Die englische Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »The Power of One« bei William Heinemann Ltd., London
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Die englische Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »The Power of One« bei William Heinemann Ltd., London
Umwelth in weis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltfreundlich. Das Papier enthält Recycling-Anteile. Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany • 1. Auflage • 11/92 Copyright © 1989 by Bryce Courtenay Copyright © der'deutschsprachigen Ausgabe 1991 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Warner Brothers Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck: Eisnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 42041 Lektorat: Thomas Meier / SN Herstellung: Heidrun Nawrot ISBN 3-442-42041-5
e-book - nicht zum Verkauf bestimmt ! scan und k&l by wolf
1 Das war so: Bevor mein Leben richtig losging, widmete ich mich dem üblichen Wimmern und Saugen, in meinem Fall an einem Paar riesiger weicher schwarzer Brüste. Gemäß afrikanischer Tradition wurde ich die ersten zweieinhalb Jahre meines Lebens gestillt, danach wurde meine Zulu-Amme meine Kinderfrau. Sie war ein Mensch, wie geschaffen zum Lachen, sie war warm und weich, drückte mich an ihre Brust und strich über meine goldenen Locken mit einer Hand, so groß, als könne sie meinen ganzen Kopf umfassen. Meine Schmerzen wurden mit einem Lied über einen tapferen jungen Krieger gelindert, der einen Löwen jagte, und mit einem Lied von den Wäscherinnen, die unten auf dem großen Felsen am Fluß wuschen, wohin bei Sonnenuntergang die Paviane von den Hügeln herunter zum Trinken kamen. Mein richtiges Leben begann, als ich fünf Jahre alt war und meine Mutter ihren Nervenzusammenbruch hatte. Ich wurde von meiner wunderbaren schwarzen Nanny mit ihrem großen weißen Lächeln weggerissen und in ein Internat geschickt. Dann begann eine Zeit von gelben Kürbisschnitzen, schwarz verbrannt und bitter an den Rändern, von Kartoffelbrei mit glasigen Klumpen, von Fleisch mit knorpeliger Schwarte in grauer Sauce, gewürfelten Karotten, lauwarmem, wäßrigem Kohl, von Betten, die sich am Morgen selbst durchnäßten, und von einem völlig neuen Gefühl namens Einsamkeit. Ich war der Jüngste in der Schule, zwei Jahre jünger als die anderen Kinder, und ich sprach nur Englisch, diese infizierte Sprache,die
sich wie eine Seuche im geheiligten Land ausbreitete und die reinen Quellen des Afrikanertums verschmutzte. Der Burenkrieg hatte große Feindseligkeiten gegen die Engländer, die rooineks, ausgelöst. Es war ein Haß, der in den Blutkreislauf der Buren eingedrungen war und auch die Herzen und die Denkweise der nächsten Generation vergiftete. Ihren barfüßigen Söhnen war ich das erste lebende Objekt für den angeborenen Haß, den sie für meinesgleichen empfanden. Ich sprach die Sprache, die die Urteile verkündet hatte, die Sprache jener, die ihre Großväter getötet und ihre Großmütter in die ersten Konzentrationslager der Welt gebracht hatten, wo sie wie die Fliegen an Ruhr, Malaria und Schwarzwasserfieber gestorben waren. Für die verbitterten calvinistischen Farmer kamen die Sünden der Väter auf die Söhne, bis ins dritte Glied. Ich war vergiftet. Ich war nicht vorgewarnt worden, daß ich böse war, und es war eine schlimme Überraschung für mich. Ich weinte in mich hinein im Schlafsaal für die Kleinen, als ich plötzlich von zwei Elfjährigen unter meiner scheußlichen, nach Kampfer riechenden Bettdecke her-vorgezerrt und in den Schlafsaal der älteren Kinder geschleppt wurde, wo mir vor dem Kriegsrat der Prozeß gemacht wurde. Natürlich war mein Prozeß ein Zerrbild der Gerechtigkeit. Aber was konnte ich schließlich erwarten? Ich war weit hinter den feindlichen Linien gefangengenommen worden, und jeder, selbst ein Fünfjähriger, wußte, daß das die Todesstrafe bedeutete. Stotternd stand ich da, unfähig, die Sprache des laut tönenden zwölfjährigen Richters zu verstehen, oder den Grund für die allgemeine Ausgelassenheit, als das Urteil verkündet worden war. Aber ich war auf das Schlimmste gefaßt. Ich war mir nicht ganz sicher, was der Tod eigentlich war. Was ich wußte, war, daß er auf der Farm im Schlachthaus Schweinen und Ziegen widerfuhr und hin und wieder einer jungen Kuh. Das Quieken der Schweine klang so fürchterlich, daß er alles andere als ein Vergnügen sein mußte, selbst für Schweine. Und noch etwas wußte ich genau: Der Tod war nicht so gut wie das Leben, und jetzt sollte der Tod mich holen, noch bevor ich richtig begriffen hatte, worum es im Leben eigentlich ging. Ich versuchte meine Tränen zurückzuhalten und wurde weggeschleppt. Es muß eine Vollmondnacht gewesen sein, denn der Duschraum
war in bläuliches Licht gebadet. Die kahlen Granitwände der Duschnischen ragten steil vom nassen Zementboden auf. Ich war noch nie in einem Duschraum gewesen. Er sah so aus wie das Schlachthaus auf der Farm, und er roch auch so, nach Urin und nach blauer Karbolseife, und deshalb dachte ich, daß ich hier sterben würde. Meine Augen waren vom Weinen etwas geschwollen, aber ich konnte sehen, wo die Fleischerhaken hängen sollten. Aus jeder Granitplatte ragte ein Rohr heraus, mit einem runden Knopf am Ende. An einem dieser Rohre würden sie mich aufhängen, und dann würde ich tot sein, genau wie die Schweine. Mir wurde befohlen, meinen Schlafanzug auszuziehen und mich mit dem Gesicht zur Wand in eine der Duschnischen zu knien. Ich sah direkt in das Loch im Boden, durch das all das Blut abfließen würde. Ich schloß meine Augen und sprach leise schluchzend ein Gebet. Aber ich betete nicht zu Gott, sondern zu meiner Nanny. Das schien mir dringlicher zu sein. Wenn sie ein Problem nicht lösen konnte, sagte sie: »Wir müssen Inkosi-Inkosikazi fragen, den großen Medizinmann, er weiß, was man tun muß.« Obwohl wir nie die Dienste des großen Mannes in Anspruch nahmen, schien das keine Rolle zu spielen, es war beruhigend zu wissen, daß er zur Verfügung stand, wenn er gebraucht wurde. Aber es war zu spät, Nanny eine Nachricht zu schicken, geschweige denn, sie von ihr weiterleiten zu lassen. Plötzlich fühlte ich einen Spritzer auf meinem Nacken, und dann rieselte warmes Blut meinen zitternden, nackten Körper hinunter, den kalten Zementboden entlang und in den Abfluß. Komisch, ich fühlte mich nicht tot. Aber so war es halt. Wer weiß schon, wie der Tod sich anfühlt? Nachdem der Richter und sein Kriegsrat auf mich gepißt hatten, verschwanden alle. Es wurde sehr still, nur ein Tropfgeräusch war von irgendwo über mir zu hören, und darein mischte sich mein Schniefen, das klang, als käme es woanders her. Da ich noch nie eine Dusche gesehen hatte, wußte ich nicht, wie man sie anstellt, und konnte mich deshalb nicht waschen. Ich war bisher immer von Nanny in einer Zinnwanne vor dem Küchenofen gebadet worden. Ich war aufgestanden, und sie hatte mich von Kopf
bis Fuß eingeseift, und die zwei Küchenmädchen Dee und Dum, die Zwillinge, kicherten hinter vorgehaltener Hand, wenn meine kleine Eichel eingeseift wurde. Manchmal ragte sie ganz von allein in die Höhe, und dann wurde ganz besonders heftig gekichert. Daher wußte ich, daß sie etwas Besonderes war. Wie besonders, sollte ich bald erfahren. Ich versuchte, mich mit meinem Schlafanzug abzutrocknen, der selbst halb naß war, weil er auf dem Boden gelegen hatte, und dann zog ich ihn wieder an. Ich kümmerte mich nicht um die Knöpfe, weil meine Hände heftig zitterten, und irrte in dem großen, dunklen Haus herum, bis ich meinen Schlafsaal gefunden hatte. Dort kroch ich unter meine Decke, und der erste Tag meines richtigen Lebens lag hinter mir. Ich kann nicht eben sagen, daß der zweite Tag meines Lebens viel besser verlaufen wäre als der erste. Vom Augenblick an, in dem ich erwachte, ging alles schief. Mein Bett war umringt von Kindern, die sich die Nase zuhielten und laut stöhnten. Sie hatten auch allen Grund dazu. Ich stank schlimmer als ein Kaffernklo, schlimmer als die Schweine zu Hause. Schlimmer sogar als beides zusammen. Die Kinder schossen auseinander, als eine riesige Person mit einem Flecken aus dunklem Haar auf der Oberlippe hereinkam. Es war dieselbe Dame, die mich am Vorabend im Schlafsaal zurückgelassen hatte. »Guten Morgen, Mevrou!« riefen die Kinder im Chor, und alle standen am Fußende ihres Bettes stramm. Mevrou starrte mich an. »Komm«, sagte sie mit scharfer Stimme. Sie packte mich am Ohr, drehte mich aus dem stinkenden Bett heraus und führte mich zurück ins Schlachthaus. Mit ihrer freien Hand zog sie mir die offene Schlafanzugjacke aus und zerrte mir die Hose bis zu den Knöcheln herunter. »Fuß hoch«, bellte sie. Verzweifelt dachte ich, die ist ja noch größer als Nanny. Wenn die auf mich pißt, werde ich ganz bestimmt ertrinken. Ich trat aus meiner Schlafanzughose heraus, sie ließ mein Ohr los und stieß mich in die Duschnische. Plötzlich ein zischendes Geräusch, und Nadeln von eiskaltem Wasser bohrten sich in mich hinein. Ich hatte meine Augen fest zugekniffen, aber das Wasser prasselte erbarmungslos auf mich nieder, und tausend Stiche bohrten sich gleichzeitig in meine Haut. Wie konnte soviel Pisse aus einem Menschen herauskommen?
Dann hörten das scharfe Zischen und die Flut eisiger Pisse plötzlich auf; jemand hatte die Dusche wieder abgestellt. Ich öffnete die Augen. Mevrou war verschwunden. Statt dessen stand der Richter vor mir, umringt von den Geschworenen und all den jüngeren Kindern aus meinem Schlafsaal. Als kein Wasser mehr über meine Augen lief, versuchte ich ein dankbares Lächeln. Der Arm des Richters schoß vor, packte mich am Handgelenk und riß mich mit einem Ruck aus der Granitnische. Die Geschworenen bildeten einen Kreis um mich, während ich verängstigt dastand und meinen Hodensack mit meinen Händen verdeckte. Meine Zähne klapperten unkontrolliert, verrückte, gläserne Synkopen in meinem Kopf. Wieder streckte der Richter den Arm aus, packte meine beiden Handgelenke mit einer großen Hand, zog mir die Hände weg und deutete auf meine winzige Eichel. »Warum pißt du ins Bett, rooinek?« fragte er. »He, seht mal, sein Piephahn hat keinen Hut auf!« schrie jemand. Begeistert über diesen absonderlichen Befund drängten sich alle näher heran. »Pisskopy pisskop«, schrie einer der Kleineren, und einen Augenblick später sangen es alle Kleinen im Chor. »Hörst du, du bist ein Pißkopf«, übersetzte der Richter. »Wer hat den Hut von deinem Piephahn abgeschnitten, pisskop?« Ich sah hinunter, wo er hindeutete. Meine Zähne gingen zu einem ruhigeren Trommeln über. Alles sah für mich völlig normal aus, nur die Eichel war leuchtendblau und fast ganz in dem kleinen Hautring verschwunden. Verwirrt schaute ich zum Richter hoch. . Er ließ meine Arme fallen und öffnete mit beiden Händen den Schlitz seines Schlafanzugs. Riesengroß hing sein Piephahn in Höhe meiner Augen aus einer Art Futteral aus zerlumpter Haut. Ein paar verirrte Haare wuchsen um den Schaft, und ich muß sagen, es war nicht gerade ein schöner Anblick. Eins war sicher, eine Menge Ärger lag noch vor mir. Ich war ein rooinek und ein pisskop. Ich sprach die falsche Sprache. Und jetzt sah ich offensichtlich auch noch anders aus. Aber ich lebte, und wo Leben war, da war auch Hoffnung. Am Ende des ersten Schultrimesters hatte ich die Schikanierung meiner Person auf maximal eine Stunde pro Tag reduziert. Die
Kunst des Überlebens beherrschte ich gekonnt. Außer einer Sache: Ich war ein chronischer Bettnässer geworden. Perfekte Anpassung ist unmöglich, wenn man jeden Morgen einen nassen Fleck im Bett zurückläßt. Mein Tag begann mit einer Tracht Prügel von Mevrou fürs Bettnässen, anschließend mußte ich mich allein an die öde Arbeit machen, im Duschraum meine Gummiunterlage zu waschen. Wenn ich die steifen Borsten der großen hölzernen Schrubbürste mit der blauen Karbolseife einrieb, flogen mir ätzende Seifenspritzer in die Augen. Aber ich bekam bald heraus, daß man gar keine Seife brauchte, wie Mevrou gesagt hatte, wenn man das Gummituch kräftig abbrauste, war es auch okay. Meine Morgenroutine hatte auch ihr Gutes. Ich lernte, daß Weinen ein Luxus ist, auf den man als guter Anpasser verzichten muß. Bald hielt ich den Schulrekord im Verdroschen werden. Das sagte jedenfalls der Richter. Es war das erste Mal in meinem Leben, daß ich etwas besaß, was der Anpassung nicht eindeutig im Wege stand. Ich war nicht einfach nur ein gehaßter rooinek und pisskop, ich hielt immerhin auch einen Rekord. Ich fühlte mich großartig. Der Richter ordnete an, daß ich jedesmal nur ein bißchen verprügelt wurde. Hier ein Stoß, da eine Ohrfeige, und wenn ich aufhören könnte, ein pisskop zu sein, würde er dafür sorgen, daß sogar das aufhörte, obwohl er gleichzeitig hinzufügte, daß das für einen rooinek vermutlich unmöglich wäre. Ich muß gestehen, ich war geneigt, mich seiner Meinung anzuschließen. Kein noch so fester Vorsatz, kein Gebet zu Nanny oder sogar zu Gott schien auch nur die geringste Wirkung zu haben. Vielleicht hat es ja auch etwas mit meiner mißratenen Eichel zu tun? Ich bohrte ein Loch in die lasche meiner kurzen Hose, durch das mein Zeigefinger und mein Daumen paßten. Heimlich zog ich an meiner Vorhaut und hielt sie so lange ich konnte über der Spitze der Eichel, in der Hoffnung, daß ich so zu einem normalen Menschen werden würde. Aber außer einer wunden Eichel passierte nichts. Ich war für den Rest meines Lebens dazu verdammt, ein Pißkopf zu sein. Endlich war das Ende des Schultrimesters da. Ich sollte die Maiferien zu Hause verbringen. Zu Hause bei Nanny, die meine traurigen Geschichten anhören würde und die auf ihrer Matte am Fußende meines Bettes schlafen würde, damit mich der böse
Kobold nicht holen konnte. Und vielleicht hatte ja auch meine Mutter aufgehört zusammenzubrechen, und mir würde gestattet, zu Hause zu bleiben. Auf dem Notsitz von Dr. »Henny« Boshoffs blinkendem neuen Chevrolet-Coupe fuhr ich glückstrahlend heim. Dr. Henny spielte als Halbstürmer in der Rugbymannschaft von Nord-Transvaal und war deshalb eine bekannte Nummer in der Gegend. Als der Richter sah, wer mich abholte, schüttelte er mir die Hand und versprach, daß im nächsten Trimester alles besser werden würde. Es war Dr. Henny, der mich als erster vom Nervenzusammenbruch meiner Mutter unterrichtet hatte und der mir jetzt versicherte, daß meine Mutter »sich ganz ordentlich machte«, ihr Nervenzusammenbruch aber noch andauere und sie noch nicht zu Hause wäre. Leider vermasselte mir das alle Chancen, zu Hause bleiben zu dürfen und nie mehr fort zu müssen, bis ich so alt war wie mein Großvater, und nicht mal dann. Als wir im Wagen so dahinbrausten, ich auf dem Notsitz, Wind und Sonne im Gesicht, da war ich auf einmal kein rooinek und kein pisskop mehr, sondern ich war ein großer Häuptling. Wir kamen durch afrikanische Dörfer, in denen gackernde Hühner verzweifelt mit den Flügeln schlagend vor uns flohen, und kläffende Kaffernhunde, nichts als Knochen, Schnauze und scheckiges Fell, nahmen die Verfolgung auf. Natürlich erst, nachdem mein rollender Thron sicher vorbeigefahren war. Ich als großer Häuptling stand natürlich über solchen alltäglichen Vorkommnissen. Das Leben war schön. Das Leben war verdammt schön. Nanny weinte, und die Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften auf ihre riesigen warmen Brüste. Mit ihrer großen dunklen Hand strich sie mir immer wieder über meinen kurz geschorenen Kopf, und sie jammerte und seufzte, während sie mich fest drückte. Ich hatte erwartet, daß ich erst einmal weinen müßte, wenn ich nach Hause kam, aber es mit ihr aufzunehmen, war von vornherein zwecklos. Es war Hochsommer. Die Tage waren erfüllt von Liedern, wenn die Feldarbeiterinnen die Baumwolle pflückten, sich die langen Reihen entlangarbeiteten, schwatzten und in vollkommener Harmonie sangen, während sie die wattigen weißen Bällchen aus den von der Sonne schwarz gebrannten Samenkapseln zupften.
Nanny ließ Inkosi-Inkosikazi eine Botschaft zukommen, des Inhalts, daß wir ihn wegen des Nachtwassers dringend sehen müßten. Die Botschaft wurde mit Trommeln weitergegeben, und zwei Tage später erfuhren wir, daß der große Medizinmann in etwa zwei Wochen auf dem Weg zu Modjadji, der großen Regengöttin, bei uns vorbeikäme. Das Weiße in den Augen von Nanny wurde ganz groß, und ihre Backen blähten sich, als sie über die Macht des großen Inkosi-Inkosikazi sprach. »Er trocknet dein Bett mit einem einzigen Wurf der Schienbeinknochen vom großen weißen Ochsen«, versprach sie. »Läßt er auch Haut über meine Eichel wachsen?« wollte ich wissen. Sie drückte mich an ihre Brust, und ihre Antwort ging in ihrem wogenden Leib unter, als sie glucksend lachte. Das Problem des Nachtwassers wurde heftig von den Feldarbeiterinnen diskutiert. Sie zerbrachen sich den Kopf darüber, warum eine so unwichtige Sache den großen Mann hierher brächte. »Eine Grasmatte zum Schlafen trocknet doch in der Morgensonne! Das ist doch keine ernstzunehmende Sache für den größten Medizinmann Afrikas!« Aus ihrer Sicht hatten sie natürlich recht. Sie mußten ja auch nicht zum Richter und zu Mevrou zurück. Fast auf den Tag genau zwei Wochen später kam Inkosi-Inkosikazi in seinem großen schwarzen Buick an. Der Wagen war ein Symbol seiner ungeheuren Macht und seines Reichtums, selbst für die Buren, die ihn haßten, als sei er der Teufel persönlich, ihn aber wie alle gottesfürchtigen, unwissenden Menschen abergläubisch fürchteten. Niemand wagte es, den Katechismus der Holländischen Reformierten Kirche gegen diesen alten schwarzen Kobold einzusetzen. Den ganzen Tag lang brachten die Feldarbeiterinnen Essensgeschenke. Am späten Nachmittag hatte sich unter dem Avocadobaum neben dem Schlachthaus ein kleiner Berg von Kafferngetreide und Maiskolben, Turban-Kürbissen, Spinat und Wassermelonen aufgetürmt. Bündel von getrockneten Tabakblättern waren daneben aufgeschichtet, und daneben lagen, getrennt durch zwei große indaba - aus Gras geflochtene Matten - sechs magere Kaffernhüh-ner. Tatsächlich waren es zum größten Teil zähe alte Hähne, die vier Stunden lang kochen mußten, ihre Beine waren zusammengebunden und ihre Flügel gestutzt. Sie lagen auf der Seite mit ihren dür-
ren federlosen Hälsen und staubbedeckten kahlen Köpfen. Nur ein gelegentliches Gackern und das plötzliche Öffnen eines glänzenden Knopfauges zeigten, daß sie noch am Leben waren, wenn auch nicht gerade in Hochform. Ein besonders magerer alter Hahn mit grau gesprenkeltem Gefieder sah meinem Großvater, abgesehen von den Augen, sehr ähnlich. Die Augen meines Großvaters waren blaßblau und ein wenig wäßrig, Augen, die dazu bestimmt waren, den Blick über sanft geschwungene englische Landschaften schweifen zu lassen. Die Augen des alten Hahns blitzten dagegen wie rote Glasperlen. Mein Großvater kam die Stufen herunter und ging auf den großen schwarzen Buick zu. Er blieb stehen und versetzte einem der Hähne einen Fußtritt, denn er haßte Kaffernhühner zutiefst. Sein ganzer Stolz galt seinen hundert schwarzen Orpington-Hennen und sechs gigantischen Hähnen. Die Anwesenheit von Kafferngeflügel im Farmhof empfand er als etwa so unpassend wie ein Dutzend schmutzige alte Männer in einer Ballettklasse. Er bewunderte Inkosi-Inkosikazi, der ihn einmal von seinen Gallensteinen befreit hatte, sehr. »Ich schluckte sein ekelhaftes, grünliches Gesöff, und, verdammt, die Steine schossen aus mir heraus wie eine Ladung Schrot! Seitdem keine Spur von Gallensteinen mehr. Meiner Meinung nach ist dieser alte Affe der beste verdammte Doktor im lowveld.« Wir warteten darauf, daß Inkosi-Inkosikazi aus dem Buick ausstieg. Der alte Medizinmann war wie Nanny ein Zulu. Es wurde behauptet, daß er der jüngste Sohn des großen Dingaan sei, des Zulukönigs, der sowohl gegen die Buren als auch gegen die Engländer einen zeitweiligen Waffenstillstand erzwungen hatte. Noch zwei Generationen, nachdem die Buren in der Schlacht am Blood-River seine impis besiegt hatten, lebte die Angst vor ihm weiter. Zwölf Jahre nach dieser Schlacht hatte Dingaan, auf der Flucht vor den vereinigten Streitkräften seines Halbbruders Mpande und den Buren, Zuflucht bei den Nyawo hoch oben in den Lembombobergen gesucht. In der Nacht, in der er von Nyawos heimtückisch ermordet wurde, war er mit einer Jungfrau beehrt worden, und der Samen des zweitgrößten Kriegerkönigs aller Zeiten wurde in ihren vierzehnjährigen Schoß gepflanzt. »Wo ich mich für Blut entschieden habe, wird dieser letzte mei-
ner Söhne sich für die Weisheit entscheiden. Du wirst ihn InkosiInkosikazi nennen, und er wird ein Mann für ganz Afrika sein«, hatte Dingaan zu dem verängstigten Nyawo-Mädchen noch gesagt. So war der kleine verhutzelte schwarze Mann entstanden, der hundert Jahre alt war und dem nun aus dem Rücksitz des Buicks geholfen wurde. Inkosi-Inkosikazis Anzug paßte nicht zusammen, die Jacke war braun und abgewetzt, die Hose blau mit feinen weißen Streifen. Er trug ein weißes Hemd, zu dem ein abnehmbarer gestärkter Kragen gehörte, aber das kragenlose Hemd wurde am Hals von einem großen Knopf aus Gold und Elfenbein zusammengehalten. Ein schäbig aussehender Umhang aus Leopardenfell hing ihm um die Schultern. Wie es üblich war, trug er keine Schuhe, und seine Fußsohlen waren breit und flach und an den Rändern rissig. In seiner rechten Hand trug er eine wunderschöne, mit Glasperlen verzierte Fliegenpatsche, das Zeichen eines großen Häuptlings. Ich hatte noch nie einen so alten Mann gesehen, seine wenigen verbliebenen Haare waren weißer als rohe Baumwolle, kleine Büschel von schneeweißem Barthaar wuchsen an seinem Kinn, und nur drei gelbe Zähne waren in seinem Mund übriggeblieben. Er sah uns an, und seine Augen waren scharf und klar wie die Augen des alten Hahnes. Einige der Frauen begannen schrill zu schreien und wurden sofort von dem alten Mann zurechtgewiesen. »Ihr dummen Weiber! Der Tod fährt nicht mit in meinem großen Motor, habt ihr nicht das Dröhnen seines mächtigen Bauches gehört?« Es wurde still, als mein Großvater näher kam. Er begrüßte Inkosi-Inkosikazi kurz und erteilte ihm die Erlaubnis, auf der Farm zu übernachten. Der alte Mann nickte und zeigte nichts von der üblichen Unterwürfigkeit, die von einem Kaffer erwartet wurde, und mein Großvater schien auch keine zu verlangen. Er schüttelte dem alten Mann einfach die knochige Hand und ging zu seinem Stuhl auf der Veranda zurück. Nanny, die sich wie alle anderen Frauen Erde auf die Stirn gerieben hatte, fing schließlich an zu sprechen. »Herr, die Frauen haben Essen gebracht, und wir haben frisches Bier gebraut.« Inkosi-Inkosikazi beachtete sie nicht, was ich ziemlich mutig fand, und befahl einer der Frauen, den Hühnern die Fesseln abzuneh-
men. Zwei Frauen rannten los, und bald waren die Hühner wieder frei. Sie blieben liegen, weil sie ihrer Freiheit nicht sicher waren, bis der alte Mann die Fliegenpatsche hob und über ihnen herumwedelte. Mit einem plötzlichen Gackern und heftigem Schlagen der gestutzten Flügel erhoben sie sich bis auf eines und stürzten Hals über Kopf davon; ihre langen Beine hoben weit vom Boden ab, als sie aufs offene Gelände zuliefen. Der alte Hahn, der wie Großvater aussah, erhob sich gemächlich, streckte den Hals, schlug mit den Flügelresten, die ihm geblieben waren, schaute nach links und nach rechts und richtete sich auf, als ob er zuhörte. Dann schritt er gelassen zu dem Getreidehaufen hinüber und fing an zu picken. »Fangt die gefiederten Teufel«, befahl Inkosi-Inkosikazi plötzlich. Er kicherte: »Fangt einem alten Mann das Abendessen.« Unter lauten Freudenschreien wurden die Hühner wieder eingefangen. Das Eis war gebrochen, als fünf der Frauen die Hühner kopfüber an den Füßen gepackt hielten und auf weitere Befehle des alten Mannes warteten. Inkosi-Inkosikazi hockte sich hin und zeichnete mit dem Finger einen Kreis von etwa einem halben Meter Durchmesser in den Staub. Er hüpfte herum wie ein alter Schimpanse und zeichnete noch fünf weitere fast gleich große Kreise, während er in sich hineinmurmelte. Als er seine Zaubersprüche beendet hatte, bedeutete er einer der Frauen, ihm einen Hahn zu bringen. Er packte den alten Vogel an seinem langen, dürren Hals und an den Beinen und zeichnete den ersten Kreis noch einmal nach, wobei er den Schnabel des Vogels als Stift benutzte. Dann legte er den Hahn in den Kreis, wo er reglos liegenblieb, die Augen geschlossen. Mit den anderen fünf Hühnern machte er dasselbe, bis jedes vor der versammelten Menge in seinem Kreis lag. Die Zuschauer raunten staunend auf. Es war zwar ziemlich simple Zauberei, aber es reichte, um die Dinge in Gang zu halten. Inkosi-Inkosikazi ließ sich mit gekreuzten Beinen in der Mitte der Palavermatten nieder und winkte mich zu sich heran. Es war das erste Mal, daß er meine Gegenwart zu bemerken schien, und ich klammerte mich voller Angst an Nannys Röcke. Sie schob mich sanft in seine Richtung und flüsterte mir vernehmlich zu: »Du mußt hin, es ist eine große Ehre für dich, nur ein Häuptling darf mit einem anderen Häuptling auf der Palavermatte zusammen sitzen.«
Er hatte den starken, unverwechselbar süßen Geruch nach afrikanischem Schweiß um sich, vermischt mit Tabak und altem Mann. Nach allem, was ich in puncto Gerüchen schon durchgemacht hatte, war seiner gar nicht so übel, und ich setzte mich ebenfalls mit gekreuzten Beinen neben ihn und blickte vor mir auf den Boden. Inkosi-Inkosikazi beugte sich leicht zu mir herüber und sagte auf Zulu: »Morgen zeig ich dir den Hühnertrick. Es ist keine echte Zauberei. Diese dummen Shangaans glauben, es sei Zauberei, aber sie sind es nicht wert, es besser zu wissen.« »Vielen Dank, Sir«, sagte ich leise. Mir gefiel der Gedanke, mit ihm ein Geheimnis zu teilen. Auch wenn es nur ein Trick war, war es ein verdammt guter, der den Richter und die Geschworenen verblüffen würde, wenn ich im Internat ein herumlaufendes Huhn in die Hände bekam. Mein Vertrauen in seine Fähigkeit, meinen Status als Pißkopp zu beenden, wuchs mit jeder Minute. Inkosi-Inkosikazi bedeutete meiner Kinderfrau, sie solle mit der Nachtwassersache beginnen. Zwei Frauen wurden schnell beauftragt, das Feuer im Herd anzumachen, und alle anderen Feldarbeiterinnen setzten sich um die Palavermatten herum und achteten peinlich genau darauf, sie keinesfalls zu berühren. Afrikanische Geschichten sind lange Geschichten, auf alle Einzelheiten wird größter Wert gelegt, damit sie tausendmal wiederholt werden können. Es war ein großer Augenblick für Nanny, als sie in der rasch einfallenden Dämmerung allein dastand und ihre Geschichte erzählte. Sie sprach Shangaan, damit alle sie mit weit aufgerissenen Augen verstehen und an den passenden Stellen stöhnen und nicken und seufzen konnten. Die außergewöhnliche Körpergröße von Mevrou mit ihrem Schnurrbart fanden sie erstaunlich, die Ungerechtigkeiten des Richters und der Geschworenen nahmen sie spielend hin, denn sie wußten alle, daß der Weiße Strafen verhängt, die in keinem Verhältnis zur Tat stehen. Als sie erfuhren, daß der Richter und die Geschworenen auf mich gepißt hatten, murrten sie vor Empörung, schaukelten hin und her und hielten sich die Ohren zu. Zu solch einer Würdelosigkeit war ja wohl selbst der weiße Mann nicht fähig. Wie immer in Afrika war es sehr plötzlich dunkel. Ein Stück grünes Holz krachte laut im Feuer, und Funken stoben auf. Die aufzüngelnden Flammen erhellten Nannys Gesicht; zweifellos würde
sich alle an diese Erzählerin einer großen Geschichte über Elend und Leid erinnern. Die Tränen flossen reichlich, als sie berichtete, wie der Tod schließlich in einem Schauer eisiger Pisse herankam, der sich aus den Lenden des riesigen bärtigen Engels des Verderbens ergoß. Ich war riesig beeindruckt, aber als Nanny an die Stelle kam, wo mein Piephahn keinen Hut hatte, und die war meiner Meinung nach die allerwichtigste, legten die Frauen die Hände über den Mund und begannen - immer noch weinend - zu kichern. Nanny beendete die Erzählung, indem sie den Schluß zog, daß die Sache mit meinem Nachtwasser durch einen bösen Zauberspruch des Todesengels mit dem Schnurrbart und den WasserfallLenden hervorgerufen worden sei, damit sie jeden Morgen zurückkommen konnte, um ihre große Nilpferdpeitsche mit meinem zarten Kinderfleisch zu füttern. Nur ein großer Medizinmann wie InkosiInkosikazi konnte diesen bösen Zauber brechen. Im Schein des Feuers waren die tief schockierten Gesichter der Frauen zu sehen, als sich Nanny schließlich setzte, gegen das heftige Schluchzen ankämpfte und wußte, daß eine solche Geschichte niemals zuvor erzählt worden war und, zu einer Shangaan-Legende geworden, für immer weiterleben würde. Ich kann euch sagen, ich war tief beeindruckt, daß irgend jemand, vor allem ich, solch ein qualvolles Erlebnis durchleiden konnte. Inkosi-Inkosikazi erhob sich, kratzte sich am Hintern und gähnte. Mit dem Griff seiner Fliegenpatsche berührte er meine weihende Kinderfrau und befahl: »Hol mir Kaffernbier, Frau!« Dee und Dum, die Zwillinge, servierten mir das Abendessen, da Nanny sich um die Getränke und anderen Wünsche des mageren alten Zauberers kümmern mußte. Die beiden Mädchen hatten vor Aufregung weit aufgerissene Augen und sagten mir, daß ich der mutigste Mensch sei, den sie jemals kennengelernt hätten. Als es Zeit war, zu Bett zu gehen, war Nanny wie immer bei mir. Sie erschien mit einer großen Süßkartoffel, in ihrem offenen Bäuchlein stak ein Löffel, kleine Dampffäden stiegen kräuselnd auf und schlugen sich am Löffelgriff nieder. Eine Süßkartoffel hat etwas an sich, das einen fröhlich macht, wenn man sich niedergeschlagen fühlt, und das mit einem feiert, wenn man glücklich ist. In der Schale gebackene Süßkartoffeln haben eine sehr wohltuende Wirkung.
Nanny war immer noch ganz aufgekratzt. Sie schnappte mich und drückte mich an ihren riesigen Busen und lachte und sagte mir, wie ich ihr Ansehen vergrößert hätte, dadurch, daß dieser alte Affe hergekommen sei - immerhin der größte Medizinmann von ganz Afrika, wie das Erzählen der Geschichte vom Nachtwasser gezeigt hätte, daß eine Zulufrau eine ausgezeichnete Geschichtenerzählerin sein konnte, die es selbst mit den besten Geschichten der redegewandtesten Shangaan aufnehmen konnte. Ich wies sie darauf hin, daß sie die Sache mit meinem Schulrekord im Verprügeltwerden vollkommen vergessen hatte. Eine große Träne rann ihr die Backe hinab. »Was die Strafen der Weißen anging, da wissen die Schwarzen längst, daß der Körper mit einer Nilpferdpeitsche gebrochen werden kann, aber niemals die Seele. Wir sind die Erde, deshalb haben wir die Farbe der Erde. Am Ende wird die Erde gewinnen, jeder Afrikaner weiß das.« Was immer das auch heißen sollte, es beantwortete nicht meine Frage. Schließlich ging Nanny, nicht ohne vorher die Paraffinlampe anzuzünden und sie herunterzudrehen, allerdings nur so weit, daß ich den bösen Kobold erkennen konnte, falls er sich in mein Zimmer schleichen sollte. »Heute nacht besucht dich Inkosi-Inkosikazi im Traum und findet den Weg, den dein Nachtwasser nimmt«, sagte sie und stopfte die Bettdecke rings um mich fest. Am Morgen nach der Nacht, in der Inkosi-Inkosikazi in meinen Träumen herumging, rief er mich wieder allein zu sich auf die Palavermatte. Aus einem alten Lederbeutel zog er die zwölf magischen Schienbeine des großen weißen Ochsen. Dann, als Vorbereitung auf das Knochenwerfen, kauerte er sich auf seine Schenkel und begann, dunkle Beschwörungen vor sich hinzumurmeln, die wie entfernter Donner klangen. Das merkwürdige knochengelbe Würfelspiel, das mein Bettnässerproblem aus der Welt schaffen würde, klapperte in seinen Händen und fiel dann vor ihm auf den Boden. Inkosi-Inkosikazi schnippte die Knochen mit dem Zeigefinger weg, und während er das tat, entfuhr seiner Kehle wieder leises Donnergrollen. Mit einem abschließenden Grunzen schob er die Knochen zusammen und steckte sie zurück in seinen alten Ledersack.
Inkosi-Inkosikazis Augen, scharfe Lichtnadeln in seinem unglaublich faltigen Gesicht, schienen direkt in mich hineinzublicken. »Ich hab dich in deinen Träumen besucht, und wir kamen an eine Stelle mit drei Wasserfällen und zehn Steinen, die über den Fluß führen. Die Schienbeinknochen des großen weißen Ochsen sagen, ich muß dich dorthin zurückbringen, damit du über die drei Wasserfälle springen und den Fluß überqueren kannst, indem du von Stein zu Stein gehst, ohne in die reißende Strömung zu fallen. Wenn du das schaffst, liegt die unglückliche Angelegenheit mit dem Nachtwasser hinter dir.« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Schließlich sind fünfjährige Kinder ziemlich schlecht im Lösen von Rätseln. Sein Gesicht wurde noch affenähnlicher, als er kicherte: »Wenn du das geschafft hast, dann zeig ich dir den Trick mit den schlafenden Hühnern.« Ich hatte die verwischten Reste der Kreise von gestern abend gesehen, aber keine Hühner. Ich nahm an, daß sie inzwischen verspeist worden waren. Hoffentlich nimmt er keins von Großvaters Orpington-Hühnern, das gäbe einen Krach, dachte ich. »Jetzt hör mir gut zu, Junge. Paß auf und hör zu«, wiederholte er. »Wenn ich dir sage, daß du deine Augen schließen sollst, dann tust du das, hast du verstanden?« Ängstlich, um ihm zu gefallen, kniff ich meine Augen fest zusammen. »Nicht jetzt! Erst wenn ich es dir sage. Und nicht so fest, sondern so, wie du es machst, wenn sie nach einem langen Tag schwer geworden sind und es Zeit zum Schlafen ist.« Ich öffnete die Augen und sah, daß er direkt vor mir hockte, seine wunderschöne Fliegenpatsche schwebte ein wenig über meiner Augenhöhe. Der Büschel aus Pferdehaaren schwang leicht hin und her. »Schau den Pferdeschwanz an.« Meine Augen folgten der Fliegenpatsche, wie sie hin und her pendelte. »Jetzt ist es Zeit, daß du deine Augen schließt, aber nicht deine Ohren. Du mußt gut zuhören, denn das Wasser rauscht sehr laut.« Plötzlich erfüllte ein Rauschen meinen Kopf, und dann sah ich die drei Wasserfälle. Ich stand auf einem Felsvorsprung direkt über dem höchstgelegenen. Weit unter mir strömte der Fluß und verschwand schäumend in einer engen Schlucht. Da, wo das Wasser in die Schlucht schoß und weiß aufschäumte, entdeckte ich wie Zähne aus Anthrazit die zehn Steine, über die ich gehen sollte.
Inkosi-Inkosikazi sprach mit sanfter, fast zärtlicher Stimme zu mir. »Es ist spät, die Buschtauben spüren das Herannahen der Nacht und sind schon still. Es ist die Zeit, wo das weiße Wasser gewaltig rauscht, wie immer, wenn es in Dunkelheit gehüllt ist. Du stehst auf einem Felsen über dem höchsten Wasserfall, ein junger Krieger, der seinen ersten Löwen erlegt hat und der jetzt würdig ist, im Heer von Dingaan zu kämpfen, dem großen impi, der alles zerstört. Würdig sogar, im impi von Shaka zu kämpfen, dem größten Kriegskönig von allen. Du trägst den Rock aus Löwenschwänzen und schaust in die untergehende Sonne. Jetzt ist die Sonne über das Zululand hinweg, sogar schon über das Land der Swazi, und jetzt verläßt sie das Land der Shangaan und den Königlichen Kral von Modjadji, der Regenkönigin, um sich im großen dunklen Wasser jenseits abzukühlen. Du kannst den Mond über Afrika aufsteigen sehen, und du bist in Frieden mit der Nacht, fürchtest dich nicht vor dem großen Dämon Skokijaan, der kommt und die dunkle Nacht frißt, ihr schwarzes Fleisch zerreißt, bis er schließlich alles verschlungen hat und das neue Licht die schlafenden Hirtenknaben wachrüttelt und sie losschickt, damit sie sich ums brüllende Vieh kümmern.« Als ich auf dem großen Fels stand und darauf wartete zu springen, sah ich den Mond so hell wie ein frisch geprägter Gulden über den tosenden Wasserfällen aufgehen. »Du mußt tief einatmen und >drei< sagen, wenn du hineinspringst. Wenn du auftauchst, mußt du wieder Atem holen und >zwei< sagen, wenn du über die Kante des zweiten Wasserfalls gespült wirst, dann hol wieder tief Luft, wenn du auftauchst und der dritte dich davonträgt. Jetzt mußt du zum ersten Stein schwimmen; du zählst rückwärts von zehn bis eins, zählst jeden Stein, wenn du zum nächsten springst und den vorbeirauschenden Fluß überquerst.« Der alte Medizinmann wartete lange genug, bis ich mir die Abfolge seiner Anweisungen eingeprägt hatte. »Jetzt mußt du springen, kleiner Krieger des Königs.« Ich holte tief Luft und warf mich in die Nacht. Die kühle Luft, vermischt mit Gischt, streifte mein Gesicht, und dann schlug ich auf dem Wasser auf, versank kurz, kam an die Oberfläche und stieß den tiefen Atemzug wieder aus, den ich genommen hatte. Mir blieb kaum Zeit, ein zweites Mal einzuatmen, schon wurde ich in den
nächsten Wasserfall gerissen, um gleich darauf den dritten tosenden Sturzbach hinunterzufallen. Unten fand ich mich in einem tiefen Wasserbecken wieder. Mit kräftigen Zügen und voller Selbstvertrauen schwamm ich zum ersten der großen Steine, die schwarz und naß im Mondlicht glänzten. Von einem Stein zum nächsten springend, überquerte ich den Fluß, zählte dabei rückwärts von zehn bis eins und sprang dann auf das kiesige Ufer auf der anderen Seite. Klar wie ein Echo drang seine Stimme durch das Rauschen der Wasserfälle. »Wir haben das Nachtwasser überquert, das liegt hinter uns, du mußt jetzt deine Augen öffnen, kleiner Krieger.« InkosiInkosikazi holte mich aus dem Traumland zurück, und ich war ein wenig überrascht, als ich den vertrauten Hof um mich herum erblickte. »Wenn du mich brauchst, kannst du zu mir ins Nachtland kommen, dort warte ich auf dich. Ich bin immer bei den drei Wasserfällen und den zehn Steinen, die über den Fluß führen.« Er deutete auf etwas, das aussah wie ein leerer Maismehlsack, und sagte: »Bring mir das Huhn da, und ich zeig dir den Trick mit den schlafenden Hühnern.« Ich stand auf, ging hinüber zu dem Sack und öffnete ihn. Das glänzend rote Perlenauge des Hahns, der aussah wie Großvater, schaute zu mir hoch. Ich zog den Sack dahin, wo die Kreise, die er gezogen hatte, im Staub gewesen waren, und der alte Mann erhob sich und rief mir zu, einen neuen Kreis in den Schmutz zu zeichnen. Dann zeigte er mir, wie ich den alten Hahn halten mußte. Man muß den Hühnerkörper wie einen Dudelsack unter den rechten Arm klemmen und ihn mit der linken Hand hoch oben am Hals fassen, so daß man seinen federlosen Kopf zwischen Zeigefinger und Daumen hält. Dann packt man das Huhn mit der freien Hand fest an den Beinen, hockt sich hin und senkt das Huhn in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zum Boden, so, daß sein Schnabel den Kreis nicht ganz berührt. Nachdem man ihn mit dem Schnabel dreimal nachgefahren ist, legt man den Vogel in den Kreis hinein. Der alte Mann ließ es mich dreimal üben. Zu meiner Verblüffung und zu seinem Vergnügen blieb der alte Hahn so zahm wie eine Sau im warmen Matsch liegen. Um das Huhn von dort zurückzuholen, wo immer Hühner sich unter solch kritischen Umständen hin verziehen, mußte ich es nur berühren und mit barscher Stimme sagen: »Hühnchen schlaf ein, Hühnchen erwach, wenn Hühnchen nicht
aufwacht, wird Hühnchen vernascht!« Was, wie ich fand, eine ganz schön scharfe Warnung für ein Huhn ist. Ich fragte Inkosi-Inkosikazi nicht, wie ein Shangaan-Huhn Zulu verstehen konnte, denn solche Fragen stellt man dem größten Medizinmann von ganz Afrika einfach nicht. Ich wußte noch nicht, daß dieses Huhn ziemlich außergewöhnlich war und seine Fähigkeit, verschiedene afrikanische Sprachen zu sprechen, seine Möglichkeiten vermutlich nicht überstieg. »Der Hühnertrick ist unser Band. Wir sind jetzt Brüder, die durch dieses gemeinsame Wissen verbunden sind und auch durch das Wissen von dieser Stelle im Traumland. Nur du und ich kennen diesen Trick oder können zu dieser Stelle finden.« Ich kann euch sagen, es war eine ganz schön feierliche Angelegenheit. Mit einem Schrei über den Farmhof rief der alte Mann nach seinem Fahrer, der auf dem Rücksitz des Buick schlief. Gemeinsam gingen wir zu dem großen schwarzen Wagen hinüber. »Du kannst das Huhn behalten, um damit zu üben«, sagte InkosiInkosikazi, als er auf den Rücksitz kletterte. Wie aus dem Nichts war der Wagen urplötzlich von Feldarbeiterinnen umringt, die den Kofferraum mit den Gaben beluden, die sie am vorigen Tag angeschleppt hatten. Nanny reichte dem alten Mann ein kleines buntgefärbtes Tuch, in das sie ein paar Münzen eingeknotet hatte. Inkosi-Inkosikazi schlug das Geschenk aus, das immerhin zwei Monatsgehälter von Nanny ausmachte. »Das ist eine Sache zwischen dem Jungen und mir. Der Ort hier liegt auf meinem Weg zum Molototsi-Fluß, wo ich Modjadji, die Regenkönigin, besuchen werde.« Er streckte seinen Kopf aus dem Rückfenster und sah zum Himmel hoch. »Es hat im Zululand noch nicht geregnet, und in diesem Fall ist ihr Zauber größer als meiner.« Nördlich des Drakensberggebirges hatte es reichlich geregnet, und Nanny fragte ängstlich nach Neuigkeiten von ihrem Volk. »Die Felder sind seit drei Monaten gepflügt, und die Maiskörner liegen in den großen Saatkörben bereit, aber während wir auf den Regen warten, trägt der Wind die Erde fort«, seufzte der alte Mann. Nanny übersetzte den Frauen die Nachricht von der Dürre. Die Nachricht von einer Dürre wird immer an alle Stämme weitergegeben. Die Frauen brachen in ein lautes Klagegeschrei aus, tanzten schlürfend um den Buick herum und sangen von dem Großen, der
den Regen brachte, unfruchtbaren Frauen die Söhne schenkte, die sie sich sehnlichst wünschten, und der Schlangenbisse heilte, sogar den Biß der großen schwarzen Mamba. Inkosi-Inkosikazi streckte seinen alten Kopf noch einmal zum Fenster heraus und wedelte ungeduldig mit der Fliegenpatsche. »Hört auf, ihr dummen alten Weiber, singt lieber für Modjadji, die Regenkönigin. Dieser alte Regenmacher hier hat es nicht geschafft, auch nur einen Tropfen aus den Wolken herauszupressen.« Mit einem Röhren seiner mächtigen V8-Maschine schoß der große schwarze Wagen die Straße hinunter, und eine Staubwolke flog hinter ihm auf. Als die Ferien vorbei waren, waren Granpa Chook - so hatte ich meinen geschenkten Hahn genannt- und ich so gut wie unzertrennlich. Ein Huhn »chook« zu nennen, war ein Spaß zwischen meiner Mutter und mir. Wir hatten einen Stapel Fotos von meinem entfernten Cousin in Australien geschickt bekommen. Auf einem war ein kleiner Junge zu sehen, nicht älter als ich, der die Hühner fütterte. Auf der Rückseite des Fotos stand: »Der kleine Lennie beim Füttern der >chooks< auf der Wagga-Wagga-Farm.« Wir gaben den beiden alten Enterichen, die ständig Seite an Seite auf dem Farmhof herumquakten, den Namen Wagga-Wagga und sprachen von Großvaters schwarzen Orpingtons nur noch als »chooks«. Ich fand, Granpa Chook war ein guter Name für den mageren alten Hahn, der sofort angelaufen kam, wenn ich in der Küchentür auftauchte. Es gab keinen Zweifel, dieser Hahn war mir verfallen. Aber ich gebe gerne zu, auch ich fühlte mich heftig zu ihm hingezogen. Ein paar Tage lang übten wir den Hühnertrick, aber er war so schlau, daß er sofort, wenn ich einen Kreis in den Staub zeichnete, hinein trat und sich höflich niederließ. Ick glaube, er wollte ganz einfach kooperativ sein, aber das hieß auch, daß ich meine Macht über ihn verloren hatte. Granpa Chook war die erste lebende Kreatur gewesen, über die ich Macht gehabt hatte, und jetzt hatte dieses überhaupt nicht so dumme Federvieh einen Weg gefunden, wieder mit mir gleichzuziehen, was verdammt ärgerlich war, wenn Sie mich fragen.
2 Die Ferien gingen dem Ende zu. Meine Bettnässerei war, natürlich, kuriert, nicht aber meine Besorgnis bei der Aussicht, ins Internat zurück zu müssen. Und was meinen hutlosen Piephahn anbelangt, so hatte ich Inkosi-Inkosikazi darüber befragt, und er hatte angedeutet, daß wir in dieser Hinsicht ähnlich einmalig aussähen, wir seien halt etwas Besonderes. Das gab mir zu der Zeit ein gutes Gefühl, jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Am letzten Abend zu Hause weinten Nanny und ich uns tüchtig aus. Sie packte meine Khakishorts und meine Hemden und zwei Paar Schlafanzüge und eine leuchtend rote Wolljacke ein, die meine Mutter mir geschickt hatte. Wir lachten und lachten, zwischen dem Weinen natürlich, weil ein Ärmel etwa zwanzig Zentimeter kürzer war als der andere. Wenn Leute mit einem Nervenzusammenbruch stricken, kommt anscheinend so was dabei heraus. Nanny trennte die Ärmel an den Schultern ab, und so wurde es eine schöne rote, ärmellose Jacke. Nach dem Frühstück brachen wir auf, in Großvaters altem FordTransporter. Unterwegs nahmen wir die fette Mrs. Vorster mit, die Witwe, der die Nachbarfarm gehörte. Großvater sprach kein Afrikaans und sie kein Englisch, also schwappte sie schweigend auf und nieder, während ihr Doppelkinn bei jedem Stoß des alten Lasters auf ihre Brust klatschte. Ich war froh, daß ich auf dem Rücksitz saß mit Nanny und Granpa Chook, der in dem Maismehlsack steckte, wo er so still lag, daß man geschworen hätte, der Sack sei leer. Nanny fuhr in die Stadt, um ihrer Familie im Zululand Geld zu schicken wegen der schrekklichen Dürre. Granpa Chooks Flügelfedern waren tatsächlich nachgewachsen, und wenn er mit seinen langen Beinen Anlauf nahm, konnte er abheben und hoch oben auf einem Ast landen. Ich muß zugeben, obwohl er dicker geworden war, war er nicht etwa schöner als vorher. Sein langer Hals war noch immer nackt und sein Kopf noch immer kahl, sein Hahnenkamm war zerfetzt und hing wie ein leerer Hodensack auf der einen Seite des Kopfes herunter. Verglichen mit den schwarzen Orpingtons sah er schlimm aus.
Wir hielten am Schultor an, und Nanny reichte mir den Koffer und den Sack, in dem Granpa Chook den Unschuldsengel spielte. »Was hast du in dem Sack da, mein Sohn?« fragte Großvater. Bevor ich antworten konnte, rief Nanny von hinten: »Nur ein paar Süßkartoffeln, Herr.« Die Tränen liefen ihr wie üblich über die Wangen, und ich wollte zurückrennen und mich in ihren großen, starken Armen verstekken. Mit einer Fehlzündung und einer blauen Abgaswolke aus dem Auspuff fuhr der Laster rumpelnd davon, und ich stand allein am Tor. Vor mir lagen die gefürchtete Mevrou, der Richter und die Geschworenen, aber auch die Kraft, die von innen kommt, würde langsam wachsen, und ich würde lernen, daß es in jedem von uns eine Flamme gibt, die niemals erlöschen darf. Denn solange sie in uns brennt, können wir nicht zerstört werden. Ich entließ Granpa Chook aus dem Sack und streichelte ihn. Pißkopp, der rooinek mit dem hutlosen Piephahn, war zurück. Aber diesmal, das war verdammt sicher, war er nicht allein. Wir überquerten den leeren Spielplatz, und Granpa Chook raste hier und da hinter den kleinen grünen Grashüpfern her, die auf der heißen, staubigen Erde landeten. Auch sie schienen auf feindlichem Gebiet zu sein, denn auf dem sonnengebackenen quadratischen Platz wuchs nicht ein einziger Grashalm. Um hinüberzukommen, mußten sie häufig zwischenlanden und setzten sich dabei der Gefahr aus, vom gefräßigen Granpa Chook erwischt zu werden. Trotzdem hatten sie die besseren Karten als wir, sie waren zu Hunderten, und es gab nur einen Granpa Chook. Für uns beide war es gerade andersherum. Wir schienen früh angekommen zu sein, deshalb ging ich zu meinem heimlichen Mangobaum, der auf der anderen Seite des Spielplatzes wuchs. Meinen Koffer ließ ich unten am Stamm stehen und kletterte hinauf in das dunkle trostspendende Laubgewölbe. Granpa Chook nahm Anlauf, schlug wild mit den Flügeln, hob ab und ließ sich auf einem Ast neben mir nieder. Er wippte und flatterte und machte eine Menge unnötigen Lärm und Theater. Ich erklärte ihm die Situation so gut wie möglich. Aber er saß nur da, schüttelte seinen albernen Hahnenkamm und gackerte. Ich versuchte ihn damit zu beeindrucken, daß hier richtig was los sei, ganz anders als auf der Farm. Ich muß sagen, ein Huhn, das Inkosi-Inko-
sikazis Kochtopf ausgetrickst und sich freiwillig in seinen magischen Kreis gelegt hatte, mußte ein echter Profi sein, also hielt ich ihm keine allzu langen Vorträge. Granpa Chook war ein Überlebenskünstler, und ich war glücklich, daß er mein Freund war. Nach einer Weile verließen wir den Mangobaum und gingen schräg über den Spielplatz auf die Seite des Wohnheims, wo der Schlafsaal der Kleinen lag. Von dort aus sah man auf einen heruntergekommenen Zitrushain mit alten, fast kahlen Grapefruitbäumen. Ein halbes Dutzend Kassiabäume hatte sich dort im Lauf der Jahre selbst gepflanzt, und ihre leuchtendgelben Blüten brachten das Leben in den sterbenden Obstgarten zurück. Der Boden war mit Unkraut und Schwarzeichengestrüpp bedeckt, das mir bis zur Schulter reichte. Hier kam niemals jemand her. Es war der ideale Ort für Granpa Chook, hier konnte er bleiben, während ich mich bei Me-vrou zurückmeldete. Mitten im Obstgarten riß ich auf einem kleinen Stück das unangenehm riechende Unkraut aus. Dabei fand ich eine große weiße Raupe mit einem grauen Kopf und einem gelben Streifen um den Hals. Für Granpa Chook war es, als fielen Weihnachten und Ostern auf einen Tag. Mit einem heiseren Gackern schnappte er nach der plumpen Raupe. An der Ausbeulung konnte man sehen, wie sie langsam seinen langen, nackten Hals hinunterrutschte. Als die Stelle frei war, zeichnete ich einen Kreis auf den Boden, und der Hahn ließ sich höflich darin nieder. Es wurmte mich immer noch, daß er nicht bereit war, das ganze magische Brimborium mitzumachen, aber was nützte es, mit einem Huhn kann man nicht streiten, oder? Ich fand Mevrou schließlich im Waschhaus. Sie faltete Decken. Als sie mich sah, verzog sie angewidert ihr Gesicht und deutete auf einen Zinneimer, der neben der Mangel stand. »Dein Gummituch ist in dem Eimer da, nimm es«, sagte sie. Ich versuchte, nicht ängstlich zu klingen. »Ich... ich bin geheilt, Mevrou«, stammelte ich. »Ha! Sind die Schläge von deinem oupa besser als meine, ja?« Ich stand mit gebeugtem Kopf da, so wie man in der Gegenwart Mevrous stehen sollte. »Nein, Mevrou, Ihre Schläge sind die besten ... besser als die von meinem Großvater. Es ist nur so, ich hab einfach aufgehört, ins Bett zu machen.«
»Meine Nilpferdpeitsche wird sich einsam fühlen.« Mevrou nannte den Bambusstock, den sie bei sich trug, immer ihre Nilpferdpeitsche. Sie reichte mir ein rauhes Handtuch und eine Decke. »Du bist zu früh, es gibt kein Mittagessen, die anderen Kinder kommen erst am späten Nachmittag.« Die Decke roch nach Kampfer, und mit dem bekannten Geruch kam die alte Angst zurück, und damit stiegen Zweifel in mir auf, daß ich vielleicht doch noch nicht ganz vom Bettnässen geheilt sei. Ich brachte meine Decke und das Handtuch in den Schlafsaal für die Kleinen und ging zu Granpa Chook zurück. Es machte mir nichts aus, daß es kein Mittagessen gab. Nanny hatte mir zwei große Süßkartoffeln in den Koffer gepackt, und eine davon wollte ich nun mit Granpa Chook teilen. Als ich in den verlassenen Obstgarten kam, hörte ich ein angstvolles Gackern aus der Richtung von Granpa Chook. Plötzlich stieg er mit wild flatternden Flügeln aus dem Unkraut auf. Ich verlor ihn aus den Augen, als er wieder im Gestrüpp verschwand. Wieder stieg er auf, mit gekrümmtem Hals, weit ausgestreckten Beinen und gespreizten Krallen, und das Unkraut schaukelte wild, als er wieder landete. Dieses Mal blieb er unten, und er hatte aufgehört zu gakkern, aber da, wo er verschwunden war, bewegte sich das Unkraut weiter. Mein Herz klopfte wie wild. Irgendein Tier hatte Granpa Chook erwischt. Ein Wiesel oder eine wilde Katze? Es war mein Fehler, ich hatte ihn hilflos in dem magischen Kreis zurückgelassen. Ich stampfte blindlings zu der kleinen Lichtung, auf der ich ihn zurückgelassen hatte, die Schwarzeichenzweige schlugen mir entgegen und behinderten mich. Granpa Chook stand innerhalb des Kreises, und was er da fest in seinem Schnabel gepackt hielt, war eine drei Fuß lange Ringelnatter. Mit einem wilden Schütteln seines Kopfes und einem Zuschnappen seines kräftigen Schnabels riß er der Schlange den Kopf ab und verschluckte ihn zu meinem Erstaunen. Der Schlangenkopf glitt genauso abwärts wie die fette Raupe. Der glänzendgrüne Leib der Schlange hatte noch nicht bemerkt, daß bereits alles vorbei war, und wand sich noch immer wild im Unkraut. Der zäheste gottverdammte Hahn der ganzen Welt warf seinen Kopf hoch und blinzelte mir mit glänzenden Augen zu. Man konnte ihm ansehen, daß er mit sich zufrieden war. Ich muß sagen, ich
mach ihm keinen Vorwurf, wie kann da noch etwas schiefgehen, mit so einem Freund an der Seite? Die Schlange hatte aufgehört herumzuzappeln, und ich nahm sie und hing sie auf einen Zweig des Kassiabaumes, der nur ein paar Schritt von dem Fenster entfernt stand, das am nächsten zu meinem Bett war. Nun gab es zwei Schlangen ohne Kopfbedeckung auf der Welt, und ich hatte mit beiden etwas zu tun. Der Nachmittag füllte sich langsam mit der Kakophonie zurückkehrender Kinder. Ich hörte, wie sie ihre Decken und Koffer in den Schlafsaal brachten und zum Spielen hinausrannten. Granpa Chook und ich verbrachten den Nachmittag mit dem Bau eines Unterstandes aus Wellblechstücken, die ich im Gestrüpp fand. Er schien seine neue Heimat zu mögen und scharrte dort, wo ich das Unkraut ausgerissen hatte, nach Würmern. Bei Regen hatte er nun einen sicheren, trockenen Platz. Als es um Viertel vor fünf zum ersten Mal klingelte, sah ich von all dem Jäten und Bauen ziemlich schlimm aus. Ich verließ Granpa Chook, der in seinem neuen Zuhause glücklich herumscharrte, und wusch mich an einem wenig benutzten Wasserhahn am Haus beim Obstgarten. Als die Abendessenglocke läutete, hatte mich die späte Nachmittagssonne getrocknet, und ich sah so gut wie neu aus. Ich wartete bis zum letzten Augenblick, bevor ich in den Eßsaal schlüpfte und meinen Platz am hintersten Tisch einnahm, wo die jüngsten Kinder saßen. Kurz nachdem an diesem Abend das Licht gelöscht worden war, wurde ich vor den Richter und die Geschworenen zitiert. Wieder war es eine Vollmondnacht, wie beim ersten Mal. Aber der Mond erinnerte mich auch an den, der über den Wasserfällen aufgestiegen war, wo ich als junger Krieger meine Ängste besiegt hatte. Der Richter saß im Schneidersitz auf einem Bett und war noch größer als in meiner Erinnerung. Er hatte nur eine Schlafanzughose an und trug jetzt eine grobe Tätowierung oben auf seinem linken Arm zur Schau. Das war zwar nichts Neues für mich, afrikanische Frauen haben oft ihre Gesichter tätowiert, aber ich hatte noch nie eine Tätowierung auf weißer Haut gesehen. An den Rändern der groben blauen Linien, die sich in der Mitte kreuzten wie zwei kopflose Schlangen, war die Haut noch rötlich entzündet. Ohne es zu bemerken, kratzte der Richter sich an seiner Tätowie-
rung und schüttelte langsam den Kopf, während er mich anschaute. »Du bist ein Idiot, ein armer Idiot, daß du zurückgekommen bist, Pißkopp.« Während er atmete, wanderte ein kleiner Popel in seinem linken Nasenloch auf und nieder. »Am Arm siehst du aus wie eine Kaffernfrau«, hörte ich mich sagen. Die Augen des Richters schienen ihm aus dem Kopf zu springen. Er schnaufte vor Überraschung, und die Rotzbombe schoß aus seinem Nasenloch und landete auf meinem Gesicht. Seine Hand folgte den Bruchteil einer Sekunde später. Ich fühlte eine Explosion in meinem Kopf, als ich auf den Boden krachte. Ich kam wieder auf die Beine. Genau wie in den Comic-Büchern tanzten Sterne an einem roten Himmel vor meinen Augen, und meine Ohren klingelten. Aber ich weinte nicht. Ich verfluchte meine Dummheit. Die Ferien hatten meinen Überlebensinstinkt abgestumpft. - Paß dich an, verstell dich, werde ein Teil der Landschaft, verschaff dir eine Tarnung, sei ein Fels oder ein Blatt oder ein Insekt, versuche, in jeder Hinsicht ein Bure zu sein. Die Geschworenen waren still, ganz benommen von meiner Dreistigkeit. Warmes Blut tropfte aus meiner Nase, rann mir über die Lippen und das Kinn hinunter. Der Richter packte mich vorne an meinem Schlafanzug und zog mich so weit zu seinem Gesicht hoch, daß ich nur noch auf Zehenspitzen stand. »Dieses Zeichen bedeutet Tod und Zerstörung für alle rooineks. Und du, Pißkopp, wirst der erste sein.« Er ließ mich los, und ich stolperte rückwärts, schaffte es aber, auf den Beinen zu bleiben. »Ja, Sir«, sagte ich mit kaum hörbarer Stimme. »Das ist ein Hakenkreuz, Mann! Weißt du, was das ist?« »N... nein, Sir.« »Gott hat uns dieses Zeichen von Adolf Hitler geschickt, der die Buren von den verhaßten Engländern befreien wird!« Die Geschworenen waren tief beeindruckt, und ich war es auch. Der Richter wandte sich an die Geschworenen und deutete auf das Hakenkreuz. »Wir müssen alle einen Blutschwur auf Adolf Hitler leisten«, sagte er ernst. Die Geschworenen drängten sich um sein Bett, und ihre Augen leuchteten vor Aufregung. »Ich will auch schwören«, sagte ich hoffnungsvoll. Das Blut lief
mir immer noch aus der Nase, und ein paar Tropfen waren auf den Boden gefallen. »Sei nicht so saudumm! Pißkopp, du bist doch Engländer!«.Der Richter stand aufrecht auf seinem Bett, den Arm schräg nach oben haltend, die gestreckten Finger deuteten zur Decke. »Im Namen Adolf Hitlers werden wir jeden rooinek-Bastard ins Meer treiben.« Ich war nie am Meer gewesen, aber ich wußte, es würde ein langer Marsch werden. »Der Blutschwur! Der Blutschwur!« riefen die Geschworenen. »Komm her, Pißkopp«, kommandierte der Richter. Ich ging hinüber zu seinem Bett. »Sieh mich an, Mann!« Ich sah hinauf zu ihm, wie er da hoch über mir auf dem Bett stand. Er wischte mit seinem Zeigefinger unter meiner Nase entlang und stieß mich so heftig, daß ich hart auf dem Boden aufsetzte. Er hielt seinen Finger hoch, und mein Blut an der Fingerkuppe leuchtete im Mondlicht. »Wir schwören diesen Schwur mit dem Blut eines rooineks!« verkündete er feierlich. Zwei Mitglieder der Geschworenen zogen mich hoch, und die anderen drängten sich um mich und steckten ihre dicken Finger in das Blut, das mir aus der Nase lief. Der Nachschub kam nicht schnell genug, und ein Junge zwickte mir in die Nase, damit es schneller floß. Das Ergebnis war, daß überhaupt kein Blut mehr floß, so daß die letzten beiden Geschworenen gezwungen waren, ihre Finger in die Blutstropfen am Boden zu tauchen. Der Richter wischte mit dem Blut am Finger über das Hakenkreuz und befahl den Geschworenen, dasselbe zu tun. Bald war das Hakenkreuz auf seinem Arm fast nicht mehr zu sehen. »Tod allen Engländern in Südafrika, dem Vaterland«, schrie der Richter und hob wieder seinen Arm. »Tod allen Engländern in Südafrika, dem Vaterland!« wiederholten die Geschworenen im Chor. Der Richter sah auf mich hinunter und sagte: »Heute nacht töten wir dich noch nicht, Pißkopp. Aber wenn Hitler kommt, sind deine Tage gezählt, hörst du?« »Ja, Sir, wann wird das sein, Sir?« fragte ich. »Bald!« Er stieg von dem Bett hinunter, legte mir seine riesige Hand auf den Köpf, drehte mich in Richtung der Schlafsaaltür und gab mir einen Tritt in den Hintern, der mich mit dem Kopf voraus
über den polierten Boden schlittern ließ. Ich roch das Bohnerwachs auf den Holzdielen, dann sprang ich auf und rannte fort. Zurück in meinem Schlafsaal, sprangen die Kinder aus ihren Betten, umringten mich und wollten wissen, was geschehen sei. Ich war zu durcheinander, um meine Zunge im Zaum zu halten. Schniefend ließ ich die Geschichte vom Hakenkreuz und dem Blutschwur und dem angedrohten Ableben bei der Ankunft von Hitler heraus. Ein Achtjähriger namens Danie Coetzee schüttelte ernst den Kopf. »Pißkopp, du steckst tief in der Scheiße, Mann«, sagte er. »Wer ist das, dieser Adolf Hitler, der Pißkopp holen wird?« fragte ein Typ, den wir »Schlappmaul« de Jaager nannten. Offensichtlich wußte niemand eine Antwort, bis Danie Coetzee sagte: »Vielleicht ist es der neue Rektor.« Im letzten Trimester war unter den Kindern oft über den Rektor und sein »Trinkproblem« gesprochen worden. Ich hatte mir damals den Kopf zerbrochen, was wohl ein Trinkproblem sei. Offenbar war es etwas ziemlich Schlimmes, denn sonst würde der riesige, griesgrämige Mann, den wir alle fürchteten, nicht die Schule verlassen. Eines der Kinder fing leise an zu singen: »Pißkopp steckt in der Scheiße... Pißkopp steckt in der Scheiße...« Die anderen fielen schnell in das Lied ein, und es wurde immer lauter und lauter. Ich hielt mir mit den Händen die Ohren zu, um es nicht hören zu müssen. »Ruhe!« Der Schlafsaal hallte wider von diesem Kommando. Mevrou stand in der Türöffnung, ihr riesiger Körper füllte den Türrahmen. »Wir haben nur gesprochen, Mevrou«, sagte Danie Coetzee. Als Ältester der Kleinen war er der Sprecher. »Du weißt, daß Reden nach dem Lichtlöschen verboten ist, Coetzee.« Alle anderen gingen auf Zehenspitzen zurück zu ihren Betten, nur Danie Coetzee blieb am Fußende meines Bettes stehen. »Ja, Mevrou. Entschuldigung, Mevrou.« Seine Stimme klang klein und ängstlich. »Beug dich über das Bett«, befahl Mevrou. Der Stock schnitt mit einem Zischen durch die Luft und landete auf Coetzees Hintern. Er
jaulte laut auf, hielt sich das Hinterteil mit beiden Händen und hüpfte auf und ab. Ohne ein weiteres Wort verließ Mevrou den Schlafsaal. Einen Augenblick lang war es still, dann platzte Danie Coetzee fast weinend heraus: »Dafür wirst du bezahlen, du mieser Pißkopp rooniek!«
Ich wartete, bis alle schliefen, und schlich dann leise zum Fenster. Der Vollmond schien sanft auf die Blätter der Grapefruitbäume, die in dem geisterhaften Licht zu schimmern schienen. Granpa Chooks kopflose Schlange hing als silberne Schlinge im Mondlicht, eine schöne unerwartete Verzierung auf dem Ast des Kassiabaumes. »Ich hab nicht geweint. Sie werden mich nie mehr zum Weinen bringen!« sagte ich dem Mond. Dann kehrte ich in mein Bett zurück. Es war der einsamste Augenblick meines ganzen Lebens. Granpa Chooks Deckung war schon am nächsten Morgen aufgeflogen. Wie alle Kaffernhühner war er Frühaufsteher. Noch bevor die Sechs-Uhr-Glocke uns weckte, war der gesamte Schlafsaal von seinem heiseren Krähen aufgewacht. Ich erwachte, schüttelte mich aus dem Schlaf und sah ihn auf dem Fensterbrett an meinem Bett sitzen, den langen dürren Hals ausgestreckt, während er heftig auf mich einredete. Dann legte er den Kopf zur Seite, gackerte zaghaft und flog vom Fenster zum Kopfende meines Bettes. Er streckte mir seinen langen Hals entgegen, verlor fast das Gleichgewicht und pickte mich zärtlich am Ohr. Die Kinder sprangen aus ihren Betten und umringten mich. »Es ist ein altes Kaffernhuhn und besucht Pißkopp«, schrie Schlappmaul de Jaager aufgeregt. Granpa Chook saß gebieterisch da und starrte sie mit seinen leuchtenden Augen an. »Er gehört mir«, sagte ich herausfordernd, »er ist mein Freund.« Also! Ihr hättet sie hören sollen. Danie Coetzee vergaß zwischenzeitlich die Rache für die Prügel der vergangenen Nacht und spottete: »Sei nicht blöd, Mann, niemand hat einen Kaffernhahn als Freund!« »Ich schon, er kann Tricks und so.« »Nein, kann er nicht! Es ist ein dummer Kaffernhahn. Wartet nur, bis der Richter von Pißkopps neuem Freund erfährt«, tönte Schlappmaul de Jaager, und alle lachten.
Die Glocke schrillte, und das hieß, daß Mevrou in ein oder zwei Minuten hier sein würde, deshalb krochen wir alle zurück ins Bett, um ihre Erlaubnis zum Aufstehn abzuwarten. Die Zeit reichte gerade, um Granpa Chook aus dem Fenster in den Obstgarten zu schubsen und zurück in mein Bett zu klettern, da erschien die riesige Gestalt auch schon drohend in der Tür. Mevrou durchschritt den ganzen Schlafsaal, die Nilpferdpeitsche hing an einer Schlaufe vom schwarzen Ledergürtel ihrer dunkelblauen Uniform. Sie blieb an meinem Bett stehen, schlug die Decke zurück und untersuchte die trockene Matratze. »Hm!« schnaufte sie und ließ die Decke auf den Boden fallen. Ich sprang aus meinem Bett und stellte mich daneben. Sie ignorierte mich, wandte sich langsam um und sprach alle im Schlafsaal an. »Ich warne euch, Kinder, wenn ich euch noch einmal nach dem Lichtausmachen sprechen höre, dann wird meine Nilpferdpeitsche euch auch etwas erzählen, und zwar jedem von euch, verstanden?« »Ja, Mevrou«, antworteten wir im Chor. Plötzlich riß sie die Augen auf, und es sah aus, als würden sie ihr gleich aus dem Kopf springen. »Pißkopp! Da ist Hühnerdreck auf deinem Kopfkissen!« Ich sah entsetzt auf mein Kissen: Säuberlich zwischen zwei Linien des gestreiften Bezuges plaziert, hatte Granpa Chook seine grün-weiße Visitenkarte hinterlassen. »Erklär mir das, Mann!« brüllte Mevrou. Es gab keine Erklärung außer der Wahrheit. Zitternd vor Angst erzählte ich ihr von Granpa Chook. Mevrou starrte mich an, öffnete die Schnalle ihres Ledergürtels und zog den Stock heraus. »Pißkopp, ich glaube, du bist krank im Kopf, genau wie deine arme Mutter. Erst kommst du hierher und pißt jede Nacht ins Bett. Dann kommst du zurück und füllst es mit Hühnerscheiße!« Sie zeigte auf das Fußende des Bettes, wo Danie Coetzee am vorigen Abend seine Medizin bekommen hatte. »Beug dich vor«, befahl sie. Sie zog mir vier Hiebe mit der Nilpferdpeitsche über. Ich biß die Zähne zusammen, hielt die Tränen zurück und zwang mich, mir nicht auf den Hintern zu fassen, indem ich die Hände fest zwischen die Oberschenkel klemmte und die Schultern hochzog. So schaffte ich es auch, nicht mehr zu zittern.
Was für ein Scheißtag. »Wasch dein Kissen aus, und bring dieses Teufelshuhn nach dem Frühstück an die Küchentür, verstanden?« In der Tür wandte sie sich um und schaute uns an: »Geht jetzt duschen!« Granpa Chook und ich saßen böse in der Tinte, okay! Nach dem Frühstück stahl ich mich aus dem Haus, um ihn zu finden. Er war immer noch in dem alten Obstgarten und kratzte nach Würmern. Ich zog eine Scheibe Brot heraus, die ich für ihn beim Frühstück abgezweigt hatte, und während ich sie in kleine Stücke brach, die er schlucken konnte, erklärte ich ihm das jüngste Unglück. Und was meinen Entschluß nicht zu weinen anbelangt, ich fühlte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Nachdem Granpa Chook gefrühstückt hatte, nahm ich ihn hoch, bahnte mir mühsam den Weg durch das Gestrüpp und brachte ihn zum äußeren Rand des Obstgartens, wo ein niedriger Wellblechzaun die Grenze des Schulgeländes markierte. Ich stellte mich auf die Fußspitzen und schaute über den Zaun. Mein Herz schlug schneller. In der Ferne sah ich drei Kaffernhütten. Rauch stieg von einem Feuer auf; und ich war sicher, daß sie Kaffernhühner hielten und Granpa Chook bei ihnen Unterkunft finden würde. Erheblich erleichtert erklärte ich Granpa Chook den neuen Plan und stieß ihn über den Zaun. Die Trennungslinie zwischen Phantasie und Realität ist bei einem fünfjährigen Kind noch sehr verschwommen, und der Plan, einmal gefaßt, war sofort in die Tat umgesetzt. Granpa Chook hatte allerdings andere Vorstellungen. Mit einem ärgerlichen Gackern und einem kurzen Flügelschlag war er wieder auf meiner Seite des Zaunes. Die nächsten paar Minuten führten wir die Pantomime auf: Ich warf ihn über den Zaun, und er kam zurück. Schließlich wurde mir klar, daß der zäheste gottverdammte Hahn der Welt nicht die Absicht hatte, seinen Freund zu verlassen, selbst wenn sein eigenes Leben auf dem Spiel stand. Wir warteten etwa zehn Minuten vor der Küchentür, bis Mevrou erschien. »Das ist also der Hahn, der dir ins Bett scheißt, Pißkopp?« »Es war ein Versehen, Mevrou. Er ist sehr sauber und auch sehr gescheit.« »Du sprichst von Sauberkeit! Ein Huhn ist ein Huhn. Wer hat jemals von klugen Hühnern gehört?« »Sehen Sie, Mevrou, ich zeig es Ihnen.« Ich zeichnete schnell
einen Kreis auf den Boden, und Granpa Chook hüpfte sofort hinein und ließ sich nieder, als ob er ein Ei legen wollte, was er natürlich nicht konnte. »Er bleibt in dem Kreis, bis ich ihm sage, daß er herauskommen soll«, sagte ich. Einen Augenblick sah Mevrou beeindruckt aus, aber dann zog sie die Stirn in Falten. »Es ist einfach eine dumme Sache, die Kaffernhühner tun und weiß nicht«, sagte sie selbstgefällig. »Nein, Mevrou! bettelte ich. »Er kann auch noch viele andere Sachen!« Ich ließ Granpa Chook auf einem Bein den Kreis entlang hüpfen; dabei ließ er bei jedem Sprung ein Gackern hören. Ich zeigte ihr, wie er mir auf die Schultern flog und mich auf mein Kommando hin am Ohr pickte. Mit diesem letzten Trick war Mevrous Geduld am Ende. »Dein Haar wird voller Läuse sein, du dummer Junge!« schrie sie. In der Küche gleich neben der Tür stand ein Metzgerblock mit einem großen Hackmesser darauf. »Gib mir dieses dreckige, verlauste Kaffernhuhn, das in Betten scheißt!« schrie sie und griff nach dem Hackmesser. Zwei Kakerlaken hatten unter dem Hackmesser Unterschlupf gefunden und rasten jetzt Mevrous Handrücken hoch. Sie schrie laut auf, ließ das Hackmesser fallen und fuchtelte wild mit beiden Armen. Eine Kakerlake fiel zu Boden, die andere krabbelte ihren Arm hoch und verschwand in ihrem Mieder. Mit einem begeisterten Gackern stürmte Granpa Chook in die Küche und pickte die Kakerlake auf, die um ihr Leben rannte. Mevrou ruderte mit den Armen, ihre Brüste hüpften auf und nieder. Sie gab kleine keuchende Laute von sich, als wollte sie schreien, während sie in äußerster Panik von einem Bein aufs andere sprang. Die zweite Kakerlake fiel unter ihrem Rock heraus und versuchte sich in einen Riß des glatten Zementbodens zu flüchten. Aber Granpa Chook war schneller und hatte sie im Nu. Mevrou war puterrot angelaufen, und ihr Kopf zitterte von dem Schock. »Es ist alles in Ordnung, Mevrou, die andere ist runtergefallen, und Granpa Chook hat sie geschnappt«, sagte ich und deutete auf Granpa Chook, der herumstolzierte und offensichtlich sehr zufrieden mit sich war. Ich holte einen Küchenstuhl, und Mevrou plumpste darauf wie
eine überreife Wassermelone. Ich nahm ein Geschirrtuch von einem Trockengestell neben dem großen schwarzen Holzofen und fing an, ihr Luft zuzufächeln, so wie ich es bei Nanny gesehen hatte, wenn meine Mutter einen ihrer Anfälle hatte. Ich hörte ein Tropfen unter dem Rattansitz des Stuhles und bemerkte bestürzt, daß Mevrou in die Hose gemacht hatte. Ich glaube, sie war zu aufgeregt, um es selber zu bemerken. Ich fragte mich, wie viele Schläge es nach ihrem Buch fürs In-die-Hose-Pissen gäbe. Als sie sich etwas erholt hatte, zeigte sie mit zitterndem Finger auf Granpa Chook. »Du hast recht, Pißkopp. Das ist ein guter Hahn. Er kann bleiben. Aber er muß sich seinen Lebensunterhalt selbst verdienen«, keuchte sie. Dann schien sie zu bemerken, was unter ihrem Stuhl passiert war. »Geh jetzt«, sagte sie, nahm mir das Tuch aus der Hand und deutete auf die Tür. So kam Granpa Chook zu seinem Küchendienst. Jeden Tag nach dem Frühstück durchsuchte er bis in die letzten Ecken die Internatsküche nach ekligen Krabbeltieren aller Art. Der zäheste gottverdammte Hahn der Welt hatte überlebt, durch perfekte Anpassung hatte er seinen Henker überlistet, und wir waren wieder zusammen und in Sicherheit. Die Wochen vergingen, und dann ein paar Monate. Ich war der Sklave des Richters geworden. Davon abgesehen, daß ich stets nach seiner Pfeife tanzen mußte, war ich mir mehr oder weniger selbst überlassen. Eine gelegentliche Kopfnuß oder ein Rempler von einem der älteren Kinder war alles, was ich aushalten mußte. Die Lage war nicht schlecht, wirklich. Wenn der Richter mich brauchte, steckte er einfach zwei Finger in den Mund und ließ einen seiner durchdringenden Pfiffe los, und Granpa Chook und ich kamen angerannt. Granpa Chook stand jetzt unter dem Schutz von Mevrou, obwohl er nach wie vor auf der Hut sein mußte. Farmerkinder müssen einfach Kaffernhühnern Steine nachwerfen. Während des Unterrichts stolzierte er auf dem Spielplatz herum und suchte Futter. Wenn die Pausenglocke schellte, rannte er zu meinem Klassenzimmer und kam schlitternd im Staub zum Stehen, besorgt gackernd vor Sehnsucht nach mir.
Für meine Altersstufe gab es keine Klasse, deshalb war ich zu den Siebenjährigen gesteckt worden, die alle noch dabei waren, Lesen zu lernen. Ich konnte schon seit mindestens einem Jahr Englisch lesen, so daß mir die Umstellung auf Afrikaans nicht schwerfiel, und bald war ich der Beste in der Klasse. Aber ich kapierte schnell, daß Überleben heißt, niemals irgendwo der Beste zu sein, mit Ausnahme bei nichts der Beste zu sein, und bald lernte ich, meine Lesefertigkeit zu untertreiben, indem ich unnötige Kunstpausen machte und über Worte stolperte, die mir in Wirklichkeit völlig klar waren. Mittelmäßigkeit ist die beste Tarnung, die es gibt. Unsere Lehrerin, Miss du Plessis, war nicht scharf auf einen fünfjährigen rooinek, der in einer Klasse von holzköpfigen Buren glänzte. Sie war glücklich, meine schlechten Noten auf meine Unfähigkeit zurückführen zu können, die Feinheiten des Afrikaans zu erfassen, und darauf, daß ich der Jüngste in der Klasse war, obwohl ich schon Zulu und Shangaan sprach und mir, wie den meisten kleinen Kindern, eine neue Sprache praktisch zuflog. Es fiel den andern Kindern immer schwerer, mich als etwas völlig anderes anzusehen, da keine sichtbaren oder hörbaren Unterschiede zwischen uns bestanden. Außer natürlich meinem hutlosen Piephahn. Aber selbst das geriet allmählich in Vergessenheit, wie bei einem Kind, das ein Muttermal hat oder dem ein Finger fehlt. Ich wurde das perfekte Chamäleon. Und dann, am fünften September 1939, beschloß Neville Chamberlain endgültig und mit großem Bedauern, daß Herr Hitler kein Gentleman, nicht vertrauenswürdig und nicht bereit zu Verhandlungen sei. Und daß England, nachdem es die Tschechoslowakei so gründlich im Stich gelassen hatte, die Peinlichkeit, das gleiche mit Polen zu tun, nicht ertragen konnte und es deshalb für notwendig hielt, Deutschland den Krieg zu erklären. Der neue Schulleiter war angekommen. Der scheidende Schulleiter, der mit dem Trinkproblem, wollte beim Mittagessen im Speisesaal eine Ansprache halten. Leicht schwankend stand er da und hielt sich mit beiden Händen an der Tischkante fest. Dann nahm er ein Messer und klopfte mit dem Griff auf den Tisch. »Ruhe!« brüllte er. Woraufhin Miss du Plessis mit verkniffenem Mund aufstand und durch die Schwingtür davonrauschte. Der alte Schulleiter schien es nicht zu bemerken. Er legte
das Messer auf den Tisch und fing an mit sehr lauter Stimme zu sprechen, als ob er Hunderte von Zuhörern hätte: »Heute hat England Deutschland den Krieg erklärt!« Er machte eine Pause, um die Wirkung seiner Worte auf uns abzuschätzen. Es gab keinerlei Reaktion, nur aus der Ecke, in der die älteren Jungen saßen, kam ein leises Gemurmel. »Menschenskinder, wißt ihr, was das bedeutet?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Das bedeutet Freiheit! Freiheit und Unabhängigkeit für unser geliebtes Vaterland! Adolf Hitler wird die verfluchten Engländer vernichten und das Joch der Unterdrückung abschütteln, das den Buren aufgezwungen wurde von diesen uitlanders, die unsere Häuser niederbrennen und Burenfrauen und Kinder in Konzentrationslager stecken, in denen sechsundzwanzigtausend an Unterernährung, Ruhr und Schwarzwasserfieber gestorben sind!« Der Schulleiter stellte es so dar, als würde all das in diesem Augenblick in Südafrika passieren. Plötzlich wurde mir klar, daß es genau das war, was meiner Mutter tatsächlich zugestoßen war. Sie war fälschlicherweise für eine Burenfrau gehalten worden und in ein Konzentrationslager gesteckt worden. Der Schulleiter trat ein paar Schritte vom Tisch zurück und torkelte dann wieder nach vorne. Sein speichelverschmierter Mund bewegte sich lautlos, als ob er etwas sagen wollte, was aber nicht herauskam. Statt dessen hob er den Arm, genauso wie es der Richter im Schlafsaal getan hatte. »Heil Hitler!« platzte es schließlich aus ihm heraus. In diesem Augenblick flog die Tür auf, und Mevrou betrat den Speisesaal. Durch die offene Tür konnte man einen Moment lang Miss du Plessis in der Eingangshalle stehen sehen, wie sie sich nervös in die Fingerknöchel biß. Mevrou ging auf den Schulleiter zu, packte ihn fest am Ellbogen und führte ihn schnell aus dem Speisesaal. »Heil Hitler!« rief er uns über die Schulter zu, als er durch die Schwingtür ging. Verblüfft saßen wir da. Dann sprang der Richter auf und stieg auf die Bank an seiner Tischseite. Er rollte seinen Hemdsärmel bis über die Schulter hoch, und wir konnten alle die groben blauen gekreuzten und gewinkelten Linien seiner Hakenkreuztätowierung sehen. »Adolf Hitler ist der König von Deutschland, und Gott hat ihn gesandt, um Südafrika den Engländern wieder wegzunehmen und
uns zurückzugeben.« Er bohrte seinen Finger in das Hakenkreuz auf seinem Arm. »Das ist sein Zeichen... das Hakenkreuz! Das Hakenkreuz wird uns die Freiheit wiederbringen.« Sein rechter Arm schoß zum gleichen Gruß hoch, mit dem sich der Schulleiter vor ein paar Augenblicken verabschiedet hatte. »Heil Hitler!« schrie er. Wir sprangen alle auf, stießen die Arme genauso wie er in die Luft und schrien: »Heil Hitler!« Es war alles sehr aufregend. Daran zu denken, daß dieser Mann, Adolf Hitler, der im Begriff war, uns alle von den verfluchten Engländern zu befreien, unser neuer Schulleiter werden würde! Dann, zunächst ganz langsam, nahmen die Worte des Richters aus der ersten Nacht nach den Ferien in meinem Kopf wieder Gestalt an, wurden riesig und dröhnten mir schließlich im Kopf. »Sei nicht blöd! Pißkopp, du bist ein verdammter Engländer!« Der lange Marsch zum Meer hatte begonnen. Schlappmaul de Jaager an unserem Tisch schrie immer weiter »Heil Hitler«, und bald brüllten es alle immer lauter. Ein schriller Pfiff des Richters stoppte sie schließlich. »Einige von uns haben Adolf Hitler einen Bluteid geschworen, und nun ist die Zeit gekommen, die rooineks ins Meer zu treiben. Nach der Schule treffen wir uns hinter den Scheißhäusern zum Kriegsrat!« Ich glaube nicht, daß irgendeiner von uns eine genaue Vorstellung davon hatte, wo das Meer eigentlich sein sollte, vermutlich jenseits des Lembobogebirges und des Limpopoflusses. In welcher Richtung auch immer, es war verdammt weit weg. Der lange Marsch zum Meer würde ein ganz schön schwieriges Unternehmen werden, und ich konnte verstehn, warum es etwas geplant werden mußte. Der Speisesaal kochte vor Aufregung, und der Richter hob seine Hand, um uns zum Schweigen zu bringen. Dann deutete er direkt auf mich. »Pißkopp, du bist unser erster Kriegsgefangener!« Er legte seine Finger aneinander und hob den Arm höher. »Heil Hitler!« rief er. Wieder sprangen wir alle auf, aber die beiden Kinder rechts und links von mir drückten mich zurück auf meinen Stuhl. »Heil Hitler!« rief der Rest des Speisesaals im Chor. Es war der aufregendste Tag in der ganzen Geschichte der Schu-
le, aber meine Aussichten waren ziemlich schlecht. Eins war sicher, Granpa Chook und ich lebten von geborgter Zeit, und wir mußten ziemlich dringend Fluchtpläne schmieden. Ich war verzweifelt. Selbst wenn ich den Weg nach Hause gekannt hätte, was nicht der Fall war, wie weit konnten ein kleiner Junge und ein Hahn kommen, ohne vom Feind gesichtet zu werden? An diesem Nachmittag schlug mir Miss du Plessis, die noch nervöser zu sein schien als normalerweise, zweimal mit ihrem FünfzigZentimeter-Lineal scharf auf die Knöchel. Schließlich geriet sie völlig außer sich, als ich, tief in meine Fluchtpläne versunken, ihre Frage überhörte, wieviel drei mal vier sei. »Domkop! Du bleibst nach der Schule hier!« Das war unmöglich. Granpa Chook und ich mußten fliehen, bevor der Kriegsrat hinter den Scheißhäusern zusammentrat. »Bitte, Miss! Es tut mir leid, Miss. Es passiert nie wieder, Miss«, bettelte ich. Mit einem verzweifelten Wiedergutmachungsversuch ließ ich meine Tarnung fallen. Ich sagte das Einmalneun, dann das Einmalzehn, das Einmalelf und das Einmalzwölf auf. Bis jetzt hatte ich meine Kenntnisse jenseits des Einmalviers sorgfältig für mich behalten, und was noch schlimmer war, wir hatten das Einmalelf und das Einmalzwölf noch gar nicht durchgenommen. Die Wirkung war heftig. Als ich mit dem Einmalzwölf fast fertig war - ich hatte es auf der Rückseite eines Rechenbuchs gesehen -, kochte Miss du Plessis vor Wut. »Zwölf mal zwölf ist, äh... einhundertund... äh, vierundvierzig«, verkündete ich, und meine Stimme wurde unsicher, als ich sah, wie verärgert sie war. »Du böses, verkommenes, verlogenes Kind!« schrie sie und hob ihr Lineal mit der Stahlkante. Die Schläge hagelten auf mich herunter, aber sie schlug völlig unkontrolliert, und die meisten Schläge konnte ich mit den Armen und Schultern abfangen. Ein Schlag durchbrach meine Deckung, und der dünne Metallstreifen im Lineal schlitzte mir oben ins Ohr. Ich nahm meine Deckung herunter und faßte nach meinem Ohr. Es brannte höllisch. Das warme Blut lief mir durch die Finger und weiter den Arm hinunter. Der Anblick des Blutes brachte Miss du Plessis zur Besinnung. Sie sah mich an und schlug eine Hand vor den Mund. Dann schrie sie auf und stürzte tot zu Boden.
Der Schock, Miss du Plessis tot vor mir liegen zu sehen, war so groß, daß ich mich nicht bewegen konnte. Das Blut tropfte von meinem Ohr auf ihre blütenweiße Bluse, bis sich ein faustgroßer hellroter Fleck direkt über ihrem Herz gebildet hatte. »Verdammt! Du hast ihr das Herz gebrochen und sie getötet«, hörte ich Schlappmaul de Jaager rufen, als er aus dem Klassenzimmer rannte. Alle anderen liefen hinter ihm her und drängelten sich schreiend an der Tür, um den Ort des Verbrechens möglichst schnell zu verlassen. Ich stand einfach da, unfähig, einen Gedanken zu fassen, und das Blut tropfte weiter von meinem Kopf. Ich bemerkte nicht, daß jemand den Raum betrat, bis eine riesige Hand mich packte und quer durch die Klasse schleuderte, wo ich hart gegen die Wand krachte. Ich war zu überrascht, um Schmerzen zu empfinden, und saß einfach an der Wand wie eine ausrangierte Kleiderpuppe. Mr. Stoffel, der Lehrer, der die Klasse des Richters unterrichtete, kniete vornübergebeugt neben Miss du Plessis und schüttelte sie an den Schultern. Er riß die Augen auf, als er das Blut auf ihrer Bluse sah. »Scheiße, er hat sie umgebracht«, hörte ich ihn sagen. Im gleichen Moment öffnete Miss du Plessis die Augen und setzte sich auf wie Lazarus. Dann blickte sie nach unten, sah ihre blutbefleckte Bluse und verabschiedete sich wieder mit einem leisen Seufzer. Mr. Stoffel gab ihr rechts und links einen Klaps auf die Wangen, und sie öffnete die Augen und setzte sich wieder auf. »Oh, oh, was habe ich getan!« schluchzte sie. Plötzlich wurde es im Klassenraum sehr still und dunkel, so als hätte eine Wolke die Sonne bedeckt. Ich sah verschwommen, wie Mr. Stoffel auf mich zukam, seine langen, haarigen Arme ruderten wie in Zeitlupe hin und her, und seine ganze Gestalt wirkte unscharf. Ich versuchte, mein Gesicht mit den Händen zu schützen, aber meine Arme verweigerten den Dienst. »Jetzt weißt du, was passiert, wenn du aus der Deckung herausgehst, Pißkopp«, sagte ich zu mir selbst. Dann muß ich ohnmächtig geworden sein. Ich kam in meinem Bett im Schlafsaal der Kleinen wieder zu mir, aber noch bevor ich die Augen öffnete, konnte ich Mevrou neben mir riechen. Sie mußte das Zittern meiner Augenlider bemerkt haben. »Bist du wach, Pißkopp?« fragte sie nicht mal unfreundlich.
»Ja, Mevrou.« Ich war zurück in der wirklichen Welt und zog mir schnell meine geistige Tarnkappe über. Mein Kopf war mit einem dicken Verband umwickelt, und ich hatte meinen Schlafanzug an. Der Kopf tat nicht weh, aber meine Schulter schmerzte, wo ich gegen die Wand geknallt war. »Jetzt hör mir gut zu, Pißkopp«, sagte Mevrou mit Nachdruck. »Wenn der Doktor kommt, mußt du ihm erzählen, daß du von einem Baum gefallen bist, hörst du?« »Ja, Mevrou.« »Von welchem Baum bist du gefallen, Pißkopp?« fragte sie. »Da war kein Baum, Mevrou.« Auf den Trick war ich schon mal reingefallen. »Domkop!« schrie sie. »Wasch dir die Ohren. Was hab ich dir grade gesagt?« »Es war der Mangobaum, der große, direkt neben dem Spielplatz«, verbesserte ich mich. »Ja, das ist gut, der Mangobaum.« Sie erhob sich vom Stuhl neben meinem Bett. »Du hast ein gutes Gedächtnis, wenn du willst, Pißkopp. Denk dran und sag das Richtige, wenn der Doktor kommt.« Kaum war sie weg, sprang ich aus dem Bett, rannte zum Fenster und pfiff Granpa Chook. Einige Augenblicke später erschien er, gackerte wie immer mit glänzenden Augen und ließ sich neben mir auf dem Fensterbrett nieder. »Granpa Chook, wir haben 'ne Menge Schwierigkeiten«, sagte ich ihm und erklärte ihm, daß Adolf Hitler jetzt jeden Tag hier ankommen könne und uns ins Meer treiben würde. »Kannst du schwimmen?« fragte ich ihn. Granpa Chook war so ein außergewöhnliches Tier, es hätte mich nicht überrascht, wenn er der einzige Hahn der Welt wäre, der schwimmen konnte. »Gack-Gack!« antwortete er, und das konnte ja oder nein heißen, wer wußte das schon? Granpa Chook war nicht immer leicht zu verstehn. Wir hörten Stimmen, die auf den Schlafsaal zukamen. Ich schubste Granpa Chook schnell in den Obstgarten zurück und ging ins Bett. Zu meiner Freude kam Mevrou mit Dr. Henny herein. Er setzte sich auf mein Bett und wickelte mir den Kopfverband ab. »Was ist los, mein Sohn? Du siehst ja ziemlich fertig aus.«
Selbst wenn Dr. Henny kein rooinek gewesen wäre, wußte ich, daß er auf meiner Seite war, und ich sehnte mich danach, in Tränen ausbrechen zu können und ihm all meine Schwierigkeiten zu erzähl len. Aber an diesem Tag hatte ich schon einmal meine Tarnung fallen lassen, und die Folgen waren verheerend gewesen. Ein verbundenes Ohr und eine schmerzende Schulter waren nicht so tragisch dafür, daß ich unverzeihlich dumm gewesen war. Das nächste Mal hatte ich vielleicht nicht soviel Glück. Ich unterdrückte die Tränen und erzählte ihm, wie ich vom großen alten Mangobaum neben dem Spielplatz gestürzt war. Ich muß ein bißchen dick aufgetragen haben, denn er wandte sich an Mevrou und sagte auf afrikaans: »Hmm, außer dem Schnitt zwischen Ohr und Schädel hat er keine Prellungen oder Abschürfungen, sind Sie sicher, daß dieses Kind von einem Baum gefallen ist?« »Die anderen Kinder haben es genau beobachtet, Doktor. Es besteht kein Zweifel.« Mevrou sagte das so überzeugend, daß ich es fast schon selbst glaubte. Mir wurde klar, daß die Fragerei von Dr. Henny nur Ärger bringen würde. »Es stimmt, Sir. Genau so war es. Ich bin vom Baum gefallen und hab mir die Schulter an der Wand gestoßen.« Dr. Henny schien nicht zu bemerken, daß ich in Afrikaans geantwortet hatte. »Die Wand? Welche Wand?« Einen Augenblick lang sah Mevrou ängstlich aus, aber sie faßte sich schnell wieder. »Das Kind spricht noch nicht so gut Afrikaans, er meint den Boden.« »Ja, den Boden«, wiederholte ich, haarscharf davor, meine Tarnung himmelhoch zu lüften. Dr. Henny sah etwas verwirrt aus. »Okay, dann wollen wir uns mal deine Schulter anschauen.« Er drehte sie vorsichtig im Uhrzeigersinn. »Tut das weh? Sag mir, wenn es weh tut.« Ich schüttelte den Kopf. Dann drehte er sie in die Gegenrichtung. Schließlich hob er meinen Arm an, und ich zuckte zusammen. »Das tut weh, Stimmts?« Ich nickte. »Er ist aber nicht ausgerenkt.« Er horchte meine Brust und meinen Rücken mit einem Stethoskop ab, das sich kalt auf meiner Haut anfühlte. »Scheint in Ordnung zu sein. Ich mach nur ein paar kleine Stiche, dann bist du bald wieder okay«, sagte er auf englisch. »Darf ich bitte nach Hause?«
»Nicht nötig, mein Sohn. Morgen bist du wieder wie neu.« Er kramte in seinem Arztkoffer und zog ein gelbes Bonbon heraus. »Da, damit fühlst du dich besser, und du hast was zu tun, wenn ich den Schnitt nähe.« Er mußte mein ängstliches Gesicht gesehen haben. »Ja, es tut ein bißchen weh, aber du wirst doch nicht weinen, oder?« »Er ist ein tapferer Junge, Doktor«, sagte Mevrou und wirkte jetzt ganz ruhig, weil die Wahrheit nicht herausgekommen war. »Prima gemacht«, sagte Dr. Henny, als er die Stiche mit Jodtinktur betupfte, »wir brauchen nicht mal einen Verband, in einer Woche komme ich wieder, um die Fäden zu ziehen.« Er wandte sich wieder an Mevrou. »Lassen Sie mich wissen, wenn er über Rückenschmerzen klagt.« Er zog einen zweiten Lutscher aus der Tasche und reichte ihn mir. »Das ist für besondere Tapferkeit.« »Vielen Dank, Sir. Doktor Henny, sind Sie Engländer?« fragte ich und nahm den zweiten Lutscher. Sein Ausdruck änderte sich, und ich konnte sehen, daß er irritiert war. »Wir sind alle Südafrikaner, mein Sohn. Laß dir von niemandem etwas anderes einreden.« Er sprach mit ruhiger Bestimmtheit und wiederholte: »Laß dir von niemandem jemals etwas anderes einreden!« Ich hatte natürlich schon bessere Tage erlebt, aber zwei Lutscher an einem Tag gibt es nicht so häufig. Alles in allem war es gar nicht so übel. Trotz meines Status als Kriegsgefangener waren die Kinder in den nächsten Tagen ziemlich nett zu mir. Die Stiche hatten mich zum Helden im Schlafsaal der Kleinen gemacht, und selbst Maatie de Jaa-ger hielt zur Abwechslung mal sein loses Maul. Wir bekamen eine neue Lehrerin, Mrs. Gerber, die, wie sich herausstellte, die Frau des amtlichen Veterinärs war, der einmal zur Farm gekommen war, um Großvaters schwarze Orpington-Hüh-ner auf die Newcastle-Krankheit zu untersuchen. Mrs. Gerber hatte gute Nerven, und ich glaube, sie wußte nicht mal, daß ich ein rooinek war. Sie war keine richtige Lehrerin, deshalb war sie ganz nett. Das Gerücht ging um, daß Miss du Plessis einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. Ich wußte natürlich, daß mir dafür die Schuld gegeben wurde, und es beunruhigte mich zutiefst, daß ich wahrscheinlich auch der direkte Grund für den Nervenzusammen-
bruch meiner Mutter gewesen war. Ich mußte Nervenzusammenbruch-Typ sein. Zuerst meine Mutter, jetzt Miss du Plessis, und, obwohl ich Mevrou noch keinen angetan hatte, hatte sie wegen mir immerhin in die Hose gemacht, was vermutlich eine Vorstufe war. Granpa Chook und ich unterhielten uns lange über unsere mißliche Lage, waren aber unfähig, eine brauchbare Lösung zu finden. Schließlich war Granpa Chook ein Kaffernhuhn, und die haben nie ein besonders gutes Leben. Gerade noch scharrt man friedlich nach Würmern, und im nächsten Augenblick ist man schon das Abendessen für einen Schakal oder eine Python, oder man blubbert in einem dreibeinigen gußeisernen Kochtopf vor sich hin. Granpa Chook, ein gestandener Überlebenskünstler, lebte nach dem Prinzip, daß alles, was schiefgehen kann, auch schiefgeht. Ein Fünfjähriger ist schließlich noch kein Pessimist, aber eins war sicher, da waren wir uns einig: Irgend etwas ziemlich Schlimmes würde bald passieren.
3 In der Nacht, nachdem meine Fäden gezogen worden waren, wurde ich vor den Richter und die Geschworenen zitiert. Der Richter war in der vergangenen Woche ganz nett zu mir gewesen und hatte wegen meiner schmerzenden Schulter darauf verzichtet, daß ich ihm die Bücher zur Schule trug. Tatsächlich war ich, da niemand Miss du Plessis ausstehen konnte, zu einer Art Held geworden. Aber rooineks sind in diesem Teil der Welt nicht dafür gemacht, lange Held zu sein. Ich wußte, daß es bald damit zu Ende sein würde: Wenn meine Fäden gezogen wurden, war meine Gnadenfrist vorbei. Es war soweit, und ich erwartete den nächsten Schicksalsschlag. »Strammgestanden, Gefangener Pißkopp«, fuhr mich der Richter an. Ich straffte mich und preßte die Arme stocksteif an den Leib. »Stell deine blöden Beine zusammen, Mann!« rief einer der Geschworenen. »Name?«
Ich war verwirrt, jeder hier kannte doch meinen Namen? »Wie heißt du, Pißkopp?« fragte der Richter noch einmal. »Pißkopp?« probierte ich mutig und wüßte immer noch nicht, was er wollte. »Was bedeutet dein Name?« Wieder wußte ich nicht weiter. »Daß ich ins Bett mache?« »Ja, und Hühnerdreck is auch drin! Was ist ein rooinek?« »Ich bin Engländer.« »Das weiß ich, Mann! Aber woher weißt du, daß du ein rooinek bist?« »Ich... ich weiß es einfach, Sir.« Der Richter schüttelte den Kopf und seufzte tief. »Komm her. Näher heran, Mann.« Er saß mit gekreuzten Beinen auf seinem Bett. Ich machte einige Schritte und stand direkt vor ihm. Der Arm des Richters hob sich, und ich schützte mit der Hand mein Gesicht, aber statt mich zu schlagen, zerrte er so lange am Gummizug meiner Schlafanzughose, bis er riß und die Hose herunterrutschte. »Dein verdammter Piephahn hat keinen Hut auf, du Dummkopf! Deshalb bist du Engländer! Verstanden?« »Ja, Sir.« Ich bückte mich, um meine Schlafanzughose wieder hochzuziehen. »Laß das!« Wieder stand ich stramm. »Was bin ich, Pißkopp?« fragte der Richter. »Ein Bure, Sir?« »Ja, und was ist ein Bure?« »Ein Afrikaner, Sir.« »Ja, natürlich... aber was noch?« »Ein Bure hat einen Hut auf seinem Piephahn.« Warum hatte Gott, wenn er alle weißen Menschen gleich geschaffen hatte, den Engländern Piephähne ohne Hut gegeben? Das schien entsetzlich unfair zu sein. Meine Tarnung war perfekt bis auf diese eine kleine Sache. »Heute nacht wirst du lernen zu marschieren. Wir müssen dich auf den Marsch ins Meer vorbereiten.« Der Richter deutete auf den Korridor zwischen den Betten und gab mir einen Schubs. Ich stolperte über meine Schlafanzughose und fiel hin. Einer der Geschworenen bückte sich und zog mir die Hose von den Knöcheln. Mit
nacktem Hintern stand ich wieder auf und sah den Richter unsicher an. »Abmarsch!« kommandierte er und deutete noch einmal auf den Korridor zwischen den Betten. Ich marschierte los und schwang dabei die Arme. »Links, regs, links, regs, halt!« grölte er. Dann wieder,
»links, regs, links, regs, halt! Welcher ist dein linker Fuß, Gefangener Pißkopp?« Ich hatte keine Ahnung, zeigte aber auf einen Fuß. »Domkop! Weißt du nicht mal, wo links und rechts ist?« »Nein, Sir«, sagte ich und fühlte mich dumm. Aber in Wirklichkeit wußte ich es, links war da, wo mir die Schulter weh tat. »Jeden Tag nach der Schule marschierst du fünftausend Schritte um den Spielplatz herum, verstanden?« Ich nickte. »Du zählst von fünftausend rückwärts, bis du bei eins ankommst.« Ich konnte mein Glück nicht fassen, niemand hatte Hand an mich gelegt. Ich holte mir meine Schlafanzughose wieder Und rannte durch den dunklen Gang zurück zu meinem Schlafsaal. Es war gar nicht so schlimm, ein Kriegsgefangener zu sein und marschieren zu lernen. Nach der Schule hatte ich sowieso nichts zu tun. Aber ich muß zugeben, rückwärts von fünftausend bis eins zu zählen, ist nicht grade ein besonders abwechslungsreicher Zeitvertreib. Es ist sowieso unmöglich, weil man immer wieder an etwas anderes denkt, und schon bist du durcheinander und mußt neu anfangen. Ich gewöhnte mir an, eine Zahl zu murmeln, wenn irgend jemand in die Nähe kam, aber meistens machte ich im Kopf die Hausaufgaben des Richters. Während ich ihm die Schulbücher nach Hause trug, lernte ich seine Rechenlektionen auswendig und löste die Gleichungen dann im Kopf, während ich marschierte. Wenn es etwas komplizierter wurde, vergewisserte ich mich, daß niemand in der Nähe war, und berechnete kompliziertere Summen, indem ich sie mit einem Stöckchen in den Sand schrieb. Bald konnte ich es kaum mehr erwarten, bis ich sah, was sie am Vormittag in der Klasse durchgenommen hatten. Der Richter war ein furchtbarer domkop. Am Morgen, wenn ich seine Bücher zur Schule trug, schaute ich seine Hausaufgaben nach. Sie sahen immer schlimm aus, und fast alles war falsch. Ich begann, alle Hoffnung für ihn aufzugeben, und für mich auch, denn er würde die Klasse nur schaffen und die Schule verlassen können, wenn er als Note mindestens ein Ausreichend schaffte. So wie es jetzt aussah, hatte er keine Chance. Wenn er durchfiele, müßte ich ihn noch
ein Jahr lang ertragen. Das heißt, falls Hitler bis dahin nicht angekommen war, um mich ins Meer zu treiben. Flucht erschien mir unmöglich, also mußte ich mir etwas anderes ausdenken. Während mehrerer Nachmittage einsamen Marschie-rens um den Spielplatz nahm ein Plan in meinem Kopf Gestalt an. Das Ganze war, nachdem es schließlich raus war, atemberaubend einfach, wenn auch nicht ungefährlich. Die nächsten zwei Tage dachte ich kaum an etwas anderes. Wenn ich meine Tarnung aufgab und dem Richter bei den Hausaufgaben half, so daß er das Schuljahr schaffte, mußte er sich dann nicht gezwungen fühlen, Granpa Chook und mich zu verschonen, falls Adolf Hitler vor dem Ende des Trimesters ankäme? Ich muß zugeben, ich machte mir große Sorgen. Jedesmal, wenn ich die Tarnung aufgegeben hatte, war ein Unglück auf dem Fuß gefolgt. Schließlich, nach einem langen Gespräch mit Granpa Chook, einigten wir uns, daß diese Chance einen Versuch wert war. Als ich nach dem Frühstück am nächsten Morgen die Decke des Richters zusammenfaltete und sein Handtuch ordentlich über das Bettgestell hängte, brachte ich die Sache zur Sprache. Er saß auf dem Bett, leckte an seinem Füllfederhalter und versuchte, in letzter Minute eine Rechenaufgabe zu lösen. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« Mein Herz ratterte wie eine Dampfmaschine, aber ich war überrascht, wie ruhig meine Stimme klang. »Halts Maul, Pißkopp. Siehst du nicht, daß ich beschäftigt bin, Mann.« Der Richter schlug sich mit den Brüchen herum, die ich am Vortag im Kopf gelöst hatte, und brachte alles durcheinander. Ich schluckte meine Angst herunter und sagte: »Was ist, wenn Sie das Schuljahr nicht schaffen?« Der Richter schaute mich an, und ich sah ihm an, daß ihm der Gedanke nicht ganz neu war. Er packte mich am Hemd. »Wenn ich durchfalle, dann bringe ich zuerst dich um, und dann laufe ich weg!« Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. Ich stotterte: »Ich... ich kann Ihnen helfen, Sir.« Der Richter ließ mich los, kaute weiter an seinem Federhalter und runzelte die Brauen, als er auf die Seite mit den Gleichungen schielte. Er schien mir nicht zugehört zu haben. Ich zeigte auf die
Gleichung, die er gerade gelöst hatte. »Das ist falsch. Es muß sieben Neuntel heißen.« Flink bewegte ich meinen Finger. »Vier Fünftel, sechs Achtel, neun Zehntel, fünf Siebtel...« Ich machte eine Pause, als er nach meiner Hand griff und mich mit offenem Mund anstarrte. »Wo hast du das alles gelernt, Mann?« Ich zuckte die Achseln. »Es fällt mir einfach leicht, sonst nichts.« Ich hoffte, er würde nicht bemerken, was für eine Angst ich hatte. Ein schlauer Ausdruck trat ihm in die Augen. Er ließ meine Hand los, reichte mir das Heft und den Stift. »Schreib die Lösungen ganz schwach hinein, und ich schreib sie ab, verstanden?« Die Tarnung war intakt, und ich erklomm das nächste Stadium der Evolution. Hatte ich bisher meinen Verstand versteckt, hatte ich jetzt gelernt, ihn einzusetzen. Granpa Chook und ich waren einen Schritt weiter vom Meer weggekommen. Aber ich hatte schon gelernt, was passiert, wenn man zuviel zu schnell enthüllt. Mir war klar, wenn ein domkop wie der Richter über Nacht vom Klassenletzten zum Klassenbesten aufstiege, würde Mr. Stoffel Lunte riechen. Und dem Richter zu sagen, daß er ein Trottel war - dann wäre mein Leben keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Außerdem begann ich zu begreifen, was für eine wichtige Waffe die Manipulation in der Waffenkammer der Kleinen und Schwachen sein kann. »Es gibt ein Problem«, sagte ich zum Richter. »Was für ein Problem, Mann? Ich seh kein Problem. Du schreibst ganz einfach die Lösungen in mein Heft, das ist alles.« »Richter, Sie sind ein wirklich cleverer Bursche.« »Ja, das stimmt. Und?« »Und Rechnen interessiert Sie nicht, stimmts? Ich meine, wenn es das täte, könnten Sie es natürlich«, ich schnippte mit den Fingern, »einfach so!« »Ja, wenn ich es wollte, könnte ich es natürlich. Nur kleine Kinder wie du interessieren sich für so einen Scheißdreck!« Ich merkte, daß ihm diese Folgerung gefiel, und wurde mutiger. »Also können Sie heute unmöglich alle zehn richtig haben, wenn Sie gestern nur zwei von zehn richtig hatten. Mr. Stoffel wüßte sofort Bescheid.« Er sah besorgt aus. »Heißt das, du hilfst mir nicht?«
»Keine Angst. Aber Sie werden jede Woche etwas besser, und Sie sagen Mr. Stoffel, daß Sie es plötzlich kapiert hätten.« Der Richter sah erleichtert aus und grinste verschlagen. »Jy is'n slimmertjie, Pißkopp«, sagte er. Der Richter hatte mich klug genannt. Mich! Pißkopp! Rooinek und Besitzer eines hutlosen Piephahns! Das war das größte Kompliment meines Lebens, und ich war außer mir vor Stolz. Aber bevor der Richter die Wirkung seiner Worte auf mich bemerkte, nahm ich wieder meine unterwürfige Haltung ein. Die Begeisterung über das Kompliment hatte mich fast dazu verleitet, meine andere Befürchtung zu vergessen. »Was passiert, wenn Adolf Hitler kommt, bevor das Trimester zu Ende ist?« fragte ich, und mein Herz schlug schneller. Der Richter sah mich verständnislos an und grinste plötzlich, als er den Grund meiner Frage begriff. »Okay, Mann, du kannst auf mich rechnen. Ich sag kein Wort, bis ich das Schuljahr bestanden hab.« Er schüttelte den Kopf und sah mich nicht ganz ohne Sympathie an. »Tut mir leid, Pißkopp, aber danach muß ich dich melden. Du mußt für den Tod von sechsundzwanzigtausend Burenfrauen und Kindern bestraft werden. Du und dein dummes Kaffernhuhn, ihr seid so gut wie tot, wenn er kommt. Aber ich sag dir eins, ich geb dir mein Burenwort drauf, wenn ich die Klasse schaffe - ich schwöre auf einen Stapel Bibeln -, sag ich Adolf Hitler kein Wort von dir, bis das nächste Trimester beginnt.« Der Richter begann die Lösungen durchzuschreiben, die ich ihm in sein Übungsheft geschrieben hatte, und runzelte dabei die Stirn so stark, als ob er die Aufgaben selbst löste. Ich hatte gewonnen: Mein Plan hatte geklappt. Ich konnte es kaum glauben. Granpa Chook und ich waren für den Rest dieses Trimesters in Sicherheit. Der Richter hatte alles abgeschrieben. Ich hatte ihn noch nie so glücklich gesehen, nicht einmal, als er sein »Heil Hitler« in die Runde geschrien hatte. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf, atmete tief ein und sagte schnell: »Es wird schwierig werden, den ganzen Nachmittag um den Spielplatz herumzumarschieren und außerdem noch Ihre Hausaufgaben zu schaffen, Sir.« In meinem Kopf hörte ich ein scharfes Zischen. War ich zu weit gegangen? Ich hatte die Schlacht gewonnen und riskierte gleich
wieder alles, wegen einer Lappalie. Die Marschiererei war gar nicht so schlimm. Sie machte sogar Spaß. Was wäre, wenn er herausbekäme, daß ich währenddessen sowieso seine Hausaufgaben löste? Der Richter schniefte und wischte sich die Nase mit dem Handrücken ab. »In Ordnung, das Marschieren fällt flach. Aber du machst meine Hausaufgaben, verstanden? Wenn ich dich und dieses Kaffernhuhn beim Rumtreiben erwische, dann wird doppelt so lang marschiert wie bisher. Ihr zwei seid Kriegsgefangene, und ihr tut gut daran, das nicht zu vergessen, Mann.« Wieder hatte ich gesiegt. Meine ersten bewußten Manipulationsversuche waren erfolgreich verlaufen. Es war ein verdammt gutes Gefühl, als Granpa Chook und ich an diesem Morgen hinter dem Richter her zur Schule gingen. Eins ist sicher im Leben. Gerade wenn alles gut läuft, geht bald etwas schief. So soll es offenbar sein. An diesem Tag erzählte uns Mrs. Gerber in der Schule, daß die Newcastle-Krankheit auf einer Hühnerfarm in der Nähe von Merensky Dam ausgebrochen sei. Ihr Mann, der Tierarzt, war losgefahren, um alle Farmen in der Gegend zu untersuchen. Selbst die kleinsten Kinder wissen, was für eine Verwüstung eine Krankheit unter Geflügel oder anderen Haustieren anrichten kann. Natürlich waren die Rinderpest und die Maul- und Klauenseuche unter den Rindern die schlimmsten Krankheiten, aber jede Farm hält mindestens fünfzig Hühner, und deshalb wurde Mrs. Gerbers Nachricht mit großer Sorge aufgenommen. Meine Mutter hatte einmal gesagt, wenn Großvater seine schwarzen Orpington-Hühner verlöre, würde es ihm das Herz brechen. Es war ziemlich deprimierend für mich, an meine Mutter zu denken, wie sie mit ihrem Nervenzusammenbruch in einem englischen Konzentrationslager Pullover mit verschieden langen Ärmeln strickte. Wie sie mit all den Burenmüttern und Kindern zusammen strickte und strickte, während sie verhungerte oder an Schwarzwasserfieber starb. Und auf der Farm starb jetzt der arme alte Großvater langsam an gebrochenem Herzen. Falls Adolf Hitler nicht vorher ankäme. Wenn er käme, dann wußte ich genau, daß Großvater nicht einmal die Kraft hätte, Fluchtpläne zu schmieden oder in seinem Laster wegzufahren, und was würde dann aus mir werden?
Vielleicht könnte ich bei Nanny im Zululand leben? Dieser Gedanke verbesserte meine Stimmung deutlich. Adolf Hitler würde niemals mitten im Zululand nach einem kleinen Engländer suchen. Inkosi-Inkosikazi würde mich mit einem Zauberspruch verstecken, und sie hätten keine Chance. Und was Granpa Chook betraf, Adolf Hitler wäre bestimmt nicht in der Lage, ein englischsprechendes Huhn zwischen all den anderen Kaffernhühnern herauszufinden. Die Sache war klar, und ich beschloß, sobald ich zurück auf der Farm war, Nanny von diesem ausgezeichneten Plan zu unterrichten. Nach dem, was man vom Richter hörte, der samstags abends bei Mr. Stoffel die Radionachrichten hören durfte, sah der Krieg ziemlich schlecht aus für die Engländer. Adolf Hitler hatte Polen besetzt, von dem ich annahm, es läge wie das Zululand irgendwo in Südafrika, nur eben von Angehörigen des Po-Stammes bewohnt. Wenn man den Richter hörte, dann mußte Adolf Hitler jetzt jeden Tag in unserer Gegend aufkreuzen. Ich hatte keine Ahnung, daß Südafrika und England Verbündete waren, denn hier, wo ich lebte, waren die Engländer der lokale Feind. Ich empfand es als persönliches Unglück, Engländer zu sein, so als wenn man in eine arme degenerierte Familie hineingeboren wird. Die meisten meiner Informationen stammten von den regelmäßigen Kriegsratssitzungen, die der Richter hinter den Scheißhäusern abhielt. Alle älteren Jungen waren SA-Leute, und Danie Coetzee durfte als Ältester der Kleinen an den Versammlungen teilnehmen. Als offizielle Kriegsgefangene wurden Granpa Chook und ich dorthin gezerrt, um verhört und gefoltert zu werden. Mir wurden die Augen verbunden, und ich wurde an der Brust und an der Taille mit einem Seil am Stamm eines Jakarandabaumes festgebunden. Meine Arme und Beine blieben frei, und zwar deshalb, weil für zwei der wichtigsten Folterungen meine Hände gebraucht wurden. Die meisten Foltersitzungen begannen mit der Eisenstange, bekannt als »Chinesische Folter«, die nach dem Herkunftsland der großen billigen Taschenuhr des Richters, eines seiner kostbarsten Besitztümer, so genannt wurde. Ich mußte eine Eisenstange mit ausgestreckten Armen so lange wie möglich halten, und er gab die Zeit
vor. Jedesmal mußte ich die Stange länger halten als das vorige Mal. Die Zeit wurde ordnungsgemäß von einem Kind namens Boetie van der Merwe gestoppt, der in der Nazipartei als SA-Mann, Zeitnehmer und Kontrolleur bekannt war. Van der Merwe war sehr stolz auf seinen Job und erinnerte mich jedesmal an das Minimum an Zeit, das ich für die nächste Chinesische Folter zur Verfügung hatte. Wenn ich es nicht schaffte, meine letzte Zeit zu verbessern, bekam ich eine Ohrfeige vom Richter und von den sechs SA-Männern, deren Aufgabe es war, mich zu schlagen. Die zweite Folterung, für die meine Hände frei sein mußten, wurde die »Zielübung« genannt. Jeder SA-Mann führte eine Schleuder als tödliche Waffe bei sich. Alle Farmerkinder besitzen Schleudern, um Vögel zu schießen, und lernen, sehr gut damit umzugehen. Im Internat durften sie nicht offen getragen werden, aber alle älteren Jungen besaßen eine, und während der Naziparteitreffen trugen sie sie offen um den Hals. Während des Zielschießens mußte ich meine Arme links und rechts von mir ausstrecken, mit geöffneten und nach oben gedrehten Handflächen. Leere Marmeladenbüchsen wurden daraufgestellt, und jeder SA-Mann durfte zweimal probieren, mir die Büchsen aus der Hand zu schießen. Die sechs Tagesbesten erwarben das Recht, mich bei der nächsten Sitzung zu verprügeln, falls es notwendig werden sollte. Wie üblich notierte Boetie van der Merwe die Punkte. Ich muß den Nazis zugute halten, daß sie die Büchsen aus gut sechs Meter Entfernung fast immer trafen. Nur einmal erwischte mich ein Stein an der Handwurzel. Glücklicherweise war es meine linke Hand, denn ich konnte sie ein paar Tage lang nicht gebrauchen. Granpa Chook flog auf einen Ast des Jakarandabaumes, von wo aus er ein scharfes Auge auf die Vorgänge unten werfen konnte. Die Nazis nannten ihn »Kriegsgefangener Kaffernhahn rooinek«. Einen Hahn kann man nun wirklich nicht gut verhören und foltern, und da er Mevrous fest angestellter Kammerjäger war, war er ziemlich in Sicherheit. So hart der Richter war, mit Mevrou wollte er sich nicht anlegen. Er sah nur zu Granpa Chook hoch und sagte bösartig: »Deine
Zeit kommt auch noch, Kriegsgefangener Kaffernhahn rooinek, glaub bloß nicht, daß wir dich vergessen haben!« Ich hatte ständig Angst um Granpa Chook, aber ich konnte nicht viel tun. Er war ein Kriegsgefangener, genau wie ich. Wir konnten nur auf bessere Zeiten hoffen und versuchen, uns durchzuwurschteln. Außerdem hatte Granpa Chook es ganz gut da oben im Jakarandabaum, während ich unten am Boden litt. Die Naziparteiversammlungen wurden zweimal pro Woche abgehalten. Obwohl ich noch Stunden danach zitterte, waren die körperlichen Schäden gering. Ich wurde nur geschlagen, wenn ich die Eisenstange zu früh fallen ließ, und in einem oder zwei anderen Fällen, zum Beispiel, wenn der Richter sehr erregt war oder wenn ich seine laut gebrüllten Fragen nicht schnell genug für seinen Geschmack beantwortete. »Was ist deine Mutter, Pißkopp?« »Eine Hure, Sir!« Ich hatte keine Ahnung, was eine Hure war, aber ich wußte, daß dies die Antwort war, die er erwartete. »Mit wem schläft sie?« »Mit Kaffern, Sir.« »Mit dreckigen, stinkenden Kaffern!« riefen die anderen Nazis im Chor, stöhnten, streckten die Zunge heraus und taten so, als müßten sie sich übergeben. Selbst das kleinste Farmerkind kennt das Sexualverhalten von Tieren, trotzdem war es mir nie in den Sinn gekommen, daß Menschen das gleiche taten. Ich wunderte mich, warum diese Antwort so besonders schlimm sein sollte. Schließlich hatte Nanny mein ganzes Leben auf ihrer Matte am Fußende meines Bettes mit mir geschlafen, und für die Nazis war sie eine Kaffernfrau. »Was bist du, Pißkopp?« »Ein Stück Scheiße!« antwortete ich. »Nicht Scheiße! Hundescheiße!« riefen sie im Chor zurück. Ich entdeckte, daß man sich an alles gewöhnen kann. Sie erwarteten von mir diesen Fehler, damit sie ihre Pantomime ausführen konnten. Nach der ersten Hälfte des Verhörs wurden mir die Augen verbunden. Dann, oft mitten in der Befragung, wurde ein Eimer Wasser über mich gegossen. Zu wissen, daß, aber nicht zu wissen, wann er kommen würde, bedeutete jedesmal einen entsetzlichen Schreck für mich. Die Phantasie ist meist der beste Folterknecht.
Oder sie ließen ein halbes Dutzend rote Ameisen in meine Hose krabbeln und schauten zu, wie ich verzweifelt versuchte, sie zu fangen, während sie mich schmerzhaft in die Hoden und die Innenseite der Schenkel bissen. Wenn ich meine Augenbinde abriß, bekam ich zwei Schläge von jedem Parteimitglied. Ich lernte bald, daß rote Ameisen nur einmal beißen, wenn man sie in Ruhe läßt. Aber ich kann euch sagen, auch dieser eine Biß ist alles andere als angenehm. Wenn ein neuer Trick, wie der mit den Ameisen, gut klappte, beglückwünschten sie sich gegenseitig laut und brüllten vor Lachen, wenn ich hin und her sprang und meine Hände wie wild in den Khakishorts herumfuhren, um die Ameisen loszuwerden. Der Richter war zwar für neue Beschimpfungen und Quälereien sehr zu haben, aber er verbot jede Folter, die sichtbare Spuren an meinem Körper hinterließ. Zum Beispiel durfte ich angespuckt, nicht aber gezwickt werden. Gegen Ende des letzten Trimesters fiel ihnen nichts Neues mehr ein, und da ich alle Antworten auf ihre dummen Fragen kannte, alles zugegeben hatte, dessen sie mich beschuldigten, und all ihre Beleidigungen dankbar schluckte, verliefen die Folterungen sehr viel ruhiger. Ich habe gelernt, daß alles, egal wie schlimm es ist, irgendwann einmal zu Ende ist. Eines machte ihnen allen sehr zu schaffen. Sie kriegten mich nicht zum Weinen. Selbst der Richter, mit all dem Schrecken, den er verbreitete, schaffte es nicht. Ich vermute sogar, daß sie mich ein bißchen bewunderten. Viele von ihnen hatten zu Hause kleine Brüder in meinem Alter und wußten genau, wie leicht ein Fünfjähriger weint. Tatsächlich war ich mittlerweile sechs geworden, aber niemand hatte es mir gesagt, also glaubte ich immer noch, erst fünf zu sein. Nicht zu weinen war auch für mich das Allerschwierigste. Weinen kann eine gute Tarnung sein. In Wirklichkeit hatte meine Willenskraft wenig mit meinem Entschluß zu tun, nie mehr zu weinen. Ich hatte einen speziellen Trick gelernt, und dann hab ich es irgendwie nicht mehr hingekriegt, den Hahn aufzudrehen. Was sie nicht wußten, ich hatte gelernt, hinter der Augenbinde gleichzeitig an zwei Orten zu sein. Ich konnte leicht alle ihre blöden Fragen beantworten und mit einem anderen Teil meines Bewußtseins Inkosi-Inkosikazi besuchen. Dort im Nachtland war ich sicher
vor den SA-Männern, die unfähig waren, mir etwas anzutun und mich zum Weinen zu bringen. Wenn sie mir den schmutzigen Fetzen über die Augen zogen, atmete ich dreimal tief ein. Und sofort hörte ich Inkosi-Inkosikazis Stimme, sanft wie ein entferntes Donnergrollen: »Du stehst auf einem Felsen über dem höchsten Wasserfall, ein junger Krieger, der seinen ersten Löwen erlegt hat und der jetzt würdig ist, im impi von Shaka zu kämpfen, dem größten Kriegskönig von allen.« Ich stand im Mondlicht auf dem Felsen über den drei Wasserfällen. Weit unten sah ich die zehn nassen glänzenden Steine und das weiß schäumende Wasser, wie es durch die schmale Schlucht stürzte. Dann wußte ich, die äußere Gestalt des Menschen ist nur eine Schale, eine Erscheinung, die gesehen und herausgefordert werden kann. Aber innen war das wirkliche Ich, dessen Tränen sich mit den Tränen aller traurigen Menschen vereinigten und zu den drei Wasserfällen im Nachtland wurden. Das letzte Trimester war fast zu Ende, nur noch ein Tag und ein Verhör, und dann die Freiheit. Der Richter hatte Mr. Stoffel durch seine Anstrengungen im letzten Trimester für sich eingenommen, und seine schlechten Leistungen davor waren vergessen. Am Ende des Schuljahres war er der Beste seiner Klasse. Mr. Stoffel riet den anderen, sich ein Beispiel an ihm zu nehmen, und ich glaube, er hielt die Leistungen des Richters auch etwas für sein eigenes Verdienst. Der Richter hatte als hoffnungsloser Fall gegolten, und jetzt war er der Klassenbeste. Er zeigte mir sein Zeugnis, und da stand schwarz auf weiß, daß er die Klasse geschafft hatte. Er hatte seinen Scharfsinn inzwischen akzeptiert und erwartete den Glückwunsch seiner Parteigenossen. Er war nicht nur stark, er war auch schlau, eine sehr befriedigende Situation. Deshalb sah ich keinen Anlaß, für das letzte Verhör irgend etwas Ernstes zu befürchten, bevor der Richter für immer aus meinem Leben verschwand. Schließlich schuldete er mir einiges, und was Adolf Hitler betraf, der war trotz seines großen Sieges an einem Ort namens Dünkirchen noch nicht hier angekommen. Die Kriegsgefangenen Pißkopp und Kaffernhahn rooinek wurden zum letzten Mal unter dem Nazivorsitz des Richters zum Jakaran-
dabaum gebracht. Dieses Mal wurden mir sofort die Augen verbunden, als ich in gewohnter Weise an den Baum gefesselt wurde. Ich hörte Granpa Chook in den Ästen über mir heiser gackern. Gerade wollte ich mich auf den Weg ins Nachtland machen, als ich die schneidende Stimme des Richters hörte: »Dies ist das letzte Mal, englischer Bastard!« Plötzlich wußte ich, heute würde es anders sein. Ich wußte, daß der Richter mir seiner Meinung nach nichts schuldete. Die schlechten Zeiten waren zurück. Ich versuchte, in die Sicherheit des Nachtlandes zu gelangen, aber Angst schoß in mir hoch wie Kotze in einem Vulkan, und ich war unfähig, mich von diesem Bild zu lösen. »Heute, Engländer, wirst du Scheiße fressen.« Es wirkte sehr viel bösartiger, als er »Engländer« sagte, statt des üblichen, fast freundlich klingenden »rooinek*. »Streck deine Hände aus.« Ich hörte ihn schniefen, als ich die Hände mit nach oben gedrehten Handflächen nach vorne streckte. Er packte meine Arme an den Handgelenken und hielt sie so fest, daß ich sie nicht bewegen konnte. »Brings her, SA-Mann van der Merwe«, hörte ich ihn sagen. Etwas Weiches fiel mir in die eine und dann in die andere Hand. »Schließ die Hände, Bastard«, befahl der Richter. Meine Handgelenke schmerzten fast unerträglich. Langsam schloß ich die Hände. »Nehmt ihm die Augenbinde ab«, befahl der Richter. Die anderen Nazis waren jetzt ganz still, und einer von ihnen knotete mir die Augenbinde auf. Im plötzlich einfallenden Licht mußte ich blinzeln. Auch meine Nase war von der Augenbinde verdeckt gewesen, und noch bevor ich hinschaute, stieg ein entsetzlicher Geruch zu mir auf. Meine Hände klebten, und als ich sie öffnete, sah ich zwei zerquetschte Haufen Menschenscheiße darin. Der Richter ließ meine Handgelenke los. »Jetzt leck dir die Finger ab«, befahl er. Ich stand mit ausgestreckten Händen da und wußte nicht, was ich tun sollte. »Ich zähl bis drei, wenn du dir bis dahin nicht die Finger abgeleckt hast, dann schlag ich dir deinen verdammten Kopf ab, du Scheißkerl!« Der Richter stand mit hervorquellenden Augen vor mir, und ich sah, daß er zitterte.
Ich war zu schockiert, um überhaupt zu reagieren. Ich glaube, ich hätte die .Scheiße gegessen, wenn der Befehl es geschafft hätte, durch mein abgeschaltetes Gehirn zu kommen. Aber im Moment schmolzen nur die Drähte. »Een... twee... drie!« zählte er. Ich blieb mit ausgestreckten Händen stehen und zitterte vor Entsetzen. Tief aus seiner Kehle kam eine Art gurgelnder Tierlaut, dann packte er mich wieder an den Gelenken und stieß mir die Hände in den Mund. Ich biß vor Angst die Zähne aufeinander, und die Scheiße wurde auf meinen Lippen und Zähnen und dem Rest meines Gesichtes verrieben. Etwas davon mußte dem Richter auf die Hand gekommen sein; er ließ mich los und wischte sie an meinem kurz geschnittenen Haar ab. Dann packte er den Stamm über meinem Kopf und beugte sich über mich. Zuerst versuchte er wie ein Rasender den Baum zu schütteln, dann fing er an, ihn mit geballten Fäusten zu bearbeiten. Plötzlich warf er den Kopf zurück und schaute in die Krone hoch. »Heil Hitler«, kreischte er. Hoch oben über ihm im Baum saß Granpa Chook mit geöffnetem After und ließ eine perfekte Bombe aus grünweißer Hühnerscheiße direkt in den offenen Mund des Richters fallen. Granpa Chook hatte bis zum letzten Tag des Trimesters gewartet, um seine Meinung über die Nazis abzugeben. Wie immer war sie kurz und treffend. Der Richter spuckte wie verrückt, krümmte sich, rannte im Kreis herum und preßte die Hände an den Hals und an den Bauch, würgte und spuckte und übergab sich schließlich. Er rannte zum Wasserhahn und spülte sich ungefähr sechsmal den Mund aus. Dann stekkte er den Zeigefinger wie eine Zahnbürste in den Mund, rieb sich die Zähne und das Zahnfleisch, füllte sich den Mund wieder mit Wasser und spuckte aus. »Hau ab, Granpa Chook! Hau ab, Mann, hau ab!« schrie ich in den Baum hinauf. Aber Granpa Chook war für ein altes Kaffernhuhn genug gerannt. Er saß gackernd dort oben zwischen den roten Jakarandablüten, und es klang so, als würde er sich weglachen. »Bitte hau ab, Granpa Chook, bitte, bitte hau ab! Der Bastard tötet dich!« schrie ich und hatte die Scheiße auf meinem Gesicht und in meinem Haar vergessen.
Granpa Chook hüpfte auf einen niedrigeren Ast, flog dann zu meinem Entsetzen auf meine Schulter und gab mir einen seiner berühmten Granpa-Chook-Küsse aufs Ohr. Ich packte ihn und wollte ihn in die Luft schmeißen, aber als ich ihn mir von der Schulter holte, bekam ich eine Explosion von Federn ins Gesicht. Granpa Chook gackerte erschrocken auf, wurde mir aus der Hand gerissen und fiel zu Boden. Der Richter stand ein paar Schritt weit weg, und die leere Schleuder baumelte in seiner linken Hand. »Hau ab, Granpa Chook, renn um dein Leben!« flehte ich ihn an. Granpa Chook versuchte aufzustehn, aber der Stein, den der Richter mit seiner starken Schleuder auf ihn abgefeuert hatte, hatte ihm die Rippen gebrochen. Er machte noch einige Versuche und fiel immer wieder auf seinen Flügel. Ich glaube, er wußte, daß es sinnlos war. Dann saß er einfach da, schaute mich an und sagte: »Gack!« Danie Coetzee kam angerannt und packte Granpa Chook. Ich schaffte es, ihn einmal zu treten, aber dann hielt er Granpa Chook triumphierend kopfüber an den Füßen hoch. Granpa Chook schlug wild mit den Flügeln, es muß ihm furchtbar weh getan haben. Plötzlich hörte er auf damit, und ich dachte, er ist tot, aber dann sah ich, wie seine leuchtenden Augen versuchten, mich von unten zu finden. »Kein verfluchter Kaffernhahn scheißt auf mich! Hängt ihn neben Pißkopp an den Beinen auf«, befahl der Richter. Er spuckte immer noch, obwohl gar keine Spucke mehr kam, und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Zwei SA-Männer schlangen eine Schnur um einen Ast, und bald hing Granpa Chook mit dem Kopf nach unten neben mir, gerade außerhalb meiner Reichweite. »Bitte, Sir. Ich tue alles! Alles, was Sie wollen! Bitte lassen Sie Granpa Chook am Leben!« Der Richter, über mich gebeugt, sah mir mit grausamen Augen direkt ins Gesicht. »Jetzt werden wir sehen, wer hier weint«, grinste er. Panik packte mich. »Töten Sie mich!« bettelte ich. »Bitte töten Sie mich. Aber lassen Sie Granpa Chook leben!« Der Richter schlug mir mit dem Handballen gegen die Stirn. Mein Kopf krachte an den Stamm des Jakarandabaumes, und ich war völlig benommen. »Pfui, Scheiße!« schrie er, etwas Scheiße von meinem Gesicht war an seiner Hand hängengeblieben. Wieder wischte er sie an meinem Haar ab.
»Du bist nichts als Scheiße, und dein verdammter Kaffernhahn ist nichts als Scheiße. Hast du gesehen, was er mir angetan hat? Mir, Jaapie Botha! Dieser verdammte Hahn hat mir in den Mund geschissen!« Immer noch benommen, versuchte ich verzweifelt einen anderen Weg. »Ich sag es Mevrou!« schrie ich und versuchte, drohend zu klingen. »Mevrou kan gaan kak!« (Mevrou soll scheißen gehn!) Der Richter spuckte auf den Boden, diesmal sauber, ohne Hühnerdreck. Er drehte sich zu den SA-Männern um. »Kriegsgefangener Kaffernhahn rooinek wird exekutiert, zwei Schüsse jeder!« Er reihte sich zwischen die andern Schützen ein, die ihre Schleudern luden. Ich ließ den letzten Rest meiner Tarnung fallen. »Ich erzähl Mr. Stoffel, daß ich die Rechenaufgaben für dich gemacht hab!« schrie ich den Richter an. Ich hörte das leise »pffffft« seiner Schleuder, im gleichen Augenblick fühlte ich, wie der Stein auf meinem Bauch aufschlug. Der Schmerz war entsetzlich. Es geschah alles wie in Zeitlupe. Als hätte der Stein ein Eigenleben, nagte er an meinen Eingeweiden und schien sich brennend und kneifend durch meine Innereien hindurch zum Rücken zu bewegen. Ein böses, entschlossenes, lebendiges, gesichtsloses Ding. Meine Augen traten aus dem Kopf, und vor Entsetzen streckte ich, ohne es zu wollen, die Zunge heraus. »Feuer!« Eine Serie dumpfer Einschläge traf die zerbrechlichen Knochen von Granpa Chooks Brustkorb. Die ersten Schüsse hatten das Seil in Schwingung versetzt, aber die SA-Männer waren ausge' zeichnete Schützen, und auch beim zweiten Mal trafen sie den drolligen Körper des kopfüber aufgehängten alten Hahnes. Zwischen den heruntergefallenen Jakarandablüten tropfte Blut in den trockenen Staub. Durch das Schwanken des Seiles fiel keiner der Tropfen auf die gleiche Stelle. Granpa Chook, der zäheste gottverdammte Hahn der Welt, war tot. Eine winzige Feder schwebte zu mir herüber, es war eine der zarten Daunenfedern, die oben an Granpa Chooks dünnen Beinen wuchsen. Sie blieb auf der verschmierten Scheiße in meinem Gesicht hängen. Der Richter kam zu mir und band mich vom Baum los. Ich sackte vor ihm zusammen. Er stellte seinen nackten Fuß auf meine Schulter.
»Was bist du, Engländer?« »Hundescheiße, Sir.« »Sieh mich an, wenn du es sagst!« bellte er. Langsam schaute ich zu dem Riesen mit dem Fuß auf meiner Schulter empor. Hoch über ihm sah ich den Mond milchig am Nachmittagshimmel stehen. Fast hatten wir es geschafft, Granpa Chook und ich, fast hatten wir es bis zum Ende geschafft, nur noch ein paar Stunden hatten gefehlt. Ich spuckte ihn an und rief: »Du bist Hundescheiße! Deine Mutter ist eine Hure!« Er trat mit aller Kraft nach mir, und ich fiel flach auf den Boden. Dann heulte er auf, in einer Mischung aus Wut und Qual. »Warum weinst du nicht, du verdammter Bastard!« schluchzte er und fing an, blind nach mir zu treten. Die SA-Männer kamen angerannt, um ihn daran zu hindern, und zogen ihn von mir weg. Der Richter ließ sich wegführen, und wir wurden hinter den Aborten allein gelassen. Über uns stand ein weißer Mond am wolkenlosen Himmel. Ich band den zerbrochenen Körper von Granpa Chook los, wir setzten uns unter den Jakarandabaum, und ich streichelte sein blutiges Gefieder. Nie mehr würde die sanfte afrikanische Morgendämmerung die Nacht zurückweisen, nie mehr würde dein frühmorgendliches Kikeriki mir sagen, daß du da bist, mein geliebter, treuer Freund. Wer wird mich jetzt am Ohr picken? Wer wird jetzt mein Freund sein? Ich schluchzte und schluchzte und schluchzte. Die große Dürrezeit war vorbei, mein Inneres war nach außen gekehrt, es regnete im Zululand. Viel, viel später, als ich mich ausgeweint hatte und der Einsamkeitsvogel in mich hineingeschlüpft war, um sich ein Nest in mir zu bauen, trug ich Granpa Chook in den Obstgarten und legte ihn in den Unterstand, den ich ihm gegen den Regen gebaut hatte. Dann kletterte ich durch das Fenster in den Schlafsaal und holte meine neue rote Strickjacke, die meine Mutter im Konzentrationslager gestrickt und die Nanny zurechtgemacht hatte. Ich sammelte so viele Steine, wie ich finden konnte, und zog dann Granpa Chook die Strickjacke über. Seine Flügel schauten aus den Armlöchern heraus, sein langer Hals ragte oben und seine Füße unten heraus.
Er sah so schön aus wie noch nie. Ich nahm die Marmeladenbüchse, in der ich ihm immer Wasser gebracht hatte, und sammelte in fünf Minuten zwanzig kleine Grashüpfer, das beste Hühnerfutter überhaupt. Die Büchse stellte ich neben ihn, damit er auf dem Weg in den Himmel etwas Gutes zu Essen hätte. Schließlich bedeckte ich seinen Körper mit den Steinen. Südafrikas erstes Opfer im Krieg gegen Adolf Hitler war endlich in Sicherheit. Ich saß neben dem Steinhaufen, und die Nachmittagssonne begann zu sinken. Jetzt war sie über Zululand hinweg, sogar schon über das Land der Swazi, und nun verließ sie das Land der Shagaans und den Königlichen Kral von Modjadji, der Regenkönigin, um sich im großen, dunklen Wasser jenseits davon abzukühlen. Es läutete zum ersten Mal zum Abendessen, und ich ging zum Wasserhahn und begann, mir das Blut und die Scheiße von den Händen, dem Gesicht und dem Haar abzuwaschen. Tief in mir saß der Einsamkeitsvogel auf seinem Steinnest und legte ein großes und schweres Steinei. Es läutete zum zweiten Mal. Das letzte Abendessen. Alles geht einmal zu Ende. Morgen würde ich zum Weihnachtsfest nach Hause fahren, nach Hause zu Nanny. Zur wunderbaren, weichen, warmen Nanny. Aber das Leben funktioniert nicht so. Ich, eher als alle andern, hätte das wissen müssen. Beim Abendessen sagte mir Boetie van der Merwe, daß Mevrou mich nach dem Essen im Krankenzimmer sehen wolle. »Wenn du ihr etwas von heute nachmittag erzählst, dann töten wir dich«, zischte er. Ich hatte keine Angst, ich wußte, daß alles bald zu Ende sein würde. Noch Stunden trennten mich von meiner Befreiung, daran konnte weder der Richter, noch Mevrou und nicht einmal Adolf Hitler etwas ändern. Bald würde ich in mein ruhiges Leben zurückkehren. Da wußte ich noch nicht, daß das, was das Ende zu sein schien, gerade erst der Anfang war. Alle Kinder sind Strandgut, von Ebbe und Flut des Erwachsenenlebens hin- und hergetrieben. Ohne daß ich es wußte, hatten sich die Gezeiten gedreht, und ich wurde ins Meer hinausgetrieben.
4 Nach dem Essen, nachdem Mr. Stoffel den Bibeltext gelesen und das Abendgebet gesprochen hatte, wartete ich vor dem Krankenzimmer auf Mevrou. Sie kam kurz darauf. »Komm!« sagte sie, und ging voran. Ich trat ein und wartete ab, die Hände wie immer auf dem Rücken verschränkt und den Kopf gebeugt. »Warum hast du Blut an deinem Hemd, Pißkopp?« Ich schaute auf mein Hemd, das von Granpa Chooks Blut befleckt war. Ein großer Fleck war auch dort, wo mich der Stein des Richters erwischt hatte. Mevrou seufzte und ließ sich schwer auf einen Bugholzstuhl fallen, der genauso hellgrün gestrichen war wie die Wände des Krankenzimmers. »Zieh dein Hemd aus«, befahl sie. Ich zog eilig das Hemd aus, und Mevrou schaute sich flüchtig meinen Bauch an. »Und, ist das alles?« fragte sie und faßte auf die Wunde, die der Stein verursacht hatte. Ich zuckte unwillkürlich zurück. »Bitte nicht, Mevrou, ich bin auf einen Stein gefallen.« Mevrou entkorkte eine große Flasche Jod und befeuchtete einen Wattebausch damit. »Ja, das seh ich.« Sie tupfte meine Wunde ab, das Jod brannte wie die Hölle, und ich jaulte und hüpfte auf und ab, rang die Hände, um den brennenden Schmerz irgendwie zu stoppen. »Komm noch mal her, das war nicht genug.« Sie stülpte die Flasche wieder um und tupfte die Wunde noch einmal fest ab. Dieses Mal wußte ich, was ich zu erwarten hatte, ich bleckte die Zähne und kniff die Augen zusammen und schaffte es, den Schmerz zu unterdrücken. »Du darfst im Zug keine Blutvergiftung bekommen«, sagte sie und warf den Wattebausch auf den Tisch. Dann korkte sie die Jodflasche wieder zu. »In welchem Zug, Mevrou?« fragte ich verwirrt. »Dein oupa hat aus einem dorp in Ost-Transvaal namens Barberton angerufen. Du kannst nicht zurück auf die Farm. Er sagte, wegen der Newcastle-Krankheit mußte er alle seine Hühner töten, und er habe die Farm an eine Mevrou Vorster verkauft.« »Was macht mein Großvater in diesem Ort Barberton, Mevrou?«
Mein Kopf schwamm, meine ganze Welt ging aus dem Leim. Wenn Großvater die Farm an die dicke Mrs. Vorster verkauft hatte und aus einem Ort in Ost-Transvaal anrief, wo war dann Nanny? Ohne Granpa Chook und Nanny konnte ich nicht weiterleben. »Ich kann keine Gedanken lesen. Vielleicht hat er dort Arbeit gefunden.« Sie griff in ihre Tasche und zog einen Umschlag heraus. »Da ist die Fahrkarte drin. Morgen abend nimmst du den Zug nach Barberton. Zwei Tage und zwei Nächte. Ich bring dich zum Zug.« Sie entließ mich mit einem Winken des Umschlags. Ich drehte mich um und ging. Als ich an der Tür war, rief Mevrou mich zurück. »Du kannst den Hahn nicht mitnehmen, hörst du?« Sie sah mich selbstgefällig an. »In südafrikanischen Zügen darf man keine Kaffernhühner mitnehmen, nicht mal im Gepäckwagen.« Dieser Gedanke schien ihr zu gefallen. »Ich behalte den Hahn, er verdient sich bei mir seinen Lebensunterhalt, obwohl er nur ein Kaffernhahn ist.« »Er ist tot, Mevrou. Ein Hund hat ihn heute gefressen.« Irgendwie schaffte ich es, die Tränen aus meiner Stimme herauszuhalten. »Das ist schade, er war nützlich in der Küche.« Sie erhob sich seufzend vom Stuhl und fächelte sich mit dem Umschlag Luft zu. »Ich sag dir, ein Kaffernhahn ist nicht anders als ein Kaffernmann. Gerade wenn man glaubt, daß man ihm vertrauen kann, haut er ab und läßt einen sitzen.« Ich hatte noch nie ein Paar Schuhe besessen. In Nord-Transvaal bekam ein Farmerjunge zu der Zeit nur dann Stiefel, wenn er reiche Eltern hatte oder wenn er dreizehn Jahre alt geworden war. Im Alten Testament steht, ein Junge wird in diesem Alter ein Mann. Ein paar Khakishorts, ein Hemd und ein Pullover gegen die Kälte waren alles, was man bekam. Unterhosen waren noch nicht einmal erfunden. Selbst wenn es sie gegeben hätte, hätten Burenkinder keine getragen. Das Geld konnte man für etwas Besseres gebrauchen! Der Tag nach Granpa Chooks Begräbnis war der letzte des Trimesters. Alle waren schon lange vor dem Frühstück auf und packten. Nach dem Frühstück rief mich Mevrou ins Krankenzimmer und teilte mir mit, daß wir nach dem Mittagessen zusammen in die Stadt gehen würden, um in Harry Crowns Laden ein Paar Tackies für mich zu kaufen.
»Was sind Tackies, Mevrou}« »Dummkopf! Tackies sind Leinenschuhe mit einer Gummisohle. Weißt du denn überhaupt nichts? Sieh zu, daß du saubere Füße hast, sonst müssen wir uns vor dem Juden schämen.« Von meinem Versteck hoch oben im Mangobaum schaute ich zu, wie die Kinder das Internat verließen. Eltern kamen mit alten kleinen Lastern und Maultierkarren an. Manche Kinder verließen die Schule auf einem Esel, den ein Knecht hergeführt hatte. Ich sah zu, wie der Richter auf einem Maultierkarren wegfuhr. Er befahl dem Schwarzen, sich hinten auf die Ladeklappe zu setzen, sprang vorne auf den Kutschbock, nahm die Zügel und die Peitsche und raste in wildem Tempo los, indem er auf die Maultiere einschlug und die Peitsche wie einen Gewehrschuß knallen ließ. Ich atmete erleichtert auf. Wie meine Mutter zu sagen pflegte: »Dieses Unglück haben wir glücklich hinter uns gebracht.« Schließlich waren alle weg, und ich kletterte vom Mangobaum herunter und überquerte den Spielplatz. Ohne Granpa Chook war er nicht mehr derselbe. Die Sonne fühlte genau wie ich. Die kleinen grünen Grashüpfer konnten ihn immer noch nicht mit einem Hüpfer überqueren. Der Tagesmond, der aussah wie Magermilch, hing noch immer am wolkenlosen Morgenhimmel. Aber es würde nie mehr derselbe sein. Ich verschob meine Trauer auf später. Ich hatte genug damit zu tun, in der Stadt ein Paar Schuhe zu kaufen und den Zug zu nehmen. Ich hatte noch nie ein Paar Schuhe gehabt und hatte noch nie in einem Zug gesessen, ja, hatte noch nicht mal einen richtigen Zug gesehen. Mit zweimal »noch nie« an einem Tag hat man genug zu tun. Nach dem Mittagessen, das aus Marmeladenbrot und einer Tasse süßem Tee bestand, beeilte ich mich, um Mevrou in der Krankenstation zu treffen. Unterwegs stoppte ich nur kurz, um meine Füße und Beine kräftig zu schrubben, wie sie es gewünscht hatte. Die Dusche, die in der ersten Nacht getropft hatte, als ich dachte, in einem Schlachthaus zu sein, machte immer noch tropf, tropf, tropf, wie ein Metronom. Merkwürdig, wie kleine Kinder Sachen so durcheinanderbringen können. Das alles schien schon so lange her zu sein. Damals war ich bestimmt noch ein Baby gewesen. Ich wartete ein paar Minuten vor dem Krankenzimmer, bis Mevrou kam. Sie trug ein formloses geblümtes Baumwollkleid und
einen komischen, alten schwarzen Strohhut mit zwei Kirschen drauf. Ein dritter Stiel ragte ohne Kirsche in die Luft. In ihrer Stadtkleidung sah sie der fetten alten Mrs. Vorster ziemlich ähnlich, nur jünger, und außerdem hatte sie einen Schnurrbart. Die Stadt, das wußte ich, lag etwa zwei Meilen von der Schule entfernt. »Vielleicht könnten wir außer zu Harry Crowns Laden auch zum Bahnhof?« fragte ich versuchsweise. »Es reicht, daß ich das für dich tue, Pißkopp. Was willst du eigentlich? Heute abend muß ich dich wieder in die Stadt bringen. Auf dem Bahnhof gibt es nichts zu sehen außer schlafenden Kaffern, die auf den Zug warten.« Auf dem Weg in die Stadt sprachen wir nicht. Mevrou ging die ganze Strecke drei Schritte vor mir. Ihre riesige Gestalt schaukelte vor mir hin und her, und manchmal blieb sie stehen, um Atem zu holen. Die frühe Nachmittagssonne brannte auf uns herab. Als wir ankamen, war Mevrou überhitzt und schlecht gelaunt, und ihr spezieller Geruch war schlimmer denn je. Harry Crowns Laden war geschlossen, und auf der Hauptstraße war nichts los. Mevrou zog ein großes rotes doek aus ihrem Korb und wischte sich das Gesicht ab. »Alle essen noch zu Mittag, wir müssen warten«, erklärte sie. Mit großer Anstrengung stieg sie die fünf Stufen zur Veranda des Ladens hoch und setzte sich auf eine Bank neben die mit einem Vorhängeschloß versperrte Tür. »Geh, such einen Wasserhahn, und wasch dir die Füße«, keuchte sie. Ich überquerte die Straße Und ging zu einer Tankstelle mit einem Schild, auf dem Atlantic Service Station stand. Vor dem kleinen Büro und der Waschhalle standen zwei Zapfsäulen. In der Halle war ein Wasserhahn. Der ganze Raum stank nach Öl und Schmierfett. Ich wusch mir die Füße und ging auf den Fersen zurück über die Straße, damit sie nicht wieder schmutzig wurden. Ein halbes Dutzend Afrikaner schliefen auf dem hinteren Teil der Veranda, wo ein weiterer Eingang zum Laden war. Darüber stand »Nur für Schwarze«. Ich wunderte mich kurz darüber, warum Weiße da nicht hinein durften. Fliegen landeten, halb betäubt von der Hitze, auf schlafenden Augen, und hier und da erhob sich eine schwarze Hand und wischte sie weg, und ihr Besitzer schien dabei weiterzuschlafen. Ein Schwarzer, dem das linke Auge fehlte, war wach und lehnte
mit dem Rücken gegen die Wand des Ladens. Seine gewölbten Hände und sein Mund verdeckten eine Maultrommel, von der ein drängender Rhythmus herüberklang. »Der Jude ist spät dran, was glaubt der denn, wer er ist?« sagte Mevrou ungeduldig. Sie drehte sich halb um und wandte sich an den Afrikaner, der die Maultrommel spielte. »He, Kaffer! Wo ist der Baas?«
Der Schwarze sprang auf die Füße und steckte seine winzige Harfe in die Tasche seiner zerlumpten Hose. Er sagte nichts, offenbar sprach er kein Afrikaans. »Arbeitest du hier?« fragte ich ihn auf Shangaan. »Nein, kleiner Baas, ich auch, ich warte auch. Der große Baas wird, glaub ich, bald zurück sein. Wenn die Sirene an der Sägemühle heult, dann kommt er bestimmt.« »Er arbeitet nicht für Mr. Crown, Mevrou.« In diesem Augenblick ging die Sirene. Wir kannten sie schon, sie heulte um eins und dann wieder um zwei. Punkt zwei fuhr ein großer, schwarzer Chevrolet heran und parkte vor dem Laden. Es war das schönste Auto, das ich jemals gesehen hatte. Ich hatte es nicht für möglich gehalten, daß ein Wagen so glänzen und so bullig sein könnte. Der Fahrer ließ den Motor noch einmal aufheulen, bevor er die Zündung ausschaltete, und er röhrte wie ein wildes Tier. Offenbar war es ein einträgliches Geschäft, Jude zu sein. Vielleicht könnte ich einer werden, wenn ich groß war. Harry Crown war ein fetter Mann Ende Fünfzig. Er trug seine Hose sehr hoch, sein Unterkörper und fast seine ganze Brust steckten in der Hose, die von einem Paar grellroter Hosenträger gehalten wurde. Sein weißes, am Hals geöffnetes Baumwollhemd verschwand schon zwanzig Zentimeter unterhalb des Kragens in der Hose. Er hatte fast kein Haar mehr auf dem Kopf, und wenn er lächelte, sah man zwei goldene Schneidezähne. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Mevrou. Haben Sie lange gewartet?« sagte er und öffnete umständlich die Vorhängeschlösser an den Außentüren. »Ach, nicht so wichtig. Nur ein paar Minuten«, sagte Mevrou und lächelte den fetten, kahlköpfigen Mann strahlend an. In dem Teil, der weißen Kunden vorbehalten war, drehten sich gemächlich zwei riesige Deckenventilatoren, und der Laden war
dunkel und kühl. Mevrou ließ sich dankbar auf einen Stuhl neben der Ladentheke fallen, und Harry Crown goß ihr eine Tasse Kaffee aus einem Topf ein, der auf einer kleinen Elektroplatte auf einem Bord hinter der Theke stand. »Was kann ich für Sie tun, Mevrou?« fragte er, drehte sich dann zu mir und verbeugte sich leicht. »Und für Sie, Mister?« sagte er würdevoll. Ich war solche Scherze nicht gewöhnt, und da ich nicht wußte, was ich tun sollte, schaute ich zu Boden. Als er meine Schüchternheit bemerkte, fischte er aus einem großen Glas, das auf der Ladentheke stand, einen Himbeerlutscher, dessen roter Kopf in Zellophanpapier eingewickelt war. Er hielt mir den Lutscher hin. Ich sah zu Mevrou, die höflich einen kleinen Schluck aus ihrer Kaffeetasse trank und dann nickte. Ich nahm das köstliche Geschenk und steckte es in meine Hemdtasche. »Vielen Dank, Meneer«, sagte ich leise. »Ach, lutsch ihn doch jetzt, mein Junge. Wenn wir mit den Geschäften fertig sind, kriegst du noch einen.« Er machte eine Pause. »Vielleicht einen grünen, was?« Er wandte sich an Mevrou. »Ich hab diesen Laden jetzt seit dreißig Jahren, und ich bin ganz sicher, daß Kinder zuerst einen roten und erst dann einen grünen Lutscher wollen. Wenn ich auch sonst nichts sicher weiß, davon bin ich felsenfest überzeugt.« Er steckte seine Daumen unter die Hosenträger und ließ sie schnalzen und grunzte laut und glücklich. Ich hatte noch nie einen Mann getroffen, der lachte und sich so benahm wie dieser hier, und fühlte mich eingeschüchtert. Deshalb ließ ich den Himbeerlutscher in meiner Tasche und hoffte, daß er dort sicher wäre. »Wie heißt du, mein Junge?« fragte Harry Crown. »Pißkopp, Sir«, antwortete ich, Harry Crowns glänzender Glatzkopf zuckte zurück, und er sah mich bestürzt an. »Pißkopp? Pißkopp! Ist das ein Name für einen netten Jungen?« fragte er überrascht. »Wer nennt dich denn so?« Mevrou unterbrach mit scharfer Stimme. »Stören Sie sich nicht an seinem Namen, was für Tackies haben Sie da? Der Junge braucht ein Paar Leinenschuhe. Er fährt heut abend allein mit der Bahn zu seinem oupa nach Barberton.« Harry Crown drehte sich kurz um, um zu zeigen, daß er sie ver-
standen hatte, wandte sich dann wieder an mich und pfiff leise. »Nach Barberton? Das ist im lowveld in Ost-Transvaal. Gut und gerne zwei Tage weit weg mit der Eisenbahn, eine lange Fahrt für einen kleinen Jungen allein.« Er war hinter der Verkaufstheke hervorgekommen und schaute sich meine Füße an. »Wir haben keine so kleinen Schuhe, Mevrou. Leinenschuhe sind überhaupt nicht sehr gefragt. Die Buren hier in der Gegend spielen nicht viel Tennis.« Er lachte laut über seinen eigenen Witz, den Mevrou und ich überhaupt nicht begriffen. »Zeigen Sie mir, was Sie haben, Mr. Crown. Sein oupa hat nicht genug Geld für richtige Stiefel geschickt, es reicht nur für Tackies.« »Ganz egal, ob er Stiefel oder Schlappen kriegen soll, der Junge hat zu kleine Füße.« Er ging lachend wieder hinter die Theke und zog einen zerdrückten Pappkarton aus dem Regal. Er öffnete ihn und holte ein Paar dunkelbraune Leinenschuhe heraus. »Der Junge soll sie anprobieren«, sagte Mevrou. »Es hat keinen Sinn, Mevrou. Diese Tackies sind ihm mindestens vier Nummern zu groß. Es ist ein Wunder, daß ich sie überhaupt habe, aber sie sind immer noch viel zu groß.« »Der Junge wächst doch noch«, sagte Mevrou etwas ungeduldig. »Ja natürlich, in fünf, sechs Jahren passen sie ihm wie angegossen. Aber bis dann sieht er wie ein Zirkusclown darin aus.« Er schlug sich auf den Bauch. »Sehr lustig«, sagte er leise auf englisch zu sich selbst. »Wir wollen sie anprobieren. Mit Zeitungspapier machen wir sie passend.« »Mevrou, selbst wenn wir die ganze Zoutpansberg Gazette reinstopfen, kriegen wir die Tackies nicht passend. Er hat sehr kleine Füße für ein Burenkind.« »Er ist kein Burenkind. Er ist ein rooinek!«- sagte Mevrou plötzlich ärgerlich. Sie stellte die Kaffeetasse auf der Ladentheke ab, beugte sich vor, griff nach den Tackies Und drehte sich zu mir um. »Leg deinen Fuß hier oben auf meinen Schoß, Kind«, befahl sie. Der erste Leinenschuh schlüpfte über meinen Fuß, ohne ihn seitlich zu berühren. Mit meinem Fuß auf Mevrous Schoß, schien mir der Schuh fast bis zum Kinn zu gehen. Mevrou zog die Schnürriemen so fest zu, daß sich die beiden Laschen überlappten. »Jetzt den anderen«, sagte sie.
