Burt Frederick
Hexenhölle
Es war dieser jammervolle Laut, der den Schweden stutzen ließ.
Stenmark blieb stehen und...
44 downloads
688 Views
944KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Burt Frederick
Hexenhölle
Es war dieser jammervolle Laut, der den Schweden stutzen ließ.
Stenmark blieb stehen und horchte in die Stille, die nach dem Verklingen seiner eigenen
Schritte entstand. Die Gasse war finster. Eine einsame Ölfunzel, fünf Yards entfernt,
brachte nicht mehr Licht, als ein Glitzern auf dem nassen Steinpflaster. Alles andere
wurde von Nacht und Nebel verschluckt.
Scbwarzgraue Schwaden standen wie eine feste Masse zwischen den Giebeln. Wieder
dieser Klagelaut. Stenmark zog die Stirn in dichte Falten. Unwillkürlich tastete er nach
dem Griff der Pistole im Gurt.
Im ersten Moment hatte er es nicht für eine menschliche Stimme gehalten. Eher hätte
er an eine Katze gedacht, die gequält wurde. Der Londoner Nebel, diese hohe
Luftfeuchtigkeit, konnte Töne auf eine solche Weise verfremden, daß man sich die
unmöglichsten Dinge einbildete. Daran hatte sich der Schwede mittlerweile gewöhnt.
Jäh wurden das Klagen und Jammern zum Schrei...
Die Hauptpersonen des Romans: Stenmark - auf der nächtlichen Heimkehr zur Schebecke gerät der blonde Schwe de in eine Schlägerei mit unerwarteten Folgen. Esther Ransom - die hübsche Londonerin nimmt sich der Ärmsten der Armen an und wird als Hexe verketzert. Gordon Sheehy- der ehemalige Geistliche betätigt sich als Spitzel und Denunziant und wandelt nicht auf Gottes Pfaden. James Alsworth - der ehrenwerte Lord bekleidet ein Regierungsamt, das er je doch für eigene Zwecke mißbraucht. Rufus Halpine - der Schotte huldigt dem Suff und wird schuldig an jenen, die ihm helfen wollen. Philip Hasard Killigrew - der Seewolf hat etwas dagegen, daß eine hübsche Frau auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird.
1. Stenmark setzte sich in Bewegung. Er zerknirschte einen Fluch auf den Zähnen. Diese graue Suppe gab ihm das Gefühl, sich ständig in einer rechteckigen Grube zu befinden - ei nerlei, ob er sich nun vorwärts oder rückwärts bewegte. Die Längsseiten der Grube, das wa ren die Hauswände. Die Schmalsei ten wurden von jenem Schwarzgrau gebildet, das ebenfalls wie eine Wand wirkte. Verdammt lästig war das. Ge radeso, als schleppe man dieses Ge viert ständig mit sich herum. Der Schrei gellte. Stenmark bemühte sich, seine Stie felsohlen leise aufzusetzen. Anderer seits, so sagte er sich, hatten ihn der oder die Peiniger des armen Men schenwesens bis jetzt noch nicht be merkt. Dabei hörte es sich ganz so an, als spiele sich diese teuflische Quäle rei in ziemlicher Nähe ab. Und es war noch völlig unklar, ob es sich bei dem Mißhandelten um eine Frau oder ei nen Mann handelte. Vielleicht gar ein Kind? Die Sinne des Schweden gerieten in Aufruhr. O verflucht, wenn das letz
tere der Fall war, dann würde aber auch alles bei ihm aushaken! Wie häufig hörte man heutzutage, daß Kinder von Erwachsenen gepeinigt wurden. Manchmal aus den unsinnig sten Gründen oder gar aus reiner Willkür. Erst vor zwei Tagen hatte er am Themseufer einen zerlumpten Dreikäsehoch gesehen, der von einem nach Fusel stinkenden bärtigen Strolch verprügelt worden war. Stenmark hatte den Säufer mit ei nem Fußtritt in den nächsten Rinn stein befördert und dem Kleinen ein paar Münzen spendiert. Und dann hatte er die Wahrheit erfahren. Ganze Heerscharen von Kindern und Halbwüchsigen wurden als Bett ler eingesetzt, ja, regelrecht verplant. Ungefähr so, wie ein Admiral seine Schiffe in einer Seeschlacht diri gierte. Wer dann, am Ende seines Bet teleinsatzes, nicht genügend Geld mitbrachte, wurde mit Schlägen be lohnt. Etwas in dieser Art vermutete der blonde Schwede, während er sich hor chend und vorsichtig auf den Ur sprung der Schreie zubewegte. Für die Bettelkinder dieser riesigen Stadt gab es keine christlichen Zeitbe
5 griffe. Sie mußten sich auch und be sonders noch in den Abendstunden in den Hafengassen herumtreiben, weil dann die Seeleute erfahrungsgemäß einen in der Krone hatten - und mit leidvoller, spendierfreudiger waren. Stenmark tastete sich an den dunk len Fenstern der schmalbrüstigen Fachwerkhäuser vorbei. Die Fenster waren wie blicklose Augen toter Rie sentiere, die aufgereiht dalagen und sich niemals mehr um irgend etwas kümmern würden, was auf dieser Welt geschah. Die Bewohner der Häuser schliefen zumindest. Oder sie taten so. Wollten sie sich in nichts hineinziehen lassen? War ihnen die eigene Ruhe wichtiger als das Schicksal eines Menschen, der sich offenbar in größter Not befand? Stenmark konnte nicht anders, er mußte diese Stadtmenschen verach ten. Durch ihre Lebensweise entfern ten sie sich voneinander. Es interes sierte sie nicht mehr, was anderen ge schah, und wenn es sich unter ihren Augen abspielte. Der Schwede erreichte einen Tor weg zwischen zwei Häusern und ver harrte in der Finsternis. Schräg ge genüber, kaum mehr als fünf Schritte entfernt, konnte er die blassen Licht flecke von zwei quadratischen Fen stern erkennen. Gelegentlich, wenn die Schreie abrupt aufhörten, weil der Gepeinigte Luft holen mußte, wa ren stark gedämpfte Männerstimmen zu vernehmen. Stenmark folgerte, daß es sich bei dem noch erhellten Haus um eine Schenke handelte. Möglicherweise war dort auch der Ursprung des Ge schehens zu suchen, das sich im Freien abspielte. An letzterem be stand kein Zweifel, denn die Stimme erhob sich unvermittelt wieder zu ih rem klagenden Schrillen.
Stenmark hatte Mühe, seine Wut noch länger hinunterzuschlucken. Wenn er den Ort dieser Schinderei nicht gleich entdeckte, würde er noch verrückt werden. Nach zwei Schritten hörte er ein Keuchen durch die Schreie. Dann die dumpfen Laute von Faustschlägen. Stiefel- oder Schuhsohlen scharrten auf rauhem Pflaster. Stenmark überquerte die Gasse und glitt immer schneller auf die hel len Fenster zu. Im matten Schein der Lichtflecken erblickte er den Durch gang zum Hinterhof der Schenke, ei nen nicht mehr als einen Yard breiten Schacht zwischen den Seitenmauern des Gasthauses und des benachbar ten Gebäudes. Die Schreie, das Keuchen, das Scharren und die Schläge drangen von dort hervor wie aus einem umge kehrten Trichter. Der blonde, große Mann aus der Crew der Arwenacks zögerte keine Sekunde. Er beschleunigte seine Schritte und drang in den stockfinste ren Durchgang vor. Sie bemerkten ihn nicht. Vier Kerle waren es. Im Licht einer Funzel über der Hintertür verrichte ten sie ihr niederträchtiges Hand werk. Der Schreiende, auf den sie ein prügelten und den sie mit Fußtritten traktierten, klammerte sich verzwei felt an einem Eisengeländer fest. Es säumte die drei oder vier Steinstufen, die zur Hintertür des Hauses hinauf führten. Einer der Schläger, ein stiernacki ger Glatzkopf, trat mit seinem klobi gen Stiefel auf die Handknöchel des hoffnungslos Unterlegenen. Der Kahlkopf rammte seinen Fuß mit al ler Kraft auf die schon blutenden Knöchel, und die anderen Kerle hie ben und traten ebenfalls. Doch es ge
6 lang ihnen noch immer nicht, ihr Opfer zu verschleppen. Stenmark stürmte auf sie los. Der Schreiende war rotblond, ein Bulle von Statur. Eigentlich hätte er besser in der Lage sein müssen, sich zur Wehr zu setzen, überlegte Sten mark im letzten Sekundenbruchteil, bevor er sich den Kahlkopf schnappte. Er packte ihn an der rechten Schul ter und riß ihn herum. Der Mann drehte sich wie ein Kreisel und brüllte vor Schreck und vor Wut, als er ins Torkeln geriet. Stenmark setzte nach, ließ ihm keine Verschnauf pause und hämmerte ihn mit seinen eisenharten Fäusten zu Boden, bevor der Bursche wieder sicher auf beiden Beinen stand. Das Gebrüll ihres Kumpanen ließ die anderen endlich begreifen, daß sie mit ihrem Opfer nicht mehr allein waren. Ruckartig, mit verblüfften Knurrlauten, ließen sie von dem Rot blonden ab. Der Geschundene sackte am Geländer in sich zusammen. Die Kerle schienen nicht im mindesten zu befürchten, daß er die Flucht ergrei fen könnte. Jäh sah sich Stenmark der Über macht gegenüber. Ihm blieb keine Chance, sich noch um den Kahlkopf zu kümmern. Die drei, die auf ihn losstürzten, nahmen ihn in die Zange. Jenen, der ihn frontal angriff, konnte er mit sei nen wirbelnden Fäusten noch zurück treiben. Doch die beiden anderen gin gen von links und rechts auf ihn los. Ein wilder Schrei irritierte Sten mark, als er wegtauchte und ver suchte, die Angreifer abzuschütteln. Unvermittelt sah er, daß es der Rot blonde war, der sich mit diesem Schrei auf den rückwärts Wanken den warf und ihn zu Boden riß. All
seine Wut über das, was man ihm an getan hatte, lag in diesem raubtier haften Verzweiflungsakt. Denn er war zu langsam und konnte mit sei nen blutigen Fäusten auf Dauer nicht viel ausrichten. Einen Atemzug zu lange war Sten mark abgelenkt. Noch während er sich duckend den Fäusten der Angrei fer entzog, begriffen sie seine Ab sicht. Ein Hieb, der ihn mit voller Wucht in die rechte Seite traf, war die Folge. Schmerz durchstieß ihn wie ein Lanzenstich. Geistesgegenwärtig schaffte er es noch, dem hochschnel lenden Stiefel des Kerls zu seiner Lin ken zu entgehen. Er überwand den lodernden Schmerz rasch. Einen Moment hatte er Luft und wirbelte herum. Der Kerl, den er als ersten auf die Pflastersteine geschickt hatte, war im Begriff, sich stöhnend aufzurappeln. Es wurde noch brenzliger als zuvor. Stenmarks Instinkt verarbeitete diese Tatsache blitzartig. Für lang wierige Überlegungen war keine Zeit. Handeln hieß das Gebot dieser Se kunden. Seine Willenskraft, ohnehin eisern, steigerte sich. Bevor sich die Kerle zu einem neuen Angriff formie ren konnten, schnellte er auf den los, dessen Fußtritt er eben entgangen war. Der Mann war unvorsichtig genug, es erneut mit seinem hochzuckenden Stiefel zu versuchen. Stenmark wich aus, stieß aus der Bewegung heraus vor und packte zu. Der Treter brüllte vor Schreck, als er sein rechtes Bein nicht wieder auf den Boden kriegte. Im nächsten Moment schwoll sein Gebrüll noch an, denn der Schwede nahm ihm mit einem kurzen Ruck das letzte bißchen Standfestigkeit. Ein harter Aufprall beförderte den Kerl in die schmerzfreie Bewußtlo
7 sigkeit. Vermutlich würde er sich in den nächsten Tagen verkriechen, um seine mächtige Beule nicht spazieren tragen zu müssen. Erstaunt sah Stenmark am Rand seines Blickfelds, daß der Rotblonde erfolgreich war. Sein Gegner leistete nur noch schwachen Widerstand. Die beiden anderen versuchten noch einmal, den Schweden in die Zange zu nehmen. Stenmark konzen trierte sich auf seinen ersten Gegner, wich dem zweiten geschickt aus und schickte den ersten abermals in einen torkelnden Rückwärtsdrall. Er wollte auf den anderen los. In diesem Augenblick schnappte sich dieser Mann den Torkelnden und zerrte ihn weg - außer Reichweite. Der noch Unversehrte gab einen scharfen Befehl von sich, und die bei den anderen gelangten keuchend und grunzend auf die Beine. Stenmark wollte sich den einen greifen, der in seiner Nähe war. Ein Knacken ließ ihn erstarren. „Keine Bewegung!" zischte jener Kerl, der als einziger von den Schlä gern noch einen Überblick hatte. In seiner Rechten schimmerte der Stahl einer Pistole. Der matte Schein der Ölfunzel zeichnete die acht Kanten des Laufes als scharfe Linien. Die großkalibrige Mündung gähnte schwarz und unheilvoll. Die Kerle, die eben noch am Boden gelegen hatten, stolperten davon. Gleich darauf waren alle vier ver schwunden. Nur noch für eine Se kunde hallten ihre Schritte im Durch gang nach. Dann verschluckte sie der Nebel draußen in der Gasse. Stenmark verstand die Welt nicht mehr. Er war versucht gewesen, die Verfolgung aufzunehmen. Doch an dererseits interessierte es ihn nicht
weniger, zu erfahren, was es mit dem rotblonden Hünen auf sich hatte. Der Mann lehnte am Geländer. Er sah übel aus, jetzt, direkt unter der Funzel. Beulen und Schrammen ent stellten sein Gesicht, beide Brauen waren aufgeplatzt. Seine an vielen Stellen geflickte Jacke war an ebenso vielen Stellen eingerissen und würde ihn in dieser Kälte einer Londoner Aprilnacht nur unzureichend schüt zen. Angesichts seiner zerschundenen Hände mußte man sich fragen, wie er wohl in den nächsten Tagen einen Bierkrug halten wollte. Denn daß die ses eine seiner Lieblingsbeschäfti gungen sein mußte, wurde dem Schweden klar, als er auf ihn zutrat. Eine Wolke von Alkoholdunst wehte Stenmark entgegen. Dann fing der Rotblonde an zu re den, und er war ein Schotte, dieser Bulle von Kerl, den es aus dem regenund sturmgepeitschten Hochland nach London verschlagen hatte. „Sieht so aus, als ob ich dir meinen Dank aussprechen muß, Mac", sagte er mit schwerer Zunge und im guttu ral rollenden Akzent der Highlander. Seine graublauen Augen hatten et was Gutmütiges. Er schien nichts da bei zu finden, seinem Helfer allen Ernstes die blutige Rechte hinzustrek ken. Stenmark klopfte ihm statt dessen auf die Schulter. Die Kleidung des Mannes stank. Es war eine Geruchs mischung aus schalem Bier und jener Brühe, die in schlecht durchgespülten Gossen faulte; Böse Zungen behaupteten, London stinke zum Himmel - im wahrsten Sinne des Wortes. Insofern war die ser abgetakelte Schotte ein passender Repräsentant der englischen Hafen stadt.
8 Stenmark hatte sich davon über zeugen können, daß nicht wenige Gassen einen geradezu betäubenden Gestank ausströmten. Wer die Weite der Weltmeere gewohnt war und sonst jederzeit seine Nase in den Wind halten konnte, der mußte hier in London wahrhaftig einen Schwin delanfall nach dem anderen erlei den. „So elegant, wie du redest, siehst du nicht aus", sagte Stenmark unverhoh len und grinste. „Hast ein paar Liter Gebräu zuviel in dich hineingeschüt tet, stimmt's? Aber was ich nicht be greife, ist, warum sie gleich zu viert über dich herfallen. Danach, daß es bei dir was zu holen gibt, siehst du nämlich auch nicht aus." Der Schotte verzog die Schram men- und Beulenlandschaft seines Gesichts und sah dadurch aus wie ein zusammengequetschter lederner Wasserschlauch. „Ich war mal Steinmetz", brummte er betrübt. „Hab die schönsten Grab male in ganz Edinburgh zurechtge hauen." „Das ist lange her, was?" Das Knarren einer Tür und eine Frauenstimme unterbrach die beiden Männer. „Haben sie euch am Leben gelas sen?" Die Frau beantwortete sich die Frage geich selbst. „Sieht so aus, ja. Also gut, herein mit euch! Los, los, be eilt euch!" Stenmark hatte sich erstaunt umge dreht. In der offenen Hintertür des Nachbarhauses stand eine ältere Frau, groß und hager, mit einer La terne in der erhobenen Linken. Eine resolute Frau, die zupacken konnte. Das war ihr anzusehen. Der Schotte gehorchte ihrer Auf forderung erstaunlich bereitwillig, und Stenmark wußte nichts Besseres,
als ihm zu folgen. Das Geschehen er schien ihm immer rätselhafter. „Ich schicke meinen Sohn zu Esther", sagte die Frau und führte die beiden Männer in die Küche, wo sie die Laterne an einen Deckenhaken hängte. Sie zeigte zu dem Tisch und den Stühlen auf dem kalten Steinfuß boden. „Wartet hier und rührt euch nicht vom Fleck." Sie streifte den Schweden mit ei nem forschenden Blick, ehe sie sich abwandte. Offenbar hatte sie genau mitgekriegt, was sich abgespielt hatte. Natürlich hatte sie nicht ein greifen können - eine Frau gegen vier üble Schlagetots. Aber wenn sie es gehört hatte, muß ten auch die anderen Nachbarn etwas mitgekriegt haben. 2. „Mein Freund, ich danke dir", sagte der Schotte, indem er den Kopf in bei de Hände stützte und sein Gegenüber aus halbgeschlossenen Augen ansah. „Ich will keinen Dank", entgegnete Stenmark. „Eine Erklärung wäre mir lieber. Übrigens haben wir einander noch nicht vorgestellt." Er nannte sei nen Namen und fügte hinzu, daß er zur Crew des Kapitäns Killigrew ge höre, dessen Schebecke an der Tower pier liege. „Bist kein Englishman, was?" sagte der Schotte. Er zog die Brauen hoch, ohne den schweren Kopf aus den Händen zu nehmen. „Das macht dich noch sympathischer. Bist ein richti ger Nordmann, stimmt's?" Stenmark nickte. „Und du?" „Oh, entschuldige!" Betroffenheit spiegelte sich in der Miene des Rot blonden. Er ließ die blutverkrusteten Hände auf die Tischplatte fallen und
9 hob den Kopf. „Ich heiße Rufus Hal pine." „Nicht MacHalpine?" „Auf den Arm nehmen kann ich mich selber." „Glaube ich. Wer ist Esther?" „Ein Engel in Menschengestalt, wenn du mich fragst. Aber..." Er un terbrach sich und zögerte. „Aber was?" „Es gibt eine Menge Leute, die sie eher für eine Hexe halten." Stenmark runzelte die Stirn. „Ich halte dir zugute, daß du noch nicht ganz an Deck bist. Sonst würdest du nicht solange in Rätseln sprechen." Halpine grinste schief und verle gen. „Nimm's nicht krumm, Mister Stenmark. Habe meine vier Sinne nicht ganz beisammen. Oder wieviel gibt's davon?" „Schon möglich, daß dir einer fehlt." Der Schotte schlug auf den Tisch, daß es krachte. Er wollte lachen, ver zog aber im selben Moment schmerzerfüllt das Gesicht und hielt sich die schmerzende Faust. „Du bist richtig, Nordmann, goldrichtig." Er schnaufte wie nach einer unendlichen Mühe. „Ich kann dir sagen, wenn du nicht aufgekreuzt wärst, säße ich jetzt in irgendeinem stinkenden Loch, hin ter einer verriegelten Tür, und würde nur noch jammern. Die Schweine hunde hätten mich garantiert halb totgeschlagen, ehe sie mich ver schleppt hätten." Stenmark nickte. Er sah ein, daß sein Gegenüber keine zusammenhän gende Schilderung zustande brachte. Er würde abwarten müssen, bis die Frau zurückkehrte. Vielleicht erfuhr er dann, warum vier ausgewachsene Kerle auf einen wehrlosen Betrunke nen losgegangen waren. Sie hatten zweifellos nicht vorgehabt, ihn auszu
rauben. Denn nach einem lohnenden Objekt sah er nun wahrhaftig nicht aus. Stenmark ging zur Pumpe, die sich neben einem steinernen Trog befand. Er füllte zwei Mucks mit Wasser und trug sie zum Tisch. „Wie wäre es, wenn du dich ein biß chen säubern würdest?" sagte er. „Könnte ja sein, daß es deinen Wun den guttut, nicht wahr?" Rufus Halpine trank einen Schluck Wasser, verzog angewidert das Ge sicht und schob den Becher von sich. „Das erledigen die lieben Engel", sagte er und verdrehte die Augen. Es sollte schwärmerisch aussehen, ließ jedoch eher befürchten, daß er in eine Ohnmacht wegkippen würde. Stenmark schüttelte den Kopf und schenkte es sich, weitere Fragen zu stellen. Er brauchte jedoch nicht mehr lange zu warten. Schon am Klang der leichtfüßigen Schritte hörte er, daß es nicht die Frau war, die sie in die Küche geführt hatte. Im nächsten Moment glaubte er, seinen Augen nicht mehr trauen zu können. Die Tür wurde behutsam geöffnet geradeso, als befürchteten die Eintre tenden, jemanden durch allzu for sches Verhalten zu erschrecken. Zwei junge Frauen waren es - sehr jung und ungewöhnlich hübsch. Stenmark ertappte sich nach lan gen Sekunden dabei, daß er den Mund nicht wieder zugekriegt hatte. Doch er konnte den Blick nicht von ihnen wenden. Beide trugen einfache Umhänge, die so aussahen, als wären sie aus Sackleinen geschneidert. Die triste Kleidung erniedrigte sie den noch nicht zu grauen Mäusen. „Los, kommt schon!" sagte die eine energisch. „Ihr müßt hier weg!" Sie
10 war schwarzhaarig und so rassig, wie sah, wie die Selbstsicherheit in ihrer man sich eine Spanierin oder eine Ita Miene zerbröckelte. „Eine besondere Einladung von Ih lienerin vorstellte. Stenmark glaubte, Atemzüge lang nen würde mir sehr gut gefallen", die Glut ihres Blickes zu spüren. sagte er mit einer angedeuteten Ver Doch ihr Interesse für ihn mochte beugung. „Aber in Anbetracht der Einbildung sein, Wunschdenken viel Umstände verzichte ich diesmal noch leicht. darauf, Madam. Mein Name ist übri Rufus Halpine erhob sich willig gens Stenmark. Es freut mich, Sie be und tappte wie ein honigtrunkener gleiten zu dürfen." Bär auf die Frauen zu. Die andere, die Die Reihe war an ihr, verdattert zu ihm beim Arm nahm, hatte mittel sein. blondes Haar und braune Augen. „Ich bin Samantha Hogan", erwi Auch sie war auf ihre Weise eine derte sie wie ungewollt und blinzelte Schönheit, wirkte allerdings etwas verwirrt. kühler als ihre Gefährtin. Stenmark nickte ihr zu und ging an „Und du?" herrschte die Schwarz ihr vorbei. Er sah Halpine und die an haarige den Schweden an. „Brauchst dere junge Frau am Ende des Korri du eine Extra-Einladung?" dors, zur jenseitigen Straße hin. Al Schon in der Tür, wandte sich Hal lem Anschein nach legten die beiden pine um und grinste bis zu den Ohr Helferinnen Wert darauf, daß die läppchen. „Mann, auf was wartest du, Frau, die die Männer in ihrem Haus Mac? Wir kriegen ein trockenes aufgenommen hatte, nicht mit der Quartier für die Nacht, sie versorgen Hilfsaktion in Verbindung gebracht deine Schrammen und Beulen, und werden konnte. Weder jene resolute morgen gibt's ein Frühstück - ein Frau noch ihr Sohn, von dem sie ge Frühstück, sage ich dir! Ein Früh sprochen hatte, ließen sich blicken. stück . . . " Samantha Hogan und ihre Gefähr Brabbelnd schwärmte er noch im tin führten die beiden Männer durch Korridor von der Morgenmahlzeit, ein Labyrinth engster Gassen. Nicht während ihn die Braunäugige schon einmal Pferdefuhrwerke hätten Platz energisch hinausschob. gehabt. Stenmark erkannte, daß sie Stenmark wollte erklären, daß er mit voller Absicht diese unauffällige eine trockene Unterkunft und alle an Marschroute wählten. Sie wollten um deren Vorzüge an Bord der Sche keinen Preis auffallen. becke habe. Daß er keine mildtätige Es dauerte kaum mehr als zehn Mi Hilfe brauchte. Daß er kein Säufer sei nuten, dann erreichten sie eine brei und nicht mit Rufus Halpine über ei tere Gasse. Stenmark konnte das nen Kamm geschoren werden wollte. Straßenschild entziffern, da es von ei Aber er sagte doch nichts davon. ner Laterne erhellt wurde. Exeter Seine Neugier war stärker. Er wollte Lane. Er prägte es sich ein. nun endlich herausfinden, was es mit Samantha und ihre Gefährtin blie diesem merkwürdigen Geschehen auf ben mit den beiden Männern auf der sich hatte. dunklen Seite der Gasse. Eine Vor Mit einem Lächeln reagierte er auf sichtsmaßnahme, die überflüssig zu den Befehlston der Schwarzhaarigen. sein schien. Denn keine andere Men Und erneut mußte er staunen, als er schenseele war zu sehen. Nichtsdesto
11 weniger mußten die Frauen handfe ste Gründe für ihr Verhalten haben. Davon war Stenmark überzeugt. Weder Samantha Hogan noch die Braunäugige erweckten den Ein druck, daß sie sich über die Bedeu tung jedes ihrer Schritte nicht voll ständig im klaren waren. Samanthas Gefährtin stützte Rufus Halpine, in dem sie seinen Arm hielt. Er hatte nicht das geringste dagegen einzu wenden, obwohl er längst ernüchtert und keineswegs mehr unsicher auf den Beinen sein mußte. Nach ungefähr dreißig Yards gab es eine große Lücke in der Reihe der sonst schmalgiebligen Häuser, die auch am Exeter Lane dicht an dicht standen. Die Lücke maß gut und gerne fünfzig Yards. Bäume und Sträucher, deren Zweige noch kahl waren, säumten die Straßenseite des Grundstücks und formten einen Ein gang, der wie einer dieser italieni schen Gärten aussah, die derzeit in den noblen Londoner Kreisen große Mode waren. Durch das Gewirr der dürren Zweige schimmerte Licht. Beim Nä herkommen sah Stenmark, daß es sich um Laternen handelte, die eine hellgraue, fast weiße Gebäudefas sade beleuchteten. Es war ein hochherrschaftliches Bauwerk, aus edelstem Sandstein errichtet und da durch aus der Masse des Tudor-Fach werks herausragend. Sie überquerten die Gasse und be traten den Garten, der im Sommer vermutlich kaum noch etwas von dem Haus sehen ließ. Stenmark spürte die Erleichterung der beiden Frauen. Ihre Haltung war weniger an gespannt. Samantha Hogan musterte ihn von der Seite. Er wandte den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich. In der
schwachen Helligkeit der Laternen sah Stenmark ihr Erröten. Rasch blickte sie wieder nach vorn - wie ein kleines Mädchen, das bei einem Streich ertappt worden war. Er brach das Schweigen. „Sind Sie Engländerin, Madam?" Aus ihrem erneuten Seitenblick schloß er, daß sie froh darüber war, wie er ihr über den für sie peinlichen Moment hinweghalf. „Ja", antwortete sie leise und gar nicht mehr so energisch wie im ersten Augenblick ihrer Begegnung. „War um fragen Sie?" „Sie sehen hinreißend aus. Wie eine Spanierin. Oder eine Italienerin." „Süßholzraspler!" Sie lachte und errötete diesmal nicht. „Nein, ich meine es ernst." Samantha sah ihn aus leuchtenden Augen an. „Grisina ist Italienerin, meine Freundin." Sie deutete mit ei ner Handbewegung auf die Braunäu gige, die bereits den Hauseingang er reichte und Halpine hinter sich her zog. Grisina Musante. Sie ist wasch echte Italienerin, obwohl sie nun wirklich nicht so aussieht. Sie ist die Tochter eines italienischen Kauf manns, dem bis vor kurzem eine Han delsagentur in London unterstand. Grisina hat sich schon vor zwei Jah ren von ihrer Familie losgesagt. So lange arbeiten wir beide bereits für Esther Ransom. Jetzt, als ihre Eltern und Geschwister nach Mailand zu rückgingen, blieb Grisina allein in London. Es ist ihr nicht leichtgefal len, aber bei Esther haben wir alle ein neues Zuhause gefunden." „Warum erklären Sie das einem Trunkenbold?" „Wie bitte? Wie - wie können Sie so etwas sagen?" „Aber Sie halten mich doch für ei nen Säufer. Oder etwa nicht?"
