al. 2006).
In der Kläranlage sind zwei Prozesse zur Elimination von Arzneimitteln wichtig: Adsorption an den Klärschlamm und Biodegradation, vor allem im aeroben Belebtschlamm. Während ersteres aufgrund der relativ geringen Sorption für Pharmazeutika weniger wichtig ist, spielt der aerobe Abbau die entscheidende Rolle, vor allem bei hohem Alter des Belebtschlammes. Trotzdem finden sich Pharmazeutikarückstände im Klärschlamm (Tauxe-Wuersch et al. 2005), die bei Verwendung von Klärschlamm als Dünger auf landwirtschaftliche Felder ausgebracht werden. Die Eliminationsraten in der Kläranlage variieren je nach Konstruktionsprinzip, Art der Klärstufen, Verweilzeiten und Zustand der Anlage. Studien zeigen eine mittlere Eliminationsrate von einigen Arzneimitteln im Bereich von 60 % (Carballa et al. 2004; Stumpf et al. 1999; Ternes 1998), bei anderen jedoch von weniger als 40 % (Castiglioni et al. 2006). Allgemein ist der Abbau ist variabel und reicht von 7 % für Carbamazepin (Clara et al. 2004; Heberer et al. 2002; Ternes 1998) bis 80 % für Acetylsalicylsäure, 96 % für Propranolol und 99 % für Salicylsäure (Heberer et
Ökotoxikologische Wirkungen von Pharmazeutikarückständen
131
al. 2002; Ternes 1998). Röntgenkontrastmittel werden kaum abgebaut. Je nach Kläranlage können für ein bestimmten Wirkstoff auch verschiedene Eliminationsraten auftreten, wie die Werte von Diclofenac von 17 % (Heberer et al. 2002) bis 100 % (Thomas and Foster 2004) zeigen. Auch eine neuere Studie zeigt variable Abbauraten für Arzneimittel von 21 bis 72 % (Castiglioni et al. 2006). Die Antibiotikakonzentration in Krankenhausabwässern kann recht hoch sein. Ciprofloxacin wurde bis zu einer Konzentration von 125 Pg/L (Hartmann et al. 1999), Ampicillin bis zu 80 Pg/L gemessen (Kümmerer 2001). Antibiotika sind in Pg/L-Bereich in kommunalen Abwässern, aber auch in Oberflächen- und Grundwässern gefunden worden (Kümmerer 2001). Auch Jauche kann relativ stark belastet sein; die Antibiotikakonzentration in Schweinegülle kann bis zu einigen mg/L betragen. Nach dem Austrag treten sie auch in Böden auf. Tetracycline sind bis zu einer Konzentration von 0,2 Pg/kg im Boden gefunden worden (Hamscher et al. 2002). Viele Antibiotika sind in der Umwelt recht persistent und werden nur langsam abgebaut, wodurch sich Antibiotikaresistenzen bei Mikroorganismen entwickeln können. Auch Rückstände von Veterinärarzneimitteln, insbesondere Antibiotika, können im Bereich von 0,02 bis 50 Pg/L in Gewässern auftreten. Im Dung können bis gegen 10 mg/kg Ivermectin und einige 100 Pg/kg Doramectin gefunden werden (Boxall et al. 2003). Zusammengefasst zeigt sich, dass Rückstände von vielen Arzneimitteln im Abwasser und abwasserbelasteten Gewässern weit verbreitet auftreten, weil die Elimination in der Kläranlage nicht vollständig erfolgt.
Wirkungsweise von Pharmazeutika bei Mensch und Tier Viele Pharmazeutika sind in ihrer Wirkungsweise beim Menschen untersucht, ob sie aber auf dieselbe Weise bei niederen Wirbeltieren oder gar Wirbellosen oder Pflanzen wirken, ist praktisch nicht bekannt. Meist haben Pharmazeutika bestimmte Zielorgane und Zielmoleküle, jedoch sind diese entweder nicht bei allen Arzneimitteln oder nur zum Teil bekannt. Analgetika und nichtsteroidale antiinflammatorische Arzneimittel (NSAID) hemmen eine oder beide Isoformen der Cyclooxygenase (COX-1, COX-2). NSAID hemmen auch die Prostaglandinsynthese und Nebenwirkungen beim Menschen gehen in der Regel auf diesen Prozess zurück. COX-2Enzyme wurden auch in Fischen gefunden (Roberts et al. 2000; Yang et al. 2002; Zou et al. 1999). Inwieweit diese durch entsprechende Arzneimittelrückstände auch bei Fischen gehemmt werden, ist jedoch nicht bekannt.
132
Karl Fent
Beta-Blocker wirken als kompetitive Inhibitoren von beta-andrenergen Rezeptoren und werden in der Behandlung von Bluthochdruck und nach Herzinfarkten angewandt. Das adrenerge System ist in vielen physiologische Funktionen involviert wie z.B. in der Regulation des Herzschlags, und der Vasodilatation von Blutgefässen. Beta-Adrenoceptoren sind auch bei Fischen gefunden worden (Nickerson et al. 2001); sie zeigen eine hohe Homologie zu jenen in Säugern (Ruuskanen et al. 2005). Inwieweit BetaBlocker auch entsprechende Wirkungen auf Fische haben, ist jedoch noch nicht bekannt. Bei Daphnien jedenfalls zeigt sich eine Erhöhung der Herzschlagfrequenz in tiefen und eine Verlangsamung bei hohen Konzentrationen (Villegas-Navarro et al. 2003). Als Lipidsenker werden Statine und Fibrate verwendet. Beide führen zu einer Senkung der Chlolesterinkonzentration im Blutplasma oder der Triglyceride (Fibrate). Statine hemmen die Chlolesterinsynthese über die Hemmung der 3-Hydroxymethylglutaril-Coenzym-A-Reduktase. Fibrate hingegen bewirken eine Veränderung der Transkription von Genen, welche den Lipoprotein-Metabolismus kontrollieren. Sie aktivieren wahrscheinlich die Lipoprotein-Lipase, die für die Umwandlung der „low density lipoproteins“ in „high density lipoproteins“ verantwortlich sind und damit die Plasma-Triglycerid-Konzentration heruntersetzen. Fibrate binden auch an die Peroxisom-Proliferator-aktivierenden-Rezeptoren (PPAR), die eine wichtige Rolle im Lipidstoffwechsel spielen. Diese Rezeptoren wurden auch in Fischen gefunden (Ibabe et al. 2005a; Ibabe et al. 2005b; Ruyter et al. 1997). So induzieren Fibrate beispielsweise PPARJ in der Leber von Lachsen (Ruyter et al. 1997). Antiepileptika und Antidepressiva sind wichtige Pharmazeutika, die auf das Zentralnervensystem wirken. Antiepileptika senken entweder die allgemeine neuronale Aktivität über eine Hemmung von Natriumkanälen von erregenden Neuronen (z.B. Carbamazepin), oder durch Erhöhung inhibitorischer Effekte auf den GABA-Neurotransmitter. Andrerseits können sie auch über die Bindung an den entsprechenden Rezeptor wirken, wie dies bei Diazepam der Fall ist, einem Vertreter der Benzodiazepine. Das GABA-System existiert in Fischen ebenfalls. Das Antidepressivum Fluoxetin hemmt die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Serotonin, welcher in vielen physiologischen Prozessen eine Rolle spielt. Serotonin kommt als Neurotransmitter auch bei niederen Wirbeltieren und Wirbellosen vor, wobei seine Wirkung verschieden sein kann. So ist Serotonin in endokrinen Funktionen bei aquatischen Organismen involviert (Fong 1998; Fong et al. 1998). Allgemein ist noch wenig darüber bekannt, inwieweit Pharmazeutika auf wildlebende Organismen identisch wirken oder ob und in welchem Masse auch andere Mechanismen eine Rolle spielen.
Ökotoxikologische Wirkungen von Pharmazeutikarückständen
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Ökotoxikologische Effekte Organismen in der Natur können Arzneimittelspuren wesentlich stärker ausgesetzt sein als der Mensch. In abwasserverschmutzen Habitaten ist dies bei Wasser- und Sedimentbewohnern gar ständig der Fall. Dabei ist die Abschätzung ihrer Wirkungen noch schwieriger als die Analyse von Arzneimittelspuren in der Umwelt. Prinzipiell können ökotoxikologische Wirkungen von Arzneimittelrückständen auf denselben Wirkmechanismen beruhen wie beim Menschen, falls entsprechende Rezeptoren und ähnliche physiologische Prozesse bei Tieren oder gar Pflanzen vorliegen. Dabei sind nicht nur die therapeutisch erwünschten Wirkungen, sondern auch die unerwünschten Nebenwirkungen der Medikamente zu betrachten, die entsprechend auch bei aquatischen Organismen auftreten können. Auch wenn die entsprechenden Rezeptoren und Zielorte bei niederen Organismen fehlen, können Effekte an verwandten Zielorten auftreten. Direkte Rückschlüsse von den pharmakologischen Wirkungen bei Säugern auf die Ökotoxikologie sind jedoch schwierig, da Arzneimittel in der Natur ganz anders wirken können. So ist etwa der Serotonin-WiederaufnahmeHemmer Fluoxetin beim Menschen gegen Depressionen wirksam, bei Muscheln kann dieser Wirkstoff dagegen eine frühzeitige Freisetzung der Larven auslösen (Fong et al. 1998). Auch bei anderen wasserlebenden Organismen scheint die Fortpflanzung beeinflusst zu sein. Im Weiteren sind auch indirekte Effekte zu berücksichtigen, wie sie im ökologischen Kontext von Nahrungskettenbeziehungen und ökologischen Interaktionen auftreten (Fent 2003). Von besonderer Bedeutung sind dabei die Bioakkumulation und die Wirkungen auf die Reproduktion, da diese Auswirkungen auf der Populationsebene haben. Gewisse Übereinstimmungen der Wirkungen finden sich dagegen beim Schmerz- und Entzündungshemmer Diclofenac, wie das Geiersterben auf dem Indischen Subkontinent zeigt: Das Nierenversagen der Greifvögel ist durch die Aufnahme von mit Diclofenac belasteten Kadavern bedingt (Oaks et al. 2004). Auch beim Menschen kommen Nierenschäden als Nebenwirkung des Schmerzmittels vor. Ebenso reagieren Regenbogenforellen auf Diclofenac-Spuren von 5 Pg/L im Wasser mit Veränderungen in den Nieren, aber auch in den Kiemen und der Leber (Schwaiger et al. 2004). Trotz dieser Tatsache sind die bisherigen ökotoxikologischen Untersuchungen aber nur in seltenen Fällen auf die Wirkungsmechanismen der Pharmazeutika ausgerichtet. Meist umfassen sie akute Toxizitätstests, chronische Studien gibt es wenige und nur selten werden In-vitro-Untersuchungen durchgeführt. Zudem werden mathematische Modelle für die
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Karl Fent
Abschätzung der ökotoxikologischen Wirkungen verwendet, wie das ECOSAR-Programm (Sanderson et al. 2003). Für eine Risikoabschätzung sind diese aber zu ungenau. Dazu sind chronische Toxizitätsdaten nötig, da sie eine bessere Abschätzung des ökotoxikologischen Potentials von Pharmazeutika zulassen. Im Folgenden wird ein Überblick über die akute und chronische Toxizität von ausgewählten Pharmazeutika gegeben. In einem weiteren Schritt sollen dann diese Toxizitätswerte mit der Umweltkonzentration in Beziehung gesetzt werden, um das potentielle Umweltrisiko abzuschätzen. Akute Toxizität In der Regel wird die akute Toxizität in OECD-Tests an Algen, Daphnien und Fischen bestimmt. Akute Toxizitätsdaten von etwa 100 Arzneimitteln sind in Übersichtsarbeiten publiziert (Halling-Sorensen et al. 1998; Webb 2001). Generell sind bei den einzelnen Wirkstoffen große Speziesunterschiede zu finden, was für Chemikalien typisch ist (Fent et al. 2006). Bei den verschiedenen Arzneimittelkategorien variiert die akute Toxizität zwischen einzelnen Arzneimitteln, aber auch bei einem einzelnen Wirkstoff in der Regel um 1-3 Größenordnungen zwischen verschiedenen Spezies (Abb. 3). Die größten Artenunterschiede finden sich bei Propranolol und Diazepam. Unter den Analgetika und NSAID zeigt Diclofenac die größte Toxizität und die größten Speziesunterschiede finden sich bei Paracetamol. Beta-Blocker und Lipidsenker sind nicht gut untersucht, die wenigen Daten zeigen eine akute Toxizität im mg/L-Bereich. Unter den neuroaktiven Substanzen hat der Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer Fluoxetin bei Algen eine Toxizität im Bereich von 0,024 bis 2 mg/L (Brooks et al. 2003). Soweit bekannt, weisen 17 % der untersuchten Pharmazeutika eine akute Toxizität unter 100 mg/L auf, bei Fluoxetin hingegen liegen alle Werte weit darunter. Andererseits zeigen 38 % der getesteten Arzneimittel wie z.B. Acelysalicylsäure, Betaxolol, Sotalol, Gemfibrozil, Cimetidin und Ranitidin akute Toxizitätswerte von über 100 mg/L. Bei den restlichen Substanzen ändert sich die akute Toxizität stark zwischen den einzelnen Spezies. Beispielsweise variiert die akute Toxizität um 3-4 Größenordnungen bei Propranolol oder Diazepam. Dies liegt weniger an der Variabilität von Labortests, sondern hauptsächlich an der unterschiedlichen Empfindlichkeit verschiedenen Spezies.
Ökotoxikologische Wirkungen von Pharmazeutikarückständen
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Phytoplankton
Acetylsalicylsäure Salicylsäure Diclofenac Ibuprofen Naproxen Paracetamol Metoprolol Propranolol Atenolol Betaxolol Sotalol Clofibrat Clofibrinsäure Bezafibrat Fenofibrat Gemfibrozil Carbamazepin Diazepam Fluoxetin Metformin Methotrexat Cimetidin Ranitidin Koffein
Benthos Zooplankton Fisch
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Konzentration (mg/L)
Abb. 3. Akute Toxizitätswerte (LC50- und EC50-Werte) verschiedener Pharmazeutika bei verschiedenen Spezies aquatischer Organismen (verändert nach Fent et al. 2006).
Daphnien und Fische scheinen gegenüber der Antibiotikagruppe der makrocyclischen Laktone sehr empfindlich zu sein, variieren doch die EC50-Werte (48 h) von 0,025 Pg/L für Ivermectin bis 45 Pg/L für Eprinomectin (Boxall et al. 2003). In der Regel liegen aber die LC50-Werte im mg/L-Bereich (Halling-Sorensen 2000; Halling-Sorensen et al. 1998). Gewisse Blaualgen reagieren jedoch sehr empfindlich auf Antibiotika. So liegen die EC50-Werte für Amoxicillin und Sarafloxacin bei Microcystis aeruginosa unter 100 Pg/L, diejenige für zwei andere Blaualgen aber 2 bis 3 Größenordnungen höher (Holten-Lützhoft et al. 1999). Das Bakterizid Triclosan hat eine hohe Verbreitung in verschiedensten Produkten. Es findet sich in aquatischen Systemen, in Fischen und sogar in der Muttermilch von bis zu 300 ng/mL (Lipidgewicht) (Adolfsson-Erici et al. 2002). Im Klärschlamm wurden 1 bis 8 mg/kg gefunden (Bester 2003). Triclosan hemmt ein Enzym, das in der bakteriellen Lipidsynthese involviert ist. Die akute Toxizität ist recht hoch; die LC50-Werte liegen für Regenbogenfo-
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Karl Fent
rellen bei 0,35 mg/L, bei Daphnia magna bei 0,39 mg/L und bei Algen wurde ein EC50-Wert von 1,5 Pg/L beschrieben (Ciba 1998). In der Regel wird die akute Toxizität von Arzneimitteln wohl durch eine unspezifische Wirkung auf die Zellmembran und die Zelle als Ganzes hervorgerufen. Diese kann einhergehen mit weiteren spezifischeren Wirkungen wie z.B. oxidativem Stress. Die Membrantoxizität ist meist mit der Hydrophobizität der Substanz korreliert. Infolge ungenügender Datenlage konnte dieser Zusammenhang jedoch bei Arzneimitteln nicht gezeigt werden (Fent et al. 2006). Zusammengefasst kann der Schluss gezogen werden, dass bei den gemessenen Umweltkonzentrationen akute Effekte durch Pharmazeutika wenig wahrscheinlich sind, da die bekannten akuten LC50- und EC50-Werte etwa 100- bis 1000-mal höher liegen. Daher sind akute Wirkungen nur bei Unfällen oder allenfalls an stark kontaminierten Stellen zu erwarten. Auch wenn diese Ergebnisse beruhigend klingen, bleiben weiterhin wichtige Fragen offen: Welche unspezifischen und spezifischen chronischen Wirkungen rufen Arzneimittelspuren bei ständiger Belastung hervor? Wie beeinflussen die Substanzen den Organismus in besonders hormonempfindlichen Entwicklungsstadien wie etwa in der Embryonalentwicklung? Wie wirken die Abbauprodukte der Arzneimittel und welche Kombinationseffekte von Arzneimittelmischungen sind zu erwarten? Damit möchte ich mich im Folgenden befassen. Chronische Toxizität Aquatische Organismen sind ständig und über ihren ganzen Lebenszyklus Pharmazeutikarückständen ausgesetzt, falls ihr Habitat durch Abwasser belastet ist. Daher ist die Langzeitwirkung geringer Arzneimitteldosen von größter ökotoxikologischer Bedeutung. Die aktuelle Datenlage trägt dem jedoch in keiner Weise Rechnung: Die chronische Toxizität von Pharmazeutika ist praktisch nicht bekannt. Die vorhandenen Daten wurden zudem im Rahmen von OECD-Tests gewonnen. Weitergehende Untersuchungen, die auch auf den Wirkungsmechanismus ausgerichtet sind, fehlen weitgehend. Untersuchungen über die Wirkungen in verschiedenen Lebensstadien sind zudem nicht publiziert. Im Folgenden sei die aktuelle Datenlage für verschieden Arzneimittelklassen betrachtet (Abb. 4). Von größter ökotoxikologischer Bedeutung sind Rückstände von natürlichen und synthetischen Steroidhormonen, weil sie in Spurenkonzentrationen von wenigen ng/L bereits unerwünschte Wirkungen auf die Geschlechtsentwicklung, das Geschlechterverhältnis und die Reproduktion von Fischen haben können. In Kläranlagenausläufen auftretende Spuren
Ökotoxikologische Wirkungen von Pharmazeutikarückständen
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von 17D-Ethinylestradiol (EE2) aus der Empfängnisverhütungspille können bei juvenilen und männlichen Fischen zur Induktion des Dottervorläufer-Proteins Vitellogenin führen (Fent 2003; Länge et al. 2001). EE2 ist bei Regenbogenforellen etwa 20- bis 30-mal aktiver als das natürliche Hormon 17E-Estradiol (Brian et al. 2005). Die geringste Effektkonzentration bei Fischen liegt bei 0,1 ng/L EE2 (Purdom et al. 1994). Konzentrationen von 0,1 bis 15 ng/L können die Geschlechtsdifferenzierung und –entwicklung stören (Metcalfe et al. 2001; Van Aerle et al. 2002). Bei Zebrafischen, die in der Embryonalentwicklung an 4 ng/L EE2 exponiert wurden, führte dies zur Entwicklung von zwitterartigen Gonaden, indem im Hodengewebe Oozyten gebildet wurden (sog. Ovotestis). Das Geschlechterverhältnis verschob sich in Richtung Weibchen und die Fekundität wurde negativ beeinflusst (Länge et al. 2001). Eine Exposition von Zebrafischen über zwei Generationen mit 5 ng/L zeigte bei der F0-Generation keine Reduktion des Reproduktionserfolgs. Hingegen wurde bei der F1-Generation eine 56 %ige Reduktion in der Fekundität und ein Populationseinbruch beobachtet, weil keine Befruchtung erfolgte. Ursache war die Störung der Geschlechtsdifferenzierung mit Männchen ohne funktionale Hoden und mit undifferenzierten oder Intersex-Gonaden (Nash et al. 2004). Gerade diese hormonellen Wirkungen im Niedrigdosisbereich mit Populationsauswirkungen sind von großer ökologischer Bedeutung. Trenbolonacetat und E-Trenbolon (Metabolit) finden als Anabolika in den USA in der Rinderaufzucht Verwendung, um ein schnelleres Wachstum zu erzeugen, sie sind in der EU aber verboten. Trenbolonacetat führte bei einer Exposition von weiblichen Dickkopfelritzen mit 30 ng/L zu morphologischen Veränderungen, die für geschlechtsreife Männchen charakteristisch sind. Auch unterhalb von Abschwemmungen von großen Rinderherden werden wildlebende Dickkopfelritzen-Weibchen mit männlichen Merkmalen sowie Männchen mit abnormal kleinen Hoden beobachtet (Wilson et al. 2002). Das antiandrogene Arzneimittel Flutamid und der Aromatase-Hemmer Fadrozol wurden auch in Fischen untersucht. Flutamid reduzierte in männlichen Fischen die sekundären Sexualmerkmale und erniedrigte die Fekundität bei 500 Pg/L (Jensen et al. 2004). Fadozol hemmte das Eierstockwachstum bei Weibchen bei 50 Pg/L und induzierte die Synthese des Dotterproteinvorläufers Vitellogenin bei Männchen (Panter et al. 2004). Die Fekundität wurde nach 21 Tagen bei Konzentrationen von 10 Pg/L reduziert (Ankley et al. 2002).
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Karl Fent NOEC NOEC NOEC NOEC LOEC LOEC LOEC LOEC
Acetylsalicylsäure Salicylsäure Diclofenac Ibuprofen Naproxen
Phytoplankton Benthos Zooplankton Fisch Phytoplankton Benthos Zooplankton Fisch
Propranolol Clofibrat Clofibrinsäure Carbamazepin Fluoxetin
0 00 10 00 10 0 10
10
1 1 0. 01 0. -3 1E -4 1E
Konzentration (mg/L) Abb. 4. Chronische Toxizität von Pharmazeutika bei verschiedenen aquatischen Organismen. Dargestellt sind die lowest observed effect concentrations (LOEC) und no observed effect concentrations (NOEC) für verschiedene Organismengruppen mit verschiedenen Spezies (verändert nach Fent et al. 2006).
Acetylsalicylsäure aus der Gruppe der NSAID beeinträchtigte bei einer Konzentration von 1,8 mg/L die Reproduktion von Daphnien (Marques et al. 2004a, b). Eine chronische Exposition von Regenbogenforellen über 28 Tage an Diclofenac hat histopathologische Effekte zur Folge. Bei der tiefsten Effektkonzentration von 5 Pg/L zeigen sich Schädigungen der Niere (Degeneration von Tubulusepithel, interstitielle Nephritis) und Schädigungen in den Kiemen (Schwaiger et al. 2004). Bei 1 Pg/L sind schon geringe Veränderungen in der Zelle feststellbar (Triebskorn et al. 2004). Damit scheinen Kiemen und Nieren bei Langzeitexposition mit Diclofenac beeinträchtigt zu werden. Die Niere ist auch Zielorgan bei den Geiern auf dem Indischen Subkontinent, wo schwere Gicht und Harnsäureablagerungen im Magen-Darmtrakt mit Todesfolge auftreten (Oaks et al. 2004). Der Beta-Blocker Propranolol wirkt nicht nur auf das Herzkreislaufsystem, sondern hat auch Effekte auf die Reproduktion. Ceriodaphnia dubia zeigt eine reduzierte Reproduktion bei 250 Pg/L und Hylalella azteca bei 100 Pg/L (Huggett et al. 2002). Auch bei Fischen treten Reproduktionseinbussen und Veränderungen der Steroidhormonwerte auf. Das Fisch-
Ökotoxikologische Wirkungen von Pharmazeutikarückständen
139
wachstum war bei 500 Pg/L reduziert. Die Anzahl Eier und die Schlüpfrate waren schon bei 0,5 Pg/L reduziert. Diese Konzentrationen liegen im Bereich von Abwasserkonzentrationen von 1,9 Pg/L (Huggett et al. 2003). Die „Lowest observed effect concentration“ (LOEC) und die „No observed effect concentration“ (NOEC) von Pharmaka bei verschiedenen Spezies variieren um mehrere Größenordnungen (Abb. 4). Bei den Lipidsenkern wurde vor allem Clofibrinsäure untersucht, wo ein NOEC bei Rädertierchen von 246 Pg/L, bei Daphnien von 640 Pg/L und bei Fischen von 70 mg/L gefunden wurde (Ferrari et al. 2003). Beim Antiepileptikum Carbamazepin liegt der NOEC von Ceriodaphnia dubia bei 25 Pg/L (LOEC bei 100 Pg/L) und bei Frühstadien von Fischen bei 25 mg/L (LOEC bei 50 mg/L) (Ferrari et al. 2003). Der Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer Fluoxetin führt bei Zebramuscheln bei extrem tiefen Konzentrationen von 0,3 Pg/L zur vorzeitigen Abgabe der Larven (Fong et al. 1998). Eine Stimulation der Reproduktion wurde bei Daphnia magna bei 36 Pg/L Fluoxetin beobachtet. Bei Ceriodaphnia dubia wurde die Fekundität reduziert (Brooks et al. 2003). Auch bei Fischen scheinen diese Wirkstoffe die Fortpflanzung zu beeinflussen (Cerda et al. 1998), was aber andere Studien nicht bestätigen konnten (Foran et al. 2004). Die chronische Toxizität von Antibiotika ist ebenfalls schlecht untersucht. Frühstadien von Fischen reagieren beispielsweise empfindlich auf das Bakterizid Triclosan. Der LC50-Wert (96 h) liegt bei Larven bei 602 Pg/L, die Schlüpfrate ist jedoch schon bei 313 Pg/L reduziert (Ishibashi et al. 2004). Bei Männchen wird schon bei 20 und 100 Pg/L Vitellogenin induziert, was vermutlich auf einen estrogenen Metaboliten zurückzuführen ist. Im Weiteren können von Nutztieren ausgeschiedene Antibiotika und Antiparasitika für die Dungfauna toxisch sein. Ivermectin und Doramectin im Dung und Monesin in Böden können in Konzentrationen auftreten, welche für gewisse Spezies toxisch sind (Boxall et al. 2003). Die Antibiotikarückstände in Abwasser, Oberflächengewässern und Böden haben eine Förderung von Antibiotika-Resistenzen bei Bakterien zur Folge, was letztlich auch für den Menschen Folgen haben könnte (Guardabassi et al. 1998; Nygaard et al. 1992; Witte 1998).