Ich stand da wie festgewachsen, wagte mich nicht zu bewegen und wußte nicht, was ich jetzt tun sollte. Die Schuhe waren doppelt so lang wie meine Füße. »Jetzt geh, Kind«, befahl Mevrou. Ich machte versuchsweise einen Schritt, und der linke Schuh blieb hinter mir auf dem Boden stehen, dagegen schaffte ich es, den rechten mitzuschleifen, indem ich den Fuß nicht vom Boden hochhob. »Holen Sie Papier.« Geschickt formte Mevrou aus Zeitungsstreifen zwei kleine Schiffe. Dann schob sie die Papierschiffe in die Leinenschuhe, ließ mich hineintreten und band sie zu. Diesmal paßten sie, wie für mich gemacht, obwohl sie sich irgendwie sehr komisch anfühlten und bei jedem Schritt ein Geräusch machten, da wo sie oberhalb der Zehen abknickten. In meinem ganzen Leben hatte ich mich noch nie so großartig gefühlt. »Wir nehmen sie«, verkündete Mevrou triumphierend. Sie langte in ihre Handtasche und zog den Geldbeutel heraus. Harry Crown seufzte. »Diese Tackies sind nichts für den Jungen, Mevrou.« Wenn Mevrou ihre Nilpferdpeitsche dabei gehabt hätte, hätte sie den dicken alten Harry Crown sich über die Ladentheke beugen lassen und ihm sechs von den Allerbesten verpaßt. »Wieviel?« fragte sie kurz angebunden mit geschürzten Lippen. »Eine halbe Krone, für Sie nur zwei Schilling«, sagte Harry Crown und ließ vom Preis automatisch etwas nach. Offenbar war er mit dem Herzen nicht ganz bei der Sache. Ich zog an einem Ende eines Schnürriemens, und zu meiner Erleichterung ging der Knoten auf. Das gleiche tat ich bei dem anderen Schuh. Dann schlüpfte ich vorsichtig aus den Zeitungsbooten und reichte sie Harry Crown. »Du armes kleines Kerlchen«, sagte er auf englisch. Er legte die Schuhe zurück in den Karton, und als er sah, daß Mevrou gerade nicht hinschaute, steckte er schnell zwei grüne und zwei rote Lutscher dazu und gab ihn mir. »Ich wünsch dir Glück beim Tragen«, sagte Harry Crown auf englisch. Zwischen den Zähnen fragte er: »Versteht sie Englisch?« Da ich mich nicht traute zu antworten, schüttelte ich fast unmerklich den Kopf. »Da drin ist was für die Reise, grün und rot, was besonders Gutes! Glaub mir, ich kenn mich da aus. Auf Wiedersehen, Peekay.«
Er klopfte mir auf die Schulter. Seine Augen weiteten sich, er richtete sich zu voller Größe auf, verschränkte die Hände über dem Bauch, die Goldzähne blitzten, und er grinste mich an. »Vielleicht passen die Schlappen nicht, aber ich finde, dein neuer Name paßt perfekt. Peekay! Ja, das ist ein schöner Name für einen tapferen Jungen, der ganz allein ins lowveld zu seinem Großvater fährt.« Mevrou warf wutschnaubend zwei Schillinge auf die Ladentheke und stampfte aus dem Laden. Ich folgte ihr, die Schachtel mit der wertvollen Beute unter dem Arm. In der Tür drehte ich mich um und verabschiedete mich von Harry Crown. »Auf Wiedersehen, Sir«, sagte ich auf englisch. Die beiden Worte klangen seltsam fehl am Platz, wie eine neu erlernte Sprache. Mevrou wandte sich wütend um. Sie packte mich am Ohr und zischte: »Red nicht mit diesem... diesem dreckigen Juden in dieser verdammten Sprache. Meine Nilpferdpeitsche wird dir was flüstern, wenn wir zu Hause sind!« »Aua, das ist mein wehes Ohr, Mevrou.« Ich wußte sofort, sie würde sich schuldig fühlen, weil sie mich an meinem kürzlich verletzten Ohr gepackt hatte. Auch wenn es schon völlig verheilt war. Mevrou ließ mein Ohr los, als wäre es eine heiße Kartoffel. Man muß früh aufstehen in dieser Welt, wenn man überleben will. Aber wenn man die Regeln erst mal kennt, ist es kein so schwieriges Spiel. Sie stürmte los, und ich blieb ein paar Schritte hinter ihr zurück. Nachdem ich ihr hoffentlich ausreichend Schuldgefühle eingeflößt hatte, daß sie von der angedrohten Tracht Prügel absehen würde, fiel ich weitere fünfzehn Schritte zurück und zog den Himbeerlutscher aus meiner Tasche. Ich schälte ihn aus der Zellophanhülle und leckte die winzigen purpurroten Zuckerkristalle auf, die daran klebten, bevor ich sie wegwarf. Für den Rest des Heimwegs nahm ich mir den Lutscher vor. Mit der Nilpferdpeitsche hatte ich recht gehabt; sie wurde bei unserer Rückkehr nicht einmal mehr erwähnt. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich damit, noch mehr Steine auf Granpa Chooks Grab aufzuschichten und mit weißen Kieseln eine Umrandung um den Steinhaufen zu machen. Es dauerte ewig, bis ich die weißen Steinchen zusammengesucht hatte. Ich muß schon sagen, der zäheste gottverdammte Hahn der Welt hatte ein sehr eindrucksvolles Grab, einen Steinhaufen, der wahrscheinlich ewig halten würde,
verborgen von vielen nachfolgenden Generationen Unkraut und Schwarzeichengestrüpp. Der Küchenjunge hatte mir eine große braune Papiertüte mit Broten für die Zugfahrt zurechtgemacht. Gegen fünf Uhr verließen wir das Internat, um den Sieben-Uhr-Zug zu erreichen. Obwohl riesig, enthielt mein Koffer nur sehr wenige Sachen. Zwei Hemden, zwei kurze Khakihosen, meinen Schlafanzug, die vier Lutscher, die ich in den kurzen Hosen versteckt hatte, und meine neuen Leinenschuhe mit den Papierbooten drin. Es war noch reichlich Platz für die Brote. Obwohl der Koffer gegen meine Knie schlug, war er nicht wirklich schwer, und außerdem waren meine Muskeln nach all den Eisenstangenfoltersitzungen ganz schön stark geworden. Mevrou war von den zwei Gängen in die Stadt an einem Tag total erledigt, und mit dem Koffer, der mir gegen die Knie schlug, brauchten wir fast eine Stunde bis zum Bahnhof. Er stellte sich als eine erhöht liegende Plattform von etwa zehn Meter Länge heraus, auf der ein Haus mit zwei Türen stand, die beide auf die Gleise hinausgingen. Auf der einen stand »Bahnhofsvorsteher«, und rechts daneben war ein Fenster. Über dem Fenster stand »Fahrkarten«. An der zweiten Tür stand »Wartesaal«. Vor dem Dienstraum des Bahnhofsvorstehers lagen drei weiß gestrichene Lastwagenreifen, aus deren Mitte rote Kannapflanzen wuchsen, die langen, glatten Blätter genauso staubig und zerschlissen wie die Blüten. Mevrou schien den Bahnhofsvorsteher zu kennen. Er öffnete den abgeschlossenen Wartesaal für uns und brachte ihr Kaffee in einer großen weißen Tasse mit den Buchstaben SAR darauf. »Keine Sorge, Hoppie Groenewald ist der Schaffner in diesem Zug, er paßt auf den Jungen auf.« Er wandte sich um und nahm zum ersten Mal von mir Notiz. »Er ist Eisenbahnmeister, dieser Hoppie«, sagte er und grinste bei dem Gedanken, »er lacht die ganze Zeit, aber wenn du in eine Schlägerei gerätst, dann bete, daß er auf deiner Seite steht!« Ich fragte mich, was ein Eisenbahnmeister wohl sei, aber soviel war mir klar, daß ich einen guten Kämpfer auf meiner Seite hatte, und diese Vorstellung gefiel mir sehr. In meinem Leben gab es eine Menge Ärger, und es wäre zur Abwechslung mal ganz schön, einen Eisenbahnmeister auf meiner Seite zu haben, wenn es das nächste Mal losginge.
Manchmal geben die unscheinbarsten Dinge unserem Leben eine andere Richtung, der leise Hauch eines Ereignisses, der uns streift; wie ein Meteorit die Erde. Manchmal ändert sich das Leben wegen einer zufälligen Bemerkung. Hoppie Groenewald sollte sich als Ratgeber erweisen, der den nächsten siebzehn Jahren meines Lebens einen unwiderruflichen Kurs vorgab. »Der Junge ist ein rooinek und auch noch zu klein, um zu kämpfen«, sagte Mevrou, als ob es nur eine Frage der Zeit wäre, bis mein schlechtes englisches Blut bösartig würde. Sie zog eine Fahrkarte aus einem Umschlag und steckte eine große Sicherheitsnadel durch das Loch am Ende. »Komm her, Kind«, sagte sie und heftete die Fahrkarte an meiner Hemdtasche fest. »Hör mir jetzt gut zu! Diese Fahrkarte reicht bis Barberton, aber dein oupa hat nur Geld für ein Frühstück und ein Mittagessen und ein Abendessen im Zug geschickt. Heute abend ißt du nur ein Brot, verstanden?« Ich nickte. »Morgen zum Frühstück wieder eins, und zum Mittagessen das letzte. Dann kannst du im Zug essen. Hast du mich verstanden?« »Ja, Mevrou, die nächsten drei Mahlzeiten eß ich nur ein Brot.« »Nein, Kerl. Das hab ich nicht gesagt. Heut abend, morgen früh und morgen mittag eins. Und außerdem, iß das Fleisch zuerst, die Marmelade hält das Brot bis morgen weich, verstanden?« »Ja, Mevrou.« Sie nahm ein kleines viereckiges weißes Tuch, etwa so groß wie ein Damentaschentuch, und breitete es auf ihrem Schoß aus. In die Mitte legte sie einen Schilling. »Jetzt schau gut zu, Pißkopp. Ich lege diesen Schilling hier ein und binde es so zu.« Sie nahm zwei gegenüberliegende Ecken, knotete sie über dem Schilling zusammen und machte dasselbe mit den zwei anderen Ecken. Dann zog sie noch eine große Sicherheitsnadel aus der Handtasche, schob das Beutelchen mit dem Schilling in die Tasche meiner Khakishorts und steckte es am Futter fest. »Jetzt hör gut zu. Das ist für den Notfall. Also nur, wenn es unbedingt notwendig ist. Und du mußt das Wechselgeld genauso in das Tuch einknüpfen, wie ich es dir gezeigt habe, und dann mit der Sicherheitsnadel in der Tasche feststecken. Wenn du das Geld nicht brauchst, mußt du es deinem oupa zurückgeben.« Der Stationsvorsteher kam herein und sagte uns, daß der Zug pünktlich käme und wir noch fünf Minuten Zeit hätten. »Schnell,
zieh deine Schuhe an«, sagte Mevrou und schubste mich zu meinem Koffer. Ich wurde von einer plötzlichen Panik erfaßt. Was wäre, wenn ich meinen Koffer öffnete und sie die Lutscher sah? Ich legte den Koffer flach auf den Boden und öffnete ihn so, daß der Deckel zwischen Mevrou und mir aufging und sie nicht hineinschauen konnte. Trotzdem war ein grüner Lutscher aus seinem Versteck in meinen Shorts gerutscht, und mein Herz schlug laut. Ich holte die Schlappen heraus und machte den Koffer schnell wieder zu. Ich schlüpfte mit jedem Fuß vorsichtig in ein Papierboot, und Mevrou band mir die Schleifen. Ich versuchte verzweifelt, mir zu merken, wie sie es machte, war mir aber nicht sicher, ob ich es begriffen hatte. »Bitte, Mevrou, können Sie mir beibringen, wie man Schuhe bindet, damit ich sie im Zug ausziehen kann?« Mevrou sah erschreckt hoch. »Du darfst deine Schuhe nicht ausziehen, bis du in Barberton ankommst. Wenn du sie verlierst, wird dein oupa glauben, daß ich das Geld gestohlen habe, das er geschickt hat. Du behältst sie an, verstanden?« Wir konnten den Zug schon von weitem hören und verließen den Wartesaal, um ihn einfahren zu sehen. In meinen Schuhen richtig zu gehen war schwierig, und etwas ganz anderes als die zwei, drei Schritte, die ich in Harry Crowns Laden versuchsweise gemacht hatte. Ich stolperte ein paarmal, als ich vom Wartesaal zur Bahnsteigkante schlappte. Kleine Stücke Zeitungspapier krochen an meinen Knöcheln hoch, und ich mußte stehenbleiben, um sie zurückzudrücken. Mit einem ohrenbetäubenden Dampfstrahl, gefolgt von einem zweifachen kurzen, scharfen Zischen und einem kreischenden Geräusch von Metall auf Metall, fuhr der riesige Zug in die Station ein, und Waggon nach Waggon voller Schwarzer fuhr vorbei. Sie lachten und streckten.ihre Köpfe aus dem Fenster und schienen sehr viel Spaß zu haben. Schließlich kamen die beiden letzten Waggons und der Gepäckwagen direkt am Bahnsteig zum Stehen. Auf den letzten beiden Waggons stand South African Railway First Class bzw. Second Class geschrieben. Ich hatte natürlich schon Fotos von Zügen gesehen, und manchmal, wenn ich nachts im Schlafsaal der Kleinen lag, hatte der Wind das Pfeifen eines Zuges herübergetragen, ein wunderschöner Ton, der mich weit wegtrug vom Internat, von Mev-
rou, vom Richter und seinen SA-Männern. Aber ich muß zugeben, ich war nicht im entferntesten auf so etwas gefaßt, auf etwas, das so riesig und schwarz war, voller Dampf, Rauch und Feuer, Messingrohre und zischender Zylinder. Wie aus dem Nichts tauchten Afrikaner auf. Auf ihren Köpfen trugen sie Bündel, die sie durch die Fenster der Dritte-Klasse-Waggons den Reisenden hineinreichten und dann aufgeregt und lachend in den Zug stiegen. Aus dem Inneren der Waggons kamen Gesang und noch mehr Gelächter und viel Geschrei und handfeste Neckereien. Ich wußte sofort, Züge würden mir gefallen. Der Schaffner sprang auf den Bahnsteig. Er trug einen Segeltuchsack mit der Aufschrift »Post«. Er gab ihn dem Stationsvorsteher, der ihm wiederum einen gleich aussehenden Sack zurückreichte. Der Stationsvorsteher machte Mevrou mit dem Schaffner bekannt. »Das ist Hoppie Groenewald, er ist Schaffner und Zugführer bis Gravelotte. Er wird sich um den Jungen kümmern.« Hoppie Groenewald grinste zu mir herunter und tippte sich an seine marineblaue Schaffnermütze. »Keine Sorge, Mevrou, ich kümmere mich um ihn bis Gravelotte. Dann übergeb ich ihn an Pik Botha, der nimmt ihn bis Kaapmuiden mit.« Er öffnete die Tür des Zweite-Klasse-Wagens, hob meinen Koffer in den Zug und forderte mich auf einzusteigen. Die drei Stufen waren ziemlich hoch, und ich stellte meinen beschuhten Fuß auf die unterste Stufe. Als ich mein Gewicht auf die Stufe verlagerte, knickte der vordere Teil des Schuhs ab, und ich landete mit meinem Hintern auf dem Bahnsteig. Schuhe zu tragen war viel schwieriger, als ich zunächst vermutet hatte. Ich war ein wenig bedrückt und wunderte mich, wie Erwachsene das so spielend schafften. Ich versuchte aufzustehen, aber die Schlappen waren viel zu groß, und ich fand keinen Halt auf dem lockeren Schotter, mit dem der Bahnsteig bedeckt war. »Steh auf, Mann!« sagte Mevrou sichtlich verärgert. Sie schüttelte den Kopf. »Mein Gott! Selbst jetzt machst du mir noch Ärger.« Hoppie Groenewald stellte den Postsack auf den Bahnsteig, beugte sich zu mir herab, packte mich unter den Armen, schwang mich hoch durch die Luft und stellte mich im Waggon ab. »Keine Sorge, kleiner Bruder, diese verdomde Stufen bin ich auch schon oft runtergefallen. Ich, ein Schaffner und bald Zugführer, der es wirklich besser können müßte.«
Er hob den Postsack hoch und stellte ihn neben meinen Koffer. Dann sprang er die Stufen hoch, ohne auch nur hinzusehen, und hakte eine ordentlich zusammengerollte grüne Fahne los, die oberhalb der Wagentür steckte. Er entrollte die Fahne und zog abwesend an einer Kette, die an einem Knopf seiner Marineuniformjacke befestigt war. Eine große Silberpfeife kam aus seiner Uhrtasche zum Vorschein. »Jetzt paß auf, was die Kaffern für einen Schreck kriegen«, sagte er grinsend. Er zeigte mir, wie ich mich am Handgriff innen an der Tür festhalten und so weit aus dem Wagen beugen konnte, daß ich die Dritte-Klasse-Wagen in voller Länge einsehen konnte. Dann sprang er zurück auf das Bahngleis, begann die Fahne zu schwenken und ließ einen langen Pfiff aus seiner Pfeife ertönen. Das Durcheinander hättet ihr sehen sollen. Afrikaner, die den Zug verlassen hatten, um sich die Beine zu vertreten oder um zu pinkeln, drängelten wie wild an den Wagentüren, lachten und schrien und kletterten aneinander hoch, während sich der Zug langsam in Bewegung setzte. Hoppie Groenewald pfiff noch zweimal kurz und sprang dann auf den Zug. »Auf Wiedersehn, Mevrou. Danke«, rief ich und winkte ihr zu. »Behalt die Schuhe an, hörst du!« rief Mevrou zurück. Es war auf beiden Seiten ein Abschied ohne Tränen. Ich hoffte inständig, daß sich der rooinek und Mevrou nie wiedersehen müßten. Hoppie Groenewald schloß die Wagentür, während der Zug langsam schneller wurde. Er rollte die Fahne wieder auf und ließ sie in ihre Halterung über der Tür direkt neben einer roten einrasten. Dann nahm er meinen Koffer und trug ihn in das nächstgelegene Abteil. Der Zug fuhr jetzt gleichmäßig dahin, und ich genoß das beruhigende Klackern der Wagenräder. In dem leeren Abteil standen sich zwei leuchtend grüne Lederbänke gegenüber, und jede Bank bot Platz für drei Erwachsene. Ein kleiner Tisch, der sich, wie ich später entdeckte, in ein Waschbekken verwandeln ließ, befand sich zwischen den beiden Fenstern. Der Rest des Abteils war mit glänzend poliertem Holz verkleidet, und unmittelbar über jedem der grünen Ledersitze hing ein etwa dreißig Zentimeter hoher Glasrahmen. Darin steckten viele Fotos. Es war alles piekfein. Bevor es ganz dunkel wurde, knipste Hoppie
Groenewald die Lichter im Abteil an, und alles sah sehr gemütlich aus... wie der Beginn eines echten Abenteuers. »Bis Tzaneen hast du das Abteil für dich allein. Danach werden wir weitersehen. Keine Angst, Hoppie paßt gut auf dich auf.« Er schaute auf meine Schuhe hinunter, kleine Stücke Zeitungspapier ragten seitlich bis über meine Knöchel heraus. »Die alte Kuh kann dir jetzt nichts mehr tun, zieh sie aus«, sagte der Schaffner. Ich streifte die Leinenschuhe ab. Meine Füße waren heiß und schwarz verfärbt von der Druckerschwärze der Zeitung. Es war herrlich, die Zehen wieder bewegen zu können. Hoppie Groenewald streckte seine Hand aus. »Schlag ein. Du weißt, wie ich heiße, aber ich hatte noch nicht das Vergnügen.« Ich hatte schon darüber nachgedacht, was Harry Crown gesagt hatte, und ich hatte beschlossen, seinem Rat zu folgen und mich Peekay zu nennen. »Ich heiße Peekay«, sagte ich versuchsweise. Ich sprach die beiden Buchstaben englisch aus, wie Harry Crown es getan hatte. So klang es wie ein richtiger Name. Plötzlich fühlte ich mich wie heu geboren. Niemand würde jemals erfahren, daß ich Pißkopp genannt worden war. Granpa Chook war tot und Pißkopp auch. Die beiden ersten südafrikanischen Opfer im Zweiten Weltkrieg. »Alles Gute, Peekay. Wir werden Freunde.« Er nahm seine Kappe ab und setzte sie mir auf. Ich überlegte, ob er ein Nazi sei. Er schien nicht zu wissen, daß ich Engländer war, also warum das Schicksal herausfordern? »Vielen Dank, daß Sie auf mich aufpassen, Mr. Groenewald«, sagte ich höflich und reichte ihm seine Kappe zurück. »Ach Mann, nenn mich einfach Hoppie.« Er grinste und setzte seine Kappe wieder auf. Hoppie ging, um die Fahrkarten in den Afrikaner-Waggons zu kontrollieren, versprach aber, bald zurückzukommen. Es war fast völlig dunkel draußen geworden, und ich saß allein in . einem beleuchteten Raum und flog durch die afrikanische Nacht, klackedi-klack, klackedi-klack. Ich hatte den Richter und seine SA-Männer besiegt, hatte Mevrou überlebt und war groß geworden und hatte meinen Namen geändert, klackedi-klack, klackedi-klack. Ich öffnete meinen Koffer und nahm einen von Harry Crowns grünen Lutschern heraus. Ich packte ihn vorsichtig
aus und leckte die kleinen grünen Zuckerkristalle ab, die an der Zellophanhülle klebten. Sie schmeckten leicht nach Limonen, wie ein süßes Versprechen auf das Hauptvergnügen, wenn ich mir den Lutscher selbst vornähme. Harry Crown hatte recht, die Grünen lagen klar auf dem zweiten Platz hinter den Himbeerlutschern. Ich betrachtete die Fotografien über den Sitzen, sepiabraune Bilder eines flachen Berges, auf dem eine weiße Wolke ruhte. Unter dem Bild stand: »Der weltbekannte Tafelberg mit seinem berühmten Tischtuch«. Da war nichts als eine große weiße Wolke, ein berühmtes Tischtuch konnte ich nicht entdecken. Ein anderes Bild zeigte die Luftaufnahme einer großen Stadt, und darunter stand: »Kapstadt, die Heimat des berühmten Kap-Doktors«. Ich überlegte mir, was der Doktor wohl getan hatte, um so berühmt und so reich zu werden, daß er eine so große Stadt als Heim hatte. Er mußte sogar noch reicher als Harry Crown sein. Jahre später erfuhr ich, daß der Kap-Doktor ein Wind war, der zu Beginn des Frühlings wehte und die Bazillen und all die üblen Krankheiten wegblies, die sich den Winter über angesammelt hatten. Unter einem anderen Foto des Tafelbergs stand: »Wahrhaft eines der Naturwunder der Welt«. Das letzte Bild zeigte ein großes weißes Haus, und darunter stand: »Groot Constantias berühmte und geräumige Kellereien, die Heimat erstklassigen Weines«. »Nun«, dachte ich, »das wird ja eine schöne Reise, wenn wir all diese Orte besuchen!« Ich beschloß, Hoppie danach zu fragen, wenn er wiederkäme. Hoppie kam erst nach einer Ewigkeit zurück, aber das kam mir wahrscheinlich nur so vor. Im Zug, wenn draußen die Dunkelheit vorbeigaloppierte, schien Zeit nicht mehr zu existieren, das Klaqkedi-klack der Räder auf den Gleisen verschlang gierig die Minuten. Hoppie ließ sich müde auf den Sitz gegenüber fallen. »Mann, diese Kaffern stinken!« meinte er, grinste mich dann breit an und gab mir einen leichten Stupser aufs Kinn. »Wenn wir in einer Stunde in Tzaneen ankommen, essen wir zu Abend. Wir haben eine Dreiviertelstunde Aufenthalt, um Kohle und Wasser aufzufüllen, und direkt gegenüber vom Bahnhof ist ein Cafe. Ab Tzaneen bin ich nur noch Schaffner, und ein anderer Zugführer übernimmt. Was ißt du am liebsten, Peekay?« »Süßkartoffeln«, antwortete ich.
»Süßkartoffeln, vielleicht, vielleicht auch nicht, ich hab nie danach gefragt. Wie wärs mit einem gemischten Grill, den großen für zwei Schilling?« »Ich hab nur einen Schilling, und der ist für Notfälle. Ist ein gemischter Grill ein Notfall?« fragte ich. Hoppie lachte. »Für mich ja. Heut nacht zahl ich, alter Junge. Der gemischte Grill geht auf mich.« Ich wollte ihn nicht fragen, was ein gemischter Grill war und wie er gemischt wurde, deshalb fragte ich nach den Bildern an der Wand. »Wann sehen wir den Tafelberg-eines-der-Naturwunder-derWelt?« »Wie? Noch mal.« Ich deutete auf das Bild über seinem Kopf. »Wann kommen wir dorthin?« Hoppie wandte sich um, um das Bild anzuschauen, aber er lachte nicht, als er begriff, worüber ich sprach. »Das sind einfach dumme Bilder, die zeigen, wo die südafrikanische Eisenbahn überall hinfährt, aber wir kommen dort nicht vorbei, Peekay.« Er begann sich die Bilder anzuschauen, als sähe er sie zum ersten Mal. »Letztes Jahr bin ich fast nach Kapstadt gekommen in die Endausscheidung, aber ich wurde bei den Nord-Transvaal-Meisterschaften besiegt. War haarscharf, aber der Ringrichter gab den Kampf an den Boxer aus Pretoria. Ich sag dir, Mann, ich hab den Bastard fair und klar geschlagen. Es war knapp, das geb ich zu, aber ich war mir sicher, daß ich nach Punkten führte.« Ich horte ihm erstaunt zu. Wovon umalles in der Welt sprach er eigentlich? Hoppie sah mir in die Augen. »Du sitzt fast dem Eisenbahnboxmeister von Transvaal gegenüber, weißt du das?« Er legte Zeigefinger und Daumen zusammen und hielt sie mir vors Gesicht. »So 'n bißchen, und ich war in der Endausscheidung der Nationalen Eisenbahnboxmeisterschaften in Kapstadt gelandet.« »Was ist eine Boxmeisterschaft?« fragte ich. Jetzt war es Hoppie, der verwundert guckte. »Was für ein dom-kop du doch bist, Peekay. Weißt du nicht, was Boxen ist?« »Nein, Sir.« Ich schlug die Augen nieder, weil ich mich wegen meiner Unwissenheit schämte. Hoppie Groenewald legte seine Hand unter mein Kinn und hob
meinen Kopf. »Deshalb brauchst du dich doch nicht zu schämen. Man kann nicht alles wissen.« Er grinste. »Okay, Mann, setz dich bequem hin, das wird 'n langes Gespräch.« »Einen Augenblick, Hoppie«, sagte ich aufgeregt. Ich ließ den Verschluß meines Koffers aufschnappen. »Grün oder rot?« fragte ich und nahm einen Lutscher in jeder Farbe heraus. Ich hatte beschlossen, jeden Morgen und jeden Abend einen Lutscher zu lutschen, dann würden sie die ganze Reise über halten. Aber ein Freund wie dieser hier lief einem nicht jeden Tag über den Weg, und eine gute Geschichte hatte ich zuletzt von Nanny gehört. »Du hast die Wahl, Peekay. Welchen hast du am liebsten?« »Nein, du hast die Wahl, Hoppie. Du erzählst mir die Geschichte, deshalb darfst du als erster wählen«, sagte ich sehr großzügig. »Grün«, sagte er. »Ich mag grün, meine Mutter hatte grüne Augen.« Er nahm den grünen Lutscher, und ich legte meinen in den Koffer zurück und verschloß ihn wieder. »Ich hab grad einen gehabt«, sagte ich und war dankbar, daß ich zwei gute Himbeerlutscher für die nächsten zwei Tage übrig hatte. »Dann teilen wir uns den hier«, sagte er, »du leckst zuerst, weil ich beim Erzählen gar keine Zeit dazu habe.« Er schaute mir zu, wie ich den Lutscher auspackte und das Zellophanpapier sauberleckte. »Als ich so alt war wie du, hab ichs genauso gemacht.« Er sah auf seine Uhr. »Eine Stunde bis Tzaneen, grade genug Zeit für einen Boxvortrag, und vielleicht sogar für eine Vorführung.« Ich lehnte mich glücklich in der Ecke der großen Lederbank zurück und begann, am Lutscher zu schlecken. Eineinhalb Lutscher in weniger als einer Stunde, das war die reine Glückseligkeit, und einen echten Freund zu haben, war eine andere. Was für ein Abenteuer kam da auf mich zu! »Boxen ist der größte Sport in der ganzen Welt«, begann Hoppie, »sogar noch größer als Rugby.« Er schaute auf und war bereit, diese letzte Behauptung, wenn nötig, zu verteidigen. Aber er sah gleich, daß ich seine Einschätzung akzeptierte. »Die Kunst der Selbstverteidigung ist die größte Kunst von allen, und Boxen ist die größte Kunst der Selbstverteidigung. Sieh mich an, ein natürliches Weltergewicht, es gibt niemanden, vor dem ich mich fürchten muß, nicht mal vor 'nem Mittelstürmer, bin schnell und schlag zu, und in einem
Straßenkampf nimmt ein kleiner Kerl wie ich es mit jedem großen Gorilla auf.« Er schlug ein oder zwei linke Gerade in die Luft, um mir zu zeigen, wie blitzschnell er war. »Ein wie Kleiner kann einen wie Großen schlagen?« fragte ich und wurde immer aufgeregter. »So groß wie du willst, Mann, wenn du schnell genug bist und beim Zurückspringen noch kräftig zuschlagen kannst. Timing, Schnelligkeit und Fußarbeit, darauf kommts beim Boxen an. Ein Weltergewicht zu sein ist einfach perfekt. Der ist nicht so groß, daß er zu langsam ist, und groß genug, um richtig zuschlagen zu können. Ein Weltergewicht ist der perfekte Kämpfer, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, Mann!« Hoppies Augen leuchteten vor Begeisterung. Ich stellte mich auf die Sitzbank und hielt meine Hand zwanzig Zentimeter über den Kopf. Das war natürlich so etwa die Größe des Richters. »Ein kleines Kind wie ich kann ein großes Kind besiegen, so groß?« Hoppie unterbrach seinen Vortrag und dachte einen Augenblick nach. »Tja, weißt du, mit kleinen Kindern ist es etwas anderes. Kleine Kinder haben noch keinen Schlag. Vielleicht sind sie schnell genug, um auszuweichen, aber ein unerwarteter Treffer von einem großen Gorilla, und alles ist vorbei, Mann. Kinder kämpfen am besten mit Gleichaltrigen.« Er sah mich an. »Mit wem willst du kämpfen? Wer hat dir das Leben schwergemacht? Du brauchst es mir nur zu sagen, Peekay, dann bekommt er es mit Hoppie Groenewald zu tun. Ich sag dir, Mann, niemand krümmt einem Freund von mir ein Haar.« »Es waren ein paar Jungens in der Schule«, antwortete ich. Ich war heilfroh, daß ich jetzt einen starken Freund auf meiner Seite hatte, auch wenn es jetzt der falsche Ort und die falsche Zeit war. Ich wollte ihm vom Richter und seinen SA-Männern erzählen, aber dann hätte ich alles erzählen müssen. Hoppie Groenewald wußte nicht, daß ich ein Engländer war, und vielleicht würde er ja ganz anders denken, wenn er es herausfand. »Also, sag ihnen einfach, daß sie es das nächste Mal mit mir zu tun bekommen«, knurrte Hoppie. »Das ist jetzt alles vorbei, Hoppie«, sagte ich und reichte ihm den Lutscher.
Er nahm ihn und fing an, geistesabwesend daran zu lecken. »Peekay, hör auf meinen Rat. Wenn du nach Barberton kommst, such dir jemand, der dir Boxen beibringt.« Er sah mich an und kniff ein wenig die Augen zusammen. »Ich seh es genau, du könntest ein guter Boxer sein, für so einen kleinen Kerl hast du kräftige Arme. Steh noch mal auf, laß mich deine Beine sehen.« Ich stellte mich auf den Sitz. »Nicht schlecht, Peekay, schöne schlanke Beine, du könntest schnell sein. Für einen Boxer ist Schnelligkeit alles. Zuschlagen und wegducken. Zuschlagen und wegducken, eins-zwei-eins, eine Linke und noch mal eine Linke und eine Rechte.« Er boxte in die Luft und teilte blitzschnelle Faustschläge an einen unsichtbaren Feind aus. Es war beängstigend und aufregend zugleich. »Warte hier auf mich«, sagte er plötzlich und verließ das Abteil. Nach ein paar Minuten kam er mit einem Paar komisch aussehender Lederhandschuhe zurück. »Das sind Boxhandschuhe, Peekay. Die sorgen immer für Ausgleich, wenn du mit denen gut umgehen kannst, brauchst du niemanden zu fürchten. Im Gepäckwagen hab ich einen PunchingBall, morgen zeig ich dir, was man damit macht.« Er schob mir die riesigen Handschuhe über die Hände, und meine Unterarme verschwanden fast darin bis zu den Ellbogen. »Fühlt sich gut an, oder?« sagte er und band die Boxhandschuhe zu. Meine Hände waren in diesen Handschuhen fast so verloren wie meine Füße in den Leinenschuhen, als Mevrou sie mir das erste Mal angezogen hatte. Aber die Boxhandschuhe fühlten sich an wie alte Freunde, groß und sehr unförmig, aber nicht fremd. »Na los, Junge, schlag zu«, sagte Hoppie, und streckte mir seinen Kiefer entgegen. Ich boxte mit der linken Hand, und sein Kopf wich aus, so daß der Handschuh ganz einfach nur durch die Luft sauste. »Noch mal, schlag noch mal zu.« Ich nahm meinen Arm zurück und schlug ihm mit voller Kraft direkt aufs Kinn. Hoppie fiel zurück in den Ledersitz gegenüber, stöhnte und hielt sich das Kinn. »Heilige Makkaroni! Du bist ein Killer. Ein natürliches Boxtalent. Verdammt, du hast mir wirklich eine verpaßt, Mann.« Er setzte sich auf und rieb sich seinen Kiefer, und ich fing an zu lachen. »So ists richtig, kleiner boetie, ich dachte schon, du könntest überhaupt nicht lachen«, sagte er grinsend.
Und dann fing ich an zu weinen. Die Tränen wollten nicht aufhören, mir die Wangen hinunterzulaufen. Hoppie Groenewald hob mich hoch und setzte mich auf seinen Schoßt und ich legte ihm meine Arme mit den Boxhandschuhen um den Hals und drückte meinen Kopf gegen seine blaue Uniformjacke. Die schwere Kette, an der die Signalpfeife befestigt war, lag kühl an meinem Gesicht. »Manchmal ist es gut, wenn man weint«, sagte er leise. »Manchmal kämpft man besser, wenn man sich vorher richtig ausgeweint hat. Jetzt erzähl dem alten Hoppie mal, was los ist.« Ich konnte es ihm natürlich nicht erzählen. Es war dumm, so zu weinen, aber weiter wollte ich wirklich nicht gehen. Ich kletterte von seinem Schoß. »Es ist nichts, ehrlich«, sagte ich und setzte mich wieder auf meine Seite des Abteils. Hoppie nahm den Lutscher, den er vor unserem Sparring auf den Tisch gelegt hatte, und hielt ihn mir entgegen. »Lutsch ihn zu Ende. Er verdirbt mir den Appetit auf meinen gemischten Grill. Du willst doch noch mit mir essen, oder? Ich zahle und so.« Ich griff nach dem Lutscher, aber ich hatte die Boxhandschuhe noch an, und wir lachten zusammen über den Spaß. Er zog mir die Handschuhe aus und gab mir den Lutscher. »Mach dir keine Sorgen, Peekay, wenn du groß bist, wirst du der beste verdammte Weltergewichtler in ganz Südafrika sein, und niemand ... ich meine n-i-e-m-a-n-d, wird sich mit Peekay anlegen. Ich sags dir, Mann.« Als wir in Tzaneen ankamen, klappte Hoppie eine Schlafkoje herunter, die in der Wand über meinem Kopf verborgen war und die sich zu meiner Überraschung als richtiges Bett mit Decken und Bettüchern entpuppte. Aus einer Nische hinter dem Bett zog er ein Kopfkissen und ein kleines Handtuch hervor. Dann legte er meinen Koffer auf das Bett, um es für mich zu reservieren, falls andere Reisende in Tzaneen in das Abteil kämen. Er nahm mich bei der Hand, und wir überquerten den Bahnsteig, der dem ersten ziemlich ähnlich sah, nur war er länger, und die Gebäude größer. Gegenüber dem Bahnhof stand ein beleuchtetes Haus mit einem großen Glasfenster, auf dem »Bahnhofscafe« geschrieben stand. Drinnen standen viele kleine Tische und Stühle. Einige Leute saßen da und aßen und tranken Kaffee. Eine Menge Rauch schien in dem Raum zu sein.
Eine hübsche junge Dame stand hinter der Theke. Sie sah auf, als wir eintraten, und begrüßte Hoppie mit einem strahlenden Lächeln. »Na, wen haben wir denn da? Wenn das nicht Kid Louis ist, der Champion der Eisenbahnboxmeisterschaft«, verkündete sie. Eine ältere Frau kam von hinten heran, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und trat auf Hoppie zu, der sie feste umarmte. »Und schon macht mir deine freche Tochter das Leben schwer, ounooi«, sagte Hoppie. »Sie braucht drei Runden mit Hoppie Groenewald im Ring, dann werden wir sehen, wer was zu lachen hat.« Er grinste von einem Ohr bis zum anderen. »Wann ist dein nächster Kampf, Champion?« fragte die junge Dame hinter der Theke. »Morgen abend im Bahnhofsclub in Gravelotte, mit einem Leichtschwergewicht aus den Minen. Das wird ne große Sache«, lächelte Hoppie. Die hübsche junge Dame kicherte. »Verpaß dem andern zwei, mit 'nem schönen Gruß von mir.« Einige der Gäste lachten mit, aber gutmütig. Die ältere Frau wischte einen Tisch für uns ab und fuhrwerkte ständig um Hoppie herum. Er drehte sich zu mir, nahm meine Hand und hielt meinen Arm hoch. »Hallo, alle mal herhören, ich möchte euch Kid Peekay vorstellen, den nächsten Herausforderer im Weltergewicht«, sagte er und blieb sogar ernst dabei. Ich schlug die Augen nieder und wußte nicht, was ich tun sollte. »Jetzt reichts aber mit dem Unsinn, Hoppie Groenewald. Setzen Sie sich, oder es gibt nichts zu essen, bevor der Zug weiterfährt«, drängte die ältere Frau. Die hübsche junge Dame lächelte mich an. »Wie würde dem Herausforderer denn ein Himbeermilchshake gefallen?« fragte sie. Ich sah Hoppie an. »Was ist ein Milchshake, bitte, Hoppie?« »Ein Milchshake ist der Himmel«, sagte er. »Mach zwei, du alte Schachtel.« Er wandte sich an die ältere Frau, die immer noch an dem Tisch herumfummelte. »Zwei supertolle gemischte Grills bitte, ounooi. Mein Partner und ich kommen um vor Hunger.« Hoppie hatte wieder recht, ein Himbeershake ist wirklich himmlisch. Als der gemischte Grill kam, traute ich meinen Augen nicht. Schnitzel, Steak, Wurst, Speck, Leber, Chips, ein Spiegelei und eine gedünstete Tomate. Was für ein Fest! Ich hatte noch nie eine so riesige Mahlzeit zu mir genommen und schaffte es nicht, alles aufzu-
essen. Hoppie bediente sich von meinem Teller, bis er leer war. Nur den Milchshake in dem Aluminiumbecher schlürfte ich bis zum letzten Tropfen. Die hübsche Dame kam herüber und setzte sich zu uns. Hoppie schien sie sehr zu mögen. Sie hieß Anna, und ihre Lippen glänzten und waren sehr rot. Die Uhr über der Theke zeigte zehn. Sie war eingelassen in das Bild einer wunderschönen Dame in einem langen weißen Nachthemd, das sich eng an ihren Körper schmiegte. Auch sie hatte sehr rote Lippen und rauchte eine Zigarette, und der Zigarettenrauch schlängelte sich über das Zifferblatt der Uhr und verwandelte sich dort in einen Schriftzug. Der Schriftzug lautete: »C für C ein Genuß.« Ich war noch nie so lange aufgeblieben, und meine Augenlider waren bleischwer. Das nächste, an das ich mich erinnerte, war Hoppie, der mich in meine Koje zwischen die sauberen, kühlen Laken legte, und an das Kissen, das nach Stärke roch. »Schlaf gut, alter Kumpel«, sagte er. Als letztes vor dem Einschlafen dachte ich an das angenehme Gefühl an den Händen, als sie in den Boxhandschuhen gesteckt hatten.
5 Ich wachte früh auf und lag in meiner Koje, während ich dem Klak-kedi-klack der Räder lauschte. Draußen im Licht der Morgendämmerung lag das graue Grasland der Savanne, und hin und wieder stand ein riesiger Affenbrotbaum Wache vor dem schmutzigen Blau des Himmels und dem dunkleren Blau des Murchinsongebirges, das sich soeben über den flachen Horizont erhob. Die Tür des Abteils ging auf, und Hoppie kam herein, bekleidet nur mit seinem weißen Hemd und seiner Hose, von der die Hosenträger in zwei Schleifen rechts und links herabbaumelten. In der Hand hielt er eine Schale mit dampfendem Kaffee. »Hast du gut geschlafen, Peekay?« fragte er und reichte sie mir. »Ja, vielen Dank, Hoppie. Es tut mir leid, daß ich eingeschlafen bin.« »Macht nichts, kleiner boetie, für jeden von uns kommt mal die Zeit, wo er nicht mehr aus seiner Ecke hochkommt.«
Ich verstand die Boxersprache noch nicht, aber das schien nichts auszumachen. Zu meiner Überraschung hob Hoppie dann die Platte von dem kleinen Tisch, und darunter kam ein Waschbecken zum Vorschein. Er drehte an den Hähnen, und aus dem einen floß heißes und aus dem anderen kaltes Wasser. Er bewegte seine Finger durchs Wasser, bis er sagte, die Temperatur sei »gerade richtig«. »Wenn du deinen Kaffee getrunken hast, kannst du dich ein bißchen waschen, und dann gehn wir frühstücken«, sagte er. »Das ist nicht nötig, Hoppie, ich hab mein Frühstück im Koffer«, sagte ich hastig. Hoppie sah mich grinsend an. »Hu, das möcht ich mal sehn. Du hast einen Herd und eine Pfanne und Butter und Eier und Speck und Würstchen und Tomaten und Toast und Marmelade und Kaffee in deinem Koffer?« Er pfiff leise. »Das ist ja ein echter Zauberkoffer, Peekay.« »Mevrou hat mir belegte Brote für die ersten drei Mahlzeiten mitgegeben, weil mein oupa mir nicht genug Geld geschickt hat. Aber gestern abend haben wir den gemischten Grill gegessen, da hätte ich das Brot mit dem Fleisch essen sollen«, sprudelte es aus mir heraus. Hoppie verharrte einen Augenblick lang und sah aus dem Fenster, er schien mit sich selbst zu sprechen. »Belegte Brote? Ich hasse belegte Brote. Jetzt sind sie an den Rändern schon alle hochgebogen, und die Marmelade ist in der Mitte durchgesickert. Ich wette, es ist Pfirsichmarmelade. Es ist immer verdammte Pfirsichmarmelade drauf.« Er drehte sich um und wandte sich direkt an mich: »Wo sind die Brote?« Ich zeigte auf meinen Koffer auf dem Sitz unter der Koje. Er bückte sich, öffnete ihn und zog die in braunes Papier eingewickelten und mit grober Kordel zugebundenen Brote heraus. »Als dein Manager ist es meine heilige Pflicht, mich um dein Frühstück zu kümmern. Boxer müssen sehr genau darauf achten, was sie essen, mußt du wissen.« Er packte die Brote aus, das braune Papier war voller Fettflecken. Er hatte recht, die Brote hatten sich an den Rändern hochgebogen. Er hob die oberste Brotscheibe ab und roch an den dünnen braunen Fleischscheiben, dann legte er die Brotscheibe wieder darauf. Von unten zog er zwei weitere Brote heraus. Die Marmelade hatte das braune Brot in der Mitte durchgeweicht, die Ränder waren trocken und hart. »Pfirsich!« sagte Hoppie triumphierend. »Es ist immer Pfirsich!«
Er sah mich mit ausdruckslosen Augen an. »Ich habe traurige Nachrichten für dich, Peekay. Diese Brote haben ein schlimmes Ende gefunden, sehr wahrscheinlich sind sie an einer Krankheit gestorben, die sie sich in einer Institution geholt haben. Wir müssen sie sofort loswerden, damit wir uns nicht anstecken.« Gleichzeitig öffnete er das Abteilfenster und warf die Brote hinaus. »Erstklassige Kämpfer essen erstklassiges Essen. Mach schnell und wasch dich, Peekay, ich sterbe vor Hunger, und das Frühstück bekommen wir mit Empfehlung der Südafrikanischen Eisenbahngesellschaft.« Ich warf die Bettdecke und das Laken zurück, um aus meiner Schlafkoje steigen zu können, und sah voller Entsetzen auf meine hutlose Schlange. Hoppie hatte mir die Hose ausgezogen, bevor er mich zu Bett gebracht hatte. Mein Herz klopfte. Vielleicht war es ja dunkel gewesen, und er hatte nicht bemerkt, daß ich ein rooinek war. Wenn er es herausfand, wäre alles vorbei, gerade als das größte Abenteuer meines Lebens begonnen hatte. »Beeil dich, Peekay, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Hoppie streifte sich die Hosenträger über die Schultern. »Ich bin immer noch völlig satt von dem gemischten Grill, Hoppie, ich kann jetzt noch nichts essen.« Schnell zog ich die Decke wieder über mich. »He, du sprichst mit mir, Mann, mit Hoppie Groenewald. Wen willst du verscheißern?« Er kam einen Schritt näher und zog mir mit einer schnellen Bewegung Decke und Laken weg. Meine hutlose Schlange lag offen da, keine zwanzig Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Ich legte meine Hände darüber, aber es war zu spät. Ich wußte, daß er es nun wußte. »Ich bin nicht der nächste Weltergewichtsherausforderer, Mr. Groenewald, ich bin nur ein verdomde rooinek«, sagte ich mit bebender Stimme, während ich versuchte, die Tränen zurückzuhalten. So ist es immer, genau dann, wenn alles perfekt ist, kommt die Strafe. Hoppie stand schweigend vor mir und sagte lange nichts, bis sein Schweigen mich schließlich zwang, meine niedergeschlagenen Augen zu heben und ihn anzuschauen. Er sah traurig aus und schüttelte den Kopf, als er sagte: »Deshalb wirst du der nächste Champion, Peekay, das ist der Grund.« Er machte eine Pause und lächelte. »Ich habs dir noch nicht erzählt, Mann. Du erinnerst dich an diesen Kerl,
der mich in Pretoria beim Titelkampf geschlagen hat? Nun, er war Engländer, ein rooinek wie du. Er hatte diesen linken Haken, jedesmal, wenn er mich erwischte, war es, als ob mich ein Güterzug gerammt hätte.« Hoppie streckte die Arme aus, hob mich vom Bett herunter und stellte mich sanft neben dem Waschbecken auf den Boden. »Aber ich glaub, du wirst noch besser als er, kleiner boetie. Jetzt wasch dich, damit wir essen gehn können, Mann.« Ich sag euch, jetzt sah alles schon wieder viel besser aus. Hoppie nahm mich in den Speisewagen mit, wo auf schneeweißen Tischtüchern Silbermesser und Gabeln und gestärkte Leinenservietten lagen, die wie Narrenkappen gefaltet waren. Sogar der Kaffee kam in Silberkannen, auf denen auf beiden Seiten SAS in Schreibschrift eingraviert war. Ein Mann, der bis auf die Dienstmütze genau wie Hoppie gekleidet war und eine gefaltete Serviette über dem Arm trug, wünschte uns guten Morgen und führte uns zu einem kleinen Tisch. Er fragte Hoppie, ob es stimmte, daß der Leichtschwergewichtsboxer, gegen den er heute abend antreten würde, schon siebenundzwanzig Kämpfe hinter sich hatte und davon siebzehn mit K. o. gewonnen... also ein echter Schläger? Hoppie meinte, man solle nicht alles glauben, was man hört, besonders nicht in einem Speisewagen. Ob ihm das noch nie jemand gesagt habe. Dann zuckte er mit den Schultern und grinste. »Zuerst muß er mich mal fertigmachen, Mann.« Er fragte ihn nach etwas, was er Quoten nannte, und der Mann sagte, es stünde zwei zu eins für den Schläger. Hoppie lachte und gab dem Mann zehn Schilling, und der Mann schrieb etwas in ein kleines Buch. Dann ging er weg und kam bald mit Toast und zwei großen Tellern voll Speck und Eier und Würste und Tomaten zurück, genau wie Hoppie es vorhergesagt hatte. Ich beschloß, wenn ich groß war, nur noch Eisenbahn zu fahren. »Hast du Angst vor heute abend?« fragte ich Hoppie. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, daß er sich überhaupt vor irgend etwas fürchtete, wollte ich ihm zeigen, daß ich auf seiner Seite war. Er hatte mir gesagt, wie es mit einem Leichtschwergewichtler war, und es war klar, daß der Mann, gegen den er kämpfen mußte, für ihn so groß war wie der Richter für mich. Hoppie sah mich kurz an und spülte dann das Stück Wurst, auf dem er gerade herumkaute, mit einem Schluck Kaffee herunter. »Es
ist gut, etwas Angst zu haben. Es ist gut, Respekt vor seinem Gegner zu haben. Dann bleibst du wach. Im Kampf regiert der Kopf das Herz. Aber letztendlich ist das Herz der Boß«, sagte er und klopfte sich mit dem Griff der Gabel aufs Herz. Ich bemerkte, daß er die Gabel in der falschen Hand hielt, und er erklärte es mir später. »Einen Linkshänder nennt man im Boxsport Rechtsausleger. Rechtsausleger zu sein ist günstig, wenn man gegen so einen Gorilla antritt wie ich heute abend. Alles passiert für ihn falsch herum. Es verkürzt seine Reichweite, und du kommst näher an ihn ran. Eine linke Gerade wird für ihn zu einer kurzen Rechten, und dann verpaßt du ihm einen linken Haken.« Genausogut hätte Hoppie chinesisch sprechen können, aber es machte nichts: Wie sich meine Hände in den Boxhandschuhen gut angefühlt hatten, so fühlte sich auch die Sprache gut an. Ein rechter Cross, ein linker Haken, eine Gerade, ein Aufwärtshaken. Die Worte und Ausdrücke hatten eine Richtung, bedeuteten Handlung, verwandelten sich in Aktion. »Du hämmerst wie ein Kolben, bei mir ist es die Rechte, den ganzen Abend lang ins Gesicht, bis ihm ein Auge zuschwillt, dann versucht er die Seite, wo er nichts mehr sieht, zu verteidigen, und dann kommt die Linke, bomm, bomm, bomm, den ganzen Abend, bis auch das zweite Auge zugeht. Und dann wumm! Ein linker Aufwärtshaken. Da sitzt beim Rechtsausleger der.K. o.!« »Glaubst du, daß ich das kann, Hoppie?« fragte ich und merkte, wie dringend ich seine Zuversicht brauchte. »Kinderspiel, Peekay. Ich habs dir doch gesagt, Mann. Du bist ein Naturtalent.« Hoppies Worte waren wie Samen mit Flügeln dran. Sie flogen aus seinem Mund direkt in meinen Kopf, wo sie im fruchtbaren, empfänglichen Boden meines Geistes Wurzeln schlugen. Den Rest des Vormittags mußte Hoppie in seinem Abteil Schreibarbeiten erledigen, wo er ein Bett, einen Tisch, ein Waschbecken und einen Schrank ganz für sich allein hatte. An einem Haken in der Decke hing etwas, das er Punchingball nannte und mit dem er schnelles Schlagen übte. Ich war zu klein, um dranzukommen, aber Hoppie schlug so schnell, daß man den Ball fast nicht mehr sah. Ich fing an, dieses ganze Boxgeschäft zu mögen. Hoppie erklärte mir, daß der Zug in Gravelotte Antimon laden
würde. Es wäre ein neunstündiger Aufenthalt, bevor er um elf Uhr nachts nach Kaapmuiden weiterfahren würde. »Keine Sorge, kleiner boetie. Du bist mein Gast beim Kampf, und hinterher bring ich dich zurück zum Zug.« Beim Mittagessen fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Wir setzten uns an denselben Tisch, und der Mann, der uns das Frühstück gebracht hatte und der, wie sich herausstellte, Gert hieß, brachte Hoppie ein riesengroßes Steak und mir ein kleines. »Einen schönen Gruß vom Koch, Hoppie. Er hat seinen ganzen Wochenlohn in 'ner Siegwette mit vier Bergleuten auf dich gesetzt. Er sagt, das Fleisch ist ein Rumpsteak, in der Mitte noch blutig, damit du ein richtig mieser Scheißkerl wirst.« Gert lachte. »Ich schätze, seine Frau wird der miese Scheißkerl, wenn du nicht gewinnst.« Hoppie zwinkerte Gert zu. »Ich krieg den Schädel eingeschlagen, der Koch verliert sein Geld, aber der Buchmacher gewinnt immer, stimmts, Gert?« Gert sah empört aus. »Nicht immer, Hoppie. Ich hab 'ne Menge verloren, als du gegen diesen verdammten rooinek in Pretoria verloren hast.« »Mir blutet das Herz, Mahn, fünfzehn Kämpfe, vierzehn Siege, und jedesmal hast du meinen Gegnern die besseren Quoten gegeben, Himmel, ich hab dich reich gemacht«, sagte Hoppie und fing an, sein Steak zu zerschneiden. Wir hatten so früh am Morgen gefrühstückt, daß wir,nicht viele andere Mitreisende gesehen hatten, aber beim Mittagessen war der Speisewagen voll, und alle Leute sprachen über den bevorstehenden Kampf. Gert ging von Tisch zu Tisch und nahm zwischen dem Servieren Zehnschilling- und Pfundnoten von den Passagieren entgegen und schrieb alles in sein Buch. Hoppie sah mich an, der Griff seiner Gabel ruhte auf dem Tisch, und ein Stück rotes Fleisch steckte auf den Zinken. »Wettest du, Peekay?« Ich sah ihn verwirrt an. »Was ist das, Wetten, Hoppie?« Hoppie lachte. »Bist 'n kleiner Dummkopf, boetie.« Dann erklärte er mir das Wettgeschäft. Er machte Gert ein Zeichen herzukommen. »Was machst du dem nächsten Herausforderer im Weltergewicht für einen Kurs?« fragte er und zeigte auf mich.
Gert fragte mich, wieviel ich hätte. »Einen Schilling«, sagte ich nervös. »Zehn zu eins«, sagte Gert, »das ist das äußerste, was ich machen kann.« »Ist das ein Notfall?« fragte ich und fürchtete um Großvaters Schilling. »Bei zehn zu eins? Ich denke schon!« antwortete Hoppie. Es dauerte ewig, bis ich die Sicherheitsnadel in meiner Hosenta sche gelöst und den kleinen Beutel mit Großvaters Schilling aufgefummelt hatte. Ich reichte ihn Gert, und er schrieb etwas in sein kleines Buch. Hoppie sah die Ängstlichkeit in meinem Gesicht. Es war nicht wirklich mein Schilling, und das. wußte er. »Manchmal besteht der Notfall darin, das zu tun, was wir nicht tun sollten, Peekay«, sagte er. Wir kamen um Punkt halb drei in Gravelotte an. Die Hitze war auf ihrem Höhepunkt, und die Luft flimmerte über den Bahngleisen. Hoppie sagte, das Thermometer zeige einhundertacht Grad Fahrenheit, und der Kampf heute abend würde ein Schweißbad. Es gab eine Menge Gleise, die Hoppie Rangierbahnhof nannte, und unser Zug wurde von der Hauptstrecke auf ein Nebengleis gezogen. »Hier hab ich mal 'nen Anpfiff gekriegt. Wenn das Erz von Consolidated Murchinson hier ankommt, und du mußt bei so 'ner Hitze 'nen Zug zusammenstellen, ich sag dir, Peekay, dann weißt du, daß du lebst, Mann«, sagte Hoppie und deutete auf eine kleine Rangierlok, die offene Güterwagen mit Erz vor sich herschob. Wir überquerten die Gleise und gingen durch die Eisenbahnwerkstatt, in der ein Zug überholt wurde. Die Männer unterbrachen ihre Arbeit, sprachen mit Hoppie, wünschten ihm Glück und sagten, daß sie heute abend beim Kampf dabeisein und ganz bestimmt keine Überstunden machen würden. Die Temperatur in den Wellblechwerkstätten war noch schlimmer als draußen, und die meisten Männer hatten nur Khakishorts und Stiefel an, und ihre Körper glänzten von Öl und Schweiß. Hoppie nannte sie »Ölaffen« und sagte, sie seien das Salz der Erde. Wir kamen im Eisenbahnerheim an, in dem Hoppie lebte. Wir duschten uns, und Hoppie öffnete einen braunen Umschlag, den ein Angestellter ihm bei unserer Ankunft gegeben hatte. Er brauchte
lange, bis er den Brief gelesen hatte, und legte ihn dann wortlos in die oberste Schublade der kleinen Kommode in seinem Zimmer. Er sagte, es wäre das beste, wenn ich meine alten Kleider anbehielte, weil wir uns vor dem Kampf noch einmal duschen würden, dann könne ich ein frisches Hemd und eine frische Hose anziehen. »Jetzt gehn wir einkaufen, kleiner boetie, und dann in den Eisenbahnclub, um meine Sekundanten zu treffen und uns den Gorilla gründlich anzuschauen, gegen den ich heute abend kämpfe. Hol deine Schlappen, Peekay, ich hab eine Idee.« Ich klemmte mir die Schuhe unter den Arm, und wir marschierten los. Die Hauptstraße verlief nur ein paar hundert Meter vom Eisenbahnerheim, und es schien so gut wie nichts los zu sein. Jedesmal, wenn ein Lastwagen vorbeifuhr, wurden wir von einer Staubwolke eingehüllt, und als wir zu dem Laden kamen, in den Hoppie wollte, konnte ich den Staub in meinem Mund schmecken, und meine Augen brannten. Es war wirklich heiß. Über der Ladentür stand: »G. Patel & Sons, General Mercbants«. Auf der Veranda standen Säcke voll Maismehl und rote Bohnen und gebündelte Spitzhacken, ein ganzer Pflug, und ein Dutzend Viergallonenbüchsen Hydrauliköl. Im Laden war es dunkel und heiß, und es roch nach irgend etwas, das ich niemals vorher gerochen hatte. »Hier riecht es komisch, Hoppie.« »Das ist das Zeug, was die Kulis verbrennen, Mann, es heißt Weihrauch.« Eine junge Frau in einem bunten Rüschenkleid aus nahezu durchsichtigem Stoff kam aus dem hinteren Teil des Ladens. Sie hatte hellbraune Haut, ihr glattes schwarzes Haar war in der Mitte gescheitelt, und ein langer Zopf hing über ihre Schultern fast bis zur Taille hinab. Ihre Augen waren groß und dunkel und sehr schön. Auf der Mitte ihrer Stirn war ein roter Punkt gemalt. Hoppie stieß mich mit dem Ellbogen an. »Gib mir deine Schuhe, Peekay«, flüsterte er. Ich reichte ihm die beiden braunen Leinenschuhe, mit denen ich höchstens zwanzig Schritte gegangen war und die völlig neu aussahen. »Guten Tag, Meneer, kann ich Ihnen behilflich sein?« sagte sie zu Hoppie. Hoppie erwiderte den Gruß nicht. An der Art, wie er sie ansah,
merkte ich, daß er sie irgendwie nicht für gleichwertig hielt. Bisher hatte ich geglaubt, nur Kaffern seien nicht ebenbürtig, deshalb war ich ziemlich überrascht, daß diese wunderschöne Lady es auch nicht war. »Leinenschuhe, hast du Leinenschuhe?« fragte er. Die Dame besah sich die Schuhe, die Hoppie in der Hand hielt, »Nur weiße und schwarze, keine braunen wie die da.« »Hast du die Größe, die der Junge braucht?« fragte Hoppie kurz. Die Frau beugte sich vor, schaute auf meine Füße und ging zum anderen Ende der Theke. Sie kam mit einem ganzen Bündel zusammengebundener Schuhe zurück. Sie zog ein Paar heraus und reichte sie Hoppie. »Probier sie an, Peekay, und sag, ob sie passen.« Ich schlüpfte in ein Paar wunderschöne weiße Leinenschuhe. Sie paßten wie angegossen. »Bind sie zu«, sagte Hoppie. »Das kann ich nicht, Hoppie, das hat Mevrou mir nicht beigebracht.« Die schöne dunkelhaarige Frau kam hinter der Theke hervor, kauerte sich auf den Boden und begann, mir die Schuhe zuzubinden. Ihr kohlschwarzes Haar war geölt und in der Mitte schnurgerade gescheitelt. Als sie die Schuhe zugebunden-hatte, prüfte sie die Schuhspitzen, indem sie mit dem Daumen auf meine Zehen drückte. Dann sah sie zu mir hoch und lächelte. Ich traute meinen Augen nicht: Mitten in einen ihrer Schneidezähne war ein Diamant eingesetzt! Sie wandte sich um und sagte zu Hoppie: »Sie passen.« Hoppie wartete, bis sie wieder hinter der Ladentheke war. »Okay, wir machen einen Tausch. Diese Schuhe gegen diese.« Er stellte meine alten Schuhe vor ihr auf die Theke. Die Frau schaute Harry Crowns Leinenschuhe an und schüttelte dann langsam den Kopf. »Das kann ich nicht machen«, sagte sie leise. Hoppie stützte sich mit den Ellbogen auf die Theke und sah ihr direkt in die Augen. Sein Rücken war gestrafft, sein Unterkiefer vorgeschoben, und den Kopf hielt er hoch erhoben. Sein ganzer Körper schien sie zu bedrohen. Er kostete sein Schweigen aus und zwang sie, weiterzusprechen. »Die sehen doch ganz anders aus, wo haben Sie die denn gekauft?« Sie nahm einen Schuh und untersuchte die Sohle, dann drehte sie sich zur Tür hinter der Ladentheke um und sagte etwas in einer fremden Sprache. Ein paar Augenblicke später erschien ein
Mann, der das gleiche glatte schwarze Haar und die gleiche braune Haut hatte wie die Frau, aber Hemd und Hose trug, wie jedermann. Die Frau reichte dem Mann die Schuhe und sprach wieder in der fremden Sprache auf ihn ein. Er schien alt genug, um ihr Vater sein zu können. Der Mann wandte sich an Hoppie. »Diesen Tausch können wir nicht machen, das sind ganz andere Schuhe. Hier, sehen Sie die Marke, die sind in China hergestellt.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Sohle. Dann ging er zu dem Bündel auf der Theke und zog einen Schuh heraus. »Schaun Sie, Mann, hier steht ein völlig anderer Markenname, und er kommt nicht aus China, sondern aus Japan. Das ist ein völlig anderer Schuh. Sie haben diese Schuhe nicht bei Patel & Sons gekauft. Sie müssen mir drei Schilling bezahlen.« Hoppie tat so, als hätte er nicht recht verstanden, lehnte sich über die Theke und klopfte dem Mann auf die Schulter. »Draußen steht Patel & Sons, das hier ist Ihre Tochter, aber wo ist Ihr Sohn, Patel?« Pateis betrübter Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Mein Sohn ist sehr, sehr klug. Er ist ein sehr, sehr kluger Student an der Universität von Bombay. Wir schicken ihm jeden Monat Geld, und er schreibt uns Briefe. Bald macht er sein Examen, und wir werden sehr glücklich sein, wenn er wieder bei uns ist.« »Sixpence und diese Schuhe, Patel. Fairer kann ich nicht sein, Mann«, sagte Hoppie gefühlvoll. Patel bog und drehte den Schuh in seiner Hand mit einer sauren Miene im Gesicht. »Einen Schilling«, sagte er plötzlich. »Sixpence«, wiederholte Hoppie. Patel schüttelte den Kopf. »Dabei verlier ich zuviel«, sagte er. Hoppie schaute ihn an. »Patel, mein letztes Angebot, und nur, wenn der Junge einen bansela kriegt, dann leg ich noch ein Dreipencestück drauf!« Patel schüttelte den Kopf, schnalzte mit der Zunge und nickte schließlich. Hoppie zog die neun Pence aus der Tasche und legte sie auf die Ladentheke. Die schöne Frau hielt mir einen gelben Lutscher hin. »Hier ist dein bansela«, sagte sie lächelnd, und wieder sah ich den Diamanten aufblitzen. Ich dankte ihr für den Lutscher und überlegte, wie ein gelber wohl schmeckte. Ich hatte immer noch einen roten, und mit diesem hier hatte ich zwei für den Kampf heute abend.
»Vielen Dank, Hoppie«, sagte ich und schaute stolz auf meine neuen weißen Schuhe hinunter. Die sahen vielleicht gut aus, und ich konnte prima darin gehen. »Zieh sie besser aus, Peekay. Wenn du heute abend in meiner Ecke bist, wollen wir doch nicht, daß du schmutzige Schuhe anhast, Mann«, sagte Hoppie grinsend. Ich zog die Schuhe aus, Hoppie knotete die Bändel zusammen und hängte sie mir um den Hals. Ich wandte mich um, um Patel zu danken. Er schien jetzt sehr aufgeregt zu sein und zeigte auf Hoppie. »Meneer Kid Louis, ich fühle mich zutiefst geehrt, Sie kennengelernt zu haben! Die ganze Woche höre ich schon von Ihnen und diesem Faustkampfgeschäft. Heute morgen noch ruft mich mein Bruder aus Mica und mein Bruder aus Letsitele an, damit ich für sie eine Wette abschließe. Gütiger Gott, und jetzt treffe ich Sie höchstpersönlich!« Hoppie lachte. »Setzen Sie das Geld, das Sie mir aus der Tasche gezogen haben, auf mich, davon können Sie das Studium Ihres Sohnes bezahlen, Patel.« »Nein, nein, wir machen es viel, viel gescheiter. Wir wetten zehn Pfund auf Kid Louis.« »Heilige Scheiße! Zehn Pfund! Das ist zweimal soviel, wie ich gewinne, wenn ich gewinne.« Patel streckte ihm den halben Schilling und das Dreipencestück entgegen. »Bitte nehmen Sie das Geld zurück, Meneer Kid Louis, es wird mir sehr, sehr viel Unglück bringen, wenn ich das Geld behalte.« Hoppie zuckte die Achseln und zeigte auf mich. »Geben Sie es dem nächsten Herausforderer im Weltergewicht.« »Du bist auch Boxer?« Ich nickte ernst, und in meinem Kopf schien es mir fast wahr zu sein. Patel griff in seine Tasche, zog eine Handvoll Wechselgeld heraus, legte die beiden Münzen dazu und wählte ein Schillingstück aus. »Hier ist ein Schilling für dich«, sagte er ängstlich. Er wandte sich an Hoppie und fügte hinzu: »Bitte, Sie müssen heute abend sehr, sehr hart kämpfen.« Hoppie grinste ihn an. »Sie haben keine Ahnung, was Sie grad getan haben, Patel, aber es ist ein sehr gutes Omen.« »Vielen Dank, Mr. Patel«, sagte ich, und meine Hand schloß sich
um die Silbermünze. Großvaters Geld war wieder in Sicherheit, und ich muß sagen, daß ich mich sehr erleichtert fühlte. Als wir den Laden verließen, stieß mich Hoppie mit dem Ellbogen an. »Du bist ein komischer kleiner Kerl, Peekay. Man nennt einen verdammten Kuli doch nicht >Mister<. Ein Kuli ist kein Kaffer, er ist schlau, und er wird dich so oft übers Ohr hauen wie möglich. Aber deshalb ist ein Kuli noch lange kein Weißer!« »Diese Frau hatte einen Diamanten im Zahn, Hoppie.« »Ja, diese Bastarde haben verdammt viel Geld. Du wirst niemals einen armen sbaraar sehen. Hinter dem Laden steht wahrscheinlich ein großer V8-Pontiac.« »Und Was ist, wenn sie ihn verschluckt?« »Wen?« »Den Diamanten... wenn er herausfällt oder so?« Hoppie lachte. »Dann sieben sie tagelang ihre kak!« Wir gingen in ein Cafe, und Hoppie kaufte zwei Flaschen mit etwas Rotem drin. Die alte Frau hinter der Theke nahm sie aus einer Eiskiste, öffnete sie, steckte eine Art Röhrchen aus Papier hinein und reichte sie uns. Ich schaute zu, wie Hoppie es anstellte, und machte es dann genauso. Winzige Sprudelbläschen stiegen in der Flasche hoch und mir in die Nase, und es schmeckte wunderbar. Auf den Flaschen stand: American Cream Soda. Das Zeug schmeckte wie ein Himbeerlutscher, aber doch wieder anders. Es war die erste Flasche Limonade meines Lebens. Wir kamen kurz vor fünf im Eisenbahnerclub an. Der Clubmanager, der uns auf der Veranda entgegenkam, sagte, daß es immer noch fast hundert Grad Fahrenheit sei, daß der Regen überfällig sei und im Kruger National Park am anderen Ende der Murchinsonberge schon eine schwere Dürre herrsche. Im Club war es kühl, er hatte polierte rote Zementböden, und an der Decke hingen große Ventilatoren. Der Manager sagte uns, daß die Burschen aus dem Bergwerk schon angekommen seien und daß die Eisenbahner inklusive Hoppies Sekundanten im Billardzimmer ein paar Bier mit ihnen tränken. Hoppie nahm mich an der Hand, und wir folgten dem Manager ins Billardzimmer. Dort standen drei große mit grünem Stoff bezogene Tische, und darauf lagen viele bunte Kugeln. Männer stießen mit langen Stöcken die Kugeln auf der Tischplatte herum. In der anderen Zimmerecke saßen etwa
zwanzig Männer an einem langen Tisch, auf dem viele braune Flaschen standen. Sie hörten auf zu sprechen, als wir eintraten. Zwei der Männer stellten ihre Gläser ab, erhoben sich vom Tisch und kamen lächelnd auf uns zu. Hoppie schüttelte ihnen die Hand, und er schien sehr glücklich zu sein, sie zu sehen. Zu mir sagte er: »Peekay, das sind Nels und Bokkie. Nels, Bokkie, das ist Peekay, der nächste Herausforderer im Weltergewicht.« Beide Männer grinsten und sagten hallo, und ich sagte es ebenfalls. Wir gingen zu den Männern hinüber, die an dem langen Tisch sitzengeblieben waren. Bokkie räusperte sich und legte eine Hand auf Hoppies Schulter. Er war riesig, hatte einen Trommelbauch, ein rotes Gesicht und eine flache Nase, die so aussah, als wäre sie schon ein paarmal gebrochen. Ich bemerkte, daß Hoppie einen Mann anstarrte, der mit einem Bierkrug vor sich an dem Tisch saß. Der Mann erwiderte Hoppies Blick, und sie schauten sich lange in die Augen. Hoppie hielt immer noch meine Hand, und obwohl er nicht fester zupackte, spürte ich die plötzliche Spannung. Schließlich grinste der Mann und griff nach seinem Glas. »Meine Herren«, sagte Bokkie, »das ist Kid Louis, der nächste Weltergewichtschampion der Südafrikanischen Eisenbahn.« Die Männer auf unserer Seite des Tischs schrien und pfiffen, und einer, der auf der anderen Seite saß, erhob sich und zeigte auf den Mann, den Hoppie und ich angestarrt hatten. »Das da ist Jackhammer Smit. Steh auf, Jackhammer, wo sind denn deine Manieren, Mann?« sagte er und grinste. Die Bergleute um Jackhammer herum pfiffen und ließen ihn hochleben, genauso wie die Eisenbahner es eben getan hatten. Jackhammer stand langsam auf. Er war ein Riese mit einem völlig kahl rasierten Schädel. Hoppies Händedruck wurde einen Moment lang stärker und entspannte sich dann wieder. »Das ist vielleicht ein Gorilla, Peekay«, sagte er aus dem Mundwinkel. Jackhammer kam ein paar Schritte auf uns zu. Seine dicken Augenbrauen hingen wie zwei dunkle Baldachine über seinen schwarzen Augen. Die mehrere Tage alten Bartstoppeln legten einen bläulichen Schatten über sein Kinn und gaben ihm ein bösartiges Aussehen. Seine Nase war fast so flach wie die von Bokkie, und ein Ohr sah ganz zerquetscht aus. Hoppie streckte ihm seine Hand entgegen, aber der große Mann schlug nicht ein. Mit einem Schlag hörten alle auf zu sprechen.
Jackhammer Smit stützte die Hände in die Hüften, schob den Kopf zurück und schaute mit seinen dunklen, unheilverkündenden Augen auf Hoppie und mich herab. Dann wandte er sich an die Bergleute und fragte: »Gegen welche von den beiden Mücken trete ich an?« Die Bergleute gerieten außer Rand und Band, klopften wie wild auf den Tisch und pfiffen. Jackhammer Smit schaute uns wieder an. »Kid Louis, ja? Sag mal, Mann, warum hat ein Burenkämpfer einen Kaffernnamen? Scheiße, Mann, du solltest dich schämen, Kid Louis! Ich kämpfe eigentlich nicht gegen Kinder und auch nicht gegen Kaf-fernboeties, aber heut abend mach ich 'ne Ausnahme.« Er lachte. »Du bist die Ausnahme, Eisenbahner. Jedesmal, wenn ich dir 'nen Schlag verpasse, glaubst du, ein verdammter Zug fährt in dich rein!« Er grinste die sitzenden Bergleute an, die wieder laut jubelten und hurra schrien. Dann ging er zu seinem Stuhl zurück, ließ sich darauffallen und trank einen großen Schluck Bier aus seinem Krug. Hoppie atmete schwer, beruhigte sich aber schnell, als er sah, wie die Männer sich nach ihm umdrehten, um seine Reaktion auf Jackhammers Beleidigungen mitzukriegen. Er grinste und zuckte mit den Achseln. »Ich kann nur sagen, ich bin froh, daß ich nicht gegen dein Maul antreten muß, das ist nämlich 'n echtes Schwergewicht.« Jackhammer bekam einen Wutanfall und schüttete sein Bier über i die Eisenbahner, die ihm gegenüber saßen. Sie schrien, pfiffen und tobten. »Komm, Peekay, wir hauen besser ab«, sagte Hoppie und ging zur Tür. Bokkie und Nels kamen hinter uns her. In der Tür wandte sich Hoppie um. »Seht zu, daß er nüchtern bleibt, Herrschaften, ich möcht nicht, daß die Leute denken, ich hab ihn geschlagen, weil er blau war!« Jackhammer Smit stand halb von seinem Stuhl auf, als ob er hinter uns her wollte. »Du verdammte Mücke, ich bring dich um!« schrie er. »Gut gemacht«, sagte Bokkie, »das kostet den Bastard zwei Runden, bis er über seinen Ärger weg ist.« Dann riet er Hoppie, sich auszuruhn, und sagte, daß sie uns um Viertel nach sieben abholen würden, um zum Rugbyplatz zu fahren, wo der Ring aufgebaut worden war. »Die Leute kommen aus dem ganzen Bezirk und auch aus Letsitele und Mica und sogar aus Hoedspruit und Tzaneen. Mann, in dem Kampf steckt viel Geld, diese Bergleute wetten gern.«
»Keine Sorge«, sagte Hoppie, »wir sehen uns um Viertel nach sieben.« Wir gingen die kurze Strecke bis zum Eisenbahnerheim. Die Sonne war noch nicht hinter den Murchinsonbergen verschwunden, und es war weiter glühend heiß. »Wenn es so heiß bleibt, dann ändern sich die Quoten.« Hoppie schaute zum zinnfarbenen Himmel hoch und legte eine Hand schützend über die Augen: »Ich glaub, das wird eine verdammt harte Nacht, Peekay. Eine richtige Gravelottenacht, heiß wie die Hölle.« Als wir im Heim ankamen, erzählte mir Hoppie, wie es weiterging. »Zuerst duschen wir uns, dann legen wir uns hin. Aber jetzt kommts, Peekay, du bringst mir alle zehn Minuten einen Becher Wasser. Auch wenn ich sage >jetzt nichts mehr<, selbst wenn ich darum bitte, aufzuhören, du bringst mir trotzdem alle zehn Minuten einen Becher, verstanden?« »Ja, Hoppie, ich hab verstanden«, antwortete ich und war froh, daß ich ihm bei der Vorbereitung für den Kampf helfen konnte. Hoppie zog seine Eisenbahneruhr aus der Uhrentasche seiner blauen Schaffneruniform, die hinter der Tür hing. »Alle zehn Minuten, hörst du! Und du zwingst mich zu trinken, okay, kleiner boetie?« »Großes Ehrenwort, Hoppie«, sagte ich feierlich, und er fing an, sich auszuziehen, um sich zu duschen. Das Fenster von Hoppies Zimmer stand weit offen, und an der Decke drehte sich langsam ein Ventilator. Hoppie lag auf dem Bett und trug nur ein altes Paar Khakishorts. Ich setzte mich auf den kühlen Zementboden, lehnte mich an die Wand und hielt die große Uhr in der Hand. Nach kurzer Zeit war Hoppies Körper schweißbedeckt, und kurz darauf war sogar das Laken feucht. Alle zehn Minuten ging ich ins Badezimmer und brachte ihm einen Becher Wasser. Nach dem fünften Becher stützte sich Hoppie auf die Ellenbogen und sagte zu mir: »Es ist ein alter Trick. Ich hab im Ring-Maga-zin darüber gelesen. Joe Louis hat ihn vor seinem Kampf gegen Jack Sharkey angewandt. Es war verdammt heiß, genau wie heute nacht. Joes Manager ließ ihn den ganzen Nachmittag lang Wasser trinken. Um es kurz zu machen, nach der achten Runde war immer noch nichts entschieden. Aber dann fing Sharkey in der großen Hitze an, unter Wassermangel zu leiden. Weißt du, Peekay, der Kampf fand genau
wie heute abend im Freien statt, und auch diese riesigen Lampen brannten in den Ring, und es war über hundert Grad Fahrenheit heiß. In einem Fünfzehn-Runden-Kampf kann ein Mann gut einen Liter Wasser rausschwitzen, und wenn er es dann nicht wieder irgendwo herbekommt, Mann, dann kriegt er große Schwierigkeiten. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, aber man kann so ähnlich wie ein Kamel Wasser im Körper speichern, und genau das hat Joe gemacht, und jetzt ist er Weltmeister im Schwergewicht.« »Was hat Mr. Jackhammer gemeint, als er gesagt hat, daß du ein Kaffernfreund bist, Hoppie?« »Ach Mann, hör nicht auf diesen Gorilla, Peekay. Er versucht mich nur verrückt zu machen. Verstehst du, Joe Louis ist ein Schwarzer. Nicht ein Kaffer wie unsere Kaffern, schwarz ja, aber nicht dumm und schmutzig und ungebildet. Er ist das, was man 'nen Neger nennt, das ist was anderes, Mann. Er ist 'ne Art Weißer mit schwarzer Haut, schwarz oben drauf, weiß unten drunter. Aber dieser Gorilla ist zu dumm, um den Unterschied zu kennen.« Das klang alles sehr kompliziert. Schöne Frauen mit einer Haut wie Honig sollten nicht so gut sein wie wir, und schwarze Männer, die unten drunter weiße Männer waren, sollten genausoviel wert sein wie wir. Die Welt war eine ganz schön komplizierte Sache, jedenfalls was Menschen anging. »Ich hab eine Nanny, die ist genau wie Joe Louis, Hoppie«, sagte ich, als ich das sechste Glas Wasser holte. Hoppie lachte. »Da bin ich aber froh, daß ich heut abend nicht gegen deine Nanny kämpfe, Peekay.« Nach einiger Zeit stand Hoppie auf, ging zu der kleinen Kommode und kam mit einer Maultrommel zurück. Wir saßen eine Zeitlang da, und er spielte Burenmusik. Er konnte es sehr gut, und die klopfenden Rhythmen schienen ihn aufzuheitern. »Eine Maultrommel ist der beste Freund eines Mannes, Peekay. Du kannst sie in die Tasche stecken, und wenn du traurig bist, dann macht sie dich wieder glücklich. Wenn du glücklich bist, kann sie dich sogar zum Tanzen bringen. Wenn du eine Maultrommel in der Tasche hast, brauchst du dich nie um Gesellschaft oder um ein gutes Essen zu kümmern. Du solltest es einmal ausprobieren, es ist ein sicheres Mittel gegen Einsamkeit.« In diesem Augenblick hörten wir ein Geräusch, das klang, als
würden zwei Stahlstücke gegeneinandergeschlagen. »Zeit für dein Abendessen«, sagte Hoppie, schlüpfte ohne Strümpfe in ein Paar Schuhe und zog ein altes Hemd an. Das Abendessen im Eisenbahnerheim war ziemlich gut. Ich bekam Roastbeef und Kartoffelbrei und Bohnen und Büchsenpfirsiche und Eiercreme. Hoppie aß nichts, sondern trank nur ein weiteres Glas Wasser. Andere Esser drängten sich um unseren Tisch, wünschten Hoppie Glück und rissen Witze, und Hoppie stellte mich einigen von ihnen als der nächste Herausforderer vor. Alle sagten sie ihm, daß sie Geld auf ihn gewettet hätten und daß Jackhammer Smit ein Schwächling sei. Fast alle sagten irgendwas: »Gib`s ihm, Hoppie. Bleib von ihm weg, power ihn aus. Er hat eine fette Wampe, also rein in den Bauch. Du kannst ihm die ganze Nacht auf den Kopf boxen, aber der Bauch, das ist sein schwacher Punkt.« Als sie weg waren, sagte Hoppie, daß es alles nette Kerle wären, aber wenn er auf sie hören würde, wär er ein toter Mann. »Weißt du, warum er Jackhammer genannt wird, Peekay?« »Was ist ein Jackhammer, Hoppie?« »Ein Jackhammer wird in Bergwerken dazu benutzt, um Löcher in Felsen zu bohren, er wiegt gut hundert Pfund. Zwei Kaffern arbeiten an einem Jackhammer, der eine hält ihn hinten und der andere in der Mitte fest, wenn sie im Schacht Löcher bohren. Ich sag dir, es ist 'ne verdammt harte Arbeit für zwei starke Kaffern. Smit wird >Jackhammer< genannt, weil er, wenn er will, so 'nen Jackhammer allein bedienen kann. Er hält ihn mit beiden Händen fest und stößt mit dem Bauch dagegen. Was glaubst du, was seine Bauchmuskeln dazu sagen? Ich sag dir, wenn ich diesen Gorilla die ganze Nacht lang in den Solarplexus schlage, dann ist das genauso, als wenn ich gegen eine Ziegelwand boxen würde.« »Ich weiß«, sagte ich aufgeregt, »du hältst den ganzen Abend lang aufs Gesicht, bis ihm ein Auge zuschwillt, dann versucht er die Stelle zu verteidigen, wo er nichts sieht, und dann kommt die Linke, immer wieder, den ganzen Abend, bis das zweite Auge auch zugeht. Und dann wuummm!« Hoppie erhob sich vom Tisch und schaute mich überrascht an. »Wo hast du das her?« »Das hast du mir gesagt, Hoppie. Es stimmt doch, oder? Das hast du doch vor, oder?«
»Psst... Du verrätst ja allen meinen Schlachtplan, Peekay! Mein lieber Mann, du bist ja vielleicht schlau«, sagte er, als wir den Eßsaal verließen. »Du hast nicht gesagt, was mit Jack Sharkey passiert ist?« »Mit wem?« »Als es so heiß war, als Joe Louis gegen ihn kämpfte und soviel Wasser getrunken hat?« »Er hat ihn k. o. geschlagen, ich hab vergessen, in welcher Runde.« Bokkie und Nels holten uns in einem Eintonner-Laster ab, auf dessen Tür »Südafrikanische Eisenbahn, Gravelotte« geschrieben stand. Nels und ich saßen hinten, und Hoppie saß mit Bokkie vorn. Neben mir stand ein kleiner Koffer, in den Hoppie seine Boxerstiefel und rote kurze Hosen aus einem schönen glänzenden Material und einen blauen Morgenmantel gepackt hatte. Hoppie war sehr stolz auf dieses Kleidungsstück. Er hatte es hochgehalten, um mir zu zeigen, daß auf dem Rücken »Kid Louis« in Schreibschrift gestickt war. »Du erinnerst dich doch an die Frau im Cafe in Tzaneen, an die junge?« »Die hübsche?« fragte ich, obwohl ich genau wußte, wen er meinte. »Ja, sie ist wirklich hübsch, oder? Sie hat das mit ihren eigenen Händen gestickt.« »Ist sie deine nooi? Heiratest du sie, Hoppie?« »Ach Mann, jetzt wo Krieg ist und all das, wer weiß.« Er war zur Kommode hinübergegangen und hatte den braunen Umschlag aus der obersten Schublade herausgenommen. Mit einer Ecke des Umschlags schlug er auf seine geöffnete Handfläche. »Das hier ist mein Einberufungsbefehl. Er lag da, als ich heute hier rein kam. Ich muß in den Krieg, Peekay. Ein Mann kann eine Frau nicht bitten, ihn zu heiraten und dann in den Krieg ziehn, das ist nicht fair.« Ich war wie betäubt. Wie konnte ein so netter Mann wie Hoppie für Adolf Hitler kämpfen? Wenn er seine Einberufung bekommen hatte, dann mußte das heißen, daß Adolf Hitler gekommen war und daß Hoppie mit dem Richter in die Armee einträte, die alle rooineks, mich eingeschlossen, ins Meer jagen würde.
»Ist Hitler schon da?« fragte ich ängstlich. »Nein, Gott sei Dank nicht«, sagte Hoppie geistesabwesend. »Wir müssen den Bastard bekämpfen, bevor er hierherkommt.« Er schaute auf und mußte bemerkt haben, wie unglücklich ich aussah. »Was ist denn los, kleiner boetie?« Ich erzählte Hoppie, daß Hitler kommen und alle rooineks über die Lemomboberge ins Meer jagen würde, und wie glücklich alle Buren darüber sein würden, weil die rooineks siebenundzwanzigtausend Frauen und Kinder durch Schwarzwasserfieber und Ruhr getötet hatten. Hoppie kam zu mir herüber, kniete sich neben mich, so daß sein Kopf fast in der gleichen Höhe wie meiner war, und drückte mich an seine Brust. »Armer kleiner Bastard.« Er hielt mich ganz fest umarmt. Dann packte er mich an den Schultern, hielt mich um Armeslänge von sich weg und sah mir direkt in die Augen. »Ich sag nicht, daß die Engländer nicht viele Fragen zu beantworten hätten, Peekay, denn sie sind uns viele Antworten schuldig, aber das ist Vergangenheit. Man kann seinen Haß nicht aus der Vergangenheit nähren, das ist unnatürlich. Hitler ist ein böser, sehr böser Mann, und wir müssen gegen ihn kämpfen, damit du groß werden und Weltmeister im Weltergewicht werden kannst. Aber zuerst müssen wir gegen den Gorilla kämpfen, der mich Kaffernliebchen genannt hat. Ich sag dir was, wir benutzen Jackhammer Smit einfach zum Aufwärmen gegen diesen Bastard Hitler. Einverstanden?« Wir lachten lange, und dann bat er mich, mich zu beeilen und meine Schuhe anzuziehn, und er würde mir zeigen, wie ein echter Kämpfer sich die Schuhe zubindet. Plötzlich hupte draußen ein Auto, und Hoppie sprang auf. Er packte den Morgenmantel mit den anderen Sachen in den Koffer. »Auf gehts, Champion, das sind Bokkie und Nels.« »Einen Augenblick, Hoppie. Fast hätte ich meine Lutscher vergessen«, rief ich und holte sie schnell aus meinem Koffer.
6 Das Rugbyfeld lag am Rande der Stadt an einer staubigen Straße. Als wir dort ankamen, konnte ich den Staub in meinem Mund schmecken. Wir parkten den Laster zwischen all den anderen Autos unter großen alten Gummibäumen, von deren beigen Stämmen die Rinde in grauen Fetzen hing. In der Mitte des Spielfeldes hatten die Eisenbahner einen Boxring aufgebaut, der einen guten Meter über der Rasenfläche aufragte. Die Bergleute, sie waren für die Elektrizität verantwortlich, hatten je zwei riesige Lampen an vier Pfosten installiert, die sie jeweils etwa drei Meter von den Ecken des Boxrings entfernt in den Boden gerammt hatten. Über den Lampen befanden sich riesige Zinnschirme, und in der einbrechenden Dunkelheit war der Boxring taghell erleuchtet. Tausende von Motten und Insekten tanzten um die Lampen herum, winzige Planeten, die hell leuchtende künstliche Sonnen umkreisten. Die Tribünen, die aus stufenförmig angeordneten Bänken bestanden, zogen sich in einem großen Kreis um den Boxring herum. Dadurch hatte jeder eine gute Sicht auf den Ring. Etwa zweitausend Menschen füllten die Tribünen, während unter ihnen die Afrikaner standen oder kauerten und den sitzenden Weißen durch die Beine schauten. So versuchten sie so gut wie möglich, alles mitzubekommen. Bokkie und Nels führten uns in ein großes Zelt, auf dem seitlich in großen Buchstaben "Besitz der Murchinson Consolidated Mines Limited" stand. Als wir eintraten, sahen wir Jackhammer Smit, seine Sekundanten und vier andere Männer, von denen drei normal groß waren und einer kaum größer als ich. Hoppie flüsterte, daß das die Punktrichter seien, "und der Zwerg ist der Ringrichter". Mich faszinierte der winzig kleine Mann mit seinem großen kahlen Kopf. "Er sieht vielleicht ein bißchen blöde aus, aber glaub mir, er versteht sein Geschäft", vertraute mir Hoppie an. Jackhammer Smit trug schon seine schwarzen, glänzenden Boxshorts und weiche schwarze Boxstiefel. In der Enge des Zeltes, das von zwei Sturmlaternen bläulich beleuchtet wurde, wirkte er größer denn je. Als wir hereinkamen, sprach er mit einem seiner Sekundanten. Das Herz fiel mir in die Hose, Hoppie hatte recht, ich sah seine
Bauchmuskeln, als er sich umdrehte, sie sahen aus wie geflochtene Schiffstaue. Seine Schultern überragten drohend die kleineren Männer. "Das ist ein verdammt großer Hurensohn, Peekay", meinte Hoppie. "Moses hat noch in seinem Schilfkörbchen geplappert, als der zum letzten Mal als Halbschwergewicht eingewogen wurde." Er öffnete seinen kleinen Koffer, zog seine Shorts und sein Hemd aus und zog schnell ein Suspensorium über. Er sah zäh und sehnig aus, sein Oberkörper mit den muskulösen Schultern wurde zur Taille hin immer schmaler, seine Beine waren schlank, aber kräftig. Er zog seine glänzenden roten Shorts an und setzte sich auf den Rasen des Zeltbodens, um seine Socken und seine Boxstiefel anzuziehn. Jackhammer Smit stand jetzt uns zugewandt in der gegenüberliegenden Zeltecke. Im Gegenlicht sah er schwarz und riesig aus, und er schlug immer wieder seine rechte Faust in die linke Handfläche, wie ein Metronom, ein lautes, regelmäßiges, klatschendes Geräusch, das das ganze Zelt füllte. Der Ringrichter, der Jackhammer Smit gerade bis zu den Hüften reichte, rief die beiden Boxer zu sich. Ich fragte mich, ob wohl alle Zwerge so tiefe Stimmen hatten. Er fragte sie, ob sie sich die Boxhandschuhe im Zelt oder im Ring anziehen wollten. "Im Ring", sagte Hoppie schnell; "Warum nicht gleich hier?" raunzte Jackhammer. "Das gehört alles zur Show, Bruder", sagte Hoppie grinsend, "'n paar von den Leuten sind von ganz schön weit hergekommen." "Ja, Mann, um 'nen kurzen Kampf zu sehn. Die Scheißhandschuhe anzuziehn, dauert ja länger als der ganze verdammte Kampf." "Okay, Boys, nur keine Aufregung." Der Ringrichter zeigte auf einen großen Karton. "Da sind die Boxhandschuhe drin, zehn Unzen Everlasts von Solly Goldmans Sportclub in Johannesburg. Extra für den Kampf", sagte er mit sichtlichem Stolz. Bokkie ging zu der Schachtel und zog die beiden Handschuhpaare heraus. Dann trat er zu Smits Sekundanten und hielt ihnen beide hin. Jeder nahm ein Paar, prüfte und knetete es zwischen den Knien, bevor sie sich entschieden. Die Handschuhe waren glänzend schwarz. Das Licht der Sturmlaterne spiegelte sich darin, und sogar leer wirkten sie, als wären sie voll in Aktion.
Bokkie hielt Hoppie die Handschuhe zur Prüfung hin. "Schöne Handschuhe, nicht zu leicht", sagte er leise. "Alles klar." Hoppie schlang sich ein Handtuch um den Hals und schlüpfte in seinen Morgenmantel. Schließlich legte Bokkie ihm die zusammengebundenen Handschuhe um den Hals. "Auf geht's", sagte Hoppie und ging auf den Zelteingang zu. Plötzlich bellte Jackhammer: "Was meinst du, Groenewald, ist das okay, daß der Gewinner alles kriegt?" Hoppie drehte sich langsam um und sah den großen Mann an. "Ich möchte dir das eigentlich nicht zumuten, Smit, wie willst du denn deine Krankenhauskosten bezahlen." Er nahm mich an die Hand. "Wenn ich dich heute nacht fertiggemacht hab, dann ist der Kleine da 'n Waisenkind, du Niggerfreund", schrie Jackhammer dem abziehenden Hoppie hinterher. Hoppie drückte mir die Hand und lachte leise. "Ich schätze, das war mindestens zwei Extrarunden wert, Peekay." In der Dunkelheit vor dem Zelt blieb er stehen und faßte mich an den Schultern. "Vergiß das nie, Peekay, manchmal, sehr selten, boxt man am besten mit dem Mund." Ein schmaler Gang, durch den die Kämpfer und ihre Begleiter hereinkamen, trennte die Tribünen auf beiden Seiten des hell erleuchteten Ringes. Man konnte sofort sehen, daß auf der einen Seite des Rings nur Bergleute und auf der anderen Seite nur Eisenbahner saßen, während lachende, aufgekratzte Afrikaner unter den Tribünen zwischen den Beinen der Weißen hindurch zuschauten. Ich war noch nie in meinem Leben bei einer großen Veranstaltung gewesen, und die Spannung in der Menge machte mir ein bißchen angst. Ich hielt Nels Hand fest, als er mich zur obersten Reihe der Tribüne brachte und mich der Obhut von Big Hettie anvertraute. Big Hettie schien die einzige Frau unter den Zuschauern zu sein. Sie war die Köchin in der Eisenbahnerkantine, und Hoppie hatte uns schon beim Abendessen einander vorgestellt. Big Hettie hatte mir eine zweite Portion Pfirsiche mit Vanillesoße gegeben, und Hoppie hatte gesagt, daß ich sie lieber aufessen solle, auch wenn ich schon satt sei, weil Big Hettie ein echtes Schwergewicht sei, die es mit zwei betrunkenen Eisenbahnern aufnehmen könne, selbst wenn sie einen Arm dabei auf dem Rücken behielte.
Big Hettie klopfte auf den Platz neben ihr. "Komm, setz dich her, Peekay. Wir zwei halten zusammen. Wenn dieser große Pavian Kid Louis was antut, dann steigen wir selbst in den Ring und machen den Drecksack fertig", sagte sie und bog sich vor Lachen. Hoppie saß auf einem kleinen Hocker in einer Ecke des Rings, und Bokkie beugte sich über ihn und bandagierte seine Hände. Als Jackhammer Smit den Ring betrat, schaute er nicht auf. Jackhammer blieb in der Mitte stehen und machte eine unanständige Handbewegung in Richtung Hoppie. Die Bergleute jubelten ihm wie verrückt zu. "Ha, das wird 'n toller Kampf!" sagte Big Hettie gutgelaunt. Dann erhob sie sich von ihrem Sitz und schrie mit einer Stimme, die in der ganzen Runde zu hören war: "Leck mich am Arsch, du Riesenpavian!" Es war fast völlig dunkel geworden. Niemand hatte hier mit einer Frauenstimme gerechnet, und für den Bruchteil einer Sekunde war es still. Dann grölte alles vor Lachen. Big Hettie setzte sich wieder, griff in einen großen Korb neben sich und zog einen Flachmann mit Brandy heraus. Sie entkorkte die schlanke Flasche, nahm einen tiefen Schluck und zog eine Grimasse, als ob es ekelhafter Fusel wäre. "Der Affe wird fertiggemacht", sagte sie und korkte die Flasche mit der flachen Hand wieder zu. Beiden Kämpfern waren die Boxhandschuhe angezogen worden, und während Hoppie sich auf den kleinen Schemel setzte, blieb Jackhammer Smit weiter stehen und wirkte groß und hart wie ein Berg. Obwohl ich weiterhin gläubig und voller Liebe an meinem Freund hing, hatte ich genug erlebt, um zu wissen, was es mit Klein gegen Groß auf sich hatte. Groß, so schien mir, war am Schluß immer oben. Ich hatte schreckliche Angst um meinen neuen Freund. "Mein Gott! Sieh dir diesen Spatzenfurz an!" rief Big Hettie und zeigte auf den winzigen Ringrichter. "Wie zum Teufel will der die zwei auseinanderhalten?" "Hoppie sagt, daß er sein Geschäft versteht, Mevrou Hettie", sagte ich. Jackhammer Smit fing an, im Ring herumzutänzeln und gegen einen unsichtbaren Gegner Schläge auszuteilen. Er schien von Minute zu Minute größer zu werden, während Hoppie auf seinem Schemel wie ein kleiner Frosch in der Ecke des Ringes saß. Nels
rieb Hoppies Augenbrauen mit Vaseline ein, und Bokkie gab ihm letzte Instruktionen. Der kleine Ringrichter sagte etwas, und die Sekundanten verließen den Ring. Die Kämpfer gingen in die Mitte. Es wurde ganz plötzlich still. Der Ringrichter stand zwischen den beiden Kämpfern, schaute mit zurückgeworfenem Kopf zu ihnen auf und sagte etwas. Beide nickten, legten kurz ihre Handschuhe aneinander, drehten sich dann um und gingen zurück in ihre Ecken. Die Zuschauer begannen wie wild zu jubeln. Der Ringrichter hielt die Hände hoch und drehte sich einmal langsam im Kreis, um für Ruhe zu sorgen. Sein Kopf reichte gerade über das oberste Seil des Ringes. Bald würde der abnehmende Mond über den Murchinsonbergen aufgehen, aber jetzt war es noch stockdunkel, und nur das Quadrat des Rings mit den drei Männern darin war hell erleuchtet. Es schien, als ständen die beiden Boxer und der Zwerg ganz alleine da, beobachtet von einem Publikum aus Millionen Sternen. Der Ringrichter wandte sich an die Menge, und seine tiefe Stimme war leicht bis zu uns hin zu verstehen. "Dames and Heere, werden wir Zeuge des großen biblischen Dramas von David und Goliath." Er machte eine Pause, damit seine Worte wirken konnten. "Heiliges Jesulein! Der Spatzenfurz hält 'ne Bibelstunde", zischte Big Hettie. Sie nahm einen schnellen Schluck aus dem Flachmann, und der Ringrichter fuhr fort. "Wird die Geschichte sich wiederholen? Wird David Goliath ein weiteres Mal besiegen?" Die Eisenbahner johlten, und die Bergleute zischten und buhten. Der Ringrichter hielt die Hände hoch, um für Ruhe zu sorgen. "Wird Goliath Rache nehmen?" Diesmal johlten die Bergleute und die Eisenbahner buhten und zischten. Wieder erhob der kleine Mann seine Hände, und das Publikum beruhigte sich. "In der blauen Ecke, zweihundertundfünf Pfund schwer, Jakkhammer Smit von den Murchinson Consolidated Mines, Exchampion von Nordtransvaal im Halbschwergewicht. Zweiundzwanzig Kämpfe, elf K.-o.-Siege, elf Niederlagen nach Punkten. Meine Damen und Herren, Beifall für Jackhammer Smit!" Die Bergleute grölten und pfiffen. "Was heißt elf Niederlagen nach Punkten, Mevrou Hettie?" wollte ich wissen.
"Das heißt, daß er 'ne Null ist, der hat nur einen Schlag drauf, halt 'n Schläger", sagte sie, trank noch einen Zug und wischte den Flaschenhals mit der Handfläche ab. "Das heißt, daß er kein echter Boxer ist." Der Ringrichter wandte sich um und zeigte auf Hoppie, der zur Begrüßung die Arme hob. "In der roten Ecke, einhundertfünfundvierzig Pfund schwer, Kid Louis von der Südafrikanischen Eisenbahn, Weltergewicht-Champion von Nordtransvaal und erfolgloser Herausforderer bei der letzten Meisterschaft von Transvaal. Fünfzehn Kämpfe, vierzehn Siege, acht K.-o.-Siege, eine Niederlage." Er räusperte sich und fuhr dann fort: "Ich möchte daran erinnern, daß der Boxer, gegen den er in Pretoria nur knapp nach Punkten verlor, inzwischen südafrikanischer Meister in Kapstadt geworden ist." Mit etwas lauterer Stimme sagte er: "Applaus für den einzigartigen Kid Louis!" Jetzt johlten wir, bis uns der Ringrichter wieder zur Ruhe brachte. Hoppie hatte sich wieder auf den kleinen Schemel gesetzt, während Jackhammer Smit schnaufte und weiter auf einen unsichtbaren Feind einschlug. "Der Kampf geht über fünfzehn Runden, möge der Beste gewinnen." Der Ringrichter hatte sich schon Autorität verschafft und sah überhaupt nicht mehr klein aus. Es war klar, daß die Zuschauer ihn akzeptierten. Er trat an den Rand des Ringes, wo es hell genug war, um drei Männer zu erkennen, die an einem kleinen Tisch saßen. "Kampfrichter, sind Sie bereit?" Sie nickten, und er wandte sich an die beiden Kämpfer. "Wenn die Glocke läutet, beginnt der Kampf, meine Herren." Aus der Dunkelheit heraus tönte die Glocke. Die erste Runde begann. Hoppie sprang auf, Nels zog den Schemel aus dem Ring, und Jackhammer Smit stürmte auf Hoppie los. In der drückenden Hitze war die Luft so unbewegt wie der Atem eines toten Mannes, und der Leib des großen Boxers glitzerte bereits von Schweiß. Ich hatte meinen ersten Lutscher schon ausgepackt und leckte wie immer als erstes die Zellophanhülle sauber. Es war der gelbe, den mir die schöne Inderin mit dem Diamanten im Zahn geschenkt hatte. Das Papier schmeckte leicht nach Ananas, nur noch süßer als eine echte. Hoppie tänzelte um den großen Mann herum, und Jackhammer Smit ließ zwei linke Geraden und rechte Aufwärtshaken los, die
Hoppie meterweit verfehlten. Die nächste linke Gerade wehrte Hoppie mit seinem Boxhandschuh ab und sprang zurück. Hoppie täuschte rechts an, als Jackhammer wieder versuchte, ihm zwei linke Geraden zu verpassen, tauchte weg und bombardierte Jakkhammers Gesicht mit einer beidhändigen Attacke. Zwei Linke, und sofort zwei Rechte hinterher. Die Schläge kamen wie Blitze. Bis Jackhammer Smit seine Fäuste in Position gebracht hatte, um sein Gesicht zu schützen, war Hoppie schon wieder außer Reichweite. Er tänzelte fast die ganze Zeit rückwärts und brachte Smit dazu, ihn durch den Ring zu verfolgen. Hin und wieder schoß er vor, ein Hagel von Schlägen landete am Kopf des Gegners, und dann tanzte er wieder außer Reichweite. Jackhammer verfolgte ihn verbissen und versuchte einen schweren Schlag zu landen, während Hoppie sich damit zufriedengab, blitzschnell links und rechts zuzuschlagen und sich dann so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen. In der ersten Runde landete er ein Dutzend Treffer, die meisten direkt über Jackhammers linkem Auge, während der große Mann Hoppie nur einmal an der Schulter traf. Es war ganz klar, daß Jackhammer Smit Schwierigkeiten mit dem Linksausleger hatte, und er zeigte seine Frustration offen. Die Glocke läutete, die erste Runde war beendet, und die Kämpfer gingen in ihre Ecken zurück. Diesmal setzte sich auch Jackhammer hin und atmete schwer. Er trank gierig aus einer Wasserflasche, die ihm einer seiner Sekundanten an den Mund hielt. Der andere wischte ihn mit einem Schwamm ab, rieb ihn trocken und schmierte Vaseline über sein linkes Auge. Hoppie sah gefaßt aus und atmete leicht. Mit einem gebogenen Röhrchen sog er Wasser aus einer Flasche, spülte sich damit den Mund aus und spuckte es in einen Eimer, den Bokkie ihm hinhielt. Nels massierte ihm die Schultern, und Hoppie nickte zu irgend etwas, was Bokkie sagte. "Gewinnt Hoppie, Mevrou Hettie?" fragte ich ängstlich. "Kann man noch nicht sagen, Peekay. In den ersten Runden ist Kid Louis zu schnell für den großen Kerl, aber eins steht fest, Hoppies Schläge kommen zu kurz, um Smit wirklich weh zu tun." Die Glocke läutete die zweite Runde ein, die ganz ähnlich wie die erste lief, außer daß Jackhammer Smit Hoppie dreimal am Kopf traf, und obwohl es nur leichte Schläge waren, spielten die Bergleu-
te jedesmal verrückt. Nach der zweiten Runde war ein roter Fleck über Jackhammers linkem Auge zu sehen. Während der nächsten drei Runden führte Hoppie Smit im Ring herum, ließ ihn Schläge austeilen, die fast jedesmal danebengingen, kam angesprungen und landete eine Serie von blitzschnellen Kontern, bevor er wieder außer Reichweite sprang. Als die Glocke zur sechsten Runde läutete, schlurfte Jackhammer in die Mitte des Ringes und ließ seine Fäuste dabei langsam vor seiner Brust kreisen. Er kam dem Linkshänder auf die Schliche und brachte Hoppie dazu, ihn in der Mitte des Rings anzugreifen, wo er wie festgewachsen stand. Jackhammer senkte seine Boxhandschuhe und ließ seinen Kopf ungedeckt. Er wußte, daß er alles wegstecken konnte, was Hoppie austeilen würde. Hoppie war gezwungen, so nah heranzukommen, daß Smit ihm in den Bauch und in die Nieren schlagen konnte. Hoppie mußte jedesmal, wenn er herankam, um den Punkt über Jakkhammers linkem Auge zu treffen, ein paar böse Körpertreffer einstecken. Jackhammer grunzte, als er eine linke und eine rechte Gerade in Hoppies Körper bohrte, und der Menge entfuhr, wie aus einem Munde, ein mitfühlender Schmerzenslaut. Am Ende der sechsten Runde war Jackhammers linkes Auge fast zugeschwollen, und auf Hoppies Rippen waren da, wo Jackhammer ihn getroffen hatte, dunkelrote Striemen zu sehen. Beide Männer atmeten schwer, als sie in ihre Ecken zurückkehrten. "Sieht nicht gut aus für Kid. Der Riesenaffe hat seine Zielscheibe gefunden, er wird ihn mit den Körpertreffern fertigmachen. Ich hätt's nie geglaubt, der hat mehr Hirn, als ich ihm zugetraut hab", sagte Big Hettie. Sie zeigte keinerlei Gefühle, sondern kommentierte die Entwicklung des Kampfes, als wäre sie ein gut informierter, aber uninteressierter Zuschauer. "Lassen Sie ihn kein Hirn haben, Mevrou Hettie. Man braucht nämlich Hirn, um zu siegen", sagte ich angstvoll. Big Hettie fächelte sich mit einem grellbunten chinesischen Papierfächer Luft zu, und der Schweiß rann ihr seitlich übers Gesicht und den Hals hinunter. "Er schlägt entsetzlich hart zu, Peekay", sagte sie geistesabwesend. Die Glocke läutete die siebte Runde ein, und Jackhammer schlurfte zurück in die Mitte des Ringes. Man konnte sehen, wie die Hitze ihm zusetzte, und er hielt die Boxhandschuhe noch niedriger
als das vorige Mal. Dadurch blieben große Teile seines Körpers ungedeckt, und Hoppie konnte aus größerer Distanz zuschlagen und härtere Treffer landen. Jackhammers linkes Auge war jetzt geschlossen, und Hoppie fing an, sich das rechte vorzunehmen. Seine linken Geraden trafen jedesmal genau auf den Punkt. Gegen Ende der Runde versuchte er, einen rechten Haken auf Jackhammers Unterkiefer zu landen, genau in dem Augenblick, als der große Mann einen Schritt zurück gemacht hatte, um zu einem Schlag auszuholen. Hoppies Schlag ging daneben, er verlor leicht die Balance, und Smits Aufwärtshaken traf ihn direkt unter dem Herzen. Man konnte sein Grunzen hören, als der Schlag ins Ziel kam, Hoppies Beine knickten unter ihm weg, und er ging zu Boden. "Ach, Scheiße! Das war der eine richtige Schlag. Goliath gewinnt in der siebten Runde", sagte Hettie verärgert, als die Bergleute aufjubelten. Der kleine Ringrichter stand über Hoppie und schrie Jackhammer Smit an, in die neutrale Ecke zu gehen. Aber der große Mann stand einfach schwer atmend da und wartete darauf, daß Hoppie sich erheben und er ihn fertigmachen könnte. Der Ringrichter wollte ihn nicht anzählen, und wertvolle Sekunden verstrichen, während denen der große Mann kampflustig über dem auf dem Boden liegenden Weltergewichtsboxer stand. Jackhammers Sekundanten schrien ihm zu, wegzugehen, und als er es schließlich tat, waren gut dreißig Sekunden vergangen. Der Ringrichter fing zu zählen an. Hoppie erhob sich auf ein Knie und wartete, bis der kleine Mann bis acht gezählt hatte, bevor er ganz aufstand. Der Ringrichter gab das Zeichen, den Kampf fortzusetzen, und Jackhammer Smit schlenderte quer durch den Ring, um Hoppie fertigzumachen. Die fast vierzig Sekunden dauernde Pause hatte ausgereicht, um die Katastrophe zu verhindern, und Hoppie blieb nun ganz einfach außerhalb der Gefahrenzone, während Jackhammer, der bei jedem Angriff weniger Energie hatte, weiterhin wie ein wütender Stier auf ihn losging. Gerade ging die Glocke, als Hoppie einen harten linken Haken auf Jackhammers Auge plazierte und der große Mann noch einmal zu einem verzweifelten Angriff ausholte. "Verdammt, Peekay! Das war echtes Glück. Gedankt sei Jesus Christus, dieser Spatzenfurz kennt die verdammten Regeln, er hätte Kid leicht auszählen können." Big Hettie nahm das Geschirr-
handtuch, mit dem ihr Korb abgedeckt war, und wischte sich damit das Gesicht und den Busen. "Smit ist einfach ein dummer Bure. Dicke Eier und kein Hirn. Hoppie kann seinen Glückssternen dafür danken." In all der Aufregung hatte ich den Lutscher von seinem Stökkchen gebissen und in kleine Stücke gekaut, was seine Lebensdauer um mindestens eine halbe Stunde verkürzte. Auf der Suche nach dem guten Ananasgeschmack leckte ich mit der Zunge das Innere meines Mundes aus. Es könnte lange dauern, bis ich wieder mal einen bekäme. Big Hettie zog eine Thermosflasche aus dem Korb, benutzte den silbernen Schraubverschluß als Tasse, goß heißen, süßen Milchkaffee hinein und reichte sie mir. Dann öffnete sie eine große Kuchenschachtel und gab mir ein riesiges Stück Schokoladenkuchen. Ich bekam fast Stielaugen, das war eine Nacht, die ich so schnell nicht vergessen würde. Wenn Hoppie, mein geliebter Hoppie, es nur schaffte, weit genug von dem Gorilla wegzubleiben. Die Art, wie er um den riesigen Mann herumtänzelte, immer erst in letzter Sekunde einem Schlag ausweichend, erinnerte mich an die Angewohnheit von Granpa Chook, blitzschnell zur Seite zu springen, wenn Steine nach ihm geworfen wurden. Ich hoffte nur, daß Hoppie einen ebenso guten Überlebensinstinkt hatte. Einen Augenblick lang wurde ich traurig. Am Schluß hatte Granpa Chooks gut entwickelter Überlebenstrieb ihm auch nichts mehr geholfen, der große Gorilla hatte ihn schließlich doch erwischt. In der achten Runde änderte sich der Kampf noch einmal. Jakkhammer Smit hatte Hoppie zu lange gejagt. Die Riesenkräfte des Gorillas waren in der Hitze dahingeschmolzen, und er konnte nur noch müde dahinschlurfen. Seine beiden Augen waren fast zugeschwollen. Hoppie traf ihn, wie er wollte, und Jackhammer nahm den kleineren Mann sooft er konnte in den Clinch, was den winzigen Ringrichter dazu veranlaßte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und so laut er konnte "Break!" zu schreien. Die neunte und die zehnte Runde verlief ganz ähnlich, aber Hoppie schien nicht mehr die Kraft zu haben, Jackhammer niederzuschlagen. Am Anfang der elften Runde bekam Smit Hoppie wieder in den Clinch und stützte sich schwer auf den kleineren Mann. Als der Ringrichter herankam, um die beiden zu trennen, trat Jackhammer Smit einen Schritt zurück, und der kleine Ringrichter fiel auf
seinen Hintern. Smit hielt Hoppie immer noch umklammert und gab ihm einen bösartigen Kopfstoß. Wir auf der Eisenbahnerseite konnten das deutlich sehen, aber alle Bergleute und auch der Ringrichter sahen nur, daß Hoppies Beine zusammensackten und der Weltergewichtsboxer zu Boden ging, als sich Jackhammer Smit aus dem Clinch befreite. Dieses Mal ging Smit schnell in die neutrale Ecke, und der Ringrichter, der wie ein Gummiball auf seine Füße sprang, begann, Hoppie auszuzählen. Die Hölle brach los. Die Eisenbahner schrien "Foul!" und kamen mit erhobenen Fäusten von den Tribünen herunter. Als der Ringrichter bis sechs gezählt hatte, verkündete die Glocke das Ende der Runde, und Bokkie und Nels rannten in den Ring, um einem benommenen und schwankenden Hoppie in seine Ecke zu helfen. Eine Menge Eisenbahner standen inzwischen am Ring und schimpften unflätig auf Jackhammer ein. Auch die Bergleute schrien und kamen von ihren Tribünen herunter, es war der reinste Hexenkessel. Jackhammer saß in seiner Ecke und erbrach sich in einen Eimer. Bokkie und Nels versuchten verzweifelt, Hoppie wieder fit zu machen, und hielten ihm ein kleines Fläschchen unter die Nase. Ich hatte angefangen zu weinen, und Hettie zog mich an ihre Brust und stieß laute Beleidigungen gegen Jackhammer Smit aus. "Du Bastard, du dreckiger Bastard, komm morgen in meine Küche, dann schneid ich dich in Stücke, du Hurensohn!" kreischte sie. Ich hörte ihr Herz laut schlagen, und der Geruch nach Brandy in ihrem Atem war überwältigend. Ich hörte schnell wieder zu weinen auf, aber sie drückte mich so fest an ihren wogenden Busen, daß ich fast ohnmächtig wurde. Gott sei Dank ließ sie mich dann los. Sie stand auf und ballte ihre erhobene Faust. Um den Ring herum waren verschiedene Prügeleien im Gange, und der Tisch der Punktrichter war umgeworfen worden. Der Ringrichter stand mit erhobenen Armen in der Mitte des Ringes, sein Kopf leuchtete wie eine Signallampe. Er rührte sich nicht, und das schien eine beruhigende Wirkung auf die Menge auszuüben. Andere Männer kamen dazu, um die Kämpfe um den Ring herum zu beenden, und zerrten ihre Freunde weg. Erst als völlige Ruhe herrschte, bedeutete der Ringrichter den beiden Kämpfern, daß sie
in die Mitte des Rings treten sollten. Hoppie schien sich in der Zwischenzeit wieder völlig erholt zu haben, aber Jackhammer atmete immer noch schwer und sah mit seinen zu schmalen Schlitzen zugeschwollenen Augen schwer mitgenommen aus. Der Ringrichter nahm Hoppies Arm und hob ihn so hoch, wie es ging. "Kid Louis ist Sieger wegen Fouls in der elften Runde", rief er mit lauter Stimme. Die Eisenbahner jubelten und tobten, während die Bergleute wieder von den Tribünen herunterkamen. "Scheiße, das gibt jetzt ein Tänzchen", sagte Big Hettie. Hoppie riß seinen Arm herunter, redete heftig auf den Ringrichter ein und deutete mit dem Boxhandschuh auf den fast blinden Jackhammer. Schließlich hob der Ringrichter seine Arme und sorgte für Ruhe. "Der Kampf geht weiter", rief er, und beide Boxer gingen in ihre Ecken zurück. Die Glocke läutete, bis die Kämpfe am Ring aufhörten und die Männer, noch immer mit erhobenen Fäusten, auf ihre Plätze zurückkehrten. "Dieser Hoppie Groenewald ist so verrückt wie ein Metzgerbeil", verkündete Big Hettie. "Er hatte den verdammten Kampf gewonnen, und jetzt will er noch mal anfangen!" Mit dem Geschirrtuch wischte sie sich eine Träne ab. "Jesus, Peekay, der ist vielleicht mutig, der ist eben 'n echter Ire!" Zehn Minuten verstrichen, bevor die Glocke die zwölfte Runde einläutete, und als es soweit war, war Hoppie wieder voll da, und Jackhammer Smits Sekundanten hatten es zwischen seinen Brechanfällen geschafft, sein linkes Auge wieder halb zu öffnen. Es war kein Kampf. Hoppie tänzelte heran und schlug ihm zwei linke Geraden direkt in das halbgeöffnete Auge, das sofort wieder zuschwoll. Der Rest der Runde war ein Trauerspiel. Jackhammer schützte sein Gesicht mit seinen Boxhandschuhen, und Hoppie hämmerte ihm harte Schläge in den Körper. Die Jahre hinter dem Preßlufthammer machten sich jetzt bezahlt, Jackhammer Smit lehnte sich in die Seile und schluckte alles, was Hoppie ihm servierte. Er stöhnte, als Hoppie einen harten Treffer unter seinem Herzen landete, und öffnete unwillkürlich seine Deckung. Hoppie sah es und plazierte einen perfekten Kinnhaken. Der große Mann sank zu Boden, als die Glocke das Ende der Runde verkündete. Hoppie ging mit hängenden Schultern in seine Ecke zurück. Es war allen klar,
daß er völlig erschöpft war und mehr instinktiv als bewußt kämpfte. Jackhammers Sekundanten stiegen zwischen den Seilen in den Ring, halfen ihm auf die Füße und führten den fast blinden Boxer in seine Ecke. "Heiliger Jesus, sie müssen das Handtuch werfen!" sagte Big Hettie begeistert. "Hoppie hat einen technischen K. o." Mein Herz klopfte wie wild. Jetzt schien es sicher zu sein, daß Klein Groß besiegen konnte, man brauchte dazu nichts als Köpfchen und Geschicklichkeit und Mut und einen Plan. Einen perfekten Plan. Aber wir irrten uns. Die Glocke läutete zur vierzehnten Runde, und Jackhammer Smit erhob sich langsam und schleppte sich in die Mitte des Rings. Hoppie, der zu erschöpft war, um sich in den Pausen zwischen den Runden erholen zu können, war eindeutig erledigt. Er hatte nicht erwartet, daß Jackhammer Smit noch zur vierzehnten Runde antreten würde, und seine extreme Müdigkeit schwächte seinen Willen weiterzukämpfen. Es sah so aus, als bewegten sich beide wie im Traum aufeinander zu. Hoppie landete eine linke Gerade auf Jackhammers Gesicht, dessen Nase sofort wieder zu bluten begann. Dann traf er ihn noch ein paarmal am Kopf, aber seine Schläge hatten keine Kraft mehr. Jackhammer war unfähig, etwas dagegen zu tun, sein Stolz hielt ihn auf den Beinen und zwang ihn, diese Extrabestrafung zu schlucken. Er schaffte es, Hoppie in den Clinch zu nehmen, und lehnte sich schwer auf ihn, um ihm seine restliche Kraft zu nehmen. Als der Ringrichter die beiden Männer aufforderte, sich aus der Umklammerung zu lösen, stieß er Hoppie und schlug ihm gleichzeitig mit einem Schlag auf den Kopf, der diese Bezeichnung gar nicht verdient hatte. Zu unserem Entsetzen und der großen Überraschung der Bergleute ging Hoppie zu Boden, erhob sich aber sofort wieder auf ein Knie und stützte sich mit einer Hand auf dem Boden ab. Jackhammer, der aus dem Schreien der Menge schloß, daß sein Gegner zu Boden gegangen war, senkte seine Boxhandschuhe und bewegte sich vorwärts. Wegen seiner zugeschwollenen Augen sah er den Schlag wahrscheinlich nicht kommen. Hoppies Linke kam mit dem vollen Gewicht seines Körpers von unten heraufgeschossen und traf genau den Punkt auf Jackhammer Smits Kiefer. Für den Bruchteil einer Sekunde schwankte der Riese, dann krachte er ohnmächtig auf den Boden.
"Holzklotz!" schrie Big Hettie in die brüllende Menge. Ich hatte gerade den letzten Zug eines sorgfältig ausgearbeiteten Planes miterlebt, bei dem Klein Groß besiegt. Zuerst mit dem Kopf und dann mit dem Herz. Und ganz am Schluß hatte Hoppie wieder gedacht. Ich hatte die wichtigste Regel gelernt, die zum Siegen gehört... Hör nie auf zu denken! Einen Augenblick lang stand Hoppie über dem bewußtlosen Körper seines Gegners, dann hob er seine Faust zu einer unmißverständlichen Respektsbezeugung für Jackhammer Smit. Er ging langsam in die neutrale Ecke, und der Ringrichter begann, Smit anzuzählen. Bei zehn hatte sich Jackhammer Smit noch immer nicht gerührt. Hoppie drehte sich in seiner Ecke zu uns um und hob in Siegerpose seine Arme. Er schwankte, als Nels den Schemel in die Ecke schob, damit er sich hinsetzen konnte. In meiner Begeisterung sprang ich immer wieder in die Luft und schrie mir das Herz aus dem Leib. Es war der größte Augenblick meines Lebens. Ich hatte wieder Hoffnung. Ich hatte miterlebt, daß Klein über Groß siegen kann. Ich war nicht machtlos. Big Hettie packte mich und hielt mich hoch über ihren Kopf. Im hellen Mondlicht müssen wir gut zu sehen gewesen sein. Hoppie erhob sich schwankend und winkte grinsend mit einem Boxhandschuh in unsere Richtung. Die Sekundanten hatten Jackhammer auf die Füße geholfen, und er stand, von ihnen gestützt, in der Mitte des Ringes. Der Ringrichter rief Hoppie zu sich. Er hielt Hoppies Hand in die Höhe und rief: "Die Bibel hat recht, der kleine David hat es wieder geschafft! Gewinner durch K. o. in der vierzehnten Runde: Kid Louis!" Die Eisenbahner johlten wie die Wahnsinnigen, die Bergleute klatschten sportlich, und langsam begannen sich die Tribünen zu leeren. Als die Boxer den Ring verließen, Jackhammer immer noch von seinen Sekundanten gestützt, kam der Kellner Gert, der im Speisewagen des Zuges die Wetten aufgenommen hatte, in den Ring und zahlte die Wettgelder aus. Es war ein großartiger Kampf gewesen, und selbst die Bergleute waren zufrieden und würden zum Barbecue und Tanz hinterher dableiben. Vier starke Eisenbahner mußten anpacken, um Big Hettie von der obersten Tribüne nach unten zu bringen. Sie hatte die eine Flasche Brandy ausgetrunken und war bereits bei der nächsten. Des-
halb war sie nicht mehr in der Lage, alleine von der Tribüne herunterzukommen. "Mann, den' ham wirs aber hingerieben. Der Junge hat die Flasche richtig durch die Mangel gedreht. Jesus, Peekay. Was für 'n Kampf, was? Ein Goldschatz mit 'nem Herz wie 'n Löwe." Big Hettie sprach Englisch mit einem weichen Akzent, was mich überraschte. "Hoppla!" sagte sie, als sie auf einer Stufe ausrutschte und schwer gegen zwei ihrer Helfer fiel, die sich fast totlachten. Wir gingen zum Ring, wo Gert immer noch auszahlte. Big Hettie hielt sich mit einer Hand an meiner Schulter fest, als ob ich ein menschlicher Spazierstock wäre. "Ich sprech immer Irisch, wenn ich zuviel Brandy intus hab. Mein lieber Vater, Gott hab ihn selig, pflegte immer zu sagen: >Meine Liebe, nur die irische Sprache ist glatt genug für 'n anständigen Trinker, wenn er 'n paar gehoben hat.< Und er hatte recht, man kann nicht richtig besoffen werden, wenn man das verdomde Afrikaans spricht!" Ich sagte nichts. Hoppie mußte Big Hettie gesagt haben, daß ich ein rooinek war, aber ich wollte nichts riskieren. Ich sah keinen Sinn darin, sie wissen zu lassen, daß sie einen Feind oder vielleicht sogar einen Freund neben sich hatte. Am Rand des Ringes standen die Männer Schlange, um ihr Geld zu kriegen. Als wir näher kamen, brüllte Big Hettie Gert zu und fiel dabei zurück ins Afrikaans: "Du nichtsnutziger skelm! Wo is mein Fünfer?" Afrikaans zu sprechen, schien die sofortige Ernüchterung zur Folge zu haben. Sie marschierte dreist zum Anfang der Schlange. Gert zog fünf Ein-Pfund-Noten aus seiner Tasche und reichte sie ihr hinunter. "Vielen Dank, Hettie", sagte er höflich. Big Hettie zwinkerte zu ihm hoch und meinte: "Und vergiß unser kleines Geschäftchen nich', mein Junge. Drei Kästen Lagerbier für die Kantine, morgen abend. Bring sie früh genug, damit ich sie noch auf Eis legen kann." "Du hast zwei Kästen gesagt", jammerte Gert. o "Der Afrikaner in mir hat zwei gesagt, aber der Kampf war so gut, der Ire in mir sagt drei. Du hast sowieso guten Reibach gemacht, die Wetten standen gegen Hoppie." "Schscht! Ich hab gar nicht so gut verdient, in letzter Minute haben viele auf Hoppie gesetzt."
"Alter Arsch! Du bekommst bis Weihnachten kein Steak mehr, wenn du nicht drei Kästen für die Jungs bringst." Jetzt wirkte Big Hettie wieder völlig nüchtern. "Die Leute trauen sich zu wetten, wenn du in der Nähe bist, Hettie", sagte Gert grinsend und wandte sich wieder seinen anderen Kunden zu. Gerade als wir zum Zelt kamen, kam Hoppie heraus und war sofort von Eisenbahnern umringt. Er sah gut aus, hatte nur ein großes Pflaster über dem linken Auge, da wo Jackhammer Smit ihn erwischt hatte. Na, vielleicht so gut auch wieder nicht, im Licht konnte man sehen, daß sein rechtes Auge geschwollen war und dunkelrot anlief. Bokkie und Nels standen neben ihm. Beide redeten wie ein Wasserfall und boxten in die Luft, um dem andern die wichtigsten Momente des Kampfes noch einmal vor Augen zu führen. Immer mehr Eisenbahner scharten sich um Hoppie, und ich war zu klein, um ihn noch sehen zu können. Big Hettie packte mich und hob mich hoch. "Macht Platz für den nächsten Herausforderer", hörte ich Hoppie rufen. Viele Hände griffen nach mir, und ich wurde über die Köpfe der Männer zu ihm hingehoben. Hoppie zog mich nah an sich heran und umarmte mich. "Wir haben es dem Gorilla gezeigt, was, Peekay?" "Ja, Hoppie." Plötzlich fühlte ich, wie ich weinen mußte. "Klein kann Groß besiegen, wenn man einen Plan hat." Hoppie lachte. "Das stimmt, Mann. Aber heute nacht dachte ich schon, es würde nicht klappen." "Das werd ich nie vergessen, zuerst mit dem Kopf und dann mit dem Herzen." Ich umarmte seine Beine. Hoppie fuhr mir mit der Hand durchs Haar. Das letzte Mal, als das jemand bei mir gemacht hatte, war mir dabei Scheiße auf den Kopf gerieben worden. Jetzt fühlte es sich warm und gut an. Der Zug würde erst in drei Stunden weiterfahren, und die meisten Zuschauer waren dageblieben, um sich nach dem Kampf mit ihren Frauen beim tickie-draai-Tanz zu treffen. Jetzt vermischten sich Bergleute, Eisenbahner und Fahrgäste, und die feindselige Stimmung, die während des Kampfes geherrscht hatte, war vergessen. Nur die Schwarzen gingen nach Hause, weil sie keine Eintrittskarten hatten und sowieso nicht bleiben durften.
Mit dem großen Stück Schokoladenkuchen von Big Hettie im Bauch schaffte ich kaum die beiden Würstchen und das Kotelett. Ich ließ sogar etwas Fleisch am Knochen und verfütterte es an einen Hund. Er muß geglaubt haben, daß Weihnachten sei, denn von da an wich er mir nicht mehr von der Seite. Es war eine nette alte Hündin, auch wenn sie etwas zerzaust aussah von den vielen Jungen, die sie geboren hatte, ihre Zitzen schleiften fast auf dem Boden. Sie ging langsam, wie alte Hunde das tun, und nach kurzer Zeit hatte ich das Gefühl, daß wir uns schon ewig kannten. Ein Ohr war zerfetzt, und ihr linkes Lid hing schlaff übers Auge, wahrscheinlich von einem Kampf oder so was. Sie hatte eine schöne gelbliche Farbe und einen braunen Fleck auf dem Hintern. Es war ein langer Tag gewesen, und ich begann müde zu werden. Ich war noch nie so lange aufgeblieben, wenn ich glücklich war. Hoppie fand mich und den Hund an einen großen Gummibaum gelehnt und gerade im Begriff einzudösen. Er hob mich auf und trug mich zum Lastwagen. Ich war zu müde, um mitzukriegen, ob die alte Hündin uns folgte. Big Hettie saß hinten im Laster und füllte mit ihrem riesigen Körper den Rücksitz fast vollständig aus. Sie hatte einen neuen Flachmann und dirigierte damit das Lied: »Wenn irische Augen strahlen, dann ist das wie der Morgenwiiind!« Ich war überrascht, was für eine krächzende Stimme sie hatte. Ich hatte noch nie eine Frau getroffen, die nicht singen konnte. »Psst! Hettie, der Nachwuchsboxer muß schlafen«, sagte Hoppie. Big Hettie hörte zu singen auf und sagte: »Mein lieber Junge, komm und gib Hettie einen dicken Kuß.« Es war das letzte, an was ich mich erinnerte. Big Hettie sprach Irisch. Ich vermute, sie war wieder betrunken.
7 In der Morgendämmerung erwachte ich durch das mir inzwischen vertraute Rattern des Zuges. An der Farbe des Lichts, das durch das Abteilfenster hereinfiel, erkannte ich, daß es die Zeit war, zu der Granpa Chook ans Schlafsaalfenster zu kommen pflegte und
sich die Seele aus dem Leib krähte. Das Licht, das durch das Fenster hereinkam, war noch sanft mit einem grauen Schimmer. Bald würde die Sonne aufgehen und es so lang polieren, bis es richtig glänzte. Die Landschaft hatte sich ein wenig verändert. Das hügelige Grasland von gestern wurde jetzt hin und wieder von einem kleinen Berg unterbrochen, felsige Auswüchse mit dunkelgrünem Buschwerk bewachsen und nicht höher als dreihundert Meter. Öfter als gestern sah man schirmförmige Blaue Gummibäume, und in der Ferne war der Himmel über einer gestochen scharfen Gebirgskette purpurrot gefärbt. Jetzt kamen wir ins richtige lowveld. Ich setzte mich auf und sah einen zusammengefalteten Zettel, der vorn an meinem Hemd festgesteckt worden war. Als ich die Sicherheitsnadel geöffnet hatte, fielen mir ein Stück Papier und eine Zehnschillingnote entgegen. Ich war ganz schön verblüfft. Ich hatte noch nie einen Geldschein in der Hand gehabt, und ich konnte mir kaum vorstellen, daß er mir gehören sollte. Wenn ein Lutscher einen Penny kostete, konnte ich mit diesen zehn Schillingen einhundertvierundzwanzig Lutscher kaufen. Auf das Papier hatte Hoppie sorgfältig in Druckbuchstaben geschrieben: Lieber Peekay, hier ist das Geld, das Du gewonnen hast. Wir haben dem großen Gorilla gezeigt, wer der Boß ist. Klein kann Groß besiegen. Aber vergiß nie, daß man einen Plan haben muß. So wie ich Jackhammer Smit k. o. geschlagen habe, als er dachte, ich würde ausgezählt. Denk immer daran, zuerst mit dem Kopf und dann mit dem Herz. Ohne diese beiden sind alle Pläne wertlos! Vergiß nicht, Du bist der nächste Herausforderer. Viel Glück, kleiner boetie. Dein Freund im Boxen und überhaupt Hoppie Groenewald P. S. Sag Dir stets: »Erst mit dem Kopf und dann mit dem Herz, so geht es immer siegeswärts.« H. G.
Ich war sehr traurig, daß ich dem besten Freund, den ich neben Granpa Chook und Nanny jemals gehabt hatte, nicht einmal auf Wiedersehen sagen konnte. Hoppie war so schnell wieder aus meinem Leben verschwunden wie ein Zug, der in der Nacht vorbeifährt, ich hatte ihn kaum vierundzwanzig Stunden gekannt, und trotzdem hatte er es geschafft, mein Leben zu ändern. Er hatte mir die Augen für die Kraft geöffnet, die in einem selbst steckt, er hatte mir eine Idee geschenkt, ein Herz, einen Geist, einen Plan, ein Ziel. Hoppie hatte meinen Wunsch verstanden zu wachsen, mein Bedürfnis, davon überzeugt zu werden, daß die Welt um mich herum nicht eigens darauf ausgerichtet war, mich zu vernichten. Er hatte mir eine Verteidigungsstrategie geschenkt, und damit gab er mir zugleich auch Hoffnung. Am frühen Morgen klang das Klackern der Wagenräder lauter als nachts. Nur wenn ich mich sehr konzentrierte, hörte ich jemanden atmen. Zuerst das Einatmen, tief und fast klagend, dann herrschte ein paar Augenblicke lang völlige Stille, und dann kam ein kräftiger Pfeifton, als ob eine große Menge Luft ausgeatmet würde. Zuerst dachte ich, diese Geräusche gehörten zum Zug, denn schließlich war ich kein großer Eisenbahnexperte. Aber dann begann ich zu vermuten, daß der pfeifende Laut etwas mit dem Geruch im Abteil zu tun hatte. Er war so stark, daß ich mir die Nase mit dem Bettlaken zuhalten mußte. Ich hielt mir die Nase zu und spähte über die Bettkante. Im Bett unter mir lag Big Hettie in voller Montur. Sie schnaufte im Schlaf wie ein gestrandeter Pottwal. Bei jedem Einatmen hoben sich ihr Busen und ihr Bauch, bis beide fast die Unterseite meines Bettes berührten. Puh! Was für ein Gestank! Ihr Arm ragte aus dem Bett heraus, ihre Hand war fest auf den Boden gestützt, um zu verhindern, daß sie herausfiel. Auf dem Bett ihr gegenüber lagen ein kleiner Koffer und ein sehr großer, aus Weiden geflochtener Deckelkorb. Big Hettie und ich hatten das Abteil für uns allein. Und das hieß, Big Hetties nach Alkohol stinkender Atem füllte es von oben bis unten aus, und ich wußte, daß es mit mir vorbei wäre, wenn ich in meinem Bett bliebe. Ich rutschte zum Fußende und schaffte es, das Abteilfenster zu öffnen. Ich setzte mich so nah wie möglich ans Fenster und sog die hereinströmende frische Luft ein. Als meine Nase schließlich eiskalt war, zog ich meinen Kopf zurück, holte das Taschentuch aus mei-
ner Tasche, faltete Hoppies Brief und den Zehnschillingschein und knüpfte sie zusammen mit Großvaters Schilling in das Taschentuch ein. Dann steckte ich das Tuch mit der Sicherheitsnadel wieder in meiner Tasche fest und fühlte mich geradezu gefährlich reich. Ich hangelte mich von meinem Bett herunter und schaffte es, auf dem Boden zu landen, ohne Big Hettie zu berühren. Beim Gedanken, sie aufzuwecken, klopfte mein Herz wie wild, aber mir wurde bald klar, daß sie im tiefsten Schlaf lag. Die Abteiltür stand einen Spalt weit offen, und ich zog sie mit beiden Händen so weit auf, daß ich auf den Gang hinausschlüpfen konnte. Das Gangfenster gegenüber der Tür war halb offen, und wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, konnte ich meine Nase in die frische Luft stecken. Ich stand da und schaute zu, wie der Morgen kam. Im lowveld kann es vor Sonnenaufgang sehr kalt sein, und da ich keine Decke hatte, fing ich bald an zu zittern. Ich versuchte die Kälte zu vergessen und konzentrierte mich auf das Klackern der Wagenräder. Ich hörte plötzlich, wie die Räder zu mir sprachen: Misch den Kopf mit dem Herz, dann gehts immer siegeswärts. Misch den Kopf mit dem Herz, dann gehts immer siegeswärts. So sangen die Räder, bis mein Kopf in den hämmernden Rhythmus einfiel. Das war der Plan, den ich den Rest meines Lebens befolgen würde. Es war einer der geheimen Bestandteile, aus denen die Kraft in einem selbst entsteht. Es wurde zu kalt, um bei offenem Fenster im Gang stehenzubleiben, deshalb ging ich zum Wagenende und setzte mich bei geschlossener Tür auf die Toilette. Dann mußte ich pinkeln, und anschließend bediente ich die Spülung. Im Inneren der Toilettenschüssel öffnete sich eine Falltür direkt auf die Gleise. Das Geräusch der Räder stieg zu mir auf, und ich sah vorbeisausende Kieselsteine und Schwellen. Da stand ich, die Hand fest auf dem Griff der Spülung, und dachte an Scheiße. Seit der Geschichte mit dem Richter hatte ich immer mal wieder darüber nachgedacht. Im Internat machten wir in Tonnen, die einmal pro Woche abgeholt und durch leere ersetzt wurden, die nach Desinfektionsmittel rochen. Ich hatte oft überlegt, wo sie das ganze Zeug hinbrachten. Jetzt wußte ich, wie die Eisenbahner dieses Problem erledigten. Selbst in der Toilette wurde es zu kalt, und ich ging zurück ins Abteil. Als ich die Schiebetür zurückschob, sah ich das Mißgeschick, das Big Hettie in der Zwischenzeit ereilt hatte. Der Arm, der
sie die ganze Nacht gestützt hatte, war schließlich doch zusammengeklappt, und jetzt lag sie mit der oberen Hälfte ihres riesigen Körpers auf dem Boden, während ihre Beine noch in dem schmalen Abteilbett steckten. Ihr Rock war hochgerutscht und verdeckte ihr Gesicht. Bei jedem Einatmen wurde es gegen ihren Mund gesaugt, und bei jedem Ausatmen bauschte es sich wie die Halskrause einer Krageneidechse. Ihre riesigen Beine, bläulichweiß und von Krampfadern durchzogen, ragten aus einer gewaltigen rosa Unterhose heraus, die fast bis zu den Knien reichte. Ich sah, wie ihr Gesicht immer röter anlief, und kleine Blasen bildeten sich in ihren Mundwinkeln. Ich versuchte, sie zu wecken, indem ich heftig an ihr rüttelte. »Wachen Sie auf, Mevrou Hettie«, bat ich sie, aber sie grunzte nur, atmete ein, war still und atmete pfeifend wieder aus. Mir wurde klar, daß sie schlecht in dieser verdrehten Stellung halb innerhalb und halb außerhalb des Bettes liegenbleiben konnte, aber sie zurück ins Bett zu heben, schien mir völlig unmöglich. Ich kletterte über sie hinweg auf ihre Koje, und mit all meiner Kraft schaffte ich es, ihre Beine aus dem Bett zu schieben. Sie landeten mit einem lauten Plumps auf dem Boden, und ich war sicher, daß sie davon aufwachen würde. Ihr riesiger Körper füllte jetzt jeden Zentimeter zwischen den Betten aus, so als sei sie in einer Sardinenfabrik in Portugal eingedost worden, aber sie wachte nicht auf. Die starke Rötung ihres Gesichts ging bald zurück, und während sie weiterhin Pfeiftöne von sich gab, hörte das Schnaufen auf. Das sah ich als ein gutes Zeichen an. Ich kletterte auf ihren Bauch und zog eine Decke von ihrem Bett herunter. Ich streifte ihr Kleid nach unten, breitete die Decke über ihr aus und schaffte es sogar, ihr ein Kissen unter den Kopf zu schieben. Sie seufzte leise und gab einen Mordsrülpser von sich, der mich fast umgebracht hätte. Junge, was für ein Gestank! Die Decke war nicht groß genug, um sie ganz zuzudecken: Sie sah aus wie ein kleines blaues Zelt, das ihre Brust und ihren Bauch bedeckte und einen Teil der Beine. Das Big-Hettie-Zelt war in der Mitte des Abteils aufgeschlagen, atmete ein, atmete aus und pfiff. Ich wickelte mich in die andere Decke und hielt meine Nase ans offene Abteilfenster. Die Sonne stieg über den Lebombobergen auf, und die afrikanische Landschaft funkelte, als steckte sie in einer Kristallglocke.
Plötzlich rappelte es an der Tür, und ein einziges scharfes Wort ertönte: »Schaffner!« Daraufhin wurde die Tür aufgezogen, und ein kleiner Mann erschien, der genau so eine dunkelblaue Uniform trug wie Hoppie. Allerdings sah dieser Mann sehr gepflegt aus, und seine Stiefel waren spiegelblank. Auf dem blau-weißen Emailleabzeichen an seiner Kappe stand: South African Railways - Suid Afrikaanse Spoorweg, aber wo bei Hoppie das Wort »Schaffner« in der Mitte gestanden hatte, stand auf diesem Schild »Zugführer«. Der Mann in der Abteiltür hatte einen dünnen schwarzen Schnurrbart, der aussah, als sei er mit einem Stift aufgemalt. Sein unfreundlicher Gesichtsausdruck ließ vermuten, daß das Leben ihm schon böse mitgespielt hatte. Er sah auf das Big-Hettie-Zelt herab dessen Kopf nur ein paar Zentimeter von seinen polierten Stiefeln entfernt lag. »Was ist denn hier los?« fragte er. »Mevrou Hettie ist aus dem Bett gefallen, Meneer«, antwortete ich mit ängstlicher Stimme. »Warum ich? Warum immer ich? Warum immer Pik Botha, warum nicht jemand anderes? Was hab ich jemals einem anderen angetan?« Er sah mich direkt an. »Gehört ihr zusammen?« fragte er mit anschuldigender Stimme. Bevor ich antworten konnte, faßte er sich mit Zeigefinger und Daumen an eine seiner gerunzelten Augenbrauen und korrigierte sich jammernd selbst. »Nein, natürlich nicht. Das ist Big Hettie.« Er schnappte nach Luft, als ihm die volle Tragweite seiner Erkenntnis bewußt wurde. »Großer Gott! Big Hettie in meinem Zug!« Er klang, als würde er gleich zu weinen anfangen. »Was mach ich bloß, Mann!« jammerte er. »Ich, ich weiß es nicht, Meneer. Als ich wach wurde, war sie einfach da.« Pik Botha schnaufte und warf den Kopf zurück. »Also, ich sag dir was, so kann sie nicht liegenbleiben!« Er sah angeekelt auf die schlafende Frau, streckte dann seine Hand ins Abteil und beugte sich dabei leicht über Big Hettie. »Wo ist deine Fahrkarte? Gib sie mir, mein Junge«, sagte er. »Hier, Meneer.« Ich machte mir eilig an der Sicherheitsnadel zu schaffen, mit der Hoppie die Fahrkarte an dem frischen Hemd festgesteckt hatte. »Gib sie her, ich kann nicht über diese tote Kuh klettern.« Ich
krabbelte über das Bett, und mit weit ausgestrecktem Arm reichte ich ihm die Karte. »Diese Fahrkarte ist nicht gelocht«, sagte er vorwurfsvoll. »Gott weiß, wo du diesen Zug bestiegen hast. Ich bin kein Gedankenleser. Diese Fahrkarte ist nicht gelocht, Mann!« »Ich wußte nicht, daß sie gelocht werden muß, Meneer«, sagte ich ängstlich. »Das ist dieser verdomde Hoppie Groenewald, das hat er extra gemacht, damit ich mehr Arbeit hab. Es ist ein Vergehen, Fahrkarten nicht zu lochen. Nur weil er zur Armee geht, denkt er, daß er machen kann, was er will. Was glaubt er denn, wer er ist, Mann? Was denkst du, was passieren würde, wenn das alle so machen würden?« »Bitte, Meneer, Hoppie hat alle Fahrkarten gelocht. Nur meine hat er vergessen, großes Ehrenwort!« Ich flehte ihn an, weil ich fürchtete, daß Hoppie wegen mir Schwierigkeiten bekommen würde. »Uff! Es würde mich nicht wundern, wenn er schmutzige Kaffern kostenlos mitnähme und dann mit ihren Frauen herummacht. Er ist nicht verheiratet, mußt du wissen. Zuerst verlier ich ein Pfund und zehn Schilling, weil ich auf diesen Affen von den Bergleuten setze, und dann geht jemand rum, der sich nach einem Niggerboxer nennt, und knipst die Fahrkarten nicht.« Er machte eine Pause und räusperte sich. »Ich fürchte, es ist meine Pflicht, darüber Meldung zu erstatten«, sagte er und preßte seine Lippen so stark zusammen, daß sein dünnes Bärtchen wie eine schnurgerade Linie aussah. »Bitte, Meneer, er haßt Kaffern genauso wie Sie. Bitte melden Sie es nicht.« »Schon gut, du bist sein Freund. Du würdest alles sagen.« Er machte eine Pause. »In Ordnung, ich bin ein fairer Mann, das wird dir jeder bestätigen. Aber merk dir, was ich dir sage. Das nächste Mal kriegt Hoppie Groenewald große Schwierigkeiten, oder ich heiße nicht Pik Botha.« Er zog eine Lochzange aus seiner Weste und lochte meine Fahrkarte. »Vielen Dank, Meneer Botha, Sie sind ein sehr netter Mann.« »Damit schade ich nur mir selbst, mein Junge! Wenn man anderen hilft, kriegt man nur einen Tritt ins Gesicht. Aber ich bin Christ und kein rachsüchtiger Kerl. Die Bibel sagt: Die Rache ist mein,
spricht der Herr, aber manchmal«, er stieß Big Hettie mit der Spitze seiner glänzenden Stiefel an, »manchmal ist das Kreuz, das der Herr mir aufbürdet, ganz schön schwer zu tragen.« Er gab Big Hettie noch weitere Stöße. »Wach auf, alte Kuh! Dieses Abteil gehört der Südafrikanischen Eisenbahn, und in den Bestimmungen steht, daß kein Reisender auf dem Fußboden liegen darf. Los, wach auf! Du verstößt gegen die Bestimmungen, wenn du daliegst wie eine tote Kuh.« Schnaufen, Seufzen, Einatmen, Stille, Ausatmen, Pfeifen, Schnaufen war alles, was er als Antwort erhielt. »Komm, mein Junge, ich bring dich zum Frühstück, das gehört zu deiner Fahrkarte dazu.« Das Frühstück war wieder ein Festessen mit Speck und Eiern, mit Toast, Marmelade und Kaffee. Für die anderen Reisenden war es noch zu früh, und ein Kellner namens Hennie Venter servierte uns. Er war sehr zufrieden mit sich, denn er hatte fünf Pfund mit dem Kampf gewonnen. Pik Botha - offenbar hatte er vergessen, daß er mir von den verlorenen ein Pfund und zehn Schilling erzählt hatte-hielt dem Kellner einen langen Vortrag über die Sünde des Boxens und die noch größere Sünde, auf einen der Boxer Geld zu setzen. Schließlich fragte er Hennie, ob er sich schäme und ob er sein Verhalten bereue. Hennie stellte einen Teller mit frischem Toast, der von einer Leinenserviette warmgehalten wurde, vor ihm ab: »Nein, Meneer Botha, denn Wetten ist nur dann eine Sünde, wenn man verliert, weil man nicht die eigenen Leute unterstützt hat, sondern die Gegenseite.« Er hob die silberne Kaffeekanne und füllte die Tasse des Zugführers nach. »Er ist nur ein einfacher Eisenbahner, aber dreist wie ein Alter, junge Leute kennen einfach ihren Platz nicht mehr. Bring neuen Kaffee, Mann, merkst du denn nicht, daß der Kaffee in der Kanne schon völlig kalt ist?« schrie Pik Botha. Als wir zum Abteil zurückkamen, pfiff und schnaufte Big Hettie immer noch. Pik Botha, den das Frühstück etwas milder gestimmt hatte, bearbeitete sie nicht mehr mit seiner glänzenden Stiefelspitze. »Weißt du, sie ist keine echte Afrikanerin. Ihr Vater war ein Ire, der gern zu tief ins Glas geschaut hat. Trunksucht ist eine Sünde, die vererbt wird. In der Bibel steht, die Sünden der Väter werden bis ins
dritte und vierte Glied weitergegeben.« Nun versetzte er Big Hettie einen heftigen Stoß. Dann meinte er: »Da liegt ein gutes Beispiel für Gottes fürchterliche Rache.« »Quatsch!« sagte Big Hettie plötzlich, öffnete ein Auge und sah zu uns hoch. »Du blöder Arsch! Du mieser bibelverdrehender, doppelzüngiger Bastard! Wahrscheinlich hast du mir schon längst unters Kleid geguckt, was? Zieh mich hoch, du selbstgerechter kleiner Scheißhaufen! Zieh mich sofort hoch!« »Das hab ich nicht! Ist ja gar nicht möglich! Ich müßte ja über dich drüberklettern, um so was zu machen, außerdem liegt 'ne Decke über dir«, jammerte Pik Botha. »Heilige Mutter Gottes! Mein Kopf tut mir weh. Ich brauch Wasser, mein Mund schmeckt wie 'n indisches Klo während der Mangozeit.« »Du sollst den Namen des Herrn nicht aussprechen ohne Not«, zischte Pik Botha. Big Hettie ignorierte ihn. »Ich brauch ein Glas Wasser, Peekay, oder ich sterbe.« »Dann muß ich über Sie klettern, Mevrou Hettie. Das Glas und das Waschbecken sind auf der anderen Seite.« »Kletter rüber, Schätzchen. Und nimm auch die Decke weg, mir ist viel zu heiß.« Ich kletterte über Big Hettie, und als ich auf der anderen Seite angekommen war, zog ich ihr die Decke vom Leib. Ich kroch zum Fenster, nahm ein Glas aus der verchromten Halterung, klappte die Tischplatte hoch und füllte am darunterhängenden Waschbecken das Glas halb voll mit Wasser. Ich mußte mich auf Hetties Brust setzen, um es ihr zu reichen, und sie trank gierig. Sie trank drei Gläser, bevor sie genug hatte. »Vielen Dank, Schätzchen«, lächelte sie, »du hast mir das Leben gerettet.« »Der Lohn der Sünde ist der Tod!« stieß Pik Botha hervor. Big Hettie drehte ihm halb den Kopf zu und sagte: »Großer Gott, allein der Gedanke, daß ich auf dem Fußboden eines Zweiteklasseabteils der Südafrikanischen Eisenbahn unter der inkompetenten Leitung dieses jammernden Arschlochs namens Pik Botha sterben könnte!« Sie machte eine kurze Pause. »Der sich für einen Mann hält und bei Boxkämpfen dann gegen seine eigenen Leute wettet!« »Wir leben in einer freien Welt! Woher soll ich wissen, daß der Riesenaffe ein Kinn aus Zucker hat?« protestierte er weinerlich.
»Kinn aus Zucker! Was soll das heißen, Kinn aus Zucker, du kleines Arschloch! Hoppie Groenewald hat ihn fair und klar geschlagen!« Big Hetties Gesicht war vor Wut rot angelaufen, und sie schlug ihren Kopf immer wieder aufs Kissen. »Oh, mein Kopf, gib mir ein nasses Handtuch, Peekay, ich glaub, mein Kopf explodiert.« Ich kroch zum Waschbecken, nahm das Handtuch, das daneben hing, und zog es durch das kalte Wasser. »Wring es gut aus, Peekay«, rief Pik Botha, »ich kann nasse Handtücher nicht dulden. Diese Handtücher sind Eigentum der Südafrikanischen Eisenbahn und dazu da, um sich abzutrocknen, nicht um sich naß zu machen.« »Ja, Meneer Botha«, antwortete ich. Ich war plötzlich dankbar, daß der Richter mich mit der Eisenstange gefoltert hatte, denn dadurch konnte ich das kleine Handtuch kräftig auswringen. Ich saß auf Hetties Brust, faltete das feuchte Tuch, bis es die richtige Größe hatte, und legte es ihr auf die Stirn. »Dankie, liefling«, sagte sie. Dann wandte sie sich wieder an Pik Botha. »Na? Hast du dir schon überlegt, wie du mich hochkriegst, domkop?« »Bitte sprich nicht so mit mir, Hettie. Ich bin ein Eisenbahnbeamter mit höherem Dienstgrad und habe schon siebzehn Dienstjahre hinter mir. Dieser ganze Zug untersteht meinem Kommando, und alle Leute müssen genau das tun, was ich ihnen sage. Ich fordere von dir mehr Respekt!« Pik Botha sah aus, als müsse er jeden Augenblick losweinen. »Zuerst muß ich mal in das Abteil reinkommen, das ist nur möglich, wenn ich über dich drüberklettere.« »Dann zieh dir erst die Stiefel aus.« Pik Botha hockte sich auf den Gang und begann, sich die Schnürsenkel aufzubinden. Von da, wo ich saß, konnte ich sehen, wie er seine Stiefel auszog und sie, die Schuhspitzen in Richtung Gang, an die Außenwand des Abteils stellte. Er streckte ein Bein über Big Hetties Körper, um auf das Bett zu kommen, ohne über sie steigen zu müssen. Seine Zehen wibbelten in dem gut gestopften schwarzen Strumpf wie eine Schweineschnauze, während sie versuchten, den Rand des Bettes zu erreichen. Ein größerer Mann mit längeren Beinen hätte es wahrscheinlich geschafft, aber Pik Bothas großer Zeh blieb bei aller Anstrengung weit von seinem Ziel entfernt. »Es geht nicht, Hettie«, sagte Botha traurig.