12 Samantha nickte. Kurz entschlos „Das war nur zu Anfang. Jetzt weiß ich es besser." Samantha blieb unter sen nahm sie seine Hand und zog ihn dem schmalen Säulenvordach stehen. mit sich. Stenmark spürte eine krib Sie lächelte auf einmal, als sie den belnde Wärme, die von ihrer zarten blonden Mann ansah. „Jetzt habe ich Hand ausging, in seinem Arm das Gefühl, daß Sie sich ein bißchen hochstieg und bald seinen ganzen einschleichen wollen, Mister Sten Körper erfüllte. mark." Hölle und Teufel, er hatte Mühe, „Warum schicken Sie mich dann sich überhaupt auf seine Umgebung nicht weg?" zu konzentrieren. Wenn ihn nicht al Ihr Blick bemächtigte sich des sei les täuschte, verdankte er es diesem nen und ließ ihn nicht mehr los. Ein schottischen Saufbold, daß er in ei zarter Schleier schien sich über ihre nen Zauber verfallen war, wie er ihn dunklen Augen zu senken, und doch noch nie erlebt hatte. verlor ihr Blick nichts an Intensität. Dieser Zauber hatte die Gestalt ei „Würden Sie sich denn einfach weg ner südländischen Schönheit, war je schicken lassen, Mister Stenmark?" doch Engländerin und hieß Sa „Nein", erwiderte er mit belegter mantha Hogan. Stimme. „Und lassen Sie um Him Er blickte auf ihre schmale, aber mels willen den Mister weg. Das Sie kräftige Hand, die ihn so zielstrebig halte ich auch für überflüssig. See führte. Samantha war es gewohnt, leute haben keine Zeit für so über Männer zu lenken. Männer wie Rufus flüssiges Wortgestelze." „Verzeihung. Im Umgang mit Trun Halpine jedoch. Stenmark empfand kenbolden haben wir es uns ange es nicht als Gängelei. Diese zauber wöhnt, vorsichtig zu sein." Samantha hafte junge Lady erweckte den Ein sagte es verschmitzt und augenzwin druck, daß sie stolz war, ihr Reich kernd. „Manchmal weiß man nicht, vorzeigen zu können. „He, Nordmann!" rief Halpine wie diese Kerle ragieren. In ihrem Zu stand sind sie oft die reinsten Mimo grunzend und sah ihn blinzelnd, mit vorgerecktem Klotzkopf an. „Willst sen. Und entsprechend gefährlich." doch wohl keine vertaulichen Ge Die Stimme der Italienerin erklang aus der Eingangshalle des großen spräche führen, was? Daß du mir Hauses. „Samantha, wo bleibst du nicht anfängst, mit unserem Engel Samantha herumzuturteln! Die La denn?" dys sind für alle da, verstanden?" Er Die Schwarzhaarige reagierte hob gespielt tadelnd den Zeigefinger nicht. Sie blickte unverwandt zu Stenmark auf und sagte leise: „Nun, der freien Hand. ich möchte auch das Wort Madam „Entweder bist du zu nüchtern", nicht mehr hören. Und was das Sie entgegnete Stenmark grinsend, „oder betrifft..." du siehst schon wieder Gespenster „Wir sollten Grisina und dieses jene die aus dem Wasser des Lebens wandelnde Whiskyfaß nicht warten entspringen." lassen", entgegnete Stenmark ebenso „Uisge Beatha!" rief Halpine gedämpft. „Ich bin sicher, ich werde schwärmerisch und mit einer ausla gleich erfahren, was es mit der rätsel denden Handbewegung. „Uisge Bea haften Esther auf sich hat." tha, mein Freund, weißt du, was das
13 heißt? Uisge Beatha ist Keltisch und heißt..." „Wasser des Lebens", sagte Grisina Musante energisch und zog ihn wei ter. „Wenn du sonst nichts weißt das weißt du. Brauchst uns nicht zu erzählen, daß von Uisge Beatha das englische Wort Whisky abstammt. Und alle Völker dieser Erde bean spruchen anscheinend für den Fusel, den sie brennen, daß er das Wasser des Lebens sei. Es ist das Gebräu des Todes, Rufus Halpine!" Ihre ener gische Stimme hallte von den holzge täfelten Wänden wider. „Eines Tages wirst du das begreifen, wenn du rö chelnd daliegst und dein erbärmli ches Leben im Suff aushauchst!" Halpine zog den Kopf tiefer zwi schen die Schultern und drehte sich verstohlen zu Stenmark um. Aber der Schwede war vollauf damit beschäf tigt, Samanthas tiefen Blick zu erwi dern, und so blieb dem bulligen rot blonden Mann nichts anderes, als wil lig an Grisinas Seite dahinzutrotten. Die Schritte der Italienerin verur sachten ein rhythmisches Pochen vol ler Entschlußkraft. Aus der Eingangshalle führte je ein Korridor nach links und nach rechts, außerdem eine breite, geschwungene Treppe ins Obergeschoß. Es fehlte der Luxus, der früher in diesem Bür gerhaus vorgeherrscht haben mußte. Der Fußboden bestand aus einfachen dunklen Steinplatten, nur noch die Holztäfelung der Wände erinnerte an den mutmaßlichen Glanz früherer Zeiten. Statt kristallener Kronleuchter und kostbaren Messinglampen gab es lediglich einfache gußeiserne Lam pengehäuse, die an den Wänden befe stigt waren. An den Türen der vielen Zimmer waren Ziffern aus hellem Holz festgeleimt. Stenmark meinte,
aus einigen dieser Zimmer heisere, lallende Stimmen zu hören. Wegen der Schrittgeräusche war er jedoch nicht sicher. Grisina strebte in dem Korridor zur Linken voran. Rufus Halpine erin nerte mehr denn je an einen großen, dahintappenden Bären. Stenmark fühlte sich wie trunken von jener Wärme, die unablässig aus der schmalen Hand Samanthas in sei nen Körper überging. Die Glut ihrer Augen tat ein übriges, um seinen Ver stand in einen unbedeutenden Win kel seines Bewußtseins zu schieben. In Samanthas Nähe verlor so man ches an Bedeutung, was ihm eben noch wichtig erschienen war. Warum interessierte er sich überhaupt noch für diese Esther Ransom und ihr of fenbar wohltätiges Wirken? Was ging ihn dieses Haus an, das allem An schein nach einem völlig anderen Zweck diente als dem, für den es ein mal gebaut worden war? Hölle und Teufel, er würde für Samantha da sein, für niemanden sonst. Ein Funke war übergesprungen, wie vom Flint auf das Zündpulver, und die jäh entstandene Glut fraß sich rasch voran. Der Zeitpunkt, an dem es zur Explosion der Gefühle kommen würde, schien unaufhaltsam und immer schneller zu nahen. Etwas war mit ihm geschehen, und es hatte sie beide aus heiterem Himmel ge troffen. 3. Grisina und Samantha führten die beiden Männer in ein großes Zimmer, in dem es behaglich warm war. Im Kamin fraßen sich die Flammen mit Prasseln und Knistern in armlange Holzscheite. Der Raum war ebenso
14 einfach eingerichtet wie das ganze Haus und wirkte doch auf seine Weise gemütlich. Die Frau, die sich aus einem Sessel vor dem Kamin erhob, war groß, schlank und blond - ziemlich genau das, was man sich nach Stenmarks Erkenntnis unter einer kühlen engli schen Schönheit vorzustellen hatte. „Hallo, Rufus", sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. „Bald wirst du zum Stammgast bei uns, nicht wahr?" „Ich wüßte sowieso keinen schöne ren Ort, Madam", entgegnete der Schotte verzückt. Die blonde Frau erhob tadelnd den Zeigefinger. „Fang nur nicht solche Dummheiten an, Rufus. Am Ende be trinkst du dich nur noch, damit du dich bei uns einquartieren kannst!" „Gar keine schlechte Idee", erwi derte Halpine und lachte glucksend. Die Frau antwortete lediglich mit einem strengen Blick. Halpines Hei terkeit war sofort wie abgeschnitten. Und nach einer knappen Anweisung der Hausherrin, die sie ohne Zweifel war, trottete er willig mit Grisina da von. Samantha stellte Stenmark vor und erklärte ihm, daß er Miß Esther Ran som gegenüberstehe. „Wir reden uns in diesem Haus alle mit Vornamen an", sagte Esther. „Das vereinfacht die Dinge. Wir ha ben nicht die Zeit, uns mit überflüssi gen Floskeln aufzuhalten." „Dann leben wir auf eine ähnliche Weise", erwiderte der blonde Schwede. „Ich gehöre zur Crew Philip Hasard Killigrews. Bei uns gibt es keine Kluft zwischen dem Achterdeck und dem Vordeck. Wir müssen nicht vor irgendwelchen hochwohlgeborenen Gentlemen katz buckeln, die hinter der Querbalu
strade auf und ab stolzieren und sich einbilden, Offiziere zu sein." Esther lächelte und bat ihn und Sa mantha mit einer Handbewegung, in den freien Sesseln am Kamin Platz zu nehmen. Längst hatte die blonde Frau erkannt, was sich zwischen Sa mantha und ihm anbahnte. „Killigrew", sagte Esther nach denklich. „Ein Name, der eigentlich keinen guten Klang hat. Nur der See wolf, den die Königin vor Jahren zum Ritter schlug, bildet da eine Aus nahme. Habe ich recht?" „Es ist so, wie Sie sagen, Esther. Sie wissen vielleicht auch, daß Hasard kein wirklicher Killigrew ist. Bei die ser räuberischen Sippe in Cornwall wurde er lediglich als Findelkind auf gezogen." Esther Ransom zog die feinge schwungenen Brauen hoch. „Oh, da von habe ich noch nicht gehört. Ich weiß nur, daß man über Sir Hasard sagt, er hätte eine Menge Feinde bei Hofe." „Die er sicherlich nicht hätte, wenn er so wäre wie die anderen Killi grews." „Ein Gauner und Erzhalunke?" „Schlimmer als das. Der alte Sir John und seine Söhne waren die übel sten Galgenstricke, die man sich vor stellen kann." „Waren?" „Nun ja, zwei Söhne des alten Kil ligrew könnten noch am Leben sein als Gefangene der Spanier drüben in der Neuen Welt. Aber das ist eine lange Geschichte. Ich würde lie ber . . . " Er unterbrach sich. Esther und Samantha lachten und wechselten einen Blick. „Natürlich ist er viel gespannter auf unsere Geschichte", sagte Sa mantha. „Dabei muß ich zugeben, daß Grisina und ich ihn anfangs für
15 Rufus Halpines Saufkumpan hiel ten." „Was natürlich völlig unlogisch war", entgegnete Stenmark und spielte scherzhaft den Empörten. „Wenn es so gewesen wäre, dann hät ten das Whiskyfaß und ich es nie im Leben geschafft, die vier Kerle in die Flucht zu schlagen. Ich hörte Rufus schreien, und als ich dann sah, was sich abspielte, war ich sicher, daß sie ihn töten würden. Noch mehr wun derte mich aber, daß ihm niemand aus den Nachbarhäusern half. Ich meine, daß alle wußten, was sich ab spielte, beweist ja die Frau, die uns ins Haus holte." „Sie begab sich in große Gefahr", sagte Esther. „Jene, die auf unserer Seite stehen, werden immer weni ger." „Es hat etwas mit diesem Haus zu tun, nicht wahr?" Stenmark voll führte eine ausladende Handbewe gung. „So ist es", erwiderte die blonde Frau. „Ich will Sie nicht länger auf die Folter spannen, Stenmark. Um es vorwegzunehmen: Meine Gefährtin nen und ich haben uns bei der Obrig keit ins Fettnäpfchen gesetzt. Die kirchlichen und staatlichen Instan zen würden uns am liebsten mit Stumpf und Stiel ausrotten. Ja, auch die Kirche! In einem Land, in dem der Papst nichts mehr gilt!" Stenmark sah Esther voller Span nung an. Er spürte Samanthas Hand auf seiner Linken, und ihm wurde be wußt, daß er sich seit langem nicht mehr so wohl gefühlt hatte wie in die ser Stunde. Das rührte nicht allein von dem Ka minfeuer her, das die Kälte einer Aprilnacht vergessen ließ. Es war vor allem auch die Nähe dieser Frauen, von denen er überdeutlich spürte,
daß sie in ihrem Wesen unvergleich lich waren. Eine solche Wärme und ein derart unverfälschtes Verständnis für an dere Menschen waren ihm noch nie begegnet. Kein Wunder, daß sich Männer wie Rufus Halpine zu dieser offenbar verschworenen Gemein schaft hingezogen fühlten. „Ich habe dieses Haus geerbt", fuhr Esther fort. „Es gehörte einem Onkel, zu dem ich im Grunde wenig Kontakt hatte. Aber er war selbst kinderlos geblieben, und so geriet ich aus mei nem Heimatort Greenwich nach Lon don. Anfangs lebte ich allein in die sem riesigen Kasten. Nach einer ge wissen Zeit wurde mir bewußt, wie viele junge Frauen es gab, die in men schenunwürdigen Verhältnissen leb ten. Entweder wurden sie von Ehe männern geprügelt und mißhandelt oder von Vätern, die sie so lange als billige Arbeitskraft ausnutzten, bis sie meinten, eine gute Partie für das geschundene Wesen gefunden zu ha ben. Nun, ich baute nach und nach eine Art Interessengemeinschaft auf. Und dann stellten wir fest, daß es eine weitere Gruppe von Menschen gab, die wie der letzte Dreck lebt." „Die Säufer", sagte Stenmark. „Richtig. Allerdings meinen wir nicht jene, die reich genug sind, um sich dem Alkohol zu ergeben. Wir ha ben uns derer angenommen, die den Alkohol brauchen, um sich zu betäu ben - deren Leben so erbärmlich und menschenunwürdig ist, daß ihnen nur noch der Weg in den Suff bleibt. Wir öffnen ihnen die Augen und ver suchen, sie auf den rechten Weg zu rückzuführen." „Und das ist der Obrigkeit ein Dorn im Auge", fügte Samantha hinzu. „Es paßt den Hochwohlgeborenen - ein schließlich der Kirchenfürsten
16 eben besser in den Kram, wenn die unterste Schicht ruhiggehalten wird. Mit Whisky und Bier lassen sich diese armen Menschen, die sonst nichts ha ben, am besten in einen willenlosen Zustand versetzen." „So ist es", sagte Esther. „Und dann läßt man sie in Krankheit und Elend zugrunde gehen, was ja über kurz oder lang die Folge ihres Lebenswan dels ist. Nie würden diese bedauerns werten Geschöpfe auf die Idee verfal len, sich gegen ihr Schicksal aufzu lehnen, das ihnen noch dazu von der herrschenden Klasse aufgezwungen wurde." „Und ihr bringt ihnen bei, sich auf zulehnen?" entgegnete Stenmark. Esther nickte. „Zunächst einmal ge gen ihre eigenen Schwächen. Die mei sten wissen gar nicht mehr, was Wil lenskraft ist. Sie müssen es erst wie der lernen. Aber wenn sie das ge schafft haben, ist schon der entschei dende Schritt getan. Aus dem Fußvolk, das wie Vieh gelebt hat, werden denkende Menschen." „Ich verstehe", sagte Stenmark und nickte. „Den Lords und den Kirchen fürsten ist so etwas höchst unbe quem." „Mehr als das. Sie haben begriffen, daß Menschen, die ihre wahren Peini ger erkennen, zur Gefahr für sie wer den. Damit ist schon alles gesagt. Man versucht, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen, wo man nur kann." „Das ist reichlich milde ausge drückt", sagte Samantha. „Wenn sie könnten, würden sie uns an den Gal gen bringen. Oder auf den Scheiter haufen." „Wie bitte?" sagte Stenmark un gläubig. „Es ist so, wie Samantha sagt", er widerte Esther. „Lord Alsworth, das
ist unser entscheidender Gegner, hat sich diese Taktik einfallen lassen. Er versucht hartnäckig, Beweise dafür zu sammeln, daß unser Treiben He xenwerk sei. Und ich fürchte, er wird es schaffen, denn er hat alle Macht mittel in der Hand. In diesem Zusam menhang ist übrigens auch die Tat sache zu sehen, daß vier Männer ei nen hilflosen Betrunkenen überfie len." Stenmark blinzelte. „Ich verstehe trotzdem nicht ganz." „Ja", Esther seufzte, „man muß schon um ein paar Ecken denken, um solche teuflischen Überlegungen nachvollziehen zu können. Lord Als worths Schergen überfallen diese ar men Kerle vom Schlage eines Rufus Halpine. Man verspricht ihnen eine große Belohnung, oder man foltert sie, wenn alles nichts nutzt. Als End ergebnis muß jedenfalls eine Aussage erzielt werden, die bestätigt, daß meine Freundinnen und ich Hexen seien. Sobald man genügend soge nannte Beweise hat, wird man uns in eine fadenscheinige Gerichtsver handlung zerren. Welches Urteil dann gefällt wird, brauche ich wohl nicht erst zu prophezeien." Stenmark konnte die beiden Frauen nur noch fassungslos anse hen.
Über der Themse lagen die Reste des Morgennebels noch in unregelmä ßigen Schwaden. Vereinzelt waren Lagerhäuser auf der anderen Seite des Flusses zu sehen. Die Tower Bridge sah aus wie auf einem Ölge mälde, das jemand mit Milch über gossen hatte, um die Umrisse zu ver wischen. Die aufsteigende Sonne war in in
17 rem Kampf gegen die morgendliche Luftfeuchtigkeit vorerst nur zu ahnen, und es war so kühl und unge mütlich wie an den meisten dieser Apriltage in der Hauptstadt des Kö nigreichs England. Hasard hielt es wie alle übrigen Männer an Bord der Schebecke. Nach einem kurzen Rundgang zog er sich zum Frühstück unter Deck zurück. In der Kapitänskammer genoß er das frische Brot, das der Kutscher und Mac Pellew in aller Herrgottsfrühe gebacken hatten. Zusammen mit dem Brot hatten die beiden Kombüsenmänner Spiegel eier und herzhaften, knusprigen Schinken serviert. Dazu gab es ein Kännchen von jenem tiefschwarzen Türkentrank, der mittlerweile unter der Bezeichnung Kaffee bekannt wurde. In der Tat hatte dieses heiße, aro matische Gebräu die Wirkung eines regelrechten Lebensweckers. Hasard schenkte sich eine zweite Tasse da von ein und trat an das Bleiglasfen ster. Die Sichtweite betrug nicht mehr als zwanzig Yards. Flußkähne glitten als gespenstische Schatten vorüber. In Abständen war das Gebrüll der Schiffer zu hören, die sich auf diese Weise gegenseitig warnten. Die Kapitäne der großen Segler wagten noch nicht, ankerauf zu gehen. Die Gefahr einer Havarie war noch zu groß. Schritte näherten sich. Schon an ih rem Klang hörte der Seewolf, daß es Bob Grey war, der gemeinsam mit Luke Morgan Deckswache hatte. Bob klopfte ordnungsgemäß, und Hasard ließ ihn sofort eintreten. „Früher Besuch", sagte der drah tige blonde Mann. „Nennt sich Reve rend Gordon Sheehy. Tut mir leid,
aber der Kerl ließ sich nicht abwim meln." Hasard zog die linke Augenbraue hoch und grinste. „Du solltest von ei nem Gottesmann etwas respektvoller sprechen." Bob grinste ebenfalls. „Fällt mir aber diesmal wirklich schwer. Ehr lich gesagt, Sir, das ist ein ziemlich merkwürdiger Vogel. Und er rückt nicht damit heraus, was er will. Nur dem Kapitän persönlich will er sich offenbaren, der sehr ehrenwerte Re verend." „Jedenfalls versteht er es, einen neugierig zu stimmen", entgegnete Hasard. „Bring ihn her. Wegschicken kann ich ihn immer noch, falls er dummes Zeug redet." „Du mußt es wissen", sagte Bob achselzuckend. „Mein Fall wäre er je denfalls nicht, dieser seltsame Hei lige." Zwei Minuten später wußte Ha sard, daß es in erster Linie fraglos das Äußere des frühen Besuchers war, das auf Bob Grey abstoßend wirkte. „Reverend Gordon Sheehy", sagte der Gottesmann mit einer tiefen Ver neigung, wobei sein schulterlanges schwarzes Haar und der Ziegenbart senkrecht nach vorn fielen und das schmale Pferdegesicht verhüllten. Er trug eine bodenlange schwarze Kutte, die in der Körpermitte nach Mönchs manier von einem einfachen weißen Strick zusammengehalten wurde. „Ich bin hocherfreut, Sie kennen lernen zu dürfen, Sir Hasard", er klärte er, indem er sich wieder auf richtete. Seine Augen waren von selt sam hellbrauner Farbe, mit kleinen Flecken gesprenkelt. Der Seewolf wies ihm einen Stuhl zu und setzte sich dem Reverend ge genüber. Er war froh, seine Morgen
18 mahlzeit beendet zu haben, denn er konnte Bob Greys Unbehagen nach empfinden. In der Nähe dieses son derbaren Mannes wäre ihm ohne Zweifel der Appetit vergangen. „Sicher haben Sie einen wichtigen Grund für Ihren Besuch", sagte Ha sard. „In solcher Frühe lasse ich sel ten jemanden an Bord. Daß ich in Ih rem Fall eine Ausnahme gemacht habe, verdanken Sie dem Umstand, daß Sie kirchlicher Würdenträger sind." Sheehy hob die gefalteten Hände in Kinnhöhe. „Ich bitte Sie aufrichtig um Verzeihung, Sir Hasard. Ich weiß, wie unhöflich mein Verhalten im Grunde ist. Aber wenn es sich nicht um eine so dringende Angelegenheit handelte, würde ich Sie um nichts in der Welt schon jetzt behelligen." „Also gut", sagte der Seewolf und nickte. „Dann mal Schluß mit den Vorreden. Was führt Sie her, Reve rend?" Sheehy senkte die gefalteten Hände auf den Tisch und rutschte verlegen auf dem Stuhl hin und her. „Wissen Sie, es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden, aber . . . " Er zögerte und sah sein Gegenüber wie hilfesuchend an. Hasard lächelte kühl. „Nun, wenn es so ist - können Sie gern noch ein mal wiederkommen, sobald Sie wis sen, was Sie wollen." „O nein, nein, so verhält es sich nicht!" rief Sheehy erschrocken und streckte dem Seewolf abwehrend die Handflächen entgegen. „Es ist mir nur - hm - in gewisser Weise pein lich. Man möchte ja nicht gern als De nunziant dastehen. Aber wenn ich mir nicht ernsthaft Sorgen bereiten würde, wäre ich andererseits nicht hier. Sie verstehen, was ich meine?" Hasard schüttelte den Kopf. „Nein."