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Karl Fent
Wirkungen in Modellökosystemen Nur sehr beschränkt wurden bisher Arzneimittel in ökologisch realistischeren experimentellen Modellökosystemen untersucht. In Freilandsystemen zeigte sich eine phytotoxische Wirkung bei Atorvastatin (Lipidsenker) und dem Antibiotikum Ciprofloxacin (Brain et al. 2004). In Mikrokosmen mit Phyto- und Zooplankton wurde eine Mischung von Ciprofloxatin, Ibuprofen und Fluoxetin für 35 Tage untersucht (Richards et al. 2004). Bei mittleren (60 bis 100 Pg/L) und hohen Konzentrationen (600 bis 1000 Pg/L) war die Abundanz und Anzahl von Planktonorganismen negativ beeinflusst. Unerwartet hoch war die Mortalität der Fische und Pflanzen, die in diesen Modellsystemen ebenfalls vorhanden waren. Veränderungen der Artenabundanz und reduzierte Biodiversität haben wichtige ökologische Auswirkungen. Diese Arzneimittel treten jedoch in Gewässern in wesentlich tieferen Konzentrationen von bis zu 1 Pg/L auf und daher scheint es weniger wahrscheinlich, dass solche Effekte in Gewässern auftreten könnten. Jedoch treten alle Effekte bei wesentlich tieferen Werten auf als die pharmakologisch wirksame Konzentration in Säugern.
Toxizität von Arzneimittelmischungen Bisher gibt es nur wenige Studien, welche die Frage der Kombinationswirkung von Pharmazeutikamischungen untersuchten. Es sind dies Toxizitätstests mit Algen und Daphnien. Eine Mischung von NSAID (Diclofenac, Ibuprofen, Naproxen, Acetylsalicylsäure) zeigt toxische Wirkungen bei solchen Konzentrationen, bei der der einzelne Wirkstoff keine oder nur geringe Effekte zeigte (Cleuvers 2003, 2004). Die kombinatorische Wirkung folgte nach dem Prinzip der Konzentrationsaddition, d.h. die Konzentrationen der einzelnen Substanzen addierten sich zur Gesamtwirkung. Die Wirkung ergab sich aus den aufsummierten Konzentrationen und somit kann jede Substanz die andere prinzipiell ersetzen. Mischungen können damit in ihrer Aktivität stärker sein, als die Wirkung ihrer Einzelstoffe erwarten lässt. Beispielsweise machten bestimmte Konzentrationen der Clofibrinsäure (Abbauprodukt verschiedener Cholesterinsenker) und des Antiepileptikums Carbamazepin einzeln jeweils 1 % beziehungsweise 16 % von Daphnien bewegungsunfähig. Die in den gleichen Konzentrationen gemischten Wirkstoffe legten dagegen 95 % der Daphnien lahm (Cleuvers 2003). Die akute Toxizität einer Mischung von Stoffen mit unterschiedlichem Wirkungsmechanismus (Clofibrinsäure, Carbamazepin, Ibuprofen, Propranolol, Metoprolol, Diclofenac, Naproxen, Captopril,
Ökotoxikologische Wirkungen von Pharmazeutikarückständen
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Metformin) zeigte, dass sich die Stoffe in Algen ebenso nach dem Prinzip der Konzentrationsaddition verhielten, hingegen war der Effekt in Daphnien stärker (Cleuvers 2003). Generell kann angenommen werden, dass sich die Mischungen der einzelnen Substanzen nach dem Prinzip der Konzentrationsaddition verhalten. Das bedeutet unter anderem, dass Stoffe in der Kombination eine Wirkung zur Folge haben können, auch wenn sie als Einzelstoff keine Wirkung hervorrufen, also unter dem NOEC-Wert liegen. Dies hat Konsequenzen für die Risikoanalyse, denn die Stoffe treten ja als Mischungen in der Umwelt auf.
Vergleich von Umwelt- und Wirkungskonzentrationen Häufig wird das Umweltrisiko abgeschätzt durch einen Vergleich der geschätzten Umweltkonzentration (Predicted Environmental Concentration, PEC) mit der geschätzten Konzentration, die keine Effekte zeigt (Predicted No Effect Concentration, PNEC). Hat der Quotient PEC/PNEC den Wert 1 oder ist er höher, muss von einem Umweltrisiko ausgegangen werden, andernfalls ist das Umweltrisiko gering. Das Hauptproblem der Risikoanalyse liegt jedoch darin, dass kaum Daten über die chronische Toxizität eines Arzneimittels vorliegen. Vermutlich sind Daten von weniger als 1 % der Stoffe publiziert und nur ein kleiner Teil auch der neuen Pharmazeutika wurde einer Risikoanalyse mittels Ökotoxizitätstests unterzogen (Sanderson et al. 2003). Die Abbildungen 5 und 6 zeigen eine Zusammenfassung und einen Vergleich der Daten über die maximale Konzentration von Arzneimitteln im geklärten Abwasser und den chronischen LOEC- und NOEC-Werten. Dies erlaubt in pragmatischer Weise eine ökotoxikologische Priorisierung von Pharmazeutika. Beim synthetischen Steroidhormon EE2 liegen die Konzentrationen im Kläranlagenablauf und in stark kontaminierten Gewässern im Wirkungsbereich. Estrogene Effekte oder gar negative Wirkungen auf die Reproduktion können daher bei Fischen auftreten. Die LOEC-Werte der anderen Pharmazeutika liegen meist um 1 bis 2 Größenordnungen höher als die maximal in Kläranlagenausläufen gemessenen Werte, bei den NOEC-Werten sind es etwa zwei Größenordnungen. Lediglich bei Diclofenac liegt die LOEC für Fische im Bereich der Abwasserkonzentration, wohingegen der LOEC von Propranolol und Fluoxetin für Zooplankton und benthische Organismen in der Nähe der maximalen Abwasserkonzentrationen liegt.
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Max. Kläranlagenauslauf Acetylsalicylsäure
Phytoplankton Benthos Zooplankton Fisch
Salicylsäure Diclofenac Propranolol Clofibrinsäure Carbamazepin Fluoxetin Ethinylestradiol
0 00 10 00 100 10 10 1 1 0. 1 0 0. -3 1E-4 1E-5 1E - 6 1E-7 1E-8 1E
Konzentration (mg/L) Abb. 5. Vergleich von gemessenen maximalen Abwasserkonzentrationen und lowest observed effect concentrations (LOEC) verschiedener Pharmazeutika bei verschiedenen Organismengruppen bestehend aus verschiedenen Spezies (verändert nach Fent et al. 2006).
Dies macht deutlich, dass der Sicherheitsabstand gering ist und in stark kontaminierten Standorten chronische Wirkungen nicht ausgeschlossen werden können, vor allem dann, wenn man beachtet, dass in der Regel weitere Pharmazeutikarückstände in kombinatorischer Weise mitberücksichtigt werden müssen. Die mittleren Konzentrationen einzelner Arzneimittelrückstände liegen jedoch tiefer und damit auch das Toxizitätsrisiko. Zusammengefasst muss aber beachtet werden, dass noch viel zu wenig Kenntnisse über die chronische Toxizität von Pharmazeutika bestehen, insbesondere auch über ihr Bioakkumulationspotential. Daher ist es noch nicht möglich, eine ökologische Risikoanalyse und abschließende Risikobewertung vorzunehmen. Neben den synthetischen Steroidhormonen lassen sich auch einige weitere Arzneimittel als potentiell risikobehaftet identifizieren.
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Max. Kläranlagenauslauf Phytoplankton Benthos Zooplankton Fisch
Acetylsalicylsäure Salicylsäure Diclofenac Ibuprofen Naproxen Propranolol Clofibrinsäure Carbamazepin Fluoxetin Ethinylestradiol
0 00 1000 100 10 10 1 1 0. 1 0 0. -3 1E- 4 1E- 5 1E- 6 1E- 7 1E- 8 1E
Konzentration (mg/L) Abb. 6. Vergleich von gemessenen maximalen Abwasserkonzentrationen und no observed effect concentrations (NOEC) verschiedener Pharmazeutika bei verschiedenen Organismengruppen bestehend aus verschiedenen Spezies (verändert nach Fent et al. 2006).
Regulatorische Aspekte Veterinärpharmaka müssen im Rahmen der Zulassung in den USA schon seit 1981 ökotoxikologische Untersuchungen durchlaufen. In der EU ist mit der Richtlinie 91/414/EWG ein genaues Prüfschema und die zu leistenden Prüfungen vorgeschrieben. Neue Humanpharmaka müssen seit 1993 auf Umweltauswirkungen hin beurteilt werden, die alten und neueren Versionen der entsprechenden Richtlinien verlangen akute oder chronische Tests. Diese Vorschriften sind zwar rechtlich noch nicht bindend. Die Direktive 2004/27/EC verlangt eine Evaluation des Umweltrisikos eines Medizinalproduktes und gilt besonders für neue Stoffe. Dazu kommt, dass die Aktivsubstanzen vor dem Hintergrund der EU-Richtlinie 92/32/EWG über Klassierung und Einstufung von gefährlichen Substanzen auf einstufungsrelevante Eigenschaften geprüft werden müssen. Die U.S. EPA hingegen
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verlangt eine Umweltbeurteilung des Wirkstoffes, wenn seine Konzentration im Kläranlagenauslauf 1 Pg/L beträgt. Der Entwurf einer neuen Richtlinie sieht eine vertiefte ökotoxikologische Prüfung der Humanarzneimittel vor, wenn die Wirkstoffkonzentration mindestens 10 ng/L im Oberflächenwasser beträgt (EMEA 2005). Dabei wird in einem stufenweisen Konzept zuerst die Exposition abgeschätzt und bei erwarteten Wasserkonzentrationen von 10 ng/L sollen StandardToxizitätstests (Algentoxizität, Daphnienreproduktion, Fischtest mit Frühstadien) sowie Umweltverbleibetests durchgeführt werden, um das Umweltrisiko mit Hilfe von Sicherheitsfaktoren abzuschätzen. In einer nächsten Stufe kommen weitergehende Tests zur Bioakkumulation und Toxizitätstests bei terrestrischen Organismen zum Zuge. Diese geplante neue Regelung würde eine wesentliche Verbesserung der Umweltbeurteilung von Arzneimitteln bringen.
Diskussion und Schlussfolgerungen Pharmazeutika werden zunehmend in klassischen akuten Toxizitätstests mit Algen, Daphnien und Fischen auf ihre möglichen Umweltwirkungen untersucht. Dabei werden jedoch nur selten chronische Toxizitätsuntersuchungen durchgeführt, insbesondere fehlen sie weitgehend bei Fischen. Da aber die OECD-Tests nur wenige Labororganismen umfassen, die zudem nicht unbedingt zu den empfindlichsten Organismen gehören, ist es schwierig, weitergehende Schlüsse über die mögliche Umweltgefährdung durch Pharmazeutikarückstände zu ziehen. Die chronischen Wirkungen von Chemikalien sind allgemein noch wenig erforscht, nicht nur bei Arzneimitteln. Denn Langzeittests sind aufwendig und teuer und außerdem fehlen vielfach die geeigneten Methoden. Deshalb wird manchmal versucht, von den einfacher zu untersuchenden akuten Wirkungen bei Algen und Daphnien auf die Langzeitwirkungen zu schließen, indem ein Sicherheitsfaktor angewandt wird. Dieses Verfahren ist jedoch inadäquat und entbehrt der toxikologischen Grundlage, denn es lassen sich keine chronischen Wirkungen aus akuten ableiten. Zudem fehlen Untersuchungen, die spezifische Toxizitätsparameter berücksichtigen. Diese würden wertvolle Hinweise auf eine mögliche unerwünschte Wirkung von Pharmazeutika liefern. Für eine Risikoanalyse ist gerade die Betrachtung spezifischer Zielorgane sowie der chronischen Wirkungen wesentlich. Zukünftige Untersuchungen sollten daher vermehrt auf den Wirkungsmechanismus gerichtet sein. Dabei ist die Kenntnis der Nebenwirkungen beim Menschen sehr hilfreich. Oft, aber nicht immer, be-
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stehen ja homologe Zielmoleküle und zelluläre Strukturen, auf welche Arzneimittel bei Mensch und Tier ausgerichtet sind. Beispielsweise sind die Steroidhormonrezeptoren, PPAR, Adrenozeptoren oder Insulinrezeptoren bei niederen Wirbeltieren und Wirbellosen homolog zum Menschen (Escriva et al. 1997; Navarro et al. 1999; Nickerson et al. 2001). Dass daher von gleichen oder zumindest ähnlichen Wirkungen bei Fischen wie beim Menschen ausgegangen werden kann, ist eine zentrale Hypothese. Im Falle von Diclofenac hat sich diese als richtig herausgestellt, da ähnliche Effekte bei Fischen, Geiern und Mensch auftreten. Solche gezielteren Untersuchungen sind besser geeignet, das ökologische Risikopotential einer Wirksubstanz zu erfassen, als dies unspezifische akute Toxizitätstests tun. Trotzdem muss aber beachtet werden, dass auch unerwartete Effekte auftreten können, die sich aufgrund der großen biologisch-physiologischen Unterschiede zwischen Tieren einerseits, und zwischen Tier und Pflanze andererseits ergeben. Als Konsequenz sollten neue Untersuchungen x auf die spezifischen Zielmoleküle und Zielorgane gerichtet sein x die bekannten Nebenwirkungen beim Menschen berücksichtigen x die Speziesunterschiede in Biologie, Physiologie und Ökologie in Betracht ziehen. Diese Strategie führt meiner Meinung nach zu spezifischeren Aussagen über die möglichen Wirkungen und Umweltgefährdung von Arzneimittelrückständen als die klassischen Toxizitätstests allein. So sollte bei den antiinflammatorischen Arzneimitteln die Hemmung der Prostaglandinsynthese und der COX-Enzyme betrachtet werden. Bei Herz-Kreislauf-Medikamenten sollte auch die Wirkung auf den Kreislauf von Wirbeltieren untersucht werden. Lipidsenker sollten auch bei niederen Wirbeltieren und Wirbellosen auf ihre Wirkungen auf die PPAR-Induktion, den Lipidstoffwechsel und die Hemmung spezifischer Enzyme getestet werden. Medikamente, die in der Tumorchemotherapie Verwendung finden, haben ein mutagenes und kanzerogenes Potential, das bei Tieren in der Natur problematisch sein könnte. Solche Stoffe sollten spezifisch auf diese Wirkungsweise hin untersucht werden. Es muss aber beachtet werden, dass es nicht genügt, allein auf den bekannten Wirkungsmechanismus abzustellen. Es gibt auch unerwartete Effekte. So hat beispielsweise der Beta-Blocker Propranolol Auswirkungen auf Geschlechtshormonwerte bei Fischen und führt zu einer Reduktion der Reproduktion bei Ceriodaphnia dubia und Hylalella azteca (Huggett et al. 2002). Ein anderes Beispiel sind die Wirkungen von Fluoxetin auf die Reproduktion von Weichtieren (Fong 1998). Zudem haben Pharmazeutika oft
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differenzierte Effekte auf verschiedene Zielorgane. Das kompliziert natürlich die Untersuchungsstrategie. Jedoch können viele der unerwarteten chronischen Effekte im Zusammenhang der chronischen Toxizitätstests identifiziert werden, wenn histopathologische Untersuchungen und Reproduktionsauswirkungen mit einbezogen werden. Im Weiteren geben Invitro-Studien bereits wertvolle Hinweise auf das Toxizitätspotential von Pharmazeutika (Fent 2001; Laville et al. 2004). Nicht zuletzt aus Gründen des Tierschutzes sollten vermehrt In-vitro-Analysen und In-vitro-Tests zur Beurteilung der Toxizität von Pharmazeutika herangezogen werden (Hutchinson et al. 2003). Die gegenwärtige Kenntnis der Umweltkonzentrationen von Arzneimittelrückständen lässt den Schluss zu, dass akute Effekte nicht zu erwarten sind, es sei denn bei Unfällen. Die Umweltkonzentrationen sind um mindestens 3 Größenordnungen tiefer als die entsprechenden LC50-Werte. Generell fehlen aber Untersuchungen zur chronischen Toxizität. Bei den Langzeitwirkungen fallen vor allem diejenigen des synthetischen Steroidhormons Ethinylestradiol ins Gewicht, denn die negativen Effekte auf die Reproduktion zeigen sich schon bei Konzentrationen, die im Abwasser und zum Teil in Oberflächenwässern gefunden werden. Aufgrund unserer jetzigen Kenntnisse scheinen bei den meisten anderen untersuchten Arzneimitteln die Konzentrationen der Einzelstoffe aber zu gering, um chronische Wirkungen wie Hemmung des Algenwachstums oder Reproduktionseffekte auf Daphnien in Oberflächengewässern zu zeigen. Hingegen gilt das nicht für alle Arzneimittelrückstände, zudem sind chronische Wirkungen auf Fische meist unbekannt. Bei Dicofenac sind hingegen Wirkungen auf Fische bei solchen Konzentrationen gefunden worden, die den maximalen Abwasserkonzentrationen entsprechen. Für Propranolol und Fluoxetin sind Effekte auf Zooplankton und Wirbellose bei Werten gefunden worden, die den Abwasserkonzentrationen nahe liegen. Ob auch für andere Pharmazeutika der Sicherheitsabstand zwischen Umweltkonzentration und Effektkonzentration so eng ist, müssen zukünftige Studien zeigen. Antibiotika haben die Resistenzbildung bei Mikroorganismen zur Folge. Vertiefte ökotoxikologische Untersuchung von Arzneimitteln, wie dies für die Zukunft vorgeschlagen wird (EMEA 2005), ist sicher ein wichtiger Schritt zur Abschätzung der Umweltverträglichkeit von Arzneimitteln. Wichtig für die Risikoanalyse ist auch die Kombinationswirkung von Arzneimittelrückständen, da dies ja die normale Umweltsituation darstellt. Die Wirkung erfolgt in der Regel nach dem Prinzip der Konzentrationsaddition (Cleuvers 2003). Eine wichtige Konsequenz daraus ist die Tatsache, dass Effekte der Gesamtheit der Arzneimittelrückstände trotzdem auftreten können, obwohl das einzelne Arzneimittel keine Wirkung erzeugt. Mischungen können damit teilweise stärker schädigen, als die Wirkung ihrer
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Einzelstoffe erwarten lässt. Im ökologischen Kontext sind aber auch unscheinbare Wirkungen wie etwa auf das Wachstum, Verhalten oder die Reproduktion wichtig, da sie die Überlebensfähigkeit nicht nur eines Individuums, sondern auch der Population beeinträchtigen können. Dies kann letztlich zu schwerwiegenden Effekten auf der Populationsebene führen, wie das extreme Beispiel des Populationseinbruchs bei den Geiern auf dem Indischen Subkontinent zeigt. Heute wissen wir noch zu wenig über die chronischen Wirkungen von Arzneimittelrückständen, um das Umweltrisiko dieser biologisch aktiven Stoffe abzuschätzen. Daher ist die ökotoxikologische Wirkungsforschung über potentiell kritische Pharmazeutika, besonders über solche, die aufgrund ihrer Persistenz und ihrem Konsum in relativ hohen Konzentrationen in der Umwelt auftreten, unbedingt nötig.
Dank Danken möchte ich D. Caminada und A. Weston für die wertvolle Mithilfe bei der Datenbeschaffung und für die Graphiken, Dr. J. O. Straub (F. Hoffmann-La Roche Ltd.), Dr. A. Hartmann (Novartis International AG) und Dr. H. Galicia (Springborn Smithers Laboratories (Europe) AG) für die Unterstützung und Durchsicht des Manuskripts. Die Forschungsarbeit wird durch das Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT), KTI-Projekt 7114.2 LSPP-LS, F. Hoffmann-La Roche Ltd., Novartis International AG und Springborn Smithers Laboratories (Europe) AG unterstützt.
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Arzneimittelrückstände und Gewässerschutz Harald Irmer, Hans-Dieter Stock, Rolf Reupert, Annegret Hembrock-Heger Landesumweltamt Nordrhein-Westfalen, Essen
Einleitung Sieht man von einzelnen Berichten über den Eintrag von Arzneimittelwirkstoffen in die Oberflächengewässer der Bundesrepublik Deutsch-
land aus den 70’er Jahren einmal ab, wurden die Forschungen und Erhebungen zu Arzneimittelrückständen erst Anfang bis Mitte der 90’er Jahre intensiviert. Die erste größere Studie von allgemeinem Interesse war die Untersuchung von Stan et al. (1994) und Stan und Linkenhägner (1992) über den Verbleib und das Auftreten von Clofibrinsäure in den Berliner Gewässern. Dieser Bericht, der dem Bund-Länderarbeitskreis-Chemikaliensicherheit (BLAC) vorgelegt wurde, löste dort die Fragestellung aus, ob es sich um Einzelbefunde handelt. Daraufhin beschloss im Jahr 1998 die 51. Umweltministerkonferenz, ein repräsentatives Messprogramm in Deutschland durchzuführen. Dieses wurde in den Jahren 2000/2001 durchgeführt, die Ergebnisse wurden im November 2003 veröffentlicht (BLACBericht 2003). Eine der wichtigen Erkenntnisse aus diesem Messprogramm war, dass es einen allgemeinen Eintrag von Arzneimittelwirkstoffen in die Gewässer gibt, der sich aus der Anwendung ableiten lässt. Dabei ist für sehr viele Wirkstoffe eine Konzentrationsverminderung vom Zulauf bis zum Ablauf der Kläranlage durch Abbau und Adsorption in der Kläranlage sowie Verdünnung im Oberflächengewässer bis in das Uferfiltrat feststellbar. Ob diese Elimination für den Schutz der Gewässer ausreicht, kann nur stoff- und einzelfallbezogen geklärt werden. Das Grundwasser war aber in den meisten untersuchten Fällen nicht belastet.
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H. Irmer, H.-D. Stock, R. Reupert, A. Hembrock-Heger
Humanpharmaka
Veterinärpharmaka
Mensch
Produktion
Tier
Entsorgung
Abbau im Organismus
Abbau Abbau im im Organismus Organismus
Abwasser
Hausmüll
Kläranlage
Deponie
Abbau, Sorption
Klärschlamm
Gülle, Stallmist, Geflügelkot
Stabilisierung Abbau
Lagerung
Lagerung
Abbau
Abbau Abbau
Deponiegeklärtes Wirtschaftsdünger Klärschlamm sickerwasser Abwasser
Boden
ng, mmu chwe rung ÜbeBrsewässe ung m m hwe Absc
Oberflächenwasser
Au sw asc hu ng
Bakterien, Pflanzen, Tiere
Grundwasser
Abbau, Sorption,Verdünnung
Abbau, Sorption,Verdünnung
Aufbereitung
Trinkwasser Medien Umweltkompartimente
Mensch
Abb. 1. Übersicht zum Eintrag von Arzneimitteln in die Umwelt und deren Verbleib.
Zulassungen von Humanarzneimitteln und Veterinärarzneimitteln unterliegen unterschiedlichen Anforderungen und somit auch unterschiedlichen rechtlichen Regelungen in Bezug auf die zu berücksichtigenden Schutz-
Arzneimittelrückstände und Gewässerschutz
157
güter. Somit ergeben sich auch Unterschiede in den Möglichkeiten, ihren Einfluss auf den Boden und die Gewässer zu begrenzen. Weitere Betrachtungen führen zur Unterscheidung nach Wirkstoffen: Einerseits können Humanarzneimittelwirkstoffe über den Abwasserpfad und die kommunalen Kläranlagen in die Gewässer gelangen, andererseits können Veterinärarzneimittel-Rückstände direkt durch Ausscheidung von Weidetieren oder über Wirtschaftsdünger (Gülle, Mist, Jauche) in Böden und weiter ins Grundwasser gelangen oder durch oberflächliche Abschwemmung und Drainagen in Oberflächengewässer eingebracht werden. Ein Teil der in den Oberflächengewässern enthaltenen Arzneimittelrückstände kann bei Hochwasser in Überschwemmungsgebiete eingetragen werden und belastet Böden und das Grundwasser. Die bedeutsamen Wege und Belastungspfade zum Eintrag von Arzneimitteln in die Umwelt verdeutlicht Abbildung 1.
Humanarzneimittel Humanarzneimittel gelangen aus folgenden Quellen in die Umwelt: Über den Abwasserpfad aus der Produktion, aus der Anwendung in Haushalten und in Krankenhäusern oder in speziellen Fällen über das Sickerwasser aus Deponien. Die Einleitung erfolgt aus Kläranlagen und nur in bestimmten Situationen auch aus Mischabwasserabschlägen des Kanalnetzes. Einer der Haupteintragspfade für Humanarzneimittel ist die Einleitung über das häusliche Abwasser in die Gewässer. Humanarzneimittel gelangen in der Regel über die natürlichen Ausscheidungen wie Urin oder Faeces in das Abwassersystem. Neben der medizinischen Anwendung stellt auch die Entsorgung ungenutzter Produkte über die Toilette einen nicht zu vernachlässigenden Anteil am Eintrag von Arzneimitteln in das Abwasser dar. Zahlreiche Untersuchungen zum Vorkommen von Arzneimittelrückständen im ungereinigten und gereinigten Abwasser belegen, dass viele pharmakologisch wirksame Substanzen in der Kläranlage nur unzureichend abgebaut werden. Sie gelangen anschließend mit dem gereinigtem Abwasser in die Oberflächengewässer oder an Klärschlamm adsorbiert auf vorwiegend landwirtschaftlich genutzte Flächen und auf Deponien. Von den mit Klärschlamm beaufschlagten Flächen können die Arzneimittel durch Abschwemmung und Drainagen in Oberflächengewässer oder durch Versickerung in das Grundwasser eingetragen werden. Darüber hinaus kann das Grundwasser auch durch die weit verbreiteten Leckagen in Abwasserleitungssystemen und Kläranlagen kontaminiert werden.
