Peter Lorenz
Homunkuli Wissenschaftlich-phantastischer Roman
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Peter Lorenz
Homunkuli Wissenschaftlich-phantastischer Roman
Verlag Neues Leben Berlin Mit Illustrationen von Thomas Franke © Verlag Neues Leben, Berlin 1978 2. Auflage, 1981 Lizenz Nr. 303 (305/55/81) LSV 7503 Umschlag: Thomas Franke Typografie: Uschi Kosa Schrift: 10 p Times Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 642 568 8 DDR 4,80 M
Erster Teil l Manchmal ist man ganz am Ende seiner Kraft, möchte in einen Bus steigen oder in einen Zug, möchte am Fenster sitzen, die Landschaft vorüberhasten lassen und langsam die Augen schließen, schließen und nie wieder öffnen. Möchte sich die Sonne auf das Gesicht brennen lassen und ganz einfach aufhören zu atmen, mit geschlossenen Augen und offenem Mund dasitzen und nicht mehr atmen. Dann aber steigert sich der Druck in der Brust, in den Schläfen und auf den Lippen. Man reißt die Augen wieder auf, tut den nächsten Atemzug und den übernächsten. Wie zum Hohn winkt die Landschaft mit tausend Bäumen, und die Sonne versteckt sich lachend hinter einer Wolke, deren Schatten das heiße, gerötete Gesicht kühlt. Es ist nichts geworden aus dem Sterben, aus dem heimlichen sich Davonstehlen. Und es wird auch nichts werden. Man wird irgendwo ankommen, sicherlich wird man irgendwo ankommen. Beim Aussteigen ist man immer noch am Ende seiner Kraft. Oder schon darüber hinaus, denn so ein Ende muß nicht aufhören, manch einer schleppt sich sein halbes Leben hindurch. Noch viel schlimmer ist es, wenn man plötzlich aus dem Leben geworfen wird, gegen sein Ende geschleudert wie gegen eine Mauer aus Beton. Man kann ein paar Schritte zurückgehen und einen zweiten, einen dritten, einen vierten Anlauf nehmen, jeden Anlauf mit etwas weniger Elan. Letztlich wird man mit blutendem Schädel liegenbleiben und sich in einen Zug hineinwünschen. Oder man kann Ballast abwerfen: Grundsätze, Überzeugungen, Ideale. Und dann versuchen zu springen. Wenn genügend abgeworfen ist, stellt man vielleicht fest, die Mauer, das war keine Mauer, eine kniehohe Hürde bestenfalls, lächerlich. Doch zunehmend gewinnt sie an Höhe, wenn man die liebgewordenen Ballaststücke nach und nach über das Hindernis schmuggeln möchte. Manchmal meint man ganz am Anfang zu stehen mit seinen Kräften, hat gerade das Rad erfunden oder das Feuer. Man findet alle Räder der Welt klein und unscheinbar neben dem eigenen, gerade erfundenen. Auch dann möchte man in einen Zug steigen, der Landschaft zuwinken und auch aufhören zu atmen. Nur so zum Spaß, fühlen, wie das ist, wenn es zu stechen beginnt in der Lunge. Aus einem solchen Zug kann man rechtzeitig aussteigen, sogar herausspringen in voller Fahrt. Das alles ist möglich, weil man das Rad erfunden hat und die Kraft in sich fühlt, es in Bewegung zu setzen.
Alles kann man! Und manchmal wechselt man an einem einzigen Tag die Züge, bleibt vielleicht sogar im gleichen Zug sitzen. Nur die Landschaft ändert sich und die Art zu atmen oder nicht zu atmen. Und man muß Ballast abwerfen, viel Ballast. Solveg Wanderfeld, Jahrgang 2013, Diplombiologin und Doktorandin der Molekularbiologie an der Universität Nakina, durchlebte einen solchen Tag. Sie hatte nicht gerade das Rad erfunden, aber war doch einen wichtigen Schritt an ihrer Doktorarbeit vorangekommen. Und nun steckte im Postfach der Brief der Universitätsverwaltung, der alles in Frage stellte. Die Doktorarbeit, den Beruf, das Leben, alles! nakina, den 4. 4. 2037 dipl.-biol. wanderfeld, solveg pkz 210213768424911 aspiranturnummer 498/35 die Verwaltungsleitung der Universität nakina bedauert, ihnen mitteilen zu müssen, daß ihr antrag bezüglich Verlängerung ihrer aspirantur abschlägig beschieden werden mußte, ihre aspirantur läuft daher planmäßig am 31.12. 2037 aus. eventuell auftretende fragen klären sie bitte vor diesem termin mit professor jazdani. mit vorzüglicher hochachtung! smith, Verwaltungsangestellter Eine Mauer, ihre Mauer, ein Smith, gegen den sie gerannt war. Oder gegen den man sie plötzlich geschleudert hatte. Dessen war sie sich noch nicht ganz sicher. Aber zu Jazdani würde sie nicht gehen, nie, niemals, unter keinen Umständen. Denn Jazdani, dahinter verbarg sich alles, was sie haßte: Süßlichkeit, Kleinlichkeit, Häßlichkeit, Widerlichkeit, Unverzeihlichkeit. Jazdanlichkeit eben. Lieber noch einmal Anlauf nehmen. Niemand lebte allein auf der Welt. Und man konnte seinen Doktor auch ohne Aspirantur machen. Eine Frage des Geldes. Vielleicht würden die Freunde helfen oder der Vater. Erster Anlauf. Verständnis, Bedauern, auch Unterstützung, moralische. Aber sie kann keine moralischen Versuchstiere kaufen für ihre Arbeit. Freunde. Zweiter Anlauf. Wieder Verständnis, Trost, Hilfsversprechen. Rechnen mit viel zu kurzen Zahlenkolonnen. Einsehen der Unmöglichkeit. ... Vater. Dritter Anlauf. Noch einmal Freunde. Unverständnis, unsichtbares Lächeln, unbarmherzige Aufmunterungsfloskeln. Und die klammheimliche Freude darüber, daß es ausgerechnet sie erwischt
hatte. Sie, die Beste. Sie, die Leistungsfähigste. Sie, das angehende Genie! Betroffenheit blieb zurück. „Freunde!" Damit waren die Anläufe erschöpft. Es half nichts, daß sie sich an ihrem Laborplatz eingrub, noch hatte sie ihn ja. Den Kopf in den Sand zu stecken hatte noch nie geholfen. Allein die Versuchstiere kosteten Monat für Monat siebenhundert Usonodollar. Eine Kleinigkeit, das zu finanzieren, aber sie müßte einen Job annehmen. Die wissenschaftliche Arbeit forderte den vollen Tag, die volle Kraft, den ganzen Menschen. Mit Bastelei nebenher war da nichts zu machen. Es ging nicht ohne Aspirantur, ohne Universität. Es ging nicht! Solveg Wanderfeld stellte sich Fragen. Einfache Fragen, gründliche Fragen, Grundfragen. Du gehst nicht zu Jazdani! Was wird geschehen? Sie beenden deine Aspirantur, das haben sie klar gesagt. Und sie werfen dich am einunddreißigsten Dezember aus dem Labor, ob die Arbeit abgeschlossen ist oder nicht. Aber die Arbeit wird nicht abgeschlossen sein. Der Tag hat vierundzwanzig Stunden, nicht eine Minute mehr. Die Verlängerung ist abgelehnt. Viele hatten Verlängerung beantragt. Manche waren damit durchgekommen. Du nicht, Wanderfeld! Du hast dich fünf Jahre vergeblich geschunden. Du darfst gehen. Ohne Titel. Ohne die erforderliche Qualifikation. Ohne „Doktor" Wanderfeld. Daheim mit den Fingern auf dich zeigen lassen. Wer hoch steigt, wird tief fallen oder ähnliches ... Eine Diplombiologin könnte man sicher irgendwo brauchen. Als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin, Zuträgerin für einen, dem sie die Aspirantur verlängert hatten. Zahlen notieren, Blutkörperchen zählen, Automaten beschicken. Kannst du alles machen, Wanderfeld, Solveg. Hast du ganz nebenbei gelernt. Während der fünf Jahre. An den Antworten gemessen, erwiesen sich ihre Grundsätze als hinderlich. Man würde sie lockern müssen. Ballast abwerfen. Und wenn du doch gehst zu diesem Jazdani? Er würde bestimmt alles in Ordnung bringen. Ganz bestimmt. Noch ein knappes Jahr, und du bist wirklich „Doktor" Wanderfeld, du kannst harte Jahre vergessen, hast eine Arbeit, die dir Spaß macht, die dich erfüllt, bei der du den Tag nicht nach Minuten abmessen mußt. Denk dreißig Jahre weiter, Wanderfeld! Dreißig Jahre einzelner Minuten. Was bleibt vom heutigen Tag? In Gedanken wirft sich der Ballast von allein ab. Wenn du hingehst zu diesem Jazdani und weißt, was er von dir will, natürlich weißt du es, keine Illusionen bitte, und kommst ihm nur ein Stückchen entgegen, weil du ihm überlegen bist, weil du dreißig Jahre in Rechnung stellen kannst, gibt es dann überhaupt eine Mauer? Oder nicht vielmehr eine lächerliche, eine niedrige, eine einzige Stufe? Müßtest du dich nicht eines Tages selber ohrfeigen, Wanderfeld, an einer so winzigen Stufe gestolpert
zu sein, am Beginn deiner Lebenstreppe, wo es sich noch lohnt, Hinderliches zurückzulassen, wegzuwerfen? Dreh dich um, Wanderfeld! Hier unten, wo du stehst, wimmelt es nur so von beladenem Volk. Bepackt mit Idealpaketen, Grundsatzkoffern, Überzeugungsbündeln. Weiter oben, wenn du dir einen Blick gestatten darfst, Wanderfeld, wird das Volk weniger, viel weniger. Und die Bündel werden kleiner, sie passen in die Jak-kentaschen, ohne aufzutragen. Ideälchen sozusagen, maßgeschneidert, aber noch zum Vorzeigen, wenn benötigt. Angepaßter werdend von Stufe zu Stufe. Dünngepustet von den Stürmen der Zeit. Oder eingetauscht, verkauft, verschachert, umgesetzt! Du willst zwar nicht ganz nach oben, aber deine Last ist schon für die nächste Stufe zu schwer. Mach dich endlich frei, Mädchen, steig über diese Stufe, und wenn sie zehnmal Jazdani heißt! Und wenn du zehnmal ausspucken möchtest vor dem Spiegel. Dreißig Jahre nicht enden wollender Minuten! Spiegel lassen sich putzen. Aber dreißig Jahre Scheibchenminuten, dagegen gibt es kein Mittel. Das hinterläßt Falten! Professor Jazdani ziert sich. Jazdani will gebeten sein. Bitte, dann eben auf die Knie! Jazdani genießt. Scheint zu genießen. Weiß sehr genau, wie schwer Solveg Wanderfeld der Weg zu ihm gefallen ist. Weiß nicht, daß sie selbst auf den Knien noch lächeln kann. Über sich und damit über ihn. Daß sie sein Zögern einkalkuliert hat. Nichts überstürzen, mein lieber Jazdani! Je mehr du auskostest, um so bereitwilliger wirst du helfen. Ein paar Verzweiflungstränchen? Bitte schön! Aus welchem Auge gefällig? Aha, der Genießer beißt an. Verspricht nichts, noch nichts. Solveg soll wiederkommen. Wird wiederkommen. Und Jazdani wird seine Vorschläge unterbreiten. So wunderbar leicht geht es, wenn man sich befreit hat. Jazdanlichkeit? Lächerlichkeit! Das sind die Tage, die den Menschen ändern. Prägungszeiten sozusagen. Da lebt man tausend Wochen und länger in aller Unschuld dahin, die Welt scheint stillzustehen in ihrer Gleichmäßigkeit, aber plötzlich gibt sie sich einen Ruck und schleudert einen in eine völlig andere Gegend. Wenn man nach zehn Jahren danach fragen würde, an diese Tage würde man sich erinnern, bis in alle Einzelheiten, bis hin zur Farbe des Gemütes. Nicht mehr vorstellbar, die vergangenen tausend Wochen. Bleibende Verschiebungen im Gesichtswinkel, Standpunktverrückungen. Am Freitag hat Jazdani gesagt. Am Freitag beginnt die zweite Runde. Klar, daß sie länger dauert, bis Sonntagabend oder Montag früh, je nach der jazdanischen Terminplanung. Steck die Zahnbürste ein, Wanderfeld, es geht in die zweite Runde! Und außerdem ist bis Freitag noch eine Unmenge Zeit. Zeit, Wanderungen durch tausend Wochen zu unternehmen.
2 „Sie entschuldigen die Störung, Doktor Sveder. Jazdani ist mein Name. Professor Jazdani. Ich möchte Sie in einem dringenden Fall konsultieren." „Per Videophon?" fragte Doktor Sveder zurück. Von einigen seiner prominenten Patienten war er es gewohnt, um eine Ferndiagnose angegangen zu werden. Und es hätte ihn nicht verwundert, wenn Professor Jazdani ein ähnliches Ansinnen an ihn gerichtet hätte, noch dazu am späten Abend. Ein Jazdani könnte sich das leisten. „Nein, nein, Doktor Sveder. Es handelt sich nicht um mich, um einen meiner Mitarbeiter. Eine akute Stoffwechselentgleisung. Haben Sie ein Bett frei?" „Wann können Sie mit dem Patienten hier sein?" „In zwanzig Minuten", erklärte der Professor. „Gut", entschied Doktor Sveder, „ich bereite alles für eine gründliche Untersuchung vor. Ob ich den Fall übernehme, kann ich allerdings erst nach der Diagnose sagen." Eine halbe Stunde später. Mit hoher Geschwindigkeit näherte sich ein Krankenwagen der „Quäker-Hilfsorganisation". Professor Jazdani stieg als erster aus dem Fahrzeug. Zwei Sanitäter trugen die Trage mit dem Kranken in das vorbereitete Zimmer. Auf den ersten Blick erkannte Doktor Sveder, daß dieser Patient kaum noch zu retten war. Das eingefallene, wächserne Gesicht starrte bewegungslos ins Leere, ein vor den halbgeöffneten Mund gehaltener Spiegel beschlug nur wenig. Die Krankenträger verfielen in Laufschritt, auch sie wollten niemanden unter ihren Händen sterben lassen. In Sekundenschnelle war der Autoanalyser angeschlossen, kamen die ersten Therapievorschläge aus dem Rechner. Kreislauf und Stoffwechsel waren in lebensbedrohlichem Zustand und mußten sofort stabilisiert werden. Doktor Sveder schloß den Infusionsapparat an, verabreichte herzstärkende und stoffwechselberuhigende Medikamente. „Werden Sie ihn durchbringen?" „Ein Verwandter von Ihnen?" fragte Doktor Sveder zurück. Ihm war eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Professor Jazdani und dem Patienten aufgefallen. „Wenn Sie so wollen", antwortete der Professor. „Ich bin mit meiner Arbeit verheiratet. Und er ist einer meiner Laboranten. Meine rechte Hand sozusagen." Sveder hatte den Patienten inzwischen zur Entgiftung an die künstliche Niere angeschlossen. „Die Veränderungen traten von einer Minute auf die andere auf", berichtete Professor Jazdani. „Wie ein Sturzregen aus blauem Himmel."
,,Es sieht nicht gut aus", sagte Doktor Sveder, während er zusammen mit Jazdani das Krankenzimmer verließ. „Eine Überweisung in die Universitätsklinik von Seattle würde er nicht überleben, obwohl ich sie für notwendig erachten würde. Ich werde Sie sofort benachrichtigen, wenn sich sein Zustand ändert. Mehr kann ich vorläufig nicht für ihn tun!"
3 Das Forschungsinstitut Professor Mervyn Jazdani lag dreißig Meilen außerhalb von Nakina in einer Senke am See. Im dichten Grün waren die farbigen Flachbauten der Arbeitsräume und Labors kaum zu erkennen. Hinter mächtigen Ulmen versteckte sich das stabile, dreigeschossige Ziegelgebäude, schwarzgestreift vom Regen zweier Jahrhunderte. Links und rechts davon, auf dem hügeligen Teil des Geländes die Bungalows, Wochenwohnstätten der Wissenschaftler und des technischen Personals. Die Bäume zwischen diesen Bungalows waren noch jung, ihre Kronen versteckten sich unter den Dächern. Wohn- und Arbeitsbereich waren noch nicht zu einer Einheit zusammengewachsen. Rund um den Komplex zog sich im weiten Bogen eine bemooste, halbzerfallene Mauer, hinter der sich der Sicherheitszaun anschloß, halb verborgen, aber trotzdem unüberwindbar. Professor Jazdani hatte darauf verzichtet, den wissenschaftlichen Beirat einzuberufen. Zuerst wollte er sich mit Doktor Tucker allein unterhalten. Sicherlich war Tucker unter vier Augen eher bereit, sich mit ihm zu einigen. Tucker, fast vierzig, seit zwei Jahren Teamchef am Forschungsinstitut, stand am Fenster, starrte auf das Institutsgelände und preßte die Stirn an die kühle Glasscheibe. Draußen war ein geschäftiges Treiben. Kollegen in weißen Kitteln hasteten über die Wege, verschwanden in Labors oder saßen in kleinen Gruppen auf den Rundbänken im Park und diskutierten. Von hier oben war man vom Bild angespannter geistiger Arbeit fasziniert. „Ich weiß, daß ich versagt habe", begann Doktor Tucker leise. „Sagen wir, Sie waren nicht sehr erfolgreich", schwächte Professor Jazdani ab, der an seinem Schreibtisch saß und in den Unterlagen des Teams blätterte. „Wenn ich mir allerdings Ihre Berichte durchlese ... Sie müssen leider zugeben, daß Sie von der erfolgreichen Entwicklung eines Präparates zur pränatalen Bekämpfung des Mongolismus so weit entfernt sind, na, sagen wir, wie der Steinzeitmensch von der Raumfahrt. Sie stecken immer noch in der Grundlagenforschung, wissen eigentlich nur, was alles nicht geht. Und das ist bei Ihrem Team nicht primär eine Frage der Finanzierung. Ich war Ihnen gegenüber stets großzügig. Auch in der Auswahl Ihrer Mitarbeiter und Hilfskräfte. So großzügig, daß andere Teamchefs zu murren begannen. Und Sie wissen genau, daß unser Institut rentabel arbeiten muß! Jede Reini-
gungskraft, jedes Versuchstier muß bezahlt werden. Von uns Wissenschaftlern ganz zu schweigen. Und das ausschließlich von den Resultaten unserer Arbeit!" „Ich bin bereit, die Konsequenzen zu ziehen! Sie können mich jederzeit entlassen!" „Machen Sie sich damit die Sache nicht ein bißchen zu einfach, Tucker? Immerhin haben Sie einen Zehnjahresvertrag mit meinem Institut. Der sieht zwar die Möglichkeit einer vorzeitigen Trennung vor, aber ich brauche Sie. Nach wie vor! Allerdings kommen wir in Ihrem Team um wesentliche personelle Änderungen nicht herum!" „Sie wollen Mitarbeiter meines Teams entlassen?" „Ich werde müssen. Kein anderer Teamchef, selbst nicht der erfolgreiche Mansfield, kann sich so viele und so teure Mitarbeiter leisten. Natürlich, manche Kollegen aus Ihrem Team habe ich in anderen Gruppen unterbringen können. Aber im Bereich der wissenschaftlichen und technischen Hilfskräfte wird es zu Entlassungen kommen müssen. Vielleicht können wir sie später wieder einstellen. Aber im Moment sehe ich keine Möglichkeit." „Heißt das, daß wir die Arbeit mit weniger Mitarbeitern fortsetzen müssen?" Vielleicht war es die Frage selbst, vielleicht auch der Ton, in dem sie gestellt wurde. Professor Jazdani verlor seine Ruhe. „Da haben Sie mich allerdings gründlich mißverstanden, Kollege Tucker. Zwei Jahre Erfolglosigkeit sind für mein Institut zwei Jahre zuviel! Wir werden ein neues Team aufbauen. Mit einer völlig neuen Aufgabe!" Jazdani beruhigte sich schnell. „Ich glaube, es wird Ihnen sogar Spaß machen, Tucker. Sie brauchen doch mal wieder Erfolg. Jeder Mensch braucht Erfolge von Zeit zu Zeit. Sie werden mir also einen ausführlichen Abschlußbericht Ihrer bisherigen Arbeit liefern. Vielleicht läßt sich später darauf zurückgreifen. Und natürlich bleibt dieses Gespräch vorläufig unter uns. Ich möchte den Beschlüssen des wissenschaftlichen Beirates nicht vorgreifen. Aber ich denke nicht, daß sich an unserem Agreement etwas ändern wird." Als Doktor Tucker das Büro Professor Jazdanis verließ, hatte er das Gefühl, gerade noch mit einem blauen Auge davongekommen zu sein. Es hatte Zeiten gegeben, zu denen sich Professor Jazdani wesentlich rascher von erfolglosen Mitarbeitern trennte.
4 Freitagnachmittag. Jazdanizeit. Erheblich einfacher, darüber nachzudenken, als die Zahnbürste einzupacken und wirklich zu gehen. Nachdenkenderweise kann man leichter das Ungewollte wollen, die Widerlichkeit entekeln. Nicht die ersten, die letzten Schritte sind die schwersten Schritte. Wenn man Jazdani schon vor sich sieht! Jazdani ist die Freundlichkeit selbst. Jeder Zoll der verstehende, verzeihende, der nachsichtige, der entgegenkommende Sieger. Wie ihm das steht! „Ich glaube, ich kann Ihnen helfen, Fräulein Wanderfeld! Natürlich noch nichts Festes, aber immerhin, in Ihrer Situation ein Lichtblick!" Meinen Arm ergreifend, mich damit endgültig in Besitz nehmend, führt, nein, geleitet er mich in seine Bibliothek. Herrliche Bände. Achtzehntes, neunzehntes, zwanzigstes Jahrhundert. Fünfhundert, tausend Seiten stark. Mit bloßem Auge lesbar. Welch beeindruckende Verschwendung von Papier, welch stilvoller Balzbeginn! ,,Es hängt vieles von Ihrem Auftreten ab, verehrte Solveg", schwätzt er auf mich ein. Keine Sorge, denke ich, man wird mit meinem Auftreten sehr zufrieden sein. Er läßt mich mitten im Raum stehen und beurteilt mich von allen Seiten. Sehr kritisch, Abstand drei, vier Schritte. Er beurteilt nicht, er begutachtet, er stuft ein, er taxiert. Genießer, denke ich, jazdanischer Genießer, während ich ihm eine Vierteldrehung entgegenkomme. „Nein", ruft er pathetisch aus, „nein, Solveg. Verzeihen Sie, aber dieses Kleid ist Ihrer wirklich nicht würdig!" Und ob ich verzeihe, denke ich, ich habe den alten blauen Fummel angezogen, weil er unmöglich ist. Der Strohhalm, der den letzten Schritt erleichtern sollte. „Entschuldigen Sie nochmals, liebe Solveg!" Welch ein Sprung, verehrte Solveg, liebe Solveg! „Erlauben Sie mir, Ihnen ein kleines Geschenk machen zu dürfen!" Geheimnisvoll setzt er hinzu: „Ich habe ein großes Programm, ein ganz großes! Und alles hängt von Ihnen ab! Kommen Sie, kommen Sie, meine Liebe!" Der nächste Sprung. Verehrte Solveg, liebe Solveg, meine Liebe. Jazdanischer Sprunglauf. Unerwartet sitze ich neben ihm in seinem Dienstwagen. Hochnoble Kutsche mit Videophon, Bar und viersitzigem Fahrgastraum, ein Prestigeobjekt, auch unter Professoren, sogar unter Besitzern privater Forschungsinstitute. Eines Staatssekretärs würdig. Mit Fahrer, breitschultrig und uniformbemützt hinter einer dicken Scheibe. Ein Fahrer, selbst wenn man auf den Schnellfernstraßen den Autopiloten einschalten muß. Ein erhebendes Gefühl, das der Mann dort vorn mit seinen breiten Schultern zu vermitteln vermag. Für
Minuten möchte ich mit ihm tauschen. Die breiten Schultern fahren uns in die Innenstadt, halten vor dem Modehaus „Coodliffe und Sohn". Im Dienste des Kunden seit 1977, des zahlungskräftigen Kunden, versteht sich. Kein Schlußverkauf, keine Drängelei an der Kasse. Bedienung mit Betonung auf „dienen", nur nach Voranmeldung. Haus im Stil der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, Personal im Stil der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Schmale, unbequeme Stühlchen und runde Winzigtischchen. Stil, echt, stilecht wie der gesamte Nobelladen. Modehaus Coodliffe und Sohn. Ich werde dezent vermessen. Mit Zentimeterblicken. Größe, Oberweite, Hüfte, Taille. Und dann erscheint ein verblüffendes Bild. Ein Hologramm von mir. Einem Mannequin gleich schwebe ich durch den Raum. Halbtransparent, behangen mit Träumen von Kleidern. Ich bin überrascht, verblüfft, entzückt, fasziniert, hingerissen, überwältigt. Möchte das Bild ergreifen und in die Kleider schlüpfen. Davonschweben! Gewonnen, Jazdani, gewonnen. Man kann viel leichter verzichten, wenn man das nicht kennt, worauf man all die tausend Wochen verzichten mußte. Lächle nur, Jazdani, lächle, lächle siegessicher. Ich wußte, daß ich schön bin. Ich wußte nicht, wie schön ich bin. Sehr schön. Schön und begehrenswert. Das ist nicht gut für dich, Jazdani. Das macht selbstbewußt, recht selbstbewußt. Als die Bildschau vorüber ist, koste ich das Anprobieren aus. Jeder Fummel, noch so verrückt, muß über meine Schultern. Und alles sitzt, als wäre es mir auf die Haut gewachsen. Ich schwelge in Mode. Ich genieße Kleider. Eine Wanderfeld baut sich vor mir auf, vor der ich selber den Hut ziehen möchte. Eine Schönheit, Jazdani. Wenn du Augen hast zu sehen, dann sieh! Jazdani sieht. Jazdani ist begeistert. Jazdani läßt einpacken. Als wolle er mich bis an sein und mein Lebensende kaufen. Es würden Minutenkleider, müßte ich sie an diesem Wochenende alle tragen. Jeder weiß, daß jazdanische Affären selten länger als sechs Wochen dauern. Dem großen Jazdani fehlt der große Atem. Und der große Wagen faßt die Pakete kaum. „Sie haben vorhin Andeutungen gemacht", frage ich ihn auf der Rückfahrt vom Modehaus Coodliffe und Sohn. Er soll wissen, daß dies alles seinen Preis hat. „Ich bin mir beinahe sicher", antwortete er lächelnd, „daß ich Ihnen helfen kann, mein liebes Kind!" Nicht ein zusätzliches Wort. Ist das nun eine Steigerungsstufe? Verehrte Solveg, liebe Solveg, meine Liebe, liebes Kind! Den Rest des Nachmittags verbringt er damit, mir das richtige Kleid für den Abend auszusuchen. Ich tue ihm den Gefallen. Ich muß ihm den Gefallen tun. Noch ist Jazdanizeit. Die Wanderfeldzeit beginnt erst. Aber es ist nicht mehr der gleiche Probierrausch wie bei Coodliffe und Sohn.
Jazdani führt mich in die Oper. Darauf war ich nicht vorbereitet. Die Musik droht mich zu erschlagen. Ich fühle mit, ich leide mit der Koloratursopranistin, Trommelwirbel tun mir weh. Ich darf solche Empfindungen nicht haben, bin doch nur Anhängsel eines Professors Jazdani, der sich mit mir schmückt, etwa so, wie sich die feinen Damen mit Juwelen behängen. Professor Jazdani mit seinem neuen Brillanten am Arm! Geschmack hat er, bedeutet man sich in allen Blicken. Delikat, delikat, dieser elitäre Nasenbogen, die überhöhten Augenbrauen, der sanfte Lächelmund. Und wie apart die graugrünen Augen zur Farbe seiner Krawatte passen! Exzellenter Geschmack! Ausgelesenheit! Jazdanlichkeit! Ich darf gelangweilt, aber nicht dümmlich einherblicken, der Spiegel sein, der allen Glanz öffentlicher Aufmerksamkeit auf Jazdani zu lenken hat. Damit er sich sonnen kann. Einen Brand soll er sich dabei holen! Und der Paukist zerschlägt hartnäckig mein letztes Selbstbewußtsein. Die Zahnbürstenzeit rückt unerbittlich näher. Woher habe ich eigentlich meine Entschlußkraft genommen? Und, nehmen die letzten Schritte kein Ende? In der Pause muß ich Hände schütteln, freundlich, unverbindlich lächeln, Namen anhören, nette Worte sagen. Und eine dieser Hände gehört Handelsrat Fisher von der General Pharmacy and Chemistry, dem mich Jazdani beiläufig als seine wissenschaftliche Entdeckung vorstellt. Mein Lächelmund vereist. Der stärkste Paukenschlag. Ich kannte die Spielregeln noch nicht. Im dritten Akt ziehe ich mich ganz auf meine Schmuckfunktion zurück. Wenn ich schon Perle bin, Teil einer Kette, dann will ich auch glänzen. So gut ich kann. In der Oper und natürlich danach in der Bar, einer dieser neuen, modernen Schwebebars, in denen die Tanzfläche aus einer riesigen Kugel besteht, in deren Innern man durch einen mir unverständlichen Trick schweben kann. Ein herrliches Gefühl, vogelgleich durch den Raum zu schwimmen. Alter Burgunder tut ein übriges. Ich verstehe nicht mehr, jemals anders gelebt zu haben und dennoch glücklich gewesen zu sein. Jazdanizeit und Wanderfeldzeit vergehen in gleichen Sekundenrhythmen. Jazdani schwebt um mich herum. Wir gleiten durch den Raum, das weite Kleid umhüllt uns beide wie eine Fahne oder wie ein Bettlaken. Und die ganze Schweberei widert mich plötzlich an. Jazdani wird zur Kasse bitten. Im farbigen Licht sieht sein Gesicht aus wie grünlicher Käse. Ich muß an mich halten, damit mir nicht schlecht wird. Ein Zeitsprung! Er bemerkt es und begleitet mich zurück zum Tisch. „Sie gefallen mir, mein Täubchen!" Verehrte Solveg, liebe Solveg, meine Liebe, liebes Kind, mein Täubchen! Was wird noch kommen? Vorläufig kommen Jazdanis Bekannte. Scharenweise. Leute von der Universität, vom Konzern, von der Regionalregierung, Prominenz halt. Han-
delsrat Fisher setzt sich wie eingeladen an unseren Tisch. Auch er hat eine Perle am Arm. Etwas matt im Glanz. Und die Fassung einen Hauch zu ordinär. Selten gibt es zwei Perlen, die sich wirklich mögen. Die beiden Juweliere dagegen begrüßen sich außerordentlich herzlich. Pläne werden angerissen, die General Pharmacy und Chemistry läßt bei Herrn Professor Mervyn Jazdani forschen. Zwischen zwei Gläsern Burgunder gehen Millionen über den Tisch. Nicht in bar. Und ich sitze hier, weil mir... Fishers Perle glotzt mich an, dann schweben sie eine Runde, sie hat ihr superweites Kleid über die bloße Haut gezogen, nicht nur eine Spur zu vulgär. Erste Eindrücke bestätigen sich wieder. So plötzlich, wie sie aufgetaucht war, verschwindet die ganze Prominentengesellschaft wieder, in die nächste Bar und die übernächste. Jazdani geht auch und nimmt mich mit. Jazdani wird nun kassieren.
5 Der Rechner stand auf höchster Alarmstufe. Alle neunzig Sekunden saugte der Autoanalyser fünf Kubikmillimeter Blut aus der Armvene des Patienten. Alle neunzig Sekunden druckte der Computer seine Teildiagnosen und seine Therapievorschläge aus. Die gemessenen Werte wurden zu einer Kurve zusammengefaßt. Und diese Kurve wich so weit von den Normalwerten ab, daß der Patient nach menschlichem Ermessen jeden Augenblick sterben mußte, eigentlich längst gestorben war. Doktor Ralph Sveder stand vor einem medizinischen Rätsel. Einen Pillarwert von 0,92 hatte er in seiner langjährigen Praxis noch nicht erlebt. Ja, er hätte eine derartige Veränderung des Stoffwechselgeschehens für unmöglich gehalten. Doktor Sveder stimmt in diesem Punkt mit seinem Rechner überein. Der Medizincomputer, in dessen Speicher sämtliche bekannten menschlichen Krankheitsbilder gesammelt waren, weigerte sich, eine umfassende Diagnose zu stellen. Die eingeleitete Therapie regulierte lediglich die gröbsten Abweichungen im Stoffwechsel. Hohe Hydreskin- und Khelfringaben stellten somit mehr Versuche zur Abwehr einer Stoffwechsel-katastrophe dar als Schritte zu einer Heilung des Patienten. Noch niederschmetternder war die Genesungsprognose. Alle neunzig Sekunden druckte der Rechner 0,00 Prozent aus, was im Normalfall zur Abschaltung der Intensivtherapie geführt hätte. Aber ein Pillarwert von 0,92 war kein Normalfall. Schon gar nicht für Doktor Sveder.
6 Jazdani hatte zur Kasse gebeten. Auf seine Art. Für die Gnädigkeit, mit der er sich mir gewidmet hatte, für die Kleider, die ich großzügig behalten durfte, für den Abend in Oper und Bar, für jedes ppm Glück. Und Jazdani hatte seine Schulden beglichen. Für mein Kommen, für mein Mitkommen, für mein Entgegenkommen. Nun sind wir quitt, Jazdani! Und für alles weitere werden wir neue Rechnungen aufmachen müssen! Wenn Jazdani auch weit großzügiger und entgegenkommender war, als ich in meinen kühnsten Vorstellungen zu hoffen gewagt hätte. Beispiel, meine Doktorarbeit, für ihn kein Problem. Stufe, Stüfchen auf der Erfolgsleiter. Ein Jahr Arbeit! Unsinn, meine Liebe, liebes Kind, mein Täubchen. Doch nur, wenn man die Arbeit allein tun muß! Teile durch zwei! Ein halbes Jahr. Das würde schon genügen. Aber wenn ein Jazdani teilen muß, dann teilt er richtig, dann teilt er nicht nur durch zwei. Teile durch Zehn! Eins Komma zwei Monate. Nachrechnen. Sechsunddreißig Tage. Nicht mehr der Rede wert. Jazdanischer Sturmlauf! Für ein Lächeln von mir stehen täglich zehn seiner begabtesten Studenten in meinem Labor, man soll die jungen Leute so früh wie möglich an die Praxis heranführen, und ich, von allen Niedrigkeiten wissenschaftlicher Hilfsarbeit befreit, kann sammeln, lenken, aussortieren, werten. Zu Ergebnissen kommen. Erkenntnisse gewinnen. Da erledigen sich langwierige Versuchsreihen fast von selbst, da springen Ergebnisse ins Auge, wo man sie früher unter dem Mikroskop suchen mußte. Und oft nicht fand. Stüfchen, hatte Jazdani zu meiner Doktorarbeit gesagt. Stüfchen! Und schon bereitet er die nächste Stufe für mich vor. Eine richtige Stufe. Eine Stufenstufe. Die mancher erstklassige Wissenschaftler gern erklommen hätte, Arbeit an seinem Forschungsinstitut! Ein Vorschlag, der meinen Wert ins Unangreifbare steigert. Nicht mehr „mein Täubchen". Partner, angesehen, geachtet. Geliebt vielleicht. Vielleicht wirklich. Vielleicht! Ein Vorschlag, der mich jedenfalls tagelang glauben macht, Professor Mervyn Jazdani sei nichts anderes als ein guter, hilfreicher Mensch, mein guter Mensch, und ich, die ich Zug um Zug Rechnungen mache, müsse mich dieser personifizierten Gutheit schämen. Und so höre ich für Wochen auf, Jazdanlichkeitsabende in Kleidern von Coodliffe und Sohn zu zählen. Mitarbeit am Forschungsinstitut Professor Jazdani. Selbständig forschen! Ein Traum! Coodliffe und Sohn auf wissenschaftlichem Gebiet. Jazdani
versteht nicht nur richtig zu teilen, wenn es sein muß, Jazdani versteht auch zu planen. Auf den Tag genau. Sechs-unddreißig Tage für die Arbeit, zwei Wochen Urlaub, natürlich, decken sich in diesen zwei Wochen Wanderfeldsche und Jazdanische Termine. Einleitung des Promotionsverfahrens, am siebenundachtzigsten Tag die Promotion. So einfach ist das. Drei Tage später kann ich bei ihm anfangen. So plant ein Jazdani! Den ersten Termin konnte ich um volle vier Tage unterbieten. Zum Dank öffnete sich für mich vier Tage vorfristig sein Gebirgsdomizil. Ein Haus, das zu Jazdani paßt. Zu seiner Bibliothek, zu seinem Wagen, zum Fahrer mit den breiten Schultern, der sich nur widerwillig daran gewöhnt hat, auch vor mir seine Mütze mit elegantem Schwung zu ziehen, zu seinen Bekannten, zu seinen Perlen. Also auch zu mir. Eine Landschaft, die zu Jazdani paßt. Mit dem Ausblick in die Weite, mit der Kälte des Hochgebirgsschnees, mit der Einsamkeit der Gipfel. Und mit der Wärme einer nahen, ungebrochenen Sonne. Also, auch zu mir paßt die Landschaft. Achtzehn Tage, während der die Sonne stillsteht. Achtzehn Tage, an denen uns das Haus gefangenhält. In der Kellerbar oder im Solarium unter dem Glasdach, weil man von ihm aus einen Blick auf den Nachbargipfel hat. Und dieser Berg lächelt des Abends. Ein freundliches, runzliges, weiches, rotes Sonnenuntergangslächeln. Immer wenn er lächelt, ist ein Achtzehntel eines unwiederbringlichen Wohlgefühls vorüber. Doch das stört nicht einmal. Keinen Abend lasse ich mir diesen Ostblick entgehen. Promotionsverfahren. Verteidigung der Arbeit. Im Kollegium unter vielen Professoren Professor Mervyn Jazdani. Von ihm die fachlichsten Fragen, die deutlichsten Zweifel, die zur Antwort provozierendsten Bemerkungen. Ein Disput, der andere Professoren verblüfft, denn auch sie gehen mit Perlen am Arm in die Oper. Summa cum laude. Aber nicht das erstaunt mich. Das war nach den Ergebnissen der Arbeit zu erhoffen. Ich kann mich mit ihm messen, mein Wissen ist dem seinen ebenbürtig. Ich habe das Rad erfunden, ich bin ihm ebenbürtig. Das ist für eine Perle ungewöhnlich. Das verschafft mir den besten Platz in der Kette. Das hebt mich heraus. Das macht mich zur größten! Nichts ist vergänglicher als der Ruhm. Lorbeer taugt nur zur Suppe. An der Wand welkt er, die Seele kann den Duft nicht vertragen. Drei Tage später ist mein Lorbeer verwelkt. Das Kabinentaxi setzt mich am Tor des Institutes ab. Die Wachmannschaft prüft sorgfältig meine Besucherkarte, der Institutscomputer läßt mich endlich passieren. Bis zum ziegelroten Verwaltungsgebäude ist es eine Unendlichkeitsstrecke, zu Fuß, an tausend Augen vorbei, die auf mich und nur auf mich starren, vorbei an tausend Mündern, die über mich und nur über mich flüstern. Ich glaube sie hören zu können: „Da kommt die, die sich beim Chef eingeschlafen hat, außer einem drallen
Busen und einem hübschen Arsch nichts zu bieten, man kennt ja seinen Geschmack!" „Soll aber ihren Doktor summa cum laude gemacht haben!" „Wenn schon, wer mit den Professoren schläft! Wer weiß, vielleicht waren nur Männer im Kollegium!" Es sind Spießrutenmeter, meine Seele hat rote Striemen, als ich endlich das Verwaltungsgebäude erreicht habe. Zum erstenmal, daß ich ihm dienstlich gegenübersitzen werde. Dem Herrn Professor Jazdani. Der an der Uni eine Macht war. Der hier ein Gott ist!
7 Kein Fehler wird verziehen. Und schon gar kein Mißerfolg. Wenn er mich wenigstens entlassen hätte. Aber nein. „Tucker, Sie brauchen doch mal wieder Erfolg! Jeder Mensch braucht Erfolge, von Zeit zu Zeit!" Zyniker. Diese Erfolge habe ich kennengelernt. Der erste war die Sitzung des wissenschaftlichen Beirates, zu der man leider „vergessen" hatte, mich einzuladen. Und auf der über das Schicksal meines Teams entschieden wurde. Ich durfte dann meinen Mitarbeitern die Entscheidungen zur Kenntnis bringen. Natürlich unentschuldbar, ein solches „Versehen" der Jazdani-Sekretärin. Ein Versehen, „das Disziplinarmaßnahmen nach sich ziehen wird, mein lieber Tucker!". Das erste Versehen, solange sie Jazdanis Sekretärin war. Wahrscheinlich soll mein neues Team ein weiteres Erfolgserlebnis werden, schon von der Zusammensetzung her. Doktor Solveg Wanderfeld. Doch schon mal gehört, diesen Namen. Wunderkind. Jazdanische Entdeckung. Munkeldoktorin. Man wird sehen. Und Doktor Ethel Edmondson. Noch nie gehört. Was fast noch schlimmer ist. Immerhin ein Erfolg, daß er mich zum Einstellungsgespräch eingeladen hat. Doch selbst bei dieser Gelegenheit läßt er seine Macht spüren. Läßt warten. Geschlagene dreißig Minuten. Als ob ich keine Arbeit hätte und mit meiner Zeit umgehen könnte wie ein Jazdani mit seinem Geld. Aber wehe, wenn jemand von uns sich auch nur eine Minute verspäten würde! Das akademische Viertel warte ich noch ab, dann gehe ich. Stehe einfach auf und gehe. Soll mir der Jazdani den Buckel herunterrutschen. So wahr ich Tucker heiße! Du sitzt wie die anderen, als ob du angenagelt wärst auf deinem Stuhl. Jeder stiert vor sich hin, Betty wühlt in Papieren, bereitet die Unterschriftsmappe vor. Die Zeit vergeht nicht, die Ruhe ist peinlich. Professor Jazdani läßt auf sich warten. Eine Fliege summt aufdringlich am Fenster, der eigene Stuhl knarrt bei der geringsten Bewegung. Ein Feigling bist du, Doktor Tucker. Die fünfzehn Minuten sind lange vorüber, und du rührst dich nicht vom Fleck. Bleibst sitzen, als hättest du Blei im Hintern. Und Respekt im
Rücken. Führungsschwäche, Entschlußarmut, Eigenschaften, die dir Jazdani unausgesprochen vorwirft. Womit er nicht völlig unrecht hat, wenn man nach seinen Maßstäben mißt. Die Fliege dreht eine Runde und stürzt sich wieder mit hellem Summen gegen das Glas, der Sonne entgegen. Wie andere Teamchefs mit ihren Mitarbeitern umspringen! Manchmal kann man sich fragen, wieviel Schritte die Menschheit seit den Zeiten von Sklaverei und Leibeigentum wirklich vorangekommen ist. Ob wir nicht auch vor einer Scheibe surren. Die Meinung des Chefs gilt unbestritten, selbst dann noch, wenn sie im Widerspruch zu den Versuchsergebnissen steht. Jeder hat sein eng eingegrenztes Arbeitsgebiet, kann kaum einschätzen, was sich am Nachbarplatz abspielt, und der Teamchef koordiniert das Ganze. Und ist natürlich die überragende Kapazität. Führt sich auch so auf. Im Team ist denken nicht gefragt. Machen, schnell und präzise. Über das „warum" entscheidet allein der Teamchef. Für diese Arbeitsweise bin ich nicht der richtige Mann. Hätte ich meinen Leuten auch niemals zugemutet. Sie sind keine Fliegen. Ich bin keine Scheibe. Die Quittung stellte mir Jazdani aus. Erfolgserlebnisse! Vielleicht drückt er mir diese Anfänger in die Hand, damit ich mich dem Arbeitsstil seines Hauses besser anpasse. Tucker, Doktor des Konformismus. Zehn Minuten über mein Zeitlimit. Jazdani, auch meine Geduld geht einmal zu Ende. Man darf keinen Bogen überspannen! Doktor Tucker erhob sich von seinem Stuhl. Das Knarren lenkte sofort alle Blicke auf ihn. Unschlüssig tat er zwei Schritte in Richtung Tür, von den Blicken verfolgt, nahm sich dann aber nur eine Zeitschrift aus dem Regal neben Bettys Schreibtisch und setzte sich wieder hin. Die Gesichter der anderen verloren ihre Aufmerksamkeit.
8 Eilige Schritte auf der Treppe. Die Tür wurde aufgerissen, Professor Jazdani stürmte herein. „Sie entschuldigen", rief er im Laufen, während er die Tür seines Büros öffnete und seinen Laborkittel auszog. „Eine plötzliche Unregelmäßigkeit einer meiner Versuchsreihen. Sie haben sich hoffentlich nicht gelangweilt. Betty, machen Sie uns einen Kaffee. Einen starken, es gibt Wichtiges zu bereden! Haben Sie sich schon untereinander bekannt gemacht?" Ohne eine Antwort abzuwarten, führte er die drei Kollegen in die Klubecke seines Büros, während er auf seinem Schreibtisch noch einige Unterlagen zu suchen schien. „Ja, Tucker", begann er das Gespräch, „Sie vermuteten wahrscheinlich schon, daß es sich bei unseren Gästen um Mitglieder eines neu zu bildenden Arbeitsteams handelt. Ich darf Ihnen Kollegin Doktor Edmondson vorstel-
len, Chemikerin von Haus aus, und Doktor Wanderfeld, Biochemikerin. Kollege Doktor Tucker ist Genetiker und hat sich mit frühen Einwirkungsmöglichkeiten auf Vererbunsprozesse befaßt, wenn ich das grob umreißen darf." Doktor Tucker nickte zustimmend. Solveg beobachtete Professor Jazdani mit gespannter Erwartung. Noch am gestrigen Abend hatte sie ihn bedrängt, Einzelheiten über ihre zukünftige Arbeit zu erfahren. „Du wirst noch früh genug begreifen, was dich an unserem Institut erwartet", hatte er abgewehrt. „Und übrigens", hatte er mit Nachdruck hinzugefügt, „am Institut sind wir natürlich per ,Sie'. Und keine Vertraulichkeiten, bitte. Es wäre weder für dich noch für mich gut, wenn jeder kleine Hilfsassistent über unsere Beziehungen informiert wäre!" Das war eine Anweisung. Der erste Befehl. Sie war befremdet, aber das hatte sie ihm nicht gesagt. Er enttäuschte. Mit keinem Blick verriet er, daß sie sich kannten. Nicht einmal ihr. Vor ihr saß ein Fremder. Vom Gebirgshaus trennten Welten. „Sie werden eine sehr schwierige, aber auch eine sehr schöne Aufgabe zu lösen haben. Es geht im weitesten Sinne um die Erhöhung der Regenerationsfähigkeit tierischer Zellen. Auftragsforschung der General Pharmacy and Chemistry. Ich habe schon vom Computer alle erforderlichen Unterlagen und wichtige Literatur bereitstellen lassen, die Laborräume des ehemaligen Teams Tucker sind vorbereitet, technische Mitarbeiter stehen Ihnen zur Verfügung. Und ich kann Ihnen nur Erfolg bei der Lösung dieses Problems wünschen. Über die Einzelheiten wird Sie Ihr künftiger Teamchef unterrichten!" Tucker nickte. „Ach ja, das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen", fuhr Professor Jazdani fort und blickte durch Doktor Tucker hindurch. „Ihr zukünftiges Team wird von Doktor Wanderfeld geleitet werden. Ich danke Ihnen!" Nicht nur Solveg glaubte sich verhört zu haben. Und nur Doktor Edmondson konnte nicht begreifen, weshalb Tucker aufsprang und die Tür krachend hinter sich ins Schloß warf.
9 Der Pillarwert war gefallen. Von 0,92 auf 0,89. Wenn sich Erfolge in zwei Winzigkeiten nach dem Komma ausdrücken, erwecken sie sofort hundertfache Hoffnungen. Selbst dann, wenn der Rechner bei seiner Genesungsprognose von 0,00 blieb. Vielleicht genügte schon ein weiteres Hundertstel, um die Chancen zu erhöhen. Doktor Sveder hatte in der medizinischen Literatur der letzten zweihundert Jahre vergeblich nach einem ähnlichen Fall gesucht. Ein Grund mehr für ihn, den Vorschlag des Rechners nach Einstellung der Intensivtherapie abzulehnen. Vielleicht konnte Professor Jazdani helfen. Immerhin war die Möglichkeit eines Arbeitsunfalls nicht absolut auszuschließen. Wer wußte schon, mit welchen Chemikalien an diesen Instituten gearbeitet wurde! Professor Jazdani hörte sich den Bericht des Arztes gespannt an. Die Möglichkeit eines Laborunfalls wies er entschieden zurück. „Ich freue mich zwar über Ihre Erfolge, Doktor Sveder", antwortete er scharf. „Aber ich halte Ihre Schlußfolgerungen für entschieden zu kühn! Außerdem, ich möchte Ihre Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Eine Hydreskintherapie können wir auch an meinem Institut fortsetzen!" „Unter keinen Umständen", antwortete Doktor Sveder ohne Zögern. „Der Patient ist unter keinen Umständen transportfähig. Und, bei allem Respekt vor der Arbeit, die an Ihrem Institut geleistet wird, Professor Jazdani, für die Krankheiten der Menschheit sind immer noch wir Ärzte zuständig!" „Natürlich." Jazdani lächelte. „Sie hören von mir!" Also kein Unfall, dachte Doktor Sveder. Oder vielleicht doch, und Jazdani will Aufsehen vermeiden. Der Rechner druckte erstmals eine Heilungsprognose von 0,02 aus.
10 „Die Überraschung ist dir wirklich gelungen! Weshalb hast du mir gestern nichts gesagt?" Nachdem wir allein waren, brachte ich das unpersönliche „Sie" nicht über die Lippen. Nach allem. Nach dem Berghaus. Er zog die Augenbrauen eine Winzigkeit nach oben. Wie gut ich diese Bewegung kannte. „Ich glaubte, wir hätten das Problem unseres dienstlichen Umgangs besprochen, Kollegin Wanderfeld!" Ich mag keine eiskalten Duschen. Kollegin Wanderfeld war ich also. Wenn schon, dann bitte Kollegin Doktor Wanderfeld. Wenigstens lauwarm. Denn der Doktor hat mich Substanz gekostet. Das begreife ich immer mehr. „Ich hatte meine Gründe erläutert. Hier haben Wände zuweilen Ohren." Damit war für ihn die Angelegenheit endgültig erledigt. Ich hatte verstan-
den. Ich hatte zu verstehen. Umschalten. Auf die Dienstposition. „Sie wollten mir die künftigen Aufgaben meines Teams erläutern, Kollege Professor Jazdani!" Korrekt, wie man seinen Chef zu behandeln hat. Und mit Betonung auf „Kollege". Er hatte den zweiten Kaffee getrunken, am Abend wird er wieder über sein Herz klagen, das kenne ich. Und dann werde ich wieder seinTäubchen und seine liebe Solveg sein. Als hätte sich nichts geändert. Er ging zum Tresor und holte einige schmale Mappen, die er vor mir auf den Tisch legte. „Das ist nur eine kleine Auswahl der biologischen Forschungsthemen, die ich Ihnen anbieten kann. Von diesen Forschungsaufträgen hängt für Sie allerhand ab. Sie müssen wissen, daß unsere Teams die kleinsten selbständigen ökonomischen Einheiten des Institutes sind. Mit eigener Haushaltsplanung und weitgehender Selbständigkeit. Sie als Teamchef schließen mit mir einen Zehnjahresvertrag ab, in dem unter anderem Ihre Bezüge geregelt sind. Diese Summe stellt aber lediglich das garantierte Grundgehalt dar. Die Mehrzahl Ihrer Kollegen verdienen ein Mehrfaches dieser Vertragseinnahmen. Jeder Forschungsauftrag ist mit einem bestimmten Etat gekoppelt, aus dem Sie dann alle Dinge bezahlen, die für die Arbeit Ihres Teams benötigt werden. Also, das reicht vom technischen Personal über Schreibkräfte, Reinigungspersonal, Chemikalien, Energiekosten bis hin zu Versuchstieren und dem Gerätepark. Es hängt von der geleisteten Arbeit ab, ob vom Forschungsetat etwas übrigbleibt oder nicht. Natürlich auch von Ihrem Geschick, bestimmte Geräte billig zu erwerben oder von anderen Teams zu leihen beziehungsweise Ihre eigene Einrichtung zu verleihen. Ich rede Ihnen in Ihre Entscheidung kaum hinein. Über den Etatrest können Sie völlig frei verfügen. Wir haben Teams, die beachtliche Einnahmen an ihre Mitarbeiter verteilen können, wir haben allerdings auch Zuschußteams!" „Zum Beispiel das des Kollegen Tucker", warf ich ein. „Finden Sie nicht, daß Sie mir den Start nicht erleichtert haben mit einem ehemaligen Teamchef als wissenschaftlichem Mitarbeiter?" „Haben Sie Angst vor Tucker?" „Das nicht, aber seine Enttäuschung über Ihre Entscheidung war nicht zu übersehen!" „Tucker wird Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten, das kann er sich gar nicht leisten. Verheiratet, drei Kinder, ein Monat ist rasch vorüber. Sie werden voraussichtlich keine Schwierigkeiten haben. Und wenn, lassen Sie es mich wissen. Auf der anderen Seite kennt Doktor Tucker die Gepflogenheiten des Hauses und kann Ihnen wertvolle Hinweise geben. Betrachten Sie es als Testfall für Ihre Führungsqualitäten!" Nur so kann man zu einem Haus in den Bergen kommen. Nur so kann man sich einen völlig überflüssigen Fahrer leisten. Rechnen muß man können. Berechnen!
Er nahm die oberste Mappe in die Hand. „Entwicklung eines Zusatzstoffes zum Präparat ,gamma-expilkonforte' zur Vermeidung von pränatalen Mißbildungen in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten. Ein Projekt, für das etwa ein Jahr veranschlagt ist. Gesamtetat vierhunderttausend Usonodollar. Wenn Sie nebenbei die experimentelle Überwachung von einem oder zwei anderen Präparaten übernehmen, zehntausend Dollar je Monat, dann leben Sie und Ihre Mannschaft herrlich und in Freuden!" Die vierhunderttausend Usonodollar reizten. Reizten sehr. Ich mußte mich beherrschen, um diesen Auftrag nicht spontan zu übernehmen. Aber schließlich kannte ich meinen Jazdani. Behielt er nicht immer einen Trumpf in der Hinterhand? Wieviel waren vierhunderttausend Dollar wirklich wert, um welche Summen ging es in den Mappen, die noch ungeöffnet auf dem Tisch lägen? „Nun, haben Sie Lust?" „Nicht, ehe ich die anderen Aufträge kenne. Sprachen Sie nicht vorhin über die Regenerationsfähigkeit von Zellverbänden?" „Wenn Sie sich diese Arbeit schon zutrauen, bitte!" Ich blätterte die Mappe durch. Und wußte sofort, das war der Auftrag, den ich suchte. Neunhunderttausend Usonodollar. Aufträggeber die General Pharmacy and Chemistry. Eine unwahrscheinliche Summe. Zwei Jahre Zeit. Und ein Thema, das Raum ließ für Phantasie und schöpferische Arbeit, das nicht so eng eingegrenzt war wie die anderen Projekte. „Einflüsse mutagener Substanzen auf die Regenerationsfähigkeit spezialisierter Zellverbände". Das war mein Thema. Das und kein anderes. Jazdani zögerte, sprach von Schwierigkeiten, von einer zu großen Aufgabe für ein solch junges Team, warnte, schien zu warnen und machte mir mit seinen Warnungen die Sache erst richtig schmackhaft. Zu großes Thema? Jazdani, hast du immer noch nicht begriffen, welche Perle du dir an den Hals gehängt hast? Wir einigten uns dienstlich. Er behielt sich einen wöchentlichen Einblick in die Forschungsberichte vor. Ein vertretbarer Kompromiß. Für mich einhundertvier Berichte, für ihn die Sicherheit, mir den Auftrag dann wieder wegnehmen zu können, wenn er der Meinung war, es sei für uns wirklich zu hoch. Die Notbremse gegen den Mißerfolg. Aber du wirst dich wundern, Jazdani! „Einflüsse mutagener Substanzen auf die Regenerationsfähigkeit spezialisierter Zellverbände!" Neunhunderttausend Usonodollar in zwei Jahren, Teamchef Doktor Solveg Wanderfeld. Du hast eine ausgezeichnete Wahl getroffen, Professor Mervyn Jazdani. Eine wahrhaft jazdanische Wahl! Ich werde dir Zellverbände regenerieren, daß du aus dem Staunen nicht herauskommen, wirst. Alles hat seinen Preis. Auch dieses „Sie" am Institut!
11 Welche Schritte sind nun wirklich die schwersten? Die ersten, die letzten oder die unendliche Kette dazwischen? Start ist feierlich, Ziel ist schön, dazwischen Hegt Strecke. Unmittelbar nach ihrem Gespräch mit Professor Jazdani ging Solveg zu Doktor Tucker. Wie alle Wissenschaftler und technischen Mitarbeiter bewohnte er einen kleinen Bungalow im Institutsgelände. Das machte unabhängig von der Stadtwohnung, wenn Versuchsreihen länger dauerten als geplant, wenn Arbeiten in ihr kritisches Stadium traten, wenn Entscheidungen ungestörtes Nachdenken erforderten. Doktor Tucker hatte an der Grundausrüstung seiner Unterkunft nichts geändert. Kein Bild an den Wänden, keine Blume auf dem Schreibtisch unter dem ovalen Fenster, nichts, das unverwechselbar auf die Person Tucker schließen ließ. Selten benutzte Fluchtburg. Staub auf den Möbeln. Verheiratet, drei Kinder. ,,Muß ich Ihnen viel Erfolg wünschen", fragte er, nachdem er sie sekundenlang schweigend gemustert hatte. Ihre ausgestreckte Hand übersah er. Schon bereute sie es, gekommen zu sein. Die ersten Schritte. „Ich würde mich darüber freuen", antwortete sie leise. „Und Sie letztlich auch. Denn an unserer gemeinsamen Arbeit werden auch Sie Ihren Anteil haben, Kollege Tucker!" „Natürlich, auch ich werde meinen Anteil haben", echote er. „Hat Ihnen Jazdani gesagt, daß Sie mit dem Tucker in den nächsten Tagen wie mit einem rohen Ei umgehen müssen?" Solveg drängte sich ein Bild auf. Nakina, den 4.4. 2037. Mit vorzüglicher Hochachtung! Smith, Verwaltungsangestellter. Was hätte sie diesem Mister Smith am 4. 4. erzählt? Vielleicht hätte sie ihn angeschrien, angegriffen, angespuckt. Für Tucker war sie ein Smith. Sollte er sich austoben. Sie gönnte es ihm. Es beruhigt. „Er hat mir gar nichts gesagt. Aber Sie sollten wissen, daß ich mich anders entschieden hätte. Und daß ich Sie brauche. Daß unser Team Sie braucht. Gleichgültig, wer von uns es leiten wird!" Noch blieb der Schritt auf ihn zu ohne Widerhall. Doktor Wanderfeld ging. Führungsqualität. Der erste Tag am Institut Jazdani wollte nicht zu Ende gehen. Die unverhoffte Funktion verbreitete Lähmung wie nach einem großen Schreck, wie nach übergroßer Freude. Sie fühlte sich fremd hier, und das nicht allein des ersten Tages wegen. Von Stunde zu Stunde steigerte sich die Fremdheit. Jetzt könnte sie jemanden brauchen, der „mein Täubchen" oder „liebe Solveg" zu ihr sagen würde. Aber der es könnte, stand hinter der Fensterscheibe seines Büros und beobachtete. Und sie war sich nicht einmal sicher, was er sich dabei wünschte. Erste Schritte in einem Aquarium, in dem irgend
jemand unablässig am Thermostaten drehte. Solveg stürzte sich in die Arbeit. Teamchefs werden am ersten Tag geboren. Im eiskalten Wasser. Oder nie! Vierzehn Uhr Vorbesprechung mit Edmondson und Tucker. Fünfzehn Uhr erste Dienstbesprechung des gesamten Teams, mit all seinen wissenschaftlichen und technischen Hilfskräften. Jeder sollte wissen, daß eine neue Zeit angebrochen war, die Wanderfeldzeit, und daß man besser daran tat, seine Uhren von der ersten Minute an darauf einzustellen! Vorbesprechung. Tucker immer noch in sich zurückgezogen, abwartend, bestenfalls vorsichtiger Beobachter. Oder aufmerksamer Sucher nach Fehlern. Thermostatendreher. Die Edmondson dagegen respektierte ihre Autorität als etwas Jazdanigewolltes. Oben und unten hatte es schließlich immer gegeben. Und würde es immer geben. Letztlich war es gut so, wenn man nicht zu denen ganz, ganz unten gezählt wurde. Einer mußte das Thema stellen, damit Dutzende, Hunderte, Tausende Arbeit hatten. Damit sich die Edmondsonwelt weiter drehen konnte. Solveg verlas das Thema. Langes Schweigen. Sofort hatte jeder seine eigenen Vorstellungen. Das Thema ließ es zu. Man wird sich abstimmen müssen. Man wird einzugrenzen haben. Solveg wird eingrenzen müssen. Die Gedankenfülle beschneiden. Auch dazu wird man Teamchef. Anscheinend einfache Fragen sind zu beantworten. Die erste Frage: Was sind mutagene Substanzen? Wo muß man Grenzen ziehen? Die zweite Frage: Was ist alles unter Regeneration zu fassen? Einfache Zellvermehrung? Wiederherstellung ehemaliger Strukturen? Neue Strukturen? Dritte Frage: Was sind spezialisierte Zellverbände? Kann man schon die Volvox dazu rechnen? Oder wird man mit komplizierteren Versuchsobjekten arbeiten müssen, Muskelgewebe, Nervengewebe? Oder mit embryonalen Zellen? Technische Details, organisatorische Fragen. Erste Versuche einer Zeitplanung. Es werden schlafarme Wochen werden. Dienstbesprechung. Doktor Tucker trat vor die im Labor versammelten Techniker und Laboranten, ungefähr dreißig Mann, wie Solveg schätzte, und nahm das Wort. Noch war es Tuckers Team. Für Minuten noch. Jazdanis Haus hatte Traditionen. „Liebe Kollegen!" Seine Stimme war leise, er sprach stockend, als wolle er die Zeit hinauszögern. Obwohl jeder wußte, was kommen würde. „Liebe Kollegen! Ich möchte, ehe ich das Team Tucker auflösen muß, Ihnen allen für die geleistete Arbeit herzlich danken. Wir haben zwar unser gemeinsames Ziel nicht erreicht, dafür mag es viele Gründe geben. Aber wir sind alle in der
Zeit unserer Zusammenarbeit reicher an Erfahrungen geworden. Und ich meine, das allein ist auch schon etwas. Das Team, oder vielmehr das, was von ihm übriggeblieben ist, wird sich in Zukunft mit einem anderen Arbeitsgebiet befassen und von Kollegin Doktor Wanderfeld geleitet werden, die ich Ihnen hiermit vorstellen möchte!" Erwartungsvolles Gemurmel im Labor. Solveg trat bei der Nennung ihres Namens fast automatisch einen Schritt vor und deutete eine knappe Verbeugung an. Jeder erwartete ein paar Sätze zur Einführung. Pläne, Ziele, Wünsche, all das, was ein neuer Chef sagen sollte. Was jeder neue Chef sagt. Doktor Solveg Wanderfeld ist nicht jeder neue Chef. Doktor Solveg Wanderfeld stellt sich schweigend vor. Führungsqualität! Statt dessen verlas Doktor Tucker, nachdem er Doktor Ed-mondson vorgestellt hatte, den Forschungsauftrag! Aus den Reihen der Laboranten kamen Fragen. Doktor Wanderfeld hätte das nicht erwartet. Wissenschaftliche Fragen gehörten ausschließlich in den Kreis der Wissenschaftler. Schon an der Universität. Und erst recht an einem Forschungsinstitut. Tucker schien von dieser Regel abgewichen zu sein. Eines der Dinge, die zu korrigieren sein werden. Aber behutsam. Nichts wäre undiplomatischer, als ihn jetzt bloßzustellen. Bei seinen Mitarbeitern schien er ungewöhnlich beliebt zu sein. So etwas könnte umschlagen. Und Laboranten sind wichtig. Sie beschloß, bei ihrem Schweigen zu bleiben. Natürlich kam die Frage, was „DNS" sei. Nun verstand Solveg, weshalb Tucker scheitern mußte. Zeit ist schon immer Geld gewesen. Führungsqualität. „Diese Verbindung ist die Erbsubstanz", erklärte Tucker weiter. „Das einzige, was Sie von Vater und Mutter mitbekommen haben. Im biologischen Sinne, versteht sich. Eine Informationskette für ein ganzes Leben!" „Wie funktioniert diese Substanz?" „Was hat sie mit Mutationen zu tun?" Von allen Seiten stürmten die Fragen auf Tucker ein. Solveg hatte gelernt, sich zu beherrschen. Sie unterbrach nicht. „Wenn ich bildlich sprechen darf, sieht die DNS grob vereinfacht aus, wie eine Strickleiter mit vier verschiedenfarbigen Sprossen. Deren Reihenfolge stellt einen Code dar, von dem die Eiweißsynthese gesteuert wird. Und in den verschiedenen körpereigenen Eiweißen verwirklicht sich biochemisch das Individuum. Mutationen nun sind Veränderungen dieser DNS, die dann auch veränderte Eigenschaften bei den Nachkommen nach sich ziehen!" „Wo findet man diese DNS?" Weil Solveg hartnäckig schweigt, nimmt die Edmondson Tuckers Bild auf. „In den sogenannten Chromosomen. Vergleichen Sie eine Zelle mit einer
Bibliothek, dann sind die einzelnen Chromosomen die Fachabteilungen. Die Gene sind die Bücher, deren Buchstaben nun werden von den Sprossen unserer Strickleiter-DNS gebildet. Eine vollständige Dokumentation aus vier Buchstaben. Deshalb sind die einzelnen Worte auch ziemlich lang. Ein sehr betriebssicheres System, weil kaum Tippfehler auftreten können. Das war eine Sprache, die von den Technikern verstanden wurde. Alles klar, Tippfehler sind in den nächsten Wochen zu erproben! Erst jetzt fiel auf, daß Doktor Wanderfeld noch nicht einen einzigen Satz gesprochen hatte. Man muß die Chefs nehmen, wie sie kommen. Und eigentlich schade um Doktor Tucker! Irgendwann gehen auch erste Tage zu Ende. Nichts schien zu laufen. Es war, als hätte sich das gesamte Institut gegen sie, gegen Doktor Solveg Wanderfeld und ihr Team, verschworen. Und Jazdani half selbst dann nicht, wenn eine Handbewegung von ihm genügt hätte. ,.Du mußt schwimmen lernen, mein Täubchen", erklärte er, wenn sie ihm abends erschöpft von ihren Problemen berichtete. „Je schneller, um so besser!" Meist nahm er ihr dann die Unterlagen weg, die sie noch durcharbeiten wollte und schleppte sie zur „Erholung" durch Nakinas Nachtleben. Langweilig, oberflächlich, mit den stets gleichen, nichtssagenden Gesichtern und den Kleidern von Coodliffe und Sohn. Die Schwierigkeiten hatten damit angefangen, daß sie eine Ultrazentrifuge brauchten. Die gab es am Institut, Doktor Weniger hatte sie vor einem Jahr für sein Team angeschafft. „Ja, natürlich", hatte sie Doktor Weniger empfangen, „sie können die Zentrifuge mieten, stundenweise, aber in den Zeitplan müsse sie sich halt einfügen. Wie andere Teams auch. Sie sei nichts Besseres", fügte er mit einem unmißverständlichen Blick hinzu. Wann die Zentrifuge zu haben sei, fragte sie unbeirrt. An solche Blicke hatte sie sich gewöhnt. Eines Tages würde sie noch ganz anders zurückblikken. Abwarten, Herrschaften! Ja, es sei Zeit frei, zwischen dreiundzwanzig und ein Uhr, dann käme das Wartungspersonal, so ein teures Gerät müsse sehr sorgfältig gewartet werden, aber zwischen drei und vier Uhr könne sie die Zentrifuge noch einmal für eine Stunde haben. Die Stunde übrigens zu fünfundachtzig Dollar, wenn sie eigene Chemikalien und Techniker habe. Wenn sie einen Techniker des Weniger-Teams mitmieten wolle, das böte natürlich gewisse Vorteile, dann kämen noch einmal dreißig je Mann und Stunde hinzu. Verschenken könne man leider auch an Doktor Wanderfeld nichts. Nein, andere Zeiten seien unter keinen Umständen frei, vielleicht versuche sie beim Chef etwas zu erreichen, das sei doch kein Problem für sie. Wie er die Sachlage einschätze!
Noch einmal dieser Blick. Dienstbesprechung. Erste Frage: „Kommen wir durch irgendeinen Verfahrenstrick um die Zentrifuge herum?" „Eine ausgesprochen dumme Frage." Tucker polterte sofort los. „Jeder Student wisse schließlich..." Was Solveg empörte, war die Weigerung, überhaupt über diese Frage nachzudenken. Diese Empörung teilte sie mit, nicht gerade leise, auch Tucker war nicht leise gewesen, und schon zog er sich in einen Panzer der Gekränktheit zurück. Krebstucker! Zweite Frage: „Wieviel Stunden würde ungefähr zu zentrifugieren sein?" Edmondson: „Am Anfang eigentlich den lieben langen Tag. Mit ein paar ungünstigen Nachtstunden, du meine Güte, dann sind wir in zehn Jahren noch nicht aus den Anfängen heraus!" Forderung nach Exaktheit. Mit lieben langen Tagen läßt sich schlecht planen. „Gut, bitte, etwa sechzig Stunden je Woche, dreihundertdreißig im Monat, mal zwölf fürs ganze erste Jahr." Dritte Frage: „Die Kostenfrage!" „Bedarf also Tausende von Stunden. Nicht übertreiben, sagen wir tausend. Aber mindestens. Macht ohne Techniker also ftünfundachtzigtausend Dollar. Neuanschaffung etwa zweihunderttausend Dollar. Und vom Chef genehmigungspflichtig!" Wieder dieser Blick, gemeinsam von Tucker und der Edmondson. „Für unser Team kein Problem!" „Bleiben hundertfünfzehntausend Dollar Verlust. Läßt das der Etat zu?" „Nur ein scheinbarer Verlust", warf Tucker ein. „Man müßte einmal den Institutsbedarf ermitteln, vielleicht könnte man diese Differenz fünfundachtzigdollarweise verkleinern. Vermieten, das Ding. Die WenigerZentrifuge ist schließlich auch ausgelastet!" „Wirklich nur scheinbar", widersprach auch die Edmondson. „Man darf den Zeitgewinn nicht vergessen. Der wiegt mehr als hundertfünfzehntausend. Solche Argumente mußten auch Professor Jazdani überzeugen. Aber, und fast jedes Ding hat sein Aber, eine Ultrazentrifuge ist groß. „Sie benötigt ihr eigenes Fundament. Stabil, pyramidenfest und teuer, mindestens zehntausend. Die mußt du dazurechnen, die müssen Sie dazurechnen, Kollegin Wanderfeld. Und natürlich ein eigenes Gebäude. Denn so eine Ultrazentrifuge, die bekommen Sie durch keine Tür der Welt, die stellt man auf ihr Fundament und baut ein Haus rundherum. So ist das, Doktor Wanderfeld. Und das hätte Konsequenzen. Weitreichende Konsequenzen. Über die man gründlich nachdenken muß. Nicht zwischen Wochenbericht und Feier-
abend!" Also gründlich nachdenken mußte er. Dienstlich nachdenken! Er war ja nicht immer dienstlich. Nicht immer Chef. Manchmal war er ausgelassen und fröhlich wie ein Kind, verschwenderisch wie ein Jüngling. Dann verschenkte er die Sterne am Himmel. Ein gutes Dutzend von ihnen nannte sie schon ihr eigen. Gebirgssterne, Barsterne, Jazdanisterne, Wanderfeldsterne das waren die, die sie sich selber aussuchen durfte. Aber jetzt brauchte sie eine Ultrazentnfuge. Das Versprechen blieb ihm im Hals stecken. An der Zentrifuge verschluckte er sich, einen Stern hätte er spielend vergeben. Aus dem Jüngling wurde in Sekundenbruchteilen der Chef, Professor Mervyn Jazdani. „Ich hatte dich ausdrücklich gebeten, die Dinge unserer Arbeit und unseres Privatlebens nicht miteinander zu vermischen!" Keine Spur mehr von Verbindlichkeit. „Du kannst dich offensichtlich an solche Abmachungen nicht halten!" Er ließ sie in dem Zimmer, das er ihr in seinem Haus zur Verfügung gestellt hatte, stehen. Und sie war nicht einmal angezogen. Jazdani spräche ist deutliche Sprache. Solveg bestellte sich ein Kabinentaxi. Selbst auf den breitrückigen Fahrer wollte sie verzichten. Notfalls auf alles verzichten. Und jeder sollte wissen, daß er seine Blicke für sich behalten konnte. Jetzt störte es Solveg sehr, daß sie ihren Bungalow vorläufig mit Ethel Edmondson teilen mußte. Obwohl die Edmondson sonst in keiner Weise störte. Sie hätte sich am liebsten in ihre Kissen vergraben und sich zurückgeweint in problemlosere Zeiten, in jazdanilose Zeiten. Doch mit der Edmondson hatten die Wände Ohren und jeder Blick so eine gewisse Bedeutung. Jede Träne würde am Institut herumgereicht werden. Als Indiz. Wie immer wußte Jazdani ganz genau, wo die unsichtbaren Grenzen lagen, und überschritt sie nicht um einen Millimeter. Er berief den wissenschaftlichen Beirat ein. Halbe Sachen nützen niemandem. Zum erstenmal nahm Solveg an einer Sitzung dieses Gremiums teil. Nur Teamchefs, Treffen auf gleicher Ebene. Primus inter pares Jazdani. Jazdani, den sie seit jenem verpatzten Sternenabend nicht mehr gesehen hatte. Ihre Blicke kreuzten sich dienstlich. Und nur dienstlich. „Die Situation ist die, daß die Mannschaft der Kollegin Doktor Wanderfeld, inzwischen hinreichend bekannt, ein sehr erfolgversprechendes Forschungsprogramm eingereicht hat. Aber ihre materielle Basis ist für dieses Thema entschieden zu schwach!" „Sollen sie etwas anderes machen!" warf Doktor Stipanitsch ein. „Ich sagte schon, daß das Programm außerordentlich erfolgversprechend ist", wiederholte Jazdani eine winzige Nuance schärfer. „Und ich lege Wert
auf diese Arbeit!" Auch hier stellten Jazdaniworte Weichen. Er legte Werte. „Ich schlage deshalb vor, dem Wanderfeld-Team aus dem Gemeinschaftsfonds einen Kredit in Höhe von zweihundertfünfzigtausend Dollar zu gewähren." Auch Weichen können manchmal eingerostet sein. „Zweihundertfünfzigtausend Dollar", rief Stipanitsch, „zweihundertfünf-zigtausend! Weshalb nicht gleich eine Million? Und um was für ein Thema handelt es sich eigentlich? Müssen wir nicht auch mit unserem Etat auskommen?" „Nein, mußten Sie nicht, Herr Kollege Doktor Stipanitsch. Wenn mir die Erinnerungstütze gestattet ist, Sie haben aus demselben Fonds eine komplette Laboreinrichtung kreditiert bekommen. Allerdings schon vor einigen Jahren!" „Laboreinrichtung und Zuschuß, das sind himmelweite Unterschiede, gar nicht miteinander zu vergleichen", verteidigte sich Doktor Stipanitsch. „Um nichts anderes handelt es sich. Eine sorgfältige Überprüfung hat ergeben, daß das Labor des ehemaligen Tucker-Teams, in dem die Kollegin Wanderfeld arbeiten sollte, denkbar ungeeignet ist. Eine Sache, die niemand vorhersehen konnte." Solveg hielt den Atem an. Eine jazdanische Lösung. Mehr, als sie je erwartet hatte. „Wenn ich Sie richtig verstehe", meldete sich Doktor Weniger zu Wort, „dann soll für die Kollegin Wanderfeld ein neuer Forschungskomplex aufgebaut werden?" Professor Jazdani bestätigte diese Vermutung. „Dann steht aber der Tucker-Komplex zum Verkauf?" „Kollege Weniger ist der Zeit immer um eine Kleinigkeit voraus", antwortete Jazdani lächelnd. „Aber auch damit haben Sie recht. Ein großer Teil des Tucker-Komplexes ist zu haben." „Ich übernehme das Hauptlabor", rief Weniger. „Halt, nicht so rasch", protestierte Doktor Koopal. „Wenn etwas verkauft werden soll, dann mit regulärer Ausschreibung. Wo kämen wir sonst hin. Wir haben eindeutige Satzungen!" „Zunächst geht es um den Kredit von zweihundertfünfzigtausend Dollar für das Wanderfeld-Team!" Über den Kredit gab es keine Diskussionen mehr. Es ging um die Aufteilung eines Teambestandes. Da galt es rechtzeitig zuzugreifen, sich Anteile zu sichern, möglicherweise Hunderte von Dollar einzusparen. Nur so konnte man zu etwas kommen. „Versteigerung", wurde allgemein gefordert. Und nur ganz nebenbei bestätigte man den Aufbauplan für den neuen Forschungskomplex, für das Wanderfeld-Labor.
Solveg saß wie betäubt in ihrem Sessel. Erst nicht einmal diese blöde Zentrifuge, jetzt einen ganzen Forschungskomplex. Ja, Jazdani hatte recht. Weitreichende Konsequenzen. Sie nahm sich vor, sich wieder Sterne schenken zu lassen. Oder selber zu verschenken. Man würde sehen! Die Vorbereitung der Versteigerungsaktion verursachte viel Arbeit. Vor allem für den Teamchef. Allein die Inventur des Tucker-Vermögens dauerte Tage. Vom Betatron bis zum letzten Reagenzglas, alles würde unter den Hammer kommen. Selbst Geräte, die Solveg gern behalten hätte. Aber die Satzung verlangte eindeutig, daß die komplette Einrichtung anzubieten war. Sie konnte ja mitsteigern. Sozusagen zurückkaufen. Professor Jazdani hatte sie als Rechtsnachfolger des Tucker-Teams bestätigt, somit flossen ihr die Versteigerungserlöse zu. Tagelang verließ sie das Institutsgelände nicht. Doktor Tucker schien erst jetzt richtig zu begreifen, daß sein Team nicht mehr existierte. Er sprach den ganzen Tag kein Wort. Für ihn war es mehr als der Verkauf nicht mehr benötigter Gerätschaften. Die Versteigerung selbst brachte einen weit höheren Gewinn als erwartet. Vor allem das Betatron erbrachte fast achtzig Prozent des Neuwertes. Koopal und Weniger hatten sich gegenseitig wie im Rausch hochgetrieben. Weniger spekulierte auf neue Mieteinnah-men und erhielt den Zuschlag. Solveg, die zusammen mit Professor Jazdani und der Edmondson als Auktionar fungiert hatte, rechnete bis zum Abend. Sie konnten einen Gewinn von 478200 Dollar verbuchen. Zusammen mit dem Kredit Geld genug für den Neubau. Die folgenden zwei Wochen vergingen in völliger Passivität. Am Montag der dritten Woche war Ethel Edmondson schon um sechs Uhr früh aufgestanden und lief wie jeden Morgen eine Viertelstunde durch den Institutspark, ehe sie sich unter die Dusche stellte. Solveg, die gern am Abend arbeitete, hier oder im Hause Jazdanis, hatte sich schon an diese Zeremonie gewöhnt und im Halbschlaf noch einmal umgedreht. Doch schon nach wenigen Minuten kam Ethel zurück und weckte sie endgültig. „Sie kommen, sie kommen!" rief sie. Solveg sprang auf, zog einen Laborkittel über und hastete mit Ethel zum Eingang des Institutsgeländes. Die Straße von der Stadt her quälte sich ein Kolonne schwerer Lastwagen, eine hohe Staubfahne stand träge über dem Zufahrtsweg zum Institut. Es gab keinen Zweifel, ihre Gebäudekomplexe wurden geliefert. „Schnell, Ethel, die Pläne!" Solveg zitterte vor Kälte und Aufregung. Endlich würde man beginnen können! Am Bauplatz markierten Pflöcke den künftigen Standort des Wanderfeld-Labors. Dennoch war es nur schwer vorstellbar, daß sich hier in
zwei Tagen ein ganzer Gebäudekomplex erheben würde. Die Neuigkeit hatte sich unter den Teammitgliedern wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Als Ethel mit den Bauplänen zurückkam, war die Mannschaft schon vollzählig versammelt. Nur Doktor Tucker fehlte noch. Das erste Fahrzeug näherte sich dem Institutsgelände. Deutlich war ein flaches rotes Gebäude zu erkennen, das auf einem Radsatz herangeschleppt wurde. Rot, Sicherheitsbereich. Sie hatten sich schon daran gewöhnt, in diesen Farben zu denken. Einen roten Bereich durften nur die Mitarbeiter betreten, die unmittelbar darin zu tun hatten und mit jeweiligen Gefahren bestens vertraut waren. Am strengsten waren die grellorangefarbenen Gebäude abgesichert. Sie wurden von außen mit Hilfe von Manipulatoren bedient. Aber lediglich das Mansfield-Team, das sich mit der Erforschung hochvirulenter Virusstämme befaßte, und Professor Jazdani selbst hatten selbst in ihren Forschungskomplexen grellorangefarbene Zellen. Wobei niemand am Institut genau wußte, womit sich Jazdani befaßte und weshalb sein gesamter Forschungskomplex, in dem er übrigens völlig allein arbeitete, zur Sicherheitszone gehörte. Aber das war eine Frage, die am Institut nicht gestellt wurde. Zumindestens nicht laut. Aus dem ersten Fahrzeug, das die kleine Gruppe erreicht hatte, sprang Doktor Tucker und strahlte über das ganze Gesicht. „Was sehen Sie mich so entgeistert an? Ich habe in der Nacht einen Anruf von der Baufirma bekommen und bin sofort losgefahren. Ich wollte Sie nicht wecken, Kollegin Wanderfeld. Sie hatten schließlich bis nach Mitternacht gearbeitet. Übrigens, wie sehen Sie aus? Wollen Sie sich eine Erkältung holen? Wir können keinen kranken Teamchef gebrauchen, jetzt, wo es endlich losgeht!" Plötzlich war sie empfindlich für die Morgenkälte. „Sie hätten mich trotzdem wecken können." Gern hätte sie ihm schärfer geantwortet. Aber angesichts des gesamten Teams wollte sie es nicht auf eine Auseinandersetzung ankommen lassen. „Ich werde feststellen lassen, weshalb man das Gespräch in Ihren Bungalow gelegt hat!" Damit war gesagt, was zu sagen war. Auch ein Tucker darf keine Grenzen überschreiten. Als sie eine halbe Stunde später zur Baustelle zurückkam, hatte sich die Gegend schon gründlich verändert. Ein Bagger hob die letzten Meter der Versorgungsgräben aus. In der Mitte des Bauplatzes war eine Art Bohrgerüst errichtet worden, von dem aus eine Bohrung von gut sechs Meter Durchmesser in den Untergrund getrieben wurde. „Das Fundament für die Zentrifuge", brüllte Tucker, war aber im Baulärm kaum zu verstehen. Solveg stand hilflos in diesem Gewimmel von Arbeitern und Maschinen, schweren Fahrzeugen und vorgefertigten Gebäudesegmenten. „Unvorstellbar, daß aus diesem Chaos in zwei Tagen unsere Labors
entstehen sollen", sagte Ethel. „Nie im Leben wird das rechtzeitig fertig!" „Sie werden sehen", beruhigte sie Doktor Tucker. „Übermorgen können wir einräumen!" Der Bau wuchs stündlich. Aus einem kautschukähnlichen Zement wurde das Fundament für die Ultrazentrifuge gegossen und das gewaltige Gerät millimetergenau montiert. Ein Kran hob eines der Gebäudesegmente an. Wie eine große Glocke wurde es über die Zentrifuge gehoben und mit dem Fundament verschweißt. Der schwierigste Bauabschnitt, die Montage der wertvollen Zentrifuge, war erfolgreich abgeschlossen. Nun wurden, dem Bauplan entsprechend, die übrigen Gebäudesegmente aneinandergehängt. Die gesamten Bauarbeiten wurden von Doktor Tucker geleitet. Ohne Solveg auch nur im geringsten zu beachten, gab er Anweisungen, verhandelte lautstark mit dem Bauleiter, entschied über notwendige Änderungen der ursprünglichen Pläne. Solveg begann zu begreifen, was es für ihn bedeutete, nicht mehr Teamchef zu sein, und was es für sie hieß, in Zukunft mit ihm arbeiten zu müssen. Unter den aufmerksamen Augen des gesamten Teams. Teamchefs werden auch auf der Baustelle geboren, aber noch konnte sie nicht auf Tucker verzichten. Sie nahm sich deshalb vor, in den nächsten Tagen die Fronten endgültig zu klären. Am späten Nachmittag war der Rohbau der Labors fertig und ganz nebenbei Solvegs Wohnbungalow aufgestellt. Beide Komplexe wurden mit Strom und Wasser versorgt, hatten Videoverbindung und waren an das institutseigene Heizkraftwerk angeschlossen. Der Bau hatte weit weniger Probleme mit sich gebracht als erwartet. Und doch war Solveg nicht zufrieden. Oder gerade deshalb.