»Versuch's doch rückwärts, du Dummkopf! Los, rückwärts rein, mit den Füßen zuerst.« Mit den Händen flach auf dem Boden des Ganges, kroch Pik Botha rückwärts in das Abteil. Er stellte einen Fuß auf eine von Big Hetties Brüsten, dann folgte der andere. Er kroch langsam über ihren Bauch, bis er gezwungen war, sich mit beiden Händen auf ihren Schultern abzustützen. Sein Kopf war nur ein paar Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, da ließ Big Hettie einen gewaltigen Rülpser los. Der aufsteigende Gestank sog alle Kraft aus Pik Bothas Armen, und er brach auf dem Fleischberg zusammen. Big Hettie atmete keuchend aus. »Entschuldigung!« sagte sie, fing dann an zu kichern und wabbelte wie ein Berg Sülze. »O Gott, Jesus! Ha... ha... ha..., Gott sei mir gnädig, hi, hi, versuchst du, mich zu vögeln... oder mir zu helfen? Haha..., huhuhu..., auf jeden Fall machst du es furchtbar schlecht!« Big Hettie schnaufte noch zweimal, dann fiel ihr Kopf erschöpft auf das Kissen zurück. »Ach, ich sterbe«, seufzte sie und wischte sich die Tränen ab. Pik Botha drückte sich jetzt mit beiden Händen von Big Hetties Schultern ab und hob seinen Oberkörper. Er schaffte es, sich mit beiden Händen auf den schmalen Betten rechts und links von Big Hettie abzustützen. Ein Fuß fand zwischen ihren Schenkeln Platz, der andere auf dem Bettrand. Er ächzte entsetzlich und richtete sich auf. »Dafür wird Gott dich bestrafen. >Wehe dem, der einem meiner Kinder auch nur ein Haar krümmt, das ist so, als hätte er es mir getan, so spricht der Herr.<« Pik Botha drohte Big Hettie mit seinem ausgestreckten Finger und keuchte wie die alte Hündin, die ich am Abend zuvor getroffen hatte. »Spar dir deine Predigten bis zum nächsten Treffen der Apostolischen Glaubensgemeinschaft, du mieses kleines Scheißhaus. Komm, gib mir die Hand!« Pik Botha zuckte zurück. »Nimm sie, verdammt noch mal!« »Du willst mich nur wieder auf dich ziehen«, sagte Pik Botha entsetzt. »Schmeichel dir nicht selbst, Mann. Nimm beide Hände, ich kann doch nicht den ganzen Tag hier liegenbleiben, bis du 'n Loch in den Boden schneidest!« Das reichte, um ihn in Bewegung zu bringen. Er packte Big Hettie mit beiden Händen am Handgelenk, und sie hielt sich mit der
anderen Hand an seinem Arm fest. Er fing an zu ziehen und schnitt vor Anstrengung eine Grimasse. Big Hetties nicht eingeklemmte Schulter hob sich leicht, sonst bewegte sich nichts. »Zieh, Mann!« rief sie, aber bald war klar, daß überhaupt nichts passieren würde. »Gib dem Tarzan hier eine Hand, Peekay. Zeig ihm, was ein echter Mann ist.« Es war kein Platz da, wo ich hätte stehen können, deshalb setzte ich mich mit gespreizten Beinen auf Big Hetties Hüften. Die Idee war, Big Hettie aufzusetzen, damit wir sie von hinten unter den Armen packen und hochheben konnten. Ich faßte sie an den Handgelenken, und Pik Botha mußte sich vorbeugen, um Big Hettie weiter oben am Arm packen zu können. »Jetzt legt euch ins Zeug, Männer. Ich zähl bis drei, und dann gebt ihr alles, was ihr habt, verstanden? Eins, zwei, drei!« Wir zogen mit aller Kraft, aber nach fünf Minuten fortgesetzter Anstrengung hatte sie sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt. »Es hat keinen Sinn«, keuchte Pik Botha. Langsam dämmerte uns, daß wir in einer echten Klemme steckten. Beim Versuch mitzuhelfen hatte sich Big Hettie völlig verausgabt. Sie lag schweißgebadet da und keuchte, ihr Gesicht so rot wie der Kamm eines alten Truthahns. Pik Botha stand noch immer mit einem Fuß auf dem Bettrand und mit dem anderen zwischen Big Hetties Schenkeln und wischte sich seine schweißnassen Hände am glänzenden Hinterteil seiner dunkelblauen Hose ab. Er hatte seine Jacke ausgezogen und sie auf das obere Bett geworfen. Auf seiner silbernen Krawattennadel stand »Zeuge Gottes«. Ich überlegte kurz, was das wohl heißen sollte. »Ein letzter Versuch. Nur noch einer. Dieses Mal klappt es bestimmt«, jammerte Big Hettie. Ich faltete meine Hände, und sie packte mich dann an beiden Handgelenken. Dadurch konnte Pik Botha wiederum mit beiden Händen ihre Handgelenke umfassen. Mit seinem Hintern stemmte er sich gegen das Waschbecken und konnte so viel besser ziehen. »Eins, zwei, drei, zieht!« kommandierte Big Hettie. Beide zogen wir wie die Verrückten, Pik Botha grunzte hinter mir vor Anstrengung. Die Art und Weise, wie Big Hettie sich an mir festhielt, war doch nicht so gut, ihre Hände waren schweißnaß, und ich fühlte, wie meine Arme ihr langsam aus den Händen glitten. Plötzlich
flutschte sie wie ein glitschiger Kürbiskern weg. Ich wurde heftig nach hinten geschleudert, und mein Hinterkopf krachte in Pik Bothas Schritt. Er schrie laut auf, und seine Hände schossen zwischen seine Beine. Trotz ihrer mißlichen Lage schrie Big Hettie vor Vergnügen auf. »Du hast ihn erledigt, Junge!« grölte sie. »Du hast ihm das bißchen genommen, was von seiner Männlichkeit noch übrig war!« Ihr Lachen füllte das ganze Abteil, ihr Riesenleib schüttelte sich vor Vergnügen. »Kaffee! Kaffee! Frühstückskaffee!« Es war Hennie Venter, der Frühstückskellner, der seinen morgendlichen Gang durch die Waggons machte. Er blieb in der offenen Tür unseres Abteils stehen. »Kaffee?« fragte er und hob das Tablett von seiner Schulter. Er riß ungläubig die Augen auf, als er sah, wie Big Hettie sich vor Lachen schüttelte und Pik Botha sich jammernd an seine Genitalien faßte. Er schaffte es gerade noch, das Tablett auf dem Boden des Ganges abzustellen, bevor er lachend herausplatzte: »Pik Botha! Du alter Sauhund! Und nicht mal die Tür ist zu.« Das plötzliche Erscheinen des Kellners brachte Big Hettie wieder zu sich. »Hennie Venter, du bist keinen Augenblick zu früh gekommen!« Hennie schüttelte sich vor Lachen und schien sie nicht zu hören. »Eine Tasse Kaffee, Mevrou?« fragte er und brach wieder in Gelächter aus. Langsam beruhigten sie sich, und nach einigen Schwierigkeiten schaffte es Hennie Venter, den immer noch jammernden Pik Botha über Hetties Körper hinweg aus dem Abteil zu ziehen. Er stand zusammengekrümmt im Gang, sein Gesicht weiß wie ein Laken. Er winselte und zog die Luft durch seine braunen Zähne ein, als er sich weiter vorbeugte, um an seine Stiefel zu kommen. Ich knüllte seine Jacke zu einem Bündel zusammen und warf es Hennie Venter zu, der sie dem glücklosen Pik Botha über die Schultern legte. In einer Hand seine Stiefel, mit der anderen sein Wasserwerk schützend, humpelte er durch den Gang davon. Hennie Venter entpuppte sich als einer von der praktischen Sorte. Er ließ mich ein zweites Kissen holen, das er Big Hettie zusätzlich unter den Kopf stopfte. Er schaffte es sogar, daß sie eine Tasse Kaffee trinken konnte. Er sah sich die Situation genau an und kam zu
dem Schluß, daß es unmöglich sei, Big Hettie aufzurichten, ohne vorher die unteren Betten abzubauen. »Tut mir leid, Hettie«, sagte er und schüttelte den Kopf, »wir müssen warten, bis wir in Kaapmuiden sind.« Er goß Hettie noch eine Tasse Kaffee ein. »Wird schon so sein!« sagte sie schnell. »Außer ihr schneidet 'n Loch in den verdammten Boden.« Hennie Venter kratzte sich am Kopf und schaute Big Hettie fragend an. »Was zum Teufel hast du überhaupt in diesem Zug zu suchen?« Big Hettie drehte sich zu ihm um und meinte schmollend: »Ja glaubst du denn, ich lasse dieses arme Kind den ganzen Weg bis Kaapmuiden allein fahren?« Hennie Venter ließ nicht locker. »Aber du warst auch 'n bißchen betrunken, oder?« »Blau wie 'n Hackstock«, kicherte sie. »Das war vielleicht 'n Kampf, was, Hennie?« »Das kannste noch mal sagen, Hettie«, sagte Hennie glücklich. »Ich hab zehn Pfund gewonnen, 'n halben Monatsverdienst. Was für 'n Boxer, dieser Hoppie Groenewald, 'n echter weißer Mann!« Big Hettie schaute mich an wie ein Schaf. »Ich bin mitgefahren, um mich um dich zu kümmern, Peekay.« Plötzlich grinste sie breit. »Wie auch immer, laß uns das Beste draus machen! Ich sag immer, wenn du was nicht ändern kannst, mußte wenigstens vorn auf dem Leitelefanten reiten und nicht hinten bei den armen Leuten gehn. Zeit zum Frühstücken, und ich hab 'nen Mordshunger. Los, Hennie, sechs Würstchen, sechs Scheiben Speck, fünf hart gekochte Eier, damit ich Verstopfung krieg, und 'n halben Laib Toastbrot, in dicke Scheiben geschnitten, und mit viel Butter drauf. Aber keinen Kaffee mehr, du kennst ja die Wirkung von Kaffee, ich werd die Beine zusammenkneifen müssen. Für Peekay dasselbe, aber nur die Hälfte.« »Nee, nee, Mevrou Hettie, ich hab schon gefrühstückt«, protestierte ich. »Unsinn, mein Kind, du bist ja nicht mehr als 'n Spatz. Was wird deine Mama sagen, wenn ich dich so abliefere?« Hennie Venter ging, um das Frühstück zu holen, und ich stellte mir vor, wie Big Hettie mich die nächsten acht Stunden päppelte und ich, wenn ich in Barberton ankäme, so groß wie der Richter
wäre, wenn nicht größer. Mein Großvater würde sich nach einem richtig mageren Kind umschauen, und dann stiege ich aus dem Zug, so groß wie der Richter. Was für einen furchtbaren Schreck er kriegen würde! »Ich hab schon einen ganzen Teller voll gegessen, Mevrou Hettie«, sagte ich noch mal. »Macht nichts, Peekay, 'n bißchen mehr hat noch niemand was geschadet. Du mußt es so machen wie die Buschmänner in der Kala-hari-Wüste, die essen in guten Zeiten soviel, wie nur reingeht, bis der Hintern genauso weit raussteht wie der Bauch. Und in schlechten Zeiten leben sie von ihrem eigenen Fett.« Sie lachte leise. »Ich glaub, jemand wie ich könnte 'n ganzes Jahr lang durchhalten, oder noch länger, aber du, armes Kerlchen, ich bezweifle, daß du's bis Kaapmuiden schaffen würdest.« Hennie Venter kam mit einem großen Tablett zurück, das er Big Hettie vorsichtig auf den Bauch plazierte. Er ging gleich wieder, um den anderen Passagieren im Speisewagen das Frühstück zu servieren. Er schloß die Tür und versprach, später wiederzukommen. Das Tablett hob und senkte sich mit Big Hetties Atem. Nur wenn sie ausgeatmet hatte, konnte sie kurz sehen, was sich auf dem Tablett befand, wenn sie einatmete, hob es sich über ihre Augenhöhe. Ich schaffte noch eine Wurst. Big Hettie schien das gar nicht zu bemerken und verdrückte mein Frühstück gleich mit. Als sie alles aufgegessen hatte, sagte sie allerdings: »Du wirst nie 'n guter Rugbyspieler, wenn du weiter ißt wie 'n Vögelchen, Peekay.« »Das ist schon in Ordnung, Mevrou Hettie«, antwortete ich, »ich werde Weltergewichtsboxer, der muß nicht so groß sein.« Das schien sie zu amüsieren. »Genau wie dieser Tunichtgut, Hoppie Groenewald, was? Na, es gibt Schlimmeres. An dem ist nichts Falsches. Er könnte noch viel mehr Erfolg haben, aber er kann nicht hassen. Nicht mal Kaffern, was wirklich nicht natürlich ist.« Ich war schockiert. Hoppie hatte mir nichts davon erzählt, daß man hassen mußte. Hatte er es vergessen? »Wie lernt man hassen, Mevrou Hettie?« Ich hatte Angst, daß das eine Sache war, die ich mit fünf - eigentlich sechs - Jahren noch nicht verstehen konnte. Vielleicht hatte Hoppie es deshalb nicht erwähnt. Aber hatte er nicht gesagt, daß ich ein Naturtalent sei? Wenn das stimmte, dann würde ich es auch lernen.
»Der Killerinstinkt, er hat keinen Killerinstinkt. Man spürt genau, ob ein Kämpfer ihn hat oder nicht. Es ist ganz einfach Haß, so wie die Buren die rooineks hassen. Es muß blinder Haß sein, die oder wir, er oder ich, sonst nix. Hoppie Groenewald hat einfach nie gelernt zu hassen.« »Ich werde es lernen«, sagte ich voller Überzeugung. Big Hettie schüttelte sich vor Lachen. »Dafür ist noch viel Zeit, Peekay. Konzentrier dich besser aufs Lieben, es gibt schon viel zuviel Haß in unserem Land.« Ich hörte gar nicht hin, sondern beschäftigte mich mit der Notwendigkeit, hassen zu lernen. »Hat Hoppie Jackhammer Smit denn nicht gehaßt?« »Nein, da war Stolz im Spiel, und davon hat Hoppie viel. Und Mut, und sogar Verstand.« Big Hettie spürte meine Besorgnis. »Hör mal, vielleicht reicht das ja auch«, meinte sie und lachte leise, »er hat diesen Riesenaffen ja fertiggemacht!« Ich erinnerte mich daran, wie ich die Hausaufgaben vom Richter gemacht hatte, einfach so! Ich hatte bestimmt genug Verstand. Aber während der Folterungen hatte ich keinen Stolz und nur sehr wenig Mut gehabt, und ich mußte zugeben, daß ich mir gar nicht sicher war, was Stolz eigentlich ist. Vielleicht war ich ja ein einziger Fehler? Vielleicht hatte ich nur Verstand und sonst nichts? »Wie lernt man, stolz und mutig zu sein, Mevrou Hettie?« »Großer Gott, du hast 'ne Menge Fragen, Peekay. Laß mich mal nachdenken.« Sie dachte einige Augenblicke lang nach und antwortete dann: »Stolz läßt dich den Kopf hochhalten, wenn alle um dich herum ihren senken. Mut bringt dich dazu, es zu tun.« Sie merkte, wie verwirrt ich war. »Keine Angst, Peekay, wenn es nötig ist, wirst du es plötzlich verstehen.« Da war ich mir nicht so sicher. Big Hetties Erläuterungen schienen mir einfach nur dumm zu sein. Ich wußte doch längst, daß der einzige, der beste Weg zum Überleben der war, mit allen andern den Kopf zu senken. Zum Beispiel der Vorfall mit Miss du Plessis, hatte ich da nicht meinen Kopf erhoben, und sie hatte ihn mir fast abgeschlagen? Und Granpa Chook, wenn er dem Richter nicht in den Mund geschissen hätte, dann wären wir noch zusammen. Ich war mir ganz sicher, wenn man sich anders verhielt als die Menge, dann bekam man sehr bald Schwierigkeiten.
Aber vielleicht gab es auch noch viel mehr zu verstehen, die Welt der Erwachsenen schien sehr kompliziert zu sein. Ich hatte ein gutes Gedächtnis und würde Big Hetties Worte bestimmt nicht vergessen. Vielleicht würden sie eines Tages einen Sinn ergeben. Nanny war die einzige Erwachsene, die ich kannte, die auf Fragen richtig antwortete, und sie war keine richtige Erwachsene, weil sie eine Nanny war. Wenn man sie etwas fragte, antwortete sie mit einer Geschichte oder einem Lied, und wenn sie keine Antwort wußte, dann sagte sie: »Das muß man später herausfinden.« Sie hatte immer recht, über kurz oder lang war bisher immer eine Antwort von irgendwoher gekommen. Mir schien, daß weiße Erwachsene immer sofort eine Antwort parat hatten. Wie Pik Botha waren sie die meiste Zeit ihres Lebens unglücklich und fragten dauernd: »Warum ausgerechnet ich?«. Nanny würde sagen: »Die Traurigkeit hat ihre Zeit und geht vorbei.« Und dann würde sie lachen, mich umarmen und sagen: »Aber jetzt ist keine Zeit für Traurigkeit.« Ich machte Big Hettie immer wieder das Handtuch feucht und holte ihr aus ihrer Handtasche zwei Aspro. Sie sagte, ich solle weiter darin herumwühlen, irgendwo müßten noch ein paar Pfefferminzbonbons stecken. Ich fand ein halbes Röllchen, und sie sagte: »Gib mir 'n paar, und nimm dir auch eins, Peekay.« Ich nahm zwei große runde weiße Pfefferminzbonbons aus der Rolle, legte sie ihr in die Hand und warf mir selbst eins in den Mund. Zuerst war gar nichts. Aber dann, puuh. Nachdem ich zweimal kräftig daran gelutscht hatte, spuckte ich das Bonbon in die Hand zurück! Es war, als würde man Feuer schlucken! Ich sah zu wie Big Hettie vergnügt lutschte. Die hatte eben Mut! Aber immerhin machten die Pfefferminzbonbons ihren schlechten Atem etwas erträglicher. Wir lagen einfach so da, Big Hettie auf dem Boden und ich auf dem Bett. Sie erzählte von ihrem Leben, das ziemlich glücklich gewesen sein mußte, aber manchmal auch traurig. Das meiste erzählte sie über Männer. »Männer, Peekay, sind der Niedergang für jedes anständige Mädchen. Die meisten taugen nichts, aber man braucht sie halt, so oder so. Ohne einen Mann ist das Leben einer Frau noch mieser als mit einem. Es nützt nichts, wenn man so tut, als ob einem das wurscht sei, und man allen zeigt, daß man stärker ist als ein Mann. Denn
selbst wenn's stimmt, ist man doch nur einsam. Männer sind Schweine, die mit Kaffernfrauen schlafen, sich betrinken und einen verprügeln. Aber eine Tracht Prügel ist nie wirklich schlimm, und manchmal ist es die einzige Art, mit der die dummen Männer einem zeigen können, daß sie einen lieben. Ganz schön blöd, was?« Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein Mann Big Hettie verprügelte. »Mein Großvater konnte keiner Fliege was zuleide tun«, sagte ich und versuchte, sie zu beruhigen. Big Hettie war bestimmt zwei Meter groß und wog Gott weiß wieviel. Selbst der Richter mit allen SA-Männern wäre nicht mit ihr fertiggeworden. »Ich war einmal in einen kleinen Fliegengewichtsboxer verliebt«, fuhr sie fort. »Dadurch hab ich was übers Boxen gelernt, Peekay. Es war während der großen Depression, und es gab nirgendwo Arbeit. Ich und dieser kleine Fliegengewichtsboxer, wir sind überall in Transvaal zu Kämpfen gefahren, und einmal sogar in den Oranje Freistaat. Es war nie 'n andrer Fliegengewichtskämpfer da, die Buren wollen größere Kämpfer sehen, und deshalb mußte er fast immer außerhalb seiner Klasse antreten. Meistens gegen 'n Mittelgewicht. Wenn er Glück hatte, auch mal gegen 'n Weltergewicht, aber das kam nur selten vor. Mein kleines Fliegengewicht war 'n tapferer Kerl, und er kämpfte sehr gern, aber gegen soviel Gewicht kommt man nicht an, er mußte immer wieder entsetzliche Schläge einstekken und verlor fast immer. Nachher machte ich ihn dann wieder fit, und ich mußte ihm von dem Kampf erzählen. Schlag für Schlag, wo er gut und wo er schlecht gewesen war. Ich erzählte ihm, daß er punktemäßig um Längen vorne gelegen hätte, bis der Riesenaffe, gegen den er kämpfte, einen Glückstreffer landen konnte, der ihn von den Beinen holte. Und dann sah er mich an und sagte: >Nächstes Mal, Hettie, nächstes Mal gewinn ich ganz bestimmt.< Und dann kauften wir 'ne Flasche billigen Brandy, fuhren aus der Stadt heraus, in der wir gerade waren, setzten uns auf den Rücksitz unseres alten Ford T und betranken uns. Wenn er betrunken war, fing er an, den Kampf noch mal nachzuspielen, nur war er völlig durcheinander und glaubte, daß er noch mitten drin sei, und ich sei sein Gegner, und er schlug mich windelweich. Aber ich ließ ihn, denn er brauchte diese Siege dringend für seinen Stolz. Wenn er mich dann ordentlich verprügelt und ausgezählt hatte, tranken wir weiter und kämpften noch mal, aber diesmal wehrte ich mich, und
er gewann fair und sauber. Danach suchten wir uns ein schönes Plätzchen hinter einem Busch, breiteten Decken aus und liebten uns. Ich sag dir, Peekay, die meisten Männer kriegen keinen hoch, wenn sie blau sind, aber mein Fliegengewicht, der konnte die ganze Nacht. Was war das für ein Mann.« Big Hetties Geschichte beunruhigte mich. Groß schien Klein immer zu schlagen, außer wenn es einen Plan gab. »Aber Hoppie war doch kleiner als Jackhammer Smit, und er hat ihn fair geschlagen?« »Ja, stimmt, Hoppie hat aber auch Verstand. Mein Fliegengewicht hatte Kartoffelbrei statt Hirn im Kopf. Aber ich hab den kleinen Kerl geliebt, bis zum Tag, an dem er starb, weil er einen Riesenaffen zuviel herausgefordert hatte.« Big Hetties Augen schwammen in Tränen. »Er kam zur sechsten Runde aus seiner Ecke. Er stolperte und fiel hin, und die Zuschauer buhten, aber er hat nie markiert. Deshalb wußte ich, daß etwas Schlimmes passiert sein mußte. Er hatte eine Hirnblutung, einfach so. Ich trug ihn auf meinen Armen aus der Halle, und wir setzten uns draußen in der frischen Luft ins Gras. Eine Menge blöder Leute standen um uns herum und schauten uns an. Aber ich sah niemanden, nur mein liebes kleines Fliegengewicht. Und er starb dort in meinen Armen.« Big Hettie weinte leise. »Nicht weinen, Mevrou Hettie, bitte weinen Sie nicht.« Ich zitierte Nanny: »Die Traurigkeit hat ihre Zeit, und die geht vorbei.« Schließlich hörte sie auf zu weinen und trocknete sich mit dem feuchten Handtuch die Augen. »Er war der beste. Der beste von allen Männern.« Sie sagte es ganz leise. Ich wußte, daß sie zu sich selbst sprach. Wir redeten lang und breit über alles mögliche an diesem heißen Morgen. Big Hettie bestritt den großen Teil der Unterhaltung, und ich war ein guter Zuhörer. Als kleiner Junge hatte ich sehr viel geredet, aber in der Schule hatte sich das geändert. Von einer Person in meiner Stellung wurde nicht erwartet, daß sie viel sprach, und außerdem ist Zuhören eine gute Tarnung. Ich entdeckte bald, daß es auch eine Kunst ist. Man lernt, nicht nur das zu hören, was die Leute sagen. Was sie nicht sagen, ist viel wichtiger. Wenn man genau zuhört, dann hört man die erstaunlichsten Dinge hinter der Stimme des Sprechers. Gegen Mittag döste Hettie ein, und diesmal ging ihr Atem sehr
viel ruhiger. Draußen vor dem Abteilfenster glühte das Buschland in der heißen Sonne. Die Sonne ließ das Land im Vordergrund flacher erscheinen, als es war, und ein Hitzeschleier verwischte den Horizont. Das ist die Zeit, in der die Zikaden ganz laut zirpen und alles von einem monotonen Geräusch erfüllt ist, das die Gedanken übertönt. Obwohl ich sie wegen des Klackerns der Räder nicht hören konnte, wußte ich, daß sie da waren, ihre grünen Flügel aneinander rieben und sich stärkten für den langen Schlaf, währenddem ihre Puppen manchmal jahrelang in der dunklen Erde lagen, bis bei der entsprechenden Konjunktion des Mondes und der richtigen Bodentemperatur der Augenblick kommt, in dem sie aus der Erde kriechen, um wieder die Mittagszeit mit ihrem eintönigen Gesang zu füllen. Das Abteil schien in der Hitze zu fliegen, sich über die silbernen Gleise zu erheben und durch Zeit und Raum zu schweben, und das Stunden, Tage, Wochen, Jahre. Ich hatte ein sicheres Versteck gefunden, in dem ich bleiben würde, bis ich groß genug war, um Weltmeister im Weltergewicht zu werden. »Schläfst du, Peekay?« Ich öffnete die Augen und sah, daß Big Hettie mich anschaute. »Bitte ein Glas Wasser.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und nahm sich das Handtuch von der Stirn. Sie reichte es mir, und ich gab ihr ein Glas voll Wasser, das sie gierig leertrank. Sie reichte mir das Glas zurück, und ich füllte es nach. »Du bist ein Goldstück, Peekay«, sagte sie dankbar. Ich feuchtete das Handtuch an, faltete es und legte es ihr wieder über die Stirn. »Ein echtes Goldstück«, seufzte sie. Sie war ruhelos und fuhr sich immer wieder mit der Zunge über die Lippen. »Was glaubst du, was es zum Mittagessen gibt?« »Meneer Venter war noch nicht hier, Mevrou Hettie«, antwortete ich. »Ich mein doch nicht das Eisenbahnmittagessen. Das kann man nicht essen. Das Frühstück ist erträglich, das Mittagessen unmöglich und das Abendessen eine Katastrophe. Klapp mal meinen Dekkelkorb auf, Peekay, und sag mir, was drin ist.« Sie lachte. »Ich war ziemlich unkonzentriert, als ich den Korb gestern gepackt hab.« Ich zog das kleine Bambusstöckchen aus der geflochtenen Weide und öffnete den großen Korb. Es war genug zu essen drin, um eine Armee satt zu kriegen. »Sag, was drin ist, Schätzchen.«
»Zwei gebratene Hühnchen, fast eine ganze Hammelkeule, Corned beef, drei Mangos, eine Menge gekochte Kartoffeln und Süßkartoffeln, zwei Orangen und eine große Büchse.« »Gott sei Dank hab ich die Büchse eingepackt«, sagte Big Hettie erleichtert. »Mach sie auf, Peekay. Schnell, Mann, mach die Büchse auf!« Die Dringlichkeit in ihrer Stimme überraschte mich. Ich nahm die große runde Büchse aus dem Korb, klemmte sie mir zwischen die Beine und kämpfte mit dem Verschluß. Er sprang plötzlich auf, ich fiel rückwärts aufs Bett, und die Büchse rutschte ab. Die Hälfte eines großen Schokoladenkuchens landete auf Big Hetties Bauch. Mit zwei schnellen Bewegungen hob und senkte sich ihr Arm, ihre Handkante schnitt durch die dicke Schicht dunkelbrauner Schokoladenglasur und teilte den Kuchen in zwei große Stücke. Sie keuchte und hatte glasige Augen, als sie sich den Mund voll Kuchen stopfte. Sie grunzte und schnaufte und seufzte, und nachdem das erste Stück vertilgt war, griff sie gierig nach dem zweiten. Ihr Gesicht war von Schokoladenglasur verschmiert. Als sie sich das letzte Stück in den Mund geschoben hatte, lutschte sie sich wie ein kleines Kind die Finger ab, immer zwei gleichzeitig. Dann schob sie mehrmals den Daumen in den Mund und fuhr sich mit der Hand über ihren Busen. Ihre Finger bewegten sich wie dicke Spinnenbeine auf der Jagd nach verlorenen Kuchenkrümeln. Sie schaute zu mir auf, und ich blickte beschämt und verängstigt weg und wußte gleichzeitig instinktiv, daß ich Zeuge einer Krankheit oder einer tiefen Traurigkeit geworden war. Als sie aufgegessen hatte, war Big Hettie schweißgebadet, ihr Kleid hatte feuchte Flecken, war mit Kuchenkrümeln bedeckt und überall von der Schokoladenglasur beschmiert. Sie wischte sich mit dem feuchten Handtuch das Gesicht ab und lag dann mit geschlossenen Augen schwer atmend da. Ich sah, daß ihr Tränen übers Gesicht liefen, aber sie sagte lange Zeit kein Wort. Als sie wieder zu Atem gekommen war, öffnete sie die roten, geschwollenen Augen. »Es tut mir leid, Peekay. Es tut mir schrecklich leid«, flüsterte sie. »Das macht nichts, Mevrou Hettie, Sie waren eben hungrig. Das bin ich bei Schokoladenkuchen auch immer.« »Es tut mir leid, daß ich alles aufgegessen hab, Peekay, jetzt darfst du bei allem als erster zugreifen!«
Es war schon lange her, daß mir dieser Vorzug zuteil geworden war, und ich mußte lachen. »Es ist genug da, um den ganzen Zug abzufüttern, Mevrou Hettie. Ich eß ein paar kalte Bratkartoffeln und danach Süßkartoffeln, die mag ich am liebsten.« »Und vielleicht ein schönes Stück vom Hühnchen, was?« Granpa Chooks Tod ging mir noch viel zu nah. An die Aussicht, einen seiner entfernten Verwandten zu verspeisen, selbst wenn dieses Huhn gar kein Kaffernhuhn wie Granpa Chook gewesen war, mochte ich nicht einmal denken. Ich biß in eine köstliche goldene Kartoffel und schüttelte den Kopf. »Um ein Weltergewicht zu werden, mußt du anständig essen, Peekay. Fleisch macht stark, vielleicht 'n bißchen Hammel?« fragte sie schmeichlerisch. Wenn mein Großvater von meiner Mutter bedrängt wurde, mehr zu essen, pflegte er zu sagen: »Eine Kuh hat acht Mägen, aber ich, meine Liebe, hab nur einen. Eine Kuh hat immer Hunger, aber ich, meine Liebe, hab keinen.« Ich schluckte die Kartoffel hinunter und sagte Big Hettie diesen Spruch auf. Es sollte sie aufheitern. Statt dessen begann sie wieder zu weinen. »Es tut mir leid, Mevrou Hettie, es tut mir sehr leid, ich wollte nicht, daß Sie wieder weinen, das ist nur so ein dummer Spruch, den mein Großvater immer sagt, wenn er meine Mutter ärgern will.« Big Hettie schniefte, putzte sich die Nase und wischte sich die Augen ab. Ein Stück Schokoladenglasur, das auf dem Handtuch geklebt hatte, schmierte sie sich quer über die Nase. »Ich wein nicht wegen dir, liefling. Ich weine wegen der alten Hettie.« Sie lächelte mich unter Tränen an. »Was zum Teufel hast du da gesagt, Peekay?« schniefte sie. »Man kann genausogut durchs Essen wie durchs Fasten sterben, also gib mir die Hammelkeule, mein Guter!« Ich reichte ihr die Hammelkeule. Eine Hälfte des Fleisches war schon fast bis zum Knochen abgeschnitten worden. Sie legte sich das dicke Stück auf die Brust und begann glücklich das Fleisch vom Knochen abzunagen. Ich aß eine große Süßkartoffel und eine Mango. Als sie fertig war, war der Knochen völlig abgenagt. Anschließend bat sie mich, eines der Hühner zu zerteilen und ihr die Stücke auf den Bauch zu legen. Und außerdem sollte ich das Corned beef dazulegen. Sie zerrte an dem Hühnchen, als ob sie vor Hunger
umkäme, und zerbiß einige der weicheren Knochen. Das Hühnchen und das Corned beef waren schnell weggeputzt, und mit einem leichten Seufzer wischte sie sich das Fett und den Schweiß vom Gesicht. Ich sammelte die Hühnerknochen von ihrem Bauch auf und warf sie zum Fenster hinaus. Dann wusch ich mir die Mangoreste von Gesicht und Händen ab, befeuchtete das letzte Handtuch, wrang es wieder aus und reichte es Big Hettie. Ihr altes wusch ich mit etwas Seife aus, spülte es durch und hing es am Fenster zum Trocknen auf. Ich hatte gesehen, wie unsere Küchenmädchen Dum und Dee zu Hause nach dem Essen das gleiche mit den Wischlappen gemacht hatten, deshalb wußte ich, daß ich es richtig machte. Sie hingen die Tücher an eine Schnur neben dem großen schwarzen Holzofen, und deshalb rochen sie immer ein bißchen nach Suppe, wenn sie trocken waren. Big Hettie legte sich das frische Tuch, naß wie es war, quer über die Brust. »Es ist so angenehm kühl, und mir ist so heiß, daß es bald wieder trocken sein wird«, sagte sie, aber ich wußte, daß sie es wegen der Schokolade- und Fettflecken auf ihrem Kleid tat. Mit einem Rumms wurde die Abteiltür aufgeschoben, und Hennie Venter streckte seinen Kopf herein. »Tut mir leid, daß es so lang gedauert hat, Hettie, aber Pik Botha behauptet, er kann nicht gehen, und jammert im Dienstabteil herum, und ich mußte die Fahrkarten kontrollieren, weil Van Leemin wieder stockblau ist. Außerdem mußte ich das Mittagessen servieren«, sagte er entschuldigend. »Was gibt's zum Mittagessen?« fragte Big Hettie. Hennie schien über diese Frage überrascht zu sein. »Geschmortes Rindfleisch mit Kartoffelbrei und Erbsen, wie immer.« »Das kannste behalten! Wir würden lieber verhungern, als diesen Schweinefraß zu essen«, sagte sie abschätzig. »Und Bananenpudding?« fragte Hennie verführerisch. »Pfui, der schmeckt wie das, was hinten bei 'nem Baby rauskommt«, antwortete Big Hettie. »Also, wenn du nichts brauchst, dann hau ich wieder ab.« Hennie sah zu dem offenen Korb und zwinkerte mir zu. »Tut mir leid, daß ihr beide hungern wollt, seid ihr sicher, daß ich nichts für euch tun kann?« »Du kannst mich von diesem verdammten Fußboden hier wegschaffen, Mann!« sagte Hettie verzweifelt.
Der Kellner schnalzte mitfühlend mit der Zunge. »Bald, Hettie. Wir sind in zwei Stunden in Kaapmuiden. Dort wissen sie, was zu tun ist.« Hoppie hatte mir erklärt, daß ich von Kaapmuiden auf einer Nebenstrecke noch einmal drei Stunden bis Barberton fahren müsse, »in einem winzigen Bimmelbähnchen«, hatte er gesagt. Er hatte mir die Geschichte von der Waschfrau erzählt, die mit einem riesigen Bündel frisch gebügelter Wäsche auf dem Kopf neben den Gleisen herging. Als der Zug nach Barberton an ihr vorbeifuhr, lehnte der Lokführer sich aus dem Fenster und bot ihr an, hinten auf den Kaffernwagen aufzuspringen. »Nein danke, Baas«, antwortete sie, »ich hab's schrecklich eilig.« So wie Hoppie es erzählte, war es eine lustige Geschichte, aber ich wußte, daß sie nicht stimmen konnte, denn kein weißer Lokführer würde auch nur daran denken, einer Kaffernfrau anzubieten, in seinem Zug mitzufahren. Es war ein ruhiger, heißer Nachmittag, wir kamen kurz vor vier in Kaapmuiden an. Der Zug fuhr langsam, fast zögernd in den belebten Bahnhof ein, halt so wie sich Züge benehmen, wenn sie in Bahnhöfen ankommen, wo noch andere Züge stehen. Kaapmuiden war ein wichtiger Knotenpunkt zwischen dem nördlichen und dem südlichen Transvaal und dem Seehafen Lourenc,o Marques, und so benahmen sich auch die Einwohner. Der Bahnhof war ein einziger Hexenkessel. Es war noch mehr los als in Gravelotte, Rangierloks fuhren herum, offene Güterwagen wurden an- und abgekoppelt, die Gleise kreuzten sich wie ordentlich drapierte Spaghetti. Unser Zug fuhr langsam auf den Hauptbahnsteig zu und blieb mit einem letzten Kreischen von Metall auf Metall stehen. »Was muß ich jetzt machen, Mevrou Hettie?« fragte ich nervös. »Wir müssen abwarten, Peekay. Hennie Venter holt ein paar Männer, die mir helfen, und dann bring ich dich an den Zug nach Barberton. Wir haben genug Zeit, dein Zug fährt erst um sechs Uhr.« Big Hettie fühlte sich offensichtlich sehr unwohl, und jetzt, wo das Ende ihrer Qual abzusehen war, fing ihr riesiger Körper vor Schock an zu zittern. Ich schaute von unserem Abteilfenster zu, wie unser Wagen abgekoppelt und sehr umständlich auf ein Nebengleis rangiert wurde, wo eine Gruppe Männer wartete. Unter ihnen war auch Hennie Ven-
ter. Als wir anhielten, steckte er seinen Kopf durch das offene Fenster hinein. »Gleich ist es vorbei, Hettie, dann haben wir dich wieder auf den Beinen.« Ich reichte unsere Sachen durch das Fenster heraus, und statt noch einmal über Big Hettie zu klettern, wählte ich denselben Weg und sprang auf den Bahnsteig hinunter. Es war schön, wieder einmal in der Sonne zu stehen. Zwei der Männer kletterten durch das Fenster auf eines der Betten. Mit Universalschraubenschlüsseln lockerten sie die Schraubenbolzen, mit denen das Bett an der Abteilwand befestigt war. Dann schlangen sie am Kopf und am Fußende Seile um das Bett, sicherten sie am oberen Bett und zogen die Bolzen heraus. Schließlich schwebte das Bett, und Big Hettie war nicht mehr im Weg. Jetzt konnten zwei Männer von der Abteiltür aus Hettie in eine sitzende Position wuchten. Danach versuchten vier Männer gemeinsam, sie aufzustellen, aber sie war zu schwer und schien außerstande, ihre Beine zu gebrauchen. Big Hettie ging es offensichtlich sehr schlecht, ihr Gesicht war knallrot. Es wurde allen klar, daß die ganze Sache zuviel für sie war und daß sie zu erschöpft und zu schwach war, um aufzustehen. Sie saß einfach mit hochrotem Kopf schwer atmend auf dem Boden, von einem Berg Kissen in ihrem Rücken gestützt. Eine riesige, böse mitgenommene Stoffpuppe. Die Männer gingen los, um einen Flaschenzug zu holen. Ich ging ins Abteil zurück und setzte mich neben Big Hettie. Hennie Venter blieb draußen stehen und schaute herein, seine Arme ruhten auf dem Fensterbrett. Big Hetties Atem ging schwerer, als sie Hennie Venter bat, aus dem Deckelkorb, der jetzt auf dem Bahnsteig stand, die restlichen Kartoffeln, das Huhn und die Früchte zu holen, alles in die Kuchenbüchse zu tun und dann in meinen Koffer zu packen. Er nickte, und sein Kopf verschwand aus dem Fenster. »Es wird schon spät sein, wenn du in Barberton ankommst, liefling. Was wird dein oupa von mir denken, wenn du nichts zu Abend gegessen hast?« Sie schnaufte und preßte die Hand auf ihre linke Brust. Ich war zu wohlerzogen, um Big Hettie zu sagen, daß Hühnchen nicht mehr zu meinen Lieblingsspeisen zählte. Statt dessen
bedankte ich mich und fragte dann: »Gehen Sie nicht mit mir zum Zug, wie Sie gesagt haben, Mevrou Hettie?« Sie sagte lange Zeit nichts, so als versuche sie Kraft zu sammeln, um ohne Keuchen sprechen zu können. »Ich glaube, die letzte Runde ist eingeläutet, Peekay. Ich hab entsetzliche Schmerzen.« Sie war jetzt schneeweiß im Gesicht, und ihre Lippen waren blau geworden. Mit der linken Hand knetete sie ihre linke Brust. Ich kletterte zum Fenster. Hennie Venter hatte meinen Koffer geöffnet und legte gerade die große Kuchenbüchse hinein. »Meneer Venter! Kommen Sie ganz schnell, Mevrou Hettie ist krank!« schrie ich. Ich drehte mich wieder um und schaute Big Hettie an. Ihre Stimme war jetzt kaum mehr als ein Flüstern. »Gib mir deine Hand, Peekay«, keuchte sie. Ich kletterte zurück zu ihr, und sie nahm meine Hand in die ihre. Ihr Griff war ganz schwach, als hätte sie keine Kraft mehr. »Ich glaub, ich schaff die nächste Runde nicht mehr, liefling.« Sie seufzte zwischen den einzelnen Worten, und ihr Atem klang ganz anders als am Morgen. Hennie Venter streckte den Kopf zum Fenster hinein. »Großer Gott! Ich hol den Doktor.« Als er losrannte, hörte ich seine Stiefel auf den Kieselsteinen knirschen. »Bitte sterben Sie nicht, Mevrou Hettie«, bat ich sie ängstlich. »Ach, Peekay, es war eigentlich kein Leben mehr, seit mein Fliegengewicht mich verlassen hat, ich verlier nicht viel, wenn ich jetzt sterbe.« Sie sah mich an, und eine Träne quoll ihr aus dem Augenwinkel und rollte langsam an ihrer Backe herunter. »Peekay, du wirst ein großer Weltergewichtsboxer, das weiß ich. Du bist stolz und mutig. Erinnerst du dich daran, was ich dir über Stolz und Mut gesagt hab?« »Stolz ist, wenn man den Kopf hochhält, wenn die andern ihren senken. Mut bringt dich dazu, das zu tun«, wiederholte ich mit zitternden Lippen. »Du wirst ein großer Boxer, ich weiß es«, flüsterte sie. Big Hettie stieß einen kleinen Schrei aus, und ihr Griff wurde für einen Moment fester. Dann öffnete sich ihre riesige Hand, und sie sank zurück in die Kissen. Für eine so große, laute Frau war es ein so kleiner, stiller Tod.
Ich fing an zu weinen. Ich fühlte keinen Schmerz wie bei Granpa Chook, sondern Traurigkeit. Schon damals begriff ich instinktiv, daß nur wenige Menschen ein heiteres Gemüt haben und daß mir für einen Abend und einen Tag Menschlichkeit in ihrer höchsten Form zuteil geworden war. Nach einer Weile hörte ich, wie die Männer mit dem Flaschenzug zurückkamen. Sie lachten und schwatzten, wie Männer das eben machen, wenn endlich einmal etwas passiert, was die tägliche Routine unterbricht. Jetzt konnte Big Hettie den Zug verlassen.
8 Kurz nach zehn lief der Zug in den Bahnhof von Barberton ein. Der Schaffner hatte mich kurz vor der Ankunft geweckt, und mein Kopf war noch ganz schwindelig vom Schlaf und aufgewühlt von den Ereignissen des Tages. Hennie hatte mich in den Zug gesetzt. »Iß etwas, hörst du. Hier hast du 'n bißchen Geld, davon kaufst du dir 'ne kühle Limonade«, sagte er und hielt mir eine kleine Silbermünze hin. »Ich hab Geld, Meneer Venter.« Aber er bestand darauf, daß ich das Dreipennystück annahm. »Komm, nimms, ist doch nur ganz wenig!« polterte er. Als die kleine Lok sich laut schnaufend in Bewegung setzte, rief er: »Ich sag Hoppie Groenewald, daß du dich wie ein guter Bure benommen hast, wie ein echter weißer Mann!« Ich kletterte die Stufen des Waggons hinunter auf den Schotter und hatte dabei mit meinem Koffer zu kämpfen, der durch Big Hetties Büchse ziemlich schwer geworden war. Den Inhalt hatte ich nicht angerührt, ich war zu müde und zu durcheinander gewesen zum Essen. Auf dem Bahnsteig eilten Menschen hin und her, schauten herum, begrüßten sich und führten sich auf, wie Menschen es tun bei der Ankunft eines Zuges. Mein Großvater schien nicht darunter zu sein. Ich setzte mich auf meinen Koffer und wartete ab, zu müde, um zu überlegen, was ich tun sollte. Ohne es zu merken, muß ich geweint haben, vielleicht einfach aus Müdigkeit. Ich hatte schon Schlimmeres erlebt, und erwartete eigentlich, jeden Augenblick das
Lachen meiner Nanny zu hören, die mich dann in ihre Arme schließen würde. Dann wäre alles wieder gut. Eine Dame kam heran, die ich durch die Tränen nur verschwommen sehen konnte. Sie beugte sich zu mir herunter und zog mich an ihre knochige Brust. »Mein Liebling, mein armer Liebling«, weinte sie, »alles wird wieder so wie früher, ich versprech es dir.« Meine Mutter war da! Sie lebte. Dünn wie immer, aber nicht an Ruhr oder Schwarzwasserfieber gestorben. Aber ich glaube, wir beide wußten, daß nichts wieder so wie früher werden würde. »Wo ist meine Nanny?« fragte ich und wischte mir die Tränen aus den Augen. »Jetzt komm, mein Liebling, Pastor Mulvery wartet in seinem Auto auf uns, um uns heim zu deinem Großvater zu fahren. Was für ein großer Junge du geworden bist. Sechs Jahre bist du jetzt alt, viel zu groß für eine Nanny!« Das leere Gefühl in mir vergrößerte sich, und ich konnte die Einsamkeitsvögel schnattern hören, sie schlugen fröhlich mit ihren Flügeln, wenn sie sich auf ihre dunklen Steinnester setzten. Meine Mutter räusperte sich und griff nach meinem Koffer: »Komm, mein Liebling, Pastor Mulvery fährt uns nach Hause zu deinem Großvater.« Ihre Bemerkung, daß ich jetzt, wo ich sechs Jahre alt war, keine Nanny mehr brauchte, traf mich so heftig wie einer der Schläge des Richters. Meine Nanny, meine geliebte Nanny war fort, und ich war sechs Jahre alt. Diese beiden Neuigkeiten sausten mir wie zwei kämpfende Hunde durch den Kopf, die sich bissen und im Staub wälzten. Meine Mutter hatte mich an die Hand genommen und führte mich zu einem großen grauen Plymouth, der unter einer Straßenlaterne neben einem Pfefferstrauch parkte. Ein fetter, fast kahlköpfiger Mann stieg aus, als wir näher kamen. Seine Schneidezähne standen vor und lugten selbst bei geschlossenen Lippen aus seinem Mund hervor, als wollten sie sehen, ob die Luft rein sei, damit sie abhauen könnten. Pastor Mulvery schien sich dessen wohl bewußt zu sein, er lächelte kurz und sehr herzlich, damit seine Zähne nicht abhauen konnten. Er langte nach meinem Koffer und nahm ihn meiner Mutter ab. »Gepriesen sei der Herr, Schwester, er hat den Jun-
gen sicher zu seinen geliebten Kindern gebracht.« Seine Stimme war so hoch und so sanft wie die Stimme einer Frau. »Ja, gepriesen sei sein kostbarer Name«, antwortete meine Mutter. Ich hatte sie früher nie so sprechen hören. Es war mir klar, daß das etwas mit dem Konzentrationslager zu tun haben mußte. Mein fein geschultes Ohr konnte alle möglichen merkwürdigen Nebenbedeutungen hinter ihren Worten heraushören. Pastor Mulvery streckte seine Hand aus. »Willkommen, Sohn. Der Herr hat unsere Gebete erhört und dich sicher nach Hause gebracht.« Ich nahm seine Hand, die warm und feucht war. »Vielen Dank, Sir«, sagte ich fast flüsternd. Es kam mir komisch vor, Englisch zu sprechen. Ich kletterte auf den Rücksitz ganz dicht neben meine Mutter. Alle Einsamkeitsvögel waren zu einem einzigen großen Einsamkeitsvogel auf einem großen Steinnest geworden, und ich fühlte die Schwere des Steins, als er sich in mir zum Brüten niederließ. Granpa Chook war tot, Hoppie mußte in den Krieg gegen Adolf Hitler ziehen und würde vielleicht nie wieder zurückkommen, Big Hettie war tot, und jetzt war meine geliebte Nanny fort. Wie Pik Botha schien auch meine Mutter ein ganz besonderes Verhältnis zu Gott entwickelt zu haben, das bestimmt Probleme mit sich bringen würde. Mein Leben war ein einziger Schlamassel. Wir fuhren durch die Stadt, die Straßenbeleuchtung und geteerte Straßen hatte. Es war schon spät, und nur wenige Autos kurvten über die breite Hauptstraße. Wir kamen an einem Platz vorbei, auf dem große alte Flamboyantbäume standen, und ein Laden reihte sich an den andern, McClymonts, Herrenausstatter, J. W. Winter, Drogerie, das Savoy Cafe, Barberton Eisenwarenhandlung. Wir bogen in eine andere Straße ein und kamen an einem großen Gebäude vorbei, dem Impala-Hotel. Es hatte eine breite Treppe und sah aus, als wohnten viele Leute darin. Der Klang einer Ziehharmonika drang zu uns herüber, und Pastor Mulvery fuhr im Schrittempo weiter. »Der Teufel ist heute nacht sehr fleißig, Schwester. Wir müssen für ihre Seelen beten, daß sie seine Herrlichkeit sehen und das ewige Leben erlangen«, sagte er mit seiner mädchenhaften Stimme. Meine Mutter seufzte. »Es ist noch so viel zu tun, bevor er wiederkommt und uns in seine Herrlichkeit aufnimmt.« Sie wandte sich an mich. »Wir haben eine sehr schöne Sonntagsschule in der
Apostolischen Glaubensmission. Du bist alt genug, um dem Herrn zu begegnen und wiedergeboren zu werden, mein Junge. Der Herr hat in seinem Herzen einen besonderen Platz für seine geliebten Kinder.« »Halleluja, gepriesen sei sein kostbarer Name, wir werden ihm begegnen!« sagte Pastor Mulvery. »Können wir ihn bitte erst morgen treffen? Ich bin so müde heute abend.« Beide lachten, und ich fühlte mich etwas besser. Das Lachen meiner Mutter klang mir vertraut, sie hatte es im Konzentrationslager nicht verlernt. »Wir fahren gleich heim, mein Liebling, du mußt ja völlig erschöpft sein«, sagte sie mit sanfter Stimme. Fast hätte ich meine Tarnung fallen gelassen, aber dann fiel es mir wieder ein. Big Hettie hatte gesagt, daß Pik ein wiedergeborener Christ sei, und auch, daß er der Apostolischen Glaubensmission angehöre. Ich hatte ihrem Tonfall entnommen, daß ihre Begeisterung dafür sich in engen Grenzen hielt. Wie war meine Mutter an diese Leute geraten? Wer war der komische Mann mit den vorstehenden Zähnen? Was war das für eine Sprache, und wer war eigentlich »der Herr«? Ich hatte meine Rückkehr zu Großvater und zu Nanny zuerst als eilige Flucht vor Adolf Hitler verstanden, und als Hoppie mir dann die Furcht vor seiner bevorstehenden Ankunft genommen hatte, hatte ich geglaubt, daß ich bei Großvater und Nanny mein früheres Leben auf der Farm weiterführen könnte. In einer Kleinstadt zu leben, bedeutete mir überhaupt nichts. Aber mit dem verrückten alten Großvater und meiner wunderbaren Nanny zu leben, hatte mir alles bedeutet. Meine Mutter war ein angenehmer Teil meiner früheren Existenz, aber kein sehr wesentlicher. Sie war eine zarte und nervöse Frau, und Nanny hatte sich um mich gekümmert, hatte gelacht, geschimpft und gelindert, halt genau die Rolle übernommen, die Mütter in anderen Kulturen spielen. Meine Mutter litt oft an Kopfschmerzen. Morgens, wenn ich ihr vorlesen sollte und froh, ihr meine Fortschritte zeigen zu können, auf die kühle Veranda kam, wo sie in ihrem Wiener Schaukelstuhl saß, sagte sie häufig: »Nicht heute, mein Liebling, ich habe entsetzliche Kopfschmerzen.« Dann fand ich Nanny irgendwo und las ihr mein Buch vor, und
sie brachte mir eine Ausgabe von Outspan, das einmal im Monat kam, und zeigte auf Bilder, auf denen Frauen irgend etwas machten, und ich las, was unter den Bildern stand, und übersetzte es ihr ins Zulu. Dann sperrte sie den Mund auf und stöhnte vor Erstaunen. »Ach, ich glaube, es ist sehr schwer, eine weiße Frau zu sein!« Ich nahm an, daß meine Mutter so schlimme Kopfschmerzen bekam, weil sie eine weiße Frau war und das, wie Nanny sagte, eine verdammt schwere Sache war. Wir hielten bei einem Haus, das kaum fünf Meter von der Straße entfernt stand. Eine niedrige Steinmauer begrenzte den Vorgarten, und eine Treppe führte zur Veranda hoch, die sich über die ganze Vorderfront des Hauses erstreckte. Das Haus war von einer entfernten Straßenlampe nur schwach beleuchtet, so daß weitere Einzelheiten in der gespenstischen Dunkelheit nicht zu erkennen waren. Zwei Quadrate durch zugezogene Vorhänge gefiltertes orangerotes Licht beleuchteten das Haus zwar nicht, gaben ihm aber zwei Augen. Die Eingangstür war die Nase, und die Stufen, die zur Tür hinaufführten, der Mund. Selbst im Dunkeln wirkte das Haus nicht unfreundlich. Hinter dem lustigen Gesicht würde mein hagerer alter Großvater auf mich warten und mir von Nanny erzählen. Pastor Mulvery sagte, er käme nicht mit hinein. Er pries noch einmal den Herrn, daß er mich gesund zurück in die Arme meiner Lieben geführt habe, und sagte, daß ich ein erfreulicher Gewinn für die Sonntagsschule der Apostolischen Glaubensmission sein würde. Auch meine Mutter pries seinen kostbaren Namen, und mir wurde klar, daß der Herr in diesen Kreisen eine ziemlich wichtige Rolle spielte. Wir sahen die roten Bremslichter des großen Plymouth aufblinken und dann plötzlich in einer Senke verschwinden, woraus ich schloß, daß das Haus auf einer Anhöhe stand. »Was für ein wertvoller Mensch«, seufzte meine Mutter. Ich schleppte meinen Koffer mit beiden Händen und folgte ihr die dunklen Stufen hoch. Auf der hölzernen Veranda machten ihre Schritte ein hohles Geräusch. Die Fliegengittertür quietschte laut in ihren Schnappscharnieren. Mit der Spitze ihres derben braunen Schuhs stieß sie sie auf und öffnete die Eingangstür. Helles Licht fiel auf uns und auf die Treppe, froh, der Enge des kleinen Raumes entkommen zu sein. Der Raum unterschied sich im übrigen kaum von dem dunklen
kleinen Wohnzimmer auf der Farm. Dieselbe schwere Polstercouch und dieselben drei Sessel mit den hohen Rückenlehnen aus verschossenem Brokat, den polierten Armstützen und geschnitzten Klauenfüßen aus dunkel lackiertem Holz nahmen den größten Teil des Zimmers ein. Im gläsernen Bücherschrank standen noch immer die in rotes und goldenes Leder gebundenen gesammelten Werke von Charles Dickens und die zwei blau-goldenen Bände der Geschichte des Krimkrieges. Die alte Großvateruhr stand, anders als früher, neben einer Tür, die in einen anderen Teil des Hauses führte, und es war schön anzusehen, wie das kalte Messingpendel ruhig in dem verglasten Uhrenkasten hin- und herschwang. An einer Wand hing der ausgestopfte Kudukopf meines Großvaters, die Hörner der riesigen Schraubenantilope berührten die Decke. Links und rechts vom Bücherschrank hingen zwei schmale Ölgemälde, auf einem war eine scharlachrote und auf dem anderen eine fast gleiche gelbe langstielige Rose zu sehen. Beide Bilder hatten einen braunen polierten Rahmen und waren das Werk meiner Großmutter, die bei der Geburt meiner Mutter gestorben war. Einsam an einer Wand hing ein handkolorierter Stahlstich in einem schweren Walnußholzrahmen. Hunderte von Zulukaffern lagen tot da, und eine Handvoll walisischer Soldaten stand mit aufgepflanztem Bajonett über ihnen. Sie sahen stolz aus und schauten zum Himmel, jeder einen Fuß auf den Körper eines halbnackten Wilden gestellt. Ich hatte mich immer darüber gewundert, wie sauber und ordentlich sie aussahen, nachdem sie dicht gedrängt die ganze Nacht gegen die Zuluhorden gekämpft hatten, und wenn man die Toten und die Soldaten auf dem Bild zählte, war jeder Soldat für den Tod von zweiundfünfzig Zulukaffern verantwortlich. Unter dem Bild stand in Kupfer gestochen: Der Morgen nach dem Massaker. Tapfere Soldaten haben die britische Ehre in Roukes Drift wiederhergestellt. Dezember I8J8. Das abgenutzte alte Zebrafell, das ich wie die übrige Einrichtung schon mein ganzes Leben lang kannte, lag auf dem Boden, und die geschnitzten Klauenbeine der Stühle standen genau auf den kahlen Stellen, an denen die Stuhlbeine bereits in ihrer früheren Wohnzimmerexistenz das Fell blankgescheuert hatten. Die einzige Veränderung in dem Raum, denn selbst die zerschlissenen roten Samtvorhänge hingen an den Fenstern, war ein kleiner Radioapparat aus braunem Bakelit, der auf dem Bücherschrank stand.
Vielleicht hatten sich die Dinge nur an der Oberfläche geändert, während sie im Innern, wie dieser Raum, weitgehend gleichgeblieben waren. Einen Augenblick lang besserte sich meine Stimmung. Da betrat mein Großvater das Zimmer, groß und aufrecht wie der Stamm eines Gummibaums. Die Pfeife hing ihm im Mundwinkel, direkt über dem braunen Tabakfleck auf seiner Unterlippe. Er blieb im Türrahmen stehen. Seine ausgebeulte Khakihose wurde wie immer von einem Stück Seil gehalten, die Ärmel seines kragenlosen Hemdes waren bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Er sah unverändert aus. Er zog zweimal heftig an seiner Pfeife. Die Rauchwolken zogen um seinen unordentlichen weißen Haarschopf und kräuselten sich an seiner langen Nase entlang. »Braver Junge«, sagte er. Seine blaßblauen Augen glänzten feucht, und er zwinkerte, als er zu mir herabsah. Der Rauch um seinen Kopf herum verzog sich, als er die Arme leicht anhob und dabei die Handflächen nach oben drehte und die Finger spreizte, als wollte er sich mit dieser traurigen Geste für das Zimmer, das Haus und die ganze mißliche Lage entschuldigen. »Die Newcastle-Krankheit, alle Orpington-Hühner mußten getötet werden«, sagte er. »Sie haben Granpa Chook getötet«, sagte ich leise. Meine Mutter legte mir ihre Hand auf die Schulter und schob mich an Großvater vorbei. »Schon gut, Liebling, wir haben alle Hühner von Granpa getötet. Komm jetzt, du gehörst längst ins Bett.« Ich hatte gar nichts von Granpa Chook sagen wollen. Mein Großvater hatte ihn letzlich gar nicht gekannt. Es war mir nur so herausgerutscht. Eine Hühnergeschichte nach einer anderen Hühnergeschichte. Er hatte sehr an diesen schwarzen Orpingtons gehangen. Selbst Nanny hatte gesagt, daß es Zuluvögel sein müßten, weil sie so schwarz und stark waren und die Hähne aussahen wie elegant gefiederte Zulugeneräle. Sie hatte sich nie zu Granpa Chooks scheckigem Erscheinungsbild geäußert. Obwohl Nanny ihn genau wie Inkosi-Inkosikazi nie auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn gesehen hatte, wußte sie, daß er anders war, eine Ausnahme, ein magisches Huhn, mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, das von dem alten Affen dazu ausersehen worden war, über mich zu wachen. Nur einmal hatte sie gesagt, es sei typisch für den alten
Zauberer, ein einfaches Kaffernhuhn auszuwählen, wo er doch diese Würde auch leicht auf einen von Großvaters herrlichen schwarz Orpington-Hähnen hätte übertragen können. Wenn die Seele eines großen Kriegers schon in einem Huhn wohnen sollte, warum sollte es dann nicht wenigstens ein besonders schönes Exemplar seiner Gattung sein? Sie hatte noch eine Zeitlang weitergeredet, schließlich ihren mit einem großen bunten Tuch umwickelten Kopf geschüttelt und gesagt: »Wer kennt schon den Weg, den eine Schlange auf einem steilen Felsen nehmen wird?« Was immer das auch heißen sollte. Nanny. Wo war sie jetzt? War sie tot? Morgen mußte ich dringend mit meinem Großvater reden. Erwachsene sprechen mit Kindern nie über den Tod, aber Großvater würde es tun. Ich würde ihn nach Nanny fragen, wenn ich ihm am Morgen seinen Schilling zurückgab. Ich wachte wie immer früh auf und trottete durch das schlafende Haus, bis ich in der Küche landete. Der schwarze Gußeisenofen war kleiner als der auf der Farm, und als ich mit angelecktem Finger auf eine der Heizplatten tippte, war sie zu meiner Überraschung kalt. Die beiden Küchenmädchen Dee und Dum hatten auf Matten in der Küche geschlafen, und es war ihre Aufgabe gewesen, den Ofen zu schüren, sobald er auszugehen drohte. Diese Küche hier roch nach Karbolseife und Desinfektionsmittel, und ich vermißte den warmen Geruch von Menschen, den Geruch nach Kaffeebohnen und den Duft des riesigen gußeisernen Suppentopfes, der hinten auf dem Ofen Tag und Nacht leise vor sich hingeköchelt hatte und in den in einem endlosen Kreislauf neue Knochen hineingeworfen und alte herausgefischt wurden. Auf diesem Herd stand nichts außer einem blauweiß gesprenkelten Teekessel aus Emaille, der neu und vorläufig aussah. Aus der Küche ging eine Tür auf die große rückwärtige Veranda hinaus, die, anders als die Veranda vor dem Haus, ebenerdig lag und in einen sehr großen, gepflegten Garten hinausführte. Der Duft von vielen hundert Rosenblüten füllte die kühle Morgenluft, und ich sah, daß steingefaßte Terrassen voller Rosenbüsche den Hang hinaufführten. Jede Terrasse mündete in einer sechsstufigen Treppe, und oben an jeder Treppe wölbte sich eine mit Kletterrosen be-
wachsene Laube über den Weg. Es gab weiße, rosa, gelbe und orangerote Rosenlauben. Der Weg, der in der Mitte des Gartens den Hügel hinaufführte, sah wie ein Tunnel aus, den Alice im Wunderland entdeckt haben könnte. Auf jeder der sechs Terrassen stand ein riesiger alter Baum, jeder von einer Art, die ich noch nie vorher gesehen hatte. Ich sah jetzt, daß unser Haus ein Stück hügelaufwärts lag, daher die Treppen vorne und die Terrassen hinten. Jenseits einer dunklen Reihe von Maulbeerbäumen ganz oben im Garten und einer Steinmauer auf der obersten Terrasse stieg der felsige, von Büschen bewachsene Hügel steil an. Er sah nicht unfreundlich aus. Auf seinen Abhängen wuchs Aloe, und aus jeder der großen struppigen Pflanzen ragte ein Kandelaber feuriger Blüten heraus. Ich ging den Weg weiter bergauf und sah, daß auf jeder Terrasse, eingebettet in säuberlich getrimmten Rasen, Rosenbeete lagen. Nur die oberste Terrasse war anders. Auf der einen Seite stand eine Steinmauer, zu hoch für mich, um darüber zu schauen, auf der anderen Seite wuchsen Hunderte von frisch gepfropften Rosenstökken, und dahinter als Windschutz standen die Maulbeerbäume. Abgesehen von den seltsamen schönen Bäumen und dem, was möglicherweise hinter der Steinmauer verborgen war, wuchsen in diesem gepflegten Garten nichts als Rosen. Nur die hohen Hecken, die das Grundstück umschlossen, zeugten von dem subtropischen Klima. Quitten- und Guavenbäume, Zitronen-, Orangen-, Avocado-, Papaya-, Mango- und Granatapfelbäume wuchsen zwischen Weihnachtssternen und Hibiskussträuchern, und um einen großen, abgestorbenen Stamm rankte ein blühendes Meer von Bougainvilleen. Zu Füßen der Bäume wuchsen Hortensien, Apapanthus und rosa und rote Kanna. Es sah aus, als seien die heimischen Bäume und Pflanzen herangekommen, um in den eleganten Rosengarten hin-einzuglotzen. Sie standen um den Garten herum wie bunte Bauerntölpel, rempelten und schubsten sich gegenseitig und trauten sich nicht, weiter vorzudringen. Ich nahm mir vor, das Gelände hinter der Mauer später zu erkunden, und schlüpfte unter das Laubdach der dunklen Maulbeerbäume. Der Boden um die Stämme herum bekam keinen Sonnenstrahl ab, er war feucht und bedeckt mit heruntergefallenen Früchten. Meine Füße zerquetschten die Beeren, und die Haut zwischen
meinen Zehen färbte sich dunkelrot. Ich hatte seit dem Mittagessen mit Big Hettie am Vortag nichts mehr gegessen, und ich machte mich hungrig über die köstlichen Beeren her. Die runden, purpurroten Früchte fielen bei der leisesten Berührung von ihren Stengeln. Bald waren meine Hände voller roter Flecken, und meine Lippen müssen ähnlich ausgesehen haben. Über mir stritten sich laut zeternd die Vögel, während sie die Beeren pickten, und die Blätter und kleineren Äste zitterten von ihrem pausenlosen Hin und Her. Als ich auf der anderen Seite der Maulbeerbaumreihe wieder auftauchte, stand ich direkt vor einer Aloe, und ihre orangegelben Blüten wuchsen hoch über meinem Kopf. Vor mir reckte sich der naturbelassene afrikanische Hügel dem Himmel entgegen, und hinter mir, auf seinen Schoß gestickt, aufregend und anrührend wie ein Gemälde auf einer Pralinenschachtel, lag der Rosengarten. Ohne nachzudenken, hatte ich begonnen, den Hügel hochzusteigen, ich umging die Felsen, das dunkle Gestrüpp und die Dornenbüsche. Nach einer halben Stunde kam ich oben auf dem Gipfel an. Ich stieg auf einen riesigen, vom Wetter gerundeten Findling und sah mich um. Hinter mir erstreckten sich die Hügel, wurden höher und höher, bis sie in der Ferne zu richtigen Bergen wurden. Unter mir lag eine kleine Stadt. Ich schaute in ein ausgedehntes, wunderschönes Tal, das sich dreißig Meilen durch das lowveld bis zu einem Steilhang hinzog, der als dunkelroter Strich am blassen Horizont zu erkennen war, einer Klippe, die zum Grasland des highvelds hochführte. Es war der schönste Ort, an dem ich jemals gewesen war. Die Sonne war gerade aufgegangen und hatte die Tautropfen im Gras noch nicht aufgeleckt, aber die Luft blitzte schon vor Helligkeit. Ich konnte die Welt unter mir sehen, aber die Welt da unten konnte mich nicht sehen. Ich hatte meinen Platz gefunden. Soviel schöner schien er mir zu sein als der alte Mangobaum neben dem Sportplatz im Internat. Über mir, kaum höher als der Drachen eines kleinen Jungen, zog ein Hühnerhabicht seine Kreise und suchte die Hühnerhöfe tief unten nach einer Henne ab, die unvorsichtig genug war, einem ihrer Küken zu erlauben, sich so weit zu entfernen, daß es sich nicht mehr rechtzeitig unter ihren aufgeplusterten Leib flüchten konnte. Der Tod war im Begriff, in einem Wirbel von Federn aus dem scharfen Blau des Morgenhimmels herabzustoßen.
Kamine fingen an zu rauchen. Die Hausangestellten waren aus ihren schäbigen Wohnquartieren hinter einem der Vorberge gekommen, um den Weißen das Frühstück zu bereiten. Das Krähen der Hähne, das zu Beginn meines Aufstiegs nur vereinzelt zu mir heraufgedrungen war, schwoll an und wurde zu einem Konzert: Die Stadt erwachte. Manche Viertel lagen noch im Schatten der Hügel, aber ich sah, daß die Straßen von Jakarandabäumen gesäumt waren. Mein Großvater war Frühaufsteher. Bald würde er auf den Beinen sein, und kaum zwanzig Minuten später tauchte ich unter dem grünen Blätterdach der Maulbeerbäume durch und stand wieder im Rosengarten. Er beschnitt die Rosenlaube auf der dritten Terrasse und schaute auf, als ich näher kam. »Morgen, Junge. Hast dich umgeschaut?« Er schnitt einen Zweig ab und zog ihn aus dem Gitter heraus, an dem er sich hochgerankt hatte. »Mrs. Butt ist eine unordentliche alte Dame, wenn man sie gehen läßt und ihr nicht immer wieder ihre hübschen Locken schneidet, gerät sie schnell außer Kontrolle«, sagte er fröhlich. Ich sagte nichts. Mein Großvater sprach oft zu sich selbst, und es hatte wenig Sinn, ihm Fragen zu stellen. Bald lernte ich die Namen aller Rosen im Garten, und Mrs. Butt war, wie sich dann herausstellte, der Name dieses Rosenstrauchs mit den winzigen rosa Blüten. Ich stülpte meine Hosentasche nach außen und öffnete vorsichtig die große Sicherheitsnadel, mit der ich Mevrous doek festgesteckt hatte. Ich hockte mich auf den Boden und knotete das Taschentuch auf, in dem sich Großvaters Schilling, das Geldstück, das Hennie mir bei der Abfahrt in Kaapmuiden gegeben hatte, und der zusammengefaltete Zehnschillingschein befanden. Ich nahm Großvaters Schilling heraus, knotete das Tuch zusammen und steckte es mit der Sicherheitsnadel in meiner Hosentasche wieder fest. »Das ist das Wechselgeld von den Leinenschuhen, Großvater«, sagte ich, erhob mich und hielt ihm den glänzenden Schilling hin. Er unterbrach seine Arbeit und hielt die Heckenschere wie ein Schwert über seinem Kopf. »Da, nimm ihn, es ist doch dein Schilling«, wiederholte ich. Er griff nach der Münze und steckte sie in die Tasche seiner Khakihose. »Du bist ein guter Junge, davon kann ich mir Tabak für die ganze Woche kaufen.« Er klang zufrieden, also holte ich tief Luft und rückte mit meinem Anliegen heraus. »Großvater, wo ist Nanny?« Er hatte sich den Rosen zugewen-
det, drehte sich jetzt langsam wieder um und sah zu mir herab. Dann ging er die paar Schritte zu der Treppe, die zur nächsten Terrasse hinaufführte, und setzte sich langsam auf die oberste Stufe. »Setz dich, Junge«, sagte er und klopfte mit der Hand neben sich auf die Stufe. Ich setzte mich neben ihn. Er zog die Pfeife aus der Tasche und klopfte sie vorsichtig auf der Treppenstufe unter sich aus. Er blies zweimal durch die Pfeife, bevor er den Tabakbeutel aus der Tasche zog und sie stopfte. Mein Großvater hatte es nie eilig, und da ich das wußte, stützte ich das Kinn in die Hände und wartete ab. Er riß ein Streichholz an seinem Oberschenkel an und setzte die Pfeife in Brand. Er paffte schweigend, bis blaue Tabakschwaden um seinen Kopf herumzogen. Wir saßen lange so da, mein Großvater schaute ins Leere, seine Pfeife gurgelte leise, wenn er daran zog, und ich schaute auf das Hausdach, von dessen Anstrich nur noch einzelne rote Flecken auf dem verrosteten Wellblech übriggeblieben waren. Ich hörte, wie ein Lastwagen den Berg hinauffuhr und wie er im niedrigen Gang mit der Steigung zu kämpfen hatte. Als er oben war, schaltete der Fahrer in einen höheren Gang, und der Motor klang, als sei er erleichtert, daß der Anstieg geschafft war. »Das Leben fängt immer wieder neu an. Nichts bleibt, wie es ist, mein Junge«, sagte mein Großvater schließlich. Dann zog er an seiner Pfeife und betrachtete seine Fingernägel, die rissig u«d schmutzig waren von der Gartenarbeit. »Abschiednehmen, verlieren, was wir am meisten lieben, das ist das Leben, das ist es, worum sich alles dreht.« Scheiße, das weiß ich schon, dachte ich. Dann wurde ich sehr traurig. Versuchte er mir beizubringen, daß Nanny tot war? Er starrte wieder ins Leere, seine Pfeife war ausgegangen. »Sie war eine sanfte und zarte Frau. Afrika war viel zu hart für so einen zitternden kleinen Spatzen.« Bei diesen Worten zündete er wieder ein Streichholz an und hielt es in den Pfeifenkopf. Er paffte Rauchschwaden, es gurgelte, aber er sprach nicht weiter. Obwohl sich das gar nicht nach der großen fetten Nanny anhörte, wußte ich, daß mein Großvater sich immer etwas ungenau über Menschen auszudrücken pflegte, und da das, was er gesagt hatte, gefühlsmäßig einigermaßen zu passen schien, wartete ich geduldig ab. Er nahm die Pfeife aus dem Mund und deutete damit auf den Rosengarten um uns herum. »Ich hab ihn für sie geplant und gebaut, genau diese
Rosen wuchsen im Pfarrgarten ihres Vaters in Yorkshire, die Bäume auch, Ulme und Eiche, Rottanne und Walnußbaum.« Er steckte die Pfeife in den Mund, aber sie war wieder ausgegangen, und er mußte sie zum dritten Mal anzünden. Diesmal zog er so kräftig, daß sein Kopf beim Ausatmen völlig in einer Wolke von blauem Rauch verschwand. Ich hatte schon beobachtet, daß mein Großvater sehr viel Zeit für seine Pfeife brauchte, wenn er meiner Mutter nicht antworten wollte oder weil er Zeit zum Nachdenken brauchte. Deshalb wartete ich ab und hielt es für das beste, nichts zu sagen, obwohl ich überhaupt nichts von dem verstand, was er gesagt hatte. Nanny, die alles mit mir besprach, hatte nie mit mir über die Rosen im Farmgarten gesprochen, und ich wußte, daß sie aus einem Dorf in der Nähe des Tugela-Flusses stammte. Sie hatte oft von der Ernte erzählt, vom Wind im grünen, von in der Sonne reifenden Kürbissen, die so groß wie die Bierkessel eines Häuptlings waren, und von den süßen Tsamme-Melonen, die wild am Flußufer wuchsen, aber sie hatte nie irgend etwas von Rosen erwähnt. Nachdem er wieder lange ins Nichts gestarrt hatte, fuhr Großvater fort. »Als sie bei der Geburt deiner Mutter starb, konnte ich nicht länger hier in ihrem Rosengarten bleiben.« Er sah mich an, als ob er meine Zustimmung suchte. »Manchmal ist es das beste, man entfernt sich von seinen Erinnerungen. Laß sie hintereinander antreten, und schmeiß sie aus deinem Kopf raus.« Ich begriff, daß diese Geschichte nichts mit Nanny zu tun hatte. »Ihr Bruder Richard war aus England gekommen, um seine Arthritis zu kurieren, und er beschloß hierzubleiben. Ein feiner Kerl, dieser Richard, und er konnte mit Rosen umgehen. In dreißig Jahren hat er nichts verändert. Als die Rosenstöcke alt wurden, hat er sie mit der gleichen Sorte ersetzt.« Er deutete auf einen Stock, der in der Terrasse unter ihm wuchs. Zwei langstielige Rosen standen in voller Blüte, die Spitzen ihrer orangefarbenen Blütenblätter hatten einen rötlichen Schimmer. »Ich möchte wetten, daß das die einzige Imperial Sunset ist, die es in Afrika gibt«, sagte er mit einem Ausdruck tiefer Zufriedenheit. Er klopfte seine Pfeife so lange auf die Treppenstufe, bis die Asche herausfiel. »Jetzt, nachdem Dick tot ist, bin ich in ihren Rosengarten zurückgekehrt. Der Schmerz ist vorbei, aber die Rosen, die süßen Yorkshirerosen sind nicht einen Tag älter geworden und blühen für immer weiter.«
Noch nie hatte ich meinen Großvater an einem Stück soviel sprechen hören. Obwohl er mir meine Frage nach Nanny nicht beantwortet hatte, wußte ich, daß er etwas laut ausgesprochen hatte, das ihm lange Zeit im Kopf herumgegangen war. »Du bist ein guter Junge, jetzt geh und spiel.« Er erhob sich und machte sich weiter an der alten Mrs. Butt zu schaffen. Ich ging auf das Haus zu. Rauch stieg aus dem Kamin auf, es konnte nicht mehr lange dauern, bis das Frühstück fertig war. Plötzlich hörte das Klikken der Gartenschere auf. »Junge!« rief er hinter mir her. Ich drehte mich um, sein struppiger alter Kopf berührte fast das Blätterdach der Rosenlaube. »Du mußt deine Mutter nach Nanny fragen. Es hat etwas mit dieser verdammten idiotischen Religion zu tun, der sie jetzt anhängt.« Ich freute mich sehr, als ich in die Küche ging und dort unsere zwei Küchenmädchen Dee und Dum vorfand. Als sie mich hereinkommen sahen, stürzten sie sich mit einem Freudenschrei auf mich. Sie faßten mich an den Händen, und wir tanzten zu dritt durch die Küche. »Du bist gewachsen. Dein Haar ist immer noch so kurz. Wir müssen deine Kleider waschen. Dein Mund ist ganz verschmiert von den Früchten. Du mußt was essen. Wir sorgen für dich, jetzt wo Nanny weg ist. Ja, wir sind jetzt deine Nanny, wir haben alle Lieder gelernt.« Die zwei Mädchen waren außer sich vor Freude, und ich war glücklich, schrecklich glücklich, daß sie noch da waren. Sie waren immer nur Randfiguren für mich gewesen, Nanny hatte sie ständig beschimpft und sie, obwohl sie sie gern hatte, dumme, hohlköp-fige Shangaanmädchen genannt. Ich merkte erst jetzt, wie wichtig sie für mich waren. Sie bedeuteten etwas Bleibendes in einer Welt, die sich verändert hatte und immer noch veränderte. Jetzt, wo meine Mutter dem Herrn folgte und man sich nicht mehr auf sie verlassen konnte, waren mein Großvater und die beiden Mädchen die einzigen Konstanten in meinem Leben. »Ich, Dum«, sagte eine von ihnen auf englisch und zeigte mit der einen Hand auf ihre Brust, während sie sich kichernd die andere vor den Mund hielt. »Ich, Dee«, echote die andere, und das Weiß ihrer Augen leuchtete und erhellte ihr kleines schwarzes Gesicht. Sie waren eineiige Zwillinge und erinnerten mich an die Namen, die ich ihnen gegeben hatte, als ich ganz klein war. Aus Tweedle Dum und Tweedle Dee
war ganz einfach Dum und Dee geworden. Ich lachte über ihr holpriges Englisch. Es roch nach frischem Kaffee, und Dee holte eine große braune Kaffeekanne aus Emaille, die hinten auf dem Ofen stand. Dum stellte eine große Tasse auf den Tisch, legte einen Zwieback daneben und ging dann hinaus auf die Veranda, um einen Krug mit Milch aus der Kühlbox zu holen. Sie kam zurück, und Dee goß frischen Kaffee in die Tasse. Beide konzentrierten sich auf das, was sie taten, und sagten nichts. Nachdem Dee die Kaffeekanne zurück auf den Ofen gestellt hatte, maß Dee sorgfältig zwei Teelöffel voll Zucker ab, schüttete ihn in den dampfenden Kaffee und rührte mit demselben Löffel um. Es war ein Liebesdienst für mich, Ausdruck ihrer Ergebenheit. Dum brachte mir einen Stuhl und stellte ihn in die Mitte der Küche. Ich setzte mich, und Dee stellte die Tasse auf den Boden zwischen meine Beine. Ich saß auf dem kleinen Stuhl aus ungegerb-tem Leder und tunkte den steinharten Zwieback in den Kaffee, wie ich es immer auf der Farm gemacht hatte. Die zwei Mädchen setzten sich vor mir auf den polierten Zementboden und versteckten ihre Beine unter ihren Röcken. Auf der Farm hatten sie nur ein langes Baumwolltuch getragen, das sie sich um den Leib und eihe Schulter geschlungen hatten. Ihre Hand- und Fußgelenke waren beringt mit dünnen Reifen aus Kupfer und Messing, die beim Gehen leise geklimpert hatten. Jetzt trugen sie keine Ringe mehr und hatten über ihre schlanken, vorpubertären Körper ärmellose, sackartige Kleider aus blauweiß gestreifter Baumwolle gezogen, die ihnen fast bis zu den Knöcheln gingen. Während ich den Zwieback eintunkte und den Kaffee trank, unterhielten wir uns auf Shangaan. Sie erkundigten sich nach dem Nachtwasser, und ich sagte ihnen, daß Inkosi-Inkosikazis Zauber gewirkt hatte und das Problem gelöst sei. Sie glucksten und seufzten noch ein bißchen und erzählten dann von der Ernte, und wie Männer in einem großen Lastwagen gekommen waren und ein riesiges Feuer angezündet hatten und darin alle schwarzen Hühner verbrannt hatten. Der Geruch von verbrannten Federn und gebratenen Hühnern war erst nach drei Tagen verflogen, aber niemand hatte das Fleisch essen dürfen. So eine Verschwendung hatte es noch nie gegeben. Mein Großvater hatte einen Tag und eine Nacht auf der Veranda gesessen, zugeschaut, wie das Feuer langsam her-
unterbrannte, schweigend an seiner Pfeife gezogen und nichts gegessen und nichts getrunken. Schließlich schwiegen wir, und die Mädchen spürten, daß das Gespräch über Nanny nicht mehr länger hinausgezögert werden konnte. »Wo ist die, die Nanny ist?« fragte ich schließlich und drückte mich so förmlich aus, damit sie der Frage nicht ausweichen konnten. Beide Mädchen senkten die Köpfe und legten eine Hand vor den Mund. »Ach, ach!« klagten sie und schüttelten langsam die Köpfe. »Wer hat euch verboten, darüber zu sprechen?« »Das dürfen wir nicht sagen«, ließ Dee heraus, und beide seufzten unglücklich. »Die Herrin?« fragte ich und kannte die Antwort bereits. Beide schauten mich flehentlich an, Tränen standen in ihren Augen. »Sie ist sehr verändert, seit sie zurück ist«, sagte Dum. »Wir mußten unsere Arm- und Beinringe abnehmen, und diese Kleider machen unseren Körper ganz heiß«, fügte Dee traurig seufzend hinzu. Beide standen auf und gingen zum Ofen. Sie stellten sich mit dem Rücken zu mir und weinten leise. »Ich werde sie selber fragen«, sagte ich und klang mutiger, als ich mich fühlte. »Sagt mir wenigstens, ob die, die Nanny ist, lebt.« Sie drehten sich erleichtert zu mir um. Jetzt konnten sie etwas sagen, ohne gegen die Anweisung meiner Mutter zu verstoßen. »Sie lebt!« riefen sie mit weit aufgerissenen Augen. Sie wischten sich die Tränen ab und lächelten mich an. »Wir machen Wasser warm und waschen dich. Schau mal, das Wasser kommt in einer eisernen Schlange ins Haus«, sagte Dee, ging zum Spülbecken und drehte den Hahn auf. »Ich bin zu alt, um mich von dummen Mädchen waschen zu lassen«, sagte ich verärgert. »Macht das Wasser warm, dann wasch ich mich selbst.« Meine Mutter hatte mir am Abend nur das Gesicht und die Hände mit einem feuchten Lappen abgewischt, und ich hatte mich seit der Dusche bei Hoppie in Gravelotte nicht mehr richtig gewaschen. Die Mädchen zeigten mir ein kleines Zimmer, das von der hinteren Veranda aus zu erreichen war, in dem eine alte Zinnbadewanne stand. Sie schleppten eine große Kanne mit heißem Wasser
zu zweit in das Zimmerchen und gossen das dampfende Badewasser in die Wanne. Dann stritten sie sich, wer das kalte Wasser aufdrehen dürfte. Dum gewann, und Dee tat so, als ob sie schmollte, und verließ das Badezimmer. Kurz darauf kam sie mit einem frisch gewaschenen Hemd und einem Paar Khakishorts zurück. Ich befahl ihnen, das Zimmer zu verlassen. Sie kicherten laut und schubsten und schoben sich aus dem kleinen dunklen Raum. Das war ein himmlisches Bad! Ich wusch mir das ganze Elend vom Leib. Der Gedanke, daß Nanny lebte, machte mich glücklich, und es fiel mir jetzt viel leichter, meine Mutter nach ihr zu fragen. Nach dem Frühstück zog sich meine Mutter ins Nähzimmer zurück und empfing verschiedene Leute. Es waren Frauen aus der Stadt, und ich hörte, wie sie sich mit ihnen über Kleider unterhielt. Als ich die Mädchen danach fragte, sagten sie: »Die Missus macht jetzt Kleider für andere Missus, und die kommen andauernd zum Anprobieren.« Auf der Farm hatte meine Mutter oft auf ihrer Singer-Nähmaschine genäht, praktisch alle Kleider für meinen Großvater und mich. Jetzt schien sie dasselbe auch für andere Leute zu tun. Abgesehen von einem Jungen, der meinem Großvater bei der Gartenarbeit half, waren Dum und Dee unsere einzigen Hausangestellten. Sie putzten, wuschen und bereiteten das Essen vor, aber meine Mutter kochte und gab alle Anweisungen. Die Mädchen schliefen in einem kleinen Raum, der an das Gartenhäuschen hinter der Steinmauer angebaut war. Dort waren auch der Gemüsegarten und ein verlassener Hühnerstall. Der Gedanke an Hühner war für meinen Großvater einfach zuviel. Damals machte ich mir keine Sorgen darüber, wie wir lebten, aber später wurde mir klar, daß es gar nicht so einfach war, genügend Geld für unseren Haushalt zusammenzukriegen. Mein Großvater verkaufte junge Rösenbäumchen, und meine Mutter arbeitete den ganzen Tag und manchmal auch bis tief in die Nacht als Schneiderin. Neben ihrer Arbeit und ihren religiösen Verpflichtungen hatte sie nicht mehr viel Zeit für anderes. Ich vertrödelte den Morgen und hatte nach dem Mittagessen genug Mut beisammen, um das Nähzimmer meiner Mutter zu betreten. Sie hatte eine neue Singer-Nähmaschine mit einer elektrischen Fußtaste. Sie war nicht wie die alte, bei der man treten mußte, damit
sie lief. Bei dieser hier mußte man einfach mit dem Fuß einen kleinen elektrischen Schalter drücken, und dann summte die Maschine los. Dee hatte mir eine Tasse Tee für meine Mutter mitgegeben, und ich hatte kaum etwas verschüttet, als ich sie ihr reichte. Als ich eintrat, schaute meine Mutter auf und lächelte. »Ich dachte gerade, ich könnte sterben für eine Tasse Tee, und da bist du auch schon«, sagte sie. Sie goß den übergeschwappten Tee aus der Untertasse in die Tasse zurück und trank mit geschlossenen Augen einen Schluck. »Himmlisch, einfach himmlisch, nichts geht über eine gute Tasse Tee.« Sie klang genauso wie früher, bevor sie ins Krankenhaus gekommen war. Einen Augenblick lang dachte ich, ich hätte das Getue mit Pastor Mulvery übertrieben stark empfunden, denn ich wußte, daß ich sehr müde gewesen war. Ich setzte mich auf einen der Stühle und wartete ab. »Du bist für ein Schwätzchen hergekommen, oder? Du mußt mir ja so viel über die Schule und deine netten kleinen Freunde zu erzählen haben.« Sie beugte sich vor und küßte mich auf den Kopf. »Ich sag dir was. Heute abend nach dem Essen, wenn Großvater Radio hört, setzen wir uns für ein gemütliches Schwätzchen in die Küche, und du erzählst mir alles. Ich sterbe schon vor Neugier. Großvater hat mir erzählt, daß die dicke alte Mevrou Vorster, der wir die Farm verkauft haben, ihm gesagt hat, du sprichst so gut Afrikaans wie ein Bure. Das ist ja gut und schön, mein Lieber, aber zum Glück wirst du diese Sprache hier nicht brauchen. Dr. Henny schrieb, daß du irgendwas am Ohr hattest. Ist das jetzt wieder gut?« Ich nickte, und sie fuhr fort: »Mir geht es jetzt auch besser, viel besser. Der Herr hat mich berührt, und ich wurde geheilt. Es ist eine wunderbare Erfahrung, wenn man im Licht des Herrn wandelt.« Sie trank einen Schluck aus ihrer Tasse. »Mutter, wo ist Nanny?« fragte ich, unfähig, mich länger zurückzuhalten. Es war lange Zeit still, und meine Mutter trank noch einen Schluck und schaute in ihren Schoß. Schließlich sah sie mich an und sagte zärtlich: »Warum, mein Liebling, deine Nanny ist zurück ins Zululand gegangen.« »Hast du sie dort hingeschickt, Mutter?« sagte ich mit bebender Stimme. »Ich habe gebetet, und der Herr hat mich geleitet, er hat mich zu meiner Entscheidung geleitet.« Sie stellte die Tasse ab, schob ein Stück Stoff auf der Nähmaschine zurecht und nähte los. Dann hielt
sie wieder inne und seufzte tief. »Ich habe versucht, sie auf den Weg des Herrn zu führen, aber sie hat ihr Herz gegen ihn verhärtet.« Sie blickte zur Decke, als suche sie Bestätigung. »Ich weiß nicht, wieviel Nächte ich auf meinen Knien verbracht und um Hilfe gefleht habe.« Sie schaute wieder zu mir herunter, schürzte dann die Lippen und warf den Kopf zurück. »Deine Nanny wollte ihre heidnischen Amulette und Glücksbringer nicht ausziehen, und sie bestand auch darauf, ihre Arm- und Beinreifen weiterzutragen. Ich betete und betete, und dann endlich schickte mir der Herr das Zeichen, auf das ich gewartet hatte, dein Großvater erzählte mir vom Besuch dieses gräßlichen alten Hexendoktors und daß deine Nanny das Ganze veranlaßt habe.« Plötzlich sah sie ärgerlich aus. »Dieser ekelhafte, dreckige, böse alte Mann wollte meinen fünf Jahre alten Sohn verderben ! Gott läßt sich nicht verhöhnen! Wie hätte ich einer schwarzen, abergläubischen Heidin weiter gestatten können, meinen einzigen Sohn zu erziehen?« Sie trank wieder einen Schluck Tee. »Deine Nanny war vom Teufel besessen«, sagte sie abschließend und schien zufrieden zu sein, daß das Gespräch vorbei war. Ich strengte mich sehr an, nicht zu weinen. In mir legten die Einsamkeitsvögel ein ganzes Dutzend Eier. Ich kämpfte die Tränen zurück, stand vom Stuhl auf und schaute meiner Mutter direkt in die Augen. »Der Herr ist ein Scheißkerl!« rief ich und rannte aus dem Zimmer. Ich lief durch die Alice-im-Wunderland-Tunnel, unter den Maulbeerbäumen hindurch zur Freiheit des Hügels und kam vor lauter Schluchzen nicht gut voran. Schließlich kam ich oben bei dem großen Findling an und weinte hemmungslos. Die Nachmittagssonne brannte, und unter mir glühte die Stadt in der Hitze. Wann würde das alles aufhören? Bestand das Leben wirklich nur daraus, das zu verlieren, was wir am meisten lieben, wie Großvater gesagt hatte? Konnte nicht alles wenigstens eine Zeitlang so bleiben, wie es war, bis ich groß genug war, um zu verstehen, wie das alles zusammenhing? Warum mußte man immer eine Tarnkappe tragen? Der einzige Mensch, der keine Tarnung brauchte, war Nanny. Sie lachte und weinte und wunderte sich und liebte und stellte nie etwas anders dar, als es tatsächlich war. Ich würde ihr einen Brief schreiben und ihr meine Zehnschillingnote schicken, dann würde sie wissen, daß ich sie liebte.
Als ich auf dem Fels hoch oben auf dem Hügel saß und die Sonne langsam über dem Buschland niedersank, wurde ich erwachsen. Einfach so. Die Einsamkeitsvögel hörten auf, steinerne Eier zu legen, sie erhoben sich aus ihren steinernen Nestern und flogen mit ihren scheußlichen Flügeln davon, und die Eier, die sie zurückgelassen hatten, zerfielen zu Staub. Ein starker, heulender Wind kam auf und blies den Staub hinweg, bis ich innerlich ganz leer war. Ich wußte, sie würden zurückkommen, aber für einen Augenblick war ich allein. Ich gestattete mir, zu lieben, wen ich lieben wollte. Die Stricke, die mich an die Vergangenheit fesselten, hatten sich gelöst. Die Leere war eine neue Art von Einsamkeit, eine freie Art von Einsamkeit. Nicht die Art, die tief in dir steinerne Eier legte, bis man sich schwer und verzweifelt fühlte. Ich wußte, wenn die knochigen Vögel zurückkämen, dann würde ich der Herr der Einsamkeit sein und nicht mehr ihr Diener. Man mag sich fragen, wie ein Sechsjähriger so etwas denken konnte. Ich kann darauf nur antworten, daß einer es getan hat.
9 »Das ist ein schöner Sonnenuntergang, nicht? Hier ist er immer besonders schön.« Ich schaute mich um, und da stand ein großer dünner Mann, größer, viel größer und vielleicht sogar dünner als mein Großvater. Er trug einen zerlöcherten alten Hut, und seine schneeweißen Haare hingen ihm bis auf die Schultern. Sein Gesicht war ordentlich rasiert, faltig und tiefbraun, und seine Augen waren von einem so intensiven Blau, daß sie zu jung für sein Gesicht zu sein schienen. Er trug einen Khaki-Overall ohne Hemd, und auch seine Arme und seine Brust waren sonnengebräunt. Seine Hosenbeine verschwanden unterhalb der Knie in Gamaschen, die in Sokken steckten, die er über seinen derben Wanderstiefeln aufgerollt hatte. Auf dem Rücken trug er einen großen Leinenrucksack, aus dem direkt hinter seinem Kopf ein Kaktus etwa einen Meter hoch in die Luft ragte. Seine langen Stacheln sahen gefährlich aus. In der linken Hand hielt der Mann eine komisch aussehende Kamera, die mit einem Lederriemen um den Hals gesichert war.
»Du mußt mich entschuldigen, ich habe dich fotografiert. Ich mach das eigentlich sonst nie. Es ist nicht höflich. Aber es war dein Ausdruck. Es ist immer der Ausdruck, der wichtig ist. Ohne Ausdruck ist der Mensch nichts als ein Klumpen Fleisch. Ich glaub, du hast Probleme, ja?« Ich war hastig aufgesprungen, als er mich angesprochen hatte, und jetzt sah ich von meinem zwei Meter hohen Felsen etwas dümmlich auf ihn herunter. Er zeigte auf mich und den Felsen und dann auf den Himmel hinter mir. »Ich werde es >Junge auf einem Felsen< nennen.« Er machte eine Pause und legte den Kopf auf die Seite. »Ich glaub, das ist ein guter Titel. Du erlaubst es mir, ja?« Ich nickte, und er schien sich zu freuen. Er ließ die Kamera los und streckte mir seine rechte Hand entgegen. Wir waren viel zu weit voneinander entfernt, als daß unsere Hände sich hätten berühren können, aber ich streckte meine auch aus, und beide schüttelten wir die Luft vor uns. Es war eine sehr schöne Begrüßung. »Von Vollensteen, Professor von Vollensteen.« Er zog seine Hand zurück und machte eine steife kleine Verbeugung. »Peekay«, sagte ich und zog ebenfalls meine Hand zurück. Seine Freundlichkeit wirkte ansteckend, und er war überhaupt nicht herablassend. Aber was das Beste war, ich spürte hinter seinen Worten keine zweite Bedeutung. »Peekay? P-e-e-k-a-y, das ist ein schöner Name, klingt gut. Ich glaube, das wäre ein guter Name für einen Musiker.« Er blickte zu mir hoch, dachte kurz nach und atmete dann tief ein, als ob er eine wichtige Entscheidung getroffen hätte. »Ich glaube, wir können Freunde sein, Peekay«, meinte er. »Warum stechen die Stacheln von diesem Kaktus Sie nicht in den Rücken?« Der Leinenrucksack war viel zu dünn, um ihn vor den harten, bestimmt acht Zentimeter langen gefährlichen Stacheln zu schützen. »Ha! Das ist eine gute Frage, Peekay. Wenn du es selbst rausfindest, brauchst du keine Strafe zu zahlen.« »Sie haben dem Kaktus da alle Dornen abgeschnitten.« »Ja, das wäre möglich. Eine sehr gute Antwort«, sagte er und schüttelte langsam den Kopf, »aber falsch. Peekay, es tut mir leid, aber jetzt mußt du eine Strafe zahlen, und dann versuchst du es
nochmal.« Er strich sich übers Kinn. »Laß mich nachdenken... ja! Mir ist etwas eingefallen. Du mußt die Hände so halten«, er stützte sie seitlich auf seinen Hüften auf, »und dann stellen wir uns beide gleichzeitig auf ein Bein und sagen: Egal, was Schlimmes ist passiert, ab heut bin ich davon kuriert. Absoludel!« Ich stand oben auf dem Findling und balancierte, die Hände in den Hüften» auf einem Bein, aber jedesmal wenn ich den Reim aufsagen wollte, mußte ich lachen und verlor das Gleichgewicht. Bald lachten wir uns beide krumm, ich oben auf dem Stein und Professor von Vollensteen unten auf dem Boden, und der Kaktus hüpfte wie ein grünes Indianerkind auf seinem Rücken. Den Spruch schaffte ich noch ganz gut, aber das »Absoludel« war einfach zuviel, ich brach lachend zusammen. Erschöpft setzte sich Professor von Vollensteen schließlich hin, zog ein großes rotes Tuch aus der Tasche seines Overalls und wischte sich die Augen. »Mein Englisch ist nicht gerade gut, was?« fragte er und winkte mich zu sich herab. »Komm, Peekay, jetzt verrat ich dir das Geheimnis«, sagte er und zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf den Kaktus. »Aber zuerst mußt du dich meinem stacheligen grünen Freund vorstellen, den ich kostenlos auf meinem Rücken transportiere.« Ich kletterte von dem Findling und stellte mich neben ihn. »Peekay, das ist Euphorbia Grandicornis. Er ist ein sehr scheuer Kaktus und in dieser Gegend nur schwer zu finden.« »Hallo«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel. »Gut, jetzt, wo ihr euch kennengelernt habt, kann Mr. Euphorbia Grandicornis dir zeigen, warum er mich nicht am Rücken sticht.« Ich trat hinter ihn und schaute in den Rucksack. Ich sah eine kleine zusammenklappbare Schaufel und die Kaktuswurzeln, die in Jute eingewickelt und mit einer dicken Schnur zusammengebunden waren. Der Teil des Rucksacks, der auf Professor von Vollensteens Rücken auflag, war mit dickem Leder verstärkt, durch das kein noch so langer Kaktusstachel durchdringen konnte. »Gar nicht so dumm, was?« fragte er grinsend. »Wenn ich noch mal geraten hätte, war ich drauf gekommen«, sagte ich, fest davon überzeugt, daß dem so war. »Ja, klar! Hinterher ist es immer leicht, der Schlaumeier zu sein, wenn man den Trick erst mal kennt.«
»Ehrlich, Mr. Professor von Vollensteen, ich glaub, ich wär draufgekommen«, protestierte ich, ängstlich darauf bedacht, ihn zu beeindrucken. »Okay! Dann kriegst du noch eine Chance. Ein Professor ist kein Mister, aber ein Mister kann ein Professor sein. Was sagst du dazu, Mister Schlaumeier?« Ich setzte mich auf einen Stein und versuchte die Lösung zu finden, und das Herz sank mir in die Hose, denn ich wußte sofort, daß ich nicht draufkommen würde. Ich fand seinen Vornamen etwas ungewöhnlich, genau wie Peekay. Ich hatte noch niemanden kennengelernt, der Professor hieß, aber andererseits war ich auch der einzige Peekay, den ich kannte. Weiter kam ich nicht. »Ich gebs auf, Sir«, sagte ich und kam mir ziemlich dumm vor. »Was heißt Professor?« Er hatte den Rucksack abgelegt und schaute wieder in seine Kamera. »Peekay, du bist ein Genie, mein Freund! Schau mal, was da an dem Stein wächst, auf dem du sitzt. Das ist eine Aloe Microsfigma!« Ich stand von dem Stein auf und kniete mich neben ihn. Ein kleines Grüppchen winziger gepunkteter Aloepflanzen, jede kaum größer als ein Zweischillingstück, wuchs im Gras direkt neben dem Stein. Selbst aus der Nähe waren sie kaum zu sehen. Der alte Mann schob das Gras zur Seite, legte sich flach auf den Bauch und stellte die Kamera auf die kleinen fleischigen Pflanzen ein. Sie waren von der untergehenden Sonne in rötlichem Licht gebadet. »Das Licht ist wunderbar, aber ich muß mich beeilen.« Seine Hände zitterten vor Aufregung. Endlich war er soweit. Er knipste und kam langsam wieder auf die Knie. Mit einem Taschenmesser trennte er vier Pflänzchen ab und ließ doppelt so viele stehen. Er hielt mir die winzigen Pflanzen hin. »Wunderbar, Peekay, klein, aber perfekt, das ist ein gutes Omen für unsere Freundschaft.« Ehrlich gesagt, war ich nicht sehr beeindruckt, aber ich war froh, daß er so glücklich über den Fund war. »Sie haben mir noch nicht gesagt, was ein Professor ist.« Er schlug die kleinen Pflanzen in sein Taschentuch ein, legte sie in den Rucksack und schulterte ihn wieder. »Ja, das gefällt mir, du kannst dich gut konzentrieren, Peekay. Was ist ein Professor? Das ist eine gute Frage.« Er schaute in die untergehende Sonne. »Ein Professor ist ein Mensch, der zuviel Whisky trinkt und einmal gut
Beethoven und Brahms und Mozart und manchmal, wenn auch nicht ganz ernsthaft, sogar Chopin gespielt hat. Ein Mensch, der in Wien, in Leipzig, in Warschau und Budapest Erfolg gehabt hat, und einmal auch in London.« Seine Schultern sackten sichtlich ab. »Ein Professor ist aber auch ein Mensch, vor dem nicht mal mehr kleine Mädchen, die kaum >Hänschen klein< richtig spielen können, Respekt haben.« Ich merkte, daß seine gute Laune vorbei war, und daß ihm merkwürdige Sachen durch den Kopf gingen. Aber dann blitzten seine Augen plötzlich wieder auf. »Ein Professor ist ein Lehrer, Peekay. Ich habe die Ehre, ein Musiklehrer zu sein.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter. Es war das erste Mal, daß er mich berührte, und es war eine unbewußte freundliche Geste, so wie wenn ein Kind einen beim Spielen anfaßte. »Du kannst mich Doc nennen. Weißt du, ich bin auch Doktor der Musik, das ist alles dasselbe. Ich bin zu alt und du bist zu jung für Mister dies oder Professor das. Wir beide wollen uns nicht hinter solchen Nebensächlichkeiten verstecken. Einfach Peekay und Doc. Ist das eine gute Idee?« Ich nickte zustimmend, war aber zu scheu, um das Wort laut auszusprechen. Er schien mein Zögern zu bemerken. »Wie heiße ich, Peekay?« fragte er beiläufig. »Doc«, antwortete ich schüchtern. Hoppie war der einzige Erwachsene, mit dem ich mich bisher so kameradschaftlich unterhalten hatte, und ich fand es etwas beängstigend. »Hundertprozentig richtig! Dafür kriegst du eine Eins plus. Absoludel!« sagte er, und wir mußten beide lachen. Die Sonne geht im Buschland sehr schnell unter, und wir beeilten uns, den Hügel hinunterzusteigen, und kleine Steinchen rollten vor uns her. Wir versuchten, vor Einbruch der Nacht zu Hause zu sein. Unter uns gingen die ersten Lichter an, Rauch stieg aus den Kaminen auf, als die müden Hausangestellten das Abendessen für ihre weiße Herrschaft zubereiteten, bevor sie das Geschirr abwuschen und dann endlich auch nach Hause gingen. »Du lebst also in dem englischen Rosengarten«, sagte Doc, als wir die dunkle Reihe der Maulbeerbäume erreichten. »Bald zeig ich dir meinen Kaktusgarten.« Es war zu dunkel, um sein Gesicht sehen zu können, aber ich spürte, daß er lächelte. »Wir sehen uns wieder, mein Freund Peekay.« Er berührte mich leicht an der Schulter, und
ich sah, wie seine hochgewachsene, schlaksige Gestalt mit der Euphorbia Grandicornis hoch über seinem Kopf in der Dunkelheit verschwand. »Gute Nacht, Doc!« sagte ich und rief ihm dann, einer Laune folgend, nach: »Euphorbia Grandicornis und Aloe Microsfigma!« Der alte Mann wandte sich im Dunkeln um. »Großartig, Peekay. Absoludel!« Euphorbia Grandicornis, ich drehte den Namen in meinem Kopf hin und her. So ein edler Name für einen blöden alten Kaktus. Ich überlegte kurz, wie er sich für einen Boxer machen würde, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Euphorbia Grandicornis war kein Name für den nächsten Weltmeister im Weltergewicht. Als ich in die Küche kam, erwarteten mich Dum und Dee, und Dee sagte: »Die Missus möchte dich sehen, Inkosikaan.« Sie sah bekümmert aus. Dum kam zu mir und berührte meinen Arm. »Wir haben dir etwas zu essen in den Nachttopf unter deinem Bett getan«, flüsterte sie, und sie klammerten sich eng aneinander und wimmerten vor Angst. Ich klopfte an der Tür der Nähstube. »Komm herein«, sagte meine Mutter und blickte kurz auf, als ich eintrat. Dann beugte sie sich über ihre Nähmaschine und nähte eine ganze Zeitlang weiter. Natürlich hatte sie keine Ahnung, daß sie es mit einem alten Hasen in Sachen Verhör und Bestrafung zu tun hatte, und seit ich plötzlich oben auf dem Berg erwachsen geworden war, war ich nicht mehr zu knacken. Eine wirklich harte Nuß. Nach einer Weile hörte sie auf zu nähen, nahm die Brille ab und seufzte tief. »Du hast mich und den Herrn tief verletzt«, sagte sie schließlich. »Weißt du denn nicht, daß der Herr dich liebt?« Sie wartete meine Antwort nicht ab. »Im Evangelium steht, >Wehe dem, der auch nur ein Haar eines meiner Kinder krümmt, das ist so, als hätte er es mir getan, so spricht der Herr.<« Ich hatte dasselbe schon von Pik Botha gehört. Dieser Spruch bestätigte meine Vorstellung, die ich vom Herrn hatte. Pik Botha und Mutter und Pastor Mulvery arbeiteten alle für die gleiche Person. Meine Mutter fuhr fort: »Als ich heute nachmittag mit dem Herrn in Stille zusammen war, sprach er zu mir. Du wirst nicht geschlagen, aber er wird nicht ausgelacht, deshalb gehst du sofort ohne Abendessen auf dein Zimmer.«
»Ja, Mutter«, sagte ich und drehte mich um, um zu gehen. »Einen Augenblick! Du hast dich noch nicht bei mir für dein Verhalten entschuldigt.« Ihre Augen blitzten plötzlich wütend auf. Ich ließ meinen Kopf hängen, wie ich es auch immer bei Mevrou getan hatte. »Es tut mir leid, Mutter«, sagte ich. »Nicht leid genug, wenn du mich fragst. Glaubst du vielleicht, es ist leicht für mich, genügend Geld zu verdienen? Ich darf nicht müde werden. Ich bin ja nur deine Mutter, auf der man rumtrampeln darf. Die einzige, um die du dich sorgst, ist diese schwarze Frau, diese stinkende schwarze Zulufrau!« Plötzlich war sie nicht mehr wütend, und Tränen des Selbstmitleids traten ihr in die Augen. Sie griff nach dem Kleid, an dem sie gerade arbeitete, wischte sich mit zuckenden Schultern die Augen und fing an zu schluchzen. »Ich kann nicht mehr, erst dein Großvater und dann diese zwei in der Küche, und jetzt du auch noch!« Sie schaute mich an, ihr hübsches Gesicht sah vom Weinen häßlich und entstellt aus. Dann schrie sie plötzlich auf, drückte sich das Kleid wieder ans Gesicht und schluchzte hysterisch los. Ich war sehr erleichtert. Das war meine Mutter, wie ich sie von früher kannte. Sie hatte einen ihrer Anfälle, und ich wußte genau, was ich jetzt zu tun hatte. »Ich bring dir eine gute Tasse Tee und ein Aspro, und dann ruhst du dich schön aus«, sagte ich und verließ den Raum. Dum und Dee freuten sich sehr, daß ich keine Prügel bezogen hatte, und machten schnell eine Kanne Tee. Sie drehten sie unentwegt auf dem Küchentisch, damit er schneller zog. Dee gab mir zwei Aspro aus einer großen Flasche, ie auf dem Bord über der Spüle stand. Ich steckte sie in die Tasche, denn ich hatte Angst, daß Tee darüberschwappen würde, wenn sie auf der Untertasse lagen. Als ich in das Nähzimmer kam, saß meine Mutter an der Maschine und trennte eine Naht auf. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet, aber sonst schien sie ihre Fassung wiedererlangt zu haben. Ich stellte die Tasse vorsichtig auf den Tisch neben die Nähmaschine, fischte in meiner Tasche nach den Aspro und legte sie daneben. »Vielen Dank«, sagte sie angespannt und schaute mich nicht an. »Jetzt geh sofort in dein Zimmer, und laß dich bis morgen früh nicht mehr blicken.«
Das war eine leichte Strafe, ich hatte viel Schlimmeres erwartet. Dum und Dee hatten drei Würstchen, zwei große Kartoffeln und ein paar Mandarinen in den Nachttopf gelegt, ein richtiger Festschmaus. Anschließend fiel mir nichts Besseres ein, als mich ins Bett zu legen. Es war ein langer und sehr schöner Tag gewesen. Die Einsamkeitsvögel waren weggeflogen, ich war erwachsen geworden und hatte einen neuen Freund namens Doc gefunden, und ich hatte viel Neues gelernt. Euphorbia Grandicornis war ein häßlicher grüner Kaktus mit langen, gefährlich aussehenden Stacheln, Aloe Mi-crosfigma war eine winzige, gefleckte Aloepflanze, die sich unter Felsen versteckte, und ein Professor war ein Lehrer, der Musik unterrichtete. Außerdem gab es eine Rose namens Mrs. Butt und eine andere, die Imperial Sunset hieß. Morgen würde ich Nanny einen Brief schreiben und ihr meine zehn Schilling schicken. Sie würde sich darüber freuen und würde wissen, daß jemand sie liebte. Während ich einschlief, dachte ich daran, wie groß das Loch für Big Hetties Grab wohl sein würde, wie Hoppie gegen Adolf Hitler kämpfte, was bestimmt leichter werden würde als der Kampf gegen Jackhammer Smit, und wie ich Weltmeister im Weltergewicht werden würde. Zwei Tage später saß ich auf der vorderen Veranda und schaute den Militärlastern nach, die auf der Straße vorbeifuhren. Ich hatte entdeckt, daß etwa drei Meilen außerhalb der Stadt in einem Tal ein Armeelager errichtet wurde. Die großen, beigefarbenen Bedford-, Chevrolet- und Fordlaster mit einer Plane über den Ladepritschen fuhren schon seit zwei Tagen hier vorbei. In manchen saßen Soldaten mit Gewehren. Aber die meisten Lastwagen waren mit Zelten, Holz und anderen Sachen beladen, die man für ein Armeelager braucht. Als mein Großvater die Nachrichten im Radio gehört hatte, hatte er gesagt, es sei typisch für die Armeebonzen, ein Militärlager an der Endstation einer Nebenstrecke zu bauen, von wo aus Truppen nirgendwo schnell hingelangen könnten, am wenigsten nach Lourenco Marques, wo man den Portugiesen keinen Augenblick über den Weg trauen konnte, daß sie ihre Neutralität bewahren würden. Meine Angst vor Adolf Hitler war sofort wieder da. Ich fand heraus, daß Lourenco Marques nur acht Meilen entfernt war, falls sie
durch Swasiland kämen. Ich war froh, daß Großvater Nannys Adresse im Zululand hatte, und daß ich ihr eine Geldanweisung von zehn Schilling geschickt hatte, sie meiner Liebe versichert und eine alte Fotografie dazugelegt hatte, auf der sie mich umarmt hielt. Wenn sie niemand fand, der ihr den Brief vorlesen konnte, wüßte sie doch, daß er von mir kam, und mein Fluchtplan bliebe intakt. Ich freute mich auch, daß die Armee so nah war. Lourenco Marques war der nächste Hafen, und dort wollte Adolf Hitler offenbar alle rooineks aus dieser Gegend ins Meer treiben. Selbst eine Armee an der Endstation einer Nebenstrecke war besser als überhaupt keine Armee. Meine Mutter fügte hinzu, daß es zur Zeit in Lourenco Marques wahrscheinlich von deutschen Spionen nur so wimmelte, und daß sie bestimmt Codeworte im Radio benutzten, um den Nazis unter den Buren, die sich verschworen hatten, das Staatsgebäude von innen her einzureißen, Mitteilungen zukommen zu lassen. Ich dachte an den Richter und an Mr. Stoffel, die immer Radio gehört hatten. Als mein Großvater sagte, das sei alles Quatsch, war ich mir nicht so sicher. Darüber dachte ich nach, als ich eine Kolonne von einhundertundfünf Armeelastern beobachtete, die bei weitem größte bisher. Ich bemerkte Doc nicht, bis er fast am Tor war. »Guten Morgen, Peekay.« Er trug einen weißen Leinenanzug und einen Panamahut, so daß ich ihn kaum wiedererkannte. Er hatte ein Einkaufsnetz bei sich und einen Spazierstock mit silbernem Griff, und unter den Arm hatte er einen großen Umschlag aus Manilapapier geklemmt. »Guten Morgen, Doc«, sagte ich und sprang auf. Ich fand es etwas komisch, seinen Namen laut auszusprechen, obwohl ich ihn in Gedanken schon tausendmal so genannt hatte. »Kann ich reinkommen?« Ich eilte die Treppe hinunter, um ihm das Tor zu öffnen. »Das ist ein offizieller Besuch, Peekay, ich bin hergekommen, um mit deiner Mutter zu sprechen.« Ich war enttäuscht. Ich hatte nicht gewußt, daß er meine Mutter kannte. Ich folgte ihm die Stufen hinauf. »Bitte mach uns miteinander bekannt«, sagte er, als wir auf der Veranda waren. Unsinnig froh darüber, daß ich ihn zuerst kennengelernt hatte, öffnete ich die Eingangstür und führte ihn ins Wohnzimmer. Auf der
Farm hatten wir nur selten Besuch gehabt, aber der Ablauf war immer derselbe gewesen. Zuerst bot man den Gästen einen Platz an, und dann bekamen sie Kaffee und Kuchen. Ich bat Doc sich zu setzen, und er tat es auch, aber vorher stand er mitten auf dem Zebrafell, drehte sich langsam um die eigene Achse und nahm den Raum in sich auf. Als er die Großvateruhr sah, hielt er inne und sagte: »Englisch, London, ungefähr 1625, ein sehr schönes Stück.« Er zog eine goldene Taschenuhr aus seiner Uhrentasche, ließ den Deckel aufschnappen und schaute kurz auf das Zifferblatt. »Vier Minuten im Monat«, sagte er und schob die Uhr in die Tasche zurück. Ich war verblüfft, daß er wußte, wieviel unsere Uhr nachging, und er hatte recht. Ich dachte, daß es Großvater ihm vielleicht gesagt hatte. »Kennen Sie meinen Großvater?« fragte ich Doc. »Ich habe bis jetzt noch nicht das Vergnügen gehabt, aber wir werden uns gut verstehen, wir haben beide mit Stacheln zu tun, ich mit den Kakteen, er mit den Rosen. Die Engländer und die Deutschen sind gar nicht so verschieden. Es wird schon klappen.« Das sagte er, als ich gerade das Zimmer verließ, um Dum und Dee zu sagen, daß sie Kaffee und Kuchen bringen sollten. Ich war wie vor den Kopf geschlagen, Professor von Vollensteen war ein Deutscher! Was sollte ich nur tun? Mein Großvater war in die Bibliothek in der Stadt gegangen, um sich neue Bücher zu holen, das war in jedem Fall schon mal gut. Man konnte schließlich nicht wissen, was er tun würde, wenn er einem Deutschen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstände, obwohl er gegen Doc wohl keine großen Chancen hätte. Ich beschloß, meiner Mutter nichts davon zu sagen. Sonst bekam sie vielleicht auf der Stelle einen hysterischen Anfall. Irgendwie wußten Dum und Dee schon, daß wir einen Gast hatten. Sie stellten das Teegeschirr und einen halben Biskuitkuchen auf ein Tablett. Ich hörte die Nähmaschine summen, als ich zum anderen Ende des Hauses ging, um meiner Mutter Bescheid zu sagen, daß ein Gast da war. Ich klopfte an, bevor ich die Tür öffnete. »Es ist Besuch für dich da, Mutter«, rief ich, um das Geräusch der Nähmaschine zu übertönen. Sie hörte auf zu nähen und schaute mich an. »Sag ihr, daß sie hereinkommen soll, mein Liebling, das muß Mrs. Cameron sein, die ihren Rock abholen will.«
»Es ist Professor von Vollensteen. Er möchte mit dir sprechen«, sagte ich leise. »Professor wer?« fragte sie und nahm die Brille ab. »Er ist Lehrer, ein Musiklehrer«, sagte ich schnell und versuchte, mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Sie erhob sich, strich sich das Haar glatt und griff nach ihrer Handtasche. Sie holte eine Puderdose heraus, schaute in den winzigen Spiegel und puderte sich eilig die Nase. »Wir können keinen Musikunterricht brauchen, für so etwas haben wir kein Geld«, sagte sie. Ich folgte ihr und war mir nicht sicher, wie sie Doc empfangen würde. Aber meine Mutter war auf dem Land groß geworden, und alle Besucher wurden höflich behandelt, ganz gleich, warum sie gekommen waren. Als sie eintrat, erhob sich Doc vom Sofa und streckte seine Hand aus. »Madam«, sagte er und verbeugte sich leicht, »Professor Karl von Vollensteen.« Meine Mutter streckte ihm ihre Hand entgegen. Doc ergriff sie, beugte sich darüber und schlug leicht die Hacken zusammen. »Bitte setzen Sie sich doch, Professor, möchten Sie eine Tasse Kaffee mit uns trinken?« Sie ging ihm gerade bis zur Taille, und als er sich wieder setzte, waren ihre Köpfe in gleicher Höhe. »Das ist sehr freundlich, Madam. Zweierlei habe ich heute mitgebracht.« Er griff in das Netz am Boden und zog eine Marmeladenbüchse heraus, in die eine kleine Pflanze eingetopft war. Die Pflanze hatte nur zwei rosa geränderte Blätter, die steil nach oben wuchsen. Sie sahen genau wie zwei hellgrüne Hasenohren aus. »Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen Kalanchoe Thyrsiflora vorstelle, sehr selten zu finden in dieser Gegend, sie wird oft für eine Grünpflanze gehalten, aber ich versichere Ihnen, Madam, daß es sich um einen echten Kaktus handelt.« Doc reichte meiner Mutter die Büchse, und sie sagte, daß sie sich unmöglich diesen Namen merken könne, und lachte ihr nervöses Lachen. »Ja, es ist ein schwieriger Name, aber Sie können auch einfach Hasenohr zu ihm sagen, Madam«, sagte Doc freundlich, obwohl er unausgesprochen zu verstehen gab, daß der kleine Kaktus durch den volkstümlichen Namen herabgesetzt wurde. Dum und Dee kamen herein, Dee trug das Tablett mit dem Teegeschirr und dem Kuchen und Dee die Kaffeekanne aus Porzellan, die für Besucher aus dem Schrank geholt wurde. Dee setzte das Ta-
blett auf dem Servierwagen ab und rollte ihn vorsichtig zu meiner Mutter, die sie in die Küche schickte, um ein Messer für den Kuchen zu holen. Dum ging mit kerzengeradem Rücken und ausgestrecktem Arm in die Knie, bis sie die Kaffeekanne auf dem Servierwagen abstellen konnte, ohne die geringste Gefahr einzugehen, etwas zu verschütten. Dann wurde auch sie zurück in die Küche geschickt, um das Sieb zu holen. »Man kann es ihnen hundertmal sagen, aber es nützt überhaupt nichts. Ich weiß nicht, was in ihren Köpfen vorgeht«, seufzte meine Mutter und stellte die kleine Pflanze auf das untere Tablett des Servierwagens. Ich hatte neben ihrem Stuhl gestanden, und jetzt wandte sie sich an mich. »Geh jetzt.« Doc schaute auf. »Ich würde mich freuen, wenn Peekay hierbleiben könnte, falls Sie es gestatten, Madam.« »Wer?« sagte meine Mutter. »Ihr Sohn, Madam. Ich wäre froh, wenn er hierbleiben könnte.« »Was um alles in der Welt hast du dem Professor erzählt? Wer ist Peekay?« »Das ist mein neuer Name. Ich hab's dir noch nicht gesagt«, sagte ich aufgeregt. Meine Mutter lachte, aber ich wußte, daß sie sich ärgerte. »Aber warum denn, du hast doch einen sehr schönen Namen, mein Lieber.« Sie lächelte mich merkwürdig an und wandte sich dann an Doc. »Natürlich kann er hierbleiben, aber ich fürchte, unsere Familie ist nicht gerade musikalisch, und Unterrichtsstunden wären für uns viel zu teuer.« Ohne Dee und Dum, die wieder ins Zimmer gekommen waren und neben ihr standen, anzusehen, streckte sie ihre Hand aus, nahm das Messer und das Sieb und entließ die beiden jungen Mädchen mit einer ungeduldigen Kopfbewegung. »Vielen Dank, Madam.« Meine Mutter hob die Kaffeekanne. »Bitte schwarz und ohne Zucker«, sagte Doc und beugte sich erwartungsvoll vor. Meine Mutter goß ihm Kaffee ein. »Ein Stück Kuchen, Professor?« Doc hob abwehrend eine Hand und sagte: »Vielen Dank.« Es war eine Angewohnheit, an die ich mich schwer würde gewöhnen können. Er sagte »vielen Dank«, wenn er »nein danke« meinte, und natürlich verstand meine Mutter ihn falsch, denn sie legte ein Stück
Kuchen auf einen Teller und reichte ihn Doc zusammen mit dem Kaffee. Er nahm ihn an, ohne weiteren Protest. Doc stellte den Kaffee und den Kuchen auf das Zebrafell zwischen seinen Beinen und griff nach dem Umschlag aus Manilapapier. »Und jetzt zum zweiten.« Seine Augen leuchteten, als er den Umschlag meiner Mutter reichte. »Großer Gott, was kann das sein?« fragte sie, als sie die Lasche des Umschlags herausklappte. Sie zog die größte Fotografie heraus, die ich jemals gesehen hatte, und zu meiner Überraschung war ich darauf abgebildet, wie ich auf dem Findling oben auf dem Hügel saß. »Großer Gott!« Meine Mutter starrte das Bild wortlos an. Das Foto zeigte alle Einzelheiten gestochen scharf, selbst die Flechten auf dem Felsen. Die Sonnenstrahlen, die durch eine silbergeränderte Wolke hindurchdrangen, schienen direkt auf den Felsen gerichtet zu sein, auf dem ich saß. Mein Körper, halb im Schatten, schien eins mit dem Felsen zu sein. Damals wußte ich es noch nicht, aber es war ein sehr ungewöhnliches Foto. Schließlich fand meine Mutter ihre Sprache wieder. »Wo haben Sie das aufgenommen? Es ist so traurig! Warum haben Sie ihn fotografiert, als er traurig aussah?« Doc rieb sich das Kinn, so einen Kommentar hatte er offensichtlich nicht erwartet, und er mußte einen Augenblick nachdenken, bevor er antwortete. Er ignorierte die erste Frage, beugte sich vor und beantwortete die zweite. »Ja, das ist so: Nur ein großes Bild zeigt einen lächelnden Mann. Frans Hals, der lachende Ritter, 1624.« Er zeigte auf die Großvateruhr. »Zu der Zeit ist auch diese Uhr gemacht worden. Das Lächeln, Madam, wird von Menschen dazu benutzt, um die Wahrheit zu verbergen, aber der Künstler ist ausschließlich an der Darstellung der Wahrheit interessiert.« Er lehnte sich zurück, offensichtlich zufrieden mit seiner Antwort. »Großer Gott, Professor, das ist alles viel zu schwierig für einfache Landbewohner wie uns. Er ist ja noch ein kleiner Junge. Ich hab's einfach lieber, wenn er lächelt.« »Natürlich! Aber manche Menschen lernen Traurigkeit schon früh kennen. Sie ist ein Teil der Intelligenz, genau wie das Verstehen.« Meine Mutter versteifte sich. »Sie scheinen ja viel über meinen Sohn zu wissen, Professor. Ich verstehe nicht ganz wieso. Er ist erst seit drei Tagen aus dem Internat zurück.«
Doc klatschte glücklich in die Hände. »Internat! Ha, das erklärt alles. Für einen Jungen wie ihn ist ein Internat ein Gefängnis.« Meine Mutter wurde ungeduldig, sie klopfte mit den Fingern auf die Armlehnen, ein sicheres Zeichen, daß die Sache nicht so besonders gut verlief. »Wir hatten keine Wahl, Professor. Ich war krank. Es war das beste für ihn unter den gegebenen Umständen.« Sie schaute auf ihren Schoß und hatte den Kaffee noch nicht berührt. Doc merkte plötzlich, daß er zu weit gegangen war. »Verzeihen Sie mir, Madam.« Er beugte sich vor. »Ich habe das nicht gesagt, um Sie zu verärgern. Ihr Sohn ist ein begabtes Kind. Ich weiß nicht in welcher Richtung, und ich weiß nicht wie sehr. Aber ich hoffe, es ist die Musik. Ich bin gekommen, um Sie zu fragen, bitte, Madam, ob ich ihn unterrichten darf?« Er hatte leise und sehr charmant gesprochen, und ich fühlte, wie meine Mutter sich entspannte und wie seine Worte ihrem Ego schmeichelten. »Hm! Sie scheinen mehr über ihn zu wissen als seine Mutter. Ich glaube nicht, daß er sich irgendwie von anderen Kindern seines Alters unterscheidet«, sagte sie und klang leicht beleidigt, aber ich merkte, daß sie nur so tat und daß sie sich in Wirklichkeit über das Kompliment freute. Meine Mutter war eine stolze Frau, und sie wollte von niemandem ein Almosen. »Aber ich sehe keine Möglichkeit. Klavierstunden wachsen nicht auf Bäumen, Professor.« »Ja, das stimmt. Aber vielleicht wachsen sie auf Kakteen.« Docs tiefblaue Augen blitzten vor Vergnügen. »Zwei Jahre habe ich nach der Aloe Microsfigma gesucht, hier, dort, überall. Und dann, peng! Einfach weil er auf einem Stein sitzt, ist die Aloe Microsfigma plötzlich da. Der Junge ist ein Genie. Absoludel.« »Wovon sprechen Sie eigentlich, Professor? Was haben Sie beide gemacht?« Vorhin war sie fast ärgerlich gewesen, und jetzt war sie seinem Charme voll erlegen. »Madam, wir haben uns oben auf dem Berg getroffen, nur Gott hat auf uns herabgeblickt, und dieses Bild hält den Augenblick für immer fest«, sagte er und zuckte mit seinen mageren Schultern. »Es war ganz einfach Schicksal, der neue Kaktusmann ist gekommen.« Meine Mutter war sich nicht sicher, wie sie das verstehen sollte. »Ich bin wiedergeborene Christin, Professor, in diesem Haus wird Gottes Name nur ausgesprochen, wenn er gepriesen wird«, sagte sie, hauptsächlich um ihre Verwirrung zu verbergen, aber auch als
Warnung an Doc, sich kein übertrieben vertrautes Verhältnis zum Allmächtigen anzumaßen. »Gott und ich haben keinen Grund zum Streit, Madam. Der Allmächtige hat die Kakteen ersonnen. Wenn Gott sich durch eine Pflanze begreiflich machen wollte, dann, glaube ich, würde er sich für den Kaktus entscheiden. Der Kaktus besitzt all die Segnungen, die Gott den Menschen zugedacht hat und doch meistens ihr Ziel verfehlen. Lassen Sie es mich erklären. Der Kaktus ist demütig, aber nicht unterwürfig. Er wächst dort, wo keine andere Pflanze mehr wachsen kann. Er beschwert sich nicht, wenn die Sonne auf ihn niederbrennt, wenn der Sturm ihn von der Klippe reißt oder ihn im trockenen Wüstensand begräbt, oder wenn er Durst leidet. Wenn es regnet, speichert er Wasser für schwere Zeiten. Er blüht in guten wie in schlechten Zeiten. Er schützt sich gegen Gefahren, aber er tut keiner anderen Pflanze etwas zuleide. Er paßt sich perfekt fast jeder Umgebung an. Er hat Geduld und liebt die Einsamkeit. In Mexiko gibt es einen Kaktus, der nur einmal in hundert Jahren blüht, und das für eine einzige Nacht. Das deutet auf eine außerordentliche Heiligkeit hin, meinen Sie nicht auch? Der Kaktus ist die Pflanze der Geduld und der Einsamkeit, der Liebe und des Wahnsinns, der Häßlichkeit und der Schönheit, der Stärke und der Zartheit. Von allen Pflanzen machte Gott den Kaktus am meisten nach seinem eigenen Bilde. Er hat meinen immerwährenden Respekt und ist meine Leidenschaft.« Er machte eine Pause und zeigte auf die kleine grüne Pflanze in der Marmeladenbüchse. »Kalanchoe Thyrsiflora, so eine schüchterne kleine Dame. Zwei Jahre hab ich nach ihr gesucht, bis ich sie gefunden habe, jetzt wächst sie glücklich in meinem Kaktusgarten und muß sich mit ihren großen Ohren den ganzen Unsinn anhören.« »Das ist sicherlich alles sehr nett, Professor, aber was bedeutet es?« sagte meine Mutter. Ich merkte, daß sie verwirrt war und nicht wußte, ob Doc Gott nun gepriesen oder am Ende doch gelästert hatte. »Meine Augen sind nicht mehr so gut. Wenn der Junge mich begleitet, um Kakteen zu sammeln, gebe ich ihm dafür Musikunterricht. Das ist eine gute Idee, nicht? Kakteen gegen Mozart!« Meine Mutter sah zufrieden aus, als wäre ihr ein neuer Gedanke gekommen. »Seine Großmutter war eine sehr kreative Frau, eine
Malerin. Aber ich weiß nicht, ob es Musiker in der Familie gegeben hat. Mein Vater wird es wissen.« Sie deutete auf die beiden Rosenbilder, die links und rechts vom Bücherschrank an der Wand hingen. »Ihre Werke«, sagte sie bescheiden, »sie hat nie etwas anderes als Rosen gemalt.« Doc drehte sich nicht um, um die Bilder zu betrachten. »Ich habe sie mir angeschaut, als ich hereinkam, sie sind sehr gut.« Der Gedanke, einen Musiker in der Familie zu haben, gefiel meiner Mutter offensichtlich sehr gut. Die Buren sind von Haus aus musikalische Leute und griffen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu ihren Ziehharmonikas, Gitarren und manchmal sogar zur Geige. In den Augen meiner Mutter war das Musizieren die einzige versöhnliche Eigenschaft, die sie hatten. Die Vorstellung von einem Sohn, der Klavier spielte, noch dazu klassische Musik, war ein gesellschaftlicher Triumph, mit dem sie nie gerechnet hätte. Selbst in dieser Stadt, in der fast nur englisch gesprochen wurde, bedeutete jemand, der Klavier spielen konnte, eine soziale Aufwertung, die fast so viel zählte wie Geld. Ich mußte bald feststellen, daß die Apostolische Glaubensmission, die an die Wiedergeburt glaubte, an Wunderheilungen und an die Gabe, in begnadetem Zustand verschiedene Sprachen sprechen zu können, und die ihre Täuflinge untertauchte, bei der Bevölkerung nicht in hohem Ansehen stand. Barberton war nicht die Stadt, in der man dazu neigte, seine Gebete laut herauszuschreien. Meine Mutter war in ständigem Kampf zwischen ihrer Pflicht, dem Herrn und seiner frömmelnden Gemeinde zu dienen, und ihrem Verlangen, zu den »besseren Leuten« zu gehören. Old Pißkopp am Klavier versprach ein wirksames Instrument zu werden, mit dem die sozialen Belange der Familie wieder ins rechte Lot gebracht werden konnten. Als Mrs. Cameron zur Anprobe kam, war der Handel perfekt. Ich würde als Docs ständiger Begleiter und Helfer mit ihm durch die Gegend streifen, und dafür würde er mir kostenlosen Klavierunterricht erteilen. Ich mußte mich heftig zusammenreißen, um mir meine Freude nicht anmerken zu lassen. Obwohl ich keine Ahnung hatte, was es hieß, musikalisch zu sein, hatten Töne und Harmonien in meinem Leben mit Nanny von Anfang an eine große Rolle gespielt.
Die langen Sommermonate verbrachte ich hauptsächlich mit Doc und wanderte mit ihm über die Hügel um Barberton. Oft wagten wir uns weit in die dunklen kloofs vor, wo die tief eingeschnittenen Täler zwischen den Hügeln ins richtige Gebirge hinaufführten. Diese grünen feuchten Schluchten, in denen Baumfarne und große alte Gelbholzbäume wuchsen, von deren Ästen Bartflechte und wilder Wein herabwuchsen, waren das dunkle kühle Gegenstück zu den unfruchtbaren, sonnendurchglühten Hügeln mit Aloe, Dor-nengestrüpp, Felsen und Gras. Manchmal sahen wir einen vereinzelt stehenden Eisenholzbaum, der majestätisch über das Laubgewölbe der anderen Bäume hinauswuchs. Diese Riesen waren von den Äxten der Goldgräber verschont geblieben, die vor fünfzig Jahren in den Hügeln nach dem wertvollen Metall gesucht hatten. Die Berge waren mit Schächten durchzogen, und das zum Abstützen benötigte Holz hätte noch viele Jahrhunderte weiter wachsen können. Doc brachte mir die Namen der blühenden Pflanzen bei: Der Zuckerbusch hatte auffällige weiße Blüten. Ein leuchtend orangeroter Fleck in der Ferne war meistens ein wilder Granatapfelbaum. Er brachte mir die Namen der vielen verschiedenen Bäume bei, zeigte mir, wie ich die Blätter des Kampferbuschs zerreiben mußte, um den wunderbar aromatischen Duft einatmen zu können. Bald kannte ich die blaßgelben Blüten der wilden Gardenien. Nichts entging Docs Neugier, und er lehrte mich die unbezahlbare Kunst der Pflanzenbestimmung. Bald ordneten sich Bäume und Blätter, Büsche, Kletterpflanzen und Flechten schematisch in meinem Kopf, als er mir die Natur der Ökosysteme von Buschland, kloof und Hochgebirge erklärte. »Alles paßt zusammen, Peekay. Nichts ist unerklärlich. Die Natur ist eine Kettenreaktion. Eins folgt aufs andere, alles hängt von etwas anderem ab. Das Kleinste ist genauso wichtig wie das Größte. Schau mal«, sagte er und deutete auf eine kleine Kletterpflanze, die sich um einen jungen Baum herumwand, »das ist ein junger Stinkbaum, der dreißig Meter hoch werden könnte, aber die Kletterpflanze wird gewinnen, sie wird ihn ersticken, lange bevor er den Himmel gesehen hat.« Er benutzte oft eine Analogie aus der Natur. »Ja, Peekay, am Anfang ist eine Idee immer klein, wie ein junger Baum, aber die Kletterpflanzen kommen und wollen die Idee abwürgen, damit sie nicht
wachsen kann und sterben muß, und man weiß nie, ob man eine große Idee gehabt hat, so groß, daß sie dreißig Meter hoch hätte werden können, bis sie durch das dunkle Laubdach gestoßen wäre und den Himmel berührt hätte.« Er schaute mich an und fuhr fort: »Die Kletterpflanzen sind Menschen, die Angst vor Originalität haben, vor neuen Gedanken. Die meisten Menschen, die man trifft, sind Kletterpflanzen, und wenn du ein junger Baum bist, können sie dir sehr gefährlich werden.« Er schaute mich mit seinen strahlend blauen Augen an. »Hör immer auf dich selbst, Peekay. Es ist besser, einen Fehler zu machen, als einfach den Konventionen zu folgen. Wenn du einen Fehler machst, kein Problem, dann hast du etwas gelernt und wirst stärker. Und wenn du recht hattest, hast du einen Schritt in Richtung auf ein erfülltes Leben getan.« Er seufzte und zwinkerte mir zu. »Experten, was hab ich dir über Experten gesagt, Peekay?« »Man darf nicht immer auf sie hören. Frag ein Huhn, und es wird sagen, ein Huhn sollte stets mit Grashüpfern, Mais und Würmern gefüttert werden.« Selbst beim hundertsten Mal fand ich diesen Ausspruch immer noch komisch. Oder Doc zeigte mir, wie sich um den feuchten Hof eines winzigen Rinnsals, das hoch oben von einem Felsen tropfte, zuerst Farne, dann Gebüsch, später Bäume und Kletterpflanzen versammelten, bis der kloof weiter unten ein eng verflochtenes Netzwerk von Pflanzen, Insekten, Vögeln und Tieren wurde. »Du mußt immer zur Quelle zurückgehen, zum Anfang. Je mehr du weißt, um so besser kannst du dein Schicksal bestimmen. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Wissen außerhalb seines Körpers speichern kann. Das hat ihm die Überlegenheit über die Kreaturen um ihn herum eingebracht. Alles war schon einmal da, wenn du weißt, was vorher war, weißt du auch, was kommt. Dein Gehirn, Peekay, hat zwei Funktionen. Es ist Heimstadt für originale Gedanken, aber auch eine Art Handbibliothek, in der du nachschlagen kannst, wo du dich weitergehend informieren kannst. Wenn du das beherrschst, steht dir das gesamte Wissen dieser Welt zur Verfügung.« Doc zerredete nie etwas. Vieles von dem, was er sagte, verstand ich erst Jahre später, aber ich saugte es dennoch auf und verstaute es in meinem unbeholfenen jungen Kopf, wo es langsam reifen und mir später nützlich sein konnte. Er brachte mir bei, beim Lesen auf
den Sinn zu achten, Bemerkungen an den Rand zu schreiben und Informationen weiterzuverfolgen. In der Bibliothek seufzte Mrs, Boxall tief, wenn wir beide hereinmarschierten. »Da kommen ja die Schmierfinken!« Sie behauptete, Stunden gebraucht zu haben, um die mit Bleistift geschriebenen Notizen aus den von uns geliehenen Büchern wieder herauszuradieren. Doc versuchte einmal ihr klarzumachen, daß die Bücher durch die Randbemerkungen an Wert gewonnen hätten, und Mrs. Boxall zog die Augenbrauen hoch und meinte: »Auch wenn sie in Deutsch und in Kinderschrift geschrieben sind, Professor?« Aber ich glaube nicht, daß Mrs. Boxall uns wirklich böse war. Die Bücher über Vögel und Insekten und Pflanzen wurden nur selten von jemandem ausgeliehen, und da ihm außerdem die meisten naturgeschichtlichen Bücher früher gehört hatten, sah Doc die ganze Stadtbibliothek irgendwie als sein Eigentum an. Im Lauf der Jahre war sein Häuschen für all die vielen Bücher zu klein geworden, und er hatte sie der Bücherei gestiftet, die jetzt für Doc nichts anderes als ein bibliographischer Außenposten seines Häuschens war. Doc brachte mir auch die Grundlagen der lateinischen Sprache bei, so daß ich mich nicht mehr ausschließlich auf mein Gedächtnis verlassen mußte und die botanischen Namen für mich langsam einen Sinn bekamen. Auf der Suche nach Kakteen und Sukkulenten kletterten wir auf hohe Berge und felsige Klippen. Gegen Ende des Sommers stieß ich an einem Hang zwischen Grasbüscheln und grauen Schieferplatten zufällig auf Aloe Brevifolia, eine kleine dornige Aloepflanze. Doc war außer sich vor Freude. »Wunderbar! Absolut wunderbar!« Er sprang in die Luft, landete auf einer Schieferplatte und rutschte gut fünfzig Meter den steilen Abhang hinunter. Er kletterte vorsichtig wieder zu mir hoch, seine Hände bluteten von den scharfen Schieferplatten. Aber seine Augen leuchteten noch immer vor Freude über den seltenen Fund. »Hier eine Brevifolia, so hoch oben, das ist ja unmöglich! Du bist ein Genie, Peekay. Absoludel!« Es war der Fund des Sommers und machte laut Doc all die anstrengende Zeit auf den Hügeln und Bergen wett. Wir fotografierten die Pflanzengruppe, nahmen sechs der winzigen Pflanzen mit und ließen doppelt soviele auf dem unwirtlichen Hang zurück. Genau wie ich war Doc Frühaufsteher, den ganzen Sommer über
gab er mir kurz nach Tagesanbruch Klavierunterricht. »In einem Jahr wissen wir mehr, aber es ist nicht so wichtig. Die Musik zu lieben ist alles. Zuerst bring ich dir bei, die Musik zu lieben, danach lernst du langsam, zu spielen.« Ich bemühte mich sehr, Doc zufriedenzustellen. Aber ich vermute, er wußte bald, daß ich nicht außergewöhnlich musikalisch war. Meine Fortschritte, obwohl größer als die der kleinen Mädchen, die er unterrichtete, um leben zu können, deuteten doch eher auf ein bescheidenes Talent hin. Es reichte allerdings, um in den folgenden Jahren meiner Mutter und den ganzen großbusigen Matronen, die in der Stadt den Ton angaben, Sand in die Augen zu streuen. Bei Konzerten, die allerdings nicht mir zu Ehren stattfanden, repräsentierte ich das kultivierte Element, und man applaudierte mir laut und anhaltend. Auf diese Konzerte, die regelmäßig im Frühling und im Herbst stattfanden, war meine Mutter sehr stolz, obwohl sie deswegen einen Kompromiß mit dem Herrn eingehen mußte. Konzerte waren Teufelswerk und gingen dem Herrn gegen den Strich. Konzerte gehörten zu den Sachen, die er, genau wie das Geldverleihen, ganz klar verdammt hatte, als er die Pharisäer und Sadduzäer aus dem Tempel von Jerusalem vertrieb. Sie rechtfertigte meine Teilnahme hauptsächlich damit, daß viele große klassische Komponisten Kirchenmusik geschrieben hatten. Der Herr dachte genauso über das Trinken und das Rauchen, das Kino und das Tanzen, nur nicht über das Ballett. Ballett war eine weitere Sache, die die nach Lavendel duftenden Damen der besseren Gesellschaft sehr gern mochten, und die Ballettvorführung kam gewöhnlich direkt vor meinem Klavierspiel. Diese beiden Darbietungen waren regelmäßig die Höhepunkte der halbjährlich stattfindenden Konzerte. Chopin, natürlich von mir, folgte auf Tschaikow-skys Schwanensee vom Grammophon, getanzt von sechsjährigen Mädchen in Ballettkleidchen und Masken mit Schnäbeln aus Pappmache. Wir waren die wirklich kulturellen Ereignisse in einem bunten Potpourri aus amateurhaften Varietenummern, irischen Liedern, Gitarren- und Akkordeonnummern und bekannten Volksliedern der Buren, die meistens von den Gefängniswärtern vorgetragen wurden. Um das rassische Gleichgewicht zu wahren, folgte darauf mei-
stens das Gilbert und Sullivanquartett. Ein einziges englisches Lied aus einer komischen Oper konnte es nach Meinung des Konzertkomitees leicht mit einem Dutzend Volksliedern der Buren aufnehmen, egal wie schön sie vorgetragen wurden. Am Schluß stimmte der anglikanische Kirchenchor »The White Cliffs of Dover« an, und das Publikum sang mit. Um den Engländern zu zeigen, wo ihre unausgesprochene Loyalität lag, verließen die Gefängniswärter mit ihren Familien vor dieser Massendarbietung die Stadthalle. Dies wurde wiederum von Buhrufen und Pfiffen der weniger gut erzogenen englischen Zuhörer begleitet. Während des Burenkrieges war Deutschland insgeheim auf der Seite der Buren gewesen. Abgesehen von Waffen und Munitionslieferungen, hatte es Nahrungsmittel und Medikamente gespendet und den notleidenden Buren sogar Ärzte geschickt, die nach offizieller britischer Lesart weniger durch britische Waffen als vielmehr durch ein Land starben, das sie nicht mehr ernähren konnte. Für die Buren war Deutschland ein alter vertrauter Freund. Antisemitismus hatte es in der holländischen reformierten Kirche, wo die Juden als die Mörder Christi angesehen wurden, schon immer gegeben, und die Vorstellung, daß einige Rassen anderen überlegen waren, wurde nie auch nur einen Augenblick lang angezweifelt. In dieser Hinsicht erfüllte Adolf Hitler für viele Buren nur seinen Job, und für manche erfüllte er ihn sogar verdammt gut. Nachdem die Wärter und die anderen Nazisympathisanten den Saal verlassen hatten, stand der Rest des Publikums auf, reichte sich die Hände und sang »White Cliffs of Dover« noch zweimal, um sich der Liebe zu Großbritannien zu versichern. Zum Schluß versammelten sich alle verbliebenen Mitwirkenden auf der Bühne, und jeder von uns hielt eine langstielige Rose in der Hand, die ich - ein Zeichen meiner guten Herkunft - vorher mitgebracht hatte. Auge in Auge mit dem bewegten Publikum, das gerade von einer sentimentalen Reise in ein Land, das die meisten von uns niemals sehen würden, zurückgekommen war, standen wir steif da, während eine zerkratzte 78 er Platte »God save the King« spielte. Danach warfen wir die langstieligen Rosen ins Publikum. Mein Großvater, meine Mutter und ich gingen anschließend nach Hause, nachdem wir die Einladung des Bürgermeisters zu dem traditionellen Fest nach dem Konzert im Phoenix Hotel höflich ausge-
schlagen hatten. Weltliche Feste wie diese, auf denen getrunken, geraucht und getanzt wurde, erregten das tiefe Mißfallen des Herrn. In der nächsten Nummer der Goldfield News wurde auf der ersten Seite über das Konzert und den Abzug der Gefängniswärter berichtet. Tagelang wurde über kaum etwas anderes in der Stadt geredet. Hochgestellte Persönlichkeiten schlugen vor, Militär anzufordern, um dieses Nest von Nazivipern auszuheben, oder das Gefängnis nach Nelspruit zu verlegen, eine vierzig Meilen entfernte Stadt, in der hauptsächlich Buren wohnten und wo die meisten Gefangenen wahrscheinlich sowieso herkamen. Mein Großvater, der noch an den Burenkämpfen teilgenommen hatte, wurde von Mr. Hankin, dem Herausgeber der Goldfield News, interviewt. Aber das Interview wurde nie gedruckt. Er hatte gesagt: »Den größten Teil des Burenkriegs hab ich damit zugebracht, mir als Bahrenträger in die Hosen zu scheißen vor Angst. Das einzige, was diese Lumpen besser können als Musik machen, ist Schießen. Ohne sie wäre das Konzert keinen Pappendeckel wert.« Vielleicht dachte Mr. Hankin, daß meiner Familie durch die lobende Erwähnung meiner musikalischen Auftritte genug Ehre erwiesen wäre. Er befragte meinen Großvater nie mehr zu irgend etwas, obwohl die Gefängniswärter während des ganzen Krieges in jedem Konzert das gleiche machten. Mrs. Boxall, die über die kulturellen Ereignisse in der Stadt berichtete, widmete regelmäßig den Großteil ihrer Kolumne Blüten aus einem Kulturgarten von Fiona Boxall meinem Auftritt. Noch Tage danach schien meine Mutter in einem Zustand von Euphorie zu schweben, und ich mußte einen Monat lang zweimal pro Woche einen Rosenstrauß in die Bibliothek bringen. Getreu dem Versprechen, das er meiner Mutter gegeben hatte, pflanzte mir Doc eine bleibende Liebe zur Musik ein. Was meine ungeschickten Hände nie richtig spielen konnten, hörte ich doch klar in meinem Kopf. Die Liebe zur Musik war unter den vielen Geschenken, die er mir gemacht hat, vielleicht das Wichtigste, und er gab mir auch dann noch Klavierunterricht, als sein ruhiges, gütiges Leben von einem Tag zum nächsten beendet und meine Kindheit der Freude, mit ihm allein auf den hohen Felsen und Bergen zu sein, beraubt war.
10 Nach den Weihnachtsferien kam ich in die Schule. Sechs Jahre war zwar das übliche Alter für die erste Klasse, aber schon nach ein paar Tagen stellte sich heraus, daß ich nach dem Schuljahr im Internat in einer Klasse mit unterschiedlich alten Schülern den Kindern hier weit überlegen war. Ich kam in die dritte Klasse, in der ich keinerlei Schwierigkeiten hatte. Mein Vorteil den anderen Kindern gegenüber bestand darin, daß ich die Rechenaufgaben für den Richter gemacht hatte, daß ich schon als kleiner Junge lesen gelernt hatte, daß ich Afrikaans gut verstand, während die anderen englischsprechenden Kinder zum ersten Mal mit dieser Sprache in Berührung kamen. Außerdem hatte mich Doc vom ersten Tag an angeleitet, während unserer Exkursionen Notizen zu machen. Wenn es kein unangenehmes Aufsehen erregt hätte, wäre ich wahrscheinlich in eine noch höhere Klasse gesteckt worden. Ich stand bald, wahrscheinlich zu Unrecht, im Ruf, besonders schlau zu sein. Doc hatte mich überredet, meine Tarnung aufzugeben und nicht mehr den Dummkopf zu spielen. »Klug zu sein ist keine Sünde. Aber klug zu sein und so zu tun, als ob man es nicht ist, das ist eine Sünde, Peekay. Absoludel!« Ein bißchen Ermutigung von ihm hatte gereicht. Unter seiner Anleitung war mein Verstand gierig nach Wissen, und ich fand den Unterricht in der Schule bald langweilig und einfältig. Doc war mein wirklicher Lehrer, und die Schule war einfach der Ort, an dem ich mich zwischen acht und ein Uhr aufhielt und von wo aus ich mich gleich anschließend eilig zu seinem versteckten Häuschen im Kaktusgarten aufmachte. Dieser dornige Garten war eine immerwährende Freude für mich. Er war fast einen halben Hektar groß und lag auf der mehr oder weniger flachen Kuppe eines kleinen Hügels, von dem aus man die Stadt und das Tal überschauen konnte. Es dauerte zehn Minuten, bis man über einen unbefestigten Weg, der sonst nirgendwohin führte, bei ihm oben in der Einsamkeit ankam. Sein Kaktusgarten kann gut die beste private Sammlung von Kakteen und Sukkulenten in der ganzen Welt gewesen sein. Ich, der ich zu einem echten Kaktusexperten wurde, habe niemals eine umfassendere Sammlung gesehen.
Docs Haus bestand aus drei Zimmern und einer kleinen angebauten Küche. Die drei Zimmer hießen Musikzimmer, Bücherzimmer und Whiskyzimmer. Jedes erfüllte einen bestimmten Zweck, in dem einen musizierte er, in dem anderen studierte er und in dem dritten trank er sich in den Schlaf. Doc hatte immer, selbst wenn er betrunken war, einen klaren Kopf. Im ersten Jahr, das wir zusammen verbrachten, hatte ich ihn kein einziges Mal betrunken erlebt, obwohl ich ihn oft wecken mußte, wenn ich kurz nach Tagesanbruch zu ihm kam. Er stolperte dann würgend und hustend ins Freie, kam wieder herein und setzte sich neben mir an den Steinway. Seine blauen Augen waren rot gerändert vom vielen Whisky, den er am Vorabend getrunken hatte, und seine langen Finger umklammerten die Emailletasse voll starkem schwarzen Kaffee, den ich ihm gemacht hatte. Doc verlor nie ein Wort über das Trinken. Alles was er manchmal sagte, wenn ich auf dem großen Steinway spielte, war: »Pianissimo, Peekay, die Wölfe haben letzte Nacht in meinem Kopf geheult.« Dann suchte ich in meinen Noten nach etwas Leisem, das die Nerven nicht zu sehr strapazierte. Vielleicht spielte ich deshalb, als ich älter und besser auf dem Klavier wurde, so gerne Chopin. Es gibt sehr viel weniger Fortissimo in einer Chopinetüde als bei Wagner oder Brahms, und Docs regelmäßiger Kater am Morgen brachte mich wahrscheinlich dazu, sanftere Musik lieben zu lernen. Der Kaktusgarten war ein Zeugnis »seines Problems mit Doktor Flasche«, wie meine Mutter zu sagen pflegte, wenn jemand auch nur irgendwann Hochprozentiges zu sich nahm. Der Pfad durch den Kaktusgarten war auf hundert Meter beidseitig von eingegrabenen Johnny-Walker-Flaschen gesäumt. Die quadratischen Flaschenböden leuchteten in der Sonne wie silbrige Schlangen, die sich um die Kakteen und Aloepflanzen und den orangerot und rosa blühenden Portulak schlängelten. Jede einzelne Flasche stand für einen Versuch, seiner persönlichen Folter zu entkommen. Doc entschuldigte sich nie für sein Trinken. Er erwähnte es fast nie, und wenn er es doch einmal tat, dann schob er mit ruhigen, höflichen Worten den Schwarzen Peter den Wölfen zu. Ich stellte mir geifernde Tiere mit langen roten Zungen vor, die sich mit knirschenden Zähnen über Docs Hirn hermachten.
Es war ein später Samstagnachmittag Ende Januar 1941, ein gutes Jahr nachdem Doc und ich uns auf dem Hügel hinter dem Rosengarten kennengelernt hatten. Wir waren den Tag über unterwegs gewesen und näherten uns gerade Docs Haus. Wir hatten hoch oben eine Gruppe von Senecio Serpens gefunden. Es war ein schöner Fund, obwohl wir nicht wußten, ob es sich um die häufige blaublühende Art oder eine der selteneren andersfarbig blühenden Sorten handelte. Wir hatten beschlossen, sie im Kaktusgarten einzupflanzen und abzuwarten, bis sie blühten. Das machte den Zauber dieses Gartens aus: Sukkulenten können sich dumm stellen. Eine gewöhnlich aussehende Senecio Serpens kann plötzlich von einer Cinderella zu einer Prinzessin werden. Ich bemerkte als erster den Militärlaster mit der weißen Aufschrift Militärpolizei auf der Kühlerhaube. Der Laster stand direkt am Whiskyflaschenpfad, der zum kleinen Haus führte, das hinter den Kakteen versteckt lag. Zwei rauchende Männer lehnten an den vorderen Kotflügeln, ihre roten Kappen lagen auf dem Kühler, der in Richtung Tal schaute. Doc erklärte mir die Unterschiede zwischen der Gattung Senecio Serpens und der heller gefärbten Glottiphyllitm Uncatum, und beim Gehen haute er seinen langen Spazierstock in den Boden und war so aufgeregt wie immer, wenn er mit ausgefallenen botanischen Details beschäftigt war. Die beiden Männer sahen uns herankommen, warfen ihre Zigaretten auf den Boden und traten sie mit dem Fuß aus. Sie räusperten sich fast gleichzeitig, griffen nach ihren Kappen und rückten sie sorgfältig auf dem Kopf zurecht, wie Männer es machen, wenn sie im Begriff sind, eine unangenehme Pflicht zu erfüllen. Beide trugen Khakibuschhemden, kurze Hosen, braune Stiefel, und über den Strümpfen Gamaschen. Der eine der beiden war an seinem polierten Sam-Browne-Gürtel als Offizier zu erkennen, während der andere, ein Sergeant, ein weißes Gurtband um die Taille trug. Der Offizier trat auf Doc zu, der stehenblieb und erstaunt aufblickte. Doc war mindestens dreißig Zentimeter größer als der Offizier, deshalb mußte der Soldat zu ihm hochschauen. Er hatte genau so einen dünnen schwarzen Bleistiftschnurrbart wie Pik Botha, und obwohl er nicht strammstand, wirkte sein Körper sehr angespannt. Er zog aus der Tasche seiner Uniformjacke ein Papier und hielt es hoch. »Guten Tag, Sir. Sind Sie Karl von Vollensteen, Professor Karl von Vollensteen?« fragte er knapp.