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H. Irmer, H.-D. Stock, R. Reupert, A. Hembrock-Heger
Dass die Einleitung von Produktionsabwässern nur punktuell eine Rolle spielt, im allgemeinen aber eher von untergeordneter Bedeutung ist, ergibt sich aus den Frachtschätzungen, die im Rahmen des o. g. BLACMessprogrammes (BLAC 2003) durchgeführt wurden. Phenazon ist ein Sonderfall: Aufgrund der Befunde in NRW 2005 handelt es sich bei der in Bad Honnef gemessenen Fracht an Phenazon offensichtlich um eine produktionsbedingte Belastung. Zwischen der Rheinwasserkontrollstation Bad Honnef im Süden von NRW und KleveBimmen/Lobith im Norden ergibt sich für die meisten Arzneimittelwirkstoffe, die in den Kläranlagen nicht oder nur schlecht abgebaut werden, durch die Restmengen aus der Anwendung eine deutliche Zunahme. Dagegen nimmt Phenazon, obwohl nur mäßig bis schlecht abbaubar, auf der Rheinstrecke in NRW ab. Phenazon hat überdies dort ein gegenüber anderen Arzneimittelwirkstoffen atypisches Muster der Konzentrationen. Daraus resultiert, dass dieser Wirkstoff nicht aus der Anwendung, sondern aus der Produktion in den Rhein gelangt, zumal der Hauptproduzent als Oberlieger von NRW in den Rhein einleitet. Die Abnahme der Konzentrationen ist ein reiner Verdünnungseffekt. Weitere Untersuchungen betreffen die Abwässer einiger Produzenten in NRW an Lippe und Wupper. Die hier in Einzeluntersuchungen ermittelten Konzentrationen dienten vorwiegend der Verbesserung der Rückhaltetechnik der Betriebe. In allen Fällen konnten in Zusammenarbeit der Behörden mit den Betreibern vorhandene Techniken optimiert und damit ein verbesserter Gewässerschutz erzielt werden. Erhebliche Mengen der Stoffe Carbamazepin, Ofloxacin und Phenazon gelangen über Abläufe kommunaler Kläranlagen in die Gewässer. Sie metabolisieren nur sehr schlecht im menschlichen Körper, in Kläranlagen werden sie biologisch kaum abgebaut und lagern sich auch nicht am Schlamm an. Von diesen Wirksubstanzen konnten etwa 15 bis 25 % der verkauften Mengen im Rhein wieder gefunden werden. Sie stammen aus der Anwendung bzw. Entsorgung und nicht aus der Produktion. Bei den übrigen nachgewiesenen Stoffen handelt es sich ebenfalls um schwer abbaubare Verbindungen, die mit 1 bis 10 % der Verkaufsmengen nachgewiesen werden konnten. Im Zulauf zu den Kläranlagen werden erwartungsgemäß größere Konzentrationen gemessen. Dieses Rohabwasser wird bei größeren Regenereignissen in den Mischkanalisationen über Regenrückhalteeinrichtungen gespeichert und danach zum größten Teil zur Kläranlage geleitet. Nur bei lang anhaltendem Regen oder bei besonderem Starkregen kann es zum Abschlag von ungereinigtem Abwasser in die Gewässer kommen. Wenn wir davon ausgehen, dass wir im Kläranlagenzulauf das 3 bis 10fache der Konzentration des Ablaufes vorfinden und dies auch die Konzentration ist, die über den Mischabwasserabschlag unmittelbar in die Gewässer einge-
Arzneimittelrückstände und Gewässerschutz
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tragen wird, so kann man über das Verhältnis der abgeschlagenen Mengen zu den behandelten Mengen ermitteln, dass z. B. von den ca. 1.500 kg/a Sulfamethoxazol (einem Antibiotikum), die in die Gewässer NordrheinWestfalens eingebracht werden, etwa 17 % aus Mischabwasserabschlägen stammen. Dieses Verhältnis ist bei den gut abbaubaren Stoffen allerdings noch ungünstiger. Zum Beispiel ist beim Ibuprofen, das einen sehr guten Abbau aufweist, die durch die Mischabwasser-Entlastung in die Gewässer eingetragene Fracht die dominante. Nach Schätzungen werden etwa 300 kg/a nach der Behandlung in kommunalen Kläranlagen in die Gewässer eingeleitet, dagegen die doppelte Menge ungereinigt aus den Mischabwasserabschlägen. Dies zeigt die Notwendigkeit auf, die Mischabwasserabschläge vor der Einleitung in ein Gewässer zu behandeln. Techniken, die gezielt auch den Arzneimittel-Abbau angehen, wurden bereits in F+EVorhaben des Landes NRW (Werres et al. 2005) erarbeitet und könnten auf der Versuchsanlage des LUA in Neuss optimiert werden. Untersuchungen an den Medizinischen Einrichtungen der Universität Bonn (MEB) (1999 bis 2002) gingen davon aus, dass gerade im Krankenhausbereich Antibiotika in größeren Mengen eingesetzt werden und punktuell in die Kläranlagen gelangen (Färber et al. 2001). Da die MEB an die Kläranlage Bonn-Nord angeschlossen sind und dort das Abwasser aus den Krankenhauseinrichtungen einen nennenswerten Beitrag zum gesamten Abwasser darstellt, wurden die Untersuchungen von den Anfallstellen (Sammler im Bereich der medizinischen Einrichtungen) über den Zulauf zur Kläranlage, den Ablauf der Kläranlage bis in den Rhein verfolgt. Im Anschluss an die Verdünnung im Rhein wurden dann noch weitere Untersuchungen hinsichtlich des Verbleibs einzelner Arzneimittel über das Uferfiltrat bis zum Rohwasser der Trinkwassergewinnung durchgeführt. Die Ergebnisse zeigten, dass es einzelne Stoffe gibt, die nicht oder nur sehr schlecht in kommunalen Kläranlagen abgebaut werden, dass aber das Gros der eingesetzten Wirkstoffe in kommunalen Kläranlagen in deutlichem Maße reduziert wird (s. Abb. 2). Stoffe, die nach diesen Untersuchungen mit besonderer Aufmerksamkeit belegt werden sollten, waren insbesondere die Makrolide Sulfamethoxazol und Trimetoprim, die im Bereich der Antibiotika als Kombinationspräparat eingesetzt werden. Diese Stoffe konnten von einem verminderten Abbau in der Kläranlage über das Rheinwasser bis ins Grundwasser (Uferfiltrat) nachgewiesen werden.
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H. Irmer, H.-D. Stock, R. Reupert, A. Hembrock-Heger
Abb. 2. Konzentration ausgewählter Antibiotika in Abwasser, Oberflächenwasser und Uferfiltrat.
Eine der weiteren Punktquellen sind die alten Hausmülldeponien. Hier liegen etliche Kilogramm bis Megagramm Arzneimittel aus häuslichen Abfällen, die über das Sickerwasser in den Abwasserpfad eingetragen werden. Alte undichte Deponien zeigen nach ersten Untersuchungen auch einen nachweisbaren Eintrag ins Grundwasser. Wird aber das Sickerwasser gezielt aufgefangen und einer Behandlung mit Umkehrosmose bzw. einer Aktivkohlefiltration zugeführt, lassen sich die Einträge deutlich vermindern (BLAC-Bericht 2003).
Arzneimittelrückstände und Gewässerschutz
161
Veterinärarzneimittel Veterinärarzneimittel gelangen mit den Ausscheidungen der Tiere als Wirtschaftsdünger (Gülle, Mist, Jauche) auf landwirtschaftliche Flächen bzw. werden von den Tieren in Weidehaltung unmittelbar in die Umwelt ausgeschieden. Von den mit Wirtschaftsdüngern beaufschlagten Flächen können Veterinärarzneimittel durch oberflächliche Abschwemmung und Drainagen in Oberflächengewässer und/oder durch Versickerung in das Grundwasser eingetragen werden. Ein Teil der in den Oberflächengewässern enthaltenen Veterinärarzneimittel kann, wie Humanarzneimittel und alle anderen in Oberflächengewässern enthaltenen Stoffe, bei Hochwasser in Überschwemmungsgebiete eingetragen werden und somit in Böden und ins Grundwasser gelangen. Bundesweite Erhebungen zu Verkaufsmengen von Veterinärarzneimitteln liegen nicht vor. Es bestehen also erhebliche Informationsdefizite darüber, in welchen Mengen Arzneimittel in der Nutztierhaltung in Deutschland eingesetzt werden. Ein Unsicherheitsfaktor bei der Erhebung der Mengen von Veterinärarzneimitteln ist der Einsatz von "pharmakologisch wirksamen Futterzusatzstoffen". Der Begriff ist EU-rechtlich nicht eindeutig definiert. Es handelt sich hier um ausgesuchte antimikrobielle Substanzen (Antibiotika, Chemotherapeutika), die in subtherapeutischen Dosen verfüttert werden. Sie unterliegen als Futtermittelzusatzstoffe nicht dem Arzneimittel-, sondern dem Futtermittelrecht und damit keiner tierärztlichen Verschreibung, wodurch eine mengenmäßige Abschätzung ihres Einsatzes nahezu unmöglich ist (Winckler und Grafe 2000). Veterinärarzneimittel sind verschreibungspflichtig. Hier handelt es sich in der Regel um Antibiotika/Chemotherapeutika oder Antiparasitika, die als Fütterungsarzneimittel zur Therapie oder aber zur Prophylaxe (z.B. "Einstallprophylaxe" bei Schweinen) eingesetzt werden. Diese Stoffe werden entweder in einem Futtermischbetrieb per Herstellungsauftrag hergestellt oder aber von einem zugelassenen Hersteller auf Verschreibung direkt an den Tierhalter abgegeben. Sowohl die Herstellungsaufträge als auch die Verschreibungen werden von der Veterinärbehörde erfasst und können daher quantifiziert werden. Neben der Verabreichung als Fütterungsarzneimittel besteht noch die Möglichkeit der Abgabe von Veterinärarzneimitteln durch den Tierarzt direkt an den Tierhalter. Diese Abgabe wird jedoch nicht zentral registriert und kann deshalb lediglich anhand von Befragungen bei Tierärzten abgeschätzt werden (Winckler und Grafe 2000). Trotz dieser schwierigen Umstände sind einige Studien zur regionalen Verschreibungspraxis in der Veterinärmedizin erschienen. Insbesondere
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H. Irmer, H.-D. Stock, R. Reupert, A. Hembrock-Heger
Winkler und Grafe (2001) haben im Rahmen eines Forschungsprojektes des Umweltbundesamtes versucht, über Stichprobenbefragungen bei Tierärzten und Landwirten in der Region Weser-Ems Wirkstoffmengen abzuschätzen. Außerdem wurde von Linke und Kratz (2001) eine Erhebung von Veterinärarzneimittelmengen für das Land Brandenburg vorgenommen, die jedoch nur die bei den Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsämtern (VLÜA) registrierten Herstellungsaufträge berücksichtigt. Die mengenmäßig relevantesten Veterinärarzneimittel sind die Tetrazykline (39.852 kg/Jahr in der Region Weser-Ems bzw. 4.600 kg/Jahr in Brandenburg) und die Sulfonamide (13.166 kg/Jahr bzw. 900 kg/Jahr). Seltener eingesetzt werden Aminoglykoside (7.080 kg/Jahr bzw. 200 kg/Jahr) und E-Lactame (3.768 kg/Jahr bzw. 200 kg/Jahr). Erwähnenswert sind außerdem das Antibiotikum Trimethoprim (1.264 kg/Jahr bzw. 82 kg/Jahr) und das als Vitamin B4 bekannte Cholinchlorid (5.431 kg/Jahr in der Region Weser-Ems), das jedoch als Futtermittelzusatzstoff definiert ist. Untersuchungen zum Eintrag von Sulfonamiden in Böden über Gülle haben gezeigt, dass die Frachten auf dem Acker bei einer ordnungsgemäßen Gülleausbringung bis zu 1 kg/(ha a) betragen können (ZulleiSeibert und Skark 2002, Langhammer 1989). Winckler und Grafe (2001) haben eine Abschätzung über zu erwartende Gehalte von Tetracyclin in Wirtschaftsdüngern vorgenommen. Bei einer Behandlung von Mastschweinen ermittelten sie bei einer mittleren Dosierung von 65 mg Wirkstoff pro kg Körpergewicht einen Gehalt von 22,5 g/m³ Gülle. Winckler und Grafe führten anschließend ein Screening von 181 Schweinegülleproben aus der Region Weser-Ems auf Tetracycline durch. Die rechnerisch ermittelten PEC-Werte (s. u.) stimmten recht gut mit den analytisch ermittelten überein. Bei Einarbeitung der Gülle mit einem Tetracyclin-Gehalt von 22,5 g/m³ in Böden wurde von Winckler und Grafe (2001) nach einer einmaligen Gabe von 30,7 m³/ha Gülle in Tiefen bis 5 cm ein Gehalt von 900 µg/kg, bei Einarbeitung bis 30 cm Tiefe 150 µg/kg Boden festgestellt. 1998 fielen in Deutschland 215 Millionen t Frischmasse an Wirtschaftsdüngern aus der Rinder- und Schweinehaltung an, davon waren ca. 75 % Gülle (Schwab 2000). Da ebenso wie bei der humanmedizinischen Applikation große Teile der Wirkstoffe den Organismus nicht oder nur wenig verändert verlassen, können bis zu 80 % der verabreichten Mengen in den Fäkalmedien auftreten (Zullei-Seibert und Skark 2002). Über den Eintrag der Veterinärarzneimittel aus Böden ins Grundwasser liegen bisher nur wenige Kenntnisse vor. Tetracycline und Fluorchinolone werden in Oberböden stark sorbiert und stellen kein aktuelles Risiko für das Grundwasser dar. Dagegen wird Sulfamethazin trotz niedriger Gehalte
Arzneimittelrückstände und Gewässerschutz
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in Oberböden (ca. 1 µg/kg Boden) wiederholt im Porenwasser nachgewiesen. Neben einem Transport mit dem Sickerwasser können verschiedene Bypass-Wege auftreten. Stoffe können an Partikel sorbieren und auf diesen Partikeln schnell verlagert werden. Ebenso können bevorzugte Fließwege entstehen (Makroporen, Trockenrisse), die die Verlagerung in tiefere Profilabschnitte und ins Grundwasser beschleunigen (Hamscher et al. 2005).
Zur chemischen Analyse von Arzneimittelrückständen Die Bestimmung von Arzneimitteln, Hormonen und medizinischen Hilfsmitteln in Wasser und Abwasser stellt nach wie vor besondere Anforderungen an die organische Spurenanalytik und wird für ein breiteres Stoffspektrum auch heute meist nur von wenigen spezialisierten Laboratorien im Umweltbereich angeboten. Insofern hat sich die Situation seit dem bundesweiten Monitoring des BLAC im Zeitraum von 08/2000 bis 09/2001 nicht wesentlich verändert. Am weitesten verbreitet ist immer noch die Analytik der sauren Arzneimittel aus den Indikationsgruppen der Lipidsenker, Antiphlogistika und Analgetika, die sich in etablierten gaschromatographische Verfahren der PSM-Analytik einbinden lassen. Auch bei den neutralen Arzneimittel aus diesen Indikationsgruppen lassen sich teilweise Verfahren der PSM-Analytik verwenden, so z. B. für die Bestimmung von Carbamazepin, die HPLC mit UV-DAD nach EN ISO 11369 bei der Untersuchung von Oberflächenwasser. Die basischen Stoffe aus den Indikationsgruppen der Betablocker und Broncholytika erfordern im Vergleich dazu schon speziellere Verfahren, was dann besonders für die Antibiotika, Röntgenkontrastmittel und Hormone zutrifft. In seinem Abschlussbericht gibt der BLAC vor dem Hintergrund der Ziele der europäischen Wasserrahmenrichtlinie an Bund und Länder die Empfehlung aus, Arzneimittelstoffe in die Gewässermonitoringprogramme einzubinden und führt hierfür insgesamt 21 Stoffe auf, die sich bei der länderübergreifenden Untersuchung als relevant erwiesen haben (BLAC 2003). Wegen der niedrigen ökotoxikologischen Wirkschwellen sollten zusätzlich einige Steroidhormone beobachtet werden. Auch wenn es sich bei der Empfehlung des BLAC um einen überschaubaren Stoffumfang handelt, ist das Spektrum der Stoffe aus chemischer Sicht nach wie vor sehr heterogen und erfordert üblicherweise die Anwendung von 5 bis 6 verschiedenen Analyseverfahren. Neben der begrenzten Verfügbarkeit der analytischen Verfahren ist der hohe analytische Aufwand ein weiterer Grund dafür, dass der Empfehlung des BLAC nur zum Teil nachgekommen werden kann.
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Die Erfahrungen aus der Beteiligung am BLAC- Untersuchungsprogramm haben im Landesumweltamt NRW dazu geführt, die Entwicklung eines Multikomponentenverfahrens mittels LC-MS/MS voranzutreiben, um den analytischen Aufwand so weit wie möglich zu reduzieren. Die unterschiedlichen Anforderungen an die Detektion erfordern dabei ein Massenspektrometer, das in der Lage ist, positive und negative Ionen simultan zu messen. Mit diesem Verfahren ist es möglich, bis auf die Röntgenkontrastmittel und Steroidhormone, die vorgenannten und weitere relevante Stoffe in einem Analysengang zu bestimmen (Tabelle 1). Um den Problemen der Ionensuppression und -verstärkung bei der Elektrosprayionisierung entgegenzuwirken, wird bei höchst möglicher Verdünnung gemessen. Bei der Untersuchung von Oberflächenwasser erfolgt die Anreicherung der Stoffe aus einem Probevolumen von 10 ml, bei Abwasser werden 5 ml eingesetzt. Bei diesen geringen Probenvolumina sind die Bedingungen bei der Festphasenextraktion unkritisch, so dass eine gemeinsame Anreicherung der Stoffe unter Verwendung einer modifizierten Polymerphase bei einem pH-Wert von 6 erfolgen kann. Dabei liegen die Wiederfindungen der Zielsubstanzen durchweg oberhalb von 80 % (Reupert und Brausen 2003, 2004). Tabelle 1. Untersuchungsumfang nach Empfehlung des BLAC und zusätzliche bestimmbare Arzneimittel. * zusätzlich im Multikomponentenverfahren berücksichtigt. Indikationsgruppe/ Stoffgruppe
Stoffe
Lipidsenker
Bezafibrat, Clofibrinsäure, Fenofibrinsäure
Antiepileptika
Carbamazepin
Antiphlogistika
Diclofenac, Ibuprofen, Phenazon, Propyphenazon, Naproxen *
Betablocker
Bisoprolol, Metoprolol, Sotalol, Atenolol*, Nadolol*, Propranolol*
Antibiotika
Clarithromycin, Erythromycin, Roxythromycin, Sulfamethoxazol , Sulfadimidin, Trimethoprim Sulfadiazin*
Röntgenkontrastmittel
Amidotrizoesäure, Iopamidol, Iopromid, Iomeprol
Steroidhormone
Estron, Estradiol, Ethinylestradiol, Mestranol
Arzneimittelrückstände und Gewässerschutz
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Für die Untersuchung von Grund- und Oberflächenwasser ist das Verfahren, in Anlehnung an die PSM-Analytik, auf eine untere Anwendungsgrenze von 0,025 Pg/L ausgelegt. Bei Abwasseruntersuchungen werden Massenkonzentrationen ab 0,05 Pg/L angegeben. Das Gesamtverfahren wird über interne Standards kontrolliert (Sotalol-d6, Propranolol-d7, Phenazon-d3, Ibuprofen (Propion-13C3) und Carbamazepin-d10). Das Analysenverfahren hat sich als zuverlässig und robust erwiesen. Es wird seit 2002 im Rahmen der Gewässergüteüberwachung des Landes NRW angewandt und hat sich darüber hinaus bei verschiedenen Forschungsprojekten im Abwasserbereich bewährt. Die laborinterne Wiederholstandardabweichung liegt üblicherweise unter 5 % (siehe Abbildung 3). Die aus Standardadditionen im Abwasser abgeschätzte, erweiterte Messunsicherheit liegt im Bereich von 20 bis 30 %. Atenolol Sotalol Trim ethoprim Metoprolol Sulfam ethoxazol Carbam azepin Roxithrom ycin Bezafibrat Diclofenac Ibuprofen
OFW
0
2
4
6
KLA-ZU
8
rel. STAW, %
Abb. 3. Präzision unter Wiederholbedingungen. *)Rel. Standardabweichung von jeweils 6 parallelen Analysen in Oberflächenwasser (OFW) und im KläranlagenZulauf (KLA-ZU).
Die Analytik von Röntgenkontrastmitteln erfolgt ebenfalls mittels LCMS/MS, wobei sich die Einzelstoffe im positiven ESI- Modus empfindlich nachweisen lassen. Zur Isolierung und Anreicherung der Stoffe aus der Wasserphase wird eine Carbonphase verwendet, die eine relativ selektive Elution der Stoffe unter Verwendung eines methanolischen Acetatpuffers ermöglicht. Die aus synthetischen Proben ermittelten Wiederfindungen sind nahezu quantitativ. Das Verfahren wurde speziell für Abwasseruntersuchungen entwickelt und findet seit 2004 im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte des Landes NRW Anwendung. Bei einem Probevolumen von 10 mL liegen die unteren Anwendungsgrenzen im Bereich von
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H. Irmer, H.-D. Stock, R. Reupert, A. Hembrock-Heger
0,1 Pg/L bis 0,5 Pg/L (Iopromid). Der Einfluss der Matrix kann zur Unterdrückung und speziell im Fall der Amidotrizoesäure auch zur signifikanten Verstärkung der Ionisation führen. Diese Matrixeinflüsse müssen über ein aufwendiges Standardadditionsverfahren kompensiert werden, da zurzeit keine geeigneten internen Standards verfügbar sind. Seit dem vergangenen Jahr wird das Verfahren auch für Untersuchungen im Oberflächenwasser eingesetzt, wobei zur Absenkung der unteren Anwendungsgrenzen von einem Probevolumen von 50 mL ausgegangen wird. Die Abbildung 4 zeigt vorläufige Ergebnisse eines Sondermessprogramms, das zurzeit an der Lippe durchgeführt wird.
3 2 µg/l 1 0
107
104
0,8
Fluss km Iomeprol
Amidotrizoesäure
Iopamidol
Iopromid
Abb. 4. Vorkommen von RKM im Verlauf der Lippe (Median, 07.12.2005, monatliche Probenahme).
Wegen der niedrigen ökotoxikologischen Wirkschwellen stellt die Bestimmung der Steroidhormone hinsichtlich Empfindlichkeit und Selektivität besonders hohe Anforderungen an die Analytik und erfordert die Anwendung von MS/MS-Techniken oder hochauflösender Massenspektrometrie, um belastbare Daten zu erhalten. Mit dem im Landesumweltamt NRW zurzeit praktizierten LC-MS/MSVerfahren ist eine Bestimmung von Estron, 17E-Estradiol und 17D-Ethinylestradiol in ungereinigtem Abwasser ab 2 ng/L und in gereinigtem Abwasser oberhalb einer Massenkonzentration von 1 ng/L für die einzelne
Arzneimittelrückstände und Gewässerschutz
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Substanz möglich. Mestranol kann bei der gewählten Ionisierungsmethode (ESI, negativer- Modus) nicht erfasst werden. Zur Durchführung des Verfahrens wird die Originalprobe (100-250 ml) eingesetzt, aus der die Hormone unter den Bedingungen einer dynamischen Solvatisierung an einer Carbonphase angereichert werden. Durch verschiedene Waschschritte und einer nachfolgenden Reinigung des Eluates an Silicagel werden störende Begleitstoffe abgetrennt. Selbst bei diesem hohen Aufwand der Probenvorbereitung kann der Einfluss der Matrix in Abhängigkeit von der Abwasserbeschaffenheit beträchtlich sein und muss substanzspezifisch durch interne Standardauswertung bezogen auf deuterierte bzw. 13C-markierte Verbindungen kompensiert werden. Die laufenden Abwasseruntersuchungen bei großen, kommunal geprägten Kläranlagen des Landes haben gezeigt, dass die Massenkonzentrationen der Hormone im ungereinigten und gereinigten Abwasser, deutlich geringer sind, als zum Teil berichtet wird (Abb. 5). Im Rahmen bevorstehender Untersuchungsprogramme soll deshalb durch messtechnische Optimierung versucht werden, die Bestimmungsgrenzen auf den Bereich der ökotoxikologischen Wirkschwellen abzusenken. 100
98
85
80
70
60 ng/L 40
39 33 24 18
20 3,2
0 Z1
ß-Estradiol
1
3,1 1,1
A1
2
Z2
1,5 1,2
11
5,8
A2
2
Z3
1 1
A3
17-a Ethinylestradiol
11 2
1 1 1
Z4
A4
Estron
Abb. 5. Vorkommen von Hormonen in Kläranlagen in NRW (Maximalwerte). Z 1, A 1: Kläranlage Köln Stammheim, Probenanzahl: Zulauf (n=16), Ablauf (n=17; Z 2, A 2: Kläranlage Düsseldorf Süd, Probenanzahl: Zulauf (n=14), Ablauf (n=16); Z 3, A 3: Kläranlage Neuss, Probenanzahl: Zulauf (n=5), Ablauf (n=5); Z 4, A 4: Kläranlage Bottrop, Probenanzahl: Zulauf (n=7), Ablauf (n=7).
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Gewässerbelastungen in Nordrhein-Westfalen und deren Reduktion Die nachfolgende Abbildung 6 zeigt, dass bei den Wirkstoffen, die sich in den Kläranlagen nicht eliminieren lassen, die Fracht im Laufe der Fließstrecke deutlich zunimmt. Zwischen der Rheinwasserkontrollstation im Süden (km 640) und im Norden von NRW (km 865) wurde bei den meisten Arzneimittelwirkstoffen, die in den Kläranlagen nicht oder nur schlecht abgebaut werden, eine deutliche Zunahme festgestellt. Dahingehend ist der Beitrag der Nebengewässer des Rheins mit ihren kleineren Einzugsgebieten wesentlich geringer.