Das magere Kinn des Schwarzge kleideten sackte nach unten. Einen Moment starrte er den Seewolf fas sungslos an. Dann gab er sich einen Ruck. „Nun, dann will ich zur Sache sprechen." „Ich bitte darum", entgegnete Ha sard. „Es würde mir nicht gefallen, unsere Begegnung als Zeitverschwen dung betrachten zu müssen." Es war diese verklausulierte Rede weise, die den hageren Gottesmann traf. Er reagierte mit einem sichtli chen Zusammenzucken darauf. „Mein Zögern ergibt sich aus der Tatsache", sagte er pikiert, „daß es sich um einen Mann aus Ihrer Crew handelt." „So?" Hasard lächelte. „Hat einer von den Burschen mit dem Bierkrug in der Hand Ihre Kirche betreten?" „Ich bitte doch darum, die Sache nicht ins Lächerliche zu ziehen." „Solange Sie nicht aufhören, mir ei nen Anlaß dafür zu geben, werde ich mich kaum beherrschen können", er widerte der Seewolf und grinste her ausfordernd. „Dieser bewußte Mann aus Ihrer Crew", sagte Sheehy bissig, „hat sich in Bereiche vorgewagt, die nicht nur für ihn gefährlich werden könnten." „Sie meinen - auch für mich, für die gesamte Mannschaft?" „So ist es." „Was für Bereiche sind denn das? Und was hat ein Gottesmann damit zu tun? Sollten Sie sich nicht eher um Ihre Predigten kümmern?" „Ich befinde mich zur Zeit nicht im kirchlichen Amt", entgegnete Sheehy spitz. „Ach! Heißt das, Sie sind rausgeflo gen? Haben Sie vielleicht die silber nen Kerzenleuchter vom Altar ver kauft?" Hasard lachte leise. Sheehy lief rot an.
19 „Ich muß doch sehr bitten!" zischte er. „Lenken Sie nicht vom Thema ab! Es geht um Ihren Mann der sich mit verdammungswürdigen Weibsbil dern eingelassen hat!" Hasard zog die Brauen zusammen. „Soll sie das sein, die Katze, die Sie aus dem Sack gelassen haben?" „In der Tat." „Das kann nicht Ihr Ernst sein, Mi ster Ex-Reverend. Sie befinden sich hier in einer Hafenstadt. Das müßte Ihnen eigentlich aufgegangen sein. Und Seeleute haben durchaus nichts gegen Kontakte mit bestimmten La dys einzuwenden, deren Ruf gemein hin nicht der beste ist. Welcher mei ner Männer soll es denn sein, der sich derart Verwerfliches hat zuschulden kommen lassen?" „Ein blonder Schwede. Sein Name ist mir nicht bekannt." Hasard stutzte zum ersten Male, ließ sich aber nichts anmerken. Sten mark war als einziger vom letzten Landgang noch nicht zurückgekehrt. Zwar handelte es sich um keinen Ver stoß gegen die Borddisziplin, da die insgesamt festgesetzten drei Tage noch nicht abgelaufen waren. Doch es war sonst nicht Stenmarks Art, nicht wenigstens eine Nachricht zu über mitteln. Der Seewolf sah den Mann in der Kutte einen Moment forschend an. „Sie schnüffeln also in gewissen Häu sern herum?" Sheehy stieß ein erbostes Schnau ben aus. „Was unterstellen Sie mir! Es handelt sich nicht um diese Art von Häusern. Ich sage nur soviel: Ihr Crewmitglied hat sich mit Frauen eingelassen, mit denen er sich besser nicht einlassen sollte." Der Ex-Reve rend stand auf. „Wenn Ihnen etwas an der Sicherheit des Mannes gelegen ist, sollten Sie ihn aufspüren lassen
und an Bord zurückholen." Er stand auf. „Wo ich ihn finde, können Sie mir nicht freundlicherweise verraten?" „So weit geht meine Informations pflicht nicht. Es war lediglich meine Aufgabe, Sie zu warnen." „Aus eigenem Antrieb?" „Auch darüber habe ich nicht zu re den. Sie werden die für Sie wichtigen Einzelheiten durchaus selbst heraus finden." Sheehy wandte sich ab, ohne den Seewolf noch eines Blickes zu würdigen. Steifbeinig stelzte der Ex Reverend hinaus. Hasard verzichtete darauf, den Mann auf seinem Weg von Bord zu begleiten. Bob Grey hatte verdammt recht gehabt, wenn seine Abneigung auch nur gefühlsmäßig begründet ge wesen war. 4. Stenmark fuhr ungewollt im Bett hoch, als die Kammertür knarrend aufschwang. Er setzte sich auf und starrte Esther an. Sie stand in der halboffenen Tür und lächelte. „In diesem Haus haben wir alle Verständnis füreinander", sagte sie. „Und wir haben auch keine Geheim nisse voreinander. Du brauchst dich deswegen nicht zu genieren, Sten mark." Er registrierte überrascht, daß sie das vertraute Du gebrauchte - gerade so, als habe er sich durch die gemein same Nacht mit Samantha ihr Ver trauen erst erworben. Er warf einen Blick zur Seite. Samantha schlief noch immer. Ihre tiefen Atemzüge verrieten es. „Schüchtern bin ich nicht gerade", sagte er. „Allerdings komme ich mir
20 ein bißchen wie jemand vor, der sich bei euch eingeschlichen hat." Esther schüttelte den Kopf. „Un sinn. Wir versuchen, unser Leben so natürlich wie möglich zu leben. Die Frauen, die sich mir anschließen, un terschreiben keinen Vertrag, der sie verpflichtet, wie in einem Kloster zu vertrocknen." Stenmark lachte. „Das wäre nun wirklich das letzte, was ich angenom men hätte. So seht ihr wahrhaftig nicht aus." Esther reagierte mit einem Lächeln auf seine Heiterkeit. Sie trat ein und drückte die Tür behutsam zu. An der Wand blieb sie stehen. Ihr Blick streifte wie unbeabsichtigt den mus kulösen Oberkörper des Schweden. „Unsere Gegner behaupten aller dings, wir würden ein hochherr schaftliches Bordell betreiben." Stenmark schüttelte verständnislos den Kopf. „Und all die Saufbolde, die ihr bei euch aufnehmt? Was ist mit denen?" „Die nutzen wir aus. Wir lassen sie die niederen Arbeiten verrichten. Fußböden schrubben, Wäsche wa schen, in der Küche schuften. Und von denen, die im Kopf klar genug sind, lassen wir uns Speisen und Ge tränke servieren, wenn wir uns mit unseren reichen Gönnern im Bett rä keln." Esther stieß die Atemluft durch die Nase aus. „Aber das sind noch die harmlosesten Geschichten, die über uns erzählt werden. Lord Alsworth und seine Handlanger tun alles, um uns als Hexen hinzustellen. Eines Tages, fürchte ich, wird er ge nügend Menschen so weit aufge bracht haben, daß sie uns das Dach über dem Kopf anzünden." Samantha gab einen Laut des Wohlbehagens von sich, wälzte sich im Halbschlaf auf die andere Seite
und gewährte einen Blick auf die straffe Rundung ihrer Kehrseite. Stenmark lächelte und wandte sich wieder der Hausherrin zu. „Ich nehme an, du bist nicht hier, um mir nur das zu erzählen." „Nein. Ich habe an deinen Kapitän gedacht. Wäre es nicht besser, ihn zu benachrichtigen?" Stenmark hob die Schultern. „Ich habe meinen Landurlaub noch nicht überschritten, falls es das ist, was du meinst." Esther winkte ab. „Um ehrlich zu sein, ich habe nicht alles gesagt. Ein bißchen Eigennutz steckt auch dahin ter." Samantha warf sich noch einmal herum und lag nun völlig entblößt auf der Bettdecke. Ihr Körper war die reinste Augenweide. „Es fällt mir schwer, mich zu kon zentrieren", gestand Stenmark. „Einen Moment wirst du es schon noch durchhalten", entgegnete die blonde Frau mit einem Anflug von Spott. „Ich wollte deine Meinung hö ren, weil ich deinen Kapitän nur vom Hörensagen kenne. Es wird dich nicht wundern, wenn ich dir sage, daß ich Verbündete brauche. Ich muß mich an jede Möglichkeit klammern, die sich nur bietet. Deine Hilfe für Rufus Halpine war wie ein Zeichen, das mir gesetzt wurde. Wenn Sir Hasard so ist wie du, dann möchte ich alles daran setzen, ihn kennenzulernen." „Er ist zehnmal mehr als ich." „Stell dein Licht nicht unter den Scheffel." „Das tue ich nicht. Ich sage nur, wie es wirklich ist. Jeder in unserer Crew ist ein feiner Kerl - auf seine Weise. Aber Philip Hasard Killigrew über ragt sie alle. Ich habe nie einen ge rechteren Mann als ihn kennenge lernt."
21 Hoffnung leuchtete in Esthers Au „Wo denkst du hin!" gen. „Und du meinst, daß es keine Zu „Du lügst." mutung ist, wenn ich ihn bitte, mich „Sehe ich so aus?" anzuhören?" „In der Tat. Ich sehe es dir an der „Er ist immer auf der Seite derer, Nasenspitze an." die für ihr Recht kämpfen." „Das ist unmöglich." „Dann werde ich einen Boten los „Nicht für mich, mein Lieber. Im schicken. Hast du etwas dagegen, übrigen werde ich Esther zur Rede wenn ich ausrichten lasse, daß du stellen. Wir haben keine Geheimnisse hier bist?" voreinander. Wenn sie wirklich hier „Aber nein!" rief Stenmark. „In un war . . . " Sie sprach nicht weiter. serer Crew gilt das gleiche wie in dei Stenmark erinnerte sich, die Sache nem Haus, Esther. Wir haben keine mit den Geheimnissen gleichlautend Geheimnisse voreinander." von Esther gehört zu haben. Das fri „Dann ist es gut", sagte sie lächelnd vole Spielchen hatte also keinen und ging auf leisen Sohlen hinaus. Sinn. Er würde dabei den kürzeren Samantha erwachte dennoch von ziehen. dem Geräusch der zuschnappenden Also sagte er die Wahrheit. Tür. Auf dem Rücken liegend, rieb sie Samantha lachte und lachte. Sie sich die Augen und gähnte. ließ sich auf ihn sinken und hörte erst „War jemand hier?" fragte sie ver auf zu lachen, als er sie mit der Eisen schlafen. härte seiner Armmuskeln an sich zog „Ja", antwortete Stenmark fei und sie küßte. xend. „Ich hatte Damenbesuch." „Was?" Samantha fuhr vor ihm hoch. Ihre prallen Brüste wippten durch die jähe Bewegung. „Was re Lord James Alsworth schüttelte sich dest du da?" vor Kälte, obwohl er seinen dick ge Stenmark spielte Verlegenheit. fütterten Hausmantel trug. Er schlug „Ich hatte gedacht, es dir verheimli die Arme vor der massigen Brust zu chen zu können. Sie übrigens auch. sammen und marschierte im Zimmer Dein fester Schlaf scheint bekannt zu auf und ab. Die Fußbodendielen sein. Und so ergab es sich . . . " knarrten unter seinen Schritten. Sie schrie vor Empörung, warf sich Vor dem Kamin blieb er stehen und auf ihn und stieß ihn zurück auf das verzog das Gesicht zu einer ärgerli Bett. „Oh, du Aufschneider! Du elen chen Grimasse. Er versetzte dem der Angeber! Wer sollte denn wohl knienden Diener einen Tritt in den die Glückliche gewesen sein?" Hintern. Der Mann ließ einen er „Das darf ich nicht verraten", erwi schrockenen Laut hören und konnte derte er mit halberstickter Stimme sich mit knapper Mühe festhalten, unter ihrer weichen Haut. um zu verhindern, daß er kopfüber in Samantha stemmte sich mit beiden die Feuerstelle kippte. Händen auf seine breite Schultern „Nichtsnutz!" rief Lord Alsworth und blickte auf ihn hinunter. „War es und stemmte die fleischigen Hände in Grisina?" die breiten Hüften. „Wie lange soll „Himmel, nein." ich noch frieren, du Wicht?" „Mit Verlaub, Mylord", stammelte „Dann Esther persönlich?"
22 der Diener, „das Holz ist noch zu daran nicht genug hatten, kauften sie feucht. Ich versuche ja mein Bestes, sogar vorhandene Paläste auf. aber es will einfach nicht..." Und einen Mann von Adel schickte „Dann besorge gefälligst trockenes die Königin in ein erbärmliches Loch, Holz, du Einfaltspinsel! Wenn es in in dem er nicht einmal trockenes zehn Minuten nicht warm ist, wirst Feuerholz zur Verfügung hatte. Lord du dich nach einer anderen Arbeits Alsworth dachte mit Schaudern an stelle umsehen müssen. Verstan den zurückliegenden Winter, den er den?" überwiegend zähneklappernd ver „Jawohl, Mylord, sehr wohl, My bracht hatte. lord!" Der Mann erhob sich hastig, In allen Kaminen des Hauses hat verbeugte sich mehrmals und eilte ten Tag und Nacht Feuer gebrannt, hinaus. doch das Eis an den Fenstern war An den aufgeschichteten Holzschei drei Monate lang nicht geschmolzen. ten leckten zaghaft Flammen, die Es war eine Schande. Menschen von nach und nach in sich zusammensan Rang und Namen - wie er - mußten ken. sich mit primitivsten Lebensumstän Lord Alsworth schüttelte mißbilli den zufriedengeben. Sogar dann, gend den Kopf, zog den Hausmantel wenn man ein Regierungsamt beklei fester über seinem Bauch zusammen dete. und wandte sich ab. Er trat an eins Und die Pfeffersäcke lebten in Saus der Fenster. Die Scheiben waren naß. und Braus! Dieses verdammte Haus war so Lord Alsworth verstand die Welt feucht, daß wahrscheinlich sogar ge nicht mehr. dungene Brandstifter versagen wür Auf den Gedanken, daß die verhaß den, wenn sie es für ihn anstecken ten Pfeffersäcke ihren Reichtum sollten. durch Arbeit erworben hatten, kam Eine andere Möglichkeit, diesen er indessen nicht. Ebensowenig fand Dienstsitz loszuwerden, sah er nicht. er etwas Verkehrtes daran, daß ein Bestenfalls mußte man den Kasten in Adliger ein Recht auf Luxus und die Luft jagen lassen. Aber eine Ex Komfort haben sollte, ohne einen Fin plosion war wesentlich schwieriger ger dafür rühren zu müssen. Privile zu erklären als ein kleines Feuer. gien dieser Art wurden vom Allmäch Aus dem kühlen Wohnzimmer, das tigen und nicht durch schnöde weltli sich im ersten Stock befand, blickte che Arbeit verliehen. er auf die Fenchurch Street hinunter. Der Diener kehrte mit einem Arm Dort unten herrschte bereits reges voll Holzscheite zurück und beeilte Leben. Lord Alsworth verachtete die sich, seine kniende Tätigkeit vor dem Krämerseelen, die elegant gekleide Kamin fortzusetzen. Zwei Hausmäd ten Geschäftsleute, die schon in aller chen erschienen mit dem Frühstück. Herrgottsfrühe mit ihrem Tagewerk Sie trugen silberne Tabletts mit sil anfingen und einen geradezu unver bernen Warmhaltehauben herein. schämten Erfolg damit hatten. Lord Alsworth drehte sich am Fen Diese Pfeffersäcke horteten ihre ster um. Goldmünzen vermutlich schon in „Hinaus!" schrie er. Sein pickliges Speichern, und sie bauten sich einen Gesicht rötete sich. „Ich denke nicht Palast nach dem anderen. Wenn sie daran, in einem kalten Zimmer zu
23 frühstücken! Himmel, Herrgott, muß man euch dummen Gänsen denn die einfachsten Selbstverständlichkeiten noch einhämmern?" Die Mädchen zogen sich eilig zu rück und zwangen sich, nicht zu ki chern. Mit seinem Pickelgesicht und den feisten Wangen sah Lord Als worth aus wie ein groß gewordener kleiner Junge. Dazu trug sicherlich auch seine Figur bei - schmale Schul tern, breite Hüften, dicker Bauch. Er sah einfach unmöglich aus, und man mußte sich anstrengen, über haupt Respekt vor ihm zu haben. Überdies hieß es, daß er Frauen nur kriegen konnte, indem er sie für ihre Dienste bezahlte. Der Diener schaffte es endlich, das Feuer in Gang zu bringen. Hohe Flammen loderten bis in den Rauch abzug, und mit dem Zerplatzen der Holzfasern, das wie Schüsse klang, breitete sich der erste Hauch von Wärme aus. Lord Alsworth scheuchte den Die ner mit einer Handbewegung weg und postierte sich vor dem Kamin, in dem er sein breites Hinterteil der Wärmequelle zuwandte. Mit zuneh mendem Wohlbehagen besserte sich seine Laune. Nach zehn Minuten, als sein Ge sicht von der Hitze des Feuers gerötet war, läutete er den Dienstmädchen. Eine der beiden, eine mollige Brü nette, öffnete zaghaft die Tür. „My lord?" „Komm her", sagte er heiser, neben dem Tisch stehend, auf eine Stuhl lehne gestützt. „Wünschen Sie jetzt das Frühstück, Mylord?" „Ich wünsche, daß du herkommst!" fauchte er. „Oder spreche ich zu un deutlich?" „Nein, Mylord." Mit schüchtern ge
senktem Kopf befolgte sie den Be fehl. Zwei Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen. Grinsend trat er auf sie zu. Ehe sie sich versah, fuhr seine fleischige Rechte um sie herum. Erschrocken schrie sie auf, als er sie in die achterli che Rundung kniff. Doch sie wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren. Sie kannte seinen Jähzorn, und wie alle weiblichen Hausangestellten wußte sie, zu welchen Auswüchsen er fähig war, wenn man ihn unnötig her ausforderte. Vielleicht knurrte sein Magen, und er vergaß über dem Hunger den Ap petit auf williges Fleisch. Nein, her ausfordern durfte man ihn auf keinen Fall. Besser das Unvermeidliche er dulden, als auf viel schlimmere Weise gedemütigt werden. „Brav, brav", murmelte der Pickel gesichtige. „Bist ein anständiges Mädchen. Wenigstens weißt du, daß du deinem Herrn eine kleine Freude in der Morgenstunde nicht verwei gern darfst." Mit der Linken zog er sie an sich heran, und mit der Rechten begann er, ihre Röcke und das, was sie darun ter trug, auseinanderzuwühlen. Sein Atem ging schneller, als er ihre nackte Haut und das pralle Rund ih res Hinterteils fühlte. Das Dienstmädchen stand wie ver steinert. Sie hielt den Blick gesenkt, Um dieses Pickelgesicht nicht anse hen zu müssen. Doch sie konnte nichts dagegen tun, daß ihr ständig diese Atemwolke ins Gesicht schlug. Jener schale Geruch des italieni schen Weines lag darin, den er abends literweise in sich hinein kippte. Und das Tabakrauchen hatte er sich auch angewöhnt. Ganz abgese hen davon, daß er sehr oft käufliche Frauen im Haus hatte, die ihm so zu
24 Diensten sein mußten, wie er es wünschte. Im Hauspersonal wurde gemunkelt, daß es sich dabei um höchst absonder liche Wünsche handeln sollte. Als Dienstmädchen konnte man also froh sein, wenn er es dabei beließ, einem ein wenig das Gesäß zu befingern. Für Außenstehende mochte so ein Lord etwas Besonderes sein. Wer je doch für einen Mann wie Lord Als worth arbeitete, dem wurden rasch die Augen geöffnet. Das Mädchen und ihre Kolleginnen schwankten ständig zwischen Ekel und Verach tung, wenn sie über ihren Dienstherrn redeten oder nur an ihn dachten. Es mochte ja sein, daß es wirklich ehrenwerte und hochanständige Lords gab. Dieser eine aber, mit dem sie es zu tun hatten, war verab scheuungswürdiger als der primitiv ste Raufbold aus den finstersten Ha fengassen. Schritte näherten sich im Korridor. Die Brünette hörte, daß es ein Mann war. Sie bewegte sich dennoch nicht. Lord Alsworth sah den Reverend erst, als dieser schon geraume Zeit in der offenen Tür stand. Alsworth be merkte, daß Sheehy wie gebannt und mit glitzernden Augen auf diesen prachtvollen Hintern starrte, der sich ihm so unverhofft und unverhüllt präsentierte. Erst als er Alsworths Blick be merkte, änderte sich der lüsterne Ge sichtsausdruck des Mannes in der schwarzen Kutte. „Aber, aber, mein Sohn!" rief er ta delnd und mit eherner Stimme. „Ist dir das Verwerfliche deines Tuns nicht bewußt? Wer sich schon zu die ser frühen Stunde der Fleischeslust hingibt, ist der Gnade des Herrn nicht wert!"
„Verschwinde und bring das Früh stück", knurrte der Lord und ver setzte der Brünetten einen abschlie ßenden Klaps auf die Kehrseite. „Und du, meine Tochter", sagte Sheehy salbungsvoll, „laß dir gesagt sein, daß es nicht nur die linke Hinter backe ist, die du deinem Gebieter hin halten mußt. Auch die rechte steht ihm zu, und du solltest sie ihm will fährig anbieten, auch wenn er darin fehlt, eine gottgefällige Zeit auszu wählen. Denn an dir ist es nicht, dei nen Herrn zu kritisieren. Vielmehr ist es deine Pflicht, jederzeit..." „Ich will jetzt mein Frühstück", sagte Lord Alsworth unwillig. Das Dienstmädchen nutzte die Ge legenheit, hastig die Kleidung zu ord nen, vor dem Ex-Reverend zu knick sen und in den Korridor hinauszuei len. Der Lord wies auf den Tisch. Seine Handbewegung war unwirsch. Gor don Sheehy rückte einen Stuhl zu recht und setzte sich. Alsworth nahm ihm gegenüber Platz. „Du bist ein schamloser Bursche, James", sagte Sheehy vorwurfsvoll. „Ich rate dir, treibe es nicht allzu toll. Wenn sich herumspricht, daß du dei nem Personal jederzeit unter die Röcke gehst, könntest du in eine schlimme Lage geraten. Vergiß nicht, daß die Königin höchstpersönlich ein besonderes Auge auf dich hat. Und deine Aufgabe ist keine x-beliebige. Als Beauftragter für die Durchset zung kirchlichen Rechts stehst du ge wissermaßen im besonderen öffentli chen Interesse. Dir sollte man einen untadeligen Lebenswandel nachsa gen. Nichts anderes." Lord Alsworth grinste abfällig. „Du bist neidisch, was?" „James!" rief Sheehy empört. „Ich muß doch sehr bitten!"