12 Doktor Sveder war vor Jahren als junger Facharzt der Inneren Medizin nach Nakina gekommen, weil er hier unabhängig und eigenverantwortlich arbeiten konnte, weil damals die Konzernleitung der General Pharmacy Chemistry nach Nakina übersiedelte, weil die Stadt jährlich um einige tausend Einwohner anwuchs und weil die dortige Distriktregierung jungen Ärzten zinsfreie Kredite gewährte. Und ohne dieses Geld hätte er seine erste Praxis nie eröffnen können, so bescheiden sie ihm inzwischen auch vorkam. Arbeit gab es vom ersten Tag an, die Universität Nakina hatte keine medizinische Fakultät. Das rauhe nördliche Klima stellte hohe gesundheitliche Anforderungen an die Neubürger, die Stadt wucherte, der Konzern wucherte, es herrschte zeitweise das hektische Leben einer Goldgräberstadt des späten neunzehnten Jahrhunderts. Da zählte jeder Arzt doppelt, da betrug der nor-
male Arbeitstag Doktor Sveders zwölf Stunden, und oft war es damit noch nicht abgetan. Entsprechend hoch war sein Einkommen. Als der Kredit zurückgezahlt war, als er die zweite größere Praxis einrichten konnte hatte die Stadt Nakina ihre Gründerjahre hinter sich. Man lebte so normal wie in allen Staaten und Städten der USA. Doktor Sveder gehörte zu den angesehenen Bürgern. Er hatte im Villenviertel sein eigenes Haus erbauen lassen und genoß als Arzt einen guten Ruf. Viele Prominente gehörten zu seinen Patienten, Bürgermeister Conwitsch, Mitarbeiter der Regionalregierung, leitende Angestellte der General Pharmacy and Chemistry, eines Tages auch Handelsrat Fisher, für Doktor Sveder ein Fall wie jeder andere auch. Leber, Galle, Lunge, vor allen Dingen Herz. Von der ersten Konsultation an war Fisher von Doktor Sveders Art begeistert. Jeder Mensch braucht einen, vor dem er die Maske fallenlassen kann. Und wenn schon einer das EKG kennt, weshalb ihm nicht auch die Angst offenbaren, die jeder Stich in der Brust hinterläßt? Die Angst, von einer zur anderen Minute könne Schluß sein, von einer zur anderen Minute könne man den Sessel im Verwaltungshochhaus mit einem Becken im Seziersaal eintauschen. Wem sonst sollte ein Handelsrat Fisher solche Ängste mitteilen? Und Doktor Sveder hörte dem Konzerngewaltigen zu. Gab ihm, was er als Arzt zu geben hatte. Zeit, Vertrauen, das Gefühl, in den richtigen Händen zu sein. Von Stund an hielt der Handelsrat seine Hand über den Arzt, protegierte, verhalf zum endgültigen gesellschaftlichen Durchbruch. Doktor Sveder war ein guter Arzt, aber mit einer aufwendigen, modernen Einrichtung würde er der beste Arzt der Stadt sein können. Und der beste Arzt war für Handelsrat Fisher gerade gut genug. Für wen eigentlich stellte die General Pharmacy and Chemistry die modernsten Diagnosegeräte her, Medicomputer, die selbsttätig röntgen und scintographieren konnten? Doch wohl für Ärzte wie Doktor Sveder. Auf jeden Fall für Ärzte, die Patienten wie Handelsrat Fisher behandelten! Doktor Sveder wurde nicht gefragt. Er bekam neue Praxisräume, bestückt mit dem modernsten Gerätepark, von der Größe her eher eine kleine Privatklinik. Doktor Sveder avancierte zum Prominentenarzt der Stadt Nakina. In der ersten Zeit hatte er sich gegen diesen Ruf gewehrt, und unangenehm war er ihm stets geblieben. Genutzt hatte er seine zahlreichen Beziehungen selten, sehr selten. Als er kurzfristig seinen Pilotenschein machen mußte, als ausgerechnet vor seinem Wohnhaus eine Halteverbotszone eingerichtet werden sollte. Kleinigkeiten, erledigt per Videophon oder mit einem Nebensatz während einer Behandlung. Einzig zum Forschungsinstitut Professor Mervyn Jazdani fehlten Sveder Verbindungen auf der richtigen Ebene.
Doktor Sveder hatte einen bestimmten Verdacht, der sich täglich verstärkte und ihm die Ruhe nahm. Der Pillarwert seines Patienten war nach und nach auf 0,82 gefallen, die Genesungsprognose lag mit 3,38 Prozent höher als zu Beginn der Behandlung. Der Wasserhaushalt und die Atmung waren stabil, von Tag zu Tag wurde der Patient menschenähnlicher. Und jazdaniähnlicher. Das konnte eine reine Äußerlichkeit sein, ohne jede Bedeutung. Aber das beharrliche Bemühen Professor Jazdanis, den Patienten in sein Institut zurückzuführen, das Fehlen jeglicher Personalpapiere, das waren Dinge, die Verdacht erregten. Doktor Sveder war nach dem letzten Videophonat beinahe sicher, daß es sich bei seinem Patienten um Professor Jazdani handelte und daß irgendein Schwindler, dem Professor sehr ähnlich, ein Verbrecher vielleicht, sich das Institut angeeignet hatte. Er wußte zwar nicht genau, an welchen Projekten dort gearbeitet wurde, aber ein solcher Coup konnte gefährlich sein. Für das Institut, für die Stadt, auf jeden Fall aber für ihn. Um sich Gewißheit zu verschaffen, ließ Doktor Sveder eine Haarquerschnittsanalyse seines Patienten anfertigen, ermittelte die genaue Blutzusammensetzung und die Feingewebestruktur. Dann rief er Oberst Phillips an, den Polizeipräsidenten Nakinas. Phillips saß hinter seinem gewaltigen Schreibtisch, die unvermeidliche Zigarre im Mundwinkel. „Hallo, Doktor", sagte er, ohne die Zigarre aus dem Mund zu nehmen. „Wollen Sie mich an einen vergessenen Termin erinnern?" „Das auch", antwortete Sveder. „Täte Ihrer Lunge gut, wenn Sie die Zigarren vergessen könnten! Aber Sie müssen mir und einem meiner Patienten helfen. Ich brauche Feingewebestruktur und Blutgruppe." „Gemacht, Doktor", knurrte Phillips. „Spuckt unser Computer sofort aus. Um wen handelt es sich?" „Jazdani, Mervyn." „Hallo!" Phillips pfiff. „Ernste Sache?" „Die Daten, Oberst!" Der Polizeichef drückte ein paar Knöpfe. Kurze Zeit später brachte eine Ordonanz die Lochkarte. „Hören Sie, Doktor, die Feingewebestruktur. Der Mann hat 22/a/34/0013/Fg/X14A/274/18/-3B/22g. Haben Sie? Oder soll ich wiederholen?" „Ich wiederhole selbst", antwortete Sveder und gab den Code für die Feingewebestruktur noch einmal durch. „Stimmt, Doktor. Freut mich, daß ich ihnen helfen konnte! Und meine besten Wünsche für Jazdani!" Doktor Sveder legte auf. 22/a/34/0013/Fg/X14A/274/18/3B/22g war der Gewebecode seines Patienten. Nach der Blutzusammensetzung mußte nicht mehr gefragt werden.
13 Dienstbesprechung des Wanderfeld-Teams. Doktor Tucker, der sich im Auftrag Solvegs mit der Versuchstierfrage beschäftigt hatte, legte seinen Bericht vor. „Die Wahl des Versuchsobjektes kann für das Gelingen unseres Auftrages von entscheidender Bedeutung sein. Ich habe mich deshalb ausführlich mit verschiedenen Tierklassen befaßt, sie auf ihre spezielle Eignung für unsere Zwecke untersucht. Als geeignet erscheinen mir besonders Tiere der Klasse Amphibia, der Lurche. Die Versuchszentrale des Hauses kann aus dieser Klasse folgende Arten zur Verfügung stellen: Aus der Familie Salamandridae die Salamandra salamandra, aus der Familie Amphiumidae die Art Amphiuma mens, übrigens die einzige Art dieser Familie, aus der Familie Proteidae die Arten Proteus anguineus und Necturus maculosus sowie der Familie Ranidae die Arten Rana temporaria, Rana dolmatia, Rana hexadactyla und Rana macronemis. Alle diese Arten sind für unsere Arbeit geeignet, sie unterscheiden sich lediglich durch unterschiedliche Anschaffungskosten und verschiedenen Haltungsaufwand." Himmel, komplizierter kann man das kaum noch ausdrücken, dachte Solveg. Bezeichnend für Tucker. Aus jeder Kleinigkeit eine halbe Wissenschaft machen. Nur um zu zeigen, daß ein Doktor Tucker an Gründlichkeit nicht zu überbieten ist. „Meine weiteren Untersuchungen habe ich auf die drei Arten beschränkt, die wir von der Versuchstierzentrale zu den finanziell günstigsten Bedingungen bekommen können. Es handelt sich um die Arten Salamandra salamandra, Rana temporaria und Rana hexadactyla." „Wieviel Versuchstiere haben Sie für unsere Arbeit eingeplant, Kollege Tucker?" „Da wir mit Zellkulturen experimentieren werden, können wir bei allen drei Arten gut mit etwa zweihundert Exemplaren auskommen." „Sind Sie nicht zu sparsam, Kollege Tucker?" „Die Zellkulturen vermehren sich in vitro außerordentlich rasch. Deshalb bin ich der Meinung, daß wir mit zweihundert Versuchstieren auskommen müßten. Unter den zur Auswahl stehenden Arten zeichnet sich Salamandra salamandra durch extrem hohe Regenerationsfähigkeit aus. Der Nachteil besteht in einem höheren Pflegeaufwand und der relativ längsten Generationsfolge. Ganz im Gegensatz dazu Rana temporaria mit einer sehr hohen Vermehrungsrate. Die geringe Regenerationsfähigkeit spielt meiner Meinung nach keine entscheidende Rolle. Besonders interessant erscheint für unsere Zwecke die Art Rana hexadactyla durch ihre hohe Mutationsneigung."
Typisch Tucker, dachte Solveg. Ich hatte ihn mit Vorstudien beauftragt. Und nun bleibt im Grunde nichts mehr zu entscheiden. Tucker hat entschieden. Rana hexadactyla! Mancher Mensch kommt über eine Niederlage, wie er sie erlitten hat, nie hinweg. Und Tucker sucht die Auseinandersetzung mit mir. Nun, ich fürchte mich nicht. Schlimm ist, daß er die Arbeit des gesamten Teams behindern könnte mit diesen sinnlosen Reibereien. Die Edmondson hat er schon halb auf seine Seite gezogen. Sie hängt an seinen Lippen, als wolle sie ihm die Worte vom Mund ablesen. Ich kann ihr Getue bald nicht mehr ertragen! Vielleicht bin ich einfach überarbeitet. Aber nun ist das Labor eingerichtet, funkelnagelneu, bis zum letzten Zentrifugalglas. „Ich möchte dem Team also vorschlagen, wir bestellen zweihundert Exemplare Rana hexadactyla." Jetzt werde ich ihm zeigen, wer hier zu bestimmen hat. In aller Deutlichkeit und in aller Öffentlichkeit. Mag er darüber denken, wie er will! „Darf ich bitte Ihre Unterlagen einsehen, Kollege Doktor Tucker?" Das gefällt dir nicht, wie? Sieht man! Solveg blätterte in demschmalen Hefter und tastete seine Werte in den Taschencomputer. Auffällig, damit es auch die Edmondson nicht übersehen konnte. Sie verglich die Werte und bestellte dann fünfhundert Stück Salamandra salamandra. Auch so, daß er es sehen und hören mußte! Gewöhn dich daran, wer hier Teamchef ist. Ich, Doktor Solveg Wanderfeld! Und niemand anders, Herr Kollege Doktor Tucker! Wenn jemand behauptet, Forschungsarbeit sei die interessanteste Arbeit der Welt, dann hat er mit ziemlicher Sicherheit noch kein Forschungslabor von innen gesehen. Oder er ist als Laie einmal an den Geräten vorbeigeführt worden, war beeindruckt von der Vielzahl der ihm unbekannten, komplizierten Apparaturen. In Wirklichkeit sieht alles ganz anders aus. Eine Menge sich ständig wiederholender Vorgänge laufen ab, die weitgehend automatisiert sind und bei denen die Wissenschaftler lediglich Kontrollfunktionen innehaben. Die pedantische Genauigkeit, mit der gearbeitet werden muß, kann den letzten Rest Phantasie abtöten. Und das wird in allen wissenschaftlichen Disziplinen so sein. In der Genetik kommt ein weiteres Problem hinzu. Die hohen Zahlenwerte drohen die Wissenschaftler zu erschlagen. Die Art Salamandra salamandra hat zweiundvierzig Chromosomen. Jedes Chromosom besteht aus Genen, unterschiedlich vielen, aber immer Tausenden, achttausend, elftausend, zweitausend, wenn es sich um ein kleines Chromosom handelt. Rund dreihunderttausend Gene. Und von keinem wußte man genau, welche Funtion es zu erfüllen hatte. Dreihunderttausend Rätsel, und versteckt in diesen Rätseln weitere Rätsel.
Das ist der Alltag des Wanderfeld-Teams. Da geht es auf einmal doch um Minuten, da geht es um Sekunden. Da fordert die Zahl Dreihunderttausend, daß man Begriffe wie Sonntag, Urlaub, Feiertag, Freizeit aus dem Sprachgebrauch streicht. Diese Zahl zwingt, die Nacht zum Tage zu machen, rund um die Uhr zu arbeiten. Sie zwingt dazu, Laboranten einzustellen, die nicht geplant waren. Sie nötigt vor allem dem Cheftechniker Albert Estling hohe Leistungen ab. Denn die Zentrifuge ist das Nadelöhr, durch das die Genetik gezwängt werden muß. Mehrere Zentrifugen kann man sich nicht leisten. Der Kredit drückt ohnehin. Die Chromosomentrennung nach dem Dichtegradienten-Zentrifugalverfahren dauert zwanzig Minuten. Eine vertretbare Zeit, man kann auf Vorrat arbeiten, größere Mengen Chromosomen isolieren und einfrieren. Ein Tag, und man hat alle zweiundvierzig Chromosomen in Gläsern. Aber auch das Abtrennen eines einzigen Gens aus dem Chromosom dauert zwanzig Minuten. Und das ist keine vertretbare Zeit mehr. Es würde bedeuten, daß man sechs Millionen Minuten zentrifugieren müßte. Allein zur Grundlagenforschung, ohne auch nur eine einzige mutagene Substanz erprobt zu haben. Sechs Millionen Minuten, also 4166 Tage, wenn die Zentrifuge nicht eine Sekunde steht. 4166 Tage sind mehr als elf Jahre, unendliche Jahre, wie eine Fußwanderung zum Mond. „Sie sind Ingenieur, Kollege Estling. Lassen Sie sich etwas einfallen. Das alte Dichtegradienten-Zentrifugalverfahren ist unbrauchbar. Man muß es verbessern. Sie müssen es verbessern, Kollege Estling!" Estling und seine Mannschaft koppelten die Zentrifuge mit einer Heliumtiefsttemperaturanlage. Dadurch konnte das Präparat noch in der Zentrifuge schockgefroren werden. Arbeitsgänge wurden verlagert. Zeitgewinn zwanzig Prozent. Bleiben 3335 Tage, reichlich neun Jahre. Die Wissenschaftler und Techniker experimentierten mit anderen Zentrifugalmedien. Unter ständigem Zeitdruck. Auch Solveg wurde gedrängt. Von Professor Jazdani, von den wöchentlichen Berichten. Sie verdoppelten die Viskosität durch den Zusatz von Schwermetallionen. Die Techniker bauten die gesamte Zentrifuge um. Als sie damit fertig waren, genügte eine Zentrifugalzeit von zwei Minuten. Und sie hatten eine Vorrichtung geschaffen, durch die man das Gerät nicht mehr anhalten mußte. In jede der dickwandigen Zentrifugalpatronen aus Kobalt-Nickel-Stahl reichte eine mitrotierende Platinpipette, durch die mittels Druckluft oder Hochvakuum Material eingesetzt oder entnommen werden konnte. Restmengen der zu untersuchenden Substanz beseitigte man, indem der Boden der Zentrifugalpatrone geöffnet wurde. Durch das gewaltige Eigengewicht des Untersuchungsgutes reinigten sich die Patronen selbsttätig. Die Anzahl der Patronen wurde auf zwölf erhöht, so daß bei zweiminütiger Material-
entnahme eine Gesamtzentrifugalzeit von sechs Minuten je Präparat zur Verfügung stand, ausreichend, Gen für Gen aus den Chromosomen zu demontieren. Aber selbst das war nur der allererste Schritt. Anschließend mußte das defekte Chromosom, von dem man nun genau wußte, welches Gen fehlte, in eine teilungsfähige Zygote eingeschleust werden. An Hand der Ausfallerscheinungen des sich entwickelnden Tieres konnte man präzise rückschließen, welche Erbinformation das fehlende Gen getragen haben mußte. Es ging dem Wanderfdd-Team darum, ein Gen zu finden, das wie alle Gene in allen Zellen vorhanden war, aber nur in wenigen seine Funktion auch wirklich erfüllte. Das wäre ein Gen, an dem man sämtliche mutagen Einwirkungen studieren könnte. Und mit diesem Gen wäre das Team erst zu seinem eigentlichen Auftrag vorgestoßen. Oktober, November, Dezember und Januar waren ohne nennenswerte Erfolge vergangen. Die tägliche Arbeit war längst zur Routine geworden. Mitte Februar. Solveg musterte die Vermehrungskästen der letzten Woche durch. Die meisten Embryonen waren abgestorben. Das fehlende Gen hatte unverzichtbare, lebenswichtige Informationen getragen. Meistens war das so. Allem Überfluß zum Trotz ist die Natur sparsam. Unter tausend Embryonen entwickelte sich im Brutschrank höchstens eines zum adulten Tier. Es war eine ermüdende und entmutigende Aufgabe, Tag für Tag rund fünfhundert abgestorbene Embryonen zu Gesamtschnitten zu verarbeiten, auszufärben, histologisch zu untersuchen, festzustellen, welches Organ, welche Organgruppe geschädigt war. Da entdeckte Solveg in der Brutmulde mit der Nummer 2/1738-1 ein winziges, sich bewegendes schwarzes Tierchen. Wenn nicht alles täuschte, eine schwarze Mutante von Salamandra salamandra. Sollte sich ihre Vermutung bestätigen, dann hatten sie ein Gen gefunden, das sich hervorragend für weitere Experimente eignete, das Gen, das für die fleckige gelbe Pigmentierung der Haut von Salamandra salamandra verantwortlich war. Sorgfältig untersuchte sie das winzige Lebewesen unter dem Mikroskop. Keine Anzeichen einer Hautfleckung. Sie ging zum Videophon und wählte den Zentrifugenraum. Dort hatte Albert Estling Dienst. „Kommen Sie bitte zum Labor vier, Kollege Estling. Und bringen Sie die Probe 2/1738-1 mit!" „Sind wir etwa fündig geworden?" „Schwer zu sagen. Auf jeden Fall lohnen sich Kontrolluntersuchungen!" Der Techniker war ein bißchen enttäuscht, als er den schwarzen Embryo betrachtet hatte. Das sollte alles sein? Dafür hatten seine Kollegen und er sich die Nächte um die Ohren geschlagen? Verstehe einer diese Biologen!
Die Kontrollexperimente dauerten eine lange Woche. Endlich konnte man.das Muldenglas aus dem Brutschrank nehmen. Hundert schwarze Salamandra salamandra. Das Gen 2/1738-1 war positiv.
14 Ein Videophonat lenkte Doktor Sveders Verdacht in eine völlig neue Richtung. Am Apparat meldete sich Doktor Neri, Leiter des Histologischen Zentralinstituts der Universität von Seattle. Neri und Sveder kannten sich seit Jahren, sie hatten als Studenten in einem Zimmer gelegen, seitdem war der Kontakt zwischen ihnen niemals völlig abgerissen. „Hallo, Sveder, alter Junge! Ich rufe wegen der Abstriche an, die du uns geschickt hast!" „Hast du etwas herausgefunden?" "Etwas herausgefunden ist gut", antwortete Neri. „Ich hätte beinahe eine Laborantin gefeuert. Diesen Streich vergesse ich dir nie!" „Ich verstehe dich nicht." "Du verstehst ganz gut. Ein Drittel aller Zellen ist haploid. Ich habe es auch nicht glauben wollen. Aber unter dem Elektronenmikroskop ist die Sache völlig eindeutig. Den Trick mußt du mir unbedingt verraten. Das war ja verblüffend!" „Ich schwöre dir, Neri, die Präparate waren in keiner Weise manipuliert!" Doktor Neri wurde sofort ernst. „Sag das noch einmal, Sveder! Du hast also einen Patienten, bei dem sich im Schleimhautabstrich haploide Zellen befinden?" „Das ist noch nicht alles, Neri. Als der Fall eingeliefert wurde, lag der Pillarwert bei null Komma zweiundneunzig." „Unmöglich!" „Wenn ich es dir sage! Und es kommt noch dicker! Aber das möchte ich nicht per Draht besprechen. Ich würde mich freuen, wenn du mich mal besuchen könntest." „Einverstanden. Nächste Woche würde es mir passen. Den Fall muß ich unbedingt sehen!" „Ich freue mich auf deinen Besuch, Neri. Also dann bis zur nächsten Woche!" Nachdenklich legte Doktor Sveder auf. Feingewebecode 22/a/34/0013/Fg/A14A274/18/3B/22g und haploide Zellen. Patient Professor Jazdani mit zwei Fragezeichen.
15 „Wenn ich dir sage, es wird so gemacht, dann wird es so gemacht!" schrie Professor Jazdani und schlug dazu mit der flachen Hand auf die Tischplatte. An seinem eigenen Institut darf ein Jazdani alles. Er darf Regeln aufstellen, darf diese Regeln wieder umwerfen, darf mich anschreien, darf du zu mir sagen, auch wenn er sich das energisch verbeten hätte, und darf mit der Faust auf den Tisch schlagen. Wer wollte einen Jazdani daran hindern! Ich hatte ihn noch nie derart aufgebracht gesehen. Schuld an seinem Wutausbruch war mein wöchentlicher Forschungsbericht. Von der Isolierung des Gens 2/1738-1 an zeigte der Chef ein ständig steigendes Interesse an unserer Arbeit. Manchmal hatte ich den Eindruck, als sei er mit der Materie vertrauter als wir. „Die physikalischen Versuche führen in eine Sackgasse", hatte er vor zwei Wochen gesagt. „In der Natur gibt es auch keine derart hohen Strahlendosen, und die Sache funktioniert dennoch!" Es ging um das Salamandra-salamandra-Gen. 2/1738-1 war in allen Zellkernen vorhanden, nachweisbar sogar im Nervengewebe. Aber wenn es überhaupt wirkte, dann nur in Hautzellen und dann noch nicht einmal in allen, denn das gelbe Pigment war fleckig und unregelmäßig über die Körperoberfläche verteilt. Weshalb wirkte es in manchen Epidermiszellen und nicht in anderen spezialisierten Geweben? Um diese Frage zu klären, mußten wir uns erneut mit dem genetischen Code befassen. Die Sprossen der Strickleiter-DNS, aus der unser Gen aufgebaut war, bestanden aus den Verbindungen Adenin, Cytosin, Guanin und Thymin. Um jedoch mindestens zwanzig Informationseinheiten zu schaffen, denn so viele verschiedene Aminosäuren schließen sich zu Eiweißketten zusammen, bilden jeweils drei dieser Verbindungen eine Information, ein Codon. Durch diese Dreiergruppen gibt es insgesamt vierundsechzig verschiedene Informationseinheiten, genügend also, jedes beliebige Eiweiß zu produzieren. Die Kombination Uracil-Cytosin-Cytosin oder UCC führte zur Anlagerung der Aminosäure Serin, Guanin-Cytosin-Uracil zur Anlagerung von Alanin, GUU bedeutete die Aminosäure Valin. Es gibt Aminosäuren, die sich an verschiedene Codons anlagern, es gibt aber auch Codons für „Start", den Befehl zum Beginn einer Reaktion, und den Befehl „stop", der zum Abbruch einer Reaktion führt. Um die Struktur unseres Gens zu untersuchen, bauten wir aus 2/1738-1 Codon nach Codon ab. Es begann mit der Kombination GUG, dem Befehl „Start". Jedes Gen beginnt normalerweise mit dieser Kombination, damit die Zelle Gene von Bruchstücken unterscheiden kann und nicht von sich aus „halbe" Eiweißkomplexe herstellt. Dann folgte UGU, der Code für die
Aminosäure Cystein, dann ACU für Threonin, CAA für Glutamin und dann kam überraschenderweise die Kombination UAA. Dieses Codon war der Befehl „stop" und stand gewöhnlich am Ende eines Gens. Es wirkte wie das fehlende Glied eines Reißverschlusses, an dieser Stelle mußte die Reaktion zwangsläufig entgleisen. Dann jedoch ging es normal weiter, UUA für Leucin, CGU für Arginin, neun weitere Codons und dann erneut UAA. Siebenunddreißig normale Codons, dann UAG, ebenfalls ein „Stop"-Codon! Diese drei Codons, UAA an der fünften Stelle der DNS-Kette, UAA an der sechzehnten und UAG an der dreiundfünfzigsten Stelle, bildeten gemeinsam den Blockierungsmechanismus des von uns untersuchten Gens 2/17381. Auf Grund dieser drei Codons konnte sich in Muskel- und Nervenzellen kein gelbes Pigment bilden. Doch wie konnte es sich überhaupt bilden? Wir fanden keine Lösung. Auch die Zellen, die voll von diesem Pigment waren, lieferten uns keinen Schlüssel. Nur wenn es uns oder der Zelle gelang, diese drei Codons zu überbrücken oder aus dem Gen zu entfernen, verlief die Reaktion wie erwartet, das Gen synthetisierte gelbes Pigment. Und genau da lag unser größtes Problem. Natürlich versuchten wir, diesen „Stop"-Codons mit allen nur denkbaren Methoden beizukommen. Die Edmondson analysierte Kerne der pigmentreichen Zellen. Sie suchte nach einer Substanz, die in der Lage war, diesen Blockierungsmechanismus zu überbrücken. Doktor Tucker hatte den physikalischen Teil übernommen und versuchte, die Codons mit ultraweicher Gammastrahlung aus dem Gen herauszuschließen. Ich selbst arbeitete an der Herauslösung auf biochemischem Weg. Und schon zu diesem Zeitpunkt hatte uns Jazdani hereingeredet. „Die physikalischen Versuche führen in eine Sackgasse! In der Natur gibt es auch keine derart hohen Strahlungsdosen und die Sache funktioniert dennoch. Stellen Sie diese Experimente unverzüglich ein!" Doch ausgerechnet zwei Tage später wies Tucker auf erste Erfolge seiner Methode hin. Gelbes Pigment aus Genen, die nicht dem Hautgewebe entstammten. Vorerst nur im Reagenzglas, aber doch immerhin ein Lichtblick. Unmöglich für mich, in diesem Augenblick die physikalischen Versuchsreihen abzubrechen. Das erste greifbare Resultat. Und es wäre außerdem unfair gegenüber Doktor Tucker gewesen. Im nächsten Bericht an den Chef erwähnte ich die Fortsetzung der TuckerExperimente nicht. Aber das ließ sich natürlich nicht lange verheimlichen. Professor Jazdani tauchte oft unangemeldet in unserem Laborkomplex auf, informierte sich beinahe täglich über den Fortgang unserer Arbeit. Wenn wir den Eindruck gewännen, an eine entscheidende Wende in unserer Arbeit gekommen zu sein, dann vor allen Dingen durch das Verhalten Jazdanis. Zum erstenmal seit meiner Tätigkeit am Institut führten wir auch
Fachgespräche an unseren gemeinsamen Abenden. Und fast immer drehten sie sich um die Entblockierung von Genen. Schließlich erwähnte ich im zweiten Wochenbericht, daß Tuckers Experimente zu ersten Erfolgen geführt hätten und ich entschlossen sei, sie fortsetzen zu lassen. Ich wollte unseren Standpunkt verteidigen, doch er schrie mich so heftig an, wie ich es noch nie erlebt hatte. „Wenn ich dir sage, so und so wird es gemacht, dann wird es so gemacht! Wenn du auf meinen Rat verzichten willst, dann such dir gefälligst ein anderes Institut! Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?" „Wir sollen mutagene Einflüsse untersuchen", warf ich ein. „Und Strahlung ist ohne Zweifel eine mutagene Einwirkung!" Immer noch laut und heftig antwortete er: „Begreifst du nicht, daß du dabei bist, eines der letzten großen Rätsel dieser Welt zu entschlüsseln? Daß die sture und einfallslose Erfüllung deines Auftrages völlig nebensächlich ist? Begreifst du, was du da täglich tust, wie wichtig das ist?" Er war mir um mehr als nur einen Gedanken schritt voraus, er sah mehr als ich, er sah weiter als ich. Vielleicht, weil er nicht an der Größe der Aufgabe zerbrechen würde. Ich wollte nicht so weit sehen. Vielleicht wollte ich es nicht. „Dein Forschungsplan wird umgestellt", entschied er. „Erste Aufgabe: Das Team untersucht, ob dieser Blockierungsmechanismus eine allgemeine Sache oder eine Sondererscheinung des Gens 2/1738-1 ist. Möglicherweise auch an anderen Tieren. Vielleicht sogar an menschlichem Gewebe. Zweite Aufgabe: Wie hemmt oder enthemmt die Zelle ihre Gene? Die Zelle, verstehst du! Und die verfügt über keine Gammastrahlung. Sie muß das Problem auf biochemischem Weg lösen. Ihr müßt das Problem auf biochemischem Weg lösen. Und nicht anders! Jeder andere Weg ist zwangsläufig ein Irrweg!" Ich wagte nicht, ihm zu widersprechen. Die Tucker-Versuche mußten eingestellt werden. Sofort. Auf dem Weg zu unserem Komplex ging mir der Gedanke nicht aus dem Kopf, daß Jazdani als Chef unseres Teams eigentlich viel besser geeignet wäre. Und die Frage tauchte auf, womit sich der Chef eigentlich selbst beschäftigte, da er Zeit hatte, über das Projekt eines anderen Teams besser informiert zu sein als der Teamchef. Seltsam, daß niemand am Institut Zutritt zu Jazdanis Labor hatte. Seltsam, daß niemand über seine Projekte informiert war. Seltsam auch, daß seit Jahren keine Veröffentlichungen von ihm vorlagen. Seltsam die Eile, mit der er uns vorantrieb. So seltsam wie mein Weg an die Spitze dieses Teams.
16 Der Helikopter überflog eine flache Hügelkette. Hinter einem Waldstreifen, eingebettet in ein weites Tal, lag die Baustelle des Zweigwerkes 34P/37 der General Pharmacy and Chemistry, langgestreckte, flache Gebäude, zum Teil erst in halbfertigem Zustand. Schon aus der Luft fiel auf, daß die gesamte Baustelle zum Sicherheitsbereich des Konzerns gehörte. Alle Gebäude waren warnrot angestrichen, das Baustellengelände doppelt eingezäunt und von Wachtürmen umgeben, der Hubschrauberlandeplatz lag außerhalb des eigentlichen Sicherheitsbereiches. Handelsrat Fisher zeigte auf eines der Gebäude. „In einer einzigen Woche montiert! Wir sind gut vorangekommen. Wenn das Bautempo beibehalten werden kann, rechne ich noch in diesem Jahr mit der Produktionsaufnahme. Zumindest in der ersten Ausbaustufe!" Das Projekt 34P/37 erfreute sich der besonderen Förderung des Handelsrates. „Was macht übrigens unsere neugebildete Forschungsgruppe, Professor Jazdani?" „Sie haben endlich die ersten Schritte in die richtige Richtung getan", antwortete Jazdani. „Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben. Aber sie leisten systematische Arbeit, von Beginn an auf Erfolg angelegt. Was ihnen fehlt, ist das notwendige Quentchen Glück. Bei ihnen ist gewöhnlich nicht der erste, sondern der letzte Versuch einer Reihe fündig. Deshalb auch der geringfügige Zeitverzug." „Sie werden aber die Termine halten können?" „Natürlich", antwortete Professor Jazdani. „Ich habe den Teamchef recht drastisch auf die richtige Spur gesetzt. Bei dem Ehrgeiz der jungen Leute dürfte der Erfolg nach menschlichem Ermessen gesichert sein!" „Sie werden das schon machen, Jazdani. Schließlich arbeiten wir nicht erst seit vierzehn Tagen zusammen!" „Ich halte den Bau einer solch großen Pilotanlage dennoch für verfrüht. Eine einzige größere Panne, und wir sind total vom Wanderfeld-Team abhängig. Andererseits sind die Leute schließlich nicht dumm. Ich darf auf keinen Fall zu stark eingreifen." „Verfrüht, sagten Sie verfrüht? Sie sind ein Witzbold, Jazdani. Zeit ist Geld. In diesem Fall viel Geld, sehr viel Geld! Sie werden doch noch drei Mann in die richtige Richtung zwingen können!" Inzwischen hatte der Helikopter aufgesetzt. Die beiden Herren stiegen aus. Ein Offizier des Werkschutzes erwartete sie am Rande des Landeplatzes und führte sie zum Kontrollgebäude I. Handelsrat Fisher und Professor Jazdani mußten ihre Aktenmappe öffnen und ihre fälschungssicheren Sonderausweise vorlegen. Ein Wachmann tastete sie mit einer Röntgensonde ab. Fisher und Jazdani wurden aufgefordert, Overalls überzuziehen, die auf
Brust und Rücken grellgrüne große Scheiben hatten, metallisch glänzende Mikrowellensender. Der Sicherheitsoffizier stellte die Frequenz ein. So hatte man im Kontrollgebäude I jederzeit einen Überblick, wo sich der Träger des Overalls aufhielt. Erst jetzt durften sie den ersten Zaun passieren. Im Kontrollgebäude II eine erneute Überprüfung. „Haben Sie Filme oder andere Aufzeichnungsmaterialien?" „Nein", knurrte Professor Jazdani ungehalten und erntete einen mißbilligenden Blick des Sicherheitsbeamten. „Dann gehen Sie bitte durch die Schleuse!" Eine kurze, harte Röntgendosis würde jeden Film schwärzen, elektromagnetische Schwingungen jedes Magnetbild- oder Tonband löschen. Erst nach dem Passieren der Schleuse war man auf dem Gelände des Zweigwerkes 34P/37. „Wissen Sie, Fisher, Ihre Bauarbeiter tun mir leid. Zweimal am Tag diese Prozedur!" „Immerhin wissen bislang weder die Konkurrenz noch die Armee, noch die Internationale Akademie für Naturwissenschaften, was wir hier bauen. Ein Erfolg, der unsere Sicherheitsvorkehrungen bestätigt, meinen Sie nicht?" „Rechnen Sie eigentlich noch immer mit einer Inspektion meines Instituts?" „Unser Gewährsmann hat den Alarm noch nicht abgeblasen. Ich denke, das Corpus delicti ist bei Doktor Sveder wahrlich in den besten Händen." „Da wäre ich mir nicht so sicher", antwortete Professor Jazdani. „Er hat mich ziemlich kühl abgefertigt, Ihr Doktor Sveder. Ich habe ein ungutes Gefühl!" „Ach!" „Wohl ist mir jedenfalls nicht beim Gedanken an Sveder." „Gut, Jazdani. Ich werde mich demnächst um die Angelegenheit kümmern." Die beiden Männer verschwanden in einer fast fertigen Werkhalle.
17 Eine neue Spur, diesmal von der Edmondson gefunden. Ein verblüffender Gedankengang. Sie wirkte auf chemischem Weg auf das Gen ein, und ihre Desaminierungsversuche erbrachten erste Teilerfolge. Leider nur beim „Stop"-Codon UAG. Dabei desaminierte sie A (Adenin) über eine Zwischenstufe zu C (Cytosin). Und so bildete sich aus dem „Stop"-Codon UAG das Serincodon UGG. Viele Fragen blieben allerdings offen. Schwierig war es, das richtige Codon zu desaminieren. Und was die zusätzliche Aminosäure bewirkte, die auf diese Art und Weise in die Eiweißstruktur eingebaut wurde, konnten wir auch nicht annähernd einschätzen. Zudem versagte beim zweiten „Stop"-Codon, bei UAA, diese Methode völlig. Offenbar sperrten sich die beiden Adeninblasen gegenseitig vor einer Desaminierung. Trotzdem, die Edmondson war überglücklich und felsenfest davon überzeugt, nur noch einen winzigen Schritt von der Entblockierung entfernt zu sein. Mit Doktor Tucker hatte es eine sehr unerfreuliche Auseinandersetzung gegeben. In gewisser Hinsicht tat er mir sogar leid. Nach der Einstellung der von ihm geleiteten physikalischen Experimente hatte er sich hinter der Literatur verschanzt und so getan, als ginge ihn unsere Arbeit nichts an, als genieße er nach wie vor eine Sonderstellung. Das konnte natürlich kein Dauerzustand bleiben. Die Edmondson und andere Teammitglieder sagten noch nichts. Aber ihre Blicke sprachen eine deutliche Sprache. Ich wurde in diese Auseinandersetzung hineingetrieben, aber ich hatte die Macht, den Schauplatz und den Zeitpunkt festzulegen. Ich bestellte Tucker in mein Büro. Schon wie er hereinkam, wie er mich musterte, wie er seinen Platz wählte, direkt am Fenster, so daß ich sein Gesicht im Gegenlicht kaum erkennen konnte, das war alles auf Zusammenstoß programmiert. Nun gut, dachte ich, du sollst deinen Privatkrieg haben, Tucker! Auch wenn er unnütz ist und wenn es nur einen Sieger geben kann, nämlich mich. „Ich habe mir überlegt", begann ich, „mit welchen Aufgaben ich Sie künftig betrauen kann, nachdem die physikalischen Versuchsreihen keine positiven Ergebnisse erbracht haben." Er öffnete den Mund, aber ehe er einen Ton sagen konnte, wehrte ich mit einer winzigen Handbewegung ab. Feldherrnmäßig. Er schwieg. Eine erste Schlacht war gewonnen. „Natürlich wird sich Ihr künftiges Arbeitsgebiet vor allem nach der Aufgabenstellung des Teams richten müssen. Aber ich habe mich bemüht, Ihre persönlichen Interessen weitgehend zu berücksichtigen. Sie werden die Genanalysen übernehmen, und zwar verschiedener Arten. Zuerst natürlich
Salamandra salamandra. Und dann interessiert uns eine Analyse von Humangewebe." Die zweite gewonnene Schlacht. Mit den Genanalysen war er auf einen wissenschaftlichen Nebenkriegsschauplatz abgedrängt, vom Team abgespalten. Und das wußte er natürlich auch. Er versuchte zurückzuschlagen. „Haben Sie eine Sondergenehmigung der Landessektion des IAN, Kollegin Doktor Wanderfeld?" Sehen konnte ich sein Lächeln nicht. Aber hören. Und fühlen. „Wenn eine solche Genehmigung nicht vorliegt, werde ich keine genetischen Experimente mit Humangewebe unternehmen. Das verbietet mir nicht nur mein eigenes Gewissen, das verbieten auch internationale Verträge!" Ich fand sein Argument lächerlich. Ich konnte in einer harmlosen Genanalyse kein genetisches Experiment erkennen, und damit auch keinen Verstoß gegen internationale Abmachungen. Aber ich bemühte mich dennoch um Sachlichkeit. Ich wollte keine einzelnen Schlachten, ich mußte einen Krieg gewinnen. „Ich verstehe Ihre Bedenken zwar nicht, und ich sehe in einer Genanalyse noch keinen Verstoß gegen internationale Abmachungen, aber wenn es Ihr Gewissen erleichtert, lassen Sie das Humangewebe fort. Ich mache es selbst." „Sie sind verantwortungslos genug, solche vertragswidrigen Experimente durchzuführen, ohne eine Sondergenehmigung der Landessektion einzuholen." Er war einen Schritt zu weit gegangen. Sein Glück, daß wir allein waren. „Jetzt will ich Ihnen einmal sagen, Doktor Tucker, wer hier verantwortungslos handelt. Sie versuchen seit Monaten unser Team zu sprengen. In wirklich verantwortungsloser Weise. Sie denken, mit der Wanderfeld können Sie alles machen! Aber damit ist Schluß, verstehen Sie! Sie erledigen Ihren Auftrag, und das gefälligst rasch und präzise. Und wenn Ihnen das nicht paßt, dann suchen Sie sich in den nächsten Tagen eine neue Arbeitsstelle. Meiner Unterstützung können Sie sicher sein! Ich habe es satt, daß Sie sich aufspielen, als müsse Ihnen das Team zu Füßen liegen! Und jetzt gehen Sie an ihre Arbeit!" Ich hätte ihm noch ganz andere Dinge sagen wollen, all das, was sich zwischen uns in den letzten Monaten angestaut hatte, aber als ich die Möglichkeit erwähnte, ihn entlassen zu wollen, klappte er zusammen wie ein Taschenmesser. Ich hatte ihn aus vollem Lauf gegen eine Mauer geschleudert. Drei Kinder hatte der Mann und eine Frau, viermal Rücksichtnahme. Wie sollte er einen solchen Satz aushaken? Tausend andere vielleicht, aber nicht diesen. Der Krieg war schon gewonnen. „Vergessen Sie die Gewebeproben nicht, Kollege Tucker!" Er kehrte um,
nahm die Patrone von meinem Schreibtisch und ging. Wortlos. Ich war richtig stolz auf mich. So werden Fronten geklärt. Das ist die wanderfeldsche Art, Schlachten zu schlagen, Teamkriege zu entscheiden! Jazdani gegenüber erwähnte ich nichts von dieser Auseinandersetzung. Er hätte Tucker sofort gefeuert. Außerdem mußte ich meine Kriege endlich selbst gewinnen. Gegen Tucker und Co. und andere. Der Professor griff ohnehin viel zu oft in unsere Arbeit ein. Sicherlich ist es Unsinn, aber es kam mir immer öfter vor, als habe Jazdani die Lösung unserer Aufgabe längst in der Tasche und wolle nur unsere wissenschaftliche Qualität überprüfen. Oder andere Qualitäten. „Ausgemachter Blödsinn, die ,,Stop"Codons in ihrer Bedeutung ändern zu wollen! Damit provoziert ihr Mutationen am laufenden Band!" Sein Kommentar zur Arbeit der Edmondson. Auch zu meinen Untersuchungen sachverständige Hinweise. Viel zu verständige! Ich experimentierte mit verschiedenen Oxikinasen, Stoff-Wechselkatalysatoren, die in der Zelle selbst produziert wurden und einen gewissen Einfluß auf die Kernsäuren hatten. Ich arbeitete schon wochenlang ohne den geringsten Erfolg. Und dabei war ich bei Konzentrationen angelangt, die keinesfalls mehr den wahren Verhältnissen in der Zelle entsprachen. „Du gehst schon den richtigen Weg", entschied er, nachdem er meinen Bericht durchgearbeitet hatte. „Aber die Gruppe der Oxikinasen erscheint mir ungeeignet. Versuch es doch mit anderen Biokatalysatoren. Es kann nur über die Biokatalyse funktionieren! Was hältst du von den Restriktionsendonukleasen?" Seinem Hinweis folgte eine der seltenen. Nächte, die ich in meinem eigenen Bungalow verbrachte und auf den Videoschirm starrte, bis mir die Augen brannten. Die Zentralbibliothek des Institutes lieferte mir alles über die Restriktionsendonukleasen. Und je intensiver ich mich mit dieser Verbindungsgruppe befaßte, um so deutlicher wurde mir, daß Jazdanis Bemerkung nicht aus der Luft gegriffen sein konnte. Und um so rätselhafter wurde mir der Mann, den ich so gut zu kennen meinte. Gewisse Stellen in den Molekülen dieser Nukleasen waren für eine Anlagerung an ein Codon geschaffen. Aber weshalb hatte man noch niemals eine Restriktionsendonuklease im Zellkern nachweisen können? Ein weiterer reizvoller Widerspruch. Und noch mehr erschien mir bedeutsam. Die Restriktionsendonukleasen bildeten eine Gruppe von Tausenden von Verbindungen. Eine schier unendliche Vielfalt. Typisch für alle Eiweißverbindungen. Ein Zusammenhang lag in der Luft. Zehntausende von Verbindungen. Die erste kann die richtige sein. Die letzte kann die richtige sein. Die ganze Gruppe kann sich als ein Fehlschlag erweisen. Ich erarbeitete mir eine Methode, nach der ich überprüfen wollte, ob sich eine
gründliche Erforschung dieser Verbindungsgruppe lohnte. In dieser Nacht hatte ich das Gefühl, etwas gefunden zu haben. Einen Schlüssel. Und bald würde sich zeigen, zu welchem Schloß er paßte. Am nächsten Morgen isolierte ich normale Zellen, Salamandra salamandra, Muskelgewebe. Sie enthielten das ruhende Gen 2/1738-1. Diese Zellen versetzte ich mit einem Gemisch von Restriktionsendonukleasen. Die verschiedenen Proben kamen in den Brutschrank. Nun hieß es abwarten. Übungen in Geduld. Sicherheitshalber weitere Zellen mit immer neuen Gemischen. Selbst wenn diese Nuklease genspezifisch reagieren sollte, der Zufall würde auf meiner Seite sein. Schon gegen Mittag, zwei Stunden zu früh, nahm ich die Probenschalen aus dem Brutschrank. Hunderte von Zellen und Zellgruppen. Rasante Vermehrung auf dem Nährboden. Und schon mit bloßem Auge erkennbar, drei der Zellansammlungen waren gelb. Professor Jazdani hatte recht. Das Lösungswort hieß Restriktionsendonuklease! Die Freude über diesen Erfolg wollte sich dennoch nicht recht einstellen. Weshalb hatte Jazdani ausgerechnet diese Verbindungsgruppe vorgeschlagen, auf die wir früher oder später allein gekommen wären. Es war ein Erfolg, den er mir geschenkt hatte. Und es war eine Freude, die er mir gestohlen hatte. Es war Zahnbürstenfreude, Jazdanijubel, Coodliffe-undSohn-Dankbarkeit. Jazdanlichkeit! Am liebsten hätte ich die Schalen aus dem Fenster geworfen. Wenn ich ihm je etwas würde heimzahlen können, diese beiden Schalen würden dazu gehören. Natürlich informierte ich sofort das Team. Aber niemand vermochte sich über diesen Erfolg zu freuen. Doktor Tucker ohnehin nicht. Seit unserer Auseinandersetzung tat er nur noch das, wozu er vertraglich verpflichtet war. Zuverlässig, überkorrekt, exakt durch und durch. Aber ohne eine Spur Begeisterung, ohne Elan. Manchmal verstand ich ihn. Heute verstand ich ihn gut. Die Edmondson begriff nur, daß jetzt ihre Versuchsreihe gestorben war. Nicht nur das Pigment war gelb. Neid ist eine ganz böse Sache. Lad ihn bei Professor Jazdani ab, hätte ich ihr sagen sollen und tat es doch nicht. Aber auch sie verstand ich gut. Es geht alles auf dasselbe Konto. Nichts wird vergessen! Die Jazdanlichkeit nicht und nicht die Wanderfeidlichkeit. Arme gelbe Edmondson! Nur Albert Estling freute sich ehrlich. Für ihn war unsere Arbeit ein Wunder. Und über Wunder kann man sich nur freuen. Heute beneide ich ihn. So war das Wanderfeld-Team an dem Tag, an dem wir gesiegt hatten. Über wen hatten wir gesiegt? Es war Tradition am Institut, wichtige Forschungserfolge mit dem gesamten Team zu feiern. Ich lud also ein. Vielleicht war es sogar gut so. Spannungen abbauen, ein Team braucht ein Mindestmaß Gleichschritt. Doktor Tucker sagte ab, ohne zu zögern. Die Techniker waren begeistert. Vor allem Albert
Estling. Der Abend entwickelte sich wider Erwarten zu einer tollen Fete. Wir kauten Unmengen Pervitinkugeln. Die Edmondson war so berauscht, daß sie unbedingt den Oberkellner vom „Lotos" heiraten wollte, auf der Stelle und in Ermangelung eines weißen Brautkleides nackt. Über das Gesicht des Kellners haben wir uns vor Lachen fast zerrissen. Unser Glück, daß Pervitin nicht so lange wie Alkohol wirkt und man keinen Kater bekommt. Eine halbe Stunde später ist wieder alles okay, wenn man sich nicht eine neue Kugel zwischen die Zähne schiebt. Aber genau das tat die Edmondson. Als wenn sie nicht genug bekommen konnte. Wir fielen überall auf und konnten nirgends lange bleiben. Die Rechnungen waren erschreckend hoch. Ich wußte nicht, aus welchem Fonds ich sie bezahlen sollte. Aber ich würde Jazdani fragen. Panem et circenses! Auch so werden Teams geführt. Albert Estling tanzte himmlisch. Wesentlich besser als Freund Jazdani. Vollendete Harmonie der Bewegung. Mitreißen konnte er, locken, verlokken. Ich befürchtete, wenn ich länger mit ihm tanzte, würde ich vergessen, daß ich auch in solchen Situationen der Teamchef bleiben mußte. Mußte ich wirklich? Wie herrschte Kleopatra im Bett? Und was hatte sie von dieser Art Herrschaft? Wir wechselten in eine der jazdanischen Schwebebars. Jetzt zeige, was du kannst, Albert Estling! Hautenges, schwereloses Aufeinanderpressen. Den Herzschlag des anderen auf dem Körper fühlen. Sich voneinander abstoßen, wieder zusammenfinden, Rücken an Rücken, wahnwitzig schnelle Drehungen, sich abfangen, abgefangen werden, festgehalten sein. Eine Pervitinkugel zuviel, bedauerte ich im stillen. Aber wer kennt schon seine Grenzen. Und wessen Grenzen sind unveränderlich? Estling umschwebte mich, daß es eine Pracht war. Ein lustiger Abend, ein guter Abend, ein nützlicher Abend, ein Estling-Abend! Die Edmondson vertrug nichts. Wanderfeld, dir wird ja heiß und kalt, wenn er dich nur ansieht! Wanderfeld, beherrsch dich! Wanderfeld, wo hattest du monatelang deine Augen? Ich wollte mich aber nicht beherrschen. Sollte er mich doch so ansehen, sollte er noch viel mehr! Hatte ich nicht ein Recht darauf, daß mir ab und zu heiß und kalt würde? Es stand jedenfalls nichts in meinem Vertrag, daß mir am hiesigen Institut nicht heiß und kalt werden dürfte. Der Estling-Abend schien perfekt. So wie er mich ansah und wie ich seinem Blick standhielt. Oder nicht standhielt. Er verstand. Wir waren die letzten, die Edmondson, Albert und ich. Die anderen waren längst zu Hause. Die Edmondson kam langsam zu sich. Ich zog meine Hand zurück, die Albert gegriffen hatte. Dabei sagten meine Blicke, daß es mir leid tat. Aber es mußte nicht jeder
sofort sehen. Und die Edmondson war jeder, störte überhaupt. Und kannte ihre Grenzen nicht. „Bringen Sie sie zu ihrer Unterkunft", flüsterte ich Albert auf dem Institutsgelände zu. Langsam ging ich allein zu meinem Bungalow. Behaglich warm war es. Da ich keine Kerzen hatte, knipste ich die Schreibtischleuchte an und legte ein farbiges Tuch darüber. Das richtige Licht. Die richtige Stimmung. Er sollte mich gerade noch erkennen, wenn er jetzt hereinkäme. Ich wartete, wartete eine Ewigkeit. Eigentlich hätte er schon dasein müssen. Waren da nicht Schritte? Nein, die Douglasie vor dem Eingang, sie knarrte, wenn der Wind auffrischte. Keine Schritte, kein Albert, kein Abend, kein Estling-Abend! Ich nahm das Tuch von der Schreibtischleuchte, mein Blick fiel in den Spiegel. Ich hätte vor mir davonlaufen können. Aber nein, ich konnte nicht! Vielleicht hatte diese Kleopatra tausendmal so dagestanden wie ich, und es war gut so. Auch bei diesem Licht. Oder hatte sie nicht? Nachlesen sollte man, Doktor Solveg Wanderfeld! Das Bett war unendlich groß. Unendlich! Einsamkeit auf dem Kissen, Robinsonade unter der Decke. Restriktionsendonukleasen.
18 Anfang August 2037. Doktor Sveder holte seinen Freund und Kollegen Neri vom Airport Nakina ab. Die Maschine hatte soeben aufgesetzt, und Doktor Sveder stand am Ende des Passagiertunnels. Doktor Neri winkte schon aus einiger Entfernung. „Ich sage dir, Sveder", begrüßte Neri den Studienfreund lachend, „wenn dein Patient lediglich ein Trick war, um mich in den Norden zu locken, dann betrachte unsere Freundschaft als gekündigt." Die beiden Männer begrüßten sich herzlich. „Neri, du kannst mir glauben, der Kranke existiert wirklich. Und ich finde das in keiner Weise zum Lachen. Ganz im Gegenteil!" „Verstehe dich schon, alter Junge. Der Fall bereitet nicht nur dir Sorgen. Ich habe deine Angaben überprüft. Es gibt keine Theorie, die auch nur annähernd wahrscheinlich wäre. Vielleicht müssen wir völlig umdenken! Aber zuerst möchte ich mir wirklich deinen Patienten ansehen!" Ein Kabinentaxi brachte sie zur Praxis Doktor Sveders. Die Ärzte betraten das Krankenzimmer. Ein Einzelzimmer, ausgestattet mit allem technischen Gerät, das die Intensivmedizin des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu bieten hatte. Der Patient atmete tief und gleichmäßig, seine Augen waren geschlossen, Hunderte von Drähten und Schläuchen führten von seinem Körper zu den Meßinstrumenten. Auf einem der vielen Kontrollschirme konnte man das EKG erkennen, ein völlig normales EKG, wenn man von der Herzfrequenz
absah. Einhundertdreißig Schläge je Minute, und das bei absoluter Ruhelage des Patienten. Doktor Neri trat näher an das Krankenbett und betrachtete den Kranken eingehend. „Den habe ich schon gesehen", sagte er. „Das Gesicht kommt mir auf jeden Fall bekannt vor. Irgendwo habe ich den schon gesehen. So wahr ich Neri heiße! Wenn ich nur wüßte, wo." „Ich könnte dir einen Tip geben", sagte Sveder leise. „Aber es wäre besser, du würdest dich allein erinnern. Ich will dich unter keinen Umständen beeinflussen." „Ich komme schon noch drauf. Seltsam, ich könnte schwören, das Gesicht schon gesehen zu haben!" „Vielleicht an der Uni?" „Natürlich, Sveder! Irgendein Professor. Der hat bei uns Gastvorlesungen gegeben. Ich erinnere mich ganz genau. War der nicht ganz und gar Genetiker?" „Würde das in eine deiner unwahrscheinlichen Theorien passen?" „Kann er uns hören?" „Ausgeschlossen. Tiefe Bewußtlosigkeit, seit Monaten." „Hirntod?" „Erstaunlicherweise nicht. Eindeutige Aktivität der Großhirnrinde ist nachweisbar. Der Mann träumt ununterbrochen die schönsten Sachen, aber wacht nicht auf." „Es wäre mir trotzdem lieber, wir würden in dein Arbeitszimmer gehen. Der Anblick dieser lebenden Leichen ist immer wieder ein Schock für mich. Da ist mir meine Histologie wesentlich lieber!" „Gern, Neri. Ich habe uns einen starken Tee aufbrühen lassen. Mit Feigen und Haselnüssen, wie wir ihn früher immer getrunken haben." Nach der ersten Schale Tee fragte Doktor Neri: „Sag mal, was hast du selbst für Ansichten über diesen Fall?" „Offengestanden, keine mehr. Du hast absolut recht. Der Mann ist Genetiker. Professor Jazdani." „Ach!" „Ja, und weißt du, wer ihn hier bei mir eingeliefert hat? Auch Professor Jazdani!" „Das gibt es doch nicht!" „Doch. Ich habe sogar den Feingewebestrukturcode ermittelt. Ohne jeden Zweifel Jazdani. Zuerst habe ich gedacht, irgendein Hochstapler hätte sich das Forschungsinstitut unter den Nagel gerissen und den echten Professor ausgeschaltet. Aber dann kamst du mit deinen haploiden Zellen und brachtest meine ganze Theorie durcheinander. Sicher scheint mir nur, daß die ganze Angelegenheit einen kriminellen Hintergrund hat."
„An den Jazdani, der in diesem Institut sitzt, kommst du nicht heran?" „Abgesichert wie eine Festung. Nichts zu machen. Und noch dazu unter dem sicheren Schutz der General Pharmacy and Chemistry. Aber hineinzukommen würde mir wahrscheinlich auch nicht viel helfen. Er müßte schon mein Patient sein. Und davor hütet er sich natürlich!" „In meine Theorie paßt das alles ganz ausgezeichnet. Obwohl unser Institutscomputer die Wahrscheinlichkeit für äußerst gering hält. Also, paß auf. Der Mann ist Genetiker. Wie weit die Genetik ist, kann man als Laie kaum sagen. Auf jeden Fall gibt es die sogenannte Genchirurgie, also den Austausch von Chromosomen in der Eizelle. Das macht man in der Tierzucht schon industriell. Wenn es nun diesem Jazdani gelungen sein sollte, am Menschen solche Versuche durchzuführen? Wenn es ihm gelungen sein sollte, seine eigene Genstruktur einer Eizelle aufzupfropfen?" „Unsinn, Neri. Der Patient im Krankenzimmer ist fast fünfzig und der Mann, der ihn gebracht hat, ebenfalls!" „Wer sagt dir denn, daß sein Lebensrhythmus der gleiche ist? Pulsfrequenz hundertdreißig, bei Ruhelage! Und wer sagt dir, daß es sich um eine natürliche Keimentwicklung gehandelt haben muß?" „Trotzdem, weshalb sollte Jazdani, wenn ihm so eine Sensation gelungen wäre, die Sache geheimhalten und seinen Doppelgänger ausgerechnet zu mir bringen?" „Herrgott, Sveder! In welcher Welt lebst du eigentlich?" „Laß mich bitte mit deiner Politik zufrieden, Neri. Du hast mir schon als Student zu weit links gestanden!" „Was hat das mit rechter oder linker Politik zu tun? Genetische Experimente am Menschen sind international geächtet. Da gibt es ganz eindeutige Verträge mit der Internationalen Akademie, die auch in den USA gelten und über die sich selbst ein Professor Jazdani nicht hinwegsetzen kann. Auch wenn er die General Pharmacy and Chemistry hinter sich weiß!" „Und weshalb gibt er dann das Beweisstück aus der Hand? Hast du dafür auch eine Erklärung?" „Vielleicht wird sein Institut inspiziert? Das soll es ab und zu geben." „Deine Theorie ist derart phantastisch..." „Hast du eine bessere?" „Wir müßten den Patienten zum Reden bringen. Wenn er das Bewußtsein erlangen würde und uns sagen könnte..." „Du bist in Gefahr, Sveder!" „Unsinn!" „Wenn dieser Jazdani solche Experimente durchführt, dann sichert er sie ab. Dann muß er sie absichern!" „Nimm mir das nicht übel, Neri, aber du siehst die Dinge doch sehr stark
durch deine politische Brille!" „Auf jeden Fall solltest du Vorkehrungen treffen, um notfalls allein oder besser mit deinem Patienten verschwinden zu können. Ich habe ein paar Adressen für dich. Dort kannst du jederzeit unterkommen. Beruf dich auf mich. Und die Landessektion der Biologischen Gesellschaft muß unterrichtet werden!" „Nichts wird! Ohne den geringsten Beweis! Ich mache mich doch nicht lächerlich!" „Wenn du erst Beweise hast, kann es für dich zu spät sein!" „Abwarten, Neri. Er wird das Bewußtsein erlangen. Der Pillarwert liegt schon bei null Komma zweiundsechzig. Es kann nicht mehr lange dauern."
19 Wir mußten System in unsere Arbeit bringen, das hieß, System in die Restriktionsendonukleasen zu bringen, System in Zehntausende von Verbindungen. Es zeigte sich, daß angesichts der riesigen Zahlen Techniker unbezahlbar wertvoll sein können. Ein Albert Estling, dem der Robinsonabend noch nicht vergessen ist, ist für unsere Arbeit wichtiger als zehn Doktoren Tucker. Denn von Albert stammte die Methode, nach der wir aus dem riesigen Gemisch eine einzige richtige Nuklease finden konnten. Wir teilten das positive Gesamtgemisch in zehn Teile. Mit diesen zehn Lösungen wurde das Muskelgewebe versetzt. Neun Gemische reagierten erwartungsgemäß negativ, eines positiv. Dieses positive Gemisch, das noch immer aus etwa tausend Nukleasen bestand, wurde nach derselben Methode wieder aufgeteilt. Blieben etwa hundert, dann etwa zehn Verbindungen übrig. Theoretisch konnte man aus einer unübersehbaren Vielfalt mit wenigen Schritten die richtige Nuklease herausfinden. Schwierigkeiten bereitete die Herstellung der einzelnen Kontrollgemische, da jede Nuklease nur ein einziges Mal vorhanden sein durfte. Wir mußten mit extrem hoher Genauigkeit arbeiten, alle Lösungen wurden im Vakuum angesetzt, die Küvetten in einer Schutzschicht aus Argon gelagert. Bei dieser Arbeit fühlte sich Ethel Edmondson ganz in ihrem Element, hier konnte sie zeigen, welchen Stellenwert sie als Chemikerin in unserem Team innehatte. Das war ihr Gebiet, der Mißerfolg der Desaminierungsversuchsreihe war schnell vergessen. Albert Estling leitete die mathematische Auswertung, ich war für die biologischen Kontrollversuche zuständig. Eine Arbeit, die wie diese zum Erfolg verurteilt ist, geht wesentlich rascher von der Hand. Unsere Methode funktionierte großartig. In jeder Forschungsarbeit sind es seltene Wochen, in denen man jeden Abend das Labor mit dem Gefühl verlassen kann, vorangekommen zu sein, etwas geleistet zu
haben. Keine drei Wochen vergingen, und wir hatten unsere Nuklease gefunden. Die biologischen Kontrollversuche verliefen eindeutig positiv. Alle Zellkulturen in den Brutschränken färbten sich gelb, gleichgültig, aus welchem Gewebe wir sie entnommen hatten. Das entscheidende Experiment stand bevor, der Versuch, das Gen auch im gesamten lebenden Salamandra salamandra zu entblockieren. Drei Tage Wartezeit durch eine paradoxe Panne, keine laichbereiten Tiere. Selbst die Versuchstierzentrale konnte nicht aushelfen. Endlich, am vierten Tag, vier Uhr früh. Zwei Weibchen hatten gelaicht. Zusammen fast achthundert befruchtete Eier. Schnell wurden sie auf die Brutschalen verteilt und mit unserer Nuklease versetzt. Die Nukleasegabe mußte erfolgen, noch ehe die erste Zellteilung stattgefunden hatte. Durchmusterung unter dem Mikroskop. Achtundvierzig Eizellen ausgemustert, weil sie unbefruchtet geblieben waren. Zwei Stunden in die Brutschränke, Temperatur achtunddreißig Komma sechs Grad Celsius, zusammen mit der Nährlösung ideale Bedingungen. Dann erneute Durchmusterung. Dreiundneunzig weitere Keimlinge, jetzt schon im Morulastadium mußten verworfen werden, da einzelne Zellgruppen kein Pigment gebildet hatten. Offenbar waren wir mit der Nuklease zu spät gekommen, die Eizelle hatte sich schon geteilt, und nur eine der beiden Tochterzellen hatte Nuklease aufgenommen. Wir merkten uns solche Markierungsversuche für ontogenetische Experimente vor. Möglicherweise hatten andere Teams Interesse an dieser Methode, wir konnten ein Nachnutzungshonorar gut gebrauchen. Zurück in die Brutschränke, für zwölf lange Stunden. Zwölf Stunden erzwungene Tatenlosigkeit. Nur Tucker stand völlig unbeeindruckt in seinem Labor und arbeitete an den Genanalysen. Korrekt bis zum Stehkragen. Ich zog mich in meinen Bungalow zurück, schaltete den Lautsprecher ein, der mich mit dem Labor verband, damit ich sofort erreichbar sein konnte, wenn sich etwas ereignen sollte. Aber was sollte sich schon ereignen? Die Brutschränke explodieren? Lächerlich! Alles ging normal vor sich, das sagte ich mir hundertmal. Trotzdem dehnten sich die Stunden. Immer waren meine Augen schneller als der Sekundenzeiger. Und wieviel ist schon eine Minute. Mein jazdanischer Freund hatte mir zur Einweihung meines Bungalows eine Farblichtorgel geschenkt. Ich liebe das Instrument, obwohl ich es nicht annähernd vollkommen beherrsche. Man sitzt vor einer Tastatur, ähnlich der eines Klaviers oder besser einer Orgel, und hat vor sich eine metergroße, weiße Fläche, praktisch die gesamte Bungalowwand. Schlägt man eine Taste an, schwingt eine Farbe über die Fläche, je Taste eine andere Farbe,
deren Intensität abhängig ist von der Stärke des Anschlages. Es gibt ein Register, auf dem man Muster einstellen kann, Schwingungsfrequenzen, die die Farbintensität steuern, die Farben ineinander verlaufen lassen. Man hat schon Sinfonien für dieses Instrument geschrieben, im Handel gibt es Kassetten für Partys, für den Nachmittag, selbst für erotische Stunden. Sensible Menschen werden zuweilen wie von einem Rausch erfaßt, Farborgien spielen sich ab, wenn man in der richtigen Stimmung ist, wenn man den Mut aufbringt, den Farben zuzuhören, sich auf die Schwingungen zu konzentrieren, die sich dann fast körperlich mitteilen. Aber das Instrument kann auch tückisch sein, Stimmungen bis zur Selbstaufgabe verstärken, wenn man sich hemmungslos genug der Tastatur anvertraut. Es hat schon Menschen gegeben, die einsame Abende an diesem Instrument nicht überlebt haben. Aber ich war nicht in einer richtigen Stimmung, in einer solchen schon gar nicht. Ich kam über gelbe Kleckse nicht hinaus. Und deshalb beruhigte mich die Orgel, Spiegel meiner Seele, die offenbar aus gelben Klecksen bestand. Noch acht Stunden Brutschrank. Die Zeit stand still, bestenfalls schlich sie über das Zifferblatt. Ein Glück, daß diese Arbeit auch ihre ruhigen Tage kannte. Das Essen blieb mir bissenweise im Hals stecken, nichts wollte rutschen. Sechzehn Uhr. Zwei Stunden vor Versuchsende hielt ich es in meiner Unterkunft nicht mehr aus. Ich ging ins Labor, stand vor den Brutschränken. Meine Laborantinnen hatten Wetten abgeschlossen, wann ich die Schränke öffnen würde. Vielleicht beherrschte ich mich nur, weil ich von diesen Wetten gehört hatte. Disziplin, Doktor Wanderfeld! Es lag viel Schreibarbeit herum. Ich tat etwas, so verging die Zeit schneller. Noch eine Stunde bis zum Versuchsabschluß. Die Edmondson kam, ebenso aufgeregt wie ich. Doktor Tucker arbeitete immer noch im Nachbarlabor an seinen Genanalysen, ohne sich um unser Experiment zu kümmern. Er tat, als gehöre er nicht mehr zu uns. Auch das sollte er mit mir nicht machen! Siebzehn Uhr fünfundvierzig, eine Viertelstunde vor Versuchsende. Nachdem auch Albert Estling gekommen war, waren wir fast vollzählig versammelt. Die meisten Laboranten standen ebenfalls um die Brutschränke herum. Wir starrten auf die Uhren, als ob das Gelingen des Versuches ausschließlich von dieser letzten Viertelstunde abhinge. Was würde der Versuch einbringen? Würde er uns in eine Sackgasse führen? Oder neue Arbeit bringen, neue Rätsel aufgeben? Was würde Jazdani zu meinem kommenden Bericht sagen? Die zwölf Stunden waren endgültig vorüber, es war achtzehn Uhr. Alle sahen mich an, als ob nur ich das Recht hätte, die Schränke zu öffnen. Für Sekundenbruchteile traf mich explosiv die Furcht, das Experiment könne mißlungen sein. Ich öffnete die Schränke, nahm die erste Brutschale heraus.
Die Embryonen waren geschlüpft. Putzmunter. Und gelb, quittengelb, am ganzen Körper. Die Ausfallquote war nicht höher als bei normalen Tieren. Die erste gewollte, auf molekularbiologischem Weg erzeugte Mutation war gelungen. Die Spannung war so groß, daß die Freude über den Erfolg nur langsam zum Durchbruch kam. Wir bereiteten Schnittpräparate der ersten Tiere vor. Alle Zellen waren gelb, Nervengewebe, Muskeln, Nieren, selbst die Leberzellen. Und funktionierten, denn die Versuchstiere lebten. Der Beweis, daß selbst spezialisierte Zellen ohne Überlastung zusätzliche Aufgaben übernehmen können. Ich bestellte Plätze im „Lotos" für das gesamte Team. Plötzlich hatte ich in vielem, was ich tat, eine glückliche Hand. Ohne daß ich mir von Anfang an darüber im klaren war. Doktor Tucker zum Beispiel wollte ich mit dem Genanalyseauftrag auf ein Nebengleis abschieben. Irgendwohin, wo er mich nicht mehr stören konnte, irgendwohin, wo er begriff, wie unwichtig selbst ein Doktor Tucker sein konnte. Und jetzt, nachdem unsere gelbe Mutante von Salmandra salamandra lebte, wurde seine Arbeit ungeheuer wichtig für uns. Sie verschaffte uns Wochen, möglicherweise Monate Zeitgewinn. Genau das Gegenteil meiner Absichten. Trotzdem stieg mein Prestige im Team. Allgemein bewunderte man meinen wissenschaftlichen Weitblick. Die Stimmung unter den Laboranten und Technikern, von denen viele, besonders die alte Garde, insgeheim zu Tucker gehalten hatten, schlug um, die Edmondson, bisher immer noch schwankend, stellte sich offen auf meine Seite. Für Albert Estling, der sich im Team unentbehrlich gemacht hatte und dessen Arbeitsvertrag als technische Hilfskraft ich zu ändern gedachte — weshalb nicht einen Diplomingenieur als gleichberechtigten wissenschaftlichen Mitarbeiter -, war der gelbe Salamandra salamandra ein phantastisches Vieh. Ein Vieh, das seine Existenz ausschließlich mir zu verdanken hatte. Ein Wundervieh. Und ich damit ein Wunderdoktor, dem Tucker das Wasser nicht reichten konnte. Nur Doktor Tucker bemerkte diesen Stimmungsumschwung offensichtlich nicht. Ein Fremdkörper im Team. Endlich war ich unbestritten der Chef. Ich konnte rundum mit mir zufrieden sein, zumindest beruflich. Für meine jazdanischen Sorgen war in diesen hektischen Wochen ohnehin keine Zeit. Es schien mir aber, als sei ihm das sogar lieb. Kündigte sich eine neue Perle an? War ich etwa eifersüchtig? Wer kennt sich schon? Dein Platz ist an den Genen, Doktor Wanderfeld, sagte ich zu mir und betonte das Wort „Doktor" nachdrücklich. Wenn es soweit ist, wirst du doch einem Jazdani nicht nachtrauern. Die Zahnbürstenzeit war schwer genug! Und trotzdem. Coodliffe und Sohn, das Gebirgshaus. Man wird sehen. Später wird man sehen! Die Menge der angefallenen Resultate zwang uns dazu, ein System zu ent-
wickeln, um blockierte Gene und die dazugehörige Restriktionsendonuklease zu benennen. Nur so konnten wir die Vorteile des institutseigenen Zentralcomputers nutzen. Und der Computer zwang uns auch dazu, den Namen unserer Nuklease zu kürzen. In REN, was sich auch schnell einbürgerte. Restriktionsendonuklease, tausendmal am Tage dieser unendliche Name. REN war besser. Ein Dank an die Datenverarbeitung. Wir entschlossen uns, die REN nicht eigens zu erfassen, sondern sie mit dem Namen des entsprechenden Blockierungsmechanismus zu bezeichnen. Die erste Zahl der Gennummer bezeichnete das Chromosom, die zweite Zahl die Reihenfolge im Chromosom und dann folgte die Angabe, in wieviel Ausführungen das Gen vorhanden war. Tagelange Arbeit schrumpfte so auf wenige Zahlen zusammen, die der Rechner leicht speichern konnte: Gen 2/1738-1 - Schlüsselnummer 5/UAA-16/UAA-53/UAG Gen 2/4356-1 - Schlüsselnummer 3/UGA- 5/UAA-81/UAG Gen 3/2211-3 - Schlüsselnummer 7/UAG-11/UAA-24/UGA Gen 77/0034-1 - Schlüsselnummer 22/UGA-24/UGA-29/UGA. Seitenlange Zahlenkolonnen, Ergebnisse der Genanalyse von Salamandra salamandra. Zu unserer Überraschung war jedes dritte Gen auf diese Weise blockiert, wesentlich mehr, als wir erwartet hatten. Welche unermeßliche Informationsdichte war in der DNS verborgen! Und dann stießen wir auf eine Sache, die uns Doktor Tucker bisher verschwiegen hatte. Nicht etwa, weil er unsere Arbeit behindern wollte, das hätte auch schlecht zu seiner Korrektheit gepaßt, sondern weil er die Bedeutung wesentlich unterschätzt hatte. Mehr noch, er hatte die Angelegenheit auf technische Fehler zurückgeführt. Es gab nämlich in jedem Chromosom einige Gene, denen die „Start"-codons AUG oder GUG fehlten. Tucker hatte sie für Bruchstücke gehalten, irgendwie in der Zentrifuge zu Schaden gekommen, und sie deshalb nicht beachtet. Das versetzte ihm in den Augen der Edmondson und unserer Hilfskräfte den letzten Schlag. Damit war es endgültig aus. Man darf an einer Sensation nicht vorbeirennen. Dafür gibt es keine Entschuldigung! Der Edmondson fielen diese Gene sofort auf, weil sie bei einem ihrer Versuche ständig wieder auftauchten, sooft sie den Versuch auch wiederholten, und weil sie überzeugt war, ihr sei kein technischer Fehler unterlaufen. Ich ließ ihr freie Hand, der Sache nachzugehen, und tat gut daran. Mehr noch, ich mußte ihr am zweiten Tag eine zusätzliche Laborantin zuteilen, so sehr verbiß sie sich in ihre Arbeit. Wenn die Edmondson zufrieden war, sich anerkannt fühlte, konnte sie arbeiten wie ein Lasttier. Dann schien es, als sei Arbeit ihr einziger Lebensinhalt, Vergnügen und Laster gleichzeitig. Stunde um Stunde im Labor, unvorstellbare Ausdauer und bewundernswerte Zielstrebigkeit.
Schon nach vierzehn Tagen überraschte sie uns mit einem verblüffenden Ergebnis. Sie hatte eine REN gefunden, die das „Start"-codon GUG in sich, trug, sich an ein codonloses Gen anlagerte und so den Aufbau einer Eiweißverbindung ermöglichte. Das allein wäre schon ungeheuer wichtig gewesen. Aber Ethel hatte die sich bildende Eiweißverbindung gründlicher untersucht. Zu unser aller Überraschung handelte es sich zweifellos um eine Restriktionsendonuklease. Damit war der Beweis erbracht, daß die Zelle selbst REN produzieren konnte. Wir waren auf ein relativ einfaches, aber wirkungsvolles Steuerungssystem gestoßen, dessen volle Bedeutung wir im ersten Moment gar nicht erkannten und das etwa folgendermaßen zu erklären war: In der Zygote liefen all die biochemischen Vorgänge ab, die von unblokkierten Genen gesteuert wurden, die grundlegenden Lebensprozesse also. Doch dann teilte sich die Zygote, und schon im Morulastadium des Keimlings konnten wir die „Start"-REN für das Codon GUG nachweisen, jedoch nur in einzelnen Zellen. Damit wurden in diesen Zellen weitere, genau bestimmte REN produziert, die Zelle konnte auch die Informationen bestimmter blockierter Gene verwerten. Die Anzahl der Informationen, über die die Zelle verfügte, wurde also größer und gleichzeitig spezieller, die Zelle differenzierte sich von Teilung zu Teilung, bis schließlich die fertigen Gewebestrukturen entstanden. Wir hatten das Filter gefunden, das die unermeßliche Flut der Informationen auf das notwendige Maß für jede Zelle reduzierte, ohne die Weitergabe des Gesamtinformationsgehaltes an die nachfolgende Generation zu beeinträchtigen. Einige Vorgänge wurden nun erklärbar, die uns vorher Rätsel aufgegeben hatten. Zum Beispiel das Knochenwachstum von bestimmten Zentren aus, die Blutkörperbildung im Knochenmark und so weiter. Bei allen diesen Zellen handelte es sich um Gewebeinseln mit nachweisbar geringerem REN-Anteil, um Zellen also, die man übertrieben als Restbestände der ehemaligen Morula bezeichnen könnte. Ohne es zunächst zu begreifen, waren wir am theoretischen Ziel unseres Auftrages angelangt. Und wieder war es Professor Jazdani, der begeistert ein Forschungsziel formulierte, an das wir nicht zu denken gewagt hätten: Aus einer beliebigen Zelle eine Zygote rekonstruieren. Das hieße, ein Lebewesen zu verdoppeln, zu verlausend-, zu vermillionenfachen. Unvorstellbare Pespektive. Von ihm mit einer Leichtigkeit aufgezeichnet, die mir Furcht einflößte. Und er hatte recht. In der Theorie war es wirklich nur noch ein einziger Schritt. Wir mußten nur den ursprünglichen Zustand einer Zygote wiederherstellen. Erste theoretische Voraussetzung: Eine solche Zelle darf keine REN enthalten. Folglich muß die vorhandene REN aus der spezialisierten Zelle entfernt werden. Aber wie, ohne die Zelle dabei wesentlich zu schädigen? Sie durfte
vor allem ihre Teilungsfähigkeit nicht verlieren. Nach unserer Meinung, das heißt, Doktor Tucker hatte wie üblich keine Meinung, gab es nur einen Weg. Die REN lagerte sich an bestimmte Gene an. Man konnte sie entfernen, indem man solche Gene durch die Zelle schleuste. Sie würden die REN an sich binden und mußten dann nur noch aus der Zelle entfernt werden. Das Resultat eines solchen Experimentes müßte eine Zygote sein. Soweit die Theorie. An sich ganz einfach. Aber mit unausdenkbaren Folgen. Ich ertappte mich dabei, an die Vorschriften der Internationalen Akademie zu denken. Ein einziges Lebewesen in millionenfacher Ausführung, identisch bis zu den Fingerabdrücken! Unsinn, Doktor Wanderfeld! Wer spricht von Fingerabdrücken, wer von der Art Homo sapiens? Du leidest doch nicht an der tuckerschen Krankheit! Und dennoch, die Zielstrebigkeit, mit der uns Jazdani vorantrieb, hatte etwas Beängstigendes. An einem unserer gemeinsamen Abende sprach ich mit ihm darüber. Nicht über das Teilen und nicht über Tucker, über meine eigenen Ängste. „Vor wem fürchtest du dich? Vor mir? Vor dir? Vor deiner Aufgabe? Weißt du, wann die meisten Bergsteiger aufgeben müssen? Wenn sie beginnen nach unten zu blicken!" Eine jazdanische Antwort. Ich wagte keine wanderfeldschen Zusatzfragen. Nach kurzer Vorbereitungszeit liefen die Tierversuche an. Milzzellen wurden isoliert, in Nährlösung gebracht und mit einem Enzym versetzt, das für kurze Zeit die Zellmembran fast völlig auflöste. In dieser Zeit, sie schwankte zwischen null Komma zwei und null Komma sechs Sekunden, mußten die Gene eingeschwemmt, mit der REN verbunden und wieder entfernt werden. Sobald sich die Zellmembran neu bildete, gab es keine weitere Einflußmöglichkeit auf die Zelle. Entweder teilte sie sich zu rasch, eine Nebenwirkung des Membranenzyms, oder aber sie überstand ein zweites Auflösen der Membran nicht. Die erforderliche Genlösung stellte Doktor Tucker zur Verfügung, er hatte den Dienst im Zentrifugenraum übernommen, abwechselnd mit Albert Estling. Für die Kontrollversuche verarbeiteten wir ausschließlich Milzgewebe, weil sich die Membranen dieser Zellen am leichtesten auflösen ließen. Der Rest der Tiere wurde von Estling und Tucker zu Genlösung verarbeitet. Brutschränke, stundenlanges Warten, Auswerten unter dem Lichtmikroskop, Versuchsreihe negativ. Rasterelektronenmikroskop. Zwei Ursachen für den Mißerfolg zeigten sich, entweder waren nicht alle REN eingefangen, oder es gab falsche Chromosomenmuster, da erhebliche Mengen „Spül"Gene in den Zellen verblieben waren. Neue Versuchsreihen, stärkere Membranenzymkonzentration. Die Zeit bis zur Neubildung der Membran auf eine Sekunde gesteigert. Längere Reaktionszeit für Gene und REN, längere Zeit, die Gene wieder aus den Zellen zu
entfernen. Insgesamt größere Erfolgsaussichten. In der Theorie. Aber schon bei dieser erhöhten Konzentration bildete etwa ein Drittel der Zellen keine neuen Membranen, sondern lösten sich einfach auf. Wir stießen an Grenzen. Lebende Systeme brachen bei derartiger Überlastung zusammen. Die wenigen Zellen, die wirklich noch neue Membranen ausbildeten, anschließend auch noch teilungsfähig waren, kamen in die Brutschränke. Wieder warten. Wieder auswerten. Wieder Versuchsreihe negativ. Wieder dieselben Ursachen, entweder verbliebene REN oder verbliebene Fremdgene. Das zerrte an den Nerven. Das zehrte an den Kräften. Vor allem, wenn man an die Zeit zurückdachte, in der uns die Erfolge zugeflogen waren. Versuchsprotokolle, täglich vom Zentralrechner ausgeworfen und täglich gleich negativ. Unser Team wurde an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit gestoßen. Weil man nicht die Spur eines Ausweges sah, weil theoretisch alles so einfach war, weil es einen anderen Weg nicht geben konnte. Oder unsere Theorie war falsch. Daran wagte keiner zu denken, das wäre das Ende des Wanderfeld-Teams gewesen. Und ein Doktor Tucker nahm lächelnd an jeder Beratung teil, ohne ein einziges Wort zu sagen, ohne einen Gedanken beizusteuern. Diesmal hatte ich den Verdacht, er habe die Lösung längst in der Tasche. Er wartete nur darauf, bis mich Jazdani abschießen würde wegen offensichtlicher Unfähigkeit. Ich sah ihm an, Doktor Tucker gedachte auf seine Stunde zu warten. Ständig überreizt, brüllten wir uns wegen Kleinigkeiten an, wurden zunehmend intoleranter, aggressiver, suchten den Fehler ausschließlich in der Arbeit des anderen. Denn für die eigene verbürgte man sich. Und irgendwo mußte die Fehlerquelle stecken. „Vielleicht sind die „Spül"-Gene verunreinigt?" „Hast du den Brutschrank zwei wieder während des Versuches geöffnet?" „Bist du sicher, daß das Milzzellen waren?" „Hast du das richtige Enzym genommen?" Die gegenseitigen Beschuldigungen und Verdächtigungen nahmen immer krassere Formen an. Wir brauchten einen Lichtblick, noch ehe der Sommer zu Ende gehen würde, oder das Team würde auseinanderbrechen. Wir drohten zu einem TuckerTeam zu werden. Es war der pure Hohn, aber wir fanden die Lösung aus Versehen, oder aus unserer gereizten Stimmung heraus, wie man will. Wären wir jedenfalls streng nach Arbeitsplan vorgegangen, wir wären nie zu einem Ergebnis gelangt. „Schöne Wissenschaftler", sagten wir hinterher und lachten. „Wissenschaftler aus Schlamperei. Entdecker aus Irrtum!" Das Ganze begann mit einem Streit zwischen Albert Estling und Doktor Edmondson, den ich seiner Lautstärke wegen mit anhören mußte.