Abb. 6. Verlauf der nachgewiesenen Arzneimittelwirkstofffrachten im Rhein von km 865 bis km 640.
Leicht abbaubare Stoffe, wie das Ibuprofen, findet man kaum in den Oberflächengewässern, da diese Stoffe in den Kläranlagen bereits so gut eliminiert werden, dass sie nach Verdünnung mit dem Oberflächengewässer nicht mehr nachweisbar sind. Schwer abbaubare Stoffe wie Carbamazepin; zeigen dagegen zunehmende Frachten im Rheineinzugsgebiet, wobei die Frachten aus den Nebengewässern sich addieren.
Arzneimittelrückstände und Gewässerschutz
169
Die bundesweite Untersuchung des Grundwassers (BLAC 2003) hat gezeigt, dass normalerweise das Grundwasser nicht beeinträchtigt ist. Nur drei Pfade konnten identifiziert werden, die Infiltration aus undichten Kanälen, die Infiltration aus Oberflächengewässern, die belastet sind sowie die Infiltration aus undichten Altdeponien. Bezüglich der Abwassermengen, die aus undichten Kanälen ins Grundwasser eindringen, gibt es derzeit keine gesicherten Erkenntnisse. Schätzungen gehen immer von offiziell vorliegenden Informationen über den Zustand der Kanalisationen aus. Hierbei stützt man sich in erster Linie auf die Zustandsbeschreibung der Betreiber öffentlicher Kanalisationsnetze, wohl wissend, dass noch eine große Unsicherheit in dem nicht erfassten Bereich der Hausanschlüsse liegt. Insofern kann man nur das Gefahrenpotenzial aufzeigen anhand folgender Abschätzung auf der Basis der DWA-Umfrage 2004 (Berger und Lohhaus 2004): x etwa 20 % der Kanäle weisen die Zustandsklasse 0 bis 2 auf und müssen sofort bis mittelfristig saniert werden; x davon liegen die Schadenstypen Risse (17 %), undichte Muffen(11 %), schadhafte Anschlüsse (20 %) und Korrosion (7 %) vor, die maßgeblich zu einer Ex- oder Infiltration von Abwasser beitragen, insgesamt 55 % der oben genannten Schäden; Grob geschätzt sind demnach etwa 10 % der Kanalisationen von der Exund Infiltration betroffen. Da nicht alles Abwasser aus der Kanalisation verschwindet, sondern auch Fremdwasser in die Kanalisation eindringt, und der größte Teil an der Kläranlage ankommt, kann man davon ausgehen, dass etwa 1 bis 5 %, je nach Ortslage, ins Grundwasser eindringt. Das Gefahrenpotential für das Grundwasser ist somit langfristig gegeben und wurde im BLAC-Messprogramm auch aufgezeigt (BLAC 2003). Bezüglich der Infiltration von Wirkstoffen aus dem Oberflächenwasser liegen auch einige Ergebnisse vor, die sich am kontaminierten Uferfiltrat zeigen, z.B. Färber et al. (2001). Hier gelingt es nur dann die Infiltration der Wirkstoffe zu vermeiden, wenn die Gewässer insgesamt frei davon sind. Auf die Erfordernisse, Deponiesickerwasser zu behandeln, wurde bereits in Abschnitt 2 eingegangen. Nicht davon erfasst sind allerdings die undichten Altdeponien; aus denen Sickerwässer ins Grundwasser eindringen und damit das Grundwasser kontaminieren. Hierzu liegen Untersuchungen des Staatlichen Umweltamtes in Aachen vor (BLAC 2003). Es zeigte sich, dass die Stoffe, die sich bei den Untersuchungen zur Umkehrosmose als gut durchgängig erwiesen hatten, auch im Grundwasser in vergleichbaren Konzentrationen auftreten. Die höchsten Konzentrationen
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wurden für Clofibrinsäure und Carbamazepin gefunden, gefolgt von Ibuprofen und Diclofenac. Da die Arzneimittelwirkstoffe nicht zu den prioritären oder prioritären gefährlichen Stoffen des Anhangs X der Wasserrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/60/EG) zählen, ist eine unmittelbare Herleitung von Gewässerqualitätszielen nicht ohne weiteres möglich. Dennoch gehören sie zur Gruppe der synthetischen Schadstoffe, die es allgemein zu begrenzen gilt. Dieses gilt sowohl für die Humanarzneimittel als auch für die Veterinärarzneimittel. Eine Möglichkeit der Begrenzung des Eintrags besteht in der Aufstellung von Maßnahmen-/Bewirtschaftungsplänen. Dazu müssen die Belastungspunkte in den Gewässern ausfindig gemacht werden, danach die Haupteintragsquellen, um dann zu den Minderungsmaßnahmen zu kommen. Aufgrund der derzeitigen Datenlage kann man aber feststellen, dass zurzeit nur die nicht oder schwerabbaubaren Arzneimittelwirkstoffe darunter fallen, einschließlich ihrer Metaboliten. Zur Verringerung des Eintrags von Arzneimitteln in die Umwelt sind verschiedene Strategien und Maßnahmen möglich und erforderlich. Für die Humanarzneimittel wäre eine Verminderung der Verwendungsmengen sowie die Verwendung bedarfsangepasster Arzneimittelverpackungen begrüßenswert. Ebenso sollte eine bessere Entsorgung von Arzneimittelresten den Eintrag in die Umwelt verringern. Bei den Veterinärarzneimitteln stehen Ansätze im Vordergrund, die auf eine Vermeidung oder Verminderung des Einsatzes bzw. der Anwendung der Wirkstoffe abzielen. Der Wissenschaftliche Beirat Bodenschutz empfiehlt, auf den Einsatz von Veterinärzneimitteln zur Prophylaxe zu verzichten; sofern technische Maßnahmen ebenfalls eine Vermeidung oder deutliche Reduzierung des Krankheitsbefalls von Tierbeständen erreichen (WBB 2002). Ebenso sollte die Verwendung von antibiotisch oder hormonell wirksamen Substanzen als Futterzusatzstoffe zur Leistungs- und Wachstumsförderung bei der Tiermast beendet werden. Jedoch rechtfertigen die Kenntnisdefizite bei den Veterinärarzneimitteln keinen Verzicht auf den Einsatz von Wirtschaftsdüngern, sondern erfordern weitere Untersuchungen zu Stoffvorkommen und -verlagerung als Voraussetzung für eventuell notwendige Minimierungsmaßnahmen. In besonders schutzwürdigen Gebieten (z.B. Wasserschutzgebieten) sollte der Einsatz der Wirtschaftsdünger beschränkt bleiben. Die Beibehaltung bislang gültiger Restriktionen der Ausbringungsmengen nach Abfallund Düngemittelrecht begrenzt zusätzlich einen eventuellen Stoffeintrag. Die in die Oberflächengewässer eingetragenen Arzneimittel können in das gewässernahe Grundwasser gelangen. Im Uferfiltrat wurden in einigen Fällen Gehalte deutlich über 0,1 Pg/L nachgewiesen (BLAC 2003). Dies ist bei der Trinkwassergewinnung aus oberflächenwasserbeeinflussten
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Grundwässern und aus Flüssen, die als Vorfluter für Kläranlagen dienen, zu berücksichtigen. Häufig wird bei der Verminderung oder Vermeidung von Umweltbelastungen durch synthetische organische Stoffe das Verbot der Anwendung oder ein freiwilliger Verzicht der Anwendung dieser Stoffe als Möglichkeit der Vermeidung erwogen. So wurde z. B. das Verbot der Anwendung von PCP oder Atrazin schon vor Jahren durchgesetzt, bevor ein Herstellungsverbot in Erwägung gezogen wurde. Ebensolches gilt auch für die Herstellung und die Anwendung von PCB-haltigen Ölen. Im Falle der Arzneimittelwirkstoffe ist dies aber nicht möglich, da diese Stoffe nicht unter das Chemikalienrecht fallen und auch nicht durch wasserrechtliche Regelungen erfasst werden können. Sie unterliegen allein dem Arzneimittelrecht. Belange des Umweltschutzes werden zurzeit nur bei der Zulassung von Veterinärarzneimitteln berücksichtigt und können zu Anwendungsbeschränkungen führen. Bei der Zulassung von Humanarzneimitteln sind ebenfalls die Wirkungen auf die Umwelt zu prüfen. Nach EG-Richtlinie 2004/27/EG, die zum 30.11.2005 in nationales Recht umgesetzt wurde, ist es erforderlich, eine Risiko-Nutzen-Abwägung durchzuführen, die abschließend über die Zulassung entscheidet. Für Veterinärarzneimittel gilt: Ein Risiko für die Umwelt steht in der Risiko-NutzenAbwägung gleichberechtigt neben der Verbrauchersicherheit und kann zur Verweigerung der Zulassung führen. Bei den Humanarzneimitteln werden mögliche Risiken für die Umwelt in der Risikodefinition zwar genannt. Sie werden jedoch explizit von der Risiko-Nutzen-Abwägung ausgeschlossen.
Fazit Human- und Veterinärarzneimittel sind bisher in vielen Umweltmedien und -kompartimenten nachgewiesen worden. Die Konzentrationen liegen in der Regel unterhalb therapeutischer Dosen und auch deutlich unterhalb der maximal zulässigen Rückstandsmengen in Nahrungsmitteln für den menschlichen Gebrauch. Die Konsequenzen einer geringen, jedoch permanenten Exposition gegenüber Arzneimittelwirkstoffen, sind humantoxikologisch und ökotoxikologisch aber weitgehend unerforscht. Für Umweltkonzentrationen einzelner Wirkstoffe (z.B. Sexualhormone) sind jedoch schädliche Auswirkungen auf aquatische Organismen bereits experimentell bestätigt worden. Außer hormonell wirksamen Stoffen sind auch andere Wirkstoffgruppen wie z.B. Antibiotika und Zytostatika aufgrund ihrer spezifischen Wirkungen kritisch zu betrachten. Im Bereich der Veterinär-
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arzneimittel ist darüber hinaus vor allem die Gruppe der Antiparasitika von ökotoxikologischem Interesse. Für die Neuzulassung von Arzneimitteln wurde die Prüfung der Wirkung von Human- und Veterinärarzneimittel auf die Umwelt erstmals durch die EG-Richtlinien 81/852/EWG und 93/39/EWG eingeführt. Die Regelungen wurden 1996 mit der 6. Novelle des Arzneimittelgesetzes (AMG) 1996 in deutsches Recht umgesetzt: Das AMG sieht Prüfungen zur Toxizität vor, die u.a. Untersuchungen der ökotoxischen Eigenschaften beinhalten. Ergeben die Untersuchungen ein Risiko für die Umwelt, entscheidet die zuständige Bundesoberbehörde im Einvernehmen mit dem Umweltbundesamt über Auflagen zum Schutz der Umwelt. Insbesondere Antibiotika und Antiparasitika müssen aufgrund der hohen Anwendungsmengen und ihrer Toxizität als Problemfälle für die Umwelt bewertet werden. Die erforderlichen Auflagen hatten bisher vorwiegend die Reduzierung der Umweltexposition zum Ziel, z.B. durch Beschränkung des direkten Zugangs von Weidetieren zu Oberflächengewässern und des Umgangs mit Gülle und Festmist während der Lagerung und Ausbringung (Koschorreck et al. 2002). Wie in der Stoffbewertung allgemein wird auch bei der Arzneimittelprüfung das Risiko aus dem Vergleich von Exposition und Wirkung abgeleitet. Hierzu wird eine „Predicted No Effect Concentration (PNEC)“ einer „Predicted environmental concentration (PEC)“ (gemessene oder geschätzte Konzentration der Arzneimittelwirkstoffe in Umweltmedien und – kompartimenten) gegenübergestellt. Die PNEC wird auf der Basis der mit ökotoxikologischen Tests gewonnenen Wirkwerte ermittelt. Sie entspricht der Konzentration, unterhalb derer keine schädigenden Effekte auf das Ökosystem zu erwarten sind. Der Quotient aus PEC und PNEC charakterisiert das Risiko der Substanz für die Umwelt. Ergibt der Vergleich PEC/PNEC Werte < 1, so ist davon auszugehen, dass von der betreffenden Substanz nach dem gegenwärtigen Stand kein Risiko für die Umwelt ausgeht. Liegt der Wert über 1, ist entweder eine Verfeinerung der beiden Eingangsgrößen PEC und PNEC erforderlich oder es werden Maßnahmen zur Risikovermeidung und Risikominderung erforderlich. Zur Bewertung der gefundenen Gewässerbelastung bedarf es dringend der Ableitung von PEC und PNEC-Werten für die mengenmäßig und toxikologisch relevanten, bisher in vielen Matrices nachgewiesenen und daher auffälligen Arzneimittelwirkstoffe. Darüber hinaus ist die Erarbeitung von Techniken zur Minderung der eingetragenen Frachten unter Berücksichtigung der Reinigungskosten erforderlich, auch für die Reinigung von Mischwasserabschlägen. Es gilt grundsätzlich das Minimierungsgebot!
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pharmakologischen und tierärztlichen oder klinischen Vorschriften und Nachweise über Versuche mit Tierarzneimitteln (ABl. L 317 vom 6.11.1981). Richtlinie 93/39/EWG betreffend Arzneimittel (ABl. L 214 vom 24.8.1993). Schwab, M. (2000): Wirtschaftsdüngeranfall. – Entwicklung der jährlichen Abfallmengen von Wirtschaftsdüngern aus der Rinder- und Schweinehaltung in Deutschland und deren Verteilung auf die Bundesländer. Landtechnik 55 (2), 189-190. Stan, H.-J., Heberer, T., Linkenhägner, M. (1994): Vorkommen von Clofibrinsäure im aquatischen System – Führt die therapeutische Anwendung zu einer Belastung von Oberflächen-, Grund- und Trinkwasser? Vom Wasser 83, 57-68. Stan, H.-J., Linkenhägner, M. (1992): Identifizierung von 2-(4-Chlorphenoxy)-2methyl-propionsäure im Grundwasser mittels Kapillar-Gaschromatografie mit Atomemissonsdetektion und Massenspektrometrie; Vom Wasser 79, 75-88. Werres, F. et. al. (2005): Abschlussbericht zum Projekt: „Fortführung der Säulenversuche aus dem Forschungsprojekt „Lambertsmühle“ mit dem Ziel einer Abschätzung möglicher Gefährdungspotentiale durch den Eintrag von Pharmaka in den Grundwasserleiter“ im Auftrag des MUNLV NRW. Winckler, C., Grafe, A. (2000): Charakterisierung und Verwertung von Abfällen aus der Massentierhaltung unter Berücksichtigung verschiedener Böden: Stoffeintrag durch Tierarzneimittel und pharmakologisch wirksame Futterstoffe unter besonderer Berücksichtigung von Tetracyclinen. Texte Umweltbundesamt, Berlin 44/00: 145 S. Wissenschaftlicher Beirat Bodenschutz (WBB) beim BMU (2002): Ohne Boden bodenlos. Eine Denkschrift zum Boden-Bewusstsein. Berlin. Zullei-Seibert, N., Skark, C. (2002): Gehalte an Pharmaka, Hormonen und endokrin wirksamen Substanzen in Klärschlamm, Kompost und Wirtschaftsdünger. In: Landwirtschaftliche Verwertung von Klärschlamm, Gülle und anderen Düngern unter Berücksichtigung des Umwelt- und Verbraucherschutzes. Kuratorium für Technik und Bauwesen in der Landwirtschaft, KTBL- Schrift 406 2002.
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung Thomas Heberer Bundesinstitut für Risikobewertung, Berlin
Einleitung Zahlreiche, in den letzten Jahren weltweit durchgeführte Untersuchungen zeigen, dass Rückstände von Humanarzneimitteln über die Abläufe kommunaler Kläranlagen in bedeutendem Umfang in die angrenzenden Oberflächengewässer eingetragen werden (Daughton und Ternes 1999, Heberer 2002). In der Humanmedizin eingesetzte Pharmaka werden entweder direkt (unresorbiert bzw. unmetabolisiert) oder nach deren Um- bzw. Abbau zu den sog. Metaboliten im menschlichen oder tierischen Organismus von diesem wieder ausgeschieden. Dies geschieht meist in Form von Konjugaten, bei denen die Verbindungen im Rahmen der Biotransformation (s.u.) zu deren besserer Löslichkeit und zur leichteren Ausscheidbarkeit an körpereigene Moleküle gebunden werden. Die Arzneimittelrückstände (ARM) gelangen somit durch den therapeutischen Einsatz über die natürlichen Ausscheidungen wie Urin oder Faeces ins kommunale Abwasser. Der Anteil der über die Toilette entsorgten nicht gebrauchten Medikamente ist hingegen nach heutiger Ansicht nur von untergeordneter Bedeutung (Heberer und Stan 1998). In den kommunalen Kläranlagen oder meist bereits im ungeklärten Abwasser werden die erwähnten Konjugate gespalten und die ursprünglichen Arzneimittelwirkstoffe bzw. deren Metabolite wieder freigesetzt (Ternes 1998), die dann über die Kläranlagen in die Oberflächengewässer gelangen können. Was die Absatzmengen von Pharmaka betrifft, so liegt oft nur unzureichendes Datenmaterial vor. Zwar gibt der jährlich erscheinende Arzneimittelreport (Schwabe und Paffrath 2006) einen groben Überblick über die in Deutschland verschriebenen Arzneimittelwirkstoffe und somit einen Hinweis über die Bedeutung des jeweiligen Wirkstoffs, aus den Angaben lassen sich jedoch nur grob die tatsächlich verbrauchten Mengen berechnen.
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Thomas Heberer
Das hängt zum einen damit zusammen, dass dort nur die verschriebenen Tagesdosen angegeben sind und die in der roten Liste (BPI 2006) genannten Werte für die Tagesdosen variieren, weshalb nur ein Mengenbereich berechnet werden kann. Zum anderen beziehen sich die im Arzneimittelreport genannten Daten lediglich auf die von den gesetzlichen Krankenkassen verschriebenen Arzneimittel, d.h. freiverkäufliche Arzneimittel, Privatpatienten verschriebene Arzneimittel und die in den Krankenhäusern verbrauchten Arzneimittel werden nicht miterfasst. Abhängig vom Arzneimittel (z.B. verschreibungspflichtig oder freiverkäuflich; Einsatz überwiegend bis ausschließlich im Krankenhaus (z.B. Zytostatika bzw. Röntgenkontrastmittel)) können die tatsächlich in die Umwelt eingetragenen Mengen deutlich von den über den Arzneimittelreport berechneten Mengen abweichen oder werden gar nicht erfasst. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die regionalen Unterschiede ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Trotz der vielen Defizite ergeben die überschlägig ermittelten Daten, dass es eine Reihe von Wirkstoffen gibt, die in Deutschland jährlich in Mengen bis zu oder über 100 Tonnen (Carbamazepin, Diclofenac, Ibuprofen) oder sogar bis zu 1000 Tonnen (Acetylsalicylsäure, Paracetamol) abgesetzt werden (Heberer 2002a). Für die in der aquatischen Umwelt zu erwartenden ARM und deren Mengen sind neben den Absatzmengen die Applikationsform (oral, rektal, subkutan, kutan) und damit zusammenhängend die Resorption des jeweiligen Wirkstoffs durch den Organismus, die Biotransformation im Organismus und das Verhalten der Verbindungen in den Kläranlagen bzw. in der Umwelt (Abbau, Persistenz, Sorption oder Bioakkumulation) entscheidend. Während über die Toilette oder den Hausmüll entsorgte Arzneimittel strukturell unverändert in die Umwelt gelangen, erfahren die eingenommenen und resorbierten Medikamente bei der körpereigenen Metabolisierung einige strukturelle Umbauten. Folglich sind in der Umwelt als mögliche Rückstände nicht nur die Ausgangsstoffe sondern auch deren Metaboliten zu erwarten. Die Umwandlungsprozesse, die Arzneimittelwirkstoffe im Organismus durchlaufen, werden als Biotransformation bezeichnet. Diese erfolgt vor allem in der Leber, aber auch in anderen Organen wie z.B. der Niere, der Milz, im Darm, im Blut, in der Haut etc. Wie in Abbildung 1 gezeigt, wird die Biotransformation in Phase-I und Phase-II-Reaktionen unterteilt, wobei als Phase-I Reaktion oxidative, reduktive und/oder hydrolytische Veränderungen bezeichnet werden, während bei den Phase-II-Reaktionen das umgewandelte Molekül mit körpereigenen Substanzen gekoppelt wird, um eine bessere Ausscheidung (Wasserlöslichkeit) zu erreichen (Mutschler et al. 2001). Als Konjugate werden hier Stoffe wie aktivierte Glucuronsäure, aktiviertes Sulfat, Glycin, Glutamin etc. vom Körper genutzt.
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
Phase-IMetabolit
Arzneistoff
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Phase-IIMetabolit Konjugation mit akt. Glucuronsäure akt. Schwefelsäure akt. Essigsäure u. a.
Oxidation, Reduktion, Hydrolyse
Abb. 1. Schematische Darstellung der Biotransformation von Arzneistoffen nach Mutschler et al. (2001).
Wie in Tabelle 1 gezeigt, konnten inzwischen mehr als 100 Substanzen im Abwasser bzw. in Oberflächengewässern nachgewiesen werden. Tabelle 1. Weltweite Nachweise von Arzneimittelrückständen im Abwasser, in Oberflächengewässern, in Grund- und Trinkwasser. Für die jeweilige Verschreibungsklasse im entsprechenden Kompartiment bislang gefundene Zahl an Verbindungen. (ergänzt aus Heberer 2002a bzw. Heberer und Adam 2005). Analyten (Verschreibungsklasse) Analgetika/Antirheumatika und deren Metaboliten Antibiotika Antiepileptika Blutlipidsenker/ Metaboliten Betablocker Röntgenkontrastmittel/ Metaboliten Zytostatika Orale Kontrazeptiva (Ethinylestradiol (EE2) und Mestranol) Andere Summe
Anzahl der bislang gefundenen Verbindungen Abwasser und Grundwasser Trinkwasser Oberflächengewässer 26 14 8 31 2 7
3 (+ 5 Spuren) 2 3
2 3
7 8
1 6
3*
2 (Spuren) 2 (Spuren)
(1) Validität zweifelhaft**
(1) Validität zweifelhaft**
21 106
4 34 (39)
16
* Nachweis von organischen Jodverbindungen im Trinkwasser meist als AOI (Summenparameter: adsorbierbare organische Iodverbindungen). ** Die Validität der positiven Nachweise von Adler et al. (2001) ist aus methodischen Gründen umstritten (Heberer 2002a), weshalb sie bei der Berechnung der Summe der Gesamtnachweise auch nicht berücksichtigt wurden.
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Vorkommen und Entfernbarkeit von Arzneimittelrückständen in konventionellen Kläranlagen Stand der Klärwerkstechnik Heutige Kläranlagen verfügen i.A. über drei Klärstufen, bei der die kommunalen Abwässer zunächst mechanisch, dann biologisch und ggf. zusätzlich chemisch gereinigt werden (Abb. 2). Die mechanische Reinigungsstufe umfassen zumeist einen Rechen zur Entfernung von größeren Partikeln (Blätter, Gewebereste, Kunststoffteile etc.), einen Sandfang (lange Rinnen mit Strömungsgeschwindigkeiten um 30 cm je Sekunde), in dem sich in das Abwasser eingeschwemmter Sand, Kies und Steine absetzen sollen, einen Öl- und Fettfang und ein Vorklärbecken, in dem sich durch eine deutlich verlangsamte Strömung (z.B. ca. 1,5 cm je Sekunde, Verweilzeit <2 Stunden) sedimentierbare Stoffe am Boden abscheiden. Im Bereich der mechanischen Klärung kann bereits etwa ein Drittel der organischen Fracht zurückgehalten und als Schlamm einer anschließenden Behandlung zugeführt werden. Die verbleibenden zwei Drittel, die in Form gelöster oder suspendierter Stoffe im Abwasser vorliegen, werden anschließend der Reinigung in einer biologischen Stufe bestehend aus den sog. Belebungsbecken und den Nachklärbecken unterzogen. Der Abbau der Substanzen erfolgt durch Mikroorganismen unter verschiedenen Sauerstoff-/Redoxbedingungen (anaerob, anoxisch bzw. aerob). Moderne Kläranlagen können durch die gezielte Einstellung der Redoxbedingungen in der Umwelt eutrophierend wirkende Phosphate biologisch entfernen. Die Entfernung der Phosphate beruht dabei auf der Fähigkeit von Bakterien beim Wechsel zwischen anaeroben und aeroben Bedingungen vermehrt Phosphate in die Biomasse einzulagern, welche somit mit dem Überschussschlamm (Nachklärung) entfernt werden können. Im Anschluss an die biologische Klärung kann ggf. noch eine chemische Phosphatfällung z.B. mit Eisen-II-sulfat erfolgen, die in einigen Fällen auch ganz an Stelle der biologischen Phosphatelimination eingesetzt wird. Das Wechselspiel der Redoxbedingungen wird auch für die Entfernung stickstoffhaltiger Verbindungen verwendet. Das in großen Mengen im Zulauf der Kläranlagen vorkommende Ammonium (NH4+) wirkt fischtoxisch und die oxidativ daraus hervorgehenden Verbindungen wirken entweder ebenfalls toxisch (Nitrit: NO2-) oder eutrophierend (Nitrat: NO3-) auf die angrenzenden Gewässer und die darin vorkommenden Organismen. Eine Reduzierung der Stickstofffrachten auf ein ökologisch verträgliches Maß kann durch die Erzeugung und das Wechselspiel nitrifizierender bzw. denitrifizierender Bedingungen geschaffen wer-
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
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den. Im in Abbildung 2 gezeigten Beispiel findet die Nitrifikation des Ammoniums zu Nitrit und schließlich zu Nitrat in den mit Sauerstoff belüfteten aeroben Klärbecken statt. Die Denitrifizierung des Nitrats zu flüchtigem, molekularem Stickstoff erfolgt in Abwesenheit von Sauerstoff mit Hilfe fakultativ anaerober, heterotropher Bakterien im vorgeschalteten anoxischen Milieu (Nitratatmung). Neben dem Schlammalter sind dabei andere Faktoren wie der pH-Wert und das Verhältnis des biologischen Sauerstoffbedarfs (BSB5) zum Nitrat- bzw. Nitritstickstoff entscheidend.