25 „Bleib auf dem Teppich, Gordon. Denk daran, daß du es bist, der in meinen Diensten steht. Es ist nicht etwa umgekehrt. Du hast mir keine Moralpredigten zu halten. Ich be zahle dich dafür, daß du für mich In formationen sammelst. Das ist alles. In meinem Haus kannst du deine Rolle als Kirchenmann getrost able gen. Und wenn du so versessen dar auf bist, es mit den Weibern zu trei ben, dann brauchst du es mir nur zu sagen. Ich besorge dir das Fleisch, das du haben willst. Spiele also nicht den Scheinheiligen." Sheehy schluckte trocken. „Auch ich habe einen Ruf zu wahren", ent gegnete er. „Den eines Reverends, der seine Kutte widerrechtlich trägt? Eines Kirchenmannes, dem die Oberen ei nen Fußtritt verpaßt haben, weil er noch immer diesen schwachsinnigen Gegenreformationsquatsch im Kopf hat? Der jetzt als erbärmlicher klei ner Zuträger arbeitet und Menschen ans Messer liefert, die gegen die gän gigen Grundsätze verstoßen?" „Hüte deine Zunge!" zischte Sheehy. „Ich kann meine Informatio nen genauso anderweitig verkaufen. Und ich bin durchaus in der Lage, auch Informationen an den Mann zu bringen, die dich betreffen." Lord Alsworths Augen verengten sich. Sein Gesicht verlor dadurch die picklige Jungenhaftigkeit. „Willst du mir drohen?" flüsterte er. „Nein. Ich rücke die Dinge nur ins Lot, damit du deine und meine Posi tion kennst." Das Frühstück wurde gebracht. Die beiden ungleichen , Männer aßen schweigend, tranken den heißen Tee mit einem Schuß Rum und genos
sen die Wärme, die sich mehr und mehr im Zimmer ausbreitete. „Es muß nun bald Frühling wer den", sagte Sheehy, betupfte den Mund mit einer Serviette und lehnte sich zurück. „Ich spüre es in allen Knochen. Und es war ein lausiger Winter. Wir haben wirklich besseres Wetter verdient." „Interessant", entgegnete Lord Als worth kauend und piekte mit der Ga bel nach dem nächsten Stück Schin ken. „Wenn das alles ist, was du an Neuigkeiten h a s t . . . " „Mach dich nur über mich lustig! Das wird dir gleich vergehen. Die ser Killigrew ist ein ganz zyni scher Bursche. An dem kann man sich die Zähne ausbeißen, sage ich dir." Lord Alsworth grunzte verächtlich. „Es gibt niemanden, der nicht auch mit Wasser kochen würde. Hast du ihn nicht gewarnt?" „Ich habe dezent auf die maßgebli chen Punkte hingewiesen. Er war nicht im mindesten beeindruckt. Und es schien ihn auch gleichgültig zu las sen, daß sein Decksmann, dieser Schwede, sich in Dinge einmischte, von denen man besser die Finger las sen sollte." Lord Alsworth lächelte tückisch überlegen und schlürfte einen ausgie bigen Schluck Tee. „Nun", sagte er gedehnt, „dann werden wir wohl oder übel zu härte ren Maßnahmen greifen müssen. Ich habe nicht vor, mir von hergelaufe nen Seefahrern ins Handwerk pfu schen zu lassen." „Wohl oder übel?" entgegnete Sheehy grinsend. „Tun wir es denn nicht gern, Mylord?" James Alsworth erwiderte das Grinsen seines Zuträgers.
26 5. Der Bote, den Esther Ransom ge schickt hatte, war ein krummbeiniger kleiner Mann, in dessen pockennarbi gem Gesicht eine blaugeäderte rote Nase leuchtete. Philip Hasard Killi grew, Ben Brighton, Dan O'Flynn, Don Juan de Alcazar und Edwin Car berry folgten dem Boten, der sie ziel strebig durch das Gassen-Labyrinth führte. Es ging bereits auf den Mittag zu. Aus Hauseingängen und offenen Fen stern wehten Kochdünste und ver mengten sich mit den übleren Gerü chen aus den Gossen. Die harten Roll geräusche von eisenbereiften Fuhr werken hallten zwischen den Häuser giebeln wider. Streunende Hunde heulten, wenn sie von fluchenden Männern Tritte erhielten. Als sie in die breitere Gasse einbo gen, blieb der Rotnasige plötzlich ste hen. Lautes Stimmengewirr schlug ihm und seinen Begleitern entgegen. Der Seewolf und die anderen verharr ten ebenfalls. Ein Pulk von lärmenden Menschen drängte sich etwa hundert Yards ent fernt. Männer brüllten, Frauen kreischten. Fäuste wurden geschüt telt. Erste Steine flogen in einen klei nen Park, in den sie sich aus unerfind lichem Grund noch nicht hineintrau ten. Der Rotnasige drehte sich um. Er schrecken stand in seinem düsteren Gesicht. „Um Himmels willen, sehen Sie nur, Gentlemen! Das ist Esthers Haus! Sie werden es stürmen! Sie werden..." „Gar nichts werden sie", unter brach ihn der Seewolf. Indem er schon loslief, gab er sei nen Gefährten ein Zeichen. Bereits nach wenigen Schritten
konnten sie deutlich verstehen, was da gebrüllt und gekreischt wurde. „Hexenpack!" „Fahrt zur Hölle, verfluchte He xen!" „Verschwindet aus London, ihr Sa tansweiber!" „Der Teufel soll euch holen!" „Seine Gefährtinnen seid ihr so wieso!" „Weg mit euch, oder wir stecken eure Hexenbude in Brand!" „Das erspart uns den Scheiterhau fen!" Wildes Beifallsgebrüll ertönte. Ei nige der Kerle wurden mutiger und drangen in den vorderen Teil des parkähnlichen Gartens ein. Die Frauen schrien schrill und anfeu ernd. Steine flogen weiter, die ersten erreichten schon die Hauswand. Mit immer neuen Verwünschungen entlud sich der Haß der Meute. Ein Haß, den andere sorgfältig angezet telt hatten? Hasard war davon über zeugt. Es waren einfache Leute, die sich da die Kehle aus dem Hals schrien. Man konnte sich nur schwer vorstellen, welchen Vorteil sie davon haben sollten, sich von ihrer künst lich erzeugten Wut derart treiben zu lassen. Es gab nur die eine denkbare Erklärung: Der Vorteil bestand in klingender Münze. Die Gefährten des Seewolfs schwärmten aus und bildeten einen Halbkreis, mit dem sie gegen die ent fesselte Meute vordrangen. Edwin Carberry blieb ausnahmsweise stumm und drohte den Kerlen nicht etwa lautstark an, er werde ihnen die Haut in Streifen von ihren verdamm ten Affenärschen ziehen. Der Profos wußte wie die anderen, daß man in diesem Fall nicht die Pferde scheu machen durfte. Es galt, das Geschehen aufzuklären und sich
27 wenigstens einen der Strolche zu grei Kampf von Mann zu Mann erprobt hatten. fen. Der Bullige flog der Länge nach auf Die Taktik funktionierte. Hasard, der am rechten Außenflü den weichen Gartenboden und rührte gel des Halbkreises vordrang, er sich nicht mehr. Das Wutgebrüll der reichte den Garten des großen Bür Meute, das gegen die angeblichen He gerhauses und nahm einen der Stei xen gerichtet gewesen war, schlug in newerfer ins Visier - einen bulligen Angstgeschrei um. Die Frauen flohen als erste. Sekun Kerl, über dessen dunklem Haar kranz der kahle Teil seines Schädels den später folgten ihnen auch die Männer, die angesichts ihrer reihen schimmerte. Aus den Augenwinkeln heraus sah weise ins Wanken geratenden Kum der Seewolf, wie seine Gefährten auf pane und der Eisenfäuste, die erbar die Meute eindrangen und sich dabei mungslos zuschlugen in blanke Panik auf die männlichen Teilnehmer des gerieten. Innerhalb von wenigen Au genblicken wandte sich der ganze Protestgebrülls konzentrierten. Viel zu spät kriegten die Schrei Pulk zur Flucht. Auch der Rotnasige, so zeigte sich hälse mit, was ihnen blühte. Carberry, immer noch schweigsam, jetzt, hatte zum Schluß Mut gefaßt ließ seine Hammerfäuste wirbeln und und noch mitgemischt. Triumphie hieb eine Schneise in die Horde, in rend stand er vor einem hageren Kerl, dem er drei Kerle nacheinander der alle viere von sich gestreckt hatte. Hasard gab seinen Gefährten ein flachlegte. Handzeichen. Die Männer verstan Ben Brighton kämpfte zielgenau den. Sie ließen die Strolche, die sich und mit der Entschlossenheit, die sei stöhnend wieder aufrappelten, ge nem ruhigen Wesen entsprach. währen. Es hatte keinen Sinn, zwei Dan O'Flynn und Don Juan de Al Dutzend oder mehr Gefangene zu ma cazar ähnelten sich in ihrer geschmei chen, wenn man nicht wußte, wohin digen, tänzelnden Kampfesweise. mit ihnen. Beide stießen in die Flanke der Men Hasard entschied, sich auf den Bul schentraube vor und hieben eine ligen und den Hageren zu beschrän Lücke, die das Gebrüll und die Vor ken. Der rotnasige Bote Esther Ran wärtsbewegung ins Stocken brachte. soms strahlte vor Stolz, als sie die Be Hasard packte den Bulligen, der im wußtlosen gemeinsam ins Haus Begriff war, einen weiteren von den schleiften. mitgebrachten Steinen aufzuheben und in Richtung des Hauses zu schleudern. Hasard erwischte den Kerl am rechten Oberarm, packte mit Stenmark empfing den Seewolf und gnadenloser Härte zu und zog ihn zu die anderen im Eingang des Hauses. sich heran. Der Mann stolperte - in In der rechten Armbeuge des blonden die Faust des Seewolfes hinein, die Schweden lag ein schwerer Blunder ihn buchstäblich von den Füßen hob. buss. Die trichterförmige Laufmün Die Arwenacks setzten ihre Fäuste dung der breitstreuenden Waffe hatte mit jener eisernen Härte ein, die sie in dieGröße eines Fanfaren-Schalltrich unzähligen Seegefechten beim ters.
28 „Notfalls hätte ich die Strolche mit gehacktem Blei verscheucht", er klärte er grimmig. Hasard glaubte ihm aufs Wort, denn es bestand nicht der geringste Zweifel daran, daß er die rassige schwarzhaarige Frau an seiner Seite mit der Entschlossenheit eines Tigers verteidigt hätte. Stenmark übernahm es, den See wolf und die Arwenacks der Hausher rin vorzustellen. Während Esther Ransom den unerwarteten Rettern all das schilderte, was der Schwede bereits wußte, dirigierte er die inzwi schen zu Bewußtsein gelangten Ge fangenen gemeinsam mit Samantha und dem Rotnasigen in den Keller. „Nun wissen Sie also, woran Sie sind", schloß Esther Ransom ihren Bericht gegenüber Hasard und seinen Gefährten. „Noch können Sie sich zur Flucht entschließen. Sie befinden sich immerhin im schlimmsten Bor dell Londons und in der Gewalt von ruchlosen Weibsbildern, die allesamt mit dem Teufel im Bunde stehen." „Dem Gentlemen sind wir schon ein paarmal persönlich begegnet", sagte Hasard, „und er hat dabei im mer den kürzeren gezogen." Die Männer grinsten und nickten bestätigend. „Nun, dann haben Sie ja nichts zu befürchten", erwiderte Esther. „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen das Haus - einschließlich der Mitbe wohner, die wir aufgenommen ha ben." Hasard wechselte Blicke mit den anderen. „Ich finde, wir sollten uns erst die beiden Gefangenen vornehmen", sagte er. „Oder ist jemand anderer Meinung?" Gemeinsames Kopfschütteln war die Antwort.
„Ich glaube", sagte Carberry dröh nend, „ich hätte da eine passende Spezialbehandlung für die Strolche." „Doch nicht etwa Folter?" rief Esther voller Besorgnis. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie das vor haben. Aber wenn es doch so sein sollte, muß ich mich entschieden da gegen verwahren. Ich möchte nicht, daß in meinem Haus Menschen ge quält werden - nicht einmal meine ärgsten Feinde." „Keine Sorge", entgegnete der Pro fos und hob beschwichtigend die Rie senpranken. „Folterknechte sind wir wahrhaftig nicht. Aber ich würde mich gern als Hexenknecht ausge ben." Er grinste bis zu den Ohrläpp chen. Hasard und die anderen konnten sich in etwa denken, was er vorhatte. Esther hingegen sah den Narben mann mit großen Augen an. Er er klärte es ihr, und sie lachte erleich tert. Gegen die „Spezialbehandlung" der Gefangenen, wie sie der Profos beabsichtigte, hatte sie nicht das ge ringste einzuwenden. Bei den Vorbereitungen halfen Esther und alle Gefährtinnen ebenso mit wie Hasard und die Arwenacks. Voller Eifer durchstreiften sie den Garten hinter dem Haus, um die „Utensilien" zu besorgen, die der „Hexenknecht" brauchte. Die restli chen Sachen wurden aus den Vorrats räumen des Hauses zusammengetra gen. Grisina Musante benachrichtigte Stenmark und ihre Freundin Sa mantha. Im Flüsterton - aber so, daß die Gefangenen es dennoch mithör ten - teilte sie den beiden im Keller mit, daß die beiden Männer gefesselt zum Verhör zu bringen seien. Esther habe dies mit dem großen Fürsten be
29 sprochen, und es solle auf der Stelle geschehen. Stenmark und Samantha wechsel ten einen Blick. Sie begriffen sofort. Allein bei der Erwähnung des „gro ßen Fürsten", mit dem Esther die Sache angeblich erörtert hatte, wur den die Augen der Gefangenen groß und blank, voller düsterer Ahnung. Stenmark hatte ihnen die Arme be reits auf den Rücken gefesselt. Zu sätzlich schnürte er ihnen Stricke um die Fußgelenke und verband sie so, daß die Kerle nur sehr kleine Schritte tun konnten. „Der Fürst wird ihnen die Zunge lö sen", sagte Grisina im Hinausgehen zu Samantha. „Es sei denn, sie reden freiwillig", entgegnete Samantha. Beide Frauen kicherten. Es hallte schrill durch den Kellerkorridor. Stenmark bemerkte, wie die Gefan genen erschauerten. Grinsend trieb er sie voran. Grisina wies den Weg zu einem Zimmer im Erdgeschoß des Hauses. Drinnen herrschte fast völlige Dun kelheit. Die schweren Fenstervor hänge waren zugezogen worden und ließen nur einen schwachen Schim mer vom Tageslicht durch. Kerzen brannten flackernd auf dem Kamin sims. Über dem Feuer war ein Drei bein mit gußeisernem Kessel aufge baut. Esther Ransom und die anderen Frauen standen schweigend, mit aus drucklosen Mienen, auf der linken Seite des Raumes. Alle trugen schwarze Gewänder, die ihre Ge sichtshaut blaß und maskenhaft starr erschienen ließ. Auf der anderen Seite befanden sich die Männer, die bei den Gefesselten unangenehme Er innerungen hervorriefen. Nicht im entferntesten hatten sie
damit gerechnet, in ihrem Tun so hart und wirkungsvoll gestört zu werden. Und nun sollten ausgerechnet sie, nur zu zweit, all das ausbaden, was eine ganze Horde zu verantworten hatte? Unbehagen kroch ihnen über den Rücken, als der blonde Schwede sie auf zwei Stühle zuschob, die vor dem Kamin aufgebaut worden waren. „Schön sitzen bleiben", sagte Sten mark warnend. „Sonst müßte ich euch noch auf den Stühlen festbin den. Aber das muß ja nicht sein, nicht wahr?" Die beiden antworteten nicht und konnten nur krampfhaft schlucken. Die Atmosphäre im Zimmer hatte et was seltsam Feierliches und Bedroh liches zugleich. Die Stille, die Dunkel heit, das Züngeln der Kerzen und das Prasseln der Flammen im Kamin ver stärkten diese Atmosphäre. Eine Tapetentür neben dem Kamin schwang leise knarrend auf. Carberry hatte seinen nackten Oberkörper eingeölt. Im Kerzenlicht glänzten seine Muskelpakete, die Narben im Gesicht und auf dem Brustkasten zeichneten sich als glü hende Linien ab. Die Gefangenen zuckten zusammen und wollten aufspringen, als sie den Riesen mit dem mächtigen Ramm kinn erblickten. Sie kamen nur ein, zwei Inches hoch. Stenmark legte ih nen die flachen Hände auf den Kopf und drückte sie auf ihren Platz zu rück. „Wollt ihr etwa doch festgebunden werden?" fragte er freundlich. Der Hagere zitterte. Sein bulliger Kumpan war weniger schreckhaft. Er ließ ein heiseres Knurren hören, das eine Mischung aus Panikstimmung und Wut ausdrückte. Das Knurren verstummte, als sich Carberry vor den beiden aufbaute. Seinen Utensi
30 lieneimer, den er hinter dem Rücken gehalten hatte, stellte er auf den Bo den. Er verschränkte die Arme und blickte über seine ölig schimmernden Muskeln hinweg auf die Gefangenen. Sein Narbengesicht spiegelte gren zenlose Verachtung. „Ich bin der Hexenknecht", sagte er mit grollender Baßstimme. „Mein Name ist Urgus, der Mittler zwischen dem Höllenfürsten und seinen gelieb ten weltlichen Weibchen." Vereinbarungsgemäß ließen Esther und ihre Gefährtinnen ein verhalte nes Kichern hören. Hasard und die anderen blieben ernst und gespielt grimmig. Stenmark war der einzige, der sich ein Grinsen erlauben konnte. Der Hagere zitterte heftiger. „Wir - wir - wir sind ...", stam melte er. „Halt das Maul", knurrte der Bul lige. „Hier wird nicht gequatscht, ver standen? Dazu haben wir überhaupt kein Recht." Der Hagere zog den Kopf tiefer zwi schen die Schultern. Er wagte nicht einmal mehr zu zittern. Carberry ließ die Arme sinken und stemmte die Fäuste in die Hüften. Er fixierte den bulligen Kerl mit der Halbglatze. Seine Augen funkelten dabei. „Irdisches Recht gilt hier nicht, mein Freund", sagte er mit Grabes stimme. „Das wirst du gleich feststel len. Du befindest dich in der Macht des Satans und seiner Dienerinnen. Und du wirst mir, ihrem Knecht, alles erzählen, was wir wissen wollen. Wenn nicht, ziehe ich dir die Haut in Streifen von deinem verdammten Af fen ..." Er schluckte den Rest hinun ter und begriff gerade noch rechtzei tig, daß er sich im Eifer des Gefechts fast vergaloppiert hätte. Zwischen
Hexenknecht und Profos bestanden denn doch gewisse Unterschiede, die er nicht durcheinanderbringen durfte. Der Bullige knurrte nur trotzig. „Urgus!" rief Esther Ransom drän gend. „Fang endlich an! Laß unseren Gebieter nicht ungeduldig werden!" Der Profos kreuzte die Unterarme vor dem Brustkasten, und verneigte sich in Esthers Richtung. „Wie Ihr wünscht, Herrin. Ich knöpfe mir dann erst mal dieses Bübchen vor." Er deu tete mit einer Kopfbewegung auf den Bulligen, der entschlossen zu sein schien, der höllischen Herausforde rung zu begegnen. Der Hagere hockte wie die Verkör perung des Häufchens Elend neben ihm. „Es sei!" sagte Esther gebieterisch. Stenmark warf dem Profos einen mißbilligenden Blick zu. Seiner Mei nung nach gehörte auch das „Büb chen" nicht zum Vokabular eines He xenknechts. Der Profos reagierte je doch nicht darauf. Er trat einen Schritt zur Seite, nahm das Kamineisen und tauchte es in den Kessel über dem Feuer. Es zischte. Der Profos brummte zufrie den, zog das Eisen aus dem siedenden Wasser und legte es beiseite. „Einer von euch will nicht viel leicht doch freiwillig reden?" wandte er sich noch einmal an die Gefange nen. Der Hagere riß den Mund auf, wie verzweifelt nach Luft schnappend. Aber der andere erstickte seine Rede bereitschaft im Keim. „Keinen Ton kriegst du aus uns raus", sagte er mit unverändert wü tender Entschlossenheit. Carberry zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst, mein Bübchen. Dann wollen wir mal." Er hob den Utensi
31 lieneimer und griff mit der linken hinein. „Gegen die Macht des Satans, du Dummbart, ist Menschenwille lä cherlich. Du wirst es sehen. Du wirst kapieren, was für ein erbärmlicher Wicht du bist." Der Bullige atmete hastiger. Ihm war jetzt anzumerken, daß er krampfhaft versuchte, seinen Wider stand aufrechtzuerhalten. Stenmark mußte sich beherrschen, um nicht loszuprusten, als Carberry die erste Zutat aus dem Eimer nahm. Stenmark bemerkte den warnenden Blick des Seewolfs, der ebenso ernst blieb wie die anderen aus der Crew der Arwenacks. Der Schwede nickte, hielt sich vorsorglich die Hand vor den Mund und konzentrierte sich dar auf, die Gefangenen zu bewachen. Es war eine tote, schon halb ver trocknete Kröte, die der Profos aus dem Eimer zog. Er hielt sie hoch, so daß sie vor dem Schein der Flammen und Kerzen als schrumpeliger Schat tenriß zu erkennen war. „Die Lieblingsspeise einer jeden Hexe", verkündete der Profos, wandte sich dem Kamin zu und ver senkte den Krötenkadaver mit spit zen Fingern in das siedend sum mende Wasser. „In unserem Fall ist es die Grundlage des Satanssüpp chens, das einen Menschen zum wil lenlosen Werkzeug werden läßt." Der Hagere erschauerte und gab ei nen Ton von sich, der aus einem kläg lichen, unterdrückten Stöhnen her rührte. Unterdessen war der Bullige stumm geworden. Sein trotziger Wi derstand schien schneller zu schwin den, als es eben noch zu vermuten ge wesen war. Ein Brodeln setzte in dem gußeiser nen Kessel ein. Fadendünne weißli che Dämpfe stiegen schlängelnd auf. Der Profos fuhr mit den weiteren
Zutaten nun rasch fort. Er tat, als achte er nicht auf das Verhalten der Gefangenen, die von Mal zu Mal blas ser wurden, während es im Eisenkes sel heftiger brodelte, dampfte und zischte. „Satanswurz!" rief der angebliche Hexenknecht Urgus und hielt eine fast unterarmlange Wurzel hoch, die von nichts anderem als einem Löwen zahn stammte. „Das gibt dem Gebie ter aller Hexen die Macht der Gedan ken!" Er warf die Wurzel in den Topf und nahm als nächstes ein abgestorbenes Büschel Salbei, das sie draußen am Rand eines Beets gefunden hatten. „Hexenkraut, meine Bübchen! Esther und ihre Freundinnen sam meln es jedesmal, wenn der Gehörnte bei ihnen zu Besuch war. Es handelt sich um Kraut, auf das er mit seinem Pferdefuß getreten ist." Dem Salbeibüschel ließ er eine Pa piertüte mit grauem Pulver folgen, das nichts anderes war als Mörtel aus der Außenwand des Hauses. „Hornpulver! Der Höllenfürst pflegt sich die Hörner am Türrahmen zu scheuern, bevor er geht. Das Pul ver, das unsere lieben Hexen an der betreffenden Stelle aufsammeln, gibt normalerweise ihnen die Kraft für ihre Hexerei. In Ausnahmefällen wie diesem verwenden sie es aber auch für andere Zwecke." Er ließ „Höllenkalk" folgen, der im Magen des Menschen ein inneres Brennen entfachen sollte, und die „Asche des Fegefeuers", von dem der Gehörnte bei seinem letzten Besuch etwas an den beiden unterschiedli chen Füßen gehabt und verloren ha ben sollte. In Wahrheit waren es ge wöhnliches Weizenmehl und Kamin asche. Von beidem warf er ein paar Hand
32 voll in den Kessel. Dann stellte er den Eimer beiseite und nahm das Kamin eisen zum Umrühren. Das Dampfen und Brodeln hatte sich noch verstärkt, hinzu gesellte sich ein schmatzendes Geräusch, das sich anhörte, als ertöne es direkt aus einem Höllenschlund. Beiden Gefesselten standen mitt lerweile Schweißperlen auf der Stirn. Auch der Bullige war spürbar in sich zusammengesunken. Hätte sich ein Loch im Fußboden aufgetan, so wä ren sie mit Wonne darin verschwun den. Das war ihnen überdeutlich an zusehen. Carberrys Muskeln spielten Ölschimmernd, während er mit Aus dauer umrührte. Nach einigen Au genblicken trat Esther auf ihn zu und reichte ihm eine Schöpfkelle. Er be dankte sich mit einer Verbeugung, legte das Eisen weg und tunkte die Kelle in das schmatzende und bro delnde Gebräu. Mit der Kostprobe richtete er sich auf, blies über die dampfende Kelle hinweg und zog ge nießerisch die Augenbrauen hoch. Stenmark kriegte den Mund nicht wieder zu, als er sah, wie der Profos tatsächlich schlürfte und probierte und verzückt die Lippen spitzte. Aus geschlossen, daß er das Zeug wirklich hinunterschluckte. Es mußte eine ge schickte Täuschung sein, die er da zu stande brachte. Anders konnte es sich unmöglich verhalten. Nichtsdestoweniger beeindruckte es die beiden, die jetzt gleichermaßen aussahen wie das Häufchen Elend, das anfangs nur der Hagere abgege ben hatte. Im Flammenschein entstanden sa tanische Schatten auf Carberrys Nar bengesicht, und das ölige Muskelspiel tat ein übriges, um diese Wirkung noch zu verstärken.