»Ja, der bin ich«, sagte Doc, überrascht, daß irgend jemand etwas so Selbstverständliches fragen konnte. Der Offizier räusperte sich und begann laut vorzulesen, was auf dem Papier stand. »In Bezugnahme auf das Ausländergesetz von 1939 und ermächtigt durch den Befehl, den mir der Kommandeur der Feldgendarmerie der südafrikanischen Streitkräfte gegeben hat, verhafte ich Sie. Sie werden verschwörerischer Umtriebe beschuldigt und stellen ein Sicherheitsrisiko dar für eine Nation im Kriegszustand.« Er reichte Doc das Papier. »Sie müssen mitkommen, Sir. Die Zivilpolizei wird unter der Leitung von Sicherheitsbeamten des Militärs Ihr Haus durchsuchen, und Sie müssen im Barbertongefängnis auf Ihren Prozeß warten.« Zu meiner Überraschung protestierte Doc nicht. Er sah traurig aus, als er auf den Offizier hinunterblickte und ihm das Papier zurückgab, ohne auch nur einen Blick darauf geworfen zu haben. Er schaute über den Offizier hinweg an dem Sergeant vorbei, der neben dem Laster stand, und sein Blick ging über den Kaktusgarten, als wolle er sich von ihm verabschieden. Er wandte sich langsam um, und seine Augen blickten voller Schmerz auf die Hügel, die wunderschönen mit Aloe bewachsenen Hügel, seit zwanzig Jahren sein Garten Eden in Afrika, das er über alles liebte. Schließlich schaute er auf die Stadt hinunter und über das Tal, wo die Sonne hinter den Steilklippen verschwand. »Diese Dummheit. Schon wieder beginnt diese Dummheit«, sagte er leise, wandte sich dann an mich und klopfte mir auf die Schulter. »Du mußt die Senecio Serpens so pflanzen, daß die Morgensonne darauf scheint, das mag sie gern.« Er nahm seinen Hut ab und legte ihn geistesabwesend auf das Wagendach. Er zog sein rotes Taschentuch aus seinem Overall, wischte sich das Gesicht ab und schnupfte hinein, bevor er es wieder zurück in die Tasche steckte. Dann holte er den Hut vom Dach und setzte ihn mir auf. Ich sah überrascht auf, Doc spielte normalerweise keine solchen kindischen Spiele. Seine Augen sahen traurig aus, und er flüsterte: »So, jetzt bist du der Boß vom Kaktusgarten, Peekay.« Ich wollte weinen, und ich glaube, auch Doc war nahe dran. Aber wir weinten nicht. Doc wandte sich an den Offizier und sagte: »Bitte gestatten Sie mir, mich zu waschen und mich umzuziehen. Ein Mann sollte in seinen besten Kleidern ins Gefängnis gehen.«
Der Offizier rollte die Augen gen Himmel. Nach der Anzahl der Zigarettenstummel auf dem Boden hatten sie schon ziemlich lange gewartet, und er wollte ganz offensichtlich losfahren. »In Ordnung, Professor, aber 'n bißchen Beeilung, wenn ich bitten darf.« Er wandte sich an den Sergeant und schnarrte: »Sergeant! Begleiten Sie den Gefangenen in sein Haus, damit er sich waschen und umkleiden kann.« Doc ging langsam den Whiskyflaschenpfad entlang und stellte seinen Rucksack auf der Veranda ab. Ich folgte ihm in das dunkle kleine Häuschen. »Mach die Lampen nicht an, wir gehen ja gleich wieder.« Ich folgte ihm in die angebaute Küche mit der schrägen Decke. Er stellte eine große Emailleschüssel auf den Boden und goß aus einem Krug Wasser hinein. Ich nahm den Krug und füllte ihn im Regenwasserbehälter wieder auf. Docs Haus lag abseits der Stadt auf dem Hügel und hatte kein fließendes Wasser. Er zog sich aus und wusch sich mit einem Schwamm von Kopf bis Fuß. Ich brachte ihm den Krug mit frischem Wasser, und er trat aus dem Anbau in den Garten hinaus. Er stellte sich neben einen großen Kaktus und schüttete sich das Wasser so über den Kopf, daß auch der Kaktus eine Dusche abbekam. Dann trocknete er sich schnell mit einem fadenscheinigen Handtuch ab. Sein ganzer Körper war braungebrannt, denn wir hatten uns nach dem Schwimmen in einem Bergsee oft auf einem Felsen gesonnt. Sein magerer Körper war sehnig und muskulös, und das schneeweiße Haar auf seiner Brust schien gar nicht zu diesem jugendlichen Körper zu passen. Ich hatte meinen Großvater schon nackt gesehen, und obwohl auch er ein hagerer Mann war, wirkte er doch nicht halb so kräftig wie Doc. Der Sergeant war ungeduldig geworden und ins Musikzimmer hinüber gegangen, wo er mit zwei Fingern auf dem Steinway herumklimperte. Doc schien es nicht zu hören und rasierte sich langsam und gründlich. Dann zog er seinen weißen Leinenanzug an und schwarze Stiefel. Schließlich packte er ein Hemd zum Wechseln und seine Toilettensachen in einen Beutel, ging dann ins Bücherzimmer und zog aus dem obersten Bord ein dickes Buch heraus. »Pack es auch in den Beutel, Peekay.« Ich nahm den schweren ledergebundenen Band und schaute auf den Buchrücken. Es war ein altes Buch, sein kastanienbrauner Ledereinband abgewetzt und voller Flecken. Der geprägte Titel war schwer zu entziffern, da das
Gold mit der Zeit abgeblättert war. Es hieß: »Cactaceae. Afrika und Amerika. K. J. von Vollensteen.« Ich öffnete das schwere Buch und sah, daß es auf deutsch geschrieben war. Ich ging ins Whiskyzimmer, wo Doc den Beutel liegengelassen hatte, wischte mit einem Zipfel seiner Bettdecke den Staub vom Buch und legte es in den Beutel. Auf der Kommode neben seinem schmalen harten Bett stand eine halbvolle Flasche Johnny Walker, und ich packte sie auch in den Beutel. Dann warf ich ihn mir über die Schulter und ging zu Doc, der an der Eingangstür stand. Er nahm seinen Panamahut vom Haken an der Wand und griff nach seinem silberbeschlagenen Spazierstock, der in der Ecke hinter der Tür stand. »Wir sind soweit«, sagte er und drehte sich langsam zu dem Sergeant um, der noch im Musikzimmer war. Der Sergeant erhob sich vom Klavierhocker. »Das is 'n verdammt gutes Klavier, Professor. Ich hab mal im Kino so 'n Filmstar gesehen, und sie hat auf genau so 'nem Klavier wie das hier getanzt, nur war es ganz weiß. Ich glaub es war Greta Garbo, aber ich weiß es nich' mehr genau.« Er schaute sich noch einmal um und sagte dann: »Okay, jetzt aber los.« Er nahm mir den Sack von der Schulter und schaute hinein. »He, was ist denn das? Sie können doch keinen Whisky mit ins Gefängnis nehmen, sind Sie blöd oder was?« Ich fing an mich zu entschuldigen, aber er winkte ab und grinste. »Wenn Sie wollen, können wir jetzt noch 'n schnelles Schlückchen trinken, oubaas«, sagte er zu Doc. »Wer weiß, wann Sie noch mal Gelegenheit dazu haben, einen zu kippen?« Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu, entkorkte die Flasche und nahm einen langen Zug Whisky. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund. »Lekker, Mann, das is verdammt guter Whisky! Hat doch keinen Sinn, wenn der hier rumsteht!« Er reichte Doc die Flasche, aber der hob abwehrend die Hand. »Jetzt sind Sie aber dämlich, Mann. Es dauert bestimmt lang, bis Sie den nächsten Drink kriegen, machen Sie doch das Beste draus.« Nachdem er noch einen langen Zug genommen hatte, hielt er Doc wieder die Flasche hin. In zwei Zügen hatte er eine Viertelflasche getrunken. Doc nahm die Flasche, hielt sie sich, ohne den Mund zu öffnen, kurz an die Lippen und reichte sie zurück- Der Sergeant zuckte die Achseln. »Wie Sie wünschen, Mann, dann is mehr für mich da, es is verdammt guter Whisky. Wer weiß? Morgen sind wir vielleicht schon alle tot.« Er nahm wieder
einen langen Zug und ging zum Flügel. »In diesem Film spielte dieser Mann zu 'nem Begräbnis Klavier, und dann kam ein Besoffener und goß 'n bißchen Whisky rein, und dann spielte das Klavier von allein wie verrückt.« Er goß den Rest Whisky über die Tasten des Steinways. Doc, der bis jetzt reglos dagestanden hatte, wurde plötzlich wieder lebendig. Er hob seinen Stock und rannte auf den Sergeant zu. »Swinehund! Entweihen Sie nicht das Instrument von Beethoven, Brahms, Bach und Wagner!« Er schlug dem Sergeant mit dem Stock auf das Handgelenk, die Flasche fiel ihm aus der Hand und zerplatzte auf dem Zementboden. Der Sergeant packte sein Handgelenk und tanzte vor Schmerz zwischen dem zerbrochenen Glas herum. Doc versuchte, die Klaviertasten mit dem Ärmel seiner Leinenjacke trockenzureiben, und ein Glissando war zu hören. Dann drehte er sich um und ging zur Haustür. »Du verdammter Nazibastard!« schrie der Sergeant. Ich rannte hinter Doc her, und der Sergeant holte uns auf dem Pfad vor dem Haus ein. »Ich zeig's dir, du Kinderschänder!« Er versuchte, beim Laufen ein Paar Handschellen von seinem Gürtel loszubekommen. »Halt! Sie stehen unter Arrest!« Aber Doc ging mit hoch erhobenem Kopf weiter auf den Laster zu. Der Sergeant packte Docs Arm und legte ihm eine Handschelle um. Doc schien es kaum zu merken, ging weiter und zwang den Sergeant dadurch, hinter ihm herzurennen, als ob er selbst ein Gefangener wäre, den Doc hinter sich herschleifte. Er trat Doc so heftig, daß der alte Mann in die Knie ging, und in seiner Wut und Erniedrigung holte er aus, um ein zweites Mal zu treten. Ich warf mich schreiend dazwischen. Der Armeestiefel, der Doc in die Rippen treffen sollte, traf mich am Kinn, und ich brach ohnmächtig zusammen. Ich erwachte im Krankenhaus von Barberton, ein Mann in einem weißen Kittel leuchtete mir mit einer Lampe in die Augen. Mein Kopf dröhnte, als ob Stimmen wie durch einen langen Tunnel zu mir drängen. »Gott sei Dank, er ist wieder bei Bewußtsein«, hörte ich jemanden sagen. »Gedankt sei dir, Jesus«, sagte meine Mutter mit weinerlicher Stimme. Ich drehte mich um und sah meine Mutter seitlich auf meinem Bett sitzen. Sie wirkte blaß und besorgt, und das Haar hing ihr in Strähnen über die Augen. Sie hatte vergessen, ihren Hut aufzuset-
zen, und trug noch ihren rosaroten Nähkittel. Mein Großvater war auch da, er saß auf einem Stuhl auf der anderen Seite des Bettes. Ich versuchte etwas zu sagen, aber es war unmöglich, mein Kiefer schmerzte wie verrückt. Ich schaffte es, mit geschlossenem Mund einen leisen Grunzer auszustoßen, aber das war auch alles. Mein Mund schmeckte nach Blut, und als ich mir mit der geschwollenen Zunge über den Gaumen fuhr, merkte ich, daß mehrere Zähne fehlten. Der Doktor sagte zu mir: »Mein Sohn, wie viele Finger halte ich vor dir hoch?« Er hielt zwei Finger hoch, und ich tat dasselbe. »Noch einmal.« Er hielt vier Finger hoch, und ich machte es ihm nach. Er wiederholte das noch ein paarmal und sagte dann: »Nun, das ist ja schon mal was, er scheint keine Gehirnerschütterung zu haben. Wir müssen den Kiefer röntgen, obwohl ich mir fast sicher bin, daß er gebrochen ist.« Er wandte sich an meine Mutter und an meinen Großvater. »Der Junge hat große Schmerzen, er wird jetzt gleich in den Operationssaal gebracht. Möglicherweise müssen wir seinen Kiefer verdrahten, und wir müssen die abgebrochenen Zähne in Ordnung bringen. Anschließend wird er eine Weile benommen sein. Es gibt keinen Grund, daß Sie hierbleiben.« Sie standen beide auf, und meine Mutter beugte sich über mich und küßte mich auf die Stirn. »Bis morgen früh, mein Liebling. Jetzt sei ein tapferer Junge!« Mein Großvater klopfte mir leicht auf die Schulter. »Guter Junge«, sagte er. Ich sah ihnen zu, wie sie die Notaufnahme verließen, in der ich der einzige Notfall zu sein schien, die anderen drei Betten waren leer. Mein Kiefer tat sehr weh, und ich glaube, daß ich geweint habe. Aber alles, woran ich mich erinnere, ist, daß ich mir schrekkliche Sorgen um Doc machte. Es stellte sich heraus, daß mein Kiefer tatsächlich gebrochen war. Mein Oberkiefer und mein Unterkiefer wurden mit Draht zusammengenäht, und ich konnte nicht mehr sprechen. Ich konnte mich nicht nach ihm erkundigen. Die Erwachsenen entscheiden darüber, was sie ihre Kinder wissen lassen wollen, und als meine Mutter mich wieder besuchte, sagte sie nichts als: »Du hast einen schrecklichen Schock erlitten, mein Liebling, denk einfach nicht mehr daran, was passiert ist.« Tatsächlich konnte ich an überhaupt nichts anderes denken. Doc
war der wichtigste Mensch in meinem Leben, und der Gedanke, daß er in einer dunklen Zelle vielleicht im Sterben lag, war mir fast unerträglich. Ich schaffte es, einer jungen Kränkenschwester namens Marie, die mich ihren kleinen Skatterbol nannte, begreiflich zu machen, daß ich Papier und einen Stift haben wollte. Ich schrieb in Schreibschrift: »Wie geht es Professor von Vollensteen?« Als sie den Satz las, riß sie die Augen weit auf. »O nein! Die Schwester sagt, wir dürfen dir nichts erzählen.« Sie streckte die Hand aus, um den kleinen Schreibblock und den Stift zurückzubekommen, aber ich steckte beides schnell unter meine Decke. »Gib es her! Bitte, ich bekomme sonst Schwierigkeiten mit der Schwester!« Ich schüttelte den Kopf, und das tat weh. »Ich sag's der Schwester, hörst du!« Aber ich wußte, daß sie das nicht tun würde. Mit dem Schreibblock und dem Stift fühlte ich mich weniger verwundbar. Ich riß ein einzelnes Blatt ab, legte es auf den Nachttisch neben mein Bett, beugte mich darüber und schrieb: »Ich heiße nicht Skatterbol, sondern PEEKAY.« Ich mochte diesen Kosenamen nicht, den man kleinen Kindern gab. Ich riß das Stück, auf das ich den Satz geschrieben hatte, von dem Zettel ab und reichte es ihr. Sie las es langsam und ging dann zum Bettende. »Hier steht aber ein anderer Name«, sagte Marie und schaute auf das Krankenblatt, das am Fußende des Bettes hing. »Kennst du denn deinen richtigen Namen nicht?« sagte sie neckend. »Der stimmt nicht«, kritzelte ich aufs Papier, riß es vom Block und hielt es ihr hin. »Mann! Du kennst nicht mal deinen eigenen Namen. Ich hab noch nie so 'nen Namen wie Peekay gehört, wo hast du den denn her?« Ich schrieb ihr auf: »Einfach so gekriegt.« Marie holte tief Luft. »Ganz egal, es ist ein blöder Name für einen Helden, der einen deutschen Spion an der Flucht gehindert hat.« Wieder riß sie ihre Augen auf und kam mit ihrem sommersprossigen Gesicht ganz nah an meins. »In der Zeitung steht, daß du vielleicht sogar eine Medaille kriegst!« Sie zuckte zurück, besorgt, vielleicht zuviel gesagt zu haben. »Sag aber der Schwester nicht, daß ich dir das erzählt hab!« Sie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. »Ich verspreche dir, daß ich dich Peekay nenne, wenn du mir versprichst, stom zu bleiben.« Ich nickte, obwohl ich mich fragte, wie ich irgend jemand etwas sagen sollte. Die Tränen begannen zu laufen, ich konnte sie nicht zurückhalten. Es waren die Neuigkeiten über Doc.
Ich hörte noch seine Stimme, als ihm der Offizier das Papier gezeigt hatte. »Diese Dummheit. Schon beginnt diese Dummheit wieder.« »Nicht weinen, Peekay. Wenn du weinst, weiß die Schwester, daß ich dir was erzählt habe«, sagte Marie unglücklich. Ich rieb mir die Augen trocken, und sie wusch mein Gesicht mit einem feuchten Handtuch. »Ich find gar nicht, daß Peekay ein blöder Name ist«, sagte sie leise. »Wer hat dir denn so gut schreiben beigebracht? Ich bin zur Schule gegangen, bis ich vierzehn war, und sogar ich kann nicht so gut schreiben wie du.« Nachdem ich drei Tage lang alleine in einem Zimmer gelegen hatte, wurde ich auf die Veranda verlegt, auf der außer meinem noch acht weitere Betten standen, die alle belegt waren. Abgesehen von der Tatsache, daß ich immer noch nicht sprechen konnte, ging es mir schon viel besser. Ich war mit der Schwester auf die Veranda gegangen, und mit Ausnahme von zwei alten Männern, die schliefen, hatten alle anderen applaudiert und »gut gemacht, mein Sohn!« und ähnliche Sachen gesagt. Ein Mann fand, daß ich ein echter Patriot sei. Sobald die Schwester die Veranda verlassen hatte, schrieb ich in großer Schrift auf ein Stück Papier:» Was ist aus Professor von Vollensteen geworden?« Ich sprang aus meinem Bett und gab es dem Mann, der im Nebenbett lag. Er las den Zettel und reichte ihn mir zurück. »Meinst du den deutschen Spion? Tut mir leid, mein Junge, wir dürfen dir nichts sagen, wir haben strenge Anordnungen.« Alle anderen nickten. »Aber du bist ein tapferer kleiner Kerl, das muß man wirklich sagen.« Auch da schienen die anderen Männer zuzustimmen. Meine Mutter kam vormittags ins Krankenhaus, sobald Pastor Mulvery Zeit hatte, sie zu fahren. Sie saß bei mir, und er ging von einem Krankenzimmer ins nächste, um für den Herrn Zeugnis abzulegen. Aber zuerst kam er zu mir, strahlte mich kurz an und paßte auf, daß seine beiden Vorderzähne ihm nicht abhauten, hielt meine Hand eine Ewigkeit in seinen warmen feuchten Fingern, bis ich das Gefühl hatte, ich müßte mich seinem sanften Griff entziehen und abhauen und mich verstecken. Er sagte mit seiner weichen Frauenstimme: »Wir beten alle darum, daß dieser schreckliche Schicksalsschlag dich läutert und du Jesus dein Herz öffnest.« Dann kniete er sich, immer noch meine Hand haltend, neben das Bett, und meine
Mutter kniete sich auf der anderen Seite ebenfalls hin, und Pastor Mulvery begann laut zu beten. Wenn er betete, hob sich seine Stimmlage nochmals um eine Terz, und er wurde richtig aufgeregt. Er begann mit einigen beiläufigen »Hallelujas«, und meine Mutter antwortete darauf »Gelobt sei sein teurer Name!«. Pastor Mulvery fuhr fort: »Herr, wir haben uns hier in deinem Namen versammelt, um für dieses arme Kind zu beten.« »Amen« sagte meine Mutter. »Führe ihn in seinem Leiden auf den Pfad der Erlösung. O teurer Heiland, der für uns am Kreuz gestorben ist.« »Halleluja, gelobt sei der Herr«, antwortete meine Mutter. »Mein Sohn, öffne Jesus dein Herz, heiße ihn in deinem Leben willkommen. Herr, stoße ihn nicht hinab ins schreckliche Höllenfeuer, gewähre ihm durch deine wunderbare Erlösungstat das ewige Leben.« »Halleluja, gelobt sei sein Name!« »Mein Sohn, lege Jesus deine Sünden zu Füßen, damit er dir seine kostbare Erlösung zuteil werden lassen kann. Teurer Jesus, erhöre unsere Gebete, zieh ein in sein junges Herz, möge er dich in all deinem Ruhm erblicken. Herr, wir beten für die Seele dieses Kindes, wir flehen dich an, zieh ihn aus der Dunkelheit empor ans Licht, aus dem finstren Grab von Golgatha in den glorreichen Morgen deiner Auferstehung, süßer Jesus Christus!« »Ja, Jesus! Teurer Jesus!« sagte meine Mutter auf der anderen Seite des Bettes. Und das ging jeden Morgen so. Nicht lange, nachdem ich Doc zum ersten Mal getroffen hatte, hatten wir auf unserem Felsen oben auf dem Hügel hinter dem Rosengarten gesessen, und ich hatte ihn gefragt, warum ich ein Sünder sei und warum ich zum ewigen Höllenfeuer verdammt sei, dem ich nur durch die Wiedergeburt entkommen könne. Er saß lange da, schaute über das Tal und sagte dann: »Peekay, Gott ist viel zu beschäftigt damit, die Sonne auf- und untergehen zu lassen und zuzuschauen, wie der Mond seine Bahn über den Himmel zieht, um sich um so einen Unsinn kümmern zu können. Nur die Menschen wünschen sich ständig, Gott solle dazu da sein, diesen zu verdammen und jenen zu retten. Die Menschen machen den Himmel und die Hölle. Gott hat genug damit zu tun, den Bienen das Honigsammeln beizubringen und jeden Morgen die Blüten zu öffnen.« Er machte eine Pause und lächelte. »In Mexiko gibt es einen Kaktus, der wirklich so aussieht, als hätte Gott ihn vergessen. Aber nein, mein Freund, dem ist nicht so. Einmal alle hundert Jahre denkt
er an ihn und öffnet ihm in einer Vollmondnacht eine einzelne Blüte. Und wenn du dann dort sein solltest, und du siehst diesen wunderbaren Kaktus, seine Blüte ist in silbernes Mondlicht getaucht, und sie lacht die Sterne an, dann, Peekay, weißt du, was der Himmel ist.« Er schaute mich an, und seine blauen Augen drangen mir bis tief ins Herz. »Dieser Kaktus glaubt wirklich an Gott.« Wir saßen eine Zeitlang schweigend, bevor er weitersprach. »Es ist besser, sich mit dem Leben zu befassen und sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, und vielleicht, wenn es Gott gefällt, wie du lebst, läßt er dich einen Tag oder eine Nacht lang blühen. Aber belästige ihn nicht mit ewigem Bitten und Betteln, und erzähl ihm nicht deine ganzen dummen kleinen Sünden, dann verdirbst du ihm nur den Tag. Absoludel.« Ich fürchtete mich manchmal immer noch ein bißchen vor der Hölle und dachte ziemlich oft ans Wiedergeborenwerden. Aber mein Herz wollte sich nicht öffnen und den Herrn empfangen. Alle Leute, die ich kannte, die ihre Herzen Jesus geöffnet hatten, fand ich ziemlich pathetisch, weder böse noch gut, irgendwie gar nichts. Ich konnte mir nicht leisten, nichts zu sein, wenn ich Weltmeister im Weltergewichtsboxen werden wollte. Ich glaube, meine Mutter hatte recht, als sie sagte, der Herr würde sich eines Tages nicht mehr für mich interessieren, wenn ich ihn weiterhin ablehnte und mein Herz gegen ihn verhärtete. Genau das mußte passiert sein, denn nach einiger Zeit wurde alles einfacher, und ich machte mir nicht mehr so viele Sorgen. Ich mochte Docs Gott viel lieber als den Gott meiner Mutter und Pastor Mulverys und Pik Bothas und all der Menschen, die Jesus in der Apostolischen Glaubensmission verehrten. Jesus, Gottes geliebter Sohn, schien dort die Verantwortung für alles zu haben. Er schien sehr darauf aus zu sein, Seelen zu retten, und war tatsächlich für die Sünden der Menschen gestorben, aber ich hatte das Gefühl, daß das irgendwie Verschwendung gewesen war. Jedenfalls waren sie ihm sehr dankbar, sie sprachen sehr viel mehr über Jesus als über Gott. Pastor Mulvery stand auf, lächelte mich strahlend an und sagte, daß Jesus mich ganz bestimmt liebe. Dann trottete er mit der Bibel unterm Arm und einer Handvoll Traktaten davon, um die anderen Patienten zu besuchen, und meine Mutter sagte, er sei ein wertvoller Mensch, und blieb bei mir.
Nachdem ich den Block hatte, erkundigte ich mich schriftlich ausführlich nach Doc. Sie nahm den Zettel und fragte, ohne ihn zu lesen: »Hat das was mit dem Professor zu tun?« Als ich nickte, preßte sie ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und zerknüllte das Papier. »Ich möchte, daß du seinen Namen nie wiedei erwähnst, hörst du? Er ist ein böser Mensch, der dich benutzt hat, um die schlimmen Dinge, die er getan hat, besser verschleiern zu können, und dann hat er dich fast umgebracht.« Plötzlich standen Tränen in ihren Augen. »Der Doktor sagt, wenn er dich seitlich am Kopf erwischt hätte, dann hätte er dich getötet! Ein paar Zentimeter weiter, und du wärst tot gewesen. Du hast etwas Entsetzliches erlebt, und ich habe den Herrn immer und immer wieder angefleht, er möge es dich vergessen lassen, damit du nicht für dein Leben gezeichnet bist.« Sie wischte sich die Augen und schneuzte die Nase. »Nein! Nein!« wollte ich sagen. Was herauskam, waren zwei Grunzer aus meiner Kehle, die sich an meiner geschwollenen Zunge vorbeidrückten und aus meinem verklammerten Mund herauskamen. Ich fing leise an zu weinen, obwohl ich es vor meiner Mutter nicht tun wollte. Sie gaben Doc die Schuld für das, was mir passiert war, und ich war der einzige, der die Wahrheit kannte, und konnte ihm nicht helfen. Es war sowieso mein Fehler gewesen. Ich hätte die Johnny-Walker-Flasche nicht in seinen Beutel packen dürfen, dann wäre das Ganze nie passiert. Doc, den ich so sehr liebte, war auch ein Pißkopp-Opfer geworden. Aber diesmal war es viel schlimmer als ein Nervenzusammenbruch. Meine Mutter hörte auf zu schniefen, als sie meine Tränen sah. »Du armer kleiner Kerl, du hast ja Entsetzliches durchgemacht. Wir wollen nie wieder davon sprechen. Mrs. Boxall von der Bibliothek hat gefragt, ob sie dich besuchen darf, aber der Doktor und ich meinen, daß es dir noch nicht gut genug geht, um Besuch zu empfangen.« Sie öffnete ihre Handtasche und zog eine grüne zusammengefaltete Karte heraus. »Jetzt hab ich eine gute Neuigkeit für dich. Du bist der Beste in der Klasse. Dein Großvater und ich sind sehr stolz auf dich.« Sie strahlte mich an und hatte ihre Tränen vergessen. »Du überspringst wieder eine Klasse, du kommst zu den Zehnjährigen. Stell dir vor, du bist sieben und gehst in eine Klasse mit Zehnjährigen.« Sie gab mir das Zeugnis. Ich nahm es und riß es mitten durch. Meine Mutter sagte lange Zeit nichts und schaute auf die grünen
Papierstücke in meinem Schoß. Schließlich seufzte sie tief. Ich haßte sie, wenn sie seufzte, weil ich dann ein schlechtes Gewissen hatte. »Der Herr hat dir einen guten Verstand geschenkt. Ich bete jeden Tag, daß du ihm dein Herz öffnest und deinen Kopf dazu benutzt, seinen teuren Namen zu preisen.« Sie nahm die Papierstücke, stopfte sie in ihre Handtasche und lächelte mich an, als hätte sie etwas getrunken. »Ich bin sicher, das kann man wieder kleben, du bist noch nicht wieder ganz der alte, stimmt's?« Aber ihre Augen lächelten nicht, als sie das sagte. An diesem Nachmittag schrieb ich Mrs. Boxall einen Brief. Er bestand nur aus einem Satz. »Bitte besuchen Sie mich am Nachmittag!«, und darunter setzte ich meinen Namen. Ich bat Marie schriftlich, den Brief Mfs. Boxall in die Bibliothek in Barberton zu bringen. Marie hatte seit Mitte der Woche Nachtdienst und brachte uns um sechs Uhr das Abendessen. Ich übergab ihr die beiden Zettel, Sie las sie und versteckte sie schnell in der Tasche ihrer weiß gestärkten Schwesterntracht. Sie holte das Tablett mit meinem Essen vom Rollwagen und brachte es mir. »Ich bring ihr den Brief nur, wenn es nichts mit dem Spion zu tun hat, Peekay«, flüsterte sie mir zu, als sie das Tablett auf meinem Bauch abstellte. Sie sah mich mißtrauisch an. »Ich muß den Zettel erst lesen, bevor ich dir eine Zusage gebe.« Sie las ihn und schien beruhigt zu sein. »Morgen hab ich frei, dann bring ich ihr deinen Brief. Jetzt versprich mir aber, daß du das Kürbisgemüse ißt. Gestern abend hast du es übriggelassen, und die Erbsen auch.« Sie setzte sich neben mein Bett, nahm einen Teelöffel, füllte ihn mit Kürbisgemüse und schob es mir seitlich zwischen den Zahnlücken hindurch in den Mund. Da wo der Stiefel des Sergeants mich am Kiefer getroffen hatte, hatte ich oben und unten vier Zähne verloren. Marie nannte es mein »Fütterloch«. Sie konnte es am besten von allen, mir das zerdrückte Essen durch das Loch in den Mund hineinzupraktizieren, ohne daß das Zahnfleisch zu bluten anfing. Den Rest des Abends verbrachte ich damit, Mrs. Boxall eine lange, genaue Beschreibung von allem zu geben, was passiert war. Immer wenn ich Doc meine botanischen Aufzeichnungen gezeigt hatte, hatte er betont, daß Botaniker es mit Details zu tun hatten. »Erst die genaue Beobachtung macht dich zum Wissenschaftler«, sagte er. »Erst wenn wir die kleinsten Details wahrnehmen, kom-
men wir hinter das Geheimnis der Dinge. Andere können ihr Leben lang an einer Pflanze vorbeigehen und nicht einmal die Farbe ihrer Blüten bemerken, aber der Botaniker kennt jedes Blütenblatt und jedes Staubgefäß.« Deshalb schrieb ich alles haarklein auf, sogar die Flüche, und dann versteckte ich die drei eng beschriebenen Seiten in meinem Kopfkissenbezug. Mrs. Boxall kam schon am nächsten Nachmittag. In einem Netz brachte sie ein neues William-Buch Von Richard Crompton, ein Buch mit dem Titel Blumen vom Ufer des Sambesi von Pfarrer William Barton und drei Ausgaben des National Geographie. »Du bist so ein frühreifes Kind, Peekay, ich hoffe, die Bücher entsprechen deinem katholischen Geschmack.« Genau wie Doc zerredete auch Mrs. Boxall nie etwas. Das Resultat war, daß ich sie nicht immer verstand und mich fragte, was die Katholiken mit meinem Geschmack zu tun haben könnten. Ich zog meine Aufzeichnungen aus dem Kopfkissen und gab sie Mrs. Boxall. »Ja, was haben wir denn da«, sagte sie, nahm die drei Seiten und suchte in ihrer Tasche nach ihrer Brille. Sie las lange und las dann die drei Seiten noch einmal, bevor sie mich anschaute. »Bemerkenswert! Du bist ein bemerkenswertes Kind. Das kommt gerade zur rechten Zeit. Nächste Woche tritt das Militärgericht zusammen, und es sieht alles andere als gut für unseren Professor aus, mein Lieber. Die ganze Stadt hat sich gegen ihn verschworen. Die Leute finden schon deutsche Soldaten in ihren Nachttöpfen.« Sie kicherte über ihren eigenen Witz. »Ich hab versucht, ihn im Gefängnis zu besuchen, aber diese gräßlichen Buren sagen, nur autorisierte Personen dürften ihn sehen. Wenn eine Bibliothekarin keine autorisierte Person ist, wer ist es dann, frag ich dich! Aber der dumme Wärter ließ sich nicht erweichen. Ich habe eine Bittschrift in der Bibliothek ausgelegt, aber bis jetzt haben erst zwölf Leute unterschrieben, und drei davon sind Buren. Und wir alle wissen, wo ihre Sympathien liegen, oder? Dieser gräßliche kleine Mann, Georgie Hankin, hat gedroht, daß er unangenehme Enthüllungen über mich in der Goldfield News macht, und privat hat er mir gesagt, er könne es nicht dulden, einen Nazisympathisanten eine Kolumne in seiner Zeitung schreiben zu lassen. Ehrlich, man könnte meinen, es ist die Times, wenn er über dieses armselige Käsblättchen redet!« Sie machte eine Pause, kramte noch einmal in ihrem Netz herum und zog eine Ausgabe der Goldfield News heraus. Die Hälfte der er-
sten Seite nahm das Foto ein, das Doc von mir gemacht hatte, als ich auf dem Felsen saß. Über dem Foto stand in riesigen schwarzen Lettern: DER JUNGE, DEN ER TÖTEN WOLLTE! Zwischen dem Impressum und der Überschrift stand Spion-Sonderausgabe. Unter dem Bild stand: Wie in der biblischen Geschichte von Abraham und Isaak wartet der unschuldige Junge auf dem Felsen. Zweifellos hielt Georgie Hankin, der wie üblich alles falsch verstanden hatte, die Geschichte für eine journalistische Großtat. Docs Verhaftung hatte gerade rechtzeitig für die montags erscheinende wöchentliche Ausgabe stattgefunden. Sie enthielt die Originalnachricht der Verhaftung. Die Sondernummer, die trotz der rationierten Druckerfarbe zwei Tage später erschien, war ein Versuch Mr. Hankins, journalistische Unsterblichkeit zu erlangen. Mrs. Boxall hatte mich bis jetzt noch nicht besucht, weil Dr. Simpson mit seinem Versuch, mir Georgie und seine Fotografen vom Leib zu halten, jeglichen Besuch für mich verboten hatte. Sie war überrascht, daß ich die Montagsausgabe der Zeitung noch nicht gesehen hatte, und versprach, sie mir am nächsten Nachmittag mitzubringen. Als Bibliothekarin hatte sie aber keine Schwierigkeiten, mir den Inhalt des Artikels ziemlich genau wiederzugeben. In den Goldfield News war berichtet worden, daß der Offizier und sein Sergeant fast den ganzen Nachmittag auf die Rückkehr Docs gewartet hatten. Als er mit einem kleinen Jungen im Schlepptau schließlich erschien, gebärdete er sich ziemlich merkwürdig, und es war den beiden Männern klar, daß er getrunken hatte. Der Sergeant begleitete ihn auf Anordnung des Offiziers in sein Haus, damit er sich waschen und umziehen konnte. Daraufhin attackierte Doc den Sergeant von hinten mit einem schweren Spazierstock und versuchte zu fliehen. In dem Artikel wurde darauf hingewiesen, daß Doc sich in der Hügellandschaft sehr gut auskannte und sich unbegrenzt in einem der vielen offengelassenen Grubenschächte verstekken könnte. Von dort aus würde er sich dann irgendwann über die Berge nach Lourengo Marques durchschlagen, dem nächsten neutralen Gebiet. Die Geschichte ging folgendermaßen weiter: Der Sergeant war halb betäubt von den Schlägen, und es sah so aus, als ob Doc die Flucht gelingen würde. Aber ich hatte mich ihm mutig in den Weg
gestellt und ihn festgehalten. Als er meinen Schrei hörte, kam der Offizier heran und sah gerade noch, wie Doc mir einen bösen Tritt versetzte. Der Offizier verhaftete den mutmaßlichen Spion mit gezogener Pistole. Es wurde darauf hingewiesen, daß Doc ein bekannter Fotograf sei und daß er, zweifellos unter dem Vorwand, Kakteen zu fotografieren, das feindliche Gebiet und Grubenschächte fotografiert hatte, in denen Nahrungsmittel und Waffen für feindliche Spione versteckt wurden, die von portugiesischem Territorium nach Südafrika eingeschleust wurden. Diese Fotos seien aus dem einfachen Grund nicht gefunden worden, weil sie sich bereits in den Händen des Feindes befanden und weil kein guter Spion solche inkriminieren-den Beweisstücke in seinem Haus aufbewahren würde. Zufälligerweise befand sich in der teuren schwedischen Hasselblad das noch nicht entwickelte Foto eines Schachtes, und die davor aufgehäuften Erzrückstände machten ihn zu einem idealen Widerstandsnest. In Docs Notizen hatte man die genaue Lage des aufgelassenen Schachtes verzeichnet gefunden. Es gab auch einige Fotos einer Sukkulente, was bewies, wie sorgfältig Doc seine wahre Betätigung tarnte. Das Bild zeigte natürlich den Ort, an dem wir die Senecio Serpens gefunden hatten. Und die restlichen Fotos auf dem Film hatte er von dieser Pflanze gemacht. Wie er es mir beigebracht hatte, schrieb Doc immer den genauen Fundort auf, die Bodenbeschaffenheit und die Zusammensetzung der Felsen und Steine in der Umgebung. Für die Bevölkerung von Barberton, die wild auf Gerüchte war, war das alles sehr einleuchtend, und nur die wenigsten überlegten sich, ob die Beweise denn auch schlüssig seien, und daß sie Doc immerhin schon fünfzehn Jahre lang kannten. Mrs. Boxall sagte, die Leute gingen herum und sagten: »Einmal ein Deutscher, immer ein Deutscher!«, zufrieden damit, daß dieser Umstand alle denkbaren Schandtaten möglich machte. »Großer Gott, Peekay, ich würde eher meinen lieben alten Vater verdächtigen als den Professor. Er hat keinen einzigen patriotischen Knochen im Leib, es sei denn, er hätte etwas mit Afrika und mit Kakteen zu tun.« Sie faltete meine Aufzeichnungen sorgfältig zusammen und steckte sie in ihre Handtasche. »Ach du je, jetzt hätt ich ja fast vergessen, dir die Bonbons zu geben, die ich mitgebracht habe. Ach nein, dein Kiefer«, rief sie ärgerlich, »hab ich ja völlig vergessen, wie blöd von mir.«
Sie ließ die steinharten Bonbons zurück in ihre Tasche fallen, machte sie zu, beugte sich vor und berührte mich vorsichtig am Kinn. »Kopf hoch, alter Junge, jetzt haben wir genug Beweise, um unserem gemeinsamen Freund zu helfen. Ich komme morgen wieder und erzähl dir die Neuigkeiten.« Und dann war sie weg. Ihre Schuhe hallten auf dem polierten Zementboden, und ich sah sie mit aufrechtem Rücken und hoch erhobenem Kopf davoneilen. Noch lange hörte ich ihre Schritte. Zum ersten Mal seit einer Woche fühlte ich mich glücklich. Mrs. Boxall war niemand, der mit sich spaßen ließ, und ich vertraute ihr voll und ganz, daß sie die Sache deichseln würde. Sie war sowohl mit Doc als auch mit mir befreundet, und Doc hatte oft gesagt: »Diese Frau ist alles andere als dumm, Peekay.« Aber Mrs. Boxall kam am nächsten Tag nicht. Irgendwie hatte meine Mutter von ihrem Besuch erfahren und Dr. Simpson davon erzählt, der das Besuchsverbot sofort erneuerte. Ich hatte angefangen, trotz meines verdrahteten Kiefers halbwegs verständliche Töne auszustoßen, und Marie hatte nach ein paar Übungsrunden keine großen Schwierigkeiten mehr, mich zu verstehen. Sie sagte, sie habe einen kleinen Bruder, der ein bißchen gaga im Kopf sei und der ganz ähnlich klänge wie ich, deshalb könne sie mich leicht verstehen. Es war schön, daß ich wieder mit jemandem reden konnte, und Marie erzählte mir vom Besuch meiner Mutter bei Dr. Simpson. Sie hatte das Gespräch belauschen können, weil sie gerade in der Krankenhausapotheke gewesen war. Meine Mutter erzählte mir am nächsten Morgen nichts von diesem Besuch, und wieder war ich von der Außenwelt abgeschnitten. Aber Marie sagte, daß ich am nächsten Dienstag entlassen würde, und darüber war sie ziemlich traurig. Sie war fünfzehn Jahre alt und stammte aus einer Farm unten im Tal. Nur einmal im Monat hatte sie ein Wochenende frei, um nach Hause zu fahren. Sie lebte im Schwesternheim, während alle anderen Schwesternschülerinnen in der Stadt wohnten. Sie war weder besonders hübsch noch besonders klug und hatte Pickel, die sie ihre »gräßlichen Flecken« nannte. Deshalb hatte sie keine Freunde. Ich sagte ihr, daß ich ihr Freund sei, und wenn sie Lust hätte, könne sie mit mir in die Hügel gehen. Davor schien sie etwas Angst zu haben und meinte, Mädchen sollten nicht auf Hügeln herumsteigen, aber sie hätte trotzdem Lust dazu.
Am Montag abend kam sie ins Krankenzimmer und legte eine große braune Papiertüte aufs Bett. Sie legte einen Finger auf die Lippen und signalisierte mir, nichts zu sagen. »Mrs. Boxall hat es mir ins Schwesternheim gebracht, sie sagt, du wüßtest schon, worum es sich handelt, es seien die letzten Neuigkeiten«, flüsterte sie, hin-und hergerissen zwischen der Freude, an einer Konspiration teilzuhaben, und der Angst davor. Später, als sie mich fütterte, meinte sie: »Ich hab doch nichts Schlimmes getan, oder? Ich hab dir ja nur diese braune Tüte gebracht, sonst nichts. Es ist doch in Ordnung, wenn man Leuten einen Gefallen tut, oder?« Ich hatte die Tüte inspiziert, die auf den ersten Blick nichts als Bananen zu enthalten schien. Aber unter den Bananen lag eine zusammengefaltete Zeitung und ein Brief von Mrs. Boxall. Nachdem die Lichter gelöscht worden waren, stopfte ich beides in meine Pyjamajacke und ging über den Korridor zu den Toiletten. Zuerst las ich den Brief. Mrs. Boxall hatte ihn in ihrer ordentlichen Bibliothekarinnenschrift geschrieben. Lieber Peekay, es gibt viele Neuigkeiten. Ich habe Mr. Andrews besucht. Er ist der Rechtsanwalt, der in der Bibliothek ausschließlich Bücher über Vögel ausleiht. Er hat Deine Notizen gelesen und sagte: »Lieber Heiland! Das wirft ja ein völlig neues Licht auf alles.« Er schien große Hoffnungen zu haben, daß er den Militärrichter sprechen kann, wenn er nächsten Mittwoch aus Pretoria hierherkommt. Er stimmte mit mir darin überein, daß Deine Aufzeichnungen ganz ausgezeichnet sind. »Zu gut«, sagte er, »wer wird glauben, daß ein Siebenjähriger sich dermaßen genau ausdrücken kann.« Nun, mein Lieber, das ist das Problem, das wir vielleicht haben. Er weiß, daß Du zur Zeit nicht sprechen kannst. Aber er hat sich einen schlauen Plan ausgedacht. Er möchte, daß Du einen Intelligenztest machst, und zwar einen schriftlichen Test vor dem Richter, damit der sich selbst eine Meinung bilden kann. Mr. Andrews hat mit Deiner Mutter gesprochen, aber sie will nicht, daß Du auch nur irgend etwas mit diesem Fall zu tun hast. Aber
sie sagte, sie würde beten, daß die Geschichte gut ausgeht. Es ist alles etwas schwierig, aber wir geben uns nicht so schnell geschlagen. Ich bin sicher, daß Gott auf unserer Seite ist, und nicht auf der Seite von Georgie Hankin oder dem Militär. Die britische Gerechtigkeit wird am Ende siegen, und wenn wir persönlich an Mr. Winston Churchill schreiben müssen. Komm mich besuchen, wenn Du aus dem Krankenhaus entlassen bist. Kopf hoch! Herzliche Grüße, Fiona Boxall. Bibliothekarin. Ich überlegte, was für einen Test mich der Richter wohl schreiben ließ. Was, wenn ich den Test nicht bestehen und Doc dadurch schaden würde? Was, wenn der Herr meiner Mutter nicht gestattete, daß ich den Richter aufsuchte? Aber mit etwas Hilfe von Mr. Andrews, der aus einer der ältesten und angesehensten Familien der Stadt stammte, war der Herr dafür, daß ich als Zeuge in der Verhandlung verhört würde. Der Rechtsanwalt hatte darauf hingewiesen, daß es im Interesse meiner Mutter sei, unseren guten Namen von jedem Verdacht freizuwaschen, da es bestimmt Leute in der Stadt gäbe, die sie beschuldigten, mir erlaubt zu haben, monatelang mit einem deutschen Spion durch die Hügel zu streifen. Am Dienstag wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen, und am nächsten Morgen kreuzte Mrs. Boxall mit ihrem kleinen Austin Charlie auf, um mich zum Gerichtsgebäude zu fahren, wo das Militärgericht tagte. Mr. Andrews wartete schon auf uns, und zu meiner Überraschung auch Marie. »Sie scheint die einzige zu sein, die dich verstehen kann, Peekay, deshalb haben wir sie als Dolmetscherin mit hergebracht. Es war meine Idee, und ich finde, es ist eine sehr gute Idee, Peekay«, erklärte Mrs. Boxall. Marie steckte in einer frisch gestärkten Schwesternschülerinnenuniform und schien sich noch mehr zu fürchten als ich. Mr. Andrews ging weg, und wir mußten lange auf einer Bank im Wartezimmer warten. Schließlich kam er zurück und sagte, der
Richter wünsche uns privat zu sehen, und je nachdem, wie sich die Dinge entwickelten, müsse ich gar nicht als Zeuge auftreten. Ich verstand nicht genau, was er meinte, aber wir mußten einen langen Gang entlanggehen, der nach Bohnerwachs roch. Eine Frau schob einen ratternden Rollwagen voll Teetassen an uns vorbei und starrte mich an. Ich hatte mich noch nicht daran gewöhnt, daß die Leute mich angafften, wenn sie meinen verdrahteten Kiefer sahen. Ich sah in jede offene Tür hinein, in der Hoffnung, Doc zu sehen. Schließlich kamen wir an eine Tür, auf der mit Goldbuchstaben das Wort Friedensrichter stand. Mr. Andrews klopfte leise, und eine Stimme sagte »Herein!« Hinter einem Schreibtisch saß ein uniformierter Mann. Er erhob sich, als wir eintraten, und ich sah, daß er lange Hosen und einen Revolver an der Seite trug. Mr. Andrews stellte ihn uns als Colonel de Villiers vor. Vor dem Schreibtisch standen vier Stühle, und wir setzten uns. Meine Notizen lagen zuoberst auf einem Stapel Papier, der mit einem roten Band zusammengeschnürt war. Colonel de Villiers setzte eine goldgerahmte Brille auf, die ihm von der Nase rutschte, als er aufblickte, und beim Sprechen schaute er uns über sie hinweg an. »Nun, junger Mann, Mr. Andrews behauptet, daß du klug genug bist, um diese Aufzeichnungen selbst geschrieben zu haben«, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger darauf. »Wie alt bist du?« »Sieben, Sir«, grunzte ich. Der Colonel, Mr. Andrews und Mrs. Boxall wandten sich an Marie. Sie öffnete ihren Mund, aber kein Ton kam heraus. Sie war starr vor Angst, nur zwei große Tränen rannen ihr aus den Augen. Sie versuchte es noch einmal, aber kein Ton war zu hören. Ich hielt dem Colonel sieben Finger hoch. Er sah mich ernst an und räusperte sich. »Aha, sieben. Nun, für einen Siebenjährigen schreibst du sehr gut. Ich nehme an, daß dir jemand geholfen hat, oder?« Ich sah zu Marie, die sich in ein Taschentuch schneuzte, das Mrs. Boxall ihr gereicht hatte. Ich schüttelte den Kopf. »Hmm!« murmelte der Colonel und schaute Mr. Andrews an. »Diese Flüche, die der Sergeant ausgestoßen haben soll, gehören doch nicht in den Wortschatz eines Siebenjährigen, der außerdem noch aus einer religiösen Familie stammt. Ich wundere mich auch über seine Lateinkenntnisse, Sene-do Serpens und Glottiphyllium Uncatum klingt ja etwas
unglaublich für einen kleinen Jungen, der, wie alle kleinen Jungen, mehr daran interessiert sein müßte, einen Lutscher in den Mund zu kriegen, als eine lateinische Vokabel.« Mrs. Boxall sagte: »Der Professor ist ein sehr fähiger Amateurbotaniker und hat das Kind angeleitet, alles ganz genau aufzuschreiben. Außerdem hat der Junge ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis.« »Hmm... fast etwas zu ungewöhnlich gut, wenn Sie mich fragen, Madam«, sagte der Colonel, als spräche er mit sich selbst. Ich sah, daß Mrs. Boxall zornig wurde. »Er hat alles selbst geschrieben, ich hab´s im Krankenhaus selbst gesehen«, sagte Marie plötzlich mit vor Angst zitternder Stimme. »Das ist aber schön, die kleine Miss Florence Nightingale hat ihre Stimme wiedergefunden«, sagte der Colonel. »Vielleicht können wir jetzt mit dem Interview weitermachen?« Er wandte sich an mich. »Mein Sohn, ich möchte die ganze Geschichte noch einmal hören, genau so, wie sie passiert ist.« Ich wiederholte alles noch einmal, aber Marie konnte natürlich die lateinischen Namen nicht richtig aussprechen. Der Colonel schob mir ein Stück Papier herüber, und ich schrieb sie auf. »Das ist ganz außergewöhnlich, ich glaube, ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Madam«, sagte er und verbeugte sich vor Mrs. Boxall. Als wir zu den Flüchen kamen, weigerte sich Marie, sie auszusprechen. »Bitte, Sir, ich kann so was nicht sagen, ich hab so was mein ganzes Leben lang noch nicht gesagt«, sagte sie ängstlich, aber entschieden. Der Colonel unterbrach mich hin und wieder und fragte mich Sachen wie: »Welche Farbe hatten die Kappe und der Gürtel des Sergeant?« Es waren alles Fragen, die detaillierte Beobachtungen erforderten, aber ich konnte alle leicht beantworten. Als ich fertig war, sagte er Marie, daß sie es sehr gut gemacht hätte, und sie lief rot an, und ihre Pickel leuchteten. Dann wandte er sich an Mr. Andrews. »Die Aussagen des Kindes decken sich fast vollständig mit denen des Gefangenen. Wir haben dahingehend übereingestimmt, daß ein Kontakt zwischen den beiden nicht möglich war und daß sie sich nicht absprechen konnten. Mrs. Boxall versuchte ihn zu sehen, erhielt aber keine Erlaubnis. Der Gefangene wurde ausschließlich von Militärangehörigen besucht und interviewt, und ich freue mich
darüber, daß diese Angelegenheit endlich aufgeklärt zu sein scheint.« Er öffnete das rot verschnürte Aktenbündel. Zuoberst lagen zwei gefaltete Ausgaben der Goldfield News mit dem Bild, wie ich auf dem Felsen saß, eine Reihe anderer Fotografien von Doc und auch einer von seinen kleinen Notizblöcken. Der Colonel hielt eine der Zeitungen hoch. »Wirklich, dieser hysterische Unsinn erschwert uns die Arbeit sehr. Die Ausländerprozesse sind schwierig genug, auch ohne daß die Bevölkerung den Metzger, den Bäcker und den Musiker zu Staatsfeinden macht. Der einzige Vorwurf, der gegen Professor von Vollensteen erhoben werden kann, ist der, daß er sich nicht ordnungsgemäß als Ausländer gemeldet hat.« Er erhob sich von seinem Stuhl und lächelte mich kurz an. »Ich wünschte, ich könnte hier sein und ein Schwätzchen mit dir halten, wenn dein Kiefer wieder in Ordnung ist, junger Mann. Ich fange an, großen Respekt vor der Lehrtätigkeit deines Professors zu haben.« Er schüttelte Mrs. Boxall und Mr. Andrews die Hand und sprach über andere Dinge mit ihnen. Dann schob Mr. Andrews uns zur Tür hinaus. Als wir wieder im Warteraum ankamen, war Mr. Hankin von den Goldfield News dort. Mr. Andrews redete mit ihm und deutete auf das Büro des Colonels. Mr. Hankin erhob sich und ging los. »Ich glaube, Mr. Hankins Karriere als Detektiv ist beendet.« sagte Mrs. Boxall und fing an zu lachen. »Wir haben gewonnen, Peekay, wir haben gewonnen!« rief sie triumphierend. Aber wir hatten nicht gewonnen. Doc wurde zwar, wie es der Colonel vorhergesagt hatte, von allen Anschuldigungen freigesprochen, mußte aber als nicht registrierter Ausländer für den Rest des Krieges in ein Konzentrationslager. In den Goldfield News stand fett gedruckt: KEIN SPION, ABER IMMER NOCH EIN DEUTSCHER! Erst ein Jahr später erklärte sich Mrs. Boxall bereit, ihre Kolumne in der Zeitung wiederaufzunehmen, Blüten aus einem Kulturgarten von Fiona Boxall.
11 Doc mußte vorerst im Gefängnis von Barberton bleiben, bis er in ein Konzentrationslager irgendwo auf dem highveld gebracht werden konnte. Zwei Tage nach Verkündigung des Urteilsspruchs ging ich in die Bibliothek, um Mrs. Boxall einen Rosenstrauß von meiner Mutter zu bringen. Mr. Andrews hatte meiner Mutter erklärt, daß meine Aussage Doc vor einer schweren Strafe bewahrt hatte, die für einen Mann in seinem Alter hätte tödlich sein können. Er hatte meine Mutter auch davon überzeugt, daß keinerlei Schande auf unsere Familie gekommen war, und daß er sich nur wünschte, daß seine beiden Söhne, die jetzt in einem Internat in Johannesburg waren, jemals einen so ausgezeichneten Lehrer wie den Professor gehabt hätten. Meine Mutter kam zu dem Schluß, daß der Herr sie in dieser Angelegenheit geführt hatte, und daß er seinen Willen durch mich hindurch kundgetan hatte. Durch den Rosenstrauß für Mrs. Boxall brachte sie zum Ausdruck, daß sie ihr den Besuch bei mir im Krankenhaus verziehen hatte. Mrs. Boxall war ganz aufgeregt, als sie mich hereinkommen sah. »Ich bin so froh, daß du kommst, Peekay, ich hab einen Brief für dich.« Ich überreichte ihr die Rosen. »Wie nett von deiner Mutter.« Sie legte den Strauß auf den Tisch, verschwand in ihrem kleinen Büro und kam mit einem blauen Brief zurück. Er war zugeklebt, und ich öffnete ihn vorsichtig. »Beeil dich, Peekay, ich kann es kaum ertragen«, sagte Mrs. Boxall und schaute mir über die Schulter. Ich zog ein einfaches Blatt Papier heraus und faltete es auf. Es war über und über mit Docs schöner Handschrift bedeckt. »Mein Gott, ich bin so neugierig! Darf ich den Brief gleich mit dir zusammen lesen?« Außer dem Brief von Hoppie war es der einzige Brief, den ich jemals bekommen hatte, und der erste in einem geschlossenen Briefumschlag. Ich hätte ihn lieber allein gelesen, aber das konnte ich natürlich nicht sagen, und deshalb nickte ich. Lieber Peekay, wie stecken wir in der Klemme! Ich hier, wo die Würde des Menschen mit Füßen getreten wird, und Du mit einem gebrochenen Kinn. Aber es könnte alles schlimmer
sein. Zum Beispiel wenn ich schwarz wäre, das hieße mindestens doppelten Ärger. Absolut. Ich bin unter offenen Arrest gestellt worden. Das heißt, ich kann mich innerhalb des Gefängnisses frei bewegen, und meine Zelle wird nicht abgeschlossen. Aber das Beste daran ist, daß ich Besucher empfangen darf. Kommst Du mich besuchen? Bitte Mrs. Boxall, hieranzurufen und alles zu arrangieren. Aber es gibt auch gute Neuigkeiten über den Steinway. Der Kommandant wird mir erlauben, ihn in der Gefängnishalle aufzustellen. Das ist eine gute Nachricht, oder? Ich betrachte mich nicht als Deutschen. Was ist ein Deutscher? Zu sagen, jemand sei ein Deutscher, was heißt das? Sagt es Dir, daß er ein guter Mensch ist? Oder ein schlechter? Nein, mein Freund, es sagt überhaupt nichts aus über einen Menschen. Was ein Mensch ist, muß er in seinem Inneren empfinden, alles Äußerliche ist unwichtig. Trotzdem werde ich von den Wärtern gerade deshalb gut behandelt, weil ich Deutscher bin. Wie dumm das ist! Hast Du die Senecio Serpens eingepflanzt? Nein, natürlich nicht. Ich werde alt und denke nur noch an mein eigenes Wohlergehen. Vielleicht will Mrs. Boxall die Bücher, die noch im Haus sind, holen und in die Bibliothek zurückbringen ? Im übrigen werde ich gut behandelt, und es fällt mir allmählich leichter, keinen Whisky zu haben. Bitte komm bald. Dein Freund, Doc »Wir rufen sofort im Gefängnis an«, sagte Mrs. Boxall und bat mich, mit ihr in ihr Büro zu kommen. Der Gefängnisdirektor Kommandant Jaapie van Zyl sagte Mrs. Boxall, Colonel de Villiers habe angeordnet, daß Professor von Vollensteen den Jungen unter den üblichen Bedingungen sehen dürfe. Er fügte hinzu, daß er von meinem Mut gehört habe und mich gerne kennenlernen würde. Außerdem dürfe ich Doc Bücher aus der Bibliothek mitbringen. Der Professor war Musiker und ein gelehrter Mann, und das Gefängnis von Barberton war stolz darauf, ihn zu beherbergen.
Mrs. Boxall suchte drei botanische Bücher aus, von denen sie wußte, daß Doc sie besonders gern hatte, schrieb ihm einen kleinen Brief, und ich zog los, um Doc im Gefängnis zu besuchen. Ich kam an dem schmiedeeisernen Tor an, das mit einer dicken Kette und einem Vorhängeschloß verschlossen war. Es war das größte Vorhängeschloß, das ich jemals gesehen hatte, fast doppelt so groß wie eine Erwachsenenhand. Ich überlegte mir, wie groß der Schlüssel sein müßte, mit dem es aufgeschlossen wurde. Das Tor war etwa drei Meter fünfzig hoch, und oben waren ungefähr ein Meter lange Rohre angeschweißt, die in einem Winkel von dreißig Grad nach innen gebogen und mit Stacheldraht umwickelt waren. Die gleichen mit Stacheldraht umwickelten Rohre waren oben in die große, aus blauen Granitblöcken bestehende Mauer eingelassen, die das Gefängnis umgab. Der Stein bestand hauptsächlich aus Feldspat und Quarz, wie er in der Gegend von Barberton vorkommt, und außerdem enthielt er ziemlich viel Glimmer. Nach einem Jahr mit Doc war es mir zur zweiten Natur geworden, fast alles zu bestimmen, was sich nicht bewegte, und ich war ein Experte in der Geologie der hiesigen Gegend. Ich dachte, daß es unmöglich sei, aus diesem Gefängnis zu entkommen. Neben dem Tor hing eine kleine Kirchenglocke an der Wand, und ein Seil ging fast bis zum Boden. Auf einem Schild an der Wand stand: »Bitte klingeln«. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich an dem Seil zog. In der Stille kam mir das Gebimmel ohrenbetäubend laut vor. Fast augenblicklich trat ein Wärter mit einem Gewehr über der Schulter aus dem Wachhäuschen, das etwa fünf Meter vom Tor entfernt stand, und kam auf mich zu. Die weißen Kieselsteine knirschten unter seinen polierten schwarzen Stiefeln. Ich gab ihm den Brief von Mrs. Boxall, und er öffnete und las ihn mißtrauisch. Dann schaute er mich an. »Praat jy Afrikaans!« fragte er. Ich nickte. Meine Zunge war nicht mehr so geschwollen, und obwohl ich nur leise sprechen konnte und meine Stimme ziemlich dumpf klang, konnte ich doch einigermaßen verständlich durch meinen verdrahteten Mund sprechen. Der junge Wachmann sah erleichtert aus und fing an, Afrikaans zu reden. Er bat mich, ihm den Brief zu übersetzen, da er aus Nordwest-Transvaal stammte und kaum ein Wort Englisch verstand. »In dem Brief steht, daß ich hier
bin, um Professor von Vollensteen zu besuchen, und daß ich die Erlaubnis von Kommandant van Zyl habe«, sagte ich ihm. »Ich geh zum Telefon und frage nach. Warte hier.« Er ging zum Wachhäuschen, und ich sah, wie er mit jemandem telefonierte. Er war ziemlich jung und sah nervös aus. Schließlich legte er auf und steckte den Kopf aus der Tür. »Kom!« sagte er. Aber das Tor war verschlossen. Er schüttelte verwirrt den Kopf, verschwand und kam mit einem großen Schlüssel an einem riesigen Schlüsselring wieder. Zu meiner Überraschung ließ sich das Tor ganz öffnen, und die beiden großen Flügeltüren schlossen sich hinter mir mit einem metallischen Geräusch. Der junge Wärter sagte mir, ich solle mich im Büro im Verwaltungsgebäude melden, und zeigte mir den Weg. » Totsiens, und vielen Dank, daß du mir den Brief vorgelesen hast, du bist ein guter kerel«, sagte er. Zwischen dem Eingangstor und dem Verwaltungsgebäude erstreckte sich ein völlig leeres Gelände. Links und rechts des Kieselweges lief ein Rasenstreifen, und dahinter lag der Paradeplatz. Die Grünstreifen auf beiden Seiten des Weges bildeten einen schönen Kontrast zu dem roten Lehmboden des Paradeplatzes und den blaugrauen Mauern und Gebäuden. Ich sah den Kopf eines Wärters im Fenster eines kleinen Türmchens, das über die Mauer hinausragte. Links und rechts von dem Turm verlief ein fünfzehn Meter langer, mit Geländern gesicherter schmaler Laufsteg entlang der Mauer. Zwei Aufseher mit Gewehren gingen dort oben auf und ab. Ich schien der einzige Mensch auf dem Gelände zu sein, und ich überlegte, wie sie, wenn ich das Gefängnisgelände nachher wieder verlassen würde, wissen sollten, daß ich kein flüchtiger Sträfling war. Vielleicht bekäme ich ja eine weiße Fahne oder sonst etwas. Es war einer der längsten Wege meines Lebens. Ich spürte die große Angespanntheit, die hier herrschte, die entsetzliche Stille. Es gab keine Bäume, und keine Zikade zirpte. Kein Vogelschrei unterbrach die Stille. Unter meinen nackten Füßen knirschten die Kieselsteine überlaut. Ich ging auf ein Gebäude mit vielen winzigen Fenstern zu. Jedes war mit zwei senkrechten Stahlstäben vergittert. Ich stellte mir vor, daß mich Hunderte von lebenshungrigen Augen aus der Dunkelheit des Gefängnisses heraus beobachteten und mich um meine Freiheit beneideten.
Der Eingang zum Verwaltungsgebäude stand offen, und nach kurzem Zögern steckte ich den Kopf durch die Tür. In der schmalen Eingangshalle roch es genauso nach Bohnerwachs wie im Gerichtsgebäude. Drei Bänke waren wie in einer Kirche hintereinander angeordnet und füllten die halbe Halle. Gegenüber war ein vergittertes Fenster in die Wand eingelassen. Durch das Gitter konnte ich in ein Büro hineinschauen. Ich betrat die Eingangshalle, setzte mich auf die erste Bank und wartete ab. Ich weiß nicht, wie lange ich dort saß, es kam mir sehr lang vor. Hin und wieder waren zwei uniformierte Männer hinter dem vergitterten Fenster zu sehen, aber sie schauten nie zu mir heraus. Ich hörte sie telefonieren. Nachdem ich schon ewig auf der Bank gesessen hatte, hörte ich wieder eine Stimme, die auf afrikaans ins Telefon schrie. Der Mann schien sehr wütend zu sein. »Er ist noch nicht angekommen, du domkop! Bist du sicher, daß du ihn hierhergeschickt hast? Wir können doch nicht einfach ein verdammtes Kind allein im Gefängnis herumspazieren lassen. Es ist jetzt schon fast eine halbe Stunde her, und es ist nichts von ihm zu sehen. Wir müssen jetzt nach ihm suchen, und das ist deine Schuld!« Ich hörte, wie der Telefonhörer krachend aufgelegt wurde. »Kom!« sagte die Stimme, und einen Augenblick später öffnete sich eine Tür, und ein dicker Mann kam heraus, gefolgt von einem zweiten dicken Mann, der jünger aussah als der erste. Der erste sah mich, als er auf den Flur trat. »Jesus Christus! Wo bist du denn gewesen?« rief er. »Ich bin hier gewesen, Meneer, die ganze Zeit schon, Meneer«, brummte ich. »Und warum hast du uns nicht Bescheid gesagt?« fragte er schon deutlich milder, vielleicht, weil er meinen verdrahteten Kiefer gesehen hatte. Ich zeigte auf die beiden Schilder, die an der Wand hinter den Bänken hingen. »Auf dem einen steht >Bitte warten< und auf dem anderen >Ruhe<«, antwortete ich ängstlich. Der Jüngere lachte plötzlich los. »Ich glaub, der Junge hat die erste Runde gewonnen, Lieutenant«, sagte er. »Okay, Mann, ich geb zu, du hast mich geschlagen«, sagte der Ältere grinsend. »Kom! Wir müssen deine Personalien aufschreiben.« Sie führten mich in das Büro, und nachdem sie meinen Namen,
meine Adresse und mein Alter notiert hatten, griff der ältere Mann zum Telefon und wollte mit dem Kommandanten sprechen. Er ließ den Hörer sinken und sagte: »Der Kommandant möchte dich sehn, aber er ist jetzt auf einem Rundgang, und wir müssen zwanzig Minuten warten.« Dann wandte er sich an den jüngeren Wärter. »Klipkop, hol Peekay eine Tasse Tee und einen Biskuit.« Ich wunderte mich, wie jemand »Klipkop« heißen konnte. Auf af rikaans heißt das Steinkopf. Aber als ich mir den hochgewachsenen, blonden Mann genauer ansah, wirkten seine grobknochigen Züge tatsächlich, als seien sie aus Stein gehauen. Klipkop stand auf und streckte mir die Hand hin. »Da wir 'ne Zeitlang hier zusammen sind, können wir uns auch vorstellen. Oudendaal, Johannes Oudendaal«, sagte er, wie es in Afrikaans üblich ist, indem er seinen Nachnamen zuerst nannte und ihn nach dem Vornamen noch einmal wiederholte. »Und der da ist Lieutenant Smit«, sagte er und deutete auf den älteren Wärter, der seine Hand ausstreckte, ohne mich anzuschauen. Ich schüttelte sie und wurde rot vor Verlegenheit. Ich überlegte, ob Captain Smit mit Jackhammer Smit verwandt sei, vielleicht war er sein Bruder? Aber ich war nicht mutig genug, um zu fragen. Schließlich war Smit ein ziemlich häufiger Name. »Komm, ich zeig dir, wo wir Tee machen«, sagte Klipkop. »Wir haben einen Kaffer, der das normalerweise macht, aber wenn wir eine Tasse zwischendurch haben wollen, dann machen wir sie uns selbst. Jede Woche zahlen wir einen Schilling für Milch und Zucker und Biskuits, und das Gefängnis zahlt den Tee. Dem Kaffer muß man auf die Finger schaun, sonst läßt der schwarze Bastard alles verschwinden. Ich sag dir, Mann, hier wimmelt es von Dieben.« Ich folgte ihm in eine kleine Küche, die hinter dem Büro lag. Er füllte Wasser in einen Blitzkocher und schloß ihn an. »Peekay, das ist ein Name, den ich noch nie gehört hab.« »Den hab ich mir selbst gegeben. Und jetzt ist es mein richtiger Name«, sagte ich. »Ja, ich weiß, Mann, genauso ist's bei mir. Mich nennen sie Klipkop, weil ich boxe und jede Menge Kopftreffer einstecken kann. Manchmal fällt mir mein richtiger Name schon gar nicht mehr ein.« Einen Augenblick war ich sehr überrascht. »Du boxt?« fragte ich. »Na klar, Mann. Wenn man´s hier zu was bringen will, muß man
einfach boxen, aber ich tu's sowieso gern. Am Wochenende haben wir jede Menge Auswärtskämpfe, es macht viel mehr Spaß als Rugby, Mann.« Er holte drei Tassen aus dem Bord, das über der kleinen Spüle hing. »Lieutenant Smit ist der Boxtrainer, er war mal ein Schwergewicht.« Er schwieg, als er einen gehäuften Löffel voll Tee aus einer alten Teebüchse in die Kanne schüttete. »Aber jetzt wird's allmählich ernst, Mann. Nächsten Monat hab ich meinen ersten Kampf als Berufsboxer. Da kann man viel Geld mit verdienen. Ich hab eine nooi in Sabie, und wir wollen so bald wie möglich heiraten.« Er goß kochendes Wasser in die Kanne und rührte mit dem Löffel um, bevor er den Deckel wieder aufsetzte. »Boxt du auch, Peekay?« Er fragte aus reiner Höflichkeit und war nicht auf meine Antwort gefaßt. Mein Herz klopfte. »Nein, aber können Sie es mir beibringen, Meneer Oudendaal?« Er sah mich überrascht an und muß gesehen haben, wie ernst es mir war. »Zuerst muß dein Kiefer mal heilen, aber ich glaub, du bist sowieso noch etwas zu jung. Lieutenant Smit gibt auch den Kindern von den Wärtern Unterricht, aber ich glaub, der Jüngste in der Jugendriege ist schon zehn.« »Ich könnte zehn sein. In meiner Klasse bin ich schon zehn. Ich könnte im Boxen leicht zehn Jahre alt sein, mein Kiefer ist in acht Wochen wieder heil«, bettelte ich. »Jetzt aber mal halblang! Zehn ist zehn. Auf dem Formular haben wir geschrieben, daß du erst sieben Jahre alt bist.« »Wenn man zuerst mit dem Kopf und dann mit dem Herzen kämpft, kann man leicht zehn Jahre alt sein«, sagte ich. »Magtig, du bist verdammt schwer zu verstehen, Peekay. Du mußt Lieutenant Smit fragen, er ist der Boß. Aber wenn du mich fragst, dann hast du keine großen Chancen.« »Fragen Sie ihn für mich?« krächzte ich. In der Aufregung überanstrengte ich meine Kehle. »Ich frag ihn, Mann, aber ich hab dir die Antwort eigentlich schon gegeben.« Er nahm die Teekanne, goß Tee in die Tassen, fügte Milch hinzu, süßte den Tee mit Zucker und rührte um. Dann holte er eine Büchse aus dem Schrank und öffnete sie. »Dieser verdammte Kaffer! Es war fast noch eine Viertelpackung voll Plätzchen da, und jetzt sind alle weg. Es ist höchte Zeit, daß dieser
schwarze Bastard zurück in einen Arbeitstrupp kommt. Nimm deine Tasse, und bring die Milch mit, Peekay. Wenn du das nächste Mal kommst, haben wir wieder Plätzchen.« »Bitte, Meneer Oudendaal, Sie vergessen doch nicht, den Lieu tenant zu fragen? Wissen Sie, ich muß bald anfangen zu boxen, weil ich Weltmeister im Weltergewicht werden muß.« Ich sagte das, ohne nachzudenken. Es war eher ein laut ausgesprochener Gedanke als eine Mitteilung. Klipkop pfiff leise »Mann, wenn du das vorhast, dann mußte wirklich früh anfangen.« Er hielt zwei dampfende Tassen in einer Hand, und in der anderer die Teekanne und die Zuckerbüchse. »Ich bin der glücklichste Mann der Welt, wenn ich nächsten Monat in Nelspruit den Bruder vom Lieutenant besiegen kann.« Er drehte sich um und schaut über die Schulter zu mir zurück. »Wenn du willst, kannst du mich Klipkop nennen, Mann.« Ich folgte ihm zurück ins Büro, wo Lieutenant Smit am Schreibtisch saß und schrieb. Klipkop stellte ihm eine Tasse Tee hin. »Peekay möchte Sie etwas fragen, Lieutenant«, sagte er und wandte sich zu mir um. »Frag ihn, Mann.« Lieutenant Smit grunzte kurz, ohne von seinen Papieren aufzuschauen. »Bitte, Sir, bringen Sie mir Boxen bei?« fragte ich ganz leise. Er schaute mich immer noch nicht an, hob aber die Tasse an die Lippen, blies den Dampf weg und trank einen Schluck. »Du bist zu jung, Peekay. Komm in drei Jahren wieder, dann sehen wir weiter.« Sogar im Sitzen war er größer als ich und schaute jetzt auf mich her unter. »Wir haben über dich in der Zeitung gelesen. Du bist ein kluger Bursche, das ist schon mal gut, aber du bist noch nicht mal groß für einen Siebenjährigen.« Er fuhr mir durchs Haar. »Wart's nur ab bald bist du zehn.« In diesem Augenblick kam ein Schwarzer in den Raum. Er war ziemlich alt und sah sehr dünn aus und trug Gefängniskleidung, ein graues Leinenhemd und eine knielange Hose. Er hielt den Deckel von der Teekanne in der Hand. »Ich bin gekommen, um Tee zu machen, Baas, aber die Kanne ist nicht da«, sagte er langsam auf afrikaans. Er stand mit gebeugtem Kopf da. Klipkop war mit zwei Sprüngen bei ihm, packte ihn an seinem Leinenhemd, hob den Schwarzen in die Luft und schlug ihm ins Gesicht. Der Schlag
machte ein lautes klatschendes Geräusch, und das Gesicht des alten Mannes schien sich in Zeitlupe zu verzerren, als Klipkops riesige Hand auf seine Nase und seinen Mund krachte. Klipkop lockerte seinen Griff, und der alte Mann fiel wimmernd zu Boden. »Du schwarzer Bastard! Du hast die Plätzchen gestohlen. Nicht nur eins, du Stück Scheiße. Du hast sie alle gestohlen!« Er gab ihm einen Tritt in den Steiß. »Nein, Baas! Bitte, Baas! Ich nicht stehlen Plätzchen. Ich guter Junge, Baas«, winselte der alte Mann, hielt immer noch den Teekannendeckel und umklammerte mit seinem freien Arm Klipkops Beine. Der Wärter wandte sich an Lieutenant Smit. »Bitte, Lieutenant, können wir diesen schwarzen Bastard nicht in die Steinbrüche verfrachten? Erst stiehlt er den Zucker und jetzt die Plätzchen.« Er schaute auf den wimmernden Afrikaner zu seinen Füßen. Von der Nase des Gefangenen war Blut auf seine hochglanzpolierte Stiefelspitze getropft. Klipkop trat los, und der Afrikaner flog gegen die Wand, wo er dumpf mit dem Kopf aufschlug. Die Teekanne landete mit einem Scheppern neben ihm auf dem Boden. »Er blutet auf mich drauf, das dreckige alte Stück Scheiße, blutet mir die ganzen Stiefel voll.« Er streckte dem benommen an der Wand lehnenden Afrikaner einen Stiefel entgegen. »Leck es auf, Kaffer, und zwar schnell!« Wie in Trance beugte sich der alte Mann darüber und lekkte ihn ab. Ohne Aufforderung tat er dasselbe mit dem anderen Stiefel und hielt sich gleichzeitig eine Hand vor die Nase, um zu verhindern, daß noch mehr Blut auf die Stiefel des Wärters tropfte. »Und jetzt wisch deine dreckige schwarze Spucke ab, du schwarzer Bastard, sonst krieg ich noch die Maul- und Klauenseuche.« Lieutenant Smit, der nicht mal aufgeschaut hatte, grinste. Der Afrikaner zog sein Baumwollhemd aus, und während er das Blut durch die Nase hochzog, wischte er Klipkops Stiefel mit seinem Hemd ab. »Den Boden auch«, sagte der Wärter und zeigte auf die roten Blutstropfen auf dem Fußboden. Auch die wischte der alte Mann auf. »Und jetzt steh auf und hau ab, du Bastard.« Der Afrikaner rappelte sich hoch, aber Klipkop verpaßte ihm sofort wieder einen Tritt, der ihn auf die Knie schickte. Auf allen vieren, das Hemd in einer Hand zusammengeknüllt, kroch der Gefangene aus dem Raum. Klipkop untersuchte seine Hand. »Die Köpfe von denen sind hart
wie Kanonenkugeln.« Er wandte sich an mich. »Merk dir, wenn du 'nen Kaffer schlägst, nie auf den Kopf! Du brichst dir die Hand, einfach so. Schlag ihm ins Gesicht, das ist in Ordnung, aber nie auf den Kopf, Mann.« Er ballte seine Faust und rieb sie mit der Innenfläche seiner anderen Hand. »Ich hab bald 'nen großen Kampf, ich kanns mir nicht leisten, mir die Hand am Kopf von 'nem stinkenden Kaff er zu brechen.« Lieutenant Smit hatte bislang kein Wort gesagt. Er trank noch einen Schluck Tee. »Wir können ihn nicht in den Steinbruch schikken. Er hat rheumatisches Fieber gehabt, er würde in 'ner Woche sterben. Außerdem ist er der erste Kaffer, der anständigen Kaffee und Tee machen kann.« Er zeigte auf die Tasse vor ihm. »Nicht so 'nen Dreck. Ich hab dir gesagt, daß man nicht umrühren darf und daß die Kanne erst vorgewärmt werden muß.« Er drehte sich um und schaute Klipkop mit einem angedeuteten Grinsen an. »Das nächste Mal frag, bevor du zuschlägst, Mann. Ich hab die verdammten Plätzchen gegessen, ich hatte nicht gefrühstückt, deshalb hab ich sie gegessen.« Klipkop hörte mit offenem Mund zu und grinste dann. »Okay, dann hab ich ihn eben geschlagen, weil er Zucker klaut, ist ja völlig egal.« Das Telefon klingelte, und Lieutenant Smit nahm ab. »In Ordnung«, sagte er und legte den Hörer wieder auf die Gabel. »Der Kommandant ist zurück, komm mit, mein Sohn.« Ich nahm Mrs. Boxalls Bücher und folgte dem Lieutenant die Treppe in den zweiten Stock hoch. Wir betraten ein kleines Vorzimmer, in dem eine Frau hinter einer großen schwarzen Schreibmaschine saß. »Gehen Sie hinein, Lieutenant Smit, der Kommandant wartet schon auf Sie«, sagte sie und lächelte mich an. Wir betraten ein großes, dunkelbraun getünchtes Büro, das voll von toten Tieren war. Der Kopf einer Schraubenantilope hing direkt hinter dem Schreibtisch des Kommandanten an der Wand, daneben der Kopf einer Rappenantilope, deren elegant gekrümmte Hörner die Wand berührten. Eine Gemsantilope und eine Elenantilope vervollständigten die Sammlung der größeren Antilopenarten. Daneben hingen fünf kleinere Böcke: ein grauer Waldducker, ein Klippspringer, ein Steenbock, ein Riedbock und ein Springbock. Ich schaute zur Wand hinter mir, die auch voller Trophäen hing.
Ein riesiger schwarzmähniger Löwe schaute mit weit aufgerissenem Maul auf mich herab. Daneben hingen ein Leopard und ein Gepard. Alle Fleischfresser hingen an der Wand, in der die Tür war, und an der gegenüberliegenden Wand hingen ihre häufigsten Beutetiere, ein Zebra und ein schwarzes Weißschwanzgnu. Darunter waren mit zwei Bügeln eine Mauser und eine englische Lee Metford befestigt. Unmittelbar unter den zwei Gewehren aus dem Burenkrieg hing ein Zuluwurfspeer mit einem langen Schaft. Den Rest der Wand füllten viele kleine gerahmte Bilder, die zum Großteil Jagdgesellschaften mit ihrem erlegten Wild darstellten. Im Raum standen zwei schwere lederne Klubsessel und ein riesiges dazu passendes Sofa, und auf dem polierten Fußboden lagen ein Zebra- und ein Löwenfell. Direkt hinter dem Kopf des Kommandanten, unter der Schraubenantilope und der Rappenantilope, hingen zwei große Portraits. Eines stellte den König Georg und das andere den Präsidenten Paul Kruger dar, den letzten Präsidenten der besiegten Burenrepublik. Das Bild des Burenpräsidenten hatte einen eleganten ovalen Walnußrahmen. König Georg schien ein offizielles, billig gerahmtes Foto zu sein, das öffentlichen Gebäuden kostenlos zur Verfügung gestellt wurde und aufgehängt werden mußte. Kommandant van Zyl erhob sich hinter seinem Schreibtisch, der in Wirklichkeit ein riesiger Eßtisch mit geschnitzten Klauen und Beinen war. Auf der gläsernen Tischoberfläche befand sich nichts außer einem Schreibblock, einem Füllfederhalter und einem Aschenbecher. »Guten Morgen, Smit. Bitte setzen Sie sich.« Er schaute zu mir herunter. »Also das ist der Junge, was?« Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und streckte eine riesige Hand aus. »Guten Morgen, Peekay.« Er war sogar noch größer als Lieutenant Smit, und sein Bauch stand noch weiter vor als der von Harry Crown. Wie der Lieutenant und Klipkop trug auch er die graue, militärisch aussehende Uniform der Gefängnisbeamten. Der einzige Unterschied waren die vier Sterne und eine Krone auf seinen Schulterklappen, und auf das Revers seines Kragens war ein kleines Stück blauer Samt aufgenäht. Ich schüttelte ihm schüchtern die Hand und wußte nicht recht, was ich sagen sollte. »Setz dich, mein Sohn.« Er deutete auf den freien Ledersessel.
Ich stemmte mich in den riesigen Ledersessel und rutschte dann so weit nach vorne, daß ich mit den Füßen fast auf den Boden kam. Kommandant van Zyl ließ sich schwer aufs Sofa fallen. »So, du willst unseren Professor besuchen?« Ich nickte mit dem Kopf. »Ja bitte, Sir.« Der Kommandant rutschte sich im Sofa zurecht. »Von Gesetzes wegen ist er inhaftiert, und ich muß mich an das Gesetz halten, aber hier drinnen bin ich das Gesetz. Hier drinnen kann er sich frei bewegen, solange er die Gefängnismauern nicht verläßt. Außerdem kann er während der offiziellen Besuchszeit Besucher empfangen.« Er schaute mich an und lächelte. »Ich habe mich entschlossen, in deinem Fall eine Ausnahme zu machen. Du kannst ihn jederzeit besuchen, nur am Sonntag nicht.« Er machte eine Pause. »Wie findest du das? Zwei alte maats sind wieder zusammen.« »Vielen Dank, Meneer van Zyl«, sagte ich. »Ach, nicht der Rede wert.« Er schaute Lieutenant Smit an, als müsse er seine Entscheidung erklären. »Eine Freundschaft zwischen einem Mann und einem Jungen ist etwas sehr Kostbares. Dieser Junge hat keinen Vater, ich weiß, was das bedeutet, Mann. Mein Vater starb mit den Bürgern von Carolina in Spion Kop, als ich genauso alt war wie er.« »Jawohl, Sir«, sagte Lieutenant Smit und schaute auf seine Hände, die er im Schoß übereinander gelegt hatte. »Füllen Sie für den Jungen einen Dauerpassierschein aus, damit er jederzeit kommen kann, außer am Sonntag, verstanden?« »Ja, Kommandant.« Smit schaute den größeren Mann an. »Und was ist mit dem Piano vom Professor?« Kommandant van Zyl klatschte sich mit der Hand auf den Schenkel. »Hab ich glatt vergessen. Vielen Dank, Smit.« Er wandte sich an mich. »Wir holen den Flügel des Professors hierher. Es gibt noch eine Menge andere Musiker hier bei uns. Jeder glaubt, daß die Buren nicht kultiviert sind, aber ich sage dir, wenn es um Musik geht, lassen wir alle anderen weit hinter uns. Es ist für uns eine Ehre, einen Mann wie ihn bei uns im Gefängnis zu haben. Magdig! Ein echter Musikprofessor, hier, im Gefängnis von Barberton. Wonderlik!« »Vielen Dank, daß ich ihn besuchen darf, Meneer.« »Der Junge hat gute Manieren. Das schätze ich«, sagte er zu Lieutenant Smit. »Nichts zu danken. Du kannst jederzeit kommen.«
Er zögerte einen Augenblick. »Peekay, einen kleinen Gefallen könntest du uns tun. Am Montag, ungefähr um ein Uhr mittags, gibt es für die Bevölkerung der Stadt auf dem Marktplatz eine kleine Überraschung. Ich hab schon mit dem Bürgermeister telefoniert, aber ich bin nicht sicher, ob er es weitersagt. Sag du Mrs. Boxall Bescheid. Sie hat mich wegen dir angerufen, und sie ist meines Wissens auch mit dem Professor befreundet. Bitte sie, es überall herumzuerzäh-len.« Ich nickte, und er schien zufrieden zu sein. »Danke, Peekay, ich glaube, wir werden uns prächtig verstehen. Jetzt bringt dich Lieutenant Smit zum Professor. Ich sehe, du hast ein paar Bücher für ihn.« Er streckte seine Hand aus. »Zeig sie mir.« Ich sprang von dem Sessel herunter und gab ihm die Bücher. Er schlug das oberste auf und blätterte kurz darin herum. »Pflanzen, ich weiß nicht viel über Pflanzen. Tiere sind meine Spezialität, du kannst mich alles über Tiere fragen. Du sagst den Namen«, er tat, als lade er sein Gewehr, dann drückte er ab und,stieß einen fauchenden Ton aus, »und ich hab's geschossen.« Er senkte die unsichtbare Flinte und grinste mich an. Er hatte zwei Goldzähne. »Ich liebe wilde Tiere«, sagte er. Er gab mir die Bücher zurück und sah sehr zufrieden aus, als er die Trophäen an den Wänden betrachtete. Lieutenant Smit räusperte sich laut, und der Kommandant schaute uns an. »Es hat mich gefreut, dich kennengelernt zu haben, Peekay.« Er klopfte mir kurz auf die Schulter. »Und wenn du irgend etwas brauchst, kommst du einfach zu mir, hörst du?« Es war wie damals, als ich überlegte, ob ich dem Richter anbieten sollte, seine Rechenhausaufgaben zu machen. Wie damals ging es mir eigentlich ziemlich gut. Warum irgend etwas riskieren? Wenn ich es mir mit dem Lieutenant verscherzte, war alles verloren, sogar die Chance als Zehnjähriger mit dem Boxen anzufangen. »Bitte, Meneer van Zyl, kann ich hier boxen lernen?« Der Kommandant war schon vom Sofa aufgestanden, um sich von uns zu verabschieden. »Du willst boxen?« fragte er. »Das ist das Gebiet vom Lieutenant.« »Ich hab dem Jungen schon gesagt, daß er warten muß, bis er zehn ist, dann vielleicht«, sagte Smit und versuchte, nicht allzu ärgerlich zu klingen. »Wenn man sieben ist, kommt einem das sehr lang vor. Fast so lang wie das halbe Leben«, sagte der Kommandant.
»Wir trainieren morgens um halb sechs. Er kann unmöglich so früh hier sein, wenn er nicht hier wohnt!« »Ich werde hier sein, ich verspreche es Ihnen. Ich werde kein Mal fehlen, kein einziges Mal. Bitte, Meneer Smit?« Lieutenant Smit schaute lange auf seine Stiefel hinunter. »Wir können es versuchen, wenn dein Kiefer wieder in Ordnung ist. Aber deine Mutter muß mir schriftlich geben, daß sie damit einverstanden ist.« Er wandte sich direkt an den Kommandanten. »Er wird wachsen, Smit, darf ich Sie daran erinnern, daß Sie und Ihr jüngerer Bruder auch sehr jung angefangen haben? Kämpft er immer noch?« »Ja, Sir, der nächste Kampf ist gegen Oudendaal.« »Stimmt, der Schwergewichtskampf nächsten Samstag, Sie müssen mir Karten besorgen, Lieutenant.« »Ja, Sir, Ihre Sekretärin hat die Karten schon, Sir.« Kommandant van Zyl brachte uns zur Tür. »Alles Gute, Peekay.« Als wir unten an der Treppe ankamen, blieb Smit stehen. Er bückte sich und packte mich vorne am Hemd. Er hatte kein Wort gesagt, seitdem wir das Büro des Kommandanten verlassen hatten, aber ich wußte, daß dieses Schweigen nichts Gutes bedeutete: Ich schloß die Augen und wartete auf den Schlag, der jetzt unweigerlich kommen mußte. Ich war seit einem Jahr nicht mehr geschlagen worden, wenn man von den paar Ohrfeigen meiner Mutter absah, die man, nach allem, was ich schon erlebt hatte, nicht ernsthaft Schläge nennen konnte. Aber richtige Schläge auf den Kopf hatte ich noch deutlich in Erinnerung. Zu meiner Überraschung passierte nichts, ich öffnete die Augen wieder und sah direkt in Lieutenant Smits wütendes Gesicht. »Ich sag dir eins, mach das nie wieder, verstanden? Wenn ich dir was sage, dann mein ich das auch so, Mann!« Er schüttelte mich hart und erwartete, daß ich anfing zu weinen. Statt dessen fixierte ich seinen Blick. »Was guckst du denn? Willst du frech werden?« »Bitte, Meneer, ich hab Ihren Bruder letztes Jahr in Gravelotte kämpfen sehn. Damals hab ich den Entschluß gefaßt, Boxer zu werden.« Smit sah sehr überrascht aus. »Du warst dort? Wragdig? Du hast den Kampf gesehn?«
Ich nickte. »Er hat gegen Hoppie Groenewald... Kid Louis gekämpft«, korrigierte ich mich. Lieutenant Smit ließ mein Hemd los. »Ich war auch dort. Magdig! Das war vielleicht ein Kampf! Du warst dabei? Ehrlich?« Er richtete sich auf, und seine Augen weiteten sich plötzlich. »Das Kind, das Hoppie Groenewald dabei hatte! Jetzt erinnere ich mich. Wir dachten, du wärst sein Kind.« Wir waren wieder im Büro angekommen. Klipkop machte Liegestütze, er unterbrach die Serie, als wir hereinkamen, und stand mit einem ziemlich dümmlichen Gesicht auf. »Erinnerst du dich an den Kampf letztes Jahr in Gravelotte, mein Bruder gegen Hoppie Groenewald?« Klipkop nickte. »Peekay war dabei, er ist ein persönlicher Freund von Groenewald.« Der Wärter lachte.. »In dem Kampf hab ich 'nen Fünfer verloren. Wer hätte gedacht, daß ein Weltergewicht ein Leichtschwergewicht schlagen würde?« »Ich sag dir, Groenewald ist nicht einfach nur 'n Weltergewicht. Denk an meine Worte, wenn er aus dem Krieg heimkommt, wird er Südafrikanischer Meister, da kannst du Gift drauf nehmen«, sagte Smit. »Er würde dich mit einem Arm auf dem Rücken besiegen, Mann.« Klipkop grinste. »Das war 'n schwarzer Tag. Niemals, Mann! Ich mach nächsten Samstag mit deinem Bruder dasselbe, was Groenewald mit ihm gemacht hat.« »Sei nicht so verdammt selbstgefällig, Oudendaal. Jackhammer Smit ist kein Hampelmann, diesmal ist er fit!« Smit wandte sich plötzlich an mich. »Okay, ich hab mir's überlegt, du bist in der Jugendstaffel. Aber zwei Jahre lang keinen Kampf, hast du gehört? Nur Training und Übungsschläge und Technik, hast du kapiert?« Ich nickte und war überglücklich. Die Tränen standen mir in den Augen. Ich hatte den ersten Schritt auf dem Weg zum Weltmeister im Weltergewicht getan. »Klipkop, bring Peekay zum Professor. Ich rufe an, ihr könnt euch im Wärterkasino treffen.« Zu mir sagte er: »Komm hier wieder vorbei, bevor du nach Hause gehst, dann hab ich deinen Passierschein fertig.« Wir verließen das Verwaltungsgebäude und gingen zu einem anderen Haus. »Das ist die Turnhalle fürs Gefängnispersonal«, sagte
Klipkop. Wir gingen zum Sandsack und zum Boxring, der auf der einen Seite des großen Raumes aufgebaut war. Große Lederbälle lagen auf dem Boden. Klipkop bückte sich und hob einen auf. »Da, Peekay, fang.« Ich streckte beide Hände aus, und plötzlich saß ich auf dem Boden, und Klipkop lachte mich aus. »Es ist ein Medizinball, er wiegt über dreizehn Pfund. Wenn du mir den über den Kopf werfen kannst, bist du stark genug, um mit Boxen anzufangen.« Ich stand auf und kam mir ziemlich dumm vor. Dann bückte ich mich und versuchte den großen braunen Lederball aufzuheben. Mit aller Kraft schaffte ich es, war aber froh, als ich ihn wieder fallen lassen konnte. »Gar nicht schlecht, Peekay«, sagte Klipkop grinsend. Wir standen am Ring, und ich mochte den Geruch von Segeltuch und Schweiß. Wie sollte ich nur die zwei Jahre hinter mich bringen, bevor ich in den Ring durfte, um richtig zu kämpfen. Wir verließen die Turnhalle und gingen über einen großen, von Gebäuden umschlossenen Innenhof, der halb so groß war wie ein Fußballfeld und den ich schon an meinem ersten Morgen in Barberton vom Hügel herunter gesehen hatte. Rings um den Platz standen die Gebäude, die zum Gefängnis gehörten. Zwei alte Knastbrüder rechten den mit Kieselsteinen belegten Hof, und die diagonal verlaufenden feinen Linien sahen sehr ordentlich aus. »Heute ist Freitag, da wird diagonal gerecht. Mir gefällt der Montag am besten, da rechen sie einen großen Stern in die Mitte«, sagte Klipkop. Ich war mir nicht ganz sicher, was er meinte, aber bald erfuhr ich, daß jeden Tag ein anderes Muster auf den Hof gerecht wurde. Daran erkannten die Gefangenen, was für ein Wochentag es war. »Wo sind denn die ganzen Gefangenen, Klipkop?« fragte ich. Die beiden alten Männer mit den Rechen waren die einzigen Menschen gewesen, die ich gesehen hatte, seit wir das Verwaltungsgebäude verlassen hatten. »Mann, die sind doch mit ihren Arbeitstrupps unterwegs. Die meisten arbeiten in Farmen, manche in den Steinbrüchen und ein paar in den Sägemühlen in Francinos Rust. Die Leute, die sie anheuern, müssen die Trupps um vier Uhr morgens anfordern, und bis sechs Uhr abends müssen sie zurück sein. Am Tag sieht man hier nur alte Knastbrüder, zu alt, um richtig zu arbeiten, halt solche Typen wie der schwarze Bastard, der uns den Tee macht. Und die Mörder sind auch hier, die dürfen ihre Zellen nicht verlassen, nicht
mal zum Essen. Aber die bleiben nicht lang hier. Es ist nicht gut, Mörder hier zu haben, die anderen Kaffern-Gefangenen werden dann nervös.« Er grinste. »Die Wärter wollen sie auch nicht hier haben, deshalb hängen wir sie ziemlich schnell, das kannst du mir glauben.« »Und was ist mit den weißen Gefangenen, arbeiten die auch in den Arbeitstrupps?« Klipkop sah mich überrascht an. »Verdammt, nein! Das ist doch nichts für Weiße. Die meisten Weißen machen hier nur auf der Durchreise nach Pretoria Station. Sie müssen nicht so hart arbeiten, weil sie nur kurz hier sind. Einen echten Schwerverbrecher wie diesen Typ, der seine Frau und seine drei Kinder in Noordkaap ermordet hat, sperren wir einfach ein, bis sein Prozeß vorbei ist, dann bringen wir ihn auf den Zug nach Pretoria. Wenn man Glück hat, kann man ihn als Wärter begleiten, dann bekommt man einen freien Tag in Pretoria, und die Spesen sind auch nicht schlecht.« Wir hatten den Hof überquert und gingen durch ein schmales Tor, das in den hinteren Teil des Gefängnisses führte. An das Hauptgebäude war ein langgezogener Schuppen mit einem Wellblechdach angebaut, und aus drei Kaminen stieg Rauch auf. »Die Küchen. Das Kasino der Wärter liegt auf der anderen Seite«, sagte Klipkop. Doc war überglücklich, mich zu sehen. Er umarmte mich und klopfte mir auf die Schulter. Tränen stiegen ihm in die leuchtendblauen Augen. »Jetzt, wo du hier warst, kann ich wieder schlafen. Laß deinen Kiefer anschauen. O je, o je, hätte ich doch nur den Tritt abgekriegt, dann wärst du jetzt okay. Stimmt's? Peekay, warum müssen die friedliebenden Leute immer als erste unter dem Krieg leiden? Kannst du sprechen?« Ich hatte ihn nie so erschöpft gesehen. Er redete in einem fort, und ich hatte keine Chance, ein Wort dazwischen zu kriegen. »Meinem Kiefer geht's schon viel besser. Der Draht wird in sechs, vielleicht sogar schon in vier Wochen herausgenommen, aber ich hab gelernt, mit geschlossenem Mund zu sprechen.« Doc lachte. »Du und ich, Peekay, selbst wenn sie uns den Mund zuzementieren, finden wir eine Möglichkeit zu sprechen.« Er klopfte mir immer noch auf die Schulter, als wolle er sich versichern, daß ich wirklich da sei.
Ich gab ihm die Bücher von Mrs. Boxall, und er sah sie kurz an, bevor er sie neben sich auf den Tisch legte. »Sie ist eine gute Frau, und ganz und gar nicht dumm. Du und sie, Peekay, ihr kriegt volle Punktzahl für euren Verstand. Absolut. Mr. Andrews auch. Ich glaube nicht, daß sie auf einen armen alten deutschen Musikprofessor gehört hätten. Der deutsche Bazillus war in der Luft, und nur du und Mrs. Boxall habt euch nicht anstecken lassen.« »Ich kann Sie so oft besuchen, wie ich will«, sagte ich glücklich. Doc wirkte nachdenklich. »Ohne die Hügel ist es nicht dasselbe, was soll ich dir hier beibringen, mein kleiner Freund?« »Eine Menge, zum Beispiel aus den Büchern. Und ich kann in die Hügel gehen und Sachen finden und sie hierher bringen, und dann können wir darüber sprechen.« Doc lächelte mich an wie früher. »Du hast recht, Peekay. Ein Mensch ist nur frei, wenn er frei im Herzen ist. Wir werden so gute Freunde sein wie immer. Absoludel. Noch etwas, ich darf meinen Steinway hier haben. Ich kann dir weiter Klavierunterricht geben. Das mußt du deiner Mutter erzählen, ich glaube, sie wird sich darüber freuen. Am Montag lassen sie mich mitkommen, wenn sie ihn abholen. Er kann bei einem Transport leicht beschädigt werden. Ich werde meinen Kaktusgarten noch einmal sehen. Vielleicht kannst du auch hinkommen, Peekay?« Dr. Simpson hatte gesagt, daß ich noch eine weitere Woche lang nicht in die Schule brauchte. »Ich warte dort auf Sie, die Senecio Serpens hab ich eingepflanzt, genau wie Sie gesagt haben, nach Osten.« Doc schien sich darüber zu freuen, aber dann machte er wieder ein besorgtes Gesicht und sagte: »Peekay, am Montag passiert eine ganz dumme Sache. Ich hab es nicht gewollt, glaub mir, aber ich möchte dich bitten, hinzukommen. Kommandant van Zyl will es einigen Leuten in der Stadt zeigen. Ich bin zu alt für solche dummen Spiele. Bitte, hilf mir!« »Kommandant van Zyl hat gesagt, daß ich Mrs. Boxall sagen soll, daß alle um ein Uhr mittags auf dem Marktplatz sein sollen, aber er hat nicht gesagt warum.« Klipkop kam aus der Küche mit einem kleinen Teller voll Bratkartoffeln. »Hier, bedien dich«, sagte er. Ich zeigte auf meinen verdrahteten Mund, und er lachte. »Entschuldigung, hab ich glatt vergessen.« Er bot Doc den Teller an, aber der schüttelte den Kopf.
»Montag, Peekay. Bitte sei um zwölf Uhr am Kaktusgarten, dann erklär ich dir alles. Und such mir morgen die Noten von Beethovens Pathetique heraus. Auf dem Deckblatt steht mein Name und Berlin 1925. Innen habe ich Anstreichungen gemacht. Das sind die Noten, die ich brauche.« Ich wußte, wo ich suchen mußte, denn Doc bewahrte die Noten, die er ständig benutzte, in seinem Klavierstuhl auf. Ich fand es komisch, daß er mich bat, sie herauszusuchen, schließlich wußte er genau, wo sie waren. »Peekay, tu das, was über den Noten liegt, in meine Feldflasche, der Schlüssel für den Klavierstuhl liegt unter dem Topf mit der Aloe Saponarie auf der Veranda.« Er sagte das alles in einem ganz normalen Tonfall auf englisch. Klipkop wirkte, als ob er nichts davon verstehe oder sich nicht dafür interessierte. Fragend sah ich zu Doc, aber er legte den Zeigefinger auf die Lippen und deutete mit den Augen auf den Wärter. Eine Hupe ertönte irgendwo im Gefängnis. »Mittagessen, Peekay, wir müssen zum Lieutenant zurück, und der Professor muß zum Essen gehn.« Klipkop schob sich die letzte Kartoffel in den Mund. »Wenn du willst, kannst du hierbleiben und mit den Gefängniswärtern essen.« »Ich muß zum Essen nach Hause, vielen Dank, Mr. Oudendaal. Wieviel Uhr ist es, bitte?« »Das war das Zwölf-Uhr-Signal. Nenn mich einfach Klipkop, okay?« Ich nickte, allmählich gewöhnte ich mich daran, Erwachsene mit ihrem Vornamen anzusprechen. Ich würde den ganzen Weg nach Hause zurück rennen müssen, da meine Mutter mich jetzt aus der Bibliothek zurückerwartete. Ich wußte nicht, wie sie die Neuigkeit über meine Besuchserlaubnis im Gefängnis aufnehmen würde. Darüber vergaß ich Docs merkwürdige Anordnungen. Am nächsten Tag ging ich nach der Sonntagsschule in den Kaktusgarten. Dum und Dee hatten sonntags nachmittags immer frei und hatten begeistert eingewilligt, mit mir mitzukommen und Docs Haus für seine Rückkehr am nächsten Tag zu putzen. Sie taten Besen, Staubwedel und andere Putzsachen in zwei verzinkte Eimer, die sie auf dem Kopf trugen. Sie schwatzten fröhlich und erzählten sich, daß sie das Haus meines Freundes so saubermachen würden, wie es noch nie gewesen sei. Sie konnten an ihrem freien Nachmittag sonst nicht viel unternehmen, da sie kein Swasi sprachen.
Als wir im Kaktusgarten ankamen, machten sie sich gleich an die Arbeit und waren glücklich, daß sie niemand überwachte. Ich ging sofort auf die Veranda von Docs Haus zu dem großen Blumentopf, in dem die Aloe Saponarie, auch bekannt als Seifenaloe, wuchs. Sie hat hellgrüne und rostrote Flecken auf ihren dicken Blättern. Es war ziemlich schwierig, den schweren Tontopf beiseite zu schieben, aber schließlich entdeckte ich den Schlüssel zu Docs Klavierstuhl. Ich lief hin und schloß den Deckel auf. Das Fach war randvoll mit Noten. Dazwischen lag ein Bündel mit zusammengeschnürten Konzertprogrammen, aber damals wußte ich noch nicht, was das war. Oben drauf stand Docs Name, der Rest war auf deutsch geschrieben. Ich kramte ziemlich lang herum, ohne Beethovens Pathetique zu finden. Dann fand ich unter einem weiteren Notenstapel eine Flasche Johnny Walker. Direkt darunter lagen die Noten, die Doc haben wollte. Am Freitag nachmittag war ich nach dem Mittagessen zu Mrs. Boxall in die Bibliothek gegangen, um ihr auszurichten, was der Kommandant gesagt hatte. »Was glaubst du, was die vorhaben, Peekay?« hatte sie mit einem besorgten Gesicht gefragt. »Glaubst du, es hat irgend etwas mit dem Professor zu tun?« »Ich glaube nicht. Um zwölf Uhr wird der Steinway abgeholt und ins Gefängnis gebracht. Doc hat mich gebeten, ihm zu helfen.« »Mein Gott! Er gibt ein Konzert! Der Professor gibt auf dem Marktplatz ein Konzert. Wie spannend, wie ungeheuer spannend!« Ich hatte sie noch nie so aufgeregt gesehen. Plötzlich war es mir auch klar. »Ich glaube nicht, daß er besonders glücklich darüber ist. Er sagte, daß Mr. van Zyl es einigen Leuten in der Stadt zeigen will und daß er meine Hilfe braucht.« Mrs. Boxall hatte mir in ihrer Aufregung nicht zugehört. »Ich hab mich vor einiger Zeit einmal nach unserem Professor erkundigt. Er ist ein sehr berühmter Mann.« Ihre Augen glänzten. »Irgendwie ist das alles ziemlich mysteriös. Warum sollte ein berühmter europäischer Pianist alles aufgeben und sich in einem winzigen dorp in Afrika begraben, wo er sein Leben fristet, indem er kleinen Mädchen Klavierunterricht gibt?« »Ich glaube, er liebt es ganz einfach, Kakteen und Aloepflanzen zu sammeln und in den Bergen herumzusteigen«, sagte ich, obwohl
sie nicht zuhörte. Sie saß mit den Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt und war offensichtlich tief in Gedanken. »Peekay, hat er dich um etwas gebeten? Ich meine, als er sagte, daß er deine Hilfe brauchte?« »Ich sollte Beethovens Pathetique mit seinem Namen drauf und Berlin auf dem Deckel heraussuchen.« »Hurra! Das wird was! Beethoven, was? Da kommt was Tolles auf uns zu. Ich hab die Pathetique zum ersten Mal gehört, als wir nach London reisten. Damals wurde sie vom brillanten jungen Arthur Rubinstein in der Albert Hall gespielt.« Mrs. Boxall klatschte in die Hände und schaute zur Decke hoch, an der sich ein Ventilator unregelmäßig drehte. »O Freude! O übergroße Freude!« »Er sagte auch, daß ich das, was sich über den Noten befindet, in seine Wasserflasche tun soll.« »Was kann das nur bedeuten?« fragte sie geistesabwesend. Es war ganz klar, daß sie an Docs Konzert auf dem Marktplatz dachte und an die Pflichten, die auf sie als kulturelle Repräsentantin der Stadt zukamen. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, um eine von Docs kniffligen Fragen zu beantworten. »Peekay, du mußt mich entschuldigen, mein Lieber. Ich glaube, ich muß die Bibliothek heute früher schließen als gewöhnlich. Ich muß noch sehr viel telefonieren. Um ein Uhr, bist du sicher, daß Mr. van Zyl diese Zeit genannt hat?« Ich nickte und wollte gehen. »Und sag deiner lieben Mutter vielen Dank für die herrlichen Rosen. Ich schreib ihr nächste Woche einen Brief.« Sie hatte schon zu telefonieren begonnen, und als ich die Tür hinter mir schloß, hörte ich sie sagen: »Barbara, das rätst du nie!« Jetzt stand ich da, mit Docs Noten, und starrte auf die Flasche Johnny Walker. Doc trank doch nur in seinem Zimmer, warum hatte er eine Flasche in seinem Klavierstuhl. Wenn Klipkop nicht gerade hereingekommen wäre, als er es mir sagen wollte, dann wüßte ich es jetzt. Ich griff in meiner Tasche nach Docs Brief und las ihn noch einmal, vielleicht hatte ich etwas übersehen. Ich kam bei den letzten Worten an, »... und es fällt mir allmählich leichter, keinen Whisky zu haben«. Wenn ich älter gewesen wäre, wäre das Ganze nicht so rätselhaft gewesen, aber Siebenjährige sind noch nicht sehr gut im Rätselraten und wissen meistens auch noch nichts über die Trinkgewohnheiten der Erwachsenen.
Ich war mir gar nicht sicher, ob ich das Richtige tat, aber die Flasche lag direkt auf den Noten, die Doc wollte, und der Whisky war das einzige, was man in eine Feldflasche umfüllen konnte. Mir war mehr als bewußt, was für Auswirkungen es gehabt hatte, als ich das letzte Mal mit Docs Whisky zu tun gehabt hatte. Ich nahm die Wasserflasche und die Flasche Johnny Walker, ging in den Kaktusgarten, grub ein Loch und stellte die Feldflasche hinein, es ging gut. Beim Umgießen ging fast nichts daneben. Danach grub ich die Whiskyflasche kopfüber neben den anderen ein. Es sollte die letzte Johnny Walker-Flasche sein, die jemals in Docs Kaktusgarten eingegraben wurde. Ich legte die Feldflasche wieder in den Klavierstuhl und schichtete Docs Noten darüber auf. Dann schloß ich den Sitz ab und stekkte den Schlüssel in die Tasche. Am Montag morgen wartete ich vor Docs Haus. Dee und Dum hatten alles sehr gründlich geputzt. Der Steinway glänzte wie ein Spiegel, sie hatten ihn mit Bienenwachs eingerieben. Die Mädchen hatten eine Stunde gebraucht, bis sie die Whiskyflecken von den Tasten entfernt hatten. Sie lachten sich halb tot über die Katzenmusik. Ich glaube, es war der lustigste Nachmittag in ihrem ganzen Leben. Die nächsten vier Jahre putzten sie Docs Haus jeden Sonntagnachmittag, und ich glaube, sie dachten am Schluß, es sei ihr Wochenendhaus. Während ich auf Doc wartete, jätete ich Unkraut und teilte Sukkulenten. Nach einigen Stunden hörte ich das tiefe Wimmern eines Lastwagenmotors und das weniger gequälte Geräusch eines kleinen Lieferwagens, die die steile Straße zu Docs Haus hochfuhren. Der schwarze offene Pritschenwagen war ein Diamont T. Der Lieferwagen fuhr hinterher und wartete, bis der Pritschenwagen gedreht hatte. Auf der Ladefläche saßen sechs schwarze Gefangene und zwei Wärter mit Gewehren. Ein dritter Wärter saß vorne beim Fahrer. Es war der junge Mann, der am vergangenen Freitag am Gefängnistor Dienst gehabt hatte, und ich begrüßte ihn. Er sprang vom Pritschenwagen und streckte mir die Hand entgegen. »Gert Marais, hoe gaan dit?« Ich schüttelte seine Hand und sagte, daß es mir gut ginge, und erkundigte mich, wie es in Afrikaans üblich ist, nach seiner Gesundheit. In diesem Augenblick fuhr der kleine Lieferwagen vor, und ich erkannte Klipkop am Steuer und Lieutenant Smit auf
dem Beifahrersitz. Sie hielten hinter dem Lastwagen, und Klipkop sprang heraus. Er ging zur Hecktür, öffnete sie, und da war Doc. Er trug seinen weißen Leinenanzug, ein sauberes Hemd und hatte sich eine blaue Krawatte umgebunden. Das Loch in seiner Hose am Knie war gestopft worden, der Anzug war frisch gewaschen und gebügelt, und seine Stiefel glänzten. Ich hatte ihn nie so sorgfältig gekleidet gesehen. Lieutenant Smit und Klipkop begrüßten mich wie alte Freunde. Ich merkte, daß Doc aufgeregt war, und als Klipkop und der Lieutenant auf das Haus zugingen, wandte er sich sofort an mich. »Wir müssen miteinander reden, Peekay, heute hab ich eine sehr schwierige Sache vor mir.« Wir folgten den beiden Wärtern ins Haus, und Doc zeigte ihnen den Steinway und den Klaviersessel. Er war zu sehr in Gedanken, um zu bemerken, wie sauber alles war. Ich war ein wenig enttäuscht, sagte aber nichts. Ich selbst achtete ja auch nicht gerade sehr auf Sauberkeit. Zwei Wärter kamen herein, die anderen bewachten die Gefangenen. Sie besprachen mit Doc, wie man den Steinway möglichst sicher transportieren könne. Klipkop rief die Gefangenen herein, und Doc fragte Lieutenant Smit, ob er in den Garten gehen dürfe, da er es nicht ertrage, beim Transport des Pianos zuzuschauen. Smit lachte und meinte, daß ein Wärter mitgehen müsse. »Ich kenne Gert Marais. Kann er mitkommen?« fragte ich. Lieutenant Smit zuckte die Achseln und erteilte Gert den Auftrag, uns zu begleiten. »Ich kann doch nicht riskieren, daß ihr beide in den Hügeln verschwindet, oder?« fragte er lachend. Aber später lernte ich, daß Lieutenant Smit ein vorsichtiger Mann war und auf alles peinlich genau achtete. Gert konnte kein Englisch, also konnten Doc und ich uns frei unterhalten. Wir gingen den Weg mit den Johnny Walker-Flaschen entlang, der sich zwischen den großen Kakteen und den Aloepflanzen hindurchschlängelte. Doc sagte lange Zeit nichts, blieb stehen, um Pflanzen zu betrachten, bückte sich zu den kleinen Sukkulenten hinunter. Es war, als ob er versuchte, sich den Garten genau einzuprägen, damit die Erinnerung daran ihn im Gefängnis stärken könnte. Schließlich blieben wir stehen, setzten uns mit dem Rücken zur Stadt auf einen roten Felsen und schauten den Hügel hinauf.
Gert stand etwas abseits, kaute auf einem Grashalm und hatte sein Gewehr sorglos über die Schulter geworfen. Er schien glücklich zu sein, keine Vorgesetzten um sich zu haben. Endlich fing Doc an zu sprechen. »Peekay, diese domkops wollen, daß ich heute in der Stadt ein Konzert gebe. Ich habe seit sechzehn Jahren kein Konzert mehr gegeben, und jetzt soll ich wieder spielen. Peekay, ich kann es nicht, aber ich muß.« Ich schaute zu Doc hoch und sah, daß er schrecklich durcheinander war. »Sie müssen doch nicht, Doc. Niemand kann Sie zwingen!« sagte ich herausfordernd, aber ohne allzu große Überzeugung. Meine wenigen Erfahrungen mit Autoritäten aller Art hatten mich gelehrt, daß sie immer gewannen. Sie konnten einen immer zwingen. Doc schaute mich an. »Peekay, ich liebe dich mehr als mein eigenes Leben. Wenn ich heute nicht spiele, lassen sie dich nicht mehr zu mir.« Ich fühlte die Verzweiflung in seiner Stimme, und er fuhr leise fort: »Ich glaube nicht, daß ich das ertragen könnte.« Ich umarmte ihn, und er streichelte meinen Kopf, und wir saßen da und schauten in die Hügel voll blühender Aloe und zu den blauen Bergen am Horizont. Endlich sprach er wieder. »Es war 1925 in Berlin. Ich war einige Monate krank gewesen und sollte ein Konzert in der Berliner Oper geben. Ich hatte mich für die Pathetique entschieden. Beethovens Pathetique ist großartige Musik, aber sie ist sehr angenehm für einen Pianisten. Der große Meister war selbst Pianist, und sie steckt nicht voller Tücken und Passagen, die einen wirklich fordern. An diesem Abend spielte ich den Meister wirklich gut, besser als jemals zuvor, bis zum dritten Satz. Plötzlich, Gott weiß warum, überkommt mich Panik. Meine Finger werden panisch, mein Kopf wird panisch, mein Herz wird panisch. Dreißig Jahre Disziplin waren nicht genug. Die Panik überwältigte mich. Ich konnte diese Musik, die ich tausendmal geübt und sicher vierzigmal in einem Konzert vorgetragen hatte, nicht mehr spielen. Nichts. Es war alles weg. Erst hörte ich Hüsteln, dann Gemurmel, dann Buhrufe. Schließlich wurde ich von der Bühne geführt.« Doc saß mit gebeugtem Kopf da, die Hände lose auf den Knien. »Ich habe niemals mehr vor Publikum gespielt, nie mehr seit damals in Berlin. Jede Nacht, seit sechzehn Jahren, spiele ich diese Musik, immer wieder, und jedesmal im dritten Satz passiert das gleiche, die Musik
in meinen Fingern, meinem Kopf und meinem Herzen bricht einfach ab. Dann heulen die Wölfe in meinem Kopf, und nur der Whisky bringt sie wieder zum Schweigen. Heute, in einer Stunde, muß ich diese Musik wieder spielen. Ich muß mich dem Publikum stellen, mein Freund, oder ich verliere dich.« Ich kann nicht behaupten, die ganze Tragweite von Docs persönlichem Dilemma verstanden zu haben. Ich war zu jung und zu unerfahren, um seinen Schmerz und seine Erniedrigung begreifen zu können. Aber ich wußte, daß es ihm weh tat, und ich wußte auch, daß ich ihm nicht helfen konnte. »Ich werde dabeisein, Doc. Ich blättere für Sie um.« Doc zog sein Taschentuch heraus und schneuzte sich die Nase. »Du bist ein guter Freund, Peekay.« Er lachte wie früher, fuhr mir mit der Hand durchs Haar und schaute sich dann meine Hände genauer an. Meine Knie und Hände waren schmutzig vom Unkrautjäten zwischen den Kakteen. »Wasch dich besser noch gründlich, wenn du mein Partner sein willst, wir müssen so gut wie möglich aussehen. Ja, es stimmt, das Publikum hat sechzehn Jahre auf mich gewartet.« Er erhob sich und nahm mich an der Hand. »Komm, Peekay, wir gehen.« Während der Fahrt in die Stadt saßen Doc und ich vorne mit Lieutenant Smit im Lieferwagen. Klipkop fuhr den Pritschenwagen, und Gert saß hinten. Der Steinway war auf den Pritschenwagen geladen und festgebunden worden. Die fünf Gefangenen saßen darum herum und mußten ihn unter Lebensgefahr am Rutschen hindern, einer hatte Docs Klavierstuhl zwischen die Beine geklemmt. Etwa eine halbe Meile vom Marktplatz entfernt blieb der Diamont T stehen, und die beiden Wärter ließen die sechs Schwarzen von der Ladefläche des Lasters herunterklettern. Ein Wärter kletterte wieder hinauf, der andere begleitete die Gefangenen zum Gefängnis zurück. Die Hauptstraße war verlassen wie an einem Sonntag nachmittag. »Jesus Christus, ich hoffe, das fällt nicht auf den Kommandanten zurück«, sagte Lieutenant Smit vor sich hin. Wir waren hinter dem Lastwagen hergefahren und überholten ihn jetzt. Ich bemerkte, daß alle Läden geschlossen waren, selbst Goodheads Getränkeladen und das Savoy Cafe, das über Mittag nie zumachte. Wir bogen um die Ecke auf den Marktplatz, und mir blieb der Mund offenstehen vor Staunen.
Auf dem Marktplatz drängten sich Hunderte von Menschen, die bei unserem Anblick zu jubeln begannen. Ein Wärter winkte uns zu einer Stelle unter einem großen Flamboyantbaum, der freigehalten worden war. Lieutenant Smit beauftragte Gert, beim Lieferwagen zu bleiben, aber sein Gewehr auf keinen Fall zu zeigen. Dann sprang er heraus und ging vor dem Diamont T her zu der durch Seile abgegrenzten freien Stelle mitten auf dem Platz. Eine Leiter wurde am Pritschenwagen befestigt, und die Wärter banden die Seile los, die den Steinway gesichert hatten. Einer rückte Docs Klavierstuhl zurecht, und ein anderer stellte ein Mikrophon auf. In dem Augenblick, als wir die Menschenmenge erblickten, fing Doc zu zittern an. Ich saß halb auf seinen Knien und fühlte es genau. »Peekay, hast du das mit der Feldflasche erledigt?« fragte er. »Sie liegt im Klavierstuhl, Doc.« »Peekay, du mußt sie nehmen, und wenn, ich dich darum bitte, mußt du sie mir reichen, hast du mich verstanden?« Ich nickte. Als wir unter dem großen Flamboyantbaum ankamen, wartete der Kommandant schon auf uns. Er öffnete die Tür des Lieferwagens, und Doc stieg unsicher heraus. Kommandant van Zyl packte ihn am Ellbogen und hielt ihn fest. »Also Professor, vergessen Sie nicht, daß Sie ein Deutscher sind, Angehöriger eines großartigen Volkes von Kämpfern. Das gesamte Gefängnispersonal ist auf Ihrer Seite, Sie müssen diesen rooineks zeigen, was echte Kultur ist, Mann!« Doc schaute sich ängstlich nach mir um. »Vergiß die Flasche nicht, Peekay«, sagte er. Wir gingen in die Mitte des Platzes, Doc hielt meine Hand fest und wurde auf der anderen Seite vom Kommandanten gestützt. Die Menge um uns herum war völlig aus dem Häuschen. Seit Kriegsbeginn hatte nichts Vergleichbares hier stattgefunden. Als wir beim Pritschenwagen ankamen, sahen wir, daß ringsherum hinter der Seilabgrenzung etwa zwanzig Stuhlreihen aufgestellt worden waren. Die Stühle mußten aus den Läden und Büros stammen, keine zwei waren gleich, aber die Honoratioren der Stadt hatten schon darauf Platz genommen. Mrs. Boxall saß in der ersten Reihe. Sie hatte ihren feinsten Hut und Handschuhe an, genau wie die anderen Damen, die zur besseren Gesellschaft gezählt wurden. Hin-
ter dem Laster saßen auf drei Reihen gleicher Stühle die Gefängniswärter mit ihren Frauen, die Männer in Uniformen und die Frauen in ihren besten Sonntagskleidern. Sie strahlten vor Selbstzufriedenheit. Als wir bei dem Pritschenwagen waren, hatte Doc sich etwas gefangen, und er und ich kletterten ohne Hilfe hinauf. Auch der Kommandant kletterte mit Klipkops Hilfe auf die Ladefläche. Klipkop ging zum Mikrophon und probierte es aus. »Eins, zwei, drei, vier«, ertönte seine Stimme aus den vier Ecken des Marktplatzes. Zufrieden kletterte er wieder herunter und ging zu Lieutenant Smit. Der Kommandant stellte sich vor das Mikrophon. »Dames and Heere, meine Damen und Herren«, begann er. Dann sprach er Englisch. »Wie Sie alle aus der Zeitung wissen, hat es einen großen Wirbel um einen unserer angesehensten Mitbürger gegeben, Professor Karl von Vollensteen, ein Musikprofessor aus Übersee. Der gute Professor, der seit fünfzehn Jahren hier in dieser Stadt gelebt und vielen unserer jungen Töchter das Klavierspiel beigebracht hat, wurde in Deutschland geboren. Das ist der einzige Grund, warum er unter meinen Schutz gestellt wurde.« Ein paar Leute fingen an zu buhen, und jemand schrie: »Einmal ein deutscher Soldat, immer ein deutscher Soldat!« Einige lachten und klatschten. Der Kommandant hob die Hand. »Ich bin ein Bure, kein Engländer. Wir Buren wissen, was es bedeutet, unserer Rechte beraubt zu werden!« Jetzt wurde stärker gebuht und die gleiche Stimme brüllte: »Jetzt aber mal halblang, mein Lieber!« Der Kommandant fuhr fort, als antworte er auf den Zwischenruf: »Nein, es stimmt, ich muß es aussprechen, ihr habt uns die Freiheit gestohlen, und jetzt stehlt ihr die Freiheit des Professors!« Jetzt wurde wie wild gebuht, und Bürgermeister O'Grady Smith stand plötzlich auf und rief dem Kommandanten zu: »Machen Sie weiter, Mann, oder es gibt einen Aufstand!« Der Kommandant wandte sich wütend an ihn und hatte das Mikrophon vor sich offensichtlich vergessen. »Sagen Sie mir nicht, was ich tun soll! Nur weil Sie Bürgermeister in diesem dorp hier sind, glauben Sie, daß Sie hier den Boß spielen können, was?« Das Buhen hörte auf, denn Mr. O'Grady Smith war nicht belieb-
ter als der Kommandant. Er war ebenfalls sehr dick und mindestens dreißig Zentimeter kleiner als der Kommandant. Er drängte sich nach vorne, stieg, von einigen Männern gestützt, die Leiter zum Pritschenwagen hoch und ging zum Mikrophon. Auf Zehenspitzen stehend, rief er hinein: »Es ist höchste Zeit, daß Barberton das Gefängnis und die Nazis, die dort das Sagen haben, los wird. Diese Stadt ist König Georg und dem Britischen Empire treu. Gott schütze den König!« Der größte Teil des Publikums klatschte und jubelte und pfiff, und Mr. O'Grady Smith drehte sich um und schaute mit einem selbstgefälligen Ausdruck zum Kommandanten hoch. Ich stand neben Doc auf dem Pritschenwagen und sah, wie etwa ein Dutzend Männer sich ihren Weg durch die Menge zu uns bahnten. »Da kommen ein paar Männer«, sagte ich zu Lieutenant Smit, der jetzt mit Klipkop neben der Leiter stand, um zu verhindern, daß noch mehr Männer versuchten, auf den Pritschen wagen zu klettern. Die beiden kletterten schnell zu uns hoch, zogen die Leiter ein und stellten das Mikrophon neben den Steinway, so daß der hintere Teil des Pritschenwagens leer war. Respektlos wurden der Bürgermeister und der Kommandant nach vorne geschoben. Zwischen dem Lastwagen und der ersten Sitzreihe hinter den Seilen waren drei Meter Platz gelassen worden, damit die angesehenen Bürger der Stadt gute Sicht auf Doc am Flügel hatten. Die Angreifer kamen durch dieses Niemandsland heran und kletterten auf den Pritschenwagen. Lieutenant Smit und Klipkop empfingen die Angreifer oben, während die anderen Wärter unten für Ordnung sorgten. Aber bald wurde auf der Ladefläche und unten gekämpft, und die Frauen kreischten und versuchten zu entkommen. Der Kommandant kam hinter dem Steinway vor und bekam einen Schlag auf die Nase. Der fette Mr. O'Grady Smith kroch auf allen vieren unter den Flügel und versuchte unsichtbar zu werden. Nur Mrs. Boxall blieb stehen und winkte verzweifelt in unsere Richtung. Plötzlich merkte ich, daß sie mich meinte. »Spring runter, Peekay, lauf weg, spring!« schrie sie. In diesem Augenblick zog Doc mich am Ärmel. »Die Flasche, Peekay.« Er streckte seine Hand aus. Ich reichte ihm die Whiskyflasche, er öffnete sie, trank einen großen Schluck und gab sie mir wieder. »Wenn ich nicke, blätterst du um.« Er nahm die Noten und blät-
terte schnell bis zum Fortissimo, das in Beethovens Pathetique gegen Ende des zweiten Satzes beginnt. Dann fing er an zu spielen. Das Mikrophon war heruntergerissen worden und hing jetzt direkt in den geöffneten Flügel. Die Musik donnerte über den Platz. Fast sofort waren die Zuschauer still, die Männer hörten auf zu kämpfen, sprangen von der Ladefläche und verschwanden in der Menge. Der Bürgermeister krabbelte unter dem Flügel hervor und kletterte mit dem Kommandanten die Leiter hinunter. Selbst die schluchzenden Frauen faßten sich und waren still. Doc spielte und spielte, beendete den zweiten und den dritten Satz und begann nach kurzer Pause den vierten, wobei er jedesmal mit dem Kopf nickte, wenn ich umblättern mußte. Er brachte das Konzert fehlerlos zu einem donnernden Abschluß. Intellektuell hatte das Publikum wahrscheinlich sehr wenig davon verstanden. Es war schließlich nicht ihre Art von Musik. Aber gefühlsmäßig würden sie sich an Docs Konzert bis an ihr Lebensende erinnern. Mrs. Boxall schluchzte und drückte die Hände an die Brust, und auch die anderen Damen wirkten völlig hingerissen. Lieutenant Smit rief einigen Wärtern etwas zu, die daraufhin anfingen, dem Laster einen Weg zu bahnen. Smit schraubte das Mikrophon ab und befahl Klipkop, in den Laster zu steigen und loszufahren. Er selbst sprang auf den Beifahrersitz, als sich der große Diamont T in Bewegung setzte. Doc, der sich immer wieder vor der klatschenden Menge verbeugt hatte, ließ sich auf seinen Klavierstuhl fallen. Nach einer kurzen Phantasieeinlage begann er, Beethovens Mondscheinsonate zu spielen. Ich hatte ihn noch nie so glücklich gesehen. Er spielte die ganze Strecke bis zum Gefängnis zurück und unterbrach nicht einmal, als wir am Tor ankamen. Erst als wir vor dem Verwaltungsgebäude stehenblieben, nahm er einen langen Zug aus der Flasche, erhob sich vom Flügel, und sein Blick ging über die Gefängnismauern zu seinen geliebten Hügeln. Ich öffnete schnell den Klavierstuhl und legte die Flasche und die Noten zurück. Dann schloß ich ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Doc fuhr mir mit der Hand durchs Haar. »Keine Wölfe mehr. Absoludel«, sagte er leise und schaute wieder zu den Hügeln hinauf.
12 Dee oder Dum weckte mich jeden Morgen um Viertel vor fünf mit Kaffee und einem Zwieback. Kurz nach fünf schulterte ich meinen ledernen Schulranzen und zog los zum etwa drei Meilen entfernten Gefängnis. Ich war genauso regelmäßig und genauso harmlos wie der Milchmann und wurde ohne weiteres eingelassen. Die Wärter hatten noch anderthalb Stunden Nachtschicht vor sich und winkten mir von ihrem Patrouillengang auf der Gefängnismauer aus zu. Sie waren müde von dem eintönigen Dienst, und ich war nach der grau heraufsteigenden Dämmerung das erste sichtbare Zeichen, daß die lange Nacht nun bald vorüber war. Ich lernte, daß die beste Tarnung die Beständigkeit ist. Wenn man etwas oft genug zur gleichen Zeit und immer auf die gleiche Art und Weise tut, wird man unsichtbar. Man wird zu einem Schatten. Jeder rückfällige Sträfling weiß das. Im Gefängnis muß man, wenn man Erfolg haben will, langfristig planen. Gewohnheiten müssen ganz allmählich installiert werden, jeden Tag, jede Woche, jeden Monat kommt man seinem Ziel ein Stückchen näher. Sind sie erst mal Routine geworden, erkennt die Obrigkeit nicht mehr, daß es eigentlich Täuschungen sind, sondern akzeptiert sie als normale Routine. Hinsichtlich der Kontinuität ist der Gefangene dem Wärter überlegen. Die Wärter kommen und gehen, werden befördert oder ziehen weg. Häftlinge, die lange Haftstrafen verbüßen, haben den Zeitvorteil auf ihrer Seite. Sie können langfristig planen. Im Gefängnis ist der alte Knastbruder die wahre Autorität. Die Wärter verlassen sich unbewußt darauf, daß die alten Knastbrüder die Gefängnisroutine aufrechterhalten, denn sie und sonst niemand halten die jüngeren Gefangenen in Schach, die nicht die nötige Geduld für die Gefängnisroutine haben oder die glauben, Gewalt sei das einzige Mittel, um zu bekommen, was sie wollen. Ein Gefängnis ohne diese zweite Autoritätsebene kann ein gefährlicher und unberechenbarer Ort sein. Schließlich war ich ein Teil dieser Schattenwelt, in die ich ganz allmählich und mit großer Geduld von einem alten, zahnlosen Knastbruder namens Geel Piet eingeführt wurde. Im Afrikaans
bedeutet dieser Name ganz einfach Gelber Peter. Tatsächlich war es mehr als nur ein Name. Geel Piet war ein Mischling. Weder schwarz noch weiß, wurde er als Schwarzer behandelt, sehnte sich aber in seinem Herzen danach, ein Weißer zu sein. Geel Piet war der Schwarze Peter Afrikas, der von beiden Seiten abgelehnt wurde. Außerdem war er ein rückfälliger Sträfling, ein unverbesserlicher Krimineller,.der freimütig zugab, daß die Welt draußen nichts für ihn sei. Geel Piet besaß in der Schattenwelt des Gefängnisses die größte Macht. Mein Gefängnistag begann um halb sechs Uhr morgens in der Turnhalle, wo sich die Boxstaffel unter Leitung von Lieutenant Smit zur Gymnastik versammelte. Zusammen waren wir zwanzig Mann, inklusive vier anderer Kinder zwischen elf und fünfzehn Jahren. Der Rang hing vom Gewicht ab. Klipkop, der einen Punktsieg nach zehn Runden über Jackhammer Smit errungen hatte und jetzt Schwergewichtsmeister im lowveld war, stand in der Rangliste am höchsten, und ich am niedrigsten. Lieutenant Smit stand im Boxring und hatte eine Trillerpfeife im Mund. Auf seine Pfiffe hin machten wir eine Serie von Übungen, die jeder von uns kannte. Dazwischen wurden Liegestütze und Bauchmuskeltraining gemacht, je nachdem wie schnell und wie oft Lieutenant Smit das wollte. Jedesmal wurden es ein paar Liegestütze mehr. Lieutenant Smit hielt große Stücke auf das Muskeltraining. Er mochte kämpferische Boxer und fand, daß die Buren bessere Fighter als Boxer seien, und da die meisten Gefängniswärter von Natur aus aggressiv seien, seien sie auch gute Fighter. Er hielt Zähigkeit und Entschlossenheit im Ring für wichtiger als Geschicklichkeit. Die Boxer aus dem Gefängnis von Barberton waren im ganzen lowveld bis Petersburg und Pretoria als zähe Kämpfer bekannt. Lieutenant Smit blieb bei seinem Wort und erlaubte mir in den ersten beiden Jahren nicht, in den Ring zu steigen. »Wenn du den Medizinball über Klipkops Kopf werfen kannst, dann bist du soweit«, sagte er. Das war mein erstes Ziel, und in der Viertelstunde nach der Gymnastik, wenn die anderen mit einem Sparringspartner trainierten, mühte ich mich mit dem schweren Ball ab, bis ich meine Arme nicht mehr heben konnte. Nachdem ich geduscht hatte, meldete ich mich zur Klavierstun-
de in der Halle bei Doc, und um halb acht frühstückten wir beide im Wärterkasino. Doc hatte einen ganz speziellen Status im Gefängnis. Er wohnte in einer Zelle, konnte sie aber jederzeit verlassen. Er aß im Wärterkasino und mußte keine bestimmten Aufgaben erledigen. »Sie müssen nur Klavier spielen, Professor«, hatte Kommandant van Zyl gesagt, »das ist Ihr Job, verstanden?« Doc kam oft in die Turnhalle und schaute uns zu. Er wußte, daß ich unbedingt boxen lernen wollte, und äußerte deutlich, daß er nicht verstand, warum. Er respektierte aber meinen Wunsch und besänftigte meine Ungeduld mit Beispielen aus der Musik. »Auch in der Musik muß man zuerst üben, nichts als üben. Erst wenn man die Etüden gut kann, hat man eine Grundlage. Jeder gute Musiker hat eine solide Grundlage. Ich glaube, beim Boxen ist es genauso.« Und so absolvierte ich das ganze Boxtraining und übte am Sandsack, bis mir alle Schläge so vertraut waren wie die Tonleitern auf dem Klavier. Dieser alte Sandsack wurde in den ersten zwei Jahren jeden Tag ganz entsetzlich von mir verdroschen. Ich stellte mir vor, daß er sich schon, wenn ich näher kam, zusammenkauerte und manchmal sogar wimmerte: »Heute nicht so viele von diesen tödlichen Aufwärtshaken, Peekay!« oder: »Oh, nein! Keinen rechten Schwinger. Ich kann heute keinen rechten Schwinger mehr einstekken.« Ich sage euch, dieser dicke alte Sandsack hat begriffen, wen er vor sich hat. Am liebsten arbeitete ich am Speedball. Gert, der junge Wärter, der kein Englisch sprach, war auch in der Boxstaffel, und wir hatten uns angefreundet. Er änderte einen alten Punchingball in der Gefängniswerkstatt so ab, daß er für mich in der richtigen Höhe hing. Ich erinnere mich noch an den ersten Tag, als ich nach mehreren Wochen Training den richtigen Rhythmus heraushatte und der Ball so schnell hin und her zischte, daß ich ihn nur verschwommen vor meinen Boxhandschuhen erkennen konnte. Ich glaube, Fred Astaire hat sich genauso gefühlt, als er zum ersten Mal einen ganzen Stepptanz aufs Parkett gelegt hat. Einige Wochen danach kam Lieutenant Smit zu mir und schaute mir zu. Mein Herz klopfte, und ich konzentrierte mich darauf, den Speedball so richtig schwirren zu lassen. Nichts als ein rhythmi-
sches Ta-ta-ta von Leder auf Leder. »Du bist schnell, Peekay. Das ist gut«, sagte er und ging wieder weg. Als ich zwei Jahre später eine schwierige Stelle in einem Chopin-Prelude endlich richtig spielen konnte, war meine Freude darüber nichts im Vergleich zu Lieutenant Smits Lob. Es waren die ersten Worte gewesen, die er während der sechs Monate, die ich schon in der Boxstaffel war, direkt an mich gerichtet hatte. Docs Steinway stand in der Gefängnishalle, einem ziemlich großen Raum mit einem Holzboden, der vor allem für die Tanzabende und andere Ereignisse im Leben der Gefängnisbeamten und ihrer Familien benutzt wurde. In diesem Saal stand auch ein französisches Klavier, denn auf Docs Steinway durfte nur klassische Musik gespielt werden. Das war eine ausdrückliche Anordnung von Kommandant van Zyl, der der Meinung war, daß auf einem so guten Flügel keine Tanzmusik oder Banjo- oder Akkordeonbegleitung gespielt werden durfte. Natürlich wurde seiner Anordnung Folge geleistet, und der Steinway wurde zum Symbol für etwas ganz Außerordentliches, das den Gefängnisbeamten und ihren Familien ihrer Meinung nach einen besonderen Status verlieh. Doc und mir, den einzigen Personen, die auf dem Steinway spielten, wurde dieser Status ebenfalls zugestanden. Obwohl ich alles andere als gut spielte, hielt man mich für begabt. Die Tatsache, daß der große deutsche Musikprofessor mir Unterricht erteilte, reichte aus, um mich für ein angehendes Genie zu halten. Doc war so freundlich, dieser gängigen Meinung nie zu widersprechen. Er war zwar der ehrlichste Mensch, den ich jemals getroffen habe, aber er war kein Dummkopf. Er lernte schnell, daß jeder kleinste Vorteil im Gefängnis sehr viel wert war, und es war eine Schande, daß ein so brillanter Lehrer wie er seine Fähigkeiten an einen durchschnittlichen Schüler wie mich verschwenden mußte. Fast jeden Tag nach der Schule schaute ich im Kaktusgarten vorbei, und jeden Sonntag nach der Kirche ging ich mit Dee und Dum zu Docs Haus, half ihnen beim Putzen und arbeitete im Garten. Doc und ich besprachen an Hand einer Karte, in die Doc jede Sukkulente und jeden Kaktus im Garten eingezeichnet hatte, wie alles gedieh und was getan werden mußte. Das Zeichnen dieser Karte war eine intellektuelle Leistung ersten Ranges, schließlich wuchsen in dem Garten mehrere tausend Pflanzen. Ich brauchte mehrere Wochen,
um die Karte auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen, und fand schließlich nur elf Fehler. Jedesmal nahm ich mir einen kleinen Teil des Gartens vor und berichtete Doc dann genau, wie es dort aussah. Doc notierte sich den Entwicklungsstand von Knospen und Blüten und sagte mir, wann ich Pflanzen ausdünnen oder teilen sollte. Die Ableger brachte ich in einem Rucksack ins Gefängnis, wo Doc inzwischen einen zweiten Kaktusgarten angelegt hatte. Manchmal fraßen Insekten die Kaktusblüten. Dann fing ich ein Tier und brachte es Doc in einer Streichholzdose ins Gefängnis, damit er es identifizieren konnte. Wenn es im Rahmen meiner Möglichkeiten lag, erklärte er mir genau, wie ich die Schädlinge eliminieren solle. Das war aber eher selten. Doc glaubte, daß alle Kreaturen ihren Platz im System hatten, und daß sich letzten Endes alles von alleine regeln würde. Er bat mich nur einzugreifen, wenn ein Insekt so gehäuft auftrat, daß es die Ökologie des Gartens störte. Er verglich das mit einer Heuschreckenplage, die zwar eine natürliche Sache war, aber dennoch bekämpft werden mußte-. In solchen Fällen steuerte Doc das Know-how bei, Mrs. Boxall oder mein Großvater die nötigen Materialien und Dee und Dum die Arbeit. Normalerweise konnte der Feind überwältigt werden. Die Mädchen betrachteten das als Teil ihrer sonntäglichen Freizeit und waren sehr stolz auf ihre Arbeit. Sie arbeiteten gerne im Garten, obwohl ich zu behaupten wage, daß ihnen so viel Mühe um etwas so Blödes wie ein Kaktus doch sehr komisch vorgekommen sein muß. Bald nachdem mein Kiefer wieder in Ordnung war, wurde Marie, die kleine Krankenschwester aus dem Hospital, zu uns nach Hause eingeladen und freundete sich mit meiner Mutter an, unterhielt sich mit ihr und half ihr beim Nähen. Es sah ganz so aus, als ob sie bald dem Herrn in die Hände fallen würde. Da sie selbst von einer Farm stammte, verstand sie sich gut mit Dee und Dum und kommandierte sie zu meiner Überraschung nur selten herum. Sie brachte ihnen neue Gerichte bei und wie man Kürbisplätzchen und Maisbrot buk, die bald mein Lieblingsgebäck wurden. Marie brachte mir von zu Hause süße Kartoffeln mit, frische Eier, manchmal sogar eine Schweinshaxe, frische Farmbutter oder ein paar Pfund selbstgeräucherten Speck. Meinem Großvater brachte sie jedesmal ein Bündel getrocknete Tabakblätter mit. Er rauchte
eine rhodesische Mischung namens African Drum und haßte den scharfen, rohen, ungemischten Tabak von Maries Farm, obwohl er viel zu höflich war, um ihr das zu sagen. Er hing die Tabakblätter an der Decke seines Gartenhauses auf. Hin und wieder legte er ein paar große Blätter in die Regenwassertonne direkt neben dem Gartenhäuschen. Mit dem Tabakwasser goß er dann die von Blattläusen befallenen Rosensträucher. Aber trotzdem wuchs der von der Decke herunterhängende Tabakvorrat geradezu beängstigend. Schließlich wurde der Tabak zum entscheidenden Faktor für meinen Aufstieg innerhalb der Gefängnishierarchie. Während des ersten Jahres war Geel Piet Teil meines morgendlichen Klavierunterrichts, denn er war dann immer in der Halle und polierte auf Knien den Fußboden. Nach einer Weile wurde er für uns völlig unsichtbar, ein Schatten im Hintergrund, der Doc und mich mit »Goeie More, Baas en Klien Baas« begrüßte. Dem Gruß folgte ein zahnloses Grinsen und ein leises Kichern, als ob es ein herrlicher Tag wäre und er nirgendwo auf der Welt lieber sei als hier. Doc, der kein Rassist war, und ich, der sein Leben lang mit farbigen Dienern zu tun gehabt hatte, grüßten zurück. Es war eigentlich verboten, sich mit nichteuropäischen Gefangenen zu unterhalten, und unsere unbekümmerten Antworten müssen für den alten Mann eine große Ermutigung gewesen sein. Geel Piet war klein und sah sehr mitgenommen aus. Sein linkes Auge hing tiefer als das rechte, und das untere Augenlid hing nach unten durch, so daß man mehr vom Augapfel sah als normalerweise. Beide Augen waren chronisch gerötet, und er sah immer aus, als ob er gerade geweint hätte. Seine Nase war flachgeschlagen und sein dunkelgelbes Gesicht von Narben zerfurcht. Der Überlebenskampf war für Geel Piet so hart gewesen, daß man es ihm auf den ersten Blick ansah und er es nie schaffte, sich längere Zeit außerhalb des Gefängnisses durchzuschlagen. Er hatte draußen einfach kein Glück mehr, falls er jemals welches gehabt hatte. Er war im berüchtigten Sechsten Distrikt von Kapstadt geboren worden, und vierzig seiner fünfundfünfzig Jahre hatte er zum größten Teil im Gefängnis verbracht. Er war stolz darauf, daß er alle großen Gefängnisse in Südafrika genau kannte, und er war ein Meister in der Kunst der Tarnung. Wenn ein Wärter ihn aus irgendeinem beliebigen Grund verprügelte, empfand Geel Piet deshalb noch lange keine Abneigung
gegen ihn oder gar Haß. Beides hatte er schon lange hinter sich gelassen, und er hielt eine Tracht Prügel in jedem Fall für selbstverschuldet, weil ihr irgendeine Form von Achtlosigkeit vorausgegangen sein mußte. Geel Piet hatte keinerlei Gefühl für Moral, für Recht oder Unrecht. Er existierte nur aus einem einzigen Grund, um das System zu überleben und zu überlisten. Mehr für sich herauszuschlagen, als ihm zustand. Er hatte längst begriffen, daß die Freiheit zumindest für ihn eine Illusion war. Er mußte noch viele Jahre absitzen, er wußte nicht genau und scherte sich nicht mehr darum, wie viele Jahre es waren, und er war realistisch genug, um zu wissen, daß er bei seinem Alter und seiner schlechten Gesundheit den Tag der Entlassung wohl kaum erleben würde. Nach all den Jahren im Gefängnis war er zu einem perfekten Schauspieler geworden, und, ganz ähnlich wie Doc, ein Meister auf seinem Gebiet. Vielleicht sogar noch besser als Doc, denn als Kuppler war Geel Piet geradezu ein Genie. Geel Piet leitete den Schwarzmarkt des Gefängnisses, auf dem es Tabak, Zucker, Salz und Haschisch zu kaufen gab. Am Schluß kontrollierte er auch die ein- und ausgehende Post und das Geld, das ins Gefängnis hereingeschleust wurde. Er verfügte über ein geradezu enzyklopädisches Wissen,,was das Boxen anbelangte, und die seltene Gabe, Fehler und Schwächen beim Boxen genau zu erkennen. Mein Wunsch, Boxer zu werden, war allzu offensichtlich. Aber Männer wie Geel Piet entwickeln, um überleben zu können, einen sechsten Sinn, und reimen sich aus zufälligen Beobachtungen und schlauen Vermutungen die Wahrheit zusammen. Er brauchte nicht lange, um zu begreifen, daß ich ein leichtes Opfer war. Nach einem Jahr hatte sich Geel Piet bei mir so weit eingeschmeichelt, daß ich, ohne es zu merken, begann, für ihn tätig zu werden. Unser Verhältnis beschränkte sich auf kurze Unterhaltungen, die langsam zu gegenseitigem Verständnis und schließlich zu einer Art Verschwörung führten, bis ich ihm ein großes Tabakblatt schenkte. Ich hatte eine Euphorbia Pseudocactus ausgegraben, eine kaktusähnliche Pflanze, die dicht am Boden wächst und extrem dornig ist. Unter guten Bedingungen wuchert sie sehr stark, sie hatte im Kaktusgarten inzwischen Territorium erobert, das ihr nicht zustand. Ich wollte sie Doc mitbringen, und wegen der vielen Dornen hatte ich
die Pflanze in einen verzinkten Eimer gelegt, den ich aus dem Gartenhäuschen von zu Hause mitgebracht hatte. Ohne darüber nachzudenken, hatte ich unten in den Eimer ein großes Tabakblatt gelegt, das von der dornigen Pflanze ganz verdeckt wurde. Irgend etwas mußte mich dazu gebracht haben, es zu tun. Vielleicht war Geel Piet mit seiner unerschöpflichen Geduld und seinen scheinbar unzusammenhängenden Gesprächsfetzen daran schuld. Tabak ist schließlich der größte Luxus und der wichtigste Handelsartikel im Gefängnis. Durch den Krieg hatte sich die übliche Knappheit an Luxusartikeln im Gefängnis noch vergrößert, und sie waren teurer denn je. Ich wurde nie durchsucht, wenn ich ins Gefängnis ging, aber ausgerechnet an diesem Tag, an dem ich statt einer Tasche einen Eimer bei mir hatte, wollte ein neugieriger Wärter wissen, was darin sei, und hatte einen Blick hineingeworfen. Ich hatte überhaupt keine Angst, da ich das Tabakblatt schon wieder völlig vergessen hatte. »Komisch, daß er all diese häßlichen Pflanzen mag, was?« sagte der Wärter. Docs Kaktusgarten lag direkt vor der Wärterkantine und war Zielscheibe vieler Witze, die meisten darüber, daß Kakteen genau die richtigen Pflanzen für Gefängnisse seien. »Wenn die Gefangenen einen Aufstand machen, verstecken wir uns alle im Garten des Professors, die verdammten Kaffern hätten nicht den Mumm, uns da rauszuholen.« Nach dem morgendlichen Boxtraining hatte ich den Eimer mit in die Halle genommen, und Geel Piet, der sich immer nützlicher machte und im Lauf der Zeit Docs persönlicher Diener wurde, hatte den Eimer mit der Pflanze in Docs Garten getragen. Als er zurückkam, hatte in seinem zerschlagenen Gesicht ein breites Grinsen gestanden. Alles was er sagte, war: »Ich helf dir, ein großer Boxer zu werden.« So ging alles los. Als ich an diesem Nachmittag von der Schule nach Hause kam, brachte ich bei meinem Großvater die Angelegenheit mit dem Tabak zur Sprache. Ich glaubte nicht, daß moralische Erwägungen eine Rolle spielten. Nachdem ich ein Jahr lang während der Woche täglich im Gefängnis ein- und ausgegangen war, hatte ich das System begriffen. Moral existierte dort nicht, ein Zwei-Fronten-Krieg wurde geführt, und selbst mit meinen acht Jahren erkannte ich, daß die eine Seite deutlich im Vorteil war. Die Gefängniswärter waren genau wie die Kinder im Internat: eine brutale Schlägertruppe, die
wehrlosen Menschen gegenüberstand und sie Verbrechen bezichtigte, die sie vielleicht gar nicht begangen hatten. Die Vorstellung, in so einer Umgebung weitere Verbrechen zu begehen und dafür brutal bestraft zu werden, war bizarr und unwirklich. Doc und ich gehörten weder der einen noch der anderen Seite an, wir waren Zuschauer, die von Zeit zu Zeit beschlossen mitzuspielen. Obwohl wir die Spielregeln nicht ändern konnten, konnten wir den Akteuren doch etwas helfen. Mein Großvater war unumstößlichen moralischen Werten gegenüber immer mißtrauisch und zog es vor, die Dinge selbst zu beurteilen. Deshalb konnte er Inkosi-Inkosikazi zugestehen, daß er ihn von den Gallensteinen geheilt hatte, und den Buren, daß sie gute Musikanten und gute Schützen waren. Wir saßen auf einer der Stufen, die zu einer Terrasse hochführten. Während er seine Pfeife umständlich stopfte und anzündete und zwischendurch über das rostige Dach mit der abgeblätterten Farbe hinweg in die Ferne schaute, und nachdem er sich versichert hatte, daß ich nie durchsucht wurde, entschied er, daß die Gefangenen den Tabak haben sollten. »Arme schwarze Lumpen, die haben's hier schwerer als in England im 17. Jahrhundert. Die meisten sind für Verbrechen eingesperrt, bei denen es eine Standpauke getan hätte.« Er hatte unrecht. Barberton war ein Zuchthaus, und abgesehen von den politischen Häftlingen hatten die meisten Gefangenen Verbrechen begangen, die in jeder Gesellschaft bestraft werden. Aber das größte Verbrechen war die Behandlung der Gefangenen, und es kam nicht selten vor, daß ein Gefangener für eine kleine Unbotmäßigkeit zu Tode geprügelt wurde. Über solche Vorkommnisse wurde unter den Wärtern leise, fast heimlich gesprochen, aber ihre Zufriedenheit darüber war ihnen deutlich anzumerken. Ich glaube, daß für die Entscheidung meines Großvaters auch der Gedanke eine Rolle spielte, daß der ständig anwachsende Vorrat an Tabakblättern aus Maries Farm sich dann endlich verringern würde und daß er dadurch im kleinen die Ungerechtigkeit bekämpfte, die er verachtete. Er instruierte mich genau, wie man Ungeziefer mit Tabakwasser bekämpft, und gab mir auch einen diesbezüglichen Brief an Doc mit. Der Plan war der, daß Doc in seinem Kaktusgar-
ten eine Wassertonne aufstellen und hin und wieder zwei Tabakblätter hineinlegen sollte. Falls dann irgendwann ein Tabakblatt bei mir entdeckt würde, könnte Doc, ein Nichtraucher, überzeugend erklären, wofür es gebraucht wurde. Doc hatte darum gebeten, im Gefängnis von Barberton bleiben zu können, und nicht in ein Internierungslager im highveld gebracht zu werden. Die Vorstellung, seine geliebten Berge, seinen Kaktusgarten und seinen Flügel verlassen zu müssen, erschien ihm unerträglich, und ich bin sicher, daß er auch wegen unserer Freundschaft in Barberton bleiben wollte. Kommandant van Zyl, der Doc als das persönliche Eigentum des Gefängnisses und als ein ständiges Ärgernis für die englischsprechende Bevölkerung der Stadt ansah, half ihm nur allzu gern. Ich glaube, daß die Militärs es schließlich aufgegeben haben, ihn aus dem zivilen Strafvollzug rausholen zu wollen. Doc verbrachte den Rest des Krieges unter der wohlwollenden Aufsicht des Kommandanten. Doc war natürlich ein Mitverschwörer in dem ausgeklügelten Schmugglerring. Da er immer im Gefängnis war, bekam er auch mit, wie die Arbeitstrupps nachts zurückkamen und im Morgengrauen schon wieder loszogen. Ob er wollte oder nicht, lernte er einen für ihn ganz neuen Aspekt von Afrika kennen. Doc war ein Mann, der sich nur für intellektuelle Probleme engagierte. Statt sich mit dem Dilemma der Konfrontation zwischen Schwarzen und Weißen und dem Vorurteil der weißen Überlegenheit auseinanderzusetzen, hatte er es vorgezogen, das ganze Problem von vorneherein zu vermeiden, indem er sich weder schwarze Dienstboten noch sonst eine Abhängigkeit vom schwarzen Afrika leistete. Aber er war auch ein mitfühlender und gerechter Mensch, und die gedankenlose Brutalität der Wärter bedrückte ihn tief. Wir wußten beide nicht sehr viel über die dunklen Seiten der Menschen, obwohl ich wahrscheinlich mehr Erfahrung damit hatte als Doc. Wir sahen die Brutalität um uns herum weniger als Frage der gefühlsmäßigen Parteinahme oder eines Kampfes Gut gegen Böse, sondern als das Böse an sich an. Wir waren ganz einfach verstandesmäßig gezwungen, Partei für die Gefangenen zu ergreifen. Brutalisierte Menschen denken nur ans Überleben. Geel Piet war genauso unmoralisch wie seine Unterdrücker, aber gezwungen, ein ganzes Stück schlauer zu sein als sie. Die Macht, die er durch den Tabak und die anderen ins
Gefängnis eingeschleusten Waren bekam, war groß, und er gebrauchte sie zum eigenen Überleben und zu seinem eigenen Vorteil genauso unbarmherzig und rücksichtslos, wie die Wärter ihre Überlegenheit einsetzten. Wie sich später herausstellte, sprach er ganz passabel Englisch, hatte aber Afrikaans mit mir gesprochen, weil er wußte, daß Doc ihn dann nicht verstehen und seinen von langer Hand sorgfältig vorbereiteten Plan durchschauen konnte. Als Nächsten nahm er Doc für sich ein. Er wurde sein perfekter Diener, ein bescheidener Mann, der alle Bedürfnisse Docs vorausahnte und sich nie in Docs und meine Welt hineindrängte. Dann verschaffte Geel Piet sich für die Zeit Zutritt zur Turnhalle, in der die Boxstaffel ihr morgendliches Training absolvierte. Zuerst huschte er wie ein Schatten herum, wurde von kaum jemandem bemerkt, bohnerte den Boden oder putzte die Fenster. Im Laufe eines Jahres wurde er dann langsam für die Wäsche verantwortlich, sammelte die verschwitzten Shorts und Suspensorien und die Boxstiefel im Duschraum ein und brachte sie am nächsten Tag frisch gewaschen und frisch geputzt zurück. Als ich Klipkop einen Medizinball über den Kopf werfen konnte, hatte sich Geel Piet einen Namen als Fachmann in Sachen Boxen gemacht. Der Lieutenant gab ihm den Job, die Fortschritte der Kleinen in der Mannschaft zu überwachen, und mischte sich nur manchmal ein, wenn er glaubte, seine prinzipielle Überlegenheit beweisen zu müssen, indem er einer Anordnung Geel Piets willkürlich widersprach. Die jungen Boxer machten unter Geel Piets Anleitung sichtbare Fortschritte, der alte Kerl war geradezu dazu geschaffen, Boxer aus uns zu machen. Wenn er nicht im Gefängnis gewesen war, hatte er in Sporthallen gearbeitet, und irgendwann in seiner dunklen Vergangenheit war er farbiger Meister im Leichtgewicht der Kapprovinz gewesen. Er hatte eine Art, Kinder anzuleiten, die sogar Burenkinder dazu brachte, ihn zu respektieren, obwohl sie sich am Anfang nur aus Angst vor Lieutenant Smit von einem verdammten gelben Kaffer trainieren ließen. Von dem Tag an, an dem Lieutenant Smit erlaubte, daß ich boxen durfte, war ich unter Geel Piets Führung, und er behandelte mich wie frischen Ton in seinen Händen. Vom ersten Tag an konzentrierte sich Geel Piet auf die Verteidigung. »Wenn man dich nicht schla-
gen kann, kann man dich auch nicht verletzen«, pflegte er zu sagen. »Ein Boxer, der etwas riskiert, wird geschlagen und verletzt. Boxe, fighte nicht, das Fighten ist für Schwergewichtler und für domkops.« Das war nicht gerade das, worauf ich zwei Jahre gewartet hatte. Aber Doc überzeugte mich, daß Geel Piet recht hatte, und einer logischen Argumentation konnte sich selbst ein Achtjähriger nicht verschließen. Einige Wochen darauf durfte ich mit einem Elfjährigen zum ersten Mal in den Ring. Sein Spitzname war Rotznase, Rotznase Bronkhorst, weil ihm immer eine Rotzbombe aus einem oder beiden Nasenlöchern heraushing. Er war ein großer, bullig gebauter Junge, war aber erst seit ein paar Wochen in der Mannschaft und hatte noch keine Ahnung. Er hatte mich vom Punchingball weggestoßen, und ich war über eine Gummimatte gestolpert und hingefallen. Beim Aufstehen hatte ich ihm einen Aufwärtshaken verpaßt, und Lieutenant Smit, der so tat, als hätte er nichts bemerkt, sagte, er wolle uns im Ring sehen. Mein Herz klopfte laut, als mir klar wurde, daß der Augenblick gekommen war. Wir kletterten in den Ring, und unser Größenverhältnis erinnerte an Hoppie und Jackhammer Smit, unser Können allerdings ganz und gar nicht. Aber ich hatte in den letzten zwei Jahren eine Menge gelernt und noch mehr in den sechs Wochen, die mich Geel Piet trainiert hatte. Rotznase jagte mich durch den Ring und teilte wilde Schläge aus, von denen mich jeder einzelne über die Seile geworfen hätte, wenn er nur getroffen hätte. Drei Minuten lang traf er mich kein einziges Mal, und ich versuchte gar nicht erst, einen Treffer bei ihm zu landen. Nach drei Minuten pfiff Lieutenant Smit den Trainingskampf ab. Jetzt erst bemerkte ich, daß sich die meisten aus der Mannschaft um den Ring versammelt hatten, und als der Pfiff ertönte, klatschten alle laut los. Es war einer der größten Augenblicke meines Lebens. Peekay hatte seine zweijährige Lehrzeit beendet. Von jetzt an marschierte er schnurstracks auf die Weltmeisterschaft im Weltergewicht zu. Bevor ich aus dem Ring stieg, ging ich in meine Ecke zurück. Ich fühlte, daß etwas nicht stimmte, und duckte mich gerade noch rechtzeitig, als eine riesige Faust durch die Luft zischte, wo noch eine
Sekunde vorher mein Kopf gewesen war. Ohne nachzudenker verpaßte ich ihm einen rechten Aufwärtshaken und legte mein ganzes Gewicht in den Schlag. Er traf Rotznase Bronkhorst im Solarplexus, und ich fühlte, wie mein Boxhandschuh tief in seine entspannten Bauchmuskeln eindrang. Er taumelte einen Augenblick krümmte sich dann zusammen, fiel mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden und schnappte nach Luft. Ich wunderte mich über die Hochrufe und das Gelächter, und im Hintergrund sah ich Geel Piet wie er unbeachtet von den andern einen Freudentanz aufführte und dabei seinen zahnlosen Mund mit der komischen Unterlippe weit aufriß. Er schlug seine übliche Vorsicht in den Wind und schrie: »Wir haben einen, wir haben einen Boxer!« Die Einmischung des Farbi gen in die allgemeine Heiterkeit verursachte eine plötzliche Stille um den Ring herum. Lieutenant Smit ging langsam auf Geel Piet zu. Er schlug ihn blitzschnell mitten ins Gesicht. Der kleine Mann ging zu Boden Blut quoll ihm aus seiner flachgeschlagenen Nase. »Wenn ich 'ne Meinung hören will von 'nem verdammten Kaffern, wer hier ein Boxer ist und wer nicht, dann frag ich, verstanden?« Dann massierte sich Smit geistesabwesend die Knöchel seine rechten Hand und wandte sich wieder an die Mannschaft. »Aber der gelbe Bastard hat recht«, sagte er. »Jetzt geht unter die Dusche, aber ein bißchen schnell. Bronkhorst, du bist ein domkop«, fügte er hinzu, als Rotznase schwankend auf die Beine kam. Ich stand immer noch im Ring, ganz verblüfft über den Tumult den ich bewirkt hatte. Ich sah, wie Geel Piet auf allen vieren zur Tür kroch. Als er dort ankam, stand er unsicher auf und sah mich direkt an. Dann grinste er und hob verstohlen einen Daumen. Die Bewegung war so gering, daß ein zufälliger Beobachter sie gar nicht bemerkt hätte. Zu meiner Überraschung stand ein glücklicher Ausdruck in seinem zerschlagenen Gesicht. An diesem Morgen sprang auf meinem Schulweg Rotznase Bronkhorst hinter einem Baum vor und verdrosch mich kräftig. Trotzdem schaffte ich es, ihm eine rechte Gerade zu verpassen, die seinen Kopf zurückschnellen ließ, außerdem schlug ich ihm einen soliden Uppercut in die Eier, woraufhin er mich losließ und ich abhauen konnte.