Abb. 2. Schematische Darstellung einer kommunalen Kläranlage mit mechanischbiologischer Reinigung mit Nitrifikation, Denitrifikation und biologischer Phosphatelimination.
Kommunale Kläranlagen sind in erster Linie nicht dafür bestimmt Rückstände von Spurenstoffen, die im Nanogramm (ng) bzw. im Mikrogramm (Pg) je Liter (L) Bereich im Abwasser vorkommen, zu entfernen. Primäres Ziel der Abwasserreinigung ist zuallererst die Entfernung bzw. die Verminderung der Konzentrationen von pathogenen Keimen bzw. von organischen und anorganischen Hauptbestandteilen des Abwassers, welche die angrenzenden Gewässer gefährden bzw. verunreinigen und zu deren Euthrophierung führen können. Die heutzutage verwendeten zweistufigen Kläranlagen sind deshalb, was die Betriebsbedingungen betrifft, auf die Reduzierung der organischen Gesamtfracht und die Abreicherung von potentiell eutrophierenden Nährstoffen wie Ammonium, Nitrat oder Phosphat hin optimiert. Zudem sind in dem an Nährstoffen überreichen Medium vorkommende Rückstände von nur in Spurenkonzentrationen vorkommenden Verbindungen nicht als Substrate für die Ausbildung einer auf de-
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ren Abbau spezialisierten Bakterienfauna geeignet. Es wird deshalb davon ausgegangen, dass der Abbau von Spurenverbindungen, soweit ein solcher für die jeweilige Substanz in den Kläranlagen beobachtet wird, aufgrund eines Kometabolismus zusammen mit Majorkomponenten (i.A. leicht abbaubare organische Kohlenstoffverbindungen) erfolgt. Abbaubarkeit pharmazeutischer Rückstände in konventionellen kommunalen Kläranlagen Eine Vielzahl der im kommunalen Abwasser vorkommenden ARM wird in den kommunalen Kläranlagen nicht oder nur geringfügig entfernt und gelangt so in die angrenzenden Gewässer (Vorfluter). Die im Abwasser bzw. in den Oberflächengewässern gefundenen individuellen Konzentrationen liegen dabei im ng/L- bzw. im unteren Pg/L-Bereich. Die physiko-chemischen Eigenschaften und darauf basierend die chemische bzw. mikrobiologische Stabilität (Persistenz) der Einzelverbindung sind entscheidende Kriterien für die Entfernung oder das Vorkommen des jeweiligen Wirkstoffs oder seiner Metabolite aus dem bzw. im Abwasser. Lipophile Verbindungen (log KOW>3) oder Verbindungen mit komplexierenden Eigenschaften werden leicht am Klärschlamm gebunden. Golet et al. (2003) beobachteten dies vor allem für Antibiotika aus der Gruppe der Tetracycline bzw. der Fluoroquinolone. Lindberg et al. (2006) bestätigten diese Beobachtungen. Sie berichten, dass die Fluoroquinolon-Antibiotika Norfloxacin und Ciprofloxacin zum überwiegenden Teil und unabhängig vom pH-Wert am Klärschlamm gebunden werden und weniger als fünf Prozent der im Zulauf gefundenen Rückstände das Klärwerk über dessen Ablauf wieder verlassen. Im Ggs. dazu beobachteten sie, dass das Antibiotikum Trimethoprim die Kläranlage unverändert in den gleichen Mengen wieder verlässt. Wie das Trimethoprim, so ist auch ein großer Teil der anderen im Abwasser gefundenen Pharmakarückstände gut wasserlöslich, so dass für diese Verbindungen die Sorption am Klärschlamm keine oder nur eine untergeordnete Bedeutung besitzt. Ob diese Verbindungen dennoch im nennenswerten Umfang abgebaut und entfernt werden, hängt neben den individuellen Eigenschaften des Stoffes auch signifikant von der eingesetzten Klärwerkstechnologie und den jeweiligen Betriebsbedingungen wie der Verweilzeit des Abwassers in der Kläranlage bzw. dem Alter des Klärschlamms ab. Kreuzinger et al. (2004) untersuchten das Abbauverhalten von endokrin wirksamen Verbindungen und Pharmakarückständen in Kläranlagen unter Berücksichtigung des Schlammalters und der Klärschlammfracht. Ihre Untersuchungen zeigten, dass die Implementierung einer nitrifizierenden Stufe die Effizienz des Abbaus dieser Verbindungen deutlich
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
181
erhöht. Clara et al. (2005a) stellten zudem fest, dass die niedrigsten Ablaufkonzentrationen dann erreicht werden, wenn das Alter des Klärschlamms mindestens 10 Tage beträgt. Tabelle 2 zeigt die Persistenz einiger Verbindungen bei der konventionellen Abwasseraufbereitung in Klärwerken mit mechanischer und biologischer Abwasserreinigung am Beispiel des Antiepileptikums Carbamazepin, des Analgetikums bzw. Antirheumatikums Diclofenac und des Arzneimittelmetaboliten Clofibrinsäure (physiologisches Abbauprodukt verschiedener blutfettsenkender Arzneimittel). Alle drei Verbindungen werden bei der Abwasserreinigung nicht oder nur zu geringen Anteilen entfernt. I. Ggs. dazu sind andere Verbindungen, die in oft noch größeren Quantitäten in der Humanmedizin verabreicht werden, wie z.B. die Analgetika Paracetamol oder Acetylsalicylsäure (Aspirin®), in den Kläranlagen leicht abbaubar (Heberer 2002a, b). Tabelle 2. Durchschnittliche Konzentrationen für drei ausgewählte Arzneimittelrückstände und für die Verbindung Koffein in den Zuläufen (n=10...20) und Abläufen (n=20...27) verschiedener Berliner Klärwerke* und die daraus berechneten Abreicherungsraten (Heberer et al. 2002a). Analyt
Carbamazepin Clofibrinsäure Diclofenac Koffein
Mittlere Zulaufkonzentration in Pg/L 1,78 0,46 3,02 230
Mittlere Ablaufkonzentration in Pg/L 1,63 0,48 2,51 0,18
Abreicherung in % 8 17 >99,9
Beprobungsserie im Mai-Dezember 1999; *Kläranlagen (KA) in Berlin: Ruhleben, Schönerlinde, Waßmannsdorf (24-Stunden Mischproben). KA Ruhleben: Verweilzeit des Abwassers in der Kläranlage ca. 18 Stunden, Klärschlammalter ca. 15 Tage.
Im Gegensatz dazu wird eine Substanz wie Koffein, die ebenfalls in Arzneimitteln verwendet wird, jedoch zu einem weit größeren Umfang aus Lebensmitteln hervorgeht, in den Kläranlagen leicht abgebaut und zu mehr als 99 % entfernt (Tabelle 2). Ein Ergebnis dieser Untersuchungen war somit auch, dass Koffein im Gegensatz zu vielen ARM und im Widerspruch zu den Beobachtungen anderer Autoren nicht oder nur schlecht als Indikator (Tracer) von Abwasserverunreinigungen in Oberflächenwässern oder sogar in Grundwässern geeignet ist. So war in einigen Oberflächenwasserproben Koffein nicht nachweisbar obwohl die Abwasseranteile bekannt und andere, besser geeignete Indikatoren (z.B. Carbamazepin, Diclofenac oder Clofibrinsäure) nachweisbar waren (Heberer et al. 2002a). Aufgrund ihrer Persistenz in den Kläranlagen und in der aquatischen Um-
182
Thomas Heberer
welt zeigte sich, dass einige Pharmakarückstände sehr gut und oft besser als Abwassermarker geeignet sind als die bislang verwendeten klassischen Organika (Heberer 2002b). Joss et al. (2005) berichten, dass die biologische Entfernbarkeit der ARM abhängig von den Eigenschaften der jeweiligen Verbindung stark variieren. Sie konnten keine Korrelation zwischen den Strukturen der acht von ihnen untersuchten Substanzen und deren Abbaubarkeit finden. Für diese Verbindungen hatte auch die Variation des Klärschlammalters (zwischen 10 und 80 Tagen) keinen Einfluss auf die Abbauraten. Joss et al. (2005) ermittelten für Ibuprofen eine Abbaurate von mehr als 90 % (Abbau bis unterhalb der Bestimmungsgrenze), weiterhin wurde Naproxen zu 50 bis 80 % und Diclofenac zu 20 bis 40 % entfernt. Carbamazepin war wie in vielen anderen Untersuchen bei der Abwasserklärung nicht (<10 %) entfernbar. Für das Bakteriostatikum Sulfamethoxazol (<10-90 %), das Antibiotikum Roxithromycin (<10-60 %) und das Röntgenkontrastmittel Iopromid (30-90 %) wurden stark variierende Abbauraten gefunden, die nicht abschließend erklärbar waren. Für alle untersuchten Pharmaka spielte die Sorption am Klärschlamm nur eine untergeordnete Rolle, so dass die Autoren zu dem Urteil kamen, dass für Verbindungen mit einem Sorptionskoeffizienten (Kd) von weniger als 300 L/kg eine einfacher Vergleich der in den Zu- bzw. Abläufen gefundenen Rückstände hinreichend ist. Äußere Bedingungen wie die Temperatur, verkürzte Verweilzeiten des Abwassers in der Kläranlage, wie sie bei Mischkanalisationen z.B. bei größeren Niederschlägen auftreten, und plötzliche Änderungen des Sauerstoffgehalts bzw. des Redoxpotentials in den biologischen Klärstufen (z.B. durch den erstärkten Eintrag biologisch abbaubarer Materialien von Straßenabläufen) können bei einigen Verbindungen ebenfalls einen signifikanten Einfluss auf deren Abbau haben. In einer von Ternes et al. (1998) durchgeführten Studie zeigte sich, dass die Abbauraten für verschiedene Pharmaka durch Regenereignisse negativ beeinflusst werden können. Wie in Abbildung 3 gezeigt, stiegen die Konzentrationen für Bezafibrat, Diclofenac, Naproxen und Clofibrinsäure trotz der mit dem Regenereignis verbundenen Verdünnung der Abwässer im Ablauf der Kläranlagen an. Im Fall der ohnehin gut abbaubaren Verbindungen Acetylsalicylsäure bzw. Ibuprofen wurde die Verringerung der Abbauraten ebenfalls beobachtet war jedoch nicht so deutlich ausgeprägt. Es dauerte etwa zwei Tage bis die ursprüngliche Abbauleistung für die Verbindungen wieder erreicht wurde.
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
183
100 90
elimination in %
80 70 60 50 40 30 20 10 0 56,9 (1th day)
ibuprofen acetylsalicylic acid diclofenac naproxen bezafibrate clofibric acid
62,7 (2nd day)
58,6 (3th day)
89,9 (4th day)
62,2 (5th day)
58,1 (6th day)
average flow rate in 10 3 m3 d-1
Abb. 3. Entfernbarkeit verschiedener Pharmakarückstände in einer kommunalen Kläranlage, bei der am 4. Tag der Beprobung ein Regenereignis die Durchflussrate von 60.000 auf 90.000 m3/d erhöhte (Ternes et al. 1998). Reproduziert mit freundlicher Genehmigung von Elsevier Science Publishers.
Ähnliche, im Detail dennoch unterschiedliche Beobachtungen machten Heberer und Feldmann (2004). Im Rahmen ihrer Untersuchungen führte ein Starkregenereignis dazu, dass die Ablaufkonzentrationen des in der mechanisch-biologischen Kläranlage in Berlin-Ruhleben (mit nitrifizierender und denitrifizierender Klärstufe inklusive biologischer Phosphatelimination, Schlammalter: 15 Tage, hydraulische Verweilzeit: 18 Stunden) unter normalen Bedingungen nahezu vollständig abgebauten Antiphlogistikums Ibuprofen von weniger als einem ng/L auf bis zu 630 ng/L anstiegen. Eine Zunahme der Konzentrationen im Ablauf der Kläranlage wurde auch für einige weitere Verbindungen beobachtet (Abb. 4), wohingegen die Konzentrationen der beiden bei dieser Form der Abwasserreinigung nicht oder geringfügig zu entfernenden Antiepileptika Carbamazepin und Primidon aufgrund der Verdünnung abnahmen (Abbildung 5).
184
Thomas Heberer 900 Ibuprofen Naproxen Bezafibrate
800 700 600 500 ng/L 400 300 200 100
3:00 p.m.
12:00 p.m.
9:00 a.m.
6:00 a.m.
3:00 a.m.
9:00 p.m.
12:00 a.m.
6:00 p.m.
3:00 p.m.
12:00 p.m.
6:00 a.m.
9:00 a.m.
3:00 a.m.
9:00 p.m.
12:00 a.m.
3:00 p.m.
6:00 p.m.
0
Abb. 4. Konzentrationsverlauf der im Ablauf der Kläranlage Ruhleben gefundenen Rückstände für die Verbindungen Ibuprofen, Naproxen und Bezafibrat im Verlauf eines Starkregenereignisses (markiert durch den Pfeil).
3000
Carbamazepine Primidone
2500
2000
ng/L 1500 1000
500
3:00 p.m.
12:00 p.m.
9:00 a.m.
6:00 a.m.
3:00 a.m.
12:00 a.m.
9:00 p.m.
6:00 p.m.
3:00 p.m.
12:00 p.m.
9:00 a.m.
6:00 a.m.
3:00 a.m.
12:00 a.m.
9:00 p.m.
6:00 p.m.
3:00 p.m.
0
Abb. 5. Konzentrationsverlauf der im Ablauf der Kläranlage Ruhleben gefundenen Rückstände für die Verbindungen Carbamazepin und Primidon im Verlauf eines Starkregenereignisses (markiert durch den Pfeil).
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
185
Wie in Abbildung 6 dargestellt, ging der Anstieg der Konzentrationen für die Wirkstoffe Ibuprofen, Naproxen und Bezafibrat ging mit einem gleichzeitigen Anstieg der Konzentrationen für Ammonium, Nitrit und Phosphat einher (Heberer und Feldmann 2004).
6,00 Phosphate Ammonia Nitrite
5,00
4,00
mg/L 3,00
2,00
1,00
0,00 3:00 6:00 9:00 12:00 3:00 6:00 9:00 12:00 3:00 p.m. p.m. p.m. 6:00 9:00 12:00 a.m. a.m. a.m. 3:00 a.m. p.m. p.m. p.m. p.m. a.m. a.m.
6:00 a.m.
9:00 12:00 3:00 a.m. p.m. p.m.
Abb. 6. Konzentrationsverlauf für Ammonium, Nitrit und Phosphat im Ablauf der Kläranlage Ruhleben im Verlauf eines Starkregenereignisses (markiert durch den Pfeil).
Für einige Arzneimittel wurden jahreszeitliche Schwankungen der Konzentrationen in den Kläranlagen bzw. den Oberflächengewässern beobachtet, die mit höheren Verbrauchsmengen im Winter (z.B. Antibiotika), besserer Abbaubarkeit ausgewählter Verbindungen in den Kläranlagen (Temperaturabhängigkeit) oder in der Umwelt (z.B. photochemischer Abbau) erklärt werden können (Heberer 2002b, Heberer et al. 2002, Castiglioni et al. (2006)). Umgekehrt gibt es sehr persistente Verbindungen wie die Antiepileptika Carbamazepin und Primidon, die durch veränderte Klärwerksund Umweltbedingungen nicht in ihren Konzentrationen beeinflusst werden und deren Verbrauchsmengen auch nicht jahreszeitlich variieren, da die betroffenen Patienten auf diese Arzneimittel bzw. deren Dosierungen eingestellt und über lange Zeiträume hinweg eingenommen werden.
186
Thomas Heberer
Konzentrationen pharmazeutischer Rückstände in den Abläufen kommunaler Kläranlagen Wie in Tabelle 3 und 4 gezeigt, wurden Rückstände zahlreicher Arzneimittel verschiedenster Verschreibungsklassen wie Analgetika, Antiepileptika, bakteriostatisch wirkende Chemotherapeutika, Blutlipidsenker oder Steroide in Konzentrationen bis in den unteren Pg/L-Bereich in den Abläufen von Berliner Kläranlagen nachgewiesen. Tabelle 3. Mittlere Konzentrationen von ARM, die im Rahmen von Monitoringuntersuchungen in den Abläufen der Berliner Kläranlagen in den Jahren 2000 und 2001 nachgewiesen wurden. Ergebnisse von Tagesmischproben (N=25-40) (Heberer 2002b). Verbindung
An-/Verwendung
AMDOPH
Metabolit von Dimethylaminophenazon Blutlipidsenker Antiepileptikum Metabolit von Blutlipidsenkern in Schmerzmitteln oder Getränken Analgetikum/Antirheumatikum Analgetikum
0,91
Metabolit von Blutlipidsenkern Blutlipidsenker Analgetikum/Antirheumatikum Analgetikum/Antirheumatikum Analgetikum/Antirheumatikum Analgetikum/Antirheumatikum Analgetikum/Antirheumatikum Tranquilizer Durchblutungsförderndes Mittel Analgetikum Antiepileptikum; Sedativum Antiepileptikum Antiepileptikum Analgetikum
1 0,06 0,16 0,51 0,28 0,01 0,22 0,18 0,21 0,52 0,03 0,1 0,64 0,61
Bezafibrat Carbamazepin Clofibrinsäure Koffein Diclofenac Dimethylaminophenazon Fenofibrinsäure Gemfibrozil Ibuprofen Indometacin Ketoprofen Mefenaminsäure Naproxen Oxazepam Pentoxifyllin Phenazon Phenobarbital Phenytoin Primidon Propyphenazon
Mittlere Konzentration in Pg/L
0,70 2,19 0,51 0,21 2,64 0,1
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
187
Tabelle 4. Konzentrationen weiterer ARM und verwandter organischer Verbindungen, die in den Abläufen der Berliner Kläranlagen nachgewiesen wurden. Klöpfer (2000), Hartig et al. (1999), Schmidt und Brockmeyer (2002) und Zühlke et al. (2005). Verbindung
4-Acetylaminoantipyrin Ambroxol Androsteron Cholesterin
Coprostanol
An-/Verwendung
Mittlere Konzentration in Pg/L
Physiologisches Abbauprodukt des Analgetikums Metamizol Mukolytikum Natürliches Hormon Abwassermarker - Steroidalkohol, für den Menschen und höhere tierische Lebewesen typisches (Zoo-)Sterin Abwassermarker - Mikrobielles Abbauprodukt des Cholesterins
1,5-4,8*
Ethinylestradiol Synthetisches Estrogen (EE2)*** („Pillenhormon“) 4-FormylaminoPhysiologisches Abbauprodukt des antipyrin Analgetikums Metamizol 4-Hydroxy-antipyrin Metabolit des Analgetikums Phenazon NA873 Biotransformationsprodukt der Mukolytika Bromhexin und Ambroxol 17ȕ-Estradiol Natürliches Hormon (E2)*** Estriol (E3) Estrogen-Metabolit Estron (E1)*** Estrogen-Metabolit Sitosterol “Phytoestrogen”
0,024-0,13* 0,08 6,75
3,2 0,0017 0,79-6,5* 0,17-2,4* 0,013-0,059* 0,0008 0,03 0,013 1,9
188
Thomas Heberer
Fortsetzung Tabelle 4: Verbindung
An-/Verwendung
Mittlere Konzentration in Pg/L
Salicylsäure
Analgetikum, Antipyretikum, Antiphlogistikum, dermatologisches Antiseptikum und Keratolytikum; Abbauprodukt der Acetylsalicylsäure (Aspirin) aber auch anderer natürlich vorkommender Verbindungen. Einsatz als Konservierungs- (Salben, Tinten, Leimen) und Desinfektionsmittel. Verwendet zur Herstellung von Riechstoffen, Sonnenschutzmitteln und Farbstoffen.
0,04
Sulfadiazin**
bakteriostatisch wirkendes Chemotherapeutikum bakteriostatisch wirkendes Chemotherapeutikum bakteriostatisch wirkendes Chemotherapeutikum Sympathomimetikum
0,05
Sulfamethizol** Sulfamethoxazol** Xylometazolin
<0,01 0,90 0,002-0,009*
* In Berliner Kläranlagenabläufen gemessener Konzentrationsbereich (N=79), Daten von Schmidt und Brockmeyer (2002); ** Daten von Hartig et al. (1999); *** Daten aus Zühlke et al. (2005): Klärwerk Ruhleben, 14.07.-12.10.02, N=18.
Synthetische Estrogene wie das 17Į-Ethinylestradiol (EE2) waren aufgrund ihrer geringen Verschreibungsmengen (nur ca. 50 kg/Jahr in der BRD), ihres Akkumulationspotentials in Klärschlämmen bzw. ihres Abbaus in der Kläranlage (s.u.) nur in Spurenkonzentrationen in den Kläranlagenabläufen nachweisbar (Heberer 2002b; Zühlke et al. 2005). Diese Beobachtung wird auch durch Ergebnisse verschiedener, weiterer Untersuchungen von Klärwerksabläufen in Brasilien, Deutschland, England, Italien und Kanada (Desbrow et al. 1998; Ternes et al. 1999; Baronti et al. 2000) bestätigt. So wurden synthetische Hormone und andere von Menschen ausgeschiedene natürliche Hormone bzw. deren Metabolite wie 17ȕEstradiol (E2), Estron (E1) und Estriol (E3) im unteren ng/L-Bereich in den Klärwerkszuläufen gefunden. In den Abläufen sind die Konzentrationen aufgrund von Sorptions- und/oder Abbauprozessen noch deutlich niedriger, im Bereich oder sogar unterhalb der Nachweisgrenze. Baronti et al. (2000) detektierten eine Durchschnittskonzentration von lediglich 0,45 ng EE2/L in Proben von Klärwerksabläufen in Italien. Dennoch können auch
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
189
diese geringen Konzentrationen aufgrund der hohen Wirksamkeit dieser Verbindungen für abwasserbelastete Oberflächengewässer relevant sein. So beschrieben Routledge et al. (1998) und Purdom et al. (1994), dass in In Vitro Studien bereits die Exposition von Fischen mit 1-10 ng/L E2 bzw. mit 0,1 ng/L EE2 eine Verweiblichung wildlebender männlicher Fische in vielen Spezies hervorrufen kann. Das natürlich in der Umwelt gebildete „Phytoestrogen“ E-Sitosterol wurde im Gegensatz zu den zuvor genannten steroiden Verbindungen in deutlich höheren Konzentrationen (Mittelwert: 1,9 Pg/L) in den Berliner Kläranlagenabläufen gefunden (Heberer 2002b). Dessen endokrines Potential ist jedoch im Vergleich zu den o.g. Verbindungen nur sehr gering, so dass keine Umwelteffekte zu erwarten sind. Frachten an Pharmakarückständen in kommunalen Abwässern Kreuzinger et al. (2004) stellten eine Massenbilanz für den Verbleib von Diclofenac-Rückständen in einer Kläranlage unter Berücksichtigung von dessen Adsorption im Klärschlamm auf und berechneten so eine Abbaurate von 43 % (Abb. 7).
Abb. 7. Massenbilanz für den Abbau und Verbleib von Diclofenac-Rückständen in einer Kläranlage nach Kreuzinger et al. (2004).
Welchen Anteil haben Krankenhausabwässer an der Gesamtfracht der Pharmakarückstände? Und kann die Separation von Urin in Krankenhaustoiletten, der sich eine getrennte Behandlung dieser Abwässer anschließen muss, zu einer signifikanten Verringerung der in die Umwelt eingetragenen Arzneimittelfrachten führen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt der von Heberer und Feldmann (2005a, b) beschriebenen Untersuchungen. So wurden allein für den Ablauf der kommunalen Kläranlage in BerlinRuhleben (Einzugsgebiet für ca. 1 Million Einwohner) jährliche Frachten von jeweils 105 bzw. 226 kg für das Antiepileptikum Carbamazepin und
190
Thomas Heberer
das Antiphlogistikum Diclofenac ermittelt (Heberer und Feldmann 2005a). Im Ggs. zu den Untersuchungen von Kreuzinger et al. (2004), wurde trotz vergleichbarer Klärwerkstechnik im Klärwerk Ruhleben keine signifikante Abreicherung für den Wirkstoff Diclofenac beobachtet. Gleiches gilt für das Antiepileptikum Carbamazepin, für das eine Abreicherungsrate von lediglich 8 % gemessen wurde (Heberer und Feldmann 2005b). Dieses Ergebnis ist jedoch voll im Einklang mit den Ergebnissen aller bislang beschriebenen Untersuchungen (z.B. Clara et al. 2004a). Ein weiteres Ergebnis der Untersuchungen war zudem, dass mit Ausnahme von Röntgenkontrastmitteln, einiger ausgewählter (Reserve-)Antibiotika und von Zytostatika der überwiegende Teil der ARM aus privaten Haushalten und nicht aus Krankenhausabwässern stammt. So lag der Anteil der Krankenhäuser an den Gesamtfrachten für Carbamazepin bzw. Diclofenac im Klärwerk Ruhleben (Abwässer von Krankenhäusern mit ca. 12.600 Krankenhausbetten) unter 20 %. Alder et al. (2004) untersuchten die Frachten von Antibiotikarückständen in den Abläufen verschiedener Kläranlagen in der Schweiz. Wie in Abbildung 8 dargestellt, unterschieden sich die in den je Einwohner berechneten Frachten für die individuellen Verbindungen z.T. deutlich voneinander. So dominierte bei der Untersuchung von Makrolidantibiotika der Wirkstoff Clarithromycin in zwei von drei untersuchten Kläranlagen.
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
191
Abb. 8. Frachten in g je Tag bzw. mg pro Jahr und Einwohner verschiedener Makrolidantibiotika in den mechanisch-biologisch behandelten Abläufen der Klärwerke ZürichWerdhölzli, Kloten-Opfikon und Dübendorf (aus: Alder et al. 2004).