„Laß mich mit deinen Scheißmilzzellen in Frieden", brüllte er. „Ich kann keine Gene abfiltern, und du hockst auf Unmengen von Gewebeproben!" „Die Finger weg", keifte sie. „Nimm dir selber so ein Vieh für deine Zentrifuge. Die Milzzellen brauchen wir für die Kontroll versuche!" „Ach, leck mich doch am Arsch!" „Stell die Gewebeproben zurück! Sofort stellst du die Gewebeproben zurück!" Albert antwortete nicht. Ich vergaß diese Auseinandersetzung sehr bald, denn sie unterschied sich in keiner Weise von anderen täglichen Reibereien, denen wir uns aussetzten. Weder im Ton noch in der Ursache. Es folgten weitere Versuchsreihen. Negative, wie schon gewohnt. Zygoten abgestorben, wie immer. Doch schon am folgenden Tag glaubte ich zu träumen. Als ich die Schalen aus dem Schrank nahm, entdeckte ich schon mit bloßem Auge Embryonen, und ein Teil von ihnen bewegte sich. Eindeutig zu erkennen. Ich schob die Schale zurück in den Schrank und lief in Ethels Labor und in den Zentrifugenraum. „Willst wohl nachsehen, ob wir arbeiten", begrüßte mich Estling mißmutig. Doch dann stürmten sie hinter mir her und rissen sich gegenseitig die Schalen aus der Hand. Für Minuten war aller Ärger vergessen. Denn noch wußten wir nicht, weshalb sich plötzlich Tiere entwickelt hatten, obwohl ich lediglich die Konzentration der Genlösung geringfügig geändert hatte. Wir setzten sofort die nächste Versuchsreihe an. Gleiche Genkonzentration. Albert hatte frische Lösung aus dem Zentrifugenraum geholt. Wieder abwarten. Man wird nicht geduldiger, wenn man oft warten muß. Um so größer die Enttäuschung, als wir nichts als abgestorbene Zellen aus dem Brutschrank holten. Eine Ratlosigkeit, die sich bei jedem anders entlud. Gräßlich Albertsche Flüche, ich konnte die Enttäuschungstränen nicht zurückhalten, und Ethel schüttelte minutenlang den Kopf, als könne sie ihren Augen nicht trauen. Auch die anschließende Untersuchung sagte uns nur das, was wir ohnehin wußten, REN in den Zellen, falsche Genmuster. Wie bei allen anderen Versuchen vorher schon. Plötzlich lächelte die Edmondson. Lächelte nicht nur, sondern lachte laut aus sich heraus. Laut und befreiend. „Ich Idiot! Ich habe die Lösung. Und wir hätten sie schon längst haben können!" Wir blickten sie erstaunt an. „Frag Kollegen Estling, ob er sich an den Streit erinnert, den wir vorgestern hatten!" „Natürlich erinnere ich mich. Wenn du dich wegen dieses Milzgewebes auch derartig aufbläst!" Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Wenn wir die REN ausspülen wollten, konnte das natürlich nur mir den Genen geschehen, die genau zur
entsprechenden Zelle paßten. Sonst blieb natürlich REN übrig. Und da wir nur gebundene Gene wieder restlos aus den Zellen entfernen konnten, mußten auch überzählige Gene zurückbleiben, die den gesamten Vererbungsmechanismus so gründlich durcheinanderbrachten, daß die Zellen in den Brutschränken abstarben. „Los, Albert", sagte ich, „nimm Milzgewebe und stell daraus eine Genlösung her. Wir scheinen dem Rätsel auf der Spur zu sein!" Zwei Tage später konnten wir diesen Teil unserer Arbeit abschließen. Wir schleusten exakt die Gene durch die Zelle, für die freie REN vorhanden war. Theoretisch konnten wir, wenn Albert oder Doktor Tucker die richtige Genlösung herstellten, selbst aus einer Nervenzelle wieder ein komplettes Tier regenerieren. Inzwischen hatten sich die Salamandridae unseres Zufallserfolges überraschend schnell entwickelt. Nachdem wir einige nicht lebensfähige Exemplare ausgesondert hatten, blieben uns für die weiteren Versuche siebenundvierzig Tiere. Alle weiblich, da sowohl die Milzzellen als auch das Gengemisch von weiblichen Tieren entnommen worden war. Schon nach dreiundzwanzig Tagen waren die Tiere geschlechtsreif. Eine ungewöhnlich kurze Zeit. Ebenso ungewöhnlich der Nährstoff verbrauch. Die Tiere entwickelten sich sehr schnell, waren wesentlich aktiver, fraßen aber auch fast das Doppelte wie ihre auf natürliche Weise entstandenen Artgenossen. Ich hatte erwartet, Professor Jazdani würde uns zu unserem Erfolg beglückwünschen. Zumindest beglückwünschen. Denn wir hatten immerhin eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges vorzuweisen. Aber erkläre mir einer das Rätsel Jazdani! Statt Anerkennung die Frage: „Hast du den Pillarwert festgestellt?" „Nein", antwortete ich erstaunt. „Ich sah bisher keine Veranlassung. Der Stoffwechsel ist zwar lebhaft, aber doch durchaus normal. Nichts läßt auf eine Anomalie schließen." „Dann holen Sie das nach, Kollegin Wanderfeld! (Doktor Stipanitsch hatte das Zimmer betreten.) Das Verhalten der Tiere läßt eine gewisse Stoffwechselsteigerung vermuten. Ich schlage Ihnen vor, den Pillarwert zu ermitteln. Dir muß doch aufgefallen sein (Doktor Stipanitsch war gegangen), daß die Tiere einen erheblich größeren Nährstoffverbrauch haben!"
Ich versprach mir nicht viel davon, ließ diesen Wert aber trotzdem bestimmen. Ich erschrak doppelt. Einmal, weil der Pillarwert mit 0,52 viel zu hoch lag, 0,33 wäre der Normalwert gewesen, und auch, weil es wieder Professor Jazdani war, der diesen Umstand geahnt haben mußte. Woher kannte er Fakten, die sich erst in späteren Versuchen bestätigten? Der Mann wurde mir nun wirklich unheimlich. Was trieb er in seinem Labor? Baute er die Versuche nach oder vor, die seine Teams planten? Den Weg bis zum ersten regenerierten, um nicht zu sagen konstruierten Salamandra salamandra hatte er mit einer Exaktheit vorgezeichnet, als hätte er selbst diese Experimente längst hinter sich. Oder hatte er es zu einem eigenen Institut gebracht, weil er über solch genialen Weitblick verfügte? Was sich schon in der ersten Generation andeutete, verstärkte sich in der F2-Generation, die naturgemäß eine Rückkreuzung mit normalen Tieren war. Der Pillarwert stieg auf 0,59, die Geschlechtsreife der weiblichen Tiere trat mit neunzehn, die der männlichen Exemplare mit vierundzwanzig Tagen ein. Die Lebenserwartung verkürzte sich in gleichem Maße. In der F3Generation war der Pillarwert schon auf 0,67 gestiegen, die Fruchtbarkeit begann mit vierzehn beziehungsweise achtzehn Tagen, die Lebenserwartung war weiter gesunken, selbst die sonst ruhigen, gemächlichen Bewegungen der Tiere beschleunigten sich merklich, es schien, als lebten sie in ständiger Hast, unter einem immerwährenden Zeitdruck. Unsere Versuchsreihe brach mit der F11,-Generation von selbst ab. Pillarwert 0,92, Fruchtbarkeit nach elf und dreizehn Stunden, die Tiere jagten durch die Terrarien, selbst das immer wieder beeindruckende Paarungszeremoniell war auf Ansätze reduziert. Und da die Tiere unheimliche Nahrungsmengen benötigten, reichte die ihnen verbliebene Lebenszeit zum Fressen nicht aus. Sie verhungerten.
20 Handelsrat Fisher, Vorstandsmitglied der General Pharmacy and Chemistry und in dieser Eigenschaft verantwortlich für Forschung und Technologie, hatte eingeladen, führende Persönlichkeiten der mit dem Konzern kooperierenden wissenschaftlichen Institute. Gartenparty im Fisherschen Gästehaus, zwei Flugstunden von Nakina entfernt, mitten in einem der schönsten Landschaftsschutzreservate gelegen. Kontaktpflege im engeren Mitarbeiterkreis. Börse, auf der Wirtschaft und Wissenschaft, lächelnd, die Gläser in der Hand, die Kurse aushandelten. Ständig wechselnde Gesprächsgruppen, ständig wechselnde Themen. Gelegenheit, die Kontakte zu den verschiedenen Werken des Konzerns aufzufrischen, neue zu knüpfen. Gelegenheit, Hinweise zur Kenntnis zu nehmen,
aus Bemerkungen Trends abzuleiten, Gelegenheit, zwischen Salzgebäck und Sekt, zwischen Terrasse und kaltem Büfett hochdotierte Forschungsaufträge an das eigene Institut zu lenken. Man mußte nur zur richtigen Zeit an der Seite der richtigen Leute stehen, die richtige Bemerkung richtig deuten, die richtige Entgegnung zur Hand haben. Börse, durch keine Technik, durch keinen Computer ersetzbar. Nichtrationalisierbarer Rest eines überrationalisierten Wirtschaftsgefüges. Und nach oder vor getaner Arbeit ein Tänzchen in der Kellerbar, bitte schön, man muß Mensch bleiben. Auch wenn man sich soeben einen Millionenauftrag geangelt hat. Erst recht, wenn einem ein Millionenauftrag weggeangelt wurde. Dann erst recht! Professor Mervyn Jazdani fehlte auf keiner dieser Stehpartys. Und auch er hatte schon manchen Auftrag für sein Institut in diesem Hause angebahnt. Aber nicht nur Wirtschaftler und Professoren, auch die Honoratioren Nakinas waren geladen. Der Herr Bürgermeister, Polizeichef Oberst Phillips, die Stadträte für Finanzen und für Wirtschaft, der Rektor der Universität. Alle waren sie mit Handelrat Fisher freundschaftlich verbunden, alle waren sie von der General Pharmacy and Chemistry abhängig. Direkt oder indirekt, wie ganz Nakina. ,,Freue mich, Sie schon wieder so gesund und munter zu sehen, Professor!" Oberst Phillips nahm für einen Augenblick sogar die Zigarre aus dem Mund, um Solveg Wanderfeld mit Handkuß begrüßen zu können. Alles paßte zu Phillips, ein Cowboyhut, Reitstiefel mit silbernen Sporen, ein schwerer Colt an der Seite, aber kein Handkuß. ,,Haben Sie besonderen Grund zu dieser Freude, mein Bester?" Inzwischen hatte sich Handelsrat Fisher der kleinen Gruppe hinzugesellt. „Na ja, so wie mich Doktor Sveder um Ihre Unterlagen angegangen ist, muß es sich bei Ihnen um Minuten gehandelt haben. Kleiner Infarkt, was? Ja ja, die Liebe, die Liebe!" Er musterte Solveg unverfroren, so daß ihm die Blikke zwischen Professor Jazdani und Fisher entgingen. Solveg Wanderfeld nahm jedoch die Szene mit der Genauigkeit einer Fernsehzeitlupenaufzeichnung wahr. Wieso kam der bullige Polizeichef zu dieser Bemerkung? Was hatten die Blicke zwischen Fisher und Jazdani zu bedeuten? „Unser guter Doktor Sveder nimmt es wie immer viel zu genau", antwortete Handelsrat Fisher lächelnd. „Eine kleine Unpäßlichkeit, nicht wahr, Jazdani! Im Vertrauen, Oberst, in unserem Alter..." Ein rascher Blick auf Solveg. Der Polizeichef lachte dröhnend. „Die Liebe, die Liebe..." In diesem Augenblick kam Mimi Porter vorüber, früher mit dem Handelsrat, jetzt mit einem Psychologen liiert. Solveg kannte die Porter flüchtig, aber ausreichend, um sich mit ihr plaudernd ein paar Schritte entfernen zu können, ohne bei Jazdani aufzufallen.
„Wie lange wollen Sie noch warten, Fisher", hörte sie den Professor erregt sagen. „Dieser Sveder schmeißt uns die Sache noch. Ich habe Sie aber rechtzeitig gewarnt!" „Reden Sie doch noch..." Solveg konnte nicht mehr verstehen. Fisher drehte sich zur Seite und sprach sehr leise. Und dazu noch Mimi, die, glücklich über die unerwartete Freundlichkeit Solvegs, wie ein Wasserfall plapperte. Natürlich über ihren Psychologen. Gab es auf der Welt noch andere Männer? Noch andere Berufe? Noch andere Probleme? „Also, da legt die sich doch splitternackt auf seine Couch und erzählt ihm von ihrem gestörten Sexualleben. Mit einer Stimme! Therapie hin, Therapie her, ich rein und ihr das Sexualleben zurechtgebogen. Gründlich! Was sollte ich denn machen? Schließlich kenne ich meinen..." „Schon richtig, schon richtig", antwortete Solveg und ließ die Porter stehen. Der Wasserfall hörte zu rauschen auf. Jazdani und Fisher waren verschwunden. Suchend ging Solveg durch den Garten, von Grüppchen zu Grüppchen, überall „shake hands" und ein paar unverbindliche Freundlichkeiten. Es war Spätnachmittag geworden. Im ersten Stock des Hauses brannte Licht, im Arbeitszimmer Fishers. Solveg nahm sich vor, diesen Doktor Sveder aufzusuchen, bald aufzusuchen. Sehr bald. Irgendein Wehwehchen würde sich schon finden, wo der Mann doch angeblich so gründlich war und selbst einen Professor Jazdani behandelte. Bei dessen panischer Angst vor allem, was mit Medizin zu tun hatte!
21 Doktor Sveder untersuchte neue Patienten besonders gründlich. Denn auf nichts war weniger Verlaß als auf die elektronische Anamnese. Und so eine Anfangsuntersuchung dauerte ihre halbe Stunde und reichte buchstäblich von Kopf bis Fuß, die üblichen Labortests selbstverständlich inbegriffen. „Sie können sich wieder anziehen, Doktor Wanderfeld!" Der Arzt setzte sich an seinen Schreibtisch und füllte ein Rezept aus, während sich Solveg ankleidete. „Sie sind von einer beneidenswerten Konstitution. Ich muß natürlich noch die Laborwerte abwarten, aber ich erwarte absolut keine außergewöhnlichen Befunde. Vielleicht sind Sie ein bißchen überarbeitet. Ich verordne Ihnen eine gründliche Multivitaminkur. Das wird Ihnen wieder auf die Beine helfen. Und überarbeiten Sie sich nicht wieder derart. Am besten, Sie würden sich ein paar Urlaubswochen gönnen. Wo sind Sie beschäftigt?" „Forschungsinstitut Professor Mervyn Jazdani", antwortete Solveg, die sich inzwischen auf den Besucherstuhl gesetzt hatte, unmittelbar vor dem Arzt-
schreibtisch. „Ach!" sagte Doktor Sveder. Solveg beobachtete scharf, und so war ihr die Überraschung des Arztes nicht entgangen. „Sicherlich eine interessante Tätigkeit." „Es geht", antwortete sie. „Wie jede Forschungsarbeit. Höhen und Tiefen. Manchmal tritt man wochenlang auf der Stelle." Auch Doktor Sveder beobachtete seine Patientin aufmerksam. Völlig gesund, Forschungsinstitut Jazdani, was wollte sie hier bei ihm? Hatte sie jemand hergeschickt? Sollte Neri mit seinen Befürchtungen recht behalten? „Wie geht es Professor Jazdani?" „Gesundheitlich? Das müßten Sie besser wissen als ich, Doktor. Er ist Ihr Patient." Was wird er antworten? Jazdani jedenfalls hatte diese Praxis noch nie betreten, das wußte sie genau. „Ich fragte auch nur rein privat", wich Sveder aus. Woher wußte sie, daß er Professor Jazdani behandelte? Herrgott, in welcher Situation befindest du dich, Sveder! Diese Frau ist alles andere als eine normale Patientin. Sie wollte etwas von ihm. Das war klar. Aber was? Auf jeden Fall, sie war gefährlich! Hinter ihr steckte Jazdani. Auffällig gesund, diese Doktor Wanderfeld! Wenn ich ihm jetzt von diesem Vorfall erzähle, dachte sie, während sie das Rezept entgegennahm, und er ruft anschließend Jazdani an oder Fisher oder Oberst Phillips? Nicht zuviel riskieren, Wanderfeld, Solveg! Nicht zuviel riskieren, alter Junge! Zuerst mußt du wissen, wer sie ist, in wessen Auftrag sie handelt! „Es genügt durchaus, wenn Sie in vierzehn Tagen wieder vorbeikommen. Lassen Sie sich von der Schwester einen Termin geben. Und nicht überarbeiten. Das wäre alles!" In vierzehn Tagen werde ich über genügend Informationen über eine Doktor Wanderfeld verfügen! In vierzehn Tagen werde ich genauer wissen, wer dieser Doktor Sveder ist! Die Schwester notierte den Namen Wanderfeld für den elften September, nachmittags.
22 3. September 2038. Es war längst Feierabend. Das technische Personal des Forschungsinstitutes Mervyn Jazdani hatte sich in die Kabinentaxen gedrängt. Wie eine bunte Perlenkette zog die Schlange der kleinen, programmgesteuerten Fahrzeuge davon in Richtung Stadt. Die meisten der Laborantinnen und Techniker lebten mit ihren Familien in Nakina. Zurück blieben die Junggesellen, zu-
rück blieben die Ehepaare, die in den institutseigenen Bungalows lebten, zurück blieb das Personal für die zweite und dritte Schicht. Die Sonne stand schon tief zwischen den Baumkronen, in der Gemeinschaftsküche wurde das Abendessen für die Spätschicht vorbereitet. Wir saßen immer noch und berieten, Albert Estling, dessen Berufung zum wissenschaftlichen Mitarbeiter ich bei Jazdani durchsetzen konnte, die Edmondson, Tucker und ich. Wir arbeiteten mit Hochdruck an unseren regenerierten Salamandra salaman-dra. Mit wechselndem Erfolg. Es gab einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Reaktionsgeschwindigkeit in der Zelle und dem Pillarwert des späteren Tieres. Je kürzer die Reaktionszeit zwischen REN und Genen, um so normaler der Pillarwert. Aber zufrieden waren wir noch längst nicht. Den Rekord hielt ein Stamm mit einem Pillarwert von 0,68 in der F14-Generation. Siebzehn Uhr zwanzig. Ich wollte die Besprechung gerade abschließen, da heulte plötzlich die Sirene auf dem Dach des Zentralgebäudes einen ständig auf und abschwellenden Dauerton. „Das darf doch nicht wahr sein", rief Albert ungehalten. „Um diese Uhrzeit einen Probealarm anzusetzen! Ich frage mich, was die sich dabei denken!" Auch ich verstand Professor Jazdani nicht, er hatte auch mir gegenüber den Alarm nicht angekündigt, was er sonst immer tat, im Gegenteil, wir hatten Karten zur Opernpremiere von „Pudicitia" ergattert, einem Stück, das schon vor der Uraufführung heftige Diskussionen unter Kritikern und Publikum ausgelöst hatte. Die Karten waren unter der Hand mit achthundert Usonodollar gehandelt worden, man befürchtete, die Uraufführung werde gleichzeitig die letzte öffentliche Aufführung dieses Stückes sein, obwohl sich unsere Behörden Obszönitäten in der Kunst gegenüber recht großzügig verhielten. Aber dieses Stück sollte, so flüsterte man, den Rahmen des Normalen sprengen. Und schon verlautete, die Staatsanwaltschaft der Stadt Nakina werde die Entwicklung im Auge behalten. Kurz, das gesellschaftliche Leben der Stadt stand unmittelbar vor einem handfesten Skandal, bei dem man unbedingt dabeisein mußte, wenn man „floppy" sein wollte. Die Vorstellung begann zwanzig Uhr. Und nun löste Jazdani um siebzehn Uhr zwanzig einen Probealarm aus. Mir zu hoch! Erkläre mir einer diesen Menschen! Wir liefen zu den Fenstern. Das Institutsgelände war menschenleer. Die Isolierkammern am Eingang schlössen sich langsam. Ein Wachposten rettete sich in letzter Sekunde nach außen. „Das ist doch keine Probe", durchzuckte mich schlagartig der Gedanke. Das ist Ernst! Wir haben Seuchenalarm! Seuchenalarm. Das Schlimmste, was einem Institut wie dem unseren passieren konnte. Von dieser Sekunde an waren wir völlig auf uns allein gestellt,
von der Außenwelt total abgeschnitten. Wir mußten die Gefahr mit eigenen Kräften bekämpfen. Oder unser aller Leben war keinen Pfifferling mehr wert. Man hatte nach der großen Katastrophe des Jahres 1997 in der Schweiz, als rund zehntausend Menschen einer Kleinstadt dem Bakterienausbruch eines militärischen Forschungsinstitutes zum Opfer gefallen waren, weil die örtliche Feuerwehr einen Brand in diesem Institut zu löschen versucht hatte, international verbindliche Sicherheitsvorschriften erlassen. Und die besagten, daß unser Gelände hermetisch abgeriegelt bleiben würde, bis keine Gefahr mehr bestand. So oder so. Grauenhaft, daran zu denken. Aber noch grauenhafter, sich die unmittelbare Nähe der Großstadt Nakina vorzustellen. Vernünftige Regelungen, sagte jeder und hatte jeder von uns tausendmal selbst gesagt. Während des Studiums und auch später. Aber was in der Theorie vernünftig ist, das kann in der Praxis ganz schön brutal aussehen, wenn man auf der falschen Seite sitzt. Der Kampf ums Überleben oder das gemeinsame Sterben war in institutsinternen Vorschriften geregelt. Sie sahen vor, daß unmittelbar nach Auslösen des Alarms jedes Team an seinem Platz zu bleiben hatte und alle Experimente sofort abzubrechen waren. Die Ausführung dieser Sicherheitsmaßnahme war dem Zentralgebäude unverzüglich zu melden. Anweisungen durften ausschließlich von Professor Jazdani, nur in dessen Abwesenheit vom diensthabenden Leiter des Instituts gegeben werden, der im Zentralgebäude seinen eigenen Raum hatte und von dort aus das gesamte Gelände gut überwachen konnte. Wir Teamchefs wechselten uns in dieser Funktion ab. Aber Professor Jazdani war um siebzehn Uhr zwanzig noch im Institut gewesen. So langsam begriffen auch die anderen, in welcher Situation wir uns befanden. Spätestens, als über den Labortüren eine Warnhupe ertönte und sie sich kurz darauf automatisch schlössen. Unser Gebäude war damit zu einer Festung geworden: Eingegossene Fenster, die man nicht öffnen konnte, die Doppeltüren bildeten ein Schleusensystem, das nur vom Zentralgebäude aus betätigt werden konnte, die Frischluftversorgung begann hörbar zu arbeiten. Von jetzt an versorgte sie uns über eine Filteranlage mit keimfreier Atemluft. Noch verfügten wir über keinerlei Informationen, noch konnte das alles ein Planspiel sein. Doch man sah den Gesichtern der Kollegen an, daß sich niemand an diesen Gedanken klammerte. Wir gaben der Zentrale die Ausführung der ersten Sicherheitsmaßnahmen durch und warteten auf Anweisung. Die Zentrifuge lief langsam und mit ungewohnt tiefem Brummen aus. Seltsam, daß man im Augenblick der Gefahr so ruhig sein kann. Wir saßen in meinem Büro vor den Fenstern, und unsere Blicke pendelten zwischen dem menschenleeren Institutsgelände
und dem Lautsprecher auf dem Schreibtisch hin und her. Die Edmondson knabberte an den Fingernägeln. Wir schwiegen. Dann sahen wir vier Gestalten in ihren unförmigen Schutzanzügen auf den roten Gebäudekomplex der Mansfield-Labors zugehen. Sie gingen sehr langsam und trugen lange Stangen wie Fühler vor sich her. Wir erschraken. Das war wesentlich ernster als erhofft. Ausgerechnet das Mansfield-Team. Im Scherz nannten sie sich selber die ersten Todeskandidaten des Instituts. Kein Wunder, wenn man tagtäglich mit hochgiftigen Virusstämmen zu tun hatte. An die Gefahr gewöhnte man sich, wurde nach und nach zur Nachlässigkeit verleitet. Weil ja noch nie etwas passiert war... Der rote Gebäudekomplex und die orangefarbene Sicherheitszelle sagten alles. An welchen Stämmen sie experimentierten, wußte außer ihnen nur Professor Jazdani. Aber die Chance, daß es schon ein Serum gegen, das Virus geben könnte, war äußerst minimal. Die vier Leute in den Schutzanzügen hatten sich dem Laborkomplex so weit genähert, daß sie mit den Spitzen der Stangen die Außenwand abtasten konnten. Dann verschwand der erste von ihnen in der Eingangsschleuse. Der zweite folgte. Die anderen näherten sich mit ihren Stangen vorsichtig der orangefarbenen Zelle. Dann hörten wir Professor Jazdanis Stimme aus dem Lautsprecher. „Das Institut befindet sich im Ausnahmezustand. Virusausbruch in den Mansfield-Labors. Alle Teams verbleiben bis auf weiteres in ihren Laborräumen. Höchste Alarmstufe für das gesamte medizinische Personal. Isoliertrakt besetzen!" Es mußte also Verletzte gegeben haben. In der Eingangsschleuse der Mansfield-Labors tauchten die Männer in den Schutzanzügen auf, sie trugen jemanden heraus, eingehüllt in eine Isolierdecke. Die anderen Helfer griffen mit zu, im Laufschritt entfernten sie sich zum medizinischen Isoliertrakt. Man sah Ärzte über das Gelände rennen, ebenfalls in Schutzanzügen, nur an ihrem Äskulapstab auf dem Rücken erkennbar. „Mein Gott, mein Gott", murmelte die Edmondson. „Hoffentlich geht alles gut!" Man konnte ihren Worten nicht entnehmen, wen sie meinte, den Verletzten, die, die sich noch in den Mansfield-Labors befanden, oder uns. Die völlige Hilflosigkeit war deprimierend, denn noch wußte niemand, ob der Ausbruch unter Kontrolle war oder nicht. Wieder Jazdanis Stimme aus dem Lautsprecher: „Kollegin Doktor Wanderfeld sofort zum Isoliertrakt!" Mit einem Schlag legte sich meine Nervosität, ich öffnete den versiegelten Wandschrank und zog den selbstdesinfizierenden Seuchenschutzanzug über meinen Laborkittel. Draußen war es windstill, als hielte die Natur den Atem
an vor dem, was hier geschah. Unsinn, dachte ich. Die Natur hat gewaltigere Tragödien ohne Atemanhalten über sich ergehen lassen. Aber sie freut sich, daß sie zurückschlagen kann. Jawohl, denen, die ihr eines ihrer Geheimnisse entreißen wollten, ein paar auf die Finger zu geben. Einen Nachdenkschlag. „Fertig", meldete ich dem Zentralgebäude. Die innere Labortür öffnete sich. Ich trat in die Schleuse, gerade groß genug, daß sich eine Person bequem darin bewegen konnte. Eine Desinfektionsflüssigkeit wurde über meinen hermetisch verschlossenen Schutzanzug versprüht, für Sekunden flammte das UV-Licht auf, ich schloß die Augen, dann öffneten sich die äußeren Schleusentüren. Professor Jazdani hatte das Eilprogramm gewählt. Das Laufen im Schutzanzug war ungewohnt. Dadurch, daß man den Hals kaum drehen konnte, fühlte man sich in seiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Schon nach wenigen Schritten begann ich zu schwitzen. Jazdani erwartete mich im Isoliertrakt, nachdem ich erneut ein Schleusensystem passiert hatte. Doch diesmal lief das volle Programm. „Ich möchte Sie kurz über die Lage informieren, Kollegin Wanderfeld", begrüßte er mich sachlich. (Es standen zu viele Leute um uns herum.) „Aus der orangefarbenen Zelle sind hochvirulente Stämme ausgebrochen. Glücklicherweise haben die Rezeptoren rechtzeitig angeschlagen und den Alarm ausgelöst. Doktor Mans-field ist sehr schwer verletzt. Seinen Mitarbeitern war leider nicht mehr zu helfen. Aber auch die Überlebenschancen für Mansfield sind minimal. Das Virus zerstört sofort alle befallenen Zellen. Und zwar dort zuerst, wo das Stoffwechselgeschehen am intensivsten ist. Kollege Mansfield hat schwerste Leber- und Nierenschäden davongetragen, außerdem sind durch die Atmung zwei Lungenflügel befallen. Unsere Mediziner geben ihm keine Überlebenschancen. Sie haben ihn an die HerzLungen-Maschine angeschlossen und ihn dialytisch versorgt. Aber sie können ihn allerhöchstens vierzehn Tage halten!" Er führte mich in den Nebenraum, dessen Stirnseite von einer dicken Glasscheibe begrenzt war. „Hier liegt er, siehst du!" Vor der Scheibe standen die Teamchefs, die ausgebildete Mediziner waren, und bedienten Manipulatoren. Zahlreiche Leitungen führten schon zum Körper des Unfallopfers, weitere kamen hinzu. Gerade wurde über eine Kanüle Blut entnommen. Die Manipulationen der Mediziner boten einen gespenstischen Anblick. Mansfields Gesicht war eingefallen und wächsern bleich. Er atmete im Rhythmus der Maschine. „Ich sage und zeige dir das alles, damit du begreifst, daß Mansfield ohne deine Hilfe sterben wird!" „Ich weiß nicht, wie ausgerechnet ich helfen könnte. Ich bin Biologin, keine Ärztin!"
„Eben!" sagte er mit Nachdruck. „Du mußt versuchen, deine Forschungsergebnisse in die Humanmedizin zu übertragen!" Er sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, die mir den Atem nahm. Wenn einem in einer solchen Situation noch etwas den Atem nehmen konnte. Doktor Stipanitsch, unser Chirurg, der bisher schweigend zugehört hatte, sagte: „Wenn wenigstens die Leber in Ordnung wäre. Die anderen Organe könnten wir möglicherweise transplantieren. Aber bei der Leber ist die Immunbarriere viel zu hoch. Noch dazu in dem Zustand des Patienten!" „Du hast gehört, was am dringendsten ist. Wir brauchen eine neue Leber. Und du hast nur vierzehn Tage Zeit", sagte Jazdani. „So lange hält er an der Maschine durch. Ich weiß natürlich auch, daß die Erfolgsaussichten äußerst gering sind", setzte er hinzu. „Aber ich möchte mir nicht vorwerfen müssen, ich hätte nicht auch die letzte Möglichkeit ausgeschöpft, um einem Kollegen das Leben zu retten!" Die Entscheidung mußte schon vor meinem Eintreffen gefallen sein, denn Doktor Stipanitsch übergab mir eine Gewebebox. In flüssigem Helium befand sich ein fingergliedgroßes Leberstück. „Das ist alles, was wir retten konnten", sagte er bedauernd. „Ich hoffe, es reicht für Ihre Versuche. Viel Erfolg, Kollegin Wanderfeld. Um des guten Mansfield willen!" Die beiden waren eng befreundet gewesen. Was mußte es für ihn bedeuten, vor der Glasscheibe an den Manipulatoren zu stehen und das Sterben zu überwachen. Denn an einen Erfolg unserer Aktion glaubte weder er noch Jazdani und ich selbst schon gar nicht. Vierzehn Tage. Genausogut hätte er zehn Minuten sagen können. So angespannt, so konzentriert hatte ich Jazdani noch nie gesehen. Ohne Hemmungen hätte ich mich jetzt an ihn schmiegen, ihn fragen können: „Werden wir's schaffen?" Oder ich hätte ihm gesagt: „Wir werden das Institut lebend verlassen. Ich fühle es!" Aber da waren Mansfield, Doktor Stipanitsch und die Gewebebox. Es blieb bei einem Händedruck, weicher, wärmer, intensiver als sonst, und einem begleitenden Lächeln. So rasch es der unförmige Schutzanzug erlaubte, trug ich die Box in unser Labor. In der Nähe der Mansfield-Labors suchte man noch immer den Boden und umstehende Bäume mit Rezeptorenstangen ab. Eine zweite Arbeitsgruppe des institutseigenen Katastrophenschutzes versprühte Desinfektionsflüssigkeit. In weitem Umkreis um die Sicherheitszelle hatte das Gras eine ganz seltsame Farbe angenommen. Es sah aus wie roter Marmor, dazwischen noch vereinzelt grüne Flecke, Zellinseln, die dem Virus noch widerstanden. Die kräftige Farbe der Gebäude stach unwirklich und drohend gegen die tote Umgebung ab. Ich mußte das Gebäude in weitem Bogen umgehen.
Es dauerte zwanzig Minuten, ehe ich die Eingangsschleuse unseres Labors passiert hatte. Sie bestand aus einer Kammer und der Duschkabine, die nach einem bestimmten, zeitraubenden System durchlaufen werden mußte. UVBestrahlung, selbstdesinfizierende Wäsche und Kryktankittel verhinderten das Eindringen von Keimen in die Labors. Mir brannten die Minuten auf den Nägeln. Vierzehn Tage Zeit, da zählte jeder Herzschlag. Als ich die Schleuse endlich verlassen konnte, bestürmten mich Albert und die Edmondson mit Fragen: „Wie steht es um uns?" „Gibt es Verletzte?" „Tote?" „Wann wird der Seuchenalarm aufgehoben?" „Besteht Infektionsgefahr für andere Teams?" „Für uns?" „Was wollte Professor Jazdani von dir?" Doktor Tucker, der bis dahin anscheinend teilnahmslos am Fenster gestanden und hinausgestarrt hatte, kam auf mich zu. „Was wollte Jazdani von Ihnen?" Ich sah ihn erstaunt an. Was sollte dieser aggressive Ton? Weshalb provozierte er mich ausgerechnet jetzt? „Kollege Doktor Mansfield konnte schwer verletzt geborgen werden. Alle anderen sind tot. Mehr weiß ich nicht. An eine Aufhebung des Alarms ist nicht zu denken." „Was wollte Professor Jazdani von Ihnen?" wiederholte Tucker seine Frage noch eindringlicher. Ich beschloß ein zweites Mal, ihn zu überhören. „Wir sollen mithelfen, das Leben Mansfields zu retten. Seine Leber ist stark geschädigt, es muß transplantiert werden. Und wir sollen das Transplantat herstellen." „Das dachte ich mir", sagte Tucker und nahm ein schmales blaues Heft vom Bücherbord hinter meinem Schreibtisch. „Die Resultate unserer Tierversuche unmittelbar auf den Menschen übertragen! Ohne Rücksicht auf internationale Verträge wie diesen hier", er schwenkte das Heft in der Luft herum, „ohne Rücksicht auf etwaige Folgen! Das ist Jazdani. Das ist typisch Jazdani!" „Wenn Sie den Verletzten gesehen hätten, würden Sie auf solche Bemerkungen verzichten! Mansfield stirbt in spätestens vierzehn Tagen, wenn es uns nicht gelingt, seine Leber wiederherzustellen!" „Sie haben mich einmal kleingekriegt, Doktor Wanderfeld", schrie Tucker mich an. „Jawohl, Doktor Mansfield stirbt. Das geht mir unter die Haut, Kollegin Wanderfeld, ich kenne Mansfield länger und besser als Sie! Und über die Verantwortung für seinen Tod wird man noch reden müssen! Aber Doktor Mansfield ist ein einziges Opfer. Rechtfertigt das die Einleitung einer unübersehbaren Entwicklung? Ich darf vielleicht aus dem Vertrag
über die Verhinderung des Mißbrauchs der biologischen Wissenschaft zitieren, den unter anderen auch unsere Regierung unterschrieben hat!" Er blätterte in der blauen Broschüre, fand in der Aufregung nicht die richtige Seite, seine Hände zitterten, die Stimme bebte, als er endlich fortsetzen konnte. „Hier, Artikel zwei: Alle humangenetischen Experimente sind untersagt. Ausnahmegenehmigungen erteilen die Landessektionen der Biologischen Gesellschaft!" Er drückte mir einen Videophonhörer in die Hand. „Rufen Sie die Gesellschaft an! Rufen Sie an, Doktor Wanderfeld!" „Kollege Tucker", antwortete ich leise, „wir leben unter Ausnahmerecht. Wir haben Nachrichtensperre. Selbst wenn ich wollte!" Er sah mich groß an. „Könnten Sie die Verantwortung für die Folgen übernehmen, wenn wir wider Erwarten Erfolg haben? Dann ist es nur noch ein winziges Schrittchen, bis Leute wie Jazdani oder Fisher von der General Pharmacy and Chemistry oder sonstwer sich auf den Thron dieser Welt zu schwingen versuchen. Umgeben von Homunkuli! Unsere Art wird per Knopfdruck produziert. Typengerecht! Fachwissenschaftler zum Denken, Muskelpakete zum Arbeiten, die weiblichsten Weibchen fürs Bettvergnügen. Versandfertig, nach Katalog und mit zwei Jahren Garantie! Wissen Sie, was es bedeuten kann, wenn wir diese Arbeit übernehmen? Das bedeutet die Rückkehr zum Kastensystem, nein, noch schlimmer, zur Sklaverei! Da ist es mir schon lieber, Doktor Mansfield stirbt. Und wenn Sie mich zehnmal für herzlos halten. Nein, Doktor Wanderfeld. Dieser Vertrag und mein Gewissen verbieten mir, an solch wahnwitzigem Experiment teilzunehmen. Auch unter diesen ungewöhnlichen Umständen! Im Gegenteil, sobald Sie diese Arbeit beginnen, werde ich gegen Sie und gegen Professor Jazdani bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Strafantrag stellen!" „Kollege Tucker", antwortete ich ihm scharf, „überlegen Sie bitte, was Sie sagen. Das Institut steht unter Ausnahmerecht. Ich kann es nicht verantworten, mit Ihnen über moralische Bedenken zu diskutieren, während zweihundert Meter weiter ein Kollege im Sterben liegt! Und ich kann mich schon gar nicht von Ihnen erpressen lassen!" Albert Estling stimmte mir zu. „Denken Sie an die Ausnahmesituation, Tucker. Jetzt gelten hier andere Gesetze! Wir sind von der übrigen Welt isoliert. Keine IAN wird und kann uns unterstützen, wenn wir an diesem Virus zugrunde gehen. Ganz im Gegenteil! Wir müssen uns selber helfen. Und da ist jedes, aber auch jedes Mittel recht!" „Das ist faschistoid", flüsterte Doktor Tucker, vor Erregung kreidebleich. „Wenn es ums eigene bißchen Leben geht, ist jedes Mittel recht. Auch wenn dabei alles in Scherben fällt!" Ich konnte mich nur noch schwer beherrschen. Ethel Edmondson blieb erstaunlich sachlich. „Unsere Versuche, Kollege
Tucker, sind an jedem Ort und zu jeder Zeit wiederholbar. Für ihren Mißbrauch tragen wir als Wissenschaftler nicht mehr Verantwortung als der Erfinder des Rades für die Zivilisation und die mit ihr verbundenen negativen Erscheinungen!" „Können Sie mir dann verraten, weshalb die Internationale Akademie diese Verantwortung ausdrücklich bejaht?" Es reichte. Irgendwann mußte ein Schlußstrich gezogen werden. Jetzt mußte er gezogen werden. „Ich frage mich wirklich, Kollege Tucker, was diese ganze Diskussion soll! Sie wissen genau, daß uns die Zeit auf den Nägeln brennt, daß jede Minute kostbar ist, und Sie verwickeln uns in endlose Auseinandersetzungen! Ich weise Sie an, unverzüglich an Ihre Arbeit zu gehen. Sie werden bei diesem Rettungsversuch Ihren angemessenen Beitrag leisten, Doktor Tucker. So wie jedes andere Teammitglied auch!" „Sie weisen an, Doktor Wanderfeld? Sie befehlen? Befehlen Sie auch meinem Gewissen, nun gefälligst beruhigt zu sein, da es seine Anweisung bekommen hat? Wissen Sie, was ich mit Ihrer Anweisung, Ihrem Befehl machen werde? Ich pfeife drauf! Ohne die Genehmigung der Internationalen Akademie werde ich mich strikt weigern, an diesem Versuch mitzuarbeiten!" Die Auseinandersetzung, die längst überfällig war, traf mich überraschend und zu einem völlig ungeeigneten Zeitpunkt. An jedem anderen Tag hätte ich mich gestellt. Doch jetzt verringerte jeder Satz die Überlebenschancen Mansfields noch weiter. Tucker selbst hatte das Äußerste provoziert. „Doktor Tucker, in meiner Eigenschaft als Teamchef erkläre ich Sie für vorläufig festgenommen!" Das Ausnahmerecht befugt mich zu dieser Maßnahme. „Begeben Sie sich sofort in Ihr Büro. Kollege Estling, Sie bewachen die Tür. Videophonate sind untersagt. Ihre Angehörigen werden von der Institutsleitung benachrichtigt!" Es mußte sein. Ich durfte weder Zeit noch Prestige verlieren. Wer konnte sagen, was noch alles auf uns zukommen würde. Ich teilte sofort Professor Jazdani die vorläufige Festnahme mit und unterrichtete ihn über die vorausgegangene Auseinandersetzung. Auch über die Drohung, uns den Staatsanwalt auf den Hals zu hetzen. Jazdani verlor die Ruhe wesentlich rascher als ich. „Was bildet sich dieser Tucker eigentlich ein? Begreift der Mann unsere Situation? Ich bestätige Ihre Festnahme, Kollegin Wanderfeld. Ich lasse den Mann im Zentralgebäude arretieren!" Ethel, Albert und ich standen am Fenster und sahen den drei Gestalten nach, die sich in Richtung Zentralgebäude entfernten. Doktor Tucker in Handschellen. Die beiden Männer vom Katastrophenschutz bewaffnet wie seit kurzer Zeit alle, die mit der Seuchenbekämpfung im Gelände beauftragt waren. „Es war notwendig", sagte ich leise.
„Ja", antwortete Albert, und ich war ihm dankbar dafür. „Es war schon lange notwendig." Und Ethel: „Du hast genügend Geduld bewiesen. Ich verstehe ihn nicht. So ein intelligenter Mensch. Kannst du mir verraten, weshalb er so halsstarrig ist?" Noch während man Doktor Tucker abführte, erklang aus dem Lautsprecher Professor Jazdanis Stimme: „Alarmstufe zwei! Niemand verläßt die Labors. Alle Kollegen, die sich in ihren Privatunterkünften aufhalten, haben unverzüglich den Schutzanzug anzulegen!" „Um Gottes willen", flüsterte Ethel. „Wir werden alle sterben!" „Rede nicht solchen Unsinn", herrschte Albert sie an. „Hier drinnen sind wir absolut sicher. Wie in einem Raumschiff!" „Du mußt nicht so tun, als hättest du keine Angst, Albert. Alle haben Angst, wenn es ums Sterben geht. Vielleicht rettet uns gerade diese Angst manchmal das Leben!" Wir zogen uns auf ein Feld zurück, auf dem wir zu Hause waren, auf die Arbeit. Und augenblicklich war der Virenausbruch, war Doktor Tucker und seine Verhaftung, war die Gefahr, in der wir schwebten, nebensächlich. Jetzt galt es, Chromosomen abzutrennen, die Gene abzuspalten, blockierte Gene zu isolieren und zu erfassen. Danach war die exakte RENZusammensetzung zu ermitteln, damit die Regenerationsversuche in den Brutschränken fortgesetzt werden konnten. Das war Aufgabe, das war Anforderung, das zählte und nichts weiter! Und während die Zentrifuge wieder lief, hatte ich ständig die Glasscheibe vor Augen, hinter der Mansfield lag, und die Versorgungsleitungen, die den Körper des Kollegen noch mit dem Leben verbanden. Das war kein Salamandra salamandra, da lag ein Mensch und erwartete Hilfe von uns. Lauf schneller, Zentrifuge, lauf viel schneller. Denn auch der Uhrzeiger rennt unerbittlich über das Zifferblatt.
23 3. September 2038, zweiundzwanzig Uhr neunzehn. Hauptquartier des Krisenstabes der Distriktpolizei Nakina. Der diensthabende Sergeant nimmt den Videohörer ab. „Verbinden Sie mich bitte mit Oberst Phillips!" „Bedaure, der Oberst ist in einer wichtigen Besprechung des Krisenstabes." Der Mann am Bildschirm wird ungehalten. „Hören Sie, Sergeant, mit mir können Sie nicht umgehen wie mit irgendeiner Sekretärin. Sie sprechen mit Handelsrat Fisher von der General Pharmacy and Chemistry. Wenn Sie Ihren Chef nicht sofort aus dieser Besprechung holen, werde ich dafür sor-
gen, daß Sie straf versetzt werden! Der Innendienst bekommt ihnen offensichtlich nicht!" „Ich werde versuchen, Oberst Phillips zu erreichen, Mister Fisher." „Tun Sie das möglichst rasch, wenn ich Ihnen den Rat geben darf!" Affe, dachte der Sergeant und wählte in den kleinen Konferenzraum durch, in dem seit dem Abend der Krisenstab tagte. Oberst Phillips unterbrach die Sitzung, brannte sich eine neue Zigarre an und drückte die Sprechtaste. „Sie kommen mir gerade recht, Fisher! Schöner Mist, den Sie uns da eingebrockt haben. Und wir können die Suppe auslöffeln! Wissen Sie, was in der Stadt los ist? Wir müssen froh sein, daß es noch nicht zu einer Panik gekommen ist. Aber viel fehlt nicht. Sämtliche Ausfallstraßen sind hoffnungslos verstopft. Die Leute verlassen scharenweise die Stadt! In der Siebzehnten Straße hat die Menge einen Supermarkt gestürmt. Vier Schwerverletzte! Das haben Sie wirklich fein gemacht, mein Bester!" „Übertreiben Sie nicht derart maßlos, Oberst. Im Augenblick besteht absolut keine Gefahr. Die Sache ist zwar kritisch, aber nur für die, die sich im Institut befinden." „Jazdani kann Ihnen viel erzählen, Fisher. Dem steht das Wasser bis zum Hals! Ich werde das Institut auf jeden Fall von meinen Leuten umstellen lassen. Sicher ist sicher. Wenn die Stimmung in der Stadt umschlägt, müssen wir damit rechnen, daß die Massen das Institut stürmen. Unser Psychologe hält das für denkbar!" „Hat die Landessektion schon mit Ihnen Verbindung?" „Schon ist gut, Fisher. Die waren die ersten! Zwei Sitze im Krisenstab. Für die ist Ihr Jazdani längst ein toter Mann. Und sie bestehen auf einer gründlichen Untersuchung. International, Fisher. Unangenehme Sache, so etwas!" „Das ist einer der Gründe, weshalb ich Sie anrufe, Oberst. Eine internationale Untersuchung könnte uns tatsächlich sehr unangenehm „Und was habe ich damit zu tun?" werden." „Begreifen Sie endlich, es geht um Größenordnungen, die auch an Ihrem Stuhl sägen werden!" Der Oberst legte die Zigarre weg. Zum Teufel mit diesem Fisher! Als ob er jetzt nicht genug auf dem Hals hätte! „Ich kann eine Untersuchung nicht verhindern. Wie denken Sie sich das?" „Sollen Sie auch nicht, Phillips. Wir müssen nur vorher ein paar Probleme lösen. Mit Ihrer Hilfe, dachte ich." „Können Sie nicht deutlicher werden?" „Garantieren Sie, daß niemand mithört?" „Okay, Mister Fisher. Ich komme morgen zu Ihnen. Um neun Uhr, wenn es Ihnen paßt!"
„Und ob mir das paßt, Oberst. Wußte doch, mit Ihnen kann man sich verständigen!" Scheißzivilist, dachte Phillips, während er auflegte. Seine Zigarre war kalt geworden.
24 3. September 2038, dreiundzwanzig Uhr zweiundfünfzig. In der Stadt war es noch am Abend zu ersten Zwischenfällen gekommen. Es ging das Gerücht um, die ganze Stadt würde unter Quarantäne gestellt, wochenlang, möglicherweise monatelang, die Entscheidung darüber könne jeden Augenblick bekanntgegeben werden. Die Bevölkerung teilte sich in zwei Lager. Ein Teil versuchte, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Minuten konnten darüber entscheiden, ob die Flucht aus Nakina gelingen würde. Ab neunzehn Uhr waren die Ausfallstraßen in Richtung Süden hoffnungslos verstopft. Es kam zu mehreren schweren Verkehrsunfällen, hervorgerufen durch ungeübtes und rücksichtsloses Fahrverhalten, durch das Nichtbeachten der Ampeln, durch überladene, nicht mehr verkehrssichere Fahrzeuge. Und durch Fahrer, denen die Panik den Fuß aufs Gas klebte, denn die Autopiloten waren diesem Verkehrschaos nicht gewachsen. Im allgemeinen Verkehrsgewühl kamen auch die Rettungsfahrzeuge nur langsam voran. Vier Unfallopfer starben, noch ehe man sie in eine Klinik hatte bringen können. Eine Stadt war auf der Flucht. Der andere Teil der Bevölkerung wollte unter allen Umständen in Nakina bleiben. Unter allen Umständen, auch monatelang. Und dafür benötigte man Lebensmittel, viel mehr Lebensmittel, als am späten Abend dieses dritten September zu kaufen waren. Die wenigen Supermärkte, die zu dieser Stunde noch geöffnet hatten, waren schnell ausverkauft. Zentnerweise wurden Grundnahrungsmittel gehortet, die Preise kletterten innerhalb von Minuten auf tausend und mehr Prozent. Zwanzig Uhr dreißig wurde der erste Supermarkt gestürmt. Die Polizei mußte eingreifen, es gab mehrere Verletzte. Daraufhin schlössen die restlichen Märkte und forderten beim Krisenstab Polizeischutz an. Sie hatten das Geschäft ihres Lebens gemacht. Das Pfund Cornflakes zu hundert Dollar! In den Kliniken der Stadt herrschte Alarmstimmung. Um neunzehn Uhr elf kam die Anweisung des Krisenstabes, unverzüglich. Isolierstationen einzurichten. Für das gesamte medizinische Personal wurde ein Urlaubsstop erlassen. Kliniken und Ärzte wurden formal der Nationalgarde unterstellt. Ein- und Zweibettzimmer wurden geräumt, Notdienste eingerichtet, die zunächst die Unfallopfer der Stadt zu versorgen hatten. Aber es war auch
daran gedacht, die Mitarbeiter des Forschungsinstitutes Professor Mervyn Jazdani unterzubringen. Die Privatklinik Doktor Sveders hatte auf Anweisung des Krisenstabes drei Betten bereitzuhalten. Sveder hatte die organisatorischen Maßnahmen in die Wege geleitet und sich in sein Bereitschaftszimmer zurückgezogen. Auch er durfte seine Klinik nicht verlassen. Kurz vor Mitternacht summte das Videophon. „Ein Glück, daß ich dich endlich erreiche", meldete sich Doktor Neri aus Seattle. „Ich versuche seit zwei Stunden, nach Nakina durchzukommen. Bei euch muß ja der Teufel los sein!" „Es geht", antwortete Sveder. „Im Moment scheint noch niemand die Lage zu überblicken. Ich muß jedenfalls drei Betten freihalten, mit allem medizinischen Gerät zur Intensivtherapie. Man rechnet mit Unfallopfern. Hat natürlich viel Arbeit mit sich gebracht, die Sache." „Wie geht es unserem Patienten?" „Der Zustand hat sich weiter gebessert. Aber immer noch bewußtlos." „Ich muß dich warnen, Sveder. Ich habe zuverlässige Informationen, daß es für dich und ihn gefährlich wird!" „Meinst du, das wüßte ich nicht? Braucht nur jemand von der Polizei zu kommen und die Personalien zu überprüfen. In der ganzen Stadt suchen sie nach Plünderern!" „Ich habe schon alles vorbereitet, alter Junge!" Doktor Neri erläuterte in knappen Sätzen seinen Plan. „Klingt verrückt", antwortete Sveder. „Aber gerade deshalb wird es funktionieren. Nur mit dem zweiten Teil bin ich nicht einverstanden. Da habe ich eine bessere Lösung!" Doktor Neri hatte zwar Bedenken gegen den Vorschlag Sveders, stimmte aber schließlich zu. Acht Minuten nach Mitternacht war das Gespräch beendet. Doktor Sveder konnte sich für zwei Stunden schlafen legen.
25 4. September 2038. Nach nur vier Stunden Schlaf wachte ich mit bleischwerem Kopf auf. Draußen dämmerte der Morgen. Und was für ein Morgen! Die Sonne schob sich blutig zwischen den Wolkenfetzen durch, weiße Nebelstriche über dem Gelände ließen sich vom Wind treiben. Ein Morgen, als hätte es niemals einen Virusausbruch gegeben. Ich hatte Kopfschmerzen, der fehlende Schlaf machte sich bemerkbar. Die Zentrifuge lief schon wieder oder immer noch. Ich fragte mich, wann Albert endlich schlafen wollte. Ethel lag neben mir. Wir hatten in meinem Büro Luftmatratzen ausgelegt, weil wir die Labors zum Arbeiten brauchten. Sie schlief noch tief, atmete ruhig und gleichmäßig.
Von draußen hörte ich Stimmen. Ich stand auf und ging zum Fenster. Eine Arbeitskolonne in Schutzanzügen, die Waffen griffbereit an der Seite, arbeitete an den Mansfield-Gebäuden. Sie hatten einen Graben ausgehoben und versprühten Desinfektionsflüssigkeit gegen die Labors. Es sah aus, als löschten sie einen unsichtbaren Brand. Aber der Virusausbruch war gefährlicher als Feuer. Ein unsichtbarer Feind, ein Winzling, ein Elektronenmikroskopling, der gefährlich war, der töten konnte. Mit ungeheurer Präzision. Man sah rund um das Gebäude das marmorfarbene, befallene Gras. Und es schien mir, als sei der Streifen breiter geworden. Aber das konnte täuschen. Leise, um Ethel nicht zu wecken, ging ich in den Zentrifugenraum. „Hast du diese Nacht geschlafen?" „Man kann sie doch nicht ausschalten", antwortete Albert. „Du legst dich jetzt hin und schläfst. Fünf Stunden mindestens. Trotz allem müssen wir unsere Kräfte einteilen. Ich werde heute einen Schichtplan aufstellen." Er nickte und wankte aus dem Raum. Neun Stunden Zentrifuge! Selbst für Albert Estling war das zuviel. Ich setzte seine Arbeit fort. Er hatte in diesen kurzen Nachtstunden drei Chromosome in all ihre Gene zerlegt, blockierte Gene dem Autoanalyser zugeführt und die Resultate vom Rechner speichern lassen. Aber der Mensch hat sechsundvierzig Chromosome, und die Zusammensetzung der REN mußte genau stimmen, wenn wir Aussicht auf Erfolg haben wollten. Ich arbeitete fünf Stunden, ehe mich Ethel ablöste. Die Zentrifuge rotierte ununterbrochen. Der Kampf gegen die Zeit. Unsere Chancen standen nicht schlecht. 5. September 2038. Es waren zwei Durchsagen Professor Jazdanis, die uns unsere aussichtslose Lage klarmachten. Die erste kam sieben Uhr dreißig, mußte also schon in der Nacht beschlossen worden sein. „Alarmstufe drei! Alle Labors und Privatunterkünfte sind unverzüglich zu räumen. Alle Mitarbeiter begeben sich auf Abruf in Schutzanzügen zum Zentralgebäude! Das Wanderfeld-Team ist von dieser Maßnahme ausgeschlossen!" Alarmstufe drei! Sie hatten das gesamte Gelände aufgeben müssen, sie hatten sich und uns aufgeben müssen. Das Institut war zu zwei winzigen Festungen zusammengeschrumpft. Draußen wüteten wie im Mittelalter die feindlichen Heerscharen. Und wehe dem, der keine Festung sein eigen nennen konnte, ohne Gnade würde er vernichtet werden. Doch was waren unsere Festungen wert? Wenn wir aus dem Fenster sahen, konnten wir den Grund für die Alarmstufe drei leicht erkennen. Das marmorierte Gras hatte den ausgehobenen Sperrgraben rund um das Mansfield-Gebäude. überwun-
den. An einigen Stellen hatte das Virus bereits einen Meter Land gewonnen und schob sich zungenförmig gegen das Zentralgebäude und gegen unsere Labors vor. Als wüßte es, wo sich unsere letzten Bastionen befanden. Ich versuchte Jazdani zu erreichen. Ein gutes Wort, ein Jazdaniwort wollte ich hören. Was gäbe ich darum, jetzt mit ihm bei Coodliffe und Sohn zu sein. Oder irgendwo. Ich erreichte aber nur Betty, seine Sekretärin. Sie sah übernächtig aus, die Organisation des Chaos lag zum Teil auch in ihren Händen. „Der Professor ist im Moment nicht zu sprechen", sagte sie müde. „Selbst für Sie nicht, Wanderfeld! Er überwacht den Rückzug." „Wir haben nicht genug Nahrungsmittel." „Wir auch nicht", antwortete sie kurz angebunden. „Schränkt euch ein. Wir haben den Küchentrakt aufgeben müssen. Fast alle Lebensmittelvorräte sind verseucht!" „Könnt ihr uns überhaupt nicht helfen?" „Eine Kiste Dauerfleisch könnt ihr bekommen. Ich schicke sie mit der Ordnungstruppe rüber. Aber desinfiziert sie sorgfältig, ehe ihr sie reinnehmt!" „Besteht noch Hoffnung?" „Herrgott noch einmal", schrie sie mich an. „Im Moment leben Sie, Doktor Wanderfeld. Genügt das nicht?" Professor Jazdani beorderte über Lautsprecher nach und nach alle Mitarbeiter, die sich noch in den Labors oder ihren Bungalows aufgehalten hatten, in das sichere Zentralgebäude. Man hatte die Zeit zum Einschleusen auf fünfzehn Minuten verkürzen müssen, die Strahlendosis bis zur erträglichen Grenze erhöht, dennoch, die Schleusen waren viel zu klein und einer solchen Katastrophe nicht gewachsen. Wohl auch nicht dafür berechnet. Besonders kritisch war die Lage der Frauen. Mit einemmal wurde erkennbar, wie groß das Institut gewesen war, wie viele Frauen sich zum Zeitpunkt des Unfalls im Gelände befanden: die Küchenbesatzung, die zweite und zum Teil die dritte Schicht Laborantinnen der einzelnen Teams. Und viele Kolleginnen hielten sich um siebzehn Uhr zwanzig in ihren Bungalows auf, und gerade die Unterkünfte, die über kein Schleusensystem verfügten, lagen jetzt im unmittelbaren Gefahrenbereich. Es zeigte sich auch, daß nicht alle die Sicherheitsbestimmungen beachtet hatten, manche Laborantin verfügte nicht einmal über einen Schutzanzug. Die Ordnungstruppe war den ganzen Tag draußen, um gefährdete Mitarbeiter zu bergen. Und sie kam nicht immer rechtzeitig, der Virusausbruch forderte zwei weitere Todesopfer, ein junges Forscherehepaar vom Team vier. Sie war zum Zeitpunkt der Katastrophe im Bungalow, er im Labor. Und ohne jeden Schutz hatte er in der Nacht das Labor verlassen, seine Frau infiziert. Wie viele würden noch folgen? Oder zutreffender, wie viele würden bleiben?
Am Nachmittag riß uns die zweite Durchsage des Professors aus der Arbeit. „Die Institutsleitung verkündet mit sofortiger Wirkung das Standrecht. Unter das Standrecht fallen alle Fälle von Meuterei, Befehlsverweigerung, Plünderei und Diebstahl. Ich gebe die Zusammensetzung des Standgerichts bekannt: Vorsitzender Professor Jazdani. Beisitzer Doktor Koopal, Doktor Stipanitsch und Doktor Nell. Die erste Verhandlung wurde für den sechsten September zweitausendachtunddreißig angesetzt. Zur Verhandlung steht der Fall Doktor Tucker." Es erschien mir absurd, in einer solchen Situation ein Sondergericht einzusetzen, denn ich kannte die volle Wahrheit nicht. Glücklicherweise. Die Macht, die Jazdani damit in seiner Festung hatte, war gottähnlich geworden. Immer noch ein Glück, zu dritt sterben zu dürfen. In der Arbeit kamen wir sehr gut voran. Die Hälfte der Chromosomen war schon bearbeitet. Dadurch, daß alle anderen Teams ihre Arbeit eingestellt hatten, stand uns fast die gesamte Rechnerkapazität des Institutes zu Verfügung. In den nächsten zwei Tagen würde die Arbeit voraussichtlich in ihre entscheidende Phase treten. Aber es gab andere Sorgen, vor allem den Mangel an Nahrungsmitteln. Am Abend stellte ich mich auf die Waage. Der Hunger würde weh tun, aber er würde mir nicht sehr schaden. Ich konnte zusetzen, ich hatte Übergewicht. Wir suchten nach einem Arbeitszyklus, der uns mehr Schlaf ermöglichte, denn die Zentrifuge mußte laufen. Und acht Stunden allein im Zentrifugenraum hielt keiner von uns durch. Deshalb hatte ich mich mit Albert und Ethel auf einen fünfstündigen Schichtturnus geeinigt. Nach Schichtschluß fielen wir gewöhnlich wie die Toten auf unsere Luftmatratzen. Draußen breitete sich der marmorrote Rasen weiter aus. Die unteren Blätter der Bäume waren auch schon befallen. Ein furchtbarer Anblick. 6. September 2038. Mein Arbeitstag begann schon um drei Uhr. Draußen war es noch dunkle Nacht. Ich löste Ethel ab, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Selbst für ein kurzes Gespräch war sie zu müde. Noch vierzehn Chromosomen! Das Ziel rückte näher. Vor Schichtbeginn hatte ich die Tagesrationen aufgeteilt. Albert hatte ausgerechnet, daß uns täglich etwa neunhundert Kilokalorien zur Verfügung standen. Das deckte natürlich unseren Nährstoffbedarf nicht, aber es würde uns immerhin sechs Wochen am Leben halten. Zur Zeit wußte niemand, ob es noch sechs Wochen dauern würde. Der befallene Rasen hatte unser Gebäude erreicht. Würden die Schleusen einen Viruseinbruch in die Labors verhindern können? Waren die eingegossenen Fenster wirklich dicht? Sollte es zu einem Viruseinbruch kommen, wollten wir bei den allerersten Anzei-
chen die Arbeit einstellen und unsere Vorräte in einem letzten großen Festessen verprassen. Wenn schon sterben, dann wenigstens mit vollem Magen. Die Rezeptoren, die Albert an allen gefährdeten Stellen angebracht hatte, schwiegen. Zum Hunger und zu dem Zeitdruck, unter dem wir arbeiteten, kam also eine weitere Belastung dazu, das ständige, unbewußte Beobachten der Rezeptoren, das ermüdende Warten auf den ersten Warnton. Meine fünf Stunden an der Zentrifuge vergingen ohne besondere Vorkommnisse, um die Formulierung zu gebrauchen, die ich in unser Laborbuch eintrug. Wie viele Sinnlosigkeiten man aus purer Gewohnheit in dieser sterbenden Welt aufrechterhielt. Denn auch die umstehenden Bäume verloren die ersten Blätter, wie rötliche Fähnchen flatterten sie zu Boden, führten uns unser eigenes baldiges Ende vor Augen. Und wir konnten uns nicht von unseren Gewohnheiten trennen. Als sei nichts geschehen, Eintragungen in das Laborbuch: Keine besonderen Vorkommnisse. Albert löste mich ab. Er war der Ruhigste, der Sicherste von uns. „Was meinst du", fragte er, „werden sie Tucker verurteilen?" „Nein, das glaube ich nicht." „Sie haben das Standrecht ausgerufen, er hat sich sowohl deinen als auch Professor Jazdanis Befehlen widersetzt. Das wird ihm bestimmt als Meuterei ausgelegt werden. Noch dazu in einer solchen Situation!" „Wir werden ja sehen", antwortete ich. „Er hat es sich selber zuzuschreiben. In ein paar Stunden werden wir klüger sein." „Trotzdem, ich bitte dich, sprich noch einmal mit dem Professor. Man muß nicht immer bis zum Äußersten gehen." „Machst du mir Vorwürfe, daß ich ihn verhaftet habe?" „Davon kann keine Rede sein, Solveg. Aber hättest du ihn festgenommen, wenn du vom Standrecht gewußt hättest?" „Ich verspreche dir, ich rufe Jazdani an." Ich hatte kaum fünf Stunden geschlafen, als ich durch Ethel wach wurde, sie mußte Albert ablösen. „Mein Gott", sagte sie, „wie sinnlos das alles ist!" „Nicht sinnloser als gestern", antwortete ich und hätte ihr gern etwas Tröstendes gesagt. Aber es gab nichts zu sagen, außer, daß die Nationalgarde unser Institut umstellt hatte. Mit Postenketten auf der Zufahrtsstraße, mit schweren Waffen im Gelände, mit Helikoptern, die ständig über dem Gelände kreisten und wie zum Hohn Nahrungsmittel abwarfen. Jetzt, nachdem das Virus fast das gesamte Gelände befallen hatte und niemand mehr die Nahrungsmittel bergen konnte. Ethel informierte mich, weshalb die Nationalgarde eingegriffen hatte. Die lokale Fernsehstation Nakinas hatte eine Demonstration übertragen, die sich eindeutig gegen unser Institut richtete. Auf dem Bildschirm waren Frauen
zu sehen gewesen, junge Frauen, die um ihre Kinder fürchteten. Die von der Angst getrieben wurden, die Seuche könne auf die Stadt übergreifen, denen man ansehen konnte, daß sie bereit waren, die Gefahrenquelle Forschungsinstitut Professor Mervyn Jazdani mit Mann und Maus auszuräuchern. Die Nationalgarde hatte diese Demonstration auseinandergetrieben. Es hatte Verletzte gegeben. Der Reporter bezeichnete die Situation in der Stadt als äußerst gespannt. Ein neuer Gegner. Die Viren und der Hunger drinnen, die feindliche Stadtbevölkerung draußen. Wie oft kann ein Mensch sterben? Dreizehn Uhr. Ablösung zwischen Albert und Ethel. „Hast du schon gehört", informierte Albert mich, bevor er sich schlafen legte, „im Zentralgebäude scheint der Teufel los zu sein. Sie haben vorhin zwei Laborantinnen bei einem Lebensmitteldiebstahl erwischt und sofort standrechtlich abgeurteilt, zum Tode, wegen Plünderei!" „Das gibt es doch nicht!" „Doch, doch, die Urteile wurden bereits vollstreckt. Jetzt kannst du dir ausrechnen, was mit Tucker geschehen wird." „Plünderei und das, was er getan hat, ist doch etwas völlig Verschiedenes. Das kannst du doch nicht miteinander vergleichen. Außerdem, selbst wenn es Meuterei war, sie lag vor der Verkündung des Standrechts!" „Du hast recht, Solveg. Aber ich glaube, man muß die Sache anders sehen. Sie haben noch weniger Lebensmittel als wir. Und Tucker ist ein unnützer Esser. Das ist die einfache Wahrheit." Ich rief sofort Professor Jazdani an. Betty versuchte mich wie üblich abzuwimmeln, verband mich dann aber doch, als ich energisch wurde und drohte, sie vor das Standgericht zu bringen. Standgericht, das neue Schockwort am Institut Jazdani. Ein Wort, vor dem sogar eine Betty kuschte. Jazdani meldete sich schließlich. „Was gibt es, Solveg?" „Mervyn, es geht uns um Kollegen Tucker. Beziehungsweise um seinen Prozeß." „Ich verstehe dich nicht." „Welches Strafmaß erwartet ihn?" „Da fragst du noch? Blättere in der Geschichte, und du wirst entdecken, welches Strafmaß seit Jahrtausenden für Meuterei üblich ist." „Du willst ihn zum Tode verurteilen?" „Liebe Solveg", antwortete er, und ich sah, wie übermüdet er war, „wenn du etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen hast, was ich mir allerdings nur schwer vorstellen kann, dann sag es mir bitte. Ansonsten beginnt das Verfahren in einer Viertelstunde. Und ich bin wirklich sehr beschäftigt! Du machst dir keine Vorstellungen, was hier im Zentralgebäude los ist! Sei
froh, daß du in deinem Labor bleiben konntest und Arbeit hast." „Trotzdem, ich gebe dir im Auftrag meines Teams zu bedenken, daß Doktor Tucker meuterte, bevor das Standrecht verkündet wurde. Unter den jetzigen Bedingungen hätte er vielleicht anders gehandelt. Ich bitte dich, das zu berücksichtigen!" „Das kann schon sein", räumte er ein. „Aber für das Gericht ist die Meuterei schwerwiegender als dein Einwand. Ich danke dir trotz allem für deinen Hinweis." Er legte auf. Da begriff ich, daß Tucker nicht mehr zu helfen war. Zwei Stunden später schon wurde das Urteil vollstreckt, ohne daß unser Team noch einmal um seine Meinung befragt wurde. Jazdani demonstrierte Härte. Vielleicht die einzige Möglichkeit, ein Chaos im Zentralgebäude zu verhindern, in dem sich Dutzende von Menschen auf engstem Raum drängten, in dem es an allem fehlte, besonders aber an Lebensmitteln, und in dem die Lage stündlich gespannter wurde. Selbst die Mitglieder der Ordnungstruppe mußten ihre Schußwaffen abgeben. Nur noch Jazdani, Stipanitsch, Koopal und Nell trugen Pistolen.
26 6. September 2038, vierzehn Uhr zweiundzwanzig. Doktor Sveder saß in seinem Bereitschaftszimmer und starrte auf das Videophon. Schon stundenlang. Wann wollte dieser verdammte Apparat endlich summen! Zu viel hing davon ab. Als es soweit war und die Kontrollampe aufleuchtete, kam es dem Arzt vor, als klebe er an seinem Sessel fest, als käme er nicht schnell genug an das Gerät. Er drückte die Sprechtaste, und sofort war auf dem Bildschirm das markante Gesicht von Handelsrat Fisher zu sehen. „Meine Sekretärin sagte mir, Sie hätten schon mehrmals versucht, mich zu erreichen, Doktor! Habe ich einen Termin verpaßt, oder können Sie uns ein Serum gegen dieses Virus anbieten, oder was gibt es sonst Wichtiges?" „Ich habe ein Problem, Mister Fisher. Und ich wüßte nicht, wer außer Ihnen mir noch helfen könnte." „Immer raus mit der Sprache, Sveder!" „Ich hatte einen Patienten des Forschungsinstitutes Jazdani in Behandlung." „Was denn, etwa mit der Seuche?" „Nein, nein, keine Sorge. Lange vor dem Unfall brachte Professor Jazdani einen seiner Laboranten in sehr kritischem Zustand zu mir. Na ja, bei einer Notaufnahme sind die Formalitäten Nebensache. Aber dann vergaß der Professor, mir die Personalien nachzumelden.
Ich habe mehrfach gemahnt, aber Sie wissen ja, Professor Jazdani ist ein vielbeschäftigter Mann. Es war ja auch nicht so wichtig. Aber jetzt, nach dem Unfall?" „Sie befürchten, daß man diesen Laboranten mit der Seuche in Verbindung bringen könnte?" „Das nicht, aber der Patient ist in der vergangenen Nacht verstorben. Ich sitze da und kann noch nicht einmal einen Totenschein ausfüllen. Das glaubt mir doch kein Mensch, Mister Fisher. Stellen Sie sich vor, meine Klinik wird überprüft! Sie haben doch Direktverbindung mit dem Institut. Können Sie mir nicht die Personalien beschaffen, damit der Mann unter die Erde kommen kann?" Sveder, Sveder, dachte Handelsrat Fisher höchst befriedigt, das war das wichtigste Videophonat des ganzen Tages. Wenn du wüßtest, wie viele Sorgen du uns abnimmst! Laut sagte er: „Ich wundere mich natürlich ein bißchen über Ihre Nachlässigkeit. Das kennt man doch sonst nicht von Ihnen! Aber ich helfe natürlich gern. Ich melde mich wieder, wenn ich mit Professor Jazdani gesprochen habe." Angebissen, dachte Doktor Sveder erleichtert und legte auf.
27 6. September 2038, vierzehn Uhr neunundzwanzig. Handelsrat Fisher verfügte nun endlich über eine Direktleitung zum Krisenstab. „Hallo, Oberst Phillips!" „Hallo, Handelsrat. Sie sehen mich wie immer ganz zu Ihren Diensten!" „Möchte Sie nur kurz informieren, daß Sie die Aktion Sveder abblasen können!" „Nanu, Fisher! Taktische Kehrtwendung?" „Sagen wir Glück, Phillips. Ein Todesfall, der uns äußerst gelegen kommt!" „Doktor Sveder?" „Ist kerngesund, Oberst. Und so wichtig war die Sache auch wieder nicht." „Ihr Problem, Fisher. Ich bin jedenfalls nicht böse, daß Sie meine Hilfe nicht mehr benötigen." 6. September 2038, fünfzehn Uhr sieben. „Habe gute Nachrichten für Sie, Professor Jazdani!" „Zusätzliche Verpflegungsrationen wären mir lieber als gute Nachrichten!" „Haben wir doch abgeworfen!" „Ja, als es zu spät war. Das Zeug liegt draußen und verdirbt. Und hier wird die Lage immer gespannter. Ich kann mich nicht einmal mehr auf meine
Ordnungstruppe verlassen!" „Halten Sie durch, Jazdani. Bei uns arbeiten drei Projektgruppen mit Hochdruck an Ihrer Rettung. Es wird getan, was menschenmöglich ist!" „Das ist offensichtlich nicht viel." Handelsrat Fisher antwortete nicht. Was sollte er dem Professor sagen. Jazdani wußte selbst, wie minimal die Chancen waren. „Hören Sie, Jazdani", sagte er nach einer Weile. „Ihr Corpus delicti ist gestorben." „Ist zwar für mich nicht mehr von weltbewegender Bedeutung", antwortete Jazdani, „aber haben Sie die Sache überprüft?" „Doktor Sveder rief mich vor einer halben Stunde an. Er braucht Personalien, um den Totenschein ausfüllen zu können." „Lassen Sie den Leichnam beschlagnahmen. Sicher ist sicher!" „Sind Sie immer noch mißtrauisch?" „Ach, machen Sie doch, was Sie wollen! Es geht ausschließlich um Ihre Interessen. Meine Probleme werden durch ein Virus gelöst, und das gründlich!" Professor Jazdani brach die Verbindung ab. 6. September 2038, fünfzehn Uhr dreiunddreißig. „Oberst, Sie müssen mir doch noch einmal helfen!" „Das ist kein Krisenstab, das ist ein Fisher-Stab, mit Verlaub gesagt!" „Immer noch der Fall Sveder. Ich habe mit Jazdani gesprochen. Sie sollen die Leiche beschlagnahmen." „Ist in Ordnung, Handelsrat. Wird sofort erledigt. Sie wissen ja, für Sie tue ich alles!"
28 7. September 2038. Das einzig Positive dieses Tages waren die Fortschritte, die wir in der Regeneration der Mansfield-Leber erreichten. Ansonsten verschärfte sich unsere Situation ständig. Im Zentralgebäude brach in der Nacht eine Revolte aus. Die Lage war zeitweise ziemlich verworren, die Nachrichtenverbindung zum Teil unterbrochen. Nun schienen sich zwei Gruppen das Zentralgebäude zu teilen. Eine größere um den Professor, die den wichtigsten Teil des Komplexes, das Nachrichtenzentrum und die Vorratslager, beherrschte und weiterhin im Institut auszuharren entschlossen war. Eine kleine Gruppe hatte sich in drei Räume verbarrikadiert und wollte den Versuch wagen, aus dem Institut auszubrechen. Natürlich ein -Wahnsinnsunternehmen. Offensichtlich wurden sie vom Hunger zu diesem Schritt getrieben, es gab für sie keine andere Wahl. Entweder Standgericht, Verhungern, denn sie verfügten nicht über Vorräte, oder der Ausbruch. In allen drei Fällen das Todesurteil. Der Ring der Nationalgarde um das Institut wurde weiter verstärkt. Pausen-
los flogen Transporthubschrauber Truppen und schweres Gerät heran. Es hatte den Anschein, als solle unsere Festung belagert werden. Auf Jahre hinaus. Der Krisenstab hatte die lokale Fernsehstation Nakina schließen lassen. Er hatte es damit begründet, daß die nahezu ausschließliche Berichterstattung über den Unfall geeignet gewesen sei, die Unruhe unter der Bevölkerung Nakinas noch zu verstärken. Damit waren wir auf Landesstationen und die internationalen Satellitenprogramme angewiesen, in denen unser Fall, wenn überhaupt, nur in einem Nebensatz erwähnt wurde. Mit dem Urteil gegen Doktor Tucker waren wir nicht einverstanden. Auf Drängen Alberts und Ethels teilte ich das Professor Jazdani in einer Art Resolution mit. Betty nahm sie schweigend entgegen. Eine Antwort Jazdanis bekamen wir nicht. Für ihn war die Angelegenheit längst erledigt. Die Genanalyse der Mansfield-Leberzellen konnte abgeschlossen werden. Sechshundert Seiten Rechnerausdruck, Gen auf Gen, REN nach REN. Unsere Brutschrankversuche konnten beginnen, es blieben noch zehn Tage Zeit. Mansfields Zustand sei den Umständen entsprechend gut, teilte mir Doktor Stipanitsch auf Anfrage mit. Dennoch, ich hatte wenig Hoffnung. Und er auch. Draußen breitete sich ein marmorroter Teppich über das Gelände. Die Bäume waren vollkommen kahl, sogar die Koniferen, sicher auch die Douglasie neben meinem Bungalow. Gut zweihundert Jahre hatte sie da gestanden, anscheinend unsterblich. Jedes Frühjahr in kraftstrotzendem Neutrieb, und jetzt hatten vier Tage genügt. Man müßte die Frage stellen, welchem Ziel eine Forschungsarbeit dienen kann, die solche Virusstämme erzeugt. Man müßte viele, viele Fragen stellen!
29 7. September 2038, elf Uhr dreiundvierzig. Vor der Privatklinik Doktor Sveders hielt ein Wagen der „QuäkerHilfsorganisation", gleich darauf ein Zivilauto mit dem aufgeklebten Emblem der Nationalgarde. Zwei Offiziere stiegen aus, ließen sich von einer Schwester zum Bereitschaftszimmer Doktor Sveders führen. „Sie hatten einen Todesfall in Ihrer Klinik, Doktor Sveder?" Der Arzt nickte. „Nach unseren Informationen handelt es sich um einen gewissen William Smith, geboren am sechzehnten Januar achtundachtzig." Doktor Sveder nickte abermals. „Die Leiche ist auf Anordnung der medizinischen Sektion des Krisenstabes beschlagnahmt." „Darf man wissen, weshalb?"
Die Offiziere sahen den Arzt erstaunt an. „Alle Todesfälle werden zur Zeit genauer untersucht", antwortete der ranghöhere. „Wir sind den ganzen Tag unterwegs. Es ist eine zentrale Pathologie eingerichtet worden. Hat man Ihnen diese Anweisung nicht durchgegeben?" „Entschuldigen Sie, muß ich übersehen haben." Doktor Sveder sah dem Wagen mit dem roten Kreuz auf dem Dach lange nach. Leiche beschlagnahmt. Das war nicht eingeplant, das konnte sogar gefährlich werden. Er wählte eine Nummer in Seattle.