Ein durchdringender, fast schwefli ger Geruch strömte mittlerweile aus dem Kessel am Dreibein und breitete sich im gesamten Zimmer aus. Der Profos ließ die Kelle sinken und tunkte sie noch einmal in den Kessel. „Eine Satanssuppe wie sie sein soll!" rief er begeistert. „Der große Fürst würde seine helle Freude daran haben. Nun, seine Dienerinnen wer den ihm bestimmt berichten, welche hervorragende Arbeit ihr Knecht Ur gus wieder einmal geleistet hat." Er hob die Schöpfkelle vorsichtig an und balancierte sie - nahezu bis an den Rand gefüllt - auf die Gefesselten zu. Stenmark legte ihnen vorsorglich noch einmal die Hände auf den Kopf, um sie an ihre Stillhaltepflicht zu er innern. Der Hagere zitterte am stärk sten. Indessen war auch der Bullige vom Schaudern gepackt. Stenmark spürte, wie sich der Ha gere mit den Füßen gegen den Boden stemmte, um sich von der dampfen den Quelle des Ekels wegzuschieben. „Laß den Unsinn", sagte der Schwede. „Wenn ich loslasse, kippst du um, und dann schlägst du dir glatt den Schädel auf. Also sei vernünftig. Außerdem wird Urgus euch gleich verraten, was das feine Süppchen be wirkt." „Richtig!" rief Carberry, ohne sein Balancieren mit der Kelle zu unter brechen. „Manchmal vergißt man glatt das Selbstverständliche. Aber ihr hättet es sowieso bemerkt. Die Sa tanssuppe nimmt euch jeglichen Wil len. Ihr werdet genau das tun und sa gen, was ich erwarte. Nur ein kleiner Schluck, und die Wirkung tritt ein. Ihr seid dann nicht mehr ihr selbst, meine Bübchen. Die Wirkung läßt auch nicht so schnell nach. Wenn un sere Hexenmeisterin es wünscht,
Eine etwas unverständliche Zuschrift er
hielten wir von A F ,
Straße , 3500 Kassel. Er schrieb:
An den Erich Pabel Verlag + Moewig Ver lag. Ich lese zur Zeit die Hefte Seewölfe: Kor saren der Weltmeere. 1.) Davis J. Harbord: ,,Die Wilden von der Empress of Sea", Nr. 600. 2.) Burt Frederick: ,,Das Silberschiff', Nr.601. Können Sie mir bitte mitteilen, welche Hefte vorangegangen sind, oder eine Liste erstel len, damit ich mit eventuell einige nachbe stellen kann, die vorher erschienen sind. Es tut mir leid, d a ß es die Taschenbücher - die Seewölfe-Abenteuer auf 7 Weltmeeren nicht mehr gibt. Aus welchem Grund? Sie waren so spannend. Besteht keine Möglich keit einer neuen Auflage? A F PS.: Haben Sie vielleicht andere Taschen bücher über Seemannsgeschichten von frü her? Nun ja, lieber Herr F , bei den SEE WÖLFEN - Korsaren der Weltmeere - han delt es sich um die Abenteuer des Philip Ha sard Killigrew und seiner Mannschaft zur Zeit der Königin Elisabeth von England. Und den SW-Nummern 601 und 600 sind die Nummern 1 - 599 vorausgegangen. In nerhalb dieser Serie behandelten die Num mern 1 - 1 1 die Abenteuer des Lieutnants der Royal Navy George Abercrombie Fox (zur Zeit Nelsons), die von dem Engländer Adam Hardy geschrieben und von unserem Verlag als deutsche Übersetzung herausge bracht worden waren. Da wir auf weitere Romane von Adam Hardy (übrigens sehr gute Seeabenteuer-Romane!) nicht warten wollten - er ist kein sogenannter „Viel schreiber" -, brachten wir ab der SW-Num mer 12 bis heute (SW-Nr. 612 und so fort) die Seeabenteuer-Romane um Philip Hasard Killigrew und seine Mannen, genannt die Arwenacks, heraus. Ferner erschien in unserem Verlag die Ta schenbuch-Serie „SEEWÖLFE - Seeaben teuer auf sieben Weltmeeren", und zwar die
Nummer 1 - 57, die von 1979 -1985 auf den Markt kamen und von mehreren Autoren geschrieben wurden. Hier handelte es sich um die Erlebnisse des Howard Bonty, eine Romanfigur, die sich Fred McMason und J o h n Curtis ausgedacht hatten. Wir Auto ren hätten diese Serie gern fortgesetzt, aber die Verlagsleitung entschied, sie einzustel len. Eine Neuauflage ist nicht geplant. Au ßer den beiden genannten Serien sind in unserem Verlag keine anderen Seemanns geschichten erschienen. Mehr über Litera tur dieser Art erfahren Sie in jeder Buch handlung, lieber Herr F - unser Platz hier würde nicht ausreichen, alles aufzu zählen, was über den Bereich Seefahrt be reits erschienen ist. Von U W , P 7700 Singen, Tel.: 0 77 31/ , erhielten wir folgende Zuschrift: Hallo, Seewölfe! Ich möchte Euch bitten, mein folgendes Verkaufsangebot auf der Leserseite abzudrucken. Leider bin ich ge zwungen, wegen „akutem Platzmangel" den Großteil meiner Sammlung aufzuge ben. Hier nun mein Angebot: Zum Stück preis von DM 0,80 verkaufe ich die SW-Ro mane: 30-74, 77-141, 146-224, 229-255, 261, 264, 267-272,277-306, 308, 311-327, 330, 331, 333-522,537,550,554,564,573-589 (mit Lük ken). Insgesamt sind es 436 Romane, zu Großteil in gutem Zustand. Natürlich bleibe ich der Serie treu und gra tuliere Euch noch zu der gelungenen Nr. 600. Hoffentlich kommen bald mehr solche Ro mane. Ein fröhliches Arwenack ruft - U W Ein weiteres Verkaufsangebot hat F S , Str." ,3280 Bad Pyr mont. Er will 320 SW-Hefte an die Frau oder an den Mann bringen, und zwar die Num m e r 278-592 (Hefte sind in gutem Zustand) für DM 320,- ohne Porto. Mit herzlichen Grüßen Ihre SEEWÖLFE-Redaktion und die SEEWÖLFE-Autoren
Auf den beiden vorigen Seiten stellen wir unseren Lesern Einzelheiten eines Segelschiffs mastes um die Jahrhundertwende vor. Masten auf Segelschiffen dienen einem doppelten Zweck: 1.) die Segel nach oben zu fixieren bzw. auszuhalten und 2.) Lichter, Signale und Instrumente (auf heutigen Seglern) zu tragen. Auf einem Segelfahrzeug muß er stark genug sein, um sowohl die Besegelung aufzunehmen als auch der Zugkraft von Verstagung, Segeln, Fallen und Schoten sowie der Windkraft Widerstand leisten zu können. Masten aus massivem Holz (Tanne oder Fichte) oder Metall mit einer oder mehreren Stengen als Verlängerung des Untermastes sind heute solchen aus Aluminium oder hohlen geleimten Konstruktionen (auf Yachten) gewichen. Fast alle Masten - mit Ausnahme einiger Einhandjollen - sind verstagt, um sie nach allen Seiten zu fixieren. Stage und Wanten sind mit Metallbeschlägen mit dem Mast verbunden. Mit Ausnahme des Klappmastes stehen alle Masten mit ihrem Mastfuß, einem meist viereckigen Zapfen am untern Mastende, in einer Vertiefung im Kiel schwein, in der sogenannten Mastspur. Masten auf Rahseglern sind nie aus einem Stück, sondern bestehen aus mehreren Teilen, und zwar von unten nach oben aus dem Untermast, dem sich die Marsstenge und dieser wiederum die Bramstenge anschließt. Großsegler hatten über der Bramstenge noch die Royal- und die Skysegelstenge. Auf unserer Zeichnung sind die Details bis zur Marssten ge dargestellt. Die Nummern bedeuten: 1 Schanzkleid, 2 Taljereep, 3 Spreizlatten zum Ausspreizen von Wanten und Pardunen, 4 Jungfern (die Jungfer war auf den früheren Segelschiffen eine Scheibe aus Pockholz durch deren 3 Löcher das Reep einer Talje - siehe 2 - lief. Mit diesem Taljereep und den Jungfern setzte man die Wanten dicht oder durch, was heute mittels der Wantenspanner geschieht), 5 Untermast, 6 Unterwanten, 7 UnterToppnantstaljen, 8 Stengepardunen (Pardunen sind Mast- oder Stengeverstagungen, die achterlich von den Wanten stehen), 9 Unterrah, 10 Nockpferde, 11 Pferde (man unterscheidet Fußpferde, auf denen die Seeleute beim Arbeiten an der Rah stehen, Nockpferde, die sich an den beiden Rahenden, den Nocken, befinden, Springpferde, die als kurzes senkrechtes Tauende von der Rah/Fußpferd möglichst auf der ganzen Rahlänge konstant halten, und schließlich Handpferde - auf der Zeichnung nicht sicht bar -, die als Tauwerkschlaufen ausgebildet sind und den Zweck haben, zur persönlichen Sicherung beim Festmachen der Segel den Arm hindurchstecken zu können), 12 Spring pferde, 13 Unter-Leesegelspieren (an ihnen werden die Leesegel gefahren, die man bei günstigem Wind setzte, um die Rahsegel zu verbreitern), 14 Innen-Spierenbügel, 15 Außen-Spierenbügel, 16 Toppnanten der Unterrah, 17 Hanger der Unterrah (kurze Kette, an der zur Entlastung des Racks die Unterrah hängt), 18 Püttingswant, 19 Mars, 20 Marsrah, 21 Mars-Leesegelspieren, 22 Stengewant, 23 Marsstene, 24 Marsdrehreep, 25 Toppnanten der Marsrah, 26 Bram-Püttingswant, 27 Bramsaling, 28 Topp der Mars stenge, 29 Eselshaupt der Marsstenge.
37 bleibt ihr für alle Zeiten in ihrer Der Reverend hat uns den Befehl ge Hand, weil sie euch laufend neue Sa geben! Es war der Reverend! Reve tanssuppe verabreichen läßt." Er nä rend Gordon Sheehy!" herte sich dem Hageren. „Ich hoffe, Carberry trat unwillkürlich einen ich muß euch nicht zwingen, zu Schritt zurück. Erstaunen malte sich schlucken. Ihr würdet es dann nicht auch in den Gesichtszügen des See sonderlich genießen können." wolfs und seiner Gefährten. „Ein Kirchenmann?" sagte der Pro Stenmark hielt den Kopf des Hage ren fester, denn der zitternde Un fos. „So ein verdammter Betbruder glückswurm wollte sich nun mit aller hat euch den Auftrag gegeben, hier Kraft wegstemmen. Er begann zu Krawall zu schlagen?" wimmern. „Es ist wahr", beteuerte der Hagere Im nächsten Moment wehte ihm und schluchzte. „Es ist die Wahr der heiße Gestank aus der Schöpf heit!" Carberry wandte sich dem anderen kelle ins Gesicht. Er heulte auf. „Nein, bitte nicht! Ich flehe dich an, zu. „Stimmt das?" laß mich!" „Ja, zum Teufel", erwiderte der Der Profos verharrte kopfschüt Bullige gepreßt. telnd, nahm die Kelle aber noch nicht Carberry grinste und schleuderte zurück. „Ich verstehe dich nicht, Klei den Inhalt der Kelle in den Kamin, ner. Sollen wir es erst bei dem ande wo ein Zischen entstand. ren Bübchen versuchen?" Er wandte sich Esther zu. „Reicht „Ich rede!" heulte der Hagere. „Ich das, Ma'am?" rede, wenn ich nicht trinken muß!" ,,Voll und ganz", erwiderte die Er schielte furchtsam nach rechts, blonde Frau. „Sheehy ist der Hand um zu ergründen, wie sein Mitgefan langer des allseits geschätzten Lord gener reagierte. Aber von dort gab es Alsworth, dieses verkommenen Ba keine Drohung mehr. Der Bullige stards. Natürlich hätten wir es uns hatte seinen Widerstand aufgegeben denken können. Er fühlt sich berufen, und war vor Ekel grau im Gesicht. den Kampf gegen uns mit allen Mit Und es sah sehr danach aus, daß auch teln zu führen." er froh sein würde, wenn ihm die Sa Carberry warf dem Seewolf einen tanssuppe erspart blieb. Blick zu. Hasard nickte. „Schade", sagte der Profos mit ge „Klar, daß ich kein Hexenknecht spieltem Bedauern. „Dabei hätte ich bin", sagte der Profos dröhnend, an so gern herausgefunden, ob die Zu die Gefangenen gewandt. „Und das sammensetzung diesmal wieder mit der Satansspeise war nur ein klei stimmt. Es ist nämlich so, müßt ihr ner Spaß. Bestimmt werdet ihr noch wissen: Das Süppchen wirkt nur, lange daran zurückdenken. Und jetzt wenn die Zutaten genau aufeinander dürft ihr abhauen." abgestimmt sind. Wie wär's, mein Der Bullige stieß einen Wutschrei Kleiner, wollen wir's nicht doch aus aus. Aber weder er noch der Hagere probieren?" Er hielt dem Wimmern riskierten einen Angriff, nachdem den die Kelle fast bis unter die Nase. Stenmark ihnen die Fesseln abge Der Mann kreischte. Seine schrille nommen hatte und der Weg nach Stimme überschlug sich. „Nein, nein, draußen wies. Gegen diese Männer nein! Niemals! Ich rede! Ich rede! unter der Führung des hochgewach
38 senen Schwarzhaarigen hatten sie keine Chance, das wußten sie. „Laßt euch hier nie wieder blik ken!" rief der Schwede ihnen nach, als sie schon durch den Vorgarten in Richtung Exeter Lane rannten. „Und eurem sauberen Reverend dürft ihr gern alles berichten. Er hat es jetzt nicht mehr nur mit bösen Hexen zu tun! Wenn wir ihn erwischen, hauen wir ihm die Jacke voll - und seinem Lord gleich mit, wenn's denn sein muß!" Das Gelächter der Arwenacks klang den Rennenden noch in den Oh ren, als sie schon außer Sichtweite waren. Das erste, wonach Hasard und die anderen den Profos fragten, war, ob er das Teufelszeug allen Ernstes pro biert hätte. Carberry strahlte voller Stolz und brüstete sich damit, was er doch für ein hervorragender Schauspieler sei. 6. „Lord Alsworth ist unser direkter und schlimmster Feind", erklärte Esther, als sie den Seewolf und seine Männer zu einem Rundgang durch das Haus führte. „Er nennt sich amt lich Beauftragter zur Durchsetzung kirchlichen Rechts. Aber er schießt weit über das eigentliche Ziel hinaus und führt seinen Privatkrieg gegen uns. Sheehy ist nur ein kleines Licht." „Aber bestimmt nicht ungefähr lich", entgegnete Hasard. „Männer, die nach Geltung und Macht streben, kennen oft keine Grenzen." „Ich fürchte, Sie haben recht, Ha sard", sagte Esther. „Um so mehr bin ich froh, daß Sie und Ihre Freunde im richtigen Moment zur Stelle waren. Aber wenden wir uns jetzt erst ein
mal den wirklich wichtigen Dingen zu." Sie öffnete eine Tür im nördlichen Teil des Erdgeschosses und ließ die Männer eintreten. Sie verteilten sich beiderseits ne ben der Tür und blickten ungläubig auf die Szenerie, die sich ihnen bot. Hämmern und Schleifgeräusche klangen ihnen entgegen. Der Raum maß ungefähr fünfzig Yards im Qua drat, und an Werkbänken und Bök ken saßen acht Männer in einfacher Arbeitskleidung. Halbfertige Schuhe standen auf den Werkbänken. Leder geruch lag in der Luft. Die Männer nickten den Besuchern freundlich zu, ohne ihre Arbeit jedoch länger als ei nen Moment zu unterbrechen. „Wir haben einen ausgebildeten Schuhmacher dabei", erklärte Esther und deutete zu einem älteren Mann, der an einem Stulpenstiefel arbeitete. „Alle anderen, die Sie hier sehen, ha ben sich freiwillig für diesen Beruf gemeldet. Wenn sie ihre Lehrzeit ab geschlossen haben, werden sie sich auch vom Suff befreit haben. Und dann können sie draußen ein neues Leben anfangen." Hasard und seine Gefährten kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der nächste Raum, den Esther ih nen zeigte, war wie ein Klassenzim mer eingerichtet. Eine dunkelblonde Frau, die zum Kreis von Esthers Freundinnen gehörte, unterrichtete ein Dutzend Männer und Frauen. „Auch hierzu haben wir niemanden gezwungen", sagte Esther. „Die Teil nehmer lernen vor allem Lesen und Schreiben. Auch das Rechnen steht auf dem Unterrichtsplan. Bildung scheint mir etwas zu sein, was von der Obrigkeit mit voller Absicht un terdrückt wird." Hasard nickte beeindruckt. Er
39 konnte Esthers Überzeugung nur be Esthers Blick begegnete dem sei stätigen. Auch die anderen aus der nen, und sie wußte, daß er das nicht Crew äußerten sich anerkennend. einfach nur dahergeredet hatte. Esther zeigte ihnen eine weitere Werkstatt, in denen sich Männer und Frauen mit der Malerei beschäftig Die Dunkelheit hatte sich über Lon ten. Auf den Staffeleien waren Ölbil der und Bleizeichnungen zu sehen, don gesenkt, und die Mondsichel die ein erstaunliches Niveau hatten. lugte von Zeit zu Zeit durch die auf Jene Trunksüchtigen, die in ihrem reißende Wolkendecke. Daran hatte Verhalten noch nicht gefestigt waren, sich nichts geändert, als Esther Ran erledigten die notwendigen Arbeiten som erwachte und durch das Fenster in Haus und Garten. Dabei wurden ihrer Schlafkammer zum Nachthim sie von den Frauen beaufsichtigt, die mel spähte. Sie wußte nicht, wie spät auf jeden einzelnen nicht nur ein wa es war, denn auch vor dem Einschla ches Auge, sondern auch stets ein of fen hatte sie den Mond und die dahin fenes Ohr für die Sorgen und Nöte ih ziehenden Wolken beobachten kön nen. Vielleicht hatte sie nur ein paar rer Schützlinge hatten. Zum Abschluß zeigte Esther ihren Minuten geschlafen. Gästen die Wohnräume, die für Män Im nächsten Moment hörte sie das ner und Frauen getrennt eingerichtet Geräusch. Augenblicklich wußte sie, waren. Jeweils vier bis sechs Perso daß sie davon aufgewacht war. nen lebten in einem der einfach aus Ein Scharren an der Außenwand gestatteten, aber durchaus behagli des Hauses, in unregelmäßigen Ab chen Zimmer. ständen begleitet von dumpfen Schlä „Was Sie zustande bringen", sagte gen. der Seewolf lächelnd, „grenzt in der Erschrocken fuhr Esther im Bett Tat an Hexerei. Kaum jemand würde hoch. Sie horchte angestrengt. Ihre wohl für möglich halten, auf welche Kammer befand sich im zweiten einfache Weise Sie den Trunksüchti Stockwerk, und sie wußte auf An gen helfen." hieb, was die Geräusche bedeuteten. „Wenn wir es nur mit Neidern zu Jemand kletterte draußen hoch. tun hätten, würden wir das noch be Seine Schuhe oder Stiefel scharrten greifen", entgegnete Esther. „Aber am Mauerwerk und schlugen gele Sie haben selbst erlebt, Hasard, zu gentlich dagegen. was sich unsere Feinde versteigen. Sie spürte ihr Herz, das wie mit Wir können es nicht verstehen. Es ist Hammerschlägen von innen gegen wohl immer so gewesen, daß Frauen, die Rippen zu dröhnen schien. Etwas die etwas Sinnvolles und Vernünfti legte sich wie ein Würgen um ihre ges taten, als Hexen verteufelt wur Kehle. Für lange Sekunden war sie den. Daß dies in unserer heutigen unfähig, sich zu bewegen. Zeit und ausgerechnet in England Dann wurde ihr klar, daß sie etwas noch möglich ist, würde ein aufge tun mußte und nicht untätig verhar klärter Mensch wohl kaum glauben." ren konnte wie ein verängstigtes Reh, „Es geschehen die unglaublichsten das dem blutrünstigen Wolf schrek Dinge", entgegnete Hasard. „Auch in kensstarr entgegenblickt. England." Sie schwankte zwischen der Mög
40 lichkeit, zum Fenster zu laufen und nach dem Rechten zu sehen oder in den Korridor hinauszustürmen und um Hilfe zu schreien. Letzteres war zweifellos die ver nünftigere Lösung. Eilends schwang sie sich aus dem Bett und wollte auf die Tür zu. Krachend zerbarst die Fen sterscheibe. Esther schrie auf. Ungewollt fuhr sie herum. Ein Schatten schnellte auf sie zu. Gleich darauf war der zweite Kerl zur Stelle. Sie mußten unmittelbar hintereinander geklettert sein. Esther erreichte die Tür nicht mehr. Der erste Mann packte sie an den Schultern und riß sie mit einem Ruck in die Mitte des Zimmers, vor das Bett. Im selben Atemzug war der andere zur Stelle und warf ihr einen Sack über. Bevor sie ihren Schreck überwinden und sich zur Wehr setzen konnte, schlangen ihr die Eindring linge bereits Fesseln um den Oberkörper. Abermals wollte sie schreien. Aber die Kerle schienen es geahnt zu ha ben. Einer hielt sie von hinten um klammert und griff durch das Sack leinen in ihr Haar. Im selben Moment schlang der andere ihr etwas um den Kopf und über den Mund. Esther brachte keinen Laut mehr hervor. Es mußte sich um ein Tuch handeln, das ihre Bezwinger über den Sack wickelten und fest verknoteten. Das rauhe Leinen preßte sich schmerzhaft auf ihre Lippen, und sie konnte auch durch die Nase nur mü hevoll atmen. Alles Weitere hatten die Kerle ebenso gründlich geplant wie ihr Ein dringen. Im Handumdrehen schnür ten sie der blonden Frau Stricke um den Leib, packten sie, schoben sie
durch das nun vollends offene Fen ster und seilten sie ab. Unten waren andere Fäuste zur Stelle, die sie in Empfang nahmen. Die beiden Kerle aus der Kammer er reichten den Erdboden in der näch sten Sekunde. Die Stricke wurden aufgerollt, dann schleiften sie ihre Gefangene in die Dunkelheit.