Abbildung 9 zeigt das ebenfalls von Alder et al. (2004) beschriebene Ergebnis der für das Fluoroquinolonantibiotikum Ciprofloxacin berechneten Gesamtfracht und des Massentransfers in der Kläranlage Zürich-Werdhölzli. Nur etwa 10 % der im Zulauf vorhandenen Fracht an Ciprofloxacin passierte die Kläranlage und gelangte über deren Ablauf in die angrenzende Vorflut. Der überwiegende Teil des Ciprofloxacins wurde am Klärschlamm adsorbiert und konnte bei der Klärschlammfaulung unter methanogenen Bedingungen nicht signifikant abgebaut werden (Alder et al. 2004).
192
Thomas Heberer
Abb. 9. Gesamtfracht in kg je Tag und relativer Massentransfer von Ciprofloxacin bei der mechanischen bzw. biologischen Reinigung, bei der Flockungsfiltration und Schlammfaulung in der Kläranlage Zürich-Werdhölzli (100 % entsprechen der im Zulauf gefundenen Fracht) (aus: Alder et al. 2004).
Wie bereits beschrieben, sind die heutzutage verwendeten zweistufigen Kläranlagen, was die Betriebsbedingungen betrifft, jedoch auf die Reduzierung der organischen Gesamtfracht und die Abreicherung von potentiell eutrophierenden Nährstoffen wie Ammonium, Nitrat oder Phosphat hin optimiert. Die Betriebsparameter können deshalb nur in engen Grenzen variiert werden.
Verwendung zusätzlicher Reinigungsverfahren zur verbesserten Entfernung von Arzneimittelrückständen aus kommunalen Abwässern Die Verwendung zusätzlicher Klärstufen unter Verwendung der Membranfiltration oder chemischer Abwasserbehandlungsmethoden wie der Ozonung ermöglicht in vielen Fällen die Entfernung oder zumindest eine weitergehende Verringerung der bei der konventionellen Abwasserreinigung nicht entfernbaren ARM.
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
193
Ozonung In einer von Ternes et al. (2003) beschriebenen Pilotstudie wurde mechanisch-biologisch behandeltes kommunales Abwasser zusätzlich mit Ozon behandelt. Wie in Tabelle 5 zusammengefasst, wurden Rückstände von Antibiotika, Betablockern, Antiphlogistika, Metaboliten von Blutlipidsenkern, dem Antiepileptikum Carbamazepin, dem natürlichen Estrogen E1 und von iodierten Röntgenkontrastmitteln im geklärten Abwasser gefunden, das anschließend mit unterschiedlichen Dosen Ozon versetzt wurde. Nach der Behandlung des Abwassers mit einer Dosis von 10 bis 15 mg Ozon je Liter und einer Kontaktzeit von neun Minuten waren die Substanzen mit Ausnahme der iodierten Röntgenkontrastmittel nicht mehr nachweisbar (Tabelle 5). Weitere nicht für die Abwasserbehandlung optimierte Oxidationsverfahren (O3/UV, O3/H2O2) führten, was die iodierten Röntgenkontrastmittel betrifft, nicht zu besseren Ergebnissen. Tabelle 5. Konzentrationen und prozentuale Abreicherungsraten (in Klammern) von Pharmakarückständen (Bestimmungsgrenze: 0,050 µg/L) und E1 (Bestimmungsgrenze: 0,003 µg/L) im geklärten kommunalen Abwasser vor (n=6) und nach Ozonung (n=2) in Dosen von 5, 10, 15 mg/L O3 (zusammengestellt aus Ternes et al. (2003)). n. b.: nicht bestimmbar (
5 mg/L O3 Pg/L (%)
10/15 mg/L O3 Pg/L (%)
Antibiotika Trimethoprim Sulfamethoxazol Clarithromcin Erythromycin Roxithromycin
0,34 r 0,04 0,62 r 0,05 0,21 r 0,02 0,62 r 0,24 0,54 r 0,04
n.b. (> 85) n.b. (>92) n.b. (>76) n.b. (>92) n.b. (>91)
n.b. (>85) n.b. (>92) n.b. (>76) n.b. (>92) n.b. (>91)
Betablocker Atenolol Sotalol Celiprolol Propranolol Metoprolol
0,36 r 0,01 1,32 r 0,14 0,28 r 0,01 0,18 r 0,01 1,68 r 0,04
0,14 (61) n.b. (>96) n.b. (>82) n.b. (>72) 0,37 (78)
n.b. (>86) n.b. (>96) n.b. (>82) n.b. (>72) n.b. (>93)
Antiepileptika Carbamazepin
2,08 r 0,04
n.b. (>98)
n.b. (>98)
Antiphlogistika Ibuprofen Naproxen
0,13 r 0,03 0,10 r 0,01
0,067 (48) n.b. (>50)
n.b. (>62) n.b. (>50)
194
Thomas Heberer
Fortsetzung Tabelle 5:
Indomethacin Diclofenac Blutlipidsenker Clofibrinsäure Fenofibrinsäure Natürliche Estrogene Estron (E1) Koffein
Konzentration im Abwasser in Pg/L 0,10 r 0,04 1,3 r 0,1
5 mg/L O3 Pg/L (%) n.b. (>50) n.b. (>96)
10/15 mg/L O3 Pg/L (%) n.b. (>50) n.b. (>96)
0,12 r 0,02 0,13 r 0,04
0,060 (50) 0,060 (>62)
n.b. (>59) n.b. (>62)
0,015 r 0,002 0,22 r 0,03
n.b. (>80) 0,11 (50)
n.b. (>80) n.b. (>87)
(33) (42) (0) (34)
(84) (91) (14) (90)
Iodierte Röntgenkontrastmittel Iopamidol 1,1 r 0,1 Iopromide 5,2 r 0,8 Diatrizoate 5,7 r 1,4 Iomeprol 2,3 r 0,1
Membranfiltration Membranbioreaktoren mit Mikro- bzw. Ultrafiltration Der großtechnische Einsatz von Membranen zur Abwasserreinigung wird erst seit wenigen Jahren praktiziert. In Europa wurde die erste Membranbelebungsanlage zur Reinigung kommunalen Abwassers im Jahr 1998 in England (Porlock) betrieben bevor die ersten Anlagen ein Jahr später auch in Deutschland (Rödingen, Büchel) installiert wurden (Kraume et al. 2003). Die heute in Deutschland betriebenen oder im Bau befindlichen Membranbioreaktoren (MBR) unterscheiden sich vor allem darin, dass die Membranen entweder direkt in die Nitrifikationsbecken oder in einem externen, nachgeschalteten Filtrationsbecken installiert werden. Die eingesetzten Mikro- oder Ultrafiltrationsmembranen werden dabei mit leichtem Unterdruck betrieben. Getrennte Membranfiltrationsbecken erfordern wegen der zusätzlich benötigten Rezirkulationsströme einen höheren technischen Aufwand, lassen sich jedoch einfacher chemisch reinigen, um so die Ausbildung von die Filtration störenden Deckschichten auf der Membranoberflächen (Fouling) entgegenzuwirken. Der Einsatz dieser Technik in konventionellen Kläranlagen hat auch signifikante Veränderungen der übrigen Betriebsparameter und damit der gesamten Bemessung der Klärwerke zur
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
195
Folge. In den ersten großtechnischen Membranbelebungsanlagen wurde eine vorgeschaltete Denitrifikation eingesetzt bei der das Volumenverhältnis der anoxischen zur aeroben Zone mit 50:50 % deutlich größer ist als in konventionellen Klärwerken (z. B. 20:80 %). (Zühlke 2004) Erste Untersuchungen von Clara et al. (2004a, b; 2005b) und Joss et al. (2005) zeigten, dass Kläranlagen mit integrierten MBR unter Verwendung von Mikro- oder Ultrafiltrationsmembranen was die Entfernbarkeit von organischen Spurenstoffen betrifft vergleichbare und nur selten bessere Abreicherungsraten liefern als vergleichbare konventionelle Klärwerke. Dies ist vor allem damit zu erklären, dass deren Molekülgröße im Normalfall mehr als 100 mal kleiner ist als die Porengröße der Membranen. Andererseits konnte gezeigt werden, dass die durch den Einsatz der MBR u.U. verlängerten Verweil- und Kontaktzeiten des Klärschlamms in einem verbesserten Abbau einzelner Verbindungen resultieren. Kimura et al. (2005) untersuchten die Fähigkeit von Tauchmembranbioreaktoren zur Entfernbarkeit ausgewählter Pharmakarückstände wie Clofibrinsäure, Diclofenac, Ibuprofen, Ketoprofen, Mefenaminsäure und Naproxen. In diesen Versuchen zeigten die MBR im Vergleich zu konventionellen Anlagen deutlich bessere Abbauraten für Ketoprofen und Naproxen. Für andere Verbindungen waren die Abreicherungsraten vergleichbar. Kimura et al. (2005) stellten auch fest, dass die Effektivität der Abreicherung der ARM von der Molekülstruktur wie der Anzahl der aromatischen Ringe und der Substitution mit Chloratomen abhängt. Zühlke (2004) untersuchte die Leistungsfähigkeit von zwei Membranbelebungsanlagen in Bezug auf die Entfernbarkeit von estrogenen Steroiden und polaren ARM. Diese Untersuchungen wurden auf dem Gelände des Klärwerkes Berlin-Ruhleben im Rahmen des Projektes „Immersed Membrane Filtration“ (IMF) durchgeführt. Dabei wurden zwei Pilotanlagen (PP1 und PP2) parallel zur konventionellen Kläranlage betrieben und ohne Vorklärung mit dem gleichen kommunalem Rohabwasser beschickt. Der Versuchsaufbau ist in Abbildung 10 dargestellt. Er umfasste eine Vorsiebung (Trommelsieb, 1 mm), zwei biologische Reaktoren, zwei Membraneinheiten mit PVDF Modulen (Porengröße von 0,1 bis 0,2 µm, Membranflächen zwischen 8,5 u. 8,9 m2) und ein Steuerungssystem Zühlke (2004).
196
Thomas Heberer
Abb. 10. Schematische Darstellung der Pilotanlagen (PP1 und PP2) mit vor- bzw. nachgeschalteter Denitrifikation unter Angabe der Schlammrückführung (in %). Reproduziert mit freundlicher Genehmigung aus Zühlke (2004).
Zühlke (2004) verglich die Abbauraten der untersuchten estrogenen Steroide und verschiedener Phenazonderivate anhand der in den Zuläufen und den korrespondierenden Abläufen (Klarwasser des Klärwerks Ruhleben und Permeate beider MBRen) der drei Anlagen gefunden Rückstände. Das Schlammalter im Klärwerk Ruhleben lag bei 15 Tagen, die hydraulische Verweilzeit bei rund 18 Stunden. In den MBRen wurde das Schlammalter anfänglich auf 26 Tage eingestellt und später auf 8 Tage verringert. Die hydraulische Verweilzeit wurde entsprechend von 18 auf 11 Stunden reduziert. Wie in Abbildung 11 bzw. in Tabelle 6 gezeigt, wurden für alle drei Steroide sehr gute Abreicherungsraten erzielt. Bei der konventionellen Klärung wurde EE2 zu 78 % und die natürlichen Estrogene bis zu 90 % abgereichert. Die Entfernungsrate des in den höchsten Konzentrationen im Abwasser gefundenen E1 betrug in beiden MBRen bis zu 99% und E2 wurde lediglich in etwa 20 % der untersuchten Permeate oberhalb der Bestimmungsgrenze von 0,4 ng/L gefunden. Das synthetische Steroid („Pillenhormon“) EE2 wurde von beiden Pilotanlagen zu mehr als 88 % entfernt. Die Abreicherung der Steroide in den MBRen war somit signifikant höher als bei der konventionellen Klärung.
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung 1000,0
197
Estron
100,0 10,0 1,0 0,1
Konzentration (ng/L)
100,0
10,0
Jul/Aug Sep/Oct Nov/Dec Jan/Feb Mar/Apr May/Jun Juli/Aug Estradiol 2002 2002 2002 2003 2003 2003 2003 Rohabwasser
KW Ablauf
PP1 Ablauf
PP2 Ablauf
1,0
0,1 36
24
Jul/Aug Sep/Oct Nov/Dec Jan/Feb Mar/Apr May/Jun Juli/Aug Ethinylestradiol 2002 2002 2002 2003 2003 2003 2003 Rohabwasser
KW Ablauf
PP1 Ablauf
PP2 Ablauf
12
0 Jul/Aug Sep/Oct Nov/Dec Jan/Feb Mar/Apr May/Jun Juli/Aug 2002 2002 2002 2003 2003 2003 2003 Rohabwasser
KW Ablauf
PP1 Ablauf
PP2 Ablauf
Abb. 11. Mittlere Konzentrationen von Estron (E1, logarithmische Auftragung), 17E-Estradiol (E2, logarithmische Auftragung) und 17D-Ethinylestradiol (EE2) im Zulauf und den Abläufen des Klärwerks (KW Ablauf) bzw. der MBRen (PP1 und PP2); n=7-14. Reproduziert mit freundlicher Genehmigung aus Zühlke (2004).
198
Thomas Heberer
Auch für die Pyrazolonderivate Phenazon, Propyphenazon, AAA (NAcetyl-4-AminoAntipyrine) und FAA (N-Formyl-4-AminoAntipyrin) wurden, wie in Tabelle 6 zusammengefasst, für die konventionelle Abwasserklärung generell schlechtere Entfernungsraten als bei der Membranbehandlung ermittelt, wobei auch dort eine Verringerung der Rückstände auf maximal die Hälfte der Zulaufkonzentrationen erreicht werden konnte. Tabelle 6. Mittlere Entfernung von estrogenen Steroiden und Phenazonderivaten bei der Abwasserbehandlung im Klärwerk Ruhleben ohne bzw. mit Membranbelebungsanlagen (PP1 und PP2). (Zühlke 2004). Verbindung
mittlere Entfernung PP2 [%]
mittlere Entfernung PP1 [%]
mittlere Entfernung KW [%]
Estron (E1)
98
99
94
Estradiol (E2)
>96*
>95*
>94*
Ethinylestradiol (EE2)
>89*
>88*
78
AAA
50
55
30
FAA
15
36
10
Phenazon
33
45
18
Propyphenazon
13
40
3
* Einzelwerte im Ablauf
Im Gegensatz dazu waren Carbamazepin und AMDOPH (1-Acetyl-1Methyl-2-Dimethyl-Oxamoyl-2-Phenyl-Hydrazid, Metabolit des Analgetikums Dimethylaminophenazon) durch keines der untersuchten Verfahren aus dem Abwasser entfernbar. Dieses Ergebnis wird auch durch die Untersuchungen von Clara et al. (2004b) bestätigt (Abbildung 12), die feststellten das Carbamazepin unabhängig vom Klärschlammalter und der verwendeten Klärwerkstechnik (konventionell oder mit MBR) bei der Abwasserklärung nicht abgebaut oder entfernt wurde.
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
199
Abb. 12. Vergleich der Konzentrationen (Mediane inkl. Standardabweichung) in den Zuund Abläufen einer konventionellen Kläranlage (CASP) mit 7000 (Einwohneräquivalenten) bzw. im Ablauf eines MBR mit Ultrafiltrationseinheit. Reproduziert mit freundlicher Genehmigung von Elsevier Sci. Publ. aus Clara et al. (2004b).
Nanofiltration und Umkehrosmose Im Gegensatz zu den zuvor beschriebenen MBRen, die mit Mikro- oder Ultrafiltrationsmembranen betrieben werden, liegt die „Porengröße“ der Nanofiltrations- und Umkehrosmosemembranen (NF bzw. RO) maximal im Bereich meist jedoch unterhalb der Größe der zu entfernenden Moleküle, so dass eine praktisch vollständige Entfernung der Spurenstoffe möglich ist. Da es sich bei beiden Techniken um Hochdruckverfahren handelt, bei dem das zu reinigende Wasser entgegen dem osmotischen Druck durch die dichte Membran gepresst wird, ist auch ein hoher energetischer Aufwand zur Erzeugung des nötigen Gegendrucks erforderlich. Dieser ist bei RO-Membranen die mit Drücken bis zu 70 bar arbeiten besonders hoch, so dass alternativ die mit weniger Druck arbeitenden, aber auch weniger gut separierenden, NF Membranen Verwendung finden (neu sind zudem sog. ultra-low pressure RO Membranen (ULPRO)). In zahlreichen Untersuchungen konnte inzwischen gezeigt werden, dass estrogene Steroide mit Hilfe der NF bzw. der RO gut oder sogar praktisch vollständig entfernbar sind (Nghiem et al. 2002, Wintgens et al. 2002,
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Thomas Heberer
Schäfer et al. 2003). Xu et al. (2005) und Kimura et al. (2003) erzielten ähnliche Ergebnisse für die von Ihnen untersuchten ARM. Drewes et al. (2002, 2003) untersuchten das Rückhaltevermögen für verschiedene, im konventionell geklärten Abwasser vorkommende ARM bei Bodenpassage (SAT: Soil Aquifer Treatment) und bei der Behandlung mit NF bzw. RO. Ihr besonderes Augenmerk lag dabei auf den bei der konventionellen Klärung als besonders persistent identifizierten Antiepileptika Carbamazepin und Primidon. Das Verhalten der ARM wurde im großtechnischen Maßstab an Standorten im Süden der USA untersucht, an denen bereits über zwei bzw. drei Klärwerksstufen vorgereinigtes kommunales Abwasser mittels SAT, NF oder RO weiterbehandelt wird. Die Untersuchungen zeigten, dass bei der Behandlung mittels SAT die Konzentrationen der untersuchten Analgetika bereits bei Aufenthaltszeiten unter sechs Monaten effektiv bei der Bodenpassage bis unterhalb der Nachweisgrenzen vermindert wurden. Primidon und Carbamazepin wurden mittels SAT selbst nach sechsjähriger Passage im Untergrund noch immer nicht signifikant entfernt (Drewes et al. 2002, 2003). Tabelle 7. Mittlere Konzentrationen von Carbamazepin und Primidon im Abwasser (Scottsdale Water Campus, Arizona, USA) und nach der Behandlung mittels NF bzw. RO [n.n.: nicht nachweisbar; Bestimmungsgrenzen: <1 bzw. <10 ng/L] Reproduziert mit freundlicher Genehmigung aus Drewes et al. (2002). Abwasser (nach 3. Klärstufe)
nach NF
nach RO
in ng/L
in ng/L
in ng/L
Carbamazepin
445
n.n.
n.n.
Primidon
100
< 10
< 10
Anders sah dies bei der Membranfiltration aus, bei der, wie in Tabelle 7 gezeigt, sowohl mittels NF als auch mittels RO sämtliche im Abwasser vorhandenen ARM effektiv entfernt wurden (Drewes et al. 2002). Mit der NF und insbesondere mit der RO stehen somit Technologien zur Verfügung, die eine praktisch vollständige Entfernung von ARM auch aus hochbelasteten Abwässern ermöglichen. Aufgrund des hohen energetischen Aufwands haben diese Verfahren allerdings ihren Preis. Wegen der niedrigeren erforderlichen Drücke stellt die NF aus wirtschaftlicher Sicht die günstigere Methode dar. Beide Verfahren erzeugen zudem neben einem hoch aufgereinigten Abwasser mit annähernder Trinkwasserqualität ein konzentriertes Retentat (Konzentrat), das einer getrennten Behandlung/Entsorgung zugeführt werden muss.
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Abwasserreinigung
201
Abschließende Betrachtungen Rückstände von Humanpharmaka aus deren therapeutischer Anwendung und in geringerem Umfang auch aus der unsachgemäßen Entsorgung nicht verwendeter Präparate über die Toilette gelangen sowohl aus Krankenhäusern überwiegend jedoch aus Privathaushalten in das kommunale Abwasser und die angeschlossenen Klärwerke. In Kläranlagen mit mechanischbiologischen Reinigungsstufen können Teile der Arzneimittelfracht entfernt werden. Es gibt jedoch eine Vielzahl von ARM die nur unvollständig entfernt werden oder die Klärwerke unverändert passieren, so dass weltweit inzwischen mehr als 100 Substanzen im Abwasser bzw. im angrenzenden Oberflächenwasser nachgewiesen wurden. Für einige Verbindungen wurde gezeigt, dass deren Abbau stark von den Betriebsbedingungen abhängt und dass die Verwendung moderner Kläranlagen mit nitrifizierender und denitrifizierender biologischer Klärstufe den weitestgehenden Abbau z. B. des Analgetikums Ibuprofen oder des künstlichen estrogenen Steroids Ethinylestradiol (Pillenhormon) ermöglicht. Umgekehrt können plötzliche Veränderungen der Betriebsbedingungen, wie sie z.B. durch Starkregenereignisse verursacht werden, für einige Verbindungen zu einer dramatischen Verringerung der Abbauraten führen, so dass unter normalen Betriebsbedingungen nahezu vollständig abbaubare Verbindungen, wie das o.g. Ibuprofen, temporär in hohen Konzentrationen im Ablauf der Kläranlagen vorkommen können. Die Betriebsparameter mechanisch-biologischer Klärwerke sind nur in sehr engen Grenzen veränderbar, da sie auf die Entfernung der Hauptbestandteile des Abwassers wie der organischen Gesamtfracht und eutrophierener Nährstoffe (Nitrat, Phosphat etc.) hin optimiert sind und aus technischen bzw. ökonomischen Gründen ebenfalls Limitierungen bestehen, z.B. was die Verweilzeit des Abwassers in der Kläranlage betrifft. Grundsätzlich gilt, dass die heutigen Kläranlagen nicht auf die Entfernung organischer Spurenstoffe hin ausgerichtet sind und dass deren Entfernung bestenfalls ein positiver Nebeneffekt ist. Abhilfe schafft die Verwendung zusätzlicher Reinigungsstufen bei denen die im Abwasser noch vorhandenen ARM mit Hilfe hochentwickelter Verfahren wie der Ozonung oder verschiedener Membranfiltrationstechniken (insbesondere der NF und der RO) weitestgehend oder sogar (nahezu) vollständig entfernt werden können. Hierbei stellt sich jedoch die Frage, ob diese zusätzliche Kosten erfordernden Technologien aus umwelthygienischer bzw. aus öko- bzw. humantoxikologischer Sicht tatsächlich erforderlich sind, oder die Öffentlichkeit das Vorkommen dieser Verbindungen in Spurenkonzentrationen als Ausdruck des zivilisatorischen Einflusses auf den Wasserkreislauf akzeptiert?
202
Thomas Heberer
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Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Trinkwasseraufbereitung Christian Zwiener Universität Karlsruhe(TH), Karlsruhe
Einleitung Die Trinkwassergewinnung greift in Deutschland zu ca. zwei Dritteln auf Grundwässer und zu ca. einem Drittel auf Oberflächengewässer als Ressourcen zurück. Das Auftreten von Arzneimittelrückständen (AMR) in Oberflächenwässern und damit verbunden im Uferfiltrat und zum Teil auch im Grundwasser öffnet somit den Pfad für diese Verbindungen in die Trinkwasseraufbereitung. Arzneimittel haben bedingt durch ihren Einsatzzweck die inhärente Eigenschaft eine biologische Wirkung auszuüben und sind daher als anthropogene Spurenstoffe im Sinne der Vorsorge und Hygiene im Trinkwasser unerwünscht. Generell liegt zwischen den Konzentrationen der AMR in Gewässern und der therapeutischen Dosis ein großer Abstand, so dass eine Gefährdung der Gesundheit durch Aufnahme von AMR mit dem Trinkwasser nicht sehr wahrscheinlich ist (Schmidt 2003). Eine humantoxikologische Bewertung der Wirkungen von AMR in Spurenkonzentrationen bei lebenslanger Aufnahme ist jedoch auf der bestehenden Datenbasis der minimal wirksamen therapeutischen Dosis mit großen Unsicherheiten behaftet. Die Trinkwasserkommission des Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherheit (BMGS) am Umweltbundesamt empfiehlt den Wert von 0,1 Pg/L für humantoxikologisch nur teilweise oder nicht bewertbare trinkwassergängige Stoffe als vorsorgliche Konzentrationsobergrenze im Sinne eines „pragmatischen gesundheitlichen Orientierungswertes“ (GOW) (UBA 2003). Eine Abschätzung des Risikos von AMR für den Menschen über den Pfad Trinkwasser verlangt nach einer Abschätzung der Exposition und erfordert damit die Untersuchung des Verhaltens von Wirkstoffen oder Wirkstoffklassen in den einzelnen Verfahrensschritten der Trinkwasseraufbereitung, wie der Ozonung, Flockung, Filtration, Adsorption an Aktiv-
208
Christian Zwiener
kohle und der Desinfektion. Dabei steht einerseits die Elimination von AMR im Vordergrund, andererseits muss die Transformation von AMR durch Oxidation und Chlorung (Desinfektion) zu sekundären Produkten berücksichtigt werden.