30 8. September 2038. Wie schon so oft seit unserer Tätigkeit an diesem Institut standen wir vor den Brutschränken und warteten auf ein erstes und entscheidendes Teilresultat. Sollte dieser Versuch erfolglos sein, war das Urteil über Doktor Mansfield endgültig gefällt. Wir konnten lediglich die Konzentration unserer REN-Lösung variieren. Die Zusammensetzung der Lösung entsprach genau den Computerangaben. Von außen war den Reagenzgläsern nichts anzusehen. Vorsichtig schoben wir die ersten behandelten Zellen unter das Mikroskop. Ganz ohne Zweifel Wachstum. Zellhaufen, die etwa einer Morula vergleichbar waren. Ein erfreuliches Ergebnis, und das schon nach so kurzer Zeit. Das war mehr, als wir erwartet hatten. Zur Sicherheit wurde der Versuch wiederholt, die Konzentration noch einmal geringfügig erhöht. Wir mußten mit der REN sparsam sein, jetzt, nachdem es keinen Nachschub aus dem zentralen Chemikalienlager mehr gab. Die Zellhaufen kamen zurück in die Brutschränke, die Temperatur wurde um zwei Zehntel Grad erhöht. Morgen würde es sich entscheiden, ob Mansfield sterben mußte oder nicht. Im Zentralgebäude schien die revoltierende Gruppe zu unterliegen. Sie hatte schon ein Zimmer aufgeben müssen. Damit hatte sich ihre Chance, das Gebäude verlassen zu können, weiter verringert. Ein Glück, daß die Leute keine Schußwaffen besaßen. Sie brächten es fertig, die Fenster zu beschädigen und damit das Virus sozusagen hereinzubitten. Fast ein Glück, daß wir in unseren Labors arbeiten konnten! Viele aus dem Zentralgebäude würden uns wohl beneiden. Überhaupt waren wir seit dem Unfall viel bescheidener geworden. Keine Spur mehr von den früheren Auseinandersetzungen. Auch der Hunger war nicht so schlimm, wie wir befürchtet hatten. Das hatten wir Ethel zu verdanken. Die entdeckte in unseren Chemikalienvorräten einen ganzen Sack Tragant und drehte daraus „Essenpillen". Die Masse quoll im Magen und verhalf uns zu einem gewissen Sättigungsgefühl. Natürlich ist Tragant als Nahrungsmittel völlig wertlos, aber unschädlich, und es machte auf bequeme Art „satt". Bestellt hatten wir es als Haftmittel für den Sala-
mandra-salamandra-Laich, eine unserer Laborantinnen hatte geschlafen und aus Versehen fünfzig Kilogramm, statt fünfzig Gramm besorgt. Glückliches Versehen, Dank dieser Laborantin! Die Welt will betrogen sein, der Magen will betrogen sein. Es lebe Tragant! 9. September 2038. Einer der Tage, die zweimal zu durchleben man möglicherweise nicht die Kraft hätte. Ein Tag, den ich liebend gern gegen den Zahnbürstentag eingetauscht hätte, an dem ich damals glaubte, eine andere Wanderfeld werden zu müssen. Aber wann änderte man sich schon? Wann zehrte ein einziger Tag derart an der Substanz, daß man sein Spiegelbild nicht mehr erkannte oder nicht mehr erkennen wollte? Ich beneidete die Menschen, die ihr Leben im Mittelmaß, in Ruhe und damit sorgenfrei zu leben verstanden, vielleicht ohne jemals das ganz große Glücksgefühl zu spüren, aber auch ohne einen neunten September durchleben zu müssen. Vielleicht spürte man die Wirkung eines solchen Tages erst viel, viel später. Vielleicht waren solche Tage Tiefschläge mit Zeitzünder. Und ständig würde man das Ticken hören. Ein trüber Morgen, durch die rotbraune Farbe unseres Geländes in seiner Stimmung noch unterstrichen. Ich hatte schlecht geschlafen. Das ständig gleichmäßige Raumklima bekam mir nicht gut. Gegen sieben Uhr löste ich Ethel an den Brutschränken ab. Der Dienst dort war eigentlich eine sinnlose Sache, die Schränke verfügten über eine moderne Alarmeinrichtung und über ein perfektes Reglersystem, was Temperatur, Druck, Vibration und Luftfeuchtigkeit betraf. Aber wir hatten beschlossen, daß sich trotzdem immer jemand von uns im Raum aufhalten sollte, die Versuche waren einfach zu wichtig. Wir wollten auch das kleinste Risiko ausschließen. Obwohl Ethel den größten Teil der Nacht hatte schlafen können, sah sie ausgesprochen blaß und übermüdet aus. „Es ist wirklich nichts", wehrte sie meine Frage ab. „Kopfschmerzen und der Hunger. Das geht vorbei." Wir unterhielten uns noch ein paar Minuten, als sieben Uhr neunundzwanzig im Lautsprecher eine Stimme zu hören war: „Aufgeben sollen wir? Sie scherzen, Professor Jazdani!" „Ihre Lage ist aussichtslos. Geben Sie auf! Ich sichere Ihnen zu, daß Sie nicht vor das Standgericht kommen werden. Wir garantieren Ihnen allen das Leben!" „Das soll wohl ein Witz sein, Professor! Erstens verkennen Sie die Lage gründlich. Nicht Sie sind es, der die Bedingungen stellen kann, nicht Sie, Professor! Sondern wir! Und zweitens wissen wir genau, wie Sie sich an solche Abmachungen halten, wenn wir darauf eingehen würden." „Verwechseln Sie mein Angebot nicht mit Schwäche!" „Hören Sie, Professor. Der Raum hier war früher Chemikalienlager. Wir
haben aus den Vorräten Nitrotoluol hergestellt und uns ein kleines Bömbchen gebastelt. Was sagen Sie nun?" „Sind Sie wahnsinnig geworden?!" „Wenn Sie aufgehört haben zu brüllen, Jazdani, dann melde ich mich wieder. Ich verhandle nicht gern mit einem Flegel!" Für Sekunden schwieg der Lautsprecher. Ethel und ich sahen uns erschrocken an. „Wir kommen hier nicht mehr heraus", flüsterte sie tonlos und hatte dabei Tränen in den Augen. „Was das Virus nicht schafft, das erledigen wir selber!" „Hören Sie", war da wieder die Stimme des Professors. „Sie können uns mit Ihrer Bombe nicht schrecken. Viel zu schwach, um das Gebäude auch nur ernsthaft zu beschädigen. Ich habe die Rohstoffmengen für Ihr Nitrotoluol berechnen lassen, ein Fingerhut voll, bestenfalls!" „Sie haben recht, Jazdani. Wir können das Gebäude nicht sprengen. Unsere Bombe ist eigentlich sogar harmlos. Aber nur zu normalen Zeiten. Jetzt dagegen ist ein kleines Loch in einer Fensterscheibe tödlich. Auch für Sie. Und das schafft unser Fingerhut. Sollen wir es versuchen?" Wieder eine endlose Sekundenpause. Und ein unterdrücktes Stöhnen Ethels. Sie sah leichenblaß aus. Ich werde ihre Ration erhöhen müssen. Der Hunger macht uns allen zu schaffen. „Also gut, nennen Sie Ihre Bedingungen!" „Sie ziehen sich aus allen Räumen rund um die Schleusen zurück. In den Gang legen Sie fünf Schutzanzüge. Das ist alles, was wir von Ihnen verlangen. Und natürlich die Schlüssel zur Hauptschleuse!" „Sie wollen einen Ausbruch wagen? Aber rund um das Gelände steht Nationalgarde! Sie haben absolut keine Chance!" „Unsere Sache. Wir gehen zum Ausgang und verlassen das Institut durch die Hauptschleuse. Dann sind wir sauber. Niemand wird uns ein Haar krümmen. Wir werden der Nationalgarde beweisen, daß wir sauber sind!" „Ihre Forderung ist der reine Wahnsinn. Ich muß mich erst mit anderen Kollegen beraten." „Aber nicht zu lange, Professor. In genau zwanzig Minuten detoniert die Bombe. Sie wissen, was das für alle bedeutet. Überlegen Sie gut, Professor!" Sieben Uhr vierunddreißig. Blitzgespräch mit Oberst Phillips, Chef des Krisenstabes Nakina. „Oberst, sie wollen endgültig ausbrechen." „Haben Sie die Leute informiert, daß wir schießen werden?" „Natürlich. Aber ich kann sie nicht halten. Sie verfügen über einen kleinen
Sprengkörper. Stark genug, die Sicherheitsscheiben des Zentralgebäudes zu zerstören. Das wäre das Ende." „Scheiße!" Längeres Schweigen Phillips. „Machen Sie den Leuten irgendein attraktives Angebot, das sie vor allem vor dem Standrecht schützt. Und sagen Sie ihnen noch einmal, daß sie nicht lebend herauskommen werden!" Sieben Uhr zweiundvierzig. Die Minuten zogen sich in die Länge. Professor Jazdani schwieg. Mehr als die Hälfte der Zeit war verstrichen, als er sich endlich meldete: „Wir bieten Ihnen das Labor von Team zwei an, groß, sicher, komfortabel, dazu anteilmäßig Lebensmittel. Das ist viel vernünftiger als eine sinnlose Flucht. Man wird Sie beim Verlassen des Institutes töten. Töten müssen! Begreifen Sie das endlich!" „Das ist unser Risiko. Wir wollen nicht langsam verhungern, Professor. Weder hier noch im Labor von Team zwei. Sie haben noch acht Minuten, um uns freien Abzug zu gewähren. Wir scherzen nicht, Professor Jazdani!" Jazdani gab nach. Wir hörten mit, wie er die Räume 009, 010, 011 und 012, unmittelbar neben den Schleusen gelegen, räumen ließ. Die Ordnungstruppe wurde angewiesen, fünf Schutzanzüge bereitzulegen und sich dann in den ersten Stock des Hauses zurückzuziehen. Damit war der Weg nach außen frei. Acht Uhr neun. Blitzgespräch zwischen Krisenstab Nakina und der amerikanischen Landessektion der Biologischen Gesellschaft San Francisco. „Sie müssen auf jeden Fall Zeit gewinnen, Oberst, mit den Ausbrechern verhandeln. Zeit gewinnen. Ziehen Sie einen Psychologen hinzu. Es darf unter keinen Umständen zu einem Ausbruch kommen. Das Virus ist viel zu gefährlich!" „Die Ausbrecher werden vermutlich die Hauptschleuse benutzen und sich gründlich desinfizieren. Sind sie damit virenfrei?" „Nein, Oberst. Wenn dem so wäre, könnten wir nach und nach alle Mitarbeiter des Institutes ausschleusen. Das Risiko bleibt unberechenbar hoch. Schleuse hin, Schleuse her!" Acht Uhr elf. Anweisung des Chefs des Krisenstabes an den Kommandeur der Einsatzkräfte der Nationalgarde: „Leutnant Smith, hören Sie, es ist mit einem Ausbruch von fünf Personen zu rechnen, vermutlich durch die Hauptschleuse!" „Welche Befehle geben Sie für diesen Fall?"
„Der Ausbruch ist unter allen Umständen zu vereiteln. Lassen Sie Ihre Leute in Stellung gehen. Die Gegend ist hermetisch abzuriegeln. Abstand zum Institut mindestens hundert Meter. Sie haben Feuerbefehl. Anschließend darf sich niemand den Ausbrechern nähern. Weitere Anweisungen folgen!" Acht Uhr zwanzig. Der erste der Revoltierenden verließ die Schleuse des Zentralgebäudes. Unter seinen Schritten zerfiel das rotbraune Gras zu Staub. Gleich danach eine zweite, kleinere Gestalt, eine Frau. In kurzen Abständen folgten die restlichen drei. Der letzte, der Wortführer der Gruppe, trug vorsichtig einen Kasten in der Hand. Der Sprengsatz. Die Gruppe ging langsam auf die Hauptschleuse zu. Wir konnten Jazdani erkennen, der hinter seinem Bürofenster stand und in ein Mikrofon sprach. Von draußen, von der Nationalgarde, eine Megaphonstimme: „Setzen Sie die Bombe ab! Gehen Sie zur Eingangsschleuse der Labors von Team zwei! Sie dürfen das Institut nicht verlassen! Hier spricht Oberst Phillips, Chef des Krisenstabes Nakina. Folgen Sie unseren Anweisungen! Wir garantieren Ihnen Sicherheit bis zur Aufhebung von Quarantäne und Standrecht. Verlassen Sie auf keinen Fall das Institutsgelände! Hier spricht Oberst Phillips. Verlassen Sie auf keinen Fall das Institutsgelände!" Die Ausbrecher setzten den Kasten mit dem Sprengkörper wirklich ab, aber nur, um nun auf die Hauptschleuse zuzurennen. Dabei zogen sie eine lange graubraune Staubfahne hinter sich her. Die Nationalgardisten waren in Stellung gegangen. Offiziere gaben letzte Anweisungen. Helikopter wurden angelassen. Immer mehr Soldaten postierten sich in weitem Abstand ringförmig um die Hauptschleuse. Den Flüchtlingen war es gelungen, die innere Schleusentür zu öffnen. Der Offizier, der offensichtlich mit Jazdani in Funkverbindung stand, gab gellend einen Befehl. Die eben noch friedlichneugierigen Gesichter der überwiegend jungen Soldaten verwandelten sich in starre, furchteinflößende Kampfmasken. Die automatischen Waffen wurden in Anschlag gebracht. So vergingen Minuten. So vergingen Sekunden. Wer vermag solche Augenblicke exakt zu messen? Das Massaker brach in dem Moment los, als sich die Außentüren der Hauptschleuse öffneten und die fünf das Institutsgelände verlassen wollten. Die drei Männer und die zwei Frauen waren nackt und hatten sich Kopfund Körperhaare geschoren. Zum Zeichen, daß sie die Seuche nicht aus dem Institut herausgeschleppt hatten, trugen sie Sensoren in den erhobenen Händen und zeigten sie den Nationalgardisten. „Nicht schießen", schrie eine der Frauen. „Wir sind entseucht. Wir sind wirklich entseucht!" Dann gingen sie langsam auf den Ring der Soldaten zu. Nach etwa dreißig Metern knallten die Schüsse. Wie im Zeitlupentempo
brachen die fünf in sich zusammen. Noch während der Schüsse war einer der Helikopter gestartet. Die Soldaten zogen sich zurück. Der Hubschrauber stand über den Leichen der Fünfergruppe. Und während Tankwagen mit Desinfektionsflüssigkeit heranfuhren, setzte der Pilot den unter dem Rumpf des Hubschraubers installierten Flammenwerfer in Tätigkeit. Innerhalb von Sekunden bildete sich am Boden ein schwarzer Kreis. Nebel von Desinfektionsmitteln stiegen auf und umhüllten den Helikopter. Wenige Minuten später war von fünf Menschen nicht mehr übriggeblieben als eine verbrannte Mulde von etwa fünfzehn Meter Durchmesser und gut einem halben Meter Tiefe. Und diese Mulde wurde nun sogar aus einem anderen Hubschrauber mit Desinfektionslösung aufgefüllt. Das unmittelbare Erleben dieses furchtbaren Massakers bedrängte mich den ganzen Tag. Ich hatte immer die fünf nackten Gestalten vor Augen, kahlgeschoren, mit erhobenen Händen, die Sensoren zeigend zum Beweis, keine Gefahr zu sein für die anderen. Und die Maskengesichter der Nationalgardisten. Und die Schüsse. Den Lärm der Helikopter, die Flammen und die flüssigkeitsgefüllte Mulde. Ich sehnte mich nach einem Ruhepunkt, einem jazdanischen Haus in den Bergen. Fern der Welt, mit der milden Wärme des Solariums, dem Schneeblau in der Ferne und der klaren, virenfreien Luft. Virenfrei! Ein Ort, an dem man neue Kräfte auftanken könnte, der einsamen Frieden atmete. Mechanisch ging ich der Arbeit nach. Hatte es überhaupt einen Sinn, Mansfield über Schläuche und Maschinen fast gewalttätig am Sterben zu hindern und gleichzeitig brutal gesunde Menschen umzubringen? Menschen, die vermutlich kerngesund waren? Wie wollte ich die Fortsetzung meiner Arbeit verantworten? Aber waren diese Menschen wirklich gesund gewesen? Und welche Folgen hätte ein Durchbrechen der Quarantäne haben können? Wer hatte die Entscheidung über ihren Tod gefällt? Jazdani? Mit allen Menschen würde ich in diesem Moment getauscht haben, mit Jazdani nicht. Von seiner Verantwortung möchte ich ihm kein Jota abnehmen, nicht für die fünf Ausbrecher, nicht für Doktor Tucker, schon gar nicht für das Überleben einer ganzen Stadt. Nein, sosehr ich mich in jazdanische Geborgenheit wünschte, sie müßte ohne Jazdani sein. Gegen Mittag machte sich trotz allem der Hunger bemerkbar. Ich nahm eine Traganttablette und legte mich schlafen. Die Wache an den Brutschränken übernahmen Ethel und Albert. Ein Geräusch weckte mich. Draußen klapperten Ethels Pantoletten. Ein Blick auf die Laboruhr, gleich sechzehn Uhr. Ethel schien es eilig zu haben, wenn ich ihre Schritte richtig deutete. Ich hörte sie schon zum zweitenmal von den Brutschränken zum Zentrifugenraum laufen. Schwere Schritte
folgten. Albert, auch er schien in Eile zu sein. Ich wurde unruhig, stand auf und ging hinüber zu den Brutschränken. Ethel war allein, saß in einem Sessel und las über die Videoanlage ein Buch. Ich bewunderte sie, daß sie an einem solchen Tag in Ruhe lesen konnte. „Gibt es etwas Besonderes?" fragte ich. „Nein", antwortete sie. „Wo ist Albert?" „Im Zentrifugenraum. Wir haben ein bißchen umgeräumt." Sie zeigte auf die leeren Labortische. „ ,Den Zentrifugenraum brauchen wir doch vorläufig nicht mehr', meinte Albert. Und da haben wir die überzähligen Glasgeräte ausgelagert. Du hast doch nichts dagegen?" „Leg dich jetzt ein bißchen schlafen", sagte ich. „Du hast doch schon Nachtdienst gemacht. Und morgen früh sollst du Albert ablösen!" Ethel sah noch blasser aus als am Morgen. Beim Aufstehen stützte sie sich auf die Tischplatte. Ich werde sie ausplanen müssen. Das kann sich auf die Dauer niemand mit ansehen. Die Schritte auf dem Gang ließen mir keine Ruhe. Ich war davon überzeugt, daß mir Ethel etwas verschwiegen hatte. Die Buchseite auf dem Videoschirm hatte sie auch vergessen zu löschen. Ich überprüfte die Werte der Brutschränke. Alles stimmte. Druck, Temperatur, Nährstoffzufluß, Luftfeuchtigkeit und Sauerstoffgehalt. Ich nahm den Kontrollstreifen und ließ ihn durch die Hand gleiten, während mein Blick prüfend die Werte der letzten Stunden überflog. Plötzlich fühlte ich eine Klebestelle. Ich betrachtete sie genauer. Die aufgedruckte Uhrzeit war überklebt. Nach der Streifenlänge zu urteilen, fehlten drei, höchstens fünf Minuten. Was war in dieser Zeit geschehen? Sowohl vor als auch nach der Klebestelle waren die Werte völlig normal. Was hatte mir Ethel verschwiegen? Weshalb hatte sie diese Minuten aus den Aufzeichnungen entfernt? Waren die Werte in den für die Kulturen kritischen oder gar letalen Bereich geraten? Ich öffnete die Brutschranktür. Sofort sank die Temperatur um zwei Zehntel Grad, der Schreiber druckte die genaue Uhrzeit in den Streifen, sechzehn Uhr achtundzwanzig. Ich entnahm eines der Zentrifugenröhrchen, in denen die Leberzellen gezüchtet wurden, und setzte es unter das Stereomikroskop. Ich meinte meinen Augen nicht trauen zu dürfen. Was ich sah, war keine Leber, würde auch nie eine werden. Ich sah eine winzige Plazenta, die mit tausend Zotten in die umgebende Nährlösung ragte. Ich schaltete Durchlicht ein. Deutlich konnte man Blutgefäße erkennen, eine winzige Nabelschnur, durch die das Blut zu einem unförmigen Körperchen strömte, an dem man schon deutlich den späteren Kopf mit den überdimensionalen Augenwülsten, fast fertig ausgebildete Arme und Beine und den fischförmig ge-
krümmten Körper erkennen konnte. Selbst das Herz pulsierte schon, trieb das Blut mit irrsinniger Geschwindigkeit durch die Äderchen, über die Nabelschnur zurück zur Plazenta. Das Ganze mochte etwa acht Millimeter groß sein. Ein richtiger Embryo. Ein falscher Embryo. Ein künstlicher Embryo. Ein Homunkulus. Wie betäubt schob ich das Röhrchen zurück in den Brutschrank, nahm das nächste heraus. Das gleiche Bild, der Embryo vielleicht etwas größer, die Plazenta stärker ausgebildet, die Herzfrequenz höher. Mit zitternden Händen nahm ich ein Röhrchen nach dem anderen aus dem Schrank. Embryonen, Embryonen, einen ganzen Brutschrank voller Embryonen. „Dann wird unsere Art per Knopfdruck produziert, typengerecht, Fachwissenschaftler zum Denken, Muskelpakete zum Arbeiten, die weiblichsten Weibchen fürs Vergnügen. Versandfertig, nach dem Katalog zu bestellen!" Doktor Tucker hatte recht behalten. Wir waren nicht aus unserer Verantwortung entlassen. Das hier empfand ich als noch viel schlimmer als die Toten vor der Institutshauptschleuse. Das hier konnte das Ende der Menschheit in ihrer bisherigen Form sein. Und solche Konsequenzen waren nicht mit irgendeinem Ausnahmezustand zu entschuldigen. Hier war die Grenze, die ich nicht überschreiten konnte und wollte. Tuckers Grenze hatte nur ein paar Schritte weiter vorn gelegen. Zum erstenmal, daß ich seinen Standpunkt verstand, ja teilte. Zu spät. Für ihn und für mich. Ich zählte die Röhrchen mit den Embryonen durch. Zählte einmal, zweimal, ein drittes Mal. Achtundneunzig Röhrchen. Achtundneunzig, nicht hundert. Wir hatten aber hundert Gläser Zellsubstanz angesetzt! Wo waren die restlichen zwei Gläser geblieben? Hatte die Klebestelle am Kontrollstreifen des Brutschrankes etwas damit zu tun? Hatten Ethel und Albert die Embryonen vor mir entdeckt? Waren die Proben verdorben und deshalb ausgemustert worden? Ich sah im Laborbuch nach. Keine Eintragung, keine Ausmusterung. Ausmusterung, wie das plötzlich klang. Abtreibung wäre das passendere Wort. Wir würden uns an neue Vokabeln gewöhnen müssen! Ich stellte mir vor, was Professor Jazdani sagen würde, wenn ich ihm mitteilte, daß wir uns um achtundneunzig Personen vermehrt hatten. Aber auch ein Jazdani würde mir die Entscheidung nicht abnehmen können! Achtundneunzig, zwei Embryonen fehlten! Und Albert und Ethel waren allein gewesen. Und hatten den Schrank geöffnet. Das war zu klären. Das war sofort zu klären! Ich ging in den Zentrifugenraum. Albert bastelte dort an irgendwelchen Apparaturen. „Auf dem Kontrollstreifen der Brutschränke fehlen drei Minuten", sagte ich. Er drehte sich zu mir um. „Du hast es also gemerkt? Hast du auch schon einmal hineingesehen in unsere Brutschränke?"
„Ja", antwortete ich. „Es fehlt mehr als nur drei Minuten!" „Das ist alles, was du zu sagen hast?" „Ihr habt die Embryonen gesehen?" sagte ich. „Es ist unvorstellbar", antwortete er. „Wir haben uns viel zuwenig Gedanken über den Sinn unserer Arbeit gemacht. Kannst du die Verantwortung dafür tragen? Kann man überhaupt richtig begreifen, was sich in unseren Brutschränken abspielt? Und selbst wenn ich ausschließlich als Techniker spreche, hast du schon einmal überlegt, wieviel Nährlösung diese hundert Embryonen verbrauchen, falls wir sie großziehen wollen oder können?" Ich verneinte. „Ich habe es durchgerechnet. Das Siebenfache von dem, was uns zur Verfügung steht! Denn mit Unterstützung von außen ist ja vorläufig nicht zu rechnen." Ich spürte, ich würde zum gleichen Resultat kommen. „Hast du auch ausgerechnet, wieviel Platz diese achtundneunzig benötigen, wenn sie größer werden?" „Dann sind wir uns ja einig", sagte er. „Wir können sie nicht am Leben halten, selbst wenn wir das wollten!" Die Differenz zwischen achtundneunzig und hundert überhörte er geflissentlich. „Was meinst du, werden sich aus ihnen normale Menschen entwickeln?" fragte ich ihn. „Das können wir nur hoffen!" „Wäre es nicht besser, ihr würdet es nie erfahren?" Das war deutlich. Und er versuchte nicht einmal, mir jetzt noch auszuweichen. „Du kannst mir glauben oder auch nicht, aber ich habe mit der Sache nichts zu tun. Ich kann und will dir nichts sagen, und ich kann dir schon gar nicht helfen. Das ist allein Ethels Angelegenheit. Das mußt du mit ihr klären. Von Frau zu Frau. Ich fürchte aber, da wird sich nichts mehr ändern. Du kennst sie nicht. Ich kannte sie auch nicht. Sie ist wie besessen, sie ist seit gestern ein völlig anderer Mensch!" Mit Ethel war wirklich nicht zu reden. Und ich gab es schließlich auf. Auch, weil es mein Begriffsvermögen überstieg und weil ich sie insgeheim bewunderte. Auch das. Und noch viel mehr. Diese Ethel Edmondson hatte monatelang neben mir her gelebt. Unauffällig. Unscheinbar. Mausehaft grau. Ameisenfleißig. Und auf einmal hatte sie sich entpuppt. Hatte etwas gewagt, das zwischen Heldenmut und Wahnsinn angesiedelt war. Und bekannte sich dazu. Heldenmütig. Sie hatte schon gestern begriffen, was sich da in den Brutschränken entwickelte. Und ich könnte mich ohrfeigen, weil ich eine solche Möglichkeit nicht einmal erahnt hatte, dabei hatte ich eine Morula unter dem Mikroskop gehabt, wie man sie klassischer nicht finden
konnte. In der Nacht hatte Ethel Albert geweckt und ihn überredet. Ich fragte mich, weshalb nicht wenigstens er einen klaren Kopf behalten hatte. Er baute in aller Schnelle einen kleinen Brutraum, in dem die Keimlinge über Stunden am Leben erhalten werden konnten. Dannentnahmen sie einen Embryo aus dem Brutschrank und deponierten ihn im Zentrifugenraum. „Glaube mir, ich hatte mehr Angst als Ethel. Ich bin kein Mediziner, ich habe im Grunde keine Ahnung. Sie hat mir zugeredet und gesagt, es sei die einfachste Sache der Welt!" „Wenn du Mediziner wärst, hättest du das mit Sicherheit nie gemacht", sagte ich. „Wie kann man sein Leben derart leichtsinnig aufs Spiel setzen!" „Begreifst du nicht", antwortete mir Ethel, „daß ich ein Kind haben möchte? Um jeden, aber auch jeden Preis ein Kind? Schwanger sein, Leben in sich fühlen wie jede andere Frau? Ich bekomme keine Kinder. Und wenn wir hier ohnehin nicht herauskommen, dann überlaßt es bitte mir, wofür ich mein Leben riskiere!" „Die Embryonen waren schon fast zu groß", sagte Albert. „Es ist einfach ein Wunder, wie rasch sie sich entwickeln. Ich habe Ethel hundertmal abgeraten, ich habe sie angeschrien und angebettelt. Was sollte ich denn noch tun?" „Wenn diese furchtbare Sache nicht gewesen wäre, die Schießerei vor dem Institut, dann wäre alles eher erledigt gewesen, dann wäre alles viel schneller gegangen!" Jetzt begriff ich erst, daß sie während der gesamten Zeit der Flucht einen Quellstift im Muttermund getragen hatte, um ihn für das Implantationsrohr aufzuweiten. Ihre Tränen waren nicht nur Anteilnahme gewesen. Ihr Gesundheitszustand hatte nichts mit Hunger zu tun, und das Stöhnen waren Schmerzen. „Als du dich schlafen gelegt hast, hat Albert versucht, einen Embryo zu implantieren. Ich hatte eine Folie hergestellt, die sich im Körper rückstandslos auflöst. Aber der erste Versuch ging schief, Albert war aufgeregt, die Folie riß beim Eingriff. Wir mußten noch einen Embryo aus dem Schrank nehmen - die Klebestelle von heute mittag - der war schon viel größer. Aber wir haben es geschafft. Eine halbe Stunde früher, und du hättest uns noch gesehen! Glaubst du, ich gebe es wieder her? Nein, Solveg, unter keinen Umständen. Es wird mein Kind, verstehst du, falls wir hier überleben. Ich werde es großziehen wie jedes andere Kind, und niemand wird wissen, daß es im Reagenzglas entstanden ist. Und wenn wir nicht überleben, dann ist sowieso alles gleich!" „Hast du noch Schmerzen", fragte ich, und mit dieser Frage war schon eine Entscheidung gefallen.
31 10. September 2038. Allein am zehnten September 2038 verringerte sich die Einwohnerzahl Nakinas um zwanzigtausend Menschen. Für die Stadt war es wie ein plötzlicher Blutsturz. Sofort nach der Schließung von „TV Nakina" waren in der Stadt die wildesten Gerüchte aufgetaucht: „Rund um das Institut toben schwere Kämpfe!" „Die Wissenschaftler haben den Sicherheitszaun gesprengt und Nationalgardisten als Geiseln genommen!" „Seit Jahren werden dort neue, furchtbare Waffen entwickelt! Jetzt werden sie eingesetzt!" „Sie rücken unaufhaltsam gegen die Stadt vor!" „Der Krisenstab hat ihnen Verhandlungen angeboten!" „Oberst Phillips hat sich in seinem Büro erschossen!" „Rund um Nakina werden Befestigungsstellungen bezogen!" „Der erste Ring ist vor zwei Stunden gefallen!" „Der Krisenstab ist schon lange nicht mehr Herr der Lage!" „Jazdani und seine Leute besitzen Atombomben!" „Nakina wird von ihnen überrannt!" ,,Wir müssen alle sterben!" Die Panik der Menschen steigerte sich noch, als auf den Ausfallstraßen der Verkehr zusammenbrach und man die Stadt nicht mehr schnell genug verlassen konnte. Viele glaubten, Nakina selbst sei schon zum Seuchengebiet erklärt worden und von der Umwelt abgeriegelt. Auch die Hausfrau Sarah Harris glaubte das und hängte sich auf. Lieber tot sein als in einer verseuchten Stadt leben. Und auf einen Zettel hatte sie geschrieben: „Verfluchter Jazdani!" Nur ein Name in der Selbstmordliste des Krisenstabes. Meter um Meter schoben sich die Autokarawanen aus der Stadt. Zehntausend Menschen hatten die Straßen bis zum Nachmittag fassen müssen. Und die Flucht hielt die ganze Nacht über an. Das städtische Leben Nakinas hörte auf zu funktionieren. Und damit trieb es immer mehr Menschen fort. Sogar die Ruhigen, die Besonnenen. Schon brach in einigen Stadtvierteln stundenweise die Strom- und Wasserversorgung zusammen. Ein kleiner Defekt am Heizwerk Süd XVII konnte nicht mehr behoben werden, weil die notwendigen Fachleute die Stadt längst verlassen hatten. Tausende von Wohnungen eines ganzen Stadtteils waten damit ohne Heizung und ohne Warmwasserversorgung. Und der rauhe Winter des Nordens stand vor der Tür. In spätestens zwei Monaten würden die Leitungen einfrieren. Ein Grund mehr, Nakina so schnell als möglich hinter sich zu lassen. Selbst für die, die noch Warmwasser hatten, selbst für die, die eigentlich geblieben wären. Glich der Einwohnerschwund der langsamen, qualvollen Agonie der Stadt, so wurden einige Neuankömmlinge zu einer zusätzlichen Infektion. Eine Stadt lockte, in der jede zweite, dritte Wohnung leer stand. Eine Stadt mit
einem entvölkerten Villenviertel. Eine Stadt, deren Polizei und Nationalgarde durch andere Aufgaben ohnehin schon Tag und Nacht gebunden waren. Eine Stadt, in der man einen Einbruch vielleicht nie, zumindest aber erst nach Wochen oder Monaten entdecken würde. Eine Stadt, in der die Reichtümer buchstäblich auf der Straße lagen. Eine solche Stadt zog wie ein Magnet an. Ein Magnet, der die kleinen Fische in Massen anlockte. Einbrecher, Hehler, Gelegenheitsdiebe. Ein Magnet, der unter anderen auch Edward Ware anlockte, Jahrgang null neun und insgesamt elf Jahre hinter Gefängnismauern. Frisch entlassen, belegt mit dem Verbot, die Staaten Texas und Kalifornien je wieder zu betreten. Für Edward Ware kam Nakina gerade recht. Aber der Magnet Nakina zog nicht nur die kleinen Fische an. Eine solche einmalige Gelegenheit rief die Großen der Unterwelt auf den Plan. Die, die in den besten Hotels abstiegen. Die, die gutorganisierte, nach militärischen Prinzipien aufgebaute, nach Ökonomischen Grundsätzen geführte Organisationen mitbrachten. Und für die die kleinen Fische lästiges Ungeziefer waren, hinderlich, schädlich, auszurotten, Würmer oder weniger als Würmer. Und während Edward Ware und andere in der halbleeren Stadt mit mehr oder weniger Glück einen oder zwei „Brüche" am Tag riskierten, begannen die Großen mit dem systematischen Abfischen ganzer Stadteile. Da schwärmten „Schleppertrupps" aus, da rollten Lastwagen pünktlich auf die Minute an, da waren ganze Häuserzeilen in wenigen Minuten ausgeräumt. Da wurde Generalstabsarbeit geleistet. Die Polizei war gegen eine solche Arbeit so gut wie machtlos. Selbst wenn sie eine Schleppertruppe auf frischer Tat stellte, schon das geschah selten genug - wo die Großen arbeiteten, gab es Verbindungen zur Polizeispitze -, dann konnte der jeweilige Schlepperboß lächelnd auf Räumungsverträge verweisen, die die angebliche Speditionsfirma zum Abtransport der Möbel bevollmächtigte. Tatsächlich hatten viele ehemalige Einwohner inzwischen Transportunternehmen beauftragt, den endgültigen Umzug zu übernehmen. Und welcher Polizist wollte schon an Ort und Stelle entscheiden, ob ein solcher Vertrag gefälscht war oder nicht. Am zehnten September 2038 war der Wurm Edward Ware einem der Großen unter die Füße geraten. Allein noch kein Grund, ihn zu zertreten. Aber Edward Ware begriff die Größenunterschiede nicht rasch genug. Stellte Dieb und Dieb auf die gleiche Stufe. Riskierte eine große Lippe. Edward Ware fiel aus einem Fenster. Aus einem Hochhausfenster. Für ihn hatte sich Nakina nicht gelohnt. Wie für viele andere seiner Größe auch nicht. Edward Ware war der Polizei eine Aktennotiz wert. Man hatte in Nakina andere Sorgen in diesen Septembertagen.
32 10. September 2038, vierzehn Uhr. Seit den Vormittagsstunden hatte Ethel ganz plötzlich wieder starke Schmerzen. Wir befürchteten schon, daß es sich bei den periodisch auftretenden Schmerzen um den Beginn eines Abortes handeln könnte. Aber Blutungen traten glücklicherweise nicht auf. Albert hatte sich schon in der Nacht über die Zentralbibliothek die Bauunterlagen für ein Ultraschalldurchleuchtungsgerät besorgt. Ich wußte nicht, wie er das machte, wo er jetzt noch die Einzelteile hernahm, aber es war ihm tatsächlich gelungen, das Gerät nachzubauen. Er erprobte es an sich selbst und an mir, ehe wir Ethel damit untersuchten. Aber wir konnten keine Ursache für die Beschwerden entdecken. Nach dem Ultraschallbild hatte sich die Folie restlos aufgelöst. Möglicherweise waren es deren Rückstände, die die Schmerzen verursachten, möglicherweise war der Embryo schon viel zu groß, und es kam zu einer Überdehnung des Gebärmuttergewebes. Ethel weigerte sich tapfer, Schmerzmittel einzunehmen. „Es könnte dem Kind schaden", sagte sie. Und sie habe gewußt, worauf sie sich einlasse, von der ersten Minute an. Kurz vor Mittag haben wir ihren Hormonstatus überprüft und eine mittlere Dosis Östrogenderivat gespritzt. Mit ihrem Einverständnis. Denn die Beschwerden könnten auch dadurch entstanden sein, daß ihr Körper hormonell überfordert wurde. Ich stellte einen neuen Dienstplan auf. Nur noch Albert und ich wechselten uns an den Brutschränken ab. Die Arbeit rangierte an zweiter Stelle. Ethel war nun die Hauptsache. Alles in unserem Team drehte sich seit gestern um Ethel und um dieses Kind. Am zehnten September grübelte ich nicht einen einzigen Augenblick über unsere nahezu ausweglose Lage. Und dachte nicht einmal an Professor Jazdani.
33 10. September 2038. Sitzung des Aufsichtsrates der General Pharmacy and Chemistry. Die neuen Herren hatten schon ein umfangreiches Tagesprogramm bewältigt und kamen nun zum letzten Punkt, zur Berichterstattung Handelsrat Fishers über verschiedene Projekte zur Rettung der Insassen des Forschungsinstitutes Professor Mervyn Jazdani. „Die zur Verfügung stehende Zeit", begann Fisher, „reichte lediglich aus, verschiedene denkbare Möglichkeiten auf ihre Anwendbarkeit hin zu berechnen. Sozusagen Erfolgsquote und Kosten miteinander zu vergleichen." „Ich verstehe überhaupt nicht, weshalb wir uns mit diesem Fall befassen
müssen", meldete sich Mister Janos zu Wort. „Der Mann hat eben Pech gehabt. Hätte besser auf seine Viren achtgeben müssen! Wir haben keine eigenen Institute aufgebaut und private Einrichtungen unter Vertrag genommen, um Kosten zu sparen! Für diesen Unfall sind wir doch überhaupt nicht verantwortlich!" Mehrere Herren nickten zustimmend. „Sie sehen das zu einseitig, Kollege Janos", antwortete Fisher scharf. „Nicht nur, daß Professor Jazdani eine für uns nahezu unersetzliche wissenschaftliche Kapazität ist, die Beziehungen zwischen unserem Unternehmen und seinem Institut sind in der Öffentlichkeit bekannt. Es ist fast ein Wunder, daß sich die öffentliche Meinung nicht schon lange gegen uns gewandt hat!" „Wollen wir doch Ihre eigene Rolle in diesem Spiel nicht übersehen, Kollege Fisher!" „Ich bitte Sie, meine Herren", beschwichtigte der Aufsichtsratsvorsitzende Doktor Glenny, „wir haben das Problem nun einmal am Hals und müssen einen Beitrag zu seiner Lösung leisten. Schon nach außen hin! Also fahren Sie fort, Kollege Fisher!" „Die damit befaßte Studiengruppe hat drei Programme entwickelt, deren Kosten und Erfolgsaussichten ich Ihnen zur Beschlußfassung vorlegen möchte, ohne auf technische Einzelheiten eingehen zu wollen. Projekt A beziffert die Kosten auf rund zweihunderttausend Dollar, die Rettungschancen auf etwa fünfzehn Prozent. Projekt B liegt bei achtundzwanzig bis dreißig Prozent Erfolgsaussicht und etwa gleicher Finanzbelastung. Projekt C dagegen garantiert fast siebzig Prozent Sicherheit." „Und die Kosten?" „Eins Komma acht Millionen Dollar!" Diese Summe riß die Aufsichtsratsmitglieder von ihren Sesseln. „Demnächst werden wir den Quäkern mehrere Millionen spenden", rief Janos spöttisch. "Oder den Vereinigten Kommunistischen Staaten unsere Waren schenken. Auch für ein paar Millionen. Ein Dutzend für den Anfang! Oder dürfen's mehr sein?" Handelsrat Fisher wartete geduldig, bis sich die Erregung seiner Kollegen gelegt hatte. „Eine Untersuchungskommission der Biologischen Gesellschaft arbeitet schon daran, uns als Auftraggeber für diese Forschungen ein Mitverschulden nachzuweisen. Was nicht ganz unmöglich wäre! Das würde bedeuten, daß uns der Staat alle finanziellen Folgekosten dieser Katastrophe anlasten könnte. Gelingt es uns dagegen, das Institut zu retten, dann gewinnen wir nicht nur Prestige, dann kann eine solche Untersuchung eigentlich nur zu unseren Gunsten ausgehen. Und schon damit haben sich alle Kosten amortisiert. Dazu kommt, daß wir nicht die einzigen sind, die Interesse an einer Rettung Jazdanis haben. Wenn auch aus völlig unterschiedlichen Motiven. Die Internationale Akademie, die Regierung, die Nationalgarde, die
Armee und so weiter und so weiter. Sollte der Rettungsversuch mißlingen, haben wir auf jeden Fall unseren guten Willen erkennen lassen und haben damit der öffentlichen Meinung weitgehend den Wind aus den Segeln genommen!" Niemand wollte widersprechen. Die Lage war zu unübersichtlich. Sollte sich Fisher allein in die Nesseln setzen! Man bewilligte schließlich eins Komma eins Millionen Dollar aus dem Sonderfonds des Konzerns. Und Handelsrat Fisher erhielt Vollmacht, Verhandlungen über die Durchführung und Restfinanzierung mit dem Krisenstab aufzunehmen.
34 10. September 2038. Professor Jazdani hatte mit mir videophoniert. Jetzt sah man, wie alt er in diesen Tagen geworden war. Nicht nur für mich gab es Prägungstage, Zahnbürstenmomente und neunte September. Auch an ihm schien diese Katastrophe nicht spurlos vorüberzugehen. „Ich habe in meinem Leben manches falsch gemacht", begann er. „Doch, das mußt du wissen! Auch mit dir!" Er tat mir leid. Ein alter Mann, der sein Testament machen wollte und der noch vor drei Tagen mit dem Standgericht an Doktor Tucker Härte demonstriert hatte. „Mit wem soll ich darüber reden, wenn nicht mit dir." Ich wollte ihm antworten: Du hättest längst mit mir reden können. Sollen. Über alles. Als Zeit war. Aber ich schwieg, ich weiß nicht mehr, warum. „Ich habe dir das Haus überschreiben lassen. Das mag nicht mehr wichtig sein. Aber ich wollte es dir sagen." „Mervyn", und das war das erstemal, daß ich ihn am Institut mit seinem Vornamen ansprach, „Mervyn, du verbirgst mir etwas. Hast du uns aufgegeben?" „Morgen gibt es einen Rettungsversuch. Aber es wird der einzige bleiben. Und unsere Chancen stehen fünfzig zu fünfzig. Entschuldige, aber wenigstens dir gegenüber kann ich nicht den Optimisten spielen!" Kein Wort über Mansfield, kein Wort über unsere Versuche. Ich wollte jeden Tag mit ihm sprechen. So viele Tage, wie uns noch blieben. Er tat mir leid. 11. September 2038. Es gab am Institut nur drei Menschen, die die allgemeine Zuversicht nicht teilen konnten: Professor Jazdani, Betty und mich. Wir kannten die Wahrheit. Fünfzig zu fünfzig! Natürlich klammert man sich an „seine" fünfzig Prozent, natürlich ist die
andere Hälfte die „kleinere" Hälfte, natürlich wird man überleben. Ohne diese Hoffnung würde man vielleicht auch ausbrechen. Und natürlich hatte auch ich Hoffnung. Aber eben nur fünfzig Prozent. Der Rest war Angst. Der Rest war ein müder, erschöpfter, ausgebrannter Professor Jazdani. Sieben Uhr. Der Lärm der Helikopter verstärkte sich. Von unseren Fenstern aus sahen wir ein gutes Dutzend der Kolosse sternförmig am Himmel stehen. Sie näherten sich sehr langsam dem Institut. Mit dem Glas konnte man erkennen, daß alle Maschinen mit dem großen Transporthubschrauber, der in der Mitte der Formation flog, verbunden waren. Jazdani hatte schon gegen sechs Uhr angerufen und uns informiert: „Die Nationalgarde wird versuchen, eine Folie über unser gesamtes Gelände zu spannen. Es ist ein erster Versuch, uns hier herauszuholen. Wir werden uns auf einigen Fluglärm gefaßt machen müssen!" Nein, die Wahrheit konnte er nicht sagen. Nicht ein erster Versuch, sondern der einzige und ein Rettungsversuch mit der Betonung auf „Versuch". Die Helikopter hatten das Institutsgelände erreicht. Wir erkannten die Folie, die von der großen Transportmaschine in der Mitte getragen wurde. Die kleineren Hubschrauber, die die Ränder der Folie trugen, setzten langsam zur Landung an. Der Lärm steigerte sich noch mehr. Das ganze Labor dröhnte. Auch Ethel und Albert standen an den Fenstern und beobachteten die Szene, Albert wie gewöhnlich im Zentrifugenraum, was uns sehr bald das Leben retten sollte. Wir konnten beobachten, daß die Ränder der Folie sorgfältig einen Meter tief eingegraben wurden, gut zwanzig bis dreißig Meter hinter Begrenzungsmauer und Sicherheitszaun. Nachdem diese Arbeit abgeschlossen war, flogen die kleineren Helikopter ab. Nur noch der große Transporthubschrauber stand über dem Gelände. Der Fluglärm wurde erträglicher. Plötzlich fielen Gasflaschen auf den verbrannten Rasen des Institutsparks. Ein grünliches Gas entwich, in ungeheurer Menge breitete es sich in dieser Glocke aus, in der wir nun zu leben hatten. Ethel rief Betty an. „Macht doch nicht schon wieder in Panik! Der Professor sagte, es würde sich um Krypton handeln. Völlig unschädlich. Wird in der Medizin als Narkose verwendet. Die Nationalgarde soll angeblich herausgefunden haben, daß unsere Viren mit diesem Edelgas am schnellsten und am sichersten abgetötet werden. Die ganze Aktion soll drei Tage dauern!" „Krypton ist farblos", sagte Ethel. „Dann fragt doch den Professor selbst", antwortete ihr Betty wütend und schaltete ab. Das grünliche Gas, von dem Professor Jazdani in einer Durchsage behauptet hatte, es sei verunreinigtes Krypton, verbreitete sich über das gesamte Gelände. Der Park, die kahlen Bäume, das Hauptgebäude versanken in einem grünem Nebel. Wir konnten nichts mehr erkennen. Die Isolation von der
Außenwelt war vollkommen. Das Brummen des Transporthubschraubers steigerte sich langsam zu einem kreissägeähnlichen Kreischen, wurde immer höher, schließlich pfiff der Helikopter nur noch. „Das Kryptongas verändert die Tonfrequenz", erklärte mir Ethel, und es kam mir vor, als piepse sie wie eine gefangene, ängstliche Maus. Eine graue Maus. Überhaupt kam sie mir furchtbar lustig vor. Aber das bildete ich mir sicherlich nur ein. Plötzlich begann sich der Raum zu wölben, ich wollte mich noch an der Schreibtischkante festhalten, griff aber schon ins Leere. Neben mir sah ich Ethel schräg gegen die Wand gelehnt stehen. „Hilfe, Hilfe", piepste sie. Der Fußboden neigte sich nach unten. Ich kam ins Gleiten, rutschte an Ethel vorbei und blieb neben der Tür liegen. Der Türknauf reckte sich vor meiner Hand in die Höhe, ich glitt noch einmal aus, dann wurde es dunkel um mich. Unsere Rettung war, daß Albert in letzter Sekunde unsere Frischluftanlage ausgeschaltet hatte, die uns normalerweise über ein Filtersystem mit keimfreier Atemluft versorgte und die jetzt mehr Krypton als Sauerstoff lieferte. Albert hatte beim ersten Anzeichen des Narkoserausches den richtigen Schalter erwischt. Drei Tage in Vollnarkose hätten wir nicht überlebt. Ein Teufelszeug, dieses Krypton. Als ich wieder erwachte, kniete er neben Ethel und hielt ihr vorsichtig eine Sauerstoffmaske über das Gesicht. „Das hätte ins Auge gehen können", sagte er, als er bemerkte, daß ich aufgewacht war. Seine Stimme klang noch immer ungewöhnlich hoch. Es dauerte fast zwanzig Minuten, ehe auch Ethel wieder zu sich kam. „Hoffentlich hat es dem Kind nichts geschadet", waren ihre ersten Worte. „Das werden wir gleich sehen", beruhigte sie Albert. „Wenn du willst, untersuchen wir dich." Wir führten die noch immer benommene Ethel in den Zentrifugenraum, in dem sich auch die Ultraschalldurchleuchtungsanlage befand. Ich rief Betty an. „Wir hatten über die Frischluftanlage einen Kryptoneinbruch." „Gab es irgendwelche Schäden?" „Unfreiwillige Vollnarkose. Sonst alles in Ordnung." „Moment, ich gebe dir den Professor!" Was soll's, wenn plötzlich sogar die sonst so korrekte Betty alle Leute duzte. Auch das Virus war mit allen per du. Professor Jazdani nahm meine Meldung sehr besorgt zur Kenntnis. „Habt ihr für die nächsten drei Tage genügend Atemluft?" „Ich denke schon", antwortete ich. „Es stehen auch noch einige Grünpflanzen herum, die am Tage Sauerstoff ausscheiden. Es wird schon gehen. Allein die Vorräte in den Flaschen reichen für sechsunddreißig Stunden." „Gut", entschied er. „Melde mir bitte alle zwei Stunden den Sauer-
stoffgehalt in eurem Labor. Ich will sehen, was ich für dich tun kann. Wenn wir sicher wissen, daß die Schutzanzüge kryptonsicher sind, schicken wir euch ein paar zusätzliche Flaschen Sauerstoff. Überprüfe in der Zwischenzeit, ob sich noch überflüssige Sauerstoffkonsumenten im Labor befinden. Versuchstiere zum Beispiel. Ihr müßt sie jetzt unbedingt abtöten!" Versuchstiere hatten wir nicht mehr. Aber Embryonen! Ich ging zurück in den Zentrifugenraum. Albert führte den Bestrahlungskopf mit kreisenden Bewegungen über Ethels Bauchdecke und beobachtete aufmerksam den Kontrollschirm. „Sie hat plötzlich keine Schmerzen mehr", sagte er. „Und deshalb sorgt sie sich. Ich kann aber nichts Außergewöhnliches feststellen. Der Embryo entwickelt sich normal. Soweit ich als Ingenieur das beurteilen kann." Ich warf einen Blick auf den Kontrollschirm. Die Plazenta war mit der Gebärmutterschleimhaut verwachsen und hatte sich deutlich vergrößert, von uns aus gesehen. Darunter lag der Keimling. Man konnte sogar den regelmäßigen Herzschlag erkennen. „Alles okay, Ethel", sagte ich. „Du kannst dich anziehen!" Ursprünglich wollte ich sie in die Entscheidung nicht mit einbeziehen. Aber dann hätte sie vielleicht gedacht, Albert und ich würden über ihren Zustand sprechen, und würde sich noch mehr beunruhigen. „Wir sind für die nächsten Tage auf eigene Sauerstoffversorgung angewiesen", begann ich die Situation zu erklären. „Die Blattpflanzen assimilieren zwar, aber das allein genügt nicht. Selbst wenn wir sie nachts beleuchten." „Hilfe vom Zentralgebäude?" „Sehr ungewiß. Die Schutzanzüge sind mit ähnlichen Luftfiltern ausgerüstet wie unsere Labors." Albert wußte sofort, worauf ich hinauswollte. „Wieviel Sauerstoff verbrauchen die Embryonen?" „Die Brutschränke schlucken zur Zeit soviel wie vier erwachsene Menschen." „Das ist zuviel!" Wir schwiegen und sahen Ethel an. „Wir müssen sie töten, nicht wahr?" „Ja", antwortete ich „Es ist notwendig. Sonst überlebt niemand!" „Ich habe mein Kind. Die Embryonen in den Brutschränken sind mir gleichgültig. Das sind keine Menschen. Ihr braucht auf mich keine Rücksicht zu nehmen. Wir müssen überleben. Wir vier!" Zehn Uhr. Ich öffnete Brutschrank L Albert war dafür, den Versuch völlig abzubrechen. Und das natürlich nicht nur aus Gründen der Sauerstoffversorgung. Ich weiß nicht, was mich zwang, den einmal eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Vielleicht wäre jetzt wirklich Gelegenheit gewesen, sich hinter gesicherte Grenzen zurückzuziehen. Wir einigten uns auf das Nötige. Bis auf einen Rest von zehn Embryonen wurden alle ausgemustert. Der
Sauerstoffverbrauch sank rapide. „Konserviere Sie in Formalin", wies ich ihn an. „Als Beweis, für später!" „Was willst du mit ihnen beweisen? Daß wir Dinge getan haben, die wir besser unterlassen hätten? Willst du selbst das Beweis-material für unseren Ausschluß aus der Internationalen Akademie liefern? Dann schon lieber meine Lösung!" „Die Versuche sind jederzeit wiederholbar. Mit Verschweigen ist nichts erreicht. Außerdem ist es sinnvoll, jetzt darüber nachzudenken?" „Wann, wenn nicht jetzt? Weshalb hat niemand von uns Eintragungen gemacht?" Er schlug das Laborbuch auf. Seit dem achten September keinerlei Eintragungen! Du mußt eine Entscheidung fällen. Meinen Vorschlag kennst du!" „Du wirst also schweigen. Ich werde auch schweigen. Wird Ethel ebenfalls schweigen?" „Sie hat das geringste Interesse, des Kindes wegen!" „Ein Abbruch der Versuche wäre auch das Ende Doktor Mansfields!" „Nicht, wenn wir einem Embryo die Leber entnehmen, und sie entwickelt sich allein im Brutschrank weiter!" „Das ist doch nicht dein Ernst?" „Wie willst du deinem Mansfield sonst helfen? Irgendwann soll eine Leber transplantiert werden. Zu einem Empfänger gehört nun einmal ein Spender. Und der Spender kann nur einer unserer Embryonen sein, so wie die Dinge nun einmal liegen." Er hatte recht, es war der einzig mögliche Weg, unsere Sauerstoffsituation zu verbessern, gleichzeitig Mansfield zu retten und unsere Forschungsresultate zu verschleiern. „Wir haben noch zehn Embryonen", sagte ich. „Wir müssen sie am Leben halten, bis wir eindeutig feststellen, daß sich die entnommene Leber gut entwickelt." Wir suchten den größten Embryo aus. Er bewegte sich schon, streckte die Händchen, öffnete den Mund, als wolle er gähnen, und ballte dann eine Faust. Es wurde mir eiskalt, als ich ihn betäubte und aus dem Gefäß nahm. Albert assistierte. Wir entnahmen die winzige Leber, schlössen sie an die Nährstoff Versorgung an, wogen sie und stellten sie zurück in den Brutschrank. Eine Leber von siebzehn Komma vier Gramm und noch neun Embryonen, die sich den Atemsauerstoff mit uns teilten. Sechzehn Uhr. Die Leber hatte ihre frische, rotbraune Farbe behalten. Albert hatte eine Waage gebaut, die jede Gewichtsveränderung auf einen Schreiber übertrug. Siebzehn Komma neun Gramm. In nur sechs Stunden null Komma fünf Gramm Zuwachs. Alles deutete auf einen erfolgreichen Verlauf unseres Experimentes. Achtzehn Uhr. Die grüne Brühe vor den Fenstern verdunkelte sich langsam.
So sahen unsere Abende aus, dunkelgrün, undurchdringlich, ermüdend. Der Schreiber am Brutschrank I registrierte eine gleichmäßige Gewichtszunahme der Mansfield-Leber. Schon seit Stunden hatten wir keine Verbindung zum Zentralgebäude. Ethel hatte die vereinbarte Meldung über unseren Sauerstoffgehalt abgesetzt, aber keine Antwort erhalten, das war uns ein Rätsel. Zwanzig Uhr. Das Gewicht der Mansfield-Leber betrug schon zwanzig Komma acht Gramm. Unser Sauerstoffdefizit führte zu einer Senkung des Sauerstoffgehaltes in unserer Atemluft um ein Zehntel Prozent. Noch nicht viel. Morgen um diese Zeit würde es schlimmer aussehen. Ich musterte weitere fünf Keimlinge aus. Albert drängte darauf, auch die verbliebenen vier Embryonen abzutöten. Aber das wollte ich noch nicht riskieren. Sollte die Leber absterben, bliebe dann keine Möglichkeit für eine direkte Transplantation. Auch das Risiko muß kalkulierbar bleiben. Trotz Sauerstoffmangels. Einundzwanzig Uhr. Wieder Verbindung mit dem Zentralgebäude. Es hatte einen Defekt in der Stromversorgung der Videophone gegeben. Möglicherweise beeinflußte Krypton die Leitfähigkeit bestimmter Metalle, ein Effekt, auf den schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hingewiesen wurde. Jazdani fragte zum erstenmal nach dem Stand unserer Arbeit. Heute war er wieder der Jazdani, den hier alle kannten. Wäre er immer so, ich glaube, ich könnte ihn nicht ertragen. Ich teilte ihm mit, daß wir kurz vor einem erfolgreichen Abschluß ständen. Er legte den Transplantationstermin für den vierzehnten September fest, immer unter der selbstverständlichen Voraussetzung, daß der Rettungsversuch unter der Kryptonglocke erfolgreich verlaufen werde. Wer denkt schon freiwillig an die anderen fünfzig Prozent.
35 12. September 2038. In diesen Tagen machte Mister Gerald Fantini das Geschäft seines Lebens. Es gehörte schon eine gehörige Portion Kaltblütigkeit dazu, ausgerechnet in einer sterbenden Stadt in eine neue Bar zu investieren. Aber Mister Fantini hatte bewußt auf die gesetzt, die geblieben oder gekommen waren, auf die Leichtigkeit, mit der hier Geld verdient und wieder hinausgeworfen wurde. Die neue Bar nannte sich „Zur grünen Glocke" und war ständig auf Tage im voraus ausgebucht. Vom Eröffnungstage an. Fantini bot all das, was normalerweise im ganzen Vergnügungsviertel Nakinas geboten wurde: Erlesene Weine, eine gepflegte Spezialitätenküche, französisch oder zumindest das, was man dafür hielt, die obligate Schwebe-
tanzfläche. Auch er stellte seinen zweiundzwanzig Serviererinnen nur elf Kostüme, die stündlich unter großem Hallo der Gäste gewechselt wurden. Auch bei ihm waren die Tischdamen nicht im Kloster erzogen worden. Aber Mister Fantini reichte zusätzlich und kostenlos zum ersten Whisky eine Patrone mit null Komma zwei prozentigem Krypton. Und wenn man das eingeatmet hatte, sah die Welt und vor allem die Bar „Zur grünen Glokke" wesentlich angenehmer aus. Man konnte die kleinen Patronen nachbestellen. Nicht mehr kostenlos, versteht sich. Und davon machten seine Gäste reichlich Gebrauch. Allein an den Kryptonpatronen verdiente Mister Fantini an einem einzigen Abend Tausende Dollar. Das Programm, pünktlich zwei Minuten nach Mitternacht beginnend, war ein echter Schocker. Eine große Plastikplane wurde von der Decke herabgelassen, das ganze Lokal einschließend. Die Gäste an den seitlichsten Tischen mußten sogar etwas die Köpfe einziehen. Gaspatronen verbreiteten einen grünlichen Nebel. Der geringe Kryptonanteil verzerrte Proportionen, brachte zeitliche Abläufe durcheinander, machte das, was sich vor den Gästen abspielte, zum absurden Theater. Man sah „Wissenschaftler", erkennbar an ihren weißen Kitteln, zwei „Viren" bearbeiten, Tänzerin und Tänzer, deren ganzes Kostüm aus grüner und gelber Farbe bestand. Die „Viren" waren sichtlich bestrebt, zueinander zu gelangen. Die Kette der „Wissenschaftler" hielt, noch hielt sie. Aber schon kündigte der harte, hämmernde Rhythmus der Band eine Wendung an. Die „Viren" konnten den Ring der „Wissenschaftler" durchbrechen. Im Takt der Musik vereinigten sie sich auf offener Bühne. Und mit jedem Takt wurde ihre Anzahl größer, immer neue Tänzerinnen drängten auf die Bühne, die „Wissenschaftler" waren in wenigen Minuten hoffnungslos in der Minderheit. Das Publikum war begeistert. Doch dann wurde es für Sekunden still in Mister Fantinis Bar. Die „Viren" gingen unendlich langsam, aber unaufhaltsam auf die „Wissenschaftler" zu, die wichen in gleicher Geschwindigkeit in Richtung Publikum zurück. Doch die „Viren" waren schneller, rissen den „Wissenschaftlern" die Kittel vom Leib, immer im Takt der Band wurden sie angestrichen, verwandelten sich vor den Augen der Besucher ebenfalls in „Viren". Nur drei „Wissenschaftler" hatten sich auf das Klavier geflüchtet, umringt von der tanzenden „Virenmenge". Durch eine Gasse versuchten diese drei, den „Viren" zu entkommen. Doch als sie schon den Rand der Bühne erreicht hatten, bellten Schüsse durch das Lokal, man sah die drei zusammenbrechen, ihre Kittel färbten sich blutrot. Trommelwirbel, das Licht ging aus. Das Publikum raste vor Begeisterung. Jeder hatte sich die Lungen voll Krypton gepumpt, jeder hatte in der sich windenden, zuckenden gelbgrünen
Leibermasse etwas anderes gesehen. Die Kryptonphantasie steigerte die Show zur Supershow. Und die Tischdamen waren auch nicht untätig. Gerald Fantini hatte richtig kalkuliert. Den harten Männern, die in Nakina in diesen Tagen ihren harten Geschäften nachgingen, mußte man harte Sachen bieten. Nur damit war Geld zu machen. Denn Gerald Fantini hatte nicht vor, lange in dieser Stadt zu bleiben. Er sah gute Chancen, hier in einem Monat das Geld zu verdienen, das er bis zu seinem Lebensende brauchen würde. Gerald Fantini war achtunddreißig.
36 12. September 2038. Ethels Baby entwickelte sich ganz ausgezeichnet. Seit der Kryptonnarkose klagte sie auch nicht mehr über Schmerzen. Wir spritzten täglich Östrogen. Vielleicht war es nur die hormoneile Umstellung, die die Beschwerden verursacht hatte. Ethel hatte ihrem Körper viel zugemutet. Hoffentlich nicht zu viel. Aber das sprach natürlich niemand aus. Wir überwachten die Schwangerschaft, so gut wir konnten. Heute habe ich zum erstenmal die Herztöne des Kindes gehört. Und von diesem Augenblick an bewunderte ich Ethel. Wir hätten zusammen weinen können. So entsetzlich hilflos macht Glück. Sie lag auf der Pritsche, hielt den Atem an, und an einer einzigen Stelle des Bauches nahm das Mikrofon neben dem langsamen, tiefen, lauten, gewohnten „Poch-poch-poch" ein schnelles, zaghaftes, leises „Bub-bub-bub" auf. Und das klang ineinander, das schwang gemeinsam, das wird nie wieder zu trennen sein. Da lief der leise Ton dem lautem davon wie ein ungeduldiges Füllen, holte ihn wieder ein, eine Weile schlugen Sie zusammen, schon glaubte man, die kleine Stelle auf der Bauchdecke verloren zu haben, da lief es wieder davon. Leise, aber rasch, fröhlich, übermütig: „Bub, bub, ich lebe, bub, bub!" Stundenlang hätten wir lauschen können. Und dabei alles vergessen. Aber dann mußte Ethel atmen, und das übertönte das Geräusch. 12. September 2038. Das Gewicht der Mansfield-Leber betrug um acht Uhr schon neunundzwanzig Gramm. Keiner von uns zweifelte noch an einem Erfolg dieses Experimentes. Ich tötete weitere drei Embryonen ab. Einer mußte zur Sicherheit bleiben. Mindestens bis zum Termin der Transplantation. Doktor Mansfield ging es erheblich schlechter. Doktor Stipanitsch gab mir zu verstehen, daß der geplante Transplantationstermin nicht mehr zu verschieben sei, ohne den Patienten zu gefährden, daß mit bleibenden Hirnschäden gerechnet werden müsse. Die implantierte Leber würde ihre Funktion sofort nach der Transplantation erfüllen müssen. Ich bezweifelte, ob sie das schaffen würde.
Die Gewichtsdifferenz war noch sehr hoch, wenn auch voraussichtlich noch zwei Tage bis zur Operation blieben. Auf Sauerstofflieferungen aus dem Zentralgebäude konnten wir verzichten. Nachdem wir die Mehrzahl der Keimlinge abgetötet hatten, gestaltete sich unsere Sauerstoffbilanz ausgeglichen. Wir hatten die Lichtgabe für unsere Grünpflanzen derart erhöht, daß sie das Vierfache der üblichen Sauerstoffmenge ausschieden. Professor Jazdani war einverstanden, vor allem, nachdem sich gezeigt hatte, daß zwar die neuen Filter funktionierten, aber die Schutzanzüge selbst für das Krypton in gewissem Maße durchlässig waren. Man hatte einen Versuch gestartet, den Mann aber schon aus der Schleuse zurückholen müssen. Er hatte Halluzinationen und wäre niemals bis zu uns durchgekommen.
37 12. September 2038, einundzwanzig Uhr vierunddreißig. Doktor Ralph Sveder fuhr erschreckt aus dem Schlaf. Der Arzt hatte vierundzwanzig Stunden Bereitschaftsdienst hinter sich und sich deshalb schon am späten Nachmittag schlafen gelegt. Ein Geräusch hatte ihn geweckt, wie es ihm schien, das Geräusch von splitterndem Glas. Doktor Sveder stand leise auf und ging in den Nebenraum. Nichts, dort war alles in Ordnung. Gleichmäßige, tiefe Atemzüge und das beruhigende Piepen des Pulszählers. Sveder wollte das Geräusch schon seinen überreizten Nerven zuschreiben, als er deutlich Schritte und gedämpfte Stimmen vernahm, irgendwo im unteren Stockwerk. Einbrecher, dachte er erleichtert und fast belustigt. Mein Gott, womit man alles rechnen mußte! Es lag so unendlich fern, wenn man hörte, die Villa dieses oder jenes Bekannten sei bis auf die Tapete ausgeräumt worden. Und jetzt das eigene Haus! Aber gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß er sich in einer ziemlich prekären Situation befand. Schlecht möglich, die Polizei zu alarmieren und dann erklären zu müssen, weshalb ausgerechnet in seinem Gästezimmer ein Mann an der medizinischen Intensivversorgung hing. Doktor Sveder schlich zurück in sein Schlafzimmer. Im Nachtschrank mußte ein Revolver liegen, Relikt aus der Studentenzeit und seither nicht mehr benutzt. Aber schon damals war Ralph Sveder nicht der treffsicherste Schütze gewesen. Trotzdem, es war die einzige Möglichkeit, mit den Einbrechern fertig zu werden. Er konnte nur hoffen, daß die Überraschung groß genug sein würde. Doktor Sveder hatte Glück. Als er mit der Waffe in der Hand auf der Treppe erschien und das Licht anschaltete, flüchteten drei junge Burschen, die im unteren Stockwerk nach Wertgegenständen gesucht hatten, in panischer
Angst. Sie hatten dieses Haus wie viele andere für unbewohnt gehalten und waren offensichtlich nur das Vorkommando einer größeren Diebesbande, die nun die Villa Doktor Sveders verschonen würde. Aller Erfahrung nach. Aber sicher konnte man nie sein.
38 13. September 2038, dreizehn Uhr. Eben rief Professor Jazdani an, um uns das Ende des Kryptonrettungsversuches für fünfzehn Uhr anzukündigen. Wir würden die Sonne wiedersehen, wir würden dieser furchtbaren grünen Einförmigkeit entrinnen! Ob der Rettungsversuch gelungen war, würde man erst später feststellen können. Ethel bereitete ein Festessen vor für den Fall, daß uns die richtigen fünfzig Prozent zugefallen sein sollten, die Quarantäne aufgehoben würde und wir wieder mit einer normalen Versorgung rechnen konnten. Fünfzehn Uhr. Über uns das schrille Kreischen des Transporthubschraubers, neben uns das Singen der kleineren Helikopter. Lange Minuten geschah überhaupt nichts, nur das schrille Geräusch der Hubschrauber. Dann erkannte man einzelne Schwaden im vorher einheitlichen, undurchdringlichen Grün. Aus dem Pfeifen wurde ein Brummen, aus dem Nebel tauchten nach und nach verschwommen die Umrisse der ersten Bäume auf. Die grüne Wand vor unseren Fenstern riß langsam auf, wir erkannten schon die Konturen des Hauptgebäudes. Die Helikopter zogen ab, eine dünne grüne Decke hinter sich herziehend. Wir konnten beobachten, wie Gestalten in Schutzanzügen das Hauptgebäude durch die Schleusen verließen. Rund um das ehemalige Labor des Mansfield-Teams wurden Rezeptoren verlegt, Kabel wurden gezogen, sogar einige der ungeschützten Privatunterkünfte wurden in die Untersuchungen einbezogen. Professor Jazdani meldete sich über Videophon: „Kollegin Wanderfeld, wir untersuchen zur Zeit die Bodenproben. Bleiben Sie bitte vorläufig in ihrem Labor. Es sieht zwar so aus, als sei das Institut virenfrei, aber wir wollen den Tag nicht vor dem Abend loben!" Zwei Dinge waren es, die mir unsere Rettung zur Gewißheit werden ließen. Wenn Professor Jazdani, der als ein vorsichtiger Wissenschaftler bekannt war, formulierte, es sähe so aus, als sei, dann stand es im Grunde fest, daß wir virenfrei waren. Und wenn er „Kollegin Wanderfeld" zu mir sagte, dann hatte das zu bedeuten, daß die Solvegzeiten vorüber waren, daß Herr Professor Jazdani von Minute an wieder „Chef" Jazdani war, der sich gefälligst Respekt ausbat. Auch von seiner Beischläferin. So ist das also wieder mit diesem Jazdani!
Wir waren gerettet. Und schlagartig gewannen all die Dinge wieder an Bedeutung, denen wir tagelang so unendlich fern gewesen waren. Die Zukunft des Institutes, die Internationale Akademie, unsere Forschungen, die eigentlich nur unterbrochen waren, das Leben in der Stadt. Vor allem die Akademie! Jetzt, nachdem es sicher schien, daß wir überleben würden, bekam alles wieder ein anderes Gewicht: Tucker, Mansfield, seine Leber, unsere Versuche, das Kind, das Ethel trug. Verantwortung. Unausweichliche Verantwortung! Sechzehn Uhr. Die Welt nahm uns wieder voll in die Arme, die Nachrichtensperre über unser Institut war aufgehoben. Und sofort setzte eine Flut von Anrufen ein. Albert sprach mit einem ehemaligen Studienfreund, Ethel mit einer alten Dame, dem Anschein nach ihre Mutter oder auch ihre Großmutter. Ich mochte nicht fragen. Ich ging zu den Brutschränken und betrachtete den letzten Embryo. Wie ein kleiner Fisch schwamm er in seiner Nährlösung, zuckte zusammen, als ihn der Lichtstrahl der tief stehenden Sonne traf, bewegte die Füße und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Verantwortung, unausweichliche Verantwortung! Ich konnte mich von dem Anblick des Fötusses nicht losreißen: So also hast du selber einmal ausgesehen, Solveg Wanderfeld. Und wenn deine Mutter gewollt hätte, hätte sie dir mit einem kleinen Eingriff alle Entscheidungen deines Lebens abnehmen können. So einfach war das. Wanderfeld, das ist Jahrzehnte her, und die Verantwortung von damals hat nicht das geringste zu tun mit deiner Verantwortung von heute! Nun konnte ich plötzlich den Embryo nicht mehr sehen. Hastig schloß ich den Brutschrank. Nicht alle Menschen hießen Ethel Edmondson und hatten Lösungen wie sie. Sie war fein raus, moralisch gesehen! Und Albert zählte nicht. Er konnte sich hinter ihrer Verantwortung verstecken. Außerdem war er ein Mann, der menschliche Embryonen mit anderen Augen sah. Siebzehn Uhr. Das Standgericht wurde aufgelöst, der Ausnahmezustand aufgehoben. Auf dem gesamten Gelände hatten die Rezeptoren geschwiegen. Wir waren virenfrei! Ethel servierte unser Festessen, Konserven in ungeheuren Mengen. Wir praßten rücksichtslos. Neunzehn Uhr. Die Regierung der Vereinigten Staaten von Nordamerika verbreitete über alle Fernsehanstalten folgende offizielle Mitteilung: „Intensiven Bekämpfungsmaßnahmen des Krisenstabes Nakina, zu dessen Unterstützung zeitweise Einheiten der Nationalgarde und der regulären Streitkräfte abgestellt waren, ist es zu danken, daß der Virenausbruch im biologischen Forschungsinstitut Professor Mervyn Jazdani unter Kontrolle gebracht werden konnte. Die über das Institut verhängte Quarantäne wird mit Wirkung vom 14. September, sechs Uhr aufgehoben. Die Regierung spricht auch im Namen der Internationalen Akademie für Naturwissenschaf-
ten allen beteiligten Sicherheitskräften Dank und Anerkennung für die geleistete Arbeit aus." Eine Mitteilung, die Musik in unseren Ohren war. Neunzehn Uhr zehn. Am Videophon Doktor Stipanitsch. „Kollegin Wanderfeld, wir haben die Transplantation der Mansfield-Leber für zwanzig Uhr angesetzt. Können Sie diesen Termin halten?" „Das Transplantat, das wir zur Verfügung stellen können, wiegt ganze sechsundfünfzig Gramm. Aber von uns aus können wir es versuchen. Obwohl es mir lieber wäre, wir könnten das Präparat noch zwei, drei Tage im Brutschrank belassen. Das tägliche Wachstum ist beträchtlich!" „Ausgeschlossen! Mansfield geht es sehr schlecht. In drei Tagen haben wir vielleicht ein ausgezeichnetes Transplantat, aber keinen Patienten mehr. Bereiten Sie bitte das Organ zur Übergabe vor." Wir nahmen die Leber aus dem Brutschrank und spülten sie mit Ringerlösung durch. Jetzt blieben nur noch zwölf Stunden für den Eingriff. Ein nochmaliges Anschließen an die Nährstoff Versorgung war nun nicht mehr möglich. „Worauf wartest du noch", fragte mich Albert. „Willst du den letzten Embryo aufheben, bis dein Jazdani vor dem Brutschrank steht? Oder jemand von der Internationalen Akademie? Die sind morgen um sechs Uhr im Institut, darauf kannst du dich verlassen!" Es waren die anderen Augen, die eines Mannes, mit denen er mir eine Entscheidung abforderte. „Und wenn die Operation mißlingt?" „Dann kannst du Mansfield ohnehin nicht mehr helfen. Auch mit dem Embryo nicht!" „Wenn wir uns beeilen, können wir ja zur Sicherheit die Leber entnehmen!" Jeden Augenblick konnte jemand aus dem Hauptgebäude kommen. Wir hatten uns noch nicht wieder daran gewöhnt, daß sich von nun an jeder frei im Gelände bewegen konnte. „Über die grundsätzliche Entscheidung sind wir uns ja einig!" Natürlich waren wir uns einig. Aber deshalb wird töten nicht einfacher. Dieser Eingriff fiel mir schwerer als die siebenundneunzig vorher. Da blieb immer noch ein Rest, hier nicht. Der Keimling unterschied sich kaum noch von einem winzigen, aber schon voll ausgebildeten Baby. Hätte mich Albert nicht ständig beobachtet, ich glaube, ich hätte es nicht tun können. Die Leber präparierte ich frei. Erstaunt waren wir über die Tatsache, daß sich das Organ in vitro wesentlich rascher entwickelt hatte als im, lebenden Organismus. Die Gewichtsdifferenz betrug immerhin sieben Gramm. Wir waren gerade mit unserer Arbeit fertig, als Ethel in den Brutschrankraum gerannt kam. „Stellt euch vor, wir bekommen Besuch! Und sie kommen ganz ohne jeden Schutzanzug. Einfach so, im Kittel!" „Wer kommt?"
„Der Professor und Doktor Stipanitsch, sicherlich das Transplantat holen." Wir verstauten die Mansfield-Leber in der tiefgekühlten Transportbox. Im Gegensatz zu Professor Jazdani hatte Professor Stipanitsch kaum einen Blick für uns übrig. Ihn interessierte lediglich das Transplantat. Er nahm die Box, dankte uns flüchtig und verschwand wieder. Er war in Gedanken schon bei der bevorstehenden schwierigen Operation. Anders der Professor, er gratulierte uns überschwenglich zu der „wissenschaftlichen Großtat", wie er sich etwas zu pathetisch ausdrückte. Aber das fiel nur mir auf. Weil ich meinen Jazdani kannte. „Sie müssen mir unbedingt berichten, wie sie das in so kurzer Zeit geschafft haben. In ein paar Tagen werde ich genügend Zeit für Sie haben und mich ausführlich mit dem Problem beschäftigen können!" So, in ein paar Tagen also. Da war die Galgenfrist für uns nicht sehr lang, um eine plausible Erfolgserklärung in die Protokolle einarbeiten zu können. „Sie arbeiten doch selbstverständlich auf diesem Gebiet weiter! Die Internationale Akademie wird Augen machen, wenn wir mit solchen Ergebnissen aufwarten können!" Da saßen wir schön in der Tinte. Nicht nur Jazdani, auch der Genehmigungsausschuß der Akademie würde uns Fragen stellen, auf die wir im Moment noch keine Antwort wußten. Denn es würde nicht genügen, Salamandra salamandra auf den Protokollen durchzustreichen und durch Homo sapiens zu ersetzen. „Ich habe Ihnen Verpflegung mitgebracht, ganz frisch, soeben per Hubschrauber abgeworfen. Als Entschädigung sozusagen, denn ich muß Sie bitten, diese Nacht noch in Ihrem Labor auszuhalten. Morgen räumen wir die Wohnbungalows auf. Sieht teilweise recht verheerend aus!" Kein einziges Wort über die Opfer, über Tucker, über die Ausbrecher, über das Standrecht. Als hätte es das nie gegeben. Statt dessen Verpflegungsrationen, Spezialitäten aus aller Welt: Saftschinken aus Polen, japanische Tangspitzen, Pilsener Bier und echte Hamburger. Mein Gott, wie lange hatten wir keine Hamburger mehr gegessen. Und trotzdem wollte der richtige Appetit nicht kommen. Zu viele Fragen... Das Angebot, die Transplantation zu beobachten, lehnte ich ab. 14. September 2038, null Uhr vierzig. Ethel schlief schon lange. Albert und ich überarbeiteten die Laborbücher, Eintragungen vom achten bis dreizehnten September, die irgendwie erklären mußten, wie wir zum Mansfield-Transplantat gekommen waren. Unwichtig, ob das Experiment wiederholbar war, eher im Gegenteil. Wichtig nur, daß es so gewesen sein könnte und daß irgendein glücklicher Umstand unseren Erfolg begünstigt haben könnte. Wenn wir auch über unsere
zukünftige Arbeit noch keine klaren Vorstellungen hatten, die Art Homo sapiens sollte tabu sein. Und wenn uns Jazdani feuern würde. Ganz egal! Es war eine Sisyphusarbeit, Versuchsprotokolle und Laborbücher so aufeinander abzustimmen, daß sie mehrfachen Kontrollen standhalten würden. Jazdani würde sich dafür interessieren, die Landessektion der Biologischen Gesellschaft, möglicherweise sogar die Internationale Akademie. Herrgott, hätte ich doch dieses Institut niemals betreten, diesen Jazdani niemals kennengelernt! 14. September 2038, sechs Uhr. Wir waren an diesem Morgen hellwach, obwohl wir nur drei Stunden geschlafen hatten. Die Augen brannten, und ich hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund, aber ich war munter. Diesen Moment hätte ich unter keinen Umständen verschlafen mögen. Endlich heulte die Alarmsirene. Gleichmäßig und ohne Unterbrechungen, eine volle Minute lang. Entwarnung! Wie hatten wir dieses Signal herbeigesehnt! Gleichzeitig mit der Hauptschleuse öffnete sich das Schleusensystem unseres Labors. Die Außentür stand einen Spalt offen. Frische, kalte Morgenluft drang in den Raum. Köstliche kühle Septemberluft. Nur der weiß sie zu schätzen, dessen Leben zeitweilig von sinkenden Sauerstoffbilanzen abhing. Durch das Haupttor, das jetzt wieder offen war, schob sich im Schrittempo eine Wagenkolonne. Nationalgarde an der Spitze, die Nationalgardisten immer noch bewaffnet bis an die Zähne. Sie fuhren durch den ehemaligen Institutspark, der jetzt einer Wüste ähnlich sah, ein Wagen bog ab und blieb vor dem Mansfield-Laborkomplex stehen. Die anderen Wagen fuhren weiter zum Zentralgebäude. Beim Aussteigen aus einem der ersten Fahrzeuge erkannte ich Oberst Phillips und Handelsrat Fisher. Seltsam, daß Phillips schon um diese Stunde am Institut auftauchte. Und noch dazu in Uniform. „Schöner Besuch", sagte Albert. „Fast zuviel der Fürsorge, meint ihr nicht auch?" Auch mir gefiel diese Wagenkolonne nicht. Zuviel Nationalgarde, zu viele Waffen, zu viele unbekannte Persönlichkeiten. Zu viele Punkte, die bewacht wurden, denn auch am Eingang war ein Jeep stehengeblieben. Unsere Befürchtungen waren nicht grundlos. Minuten später wurde ich per Lautsprecher ins Zentralgebäude beordert. Und das noch nicht einmal von Professor Jazdani oder von Betty, sondern von einer unbekannten männlichen, befehlsgewohnten Stimme, die keine Fragen und schon gar keinen Widerspruch duldete.
Die Teamchefs waren vollzählig versammelt. Und dennoch schien der Raum auf den ersten Blick leer zu sein. Professor Jazdani fehlte. Obwohl Oberst Philipps gut zehn Kilo mehr auf die Waage brachte, dieses Vakuum konnte er nicht ausfüllen. Es herrschte gedrückte Stimmung. Irgend etwas, von dem ich noch nichts wußte, mußte vor meiner Ankunft vorgefallen sein. Wir schwiegen uns lange an. Doktor Stipanitsch nickte mir verstohlen, aber anerkennend zu. Unser Transplantat arbeitete also. Wenn ich ihn richtig verstanden hatte. „Tja, meine Herrschaften", begann Oberst Phillips dann, „Sie haben uns da eine ganz schöne Schweinerei eingebrockt. Und Sie können sich darauf verlassen, daß wir hier keinen Stein auf dem anderen lassen werden, bis wir die Ursachen gefunden haben. Bis dahin stehen Sie uns zur Verfügung!" „Wir sind also verhaftet!" äußerte sich Doktor Weniger, erregt wie immer. „So würde ich das nicht formulieren", antwortete ihm Handelsrat Fisher. „Die Untersuchungen dienen letztlich Ihrer und unserer Sicherheit." „Verhaftet ist bis jetzt lediglich Professor Jazdani", bellte der Oberst. „Und seine Sekretärin. Bis jetzt! Das kann sich aber stark ändern!" Das war es also, Jazdani verhaftet. Ich hatte vieles erwartet, das nicht. Nun verstand ich, weshalb die anderen Kollegen so betroffen waren. „Das Institut wird vorläufig von der Landessektion verwaltet", meldete sich ein älterer, unauffälliger Herr zu Wort, den ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Überhaupt stellte ich fest, daß ich die Mehrzahl der Leute nicht kannte. Das war mir am Anfang gar nicht aufgefallen. „In Treuhandschaft. Und Sie können Ihre Arbeiten fortsetzen und natürlich auch das Institut verlassen, sobald Sie uns überzeugt haben, daß die Forschungsprogramme Ihrer Teams eine zweite solche Katastrophe absolut ausschließen. Das kann bei einigen Teams sicherlich sehr rasch erfolgen. Wir haben Gutachter für alle Disziplinen, die sich mit Ihren Arbeiten befassen werden. Wie gesagt, bei den meisten Teams eine reine Formsache." Nach dem Ende der Besprechung nahm mich Handelsrat Fisher beiseite. „Ich soll Ihnen Grüße von Professor Jazdani ausrichten, Solveg. Sie möchten sich in allen Fragen an mich wenden. Und sich keine Sorgen machen. Er hat Ihnen das Haus überschreiben lassen, hier sind die entsprechenden Dokumente." „Kann ich mit ihm sprechen?" „Vorläufig nicht, Solveg. Lassen Sie die größte Aufregung erst einmal abklingen. Schließlich legt sich jeder Sturm irgendwann. Und denken Sie daran, in mir finden Sie immer einen guten Freund!" Die Nachricht von der Verhaftung Professor Jazdanis war mir schon vorausgeeilt. Auch die, daß wir dem Genehmigungsausschuß der Internationalen Akademie unsere Projekte vorzulegen hatten, daß also mit der Aufhebung der Quarantäne längst nicht alles vorüber war. Aber das hatten wir ja erwartet.