Ich hatte die Erfahrung gemacht, daß es auf der Welt viele Rotznasen gibt, und ich dachte, daß ich nicht nur boxen lernen, sondern auch den Straßenkampf beherrschen müßte. Geel Piet, da war ich mir ganz sicher, würde mir bestimmt ein paar schmutzige Tricks beibringen können. Aber ich täuschte mich. Vielleicht war ich der erste Mensch, für den sich Geel Piet als Boxlehrer verantwortlich fühlte, aber wahrscheinlich spielte Stolz die Hauptrolle. Er war ein Purist und kannte den korrupten Prozeß, der aus einem Boxer einen Fighter und aus einem Fighter einen Halunken macht. »Kleiner Boß, wenn ich dir beibringe, was ein Straßenfighter kann, dann verlierst du deine Schnelligkeit und deine Vorsicht, und wenn du deine Vorsicht verlierst, verlierst du alles, was du kannst.« Er verzog sein Gesicht zu einem grotesken Lächeln. »Es dauert länger, als Boxer erfolgreich zu sein, aber du bleibst wenigstens hübsch dabei.« Ich war enttäuscht. Zäh zu sein, war eines der Ziele, die ich mir gesteckt hatte. Aber hübsch zu sein war mir völlig unwichtig! Wie konnte man zäh sein, wenn man hin und her tanzen mußte wie eine Schmeißfliege? »Bitte, Geel Piet«, bettelte ich, »bring mir wenigstens einen richtig schmutzigen Trick bei.« Nachdem ich ein paar Tage gequengelt hatte, willigte er ein. »Aber nur, wenn du mir versprichst, danach nicht noch mal zu fragen, verstanden?« »Aber es muß ein guter sein, der gemeinste, den es gibt, das mußt du mir auch versprechen.« »Okay, Mann, ich bring dir Sailors Salute bei. Es ist der übelste Trick überhaupt. Das Timing spielt dabei eine große Rolle. Ein Boxer kann ihn beherrschen und bleibt trotzdem Boxer.« »Ist er auch der schlimmste von allen?« »Ja, Mann, ganz bestimmt. Er ist so übel, daß die Polizisten ihn ständig benutzen, damit sie hinterher sagen können, daß sie dich nie angerührt haben. Ein anderer Name für Sailors Salute ist Liverpool Kiss.« Er hielt seine flach ausgestreckte Hand knapp zehn Zentimeter vor seine Augenbrauen, und mit einer kurzen, blitzschnellen Bewegung seines Kopfes knallte seine Stirn in seine Hand. »Nur, daß du das gegen den Kopf des andern machst, so.« Er zog mich an sich und zeigte mir langsam, wie es ging. Trotzdem
flog mir fast der Kopf vom Hals, und die Tränen traten mir in die Augen. Es war der Kopfschlag, mit dem Jackhammer Smit Hoppie erledigt hatte, und jetzt wußte ich, warum Hoppie so plötzlich zu Boden gegangen war. »Machs bei mir«, sagte Geel Piet und klopfte sich auf die Stirn. Ich tat wie geheißen und bekam dabei einen zweiten heftigen Schlag an den Kopf. Meine Begeisterung für Straßenkämpfe schwand. Es war wirklich etwas anderes, als auf einen Sandsack einzudreschen. Aber im Lauf der nächsten Wochen beherrschte ich den Liverpool Kiss immer besser. Ich packte den Sandsack und verpaßte ihm einen blitzschnellen Schlag mit dem Kopf. Hin und wieder erlaubte mir Geel Piet, den Trick an ihm zu üben. Er grinste breit, wenn ich getroffen hatte. »Wenn du es erst mal begriffen hast, verlernst du es nie mehr. Aber benutz ihn nur schnell und nur, wenn der Gegner nicht damit rechnet. Wenn du es richtig machst, küßt du deinen Gegner mit einer winzigen Bewegung in den Schlaf, kein Problem, Mann.« Die Schule hatte einen Nachteil. Ich war zwei Klassen höher als meine Altersgruppe und hatte es deshalb schwer, Freunde zu finden. Die Kinder in meiner Altersgruppe hielten mich für eine Art Monstrum, und tatsächlich war ich mit meinen Erfahrungen im Internat und jetzt im Gefängnis sehr viel zäher als irgendeiner von ihnen. Durch Doc und meinen Kieferbruch hatte ich eine gewisse Berühmtheit erlangt, aber weil ich schüchtern war und außerdem der Kleinste in der Klasse, blieb ich meistens allein. Ohne einen Finger rühren zu müssen, stand ich im Ruf, überlegen zu sein, und wurde deshalb ziemlich in Ruhe gelassen. Ich war nicht aggressiv, und als zwei Jungen aus meiner Klasse, John Hopkins und sein Freund Geoffrey Scruby, wahrscheinlich die zwei stärksten, mich zum Kampf aufforderten, versuchte ich ihn hauptsächlich deshalb zu vermeiden, weil ich arrogant genug war zu glauben, daß ein zukünftiger Weltmeister im Weltergewicht nicht der richtige Mann für Straßenkämpfe sei. Der Richter und die Geschworenen waren so viel stärker als diese zwei gewesen, daß ich nie wirklich vor ihnen Angst hatte. Die englischsprechenden Kinder in der Schule hatten keine Ahnung, daß ich boxen lernte und oft im Gefängnis war, und die wenigen Burenkinder unterhielten sich fast nie mit ihnen, es sei denn, sie wollten sich mit ihnen prügeln. Die beiden Zehnjährigen
ließen mir keine Ruhe, und ich erzählte es Geel Piet, der mein Dilemma sofort verstand. »Kleiner Boß, das ist ganz typisch. Ich sag dir, was du tun mußt. Du mußt ihnen das Gefühl geben, du hättest Angst. Sag ihnen, daß du auf keinen Fall kämpfen willst. Laß sie immer frecher werden, immer mutiger. Laß sie dich herumschubsen. Achte drauf, daß die anderen das mitkriegen. Nach ein paar Tagen fordern sie dich wieder heraus und nennen dir eine Zeit und einen Ort. Versuche, ängstlich auszusehen, wenn du zustimmst. Verstanden?« Geel Piet hielt mich an den Schultern und schaute mir in die Augen. »Die meisten Kämpfe werden verloren, weil man den Gegner unterschätzt. Denk immer daran, kleiner Baas, Überraschung ist alles.« Es kam genauso, wie er es vorausgesagt hatte. Sie schubsten mich während der Pausen herum, dann gaben sie mir sogar vor allen anderen ein paar Schläge. Ich protestierte und sagte, daß ich nicht kämpfen wollte. Schließlich wurde ich aufgefordert, nach der Schule hinter dem Filmtheater zu erscheinen, wo ich die Wahl hätte, mit einem von beiden zu kämpfen. Als ich in dem kleinen Hof hinter dem Kino erschien, wo alle offiziellen Schulkämpfe stattfanden, hatten sich mindestens fünfzig Kinder um John Hopkins und Geoffrey Scruby versammelt. Alle waren Engländer mit Ausnahme von Rotznase Bronkhorst, der irgendwie Wind von dem Kampf bekommen hatte. Zu meiner Überraschung kam er auf mich zu und sagte in Afrikaans: »Ich bin dein Sekundant. Das sind alles rooineks, man weiß nie, was die vorhaben.« »Ich bin auch ein rooinek«, antwortete ich erstaunt. »Ja, das weiß ich, aber du bist ein Boer rooinek, das ist was anderes.« Ich wählte Hopkins als Gegner, der darüber erfreut zu sein schien, weil er der größere der beiden war und nicht damit gerechnet hatte, daß ich gegen ihn antreten würde. Die Kinder stellten sich im Kreis auf, und Rotznase, der nicht viel Englisch konnte, sagte einfach: »Okay! Ruhe! Kampf!« Hopkins versuchte sofort, einen Hammer zu landen, traf aber meilenweit daneben. Im Gegenzug schlug ich ihm hart in die Rippen. Er wirkte überrascht, schüttelte den Kopf und startete wieder, um mich am Kopf zu treffen. Ich tauchte unter seinem Schlag weg und plazierte einen Aufwärtshaken auf seiner Nase. Er blieb wie
angewurzelt stehen und hob die Hand zum Gesicht. Ich schlug ihm die Linke und dann die Rechte in den Solarplexus, und dann fing er an zu weinen. »Der Kampf ist vorbei!« rief Rotznase und hielt meine Hand hoch, während Hopkins schniefend und gedemütigt in der Menge verschwand. Ich zeigte auf Geoffrey Scruby. »Jetzt bist du dran, Scruby«, sagte ich und fühlte den Adrenalinstoß, als ich seine Angst sah. »Tut mir leid, Peekay«, sagte er leise. Ich hatte gewonnen. Genau wie Geel Piet vorhergesagt hatte. Plötzlich liebten mich alle. Und ich genoß das Gefühl. Dann trat Rotznase in den Ring. »Will irgend jemand von euch verdammten rooineks gegen ihn antreten?« fragte er. Es herrschte völlige Stille, und niemand rührte sich, nicht einmal die größeren Kinder. »Ihr habt ja alle die Hosen voll!« rief er, wandte sich dann langsam zu mir um und sah mich grinsend an. Ich grinste zurück. Es war kaum zu glauben, aber er hatte mir beigestanden. »Okay, ich will gegen ihn kämpfen«, sagte er. Ein besorgtes Gemurmel ging durch die Menge. Alle waren schockiert, und ich muß zugeben, ich war es auch. »Das ist nicht fair. Du bist viel größer als er«, sagte Geoffrey Scruby. »Und älter«, rief ein anderer. »Halt's Maul, Mann, oder ich schlag mich mit dir.« Rotznase ging auf Scruby zu und stieß ihm den Zeigefinger in die Brust. Dann drehte er sich um und baute sich vor mir auf. Es war vier Monate her, seit wir im Ring gekämpft hatten, und seitdem hatte er ziemlich viel dazugelernt. Ich tänzelte um ihn herum und ging ihm aus dem Weg, und er schlug oft daneben. Aber ein paarmal traf er doch, und es tat höllisch weh. Ich traf öfter als er, weil ich genauer zielte, aber ich wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war. »Erst mit dem Kopf und dann mit dem Herz, erst mit dem Kopf und dann mit dem Herz.« Hoppies Worte gingen mir immer wieder durch den Kopf, während ich versuchte, am Leben zu bleiben. Rotznase versuchte ein, zwei Mal nah an mich heranzukommen, begriff aber schnell, daß ich dann viel mehr Chancen hatte. Im Nahkampf war ich viel besser als er. Also blieb er auf Abstand, versuchte, immer mal wieder einen Treffer zu landen, und wußte, daß das über kurz oder lang auch der Fall sein würde. Ich konnte eigentlich nur versuchen, seinen Schlägen auszuweichen.
Die Kinder, die jetzt auf meiner Seite waren, schrien wie verrückt, um mir Mut zu machen. Aber ich glaube, alle wußten, daß der Bure zu stark war und daß das Ergebnis des Kampfes jetzt schon feststand. »Komm doch ran, du Burenbastard. Hast du Angst oder was«, höhnte ich. Rotznase blieb stehen und riß die Augen auf. Mit einem Schrei der Empörung fiel er über mich her. Ich wich in letzter Sekunde aus, und er raste an mir vorbei. Als er sich umwandte und wieder auf mich zuschoß, hatte er den Kopf gesenkt. Er war jetzt mit meinem Kopf auf einer Höhe. Er stand mit dem Rücken zur Wand des Kinotheaters und ich mit dem Rücken zur Menge. Mit einem Schritt war ich bei ihm, packte ihn mit beiden Händen am Hemd und verpaßte ihm einen perfekt getimten Liverpool Kiss. Der Stoß war perfekt, und ich spürte keinen Schmerz. Rotznase saß völlig verdattert auf dem Boden. Er saß einfach da und begriff nicht, was passiert war. Die Kinder hatten nichts gesehen. Da die meisten von ihnen hinter mir standen und meine Hände vorgeschossen waren, um ihn am Hemd zu packen, muß es wie ein Angriff mit beiden Fäusten ausgesehen haben. Hinterher hieß es: »Dann sagte Peekay: >Komm doch ran, du Burenbastard<, und mit zwei tollen Schwingern aufs Kinn hat er Rotznase Bronkhorst k. o. geschlagen.« Zu meiner Überraschung fing Rotznase an zu schniefen, dann stand er schwankend auf und ging davon. Auf der Straße blieb er stehen und rief in Afrikaans zurück: »Das zahl ich dir heim, du rooinek-Bastard!« Die englischen Kinder jubelten, aber ich wußte es besser. Man kann nicht erwarten, daß ein Bure sein Gesicht verliert und sich dafür nicht rächt. Erstaunlicherweise glaubte selbst Rotznase, daß er durch einen Boxschlag erledigt worden sei. Nach dem Kampf mit Hopkins und Rotznase Bronkhorst hatte ich einen sehr guten Stand in der Schule. Obwohl es nur sechzig Buren in der Schule gab, Söhne und Töchter von Bergleuten, Farmern, Männern, die in den Sägemühlen in Francinos Rust arbeiteten, und Wärtern, waren die meisten viel größer als die englischen Kinder und sehr viel aggressiver. Die meisten englischen Jungen hatten irgendwann einmal gegen einen der Buren den kürzeren gezogen. Ich war das einzige Kind, das gegen einen Buren gekämpft und gewonnen hatte. Ein einzelnes siegreiches Schiff auf einem Ozean der Niederlagen.
Hin und wieder forderte mich ein ungefähr gleich großer Burenjunge zum Kampf auf, und nach der Schule drängelten sich die Kinder auf dem Platz hinter dem Filmtheater. Die Burenkinder auf der einen und die englischen auf der anderen Seite, und mein Gegner und ich dazwischen. Die Kinder aus dem Gefängnis bildeten eine eigene Gruppe, man wußte nicht genau, auf wessen Seite sie waren, aber sie freuten sich offensichtlich, wenn ich gewann. Geel Piet war ein guter Trainer, und da ich nie gegen eines der Kinder aus dem Gefängnis kämpfen mußte, gewann ich aufgrund meiner größeren Übung im Boxen. Anschließend forderte ein größerer Burenjunge dann einen gleich großen englischen Jungen zum Kampf auf und siegte normalerweise gegen ihn, wodurch das Gleichgewicht wiederhergestellt war. Die Kinder aus dem Gefängnis waren der Meinung, daß es akzeptabel sei, von mir besiegt zu werden, da ich eine Art von Ehrenbure sei, der Afrikaans spreche und zu ihnen gehöre. Das sei das Wichtigste. Selbst Rotznase ließ mich in Ruhe, außer wir hatten einen Trainingskampf in der Turnhalle, wo er immer alles daran setzte, mir weh zu tun. Diese halbneutrale Position hatte vieles für sich. In Kriegszeiten muß es immer Vermittler geben, Leute, denen beide Seiten vertrauen. Und da ich von allen akzeptiert wurde, führte ich bald die Verhandlungen zwischen den Buren und den Engländern, half Streitereien beizulegen und bereitete Rugby-Spiele vor. Unter den vierzig Kindern meines Alters war ich jetzt der unbestrittene Anführer, und ich gebe zu, daß ich das genoß. Endlich jemand zu sein, nachdem ich so lange ein Niemand gewesen war, war eine schöne Erfahrung, aber manchmal fand ich es auch etwas anstrengend. Kämpfe mußten vereinbart, Prügeleien beendet und die Kleineren zur Ordnung gerufen werden, wenn sie etwas falsch machten. Und zu all dem kam auch noch die Tabakkrise. Die Tabakernte auf Maries Farm war schlecht ausgefallen. Nach drei Monaten waren die Vorräte im Gartenhäuschen aufgebraucht. Marie entschuldigte sich immer wieder, als ob es ihr Fehler sei: Je mehr mein Großvater betonte, daß es nicht schlimm sei, um so schuldiger schien sie sich zu fühlen. Zu der Zeit war Geel Piet bereits zum unbestrittenen Verpflegungsoffizier im Gefängnis aufgestiegen. Außer mit Tabak handelten wir mit Zucker und Salz und
hatten einen Postdienst angefangen, der Neuigkeiten und Briefe in das Gefängnis und aus dem Gefängnis heraus schleuste und nach ganz Südafrika verschickte. Die Gefangenen bestellten Zucker, Salz und Tabak, und Geel Piet verdiente dreißig Prozent an Salz und an Zucker und drei Pence an jeder Zigarette. Tabak war mit Abstand der größte Luxus, weil er wegen des Krieges sowieso rationiert war. Er war für einen Normalbürger schon kaum zu bekommen, und für einen achtjährigen Jungen war es völlig unmöglich. Die wenigen Blätter, die ich ins Gefängnis einschleuste, wurden sorgfältig zu dünnen Zigaretten gerollt. Eine einzige Zigarette nach einer harten Arbeitswoche war ein Luxus, an den ein durchschnittlicher Gefangener nicht einmal denken konnte. Ich begriff bald, daß etwas so Geringes wie eine Zigarette, ein Eßlöffel voll Zucker oder ein Teelöffel Salz den Unterschied zwischen Hoffnung und Verzweiflung bedeuten konnte. Ein Gefangener fühlte sich reich, wenn er sich eine Zigarette in einer sorgfältig verschlossenen 303er Patronenhülse in den After geschoben hatte. Diese Patronenhülsen waren sehr viel wert, schließlich waren sie, in den After geschoben, der einzige sichere Platz, wo ein Gefangener etwas aufheben konnte. Wir Kinder sammelten sie am Schießstand im Militärlager, und sie waren das einzige, was Geel Piet kostenlos abgab. Schließlich war es für sein Geschäft wichtig, daß jeder Gefangene seine kleine Vorratskammer hatte. Briefe kamen im Gefängnis groß in Mode, und Doc schrieb sie, so wie sie ihm Geel Piet diktierte. Der kleine Mann konnte den Wortlaut ganzer Briefe im Gedächtnis behalten, und außerdem noch die Adressen von einem Dutzend oder mehr schwarzer Gefangener gleichzeitig. Dann schrieb Doc auf ein Blatt Papier Musikhausaufgaben für mich und befestigte die Briefe auf der Rückseite dieses Blattes. Bei jeder Durchsuchung wären sie schnell gefunden worden, aber Doc war nicht sehr gerissen, und ich glaube, daß er mein Musikheft genau wie seinen Steinway für gegen jede Kontrolle gefeit hielt. Die Briefschreiberei verursachte einen Riesenwirbel. Männer, die nicht gewöhnt sind zu schreiben, neigen in jeder Sprache dazu, ihre Mitteilungen auf einfache Sätze zu reduzieren, und teilen ihren Familien mit, daß es ihnen gutgeht, und erkundigen sich nach der Gesundheit und dem Wohlergehen von Frau und Kindern, eben
nach all den kleinen, wichtigen menschlichen Dingen, durch die wir letzten Endes alle gleich sind. Mrs. Boxall spielte das Postfräulein, und sie hatte die Sache ganz schön raffiniert eingefädelt. Wir stempelten einen leeren Briefumschlag mit dem großen quadratischen Stempel, mit dem normalerweise die Bücher auf der Innenseite der Einbanddeckel gekennzeichnet wurden: STADTBÜCHEREI BARBERTON, de Villiers St., Barberton. Dann klebten wir eine Briefmarke auf den Umschlag und schoben ihn mit Anweisungen für den Empfänger, wie er den Rückumschlag benutzen sollte, in den Originalbrief hinein. Außerdem schrieben wir den Namen des Absenders innen in das Rückkuvert. Das taten wir, weil wir oft genug Briefe erhalten hatten, die mit »Lieber Mann« begannen und keine Identifikation zuließen. Schließlich adressierten Mrs. Boxall oder ich die Briefe und schickten sie ab. Sie erklärte mir diese ungewöhnlichen Vorsichtsmaßnahmen. »Die Welt ist voll von miesen Kerlen. Wenn plötzlich viele Briefe mit ungelenker Handschrift an die Bibliothek geschickt werden, könnte der Briefbote Lunte riechen. Ich schicke schon seit Jahren Mahnbriefe an die Leute auf dem Land, die das Rückgabedatum für ausgeliehene Bücher vergessen haben, und lege adressierte Rückumschläge mit dem Stempel und der Adresse der Bibliothek bei. Der Postbote wird bestimmt nicht mißtrauisch.« Und sie behielt recht. Das System funktionierte perfekt, ich brachte die Antwortbriefe ins Gefängnis und schloß sie in Docs Klavierstuhl ein, zu dem nur er und ich einen Schlüssel hatten. Meistens bekamen die Gefangenen Geld in Form einer postalischen Geldanweisung über zwei Schilling. Mrs. Boxall öffnete die gesamte Post, ließ sich die Geldanweisung auszahlen, schob das Geld in die Umschläge und schrieb die Namen der Empfänger vorne drauf. Mrs. Boxall öffnete die Briefe sehr vorsichtig mit ihrem Briefmesser, und mit Leim aus dem großen Leimtopf der Bücherei und einem Stück Reispapier klebte ich sie wieder zusammen. Und so entstand ein regelmäßiges Postsystem, und Mrs. Boxall bezahlte selbstlos das Briefpapier und die Marken. Sie saß oft da und las mir einen Brief an einen Gefangenen vor, den jemand geschrieben hatte, der Englisch konnte, und während sie mir den Brief vorlas, rollten ihr die Tränen die Wangen hinunter. Die Briefe
waren meistens drei oder vier Zeilen lang und oft in einer großen kindlichen Schrift geschrieben. Mein Mann Mafuni Tokasi, wie geht es Dirf Den Kindern geht es gut. Wir haben kein Geld, bis auf das, was ich Dir schicke. Der baas sagt, daß wir hier weg müssen. Es gibt keine Arbeit und kein Essen. Der Jüngste ist jetzt zwei Jahre alt. Er sieht aus wie Du. Wir wissen nicht, wo wir hin sollen. Deine Frau Buyani Die Geldanweisung über zwei Schilling, die dem Brief beigelegt war, bedeutete, daß die ganze Familie wahrscheinlich zwei oder mehr Tage nichts zu essen gehabt hatte. Mrs. Boxall wischte sich die Augen und sagte, daß sie ein gutes Gewissen habe und, selbst wenn sie eingesperrt würde, sicher sei, daß sie das Richtige getan hätte. Sie sprach Freunde und Bibliotheksbesucher auf Altkleider an und schickte sie an die notleidenden Familien, manchmal ging sogar eine Geldanweisung von ihr an die Familie eines Gefangenen ab. Sie nannte die Gefangenen »Unschuldige, das Fleisch in dem entsetzlichen Sandwich aus einer rücksichtslosen Gesellschaft und einem rachsüchtigen Staat«. Ihr Code für diese Familien war einfach das Wort »Sandwich«. »Wir brauchen mehr Kleider für die Sandwiches«, oder »da ist ein armer Sandwich, für den wir etwas Geld brauchen«. In der Bibliothek stand ein Faß mit einem riesigen Schlitz im Deckel, das wie eine große Sparbüchse aussah. Darauf stand: »Altkleider für den Sandwich-Fonds«. Die Leute brachten bergeweise Kleider, und niemand fragte jemals, was der SandwichFonds eigentlich sei. »Die Leute denken, daß sie es wissen müßten, deshalb wagen sie nicht zu fragen«, sagte sie. Einmal erzählte sie mir, daß das Sandwich nach dem Earl of Sandwich genannt worden war, der ein übler Spieler gewesen sei. Da er Tag und Nacht spielte, hatte er keine Zeit zum Essen. Sein Butler löste das Problem, indem er ihm zwei Brotscheiben mit etwas dazwischen machte. Das waren die ersten Sandwiches. »Wenn irgend jemand fragt, sagen wir, daß es der berühmte Earl of Sandwich-Fonds für die Armen ist. Das sollte genügen.«
Irgendwann mußte doch jemand gefragt haben, denn der Earl of Sandwich-Fonds wurde der beliebteste Kriegsfonds in Barberton. Sogar noch beliebter als Sockenstricken für Kriegsgefangene. Beim Oster- und Weihnachtsfest im Coronation Park hatten Mrs. Boxall und ich einen Sandwich-Stand, an dem Kuchen und andere von den führenden Familien der Stadt gestiftete Köstlichkeiten verkauft wurden. Meine Mutter steuerte Kürbisplätzchen bei, die Dee und Dum gebacken hatten. Die Zwillinge durften auch am Stand mitarbeiten. Meine Mutter nähte zwei gleiche kleine Schürzen und Mützen für sie, und sie arbeiteten von morgens bis abends, legten Kuchen auf die einfachen Tische, schnitten Brot auf und machten Sandwiches. Da ich in der Boxmannschaft war und zu den Gefängniskindern gehörte, buken die Frauen der Wärter tagelang für unseren Sandwich-Stand und strahlten, wenn ihre Kuchen und Plätzchen als erste gekauft wurden. Die Buren konnten durchweg besser backen als die führenden Familien der Stadt. Der Stand des ziemlich snobistischen Earl of Sandwich-Fonds brachte genug Geld ein, um den gesamten Postbetrieb am Laufen zu halten und vielen notleidenden Familien Geld und Kleidung schicken zu können. Als die Tabakkrise kam, lösten wir sie durch den Earl of Sandwich-Fonds. Mrs. Boxall schrieb dem Direktor unserer Schule einen Brief und bat darum, daß die Kinder zu Hause Zigarettenstummel sammeln und sie ihr bringen sollten. Sie brachte es sogar fertig, die Stummel aus dem Armeelager zu bekommen. Alle nahmen an, daß der Tabak für die Kriegsgefangenen sei, da Mrs. Boxall einfach von den Gefangenen sprach. Manche Kinder brachten halbe Päckchen Zigaretten mit, ein Teil der kostbaren Ration ihrer Eltern, ein echtes Opfer für die Kriegsgefangenen. Ich brachte Geel Piet ein halbes Päckchen Zigaretten, für den das wie zehnmal Weihnachten auf einmal war. Die Tüten voll Zigarettenstummel wurden in Docs Haus gebracht. Dee und Dum banden sich am Sonntag nachmittag ein Geschirrtuch über die Nase, rissen die Stummel auf und bereiteten den Tabakvorrat für die nächste Woche vor. Geel Piet hatte es nie so gut wie damals. Als die neue Ernte von Maries Farm kam, stellte er sich nur sehr ungern wieder auf unzerkleinerte Tabakblätter um. Ich wußte nicht, daß die Gefangenen sich Stück für Stück einen
Reim auf alles gemacht hatten und glaubten, ich sei für die Verbesserungen verantwortlich. Ich war völlig perplex, als ich eines Tages an einem Trupp von Gefangenen vorbeikam, die im Park vor der Stadthalle ein großes Blumenbeet aushoben und dabei ein Lied sangen. Der Vorsänger paßte den Rhythmus der Arbeit an, und alle hoben und senkten ihre Spitzhacken im Takt. »Schaut, wer kommt denn da heran«, sang er in Zulu, »wer denn, wer denn«, schallte es zurück. »Es ist der Kaulquappenengel, Kaulquappenengel«, sang der Vorsänger. »Wir grüßen ihn, wir grüßen ihn«, sangen alle im Chor. Ich schaute mich um, um zu sehen, wen sie meinten, aber es war niemand da. Der Wärter, der mich erkannte, verstand offenbar kein Zulu. Er rief mir zu: »Wie läuft's, Mann?«, und ich antwortete, »Sehr gut, danke.« Der Wärter langweilte sich und wollte sich mit mir unterhalten. »Er ist ein tapferer Kämpfer und ein Freund des gelben Mannes«, fuhr der Vorsänger fort. »Der Kaulquappenengel, der Kaulquappenengel«, antwortete der Chor, und alle hoben ihre Hacken beim ersten Kaulquappenengel und senkten sie beim zweiten. Ich begriff plötzlich mit einem Schrecken, daß sie über mich sprachen. »Ich hab gehört, der Lieutenant läßt dich am Wochenende bei den lowveld-Meisterschaften in Nelspruit mitkämpfen, bei den Unter-Zwölfjährigen.« »Ja, ich bin zwar der Kleinste, aber er glaubt, es geht in Ordnung.« »Wir danken ihm für den Tabak, den Zucker und das Salz und für die Briefe und all die Sachen, die er unseren Leuten schickt.« »Aus ganzem Herzen, aus ganzem Herzen«, sang der Chor. »Neun ist ganz schön jung, Mann, mit elf kann ein Bure schon verdammt groß sein.« Ich zuckte mit den Achseln. »In zwei Wochen werde ich zehn.« Ich versuchte, mir meine Verwirrung über das Loblied nicht anmerken zu lassen. »Ja, Mann, und der Junge, gegen den du kämpfst, wird vielleicht in zwei Wochen zwölf«, sagte er düster. »Ich muß jetzt gehn, ich bin schon spät dran für die Bibliothek.« Ich wollte nichts wie weg von diesem Lied. »Wird schon gutgehn, Mann, ich hab dich beim Sparring gesehn, du bist ja schnell wie 'n rammelndes Karnickel.« Er schaute mich an
und grinste. »Du bist ein komischer Kerl, Peekay. Warum wirst du denn plötzlich so rot?« »Er ist unser Trinkwasser und die dunklen Wolken, die endlich kommen und die dürre Zeit beenden«, sang der Vorsänger. Die Gefangenen hoben ihre Hacken, »Kaulquappenengel.« Sie ließen sie gemeinsam wieder fallen, »wir grüßen ihn, wir grüßen ihn.« Ich rannte davon, und mir brach der Schweiß aus. Am nächsten Morgen fragte ich Geel Piet wegen der Sache, und er gab zu, daß das mein Name sei. »Es ist ein großes Kompliment, kleiner Baas. Für die Männer bist du wirklich ein Engel.« Doc hörte uns zu. »Ja, für dich sind wir alle Engel, Geel Piet.« Er kicherte. »Du mußt ja jetzt ein reicher Mann sein, was?« Geel Piet bestritt das nicht. »Großer Baas, das ist immer so in einem Gefängnis. Wenn es rauskommt, bringen sie mich um. Ich muß schließlich was davon haben, daß ich mein Leben riskiere. Dreißig Prozent Gewinn ist nicht so viel, in Pretoria und Johannesburg sind fünfzig üblich, in Robin Island und Pollsmoor sogar sechzig.« »Ich glaube, du bist ein ziemliches Schlitzohr, Geel Piet, aber jetzt kein Wort mehr davon.« Doc hatte genau wie Mrs. Boxall begriffen, wie wichtig die Briefe waren und in welchem Maße die wenigen Schmuggelwaren das Leben für die Männer erträglicher machten. Männer, deren Ernährung aus Maismehl, Kraut und Karotten und hin und wieder einem kleinen Fleischfetzen bestand, gerade ausreichend, um sie am Leben zu erhalten, aber völlig unzureichend für die brutale, harte Arbeit, die sie in den Farmen, den Sägemühlen oder den Granitsteinbrüchen leisten mußten. Er hatte auch die Rolle akzeptiert, die Geel Piet im Verteilernetz spielte, und wußte, daß ohne ihn das Chaos ausgebrochen wäre. »Alle Menschen tragen Liebe in sich, und auch das Bedürfnis, sich um ihre Mitmenschen zu kümmern. In jedem steckt auch ein Wilder, aber es gibt auch Zärtlichkeit und Mitgefühl.« Doc seufzte, zog sein Taschentuch heraus und wischte sich so gründlich das Gesicht ab, als versuchte er, sich gleichzeitig die ganze Gefängnisatmosphäre abzuwischen. »Wenn ein Mann an einem Ort wie diesem brutalisiert wird, hält er immer nach einem Zeichen Ausschau. Das kleinste Anzeichen, daß sich jemand um ihn sorgt, ist wie ein Feuer auf einem dunklen Berg. Wenn ein Mann weiß, daß jemand an ihn denkt,
bleibt eine kleine Stelle seiner Seele, eine Ecke vielleicht, sauber und hell.« Da das Essen im Gefängnis nicht ausreichend für schwerarbeitende Männer war, war jeder, der einen Arbeitstrupp anheuerte, verpflichtet, den Männern ein Mittagessen zur Verfügung zu stellen. Dieses Essen hielt die Gefangenen am Leben. Es mußte ein Ein-topf mit Fleisch und Gemüse sein, und jeder Gefangene hatte Anrecht auf ein halbes Pfund Fleisch und ein Pfund Maisbrei. Ich hörte manchmal, wie sich die Wärter darüber unterhielten, einen Arbeitgeber zu überreden, an die Gefangenen nur die halbe Ration auszugeben, den Wärtern zehn Schilling auszuzahlen und selbst zehn Schilling zu sparen. Das funktionierte aber nur, wenn die Arbeitstrupps für kurze Zeit angeheuert wurden, denn sonst wurden die Männer bald zu schwach, um zu arbeiten. Das war ein großes Risiko. Lieutenant Smit teilte die Wärter wöchentlich anderen Arbeitstrupps zu, damit derlei Pläne gar nicht erst in die Tat umgesetzt werden konnten. Die Gefängnisbehörden verließen sich auf die eine reichliche Mittagsmahlzeit, damit sie die Rationen innerhalb des Gefängnisses kürzen konnten. Allerdings hat Geel Piet mir das alles erzählt. Es kann sehr gut sein, daß es nicht die volle Wahrheit ist. Obwohl nur ein Viertel der Gefangenen Zulus waren, waren sie die angesehenste Gruppe im Gefängnis. Arbeitslieder wurden meistens auf Zulu gesungen, und es war immer ein Zulu, der die Uhrzeit verkündete und das Arbeitstempo bestimmte. Zulu ist eine poetische Sprache. Obwohl die meisten Lieder traditionell waren, gab es doch immer wieder Gefangene, die spontan neue Liedertexte dichteten, um aktuelle Vorfälle und Informationen weitergeben zu können. Diese dichterisch begabten Gefangenen waren hoch geachtet. Selbst die alten Knastbrüder benutzten diese Methode, um Informationen weiterzugeben. Wenn ein Wärter in diesem Teil der Welt überhaupt eine afrikanische Sprache beherrschte, dann war es selten Zulu, sondern meist Shona, Shangaan oder Swasi. Aber selbst diese Sprachen konnten nur Wärter, die von Farmen stammten. Städter lernten keine afrikanische Sprache außer Afrikaans und manchmal eine in den Bergwerken entwickelte künstliche Sprache namens Fanagalo, eine Mixtur aus verschiedenen afrikanischen Sprachen sowie aus dem Afrikaans und aus dem Englischen.
Ich fragte Geel Piet, warum vor dem Wort »Engel« das Wort »Kaulquappe« kam. Zuerst schien er es nicht zu wissen oder tat wenigstens so, aber ich kannte eine Menge Zulunamen und wußte, daß ein Name sorgfältig ausgewählt wird, damit er den Namensträger klar und unmißverständlich beschreibt. Zum Beispiel wußte Klipkop nicht, daß sein Spitzname »Eselspimmel« war. Den Namen hatte er, weil er die Gefangenen beim geringsten Anlaß mit einem langen Gummiknüppel verprügelte. Die meisten Wärter benutzten die Fäuste. Und zwar deshalb, weil Faustschläge quasi inoffiziell waren und mehr als freundliches Überredungsmittel galten, während man, wenn man mit dem Gummiknüppel zuschlug, einen Bericht schreiben mußte. Klipkop war eine Ausnahme, als Meister im Schwergewicht mußte er seine Hände schonen und benutzte deshalb den Eselspimmel für seine gelegentlichen Bestrafungen. Da er der Beschwerdeoffizier war, spielte es sowieso keine Rolle. »Ein Mann wie ich kann es sich nicht leisten, sich den kleinen Finger oder sonstwas am Kopf eines stinkenden schwarzen Bastards zu brechen«, sagte er immer, denn selbst außerhalb des Gefängnisses wurden Kaffern eigentlich nur mit den Fäusten gezüchtigt. Die Nilpferdpeitsche wurde nur bei schwerwiegenden Vergehen benutzt. Ich erinnere mich daran, wie ich mit ihm einen langen, gewundenen Gang im Verwaltungsgebäude entlangging, wo stets ein halbes Dutzend Häftlinge auf den Knien herumrutschten und den glänzenden Boden noch einmal überpolierten. Lange bevor man sie sehen konnte, hörte ich, wie einer von ihnen sang: »Arbeitet hart und schaut nicht auf, Eselspimmel kommt«, und die anderen antworteten im Chor: »Eselspimmel, Eselspimmel.« Als wir vorbeigingen, unterbrachen die Häftlinge kurz die Arbeit, machten eine demütige Handbewegung und sagten: »Guten Morgen, Baas, guten Morgen, kleiner Baas.« Da es einen Grund für die »Kaulquappe« vor dem »Engel« geben mußte, fragte ich Geel Piet immer wieder. »Das ist ganz einfach so, kleiner Baas: Den Professor nennen sie Amasele - Frosch -, weil er nachts Klavier spielt, wenn im Gefängnis Ruhe herrscht. Die Zulus finden, daß der Frosch nachts die lauteste Musik macht, viel lauter als die Grille oder die Eule. So einfach ist das. Und du bist der kleine Junge des Frosches, deshalb nennen sie dich Kaulquappe.«
13 Während Geel Piet langsam reich wurde und sogar einen kleinen Bauch ansetzte, wurde er zur gleichen Zeit auch unersetzlich für die Boxmannschaft. Er putzte die Turnhalle, kümmerte sich um die Wäsche und ließ sogar in der Nähstube des Gefängnisses blaugelbe Boxhemden und weiße Turnhosen anfertigen. Aber das Wichtigste war, daß er einfach alles übers Boxen wußte und ein fordernder und trickreicher Trainer war. Die Jungen der Mannschaft entwickelten sich zu cleveren Boxern, unsere natürliche Aggressivität verband sich mit echtem Können. Die Zwölf- bis Fünfzehnjährigen aus Barberton hatten in den letzten zwei Jahren keinen einzigen Kampf verloren. Wie ich zu meinem ersten richtigen Kampf kam, war reines Glück. Die Meisterschaften in Nelspruit fanden Anfang August statt, nur ein paar Tage vor meinem zehnten Geburtstag, und ich versuchte jeden, der mir zuhörte, davon zu überzeugen, daß zehn fast elf war und daß ein Jahr kaum etwas ausmachte. Aber Lieutenant Smit war kein Mann, der seine Meinung änderte, und niemand, am wenigsten ich, war bereit, für mich zu bitten. Rotznase Bronkhorst und Fonnie Kruger waren schon fast zwölf, also zwei Jahre älter als ich, und, da sie Burenkinder waren, außerdem viel größer. Geel Piet meinte, meine Intelligenz und meine Geschwindigkeit machten meinen kleinen Wuchs mehr als wett. Er war geradezu fanatisch, was die Fußarbeit anbelangte. »Du mußt lernen, mit den Füßen zu boxen, kleiner baas. Ein guter Boxer ist wie ein Tänzer, er sieht auch noch gut aus, wenn man ihm nur auf die Füße schaut.« Er brachte mir bei, wie ich stehen mußte, damit mein Körpergewicht bei einem Schlag so zur Wirkung kam, daß ein größerer Gegner mich trotz meiner geringen Größe respektierte. »Wenn sie deine Schläge nicht respektieren, lassen sie dich einfach herumtanzen, bis sie dich zusammenschlagen, Mann. Ein Boxer braucht Respekt.« Ich sehnte mich nach einem echten Kampf gegen einen unbekannten Gegner. In zwei Jahren hatte ich kein einziges Mal das Boxtraining versäumt und hatte mit ganzem Herzen und ganzer Seele auf den Augenblick hingearbeitet, in dem ich in einen Boxring steigen würde, mit richtigem Publikum und einem Gegner, des-
sen Schläge ich, anders als bei einem Sparringspartner, nicht vorhersehen könnte. Am Montag der Woche, in der die Meisterschaften stattfinden sollten, erschien Rotznase nicht in der Turnhalle. Nach dem Training rief Lieutenant Smit Geel Piet zu sich, und sie unterhielten sich eine Zeitlang sehr ernst und schauten immer wieder zu mir herüber. Schließlich kam Geel Piet auf mich zu. Er versuchte mit aller Kraft, sich ein Lächeln zu verkneifen. »Ach Mann, ich bin vielleicht glücklich, kleiner Baas. Weißt du, warum?« »Du wirst aus dem Gefängnis entlassen«, sagte ich. Er lachte. »Nein, das will ich gar nicht. Ich bin hier glücklich, Mann. Ich hab meinen eigenen Boxstall, die Geschäfte laufen gut. Ich werd hier glücklich sein bis zu meinem Tod.« »Was dann?« Er beugte sich zu mir herunter. Sein Atem roch faulig. »Du hast deinen ersten Kampf, Mann! Kleiner Baas, Bronkhorst hat Gelbsucht, du springst für ihn ein.« Ich traute meinen Ohren nicht. Rotznase hatte die Gelbsucht. Sie grassierte zur Zeit an der Schule. Ich ging auf Geel Piet zu, um ihn zu umarmen, aber er trat schnell zur Seite. »Nein, nein, kleiner Baas, der Lieutenant kommt sonst und schlägt mich.« Er grinste. »Heute ist der schwarze Bastard zu glücklich, um sich die Nase einschlagen zu lassen. Geh besser schnell zum Lieutenant, Mann, und bedank dich. Beeil Dich, sonst überlegt er es sich noch!« Ich rannte hinüber zu Lieutenant Smit. Der war mit Klipkop in ein Gespräch vertieft, und ich stand da und wartete ab. Die beiden übersahen mich eine ganze Zeitlang, und dann fragte der Lieutenant schroff: »Was gibt's, Peekay?« »Vielen Dank für den Kampf, Lieutenant Smit«, stammelte ich. »Ich werd's so gut wie möglich machen.« Er massierte sich die Handknöchel. »Das wird nicht reichen. Man wird dir den Schädel einschlagen, aber das tut dir gut. Niemand sollte seinen ersten Kampf gewinnen.« Er drehte sich um und ging weg. Geel Piet sagte mir, ich solle am nächsten Morgen meine Turnschuhe mitbringen, damit sie für den Kampf gut gesäubert werden könnten. Dann maß er mit einem Stück Schnur meinen Brustumfang und meine Taille. Nach der Schule sagte ich Dee und Dum, sie
sollten meine Turnschuhe neben meinen Schulranzen legen, damit ich sie nicht vergesse, da Geel Piet sie putzen wolle. Dum erhob sich schweigend vom Boden, wo sie gesessen hatte, während ich eine Tasse Kaffee trank. Nach ein paar Sekunden kam sie mit meinen Turnschuhen zurück. Sie waren makellos sauber. »Für wen hält sich dieser gelbe Mann eigentlich?« fragte sie. »Glaubt er, daß wir unseren Baas schmutzig herumlaufen lassen?« Sie und Dee fühlten sich ganz eindeutig verletzt. Es dauerte ziemlich lang, bis ich ihnen verständlich gemacht hatte, daß Geel Piet alles für die Boxer reinigte und putzte und daß er jetzt, wo ich zur Mannschaft gehörte, dasselbe auch für mich täte. »Er wird deine Kleider nicht waschen und deine Schuhe nicht putzen«, sagte Dee nachdrücklich. »Das ist Frauenarbeit, wir kümmern uns um die Kleidung von dem, der zu unserem kraal gehört«, fügte Dum hinzu. Ich war mir ganz und gar nicht sicher, was meine Mutter zu der Neuigkeit meiner Aufnahme in die Boxmannschaft sagen würde. Wir sprachen nie übers Boxen; sie glaubte, ich ginge wegen der Klavierstunden so früh ins Gefängnis. In letzter Zeit war sie damit beschäftigt gewesen, für einen Laden in Johannesburg drei Ballkleider zu nähen, und ihre Singer-Nähmaschine ratterte bis spät in die Nacht. Ich klopfte und betrat das Nähzimmer. Ein pflaumenblaues Abendkleid aus Taft schien es fast vollständig auszufüllen. Meine Mutter erhob sich und hielt das Kleid an ihren Körper. Sie sah so aus, wie ich mir Cinderella vorstellte, auf dem Weg zum Ball. Das Kleid hatte einen tiefen V-Ausschnitt und Puffärmel. Der Rock bauschte sich an der engen Taille, und als sie sich bewegte, fing sich das Licht im Taft, und der Stoff raschelte aufregend. »So etwas Extravagantes, ich kann mir gar nicht vorstellen, wo die mitten im Krieg so einen Stoff herhaben.« Beim Gehen bauschte sich der Stoff, und ein pfauenblauer Tüllunterrock lugte hervor. »Du siehst wunderbar aus«, sagte ich und meinte es ganz ehrlich. Meine Mutter lachte, griff nach einem stoffbezogenen Kleiderbügel und hängte das Kleid an einer Stange auf. Selbst ohne sie schien es lebendig zu sein und füllte die kleine Nähstube mit Glanz. »So ist das mit den Machenschaften des Teufels, sie sind oft sehr verführerisch und sehr hübsch«, sagte sie seufzend. Ich hatte einen Augenblick lang vergessen, daß der Herr auch das Tanzen verboten hatte. Mein Herz sank. Wenn der Herr etwas gegen
das Tanzen hatte, was würde er dann erst von einem Boxkampf halten? Ich tröstete mich mit dem Gedanken, daß Gott meines Wissens nach ein Mann war, der folglich Boxen viel besser würde leiden können als Tanzen. »Du bist wegen des Boxens hergekommen, oder?« sagte meine Mutter und setzte sich wieder an die Nähmaschine. »Ja, Mutter.« Ich war unfähig, meine Überraschung zu verbergen. »Nun ja, Lieutenant Smit, ein sehr netter Mann, kam heute morgen zu mir, obwohl ich sagen muß, daß ich ganz und gar nicht mochte, was er mir zu sagen hatte. Ich habe darüber nach dem Essen in meiner stillen Zeit mit dem Herrn gesprochen. Ich muß dir sagen, daß er mir in dieser Sache keinen Rat erteilt hat, aber dein Großvater glaubt, daß es dir nichts schaden kann.« Ihr Kopf schnellte plötzlich ärgerlich zurück. »Ach, wie sehr ich wünschte, daß du beim Klavier bleiben würdest. Es ist ganz klar, daß das im Sinne des Herrn ist, sonst hätte er es nicht möglich gemacht, daß du unter so schwierigen Umständen Unterricht bekommst. Lieutenant Smit glaubt, daß du eine natürliche Begabung für das Boxen hast, das ist mehr, als der Professor über deine musikalische Begabung gesagt hat.« »Doc hat gesagt, daß ich Chopin sehr schön spiele«, sagte ich und übertrieb dabei etwas. Meine Mutter nähte einen Druckknopf auf die Schärpe des Taftkleides und sah mich jetzt direkt an. »Ich wünschte, du würdest ihn nicht mit diesem dummen Namen anreden. Der Himmel weiß, daß es in dieser Stadt nur wenige nette Menschen gibt, und schließlich ist er ein echter Musikprofessor. Du müßtest Respekt vor ihm haben. Daß er Deutscher ist, dafür kann er ja nichts. Ich vermute, daß wir alle Deutsch mit einem komischen Akzent sprechen müssen, wenn Hitler den Krieg gewonnen hat. Und du mußt Freitag nachmittag einen Mittagsschlaf halten, wenn du am Samstag so lange aufbleibst.« Ich hüpfte vor Freude in die Luft. »Danke, danke, danke«, rief ich und umarmte sie und gab ihr einen Kuß. »Ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob der Herr damit einverstanden ist«, sagte sie, aber ich sah, daß sie sich über meinen Kuß freute. »Und jetzt lauf.« Am Freitag morgen rief uns Lieutenant Smit nach dem Training
an den Ring. »Ich muß euch einiges sagen.« Er wandte sich an die fünf Kinder, die bei Geel Piet auf einer Seite des Rings standen. »Nach den Regeln für die Unter-Fünfzehnjährigen ist der Kampf beendet, sobald einer zu Boden geht. Es nützt nichts, wenn man wieder aufsteht, er ist aus und klaar. Also paßt auf, daß ihr nicht zu Boden geht.« Er zeigte auf Klipkop, der neben ihm stand. »Sergeant Oudendaal ist ein Halbprofi und darf deshalb nicht kämpfen. Deshalb wird Gert bei den Schwergewichtlern kämpfen, und Sergeant Oudendaal und ich sind eure Sekundanten. Also kämpft, wie ihr es gelernt habt, und macht keinen Affentanz, verstanden? Glaubt nicht, daß ihr es besser wißt. Ihr kennt die Regeln, es gewinnt der, der die meisten Treffer landet, genau wie Geel Piet es euch beigebracht hat. Kämpft so wie immer, wenn ihr die Taktik wechseln sollt, sag ich es euch.« Er drehte sich um, um aus dem Ring zu steigen, und sah etwas auf dem Boden liegen. Er bückte sich und hob ein kleines blaues Turnhemd auf, auf dem in gelben Buchstaben BB stand, die Abkürzung für Barberton Blues. Auf der Rückseite stand mit säuberlich ausgeschnittenen Buchstaben: PEEKAY. »Willkommen, Peekay«, sagte er, und alle klatschten. »Willkommen bei den Barberton Blues.« Es dröhnte in meinem Kopf, und mein Hals schmerzte bei dem Versuch, die Tränen zurückzuhalten. Lieutenant Smit bückte sich wieder und hob ein Paar blaue Shorts mit einem gelben Streifen an den Seiten auf. Er warf mir das Hemd und die Hose gleichzeitig zu. In der Luft trennte sich das Bündel, meine linke Hand schoß nach vorn und fing das Hemd, meine rechte erwischte die kurze Hose noch in der Luft. »Der Kleine ist schnell und setzt beide Hände gut ein. Ich wünschte nur, er wäre fünfzehn Pfund schwerer«, sagte er, als er aus dem Ring herauskletterte. Ich zeigte Doc mein Hemd und meine Hose, und er freute sich sehr für mich. Ich erzählte ihm von den drei Runden. »Glaubst du, du schaffst auch drei Runden von Mr. Chopin, Peekay?« fragte er. Ich nickte und war entschlossen, Doc zu zeigen, daß seine kostbare Musik nicht ins Hintertreffen geriet, obwohl ich vermute, er wußte, daß mein Interesse mehr bei dem Problem war, auf den Beinen zu bleiben und nicht k. o. geschlagen zu werden, als bei der Etüde, die ich gerade einstudierte. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Geel Piet hereinkam. Ich wußte, daß er unbemerkt hereinkommen konnte, und er wußte, in welchem Winkel er das Zimmer betreten mußte,
um gesehen zu werden. Es war ungewöhnlich, daß er um diese Zeit in die Halle kam. Ich schloß die Post immer im Klavierstuhl ein und gab sie ihm später, wenn er hereinkam, um den Stein-way zu polieren. Wir hatten uns geeinigt, daß wir uns nie alle drei gleichzeitig in der Nähe des Postverwahrungsortes aufhalten sollten. Ich sah zu Geel Piet hinüber. Er tat so, als ob er ein Fenster putzte. Zu seinen Füßen stand ein Eimer. Schließlich sah auch Doc ihn und gab mir ein Zeichen, damit ich aufhörte zu spielen. »Du sollst nicht hereinkommen, wenn wir üben, das weißt du doch«, sagte er ärgerlich. Der kleine Mann nahm den Eimer und kam auf uns zu. Doc sah ihn gereizt an. »Was ist los?« »Bitte, Baas, es ist sehr wichtig, Baas.« Geel Piet stellte den Eimer ab und holte ein Paket heraus, das in einen Putzlumpen eingewickelt war. »Die Leute haben Geld gesammelt und beim Schuhmacher ein Geschenk für den kleinen Baas machen lassen.« Er packte ein Paar Boxstiefel aus. Mir blieb die Luft weg. Sie waren wunderschön, das schwarze Leder glänzte matt, und die Sohlen waren aus ungefärbtem Wildleder. »Es ist von allen Leuten, ein Geschenk für den Onoshobishobi Ingelosi, es ist von uns allen, damit du morgen gut kämpfen kannst, kleiner Baas.« Ich sprang vom Klavierstuhl auf und konnte meine Freude nicht verbergen. »Deshalb hab ich deine Turnschuhe haben wollen, kleiner Boß.« Er lächelte mich mit seinem zahnlosen Mund breit an. »Wegen der Schuhgröße.« Ich zog meine Schulschuhe schnell aus und schlüpfte in die Boxstiefel. Das Leder war sanft und geschmeidig, und die Stiefel waren federleicht und paßten wie angegossen. »Geel Piet, das ist das schönste Geschenk, das ich jemals bekommen habe, ehrlich.« »Es ist von allen hier, es ist ihre Art, dir zu danken.« Ohne Vorwarnung ließ er sich auf die Knie fallen und begann, den Boden um meine Füße herum mit dem Tuch zu polieren, in das die Stiefel eingewickelt gewesen waren. Er hatte gespürt, daß Gefahr drohte. Fünf Sekunden später stand ein Wärter in der Tür. Es war ein neuer Sergeant, den wir erst einmal in der Messe getroffen hatten. Er hieß Borman und war aus Pretoria ins lowveld versetzt worden, weil seine Frau an Asthma litt. Er stand da und stützte sich mit einer Hand an den Türrahmen. »Professor, der Kommandant möchte Sie sehen, gehen Sie nach
dem Frühstück ins Verwaltungsgebäude, verstanden?« Als er sich umdrehte, um zu gehen, sah er Geel Piet. »Kom hier, Kaffer!« schnarrte er. Der kleine Mann sprang auf und lief quer durch die Halle. »Ja Baas, ich komm schon, Baas«, rief er. »Was hast du hier zu suchen?« fragte der Wärter. Doc beugte sich vor und hob einen meiner Schulschuhe auf. »Der Junge hatte kak an den Schuhen. Geel Piet wollte sie säubern.« Er tat so, als ob er die Schuhsohle prüfend betrachtete. »Ja, stimmt«, sagte Doc, winkte mit dem Schuh dem Wärter und zeigte dann auf die Stelle, wo Geel Piet den Boden gereinigt hatte. »Der Boden hatte auch etwas abbekommen.« Sergeant Borman grinste. »Das nächste Mal lassen Sie es den schwarzen Bastard auflecken, er ist daran gewöhnt, Scheiße zu fressen.« Er wandte sich an Geel Piet. »Das stimmt doch, Kaffer? Ihr freßt doch gegenseitig eure Scheiße, oder?« Geel Piet hatte den Kopf gebeugt und versuchte stramm zu stehen. Aber er brachte seine dünnen, krummen, von Narben übersäten Beine an den Knien nicht zusammen. »Nein, Baas«, sagte er leise. Keine Angst schwang in seiner Stimme mit, nur Resignation. Er schien zu wissen, was jetzt passieren würde. Der Wärter packte ihn an seinem Leinenhemd. »Wenn ich es will, dann sagst du ja, verstanden? Noch mal, ißt du Scheiße, Kaffer?« »Ja, Baas«, antwortete Geel Piet. »Lauter! Sag's laut, du Scheiße fressender Bastard!« »Ja, Baasl« »Ja Baas was?« »Ja Baas, wir essen unsere Scheiße!« »Sehen Sie, Professor. Ich hab Ihnen ja gesagt, daß sie gegenseitig ihre Scheiße fressen. Das nächste Mal lassen Sies ihn auflecken, das ist die richtige Behandlung für ihn.« Er drehte sich um und verschwand. Geel Piet kam zu uns herüber, seine nackten Füße machten auf dem Holzboden fast kein Geräusch. »Vielen Dank, großer Baas«, sagte er grinsend. »Er hat recht, Mann, im Gefängnis fressen wir alle Scheiße.« Er wandte sich an mich und hob den Eimer auf. »Mit den Füßen, kleiner Baas, box mit deinen Füßen, nur saubere Schläge, aus sicherer Entfernung. Nicht klammern, sonst wirft der größe-
re Boxer dich um. Viel Glück, kleiner Baas, wir denken alle an dich.« »Vielen Dank, Geel Piet, sag den Leuten, daß ich ihnen danke.« »Ach Mann, das ist doch gar nichts, die Leute lieben dich, du kämpfst für sie.« Dann ging er weg. Doc räusperte sich. »Vielleicht können wir jetzt Chopin spielen, ja?« Ich umarmte ihn. »Das war blitzschnell reagiert, Doc.« Er kicherte. »Nicht schlecht für einen verkrachten alten Pianisten, was?« Er zog die Stirn kraus. »Möchte wissen, was der Kommandant von mir will.« Um acht Uhr am nächsten Morgen sollten wir nach Nelspruit aufbrechen, das etwa vierzig Meilen von Barberton entfernt lag. Weil ich mich um den Mittagsschlaf am Freitag nachmittag herumgedrückt hatte, mußte ich schon um sechs Uhr abends ins Bett. Wie üblich wachte ich kurz vor Tagesanbruch auf, lag da und versuchte, mir den kommenden Tag vorzustellen. Was wäre, wenn ich gleich k. o. geschlagen würde? Würde ich meine Verzweiflung verbergen können? Da sieben Mannschaften aus Ost-Transvaal gegeneinander antraten, mußte ich zweimal gewinnen, um zum Endkampf zugelassen zu werden. Ich hatte noch nie in meinem Leben sechs Runden gekämpft, und selbst wenn ich es schaffte, müßte ich im Endkampf noch einmal drei Runden boxen! Was wäre, wenn ich mich nicht mehr konzentrieren könnte und mich der andere umschmiß? Selbst wenn ich am Gewinnen wäre, würde ich verlieren, weil ich zu Boden gegangen war! Ich konnte das »was wäre, wenn« nicht länger aushalten, sprang aus dem Bett, zog mich an und rannte durch den Garten. Gute zehn Minuten später saß ich auf unserem Felsen oben auf dem Hügel. Der Frühling hatte gerade erst angefangen, und der Wind in der Morgendämmerung war kalt. Ich zitterte leicht, als ich zuschaute, wie es im Osten langsam heller wurde, wie das heraufziehende Tageslicht sich mit der Dunkelheit in der Stadt unten vermischte, bis die Dächer, die Straßen und die Bäume klar zu sehen waren. Die Jakarandabäume blühten noch nicht, aber rotblühende Flamboyantbäume leuchteten schon zu mir herauf. Ich versuchte mir vorzustellen, wie Granpa Chook die Dinge angegangen wäre. Er hätte alles spielend erledigt, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Obwohl
Granpa Chook jetzt kein so wichtiger Lehrer mehr für mich war, dachte ich in wichtigen Augenblicken immer an ihn. Ich verhielt mich so, wie ich glaubte, daß er sich verhalten hätte. Ich dachte auch an Hoppie. Wenn er nur beim Kampf sein könnte, um mich zu sehen! »Erst mit dem Kopf und dann mit dem Herzen, Peekay.« Ich glaubte, seine freundliche, zuversichtliche Stimme zu hören. Nach einer Weile fühlte ich mich sehr viel ruhiger. Als die Sonne aufging, stieg ich den Hügel wieder hinab. Ein paar Aloepflanzen blühten schon, hauptsächlich die große Aloe Ferox. Ich sah, wie ein Sonnenstrahl die Farben eines Honigsaugers aufblitzen ließ, der eine orangerote Aloeblüte umkreiste. Er sog mit seinem gebogenen dünnen Schnabel Nektar aus den Blüten, und der winzige Vogel stand dabei in der Luft und flatterte so schnell mit den Flügeln, daß man sie gar nicht sah. Ich stellte mir vor, daß ich so schnell boxen könnte und wie mein Gegner später jemand anderem den Kampf erzählte: »Ich wollte ihm gerade einen rechten Haken servieren, da traf mich der Weltmeister im Weltergewicht dreihundert Mal am Kinn.« Aber das klang selbst in meinen Ohren etwas unglaubwürdig. Als ich ins Haus zurückkam, hatten Dee und Dum das Frühstück vorbereitet, braunen Kafferngetreidebrei, Spiegeleier und Speck. Auf dem Küchentisch stand die Büchse für mein Schulbrot. Nachdem die beiden an Ostern einen ganzen Tag lang Brote für den Earl of Sandwich-Fonds belegt hatten, hielten sie sich für Weltmeister im Sandwichmachen, und mein Mittagsbrot war immer eine kleine Überraschung. Manchmal waren geriebene Karotten und Marmelade darauf, manchmal hatten sie es mit Erdnußbutter beschmiert und Avocado- und Birnenscheiben darübergelegt. Bei Zwiebeln und Papaya hatte ich gestreikt, und auch Stachelbeermarmelade mit Hefepaste mußten sie aus ihrem kulinarischen Repertoire streichen. Ich überlegte kurz, was sie sich diesmal ausgedacht haben könnten, um mich für neun Boxrunden stark zu machen. Ich schaute aber doch nicht nach. Schließlich konnten sie es sich nicht mehr verkneifen. Sie öffneten die Büchse und zeigten mir sechs große Kürbisplätzchen, die sie ordentlich in Butterbrotpapier gewickelt hatten. »Wir haben sie gestern abend gebacken, dein Lieblingsessen!« sagte Dum, und beide sahen sehr zufrieden aus. Ich packte alles in meinen Schulranzen, auch meine schönen
Boxstiefel, die Dee noch einmal poliert hatte, obwohl sie auch vorher schon makellos geglänzt hatten. Um halb acht hatte ich mich schon von meinem Großvater und meiner Mutter verabschiedet, saß auf dem Tor vor dem Haus und wartete auf den blauen Gefängnislaster, der mich abholen sollte. Ich hätte auch zum Gefängnis gehen können, aber Gert hatte gesagt: »Kein Problem, es sind nur ein paar Minuten Umweg, spar dir die Kraft für den Ring!« Gert war ganz anders als die anderen Wärter. Alle Kinder in der Boxstaffel meinten, er sei das Beste auf der Welt nach Kuchen. Er half gern anderen Menschen und sagte mir einmal, daß er Kaffern nur dann schlug, wenn sie wirklich etwas Schlimmes gemacht hatten. »Einem Kaffern tun Schläge auch weh, vielleicht nicht so weh wie einem Weißen, weil sie 'n bißchen wie Affen sind, aber es tut ihnen bestimmt auch weh, wenn man sie schlägt.« Nach dem Frühstück fragte ich beim Auf-Wiedersehen-Sagen meinen Großvater, wie er das fände, daß ich einen fast gewonnenen Kampf verlieren würde, wenn ich nur einmal zu Boden ginge. Nach dem üblichen Ausklopfen, Stopfen und Anzünden seiner Pfeife sagte er schließlich, eingehüllt in eine blaue Rauchwolke: »Ich glaube, du solltest am besten das machen, was ich im Burenkrieg gemacht habe.« »Und was hast du gemacht?« fragte ich ihn gespannt. »Nun, mein Junge, ich bin weggerannt, so schnell ich konnte.« Das war das Schwierige mit meinem Großvater, wenn man wirklich einmal einen Rat von ihm brauchte, dann war er nicht immer hilfreich. Ich sah, wie der blaue Gefängnislaster mit Gert am Steuer den Berg heraufkam. Neben ihm saß jemand, der Zeitung las, ich konnte nicht erkennen, wer es war. Gert hielt vor der Einfahrt an. »Spring zu den andern Kindern hinten drauf, Peekay«, sagte er fröhlich. Ein Junge zog mich hoch. Es war spannend, als Gert den Gang einlegte und wir losfuhren. Ein Vierzehnjähriger namens Bokkie de Beer war zum Aufpasser bestimmt worden und sagte mir, daß niemand aufstehen durfte. Die anderen Kinder kicherten, schauten mich an und hielten sich die Hände vor den Mund. »Was ist denn so komisch?« schrie ich, um das Motorgeräusch zu übertönen. Bokkie de Beer deutete auf das Rückfenster der Fahrerkabine. Ich sah hin, und eingerahmt vom Fenster mit seinem
unverwechselbaren Panamahut erkannte ich Docs Hinterkopf. Ich konnte kaum glauben, was ich sah, und alle Kinder lachten über mein Staunen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Seit meiner Ankunft mit dem Zug vor drei Jahren hatte ich die kleine Stadt noch kein Mal verlassen. Es war ein wunderbarer klarer Vorfrühlingsmorgen, und wir fuhren durch das Tal auf die entfernten Berge zu. Die Dornensträucher und die Akazien waren schon in frisches Grün gekleidet. In einem Monat würde das Tal in einem gelben und rosaroten Blütenmeer versinken. Die Straße war durchgehend geteert, und wir kamen um halb zehn in Nelspruit an. Meine Haut fühlte sich vom Fahrtwind um die Augen und an den Backen straff gespannt an, und ich war froh, von der Ladefläche springen zu dürfen, als er in einer Parklücke hinter der Stadthalle anhielt. Ich rannte zu Doc und öffnete ihm die Beifahrertür. Seine blauen Augen glänzten, und ich glaube, daß er fast genauso aufgeregt war wie ich. »Wir sind zusammen wieder draußen, Peekay. Das ist gut, was? Absoludel!« »Wie sind Sie rausgekommen?« fragte ich ungeschickt. Er lachte. »Mit der Erlaubnis des Kommandanten. Deshalb wollte er mich gestern nach dem Frühstück sprechen.« Er sah, wie ich die Stirn kraus zog. Wir beide kannten das Gefängnissystem, bei dem man nichts umsonst bekommt. Doc zuckte mit den Achseln. »Er verlangt nicht viel. Er will nur, daß ich etwas Chopin spiele, wenn der Brigadier aus Pretoria nächsten Monat zu Besuch kommt.« Ich wußte, was Doc vom öffentlichen Vorspielen hielt. Er weigerte sich, bei den städtischen Konzerten aufzutreten, und hatte seine Musikerkarriere längst beendet. Ein einziges Mal hatte er seine Angst überwunden und mit dem Beethovenkonzert auf dem Marktplatz großen Erfolg gehabt. Aber er war ein Perfektionist, und es schmerzte ihn sehr, seinem eigenen Standard nicht mehr gerecht werden zu können. Als ich ihm gesagt hatte, daß Mrs. Boxall der Meinung war, es gäbe niemanden in Barberton, der ihn nicht für den größten Pianisten hielte, der jemals hier zu hören gewesen war, hatte er geantwortet: »Du mußt Madame Boxall für ihre Freundlichkeit danken, aber ich bin zu alt und zu schwach, um mir schlecht gespielten Beethoven und Mozart anzutun.«
»Sie hätten ablehnen müssen!« sagte ich. »Schschttt! Peekay, dann hätte ich nicht bei deinem ersten Boxkampf dabeisein können. Eines Tages kann ich sagen, ich war dabei, als der Weltmeister im Weltergewicht sein Boxdebüt gegeben hat. Absoludel!« »Sie hätten trotzdem ablehnen sollen.« »Beethoven ja, Mozart ja, Brahms ja, aber Chopin kann ich noch so gut spielen, daß es mich nicht zerreißt. Ich werde diesem Brigadier Chopin vorspielen. Das ist nicht so schwierig.« Wir betraten die Stadthalle durch die Hintertür und gingen einen Korridor entlang, bis wir zu einer Tür kamen, an der ein Stück Papier mit der Aufschrift »Barberton Blues« hing. Der Raum roch nach Staub und nach Schweiß, obwohl sich noch niemand umgezogen hatte. Lieutenant Smit stand mit Klipkop an der gegenüberliegenden Wand. »Hier zieht ihr euch heute um, aber nicht alle auf einmal, ja?« Alle kicherten nervös. »Heute vormittag sind die Vorausscheidungskämpfe für die Jugendlichen, heute nachmittag die für die Erwachsenen. Heute abend um sechs fangen die Endkämpfe an. Niemand verläßt die Stadthalle, und ich warne euch, wenn ich jemanden beim Biertrinken erwische, dann gibt es Ärger. Wir sind hierher gekommen, um zu gewinnen, und das werden wir auch tun! Okay, was ist unser Motto?« »Einer für alle und alle für einen«, riefen wir im Chor. Doc legte seine Hand auf meine Schulter, und ich fühlte mich sehr stolz. »Ich wünschte, daß Geel Piet bei uns wäre«, flüsterte er. Der Raum leerte sich, und Klipkop rief, daß die Kinder dableiben sollten. Doc hatte sich bereit erklärt, die Erste Hilfe zu übernehmen. Er ging los, um Handtücher und den Erste-Hilfe-Kasten aus dem Laster zu holen, versprach mir aber, gleich zurückzukommen. Klipkop grinste. »Heute, Mann, bin ich Geel Piet.« »Heißt das, daß wir Sie schlagen dürfen, und Sie dürfen nicht zurückschlagen?« fragte Bokkie de Beer frech, und alle lachten. Klipkop grinste. »Ich kümmere mich um euch, und der Lieutenant und ich sind eure Sekundanten. Ihr könnt euch jetzt alle umziehen, und ich hol euch in fünfzehn Minuten ab. Niemand geht irgendwo hin, verstanden?« Ich ging in eine Ecke, holte die Stiefel aus meinem Ranzen und zog sie an. Alle Kinder drängten sich um
mich herum. »Wo hast du die denn her, Mann?« rief Bokkie de Beer. Ich war zu aufgeregt gewesen, um mir eine Erklärung zu überlegen. »Mein, mein Großvater hat sie gemacht«, stotterte ich. »Junge, hast du ein Glück, daß dein Großvater Schuster ist«, sagte Fonnie Kruger. »Na ja, er ist eigentlich kein richtiger Schuster, eher ein Gärtner.« »Auf jeden Fall ist er verdammt geschickt«, sagte Bokkie de Beer neidisch, und die anderen Kinder fanden das auch. Ich rollte meine Schulsocken bis zu den Stiefeln hinunter. Dann zog ich mein schönes blaues Hemd an und die blauen Shorts mit den gelben Streifen an der Seite. An der Taille paßte die Hose genau, aber sie war viel zu lang. Sie ging mir bis über die Knie. Als ich aufstand, konnten sich die anderen vor Lachen nicht halten. Maatie Snyman und Nels Stekhoven rollten sich sogar auf dem Boden. Ich glaube, ich habe mit meinen dünnen Spatzenbeinen, die unten aus der Hose staken, ziemlich lustig ausgesehen, aber ich war auch mächtig stolz. Fonnie Kruger und ich kamen zuerst dran, weil wir noch unter zwölf waren. Wir warteten auf Klipkop und folgten ihm in die Stadthalle. Kinder aus anderen großen Städten in Ost-Transvaal standen in Gruppen um Erwachsene herum und waren auch schon umgezogen. Ich schaute mich um und überlegte mir, gegen wen ich wohl kämpfen müsse. Doc kam in die Stadthalle. Wir setzten uns auf zwei Stühle, die etwas weiter weg standen, aber in Hörweite der anderen waren. Doc hielt meine Hand, und ich glaube, daß er nervöser war als ich. Er hatte sein Taschentuch herausgezogen und wischte sich die Stirn ab. »Ich glaube, die Prüfung im Konservatorium in Leipzig, die ich abgelegt habe, als ich so alt war wie du, war nicht so schlimm wie das hier. Absoludel.« »Es wird schon klappen, Doc. Ich tänzele, genau wie Geel Piet es gesagt hat. Lieutenant Smit sagt, ich sei verdammt schnell, Sie werden sehen, die landen keinen Schlag bei mir.« »Schön, daß du das sagst, Peekay. Aber was ist, wenn dich ein großer Bure erwischt?« Ich grinste und wiederholte, was Hoppie gesagt hatte. »Ach Mann, je größer sie sind, um so härter fallen sie.« Es klang abgedro-
schen, als ich das sagte. Auch Hoppie mußte es ziemlich abgedroschen vorgekommen sein. Doc grinste und begrub seinen Kopf in seinem roten Taschentuch. »Peekay, bitte sei vorsichtig. In diesem Ring da sind keine netten Leute.« In diesem Augenblick rief mich Klipkop zu sich, und Doc drückte mir die Hand. »Benutz deine Füße zum Weglaufen, Peekay. In meinem Kopf hör ich nur Wagner. Keinen Mozart, nur Wagner.« Klipkop und Lieutenant Smit standen bei einem riesigen glatzköpfigen Mann mit einem dicken Bauch, der lange weiße Hosen und ein weißes Hemd trug. Ganz in der Nähe standen zwei Erwachsene und ein Junge. Das Kind war ein gutes Stück größer als ich, aber nicht so groß wie Rotznase. Er hatte ein rotes Turnhemd an, und in Weiß war vorne das Wort Sabie aufgenäht. Das war die Stadt, in der Klipkops nooi wohnte, mit der er sich vor kurzem verlobt hatte. Der große Mann schaute zu mir und dann wieder zu Lieutenant Smit. »Er ist nicht gerade groß. Sind Sie sicher, daß Sie ihn kämpfen lassen wollen?« Der Lieutenant nickte. »Es wird ihm guttun.« Der große Mann musterte den Jungen aus Sabie, dann mit zweifelnder Miene mich. »Sein Gegner ist fast zwanzig Zentimeter größer und hat eine viel größere Reichweite, Mann.« »Wenn's gefährlich für ihn wird, blas ich den Kampf ab.« »Ich hoffe, Sie wissen, was Sie tun«, sagte der große Mann und schüttelte den Kopf. Die beiden Männer aus Sabie grinsten, und ich wußte genau, was sie dachten. Sie waren froh, daß ihr Boxer leichtes Spiel in seinem ersten Kampf hatte. Klipkop wandte sich an mich. »Das ist Meneer de Klerk, Peekay. Er ist der Ringrichter und auch der Schiedsrichter. Er ist gestern abend aus Pretoria gekommen.« »Guten Morgen, Meneer«, sagte ich und streckte meine Hand aus. Der Ringrichter schlug ein und schüttelte mir leicht die Hand. »Gute Manieren, mein Sohn«, sagte er. Hinter seinem Rücken sah ich, daß einer der Männer dem Jungen aus Sabie einen Stoß gab, damit er dasselbe machen sollte. Meneer de Klerk drehte sich um und zeigte auf eine große hölzerne Truhe, die vor dem Boxring auf dem Boden stand. Mindestens fünfzig Paar Boxhandschuhe waren
darin. »Ich möchte, daß die Zehn-Unzen-Handschuhe genommen werden. Es soll niemand verletzt werden. Sucht euch ein Paar Handschuhe aus und zeigt sie mir, verstanden?« »Wir haben unsere eigenen Handschuhe mitgebracht«, sagte Lieutenant Smit. »Dann bringt sie her, ich möchte sie sehen.« »Wir auch«, sagte einer der Männer aus Sabie, trat vor und zeigte ein Paar Boxhandschuhe. Meneer de Klerk untersuchte beide und war mit ihnen einverstanden. »Okay, zieht euch die Handschuhe an. Der Kampf beginnt in fünf Minuten.« Er wandte sich an einen Mann, der direkt beim Ring an einem Tisch saß. »In fünf Minuten, verstanden?« Der Mann nickte und schaute auf eine große Taschenuhr, die vor ihm lag. Er hatte auch eine Glocke und war offenbar der Zeitnehmer. Klipkop und Lieutenant Smit schnürten mir gemeinsam die Handschuhe zu. Ich kam mir sehr wichtig vor, keiner der beiden hatte sich jemals so beim Boxen um mich gekümmert. »Und denk dran, Peekay, Boxen ist ein Spiel um Prozente. Achte drauf, daß du ihn sauber triffst und öfter als er dich. Und kein Klammern, beim Klammern schmeißt er dich um. Bleib aus den Ecken raus, und halt Abstand von den Seilen.« Der Mann am Tisch läutete die Glocke, und wir gingen zum Ring. Klipkop half mir durch die Seile, und dann kletterten er und der Lieutenant auch hinein. In der Ecke stand ein Stuhl, und Lieutenant Smit sagte, ich solle mich hinsetzen. Ich fühlte mich nicht besonders wohl, weil der Junge aus Sabie stand und in die Luft boxte und ich wie ein kleines Kind auf dem Nachttopf saß. »In Ordnung! Kommt in die Mitte«, rief Meneer de Klerk und kletterte in den Ring. »Wie heißt ihr?« »Du Toit, Meneer.« »Peekay, Meneer.« »Ich möchte einen sauberen Kampf, verstanden? Kein Klammern. Wenn ich brake sage, laßt ihr voneinander ab. Keine Schläge unterhalb der Gürtellinie oder auf den Hinterkopf. Wenn einer von euch zu Boden geht, ist der Kampf entschieden. Hast du verstanden, Peekay? Du Toit?« »Ja, Meneer«, sagten wir beide. »In Ordnung, wenn die Glocke läutet, kommt ihr in die Mitte des
Rings, stoßt die Boxhandschuhe aneinander und fangt an zu boxen. Viel Glück.« Ich ging zurück in meine Ecke und setzte mich auf Lieutenant Smits Anweisung hin. Da es der erste Kampf am Tag war, standen alle Mannschaften um den Ring herum, und sogar ein paar Leute aus der Stadt schauten zu. Es war mein erstes Boxpublikum, mein Herz klopfte wie wild. Du Toit stand in seiner Ecke, und auch er schaute sich um. Ich glaube, wir wollten beide keinen Blickkontakt. Von meinem Stuhl aus sah er sehr groß aus, aber ich hatte zu lange auf diesen Augenblick gewartet, um Angst zu haben. Die Glocke läutete. »Gib´s ihm, Peekay, hörst du«, sagte Klipkop, als ich von meinem Hocker aufsprang. In der Mitte des Ringes schlugen wir unsere Handschuhe aneinander, und als er einen Schritt zurückging, schoß ich vor und schlug eine linke und eine rechte Gerade auf Du Toits Unterkiefer. Er riß überrascht die Augen auf. Ich sah, daß die Schläge ihm nicht weh getan hatten, aber trotzdem hatte mein früher Angriff ihn kalt erwischt, und er sah überrascht aus. Er war ein guter Boxer und verlor die Fassung nicht, sondern umkreiste mich. Seine linke Gerade flog über meine Schulter und an meinem Ohr vorbei. Ich duckte mich unter seinen Arm und landete einen harten Aufwärtshaken in seinen Rippen. Er stöhnte auf, und ich wußte, daß ich ihn hart getroffen hatte. Er erwischte mich mit einer Rechten an der Schulter, die mich herumwarf. Ich ahnte seine nächste Linke, tauchte ab und landete noch einen guten Körpertreffer an derselben Stelle wie vorher. Seine Arme schlugen hinter mir zusammen, und ich war im Clinch, den ich ja eigentlich vermeiden sollte. Ich schlug ihm mit beiden Händen wütend auf die Rippen, aber meine Schläge waren zu kurz, um Wirkung zu zeigen, und ich wußte, daß er mich festhalten konnte, solange er Lust hatte. »Brake!« hörte ich den Ringrichter sagen, und als Du Toits Arme lockerließen, zog ich mich gleich zurück. Für den Rest der Runde ließ ich mich von ihm jagen. Ich war bei weitem der Schnellere und machte die bessere Beinarbeit. Gegen Ende der Runde konnte ich an seinen Füßen erkennen, was für ein Schlag als nächster kommen würde. Gerade als die Glocke läutete, ging ich in ihn rein und griff mit einer kurzen Rechten an. Ich traf ihn genau auf die Kinnspitze. Während des Kampfes hatte ich nichts gehört und bemerkte erst
jetzt, daß die Zuschauer ziemlichen Lärm machten und daß mein Name immer wieder gerufen wurde, um mich anzufeuern. Am Ende der Runde gab es Beifall und ein, zwei Pfiffe. »Du hast dich gut gehalten, Peekay«, sagte Klipkop. Lieutenant Smit wischte mir das Gesicht mit einem Handtuch ab. »Seine rechten Schwinger gehn daneben, aber nicht weit. Paß auf, Mann. Wenn der Junge erst mal seine Reichweite gefunden hat, dann tut er dir weh. Drück dein Kinn auf die Schulter. Wenn er durchkommt, fängt die Schulter das meiste ab.« Die Glocke läutete die zweite Runde ein, und ich erlaubte Du Toit, mich durch den Ring zu jagen. Ich glaube, man hatte ihm gesagt, er solle versuchen, mich in eine Ecke zu drängen, denn er versuchte es immer wieder. Aber im letzten Augenblick täuschte ich links an und tauchte rechts weg, und seine rechten Schwinger gingen meilenweit vorbei. Aber dann machte ich es einmal zu oft, und er erwischte mich mit einem linken Aufwärtshaken im Bauch, und wenn die Seile nicht hinter mir gewesen wären, wäre ich zu Boden gegangen. Er wußte, daß er mir weh getan hatte, und sein Gehirn telegrafierte ihm, das auszunutzen und den großen Schlag zu landen. Ich konnte mich nur ducken, bis meine Füße wieder funktionierten und ich aus der Gefahrenzone wegkam. In der zweiten Hälfte der Runde fing er an, müde zu werden. Er hatte einen Hagel von Schlägen auf mich losgelassen, die meisten auf meine Handschuhe, aber er hatte immerhin einen guten Körpertreffer gelandet, der höllisch weh tat. Ich startete ein paar schnelle Angriffe, um ihn zu reizen. Gegen Ende der Runde fing das Publikum an zu lachen, denn es sah aus, als ob ich ihn nach Belieben treffen könnte. Verzweiflung stand ihm im Gesicht. Ich glaube nicht, daß ich ihm wirklich weh tat, aber ich ermüdete und frustrierte ihn, genau wie Geel Piet es mir geraten hatte. Die Glocke läutete, und ich war mir sicher, daß ich die Runde gewonnen hatte. »Du brauchst ihn nicht mehr zu treffen, um zu gewinnen«, sagte Lieutenant Smit. »Bleib einfach außerhalb seiner Reichweite, verstanden? Nur Gegenschläge, keine Angriffe. Dann gewinnst du klar, Mann, außer er verpaßt dir einen Glückstreffer.« »Mach's genauso, wie der Lieutenant sagt, Peekay. Halt ihn dir vom Leib«, fügte Klipkop grinsend hinzu. Die Glocke rief zur letzten Runde. Wir gingen in die Mitte des
Ringes und schlugen unsere Handschuhe aneinander. Du Toit mußte die Anweisung gekriegt haben, mich niederzuhämmern. Er bedrängte mich und schlug wild auf mich ein. Immer wenn er mich passierte, verpaßte ich ihm eine linke Gerade oder einen rechten Haken, wich aber dem großen Schlag sorgfältig aus. Das Publikum lachte, als ich ihn vorführte, und ich fing an, mich verdammt gut zu fühlen. Ich hatte ihn nach Punkten geschlagen und war unverletzt, die Glocke würde jeden Augenblick läuten, und dann hätte ich gewonnen. Der rechte Schwinger kam unvermutet, und ich konnte ihm nicht mehr ausweichen. Er bohrte sich in meine Schulter und in mein Gesicht, und ich fühlte mich, als wäre ich gegen einen Telegrafenmast gerannt. Ich fühlte, wie meine Knie weich wurden, und griff nach den Seilen hinter mir, um nicht hinzufallen. Da kam der nächste Schlag, aber ich schaffte es, den Kopf zur Seite zu bringen, und dann schlug Du Toit wieder eine Rechte, und sie streifte knapp mein Gesicht. Aber meine Beine waren wieder okay und mein Kopf wieder klar. Ich duckte mich unter eine rechte Gerade und tänzelte aus dem Weg, als die Glocke läutete. »Puuuh!« Doc sprang am Ringrand auf und ab. »Elf von zehn. Absoludel!« schrie er mir zu. Es war der glücklichste Augenblick meines Lebens. Meneer de Klerk rief uns beide in die Mitte des Rings. Wir schüttelten uns die Hände, und ich dankte Du Toit für den Kampf. Ich glaube, er wußte, daß er verloren hatte, denn in seinen Augen standen Tränen, und er antwortete nichts. »Du hast gute Manieren, Peekay«, sagte Meneer de Klerk wieder. Dann nahm er uns beide an der Hand und sagte: »Der Gewinner aller drei Runden ist Gentleman Peekay!« Er hielt meine Hand hoch, und die Menge klatschte und lachte über meinen neuen Namen. »Das war gut«, sagte Lieutenant Smit. »Aber es ist noch früh, du hast Glück gehabt, Mann, du hast eine Niete erwischt. Wenn ich dir sage, daß du deinen Abstand einhalten sollst, dann machst du das gefälligst auch, verstanden? Dieser rechte Schwinger hat dir fast das Hirn rausgeschlagen, Mann. Zwei von der Sorte im nächsten Kampf, und wir werfen das Handtuch, verstanden!« Ich nickte und versuchte zerknirscht auszusehen. Als Klipkop mir die großen Handschuhe von den Händen zog, fühlte ich mich plötzlich ganz leicht, als ob ich davonschweben würde. Es war ein
herrliches Gefühl. Es war die Kraft, die aus einem selbst kommt, die sich in mir rührte. Nichts, was Lieutenant Smit sagte, konnte meine gute Laune dämpfen. Ich sprang von dem Ring herunter und fühlte mich zwei Meter groß. Doc drückte mich kräftig, packte dann meine Hände, und wir tanzten herum. Ich kam mir etwas albern dabei vor, aber er war sehr glücklich. »Peekay, heute bin ich sehr stolz auf dich! Absoludel!« Er blieb stehen, zog sein großes Taschentuch heraus und schneuzte sich. Als er wieder hochschaute, waren seine blauen Augen feucht. »So ein Tänzer, jetzt schon. Absoludel.« So viele Absoludels auf einmal hatte ich noch nicht von ihm gehört. Fonnie Kruger gewann seinen Kampf gegen einen Jungen aus Bocksburg, und Maatie Snyman bei den Unter-Dreizehnjährigen auch, Nels Stekhoven bei den Unter-Vierzehn jährigen und Bokkie de Beer bei den Unter-Fünfzehnjährigen. Wir vom Barberton Blues waren verdammt stolz, jeder von uns war bis ins Halbfinale gekommen. Fonnie Kruger und ich waren bei den Unter-Zwölfjährigen, wenn wir die Halbfinalkämpfe schafften, würden wir im Finale gegeneinander antreten. Aber unsere Hoffnungen wurden bald zerstört. Da war nämlich ein Junge namens Kroon aus Lydenburg, der war der größte Elfjährige, den ich jemals gesehen hatte. Er war mindestens dreißig Zentimeter größer als ich und doppelt so breit. Er war zwar kein guter Boxer, aber er fegte einen Jungen aus Nelspruit schon in der ersten Runde aus dem Ring. Wir nannten ihn Kroon den Killer. Schon sein Anblick machte uns angst, und Bokkie sagte, daß er froh sei, bei den Unter-Fünfzehnjährigen zu kämpfen und nicht bei den Unter-Zwölfjährigen. Fonnie Kruger erwischte Kroon den Killer im Halbfinale und schaffte eine Runde, bevor er auf seinem Hintern saß, nur ein paar Sekunden nach Beginn der zweiten Runde. Ich glaube, er war froh, als alles vorbei war. Kroon der Killer hatte ihm das rechte Auge geschlossen. »Es ist, als ob man gegen einen verdammten Gorilla boxt«, sagte er, als er aus dem Ring stieg. Kurz vor dem Mittagessen kletterte ich wieder in den Ring, um gegen einen Typ aus Kaapmuiden anzutreten. Er war ein vierschrötiger, rundlicher Kerl mit ziemlich kräftigen Schultern, aber er war nicht größer als ich. Es war das erste Mal, daß ich gegen einen Boxer antrat, dessen Kinn nicht höher als mein Kopf war. Es war
ein guter Kampf, und meine Schnelligkeit bewahrte mich davor, die volle Kraft seiner Schläge abfangen zu müssen. Er traf hart und genau, aber ich konnte ausweichen, wenn der Schlag kam, so daß die Luft schon heraus war. Trotzdem traf er ziemlich häufig und punktete gut. Bevor die letzte Runde anfing, wischte mir Lieutenant Smit das Gesicht ab. »Du tust nicht genug, um den Kampf sicher zu gewinnen. Paß auf seine linke Gerade auf, er läßt die rechte Hand hängen, wenn er links geschlagen hat. Duck dich unter den Schlag, und greif seinen Körper mit beiden Fäusten an. Ich will sichergehen, daß du genug Punkte kriegst.« Wir stießen die Boxhandschuhe zur letzten Runde zusammen, und Lieutenant Smit hatte recht: Der Kerl, er hieß Geldenhuis, schoß seine Linke ab und ließ dann komischerweise seine Rechte fallen. Ich tauchte darunter weg und landete fünf oder sechs gute Körpertreffer, bevor er mich wegstieß. Bei der Schlußglocke rief die Menge im Chor: »Gentle-man Pee-kay! Gentle-man Pee-kay!« Es waren alles Buren, das englische Wort belustigte sie ganz offensichtlich. Ich bedankte mich bei Geldenhuis, der sich ebenfalls bei mir bedankte. Dann kündigte Meneer de Klerk an diesem Tag zum zweiten Mal an: »Der Gewinner in zwei von drei Runden, Gentleman Peekay!« Die Menge lachte und klatschte, und die Barberton Blues fingen an zu toben. Doc konnte kaum mehr an sich halten. »Nicht ein Kratzer, nicht ein blaues Auge. Perfekt, wenn du bloß Chopin auch so gut spielen könntest!« Er lachte und reichte mir ein Handtuch. »Lieutenant Smit sagt, daß du dich duschen und anziehen sollst. Heute abend um sechs geht es weiter.« Plötzlich wurde er ernst. »Peekay, im Finale ist ein großer Bure dabei, du mußt sehr gut tanzen, der ist wie Musik von Wagner. Du mußt wie ein Mozart-Klavierkonzert boxen, schnell und leicht und mit perfektem Timing, ja?« Doc fand ein kleines Vorzimmer, in dem eine Ledercouch stand. Nach dem Mittagessen befahl er mir, mich hinzulegen. Ich wollte viel lieber die Vorausscheidungskämpfe der Erwachsenen sehen und fügte mich nur ungern. Trotz der Hitze warf er mir eine Gefängnisdecke über, und tatsächlich schlief ich schnell ein. Es war fünf Uhr, als er mich wieder abholte, und ich fühlte mich steif, und meine Muskeln schmerzten. Bevor ich meine Boxklei-
dung wieder anzog, duschte ich heiß. Als wir zurück in die Halle kamen, war es fast sechs Uhr, und die Vorausscheidungskämpfe waren vorbei. Bokkie de Beer sagte, daß fünf Seniorenkämpfer von den Barberton Blues ins Finale kämen, inklusive Gert, der einen einfachen, aber harten Kampf hinter sich hatte. Also waren neun Kämpfer der Barberton Blues im Finale. Ich ging zu Gert, um ihm zu gratulieren, und er schien sich darüber zu freuen. »Ach, es war nicht schwer, Peekay. Ich glaub, ich habe Glück gehabt. Aber ich muß genau wie du im Finale gegen 'nen Buren kämpfen, 'n Kerl so groß wie 'n Berg, 'n Schwergewicht. Er hat heute beide Kämpfe durch K. o. in der ersten Runde gewonnen.« »Aber du bist schnell, und Schnelligkeit ist alles«, zitierte ich Geel Piet. »Nicht, wenn er mich in 'ne Ecke drängt«, sagte Gert ernst. »Dann laß dich nicht in eine Ecke drängen, Mann«, sagte ich leichtfertig. Aber dieser gute Rat galt genauso mir wie ihm. »Du bist bald dran, ich hab Geld auf dich gesetzt, Peekay. Du kannst es schaffen, ich sags dir.« Aber ich konnte seine Gedanken hören, er machte sich große Sorgen um mich. Fonnie Kruger kam heran und sagte, daß mich Lieutenant Smit sprechen wolle. Lieutenant Smit und Klipkop unterhielten sich mit Meneer de Klerk und bemerkten mich nicht. Ich stand da und wartete ab. »Der Burenjunge ist fünfundzwanzig bis dreißig Pfund schwerer als Ihrer. Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir überhaupt nicht«, sagte der Ringrichter und schüttelte den Kopf. »Wir haben ihn doch in den beiden Kämpfen gesehen. Er wurde kaum getroffen, er ist ein guter Boxer«, sagte Klipkop. »Er ist mehr als das. Er ist der beste, den ich seit langem gesehen habe. Aber gegen Kroon ist er eine Mücke. Kroon hatte beide Gegner in der ersten Runde geschlagen. Und er ist ein böser Typ. Ich arbeite jeden Tag mit jungen Boxern, ich sag Ihnen, er ist kein echter Sportsmann.« Meneer de Klerk hob seine Hände in einer versöhnlichen Geste. »Es ist noch viel Zeit, er ist doch erst zehn. Lassen Sie ihn ein bißchen wachsen, warten Sie bis nächstes Jahr. Er hat das Zeug zum Sieger, er ist viel zu gut, um ihn gegen Kroon zu verschwenden.« Ich sah, wie Lieutenant Smit zögerte. Die Stimmen in seinem
Kopf sprachen wild durcheinander. Mein Herz pochte laut, und ich fühlte einen Kloß im Hals. Dann warf er den Kopf zurück und schaute den kahlköpfigen Ringrichter an. »Ich versprech Ihnen eines, Meneer de Klerk. Wenn mein Junge auch nur in Gefahr kommt, verletzt zu werden, werfen wir das Handtuch. Sie kennen Peekay nicht. Er hat drei Jahre auf diesen Kampf hingearbeitet. Drei Jahre lang hat er kein einziges Training versäumt. Zwei Jahre lang hat er nur mit dem Sack und dem Ball trainiert. Ich muß ihm jetzt einfach eine Chance geben.« »Ich geb ihm eine Runde, Smit. Wenn es in der ersten Runde auch nur so aussieht, als ob er verletzt wird, gewinnt Kroon durch technischen K. o., verstanden?« Lieutenant Smit nickte. »Ja, okay, Sie sind der Ringrichter, Mann.« Er drehte sich um und sah mich. Ich grinste ihn an, als wäre ich gerade erst angekommen. Sie mußten mir den Kampf geben. Ich mußte gegen Kroon kämpfen. Kroon war im Vergleich zu mir nicht größer als Jackhammer Smit zu Hoppie. Ich konnte ihn packen, ich wußte, daß ich es konnte. »Dann müssen wir jetzt die Handschuhe anziehen, Peekay«, sagte Lieutenant Smit, nahm Klipkop einen Handschuh ab und zog ihn mir über die linke Hand. Ich stieg in den Ring und setzte mich auf den kleinen Schemel, und Killer Kroon setzte sich ebenfalls. Bei ihm sah es nicht aus, als ob er auf dem Nachttopf säße. Scheiße, war der groß! Er grinste, und ich hörte, was er zu sich selbst sagte: »Ich mach den kleinen Scheißer in der ersten Runde fertig.« »Erst mußt du mich kriegen, du Bastard«, sagte ich zu mir. Aber er wurde immer größer und füllte den Ring aus. Die Leute aus der Stadt kamen zu den Finalkämpfen, und schließlich war die Stadthalle halb gefüllt. Ich hatte schon mehr Publikum gehabt, als ich Chopin im Konzert in Barberton gespielt hatte, aber ein Boxpublikum ist etwas ganz anderes, viel rauher oder so was. Ich erinnerte mich an Docs Worte: »Du mußt boxen wie ein Klavierkonzert von Mozart.« In meinem Kopf hörte ich, wie Doc ein Mozart-Konzert spielen würde, kein Arpeggio, sondern schnell und straff, mit perfektem Timing. Es stimmte, gegen Killer Kroon mußte man genau so kämpfen. »Vergiß seinen Kopf, Peekay. Versuch Körpertreffer zu landen. Schnelle Schläge mit beiden Händen. Punktschläge. Halt ihn dir
vom Leib, und laß dich nicht in die Seile treiben, keinmal. Bleib in der Mitte vom Ring. Gib ihm was zu tun, laß ihn ununterbrochen laufen, hast du verstanden?« Ich hörte den beiden genau zu, aber ich wußte, daß Geel Piet mir das Wichtigste gesagt hatte: Ich müßte mit meinen Füßen boxen. Ich hatte keine Ahnung, was für ein Boxer Killer Kroon war. Sein erster Gegner hatte sich weniger als eine Minute halten können, und Fonnie war kurz nach Beginn der zweiten Runde zu Boden gegangen, war aber die ganze erste Runde vor ihm weggelaufen. Als ich wartend dasaß, starrte Kroon mich mit einem bösen Grinsen an, und ich fühlte mich auf einmal sehr klein und verwirrt. Plötzlich stand ich wieder vor dem Richter. Der Ring wurde zum Schlafsaal und das Publikum zu den Geschworenen. Ich schloß die Augen und zählte rückwärts von zehn bis eins. Ich stand bei Vollmond auf einem Felsen und hörte das Rauschen der Wasserfälle. Der Fluß und die Schlucht lagen vor mir im silbernen Mondlicht. Ich war ein junger Zulukrieger, der seinen ersten Löwen erlegt hatte, und ich fühlte das Löwenfell um meine Hüften. Ich atmete tief ein, sprang den ersten Wasserfall hinunter und tauchte in das weiß schäumende Becken darunter ein. Nachdem ich alle drei Wasserfälle überwunden hatte, tauchte ich auf und sah den ersten der zehn Steine, der feucht im Mondlicht glänzte. Ich sprang über die zehn Steine zur anderen Seite, öffnete am Ufer die Augen und erblickte Kroon. Killer Kroon mußte etwas in meinen Augen gesehen haben, denn er schaute weg und sah mich nicht wieder an. Der Ringrichter rief uns auf, hielt unsere Hände hoch und stellte uns vor. »Zu meiner Linken, Dames and Heere... Gentleman Peekay von den Barberton Blues.« Das Publikum klatschte laut, es wurde aber auch gelacht, als sie sahen, wieviel kleiner ich war als Killer Kroon. »Zu meiner Rechten, aus Lydenburg, Martinus Kroon.« Das Publikum war schon auf meiner Seite, und der Applaus war reine Höflichkeit. Ich setzte mich wieder auf meinen Hocker. Es war der erste Finalkampf, und die Menge war ganz aufgeregt. Die Glocke läutete, und ich sprang auf. Killer Kroon erhob sich langsam, fast geringschätzig. Wir gingen zur Ringmitte, und er
schlug eine Linke auf meinen Kopf aus der Schulter heraus. Aber ich sah seine Faust Meter vorher, und der Schlag ging an meinem Ohr vorbei. Seine Rechte folgte, und ich duckte mich weg. Es waren fast die gleichen Schläge, mit denen Du Toit den Kampf eröffnet hatte, und ich konterte genauso, indem ich eine Linke und eine Rechte unterhalb von Kroons Herz plazierte. Ich schlug so hart wie möglich zu, aber er schien nichts zu spüren. Ich tänzelte blitzschnell weg, und er verfehlte mit einem linken Aufwärtshaken mein Kinn. Das Publikum stöhnte auf, weil der Schlag so wild aussah, aber es war alles nur Show. Ich blieb in der Mitte des Rings und tänzelte um Kroon herum, der weitere vier Schläge in die Luft setzte. Mit einer rechten Geraden scheitelte er mein Haar, aber der Schlag war zu hart, und er verlor das Gleichgewicht. Blitzschnell war ich da und schlug ihm eine Links-Rechts-Kombination auf die gleiche Stelle unter dem Herz und wiederholte das Ganze gleich noch einmal. Vier gute kurze Schläge mit ziemlich viel Kraft dahinter. Aber ich war zu gierig gewesen, die zwei Extraschläge zu servieren, und seine riesigen Arme schlossen sich um mich. Er hob mich hoch und schleuderte mich weg. Ich flog in die Seile und packte das mittlere mit beiden Händen, um mein Gleichgewicht wiederzufinden. Ich war völlig ungeschützt, als die rechte Gerade auf mich zukam. Sie war als Aufwärtshaken geplant, und da ich in den Seilen hing, hätte ich dem Schlag nicht ausweichen können. Killer Kroon aber hatte seine Schulter etwas zu weit nach hinten gedreht, um alle Kraft in den Schlag legen zu können. Dadurch hatte ich den Bruchteil einer Sekunde Zeit und wich mit dem Kopf nach rechts aus. Statt mich k. o. zu schlagen, traf der Schlag nur mein Ohr, und es fühlte sich so an, als ob mir ein Brandeisen seitlich auf den Kopf gedrückt worden wäre. Aber vom Richter war ich Schlimmeres gewöhnt. Ich täuschte links an und schlüpfte unter seinem rechten Arm durch. Er war blitzschnell wieder da, aber ich stand schon in Position, und er rannte in einen perfekt getimten rechten Haken hinein, hinter dem mein ganzes Körpergewicht lag. Ich hatte ihn genau auf der Kinnspitze erwischt, und sein Kopf schnappte zurück. Es war der beste Schlag meines Lebens. Später sagte Gert, wenn ich so groß wie Killer Kroon gewesen wäre, hätte der Schlag ihn für eine Woche kampfunfähig gemacht.
Kroon schüttelte erstaunt seinen Kopf. Er hatte Schmerzen, und er war wütend, und jetzt suchte er den Gegner. Ich ging ihm aus dem Weg, bekam eine linke Gerade auf die Schulter und landete zwei weitere gute Treffer unter seinem Herz, als seine Bewegungen mir eine weitere Rechte ankündigten. Die Stelle unter seinem Herz war inzwischen rot angelaufen. Die Glocke läutete das Ende der ersten Runde ein, und als ich in meine Ecke zurückging, sah ich, daß Meneer de Klerk breit grinste. Doc stand außerhalb des Ringes, und Lieutenant Smit und Klipkop kletterten herein, um mir zu helfen. Doc hielt sein Taschentuch in beiden Händen und wrang es aus, und die Tränen liefen ihm über die Wangen. »Du warst gut«, sagte Klipkop grinsend. Lieutenant Smit sagte erst nichts, sondern schmierte mir Vaseline aufs Ohr, das mir Kroon fast abgerissen hatte. Dann hielt er mir das unverletzte Ohr zu. »Kannst du mich hören, Peekay?« »Ja, Lieutenant, ich kann Sie gut hören«, antwortete ich. »Wenn das Ohr alles ist, was dir nach dem Kampf weh tut, können wir von Glück reden.« Er wandte sich an Klipkop. »Gib ihm noch ein halbes Glas Wasser. Aber nur den Mund ausspülen, nicht runterschlucken.« Er sah mich an. »Jetzt hör mir gut zu, Peekay. Es sieht ganz so aus, als ob dieser Gorilla nur vier Schläge hat. Rechte Gerade, linke Gerade, rechter Haken, linker Aufwärtshaken. Er ist ein Fighter und hat nie mehr als diese Schläge gebraucht, jeder einzelne ist sehr gut, und er teilt sie auch gut aus, bis auf den linken Aufwärtshaken, der ist immer etwas ungenau. Er versucht sein ganzes Körpergewicht hinter den rechten Haken zu legen, deshalb hast du Zeit, um auszuweichen. Es ist gut, daß du dich wegduckst und ihn unters Herz schlägst. Das ist ein verdammt guter Schlag. Er ist stark, aber wenn du genug solche Schläge landest, tut's ihm am Ende doch weh, und in der dritten Runde ist er bestimmt viel langsamer. Bleib immer in Bewegung, verstanden? Laß ihn arbeiten, er ist nicht so fit wie du, laß ihn arbeiten, und schlag ihm immer wieder auf diese Stelle unterm Herz, okay?« Ich hatte Lieutenant Smit noch nie so schnell reden hören, und ich spürte, daß er mir jetzt eine Chance gab. »Nicht angreifen, nur Konterschläge, verstanden? Nur Kontern.« Ich nickte, und die Glocke läutete zum zweiten Mal.
Kroon kam aus einer Ecke gestürmt, und man konnte ihm ansehen, daß er den Kampf so schnell wie möglich beenden wollte. Während der ersten Hälfte der Runde duckte ich mich weg, wich aus, tänzelte rückwärts und bewegte ihn durch den Ring. Er schlug mindestens fünfzigmal daneben. Das Publikum fing an zu lachen, als er immer wieder die Luft traf, und er wirkte zusehends frustrierter. In der zweiten Hälfte der Runde wurde er langsamer, und sein rechter Haken ebenfalls. Er atmete schwer, und ich konnte seinen Schweiß riechen. Der Schweiß eines Jungen riecht nicht, aber den Schweiß von Killer Kroon konnte ich deutlich riechen. Ich verringerte die Distanz, duckte mich unter seinen rechten Haken und schlug immer wieder auf die Stelle unter seinem Herz. Kaum zu glauben, wie wenig Phantasie er hatte. Der rechte Haken kam so regelmäßig wie ein Uhrwerk, ich duckte mich und schlug zwei oder vier Mal zu. Er atmete immer schwerer und stöhnte, wenn ich traf. Die Schläge unters Herz fingen an Wirkung zu zeigen. Als die Glocke das Ende der zweiten Runde anzeigte, fühlte ich mich ziemlich müde. Das Publikum sprang auf und klatschte. Als ich in meine Ecke zurückging, schaute ich zu Doc. Er hatte sich das Taschentuch in den Mund gesteckt und kaute darauf herum. »In der nächsten Runde versucht er dich fertigzumachen, Peekay. Du hast beide Runden in der Tasche, du hast viel mehr gepunktet als er. Er wird irgendwie versuchen, dich fertigzumachen.« Lieutenant Smits Ruhe war weg, er atmete schwer. »Bleib weg von ihm, Mann. Es ist egal, wenn du keinen einzigen Treffer landest, halt ihn dir nur vom Leib, verstanden? Halt ihn dir vom Leib, du hast den Kampf gewonnen. Magtig! Du boxt gut!« Seine Augen glänzten. Die Glocke läutete die letzte Runde ein, und wir trafen uns in der Mitte des Rings und schlugen die Handschuhe aneinander. Killer Kroon atmete immer noch schwer, und seine Brust ging auf und ab. Als wir uns trennten, sagte er: »Ich bring dich um, du verdammter rooinek.« Geel Piet hatte gesagt, daß man immer antworten müsse, um zu zeigen, daß man keine Angst hat. »Komm und krieg mich, du Burenbastard!« zischte ich zurück. Er schoß auf mich zu, ich sprang zur Seite, aber sein Arm erwischte mich und warf mich um. Er hatte nicht geboxt, er hatte mich mit dem Arm erwischt, aber ich war zu
Boden gegangen. Ich konnte es nicht glauben. Einmal am Boden, und der Kampf ist verloren. Ich hatte geredet und meine Konzentration verloren und den Kampf! »Kein Fausttreffer, weiterboxen!« hörte ich Meneer de Klerk wie im Traum rufen. Ich stand auf, hatte aber das Gefühl, unter Wasser zu sein. Der Gedanke an die Niederlage hatte mich betäubt. Killer Kroon kam heran, und sein linker Aufwärtshaken zischte haarscharf an meinem Kinn vorbei. Dieses Mal hätte er den rechten Haken austeilen müssen, er hätte mich direkt am Kinn getroffen und mich erledigt. Statt dessen zuckte ich nur mit dem Kopf zurück, und der Aufwärtshaken ging vorbei. Ich stand wieder und tänzelte rückwärts um ihn herum. Der dumme Bastard konnte einfach nicht boxen. Ich würde ihm keine zweite Chance geben. Er schlug immer wieder daneben, und ich merkte, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmte. Sein Atem rasselte, seine Brust ging wie wild auf und ab, und seine Schläge hatten an Kraft verloren. Ich schoß heran und schlug ihm so hart wie möglich mit beiden Fäusten auf die Stelle unter dem Herz. Er nahm mich in den Clinch, hatte aber kaum mehr Kraft und lehnte sich schwer auf mich. Seine Handschuhe gingen an meiner Hüfte auf und ab. Mit dem Daumen mußte er sich im Gummizug meiner Boxhose verfangen haben, denn plötzlich rutschte sie mir über die Hüfte bis zu den Knöcheln. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Nach hinten konnte ich nicht weg, und seine Umklammerung machte mir sowieso jede Bewegung unmöglich. Also blieb ich einfach stehen und schlug immer wieder zu, den nackten Hintern dem Publikum zugewandt. Dann versetzte er mir einen verzweifelten Stoß, ich stolperte über meine Hose und fiel hin. Ich versuchte die Hose mit den Boxhandschuhen wieder hochzuziehen, natürlich ohne Erfolg. Das Publikum lachte sich halb tot, und Killer Kroon stand, die Fäuste auf die Knie gestützt, über mir und ließ den Kopf hängen. Er röchelte und keuchte und schnappte nach Luft. »Kein Niederschlag!« rief Meneer de Klerk. »Zurück in deine Ecke, Kroon!« Er packte mich am Handgelenk, half mir auf die Beine und zog mir dann die Hose hoch. Ich hatte meinen Piephahn mit den Handschuhen zugedeckt. Damals trug niemand Unterhosen, und alle hatten meinen nackten Hintern gesehen. Aber es war mir verdammt egal, das einzige, was zählte, war, daß ich mit Killer
Kroon im Ring stand. Ich wäre notfalls auch nackt gegen ihn angetreten. Meneer de Klerk wischte meine Handschuhe an seinen Hosen ab. »Boxt weiter«, sagte er. Ich schaute zu Kroon hinüber. Er stand mit dem Rücken zu mir und schnappte immer noch nach Luft. Plötzlich flog ein Handtuch über seinen Kopf und landete vor meinen Füßen. Kroons Sekundanten hatten das Handtuch geworfen, der Kampf war beendet! Meneer de Klerk trat schnell zu mir, packte meine Hand und hielt sie grinsend hoch. »Gewinner durch technischen K.o., Gentleman Peekay!« verkündete er. Das Publikum erhob sich schreiend und johlend zum zweiten Mal, und Lieutenant Smit und Klipkop kamen in den Ring. Klipkop hob mich hoch, hielt mich über seinen Kopf und drehte sich um seine eigene Achse. Das Publikum raste. Meneer de Klerk war in Kroons Ecke gegangen und kam jetzt in die Mitte des Rings zurück. Er bat mit erhobener Hand um Ruhe. Der Zeitnehmer läutete die Glocke, bis die Menge sich beruhigt hatte. Klipkop setzte mich wieder ab. »Die Mannschaft von Lydenburg hat mich gebeten bekanntzugeben, daß Martinus Kroon wegen eines Asthmaanfalls aufgegeben hat.« Ein Teil des Publikums buhte, und es wurde gelacht. »War wohl eher ein rooniek-Anfall!« rief jemand. Der kahlköpfige Ringrichter hob wieder die Hand. »Gentleman Peekay hat die ersten zwei Runden glatt gewonnen, und auch in der dritten Runde hat er mehr Punkte gemacht als Kroon. Aber es bleibt beim technischen K.o. Lassen Sie mich noch sagen, dieser Junge wird ein großer Boxer, behalten Sie in Erinnerung, wo Sie ihn zum ersten Mal gesehen haben.« Die Menge pfiff, trampelte und johlte, und Lieutenant Smit hielt meine Hand hoch. Dann verließen wir den Ring. Doc weinte, und ich mußte mich hinsetzen und seine Hand halten, dann gingen wir zusammen zum Duschraum. Aber vorher teilten wir uns noch die beiden letzten Kürbisplätzchen. »Ich glaube, daß Geel Piet und die ganze Mannschaft heute abend sehr glücklich sind«, sagte Doc, als er mir ein Handtuch reichte. »Soll ich dir eine Limonade holen? Welche Farbe willst du?« »Aber wir haben doch kein Geld«, sagte ich. »Das glaubst du, Mister Schlauberger!« Doc griff in die Tasche seines weißen Leinenanzuges und zog ein paar Münzen heraus. »Fünf Schilling! Wo haben Sie das her?« fragte ich erstaunt.
Er grinste schüchtern. »Ich hab mit einem netten Mann aus Lydenburg eine Wette abgeschlossen.« »Eine Wette! Sie haben auf mich gewettet? Und wenn ich verloren hätte? Dann hätten Sie kein Geld gehabt, um ihn zu bezahlen.« Doc steckte die Münzen in die Jackentasche und kratzte sich mit dem Zeigefinger an der Nase. »Du konntest gar nicht verlieren, du hast Mozart gespielt!« sagte er. Ich wünschte mir ein American Cream Soda. Das hatte mir Hoppie im Cafe in Gravelotte gekauft, nachdem wir die Schuhe in Pateis Laden umgetauscht hatten, und es war immer noch mein Lieblingsgetränk. Es war auch die beste Möglichkeit, um meinen Sieg mit Hoppie zu feiern. Ich wünschte mir, Geel Piet und Hoppie hätten dabeisein können, dann war alles einfach perfekt gewesen. Nicht daß es so nicht auch perfekt war, aber dann war es noch perfekter gewesen.
14 Vor dem letzten Kampf des Abends hatten die Barberton Blues fünf der acht Finalkämpfe gewonnen, und nur der Schwergewichtskampf stand noch aus. Natürlich war das der Kampf, auf den sich das Publikum am meisten freute, und es wurde nicht enttäuscht. Gert mußte gegen einen Riesen namens Potgieter antreten, einen Eisenbahner aus Kaapmuiden, der zwei Meter sechs groß war und hunderteinunddreißig Kilo wog. Gert war kein Leichtgewicht und wog bei einsfünfundachtzig hundert Kilo. Potgieter boxte besser, als es zuerst aussah, und nahm Gert in der ersten Runde zweimal in den Clinch, aber Gert gewann die Runde, weil er mehr saubere Schläge hatte. In der Schwer gewichtsklasse bedeutete ein Knockdown nicht das Ende des Kampfes, und in der zweiten Runde landete Potgieter, der punktmäßig weit zurücklag, bei Gert einen fürchterlichen Aufwärtshaken unter dem Herz, und Gert klappte wie eine Matratze zusammen und fiel zu Boden. Die Glocke läutete, als der Ringrichter ihn anzählte, aber es sah nicht gut für ihn aus. Aber er trat doch zur letzten Runde an und begann, Potgieter
regelrecht zu verprügeln. Der große Mann wußte, daß er punktmäßig weit zurücklag, und gab seine Verteidigung auf. Er vertraute darauf, daß er alles wegstecken könnte, was Gert austeilte. Und Gert teilte eine Menge aus, das Gesicht des Riesen war blutig. Ein Auge war völlig zugeschwollen. Ein groteskes Lächeln stand während des Kampfes in seinem Gesicht, und die Vorderzähne fehlten in seinem Mund. Gerts Linke und Rechte schlugen wie Kolben in ein Gesicht, das schonungslos immer weiter auf ihn zukam. Potgieter kam immer näher heran und schaffte es schließlich, Gert in eine Ecke zu drängen. Der Aufwärtshaken kam wie in Zeitlupe und traf Gert auf der Kinnspitze. Der Wärter war ohnmächtig, noch bevor er zusammenbrach, und wir dachten, er sei tot. Der Ringrichter zählte ihn aus, und Klipkop und Lieutenant Smit hoben dert ohnmächtigen Mann hoch und trugen ihn in seine Ecke. Gert hatte wie immer mit zuviel Herz und mit zuwenig Verstand gekämpft. Wenn er nur besser über Mozart Bescheid gewußt hätte! Nach zehn Uhr fuhren wir aus Nelspruit weg. Wir Kinder drängelten uns hinten auf der Ladefläche zusammen und wickelten uns in zwei grobe Gefängnisdecken. Der Indigohimmel war mit glänzenden kalten Sternen besetzt. Wir hatten unsere restliche Energie dazu benutzt, uns selbst und die glorreichen Barberton Blues ausführlich zu loben, und jetzt waren wir still und schläfrig. Diesmal fuhr Klipkop, denn Gert war nicht in bester Form und war im Chevrolet von Lieutenant Smit nach Hause gefahren. Kurz vor Mitternacht hielt der Laster vor unserem Haus. Alles war dunkel. Ich ging ums Haus herum, weil die Küchentür niemals abgeschlossen wurde. Ein Kerzenstummel brannte auf dem Küchentisch, und auf dem Boden lagen Dum und Dee, beide in eine Decke gehüllt. Ich versuchte auf Zehenspitzen an ihnen vorbeizuschleichen, aber sie schossen hoch, saßen da wie zwei zum Leben erweckte ägyptische Mumien, mit angstvoll aufgerissenen Augen. Sie waren froh, daß ich wieder da war, und knipsten das Licht an, um mich zu untersuchen. Als sie mein geschwollenes Ohr entdeckten, brachen sie in Tränen aus, und es war nicht leicht, sie wieder zu beruhigen. Als ich ihnen sagte, daß ich gewonnen hatte, schienen sie sich nicht besonders zu freuen. Sie machten sich wie zwei alte abafazi am Kochtopf zu schaffen. Schon im Morgengrauen waren sie aufgestanden, um Kräuter für eine warme Packung zu sammeln.
Die wollten sie mir jetzt auf meine blauen Flecken legen, mit denen mein Körper bestimmt übersät sei. Ich konnte vor Müdigkeit kaum noch stehen. Trotz meiner Proteste setzte mich Dum auf einen Stuhl und wusch mir mit warmem Wasser das Gesicht, die Hände und Füße. Dee trocknete mich mit einem Handtuch ab, und dann durfte ich endlich ins Bett. Am nächsten Morgen sah Pastor Mulvery in der Sonntagsschule mein geschwollenes Ohr und schenkte mir ein blitzschnelles Lächeln und zeigte seine fluchtbereiten Vorderzähne. »Hast du wieder auf den Teufel gehört, Peekay?« Er wieherte über seinen eigenen Witz und erzählte ihn später bestimmt dem Herrn. Er sagte immer, daß man dem Herrn alles erzählen müsse. Wieder blieb ich ungerettet und wurde nicht wiedergeboren, obwohl jede Frau in der Kirche wußte, daß meine Mutter große Sorgen mit mir hatte und Tag und Nacht für mich betete. Wenn sie gewußt hätten, was im Gefängnis vor sich geht, hätten sie bestimmt eine Wiedergeburtskampagne gestartet, um mich zum Herrn zurückzuführen. Einmal fragte ich in der Sonntagsschule, ob Schwarze im Himmel genausoviel wert seien wie Weiße. Die Sonntagslehrerin, eine Dame mit großen Brüsten und einer spitzen Nase namens Mrs. Kostler, unterbrach sich mitten in der Antwort selbst und bat eines der Kinder, Pastor Mulvery zu holen. »Nicht genausoviel, aber das stimmt auch nicht genau«, sagte Pastor Mulvery, blätterte dann in Mrs. Kostlers Bibel und las vor: »>Im Hause meines Vaters sind viele Wohnstätten, dort richte ich euch eine Wohnung ein.<« Er legte die Bibel zur Seite. »Mit diesem Gleichnis meint der Herr, daß er alle Menschen liebt, aber auch sieht, daß es Unterschiede wie schwarz und weiß gibt. Also gibt es im Himmel Wohnungen für schwarze Engel und Wohnungen für weiße Engel«, sagte er selbstzufrieden. Ich sah, daß er sehr mit seiner Antwort zufrieden war. Ein Mädchen namens Zoe Prinsloo fragte: »Heißt das, daß wir nicht mit schmutzigen Kaffern zusammen wohnen müssen?« »Aber Zoe!« schrie Mrs. Kostler, »im Himmel ist niemand schmutzig, nicht einmal Kaffern!« »Arbeiten sie denn im Himmel noch für uns?« fragte ich. Mrs. Kostler schaute Pastor Mulvery hilfesuchend an. »Natürlich nicht, niemand arbeitet im Himmel«, sagte er etwas ungeduldig.
»Wenn im Himmel niemand schmutzig ist und niemand arbeitet und schwarz und weiß gleich sind, warum können sie dann nicht im selben Haus wie wir leben?« Pastor Mulvery seufzte tief. »Weil sie schwarz sind und das nicht richtig wäre, sonst nichts. Der Herr weiß mehr als wir, mein Sohn. Wir dürfen die Wahrheit des Herrn nicht in Frage stellen. Wenn du erst einmal wiedergeboren bist, dann verstehst du seine unermeßliche Weisheit und wirst nicht mehr solche dummen Fragen stellen.« Ich wußte, daß Mrs. Kostler alles den Frauen bei der nächsten Gebetsstunde erzählen würde und ich mich auf eine weitere Sitzung mit meiner Mutter einstellen konnte. Es war nicht einfach, ein Sünder zu sein. Sie würde mich in mein Zimmer schicken und sich auf mein Bett setzen und erst mal ziemlich lange seufzen. Dann würde sie sagen: »Ich bin sehr enttäuscht von dir, mein Sohn. Mrs. Kostler sagt, daß du das Wort Gottes in Frage stellst. Warum verspottest du den Herrn? Du bist nicht zu jung für seinen Zorn. >Niemand darf mich verspotten<, spricht der Herr. Ich bete jeden Tag für deine Seele, aber du verhärtest dein Herz, und eines Tages wird dir der Herr nicht mehr seine Gnade und seine Vergebung schenken, und du wirst verdammt sein.« Dann würde sie noch ein paarmal seufzen. Die Seufzer setzten mir am meisten zu, ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ihr solche Sorgen zu machen. Aber ich wußte auch nicht, wie ich das ändern sollte. Es war das Normalste von der Welt für mich, Fragen zu stellen. Doc forderte mich sogar dazu auf und hatte mir beigebracht, immer nach der Wahrheit zu forschen. Alles in Frage zu stellen, was unlogisch war oder dem gesunden Menschenverstand widersprach, war genauso normal für mich, wie auf Bäume zu klettern. Ich war ein Detektiv, der immer und überall nach der Wahrheit suchte, und war ich erst einmal einer Ungereimtheit in der Bibel auf der Spur, konnte ich unmöglich einen Widerspruch durchgehen lassen oder eine Behauptung unwidersprochen hinnehmen. Ich würde um Verzeihung bitten und mich einverstanden erklären, mich bei Mrs. Kostler oder wen ich sonst noch verletzt hatte zu entschuldigen. Aber es war niemals genug. Meine Mutter verlangte eine ganze Entschuldigungsorgie. Sie wollte, daß ich meine Sünden bereute, meine Ansichten änderte und
den Herrn auf Knien um Vergebung bäte. Das konnte ich nicht, und dadurch verstärkte ich ihre Enttäuschung. Ich mußte in meinem Zimmer bleiben und ohne Essen zu Bett gehen. Für diese Fälle hatte ich immer ein Stück biltong unter meiner Matratze versteckt. Marie brachte diese Stücke getrocknetes Rehfleisch oft von zu Hause mit, und Dee und Dum und ich waren die einzigen, die es essen konnten, weil wir als einzige noch unsere eigenen Zähne hatten. Ich saß im Bett und las und schnitt mir mit meinem Joseph-Rogers-Taschenmesser köstliche Stücke sonnengetrocknetes Fleisch ab. Das Messer gehörte in Wirklichkeit Doc, aber er hatte es mir in Verwahrung gegeben. Marie hatte sich in die Dienste des Herrn begeben und machte in gewissem Sinn meine Widerspenstigkeit wieder gut. Verlorene Schäflein einzufangen war für diese Sekte wie die Jagd der Indianer nach einem Skalp. Manchmal gelang ihnen ein richtig großer Coup, wenn ein stadtbekannter Trunkenbold oder ein Hurenbock oder ein Kettenraucher dazu gebracht wurde, zitternd vor dem Herrn niederzuknien. Ich muß zugeben, es war ziemlich beeindruckend, wenn ein bußfertiger Trinker gerettet wurde. An einem Tag wechselte man die Straßenseite, um ihm nicht zu begegnen, und am nächsten Tag, nachdem er wiedergeboren war, wurde er Bruder genannt, man schüttelte ihm warmherzig die Hand, und er wurde von allen geliebt. Aber manchmal reichte die Wiedergeburt nicht aus, und die Person, die so sehr geliebt wurde, wurde rückfällig. Ein Rückfall war das Schlimmste, was in der Apostolischen Glaubensmission passieren konnte. Es bedeutete, daß all die spontane Liebe an ihn verschwendet worden war und daß der Teufel gewonnen hatte. Wohlgemerkt wurde das stets als zeitweiliger Rückschlag angesehen. Für die Wiedergeborenen ersetzte die Fleischeslust, so verführerisch sie auch sein mochte, niemals das Versprechen des Ewigen Lebens. Wenn man wiedergeboren war und dann rückfällig wurde, setzte man die ganze herrliche Verheißung aufs Spiel, die da hieß: »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Die Wiedergeborenen Christen arbeiteten alle sehr hart für ihre feinsäuberlich voneinander getrennten Heimstätten im Himmel.
Ich glaube, daß ich Gewinner und Verlierer instinktiv erkannte, und ich hatte das Gefühl, daß die Mitglieder der Apostolischen Glaubensmission meistens auf der Verliererseite waren. Und das schienen sie geradezu zu genießen. »Gelobt seien die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich.« Ein bekehrter Trinker oder ein Sünder, der seinen Ehebruch zugegeben hatte, war ein so offensichtlicher Verlierer, daß er der Gemeinschaft ganz selbstverständlich zufiel. Deshalb war das Rückfälligwerden ein um so schwereres Vergehen, und es wurde viel Arbeit investiert, um den verlorenen Sohn zum Herrn zurückzubringen. Die Gewinne waren ganz schön hoch. Wenn man eine verlorene Seele zum Herrn zurückbrachte, gewann man laut Pastor Mulvery ein schönes Anwesen im Himmel. Mindestens ein zweistöckiges Missionszentrum, umgeben von Grünanlagen und Bäumen, wohin der Wind das Glissando der Harfen trägt. Das war eine wesentlich angenehmere Aussicht als das Höllenfeuer und die gräßlichen Klagen der Verdammten. Für die Trinker, die klug genug waren, in die Sekte einzutreten und dann rückfällig zu werden, war die Apostolische Glaubensmission eine Art Entzugsklinik, in der sie von Zeit zu Zeit Liebe und Aufmunterung, frische Kleider und alles für einen Neuanfang bekamen. So richtig tränenreiche Rückfallbekenntnisse füllten die Kirche und Pastor Mulverys Klingelbeutel. Zehn Mitglieder steckten mehr Arbeit in einen einzelnen schweren Sünder als in jemand wie Marie, die als makelloses Unschuldslamm zu ihnen gekommen war und kaum ein Halleluja wert war. Maries großer Augenblick kam erst später, als sie in der Gemeinde berichtete, daß sie einen neunundachtzig Jahre alten Buren auf seinem Totenbett zum Herrn zurückgeführt habe. Sie erzählte, wie groß seine Todesangst gewesen sei, und daß er nach seiner Bekehrung friedlich die Augen geschlossen und mit einem sanften Seufzer auf den Lippen die Welt verlassen habe, um zu seinem Schöpfer heimzugehen. Ich hatte bei mir gedacht, daß das eine fast perfekte Lösung sei. Der alte Mann war sein Leben lang ein Sünder gewesen und war im letztmöglichen Augenblick von einem pickelgesichtigen Mädchen mit einem Herzen voll Liebe und Mitgefühl den Klauen der Hölle entrissen worden. Ich überlegte mir kurz, ob er dadurch in den Genuß eines vollständigen himmlischen Hauses oder nur in den eine
Gartenhütte mitten in Maries Garten käme. Wie auch immer, die Reaktion der Gemeinde war phantastisch. Verlorene Seelen vom Rande des Höllenschlundes zurückzureißen, stand ganz oben auf der Liste wichtiger Bekehrungstaten, und Marie war ab sofort kein süßes Mädchen mehr, sondern ein fähiger und findiger Soldat in der Armee des Herrn. Genau wie ich hielten Dum und Dee sich raus, wohl auch, weil ihnen die Sache nicht ganz klar war. Ihr wirklicher Status wurde nie bekannt. Ihre Wiedergeburt war von meiner Mutter praktisch befohlen worden, und natürlich hatten sie eingewilligt. Meine Mutter gab ihnen eine Shangaanbibel, aber es war mein Job, ihnen das Lesen beizubringen. Wir hatten uns mehr auf das Alte Testament beschränkt, auf die Geschichten von Kriegern, Hungersnöten und Dürrezeiten, die ihnen sehr gut gefielen. Ihre Lieblingsgeschichte war die von Ruth, die auf dem abgeernteten Kornfeld noch alle vergessenen Ähren aufsammeln wollte, damit sie ihre Familie ernähren konnte. Die Geschichte, daß ein weißer Mann kam, allen ihre Sünden vergab und zum Dank dafür ans Kreuz geschlagen wurde, kam ihnen hochgradig unglaubwürdig vor. Dum betonte, daß weiße Männer niemals Sünden vergäben und daß sie einen nur dafür bestraften, ganz besonders wenn man schwarz war. Die Tatsache, daß er die Sünden der Schwarzen auf sich genommen hatte und sogar dafür gekreuzigt worden war, bewies ihnen nur, daß er verrückt gewesen sein mußte. Dee fragte dann, warum die Weißen die Schwarzen immer bestraften, wenn Jesus schon für die Sünden der Schwarzen gestorben war. Ich fand das auch sehr merkwürdig. Im Alten Testament fühlten wir uns viel eher zu Hause, da gab es Medizinmänner wie Elias und große Anführer wie Moses und mutige Generale wie Joshua. Meine Mutter führte neben Marie und Dee und Dum noch weitere Seelen auf ihrer persönlichen Wiedergeborenenliste. Jeden Mittwoch nachmittag hörte sie auf zu nähen und ging mit einer Bibel und einer Tasche voller Traktate ins Krankenhaus. Die Traktate hatten Überschriften wie: »Dem sicheren Höllenfeuer entrissene Sünder« und »Der Mann, der mit Gott über die Sünde sprach« und »Erlösung: Gottes kostbares Versprechen«. Das Traktat, das, wie sie sagte, wie eine Bombe im Krankenhaus einschlug, hieß: »Die Hölle ist nur einen Augenblick entfernt«. Nach meiner Entlassung aus
dem Krankenhaus hatte sie Pastor Mulverys Platz eingenommen, und von Zeit zu Zeit fand sie Sünder, die unter ihren gestärkten Bettlaken hervorschauten und bereit waren, gerettet zu werden. Die meisten hatten gerade eine Hysterektomie oder eine Gallenblasenoperation hinter sich und waren reif dafür, weich geklopft zu werden. Meine Mutter erkundigte sich zuerst nach der Operation. Sie war eine Expertin, vielleicht sogar Weltmeister in Operationen. Sie schien alle wesentlichen Operationen durchgemacht zu haben, mit der eine Frau rechnen kann, und einige andere dazu, um ihre Erfahrungen abzurunden. Schon bei der Andeutung eines medizinischen Problems konnte sie alle Details einer Operation von den ersten winzigen Andeutungen von Schmerz bis hin zur postoperativen Depression genauestens schildern. Meine Begabung, mich an jedes Detail eines Kampfes genau zu erinnern, mußte ich von ihr haben, denn sie konnte das gleiche bei Operationen. Sie wußte sogar über das Bescheid, was während der Narkose geschehen war. Nachdem sie wußte, wie lange der Sünder voraussichtlich im Krankenhaus bleiben würde und deshalb gezwungen war, ihr zuzuhören, begann sie mit dem spirituellen Bombardement, und Marie erledigte die Nachbehandlung im Namen des Herrn und stärkte die christliche Gesinnung des Sünders bis zum nächsten Mittwochnachmittagsbesuch meiner Mutter. Sie teilten sich die geretteten Seelen und legten häufig beim Treffen am Sonntag morgen gemeinsam Zeugnis darüber ab, eingehüllt in die Wärme der spirituellen Liebe der Gemeinde. Der Herr hatte in den beiden eine echte Sturmtruppe. Pastor Mulvery nannte sie »Schwestern der Erlösung« und fügte hinzu, daß der Herr sie auf eine ganz besondere Weise berührt habe. Marie war immer noch sehr besorgt wegen ihrer Pickel. Eines Tages sagte meine Mutter, genug sei genug, wenn der Herr sich um jeden Spatzen kümmere, der vom Himmel fiel, dann könne er sich auch Maries Pickel annehmen. Die beiden fielen auf die Knie und baten den Herrn, den Pickeldämon auszutreiben. Zu meiner großen Überraschung tat er das. Ein Jahr später war Maries Gesicht glatt wie ein Babypopo, und sie entpuppte sich nebenbei als ziemlich hübsches Mädchen. Als sie darüber Zeugnis ablegten, weinte Marie vor Glück und ruinierte ihre neugefundene Schönheit, und meine Mutter erzählte die dramatische Geschichte der wunderbaren Pik-
kelheilung. Pastor Mulvery gab anschließend eine hübsche kleine Zusammenfassung und strich heraus, daß der Herr nicht erst im Himmel belohnt, wenn der große Zahltag gekommen sei, sondern manchmal auch schon auf Erden, und als Beweis dafür deutete er auf Maries glatte Gesichtshaut. Der Glaube meiner Mutter und ihre und Maries Arbeit für den Herrn war von ihm persönlich belohnt worden. Als ich das erstemal Doc gegenüber die Gebetskampagne gegen Maries Pickel erwähnt hatte, hatte er vorgeschlagen, ich solle ihr raten, viel Salat zu essen, kein Fett und nur zweimal in der Woche mageres Fleisch. Marie versuchte es, fand es besser als das schwere Krankenhausessen und blieb gewissenhaft bei dieser Diät. Als ich ihm von der wunderbaren Pickelheilung erzählte, meinte er, daß manche Sachen zu geheimnisvoll seien, um mit Worten ausgedrückt werden zu können. Ich dachte viel darüber nach und kam schließlich auf den Zusammenhang zwischen der Diät und der Gebetskur und fragte ihn, warum er nicht die Möglichkeit erwähnt habe, daß Marie die Pickel durch die Diät losgeworden sei. »Peekay«, sagte er, »in dieser Welt kann man nur wenig ausschließlich mit Hilfe der Logik erklären. Es ist unlogisch, wenn ein Mensch zu logisch ist. Manche Sachen müssen wir einfach hinnehmen. Das Geheimnis ist wichtiger, als alles erklären zu wollen.« Er war einen Augenblick lang still und tippte dann mit den Fingern auf den Rand der Tasten. »Wer auf der Suche nach der Wahrheit ist, muß auch mit dem Herzen auf der Suche sein. Nur Kleingeister verlassen sich allein auf die Logik. Die Wahrheit ist nur die Summe dessen, was du weißt, während ein harmloses Geheimnis das Leben sehr viel mehr bereichert. Wenn eine Wahrheit nicht so wichtig ist, dann bleibt sie besser ein Geheimnis.« Diese Antwort verwirrte mich einige Jahre, denn bisher war Doc immer auf der Seite der Wahrheit gewesen, um jeden Preis. Geel Piet hatte nicht erwartet, daß ich das Finale in Nelspruit gewinnen würde. Er hatte höchstens gehofft, daß ich ins Halbfinale kommen würde. Beim Training am Montag morgen freute er sich ungeheuer. »Die Leute sind sehr glücklich. Seit wir's gehört haben, wird über nichts anderes mehr gesprochen, Mann. Die Zulus sagen, du seist bestimmt ein Zuluhäuptling in Gestalt eines weißen Mannes, weil nur ein Zulu so mutig sein kann.« Er lachte. »Als wir es
gehört haben, hat jeder, der einen hatte, einen stompie geraucht, und die Wärter haben es nicht geschafft, daß die Gefangenen in der Nacht zu singen aufhörten.« Tatsächlich erzählte einer der Wärter Doc und mir Montag morgen beim Frühstück, daß am Samstag abend eine komische Stimmung im Gefängnis geherrscht hatte und dienstfreie Kollegen alarmiert worden wären. Er sagte, daß etwa um sieben Uhr abends, noch bevor einer der Wärter die Ergebnisse des Kampfes gekannt hätte, ihm ein Häftling gesagt habe, daß ich gewonnen hätte. Offiziell hatte er es erst nach Mitternacht bei der Rückkehr von Lieutenant Smits erfahren. »Wragdig, Mann. Kaffern sind in dieser Hinsicht sehr komisch. Manchmal wissen sie Sachen einfach, ohne Telefon oder sonst was. Ich habe das schon in Pollsmoor erlebt, als ein politischer Gefangener gehängt werden sollte. Die Entscheidung wird nicht einmal im Gefängnis getroffen, aber die wissen das schon, bevor der Gefängnisdirektor davon erfährt. Ein alter Knastbruder sagte mir einmal, daß alle zusammen ihre Energie aussenden, wenn sie etwas herausfinden wollen. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, aber die wissen es verdammt genau.« Während meiner Klavierstunde am Montag erfand Doc für Geel Piet eine Entschuldigung, damit er in die Halle kommen durfte. Ich wiederholte ihm die drei Kämpfe Schlag für Schlag. Er lachte sich halb tot, als ich ihm erzählte, daß meine Hose heruntergerutscht war. Ich fügte hinzu, daß ich meine Mutter bitten würde, mir die Hose zu kürzen und den Gummi enger zu machen. Geel Piet wußte, warum Killer Kroon einen Asthmaanfall bekommen hatte. »Er ist nicht daran gewöhnt, drei Runden zu boxen. Vielleicht hat er noch nie im Leben drei Runden geboxt, weil er immer vorher einen technischen K. o. bekommen hat. Dann kommst du daher, und er muß dich die ganze Zeit jagen, Mann, und du schlägst ihn immer wieder unters Herz. Also was glaubst du, was passiert? Er muß immer schwerer atmen, Mann, und durch die Anstrengung kriegt er einen Asthmaanfall. Ich hatte eine Tante in Kapstadt, die nicht einmal ein paar Stufen hochgehen konnte, ohne einen Asthmaanfall zu kriegen. Ich sag dir, das ist die Wahrheit, Mann. Du hast seinen schwachen Punkt gefunden, und da drauf bist du losgegangen.« An diesem Morgen hielt Lieutenant Smit uns allen eine kurze Ansprache. »Ich bin stolz auf euch alle, wirklich. Kein Boxer hat uns
Schande bereitet, auch die, die verloren haben, haben gut gekämpft.« Er wandte sich an Klipkop. »Warte, bis dieser Potgieter Profi ist, Mann, ich sag dir, dann bringst du ihn in Schwierigkeiten.« »Er soll nur kommen«, murmelte Klipkop. »Gert, du hast es gut gemacht. Du hast ihm jeden Schlag zehnfach zurückgegeben, aber hundert Kilo sind einfach keine hundertdreißig Kilo. Dieser Riesenaffe gehört in den Urwald.« Wir lachten alle, und dann sagte er: »Ich hab mir die Kleinsten bis zum Schluß aufgehoben. Das Finale der Unter-Zwölfjährigen war der beste Boxkampf, den ich jemals gesehn hab.« Fonnie Kruger boxte mich in die Rippen, und ich wußte nicht, was ich mit meinem roten Kopf anfangen sollte. »Nein, ganz ehrlich, wenn ihr was übers Boxen lernen wollt, dann schaut Peekay zu.« Er machte eine Pause und sah dann direkt zu Geel Piet, der zwanzig Schritte hinter uns stand. »Geel Piet, du bist zwar ein gelber Kaffer, aber ich muß es sagen, du bist ein guter Trainer.« Wir schauten uns alle um und sahen, daß Geel Piet sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte und von einem Fuß auf den anderen sprang, als ob er auf heißen Kohlen stünde. »Glaub aber nicht, daß du jetzt frech werden darfst, verstanden?« sagte Lieutenant Smit. Aber seine Stimme klang vergnügt. Geel Piet wischte sich mit den Händen übers Gesicht, als ob er damit auch den darunter versteckten Gesichtsausdruck wegwischen wolle. »Nein, Baas, vielen Dank, Baas. Dieser gelbe Kaffer ist ein sehr glücklicher Mann, Baas.« Der Gefängnisfotograf kam in die Turnhalle, und Lieutenant Smit verkündete, daß wir fotografiert werden sollten, daß uns aber nicht unsere Fingerabdrücke abgenommen würden. Wir lachten alle, und der Fotograf stellte uns auf und machte einen ziemlichen Wirbel, bis alles so war, wie er es haben wollte. Als er knipste, gab es eine Lichtexplosion, und dann sagte er, daß er zur Sicherheit noch ein Bild machen wolle. Doc kam herein, und Lieutenant Smit schaute sich um. »Kommen Sie, Professor, kommen Sie her.« Und dann wandte er sich zur Überraschung aller an Geel Piet. »Du auch, Kaffer«, sagte er schroff. Klipkop trat aus der Gruppe heraus. »Unmöglich, Mann! Ich will auf keinem Bild mit 'nem verdammten Kaffern sein!« Lieutenant Smit legte die geballte Faust an den Mund und pfiff hinein. »Das ist
okay, Sergeant Oudendaal«, sagte er freundlich. »Will noch jemand nicht auf dem Foto drauf sein?« Geel Piet trat zur Seite. »Ich bin zu häßlich für 'nen schönen Schnappschuß, Baas«, grinste er. »Komm zurück, Kaffer!« befahl Lieutenant Smit. Geel Piet trat wieder in die Reihe, woraufhin alle erwachsenen Boxer mit Ausnahme von Gert und dann auch Bokkie de Beer und die anderen Jungen die Gruppe verließen. Ich sah, daß sie Angst hatten. Nur Doc, Gert, Geel Piet und ich blieben übrig, und Lieutenant Smit trat dazu. »Okay, Mann, machen Sie das Foto!« befahl er. Der Fotograf schoß das Foto in genau dem Augenblick, in dem ich begriff, daß Rassismus eine der Hauptkräfte des Bösen ist, dazu geschaffen, gute Menschen zu zerstören. Wir alle bekamen eine 25x20 Zentimeter große Fotografie von den Barberton Blues, und der Fotograf gab Doc, Gert und mir auch einen Abzug des zweiten Fotos. Der Lieutenant nahm seinen Abzug nicht an. Ich bat den Fotografen darum und gab ihn Geel Piet. Er verwahrte ihn im Klavierschemel und schaute sich das Foto jeden Tag an, wenn er die Post für die Häftlinge abholte. Einige Wochen später wurde Lieutenant Smit zum Captain befördert, und es gab Leute, die glaubten, daß er der nächste Gefängnisdirektor würde. Eines Morgens nahm er mich nach dem Training zur Seite und bat mich, ihm das zweite Foto zu geben, und auch den Abzug, den Doc bekommen hatte. Mir blieb nichts übrig als zu gehorchen, und auch Gert gab sein Foto zurück. Lieutenant Smit zerriß die Abzüge, vergaß aber das Foto, das er selbst nicht angenommen hatte. Er bekam die Platte vom Gefängnisfotografen und zerstörte sie ebenfalls. Ein Mann, der Karriere machen will, kann nicht vorsichtig genug sein. Bei Doc und Mrs. Boxall war meine Erziehung in guten Händen. Mrs. Boxall wechselte Briefe mit Doc, und die beiden entschieden, was ich lesen sollte. Sie kannte sich gut in der englischen Literatur aus, er in den Wissenschaften, in Musik und Latein. Die Bibliothek von Barberton hatte außer Docs botanischer Sammlung zwei sehr gute private Bibliotheken gestiftet bekommen, und Mrs. Boxall sagte, daß ausreichend intellektuelles Futter für einen Jugendlichen da sei. Sowohl Doc als auch Mrs. Boxall waren von Natur aus gute Lehrer und Enthusiasten, die niemals die Geduld verloren, wenn ich
nicht gleich alles verstand. Doc stellte mir Aufgaben, und Mrs. Boxall überwachte die Lösung in der Bibliothek. Ich hatte jeden Dienstag und jeden Freitag ein kleines Examen und genoß die Zeit, die ich mit Mrs. Boxall verbrachte, die Doc oft in bestimmten Dingen heftig widersprach. Ich trug die schriftlich ausgetauschten Debatten hin und her, und manche intellektuelle Auseinandersetzung dauerte wochenlang. Ich wurde niemals ausgeschlossen und lernte dabei Streitgespräche schätzen und wie wichtig es war, eine Meinung zu haben, die man verteidigen konnte. Wir drei hatten eine Zeitlang Schach gespielt. Doc und Mrs. Boxall hatten je ein Brett, und Gert hatte ein weiteres gemacht, hatte die Schachfiguren in der Gefängniswerkstatt gedreht und die Einlegearbeiten selbst gemacht. Es war nicht so schön wie Docs Ebenholzbrett, aber er sagte, daß es sehr gut aussehe. Die beiden Bretter wurden nebeneinander aufgestellt, auf einem mein Spiel und auf dem anderen Mrs. Boxalls. Jeden Morgen sagte ich Doc, welchen Zug Mrs. Boxall gemacht hatte, er schob die Figur an den richtigen Platz und machte seinen Zug, den ich Mrs. Boxall wiederum mitteilte. Nach jeder Unterrichtsstunde spielten wir zehn Minuten lang. Zuerst schlug mich Doc in dieser Zeit, aber im Lauf der Monate und Jahre dauerte ein Spiel fast eine ganze Woche lang. Ich schlug Doc vier Jahre lang kein einziges Mal, und Mrs. Boxall schaffte es in zwei Jahren nur ein einziges Mal. Es war das Spiel, mit dem der Russe Lenchinakov 1931 den Amerikaner Arnold Green geschlagen hatte, und sie hatte es drei Wochen lang studiert. Sie konnte von Glück reden, daß ihr diese Partie gelang. Bei ihrem achten Zug erkannte Doc, daß sie ganz anders als sonst spielte. »Frag Madame Boxall, wer diesmal für sie spielt!« Aber es war schon zu spät, er war in eine gemeine Falle geraten, die ihm so früh gestellt worden war, daß er ahnungslos hineingetappt war. Als ich ihr sagte, daß Doc sich geschlagen gebe, sprang sie auf und rieb sich grinsend die Hände. »Bei Gott, es fühlt sich wirklich gut an, den aufgeblasenen alten Teutonen zu schlagen«, rief sie aus. »Sag ihm, daß er ein guter Verlierer sein soll, genau wie im Krieg und in der Liebe!« Ich bestand aus zwei Personen, einem kleinen Jungen von fast elf Jahren, der auf Bäume kletterte, mit der Schleuder schoß und Anführer beim klei-lat und anderen Spielen war. Außerdem war ich ein
etwas frühreifes Kind, das die Lehrer in der Schule oft zur Verzweiflung trieb, weil sie mit meinen Antworten nichts anfangen konnten und sie sich schwertaten zuzugeben, daß sie mir nichts mehr beibringen konnten. Sie gaben mir einfach am Ende jedes Schuljahres das beste Zeugnis und fuhren im übrigen mit dem normalen Unterricht fort. Als ich zehn Jahre alt war, kam eine neue Lehrerin namens Miss Bornstein an die Schule. Sie unterrichtete die älteren Kinder und bereitete sie auf den Sprung in die Oberschule vor. Obwohl ich noch zwei Jahre zu jung war, rief sie mich eines Freitagnachmittags nach der Schule in ihr Klassenzimmer. »Hallo, kleiner Peekay, komm herein«, sagte sie, als ich an der Tür klopfte. Sie saß an ihrem Tisch und las in einem Buch. »Guten Tag, Miss«, sagte ich und trat etwas ängstlich ein. Sie schaute auf und lächelte, und in meinem Kopf explodierten Sternchen, als ob Rotznase eine Gerade gegen meine Augen gelandet hätte. Miss Bornstein war die schönste Frau, die ich jemals gesehen hatte. Sie hatte langes schwarzes Haar und große grüne Augen und einen großen, rot angemalten Mund. Ihre Haut war leicht gebräunt und makellos rein. Mit zehn Jahren weiß man noch nichts von Sexualität, aber alles in mir sehnte sich danach, mehr mit dieser wunderschönen Frau zu tun zu haben. Wenn sie lächelte, sah man ihre ebenmäßigen, strahlendweißen Zähne. Sie war zwar nicht so gertenschlank wie die Zigaretten rauchende Lady auf der Uhr im Bahnhofscafe in Tzaneen, aber sie hätte gut Modell für sie stehen können. »Ich habe gehört, daß du ziemlich klug bist, Peekay.« »Nein, Miss«, sagte ich ohne falsche Bescheidenheit. Trotz der Tatsache, daß ich in der Schule für das klügste Kind gehalten wurde, hatten sowohl Doc als auch Mrs. Boxall mich gründlich eines Besseren belehrt. Miss Bornstein fragte mich lateinische Vokabeln und dann lateinische Verben ab. Es war einfach, aber Latein wurde in Südafrika erst in der Highschool unterrichtet, und sie war ziemlich beeindruckt. Dann sollte ich mich an einen Tisch setzen, und sie gab mir das Buch, in dem sie gelesen hatte. »Du hast zehn Minuten Zeit. Löse so viele Aufgaben wie möglich«, sagte sie. Das Buch hatte dreißig Seiten und war voll von kleinen Zeichnungen und Sätzen, in denen einzelne Worte fehlten. Es gab schwie-
rige Fragen, und man mußte aus sieben Antworten die richtige auswählen. Das war Docs persönliches Steckenpferd. Er hatte eine Menge Bücher über Logik und Denken. Miss Bornsteins Buch war für Anfänger, und ich war in weniger als fünf Minuten fertig. Ich mußte warten, und sie kreuzte die richtigen Antworten an. Nach der ersten Seite schaute sie auf, biß auf ihrem Bleistift herum und schlug ihn dann immer wieder laut gegen ihre schönen weißen Zähne. Dann zeigte sie mit dem Stift auf mich und sagte: »Ich würde nicht sagen, daß du dumm bist, Peekay.« Dann blätterte sie bis zur letzten Seite und korrigierte sie. Vermutlich deshalb, weil dies die schwierigeren Aufgaben im Buch waren. Sie schaute wieder auf. »Nein, das würde ich wirklich nicht sagen.« Danach ließ sie mich etwas laut vorlesen, machte ein Diktat mit mir und öffnete dann ihre Tasche und holte ein Schachspiel heraus. »Du fängst an«, sagte sie. Ich machte eine von Docs Lieblingseröffnungen, und sie pfiff durch die Zähne. Nach einer Stunde gab ich mich geschlagen. Doc sagte, das könne man ruhig tun, wenn man das Spiel sowieso verlieren würde. Dann würde der Gegner weniger vorsichtig spielen, und man hätte beim nächsten Mal eine bessere Chance. »Aber mach das nur in einem Freundschaftsspiel«, warnte er. »Schach ist Krieg, und Krieg endet immer mit dem Tod des einen oder anderen Gegners.« Miss Bornstein war verärgert. »Mach das nicht noch einmal!« sagte sie. »Wenn ich Schach spiele, bin ich dein Gegner und will nicht geschont werden, als wäre ich irgendeine dumme Frau!« Ich wurde rot. »Es tut mir leid, Miss«, sagte ich und überlegte mir, was das Wort wohl bedeutete. »Miss Bornstein bitte, Peekay. >Miss< klingt, als wüßtest du's nicht besser. Samantha Bornstein. Wenn du willst, kannst du mich Sam nennen, aber nur außerhalb der Schule. Ich glaube, wir zwei werden uns ziemlich häufig sehen.« Der Gedanke, dieses wunderbare Wesen mit ihrem Vornamen anzusprechen, erschien mir abwegig, und dann auch noch mit einem ganz normalen Jungennamen. Miss Bornstein bedankte sich bei mir, daß ich gekommen war, und sagte, daß ich am Montag in ihre Klasse kommen solle. »Ich hab zwar keine Ahnung, was wir mit dir machen sollen, aber wenigstens bist du ein guter Schachgegner«, sagte sie mit ihrer kehligen Stimme, die mir die Brust einschnürte.
Als ich Doc das am Montag morgen alles erzählt hatte, stellte er mir zwei Fragen. »Sag mal, Peekay, bist du sehr verliebt?« Ich antwortete, daß ich nicht viel über die Liebe wüßte, aber daß ich mich fühlte, als ob ich einen schweren Schlag auf den Kopf bekommen hätte. »Ich glaube, du bist sehr verliebt, Peekay. Mit Frauen kenn ich mich nicht so gut aus, aber ich glaube, es ist klüger, wenn du Madame Boxall nichts davon erzählst. Ich werde drüber nachdenken. Vielleicht kann dir aber auch Geel Piet helfen.« Dabei beließen wir es erst einmal. »Und jetzt die nächste Frage! Spielt Madame Bornstein vielleicht besser Schach als Madame Boxall?« Ich erzählte Doc, daß Miss Bornstein sehr gut Schach spielte, daß sie mich mit großer Wahrscheinlichkeit sofort geschlagen hätte, wenn ich nicht eine seiner raffiniertesten Eröffnungen gespielt hätte. »Sie ist viel klüger als Mrs. Boxall«, faßte ich meinen Eindruck zusammen. »Waaas? Klüger? Das ist gut!« grunzte er und öffnete das Notenheft. Am Ende der Klavierstunde schrieb er etwas auf einen Zettel, faltete ihn zusammen und gab ihn mir. »Bitte gib dies mit schönen Grüßen von mir deiner Madame Bornstein, und bring mir morgen ihre Antwort.« Ich las den Zettel nicht. »Bitte, Doc, sagen Sie ihr nicht, daß ich in sie verliebt bin«, bat ich ihn. Doc sah mich von der Seite an. »Das würde ich niemals tun, Peekay, absoludel. Verliebtsein ist eine sehr private Sache.« Nachdem Lieutenant Smit zum Captain befördert worden war, wurde Sergeant Borman der neue Lieutenant. Obwohl die Beförderung nicht unerwartet kam, freute sich niemand darüber. Borman hatte den Gefängnisdirektor hofiert, seit er aus Pretoria hierhergekommen war. Er ließ durchblicken, daß er nur wegen des Asthmas seiner Frau eine vielversprechende Karriere im Zentralgefängnis von Pretoria aufgegeben hatte, wo man, um als Wärter zu überleben, härter und schlauer sein mußte als hartgesottene Frauenschänder, Schläger, Mörder, Diebe und Betrüger. Er machte die Andeutung, daß ein Wärter unter diesen Umständen genausoviel leisten müsse wie ein Lieutenant in einem kleinen Gefängnis wie in Bar-
berton. Er bewies bei jeder Gelegenheit, daß er härter als irgendeiner der anderen Wärter war. Ein falscher Blick, wenn er vorbeikam, und er geriet in Rage. »Wen schaust du an, Kaffer? Willst frech sein, was?« »Nein, Baas, nein, inkosi, ich nicht schlecht, ich nicht schauen.« »Sag mir nicht, daß du nicht frech bist. Ich weiß, was du denkst, Kaffer! Außen bist du sanft wie Jesus, und innen bist du ein schwarzer Teufel, stimmt's?« »Nein, inkosi. Innen genau wie außen.« »Verdammt, Kaffer. Komm her!« Der Gefangene eilte zu Borman und stand mit gebeugtem Kopf abwartend da. »Sieh mir direkt in die Augen, Kaffer.« »Nein, Baas. Ich nicht schau Sie an.« »Sieh her, du schwarzer Bastard! Wenn ich sage, daß du mich anschauen sollst, dann schau mich an, verstanden?« Der Gefangene blickte dem Sergeant angstvoll in die Augen. »Ja, stimmt, Mann, innen drin ist nichts als Dreck.« Er schlug dem Schwarzen so hart in den Bauch, daß er zusammenklappte. »Steh auf, du schwarzer Bastard, der Dreck muß raus, wir kriegen ihn schon raus!« Dann schlug er dem Gefangenen immer wieder in den Bauch. »Kotz den Dreck raus, bis du innen sauber bist!« Die meisten Afrikaner im lowveld haben Bilharziose. Ein winziger Saugwurm, der in Flüssen lebt, steigt durch die Harnröhre auf und setzt sich in der Leber und in den Nieren fest. Drei oder vier harte Schläge in den Bauch führen zu Erbrechen und großen Schmerzen. Borman sah das Erbrochene auf dem Boden, der Gefangene versuchte mit den Händen, den Mageninhalt zurückzuhalten. »Verdammt! Sieh dir die Schweinerei an! Du hast den schönen sauberen Boden verdreckt!« Der Eselspimmel landete hart auf dem Rücken des Gefangenen. »Du bist ein verdammtes Tier!« Er schlug so lange auf den Gefangenen ein, bis er zusammenbrach. Unnötig Dreck zu machen war im Gefängnis ein Kapitalverbrechen und ermächtigte die Wärter offiziell, vom Eselspimmel Gebrauch zu machen. Borman war sehr stolz darauf, daß er spätestens drei bis vier Minuten, nachdem er begonnen hatte, einen Gefangenen zu verhöhnen, dieses sogenannte Verhör legitimieren konnte. Übersetzt hieß der Name, den die Gefangenen ihm gaben, »Scheiße
statt Hirn«. Wenn er irgendwo in der Nähe war, hörte man den leisen Singsang: »Verzieht euch, verzieht euch. Scheiße statt Hirn kommt. Hier kommt der, dessen Mutter ihr Kind wegwarf, die Plazenta behielt und sie Scheiße statt Hirn nannte.« Lieutenant Borman war zu alt für die Boxmannschaft, aber er sprach oft davon, was für ein großer Boxer er gewesen sei. Gert sagte, daß ein Mann, der immer wieder seine Härte betonte, wahrscheinlich ein Milchbubi sei. Die Wärter konnten Borman zwar nicht leiden, respektierten aber seine Professionalität. Er sprach sehr gut Fanagalo, und da die meisten Gefangenen diese afrikanische Linguafranka beherrschten, konnte er die afrikanische Bildsprache einsetzen, um die Gefangenen in Angst und Schrecken zu versetzen. Immer wieder terrorisierte er einen Gefangenen auf die entsetzlichste Weise, ohne ihm physisch Gewalt anzutun. Wenn es irgendwelche Schwierigkeiten im Gefängnis gab, dann befahl der Direktor Sergeant Borman, sich darum zu kümmern. Da er die Gefangenen sowohl physisch als auch psychisch terrorisieren konnte, hatte sich der Direktor für ihn entschieden, als Lieutenant Smit befördert wurde. Lieutenant Borman war sehr gegen die Freiheiten, deren sich Geel Piet in der Turnhalle unter Captain Smit erfreute. »Gib einem von diesen Knastbrüdern den kleinen Finger, und bevor du dich versiehst, frißt er dir den Arm bis zur Schulter«, sagte er immer wieder. Geel Piet achtete darauf, ihm nicht zu begegnen. Wenn Borman in die Turnhalle kam, verdrückte er sich unauffällig. Lieutenant Borman schaute ihm immer nach, wenn er die Halle verließ. »Er erwischt mich. Irgendwann erwischt er mich. Ich hoff, daß ich den Tag überleb«, sagte der geschundene, kleine, narbige Mann zu mir. Captain Smit sah, daß Geel Piet die Turnhalle verließ, wenn Borman hereinkam, aber er sagte nichts. Borman war weder von Doc noch von mir besonders beeindruckt. Die Freundschaft zwischen Doc, Geel Piet und mir hielt er für eine Schwachstelle des Systems. Da er ein Professioneller war, war er sicher, daß die bei uns ständig praktizierte Unterlaufung der üblichen Gefängnisdisziplin sich jederzeit ausbreiten konnte. Als Sergeant hatte sein Einfluß nicht bis zum Kommandanten gereicht. Aber als Lieutenant hatte er sehr viel mehr Macht. Hätte der Kommandant Doc nicht bis zum Besuch des Gefäng-
nisinspektors bei Laune halten wollen, dann hätte Lieutenant Borman bestimmt gewonnen, und unsere Freiheit im Gefängnis wäre stark eingeschränkt worden. Der Kommandant war ein Mann, der die Dinge ziemlich einfach sah. Doc an seinem Steinway stellte die kulturelle Komponente beim Besuch des Inspektors dar. Ein braaivlies und tickie-draai die Unterhaltung. Ein Boxkampf und ein Wettschießen den Sport. Der Kommandant wollte sich als kultivierter Mann darstellen, der Sinn für Humor hatte und trotzdem auf Disziplin Wert legte. Er hatte nicht vor, sich von Lieutenant Borman seine Pläne durchkreuzen zu lassen. Aber wir wußten, daß Borman warten konnte und kein Erbarmen kannte. Er hatte es darauf angelegt, etwas zu finden, was uns zerstörte. Der Krieg in Europa ging seinem Ende zu. Die Alliierten hatten den Rhein überquert und marschierten Richtung Berlin. Doc war sehr aufgeregt. Nach vier Jahren im Gefängnis sehnte er sich unendlich nach den sanften grünen Hügeln, den windgekämmten Bergen und den bewaldeten Schluchten. Wir unterhielten uns darüber, bis zum Saddleback an der Grenze nach Swasiland zu gehen, und Tränen traten ihm in die Augen. Es war, als ob er es jetzt, wo die Jahre im Gefängnis ihrem Ende zugingen, zum ersten Mal wagte, an die Freiheit zu denken. Er schaute über die Gefängnismauern zu den grünen Hügeln, und seine Stimme zitterte. »Die Jahre des Hasses sind fast vorbei, bald können wir wieder lieben, können mit der Sonne im Rücken auf die Berge steigen, bis wir den Himmel berühren.« Während seiner Gefängniszeit hatte Doc sein zweites Buch über die südafrikanischen Kakteen geschrieben. Es war auf englisch geschrieben, und jede Seite wurde von Mrs. Boxall korrigiert, die schließlich zugeben mußte, daß doch etwas mehr an diesen komischen Kakteen dran war, als sie sich vorgestellt hatte. Doc sprach jetzt immer wieder davon, daß er Fotografien machen wollte, und Mrs. Boxall besuchte Jimmy Winter in der Drogerie und überredete ihn, jeden Monat eine wertvolle, weil rationierte Filmrolle beiseite zu legen, bis sie vier Dutzend Rollen hatte, die sie Doc bei seiner Entlassung geben wollte. Jimmy Winter war Maler, der in seiner Freizeit mit großem Vergnügen Landschaftsbilder malte. Bevor Doc ins Gefängnis kam, hatte er ihn manchmal an einer einsamen Stelle hoch oben auf einem Berg beim Malen angetroffen.