Vorkommen von AMR Ein bundesweit abgestimmtes Messprogramm zeigt das Vorkommen einer breiten Palette an Arzneimittelverbindungen in wässrigen Systemen. In diesem Messprogramm wurden Oberflächengewässer, Grundwässer, Uferfiltrat und Abwässer auf die hauptsächlich auftretenden Verbindungsklassen aus den Gruppen der Betablocker, Broncholytika, Antiphlogistika, Lipidsenker, Antiepileptika, Zytostatika, Steroidhormone, Antibiotika und der iodierten Röntgenkontrastmittel untersucht. Die hauptsächlich auftretenden Verbindungen umfassen iodierte Röntgenkontrastmittel wie Amidotrizoesäure, Iopamidol, Iopromid und Iomeprol, das Antiphlogistikum Diclofenac, das Antiepileptikum Carbamazepin, den Lipidsenker Bezafibrat, sowie die Antibiotika Sulfamethoxazol und Erythromycin (BLAC 2003). In Flüssen wurden Gehalte über 0,5 Pg/L (Medianwerte) gefunden und damit im Vergleich zu Pflanzenschutzmitteln höhere Frachten festgestellt. Beispielsweise betrugen die Jahresfrachten von AMR im Main ca. 1 t iodierte Röntgenkontrastmittel und 300 bis 500 kg andere Wirkstoffe (z.B. Carbamazepin, Diclofenac, Bezafibrat, Phenazon). Dazu vergleichbar lagen die Jahresfrachten für die Harnstoffherbizide Isoproturon und Diuron bei 700 kg bzw. 100 kg (Stroh 2005). In Grundwässern wurden AMR nur in den durch belastete Oberflächenwässer beeinflussten Messstellen im Konzentrationsbereich größer als 0,1 Pg/L nachgewiesen (Sacher et al. 2001). Diese Situation ist vor allem in urbanen, dicht besiedelten Gebieten gegeben, wie am Beispiel von exponierten Grundwässern in Berlin gezeigt werden konnte (Tabelle 1; Heberer et al. 1997; Heberer 2002). Auch iodierte Röntgenkontrastmittel sind häufig anzutreffende Kandidaten in Grundwässern. So zeigten 13 von 17 Grundwasserproben Iopamidol in nachweisbaren Konzentrationen mit Maximalwerten von 2,4 µg/L (Ternes und Hirsch 2000). Das führt dann teilweise zum positiven Nachweis von AMR in Trinkwässern, wie von Clofibrinsäure in Berlin (5 bis 170 ng/L; Heberer 2002), oder von Carbamazepin in den USA (258 ng/L; Stackelberg et al. 2004).
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Trinkwasseraufbereitung
209
Tabelle 1. Konzentrationen von AMR in Grundwasser, das durch belastetes Oberflächenwasser beeinflusst ist (Daten von Heberer et al. 1997; Heberer 2002). Arzneimittelwirkstoff Salicylsäure Ibuprofen Diclofenac Phenazon Clofibrinsäure n.d. nicht detektiert
Konzentrationsbereich in µg/L n.d. … 1,23 n.d. ... 0,20 n.d. ... 0,38 < 0,01 ...1,25 0,07 ... 7,30
In einigen Fällen wurden in Uferfiltratproben AMR über 0,1 µg/L nachgewiesen. Auch Deponiesickerwässer zeigten hohe Konzentrationen an AMR bis weit über 100 µg/L und können im Einzelfall eine bedeutende Eintragsquelle ins Grundwasser darstellen. Im allgemeinen zeichnen sich die in Gewässern und in Trinkwasser vorkommenden AMR durch folgende gemeinsame Eigenschaften aus: x x x x
Persistenz gegenüber biologischem Abbau Chemische Stabilität Hohe Wasserlöslichkeit Geringe Sorptionskoeffizienten
Häufig in Gewässern und in Trinkwasser auftretende AMR sind demnach persistent und hochmobil in wässrigen Systemen wie die Clofibrinsäure – ein Metabolit eines Lipidsenkers –, Sulfamethoxazol – ein Antibiotikum aus der Klasse der Sulfonamide – oder Iopromid – ein Vertreter der iodierten Röntgenkontrastmittel. Zur Abschätzung der Wasserlöslichkeit und des Sorptionsverhaltens von AMR kann der Octanol-Wasser-Verteilungskoeffizient Kow – eine für viele Chemikalien tabellierte physikalisch-chemische Eigenschaft – verwendet werden. In Tabelle 2 finden sich weitere physikalisch-chemische Eigenschaften, wobei vor allem Sulfamethoxazol durch eine sehr hohe Wasserlöslichkeit, einen geringen KowWert und einen kleinen Sorptionskoeffizienten heraussticht. Die chemischen Strukturformeln von häufig in Gewässern auftretenden AMR sind in Abbildung 1 dargestellt. Die physikalisch-chemischen Eigenschaften von Arzneimitteln sind wichtige Indikatoren für die Abschätzung ihres Verhaltens bei den unterschiedlichen Schritten der Trinkwasseraufbereitung wie im folgenden gezeigt wird.
210
Christian Zwiener
Tabelle 2. Physikalisch-chemische Eigenschaften von häufig in Gewässern auftretenden Arzneimitteln (Daten von Westerhoff et al. 2005; Syracuse science center 2002; Jones et al. 2002; Yalkowsky und Dannenfelser 1992). Substanz
log Kow
Bezafibrat Carbamazepin Clofibrinsäure Diclofenac Ibuprofen Iopromid Sulfamethoxazol
3,64 2,25 2,84 4,5 3,97 <0 0,48
L in mg/L 120 582,5 2,37 21 610
pKa
Koc in mL/g 1 677 1 2,3 453 -
3,29 (pH 7-10) 13,94 (pH 7-10) 3,18 (pH 7) 4,18 (pH 7) 4,41 <2; >13 5,81 1,39 Octanol-Wasser-Verteilungskoeffizient Löslichkeit in Wasser; pKa Säurekonstante auf den organischen Kohlenstoff normierten Sorptionskoeffizienten
Kow L Koc
O
O
COOH
N
N H
O
Cl
Carbamazepin
Bezafibrat
HOOC Cl
O
NH2
H N
COOH
Cl
Cl
Clofibrinsäure
Diclofenac OH
COOH
Ibuprofen
I
O HN S O N O
OH O
HN
NH2
Sulfamethoxazol
I
OH N
HN O
I
OH
O
O
Iopromid
Abb. 1. Chemische Strukturen häufig in Gewässern auftretender Arzneimittel.
Verhalten von Arzneimittelrückständen bei der Trinkwasseraufbereitung
211
Verfahrensstufen der Trinkwasseraufbereitung Die Trinkwasseraufbereitung umfasst in einem weiteren Sinne sowohl natürliche als auch technische Prozesse. Unter den natürlichen Prozessen sind physikalische, chemische und biochemische Vorgänge während der Uferfiltration und der Untergrundpassage zu verstehen.
Fluß Flockung
Uferfiltration
Filtration Langsamfiltration Infiltration Oxidation Filtration
AktivkohleAktivkohlefiltration
Desinfektion Verbraucher Abb. 2. Allgemeines Verfahrensschema für die Aufbereitung von Oberflächenwässern zu Trinkwasser.
Unter den technischen Prozessen sind an erster Stelle die Flockung und die Filtration sowie die Langsamsandfiltration zu nennen. Weiterhin spielen die Oxidation mit Ozon, die Adsorption an Aktivkohle und die Desinfektion eine bedeutende Rolle für die Entfernung bzw. die Transformation von AMR. In Abbildung 2 wird eine Verfahrenskombination gezeigt, wie sie typischerweise für die Aufbereitung von Oberflächengewässern zu Trinkwasser verwendet wird. Die Grundwasseraufbereitung ist häufig sehr viel einfacher gestaltet, da die oft sehr gute und konstante Rohwasserqualität geringere Ansprüche an die Leistungsfähigkeit der Aufbereitung stellt. Für Grundwässer besteht die Aufbereitung oft nur aus einer Belüftung zur
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Enteisenung und Entmanganung, einer Filtration und bei Bedarf einer Desinfektion. Die konventionelle Aufbereitung durch Flockung, Sandfiltration und Chlorung lässt nur eine geringe Elimination für sehr viele AMR erwarten, während die Elimination durch Zugabe von Pulveraktivkohle oder die Oxidation mit Ozon entscheidend verbessert werden konnte (Westerhoff et al. 2005). Das heißt, dass vor allem während der Grundwasseraufbereitung nur mit einer geringen Elimination von AMR zu rechnen ist. Verhalten von AMR bei der Uferfiltration und Untergrundpassage Die Uferfiltration nutzt die natürliche Reinigungsleistung von hydraulisch durchlässigem Untergrund als ersten Schritt der Trinkwasseraufbereitung. Dabei infiltriert Oberflächenwasser über die Gewässersohle in den Grundwasserleiter und kann nach entsprechender Untergrundpassage für die Trinkwasseraufbereitung gefasst werden. Ein hydraulischer Gradient vom Oberflächenwasser zur Wasserfassung kann durch den Aufstau des Oberflächengewässers oder durch Pumpen an der Wasserfassung erzeugt werden. Die Reinigungsleistung der Uferfiltration basiert auf den Prozessen der Filtration von partikulären Anteilen, der Adsorption von gelösten Stoffen an die Oberflächen der Aquifermaterialien und der biochemischen Transformation. Weiterhin tritt eine Verdünnung des Oberflächenwassers durch Anteile von Grundwasser auf. Eine unzureichende Elimination kann für alle Stoffe erwartet werden, die eine hohe Wasserlöslichkeit, kleine Sorptionskoeffizienten und eine hohe Persistenz gegenüber biologischem Abbau aufweisen. Beispielsweise wurden für Clofibrinsäure, Carbamazepin, Diclofenac und Ibuprofen nur geringe Sorptionskonstanten gefunden (Scheytt et al. 2005; Matamoros et al. 2005). Clofibrinsäure zeigt in Kiesschichten sogar ein ähnliches Transportverhalten wie der konservative Tracer Bromid. Für Diclofenac und Ibuprofen wurde experimentell eine höhere Mobilität in natürlichen Aquifermaterialien gefunden, wie sie durch Abschätzung über die entsprechenden Octanol-Wasser-Verteilungskoeffizienten erhalten wird. Carbamazepin bewies seine Persistenz und Mobilität in einer Uferfiltrationsstrecke am Rhein (Kühn und Müller 2000; Sacher et al. 1998) und zusammen mit Primidon bei der künstlichen Grundwasseranreicherung (SAT soil aquifer treatment) (Drewes et al. 2002). Auch die häufig positiven Befunde von Röntgenkontrastmitteln im Grundwasser deuten auf deren Persistenz in der aquatischen Umwelt hin. Hier sind v.a.
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die Verbindungen Iopamidol, Iopromid, Diatrizoat und Iothalaminsäure zu nennen (Ternes und Hirsch 2000). Eine Elimination wurde v.a. für biologisch abbaubare Verbindungen gefunden. Bei der künstlichen Grundwasseranreicherung in Arizona (SAT) wurde für verschiedene Verbindungen eine nahezu vollständige Elimination gefunden, wie für Ciprofloxazin, Diclofenac, Gemfibrozil, Ibuprofen, Ketoprofen, Naproxen oder Ofloxazin (Drewes et al. 2002; Sedlak et al. 2004). Trotz ihrer Mobilität zeigten Bezafibrat, Diclofenac und Ibuprofen aufgrund ihrer Abbaubarkeit eine gute Elimination in Modell-Langsamsandfiltern, während das schlecht abbaubare Carbamazepin auch hier nur eine geringe Elimination aufwies (Preuß et al. 2001). Verhalten von AMR bei der Flockung – Filtration In der Wasseraufbereitung wird die Flockung mit dem Ziel der Entfernung partikulärer und gelöster Wasserinhaltsstoffe durchgeführt. Durch Zugabe von Flockungsmitteln – in der Regel Aluminium- oder Eisen(III)salze – werden schwerlösliche Al- bzw. Fe-Hydroxide gebildet, die als voluminöse Niederschläge in Flockenform ausfallen. Die ausfallenden Hydroxide können andere disperse Stoffe in die Flocken einschließen. Eine Elimination von AMR während der Flockung kann sowohl durch suspendierte Partikel als auch durch ausgefällte Hydroxide und Carbonate erfolgen. Dabei werden vor allem Substanzen eliminiert, deren Verteilung oder Adsorption an die partikuläre Phase, an Metallhydroxid-Flocken oder an schwerlösliche Carbonate (v.a. Calciumcarbonat) ausgeprägt ist. Generell lässt sich dieses Verhalten nur für Verbindungen mit log Kow-Werten größer als 5 bis 6 erwarten. Zusammenfassend wurden weder bei der Flockung mit Aluminiumnoch mit Eisensalzen AMR in unterschiedlichen Oberflächenwässern und in einem huminstoffhaltigen Modellwasser zu mehr als 20 % entfernt. Die untersuchten AMR schließen Sulfamethoxazol, Pentoxifyllin, Carbamazepin, Iopromid, Naproxen, Ibuprofen, Diclofenac, Gemfibrozil, Trimethoprim und Acetaminophen ein (Westerhoff et al. 2005). Auch für Clofibrinsäure und Bezafibrat konnte keine signifikante Elimination durch die Eisenflockung nachgewiesen werden (Ternes et al. 2002). Für die als Kontrastmittel für Magnetresonanzuntersuchungen (MRI, magnetic resonance imaging) eingesetzten Gadolinium-Komplexe muss hingegen mit einer Freisetzung von toxischen Gadolinium(III)-Ionen durch Umkomplexierung mit Eisen- und Aluminiumionen gerechnet werden (Abb. 3). Flockungsexperimente unter wasserwerksrelevanten Bedingungen bei einem pH-Wert von 6 zeigten, dass ca. 20 % der ursprünglich vor-
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handenen Gd-DTPA-Komplexe umkomplexiert wurden (DTPA, Diethylentriamin-pentaessigsäure). Von der umgesetzten Menge wird jedoch nur ca. die Hälfte an "freien" Gd-Ionen gemessen. Die andere Hälfte wird über die Flocken eliminiert. Ein ähnliches Bild wird sowohl für die Eisen- als auch für die Al-Flockung erhalten (Zwiener und Frimmel 2006). Das bedeutet für die Praxis der Trinkwasseraufbereitung, dass mit einer mindestens 10 %igen Freisetzung von Gd-Ionen aus Rückständen des MRIKontrastmittels Gd-DTPA während der Flockung gerechnet werden muss. 2-
OH 2 -O
-O
O O
O OO ON
Gd3+
N N
O O-
Abb. 3. Struktur des Gadolinium-DTPA-Komplexes in wässriger Lösung.
Verhalten von AMR bei der Adsorption an Aktivkohle Die Adsorption an Aktivkohle wird generell in der Trinkwasseraufbereitung zur Entfernung gelöster Stoffe eingesetzt. Dabei werden gelöste Moleküle an der Phasengrenzfläche Wasser-Feststoff durch elektrodynamische (van-der-Waals) und elektrostatische Wechselwirkungen – durch sogenannte Oberflächenkräfte – festgehalten. Die Adsorption ist vor allem für unpolare Stoffe effizient, da auch die Aktivkohleoberfläche unpolare Eigenschaften aufweist und Wasser ein stark polares Lösemittel darstellt. Dementsprechend sind vor allem unpolare Stoffe bestrebt aus dem polaren Lösemittel heraus zu gehen und Wechselwirkungen mit der unpolaren Adsorbensoberfläche einzugehen. Als nützliches Maß für den polaren/unpolaren Charakter von Verbindungen hat sich der Octanol-Wasser-Verteilungskoeffizient (Kow) erwiesen. Deshalb haben sich die log Kow-Werte von AMR als geeignete Indikatoren für die Elimination von AMR durch Pulveraktivkohle erwiesen. Dies gilt jedoch nur für Verbindungen die nicht protoniert oder deprotoniert vorliegen und keinen heterozyklisch oder aromatisch gebundenen Stickstoff enthalten (Westerhoff et al. 2005). AMR deren Struktur einen heterocyclischen Stickstoff enthalten, werden bedingt durch elektrostatische Wechselwirkung sehr viel besser an Aktivkohle adsorbiert als von ihren log Kow-Werten zu erwarten wäre. So zeigten die NHeterozyklen Pentoxifyllin und Trimethoprim in Laborversuchen mit
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5 mg/L Aktivkohle und einer Kontaktzeit von 4 Stunden eine Elimination von rund 75 %, während andere Verbindungen mit ähnlichen log KowWerten wie Iopromid (log Kow ~ 0) oder Sulfamethoxazol (log Kow = 0,48), nur eine Elimination von 25 bis 36 % erreichten. Eine unter diesen Bedingungen nahezu quantitative Elimination zwischen 75 % und 100 % kann für Verbindungen mit log Kow-Werten größer als 3 erwartet werden. Arzneimittel mit Säurefunktionen, die bei neutralen pH-Werten deprotoniert vorliegen, zeigen andererseits eine wesentlich geringere Elimination als von ihren log Kow-Werten zu erwarten wäre. Zum Beispiel wird Ibuprofen trotz des relativ hohen log Kow-Wertes von 3,97 nur zu 16 % eliminiert. Zusammenfassend erweist sich die Adsorption an Aktivkohle als effizientes Verfahren zur Entfernung von AMR bei der Wasseraufbereitung. Die unterschiedliche Adsorptionseffizienz für einzelne Verbindungen wirkt sich in der Aufbereitungspraxis in unterschiedlichen Filterlaufzeiten aus. So wurde für Clofibrinsäure der Beginn des Filterdurchbruchs durch eine 160 cm hohe Filterschicht aus granulierter Aktivkohle bereits bei einem spezifischen Durchsatz von 17 m3 Wasser pro kg Aktivkohle festgestellt, während Carbamazepin erst bei 70 m3 kg-1 durchbrach (Ternes et al. 2002). Neben dem Verbrauch an Aktivkohle müssen bei diesem Verfahren auch die Kosten für die Entsorgung oder Regenerierung einkalkuliert werden. Deshalb sind weiterhin oxidative Verfahren, die eine weitgehende Zerstörung der biologisch aktiven Strukturbestandteile der Arzneimittel ermöglichen und rückstandsfrei arbeiten von großem Interesse. Verhalten von AMR bei der Oxidation In der Trinkwasseraufbereitung sind für den Zweck der Oxidation Ozon, Kaliumpermanganat, Wasserstoffperoxid, Natriumperoxodisulfat, Kaliummonopersulfat und Sauerstoff vorgesehen und entsprechend in der Liste der Aufbereitungsstoffe aufgeführt. Chlor und Chlordioxid sind weitere oxidierende Chemikalien, deren Einsatz jedoch nur zum Zweck der Desinfektion zugelassen ist. Ozon ist das am häufigsten verwendete Oxidationsmittel für organische Wasserinhaltsstoffe und wird beispielsweise zur Beseitigung geruchsaktiver oder färbender Verbindungen und zum Teil auch zur Oxidation von anthropogenen Spurenstoffen eingesetzt. Die maximale Zugabe von Ozon ist auf die Konzentration von 10 mg/L begrenzt. Ozon reagiert sehr selektiv mit organischen Verbindungen, wobei die Geschwindigkeitskonstanten einer Reaktion zweiter Ordnung zwischen Ozon und organischen Wasserinhaltsstoffen zwischen 10-1 und 109 L/(mol s) liegen können (Gl. 1). Eine hohe Reaktivität wird vor allem
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für Verbindungen mit Doppelbindungen, aktivierten Aromaten und Heteroatomen wie Stickstoff oder Schwefel gefunden.
d [ AMR] dt
k O 3 [ AMR] [O3 ]
(Gl. 1)
Bei der Reaktion Ozon im Wasser werden durch Ozonzerfall – zum Beispiel durch Umsetzung mit Hydroxidanionen – zusätzlich hoch reaktive OH-Radikale gebildet, die mit vielen organischen Wasserinhaltsstoffen relativ unselektiv mit hohen Geschwindigkeitskonstanten zwischen 107 und 109 L/(mol s) reagieren können. Die Steady-State-Konzentration der OHRadikale die durch Ozonzerfall gebildet werden, ist im Vergleich zur Ozonkonzentration jedoch gering. Das Konzentrationsverhältnis Rc von OHRadikalen zu Ozon liegt bei ca. 10-9. Durch sogenannte Advanced Oxidation-Prozesse (AOP) kann die Konzentration der OH-Radikale wesentlich erhöht werden, wobei Rc von 10-6 erhalten werden können. Damit wird dann auch der Beitrag der OH-Radikale zur gesamten Oxidation von Wasserinhaltsstoffen wesentlich erhöht. AOPs können beispielsweise durch die kombinierte Anwendung von Ozon mit UV-Licht bzw. Wasserstoffperoxid verwirklicht werden. Bedingt durch unterschiedliche chemische Strukturen weisen Arzneimittel unterschiedliche elektronische Eigenschaften auf, die für einen Angriff von Ozon geeignet sind (Abbildung 1). Daher werden bei der Oxidation mit Ozon für unterschiedliche Arzneimittel auch sehr unterschiedliche Geschwindigkeitskonstanten gefunden. Hohe Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten zwischen 105 und 106 L/(mol s) wurden beispielsweise für Diclofenac (Amin), Carbamazepin (Doppelbindung) und Sulfamethoxazole (Amin) gefunden (Tabelle 3; Huber et al. 2003). Verbindungen, die keine reaktiven Zentren für einen Ozonangriff aufweisen, zeigen deutlich kleinere Geschwindigkeitskonstanten wie Bezafibrat (kO3 = 590 L/(mol s)), Clofibrinsäure bzw. Ibuprofen (kO3 = 9,6 L/(mol s)) oder Iopromid (kO3 < 0,8 L/(mol s)). Tabelle 3. Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten für die Reaktion von Ozon bzw. OH-Radikalen mit Arzneimittelwirkstoffen (Daten von Huber et al. 2003): Wirkstoff Diclofenac Sulfamethoxazol Ibuprofen Iopromid
kO3 L/(mol s) 1 x 106 2,5 x 106 9,6 < 0,8
kOH L/(mol s) 7,5 x 109 5,5 x 109 7,4 x 109 3,3 x 109
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Das bedeutet, dass unter wasserwerksrelevanten Bedingungen (Ozonkonzentration 1 mg/L; pH 7 bis 8) die Halbwertszeiten von Carbamazepin, Diclofenac und Sulfamethoxazol kleiner als 0.5 Sekunden betragen. D.h. diese Verbindungen werden während der Ozonung quantitativ zu Oxidationsprodukten transformiert. Eine vollständige Mineralisation wird unter den gegebenen Bedingungen jedoch nicht erwartet. Für eine umfassende Beurteilung der Effizienz der angewendeten Ozonung sind daher Kenntnisse über die Identität und die toxische Relevanz dieser Oxidationsprodukte unverzichtbar. Die Datenlage ist hier noch sehr lückenhaft. Die geringen Reaktionsgeschwindigkeiten von AMR ohne reaktive Zentren lassen den Schluss zu, dass die Direktreaktion von Ozon mit AMR wie Clofibrinsäure, Ibuprofen oder Iopromid keine Bedeutung hat. Diese Verbindungen können nur durch Oxidation über OH-Radikale in ausreichendem Maße entfernt werden. Die Reaktionsgeschwindigkeitskonstanten vieler AMR mit OH-Radikalen liegen vielfach im Bereich von 109 bis 1010 L/(mol s). Am Beispiel der mit Ozon nur sehr langsam reagierenden Verbindungen Clofibrinsäure und Ibuprofen kann die verbesserte Oxidation durch OH-Radikalprozesse verdeutlicht werden (Tabelle 4). In natürlichen Wässern sind jedoch immer Wasserinhaltsstoffe vorhanden, die durch Reaktion um die vorhandenen OH-Radikale konkurrieren. Sie werden als Radikalfänger bezeichnet. An erster Stelle sind hier natürliche organische Verbindungen (der gelöste organische Kohlenstoff, DOC) und Hydrogencarbonat-Ionen zu nennen. Deshalb wird im gezeigten Beispiel eine nahezu vollständige Oxidation von Clofibrinsäure und Ibuprofen in Oberflächenwasser erst bei höheren Oxidationsmittelmengen erreicht (Tabelle 4; Zwiener und Frimmel 2000). Tabelle 4. Elimination von AMR in Laborversuchen durch Ozon und Peroxon (Ozon/Wasserstoffperoxid) (Daten von Zwiener und Frimmel 2000). O3 a 1 mg/L Clofibrinsäure 8 Ibuprofen 12 Diclofenac 96,8 a in destilliertem Wasser b in Oberflächenwasser
Elimination (1-c/c0) x 100% O3/H2O2 b O3/H2O2 b 1/0,4 mg/L 3,7/1,4 mg/L 21,8 92,1 29,2 94,0 99,4 99,5
O3/H2O2 b 5/1,8 mg/L 97,9 99,4 99,9
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Verhalten von AMR bei der Desinfektion – Chlorung Die Desinfektion wird in der Trinkwasseraufbereitung mit dem Ziel der Abtötung von Bakterien und Parasiten und der Inaktivierung von Viren eingesetzt. In Deutschland werden vor allem Ozon, Chlor und Chlordioxid zur Desinfektion verwendet. Ozon wird in den ersten Stufen des Aufbereitungsprozesses zur Oxidation und zur Desinfektion verwendet. Die Desinfektion mit Chlor und Chlordioxid wird hauptsächlich am Ende des Aufbereitungsprozesses und während der Verteilung des Trinkwassers genutzt. Die maximalen Zugabemengen betragen für Chlor 1,2 mg/L und für Chlordioxid 0,4 mg/L. Chlor und Chlordioxid sind neben ihrer Bestimmung als Desinfektionsmittel auch als Oxidationsmittel anzusehen und reagieren nicht nur mit Mikroorganismen sondern auch mit weiteren organischen und anorganischen Wasserinhaltsstoffen unter Bildung oxidierter und chlorierter Nebenprodukte. In diesem Zusammenhang sollte nicht nur die Exposition des Trinkwasserkonsumenten mit den ursprünglichen Spurenstoffen sondern auch mit den bei der Aufbereitung gebildeten Metaboliten und Reaktionsprodukten Berücksichtigung finden. Im Falle der Chlorung sind vor allem chlorierte Produkte zu berücksichtigen. Bisher wurden für eine Reihe von anthropogenen Spurenstoffen chlorierte Nebenprodukte nachgewiesen. Chlor, das in wässriger Lösung in Form der hypochlorigen Säure HOCl vorliegt, reagiert durch nucleophile Substitution bevorzugt mit aktivierten aromatischen Verbindungen (z.B. 1,3-Dihydroxybenzen-Strukturen), aber auch mit Doppelbindungen und Amingruppen. Zur Zeit sind nur sehr wenige Untersuchungen zur Identität der bei der Chlorung gebildeten Transformationsprodukte von AMR sowie ihrer Bildungskinetik in Wässern bekannt. Das Antibiotikum Sulfamethoxazol, ein bedeutender Vertreter der Klasse der Sulfonamide, reagiert mit Chlor vor allem unter Angriff des AnilinStickstoffs (Dodd und Huang 2004). Dabei bilden sich durch Halogenierung am Ring chlorierte Produkte oder durch Bindungsspaltung der Sulfonamidgruppe die Produkte 3-Amino-5-methylisoxazol, Sulfat und NChlor-p-benzochinonimin. Unter trinkwasserrelevanten Bedingungen mit typischen Verweilzeiten von 1 bis 24 Stunden muss mit einer beträchtlichen Transformation von Sulfamethoxazol gerechnet werden. Für die Reaktion des Schmerzmittels Acetaminophen (Paracetamol) mit hypochloriger Säure wurden mehr als 11 Reaktionsprodukte nachgewiesen. Darunter finden sich die 2 Chlorierungsprodukte des aromatischen Rings Chlor-4-acetamidophenol und Dichlor-4-acetamidophenol, die zusammen zu ca. 7 % der ursprünglichen Konzentration an Acetaminophen gebildet werden. Weiter werden zwei toxische Verbindungen 1,4-Benzochinon und N-Acetyl-p-benzochinonimin (NAPQI) zu jeweils 25 % und
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1,5 % der Ausgangskonzentration gebildet (Abb. 4). NAPQI ist auch als toxischer Metabolit bekannt, der bei Überdosierung des Schmerzmittels im Körper des Menschen gebildet wird und durch Leberschäden zu tödlichen Nebenwirkungen führen kann (Bedner und MacCrehan 2006). H HO
N O
Acetaminophen
O
N O
NAPQI
O
O
1,4-Benzochinon
Abb. 4. Strukturen des Schmerzmittels Acetaminophen und dessen Oxidationsprodukten (NAPQI: N-Acetyl-p-benzochinonimin).