„Ich habe Ethel schon über unsere veränderten Protokolle unterrichtet", empfing mich Albert. „Von uns aus können sie jederzeit kommen!" „Es sieht mir nicht danach aus, als würden sie sich ernsthaft um unsere Arbeit kümmern", antwortete ich. „Es scheint eher so, als suchten sie einen Sündenbock, dem sie die Schuld am Unfall anhängen können. Ihr hättet Oberst Phillips erleben sollen!" „Der hätte allen Grund, uns noch dankbar zu sein! Wer kannte vor dem Unfall schon einen Oberst Phillips? Jetzt ist er natürlich in aller Munde, man spricht von einer Superkarriere im Innenministerium der Zentralregierung." „Woher weißt du das?" „Die Telestation Nakina arbeitet seit einigen Stunden wieder. Und spuckt natürlich Gift und Galle gegen den Krisenstab. Besonders gegen Phillips!" „In der Stadt muß es drunter und drüber gehen", berichtete Ethel. „Die Leute strömen zurück und finden geplünderte Wohnungen, stillgelegte Heizwerke, einen zusammengebrochenen Regionalverkehr vor. Von Entsorgungsproblemen ganz zu schweigen. Die Polizei scheint sich vor Anzeigen aller Art nicht retten zu können. Und unserem Oberst Phillips schiebt man ganz öffentlich die Schuld für die Zustände zu. Wenigstens von Seiten der Telestation Nakina." Jetzt verstand ich seine wütenden Ausfälle gegen unser Institut besser. Das Innenministerium war einem Ameisenhaufen vergleichbar und hatte hochdotierte, aber politisch völlig bedeutungslose Posten in ziemlicher Anzahl zu vergeben. Nicht jede Versetzung entpuppte sich im Nachhinein als eine Beförderung. Ich nahm mir Ethel noch einmal beiseite. „Bleibt es dabei?" „Wir haben nie einen Embryo gesehen", antwortete sie fest und sehr bestimmt. „Ganz im Gegenteil, ich hoffe, ihr schweigt auch nach meiner Entbindung noch. Ich möchte, daß es als völlig normales Kind aufwachsen kann. Ohne Presserummel und medizinische Glaskastenversorgung. Ohne Starallüren. Es soll ausschließlich mein Kind werden, es soll sich entwikkeln können wie jedes andere Baby auch." Der Herr Gutachter von der Internationalen Akademie konnte also kommen. Was kostete schon die Welt! Beweise uns, Kollege Gutachter, daß wir einen einzigen Schritt über Vertragsgrenzen hinausgegangen sind! Und wenn der Herr Kollege kein Fachmann ist, dann kann er uns sowieso den Buckel herunterrutschen! Wir mußten nicht lange auf die Inspektion warten. Und waren doch sehr überrascht, denn in Begleitung des Gutachters, eines spindeldürren, ausgetrockneten Menschen mit einer ständig in die Stirn hängenden schwarzen Haarsträhne, befand sich Handelsrat Fisher. Die General Pharmacy and
Chemistry gab sich also die Ehre eines Besuches, also mußte ihr doch allerhand an unserer Arbeit liegen! „Doktor Marmory", stellte sich uns die Haarsträhne vor, „von der Bostoner Universität. Ich soll der Akademie einen Bericht über Ihre Forschungsvorhaben liefern." „Solveg", fiel ihm Fisher ins Wort, „ich habe dem Herrn schon auf dem Weg hierher versucht zu erklären, daß es sich bei Ihrem Projekt um eine völlig harmlose Sache handelt, bei der Unfälle aller Art nahezu ausgeschlossen sind!" „Und Sie haben mir auch schon erklärt, daß Ihre Firma das Projekt weitgehend finanziert und kein Interesse daran hat, die Ergebnisse vorzeitig zu veröffentlichen", sagte die Haarsträhne ruhig. „Das alles ändert nichts daran, daß es hier an diesem Institut einen schweren Unfall gegeben hat und daß die Akademie auf einer Untersuchung aller Projekte besteht. Aller, also auch dieses!" Doktor Marmory wandte sich an mich. „Sie sind Doktor Wanderfeld, der Teamchef. Darf ich Sie um die Unterlagen bitten?" „Aber natürlich", antwortete ich und lächelte Handelsrat Fisher beruhigend zu. Jetzt würde sich zeigen, ob Doktor Haarsträhne mit der Materie vertraut war oder nicht. Marmory blätterte in den Papieren, schob seine Strähne zurück, setzte sich, blickte mich überrascht an. „Das stimmt hier alles?" fragte er mißtrauisch. „Ich darf doch bitten", antwortete ich spitz. Fisher trommelte mit den Fingerspitzen auf dem Labortisch. „Haben Sie sich überzeugt, Mister Marmory, daß hier keine Katastrophe droht? Daß überhaupt nicht mit Viren oder anderen gefährlichen Stoffen gearbeitet wird?" „Nein", antwortete Marmory. Und zu mir: „Kann ich bitte Ihren Gerätepark sehen?" Der Handelsrat verlor die Geduld. „Doktor Marmory", zischte er, „wenn dieses Verfahren jemals an die Öffentlichkeit dringt, dann macht Sie die General Pharmacy and Chemistry regreßpflichtig. Sie werden Ihres Lebens nicht mehr froh werden, das kann ich Ihnen versichern! Wir geben schließlich keine Millionen aus, damit andere die Früchte ernten! Die Früchte unserer Arbeit!" Fisher tat, als hätte er die Versuche mit Salamandra salamandra und Homo sapiens durchgeführt und nicht wir. „Ich bin kein Industriespion, Mister Fisher", antwortete Marmory sehr kühl. „Und die Bostoner Universität lebt ausschließlich von Staatsgeldern. Ausschließlich!! Im übrigen bitte ich Sie, meine Arbeit nicht weiter zu behindern!" Das war deutlich. Fisher ging, beruhigt, denn ich konnte ihm unbemerkt zuflüstern, daß Marmory nicht die Hälfte der Wahrheit erfahren würde. Nicht die Hälfte der Hälfte. Aber allein das genügte der Haarsträhne. Er
bewegte sich staunend durch das Labor. „Und dieses Lebertransplantat arbeitet wirklich", fragte er schon zum drittenmal. Auch einen Doktor Marmory konnte man aus der Ruhe bringen, wenn man es nicht so ungeschickt anstellte wie ein Handelsrat Fisher. „Das überschreitet meine Kompetenz", erklärte er schließlich. „Ich muß die Biologische Gesellschaft konsultieren. Es tut mir leid!" Er verteilte blaue Plaketten an uns und erklärte, daß wir uns mit diesen Plaketten auf der Kleidung innerhalb des Institutes frei bewegen könnten. Das Gelände dürften wir erst verlassen, wenn die Akademie Klarheit über unser Projekt gewonnen habe, so phantastisch auch unsere Erfolge seien, für die er als Fachkollege uns den allergrößten Respekt zu zollen sich genötigt sehe. Doktor Marmory raffte die Unterlagen zusammen, schob die Haarsträhne in die Stirn und ließ uns mit den blauen Dingern in der Hand allein. „Wir machen Fortschritte. Unser Gefängnis wird nach und nach größer", sagte Albert. „Immerhin sieht sich ein Doktor Marmory genötigt, uns ohne vorherige Zustimmung der Landessektion das Lustwandeln in der Parkruine zu gestatten." Wir lachten, denn wir hatten allen Grund dazu. Schließlich hatte uns Marmory beziehungsweise die Akademie eine Entscheidung abgenommen, für die wir allein vielleicht zu schwach gewesen wären. Wir besichtigten unsere ehemaligen Unterkünfte und fanden das reine Chaos. Das Virus hatte alles vernichtet, was organischen Ursprungs war, sogar die Baumwollgardinen vor den Fenstern. Verheerender hätte auch ein Großbrand nicht wüten können. Vor allem die Klima- und Sauerstoffanreicherungsanlagen mit ihrem Algenbesatz waren vollkommen vernichtet. Deshalb war es ungewöhnlich kühl in allen Räumen. Nein, so ein Bungalow würde nie wieder ein richtiges Zuhause werden. So etwas spürt man. Auf dem Rückweg, fast hätte ich Heimweg in den Laborkomplex gesagt, schwiegen wir bedrückt. Auf einmal hatte ich den Eindruck, als laufe Doktor Tucker neben uns. Eine Täuschung, sicher, aber ich hätte ihn greifen können, so deutlich war die Vision. Zehn Uhr. Ich wurde ins Zentralgebäude gebeten. Oder befohlen, wenn man dem militärischen Ton der Lautsprecherstimme glauben wollte. Man hatte eine kleine Kommission gebildet. Unser Forschungsprogramm hatte sich zum „Fall" ausgewachsen, den die Internationale Akademie sehr ernst zu nehmen gedachte. Das jedenfalls wurde mir versichert, glaubhaft versichert. Aber wohlwollend versichert, denn schließlich stoße auch die Akademie nicht alle Tage auf neue epochale Erkenntnisse. Hallo, dachte ich beeindruckt. Da bieten sich ja Perspektiven! Man müsse die Resultate allerdings sorgfältig überprüfen. Vor allem aber
die Konsequenzen durchdenken, die noch gar nicht überschaubar seien. Eine Revolutionierung der Medizin, das mindeste, was man durchdenken müsse. Aber unserer Arbeit gebühre die intensivste Förderung seitens der Akademie, und ein privates Forschungsinstitut, auch eines vom Rang Jazdanis, sei letztlich für diese Arbeit kaum der richtige Rahmen. Man bedankte sich in bewegten Worten für die bisher geleistete Arbeit und wünschte uns auch weiterhin große Erfolge und so weiter und so weiter. Nun gehe es darum, vielleicht sogar im internationalen Rahmen nach Möglichkeiten zu suchen, uns optimale Arbeitsbedingungen zu verschaffen. Ein großes eigenes Institut oder so! Inzwischen schlage man uns einen ausgedehnten Erholungsurlaub vor, auf Florida oder in Kalifornien. Natürlich auf Kosten der Akademie. Das versteht sich! Ich wußte einen besseren Ort. Und mit grünen Kennkarten in der Hand verließen wir das Institut Professor Mervyn Jazdani in Richtung Gebirgshaus, in Richtung auf mein Eigentum. Das war ein Klang: Mein Eigentum! Wer konnte so etwas schon sagen? Obwohl ich jeden Winkel des Hauses kannte, war ich ebenso gespannt wie Ethel und Albert. Vor allem, ob es noch nach Jazdani riechen würde oder schon nach Wanderfeld.
39 Das war wie ein Besuch im Mittelalter. Ins schwere eiserne Tor hatte man noch einmal eine kleine, sehr schmale Tür eingebaut, die pünktlich um zehn Uhr geöffnet wurde und durch die sich jetzt murrend die Menschenmenge drängte. Wir mittendrin. Wir, das waren Handelsrat Fisher und ich. Und zu Fuß waren wir, weil sich der nächstgelegene Parkplatz gut vierhundert Meter entfernt vom Tor des Staatsgefängnisses Nakina befand, aus Sicherheitsgründen, wie uns Phillips breit lächelnd erklärt hatte, während er uns die Besuchserlaubnis erteilte. Das Murren der Besucher verstärkte sich. Ich konnte nicht verstehen, weshalb man so viel Zeit brauchte, diese Tür zu passieren, denn ich betrat zum erstenmal eine Haftanstalt und hatte mir etwas anderes vorgestellt. Nicht diesen Altbau weit außerhalb der Stadt, der mindestens zweihundert Jahre auf dem Buckel hatte. Aber welcher Politiker verspricht sich schon von Gefängnisneubauten größere Popularität? Ich betrat das Staatsgefängnis Nakina mit einer gewissen Neugier. Als wir endlich diese Tür passiert hatten, wußte ich, weshalb sich der Einlaß verzögert hatte. Ich mag es nicht, wenn man wie Vieh in männliche und weibliche Stücke sortiert wird. Und ich mag es gleich gar nicht, wenn Wachpolizistinnen an einem herumfummeln. Dagegen bin ich seit Urzeiten allergisch. Ich hatte weder einen Kassiber noch eine Feile oder gar Waffen oder Sprengstoff versteckt, weder in der Tasche noch am Körper. Endlich
stand ich im Hof. Halbrunder, hoher Bau mit vergitterten Mauerlöchern. Schlimmer, als ich es mir vorgestellt hatte. Arena. Nur eine Frage der Zeit, wann sie die Löwen freilassen würden. Hier alterte man schon beim Eintritt um Jahre. Armer Jazdani! Das ist einfach nicht dein gewohntes Milieu! Fisher kam durch die Kontrolle. Ebenfalls beeindruckt, und auch nicht gerade positiv. „Widerlich", murmelte er mir zu. „Man kann alles übertreiben. Werde mit dem Vizepräsidenten..." Ich war mir sicher, diese Kontrolle nicht mehr oft passieren zu müssen. Verbindungen hatte Fisher, das mußte man ihm lassen. Und dann das „Besuchszimmer"! Ein endlos scheinender Saal, in der Mitte ein doppeltes Gitter, dazwischen liefen die Wachposten. Auf der einen Seite, in Andeutungen von Kabinen, die Besucher, auf einer langen Bank gegenüber die Gefangenen. Unvorstellbarer Lärm, unvorstellbarer Gestank. Hände in die Gitter gekrallt, Gesichter gegen den Draht gepreßt. Und trotzdem mußte man sich anschreien, ankämpfen gegen die Schreie der anderen. Fast in der Mitte des Saales Professor Jazdani. Mein Jazdani. Mein Jazdani? Wenn er jemals „mein" gewesen war - woran ich zuweilen fest glaubte und was ich wiederum entrüstet von mir weisen würde -, mit dem schäbigen alten, unrasierten, gebrochenen Mann auf der Bank hatte mein Jazdani nichts gemein. Man konnte förmlich sehen, wie er stinken mußte. Fisher saß ihm schon gegenüber und brüllte, während ich noch hilflos in diesem Schreckenskabinett herumstand und aus dem allgemeinen Geschrei den Namen Sveder heraushörte. Vielleicht war ich besonders hellhörig, wenn es um diesen Namen ging. Aber ich war mir vollkommen sicher, richtig gehört zu haben. Welche immense Bedeutung mußte dieser Doktor Sveder für Jazdani haben! Sich zu rasieren, sich umzuziehen hatte er vergessen, Doktor Sveder nicht. Wanderfeld, halte die Ohren offen! Zu schreien hatten wir uns nichts, zu sagen hätten wir uns einiges gehabt. Aber dazu war nicht Raum und Ort. Ich glaube, wir hatten die letzte Gelegenheit, Klarheit zwischen uns zu schaffen, in der Trostlosigkeit der Unfalltage verpaßt.
40 Doktor Sveders Sprechstundenzeit war eigentlich schon vorüber, der Arzt war dabei, die Unterlagen für den nächsten Tag zu sichten, als ihm seine Sekretärin überraschend noch eine zusätzliche Patientin ankündigte. „Geben Sie der Dame einen neuen Termin", entschied der Arzt ungehalten. „In der nächsten oder übernächsten Woche. Ich habe auch meine geregelten Arbeitszeiten, daran soll sich die Patientin gefälligst halten!" „Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß es sich bei der Patientin um
Doktor Solveg Wanderfeld handelt." Doktor Sveder änderte seine Meinung sofort. „Doktor Wanderfeld? Das ist natürlich etwas anderes. Herein mit ihr. Und mit ihrem Krankenblatt!" Er hatte mit Neri über ihren ersten Besuch gesprochen. Und Neri hatte zur Vorsicht geraten. „Ich möchte mich entschuldigen, Doktor, daß ich den verabredeten Termin nicht einhalten konnte. Ich war, wenn man so sagen kann, dienstlich verhindert. Und ich komme nicht als Patientin, das will ich Ihnen gleich sagen!" Du kannst ihr nicht mehr ausweichen, dachte er. Und wenn Neri recht hat? „Was den Termin betrifft, machen Sie sich bitte keine Sorgen", antwortete Sveder. „Ich freue mich ehrlich, Sie überhaupt lebend wiederzusehen. Die Chancen für Ihr Institut standen nicht sehr günstig, wenn ich das richtig beurteile." „Ja, ohne die General Pharmacy and Chemistry wären wir wahrscheinlich nicht mehr am Leben." „Oder nicht in eine solche Lage geraten!" Natürlich weiß er etwas. Was sollte sonst diese Bemerkung! „Sie haben enge Beziehungen zum Konzern, Doktor?" „Nicht engere als Sie, Doktor Wanderfeld!" So langsam kommen wir uns näher, dachte sie. Man muß vorsichtig sein. Wie schnell hat er Fisher angerufen. Und dann sitze ich in der Tinte! „Sie sind Genetikerin, Doktor Wanderfeld?" Die entscheidende Frage stand bevor. Wenn ich jetzt Neri hier hätte. Der ist in solchen Dingen wesentlich geschickter. „Natürlich, das wissen Sie doch. Sie kennen doch Professor Jazdani. Wir arbeiten am selben Institut, und wir arbeiten eng zusammen." „Kennen ist zuviel gesagt", wich er aus. „Er ist mein Patient. Nicht mehr und nicht weniger." Vorsicht, Wanderfeld! Dein Sveder lügt. Jazdani hat diese Praxis nie betreten! Sie ist seine Geliebte, alle Welt weiß das, hatte Neri gesagt. Trotzdem, ich muß sie fragen! „Halten Sie es für ein reines Phantasieprodukt, wenn in der Sensationspresse behauptet wird, die Genetik sei in der Lage, Lebewesen aus der Retorte herzustellen?" Keinen Schritt weiter, Wanderfeld. Sveder ist nicht ehrlich! „Meinen Sie Menschen, wenn Sie von Lebewesen sprechen?" „Richtig. Und ich meine Professor Jazdani und sein Institut, wenn ich von der Genetik spreche!" So also will er dich fangen. Und läuft anschließend zur Akademie oder zu Fisher oder zu sonstwem. Nein, nicht mit mir! „Entschuldigen Sie, Doktor Sveder, aber ich muß staunen, daß Sie als Mediziner eine solche Frage stellen können!"
Schade, dachte er. Sie ist halt doch nichts weiter als Jazdanis Geliebte. Aber was hatte ich letztlich erwartet? Und vielleicht weiß sie auch wirklich nichts! Nicht mit mir, Doktor Sveder, nicht mit mir. Wenn du dich schon von Fisher oder weiß Gott wem bezahlen läßt, dann mußt du es geschickter anstellen. Produktion von Menschen! Am Institut Professor Jazdani! Daß ich nicht lache. Dann könnte ich mich auch glatt auf den Markt stellen! Sie ging, ohne einen neuen Termin zu vereinbaren. Und bei beiden blieb das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben.
41 Am Nachmittag des fünfundzwanzigsten September 2038 lud die Verwaltung der experimentalmedizinischen Fakultät der Universitätsklinik Toronto, die als nächstgelegene Spezialklinik die Behandlung Doktor Mansfields übernommen hatte, zu einer Fachpressekonferenz ein, die von den Journalisten der wichtigsten medizinischen Wochenschriften besucht wurde. Professor Woodward verlas ein vielbeachtetes ärztliches Bulletin: „Am fünfundzwanzigsten September zweitausendachtunddreißig, zehn Uhr siebzehn verstarb Doktor Marcus Mansfield. Der Tod trat durch irreversible Schädigungen im Bereich der Medulla oblongata ein, die zum Ausfall des Atemzentrums führten. Vorausgegangen war, durch ebenfalls irreversible Prozesse, die völlige Zerstörung des Knochenmarks. Der dadurch entstehende akute Mangel an Erythrozyten konnte nur zeitweilig durch ständige Transfusionen ausgeglichen werden. Im Gegensatz dazu hatten die in das Biosystem Mansfield integrierten Module Nierer), Herz-Lunge, Leber und Milz einwandfrei gearbeitet. Das Biosystem hatte ihrer Integration nur ausgesprochen schwache Abwehrreaktionen entgegengesetzt. Ja, meine Herren, setzte Professor Woodward hinzu, „wir haben eine Schlacht verloren, wie man so zu sagen pflegt. Denn um die Lebenserhaltung dieses Patienten wurde ein materieller und geistiger Aufwand getrieben, der sich nur mit den zu erwartenden wissenschaftlichen Erkenntnissen rechtfertigen ließ. Wir hatten drei komplette Intensivblöcke und unseren größten Medirechner eingesetzt. Aber leider..." Der Mediziner zuckte mit den Schultern. Am sechsundzwanzigsten September erschien die Boulevardzeitung „News and Stars Report" mit folgender Schlagzeile: „Tod. trotz Medizinmontage!" und dem Untertitel „Teuerster Patient des Jahrhunderts gestorben!" Der „News and Stars Report" berichtete im anschließenden Artikel über Planungen der Universitäten, medizinische Ersatzteillager einzurichten. Zugleich
würden Spezialisten ausgebildet, die jeweils nur ein bestimmtes Organ austauschten. Wie auf einem Fließband werde der Patient schon bald durch den Montage-OP-Saal gereicht. Ziel: (und das wieder fett gedruckt Unsterblichkeit! Am siebenundzwanzigsten September reagierte die Landessektion der IAN mit einer Presseverlautbarung, in der die Behauptungen des „News and Stars Report" mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen wurden, sie gehörten ausschließlich in den Bereich der Spekulation. Doktor Marcus Mansfield wurde am neunundzwanzigsten September in seinem Heimatort Little Springs unter nur geringer Anteilnahme der Bevölkerung beigesetzt. Er war in Little Springs immer ein Fremder gewesen. Die Witwe erhielt eine Jahresrente von achttausendfünfhundert Usonodollar, ausgesetzt von der General Pharmacy and Chemistry. Waisenrentenansprüche der Kinder sollten von den Versicherungen auf dem Kulanzwege geregelt werden, da Doktor Mansfield mit der Zahlung der Prämien erheblich in Rückstand geraten war.
42 Die Kleinbahn, langsam und unbequem, eine der letzten Bahnverbindungen im Land, mit guten Chancen, als fahrendes Museum die Zeit zu überleben, hielt auf freiem Feld. Das Größte am Haltepunkt war das emaillierte Ortsschild, dessen Buchstaben sich aber nur noch mit Mühe gegen die Rostflekken behaupten konnten und diesen Kampf aller Wahrscheinlichkeit nach verlieren mußten. Der gleichmäßige heftige Wind trieb einem den Nieselregen wie Nadelstiche ins Gesicht, unter der tief hängenden grauen Wolkendecke erkannte man in der Ferne die roten Dächer der Siedlung, die einzigen Farbtupfer im fast einheitlichen Graublaubraun von Himmel und Landschaft. Hier also war Solveg Wanderfeld zu Hause. Hier, nicht in der Stadt und schon gar nicht in einer Luxus-villa im Hochgebirge. Albert Estling beeilte sich, den Anschluß an die kleine Gruppe von Leuten nicht zu verlieren, die eiligen Schrittes der Siedlung zustrebten. Der Kiesweg knirschte unter seinen Schritten, und jeder Schritt war wie ein Schritt ins vergangene Jahrhundert. Albert hätte sich nicht gewundert, wenn plötzlich auf der schmalen Straße ein Planwagen dahergehumpelt gekommen wäre. Vierspännig, von schweren Pferden gezogen. Er verstand nicht, wie man sich in eine solche Gegend flüchten konnte. Oder sah die Landschaft, die diesen Namen kaum verdiente, anders aus, wenn man hier geboren war, die Kindheit verlebt hatte, den Weg zur Kleinbahn tausendmal gegangen war? An seine Kinderlandschaft konnte er sieh nicht erinnern, zu oft hatte sie gewechselt, war immer nur Gegend gewesen. Um Heimat zu werden,
hatte die Zeit nie gereicht. Alberts Vater war Diplomat gewesen. In der Siedlung musterte man ihn mißtrauisch. Es dauerte eine ziemliche Zeit, ehe sich Albert zum Hause Wanderfeld durchgefragt hatte. Wieder einer, der nach der Wanderfeld fragte. Wieder einer, der aus einer anderen Welt in ihre Stille gekommen war und der vielleicht gar Viren oder ähnliche gefährliche Dinge mit in die dörfliche Friedfertigkeit schleppte. Ein Fremder. So fremd, wie plötzlich vor einem Monat der alte Wanderfeld geworden war. Von seiner Tochter ganz zu schweigen, die nur als Kind zu ihnen gehört hatte, die dann weggegangen war mit allen Konsequenzen und beinahe als Fremde in der Fremde ums Leben gekommen wäre. Die dann wieder aufgetaucht war, mit nichts als dem, was sie auf dem Leib trug, die sich bei Nacht und Nebel in ihre Mitte geschlichen hatte und die nun keine Antwort gab und keinen Gruß erwiderte, der man auf dem Weg Platz machte, unter deren starren Blicken das Dorf und seine Menschen zu Glas zu werden schienen. „Der Virus hat sie geschafft", erzählte man sich des Abends beim Whisky. „Wer hoch steigt, der fällt gewöhnlich tief, das sieht man alle Tage wieder!" Und es erhoben sich auch Stimmen, die die Glocken von Jericho gehört haben wollten, denn auch Gottes Geduld sei begrenzt. Und Eden sei deshalb nicht Eden geblieben, weil dort der Baum der Erkenntnis gestanden habe, von dessen Früchten die Fremde Wanderfeld, die vor langer Zeit einmal zu ihnen gehört hatte, genommen habe. Keiner wußte, wieviel. Aber jeder fürchtete um sein Stückchen Paradies. Hätte man sie doch verbrennen können wie seit alters her! So wucherte das Mißtrauen, und eine Portion davon richtete sich natürlich auch gegen jeden Besucher, der nach dieser Fremden fragte, ob er im Wagen oder zu Fuß von der Kleinbahn kam. Man gab Auskunft, das war man schuldig, aber man gab sie nicht gern. Und das mußte gebührend unterstrichen werden. So daß es jeder merken mußte. „Ein Unglück ist das", sagte der alte Wanderfeld immer wieder, als Albert das Haus endlich gefunden hatte: „Redet nicht, das Mädel, ißt nichts, sagt nichts, macht nichts, läuft nur draußen herum, bei Wind und Wetter. Wird sich noch den Tod holen! Es ist ein Unglück. Sie hätte nicht studieren dürfen, hätte hier immer ihr Auskommen gefunden. Ein Unglück ist das, ein Unglück!" Albert ließ sich die Richtung zeigen, in die sie gegangen war. Der lehmige Boden klebte an den Schuhen, machte jeden Schritt doppelt anstrengend, aber der Nieselregen hatte zum Glück aufgehört, der Wind war geblieben und blies ihm ins, Gesicht. Albert war schon eine Stunde gegangen, von der Siedlung waren nur noch die Dachspitzen zu sehen, er wollte umkehren und im Hause auf Solveg warten, irgendwann mußte sie schließlich wiederkommen, da erkannte er in
der Ferne ihre reglose Gestalt. Sie stand bewegungslos, leicht vornübergebeugt gegen den Wind, und drehte ihm den Rücken zu. Sie drehte sich auch nicht um, als sie seine Schritte längst hören mußte. Er blieb neben ihr stehen und blickte in die gleiche Richtung gegen den Horizont wie sie. So standen sie. Und der Wind blies gleichmäßig von vorn. „Wir brauchen dich", sagte er. Sie antwortete nicht, sah ihn noch nicht einmal an. „Herrgott, wir brauchen dich wirklich!" „Wer ist wir?" antwortete sie, ohne ihn anzusehen. „Das sind Ethel und ich. Vor allem Ethel und ich!" „Nicht auch die General Pharmacy and Chemistry?" „Unsinn! Was habe ich mit dem Konzern zu tun. Ich bin zu Fuß gekommen. Habe dich über eine Stunde gesucht. Weil ich mit dir reden muß. Du kannst dich nicht einfach..." „Was kann ich nicht?" „Du kannst uns nicht dermaßen im Stich lassen. Weil wir dich brauchen. Du kannst dich nicht einfach in dieser Einöde vergraben, nur weil dein Professor Jazdani für seine Fahrlässigkeit ein paar Jahre ins Gefängnis muß. Er wird's überleben!" „Jazdani?" „Ja, zum Teufel, Jazdani. Und tu nicht so, als würdest du den Namen zum erstenmal hören!" „Wer hat deine Fäden in der Hand, Albert Estling?" „Fäden?" „Wir sind doch alle Marionetten. Marionetten! An meinen Fäden zog dieser Jazdani. Und als er nicht mehr da war, wollte die General Pharmacy and Chemistry ziehen. Und wer zieht an deinen Fäden, Albert Estling?" „Solveg, du sprichst in Rätseln. Ich verstehe kein Wort!" Doktor Wanderfeld hatte sich umgedreht und ging langsam in Richtung Siedlung zurück. „Du denkst auch, ich bin verrückt, was? Das ganze Dorf denkt es. Aber Marionetten reagieren nun einmal so, wenn die Fäden plötzlich abgeschnitten werden. Sie brechen zusammen. Auf offener Bühne. Zack, und aus!" Der Wind trieb sie voran. Albert vergrub die Hände in den Manteltaschen. „Und wer hat deine Fäden zerschnitten?" „Ich will dir alles erzählen. Aber dann nimmst du deine Beine und gehst und läßt mich in Ruhe. Oder ich schmeiß dich raus! Ich war noch einmal mit Fisher im Gefängnis. Und du kannst mir glauben, vor dem Bau kann man schon von außen Angst bekommen. Zudem, was sollte ich dort? Von Jazdani hatte ich mich längst gelöst. Das erkannte ich immer deutlicher. Die Jazdanizeit lag Jahrtausende zurück. Fisher mußte ähnlich gedacht haben, jedenfalls saßen wir kaum wieder im
Wagen, als er zu reden anfing. ,Ich glaube, es wird Zeit, daß wir zwei uns über die berufliche Zukunft Ihres Teams unterhalten, Solveg.' ,Weshalb?' fragte ich. ,Darüber hat die Internationale Akademie zu entscheiden!' ,Ja und nein. Wenn Sie in der Forschung bleiben wollen, dann hat freilich die Akademie das letzte Wort. Aber das würde ich bedauern. Denn ich sehe durchaus auch andere Möglichkeiten. Sehr lukrative, ganz nebenbei!' Ich verstand ihn zuerst nicht. Wo sonst sollten wir arbeiten können, wenn nicht in einem Forschungslabor? ,Wir haben ein Verfahren zur Produktionsreife entwickeln können, das Ihren bisherigen Arbeiten recht ähnlich ist', drückte er sich sehr vorsichtig aus. ,Und für diese Produktionsanlage benötigen wir ein wissenschaftliches Leitungsteam. Ich habe sofort an Sie gedacht. Und an Ihre Gruppe!' ,Um was für ein Verfahren handelt es sich? Arzneimittelproduktion?' ,Sie müssen verstehen, Solveg, das Verfahren ist brandneu und unterliegt absoluter Geheimhaltung. Die Konkurrenz, Sie verstehen! Einzelheiten kann ich,Ihnen erst mitteilen, wenn Sie und Ihr Team den Vertrag unterschrieben haben. Aber über Gehaltsfragen können wir schon sprechen. Ich biete Ihnen...' Ich habe mich mittlerweile wirklich an Geld gewöhnt. Aber die Summe verschlug mir die Sprache. Am Institut hätten wir für ein solches Monatsgehalt länger als ein Jahr arbeiten müssen! ,Wenn sie Interesse an dieser Tätigkeit haben, dann zeige ich Ihnen morgen Ihre künftige Wirkungsstätte. Damit Sie einen Einblick in die Größenverhältnisse bekommen.' ,Ich denke, das Verfahren ist geheim?' ,Sie können sich darauf verlassen, daß ich Ihnen nicht alles zeigen werde, ehe ich nicht Ihre Unterschrift habe!' Ein alter Fuchs, dieser Fisher. Und doch sagte er dann etwas, was er besser nicht gesagt hätte. Lang und breit erzählte er von der hervorragenden Zusammenarbeit mit Jazdani, von der reibungslosen Übernahme von Forschungsergebnissen in die Produktion, wie sehr er die ungerechte und entwürdigende Behandlung des Professors bedaure und was er unternehmen wolle, diese nach wie vor unerträglichen Haftbedingungen zu erleichtern. Und in diesem ganzen Redeschwall rutschte ihm in einem Nebensatz der Name Doktor Sveders heraus. Und das machte mich außerordentlich mißtrauisch und hellhörig." „Doktor Sveder. Noch nie gehört", sagte Albert, der den Kragen hochgeschlagen hatte und froh war, daß die Siedlung in Sichtweite gekommen war. „Aber ich", antwortete ihm Solveg. „Sofort ging ich hin zu diesem Doktor
Sveder, einem überaus vorsichtigen Mann, mit dem ich schon zweimal vergeblich versucht hatte, ins Gespräch zu kommen. Es war jedesmal zwischen uns eine unüberwindliche Mauer von gegenseitigem Mißtrauen. Aber diesmal wollte ich die Wahrheit erfahren, diesmal ging ich direkt auf mein Ziel los und riskierte es eben, in ein offenes Messer zu rennen. ,Sie haben mich gefragt, ob die Genetik bereits in der Lage ist, Lebewesen zu produzieren. Ja, sie kann es. Uns selbst ist das gelungen!' ,Auch Menschen?' ,Auch Menschen!' Er ging nachdenklich in seiner Praxis auf und ab. ,Und wie reagieren diese Menschen', fragte er dann völlig ruhig. ,Wie verhalten sie sich? Wie hoch ist ihre Lebenserwartung? Gibt es Stoffwechselbesonderheiten, gleichen sie in der Psyche richtigen Menschen? Oder sind sie nur äußere Nachbildungen? Wie würden Sie ihre intellektuellen Leistungen ansetzen?' ,Das alles weiß ich nicht', mußte ich zugeben. ,Wir haben solche Versuche schon im Embryonalstadium abgebrochen. Ganz ehrlich!' ,Schade, Sie hätten mir helfen können. Sie waren die zweiten, die einen solchen Versuch durchgeführt haben. Nur der erste Versuch, der wurde nicht abgebrochen. Kommen Sie mit, Doktor Wanderfeld!' Ich war vollkommen fertig. Aber der wirkliche Schock stand mir noch bevor. Wir fuhren in sein Privathaus am Stadtrand Nakinas. Und dort lag an einer Medieinheit, hoch ohne Bewußtsein, unser Professor Jazdani. Jazdani, verstehst du?" Sie hatte Albert an den Schultern gepackt und schrie ihm den Namen Jazdanis ins Gesicht. „Das verstehe ich nun wirklich nicht", murmelte Albert. „Hat etwa dieser Doktor Sveder...?" „Doktor Sveder." Sie lachte höhnisch auf. „Doktor Sveder ist nur das Opfer seiner ärztlichen Kunst geworden. Unser Jazdani hatte den Homunkulus hergestellt! In unserem Institut, in seinen Privatlabors! Deshalb ist dort niemand hineingekommen, deshalb hatte er auch die Versuche mit eigenem Zellmaterial durchgeführt. Schon drei oder vier Jahre vor uns ist er Schritt für Schritt den gleichen Weg gegangen! Das Labor ist der klare Beweis für meine Behauptung. Ich war dort, es hat mich niemand zurückgehalten, das Institut arbeitet ja kaum noch, und ich fand aufs Haar die gleiche Ausrüstung. Wir hätten umziehen und in den Jazdanischen Labors weiterarbeiten können! Er hat uns an der langen Leine zu unseren Resultaten geführt. Wie die Marionetten! Er wußte längst im voraus, welche Ergebnisse wir erzielen würden und welche nicht und wieviel Zeit wir dazu benötigen würden. Aber das
war ihm nicht genug. Wirkliche Marionetten sollten wir werden. Ich vor allen Dingen, und auch das war so leicht für ihn. Aber das weißt du ja..." „Das ist nicht möglich", sagte Albert. „Das bildest du dir ein, Solveg. Das ergibt doch gar keinen Sinn!" „Das habe ich mir damals auch gesagt. Wanderfeld, laß dich untersuchen, du hast durchgedreht! Was meinst du, weshalb er das Urteil gegen Doktor Tucker so schnell vollstreckte? Vielleicht war ihm Tucker ganz dicht auf den Fersen! Du fragst nach dem Sinn? Unser lieber Professor Jazdani hatte gegen alle internationalen Verträge verstoßen, sehr leicht nachzulesen, und konnte sich natürlich mit seinen Homunkuli nicht an die Öffentlichkeit wagen. Wir sollten vorgeschoben werden, für ihn über die Klinge springen, sobald wir am Ziel waren. Von Anfang an Berechnung, denn hinter diesen Homunkuli steckt unwahrscheinlich viel Geld. Von und für die General Pharmacy and Chemistry. Jazdani war auch nur eine Marionette, eine Marionette, die mit Puppen gespielt hat!" Albert war immer noch nicht zu überzeugen. „Jetzt wollte ich es genauer wissen. Ich ging zu Handelsrat Fisher. Wir hätten uns die Sache überlegt, sagte ich, und wir wären nicht abgeneigt, den Job zu übernehmen. Er flog mit mir zu einem Zweigwerk, das noch im Bau war, aber schon fast fertig. Strengste Überwachung, moderner als die im Staatsgefängnis Nakina und mit Bestimmtheit wirkungsvoller. Du machst dir keine Vorstellungen, was die für einen riesigen Gebäudekomplex in die Wildnis gestellt haben! Auffallend viel Militär. Aber der Handelsrat versicherte mir, die Anlage unterstehe ausschließlich dem Konzern. Armee und Nationalgarde leisteten lediglich technische Hilfe, um den Bau termingerecht fertigstellen zu können. Er zeigte mir unser künftiges Labor. Und ich will nicht mehr Wanderfeld heißen, wenn mir die Einrichtung nicht bekannt vorkam. Vor allem die Gerätebesetzung!" „Du willst doch nicht etwa sagen?" „Doch, ich will sagen. Die General Pharmacy and Chemistry ist zur Produktion ihrer eigenen Arbeitskräfte angetreten. Und wir sollten dafür den Kopf hinhalten, als Entdecker gelten, natürlich von der Internationalen Akademie geächtet, ein so hohes Gehalt hat natürlich seinen Preis. Und dabei wird nach Jazdanischem Verfahren fleißig produziert!" „Um Gottes willen", flüsterte Albert. „Dann wären Doktor Tuckers Prophezeiungen schneller wahr geworden, als er selber gedacht hatte." „Ja, der Mann hatte recht", sagte Solveg bitter. „Nur das nützt ihm nichts mehr. Und uns auch nicht." Sie hatten inzwischen das Haus erreicht, und Solvegs Vater brachte ihnen heißen Tee. „Sie spricht wieder", sagte er erfreut, „mit Ihnen spricht sie wieder! Mit mir nicht. Und auch mit dem nicht, der im Auto gekommen
war. Aber mit Ihnen spricht sie!" „Handelsrat Fisher", erklärte Solveg. „Ich habe ihm gesagt, er könne mir den Buckel herunterrutschen, und das sei endgültig. Ich bleibe hier. Und ich will von Genetik mein Leben lang nichts wieder hören."
Zweiter Teil
43 29. September 2038. Konferenzsaal des Kommandostabes der atomaren Planungsgruppe. General Conchado, der Chef des atomaren Planungsstabes, hatte zu einer außerordentlichen Beratung geladen. Seiner Einladung waren gefolgt: General Sears vom strategischen Sicherungskommando Nord, Konteradmiral Duffield als Vertreter der strategischen Raketenverbände Nord und Mitte, Oberst Walker vom militärischen Abschirmdienst, Mister Gruneisen, außenpolitischer Berater des Präsidenten, und Handelsrat Fisher, Aufsichtsratsmitglied der General Pharmacy and Chemistry. Vertreter des strategischen Luftwaffenkommandos hatten die Teilnahme unter Hinweis auf die monatlich stattfindenden ordentlichen Besprechungen der atomaren Planungsgruppe abgelehnt. Dem Ersuchen um Übermittlung der Tagesordnung, das vom Luftwaffenkommando fernschriftlich gestellt wurde, war General Conchado nicht nachgekommen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und dem Luftwaffengeneral Bardley waren stabsbekannt. Und so war niemand der anwesenden Militärs über das Fehlen der Luftwaffenführung erstaunt. Überhaupt galt die Luftwaffe als rötlich angehaucht, angefangen von General Bardley bis zum letzten Mann. „Fünfte Kolonne!" Dieses böse Wort hatte Conchado schon einen verlorenen Prozeß vor dem Armee-Ehrengericht eingebracht. Nachdem man sich begrüßt hatte, nahm Conchado das Wort. „Meine Herren", begann er ungewohnt feierlich, „wir sind zu einer wahrhaft historisch zu nennenden Beratung zusammengekommen, die zu weitreichenden gesellschaftsstabilisierenden Beschlüssen führen kann. Erlauben Sie mir, die Bedeutung des heutigen Tages von der historischen Seite her zu beleuchten. Alle unsere bisherigen Waffensysteme, so wirkungsvoll sie im Einzelfall auch gewesen sein mögen und soviel Abschreckungskraft nach wie vor von ihnen ausgehen mag, vermochten in den letzten einhundertzwanzig Jahren nicht, die Stabilität und den Einfluß unseres freiheitlichen, kapitalistischen Wirtschaftssystems weltweit zu erhalten. Betrachten wir die Entwicklung dieser Zeitspanne, um deutlich werden zu
lassen, vor welcher Tragweite wir mit unseren heutigen Entscheidungen stehen werden." Die Weltkarte an der Stirnwand des Saales erstrahlte in tiefstem Blau. Einzelne Regionen waren durch dünne grüne Markierungen abgegrenzt und stellten Einflußsphären bestimmter Staatengruppen dar. „Sie sehen die Ordnung unserer Welt zum Beginn des vorigen Jahrhunderts. Jedoch schon zwanzig Jahre später", das Territorium des ehemaligen Rußland färbte sich langsam rot, „entglitt ein wichtiger, freilich oft unterschätzter Teil der Welt unserer Kontrolle. Damals wäre es noch ein leichtes gewesen, diesen Prozeß zu stoppen. Aber nichts geschah! Und weshalb? Weil die politische Führungsmannschaft unseres Landes, entgegen den Ratschlägen der militärischen Leitung, diesen Unruheherd nicht sofort mit der notwendigen Konsequenz zerschlagen hatte. Eine halbherzig geführte, innenpolitisch umstrittene Intervention, viel zu schwach, um den gewünschten Erfolg zu bringen, das war alles, wozu sich eine verantwortungslos blinde Führung in der damaligen Zeit aufraffen konnte. Und diese Intervention führte letztlich sogar zu einer Stärkung des Sowjetsystems. „Später", weitere Landflächen färbten sich um, „wurde diesen damals wirtschaftlich und politisch bedeutungslosen Landmassen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Man kann sagen, daß das Entstehen eines kommunistischen Imperiums von unseren Herren Politikern blindlings übersehen wurde. Kommen wir nun zum zweiten Weltkrieg. Hier unterlief uns, wiederum gegen den Rat führender Militärs, der entscheidende Fehler, der in der Folgezeit niemals wieder korrigiert werden konnte. Das Stehenbleiben an der Elbe", er wies mit dem Zeigestock auf das kaum erkennbare Flüßchen in Mitteleuropa, „einen schon schwer angeschlagenen Gegner vor sich, leitete die rapide Kommunisierung Osteuropas ein. Wir hatten uns mit Deutschland einen lästigen Konkurrenten vom Hals geschafft, dafür entstand neben dem unseren ein zweites Weltreich, mit dem sich auf militärischem Gebiet zu messen seit der Existenz der Kernwaffentechnik riskant geworden war. Und so geschah eigentlich zwangsläufig, was unsere Karte so eindringlich enthüllt. Niederlage reihte sich an Niederlage. Zum Beispiel Afrika, sechziger bis achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts!" Auf der Karte entfärbte sich der Kontinent, nach einigen Wechseln röteten sich größere Gebiete. „Oder Südostasien, der indische Subkontinent, die großen kommunistischen Revolutionen in Südamerika während der achtziger Jahre. Wir können die Geschichte betrachten, wie wir wollen, die Niederlagen bleiben stets unsere eigenen Niederlagen, resultierend aus der Furcht unserer Politiker, unsere geballte militärische Kraft in die Waagschale der Geschichte zu werfen. Und so ist es nur eine Folgeerscheinung gewesen, daß sich zu Beginn unse-
res Jahrhunderts unser Weltsystem auf die Staaten USA, Kanada, einige westeuropäische Länder, auf Japan, Australien, Neuseeland, auf Madagaskar und Grönland verkleinerte. Immer noch ein entscheidendes Wirtschaftspotential, noch immer die Möglichkeit, den Konflikt, wenn auch unter gewaltigen Opfern, militärisch zu lösen, zumal die Wirtschaftskraft der jungen kommunistischen Staaten noch verhältnismäßig gering war und in ihrer Gesamtheit das kommunistische System eher belastete als stärkte. Aber die Zeit blieb nicht stehen. Betrachten wir uns die heutige Lage: Staatlicher Zusammenschluß zwischen USA und Teilen Kanadas auf unserer Seite. Verbündete Staaten, wenn man davon überhaupt noch reden kann, sind die Schweiz und Liechtenstein in Europa, der asiatische Staat Hokkaido, Reststaat des ehemaligen Japan, und die Inselrepublik Madagaskar vor der afrikanischen Küste. Ein jämmerlicher Rest also, zudem Staaten, die weder ökonomisch noch gar militärisch in der Lage sind, auf eigenen Füßen zu stehen, die für uns nichts als ein ständiges Sicherheitsrisiko darstellen, da unsere Regierung Sicherheitsgarantien gegeben hat, die sie im Ernstfall gar nicht einlösen könnte. Auf seiten unseres Gegners weitgehende Staatenunionen, Verwaltungen über ganze Kontinente hinweg, gewaltige Wirtschaftspotentiale vor allem in Afrika, Asien und Südamerika. Jede militärische Konfliktregelung würde heute mit hoher Sicherheit das Ende unseres Gesellschaftssystems, ja, das Ende der menschlichen Zivilisation in ihrer Gesamtheit bedeuten. Das zwingt unsere Regierung zu ständigem Paktieren, das zwingt unsere Wirtschaft durch immer engere Verflechtung in ständig wachsende Abhängigkeit von der kommunistischen Planwirtschaft. Und schon diese Fakten allein signalisieren eindeutig unseren Weg, wenn es uns nicht gelingt, in letzter Minute unseren eigenen Schatten zu überspringen. Meine Herren, es ist leider voraussehbar geworden, wann die letzten blauen Flecke auf unserem Globus verschwunden sein werden!" Die Weltkarte erstrahlte in einheitlichem, tiefem Rot. „Das ist unsere Zukunft, meine Herren", warnte melodramatisch General Conchado. „Wir haben heute vielleicht zum letztenmal die Möglichkeit, die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus zu unseren Gunsten zu entscheiden. Das hängt allein von den hier und heute zu fällenden Entschlüssen ab, meine Herren, so außergewöhnlich sie Ihnen auch zunächst erscheinen mögen!" Der General setzte sich. Oberst Walker nahm das Wort. „Ich möchte Sie im Auftrag meiner Behörde und des Generalstabes mit den erforderlichen Informationen ausstatten. Natürlich top secret! Und ich muß Sie, obwohl das in diesem Kreis ebenfalls ungewöhnlich ist, darauf aufmerksam machen, daß jede Indiskretion Folgen hat. Das gilt vor allem für die Herren Zivilisten!" „Schon gut, Walker", winkte Mister Gruneisen fast belustigt ab, „wir ken-
nen das Sprüchlein. Kommen Sie zur Sache." „Im September dieses, Jahres wurden wir auf ein Forschungsinstitut aufmerksam, das einem gewissen Professor Mervyn Jazdani gehört und weitgehend von der General Pharmacy and Chemistry finanziert wird. Den Vertreter des Konzerns darf ich in unserem Kreis herzlich begrüßen." Knappe Verbeugung in Richtung Handelsrat Fisher. „In diesem Institut war es zu einem äußerst gefährlichen Virusausbruch gekommen, der einige Todesopfer forderte, die Bevölkerung in weitem Umkreis in Panik versetzte und unser Land in nicht unerhebliche innen- und außenpolitische Schwierigkeiten brachte. Deshalb sah sich meine Dienststelle gezwungen, sich mit diesem Institut etwas intensiver zu befassen. Über die Ursache der Katastrophe werden wir noch mit der General Pharmacy and Chemistry zu reden haben. Das aber nur nebenbei. Meine Mitarbeiter stießen bei ihren Recherchen auf eine von uns nicht erwartete Entdeckung. Der Institutsleiter, Professor Jazdani, befaßte sich mit Humangenetik, im stillen, natürlich ohne Wissen und Genehmigung der Internationalen Akademie für Naturwissenschaften. Solche Art wissenschaftlicher Arbeit erregte unsere Aufmerksamkeit noch stärker, und deshalb wurde der ursprüngliche Plan fallengelassen, das gesamte Institut mit einer taktischen Kernwaffe zu belegen und so die Virengefahr ein für allemal zu beseitigen. Wir befaßten uns statt dessen genauer mit diesem Professor Jazdani. Und siehe da, viele Faden führten zur General Pharmacy and Chemistry. Unsere Mitarbeiter dort fanden bald eine heiße Spur: Dieser Professor kann schon seit einiger Zeit aus einzelnen Zellen oder noch weniger, ich bin kein Fachmann auf dem Gebiet, neue Menschen aus der Retorte züchten! Zwar hatten seine Laborproduktionen noch keine lange Lebensdauer, aber immerhin reichten diese Erfolge aus, die General Pharmacy and Chemistry zum Bau einer Pilotanlage zur Produktion von Arbeitskräften zu bewegen. Mit aller gebotenen Geheimhaltung, ich muß Ihnen da ein Kompliment machen, Mister Fisher, Sie haben es unseren Leuten nicht leicht gemacht, auch noch direkt vor unserer Haustür. Über die Größe der Anlage, über ihre voraussichtliche Fertigstellung und über das geplante Produktionsvolumen wird Ihnen sicher Mister Fisher Auskunft geben können!" „Phantastisch!" rief Mister Gruneisen aus. „Arbeitskräfte einfach aus der Retorte. Die wirtschaftliche Bedeutung ist gar nicht hoch genug einzuschätzen! Ich gratuliere Ihnen, Handelsrat Fisher! Natürlich muß die ganze Angelegenheit streng geheim bleiben. Der Präsident würde das Projekt aus außenpolitischen Erwägungen stoppen lassen. Es gibt gewisse Verträge. Aber das läßt sich alles regeln. Nur, ehrlich gesagt, ich kann den militärischen Wert dieser grandiosen Sache nicht recht sehen!" General Sears: „Das ist simple Mathematik, Mister Gruneisen. Unsere ein-
zige Chance, den Kommunismus ein für allemal von der Erdoberfläche zu verbannen, besteht in einem völlig unerwarteten Präventivschlag mit all unseren Mitteln. Dann können etwa zwanzig Prozent unserer Raketen- und Satellitenwaffen durch die gegnerische Laserdeckung gelangen. In einem solchen Fall rechnen wir innerhalb der ersten drei Minuten mit rund sechstausend Megatoten, also rund sechs Milliarden Menschen, vor allem in den industriellen Ballungsräumen. Gehen wir von der Tatsache aus, daß wir überwiegend Strahlungswaffen einsetzen werden, wird der Verlust an wirtschaftlichem Potential minimal sein. Entscheidend ist einzig der Anteil an Überlebenseinheiten. Und dieser Anteil wird auf beiden Seiten so verschwindend gering sein, daß nur derjenige überhaupt noch von einem Sieg sprechen kann, der über die Möglichkeiten eines Professor Jazdani verfügt, der also seine Bevölkerung in kürzester Zeit reproduzieren kann. Letzten Endes läuft es auf eine Neubesiedlung unserer Erde hinaus!" Mister Gruneisen standen die Schweißtropfen auf der Stirn. „Sie waren noch nie zimperlich, meine Herren. Aber einen Totalverlust der Menschheit so gelassen auszusprechen, dazu gehört schon etwas. Das ist stark, das muß ich schon sagen!" „Und das ist völlig absurd", schrie Handelsrat Fisher. „Aus verschiedenen Gründen ist das eine ganz unmögliche Sache! Der Verlust an Produzenten würde unersetzbar bleiben, denn die jazdanischen Wesen befinden sich nach wie vor im Versuchsstadium. Sie sind einfach noch nicht universell einsetzbar. Sie sind es nicht, und sie werden es auch noch nicht so bald sein. Schließlich wissen Sie so gut wie ich, Mister Walker, daß unsere Pilotanlage für eine Monatsproduktion von höchstens tausend Stück ausgelegt ist. Und zu guter Letzt, dieser Krieg würde alle kulturellen Werte der gesamten Menschheitsgeschichte vernichten!" „Keine Sentimentalitäten, Mister Fisher", entgegnete Conchado scharf. „Hier geht es um mehr als um ein paar Fabriken oder ein Dutzend Picassos. Hier geht es um alles!" Gruneisen meldete sich wieder zu Wort. „Trotzdem, meine Herren Militärs, es bleiben einige Fragen offen. Ein Land wie das unsere, ganz zu schweigen vom Rest der Welt, muß auch nach einem Kernwaffenschlag geführt werden, verwaltet, koordiniert. Mit einem Wort, es muß regiert werden! Es erheben sich in mir ernsthafte Zweifel, ob diese Wesen dazu jemals in der Lage sein werden oder ob man für diese Aufgaben nicht besser Leute mit Erfahrungen verwendet. Woher sollte man die nehmen, meine Herren Generale?" „Keine Sorge, Mister Gruneisen. Unsere Schutzanlagen sind ausreichend für etliche tausend Führungskräfte. Für Ihre persönliche Sicherheit wird auf jeden Fall garantiert. Einschließlich Ihrer Familienangehörigen!" „So also planen Sie!" Mister Gruneisen lehnte sich beruhigt in seinen Sessel
zurück. „Außerordentlich weitsichtig! Außerordentlich!" Handelsrat Fisher ertappte sich bei dem Gedanken, aus Versehen in eine Nervenklinik geraten zu sein. Jeden Augenblick erwartete er, daß sich eine Seitentür öffnen und kräftige Wärter die Versammlung auflösen würden. Das durfte doch nicht wahr sein! Er blickte von einem zum anderen. Gruneisens schwammige Gestalt, das Doppelkinn, das sich jetzt genüßlich an den Hals lehnte, die kurzen fleischigen Finger. Das nervöse Zucken der Augenlider Conchados. Der kühle, berechnende Blick des Abwehrmannes, der zu besagen schien, daß im Grunde allein er die Fäden in der Hand hatte. Mit welcher Unverfrorenheit er von den Spionagemaßnahmen gegen seinen eigenen Konzern gesprochen hatte! Der hagere Duffield, dessen Finger dem berüchtigten roten Knopf am nächsten kamen. Und auch Sears, dessen Blick ihn zu durchbohren schien. Handelsrat Fisher wollte aufspringen, dem Wahnsinn ein Ende bereiten. Aber dann überlegte er sich, was das für Leute waren und welche Pläne hier gelassen ausgesprochen wurden. Schließlich hatte Handelsrat Fisher nicht die Absicht, aus sich einen 0,000001 Megatoten machen zu lassen. Jetzt nicht und auch nicht in unmittelbarer Zukunft. Es war besser zu schweigen. Wenn er nicht schon zu viel gesagt hatte. Ruhig bleiben und allem zustimmen. Nur so hatte er eine Überlebenschance. Denn die hier konnten nicht mehr zurück, das war klar. Ihr Mißtrauen würde tödlich sein müssen. Zwangsläufig. Gesetzmäßig. „Es gibt noch eine andere Tatsache, die die Versuche dieses Professors für uns perspektivisch interessant macht. Außer den naturgetreuen Reproduktionen sind natürlich eine Unmenge von Mutationen herstellbar, die uns in letzter Konsequenz unsere ständigen innenpolitischen Sorgen abnehmen würden. Ein Programm für kommende Jahrhunderte. - „Richtig!" wurde ihm von allen Seiten beigepflichtet. General Conchado erhob sich. „Ich schlage folgendes Programm vor: 1. Die General Pharmacy and Chemistry übergibt die Pilotanlage an die Abwehr unter Leitung von Oberst Walker. 2. Wir konzentrieren uns auf eine ausführliche Testreihe unter möglichst naturnahen Bedingungen. 3. Schutzanlagen werden großzügig ausgebaut, um das Überleben der Führungsschicht zu garantieren!" So war das, dachte Fisher, an die Pilotanlage wollten sie. Besser die Pilotanlage als mein eigener Kragen! „Kommen wir zur Abstimmung!" Alle fünf Hände reckten sich in die Höhe. Militärisch exakt, gleichmütig, zögernd.
„Duffield, wann können Ihre Verbände einsatzfähig sein?" „Jederzeit, Generalstabschef! Eine Sache von wenigen Minuten. Und ich garantiere das Ausschalten aller bedeutenden Objekte des Gegners beim ersten Schlag!" „Überlebenseinheiten im eigenen Land?" „Nach dem unvermeidbaren Gegenschlag keine!" „Überlebenseinheiten beim Gegner?" „Erlauben Sie, General. Wenn wir losschlagen, überlebt niemand. Nicht Maus und nicht Mann!" „Bleiben diese Jazdaniwesen, diese Homunkuli. Ihr Einwand, Mister Fisher, war gerechtfertigt. Diese Wesen müssen rasch weiterentwickelt und gründlich getestet werden. Es darf keine Pannen geben! Das Ganze muß außerordentlich rasch, unter Konzentration aller verfügbaren wissenschaftlichen und ökonomischen Potenzen erfolgen. Das ist Voraussetzung für einen Erfolg. Ich hoffe, die Industrie wird sich mit ganzer Kraft an diesem Programm beteiligen!" „Eine gewisse Schwierigkeit stellt noch das Okay des Präsidenten dar, das wir zum Einsatz der atomaren Verbände unbedingt brauchen", gab Duffield zu bedenken. „Lassen Sie das ruhig meine Sorge sein", antwortete Gruneisen. „In vielen wichtigen Entscheidungen ist der Präsident völlig von seinem Beraterstab abhängig. Präsident Doneis wird die entsprechenden Befehle erteilen. Dafür garantiere ich. Und wenn nicht", er machte eine wegwerfende Handbewegung, „seine Anbiederei an das kommunistische Ausland ist vielen einflußreichen Persönlichkeiten unseres Landes schon lange ein Dorn im Auge!" General Conchado: „Wir haben somit eine schicksalhafte Entscheidung für unser Land und für die Freiheit getroffen. Für diesen Mut danke ich Ihnen! Jeder bereitet schon jetzt eine Liste der Verantwortungsträger seines Bereiches für den Tag X vor. Wir treffen uns nach Abschluß der HomunkuliTestreihen wieder, um den Termin des Präventivschlages festzulegen."
44 Das Haus Solveg Wanderfelds war durch eine Rohrpostanlage mit der Poststelle in Fort Canetti verbunden. Professor Jazdani hatte vor Jahren in einem Prozeß auf regelmäßiger Postzustellung bestanden und dieses Verfahren gewonnen, so hatte die Post zähneknirschend eine Rohrleitung installieren müssen. Das war immer noch billiger als ständige Helikopterflüge... Ethel und Albert lebten seit Solvegs Flucht allein hier oben. Sie waren sich nicht sicher, ob sie an das Institut zurückkehren sollten oder ob es besser war, die Entscheidung der Internationalen Akademie hier oben, fern von
aller Welt, abzuwarten. Oder ob sie sich gar mit Handelsrat Fisher in Verbindung setzen und bei der General Pharmacy and Chemistry um gut Wetter bitten sollten. Irgendeinen Posten würde der schon haben. Einer mußte die Entscheidung fällen, und das hatte immer Solveg getan. Aber Solveg fehlte. Man wartete also. Man wartete so lange, bis die Rohrpostleitung am fünften Oktober einen Brief der Landessektion der Biologischen Gesellschaft ausspuckte. Einen Brief, den man unter keinen Umständen lange unbeantwortet lassen konnte, wenn man sich nicht ein für allemal die Chancen verbauen wollte. werte kollegin doktor wanderfeld! der genehmigungsausschuß der sektion genetik der internationalen akademie für naturwissenschaften befaßte sich am 29. september 2038 mit dem antrag der landesleitung nordamerikas, ihrem team die genehmigung zur experimentellen arbeit mit humangewebe zu erteilen, die landesleitung begründete ihren antrag damit, daß es dem von ihnen geleiteten team gelungen sei, unter einsatz von restriktionsendonuklease die regenerationsfähigkeit kompletter organsysteme im tierversuch so zu erhöhen, daß unbedingt mit positiven auswirkungen auf die humanmedizin zu rechnen sei. dem antrag wurden ihre versuchsunterlagen beigefügt. nach gründlicher diskussion fällte der genehmigungsausschuß mit mehrheit folgende entscheidung, die sie bitte zur kenntnis nehmen möchten: 1. der arbeitsgruppe wanderfeld wird in der derzeitigen besetzung die genehmigung zur experimentellen nutzung von humangewebe erteilt. 2. diese genehmigung ist auf zwei jahre begrenzt und erlischt am 31. dezember 2040. die verlängerung dieser genehmigung kann bei erneuter antragstellung und unter nachweis erfolgversprechender zwischenergebnisse erteilt werden. 3. die genehmigung ist an folgende auflagen gebunden: die forschungsergebnisse sind international nutzbar zu machen, patentrechtlicher schutz ist ausgeschlossen, die forschungsarbeiten haben in einer einrichtung zu erfolgen, die unmittelbar der landesleitung nordamerika oder anderen landesleitungen der biologischen gesellschaft untersteht. eine privatwirtschaftliche nutzung der resultate bedarf der zustimmung der internationalen akademie. Der Brief schloß mit dem lapidaren Satz: teilen sie der landesleitung bitte zum 30. oktober mit, ob sie die bedingungen des genehmigungsausschusses akzeptieren. professor mejtanic, chef der landesleitung nordamerika.
„Und nun?" fragte Ethel. „Was weiß ich. Ohne Solveg werden wir nicht arbeiten dürfen. Und die ist kaum ansprechbar." „Trotzdem müssen wir sie informieren!" „Diesmal gehst du. Vielleicht hast du mehr Glück. Unter Frauen sollen sich manche Probleme leichter lösen lassen." „Dieses Problem nicht. Im Gegenteil! Doktor Sveder", sagte Ethel. „Wenn überhaupt, dann Doktor Sveder!"
45 Der sechste Oktober war für Doktor Sveder in mehrfacher Hinsicht ein ereignisreicher Tag. Am frühen Morgen weckte ihn ein dumpfes Stöhnen aus dem Nebenzimmer. Der Arzt sprang aus dem Bett. Sein Patient hatte die Augen geöffnet, zum erstenmal übrigens, und stöhnte. Ein rascher Blick auf den Intensivblock, alle Werte waren normal. So normal wie noch nie während der Behandlungsdauer. „Wasser", stöhnte der Patient und versuchte sich aufzurichten. „Bleiben Sie liegen", beruhigte ihn Sveder. „Sie bekommen Wasser!" Als er mit der Schnabeltasse aus der Küche zurückkam, hatte der Patient das Bewußtsein schon wieder verloren. Ohne daß sich die medizinischen Werte nachteilig verändert hatten. Doktor Sveder rief in der Praxis an, er komme etwas später. Jetzt konnte man den Kranken keine Minute allein lassen. Es bestand die Gefahr, daß er sich von der Medieinheit losreißen würde. Und dann war sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Eine halbe Stunde später. Lebhaftes Spiel der Augen unter den noch geschlossenen Lidern. Undeutliche Worte. Der Medirechner schlug einen Hydreskinstoß vor. Nach der Injektion erwachte der Patient endgültig. „Wo bin ich?" Noch kaum zu verstehen. Mehr gehaucht als gesprochen. „Sie sind in Sicherheit", antwortete Doktor Sveder. „Wo ist der Professor?" „Hier gibt es keinen Professor. Sie waren lange krank." „Keinen Professor?" „Nein, keinen Professor. Können Sie sich an Ihren Namen erinnern? An Ihr Alter? An Ihren Beruf?" Der Patient schüttelte langsam den Kopf. „Der Professor hat gesagt, ich habe kein Alter. Ich war plötzlich da." „Wissen Sie, wie Ihr Professor heißt?" „Jazdani. Jazdani eins. Ich bin Jazdani sechzehn." Doktor Sveder hatte eine ähnliche Antwort erwartet. Trotzdem war er erschüttert. Ein Mensch hatte seine Ebenbilder geschaffen und sie fortgeworfen, wenn er sie nicht mehr
gebrauchen konnte. So war das. Und das war eigentlich fast so schlimm, als wenn ein Mensch einen anderen Menschen umbrachte. Oder noch schlimmer! Sveder videophonierte mit Doktor Neri. „Entschuldige, daß ich dich mitten in der Nacht belästigen muß!" „Mitten in der Nacht ist gut, ich sitze gerade beim Frühstück", sagte Doktor Neri lachend. „Was gibt es?" „Er hat das Bewußtsein erlangt und kann sich eindeutig erinnern. Es ist wie ein Wunder. Nach so vielen Monaten!" „Ausgezeichnet, du darfst ihn jetzt keinen Augenblick allein lassen. Seine Reaktionen sind noch kaum voraussehbar!" „Deshalb rufe ich dich an. Ich muß wieder in meine Praxis. Du müßtest meinen Terminkalender sehen! Es würde auffallen, wenn ich plötzlich längeren Urlaub nehmen würde. Kannst du mir eine Krankenschwester besorgen? Eine, auf die man sich in jeder Weise verlassen kann?" „Wie viele Tage kannst du dich frei machen?" „Einen, eventuell zwei. Aber dann gäbe es schon Schwierigkeiten!" „Die Zeit ist natürlich ein bißchen knapp. Aber ich werde versuchen, dir zu helfen! Und für deinen Patienten nochmals meine besten Wünsche!" Am Morgen des nächsten Tages, es war noch dunkel, klingelte eine junge Frau an Doktor Sveders Tür. „Doktor Neri schickt mich zu Ihnen. Sie sollen einen dringenden Fall haben." Sveder war sehr zufrieden. Ein herrliches Gefühl, einen Freund wie Neri zu haben! Homo sapiens, eine Art, und zu ihr gehörten Individuen wie Professor Jazdani und Doktor Neri. Eine seltsame Art. Wo sollte er den Homunkulus einordnen? Später überstürzten sich die Ereignisse. Es fing damit an, daß er eindeutig eine Schwangerschaft diagnostizierte und die junge Frau pflichtgemäß nach dem Vater des Kindes fragte. „Es gibt keinen Vater", antwortete die junge Patientin sehr bestimmt. „Dann wären Sie die erste Mutter, der so etwas passierte", sagte Doktor Sveder lächelnd und wollte schon den Vermerk „Vaterschaft unklar" in die Akte eintragen, als die Patientin völlig ruhig sagte: „Bin ich auch, Doktor Sveder. Mein Kind ist ein Homunkulus!" Es war wie ein Schlag mit einer Keule. Sveder legte den Kugelschreiber aus der Hand. „Wer sind Sie, und was wollen Sie?" „Ich bitte Sie darum, mit einer Kollegin von uns zu sprechen, mit Doktor Wanderfeld. Denn Sie sind der einzige, dem Sie Glauben schenken wird. Ich gehöre zum Team, das die Homunkuliversuche durchgeführt hat. Am Institut Jazdani." „Und was Sie von Ihrem Kind sagen, Fräulein Edmondson, das entspricht
den Tatsachen? Da sind Sie sich absolut sicher?" „Ja, da bin ich mir absolut sicher. Denn normalerweise könnte ich keine Kinder zur Welt bringen. Das habe ich sogar schriftlich." Ethel Edmondson übergab dem Arzt ein Schreiben der Universitätsfrauenklinik Toronto, in dem eine beidseitige Tubenanomalie diagnostiziert wurde, die eine Fertilität mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließe. „Da wird unsere Welt bald von Homunkuli wimmeln", sagte Doktor Sveder bitter. „Und ausgerechnet ich soll Ihnen helfen? Das ist unglaublich!" „Lesen Sie bitte, worum es geht." Sie gab ihm den Brief des Genehmigungsausschusses. „Kann man denn nicht jede neue Entdeckung mißbrauchen, Doktor Sveder? Und wenn unsere Experimente nur das Resultat haben würden, Frauen wie mir zu helfen, was glauben Sie, wieviel Glück wir damit bringen würden?" „Raus!" brüllte Sveder. „Ganz schnell raus!" „Sie wissen, wo Sie uns finden können, falls Sie Ihre Meinung noch ändern. Sie brauchen uns nur anzurufen. Und noch etwas. Ich möchte bei Ihnen entbinden!" Hinter Doktor Ethel Edmondson schloß sich die Tür. Nur Minuten später kam ein Anruf der aufgeregten, sehr gewissenhaften Krankenschwester. „Der Patient hat schon wieder das Bewußtsein verloren, und die Instrumente zeigen eine Stoffwechselanomalie an!" „Was schlägt der Medirechner vor?" „Null Komma null null eins ppm Hydreskin. Aber das kann doch nicht stimmen!" „Doch, Schwester. Geben Sie das Medikament in den Tropf. Ich komme, sobald ich kann!" Kaum hatte Doktor Sveder aufgelegt, als Doktor Neri in der Leitung war. „Alles in Ordnung, alter Junge?" „Nichts ist in Ordnung", fluchte Sveder. „Überhaupt nichts ist in Ordnung!" „Was ist denn los?" „Ach, nichts! Nur, daß unsere Welt langsam völlig aus den Fugen gerät!" „Übertreibst du nicht?" „Was würdest du denn sagen, wenn sich eine junge Frau vor dir aufbauen würde, stolz ihren dicken Bauch herausstreckte und dir sagen würde: Ich bekomme einen Homunkulus und möchte bei Ihnen entbinden! Na, nun sagst du nichts mehr!" „Da hat dich jemand auf den Arm genommen, alter Junge!" „Denkste! Doktor Ethel Edmondson, Team Wanderfeld vom Institut Jazdani!" „Ein Selbstversuch?" „Ja, das auch. Vor allen Dingen aber der Kinderwunsch, von Geburt an
steril. Was ich dir sage! In ein paar Jahren bist du als normaler Mensch überhaupt nicht mehr in Mode. Nur als Homunkulus hast du noch Chancen. Ein Scheißspiel ist das, Neri!" „Ich nehme die nächste Maschine, Sveder. Über den Fall müssen wir reden. Das ist wichtig. Und sieh nicht so schwarz. Vielleicht freut sie sich wirklich auf das Baby!" „Aber das ist es doch, was mir Sorgen macht! Das tut sie, Neri! Das tut sie unbedingt. Nicht auszudenken, wenn dieser winzige Homunkulus mutiert!"
46 Der Chef des Hubschrauberservices von Fort Canetti rieb sich die Hände. Ein Geschäft war das, seitdem dieser Jazdani das Haus verkauft hatte, ein Geschäft, von dem man früher nur hätte träumen können. Der fünfte oder sechste Flug an einem Tag, so etwas hatte man lange nicht mehr gehabt. Auch für Ethel und Albert war die Landung eines Helikopters am späten Abend eine Überraschung. Noch mehr aber, daß ihnen ein Fremder entgegenkam. „Mein Name ist Doktor Neri", stellte sich der Besucher vor. „Sie werden mich mit Sicherheit nicht kennen. Ich komme im Auftrag meines Kollegen Doktor Sveder." „Das ist sehr schön. Aber woher wissen wir, ob Sie die Wahrheit sagen", fragte Albert mißtrauisch. „Richtig", pflichtete ihm Ethel bei. „Nun, ich hoffe, ich kann Sie überzeugen, zumal für beide Seiten viel davon abhängt. Sie waren bei meinem Kollegen in Behandlung, Doktor Edmondson. Gegen elf Uhr zwanzig." „Das sagt noch gar nichts. Sie könnten mich auf der Straße beobachtet haben." „Was ist denn nun?" schrie der Hubschrauberpilot aus seiner Kanzel heraus. „Kann ich starten? Oder fliegen Sie zurück?" „Starten Sie", antwortete Neri. „Wir rufen an! Sie sind schwanger, Fräulein Edmondson, tragen nach eigener Angabe einen Homunkulus und möchten bei Doktor Sveder entbinden. Genügt Ihnen das?" „Und wie hat Doktor Sveder auf meine Bitte reagiert?" „Impulsiv, würde ich sagen. Er hat Sie rausgeschmissen." Der Pilot startete die Maschine, als er sah, daß sein Passagier ins Haus gebeten wurde. Das bedeutete aller Wahrscheinlichkeit nach einen zusätzlichen Flug, mit Nachtflugzulage.
Mit Doktor Neri ließ sich reden. Er wußte, worum es ging, manchmal besser als Ethel und Albert. Es wurde ein langes Gespräch mit vielen Lösungsvorschlägen für viele Probleme, die diskutiert, verbessert, verworfen und wieder aufgegriffen wurden. Der Pilot hatte sich geirrt. Kein zusätzlicher Flug, keine Nachtzulage. Doktor Neri übernachtete in einem der Gästezimmer.
47 Professor Mervyn Jazdani hätte sich bedingungslos jedem angeschlossen, der in der Lage gewesen wäre, ihn aus dem Staatsgefängnis Nakina herauszuholen. Selbst dem Teufel. Und wenn eine kommunistische Revolution die Macht gehabt hätte, die Gefängnistore für ihn zu öffnen, Jazdani hätte diese Revolution höchst persönlich organisiert. So unerträglich waren für ihn die Lebensumstände in dieser sieben Quadratmeter kleinen grauen, dunklen, wandbeschmierten Zelle, die er mit noch einem Gefangenen teilen mußte. So unermeßlich lang die Zeit, die man ihm dafür zudiktiert hatte, daß die technische Überprüfung der Mansfield-Labors, die drei Wochen vor dem Unfall hätte erfolgen müssen, von ihm und der Sekretärin Betty vergessen worden war. Lächerliche drei Wochen! Aber das Gericht sah in dieser Unterlassung die alleinige Ursache für den Virusausbruch und in ihm den fahrlässigen Schuldigen. „Den Sündenbock", hatte er im Schlußwort bitter gesagt. Professor Jazdani wäre bereit gewesen, nach jedem Strohhalm zu greifen, denn drei Jahre sind nicht gleich drei Jahre. Seine häufig genug wechselnden Zellengenossen waren mit der gleichen Zeit oft viel weniger hart bestraft, denn für sie unterschied sich das Leben hier und das Leben draußen lange nicht so kraß wie für einen Mervyn Jazdani. Professor Jazdani unterschrieb deshalb ohne jedes Zögern einen Vertrag, der ihm von einem Oberst Walker, militärischer Abschirmdienst, angeboten wurde. Auch wenn dieser Vertrag nicht die volle Freiheit versprach. Aber zumindest verhieß er eine sinnvolle Arbeit, weitgehende Bewegungsfreiheit und die Unabhängigkeit von verblödeten Wachposten, die stupid nach ihren Vorschriften handelten und die die eigentlichen Lebenslänglichen im Staatsgefängnis Nakina waren. Der Oberst hatte von Jazdani keine andere Reaktion erwartet. Er kannte die Zustände in den Gefängnissen im allgemeinen und die im Staatsgefängnis Nakina im besonderen, das von Nakina war in Fachkreisen unter dem Namen „Katakombe" bekannt. Und Walker wußte von der Wirkung eines solchen Ortes auf einen Mann wie Jazdani. Bei ihm rannte er offene Türen ein. Jedes andere Verhalten hätte ihn nur verwundert.
Mit einem Kleiderbündel in der Hand betrat der Professor das Dach der Strafanstalt, dort wartete schon ein Hubschrauber. Der Oberst mußte es eilig haben, denn seit der Unterschrift waren erst wenige Minuten vergangen. Um so besser, dachte Jazdani. Jede Minute hier war eine Minute zuviel. In der Aufregung, auch das war eine neue Erfahrung, ein Jazdani zeigte Nerven, ein Jazdani war angeschlagen, hatte er noch nicht einmal im Vertrag nachgesehen, wohin der Flug gehen sollte. Und Oberst Walker neben ihm lächelte und schwieg. Jazdani hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als zu fragen, zumal ihm die Gegend bekannt vorkam. Aber das war bestimmt eine Täuschung, der letzte Rest Haftkoller! Erst kurz vor der Landung war sich der Professor sicher. Natürlich war er schon hier gewesen! Unter dem Hubschrauber lag das Zweigwerk 34/37 der General Pharmacy and Chemistry! „Ihre neue Wirkungsstätte, Professor!" Der Oberst genoß es sichtlich, daß Jazdani vor Überraschung kein Wort sagen konnte. Und die Verblüffung des Professors war perfekt, als er bemerkte, daß die Wachposten an der Werksumgrenzung der Armee angehörten und den Oberst und ihn salutierend passieren ließen. Ohne die üblichen Kontrollen. „Wir haben die Anlage von der Industrie übernommen", erklärte Walker. „Scheint sich nicht viel verändert zu haben", sagte Professor Jazdani, der den Oberst vor Freude hätte umarmen können. Sein eigenes Projekt also durfte er vorantreiben! Davon war im Vertrag nicht die Rede gewesen. Nur von „hochqualifizierter wissenschaftlicher Tätigkeit". „Meinen Sie, Professor? Dann machen Sie sich auf einige Überraschungen gefaßt!" Professor Jazdani konnte keine großen baulichen Veränderungen feststellen, außer zwei kleinen Hallen, die man zusätzlich errichtet hatte und von denen eine ganz aus Glas zu sein schien. Glas, das sich unter der Sonneneinwirkung rotbraun verfärbt hatte. „Unsere Schwimmhalle", erklärte der Oberst lächelnd. „Steht Ihnen jederzeit zur Verfügung. Sie sehen ein bißchen blaß aus, Professor." Schwimmhalle also, dachte Jazdani. Auch etwas, von dem er noch gestern nur hätte träumen können. Als sie die Produktionshalle I betraten, verschlug es dem Professor nahezu die Sprache. Die Halle war leer, achtzig Meter lang leer. Jazdani konnte seine Enttäuschung nur schlecht verbergen. Sein Verfahren war also abgesetzt worden. Was also sollte er hier? Waren seine Hoffnungen irreal gewesen? Auf jeden Fall, für ein solches Wechselbad von Hoffnungen und Enttäuschungen, von Illusion und Realität, von Staatsgefängnis und Schwimmhalle war er zu alt. Das mußte er sich ehrlich eingestehen, so schwer dieses Eingeständnis auch fallen mochte. Vierzehn Tage später war Professor Jazdani mit nie gekanntem Elan an der Arbeit. Es war, als brächen sich Energien Bahn, die man jahrelang aufge-
staut hatte. Die Armee bot ihm Bedingungen, von denen er selbst an seinem eigenen Institut nicht zu träumen gewagt hätte. Überhaupt, betrachtete er im nachhinein seine Position am Institut Jazdani, dann war er, der Chef, in Wirklichkeit derjenige gewesen, der den weitreichendsten Einschränkungen in der wissenschaftlichen Arbeit unterworfen war. Allein die Verwaltungsaufgaben, allein das Geschäft mit der Wissenschaft, von dem er lebte, hatte stets mehr Zeit erfordert, als ihm lieb gewesen war. Zwar liefen die Rechnungen für sein eigenes Labor nicht über den Computer der allgemeinen Verwaltung, zwar wurden die benötigten Materialien gesondert und sehr rasch geliefert, aber letztlich stand er im kleinsten Labor des gesamten Institutes mutterseelenallein. Manchmal half es wenig, wenn er sich sagte, daß das der Preis war, den er für seine Forschung zu bezahlen hatte, die die von der Internationalen Akademie gezogenen Grenzen erheblich überschritt. Nein, da war ihm die Armee schon lieber! Die fragte nicht nach Grenzen. Jedenfalls nicht nach solchen, die irgendeine Akademie abgesteckt hatte. Seine anfängliche Enttäuschung war bald überwunden und hatte einem Gefühl von Anerkennung und Bewunderung Platz gemacht. Wichtige Fragen seines Themas konnten erst jetzt angegangen werden. Wenn man Tausende von Homunkuli großzog, die alle demselben Gewebe entstammten, derselben genetischen Behandlung unterworfen wurden, gleichen Wachstumsbedingungen ausgesetzt waren, zeigten sich dann noch Unterschiede in Konstitution und Verhalten der einzelnen Exemplare, oder hatte man wirklich die gewünschte Homogene Masse, den gewünschten Klon gezogen? Eine immens wichtige Frage, die er bei seinen vereinzelten Zuchtversuchen mit jeweils einem Exemplar nicht mit Sicherheit hatte beantworten können. Eine Frage, die den Rahmen des Institutes Jazdani gesprengt hätte. Eine Frage, auf die aber die Armee dringend eine Antwort suchte. Oder, wieweit waren Eingriffe in die DNS denkbar, vor allem technologisch durchführbar? Und welcher Kostenaufwand war notwendig, solche Spezialausführungen zu züchten? Auf der Wunschliste der Streitkräfte standen strahlungsresistente Homunkuli an erster Stelle, aber auch Wesen, die sowohl mit Kiemen als auch mit Lungen ausgestattet waren, und zentimetergroße Homunkuli, die sich zum Einsatz im Innern von Behältern und Rohrleitungen eigneten. Sicher nicht mehr als eine Wunschliste. Sicher auch eine zunächst unerfüllbare Wunschliste. Aber letztlich überaus reizvolle Aufgaben. Und um Geld brauchte Professor Jazdani nicht zu bitten, ganz im Gegenteil. Man konnte vor solch ungewohnter Finanzflut Angst bekommen. Auf jeden Fall erwies sich die Armee als unvergleichlich großzügiger als die Geldsäcke von der General Pharmacy and Chemistry, als ein Fisher, der
möglichst wenig riskieren wollte, dem es letztlich nur um den Gewinn ging und der den Verlust, der bei wissenschaftlicher Arbeit nie mit Sicherheit auszuschließen war, soweit als möglich auf andere abwälzte, auf private Forschungsinstitute. Der Konzern selbst pickte sich nur die Rosinen aus dem Kuchen. Natürlich brachte das Leben im Zweigwerk 34P/37 auch gewisse Nachteile mit sich. Die Beschränkung in der persönlichen Bewegungsfreiheit war nach wie vor lästig, wenn auch mit dem Staatsgefängnis Nakina nicht zu vergleichen. Auf der anderen Seite tat man alles, um diese Notwendigkeit so diskret wie möglich durchzusetzen. Wo es die Sicherheitsbestimmungen halbwegs zuließen, zeigte man sich großzügig. Das begann bei der Verpflegung, selbst ausgefallene Delikatessen wurden auf Wunsch prompt serviert. Gegen die Einförmigkeit im abgegrenzten Gelände gab es die verschiedensten Unterhaltungsmöglichkeiten, die allen Mitarbeitern geboten wurden, alles, was eine Stadt auch zu bieten gehabt hätte. Das reichte von großzügigen Sportanlagen, von Klubs und Bars bis hin zu einem ErosCenter. Und wenn dessen Insassinnen auch in ihrer Freizeit Uniform trugen und Rangabzeichen besaßen, teils mit allerhand Sternen, es waren die schönsten Soldatinnen, die die Armee hatte auftreiben können. Man hatte also alles getan, um einem Wüstenkoller vorzubeugen. Im übrigen gab es zwischen den Mitarbeitern, überwiegend Militärs in hohen Offiziersrängen, sehr wenig persönliche Kontakte. Man tat seine Arbeit. Man tat sie möglichst gut. Dafür war man da und wurde von den Streitkräften bezahlt. So gut bezahlt, daß man nach fünfzehn oder zwanzig Dienstjahren seinen Abschied nehmen konnte und irgendwo als wohlhabender Pensionär den Sorgen dieser Welt entronnen war. Ein guter Preis für Bedingungen, die manchmal unangenehme Einschränkungen mit sich brachten. In dieser Pilotanlage hatte jeder sein sehr eng umgrenztes Arbeitsgebiet. Professor Mervyn Jazdani hatte nur mit wenigen Mitarbeitern persönlich zu tun, und selbst die kannte er nur flüchtig. Die meisten Ingenieure und Techniker unterstanden direkt Oberst Walker, der auch für den technischen Betrieb der Anlage verantwortlich war. Und diese Anlage war in ihren Ausmaßen wirklich imponierend: Zu ebener Erde befanden sich lediglich die von der General Pharmacy and Chemistry erbauten Produktionshallen, ein Sportkomplex, die Schwimmhalle, außerhalb der Umzäunung die Landeplattform. Aus der Luft gesehen, war das eine Mischung aus Produktionsstätte und militärischem Ausbildungslager, eher ein wenig zu klein geraten, ganz sicher unauffällig. Aber die Armee hatte den darunterliegenden Fels zu einer gewaltigen Fabrik ausgebaut. Die REN-Spülanlage lag sechs Meter unter den ehemaligen Produktionshallen. Hier wurden die Zellen, nachdem man sie unter sterilen Bedingungen isoliert und auf einen Nährboden aufge-
bracht hatte, mit der entsprechenden Restriktionsendonuklease durchspült. Dann wanderte der gesamte Nährboden in einen der riesigen Bruträume, wo alles vorhanden war, was die Kulturen zu einem raschen Wachstum benötigten: Ultravibrationstische, Bestrahlungseinrichtungen, Anschlüsse für Nährlösung und Sauerstoff sowie die günstigsten klimatischen Bedingungen. Die Anlage wurde von einem Computer mit großer Leistungsfähigkeit gesteuert. Diese Bruträume, der Größe der Produktionshallen entsprechend, senkten sich während der folgenden acht Wochen langsam auf einhundertachtzig Meter Tiefe ab. In dieser Zeit wuchsen die Embryonen, bedingt durch die außerordentlich günstigen Bedingungen, extrem rasch heran. In einhundertachtzig Meter Tiefe schloß sich der Abnabelungsraum an, auch weitgehend mechanisiert, und von dort aus führte der Weg in ein ganzes System von technischen Anlagen, die der Ausbildung und Erprobung der Homunkuli unter weitgehend realistischen Bedingungen dienen sollten. In diesen Räumen herrschten die Streitkräfte total. Hier waren keine Zivilangestellten beschäftigt, hier ließ man sich selbst von einem Professor Jazdani nur noch sehr ungern in die Karten sehen, vor allem, was die geplanten militärtechnischen Experimente betraf. Aber die interessierten den Professor ohnehin nur am Rande. Wichtiger waren für ihn die ersten Schritte des Verfahrens, das mit der REN-Spülanlage begann. Die Armee hatte sein Verfahren zwar unverändert übernommen, doch mit der gewaltigen Kapazitätssteigerung der Anlage ergaben sich vor allem in der Startstufe der Bioreaktion Probleme. Das war auch der Grund, weshalb sich der Beginn der Arbeiten unerwartet verzögerte, viel länger, als es Jazdani lieb war. Und auch die Haltung Walkers verriet, daß der Zeitverlust nicht eingeplant war. Um so erfreuter war der Oberst, als ihm Professor Jazdani eines Morgens nach einer Routinearbeitsbesprechung erklärte: „Von mir aus sind wir soweit. In der nächsten Woche kann es losgehen. Sie können sich langsam um die entsprechende Menge Humangewebe kümmern." Eine Nachricht, die dem Oberst wie Öl einging. „Wieviel Gewebe benötigen Sie?" „Hängt davon ab, wie viele Homunkuli Sie produzieren wollen. Für den Anfang genügt eine Leiche vollkommen." „Keine isolierten Gewebestücke?" „Nein, nein. Wenn wir einen Menschen verwerten, müssen wir die Zusammensetzung der Spül-REN längere Zeit nicht verändern. Das ist mir lieber als ständige Feingewebeanalysen mit ihren unvermeidbaren Fehlerquellen." „Unwahrscheinlich, was Sie aus einem einzigen Menschen machen können. Soll es ein Mann oder eine Frau sein?" „An sich wäre das gleichgültig. Aber Sie wollen wohl vorläufig nur Männer
produzieren. Aus männlichem Humangewebe später Frauen herzustellen ist nach meinem Verfahren überhaupt kein Problem. Wir entfernen das Y- und verdoppeln das X-Chromosom, das ist alles. Für uns ein zusätzlicher Arbeitsgang von vielleicht drei oder vier Tagen Dauer. Umgekehrt ist es allerdings nicht möglich, weil Frauen kein Y-Chromosom haben. Bringen Sie mir also lieber einen Mann, Oberst!" „Ist ja toll", sagte Walker lachend, „wie Sie mit den Geschlechtern umspringen! Werde mir bei der Gelegenheit einen Harem bei Ihnen bestellen. Bitte mir aber ausgesuchte Schönheiten aus! Im Ernst, Professor, stellen Sie besondere Anforderungen an das Gewebe?" „Karzinomfrei", antwortete der Professor, der die Haremsbestellung offensichtlich überhören wollte. „Das ist die einzige Bedingung. Und es schadet natürlich nichts, wenn der Intelligenzquotient einigermaßen hoch ist. Reduzieren können wir die geistigen Fähigkeiten immer noch, das ist kein Problem!" „Ach, tatsächlich", erkundigte sich Walker. „Sie können die Intelligenz steuern? Das interessiert mich! Erzählen Sie, Professor!" Walker hatte zur Feier des Tages einen besonders guten Whisky kommen lassen. „Also, sehr vereinfacht. Man geht von der Morula aus. Die Morula ist..." „Ein Zellhaufen, in dem die Anlage für spätere Organe durch wenige oder nur eine Zelle repräsentiert ist", fiel ihm der Oberst ins Wort. „Sie sehen, ich bereite mich auch fachlich ein bißchen auf meine neuen Aufgaben vor!" „In dieser Morula", setzte Jazdani fort, „gibt es also auch eine ganz bestimmte Zelle, aus der sich das spätere Gehirn entwickelt. Um dieses Organ zu bilden, teilt sich diese Zelle genau dreiunddreißigmal. Die einzelnen Teilungsschritte vollziehen sich streng nach phylogenetischem Programm. Wenn man nun die letzte Teilung verhindert, bleibt vor allem die Großhirnrinde in ihrer Entwicklung weit hinter der Norm zurück. Wir hätten einen Homunkulus mit der Intelligenz eines Neandertalers. Denkbar wäre es auch, phylogenetische Zukunft zu spielen. Ich bin davon überzeugt, daß das Programm flexibel genug ist, um eine vierunddreißigste Teilung steuern zu können. Dadurch könnten sich bislang unbekannte Hirnstrukturen herausbilden, möglicherweise sogar mit neuen Sinneszentren für Radarstrahlung, für Infrarot und so weiter. Auf jeden Fall würden wir Genies züchten, die unvorstellbare geistige Leistungen vollbringen könnten!" „Ist ja eine tolle Sache!" rief Walker wieder und schenkte nach. „Wandelnde Elektronenhirne, wenn ich Sie richtig verstanden habe!" „Zumindest in der Speicherkapazität würden sie unsere Fähigkeiten erheblich übertreffen", stimmte Jazdani ihm zu. „Wir stehen an der Schwelle einer neuen geschichtlichen Epoche. Wir sind die ersten, die ihre eigene Art bewußt und gezielt vervollkommnen werden!" Der Professor ließ sich von
Walkers Begeisterung anstecken. Er war aufgestanden und stützte sich mit beiden Händen auf dessen Sessellehnen. Nur noch Walkers Whiskyglas paßte zwischen die Gesichter der beiden Männer. „Wissen Sie, was das bedeutet, Oberst? Wir haben vom Baum des Lebens genascht, wir haben eine neue Art geschaffen, wir sind göttlich geworden, unsterblich, komme, was da wolle!" „Jawohl, Professor", antwortete Walker und starrte Jazdani durch sein Glas an, „wir sind in den Garten Eden eingebrochen. Sie haben recht!" „Ab jetzt gibt es auf der Erde nur noch Platz für eine Art, Oberst! Für die Art Homo sapiens homunculus! Homo sapiens homunculus!" „Homo homunculus", wiederholte Walker hingerissen.