Als die Alliierten den Rhein überquert hatten, passierte in den Klavierstunden nicht mehr viel. Wir sprachen den größten Teil der Stunde über alles, was wir nach Docs Entlassung machen wollten. Er ließ sich von mir den Kaktusgarten und die Größe jeder Pflanze beschreiben. Glücklich sprach er davon, welche Erweiterungen er vornehmen müsse, um die Pflanzen unterzubringen, die wir in den Hügeln finden würden. Und welche Fotos er für sein Buch brauchte. Genau wie ich, hatte es auch Miss Bornstein nie geschafft, Doc im Schach zu schlagen. Deshalb zog sie ihren Großvater, Mr. Isaac Bornstein, hinzu, der Old Mr. Bornstein genannt wurde. Old Mr. Bornstein war endlich der passende Gegner für Doc, und Doc brummte und schüttelte den Kopf wenn er Old Mr. Bornsteins letzten Zug las. »Diese Deutschen, aber sehr klug, ja, dieser Zug ist sehr gut.« Er ging zum Schachbrett, das auf dem Flügel stand, machte Old Mr. Bornsteins Zug, dachte eine Zeitlang nach und machte dann seinen, »...aber doch nicht so klug wie ich, Mister Schlauberger Isaac!« Zu Docs Überraschung hatte Mrs. Boxall Miss Bornstein ohne weiteres akzeptiert, und die beiden brachten den Sandwich-Fonds erst so richtig ans Laufen. Jede Woche wurden Kleiderpakete an die Familien der Gefangenen abgeschickt, außerdem Pakete mit Lebensmitteln. Sie unterhielten sich darüber, daß sie mit dem Ende des Krieges diese Aktivitäten wahrscheinlich einstellen mußten, stimmten aber überein, daß das Kriegsende das menschliche Elend nicht beenden würde und sie bestimmt eine Möglichkeit fänden, ihre Tätigkeit fortzusetzen. Doc, Geel Piet und ich hatten über mein Verliebtsein in Miss Bornstein gesprochen, und ich muß sagen, keiner konnte mir helfen. Wir wußten alle drei sehr wenig über Frauen. Geel Piet hatte nie eine Mutter gehabt, auf jeden Fall konnte er sich nicht daran erinnern. Seine Tante, die Asthma hatte und keine Treppen steigen konnte, hatte ihn aufgenommen, obwohl sie selbst neun Kinder hatte, und als sie krank wurde, war er in ein Waisenheim gekommen und hatte es vorgezogen, sich mit zehn Jahren allein durchzuschlagen. Doc war Junggeselle gewesen und ganz offenbar kein Frauenheld. Er sprach mit Entsetzen von den großbusigen Fräuleins, die
ihn nach den Konzerten sehen wollten und ihm im Konservatorium Einladungen zum Abendessen oder zum Tee überbrachten. Wenn sie nicht lockerließen und er nicht mehr absagen konnte, ohne unhöflich zu sein, ging er hin und fand sich als einziger Gast bei seiner Gastgeberin, die ihm in einem sehr offenherzigen decollete gegenübersaß. Diese entsetzlichen Augenblicke hatten ihn von den Frauen geheilt, offenbar für immer. Geel Piet sagte deutlich, daß er als Erwachsener keinerlei Erfahrungen mit Frauen gehabt hätte und daß er nichts erlebt hätte, was sich mit meiner jetzigen unangenehmen Lage vergleichen ließe. Die beiden Männer stimmten schließlich überein, das Wichtigste sei ein regelmäßiger Rosenstrauß aus dem Garten meines Großvaters. Der Rest werde sich schon von allein ergeben. Ich war mir nicht sicher, was der Rest war. »Ich glaube, das beste ist, du läßt die Rosen sprechen, Peekay«, riet mir Doc, und Geel Piet fügte hinzu, er habe gehört, daß ausreichende Mengen Rosen noch immer ihren Zweck erfüllt hätten. Ich überlegte mir eine Zeitlang, was das wohl für ein Zweck war, bis Bokkie de Beer es mir erzählte. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Miss Bornstein den Zweck mit mir erfüllen würde. Mr. Isaac erbot sich, zum Gefängnis zu fahren, um Doc zu besuchen. Es wurde aber von Doc abgelehnt, der nicht einmal Mrs. Boxall erlaubte, ihn zu besuchen. Doc war ein stolzer Mann, und er wollte mit seinen Freunden auf gleicher Ebene verkehren. Das Gefängnis war eine große Beeinträchtigung, und er konnte die Vorstellung nicht ertragen, daß seine Freunde Mitleid mit ihm hätten. Aber jetzt, wo der Krieg seinem Ende zuging, sprach er oft davon, Herrn Isaac, wie er Mr. Isaac nannte, zu besuchen, und von den großen Schachspielen, die sie beide erwarteten. Mr. Isaac Bornstein war 1936 aus Deutschland gekommen. Er war dem Massenmord an den Juden knapp entkommen und lebte jetzt hier mit seiner Familie. Miss Bornsteins Vater war als junger Mann 1918 nach Südafrika ausgewandert. Die Bornsteins waren die einzigen Juden in Barberton. Mr. Andrews und er waren Partner, und sie hatten die einzige Rechtsanwaltskanzlei in der Stadt. Miss Bornstein hatte an der Universität von Johannesburg gelehrt und war nach Hause zurückgekommen, weil ihre Mutter Krebs hatte. Das erfuhr ich alles von Mrs. Boxall, die, wie sich herausstellte, Miss Bornstein schon als kleines Mädchen gekannt hatte und die
nichts Schlimmes dabei fand, daß ich in Miss Bornstein verliebt war. »Sie wird jedem eine gute Frau sein, und wenn sie so lange wartet, bis du Weltmeister im Weltergewicht bist, dann könnt ihr zwei ein schönes Paar werden.« Mrs. Boxall wußte, daß nichts, nicht einmal eine Ehe mit Miss Bornstein, mir bei meinem großen Ziel im Weg stehen würde. In der Zwischenzeit fing ich die Belagerung mit Rosen an, die mein Großvater jeden Freitag für mich aussuchte. Zu meiner Überraschung schien mein Großvater viel mehr als Doc und Geel Piet von der Liebe zu verstehen. Er interessierte sich für den Grad meiner Verliebtheit. Er selbst war hochgradig verliebt gewesen, hatte er doch einen ganzen Rosengarten angelegt und sogar Bäume aus England importiert. Als ich ihm anvertraute, daß ich nicht bereit sei, meine Karriere als Weltmeister im Weltergewicht für Miss Bornstein aufzugeben, verkündete er, nachdem er sich lange mit seiner Pfeife beschäftigt und in den Himmel gestarrt hatte, daß meine Liebe bestimmt ein Dutzend langstielige Rosen pro Woche wert sei, aber daß sie es keinesfalls mit einem ganzen Garten aufnehmen könne. Ich glaubte ihm, obwohl ich wußte, daß meine Liebe zu Miss Bornstein von niemandem übertroffen werden konnte. Der Kommandant hatte schon lange begriffen, daß Hitler den Krieg nicht gewinnen würde, und war mit dem Großteil der Wärter in die Ortsgruppe Nelspruit der Oxwagon Guard eingetreten, eine Neonazigruppe, die sich die Wiederherstellung der Unabhängigkeit der Buren zum Ziel gesetzt hatte. Die Oxwagon Guard hatte ganz ähnliche Ziele wie der Ku-Klux-Klan, aber sie hielten neben den Juden und den Kaffern auch die Engländer für die Zerstörer des reinen Afrikanertums. Während des Krieges waren sie zu einer einflußreichen Geheimorganisation geworden, die eines Tages Südafrika hinter den Kulissen regieren und es schaffen sollte, die Republik auszurufen. Das alles erfuhr ich von Rotznase, dessen Vater Mitglied war. An Wochenenden fuhr er in ein Trainingslager, wo alle um ein großes Feuer herumsaßen und Lieder sangen und den Sturz der Regierung Smuts einleiteten. Er sagte mir auch, daß der Kommandant nur ein Veltkornet sei und Lieutenant Borman der Leiter der Ortsgruppe Barberton. Tagsüber konnte der Kommandant alles, was er wollte, mit Lieutenant Borman machen, aber abends, außerhalb des Gefängnisses, war der Wärter aus Pretoria der Boß.
Seine Frau hatte überhaupt kein Asthma, Lieutenant Borman war aus Pretoria hergeschickt worden, um hier die Ortsgruppe der Oxwagon Guard auf die Beine zu stellen. Bokkie de Beer sagte, all das sei die reine Wahrheit, und er würde es zur Not mit der Hand auf der Bibel beschwören. Er hatte seinen Vater und seine Mutter in der Küche belauscht, als er eigentlich schon schlafen sollte. Ich konnte ihren Haß auf die Engländer und auf die Kaffern verstehen. Schließlich mußten diese 26000 Frauen und Kinder immer noch gerächt werden. Und Buren hassen Kaffern sowieso. Dingane, der König der Zulus, hatte Piet Retief und alle seine Männer ermordet, nachdem er sein Wort gegeben hatte, daß er es nicht tun würde. Auch das mußte noch gerächt werden. Aber warum die Juden? Ich hatte nichts von irgendwelchen schmutzigen Geschäften zwischen Juden und Buren gehört, und niemand, den ich danach fragte, konnte mir etwas darüber sagen. Ich hatte nur zwei Juden in meinem ganzen Leben kennengelernt, in den einen war ich verliebt, und der andere war Harry Crown. Wenn ich groß war, wollte ich Jude werden. Eine Zeitlang glaubte ich sogar, daß ich als Baby von einem vorbeiziehenden Juden an die Tür gelegt worden war und daß meine Mutter mich gefunden und beschlossen hatte, mir nichts davon zu erzählen. Das könnte jedenfalls meinen hutlosen Piephahn und die Abwesenheit eines Vaters erklären. Aber als ich meine Mutter fragte, war sie ziemlich schockiert und sagte, daß Juden dem Herrn ganz und gar nicht gefielen. Daß sie in alle Welt zerstreut seien, weil sie ihn nicht erkannt hatten, als er gekommen war, und ihn ans Kreuz genagelt hatten. Sie war sich ganz sicher, daß ich nicht auf der Türschwelle gelegen hatte und daß meine Beschneidung einzig und allein aus hygienischen Gründen vorgenommen worden sei. Ich hatte über Beschneidung in der Bibel gelesen. Als König Herodes von der Geburt Jesu erfahren hatte, hatte er seine Soldaten ausgeschickt und ihnen befohlen, alle beschnittenen Babys zu töten. Als ich in der Sonntagsschule fragte, was »Beschneidung« eigentlich heiße, zog Mrs. Kostler einen Schmollmund und sagte, ich sei noch zu jung dafür. »Aber es steht doch in der Bibel, also kann es doch nichts Schlimmes sein, oder?« protestierte ich. Wie immer in solchen Fällen schickte sie mich zu Pastor Mulvery, der auch der Meinung war, daß ich noch zu jung sei. Schließlich klärte mich Geel Piet auf, und
er zeigte mir in der Dusche, daß ich tatsächlich beschnitten war. Damals entwickelte ich die Theorie meiner jüdischen Herkunft. Wenn meine Mutter keine wiedergeborene Christin gewesen wäre, die absolut nicht lügen konnte, dann bin ich mir nicht sicher, ob ich ihr die ziemlich übertriebene Erklärung von wegen Hygiene abgenommen hätte. Vielleicht hat sie sich beim Herrn auch die Erlaubnis geholt, einmal lügen zu dürfen, um meine Gefühle nicht verletzen zu müssen. Rotznase konnte mir auch nicht sagen, warum die Oxwagon Guard die Juden haßten, aber Bokkie de Beer sagte, der Grund sei, weil sie Jesus getötet hätten. Ich dachte, daß die Buren ein sehr gutes Gedächtnis haben mußten und daß es neu für mich war, daß es Buren auch schon zur Zeit von Jesus gegeben hatte. Aber dann sagte mir meine Mutter, daß der Herr den Gläubigen auch in anderen Kirchen erlaubte, wiedergeboren zu werden, nur in der katholischen Kirche nicht, die würde vom Teufel regiert. Sie sagte, daß es sogar in der Holländischen Reformierten Kirche wiedergeborene Christen gäbe. Das erklärte schlagartig alles. Die Buren hatten einfach, wie alle anderen Christen auch, ihren Haß auf die Juden der Bibel entnommen und haßten sie ebenso wie die Engländer und die Kaffern. Auf diese Weise konnten sie sichergehen, daß der Herr auf ihrer Seite war. Es war alles ganz schön raffiniert, aber ich fiel nicht darauf rein. Ganz offensichtlich mußte man sich jetzt, wo Adolf Hitler so gut wie entmachtet war, vor den Oxwagon Guards in acht nehmen. Jeden Tag hörten wir im Radio Nachrichten über die bevorstehende Niederlage der Deutschen. Der Kommandant versprach Doc, daß er ihn an dem Tag aus dem Gefängnis entlassen würde, an dem der Krieg in Europa beendet sei, ob seine Papiere dann in Ordnung seien oder nicht. Der Sommer hatte gerade angefangen, und Doc und ich rechneten damit, aus dem Gefängnis heraus zu sein, wenn die Feuerglöckchen blühten, die wunderschönen kleinen orangeroten Lilien, nicht größer als ein Zweischillingstück. Sie hatten goldgelbe Tupfen und blühten nach der Zeit der Buschfeuer auf den Hügeln und in den Bergen. Doc war sehr enttäuscht, als die Zeit der Feuerglöckchen kam und ging und der Friede immer noch nicht da war. Wir hatten uns schon einen neuen Aufbewahrungsort für die Tabakblätter, für Zucker und Salz und natürlich für die Post überlegt.
Es wurde alles in einer von Geel Piet selbstgemachten Gießkanne untergebracht. Er hatte einen doppelten Boden eingeschweißt, und unten schloß ein festsitzender Deckel den Hohlraum ab. Wenn sie mit Wasser gefüllt war, sah die Gießkanne völlig normal aus und konnte sogar zum Blumengießen verwendet werden. Sie stand immer in Docs Kaktusgarten, durch den ich auf meinem Weg zum Frühstück kam. Ich versteckte die Post, und was ich sonst noch bei mir hatte, in der Gießkanne. Es war ganz normal, daß ich durch Docs Kaktusgarten in die Wärtermesse ging, da ich häufig neue Pflanzen für den Garten mitbrachte. Die Wärter kamen dort fast nie vorbei, sie gingen aus alter Gewohnheit durch das Haus, wenn sie in die Messe wollten. Wir hatten die Sache mit der Gießkanne schon seit einigen Monaten eingeführt, damit sie zur Routine wurde, noch bevor Doc das Gefängnis verließ, und der Klavierstuhl mit ihm. Der Kommandant hatte Verständnis für Docs Kaktusgarten und beschloß, ihn nach Docs Entlassung als Erinnerung zu erhalten. Geel Piet sollte sich um ihn kümmern. Da ich weiterhin in der Boxmannschaft trainieren würde, würde alles auch ganz gut ohne Doc laufen. Das Briefeschreiben stellte sich als schwierige Aufgabe heraus. Geel Piet konnte mit größter Mühe wie ein Schulanfänger schreiben. Ohne Doc, der die Briefe bislang nach Geel Piets Diktat geschrieben hatte, war es für die Gefangenen unmöglich, ihren Familien Mitteilungen zu machen. Wir lösten das Problem, indem Geel Piet und ich Captain Smit fragten, ob ich Geel Piet nach dem Boxtraining eine halbe Stunde lang Unterricht geben dürfe, damit er besser schreiben und lesen lernte. Captain Smit zögerte zuerst mit der Erlaubnis, willigte aber schließlich ein. Zwischen dem Captain und dem kleinen Farbigen hatte sich eine merkwürdige Beziehung entwickelt. Sie sprachen über nichts anderes als Boxen miteinander, und hin und wieder setzte Captain Smit einen Vorschlag Geel Piets willkürlich vor den anderen Boxern herab, aber dennoch war klar, daß er Geel Piets Können respektierte und so etwas nur tat, um klarzustellen, wer der Boß war. In den Monaten nach meinem Sieg gegen Killer Kroon trat ich immer wieder im Ring gegen größere, stärkere und ältere Gegner an, verlor aber keinen einzigen Kampf. Captain Smit schloß daraus, daß Geel Piet ein perfekter Trainer war, und bewunderte ihn insgeheim. Ich wußte das, weil Bokkie de Beer mir erzählte, daß Captain
Smit zu seinem Vater gesagt hatte, ich würde eines Tages südafrikanischer Champion, »...weil, Mann, er kriegt von Anfang an das richtige Training.« Unter dem Vorwand, lesen und schreiben zu lernen, starrte Geel Piet in ein Schulbuch und diktierte mir die Briefe der Gefangenen. Er hatte ein ungewöhnlich gutes Gedächtnis für Namen und Adressen. Er sagte, er könne sich an die Namen der Pferde und die Buchmacherkurse aller Ausgleichsrennen seit 1918 erinnern. Das System funktionierte gut, und obwohl es nicht ganz so idiotensicher und bequem war wie der Klavierstuhl, waren wir zufrieden. Geel Piet war zu lange im Knast, um nicht immer höchste Vorsicht walten zu lassen. Er ließ nicht zu, daß ich sorglos wurde oder auch nur die Risiken vergaß. Zum Beispiel brachte ich an regnerischen Tagen nichts mit ins Gefängnis, denn es hätte komisch ausgesehen, wenn ich im Regen durch den Garten zur Messe gegangen wäre statt durchs Haus. Einem aufmerksamen Wärter wie Borman wäre das bestimmt verdächtig vorgekommen. Ich schleuste sowieso niemals täglich oder an gleichen Tagen irgend etwas ins Gefängnis. Geel Piet war klug genug, um zu wissen, daß kleine Jungen nicht wie Automaten funktionierten, und paßte auf, daß ich manchmal auch an schönen Tagen durch das Haus zum Kasino ging. Obwohl das neue System nicht so bequem war wie das alte, war es sehr weitsichtig von Doc, das neue System eine Zeitlang vor seiner Entlassung einzurichten. Eines Morgens, kurz nachdem er zum Lieutenant befördert worden war, ging Borman durch die Halle, in der wir übten. Das kam normalerweise nicht vor. Der Kommandant hatte angeordnet, daß wir während der morgendlichen Klavierstunde nicht gestört werden sollten, weil da sozusagen zwei Genies am Werk waren. Lieutenant Borman kam direkt auf uns zu. Seine Stiefel klangen hohl auf dem gesprungenen Boden. Ich spielte weiter, bis er direkt hinter mir stehenblieb. »Guten Morgen, Lieutenant Borman«, sagten wir beide. »Morgen«, sagte Borman von oben herab und desinteressiert. Er hatte einen Rohrstock, ganz ähnlich wie der, den Mevrou immer bei sich gehabt hatte, und damit tippte er auf ein Bein meines Klavierstuhls. »Steh auf, Mann«, sagte er. Ich erhob mich. Er kniete sich hin und maß den Schemel aus. »Ein bißchen tief, was, ist da viel-
leicht was drin?« Auf allen vieren steckte er seinen Kopf unter den Sitz. »Vielleicht ist da ein doppelter Boden oder so was?« Er klopfte von unten auf den Stuhl, und es klang hohl. »Sehr interessant, sehr schlau.« Doc erhob sich von seinem Stuhl, schloß ihn auf und hob den Deckel hoch. Lieutenant Borman sah, daß der Sitz mit Noten gefüllt war. Er starrte Doc und mich an, es kam uns wie eine Ewigkeit vor. »Sie glauben, das ist komisch, was? Glauben, Sie könnten sich über mich lustig machen, was?« »Nein, Lieutenant«, sagte Doc ganz ruhig. »Ich meine nur, Sie könnten auch fragen, bevor Sie mißtrauisch werden. Da drin lebt nur Meister Chopin.« Dann öffnete er den Deckel seines eigenen Klavierstuhls. »Und hier leben Herr Beethoven, Brahms, Mozart, Wagner und Bach und vielleicht noch Haydn, Liszt und Tschaikowsky, aber nicht Strauß, ganz bestimmt nicht Strauß. Der ist wie Sie, mein lieber Lieutenant, nicht willkommen, wenn ich Unterricht gebe.« Lieutenant Borman richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er war ein hochgewachsener Mann, der gerade einen Bauch ansetzte, und er war es gewohnt, auf Menschen herabzuschauen. Aber er war zehn Zentimeter kleiner als Doc. Die beiden Männer starrten einander an. Der Lieutenant hielt es schließlich nicht länger aus, in Docs ruhige blaue Augen zu schauen, und senkte den Blick. Er legte den Stock auf den Steinway und zog sich die Hose hoch. »Glauben Sie etwa, ich weiß nicht, daß hier etwas vorgeht? Glauben Sie, daß ich ein völliger Idiot bin? Ich habe Zeit, ich habe viel Zeit, verstehen Sie?« Er nahm den Rohrstock und schlug damit gegen den offenstehenden Deckel meines Klavierschemels. Er klappte zu, und man hörte das Echo des Schlages auf das Lederpolster. Er schaute Doc wieder an und berührte ihn wie mit einem Rapier mit dem Rohrstock an der Brust. »Das nächste Mal, wenn Sie schlau sein wollen, ziehen Sie den kürzeren. Ich sags Ihnen, Sie verdammter deutscher Bastard, ich mach Sie noch fertig!« Er drehte sich um und stürmte hinaus. »Uff!« seufzte ich, schloß den Deckel von Docs Klavierstuhl und setzte mich auf meinen eigenen. Auch Doc setzte sich hin, griff nach den Noten von Chopins Nocturne Nr. 5 in F-Dur und fächelte sich damit Luft zu. Er war eine Zeitlang still, scheinbar tief in Gedanken, und sagte dann leise: »Bald kommen die Hügel und die Berge.«
15 Im Monat nach dem Zwischenfall mit dem Klavierstuhl waren wir einigermaßen sicher. Der Gefängnisinspektor wurde erwartet, und Lieutenant Borman hatte den Auftrag, sich darum zu kümmern, daß alles gründlich geputzt und das ganze Gefängnis frisch geweißelt wurde. Zu Docs großem Ärger wurden sogar die Steine, die seinen Kaktusgarten einfaßten, weiß angemalt. Er konnte sich vorstellen, daß die Wege mit Whiskyflaschen eingefaßt waren, aber echte Steine zu bemalen, das kam ihm wie eine Beleidigung der Natur vor. In den Innenhof wurde frischer Kies gebracht und ein paar Ladungen mit einer Mischung aus feinem Eisenpyrix und Glimmer. Daraus wurde in der Mitte des Hofes ein riesiges »B« geformt. Die dunklere Farbe des Glimmer- und Eisenpyritgemisches hob sich schimmernd gegen den fast weißen Kies ab. Das »B« stand natürlich für Barberton. Es war eine Idee des Lieutenants, und er beaufsichtigte die alten Knastbrüder stundenlang beim Fegen und beim Rechen, bis alles perfekt war. Ich muß zugeben, daß es sehr schön aussah. Gert sagte, daß sich der Kommandant ganz besonders darüber freute, und Borman war bei ihm gut angeschrieben. Die Gefängnisgänge rochen nach Politur und die Zellen nach Desinfektionsmittel. Die Fensterbrüstungen wurden blau gestrichen, und überall roch es nach frischer Farbe. Aber alles wurde so rechtzeitig erledigt, daß der Geruch verflogen sein würde, bis der Gefängnisinspektor kam. Neue Anstaltskleidung wurde geschneidert, die von den Häftlingen nur während des Besuches getragen werden durfte. Durch die Malerarbeiten war ihre alte Kleidung voller Flecken, und der Inspektor hätte das Spiel sofort durchschaut. Der Kommandant wollte, daß der Inspektor glaubte, alles ginge seinen gewohnten Gang. Er sollte das Gefühl haben, daß er alles genau so vorgefunden hätte, wenn er an irgendeinem anderen Tag gekommen wäre. Nach der Inspektion gaben die Gefangenen ihre neuen Uniformen zurück und trugen die alte Kleidung auf, bis sie völlig zerschlissen war. Captain Smit hatte die übliche Boxvorführung organisiert, und der Kommandant übte wie vor jeder Inspektion wochenlang vormittags am Schießstand hinter dem Wärterkasino. Der Kommandant machte sich Sorgen wegen des nahenden
Kriegsendes. Denn wenn der Krieg vor dem Besuch des Gefängnisinspektors zu Ende ginge, würde der kulturelle Teil des Programmes ins Wasser fallen, weil Doc nicht mehr im Gefängnis wäre. Er hatte versucht, Doc das Versprechen zu entlocken, falls er bis dahin schon entlassen wäre, ins Gefängnis zurückzukommen und dem Inspektor vorzuspielen. Aber Doc war nicht umsonst vier Jahre im Gefängnis gewesen. Die wichtigste Gefängnisregel hatte er gelernt: Nichts ist umsonst. Also konnte er für seine Gefälligkeit etwas vom Kommandanten fordern. In den Goldfield News war schon ein Foto vom Kommandanten abgedruckt gewesen, und darunter stand, daß Doc im Gefängnis wäre, weil er Deutscher sei, und er direkt nach der Kapitulation Deutschlands entlassen würde. Der Kommandant konnte schlecht von diesem Versprechen zurücktreten, ohne sein Gesicht zu verlieren, dazu würde er es nicht kommen lassen. Docs Forderung verursachte einen Aufruhr unter den Wärtern, aber der Kommandant fand, daß keine Forderung zu hoch sei, wenn nur der Besuch glatt abliefe. Doc forderte, daß er ein Konzert für alle Gefangenen geben dürfe. Am Sonntag, dem Tag Gottes, mußten die Gefangenen nicht arbeiten. Statt dessen wurden sie in ihre Zellen eingesperrt, und jeweils fünfzig durften in einen Innenhof gehen, der von hohen Ziegelsteinmauern umgeben und etwa so groß wie zwei Tennisplätze war. Ein Stamm nach dem anderen kam in den Hof, jeder neunzig Minuten lang. Zuerst die Zulus, dann die Swasis, die Ndebele, die Sotho und die Tsonga. Die Buren wußten, wie wenig die Stämme sich untereinander leiden konnten, und indem sie die Stämme im Gefängnis getrennt voneinander hielten, wurden die Spannungen zwischen ihnen aufrechterhalten. Dadurch verringerte sich die Gefahr eines Massenaufstandes oder eines Gefängnisstreiks. Doc erzählte mir, daß er jeden Sonntag in den Wachturm hinaufsteige, von wo aus man den Innenhof überblicken konnte. Den größten Teil der neunzig Minuten benutzten die Stämme dazu, um gemeinsam zu singen, und Doc hatte bald heraus, welches das Lieblingslied der einzelnen Stämme war. Er hatte die Melodien der Lieder notiert und daraus ein Klavierkonzert komponiert, in dessen verschiedenen Sätzen jedes Lied vorkam. Doc sagte, daß er noch niemals so wunderbare Harmonien gehört habe. Die meisten Lieder waren sehr schön, und obwohl er die Worte nicht verstand, war doch
herauszuhören, wie sehr sich die Gefangenen nach ihrer Heimat, ihren Familien, ihren Feuerstellen und ihrem Vieh sehnten. Er seufzte und meinte, daß dieses Konzert niemals die ganze Schönheit der originalen Lieder wiedergeben könne. Er nannte es »Konzert des Großen Südlandes«. Dieses Konzert wollte er vor allen Gefangenen spielen, bevor er das Gefängnis verließ. Zuerst wollte Doc das Konzert einmal durchspielen, in jedem Satz kamen ein oder mehrere Stammeslieder vor. Beim zweiten Durchgang sollten die Stämme zu Docs Begleitung am Flügel ihre Lieder selbst mitsingen. Auf diese Weise würden alle Stämme am Konzert teilnehmen. Als der Kommandant erst einmal die Erlaubnis für das Konzert gegeben hatte, mußte eine Menge getan werden. Eine Probe war natürlich nicht möglich, aber durch Geel Piet erfuhr jeder Stamm, welches Lied im Konzert vorkommen würde und wieviel Zeit genau für das Singen zur Verfügung stand. Abends spielte Doc die verschiedenen Lieder bei offenen Fenstern fortissimo, damit sie in den Gebäuden zu hören waren, in denen sich die Zellen befanden. Die Wärter behaupteten, daß man die Küchenschaben kratzen hörte, so still seien die Gefangenen gewesen, um der Musik zu lauschen. Da Doc Klavier spielen mußte, beschloß er, daß ich dirigieren sollte, und zwar so einfach wie möglich. Dem Chor würden eigentlich nur die Pausen, das Pianissimo und das Fortissimo mitgeteilt. Nach ein paar Wochen konnte ich die Anweisungen Docs schon ganz gut ausführen, und wir studierten jeden Morgen während des Klavierunterrichtes das Konzert ein, bis ich wußte, was jedes Schütteln und Nicken seines Kopfes bedeutete. Geel Piet unterrichtete die Gefangenen von allem, was bei uns vorging, so daß sie vermutlich wußten, was meine Handbewegungen bedeuteten. Wenn Doc vorgeschlagen hätte, daß ich das Konzert vor einem weißen Publikum dirigieren sollte, hätte ich sicher abgelehnt, aber die Überlegenheit der Weißen in Südafrika ist einfach so selbstverständlich, daß ich keinen Gedanken daran verschwendete, vor dreihundertfünfzig schwarzen Häftlingen zu stehen und zu dirigieren. Geel Piet erzählte mir, daß sie immer aufgeregter würden. Für einige Wochen hatten es die Wärter einfach. Wenn sie einem Gefangenen drohten, daß er nicht am Konzert teilnehmen dürfe, war er
bereit, jeden Befehl auszuführen. Als sich die Neuigkeit herumsprach, daß der Kaulquappenengel die Schwarzen im Sing-indaba dirigieren würde, hieß es sofort, daß das Konzert eine mystische Bedeutung habe und ich diese Zeit gewählt hätte, um alle Schwarzen auf einmal zu treffen. Während der Arbeit wurde geübt, und die Farmer und die Besitzer von Sagemühlen, die Arbeitstrupps anheuerten, erzählten, daß von morgens bis abends gesungen würde. Sogar in den verhaßten Steinbrüchen erklangen die Lieder der Arbeitstrupps, die immer einem bestimmten Stamm angehörten. Das Konzert des Großen Südlandes wurde auf den Weg gebracht, ein musikalisches Puzzle, und in der Nacht aller Nächte würden seine Teile vom magischen Zauber des Kaulquappenengels vereint werden. Lieutenant Borman hatte alles getan, um das Konzert zu verhindern, aber Captain Smit hielt es für eine gute Idee, vielleicht nur deshalb, weil Lieutenant Borman dagegen war. Die beiden Männer hatten sich nie leiden können, und Captain Smit, der kein Mitglied der Oxwagon Guard war, war sehr gegen die Beförderung Bormans zum Lieutenant gewesen. Das Konzert sollte auf dem Paradeplatz stattfinden, und in der Schreinerei war ein Podest für den Steinway gebaut worden. Jeder Stamm sollte sich in einem Halbkreis um das Podest herum aufstellen, und zwischen den einzelnen Gruppen sollten drei Meter Platz freigehalten werden. In diesen Zwischenräumen sollten sich je zwei Wärter aufstellen, die Nilpferdpeitschen bei sich hatten, um damit eventuellen Ärger vermeiden zu können. Eine Extraschicht mit zusätzlicher Munition sollte auf der Mauer Wache halten, und während des Konzerts würden die Gefangenen hell beleuchtet werden. Das Konzert wurde für Mittwoch, den 7. Mai 1945, angesetzt, und alle Wärter wurden zu größter Wachsamkeit angehalten. Die Gefangenen kamen niemals nachts ins Freie. Es ging das Gerücht um, daß Stammeskämpfe und Blutrache nachts erledigt würden, und auch das Gerücht, daß die Zulus einen Ausbruch planten. Die von Lieutenant Borman aufgestachelten Wärter wurden immer unangenehmer, je näher das Konzert kam. Lieutenant Borman hatte sich angewöhnt, einen Sam-BrowneGürtel um die Schulter zu tragen, der Revolver steckte in der offenen Pistolentasche an seiner Hüfte. Er ließ keine Gelegenheit aus, jedem, der es hören wollte, zu sagen, daß große Schwierigkeiten
bevorstünden. »Gib einem schwarzen Gefangenen einen Finger, und er frißt dir den Arm bis zur Schulter, so ist es, Mann.« Das sagte er so oft, bis dieser Spruch zu einem Witz im Gefängnis wurde und'ein paar Wärter ihn hinter seinem Rücken »Finger Borman« nannten. Er versuchte sogar, das Konzert im letzten Augenblick abblasen zu lassen, indem er behauptete, daß es gegen die Gefängnisregeln verstieße, wenn sich mehr als fünfzig Gefangene gleichzeitig an einem Ort versammelten. Captain Smit hatte verlangt, diese Vorschrift schriftlich zu sehen, und als er sie nicht finden konnte, hatte er sich herausgeredet, daß es in Pretoria so sei. Es war schwierig, das Einverständnis meiner Mutter zu bekommen, daß ich am Abend des Konzertes so lange aufbleiben durfte. Nachdem sie sich mit dem Herrn beraten und einen Brief von Miss Bornstein erhalten hatte, in dem meine Lehrerin ihr versicherte, daß meine schulische Karriere nicht darunter leiden würde, wenn ich einmal länger aufbliebe, erteilte sie endlich ihre Erlaubnis. Doc fragte mich, was ich als Dirigent anziehen würde. Ich hatte keine große Auswahl: Meine Garderobe bestand aus Khakihemden und kurzen Hosen, aus einem Paar schwarzer Schuhe und grauen Strümpfen. Darum schlug Geel Piet vor, daß ich in meiner Boxkleidung dirigieren solle und die Stiefel tragen, die die Gefangenen für mich hatten anfertigen lassen. Doc hielt das für eine ausgezeichnete Idee, und ich muß sagen, daß ich auch sehr zufrieden damit war. Doc fand nur, daß es schwierig sein würde, mit Boxhandschuhen zu dirigieren. Geel Piet war enttäuscht und machte den Vorschlag, daß ich mit Boxhandschuhen auf das Podium kommen und sie dann kurz vor Beginn des Konzerts ausziehen solle. Er schien das für äußerst wichtig zu halten und versicherte mir, daß es ganz und gar nicht angeberisch wirken würde. In der Konzertnacht würden alle Mythen über den Kaulquappenengel, die Geel Piet unter den Gefangenen verbreitet hatte, in meiner Person als ihr Anführer zusammenfallen und alle Stämme in dem großen Sing-indaba vereinen. In jeder anderen Gesellschaft wäre Geel Piet ein großer Organisator gewesen. Er wußte genau, wie er es anstellen mußte, um die Phantasie der Menschen zu erregen. Der Kaulquappenengel würde, gekleidet wie ein großer Kämpfer, vor die Schwarzen treten, ihre Stammeslieder dirigieren und damit die Barrieren zwi-
schen Rassen und Stämmen aufheben. Hatte er nicht schon riesige Hindernisse überwunden? War er nicht der Geist des großen Häuptlings, der die Zulus und die Swasis und die Ndebele und die Tsongas und die Sotho so miteinander verband, daß sie sich gemeinsam auf eine Matte setzten und ein großes Sing-indaba feierten? War er nicht der, der Briefe schrieb, zu den Familienangehörigen der Gefangenen ging und mit Nachrichten von ihnen zurückkam, der dafür sorgte, daß es die Kinder im Winter warm hatten, und der den Frauen Kleidung und Nahrung für ihre hungrigen Babys gab? War er nicht der, der Tabak und Zucker und Salz ins Gefängnis brachte, es verschwinden und später wieder auftauchen ließ, wenn die Luft rein war? Ohne Zauberei wäre es nicht möglich gewesen, das vier Jahre lang zu schaffen, ohne von den Wärtern erwischt zu werden. Die Gefangenen waren davon überzeugt, daß Docs wunderbares Konzert des Großen Südlandes genauso wie Mrs. Boxalls Earl of Sandwich-Fonds in Wirklichkeit mein Werk sei. Geel Piets schlauer Unternehmergeist hatte erkannt, daß es besser war, es den Gefangenen so darzustellen. Dann kam die Nacht von Docs Konzert heran. In dem Augenblick, in dem ich das Gefängnistor durchschritt, wußte ich, daß etwas anders war als sonst. Kein Gefühl der Hoffnungslosigkeit lag in der Luft. Die vielen traurigen Gedanken, die ich sonst sofort bei Betreten des Gefängnisgeländes empfand, hatten sich für kurze Zeit gelegt. Die Gefangenen waren friedlich gestimmt. Ich fühlte mich sehr aufgeregt. Heute nacht würde etwas ganz Besonderes passieren Der Vollmond war gerade über den dunklen Bergen hinter den Gefängnismauern aufgegangen, der Paradeplatz lag im hellen Mondlicht. Docs Steinway stand schon aufgeklappt auf dem Podest. Die Szene strahlte eine große Ruhe aus, vergleichbar der Ruhe, die man empfindet, wenn man ein Bild von Dali anschaut. Ich stand einen Augenblick lang da, und selbst in meinem Alter, wo ich noch wenig von Logistik und dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit verstand, erschien mir dieses Konzert als etwas ganz Außerordentliches. Als ich den Steinway im Mondlicht betrachtete, gingen plötzlich und grell wie das Licht von einem Schweißbrenner die Flutlichter an. Als sich meine Augen an das blendende Licht gewöhnt hatten,
sah ich, daß um das Podest herum weiße Halbkreise den Platz für jeden Stamm bezeichneten. Ein Dutzend Wärter mit Nilpferdpeitschen kamen aus dem Hauptgebäude und gingen auf den Flügel zu. Ihre Stiefel knirschten auf dem Kies. Ich überquerte den Paradeplatz, öffnete eine Seitentür und ging in den Flur, wo Doc auf mich wartete. Er saß an dem linken Klavier und schlug geistesabwesend einige Töne an. Als ich eintrat, schaute er auf. »Geel Piet hat sich verspätet, er müßte schon hier sein«, sagte er gereizt. Doc hatte gelernt, daß er sich immer auf Geel Piet verlassen konnte, und glaubte nicht, daß der heutige Abend ohne ihn klappen könnte. Ohne ihn konnte das Konzert, das keinmal geprobt worden war, seiner Meinung nach kein Erfolg werden. »Er wird bald hier sein, Sie werden schon sehen«, sagte ich, um ihn aufzuheitern. »Ich hole meine Boxhandschuhe.« Auf dem Weg zur Turnhalle kam mir ein alter Knastbruder entgegen. Er trug eine große Kaffeekanne, ein zweiter Mann kam hinter ihm her mit einem Tablett, auf dem Tassen und eine Büchse brauner Zucker standen. Sie brachten den diensthabenden Wärtern Kaffee auf den Paradeplatz. »Hast du Geel Piet gesehen?« fragte ich den einen. Ich sprach Shangaan, denn ich sah an seinen tätowierten Wangen, daß er zu den Tsongas gehörte. »Nein, Baas, den haben wir nicht gesehn«, antwortete er unterwürfig. Im Gehen hörte ich, wie er sagte: »Der Kaulquappenengel spricht die Sprache aller Stämme, können wir uns einen besseren Anführer wünschen?« Als ich in der Turnhalle ankam, knipste ich das Licht im Duschraum an. Die Schalter für die Lichter über dem Boxring waren an der gegenüberliegenden Wand, und der Boxring lag im Halbdunkel. Aber ich sah genug und suchte mir aus dem Kasten eins von den beiden Paaren Boxhandschuhe heraus, die ich gerne trug. Ich ging in den Duschraum, zog mich aus und dann meine Boxkleidung an. Ich band die Schnüre der Boxhandschuhe locker zusammen und legte sie mir um den Hals. Doc würde mir die Handschuhe zuschnüren. Als ich wieder in den Flur kam, saß Doc immer noch allein da. Er sah sehr besorgt aus, als er mir geistesabwesend die Handschuhe anzog. »Es ist zu spät, um noch länger zu warten, wir müssen gehen, ich werde Geel Piet sagen, daß ich sehr verärgert über seine Verspätung bin.« Die Tür, durch die ich das Gebäude betreten hatte, konnte von
innen nicht geöffnet werden, deshalb gingen wir durch einen langen Flur, der in das Hauptgebäude führte, das am Paradeplatz lag. Wir kamen schließlich durch den kleinen Flur, in dem ich bei meinem ersten Besuch im Gefängnis vor vier Jahren gewartet hatte. In dem Raum, der damals Lieutenant Smits Büro gewesen war und jetzt Lieutenant Borman gehörte, brannte kein Licht. Ich ließ Doc vorangehen und schaute kurz durch das Schalterfenster in das dunkle Büro. In dem Dämmerlicht sah ich Klipkops Platz und daneben den größeren Schreibtisch von Lieutenant Borman. Unter der Tür zwischen dem Büro und dem dahinterliegenden Raum, in dem die Verhöre stattfanden, war ein dünner Streifen Licht zu sehen. Die Tür konnte nicht ganz geschlossen sein, denn ich hörte einen Schlag und das laute Stöhnen, das Menschen von sich geben, wenn man ihnen auf den Solarplexus schlägt. Das war nichts Ungewöhnliches, paßte aber nicht in diese Vollmondnacht, in der das Konzert des Großen Südlandes aufgeführt werden sollte. Die Gefangenen saßen schon auf dem Boden, in den für sie abgegrenzten Halbkreisen, die Wärter gingen dazwischen auf und ab, schlugen sich mit den Nilpferdpeitschen seitlich an die Stiefel und versahen ihren Dienst. Die Gefangenen vermieden es, sie anzuschauen, und taten so, als wären sie gar nicht da. Reden war nicht erlaubt, aber als wir vorbeigingen, konnte ich sehen, daß die Leute lächelten, und als Doc und ich das Podest bestiegen, hörte man leises Gemurmel. Der Kommandant kam kurz nach uns an und hielt den Gefangenen vom Podest aus eine Ansprache. Lieutenant Borman sollte sie ins Fanagalo übersetzen, war aber offensichtlich noch nicht erschienen. Der Kommandant ärgerte sich ganz offensichtlich darüber und fing nach einigen Minuten, in denen er immer wieder auf seine Uhr schaute, auf afrikaans zu reden an. »Hört mir gut zu«, sagte er, und ich übersetzte es schnell ins Zulu. Er sah überrascht aus. »Kannst du meine Rede übersetzen, Peekay?« Ich nickte. »Okay, dann mach ich nach jedem Satz eine Pause.« Der Kommandant sprach nicht gern zu den Gefangenen, und er sprach zu laut und zu unfreundlich. »Dieses Konzert ist ein Geschenk vom Professor, der nicht so ein mieser Krimineller ist wie ihr alle, hört ihr mich! Ich weiß nicht, warum ein wichtiger Mensch
wie er Kaffern ein Konzert geben will, nicht einfach nur Kaffern, sondern kriminellen Kaffern. Aber da das sein Wunsch ist, bekommt . ihr das Konzert, denn ich bin ein Mann, der sein Wort hält. Ihr sollt nur wissen, daß so etwas nicht noch einmal vorkommt und ich keine Schwierigkeiten haben will, verstanden, ihr hört dem Klavierspiel zu, dann singt ihr, und dann bringen wir euch in eure Zellen zurück.« Er drehte sich zu mir um und schnaufte nervös. »Das war's. Jetzt kannst du es ihnen sagen.« Ich sagte, daß der Kommandant sie willkommen heiße und daß der Professor sie willkommen heiße und ihnen dafür danke, daß sie zu seinem großen Sing-indaba gekommen seien. Er hoffe, daß ein Stamm besser als der andere singen würde, so daß sie alle stolz sein könnten. Sie sollten auf meine Hände achten. Ich zog meine Boxhandschuhe aus und zeigte ihnen die Bewegungen, die ich machen würde. Als ich fertig war, grinsten alle von einem Ohr zum andern und fingen an zu klatschen. »Das hast du gut gemacht, Peekay«, sagte der Kommandant und freute sich über die spontane Reaktion auf seine Rede. Doc spielte das Konzert des Großen Südlandes einmal ganz durch, und die Gefangenen hörten schweigend zu und nickten zustimmend, wenn sie ihre eigenen Stammeslieder erkannten. Am Ende klatschten alle wie wild. Dann stand ich auf und zeigte ihnen, wie ich jedem Stamm seinen Einsatz geben und wie ich am Ende des Liedes meine Hand senken würde. Ich bat sie, ihre Hände zu heben, wenn sie mich verstanden hätten, und ein Meer von Händen streckte sich mir entgegen. Doc spielte das Prelude, das ein musikalisches Potpourri aus allen Melodien war, und dann gab ich den Sotho das Zeichen zum Einsatz. Ihre Stimmen vermischten sich mit der Nacht, und es klang, als ob die Frühsommerluft in tiefer Harmonie vibrierte. Ich hatte noch nie in meinem Leben Männer so wunderbar singen hören. Sie verstanden instinktiv, was von ihnen verlangt wurde, und reagierten auf den leisesten Wink, als hätten sie ihn schon vorausgeahnt. Nach ihnen kamen die Ndebele an die Reihe, dann die Swasis und die Shangaan. Jeder Stamm sang sein eigenes Lied, das sich klar von den vorhergegangenen unterschied, und doch fügte sich alles zu einem harmonischen Ganzen zusammen. Als letzte kamen die Zulus an die Reihe, die mit ihren flachen Händen auf den Boden
schlugen, bis der ganze Paradeplatz zu vibrieren schien. Die anderen Stämme fielen ein, und das Konzert endete mit dem Refrain, der von allen Schwarzen gemeinsam gesummt wurde. Doc erhob sich vom Steinway und wandte sich der Menge von schwarzen Gesichtern zu. Er weinte, ohne sich zu schämen, und suchte nach seinem Taschentuch, und viele Schwarze weinten mit ihm. Dann brach ohne Vorwarnung ein Beifall aus, der nicht zu bremsen war. Doc sagte mir später, daß das der größte Augenblick seines Lebens war, und immer wieder riefen sie »Onoshobishobi Ingelosi! Onoshobishobi Ingelosi!« Kaulquappenengel! Kaulquappenengel! Der Kommandant sah beunruhigt aus, und einige Wärter schlugen mit ihren Nilpferdpeitschen auf den Boden. Onoshobishobi Ingelosi! Onoshobishobi Ingelosi! Doc hatte sich von seinem Sitz erhoben, um sich zu verbeugen, und ich sprang auf den Schemel und grinste, um den Gefangenen klarzumachen, daß der Singsang aufhören müsse. Es war fast augenblicklich still. Doc sah überrascht auf und wußte nicht, was passiert war. Ich sagte: »Der große Musikzauberer und ich danken euch für das Singen. Heute nacht habt ihr alle euren Stämmen und auch dem großen Musikzauberer und mir Ehre gemacht.« Ich wäre zu klein gewesen, um so eine Rede auf englisch zu halten, aber die afrikanische Sprache ist sehr geschmeidig, und solche Worte lassen sich leicht in ihr ausdrücken. »Ihr müßt jetzt leise sein, im Namen eurer Frauen und eurer Kinder, denn die Buren werden unruhig.« Meine Stimme piepste dünn durch die Nacht. Plötzlich ergoß sich ein Sternenregen über den Himmel über der Stadt und dann noch einer und noch einer, einzelne rote und grüne Sterne, die hoch oben zu tanzenden Kaskaden zerstoben. Die Gefangenen blickten voller Angst hinauf, einige bedeckten sogar ihre Köpfe vor dem Zauber. Ein Wärter kam zum Kommandanten gelaufen, flüsterte ihm etwas ins Ohr, und der Kommandant wandte sich an Doc und streckte seine Hand aus. »Sie sind ein freier Mann, Professor. Der Krieg in Europa ist vorbei. Die Deutschen haben sich ergeben.« Er deutete in Richtung Stadt. »Sehen Sie das Feuerwerk, die verdammten rooineks sind schon am Feiern.« Eine letzte Kaskade von Sternen stieg in den dunklen Himmel, und die Schwarzen schrien angstvoll auf. So etwas hatten sie noch nie gesehen.
War das nicht der endgültige Beweis? Selbst der Himmel war für den Kaulquappenengel, und alle konnten es sehen. Der Mythos vom Kaulquappenengel war geboren. Jetzt würde er nur noch wachsen und Gestalt annehmen, wie das bei Legenden so ist. Nichts, was ich jemals tun würde, könnte daran noch etwas ändern. Ich war in Sphären aufgestiegen, in die nur die größten Medizinmänner kamen, vielleicht noch höher, denn nicht einmal die Größten waren bei allen Stämmen bekannt und wurden vom ganzen afrikanischen Volk verehrt. Ich war zu einem Mythos geworden. Jeder Stamm erhob sich, als er den Befehl dazu bekam, und alle entfernten sich leise, bis der Paradeplatz leer war. Nur die Wärter auf den Mauern und der Kommandant waren noch da. »Magtig! So etwas hab ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen, Mann«, sagte der Kommandant und schüttelte seinen Kopf. Er wandte sich an Doc. »Ihre Musik war wunderbar, Mann, so etwas Herrliches hab ich noch nie gehört, und so ein Singen werden wir nie wieder zu Ohren bekommen. Peekay, eines Tages wirst du ein großer Kommandant sein. Ich kenne niemanden, der Schwarze so befehligen kann wie du. Bist du am Ende so eine Art Medizinmann ?« Plötzlich ertönte eine einzelne Stimme in der Nacht, und es klang, als ob sie aus der Turnhalle käme. »Onoshobishobi Ingelosi!« Ich hörte die Worte nur einmal, und die traurigen Stimmen in meinem Kopf begannen durcheinanderzureden. Die Schwierigkeiten waren wieder da. Doc war völlig erledigt von der Nachricht der deutschen Kapitulation und der Aufregung des Konzerts, und er saß lange auf dem Klavierstuhl und schnupfte in sein Taschentuch. Der Kommandant sagte uns gute Nacht, und die Flutlichter waren inzwischen ausgeschaltet worden. Der Mond, der hoch am Himmel stand, regierte wieder die Nacht. Dann dachte ich an Geel Piet. Ich drehte mich zu Doc um, der gleichzeitig zu mir aufschaute, wir dachten dasselbe. »Geel Piet ist nicht gekommen. Ich kann das nicht verstehen. Er wäre doch niemals weggeblieben«, sagte Doc. Ich sah, daß er sich schuldig fühlte, nicht früher an ihn gedacht zu haben. Auf dem Kies waren Schritte zu hören, und dann tauchte Gert aus der Dunkelheit auf. »Captain Smit sagt, es ist schon spät. Du hast morgen wieder Schule. Ich muß dich jetzt heimfahren, Peekay.«
Ich war überrascht, denn ich hatte wie immer zu Fuß nach Hause gehen wollen. »Ich zieh mich schnell um und bringe die Handschuhe zurück«, sagte ich und verließ Doc, der auf dem Klavierschemel saß und seine Hände anstarrte. »Es war ein wunderschönes Konzert, Professor«, hörte ich Gert in seinem langsamen Englisch sagen, als ich in Richtung Turnhalle ins Dunkel rannte. Ich öffnete die Seitentür zur Turnhalle und knipste das Licht an, ging am Bock und an den Medizinbällen vorbei und verpaßte dem Sandsack eine gerade Linke und einen rechten Haken. Die große hölzerne Kiste, in der die Boxhandschuhe aufgehoben wurden, stand direkt am Ring. Nach dem Konzert hatte ich die Bändel meiner Handschuhe zusammengebunden und sie mir um den Hals gehängt. Ich fand, daß ich dadurch mehr wie ein echter Boxer aussah. Jetzt nahm ich die Handschuhe und warf sie von weitem in Richtung der offenstehenden Kiste. Es war ein guter Wurf, ein Handschuh landete in der Kiste, der andere hing außen über den Rand. Ich ging hin, um ihn auch hineinzuwerfen, und wußte plötzlich mit einer Sicherheit, der ich immer vertrauen konnte, daß irgend etwas Schlimmes passiert sein mußte. Ich lief zur gegenüberliegenden Wand und knipste die Lichter an, die den Ring beleuchteten. Den Bruchteil einer Sekunde wurde ich geblendet. Dann sah ich den Körper in der Mitte des Rings. Geel Piet lag mit dem Gesicht nach unten, als ob er hingefallen wäre. Seine Arme waren seitlich weggestreckt, sein Kopf lag in einer Blutlache. Ohne nachzudenken, sprang ich schreiend in den Ring, hörte aber selbst keinen Ton. Ich fiel neben ihm auf die Knie und schüttelte ihn. Dann stand ich auf, zog an einem seiner Arme und versuchte, ihn aufzusetzen. Ich schrie ihn an: »Steh auf, bitte steh auf! Wenn du aufstehst, lebst du wieder!« Aber der Körper des kleinen gelbhäutigen Mannes rührte sich nicht, und sein Kopf fiel in die Lache zurück, und das Blut spritzte hellrot nach allen Seiten. In mir schnatterte der Einsamkeitsvogel: »Er ist tot... Er ist tot! Er wird nie wieder leben!« Ich zog weiter an ihm herum und versuchte, ihn wieder ins Leben zurückzuholen. »Bitte, Geel Piet! Bitte steh auf, wenn du aufstehst, lebst du wieder! Bestimmt! Ich versprechs dir! Bitte!« Eine Blutspur entstand, als ich ihn durch den Ring zog. Und dann sah ich, daß er in seiner anderen Hand das Foto hielt, auf dem Cap-
tain Smit, Doc, Gert, ich und er zu sehen waren. Eine Ecke der Fotografie war blutig. Ich ließ seine Hand fallen, fiel auf seinen Körper und schluchzte und schluchzte. Dann wurde ich von Captain Smit hochgehoben, der mich wie ein Baby in seinen Armen hielt und wiegte, als ich hemmungslos an seiner Brust schluchzte. »Schscht, nicht weinen, Champion, nicht weinen«, flüsterte er. »Ich räche seinen Tod, das versprech ich dir. Nicht weinen, Champion, nicht weinen, kleiner Bruder.« Die Festlichkeiten zu Ehren des Gefängnisinspektors wurden am darauffolgenden Samstag abend abgehalten. Doc versuchte, um das Konzert herumzukommen. Der Tod von Geel Piet hatte ihn entsetzlich mitgenommen, und die Vorstellung, ins Gefängnis zurückzugehen, selbst nur für die Dauer des Konzertes, erfüllte ihn mit Entsetzen. Der Kommandant konnte das nicht ganz verstehen, Geel Piet war für ihn ein Kaffer wie alle anderen auch. »Nein, Mann! Das ist unfair! Sie haben Ihr Kaffernkonzert bekommen, jetzt will ich mein Konzert für den Inspektor! Ich bin fair, ich hab Sie am Morgen nach der deutschen Kapitulation aus dem Gefängnis entlassen. Ein Mann muß sein Wort halten.« Docs Rückkehr in sein Häuschen war eine sehr gefühlvolle Angelegenheit gewesen. Dee und Dum hatten es geschrubbt und poliert, und seine Wohnung war niemals vorher so sauber und aufgeräumt gewesen. Gert setzte Doc am Fuß des Hügels ab. Der Weg zu seinem Haus war während der vier Jahre seiner Abwesenheit verfallen und ausgewaschen und war nicht mehr befahrbar. Gert berichtete im Gefängnis, daß es unmöglich sein würde, den Steinway mit dem Laster zurückzubringen. Schon am nächsten Tag schickte Klipkop einen Arbeitstrupp, der die Straße reparieren sollte. Sie strengten sich sehr an. Die Straße sollte am Tag nach dem Konzert fertig sein, damit der Flügel zurückgebracht werden konnte. Auf dem Weg nach Hause hatte Doc die Bemerkung fallenlassen, daß er als erstes den Kaktusgarten erweitern wollte. Gert erzählte das Captain Smit, der dem Aufseher des Arbeitstrupps befahl, sofort nach Beendigung der Straßenreparatur die neuen Terrassen zu bauen, die Doc brauchte. Mrs. Boxall hatte bei H. C. Duncan, der das größte Lebensmittelgeschäft der Stadt besaß, für Doc eingekauft und sich darum ge-
kümmert, daß der städtische Rattenfänger ins Haus kam, der auch die Außentoilette untersucht hatte, um sicherzugehen, daß keine Schlangen oder sonstiges Getier sich in den vergangenen vier Jahren dort eingenistet hatten. Er warf eine Packung Chlor-Pillen in das Loch, und während der ersten Woche mußte man sich beim Benutzen der Toilette die Nase gegen die scharfen Dämpfe zuhalten. Als Dee und Dum die Tüte mit Lebensmitteln von H. C. Duncan auspackten, sahen sie, daß Mrs. Boxall ein Paket von ihrem eigenen, sehr weichen Toilettenpapier beigelegt hatte. Gott weiß, wo sie das herhatte. Während des ganzen Krieges hatte es nur hartes Papier zu kaufen gegeben. Dee und Dum hielten die Rolle an ihre Wangen und waren begeistert über die Sanftheit des Papiers und konnten sich gar nicht vorstellen, daß jemand es für so einen Zweck benutzte. Das fand ich auch, und auch Doc war dieser Ansicht, denn er benutzte immer nur die Goldfield News. Mrs. Boxall gab mir auch eine Flasche Johnny Walker für Doc mit und sagte, daß Mr. Goodhead vom Getränkeladen in Barberton reizend gewesen sei und ihr den Whisky gegeben hätte. Nach meinem Kieferbruch und all den Andeutungen, die ich in der Apostolischen Glaubensmission über das Teufelszeug gehört hatte, war ich mir nicht so sicher, daß Mrs. Boxall das Richtige getan hatte. Ich brachte den Whisky zu Docs Haus und war davon überzeugt, daß der Herr jeden Augenblick einen Blitz aus heiterem Himmel herabschicken könne, der mir die Flasche aus der Hand schlagen und mich dabei vielleicht auch töten würde. Wenn Gott das Rote Meer teilen konnte, dann war es ihm sicher ein leichtes, mit einem Blitz eine Flasche Johnny Walker zu treffen. Schon einige Wochen vor Docs Entlassung schickte Mrs. Boxall den Jungen, der ihr in der Bibliothek half, immer wieder zu Docs Haus, um ihm seine Bücher zurückzubringen. Sie behauptete, daß diese Bücher nicht wirklich das Eigentum der Stadt seien, sondern nur »geliehen« waren. Als Doc am Morgen nach dem Konzert für die Gefangenen in sein Haus zurückkehrte, fand er es genauso vor, wie er es vor vier Jahren verlassen hatte, nur der Steinway fehlte. Einige Zeit später erzählte er mir, daß er sich als erstes auf die Veranda gesetzt und geweint hätte, weil seine Freunde so gut zu ihm gewesen seien. Am ersten Tag von Docs wiedererlangter Freiheit fand ich ihn
nach der Schule im Kaktusgarten. Er schnitt einen abgestorbenen Pachypodium namaquanum ab, einen riesigen Kaktus, der über zwei Meter hoch wird und dessen Glieder wie riesige, stachelige Elefantenbeine in die Luft ragen. Ich machte Kaffee, und wir setzten uns auf die Veranda. Keiner von uns hatte bisher Geel Piet erwähnt, wir wollten beide unsere Trauer um ihn nicht teilen. Nach einer Weile sagte Doc nur: »Keine Briefe für die Angehörigen mehr. Kein nichts mehr.« Dann sprachen wir eine Zeitlang über den Garten, und Doc zeigte auf eine wild wuchernde kranz aloe-Hecke, die er ursprünglich als Windschutz angepflanzt hatte und die jetzt viel zu weit in den Garten hinein gewuchert war. »Wir werden von der Aloe Arborescens umzingelt. Ich gehe bald zum Angriff über, spätestens in einer Woche.« Ich merkte, wie es ihm großen Spaß machte, wieder Pläne schmieden zu können, die Freiheit zu haben, sich die kommenden Tage und Wochen einteilen zu können. Er stand auf, um Kaffee nachzuschenken, und stöhnte. Als ich ihn alarmiert anschaute, sah ich, daß er versuchte, sich seine Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Er sagte lächelnd: »Ich bin ein domkop, Peekay. Heute morgen bin ich den Hügel bis zu unserem Felsen hinaufgestiegen, und jetzt bin ich völlig steif von dem kleinen Aufstieg. Es ist vier Jahre her, meine Muskeln sind untrainiert, und ich gerate schnell außer Atem. Es dauert vielleicht einen Monat, vielleicht auch länger, bevor wir wieder in die Hügel gehen können.« Er ging steif zur Küche, wo ich die Kaffeekanne gelassen hatte, und zum ersten Mal sah ich, daß Doc ein alter Mann geworden war. Er verbrachte den größten Teil des Donnerstags und den ganzen Freitag im Kaktusgarten und war sehr zufrieden, allein zu sein. Er wollte Mrs. Boxall am Samstagmorgen in der Bibliothek besuchen -dem ersten Ferientag und dem Tag, an dem das Konzert für den Gefängnisinspektor stattfinden sollte. Er hatte mich gebeten, sie zu fragen, ob ihr der Zeitpunkt für den Besuch angenehm sei. Mrs. Boxall war ziemlich aufgeregt, als ich ihr sagte, daß Doc sie besuchen wolle. Ich erzählte auch meinem Großvater von Docs Absicht, in die Bibliothek zu gehen, und am frühen Samstagmorgen schnitt er zwei Dutzend langstielige rosa und rote Rosen ab, als Geschenk Docs für Mrs. Boxall. »Er kann ihr ja schlecht einen Strauß Kaktusblüten überreichen, oder?« erklärte er ein bißchen blasiert. Mein
Großvater war ein Rosenmensch und konnte in einem Kaktusgarten keinen Sinn entdecken. Wir kamen in der Bibliothek an, als die Glocke am Turm des Gerichtsgebäudes neun Uhr schlug. Die Bibliothek war noch geschlossen, und der Bibliotheksgehilfe saß auf der Treppe. »Die missus kommt bald«, sagte er. Doc fing an, auf dem Fußweg auf und ab zu gehen, und er blieb stehen und steckte seinen Finger unter seinen Zelluloidkragen und räusperte sich. Dann sah ich Charlie, Mrs. Boxalls kleinen dunkelblauen Austin, der auf uns zufuhr. Er röhrte entsetzlich, aber Doc schien sein Herannahen nicht zu bemerken. »Da kommt sie!« rief ich und gab ihm den Strauß Rosen. Er machte einen kleinen Satz und faßte den Blumenstrauß mit beiden Händen. Charlie hielt vor der Bibliothek an, und Mrs. Boxall würgte den Motor ab. Sie steckte den Kopf aus dem Fenster und rief mir fröhlich zu: »Komm her, Peekay, hilf einem Mädchen aus dem Auto!« In meiner Aufgeregtheit wegen Doc blieb ich erst einmal stehen. »Komm her, Peekay, mach mir die Tür auf, du bist doch kein Bure.« Ich eilte hin und öffnete ihr die Wagentür. »Jetzt, wo der Krieg vorbei ist, können wir alle wieder gute Manieren haben«, sagte Mrs. Boxall und stieg aus Charlie. Ich merkte, daß sie froh war, ein wenig mit mir schimpfen zu können. Dadurch konnte sie die ersten Augenblicke ihres Wiedersehens mit Doc ganz gut überspielen. Sie schaute zu ihm auf und lächelte ihn an, und Doc überreichte ihr die Rosen. »Und hier ist der Mann, der die besten Manieren überhaupt hat«, sagte sie, steckte ihre Nase in die rosa und roten Blüten und atmete tief ein. »Nichts ist so herrlich wie Rosen, finden Sie nicht auch?« Sie wiegte sie wie die Königin in ihrem Arm und streckte Doc die Hand entgegen. »Rosen sagen so viel, ohne daß man ein Wort sagen muß.« Doc schlug die Hacken zusammen und fiel fast dabei um. Dann verbeugte er sich steif, hob ihre Hand weit über ihren Kopf und küßte sie leicht. »Madame Boxall«, sagte er. »Lieber Himmel, ich habe Sie vermißt, Professor. Es ist so schön, daß Sie wieder da sind.« Einen Augenblick lang dachte ich, daß sie weinen würde, aber statt dessen begrub sie ihren Kopf wieder in den Rosen und strahlte, als sie wieder aufsah. »Eine Tasse Tee für Peekay und mich, und für Sie, Professor, habe ich frisch gemahlenen Kaffee aus Kenia. Peekay, hol meinen Korb aus dem Auto.«
Sie gab Doc die Rosen zurück und suchte in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln für die Bibliothek. »Ich habe einen leckeren Madeirakuchen gebacken, er ist in der Dose, neben meinem Korb, bring ihn bitte mit, Peekay.« Als wir in der Bibliothek waren, war alles genau wie früher. Die vier Jahre waren wie ausgelöscht, und es waren derselbe alte Doc und Mrs. Boxall. Doc war ziemlich entsetzt bei der Vorstellung, an diesem Abend ins Gefängnis zurück zu müssen, um sein Wort einzulösen und dem Inspektor etwas vorzuspielen, und Mrs. Boxall bot an, uns hinzufahren. Zu meiner großen Überraschung fragte Doc sie dann, ob sie beim Konzert dabeisein wolle, und sie schien sehr von der Idee angetan zu sein. Wir telefonierten mit Captain Smit, und der sagte, daß Mrs. Boxall hochwillkommen sei. Dann sprachen wir zum ersten Mal über Geel Piet. Mrs. Boxall hatte ihn nie gesehen, aber er war für sie fast so real wie für Doc und mich. Doc klagte, daß es den Sandwich-Fonds jetzt praktisch nicht mehr gäbe, aber zu unserer Überraschung wollte Mrs. Boxall nichts davon hören. »Das ist nur eine vorübergehende Schwierigkeit, Geel Piet darf doch nicht denken, daß wir eine Gruppe von Mamababys sind. Ich habe einen Plan.« Sie sah uns direkt an. »Ich kann ihn noch nicht enthüllen, nicht mal euch beiden. Aber soviel kann ich euch sagen: Ich hatte vorgehabt, mit dem Zug nach Pretoria zu fahren, aber jetzt scheint Pretoria tatsächlich hierher gekommen zu sein.« Sie setzte ihre undurchdringliche Miene auf, und wir fragten nicht weiter. »Es ist mein Plan, und wenn er nicht klappt, bin ich der einzige, der wie ein Idiot dasteht«, verkündete sie. In der Nacht von Geel Piets Tod hatte Captain Smit mich schluchzend und weinend zu dem blauen Gefängnis-Plymouth gebracht, in dem Gert schon wartete, um mich heimzufahren. Er hatte mir gesagt, daß ich eine Trainingspause nötig hätte und bis zur Boxvorführung, die für den Inspektor am Samstag veranstaltet wurde, nicht ins Gefängnis zurückkommen solle. Das waren ganz angenehme Ferientage, aber als kommender Weltmeister im Weltergewicht machte ich mir Sorgen, weil ich nicht trainierte. Es war mir noch nicht richtig klar geworden, daß ich in eine Boxmannschaft zurückkehren würde, in der es Geel Piet nicht mehr gab, und daß ich von jetzt an einfach der jüngste Boxer unter Captain Smit sein würde, der zwar sehr besorgt war, aber viel zu tun hatte.
Samstag abend holte uns Mrs. Boxall unten an Docs Straße ab. Obwohl sie jetzt gut repariert war, war Charlie in seinem gegenwärtigen Gesundheitszustand nicht in der Lage, die Steigung bis zu Docs Haus hochzufahren. Wir kamen kurz vor sieben im Gefängnis an und gingen in den großen Flur. Docs Konzert sollte den Abend eröffnen. Es stellte den kulturellen Teil dar, man wollte ihn hinter sich bringen, solange sich alle noch gut benahmen. Danach würde das Publikum in die Turnhalle gehen, wo die Boxvorführung stattfinden sollte, und im Anschluß daran würde in der großen Halle tikkie-draai getanzt werden. Es roch schon nach den braaivlies-Feuern, die auf dem Paradeplatz angezündet worden waren. Ein Mann spielte draußen im Dunkeln Akkordeon, sein hin- und herschwingender Körper hob sich schwarz vor einem der Feuer ab. Mrs. Boxall, Doc und ich setzten uns in die erste Reihe, damit Doc ohne Schwierigkeiten zu seinem Steinway gehen konnte. Ich hatte Gert nicht mehr gesehen, seit er mich vor vier Tagen nach Hause gefahren hatte, und jetzt kam er zu mir herüber. Ich entschuldigte mich, und wir gingen in eine Ecke, um uns unterhalten zu können. Gert sagte wieder, wie leid es ihm um Geel Piet täte und daß es ohne ihn ganz anders in der Boxmannschaft sei. »Mann, ich versteh das zwar nicht, er war ja nur ein Kaffer, aber ich vermisse ihn sehr«, vertraute er mir an. Er sagte mir auch, daß der Besuch des Inspektors ein voller Erfolg war, und daß Lieutenant Borman bis zum späten Nachmittag dieses Tages beim Kommandanten sehr gut angeschrieben gewesen sei. »Was ist heute nachmittag passiert?« fragte ich und freute mich über die Andeutung, daß Lieutenant Borman in Ungnade gefallen sein könnte. »Der Inspektor stand auf und sagte zu uns allen, daß er nie ein so gut geführtes Gefängnis gesehen hätte. Und daß man in Pretoria von dem Kaffernkonzert gehört hätte.« Er machte eine Pause und riß die Augen auf. »Ich kann dir sagen, Mann, wir wußten genau, wer es denen erzählt hatte, und dachten, daß wir jetzt große Schwierigkeiten bekämen.« Er schüttelte den Kopf. »Aber es kam ganz anders. Der Inspektor sagte, das Konzert sei ein gutes Beispiel für die Gefängnisreform, und Barberton sei wegweisend für andere Gefängnisse. Er beglückwünschte den Kommandanten dafür. Du hättest Pinkie Bormans Gesicht sehen sollen, Mann, er war stinkwü-
tend. Ich machte mir fast in die Hosen. Alle haben ihn breit angegrinst, sogar der Kommandant.« Rotznase kam zu uns und sagte, daß Doc mich sprechen wolle. Gert meinte, wir sähen uns später in der Turnhalle. Doc hatte sich entschlossen, Chopins Nocturne Nr. 5 zu spielen, das Stück, das ich vor ein paar Wochen so erfolglos geübt hatte. Ich kannte die Musik gut genug, um die Seiten für ihn umblättern zu können, und darum wollte er mich bitten. Doc hatte sich einverstanden erklärt, zwei Stücke zu spielen. Als ich ihn nach dem zweiten fragte, hatte er gesagt, es werde eine Überraschung, ich solle nach der Nocturne auf meinen Platz neben Mrs. Boxall zurückkehren. Die große Halle war fast gefüllt, die Wärter und ihre Frauen und Gäste aus der Stadt hatten sich bereits hingesetzt. Der Kommandant ging nach vorne und stellte sich neben den Steinway. »Dames and Heere«, begann er, »ich habe das große Vergnügen, Sie alle bei diesem Konzert begrüßen zu können, das zu Ehren unseres guten Freundes Brigadier Joubert, Gefängnisinspektor von Transvaal, gegeben wird. Der Brigadier hat heute nachmittag sehr viel Gutes über das Barbertongefängnis gesagt, und ich möchte jetzt allen meinen Männern sagen, daß ich sehr stolz auf sie bin. Jetzt sind wir an der Reihe, Freundliches über den Brigadier zu sagen, der ein guter kerel ist, und außerdem auch ein guter Revolverschütze, wie einige von uns heute nachmittag am Schießstand sehen konnten. Wir danken ihm für seinen Besuch und dafür«, sagte der Kommandant grinsend, »daß er es uns so leicht gemacht hat.« Das Publikum lachte, und er fuhr fort: »Nein, ganz im Ernst gesprochen, Männer wie Brigadier Joubert sind verantwortlich dafür, daß die Angestellten im südafrikanischen Gefängnisdienst ihre Köpfe aufrecht tragen können.« Er machte eine Pause und betrachtete seinen großen goldenen Siegelring, bevor er wieder aufschaute. »Das Konzert, das wir letzte Woche für die schwarzen Gefangenen gegeben haben, war, wie der Brigadier freundlicherweise sagte, ein gutes Beispiel für die Gefängnisreform. Es war so eine kleine Idee von mir, und sie hat funktioniert. Aber der Brigadier ist ein Mann mit großen Ideen, die funktionieren, ein großer Mann, der uns die Inspiration und die Kraft gibt, um in unserer Arbeit fortzufahren.« Ich fühlte, wie Mrs. Boxalls Arm zitterte. Als ich sie anschaute, sah ich, daß sie sich heftig anstrengte, nicht lachen zu müssen. »Er ist ein
Mann der Kirche, ein gottesfürchtiger Mann und ein Mann, der sich dem Gefängnisdienst mit seiner ganzen Kraft widmet.« Das Publikum brach in spontanen Applaus aus, und der Kommandant wartete einen Augenblick, bevor er seine Hand hob. »Er ist auch ein kultivierter Mann, und das bringt mich zum ersten Teil unseres heutigen Programms.« Er räusperte sich und schaute sich um. »Sie alle wissen, daß wir in diesem Gefängnis als unseren Gast« - ein oder zwei Zuhörer kicherten, und der Kommandant fuhr fort -, »ja, ich meine es genau so, als unseren geehrten Gast während der vergangenen vier Jahre einen Mann beherbergt haben, der ein musikalisches Genie ist. Heute wird er zum letzten Male für uns spielen. Letzte Woche half er uns bei dem Konzert für die Gefangenen, und heute abend gibt er eine Solovorstellung zu Ehren von Inspektor Joubert. Ich bitte Sie nun, Professor von Vollensteen willkommen zu heißen.« Doc erhob sich, verbeugte sich vor dem Publikum, nickte mir zu, und unter dem Applaus des Publikums gingen wir zum Steinway. Doc verlor keine Zeit, und der Kommandant war noch nicht an seinem Platz angelangt, als die ersten Töne der Nocturne von Chopin erklangen. Zuerst war die Musik wunderbar entspannt, scheinbar einfach und geradeaus, und im Lauf der Zeit wurde die Melodie immer ausgeschmückter. Docs großartige Fingertechnik zeigte sich, als die schwierigen filigranen Melodiebögen für die rechte Hand kamen. Im Mittelteil wurde die Musik immer komplizierter, schnell und drängend, und endete in einem langgezogenen Crescendo, einem Furioso, bei dem Doc den Kopf hin und her warf und wild auf die Tasten hämmerte, was, wie er wußte, bei den Zuhörern immer gut ankam. Die Nocturne klang langsam aus und endete in einem fast unhörbaren Akkord. Doc hatte das Stück gut ausgewählt. Chopins Nocturne Nr. 5 ist nicht schwer zu verstehen, und das Stück ist wunderschön. Das Publikum stand auf und klatschte wie wild. Doc erhob sich, verbeugte sich und bedeutete mir, daß ich auf meinen Platz neben Mrs. Boxall zurückkehren solle. Dann holte er einige Notenblätter aus seinem Klavierstuhl und stellte sie sorgfältig auf dem Notenständer auf. Er wandte sich ans Publikum und räusperte sich. »Meine Damen und Herren. Heute abend möchte ich das nächste Stück, das ich erst einmal gespielt habe, einem Freund, einem sehr
guten Freund widmen. Ich habe diese Musik nach ihm benannt. Ich spiele das >Requiem für Geel Piet
tig zusammen und schob es zurück in die Hosentasche. »Ich kann nur vermuten, daß er ein großer Mann gewesen sein muß, wenn der Professor etwas für ihn komponiert hat. Ich bitte Sie jetzt alle, sich zu erheben, und um nochmaligen Applaus für den Professor.« Ich sah, daß Captain Smit breit grinste und wie verrückt klatschte. Auch der Kommandant schien sich entschlossen zu haben, die Ironie des Ganzen zu ignorieren, und er klatschte eifrig. Ich glaube, er sah schon die Rangabzeichen eines Colonels auf dem Revers seiner Uniformjacke. Doc stand während der Rede des Brigadiers mit gebeugtem Kopf da, und ich sah, daß er sein Taschentuch herauszog und hineinschneuzte. Ich wußte, daß er um Geel Piet weinte. Aber ich wußte auch, daß Geel Piet das alles sehr komisch gefunden hätte. »Ach Mann«, hätte er gesagt, »warum muß ein Mann immer warten, bis er tot ist, bis so 'ne Witzveranstaltung stattfindet?« Dann gingen die Wärter, ihre Frauen und die anderen Gäste in die Turnhalle, um sich die Boxveranstaltung anzuschauen. Die Stühle wurden aus der Halle getragen, und alles wurde für die Burenmusik und das tickie-draai fertig gemacht, das zusammen mit dem braai-vlies den Höhepunkt des Abends bilden sollte. Captain Smit hatte sich ein schlaues Verfahren für die Boxvorführung ausgedacht. Alle Boxer saßen in der ersten Zuschauerreihe. Er stand mit einer Pfeife um den Hals im Ring und spielte den Ringrichter. Als das Publikum sich gesetzt hatte, pfiff er, und ich stieg mit Rotznase in den Ring. Wir schüttelten uns die Hände, Captain Smit pfiff wieder, und Rotznase und ich fingen an zu boxen. Nach jeder Runde verließ einer der Boxer den Ring, und ein anderer ersetzte ihn. Da ich der Jüngste war, ging ich zuerst, Fonnie Kruger kam hoch und boxte die nächste Runde mit Rotznase. Dann ersetzte Maatie Snyman Rotznase und kämpfte gegen Fonnie, und dann verließ Fonnie den Ring, und Nels Stekhoven kam herauf. So ging es weiter bis zu den Schwergewichtlern. Klipkop trat gegen Gert an, und als Witz kam dann ich noch einmal in den Ring und kämpfte die letzte Runde gegen Klipkop. Das Publikum fühlte sich gut unterhalten, da jeder Boxer zuerst gegen einen leichteren und dann gegen einen schwereren Gegner kämpfte. Wir kämpften so hart wie möglich, damit das Publikum eine gute Show hatte. Es ging wie am Schnürchen, und Captain Smit sagte kein Wort, sondern blies nur in seine
Pfeife, um eine Runde zu starten und zu beenden. Als ich mit Klipkop im Ring stand, johlte die Menge wie verrückt, und jemand rief: »Mach ihn fertig, Peekay!« Alle lachten. Ich tänzelte um Klipkop herum und machte ihn verrückt und boxte ihn in den Solarplexus. Er versuchte, mit gewaltigen Aufwärtshaken Kopftreffer bei mir zu landen, schlug aber jedesmal meilenweit daneben. Die Leute genossen das sehr, und schließlich pfiff Captain Smit, hielt meine Hand hoch, und alle jubelten. Danach ging ich zu Doc und Mrs. Boxall und sagte ihnen, daß ich mich umziehen müsse und sie dann beim braaivlies treffen würde. Mrs. Boxall sagte, daß sie mit dem Inspektor reden wolle und daß sie froh wäre, wenn Doc ihr dabei Schützenhilfe leisten würde, und daß sie mich dann anschließend treffen würden. Als ich ging, rief sie mich zurück. »Peekay, ich hab mich nie besonders für deine Boxerei interessiert. Aber du scheinst ja ziemlich gut zu sein. Du wirst bestimmt eines Tages Weltmeister im Weltergewicht. Wirklich prima, mehr kann ich nicht dazu sagen!« »Du bist schon ein echter Champion. Absoludel!« meinte Doc. Wir waren alle im Duschraum und zogen uns um, als Klipkop hereinkam. »Captain Smit möchte, daß ihr alle zurück in die Turnhalle kommt, wenn ihr fertig seid. Beeilt euch, ihr müßt in zehn Minuten dort sein. Wenn ihr in die Turnhalle kommt, ist es dunkel, nur die Ringbeleuchtung ist angeknipst.« Er hatte sich beim Sprechen eilig umgezogen, fummelte an seinen Hemdknöpfen herum und setzte sich dann, um sich die Strümpfe und Schuhe anzuziehen. »Setzt euch im Dunkeln hin und seid ruhig. Nicht in der Nähe der Tür, sondern auf der gegenüberliegenden Seite des Rings, verstanden?« Wir nickten, und er lief aus dem Raum. Wir saßen noch nicht lange in der dunklen Turnhalle, da öffnete sich eine der Schwingtüren, und Licht aus dem Flur fiel in die Halle. Im Licht standen Captain Smit, Klipkop und, zwischen den beiden, Lieutenant Borman. Die Tür schwang wieder zu, und man konnte die drei Männer nur undeutlich erkennen, als sie zum Ring gingen. Dann erschienen sie plötzlich in dem Lichtkegel, der den Ring beleuchtete. »Klettern Sie rein, Borman, klettern Sie in den Ring«, sagte Captain Smit.
»Was haben Sie vor, Mann, was ist los?« hörten wir Lieutenant Borman sagen. »Klettern Sie einfach rein, wir sagen es Ihnen gleich. In einer Minute ist Ihnen alles klar«, sagte Captain Smit. Borman kletterte in den Ring, und Captain Smit und Klipkop folgten. Je ein Paar Boxhandschuhe hingen an den beiden Pfosten in den Boxerecken, und in einer neutralen Ecke lag etwas, das wie ein zusammengerolltes Stück Zeltplane aussah. Wie Gaptain Smit trug auch Lieutenant Borman Zivilkleidung, ein offenes Hemd und lange Hosen. Captain Smit lehnte sich in die Seile und zog sich die Schuhe aus. Die Sokken ließ er an. »Bitte ziehn Sie die Schuhe aus, Lieutenant«, sagte Klipkop höflich. »Was ist denn hier los, Mann?« fragte Borman mit leicht angespannter Stimme. »Ich kämpfe nicht gegen Sie, Smit. Ich kämpfe mit niemandem. Was ist hier los?« »Bitte ziehn Sie Ihre Schuhe aus, Lieutenant«, wiederholte Klipkop. Captain Smit hob seine Schuhe auf und stellte sie ordentlich neben einen Eckpfosten. »Ich hab doch keinen Streit mit Ihnen, Smit. Ich hab Ihnen nie persönlich etwas getan. Warum wollen Sie mit mir kämpfen?« »Ziehn Sie Ihre Schuhe aus, oder ich zieh sie Ihnen aus, Lieutenant«, sagte Klipkop ruhig. »Fassen Sie mich nicht an, verstanden!« schimpfte Borman. »Ich bin Ihr Vorgesetzter, Oudendaal! Behandeln Sie mich mit Respekt, oder ich schreibe einen Bericht über Sie, verstanden?« Der Ton seiner eigenen Stimme machte ihm Mut, und er schüttelte seinen Zeigefinger, während er Klipkop anschrie. Klipkop seufzte, schüttelte langsam den Kopf und ging auf Lieutenant Borman zu. Borman zog eilig einen Schuh aus und warf ihn auf die Zeltplane. Dann zog er den anderen aus und stellte beide direkt neben dem zusammengerollten Stück Zeltplane in die neutrale Ecke. Captain Smit hatte kein Wort gesprochen seit er in den Ring gekommen war, und ich spürte, daß Borman langsam nervös wurde. Klipkop nahm das am nächsten zum Lieutenant hängende Paar Boxhandschuhe und ging damit zu ihm. »Bitte geben Sie mir die Hand, Sir«, sagte er mit sachlich klingender Stimme.
Lieutenant Borman verschränkte die Arme und versteckte seine Hände in den Achseln. »Nein, Mann! Auf keinen Fall! Sie können mich nicht zwingen, zu kämpfen. Smit soll erst sagen, was ich getan habe.« Captain Smit hatte inzwischen die Boxhandschuhe, die in seiner Ecke hingen, genommen, klemmte sich einen zwischen die Beine und schlüpfte mit der Hand in den anderen. »Sagen Sie es mir gefälligst, verstanden?« rief Borman. Captain Smit schaute Borman direkt an. Er zog den Handschuh langsam wieder aus und ließ ihn fallen. Dann öffnete er seine Knie, und der zweite Handschuh fiel zu Boden. Er ging in die neutrale Ecke und hob das zusammengerollte Stück Leinwand auf. Er hielt sich die zusammengerollte Plane unters Kinn, und sie rollte sich auf. Mein Herz setzte aus. Das Stück Leinwand, das Captain Smit hochhielt, war mit getrocknetem Blut bedeckt. Borman trat entsetzt einige Schritte zurück, faßte sich aber gleich wieder. »Was soll das, Mann? Ich hab das noch nie gesehn.« Captain Smit sagte nichts, begann aber, die Plane wieder aufzurollen. Als ich vorhin in den Ring geklettert war, hatte ich schreckliche Angst gehabt, dort Blutspuren von Geel Piet zu finden, aber die alte Leinwandplane war entfernt und der Ring mit einer neuen Plane ausgelegt worden. Als Captain Smit das Stück blutbefleckte Plane hochhielt, kam der Schock zurück und ich fing, ohne es zu merken, an zu schluchzen. Plötzlich bedeckte eine große harte Hand meinen Mund, und Gert legte mir den Arm um die Schulter und zog mich an sich. Captain Smit stellte die Rolle zurück in die Ecke und hob seine Boxhandschuhe wieder auf. Klipkop öffnete Bormans verschränkte Arme und zog ihm die Handschuhe an. Dieses Mal versuchte der Lieutenant nicht, Klipkop zu unterbrechen, während er ihm die Handschuhe zuschnürte. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen! Ich schwöre, ich war in der Nacht zu Hause, als der Kaffer starb. Ich kann es beweisen! Ich mußte nach Hause, weil meine Frau einen Asthmaanfall hatte. Alle haben gesehn, daß ich nicht bei dem Kaffernkonzert war. Und zwar, weil ich zu Hause war, ich bin angerufen worden, meine Frau hatte einen schlimmen Anfall, und ich mußte heim. Sie sind verrückt, Mann! Sie sind verrückt, ich hab es nicht getan. Ich hab diesen Kaff er nicht umgebracht!«
Klipkop schnürte Captain Smits Handschuhe zu und ging in die Mitte des Rings. »Keine Kopfstöße, keine Tritte, kämpft fair«, sagte Klipkop, kletterte aus dem Ring und ließ Smit und Borman zurück. Captain Smit ging auf den Lieutenant zu, aber Borman hielt die geöffnete Hand mit nach außen gedrehter Handfläche hoch. »Halt! Ich geb zu, daß ich in Pretoria Meldung gemacht hab, wegen dem Kaffernkonzert, das geb ich zu. Okay, das hab ich gemacht. Ich dachte, es war meine Pflicht, sonst nichts. Dafür können Sie mich nicht bestrafen. Ich habs gemacht, weil ichs für richtig gehalten hab.« Captain Smit schob die geöffnete Hand zur Seite und landete eine harte Rechte in dem Fettpolster oberhalb von Bormans Gürtel. Der Lieutenant klappte zusammen, hielt sich mit beiden Händen den Bauch und versuchte Luft zu schnappen. Smit stand über ihm und wartete ab. Ohne Vorwarnung schlug Borman Captain Smit plötzlich in die Eier. Der Captain stolperte rückwärts, griff nach seinen Genitalien und ging in die Knie. Borman sprang blitzschnell auf, schlug Captain Smit seitlich auf den Kiefer, und der Mann stürzte zu Boden. Borman schrie: »Sie Kaffern-boetie, Sie Niggerfreund, mit mir nicht, verstanden?« Er trat Captain Smit in die Rippen. Klipkop war in den Ring zurückgeklettert, ging auf Borman zu und nahm ihn in den Clinch. Aber jetzt war Borman gereizt, er war ein großer Mann, und als Captain Smit versuchte aufzustehen, hatte er sich freigekämpft. Ein weiterer Schlag krachte seitlich an den Kopf des Captain, und Smit fiel wieder hin. Klipkop versuchte wieder, Lieutenant Borman festzuhalten. »Ich hab den Bastard umgelegt, verstanden!« schrie Borman. »Ich hab diesen gelben Nigger umgelegt. Er wollte mir nicht sagen, von wem er die Briefe hat, wer die Briefe reingebracht hat. Ich hab ihn auf frischer Tat ertappt, mit zwei Briefen, Mann, auf frischer Tat! Zwei verdammte Briefe in seiner Tasche. Er hats mir nicht gesagt. Ich hab ihm jeden Knochen in seinem Gesicht zerschlagen. Ich hab ihm den Eselspimmel in den Arsch gerammt, bis er seine Eingeweide ausgeschissen hat, aber er hats mir nicht gesagt! Der schwarze Bastard hat dichtgehalten!« Borman hatte Schaum in seinen Mundwinkeln und fing an zu schluchzen. Captain Smit war aufgestanden und sah Borman an, der jetzt nicht mehr versuchte, sich aus der Umklammerung Klipkops zu
befreien. Mit seinen Boxhandschuhen signalisierte Smit, daß Borman kämpfen solle. Klipkop ließ ihn los, und Borman rannte auf Smit zu. Er lief direkt in eine gerade Linke hinein, die ihn brutal stoppte. Borman versuchte es noch einmal, und Captain Smit stoppte ihn wieder, indem er ihm eine weitere Linke ins Gesicht servierte. Man konnte deutlich sehen, daß Borman niemals geboxt hatte. Blut lief ihm aus der Nase, und er versuchte es mit dem Arm abzuwischen. Als er verschmiertes Blut auf einem Arm sah, starrte er entgeistert darauf. »Scheiße, ich blute!« schrie er. »Jesus Christus, ich blute!« Dann kam Captain Smit heran und schlug Borman noch einmal direkt ins Gesicht. Der Schlag schien seine Nase einzudrücken, und er ging zu Boden. Er bedeckte sein Gesicht mit den Handschuhen, und wimmerte: »Nicht noch mehr, nicht noch mehr!« Captain Smit bedeutete Klipkop, Borman wieder auf die Beine zu stellen. Klipkop zerrte an ihm, aber Borman weigerte sich aufzustehen. Das Blut aus seiner Nase hatte sein weißes Hemd befleckt, und seine Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen. Klipkop ließ ihn los, und er fiel wieder zu Boden. Dann kroch er auf allen vieren zu Captain Smit und hielt Smits Beine fest. »Bitte schlagen Sie mich nicht noch mal, Captain. Ich versteh nicht, warum Sie mir das antun. Er war doch nur ein schmutziger stinkender Kaff er, warum schlagen Sie einen Weißen wegen einem Kaffern?« Captain Smit trat seine Beine aus Bormans Umarmung frei. »Sie können nicht mal kämpfen, Sie mieser Bastard. Sie können nicht mal aufstehn und wie ein Mann kämpfen!« Es waren die ersten Worte, die Smit im Ring gesprochen hatte. Er drehte sich um und streckte Klipkop die Hände entgegen, damit er ihm die Handschuhe auszog. Dann ging Smit in die neutrale Ecke, nahm die zusammengerollte Leinwand und rollte sie neben dem schluchzenden Offizier auf. Klipkop packte Borman an den Füßen, Captain Smit packte ihn an den Handgelenken, und sie hoben ihn auf die blutbefleckte Leinwand und rollten ihn darin ein. »Das Blut dieses Kaffern wird Sie bis in den Tod verfolgen«, sagte Captain Smit. Er hob seine Schuhe auf und kletterte mit Klipkop aus dem Ring. Klipkop ging zur Wand und knipste das Licht aus. In der Dunkelheit erklang von der Schwingtür her plötzlich der Ruf: »Abantu bingelela Onoshobishobi Ingelosi!« Die Gefangenen
grüßen den Kaulquappenengel! Die Tür öffnete sich, und im hereinflutenden Licht sahen wir, wie ein Schwarzer eilig die Turnhalle verließ. Die Gefangenen würden es also erfahren. Der Fluch würde bekannt werden. Lieutenant Borman war erledigt. Als ich hinauskam, wurde schon kräftig getanzt. Jemand hämmerte Burenmusik auf dem kleinen Klavier, ein Akkordeonspieler und ein Banjospieler begleiteten ihn. Auf dem Paradeplatz standen die Wärter und ihre Frauen um die Barbecue-Feuer herum, die schon heruntergebrannt waren. Hausgemachte Würste wurden über die Glut gehalten, und das in die Glut tropfende Fett ließ kleine Stichflammen auf züngeln. Doc und Mrs. Boxall waren nirgends zu sehen. Ich schaute dem Mann zu, der auf das kleine Klavier eindrosch, und war froh, daß er nicht an Docs Steinway saß. Dann klopfte mir jemand auf die Schulter. »Wie geht's?« Es war Gert. »Wie kommst du heim?« fragte er. »Vielleicht kann ich den Plymouth ausleihen und euch alle nach Hause fahren.« Ich erklärte ihm, daß Mrs. Boxall uns mit ihrem alten Klapperkasten hergebracht hatte, daß es aber sehr zweifelhaft sei, ob er es noch lange mache. »Du weißt doch, wo der Professor und diese Dame ist, oder?« Und ohne meine Antwort abzuwarten, sagte er: »Ich habe gesehen wie sie mit dem Brigadier und dem Kommandanten im Verwaltungsgebäude verschwunden sind.« Gert war wirklich erstaunlich. Er wußte immer, was los war. »Vielleicht kriegt der Professor eine Medaille oder so was für das Kaffernkonzert.« Dann kicherte er. »Jesus! Ich hoffe, der Brigadier kriegt nie raus, daß Geel Piet nur ein armer alter Knastbruder war.« Er boxte mich leicht auf die Schulter. »Tut mir leid, Mann, daß ich dir eben den Mund zugehalten hab.« Ich sah zu Boden, die Erinnerung an die blutbefleckte Leinwand war noch zu frisch, als daß ich Gert hätte anschauen können. »Das war ganz richtig«, sagte ich leise. »Bis dann, Peekay, ich hau jetzt besser ab«, sagte Gert. Endlich kamen Doc und Mrs. Boxall. Ich rannte zu ihnen und sah, daß Mrs. Boxall ganz aufgekratzt war. »Großer Gott, Peekay, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Ich glaub, wir haben es geschafft!« rief sie aus. »Geschafft?« fragte ich. »Was geschafft?« korrigierte sie mich automatisch. »Wir haben
die Erlaubnis erhalten, einen Briefdienst zu organisieren. Ist das nicht großartig ? Der Brigadier sagt, daß jeder Gefangene pro Monat einen Brief schreiben und erhalten darf. Es ist das erste Mal, daß so etwas in Südafrika erlaubt wird. Nach sechs Monaten Probezeit wird es zu einer festen Einrichtung.« Sie faßte mich an einer Hand, Doc an der anderen, und wir tanzten zur tickie-draai-Musik im Kreis herum. »Wir brauchen deine Hilfe, weil du außer Englisch und Afrikaans drei afrikanische Sprachen sprichst. Jeden Sonntag morgen kommen wir nach der Kirche hierher, und die Gefangenen können uns zwei Stunden lang ihre Briefe diktieren. Ich finde, hier hat das Gute gesiegt. Der Brigadier war sehr beeindruckt, als ich ihm sagte, daß die Aktion unter der Schirmherrschaft des Earl of Sandwich-Fonds laufen wird.« Sie blieb stehen, außer Atem vom Tanzen, und lachte dann laut auf. »Der Kommandant hat dem Brigadier versichert, daß der Earl of Sandwich-Fonds eine sehr respektable Organisation mit weltweiten Kontakten sei, und daß alle Wärterfrauen an Weihnachten und an Ostern Kuchen dafür backen.« Wir fingen alle an zu lachen. Schließlich sagte Doc: »Madame Boxall, Sie sind ein wahres Goldstück, absoludel. Dafür kriegen Sie eine Eins mit Stern.« Sie machte einen kleinen Knicks. »Vielen Dank, werter Herr!« Sie lächelte Doc strahlend an. Um nicht unhöflich zu erscheinen, blieben wir noch eine Weile und gingen dann zum Auto. Als wir näher kamen, hörten wir merkwürdige Geräusche und sahen dann ein Paar Stiefel unter Charlie herausragen. Gert kroch unter dem Auto hervor und wischte sich die ölbeschmierten Hände an seinen Khakishorts ab. Er verbeugte sich ungeschickt vor Mrs. Boxall. »Spricht die Mevrou Afrikaans?« fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. »Ich übersetze, wenn du das willst.« Gert nickte. »Sag ihr, daß der Wagen jetzt mehr Kraft hat, er lief nur noch auf einem Zylinder«, sagte er schnell und verschluckte beim Versuch, seine Schüchternheit zu unterdrücken, ein paar Worte. »Aber das Diff knackt immer noch übel.« Er wandte sich an Mrs. Boxall. »Wenn Sie den Wagen morgen hierherbringen, vielleicht gleich nach der Kirche, leih ich mir den Plymouth aus und fahr Sie zurück. Dann kann ich Ihren Wagen reparieren.« Ich stellte Gert Mrs. Boxall vor und übersetzte, was er gesagt hatte. Mrs. Boxall war sehr dankbar und nannte Gert »einen lieben, süßen Jungen.« Das über-
setzte ich nicht, aber ich glaube, er hatte es auch so verstanden, denn er wirkte noch verlegener als vorher. »Ach du je, ich habe keine Ahnung, was ein Knacken im Diff ist. Ist das etwas sehr Schlimmes?« »Es ist das Differential, ich glaube, es ist ziemlich schlimm«, antwortete ich, ohne Gert zu fragen. Gert zog sich die Socken hoch, obwohl sie es gar nicht nötig hatten, und stammelte: »Gute Nacht, Mrs. Boxall« auf englisch und verschwand dann eilig in der Dunkelheit. Wir fuhren los. Charlie schaffte es ohne Schwierigkeiten den Shebahügel hoch, jetzt, wo er auf beiden Zylindern fuhr, war das eine Kleinigkeit. Wir setzten Doc am Fuß seines Hügels ab. Ich glaube, der neue Zweizylinder-Charlie hätte es leicht bis ganz nach oben geschafft, aber Doc hatte Mrs. Boxall noch nie in sein Haus eingeladen, und sie sagte, als sie mich nach Hause fuhr: »Es war nicht der richtige Zeitpunkt.« Was immer das auch heißen mochte.
16 Mrs. Boxall versprach, wegen des neuen Briefdienstes im Gefängnis mit meiner Mutter zu sprechen. Die nötigen Arbeiten sollten sonntags vormittags im Gefängnis gemacht werden, und ich hatte starke Zweifel, ob ich daran teilnehmen dürfe. Der Sonntag war immer ein komplizierter Tag voller Tabus. Morgens ging es mit der Sonntagsschule und dem Gottesdienst los, und abends versammelte sich die Gemeinde noch einmal. Pastor Mulvery hielt eine kurze Ansprache, und dann legten einzelne Gemeindemitglieder Zeugnis für den Herrn ab. Sonntags waren mir nur religiöse Verrichtungen gestattet, aber da ich kein wiedergeborener Christ war, nützte es auch nichts, wenn ich Dee und Dum aus der Shangaanbibel vorlas, diese Tätigkeit verwandelte sich nicht in Ziegelsteine für mein Haus im Himmel. Dabei gehörte Bibellesen zu den angesehensten Arbeiten für den Herrn. Ich sollte täglich drei Seiten aus dem Neuen Testament lesen und zehn Seiten am Sonntag, und mein sonntägliches Pensum las ich während der Botschaft vom Herrn, die Pastor Mulvery verkündete. Wenn etwas eine Botschaft vom Herrn
genannt wird, könnte man annehmen, daß es sich um eine tatsächliche Botschaft handelt, die man jemandem ausrichten kann. Aber Pastor Mulvery stückelte seine Botschaften aus einzelnen Bibelzitaten zusammen und zog am Schluß höchst ungewöhnliche Folgerungen daraus. Alles lief darauf hinaus, daß Pastor Mulvery recht hatte und daß alle Evangelisten seit dem heiligen Paulus Unsinn verkündet hatten. Besonders gern griff er die katholische Kirche an. Immer wieder ließ er sich darüber aus, daß sie das Wort Gotte's verdreht hätte. Er behauptete, daß die Mönche, die das Evangelium des heiligen Johannes ins Englische übersetzt hatten, weder richtig Griechisch noch richtig Hebräisch verstanden hatten. Pastor Mulvery verstand zwar selbst weder Latein noch Griechisch und selbstverständlich kein Hebräisch und konnte nie ein Beispiel für eine falsche Übersetzung geben, das ich mit Doc hätte überprüfen können, aber trotzdem war er groß darin, die katholische Kirche immer wieder wüst zu beschimpfen. Eines ist sicher, kein Mensch wollte beim Sonntagabendgottesdienst ein Katholik sein, wenn Pastor Mulvery seine Botschaften verkündete. Da mein sonntägliches Bibellesen meine Ziegelsteine im Himmel nicht vermehrte, wurden von mir andere gute Taten erwartet. Jeden Sonntag abend fragte mich meine Mutter danach. Manchmal mußte ich mir wirklich etwas ausdenken, zum Beispiel, daß ich für Hitler gebetet hätte. Was ich natürlich nicht getan hatte, aber es klang gut und war so ungewöhnlich, daß meine Mutter keinen Verdacht schöpfte. Die Tatsache, daß ich für Hitler gebetet hatte, führte an diesem Abend zu einer echten Krise. Marie, die am Sonntag immer zum Abendessen bei uns war, meinte, daß es nicht so viel wert sei, wenn ich für Hitler betete, als wenn ein Sünder für ihn betete. Meine Mutter erörterte dann lang und breit mit ihr, ob es überhaupt gut sei, wenn ein Sünder für einen anderen Sünder bete. Mein Großvater sagte, es sei Zeit für ihn, sich zurückzuziehen, damit er für weniger Streitgespräche dieser Art beten könne. Meine Mutter antwortete ihm, da es Sonntag sei, würde sie ihm nicht sagen, wie grausam und verletzend sie seine Bemerkung gefunden habe. Also ging es um weit mehr als nur darum, daß Mrs. Boxall meine Mutter fragte, ob ich jeden Sonntag zwei Stunden ins Gefängnis dürfe. Eine Menge Hin und Her mit dem Herrn stand bevor, und ich
befürchtete, er würde nicht ohne weiteres einsehen, daß es die nützlichste Sabbatharbeit für mich wäre, wenn ich mir von einem Haufen Krimineller Briefe diktieren ließe. Meine Befürchtungen bewahrheiteten sich, und der Briefdienst mußte noch einen Monat warten, bis meine Mutter sich mit dem Herrn über die Einzelheiten geeinigt hatte. Erst mußte in der Bibel ein Präzedenzfall gefunden werden. Ich landete einen Volltreffer, als ich erwähnte, daß der heilige Paulus eine Epistel aus dem Gefängnis in Rom geschrieben habe. Derlei Informationen hatte meine Mutter gern zur Hand, wenn sie sich mit dem Herrn unterhielt, und ich erwartete eine baldige Antwort von ihm. Mein Großvater sagte später, daß meine Bemerkung über den heiligen Paulus ein Geniestreich gewesen sei. Aber es stellte sich heraus, daß der Herr nicht ganz zufrieden war. Paulus war ein wiedergeborener Christ, der auf der Straße nach Damaskus zum wahren Glauben gefunden hatte, und er war von einem unrechtmäßigen römischen Regime ins Gefängnis gesteckt worden. Die Gefangenen in Barberton hingegen waren Kriminelle, die von einer rechtmäßigen Regierung abgeurteilt worden waren. Es lief darauf hinaus, daß Paulus die Arbeit des Herrn verrichtete, während ich möglicherweise dem Teufel dabei half, harten Kriminellen Briefe zu schreiben, die nichts Gutes im Schilde führten und ein Netz aus Intrigen über Südafrika werfen wollten. An meine Frau Umbela, ich schicke Dir Grüße, in tiefer Schande. Wer füttert unsere Kinder? Hier hob ich ein schweres Lehen, aber eines Tages komm ich zu Dir zurück. Die Arbeit ist hart, aber ich bin stark, und ich lebe dafür, um Dich wiederzusehen. Dein Ehemann, Mfulu Ich konnte meiner Mutter nicht sagen, wie harmlos die Briefe in Wirklichkeit waren, weil sie nichts von den früheren Briefen oder vom Tabak, vom Zucker und vom Salz wußte. Deshalb las ich in der darauffolgenden Woche wie verrückt im Neuen Testament. Irgend etwas mußte darin stehen, was mir helfen konnte. Pastor Mulvery suchte immer kleine, nicht zusammengehörende Teile heraus und
setzte sie so zusammen, daß sie alles mögliche bedeuten konnten. Ich war sicher, daß ich das auch konnte. Ich wandte mich mit dem Problem an Doc, aber diesmal konnte er mir nicht helfen. Er sagte, den großen deutschen Lutherkennern zufolge hätte der heilige Paulus die Briefe aus dem Gefängnis etwa 63 nach Christus geschrieben. Das war ganz schön zu wissen, half mir aber nichts. Um so ein Problem lösen zu können, war Doc viel zu logisch, deshalb wandte ich mich an meinen Großvater, der nach meiner wirkungsvollen Bemerkung über den heiligen Paulus daran interessiert zu sein schien, daß die Debatte fair beendet würde. Wir setzten uns auf die Stufen, die zu einer der Rosenterrassen hochführten, mein Großvater klopfte seine Pfeife aus, stopfte sie, zündete sie an und starrte durch die blauen Tabakwolken über das rostige Dach in den blaßblauen Himmel. Nach langer Zeit sagte er: »Alles, was ich von der Bibel weiß, ist, daß man damit nur Schwierigkeiten kriegt. Ein einziges Mal hab ich etwas Nützliches über sie gehört. Ein Krankenbahrenträger, mit dem ich in der Schlacht von Dunway zusammen war, erzählte mir damals, daß er einmal von einer Mauserkugel ins Herz getroffen worden wäre, wenn er nicht eine Bibel in seiner Brusttasche gehabt hätte. Die Bibel rettete ihm das Leben. Er erzählte mir, daß er seitdem immer eine Bibel bei sich trüge und sich völlig sicher fühle, weil Gott in seiner Brusttasche war. Wir suchten einen Sergeant und drei Kavalleristen, die während eines Erkundungsganges verletzt worden waren und sich in einem trokkenen dongar eingegraben haben sollten. In Wirklichkeit glaube ich, daß sich mein Freund sicher fühlte, weil die britische Artillerie annahm, die Burenmauser treffe nur auf eine Entfernung von achthundert Metern, und wir waren mindestens zwölfhundert Meter von den feindlichen Linien entfernt. Nun, niemand hatte es für nötig gehalten, die Buren über die ungenügende Reichweite ihrer brandneuen deutschen Gewehre aufzuklären, und eine Mauserkugel traf ihn direkt zwischen die Augen.« Er zog an seiner Pfeife. »Was beweist, daß man sich immer darauf verlassen kann, daß die britischen Militärinformationen nicht stimmen, daß die Buren tödlich genau sind, daß die Bibel gut für Herzensangelegenheiten, aber hoffnungslos für Angelegenheiten des Kopfes ist und schließlich, daß Gott bei niemandem in der Tasche sitzt.« Er schien mit seiner
säuberlichen Zusammenfassung sehr zufrieden zu sein, mir half sie keinen Deut weiter. Aber drei Wochen nachdem Mrs. Boxall zum ersten Mal an meine Mutter herangetreten war, beschloß mein Großvater, sich in die Debatte beim Abendessen einzumischen. Meine Mutter fing damit an, indem sie sagte, daß der Herr »tiefbetrübt« über die ganze Angelegenheit sei, die »sehr auf ihr laste.« Sie liebte Ausdrücke wie »tiefbetrübt« und »sehr auf jemand lasten«, und ich wußte, daß Marie davon sehr beeindruckt war. Maries Cousine hatte ihren Mann durch einen Schießunfall verloren und stand jetzt mit einem kleinen Kind allein da. Meine Mutter hatte Marie getröstet, indem sie sagte, daß sie den Herrn bitten würde, »ihre Wunden zu schließen und ihr den Balsam seines Trostes in ihr Herz zu gießen. Er würde der Witwe ein Mann und dem Kind ein Vater sein.« Marie schniefte und sagte, daß das die schönsten Worte seien, die sie jemals gehört hätte. Mein Großvater räusperte sich. »Waren da nicht zwei Typen, die links und rechts von Christus gekreuzigt wurden, waren das nicht richtige Schurken?« »In der Bibel steht, daß es Diebe waren, die neben dem Herrn gekreuzigt wurden. Ich sehe aber keinerlei Zusammenhang mit unserem Problem«, antwortete meine Mutter, konnte aber ihre Verwirrung nicht ganz verbergen. »Ich erinnere mich nicht daran, in der Bibel gelesen zu haben, daß sie aus dem Gefängnis nach Hause geschrieben hätten.« Ich wußte, daß die Meinung meines Großvaters zu einzelnen Bibelstellen nicht sehr geschätzt war, da er ein Sünder war, der sich standhaft geweigert hatte, Christus in sein Leben aufzunehmen. »Ich glaube mich daran erinnern zu können, daß Christus einem der beiden vergeben und ihm ein Bett im Himmel versprochen hat. Oder täusche ich mich?« »Großer Gott! Der Herr verspricht Menschen doch keine >Betten< im Himmel«, sagte meine Mutter scharf. »>Wahrlich, wahrlich, ich sage Dir, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein<, das sagte der Herr.« »Aus dieser Bemerkung schließe ich, daß Christus nichts dagegen hat, wenn verurteilte Schwerverbrecher das Königreich Gottes betreten«, erklärte er.
»Aber selbstverständlich nicht! Das ist es ja. Jesus wurde auf die Erde geschickt, um die schlimmsten Sünder zu retten. Sein Mitgefühl gilt uns allen, seine Liebe dauert ewig, und sein Verständnis ist unbeschränkt. Bitte ihn um Verzeihung, und du bist gerettet. Du bist kein Mörder oder Dieb mehr, du gehörst zu den Erlösten des Herrn. Der Dieb am Kreuz neben ihm wurde gerettet, als er seine Sünden beichtete, er wurde vom Blut des Lammes reingewaschen.« »Halleluja, gelobt sei sein kostbarer Name«, antwortete Marie automatisch. »Und die Gefangenen hier in Barberton. Könnten sie genau wie er gerettet werden?« »Du weißt genausogut wie ich, daß sie gerettet werden könnten«, antwortete meine Mutter etwas steif. »Und wie?« »Indem sie Christus in ihr Leben einlassen, indem sie dem Teufel abschwören und...« Meine Mutter hörte auf zu sprechen und schaute meinen Großvater direkt an. »Du weißt ganz genau wie.« »Ach ja. Und du sorgst dafür?« »Nun, nein. Die Anglikaner und die Holländisch Reformierte Kirche arbeiten im Gefängnis, und sie tun absolut nichts. Es ist eine Schande. Wir haben viel gebetet, darum gebetet, daß der Herr es den Missionaren der Gesellschaft Gottes ermöglicht, im Gefängnis arbeiten zu dürfen, damit sie dort sein Wort verkünden und diesen armen, unglücklichen Sündern das Evangelium bringen können.« »Ist dir denn nicht klar, daß der Herr deine Gebete erhört hat?« fragte mein Großvater. «Wovon um alles in der Welt sprichst du?« »Nun, wenn der Junge direkten Kontakt zu den Gefangenen hat, dann könnte er doch Traktate und so weiter verteilen?« Das war ein meisterhafter Coup. Dafür, daß ich sonntags im Gefängnis nach Diktat Briefe schreiben durfte, mußte ich jedem Gefangenen, der mir einen Brief diktiert hatte, einen Evangeliumauszug der Missionare der Gesellschaft Gottes auf Sotho oder Zulu geben. Meine Mutter und Marie hatten einen weiteren Triumph zu feiern. Zuerst das Krankenhaus und jetzt das Gefängnis. Sie wurden als beinharte Kämpfer in der Armee des Herrn eingestuft. Und mein Job im Gefängnis wurde als erstklassige Arbeit für den Herrn gewertet.
Ich weiß nicht genau, wie es passierte, aber es passierte einmal, und von da an wurde es immer gemacht. Einer der Gefangenen hatte mir gesagt, daß der Tabak sehr vermißt würde, und in der nächsten Woche schnitt ich ein Tabakblatt so zurecht, daß es genau in ein Traktat hineinpaßte. Als nächstes steckten Dee und Dum je ein sorgfältig zugeschnittenes Tabakblatt in jedes Traktat, und ich nahm den ganzen Packen mit, sortierte ihn nach den vier afrikanischen Sprachen und verstaute die verschiedenen Stapel in der Schublade des Schreibtisches, an dem ich saß. Einen »unschuldigen« Stapel mit Sotho-Traktaten legte ich vor mich hin, das war Docs Idee. Nachdem ein Gefangener mir seinen Brief diktiert hatte, gab ich ihm ein Traktat aus der Schublade. Zweimal nahm der Wärter, der beim Briefeschreiben dabei war, geistesabwesend ein Traktat hoch, blätterte es kurz durch und legte es dann zurück auf den Stapel. Briefeschreiben wurde plötzlich sehr populär, und die Gefangenen, die keine Angehörigen hatten, denen sie hätten schreiben können, baten mich, einen Brief an King Georgie zu schreiben. Als ich sie fragte, was sie dem König von England mitteilen wollten, war es fast immer dasselbe. Lieber König Georgie, die Bevölkerung ist glücklich, weil Sie unser großer König sind. Ich schicke Grüße an den großen Krieger über dem großen Wasser. Daniel Mafutu Nach einiger Zeit wurde »ein Brief an König Georgie« zum Euphemismus für »ein Traktat«. Aus einem Traktat samt seinem Inhalt konnten zwei Zigaretten gedreht werden, es war ein unerhörter Luxus. Der Kaulquappenengel hatte es nicht nur geschafft, weiterhin Tabak ins Gefängnis einzuschleusen, sondern die Gefangenen mußten nicht einmal mehr dafür bezahlen und bekamen sogar das Zigarettenpapier mitgeliefert. Eine Generation lang wurden Zigaretten in südafrikanischen Gefängnissen »King Georgies« genannt, und mancher alte Knastbruder benutzt den Ausdruck noch heute. Und natürlich wurde der Kaulquappenengel zu einer immer
mystischeren Gestalt. Es schien, als ob nichts für ihn unmöglich sei. Für den Kommandanten wurde das Briefeschreibexperiment zu einem großen Erfolg, und bevor der Sommer vorbei war, wurde er zum Colo-nel befördert und bekam aus Pretoria ein besonderes Lob für seine Anstrengungen in der Gefängnisreform. Die Missionare der Gesellschaft Gottes versorgten mich immer wieder mit Traktaten und ließen sie sogar ins Swasi und ins Shangaan übersetzen. Als ich Doc erzählte, daß es jetzt Swasi- und Shangaan-King Georgies gab, lächelte er und sagte: »Gottes Wege sind unergründlich, Peekay. Ich glaube, weil die Leute nicht lesen können, schicken sie jetzt Rauchsignale gen Himmel.« Nicht lange nach Geel Piets Tod fing Lieutenant Borman an, unter Hämorrhoiden zu leiden. »Seit ich in der Verwaltung bin, muß ich zuviel sitzen«, sagte er jedem, der es hören wollte. »Ich kann kein Steak mehr essen, weil es mir sonst zu weh tut, Mann, ich hab sogar Blut in der Scheiße.« Es stimmte, er schien abzunehmen, und Captain Smit riet ihm, zum Doktor zu gehen. »Es sind doch nur Hämorrhoiden, mein Vater war Zugführer, er hatte auch welche.« Seine Frau nähte ihm ein spezielles Kissen, das er mit zur Arbeit brachte, und manchmal lief er mit dem Kissen herum, für den Fall, daß er sich plötzlich irgendwo anders hinsetzen mußte. »Das ist die Rache Gottes«, vertraute Gert mir an, »Geel Piet war nicht der einzige, dem er den Eselspimmel hinten reingeschoben hat.« Er kicherte. »Ich hoff, daß der Kerl sechs Monate lang nicht mehr sitzen kann!« Niemand sagte ein einziges Wort, aber man konnte es allen an den Augen ablesen. Die von uns, die in der Nacht in der Turnhalle dabeigewesen waren, wußten, daß ein Fluch auf Borman lag. Geel Piet hatte mir einmal erzählt, daß Gefangene so konzentriert denken konnten, daß sie gemeinsam Dinge geschehen lassen konnten. Zum Beispiel wußten sie schon Stunden bevor ihnen mein Sieg offiziell mitgeteilt wurde, daß ich Killer Kroon geschlagen hatte. Schon Minuten nachdem ein Richter ein Todesurteil unterschrieben hatte, wußten sie, daß jemand gehängt werden würde, selbst wenn das Gefängnis, in dem das Urteil vollstreckt werden sollte, Hunderte von Meilen entfernt lag. »Ja, es stimmt, kleiner Boß, ich hab das oft erlebt«, hatte Geel Piet ernst gesagt. »Manchmal, wenn sich genug Haß angesammelt
hat,kann dieses Denken auch töten. Die Leute denken jemanden tot. So ein Tod ist immer langsam und hart, denn das Denken dauert ja auch lang. Es ist der Haß. Wenn er erst einmal überkocht, kann ihn nichts mehr stoppen, die Person stirbt, weil es kein mooty gibt, mit dem man diesen Haß bekämpfen kann.« Jeder, der in Afrika vom Land stammt, ist abergläubisch, und die Wärter, die meistens Hinterwäldler waren, waren es besonders. Alle konnten sehen, wie Borman immer weniger wurde. Seine Hä-morrhoiden blieben, aber sonst fiel er vom Fleisch. Er schien vor unseren Augen zu altern, und je dünner er wurde, um so bösartiger ging er mit den Gefangenen um. Ein zweiter Gefangener starb unter mysteriösen Umständen. Nach einer kurzen Untersuchung wurde Borman beschuldigt und für die Zeit des Verfahrens vom Dienst suspendiert. Kurz danach hatte er eine schwere Darmblutung und wurde ins Krankenhaus von Barberton gebracht, wo der Chirurg ihm, um die Blutung zu stillen, riesige Wattetampons in den Hintern schob - es gibt bekanntlich kaum etwas Schmerzhafteres als das. Die flüchtige Untersuchung des Arztes ergab, daß Borman eine Krebsgeschwulst hatte. Einige Wochen nachdem Doc das Gefängnis verlassen hatte, war er wieder fit genug, um Bergsteigen zu können, und wir brachen jeden Samstag morgen beim ersten Tageslicht auf. Irgendwo hoch oben auf einem Hügel oder am Ufer eines Flusses aßen wir zum Frühstück hartgekochte Eier und altbackenes Brot und tranken aus einer Thermosflasche gesüßten Milchkaffee. Manchmal gingen wir zum Lamati-Wasserfall, der zehn Meilen entfernt in den Hügeln lag. Wir warteten ab, bis die Morgensonne den Wasserfall weiß aufleuchten ließ. Er fiel in einen tief gelegenen See, der das ganze Jahr hindurch eiskalt war. Doc war wie ein kleiner Junge, die Jahre schienen von ihm abzufallen, als wir die Berge hochkletterten oder in tiefe tropische kloofs hinunterrutschten, wo riesige Farnbäume und das Laubdach der Gelbholzbäume ein ewiges Dämmerlicht verbreiteten und der Boden feucht war und nach Verwesung und neuem Leben gleichzeitig roch. Doc war damit beschäftigt, Fotografien für sein neues Buch zu machen, und manchmal suchten wir den ganzen Tag lang nach einer bestimmten Pflanze. Es war schön, wieder mit Doc zusammenar-
beiten zu können. Er war ein strenger Lehrmeister, der, wenn wir ein passendes Exemplar gefunden hatten, genau über die Bodenbeschaffenheit, die Felsen und die anderen Pflanzen, die in einem Umkreis von fünfzehn Metern wuchsen, die Windrichtung und die Stundenzahl der Sonneneinstrahlung Bescheid wissen wollte. An manchen Tagen unterhielten wir uns hauptsächlich auf lateinisch, und auf diese Weise brachte mir Doc Ovid, Cicero, Caesars »Gallischen Krieg« und Vergil nahe. Mrs. Boxalls Antwort darauf waren die englischen Dichter. Wordsworth, Masefield und Keats waren ihre Lieblingsdichter, und Byron, Tennyson und Walter de la Mare gehörten ganz einfach zur guten Erziehung. Ich fragte Doc nach deutschen Dichtern, und er antwortete, Goethe sei der einzige, der seiner Meinung nach diesen Namen verdient hätte, er persönlich fände ihn aber entsetzlich langweilig, die Deutschen steckten ihre ganze Poesie in die Musik. Er meinte, ich solle mich mit den englischen Dichtern und den deutschen Komponisten beschäftigen. Es war eine Catch-as-catch-can-Erziehung mit Schlagseite. Miss Bornstein hatte mich die ganze Zeit über auf ein Stipendium an einer piekfeinen Privatschule in Johannesburg vorbereitet. Meine Mutter hätte von ihrem Einkommen als Schneiderin diese Erziehung niemals bezahlen können. Ich war noch keine zwölf Jahre alt, das Mindestalter für den Eintritt in diese Schule, und ich hatte mich drei Jahre lang in meiner Schule zu Tode gelangweilt. Während dieser Zeit hatte Miss Bornstein mir privat »all die Dinge beigebracht, für die in der Schule nie Zeit ist«. Einen Monat vor meinem zwölften Geburtstag machte ich die Aufnahmeprüfung für die Prince of Wales-Schule, und am Ende des Trimesters verkündete Mr. Davis, der Direktor der Schule in Barberton, zu meinem größten Entsetzen, daß ich die beste Beurteilung bekommen hätte, die diese Schule jemals vergeben hatte. Ich würde ab dem ersten Trimester des Jahres 1946 als Internatsschüler diese Schule besuchen. Doc, Mrs. Boxall und Miss Bornstein hatten mich gut geschult, manchmal vielleicht etwas unsystematisch. An der Prince of Wales-Schule wußte ich in manchen Bereichen mehr als die älteren Schüler und sogar mehr als die Lehrer, während ich in anderen Bereichen gerade mit den klügeren Jungen meiner Klasse mithalten konnte. Aber wichtiger als alles andere war, daß ich gelernt hatte, sowohl zum eigenen Vergnügen als auch zweckge-
bunden zu lesen. Sowohl Doc als auch Mrs. Boxall forderten von mir, daß ich meine kritischen Fähigkeiten bei allem, was ich tat, einsetzte. Ich war zwölf Jahre alt und konnte bereits seit gut vier Jahren ganz ordentlich denken. Indem sie mir unabhängiges Denken beigebracht hatten, hatten sie mir das größte Geschenk gemacht, das ein Erwachsener einem Kind machen kann, neben der Liebe, und die hatten sie mir auch geschenkt. Und so ging der letzte Sommer meiner Kindheit zu Ende. Ich legte auch am Königlichen Musikkolleg das Examen für Fortgeschrittene ab und bestand es, obwohl meine Noten nicht die besten waren. Ich glaube, daß Doc das auch nicht von mir erwartet hatte. Er wußte, daß ich musikalisch nicht besonders begabt war und daß ich mich nur ihm zuliebe angestrengt hatte. Er hat jedenfalls den Vertrag mit meiner Mutter erfüllt, für die das bestandene Examen der Beweis dafür war, daß ich ein musikalisches Genie sei. Für meine Mutter war ich der Nachfolger des jungen Arthur Rubinstein, und es war eine der größten Enttäuschungen ihres Lebens, daß ich im Internat in einer Jazzband spielte. Jazz war Teufelsmusik, und es war ein weiterer Hinweis für sie, daß ich mein Herz gegen den Herrn verschlossen hatte. Geel Piet hatte mir vor seinem Tod beigebracht, wie man acht Schläge zu einer Schlagkombination verbindet. Ich trainierte sie den ganzen Sommer lang und gewann bei den Meisterschaften in Boxburg den Titel bei den Unter-Zwölfjährigen. Dieses Mal mußte ich mich nicht groß anstrengen und gewann sogar in der zweiten Runde gegen einen größeren Jungen mit einem technischen K.o. Killer Kroon war diesmal nicht angetreten. Er wäre allerdings auch in eine höhere Gewichtsklasse eingestuft worden. Alle, sogar Doc, freuten sich, daß ich ein Stipendium für die Prince of Wales-Schule in Johannesburg gewonnen hatte. Ich glaube, er gewöhnte sich nur sehr schwer an den Gedanken, daß wir uns bald nicht mehr sehen würden. In ihrer Kolumne in den Gold-field News, »Blüten aus einem Kulturgarten«, schrieb Mrs. Boxall über den »knospenden« Intellekt der Stadt und ihre »schönste Blume«, womit sie mich meinte. Als bekannt wurde, daß ich die Aufnahmeprüfung in das Königliche Musikkolleg bestanden hatte, bezeichnete sie mich als »blühenden« Musiker. In dem in Afrikaans geschriebenen Teil der Zeitung erschien mein Name als Sieger bei der Box-
meisterschaft in Osttransvaal in der Klasse der Unter-Zwölfjährigen. Meine Mutter erklärte: »Unser Korb ist übervoll!« Hätte ich den Herrn in mein Herz aufgenommen, wäre ihre Freude hundertfach gewesen. Aber sie freute sich auch so, besonders als sie von den wichtigsten Familien der Stadt Einladungen zum Tee bekam, und so viele Aufträge zum Nähen, daß sie aus Zeitgründen nur die lohnendsten annehmen konnte. Ich behielt meine Ängste, wieder ins Internat gehen zu müssen, für mich. Wieder schien ich das jüngste Kind in der ganzen Schule zu sein, obwohl ich mir darüber keine Sorgen mehr machte. Wenn es einen Richter in der Prince of Wales-Schule gäbe, dann konnte ich nur für ihn hoffen, daß er boxen konnte. Und tatsächlich interessierte mich einzig und allein die Frage, wie es an der Schule mit dem Boxen gehalten würde. Ich erfuhr, daß es Schulsport sei und daß die Boxer von Mr. Darbie White trainiert würden, dem ExHalbschwergewichtschampion der britischen Armee. Die letzte Krise in diesem letzten Sommer meiner Kindheit kam, als die Kleiderliste der Prince of Wales-Schule geschickt wurde. Als sie die Liste durchlas, liefen meiner Mutter die Tränen über die Wangen. Marie hatte ihren freien Nachmittag und war bei uns, deshalb muß es ein Mittwoch gewesen sein. Meine Mutter las die Liste laut vor. »Sechs weiße Hemden mit abnehmbaren gestärkten Kragen, lange Ärmel. Drei Paar graue Flanellhosen (siehe beiliegendes Muster). Sechs Paar graue Schulsocken, lang. Ein Schulblazer (siehe beiliegendes Stoffmuster), Schulblazer und Schulwappen zum Aufnähen auf die Tasche sowie die Schulkrawatten können bei John Orrs, 129 Eloff Street, Johannesburg, bezogen werden. Ein grauer Pullover mit V-Ausschnitt, lange Ärmel. Schuhe für die Schuluniform, braun. Sonntagsschuhe, schwarz. Ein blauer Sonntagsanzug aus Serge, lange Hosen.« »Wir haben nicht soviel Geld, wir haben einfach nicht soviel Geld«, wiederholte sie immer wieder. »Ach, wo bleibt dein Glaube?« fragte Marie aufgebracht und war von den Tränen meiner Mutter nicht im mindesten beeindruckt. »Der Herr wird für alles sorgen, du wirst schon sehen. Wir beten jetzt, laßt uns niederknien und dem teuren Herrn Jesus Peekays Liste geben. Kommt, wir machen es jetzt gleich!« Mein Großvater erhob sich vom Tisch und entschuldigte sich,
aber ich mußte mich mit Marie und meiner Mutter niederknien. Marie muß angenommen haben, daß meine Gebete keine große Wirkung haben dürften, da ich ein Heide war. Denn sie nahm meiner Mutter die Kleiderliste ab und gab sie mir. »Wir beten laut zum Herrn, laut beten ist immer das beste, wenn man etwas wirklich dringend braucht. Wenn ich's dir sage, liest du die Liste vor, okay?« Ich nickte und war dankbar, daß ich nicht laut mitbeten mußte. »Teurer Herr Jesus, wir haben diesmal ein echtes Problem«, begann Marie. »Gelobt sei der Herr, gelobt sei sein teurer Name«, sagte meine Mutter. »Du weißt, wie klug Peekay ist und daß er etwas gewonnen hat und deshalb kostenlos eine piekfeine Schule in Johannesburg besuchen kann.« »Teurer Erlöser, erhöre das Gebet deiner demütigen Diener«, sagte meine Mutter und versuchte etwas Stil in das Ganze zu bringen. »Wir haben große Schwierigkeiten, Mann, ich meine, Herr«, fuhr Marie fort, »die Kleiderliste ist heute gekommen, und wir sind völlig verzweifelt.« »Teurer Jesus! Lamm Gottes!« »Der Schrank ist leer, und es hängt keine Schulkleidung darin. Herr Jesus, Peekay sagt jetzt, was wir brauchen, bitte hör gut zu, und du, Peekay, sprich deutlich, damit der Herr dich auch verstehen kann, verstanden? Er sagt es dir jetzt, Herr«, betete Marie und machte mir ein Zeichen mit den Fingern. Ich muß zugeben, daß ich mich dem Herrn noch nie so nah gefühlt hatte wie diesmal. Ich war etwas nervös. »Äh... sechs weiße Hemden mit abnehmbaren gestärkten Kragen, lange Ärmel«, las ich vor. »Drei Paar graue Flanellhosen (siehe beiliegendes Muster).« »Zeig ihm das Muster, Mann«, flüsterte Marie. Ich wußte nicht genau, was ich tun sollte, deshalb hielt ich das Stückchen graues Flanell einfach zur Decke hoch. Ich wartete einen Moment, und als ich glaubte, der Herr habe genug gesehen, fuhr ich fort: »Sechs Paar graue Schulsocken, lang.« »Nur drei Paar, Mann! Hast du denn die drei Paar vergessen, die du für die Schule hier hast?« flüsterte Marie vernehmlich. »Ach«, sagte ich. »Nur drei Paar bitte.« Meine Mutter hatte auf-
gehört, Maries Bitten zu unterbrechen, und ich drehte mich zu ihr um. Zuerst dachte ich, daß sie weinte, ihr Gesicht war ganz rot, und sie hielt sich eine Hand vor den Mund. Dann sah ich, daß sie verzweifelt versuchte, nicht loszulachen. Ich mußte kichern. Ohne die Augen zu öffnen, rief Marie mich zur Ordnung. »Peekay, hör sofort auf! Gott wird dich strafen! Es ist schwer genug, den Herrn um etwas für dich zu bitten, du bist noch nicht mal ein wiedergeborener Christ! Aber wenn du lachst, haben wir überhaupt keine Chance.« Dann wurde ihre Stimme wieder versöhnlicher: »Tut mir leid, Herr, er hat's nicht so gemeint, ich versprech dir, es passiert nicht noch mal. Jetzt mach weiter, lies weiter vor, der Herr hat schließlich nicht den ganzen Tag Zeit!« Ich las die Liste weiter vor und zeigte dem Herrn auch das Stoffmuster für den Blazer. Als ich vorlesen wollte, daß die Schulwappen bei John Orrs, 129 Eloff Street, Johannesburg, gekauft werden konnten, flüsterte Marie wieder. »Du brauchst ihm die Adresse nicht zu sagen, er weiß, wo es ist.« Endlich kam ich zu dem blauen Sergeanzug. »Das ist sein Sonntagsanzug für den Kirchgang, Herr«, sagte sie, um den Herrn daran zu erinnern, daß ich wenigstens jeden Sonntag zur Kirche ging. Meine Mutter steuerte noch einige »Gelobt sei der Herr, Gelobt sei sein teurer Name« bei, und das Bittgebet war beendet. Es lag nun am teuren Erlöser, ob er es erhören würde oder nicht. Maries Augen glänzten vor Gläubigkeit, und man konnte ihr ansehen, daß sie sehr damit zufrieden war, wie sie sich durchgesetzt hatte. Sie hatte absolut keinen Zweifel daran, daß der Herr uns helfen würde. Meiner Mutter schien es auch sehr viel besser zu gehen, und sie rief Dum, damit sie Tee machen solle. Ich muß zugeben, daß ich, da ich kein wiedergeborener Christ war, ihr Vertrauen nicht teilen konnte. Ein ganzer Haufen Kleidung wurde in der Liste gefordert, und alles was ich hatte, waren drei Paar graue Socken, zwei Paar Turnhosen und meine Turnschuhe. Letzteres wurde in der Extraliste mit der Überschrift »Sport und Erholung« aufgeführt, in der noch zwei Rugbypullover, Rugbysocken, Rugbystiefel, ein weißes Crickethemd und Cricketshorts, und außerdem lange Crickethosen gefordert wurden. Es schien mir eine Riesenkollektion Kleider für eine Person zu sein. Ich erzählte Doc davon, aber der konnte nicht helfen. Doc lebte
von der Hand in den Mund und hatte gerade so viel übrig, daß er sich hin und wieder ein Buch und einen Film für seine HasselbladKamera kaufen konnte. Aber er erzählte es Mrs. Boxall, und Mrs. Boxall erzählte es Miss Bornstein, und die beiden Frauen legten los. Miss Bornstein rief mich nach der Schule zu sich und bat mich um eine Kopie der Kleiderliste. Ich gab sie ihr, und sie las sie durch. »Was ist mit diesen Mustern, kann ich das graue und das grüne Stoffmuster haben, Peekay? Schneid ein kleines Stück ab, ich brauch es unbedingt.« Ich versprach ihr, mich darum zu kümmern, und freute mich, daß die Beschaffung meiner Schulkleidung nicht mehr einzig und allein in den Händen des Herrn lag. »Wir haben nicht viel Geld«, sagte ich, und zum ersten Mal in meinem Leben merkte ich, wie wichtig Geld war. Ich wußte, daß wir arm waren, aber es hatte mir nie viel ausgemacht. Ich hatte hin und wieder einen Penny, für den ich mir niggerballs kaufte, große schwarze steinharte Bonbons, von denen man eine Farbschicht nach der anderen herunterlutschte und mit denen man gute zwei Stunden beschäftigt war. Meine Freunde waren großzügig mit ihren Süßigkeiten, deshalb hatte ich mich nie wirklich arm gefühlt oder Geld gebraucht. Irgendwie schaffte ich es immer, für Weihnachten vier Schilling zu sparen, und kaufte dafür bei dem alten Mr. McClymont vier Frauentaschentücher, ein Männertaschentuch und ein riesiges Taschentuch für Doc. Meine Mutter, Mrs. Boxall und Dee und Dum bekamen die Frauentaschentücher, mein Großvater das Männertaschentuch. Sie sahen immer überrascht aus, aber ich glaube, sie taten nur so. Ich hätte auch noch ein Stück Knights Ca-stileSeife verschenken können, aber ich sah nicht ein, daß etwas, das sich so schnell abnutzte wie ein Stück Seife, einen Wert darstellen sollte. Wenn Dee und Dum sonntags zu Docs Haus gingen, um zu putzen, zogen sie sich ihre Taschentücher auf afrikanische Art über den Kopf. Sie konnten nie verstehen, warum Weiße in so hübsche Stofftücher hineinschneuzten. Der Sonntag in Docs Häuschen war etwas ganz Besonderes für sie, und sie wollten gern hübsch aussehen. Wenn sie im Haus ankamen, zogen sie die Tücher natürlich wieder vom Kopf, aber sie schneuzten nie hinein. Ich glaube, sie mochten ihre Taschentücher lieber als die anderen, obwohl ich weiß, daß auch Doc sehr an seinem Taschentuch hing, das immer rot sein mußte.
»Es gibt viele Arten, einer Katze das Fell über die Ohren zu ziehen«, sagte Miss Bornstein. »Diese Stadt kann es nicht zulassen, daß sein enfant terrible wie ein Straßenjunge ins Internat eintritt.« Der Stoff für meine Hosen, den Blazer und den blauen Sergeanzug tauchte eines Tages einfach auf, obwohl ich glaube, daß der alte Mr. McClymont die Hand im Spiel hatte. Dann hatte Miss Bornstein eine große Überraschung bereit. Der alte Mr. Bornstein, Docs bester Schachgegner, war in Deutschland Schneider gewesen. Er wollte den Stoff zuschneiden und alles machen, was mit der Hand genäht werden mußte, und meine Mutter sollte den Rest mit der Nähmaschine nähen. Der Anzug war kein Problem, »ein Anzug ist ein Anzug«, aber wir brauchten einen Blazer, um sicherzugehen, daß meiner genauso zugeschnitten und genäht wurde wie die, die es bei John Orrs, 129 Eloff Street, Johannesburg, zu kaufen gab. Miss Bornstein sagte, daß Kinder dazu neigten, andere auszulachen, wenn sie anders gekleidet seien, und daß es wichtig sei, daß alles genau stimmte. Mrs. Andrews hatte zwei Söhne auf der Prince of Wales-Schule gehabt, und sie hatte immer noch einen Blazer, den sie Mrs. Boxall gab. Der alte Mr. Bornstein trennte ihn auf, um zu sehen, wie er gemacht war, und schimpfte immer wieder über die schlechte Handarbeit. Dann schnitt er den Blazer in meiner Größe zu, und da das Schulwappen, drei Pfauenfedern, die aus einer Krone herausragen, noch wie neu war, schnitt er es vorsichtig ringsherum aus und nähte es auf meinen neuen Blazer, so perfekt, daß man die Naht nur mit einem Vergrößerungsglas hätte entdecken können. Mrs. Boxall bestellte in Johannesburg zwei rot-weiß-grün gestreifte Schulkrawatten, die sie mir schenkte. Die Hemden wurden alle aus baurnwollenen Bettüchern genäht, von denen Miss Bornstein sagte, daß ihre Mutter sie nie benutzt hätte. Der alte Mr. Bornstein konnte die Kragen so nähen, daß die von dem alten Mr. McClymont gestifteten gestärkten Kragen genau darauf paßten. Marie und ihre Mutter strickten mir drei Paar Socken und schenkten siemir zu Weihnachten. Nur das schwarze und das braune Paar Schuhe fehlten noch, und an der Weihnachtsfeier der Wärter überreichte mir Captain Smit im Gefängnis ein großes Paket von der Boxstaffel. Es enthielt ein braunes Paar Schuhe, ein schwarzes Paar Schuhe und ein brandneues Paar Boxhandschuhe. »Magtig, Peekay, wir sind alle stolz darauf, daß du in diese feine rooniek-Schule in Johannesburg
gehst, ich hoffe, du sprichst noch mit uns, wenn du zurückkommst!« Alle lachten, und es tat mir leid, daß ich die Menschen verlassen mußte, die ich liebhatte. Selbst Rotznase war im Laufe der Jahre ein guter Freund geworden, und ich würde sie alle sehr vermissen. Der Kommandant erhob sich und erinnerte an den Tag, an dem er mich zum ersten Mal gesehen hatte. Er sagte, daß ich bewiesen hätte, daß Engländer und Buren ein Volk seien, nämlich Südafrikaner. Daß in meiner Generation die Verbitterung vielleicht überwunden werden würde. Er sagte, daß ich eine Führernatur sei und daß mich selbst die Gefangenen wegen des Briefeschreibens respektierten. Es wurde geklatscht, und ich bedankte mich mit zitternden Knien. Ich weiß nicht mehr, was ich sagte, aber ich versprach ihnen, daß ich sie nie vergessen würde, und das habe ich auch nie getan. Nur noch ein weiteres Ereignis dieses langen, letzten Sommers meiner Kindheit ist es wert, aufgeschrieben zu werden. Meine Mutter und Marie hatten vor der Gemeinde schon Zeugnis über die Antwort des Herrn auf ihre Gebete abgelegt. Nur noch der geforderte langärmelige mittelgraue Wollpullover mit V-Ausschnitt fehlte in meiner Garderobe, aber es war Sommer in Johannesburg, und meine Mutter wußte, daß mich der Herr bis zum Winter mit einem Pullover versorgen würde. Und das tat er wirklich. Kaum zwei Wochen später wurden ihr von lieben, christlichen Damen unabhängig voneinander vier gestrickte Wollpullover überreicht. In der gleichen Nacht legten meine Mutter und Marie auch Zeugnis darüber ab, daß der Herr ihre Arbeit im Krankenhaus wieder einmal gesegnet hätte. Mehrere Wochen lang hatten sie an der Erlösung eines Mannes gearbeitet, der an Darmkrebs starb — ein Mann in der Blüte seines Lebens, der an dieser entsetzlichen Krankheit litt. Sie erzählten, wie sie vor ihm Zeugnis abgelegt hätten, wie sie ihn mit dem Teufel hätten kämpfen sehen, wie sie für ihn geweint und ihn angefleht hätten, den Herrn Jesus in sein Herz aufzunehmen, und wie Lieutenant Borman schließlich nach einer schlimmen Darmblutung wenige Stunden vor seinem Tod sich dem Herrn Jesus anheimgegeben hätte, um seinen Erlöser im Paradies zu treffen. Als Lieutenant Borman schließlich starb, wußte er, wie es sich anfühlte, wenn einem ein Eselspimmel in den Hintern gerammt wird, bis einem die Eingeweide heraushängen.
17 Erst als ich das zweite Mal in einem Internat war, lernte ich, daß Überleben heißt, ein System aktiv für seine eigenen Zwecke einzuspannen und nicht zu versuchen, recht und schlecht damit klarzukommen. Vom allerersten Tag in der Schule an war Hymie Levy mein Freund. Hymie war natürlich Jude, und das war an der Prince of Wales-Schule etwas sehr Seltenes. Er kam auf mich zu, als ich meinen schweren Koffer am Hauptbahnhof von Johannesburg aus dem Zug hievte. »He du! Wenn du Muskeln haben willst, mußt du einen CharlesAtlas-Kurs mitmachen.« Er gab dem schwarzen Träger ein Zeichen, daß er meinen Koffer nehmen solle. »Wie geht's? Ich bin der Vorzeigejude. Und wer bist du?« »Ich heiße Peekay«, sagte ich und streckte ihm meine Hand hin. Er nahm sie und dachte offensichtlich an etwas anderes. »Hymie... Hymie Levy, und wie heißt du mit Vornamen, Peekay?« »Peekay ist mein Vor- und mein Nachname«, antwortete ich. Hymie blieb stehen. »Du hast nur einen Namen, oder verarschst du mich?« »Nein, es stimmt, nur einen.« Wir gingen weiter den Bahnsteig entlang, und Hymie schien darüber nachzudenken. »Das gefällt mir, das ist schön einfach. Ich, ich hab einen Katastrophennamen, Hymie Solomon Levy, koscherer geht's nicht, lauter Könige und Priester, kein schlechter Name für ein Kind, dessen Eltern dem Holocaust entkommen sind, weil sie so getan haben, als wären sie Katholiken.« Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber er schien ein guter Typ zu sein. Alle Juden, die ich jemals kennengelernt hatte, waren nette Leute. Harry Crown und der alte Mr. Bornstein und natürlich Miss Bornstein. Es war ein schöner Zufall, daß der erste Junge, den ich auf der Prince of Wales-Schule kennenlernte, ein Jude war. Auf dem Bahnhof sollten wir den Schulaufseher treffen, und ich war froh, daß ich jemanden mit soviel Selbstvertrauen bei mir hatte. Wir hörten ihn, noch bevor wir ihn sahen. »Prince of Wales-Schüler hierher!«
»Mann, Peekay, sieh dir das an!« sagte Hymie und zeigte auf einen großen Mann, der eine scharlachrote Jacke trug. Wir reckten uns, und Hymie fuhr sich mit einem Kamm durch sein dunkles, brillantineglänzendes Haar, das vorne modisch zu einer Tolle gekämmt war. Als wir näher kamen, sahen wir vier Jungen, die vor dem großen Mann strammstanden. Er hatte einen Stock unter den Arm geklemmt. Die obere Hälfte seines Gesichtes war unter dem glänzenden schwarzen Schirm seiner rot geränderten Wachmannmütze verborgen. Das einzige, was unter dem Mützenschirm hervorragte, war ein riesiger, gewachster Schnurrbart. Am rechten Ärmel seiner Militärjacke waren unter einer Messingkrone die drei Streifen eines Sergeants zu sehen. Seine Hose war aus schwarzem Serge, und seitlich liefen rote Streifen bis zu den hochglanzpolierten schwarzen Stiefeln herunter, die auf dem Bahnsteig angewachsen zu sein schienen. Ein weißes Hemd mit einem Celluloidkragen und einer schwarzen Krawatte vervollständigte seine Uniform. Hymie gab dem Gepäckträger, der unsere Koffer oben auf einen auf dem Bahnsteig aufgetürmten Gepäckstapel legte, ein Trinkgeld, und wir gesellten uns zu den vier anderen Jungen, die mehr oder weniger stramm vor dem Schulaufseher standen. Ich war müde und hatte mich seit dem Morgen des vorletzten Tages nicht mehr richtig gewaschen. Der Zug war um vier Uhr nachmittags in Barberton abgefahren, die »Kaffeekanne« hatte den einzigen Schulwaggon nach Kaapmuiden gezogen, wo der Waggon an den Schulzug angehängt wurde, der die Nacht durch nach Pretoria und Johannesburg fuhr. Mehrere Jungen und Mädchen aus Barberton gingen in Pretoria zur Schule, ein Junge trug den dunkelblauen Blazer des St. Johns College, ein anderer den schwarz-weiß gestreiften Blazer von Jeppe High, das waren Schulen in Johannesburg. Ich war der einzige, der auf die Prince of Wales-Schule ging, und ich fühlte mich überhaupt nicht wohl in langen Hosen, gestärktem Kragen, Blazer, Krawatte und einem komischen Strohhut. Ich hatte zum Abschied einen großen Bahnhof, viel größer als erwartet. Natürlich war meine Mutter da, Großvater, Marie und Dee und Dum, auch Doc und Mrs. Boxall, Miss Bornstein und der alte Mr. Bornstein. Außerdem alle Jungen aus der Boxmannschaft, die klatschten und johlten und pfiffen, als sie mich in meiner Schuluni-
form sahen. Rotznase und Bokkie taten so, als müßten sie vor Lachen umfallen, ganz besonders wegen meines Strohhuts. Gert mußte sie schließlich zur Ordnung rufen, aber ich merkte, daß auch er mich in meiner schicken rooniek-Schuluniform ziemlich komisch fand. Aber die wirklich große Überraschung kam, als ein Gefängnislaster vorfuhr und die Blaskapelle ausstieg. Sie stellten sich mitten auf dem Bahnsteig auf und fingen an zu spielen. »Das war die Idee vom Kommandanten, Peekay«, sagte Captain Smit. »Er wollte dir zum Abschied einen großen Bahnhof machen. Er ist wirklich sehr stolz auf dich.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Und das bin ich auch, und ich wette drauf, eines Tages bist du Weltmeister im Weltergewicht. Paß auf, daß die in der rooinekSchule nichts dran ändern, verstanden?« Er boxte mich spielerisch an die Schulter. »Du bist ein echter Bure, kleiner boetie, wir halten alle sehr viel von dir.« Schließlich ertönte ein Pfiff, ich verabschiedete mich von allen und kletterte in den Zug. Dee und Dum und Marie schnieften etwas, meine Mutter hätte wohl auch geweint, aber sie wollte Marie ein gutes Beispiel geben. Doc steckte seine Nase in sein rotes Schnupftuch. Als der Zugführer das Signal zur Abfahrt gab und die Band »Jetzt schlägt die Abschiedsstunde« spielte, weinten fast alle, und ich war auch kurz davor. Ich erinnerte mich daran, wie ich das letzte Mal einen Zug bestiegen und damit einen Abschnitt meines Lebens hinter mir gelassen hatte, wie ich über meine mit Zeitungspapier ausgestopften Clownsschuhe gestolpert war, und wie Hoppie Groenewald mir den Staub abgeklopft, mich in den Wagen gehoben und gesagt hatte, daß er selbst auch immer wieder die blöden Stufen hinunterfiele. »Keine Angst, kleiner boetie, Hoppie Groenewald paßt schon auf dich auf.« Da war ich nun, in einem maßgeschneiderten Blazer, einem Hemd mit gestärktem Kragen, langen Hosen und polierten Schuhen. Gert hatte mir beigebracht, wie man Schuhe so lange poliert, bis man sich darin spiegeln kann. Das Ächzen der Kaffeekanne übertönte die Musik der Blaskapelle, und dann wurden alle so klein, daß ich Dee und Dum, die immer noch winkten, kaum mehr erkennen konnte. Ich schaute auf und sah die Hügel und den Berg hinter dem Rosengarten, auf den ich an jenem Tag gestiegen war, an dem
ich so traurig über den Verlust von Nanny gewesen war. Wieder einmal saß ich allein in einem Eisenbahnabteil und fuhr neuen Abenteuern entgegen. Nachdem der Zug Kaapmuiden verlassen hatte, lag ich lange Zeit im obersten Bett in meinem Abteil und hörte den Rädern zu, die unaufhörlich »erst mit dem Kopf und dann mit dem Herzen, erst mit dem Kopf und dann mit dem Herzen« sagten. Es war, als ob Hoppie auch bei dieser zweiten Eisenbahnfahrt dabei wäre. Die dunkle Nacht sauste draußen vor dem Fenster vorbei, nur hin und wieder aufgehellt vom offenen Feuer eines Dorfes. Hin und wieder pfiff der Zug im Dunkeln, und ich wußte, daß der Ton meilenweit zu hören war. »Erst mit dem Kopf und dann mit dem Herz. Erst mit dem Kopf und dann mit dem Herz.« Und dann schlief ich vom hektischen Klackern der Räder endlich ein. Jetzt standen wir vor diesem riesigen alten Soldaten, der aussah, als wäre er einem Rekrutierungsplakat für den Zweiten Weltkrieg entsprungen. Er hatte seinen Stock immer noch unter dem Arm, zog einen kleinen Spiralblock aus seiner linken Jackentasche und öffnete ihn. Er legte den Kopf zurück und schaute uns der Reihe nach an. Ich fragte mich, warum er nicht einfach seine Schirmmütze etwas zurückschob, damit er richtig sehen konnte. »Nun gut, mein Name ist Bolter, Mr. Bolter, wenn es eine Mrs. Bolter gäbe, die es Gott sei Dank aber nicht gibt! Für euch bin ich Sarge. Gebt Antwort, wenn ich eure Namen aufrufe!« Er schrie so laut, als müsse er auf dem ganzen Bahnsteig verstanden werden. Die fünf Jungen um mich herum waren genauso verängstigt wie ich. Er schaute auf seinen Schreibblock. »De la Cour!« Ein blaß aussehendes Kind mit blonden Locken hob die Hand. »Nicht die Hand, Junge! Die Hand wird nur gehoben, wenn ihr pinkeln müßt! Anwesend, Sarge! Oder einfach, Sarge!« »Anwesend, Sarge«, sagte de la Cour leise. »Ein bißchen lebendiger könnte nichts schaden, Junge!« Er schaute kurz auf seinen Block. »Atherton!« »Anwesend, Sir!« schrie der Junge neben mir so laut, daß alle zusammenzuckten. »Nenn mich nicht Sir!« »Anwesend, Sarge«, sagte der blonde Junge mit den blaßblauen Augen diesmal etwas leiser.
»Atherton? Hast du einen Bruder in der Schule?« »Mein Cousin, Sir«, antwortete Atherton. »Sarge! Wenn ich ein Gentleman sein will, sag ich's euch, verdammt noch mal. Es ist offensichtlich, Atherton, daß dein Vetter den ganzen Verstand in der Familie geerbt hat.« »Ja, Sarge«, sagte Atherton und lief dunkelrot an. »Der beste Stürmer, den die Schule je hatte, hoffentlich trittst du in seine Fußstapfen, Mr. Atherton. Wenn du das tust, vergeb ich dir deine Dummheit. Und jetzt Kopf hoch, Junge.« Dann sah Sergeant Major Bolter wieder auf seinen Notizblock. »Peekay!« »Anwesend, Sarge!« »Peekay? Keine Initialen, einfach Peekay, was ist das für ein Name, wenn ich bitten darf!« »So wurde ich fast schon immer genannt, Sarge.« »Nun, ich fürchte, das geht nicht, das ist kein christlicher Name, Junge. Ein Gentleman hat immer mindestens zwei Namen. Das heißt, wenn er kein Lord ist. Und du bist doch kein Lord oder Herzog, oder?« »Nein, Sarge. Ich heiße einfach so. Miss Bornstein hat einen Brief an die Schule geschrieben und es erklärt.« Sergeant Major Bolter seufzte tief, tat so, als ob er lächelte, und verbeugte sich leicht in meine Richtung. »Ach, hat sie das, tatsächlich? Dann ist ja alles in Ordnung, was? Wenn sich Miss Bornstein darum gekümmert hat, dann brauchen wir uns ja nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob der Vorname eines Gentlemans gleichzeitig auch sein Nachname sein kann, oder?« »Ich bin auch kein Gentleman, Sarge«, sagte ich mit leicht zitternder Stimme. Ich wußte, daß ich Schwierigkeiten bekommen würde, aber ich dachte, es sei am besten, alle Mißverständnisse gleich zu Anfang auszuräumen. Alle Jungen um mich herum außer Hymie kicherten. Er gab mir einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen. Der Sergeant Major richtete sich zu seiner vollen Größe auf, und es sah aus, als ob sein Schnurrbart sich sträubte. »Ich bin der einzige hier, dem es gestattet ist, kein Gentleman zu sein, Junge«, verkündigte er, und damit war die Diskussion für ihn beendet. »Ryder!« Ein Junge mit dunklen Haaren und hervorquellenden blauen Augen gab sich einen. Ruck und stand stramm.