Weitere Daten wurden für die Oxidation von AMR durch Chlordioxid publiziert (Huber et al. 2005). Chlordioxid reagiert als stabiles Radikal mit Wasserinhaltsstoffen vor allem durch Elektronentransferreaktionen, bei denen ein Elektron auf das Chlordioxidmolekül übertragen wird. Chlordioxid stellt ein hoch selektives Oxidationsmittel dar und reagiert vor allem mit organischen Verbindungen, die Phenolat-Strukturen oder Aminfunktionen in neutraler Form aufweisen. Da diese Strukturelemente auch Bestandteil vieler Arzneimittel darstellen, wird erwartet, dass Chlordioxid trotz seines gegenüber Ozon geringeren Oxidationspotentials einige der AMR in Wasser oxidieren kann. So zeigten einige der ausgewählten Verbindungen beträchtliche Reaktivität mit Chlordioxid, wie Sulfamethoxazol (k = 6,7 x 103 L/(mol s)), Roxithromycin (k = 2,2 x 102 L/(mol s)) und Diclofenac (k = 1,05 x 104 L/(mol s)). Viele AMR, wie Bezafibrat, Carbamazepin (neutral), Diazepam (neutral), Ibuprofen oder Iopromid erwiesen sich aber als refraktär gegenüber Chlordioxid. Zusammenfassend zeigte Chlordioxid im Vergleich zu Ozon sehr viel langsamere Reaktionsgeschwindigkeiten und reagierte sehr selektiv mit nur wenigen AMR.
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Zusammenfassung Arzneimittelrückstände werden in Spurenkonzentrationen in Oberflächen- und Grundwässern nachgewiesen und können bei Verwendung dieser Gewässer über die Trinkwasseraufbereitung bis ins Trinkwasser gelangen. Dort sind sie als anthropogene Spurenverunreinigungen aus Abwässern im Sinne des Vorsorgeprinzips und der Hygiene unerwünscht. Zur Abschätzung der möglichen Exposition des Menschen über den Pfad des Trinkwassers sind deshalb die Möglichkeiten einzelner Verfahrensschritte der Trinkwasseraufbereitung zur Elimination von AMR von zentralem Interesse. Neben der Elimination muss das Augenmerk auch auf die Transformation von AMR durch die Oxidation und Desinfektion gelegt werden. Im allgemeinen werden in Oberflächen- und Grundwässern vor allem solche Arzneimittel gefunden, die eine hohe Persistenz und eine gute Wasserlöslichkeit besitzen und gleichzeitig in ausreichend hohen Mengen angewendet werden. Das bedeutet, dass die biologisch schlecht abbaubaren und in wässrigen Systemen hoch mobilen AMR wenig Elimination während der Uferfiltration und der Untergrundpassage erfahren. Eine erhebliche Konzentrationsverringerung erfahren hingegen nur solche Verbindungen, die bei der Uferfiltration oder der Langsamsandfiltration leicht biologisch abbaubar sind oder sich durch hohe Sorptionskoeffizienten auszeichnen. Auch durch Flockung und Filtration wird die Konzentration vieler AMR nur in sehr unzureichendem Ausmaß verringert. Im Fall der als Kontrastmittel für die Kernspintomographie eingesetzten GadoliniumKomplexe wird durch die Flockung mit Eisen(III)- bzw. Aluminiumsalzen sogar ein Teil der toxischen Gd(III)-Ionen durch Umkomplexierung freigesetzt. Die Adsorption an Aktivkohle erweist sich als effizientes Verfahren zur Entfernung vieler verschiedener AMR. Für eine Abschätzung der Eliminierbarkeit unterschiedlicher Substanzen hat sich der Octanol-WasserVerteilungskoeffizient bewährt. Die unterschiedliche Adsorptionseffizienz einzelner Verbindungen wirkt sich in der Aufbereitungspraxis in unterschiedlichen Filterlaufzeiten aus. Neben dem Verbrauch an Aktivkohle müssen dabei auch die Kosten für die Entsorgung oder Regenerierung einkalkuliert werden. Die Oxidation von AMR mit Ozon erweist sich als selektives Verfahren, denn nur Verbindungen mit elektronenreichen Strukturelementen, wie Doppelbindungen (z.B. Carbamazepin), aktivierten Aromaten und Heteroatomen wie Stickstoff (z.B. Sulfamethoxazol) oder Schwefel, reagieren in
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ausreichendem Maße. Die Kenntnis der Bildung von Oxidationsprodukten einschließlich ihrer Identität und toxikologischen Relevanz ist zur Zeit noch sehr lückenhaft. Für eine umfassende Beurteilung der Effizienz der angewendeten Ozonung sind diese Daten jedoch unverzichtbar. Für AMR ohne reaktive Zentren, wie z. B. Clofibrinsäure, Ibuprofen oder Iopromid, spielen Direktreaktionen mit Ozon nur eine geringe Rolle. Diese Verbindungen können nur durch Oxidation über OH-Radikale in ausreichendem Maße entfernt werden, wie am Beispiel der Anwendung des Peroxon-Prozesses (Wasserstoffperoxid/Ozon) gezeigt werden konnte. Die Desinfektion wird bestimmungsgemäß nur für die Verringerung der mikrobiologischen Belastung und generell nicht zur oxidativen Elimination von Spurenstoffen eingesetzt. Die verwendeten Desinfektionsmittel reagieren jedoch auch als Oxidationsmittel, weshalb mit der oxidativen Transformation von AMR durch Chlor und Chlordioxid zu rechnen ist. Bisher liegen nur wenige Kenntnisse zur Bildung von Transformationsprodukten bei der Desinfektion vor. Das Beispiel der Reaktion des Schmerzmittelwirkstoffs Acetaminophen mit Chlor verdeutlicht jedoch die Bedeutung dieser Reaktionen. Sie führen nicht nur zur Bildung zweier chlorierter Produkte, sondern auch zur Bildung zweier humantoxischer Oxidationsprodukte, die bereits in Zusammenhang mit der lethalen Wirkung von Überdosen an Acetaminophen bekannt wurden. Zusammenfassend sind vor allem die Adsorption an Aktivkohle und die Oxidation für eine nennenswerte Elimination von AMR bei der Wasseraufbereitung geeignet. Diese Verfahren werden generell bei der Aufbereitung von Oberflächenwässern eingesetzt. AMR in Grundwässern, die als Rohwasserressourcen für die Trinkwasseraufbereitung verwendet werden, sind deshalb als sehr kritisch zu betrachten, weil Grundwässer vielfach nicht oder nur sehr einfach aufbereitet werden, bevor sie als Trinkwasser dienen. Hier ist keine Elimination der Verbindungen zu erwarten. Unter den weitergehenden, über die konventionelle Trinkwasseraufbereitung hinausgehenden, Verfahren sind sicher die Advanced Oxidation Processes (AOP) von grossem Interesse. Der Peroxonprozess kann bei einer vorhandenen Ozonungsanlage einfach durch zusätzliche Dosierung von Wasserstoffperoxid verwirklicht werden. Als weitere Varianten von AOPs sind der Fentonprozess und die photokatalytische Oxidation mit Titandioxid zu nennen. Vor allem für die iodierten Röntgenkontrastmittel bietet die elektrochemische reduktive Dehalogenierung die Basis für ein neues Verfahren. Schließlich sollte die Umkehrosmose und in gewissen Fällen die Nanofiltration nicht vergessen werden. Die ökonomische und verfahrenstechnische Effizienz dieser Verfahren steigt jedoch beträchtlich mit der Zunahme der Konzentration der Kontaminanten. Daher scheint die Anwendung dieser Verfahren auf der Seite der Emission attraktiver. Auf
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der Emissionsseite, mit Abwässern beispilesweise von speziellen Untersuchungspraxen oder Krankenhäusern, liegen die AMR noch in höheren Konzentrationen vor. Somit kommt im Fall der AMR auch das Prinzip der vorsorgenden Vermeidung oder Verminderung von Emissionen zum Tragen, dem vor End-Of-Pipe-Lösungen der Vorzug gegeben werden sollte.
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Fazit Fritz Frimmel, Margit Müller Universität Karlsruhe (TH), Karlsruhe
Einleitung Der Segen richtiger medikamentöser Behandlung steht außer Zweifel. Wir alle brauchen sie, gebrauchen sie oder sind sogar von ihr abhängig. Diese Abhängigkeit wird nach der demographischen Prognose noch steigen. Die zentrale Bedeutung der Arzneimittel in unserem Leben birgt aber auch mögliche Gefahren, die vom direkten human- und tiermedizinischen Anwendungsbereich bis zu ihrem unkontrollierten Auftreten in der Umwelt reichen. Obwohl die Konzentrationen, in denen Arzneimittelwirkstoffe in Gewässern auftreten, meist im Bereich von Submikrogramm pro Liter liegen, konnten auch für solch niedrige Konzentrationen bereits Wirkungen auf lebende Organismen bzw. suborganismische Strukturen nachgewiesen werden (Purdom et al. 1994, Desbrow et al. 1998, Routledge et al. 1998, Pomati et al. 2006). Belastbare Daten zur Ursache-Wirkungsbeziehung oder zur Risikoabschätzung sind allerdings immer noch wenig verfügbar. Auch fehlten bis vor einiger Zeit weitergehende Informationen über das Verhalten von Arzneimittelwirkstoffen in Ökosystemen und bei der Abwasserbehandlung und Wassernutzung. Die stürmische Entwicklung auf dem Gebiet der instrumentellen Spurenanalytik erlaubt es allerdings, auch in diesen Bereichen zuverlässige Messwerte zu sammeln und Stoffströme zu ermitteln. Ziel dieses Fazits ist es, ausgewählte Informationen aus den vorhergehenden Kapiteln dieses Buches aufzugreifen und zusammenzuführen sowie Überlegungen anzustellen, wie ein möglichst umweltverträglicher und nachhaltiger Umgang mit Arzneimitteln realisiert werden könnte. Dabei wird im folgenden der „Lebensweg“ von Arzneimittel(wirkstoffen), bestehend aus Produktion, Gebrauch, Entsorgung und Verbleib betrachtet.
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Fritz Frimmel, Margit Müller
Identifizierung wichtiger Schaltstellen in den Stoffströmen der Arzneimittel Arzneimittel können auf vielfältige Art in die Umwelt gelangen. Die einzelnen Wege zu kennen, ist die Voraussetzung dafür, vermeidbare Einträge zu identifizieren. Abbildung 1 zeigt qualitativ die Pfade von der Produktion der Arzneimittel(wirkstoffe) über ihren Gebrauch und die Entsorgung bis zum Verbleib. Produktion
Gebrauch
• Produktionsabfälle
Entsorgung
Verbleib
• stoffliche Verwertung
• Produktionskreislauf
• thermische Verwertung • Verbrennung
• Wirkstoffe
• Krankenhäuser
• Kläranlagen
• Arztpraxen • Haushalte
• spezielle Aufbereitungsverfahren für hochwirksame und persistente Stoffe
• Viehzucht (inkl. Aquakultur)
• Rückgabe (z. B. bei Apotheken)
• Deponie
• Vorfluter (Oberflächengewässer); Grundwasser
• Hausmüll
• Deponie
• Toilette
• Boden, Grundwasser; Gewässer
• Ausbringung auf Äcker (Gülle, Mist)
Abb. 1. Schematische Darstellung des Lebenswegs von Arzneimitteln. Kursiv: Aus Umweltschutzgründen unerwünschte Alternativen der Entsorgung / des Verbleibs; nicht kursiv: Zu bevorzugende Alternativen.
Produktion Die Produktion von Arzneimitteln führt trotz intensiver Bemühungen um die integrierte Kreislaufführung des Wassers zu Abwasser. Seine spezifische Menge hängt vom Produkt und vom technischen Entwicklungsstand der Produktionsanlage ab. Hier ist zweifelsohne ein wichtiger Ansatzpunkt für umweltschützende Vermeidungsstrategien. Die pharmazeutische Industrie hat bereits große Anstrengungen unternommen, um die Emissionen in die Umwelt zu minimieren. Neben der Kreislaufführung des Wassers im Produktionsprozess ist hier die Nassoxidation von Prozessabwässern zu nennen, bei der das Ziel
Fazit
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verfolgt wird, die biologisch resistenten Arzneimittelrückstände vollständig zu oxidieren oder sie oxidativ so weit aufzuschließen, dass sie dem mikrobiologischen Abbau in der Kläranlage zugeführt werden können. Besonders hartnäckige Reststoffe in Produktionsabwässern können auch pyrolytisch entsorgt werden. Die Verbrennung ist zwar eine energieaufwändige Technik; sie lässt sich heute aber umweltschonend durchführen. Die Rückgewinnung und Wiederverwendung von Wirkstoff(bestandteilen), wie z. B. des Iods der iodierten Röntgenkontrastmittel, verbessern zusätzlich die Wirtschaftlichkeit (vgl. S. 29-49). Die technischen Fortschritte bei der zentralen, produktionsnahen Entsorgung lassen es attraktiv erscheinen, diese Systeme auch für die Entsorgung z. B. nichtverwendeter und überalterter Produkte zu verwenden. Auch eine entsorgende Aufarbeitung von im Urin enthaltenen Arzneimitteln vor allem aus dem Bereich der Intensivmedizin von Krankenhäusern und Praxen wäre denkbar. Ein alternativer Ansatz sollte sich mit dem Design der Arzneimittel befassen. Die Nutzung pharmazeutisch wirksamer Naturstoffe und die Synthese solcher Wirksubstanzen, die mikrobiologisch gut abbaubar, damit durch konventionelle Abwasserbehandlungen eliminierbar und ökologisch unbedenklich sind, stellen hier eine große Herausforderung für die Pharmaindustrie sowie u. U. eine Chance für spezialisierte klein- und mittelständische Betriebe dar. Es gilt auch hier, dass die Lösung eines erkennbaren Problems am Ursprung seines Entstehens weit günstiger ist als die "end of pipe" Strategie. Diese Anwendung der "sanften Chemie" oder "green chemistry", wie sie international genannt wird, schließt auch die ökologischen Aspekte des Herstellungsprozesses mit ein. Das gewässerschützende Produktdesign kann durch eine verantwortungsbewusste und noch besser am Einzelfall der Patienten ausgerichtete Verschreibungspraxis flankiert werden. Die Kennzeichnung besonders umweltverträglicher und auch so hergestellter Produkte lässt sich darüber hinaus sowohl aus dem Blickwinkel der Vermarktung als auch dem des bewussten Konsumverhaltens nutzen. Gebrauch Weit schwieriger als für die Schwerpunkte der Produktion und der stationären oder ambulanten Anwendung wird es sein, Entsorgungsstrategien für den individuellen Gebrauch und damit für die diffuse Abgabe von Arzneimittelrückständen zu finden. Der Patient mit seinem Konsumverhalten stellt ein wesentliches Glied in der Nutzungskette der Arzneimittel dar. Auch wenn er als Individuum kaum einen Einfluss hat, so besitzt er doch in seiner integralen Gesamtheit ein ungeheures Potenzial, das es zu nutzen
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gilt. Die Vielseitigkeit der medikamentösen Behandlungen und die unterschiedlichen Arten und Motivationen des Gebrauchs von pharmazeutischen Produkten machen es zwar schwer, eine einheitliche Strategie für den Umgang mit ihnen zu entwickeln. Frühzeitige Information der Patienten könnten jedoch das Bewusstsein für einen maßvollen, umweltverträglichen privaten Gebrauch von Medikamenten wecken. Im Zusammenwirken mit den Medizinern wären darüber hinaus, wo immer möglich und medizinisch vertretbar, auch medikamentenarme oder sogar -freie Therapien zu erproben. In den letzten Jahren wurde beispielsweise zunehmend klar, dass sich allein durch die Umstellung der Lebensgewohnheiten, insbesondere die Ernährung, beachtliche Erfolge erzielen lassen. Diese Erkenntnisse sollten verstärkt für die Krankheitsprävention genutzt und in die Tat umgesetzt werden. Als Beispiel für eine medikamentenfreie Therapie kann die Schmerzbehandlung mit Akkupunktur genannt werden. Die effektive Vermeidungsstrategie ist hier besonders sichtbar. Auch im Hinblick auf die Entsorgung ungenutzter Arzneimittel können durch eine verbesserte Information der Verbraucher sicherlich noch Fortschritte erreicht werden. Die aus dem Hortungstrieb resultierende ungeordnete Entsorgung ist wenig belegt, aber dennoch zu beklagen. Der hohe Anschlussgrad in industrialisierten Ländern und Ballungsregionen an zentrale Abwasserbehandlungsanlagen stellt zwar generell eine gute Voraussetzung für eine geordnete Entsorgung von ausgeschiedenen oder „wild“ über die Toilette entsorgten Medikamenten dar; sie wird aber erst dann voll zum Tragen kommen, wenn die Kläranlagen auch für die Eliminierung persistenter Arzneimittelrückstände ertüchtigt werden. Solange dies nicht der Fall ist, sollte ein Eintrag ins Abwasser eher vermieden werden. Rücknahmesysteme, wie sie z. B. für Batterien, Getränkeflaschen und andere Wertstoffe aufgebaut wurden, könnten auch für das Einsammeln von nicht weiter genutzten Arzneimitteln geschaffen werden. Ihre Nutzung könnte durch verschiedene Anreize (Kostenerstattung, Prämien, Rabatte etc.) gefördert werden. Eine teilweise stoffliche Wiederverwendung würde sich auch hier positiv auf die Wirtschaftlichkeit der Produktionsverfahren auswirken. Noch größer ist jedoch zweifelsohne der Nutzen für die Umwelt und die uns nachfolgenden Generationen.
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Entsorgung Stoffströme zu vermeiden und zu verringern kann zweifelsfrei als der Königsweg gelten. Wo er nicht beschritten werden kann, müssen bestehende Entsorgungslösungen verbessert oder neue geschaffen werden. Für die konventionellen Kläranlagen ist eine vierte Reinigungsstufe, deren Entwicklung von den Erfahrungen bei der Entsorgung von Produktionsabwässern profitieren könnte, denkbar; sie wird aber auf die NiedrigdosisSituation der Zielsubstanzen auszurichten sein. Generell bietet sich eine effiziente Behandlung möglichst nahe am Ort der Produktion bzw. unmittelbar nach dem Gebrauch der Wirkstoffe an. Die arzneimittelspezifische Ertüchtigung klassischer technischer Maßnahmen sowie der Einsatz neuartiger Verfahren („emerging technologies“) sind hier gefragt. Beispiele für praxistaugliche Ansätze sind die Steigerung des Schlammalters bei der biologischen Abwasserbehandlung oder der Einsatz der aktivierten Oxidationsverfahren (AOP, Advanced Oxidation Processes), die einen relativ unselektiven (Breitbandwirkung) und schnellen Abbau ermöglichen (s. Tabelle 1). Tabelle 1. Überblick über verschiedene, für Pharmaka geeignete, Oxidations- und Abbauverfahren. Methode Ozonung
Wirkmechanismus Spaltung von Doppelbindungen und Benzolringen (mäßig schnell) AOPs * Unselektiver OH-Radikal-Angriff mit Bindungsbruch (schnell) Photokatalyse Sorption und OH-Radikal-Angriff mit Bindungsbruch (schnell) Anaerober Bioabbau Dehalogenierung (langsam) Aerober Bioabbau Oxidative Mineralisierung (langsam) *Aktivierte Oxidationsverfahren (Advanced Oxidation Processes)
Darüber hinaus wurden sog. Hybridverfahren entwickelt, bei denen z. B. Arzneimittel aus der Wasserphase an feinverteilte Partikel (Adsorbentien) angelagert und die beladenen Teilchen mit Hilfe der Membranfiltration (Ultra- oder Nanofiltration) aus der Lösung abgetrennt werden können (Abb. 2). Zusätzlich ist ein photokatalytischer Abbau (Katalysator TiO2) bzw. eine Teiloxidation der Wirkstoffe möglich.
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Membranfiltration inkl. Rückspüleinheit Reinwasser
Permeat
oder zur Kläranlage
Konzentrat
KAT (Regenerierung)
Wasser + Schadstoffe
Photokatalyse
TiO2-Suspension
E
Abb. 2. Hybridverfahren aus photokatalytischer Oxidation und Membranfiltration für die Aufbereitung schadstoffhaltiger Wässer. E: Energieeintrag. (Schema stark vereinfacht nach: Doll, T. E. und Frimmel, F. H. (2005), Wat. Res. 39: 847-854).
Die kontinuierliche Regenerierung der Adsorbentien und ihre Wiederverwendung (Rezirkulation) machen diese Verfahren besonders attraktiv und umweltfreundlich. Sie eignen sich vor allem zum Einsatz an Orten, wo größere Mengen an mit Arzneimitteln beladenem Urin anfallen, wie es in Kliniken, Spezialpraxen, Altenheimen und Rehabilitationszentren der Fall ist. Die isolierte Sammlung des Urins ist nötig, um die Funktionssicherheit der Anlagen zu gewährleisten. Verbleib Das Ziel eines nachhaltigen Umgangs mit Arzneimitteln muss es sein, die Menge der Wirkstoffe, die in die Umwelt eingetragen werden, möglichst zu minimieren und das Stoffspektrum durch geeignete Produktionsund Entsorgungsstrategien dahingehend zu ändern, dass keine oder zumindest wenig persistente Reststoffe mit möglichst schwach ausgeprägten, ökologisch relevanten Wirkungen zurückbleiben. Selbstverständlich muss die vernünftige Forderung nach einer zukunftsgerichteten Bewirtschaftung der Gewässer eine hohe Priorität haben, da qualitativ einwandfreies
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Wasser eine essenzielle Grundlage des Lebens auf dieser Erde darstellt (Frimmel 1999). Diese Ziele zu erreichen, ist ein ehrgeiziges, aber notwendiges Vorhaben, das die Kooperation aller – vom Produzenten bis zum Nutzer – erfordert. Die Kardinalfrage sowohl im persönlichen wie im übergeordneten Gefüge wird sein, wie viel wir uns leisten können und wollen. Eine zufriedenstellende Antwort darauf muss sowohl ökologische, ökonomische wie soziale Komponenten berücksichtigen (Abb. 3).
FREIWILLIGER VERZICHT Arzt
INFORMATION
Verbraucher (Patient)
Individuelle Nutzung
Herstellung
Pharmaproduzent
Arzneimittel Wissenschaftler
Ökotoxikol. Beurteilung
Entwicklung
Entsorgung
Pharmaforscher
WIRTSCHAFTLICHER ANREIZ
Verordnete Anwendung
Technologe
ORDNUNGSRECHT Abb. 3. Aspekte und Akteure für den nachhaltigen Umgang mit Arzneimitteln.
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Ausblick Ziel des Kolloquiums, dessen Vorträge hier zusammengestellt sind, war eine Standortbestimmung aus den verschiedenen Blickrichtungen der beteiligten Akteure. Es ist zu hoffen, dass sich aus der Diskussion Impulse für eine nachhaltige Produktion und einen verantwortungsbewussten Einsatz von Medikamenten ergeben. Die Pflicht zur Vorsorge, damit wir später nicht zu viel heilen müssen, gilt für den Umgang mit Arzneimitteln ganz besonders.
Literatur Desbrow, C., Routledge, E. J., Brighty, G. C., Sumpter, J. P., Waldock, M. (1998): Identification of estrogenic chemicals in STW effluent. I: Chemical fractionation and in vitro biological screening. Environ. Sci. Technol. 32: 1549-1558. Doll, T. E., Frimmel, F. H. (2005): Cross-flow microfiltration with periodical back-washing for photocatalytic degradation of pharmaceutical and diagnostic residues-evaluation of the long-term stability of the photocatalytic activity of TiO2. Wat. Res. 39: 847-854. Frimmel, F. H. (Hrsg.): Wasser und Gewässer. Spektrum Akademischer Verlag GmbH, Heidelberg. 1. Auflage, 1999. Pomati, F., Castiglioni, S., Zuccato, E., Fanelli, R., Vigetti, D., Rossetti, C., Calamari, D. (2006): Effects of a complex mixture of therapeutic drugs at environmental levels on human embryonic cells. Environ. Sci. Technol. 40 : 2442-2447. Purdom C. E., Hardiman P. A., Bye V. J., Eno N. C., Tyler C. R., Sumpter J. P. (1994): Oestrogenic effects of effluent from sewage treatment works. Chem. Ecol. 8, 275-285. Routledge, E. J., Sheahan, D., Desbrow, C., Brighty, G. C., Waldock, M., Sumpter, J. P. (1998): Identification of estrogenic chemicals in STW effluent. II: In vivo responses in trout and roach. Environ. Sci. Technol. 32: 1559-1565.