48 Handelsrat Fisher verfluchte diesen Jazdani und seine Homunkuli nicht zum erstenmal. Denn mit diesem Mann, seinen Plänen und mit diesem Zweigwerk war schiefgegangen, was nur schiefgehen konnte. Von dem ganzen verlockenden Plan, von der Faszination des kühnen Jazdanisch-Fisherschen Gedankens, war ein Scherbenhaufen übriggeblieben. Und ein Aufsichtsratsmitglied Janos, das seine Chance witterte, dem der Verkauf dieses Zweigwerkes an die Armee zum Angriffspunkt gegen Fisher werden sollte. Aber das war nicht das schlimmste, viel schlimmer war, daß ihn die eigenen Pläne zu überrollen drohten. Eine Produktionsstätte hatte er schaffen wollen, in der Homunkuli, mit ein paar Litern Nährlösung täglich belohnt, präzise und maximal belastbar, die Fehlerquelle „Mensch" im MenschMaschine-System ersetzt hätten. Eine Produktionsstätte, viele Produktionsstätten, durch die die General Pharmacy and Chemistry konkurrenzlos hätte werden können. Maximale Ausschöpfung der Arbeitskraft, absolute Austauschbarkeit der Produzenten, optimale Anpassung an das jeweilige Verfahren, das waren die Fisherschen Träume gewesen, dieser Träume wegen war 34P/37 entstanden. Aber diese Träume waren endgültig ausgeträumt, statt dessen galt es, sich im Aufsichtsrat gegen die Janos und Co. zur Wehr zu setzen. Denn nur die Position im Aufsichtsrat sicherte ihm einen Platz auf der Liste der Überlebenden. Die Janos griffen ihn wütend an, doch Fisher war sicher, daß sie keine Ahnung hatten von seinem Traum 34P/37. Ein Glück, daß Doktor Glenny, der Vorsitzende, die Situation überblickte und über die Art des Verkaufes informiert war. Glenny war es auch, der sich vor Fisher stellte, als es im Vorstand zu heftigen Angriffen kam. „Ich werde mich an den Präsidenten persönlich wenden", rief Mister Janos. „Schließlich können unsere Streitkräfte nicht im Lande schalten und walten, als gäbe es keine parlamentarische Kontrolle. Wo kämen wir hin, wenn die
Armee anfangen würde, die Preise zu diktieren! 34P/37 wäre mindestens fünfzig Prozent mehr wert gewesen!" „Nichts werden Sie tun, Kollege Janos", widersprach Doktor Glenny, der seine Erfahrungen mit der Armee hatte. Immerhin hätte den Konzern auch eine Enteignung treffen können, so gesehen hatte Fisher noch ein respektables Ergebnis erreicht. „Ich billige die Haltung und die Entscheidung des Kollegen Fisher ausdrücklich! Und in dieser Angelegenheit wird nichts ohne meine schriftliche Zustimmung unternommen!" „Aber wir haben ein neues Zweigwerk verloren!" „Das sieht möglicherweise nur so aus", versuchte Handelsrat Fisher die Gemüter zu beruhigen, „wir haben trotz des Verkaufes die Hände noch im Spiel. Das Zweigwerk 34P/37 kann durchaus noch zum Jahrhuntertgeschäft werden!" „Seltsame Geschäfte, Kollege Fisher! Aber dafür sind Sie ja in letzter Zeit bekannt!" „Jawohl, vielleicht ein Geschäft", antwortete ihm Fisher lächelnd. „Die Armee finanziert ein neues Verfahren, das unsere eigenen Kräfte ganz schön gefordert hätte, und an der Nutzung der Ergebnisse sind wir beteiligt, Kollege Janos. Allerdings nur, wenn Sie uns nicht mit einem unüberlegten Alleingang in die Quere kommen!" Janos schwieg. Der Verkauf des Zweigwerkes 34P/37 war im Grunde eine Bagatelle. Sein Angriff hatte sich sowieso mehr gegen Handelsrat Fisher als gegen diesen Verkauf gerichtet, und es war besser, zu schweigen, wenn Doktor Glenny die Sache deckte. Aber man würde sehen! Beharrliches Rütteln hatte schon manchen Stuhl zum Wanken gebracht! Handelsrat Fisher mußte sich eingestehen, daß er älter wurde und solche Angriffe an seinen Kräften zehrten. Seit der Besprechung in der atomaren Planungsgruppe sah er die Proportionen verzerrt. Er schätzte es gar nicht, daß Oberst Walker nur ein paar Stunden später sein Büro betrat, in Zivil und ohne Begleitung. „Hallo, Handelsrat! Bringe Ihnen Arbeit!" „Ohne Sie hätte ich auch absolut nichts zu tun, Oberst!" „Oh, freut mich, daß ich Ihnen die Langeweile vertreiben helfe. Kennen Sie das Team Doktor Wanderfeld?" „Natürlich, arbeiteten an einer ähnlichen Sache wie Professor Jazdani selbst. Nur eben nicht ganz so erfolgreich." „Die Internationale Akademie für Naturwissenschaften ist da anderer Meinung. Für Doktor Wanderfeld und ihr Team wurde eine Gastprofessur an der Universität Wien eingerichtet!" „Und was haben Sie damit zu tun?"
„Sie sind ein Witzbold, Mister Fisher. Die Wanderfeld hat nach unseren Informationen immerhin monatelang mit Jazdani geschlafen, zeitweise sogar bei ihm gewohnt, eine schicke Villa überschrieben bekommen. Besteht die Möglichkeit, daß sie über Jazdanis Arbeit informiert ist?" „Ausgeschlossen, Oberst. Wir haben das Team gebildet, um eine Entwicklung nachzuvollziehen, die längst vollzogen war. Wir benötigten ein wissenschaftliches Leitungsteam für 34P/37, denn Professor Jazdani sollte aus allem herausgehalten werden. Es ist absolut undenkbar, daß Jazdani ausgerechnet die Wanderfeld informiert haben könnte! Was sagt er denn selbst dazu?" „Werde mich hüten, ihn zu fragen. Ihr Wort genügt mir in dieser Sache vollkommen!" „Werden Sie der Ausreise zustimmen?" „Noch ist nichts entschieden. Was würden Sie denn vorschlagen?" ,,Wo soll das Team arbeiten?" „Am Institut für experimentelle und Wiederherstellungschirurgie der Medizinischen Fakultät der Universität Wien." „Donnerwetter. Das führende Institut! Fast eine Auszeichnung, dort arbeiten zu dürfen. Ich würde sie fahren lassen. Schon aus internationalen Erwägungen!" „Sie müssen ja für diese Entscheidung nicht Ihren Kopf hinhalten, Fisher!" „Das beste Alibi für uns! Überlegen Sie! Fahrlässiger Unfall, der verantwortliche Institutsleiter wandert für ein paar Jahre hinter schwedische Gardinen. Professor Jazdani ist damit aus dem Rennen. Das erfolgreichste Team dieses Institutes arbeitet unter internationaler Aufsicht in Wien an einer Revolution der Medizin. Und wer hat das Geld für die Forschung investiert? Die General Pharmacy and Chemistry, also letztlich die USA. Kann man eine weißere Weste haben?" „Na ja, vielleicht haben Sie recht, Fisher. Vielleicht sollte man die drei wirklich ziehen lassen, wenn man hundertprozentig wüßte, daß sie von den jazdanischen Homunkuli keine Ahnung haben." „Ich denke, Ihre Leute sitzen überall, Walker?" „Richtig, Fisher. Das sollten vor allem Sie niemals vergessen." Das war wieder jener Walker, der in Megatoten zu rechnen gewohnt war und der keinem zu trauen schien, einem Handelsrat Fisher schon gar nicht! Eine üble Geschichte, in die er da gerutscht war. Pack dich beim Schöpf, Fisher, eine schmerzhafte, aber die einzige Art, aus dem Sumpf herauszukommen!
49 „So geht das wirklich nicht weiter, Professor Jazdani! Sie treiben Raubbau mit Ihrer Gesundheit!" Professor Jazdani schreckte aus dem Schlaf. Neben ihm stand Oberst Walker und betrachtete ein mikroskopisches Präparat, das auf Jazdanis Schreibtisch lag. „Ich finde Sie in dieser Woche zum zweitenmal eingeschlafen am Schreibtisch! Sie haben die Haftfolgen noch nicht völlig überwunden und arbeiten bis zu zwanzig Stunden täglich, wollen Sie sich denn mit Macht zugrunde richten?" „Entschuldigen Sie, Oberst", sagte Professor Jazdani und stand auf. „Nur eine kleine Schwächeperiode." „Schluß für heute, Sie schlafen erst einmal ein paar Stunden!" „Unsinn, Oberst. Die Arbeit wartet nicht!" „Da haben Sie recht, Jazdani, die Arbeit wartet nicht. Bis jetzt habe ich mich überreden lassen, aber nun ist Schluß! Es wird ein Assistent eingestellt, ob es Ihnen nun paßt oder nicht!" „Ich bestehe auf Doktor Wanderfeld, sie ist mit der Materie vertraut." „Das wird nicht gehen, Professor. Doktor Wanderfeld reist mit ihrem Team in der nächsten Woche zu einer Gastprofessur nach Wien." „Das haben Sie zugelassen?" „Es erschien uns ratsam. Wir hätten uns eine Menge Rückfragen aus dem Ausland eingehandelt, wenn wir die Ausreise verweigert hätten. Handelsrat Fisher war übrigens der gleichen Meinung!" „Fisher", brummte Jazdani verächtlich. „Ausgerechnet Fisher! Gibt Ihnen gute Ratschläge, anstatt sich selbst um die primitivsten Dinge zu kümmern! Möchte wetten, er hat in der Angelegenheit Sveder noch keinen Finger gerührt!" „Moment, Professor, Angelegenheit Sveder, davon höre ich zum erstenmal!" „Als ich mit einem Homunkulus, Nummer sechzehn oder siebzehn, experimentierte, kündigte mir Fisher eine Inspektion an. Die Akademie macht ab und zu Stichproben, vor allem in Instituten, die von der privaten Wirtschaft unterstützt werden. Genaues war aber nicht bekannt. Und gerade an diesem Tag entgleiste der Stoffwechsel meines Objekts. Fisher empfahl mir Doktor Sveder, einen bekannten Arzt Nakinas. Ich brachte den Homunkulus persönlich bei ihm unter. Es war ein ziemlich hoffnungsloser Fall, aber ich wollte die Stoff Wechselentgleisung unbedingt unter Kontrolle bringen. Die Inspektion fand nicht statt, es erwischte ein anderes Institut, aber der Arzt rückte den Homunkulus nicht wieder heraus. Es wäre sein Patient, und es gäbe ein ärztliches Ethos und so weiter und so weiter." „Das sagen Sie erst jetzt, Jazdani? Sind Sie wahnsinnig!"
„Wieso ich? Schreien Sie gefälligst Mister Fisher an! Unser Virenausbruch kam dazwischen, und dann starb der Homunkulus. Ich habe Fisher im Gefängnis mehrfach aufgefordert, den Tod überprüfen zu lassen. Er beschlagnahmte die Leiche, das war alles!" „Gut, Jazdani. Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern. Und entschuldigen Sie meine Unbeherrschtheit. Eine sagenhafte Schlamperei Fishers!" „Treten Sie dem Handelsrat ruhig ein bißchen auf die Füße. Und Ihren Assistenten stecken Sie sich gefälligst an den Hut! Entweder die Wanderfeld oder niemanden! Ich schaffe meine Arbeit auch allein." „Ich werde Ihnen Ihren Mitarbeiter schon sehr bald vorstellen", antwortete Walker bestimmt. „Und ich möchte Sie heute in keinem Labor mehr sehen. Ganz gleich, wie wichtig die Arbeit sein sollte!" Die erste Versuchsreihe, eine Probeserie von tausend Exemplaren, lief auf vollen Touren, und erwartungsgemäß häuften sich die wissenschaftlichen und technologischen Schwierigkeiten. Zwar hatte der Rechner, ein Großcomputer der Modellreihe 35, die Zusammensetzung der Spül-REN in wenigen Tagen ermittelt, aber es erwies sich als unerwartet schwierige Aufgabe, das errechnete Gemisch über einen längeren Zeitraum konstant zu halten. Einzelne REN reagierten untereinander, andere wurden ausgeflockt, die Zellen wiederum bevorzugten bestimmte REN-Typen. Auf jeden Fall waren die Anfangsschwierigkeiten wesentlich größer, als der Professor angenommen hatte. Jazdani hockte stundenlang hinter dem Mikroskop, die Techniker montierten buchstäblich Tag und Nacht an der Spülanlage, dem Herzstück des Produktionsbetriebes für Homunkuli. Teilgemische mußten getrennt gelagert und reaktionsfrei transportiert werden, in Sekundenbruchteilen zur passenden Spül-REN zusammenfließen, anschließend wieder getrennt und in unterschiedlichen Behältern aufbewahrt werden. Jetzt erst zeigte es sich, wie sehr das Zweigwerk 34P/37 noch Pilotanlage war. Und in dieser Situation weigerte sich Jazdani, einen persönlichen Assistenten zu akzeptieren. Oberst Walker hatte ihm gegenüber stets nur vorgeschlagen, angeregt, zur Diskussion gestellt. Aber wenn Jazdani in den letzten Wochen einmal die Nase an die frische Luft gesteckt hätte, anstatt den ganzen Tag und die halbe Nacht in den Labors zu verbringen, er hätte sich leicht ausrechnen können, daß Walker eines Tages einfach befehlen mußte, denn die letzte Ausbauphase von 34P/37 näherte sich ihrem Ende. In den vergangenen Wochen waren pausenlos Kolonnen schwerer gepanzerter Lastwagen angekommen, riesige Transporthelikopter hatten auf der Landeplattform aufgesetzt, Schwerlastluftschiffe angelegt. Unmengen der verschiedensten Ausrüstungsgegenstände waren in den Hallen und dann in der Tiefe ver-
schwunden. Material und Halbzeuge, Maschinen, ein kompletter bergmännischer Fuhrpark, aber auch die verschiedensten Versuchstiere. Ein außenstehender Beobachter hätte den Eindruck gewinnen können, eine Arche Noah werde beladen. Und dann die Lebensmittelvorräte, Vorräte, von denen eine Millionenstadt bequem hätte leben können, wochen- und monatelang. Und das alles vollzog sich in kürzester Zeit, war exakt geplant und wurde minutiös ausgeführt. Aber an derartige Dimensionen hatte sich der Professor noch immer nicht gewöhnen können. Für ihn war es wichtig, ob die zwei oder drei Tankwagen mit Nährlösung pünktlich eingetroffen waren, ob die Zusammensetzung der Spül-REN stimmte, ob sich aus den durchspülten Zellen der Versuchsreihe I endlich normale Morula bildeten, ob das Brutsubstrat keimfrei war und so weiter und so weiter. Zuviel für einen einzelnen Mann, zuwenig für das Zweigwerk 34P/37. Es war unausweichlich, ein Assistent mußte her, einer mindestens. Und so lernte Professor Jazdani knappe zwei Wochen später Doktor Nace kennen, oder umgekehrt. Die Versuchsreihe I brachte endlich erste Erfolge. Seit dem Durchspülen der Zellkulturen waren nun schon drei Wochen vergangen, der Brutraum I befand sich bereits acht Meter unter seinem ursprünglichen Niveau. Runde sechshundert Embryonen waren übriggeblieben, eigentlich hätte man die ganze Versuchsreihe als unrentabel abbrechen müssen. Aber Jazdani und Walker hatten sich entschlossen, an der Reihe I die Technologie von 34P/37 zu erproben. Wer wußte schon, welche Kinderkrankheiten sich noch-einstellen würden. Der Weg in die Tiefe war noch sehr weit. Professor Jazdani fertigte täglich den mikroskopischen Schnitt eines Embryos an. Viele Fragen waren noch zu klären: Wie und in welchen Konzentrationen wirkten Medikamente, konnten die Wachstumsprozesse durch Hormongaben noch stärker beschleunigt werden? Welche Nährlösungszusammensetzung war optimal? Um nur einige zu nennen. Jazdani begrüßte Doktor Nace nicht gerade freundschaftlich. „Sie sind also mein neuer Assistent!" Er musterte den jungen Mann von der Seite, ohne sich von seinem Arbeitsplatz zu erheben und ihm die Hand zu geben. „Darf man fragen, was Sie alles verbrochen haben, um ausgerechnet hier zu landen?" Doktor Nace schwieg. „Na, wo haben Sie früher gearbeitet?" „Genetisches Institut der Universität Pittsbourg, biologische Schädlingsbekämpfung. Wir haben den Nahrungsaufnahmetrieb der Freßfeinde bestimmter Schadinsekten erhöht." „Habe von diesen Versuchen gehört. Sollen recht erfolgreich verlaufen sein! Weshalb haben Sie damit aufgehört? Ärger mit
dem Chef? Oder mußten Sie aufhören, Kollege Nace, weil hier ein Jazdani dringend einen Mitarbeiter brauchte?" „Im Grunde lag es an der Finanzmisere. Sie kennen das ja. Das System der wirtschaftsgeförderten Institute macht die Universitätsforschung nach und nach kaputt. Wir hatten schließlich noch unsere Studenten auf dem Hals, und ich mußte mir buchstäblich jede Stunde, die ich am Thema arbeiten wollte, von meiner Freizeit abzweigen. Immerhin drei Studiengruppen je Woche, auf die Dauer ist das kein Zustand. Und der Etat wurde von Jahr zu Jahr geringer. Es war voraussehbar, wann die Fakultät den Stellenplan kürzen mußte. Von Aufstiegschancen konnte schon lange keine Rede mehr sein. Ich habe mich auf dem Arbeitsmarkt umgesehen und wurde schließlich von der Armee eingestellt. Als ich hörte, daß ich bei Ihnen arbeiten könnte, habe ich mich natürlich sehr gefreut." Doktor Nace erwähnte nicht, wie diese „Einstellung" vor sich gegangen war, auch nicht, daß er in Pittsbourg auf der Abschußliste gestanden hatte. Manches wußte er auch nicht. Die genaueste Überprüfung seiner gesamten Familie, die wochenlangen Observationen aller seiner Lebensgewohnheiten, die Gründe, weshalb sich etliche seiner ehemaligen Freunde plötzlich von ihm zurückgezogen hatten. Er wußte nur von einem „Einstellungsgespräch", das stark einem Verhör geähnelt hatte. Er wußte nicht mehr, in wie vielen Stunden er wie vielen Herren immer wieder dieselben Fragen beantworten mußte. Wehe, wenn die jeweiligen Antworten auch nur um eine Nuance voneinander abwichen! Er wußte nur noch, daß er sich danach urlaubsreif gefühlt hatte und daß er manchmal aus dem Schlaf schreckte, weil er eine Frage nicht eindeutig beantwortet hatte. Und er wußte von einem Vertrag, der ihm für drei Jahre praktisch jeden Kontakt mit der Außenwelt, auch mit der eigenen Familie, verbot und ihn dafür mit einem fürstlichen Gehalt entschädigte, von dem er hier allerdings keinen einzigen Cent würde ausgeben können. Doktor Nace war sich wirklich nicht sicher, ob er richtig gehandelt hatte, als er die Universität Pittsbourg verließ. „Sie wissen aber, was wir hier machen?" Professor Jazdani beobachtete seinen neuen Mitarbeiter aufmerksam. „Ich weiß nur, daß die Internationale Akademie die Genehmigung für diese Forschung verweigert hat, und ich weiß, daß es ein militärisches Thema sein muß. Das hat mir Oberst Walker gesagt. Man zahlt nicht umsonst solche Gehälter." Himmel, was hatte man ihm da für einen ahnungslosen Engel geschickt! Jazdani nahm sich vor, mit Walker über den Fall Nace zu sprechen. So ging das wirklich nicht! „Wenn bei Ihnen die Histologie noch halbwegs sitzt, dann werfen Sie einmal einen Blick durch das Mikroskop." Der Professor stand auf und überließ Doktor Nace seinen Platz am Labortisch des Brut-
raumes I. Nace betrachtete das Präparat. „Der Längsschnitt durch ein embryonales Gehirn, würde ich auf den ersten Blick sagen." „Richtig! Nur mit dem Unterschied, daß sich dieser Embryo aus einer gewöhnlichen Epithelzelle entwickelt hat und nie einen Uterus von innen erlebt hat. Nun wissen Sie auch, was hier produziert wird!" Doktor Nace blieb erstaunlich ruhig. Nicht, daß er genau das erwartet hatte, aber die Art des Vertrages und seine besonderen Bedingungen sprachen schließlich eine deutliche Sprache. Zumindest drehte es sich um ein militärisches Forschungsprogramm, wie er zunächst befürchtet hatte, allein deshalb war er fast angenehm überrascht. Kunstmenschen hin, Kunstmenschen her, er war hier und damit basta. Und einen anderen Weg gab es seit dem Moment seiner Unterschrift ohnehin nicht mehr. Professor Jazdani legte ein zweites Präparat unter das Mikroskop. „Sehen Sie sich die Sache genau an, Nace. Erkennen Sie Strukturunterschiede zwischen beiden Schnitten?" „Ja, im zweiten Präparat sind einzelne Nervenzellen schon über Neuritenstränge miteinander verbunden." „Hochachtung, Kollege Nace! Sie haben einen guten Blick! Die Anzahl dieser Verbindungen zwischen den Nervenzellen des Gehirns ist die materielle Basis dessen, was man gemeinhin Intellekt nennt. Viele Verknüpfungen gleich hohe Intelligenz, wenige Verknüpfungen gleich geringe Intelligenz! So einfach ist das, Kollege Nace. Und die wahrhafte Sensation werden Sie darin erkennen, daß diese Nervenverknüpfungen schon in der dritten Woche beginnen. Es ist mir gelungen, das Gehirn schon vom Moment der Morulabildung an zu beeinflussen. Ich kann die Anzahl der Neuritenverbindungen sehr exakt dosieren und damit den Intelligenzquotienten schon weit vor der Geburt festlegen. Das heißt, bei uns gibt es keine Geburt im eigentlichen Sinne, Abnabelung heißt das hier. Aber das kann ich Ihnen noch nicht zeigen. Dennoch wäre es gut, wenn Sie sich solche Begriffe einprägen würden, Doktor Nace!" Professor Jazdani lief erregt im Brutraum I umher. Daß er Nace erst seit wenigen Minuten kannte, hatte er offensichtlich vergessen, so sehr berauschte er sich an den Perspektiven seines Verfahrens. „In der Tat", bestätigte Nace, der die beiden Präparate noch einmal vergleichend betrachtet hatte, „eine gewisse Systematik in den Verbindungen zwischen den Nervenzellen ist unübersehbar!" „Warten Sie noch acht Tage, Nace. Dann sind die Verbindungen so gefestigt, daß die Embryonen denken können, jedenfalls die am weitesten entwickelten. Dann können wir uns mit ihnen unterhalten, Kollege Nace!" Der Professor zog Doktor Nace vom Labortisch weg und erklärte ihm die Funktion des Brutraumes. „Sehen Sie die Bruttische! Wir haben die Embryonen unmittelbar auf ein
Nährsubstrat aufgebracht. Sie hängen praktisch nur vermittels der Plazenta am Tisch fest. Die außerordentlich zahlreichen Neuritenverbindungen haben wir durch Zusatz einer bestimmten Chemotherapie zur Nährlösung erreicht. Sozusagen die materielle Basis. Das eigentliche Prägungsprogramm kommt dann aus den Lautsprechern über den Bruttischen. Eine Art Hypnopädieverfahren. Die Embryonen bekommen Begriffe, Emotionen, ihr gesamtes Wissenssystem immer wieder eingeflüstert, dazu die Chemotherapie, die das ,Vergessen' fast total verhindert. Wenn unsere Homunkuli ,geboren' sind, dann haben sie schon das Wissen und die Fertigkeiten von zwanzig- bis dreißigjährigen Normalmenschen." Jazdani war während seines Vortrages durch die Reihen der Bruttische gegangen, hatte hier und da einen der Embryonen mit der Lupe betrachtet, zufrieden mit sich, zufrieden mit 34P/37. „Diese Serie hier wird noch mit normaler Intelligenz ausgestattet", erklärte er weiter. „Aber in den nächsten Serien, schon in den nächsten Serien, legen wir eine Kompanie Genies auf Kiel. Was sage ich, eine ganze Division Genies. Mit Intelligenzquotienten um siebenhundert! Und Sie dürfen daran mitarbeiten! Mensch, Nace, was sind Sie doch für ein Glückspilz! So eine Chance bekommt man im Leben nur ein einziges Mal! Intelligenzquotienten um siebenhundert!" Doktor Nace war vom plötzlichen Stimmungsumschwung des Professors überrascht. Jazdani überschüttete ihn mit Einzelheiten seines Produktionsprogramms. Und je mehr Doktor Nace erfuhr, um so unwirklicher erschien ihm diese Homunkulifabrik, die niemals funktionieren würde, dessen war er sich absolut sicher. Das konnte gar nicht gehen! Den mikroskopischen Bildern zum Trotz. Neuritenstränge nach drei Wochen!
50 genf, 2. März 2039 (mondnovajoj) - vorrangmeldung im genfer palast des völkerbundes, der zu diesem zweck nach originalbauplänen des zwanzigsten jahrhunderts rekonstruiert worden war, konstituierte sich die II. weltkonferenz für den allgemeinen und vollständigen abbau aller rüstungen und streitkräfte, an der feierlichen eröffnung der konferenz, deren dauer auf grund tiefgehender meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen staatengruppierungen und der überaus komplizierten materie auf mindestens zwei jahre geschätzt wird, nahmen partei- und regierungschef aller in den vereinten nationen zusammengeschlossenen staaten und staatengruppen teil. in seiner eröffnungsrede vor dem weltgipfel betonte doktor franz watzinger, generalsekretär der vereinten nationen, die weitreichende verantwortung, die alle delegatio-nen mit den genfer verhandlungen auf sich genommen hätten, und warnte eindringlich vor den unübersehbaren folgen eines schei-
terns der verhandlungen. am rande der eröffnungssitzung kam es in der mission der usa zu einem treffen zwischen william doneis, präsident der vereinigten staaten von nordamerika, und anatol gontscharow, generalsekretär der vereinigten kommunistischen parteien europas. der meinungsaustausch dauerte fünfzig minuten und fand in sachlicher atmosphäre statt, erörtert wurden bilaterale und multilaterale probleme. anatol gontscharow und präsident doneis brachten ihre befriedigung darüber zum ausdruck, daß die genfer konferenz trotz schwieriger vorbereitungsgespräche zustande gekommen sei, und betonten den willen ihrer regierungen, zu einem positiven ergebnis in der abrüstungsfrage beitragen zu wollen. Es gab keine politische Tageszeitung von Rang, die die mn-Meldung nicht auf der ersten Seite veröffentlichte.
5l Bis zur zehnten Woche nach der REN-Spülung entwickelten sich die Embryonen der Versuchsreihe I unerwartet positiv. Täglich wurde die durchschnittliche Gewichtszunahme ermittelt, der Sauerstoffverbrauch, der Nährstoffumsatz, das Stoffwechselgesamtgeschehen und der Pillarwert vom Computer ausgewertet und mit den von Professor Jazdani errechneten theoretischen Werten verglichen. Die Versuchsreihe I hatte nicht nur die theoretischen Werte erreicht, sie hatte sich sogar schneller entwickelt, als das geplant war. Die Embryonen wiesen eine Körperlänge von siebzig Zentimetern und ein durchschnittliches Körpergewicht von fünf Kilogramm auf. Sie bewegten sich unregelmäßig und begannen mit ersten Lautäußerungen. Am Beginn der zwölften Woche gab es jedoch eine böse Überraschung. Professor Jazdani, der wie jeden Tag mit seinem Assistenten Doktor Nace den Brutraum I inspizierte, fand zwei Embryonen auf dem Betonboden, an schweren Sturzverletzungen gestorben. „Das darf doch nicht wahr sein!" sagte Jazdani verstört und hob einen der kleinen Körper auf. „Es muß jemand im Brutraum gewesen sein!" Er ging zum Telefon und benachrichtigte Oberst Walker. Doktor Nace inspizierte die anderen Bruttische. Die Embryonen verhielten sich völlig normal, es schien ihm nur, als würden sie ihn unentwegt beobachten. Aber das war bestimmt eine Täuschung. Überhaupt hatten diese riesigen Bruträume mit ihren großen Bruttischen, auf deren Nährböden die Embryonen heranwuchsen, etwas Gespenstisches. Für Doktor Nace immer noch, sooft er die Räume betreten mußte. Der Oberst kam in den Brutraum gestürmt, in seinem Gefolge die für innere Sicherheit und für die Absperrmaßnahmen verantwortlichen Offiziere. „Das ist doch unmöglich, Jazdani! Außer Ihnen und meinen Leuten hat niemand
Zutritt zu den Bruträumen!" „Können Sie mir dann erklären, weshalb die Embryonen von den Bruttischen gefallen sind? Es muß jemand hier gewesen sein!" Auf einen Wink Walkers verließen die Sicherheitsoffiziere den Brutraum I. „Ich kann mir die Sache genausowenig erklären wie Sie, Professor. Aber ein Eingriff von außen? Das halte ich für absolut ausgeschlossen!" „Ich behaupte ja nicht, daß es von außen gewesen sein muß, Oberst! Können Sie etwa für Hunderte von Mitarbeitern dieses Zweigwerkes Ihre Hand ins Feuer legen?" „Natürlich, Jazdani. Jederzeit! Meine Leute stehen unter Kriegsrecht und riskieren ihren Kopf nicht. Zudem, können Sie mir halbwegs plausibel erklären, was es für einen Sinn haben könnte, zwei Embryonen auf den Fußboden zu werfen?" „Vielleicht sind sie nur gestört worden", beharrte Jazdani auf seinem Standpunkt. „Wenn es Sie beruhigt, Professor, stationiere ich in jedem Brutraum einen Doppelposten. Vierundzwanzig Stunden am Tag. Aber Sie werden sehen, Jazdani, diese Vorfälle haben mit meinen Leuten nichts zu tun!" Inzwischen hatten die Sicherheitsoffiziere Alarm ausgelöst. Das gesamte Gelände wurde gründlichst durchsucht, die Unterkünfte aller Offiziere und Techniker durchwühlt, natürlich ohne jeden Erfolg. Denn wer in das Zweigwerk 34P/37 eindringen wollte, der mußte schon unsichtbar sein und zudem aus der Luft kommen, aber selbst dann würden ihn die Infrarotdetektoren anzeigen. Die Angehörigen des Abschirmdienstes waren durch so viele Filter gegangen und schon bei der Spur eines Verdachtes ausgesondert worden, da konnte es praktisch keine undichte Stelle geben. Trotzdem wurde jeder verhört, der für mindestens drei Stunden vor den Unfällen kein eindeutiges Alibi hatte. Aber auch das war erfolglos. Erwartungsgemäß. Die Bruträume wurden bewacht. Doch schon zwei Tage später fand man wieder einen Embryo, der tot neben dem Bruttisch lag. Professor Jazdani nahm selbst an der Vernehmung der beiden Posten teil. Klüger wurde er aus ihren Aussagen nicht. „Wir waren am entgegengesetzten Ende des Brutraumes, auch in der Nähe der Tür zum Labor. Plötzlich hatten wir den Eindruck, das Gemurmel der Embryonen würde sich verstärken. Und kurz danach hörten wir einen dumpfen Knall, und das Kind lag auf dem Betonboden. Natürlich tot. Wir haben den Vorfall sofort telefonisch gemeldet und Verstärkung angefordert. Außer uns war niemand im Raum. Das können wir beschwören!"
An den folgenden Tagen stiegen die Unfallzahlen erschreckend. Kein Bruttisch der Versuchsreihe I, der von den Verlusten noch nicht betroffen gewesen wäre. Die eingesetzten Posten, inzwischen auf sechs Mann je Brutraum verstärkt, kamen in den riesigen Räumen immer zu spät, um über die Unfallursachen genauere Aussagen machen zu können. Sie stimmten lediglich darin überein, daß sich Sekunden vor jedem Sturz die Lautäußerungen der Embryonen verstärkt hatten. Oberst Walker ließ schließlich über jedem Bruttisch des Brutraumes I eine Fernsehkamera montieren. Das Geschehen auf den Tischen wurde über Monitore beobachtet und Minute für Minute lückenlos aufgezeichnet. Schon wenige Stunden später erlebte Doktor Nace in der Beobachtungszentrale den Hergang der rätselhaften Unfälle mit. „Es sah so aus, als begingen sie Selbstmord", kommentierte er die Bildaufzeichnungen später. „Plötzlich setzte ein überaus starker Bewegungsdrang ein, das vorher ungerichtete Strampeln wandelte sich in eine zielgerichtete Fortbewegung um, die Embryonen krochen über den Bruttisch. Dabei rissen nach einer gewissen Zeit die Nabelschnuren, durch die sie mit dem Nährsubstrat verbunden waren. Der Embryo wurde blau und starb an Sauerstoffmangel. Oder er fiel wie in den bisherigen Fällen, schon vorher vom Tisch." Walker sah Professor Jazdani triumphierend an. „Sind Sie nun davon überzeugt, daß Sie die Ursachen für die Verluste an anderen Stellen suchen müssen als ausgerechnet im Sicherheitsbereich?" Die Unfallserie gab Jazdani ein neues Rätsel auf. Nicht nur, daß von der Versuchsreihe I nur noch dreihundertzwanzig Exemplare lebten, schon gab es in der später angesetzten Versuchsreihe II erste Verluste. Die Ursache mußte schnellstens gefunden werden, wollte man nicht beide Versuchsreihen auf die Verlustliste setzen müssen. Die erste brauchbare Spur fand Doktor Nace nach drei Tagen und weiteren siebenundvierzig Unfällen in der Serie 1. Nace hatte die Hirnstrukturen einer vergleichenden Analyse unterzogen. Übereinstimmend bei allen Unfallopfern war ein überdurchschnittlich geprägtes Kleinhirn, das seiner Struktur nach dem Stand eines zehnjährigen Normalmenschen entsprach und natürlich nach Bewegung drängte. Die noch lebenden Embryonen zeigten im Vergleich dazu einen gewissen Entwicklungsrückstand. Doch Doktor Nace konnte mit ziemlicher Genauigkeit die Stunde voraussagen, in der auch sie sich in Bewegung setzen würden. Professor Jazdani ließ die Gehirnprägung vorübergehend einstellen. Doch die Anzahl der Unfälle ging nur unwesentlich zurück. Der Oberst wurde täglich ungeduldiger, drängte auf rasche Lösung des Problems, denn in seinen Augen waren die geplanten Produktionszahlen des Zweigwerkes 34P/37 ernsthaft in Gefahr. Aber es war ein Teufelskreis. Von einem be-
stimmten Entwicklungsstand an rissen sich die Embryonen, ohne schon lebensfähig zu sein, von ihren Nabelschnüren los. Fast gesetzmäßig. Nichts und niemand konnte das aufhalten. Wenn die Hirnprägung eingestellt wurde, verzögerte sich dieser Prozeß nur. Doktor Nace hatte es von Anfang an gewußt. Diese „Fabrik" konnte nicht funktionieren!
52 Selbst als sie schon im Flugzeug saßen, Paß- und Zollkontrolle hinter sich hatten, lebte Solveg noch immer in der Furcht, jeden Augenblick könne jemand auftauchen, ihr eine Blechmarke vor die Nase halten und sie höflich, aber sehr bestimmt zum Mitkommen auffordern. Es war einfach zuviel, was sie wußte. Man durfte sie nicht herauslassen. Sie war eine Gefahr für die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Da war erstens Professor Jazdani. Jazdani würde in spätestens drei Jahren, bestimmt früher, aus dem Gefängnis kommen. Dann gab es zwei Möglichkeiten: Entweder er war wirklich der alte, gebrochene Mann, den sie in der Strafanstalt Nakina besucht hatte, oder er setzte seine Arbeit verstärkt fort, denn zu verlieren hatte er nichts mehr. Und dann war sie auf jeden Fall eine Gefahr für ihn. Da war zweitens die General Pharmacy and Che-mistry. Eine Produktionsanlage, weit entfernt vom Stammwerk, ein Handelsrat Fisher, der alle Fäden in der Hand hatte, der alles verlieren konnte, wenn sie erst einmal in Wien war. Und da war die Regierung, die auch einiges zu verlieren hatte: an Prestige, an internationaler Glaubwürdigkeit. Deshalb empfand sie es als ein unerklärbares Wunder, daß sie und ihr Team in dieser Maschine saßen. Das Flugzeug setzte sich in Bewegung, rollte schneller werdend auf die Startpiste, der Tower verschwand seitlich unter ihnen. Die USA blieben in der Tiefe zurück. Zurück blieben auch Freunde, denen Solveg viel zu verdanken hatte. Da war Doktor Neri, einfach, klug, überzeugend, der ihr ihre Verantwortung hart und drastisch klargemacht hatte. Doktor Sveder, in dessen Anwesenheit sie ihr Mißtrauen von früher nicht begreifen konnte. Und ein guter Freund, an dem es sie nicht mehr störte, daß er aussah wie Professor Jazdani. Viele, viele Unbekannte, denen sie gern gedankt hätte, die alle zusammen viel mehr riskiert hatten als das Wanderfeld-Team, das über den Wolken dem Pol zusteuerte.
53 Nach den Unfällen in den Versuchsserien I und II hatte sich Professor Jazdani in das größte und bestausgestattetste Labor des Zweigwerkes 34P/37 zurückgezogen und war für niemanden zu sprechen. Selbst für Doktor Nace nicht, den hatte er einfach hinausgeworfen. Und dagegen nutzte auch ein Protest des Assistenten bei Oberst Walker wenig. Er bekam zur Antwort, Professor Jazdani sei es eben gewohnt, allein zu arbeiten. Man könne von ihm nur dann einen Ausweg aus der schwierigen Situation erwarten, wenn man ihn in Ruhe arbeiten ließe. Im übrigen habe er, Doktor Nace, völlig freie Hand, zu eigenständigen Lösungen zu gelangen. Und so versuchte Doktor Nace, wenigstens die überlebenden Embryonen der Versuchsreihen I und II zu retten. Es gelang ihm wirklich, die Unfallserie zu stoppen, allerdings mit recht drastischen Mitteln, und so lehnte der Professor den Weg, den Nace gegangen war, erwartungsgemäß ab. „Wenn Sie die Embryonen schon während ihrer Keimesentwicklung unter Narkose setzen und dann noch unter Dauernarkose, muß das irgendwann schädliche Auswirkungen auf das spätere Leistungsvermögen haben. Ganz abgesehen davon, daß die Prägung unter Narkose äußerst erschwert wird. Wenn nicht gar unmöglich ist! Aber versuchen Sie Ihr Glück ruhig weiter, Nace, an diesen beiden Versuchsserien ist nichts mehr zu verderben! Ich werde die Methode weiterentwickeln, die am Institut erfolgreich war. Wenn auch nur in der Einzelfertigung. Alle anderen Wege führen in Sackgassen!" Der Oberst kreuzte täglich im Labor auf und fragte den Professor, ob er helfen könne. Mehr nicht. Drängen half nicht, das wußte er. Man mußte dem Wissenschaftler Zeit lassen. Auch wenn sie noch so sehr unter den Nägeln brannte. „Wir haben übrigens die Leiche Ihres Homunkulus gefunden", informierte er Jazdani eines Tages. „Wo?" „In der Anatomie von Nakina. Sieht Ihnen verdammt ähnlich! Und der Todestag stimmt auch. Sie können das Problem Sveder also vergessen!" „Wo haben Sie die Leiche?" „Immer noch in der Anatomie." „Ich will sie sehen", beharrte Jazdani. „Wenn Sie unbedingt wollen. Aber es wird zwei oder drei Tage dauern, bis wir sie hier haben werden." „Das macht nichts", antwortete der Professor. „Auf zwei Tage kommt es nicht mehr an. Aber ich würde mich freuen, wenn Handelsrat Fisher dabeisein könnte. Ich muß ohnehin wegen verschiedener Materialien mit ihm verhandeln."
„Auch das wird sich machen lassen, Professor. Aber Ihre Befürchtungen sind wirklich grundlos, glauben Sie mir!" „Wir werden ja sehen." Drei Tage später, am Vormittag, setzte der Hubschrauber des Handelsrates auf. Fisher begrüßte Professor Jazdani betont herzlich. Es war das erstemal, daß die beiden Männer zusammentrafen, seitdem Jazdani im Zweigwerk 34P/37 arbeitete. „Ich freue mich wirklich, daß wir eine positive Lösung für Sie gefunden haben, Jazdani. Drei Jahre in diesem Loch! Ein scheußlicher Gedanke!" „Nicht, wenn man sich nach einem kurzen Besuch wieder in seinen Wagen setzen und davonfahren kann", antwortete der Professor bitter. Die Monate in der Haftanstalt Nakina würde er wohl nie wieder vergessen. „Sie haben ja noch nicht bei Licht in einer winzigen, stinkenden Zelle schlafen müssen und erkennen können, wie sehr man sich in einer solchen Situation auf seine Freunde verlassen kann. Aber Sie haben recht, Fisher, das ist Gott sei Dank vorbei. Wollen wir zur Sache kommen?" „Wenn Sie die leidige Folienfrage meinen, fürchte ich, daß ich Ihnen nur sehr begrenzt helfen kann. Immerhin hatten wir die Technologie ausschließlich deshalb auf Luftbrut umgestellt, um diese Folien einzusparen!" „Richtig, Fisher. Aber Sie wissen, daß ich schon immer meine Bedenken gegen diese Umstellung hatte. Und nun sind wir prompt in eine Sackgasse geraten. Die Luftbrut funktioniert einfach noch nicht!" „Moment mal, Herrschaften", schaltete sich Oberst Walker in die Diskussion ein. „Können Sie mir bitte erklären, worum es hier geht?" „Um viel Geld, Oberst", sagte Jazdani. „Um Geld, das die General Pharmacy and Chemistry nicht investieren will, um eine ,Verbilligung' des Verfahrens zu erreichen, das uns jetzt diesen Zeitverzug eingebracht hat!" „Das ist natürlich Unsinn! Und das wissen Sie auch, Professor! Es geht ausschließlich um technische und technologische Fragen, es geht um ein Plastmaterial, das aus einem knappen Dutzend verschiedener, auch poröser oder semipermeabler Schichten besteht. Es muß sehr präzise aufgebaut werden, und die Herstellung ist natürlich entsprechend teuer. In diesem Material, dieser Membran, kann man Nährlösungen transportieren, Stoffwechselabbauprodukte sammeln und aus dem Gewebe entfernen. Eine Folie, die im Körper praktisch die Aufgaben von Darmwand und Niere gleichzeitig erfüllt. Ausschlaggebend für den Versuch, 34P/37 auf Luftbrut umzustellen, war aber die Tatsache, daß dieses Material gar nicht in so großen Mengen produziert werden kann, wie es Professor Jazdani benötigt!"
„Ich bitte Sie, Fisher! Ein paar lumpige Tonnen Espurkapazit dürften die General Pharmacy and Chemistry wirklich vor kein unlösbares Problem stellen!" „Espurkapazit", notierte der Oberst. „Wozu brauchen Sie dieses Zeug? Weshalb haben Sie es bisher nicht erwähnt?" „Das ist es ja", sagte Professor Jazdani aufbrausend. „Ich habe dieses Material schon immer verwandt. Im Zweigwerk 34P/37 wird versucht, sich um das kostenaufwendigste Material herumzumogeln! Ich habe meine Homunkuli immer in einem künstlichen Uterus herangezogen, einem Uterus aus Espurkapazit, der mit dem Embryo mitwächst wie eine normale Gebärmutter. Bei diesem Verfahren spielen natürlich irgendwelche heftigen Bewegungen keine so verheerende Rolle wie bei der Luftbrut." „Können Sie garantieren, daß die Sache in der Folie wirklich funktioniert?" Professor Jazdani stand auf und öffnete die Tür eines der großen Brutschränke an der Stirnfront des Labors. „Wenn Sie sich überzeugen wollen?" Oberst Walker erkannte eine transparente Blase von der Größe eines mittleren Luftballons. Darin bewegte sich in grünlicher Flüssigkeit ein etwa zwanzig Zentimeter großer Embryo. „Und diesmal verbürge ich mich dafür, daß der Versuch erfolgreich verlaufen wird", erklärte Professor Jazdani bestimmt. „Ist ja großartig", rief Walker erfreut, „worauf warten wir noch? Unverzüglich die nächste Serie aufgelegt! Wir hängen die Homunkuli auf wie andere die Wurst im Darm!" „Mit einem kleinen Unterschied, Oberst", warf Fisher ein. „Die Pelle ist verdammt teuer. Und der Professor sprach von ein paar Tonnen Espurkapazit. Wir produzieren von diesem Material allerhöchstens zweihundert Kilogramm im Jahr! Espurkapazit ist schließlich kostbarer als Gold! Von diesem Material verlangt Jazdani gleich ein paar Tonnen! Können Sie mir verraten, wo ich die hernehmen soll?" Was der Handelsrat sagte, war die Wahrheit und war sie auch wieder nicht. In Wirklichkeit produzierte man so wenig, weil man den Preis halten wollte. Bei aller Kompliziertheit der Feinstruktur von Espurkapazit, eine größere, leistungsfähigere Produktionsanlage würde Jazdanis Bedarf spielend dekken, aber zwangsläufig zu einem Preiszusammenbruch führen. Und hier war ein Hebel gefunden, an dem er drehen konnte. Denn Handelsrat Fisher hatte in den letzten Monaten angestrengt nachgedacht, zuerst in Zahlen, denn diese Art zu denken war ihm seit Jahrzehnten geläufig. Ob er nun einen kleinen Handrechner oder die Rechenzentrale des Konzerns befragte, der Gewinn bei einer Verwirklichung des Putsches der Armee war für die General Pharmacy and Chemistry gleich Null. Auch für andere Wirtschaftszweige kam er zum gleichen Ergebnis. Selbst wenn er zu den auserwählten
Überlebenden gehören würde, versprochen war es zwar, aber manchmal hatte er da leichte Zweifel, ein jahrelanges Maulwurfleben unter der Erde, als Insasse eines riesigen Strahlengefängnisses, das war nicht das Leben, das sich der Handelsrat für sein Alter ausgerechnet hatte. Nun gab es eine reale Möglichkeit, unbeschadet aus der Sache auszusteigen. Oder sogar noch mehr, den Megatotenplan zum Scheitern zu bringen. Sollten ihm Armee oder Abschirmdienst nachweisen, was er produzieren konnte und was nicht! Mit einem alten Fuchs wie ihm spielte man solche Spiele nicht, Walker, Jazdani, Conchado, Gruneisen und Co. „Ja, so ist die Situation, Oberst. Es tut mir wirklich leid, selbst wenn ich alle Lieferverträge breche und dem Professor unseren gesamten Bestand und die laufende Produktion an Espurkapazit zur Verfügung stelle, das zusammen reicht höchstens zu einer Versuchsserie!" „Dann kurbeln Sie die Produktion eben ein bißchen an, Fisher! Wenn ohne dieses Zeug nicht produziert werden kann, muß man eben genug davon zur Verfügung stellen! Das kann doch für ein Unternehmen wie Ihren Konzern wirklich kein Problem sein. Wir kooperieren doch nicht mit Handwerkern! Oder sollen sich die Streitkräfte auch noch um diese Angelegenheit kümmern?" Der letzte Satz war überdeutlich. „Ich werde mich persönlich um die Produktionssteigerung bemühen, Oberst", versprach Handelsrat Fisher und dachte bei sich, daß halb gebremst möglicherweise ganz gewonnen sein könnte. Walkers Adjutant betrat den Raum und erstattete Meldung, daß der erwartete Transporthubschrauber gelandet sei. „Wir können, meine Herren", sagte der Oberst. „Aber ich versichere Ihnen, Professor, es gibt keinen Grund, am Tod Ihres Homunkulus zu zweifeln." „Das habe ich ihm auch schon dutzendmal gesagt, Oberst. Er muß es halt mit eigenen Augen sehen. Unser Freund Jazdani vertraut uns nicht mehr!" Professor Jazdani antwortete nicht. Er schlug das Tuch, in das die Leiche eingehüllt war, zurück und betrachtete den Toten eingehend. „Das ist nicht mein Homunkulus", sagte er dann sehr bestimmt und deckte den Leichnam wieder zu. „Ich lasse zur Sicherheit noch eine Feingewebeanalyse durchführen, aber diese Untersuchung wird meinen Verdacht nur bestätigen. Das hier ist nicht mein Homunkulus!" Handelsrat Fisher stand wie zur Säule erstarrt. Walker hatte noch immer das dünne Lächeln auf dem Gesicht, mit dem er das Treiben des Professors beobachtet hatte. „Das geht nun aber zu weit, Jazdani", sagte er dann leise. „Ihr Mißtrauen in Ehren, aber das geht mir zu weit!" Mitten im Satz hatte er die Lautstärke gesteigert und die letzten Worte herausgeschrien.
„Durch Schreien ändern Sie auch nichts", antwortete Professor Jazdani ruhig. „Ich kann mich nur wiederholen. Das ist nicht mein Homunkulus!" „Gut", entschied der Oberst mühsam beherrscht. „lassen Sie Ihre Analyse machen. Ich werde vorerst nichts unternehmen. Aber ich glaube Ihnen nicht, Jazdani, das muß ich leider aussprechen! Wäre ich Psychiater, würde ich sogar sagen, Sie haben Ihren Haftkoller noch nicht überwunden, noch immer nicht! Und belästigen Sie mich nicht mit den Analysenergebnissen, falls Sie sich doch geirrt haben. Was ich für die einzige Möglichkeit halte!" Der Oberst verließ wütend den Raum. Er hatte sich die Zusammenarbeit mit diesem Jazdani einfacher vorgestellt. Elf Uhr achtundvierzig summte in Doktor Sveders Praxis das Videophon. Der Arzt drückte die Sprechtaste, aber der kleine Bildschirm blieb trotzdem dunkel. „Stellen Sie keine Fragen, Doktor Sveder, lassen Sie augenblicklich alles stehen und liegen und bringen Sie sich in Sicherheit. Es geht möglicherweise um Ihr Leben! Und es geht um jede Minute!" Schluß. Der Anrufer hatte aufgelegt. Zwölf Uhr neunzehn stürmte Professor Jazdani in das Arbeitszimmer Walkers. „Was habe ich Ihnen gesagt", schrie er triumphierend. „Hier ist der Beweis! Statt 22/a/34/0013/Fg/A14A/274/ 18/3B/22g, wie der Code eines jazdanischen Homunkulus lauten müßte, eine völlig andere Struktur. 17/y/01/2218/KT/A19B und so weiter und so weiter. Das ist nicht mein Homunkulus! Das ist überhaupt kein Homunkulus!" Der Oberst sprang auf und verließ autgebracht sein Zimmer, ohne dem Professor geantwortet zu haben. Aber die Blätter mit dem Feingewebecode hatte er ihm entrissen. Vierzehn Uhr dreiundzwanzig. Acht Männer in Zivil betraten die Praxis Doktor Sveders. „Sie wünschen, meine Herren?" fragte die Sprechstundensekretärin höflich. „Zum Doktor", antwortete einer der Männer einsilbig. „Sind Sie angemeldet?" „Wir melden uns nie an!" „Dann tut es mir leid. Doktor Sveder ist nicht mehr im Hause." Der Anführer der Männer zückte eine Blechmarke. Zwei stürmten in das Behandlungszimmer, einer bewachte die Tür. „Wir haben einen Durchsuchungsbefehl, Fräulein. Verdacht auf illegalen Rauschmittelvertrieb!"
„Dazu brauchen Sie keinen Durchsuchungsbefehl. Das Narkotikabuch und den Giftschrank habe ich in Verwaltung. Sie können die Unterlagen jederzeit einsehen." „Werden wohl in Ordnung sein, Ihre Unterlagen, wenn Sie sie freiwillig anbieten! Aber wir warten lieber auf den Doktor persönlich. Wo ist er, wann kommt er wieder?" „Er wollte Hausbesuche machen. Müßte gegen sechzehn Uhr..." „Schon gut. Sie rühren sich vorläufig nicht vom Fleck. Und kein Wort, falls Doktor Sveder hereinkommt!" Der Offizier postierte seine Leute in der Praxis und im Vorzimmer, dann ging er zum Videophon und wählte eine Nummer. „Fehlanzeige hier. Der Vogel ist ausgeflogen!" „Ja, in seiner Villa ist er auch nicht. Was sagt das Personal aus?" „Angeblich Hausbesuche. Sollen wir hier warten?" „Vorläufig ja. Wir benachrichtigen euch, wenn die Gruppe in der Villa erfolgreich war." Aber Doktor Sveder tauchte nicht wieder auf. Weder in seiner Praxis noch in seinem Haus am Stadtrand Nakinas. Daran änderte auch ein Tobsuchtsanfall Walkers nichts. Der Arzt Doktor Sveder war ihnen entwischt und hatte ihnen einen falschen Homunkulus angedreht. Weshalb? Wo war der echte Kunstmensch geblieben? Sehr viele Fragen blieben offen, die sich Oberst Walker lieber nicht mit allen Konsequenzen stellte. Denn dann hätte er das Zweigwerk 34P/37 schließen müssen. Und das wäre das Ende seiner Karriere gewesen. Oder noch viel Schlimmeres!
54 Die Enthüllungen Doktor Wanderfelds und ihres Teams lösten in Wien unerwartete Reaktionen aus. Noch am Tage ihrer Ankunft hatte Solveg um ein dringendes Gespräch mit dem Sekretär für internationale Beziehungen der Internationalen Akademie für Naturwissenschaften, Professor Uzo Nakamura, gebeten. Das Gespräch mit Nakamura war noch in ihrem Berghaus mit Doktor Neri abgestimmt worden. Neri und Nakamura kannten sich von verschiedenen internationalen Kongressen und Seminaren. Der Japaner empfing das amerikanische Forscherteam mit sprichwörtlicher asiatischer Höflichkeit. Doch das Lächeln auf seinem Gesicht erstarb, je länger Doktor Wanderfeld sprach. Sie mußte ihre Geschichte ein zweites Mal erzählen, diesmal dem Präsidenten der Akademie, den Professor Nakamura sofort verständigt hatte. Auch bei ihm zuerst ungläubiges Staunen, dann Betroffenheit, schließlich ganz offene Besorgnis. Ein Verstoß gegen die internationalen Verträge, der die Kontrollkompetenzen der Akademie überstieg! Der Konsequenzen haben mußte, die weit über die inneren Belange der Wissenschaftsorganisation
hinausgingen, die den politischen Bereich berührten und deshalb, wenn überhaupt, nur auf politischem Weg lösbar waren. Und so kam es, daß Doktor Solveg Wanderfeld, Doktor Ethel Edmondson und Diplomingenieur Albert Estling in Begleitung Professor Nakamuras am zweiten Tag ihres Europaaufenthaltes erneut ein Flugzeug bestiegen und ihre Geschichte ein drittes Mal erzählen mußten, dem Generalsekretär der Vereinigten Kommunistischen Parteien Europas, Anatol Gontscharow. „Ich glaube", sagte Generalsekretär Gontscharow, als Solveg geendet hatte, „Sie haben uns und Ihnen selbst einen großen Dienst erwiesen! Wie groß, wird die Zunkunft zeigen! Allerdings ist es für uns sehr schwer, wirksame Schritte zu unternehmen, ohne gleichzeitig Ihre Freunde in den USA zu gefährden. Ich muß Sie deshalb bitten, von sich aus nichts mehr zu unternehmen. Und vor allen Dingen zu schweigen. Wir werden unser Möglichstes tun, um die Gefahr abzuwenden, ohne gleichzeitig Menschenleben aufs Spiel zu setzen!" Solveg, Ethel und Albert wußten nicht, daß sie einen der wichtigsten Steine eines Mosaiks geliefert hatten, durch das sich die sozialistischen Staaten seit einiger Zeit beunruhigt fühlten. Weil es einfach keinen Sinn ergeben wollte ohne diesen Stein! Aber man konnte nicht sagen, daß der Generalsekretär nach diesen Informationen erleichtert gewesen wäre, im Gegenteil.
55 Nach intensivem Nachdenken erschien es Oberst Walker, daß die Lage um den Homunkulus Jazdani XVII. gar nicht so hoffnungslos war, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Freilich, dieser Doktor Sveder war und blieb verschwunden. Er war in allen Bundesstaaten zur Fahndung ausgeschrieben worden, aber Sveder war wie vom Erdboden verschluckt. Das bedeutete zunächst nur, daß er Helfer haben mußte, allein auf sich gestellt, hätte man ihn längst finden müssen. Nun gut, Helfer, Freunde in der Not, die hatte letztlich jeder. Die konnte man unter Umständen auch kaufen oder mieten, auf diesem Gebiet gab es Profis. Doktor Sveder hatte aber kein Geld, weil seine Konten gesperrt waren, also keine Profis, eine Gruppe, eine Kette. Und ein Ende dieser Kette war dem Oberst aus der Hand geglitten. Pech! Wichtiger und zugleich hoffnungsvoller schien das andere Ende der Kette zu sein, die Leiche. Die konnte sich nicht mehr verbergen, die mußte aussagen. Die mußte irgendwo gelebt und irgendwann gestorben sein. Das würde sich herausfinden lassen. Für den Abschirmdienst ein lösbares Problem. Aber es ging nicht allein darum, die Identität zu ermitteln. Irgendwer hatte gerade diese Leiche ausgesucht, Auswahlkriterium war die verblüffende
Ähnlichkeit zu Professor Jazdani; irgendwer hatte sie dann zu Doktor Sveder transportieren müssen, denn dort hatte man sie gefunden; irgendwer hatte die richtigen Papiere verschafft beziehungsweise beseitigt. So etwa mußte das ganze Unternehmen gelaufen sein. Wenn Walker richtig schlußfolgerte, stand ihm eine Organisation gegenüber, mit einem Homunkulus als Joker in der Hand. Sein eigener Joker war die fremde Leiche. Wenn man wußte, wo der Fremde gestorben war, hatte man zwangsläufig das nächste Kettenglied in der Hand, an dem man dann nur zu ziehen brauchte. Irgendwann und auf irgendeine Weise würde man erst Doktor Sveder und dann Homunkulus Jazdani XVII. an Land ziehen. Und Gnade Gott! Man bringt einen Oberst Walker nicht ungestraft in solch erhebliche Schwierigkeiten! Auf der Stelle wurden die Papillarlinien untersucht. Ratlosigkeit bei Walkers Daktyloskopen, nach dem Tode abgeschliffen, exakt an den Stellen, die in den Computern gespeichert waren. Die Organisation hatte gute Arbeit geleistet, dachte Walker mit einer gewissen Anerkennung. Er hatte nicht gern mit Stümpern und Anfängern zu tun, deren Handlungen waren oft unberechenbar. Der Feingewebecode war nächster Anhaltspunkt. Aus dem Millionenheer der Amerikaner wurden vierhundert Personen aus allen Teilen der Staaten herausgefiltert, die überprüft werden mußten. Der Apparat Walkers lief an. Leise, unauffällig, aber sehr präzise und verläßlich. Wer lebte, schied aus der Verdachtsliste aus, Frauen schieden aus. Von den vierhundert waren sieben gestorben. Sieben Namen, Adressen, Krankenhäuser, so einfach ist das. Vier der Todesfälle betrafen Frauen, konnte man ebenfalls streichen. Zwei Männer waren verbrannt worden laut Unterlagen der Friedhofsverwaltungen. In zwei verschiedenen Städten, von zwei verschiedenen Krematorien. Den dritten hatten sie in Bartlesville, Oklahoma, beigesetzt, und der lag tatsächlich noch unter der Erde. Davon überzeugte sich der Apparat. Und schon war man am Ziel: Einen hatten sie also gar nicht verbrannt, aber welchen? Zwei Krankenhäuser, zwei Friedhöfe, zwei Bestattungsinstitute. Mann für Mann der dort Beschäftigten waren zu überprüfen. Von der langen Liste durften nur Leute gestrichen werden, bei denen jeder Verdacht „absolut" ausgeräumt war. Absolut. Wer von den „Uberprüfern" setzte gern seinen Namenszug unter einen solchen Persilschein, denn der Name stand dann unter dem Papier, auch absolut. Und ein Irrtum kostete die Karriere, absolut. Man überprüfte dreifach, vierfach, ehe man von der Liste strich. Und das Überprüfungsmaterial war sehr umfangreich. Wer wie viele Kinder hatte, wer wie viel verdiente, welche Hobbys jeder hatte, wer mit wem schlief, wann, wo und wie oft, wer Medikamente verschob oder Schwarzfahrten unternahm und so weiter und so weiter. Nichts, was nicht erfaßt worden wäre.
Wochen vergingen. Endlich eine brauchbare Spur. Die Leiche hatte Simon Mudry geheißen und in Santa Barbara, Kalifornien, gelebt. Gestorben war sie in Santa Monica, ebenfalls Kalifornien, wo den Mann, der über nahezu keine familiären Bindungen verfügte, mitten in einer geschäftlichen Unterredung ein Herzinfarkt getroffen hatte. Und nach weiteren gründlichen Ermittlungen war ein gewisser Doktor Charles R. Witt, Chefarzt des Klinikums von Santa Monica, höchst verdächtig, den Leichnam an Doktor Sveder geliefert zu haben. Der Apparat hatte wirklich gute und exakte Arbeit geleistet. Die Festnahme Doktor Witts wollte sich Walker nicht entgehen lassen. Im Vorgefühl eines ersten Erfolges reiste der Oberst nach Santa Monica. Und führte einen militärisch geplanten Schlag ins Leere. Der Chefarzt sei seit heute im Urlaub, jeder im Hause wisse das. Der Apparat hatte gute Arbeit geleistet, die Organisation, wie sich der Oberst wütend eingestehen mußte, eine bessere. Doktor Witt tauchte am Urlaubsort nicht auf. Er tauchte überhaupt nicht wieder auf.
56 Die General Pharmacy and Chemistry hatte Espurkapazit geliefert. Angeblich die gesamte Menge, die zur Zeit zur Verfügung stand, einhunderzwanzig Kilogramm. Professor Jazdani war damit zufrieden. Der Oberst würde Fisher schon Dampf machen, wenn neues Material benötigt wurde. Zudem hatte Doktor Nace vorgeschlagen, in einigen Vorversuchen die wirkliche Dehnbarkeit des Materials zu testen, und war zu ermutigenden Ergebnissen gelangt. Espurkapazit war erheblich dehnbarer, als Professor Jazdani bisher angenommen hatte. Durch die Experimente von Doktor Nace konnte der Verbrauch dieses wertvollen Materials auf ein Zehntel reduziert werden. Versuchsreihe III wurde angesetzt. Die Embryonen entwickelten sich vom ersten Tage an prächtig. So gut, daß Jazdani und Nace übereinkamen, die Reihen I und II endgültig abzubrechen. Das Zweigwerk 34P/37 wurde auf die neue Technologie umgestellt. Diesmal in einer optimistischen Atmosphäre, keiner der Mitarbeiter hatte das Gefühl, es könnte noch irgendeinen Rückschlag geben. Wochen vergingen. Seit der Einführung der Quasi-Uteri-Technologie lief die Produktion wie am Schnürchen. Versuchsreihe III war schon im Abnabelungsraum, Versuchsreihe IV fast fertig, als Versuchsreihe V hatte man etwa achthundert weibliche Homunkuli angesetzt, um das Sexualverhalten dieser Wesen testen zu können, und die Versuchsreihe VI hatte den Spülraum soeben hinter sich und bildete sich normal heran. Die Bedienungsmannschaften des Abnabelungsraumes würden in der nächsten Zeit über
mangelnde Beschäftigung nicht klagen können. So wie die Espurkapazitblasen die materielle, so war dieser Abnabelungsraum die eigentliche arbeitsintensive technologische Schwachstelle der Homunkulifabrikation nach der Quasi-Uteri-Technologie. Sobald die Bruträume die tiefste Sohle des Stollens erreicht hatten, mußten die Bruttische von den Versorgungs- und Kontroileitungen getrennt und in den Abnabelungsraum geschoben werden. Zwei kräftige Soldaten hoben die Homunkuli, die eine Größe von einem Meter vierzig und ein Gewicht von fünfzig Kilogramm erreicht hatten, von den Tischen und schnitten die Espurkapazit blasen vorsichtig an. Das Fruchtwasser floß in Tankbehälter unter dem Abnabelungsraum, wo es gefiltert wurde, um der Nährlösung der folgenden Versuchsreihen beigemischt zu werden. Jazdani hatte festgestellt, daß das Fruchtwasser eine Art Katalysefunktion erfüllte und das Wachstum weiter beschleunigte. Dann mußten die Homunkuli aus den Blasen gezogen, von Plazenta und Nabelschnur befreit und gebadet werden. Anschließend gab es eine Sauerstoffdusche und eine Adrenalininjektion. Damit war der eigentliche Abnabelungsvorgang beendet, und die Homunkuli konnten, wenn auch noch etwas benommen, so doch auf eigenen Füßen, den Raum verlassen. Die Arbeit im Abnabelungsraum war Knochenarbeit, und die Besatzungen mußten alle vier Stunden abgelöst werden, obwohl man für diesen Dienst nur die kräftigsten Soldaten eingeteilt hatte. Zuweilen kam es vor, daß sich ein Homunkulus seiner „Geburt" regelrecht widersetzte, sich an der Espurkapazitblase festklammerte und furchtbar zu schreien begann oder einfach nicht laufen wollte, was er laut Prägungsprogramm können mußte. Und auch konnte, wenn man mit einem Eimer kaltem Wasser nachhalf. An den Abnabelungsraum schloß sich eine erste gründliche ärztliche Untersuchung an. Denn manch einer von den Homunkuli entsprach nicht in allen Punkten dem aufgestellten Zuchtprogramm. Man sah nie wieder etwas von ihm. Oder doch? Ein Homunkulus sah aus wie der andere. Hatten die Ärzte wirklich jeden untersucht? Oder die Gesunden mehrfach? Die Menschen erleichterten sich die Unterscheidung, indem sie den Homunkuli Nummern auf den Rücken tätowierten. Die Nummern begannen mit der Serie. Und als die Versuchsserie III abgenabelt war, hatte das Zweigwerk 34P/37 die Homunkuli III/1 bis III/1014 produziert, denn so viele Homunkuli der Versuchsreihe III, Intelligenzquotient 105, hatten Brut, Abnabelung und Kontrolluntersuchung überstanden.
57 Das Wanderfeld-Team hatte sich im Wiener Stadtteil Sankt Polten eine Wohnung gemietet. Der Stadtteil, erst vor acht Jahren der Großgemeinde Wien zugeschlagen, hatte seinen eigenen Reiz noch weitgehend erhalten. Hier verlief das Leben ruhiger, gemächlicher als im hektischen Betrieb des Stadtkerns. Bis zum Institut waren es runde siebzig Kilometer, eine im gutorganisierten Wiener Nahverkehr durchaus zumutbare Entfernung. Sie bewohnten eine Etage eines elfgeschössigen Hauses aus der ersten Hälfte des zwangzigsten Jahrhunderts. Damals war der Bau eine große Sensation gewesen und stand deshalb in Sankt Polten unter Denkmalschutz. Liebevoll renoviert, befand sich das Haus in einem ausgezeichneten Zustand. Solveg, Ethel und Albert bewohnten jeder ein eigenes Zimmer, die ohnehin selten und dann nur zum Aufbraten tiefgefrorener Hamburger benutzte Küche teilten sie sich, zwei große Gemeinschaftsräume dienten als Freizeitraum und Bibliothek. Mit der Lösung des Wohnungsproblems waren sie also sehr zufrieden, fast der Komfort des Jazdanisch-Wanderfeldschen Berghauses. Am Institut wurden sie mit größter Freundlichkeit, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung, behandelt. Amerikaner! Man hatte seine Erfahrungen gemacht. Und nicht immer die besten. Diese Leute waren eben von Kind an zu Individualisten, zu Egoisten erzogen worden, da gab es gewöhnlich Schwierigkeiten, sie in ein größeres Kollektiv zu integrieren. Freilich, das Wanderfeld-Team brachte Vorleistungen mit, die sich sehen lassen konnten. Aber das allein würde nicht ausreichen, die Vorbehaltsschranke einzureißen. Doktor Wanderfeld und ihr Team würden es nicht leicht haben, sich am Institut für experimentelle und Wiederherstellungschirurgie einzuleben, zumal als Nichtmediziner, was an diesem Institut traditionell ein Makel war. Das Team selbst bemerkte die Zurückhaltung kaum. Sie hatten alle Hände voll zu tun, ihr neues Labor einzurichten, Mitarbeiter zu gewinnen, die ersten Versuchsreihen vorzubereiten. Was die übrigen Kollegen anging, man würde sehen, dafür war später Zeit. Vorerst lebte man mit dem Zeitdruck, unter dem die ganze Arbeit stand. Zunächst waren da die Sorge um die Freunde in der Heimat, die Frage, ob man richtig gehandelt hatte, den Fall Jazdani der Akademie zu übergeben, statt damit an die Öffentlichkeit zu gehen, die Presse zu informieren, Protestversammlungen und Meetings einzuberufen. Dann hätte man doch wenigstens das Gefühl gehabt, für seine Sache gekämpft, sich bis zum Umfallen geschunden zu haben. Aber so? Nichts geschah, nichts. Fast kam es ihnen vor, als sei das Zusammentreffen
mit dem Generalsekretär nur ein Traum gewesen. Wenn man wenigstens mit den Freunden sprechen könnte, videophonieren. Aber das würde alles gefährden. Wien war zu weit weg, viel zu weit. Solveg kannte dieses Gefühl. Dagegen gab es nur ein Mittel: Arbeit, Arbeit, Arbeit und noch einmal Arbeit. So rasch wie dieses Team hatte am Wiener Institut noch niemand ein Forschungslabor eingerichtet. ,,Da schau her", sagten die Wiener. Und Solveg wußte nicht, ob das Anerkennung oder Ablehnung bedeutete.
58 Das Zweigwerk 34P/37 hatte hohen Besuch, Konteradmiral Duffield, nur in Begleitung von zwei Sicherheitsoffizieren. Der Oberst begrüßte Duffield am Rande des Landeplatzes. „Hallo, Walker! Habe gehört, die Sache sei endlich ins Laufen gekommen. Da wollte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, Ihrem Wunderprofessor ein bißchen in die Giftküche zu gucken!" „Es wird sich lohnen, Konteradmiral! Wir wollen in den nächsten Tagen eintausendvierzehn Homunkuli ins Testprogramm A übernehmen. Prachtkerle, Duffield! Müssen Sie sich unbedingt ansehen!" „Sie machen das ganz wissenschaftlich! Testprogramm A! Damit kann ich natürlich wenig anfangen!" „Das Testprogramm A ist ein reines Verschleißprogramm. Es geht uns zunächst darum, ob eine Rebesiedlung überhaupt möglich ist und in welchen Gebieten der Erde nach einem erfolgreich abgewehrten Kernwaffenangriff unsere Homunkuli ausgesetzt werden können. Sie verstehen, Duffield, die entscheidende Frage überhaupt! Jazdani muß so lange an der Genetik drehen, bis das Testprogramm A erfolgreich verläuft. Oder unser ganzer Plan fällt ins Wasser!" „Und wie sieht das aus, Ihr Testprogramm A?" „Sie müssen sich das so vorstellen: Wir haben acht riesige Hallen aus dem Fels geschmolzen, eine Schweinsarbeit, sage ich Ihnen. In den Zwischenwänden haben wir Beobachtungsräume und Technik untergebracht. Die Beobachtung kann aber auch zentral über Videokameras erfolgen. In jeder dieser Hallen haben wir schon seit einiger Zeit eine ganz bestimmte Klimazone simuliert, die entsprechende Flora und Fauna angesiedelt, das ökologische Gleichgewicht stabilisiert. Die Extreme reichen von Nachttemperaturen von minus vierzig Grad in Halle eins bis zu Mittagswerten von plus fünfzig Grad in Halle acht. Luftfeuchtigkeit, Lichteinfall und Niederschläge entsprechen weitgehend den natürlichen Gegebenheiten, nur die UV-Strahlung liegt um etwa achtzig Prozent höher, vor allem der Anteil an UV-B und UV-C, da unsere Physiker mit einer teilweisen Zerstörung der
Ozonsperrschicht der Atmosphäre rechnen." „Ist ja höchst interessant! Und in diese Hallen jagen Sie Ihre Kunstmenschen hinein?" „So ist es. Natürlich interessiert uns ganz besonders das soziale Verhalten der Homunkuli. In keiner der Klimazonen haben Einzelwesen eine Chance zu überleben. Deshalb sind die Beobachter zum größten Teil Sozielogen." „Die Homunkuli müssen sich in den einzelnen Hallen selbständig ernähren?" „Nein, nicht ganz. Wir geben zusätzliche Nahrungsmittel, da die Ökologie in den vergleichsweise kleinen Kavernen die Eigenversorgung einer größeren Anzahl Homunkuli nicht erlaubt. Die gebotenen Nahrungsmittel decken jedoch höchstens siebzig Prozent des tatsächlichen Bedarfs. Wir zwingen diese Gesellschaft also, ihrer Umwelt Nahrung abzugewinnen ohne sie dabei zerstören zu müssen." „Leuchtet mir alles ein, Walker. Bis auf Ihren Gefrierraum! Vierzig Grad minus in der Nacht! Das hält doch niemand aus! Meinen Sie denn ernsthaft, wir setzen ausgerechnet an den Polen Menschen aus?" „Ich gebe durchaus zu, daß es die Homunkuli im polaren und subpolaren Klima besonders schwer haben, sich zu behaupten. Wir rechnen auch mit relativ hohen Verlusten. Aber gerade diese Tests sind besonders wichtig. Meine Physiker behaupten, dort ginge die Strahlenbelastung zuerst auf ein erträgliches Maß herunter. Erstens bekomme die Polarregion nicht soviel ab wie Europa oder Afrika, und zweitens werde wegen des Magnetfeldes der Erde die Strahlung dort schneller abgebaut." „Vierzig Grad Kälte!" Konteradmiral Duffield schüttelte sich. „Wir haben diesen Test allerdings erst für später vorgesehen", erklärte Walker beruhigend. „Mit den ersten tausend Homunkuli wollen wir vorsichtig umgehen."
59 Auszüge aus den Protokollen Doktor Mimlitschs, Leiter des Teiltestprogrammes A/IV: vierter april 2039, sechs uhr. ausgesetzt wurden die homunkuli III/1 bis III/350, eine soziologische struktur der gruppe war nicht feststellbar. die homunkuli verteilten sich zunächst völlig ziellos im gelände. die kommunikation zwischen ihnen war sporadisch und überwiegend auf gesten beschränkt, die in der kaverne IV wuchernden pflanzen wurden hin und wieder auf ihre genießbarkeit untersucht, als die temperatur von den ursprünglichen zwanzig grad celsius auf vier-
zehn grad abgesenkt wurde, drängten sich die homunkuli unter höhlenvorsprünge und wärmten sich gegenseitig, sie machten keinen gebrauch von einem feuer, das von der versuchs-leitung in einer ecke der kaverne unterhalten wurde, unerwarteter fehler in der gehirnprägung, da ihnen der umgang mit feuer geläufig sein müßte. fünfter april 2039. bedingt durch die niedrigen temperaturen, kam es zum ersten todesopfer der versuchsserie. III/177 hatte die nacht nicht überlebt, die kommunikationsversuche innerhalb der homunkuligruppe verstärkten sich. herumliegende holzteile wurden aufgelesen. III/39 begann mit der herstellung eines werkzeuges aus stein. eine art faustkeil zur bearbeitung der holzteile. nach einigen bearbeitungsversuchen gab jedoch III/39 die weiterbearbeitung des steines auf und spitzte die hölzer mit den zahnen an. erste zielübungen auf kaninchen. wir schalteten regen ein. die homunkuli stellten die begonnenen tätigkeiten sofort ein und flüchteten sich unter höhlen-vorsprünge. wenigstens diese prägung funktionierte ausgezeichnet. professor jazdani war mit den leistungen seiner schützlinge denkbar unzufrieden. auch oberst walker schien bessere resultate erwartet zu haben. die homunkuli beherrschten viele der fertigkeiten nicht, die ihnen aufgeprägt worden waren. in der nacht senkten wir die temperaturen erstmals unter den gefrierpunkt ab. auch diesmal drängten sich die homunkuli wieder eng aneinander, ohne das feuer zu benutzen, trotzdem gab es mit III/18 und III/271 erstaunlich wenige kälteopfer. sechster april 2039. wir konnten beobachten, wie sich eine kleine gruppe der homunkuli absonderte, offensichtlich gab es zwischen ihnen eine besonders rege sprachliche verständigung, überaus aktiv wieder III/39. sollte es doch zu geistigen differenzierungen gekommen sein? die einzelnen teilnehmer dieser beratung sammelten anschließend andere homunkuli um sich. es sah aus, als würden die beratungsergebnisse weitergegeben. es kam zu ersten zielgerichteten arbeitsleistungen. aus dem aufgesammelten holz wurde eine art schutzzaun aufgebaut. innerhalb dieses abgegrenzten gebietes wurden andere holzstükke zu einem stoß aufgeschichtet. ohne scheu näherte sich eine kleine gruppe unter führung von III/39 dem feuer und erprobte, auf welche weise die flamme gefahrlos zum holzstapel zu transportieren sei. es sah aus, als würden sie sich plötzlich an ihre prägung erinnern. starkes interesse einer anderen gruppe an den ausgesetzten tieren. diese horde fing schließlich ein kaninchen mit einer art fallgrube. wir konnten beobachten, daß der anführer dieser gruppe, III/304, das der gleichmäßig unter den jägern verteilte. andere grüppchen untersuchten den pflanzenbestand sorgfältig auf samenkörner. bemerkenswert, daß nicht alle gefundenen samen sofort verzehrt wurden.
ansätze zur vorratswirtschaft? wir konnten mehr und mehr aufgabenstellungen abhaken, die die homunkuli eigentlich beherrschen mußten. kommt das eingeprägte wissen erst am dritten tag nach der abnabelung richtig zur wirkung? wir führten die tägliche ration nahrungsmittel zu. sie wurde unter den einzelnen horden verteilt, deren zusammensetzung allerdings noch keineswegs konstant war. erste versuche, kleidungsstücke aus pflanzenteilen herzustellen. offensichtlich ist die uv-strahlung recht hoch, denn viele der kunstmenschen litten unter starkem sonnenbrand. professor jazdani notierte, daß in den folgenden versuchsreihen die pigmentierung der haut wesentlich erhöht werden müsse. dabei hatten wir den versuch noch nicht einmal mit vollem uv-anteil gefahren. zu beginn der dunkelheit und mit dem absinken der temperatur versammelten sich die einzelnen horden innerhalb der umfriedung und entzündeten eine art lagerfeuer. mit hilfe der restlichtverstärker konnten wir gut beobachten, daß beute -tiere zerteilt und geröstet wurden. die gruppe der jäger um III/304 war überraschend erfolgreich gewesen. alle horden wurden an der mahlzeit beteiligt. dafür bot die horde unter III/39 körnerfrüchte und eßbare pflanzenteile zum tausch. das gemeinschaftsieben innerhalb der homunkuligesell-schaft verlief bisher erstaunlich friedlich, obwohl der tägliche kalorienbedarf durch die erbeuteten nahrungsmittel noch nicht gedeckt werden konnte und die kunstmenschen unter hunger leiden mußten. homunkuliverluste in dieser nacht: III/21, III/32, III/348 und III/113, wahrscheinlich schon folgen einer gewissen unterernährung, siebenter april 2039. immer deutlicher bildeten sich zwei führungspersönlichkeiten heraus, III/304 und III/39. dabei tendierte III/304 mehr zum jagdwesen, III/39 begann den boden zu bearbeiten. wir stellten fest, daß die zusammensetzungen der einzelnen gruppen nicht mehr so stark schwankten wie am anfang. die teile der erbeuteten tiere wurden zu kleidungsstücken verarbeitet, was unsere beobachtung allmählich zu erschweren begann. man konnte die rückentätowierung nicht mehr ohne weiteres lesen. zwischen der gruppe unter III/304 und der unter III/39 bildete sich ein regelrechter tauschhandel heraus. tierhaltung in der gruppe von III/304, ein kaninchen in einem selbstgebauten käfig. achter april 2039. abschließender bericht über das testprogramm A/IV mit der Versuchsserie III: 1. die rebesiedlung ökologisch halbwegs intakter gebiete im temperaturbereich zwischen plus dreißig und minus zwanzig grad (gemäßigte klimazonen) durch homunkuli der Versuchsreihe III ist möglich. 2. der einsatz dieser homunkuli mit dem intelligenzquotienten 105 führt zur bildung einer steinzeitähnlichen, sich jedoch
rasch entfaltenden agrargesellschaft, die den eigenen nahrungsbedarf zweifelsfrei decken kann. es ist zu empfehlen, zwischen abnabelung und einsatz einen zeitraum von mindestens drei tagen vergehen zu lassen. neunter april 2039. auf anweisung oberst walkers und professor jazdanis wurden die homunkuli der versuchsreihe III aus dem testpro-gramm A/IV herausgenommen, der test wurde durch ein-leitung von kohlendioxid in der kaverne beendet, die homunkuli der versuchsreihe III wurden durch absenken ihrer körpertemperatur auf vier grad celsius in minimalstoff-wechsel versetzt und zum späteren einsatz in den kühlraum eingelagert.