»Anwesend, Sarge! Ich heiße Cunningham-Ryder, Sarge, mit einem Bindestrich.« Sarge schaute ihn an und seufzte bedeutungsvoll. »Und, Mr. Cunningham-Ryder mit einem Bindestrich, haben wir bei diesem doppelt gemoppelten Spitznamen auch einen Vornamen?« »Ja, Sarge. George Andrew Sebastian, Sarge.« »Na, das klingt schon besser, was? Cunningham-Ryder hat drei Vornamen und zwei Nachnamen, und Peekay hier hat keinen. Was sagt ihr dazu?« Mein Aufatmen, daß ich nicht mehr dran war, dauerte nur kurz, der Bastard hackte schon wieder auf mir herum. Levy stubste mich mit dem Ellenbogen an. »Vielleicht kann Cunningham-Ryder Peekay einen seiner Namen abgeben, Sarge?« sagte er. Wir schauten ihn alle an und staunten über seine Kühnheit. »Wie heißt du, Junge?« fragte Sergeant Major Bolter leise, aber die gemeine Boshaftigkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Levy, Sarge. Hymie Levy, und ich bin weder ein Gentleman noch ein Christ. Ich bin ein Jude. Mein Vater mußte alle Verbindungen spielen lassen, um mich in die Schule reinzukriegen.« Er schaute den Sergeant Major treuherzig an. Wir verkniffen uns alle das Lachen, aber zu unserer Überraschung explodierte Bolter nicht. Er sah wieder auf seinen Notizblock und sagte: »Levy, hier an der Prince of Wales-Schule ist jeder ein Christ und ein Gentleman, also du und Peekay auch.« Er schaute auf. »Johnson!« Wir alle drehten uns zu dem kleinen sommersprossigen Jungen mit dem roten Haar um, der mit leicht geöffnetem Mund direkt neben Levy stand. »Johnson!« wiederholte Sarge etwas lauter. Der Junge mit dem offenen Mund mußte Johnson sein, er war der einzige, der noch nicht aufgerufen worden war, aber er sagte nichts und schaute den großen Mann nur entsetzt an. Dann hob er plötzlich eine Hand. »Müssen wir pinkeln gehen, Junge?« Ich sah, daß Sarge allmählich ungeduldig mit uns wurde. »Nein, Sir«, brachte Johnson heraus. »Nenn mich nicht Sir, du kleiner Pisser!« brüllte Sergeant Major Bolter so laut, daß einige Leute auf dem Bahnsteig stehenblieben und ihn anstarrten. So kam »Pissy« Johnson zu seinem Spitznamen. Ich war beeindruckt von Levy. Ich hatte nie einen Juden in mei-
nem Alter kennengelernt oder jemanden, der kein Christ werden konnte, selbst wenn er das gewollt hätte. Ich mochte ihn vom ersten Augenblick an. Hymie Levy wurde mein bester Freund, mit Paul Atherton, Pissy Johnson und »Cunning-Spider«, wie CunninghamRyder bald genannt wurde, zog ich meistens herum. Im Schulausflugsbus, den Sarge fuhr, fuhren wir an Hochhäusern vorbei bis Hillbrow, und von dort aus folgten wir einer Straßenbahn in immer ruhigere Vororte. An der Endstation blieb die Straßenbahn zurück, und wir kamen in eine Vorstadt namens Hough-ton, wo in herrlich gepflegten Gärten größere Häuser standen, als ich jemals welche gesehen hatte. Das Dach des Schulbusses streifte an die Zweige der dunklen Eichen, die die ruhigen Straßen flankierten. Immer wieder kamen wir an einer Nanny vorbei, die einen gefederten Kinderwagen mit großen Rädern vor sich herschob. Alle Nannies trugen schwarze Kleider und eine gestärkte weiße Schürze, und alle Kinderwagen schienen aus derselben Fabrik zu stammen. Ich konnte mit Statussymbolen nicht viel anfangen. Da ich mein Leben mit sehr unterschiedlichen Menschen verbracht hatte, bedeutete mir das, was man sozialen Status nennt, sehr wenig. Aber ich spürte, daß ich in eine neue Welt mit ganz anderen Regeln eintrat. Wir bogen in eine Einfahrt ein, fuhren durch ein riesiges offenstehendes Tor aus Schmiedeeisen mit der Krone und den drei Straußenfedern darauf, und weiter auf einer mit großen Eichen bestandenen Allee. Auf dem Weg zum Wellington House, einem der drei Häuser, in dem die Internatsschüler der Prince of Wales-Schule wohnten, kamen wir an einem smaragdgrünen Cricketplatz vorbei, der von einem sich drehenden Rasensprenger bewässert wurde. Weit weg, ordentlich eingezäunt von einem weißen Zaun, war ein kleiner weißer Pavillon zu sehen, dann kam eine zweite Allee mit riesigen Eichen, hinter der man die Eckpfosten eines Rugbyplatzes sah. Noch weiter entfernt ragte der neugotische Glockenturm des Schulgebäudes aus den Bäumen hervor. Es war der denkbar beste Platz für eine vornehme Schule, aber ich war mir ganz und gar nicht sicher, ob es auch der denkbar beste Platz für den zukünftigen Weltmeister im Weltergewicht war. Hymie Levy hatte sich auf der Fahrt zur Schule neben mich gesetzt und angefangen, mir seine Überlebenstheorie zu erklären. Er als Jude und ich als Mensch mit nur einem Namen waren seiner
Meinung nach hoffnungslose Außenseiter. Er behauptete, daß Außenseiter von den Plebejern immer ins Abseits geschoben würden, und die schlimmste Sorte Plebejer seien südafrikanische Protestanten, die aus der englischen Mittelschicht stammten, der zweifellos der Großteil der Internatsschüler zugerechnet werden mußte. Ich war mir nicht sicher, ob ich als Mitglied der Apostolischen Glaubensgemeinschaft zu den Protestanten gehörte, aber ich mußte ihm Recht geben, mit großer Wahrscheinlichkeit hatte ich einen anderen Hintergrund als die meisten Jungen im Bus. Während meines ersten Internatsaufenthalts hatte ich gelernt, daß es sich ganz und gar nicht lohnt, anders zu sein. Diesmal wollte ich in der Schule unter meinen eigenen Bedingungen antreten. Es gab nicht viel, vor dem ich mich fürchtete, und ich war ziemlich zuversichtlich, daß ich intellektuell mithalten konnte. Jetzt war es an der Zeit, meine Tarnung aufzugeben. Mein Leben lang hatte ich andere für mich sorgen lassen, und obwohl ich die Menschen liebte, die mich intellektuell gefördert hatten, fühlte ich, daß es jetzt an der Zeit war, für mich selber zu sorgen. Alle, die sich um meine intellektuelle Entwicklung gekümmert hatten, schienen sich einig zu sein, daß eine gute Erziehung in einer Privatschule das richtige für mich sei, während die Leute, die mich in der Boxmannschaft gefördert hatten, einer elitären rooinek-Erziehung mehr als skeptisch gegenüberstanden. Ich fühlte mich zwischen den beiden Parteien hin und her gerissen, und ich hatte nie genau gewußt, wer ich eigentlich war. Immer hatte ich irgendeinen Teil von mir versteckt. Ich hatte mich damit abgefunden, in einem elitären Internat erzogen zu werden, hoffte aber gleichzeitig, Weltmeister im Weltergewicht zu werden. Man brauchte nicht allzuviel Grips, um zu begreifen, daß Boxweltmeister in einem System, das dazu da war, junge Gentlemen aus gutem Hause zu erziehen, nicht gerade gefördert wurden. Mir war meine Intelligenz weniger wichtig als mein Können als Boxer. Wenn die Prince of Wales-Schule versuchen würde, mich von meinem Vorhaben, Weltmeister im Weltergewicht zu werden, abzubringen, dann wäre die als Kompensation dienende intellektuelle Nahrung kein ausreichender Anreiz für mich zu bleiben. Aber so weit würde ich es nicht kommen lassen. Peekay würde sich nicht mehr verstellen, ich würde einfach der Beste sein. Ich hatte das weder mit Doc noch mit Miss Bornstein besprochen. Ich war wieder
auf mich selbst gestellt und mußte allein denken, und als Hymie davon anfing, daß man das System schlagen müsse, wußte ich sofort, was er damit meinte. Er bot mir einen Kaugummi an und sprach weiter. »Meine Theorie ist, daß man ein System ganz genau kennen muß, wenn man es für seine Zwecke einsetzen will. Rebellion ist völlig sinnlos und führt nur zu Verfolgung. Man kann ein System nur von innen kontrollieren, so haben es die Juden schon immer gemacht.« »Bei Hitler scheint ihnen das nicht viel geholfen zu haben«, sagte ich. Ich wußte nicht viel über die Juden im Nazideutschland, aber Miss Bornstein hatte mir davon erzählt und hinzugefügt, daß der alte Mr. Bornstein Schuldgefühle hatte, weil er der Judenvernichtung entkommen war. »Ha, das war etwas anderes. Die nationalsozialistische Partei hat die deutschen Juden vor ein unlösbares Problem gestellt. Schließlich kann man ein System ja schlecht unterminieren, wenn man von vornherein davon ausgeschlossen ist, oder?« Hymies Argumentation stand auf schwachen Beinen. Ich lernte bald, daß er geradezu besessen von der Judenvernichtung war und daß sie sein sonst klares Urteilsvermögen manchmal etwas trübte. Ich verstand nie so ganz, warum ihn das so verfolgte. Seine Eltern waren aus Warschau geflohen, bevor die Juden dort ins Ghetto gesteckt und verfolgt wurden. Hymie hatte echte rassistische Vorurteile niemals kennengelernt, aber er hatte ein feines Gespür für Entfremdung und manchmal, so schien es mir, auch für Schuld. Doc hatte mich gut trainiert, und ich war nicht bereit, Hymie mit einem billigen Argument davonkommen zu lassen. »Jedes System schließt irgend etwas aus, irgend jemanden oder irgend etwas, Hitler handelte typisch, als er den Juden verbot, in die nationalsozialistische Partei einzutreten. Kein System möchte unterminiert oder benutzt werden und achtet deshalb ständig darauf, die auszuschließen, die es zerstören könnten. Wenn es, wie du sagst, eine übliche jüdische Taktik ist, von innen einzugreifen, dann hätte das auch in der nationalsozialistischen Partei möglich sein müssen. Wir müssen daraus den Schluß ziehen, daß die Juden es nicht geschafft haben, Hitler zu besiegen, daß sie es nicht geschafft haben, das System zu besiegen, und einen entsetzlich hohen Preis dafür zahlen mußten. Es war ganz und gar keine Ausnahme.«
Hymie grinste. »He! Du kannst ja denken. Das bin ich bei einem Goy ja gar nicht gewohnt. Hier, meine Hand.« Ich nahm das Kompliment an und schüttelte ihm die Hand, obwohl mir nicht ganz klar war, was er meinte. »Was ist ein Goy?« »Ein Christ, ein NichtJude. He, können wir Freunde sein, ich meine richtige Freunde, Peekay?« »Natürlich«, sagte ich, meinte es aber nicht wirklich. »Weißt du, du bist anders. Ich weiß das jetzt. Und ich bin ganz bestimmt anders, bin es schon immer gewesen, aber als Jude in so einer Schule hier verschärft sich das noch. Ich glaube, wir brauchen uns gegenseitig.« »Wofür? Um das System zu schlagen?« »Nein, nein, um es zu benutzen. Ich hab das Gefühl, wir werden ein Super-Duo.« Ich war mir nicht sicher, ob er recht hatte. Ich hatte immer noch ein Problem. Körperlich und intellektuell würde ich hier an der Schule Erfolg haben, aber mir fehlte etwas. Mir fehlte Geld. Nur als Einzelgänger konnte ich ohne Geld Erfolg haben. Freundschaften mit jungen Gentlemen aus guten Familien waren ein kostspieliges Vergnügen. Es wurde von einem erwartet, daß man alles selbst bezahlte. Dann gab es noch die Möglichkeit, sich irgendwie beliebt zu machen, aber das würde mir nicht noch einmal passieren. Pißkop war immer noch der dunkle Schatten von Peekay, er stand mir noch deutlich vor Augen. Was auch immer geschähe, ich würde mich nie mehr demütigen lassen, um etwas zu erreichen. Hinzu kam, daß ich eigentlich ein Einzelgänger war. Außer Doc und davor Grandpa Chook hatte ich nie einen Partner gehabt und auch nie einen Freund in meinem Alter. Es klang gut, in dieser neuen Umgebung sofort einen Freund zu haben, aber es machte mir auch angst. »Hast du ehrlich und wahrhaftig nur einen Namen?« fragte Hymie plötzlich. »Irgendwie schon, ich hab jedenfalls immer nur einen benutzt. Ich bin eben so.« »Sie lassen dir das nicht durchgehen, das System gestattet keine Extrawürste.« »Es wird ihm aber nichts anderes übrigbleiben«, antwortete ich und klang viel mutiger, als ich mich fühlte. Plötzlich sehnte ich
mich danach, Doc fragen zu können, was er mir unter diesen Umständen raten würde, aber ich wußte die Antwort schon. Er hätte einfach gesagt, daß jeder Mensch das Recht hat, sich so zu nennen, wie er will. Wenn jemand unter einem Namen leidet, den er sich nicht frei gewählt hat, wie konnte er dann für den Rest seines Lebens ein freier Mensch sein? »Wir müssen genau der sein, der wir sind. Absolu-del!« würde er schließlich zusammenfassend sagen, nachdem wir die Angelegenheit genau besprochen hatten. Doc war niemand, der in wichtigen Dingen Kompromisse machte, wie zum Beispiel bei der Frage, wie sich ein Mensch selbst sieht. »Ich wette, du bist gut in Sport. Ich bin miserabel«, sagte Hymie. »Ich bin ganz gut.« »In was bist du am besten«, fragte Hymie, »Rugby?« »Nein, ich boxe.« Hymie rückte sichtlich schockiert herum. »Was?« »Ich bin Boxer.« »Ja, hab ich schon verstanden. Mensch, das ist ja Neandertal!« »Du könntest dir 'ne schwere Verletzung zuziehn, wenn du das zum falschen Boxer sagst«, sagte ich grinsend. Hymie tat so, als sei er schockiert und sagte: »Vorsicht, Mann, vor Gericht gelten Boxerhände als tödliche Waffen.« Dann war er plötzlich wieder ernst. »Ich sag dir was, ich bin ein Spieler, und du bist ein Boxer, das ist ein weiterer Grund, warum wir zwei befreundet sein müssen, Peekay.« »Du bist Spieler?« fragte ich. Hymie seufzte. »Ich bin Jude. Von Juden wird erwartet, daß sie gut mit Geld umgehen können. Was machen sie also? Sie richten sich danach. Mein alter Herr ist verdammt reich, und er gibt mir so viel Geld, wie ich brauche. Aber genau das ist das Problem. Ich muß selber Geld machen, aus intellektuellen Gründen, nicht weil ich habgierig bin. Ich bin kein echter Spieler, Spieler sind dumm, Geld machen ist für mich nichts anderes als mentales Training, kannst du mir folgen?« »Nein.« »Bist du reich, Peekay? Ich meine deine Eltern?« »Verdammt, nein, ich hab ein Stipendium gewonnen. Meine Mutter ist Schneiderin.« »Deshalb verstehst du das nicht. Für mich ist Geld dasselbe, was
für dich Boxen ist, es ist meine Art mit der Welt klarzukommen. Für einen reichen Juden ist Geld eine Waffe, und bis ich nicht selbst Geld verdienen kann, kann ich mich auch nicht selbst verteidigen.« Plötzlich faszinierte mich das Ganze. Nicht weil Hymies Philosophie die Antithese all dessen war, was ich gelernt hatte, obwohl ich wußte, daß der Herr gegen Geld und immer für die Armen war. Es war nur so, daß, nun ja, Doc und Mrs. Boxall oder auch Miss Bornstein Geld oder seine Wichtigkeit niemals erwähnt hatten. Ich war zum ersten Mal gezwungen gewesen, über Geld nachzudenken, als die Liste mit der Schulkleidung angekommen war, und ich hatte mir schon überlegt, daß in einem Internat für Söhne reicher Leute kein Geld zu haben, meine Schulkarriere sicherlich beeinflussen würde. »Bist du gut im Geldmachen?« fragte ich Hymie. »Ungefähr so gut wie du im Boxen«, antwortete er. »Du hast einen Partner, Hymie. Geld ist etwas, wovon ich keine Ahnung habe!« Hymie grinste. »Abgemacht, Peekay. Ich hab das Gefühl, du bist ein sehr guter Boxer.« Ich war von Natur aus ein ziemlich ruhiger Mensch und hatte keine Schwierigkeiten, irgendwie klarzukommen. Als neuer Schüler war ich in der Internatshierarchie natürlich ganz unten, wurde aber glücklicherweise vom Vorsteher unseres Hauses, Fred Cooper, der auch zweiter Präfekt der ganzen Schule und Kapitän der First XV Rugby-Mannschaft war, zu seinem Burschen gewählt. Dadurch hatte ich sofort einen Extrastatus unter den anderen Neuen, die alle, genau wie ich, einem Schul- oder Hauspräfekten zugeteilt worden waren. Burschendienste waren harte Arbeit. Wir mußten den Schul- und Hauspräfekten vom Wecken morgens um sechs bis zum Lichtausdrehen um halb zehn Uhr abends zur Verfügung stehen. Keine Arbeit war zu niedrig, und wenn ein Präfekt in seinem Arbeitszimmer schrie, mußten alle Burschen in Hörweite angerannt kommen. Der Junge, der zuletzt angerannt kam, mußte die Aufgabe erledigen. Zusätzlich dazu mußte jeder Bursche eine Reihe von Pflichten für seinen persönlichen Präfekten erfüllen. Er mußte sein Bett machen, seine Schuhe, seine Kadetten- und seine Rugbystiefel putzen, seine
Rugbykleidung waschen oder im Sommer seine Cricketstiefel weiß färben. Wenn der Präfekt Offizier im Kadettenchor war, mußten sein Sam-Browne-Gürtel und seine Messingschnalle poliert, seine Kleider ausgelegt, sein Arbeitszimmer geputzt, seine sonstigen Aufträge erledigt und Süßigkeiten für ihn eingekauft werden. Meine ersten Prügel bezog ich, als ich ein wenig Sahne von einem Törtchen stibitzt hatte, das ich für Fred Cooper holen mußte. Ich hatte ein winziges bißchen Sahne geschleckt, und bei dem Versuch, die Stelle wieder in Ordnung zu bringen, hatte ich noch ein-, zweimal schlecken müssen. Als ich in Fred Coopers Arbeitszimmer ankam, sah das Törtchen ein bißchen restauriert aus. »Du verdammter kleiner Mistkerl! Du hast an meinem Sahnetörtchen rumgemacht«, schrie Cooper. »Ich bin mit der Hand drangekommen und mußte es ablecken, Sir«, erklärte ich, um so nah wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben. »Scheiße! Du hast mein verdammtes Törtchen abgeleckt, Peekay?« »Nein, Sir, ich bin mit der Hand ausgerutscht.« »Mach die Tür zu, Junge. Wir haben ein hervorragendes Mittel gegen rutschige Hände.« Cooper griff nach dem Stock, der hinter der Tür hing. »Wie oft, glaubst du, ist deine Hand ausgerutscht?« fragte er. »Nicht oft, Sir«, sagte ich ängstlich. »Nicht oft, heißt das einmal oder zweimal oder dreimal, Mann?« »Einmal?« sagte ich hoffnungsvoll. »In Ordnung, bück dich.« Ich bückte mich, hielt meine Knie fest und streckte ihm meinen Arsch entgegen. Wumm! »Das ist für deine schlüpfrige Hand.« Wumm! »Das ist für deine schlüpfrige Zunge.« Wumm! »Und das für dein schlechtes Gedächtnis.« Cooper hing den Stock zurück an die Tür und zeigte auf das Sahnetörtchen auf seinem Schreibtisch. »Iß es auf! Und kauf mir ein neues von deinem Geld.« Ich schaute das Törtchen mit der glänzendbraunen Glasur und der herausquellenden Sahne an. Das war meine erste größere Krise. »Ich... ich habe kein Geld, Sir.« Cooper sah in sein Buch. »Benutz deine schlüpfrigen Finger, und beschaff dir welches«, sagte er und entließ mich.
Ich verließ sein Arbeitszimmer und hielt das Sahnetörtchen, das mir so viel Ärger gemacht hatte, vorsichtig in der Hand. Jeden Mittwoch nach dem Mittagessen und jeden Samstag morgen wurde Taschengeld ausgegeben. Aber da ich keines bekam, bedeutete die Tatsache, daß heute Dienstag war, zweierlei: Keiner der anderen Burschen hatte mehr Geld, und selbst wenn ich mir etwas leihen könnte, hätte ich keine Möglichkeit, es zurückzubezahlen. Mein Arsch brannte höllisch, aber das bemerkte ich in meiner Angst kaum. Hymie Levy wartete am Ende des Flures, der zu den Arbeitszimmern der Sechstkläßler führte. »Jesus, Peekay, ich habs von hier gehört, dieser Bastard hat dir den Arsch versohlt!« »Ich stecke tief in der Scheiße«, sagte ich. »Ich muß Cooper ein Sahnetörtchen kaufen, aber ich hab kein Geld.« Hymie zog die Stirn kraus. »Kein Problem, ich geb dir was.« Dann zeigte er auf das Törtchen in meiner Hand. »Was ist das? Das ist doch ein Sahnetörtchen!« Ich erklärte ihm, was passiert war. »Tut mir leid, aber ich kann mir nur dann was von dir leihen, wenn ich was für dich machen kann, um es abzubezahlen«, fügte ich hinzu. »Sei nicht blöd, Peekay. Gibs mir morgen nach der Taschengeldausgabe zurück.« Es war das erste Mal, daß ich zugeben mußte, daß ich überhaupt kein Geld hatte. »Überhaupt nichts? Überhaupt kein Geld?« Hymie war offensichtlich sehr erstaunt. Er griff in die Tasche seiner grauen Flanellhose und zog ein Zweischilling-Stück heraus. »Da, nimms, du kannst es mir zurückzahlen, wenn du die Schule verläßt.« »Unsinn, Hymie, das ist erst in fünf Jahren.« Hymie grinste. »Ich bin Jude, du weißt doch, wir vergessen nie etwas.« »Du bist auch ein Arsch, Levy. Behalt deine zwei Mäuse, ich brauch nur drei Pence. Ach, vergiß es! Ich geh zu Cooper und flehe um Gnade.« »Was, willst du dir noch 'ne Tracht Prügel abholen? Gib mal das Törtchen her. Da, halt das mal.« Vorsichtig hob er das Oberteil des Törtchens ab und gab es mir. Er schob die Sahne mit seinem Zeigefinger aus der Mitte nach außen und türmte sie dort möglichst hoch
auf. Dann setzte er das Oberteil wieder drauf, und drückte die beiden Hälften mit dem Zeigefinger und dem Daumen zusammen. Dabei quetschte er die Sahne an den Rändern heraus. Es sah sehr gut aus. Er gab mir das runderneuerte Sahnetörtchen und grinste zufrieden. »Vielen Dank, Hymie. Ich steh in deiner Schuld«, sagte ich sehr erleichtert. »Bedank dich nicht bei mir, Peekay. Zweitausend Jahre Verfolgung von Bastarden wie Cooper waren nötig, daß ich so schlau geworden bin. Eigentlich müßte ich mich bei ihm bedanken.« Es war das erste Mal, daß wir das System geschlagen hatten, das heißt, eigentlich hatte Hymie es geschafft. Nachdem ich Cooper sein »neues« Törtchen gegeben hatte, verzogen wir uns hinter die Scheißhäuser und lachten uns halb tot. Dann holte Hymie sein Minischach heraus. Wir waren ungefähr gleich gut. Seine Gerissenheit wurde durch mein in jahrelangem Spielen mit Doc trainiertes Erinnerungsvermögen ausgeglichen. Wir waren von Anfang an in der ersten Schachmannschaft der Schule. Das war weiter nichts Weltbewegendes, denn man schlug sich nicht gerade darum, dem Schachclub beizutreten. Boxen war schon eher ein Problem. Es gehörte nicht zu den Pflichtsportarten an der Schule. Nur etwa zwanzig von den sechshundert Schülern nahmen daran teil. Darby White, der Turnlehrer und Ex-Champion im Halbschwergewicht bei der britischen Armee, hatte aus sechs von diesen zwanzig Jungen eine einigermaßen gute Boxmannschaft zusammengestellt. Bald erfuhr ich, daß wir nur gegen Burenschulen boxten, da es an den anderen englischen Schulen keinen Boxunterricht gab. Kein anderer Boxer in der Schule war so gut ausgebildet wie ich oder konnte auch nur annähernd so gut boxen. Sarge interessierte sich auch sehr fürs Boxen, und er trainierte zusammen mit Darby White die Boxmannschaft. Das Schulteam war einigermaßen zu gebrauchen, aber die Stimmung war ziemlich mies, als ich ankam. Die Schule hatte nur sechs Einzelkämpfe in fünf Jahren und keinen einzigen in den vergangenen zwei Jahren gewonnen, geschweige denn einen ganzen Wettkampf. Die rotweiß-grünen Bänder in den Schulfarben, die um den Griff eines schweren Holzschlägers gebunden waren und von einem der
Eckpfosten in der Turnhalle herunterhingen, verblichen schon. Der Schläger war die ganze Zeit über in der Prince of Wales-Schule geblieben. Darby White schaute ihn manchmal etwas sehnsüchtig an und sagte dann: »Ich erwarte nicht, jemals die Schultrophäe zu gewinnen, aber ich möchte wenigstens diesen dreckigen Holzschläger einmal für ein Jahr loswerden.« Ich erzählte Hymie davon, und er war sofort Feuer und Flamme. Er interessierte sich überhaupt nicht für Sport, aber er konnte einer intellektuellen Herausforderung nicht widerstehen. »Wie gut sind die anderen Typen in der Mannschaft?« fragte er. Ich mußte zugeben, daß sie ziemlich durchschnittlich waren. Die Jungens zu Hause in der Gefängnismannschaft hätten sie mit einem Arm auf dem Rücken fertiggemacht. »Was ist Darby White für ein Trainer?« Darby White war nicht Geel Piet, aber er kannte sich aus mit Boxen und war bestimmt so gut wie Captain Smit. »Ich glaube, er hat keine Begeisterung mehr, aber er versteht sein Geschäft«, antwortete ich. »Du brauchst einen Manager, und ich kenne den Typ schon«, sagte Hymie. Das war das Schöne an Hymie, er gab nie an, war sich seiner Überlegenheit aber immer völlig sicher. Das stieß viele Leute ab, aber Hymie hatte sich auf ein Leben mit ziemlich vielen Schwierigkeiten vorbereitet, und er kümmerte sich einen Dreck darum, ob er beliebt war oder nicht. »Verfolgung stellt die Existenzgrundlage für einen Juden dar. Wenn wir nicht verfolgt würden, wären wir sehr schnell intellektuell genauso mittelmäßig wie ihr«, sagte er. Ich fragte Hymie, wie er die vermutlich schwächste Boxmannschaft der Welt zu einem Gewinnerteam machen wollte. Er schaute mich an, und zum ersten Mal verschwand das leicht zynische Grinsen aus seinem Gesicht. »Am Anfang brauchen wir nur einen Gewinner. Einen Kerl, bei dem man sicher sein kann, daß er gewinnt. Der Rest ist einfach, der Rest ist nur gutes Management. Wenn Menschen Hoffnung haben, können sie auch gewinnen.« Er legte seine Hände auf meine Schultern. »Wieviel Kämpfe hast du gewonnen, Peekay?« »Vierunddreißig«, antwortete ich. »Wie viele hast du verloren?« »Nun... keinen«, sagte ich etwas verlegen. »Mach weiter so. Nichts liebt ein Spieler mehr als Beständigkeit.«
»Hier sind wir im higbveld, der Standard ist viel höher als im lowveld, wo ich bisher geboxt habe, früher oder später wird jeder Boxer mal geschlagen.« »Klar, klar, aber wir wollen alles tun, um diesen Augenblick so lange wie möglich hinauszuzögern. Peekay, ich rieche Geld in dieser Boxmannschaft.« »Du meinst, ich boxe, du übernimmst das Management, wir werden zu einem integralen Bestandteil des Systems und lassen es dann für uns arbeiten?« »Ich liebe Leute mit schneller Auffassungsgabe«, sagte Hymie. Als Darby White und Sarge mich trainieren sahen, waren sie enorm beeindruckt. »Wo hast du boxen gelernt, mein Junge?« fragte Darby White. Ohne zu überlegen antwortete ich: »Im Gefängnis, Sir.« Darby White wurde nie müde, diese Antwort immer wieder zu erzählen. Zu meiner großen Verlegenheit wurde das seine Lieblingsboxgeschichte, und er erzählte sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit den Trainern der anderen Schulen. Sarge war der zweite Trainer der Boxmannschaft und war mit Darby White unser Sekundant, oder auch allein, wenn Darby Ringrichter war. Als junger Wachmann bei den Coldstream Guards war er seinerzeit ein ganz guter Amateurboxer gewesen. Später arbeitete er als Sekundant unter dem berühmten englischen Trainer Dutch Holland in der Thomas a Becket-Sporthalle in Süd-London. Dutch Holland war der beste Sanitäter in ganz England, und Sarge behauptete, von ihm gelernt zu haben, wie man eine Augenblutung stillte. Wenn ein Auge verletzt war, bedeutete das an Schulen normalerweise das Ende des Kampfes, was nicht immer fair war, da der bessere Boxer wegen eines technischen K.o. verlieren konnte, obwohl er punktemäßig überlegen war. Sarge konnte mit Watte, Adrenalin und Vaseline wahre Wunder vollbringen. Seine besonderen Fähigkeiten als Sanitäter war eine der Waffen, die Hymie einsetzte, um die Boxmannschaft auf einen besseren Platz bei den Schulwettkämpfen zu hieven. Hymie hatte sich durch einen einfachen Trick zum Manager der Boxmannschaft gemacht, er hatte sich ganz einfach um den Job beworben. Noch nie hatte ein Schüler der ersten Klasse diesen Job gehabt. Die Manager der großen Sportarten wie Cricket, Rugby,
Schwimmen, Schießen und natürlich auch Boxen wurden aus der fünften Klasse ausgewählt. Sie waren zwar keine Sportler, aber sie hatten Köpfchen. Ein Fünftkläßler, der Sportmanager wurde, wurde im Jahr darauf garantiert Schulpräfekt. Wie auch immer, Manager der Boxmannschaft zu sein, wurde als Witznummer angesehen, und war deshalb keines Kopfes würdig. Niemand bemühte sich um den Job, und Darby White hatte in den vergangenen Jahren die wenigen Bewerber mit der Begründung abgelehnt, sie seien keine Köpfe und deshalb ganz einfach Opportunisten. Als Hymie sich für den Job interessierte, betonte er, daß er, obwohl Erstkläßler, bereits in der Schachmannschaft der älteren Schüler sei, was für seine verstandesmäßigen Fähigkeiten wohl hinreichend bürge. Wenn er einem Erstkläßler den Job gäbe, könne Darby sich außerdem auf fünf Jahre kontinuierliche Arbeit freuen, mit all den Vorteilen, die eine Langzeitplanung biete. Hymies Argumente wirkten überzeugend. Das schlagendste Argument war, daß die Boxmannschaft schlechter gar nicht werden könne, Darby ihm also ohne Risiko eine Chance geben könne. Darby White vergrub seine Hände tief in seiner weißen Leinenhose und spielte etwa zwei Minuten lang heftig mit seinen Eiern, bevor er zustimmte. Darby konnte keine Entscheidung fällen, ohne beide Hände in die Hosentaschen zu stecken und mit seinen Eiern zu spielen, je schwieriger die Entscheidung, desto länger spielte er. Meinen ersten Kampf bestritt ich als Fliegengewicht, mit meinen zweiundneunzig Pfund war ich allerdings sehr leicht, und es konnte gut sein, daß ich einen Gegner hatte, der zehn Pfund mehr wog als ich. Der Kampf fand einen Monat nach Schulbeginn in der Turnhalle statt. Heimspiele erregten im Internat nur sehr wenig Aufmerksamkeit. Der schulische Ehrgeiz erstreckte sich nicht aufs Boxen. Alle wußten, daß wir immer verloren, und deshalb würden nur die Boxmannschaft und die Erstkläßler dabeisein, um zuzusehen, wie die Prince of Wales-Mannschaft nach Strich und Faden verdroschen wurde. Diese einseitigen Boxrunden wurden intern »Doppelfaustattacken von den haarigen Nacken« genannt. Etwa so: »Wieder eine sieben zu null Doppelfaust-Attacke von den haarigen Nakken.« Die Feindseligkeit zwischen den Buren und den englischsprechenden Südafrikanern bestand weiterhin, und die Engländer fühlten sich immer noch himmelhoch überlegen. Die Tatsache, daß nur
in Burenschulen geboxt wurde, war ein weiterer Grund dafür, die Boxmannschaft der Schule irgendwie als »declasse« anzusehen und auf sie herabzublicken. Darby White, der weiße Leinenhosen und ein Unterhemd trug und dessen Bauch über die alte Krawatte herausquoll, mit der er seine Hose zusammengebunden hatte, und Sarge in seiner grellen Portiersuniform und seinem idiotischen Stöckchen wurden vom Rest des Lehrkörpers in akademischem Talar für ein Pärchen aus einer Komischen Oper gehalten. Es wurde nie ausgesprochen, aber jeder wußte es, geistige Arbeit war jeder Art von körperlicher haushoch überlegen. Während nur eine Handvoll von unseren Schülern da waren, war die Turnhalle bei diesem ersten Kampf mit Jungen der anderen Schule überfüllt, einer Buren-Highschool namens Helpmekaar, was ins Englische übersetzt »Helft einander« heißt. Die Helpmekaar-Schule hatte außer bei Cricket bei allen Sportarten einen sehr guten Ruf. Die Boxmannschaft sollte die beste in ganz Südafrika sein und hatte im letzten Jahr die südafrikanische Schulmeisterschaft gewonnen. Wenn der Typ, gegen den ich kämpfen sollte, ein Pfund mehr gewogen hätte, wäre er ein Bantamgewichtler gewesen. Es machte mir nichts aus, ich war daran gewöhnt, gegen schwerere und größere Gegner anzutreten und hatte schon gegen stärkere Jungen als ihn gekämpft. Aber Hymie machte sich Sorgen. Es war das erste Mal, daß wir zusammen ein Geschäft machten, und beim Wiegen sah er sehr besorgt aus. »Zehn Pfund Gewichtsunterschied ist eine Menge, dieser Geldenhuis soll ein harter Brocken sein.« »Ach was, Hymie, er ist genauso neu in seiner Schule wie wir hier, woher sollen sie das wissen? Wie läuft das Wettgeschäft?« »Gut, das ist das Problem. Ich hab die ganze Nacht auf dem Klo in der Helpmekaar-Schule Wetten aufgenommen, alle setzen ihr Geld auf Geldenhuis.« »Na bestens, hast du unseren Erstkläßlern gesagt, daß sie auf mich setzen sollen?« »Ja, sie sind alle ganz aufgeregt, aber das Wettgeld, das sie eingesetzt haben, ist viel zu wenig, wenn Geldenhuis gewinnt. Jesus, Peekay, ich muß verrückt sein. Ich habe keine Fakten in der Hand, das macht mich fertig. Ich hab keine Ahnung, in welcher Verfassun Gel-
denhuis ist, und von dir weiß ich auch nichts. Die Wetten werden quasi blind abgeschlossen, das ist der nackte Wahnsinn.« »Irgendwie müssen wir mal anfangen. Wir müssen einander vertrauen.« »Reg dich nicht auf, Peekay, aber das nächste Mal erst die Fakten, dann das Vertrauen.« Das war vielleicht das Wichtigste, was Hymie jemals zu mir gesagt hat. Hymie war ein gutes Beispiel für Hoppies Diktum: Erst mit dem Kopf und dann mit dem Herz. Das war von dem Tag an die Basis unserer geschäftlichen Zusammenarbeit. Geldenhuis hatte breite Schultern, und ich wußte, daß ich seiner Rechten aus dem Weg gehen mußte, die er blitzschnell abschoß, als er beim Warten auf den Beginn des Kampfes in die Luft boxte. Geel Piet hatte mich gewarnt, daß es Boxer gibt, die vor einem Kampf schattenboxen, um ihren Gegner zu täuschen. Sie tun so, als ob sie die Rechte oder Linke stärker einsetzen, obwohl es in Wirklichkeit genau andersherum ist. Sie wollen damit ihren Gegner gleich in den ersten Sekunden überraschen und verunsichern. Ich beobachtete den großen Jungen genau und kam zu dem Schluß, daß er mir mit seinem Schattenboxen nichts vormachte. Er war sich seiner selbst viel zu sicher, um solche Tricks anzuwenden. Er war Linkshänder, und ich bemerkte, daß er seine Rechte zu niedrig hielt. Dadurch war sein Kiefer ungeschützt. Seine leicht geöffnete Körperhaltung legte den Schluß nahe, daß er sich als Fighter verstand. Wenn das stimmte, würde er blitzschnell auf mich zugehen und hoffen, mich mit einem guten Schlag gleich zu Beginn des Kampfes fertigzumachen. Ich »saß einfach auf dem Topf«, wie Geel Piet das ruhige Sitzen vor dem Beginn eines Kampfes auf dem kleinen dreibeinigen Hokker in der Ecke genannt hatte. »Verrat ihnen nichts, Jong«, hatte er gesagt, »sitz einfach da und beobachte, beobachte ganz genau. Ich sag dir, Mann, wenn du einen Boxer genau beobachtest, weißt du eine Menge von ihm, bevor er den ersten Schlag ausgeteilt hat.« Die Glocke zur erste Runde läutete, und nachdem wir die Handschuhe aneinandergestoßen hatten, kam der Junge aus der Helpmekaar-Schule blitzschnell auf mich zu. Er sah grimmig aus, ich wußte, daß er kurzen Prozeß mit mir machen wollte. Ich sah die erste linke Gerade schon von weitem kommen und richtete es so ein, daß sie meinen Kopf nur ganz knapp verfehlte. Wenn ein Schlag mit
der Führhand nur knapp vorbei geht, versucht ein Boxer oft direkt noch einmal denselben Schlag mit mehr Kraft und kommt dabei ein wenig aus dem Gleichgewicht. Die zweite linke Gerade kam herangeschossen, und als sie an meinem Ohr vorbeizischte, sank seine Rechte bis zu seiner Brust herab und ließ den Kopf völlig ungeschützt. Um die Schlagkraft zu maximieren, drehte ich mich leicht und landete einen rechten Haken auf seiner Kinnspitze. Er war schon aus der Balance, konnte sich nicht mehr halten und krachte rückwärts auf den Boden. Ich hatte meine ganze Kraft hinter den Schlag gesetzt, davon abgesehen war er aber auch perfekt getimed, und ich hörte, wie das Publikum der Helpmekaar-Schule mitleidig aufseufzte. Unsere Erstkläßler johlten wie wild. Der Junge setzte sich auf, und der Ringrichter begann, ihn anzuzählen. Ein K.-o.-Schlag war für mich nicht drin gewesen, aber er war offensichtlich angeschlagen. Junge Typen sind zu stolz, um bis acht unten zu bleiben. Er sprang auf und starrte mich wütend an. Ich hatte ihn völlig überrascht und erwartete jetzt, daß er eine Zeitlang um mich herumtänzeln und auf seine Chance warten würde, um mich mit ein paar Kopftreffern fertigzumachen. Ich dachte, zuerst mußt du mich kriegen, du Burenbastard. Der Ringrichter zählte bis acht, wie er es mußte, prüfte seine Reflexe und sagte uns, daß wir weiterboxen sollten. Ich war viel leichter als mein Gegner und merkte, als ich ihm in die Augen sah, daß er meinen Schlag für einen Zufallstreffer hielt und es nicht für nötig befand, sich mehr anzustrengen. Er ging gerade auf mich los und hielt seine Rechte wieder zu tief. Er sah auf mein Kinn, und dadurch wußte ich, was er vorhatte. Jesus, er würde wieder seine linke Gerade versuchen. Geel Piet hätte gesagt: »Manche Fighter kann man leichter lesen als ein Buch, aber die Geschichte ist verdammt phantasielos.« Die linke Gerade schoß heran, verfehlte mich knapp und streifte mein Ohr. Ich schlug ihm über seine Linke cross aufs Kinn und verfehlte den Punkt. Ein linker Haken folgte auf seinen Solarplexus, und er fiel rückwärts um und saß auf seinem Hintern. Ich war wütend auf mich selbst, man hat in einem Kampf nicht oft die Chance für einen unerwarteten Schlag, und ich hätte besser treffen können. Trotzdem war es ein guter Schlag, und die Linke hatte ihn direkt unter den Rippen getroffen, wo es richtig weh tut.
Geldenhuis war stark und tapfer und stand eine Sekunde später schon wieder auf den Beinen. Der Ringrichter zählte bis acht und warnte ihn, daß der Kampf vorbei wäre, wenn er noch einmal zu Boden ginge. Ich wußte, daß ich nicht damit rechnen konnte, ihn noch einmal so zu erwischen, und beschloß, daß es Zeit war, anständig zu boxen, ihn langsam müde zu machen und auf die Chance zu warten, unter seiner Linken an ihn herantauchen zu können, um ihm ein paar solide Schläge unters Herz verpassen zu können. Wenn er nicht enorm fit war, würde ich auf diese Weise seine Widerstandskraft schwächen und ihn in der letzten und dritten Runde fertigmachen. Die Glocke läutete das Ende der Runde ein, und ich ging in meine Ecke zurück, wo Darby und Sarge standen und von einem Ohr zum anderen grinsten. In der zweiten Runde boxte ich ganz einfach. Er machte viele unnötige Bewegungen, und ich wartete darauf, daß er ungeduldig würde. In der Zwischenzeit hielt ich ihn mir vom Leib, indem ich ihm linke Geraden ins Gesicht servierte. Gegen Ende der Runde muß er begriffen haben, daß er den Kampf nicht mehr unter Kontrolle hatte, und wirkte wild entschlossen, mich niederzuschlagen, selbst wenn das hieß, daß er dabei ein paar Schläge einstecken mußte. Er rannte wie ein Wilder auf mich zu. Ich glaube, er erwartete, daß ich abhaute und er mich in einer Ecke festnageln könnte. Aber ich blieb stehen und servierte ihm eine gerade Linke, die ihn zurück in die Seile warf. Ich schob Geel Piets Achterkombination hinterher, zwei gute Schläge auf den Kopf, von denen einer ihn über dem Auge verletzte, der nächste Schlag auf die Nase, dann noch einen direkt auf die Verletzung und den Rest direkt unters Herz. Die Jungen aus der Helpmekaar-Schule applaudierten mir, als die Glocke das Ende der Runde ankündigte. Geldenhuis trat zur dritten Runde nicht mehr an. Der Ringrichter hatte den Riß über seinem Auge untersucht und den Kampf abgebrochen. Ich hatte mit technischem K.o. gewonnen, es war seit zwei Jahren der erste Sieg für die Prince of Wales-Schule. Es machte nicht viel aus, daß wir die restlichen sieben Kämpfe verloren. Die Boxmannschaft, die wie üblich sehr schlecht abschnitt, hatte seit Jahren nicht mehr mit solcher Begeisterung und Entschlossenheit gekämpft. Sarge lief herum, grinste so breit, daß man seine Goldzähne sehen konnte, und flüsterte so laut, daß man
es meterweit hörte: »Verdammt gut, jetzt wissen diese verdammten Buren, wer hier der Boß ist.« Man hätte denken können, wir hätten das ganze Match gewonnen. Der Boxtrainer der Helpmekaar-Schule kam herüber und klopfte mir auf den Rücken. »Wer hat dir boxen beigebracht, mein Sohn?« fragte er auf englisch. »Ich hab's in Barberton gelernt, Meneer«, antwortete ich auf afrikaans. Plötzlich sah er zufrieden aus. »Magtig. Ich wußte, du bist zu gut für einen Engländer! Ich hab bei einem Jungen in deinem Alter noch nie eine Achterkombination gesehn. Wenn ich's mir recht überlege, hab ich überhaupt noch nie bei einem Kind eine Achterkombination gesehn. Wer hat dir boxen beigebracht, Mann?« »Meneer Geel Piet«, antwortete ich. »Ich wünschte, wir hätten ihn bei uns an der Schule, mehr kann ich nicht sagen, Mann.« »Ich glaube nicht, daß Sie ihn gewollt hätten«, antwortete ich, aber das schien er nicht zu hören. »Du bist Bure, was machst du an dieser Schule hier?« Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Hör zu, wir könnten es arrangieren, daß du an die Helpmekaar-Schule kommst, dann wärst du bei deinen eigenen Leuten, wir können ein Schulstipendium für dich organisieren.« »Ich bin Engländer. Ein rooinek«, sagte ich ruhig. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich sehr stolz. Vielleicht war es nicht richtig, stolz darauf zu sein, aber ich hatte lange gebraucht, bis ich mich damit abgefunden hatte, ein rooinek zu sein. Der Trainer schaute mich lange an. »Nun, du boxt nicht wie ein Engländer. Verlaß deine eigenen Leute nicht, mein Sohn. Engländer sprechen nicht so wie du Afrikaans, ich weiß das, ich bin nicht nur Boxtrainer, sondern auch Sprachlehrer.« »Ich bin Engländer«, antwortete ich auf englisch, »ehrlich, Sir.« »Nun, Engländer, ich bezweifle, daß es jrgendwo in Südafrika einen Jungen in deiner Gewichtsklasse gibt, der dich schlagen kann, das heißt, wenn diese rooinek-Schule dich nicht fertigmacht.« Er wandte sich abrupt ab, ging hinüber zu Darby White, der sehr mit sich zufrieden aussah. Ich sah, daß beide zu mir herüberblickten, und Darby White hatte ein Besitzergrinsen im Gesicht.
Ich fühlte eine Hand auf meiner Schulter, drehte mich um und sah den Jungen, gegen den ich gekämpft hatte. Er hatte ein großes rosa Pflaster auf seiner linken Augenbraue. »Wie geht's?« Er strekkte seine Hand aus. »Jannie Geldenhuis. Es ist alles okay. Du hast fair gewonnen, Mann«, sagte er mit starkem afrikanischem Akzent auf englisch. »Vielen Dank für den Kampf«, antwortete ich auf afrikaans und schüttelte seine Hand. Er grinste und schien sich darüber zu freuen, daß ich auf afrikaans antwortete. »Mann, ich glaub, ich hab dich nicht ein einziges Mal getroffen, das ist mir noch nie passiert. Das war eine gute Lektion für mich, du bist so ein kleiner Kerl, ich dachte, es würde ganz einfach für mich.« Ich lächelte ihn an. »Und du bist so ein großer Bastard, ich dachte, daß du mich ganz schön verprügeln würdest.« Gert hatte immer gesagt, daß ein Sieger großzügig sein sollte, und Jannie Geldenhuis schien ein netter Kerl zu sein. »Ja, es kam alles ganz anders als erwartet, Mann.« Er grinste wieder. »Warte nur, ich zahl dir's auf dem Rugbyfeld heim, was bist du?« »Halbspieler. Ich heiß übrigens Peekay.« »Ja, weiß ich schon. Ich bin auch Halbspieler. Alles van die beste, Peekay.« Er wandte sich zum Gehen, drehte sich noch mal um und rieb sich das Kinn. »Jesus, das war ein wilder Schlag, der gleich am Anfang der ersten Runde!« Dann ging er zu seinen Schulkameraden zurück. »Ja, bis bald, Jannie«, sagte ich und freute mich, daß alles so gut ausgegangen war. Gerade als Geldenhuis ging, kam Hymie zu mir. »Wie geht's? Was hat der haarige Nacken von dir gewollt, ein Autogramm?« »Nichts. Er sagte nur, daß alles in Ordnung ist. Er wird mich auf dem Rugbyfeld wiedersehn.« Hymie grinste. »Ich sag auch, alles in Ordnung, wir sind reich!« Er runzelte plötzlich die Stirn. »Aber wir müssen die Bastarde immer noch hassen.« »Scheiße, Hymie, doch jetzt nicht mehr, wo alles vorbei ist!« sagte ich grinsend. »Kann ja sein, daß es für dich nur ein Boxkampf war!« Hymie
zeigte auf den hölzernen Schläger, der am Pfosten hing. »Für mich ist es der Anfang, das da loszuwerden! Das schaffen wir nur, wenn wir richtig hassen.« Ich seufzte. »Hymie, du mußt lernen, daß es gute Buren und schlechte Buren gibt, wie bei allen anderen auch. Du kannst sie nicht alle in einen Topf werfen.« »Der einzig gute Bure ist ein toter Bure!« schnaufte Hymie. »Der einzig gute Kaffer ist ein toter Kaffer, da hast du diesen Spruch her«, sagte ich ärgerlich. »Ja, stimmt«, gab er reuevoll zu. »Jesus, Hymie, du bist doch Jude! Wie kannst du solche Sprüche sagen?« Hymie lachte. »Ich bin ein sehr komplizierter Jude«, sagte er. »Peekay, wenn wir gegen diese Buren kämpfen wollen, müssen wir lernen, sie zu hassen. Verstehst du denn nicht mal das Allerwesentlichste?« »Scheißdreck!« »Ja, stimmt. Du hast recht, es ist Scheißdreck.« Er sah mich an und grinste wieder. »Aber sag das um Gottes willen nicht den anderen, sie müssen glauben, daß sie siegen können, daß der Feind nicht unbesiegbar ist.« Er war der einzige in der Boxmannschaft, der mir noch nicht gratuliert hatte, und ich fragte mich, wieso. Später sollte ich erfahren, daß Hymie ein Überraschungskünstler war. Er konnte einen verzweifelten Boxer wieder bis zum Rand mit Mut und Kampfgeist vollpumpen, sein zertrümmertes Ego wieder zusammenflicken und ihm wieder Selbstvertrauen einflößen. Wie eine Zaubersalbe trug Hymie Worte auf und massierte sie sanft ein. Aber er tat dies nur, wenn er damit einen bestimmten Zweck verfolgte, und nur mit Menschen, die er für unterlegen hielt. Das einzige, was ich je von ihm bekam, war ein Klaps auf den Rücken. Hymie hielt mich für seinesgleichen und erlaubte mir, seinen überlegenen Verstand mit ihm zu teilen, der den anderen meistens zwei, drei Denkschritte voraus war. »Also, was ist los?« »Was soll los sein?« fragte Hymie. »Wieviel? Wieviel haben wir verdient?« Hymie grinste. »Genug, daß du dem Cooper ein paar hundert
Sahnetörtchen kaufen kannst, falls du das jemals wieder mußt. Ich schätze, es fällt für jeden von uns ein Fünfer ab.« »Mann, Hymie, das ist ja wunderbar!« »Das ist nur der Anfang, Peekay. Diesmal haben wir's einfach probiert und Glück gehabt. Bei deinem nächsten Kampf werden wir die Form deines Gegners genau kennen, wir werden alles über ihn wissen, was man nur wissen kann. Jedesmal wenn er sich am Arsch kratzt, werden wir analysieren, warum er das tut. Beim Geldverdienen sollte man nichts dem Zufall überlassen.« Nach meinem Solosieg gegen die Helpmekaar-Schule traten Atherton, Cunning-Spider und Pissy Johnson zusammen mit zwölf von den anderen Neuen sofort in unsere Boxmannschaft ein. Es zeigte sich sehr bald, daß Pissy Johnson überhaupt kein Bewegungsgefühl hatte und nie einen Boxer abgeben würde, aber Atherton und Cunning-Spider waren Naturtalente und machten schnell Fortschritte. Hymie nannte die Neuen »die Holzschlägertruppe«, machte aus uns eine verschworene Gemeinschaft, ernannte sich selbst zum Präsidenten auf Lebenszeit und mich zum Captain. Hymie wußte, was ein bißchen Mystik wert war. Das Aufnahmeritual in die Holzschlägertruppe verlangte von jedem, sein Blut mit den anderen zu mischen, außer seinem eigenen. Er schwor jeden einzelnen von uns auf die Mannschaft ein, und dann erklärte er mir, wie ich ihn zum Präsidenten auf Lebenszeit vereidigen sollte. Er hatte das Protokoll für die Zeremonie persönlich verfaßt und gab mir ein Stück Papier, von dem ich folgendes ablesen sollte: »Willst du, Hymie Solomon Levy, feierlich schwören, mit all deinem Verstand und deinem Geschick und deiner Nervenstärke dafür zu kämpfen, daß die Prince of Wales-Schule ihren vergangenen Boxruhm wieder zurückerlangt?« Das überraschte uns alle etwas, denn wir hatten keine Ahnung gehabt, daß es irgendeinen vergangenen Ruhm gab, der wiederhergestellt werden konnte. »Ich schwöre«, sagte Hymie. »Schwörst du, selbstlos und ohne einen Gedanken an persönlichen Ruhm oder Gewinn Präsident der Holzschlägertruppe auf Lebenszeit zu sein?« Ich fragte mich, wie er das mit unseren Geschäftsbedingungen unter einen Hut bringen wollte. »Dies tun zu wollen, beschwöre ich hiermit feierlich«, sagte Hymie in einer eindrucksvollen grammatischen Konstruktion.
»Aufgrund dieses Schwures erkläre ich, Peekay, Captain der Hoizschlägertruppe, im Jahre 1946 unter der Regierung Seiner Majestät König Georg V. Hymie Solomon Levy zum Präsidenten auf Lebenszeit.« Hymie hatte mir in einer seiner seltenen Anwandlungen von Selbstkritik gestanden, daß seine Eltern ihm mit ihrer Namensgebung das ganze verdammte polnische Ghetto aufgebürdet hätten, und zwar lebenslänglich. »Warum konnten sie mir nicht wenigstens einen Goynamen geben wie Derek oder Brian oder Arthur oder so was?« Das war das einzige Mal, daß er sein Judentum in Frage stellte. Später, auf dem Weg zurück ins Internatsgebäude, machte ich mich über die »Wiederherstellung des vergangenen Ruhmes« in der Schwurzeremonie lustig und erwähnte auch die Klausel in seinem Schwur, daß er als Präsident auf Lebenszeit keinerlei persönliche Bereicherung anstreben würde. Hymie blieb stehen und schaute mich an. Er seufzte so tief, als würde er meinen Scharfsinn ernsthaft anz weif ein und sagte: »Um Gottes willen, Peekay, liest du denn keine Geschichtsbücher, es spielt überhaupt keine Rolle, wieviel Scheiße ein Land baut, sobald es Geschichte wird, verwandelt sich alles in glorreiche Tradition. Genauso läuft es mit Institutionen. Es geht einfach nicht, daß die Boxmannschaft einer Schule generationenlang immer nur verliert, die Geschichte gestattet solche Wahrheiten ganz einfach nicht. Selbstverständlich haben wir eine glorreiche Tradition, und wenn wir sie nicht gehabt haben, dann schaffen wir sie jetzt, und als Hoizschlägertruppe müssen wir die Prince of Wales-Schule zu ihrem vergangenen Ruhm zurückführen, scheißegal, was wirklich passiert ist.« »Tonnerwetter!« hätte Doc jetzt gesagt. »Hymie Levy ist der Größte, absoludel!« »Und was die persönliche Bereicherung angeht, unser Hauptziel ist es, an den früheren Boxerruhm der Schule wieder anzuknüpfen, und es ist kein Denken dran, daß das geht, wenn wir kein Pfund dabei machen. Genau das habe ich damit gemeint, als ich sagte, daß ich keinen Gedanken an persönliche Bereicherung hätte. Wir gründen kein Geschäft, wir nützen nur eins aus. Das nicht zu tun, würde an Wahnsinn grenzen, das wäre fast kriminell, wenn du mich fragst.» Bei diesem ersten Kampf gegen die Mannschaft aus der Helpme-
kaar-Schule war etwas Merkwürdiges passiert. Sarge war kurz vor Beginn des ersten Kampfes zu Darby White gekommen und hatte ihm gesagt, daß ungefähr ein Dutzend gut gekleidete und saubere Schwarze vor der Turnhalle stünden und um Erlaubnis gebeten hätten, hereinkommen und den Boxkampf anschauen zu dürfen. Darby hatte an seinen Eiern gespielt und gezögert. Wenn sie auf der Straße ohne schriftliche Erlaubnis ihrer Dienstherren angetroffen wurden, verletzten sie die Paßgesetze, die allen Schwarzen Ausgehverbot ab neun Uhr erteilte. Aber alle zeigten ihm eine schriftliche Erlaubnis, und schließlich war er einverstanden, daß sie mit Old Jimbo, dem Schuhputzer der Schule, der seit zwanzig Jahren keinen einzigen Boxkampf verpaßt hatte, an der Tür stehen durften. Der Boxtrainer aus der Helpmekaar-Schule kam herüber und protestierte, und zu unserer Überraschung sagte Darby, daß die jungen Männer genau wie Old Jimbo Schuldiener seien und deshalb den Boxkampf anschauen dürften. Mein Kampf kam gleich zuerst, und nachdem ich Jannie Geldenhuis besiegt und sich die Aufregung etwas gelegt hatte, schaute ich zur Tür. Außer Old Jimbo und einem sehr hochgewachsenen Mann war kein Afrikaner mehr zu sehen. Als er sah, daß ich in seine Richtung blickte, hob der große Schwarze seine geballte Faust. »Onoshobishobi Ingelosi!« rief er und verschwand. »Was zum Teufel sollte das denn heißen?« fragte Sarge und schaute auf. »Das klang ja wie 'n Kriegsschrei. Undankbare Mistkerle, nach dem ersten Kampf sind alle gegangen.« An diesem Abend waren sie zum ersten Mal dagewesen. Zuerst war mein schwarzer Fanclub, wie er bald genannt wurde, nur etwa ein Dutzend Mann stark, aber wenn es vom Platz her möglich war, kamen bald mehrere hundert Mann und später noch viel mehr zu den Kämpfen. Die Legende des Kaulquappenengels breitete sich immer weiter aus. Nach ein paar Wochen wurde klar, daß den Schuldienern meine wahre Identität durch die gleiche merkwürdige Osmose offenbart worden war, mit der Nachrichten Gefängnismauern durchdringen, Berge überwinden oder in Eingeborenenviertel einsickern, bis sie zu einem Teil der Luft selbst werden. Ganz allmählich änderte sich vieles. Die besten Fleischstücke kamen auf den Tisch, an dem die Erstkläßler saßen, und der zweite Gang wurde immer zuerst dort
serviert, wo ich saß. Ich merkte, daß man mir meine Pflichten nahm. Ich ging zu Fred Coopers Spind, um seine Rugbykleidung zu waschen oder seine Cricketstiefel zum Putzen herauszuholen, und sah, daß beides bereits erledigt war. Sein Sam-Browne-Gürtel und seine Messingschnalle blinkten wie ein Spiegel, und sogar die Schnürriemen seiner Rugby Stiefel waren gewaschen. Nur die morgendlichen Aufgaben wie Bettenmachen blieben mir überlassen, da die Hausdiener so früh noch nicht da waren. Meine eigene Kleidung war immer tadellos sauber in meinen Spind eingeräumt, wenn wir mittags nach der Schule zum Essen ins Wellington House zurückkamen. Einmal war mein Fußballhemd zerrissen, ich hatte einen hoffnungslosen Versuch unternommen, es wieder zu stopfen, und machte mir große Sorgen. Ich war ganz sicher, daß meine Mutter es sich nicht leisten konnte, mir ein neues zu kaufen. Als ich zum Essen ins Wellington House kam, sah ich, daß es ordentlich mit der Nähmaschine geflickt und dann gewaschen und gebügelt worden war und wieder wie neu aussah. Ich unterhielt mich oft mit den Schuldienern in ihren eigenen Sprachen, sie gaben aber niemals zu, auch nur irgend etwas für mich getan zu haben. Sie hatten die Legende gehört, kannten den Mythos und hatten einfach darauf reagiert, ohne von jemandem Anweisung erhalten zu haben. Tatsächlich war ich mir ganz sicher, daß sich keine konkrete Gruppe um mich kümmerte, vor allem keine Gruppe von ehemaligen Gefangenen. Afrikaner arbeiten nicht so, sie folgen ihren Gefühlen und tun das, was sie gefühlsmäßig für richtig halten. Die Legende von Onoshobishobi Ingelosi hatte genügend Eigendynamik, sie war unabhängig von meiner Gegenwart, und ich mußte nie bewußt etwas dafür unternehmen. Tatsächlich konnte ich, ob ich wollte oder nicht, gegen die Ausbreitung der Legende nichts unternehmen. Das Boxen war der Beweis, daß ich ein Krieger war, und die Tatsache, daß ich die verhaßten Buren bekämpfte, ein weiterer. Wie so oft bei einer Legende läßt jedes Ereignis zwei Interpretationen zu, eine plausible und eine zweite, die in den Mythos hineinpaßt. Menschen sind im Grunde ihres Herzens Romantiker und werden das Geheimnisvolle stets der langweiligen nüchternen Erklärung vorziehen. Wie Doc betont hatte, ist es immer das Mysterium und nicht die Logik, die uns Hoffnung gibt und uns an eine
Kraft glauben läßt, die unsere eigene Bedeutungslosigkeit übersteigt. Die Internatsschüler führten meine privilegierte Stellung auf meinen vertraulichen Umgang mit den Schuldienern zurück. Dieser Umgang erklärte, warum sie so darauf aus waren, mir behilflich zu sein. Ich begann zu verstehen, daß ich ein geborener Anführer war, und Anführer, das habe ich herausgefunden, brauchen nie etwas zu erklären. Je weniger sie erklären, um so begehrter sind sie als Anführer. Außer gegenüber Doc mußte ich niemandem etwas erklären, und das wurde mir von meinen Anhängern als Stärke ausgelegt. In Wirklichkeit kam meine Zurückhaltung, anderen meine Gefühle zu zeigen, aus meiner Angst, die ich als kleines Kind empfunden hatte, als ich der einzige rooinek in der mir damals so fremden Welt des Burentums gewesen war. Ich hatte diese Zeit überstanden, indem ich mich so unauffällig wie möglich verhalten hatte, indem ich den nächsten Schlag gegen mich vorausahnte, indem ich darauf vorbereitet war, wenn es ganz dick kam, und indem ich so tat, als ob ich gar nicht verletzt oder gedemütigt worden wäre. Ich hatte früh gelernt, daß Schweigen besser als Speichelleckerei ist, daß Schweigen in anderen Leuten Schuldgefühle auslöst. Daß es lustig ist, ein Schwein zu quälen, wenn es quiekt, aber ganz und gar nicht lustig, ein Tier zu schlagen, das keinen Ton von sich gibt. Ich hatte schon lange eine Mauer um mein Ich herum gebaut, und nur ein ganz Ausdauernder würde sie jemals übersteigen können.
18 Ich war der Jüngste in der ersten Klasse, aber es war schon abzusehen, daß ich in der Prince of Wales-Schule einen sehr guten Stand haben würde. Mein erfolgreicher Boxkampf hatte mich zu einem Helden unter den Erstkläßlern gemacht, die, glücklich über den Wettgewinn, zu meinen ergebenen Fans geworden waren und jetzt den Kampf maßlos übertrieben, indem sie ihn jedem externen Schüler, der es hören wollte, erzählten. Die nächsten beiden Kämpfe fanden in einer anderen Schule statt. Ich war ebenfalls Sieger geblieben, und die Internatsschüler hatten wieder auf mich gesetzt und Geld gewonnen. Obwohl wir nicht genügend Informationen
über die Boxer hatten, gegen die ich antreten mußte, stellte sich bald heraus, daß meine Gegner vergleichsweise schwach waren. Da beide wiederum von Geldenhuis geschlagen worden waren, boten wir den Buren sehr attraktive Buchmacherkurse an, und das Ergebnis war, daß wir an beiden Kämpfen ganz hübsch verdienten. Wenn Hymie über diese beiden Kämpfe sprach, verwandelten sie sich in gladiatorische Bravourstücke, die den Kampf gegen Jannie Geldenhuis wie einen Kußwettbewerb aussehen ließen. Beim nächsten Kampf, der bei uns in der Schule stattfand, gab es in der Turnhalle nur Stehplätze, und die etwa fünfzig Schwarzen, die zum Zuschauen gekommen waren, mußten den Kampf durch die großen Fenster hindurch verfolgen. Zur Freude meiner Mitschüler gewann ich, und es war ein leichter Kampf. Mein Gegner war sehr aggressiv und bereit, alles einzustek-ken, wenn er nur selbst einen Schlag landen konnte. Er hatte seine ersten drei Kämpfe durch K.o. gewonnen. Aber er kam gleich in der ersten Runde dreimal völlig ungedeckt auf mich zu, und ich setzte ihn dreimal mitten im Ring auf seinen Hintern. Drei Niederschläge reichten, um einen Kampf zu gewinnen. Die Schule gewann noch einmal durch unser Leicht-Schwergewicht Danny Polkinhorne, der einen spannenden Kampf über drei Runden nach Punkten gewann. Hymie und ich hatten angefangen, ein Register anzulegen, in das wir jeden Boxer in jeder Gewichtsklasse aufnahmen, gegen den unsere Schule kämpfte. Ich saß während des Kampfes neben Hymie, und wir notierten seine jeweiligen Eigenarten. Ich beobachtete seine Fußarbeit und seinen Stil, seine Schwächen und Stärken und seine Persönlichkeit im Ring. Ich machte auf die Boxer aufmerksam, die sich so aufführten, als ob der Ring ihnen gehörte, und auf die, die so wirkten, als kämpften sie in einem geliehenen Ring. Wir machten die Unterscheidung zwischen Fightern und Boxern. Wir notierten, wer sich leicht eine Verletzung an den Augen holte. Hymie notierte jeden Schlag, der während eines Kampfes ausgeteilt wurde, wie viele und was für Schläge es waren. Unsere Notizen schlossen mit einer Zusammenfassung des gesamten Kampfes, und zum Schluß notierten wir noch, welche Schläge ein Boxer am häufigsten und wie oft austeilte. Die Boxer mußten sich wiegen lassen, bevor sie den Ring betraten, und Hymie notierte ihr Gewicht und verglich
es mit demGewicht beim nächsten Kampf. All das schrieben wir in ein großes ledergebundenes Journal, auf dessen Deckel mit goldenen Lettern Levys Teppichgeschäft, 126 Church Street, Pretoria. »Der Teppich für den Prinzen« stand. In dieses Buch schrieb Hymie mit seiner ordentlichen, schon erwachsenen Handschrift außer der Charakterisierung jedes Boxers auch das Datum, an dem er gegen die Prince of Wales-Schule angetreten war. In erstaunlich kurzer Zeit begriff Hymie alles, worauf es beim Boxen ankam. Während ich mich bei jedem Kämpfer an die kleinsten Einzelheiten erinnern konnte, entwickelte Hymie schnell die Fähigkeit, mit großer Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, wie ein Boxer beim nächsten Mal kämpfen würde. Er hatte einen guten Instinkt für die Schwächen eines Boxers, und dadurch waren wir in der Lage, unsere eigenen Boxer so vorzubereiten, daß sie die Schwächen des Gegners beim nächsten Mal ausnützen konnten. Natürlich konnten wir durch dieses Verfahren auch die Buchmacherkurse mit einer Erfolgschance festsetzen. Das Geschäft blühte, und obwohl die Prince of Wales-Boxer immer noch regelmäßig verloren, wurden unsere Verluste durch die Buchmacherkurse in Grenzen gehalten, und nach kurzer Zeit konnten wir immer mit ein oder zwei Gewinnen rechnen und verdienten gut dabei. Nach einem Jahr, als wir gegen jede Schule zweimal geboxt hatten und ich immer noch keinmal geschlagen worden war, wurde es schwierig, eine Wette gegen mich zu bekommen. Die Burenjungen waren keine Idioten, und wir mußten immer günstigere Kurse anbieten, bis das Risiko unvernünftig hoch wurde und ich mich unter Druck gesetzt fühlte. In einem Kampf gegen Geldenhuis gegen Ende des zweiten Jahres standen die Kurse zwanzig zu eins, falls Geldenhuis mich schlüge, und ich gewann nur knapp nach Punkten. Die Profite ließen nach. Da unsere anderen Boxer auch zu gewinnen begannen, konnten die Buren ihre Verluste beim Wetten gegen mich nicht mehr durch andere Wetten ausgleichen. Hymie verkündete, es sei an der Zeit, das Wettgeschäft einzustellen. »Es gibt zwei wichtige Regeln im Geschäftsleben, man muß wissen, wann man anfangen muß und wann man aufhören muß. Von beiden ist die zweite die wichtigere. Es gibt dickere Fische, die man fangen kann.«
Ich hatte zwei Jahre lang regelmäßig Taschengeld gehabt und sehnte mich nicht im mindesten danach, wieder ohne Geld dazustehen. »Was sind das für Fische?« »Das weiß ich noch nicht«, sagte Hymie, »aber irgendwas wird schon passieren, Geschäftemachen ist nur eine Frage des Geldes und guter Gelegenheiten. Wenn man Geld hat, kommt die Gelegenheit so sicher wie das Amen in der Kirche.« Wir hatten in den ersten beiden Jahren ein schönes Vermögen angesammelt, fünfzig Prozent unserer Einnahmen lagen in der Yeovillefiliale der Barcley-Bank und brachten Zinsen. Da kam mir die Idee. »Hymie, wir haben fünfzig Pfund auf der Bank, und wir bekommen zweieinhalb Prozent darauf, das ist nicht viel, das ist ein gutes Pfund pro Jahr, das ist zwar schön, aber nicht weiter weltbewegend.« Hymie lachte. »Vor nicht allzu langer Zeit...« Ich unterbrach ihn. »Ja, ich weiß, ein Pfund war 'ne Menge Geld für mich, soviel hatte ich noch nie besessen. Aber hör zu, mittwochs und samstags gibt es Taschengeld, und dienstags und freitags sind alle schon pleite.« Wir saßen auf einer Bank unter den Eichenbäumen, die um den Cricketplatz herumwuchsen, und Hymie sprang wütend auf. Er beugte sich über mich und stützte sich links und rechts von mir auf die Rückenlehne der Bank. »Peekay, bist du verrückt geworden! Kapierst du denn gar nichts? Ich bin hier der Bilderbuchjude! Was zum Teufel glaubst du denn, würden diese christlichen Gentlemen sagen? Ein Geldverleiher! Ich? Großer Gott, Peekay, der einzige Zweck meiner Erziehung an dieser Goj-Schule ist, daß dieses Stigma von mir abfällt. Ich bin hier, um Verbindungen zu knüpfen und den richtigen Schliff zu kriegen. Das Wuchergeschäft brauch ich nicht zu lernen, das praktizieren wir schon seit mehreren hundert Jahren!« »Aber das ist doch genau das, was die Banken auch machen, oder?« antwortete ich. »Wenn man bei der Bank einen Kredit haben will, muß man brav Bitte-Bitte machen. Dabei müssen sie das Geld nicht mal selbst verdienen. Sie bekommen es und geben lausige zweieinhalb Prozent Zinsen dafür. Dann drehen sie sich um und verleihen Geld für sieben Prozent, machen also annähernd dreihundert Prozent Profit dabei. Ist das nicht der reine Wucher?«
»Peekay, du verstehst eins nicht. Wenn Banken das machen, dann ist es Geschäft, wenn Juden das machen, dann ist es Ausbeutung!« »Ich verstehe, aber kann ein Jude keine Bank besitzen?« »Natürlich kann er das. Die Rothschildbank, eine der bekanntesten Banken der Welt, gehört der jüdischen Familie Rothschild, einer in Frankreich und England hoch geachteten Familie.« »Ja, ich weiß«, sagte ich, »die haben in Deutschland in Frankfurt am Main am Ende des 18. Jahrhunderts als Geldverleiher angefangen!« »Großer Gott, Peekay, das brauch ich nicht zu machen, es gibt andere Wege, um ein Pfund zu verdienen, du wirst schon noch sehen.« Hymie war ganz offensichtlich verärgert. »In der Zwischenzeit kannst du dir dein Taschengeld ja aus unserem Kapital leihen.« »Du hast das nicht nötig, aber ich. Ich werde unser Kapital nicht anrühren, ich verdien mir mein Geld selbst. Es tut mir leid, wenn ich deine Gefühle verletzt hab, Hymie, aber ich bin in den letzten zwei Jahren fünfundzwanzigmal für unser Wettgeschäft in den Ring geklettert, jetzt bist du dran.« Hymie ließ die Bank los und richtete sich auf. Er verschränkte seine Hände auf dem Rücken, als würde er sich für einen Vortrag vorbereiten. »Weißt du, warum ich wirklich an die Prince of Wales-Schule gekommen bin, Peekay?« Er wartete meine Antwort nicht ab und fuhr fort: »Ich werd es dir sagen. Als der Prince von Wales, also der zukünftige König, nach Pretoria kam, gab das Rote Kreuz für ihn einen Empfang. Mein alter Herr kümmerte sich um den roten Teppich. Der Deal war folgender: ein kostenloser Teppich für eine Einladung. Er stand in der Schlange, und der Prinz schüttelte ihm die Hand. Er konnte es nie richtig glauben. Es war, als ob er den Allmächtigen berührt hätte. Er hatte es geschafft. Gesellschaftlich gesehen war er jetzt ganz oben. Er war endlich ein Gentleman. Ein Gentlemen mit einem schweren polnischen Akzent, aber nichtsdestotrotz ein Gentleman. Für sehr viel Geld kaufte er seinen eigenen Teppich vom Roten Kreuz zurück und legte damit unser Wohnzimmer zu Hause aus. Ich glaube nicht, daß ein einziger Tag in meinem Leben vergangen ist, ohne daß der verdammte Teppich mindestens einmal erwähnt worden wäre: >Ein Prinz ist mit seinen eigenen Füßen über diesen Teppich gegangen, mein Junge!<« spielte
Hymie mir vor. »Dann las er in der Zeitung daß es eine Prince of Wales-Schule in Johannesburg gäbe, und daß der Prinz einen Kranz am Kriegerdenkmal der Schule niederlegen würde. Da entschloß er sich, daß er, wenn er einen Sohn haben sollte, ihn zu einem perfekten englischen Gentleman erziehen würde... Korrektur, zu einem perfekten jüdischen englischen Gentleman. Diese Schule und im Anschluß daran Oxford werden mich zum ersten »respektablen« Juden in unserer Familie machen, seit Moses in seinem Binsenkörbchen geplärrt hat. Ich sag dir eins, Peekay, wenn er jedes Klassenzimmer, alle drei Internatsgebäude und den Schulhof mit Teppichen hätte auslegen müssen, um mich in diese Schule hier zu kriegen, dann hätte er gedacht, er sei billig weggekommen.« »Willst du damit sagen, daß wir alles kaputtmachen, wenn wir Geld verleihen?« Hymie grinste. »Ja! Stimmt genau.« »Dann nennen wir es eben Bank. Hymie, eine Bank erfüllt alle Voraussetzungen, die für ein Geschäft nötig sind. In der Schule besteht ein großer Bedarf. Der Risikofaktor ist klein und leicht zu kontrollieren, unsere Kreditnehmer können praktisch nicht zahlungsunfähig werden, oder? Wir brauchen kein Kapital zu leihen, und die Profite sind gut und regelmäßig.« »Was würdest du tun, wenn ich nein sage?« fragte Hymie. »Ich fände es schwer, mit deiner Antwort klarzukommen. Jetzt erzähl ich dir eine Geschichte. Der Kerl, der mir Boxen beigebracht hat, war ein Farbiger und in jeder Hinsicht ein übler Bursche. Er hat mehr im Gefängnis gelebt als außerhalb. Ein Gewohnheitsverbrecher, der immer wieder rückfällig geworden ist. Der Abschaum der Gesellschaft. Er log, betrog und raubte. Er ist auch häufiger zusammengeschlagen worden, als du und ich in unserem Leben ein warmes Frühstück bekommen haben. Er war der absolute Loser. So sah ihn die Welt. Und so beurteilte sie ihn.« »Sprichst du von Geel Piet?« fragte Hymie. »Ja, ganz genau. Und Geel Piet war vielleicht der beste Freund, den ich jemals hatte. Er ist für mich gestorben. Ein Wärter namens Borman rammte ihm einen sechzig Zentimeter langen Knüppel in den Arsch, bis er verblutete. Geel Piet hätte sich retten können, indem er gestanden hätte, daß ich die Post für die Gefangenen ins Gefängnis einschleuste. Aber er tat es nicht. Ich sah in ihm nichts von
dem, für was er allgemein gehalten wurde. Für mich war er einer der besten Menschen, die es geben kann. Mein Gott, Hymie, es kommt nicht darauf an, was ein Mann macht, es kommt darauf an, was ein Mann ist!« Wir nannten sie Borders Bank, aber sie wurde einfach die Bank genannt und war von Anfang an ein Erfolg. Der Zinssatz betrug zehn Prozent pro Woche, und ein Darlehen wurde nie länger als vierzehn Tage ausgegeben. Das war lang genug, daß jeder, der finanziell in der Klemme saß, nach Hause schreiben und um Geld bitten konnte. In den vier Jahren, die wir noch in der Schule waren, bekamen wir jedes einzelne Darlehen zurückbezahlt. Das Lustige ist, daß nicht nur die Internatsschüler, sondern auch die Externen die Bank als eine gute Sache ansahen. Hymies Vorleben spielte nie eine Rolle, und die Bank wurde zur Basis für einige seiner späteren viel spektakuläreren finanziellen Erfolge. Ich könnte sagen, unsere spektakulären Erfolge, aber Hymie war der Hexenmeister, ich blieb immer nur der Zauberlehrling. Die Bank wurde zur Basis für mein Taschengeld. Darauf war ich sehr stolz. Ich hatte das größte emotionale Problem meiner Schulzeit gelöst und konnte jetzt unbelastet von Geldproblemen weiterarbeiten. Als wir in der dritten Klasse waren, fingen die jüngeren Boxer an, regelmäßig zu gewinnen, und Atherton und Cunning-Spider hatten jeder sechs ihrer sieben letzten Kämpfe gewonnen, Atherton als Leichtgewicht und Cunning-Spider als Leichtweltergewicht. Hymies Holzschlägertruppe wurde bekannt und an den Burenschulen sehr respektiert. Über die Prince of Wales-Schule wurde nicht mehr gelacht, und in diesen Tagen gewannen die Engländer oft den Burenkrieg. Das war das Jahr, in dem wir endlich den Holzschläger loswurden, das verblaßte grün-rote und schmutzig weiße Band wurde abgeknotet und mit einem Band in den Farben einer anderen Schule ersetzt. Hymie hatte sein erstes Ziel erreicht. Er teilte es der Holzschlägertruppe mit den folgenden Worten mit: »Es war nichts als ein kleiner Pickel auf dem großen haarigen Arsch meiner Ambitionen für die christlichen Gentlemen-Boxer.« In den drei Jahren, die es dauerte, bis wir endlich den Holzschläger los waren, bekam ich in den Burenschulen am Witwatersrand inen exorbitanten Ruf als Boxen Ich wurde breiter und war mit vierzehn Jahren ein Bantamgewichtler. Jeder Kampf, ob in der Schule
oder woanders, zog die Schwarzen an. Ein Boxkampf, der hundert Meilen mit dem Bus oder dem Zug von der Schule entfernt stattfand, wurde von genau so vielen Afrikanern besucht wie die Boxkämpfe zu Hause, die inzwischen nicht mehr in der Turnhalle, sondern in der Aula der Schule stattfanden. Dort wurde den Afrikanern erlaubt, von den Weißen durch einen breiten Korridor getrennt, ganz hinten in der Aula zu sitzen. Im Sommer war das Boxen im Freien sehr beliebt, normalerweise wurde der Ring auf einem Rugbyfeld aufgebaut. Die Schwarzen durften sogar an den rassistischsten Burenschulen den Kämpfen zuschauen, bei denen sie sorgfältig von den weißen Zuschauern getrennt wurden. Es war in einer dieser Burenschulen außerhalb der Stadt, wo ich zum ersten Mal das Wort »Apartheid« hörte, mit dem der Platz bezeichnet wurde, auf dem die schwarzen Zuschauer sitzen durften. Seitdem habe ich mir oft überlegt, ob ich vielleicht beim ersten Gebrauch eines Wortes dabei war, das weltweit als ein Synonym für Unterdrükkung bekannt werden würde. Die Boxkämpfe im Freien begannen normalerweise um sechs Uhr, wenn die Sonne unterging, und dauerten bis acht, wenn es auf dem highveld noch hell genug war, um ohne künstliche Beleuchtung auskommen zu können. Bei einem dieser Kämpfe im Freien erfanden wir die berühmte »Sonnenblende«. Unser Boxer benutzte den Ring einfach so, daß sein Gegner in die untergehende Sonne schauen mußte, was ihn kurz blendete. Die Idee war, den Gegner langsam zu drehen und ihm genau dann einen Schlag zu verpassen, wenn der unglückliche Boxer direkt in die späte Nachmittagssonne schauen mußte. Wenn ein Boxer schlau genug war, konnte er diesen einfachen Trick ein halbes dutzendmal während eines Kampfes anwenden, und häufig damit die Extrapunkte gewinnen, die zur Entscheidung führten. Die christlichen Gentlemen hatten keinerlei Bedenken, ihren Gegner so zu behandeln, schließlich war man im Burenkrieg, und keine Gnade wurde gewährt öder erwartet. Hymie hatte den Einfall gehabt, als er in einem Film gesehen hatte, wie die britischen Kampfflugzeuge während eines Luftkampfs aus dem Sonnenlicht herausschossen und die deutschen Flugzeuge völlig überraschten. Die Schwarzen schauten den Kämpfen schweigend zu, bis ich drankam. Dann begann ein leises, fast unhörbäres Summen und
schwoll, wie immer bei den Afrikanern, harmonisch an. Dann stimmte ein Vorsänger ein Lied an, etwa mit den Worten: »Er ist der Häuptling, der in unseren Träumen erscheint, der Zaubersprüche beherrscht und Weisheit bringt.« »Onoshobishobi Ingelosi!« antworteten die Schwarzen im Chor. »Er tanzt im Morgentau, ohne Fußspuren zu hinterlassen, er pirscht sich an den Wind, bis er heult, um wieder frei zu sein.« »Onoshobishobi Ingelosi!« »Seine Atemzüge sind wie ein Gewitter im Sommer, und seine blitzschnellen Schläge zerstören seine Feinde!« »Onoshobishobi Ingelosi!« »An List kann er es mit der Mondsichel aufnehmen, an Weisheit mit dem Vollmond, ist er nicht der Herr von Dunkelheit und Licht, von Tag und Nacht?« »Onoshobishobi Ingelosi! Onoshobishobi Ingelosi!« »Er wird für die Schwarzen gewinnen, er wird für alle Schwarzen gewinnen, die Schwarzen aller Stämme, sie alle sind auf seiner Seite!« »Er wird gewinnen, er wird gewinnen, er wird für die Schwärzen gewinnen, Onoshobishobi Ingelosi! Onoshobishobi Ingelosi! Onoshobishobi Ingelosi!« Wenn der Kampf begonnen hatte, war kein Ton mehr von den schwarzen Zuschauern zu hören, und nachdem ich gewonnen hatte, hob der hochgewachsene Schwarze, der bei meinem ersten Kampf in der Turnhalle der Schule dabeigewesen war, seine Faust. »Onoshobishobi Ingelosi!« rief er, und daraufhin verschwanden die Schwarzen schweigend. Später erfuhr ich, daß sie während des Kampfes deshalb absolutes Schweigen bewahrten, um nicht beschuldigt werden zu können, daß sie für mich zischten und dadurch den Haß der Anhänger meines Gegners auf sich zogen, und dann den Kämpfen nicht mehr beiwohnen zu dürfen. Das absolute Schweigen aus der Ecke der Schwarzen war unheimlich und trug zur Nervosität meiner Gegner bei. Hymie erkannte bald die Wichtigkeit des schwarzen Publikums, und als Gegenleistung dafür, daß sie bei den Boxkämpfen in der Prince of Wales-Schule dabeisein durften, mußten sie singen. Das fiel ihnen nicht schwer, da die meisten Schwarzen sehr gerne singen. Es wurde zu einer Tradition. Hymie überredete Darby White,
meinen Kampf immer so spät wie möglich anzusetzen. Dadurch konnte das schwarze Publikum möglichst lange bleiben, aber sie kamen immer noch vor der Sperrstunde um neun nach Hause. Eltern und andere Erwachsene begannen, die Kämpfe an Sommerabenden zu besuchen, und die Burenschulen mußten es uns gleichtun, um weiße Zuschauer anzulocken. Die Kämpfe wurden populär, der Gesang der Schwarzen vor meinen Kämpfen wurde eine wichtige Zugnummer und galt bald als wesentlicher Bestandteil des ganzen Programms. Es zeigt, wie tief die Kluft zwischen Weißen und Schwarzen war, daß während der ersten drei Jahre kein weißer Zuschauer jemals fragte, was die Schwarzen da sangen. Die Leute waren zwar fasziniert davon, daß ein kleiner weißer Junge eine so große schwarze Anhängerschaft hatte, aber sie führten das einfach auf meine Fähigkeiten als Boxer zurück. Die Anmaßung der Weißen kennt in Afrika keine Grenzen. Die ganze Geschichte kam niemals heraus, aber irgendwann wurden die Worte Onoshobishobi Ingelosi übersetzt. Kaulquappen-Engel wurde schnell zu meinem Kampfnamen bei den Weißen und zu meiner großen Beschämung auch bei den Jungen der Burenschulen. Manche Weiße warteten nur darauf, mich endlich einmal verlieren zu sehen. Der Name, von dem alle glaubten, daß er »kleiner Engel« hieße, wirkte verblüffend, und dazu kam die Tatsache, daß ich eine riesige schwarze Anhängerschaft hatte und noch keinen Kampf verloren hatte. Das letztere war nicht so ungewöhnlich, es gab auch in den Burenschulen einige Jungen, die noch nie verloren hatten. Boxen ist nun einmal so, ein begabter Boxer kann ohne weiteres hundertfünfzig Kämpfe hintereinander gewinnen, vorausgesetzt, er bleibt in seiner Gewichtsklasse. Aber da ich als Jugendlicher schon einen Kampfnamen und einen wachsenden schwarzen Fanclub hatte, gab es Burenfamilien, die in der Hoffnung von weit her anreisten, daß einer der ihren den blery kaffir boetie nach Strich und Faden verdreschen würde. Ehrlicherweise muß ich sagen, daß es auch erwachsene Buren gab, die mich ganz einfach gerne boxen sahen und denen es überhaupt nichts ausmachte, daß ich Engländer war. Aber die Schwarzen sahen das anders: Ich kämpfte für sie gegen die Buren, und als es immer mehr Schwarze wurden und die Lieder
immer schöner wurden, kamen immer mehr weiße Zuschauer, die das Lied für den Kaulquappenengel hören wollten. Das stark gewachsene Interesse an Juniorenboxkämpfen spornte Jungen anderer Schulen an, Boxstars zu werden, und die Schulboxkämpfe im Sommer wurden in Transvaal bald genauso beliebt wie die Schulrugbykämpfe im Winter. Hymie, als Manager der Boxmannschaft, brachte die Boxmaschine auf Hochtouren, und wir trainierten wie die Wilden. Jede Woche bekam ich einen Brief von Doc, Mrs. Boxall und Miss Bornstein. Ich selbst schrieb ziemlich regelmäßig nach Hause, aber ich glaube, daß meine Mutter sehr viel nähen mußte, denn sie schrieb mir nicht oft zurück. Manchmal waren unter Docs Briefen zwei Daumenabdrücke, unter die Doc mit seiner kleinen, ordentlichen Handschrift schrieb: »von Dum und Dee, die fragen lassen, wer deine Kleider wäscht und dir Zwieback für deinen Morgenkaffee backt?« Dee und Dum kamen weiterhin jede Woche einmal zu Doc und putzten sein Haus, und der mochte sie sehr gern. Doc schrieb mir über die Hügel und seine geliebten Kakteen, und obwohl ich weiterhin Klavierunterricht hatte, erwähnte er das Thema Musik in seinen Briefen nie. Ich glaube, er wußte, daß ich für anderes geschaffen war. Mrs. Boxall schrieb mir den ganzen Klatsch aus der Stadt, und sie sagte, daß die Gesellschaft Gottes jetzt zwei Missionare hätte, die vier afrikanische Sprachen sprächen und beim Abfassen der Gefängnisbriefe helfen würden. Miss Boxall leitete den Briefdienst immer noch und war fest entschlossen, daß sich Gott nicht in eine so wunderbare Angelegenheit einmischen dürfe, wenn Gefangene ihren Lieben Briefe schrieben. In einem ihrer Briefe hatte sie erwähnt, daß die Gefangenen King Georgie sehr vermißten und daß das Briefeschreiben nach meinem Weggang nicht mehr ganz so beliebt war. Der Earl of Sandwich-Fonds hatte sich ausgebreitet, und Mrs. Boxall war zur Vorsitzenden von sieben verschiedenen Gruppen gewählt worden, die Rehabilitationsarbeit unter schwarzen Gefangenen in südafrikanischen Gefängnissen leisteten. Viele der frühen Mitglieder des Earl of Sandwich-Fonds wurden die Führer der Black Sash-Bewegung, einer Bewegung südafrikanischer Frauen, die in den späten vierziger Jahren aufkam und gegen die Apartheid und die Ungerechtigkeit gegen Schwarze protestierte. Diese Bewe-
gung ist noch immer eine der wenigen Stimmen, die sich in diesem traurigen Land für die Freiheit erheben. Eine Stimme, die gegen ein Regime protestiert, das die berechtigten und schmerzlichen Schreie der Schwarzen nicht hören will. Miss Bornstein war nach wie vor entschlossen, mich intellektuell zu fördern, und bestand darauf, ganz genau zu erfahren, welche Bücher wir lasen, was wir in Mathematik und in den anderen Fächern lernten. Ich hatte ihr von Hymie geschrieben, und sie richtete ihre Briefe auch an ihn, die hauptsächlich aus seitenlangen Fragenkatalogen und Diskussionspunkten bestanden. Am Ende ihres wöchentlichen Briefes stand immer ein Schachzug für Hymie und mich vom alten Mr. Bornstein, den wir während unserer sechsjährigen Schulzeit kein einziges Mal schlagen konnten. Hymie stöhnte jedesmal laut auf, wenn der wöchentliche Brief voller Fragen ankam. Er hielt sich die Ohren zu und wiegte sich übertrieben hin und her. »Oy veh!« sagte er und machte seine Großmutter nach, »der einzige Grund, weshalb ich an diese Schule für christliche Gentlemen gekommen bin, war, daß ich nichts mehr mit jüdischen Frauen zu tun haben wollte, und jetzt hab ich einen Scheißbriefwechsel mit einer, die ein Fernlehrinstitut betreibt!« Aber Miss Bornstein schaffte es selbst auf die Entfernung, einen beim Stolz zu packen, und das Interesse, das sie bei Hymie und mir weckte, bewirkte, daß wir bei weitem die Besten unserer Klasse waren. Hymie benutzte als erster einen Ausdruck, der in unserer Schule berühmt wurde. Wir hatten Geschichte bei »Mango« Cobett, einem dummen Mann, der uns sehr von oben herab unterrichtete und ein gräßlicher Snob war. Er sprach über den Krimkrieg und den Sturmangriff der Leichten Brigade. Mango hatte seinen Spitznamen, weil er einen ovalen Kopf mit feinem, eng an seinem Schädel anliegenden blonden Haar und einen blonden Spitzbart hatte. Sein Kopf sah aus wie ein sauber gelutschter Mangokern. Obwohl er in Südafrika geboren war, war er erklärter Anglophiler und sprach mit feuchten Augen über die Tapferkeit Lord Cardigans beim Sturmangriff der Leichten Brigade. Aus dem hinteren Teil der Klasse, wo wir saßen, rief Hymie dazwischen: »Laut Miss Bornstein hatte er beklagenswerterweise die Franzosen überhaupt nicht unter Kontrolle, außerdem hatte er kei-
nerlei gesunden Menschenverstand und kein Verantwortungsgefühl für seine Männer, Sir.« Es herrschte lähmendes Schweigen. Mango stand mit offenem Mund da und traute seinen Ohren nicht. »Laut Miss Bornstein war Lord Raglan ein kompletter Schwachkopf, ein aufgeblasener alter Trottel«, fügte Hymie hinzu. Mango Cobett konnte endlich wieder sprechen. »Laut wem, Levy?« »Laut Miss Bornstein vom berühmten jüdischen Fernlehrinstitut, Sir«, sagte ich. Die Klasse brach in wildes Gelächter aus. »Ruhe! Seid sofort ruhig!« schrie Mango Cobett. Sowohl Hymie als auch ich waren als helle Köpfe bekannt, und Mango hatte nicht den Mut, uns mit ein paar Stunden Nachsitzen zu bestrafen, ohne vorher seine überlegenen historischen Kenntnisse zu beweisen. »Ich wußte gar nicht, daß Juden beim Krimkrieg eine Rolle gespielt haben. Ich nehme an, daß eure Miss Bornstein eine Historikerin von Format ist, also vielleicht eine bessere Quelle hat als Die Invasion der Krim von A. W. Kinglake.« Er griff nach einem der Bücher, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und hielt es hoch. Mit zusammengekniffenen Augen las er vor: »William Blackwood und Söhne, Edinburgh und London, 1864. Ich würde sagen, das ist Wissen aus erster Hand, oder etwa nicht?« »Ich glaub eher, es ist Wissen aus letzter Hand, Sir«, meinte Hymie spöttisch, und die Klasse wieherte wieder los. Kinglakes Die Invasion der Krim war eines der Werke, die mein Großvater zu Hause neben den gesammelten Werken von Charles Dickens stehen hatte, und ich hatte beide Bände von Kinglakes Bericht gelesen, als ich acht Jahre alt war. Laut Miss Bornstein war Kinglakes Bericht zwar bemerkenswert, aber sie hatte auch russische und französische Kriegsberichte gelesen und hatte mittlerweile das Gefühl, daß die offizielle britische Version sehr chauvinistisch war, und dazu neigte, den Franzosen und Türken die Schuld zu geben. Die Darstellung unterschlug, daß Lord Raglan, der britische Oberbefehlshaber, zwar kompetent, aber unerfahren war. Außerdem wurde behauptet, daß Lord Cardigan ein ungewöhnlich scharfsinniger Mann mit großen Führerqualitäten gewesen sei. Miss Bornstein, Hymie und ich hatten über genau die Bände, aus denen Mango zitierte, eine umfangreiche Korrespondenz geführt.
»Laut Miss Bornstein wurde A. W. Kinglake vom Kriegsministerium beauftragt, den Bericht zu schreiben, und das ist keine gute Ausgangsposition. Das Buch wurde immer wieder neu verlegt, und die Ausgabe von 1864 war die vierte, leicht überarbeitete Auflage. Es erschien erst nach dem ersten Burenkrieg, als Transvaal seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte. Vorher war es von den Briten besetzt worden, nachdem dort durch puren Zufall Gold gefunden worden war. Das Buch sollte die Briten an ihre jüngste glorreiche Vergangenheit erinnern und ihnen über die Prügel hinweghelfen, die sie von einer Handvoll wild entschlossener Farmer bekommen hatten, die, ohne irgendwelche militärischen Regeln einzuhalten, einfach losgekämpft hatten. Laut Miss Bornstein hält sich das Werk etwas lang bei den Lobeshymnen und etwas kurz bei den wahren Fakten auf. Die Bände würden zwei Jahre vor dem zweiten Burenkrieg wieder aufgelegt. Sie erschienen natürlich gerade zur rechten Zeit und brachten die britische Öffentlichkeit in Stimmung, im Namen der Königin und des Empires mal wieder ein Land zu vergewaltigen und zu plündern.« Hymie hatte diese Sätze wortwörtlich aus einem von Miss Bornsteins Briefen zitiert. Mango Cobetts normalerweise todbleiches Gesicht lief dunkelrot an. »Zweifeln Sie die Integrität eines unserer besten Historiker an, Levy?« »Nein, Sir«, sagte Hymie. »Aber Miss Bornstein.« Die Klasse lachte wieder spontan los. »Ruhe! Ruhe!« schrie Mango. »Ich hab genug gehört!« Die Klasse beruhigte sich, und Mango Cobett fing an, mit rotem Gesicht im Klassenzimmer auf und ab zu gehen. »In der Schlacht von Alma, der ersten im Krimkrieg, nahmen die Briten den russischen General Menshikov gefangen. 9000 Tote bei den Russen, 2000 Tote bei den Briten! Das, meine Herren, sind die Fakten.« Ich schaltete mich ein. »Laut Miss Bornstein verlor Lord Raglan die Kontrolle über das Geschehen praktisch von Anfang an. Die Franzosen dagegen erklommen in der Nähe der Flußmündung die steilen Klippen und umgingen die russische Flanke. Dabei hatten sie sehr geringe Verluste.« »9000 Russen, 2000 Briten!« sagte Mango begeistert. »2000 Tote in drei Stunden!« sagte ich rachsüchtig. »Die Franzosen verloren weniger als zweihundert Mann.«
»Die Russen waren ungeschulte Bauern und kämpften in engen Kolonnen. Menshikov hatte Rührei statt Hirn im Kopf«, sagte Hymie, und die Klasse johlte vor Begeisterung. Mango Cobett fuhr fort.»Die Schlacht von Inkerman, 1000 Tote bei den Russen, 2640 bei den Briten!« Er betonte die Zahl 40, um seine Kenntnis der genauen Zahlen herauszustreichen. »Laut Miss Bornstein hatte Lord Raglan keinerlei Einfluß auf den Kampfverlauf. Die Schlacht von Inkerman wurde die »Soldatenschlacht« genannt, weil die Einheiten planlos in die Schlacht geschickt wurden und die Soldaten sehen mußten, wie sie mit der Situation fertig wurden«, antwortete Hymie. »Die Russen dagegen wurden von General Russenei persönlich kommandiert«, sagte ich, und die Klasse lachte wieder los. »Jetzt reicht es aber, Peekay«, sagte Mango und war nicht besonders glücklich darüber, an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen zu müssen. »Wir haben noch eine Schlacht, die von Redan.« »Ah, Redan! Laut Miss Bornstein...« »Ruhe, Levy!« rief Mango. »Die russischen Verluste sind nicht bekannt, werden aber als doppelt so hoch wie die britischen Verluste eingeschätzt.« »Die Briten verloren am Redan 5000 Soldaten, und wieder hatte Lord Raglan die Kontrolle über die Schlacht verloren«, sagte ich und war fest entschlossen, ihn die britischen Verluste nicht herunterspielen zu lassen. »Lord Raglan war ein sehr kranker Mann und starb zehn Tage nach der Schlacht am Redan an der Cholera. Für die großen Verluste kann er nicht allein verantwortlich gemacht werden«, antwortete Mango. »Sie haben den Sturmangriff der Leichten Brigade vergessen, Sir«, sagte Hymie grinsend. »Ach ja, Lord Cardigans Leichte Brigade, ein Fehler aufgrund eines Mißverständnisses und falsch ausgeführter Befehle.« »Und unter dem hirnrissigen Lord Cardigan stürmten siebenhundert Kavalleristen in eine tödliche Falle, und vierhundert starben!« »Ich mag Ihre Haltung nicht, Levy, Lord Cardigan war ein Mitglied der britischen Aristokratie und ist keine Zielscheibe für die Witze eines Schuljungen. Wenn wir schon dabei sind, Peekay,
Menshikov war ein hoch respektierter russischer General, über ihn Witze zu machen, ist ebenso fehl am Platz. Ich möchte Sie beide nach der Schule vor dem Lehrerzimmer sehen. Ihre Haltung in dieser Geschichtsstunde war gelinde gesagt tadelnswert.« Die Pausenglocke läutete, und Mango Cobett verlor seine rote Gesichtsfarbe. Als wir die Klasse verließen, versuchte er noch einmal einzulenken. »Ich versichere Ihnen, England hat nicht die halbe Welt inklusive dieses Land erobert, weil es dumme Oberbefehlshaber in die Schlachten geschickt hat.« »Laut Miss Bornstein...« fingen wir beide an, und Hymie beendete den Satz »...stimmt das nicht.« Die Redewendung war geboren. Von da an leitete jeder Schüler in der Prince of Wales-Schule, der mit der Aussage eines Lehrers nicht einverstanden war, seine abweichende Meinung mit einem »Laut Miss Bornstein...« ein. Die Lehrer regten sich so darüber auf, daß sie schließlich mit dem Schulleiter St. John Burnham MA (Oxon) sprachen, der Singe 'n Burn genannt wurde und der sich rühmte, ein liberaler Pädagoge zu sein. Zur Demütigung der Lehrer entschied Singe 'n Burn daß die Redewendung »eine legitime Paraphrase für eine abweichende Meinung« darstelle. Und so ging die Redewendung »laut Miss Bornstein« offiziell in das Vokabular der Schule ein. Kurz nach drei kamen wir, bewaffnet mit Miss Bornsteins Briefen über den Krimkrieg, vor dem Lehrerzimmer an. Aber Mango weigerte sich, das Streitgespräch fortzusetzen, und wir mußten zwei Stunden nachsitzen und einen zweitausend Worte umfassenden Aufsatz über den Krimkrieg schreiben. Er fügte hinzu, daß wir bei der nächsten Störung des Unterrichts zum Direktor müßten. Hymie sagte angewidert: »Ich hab dir ja gesagt, daß Geschichte die reinste Scheiße ist. Jetzt wächst wieder eine Generation christlicher Gentlemen heran, die glauben, daß dieser Angriff der Leichten Brigade eine Sternstunde Englands war.« »Das war er doch auch«, sagte ich. »Was?« fragte Hymie und glaubte, sich verhört zu haben. »Er war eine der Sternstunden Englands. Es ist nicht wichtig, ob man gewinnt oder nicht, wichtig ist, wie man das Spiel spielt.« »Unsinn! Wenn die Juden das Spiel so gespielt hätten, wären wir schon vor 1500 Jahren ausgelöscht worden.«
»Man muß eben ein christlicher Gentleman sein, um das verstehen zu können«, frotzelte ich ihn. »Tu mir einen Gefallen, Peekay, lies Geschichte nicht nur, sondern fühl sie auch. Versuch dir vorzustellen, du bist ein ganz normaler Typ auf einem halbverhungerten Pferd, dein Regiment ist von der Cholera halb hingerafft, du hast eine Lanze in der Hand und schaust in die Kanonenrohre der russischen Artillerie auf der Vorontsov-Höhe in Balaclava. Weißt du, warum die Engländer es geschafft haben, den halben Globus zu besiegen? Weil sie so verdammt dumm waren! Irgendein halbidiotischer Lord in einer Generalsuniform schickte seine Leute in den Kampf, er scherte sich einen Dreck darum, was mit ihnen passierte, sie waren Kanonenfutter und sonst nichts. Er schickte sie einfach los, und irgendwie kamen sie immer weiter, und irgendwann hatte er die Schlacht gewonnen. Nennst du das Mut? Ich nenne das zweierlei: Mord und Dummheit. Die Generäle ermordeten ihre Soldaten, und die Soldaten waren zu dumm, um Widerstand zu leisten.« »Und zu tapfer, es war nicht nur Dummheit.« Hymie ignorierte meinen Einwurf. »Die Geschichte macht alles wieder gut. Die Geschichte vergißt die Kotze und die Scheiße, das Blut und die Pferde mit aufgerissenen Bäuchen, die Schreie der Männer, die sich in die Hose scheißen und in ihrem eigenen Blut ertrinken. Der Sturmangriff der Leichten Brigade wird deshalb so gefeiert, weil er die offensichtlich dümmste, für jeden erkennbar dümmste, alleridiotischste Opferung von Männern darstellte, bis die großartigen britischen Generäle sich schließlich noch einmal selbst übertrafen und in den Schützengräben von Flandern und auf den Klippen von Gallipoli kaltblütige Schlachtfeste veranstalteten.« Hymie wechselte plötzlich das Thema. »Hitler hat sechs Millionen Juden ermordet. Er hat sie gefangengenommen undin Konzentrationslager gesteckt, und alle Welt hat über die himmelschreiende Unmenschlichkeit Tränen vergossen. Aber dahinter steht das Gefühl, daß die Juden doch eigentlich hätten kämpfen müssen, Widerstand hätten leisten müssen, beim Kampf um ihre Kinder und ihre Familien hätten sterben müssen wie Männer. All die Frauen und Kinder und Flickschuster und Schneider und kleinen Ladenbesitzer, die geglaubt haben, daß sie Deutsche und Polen und Ungarn sind, die leidenschaftlich an Logik und Ordnung, an Kant und Spinoza
geglaubt haben, die daran geglaubt haben, daß es richtig ist sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern und sich nicht einzumischen, und vor allen Dingen nie etwas Dummes zu tun, sie hätten sich in eine Kampfmaschine verwandeln müssen, die stolz in den Tod gegangen wäre. Weil sie nicht fahnenschwingend über Plätze marschiert sind deshalb werden sie von der Geschichte als Feiglinge verachtet.« Hy-mie schniefte und wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab. Ich hatte ihn noch niemals so aufgeregt und wütend gesehen. »Wenn ein britischer General ein neues Ordensband an seine Brust sehen wollte, schickte er im 18. und 19. Jahrhundert und dann wieder im Ersten Weltkrieg Freiwillige in die Schlacht. Sie gaben sich völlig in seine Hand, und als Dank für ihr Vertrauen ging er so achtlos mit ihrem Leben um wie die Judenmörder von Auschwitz, Dachau, Treblinka, Belsen und den anderen Konzentrationslagerr Aber als alles vorbei war, überhäufte die Welt oder zumindest die englischsprechende Welt ihre christlichen Generäle mit Ruhm. Die Tradition war weitergeführt worden, es gab neue Fahnen, die in der St. Pauls Cathedral und der Westminster Abbey aufgehängt werden konnten. Mehr Scheißdreck.« Er schniefte wieder und packte mich an der Schulter. »Weißt du was, Peekay? Die Geschichte stinkt, und es sind genau solche Bastarde wie Mango Cobett, die zur Verwesung beitragen weil sie den Mist glauben, der geschrieben wird. Glaub mir, in dreißig Jahren werden die Deutschen behaupten, daß nur eine Handvoll SS-Männer an der Judenvernichtung schuld war. Daß die anderen Deutschen keine Ahnung davon hatten und zu Hause saßen und Socken für jüdische Kriegsgefangene strickten;« Zu Mangos Ehre muß gesagt werden, daß Hymies und mein Aufsatz über den Krimkrieg den Geschichtspreis dieses Jahres erhielt. Miss Bornsteins Beweisführung war zu überzeugend. In ihren wöchentlichen Briefen, die manchmal bis zu zwanzig Seiten lang waren, argumentierte sie so gut und zog so interessante Schlußfolgerungen, daß wir beide fasziniert waren. Wir rasten in die Schuibibliothek, um besser mithalten zu können. Als wir in der dritten Klasse waren, konnten wir schon ganz ordentlich recher-chieren und erhielten die Erlaubnis, die Mittwochnachmittage in der städtischen Bibliothek von Johannesburg zu verbringen.
In der dritten Klasse hatten wir sowieso ein gutes Jahr. Es war das Jahr, in dem die Boxmannschaft den Holzschläger endlich los wurde, und es war auch das Jahr, in dem wir mit der Hilfe einer Schreibkraft und der Gestetner-Maschine im Teppichladen von Hymies Vater eine Veröffentlichung herausbrachten, nämlich Die Miss Bornstein Fernlehrkurse. Erfolgsgarantie oder Geld zurück. Peekay und H. S: Levy. Fünf Schilling. Es waren zwei Bücher, eins für die erste und eins für die zweite Klasse. Hymie und ich hatten uns heftig über den Preis gestritten. Fünf Schillinge waren ein wahnsinniger Preis, ein wissenschaftliches Buch kostete nur zwei Schillinge. »Wenn wir den Preis nach dem Aussehen des Buches richten, können wir froh sein, wenn wir Sixpence bekommen«, gab Hymie zu. »Gute Geschäfte macht man, indem man den Leuten den Eindruck vermittelt, daß eine Sache etwas wert ist, und das schafft man am besten, indem man ihr Denken in entsprechende Bahnen lenkt.« »Indem man Wucherpreise verlangt?« »Moment, Peekay, das ist nicht fair. Der Preis stimmt, wenn der Kunde das Gefühl hat, daß er die richtige Kaufentscheidung getroffen hat. Oder bist du da anderer Meinung?« Ich mußte ihm recht geben. »Nun, und was versprechen wir mit den Miss Bornstein Fernlehrkursen für die erste und zweite Klasse?« »Das Versprechen steht vorne draufgedruckt, aber es bleibt das gleiche, ob wir nun Sixpence dafür verlangen oder zehn Schilling.« »Nein. Wenn das Buch fünf Schilling kostet, bedeutet das mindestens zweierlei: daß die darin enthaltenen Informationen wichtig und selten sind, und daß der Erfolg garantiert ist, wenn man sich an die Informationen hält. Das zweite bezieht sich auf die Bequemlichkeit. Alle Informationen stehen zwischen zwei Buchdeckeln, die Schüler müssen nicht ein Dutzend Bücher herumschleppen, die Autoren haben den Löwenanteil der geistigen Arbeit bereits geleistet. Wenn wir für das Buch nur Sixpence verlangen würden, würden die Schüler nicht glauben, daß es etwas wert ist, und dann könnten sie auch nichts damit anfangen.« »Könnten wir die Bücher nicht etwas schöner machen? Wenn wir sie für zwei Schilling pro Stück verkaufen» könnten wir sie anständig binden lassen. Dann würden sie ein bißchen mehr hermachen, oder?«
Hymie sah mich erstaunt an. »Peekay, bist du verrückt? Willst du das Geschäft in einem Jahr kaputtmachen?» »Was meinst du damit?« Hymie nahm ein Exemplar unseres Buches, hielt es an einer Ecke hoch und schüttelte es heftig. Die Heftklammern sprangen auf, und die Seiten flogen heraus. »Da hast du's, sieh dir das an! Das ist Schrott, das kauft uns keiner ab«, protestierte ich. »Quatsch, die Bücher sind perfekt, sie halten höchstens ein Jahr. Wenn wir sie anständig drucken und binden lassen, dann werden sie am Ende des Schuljahres weiterverkauft. Und dann war unser Geschäft erledigt.« Hymie hatte recht, und trotz des Preises gab es keinen einzigen Jungen in den beiden Klassen, der nicht ein Exemplar kaufte. Und niemand wollte sein Geld zurückhaben. Wir waren zuverlässige Geschäftspartner und darüber hinaus allgemein beliebt. Besonders meine Fähigkeiten im Boxring und zu einem geringeren Maße die auf dem Rugbyfeld brachten mir eine große Anhängerschaft ein. Sowohl die Externen als auch die Internatsschüler gingen bald völlig selbstverständlich zur Bank, wenn sie pleite waren. Jedesmal, wenn wir in ein neues Geschäft einstiegen, wurde es gut aufgenommen. Wir bezeichneten dieses uns entgegengebrachte ständig wachsende Wohlwollen als unser »Image«, ein Wort, das ich in einem amerikanischen Buch über Geschäftspraxis entdeckt hatte und das damals noch nicht so bekannt war wie heute. Ich muß zugeben, auch wenn Mango Cobett ein ziemlicher Clown und ein entsetzlicher Snob war, lag dem Direktor Singe 'n Burn sehr daran, liberale Lehrer in der Schule anzustellen. Er wollte keine »Privatschulprodukte« aus seinen Schülern machen, sondern er ermutigte sie, sich wirklich individuell zu entwickeln. Das Ideal war für ihn der Renaissance-Mensch: Ein Junge, der mit Vergnügen für sich lernte, und für sonst niemanden, ein inspirierter Amateur, der seine Körper- und Geistesgaben entwickelte. Ein vollständiger Mensch, anderen durch seine Neugier und seine Begabung überlegen. Ein Mensch, der bescheiden und zurückhaltend war, weil er weder seine Gedanken und seine Taten vor anderen verbergen mußte noch auf ihre Zustimmung angewiesen war. Singe 'n Burn war ein Engländer, der auf dem Höhepunkt seiner
Karriere angelangt war. Für die Eltern verkörperte er all die Werte des exklusiven englischen Internatssystems. Er selbst war in Winchester gewesen. Für die Schulbehörde verkörperte er hochgeachtete Privilegien, denen es so gut wie möglich nachzueifern galt. In den zwanzig Jahren, die er Direktor der Prince of Wales-Schule war, kam Singe 'n Burn nie besonders gut mit den reichen südafrikanischen Internatsschülern zurecht. Merkwürdigerweise kamen sich diese Jungen sozial genauso überlegen vor wie die Schüler exklusiver Internate in England, obwohl ihr Überlegenheitsgefühl andere Gründe hatte. Zum einen glaubten sie, wie alle weißen Südafrikaner, Engländer wie Buren, daß Gott ihre Überlegenheit als Weiße bestimmt habe. Hinzu kam ihr entschiedenes Engländertum und ihr fester Glaube an die Berechtigung von Reichtum und Privilegien. Vielleicht unterschieden sie sich letztlich doch nicht so sehr von ihren englischen Vettern. Singe 'n Burns Schüler hatten beim Eintritt ins Internat bereits eine stark eingeengte Sichtweise. In ihrem Mißtrauen den Buren gegenüber waren sie bigott und unbelehrbar. Sie glaubten unausgesprochen daran, daß sie von den beiden weißen südafrikanischen Bevölkerungsgruppen die intellektuell und kulturell überlegene seien. Und sie waren fest davon überzeugt und sagten das auch, daß sie auf einer höheren menschlichen Entwicklungsstufe als die Schwarzen standen. Diese geistige Korruption hatte ihren Ursprung schon in der Kindheit, und es war ein sinnloses Unterfangen, den Jungen ihren Rassismus austreiben zu wollen. St. John Burnham war gezwungen, ziemliche Flachköpfe aufzunehmen und ihnen genügend beizubringen, daß sie den Schulabschluß schafften. Es war nicht sehr wahrscheinlich, daß sich aus diesem intellektuellen Ödland ein Renaissance-Mensch erheben würde. Aber zwanzig Jahre lang hielt Singe 'n Burn an seinem Traum fest. Während die meisten Schüler der Prince of Wales-Schule austauschbar mit allen anderen Internatszöglingen in Südafrika waren, also gerüstet waren für den Einstieg in eine Gesellschaft, in der Geld und soziale Position das wichtigste waren, suchte er jedes Jahr sechs Jungen für sich selbst aus. Sie stellten das Rohmaterial für seine Renaissance-Menschen dar, und diese Handvoll hochintelligenter Jungen wurden »St. Johns Leute« genannt. Diese Jungen wurden in der
dritten Klasse ausgewählt und bekamen unter der Leitung von Singe ´n Burn einen besonders guten Unterricht. Er vernachlässigte die Mehrzahl für die wenigen, die ihm etwas bedeuteten. St. Johns Leute waren die Rosen zwischen dem Unkraut, und der gute Ruf der Schule als Pflegestätte für zukünftige Führungskräfte basierte auf diesem halben Dutzend sorgfältig erzogener junger Menschen, deren Geist in Singe 'n Burns Treibhaus zum Blühen gebracht wurde. Verstand allein reichte nicht aus, um einen Jungen für die St. Johns Leute zu qualifizieren, obwohl der Intellekt eine wichtige Rolle im Unterricht spielte. »Es ist der Geist eines Jungen, die unbewußte Fähigkeit, seine Position zwischen den Gleichaltrigen zu behaupten und dabei seinen Überzeugungen und Maximen treu zu bleiben, so etwa erklärte es Singe 'n Burn auf der ersten Lehrerkonferenz in jedem Schuljahr. In der dritten Klasse, ja sogar in der ganzen Schule wurde kurz vor den Wahlen der St. Johns Leute vor den Osterferien sehr viel spekuliert. Ich hatte mich, nach meiner alten Methode, auf eine Enttäuschung gefaßt gemacht. Es hätte meinen Stolz sehr verletzt, nicht unter den sechs Auserwählten zu sein, aber ich wußte, daß ich es überleben würde. Die meisten glaubten, daß ich es schaffen würde. Aber ich war mir da nicht so sicher, nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern wegen meiner Boxerei. Obwohl die Boxmannschaft der Schule zu einem neuen Status verholfen hatte, war das Boxen im Vergleich zum Cricket- und Rugbyspiel eine unwichtige Sportart. Manch ein Lehrer hielt den Boxsport einer Schule wie unserer für unangemessen, und ohne Darby und Sarge wäre das Boxen wahrscheinlich eingestellt worden. Ich war weiterhin als heller Kopf in der Schule bekannt, hatte aber nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, daß das Boxen mir das allerwichtigste war. Ich war sicher, daß diese Tatsache gegen mich sprechen würde. In meinem letzten Interview mit Singe 'n Burn hatte er gesagt, daß Boxen für mich an erster Stelle zu stehen schien, noch vor der Musik und der schulischen Karriere. »Was bedeutet Boxen dir eigentlich? Ist das eine fixe Idee, Peekay? Was willst du damit anfangen? Es scheint mir doch für einen zukünftigen Gentleman ein recht unpassender Zeitvertreib zu sein, obwohl sogar von Lord Byron behauptet wird, daß er ein talentierter Boxer war.« Als ich ihm antwortete, daß ich
vorhatte, Weltmeister im Weltergewicht zu werden, zog er die Augenbrauen in die Höhe und schaute mich über die Ränder seiner Stahlbrille an. »Hmm«, sagte er, sonst nichts. Hymie war auch unter den fünfzehn Kandidaten, die vom Direktor interviewt wurden. Obwohl sein heller Verstand allgemein anerkannt wurde, galt er als zu vorlaut und schnitt deshalb bei den Wetten schlecht ab. Als ich ihn nach seinem Interview mit Singe 'n Burn fragte, wollte er nicht darüber sprechen, und ich ließ ihn in Ruhe. Die St. Johns Leute wurden in der Reihenfolge ihrer Verdienste gewählt, und diese Tatsache verschaffte Hymie die Gelegenheit zu einem Geschäft, das einer unserer größten Erfolge werden sollte. Außer etwas Lauferei und dem Einstreichen des halben Profits hatte ich eigentlich nichts damit zu tun. Wir nannten es »Levys erstaunliches Vielfaches von hundert«. Man konnte zwei verschiedene Wetten abschließen. Entweder man zahlte einen Schilling ein und nannte drei Kandidaten aus der Liste der fünfzehn Jungen, die in die Endausscheidung gekommen waren. In diesem Fall spielte die Reihenfolge keine Rolle. Die Gewinner, und es war sicher mehr als einer, teilten sich eine Summe von dreißig Pfund. Oder man schloß zwei Wetten und mehr ab, dann war man bei »Levys erstaunlichem Vielfachen von hundert« dabei. Man bekam einhundert Pfund, wenn man die beiden Namen der Jungen richtig vorhersagte, die an erster und zweiter Stelle in der Liste der St. Johns Leute stehen würden. Das war klug ausgedacht, alle glaubten nämlich, daß sie mindestens bei drei Namen richtig lagen und deshalb eine gute Chance bei der Dreißig-Pfund-Wette hätten. Die meisten Wetter konnten nicht widerstehen, außerdem noch einmal zwei Schilling hinzulegen, um beim großen Geld dabeizusein, einhundert Pfund, wenn es nur einen Sieger gäbe und garantiert zwanzig Pfund, wenn die Summe geteilt werden mußte. Viele Schüler, hauptsächlich die Externen, setzten zehn Schilling oder sogar ein Pfund ein, um ihre Gewinnchancen zu erhöhen. Selbst in diesem Haufen kleiner reicher Jungen waren einhundert Pfund ein Vermögen. Es gab kein einziges Kind in der ganzen Schule, das nicht mindestens zwei Wetten abgeschlossen hatte. Eine Stunde vor Schulbeginn und in der Mittagspause konnten
eine Woche vor der Erneuerung der St. Johns Leute in den Toiletten Wetten abgeschlossen werden. Die Schlange ging bis zum Spielplatz, und wenn jemand die Toiletten beobachtet hätte, müßte er wohl befürchtet haben, daß eine Durchfallerkrankung in der Schule ausgebrochen sei. Hymie kassierte das Geld, und ich notierte die Wetten. Am Tag vor der Vollversammlung, auf der die Namen der sechs St. Johns Leute verkündet wurden, war die Spannung riesengroß. Durch die Aufregung hatte sich meine Angst um uns beide etwas gelegt. Hymie hielt sich für einen sehr fraglichen Kandidaten. »Scheiße, Peekay, ich bin eher ein Gangster als ein Poet, und das gefällt Singe 'n Burn nicht.« Ich mußte ihm recht geben, sein Ruf als cleverer Geschäftsmann und meine Vorliebe fürs Boxen sprachen entschieden gegen uns. In Hymies Fall zeigte sich das deutlich bei den abgeschlossenen Wetten. Kein einziges Mal erschien sein Name auf Platz eins und zwei, meiner hingegen tauchte häufig auf. Wir hatten Wettgeld für hundertneunzig Pfund eingenommen, in jedem Fall würden wir einen schönen Profit von sechzig Pfund machen. Wir hatten die Wahrscheinlichkeit errechnet, mit der jemand »Levys erstaunliches Vielfaches von hundert« gewinnen konnte. Die Chance war klein, aber es war nicht unmöglich. Sicher war, daß es mehrere Gewinner bei der Dreißig-Pfund-Wette geben würde. Es war wirklich ein gutes Geschäft. Ein garantierter Profit, eine Reihe zufriedene Gewinner und die Möglichkeit eines riesigen Profits im Fall, daß wir »Levys erstaunliches Vielfaches von hundert« nicht auszahlen mußten. Ich hörte mein Herz wie wild, schlagen, als ich am nächsten Morgen auf der Vollversammlung neben Hymie stand. Das Lied, das diesmal vor dem Morgengebet gesungen wurde, hieß: »O Gott, unsere Hilfe in vergangener Zeit«, es wurde allgemein gern gesungen, aber heute dehnte sich die Zeit endlos. Das daraufhin folgende Gebet war ebenfalls eine langwierige Angelegenheit, in der es um Verletzung der Ehre und Gleichmut bei Enttäuschungen ging. Offensichtlich hatte Singe 'n Burn das Gebet für diese Gelegenheit sorgfältig ausgewählt. Dann folgte ein Wust von trivialem Schulkram, und wir wurden aufgefordert, uns vom Schwimmbad fernzuhalten, das geleert wurde und während der Osterferien neu gestrichen werden sollte. Und dann wurden die Namen der Jungen vorge-
lesen, die sich für den Anfängerkurs im Rettungsschwimmen eingeschrieben hatten. Endlich räusperte sich Singe 'n Burn und kam zur Hauptsache der heutigen Vollversarrimlung. Er stand da in seinem schwarzen Talar mit den schmalen roten Streifen und hatte seine quadratische Kopfbedeckung abgenommen. Das Licht fing sich in seinem schneeweißen Haar. Zu einer Zeit, in der alle Männer das Haar kurz geschnitten trugen, fiel ihm sein Haar fast bis zu den Schultern hinab. Eine Brille mit Stahlrahmen saß auf der Spitze seiner langen, eindrucksvollen Nase. Von allen Direktoren, die ich gesehen habe, war St. John Burnham MA (Oxon) derjenige, der am meisten wie ein Direktor aussah, sogar besser als einer aus einem Billy-BunterComic. Alle waren totenstill, abgesehen von den fünfzehn Kandidaten gab es keinen einzigen Jungen in der Aula, der in den nächsten paar Minuten nicht viel Geld verlieren oder gewinnen konnte. Singe `n Burn räusperte sich und begann. »Jedes Jahr gewährt mir der Schulrat eine persönliche Gunst. Ich darf aus der dritten Klasse ein halbes Dutzend Jungen auswählen, die die St. Johns Leute werden.« Er schaute zu den schmutzigen Glasfenstern am Ende der Halle hoch, als erbäte er göttlichen Beistand. »Nun, Sie wissen alle, daß ich mir die Aufgabe nicht leicht mache. Schließlich gibt es nicht nur Freude, sondern auch Trauer. Sechs Jungen werden ausgewählt, und neun Jungen, die es bis zur Endausscheidung geschafft haben, müssen zurücktreten. Diese neun machen mir meine Aufgabe sehr schwer. Denn wer sagt, daß ich die richtige Entscheidung fälle? Ich bin sicher, daß ein anderer sechs ebenso fähige und talentierte Jungen wählen würde, aber nicht die gleichen, die ich ausgewählt habe. Dieses Jahr waren alle Kandidaten ungewöhnlich jung, alle hätten es verdient gehabt, ausgewählt zu werden. Aber es gibt leider nur sechs Plätze. Ich gratuliere ihnen allen und möchte denen meinen Trost aussprechen, die keine St. Johns Leute werden.« Er machte eine Pause und lenkte unsere Aufmerksamkeit auf das mit Blattgold gemalte Namensverzeichnis auf einer Holztafel, die links in der Halle stand. »Der erste Name auf dieser Ehrenliste von 1926 gehört dem gegenwärtigen südafrikanischen Hochkommissar in London, einem ausgezeichneten Diplomaten und Wissenschaftler und dem jüngsten Mann, der
jemals diese hohe Position erreichte. Ich würde mich überhaupt nicht wundern, wenn er eines Tages unser Premierminister würde.« Er machte wieder eine Pause, um für die nun folgenden Worte die größtmögliche Wirkung zu erzielen. »Dieser hochbegabte Junge wurde seinerzeit nicht unter die St. Johns Leute aufgenommen.« Er schaute über seine Brillengläser zu uns herab. »Ich hatte eigentlich vor, zum heutigen Anlaß Rudyard Kiplings großes Gedicht »Wenn« vorzulesen, hörte aber, daß es in diesem Schuljahr im Englischunterricht durchgenommen worden und Ihnen deshalb gut bekannt ist. Ich erspare Ihnen eine Wiederholung. Lassen Sie mich abschließend folgendes sagen: Meiner Erfahrung nach erhalten eher jene die großen Preise des Lebens, die trotz Rückschlägen und Enttäuschungen beharrlich weiterarbeiten, als die außergewöhnlich Begabten, die durch die Zuversicht, die ihnen ihr Talent schenkt, ihren Weg weniger erfolgsorientiert als die anderen gehen.« Er machte eine Pause und zog ein Stück Papier aus seinem Talar. »Die folgenden Jungen der dritten Klasse wurden für den Rest ihrer Schulzeit an der Prince of Wales-Schule zu St. Johns Leuten gewählt. Herzlichen Glückwunsch.« Er schaute auf das Papier herunter und fing an zu lesen: »Levy H. S., Lyell H. R., Quigley B. J.,Minnaar J. R « Ich hatte Hymie in die Rippen gestoßen, als sein Name genannt wurde, aber jetzt fühlte ich, daß mein Gesicht brannte und daß mir ein Kloß in den Hals stieg. »Eliastam P. J.«, sagte der Direktor und machte eine Pause, um sich zu räuspern. Dann schaute er die versammelten Schüler an. Die Zeit hing wie ein Spinnennetz in der Luft, und das Papier in seiner Hand flog wie ein weißer Grabstein durch den Weltraum. »Und Peekay«, sagte er schließlich. Ich fühlte mich schwach in den Knien und mußte all meine Kraft zusammennehmen, um nicht loszuweinen. Ich hatte es geschafft. Ich war der sechste unter den St. Johns Leuten. Atherton, Cunning-Spider, Pissy Johnson, Hymie und ich feierten den ganzen Nachmittag, aßen Perks-Kuchen und Sahnetörtchen und tranken Pepsi-Cola, bis Atherton, Cunning-Spider und Pissy Johnson um vier Uhr zum Anwesenheitsappell gehen mußten. Die St. Johns Leute waren davon freigestellt. Als die drei fluchend loszogen, versuchten wir, so verärgert wie möglich auszusehen, fühlten uns aber in Wirklichkeit ungeheuer privilegiert.
Neun Schüler hatten bei der ersten Wette gewonnen. Bei der zweiten gab es keinen einzigen Gewinner. Hymie selbst war die große Überraschung gewesen, und obwohl ein paar Wetter seinen Namen bei der ersten Wette genannt hatten, hatte ihn kein einziger bei der zweiten Wette auf Platz eins oder zwei gesetzt. Die Tatsache, daß mein Name oft an erster oder zweiter Stelle genannt worden war, bedeutete, daß die meisten mit ihren Wetten nicht einmal andeutungsweise richtig gelegen hatten. Hymie und ich hatten hundertsechzig Pfund gewonnen. Nachdem die anderen zum Anwesenheitsappell gegangen waren, wandte ich mich an Hymie. »Okay, du Klugscheißer, wie hast du's gemacht?« fragte ich und leckte mit großem Vergnügen die seitlich aus meinem letzten Törtchen herausgequollene Sahne ab. »Wie hab ich was gemacht?« fragte Hymie verträumt, setzte eine Pepsi an den Mund und versuchte, sein Grinsen zu verbergen. »Du weißt, wovon ich spreche! Von den abgeschlossenen Wetten her wußtest du, daß niemand geglaubt hat, daß du auf Platz eins stehen würdest. Selbst ich hab's nicht geglaubt. Mit dir auf dem ersten Platz mußten wir ja den großen Reibach verdienen. Wie hast du's gemacht?« Er setzte die Pepsi ab und stellte die Flasche neben sich auf den Boden. »Es war teilweise Glück, aber hauptsächlich meine übliche gute Einschätzung der Situation«, sagte er in seiner gewohnten zurückhaltenden Art. »Jesus Christus, du bist ein verdammter Bastard, Levy! Okay, erst das mit der Einschätzung der Situation.« »Nun, ich glaube, wir hätten mit einem Profit von sechzig Pfund und einer einigermaßen guten Chance, das große Geld zu machen, zufrieden sein können. Aber für meinen Geschmack war immer noch zuviel Glück im Spiel. Ich mußte irgendwie einen Modus finden, durch den das Wettgeschäft zwar völlig ehrlich ablaufen würde, die Gewinnchance der Wetter aber kleiner und unsere größer wurde.« »Du habgieriger Kerl.« »Nein, nicht habgierig, ich spiel nur einfach nicht gern, aber ich gewinne gern, und um zu gewinnen, muß man seine eigenen Chancen erhöhen. In einem Rennen starten ungefähr fünfzehn Pferde, das ganze letzte Jahr lang habe ich alle Ergebnisse auf der Turfontein-Rennbahn analysiert. In der ganzen Zeit gewannen der erste
und der zweite Favorit abwechselnd 104mal in 832 Rennen, das heißt, die Gewinnchancen des Buchmachers standen acht zu eins. Das ist gut, aber nicht gut genug.« »Ja, aber wir hätten doch in jedem Fall sechzig Pfund gewonnen. Das ist ein verdammt guter Verdienst für eine Woche Arbeit.« »Ich weiß, aber das hatte keinen intellektuellen Kick. Es hing nicht von meiner Schlauheit ab.« »Hymie, du kannst nicht alles haben. Einen todsicheren Gewinn und außerdem noch einen intellektuellen Kick.« »Genau das hab ich ja gemeint. Wenn ein Jude Geld macht, dann geht es für ihn dabei immer ums intellektuelle Überleben.« »Okay, einverstanden. Sag, wie hast du's eingefädelt?« »Eingefädelt!« schrie Hymie empört. »Hältst du mich für einen Betrüger?« Sein Ausbruch kam völlig unerwartet, und ich war schockiert. »Um Gottes willen, Hymie, du weißt doch wie ich's meine«, sagte ich schnell und versuchte, mir meine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Hymie seufzte. »Am Ende ist es doch immer das gleiche. Der Nichtjude glaubt, daß der Drecksjude ein Betrüger ist. Stimmt's?« »Unsinn, Hymie! Das hab ich nicht gemeint. Es tut mir wirklich leid. Du kennst doch meine Einstellung dazu.« Hymie schaute mich lange an. »Ja, das stimmt«, sagte er grinsend, »aber vielen Dank, daß du's noch mal gesagt hast.« »Jetzt erzähl weiter«, sagte ich sehr erleichtert und daran interessiert, daß er die Sache auf sich beruhen ließe und wir das Gespräch fortsetzten. Hymie fuhr fort: »Es riecht wirklich nach Schiebung, stimmt's? Aber ich hab nur versucht, die menschliche Natur zu beeinflussen.« »Das mußt du mir erklären.« »Du hast mir doch von deinem Interview mit Singe 'n Burn erzählt... Wie er dich nach deiner Boxerei ausgefragt hat.« »Ich versteh überhaupt nichts. Was hat das mit der >ein Vielfaches von hunderte-Wette zu tun?« »Du kennst ja meine Theorie des Gewinners. Wenn man einen Gewinner hat, kann man ihn für sehr viele verschiedene Zwecke einsetzen. Nun, du warst immer mein einziger sicherer Gewinner. Bei der großen Wahrscheinlichkeit, daß du auf den Platz Nr. 1 der
St. Johns Leute kommen würdest, wäre Levys erstaunliches Vielfaches von hundert< viel zu riskant gewesen. Dann hätten die Wetter nur noch einen richtigen Namen raten müssen, um zu gewinnen.« »Aber ich hab dir doch gesagt, daß ich es wegen der Boxerei vielleicht überhaupt nicht schaffe.« »Keine Chance, alter Junge! Du hast überhaupt nie eine Chance gehabt, nicht gewählt zu werden, aber ich hätte wetten können, daß Singe 'n Burn der Versuchung nicht widerstehen konnte, dir eine erste Lektion zu erteilen.« »Eine erste Lektion?« »Großer Gott, Peekay, manchmal bist du wie vernagelt. Singe 'n Burn ist nach eigener Aussage ein liberaler Denker, ihm sind zwanghafte Persönlichkeiten sehr suspekt. Der RenaissanceMensch, der ihm vorschwebt, ist ja selbst in der Bescheidenheit bescheiden. Er hat dir sein Mißfallen gezeigt, indem er dich nur auf Platz sechs gesetzt hat.« »Großer Gott, Hymie, und du hast dir die Mühe gemacht, über all das nachzudenken?« »Denken ist nie eine Mühe, du solltest es mal probieren.« Er grinste plötzlich. »Außerdem hätte ich unrecht haben können, Singe 'n Burn hätte dich einfach nur einen Platz runtersetzen können, und dann wärst du immer noch unter den beiden ersten gewesen. Ich mußte es so einrichten, daß wir völlig außer Gefahr waren. Ich mußte gewählt werden, aber nicht nur gewählt werden, sondern auf Platz eins kommen. Selbst wenn du auf Platz zwei gerutscht wärst und ich als völliger Außenseiter auf Platz eins gekommen wäre, hätte niemand die richtige Reihenfolge raten können. Niemand, der bei Sinnen ist, hätte sich für etwas so Unwahrscheinliches entschieden.« »Verstanden. Und wie hast dus hingekriegt?« »Nun, ich rechnete mir aus, wie Singe 'n Burn mit dir umgehen würde, und wenn man jemanden kennt, dann weiß man auch, wie er denkt. Das Gegenteil einer zwanghaften Persönlichkeit, in diesem Fall du mit deiner Boxerei, ist eine gut angepaßte Person. Das Charakteristikum einer gut angepaßten Persönlichkeit ist Bescheidenheit und eine Bereitschaft, die eigenen Pläne zum Wohl der Allgemeinheit zurückzustellen. Was hat Jesus gesagt? >Keiner hat so viel
Liebe, als einer, der sein Leben hingibt für seine Freunde.<« Hymie lachte kurz auf. »Ich wußte also, daß ich die Nummer-Eins-Plazierung in der Tasche hätte, wenn Singe 'n Burn glaubte, daß Aufopferungsbereitschaft und Toleranz die Grundlagen meines Charakters wären.« »Und wie hast du ihm das weisgemacht? Ich meine, diese beiden Charakterzüge stechen einem bei dir nicht gerade ins Auge«, fügte ich leicht sarkastisch hinzu. Hymie schaute mich an und sah verlegen aus. »Ich glaub nicht, daß dir das gefällt, was jetzt kommt. Wir haben uns über die Wichtigkeit von Freundschaft unterhalten, und ich brachte die Rede auf meine Freundschaft mit dir. Singe 'n Burn fragte mich dann über deine Boxleidenschaft aus.« Er machte eine Pause. »Bist du sicher, daß dus hören willst?« »Ich glaub, ich weiß schon, was kommt, aber sprich weiter.« »Also, ich hab ihm von deiner Kindheit erzählt, von deinem ersten Internat, dem Gefängnis, aber ich schwör dir, daß ich ihm nichts vom Kaulquappenengel erzählt hab, nur von Geel Piet und der Boxerei, einfach ein paar von den Sachen, die du mir auch erzählt hast.« »Großer Gott, Hymie, das hab ich dir doch im Vertrauen gesagt.« »Ja, ich weiß, das war mir schon klar, aber du hast mir nie ausdrücklich verboten, darüber zu sprechen.« Hymie machte eine Pause. »Großer Gott, Peekay, du brauchst dich doch über nichts zu schämen.« »Ich hab mich nie über irgendwas in meinem Leben geschämt, außer an dem Tag, an dem ich im Internat zum ersten Mal dazu gezwungen wurde. Es ist... nun, ich will einfach nicht, daß irgendein christlicher Gentleman Mitleid mit mir hat, weil meine Mutter arm wie eine Kirchenmaus ist.« Hymie sprang auf und packte mich am Revers meines Blazers. »Du verdammter Idiot! Die würden alles geben, um so sein zu können wie du. Und ich auch. Du hast gemacht, was du gemacht hast, hast dein Leben geführt, so, wie's halt war. Glaub mir, es macht nicht viel Spaß, in einem reichen jüdischen Haushalt aufzuwachsen. Alles ist übertrieben. Zuviel Liebe, zuviel Geld, zuviel Essen, zuviel Umsorgung, zuviel Dran-erinnert-Werden, daß du verschieden bist, daß du ein Jude bist. Ich hab mich gelangweilt, seit ich fünf
Jahre alt war! Gelangweilt über die eingefahrenen Gleise, in denen das Leben einer reichen jüdischen Mittelschichtfamilie abläuft. Du kannst meine zwölf Schlafzimmer und sechs Badezimmer haben! Ich tausch die fünf Autos und drei Chauffeure meines alten Herrn gern gegen vierzehn Tage mit Doc.« Mir wurde plötzlich klar, daß ich wegen seiner Indiskretion über meine Vergangenheit einen größeren Tanz machte als er, als er geglaubt hatte, daß ich ihm Betrügerei unterstellen wollte. »Okay, wir sind quitt, du aalglatter Bastard«, sagte ich grinsend. »Jetzt erzähl mir die Geschichte fertig. Wieso hat dieses ganze Gerede ihn denn dazu veranlaßt, dich auf Platz eins zu setzen?« »Ich hab ihm einfach gesagt, daß ich Jude sei, was er wahrscheinlich schon wußte, aber es schadet nie, diese Tatsache jemandem noch mal ins Gedächtnis zurückzurufen. Daß mein Vater enorm reich sei. Daß ich alle möglichen Privilegien genossen hätte und weiter genießen würde. Daß ich nach Oxford geschickt würde, wo ich Jura und Blablabla studieren würde. Daß meine Zukunft schon vorgezeichnet sei.« »Und dann?« »Jetzt kommt das Schlimmste. Ich hab ihm gesagt, daß ich, falls ich zu den St. Johns Leuten gewählt würde und du nicht, meinen Platz zu deinen Gunsten abgeben wollte.« Er schaute mich mürrisch an, wartete darauf, daß ich ärgerlich werden würde. Ich sagte nichts. Ich wußte plötzlich, daß Hymie, nachdem ich ihm von meinem Interview mit Singe 'n Burn erzählt hatte, befürchtet hatte, daß ich wegen meiner Boxleidenschaft nicht zu den St. Johns Leuten kommen würde. Daß er geglaubt hatte, daß ich es nur durch seine Aufopferung schaffen würde. Er hatte sich sehr gut in Singe 'n Bums Denkweise hineinversetzt und es geschafft, an der ganzen Sache auch noch gut zu verdienen. »Du hättest es sowieso gemacht, stimmt's, auch dann, wenn du dir das Wettgeschäft nicht ausgedacht hättest.« »Zum Teufel, nein! Nie im Leben!« sagte er. »Großer Gott, Peekay, wir leben in einer Jeder-frißt-jeden-Welt, was glaubst du, wo die Juden wären, wenn sie plötzlich anfingen, sich für die verdammten Christen aufzuopfern!« »Danke, Hymie«, sagte ich. »Peekay. Wenn du mir unterstellen willst, daß ich das Ganze
nicht aus reiner Gewinnsucht eingefädelt habe, dann muß ich das zurückweisen. Glaubst du nicht, daß ich fähig bin, mir eine so gut funktionierende Sache auszudenken?« »Ganz im Gegenteil, du hast sie dir so gut ausgedacht, daß du, egal, was passiert wäre, die Sache unter Kontrolle gehalten hättest.« Hymie wurde rot, das hatte ich bei ihm noch nie gesehen. »Es ist nie gut, etwas dem Zufall zu überlassen, das ist viel zu gefährlich«, sagte er und lächelte reserviert. »Mann, der Platz eins hat dir sowieso schon immer zugestanden.« »Da hast du recht«, sagte er. »Also, warum nehmen wir uns nicht jeder einen Zehner für die Ferien?« Er gab mir eine Zehnpfundnote. »Ich bring den Rest zur Bank, ich habe große Pläne für das nächste Schuljahr, wir sprechen nach den Ferien drüber.«
19 Wenn ich am Ende eines Schuljahrs nach Hause fuhr, hatte ich das Gefühl, ich schlüpfte in eine andere Haut. Das Schöne an einer kleinen Stadt ist, daß sie sich überhaupt nie verändert. Außer Doc, Mrs. Boxall, Miss Bornstein, der alte Mr. Bornstein, die Leute im Gefängnis und natürlich auch meine Mutter, Großvater, Marie und Dum und Dee, schauten alle Leute auf, wenn ich einen Laden betrat, und fragten ganz nebenbei: »Meine Güte, schon wieder Ferien, Peekay? Wie lebt sich's in der großen Stadt? Spielst du im Osterkonzert? Was kann ich für dich tun?« All das sagten sie in einem Atemzug, nicht weil sie gelangweilt waren oder das Gefühl hatten, höflich sein zu müssen, sondern hauptsächlich deshalb, weil die Zeit in einer kleinen Stadt mit einer Gleichförmigkeit abläuft, die durch das Kommen und Gehen von Leuten nicht gestört wird. Ich freute mich darüber, daß sich nichts in Barberton veränderte, es gab mir das Gefühl dazuzugehören. Jetzt, wo der Krieg vorbei war und das Militärcamp den städtischen Haushalt nicht mehr belastete, lehnte sich Barberton in seinen liebsten alten Ledersessel zurück und fiel wieder in Schlaf. Selbst die Gefängniswärter schienen sich jetzt besser in die Gemeinde einzufügen, und während der letzten
beiden Konzerte waren sie im Saal geblieben, als »God save the King« gespielt wurde, obwohl Mrs. Boxall erzählte, daß sie auf ihre Weise ihren Protest zum Ausdruck gebracht hatten, indem sie nicht strammgestanden hatten. Das ärgerte Mr. Hankin von den Goldfield News wie immer bis zur Weißglut, schlug sich aber in der Zeitung nur noch in einer kurzen Notiz nieder, nicht mehr in einem Leitartikel wie in den guten alten Tagen. Mrs. Boxall war im Gefängnis sehr beliebt. Der Kommandant, der wegen Docs Konzert zum Colonel befördert worden war, hatte sich entschlossen, die Gefängnisreform zu befürworten, und ihr erlaubt, eine Sonntagsschule für die Gefangenen aufzuziehen. Sie hatte mit dem Kommandanten ausgehandelt, daß Fortschritte mit King Georgies belohnt werden sollten. Die Pfingstlermissionare, die bereit waren den Unterricht zu halten, wenn sie jeden Sonntag eine Viertelstunde lang predigen durften, waren ganz und gar nicht damit einverstanden, Tabak an gute Schüler auszuteilen. Ihr Gott war weder Trinker noch Raucher. Sie wurden schließlich zu der Folgerung gezwungen, daß Gottes Wege unergründlich seien, als sich die Teilnahme am Unterricht und die Mitarbeit sehr stark besserten, nachdem King Georgies als Ansporn eingeführt worden waren. Ein Gefangener lernte während der Woche jeden freien Augenblick, wenn er dafür eine Zigarette bekam, mit dem Ergebnis, daß viele Schwarze bei ihrer Entlassung aus dem Gefängnis lesen, schreiben und einfache Rechenaufgaben lösen konnten. Mr. Bornstein, Miss Bornsteins Vater, hatte aus dem Earl of Sandwich-Fonds die Sandwich-Foundation gemacht, und eine kleine alte Dame hatte ihr schon eine Hinterlassenschaft von zweitausend Pfund vermacht. Den Briefdienst gab es noch, und während der Ferien nahm ich den Missionaren die Arbeit ab und legte wie früher ein zurechtgeschnit-tenes Tabakblatt von Maries Vater in die Traktate, die jeder bekam, der einen Brief diktierte. Tatsächlich kamen während der Schulferien die Briefe an King Georgie, die natürlich nie abgeschickt wurden, in Mode. Der Kaulquappenengel war wieder in der Stadt, und Gert behauptete, daß es während meiner Anwesenheit praktisch keinen Ärger im Gefängnis gab. Gert hatte, ermutigt von Mrs. Boxall, Englisch gelernt und sprach es jetzt ziemlich gut. Er hatte sich eng an Doc und Mrs.
Boxall angeschlossen und kümmerte sich darum, daß die nötigen Reparaturen an Docs und Mrs. Boxalls Haus ausgeführt wurden und daß Charlies Motor immer in Ordnung war. Jedesmal, wenn ich nach Hause kam, war es dasselbe: »Ich sag dir, Mann, nur Kaugummi und Achsenfett halten diesen alten chorrie zusammen, eines Tages muß ich ihn auf eine Klippe fahren, ein Gebet sprechen und ihn runterschubsen. Die Schwierigkeit ist nur, daß er gar nicht erst raufkommt!« Aber unter Gerts sorgfältiger Wartung fuhr Charlie immer weiter. Klipkop war nach Pretoria versetzt worden, und Gert war zu seiner großen Überraschung zum Assistenten von Captain Smit ernannt und deshalb zum Corporal befördert worden. Er war jetzt der Schwergewichtler in der Gefängnismannschaft und würde sich bei den nächsten Meisterschaften um den nicht besetzten Titel bemühen. Der riesige Potgieter, der Gert nach seiner ersten Niederlage in Nelspruit noch zweimal geschlagen hatte, war inzwischen Profiboxer geworden. Die lowveld-Meisterschaften hatten sich vergrößert und hießen jetzt Ost-Transvaal-Meisterschaften, Boxer aus mehreren großen Städten nahmen daran teil, und dadurch wurde es schwieriger für die Barberton Blues. Da die Meisterschaftskämpfe immer während der Schulferien im Dezember stattfanden, konnte ich als Mannschaftsmitglied daran teilnehmen, was Captain Smit sehr wichtig war. Durch die regelmäßigen Boxkämpfe gegen die Mannschaften der Burenschulen war ich zu einem viel besseren Boxer geworden, sehnte mich aber trotzdem nach Geel Piet, der mir beigebracht hatte, im Ring klar zu denken. Während Darby White und Sarge genau wie Captain Smit gute Handwerker waren, war Geel Piet ein Künstler gewesen, und ich vermißte seine geradezu unheimliche Fähigkeit, meine Persönlichkeit im Ring voll und ganz zur Geltung zu bringen. Ich hatte das Gefühl, daß ich als Boxer nicht vorwärtskam. Yehudi Menuhin sagte einmal, daß Geige spielen so ähnlich wie Singen mit den Gliedmaßen sei. Geel Piet hatte mir das Gefühl gegeben, daß Boxen so ähnlich funktionierte, daß jeder Schlag das Resultat von perfektem Timing, Kontinuität, kontrolliertem Gefühl und Intelligenz sei. Wenn ich Weltmeister im Weltergewicht werden
wollte, dann mußte ich bald einen Trainer finden, der über das Schulboxen hinausdachte. Die Ferien waren voll, ausgefüllt. Um halb sechs war ich zum Boxtraining im Gefängnis, und Captain Smit ließ mich mit zwei anderen Jungen drei Runden lang boxen. Meistens waren es Rotznase und Jaapie, beide schwerer als ich, aber die einzigen Boxer, die gut genug waren. Beide waren Fighter in der Smitschen Tradition, und beide waren sehr zäh. Ich mußte all meine boxerischen Fähigkeiten zusammennehmen, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Nach der Hälfte der zweiten Runde pfiff Captain Smit, und der eine kletterte aus dem Ring, und der andere kämpfte weiter. Das hieß, daß jeder der beiden nur anderthalb Runden boxte. Deshalb strengten sie sich mächtig an und waren darauf eingerichtet, ein paar Schläge einzustecken, um einen guten zu landen. Captain Smit war überzeugt davon, daß das der einzige Weg war, um meine Schnelligkeit und Reaktionsfähigkeit zu verbessern. Nach anderthalb Stunden in der Turnhalle des Gefängnisses ging ich zu Docs Haus, wo entweder Dee oder Dum, die sich damit abwechselten, das Frühstück abgeliefert hatten. Wenn ich um sieben dort ankam, war der Kaffee schon gemacht, und ein Laib frisches Brot lag auf dem Tisch, dazu gab es gebratene Speckscheiben und Eier, die in einer Pfanne hinten auf dem Herd bruzzelten und schon auf meine Ankunft warteten. Doc war trotz allem ein Deutscher und erwartete, daß ich pünktlich zum Frühstück erschiene. Die Mädchen freuten sich, wenn Ferien waren, und verwöhnten mich sehr, sie backten und kümmerten sich und kochten von morgens bis abends. Doc behauptete immer, daß er während meiner Ferien ein paar Pfund zunähme. Doc und ich frühstückten auf seiner Veranda, und wir besprachen die Wochenendwanderung. Das hieß normalerweise, daß wir einen Rundgang wiederholten, den wir schon einmal gemacht hatten. Doc zog seine alten Notizen heraus, und wir unterhielten uns über die frühere Wanderung, die vor fünf Jahren stattgefunden haben konnte. Wir redeten über jede Pflanze, die wir damals gefunden hatten und standen sogar manchmal vom Tisch auf, um eine lang vergessene Sukkulente anzuschauen, die wir damals gefunden hatten. Doc gab während der Woche immer noch kleinen Mädchen Klavierunterricht, deshalb konnten wir nur am Wochenende lange Wande-
rungen unternehmen. Aber nach einiger Zeit war ich mir sicher, daß er es gar nicht anders haben wollte, das Planen und das Be-sprechen seiner Notizen war ihm ebenso wichtig wie die Ausflüge selbst. Um neun gab er mir eine Klavierstunde, schüttelte den Kopf über die schlechten Gewohnheiten, die ich mir bei Mr. Mollip, dem Musiklehrer der Prince of Wales-Schule, angewöhnt hatte. »Dieser Mr. Mischmasch, bist du ganz sicher, daß er dir Klavierunterricht gibt?« fragte er und schüttelte dabei den Kopf. »Oder ist es vielleicht Banjounterricht?« Den Rest der Ferien verbrachte er damit, mich in musikalischer Hinsicht wieder etwas zu disziplinieren. Als ich Doc den St. Louis-Blues zum ersten Mal vorspielte, hatte ich erwartet, ihn damit zu schockieren. Eigentlich war es als Scherz gemeint. Aber er nickte mit dem Kopf. »Ja, das ist gut.« Ich schaute ihn überrascht an. »Aber wenn du so ein Stück spielst, muß die Musik aus dem Herzen kommen und nicht aus dem Kopf, Peekay.« Er gab mir ein Zeichen, daß ich aufstehen solle, Setzte sich ans Klavier und spielte das Stück genauso intensiv und eindringlich wie Errol Garner auf Hymies 78er Platte. »Verdammt noch mal, Doc, wo hast du das denn gelernt!« Es war das erste Mal, daß ich in Docs Gegenwart geflucht hatte, aber er schien es nicht zu bemerken. »Okey-dokey, Mr. Schlauberger, wer ist W. C. Handy?« »Klingt wie eine Klobürste«, sagte ich scherzend. »Mr. W. C. Handy hat diesen Blues geschrieben, und jetzt spielst du ihn ohne Gefühl und sogar ohne zu wissen, wer ihn komponiert hat! Würdest du das Beethoven oder Bach antun? Nein, wahrscheinlich nicht. Aber jetzt glaubt Mr. Schlauberger wahrscheinlich, daß es leicht ist, Musik von Schwarzen zu spielen.« »Tut mir leid, Doc, es sollte ein Scherz sein. Ich wollte dich schockieren.« »Wenn du mich schockieren willst, mußt du mir schlechte Musik vorspielen, aber nicht gute Musik schlecht«, sagte er leise. Jetzt war ich derjenige, der schockiert war, und Doc hatte mir mal wieder gezeigt, daß man zuerst denken und dann handeln sollte. »Wo hast du denn gelernt, so zu spielen, Doc?« Doc lachte. »Vor langer Zeit, ja, als ich mein erstes Buch über Kakteen in Nordamerika geschrieben hab, da war ich in New Orleans. Ich hatte kein Geld, deshalb spielte ich jeden Abend eine
Viertelstunde lang klassische Musik in einem eleganten Lokal, dem Golden Slipper. Ja, so hieß das Lokal. Nach mir kam dann eine Jazzband, und bald kam ich mit den Gästen ins Gespräch, und sie fanden den deutschen Professor sehr komisch, konnten aber mit meiner Musik nichts anfangen. Die reichen Leute, die in dieses Lokal kamen, konnten Mr. Beethoven und Chopin und Brahms einfach nicht verstehen. Aber die Schwarzen, die verstanden diese Musik gut. Ich brachte ihnen ein bißchen von diesem und jenem bei, und sie mir umgekehrt genauso.« Er berührte die Tasten und spielte ein paar Takte Blues. »Da lernte ich Mr. W. C. Handy und später auch Mr. Errol Garner kennen.« »Du hast Errol Garner kennengelernt!« schrie ich. »Den Errol Garner?« »Ja, ich glaub, es gibt nur einen.« »Doc, bitte, bitte bring mir bei, wie man Jazzpiano spielt.« Doc lachte und sagte: »Nicht um alles in der Welt, Peekay.« »Bitte, Doc!« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht beibringen, was ich selbst nicht fühle. Peekay, das mußt du verstehen. Man kommt nicht bis ins Herz der schwarzen Musik, wenn man sie nicht in den Fingerspitzen fühlt.« Mit diesen Worten hatte mir Doc erklärt, warum ich es musikalisch nie sehr weit bringen würde. Das gewisse Etwas, von dem Geel Piet wußte, daß ich es als Boxer hatte, hatte ich als Musiker nicht, und Doc wußte das ganz genau. Ich ging um elf von Doc weg und kam um Viertel nach elf bei Miss Bornstein an. Mr. Bornstein, der, wie ich schon erwähnt habe, mit Mr. Andrews eine Rechtsanwaltskanzlei betrieb, hatte ein großes weißes zweistöckiges Haus im kapholländischen Stil. An der einen Seite des Hauses wuchs ein riesiger Bougainvilleastrauch, seine purpurrote Blütenpracht leuchtete vor dem grellen Weiß der Mauer in der Mittagssonne, daß einem die Augen schmerzten, wenn man hinschaute. Als nächstes fiel der Blick auf die Rasenflächen, die nach geschnittenem Gras rochen und immer feucht und grün aussahen, sogar im Spätsommer, wenn alle anderen Rasen strohig und verbrannt waren. Im Garten standen Bäume und tropische Büsche und ein Beet mit dunkelroten Kanna. Und natürlich der übliche Kram wie Rosen usw. Aber am besten erinnere ich mich an
die dunkelrote Flut von Bougainvilleablüten, die gegen die blendende Mauer brandete, an die perfekt gepflegten Rasenflächen und an das leise Geräusch des Rasensprengers irgendwo im Garten. Zuerst spielte ich eine halbe Stunde lang oder kürzer eine Partie Schach mit dem alten Mr. Bornstein, je nachdem wie lang er brauchte, um mich zu schlagen. Jedesmal setzte er mich mit den gleichen Worten schachmatt: »Nicht so frech. Morgen wirst du, wenn Gott uns gnädig ist, gewinnen.« Gott war uns gnädig, aber ich gewann kein einziges Mal. Dann brachte mir ein Hausdiener in weiß gestärkter Uniform ein Glas Milch und zwei Schokoladenplätzchen, die ich besonders gern aß. Und dann fing der Unterricht an. Wir arbeiteten bis zwei Uhr, bis derselbe Diener eine Karaffe Orangensaft und eine Platte mit Jagdwurst- und Tomatenbroten brachte, die ich auch sehr gern aß. Miss Bornstein hatte sich zum Ziel gesetzt, daß ich ein RhodesStipendium gewinnen und nach Oxford gehen solle, und ich lernte bei ihr weit mehr, als ich für meine Abschlußprüfung an der Schule wissen mußte. Durch ihre Förderung besonders im Lateinischen und Griechischen durch wöchentliche Briefe und den Privatunterricht während der Schulferien und durch die besonders sorgfältige Schulung, die St. Johns Leuten zuteil wurde, bekam ich vielleicht die bestmögliche Erziehung, die ein Junge in meinem Alter überhaupt aufnehmen kann. Nach dem Orangensaft und den belegten Broten war ich frei. Manche Nachmittage verbrachte ich mit Mrs. Boxall oder half Großvater im Garten oder spielte am Impala-Hotel etwas Fußball mit John Hopkins, Geoffrey Scruby und noch ein paar anderen, die alle genau wie ich ins Internat gingen. Sie tranken ein paar Bier und rauchten, und wir gingen alle ganz schön rauh miteinander um. Da ich immer trainierte, rauchte und trank ich allerdings nicht. Ich fing an zu verstehen, wie der Intellekt die Menschen voneinander trennt. Als gemeinsame Gesprächsthemen boten sich Rugby, Cricket und Mädchen an. Jeden Tag zogen wir über die Mädchen her, die zusammen mit uns in der Grundschule gewesen waren und die es jetzt wahrscheinlich schon wie die Klapperschlangen trieben. Wir wußten nie genau, mit wem, wir dachten an ältere Jungen wie Paul Everingham und Bob Goodhead, die am Jeppe High in der sechsten Klasse und erfolgreiche Rugby- und Cricketspieler waren.