Stenmark schnellte aus den war men, weichen Decken. Während er schon in seine Sachen stieg, erwachte Samantha ebenfalls. „Was ist los?" fragte sie schlaftrun ken und rieb sich die Augen. „Hast du nichts gehört?" entgeg nete er. „Jemand hat geschrien." Samantha war schlagartig hell wach. „Ich alarmiere Esther", sagte sie kurz entschlossen und streckte ihre wohlgeformten Beine über die Bett kante hinaus. „Sieh du nach dem Rechten." Sie zog ihren Hausmantel über und eilte in den Korridor, aus dem noch kein Laut zu hören war. Die wenig sten im Haus schienen etwas bemerkt zu haben. Stenmark öffnete das Fenster und spähte in den rückwärtigen Teil des Gartens hinaus. Das Mondlicht war keine große Hilfe. Dennoch glaubte er, Schatten zu erkennen, die sich be wegten - schon nahe beim Nachbar grundstück. Ein Fuhrmann hatte an der Paral lelstraße seinen Betrieb, mit Wagen schuppen und Pferdeställen. Ohne zu zögern, schwang er sich über den Fenstersims. Samanthas Kammer befand sich im ersten Stock. In den Knien nachfedernd landete er auf dem weichen Boden. Mit langen
41 Sätzen lief er in die Richtung, in der er die Silhouetten gesehen hatte. Zwei waren es, die schon nach fünf, sechs Schritten hinter Baumstäm men hervorschnellten - zu überra schend für den Schweden. Jene ande ren, die er beobachtet hatte, befanden sich mit ihrem Opfer längst in Sicher heit. Einer der Kerle stellte ihm ein Bein. Der Länge nach segelte er auf den Erdboden und konnte noch von Glück reden, daß er sich nicht an ei nem der knorrigen Walnußbäume den Schädel einrammte. Bevor er sich aufrappeln konnte, waren die Kerle schon wieder bei ihm. Er hörte noch das Sausen zweier Hiebe. Dann explodierte nur noch der Schmerz in seinem Kopf. Der endlose schwarze Abgrund der Bewußtlosig keit nahm ihn auf. Trommelwirbel, Paukenschläge und die Hufschläge ganzer Reiter heere belegten sein zurückkehrendes Bewußtsein mit Beschlag. Diese Heerscharen, die unterhalb seiner Schädeldecke heranstürmten, dach ten nicht im Traum daran, sich zu rückzuziehen. Keine Taktik der Welt schien sie dazu bewegen zu können. Stenmark hörte sich stöhnen. Er spürte, daß seine Muskeln ihm ge horchten. Stimmen drangen durch das Getöse der Trommeln, Pauken und Pferdehufe in sein Gehör. Er schaffte es, sich aufzusetzen. Irgendwie fand er einen Baum stamm, an den er sich mit dem Rük ken lehnen konnte. Es waren Frauenstimmen, die sich näherten. Er hatte Mühe, die Augen aufzukriegen. Mühsam blinzelnd stellte er fest, daß sich Fackelschein näherte. Die Frauen schafften es, das lärmende Trommler- und Reiterheer
zu verdrängen. Stenmark spürte weiche, sanfte Berührungen. Auf einmal konnte er die Augen öffnen. Er sah Samantha vor sich, wie sie sich besorgt über ihn beugte. Gri sina und einige andere standen im Halbkreis hinter ihr. Die Fackeln zün gelten und legten Schattenlinien im gleichen Rhythmus auf die Gesichter der Frauen. Samantha kühlte die beiden Beu len, die auf Stenmarks Hinterkopf schwollen, mit einem feuchten Tuch. Ihr Gesicht war voller Besorgnis. Er dachte an das Versprechen, das er dem Seewolf gegeben hatte. Mit dem Auftrag, als Verbindungs mann und wachsamer Beobachter zu dienen, war er in Esther Ransoms Haus geblieben. Natürlich hatte ihm Hasard damit vor allem einen Gefal len getan, indem er ihm zusätzliche Stunden mit Samantha gewährte. Um so mehr war Stenmark wütend auf sich selbst, daß er nun so kläglich versagt hatte. „Was - was ist geschehen?" sagte er heiser und räusperte sich, damit seine Stimme klarer wurde. Samantha legte ihm das kühle Tuch auf die Stirn. „Erst einmal mußt du wieder zu Kräften kommen", sagte sie sanft. Er ergriff ihre Arme und richtete sich mit einem Ruck. „Himmel noch mal", knurrte er, „ich bin kein Wickelkind, das man be muttern muß. Was ist passiert? Her aus damit!" Er ignorierte die Heer scharen, die in seinen Schädel zu rückgekehrt waren. „Esther ist entführt worden", er klärte Samantha und atmete tief durch. „Was?" Er starrte sie an und hielt sie bei den Oberarmen. „Bist du si cher?"
42 „Wir haben das ganze Haus abge sucht. Esther ist verschwunden. Und die Spuren sind eindeutig." Stenmark hatte das Rumoren in sei nem Kopf endgültig vergessen. Au ßerdem waren Schmerzen etwas, das er zu unterdrücken gewohnt war. Mit Sumantha an seiner Seite eilte er zu- rück ins Haus. Die übrigen Frauen folgten ihnen. Als Stenmark in Esthers Schlaf kammer stand, wußte er, daß es tat sächlich stimmte. Es gab nichts daran zu rütteln. Esther hatte sich nicht etwa irgend wo versteckt, um die Aufmerksam keit ihrer Mitstreiterinnen auf die Probe zu stellen. Es war auch nicht jemand anders an ihrer Stelle ent führt worden, denn sie hatte nicht aus einer Laune heraus in einer anderen Kammer geschlafen. Die Frauen hat ten ihre Vollzähligkeit bereits über prüft. Lord Alsworth war bis zum Äußer sten gegangen. Es gab nicht den ge ringsten Zweifel, daß er auch diesmal dahintersteckte. „Wir müssen trotzdem noch einmal das Haus durchsuchen", entschied Stenmark. „Und zwar vom Dachbo den bis zum Keller."
Grisina Musante hatte die Ge räusche aus der Küche gehört. Weder sie noch eine ihrer Freundinnen hatte indessen gewagt, selber nach dem Rechten zu sehen. Auch Stenmark stutzte, als er vor der Tür stand und horchte. Eine Landratte mochte es für das Röhren eines Büffels oder eines Hir sches halten, was da in kurzen Ab ständen zu hören war. Einen See
mann erinnerte es eher an die Töne eines Walrosses. Stenmark wechselte einen Blick mit Samantha und öffnete kurz entschlossen zu Tür. Mehrere Lampen brannten. Doch niemand hatte die Kochstellen be nutzt oder etwas von den Lebensmit telvorräten gestohlen. Deutlicher war indessen der Dunst, der den Eintre tenden wie eine Fahne entgegen wehte. Und in einer Ecke, nahe dem Durchgang zur Speisekammer, war der Ursprung jenes Röhrens zu se hen. Rufus Halpine, der schottische Bulle von einem Kerl, hockte auf an einandergereihten Mehlsäcken, nur mit Hose und Stiefeln bekleidet. Neben ihm lag im Halbschlaf eine noch junge Frau, füllig wie das Mo dell eines holländischen Malers, die ungeheuer großen Brüste entblößt. Beide hatten eine Sammlung von Whiskyflaschen in Reichweite auf dem kalten Herd, der ihnen am näch sten war. Rufus gab wieder eine dieser Rülps töne von sich. Er hatte noch nicht ein mal bemerkt, daß er mit der Frau nicht mehr allein war. Stenmark und Samantha traten als erste auf das alkoholselige Paar zu. „Das ist Beatrice", sagte Samantha und schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie ist nur etwas über zwanzig Jahre alt und dem Suff schon restlos verfal len. Die beiden haben sich gesucht und gefunden." „Aber nicht ohne einen handfesten Grund", sagte Stenmark grimmig. Mit einem energischen Schritt war er beim Herd und fegte die Flaschen zu Boden. Die meisten waren bereits leer. Es schepperte und klirrte ohrenbe täubend.
43 Rufus Halpine riß erschrocken die Augen auf. Die Halbnackte an seiner Seite blin zelte nur ein wenig, rührte sich sonst aber nicht. Entsetzt stierte Halpine auf den Scherbenhaufen. Einige Flaschen wa ren noch gefüllt gewesen. Tränen tra ten in seine Augen, als er den ausge laufenen Whisky sah - und roch. „Warum hast du das getan?" jam merte er und blickte anklagend zu Stenmark auf. „Ich denke, du bist ein guter Kumpel! Warum tust du mir so was an?" Er schluchzte. Der riesige Kerl bat ein Bild des Elends, als er anfing, um seinen verschütteten Whisky zu heulen. Stenmark packte ihn und zog in auf die Beine. Er schob ihn gegen die freie Wand und versetzte ihm eine Se rie von schallenden Ohrfeigen. Hal pine schrie, sein Kopf wurde hin und her geworfen. Aber er wehrte sich nicht. Ihm fehlte jegliche Energie. Der Whisky hatte die Kraft und den Willen aus seinem Körper gelaugt. „Woher hast du das Zeug?" brüllte Stenmark ihn an. „Rede!" Halpine schluchzte wieder. „Ich ich weiß nicht. Was - willst du von mir? Laß mich - in R u . . . " Stenmark verpaßte ihm die nächste Ohrfeige. Es widerstrebte ihm, einen im Grunde Wehrlosen zu schlagen. Aber es war letztlich die einzige Mög lichkeit, den bulligen Mann halbwegs in die Wirklichkeit zurückzuholen. Außerdem spürte er die Ohrfeigen nicht als wirklichen Schmerz. „Wer hat dir den Whisky gekauft?" zischte der Schwede. „War es Sheehy, dieser Mistkerl?" „Ja", ächzte Halpine. „Ja, er war es. Der Reverend! Warum lassen wir uns das Schönste im Leben wegnehmen! Was für ein verdammter Schotte bin
ich denn, wenn ich keinen Whisky an fasse? Recht hat er, der Reverend! So verdammt recht! Ich lasse mir doch den Whisky nicht..." Stenmark unterbrach ihn, indem er ihn an den Oberarmen packte und schüttelte. „Du hast das Zeug nicht umsonst erhalten. Gib es zu! Was mußtest du dafür tun?" „Nichts. Rein gar nichts." „Du lügst!" „Nein!" kreischte der bullige Mann und streckte abwehrend die Hände aus. Er sah zum Erbarmen aus - hilf los wie ein Kind. Das Elendsbild wurde durch seine unnatürlich schrille Stimme noch verstärkt. Samantha, Grisina und zwei wei tere Frauen zogen Beatrice von der Seite des Schotten weg und führten sie in eine entlegene Ecke der Küche. Die Frau lallte. Samantha und ihre Gefährtinnen redeten leise und be hutsam auf sie ein. „Wir kriegen es so oder so heraus", sagte Stenmark unbarmherzig. „Ich gebe dir einen guten Rat, Rufus Hal pine. Erstens stehst du in meiner Schuld, und zweitens bist du es jedem einzelnen in diesem Haus schuldig, deine Schandtat wiedergutzuma chen." Halpine wurde blaß, sperrte den Mund weit auf und brachte doch kein Laut heraus. Er rang nach Atem. „Ich - ich weiß nicht, von was für einer Schandtat d u . . . " Stenmark schlug noch einmal mit der flachen Hand zu, daß es knall te. „Es reicht jetzt", sagte er scharf. „Esther Ransom ist entführt worden. Wenn ihr etwas geschieht, werde ich dich persönlich zur Rechenschaft zie hen, du schottisches Saufloch! Ich gebe dir die letzte Chance: Rede! Sonst empfängst du von mir die
44 schlimmste Tracht Prügel deines Le bens." Diesmal wirkte Stenmarks Dro hung. Seine Worte schienen den Vor hang aus Alkoholnebel durchdrun gen zu haben, der den Schotten um gab. Halpines Augen begannen zu flackern. Abermals schluchzte er. „Der Reverend wollte doch nur sei nen Spaß haben", setzte er weinerlich an. „Ich meine, so ein Kirchenkerl ist ja auch nur ein Mensch. Hat er jeden falls gesagt. Er wollte doch bloß wis sen, hinter welchem Fenster Miß Ran som schläft, damit er sie nachts ein bißchen beglücken konnte. Mehr nicht, Mann! Ist denn was Schlimmes dabei?" „Du Idiot!" sagte Stenmark zornig und stieß ihn wieder auf die Mehl säcke. Mit einem vernehmlichen Seufzer sackte Halpine in sich zusammen. Stenmark wandte sich von ihm ab. Samantha und Grisina traten auf ihn zu. Die beiden anderen führten Bea trice hinaus, die weiterhin ihr unver ständliches Lallen von sich gab. „Er hat Esther verraten?" fragte Samantha und deutete mit einer Kopfbewegung zu dem Schotten. Stenmark nickte. „Wollt ihr ihn hinauswerfen?" Die beiden Frauen schüttelten spontan den Kopf. „Esther würde es uns nie verzei hen", sagte Grisina. „In diesem Haus ist Verständnis das oberste Gebot. Und Menschlichkeit. Rufus war nicht er selbst, als er auf diesen widerli chen Sheehy hereinfiel." „Wo und wie konnte er ihn über haupt treffen?" „Keiner unserer Schützlinge wird eingesperrt", erwiderte Samantha. „Jeder kann außerhalb der Arbeits zeit kommen und gehen, wann er will.
Natürlich versuchen wir, jeden davon zu überzeugen, daß die Schenken nicht der richtige Ort für ihn sind. Rufus ist noch lange nicht so weit, daß ihm unsere guten Ratschläge et was nutzen würden." Stenmark sah ihn noch einmal an. Der Schotte war ein Zerrbild seiner selbst. Stenmark bedauerte, daß man dieses Bild nicht festhalten konnte, um es ihm später vor Augen zu hal ten. Sicherlich hätte er sich in Grund und Boden geschämt, wenn er sich hätte sehen können. Sein Kinn ruhte auf der Brust, der Mund stand halb offen wie bei einem Geistesgestörten, und rauhe Schnarchtöne drangen jetzt aus der Tiefe seiner Kehle. Stenmark zeigte auf den Scherben haufen. „Ich würde beseitigen, was ich an gerichtet habe", sagte er. „Aber ich muß jetzt den Seewolf benachrichti gen. Das ist wichtiger als alles an dere." Samantha hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. „Laß die überflüssigen Gedanken weg", riet sie. „Die Flaschen in Scher ben aufgehen zu sehen, war unter Umständen heilsam für Rufus. Im üb rigen müssen wir ja auch noch etwas zu tun haben." Stenmark war überzeugt, noch nie Frauen kennengelernt zu haben, die das Herz so sehr auf dem rechten Fleck hatten wie diese angeblichen Hexen. Er verlor keine Zeit mehr. 7. Es war eine Gnade. Oder Schikane. Esther vermochte die Tatsache, daß man sie in eine Einzelzelle gewor
46 fen hatte, nicht zweifelsfrei einzu schätzen. Sicher war nur, daß sie sich im Tower befand. Ebenso, daß Lord Alsworth derjenige war, der die nächtliche Entführung veranlaßt hatte. Denn sie hatte keinen anderen Gegner, der einflußreich genug war, um für seine Zwecke eine Zelle im Tower beanspruchen zu können. Das Wort Zelle war ein geradezu hochtrabender Ausdruck für dieses Loch. Die Wände bestanden aus nackten Quadersteinen, glitschig vor Feuch tigkeit. Über Kopfhöhe befand sich ein blasses, von Mondlicht erhelltes Quadrat, mit eng gekreuzten Gitter stäben abgesichert. Das Fenster hatte keine Glasschei ben. Ein Luxus, dessen man die Ge fangenen offenbar nicht für wert hielt. Die hereinströmende Luft feuchtigkeit deutete auf die Nähe der Themse. Hin und wieder hörte Esther sogar leisen Wellenschlag. Aber dann hatte wieder die unmit telbare Umgebung ihre Aufmerksam keit beansprucht. In den wenigen Mi nuten, die sie erst hier war, hatte sie begreifen müssen, daß sie in dieser Einzelzelle nicht allein war. Schattenhafte längliche Wesen huschten über den Fußboden, ver schwanden in unergründlichen Win keln und tauchten nach kurzer Zeit wieder auf. Schaudernd hatte Esther sich auf die Pritsche gesetzt und die Beine hochgezogen. Doch auf Dauer, das wußte sie, würde sie vor den Ratten nicht sicher sein. Wenn es das nicht war, würden ihr Kälte und Feuchtig keit zusetzen. Wahrscheinlich blieb ihr gar nicht die Zeit, an einer Krankheit zugrunde zu gehen, wie es von so vielen Gefan genen im Tower bekanntgeworden
war. Lord Alsworth hatte das aller größte Interesse daran, sie loszuwer den. Möglicherweise würden die Ge fährtinnen ihre bisherige gemein same Arbeit fortsetzen. Aber die Gefahr, daß dieser sehr ehrenwerte Lord jetzt aufs Ganze ging, war doch zu groß. Bestimmt würde es ihm gelingen, die Arbeit von Jahren zu zerstören. All die armen Seelen, die nahezu geheilt waren, würden wieder dem Alkohol erliegen. Esther erschauerte. Die Aussichts losigkeit ihrer Lage und die Kälte rie fen ein Zittern in ihr hervor. Ihre Zähne begannen auf einanderzuschla gen, und sie konnte nichts dagegen tun. Plötzlich knarrte die Tür. Esther erschrak. Sie hatte keine Schritte gehört. War sie vielleicht schon die ganze Zeit beobachtet wor den? Aber sie hatte auch kein geöff netes Guckloch gesehen. Anderer seits war es ohnehin zu dunkel, um das genau erkennen zu können. Der dickbäuchige Mann mit dem Pickelgesicht und den schmalen Schultern wurde von einem Aufseher begleitet, der eine Laterne hielt. „Fühlen Sie sich nicht recht wohl, meine Liebe?" erkundigte sich Lord Alsworth höhnisch. „Ehrlich gesagt, ich hatte die ganze Zeit gehofft, Sie würden sich ein bißchen entkleiden. Aber dazu scheint es hier wohl nicht warm genug zu sein." Er übernahm die Laterne von dem Aufseher, durchquerte die Zelle mit stelzenden Schritten und stellte die Laterne auf den hohen Fenstersims. Unter der blakenden Lichtquelle blieb er stehen und drehte sich um. Den Gefängnisbediensteten scheuch te er mit einer Handbewegung hin aus. Krachend fiel die Tür zu.
47 Lord Alsworths Blick tastete die Gefangene ab, die nur ihr Nachthemd trug. „Zugegeben", sagte er ölig, „gemüt lich ist es hier nicht gerade. Aber . . . " „Wozu vor allem die Ratten beitra gen", unterbrach ihn Esther kalt. „Erst waren es nur die vierbeinigen. Jetzt habe ich es auch noch mit einer zweibeinigen Ratte zu tun." Der höhnische Ausdruck in Als worths Gesicht verschwand. Atem züge lang sah es aus, als wollte er sich auf die blonde Frau stürzen. Doch dann gewann er seine Fassung wieder und tat, als hätte er nichts gehört. „Aber", sagte er mit erhobener Stimme, „an den gegebenen Umstän den ließe sich natürlich leicht etwas ändern. Ich hätte es jedenfalls in der Hand." „Niemand hindert Sie daran, es zu tun", erwiderte Esther mit vollendet gespielter Gelassenheit. In Wahrheit brachte sie allein der Gedanke an ein geheiztes, trockenes Zimmer fast am den Verstand. Sie zwang sich, jedes derartige Verlan gen schon im Ansatz zu unterdrük ken. Um nichts in der Welt wollte sie die sen ekelhaften Hochwohlgeborenen die Genugtuung geben, sie um eine Vergünstigung betteln zu sehen. Si cherlich hatte dies ohnehin keinen Zweck, denn am Ende ihrer Gefan genschaft im Tower würde der Tod stehen. So oder so. „O nein", entgegnete der Lord süffi sant. „Es hindert mich nichts und nie mand daran. Aber es ermutigt mich auch niemand. Sie wissen, wie es im Leben ist, meine Liebe. Für gewisse Dinge, die man tun kann, aber nicht unbedingt tun muß, braucht man schon einen kleinen Anstoß." „Das ist Ihr Problem, nicht meins."
Esther zog die Beine fester an den Körper und legte die Arme über die Knie. Es war die einzige Möglichkeit, ihr Zittern zu unterdrücken. „So kommen wir doch nicht wei ter", sagte Alsworth und trat einen Schritt auf sie zu. „Das müssen Sie doch einsehen, Esther." Es durchlief sie kalt, ihn ihren Na men aussprechen zu hören. Es war eine Art von Vertraulichkeit, die sie wie körperlich spürbarer Ekel traf. „Wer sagt, daß wir in irgendeiner Weise weiterkommen müssen?" erwi derte sie schroff. „Sie sollten eher Angst haben, diese Zelle nicht heil verlassen zu können. Ich bin eine Hexe. Vergessen Sie das nicht." „Aber, aber!" Lord Alsworth lachte schallend. „Wir sind doch unter uns, Verehrteste! Sie wissen so gut wie ich, daß es keine Hexen gibt. Also ma chen wir uns nicht gegenseitig etwas vor. Reden wir wie zwei vernünftige Menschen, die sich über ihre Lage im klaren sind." Esther starrte ihn an. Zum ersten mal war sie verblüfft und fassungs los. „Was sagen Sie da?" fragte sie un gläubig. „Sie geben zu, daß alles nur ein Vorwand ist?" „Aber ja! Was denn sonst? Irgend wie muß unsereins seine Existenzbe rechtigung erwerben und sichern. Ihr Pech, daß Sie sich mit Dingen be schäftigen, die nicht in unser System passen. Allerdings..." Er lächelte ölig und schob sich näher heran, um sich neben ihr auf die Pritsche zu set zen. „Es gibt noch die Möglichkeit, die ich schon andeutete. Um es klarer auszudrücken: Wir beide könnten uns arrangieren. Verstehen Sie? Als Frau schätze ich Sie sehr. Sie sehen blendend aus und sind eine Zierde für jeden Mann. Es ließe sich gewiß
48 ein Weg finden, um Ihre Vergangen heit zu vertuschen und Sie zur allseits geachteten Ehefrau eines Mannes von Stand werden zu lassen." Esther starrte ihn mit geweiteten Augen an. Jetzt war es heraus. Dieser Bastard hatte allen Ernstes vor, sie in sein Schlafgemach zu schleifen und zu erniedrigen. Nichts anderes würde es sein. Seinem Versuch, sie zu über reden, würde nach dem Erfolg das Fallenlassen folgen. Ja, er würde sie fallenlassen wie ein benutztes Werk zeug, wenn er sie nur erst hinreichend gedemütigt hatte. Die Ungeheuerlichkeit seines An sinnens war geeignet, sie in Wut zu versetzen. Sie mußte alle innere Kraft aufbieten, um sich zu beherr schen. Vielleicht, wenn sie auf seinen plumpen Versuch einging, gab es eine Chance zur Befreiung. Wenn es ihr gelang, sein Vertrauen zu erwecken und er sie aus dem Tower in sein Haus brachte . . . Allein der Gedanke reichte, um ein Würgegefühl des Abscheus in ihr zu verursachen. ,,Unmöglich", sagte sie dennoch und spielte dabei die Hoffnungslose. „Daraus kann niemals etwas wer den." „Aber warum denn nicht?" rief Als worth hoffnungsfroh. „Vergessen Sie nicht, daß ich einige Macht habe, Ver ehrteste! Ich würde Sie ein paar Jahre in meinem Palast unterbrin gen. Sie würden sich ein bißchen von der Öffentlichkeit fernhalten. Wenn dann erst einmal Gras über die Sache gewachsen ist, kann ich Sie zu guter Letzt als meine treusorgende Ehefrau präsentieren." „Daran mag ich nicht glauben", sagte Esther dumpf. Für den näch sten Satz mußte sie alle Willenskraft aufbringen, die sie noch hatte. „Ob
wohl der Gedanke natürlich verlok kend ist." Alsworth nahm es als Aufforde rung, noch näher zu rücken. „Was zögern wir dann noch?" keuchte er. „Setzen wir einen Anfang. Probieren wir aus, wie gut wir uns verstehen!" Seine Atemwolke wehte ihr entge gen, und sie sah seine fleischige Hand, die sich nach ihr ausstreckte, um die Unterseite ihres Oberschen kels zu erreichen und sich weiter vor zutasten. Jäh wuchs der Ekel in ihr zur beherrschenden Kraft. Sie sprang auf und wich zur Zellen tür zurück. Mit dem Rücken preßte sie sich an das feuchte Holz. „Niemals!" rief sie. „Rühren Sie mich nicht an!" Lord Alsworth schüttelte den Kopf, als hätte ihn jemand mit einem Schwall Wasser übergossen. „Ist das die Möglichkeit?" rief er. „Was soll dieser plötzliche Sinnes wandel? Wollen Sie mich zum Narren halten? Oder halten Sie es für eine Spielart weiblicher List, mit der man einen Mann zu umgarnen versucht?" „Hören Sie auf!" schrie Esther. „Sie widern mich an! Holen Sie sich eine Ihrer Huren ins Haus! Vielleicht fin den Sie eine, der nicht schlecht wird! Und jetzt verschwinden Sie!" Sie wich zur anderen Seite, damit er die Tür öffnen konnte. Doch wenn sie gehofft hatte, er würde sich von ihrer Ablehnung be eindrucken lassen, hatte sie sich ge täuscht. Ein kaltes Glitzern trat in die Au gen des pickelgesichtigen Lords. Langsam erhob er sich. „Du hast einen entscheidenden Punkt vergessen, du Miststück", sagte er zischend. „Dein Leben liegt in meiner Hand. Du solltest darum
49 winseln, statt diesen lächerlichen Stolz herauszukehren." „Fahr zur Hölle!" schrie Esther vol ler Verzweiflung. „Umgekehrt wird ein Schuh draus", entgegnete Alsworth höh nisch. Langsam und lauernd ging er auf sie zu. „Und ich werde dich auf dem Weg zur Hölle nicht begleiten. Im übrigen hast du noch etwas ver gessen, du Schlampe: Was ich haben will, kann ich mir mit Gewalt neh men. Jederzeit!" Er schnellte auf sie los und breitete die Arme aus, um sie zu packen. Esther reagierte blitzartig. Ihr rechtes Knie zuckte hoch. Und sie traf präzise - in dem Se kundenbruchteil, bevor die Wurstfin ger sie erreichten. Lord Alsworth klappte zusammen wie eine große, dicke Marionette, der jemand die Fäden für den aufrechten Gang durchtrennt hat. Dazu schrie er in den höchsten Tönen. Er wankte rückwärts und schrie und schrie. Im nächsten Moment verlor er das Gleichgewicht und stürzte in den hin teren Winkel der Zelle. Der Aufseher eilte herein. In seiner Rechten lag eine schußbereite Pi stole. Das Laternenlicht reichte aus, um erkennen zu lassen, wie zwei fette Ratten nacheinander über das seiden bestickte Wams des wimmernden Lords liefen. „Rühr dich nicht vom Fleck, Elende!" brüllte der Aufseher die ver meintliche Hexe an. Esther hatte die Hände erhoben und war an die der Pritsche gegen überliegende Wand zurückgewichen. „Hilf mir endlich!" heulte Lord Als worth. Nach einem erneuten Wim mern fuhr er gequält fort: „Kümmere dich nicht um dieses verfluchte Sa
tansweib! Hilf mir hier heraus. Es war der Teufel in ihr, der mich miß handelt hat! Ab sofort darf sich nie mand mehr in ihre Nähe wagen. Sie wird auch nichts mehr zu essen erhal ten, bis das gerechte Urteil sie trifft." Der Aufseher half dem Lord auf die Beine und führte ihn hinaus. In den Augen des Gefängnisbediensteten lag erkennbares Grauen, als er die blonde Frau im Vorbeigehen mit ei nem vorsichtigen, fast furchtsamen Blick streifte. Esther verspürte eine Niederge schlagenheit, wie sie sie niemals er lebt hatte. Es genügten Worte, um einfache Menschen das glauben zu lassen, was die Oberen ersannen. Brauchte man Hexen, um sich selbst ins rechte Licht zu rücken, dann erfand man Hexen. So einfach war das. Esther war dennoch erleichert, als sie Schloß und Riegel draußen knir schen hörte. Es war gut, in den letzten Stunden des Lebens allein zu sein. Unter dieser Voraussetzung konnte man die vierbeinigen Ratten sogar den zweibeinigen vorziehen. Unendliche Mattigkeit erfüllte sie, als sie sich auf die Pritsche sinken ließ.