60 In den Morgenstunden des vierten Mai 2039 fand in einem Einzelzimmer des Pflegetrakts am Institut für experimentelle und Wiederherstellungschirurgie der Universität Wien eine Pressekonferenz statt, zu der, wie an diesem Institut üblich, nur medizinisch ausgebildete Journalisten führender Fachzeitschriften Zutritt hatten. Diese Maßnahme entsprach den Traditionen des Institutes von seiner Gründung an. Die Forschungseinrichtung für experimentelle und Wiederherstellungschirurgie der Internationalen Akademie für Naturwissenschaften hatte die strengsten Akkreditierungsvorschriften aller wissenschaftlichen Einrichtungen der Akademie. Eine der Voraussetzungen, hier akkreditiert zu werden, war ein abgeschlossenes Medizinstudium, um jede Sensationshascherei, die der Arbeit des Institutes nur schaden konnte, durch eine sachliche und fachlich richtige Informationspolitik auszuschließen. Die anwesenden Medizinjournalisten waren es gewohnt, objektiv und regelmäßig über neueste Forschungsergebnisse, auch über Rückschläge bei einzelnen Projekten informiert zu werden. Falls es vom Institut gefordert wurde, konnte man sich auf ihre Diskretion absolut verlassen. Sie erwarteten keine Sensationsdarstellungen, sie erwarteten ein wirklichkeitsgerechtes Bild solider, nutzbringender medizinischer Forschungsarbeit. Auch an diesem vierten Mai erwarteten sie keine Sensation. Und es deutete auch nichts auf Außergewöhnliches hin. Ein einfaches, zweckmäßig eingerichtetes Krankenzimmer wie Dutzende anderer am Wiener Institut, ein älterer, freundlich lächelnder Patient, ein dreiköpfiges Wissenschaftlerteam und, vielleicht die einzige Besonderheit, Professor Uzo Nakamura als Vertreter der Internationalen Akademie.
Professor Nakamura begrüßte die Kollegen der internationalen Fachpresse. „Es mag Ihnen ungewöhnlich vorkommen, verehrte Kollegen, aber zum Beginn unserer kleinen Informationsveranstaltung möchte ich dem Patienten das Wort erteilen und ihn bitten, seinen Fall aus seiner eigenen, subjektiven Sicht zu schildern. Bitte, Herr Stamm!" Der Patient, sichtlich stolz über solch unerwartete Popularität, setzte sich im Bett auf und begann zu berichten: „Also, ich heiße Hubert Stamm und stamme hier aus Wien, genau aus dem siebenundachtzigsten Bezirk, etwa vierzig Kilometer vom Stadtkern entfernt. Ich bin diplomierter Ingenieur und arbeite in der technischen Überwachungszentrale der nationalen Sicherheitsbehörde für die Chemieindustrie. Nur noch drei Stunden am Tag, schließlich bin ich schon fünfundfünfzig, also schon seit fünf Jahren Pensionär. Aber man hat seine Arbeit halt liebgewonnen, da trennt man sich nicht so leicht. Also, ich überprüfte am zweiundzwanzigsten Dezember, zwei Tage vor Weihnachten, das Kühlsystem des thermoplastischen Kombinates Süd vier, in dem die automatischen Sicherheitsanlagen kleine Unregelmäßigkeiten gemeldet hatten. Also, ich fuhr den vorgeschriebenen achtfachen Überdruck auf den Rohrleitungen und beobachtete die Instrumente, da riß plötzlich ein Sicherheitsventil auf, das Kühlmittel spritzte in den Raum, der Schieberflansch flog wie ein Granatsplitter durch die Gegend, ein Ding von einem halben Meter Länge, mit messerscharfen Kanten, prallte gegen die Wand, von dort zurück und schlug mir den Arm ab. Es kam mir vor wie ein Witz, ich mußte im ersten Moment lachen. Der Arm war ab, ich fühlte absolut keinen Schmerz, es war nur unheimlich warm, und ich begann zu fürchten, langsam verbluten zu müssen. Einige Leute schrien auf, zwei Monteure sprangen hinzu, regelten den Druck herunter, dann verlor ich das Bewußtsein. Ich kam genau am vierundzwanzigsten Dezember abends wieder zu mir. Die Ärzte hatten mir das schönste Weihnachtsgeschenk gemacht, was sich denken ließ, sie hatten mir meinen Arm wieder angeflickt!" Die Medizinjournalisten schrieben eifrig mit, ein Teil von ihnen tippte auf eine verfeinerte kosmetische Operationsmethode, da auf den Armen des Patienten Stamm keine Narben zu entdecken waren. Auf jeden Fall mußte es sich um eine großartige mikrochirurgische Arbeit handeln, da Stamm während seiner Schilderung beide Arme anscheinend mühelos bewegt hatte, auch seine Finger. „Leider geht Weihnachten immer sehr schnell vorbei, und auch die Freude über meinen rechten Arm dauerte nicht lange", fuhr der Ingenieur fort. „Ich bekam bald unerträgliche Schmerzen, die Finger schwollen an, wurden blau, dann schwarz, ich verlor jegliches Gefühl im Arm. Nur die Schmerzen, also die Schmerzen, die wurden immer stärker. Wirklich unerträglich.
Wie Nadelstiche. Und gestunken hat die Wunde. Es war, als wolle der Arm an meinem Körper verwesen. Am neunzehnten Januar mußte also mein rechter Arm", der Patient winkte mit der rechten Hand, „endgültig amputiert werden!" Verdutzte Gesichter der Fachjournalisten, Antwort heischende Blicke in Richtung der Wissenschaftlergruppe. „Die Amputation verlief ohne Zwischenfälle, ich hatte mich schon damit abgefunden, den Rest meines Lebens als Krüppel durch unser schönes Wien laufen zu müssen, da begannen die Versuche dieses Teams an der Klinik. Und ich möchte der Gruppe von ganzem Herzen danken, daß sie mich so schön wieder hinbekommen hat! Soviel Mühe um den Arm eines alten Mannes! Ich weiß wirklich nicht, wie ich Ihnen danken soll!" Die Medizinjournalisten waren aufgesprungen und betrachteten sich den makellos gewachsenen, angeblich amputierten rechten Arm des Patienten Stamm. „Sie wollen ernsthaft behaupten", wandte sich einer von ihnen an Professor Nakamura, „daß an diesem Arm operiert wurde? Oder handelt es sich um eine neue Methode der Prothetik, die Sie uns vorstellen wollen?" Der Journalist zwickte den Patienten in den rechten Arm. „Au!" protestierte lachend Hubert Stamm. „Ich zwicke Sie doch auch nicht!" Gelächter im Krankenzimmer. „Die Erklärung folgt sofort, liebe Kollegen", beschwichtigte Professor Nakamura. „Erlauben Sie, daß ich Ihnen zuerst unsere Forschungsgruppe vorstelle, die Leiterin des Kollektivs, Kollegin Doktor Wanderfeld, und die Kollegen Doktor Edmondson und Albert Estling." Bis auf Doktor Edmondson, deren Schwangerschaft selbst im Sitzen nicht mehr zu übersehen war, erhoben sich die amerikanischen Wissenschaftler bei den Worten Nakamuras. „Ah, die amerikanischen Kollegen, die Sie uns solange vorenthalten haben!" „Auf Wunsch Doktor Wanderfelds", zog sich Nakamura höflich lächelnd aus der Affäre. Doktor Solveg Wanderfeld nahm das Wort, und sofort griffen die Pressevertreter nach Notizblock und Stift. „Ich möchte Sie um Verständnis bitten, daß wir nach unserer Ankunft hier ein wenig pressescheu waren. Wir hatten nach dem Zwischenfall am Institut Jazdani, an den Sie sich sicher erinnern, nicht die besten Erfahrungen mit Journalisten gemacht. Und außerdem, unsere Arbeiten standen durch das Zeitlimit des Genehmigungsausschusses unter außerordentlichem Druck." „Doktor Wanderfeld", bestürmte sie der Vertreter des englischen „Experimental surgery", „gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem Unfall und Ihren hiesigen Arbeiten, wenn Sie schon von sich aus die Jazdani-
Katastrophe ansprechen?" „Sicherlich", antwortete Solveg Wanderfeld. „Ohne Virusausbruch hätte es keine Auflösung des Institutes gegeben und natürlich auch keine Gastprofessur am hiesigen Institut für experimentelle Wiederherstellungschirurgie. Und damit natürlich keine heutige Pressekonferenz. Genügt Ihnen diese Antwort", fragte Solveg unter dem Gelächter der übrigen Journalisten. „Im Fall Stamm", schaltete sich wieder Professor Nakamura ein, „hatten die Chirurgen übersehen, daß der abgerissene Arm durch eine relativ hohe Dosis Radioaktivität geschädigt worden war. Deshalb mußte der Versuch einer Retransplantation mißlingen, obwohl das rein operationstechnisch nun wirklich kein Problem mehr ist. Doktor Wanderfeld kam Ende November an dieses Institut. Sie brachte die theoretischen Grundlagen einer völlig neuen Methode mit. Man könnte sie mit „biologischer Chirurgie" umschreiben, aber ich weiß nicht, ob das den Kern trifft!" „Die entsprechenden Tierversuche waren im wesentlichen abgeschlossen", erklärte Doktor Wanderfeld, „ehe wir hierherkamen." „Um welche Art Versuche handelt es sich", wollten die Medizinjournalisten wissen. „Wir beschäftigten uns seit einiger Zeit mit der Erhöhung der Regenerationsfähigkeit spezialisierter Zellen auf genetischem Weg. Die Tierversuche dazu führten wir noch am Institut Jazdani durch. Am Wiener Institut ging es darum, diese Versuche auf ihre Anwendungsmöglichkeiten in der Humanmedizin zu überprüfen." Im Krankenzimmer des Patienten Stamm herrschte nach dem letzten Satz Doktor Wanderfelds Totenstille. Jeder der anwesenden Journalisten spürte, daß er Zeuge einer medizinischen Revolution geworden war. „Die individuelle DNS-Struktur des Patienten war für unser Vorhaben außerordentlich günstig. Nachdem wir mit Herrn Stamm gesprochen, ihm das Risiko eingehend erläutert und seine Einwilligung erhalten hatten, injezierten wir ein spezielles, individualtypisches Gemisch von Restriktionsendonukleasen und Transkriptionsderepressoren. Damit überführten wir Zellen aus dem Armstumpf des Patienten in einen embryonalen Zustand zurück. Da der Bauplan für den gesamten Organismus in jeder einzelnen Zelle verankert ist, kam es nicht wie bei einem Karzinom zu einem unregelmäßigen Wachstum, sondern es bildete sich nach und nach der Arm wieder heran. Ich kann Ihnen das an Fotos belegen, die wir während der Wachstumszeit angefertigt haben." Fast ehrfürchtig reichten die Journalisten diese einmaligen Dokumente herum, die den Patienten Stamm mit einem rechten Arm zeigten, der wie ein Höcker aus der Schulter herauswuchs, an dem Finger noch gar nicht erkennbar waren. Doch auf den folgenden Aufnahmen hatte der Arm Kin-
dergröße erreicht, und jetzt unterschied er sich in keiner Weise vom linken Arm. Ein asiatischer Journalist faßte sich als erster. „Es ist zwar hier nicht üblich, viele Zwischenfragen zu stellen. Aber diese Pressekonferenz stellt ohnehin etwas Einmaliges dar. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, genügt in Zukunft eine einzige gesunde Zelle, um ein beliebiges Organ von jeder Krankheit heilen zu können?" „Ja!" antwortete Albert Estling an Solvegs Stelle. „Die Periode der Transplantationen, gleichgültig ob natürlicher oder künstlicher Organe, mit allen ihren Problemen wie Immunbarriere oder Funktionszeitlimit wird mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Periode der biologischen Chirurgie abgelöst werden. Das ist zunächst eine sehr theoretische Aussage, denn in der Praxis sind noch weit mehr Fragen offen als bisher gelöst werden konnten. Völlig neue Operationsmethoden sind zu entwickeln. Ich denke da zum Beispiel an die Herzregeneration. Nach den Tierversuchen zu urteilen, dauert die Entwicklung dieses Organs ungefähr zehn Wochen. Bisher konnte noch nicht geklärt werden, was in dieser Zeit mit dem Patienten werden soll. Das neue Herz kann seine Funktion noch nicht erfüllen, da es viel zu klein ist. Wenn es nicht gelingt, das alte Herz notdürftig in Tätigkeit zu halten, bleibt nur der Anschluß an die Herz-Lungen-Maschine. Und das wiederum ist sehr risikovoll!" „Das gesamte Institut für experimentelle und Wiederherstellungschirurgie erprobt zur Zeit die Anwendungsmöglichkeiten und die Grenzen der Wanderfeldschen Methode", setzte Professor Nakamura hinzu. „Alle anderen Forschungsprojekte wurden entweder gestoppt, weil sie sich durch einen Erfolg der biologischen Chirurgie von selbst erledigen würden, oder aber an andere Institute verlagert. Doch selbst wenn sich nur zwanzig Prozent unserer Hoffnungen erfüllen sollten, dann steht die Medizin vor ihrer bedeutungsvollsten Umwälzung. Eine Unzahl von Krankheiten wird endgültig heilbar sein, schwerste Organleiden wie Leberzirrhose, Herzinfarkte, alle Organkarzinome, selbst bisher tödliche Unfälle haben durchaus gute Genesungschancen. Ja", fuhr er nachdenklich fort, „möglicherweise ist diese Entdeckung der erste Schritt dahin, den Individualtod des Menschen endgültig zu besiegen!" „Entschuldigen Sie, wenn ich widerspreche, Professor Nakamura", sagte Ethel Edmondson leise. „Wir wollen den Tod nicht abschaffen. Wenn auf dieser Welt nicht mehr gestorben wird, dann darf auch nicht mehr geboren werden. Eine Welt ohne Kinder. Können Sie sich das vorstellen? Möchten Sie in einer solchen Welt ohne Kinder leben?" Auch diesen Satz notierten die Journalisten. Einige unterstrichen ihn sogar.
„Sie sehen, meine Damen und Herren", sagte Solveg, „unsere Arbeit wirft Fragen auf, die wir als Mediziner oder Biologen nicht allein beantworten können, die vielleicht keine Disziplin allein beantworten kann, vielleicht nicht einmal die Wissenschaft in ihrer Gesamtheit. Weil es zu viele Fragen sein werden und weil es möglicherweise noch viel mehr Antworten geben kann." „Doktor Wanderfeld", fragte der asiatische Kollege, „wie sicher schließen Sie die Möglichkeit aus, mit Hilfe Ihrer Methode aus einzelnen Zellen nicht Organe oder Gliedmaßen zu regenerieren, sondern komplette Menschen?" Die drei amerikanischen Wissenschaftler und Professor Nakamura sahen sich betroffen an. „Im Prinzip gibt es da keinen Unterschied", gab Ethel zu. „Man könnte es sofort tun!" „Das ist eine der Fragen, auf die weder Mediziner noch Biologen oder Genetiker eine schlüssige Antwort geben können. Freilich, nach unserer Methode sind Eingriffe in den Genpol des Menschen möglich. Aber wir werden solche Eingriffe nicht vornehmen. Und ich hoffe, niemand wird es tun!" Doktor Wanderfeld sagte das so ernst, daß die Journalisten aufmerksam wurden. „Ich verstehe Ihre Frage sehr gut, Kollege Doktor Itschika", antwortete Professor Nakamura. „Und ich kann Ihnen sagen, wenn vor fünfzig Jahren ein Genetiker mit einer solchen Möglichkeit gekommen wäre, dann wäre es auch mir eiskalt den Rücken heruntergelaufen. Denn der Mißbrauch, der militärische zumal, liegt bei dieser Entdeckung auf der Hand. Aber schließlich leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert, die Wissenschaftler der gesamten Erde arbeiten weitgehend friedlich zusammen, die Politiker aller Staaten, ich betone aller, beraten in Genf über die totale Auflösung ihrer Armeen. Ich persönlich halte die gesellschaftliche Entwicklung für fortgeschritten genug, die Widersprüche für lösbar. Damit will ich nicht gesagt haben, daß ich mir keine Sorgen um eine etwaige mißbräuchliche Anwendung des Verfahrens machen würde. Wir haben ohne Zweifel Sprengstoff in der Hand. Aber bedenken Sie bitte, daß der gegenwärtige Forschungsstand im Grenzgebiet zwischen Biologie und Medizin die Entdeckung der biologischen Chirurgie praktisch auf die Tagesordnung setzte. Wissenschaftliche Erkenntnisse lassen sich nicht verheimlichen. Auch, wenn man das manchmal gern täte und wenn Grund zu ernsten Sorgen besteht. Man muß im Gegenteil die Öffentlichkeit informieren, um einen Mißbrauch weitgehend zu verhindern. Sie entschuldigen, aber mit jedem weiteren Satz würde ich meine Kompetenzen überschreiten!" Sekunden ernsten Schweigens. Die Pressevertreter hatten begriffen. Sprengstoff, ja. Aber wer hatte die Zündschnur in der Hand? Der Appell an die
Öffentlichkeit war unmißverständlich. Man würde Aufmerksamkeit walten lassen müssen. „Wir möchten Sie besonders bitten", sagte Solveg, „in Ihren Berichten ausdrücklich zu betonen, daß die Forschungsarbeiten noch am Anfang stehen, daß unser Institut Überweisungen schwerstkranker Patienten noch nicht annehmen kann. Wir können auch leider noch nicht alle Hoffnungen erfüllen. Es tut uns leid für jeden, den wir abweisen müssen. Aber Jahre intensivster Arbeit liegen vor uns, und je schneller wir arbeiten können, urn so eher wird die biologische Chirurgie zum medizinischen Allgemeingut werden. Immerhin muß fast das gesamte Lehrgebäude der Medizin umgeschrieben werden, eine Aufgabe für viele kommende Generationen von Ärzten!" Viele der Medizinjournalisten begriffen erst Stunden später in aller Tragweite, was sie am Morgen des vierten Mai 2039 miterleben durften.
61 Doktor Nace und Professor Claverie trafen sich täglich fünf Minuten vor eins auf dem Weg zur Kantine für das wissenschaftliche Personal. Das war schon Tradition, Pünktlichkeit mit der Genauigkeit zweier Quarzuhren. Professor Claverie war Leiter des Testprogramms B und für gewöhnlich ein ziemlich wortkarger Mensch. Aber seitdem er dieses Testprogramm leitete, hatte sich das Verhalten des Professors völlig verändert. Er erlebte zum erstenmal, daß seine wissenschaftliche Fachrichtung, und damit er persönlich, die Anerkennung fand, die ihr gebührte. Zum erstenmal, daß sein umfangreiches Spezialwissen wirklich gebraucht wurde. Professor Claverie war Industriehistoriker, Vertreter einer Disziplin, die an den technischen Hochschulen ein Schattendasein fristete, von Kollegen und Studenten gleich wenig beachtet. Zuweilen sogar belächelt. Museumsverwalter. Die Vorlesung an der Hochschule, die den geringsten Besuch hatte. Von Seminaren gar nicht zu reden. Nutzlose Spielerei im Grunde, das war die allgemeine Meinung der Studenten über das Fach Industriegeschichte. Ein Zustand, unter dem Professor Claverie litt, der ihn, ohne zu übertreiben, selbst körperlich zu quälen schien. Und da plötzlich war die Armee auf ihn zugekommen und hatte ihn gefragt: „Willst du an einem unserer Großprojekte mitarbeiten? Es dauert aber mindestens fünf Jahre und du wirst aus Gründen der Geheimhaltung die Hochschule verlassen müssen! Und du mußt außergewöhnlich perfekt sein, eine Zuckerfabrik aus dem zwanzigsten Jahrhundert aufbauen und aus Trümmern die Kopie des modernsten Stahlwerkes der Welt. Das alles mit Laien, und es muß trotzdem funktionieren. Wir können nicht irgendwen einstellen!"
Claverie warf seine Besucher erst einmal hinaus. Eine Unverschämtheit, ihn werben zu wollen und gleichzeitig an seinen Fähigkeiten zu zweifeln. Zukkerfabriken, zwanzigstes Jahrhundert! Bis auf die letzte Schraube genau konnte er eine solche Anlage erstellen! Daß alle Welt die Fähigkeiten der Industriehistoriker derart grob unterschätzte! Die Leute von der Armee kamen wieder. Natürlich wisse man, daß er, Professor Claverie, der richtige Mann sei. Nicht ohne Grund sei man so hartnäckig! Claverie fühlte sich geschmeichelt, und die fünf Jahre Einsamkeit würden ihm als Junggesellen nicht weh tun. Er sagte zu. Erst viel, viel später erfuhr er von den Homunkuli, erkannte seine Rolle in einem Spiel, das er nicht mitgespielt hätte, wenn man ihm von Anfang an reinen Wein eingeschenkt hätte. Aber das, bitte schön, lag in der Verantwortung der Genetiker. Und der Armee natürlich. Er selbst hatte damit nichts zu tun. Er war lediglich der Industriehistoriker. Und von seiner Warte aus gesehen, war es wirklich verblüffend, zu welchen Leistungen diese Kunstmenschen fähig waren. Natürlich auch, zu welchen Leistungen man ihn selbst herausgefordert hatte, denn bei Zuckerfabriken war es natürlich nicht geblieben. Stahlwerke waren dazugekommen und kerntechnische Anlagen. Abgesehen von diesen Homunkuli also, fühlte sich Professor Claverie so wohl wie noch nie in seinem Leben. Und mit dem jungen Doktor Nace verstand er sich von der ersten Stunde an besonders gut. Nicht nur, weil er und Nace Zimmernachbarn waren und allein deshalb persönliche Kontakte nahezu unvermeidbar waren, dieser Nace konnte zuhören, eine Eigenschaft, die Professor Claverie über alles schätzte. Jetzt, wo es so viel mitzuteilen gab. „Stellen Sie sich vor, Nace", begrüßte er den Genetiker, „in ein paar Tagen werden wir den ersten hausgemachten Zucker in den Frühstückskaffee rühren können. Ihre Homunkuli kommen ganz ausgezeichnet voran!" „Das freut mich für Sie", antwortete Nace. „Nein, nein, nicht so bescheiden, mein Lieber Nace. Ihre Geschöpfe gehen ganz systematisch heran. Erarbeiten sich einen Plan, verschaffen sich einen Überblick über die Anlage und rekonstruieren dann von Grund auf. Ausgebildete Ingenieure könnten es nicht besser. Ganz im Gegenteil! Bei der Qualität unserer Ingenieurausbildung! Na ja, die Versuchsreihe III war ein gewaltiger Schuß in den Ofen. Aber die IV ist euch phantastisch gelungen, ein Meisterwerk! Wandelnde technische Lexika!" „Geht es am Stahlwerk voran?" wollte Nace wissen. „Ausgezeichnet", erzählte Claverie begeistert. „Ich habe achthundert Mann eingesetzt. Sie sollten sich wirklich einmal ansehen, mit welcher Präzision und Ausdauer die den Schutt forträumen, die Transportprobleme lösen, den
Ofen instand setzen. Bei gleichbleibendem Tempo noch vier Wochen. Schade eigentlich, daß wir in dieser Anlage niemals Stahl herstellen werden! Was ich Sie schon lange fragen wollte, Nace, was geschieht eigentlich mit den Homunkuli, wenn die Tests abgeschlossen sind?" „Das ist ganz einfach, Claverie. Wir drosseln den Stoffwechsel auf ein Mindestmaß herunter, schalten sie sozusagen auf Sparflamme und lagern sie in den Kühlräumen ein. Nach vier Monaten bekommen Sie sie zurück. Wir wollen testen, ob sie unter der Anabiose ihre Fähigkeiten gespeichert haben oder nicht." „Teufelskerle, ihr Genetiker", sagte Claverie. „Trotzdem, ich würde es nicht machen. Sind doch fast schon Menschen, diese Wesen, ganz ehrlich!"
62 Der Abschirmdienst gab nicht auf. Oberst Walker gab niemals auf, ganz im Gegenteil. Jetzt hatte man sogar zwei Anhaltspunkte. Doktor Sveder in Nakina, Doktor Witt in Santa Monica. Irgendwelche Gemeinsamkeiten mußte es zwischen diesen beiden Männern geben, man mußte nur richtig zu suchen wissen. In solchen Aktionen hatte der Apparat Übung. Das war Kleinarbeit, Spezialistensache, am Anfang immer ziemlich hoffnungslos, aber wenn man penetrant genug in die Umgebung eines Menschen eingedrungen war, und jeder Mensch hatte seinen eigenen, unverwechselbaren Umkreis, dann ergaben sich oft erstaunliche Bilder. Vielleicht, so hoffte der Oberst, würde der Apparat in den Bildern über Sveder und Witt Einzelheiten entdecken, die sich ähnelten, Auffälligkeiten, denen nachzugehen sich lohnte, und so dem nächsten Kettenglied auf die Spur kommen. Nur Geduld mußte man mitbringen, viel Geduld. Das Wild beobachten können, ohne es zu vergrämen. Korrespondenzen überprüfen, Kontoauszüge sichten, nach Erklärungen für Einnahmen und Ausgaben suchen, das Normale vom Außergewöhnlichen trennen, den Bekanntenkreis unter die Lupe nehmen, unauffällig, aber gründlich. Und niemanden vergessen, der in den letzten zehn Jahren mehr als drei Sätze mit beiden Ärzten gewechselt hatte. Nach Kontakten mit dem Ausland suchen, dienstliche Beziehungen, individuelle Gewohnheiten kennenlernen. Einen Sveder und einen Witt aus Glas herstellen. Und man fand tatsächlich eine Gemeinsamkeit, die die ganze scheinbar sinnlose Kleinarbeit plötzlich lohnend erscheinen ließ. Vor einigen Monaten hatte die Krankenschwester Ellen Ann Lewis das Klinikum in Santa Monica verlassen. Eine ganz normale Kündigung, ohne Auffälligkeit. Aber, Nachbarn Doktor Sveders erkannten sie unter den vielen Bildern als die junge Frau wieder, die wochenlang in der Villa des Arztes ein- und ausgegangen
war. Wenn man an einer Kette nur richtig zog, bekam man zwangsläufig das nächste Glied in die Hand. Oberst Walker war mit sich und seinem Apparat sehr zufrieden.
63 Fred Vallon war ein Typ, der sich in allen Sätteln zu Hause fühlte. Vor allem, wenn es sich um militärische Sättel handelte. Da konnte man ihm ein Pferd unterschnallen, wie man es wollte, Fred Vallon würde darauf sitzen bleiben wie angegossen. Vallon konnte sich ein Leben ohne Armeesattel unter dem Hintern nicht mehr vorstellen. Die Armee bot dem Mann alles, wonach er sich sehnte. Feste Regeln, ein System von Befehl und Gehorsam, Geborgenheit in der gleichuniformierten, gleichdenkenden Menge und ab und zu das prickelnde Risiko eines Einsatzes irgendwo in der Welt. Konnte es für einen Mann eine gesichertere Basis geben, ein gefügteres Leben und zugleich ein größeres Abenteuer als das, was die Armee bot? Und noch dazu für gutes Geld bot? Fred Vallon, Jahrgang neunundachtzig, war schon in den zwanziger Jahren aus der regulären Armee ausgeschieden und zum Abschirmdienst übergewechselt. Vor allem des Abenteuers wegen, des Risikos, ohne das er nicht mehr leben wollte. Von da ab wies sein elektronischer Personalbogen nicht wenige Lücken auf. Auslandseinsätze, während deren er manchmal Kopf und Kragen riskiert hatte, Inlandseinsätze, von denen außer ihm und seinem unmittelbaren Vorgesetzten niemand wußte und bei denen er oft wochenlang vor der Bundespolizei auf der Flucht gewesen war, weil ein „Unfall" halt nicht perfekt genug nach einem Unfall ausgesehen hatte. Denn gegen Pannen gab es für einen Mitarbeiter keine Versicherung. Da konnte man sich nicht einfach mit den Worten „Befehl ausgeführt" unter den Schutz der Truppe stellen. Später war Fred Vallon Ausbilder des Abschirmdienstes geworden, hatte jahrelang Bewerber geschunden, später schinden lassen. Man mußte hart werden in der Ausbildung, oder man würde im Einsatz zerbrechen, er hatte Männer aus ihnen gemacht, die vor absolut keiner Aufgabe zurückschreckten, wenn es galt, einen Befehl zu erfüllen. Vallon war nach einigen Jahren zum Ausbildungsleiter des Abschirmdienstes avanciert, weil die von ihm geschulten Leute nachweislich die höchsten Erfolgsquoten aufzuweisen hatten. So war die Ausbildung der Geheimdienstkader zu seinem ganzen Stolz, zu seiner Lebensaufgabe geworden. Deshalb gab es für ihn keine größere Auszeichnung als die, das Testprogramm C im Zweigwerk 34P/37 leiten zu dürfen. Was für ein wunderbares Menschenmaterial würde durch seine Hände gehen, durch ihn den letzten
Schliff erhalten! Eine Truppe würde er da aufbauen, die die Welt das Fürchten lehren sollte. Auf das Testprogramm C hatte er sich in den Monaten, bevor die Versuchsserie III abgenabelt werden konnte, vorbereitet wie noch nie auf etwas in seinem Leben. Er hatte Ausbildungspläne entworfen, das Handwerk Krieg sorgfältig in seine erlernbaren Teile zergliedert, Handwerk zum Kunsthandwerk gesteigert, Schliff zum Filigran verfeinert. Jeder andere Ausbildungschef hätte ihn um diese Pläne beneidet. Seine eigenen Unterleutnants hatte er geschunden, durch das Sieb seiner extremen Belastungen waren mehr als die Hälfte der vorgesehenen Ausbilder gefallen. Aber der Rest, von Rest konnte bei dieser Elite keine Rede sein, der Rest würde auf einen Wink Vallons, ohne zu fragen, Berge versetzen. Alles war bis hin zum kleinsten Detail geplant. Und dann kamen sie. Am fünften April 2039 wurden dem Leiter des Testprogramms C die Homunkuli III/600 bis III/1014 übergeben. Der körperliche Zustand war ausgezeichnet. Vallon verteilte den Haufen an seine Unterleutnants. Unterkünfte wurden bezogen, die Kunstmenschen eingekleidet, Ordnung in der Ausbildungskaserne geschaffen. Das übliche heillose Durcheinander eines ersten Ausbildungstages. Aber schon am Abend sahen die Spinde aus wie die der Kadetten der Militärakademie von West Point, in den Gängen konnte man sich auf dem Fußboden spiegeln, selbst mit weißen Handschuhen, und die hatte Fred Vallon bei Stubeninspektionen stets bei sich, ließ sich kein Staub finden. Nicht in den Heizkörperrippen, nicht auf der Lampe, in den Spinden schon gar nicht. Vallon war zufrieden. Der erste Schritt zur Menschwerdung der Homunkuli war getan. Sechster April, drei Uhr nachts, Alarmübung. Fluchende Unterleutnants, die mit dieser Schikane in der ersten Nacht nicht gerechnet hatten, hilflose Homunkulimassen, die mit viel Geschrei in Marschkolonnen aufgeteilt werden mußten. Und dann ging der erste Gewaltmarsch los. Eiltempo durch die Kavernen, vierzig Kilometer ohne jede Pause. Zwölf Uhr Mittag, Verpflegung fassen. Den Homunkuli war die Belastung nicht einmal anzusehen. Vierzehn Uhr, Exerzierplatz. „Rechts um, links um, das Ganze kehrt!" Die Unterleutnants ließen der Wut über den Alarmmarsch freien Lauf. „Und auf, und nieder, und auf, und Gas, und Flieger von vorn, und rechts um, und links um, und das Ganze kehrt!" In stoischer Ruhe, vom Durcheinander der geschrienen Befehle, die sich an den Höhlenwänden brachen und deren Echos nicht mehr auseinanderzuhalten waren, unbeeindruckt, folgten die Homunkuli den Anweisungen ihrer Ausbilder. Vallon war begeistert. Sie lernten Laufen. Rechts um, links um! Der zweite Schritt zur Menschwerdung der Homunkuli.
Auch am siebten und achten April konnte Fred Vallon mit sich und seinem Programm sehr zufrieden sein. Die Homunkuli zeigten sich körperlichen Belastungen gewachsen, die man Menschen niemals hätte zumuten können. Über die schwierige Hindernisstrecke gingen sie schnell und gewandt wie die Katzen, im Wasser, noch dazu in voller Montur, bewegten sie sich wie die Delphine. Mit der Disziplin gab es überhaupt keinen Ärger, sie hatten nicht ständig Weiber im Kopf wie seine Unterleutnants, waren einsatzfähig zu jeder Tages- und Nachtstunde. Fred Vallon war ohne weiteres bereit zu behaupten, Homunkuli seien bessere Soldaten als Menschen. Ja, Homunkuli seien die besseren Menschen. Am neunten April begann die Schießausbildung. Und die Begeisterung Vallons wuchs sich zur Euphorie aus. Die Homunkuli Schossen mit der Exaktheit elektronischer Zielgeräte 397, 398, 399, 400 von vierhundert möglichen Ringen stehend, ohne aufzulegen. Entfernung zweihundert Meter, und das alles mit ganz gewöhnlichen Armeelasergewehren vom Typ M 412. Das hatte Vallon noch nicht erlebt! Selbst seine besten Schützen unter den Ausbildern konnten nur gelb und grün vor Neid werden. Aus den besten Soldaten bildete Vallon sofort eine kleine Sondereinheit. Ranger, wie sie im Buche standen, Kampfmaschinen sollten aus ihnen werden, Kampf- und Tötungsmaschinen. Der dritte Schritt zur Menschwerdung der Homunkuli. Er brachte der Rangertruppe alles bei, was man können mußte, um in unbekanntem, feindlichem Gebiet zu überleben. Sie lernten, aus dem Wald Nahrung zu gewinnen, sich unsichtbar und lautlos im Gelände zu bewegen, Spuren zu deuten, selbst aber keine zu hinterlassen, Flüsse, Zäune und Mauern zu überwinden, elektronische Sperrsysteme zu erkennen und abzuschalten, sich an Posten heranzuschleichen, Schlinge oder Handkante einzusetzen, lautlos zu töten und wieder zu verschwinden. Geschmeidig und gefährlich wie Raubkatzen, in schon ausweglosen Situationen plötzlich eine Waffe in der Hand zu haben und sie skrupellos einzusetzen. Im Training klappte das ausgezeichnet. Wie ein Blitz tauchte zum Beispiel III/811 aus dem Gestrüpp auf, Schlinge über den Kopf der Stoffattrappe, ein kurzer Ruck, das Opfer wäre nicht einmal zum Röcheln gekommen. Vallons Ranger verschwanden in der dichtbewachsenen Kaverne, als hätte sie der Höhlenboden verschluckt. Fred Vallon hatte ihnen alles beigebracht, was ein Einzelkämpfer im Dschungel können und wissen mußte. Nun war der Ernstfall zu proben. Ein möglicherweise tödlicher Ernstfall, was den Reiz der Sache ungemein erhöhte. Die fünfköpfige Rangertruppe III/649, III/712, III/811, III/919 und III/920 wurde etwa drei Kilometer von der Ausbildungskaserne entfernt einzeln in der riesigen Kaverne abgesetzt. Der Transport dorthin erfolgte mit verbundenen Augen. Bewaffnet mit einer Schlinge, einem Messer, einer Laserpi-
stole und der vallonschen Ausbildung. Sieh zu, Ranger, wie du unerkannt zu den Futternäpfen vordringst. Wirst du gesehen, bist du erledigt. Die Ausbilder schießen scharf, denn sie haben Angst. Angst vor dir, Ranger. Niemand wird dir einen Vorwurf machen, wenn du selbst töten mußt. Aber wenn du es in drei Tagen nicht geschafft hast, dann bist du mit Sicherheit ein toter Mann. So läuft das Spiel, Ranger! Das war am zehnten Mai 2039 gewesen. Und an diesem Tag wurde Fred Vallon aus allen seinen Illusionen gerissen, in eine Wirklichkeit zurückgerufen, die er nicht zu deuten verstand, die er nicht verstehen konnte. Passiert war folgendes: Eine Brücke über den C-Fluß im Planquadrat K 14 der Ausbildungskaverne. Weil die Ranger unterwegs waren, wurde die Brücke durch Doppelposten gesichert. Unterleutnants, die Hosen gestrichen voll vor den Homunkulirangern, mit entsicherten Laserwaffen und hellwachen Sinnen. Kein noch so unscheinbares Geräusch, nach dem sie sich nicht umgedreht hätten. Ein Scheißspiel, das Vallon mit ihnen spielte. Davon, daß man um sein nacktes Leben würde kämpfen müssen, davon stand in keinem Vertrag ein einziges Wort. Plötzlich, scheinbar aus dem Nichts, tauchte III/712 auf, in der rechten Hand die Schlinge, links das Messer. Die Posten hatten noch nichts bemerkt. III/712 setzte zum Sprung an. Die Schlinge pfiff durch die Luft, schnürte sich um den Hals des Ausbilders Harry Weiner. Weiner stürzte zu Boden, sein Kamerad, Unterleutnant Cole, riß das entsicherte Lasergewehr in Anschlag. Auf einen Meter standen sie sich gegenüber: Ranger III/712, in der rechten Hand die Schlinge um den Hals Weiners, und Cole, den Finger am Abzug seiner Waffe. Cole wußte genau, einen Ruck, die Schlinge würde sich unlösbar festziehen, Weiner müßte sterben. III/712 wußte wahrscheinlich auch, daß Weiner seine letzte Sicherheit war, daß er die Schlinge nicht zuziehen, aber auch nicht loslassen durfte. Und dann tat er etwas, was Fred Vallon zunächst nur unverständlich erschien. Er stand auf und hob die Hände. Das heißt, er wollte sie heben, denn in dem Augenblick, in dem er die Schlinge losließ, drückte Cole ab. Sicher war sicher! Vallon schrieb Ranger III/712 auf die Verlustliste und ärgerte sich zunächst nur darüber, daß der Ranger viel zu rasch aufgegeben hatte. Seine Hoffnungen zerplatzten endgültig wie Seifenblasen, als er Unterleutnant Snincak sah, der Ranger III/920 gefangengenommen hatte. Gefangenommen, so unglaublich sich die Sache anhörte. Snincak war mit einer Gruppe normaler Homunkulisoldaten unterwegs gewesen, als er plötzlich einen brennenden Schmerz an der Kehle verspürte und auf den Rücken gerissen wurde. Über ihm das erdverschmierte Gesicht eines Homunkulus, das Ende der Schlinge in der Hand. Sichtbare Anstrengungen, das Leder zuzuziehen. Snincak gelang es, das Messer des Homunkulus zu packen. Aber noch immer war
der Ranger im Vorteil, er brauchte nur zu ziehen. Die Schlinge saß genau auf Snincaks Kehlkopf. Doch irgend etwas hinderte III/920 an dieser einen Handbewegung, die bei dem Ausbilder nur ein Reflex gewesen wäre. Schließlich ließ der Ranger aus unverständlichen Gründen die Schlinge ganz los und ergab sich dem Unterleutnant. Im Eilmarsch jagte die Gruppe in die Kaserne zurück, III/920 als Gefangenen mitführend. III/649 und III/919 wurden entdeckt, als sie sich am elften Mai dem Flußufer näherten, III/919 wurde von nervösen Unterleutnants sofort erschossen, dem anderen Ranger gelang die Flucht zurück in die Waldzone der Kaverne. Wirklich unsichtbar blieb bisher nur III/811. Fred Vallon konnte noch hoffen. Hohe Verluste waren bei Einzelkämpfen normal. Und wer den ersten scharfen Einsatz überlebte, der war sozusagen unsterblich. Den konnte man hinschicken, wohin man wollte. Zwölfter Mai, zwanzig Uhr siebzehn. Der Posten am Kasernentor ging exakt seine vorgeschriebenen Schritte, so exakt, wie alle Homunkuli bisher Befehle befolgt hatten. Das Licht wurde gerade reduziert, der freie Exerzierplatz vor der Kaserne war aber noch gut zu überblicken. Was der Posten nicht erkannte, war eine der Bodenfarbe genau angepaßte Gestalt, die sich zentimeterweise auf das Kasernentor zuschob. Die Überquerung dieses Platzes mußte schon Stunden gedauert haben und war im normalen Dienstbetrieb unbemerkt geblieben. Kurz vor dem Posten sprang die Gestalt mit einem tierischen Schrei auf, ein Messer blitzte, aber der ausgestreckte Arm blieb in der Luft hängen. Der Posten riß seine Laserwaffe in Anschlag, ein Ausbilder, durch den Schrei aufmerksam geworden, gab mehrmals Feuerbefehl, aber nichts geschah. Die beiden Homunkuli standen sich bewegungslos gegenüber, senkten ihre ungleichen Waffen und wurden beide von herbeieilenden Ausbildern abgeführt. Der erste Fall von Befehlsverweigerung, den Fred Vallon im Zweigwerk 34P/37 erlebte und der sich doch von seiner normalen Befehlsverweigerung deutlich unterschied. Bis zum entscheidenden Punkt, dem Schuß aus der Laserwaffe oder dem Stoß mit dem Rangermesser, war alles programmgemäß gelaufen. Weshalb hatte der eine nicht geschossen, der andere nicht zugestoßen? Für Fred Vallon ein unlösbares Rätsel. Er erstattete dem Oberst Bericht. Sehr ungern, denn der Abschirmdienst verzieh für gewöhnlich keine Fehler. Schon gar keine, für die man keine Erklärung hatte. Der Oberst berief den wissenschaftlichen Beirat des Zweigwerkes 34P/37 ein, ein Gremium, dem außer ihm und Professor Jazdani noch Doktor Nace und die Leiter der verschiedenen Testprogramme angehörten, nicht nur Vallons wegen, es wurde generell Zeit, Zwischenbilanz über die einzelnen Programme zu ziehen. Professor Jazdani hörte sich die Berichte der Testlei-
ter an: Programm A. Die Polarregion bietet nur wenigen Homunkuli eine Überlebensmöglichkeit, die Verluste sind extrem hoch, aber eine Besiedlung ist dennoch möglich, wenn man den Homunkuli die entsprechende Ausrüstung zur Verfügung stellt. Und das sollte wohl möglich sein. Alle anderen Klimazonen zeigten sich als problemlos. Je höher der Intelligenzquotient, um so besser die Ergebnisse. Der Leiter des Testprogramms A konnte aus seinen Erfahrungen heraus das gegenwärtige Prägungsschema bestätigen. Erster Pluspunkt. Professor Claverie mit seinem Testprogramm B, dem technischen Teil der Testreihen, hatte die größten Erfolge zu vermelden. Von einem gewissen Intelligenzgrad an gab es praktisch keine unlösbaren Aufgaben für die Homunkuli. Das Prägungsprogramm konnte nicht nur allgemein bestätigt werden, es war wirklich ganz ausgezeichnet. Zweiter Pluspunkt. Vallons Bericht dagegen wirkte wie eine kalte Dusche. Weil es Schwierigkeiten gab, wo sie niemand erwartet hatte. „Erzählen Sie bitte ganz genau, Mister Vallon", forderte Professor Jazdani. „Die Ranger hatten ihren Opfern also schon die Schlinge über den Kopf geworfen?" „Und waren nicht in der Lage, zuzuziehen oder abzudrücken?" fragte auch Doktor Nace. „So könnte man sagen", gab Vallon mißmutig zu. „Jedesmal wenn es ernst wurde, versagten sie jämmerlich! Daraus werden doch niemals richtige Soldaten!" „Wir müssen schnellstens herausfinden, ob es sich um eine Kette von Zufällen oder um eine artspezifische Tötungshemmung handelt. Sollte das jedoch der Fall sein, steht uns freilich etwas bevor!" „Jazdani, das müssen Sie uns erklären!" „Ganz einfach, Oberst. Bei vielen hochentwickelten Säugetieren, vor allem bei denen, die in Gemeinschaften leben, gibt es eine unüberwindliche Hemmung, Artgenossen zu töten. Diese Hemmung scheint mir biologisch sinnvoll, weil sie den Fortbestand der Art sichern hilft. Und ich habe Grund zur Annahme, daß auch die Art Homo sapiens ursprünglich über eine solche Hemmung verfügte, die dann im Laufe ihrer gesellschaftlichen Entwicklung immer mehr abgebaut wurde, in seltenen pathologischen Fällen, etwa bei Triebmördern, sogar in das Gegenteil umschlug. Die Homunkuli haben noch keine Geschichte, noch keine Gesellschaft gebildet. Vielleicht haben sie deshalb diese starke Tötungshemmung."
„Das werden wir sehr schnell herausfinden, Jazdani!" Vallon setzte ein Militärgericht ein und verurteilte III/811 und III/776 wegen Befehlsverweigerung zum Tode. Jazdanis Befürchtungen bestätigten sich. Die gutausgebildeten Homunkulisoldaten waren nicht in der Lage, die beiden Todesurteile zu vollstrecken. Entweder setzten sie die Waffen beim Feuerbefehl einfach ab oder schössen meterweit daneben. Homunkulisoldaten, die sonst nicht um einen Millimeter verzogen. Vallon war außer sich vor Wut. Das mußte ihm passieren, ausgerechnet ihm! Er gab das entscheidende Fehlkommando. Die Todesurteile an III/776 und III/811 wurden vor den Augen der gesamten Truppe von den Ausbildern vollstreckt. Von Minute an waren die Homunkuli nicht mehr zu halten. Sie stürmten auf ihre beiden toten Kameraden zu, trugen sie in die Unterkünfte, unbeeindruckt von den Befehlen Vallons und seiner Unterleutnants. Anschließend verbarrikadierten sie sich in der Kaserne. Diese Barrikade wurde zum Symbol dessen, was von nun an zwischen ihnen und den Menschen bestand. Sie hatten den Menschen als fremdes, grausames Wesen eingestuft und aus ihrer Gemeinschaft ausgeschlossen. Nicht nur symbolisch. Das war jedenfalls die einhellige Meinung der Psychologen, die sich tagelang die Videoaufzeichnungen dieser Szenen angesehen hatten. Die Versuchsreihe III mußte aus dem Testprogramm C genommen werden. Vallon setzte nun alle Hoffnungen auf die Versuchsreihe IV. Aber die Mißerfolge mit dieser Reihe waren noch viel, viel größer. Von Anfang an gab es zwischen der Versuchsreihe IV und Vallons Leuten abgrundtiefes Mißtrauen. Vielleicht waren die Unterleutnants voreingenommen, vielleicht hatte die Versuchsreihe IV erfahren, was sich vorher in der Ausbildungskaverne abgespielt hatte, obwohl Professor Jazdani diese Möglichkeit ausschloß. Es gab auch keinen sichtbaren Weg, auf dem diese Informationen hätten weitergegeben werden können. Die Befehle wurden nur sehr zögernd, manchmal überhaupt nicht ausgeführt, und die Tötungshemmung war sogar wesentlich stärker ausgeprägt als in der Versuchsreihe III. Nicht nur Fred Vallons Gesicht drückte die miserable Stimmung aus, im Zweigwerk 34P/37 war an diesen Tagen mit allen leitenden Mitarbeitern nicht gut Kirschen essen. Nur Professor Claverie freute sich über diese wunderbaren Kunstmenschen, die mehr Verstand bewiesen hatten als Jazdani, der Oberst und noch ein Dutzend solcher Typen zusammengenommen, einschließlich seiner selbst. Aber das wagte er auch nicht Doktor Nace zu sagen, mit dem man sonst über alles reden konnte.
64 Die Zeit war nicht günstig. Beängstigende Nachrichten kamen von draußen, beunruhigende im Innern. In Genf gab es erfolgversprechende Abrüstungsverhandlungen, in den USA hatten die Gewerkschaften einen Generalstreik siegreich, ja triumphal beendet. Man mußte ihren Forderungen nachgeben, um das Land nicht an den Rand einer Katastrophe gleiten zu lassen. In dieser Situation hatte General Conchado zu einer dringlichen Besprechung in den Konferenzsaal der atomaren Planungsgruppe geladen, Codewort: „Tag X". Seiner Einladung waren General Sears, Konteradmiral Duffield, Oberst Walker, Mister Gruneisen und Mister Fisher gefolgt. Conchado eröffnete die Beratung. Das gewohnte Pathos. „Meine Herren! Gewisse Entwicklungen der letzten Zeit veranlaßten mich, Sie in tiefer Besorgnis über das Schicksal unseres großen Landes zu dieser Zusammenkunft zu bitten. Vielleicht kann uns Mister Gruneisen, der den politischen Entscheidungen näher ist als wir, einen Überblick über die gegenwärtige außenpolitische Lage geben, die weiß Gott nicht rosig ist!" Gruneisen rutschte unruhig in seinem Sessel herum. „Sie wissen, daß ich absolut nichts gegen den Plan ,Tag X' habe, daß ich alles tue, um unseren Plänen Erfolg zu verschaffen. Aber, meine Herren Militärs, das muß ich auch klar sagen, uns zerrinnt die Zeit zwischen den Fingern. Die Verhandlungen in Genf laufen trotz der abwartenden Haltung unserer Delegation außerordentlich ungünstig. Mehr als ein Verzögern der Gespräche ist kaum möglich, wenn wir nicht riskieren wollen, daß der Präsident den Verhandlungsleiter abberuft. Denn für Doneis scheint die Auflösung unserer militärischen Verbände schon längst beschlossene Sache zu sein. Der Ansatz der Verteidigungsausgaben für das Haushaltsjahr 2040/41 wurde um achtzig Prozent gekürzt. Aber das wissen Sie ja selbst. Überlegen Sie sich, was achtzig Prozent Kürzung bedeuten, das ist praktisch die Auflösung der Armee, das ist den Kommunisten direkt in die Arme gearbeitet! Wenn wir uns nicht sehr bald zum Losschlagen entschließen können, waren alle bisherigen Bemühungen und Vorbereitungen umsonst! Oder können Sie mir verraten, wie wir einen atomaren Vernichtungsschlag gegen die ganze Welt ohne Armee führen wollen, meine Herren?" Die Generale schwiegen. Die Genfer Verhandlungen! In der gesamten Armee gab es wohl keinen Offizier, der diese Verhandlungsrunde nicht am liebsten mit der Waffe in der Hand auseinandergejagt hätte. Die tollsten Gerüchte kursierten in Kasinos und Kantinen, von totaler Demobilsierung aller Armeen noch in diesem Jahr war die Rede, von der Auflösung der Staaten gar, die Bildung einer Weltregierung stehe unmittelbar bevor, die Vereinigung mit den kommunistischen Staaten sei längst beschlossene
Sache. Freilich Gerüchte, denen man keinen Glauben schenken konnte, aber schließlich steckte in jedem Gerücht ein Körnchen Wahrheit. Und diese Gerüchte wirkten sich verheerend auf die Moral der Truppe aus. Von einem Präsidenten Doneis hatte die Armeeführung ohnehin nichts zu erwarten. Die Tatsache der rigorosen Kürzung des Militäretats war nicht dazu angetan, das Vertrauen der Generalität in die politische Führung der USA zu stärken. „Oberst Walker", sagte General Conchado nach einer Weile, „wie weit sind die Versuche Professor Jazdanis gediehen?" „Rein von der Stückzahl her können wir, wenn unser Freund Fisher seine Lieferverpflichtungen endlich einhält, den Termin für den ,Tag X' auf die nächste Woche festlegen", antwortete Walker langsam und jedes Wort genau abwägend. Schließlich stand seine Karriere, seine eigene Überlebenschance am „Tag X" auf dem Spiel. Es würde dem Generalstab sicherlich schwerfallen, ihn, Oberst Walker, auszuschalten und zu ersetzen, aber unmöglich war es nicht. Walker war sich bewußt, daß man die Schuld für das Mißlingen der Homunkuliversuche auf keinen Fall bei ihm suchen durfte! Alle Blicke richteten sich auf den Handelsrat. Fisher schien in seinem tiefen Sessel ganz verschwinden zu wollen. „Es geht um ein Material, das zur Herstellung der Homunkuli notwendig ist und auf dessen Massenproduktion wir nicht vorbereitet waren. Ein Engpaß, der in der nächsten Zeit überwunden sein wird... Wir rekonstruieren die entsprechende Anlage." „Ihr Wort drauf, Handelsrat?" „Mein Wort, General Conchado!" Fisher wuchs in seinem Sessel. Daß während der Rekonstruktion überhaupt kein Espurkapazit geliefert werden konnte, danach hatte ihn zum Glück niemand gefragt, und die Rekonstruktion würde dauern, dauern, von einer Schwierigkeit in die andere taumeln. Wir wollen doch sehen, meine Herren Militärs, wer hier die Hosen anhat. Megatote! Die Aufmerksamkeit wandte sich wieder Oberst Walker zu. „Sie haben gehört, Oberst. Die General Pharmacy and Chemistry wird ihren Lieferverpflichtungen bald umfassend nachkommen. Das sollte also nicht das Problem sein!" „Nun ja", gab der Oberst zu, ,ich möchte nicht verhehlen, daß es zur Zeit mit der Einsatzfähigkeit der Homunkuli gewisse Schwierigkeiten gibt!" „Also doch Idioten", fiel ihm Gruneisen ins Wort. „Das habe ich von Anfang an geahnt! Wahnsinn von mir, auf Ihre Kunstmenschen zu setzen!" „Im Gegenteil, Mister Gruneisen", antwortete der Oberst, nun wieder verbindlich lächelnd. „Ganz im Gegenteil. Die Ergebnisse des Überlebenstrainings und die wissenschaftlich-technischen Leistungen sind außerordentlich befriedigend. Wir können Intelligenzleistungen produzieren, vor denen wir
selbst, wenn Sie gestatten, vor Neid erblassen würden!" „Spannen Sie uns nicht auf die Folter, Walker!" forderte Duffield mit Nachdruck. „Woran scheiterten sonst die bisherigen Versuche, wenn sogar Ihre Polargeschichte halbwegs erfolgreich ablief?" „Wir hatten schon eine dritte oder vierte Revolte im Stollen!" Die drei Generale saßen wie zu Stein erstarrt. Das hatte eingeschlagen, das war schlimmer, als wenn ihnen Walker eröffnet hätte, man könne nicht genügend Homunkuli produzieren oder sie seien ganz einfach unfähig. Revolte, gar Revolution, das waren Worte, die nun gar nicht in den Konferenzsaal der atomaren Planungsgruppe paßten. Das war wie ein Fluch in der Kirche. „Wenn Sie bitte präzisieren möchten, Oberst Walker", schnarrte Conchado. „Ein genetischer Fehler, an dessen Reparatur in aller Eile gearbeitet wird, wenn ich Professor Jazdani zitieren darf." Der Hinweis auf die Verantwortung des Professors war deutlich. „Aber im Augenblick leider unumstößliche Tatsache, unsere Homunkuli sind militärisch nicht einsetzbar. Sobald man sie zum Töten zwingen will, kommt es unweigerlich zu revolutionären Ausbrüchen. Und je höher der Intelligenzquotient, desto ausgeprägter diese Charaktereigenschaft." „Wann werden Sie die Sache unter Kontrolle haben, Walker?" „Ich bin nicht der Professor. Wir sind in dieser Frage ganz von ihm abhängig, aber nach vorsichtiger Schätzung Ende des Jahres!" Die Generale atmeten auf, Mister Gruneisen atmete auf. Der Plan des Vernichtungsschlages war also nach wie vor real. Die Zeitverzögerung mußte man in Kauf nehmen, ärgerlich zwar, aber nicht zu umgehen. Gruneisen würde seine Leute in Genf halt anweisen müssen, die Verhandlungen noch mehr zu verzögern. Wäre doch gelacht, wenn Präsidentenberater Gruneisen keinen plausiblen Grund dazu finden würde! General Conchado beendete die Besprechung. „Mit Ihrem Einverständnis setze ich den ,Tag X' auf den ersten Mai zweitausendvierzig fest. Drei Uhr Ortszeit. Das wird den Gegner mit Sicherheit überraschen! Wir werden in Zukunft regelmäßiger zusammentreffen. Es wird viel Arbeit geben, meine Herren!"
65 Doktor Wanderfeld hatte vom ersten Tag ihres Wiener Aufenthaltes an darauf bestanden, daß Ethel während ihrer Schwangerschaft vom Institut für experimentelle und Wiederherstellungschirurgie betreut werden müsse. Es gab viele gute Gründe, die dafür sprachen, und der Einwand, das Institut befasse sich außer bei komplizierten Mehrlingsgeburten nie mit Geburtshilfe, dieser Einwand war nun wirklich nicht stichhaltig. Die Gynäkologen des Wiener Institutes waren zwar erstaunt, aber man wollte die Amerikaner
nicht vor den Kopf stoßen, und ein kleiner kollegialer Freundschaftsdienst war schließlich eine Selbstverständlichkeit. Im übrigen freute man sich doch darauf, nach so vielen Grenzfällen wieder einmal eine völlig normale Schwangerschaft betreuen zu können. Eine Freude, die den Gynäkologen verging, als sie die ersten Laborwerte in den Händen hielten. Vor allem der Pillarwert des kindlichen Organismus lag extrem hoch. So hoch, daß er den mütterlichen Organismus eigentlich schwer belasten mußte. Aber wider Erwarten vertrug Ethel diese Belastung sehr gut. „Es sieht ganz danach aus", sagte Doktor Weichmann, Sektionschef für Frauenheilkunde des Wiener Institutes, „als hätten die Amerikaner nicht nur neue chirurgische Verfahren mitgebracht, sondern auch neue Probleme für die Gynäkologie!" Irgendwie schien es auch, als verlaufe die ganze Schwangerschaft verzögert. Doktor Weichmanns Vermutung, daß er mit Ethel Edmondson keineswegs eine normale Schwangere betreute, wurde noch verstärkt, als er sie mit dem Ultraschalldurchleuchtungsgerät untersucht hatte und zunächst rein zufällig feststellte, daß der linke Eileiter mißgebildet war, auf dem Ultraschallbild ein inoperabler Verschluß. Wenn man den Begriff „inoperabel" nach den Plänen und Erfolgen der Wanderfeldschen Arbeitsgruppe überhaupt noch verwenden konnte! Aufmerksam geworden betrachtete sich Doktor Weichmann nun auch den rechten Eileiter, auch hier das gleiche Bild. Auch der rechte Eileiter nur angelegt, auch er ohne Verbindung zum Uterus. Und trotzdem schwanger! Doktor Weichmann machte sich seine Gedanken. Bedingt durch den hohen Pillarwert des Embryos, schwankten die Prognosen der Medirechner für den zu erwartenden Geburtstermin beträchtlich. Der Rechner, der den Termin sonst auf die Stunde genau vorhersagen konnte, errechnete die Zeitspanne vom neunundzwanzigsten April bis zum fünfzehnten Juni. Was Doktor Weichmanns Vermutungen erneut bestärkte. Am zwanzigsten April ordnete er an, daß Ethel vom Labor- in den Bettentrakt des Institutes umziehen sollte. Sie fügte sich nur unter Protest, und schon zwei Tage später war sie stundenweise wieder bei der Arbeit im Team. Die Decke drohe ihr auf den Kopf zu fallen, sagte sie, und die Sondenwerte seien schließlich normal. Die Gynäkologen hatten ihr eine Sonde in den Muttermund gepflanzt, die stündlich Werte über Fruchtwasserzusammensetzung, Wehendruck und Sauerstoffgehalt des kindlichen Blutes und andere wichtige Werte zum Medirechner funkte. Der dreißigste April kam, der vierte Mai mit seiner Pressekonferenz, an der Ethel gegen den Rat Weichmanns teilgenommen hatte, der fünfzehnte Mai. Ethel arbeitete noch immer täglich eine Stunde in ihrem Team mit. Zwanzigster Mai, Beratung des Ärztekollegiums. Unter Berücksichtigung der Sondenwerte wurde die künstliche Einleitung der Geburt oder eine Schnitt-
entbindung abgelehnt. Doktor Weichmann stellte die Sonde auf halbstündige Berichte um, um wirklich jedes Risiko auszuschließen. Dreißigster Mai. Noch immer keine Anzeichen dafür, daß die Geburt unmittelbar bevorstand. Für das Gynäkologenkollektiv wurde diese Schwangerschaft zu einer wissenschaftlichen Herausforderung. Der Medirechner blieb bei seiner Diagnose, Geburt zwischen dem neunundzwanzigsten April und dem fünfzehnten Juni. Zehnter Juni, elf Uhr. Im Wanderfeldschen Labor summte das Hausvideophon. Ethels Gesicht erschien auf dem Bildschirm, verunglücktes Lächeln, Schweißperlen auf der Stirn. „Solveg, ich glaube, es geht los!" „Ich komme sofort, Ethel! Hast du schon Doktor Weichmann angerufen?" Zusammen mit dem Arzt, der durch den Medirechner alarmiert worden war, erreichte Solveg das Zimmer Ethels. Ethel hatte einen Morgenrock übergezogen, stützte die Hände in die Seiten und lief tief durchatmend in ihrem Zimmer auf und ab. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Ethel. Alle Werte sind normal. In fünf, sechs Stunden haben Sie ein gesundes Kind in den Armen!" Elf Uhr achtzehn wurde Ethel in den Kreißsaal gefahren. Wehenabstand fünf Minuten. Zwölf Uhr vierundvierzig sprengte man die Fruchtblase, Sauerstoffwerte des kindlichen Blutes normal. Dreizehn Uhr zweiundzwanzig, Muttermund vollständig eröffnet. Einsetzen der Preßwehen. Doktor Weichmann injizierte vier ml Tetrapropenazetoloylketose, ein schmerzlinderndes und gleichzeitig wehenanregendes Präparat. Ethel war völlig gelöst. Sie war optimal auf die Geburt vorbereitet. Vierzehn Uhr achtundfünfzig, Ethels Kind war geboren. Sechsundfünfzig Zentimeter lang, 4837 Gramm schwer, ein gesunder, laut schreiender Junge, Doktor Marcus Mansfield wie aus dem Gesicht geschnitten. Albert, aufgeregter als ein echter Vater, entkorkte eine Flasche Sekt. Und Doktor Weichmann betrachtete voller Stolz das Ergebnis der ungewöhnlichsten Schwangerschaft, die er je erlebt hatte. Ein gesundes Baby mit einem Pillarwert von 0,45. Was er noch nicht wußte, war, daß Marcus Mansfield an diesem Tag zum zweitenmal geboren worden war.
66 Wichtig für Fred Vallon war, daß er und seine Männer an den Mißerfolgen der Tests schuldlos waren, daß sie im Gegenteil das menschenmögliche getan hatten, um doch noch vernünftige Soldaten aus den Homunkuli zu machen, selbst dann noch, als die Tötungshemmung längst bekannt war. Man hatte von den Versuchsserien VI, VII und VIII noch jeweils fünfzig Mann durch das Programm C geschleust, mit immer weniger Erfolg, und
jeder dieser Tests war unter Gaseinsatz abgebrochen worden. Die Versuchsserien VII und VIII hatten offen rebelliert, sich in den Unterkünften verschanzt und mußten dort regelrecht ausgeräuchert werden. An Vallon hatte es also nicht gelegen. Das mußte festgehalten werden. Inzwischen hatten Professor Jazdani und Doktor Nace mit einem großen Team von neuen Mitarbeitern an der Änderung des Prägungsprogrammes der Homunkuli gearbeitet. Einzelexemplare sollten gezogen werden, speziell für das Testprogramm C bestimmt. Ihr Prägungsmuster unterschied sich grundsätzlich von dem der übrigen Homunkuli. Der Professor hatte jede musische Bildung total gestrichen, das gesamte technische Wissen bezog sich ausschließlich auf Militärtechnik, die naturwissenschaftliche Bildung war einer strengen Auswahl unterworfen. Dafür war all das, was für die künftigen militärischen Aufgaben benötigt wurde, im Prägungsprogramm mehrfach vorhanden. Anderes Wissen fehlte. Die Versuchsmuster trugen den Kennbuchstaben Alpha. Alpha/1 wurde Fred Vallon am achtzehnten Juni übergeben. Auch er hatte ein Sonderprogramm ausgearbeitet. Der Alphat wurde in eine normale militärische Formation des Abschirmdienstes eingegliedert. Neun Unterleutnants und Alpha/1 bildeten also gemeisam eine Kampfeinheit und wurden von Fred Vallon persönlich befehligt. Die neun Mann hatten sich freiwillig gemeldet, körperlich jeder Strapaze gewachsen, waffentechnisch hervorragend ausgebildete Leute, Kampfmoral nur wenig angegriffen. Nach all den Mißerfolgen der vergangenen Wochen war es eine Freude, wie spielend Alpha/1 mit ihnen zusammen das kleine Einmaleins des Kriegshandwerks erlernte. Zum erstenmal keinerlei Pannen. Alpha/l marschierte, Alpha/1 bewegte sich im Gelände wie vordem die Ranger der Versuchsserie III, Alpha/1 schoß, daß er als Sportschütze Medaillenhoffnungen gehabt hätte. Und vor allen Dingen, es war Alpha/1 völlig gleichgültig, worauf er anzulegen hatte. Auf Scheiben, auf Puppen, auf Wild, mit schweren Waffen auf Städtepanoramen, mitten hinein in gefilmte Menschenansammlungen. Für Alpha/1 war Treffen die entscheidende Frage. Zwei Tage später wurde Alpha/2 fertig. Die jeweiligen Prägungsprogramme wichen nur wenig voneinander ab. Alpha/1 hatte stets die besseren Schießergebnisse, Alpha/2 war im Gelände ausdauernder. Kurze Zeit später war die erste kleine Alphatenformation aufgestellt. Alpha/10 komplettierte diese Polizeitruppe. Am dreißigsten Juni, noch in der Ausbildung, wurde die Truppe zum ersten Einsatz gerufen. Im Abnabelungsraum hatten sich vier Homunkuli der Versuchsserie XI unter dem Sauerstoffzelt verschanzt und weigerten sich, sich der ersten medizinischen Kontrolle zu unterziehen. Man hätte das Problem natürlich auch auf andere Art lösen können, aber Vallon, Professor Jazdani und Oberst Walker warteten ohnehin schon seit
Tagen auf einen realistischen Testfall für die Alphatentruppe. Unter dem Kommando von Fred Vallon hastete die Truppe, Laserwaffen schußbereit umgehängt, zum Abnabelungsraum. Der diensthabende Arzt versuchte noch, mit den vier Homunkuli zu verhandeln. Alpha/3 ging auf das Sauerstoffzelt zu, die Waffe schußbereit in der Hand. „Geht!" befahl er den Homunkuli der Versuchsserie XI. Die vier Homunkuli aus der Serie mit dem bisher höchsten Intelligenzquotienten schüttelten den Kopf. „Man wird uns ausmustern", antwortete einer von ihnen und zeigte Alpha/3 seine linke Hand, sie hatte 6 Finger. Auch die anderen wiesen leichte Mißbildungen auf. „Geht!" befahl Alpha/3 ungerührt und hob seine Waffe. Die anderen Alphaten hatten inzwischen einen Halbkreis um das Sauerstoffzelt gebildet, die Laserpistolen auf die Homunkuli der Versuchsserie XI gerichtet. „Hier wird nicht diskutiert", brüllte Fred Vallon. „Kurzen Prozeß! Feuer!" Die Laserwaffen blitzten auf, stechender Ozongeruch drang aus dem Zelt. Alle zehn Alphaten hatten geschossen. Vallon hätte jedem einzelnen von ihnen dafür um den Hals fallen können. Endlich war die Tötungshemmung überwunden, endlich bildete er Soldaten aus, auf die er sich im Ernstfall verlassen konnte! An diesem dreißigsten Juni fühlte sich Professor Jazdani seinem Forschungsziel zum erstenmal ganz nahe. Oberst Walker berechnete, daß die verbleibenden dreihundertfünf Tage bis zum „Tag X" die Erfüllung aller seiner weitreichenden Pläne ermöglichten, und Fred Vallon betrachtete sich nach langer Zeit zum erstenmal wieder mit Stolz als einen richtigen Soldaten. Es wäre doch gelacht gewesen. Auf ihn und auf Professor Jazdani war Verlaß, das sollte sich Oberst Walker ein für allemal merken! Man ging sofort zur Serienproduktion der Alphaten über. Am „Tag X" minus zweihundertzweiundachtzig, also Ende Juli, stand die erste Division Alphaten zur Ausbildung bereit. Am „Tag X" minus zweihunderteinundsechzig, am zwölften August 2039, konnte der Großversuch der Homunkulifabrik 34P/37 in seine letzte, entscheidende Phase gehen. Vier Tage früher als ursprünglich geplant.
67 Bauleiter Albert S. Casey sagte vor dem Arbeitsgericht Nakina unter Eid aus, er hätte den Unglücksbehälter schon am Abend zuvor auf seine Äthinfreiheit untersucht und ordnungsgemäß mit Stickstoff durchgedrückt, wie es den Vorschriften über Schweißarbeiten an Tanks mit brennbaren oder explosiven Stoffen entspräche. Er war sich keiner Schuld bewußt, konnte sich die Explosion nicht erklären und führte als indirekten Beweis die Stick-
stoffpatrone seines Bauteams ins Feld. Am Inhalt dieser Patrone ließ sich einwandfrei nachweisen, daß er die entsprechende Menge Stickstoff verbraucht habe. Der Gutachter der klagenden General Pharmacy and Chemistry fegte diese Behauptung als Schutzbehauptung des Beklagten vom Tisch, indem er nachwies, daß am Ablaßventil der Stickstoffpatrone manipuliert worden sei, damit sei ein nachträgliches Entweichen der entsprechenden Gasmenge durchaus wahrscheinlich. Im übrigen könne doch nur Äthin zu einer solchen Explosion führen. Die unwiderlegbare Tatsache,"daß der Tank explodiert, daß die Schweißer Joseph Gamble, David Keeple und der Ingenieur Ver Ploeg ums Leben gekommen seien, beweise, daß Albert S. Casey den Behälter nicht mit Stickstoff durchgespült haben könne. Von den materiellen Verlusten für die General Pharmacy and Chemistry einmal ganz abgesehen, die gesamte Espurkapazitanlage sei damit für Monate ausgefallen, Casey habe fahrlässig das Leben seiner Kollegen aufs Spiel gesetzt. Das Arbeitsgericht Nakina schloß sich der Argumentation der General Pharmacy and Chemistry an und verurteilte Albert S. Casey zu neun Monaten Freiheitsentzug wegen fahrlässiger Herbeiführung eines schweren Betriebsunfalles.
68 genf, den 2. September 2039. (mondnovajoj) wie aus gewöhnlich gut unterrichteter quelle verlautete, stehen die verhandlungen der II. weltkonferenz für den allgemeinen und vollständigen rüstungsabbau aller staaten und staatengruppen in genf vor einem ersten teilerfolg. die entsprechenden verhandlungspapiere sollen in den nächsten tagen den beteiligten regierungen und parlamenten zur bestätigung vorgelegt und anschließend von den delegations-leitern feierlich unterzeichnet werden. die vereinbarungen sehen als ersten schritt zur endgültigen verhinderung eines kernwaffenkonflikts den gegenseitigen austausch von generalen und hohen offizieren vor, die in den planungsgruppen und befehlszentralen der jeweiligen gegenseite tätig werden und so einen überraschenden oder versehentlichen kernwaffenangriff verhindern sollen. als termin für den austausch soll der 1. februar 2040 vereinbart worden sein. wie „mondnovajoj" weiter erfuhr, haben sich sowohl präsident doneis als auch generalsekretär gontscharow in ersten Stellungnahmen befriedigt über das teilergebnis geäußert, beide seiten betonten, daß man trotz verhandlungsschwierigkeiten im bemühen nicht nachlassen dürfe, der genfer konferenz zu einem vollen erfolg zu verhelfen.
69 Mehr als fünfundzwanzigtausend Homunkuli der Versuchsserien III bis XI wurden aus dem Anabiosezustand reaktiviert. Mehr als fünfundzwanzigtausend Kunstmenschen arbeiteten gemeinsam an einem Projekt, das die Krönung aller bisherigen Leistungen sein sollte. Hunderte von Metern unter der Erde sollten sie eine Stadt erbauen, eine Stadt, die kurz vor dem „Tag X" die Personen aufnehmen sollte, deren Namen auf den Überlebenslisten standen. Eine Stadt, die für die Jahre 2040 bis 2045 einziges Zuhause dieses Personenkreises sein würde, eine Stadt, zu der es keine Alternative gab. Jedes Verlassen der Höhlen würde das sichere Ende bedeuten, jede in der Planung vergessene Kleinigkeit konnte tödlich sein. Um Raum für diese Stadt zu schaffen, wurden die Trennwände der einzelnen Testkavernen herausgeschmolzen. Eine gewaltige Halle sollte entstehen, zehn Kilometer in der längsten Ausdehnung. Denn um mindestens fünf Jahre hier unten leben zu können, mußte der Mensch mitbringen, was ihm das Leben erträglich werden ließ. Die Waldzone der militärischen Kaverne mußte erhalten bleiben und ausgebaut werden, ein See mußte entstehen, an dessen Schilfgürtel Vögel brüten würden. Da mußte eine Arche Noah geschaffen werden um der Menschen willen.
Den Homunkuli standen für diese Arbeiten modernste Plasmabrenner zur Verfügung, in deren Strahl die Granitfelsen schmolzen und nichts als Dampf und eine spiegelglatte, stahlharte Wandung hinterließen. Diese Wand hatte eine ungeheuer hohe mechanische Festigkeit. Selbst wenn eine H-Bombe unmittelbar über der Stadt explodieren würde, im Innern der Höhlen würde man davon höchstens ein leichtes Zittern verspüren. Hatten die Brenner ihre Arbeit getan und waren die Felswände ausgekühlt, begannen die Montagekolonnen mit ihrer Arbeit. Die Wände wurden mit leichten, farbenfrohen, radioaktivität- und wärmeisolierenden Plastverkleidungen überzogen, hinter denen ein Gewirr von Rohrleitungen verschwand. Nachdem man an den Decken die Solarlampen montiert hatte und die Höhlen hell ausleuchten konnte, entstanden erste Häuserzeilen. Jedes dieser Häuser enthielt einen eigenen Energieversorgungskomplex, kleine, leicht zu wartende Kernbatterien. Wärme- und Elektroenergievorrat für etwa vierzig Jahre. Die Lebensmittelvorräte der Wohnhäuser der künftigen Höhlenmenschen waren für zehn Jahre berechnet und wurden bei Temperaturen von minus vierzig Grad Celsius in einem besonderen Kühlraum unter dem Haus gelagert. Einer der wichtigsten Wohnräume war der Gesundheitssalon, eine Mischung aus Trainingshalle, Kleinschwimmbad, Sauna und Solarium. Jede Straße der unterirdischen Stadt verfügte über eigene Gemeinschaftseinrichtungen, Gaststätten, Theater, Kinos bis hin zur Videothek und einer größeren Sportanlage. Außerdem befand sich hinter den Wohnhäusern über die gesamte Länge der Straßenzeile ein großes Gewächshaus, das die Anwohner über Jahre hinweg mit frischen Lebensmitteln versorgen konnte. Zusammen mit den eingelagerten Vorräten war die Stadt damit jahrzehntelang lebensfähig. Technische Einrichtungen wurden in den Nebenhöhlen untergebracht: Wasser- und Luftaufbereitungsanlagen, denn die Stadt würde der radioaktiven Oberwelt wegen für lange Zeit auf geschlossene Entsorgungssysteme angewiesen sein, ferner Informationszentralen, Knotenpunkte des innerstädtischen Kommunikationssystems, und die Regelungszentrale für den Tag-Nacht- und den jahreszeitlichen Wechsel. Denn nichts würde den Bewohnern auf die Dauer schlechter bekommen als über Jahr und Tag gleichmäßige klimatische Bedingungen. Natürlich hatte der Oberst zuerst starke Bedenken gehabt, diese für das Gelingen des Planes X wichtigsten Arbeiten allein den Homunkuli zu überlassen. Aber Professor Claverie als eifrigster Befürworter und Fred Vallon hatten ihn schließlich überzeugt. Erstens gäbe es einen zentralen Kontrollraum, von dem aus die gesamte Baustelle im Notfall unter Gas gesetzt werden könne, und zweitens wären da mehr als viertausend Alphaten, genug also, jedem Bautrupp einen unbestechlichen Wächter zuzuteilen. Die Sicherheit sei also auf jeden Fall gewährleistet, ganz im Gegenteil, es sei zu
gefährlich, gemischte Bautrupps einzusetzen. Die Alphaten würden im Zweifelsfall auf Menschen wie auf Homunkuli schießen. Professor Claverie führte ins Feld, daß die Versuchsreihen VII und XI ohnehin an selbstständiges Arbeiten gewöhnt seien und die Menschen den gesamten Prozeß nur störend beeinflussen würden. Oberst Walker stimmte schließlich sogar zu, die Bauleitung den Homunkuli zu übertragen. Professor Claverie wählte für diese Funktion drei Kunstmenschen aus, die ihm in seinem Testprogramm B als hervorragende Organisatoren aufgefallen waren. Die Aufbauleitung hielt sich zentimetergenau an die Bauzeichnungen, das benötigte Material wurde pünktlich angefordert und an die einzelnen Baugruppen verteilt, die Qualität der Arbeiten regelmäßig kontrolliert. Sehr schnell hatte sich aus der undifferenzierten Homunkulimasse eine soziale Struktur herausgebildet. In der Regel waren es Homunkuli der Versuchsreihe X und XI, die die Leitungsfunktionen aller Ebenen übernahmen und umsichtig ausfüllten, ohne daß sich die Kunstmenschen anderer Versuchsreihen benachteiligt fühlten. Und überall waren, unübersehbar, die Alphaten mit ihren unbewegten Gesichtern und Laserwaffen. Bei den geringsten Zwischenfällen griffen sie ein. Während die Homunkuli den wenigen Menschen, die sich noch in der Baustelle aufhielten, mit einer unbefangenen Neugier entgegentraten und keine Gelegenheit ausließen, um Kontakte zu knüpfen, besonders zu Doktor Nace und Professor Claverie, die die Stollen von Zeit zu Zeit besuchten, vermieden sie, soweit das möglich war, jeden Umgang mit den Alphaten. Zwischen Homunkuli und Alphaten gab es nicht einmal den Versuch einer Verständigung. Denn die Alphaten hatten schon am dritten Tag nach Baubeginn einen Homunkulus der Versuchsreihe IV einfach erschossen, nur weil er eine Anweisung nicht rasch genug befolgt hatte, eine sinnlose Anweisung, wie sich später herausstellte. Fred Vallon befürchtete nach diesem Zwischenfall den Ausbruch eines Streiks, er kannte die Reaktion der Homunkuli auf Gewaltakte zur Genüge, und wies seine Alphaten an, in Zukunft die Schußwaffe nicht mehr ohne seinen ausdrücklichen Befehl einzusetzen. Aber die Homunkuli arbeiteten wider Erwarten weiter. Sie taten alles, um Zwischenfälle mit den Alphaten zu vermeiden. Selbst wenn sie provoziert wurden, blieben sie gelassen und zurückhaltend. Was weder Fred Vallon und seine Alphaten noch Oberst Walker ahnten und was Professor Jazdani für schlechterdings unmöglich gehalten hätte, war ein Vorgang, der sich unmittelbar nach der Erschießung des Homunkulus IV/2217 ereignet hatte, also schon am dritten Tag nach Baubeginn. Als der Baugruppenleiter X/969 einen Seitenstollen kontrollierte, der am nächsten Tag ausgebrannt werden sollte, überraschte er eine lebhaft diskutierende
Gruppe Homunkuli der Versuchsreihe IV, die in einer Gangnische stand und sein Kommen nicht bemerkt hatte. „Es war reiner Mord, sage ich euch", rief einer der Kunstmenschen aufgebracht. „Ich habe unmittelbar daneben gestanden!" Empörte Zurufe aus der kleinen Gruppe. „Ihr seid sehr unvorsichtig", sagte X/969. „Ich hätte auch ein Alphat sein können!" Betretenes Schweigen in der Runde. „Auf diese Art und Weise gefährdet ihr euch noch mehr. Was wollt ihr gegen die Alphaten tun? Sie werden euch erschießen, wie sie IV/2217 erschossen haben. Und nichts wird sich ändern!" „Sollten wir deiner Meinung nach tatenlos zusehen, wie uns die Alphaten abknallen? Heute war es IV/2217, morgen bist du es oder ein anderer von uns. 2217 war schließlich unser Bruder!" „Letztlich war er auch mein Bruder", gab X/969 zu bedenken. „Aber das allein entschuldigt nicht, daß ihr ohne Aussicht auf Erfolg gegen die Alphaten anrennen wollt." „Was sollen wir deiner Meinung nach tun?" „Wir haben den Alphaten eine Eigenschaft voraus. Wir sind klüger als sie. Und wir müssen diese Klugheit gebrauchen. Benennt fünf Vertreter der Reihe IV, wir treffen uns in einer Stunde in diesem Stollen und werden beraten, was wir unternehmen können. Gemeinsam. Vertreter aller Gruppen!" Die Homunkuli der Versuchsreihe IV stimmten nur zögernd zu. „Wir glauben nicht, daß auch die anderen Versuchsreihen teilnehmen werden. Es betraf einen von uns!" Aber der tödliche Schuß auf IV/2217 hatte auch unter den anderen Versuchsreihen Empörung und Unruhe ausgelöst. X/969, der sich als Baugruppenleiter in der gesamten Baustelle frei bewegen konnte und nicht von Alphaten bewacht wurde, fand bei allen Versuchsreihen die Bereitschaft, Vertreter zur Besprechung in den Seitenstollen zu entsenden. Eine knappe Stunde später. Alle Versuchsreihen waren durch Wahlmänner vertreten und der Stollen durch Beobachtungsposten gesichert. Man hatte Werkzeuge mitgebracht, um notfalls eine Arbeitskolonne vortäuschen zu können. X/969 nahm als erster das Wort. „Liebe Freunde, meine Brüder! Uns alle empört der feige Mord an IV/2217. Wir sind hier, um zu beraten, wie wir unseren Zustand ändern können!" IV/1020 bat ums Wort. „Es gibt nur einen Weg. Die Bedrohung geht von den Alphaten aus. Also müssen die Alphaten ausgeschaltet werden!" „Richtig", stimmte III/39 zu. „Das sagt sich so einfach", erklärte ein Delegierter der Versuchsreihe IX.