Rufus Halpine nutzte die Chance, die ihm gewährt wurde. „Das ist die schwerste Aufgabe meines Lebens", stöhnte er, als er gemeinsam mit Stenmark das Haus am Exeter Lane verließ. „Mann, ich bin nüchtern wie ein Stockfisch. Und da soll ich den Betrunkenen spielen!" „Ich bin sicher, du wirst es bestens hinkriegen", sagte der Schwede spöt tisch. „Außerdem sollst du nicht so tun, als ob du volltrunken wärst. Nur
50 leicht angesäuselt sollst du sein. Hast du das jetzt begriffen?" „Himmel, ja", erwiderte Halpine. Sie bogen nach links in die Gasse ein. „Ich tue alles, damit Esther befreit werden kann. Ich hole sie selbst her aus, wenn wir erfahren, wo sie steckt. Du kannst dich wirklich auf mich ver lassen, Stenmark. Mann, ich weiß überhaupt nicht, wie mir das passie ren konnte. Dieser Sheehy, dieser Erzhalunke, hat mir richtig den Mund wäßrig gemacht. Kannst du dir vorstellen, wie das ist, wenn du in der Schenke sitzt und nur noch leere Taschen hast?" „Wenn du nicht dauernd in der Schenke sitzen würdest, hättest du auch keine leeren Taschen. Und jetzt Schluß der Debatte. Sieh zu, daß wir den sauberen Reverend aufspüren. Alles andere überläßt du uns." Halpine brummte kleinlaut. Er hatte seinen Rausch schnell überwun den, nachdem ihm klargeworden war, was er angerichtet hatte. Stenmark hatte die Männer an Bord der Sche becke alarmiert und war zunächst zum Haus am Exeter Lane zurückge kehrt. Hasard und die anderen waren inzwischen dorthin unterwegs. Man mußte jetzt nur noch in Erfahrung bringen, wo man den Ex-Reverend finden konnte. Hasard hatte sich dagegen entschie den, direkt gegen Lord Alsworth vor zugehen. Der Umweg über Sheehy war kein wirklicher Umweg, hatte aber den Vorteil, daß man weniger Aufsehen erregte. Stenmark und Rufus Halpine be gannen, die einschlägigen Kneipen abzuklappern. Die Freizeit des Kir chenmannes Sheehy, so hatte der Schwede mittlerweile erfahren, spielte sich hauptsächlich in den Spe lunken in Hafennähe ab.
Das hatte für den Ex-Reverend den Vorteil, daß er bei Tageslicht selten jene Leute traf, mit denen er abends und nachts zechte. Denn Seeleute hat ten tagsüber ihren Dienst an Bord zu verrichten, und die käuflichen Ladys nutzten die Stunden der Helligkeit für ihren Schönheitsschlaf. Sheehy mußte allerdings ein erstaunliches Durchhaltevermögen haben, wenn er diesen Lebenswandel ohne Folgen bewältigte. Stenmark hatte beschlossen, sich zurückzuhalten. Es war möglich, daß man ihn außerhalb des Hauses am Exeter Lane gesehen hatte. Deshalb konnte man ihn unter Umständen mit Esther Ransom und ihren Gefährtin nen in Verbindung bringen. In den Gassen in Hafennähe kannte jeder je den. Es galt also, das Risiko auszuschlie ßen, daß Sheehy von jemandem ge warnt wurde, der auf eine Belohnung aus war. Der verluderte Kirchen mann war ohnehin bekannt dafür, daß er brauchbare Informationen or dentlich bezahlte. Wenn es sich dann noch um Informationen handelte, die ihn selbst betrafen, würde er sich zweifellos erst recht nicht lumpen las sen. Nach zehn Minuten Fußmarsch er reichten die beiden Männer die erste Schenke, in der Sheehy häufig Gast war. „The One Eyed Henry" lautete die Schrift auf einem gußeisernen Schild über dem Eingang, woraus zweifelsfrei zu folgern war, daß der Wirt ein Einäugiger namens Henry war. Warmgelbes Licht sickerte durch die Fenster der Fachwerkfront. Grö len und Kreischen zeigten an, daß die Stimmung - der späten Stunde ent sprechend - fortgeschritten war. Stenmark klopfte dem bulligen
51 Schotten auf die Schulter und zog sich in einen Hauseingang gegenüber der Schenke zurück. Er ermahnte Ru fus Halpine nicht mehr. Der Schotte war sich darüber im klaren, daß er nur in dieser Nacht seine Chance hatte, die Dinge wieder ins Lot zu bringen. Denn man brauchte nicht anzunehmen, daß Lord Alsworth seine Absichten, was Esther betraf, auf die lange Bank schieben würde. Die Verhaltensmaßregeln für Hal pine waren klar. Er hatte den Ange trunkenen zu spielen und in den Spe lunken unauffällig herumzuhorchen. Dabei konnte er durchaus so tun, als habe er eine Information zu bieten, die er dem Ex-Reverend verkaufen wollte. So etwas passierte schließlich fast jeden Abend. Halpine kehrte schon nach fünf Mi nuten zurück. „Die sind alle voll bis obenhin", sagte er grinsend und deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Aber von Sheehy keine Spur. Der hat sich hier heute abend noch nicht blicken lassen." Sie setzten ihren Weg fort. Für die fünf nächsten Kneipen brauchten sie eine knappe Stunde. Der Schotte zog ein betrübtes Gesicht, als sie in einem Torweg beratschlagten. „Sieht so aus", sagte Stenmark, „als ob dein ehrenwerter Reverend eine Kneipenpause eingelegt hat." „Er ist nicht mein ehrenwerter Re verend", protestierte Halpine. „Ich meine, wir müssen nur unsere Taktik ändern." „Was heißt das?" „Um diese Zeit hockt er bestimmt nicht mehr in irgendeinem Schankraum herum. Da können wir suchen, bis wir schwarz werden, fürchte ich.
Der Bursche hat sich bestimmt längst was Warmes, Kuscheliges gesucht." „Ich hoffe, du weißt, wo er es gefun den haben könnte." „Und ob!" entgegnete Halpine grin send. „Wir brauchen uns nur auf die Kneipen zu stürzen, die auch Frem denzimmer vermieten." „Hat Sheehy keine eigene Woh nung?" „Das schon. Aber die ist erstens weit weg, drüben in Lambeth. Und zweitens liebt er die Atmosphäre, sagt er immer. Es gefällt ihm, von Seefahrern und Nutten umgeben zu sein." „Ein richtiger Prachtbarsch", sagte Stenmark bissig. „Dann mal weiter!" Die erste Schenke, die Halpine an steuerte, unterschied sich äußerlich nur wenig von den anderen gastli chen Häusern. „House of the Seven Seas" - Haus der Sieben Meere - war über dem Eingang zu lesen. Das Ei senschild bewegte sich kaum merk lich im sanften Nachtwind. Stenmark beobachtete den Schot ten aus der sicheren Dunkelheit einer Hof einfahrt heraus. Halpine hatte be wiesen, daß er es ernst meinte. In all den Kneipen, die er nun schon aufge sucht hatte, war es ihm gelungen, nicht einen Tropfen Schnaps oder Bier durch seine Kehle rinnen zu las sen. Seine Standhaftigkeit würde auch den Rest der Nacht andauern. Davon war Stenmark überzeugt. Diesmal dauerte es keine zwei Mi nuten, bis Halpine wieder zur Stelle war. Schon an seinen beschleunigten Schritten sah Stenmark, daß der Schotte etwas herausgekriegt hatte. Stenmark täuschte sich nicht. „Meine Nase war goldrichtig", flü sterte Halpine. „Er ist da drinnen! Hat zusammen mit einer Lady na mens Margaret ein Zimmer gemietet.
52 Mann, ich sage dir, besser konnten wir's gar nicht erwischen!" Halpine war regelrecht aufgeregt vor Freude. „Wieso?" entgegnete Stenmark ver blüfft. „Diese Margaret ist ein Riesen weib", erklärte Halpine feixend. „Die verschlingt einen Kerl mit Haut und Haaren, wenn sie ihn erstmal richtig zu fassen hat. Ich wette Sheehy ist so kaputt wie ein Walroß nach zehn Mei len Watscheln an Land." „Es wäre gut, wenn du recht hast", entgegnete der Schwede. „Dann mal los! Sag dem Seewolf und den ande ren Bescheid. Wenn du das erledigt hast, sind für dich die Dinge im Lot." „Nicht ganz", erwiderte Halpine leise. „Ich kann erst wieder froh wer den, wenn ich weiß, daß Esther Ran sem gerettet wurde." 8. Gordon Sheehy hatte das Gefühl, im Auf und Ab von Meereswogen zu schaukeln. Aber seltsamerweise be fand er sich nicht in einem Boot oder gar auf einem Schiff. Dennoch schwamm er in diesen Wogen, ohne sich bewegen zu müssen. Und erstaunlich waren die Höhen der Wo gen und die Tiefen der Wellentäler, obwohl der Wind sich nicht über die Stärke eines Säuselns erhob. Sheehy bewegte den Kopf von ei ner Seite zur anderen. Er bemerkte, daß die Wogen auf beiden Seiten un gewöhnlich hell waren. Sie klatsch ten abwechselnd gegen seine Wan gen. Das Säuseln des Windes verän derte sich im Tonfall und wurde zu einer menschlichen Stimme. „Du bist ein fauler Hund, Reve rend. Los, los, beweg dich! Hast du gedacht, die Nacht sei schon vorbei?"
Sheehy wollte nach etwas Retten dem greifen, das ihn aus der Tiefe zwischen den Wogen befreite. In diesem Augenblick donnerte ein Kanonenschuß. Sheehy zuckte zusammen. Er glaubte, den Mündungsblitz zu sehen und das Rauschen der Kugel zu hö ren. Ein Schrei gellte nahe über seinem Kopf und ließ seine Ohren schmerzen. Der Schrei schien nicht enden zu wollen. Das, was er für Kanonendonner ge halten hatte, versiegte. Als Sheehy die harten Schritte auf den Fußbodendielen hörte, war er hellwach. Aber ihm blieb keine Zeit mehr, sich zu bewegen. Die Männer, die sich mit blankgezo genen Entermessern um das Bett gruppierten, grinsten. Der Schrei war versiegt. Statt des sen drang angstvolles Keuchen in Sheehys Ohren. Was er im Traum als Wogen und Wellengang erlebt hatte, waren die Brüste Margarets. Sie hatte ihn geschaukelt wie ein kleines Kind, denn sie war unersättlich in ih rem Verlangen. Den Eindringlingen gegenüber fühlte sich Sheehy so hilflos, wie es auch nur ein Kind sein konnte. Und lächerlich. Unbekleidet, wie er war, bot er zweifellos ein Bild, das zur Hei terkeit reizte. Er versuchte, nach der abwärts gerutschten Decke zu greifen und sie hochzuziehen. Die platte Seite eines Säbels klatschte auf seinen Handrücken. Sheehy erstarrte. Er wagte kaum noch zu atmen. Auch Margaret, das Riesenweib, war so stumm und ver schüchtert, wie er sie noch nie erlebt hatte. Der Mann, der den Säbel hielt, war groß und breitschultrig, schmal in den
54 Hüften. Silbergraue Fäden durchzo gen sein schwarzes Haar. Die harten Furchen und die Narbe in seinem Ge sicht veranschaulichten, welche Prü fungen ihm das Leben schon aufer legt hatte. Sheehy erinnerte sich plötzlich, die sen Mann schon einmal gesehen zu haben. Dieser Mann und seine Gefährten hatten gerade die Tür des Fremden zimmers aufgebrochen. Das war der Kanonenschuß gewesen, den Sheehy noch im Traum vernommen hatte. Es war Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, den Elizabeth I. vor Jah ren zum Ritter geschlagen und damit die Kritik etlicher Höflinge hervorge rufen hatte. Nichtsdestoweniger stand die Königin zu ihren Entschei dungen. Killigrew genoß nach wie vor ihre Gunst. Das bewies die Tatsache, daß er frei in London herumlief. Men schen, die der Königin und ihren Ministern nicht genehm waren, pfleg ten sich im Tower aufzuhalten. Un freiwillig. Es war jener Mann, den sie den See wolf nannten und den Sheehy an Bord seines Schiffes aufgesucht hatte, um ihn einzuschüchtern. Das Gegenteil war der Fall. Dieser hartge sottene Bursche war alles andere als eingeschüchtert. „Das wird Sie teuer zu stehen kom men, Killigrew", sagte Sheehy lahm. „Sie scheinen zu vergessen, wen Sie vor sich haben." „Einen abgetakelten ehemaligen Prediger", entgegnete der Seewolf verächtlich. „Seien Sie wenigstens so ritterlich, Ihre Bettgefährtin aufste hen und verschwinden zu lassen." Die Demütigung ließ Sheehy er blassen. Margaret nutzte die Gelegenheit,
sich unter ihm hervorzurunden und an den sechs Männern vorbeizu schlüpfen. Sie warf sich eine Decke über und war im nächsten Moment verschwunden. Sicherlich fand sie Zuflucht in einem der übrigen Zim mer des Hauses, mit denen sie be stens vertraut sein mußte. Außer Hasard und Stenmark wa ren Ben Brighton, Dan O'Flynn, Don Juan de Alcazar und Carberry mit von der Partie. Die Härte ihrer Ge sichtszüge ließ nicht den geringsten Zweifel offen: Sie würden sich nicht eher zufriedengeben, bis sie das in Er fahrung gebracht hatten, was sie wis sen wollten. „Ich bin der engste Mitarbeiter Lord Alsworths!" schrie Sheehy. „Wenn ich will, kann ich Sie allesamt hängen lassen!" Hasard nahm die Säbelklinge von seinem Handrücken und drückte ihm die rasiermesserscharfe Spitze unter das Kinn. Sheehys Augen wölbten sich und schienen aus den Höhlen zu quellen. „Und wenn ich das will", sagte der Seewolf kalt, „verlassen Sie diesen Raum nur mit den Füßen voraus." „Das wagen Sie nicht", flüsterte Sheehy und strengte sich höllisch an, die Kinnlade beim Sprechen nicht zu bewegen. „Darauf sollten Sie sich nicht ver lassen", entgegnete Hasard, „Wir kennen uns in London aus. Das heißt, wir kennen die verschiedensten Mög lichkeiten, einen Toten spurlos ver schwinden zu lassen. Begriffen?" „Ja", flüsterte der Ex-Reverend tonlos. Sein Gesicht war mittlerweile weiß wie eine frisch gekalkte Wand. „Dann ist es gut." Der Seewolf nickte. „Zwei Fragen, die Sie ohne Zögern beantworten sollten: Wo hält sich Lord Alsworth auf? Und wo wird
55 Esther Ransom gefangengehalten?" Er nahm die Klingenspitze ein Stück zurück. Sheehy sah erleichtert aus. Er gab sich keinen Illusionen mehr hin. Über seine Lage war er sich endgültig im klaren. „Die Hexe ist im Tower", sagte er haßerfüllt und höhnisch. „Und wie ich den Lord kenne, wird er sich zur Stunde gerade ein bißchen mit ihr vergnügen." Die Männer wechselten Blicke. Sie wußten, daß sie es unmöglich schaf fen konnten, Esther aus dem Tower zu befreien. Niemand konnte einen Gefangenen aus dem Tower befreien. Hasards Augen wurden schmal. „Was wird mit ihr geschehen?" fragte er leise und drohend. Der Anflug eines hämischen Grin sens huschte über Sheehys Züge. „Ihr könnt nichts mehr verhindern. Die Hexe wird sterben. Morgen früh." Hasard brauchte die Säbelspitze nur noch einmal anzusetzen, um die Einzelheiten aus ihm herauszukit zeln. Voller Verachtung wandten sich die Männer zum Gehen. Dan O'Flynn war es, der im Begriff war, als letzter den Raum zu verlas sen. Er sah die hastige Bewegung nur aus den Augenwinkeln heraus. Er wirbelte herum. Rechtzeitig, um die Pistole zu sehen, die Sheehy aus der Lade des Nachtschranks gerissen und gespannt hatte. Dan schleuderte das Entermesser. Die Klinge tötete den Ex-Reverend, bevor er auch nur den Zeigefinger krümmen konnte.
Der Himmel über London war grau.