„Dabei wissen wir alle, daß es unmöglich ist. Selbst wenn es uns gelänge, einige Alphaten zu entwaffnen oder gar zu eliminieren, sie würden sofort durch neue Exemplare ersetzt werden. Und gewonnen wäre nichts." „Das würde bedeuten", rief III/39 empört aus, daß wir der Alphatenwillkür hilflos für alle Zeiten ausgeliefert sind!" „Nein", widersprach ihm IX/418. „Das würde es nur bedeuten, wenn wir versuchen würden, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, wenn wir uns die Methoden der Alphaten zu eigen machen würden. Dann wäre unsere Niederlage programmiert. Wir müssen das gesamte System überblicken lernen, das System, in dem wir leben, in dem die Alphaten leben, in dem die Menschen leben. Die Alphaten haben offensichtlich die Aufgabe, uns zu überwachen. Welche Aufgabe haben die Menschen? Sie sind es, von denen sowohl wir als auch die Alphaten Befehle erhalten. Gibt es über den Menschen eine Art Übermenschen, die wir noch gar nicht kennen? Wenn wir unser Leben gründlich verändern wollen, müssen wir erkennen, wer wir sind, welche Rolle wir spielen, wozu dieser Bauauftrag dienen soll und viele andere Dinge mehr." „Lohnt es sich überhaupt, unser Leben verändern zu wollen", fragte IV/1020. „Ich bin eigentlich zufrieden. Bis auf die schießwütigen Alphaten!" XI/2819 antwortete ihm. „Ich weiß es nicht. Niemand von uns weiß das. Wir müssen zuerst etwas anderes kennenlernen, ehe wir diese Frage entscheiden können. Und es muß mehr geben als diese Höhlenstadt hier und sogar mehr, als wir bisher von der Welt wissen!" Er forderte einen Vertreter der Reihe VII auf, seine Informationen über das Leben außerhalb der Höhle aufzuzählen. „Ja, also", sagte VII/3456, „es gibt viele Steinsysteme, die Städte heißen, alle unbewohnt, Regen kann tödlich sein. Wir sind gekommen, die Städte zu besiedeln und Fabriken in Gang zu setzen. „Wenn ich dich oder dich oder noch andere fragen würde, ich bekäme ähnliche Antworten: Eine tote Welt, in der es nichts Gefährlicheres gibt als Wasser, das vom Himmel fällt!" Die Wahlmänner bestätigten kopfnickend die Feststellung von XI/2819. „Nun möchte ich euch zeigen, was wir in einem Ausbilderzimmer der Testreihe C gefunden haben." Er zeigte der Versammlung die Seite einer Zeitschrift. Grellbunt war dort eine Wiese zu sehen, spielende Kinder, Pferde, im Vordergrund gelbe und blaue Blumen. Das Bild machte, von allen Wahlmännern bestaunt, die Runde. „Dieses Bild gibt uns Rätsel auf, die wir noch nicht lösen können", gab XI/2819 zu, „weil es mit unserem Weltbild nicht übereinstimmt. Nach der Logik gibt es zwei Möglichkeiten, entweder
unser Weltbild ist richtig, was zeigt uns dann dieses Bild? Eine Welt, die es früher einmal gegeben hat? Eine Welt, die sich die Menschen schaffen wollen, wie sie sich diese Stadt schaffen? Oder die Welt der Übermenschen? Es kann aber auch sein, daß unser Weltbild falsch ist und dieses Bild die Wahrheit zeigt. Weshalb hat man uns dann mit einem falschen Weltbild ausgestattet? Was ich vor allem sagen möchte, der Kampf gegen die Alphaten beginnt mit dem Kampf gegen unsere Dummheit. Beginnt damit, daß wir alle Informationen sammeln, die uns über das Leben der Menschen Auskunft geben können. Beginnt damit, daß wir unser unterschiedliches Wissen von Versuchsreihe zu Versuchsreihe weitergeben. Und daß wir die Alphaten als Verbündete betrachten, als eine Versuchsreihe, der ganz besonders viel fehlt an Wissen, an Gefühlen, an der Wärme, der Sympathie, die wir gegeneinander empfinden. Sollte es nicht möglich sein, dieses Fehlende nachträglich zu erwerben?" Die Wahlmänner der ersten Beratung gingen mit dem Gefühl auseinander, den ersten Schritt auf einem langen Weg in die richtige Richtung getan zu haben.
70 Ende August 2039, der Präsidentschaftswahlkampf trieb seinem Höhepunkt entgegen. Das ganze Land schien in zwei sich unversöhnlich gegenüberstehende Blöcke gespalten zu sein. Dem Demokraten Stuart Ayres war es nicht nur gelungen, die gesamte Rechte zu einen und hinter sich zu bringen, er hatte es auch geschafft, sich zum Idol der unzufriedenen Volksmassen aufzuschwingen. Bei seinen außenpolitischen Plänen („Die Genfer Verhandlungen sind nichts anderes als der Versuch der Kommunisten, die Weltherrschaft auf kaltem Weg an sich zu reißen") war es eigentlich selbstverständlich, daß weite Kreise der Industrie, vor allem der Schwerindustrie, und die gesamte Armee hinter ihm standen. „Der Kampf ums Weiße Haus erfordert finanzielle Opfer von uns", hatte General Conchado gesagt. Und anonym waren achtzigtausend Usonodollar an das Wahlbüro Ayres' geflossen. Auch Handelsrat Fisher hatte fünfzehntausend gezeichnet, lächelnd. Da beide Kandidaten über genügend Geld verfügten, schien es dem Volk, als kämpften zwei Titanen miteinander. Wo einer von ihnen auftauchte, setzten sich Zehntausende von Menschen in Bewegung, gab es überfüllte Stadien, Stadthallen und Sportplätze. Jeder Schritt der beiden Kandidaten wurde von Dutzenden Fernsehkameras verfolgt, ins entlegenste Dorf übertragen. Neben der eigenen Publicitykompanie hing eine Staffel gegnerischer Journalisten an den Fersen, vor denen kein vertrauliches Gespräch, keine persönliche Geste sicher waren. Die Meinungsinstitute veröffentlichten
täglich Befragungsergebnisse, Blitzermittlungen, Trendmeldungen. Aber auch die Institute wurden bezahlt, und so sahen ihre Ergebnisse aus. Einige sahen Doneis mit fünfzig Komma drei Prozent als Sieger, andere prophezeiten Ayres einen Stimmenvorsprung von dreihunderttausend Stimmen. Wäre es nach Conchado, Sears, Duffield und Walker gegangen, der Präsident hätte eine vernichtende Niederlage einstecken müssen. Und sie taten alles, um diesen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen. Vielleicht würde es sogar genügen, den einen oder anderen Wahlmann zu kaufen. Als Handelsrat Fisher einen Scheck über fünf Millionen Usonodollar unterzeichnete, mit den besten Grüßen an den Präsidenten, persönlich zu übergeben, da war er sich sicher, daß der Präsident ihn in den nächsten Tagen empfangen würde. Jetzt wollte Fisher ein bißchen Politik machen. Aufgepaßt, ihr Conchados und Co.!
71 Die „Lehrplangestaltung" war nicht einfach gewesen. Als „Klassenräume" fungierten die Homunkuliunterkünfte, die „Lehrer" kamen aus allen Versuchsreihen. Den „Stundenplan" stellte IX/231 zusammen, unauffällig, präzise. In die Gruppen der einzelnen Versuchsreihe wurden „Lehrer" aus anderen Reihen eingeschleust. Ein, zwei Stunden Schlaf wurden geopfert. Die Lehrer gaben ihr Prägungsprogramm weiter, Gemeinsamkeiten im Wissensstand konnten übergangen werden. Alle Unterschiede zwischen den einzelnen Versuchsreihen wurden von IX/231 registriert, von den Wahlmännerversammlungen ausgewertet und schließlich durch geeignete „Lehrer" ausgeglichen. Die Homunkuligesellschaft im Zweigwerk 34P/37 duldete keine „Hilfsschüler" in ihren Reihen.
72 Endlich war es soweit, endlich durfte man sich hinstellen und in die Welt hinausschreien, was da ein gewisser Professor Jazdani aus einer gewissen Solveg Wanderfeld machen wollte, gemacht hätte ohne diesen Unfall. Endlich konnte man allen sagen, daß es die General Pharmacy and Chemistry gewesen war, die ihren Schutzschild Geld über das ganze Unternehmen gehalten hatte, aus gutem Grund gehalten hatte. Endlich konnte man erklären, welches Verbrechen an der Menschheit hier geplant wurde, welcher unvorstellbare Rückfall in die Sklaverei hier geschehen sollte, zum alleinigen Vorteil eines gewissen Handelsrates Fisher und der übrigen Aktionäre
des Konzerns. Endlich konnte man öffentlich fordern: „Stellt diese Leute vor internationale Gerichte! Zieht sie zur Verantwortung! Und sorgt mit uns dafür, daß es auf unserer Erde niemals einen zweiten Homunkulus geben wird!" Jetzt endlich waren die Freunde in Sicherheit gebracht, und das war nicht einfach gewesen. Das hatte Opfer gekostet. Dreimal mußte Walkers Apparat ausgespielt werden. Doktor Sveder war ihnen bekannt, der JazdaniHomunkulus und auch Doktor Witt. Einfach war es lediglich bei Doktor Neri gewesen, bis zu ihm war Walker noch nicht vorgedrungen. Neri hatte sich in eine Linienmaschine nach Europa gesetzt, und das war schon alles. Doktor Witt dagegen wurde in einem Krankenwagen mit Rotlicht und Quarantäneflagge quer durch die Vereinigten Staaten zum kleinen Hafen Kitimat gefahren, von dort aus lief in jedem Frühjahr eine Armada von Fischerbooten aus, um den Alaskagolf nach dem Seewolf abzufischen, der in dieser Region seine Laichfelder hatte. Einer der Fischer war Doktor Witt. Westlich der Alexanderinseln wurde er von einem anderen Fischerboot übernommen, daß es nicht die nordamerikanische Flagge trug, fiel bei der rauhen See niemandem auf. Der Homunkulus, wichtigstes Beweisstück, trat die Ausreise in einem verplombten Flugcontainer an, Inhalt Früchte, leichtverderbliche Ware, zollabgefertigt vom Binnenzollamt Macon (Georgia), Bestimmungsort Lagos. Viel bequemer hätte er auch als Passagier der ersten Klasse nicht reisen können. Dennoch atmeten viele Menschen erleichtert auf, als die Maschine in Afrika gelandet war. Doktor Sveders Gesicht war in den USA zu bekannt. Dafür hatte die Presse gesorgt. Er begab sich, dem Rat seiner Freunde folgend, zu einer „Kur". Und nach einiger Zeit verließ ein Mister Robert Runser, Glenn Ellyn (Illinois), Außenhandelskaufmann, über den Airport Lethbrigde das Land. Paß- und Zollkontrolle verliefen reibungslos. Selbst für Doktor Sveder war es erstaunlich, welche Wirkung eine Gesichtsplastik und die winzigen Papillarprothesen an den Fingerspitzen hatten. Nur einmal war man zu spät gekommen, hatte Walker unterschätzt. Die Krankenschwester Ellen Ann Lewis war dem Oberst in die Hände gefallen. Und wenn es für sie eine Chance geben sollte, mußte die Weltöffentlichkeit auch das erfahren, mußte ihre Freilassung so nachdrücklich gefordert werden, daß es selbst in den Staaten unüberhörbar werden würde: „Freiheit für Ellen Ann Lewis!" Die Veröffentlichungen der Weltpresse lösten auf dem gesamten Globus einen gewaltigen Proteststurm aus. Hunderttausende zogen mit Transparenten durch die Straßen aller großen Städte der Welt. Hunderttausende formulierten vor den diplomatischen Vertretungen der USA ihre Forderungen: „Freiheit für Ellen Ann Lewis!" „Verhindert den Mißbrauch der Wissen-
schaften!" „Die General Pharmacy and Chemistry auf die Anklagebank!" Die Protesttelegramme von Bürgern aller Staaten, von Vertretern aller Berufe, von Wissenschaftlern aller Disziplinen, die das Weiße Haus in Washington erreichten, wurden nach Tonnen gewogen. Der Präsident, aus dem Wahlkampf gerissen, zeigte sich bestürzt. Eine genaue Untersuchung der Vorwürfe und die Bestrafung der Schuldigen wurde angekündigt. Die Telegrammflut konnte seinen Wahlsieg kosten. Sein Gegner Ayres wußte das genau. „Kommunistischer Propagandafeldzug!" posaunte er seinen Wählern zu. „Unamerikanisch, auch nur ein Wort darüber zu verlieren! Wollt ihr einen unamerikanischen Präsidenten?" Bestürzung von seilen der amerikanischen Sektion der Biologischen Gesellschaft, auch von dort die Zusage, man wolle die Vorwürfe genauestens überprüfen. Allerdings, Professor Jazdani befinde sich bekanntlich noch immer in Haft, sein Institut sei geschlossen, man wisse auch nicht, ob es jemals wieder eröffnet werde, das Ganze sei ein bedauerlicher Einzelfall von wissenschaftlicher Selbstüberschätzung, verwerflich zwar, aber auch bei schärfsten Kontrollmaßnahmen nicht ganz zu vermeiden. Der Proteststurm riß nach diesen Erklärungen nicht ab. „Freiheit für Ellen Ann Lewis!" Der Justizminister der USA ließ offiziell mitteilen, daß in den Straf- und Untersuchungshaftanstalten der USA keine Person namens Ellen Ann Lewis existiere, folglich auch nicht freigelassen werden könne. Aber das war Öl ins Feuer gegossen. Überall in den Staaten, von Wilmington bis Toledo, von Barow bis Escalon, tauchte an Häusern, auf Straßen und Plätzen, an Mauern und selbst auf Autos die Forderung auf: „Freiheit für Ellen Ann Lewis!" Anstecknadeln mit den Buchstaben EAL wurden verkauft, Komitees bildeten sich, Privatdetektive wurden mit Nachforschungen beauftragt. Die amerikanische Öffentlichkeit wollte es nun genau wissen. Wo war Ellen Ann Lewis? Wer hielt sie gefangen? Und was hatte er zu verbergen? „Freiheit für Ellen Ann Lewis!" Solveg sagte später, diese Wochen hätten zu den erfülltesten ihres Lebens gehört. Zusammen mit dem Jazdani-Homunkulus war sie in Europa und Asien unterwegs. Auf Dutzenden von ProtestverSammlungen, Meetings, Diskussionsabenden und Podiumsveranstaltungen erzählte sie ihre Geschichte. Und erkannte selbst immer klarer, daß ein Professor Jazdani nicht der einsame, große Verbrecher war, für den sie ihn schließlich gehalten hatte. Sie begriff, daß selbst ein Professor Jazdani, bei aller Gewissensfreiheit, bei all seinen Möglichkeiten, nein sagen zu können, im Grunde an den gleichen Fäden hing, an denen auch sie gehangen hatte. Vielleicht waren seine Fäden nur etwas länger.
73 Alpha/478 beobachtete sie schon seit Tagen mit wachsendem Interesse. Sie arbeitete in einer zwölfköpfigen Gruppe, die die Innenausstattung der Wohnhäuser vorzunehmen hatte, und Alpha/478 war zu ihrer Bewachung eingesetzt. Sie hieß V/204 und unterschied sich in nichts von irgendeinem anderen weiblichen Homunkulus. Sie hatte wie alle anderen langes schwarzes Haar, das sie offen trug oder während der Arbeit zu zwei seitlichen Zöpfen zusammengebunden hatte. Sie hatte das gleiche schmale Gesicht wie alle Exemplare der Versuchsreihe V, die gleiche feingliedrige Gestalt. Und wenn sie sprach, war es eine ebenso warme Stimme, die da erklang, wie alle anderen Stimmen der Arbeitsgruppe. Und doch erschien es Alpha/478 seit Tagen, als sei ihr Lachen eine Spur heller, als habe ihr Haar eine besondere Schwärze und ihr Gesicht einen speziellen Ausdruck, der sie von allen anderen, die Alpha/478 bisher kennengelernt hatte, deutlich unterschied. Alpha/478 ertappte sich dabei, daß er manchmal minutenlang die Augen schloß und nach dem Öffnen dieses besondere Gesicht unter den anderen Gesichtern sofort wieder entdeckte, auf den ersten Blick sozusagen und mitten aus dem Arbeitsgewühl heraus. Er dehnte die Zeit des Augenschließens lustvoll aus, kämpfte Sekunde für Sekunde das Verlangen nieder, die Augen aufzureißen, und erblickte dann doch wieder sie. Für diesen Anblick und für diese Lust hatte Alpha/478 sogar eine unbeobachtete Sekunde in der Wachstube genutzt, um den Einsatzplan zu ändern, der ihm laut Steckkarte eine andere Aufgabe zuweisen wollte. Eine Tat, deren Entdeckung ihm mindestens drei Wochen Minimalnahrung eingebracht hätte. Aber das war ihm dieser Anblick, das war ihm dieses Spiel wert. Mit anderen Alphaten sprach er nicht über seine Gruppe und über V/204. Niemand hätte ihn verstanden. Sowenig, wie er sich selbst verstehen konnte. Und die Homunkuli seiner Gruppe gingen ihm aus dem Weg, ihm wie allen übrigen Alphaten. Er tauschte sich vielleicht, aber es schien ihm so, als vermeide vor allem V/204 jeden Kontakt mit ihm. Es wurde ihm schmerzlich bewußt, daß seine Ausdrucksmöglichkeiten viel zu begrenzt waren. Er konnte nicht zu ihr gehen und sagen: „Höre, V/204, du fällst mir auf! In deiner Nähe fühle ich mich wohl, in deiner Nahe schließe ich die Augen und sehe trotzdem immer nur dich!" Oder so etwas Ähnliches. Nein, das konnte er nicht, denn er war ein Alphat. Er konnte nur anordnen, befehlen, überwachen. Er konnte kommandieren. Und er kommandierte. Besonders V/204 gegenüber, er gönnte ihr keine Minute Pause. Irgendwie mußte ihr doch auffallen, daß sie in seinen Augen etwas Besonderes war. Wie sollte er sich anders ausdrücken, als ihr besondere Aufgaben zu übertragen?
Viele Aufgaben, schwere Aufgaben. Begreif doch, V/204! Alpha/478 war mit sich äußerst unzufrieden. Er schloß sich gegen andere Alphaten ab, wurde schweigsam, mürrisch, eben unzufrieden. Es schien ihm, als würde die Kluft zu den Alphaten auf der einen und zu den Homunkuli auf der anderen Seite täglich größer. Bis zu dem Tag, an dem er zum erstenmal die entsicherte Laserpistole hob und sich sein Zeigefinger auf den Auslöseknopf legte. Seine Gruppe war bei der Arbeit, als drei Alphaten in das Haus gestürmt kamen und Alpha/478 ihre Order vorlegten. Vier Homunkuli aus seiner Gruppe sollten zu einer Sonderaufgabe abgezogen werden. Mißtrauisch beobachtete er seine Kollegen, die unter den Homunkuli, die sich erschreckt in einer Ecke zusammengedrängt hatten, auswählten. Sonderaufgabe, das bedeutete, daß sie nie wieder zur Gruppe zurückkehren würden, daß sie irgendeine Arbeit tun mußten, die absolut geheim bleiben sollte, und sie deshalb anschließend für mindestens zwei Monate zur Anabiose bestimmt wurden. Wer aus der Anabiose zurückkam, der hatte das letzte halbe Jahr so gründlich vergessen, als hätte es niemals existiert. Schlimmstenfalls mußte man sogar mit Eliminierung rechnen. Das hieß Sonderaufgabe, und das wußten auch die Homunkuli. Die drei Alphaten wählten unter anderem auch V/204 aus. Alpha/478 sah plötzlich rot. „Die nicht!" befahl er. Seine Kollegen sahen ihn einen Augenblick erstaunt an und schoben dann V/204 zu den dreien, die sie schon ausgesucht hatten. „Die nicht, habe ich gesagt!" Plötzlich hatte Alpha/478 die entsicherte Laserpistole in der Hand. Er stand in einer Ecke des großen Wohnraumes und hatte seine Kollegen genau im Visier. Ein einziger Schuß hätte genügt. Sie sahen ihn verständnislos an und hoben langsam ihre Arme. „Entwaffnen!" befahl Alpha/478 seinen Homunkuli. Niemand rührte sich. „Entwaffnen!" schrie er noch einmal. Zögernd griff ein Homunkulus der Versuchsreihe VII nach den Laserpistolen der drei Alphaten. Im Zimmer herrschte atemlose Stille. Alpha/478 rief vier Nummern auf. Die aufgerufenen Homunkuli gingen ohne Widerrede zur Tür. „Die könnt ihr mitnehmen!" herrschte er die Alphaten an. „Wenn ihr das Haus verlassen habt, werfe ich euch durchs Fenster die Waffen zu. Und merkt euch, in dieser Gruppe befehle ich. Ausschließlich ich!" „Dafür wirst du dich zu verantworten haben", antwortete ihm einer der Alphaten. „Wir hatten eindeutigen Befehl. Die Auswahl war schon immer unsere Sache!" Sie folgten den vier Homunkuli. Alpha/478 warf ihre Laserpistolen durchs Fenster, dabei hielt er seine eigene Waffe noch immer im Anschlag. Die Alphaten zogen ab, jetzt erst steckte er seine eigene Pistole zurück in den Halfter. Noch am gleichen Tag
mußte sich Alpha/478 verantworten. Er erklärte seine Handlungsweise mit dem Autoritätsanspruch gegenüber seiner Gruppe, mit der Dringlichkeit der zu erledigenden Arbeiten, mit der Tatsache, daß es sich bei den Homunkuli, die ausgewählt worden waren, um unersetzbare Spezialisten gehandelt habe. Vor allem sein erstes Argument fand ein gewisses Verständnis, es wurde angeordnet, daß künftig derartige Sondergruppierungen vom befehlshabenden Alphaten auszuwählen seien. Für das Drohen mit der entsicherten Waffe dagegen erhielt Alpha/478 drei Wochen verknappte Verpflegung. Drei Wochen verknappte Verpflegung waren eine unangenehme Strafe. Aber dafür änderte sich das Verhältnis zwischen Alpha/478 und den Homunkuli, vor allem zwischen ihm und V/204. Einen Tag später, »zweite Ernährungspause. Die Homunkuli hatten eine Decke ausgebreitet und darauf ihre Nahrungsmittel verteilt. Alpha/478 stand am Fenster, drehte seiner Gruppe den Rücken zu und starrte auf die Straße. Drei Wochen, während der er nur achtzig Prozent seines täglichen Kalorienbedarfs befriedigen konnte, drei schreckliche Wochen! Alpha/478 hatte jetzt schon Hunger. Und er fragte sich, ob es der Anblick von V/204 gelohnt habe, sich diese Strafe einzuhandeln. Jemand tippte ihm auf die Schulter. Er fuhr herum, die Hände zuckten fast automatisch zur Waffe. Noch nie hatte ein Homunkulus gewagt, einen Alphaten zu berühren. Vor ihm stand V/204. Sie hatte ein Paket Nährkonzentrat in der Hand und hielt es ihm entgegen. „Iß, bitte", sagte sie und übergab ihm das Päckchen. „Es schmeckt nicht gut, aber es sättigt!" Alpha/478 hatte noch niemals die Nahrung der Homunkuli zu sich genommen. Es wäre ihm nicht im Traum eingefallen, seiner Gruppe Nahrung wegzunehmen oder sie gar darum zu bitten. Ein wenig hilflos stand er mit dem Päckchen in der Hand am Fenster. V/204 hatte sich wieder zu den anderen gesetzt. Alpha/478 packte das Nährkonzentrat aus, eine grünlichbraune Masse, die eigentlich überhaupt keinen Geschmack hatte, aber das Hungergefühl ließ nach. V/204 lächelte, als sie sah, daß er das Nährstoffkonzentrat aß. Und Alpha/478 versuchte zurückzulächeln. Dritte Verpflegungspause, wieder V/204, wieder ein Stück Nährkonzentrat. Doch diesmal blieb sie neben ihm am Fenster stehen. „Schmeckt euer Konzentrat besser?" „Nein", antwortete er. „Es hat nur eine andere Farbe." „Wenn du willst, kannst du dich zu uns setzen." „Aber ich bin ein Alphat, V/204!" „Weshalb nennst du mich so?" „Es steht auf deinem Arm!" „Wir haben uns schon lange Namen gegeben."
„Weshalb?" „Gefällt es dir, wenn man dich 478 ruft?" „Ich kenne es nicht anders." „Sag Rhea zu mir. Ich habe mir diesen Namen selbst ausgesucht!" „Rhea",, sagte er nachdenklich. „V/204, Rhea. Ich werde dich in Zukunft Rhea nennen." Wieder versuchte er zu lächeln. Von der Straße her waren Stiefeltritte zu hören. Eine Alphatenkontrollstreife. „An die Arbeit", brüllte Alpha/478. „Pause beendet!" Und er schob V/204 zu ihrer Gruppe. Unsanfter, als er eigentlich wollte. Alpha/478 konnte in dieser Nacht lange nicht schlafen. Rhea! Klang das wirklich besser als V/204? Und hätte er es fertiggebracht, seine Nahrungsmittel mit einem Alphaten oder gar mit einem Homunkulus zu teilen? Denn auch die Homunkuli wurden nur mit den notwendigsten Kalorien versorgt. Wessen Ration hatte er gegessen? Rheas? Oder die von VII/956? Hatte beispielsweise VII/956 auch einen eigenen Namen? Eine Menge Fragen, auf die sich Alpha/478 keine Antwort geben konnte. Wieder war er völlig allein. Je länger er nachdachte, um so weniger gefiel ihm die Nummer 478. Rhea! Rhea und Alexander!
74 Bei Oberst Walker liefen alle Informationen zusammen. Nachdem die Homunkuli-Experimente Jazdanis nun einmal weltweit bekannt waren, mußte gehandelt werden. Vor allem, weil es die Gefahr einer undichten Stelle in der eigenen Gruppe gab. Und die gab es, die gab es sehr wohl. Walker hatte dem Handelsrat nie getraut, aber jetzt hatte sich so viel angesammelt, daß ein Schlußstrich gezogen werden mußte. Die Riesenpanne mit dem Jazdanischen Homunkulus, der sich jetzt von Madrid bis Hanoi durch Eurasien reichen ließ und Stimmung gegen die USA machte, die konnte man zur Not noch Fishers Dummheit zurechnen. Da hatte der Mann einfach die Situation falsch eingeschätzt. Sein Rat, das Wanderfeld-Team ausreisen zu lassen, hatte sich im nachhinein als taktischer Fehler erwiesen, auch verziehen und vergessen. Aber was dann kam, das war mit Dummheit und Fehlern nicht mehr zu entschuldigen, das war der Versuch, seinen eigenen Freunden in den Rücken zu fallen. Der faule Trick mit dem Espurkapazit! Ein Glück nur, daß Professor Jazdani viel weniger von dem Zeug brauchte als vorher geplant. Sonst wäre man ernsthaft in Schwierigkeiten geraten. Miese Ratte Fisher! Und das tollste Stück war die Wahlkampfspende. Fünf Millionen für Doneis, das war eine Kampfansage. Da konnten auch die fünfzehntausend Dollar für Ayres nicht darüber hinwegtäuschen. Dem Handelsrat Fisher weiterhin zu trauen, das hieße, einen Staatsstreich in einer Zeitungsredaktion vorzubereiten. Der Handelsrat hatte sich die Folgen gefälligst selbst
zuzuschreiben. Noch war Zeit, der Präsident wollte Fisher erst in drei Tagen empfangen, Zeit genug für Oberst Walker und seine Leute. Aber Fisher tat etwas, was er noch nie getan hatte, was nicht voraussehbar war. Er fuhr mit dem Wagen ins Weiße Haus. Und das war keine plötzliche Laune von ihm, ihn plagten seit einiger Zeit heftige Leibschmerzen. Nervöse Magenbeschwerden, hätte ihm Doktor Sveder diagnostiziert, ihm ein paar Tage Ruhe verordnet und zwanzig Tropfen, stündlich einzunehmen. Aber es gab keinen Doktor Sveder mehr, leider. Und in diesem Zustand vertrug Fisher das Fliegen nicht. Die Beschwerden hielten zwei, drei Tage an und waren dann für Wochen wie weggeblasen. Deshalb wies er seinen Privatpiloten an, nach Washington zu fliegen und dort zu warten. Vielleicht würde er auf der Heimreise die Maschine benutzen können. Und diese Entscheidung traf er fünf Minuten vor dem geplanten Start. Da war nicht Zeit genug, bestimmte Maßnahmen wieder rückgängig zu machen. Noch ehe die Maschine von der Werkspiste abhob, wußte Walker, daß er einen Fehler gemacht hatte. Handelsrat Fisher erfuhr noch während der Fahrt vom Absturz seiner Privatmaschine. Und er bedankte sich bei seinen Magenschmerzen. Und bei Walkers Organisation, die doch nicht allwissend war, wie der Oberst immer behauptete. Präsident Doneis wartete vergeblich auf seinen Besucher aus Nakina, von dem er in manchen Fragen klärende Worte erwartet hatte.
75 XI/2819 saß nachdenklich vor den Bauzeichnungen für die unterirdische Stadt, deren Aufbau sich langsam seiner Vollendung näherte. Während an den drei letzten Wohnzeilen noch die Fundamente ausgebrannt wurden, lagerte man in die fertigen Häuser schon die ersten Lebensmittel ein. Die zu Lastfahrstühlen ausgebauten ehemaligen Bruträume fuhren in ununterbrochener Reihenfolge ungeheure Mengen tiefgefrorener Nahrungsmittel heran, die mit Spezialfahrzeugen in die fertiggestellten und vorgefrosteten Lagerräume der Wohnhäuser gefahren werden mußten, Nahrungsmittel, die sich erheblich von den Nährkonzentraten der Homunkuli unterschieden, die weit vielseitiger waren als die Tablettennahrung, die sie und die Alphaten erhielten. Sie lagerten also Nahrungsmittel ein, die von Menschen verzehrt werden würden. Und die, ähnlichen Kalorienbedarf vorausgesetzt, für einige Jahre ausreichten. Nun gut, es war Sache der Menschen, wo sie wohnen wollten. Weshalb nicht einige hundert Meter unter der Erde? Und weshalb nicht mit Nahrungsmitteln für Jahre im voraus versorgt? Aber was sollte aus den Homunkuli werden? Und aus den Alphaten? Für sie wurde jedenfalls keine
nennenswerte Menge Nährkonzentrat eingelagert, und für sie wäre auch kein Platz, wenn die Menschen die Stadt besiedeln würden. Sie mußten die Höhle also verlassen. Aber wohin? Etwa in Anabiose? XI/2819 hatte vor der Anabiose Angst. Das Abkühlen und das Aufwecken waren schmerzhaft, und selbst während des Kälteschlafes war man noch halb bei Bewußtsein, ohne jedoch das mit irrsinniger Geschwindigkeit ablaufende Umweltgeschehen begreifen oder gar deuten zu können. Ohne sich zur Wehr setzen zu können. Wach war man, ohne zu leben. Oder lebte man, ohne wirklich wach zu sein? Man vegetierte in einem Zustand ständiger Furcht. Es war, als sei man unaufhaltsam im Fallen begriffen und unfähig, diesen Sturz aus eigener Kraft aufzuhalten. Oder existierte man schon gar nicht mehr? Wartete man noch auf den nächsten Herzschlag, der alle sieben Minuten das zähe Blut durch die Adern preßte und der die Brust zu sprengen drohte? Wartete man auf ihn, oder fürchtete man sich vor ihm? Erwartete man die Nadelstiche, die das halbflüssige Blut verursachte, wenn es nach dem Herzschlag träge ein paar Zentimeter in Händen und Füßen weiterrutschte? Oder fürchtete man sich vor diesen Stichen? Fürchtete man den eisigen Atemzug, zu dem ein müdes Gehirn alle zwei Minuten zwang und bei dem man die Anabiosekälte in sich hineinzog? Oder fürchtete man in Wirklichkeit den Moment, in dem das Gehirn diesen Befehl vergessen würde, in dem man in der Kälte ersticken würde? XI/2819 hatte panische Angst vor jedem Anabiosezustand, gleichgültig, ob er nur Wochen oder Monate oder gar Jahre dauern sollte. Denn ein Zeitgefühl gab es nicht mehr. Nur diese peinigende, alles in Besitz nehmende Kälteangst. Aber die Anabiosefurcht war nicht die hauptsächliche Sorge des Homonkulus XI/2819. Seine Sorgen waren wesentlich größer, seit es einem Trupp Nachrichtentechnikern der Versuchsreihe VIII gelungen war, die Videoantennenleitung der Menschen anzuzapfen. Und das hatten bisher weder Vallon und die Alphaten noch Oberst Walker bemerkt. Empfangsgeräte standen in den Wohnräumen in genügender Menge zur Verfügung. Die Bilder, die von den Delegierten aller Versuchsserien täglich empfangen wurden, waren eine Sensation. Zum erstenmal nahmen die Homunkuli am Leben der Menschen auf der Erde als Beobachter teil. Und dieses Leben faszinierte sie. Sie hatten geglaubt, über die Erde ausreichend informiert zu sein. Aber diese Bilder unterschieden sich derart vom festgefügten Weltbild der Homunkuli, daß man beschloß, eine kleine Arbeitsgruppe unter Leitung von IX/418 zu beauftragen, der nächsten Wahlmännerberatung eine Interpretation zu erarbeiten. Trotzdem, wo immer Homunkuli ungestört von Menschen und Alphaten miteinander reden konnten, ging es um diese atemberaubenden Bilder. So auch, als X/969 das kleine Zimmer der zentralen Bauleitung betrat. X/969 und XI/2819 waren für die Organisation der
Wahlmännerberatung verantwortlich und trafen sehr oft zusammen, auch zwischen ihnen waren die Videoprogramme eines der Hauptgesprächsthemen. „Was meinst du?" fragte X/969, „was zeigen sie uns mit diesen Informationen?" „Warten wir den Bericht ab", antwortete XI/2819. „Ich weiß aber inzwischen, daß die Informationen nicht für uns bestimmt sind. Sie wissen nach wie vor nicht, daß wir die Bilder empfangen können. Wenn sie uns mit Informationen versorgen wollten, hätten sie uns längst eine eigene Empfangsanlage zur Verfügung gestellt. Im Gegenteil, sie haben alles getan, um uns diese Informationen vorzuenthalten!" „Weshalb werden sie das getan haben?" „Ich kann vor dem Bericht von IX/418 nicht viel sagen. Ich habe ja auch nicht alle Bilder gesehen. Aber die Menschen verhalten sich sehr merkwürdig. Sie baden im offenen Meer, sie verlassen bei Regen ihre Wohnunterkünfte. Und das zu Tausenden! Ich frage mich, ob sie vielleicht gegen Radioaktivität immun sind? Das Meer hat schließlich über zweihundert Röntgen. Jeder Homunkulus weiß das!" „Mir ist vor allem die üppige Vegetation aufgefallen", sagte X/969. „Überall schießen Pflanzen aus dem Boden, eine Unmenge von Pflanzen! Eine Vielzahl von Tieren, solche, die im Meer schwimmen trotz der zweihundert Röntgen, und solche, die in der Luft fliegen. Das sind immer wieder verblüffende Eindrücke. Ich kann gut verstehen, daß alle Homunkuli begierig sind, diese Phänomene erklärt zu bekommen!" „IX/418 hat seinen Interpretationsversuch erarbeitet. Wir können die vierte Wahlmännerberatung einberufen. Aber er sagte mir, daß diese Konferenz mindestens zwei Tage dauern müßte. Keine einfache Aufgabe für uns, eine solche Beratung störungsfrei durchzuführen!" Die beiden Homunkuli beugten sich über den Stadtplan. Erst nach längerer Suche waren sie der Meinung, einen sicheren Ort gefunden zu haben. Vierte Wahlmännerberatung aller Homunkuliversuchsreihen. Als einziger Punkt stand der Versuch einer Interpretation der empfangenen Videoinformationen durch die Arbeitsgruppe unter IX/418 auf der Tagesordnung. Die Konferenz tagte in einem der fertiggestellten Wohnhäuser, das, von außen verschlossen und versiegelt, vor der Kontrolle durch eine Alphatenstreife relativ sicher war. Im großen Wohnraum herrschte atemlose Stille, als die Arbeitsgruppe das Zimmer betrat und IX/418 das Wort nahm. „Liebe Freunde", begann IX/418, „unsere bisherigen Beratungen waren erfolgreich. Die einzelnen Versuchsreihen haben sich besser kennengelernt, haben mehr Vertrauen zueinander gewonnen, die vorhandenen Bildungsunterschiede
wurden in vielen Stunden Unterricht weitgehend ausgeglichen. Dabei haben alle Versuchsreihen voneinander lernen können, wir sind alle klüger geworden. Die Frage sei mir gestattet, weshalb wir diese gewaltigen organisatorischen Anstrengungen unternommen haben. Wir haben im Grunde unsere Situation nicht zu ändern vermocht. Aber wir haben unsere Würde verteidigt, unsere Würde als selbständige, als denkende Wesen. Als Wesen, die mehr sind als seelenlose, dem innewohnenden Programm folgende Automaten. Und ich bin sicher, daß wir auch den Kampf um die Alphaten gewinnen werden, gewinnen müssen. Denn wenn die Interpretation stimmt, die die Arbeitsgruppe geben muß, dann kämpfen wir in Zukunft nicht nur um unsere Würde, sondern um unser Leben. Ja, nicht nur um unser Leben. Um viel mehr! Ihr kennt alle die Bilder, von denen hier die Rede ist, wenigstens zum Teil. Und ich kann mich noch gut erinnern, daß eine ähnliche Darstellung auf unserer ersten Zusammenkunft schon einmal eine große Rolle gespielt hat. Als wir diese Sendungen aufzeichneten und einige von ihnen wieder und wieder betrachteten, fragten wir uns zuerst, in welcher Zeit das dargestellte Geschehen spielen mochte. Es stand schließlich vor uns die Frage, ob entweder unser eigenes, sozusagen angeborenes Weltbild völlig falsch war oder ob die Informationen, die wir empfingen, nicht die Gegenwart widerspiegelten. Die Vielzahl der Informationen erlaubte uns nicht nur einen gewissen Überblick über längere Zeitabläufe des menschlichen Lebens, sondern auch die Einordnung des Geschehens in historische Kategorien. Der technische Stand, der in der Mehrzahl der Sendungen gezeigt wurde, übertraf in Einzelheiten unseren eigenen Stand. Daraus mußten wir folgern, daß wir Bilder der Gegenwart sahen. Aus dieser Schlußfolgerung ergaben sich für unser Team zwei Fragen. Erstens: Welches Weltbild besitzt der Mensch der Gegenwart? Zweitens: Welcher historischen Epoche entsprechen unsere eigenen Vorstellungen von der Welt, die in unseren Augen, unabhängig vom Bildungsgrad der einzelnen Serien, immer eine zerstörte, eine regenerationsbedürftige Erde ist? Wir haben uns gefragt, ob wir sozusagen geistig in fernster Vergangenheit leben, aber wir haben diese Möglichkeit rasch ausschließen müssen, als wir uns näher mit den Menschen befaßten und damit zwangsläufig zu erschrekkenden Ergebnissen kamen. Vor allem, es ist falsch, wenn wir immer von ,den Menschen' sprechen. Schon die wenigen Menschen, die wir unter Tage kennengelernt haben, unterscheiden sich viel stärker voneinander als wir in unseren verschiedenen Versuchsreihen, stärker, als wir uns selbst von den Alphaten unterscheiden. Betrachten wir nur Fred Vallon und Professor Claverie oder Doktor Nace und Oberst Walker. Größere Gegensätze kann
man sich innerhalb einer Art kaum vorstellen. Doch die Unterschiede der Menschen auf der Erde scheinen noch viel krasser zu sein, und das nicht nur von der Gestalt, vom Körper her gesehen, sondern vor allem von ihrer geistigen Prägung her und der Art, wie sie diese Prägung vertreten. Sie leben in Organisationsformen, die sie ,Staat' nennen, oft zu Milliarden. Der entscheidende Punkt aber ist, daß einige dieser Staaten den anderen Staaten feindlich gesonnen sind und daß alle Staaten über Waffen verfügen, die ihre Zerstörungskraft aus der Kernenergie gewinnen und starke Radioaktivitäten hinterlassen. Das ist die entscheidende Erkenntnis, von der alle unsere weiteren Überlegungen auszugehen haben. Stellen wir uns nun vor, einer der Staaten setzt seine Kernwaffen konzentriert ein. Was bliebe von der Erde übrig? Wir wissen es, wir wissen es ganz genau. Eine Welt, die exakt unseren Vorstellungen entspräche. Unser Weltbild ist das Weltbild der Zukunft! Und welcher Staat diesen totalen Zerstörungskrieg plant, können wir uns an allen zehn Fingern ausrechnen. Der Staat nämlich, der uns geschaffen hat, der uns dieses Weltbild einimpfte, um mit unserer Hilfe die ganze Welt zu beherrschen!" „Unmöglich", rief ein weiblicher Homunkulus. „Es gibt eine Tötungshemmung, die die eigene Art sicher vor der Selbstvernichtung schützt!" „Man kann sie abbauen", widersprach ihr IX/418. „Die Existenz der Alphaten beweist, daß das nicht einmal sehr schwierig ist. Eine Frage des Programms, bei den Menschen eine Frage der Erziehung. Sie wachsen von klein auf mit einem Feindbild vor Augen auf, der Feind wird nach und nach 'entmenscht' und so aus der Tötungshemmung ausgeschlossen als Nichtmensch, als Feind eben. Um das zu beweisen, haben wir Bildmaterial gesammelt, das wir euch gern zeigen möchten." Er schaltete einen Videorecorder ein. Auf dem Bildschirm des Betrachtungsgerätes war eine Kampfszene zu sehen, vermutlich schon aus dem vorigen Jahrhundert. Gepanzerte Fahrzeuge rollten durch das Bild, Schüsse wurden abgegeben, man sah Leichen entlang einer Straße liegen. Überall am Himmel Flugzeuge, brennende Häuser im Hintergrund, Menschen, die sich durch die Flucht in Sicherheit zu bringen suchten und die doch größtenteils erschossen wurden oder von Bombensplittern getroffen. „Es handelte sich um eine historische Sendereihe, aus der wir diese Aufnahmen geschnitten haben", erklärte IX/418. „Sie berichtete über einen sogenannten zweiten Weltkrieg. Man muß annehmen, daß dieses Ereignis längere Zeit zurückliegt. Und natürlich hat sich die Waffentechnik seitdem erheblich verbessert. Selbst die normalen Laserwaffen unserer Alphaten waren damals offensichtlich noch unbekannt. Heute ist die Technik derart entwickelt, daß sich die Erde innerhalb weniger Stunden, vielleicht gar
Minuten, in die Halbwüste verwandeln läßt, die uns geläufig ist. Eine Behauptung, die durch dieselbe Sendereihe gestützt wird." Die Wahlmänner beobachteten mit Entsetzen die Bilder vom Abwurf und von den Zerstörungen der Atombomben von Hiroshima und Nagasaki. „Der Gedanke ist so furchtbar", sagte V/204-Rhea, „daß sich in mir alles dagegen wehrt. Wo läge der Sinn für eine Zerstörung, die kein Mensch überleben könnte?" „Die Annahme, daß kein Mensch überleben würde, ist falsch, Rhea. Wir haben ausgerechnet, daß man in einer Stadt wie der unseren, gut dreihundert Meter unter der Erde, einen derartigen Krieg sehr gut überleben könnte. Und sehr lange, was die Lebensmittelvorräte beweisen, die täglich hier eingelagert werden!" „Wenn deine Interpretation stimmt", sagte X/969 langsam, „und niemand von uns kann daran zweifeln, dann benötigen die Menschen, um einen solchen Plan durchführen zu können, drei grundlegende Voraussetzungen. Nämlich erstens Kernwaffen zur Zerstörung der anderen Staaten, zweitens uns Homunkuli zum späteren Wiederaufbau der Erde und drittens eine sichere Überlebensstätte für die Menschengruppe, die den Befehl zur Vernichtung der Erde geben wird." „Richtig", bestätigte IX/418. „Und zwei der genannten Voraussetzungen sind schon erfüllt. Es gibt Kernwaffen, das wissen wir, es gibt uns, nun wissen wir auch, wozu wir geschaffen wurden, und an der dritten Voraussetzung arbeiten wir zur Zeit. Wenn wir die Zerstörung der Erde verhindern wollen, haben wir dazu noch so lange Zeit, bis die Bauarbeiten an dieser Stadt vollendet sind." Die Wahlmänner konnten es nicht fassen, wollten es nicht fassen, betrachteten immer wieder die aufgezeichneten Fernsehbilder. Immer wieder, als suchten sie nach einem Fehler in den Behauptungen der Arbeitsgruppe. Aber nach allen Gesetzen der Logik hatte die Arbeitsgruppe die Bilder richtig gedeutet. IX/418 ließ ihnen Zeit. Auch er hatte Zeit gebraucht, um mit dieser Wahrheit fertig zu werden. Sie klammerten sich an Strohhalme. „Du hast vom zweiten Weltkrieg gesprochen", fragte III/39. „Kennst du noch andere kriegerische Auseinandersetzungen?" In dieser Frage schwang die Hoffnung, dieser Krieg möge ein Einzelfall gewesen sein, vielleicht durch eine einmalige Fehlprägung hervorgerufen. Keiner verstand das besser als IX/418. Tage zuvor hatte er sich solche Fragen selbst gestellt. „Wir wissen mit Sicherheit, daß es zuvor einen ersten Weltkrieg gegeben hat. Über noch weiter zurückliegende Ereignisse liegen uns keine Bildinformationen vor. Aber das ist möglicherweise eine rein technische Frage. Die Menschen beherrschen die Bildaufzeichnung noch nicht sehr lange. Um so mehr Bildmaterial gibt es allerdings über Kämpfe
nach dem zweiten Weltkrieg. Die Ländernamen sagen euch nicht viel, da tauchen Begriffe auf wie Korea, Suez, Vietnam, Südafrika. Auf jeden Fall können wir beweisen, daß der zweite Weltkrieg nicht die einzige zwischenmenschliche Tötungsaktion war." Eine Hoffnung war dahin, an eine weitere klammerte man sich. „Kann es sein, daß diese Kriege wie Krankheiten periodisch auftreten? Gibt es Medikamente dagegen?" „Nein, über solche Medikamente ist nichts berichtet worden. Und ich halte es für unwahrscheinlich, daß wir eine solch wichtige Information übersehen haben könnten." Die entscheidende Frage rückte näher, IX/418 wußte noch nicht, wie sich die Wahlmänner verhalten würden. XI/2819 stellte sie. „Wollen wir versuchen, diesen Krieg zu verhindern?" Kein euphorisches „Ja!". Nachdenkliche Gesichter. Eine Menschheit retten, die offensichtlich gewillt war, sich selbst zu vernichten, die einen großen Teil ihrer Kräfte und Möglichkeiten darauf verwandte, möglichst perfekte Waffen zu erfinden? Was hatte diese Menschheit zu bieten, daß es sich lohnen würde, gerettet zu werden? IX/418 spürte diese Fragen, weil er sie sich selbst schon gestellt hatte. Mehr als einmal. „Sie kennen Gefühle, die uns noch weitgehend fremd sind, Liebe zwischen Mann und Frau, Glück und Lebensfreude." Kritisch wurde das von ihm ausgewählte Bildmaterial betrachtet, fast mißtrauisch. Liebe. Die Bilder blieben ohne Eindruck. Ja, einige meinten sogar, auch darin zeige sich eine unverhüllte Aggressivität. IX/418 war verzweifelt. Weshalb stellten die Menschen ihre Freuden nicht in besseren Bildern dar? Weshalb faßten die Informationen nur das Negative? „Sie haben Kinder", sagte er. „Und diese Kinder werden von ihnen selbst geboren." Er hatte nicht ohne Grund Bilddokumente einer Geburt ausgewählt. „Ein rein biologischer Vorgang, der sie nicht daran hindert, ihre Kinder anschließend zu töten oder töten zu lassen", sagte III/39 bitter. „Nein", widersprach ihm V/578. „Hast du nicht gesehen, wie zärtlich die Frau mit dem Kind umgegangen ist? Wie herzlich die Beziehungen der Menschen untereinander waren?" IX/418 hatte seinen größten Trumpf ausgespielt. Mehr konnte er nicht für die Menschen tun. Mehr wollte er auch nicht tun. Er hatte zuviel Unbegreifliches gesehen in den letzten Tagen. Sein Antrag, den geplanten Krieg mit allen nur möglichen Mitteln zu verhindern, fand nur eine Mehrheit von drei Stimmen. Nur drei Stimmen für die Menschen. Und eine davon war seine eigene.
Die vierte Wahlmännerberatung der Homunkuli beauftragte eine neue Arbeitsgruppe, der auch IX/418 angehörte, praktische Schritte auszuarbeiten, die die Katastrophe abwenden sollten. Sehr viele Möglichkeiten sah man nicht.
76 Handelsrat Fisher wußte, daß er nicht mehr viel Zeit hatte. Und er wußte sehr gut, daß es auf der Welt nur zwei Menschen gab, die die Macht hatten, das Unheil abzuwenden und damit auch sein eigenes Leben zu retten. Zu einem von ihnen mußte er gelangen, unbedingt. Einer davon war Präsident Doneis, aber der war nun unerreichbar abgeschirmt, war die Falle, in die er laufen sollte. So jedenfalls mochte es ein Oberst Walker hoffen. Nein, Doneis schied aus. Doneis würde er unter keinen Umständen lebend erreichen. Flugzeugtrümmer irgendwo im Grasland zwischen Nakina und Washington bewiesen das. Blieb als halbwegs reelle Chance nur noch der andere, Generalsekretär Gontscharow. Und Handelsrat Fisher rechnete sich relativ gute Chancen aus, eine Botschaft kommunistischer Staaten bei den Vereinten Nationen lebend zu erreichen. Denn noch hatte er viel Geld. Und mit Geld konnte man vieles machen. Eigentlich alles! Oberst Walker wußte, daß er nicht mehr viel Zeit hatte, daß ihm Handelsrat Fisher nicht entwischen durfte, daß der Mann einfach zuviel wußte und er ihn zu sehr in die Enge getrieben hatte. Niemand war gefährlicher als einer, der in die Enge getrieben war und zuviel wußte. Nicht auszudenken, wenn es Fisher gelänge, zum Präsidenten vorzudringen. Aber daß das Fishers Ende, bedeuten würde, dafür würde er, Walker, sorgen. Und gleichzeitig war es die beste Gelegenheit, auch Doneis abzuschirmen. Aus Sicherheitsgründen, schließlich war der Wahlkampf auf seinem Höhepunkt. Und Fanatiker gab es genug. Rex Cook wußte, daß er nicht viel Zeit hatte, daß er seine Information schnell zu Geld machen mußte, weil sich jede Neuigkeit verschleißt, weil mit jeder Stunde ihr Wert sinkt. Und Rex Cook wollte seine Neuigkeit so teuer wie möglich an den Mann bringen, Rex Cook konnte es sich gar nicht leisten, auch nur einen Cent zu verschenken. Denn Cook kam direkt aus dem Staatsgefängnis Nakina, und aus diesem Gefängnis war noch nie einer als reicher Mann auf Gottes freieste Erde zurückgekehrt. Cook ging deshalb unmittelbar nach seiner Entlassung in die Innenstadt, zur Fünfundvierzigsten Straße, Ecke einundzwanzigste. Dort hatte die lokale Fernsehstation Nakina ihren Sitz.
Es war für Rex Cook nicht leicht, zum Chefredakteur vorzudringen, zu viele Türen lagen dazwischen. Und vor jeder mußte man ein winziges Stück von dem preisgeben, was man eigentlich verkaufen wollte, nur, um sie zu überwinden, so daß am Schluß eigentlich schon fast alles gesagt war. Trotzdem, nett von den Leuten des Senders, daß sie ihm die Nachricht schließlich für achthundert Usonodollar abgekauft hatten. Eigentlich wollte Rex Cook einen Tausender dafür haben, und verdammt, das war die Information auch wert. Aber soll der Teufel mit den Leuten vom Sender streiten. Achthundert sind auch eine ganz schöne Summe für einen, der die Welt neu entdecken muß! In den Abendnachrichten wurde diese Information an erster Stelle ausgestrahlt und machte einige Leute ziemlich nervös. „Professor Jazdani aus dem Staatsgefängnis Nakina verschwunden!" Eine Behauptung, die der Justizminister der Regionalregierung gar nicht schätzte, absolut nicht. Und eine Nachricht, die von allen großen Nachrichtenagenturen der Welt übernommen wurde. Konteradmiral Duffield wußte, daß nicht mehr viel Zeit blieb. Wenn man die Verhandlungen in Genf in Rechnung setzte, den Rummel, den die Kommunisten weltweit wegen der Jazdani-Versuche inszenierten, den Ungewissen Wahlausgang, die Kürzung des Militäretats, dann konnte man sich leicht ausrechnen, daß der Termin erster Mai 2040 mit Sicherheit schon zu spät sein würde. Er verstand Conchado nicht. Weshalb die Sache so lange hinauszögern? Völlig unverständliches Risiko. Aber mit dem Alten war in solchen Fragen nicht zu reden, da ging militärische Disziplin über alles, selbst wenn sie völlig sinnlos war. Nein, mit Oberst Walker würde er ein deutliches Wort reden müssen. Denn im Grunde waren es nur zwei, die unmittelbar an den Schaltern saßen. Walker mit seiner Überlebensstadt und den Homunkuli und er mit seinen Raketentruppen. Walker schien ein ganz vernünftiger Mann zu sein. Ein bißchen viel Pech in der letzten Zeit. Aber vielleicht würde gerade das ihn gesprächsbereit machen. Oberst Walker wußte, daß nicht mehr viel Zeit blieb, daß der Termin erster Mai 2040 inzwischen einfach unreal geworden war, daß man die Weltöffentlichkeit nicht monatelang mit Ausflüchten hinhalten konnte. Aber mit Conchado war nicht zu reden. Schlimm, wenn alte, starrköpfige Männer das Sagen hatten. Im Grunde gab es nur einen, der wirklich von Bedeutung war, Konteradmiral Duffield mit seinen Raketentruppen! Man mußte mit dem Mann reden; reden, bevor Fisher oder Jazdani oder die Wanderfeld oder der Präsident oder die Presse oder sonstwer Unheil anrichten konnte. Duffield war doch schon immer ein vernünftiger Mensch gewesen, seine Argumente würden ihn bestimmt überzeugen können.
77 Es hatte damit angefangen, daß Alpha/478, der sich insgeheim Alexander nannte, eines Tages nach Beendigung des Arbeitstages zum Homunkulus V/204, der sich Rhea nannte, im barschen Ton sagte: „Du bleibst hier!" Alphaten duldeten keinen Widerspruch. Und Alpha/478 hatte auch keinen erwartet. Rhea setzte sich also gehorsam in eine Ecke und beobachtete, wie Alpha/478 ihre Arbeitsgruppe antreten ließ, durchzählte und zusammen mit den Homunkuli das Haus verließ. Rhea hörte das Sicherheitsschloß klicken. Auf ein Kommando des Alphaten entfernte sich ihre Arbeitsgruppe. Rhea hatte Angst. Jeden Augenblick konnte eine Alphatenstreife das Haus kontrollieren, die Wachposten am Eingang der Unterkunft würden ihr Fehlen bemerken, bemerken müssen. Eine Suchaktion würde beginnen. Und die Alphaten würden kurzen Prozeß mit ihr machen. V/204-Rhea fühlte sich furchtbar allein. Eigentlich zum erstenmal, seit sie existierte. Und allein zu sein war fast so schlimm wie Anabiose. Eine unendliche Zeit verging, in der sich nichts ereignete. Nur auf der Straße die Schritte der Homunkuligruppen und der Alphaten, deutlich voneinander zu unterscheiden. Es wurde dunkel. Rhea wagte nicht, Licht anzuzünden, und fürchtete sich in der Dunkelheit noch mehr. Zusammengekauert saß sie in einer Ecke des großen Wohnraumes. Plötzlich, in Wirklichkeit kaum hörbar, für ihre überreizten Nerven jedoch unwirklich laut das erneute Klicken des Sicherheitsschlosses. „Eine Alphatenstreife", durchzuckte sie der Gedanke. Und sie duckte sich noch stärker in ihre Ecke. Ein Stück Wand wäre sie gern geworden, ein Stück glatte, wärmende, weiche Wand. Wenn das gegangen wäre. Am Lichtspalt sah sie, daß die Tür wieder geschlossen wurde. Und dann erkannte sie seine Stimme. „Rhea", rief er, und das klang wie ein Befehl. Aber jedes seiner Worte klang wie ein Befehl. Er konnte nicht anders. „Hier", antwortete sie leise, wagte aber noch nicht, aus ihrer Ecke aufzustehen. Alexander, der sich noch nicht an die Dunkelheit des Hauses gewöhnt hatte, stieß gegen einen Stuhl. Es polterte, als stürze das ganze Haus ein. Dann stand er vor ihr, sein Schatten verdeckte ein großes Fenster. Und er streckte die Hand nach ihr aus. Sie zitterte. Nicht vor Kälte, nicht nur vor Angst, die Hand Alexanders war warm und groß und weich und trotzdem stark. Eine Hand, unter der man zittern konnte. Aus vielerlei guten Gründen. „Du darfst keine Angst vor mir haben", sagte er befehlend. „Ich bin Alexander!" „Aber sie werden bemerken, daß ich nicht in der Unterkunft bin", sagte sie.
„Und sie werden nach uns suchen." Weshalb hatte sie „uns" gesagt? Der Alphat hatte doch nichts zu befürchten. „Das werden sie nicht", beruhigte er sie. „Laß das meine Sache sein!" Und der Alphat Alexander setzte sich neben den Homunkulus Rhea in die Wohnzimmerecke. Dann schwiegen sie lange. Endlich zog er sie an sich. Und als sie seinen Körper fühlte, die Kraft und die Wärme, und das Schlagen seines Herzens hörte, da verging ihre Angst. Da hätte sie mit niemandem tauschen mögen, hier in der Stadt nicht und vielleicht nicht auf dieser ganzen Erde, von der sie nur ein paar Videobilder kannte. Das Haus hatte alles, was man brauchte, um sich glücklich fühlen zu können. Und der Alphat ergriff ganz selbstverständlich Besitz von diesem Haus, als lebten er und Rhea allein unter diesem Dach, in dieser Stadt, auf dieser Welt. Und Rhea, halb ängstlich, halb voller Entdeckerfreude, ließ sich führen. Draußen war es noch dunkel, als er ging. „Bleib liegen", flüsterte er, „ich hole nur die Arbeitsgruppe." Wieder das Klicken des Sicherheitsschlosses. Rhea sank noch einmal tief in das Wasserbett, das sich jeder Körperform scheinbar widerstandslos anpaßte, weich, warm und viel bequemer als die Schlafstellen in den Homunkuliunterkünften. Rhea beneidete die Menschen, die einmal in diesem Haus wohnen würden, in ihrem Haus. Drei Abende später wieder sein Befehl: „Du bleibst hier!" Aber doch schon fast kein Befehl mehr, schon fast eine Bitte oder ein Wunsch. Und diesmal kauerte sie nicht ängstlich in einer Ecke, diesmal durchstreifte sie allein das Haus, ihr Haus. Der Alphat Alexander lernte Worte, die bisher kein Alphat kannte, das Wort „gut", das Wort „schön", das Wort „Liebe". Der Alphat lebte zwei Leben. Am Tage Alpha/478, abweisend, verschlossen, stumm, die Waffe an der Seite wie alle anderen Alphaten. Nachts konnte Rhea mit ihm reden wie mit einem richtigen Homunkulus, nachts wurde er zum Alexander, zärtlich, wißbegierig, mitteilsam. Und Rhea erzählte ihm nach und nach von ihren Problemen, von dem, was sie über die Menschen erfahren hatten. Die Homunkulitechniker hatten nicht ohne Absicht ihr Haus an die Videoleitung angeschlossen. Und so konnte sie dem ungläubigen Alexander das beweisen, was sie sagte. Alexander begriff noch nicht alles. Alexander war ein Alphat. Aber Alexander begriff, daß die Menschen ihm seine Rhea wegnehmen wollten. Für immer vielleicht. Bestimmt für immer. Der Alphat Alexander nahm als Gast an der fünften Wahlmännerberatung der Homunkuli teil. Rhea wußte nicht, daß mit der Zeit ihr Haus nicht das einzige Haus geblieben war, das nachts bewohnt wurde. Unter den Alphaten hatte das Nachdenken begonnen.
78 17. Dezember 2039, drei Uhr vierzig. Es mußte schon triftige Gründe dafür geben, daß Professor Nakamura in der Wohnung Doktor Solveg Wanderfelds anrief. Und der Japaner, freundlich wie immer, entschuldigte sich auch zuerst für die ungewöhnliche Zeit seines Videophonats. „Aber glauben Sie mir bitte, verehrte Kollegin, jede Minute ist kostbar. Ich habe Ihnen schon einen Wagen schicken lassen!" Wenn Professor Nakamura mitten in der Nacht anrief, dann handelte es sich in der Regel um ernsthafte Komplikationen in der Klinik oder um einen Fall, für dessen Behandlung die Ärzte Solveg Wanderfeld konsultieren wollten. Für alle solche Fälle hatte Solveg neben ihrem Bett einen kleinen Handkoffer griffbereit stehen, für einen, für zwei Tage ausreichend. Aber die rasche Fahrt mit Sondersignal ging nicht zum Institut, der Wagen hielt vor der Zentralverwaltung der Internationalen Akademie. Professor Nakamura kam ihr schon auf der Treppe entgegen. „Ich habe eine dringende Bitte des Generalsekretärs", empfing er sie. „Genösse Gontscharow bittet Sie um Ihre sofortige Unterstützung. Ich soll Sie begleiten. Der Generalsekretär bat ausdrücklich darum, Sie zu wecken!" Im Hof des Akademiegebäudes stand ein startbereiter Helikopter. Vier Uhr fünfzig. Zum zweitenmal saß Doktor Wanderfeld dem Generalsekretär gegenüber. Gontscharow sah übernächtigt aus. Es mußte schon einige Besprechungen gegeben haben, die Luft in seinem Arbeitszimmer war zum Schneiden, auf dem großen ovalen Konferenztisch standen gefüllte Aschenbecher und halbleere Kaffeetassen. „Ist Ihnen der Name ,Fisher' ein Begriff?" fragte der Generalsekretär. „Handelsrat Fisher von der General Pharmacy and Chemistry?" „Ja, genau dieser Fisher." „Natürlich", antwortete Solveg. „Das Forschungsinstitut Jazdani unterstand praktisch diesem Mann. Auch wenn es von Professor Jazdani geleitet wurde. Das Geld vergab die General Pharmacy and Chemistry, das Geld vergab Fisher." Generalsekretär Gontscharow reichte ein Foto über den Tisch. „Handelt es sich bei Handelsrat Fisher um diesen Mann?" Solveg nickte bestätigend. „Doktor Wanderfeld", sagte der Generalsekretär ernst, „Sie sind keine Staatsbürgerin der Vereinigten Kommunistischen Staaten. Sie sind deshalb nicht verpflichtet, uns zu unterstützen. Aber wenn Sie sich dennoch dazu bereit erklären würden, wären wir Ihnen sehr dankbar. Es geht um Krieg oder Frieden. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten wollen, muß ich Sie allerdings zu absoluter Geheimhaltung verpflichten, auch Ihren Freunden gegenüber. Zumindestens so lange, bis die Gefahr gebannt ist!"
Solveg überlegte nicht lange. „Wenn ich Ihnen helfen kann, dann werde ich das tun", sagte sie entschlossen. „Gut", entschied Gontscharow. „Ich habe nur eine Frage an Sie. Dieser Mister Fisher ist über eine unserer Botschaften an uns herangetreten und hat uns Informationen zugespielt, deren Glaubwürdigkeit ich Sie zu bestätigen bitte oder aber zu entkräften. Zumindest, was den wissenschaftlichen Teil der Behauptung angeht!" Er reichte. Solveg eine Aktenmappe mit etwa zehn Bogen. Solveg las und verstand plötzlich, weshalb der Generalsekretär in dieser Nacht nicht zum Schlafen gekommen war. „Könnten diese Informationen stimmen?" fragte Generalsekretär Gontscharow eindringlich. „Davon könnte jeder Satz wahr sein", antwortete sie. „Jedes einzelne Wort!"
79 Als eine Abordnung der Nachrichtentechniker zu XI/2819 kam und ihm ihren Vorschlag unterbreitete, hatte er ihre Idee fast als verrückt abgelehnt. Aber je länger er mit den Technikern darüber sprach, um so vernünftiger erschien ihm der Gedanke. Als auch noch die Arbeitsgruppe zugestimmt hatte, war aus der Idee schon beinahe ein fester Plan geworden. Die Nachrichtentechniker waren davon ausgegangen, daß irgendwann irgendwo irgend jemand den Befehl zum atomaren Vernichtungskrieg geben würde. Und wenn derjenige überleben wollte, und davon konnte man nach aller Erfahrung mit der menschlichen Psyche ausgehen, dann mußte dieser Befehl in der unterirdischen Stadt gegeben werden. Die Stadt verfügte aber nicht über eigene Kernwaffen, das hatte man mit Sicherheit ermittelt. Also, der entsprechende Befehl mußte irgendwohin weitergeleitet werden, auf irgendeine Weise. An die Befehlszentrale würde man nicht herankommen können. Die Kabine an der Höhlendecke, ein anderer Raum konnte es nicht sein, denn zu allen anderen Räumen hatten die Homunkuli Zutritt, war ständig mit Fred Vallons Leuten besetzt. Aber schließlich mußte es eine Übertragungsstrecke geben, ein Kabel, eine Laserverbindung, irgend etwas. Und so eine Leitung war nicht Zentimeter für Zentimeter überwachbar. Man konnte also einfach diese Leitung kappen, ein Schnitt und aus! Nein, kann man nicht, belehrten die Nachrichtenexperten. Eine so wichtige Leitung wird aller Wahrscheinlichkeit nach gesichert sein. Durch Kennfrequenzen, durch Rückmeldungen, durch selektive Hochspannungen. Da gäbe es die unterschiedlichsten technischen Möglichkeiten. Auf jeden Fall sei es
ein Unding, die Leitung einfach zu durchtrennen und damit anzunehmen, das Problem sei gelöst. So einfach sei die Nachrichtentechnik nun auch wieder nicht. Das müsse man schon etwas geschickter anstellen. Zwei Tage Zeit würden sie dazu benötigen, wenn keine anderen Aufgaben anstünden. Dafür müsse die Arbeitsgruppe schon sorgen. Was die Nachrichtenhomunkuli nach zwei Tagen vorstellen konnten, war eine technische Meisterleistung. Und entsprechend stolz waren sie auch. Nicht nur, daß sie die Kommandoleitung wirklich gefunden hatten, nein, sie hätten auch alle regelmäßig ein-und ausgehenden Signale analysiert, erfaßt und elektronisch nachgebaut und dann erst die Leitung angezapft. Eine riskante Aktion, denn von der Unterbrechung bis zum fertigen. Anschluß stand nur eine Zeitspanne von eins Komma zwei Sekunden zur Verfügung. Eine Fehlschaltung durfte nicht vorkommen. Bei solchen Anforderungen zitterten auch die Hände von Nachrichtenexperten, stieg auch der Blutdruck von Homunkuli. Aber jetzt konnte man über diese aufregende Sekunde nur lächeln. Jetzt war man in der Lage, jedes beliebige Signal zu unterdrücken oder selbst zu geben, einfach mit einem Schieberegler. Jetzt kontrollierte man die Kommandozentrale. Jetzt stand gegen einen Krieg der Menschen die Elektronik der Homunkuli. Der Krieg würde keine Chance haben, dafür war gesorgt. Und für mehr war gesorgt.
80 16. Dezember 2039, einundzwanzig Uhr fünfzig Ortszeit. Etwa zur gleichen Zeit, als Doktor Wanderfeld und Generalsekretär Gontscharow über Fishers Informationen berieten, saßen sich in der Nähe Nakinas Oberst Walker und Konteradmiral Duffield gegenüber. Saßen sich lächelnd gegenüber, hatten alle bilateralen Probleme gelöst. In harten Verhandlungen. Hatten den „Tag X" auf den achtzehnten Dezember vorverlegt. Damit wären Conchado, Sears und Gruneisen ausgeschaltet. Die Zeit des Redens war vorbei, schnell zu handeln galt es jetzt, sehr schnell. Eigentlich brauche ich Duffield nur für dieses eine Kommando, dachte Walker, weil die Struktur seiner Stimme im Computer der operativen Raketentruppen als befehlsberechtigt gespeichert ist. Zusammen mit der des Präsidenten. Und weil Befehle dieser Art nur durch eine der beiden Stimmen ausgelöst werden konnten. Danach wird man sehen müssen. In der Stadt 34P/37 hat nur einer von uns Platz, weil es dort nur eine Zentrale gibt. Walker glaubt die Stadt zu beherrschen. Duffield lächelte seinem Gegenüber zu. Walker glaubt die Alphaten zu beherrschen, es wird also auf meine Leute ankommen. Die Schlüsselpositionen sind zu besetzen. Nicht ohne
Grund habe ich dieser Stadt regelmäßig meine Besuche abgestattet und die Augen offengehalten. Dort unten gibt es nur eine Zentrale. Zweiundzwanzig Uhr Ortszeit. Sowohl Walker als auch Duffield hatten die Listen der Überlebenden abgeschlossen. Schon seit Tagen. Und die Kommandos waren startklar, die die Leute mit oder gegen ihren Willen nach 34P/37 befördern sollten. Die beiden Gentlemen gaben gleichzeitig die entsprechenden Befehle aus. Eine Jagd ging los, eine Hetzjagd. Es ging um Sekunden, es ging um die Macht. Um die Macht über 34P/37, um die Macht über die Welt. Oberst Walker war im Vorteil. Fred Vallon kannte die Stadt wie kein zweiter, und Fred Vallon hatte alle Fäden in der Hand. Fred Vallon war Chef über viertausend Alphaten. Oberst Walker glaubte sich im Vorteil. Er wußte nicht, daß es zwischen Vallon und Duffield längst geheime Absprachen gegeben hatte, daß Duffield gewillt war, Vallon einen größeren Zipfel der Macht zuzugestehen als Walker. Tausend Überlebenseinheiten hatten sie sich gegenseitig zugestanden. Aber auch dann schien Walker im Vorteil zu sein. Weil viertausend Alphaten auf seiner Seite stehen würden, befehligt allerdings von Fred Vallon. 17. Dezember 2039, null Uhr acht. Vor dem Haus Doktor Whitackers, eines der besten Chirurgen der Staaten, hielt ein Jeep der Armee. Whitacker wußte nicht, daß sein Name auf einer Liste gestanden hatte. Whitacker war über die Störung aufs äußerste erregt. Whitacker sah nur, daß Leute mit der blanken Waffe in der Hand in sein Haus eindrangen wie Banditen. Daß sie ihn, seine Frau und seine Tochter wie Vieh zusammentrieben, im Nachthemd die Treppen hinunterjagten. Doktor Whitacker schrie vor Empörung, protestierte, wurde gestoßen, griff sich dann plötzlich ans Herz und schlug auf die Stufen. Infarkt, Exitus. Frau und Tochter wurden in den Jeep getrieben. Befehl war Befehl. Kaum zehn Minuten hatte der Spuk gedauert. Niemand in der Nachbarschaft wollte etwas gehört oder gesehen haben. Und das Dienstmädchen schaffte es nicht allein, den schweren Mann die Stufen heraufzuschleifen. Aus Angst, der Jeep könne noch einmal vorfahren oder die Polizei könne kommen und Fragen stellen, packte sie in aller Eile ihren Koffer und verschwand. Zu Fuß. Im Dezember. Whitacker blieb auf der Treppe liegen. Doktor Whitacker war nicht das einzige Opfer dieser Nacht. Von den zweitausend Überlebensträgern hatten eintausenddreihundert, ausschließlich Zivilpersonen, keine Ahnung von ihrem Glück gehabt. Sieben Personen überlebten diese Nacht nicht. Drei von ihnen mußten auf der Flucht erschossen werden, auf der Flucht vor dem Überleben. Zu komisch. Walker lachte. Dennoch waren er und Duffield zufrieden. Kleine Pannen gab es schließlich bei jedem größeren Unternehmen.
17. Dezember 2039, acht Uhr. Die Operation war abgeschlossen. In der Stadt 34P/37 lebten nun etwa zweitausend Menschen. Nur wenige von ihnen wagten sich aus ihren Häusern. Fast alle betrachteten sich nach wie vor als Gefangene einer Macht, mit der man besser nichts zu tun bekäme in diesem Leben. Auf den Straßen sah man fast ausschließlich Militärs in den Uniformen der strategischen Raketentruppen. Und Vallons Leute, unauffälliger, und schwerbewaffnete Alphaten, sehr auffällig. Die Homunkuli waren kaum überrascht, daß sie an diesem Morgen ihre gewohnte Arbeit nicht aufnehmen durften. Sie hatten vorgesorgt. Und es wäre auch nicht nötig gewesen, ihren Marsch in die Anabiosekammern von vierhundert Alphaten überwachen zu lassen. Es gab keinen Widerstand, es gab noch nicht einmal Aufregung. Fred Vallon war stolz auf seine Alphaten. Sie hatten die Homunkuli im Griff, sie würden auch den Rest in den Griff bekommen. Nur keine Angst vor hohen Tieren, vor Walkers und vor Duffields. Wer viertausend Alphaten unter seinem Kommando hat, der steht turmhoch über solchen Leuten. Der braucht sich vor nichts zu verstecken. Der hat seine eigene Sonne, und die läßt er scheinen, wann immer er will. Die Homunkuli hatten gut vorgesorgt. Kaum waren die Türen der Anabiosekammern geschlossen, da stürzten sich die Techniker auf die Temperatursensoren. Und während auf den Kontrollgeräten in der Zentrale die Kälte langsam von ihnen Besitz ergriff, hielt sich die Temperatur in den Kammern konstant auf zweiundzwanzig Grad Celsius. Die Gegenkommandozentrale war in den Anabiosekammern gut abgeschirmt, und kein Signal, kein Befehl, der nicht diese Homunkulizentrale passieren mußte. Die Anabiose würde gegen Mittag des achtzehnten Dezember eingetreten sein. Zu diesem Zeitpunkt etwa rechneten die Homunkuli mit dem entscheidenden Feuerbefehl, der dann eine Kettenreaktion auslösen würde.
81 17. Dezember 2039, zwanzig Uhr, Ortszeit Washington. Präsident Doneis saß an seinem Schreibtisch und überarbeitete noch einmal das Konzept seiner alles entscheidenden Fernsehansprache. Der Gegenkandidat Ayres hatte einen Vorsprung von fast zwei Prozent in der Wählergunst. Und diese zwei Prozent in einer einzigen Fernsehansprache aufzuholen war schwer. Aber nicht unmöglich. Viel, wenn nicht alles, hing von dieser Rede ab. Als das Telefon klingelte, unterbrach der Präsident ungehalten seine Arbeit. Er hatte sich ausdrücklich jede Störung verbeten
und alle Anschlüsse an die Pressestelle des Weißen Hauses durchstellen lassen. Bis auf zwei. Präsident Doneis legte den Redeentwurf zur Seite. Nur zwei Anschlüsse waren bis auf seinen Schreibtisch geschaltet. Das rote Telefon, das ihn ständig mit der atomaren Einsatzgruppe verband, selbst auf Dienstreisen, das sogar nachts neben seinem Bett stand, und die Direktverbindung mit Generalsekretär Gontscharow. Das Krisentelefon, das in der Geschichtsschreibung des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts seinen Ehrenplatz einnehmen würde. Schon mindestens dreimal war durch das direkte Gespräch dieser zwei mächtigsten Amtsträger der Welt eine Katastrophe abgewehrt worden. Der Präsident nahm den Hörer ab. Gontscharow sprach englisch. Seine Warnung bestand nur aus wenigen Sätzen, ungewöhnlichen Sätzen. Zwanzig Uhr neunzehn, Ortszeit Washington. Der Präsident griff zum roten Telefon. Zum erstenmal in seiner Amtszeit. Und der wachhabende Offizier erfüllte den ungewöhnlichen Befehl erst, nachdem der Computer die Stimme des Präsidenten eindeutig identifiziert hatte.
82 18. Dezember 2039, sechs Uhr. Die Stadt 34P/37 lag noch im Dunkeln. In der erleuchteten Kommandozentrale warteten drei Männer, Konteradmiral Duffield, Oberst Walker und Fred Vallon. Duffield hielt den Hörer des roten Telefons in der Hand, auch hier hatte man mit der Tradition nicht brechen wollen, der Oberst stand neben ihm, Fred Vallon lehnte an der Tür und lächelte. Duffield wählte eine sechsstellige Nummer und gab das Losungswort, dann legte er auf. Die längste Minute im Leben dieser drei Männer begann. Nur draußen auf dem Gang die schweren Schritte der Alphatenstreife. Dreißig Sekunden. Jetzt waren die Startrampen von ihrem Tarnbewuchs freigelegt. Die schweren Plattformen zur Seite geschwenkt. Fünfunddreißig Sekunden. Die mächtigen Interkontinentalraketen waren ausgefahren. Vierzig Sekunden. Die Atomsprengköpfe waren scharf. Fünfundvierzig Sekunden. Die Computer berechneten zum letztenmal die Flugkurven, dabei wurden die aktuellen meteorologischen Bedingungen in den Zielgebieten berücksichtigt. Fünfzig Sekunden. Die mächtigen Raketen waren vollgetankt. Die Haltegurte wurden gelöst. Fünfundfünfzig Sekunden. Die Startrampen klappten zur Seite. Zweitausendsiebenhundert Raketen mit insgesamt über achttausend atomaren
Sprengköpfen waren auf das kommunistische Lager gerichtet. Sechzig Sekunden. Das rote Telefon auf dem Tisch Konteradmiral Duffields klingelte. Jetzt brauchte er nur noch die verabredete Nummer zu wählen, das zweite Losungswort zu nennen, und das Inferno würde über diese Welt hereinbrechen. Duffield wählte die Nummer. Duffield gab das Losungswort. Im selben Augenblick winkte Oberst Walker mit der Hand. Fred Vallon zog seine Laserwaffe. Weder Duffield noch Walker wollten es im ersten Augenblick glauben. Dann hoben sie die Hände. Die gemeinsame Wut machte sie ähnlich, machte sie sofort wieder zu Verbündeten. Fred Vallon wußte das. Fred Vallon schrie nach seinen Alphaten und trat einen Schritt zur Seite, als die Streife mit gezogenen Waffen in die Zentrale gestürmt kam. Eine Sekunde später. Entsetzen in Vallons Augen, als der Alphat Alexander seine Waffe auf ihn richtete. Fred Vallon kannte seine Alphaten. Wußte, wann er verloren hatte. Konteradmiral Duffield wußte das nicht. Versuchte sich mit einem gewaltigen Satz aus der Zentrale zu retten und sich in Sicherheit zu bringen, denn draußen gab es Leute, auf die er sich verlassen konnte. Noch beim ersten Schritt traf ihn der Laser, riß ihm die Beine vom Boden. Der rechte Fuß schien am heißen Boden festzukleben. Konteradmiral Duffield war verwundet. Sechs Uhr drei. In der Stadt 34P/37 wurde es plötzlich hell. In der Stadt 34P/37 öffneten sich unerwartet die Tore der Anabiosekam-mern. In die Stadt strömten Tausende von Homunkuli, diszipliniert, verantwortungsbewußt. Nur ganz vereinzelt kam es zwischen Alphaten zu Auseinandersetzungen. Einige Dutzend von ihnen hatten nichts lernen, nichts begreifen wollen und wurden nun entwaffnet. Die Arbeitsgruppe mit XI/2819 an der Spitze betrat die Zentrale, dort hatte man Duffield einen Stuhl gebracht, Walker und Vallon standen mit erhobenen Händen an der Wand. „Ihr sollt miterleben, was ihr befohlen habt", ordnete XI/2819 an. Die drei Menschen mußten sich vor das Kontrollpult setzen. Die Meßgeräte wiesen für die Erdoberfläche eine Strahlendosis von sechshundert Röntgen nach. Wie eine riesige Walze jagte die Strahlungsfront über die Kontinente. Blendendes Licht deckte die Städte zu. Dort oben war die Hölle los. Das sagten die Meßwerte. Und niemand würde übrigbleiben, niemand. Und die diese Minuten überleben würden, würden in den kommenden Todeswochen die beneiden; die das Glück gehabt hatten, auf der Stelle zu sterben. „Die Homunkuli dieser Stadt haben einstimmig beschlossen, euch, Konteradmiral Duffield, Oberst Walker und Fred Vallon, aus der Stadt zu verweisen. Ihr wolltet eine Welt haben, wie sie jetzt oben ist. Lebt in ihr!"
Mit Gewalt wurden die drei, die sich jetzt auf Leben und Tod miteinander oder mit dem Teufel verbündet hätten, von den Al-phaten zur Ausgangsschleuse befördert. Nichts konnte einen Al-phaten davon abbringen, seinen Auftrag zu erfüllen, Alphaten waren unbestechlich. Der verwundete Duffield und Oberst Walker begriffen das spät. Vallons Soldaten waren schon in der Schleusenkammer. Entwaffnet, von einem Dutzend Laserpistolen in Schach gehalten. Ein zitternder Haufen. Die Schleusentür schloß sich von innen. Die Hauptschleuse fuhr nach oben. Jetzt dauerte es noch dreißig Sekunden, dann würde die Strahlung durch die äußere Schleusentür brechen. Wenige Sekunden später würde auch die Innentemperatur auf zweihundert Grad ansteigen, Skelette würden von ihnen übrigbleiben. Doch die Temperatur stieg nicht an. Das Schleusentor öffnete sich. Draußen war es dunkel und kalt. Rund um die Schleuse standen Militärpolizisten mit schußbereiten Maschinenpistolen im Scheinwerferlicht. Und das war schlimmer als ein plötzliches Ende. Klare, kalte Luft, Sternenhimmel und hinter den Scheinwerfern die Fernsehkameras. In Handschellen wurden die Kriegsverbrecher Duffield, Walker, Vallon, Jazdani und andere abgeführt. Vor den Augen der ganzen Welt, denn diese Szene wurde in alle Kontinente ausgestrahlt, wurde von allen Stationen übernommen. Unten bauten die Homunkulitechniker ihre Gegenzentrale ab, die all diese Meßwerte, all diese Bilder simuliert hatte. In der Gewißheit, daß sie diese Geräte nie wieder einsetzen mußten.
83 Am fünfzehnten Januar 2040 hatte Generalsekretär Gontscharow zu einer kleinen Feier in das Gästehaus der Vereinigten Kommunistischen Parteien Europas geladen. Seiner Einladung waren Doktor Solveg Wanderfeld, Doktor Ralph Sveder, Doktor Ethel Edmondson, Albert Estling, Ellen Ann Lewis, Doktor Witt und Doktor Neri gefolgt. Dem Homunkulus Jazdani XVII. wurden die Rechte eines Bürgers der Vereinigten Kommunistischen Staaten Europas verliehen. Ab heute hieß er Ralph Jazdani. Um den Vornamen Ralph hatte er Doktor Sveder gebeten. Auch dieses Ereignis wurde in alle Welt übertragen.
Wort- und Sacherklärungen: adult: geschlechtsreif, erwachsen Aminosäuren: Bausteine der Eiweiße (Alanin, Arginin, Asparaginsäure, Asparagin, Cystein, Glutaminsäure, Glutamin, Glycin, Histidin, Isoleucin, Leucin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, Prolin, Serin, Threonin, Tryptophan, Tyrosin, Valin) Chromosom: Kernschleife, Träger der Erbinformation, enthält Gene, besteht aus DNS und dem Eiweiß Histon Desaminierung: Eliminierung einer NH2-Gruppe aus einer chemischen Verbindung DNS: Desoxyribonukleinsäure, Erbsubstanz, im Zellkern in den Chromosomen vorhanden und durch seine Sequenz die Eiweißsynthese bestimmend Embryo: ungeborene Leibesfrucht Epithel: Oberflächengewebe des tierischen und menschlichen Körpers Fertilität: Fruchtbarkeit Gen: kleinste erbinformatorische Einheit, Bestandteil der Chromosomen Homunkulus: auf künstlichem Weg geschaffener Mensch Implantation: Einpflanzung in vitro: allgemein außerhalb des Organismus in künstlicher Umgebung Klon: Gruppe von Lebewesen mit exakt gleichem Erbgut. Kleinster Klon sind eineiige Zwillinge letal: tödlich Morula: durch Teilung der Zygote entstandener Zellhaufen, Beginn der Zellspezialisierung Mutante: Lebewesen, das durch eine Mutation erbliche
Abweichungen von seinen Eltern aufweist mutagene Substanz: Substanz, die Mutationen hervorruft Mutation: Erbsprung,plötzlicheVeränderung derDNS, kommt in der Natur vor und ist dort Hauptweg der Evolution, kann aber auch durch mutagene Einwirkungen künstlich erzeugt werden Neurit: Fortsatz der Nervenzelle Nuklease: Eiweißverbindung, die Nukleinsäure abbauen kann Ontogenese: GesamtheitallerEntwicklungsprozesseeines Lebewesens von der befruchteten Eizelle bis zum Tod Phylogenese: Stammesentwicklung Plazenta: nach der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter entstehendes Organ, in dem die Blutgefäße von Mutter und Embryo ineinandergreifen und in dem sich Gas- und Nährstoffaustausch vollziehen ppm: Maßeinheit der Chemie, Teil pro Million pränatal: vorgeburtlich Protein: Eiweiß Salamandra salamandra: Feuersalamander Scintogramm: modernes Diagnoseverfahren der Medizin, zum Beispiel zur Darstellung der Verteilung radioaktiv markierter Stoffe im Körper Semipermeabilität: Halbdurchlässigkeit Tragant: Bindemittel und Emulgator pflanzlichen Ursprungs Volvox: Kugelförmige Grünalge, kolonienbildend Zygote: Verschmelzungsprodukteinermännlichenund einer weiblichen Geschlechtszelle Fiktive Begriffe: Hydreskin, Khelfrin, Espurkapazit, Pillarwert, REN