Stunde um Stunde hatte das Schau spiel verschoben werden müssen, denn der Nebel hatte sich nicht lich ten wollen. Nun aber - es war bereits später Vormittag - reichte die Sicht immerhin von einem Themseufer bis zum anderen. Die Tribüne, die vor den wuchtigen Mauern des Towers aufgebaut wor den war, füllte sich mit den gelade nen Gästen. Von Boten waren sie über den endgültigen Beginn der Ze remonie unterrichtet worden. Lord Alsworth, der wegen der im mer noch herrschenden Kühle einen langen, seidenbestickten Mantel trug, begrüßte jeden der Ehrengäste per sönlich. Er hatte freie Hand, was die Gestaltung der Zeremonie betraf. Niemand redete ihm hinein. Was allerdings ein wenig an seinem Selbstbewußtsein kratzte, war die Tatsache, daß die wirklich einflußrei chen Personen das Geschehen igno rierten. Ganz zu schweigen von der Königin. Die erschienenen Gäste wa ren praktisch nur zweite Garnitur, auch wenn die wohlklingenden Na men einstmals einflußreicher Adels familien darunter waren. Niemand sprach von einer Hinrich tung. Lord Alsworth hatte es bewußt so arrangiert. Eine Exekution im wirkli chen Sinne war es ja auch nicht. Noch während der letzten Nachtstunden hatte er im Tower das lästige, aber nun einmal notwendige Eilverfahren durchgeführt. Er selbst war Vorsitzender gewe sen, die Beisitzer Gefängnisbeamte. Ausschlaggebend war allein, daß das Protokoll des Verfahrens ordnungs gemäß Unterschriften und Siegel trug. Was sich gleich abspielen würde, war eine Art Gottesurteil. Am meisten
56 Verständnis hatten dafür jene Leute, Pflichten vernachlässigte. Wann er die mit der Abkehr Englands von der dienstbereit war, hing immer davon Kirche des Papstes nie recht einver ab, wie seine Nacht verlaufen war. In gewisser Weise hatte Lord Alsworth standen gewesen waren. In seiner eilends per Boten verbrei dafür sogar Verständnis. Daß sich Sheehy eine Hexenver teten Einladung hatte es Lord Als worth den Gästen noch einmal vor brennung entgehen ließ, hätte er aber im Grunde nicht erwartet. Augen gehalten: Ein Raunen ging durch die Zu Eine Hexe galt dann als überführt, wenn der Allmächtige entschied, sie schauermenge. Aus dem Seitenarm beim Tower durch die Flammen sterben zu lassen. Überstand sie jedoch das Feuer, glitt der Bug eines Schiffsrumpfes ohne auch nur den geringsten Scha auf den Fluß hinaus. den zu nehmen, dann war sie keine Hexe. Alle warteten voller Spannung dar Sie fror nicht mehr, obwohl sie nur auf, wie das Gottesurteil ausfallen würde. Natürlich hatte jeder der Gä dieses Armesünderhemd aus dün ste den Lord herzlich dazu beglück nem grauen Leinen trug. wünscht, dem Treiben am Exeter Die Luft über dem Wasser der Lane endlich Einhalt zu gebieten. Themse war kühl und frisch - für Sicher war, daß man mit der Abur Esther Ransom jedoch eher wohl teilung der Anführerin, der tuend, denn ihr körperliches Empfin Oberhexe, den entscheidenden den hatte sich innerhalb der letzten Schlag geführt haben würde. Damit, Minuten völlig umgestellt. Sie fühlte daß Esther Ransom den Flammen sich geradewegs so, als hätte sie einen trotzen würde, rechnete niemand überheizten Raum nach Stunden ver lassen, um endlich ein bißchen Luft ernsthaft. Mit Hexen - insbesondere auf dem zu schnappen. Kontinent - hatte die Kirche eine Vielleicht lag es an dem Wissen, große Erfahrung. Der Umgang mit daß das Ende nahte. dem Scheiterhaufen war in Jahrhun Die vier Männer auf dem abge derten erprobt. Letzten Endes war es wrackten Zweimaster hatten sich ja auch ein Kirchenmann gewesen, vorn und achtern aufgebaut und den der Esther Ransom gewissermaßen Schiffsrumpf mit Stangen aus dem überführt hatte. engen Seitenarm hinaus auf das freie Daran, daß nur wenige Repräsen Wasser der Themse bugsiert. Zwei tanten der Kirche anwesend waren, Jollen, mit jeweils sechs Rudergasten besetzt, zogen vorbei und nahmen die störte sich denn auch niemand. Lediglich Lord Alsworth war beun Taue auf, die die Männer auf dem ruhigt, weil er seinen engsten Ver Vordeck hinüberwarfen. trauten noch nirgendwo erblicken Der Rumpf wurde auf den Fluß hin konnte. Aber deshalb konnte man das ausgeschleppt. Geschehen nun nicht mehr aufschie Jegliche Schiffahrt war für den Be ben. reich um den Tower eingestellt wor Im übrigen war es nichts Neues, den. Auch das hatte Lord Alsworth daß Sheehy gerade morgens seine veranlaßt. Den Flußschiffern und
57 Seeleuten stand es frei, von ihren ver täut liegenden Wasserfahrzeugen aus zuzuschauen. Esther hörte das Raunen, und sie spürte die Blicke aus vielen hundert Augenpaaren. Es kümmerte sie nicht. Ihr Körper, von den Fesseln um schnürt, war schon zu etwas Frem dem geworden - zu etwas, das ihr nicht mehr gehörte. Ihre Seele, das stand fest, war im Begriff, diesen Körper zu verlassen. Eben dies würde sie mit ihrer Geistes kraft erreichen. Sie würde ihrem Pei niger und den sensationslüsternen Gaffern nicht den Triumph gönnen, sie schreien und um Gnade betteln zu hören. Es würde ihr gelingen, keinen Schmerz zu spüren, keine Hitze des Feuers. Mit der eintretenden Be wußtlosigkeit würde sie bereits jenen schmerzfreien Zustand erreicht ha ben. Was dann von den Flammen ver schlungen wurde, war lediglich ihre empfindungslose irdische Hülle. Esther konnte auf den Scheiterhau fen zu ihren Füßen hinunterblicken, ohne ihn als etwas Bedrohliches be trachten zu müssen. Die Holzscheite, ausnahmslos Rundhölzer, waren armlang und aus Birken, Eschen und Buchen geschlagen. Da sie die Natur geliebt hatte, er kannte Esther jede Baumart an ihrer Rinde. Der feine Geruch, der den Sä gestellen entströmte, vermischte sich mit dem kühlen Atem der Themse. Die Männer in den Jollen ließen sich Zeit mit dem Pullen. Auch das mußte auf eine Anweisung Lord Als worths zurückzuführen sein. Er wollte den Zuschauern etwas bieten. Sie sollten sich hinreichend lange an dem Nervenkitzel erbauen. Linker Hand ragten die mächtigen Umrisse der Tower Bridge schemen
haft im Grau des späten Morgens auf. Die letzten Dunstschwaden waren noch immer nicht gewichen. Sie ver einten sich, indem sie höher stiegen, nur wie zögernd mit dem Grau der Wolkendecke. Esther war aus dem stinkenden Verlies geführt worden und hatte zu schauen müssen, wie das Schiffs wrack als schwimmender Scheiter haufen hergerichtet worden war. Von den ursprünglichen beiden Masten waren nur noch Stümpfe vorhanden. Zimmerleute hatten einen hohen Pfahl zwischen den beiden Masten aufgestellt und mit schweren Kant hölzern auf den Decksplanken veran kert. Danach hatten die Handlanger der Zimmerleute die Holzscheite fachgerecht aufgeschichtet, bis der annähernd zehn Fuß hohe Scheiter haufen seine ausreichende Standfe stigkeit gehabt hatte. Zehn Pechfackeln lagen rings um den Scheiterhaufen bereit. Mit ihrer Hilfe würde das Feuer rasch entfacht werden können. Der Wind war nicht so stark, um es wieder auszublasen. Andererseits reichte die Brise aus, um den Flammen einen genügenden Luftzug zu geben. Esther spürte, wie die Brise in ih rem blonden Haar fächerte und es auf beinahe frivole Art und Weise in wir belnde Bewegungen versetzte. Si cherlich beobachteten die Zuschauer dies mit Schaudern und glaubten, daß es der Satan persönlich war, der mit dem Haar der Hexe spielte. Nach Minuten, die wie eine endlose Zeit gewesen waren, erreichte das Schiffswrack die Flußmitte. Unge fähr fünfhundert Yards oberhalb der Tower Bridge warfen die Männer auf dem Vordeck und Achterdeck die An ker aus. Unterdessen wurden die Schlepptaue eingeholt. Nachdem die
58 Anker gefaßt hatten, wurden die vier Männer vom Wrack von den Jollen übernommen. Immer noch gemächlich, pullten sie zum Towerufer zurück und hielten sich dabei mit Bedacht oberhalb der Tribüne, um die Zuschauer nicht in ihrer Sicht zu behindern. Schließlich verschwanden die bei den Jollen in jenem Seitenarm, der zu ihrem ursprünglichen Liegeplatz führte. In den darauffolgenden Minuten geschah überhaupt nichts. Esther wußte, daß auch dies ein Be standteil des von Lord Alsworth er sonnenen Szenarios war. Steigerung der Spannung hieß das Rezept. Die Zuschauer sollten den Anblick der Todgeweihten lange genug genie ßen können und sich dabei immer wieder vorstellen, wie es wohl sein mochte, wenn man von den Flammen erfaßt und in ihrer glühenden Hitze vom Leben zum Tod befördert wurde. Jeder konnte dann mit einem woh ligen Schauer sein Dankgebet zum Himmel schicken, daß er nicht derje nige war, der auf eine so grauenhafte Weise sterben mußte. Aber schließlich - und damit durfte man sich selbstgerecht beruhi gen - hatte eine Hexe mehr als nur einen Tod verdient. Natürlich. Wenn es denn möglich gewesen wäre, hätten sie eine Frau, die sie zur Hexe ernannt hatten, lie bend gern mehrmals hintereinander verbrannt. Zu all dem, was Lord Alsworth in Szene gesetzt hatte, gehörte auch der Umstand, daß Esther mit dem Ge sicht dem Ufer beim Tower zuge wandt war. So konnte sie all die Ehrengäste sehen, die dort wie in An dacht erstarrt saßen.
Elegant gekleidet waren sie alle samt - mit Hüten, Mänteln und ver mutlich gefüttertem Schuhwerk, da mit sie sich an diesem doch sehr unge mütlichen Aprilmorgen nicht erkälte ten. Esther ließ ihren Blick am Ufer ent langwandern - dorthin, wo das nor male Geschehen unterbrochen wor den war, wo Flußschiffer und See leute stocksteif standen. Etwas wie ein Gefühl dankbarer Wärme durch flutete die blonde Frau. Jene einfachen und daher so ehrli chen Menschen, das spürte sie, waren in Gedanken bei ihr und auf ihrer Seite. Diese Menschen wußten, daß sie von einem Gremium des Unrechts verurteilt worden war - nur weil sie Gutes getan hatte. Sie erblickte das auffällige dreima stige Schiff an der Towerpier. Es war das Schiff des Seewolfs, eine Sche becke. Er hatte es ihr geschildert, und sie erkannte es auf Anhieb, da es sich mit seinen Pfahlmasten und der Bau weise des durchgehenden Haupt decks einprägsam von den Handelsgaleonen unterschied. Nur wenige Männer standen dort auf dem Deck und spähten zu ihr. Esther suchte nach der unverkenn baren Silhouette Philip Hasard Kil ligrews. Er war nicht zu sehen. Seine breiten Schultern, die schmalen Hüf ten und das schwarze Haar hätte sie unter Tausenden sofort erkannt. Es erfüllte sie mit Wehmut, obwohl sie sich gegen dieses Gefühl auf lehnte. Sie zwang sich, nicht an jenen großen Mann zu denken, den sie schätzen gelernt hatte. Es war sinn los, im Angesicht des Todes Gefühle zu entwickeln, für die zu Lebzeiten keine Gelegenheit gewesen war. Sie erschwerte sich dadurch alles, was sie sich für den Augenblick des Sterbens
59 vorgenommen hatte - alles, womit sie über die Gier der Gaffer triumphie ren konnte. Am Ufer, beiderseits der Tribüne tat sich etwas. Esther erkannte es dar an, daß sich die Köpfe der Ehrengä ste bewegten. Musketenschützen zogen auf. Etwa zwei Dutzend Towersoldaten waren es, die unmittelbar an der Kaimauer Aufstellung nahmen. Esther empfand diesen Teil des Schauspiels als lächerlich. Wie konnte der schmierige Lord allen Ernstes annehmen, daß es jetzt noch einen Zwischenfall zu ihren Gunsten geben würde! Nein, diese Musketenschützen dien ten einzig und allein zur Veranschau lichung seiner Macht. Obwohl er nicht zu den wirklichen Einflußrei chen gehörte, wollte er das wenig stens bei Gelegenheiten dieser Art vortäuschen. Ein anderes Boot tauchte aus dem Seitenarm auf. Es hatte einen schlan keren Rumpf als die dickbäuchigen Jollen. Im Bug stand ein Mann in der Kutte eines Priesters. Im ersten Moment glaubte Esther, daß es sich um den zwielichtigen Sheehy handele. Dann aber sah sie, daß es ein Geistlicher war, den sie schon einmal in Begleitung des ExReverends gesehen hatte. Ein unbe deutender Mann jedoch. Nur zwei Mann pullten das Boot, doch sie erreichten ebensoviel Fahrt wie die stärker besetzten Jollen. Im Heckraum des Boots, das ohne Ruderpinne gefahren wurde, lag eine Persenning als Spritzschutz, vermut lich für die Feuersteine und Kien späne, mit denen der Scheiterhaufen in Brand gesteckt werden sollte. Esther schloß die Augen, während das Boot mit immer rascherer Fahrt
herannahte. Bald hörte sie das Ein tauchen der Riemenblätter und das Rauschen, mit dem der schlanke Rumpf durch den Wellengang der Themse glitt. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie das Boot bereits in geringer Entfernung. Der Priester, unbeweg lich wie eine Statue im Bugraum, blickte mit steinerner Miene zu ihr auf. Gleich darauf nahmen die Ruderga sten die Riemen ein, als das Boot nach einem präzise eingeleiteten Ma növer längsseits ging. Dann legten sie die Riemen auf die Duchten, und der Mann an Steuerbord warf eine Art Enterhaken über die flache, an vielen Stellen morsche Verschanzung. In seiner aufrechten Position konnte der Priester eben über das Schanzkleid hinwegblicken. Er legte den Kopf in den Nacken, um der De linquentin in die Augen sehen zu kön nen. Esther bemerkte, daß der Priester merkwürdig grau im Gesicht war. Seine Augen flackerten. „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!" begann er mit erhobener Stimme, laut genug, daß man ihn auch am Ufer hörte. Er schlug das Kreuzzeichen, und seine Hand zitterte dabei. Die beiden Rudergasten schwangen sich nahezu gleichzeitig über die Ver schanzung. „Fahr zur Hölle, Pfaffe!" schrie Esther den Schwarzgekleideten an. Verzweiflung packte sie, und sie konnte nichts dagegen tun. In diesen, ihren letzten Minuten wollte sie nicht auch noch einen scheinheiligen Ser mon hören. „Wenn ich denn schon eine Hexe bin, verfluche ich dich im Namen des Satans! Nie wieder sollst du in deinem armseligen Leben einen
60 glücklichen Moment haben! Ver flucht sollst du sein! Verflucht!" Der Priester war zusammenge zuckt. Das Raunen der Menschenmenge war bis zum Schiffswrack zu hören. „Weiter so", sagte einer der beiden Männer, die mit Flints und Kienspä nen aufgeentert waren. Beide trugen Jacken aus derbem grauem Leinen und kapuzenartige Kopfbedeckun gen aus ebensolchem Material. Esther blickte zu ihnen hinunter. Sie glaubte, zu träumen. Der Mann, der gesprochen hatte, war Stenmark. Der zweite trug Werkzeug, das er mit dem Körper vor Blicken vom Ufer verbarg. Er war Dan O'Flynn. Bei dem Werkzeug handelte es sich um zwei unterschiedliche große Boh rer. „Nein", hauchte Esther, „das kann doch nicht wahr sein!" „Laß dir nichts anmerken!" rief Stenmark halblaut. „Beschimpfe wei ter den Kuttenmann! Er wird dir des halb nicht böse sein. Es ist nämlich ein Pistolenlauf auf ihn gerichtet." Der Schwede begann, die Pechfackeln zu sortieren. „Hasard ist unter der Persenning verborgen", berichtete Dan O'Flynn, der sich auf die dem Ufer abge wandte Seite des Scheiterhaufens be geben hatte. „Hab keine Angst, Esther. Es wird jetzt alles nach Plan laufen. Für die Leute an Land wird es aussehen, als ob du ertrinkst, statt zu verbrennen." Esther erschrak dennoch. „Im Namen des Vaters, des Soh nes ...", setzte der Priester noch ein mal an. „Schweig!" schrie Esther. „Wage nicht, einer Hexe den Segen deines Herrn zu erteilen! Du versündigst
dich, du Wurm, denn ich habe dich verflucht!" Das Grau im Gesicht des Mannes verfärbte sich in ein kalkiges Weiß. Dan O'Flynn war durch eine offene Luke unter Deck verschwunden. Est her konnte die mahlenden Geräusche der Bohrer hören. „Im Namen des Vaters...", begann der Priester zum dritten Male. Esther ließ ihn gewähren, denn Stenmark schilderte ihr, was gleich geschehen würde, während er Holz scheite vom Fuß des Scheiterhaufens zur Seite räumte und sie mit den Pechfackeln anzündete. Die Entfer nung zum eigentlichen Scheiterhau fen war so gering, daß von Land nie mand einen Unterschied bemerken konnte - zumal die Höhe des Schanz kleids jene entscheidenden kleinen Details verbarg, die der Schwede ar rangiert hatte. „... gelobet sei der Herr!" tönte die Stimme des Geistlichen weithallend über die Themse. Rings um den Scheiterhaufen lo derten Flammen. Esther spürte die aufsteigende Wärme, doch sie empfand keine Furcht mehr. Was sie im nächsten Moment spürte, war eine Bewegung des Schiffswracks. Der Rumpf neigte sich kaum merklich nach Steuerbord, zur Flußmitte hin. Dan O'Flynn erschien wieder an Deck. Die Bohrer hatte er zurückge lassen. Er bückte sich ein paarmal und tat, als entfache er die letzten Brandstellen an Steuerbord. Dan gab der blonden Frau unmerk lich ein Handzeichen, was soviel be deutete wie „Kopf hoch, gleich ist es geschafft!" Gemeinsam mit Sten mark ging er von Bord, und das Boot legte ab. Die Flammen loderten höher.
61 Zwangsläufig wurden auch die ersten Hölzer des eigentlichen Scheiterhau fens von den Flammen erfaßt. Aber das Krängen des Schiffswracks nahm zu. Noch würde es vom Ufer wohl nicht zu sehen sein. Ein Rauschen setzte in den Unter decksräumen ein. Das Boot war erst zehn Yards entfernt, als der schwim mende Scheiterhaufen rascher nach Steuerbord sackte. Ein Aufschrei gellte aus der Zu schauermenge am Ufer. Esther sah noch, wie sich die Mus ketenschützen ratlos umwandten, auf eine Order von Lord Alsworth war tend. Dann sank die blonde Frau rücklings der Themseoberfläche ent gegen. Für Sekunden sah sie nichts als den grauen Himmel. Doch sie wußte, was geschah. Das Boot mit dem Priester änderte rasant den Kurs und umrundete das kenternde Wrack. Der Geistliche hatte sich in den Bugraum sinken las sen und gab keinen Ton mehr von sich. Zischend versanken die ersten brennenden Holzscheite in den Flu ten. Der Pfahl mit der Gefesselten war bereits nahe über der Wasserober fläche. Die Riemenblätter peitschten das Wasser. Für Lord Alsworth und seine Ehrengäste mußte es den An schein haben, daß der Priester und die beherzten Rudergasten die Hexe vor dem nassen Tod bewahren wür den, damit sie für eine nächste, funk tionierende Verbrennung zur Verfü gung stand. So verzichtete der Lord denn auch darauf, sofortige Maßnahmen anzu ordnen. Boote vom Ufer loszuschik ken, nutzte sowieso nichts mehr, da die Hexe bereits mit dem umschla genden Schiff versank. Das zuneh mende Zischen der ins Wasser rut
sehenden Holzscheite war deutlich genug zu hören.
Panik packte Esther Ransom wie eine kalte Riesenfaust, als das eisige Wasser über ihr zusammenschlug. Doch es währte weniger als eine Se kunde. Plötzlich spürte sie die rettenden Fäuste, die kurzen Schnitte, die die Fesseln durchtrennten. Dann zog der Retter sie von dem tiefer eintauchen den Pfahl und dem umschlagenden Wrack weg. Neben dem Boot, wiederum an der dem Ufer abgewandten Seite, tauch ten sie auf. Esther sah, daß es der See wolf war, der sie gerettet hatte. Zit ternd vor Kälte schmiegte sie sich an ihn. Stenmark und Dan O'Flynn began nen, von dem Schiffswrack wegzu pullen. Daß eine Rettungsaktion kei nen Zweck mehr hatte, konnte jeder vom Ufer aus sehen. Niemand hatte indessen mitgekriegt, wie der See wolf an Steuerbord des Wracks ins Wasser geglitten war. „Dies ist die einzige Schwierig keit", sagte Hasard, während er sich mit der Rechten am Dollbord fest hielt und mit dem linken Arm Esther mit sich zog. „Bis wir die Schebecke erreichen, wird es ziemlich kalt sein. Aber ich denke, daß es nur ein paar Minuten dauern wird." „Wenn es weiter nichts ist!" rief Esther mit leisem Lachen. „Das werde ich ohne Mühe durchhalten." Der Priester im Bugraum war ein zusammengesunkenes Häufchen Elend. Sie hatten etwa die Hälfte der Di stanz zurückgelegt, als Dan O'Flynn einen warnenden Zischlaut ausstieß.
62 In geringer Entfernung harrte der „Seine Hochwohlgeboren, der Lord, hat irgend etwas mitgekriegt. Da Pulk der gaffenden Ehrengäste aus. „Herauf mit ihm!" antwortete Ha setzte sich eine ganze Meute in Bewe gung - mitsamt Musketenschützen." sard, der achtern an der Steuerbord „Hauptsache, wir sind eher an verschanzung stand. Der Lord ließ sich nicht zweimal Bord", entgegnete Hasard. auffordern. Wutschnaubend stapfte „Das ist zu schaffen", sagte Dan zu er auf den Seewolf zu, ohne die übri versichtlich. Esther wußte aus Stenmarks Schil gen Männer an Deck zu beachten, die derungen, daß die Männer dieses Ri ihn grinsend passieren ließen. „Sie sind naß, Sie Halunke!" schrie siko von vornherein einkalkuliert hatten. Sie hatten es einkalkulieren Lord Alsworth, während er noch müssen. Denn in dem Moment, in fünf, sechs Schritte von Hasard ent dem für Lord Alsworth klar wurde, fernt war. „Das erklärt alles! Sie ha daß das Boot nicht an seinen Liege ben die Hexe gerettet! Geben Sie das platz zurückkehrte, sondern auf die Weib heraus!" Der Seewolf lächelte kalt. Breitbei Schebecke zuhielt, mußte er Unrat nig, die Hände in die Hüften ge wittern. Auch war zu erwarten gewesen, stemmt, blickte er dem schmalschult daß über kurz oder lang die wirkli rigen Mann mit dem Pickelgesicht chen Rudergasten entdeckt werden entgegen. „Ich kenne keine Hexe. würden, die gefesselt und geknebelt Hier an Bord gibt es keine!" Drei Schritte entfernt blieb Als in einem anderen Boot im Seitenarm lagen, mit einer Persenning abge worth stehen. Die Haut um seine Pik kel herum färbte sich puterrot. „Wa deckt. Helfende Hände waren zur Stelle, gen Sie es nicht, Sie erbärmlicher als Hasard und Esther die Jakobslei Wicht! Wagen Sie es nicht, sich zu wi ter an der Backbordseite der Sche dersetzen! Ich fordere Sie zum letz becke erreichten. Von der Tribüne ten Male auf: Geben Sie die Hexe her konnten weder sie gesehen werden aus! Wenn Sie nicht parieren, lasse noch Dan und Stenmark, wie sie den ich Sie erschießen!" Geistlichen an Bord und unter Deck Die Stimme des Seewolfs traf ihn brachten. Hasard übergab Esther au wie ein Peitschenhieb. „Ich bin Sir genblicklich der Obhut des Kut Philip Hasard Killigrew. Der erbärm schers, der sie in seiner Funktion als liche Wicht war eine unverschämte Feldscher versorgen würde. Beleidigung. Dafür muß ich Sie for Dem Seewolf selbst blieb keine dern, Lord Alsworth. Hier und auf Zeit, sich seiner nassen Sachen zu der Stelle!" entledigen und noch umzuziehen. Ein Raunen ging durch die Zu Auf der Pier nahten Schritte wie schauerschar. Das Hexenschauspiel ein Trommelwirbel. war vergessen. Was sich hier anbahn „Lord Alsworth verlangt, an Bord te, würde viel aufregender werden. kommen zu dürfen!" gellte die Ein Duell! Lord Alsworth, der Wich Stimme eines der Musketenschützen, tigtuer und Aufschneider, mußte für die in Linie zu zwei Gliedern Aufstel das einstehen, was er mit seinem lung genommen und ihre Langwaffen Schandmaul verursacht hatte. Es gab angeschlagen hatten. niemanden, auch unter den Towersol
63 daten nicht, der deswegen nicht heim liche Schadenfreude empfunden hätte. Der Lord erbleichte. Wie gehetzt sah er sich um. Sein Blick erfaßte die Soldaten. Einige grinsten. Die ersten von ihnen ließen die Musketen sinken. Auch bei den Ehrengästen waren nur spöttische und geringschätzige Mienen zu sehen. Lord Alsworth begriff, daß er seine Ehre retten mußte. Mit einem wilden Angriffsschrei zog er blank und stürmte auf den See wolf los. Ein blitzschnelles Ausweichen Ha sards genügte. Alsworths Degen zischte an ihm vorbei, und der Lord wurde vom eigenen Schwung an der Verschanzung entlang in Richtung Heck gerissen. Hasard blieb, wo er war. Lord Alsworth hatte sich gefangen. Lauernd bewegte er sich in einem Halbkreis. Dann stieß er sich jäh von der gegenüberliegenden Verschan zung ab. Wieder gellte sein An griffsschrei. Der Seewolf zog ebenfalls blank. Noch einmal wich er aus und
schnellte von seiner Seite des Achter decks weg, um die nächste Attacke des Lords zu parieren. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Alsworth flog wie ein katapultier ter Mehlsack über die Verschanzung. Dem dumpfen Aufschlag auf die Ei chenbohlen folgte ein vielstimmiger Laut des Entsetzens. Dann kehrte Stille ein. Hasard und die Arwenacks blick ten auf die Pier hinunter. Die Soldaten hatten ihre Waffen sinken lassen. Der Truppführer drehte den reglosen Körper des Lords auf den Rücken. Gebrochene Augen starrten in den grauen Mor genhimmel. Die Ehrengäste wandten sich ab. Das Schauspiel war zu Ende. Der tote Lord Alsworth interessierte nieman den mehr. Der Truppführer gab Befehl, den Leichnam abzutransportieren. Jeder hatte gesehen, daß der Seewolf den Tod des Lords nicht verschuldet hatte. Hasard schob seinen Säbel in die
64
Scheide und begab sich unter Deck. Der Kutscher hatte Esther bestens versorgt. Eine Muck mit Punsch dampfte vor ihr auf dem Tisch der kleinen Achterdeckskammer. Sie war in trockene Decken gehüllt. „Es ist alles vorbei", sagte der See wolf mit belegter Stimme. „Niemand wird euch mehr daran hindern, eure Arbeit für die Hilflosen fortzusetzen.
Denn es gibt niemanden mehr, der et was dagegen hätte." Esther sah ihn sekundenlang an. Dann erst begriff sie die Bedeutung seiner Worte. Langsam richtete sie sich auf. „Nimm mich in die Arme, Philip Hasard Killigrew", bat sie leise. Er hatte nichts dagegen einzuwen den. Absolut nichts...
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 613
Das Tor zum Hades
von Fred McMason Kapitän Blair sprang einen Schritt zurück und zog die Pistole. Er zitterte vor Wut am ganzen Körper. Er hatte sie noch nicht richtig in der Faust, als er auch schon feuerte. Old O'Flynn sah die Waffe und rollte sich zur Seite. Dicht neben seiner Schulter schlug die Kugel ins Deck, haute eine Delle ins Holz und pfiff plattge drückt gegen die Verschanzung. Was dann folgte, ließ die Kerle auf dem alten Seelenverkäufer augenblicklich zu Stein erstarren. Old O'Flynn, immer noch auf den Planken liegend, sah, daß Blair noch einmal feuern wollte. Da hob er das Holzbein etwas an und riß gleichzeitig an dem „Zöpfchen", dergespleißten Kor del am rechten Bein. Die Wirkung war erstaunlich. Aus seiner Beinprothese fauchte ein langer rötlicher Blitz. Es krachte laut, als sei das ganze Achterdeck geborsten...