Die Pubertät hatte uns alle fest im Griff, und sexuelle Phantasien waren nie mehr als einen unausgesprochenen Satz weit weg. Aber wenn ich nicht gerade an Sex dachte, beschäftigte sich mein Verstand mit etwas anderem. Ich glaube, es war schon immer so gewesen, aber jetzt zeigte sich diese Andersartigkeit ganz deutlich. Ich fühlte mich nicht überlegen, ich hatte keinerlei Grund dazu, mein Verstand hielt sich nur in anderen intellektuellen Gebieten auf. Ich vermute stark, daß mich die anderen, wenn sie mich nicht als Boxer und Rugbyspieler respektiert hätten, als einen etwas kopflastigen Einzelgänger abgelehnt hätten. Ich fand Doc, Mrs. Boxall, Miss Bornstein und den alten Mr. Bornstein sehr stimulierend, aber der Geist der Erwachsenen ist nicht mehr so verrückt und verspielt wie der von Kindern, und ich vermißte die täglichen Wortgefechte mit Hymie in unserem Schulalltag. Wenn ich nach den Ferien ins Internat zurückkam, brauchte ich tatsächlich ein paar Tage, bis ich meine Schlagfertigkeit und Schnelligkeit zurückgewonnen hatte. »Mein Gott, Peekay, dein Kopf ist ja ganz hohl von den tiefen, bedeutungsvollen Diskussionen über das Wetter und die Ernte und ob die Heuschrecken dieses Jahr wiederkommen oder nicht!« meinte Hymie scherzend. Atherton, Pissy und Cunning-Spider waren genauso wie wir und liebten Streitgespräche über irgendein abstraktes Problem um ihrer selbst willen. Hymie behauptete, daß alles, ganz gleich, wie banal es auch war, als Thema für eine intelligente Debatte herhalten konnte, wenn die Gesprächspartner nur dazu in der Lage waren. Er erzählte uns die Geschichte von dem kleinen Flickschuster in einem russischen Städtchen, dem eine Scheibe Brot auf den Boden fiel, auf die er gerade Honig gestrichen hate. Zu seinem Erstaunen landete die Scheibe mit der Honigseite nach oben. »Wie kann das sein?« sagte er und rannte mit der Scheibe Brot in der Hand zum Rabbi und den Dorfältesten. »Wir sind Juden in Rußland, wie kann es sein, daß ich Honig auf mein Brot geschmiert habe und daß es, als es zu Boden fiel, richtig herum aufkam? Seit wann hat ein Jude so viel Glück?« Der Rabbi und die Alten überlegten tagelang hin und her und befragten immer wieder die Thora. Schließlich riefen sie den kleinen Flickschuster in die Synagoge. Der Rabbi sprach: »Die Antwort ist ganz einfach, du hast dein Brot auf der falschen Seite geschmiert.«
Wir hatten alle vor Lachen gestöhnt, aber Hymie hatte wie üblich seinen Punkt gemacht. Eine gute Debatte ist etwas Vernünftiges an sich, und Gespräche um ihrer selbst willen sind etwas zutiefst Menschliches. In den Osterferien planten Doc und ich eine Exkursion mit einer Übernachtung an einem Wasserfall, der etwa zwölf Meilen jenseits des Saddleback-Passes lag. Es war kein großer Wasserfall, er stürzte aber durch Regenwaldgebiet hinab, das wir bei unserem einzigen Besuch bisher nicht gründlich genug hatten erforschen können, weil es schon zu spät gewesen war. Die Klippen oberhalb des Regenwaldes sahen interessant aus, und Doc war sich sicher, daß wir dort Sukkulenten und verschiedene Arten von Zwergaloe in den Felsspalten an vorspringenden Kanten finden würden. Als Doc die Wanderung vorgeschlagen hatte, hatte ich mir Sorgen gemacht, wir mußten gut zwanzig Meilen über die Berge gehen, um dort hinzukommen, und Doc war über achtzig Jahre alt. Wie weit über achtzig, wußte niemand so genau, und obwohl er noch so biegsam wie ein Stück Lakritze und so zäh wie eine Bergziege war, war es doch ein strammer Tagesmarsch, und in den Notizen, die er bei unserer letzten Wanderung dorthin vor acht Jahren gemacht hatte, hatte er auch aufgeschrieben, daß der Weg sehr anstrengend gewesen sei. Er hatte meine Einwände mit seiner typischen Logik entkräftet. »Peekay, wenn wir das nicht jetzt machen, dann machen wir es nie. Unsere topographische Arbeit ist unfertig, schau mal diese kleine Zeichnung hier in meinen Notizen, ich vermute, daß in den Klippen Kalkstein vorkommt. Wenn das stimmt, dann ist das eine seltene Sache, praktisch unmöglich, sozusagen eine Art geologische Mißbildung.« Doc wußte, daß er meinen Abenteuersinn gekitzelt hatte, und die Aussicht darauf, daß wir etwas finden würden, was es eigentlich gar nicht geben dürfte, ließ mich meine Sorgen beiseite schieben, und ich erklärte mich mit der geplanten Exkursion einverstanden. Doc hatte seinen Klavierunterricht auf Freitag verlegen können, und wir brachen im Morgengrauen mit zusammengerollten Dekken, Feldflaschen und genügend Nahrungsmittel für zwei Tage auf. Außerdem nahmen wir eine Sturmlampe mit, eine Taschenlampe, ein Seil, einen kleinen Hammer und ein Dutzend selbst geschmie-
dete Metallhaken mit Ösen, in denen man das Seil, wenn nötig, sichern konnte. Gert hatte die Haken in der Gefängnisschmiede kurz nach Docs Entlassung für ihn angefertigt, und sie waren jetzt, wo Doc doch nicht mehr die ganz so junge Bergziege war, von unschätzbarem Wert. Als die Sonne über den Klippen aufging und ins Kaaptal hineinschien, hatten wir das Vorgebirge schon hinter uns und näherten uns den hohen Bergen. Die Aloe- und Dornenbüsche blieben zurück, und an ihre Stelle traten Geröll- und Grasbüschel. Wir stiegen durch felsige Schluchten, in denen der Wind selbst an heißen Tagen kalt blasen kann. Oft sahen wir Adler, von Luftströmungen getragen, scheinbar ziellos dahinschweben. Mittags aßen wir Käse und Sahnecracker, die wir mit einer Tasse süßem schwarzen Tee hinunterspülten. Am frühen Nachmittag überquerten wir den Saddleback-Paß und kletterten auf der anderen Seite wieder bergab. Am späten Nachmittag sahen wir die besondere Felsformation über der mit Regenwald bewachsenen Schlucht, die Doc in seinem Tagebuch erwähnt hatte. Wir schlugen unser Lager neben einem Bergbach auf. Der Bach kam vom Wasserfall hergeflossen, der wie ein Brautschleier von den Klippen herabstürzte. Ich hatte für unseren Lagerplatz eine Stelle am Rand des Regenwaldes ausgewählt, wo ein überhängender Fels uns vor dem Wind schützte. In den Bergen kann es nachts bitterkalt werden, und wir zogen vor Einbruch der Dunkelheit los, um Feuerholz zu sammeln. Hoch über uns hörten wir zuerst und sahen dann auch eine Gruppe Paviane, die die Steilwand hochkletterten und die weißen vorspringenden Felsstufen entlangrannten, die quer über die Steilwand liefen. Das Echo ihres drängenden Gebells schallte bis hinunter zu uns in die Schlucht, wo wir unser Lager aufgeschlagen hatten. Doc richtete seinen Feldstecher auf die Klippen. »Jetzt ist es schon zu dunkel, aber ich glaube, daß wir morgen dort oben ganz bestimmt etwas finden.« In den Bergen kommt die Nacht sehr schnell, und weniger als eine Stunde nach unserer Ankunft war die Sonne schon untergegangen. Obwohl es noch nicht ganz dunkel war, zündete ich schon das Feuer für das Abendessen an. Die trockenen Äste krachten, und der Rauch vertrieb die Moskitos, die immer kurz nach Sonnenunter-
gang aus dem Nichts kommen. Während sich Doc im Bach wusch, machte ich mich an die Vorbereitungen fürs Abendessen. Ich schnitt eine Zwiebel und zwei Tomaten in einen Zinntopf, öffnete eine Büchse Rindfleisch und mischte alles mit meinem Jagdmesser zusammen. Später sollte es bei heruntergebranntem Feuer langsam zum Kochen kommen. Ich hatte schon, bevor ich das Feuer angezündet hatte, zwei große Süßkartoffeln unter das Holz gesteckt, die wir später zum Nachtisch aus der Glut fischen würden. Im Regenwald wurde es zuerst dunkel, die klaren Umrisse der Riesenfarnbäume verschwammen und wurden schwarz. Hoch oben in einem Gelbholzbaum krächzten ein paar grüne Papageien zum letzten Mal und ließen sich dann für die Nacht nieder. Als nächstes wurde das Tal am Waldrand, an dem wir unser Lager aufgeschlagen hatten, dunkel, die Felsen, Büsche und Bäume wurden unscharf und verschwammen in der Finsternis. Als letztes zog der Himmel ein dunkles Laken über uns und besetzte es mit Sternen. Es war, als ob das entfernte Geräusch des Wasserfalls die Stille noch unterstrich. Doc sprach leise in der Dunkelheit. »Niemand hat eine große Symphonie oder ein Konzert über Afrika geschrieben. Warum wohl?« Er erwartete keine Antwort, und ich wartete darauf, daß er fortfahren würde. »Die Musik von Afrika ist zu wild, zu frei, zu nah an einem Flirt mit dem Tod. Afrika ist eine zu wilde Bühne für den kleinen Ton der Violine, zu majestätisch für das Klavier. Afrika ist nur für Trommeln geschaffen. Die Trommeln tragen den Rhythmus weiter, rauben ihm aber nicht seine Musik. Kesselpauken gehören in den Hintergrund, die Musik Afrikas kommt am besten durch die Singstimmen der Schwarzen zum Ausdruck. Die Stimmen sind die besten Instrumente dieses Landes, viel subtiler, viel schöner, unendlich nobler als das Kratzen, Schlagen und Blasen von Saiteninstrumenten, Blasinstrumenten und Klaviaturen.« »Und was ist mit dem Requiem für Geel Piet?« fragte ich. Doc kicherte. »Zwanzig Jahre lang habe ich versucht, zehn oder wenigstens fünf Minuten Musik, gute Musik für das große Südland zu komponieren. Und dann, nachdem ich es zwanzig Jahre lang nicht geschafft habe, finde ich die Musik bei den Arbeitstrupps der Gefangenen, im Rhythmus einer Spitzhacke und im Schweiß schwarzer Rücken und dem bösartigen Knall einer Nilpferdpeitsche
und dem fast unhörbaren Schlag des Eselspimmels. Der Gesang ist kein Schrei der Verzweiflung, sondern er drückt die Gewißheit der Schwarzen aus, daß Afrika leben und der Geist die Brutalität besiegen wird. Die Musik Afrikas kommt aus der Seele, und die Instrumente dieser Musik sind die Stimmen der Menschen. Was war ich für ein domkop, Peekay. Die ganze Zeit hat die Musik direkt unter meiner langen deutschen Nase gewartet. Das Requiem für Geel Piet ist nicht meine Musik, es ist die Musik des Volkes. Das Halsband gehört mir nur, weil ich die Perlen aufgefädelt habe.« Ich reichte Doc einen dampfenden Teller voll Rindfleisch. Dann rollte ich die beiden Süßkartoffeln mit einem kurzen Stock aus dem Feuer, um sie für später ein bißchen abkühlen zu lassen. Wir aßen schweigend. Für Doc war Essen nie etwas Selbstverständliches, und er kaute ewig, bevor er etwas hinunterschluckte. Ich legte Holz nach und ging dann zum Fluß, um die Teller abzuspülen und den Wasserkessel zu füllen. Nachdem ich Kaffee gemacht und einen Teelöffel Kondensmilch in den Zinnbecher geschüttet hatte, wie Doc den Kaffee am liebsten trank, stellte ich den dampfenden Becher neben ihn und schlitzte seine Süßkartoffel auf. Dampf stieg aus ihrem fetten, fleischigen Leib auf, und auch auf die Kartoffel schüttete ich etwas Dosenmilch. Die Moskitos, die vom Rauch des neu angeschürten Feuers vertrieben worden waren, kamen zurück. Ich rieb meine Arme und Beine mit Citronella ein und reichte Doc die Flasche. Das Öl roch ziemlich unangenehm, aber das war zehnmal besser, als halb totgebissen zu werden. Wir waren seit Viertel nach vier morgens unterwegs und völlig erschöpft. Ich war zu müde, um die Becher abzuwaschen, und kroch unter meine Decke. Nachdem ich gesehen hatte, daß Doc weit genug vom Feuer lag, rollte ich mich unter dem überhängenden Felsen zusammen, damit meine Decke vom Morgentau nicht feucht wurde. Dann schlief ich ein. Ich erwachte im Morgengrauen und zündete, in meine Decke gehüllt, das Feuer wieder an. Das Tal lag im Nebel, und der Regenwald, der kaum zwanzig Meter von unserem Lagerplatz entfernt anfing, war nicht zu sehen. Die Sonne würde nur ein paar Minuten brauchen, um den Nebel zu vertreiben, aber bis dann würde auch die Kälte nicht vergehen. Meine Hände waren eiskalt, als ich den Kessel im Bach mit Wasser füllte. Doc schnarchte, gut eingewickelt
in seine Decke, und ich ließ ihn schlafen, bis ich seinen Kaffee zubereitet und ihn mit einem Teelöffel Kondensmilch verbessert hatte. Ich machte mir auch Kaffee, und der dampfende Becher wärmte mir die Hände. Ich weckte Doc nicht auf. Ich wußte, daß der Geruch des frisch aufgebrühten Kaffees das für mich erledigen würde. Doc liebte Kaffee meiner Meinung nach noch mehr als seinen Kaktusgarten und fast so sehr wie Beethoven und J. S. Bach. Seine Nase zuckte, er grunzte, setzte sich auf und rieb sich die Augen. Durch den Nebel hörten wir das Bellen der Paviane. Die Sonne hatte sie erreicht, und sie zogen weiter. Doc griff mit beiden Händen nach dem Becher, den ich ihm reichte, schaute zu den im Nebel verschwundenen Klippen hoch und sagte: »Heute wird ein besonderer Tag, Peekay.« Im Tal hörte man das Echo der bellenden Paviane. »Ja, heute finden wir etwas, absoludel.« Er trank einen kleinen Schluck Kaffee. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen, Peekay?« fragte er. Ich briet zwei Würste und ein paar Scheiben Speck, schnitt die Würste dann auf und legte sie auf zwei Scheiben Brot. Ich bedeckte sie mit den Speckscheiben und dann mit noch je einer Brotscheibe. Eines der Sandwiches reichte ich Doc, das andere aß ich selbst und hielt es mit beiden Händen fest. Während wir die zweite Tasse Kaffee tranken, arbeitete sich die Sonne durch den Nebel hindurch, und innerhalb von wenigen Minuten lag das ganze Tal im Sonnenschein. Einige Nebelfetzen hingen noch im Wald, aber sie lösten sich bald auf. Die merkwürdig geformten Klippen über uns sahen im hellen Morgenlicht weniger unheilverkündend aus, und ich schaute sie mir genau an, um herauszufinden, wie wir hochklettern könnten. In einer nebelverhangenen Landschaft sind Geräusche immer übertrieben laut. Jetzt, wo der Nebel vergangen war, war alles morgendlich normal, Vogelgezwitscher, plätscherndes Wasser, das Surren eines Heuhüpfers und all die geschäftigen Geräusche eines beginnenden Tages in den Bergen. Ich ging zu einer kleinen Buschgruppe und hockte mich mit heruntergezogener Hose hin. Zwei plumpe Rebhühner flogen direkt neben mir auf. Ich erhob mich, die Hose immer noch an den Knöcheln, zielte mit einer unsichtbaren Flinte und schoß die beiden Vögel nacheinander ab. Dann schaute ich ihnen lachend nach, bis sie verschwanden.
Nachdem ich das Geschirr gespült hatte, machte ich Ordnung im Lager und verstaute unser Zeug unter dem überhängenden Fels. Die zusammengerollten Decken besprengte ich mit Citronellaöl. Wenn irgend etwas angekrochen käme, zum Beispiel ein Skorpion, der einen weichen warmen Platz suchte, dann würde ihn der Geruch des Öls davon abhalten. Doc hing sich das zusammengerollte Seil um den Hals und die Fackel an den Gürtel. Ich schulterte einen kleinen Rucksack, in den ich die Wasserflasche, einen Hammer, die metallenen Haken, die Paraffinlampe und Docs Feldstecher gepackt hatte. Der Aufstieg sah nicht allzu schwierig aus, schmale Felsbänder führten in die Steilwand hinein, und die ganze Wand schien aus hartem und weichem Stein zu bestehen. Diese scheinbar weichen, weißen Streifen im Felsen hatten damals Docs Interesse geweckt. Er war sich ziemlich sicher, daß sie aus Kalkstein oder einem Dolomit bestanden. Die Fackel und die Paraffinlampe würden wir bestimmt nicht brauchen. Aber Doc war ein alter Romantiker und hoffte, daß wir eine Höhle in der Felswand finden würden, eine Aussicht, die mir natürlich ungeheuer gut gefiel. Wir stiegen eine Stunde lang auf. Doc war trotz seines Alters ein guter Bergsteiger, der nichts riskierte. Ich hätte das erste in etwa dreihundert Meter Höhe laufende Felsband in der halben Zeit schaffen können, aber so kamen wir sicher voran und hatten den Rükkweg im Kopf genau gespeichert. Einen steilen Felsen hinunterzuklettern ist oft schwieriger als hinaufzukommen. Die Beschaffenheit des unteren Teils des Berges zeigte, daß Docs Theorie richtig war. Der Fels bestand aus Dolomit, der von Wind und Regen in Zehntausenden von Jahren ausgewaschen worden war, tiefe Simse hatten sich in die Steilwand eingegraben. Einen solchen Sims gingen wir entlang, wechselten auf einen anderen über und kamen so langsam immer höher. Nach einer Stunde hatten wir noch einmal dreihundert Meter überwunden und stießen auf ein weiteres Felsband. Es war dem Wind noch stärker ausgesetzt und hatte sich deshalb tiefer in den Felsen eingegraben. Wir konnten riechen, wo die Paviane sich für die Nacht niedergelassen hatten. Hundertfünfzig Meter höher kamen wir an ein noch tiefer eingeschnittenes Felsband. Wir folgten ihm, bis es ganz plötzlich aufhörte. Die Wand war hier zu steil, um höher zu klettern.
Bis jetzt hatten wir fast drei Stunden gebraucht, und die Sonne brannte heiß auf den Felsen herab. Docs Khakihemd war naßgeschwitzt, und ich schlug vor, daß wir rasten und etwas trinken sollten. Die Stelle, an der wir uns jetzt befanden, lag etwa dreihundert Meter unter dem höchsten Punkt der Felswand, aber es sah ganz so aus, als kämen wir nicht weiter. Unter uns sahen wir das Laubdach des Regenwaldes, und ein alter Gelbholzbaum überragte die anderen um zwanzig Meter. Doc meinte, der Baum könne gut tausend Jahre alt sein. Die Felswand war bogenförmig geschwungen, und zu unserer Rechten strömte der Wasserfall aus dem Felsen, er sah zwar mehr wie ein feiner Sprühregen aus, führte aber doch so viel Wasser, daß er unten zu dem Bach wurde, der an unserem Lager vorbeifloß. Doc zog sein Notizbuch aus dem Rucksack und schaute eine einfache Skizze an, die er gestern nachmittag von dem Felsen angefertigt hatte. »Ja, wir sitzen jetzt auf dem am tiefsten eingeschnittenen Felsband, über uns wird der Fels härter, und es gibt keine so tiefen Furchen mehr.« Er seufzte und war ganz offensichtlich verwirrt. Doc mochte es gar nicht, wenn sich seine Beobachtungen, die er erst nach genauem Nachdenken äußerte, als falsch erwiesen. »Peekay, wir haben Dolomit gefunden und Wasser ebenfalls. Aber keine Höhle. Und das ist sehr seltsam. Du siehst, daß der Wasserfall direkt aus dem Felsen kommt, es muß also einen unterirdischen Strom geben. Es müßten eigentlich Höhlen hier sein, absoludel.« Ich ging zurück zu der Steilwand, die unseren Aufstieg beendet hatte, und schaute um die Ecke. Ich hoffte, ein kleines Felsband zu entdecken, das uns doch noch weiterführen würde. Ungefähr einen Meter unter mir lief ein kleiner Felsgrat, kaum breiter als fünfzehn Zentimeter. Ich konnte ihn etwa zwei Meter weit einsehen. Dann wölbte sich der Fels davor, ich konnte ihn nicht mehr weiterverfolgen. Ich ließ mich vorsichtig hinunter und tastete mit den Füßen, bis sie auf dem schmalen Felsgrat zu stehen kamen. Ich preßte meinen Körper gegen den Felsen und ging schrittweise voran. Als ich einen knappen Meter weiter gekommen war, schaute ich direkt in eine Öffnung, einen guten halben Meter breit und einen Meter hoch. Ich konnte drei Meter tief hineinschauen, dann wurde es dunkel. Es war ganz offensichtlich der Eingang zu einer Höhle, nicht einfach eine Vertiefung, die ein Stück weit in den Felsen hineinreichte. Ein
Busch wuchs aus einem Felsspalt, deshalb konnte man die Höhlenöffnung von unten nicht sehen. Plötzlich kam eine Fledermaus aus dem Dunkel herausgeflogen, flatterte an mir vorbei, und ich hörte das unverkennbare Quieken weiterer Fledermäuse. Ich war sicher, daß ich eine Höhle gefunden hatte. »Ich hab sie gefunden! Wir haben die Höhle gefunden!« schrie ich. Das Echo meiner Stimme hallte durch das Tal. Es wäre leicht gewesen, bis zum Eingang der Höhle zu kommen, aber bei Höhlen kann man allerlei Überraschungen erleben, viel unangenehmere als ein paar hundert harmlose Fledermäuse. Deshalb kletterte ich zu dem Felsband zurück, wo Doc schon auf mich wartete. Er half mir hinauf und war sehr aufgeregt. »Also hab ich recht gehabt, Peekay«, meinte er triumphierend. Ich sagte ihm, daß er mir in die Höhle folgen könne, wenn wir mit dem Seil ein Geländer am Fels befestigen könnten. Wir sprachen eine Zeitlang darüber, wie wir das am besten anstellen sollten. Dann hämmerte ich einige der Haken, die Gert geschmiedet hatte, an den Rand des Felsbandes, auf dem wir standen, fädelte das Seil durch die Ösen und zog daran, um sicherzugehen, daß die Haken fest im Fels verankert waren. Dann band ich mir das Seil um die Taille, steckte drei weitere Haken, den Hammer und Docs Taschenlampe unter den Gürtel, wo ich sie bequem herausholen konnte. Doc gab das Seil aus, als ich mich rückwärts auf den schmalen Felsgrat hinunterließ. Falls ich abgestürzt wäre, hätte Doc mich kaum wieder hochziehen können, aber ich hatte ein sicheres Gefühl und war schwindelfrei. In weniger als einer halben Minute war ich am Höhleneingang. Ich kroch den niedrigen Gang etwa sieben Meter tief in den Berg hinein und sah, daß er sich dann verbreiterte. Ich band das Seil ab und zog die lange Taschenlampe aus meinem Gürtel, es war stockdunkel geworden. Ich knipste die Taschenlampe an. Der Gang führte in eine kleine Höhle, die ungefähr fünf Meter lang und ebenso breit war, und ich konnte mich endlich aufrichten. In der Höhle roch es stark nach Pavianen und Fledermäusen. Als ich mit der Taschenlampe die Wände ableuchtete, sah ich Hunderte von Fledermäusen an der Decke und an den Seitenwänden hängen. Ich kroch durch den niedrigen Gang zurück, streckte meinen Kopf ins Tageslicht hinaus und schrie Doc zu, daß ich eine große Höhle
gefunden hätte. Wie beim Bellen der Paviane gestern abend und heute morgen warf auch meine Stimme ein Echo durch das ganze Tal. »Es ist nicht allzu schwer, Doc. Ich hämmere ein paar Stahlnägel in die Tunnelwände und binde das Seil daran fest. Dann kannst du dich wie an einem Geländer daran festhalten.« Ich machte mich an die Arbeit, und bald führte ein festes Geländer vom Felsband bis an die Tunnelöffnung. Doc war ein furchtloser alter Kerl, ließ sich rückwärts auf den schmalen Felsgrat herunter und hielt sich dabei an dem mit Haken im Fels verankerten Seil fest. Kurz darauf war er am Eingang des Tunnels. Ich zog ihn herein, er lag auf dem Bauch und schaute sich um. »Wunderbar, Peekay, eine Höhle. Wie groß ist sie? Ist sie richtig groß?« keuchte er. »Du mußt kriechen, es geht leicht bergauf. Folge einfach dem Strahl der Taschenlampe, der Tunnel ist nur sieben Meter lang.« Die Höhle war zu niedrig, als daß Doc sich hätte aufrichten können. Er hockte sich auf den Boden und hielt die Taschenlampe. Ich zündete die Sturmlampe an, die er in seinem Rucksack mitgebracht hatte, und stellte sie in der Mitte der Höhle auf den Boden. Doc begann, die Höhlenwände mit dem Strahl der Taschenlampe abzuleuchten. Der Boden war mit Fledermausdreck bedeckt. »Es müßte eigentlich noch viel schlimmer hier riechen.« Doc zündete ein Streichholz an. Es flammte auf und beleuchtete kurz sein Gesicht. »Ein Luftzug! Hier zieht von irgendwoher ein leichter Luftzug durch.« Doc hatte recht, die Streichholzflamme flackerte und erlosch. Er leuchtete mit der Taschenlampe in die linke Ecke der Höhle, wo ein strebepfeilerartig geformter Felsen hervorragte. Als Doc den Lichtstrahl auf den Fels darüber richtete, wurde er von keiner Felswand zurückgeworfen, sondern verschwand. Wir sahen, daß dort oben eine Öffnung war, aus der wir tropfendes Wasser hörten. Wir gingen hin und entdeckten, daß die Öffnung einen guten Meter über dem Höhlenboden begann und bis zur Decke reichte. Doc leuchtete mir, damit ich hineinklettern konnte, reichte mir dann die Laterne und die Taschenlampe, bevor er selbst nachkam. Ich richtete den kräftigen Strahl der Taschenlampe in die dunkle Finsternis. »Großer Gott!« Die Taschenlampe beleuchtete eine riesige Fels-
kammer, von deren Boden und Decke Stalagmiten und Stalaktiten wuchsen. Die Höhlendecke mußte mindestens fünfzehn Meter hoch sein, und die schneeweißen Kalkstrukturen, von denen einige schon den Boden erreicht hatten, sahen wie die Illustration eines Kindermärchens aus. Kleine Seen mit unendlich ruhigem Wasser spiegelten die grotesken Formen wieder, und der Eindruck einer Märchenwelt entstand, die in Kristall gehauen schien. Ich gab Doc die Taschenlampe zurück und nahm die Laterne, und wir gingen weiter. Immer wieder blieb Doc stehen und leuchtete mit der Taschenlampe eine der wunderschönen Kristallsäulen ab. »Absoludel, absoludel wunderbar!« sagte er immer wieder. Die Höhle war das tollste Naturphänomen, das ich jemals gesehen hatte, und ich ging verzaubert hinter Doc her, als wir sie erforschten. Wir entdeckten verschiedene Risse in den Wänden, die aber nicht breit genug waren, um sie durchklettern zu können. Wir fanden heraus, wo das Wasser herkam. Es tropfte hoch oben aus der Decke. Doc erklärte mir, daß die Tropfen zu schnell aufeinander folgten, als daß sich an dieser Stelle ein Stalaktit hätte bilden können. Wenn Wasser langsam durch Felsen sickert, reichert sich Kalziumkarbonat darin an, und wenn es schließlich durch die Decke einer Höhle dringt und mit Luft in Berührung kommt, trennt sich das Kalziumkarbonat vom Wasser und bildet einen unendlich winzigen Teil eines Stalaktiten. Bei jedem Tropfen wiederholt sich dasselbe. Doc deutete auf einen massiven Stalaktiten zu unserer Rechten. »Der ist vielleicht 300000 Jahre alt, vielleicht sogar älter.« Seine Stimme klang ehrfurchtsvoll. Von der gegenüberliegenden Wand ragte ein etwa zwanzig Meter breites und fünf Meter hohes Felsband in die Höhle hinein. Darüber hingen riesige Stalaktiten und glitzernde Kristalle, und direkt unter dem Felsband wuchsen Stalagmiten in die Höhe, die wie die Beine eines riesigen Tisches aussahen. Auf der einen Seite der Platte war ein von Kristallen blitzender Stalagmit gewachsen, dadurch sah es so aus, als ob Treppenstufen zu der Plattform hochführten. Das Ganze wirkte so, als würde eine prächtige Platte von Kristallpfeilern gestützt, und von oben fiel glitzerndes Licht darauf. »Sieh mal, Doc, das sieht aus wie Merlins Altar in der Kristallhöhle!« Doc hielt den Atem an. »Ja, an so einem Ort muß Merlin gewe-
sen sein.« Er deutete auf die Platte. »Auf so einem Altar zu liegen und nach 150000 Jahren vielleicht zu einem Teil dieser Höhle zu werden! Ein Teil der Kristallhöhle Afrikas. Stell dir das einmal vor, Peekay.« Ich grinste. »Doc, kannst du noch ein bißchen warten, ich brauch dich noch.« Ich hatte nie daran gedacht, daß Doc einmal sterben würde. Oft war mir durch den Kopf gegangen, daß er alt werden würde und eines Tages die Dinge, die wir gemeinsam gemacht hatten, nicht mehr würde machen können. Aber ich hatte nie daran gedacht, daß er verschwinden würde, nicht mehr dasein, nicht mehr Teil meines Lebens sein würde. Ich kannte den Tod, er war überall. Er war brutal wie bei Granpa Chook oder Geel Piet oder wie bei Big Hetties Fliegengewicht. Auch Big Hetties Tod konnte erklärt werden, sie war monströs dick gewesen und deshalb nicht unerwartet gestorben. Für Doc traf keines der Kriterien zu, die ich mir für den Tod zurechtgelegt hatte. Doc war die Ruhe, die Vernunft und die Ordnung selbst, und die Art Tod, die ich kannte, konnte ich mir für ihn nicht vorstellen. Er war vorausgegangen und hatte über den stufenförmig gewachsenen Stalagmiten die Plattform betreten. Plötzlich kauerte er sich ohne Vorwarnung hin und streckte sich dann in voller Länge auf der Plattform aus, so daß ich ihn nicht mehr sehen konnte. »Ach, hör auf, Doc! Das ist gar nicht komisch«, sagte ich, plötzlich verängstigt. Docs Taschenlampe beleuchtete die Stalaktiten, die von der Decke herunterwuchsen und wie kristallene erstarrte Blitze aussahen. Es war der erschreckendste und großartigste Anblick, den ich jemals gesehen habe. Doc sagte mit sehr ernster Stimme: »Es ist wunderbar, Peekay, wir dürfen niemals irgend jemandem etwas von der Kristallhöhle Afrikas erzählen.« »Jetzt hör aber auf, Doc, ich krieg ja eine Gänsehaut«, antwortete ich und hatte nicht genau mitbekommen, was er gesagt hatte. Doc erhob sich und leuchtete mir mit der Taschenlampe direkt in die Augen, so daß ich völlig geblendet war. »Du mußt es mir versprechen, Peekay. Es ist sehr wichtig. Du mußt es mir versprechen.« Er hörte auf, mich mit der Taschenlampe anzuleuchten. Ich war immer noch geblendet, und wie er so zwischen den kristallenen Säulen auf der Plattform fünf Meter über mir stand, sah er aus wie Merlin.
»Doc, bitte komm herunter. Ich versprechs dir, aber jetzt komm bitte herunter.« »Ja, ich komme schon. Denk dran, daß du es mir versprochen hast, Peekay.« Er kam vorsichtig von der Plattform herab, und ich rannte zu ihm hin, um ihm die Hand zu reichen. Er atmete schwer, und als ich ihm herunterhalf, merkte ich, wie erregt der alte Mann war. Als wir wieder in der Fledermaushöhle waren, leuchtete Doc noch einmal zurück in die andere Höhle. »Peekay, wir haben einen Platz in Afrika gefunden, den kein Mensch jemals gesehen hat, eine echte Zauberhöhle, die Kristallhöhle Afrikas.« »Komm, Doc, wir müssen jetzt los, wieviel Uhr ist es?« Er zog seine Uhr aus der Tasche und leuchtete mit der Taschenlampe auf das Zifferblatt. »Halb Uhr zehn«, sagte er in seiner komischen Art, die Uhrzeit zu nennen. »Wir müssen los. Wenn wir mittags zurück am Lager sind, dann ist es dunkel, bis wir nach Hause kommen.« Zum Glück ging der Rückweg fast nur bergab, und wir wußten, daß wir dadurch ein paar Stunden gewinnen würden. Ich rechnete aus, daß wir etwa um acht Uhr abends zu Hause sein müßten. Es würde kein Vergnügen sein, in der Dunkelheit durch die Vorberge zu laufen, und Doc würde sehr erschöpft sein. Durch den Wunsch, endlich den Rückweg anzutreten, war alle Aufregung von mir abgefallen. Doc packte mich am Arm, er zitterte noch immer. »Vergiß nie, Peekay, es ist unsere Höhle, die Kristallhöhle gehört nur dir und mir.« »Okay, Doc, ich versprechs dir. Ich habs dir ja schon versprochen. Ich erzähle niemandem davon. Jetzt müssen wir aber los.« Es war ganz untypisch für Doc, dermaßen auf etwas herumzureiten, er wußte sowieso, daß er sich auf mich verlassen konnte. Die Höhle hatte ihn sehr beeindruckt, und ich wußte schon jetzt, daß er noch einmal mit mir hierher zurückkommen wollte, ich hatte aber meine Zweifel, ob er eine so schwierige Kletterpartie noch häufiger würde machen können. Ich hatte das Seil abgeschnitten, das wir in die Höhle mitgenommen hatten, hatte aber das Geländer nicht abgebaut, da Doc es beim Rückweg sicher gut brauchen konnte. Als wir wieder auf dem Felsband standen, begann ich, die beiden Haken aus dem Fels zu klopfen, da wir sowieso schon zwei verloren hatten, die für die Verankerung des Seiles im Tunnel zurückbleiben mußten.
»Nein, laß die Haken drin, Peekay«, sagte Doc plötzlich, »wir haben keine Zeit mehr.« Das paßte nicht zu Doc, der sonst sehr sorgfältig mit seiner Ausrüstung umging. Wir achteten immer darauf, daß wir nichts in einem Lager oder an einem Ort, an dem wir Pflanzen gesammelt hatten, zurückließen. Heute verhielt er sich zum ersten Mal anders als sonst, und mir wurde klar, wie bewegt er immer noch von der Kristallhöhle war. Der alte Kerl hatte wirklich vor, hierher zurückzukommen. Wir erreichten die Vorberge über der Stadt, als ein riesiger Mond über den Klippen aufstieg und das Tal in silbernes Licht tauchte. Es war Vollmond, und das war immer eine schwierige Zeit für mich. Granpa Chook war bei Vollmond gestorben, und meine Erinnerung an den lustigen alten Hahn war langsam verblaßt. Aber bei Vollmond kamen meine Erinnerungen an ihn durch die silberne Nacht wieder angaloppiert und machten mich traurig. Auch Geel Piet war bei Vollmond gestorben. Ich hatte recht, es würde wohl der letzte große Ausflug mit Doc gewesen sein, der fast zusammenbrach, als wir schließlich an seinem Häuschen ankamen. Ich legte ihn auf sein Bett und zog ihm die Stiefel aus. Unter seinen beiden großen Zehen hatte er eine riesige Blase. Ich fädelte einen Baumwollfaden in eine Nadel ein und stach damit hinein, zog den Faden durch die Blase und verknotete ihn. So würde die Flüssigkeit über Nacht ablaufen. Ich hatte diese Methode von Doc gelernt, der sie mir Vorjahren gezeigt hatte, und ich wußte, daß die Blasen morgen früh flach sein und nicht mehr schmerzen würden. Ich wusch ihm das Gesicht, schmierte etwas Vaseline auf einen Riß unter seinem Auge und deckte ihn mit einer Armeedecke zu. Er war ein zäher alter Kerl, und ich war ganz sicher, daß er am nächsten Morgen wieder in Ordnung sein würde. »Unser. Die Kristallhöhle. Afrika. Du, ich, Peekay«, murmelte er und schlief dann ein. Ich wartete, bis sein Atem tief und gleichmäßig ging, und machte mich auf den Heimweg. Der Mond schien so hell, daß man die roten Blüten der Jakarandabäume deutlich erkennen konnte. Ich wurde traurig bei dem Gedanken, nie wieder mit Doc im Hochgebirge sein zu können. Jedesmal, wenn ich in den Ferien herkam, schien Doc etwas schwächer geworden zu sein. Wir hatten die Kristallhöhle Afrikas gefunden, aber würde ich sie nur
einmal zu sehen bekommen? Vielleicht würde ich dorthin zurückkehren, vielleicht auch nicht. Wenn man Erlebnisse teilt, so wie Doc und ich das getan hatten, schien es irgendwie falsch zu sein, das Geheimnis zu halbieren, indem man allein an einen der Plätze zurückkehrte. Ich dachte daran, daß das Seil langsam verrotten würde, und daß vielleicht in hundert Jahren jemand die Löcher finden würde, in denen die schon lang verrosteten und herausgefallenen Nägel gesessen hatten. Rostflecken im Dolomit würden entdeckt werden. Winzige Metallteile würden gefunden und analysiert werden, und dann gäbe es allerlei Theorien, die nichts mit einem ein Meter neunzig großen deutschen Musikprofessor und dem zukünftigen Boxweltmeister im Weltergewicht zu tun hätten.
20 Das zweite Trimester der dritten Klasse war ganz anders als die bisherige Schulzeit. Singe 'n Burns Unterricht, den er uns dreimal pro Woche gab, hatte sicher wenig mit dem üblichen Schulbetrieb zu tun. Wir unterhielten uns eine Stunde lang, anschließend hatten wir mindestens drei Stunden lang zu lesen und uns auf die nächsten Stunden vorzubereiten. Der Direktor war ein hochgebildeter Mann und begriff schnell, wo die speziellen Begabungen eines Jungen lagen. Er förderte sie sorgfältig und stellte gleichzeitig eine ausgewogene geistige Nahrung zusammen, indem er auch Stoffe durchnahm, die zwar weniger interessant, seiner Meinung nach aber wesentlich für eine umfassende Bildung waren. Die St. Johns Leute trafen sich nur selten, und nachdem sie gewählt waren, wurden sie in der Prince of Wales-Schule nie mehr namentlich herausgestellt. Nie stellte man einen von uns als etwas Besonderes oder als besonders wichtig heraus, obwohl im normalen Schulalltag zwischen uns sechs starke Rivalitätskämpfe ausgetragen wurden. Jeder von uns versuchte, im Unterricht den anderen auszustechen und als der Klügste dazustehen. Das alles ließ mir zusammen mit dem Boxen und dem Rugbyspielen nur sehr wenig Zeit für mich selbst. Hymie hatte mir seinen großen Plan verraten. Wir waren inzwischen so eng miteinander verbunden - sowohl beim Boxen als auch
rein freundschaftlich -, daß er, ohne es zu merken, mein Manager geworden war. In gut zwei Jahren hatte sich Hymie alles Wissenswerte übers Boxen angeeignet, und er wußte genausogut wie ich, daß ich von den beiden Trainern, Darby White und Sarge, nichts mehr lernen konnte und daß es Zeit war, sich nach jemand Neuem umzusehen. »Wer ist der beste professionelle Boxtrainer in Südafrika?« fragte er mich eines Nachmittags nach der Schule. »Das weißt du doch selbst. Solly Goldman.« »Nun, ich hab ihn während der Ferien besucht. Wenn er in sechs Wochen von einer Reise nach England zurückkommt, schaut er dir beim Training zu. Wenn du ihm gefällst, nimmt er dich.« »Jesus, Hymie, das ist ja wunderbar! Wie hast du das geschafft? Solly Goldman trainiert eigentlich nur professionelle Boxer.« Diesmal hatte Hymie keine schnelle Antwort parat. Er besah sich seine Hände. »Wir werden ihn bezahlen. Wir haben genug Geld in der Bank, um ihn ein Jahr lang bezahlen zu können, und dann lassen wir uns was anderes einfallen.« Hymie sah mich an. »Ich weiß, was du jetzt sagen willst. Aber was mich betrifft, ist mein Geld auch dein Geld, und du würdest es genauso machen.« »Das geht nicht, Hymie. Vielen Dank, aber es geht einfach nicht. Und zwar aus zwei Gründen. Den ersten kennst du, keine Almosen, unter keinen Umständen, auch nicht unter Freunden. Der zweite Grund ist eher praktischer Natur, das Geld ist unser Geschäftskapital und die wichtigste Regel im Geschäftsleben lautet, niemals das Kapital angreifen, das weißt du doch am allerbesten.« »Paß auf, wir behalten doch die Bank, und ich kann Geld von meinem alten Herrn leihen, um Obligationen auszugeben. Du brauchst kein Almosen anzunehmen. Mit den Profiten kannst du deinen Anteil am Betriebskapital zurückkaufen, und du bekommst ein kleines Gehalt fürs Taschengeld. Du wirst schon sehen, es klappt.« »Hymie, mir wäre nichts in der Welt lieber als Solly Goldmans Expertise, aber ich kann es einfach nicht machen. Es hat etwas mit einem Erlebnis zu tun, das ich als Fünfjähriger hatte. Damals hab ich mir geschworen, daß ich nie wieder meine Unabhängigkeit aufgeben werde, um nie wieder in eine Situation zu kommen, in der ich nicht Herr der Lage bin.«
Hymie sah gekränkt aus, und das konnte ich verstehen, in gewissem Sinne wies ich seine Freundschaft und sein Vertrauen zurück. Aber die Wunden, die der Richter und die SA-Männer in meiner Seele hinterlassen hatten, erinnerten mich immer daran, daß ich im Grunde allein war. »Okay, Peekay, wie du willst, Mann.« Dann grinste Hymie. »Wenn ich mir ein gutes Geschäft überlege und dein Anteil ist groß genug, um Goldman zu bezahlen, machst du dann mit?« Ich grinste und war erleichtert, daß er meine Absage akzeptiert hatte. »Das ist was anderes, das ist ein echtes Geschäft! Aber nur, wenn ich auch richtig dabei bin und die ganze Sache koscher ist.« »Schlag ein, Partner«, sagte Hymie grinsend und streckte mir seine Hand entgegen. »Diesmal wird es ein intellektuelles Meisterstück!« Atherton, Cunning-Spider und ich hatten seit der ersten Klasse zusammen Rugby gespielt. Ich war von meiner Anlage her ein Dreiviertelspieler, Atherton auch, er trat aber in die Fußstapfen seines berühmten Vetters und wurde ein glänzender Halbspieler. CunningSpider war ein ausgezeichneter Stürmer. Hugh Lyell und Jean Minnaar, die beide St. Johns Leute waren, waren auch in unserem Team. Obwohl ich immer noch unter vierzehn war, spielte ich bei den Unter-Fünfzehnjährigen mit, um in meiner Gruppe bleiben zu können. Pissy Johnson, der immer größer wurde, war ein guter Stürmer, und natürlich interessierte sich Hymie nur für das Rugbyspiel, weil die meisten der Holzschlägertruppe im Team waren. Aus dem Team der Unter-Fünfzehnjährigen geht in jeder Schule die erste richtige Rugbymannschaft hervor, deshalb werden die Spieler dieses Teams von den Trainern immer besonders sorgfältig beobachtet, und unser Team galt als sehr vielversprechend. Hymie analysierte wie üblich die Teams, gegen die wir antraten, und deshalb wußten wir schon vor Spielbeginn ziemlich gut über ihre Strategien und Möglichkeiten Bescheid. Genau wie beim Boxen ließ Hymie uns auch beim Rugbyspiel wie Gewinner denken und handeln. »Gewinner sorgen selbst für ihr Glück, und deshalb sind sie glücklich«, sagte er immer. Als wir gegen die Burenschule Helpmekaar antraten, in der ich meinen ersten Boxkampf gegen Jannie Geldenhuis gewonnen hatte,
hatten die viel größeren Helpmekaar-Stürmer Kleinholz aus den Teams der Unter-Dreizehn- und Unter-Vierzehnjährigen gemacht. Geldenhuis, der genau wie ich Dreiviertelspieler war, hatte bei jeder dieser vier Gelegenheiten seine Rache sehr genossen. Im letzten Spiel der Unter-Vierzehnjährigen hatten sie uns nur knapp geschlagen. Als wir das Rugbyfeld verließen, hatte er mir gönnerisch auf den Rücken geklopft. »Der Ring ist eine Sache, das Rugbyfeld eine andere. Rugby ist wichtiger als Boxen, Mann.« Wir hatten uns fünfmal im Ring gegenübergestanden, und obwohl er immer ein zäher Gegner war, hatte ich ihn jedesmal geschlagen. Wir hatten in jedem Schuljahr zwei Spiele, ich hatte fünfmal gegen ihn beim Boxen gewonnen, und Helpmekaar hatte viermal im Rugby gewonnen. Hymie war sehr darauf aus, die Rugbystatistik zu ändern, als wir in der Mannschaft der Unter-Fünfzehnjährigen gegeneinander antraten. Obwohl die Spieler des Helpmekaar-Teams immer noch größer waren als wir, hatte sich das Kräfteverhältnis schon etwas zu unseren Gunsten verschoben. Hymie war überzeugt, daß wir sie schlagen könnten. »Sieh dir die Statistik an, Peekay, im Team der UnterDreizehnjährigen haben sie uns zwanzig zu null geschlagen, dann fünfzehn zu null. Letztes Jahr war's neun zu null und zehn zu drei, und wir hatten immerhin zwei Freistöße und einen Lattenschuß. Statistisch gesehen, müßten wir dieses Jahr gewinnen können.« Ich hatte so meine Zweifel, Helpmekaar hatte mit vier Gewinnen in den vergangenen zwei Jahren allen Grund, zuversichtlich zu sein. »Hymie, es sind Buren, die würden lieber sterben, als gegen eine englische Schule zu verlieren, das ist keine Frage der Statistik.« »Ja, ich weiß, wir müssen uns eben drum kümmern.« Am Mittwoch nachmittag, zwei Wochen vor dem Spiel, als wir in der Bibliothek arbeiten sollten, zog mich Hymie zur Seite. »Kommst du mit in die Helpmekaar-Schule, um Jannie Geldenhuis zu treffen. Stell keine Fragen, sag einfach ja... Es ist wichtig.« Als wir im Oberdeck des Busses saßen, erklärte er mir seinen Plan. »An der Helpmekaar-Schule sind fast zwölfhundert Jungen und an unserer Schule noch mal sechshundert. Wenn wir es schaffen, daß die meisten darauf wetten, daß Helpmekaar uns besiegt, dann wären wir fein raus, dann hätten wir das nötige Geld für deinen Solly Goldman.«
»Mann, Hymie, sind wir wieder im Wettgeschäft? Du bist ja verrückt, das ist was anderes als bei den ersten Boxkämpfen, als wir kurz vor dem Kampf auf dem Klo ein paar Wetten abgeschlossen haben. Da war ich die große Überraschung, die aus den anderen Schulen wußten nicht, daß wir einen Boxer hatten, der sein Handwerk verstand. Jetzt ist es genau andersherum, sie wissen, wie gut wir sind, auch wenn wir sie noch nie geschlagen haben! Die ganze Sache widerspricht unserer Geschäftsphilosophie!« »Weißt du, was dein Problem ist, Peekay? Du machst dir zu viele Sorgen.« »Mit dir als Freund ist das auch nicht weiter überraschend. Ich hoffe, du hast wenigstens einen Plan!« Hymie öffnete beide Hände und spreizte die Finger. »Kann ein Vogel fliegen? Natürlich hab ich einen Plan, aber es kann sein, daß ich auf dem Weg zum Ziel ein bißchen Steptanzen muß, deshalb versteh bitte, wenn ich dir nicht alles haarklein erklären kann. Aber ich verspreche dir, unsere Geschäftsphilosophie ist intakt.« »Hymie, hör zu! Ein Dutzend Wetter in einem Scheißhaus aufzugabeln ist eine Sache. Eine ganze verdammte Burenschule zum Wetten zu bringen ist was verdammt anderes. Ich kenn diese Typen besser als du, die spielen nicht, die Buren sind religiös.« »Mein lieber Peekay, Gier transzendiert die Religion. Haben nicht die römischen Soldaten in Golgatha um die Kleider von Christus gespielt? Außerdem, wenn die Burschen von Helpmekaar erst mal erfahren, wie groß ihre Gewinnchancen sind, dann können sie mit ihren kleinen Burenhändchen gar nicht schnell genug zum Küchenmesser greifen, um ihre Sparbüchsen aufzukriegen.« »Hymie, ich hoffe, daß die ganze Sache koscher ist. Wenn irgendwas dabei nicht stimmt und sie es rauskriegen, dann können wir uns besser gleich begraben lassen!« Hymie hatte uns allen das jüdische Wort »koscher« beigebracht, und wir bezeichneten damit alles, was legitim zu sein schien. Hymie lächelte. »Ich hab mein Hirn zermartert, ich gebe zu, daß ich mich schäme, aber selbst mit meinem ziemlich guten Intellekt ist mir kein anderer Weg eingefallen. Wenn wir verlieren, müssen wir sie auszahlen, was natürlich unmöglich ist. Deshalb müssen wir sie an diesem Tag ganz einfach schlagen. Glaub mir, die Sache ist so koscher wie die Hühnersuppe meiner Großmutter.« Er schaute
mir in die Augen und lächelte mich entwaffnend an. »Peekay, ich weiß, daß du bei diesen Buren einen ziemlich guten Ruf hast, den werd ich dir bestimmt nicht zerstören. Du bist der einzige christliche rooinek-Gentleman, den sie respektieren«, sagte er und machte eine Pause. »Du mußt es dir einfach in den Kopf hämmern, daß wir die Bastarde schlagen können!« »Ich hoffe, du hast nicht vor, sie tatsächlich auszuzahlen, wenn es nicht klappt?« »Nein, natürlich nicht, ich bin doch nicht blöd. Das Schönste an so einem Plan ist die Denkarbeit. Jeder kann lernen, anständig zu betrügen.« Wir kamen oben am Hügel an und standen am Eingangstor der Helpmekaar-Schule, als der Unterricht gerade aus war. Eine Flut von braunen, gelb abgepaspelten Blazern umströmte unsere beiden grünen Blazer. Von links und rechts wurden Bemerkungen laut, und es wurde entschieden ungemütlich. »Was jetzt?« flüsterte ich Hymie zu. »Wir warten einfach ab, du wirst schon sehen«, antwortete er. In diesem Augenblick schnitt eine Stimme durch das Meer von braunen Blazern. »Peekay, wie gehts?« Es war Jannie Geldenhuis. »Tut mir leid, daß ich spät dran bin, Mann, ich mußte noch mit einem unserer Lehrer sprechen. Kommt mit.« Er streckte auf Burenart seine Hand aus, und wir schüttelten sie und folgten ihm dann durch das Eingangstor. »Magtig, ich dachte, wir würden gelyncht«, sagte ich auf afrikaans zu Jannie. »Unmöglich, Mann, du bist doch hier bekannt, du bist 'ne Art Held.« Wir waren an den Schultoiletten angekommen, wo ein paar Burschen in unserem Alter in aller Ruhe rauchten. Jannie bat sie höflich zu gehen, sie stießen die Schuhspitzen in den Boden und entschlossen sich dann zu gehorchen. Sie machten ihre Zigaretten aus, indem sie die Glut abrissen. Den Rest der Kippe ließen sie in der Blazerjacke verschwinden, um sie irgendwann später weiterzurauchen. Hymie sagte, er würde einen Kurs von drei zu eins für den Fall, daß die Prince of Wales-Schule gewinnen würde, akzeptieren. Geldenhuis keuchte. »Bist du verrückt geworden, Mann! Wir haben euch viermal geschlagen und ihr uns kein einziges Mal!«
»Das ist der Kurs«, wiederholte Hymie ruhig. »Das ist verdammt gut für die Wetter«, sagte Geldenhuis, »aber was ist mit uns? Wir... Du gehst leer aus! Fünfzehn Prozent von nichts ist nichts, und dann krieg ich von zwölfhundert wütenden Helpmekaar-Wettern einen Tritt in den Arsch.« Geldenhuis sah nicht nur gut aus, das merkte ich jetzt. Hymie war verrückt geworden! Es klang so, als erteile er Helpmekaar gnädig die Erlaubnis zu gewinnen. Drei zu eins war der reinste Selbstmord. »Okay, Geldenhuis... Peekay und ich geben es dir schriftlich, daß wir unsere Schulden bezahlen, falls die Prince of Wales-Schule verliert.« Er griff in die Innentasche seines Blazers und reichte mir ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Es war eine Garantie der Bank, daß sie bereit wäre zu zahlen, falls Helpmekaar gewänne. Unter dem kurzen Text war Platz für zwei Unterschriften. Hymie hatte schon unterschrieben. »Unterschreib auch und gib es ihm«, sagte Hymie beiläufig. Ich überschlug die Sache kurz im Kopf. Angenommen, zwei Drittel der Wetter setzten zwei Schilling gegen uns ein, dann würden wir etwa dreihundertsiebzig Pfund verlieren. Wenn wir unsere Bank und unsere Rechte an Miss Bornsteins »Bekannte Fernlehrkurse« verkauften und all unser Erspartes hergaben, dann würde es gerade ausreichen. Ich atmete erleichtert auf. Wenn unser ganzes Vermögen nicht ausgereicht hätte, hätte ich Hymie vor Geldenhuis eine Absage erteilen müssen, und das hätte uns beiden sehr viel Ärger gebracht. Ich lieh mir Hymies Parker aus und unterschrieb das Papier an der Toilettenwand. Aber ich war ganz und gar nicht glücklich. Hymie So-lomon Levy würde was zu hören kriegen, wenn wir erst wieder allein wären. Geldenhuis nahm den Garantieschein und zog ein kleines Lederportemonnaie aus seiner Tasche. Als er es öffnete, um den Garantieschein hineinzuschieben, sah ich, daß kein Geld drin war. »Okay, Geldenhuis, zwanzig Prozent der Gewinne oder fünfzig Pfund jetzt, du hast die Wahl«, sagte Hymie. Genau wie ich, bevor Hymie in mein Leben getreten war, hatte auch Jannie Geldenhuis vielleicht noch nie eine Zehnpfundnote gesehen und erst recht keine Fünfzigpfundnote. Ein weißer
Arbeiter verdiente im Durchschnitt pro Woche acht Pfund, Helpmekaar war keine Privatschule, und Geldenhuis' Eltern mußten sich wahrscheinlich ziemlich krummlegen, um finanziell klarzukommen. Hymie hatte ihn richtig eingeschätzt. »Ich nehm die fünfzig Pfund jetzt«, sagte Geldenhuis. Jannie Geldenhuis muß geglaubt haben, daß wir nicht gewinnen könnten, denn Hymie bot ihm fünfzig Pfund sofort gegen möglicherweise fünfundsiebzig Pfund später. Hymie zog sein Portemonnaie heraus und öffnete es. »Eine Sekunde!« sagte Geldenhuis plötzlich. Er zog sein Portemonnaie wieder aus der Tasche, kramte den Garantieschein hervor und gab ihn Hymie. »Ich hab eine Bedingung, ohne die geht gar nichts, Mann.« Wir sahen Geldenhuis überrascht an. »Und die wäre, Jannie?« fragte ich. »Also, erst mal bin ich nur einverstanden mit dem Wettgeschäft, weil du auch mit drin bist, Peekay.« Er zeigte auf Hymie. »Ich mach eigentlich keine Geschäfte mit Juden!« »He, Moment mal!« sagte ich und wurde ärgerlich, »Hymie und ich arbeiten zusammen, ohne Hymie läuft gar nichts!« Ich wandte mich an Hymie. »Los, wir hauen ab.« Hymie hob versöhnlich die Hand. »Wart einen Augenblick. Sei nicht so stur. Wir sind Partner, aber wenn Jannie mit dir verhandeln will, dann ist das in Ordnung.« Er hatte sich so gedreht, daß Geldenhuis ihn nicht sehen konnte, und nickte mir unmerklich zu. Dann wandte er sich wieder um und zog fünf Zehnpfundnoten aus seinem Portemonnaie. »Hier, Peekay, bezahl den Mann.« Bevor ich das Geld nehmen konnte, sagte Geldenhuis: »Das ist nicht die Bedingung.« Er fing an zu lächeln. Ich war immer noch ärgerlich. »Also, wie lautet die Bedingung, Geldenhuis?« »Du mußt gegen mich kämpfen!« Er sah, wie überrascht ich war. »Was, hier? Jetzt?« »Ich bin gerade Federgewichtler geworden, und du bist noch lange Bantamgewichtler, das ist die letzte Chance, daß ich gegen dich gewinnen kann.« »Und wenn er nicht will?« fragte Hymie. Geldenhuis sah mich direkt an und sagte: »Dann wird eben
nichts aus dem Geschäft! Du kannst dir die fünfzig Pfund in deinen Judenarsch stecken! Was meinst du, Peekay? Drei Runden hier in der Turnhalle?« »Mann, und ich dachte, ich mag dich, Geldenhuis. Aber du willst es so! Ich hab keine Boxsachen bei mir.« »Hab ich schon für gesorgt, ich hab Sachen für dich.« Geldenhuis machte eine Pause und zuckte dann mit den Achseln. »Denk dir nichts dabei. Du bist ein rooinek, ich bin ein Bure, ich bin nicht glücklich, bis ich dich geschlagen hab«, sagte er. »Kann sein, daß du ziemlich lange unglücklich bist, Mann! Wo soll ich mich umziehen?« »Wer ist Ringrichter?« fragte Hymie. Jannie Geldenhuis zeigte auf die Witwatersrand-Universität, die nur ein paar hundert Meter von der Schule entfernt lag. »Wir haben schon einen Typen aus der Uni verständigt, für den Fall, daß du zusagen würdest.« Geldenhuis steckte den Garantieschein wieder in sein Portemonnaie, und ich drehte mich um, um die Toilette zu verlassen, aber Hymie blieb stehen. »Moment noch, Geldenhuis!« Wir wandten uns um und sahen, daß Hymie die fünf Zehnpfundnoten hochhielt. Er lächelte kaum merklich. »Ich wette fünfzig Pfund, daß Peekay dich nach Strich und Faden fertigmacht.« Geldenhuis stand so steif da, als ob er stramm stände, er war gelähmt vor Wut. Hymie hatte ihn ausgetrickst und sich gleichzeitig an ihm gerächt. »Die Wette gilt, Jude!« bellte er. Geldenhuis nahm uns mit zu den Duschen und zeigte auf einen braunen Papierbeutel auf einer Bank. »Da ist alles drin, wir treffen uns in der Turnhalle.« Er ging weg, offenbar wollte er sich woanders umziehen. »Mann, das wird den Konten gut bekommen«, sagte Hymie. Die Boxsachen paßten mir einigermaßen, und die Boxstiefel waren bequem eingetragen. Wir verließen die Dusche und gingen durch einen langen Korridor zur Turnhalle. Ich trat vor Hymie ein. Plötzlich wurde laut geklatscht und gepfiffen, die Turnhalle war gepackt voll.
»Verdammte Scheiße!« rief ich und drehte mich zu Hymie um. Hymie sah zu den Schülern. »Bleib ganz ruhig, tu so, als ob du überhaupt nicht überrascht bist, wir gönnen ihm keinen psychologischen Vorteil.« Hymie war wie üblich ein kühler Denker. Wir kletterten in den Ring, und Hymie zog mir die Boxhandschuhe an. Geldenhuis stand schon in seiner Ecke und boxte gegen einen unsichtbaren Gegner. Ich setzte mich wie immer hin und wartete ab. Der Ringrichter, ein Typ Mitte Zwanzig, rief uns in die Mitte des Ringes. »Okay, Boxer, shake hands! Brake, wenn ich brake sage. Wenn einer zu Boden geht, zähl ich bis acht, ich fang erst an, wenn der andere in der neutralen Ecke ist.« Keiner von uns hörte ihm zu. »Diesmal mach ich dich fertig, rooinek«, sagte Jannie Geldenhuis leise. »Schöne Grüße vom Judenbengel, du Burenbastard!« zischte ich zurück. »Zeitnehmer bereit? Sekundanten aus dem Ring!« Die Glocke ertönte, und wir tänzelten aufeinander zu. Ich merkte, daß Geldenhuis es ernst meinte, er mußte sich für fünf Niederlagen rächen, und seine Augen waren eiskalt. Er war ein aggressiver Fighter, und ich wollte ihm keine Gelegenheit geben, schon am Anfang des Kampfes Treffer zu landen. Deshalb tänzelte ich in der ersten Hälfte der ersten Runde rückwärts und paßte auf, daß ich nicht zu nah an die Seile kam. Später erzählte mir Hymie, daß die Schüler von Helpmekaar sich die Seele aus dem Leib geschrien hätten. Ich war so konzentriert, daß ich nichts hörte und wie in einem Vakuum kämpfte. Geldenhuis ging wie ein Wilder auf mich zu, aber die meisten Schläge landeten auf meinen Armen und Handschuhen. Aber er punktete doch mit zwei Schlägen. Mit einem wunderbaren Uppercut, als er mich kurz in die Seile drücken konnte, und mit einer rechten Geraden unter dem Herz. Beide Schläge taten höllisch weh. Es war reines Glück gewesen, daß ich nichts zu Mittag gegessen hatte. Singe 'n Burn hatte mir Einzelunterricht gegeben, und es hatte eine halbe Stunde länger gedauert als sonst. Deshalb hatte ich das Essen versäumt. Jannie machte immer die gleichen Fehler. Ich duckte mich unter seine linke Gerade und schlug ihm mit aller Kraft unters Herz. Ich sah, wie seine Augen hervortraten. Er stolperte rückwärts in die Seile, wo ich ihm eine Links-Rechts-Kombination in den Magen
schlug und darauf wartete, daß er seine Deckung öffnete, damit ich ihm einen Uppercut aufs Kinn setzen konnte. Nachdem ich ihm Geel Piets Achterkombination verpaßt hatte, packte er die Seile, und im diesem Augenblick läutete die Glocke. Die erste Runde gehörte mir. Zu meiner Überraschung griff er mich auch in der zweiten Runde immer wieder aggressiv an. Ich hatte ihn noch nie besser kämpfen sehen. Seine Schläge schossen wie Blitze heran, und leider traf er mich ziemlich oft. Von der Mitte der Runde an boxte ich plötzlich so, als ob ich Linkshänder wäre. Das verwirrte ihn so, daß ich den Rest der Runde einigermaßen ungestraft davonkam. Trotzdem hatte er diese Runde gewonnen, da war ich mir ganz sicher. Ich ärgerte mich grün, daß ich die zweite Runde verloren hatte, mein Gegner hatte jetzt einen psychologischen Vorteil und würde mit hoch erhobenem Kopf in die dritte Runde gehen. Jannie wußte, daß er in der letzten Runde gut aussehen mußte, und ich wußte, daß ich super aussehen mußte. Als Fighter hatte er es etwas leichter als ein Boxer, ein Aggressor hat beim Publikum immer einen Stein im Brett, und wenn das Publikum erst einmal parteiisch ist, vergißt es schnell, daß derjenige gewinnt, der die meisten sauberen Schläge plaziert. Jannie tänzelte zu Beginn der letzten Runde um mich herum und boxte sehr clever. Boxerisch gesehen war er trotzdem kein Gegner für mich. Es kam aber alles darauf an, daß ich in der Mitte des Ringes blieb, weg von den Seilen. Ich hatte kein Problem, ihn mir vom Leib zu halten. Er versuchte immer wieder, mit einem linken Haken an den Kopf durchzukommen, das war offenbar der Schlag, mit dem er mich fertigmachen wollte. Ich hätte seine Angriffe mit einer rechten Geraden kontern können, aber ich war schnell genug, um jedesmal meinen Kopf im letzten Augenblick zurückzuziehen. Denn bei jedem linken Haken hob er seinen rechten Ellbogen, und das faßte ich als Einladung auf, ihm einen harten linken Uppercut unters Herz zu servieren. Dann griff ich an. Der plötzliche Taktikwechsel verwirrte Geldenhuis völlig, und überall haperte es mit seiner Deckung. Er kapierte einfach nicht, daß ein defensiver Boxer plötzlich zu einem aggressiven Fighter werden konnte, und ich konnte ihn praktisch nach Lust und Laune zusammenschlagen. Er zog mich in den
Clinch, und der Ringrichter trennte uns. Dreißig Sekunden später traf ich ihn mit dem besten Schlag, den ich in meiner bisherigen Boxerkarriere ausgeteilt hatte, einem rechten Uppercut, der ihn perfekt und mit voller Kraft direkt an der Kinnspitze traf. Es war der erste echte Knockout meines Lebens. Jannie Geldenhuis ging wie ein Sack Kartoffeln zu Boden und lag reglos da. Ich verzog mich schnell in die neutrale Ecke. Da er sich überhaupt nicht bewegte, war ich sicher, daß er ausgezählt würde, bevor er wieder hochkam. Der Ringrichter stand über ihm und zählte ihn an. Bei sieben schaffte es Geldenhuis mit Mühe, sich auf den Ellbogen zu stützen. Aber das war's dann auch. Bei zehn krachte er zurück auf den Bretterboden. Der Ringrichter kam heran und hielt meine Hand hoch. Das Publikum war total perplex. Nach dem ersten Schock, und nachdem sich Jannie aufgerappelt hatte, erhoben sie sich und applaudierten mir heftig. Hymie sprang in den Ring und hielt meine Hand wieder in die Höhe, was eigentlich unnötig war. Jannie Geldenhuis kletterte mit Hilfe seiner Sekundanten durch die Seile aus dem Ring, ohne vorher in meine Ecke gekommen zu sein. Ich grinste. »Mann, Hymie, perfekte Vorarbeit, um die Leute dazu zu kriegen, eine Rugby wette zu machen.« »Ich hätte mir nichts Besseres ausdenken können«, sagte er. Wir kletterten aus dem Ring, und die Zuschauer machten uns Platz, als wir langsam auf die Tür zugingen. »Hymie.« »Ja, was denn?« »Sei ehrlich. Hast du das alles eingefädelt?« »Bist du verrückt geworden! Denk an diesen antisemitischen Bastard!« »Aber du hast dich gerächt, schneller kann niemand fünfzig Pfund verdienen.« Wir waren in den Duschräumen angekommen, und Hymie fing zu kichern an. Bald klopften wir uns gegenseitig auf den Rücken und grölten vor Lachen. Auf dem Rückweg im Bus schaute ich Hymie an. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.« »Welche Frage?« »Hast du das heute eingefädelt?« Hymie betrachtete seine Hände. »Technisch gesehen nicht. Aber wenn man die richtigen Leute zusammenbringt, dann kann man mit einigem Recht ein bestimmtes Ergebnis erwarten.«
»Ich sollte dir die Zähne einschlagen, Hymie Solomon Levy! Und zwar jetzt gleich!« Wir boten auch an der Prince of Wales-Schule die günstigen Wettkurse an, und wie erwartet wetteten die christlichen Gentlemen viel Geld darauf, daß Helpmekaar gewinnen würde. Schulgeist war eine Sache, und Geld war eine andere. Nur die Internatsschüler, die im Wellington House wohnten, Darby und Sarge und das Rugbyteam der Unter-Fünfzehnjährigen wetteten auf die eigene Schule. Der Kurs förderte die Wettlust der Unter-Fünfzehnjährigen enorm. Das David-und-Goliath-Syndrom funktionierte, Hymies Psychologie ebenfalls, am Tag des Spieles glaubten wir wirklich, daß wir gewinnen könnten. Wir hofften, daß es am Helpmekaar genau andersherum lief. Die Buren sollten auf ihr Team setzen, und das Team sollte sich ein bißchen unbehaglich fühlen. Warum hatten wir der Prince of Wales-Schule die besseren Bedingungen eingeräumt, wo doch unser Team die letzten vier Male geschlagen worden war? Wie bei uns waren auch bei ihnen einige Boxer im Rugbyteam, die mitbekommen hatten, wieviel besser wir in der Zwischenzeit im Boxen geworden waren, immerhin hatten wir das letzte Turnier gewonnen. Und wenn wir das beim Boxen schafften ...? Hymie und ich waren bekannt dafür, keine Idioten zu sein. Wir hofften, daß Hymies Gift langsam zu wirken begann. Obwohl es nur ein Spiel der Unter-Fünfzehnjährigen war, zog es die meisten Zuschauer der ganzen Saison an. Alle, die gewettet hatten, waren natürlich da, und Hymie nahm sogar noch Wetten an, als die beiden Teams sich schon auf dem Spielfeld aufgestellt hatten. Er hatte den Führer der Schuldudelsackkapelle dazu bewegen können, vor dem Spiel auf dem Rasen »Scotland the Brave« zu spielen. Es sah lange Zeit schlecht für uns aus, aber wir gewannen schließlich doch, und zwar zwölf zu acht. Die Leute unserer Schule johlten, obwohl sie ihr Geld verloren hatten. Als alle Wetten gezählt und bezahlt waren, und wir die Handvoll Getreuer ausgezahlt hatten, die gegen Helpmekaar gewettet hatten, hatten wir vierhundertsiebenundachtzig Pfund und einen Sixpence übrig. Von den eintausendachthundert Schülern beider Schulen hatte fast jeder eine Wette abgeschlossen. Es war das größte Geschäft, das wir jemals gemacht hatten, und mit meinem Anteil konnte ich die nächsten dreieinhalb Jahre Solly Goldman bezahlen.
Hymie ließ einen Fünfer für eine Party im Umkleideraum unseres Teams springen und schickte Geldenhuis und dem HelpmekaarTeam einen Kasten Pepsi und vier Dutzend Sahnetörtchen. Er klappte ein Sahnetörtchen auf, steckte eine Zehnpfundnote hinein und legte das wieder zugeklappte Törtchen oben auf den Kuchenberg, der in den Umkleideraum des Helpmekaar-Teams geschickt wurde. »Das wird den Gorilla lehren, Geschäfte mit Juden zu machen«, sagte er lachend. Die Turnhalle von Solly Goldman in der Sauer Street sah aus wie jede andere Turnhalle auch. Sie roch nach Schweiß, nach Kalk, nach Einreibemitteln und nach Hoffnung. Wie alle Trainer der Welt achtete auch Solly nicht auf die Hautfarbe. Seine einzige Konzession an die Apartheid war ein Umkleideraum für Nicht-Europäer. Sonst zählten nur die boxerischen Fähigkeiten. Die Polizei von Johannesburg schien Sollys persönliches Rassenintegrationsprogramm nicht zu bemerken. Der Polizeikommissar Kruger war selbst Boxer, und für Boxer sind Schwarze im Ring nicht schwarz. Es gab auf der Welt zu viele bedeutende schwarze Boxer, und ein Mann, der einem mit einem Zwölfunzenhandschuh ins Gesicht schlug, war kein schmutziger Kaffer, er war ein Boxer, wenn auch nur für die Dauer des Kampfes. Als Hymie und ich zum ersten Mal dort erschienen, ließ mich Solly gegen einen jungen professionellen Bantamgewichtler antreten, der noch vor kurzem Amateur gewesen war. Nach zwei Runden unterbrach er den Trainingskampf. »Wer hat dir boxen beigebracht, Peekay?« Ich erzählte ihm von Geel Piet, allerdings ohne genauere Einzelheiten. »Wenn du ihn das nächste Mal siehst, richte ihm meine Hochachtung aus.« »Er ist tot, Solly.« Solly legte seinen Kopf schief. »Er ist nicht umsonst gestorben, mein Sohn, er hat dir eine fast perfekte Grundausbildung zukommen lassen, du bewegst dich im Ring wie ein Hexenmeister.« »Vielen Dank«, sagte ich, weil ich nicht wußte, was ich sonst antworten sollte. Solly Goldman war der beste Trainer, und mich machten seine großzügigen Komplimente etwas nervös.
»Bedank dich später bei mir, mein Junge, es liegt noch viel Arbeit vor dir. Deine linke Hand muß stärker kommen, und deine Rechte ist auch nicht gerade ein Hammer. Du machst Punkte wie alle Amateure, du hältst die Fäuste zu hoch. Du bist schnell genug, um sie ein bißchen runterzunehmen, das verbessert die Schlagkraft. Als erstes wirst du gewogen, dann fangen wir an, deinen Oberkörper zu trainieren. Es wäre auch beruhigend für mich zu wissen, daß du eine gute Links-Rechts-Kombination beherrschst.« Ich war erstaunt, daß Solly Goldman, Cockney-Jude aus London, nachdem er mir erst zwei Runden lang zugeschaut hatte, schon so viel über meine Stärken und Schwächen wußte. Aber er hielt Wort. Schon zu Beginn der Weihnachtsferien war ich ein viel besserer Boxer mit viel größerer Schlagkraft in beiden Fäusten. Wir nahmen wie immer an den Ost-Transvaal-Meisterschaften im Dezember teil, und Captain Smit konnte den Unterschied kaum glauben. Die Meisterschaften fanden diesmal in Barberton statt, und die ganze Stadt kam, um mich boxen zu sehen. Meine Mutter blieb zu Hause, aber mein Großvater saß mit Doc, Mrs. Boxall, Miss Bornstein und dem alten Mr. Bornstein in der ersten Reihe. Miss Bornstein erzählte mir später, daß der alte Mr. Bornstein jedesmal zurückgezuckt sei, wenn ich einen Schlag ausgeteilt hätte. Doc war inzwischen ein alter Hase und tat zumindest so, als ob ihn nichts mehr umwerfen könne. Als bester Boxer des Turniers bekam ich eine Trophäe. Anschließend ging ich mit meinem Großvater zu Fuß nach Hause, während Mrs. Boxall Doc zu seinem Häuschen fuhr. Als wir bei unserem Gartentor ankamen, klopfte mir mein Großvater auf die Schulter. »Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so stolz, mein Sohn«, sagte er und nestelte dann, um seine Rührung zu verbergen, in seiner weißen Leinenjacke nach seiner Pfeife. Ich war schon eine Woche lang zu Hause. Am vergangenen Samstagmorgen war der Zug aus Johannesburg um neun Uhr in Nel-spruit angekommen. Normalerweise fuhr ich dann nach Kaapmuiden weiter und hatte dort ein paar Stunden Aufenthalt, bis die Kaffeekanne im Schneckentempo in Richtung Barberton lospuffte, wo sie gegen acht Uhr abends ankam. Aber zu meiner großen Freude holte mich Gert in Nelspruit ab. »Na ja, Mann, wir mußten sowieso ein paar Papiere hierherbrin-
gen, ein weißer Suffkopf hat einen Arbeitstrupp mit einer Spitzhacke angegriffen, und Captain Smit meinte, daß ich den Wagen nehmen und dich bei der Gelegenheit gleich abholen solle.« Er streckte seine Hand aus. »Wie geht's, Mann?« Auf der Fahrt nach Barberton erzählte er mir, daß Doc bei einem Ausflug in die Berge von einem Unwetter überrascht worden sei, Lungenentzündung bekommen und eine Woche im Krankenhaus verbracht hätte. »Er sieht alt aus, Peekay. Ich glaub, er macht's nicht mehr lang.« Ich war entsetzt. »Er ist doch ein zäher alter Bursche, er kommt schon wieder in Ordnung«, sagte ich, hauptsächlich, um mich selbst zu beruhigen. »Ja, er ist zäh, aber der alte Kerl ist Mitte Achtzig, wenn nicht älter, er kann ja nicht ewig leben, Mann.« »Aber er klettert doch immer noch in den Bergen herum, das ist doch was.« »Nicht seitdem er krank war, er spricht zwar davon und macht Pläne für die Zeit, wo du hier bist, aber ich weiß nicht, Mann, er ist ziemlich am Ende. Ich hab ihm gesagt, daß ich ihm jederzeit ein paar Leute für die Arbeit im Kaktusgarten schicken würde, aber er sagt, daß er es immer noch allein schafft. Aber ich weiß nicht, Mann.« Ich sagte nichts. Ich spürte plötzlich einen riesigen Kloß im Hals und sah die Straße vor mir nur noch undeutlich. Der Gedanke, daß Doc nicht mehr da sein könnte, wenn ich in den Ferien nach Hause käme, war mir ganz einfach unerträglich. »Diese beiden abafazi, die bei euch den Haushalt machen, bedienen ihn wie einen Häuptling. Sie verbringen ihre ganze Freizeit in seinem Haus, bringen ihm jeden Tag was zu essen, und jetzt rasieren sie ihn sogar.« Doc war der unabhängigste Mensch, den ich kannte, und mir wurde klar, daß Gert mit seiner Einschätzung wohl recht haben mußte. Wenn Dee und Dum ihn rasieren mußten, dann mußte er in der Zwischenzeit sehr zittrige Hände bekommen haben. Ich hatte Dee und Dum eine Singer-Nähmaschine gekauft, und inzwischen hatten sie sich auf Frauenunterwäsche aus Baumwolle spezialisiert und verkauften sie an viele Hausangestellte in Barberton. Meine Mutter und Marie hatten ihnen gezeigt, wie die Unterwäsche zugeschnitten wird und wie man Knopflöcher macht, und
jetzt verdienten sie ganz gut. Ich hatte zufällig herausgefunden, daß Dee und Dum mit diesem zusätzlichen Verdienst Doc unterstützten, der keinen Klavierunterricht mehr geben konnte. Nachdem ich das erfahren hatte, schickte ich ihnen Geld für ihn. Durch die Bank hatte ich ein regelmäßiges Einkommen und konnte Doc normalerweise ein Pfund pro Woche zukommen lassen. Dadurch war sein Unterhalt gesichert. Ich wußte, daß meine Mutter mich erst bei Ankunft der Kaffeekanne erwarten würde, und bat Gert, mich am Fuß von Docs Hügel abzusetzen. Ich versteckte meinen Koffer in einem Gebüsch und stieg zu Docs Haus hoch. Er saß im Schatten auf der Veranda in seinem Schaukelstuhl, und ich dachte, daß er schliefe. Aber er schaute auf, sah mich kommen und erhob sich etwas steif, eine Hand im Rücken. Er stieß fast mit dem Kopf am Dachgebälk der Veranda an und schien leicht zu schwanken, als er seine Arme nach mir ausstreckte. Ich rannte hoch zu ihm, er legte mir seine Hände auf die Schultern, und ich umarmte ihn und konnte mich nicht länger zusammennehmen. »Bitte, Doc, bitte stirb nicht«, schluchzte ich. Doc und ich zeigten nur selten unsere Gefühle. Unsere Liebe füreinander war so groß, sie brannte wie ein Feuer in uns. Aber jetzt hatten mich meine Gefühle plötzlich überwältigt. Zuerst das Gespräch mit Gert, und dann stand er da mit ausgestreckten Armen, zart wie Rauchfetzen, das war zuviel gewesen. Er klopfte mir auf den Rücken. »Absoludel! Es ist noch keine Zeit zu sterben, Peekay, die Hügel sind grün und warten auf uns, es ist noch keine Zeit für die Kristallhöhle Afrikas.« Ich trat zurück, und er setzte sich in seinen Stuhl. Ich schniefte immer noch und wischte mir die Augen mit dem Handrücken ab. »Du bist krank gewesen, Doc. Gert hat mir erzählt, daß du krank gewesen bist.« »Es war nur eine schwere Erkältung, Peekay. Nichts Ernsthaftes.« »Du hast Lungenentzündung gehabt!« »Ja, das stimmt, aber es gibt große und kleine Lungenentzündungen, meine war eine gradezu klitzekleine Lungenentzündung, absoludel.« Er erhob sich wieder. »Komm, ich mach Kaffee, Peekay.«
»Marie wird mir erzählen, wie schwer sie war.« Doc hob die Hände. »Marie! Was für eine Person! >Professor, Sie müssen Ihr Leben Jesus widmen, Sie haben nicht mehr viel Zett. Sie müssen sich entscheiden zwischen der ewigen Verdammnis in der Hölle und der Liebe Jesu Christi.< Ich will aber noch ein bißchen länger hierbleiben, Miss, sag ich zu Marie. Ich glaub, sie war ziemlich enttäuscht darüber. Ja, ganz sicher«, sagte Doc und kicherte, als er mir einen Becher starken schwarzen Kaffee eingoß. Dabei hielt er die Kaffeekanne mit beiden Händen fest, um nicht so stark zu zittern. Wir setzten uns auf die Veranda und tranken unseren Kaffee aus großen Zinnbechern. Doc hatte seinen nur halb voll gemacht, damit er den Kaffee nicht verschüttete. Er hatte alle möglichen Tricks drauf, um seine Hinfälligkeit zu verbergen. Wir sprachen nur wenig. Doc war glücklich, daß ich zurück war, und ich fühlte, daß ich ihm etwas Kraft geben würde. Wir sprachen über die Kristallhöhle, die Doc jetzt für unsere größte Entdeckung hielt. »Es ist gut, daß wir wieder zusammen sind, Peekay. An Weihnachten werde ich siebenundachtzig Jahre alt.« »Doc, du mußt noch so lang leben, bis ich Weltmeister im Weltergewicht bin, also wenigstens, bis du vierundneunzig oder fünfundneunzig bist!« Doc kicherte über den dringlichen Tonfall in meiner Stimme und erhob sich langsam aus seinem Stuhl. »Komm, ich zeig dir Pacbypo-dium namaquanum. Es ist riesengroß, vielleicht haben wir den Weltmeister.« Als wir zusammen in den Kaktusgarten gingen, Doc so hochgewachsen und so aufrecht wie der Pachypodium namaquanum, schienen seine Schritte schon etwas elastischer zu sein. »Nächste Woche gehen wir in die Berge, Peekay, es ist schon viel zu lange her.« Meistens trieben wir uns auf einfach zu gehenden Pfaden in den Vorbergen herum, aber Doc wurde wieder kräftiger, und es ging ihm sehr viel besser, als ich Mitte Januar wieder zurück in die Schule fuhr.
21 1948 ist in der Geschichte von Südafrika ein sehr wichtiges Jahr. Prinzessin Elisabeth kam zu Besuch, und wir alle standen am Straßenrand, winkten mit kleinen Fähnchen und konnten kurz einen Blick auf unsere zukünftige Königin werfen, als sie in einem langen schwarzen offenen Rolls-Royce vorbeifuhr. Es war auch das Jahr, in dem in Südafrika das Weißbrot eingeführt wurde, ein Ereignis, das viele Leute sehr viel stärker beschäftigte, als einen Blick auf die zukünftige Königin von England zu werfen. Die Geschichte wird lehren, inwiefern die Wahl der Nationalist Party, die nach vierzig Jahren immer noch in Südafrika an der Macht ist, zum Wendepunkt wurde, an dem die Buren wieder die mächtigste Gruppe im Land wurden. Die Geschichtsschreibung wird diesem Ereignis sehr viel Bedeutung beimessen und zeigen, daß der Kampf zwischen den beiden weißen Völkern Afrikas damals seinen Höhepunkt erreicht hatte. Tatsächlich kam es nicht etwa wegen eines ideologischen Zusammenstoßes zwischen Weißen und Weißen zu dem Wendepunkt, sondern ganz einfach deshalb, weil die Nationalisten versprachen, das Weißbrot wieder einzuführen, das während des Krieges durch das gesündere Vollkornbrot ersetzt worden war. Eine bereits überernährte weiße Minderheit wählte nach den Bedürfnissen ihres Bauches. Eine Woche nach ihrer Wahl machten die Nationalisten ihr Versprechen wahr, und die weißen Südafrikaner waren sehr zufrieden, daß sie endlich einmal eine neue Regierung hatten, die zu ihrem Wort stand. Die schwarzen Südafrikaner stellten sich darauf ein, ihren Rücken unter der Nildpferdpeitsche zu krümmen, und auf die Erfindung eines neuen Spieles, bei dem sie vorsätzlich aus dem dritten Stock des Polizeireviers stürzten und mit dem Kopf auf dem Pflaster aufschlugen. Es ist erstaunlich, daß die Weißen, die ja für ihre sportliche Tapferkeit berühmt sind, nie gelernt haben, dieses Spiel richtig zu spielen, und es gibt keinen einzigen weißen Südafrikaner, der ein echter Könner darin geworden ist. Niemand bekam jemals eine Auszeichnung in diesem neuen Nationalsport, obwohl viele gute Köpfe unter den Schwarzen das Spiel mit großem Mut spielten.
Hymie meinte grimmig, daß der Wahlsieg von Nationalisten in jedem Volk eine der übelsten Angelegenheiten sei. 1948 war das Jahr, in dem Südafrika die Hoffnung verlor, ein Teil der großen Völkerfamilie dieser Welt werden zu können. Dennoch hielten die Schwarzen ihre Erniedrigung und ihre Wut in Schach. Erst vier Jahre später, 1952, führten Häuptling Lutuli vom Afrikanischen Kongreß zusammen mit Dr. Monty Naicker vom Indischen Kongreß die Schwarzen und Farbigen in die erste organisierte Widerstandsbewegung, in der der Ruf »Mayibuye Afrika!« zur Formel für die Forderung der Schwarzen und Farbigen nach Gerechtigkeit und Würde wurde. Privatschulen haben es an sich, immer einfach weiterzumachen, soziale und politische Änderungen einfach zu ignorieren. Wenn beim Boxen nicht etwas passiert wäre, was zur Einführung einer Samstagabendschule für Schwarze führte, dann wäre die Prince of Wales-Schule bestimmt weiterhin ein privilegierter Kokon für die weiße Überlegenheit geblieben. Der Vorfall ereignete sich während der zehntägigen Osterferien im Jahre 1949. Hymies Eltern hatten sich entschlossen, das jüdische Passahfest mit Verwandten in Durban zu verbringen. Hymie blieb zu Hause und lud mich ein, die kurzen Ferien bei ihm zu verbringen. Ich schrieb Mrs. Boxall, und die schrieb mir zurück, Doc ginge es gut. Ich nahm die Einladung an. Der Koch und die restlichen Bediensteten kümmerten sich um uns, und einer der Chauffeure fuhr uns jeden Tag die vierzig Meilen von Pretoria nach Johannesburg, wo ich bei Solly Goldman trainierte. Solly protestierte zwar, aber wir bestanden darauf, daß er während der Ferien eine Extrabezahlung von uns erhielt. Hymies Unternehmergeist entwickelte sich zusehends. Am Samstagvormittag ging er in die Barclays Bank in Yeoville und ließ sich eine frisch gedruckte Fünfpfundnote geben. Er faltete sie nicht zusammen, sondern legte sie in ein großes, ledergebundenes Hauptbuch. Sonntag morgens gingen wir nach meinem Training in Sollys heruntergekommenes Büro, und Hymie öffnete das Buch, in das er mit seiner gut leserlichen Schrift geschriebenhatte: Fünf Pfund an S. Goldman für geleistete Dienste bezahlt. Er ließ Solly unterschreiben und gab ihm die Fünfpfundnote. Dann schüttelten sie sich ernst wie alte Männer die Hand, und daraufhin rächte sich Solly, indem er die
unberührte Fünfpfundnote achtlos in die Hintertasche seiner schmutzigen grauen Flanellhose stopfte. Solly war auf der Straße stets sorgfältig gekleidet, aber in der Turnhalle trug er immer ein Sweatshirt und eine alte graue Flanellhose, die von einer zerschlissenen braungestreiften Krawatte gehalten wurde. »Warum machst du dir so viel Mühe, wenn er sich den Schein einfach in die Tasche stopft?« fragte ich Hymie einmal. »Damit er ihn so achtlos in die Tasche steckt. Jede Woche erinnern ihn mein blödes Ritual und seine Trotzreaktion daran, uns nicht als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Solange er den Schein noch betont achtlos in die Hosentasche stopft, weiß ich, daß wir für ihn noch etwas Besonderes sind.« Am dritten Tag der Osterferien bat uns Solly zu einem Gespräch in sein Büro. Er bot uns zwei alte Stühle an, schob einen Stapel Papiere zur Seite und setzte sich auf die Ecke seines Schreibtisches, der mit gut zehn Zentimeter hohen Papierstapeln bedeckt war. Außer Boxrechnungen, ungeöffneten Briefen und anderen Papieren trugen eine hohe, grünspanüberzogene Silbertasse, ein Telefon und ein riesiger Schreibblock zu der Unordnung bei. Das Telefon stand auf dem Schreibblock, auf dem außer Hunderten von Namen und Nummern auch getrocknete Kaffeespuren zu sehen waren. Wenn jemand das oberste Blatt von Sollys Block abgerissen hätte, wäre er völlig aufgeschmissen gewesen. »Es gibt ein Angebot für einen Boxkampf in Sophiatown am nächsten Samstagabend. Die Entscheidung liegt bei euch, aber es kann Peekay nichts schaden.« »Sophiatown! Die schwarze Gemeinde?« »Ja, ich geb zu, daß es etwas ungewöhnlich ist, der Gegner wäre ein junger schwarzer Bantamgewichtler, der gerade Berufsboxer geworden ist.« »Solly, bist du verrückt geworden? Peekay ist Amateur, er kann doch nicht gegen einen Berufsboxer antreten!« »Der Schwarze ist nicht von hier, und er ist in Transvaal noch nicht registriert. Technisch gesehen ist er hier noch Amateur. Aber egal, wenn der Kampf in einer schwarzen Gemeinde stattfindet, erfährt doch sowieso niemand davon.« »Sie sollten es eigentlich besser wissen, Solly.«
Solly ignorierte Hymies Einwurf und wandte sich direkt an mich. »Dieser Kampf wäre gut für dich, würde dich auf die südafrikanischen Schulmeisterschaften vorbereiten.« »Verdammt, Solly, haben Sie den Verstand verloren?« fuhr Hymie fort. »Sie finden einen professionellen Bantamgewichtler, der vielleicht Mitte Zwanzig ist, und Sie wollen ihn auf einen Fünfzehnjährigen loslassen?« »Das ist genau der Punkt, mein Sohn. Er würde zu Peekay passen, er ist gerade erst sechzehn geworden. Er hat drei professionelle Kämpfe hinter sich. Sonst hätte ich das doch niemals vorgeschlagen! Halt mich bloß nicht für blöde.« »Einen Moment mal, ihr zwei.« Ich wandte mich an Solly. »Ist das wirklich alles? Erstens ist es verboten, gegen einen Schwarzen in einer schwarzen Gemeinde zu kämpfen, zweitens ist es verboten, daß ein Amateur gegen einen Professionellen antritt...« »Einen noch nicht registrierten Professionellen«, unterbrach mich Solly. »Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Solly«, wiederholte ich. »Es ist nicht das, was du denkst, Peekay, Geld spielt dabei keine Rolle, für diesen Kampf gibt es keine Börse.« »Und was ist mit dem Wettgeschäft?« fragte Hymie. »Auch kein Wettgeschäft, bei allem, was mir heilig ist!« Solly faltete die Hände und starrte auf den bekritzelten Block. »Wir warten auf Ihre Antwort, Solly«, sagte Hymie. »Nguni will den Kampf... Mr. Nguni.« »Wer ist das denn?« fragte ich. »Ein schwarzer Boxpromoter. Er organisiert Wetten in den schwarzen Gemeinden.« »Und was hat das mit uns zu tun?« fragte ich. Solly sah mich an. »Er glaubt, du gegen diesen Mandoma, das gäbe einen wahnsinnigen Kampf, sonst nichts.« »Wenn Sie mit dem wahren Grund herauskämen, dann könnten wir uns darüber unterhalten. Was ist der Grund, Solly?« fragte ich wieder. Solly warf seine Hände hoch. »Okay, es ist was Geschäftliches. Mr. Nguni bringt mir die Schwarzen, ich trainiere sie, wir teilen uns den Gewinn. Wenn man fünfzehn Prozent vom Gewinn von fünfzig
schwarzen Boxern aus schwarzen Gemeinden hier in der Gegend bekommt, dann ist das ein schöner kleiner Nebenverdienst. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, warum er diesen Kampf will, ich geb zu, daß ich auch nicht schlau draus werde.« Hymie redete so, als ob er laut dächte. »Der Schwarze versucht, Sie mit allen Mitteln zu überreden, und Sie machen dasselbe mit uns. Das kann ich verstehn. Aber selbst wenn er Wetten aufnimmt, und Sie sagen, er tut es nicht, dann ist das noch kein ausreichender Grund, wenn er erwischt würde.« »Hymie hat recht, Solly. Es muß einen anderen Grund geben. Nguni ist entweder ein Idiot, oder er riskiert enorm viel für etwas, was wir nicht wissen. Aber egal, was es ist, wir wollen nichts damit zu tun haben. Ist dieser Mandoma eigentlich ein Zulu? Meine Kinderfrau hieß Mandoma.« »Ich hab nicht die leiseste Ahnung, bis sie mir Geld einbringen, sind sie für mich nichts als schwarze Affen mit Boxhandschuhen«, sagte Solly und sah aus, als wäre er mit seinen Gedanken ganz woanders. Hymies Chauffeur wartete in dem Buick, der eine Straße weiter parkte. Als wir in Richtung des Wagens gingen, schüttelte Hymie immer wieder den Kopf. »Es leuchtet mir einfach nicht ein. Dieser Nguni muß verrückt sein, so ein Risiko auf sich zu nehmen, einen professionellen Schwarzen und einen weißen Amateur in einer schwarzen Gemeinde gegeneinander boxen zu lassen. Die Bullen hätten ihn in Null Komma nichts. Was steckt da wohl hinter? Ein fünfzehnjähriger boxender Schuljunge und ein sechzehnjähriger schwarzer Bantamgewichtler sind ja nicht gerade ein Staatsereignis, auch nicht in einer schwarzen Gemeinde.« »Du bist immer noch nicht dahintergekommen, was?« fragte ich leise. »Nein, noch nicht, aber ich komm schon noch.« »Streng dich nicht zu sehr an, es hat was mit den Schwarzen zu tun.« Hymie drehte sich um und packte mich am Arm. »Du hast recht, Peekay. Der Kaulquappenengel!« Wir gingen auf das unbebaute Gelände und sahen den Buick, der glänzend wie ein großer schwarzer Käfer zwischen riesigen, halb mit Teer, Ziegelsteinen und anderem Abfall gefüllten Fässern
stand, die überall auf unbebauten Geländen in Städten herumstehen. Der Chauffeur unterhielt sich mit einem großen, gutgekleideten Schwarzen und ging uns ein paar Schritte entgegen, als er uns kommen sah. »In ein paar Sekunden wissen wir, was hinter dem Ganzen steckt. Schau mal, wer da ist, Hymie.« Der große Schwarze richtete sich auf, als wir herankamen. Es war der hochgewachsene Afrikaner, der vor den Boxkämpfen als Vorsänger mit den Schwarzen zusammen immer das Lied vom Kaulquappenengel gesungen hatte. »Dieser Mann, er will Sie sprechen, Baas«, sagte der Chauffeur. »Ich sehe dich«, sagte ich auf Zulu zu dem Afrikaner, der viel größer war als ich. »Ich sehe dich, Inkosi«, antwortete er und schüttelte mir leicht die Hand, fast ohne sie zu berühren. Die Höflichkeit forderte, daß wir uns über andere Dinge unterhielten, bevor wir auf das kamen, weshalb er mich sprechen wollte. Das ist im Zulu so üblich. »Es ist sehr heiß gewesen, und es hat nicht geregnet. Die Getreidefelder sind durstig.« »So ist es auch bei uns, die Hirten müssen das Vieh weit vom Kral wegführen, um eine Weide zu finden, und der Fluß ist bis auf ein paar Wasserlöcher ganz ausgetrocknet.« »Was sagt er?« fragte Hymie dazwischen. »Noch nichts, wir sprechen noch übers Wetter.« »Ist dein Kral weit weg von hier?« »Viele, viele Meilen weit, Inkosi, mein Kral liegt in der Nähe von Ulundi im Zululand.« Die königlichen Heimstätten von drei der vier großen Zulukönige, Dingane, Mpande und Cetshwayo lagen in der Nähe von Ulundi, und es war gut möglich, daß der große Mann vor mir ein hochgeborener Zulu war. »Du bist weit weg von deinen Frauen und Kindern, es ist nicht gut, von ihnen getrennt zu sein.« »Es ist aber üblich so, Inkosi. Für das Geld des weißen Mannes muß der schwarze Mann seine Familie verlassen. Es sind schwere Zeiten, und ich hab nur wenig Vieh und Land.« Jetzt war es Zeit, mich vorzustellen. »Ich bin Peekay«, sagte ich leise und streckte meine Hand zum zweiten Mal aus. »Das weiß ich, Inkosi. Ich bin Nguni.« Wir schüttelten uns zum zweiten Mal die Hand, zuerst auf die übliche Weise und dann, in-
dem wir die Hand über den Daumen des anderen drehten, wie es zum traditionellen afrikanischen Handschlag gehört. »Ich sehe dich, Nguni.« »Ich sehe dich, Peekay.« Es war dreist von Nguni, mich bei meinem Namen zu nennen, aber es war mir egal. Ich hatte sowieso das Gefühl, daß er mich schon lange Zeit kannte. »Handelt es sich um den Boxkampf in Sophiatown?« »So ist es«, bestätigte Nguni leise. »Können wir englisch sprechen, damit mein Freund auch etwas versteht?« Nguni lachte, und man sah seine schneeweißen Zähne. »Mein Englisch, sie ist nicht gut«, sagte er auf englisch. Es stellte sich heraus, daß Ngunis Englisch sogar sehr gut war, und Hymie schien erleichtert, daß er das Gespräch mitbekam. »Es geht um die Sache in Sophiatown«, sagte ich ihm. »Frag ihn, nein, ich frage selbst...« »Hymie, das ist Mr. Nguni«, sagte ich und wandte mich dann an Nguni. »Das ist mein bester Freund, Hymie Levy.« »Wie geht es Ihnen«, sagte Nguni zu Hymie, streckte seine Hand nicht aus, verbeugte sich aber leicht. »Wie gehts!« sagte Hymie, und ich merkte, daß er nicht daran gewöhnt war, sich mit einem Schwarzen zu unterhalten, als wäre er seinesgleichen. »Warum haben Sie Mr. Goldman gefragt, ob Sie einen Kampf mit Peekay organisieren können?« Nguni sah überrascht aus. »Das ist doch immer so im Boxen, man fragt den Trainer.« »Ich bin der Manager, Sie müssen mich fragen.« Nguni warf seinen Kopf zurück und lachte. »Das wußten wir, aber selbst wenn der Trainer sagt, daß der Kampf nicht stattfinden kann, hätten Sie sich wohl schwerlich daran gehalten, oder?« »Was haben Sie ihm angeboten, damit er sich mit dem Kampf einverstanden erklärt hat?« »Ich mußte ihm nichts anbieten, er ist ja auch im Boxgeschäft, genau wie ich.« »Wie viele Boxer haben Sie, Mr. Nguni?« »Alle«, sagte Nguni einfach. »Wollen Sie mich verscheißern, Sie kontrollieren alle Boxer der Eingeborenenviertel ?«
Nguni wandte sich an mich und sagte auf Zulu: »Dein Freund hat keinen Respekt, Inkosi.« »Ich entschuldige mich für ihn, Nguni. Er spricht einfach wie ein Weißer aus der Stadt.« Ich wandte mich an Hymie. »Entschuldige dich.« Hymie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Mr. Nguni, tragen Sies mir nicht nach. Dieser Kampf... Es ist halt so, ich sehe einfach keinen Sinn dahinter.« Nguni wandte sich an mich und sprach Zulu. »Das muß ich auf Zulu erklären, dieser Mann, er versteht unsere Leute nicht.« »Mr. Nguni erklärt es mir auf Zulu, offensichtlich ist es ziemlich kompliziert«, sagte ich zu Hymie. »Du bist Onoshobishobi Ingelosi«, begann Nguni, »und die Tatsache bedeutet den Leuten sehr viel. Sie haben dich bis jetzt nur gegen Buren kämpfen sehen, und du hast jedesmal gewonnen. Die Leute halten dich für einen großen Häuptling ihres Stammes, die Sotho, die Shangaan und die Zulus ebenfalls, alle schwarzen Leute«, sagte er und machte eine Pause. »Und ich halte dich auch für einen großen Häuptling. Es ist bezeugt, daß du Sterne vom Himmel fallen lassen kannst.« »Das stimmt nicht, Nguni. Ich bin kein Häuptling der Schwarzen«, sagte ich schnell. »Wer kann schon sagen, was stimmt und was nicht stimmt. Die Leute wissen das, es ist nicht an dir, das zu entscheiden, Inkosi.« »Es geht um den Kaulquappenengel, wir haben richtig vermutet«, sagte ich zu Hymie. »Eine Frau hat die Knochen geworfen und ein Feuer gemacht, um aus dem Rauch zu lesen«, sagte Nguni plötzlich. »Die Knochen sagen, daß Onoshobishobi Ingelosi, der ein Häuptling ist, gegen jemand kämpfen muß, der bei den schwarzen Leuten auch ein Häuptling ist.« »Sie ist ein Medizinmann?« »So ist es, Inkosi.« »Dieser Häuptling. Wer ist dieser Häuptling, gegen den ich kämpfen muß?« »Er ist der Ururenkel von Cetshwayo.« »Oje! Da gibt es aber viele. Cetshwayo hat bestimmt sehr, sehr viele Ururenkel.«
»Er ist der Richtige«, sagte Nguni leise. Die Zulus vererben keine Titel, kennen aber die Abstammung ganz genau. »Eines Tages wird er ein Häuptling sein.« »Warum ist es nötig, gegen den zu kämpfen, der eines Tages ein Häuptling sein wird?« »Die schwarzen Leute müssen sehen, ob der Geist immer noch in dir wohnt. Du bist jetzt ein Mann, die schwarzen Leute wissen, daß der Geist des großen Häuptlings in dem Kind wohnte, das du einmal warst, aber jetzt müssen sie wissen, ob er sich auch noch in dem Mann aufhält.« »Heißt das, wenn ich den Kampf gegen den verliere, der ein Häuptling sein wird, dann werde ich nicht mehr Onoshobishobi Ingelosi sein?« »So ist es, Inkosi. Die Frau sagt, daß sie das aus den Knochen und dem Rauch herausgelesen hat.« »Dann werde ich verlieren«, sagte ich plötzlich, »und die Legende wird endlich sterben.« Nguni zuckte die Achseln. »Das kann niemand wissen, Inkosi, du verlierst ja nur, wenn du nicht mehr Onoshobishobi Ingelosi bist.« »Aber wenn du den Kampf arrangierst, ist das dann gut für dich als Veranstalter?« Nguni sah auf die Handflächen seiner geöffneten Hände, die fast gelb aussahen. »Das stimmt, aber es wird auch von mir erwartet. Hab ich nicht die schwarzen Leute zu all deinen Kämpfen hingeführt?« »Das stimmt, das hast du gemacht«, sagte ich und schämte mich etwas. »Wirst du also kämpfen?« »Zuerst muß ich mit Hymie darüber sprechen, er ist in dieser Angelegenheit mein Bruder.« »Ich verstehe, wenn das so ist, dann mach das so.« Hymie wartete ungeduldig darauf, das Gespräch von mir übersetzt zu bekommen, und als ich ihm alles gesagt hatte, schüttelte er den Kopf. »Jesus, das ist doch Hexerei, Peekay. Und wir schreiben jetzt das Jahr 1949!« »Ja, ich weiß, aber es könnte genausogut 1849 sein. Manches ändert sich ganz einfach nicht.«
»Also, was sollen wir machen?« fragte er. »Wir kämpfen, wir haben keine Wahl.« »Ich versteh dich nicht. Warum?« »Es ist schwer für dich, das zu verstehn, aber die Schwarzen glauben an den Kaulquappenengel. Ich hab dir das noch nie vorher erzählt, aber er ist ein Symbol, ein Symbol für Hoffnung. Alle Stämme glauben, daß ein Häuptling sich erheben wird, der nicht von ihnen abstammt, sie aber vereinigen wird gegen ihre Unterdrücker.« »So ist es, Mr. Levy«, sagte Nguni. »Und der Kampf soll der Test sein, um zu sehen, ob du koscher bist?« Ich mußte trotz allem lachen. »Hymie, ich hab mir das Ganze nicht ausgedacht, es ist einfach passiert. Es ist mir genauso unangenehm wie dir. Wenn mich der junge Zuluhäuptling Mandoma schlägt, dann ist alles vorbei. Aber ich kann nicht einfach den Kampf ausschlagen, damit würde ich all die Schwarzen zum Narren halten, die die ganzen Jahre an mich geglaubt haben. Das könnte ich niemals.« Ich wandte mich an Nguni und reichte ihm meine Hand. »Mr. Nguni, sag den Schwarzen, daß ich mit dem Boxer kämpfe, der ein Häuptling sein wird.« »Ich werde es den Leuten sagen«, antwortete er. Ich bereitete mich auf den Kampf mit dem Zulu Mandoma, einem Bantamgewichtler, so gut wie nur irgend möglich vor. Obwohl ich alles, was mit dem Kaulquappenengel zu tun hatte, gerne loswerden wollte, sah ich mich doch außerstande, von diesem Kampf einfach zurückzutreten. Ich hatte inzwischen so oft gewonnen, daß ich glaubte, eine einzige Niederlage könnte schon bedeuten, daß ich nicht Weltmeister im Weltergewicht werden würde. Ich hatte mir sogar verboten, über die Konsequenzen einer Niederlage nachzudenken. Zu viel Gegrübel schwächt die Konzentration, die zum Gewinnen nötig ist. Die größte Schwierigkeit vor dem Kampf gegen Mandoma war der völlige Mangel an Information. Wir wußten nichts über den Zulu-Bantamgewichtler. Ich fühlte mich immer schlecht, wenn ich vor einem Kampf nichts über meinen Gegner wußte. Es war so, als ob man vor dem Betreten eines dunklen Raumes vor Falltüren gewarnt
wird. Wenn man vor dem Kampf alles, was man über seinen Gegner wissen kann, weiß, dann kämpft der Verstand mit und bringt den Körper dazu, die nötigen Bewegungen um den Bruchteil einer Sekunde schneller auszuführen. Und dieser Bruchteil einer Sekunde bedeutet oft den Sieg. Der Samstag kam. Der Kampf sollte in einem Ring stattfinden, der auf dem Fußballfeld einer afrikanischen Schule in Sophiatown aufgebaut worden war. Wir kamen um halb fünf in dem Vorort an, Mr. Nguni wartete schon auf uns. Die Straßen waren staubig, es war ein heißer Tag gewesen. Die weiß getünchten Wände von Verkaufsbuden und Läden waren mit Staub bedeckt, und es wimmelte von Reklametafeln. Auf der Straße fuhren ein paar Laster vorbei, und wir sahen ein Taxi und ein paar Busse, die hoffnungslos überfüllt waren. Außerdem waren Hunderte von Schwarzen auf Fahrrädern unterwegs. Die Busfahrer hupten unaufhörlich, was die allgemeine Erregung noch zu steigern schien. Als wir uns der Schule näherten, säumten Menschen die staubigen engen Straßen, die sich zwischen den aus allen möglichen Materialien zusammengeschusterten Verkaufsbuden durchschlängelten. Mr. Nguni bat, daß ich mein Fenster herunterkurbeln solle, damit mich die Leute sehen könnten. Ich wurde rot und fügte mich. »Du bist hier sehr bekannt, Peekay. Die Leute sind viele, viele Meilen weit angereist, um dich zu sehen.« »Warum sind es nur Frauen und Kinder?« fragte Hymie. »Männer wollen den Kampf sehen. Die Frauen sind gekommen, um Onoshobishobi Ingelosi zu sehen.« »Mein Gott, ich hatte ja keine Ahnung. Du bist ja berühmter als Johnny Ralph, Peekay.« Johnny Ralph war der südafrikanische Meister im Schwergewicht, und jeder kannte ihn. Mr. Nguni lachte. »Johnny Ralph, dieser Boxer ist in Sophiatown nicht bekannt.« »Mr. Nguni«, sagte ich auf englisch, »wir müssen den Leuten sagen, daß ich kein Häuptling bin. Ich habe keine Macht. Sie müssen ihnen sagen, daß Onoshobishobi Ingelosi nur ein Name ist, ein Name, der mir im Gefängnis von Barberton gegeben wurde. Er hat nichts zu bedeuten.« Ich saß auf dem Rücksitz, und Mr. Nguni wandte sich zu mir um. Er wirkte völlig schockiert. »Das kann ich nicht tun, Inkosi. Es ist
nicht meine Aufgabe zu sagen, wer Onoshobishobi Ingelosi ist. Heute nacht werden wir es sehen, wir können nichts daran ändern, die Knochen und der Rauch haben die Wahrheit gesagt.« Er wandte sich wieder an den Chauffeur und sagte ihm, in welche Richtung er weiterfahren solle. »Scheiße! Er glaubt es selbst«, murmelte Hymie leise. Als wir in das Schulgelände einbogen, wimmelte es dort schon von Afrikanern. Der Buick mußte sich im Schrittempo seinen Weg durch die Menge bahnen. Der Boxkampf würde erst in eineinhalb Stunden beginnen, aber der Fußballplatz war schon total überfüllt, und nur ein schmaler Weg führte zu dem Ring in der Mitte. Es müssen an die zehntausend Zuschauer dagewesen sein, und immer noch drängten weitere heran. »Ich hatte Sie so verstanden, daß der Kampf in einer Schule,stattfinden würde«, sagte Hymie zu Nguni. »Ich dachte an eine Turnhalle oder so etwas. Alle Schwarzen Afrikas sind ja gekommen, um sich diesen verdammten Kampf anzusehn! Was passiert, wenn es Schwierigkeiten gibt, eine Schlägerei oder so was?« »Nein, nein! Es wird keine Schwierigkeiten geben, Mr. Levy. Die Frau, sie wird zu den Leuten sprechen.« »Sie meinen den weiblichen Medizinmann?« fragte ich. »Ja, Peekay, sie wird zu den Leuten sprechen.« Hymie grinste nervös. »Das ist bestimmt das erste Mal, daß eine Zauberin einen Boxkampf ansagt. Bist du sicher, daß du mir alles über dich erzählt hast, Peekay?« Ich packte ihn vorn am Hemd. »Jetzt fang du nicht auch noch an.« Wir wurden zu den Duschen gebracht, um uns umzuziehen. Solly Goldman wartete auf uns. »Es ist alles koscher, sie haben den indischen Ringrichter Natkin Patel aus Durban geholt. Habt ihr die Menschenmassen gesehn?« Ich zog mich um, und wir gingen zum Wiegen in die Schule. Hymie schaute sich die Waage an. Sie war von einem Händler ausgeliehen worden und sah aus, als ob normalerweise Maismehlsäcke darauf gewogen würden. »Was soll das Ganze, der Kampf findet sowieso statt, auch wenn er zu schwer ist«, sagte Hymie. »Es ist sehr wichtig, Mr. Levy. Die Leute müssen wissen, daß alles korrekt ist«, sagte Mr. Nguni.
Neben der Waage standen in der Mitte der Eingangshalle etwa ein Dutzend Afrikaner, alle trugen einen Anzug und hatten eine Krawatte umgebunden. Obwohl die Hosen und Jacken nicht immer zusammengehörten, war alles sauber und frisch gebügelt. Gideon Mandoma stand bei ihnen, der Bantamgewichtler, gegen den ich kämpfen würde. Ich ließ Solly und Hymie stehen, ging zu ihm hinüber und strekkte meine Hand aus. »Ich sehe dich, Gideon Mandoma«, sagte ich auf Zulu. Gideon Mandoma nahm meine Hand, schüttelte sie aber kaum. Er schaute nicht auf und antwortete: »Ich sehe dich, Peekay.« »Ich höre, du kommst aus dem Tugela River Valley. Daher stammte auch meine Kinderfrau, sie hieß Mary Mandoma, stammt sie vielleicht aus demselben Kral wie du?« Gideon Mandoma schaute mich mit weit aufgerissenen Augen erschrocken an. »Die Frau, nach der du fragst, ist meine Mutter. Sie ist seit fünf Jahren tot.« Er zeigte mit dem Finger auf mich. »Bist du der mit dem Nachtwasser?« Jetzt erschrak ich. Ich stand wie betäubt vor dem Zuluboxer. Ich würde gegen Nannys Sohn kämpfen, den sie als Baby verlassen mußte, um sich um mich zu kümmern. Ich war es gewesen, der die Milch aus ihren Brüsten gestohlen hatte, als sie zuerst meine Amme und dann meine Kinderfrau war. Gideon erholte sich als erster. »Man sagt, du bist ein Häuptling, aber du mußt beweisen, daß du den Geist von Onoshobishobi Ingelosi in dir hast. Ich weiß, daß ich ein Häuptling bin und den Geist von Cetshwayo in mir habe, der ihn von Mpande, Dingane und von Shaka, dem König der Könige, hat.« Seine Augen wurden plötzlich hart. Er hatte lange Zeit gewartet, und jetzt würde er gegen den kämpfen, der ihm seine Mutter weggenommen hatte, so daß er sie erst mit sechs Jahren kennengelernt hatte. Das war nicht der Grund für den Kampf gewesen, aber es war jetzt ein zusätzlicher Grund für ihn, um zu gewinnen. Die Zulus kennen keinen Zufall. Ich wußte, daß er diese Neuigkeit als sicheres und starkes Zeichen nehmen würde. Gideon Mandoma hatte mehr Grund als ich zu gewinnen. Zum erstenmal in meiner Karriere als Boxer hatte ich Angst. Ich wußte, daß Mandoma mich schlagen konnte. Wir wogen uns in Gegenwart von Solly, Mr. Nguni, dem indi-
schen Ringrichter Natkin Patel und den anderen Afrikanern. Wir waren beide fast Bantamgewichtler, ich hatte nur fünf Pfund zuwenig, und Gideon war genau an der Grenze. Die Sonne ging gerade unter, als wir zum Ring hinausgingen. Die Luft roch schon nach Holzrauch und Kohlefeuern. Es war immer noch sehr heiß, und ich hatte den ganzen Tag schon Wasser getrunken. Ich machte mir Gedanken über Mandoma. Er hatte heute sein Normalgewicht auf die Waage gebracht, konnte also nicht viel Flüssigkeit zu sich genommen haben, und wir würden sechs Runden kämpfen, ich zum ersten Mal in meinem Leben. Das war der Kompromiß, den Solly mit Mr. Nguni ausgehandelt hatte: Amateure kämpften drei Runden, Profis zehn. Wenn ich den schwarzen Boxer genügend im Ring herum hetzen würde, dann würde er so viel Wasser verlieren, daß er in den letzten beiden Runden geschwächt sein würde. Eine alte Frau, die eine zerschlissen aussehende Felljacke über einem sackartigen Kleid trug, stand im Ring und hielt eine flammende Rede. Ihre hohe Stimme drang bis zur Schule hinüber, wo wir auf der Treppe standen. Als ihre Rede beendet war, erntete sie donnernden Applaus. Zwei Männer kamen in den Ring und hoben sie hoch, zwei weitere standen außerhalb und nahmen sie den beiden ab. »Es ist Zeit. Wir müssen jetzt gehn, bitte«, sagte Mr. Nguni, führte uns durch die schmale Gasse in der Menge zum Ring und zog ein Kabel hinter sich her, das an ein Mikrofon angeschlossen wurde. Gideon Mandoma und seine Sekundanten gingen ein paar Meter vor uns, und das Publikum auf dem Fußballplatz grölte. Wir bestiegen den Ring von verschiedenen Seiten, aber fast gleichzeitig, und das Grölen wurde noch lauter.' Hymie und Solly waren meine Sekundanten, und Hymie ging in die Ecke des schwarzen Boxers, um das Anziehen der Boxhandschuhe zu überprüfen. Ein riesiger Zulu, dessen Anzughose nicht zur Jacke paßte und von einem einzigen braunen Knopf zusammengehalten wurde, kam aus dem gleichen Grund in unsere Ecke. Ich fühlte, wie mir der Schweiß die Achseln herunterlief, als Solly mir die Hände wickelte und mir die Handschuhe zuschnürte. Mr. Nguni hob seine Arme, und langsam beruhigte sich das Publikum. Das Mikrofon war in den Ring gebracht worden, und das Echo seiner Stimme flog über den Platz, als er sich an die Menge
wandte. Zuerst stellte er den Ringrichter vor und strich heraus, daß er ein Inder sei, der extra für den Kampf aus Durban angereist sei. Die Tatsache, daß er neutral war, belohnte die Menge mit starkem Applaus. Dann sagte Mr. Nguni, daß jedermann wisse, warum dieser Kampf arrangiert worden sei. Er brauche dazu, nichts weiter zu sagen. Die beiden Geister würden das Gespräch übernehmen, und der Stärkere würde gewinnen. Dann wüßten die Schwarzen, was sie zu denken hätten. Während er sprach, war in der Menge kein Laut zu hören. Er stellte dann Gideon Mandoma vor, der mit erhobenen Armen in die Mitte des Rings geführt wurde und starken Applaus erntete. Mr. Nguni hob seine Hände, bis wieder Ruhe herrschte, und bat die Menge dann, Nkosi Sikeleli Afrika zu singen, die afrikanische Nationalhymne. Zehntausend Stimmen sangen in perfekter Harmonie, und ich werde mich immer an die Schönheit dieses Augenblicks erinnern. Es ist sehr bewegend, wenn man hört, wieviel Sehnsucht und Liebe Afrikaner in diese Nationalhymne hineinlegen. Es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren. Gideon Mandoma hatte den besten Grund, den Kampf zu gewinnen, den ein Boxer nur haben konnte. Ich hatte Schwierigkeiten, Erinnerungen abzuwehren. Ich sah Nanny vor mir. Eine gütige schwarze Frau, die mir großzügig ihre Liebe geschenkt hatte, die kein einziges Mal das Kind erwähnt hatte, das sie verlassen mußte, als sie noch Milch in den Brüsten hatte. Gideon Mandoma hatte ein Recht, mich zu hassen, und Haß ist ein guter Freund in einem Kampf. Mr. Nguni rief mich in die Mitte des Rings, und zu meiner Überraschung war der Applaus genauso groß. Als ich dort stand, begann er, dem schweigenden Publikum vom Kaulquappenengel vorzusingen. Als er an die Stelle kam, wo der Chor »Onoshobishobi Ingelosi... shobi... shobi... Ingelosi« singen mußte, fielen zehntausend Stimmen in den Refrain ein. Ich stand in der Mitte des Rings, und die Tränen liefen mir die Wangen hinab. Es war vielleicht der größte Moment in meinem ganzen Leben. Die Schwarzen wollten es wissen. Es war kein Kampf zwischen einem Schwarzen und einem Weißen, es ging um den Geist, um den Geist von Afrika. Zwei noch nicht ganz erwachsene junge Männer würden an einem heißen Sommerabend, der nach dem Rauch von Holzfeuer und nach Schweiß
roch, entscheiden, ob es Hoffnung für Weiße und Schwarze und Farbige gäbe, Hoffnung für die Bevölkerung des großen Südlandes. »Mayibuye Afrika!« rief Mr. Nguni. »Mayibuye Afrika! Afrika! Afrika! Komm zurück, Afrika! Komm zurück, Afrika!« schrie die Menge zurück. Mr. Nguni fädelte das Mikrofon vorsichtig durch die Seile und verließ den Ring. Natkin Patel rief uns zu sich. Er hatte tiefe Pokkennarben im Gesicht, das fast genau die Farbe eines guten Currygerichtes hatte, so albern dieser Vergleich auch klingt. Sein stahlgraues Haar war mit Brillantine eingecremt und lag flach an seinem Kopf an. Über seinen pfeilgerade gezogenen Scheitel lief kein einziges Haar. Er trug ein weißes Hemd, beige Flanellhosen und weiße Turnschuhe und sah eher wie ein Cricketspieler aus als wie ein Ringrichter. Während er sprach, schauten wir beide zu Boden. »Hört mir bitte zu. Wenn ich >brake< rufe, müßt ihr sofort loslassen. Wenn einer zu Boden geht, zähl ich bis acht. Keine Kopfstöße, keine mit den Ellbogen, wenn Ihr nicht sauber kämpft, vergebe ich Strafpunkte. Viel Glück, Jungens.« Er klopfte uns leicht auf die Schultern. Ich ging in meine Ecke zurück und setzte mich. Die Glocke läutete. »Hol ihn dir, Peekay«, hörte ich Hymie sagen, als er den Schemel aus dem Ring herauszog. Ich sprang auf, etwas Braunes kam quer durch den Ring geschossen. Mandoma kam blitzschnell auf mich zu. Ich fing seine Schläge mit meinen Armen und meinen Boxhandschuhen ab, er war so schnell herangekommen, daß ich nicht aus meiner Ecke herausgekommen war und ihn sofort in den Clinch nehmen mußte. Der Ringrichter rief »brake«, und ich schaffte es, ihn herumzuschwingen. Die Sonne ging gerade unter und stand schon niedrig. Für den Bruchteil einer Sekunde mußte er in die Sonne schauen und war geblendet. Diesen Augenblick nutzte ich, um ihm eine linke Gerade auf die Nase zu verpassen. Es war ein guter Schlag, und Blut rann ihm aus einem Nasenloch. Ich hätte verdammtes Glück, wenn ich diesen Trick noch mal schaffen würde, die Sonne würde spätestens in der nächsten Runde untergegangen sein, und vielleicht hatte er meinen Trick auch schon durchschaut. Mandoma war enorm aggressiv und versuchte, meine Verteidigung zu durchbrechen. Gegen Ende der ersten Runde verpaßte er mir einen Schlag unters Herz, und ich dachte, es sei alles aus. Der
Bastard war entsetzlich stark. Während der ersten Runde versuchte ich, seine Schwächen herauszufinden, aber er war ein verdammt guter Fighter, und es gelang mir nicht, eine Strategie zu entwickeln. Als die Glocke läutete, fing ich schon an zu schwitzen. »Sieh mal, Mandoma tropft«, sagte Hymie. Er hatte recht, Mandoma war in Schweiß gebadet, und obwohl die Sonne schon so tief stand, war es noch heißer geworden. »Mach ihn fertig, mein Sohn, weich zurück, er muß in Bewegung bleiben«, sagte Solly ruhig. Mandoma ging wieder auf mich los, und mir wurde klar, daß mich auch die eigentlich harmlosen Armtreffer mit der Zeit schwächen würden, wenn er so weitermachte. Ich mußte es irgendwie schaffen, daß er mich nicht so oft traf, aber er war blitzschnell, und ich hatte es hauptsächlich darauf angelegt, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich landete zwar so viele Treffer, daß ich am Schluß der zweiten Runde besser dastand als er, aber meine Treffer hatten ihm nicht weh getan, und ich verwandte den Großteil meiner Konzentration und meiner Kraft darauf, ihm so gut wie möglich auszuweichen. Gleich zu Beginn der dritten Runde traf er mich mit einem rechten Haken am Kinn, und ich lag plötzlich auf der Matte. Ich sah, wie sich zwei Mandomas in die neutrale Ecke zurückzogen. Dann fing der Ringrichter zu zählen an. Ich wußte, daß ich einen schweren Schlag abbekommen haben mußte, fühlte aber nichts. Es klingelte in meinen Ohren. Ich brauchte meine ganze Konzentration, um die Zahlen zu hören. Bei sechs sah ich plötzlich wieder deutlich, und bei acht war ich wieder auf den Beinen. Mandoma hatte mir einen Su-perschlag verpaßt, und ich wußte, daß ich nicht viele von dieser Sorte würde wegstecken können. Patel wischte mir die Handschuhe ab und ließ mich zuerst drei Finger zählen, die er hochgestreckt hatte, und dann sechs. Währenddessen erholte ich mich etwas. Das Geklingel in meinem Ohr hörte auf. Schließlich sagte er, wir sollten weiterboxen. Jetzt hatte Mandoma Blut geleckt und kam zu schnell und zu achtlos heran. Das allein war meine Rettung. Wenn er sich Zeit gelassen und gewartet hätte, bis er mir noch so einen Schlag hätte verpassen können, dann hätte er mich gehabt. Aber er war zu gierig, und seine Augen kündigten mir jeden einzelnen seiner Schläge an. Ich tauchte
unter seinen linken Haken oder rechten Uppercuts weg und schlug ihm zwei- oder dreimal in den Magen. Es waren zwar keine weltbewegenden Schläge, aber ich spürte, daß meine Knöchel tief in seine Bauchdecke eindrangen. Wenn ich dem großen Schlag aus dem Weg gehen könnte und er mir jedesmal einen Brief schickte, wenn er einen Schlag plante, dann würde ich ihn vielleicht doch noch besiegen können. Ich hatte bisher fast immer gegen Fighter gekämpft, aber Mandoma war mit Abstand der beste, und zusätzlich war er auch noch verdammt schnell. Aber wenigstens konnte ich langsam voraussagen, was er vorhatte. Wenn der Kampf nach drei Runden zu Ende gewesen wäre, dann hätte Mandoma wahrscheinlich gewonnen gehabt. Von der vierten Runde an wurde er langsamer. Am Ende der Runde hörte ich ihn schmerzhaft grunzen, als ich drei kräftige Schläge in seiner Magengrube plazieren konnte. Mandoma zog mich in einen Clinch und landete direkt, nachdem uns der Ringrichter getrennt hatte, einen harten Körpertreffer. Ich hatte das Gefühl, in einen fahrenden Eisenbahnzug hineingerannt zu sein, und ging zu Boden. Ich konnte es nicht glauben, ich schüttelte den Kopf, aber er wurde und wurde nicht klar. Bei acht schaffte ich es so gerade, auf die Beine zu kommen. Mandoma hatte mich in der Tasche, noch ein halbwegs guter Schlag, und ich wäre erledigt. Gott sei Dank läutete die Glocke, und die vierte Runde war beendet. »Er hat eine enorme Schlagkraft in beiden Händen, aber er wird schon langsamer. Bleib so nah wie möglich an ihm dran, damit er nicht ausholen kann, schlag ihm weiter in den Magen, irgendwann muß er was spüren.« Meine Kraft kam zurück. Ich spülte mir den Mund aus und spuckte das kühle, köstliche Wasser wieder aus. Die ersten zwanzig Sekunden der fünften Runde waren die härtesten überhaupt. Mandoma teilte eine Serie von linken Haken aus. Er kündigte seine Schläge aber nach wie vor an, und ich duckte mich und warf ihn mit zwei Kopftreffern in die Seile. Der schwarze Fighter riß seine Hände hoch, um den Kopf zu verteidigen, und ich servierte ihm Geel Piets Achterkombination in den ungeschützten Bauch. Genau dorthin, wo all das Wasser war, das er vorhin leichtsinnigerweise getrunken hatte. Ich wußte, daß ihm vor Schmerzen übel werden würde, er stöhnte laut und versuchte, meine
Boxhandschuhe mit seinen wegzuschieben. Meine Antwort war ein rechter Haken auf sein Kinn, hinter den ich alle Kraft setzte. Er ging zu Boden, Blut tropfte ihm aus der Nase, und ich verzog mich in eine neutrale Ecke. Bei acht war er wieder oben, aber ich sah, daß er sich schlecht fühlte, und ich tänzelte heran, um ihn mir noch mal vorzuknöpfen. Aber ein Fighter wie Mandoma hat einen ungeheuren Mut und findet immer noch den einen großen Schlag. Ich war mir völlig sicher, daß er am Ende seiner Kräfte angelangt war und sich zwischen den Runden nicht mehr ausreichend erholen konnte. In der letzten Runde würde ich ihn kriegen. Die Glocke läutete, und als ich in meiner Ecke ankam, schimpften Hymie und Solly auf mich ein. »Verdammt noch mal, warum hast du ihn nicht fertiggemacht«, schrie Hymie. »Der war doch schon so gut wie erledigt, du hättest ihn fertigmachen können, jetzt hat er Zeit, um sich wieder zu erholen«, meinte Solly vorwurfsvoll. »Noch ein guter Schlag von ihm, und ich bin erledigt«, protestierte ich. Ich hielt mich an Geel Piets Regel, nicht ah Solly Goldmans. Geel Piet hätte gesagt: »Du mußt zuallererst auf Nummer Sicher gehen, klien baas, box, box, box, laß dich nie hinreißen zu fighten.« Solly gewann seine Haltung wieder. »Du hast recht, mein Sohn, gut, daß wenigstens einer von uns noch klar denken kann.« Die Glocke läutete die letzte Runde ein. Mandoma hatte aus lauter Verzweiflung noch einmal Wasser getrunken. In der ersten Minute der letzten Runde wirkte er wieder kräftig, aber sein Timing war hinüber, und er brachte keine einzige Schlagkombination mehr zustande. Ich achtete darauf, ihm aus dem Weg zu gehen. Ich schlug ihm nur manchmal auf die Nase, damit das Blut weiterlief. Ich wartete auf den entscheidenden Augenblick. Ich drängte ihn in seine Ecke und schlug ihm immer wieder auf die Stelle unter seinem Herz. Es waren jedesmal drei harte Schläge, und dann zog er mich in einen Clinch. Nachdem der Ringrichter uns getrennt hatte, trieb ich ihn wieder in eine Ecke und das Ganze fing von vorne an. Ich konnte kaum glauben, daß er sich immer noch auf den Beinen hielt. Ich hatte noch nie jemanden so oft so hart geschlagen. Aber der Bastard ging nicht zu Boden. Und ich mußte ihn noch einmal zu
Boden bringen. Ich gab ihm noch einen Schlag auf die Nase, und seine Arme schossen automatisch nach oben. Zum ersten Mal in meinem Leben brachte ich die Dreizehnerkombination von Solly Goldman perfekt an. Mandoma stieß einen gurgelnden Laut aus, seufzte und fiel um. Er war total erledigt. Auch ich war erledigt, so erledigt wie noch nie in meinem ganzen Leben. Ich hatte noch nie sechs Runden lang gekämpft und war noch nie so verprügelt worden. Ich versuchte, einigermaßen aufrecht in eine neutrale Ecke zu gehen, und Natkin Patel fing an, Mandoma auszuzählen. Zum erstenmal während des Kampfes hörte ich das Publikum, das außer Rand und Band war. »Onoshobishobi... shobi... shobi... Ingelosi!« Der Ruf rollte wie Donner über den Fußballplatz. Immer weiter, bis das Mikrofon wieder in den Ring gestellt und Mandoma von seinen Sekundanten in seine Ecke gebracht worden war. Ich ging zu ihm hin, um zu sehen, wie es ihm ging, und um ihm die Hand zu schütteln. »Du bist der große Häuptling, du bist der, der Onoshobishobi Ingelosi ist«, sagte Mandoma, stand immer noch wackelig auf seinen Beinen und hielt meine Hand in die Höhe. Das Publikum raste. »Du bist ein Häuptling, der Geist ist noch bei dir, wir sind Brüder, Gideon Mandoma.« »Ich sehe dich, Peekay. Wir haben Milch aus derselben Mutter getrunken, wir sind Brüder.« Ich hielt seine Hand hoch, und das Publikum applaudierte wie wahnsinnig. Mr. Nguni stand wieder am Mikrofon und schaffte es nach einiger Zeit, die Menge zu beruhigen. Ich war in meine Ecke zurückgekehrt und saß auf dem Schemel. Solly rieb mich ab, und Hymie hielt ein frisches Handtuch bereit, um mich darin einzuhüllen. »Wir haben gesehen, was wir gesehen haben. Ihr müßt alle nach Hause gehen und weitererzählen, daß der Geist von Onoshobishobi Ingelosi auch in dem erwachsenen Mann weiterlebt. Ihr habt es mit euren eigenen Augen gesehen, es ist so«, sagte Mr. Nguni ganz einfach. Er wandte sich um und rief Gideon Mandoma und mich zu sich. Wir stellten uns neben ihn und umarmten uns. »Wir haben die Geister kämpfen sehen, und darin sind wir alle Brüder«, sagte Mr. Nguni, und das Jubeln des schwarzen Publikums beendete seine Ansprache.
Ich berührte Gideon an der Schulter und ging in meine Ecke zurück. Es war inzwischen fast dunkel geworden, und der Geruch von Holz- und Kohlefeuern stach mir wieder in die Nase. Durch den Lärm der abziehenden Menschenmenge hörte man in der Ferne einen Zug pfeifen. Um uns herum waren grinsende Gesichter, manche Schwarzen streckten die Hand aus und berührten mich leicht, als ob ich ein Talisman wäre. Aber die meisten schauten mich nur an, und ich sah, daß sie an mich glaubten. Die Legende hatte sich vertieft und würde sich weiter ausbreiten. Ich überlegte mir, ob sie jemals zu Ende gehen würde. Plötzlich bemerkte ich, daß sich jeder Knochen in meinem Körper anfühlte, als sei er gebrochen. Hymie stützte mich, und wir gingen durch den Menschenkorridor zur Schule zurück. Schwarze Hände berührten mich, wischten den Schweiß von meinem Körper und schmierten sich damit ihre Gesichter ein. »Da habt ihr's, was hab ich euch gesagt, Jungens, hab ich nicht gesagt, daß es ein irrer Tanz wird?« sagte Solly, als wir in der Schule ankamen. »O Mann! Zweimal dachte ich, du wärst erledigt, mein Sohn. Aber es ist gut, zu wissen, daß du auch einen richtigen Treffer aushalten kannst. Ich sag dir eins, ich hab noch nie gesehen, daß ein Amateur eine Dreizehn-Schläge-Kombination perfekt hinkriegt. Allein dafür hat sich das Kommen gelohnt.« »Sei still, Solly, siehst du denn nicht, daß Peekay Schmerzen hat«, meinte Hymie. »Nicht halb soviel Schmerzen wie der Schwarze, mein Junge«, sagte Solly. Im Duschraum setzte ich mich hin und fing an zu weinen. Es war so, als sähe ich all die kommenden Jahre voraus. Die Schmerzen hatten meinen Verstand geschärft. Ich sah Südafrika. Ich sah, was kommen würde. Etwas war mit mir passiert. Hymie sprach, aber seine Stimme klang, als spräche er in einem Echoraum. Nein, nicht in einem Echoraum, in der Kristallhöhle Afrikas. Das Echo seiner Stimme flog genau wie das Bellen der Paviane über den Regenwald ins Tal hinab. »Ich hab sie gefunden, Doc. Ich hab die eigene Kraft gefunden!« sagte Hymies Stimme. Die Höhle um mich herum war aus glänzendem Kristall, der Kristall wurde zu meinem Schmerz, und der Schmerz verstärkte sich, als das Licht immer heller wurde. Meine Konzentration nahm immer mehr zu. Ich fühlte eine über-
wältigende Traurigkeit. Ich trauerte um das große Südland. In der Helligkeit, im Licht war ein Ton, als ob das Licht und der Ton eins wären. Es waren die große Trommel und die Stimmen der Schwarzen. Sie kamen in einem Echo zusammen. »Mayihuye Afrikal Afrika! Afrika!« »Komm zurück, Afrika! Afrika! Afrika!« Mein Leben war, wie immer es auch werden würde, daran gebunden. Es gab keine Flucht, es war ein Teil der Kristallhöhle Afrikas. Und ich weinte vor Schmerz und Verwirrung, ich sah nur Zerstörung und Chaos und die Trommelschläge. Bumm, bumm, bumm, und das Licht wurde dunkler, und Doc betrat die Höhle, sein Haar war weiß wie Schnee, er war so groß wie immer. »Du mußt es versuchen, Peekay. Du mußt es versuchen. Absoludel!« Hymie legte seinen Arm um mich. »Mit diesem Onoshobishobi Ingelosi hat es mehr auf sich, als ich weiß, oder, Peekay?« »Jesus, ich hab keine Ahnung. Ich weiß es einfach nicht«, schluchzte ich. »Mach dir keine Sorgen, Peekay, niemand kann dir weh tun. Solange ich lebe, kann kein Bastard dir weh tun!« »Doc ist tot!« hörte ich meine Stimme sagen, als ob sie völlig von meinem Körper getrennt sei. Als wir an diesem Abend bei Hymie zu Hause in Pretoria ankamen, war eine Nachricht für mich da, ich solle Mrs. Boxall anrufen. »Peekay, es gibt traurige Nachrichten, der Professor ist verschwunden! Gert und alle Wärter, die keinen Dienst haben, und die Hälfte aller Männer der Stadt suchen die Hügel nach ihm ab, aber er ist schon seit zwei Tagen verschwunden. Jetzt glauben sie, daß keine große Hoffnung mehr besteht, ihn noch lebendig zu finden!« Ihre Stimme schwankte und brach ab, dann fing sie an zu schluchzen. Die Verbindung nach Barberton war schlecht, und Mrs. Boxalls Schluchzen klang abwechselnd nah und fern. »Bitte komm nach Hause, Peekay, bitte komm schnell, du findest ihn bestimmt, ihr wart doch überall zusammen«, weinte sie. Hymie zwang mich zu schlafen. »Wir wecken dich um zwei, und der Chauffeur fährt dich die zweihundert Meilen nach Barberton, dann bist du bei Sonnenaufgang dort.« Ich wußte, wo ich Doc finden würde. Ich wußte, daß er irgendwie das Unmögliche geschafft und bis in die Kristallhöhle Afrikas gekommen war. Doc würde auf der Plattform liegen, die Arme über
der Brust gekreuzt. In hunderttausend Jahren würde die Höhle entdeckt werden, und Menschen würden auf die magische Plattform klettern und sagen: »Was für ein merkwürdiger Zufall, es sieht aus wie ein Mensch aus Kristall. Ein sehr großer, dünner Mensch.« Und dann weinte ich mich in den Schlaf.
22
Niemand, nicht einmal ich, kannte Docs Religion, aber nachdem ich eine Woche lang mit verschiedenen Gruppen von Männern all unsere alten Plätze (außer einem) besucht hatte, wurde beschlossen, einen Gottesdienst für ihn abzuhalten. Marie kam und behauptete, daß Doc während der Zeit, die er mit Lungenentzündung im Krankenhaus gelegen hatte, Christus gefunden hätte. Meine Mutter war begeistert. Pastor Mulvery nahm das Recht für sich in Anspruch, einen Beerdigungsgottesdienst ohne Docs sterbliche Überreste feiern zu dürfen. Ich widersprach nicht. Marie hatte sich eingeredet, daß Doc ja zu Jesus gesagt hatte, und hielt ihn für eine ihrer wichtigsten Bekehrungen. Ich glaube nicht, daß das Doc allzuviel ausgemacht hätte, und außerdem hatte seine Liebe für das große Südland die herrlichste Verewigung gefunden, die man sich nur vorstellen konnte, nichts von Staub und Asche, sondern eine wunderbar heidnische Bestattung, die ihn zu einem lebendigen Teil seines geliebten Afrikas machen würde. Sein Geist würde in der Kristallhöhle Afrikas wohnen und über den Regenwald ins neblige Tal und über ferne Berge schauen, blaue Kleckse wie die Kreidezeichnung eines Kindes. Nach Docs Tod war ich wie betäubt. Ich bewegte mich, aber es war mir, als unterläge ich nicht mehr den Gesetzen der Schwerkraft. Alles schien auf den Kopf gestellt zu sein, Menschen sprachen mit mir, aber ich hörte sie nicht. Ihre Münder öffneten sich wie die Mäuler von Goldfischen in einem Glas, aber nichts kam heraus. Ihre Bewegungen schienen mir übertrieben, als ob sie beim Herankommen größer würden, als ob sich ihre Füße nicht vom Fleck bewegten, sich ihre Körper aber elastisch auf mich zustreckten. Der Schmerz war tief in mir, und ich wußte, daß ich deshalb nichts mehr
fühlen konnte. Ich wußte, daß ich nie wieder der gleiche sein würde, daß ich nie wieder so sehr lieben würde. Ich sagte mir, daß ich gewußt hatte, daß Doc sterben mußte, daß er es mir selbst schon vor Monaten gesagt hatte, aber ich wußte nichts über diese Art des Todes. Der Tod war gewalttätig und häßlich wie der Tod von Granpa Chook und Geel Piet, oder sogar makaber wie der Tod von Big Hettie. Der Tod, wie ich ihn in Afrika kennengelernt hatte, hatte keine Würde und gestattete kein Sich-leise-Davonmachen. Deshalb hatte ich das Gefühl, daß Doc einen Betrug begangen hatte, er war einfach verschwunden, er hatte den Sensenmann eher gerufen, als daß er seinem Ruf gefolgt wäre. Ich fühlte mich betrogen, sogar wütend. Warum hatte er nicht auf mich gewartet? Warum hatte er mir nicht Bescheid gesagt, damit ich ihn zur Kristallhöhle bringen konnte? Aber ich wußte auch, daß ich das nicht gekonnt hätte, ich hätte mich bis zum letzten Moment an ihn gehängt. Ich wußte auch, daß er das gewußt hatte. Aber es half mir nicht aus meiner Erstarrung heraus. Es nahm mir nicht den dumpfen, ständigen Schmerz unter dem Herzen, genau an der Stelle, auf die man seinen Gegner schlägt, bis er nicht mehr kann. Genau so war es, die Glocke hatte geläutet, aber ich hatte weder die Kraft noch die Willensstärke, um die nächste Runde zu beginnen. Pastor Mulvery sagte viel über das Ende von Docs Mühsal in diesem Tränental. Er nannte Doc einen großen Pianisten und einen großen Gärtner. »Der Herr Jesus gibt unserem geliebten Professor im Himmel einen duftenden Garten voller Stiefmütterchen und Wicken, und dem Engelschor spielt er seine Musik vor.« Die regelmäßigen Kirchgänger müssen das für eine sehr gute Beschreibung des Lebens nach dem Tode gehalten haben, und sie feuerten Pastor Mulverys Lobpreisungen mit »gelobt sei der Herr« und »gepriesen sei sein heiliger Name« an. Ich hörte das alles, aber ich verstand nichts davon, es hatte nichts mit Doc zu tun. Absoludel nichts. »Ach du meine Güte. Unser lieber, lieber Professor hätte das ewige Höllenfeuer bestimmt einem Garten mit Stiefmütterchen und Wicken, in dem er einem Engelschor vorspielen muß, vorgezogen«, sagte Mrs. Boxall, die Pastor Mulvery und der Apostolischen Glaubensmission zum ersten Mal ausgesetzt war. Auf dem Hügel über dem Rosengarten blühte die Aloe, und am
Tag des Gottesdienstes war ich früh zu unserem Felsen hinaufgestiegen und hatte dort eine Zeitlang geweint, bis die Sonne über dem Tal aufging. Auf dem Rückweg schnitt ich ein paar blühende Kandelaber von Aloepflarizen ab und steckte sie in eine große Kupfervase, die ich in einem Hinterzimmer in der Kirche fand. Als ich später zum Gottesdienst wieder in die Kirche kam, waren meine Blumen weggeräumt und statt dessen stand ein Strauß mit rosa und orangeroten Gladiolen dort. Selbst der alte Mr. Bornstein, der die ganze Zeit seinen Hut nicht abnahm, war mit Miss Bornstein zu dem Gottesdienst gekommen. Miss Bornsteins leuchtender Lippenstift und ihre roten langen Fingernägel wirkten in einer Kirche merkwürdig, die ihre Gläubigen lehrte, daß jegliches Make-up mit der Ausnahme von Gesichtspuder Sünde sei. Ich hörte einmal, als eine Frau Zeugnis für den Herrn ablegte, daß lange rote Fingernägel die Krallen des Teufels seien, von denen das Blut der Sünder heruntertropft. Miss Bornstein sah wunderbar zwischen den geschrubbten, ungeschminkten Frauen aus, die ihr ergrauendes Haar mit billigen Klammern aus Zelluloid zurückgesteckt und ihre Hüte in einem zaghaften Versuch, sich doch etwas zu schmücken, mit ein paar kleinen Stoffblumen verziert hatten. Ich sah, wie sie ihr Blicke zuwarfen, ihre wunderbare Haut bemerkten, ihr glänzendes schwarzes Haar, ihre grünen Augen und ihre sündig rot leuchtenden Lippen und Fingernägel. Wenn sie das nächste Mal bei einer Tasse Tee zusammensäßen, würden sie selbstgerechte Schmähworte loslassen. Sie hatten die Fleisch gewordene Sünde gesehen, der Teufel persönlich hatte zwischen ihnen gesessen. Als nach dem Gottesdienst vor der Kirche kein ernst aussehender Doc im Sarg lag, gratulierten die Sektenmitglieder Marie für ihre aufsehenerregende Bekehrung. Selbst meine Mutter bekam etwas unverdientes Lob ab, weil sie es schon seit langer Zeit für möglich gehalten hatte, Doc eines Tages zu bekehren. Captain Smit und der Kommandant und alle Wärter, die Doc gekannt hatten, kamen, um seinem Andenken Ehre zu erweisen. Nach dem Gottesdienst lud mich Captain Smit ins Gefängnis ein, wo die Boxmannschaft eine Art Gedenkstunde für Doc abhielt. Es stellte sich heraus, daß es dabei ziemlich lustig zuging, es wurde gegrillt und gesungen, und ich versuchte, fröhlich zu sein, denn ich vermu-
tete, daß die ganze Sache hauptsächlich arrangiert worden war, um mich etwas aufzuheitern. Diese Veranstaltung hätte Doc sehr viel besser gefallen als der scheinheilige Gottesdienst. Gert nahm mich zur Seite. Als ich angekommen war, um Doc zu suchen, hatte ich ihn abgelöst. Er hatte seit drei Tagen kaum geschlafen gehabt und war sehr erschöpft gewesen. »Sag mal, Mann, wieso haben wir ihn nicht gefunden? Du kennst doch alle Orte, die er aufsuchte.« »Ja, es ist komisch, aber du kennst doch Doc, Gert. Er kannte vielleicht einen alten Bergwerksschacht, von dem niemand außer ihm etwas wußte, den er schon Jahre, bevor wir uns kennenlernten, gefunden hat.« Gert sah mich an. »Nein, das kann nicht sein. Ihr wart euch zu nah. Ich glaub, du weißt, wo er ist, aber du hast recht, an deiner Stelle würd auch ich nichts verraten.« Gert war ein stiller Bursche, der das meiste mitbekam. Er war gerade zum Sergeant befördert worden, und jedermann glaubte, daß er es noch weit bringen würde. Doc hinterließ mir alles, was er besaß, inklusive des Steinways. Dee und Dum erbten eine kleine Versicherungspolice im Wert von zwanzig Pfund. Meine Mutter ließ den Steinway in unser Wohnzimmer bringen, wo er praktisch den ganzen Raum ausfüllte. Die beiden zum Sofa gehörenden Sessel mußten auf die hintere Veranda gestellt werden. Das war nur gut, weil wir dort sowieso immer saßen. Außer Damen, die meine Mutter aus der Kirche kannte, und Leuten, die zur Anprobe kamen, hatten wir nie Besucher, die in dem unbequemen Wohnzimmer Platz nehmen mußten, die hintere Veranda war also perfekt für die alten Brokatstühle mit den geschnitzten Klauenbeinen, die nach vierzig Jahren Wohnzimmer jetzt endlich echte »Basisarbeit« leisten mußten. Ich glaube, daß sich mein Großvater wegen der verbannten Sessel am Anfang etwas verletzt fühlte. Seine schöne Frau, für die der Rosengarten angelegt worden war, hatte die Möbel gekauft. Aber als ich in den Ferien nach Hause kam, war einer der Sessel zu seinem Sessel geworden und hatte mehrere kleine Brandlöcher, wo Glut aus seiner Pfeife auf den verblichenen Brokat gefallen und sich durchgefressen hatte. Docs Häuschen lag in einer gewissen Entfernung von den Häusern der anderen Europäer auf einem kleinen kopjie, und in seinem
Testament, das der junge Mr. Bornstein mir vorlas, stand, daß ihm der ganze kleine Hügel gehörte. Ich ließ Dee und Dum als Hausbesorger in das Häuschen einziehen, meine eigentliche Absicht aber war, daß sie dort wohnen konnten. Das winzige Haus mit drei Zimmern und einer angebauten Küche war ein echtes Herrenhaus neben dem kleinen, aus Ziegelsteinen gebauten Raum neben der Baumschule für die Rosen, in dem sie bisher gewohnt hatten. Docs Tod hatte beiden entsetzlich zu schaffen gemacht. Doc hatte sie gebeten, ihm Verpflegung für drei Tage einzupacken und mit niemandem über seinen Weggang zu sprechen. Als er am vierten Tag nicht zurückgekommen war, war Dee zu Mrs. Boxall gegangen, die Alarm geschlagen hatte. Dee hatte Wort gehalten und Mrs. Boxall nur gesagt, daß Doc am vorigen Abend nicht zurückgekommen sei, daß sein Bett unberührt und die Glut in seinem kleinen Ofen erloschen gewesen sei. Mir hatten die beiden gestanden, daß Doc von ihnen Verpflegung für drei Tage erbeten hatte, und das hieß, daß er schon vier Tage fort gewesen war, als Mrs. Boxall mich angerufen hatte. Als ich nach dem Kampf mit Gideon Mandonia gespürt hatte, daß Doc tot war, war er schon drei Tage fort gewesen. Er hatte zwei Tage gebraucht, um zur Kristallhöhle von Afrika zu kommen, dort hatte er sich ausgeruht, und irgendwann am dritten Tag hatte er den Felsen erstiegen. Doc war ein methodischer Mensch, er würde alles bis in die kleinste Einzelheit im voraus geplant haben. Marie erzählte mir, daß er sich während seiner Zeit im Krankenhaus jeden Abend darüber beschwert hatte, nicht schlafen zu können, und daß sie ihm Schlaftabletten gegeben hatten. Doc hatte niemals Pillen geschluckt, er wollte »keine schädlichen Chemikalien im Blut haben«. Ich wußte, daß er die Schlaftabletten mitgenommen hatte. Doc neigte nie zu leichtsinnigem Handeln, und er hatte seinen Tod bestimmt genau geplant. Da Dee und Dum ihr Wort gehalten hatten, wurde nur im Hügelland nach Doc gesucht. An einem Tag konnte ein hinfälliger alter Mann, der sich gerade von einer Lungenentzündung erholt hatte, bestimmt nicht sehr weit gekommen sein, keinesfalls jenseits des Saddleback-Passes. Ich aber kannte Doc besser. Er hatte es gut durchgeplant und seine Chancen genau eingeschätzt. Am Tag, bevor ich in die Schule zurückkehren mußte und sich die Aufregung über Docs Tod etwas gelegt hatte, brach ich allein in
die Hügel auf. Am Vorabend hatte ich meiner Mutter beim Essen gesagt, daß ich im Andenken an Doc einen letzten Ausflug unternehmen wollte, und brach vor Tagesanbruch auf. Ich wußte, daß Doc noch irgend etwas brauchte. Wenn das nicht so gewesen wäre, dann hätte er mir eine Nachricht hinterlassen. Zusammen mit Dee und Dum hatte ich das Haus und den Kaktusgarten durchsucht, ohne irgend etwas zu finden. Doc brauchte eine letzte Hilfeleistung von mir, das wußte ich ganz sicher. Und außerdem mußte ich eine Art Ritual begehen, das ich mir ausgedacht hatte, um mit Docs Tod fertig werden zu können. Ich steckte ein Büchse Sardinen und ein paar Orangen ein, legte eine Tomate, zwei hartgekochte Eier und ein paar übriggebliebene Salzkartoffeln in meine alte Schulbrotbüchse, füllte eine Flasche mit Wasser, holte die Taschenlampe und brach auf. Um kein Mißtrauen zu wecken, nahm ich kein Seil mit, ich war sicher, daß ich den Felsen ohne Seil erklettern könnte. Bei Sonnenaufgang machte ich eine Pause, trank etwas und aß eine Kartoffel, und am späten Vormittag kam ich bei unserem alten Lager am Rand des Regenwaldes an. Über mir erhob sich die Felswand, die mir jetzt plötzlich so viel mehr bedeutete. Doc war, wie ich es erwartet hatte, in unserem alten Lager gewesen. Es hatte seit zehn Tagen nicht mehr geregnet, und die Asche an der Feuerstelle war noch frisch und pudrig. Um ganz sicher zu sein, ging ich zu der Stelle, wo ich unseren Abfall vergraben hatte, und schaute nach. Eine zweite Fleischbüchse und die Verpackung von Bakers Pretty Polly Crackers kam zum Vorschein. Doc liebte diese trockenen, völlig ungewürzten Cracker und kaufte immer diese Marke. Eine halbe Stunde später stand ich auf dem Felsband, das zur Höhle hinführte. Zuerst fand ich keinerlei Anzeichen, daß Doc dort gewesen war, und mein Herz begann wie wild zu schlagen. Was wäre, wenn Doc es nicht geschafft hätte? Was, wenn er beim Aufstieg abgestürzt wäre und irgendwo unten im dichten Regenwald läge? Ich wehrte die Panik ab, ich wußte, daß ich ihn dann finden und irgendwie heraufschaffen müßte, um ihn in der Höhle auf die Plattform legen zu können. Das hätte mich zwei Tage gekostet, wenn ich es überhaupt geschafft hätte. Ich wußte auch, daß Doc niemals gewollt hätte, daß ich die Kristallhöhle Afrikas beträte, wenn er darin läge. Doc war ein sehr sensibler Mann und der Gedanke, daß ich seinen toten Körper auf der
Plattform liegen sähe, wäre ihm unerträglich gewesen. Er würde mir Anweisungen im Tageslicht außerhalb der Höhle hinterlassen haben. Dort würde seine Botschaft auf mich warten. Ich suchte das Felsband Zentimeter für Zentimeter ab. Doc hatte mich gelehrt, genau zu beobachten. Ich wußte, daß er eine sehr genaue Untersuchung des Felsbandes von mir erwarten würde. So genau, daß nur ein trainiertes Auge etwas finden würde, wenn er etwas versteckt hätte, keinesfalls aber jemand, der nur interessiert herumschaute. Ich suchte eine halbe Stunde lang, aber die Felsstufe aus Kalkstein war nach hunderttausend Jahren Ansturm von Wind, Regen und Wasser entstanden und im Lauf der Zeit glattgeschmirgelt worden. Es gab auch keine Unebenheiten oder Risse im Dolomit. Ich fing an zu zweifeln. Doc könnte vorgehabt haben, mir eine Nachricht zu hinterlassen, bei der Ankunft hier oben aber schon so schwach gewesen sein, daß er seine letzte Kraft darauf verwandt hatte, auf die Plattform hinaufzukommen. Und dann sah ich es. Ein dunkler Streifen eines eingelagerten Minerals lief über die Stufe. Ich fuhr mit der Hand darüber und wurde plötzlich gestochen. Ich zog meine Hand zurück und schaute sie an. Ein winziger Tropfen Blut quoll aus meiner Handfläche hervor. In der Mitte des dunklen Felsstreifens ragte nur wenige Millimeter die Spitze der Klinge von Docs Joseph-Rogers-Taschenmesser hervor. Doc hatte entdeckt, daß das dunkle Sediment weicher war als der Fels, in das es eingebettet war, und er hatte mit seinem Taschenmesser ein Loch hineingegraben. Dann hatte er den herausgekratzten Sand mit etwas Wasser aus seiner Flasche vermischt, das Messer mit der Spitze nach oben in das Loch gesteckt und es dann mit dem Sandbrei wieder zugeschmiert. Ich kratzte die Erde weg und grub das kleine Messer aus. Um den Griff herum hatte er einen Brief gewickelt und mit Schnur festgebunden. Das Loch war tiefer, als ich zuerst vermutet hatte, tiefer und breiter, und unter dem Messer lag Docs goldene Taschenuhr. Mit der Messerspitze angelte ich nach der Kette und zog die wunderschöne alte Uhr heraus. Ich steckte sie in die Hosentasche und zupfte dann mit ungeschickten zitternden Fingern an dem Faden, mit dem der Brief an dem Messergriff aus schwarzem Bein festgebunden war. Er bestand aus einer Seite, die Doc aus einem seiner kleinen Notiz-
blöcke herausgerissen hatte. Sie war von oben bis unten mit winzig kleinen, aber deutlich geschriebenen Noten übersät. Auf die Mitte der Rückseite hatte Doc mit seiner schönen Schrift einen kurzen Brief geschrieben.
Mein lieber Peekay, auf der ganzen Welt hat niemand einen solchen Freund wie Dich. Gestern abend kam mir eine Musik in den Kopf, da wußte ich, daß es Zeit war für mich zu gehen. Wer weiß, vielleicht ist es die Musik für Afrika f Vielleicht ist es nur meine Musik für Dich? Nicht so gut wie Mozart, nie so gut wie Mr. Beethoven oder Mr. Brahms, aber vielleicht besser als eine Nocturne von Chopin. So ein kleines Musikstück für so ein langes Leben. Ich bin so ein domkop. Aber kein solcher domkop, daß ich Dich nicht mein Freund sein lasse. Mit Dir habe ich das große Los gezogen. Jetzt muß ich in die Kristallhöhle Afrikas gehen. Du darfst erst nachkommen, wenn Deine Zeit gekommen ist. Vielleicht treffen wir uns in hunderttausend Jahren wieder. Auf Wiedersehen, Mr. Schlauberger Weltmeister im Weltergewicht. Dein Freund Doc Ich hatte schon um Doc geweint, und der Brief schenkte mir Trost. Doc war in Sicherheit und dort, wo er sein wollte, und sein Geheimnis würde für immer gewahrt werden. Ich betrat den Tunnel, der in die äußere Höhle führte und probierte das Seil aus, das ich als Geländer an der Wand befestigt hatte. Es wirkte noch ganz stabil. Er hatte bestimmt keine großen Schwierigkeiten gehabt, in den engen Höhleneingang hineinzukommen. Ich brauchte nur ein paar Minuten, bis ich den Stahlhaken aus der Felswand gezogen und das Seil entfernt hatte. Ich kletterte auf das Felsband zurück, entfernte den zweiten Stahlhaken und steckte die beiden Haken und das Seil in meinen Rucksack. In wenigen Jahren würden die kleinen Löcher im Fels
nicht mehr zu sehen sein, und nichts würde mehr daran erinnern, daß hier einmal Menschen gewesen waren. Die Paviane oder hin und wieder ein Leopard würden die äußere Höhle besuchen, aber niemand würde die dunkle, feuchte Kristallhöhle Afrikas betreten. Doc war für die hunderttausend Jahre in Sicherheit, die es dauern würde, bis er, zu Kristall geworden, für ewig zu einem Teil Afrikas geworden wäre. Gerade als der Mond über dem Tal aufging, kam ich zu Hause an. Der Schmerz, der starke, dumpfe Schmerz unter meinem Herzen hatte sich gelegt. Ich war noch traurig, war aber auch stolz darauf, daß Doc sein Ziel erreicht hatte. Und wir würden immer miteinander verbunden bleiben, er war ein Teil von mir. Er hatte einen verängstigten und verwirrten kleinen Jungen gefunden und hatte ihm Zuversicht und Musik und Wissen und Liebe zu Afrika geschenkt und hatte mir beigebracht, mich nicht zu fürchten. Jetzt wußte ich nicht, wo die Grenze zwischen dem Jungen und Doc verlief. Er hatte mir alles geschenkt, was ich besaß. Jetzt, wo Doc für immer Ruhe gefunden hatte, wußte ich, daß wir niemals voneinander getrennt werden konnten. Die Kaffeekanne fuhr am nächsten Tag um vier Uhr los, und ich hatte Anschluß an den Nachtzug von Kaapmuiden nach Johannesburg. An diesem letzten Morgen zu Hause ging ich in das vordere Zimmer, öffnete den Steinway und übte Docs Musikstück, das ich vorher auf drei Blätter Notenpapier übertragen hatte. Nachdem ich eine Stunde lang herumprobiert hatte, nahm die Musik Gestalt an. Es war eine Nocturne, durch die sich von Anfang bis Ende eine musikalische Phrase hindurchzog. Es war eine wunderschöne Musik, eindeutig afrikanisch, und sie enthielt die Traurigkeit und die unbestimmte Sehnsucht, die immer in der Musik der Schwarzen ist. Die Phrasierung und eine immer wieder auftauchende Melodie kamen mir irgendwie bekannt vor, wie etwas, was ich in einem Traum gehört hatte, oder wie etwas, was man, ohne daß man es weiß, im Blut hat. Und dann erkannte ich, was es war. Es war der Singsang des Kaulquappen-Engels. Ich hörte überrascht auf zu spielen. Doc hatte diese Melodie niemals gehört, sie war ja erst während der Zeit im Internat entstanden. Ich spielte das Stück noch einmal. Es war kein Zufall, der Singsang gehörte ganz eindeutig dazu, er lief in vielen Variationen durch die
ganze Nocturne: klar, unverwechselbar, wild, wunderschön. Onoshobishobi Ingelosi... shobi... shobi... Ingelosi verkündeten die Klaviertöne so deutlich, als ob es die Schwarzen selbst gesungen hätten. Es war spät geworden, und es wurde höchste Zeit, mich von Mrs. Boxall, dem alten Mr. Bornstein und Miss Bornstein zu verabschieden. Gert hatte mir versprochen, mich abzuholen und mich im neuen Gefängnis-Chevy zum Bahnhof zu bringen, was bedeutete, daß sich meine Mutter und mein Großvater nicht auf Pastor Mulvery verlassen mußten, dessen flüchtende Vorderzähne und salbungsvolle Art ich zunehmend deprimierend fand, und ich war froh, daß er meine unangenehmen Gefühle nicht noch verstärkte, die ich sowieso immer bei Abschieden empfand. Ich legte Docs Noten in einen schmalen Gedichtband von Wilfred Owen, den Mrs. Boxall mir gegeben hatte. »Nicht so rührselig wie Rupert Brooke, aber ganz bestimmt ein besserer Kriegsdichter«, hatte sie gesagt. Von zu Hause wegzufahren mit dem Wissen, daß bei meiner Rückkehr Doc nicht mehr da sein würde, das machte mich beim Abschied so traurig, daß ich es kaum ertragen konnte. Meine Mutter versuchte lustig drauflos zu plaudern, aber sie war keine Frau, die lustig plaudern konnte, und mein Großvater klopfte seine Pfeife aus, stopfte sie und paffte, drehte sich um, schaute zu den Bergen und sagte: »Quellwolken brauen sich zusammen, es könnte heute nacht ein Gewitter geben, gerade jetzt, wo die Knospen der Frensman sich öffnen.« Die Frensman waren tiefrote, langstielige Rosen, und der Sturm tat ihnen nur dann nichts an, wenn die Knospen noch fest geschlossen waren. Gert, der selbst in Hochform kaum jemals etwas sagte, verstärkte durch seine Schweigsamkeit meine bösen Vorahnungen, und das Warten auf die Abfahrt der Kaffeekanne wurde mir fast unerträglich lang. Ich griff in die Tasche meiner neuen grauen Flanellhose, die der alte Mr. Bornstein geschneidert hatte, und zog Docs Taschenuhr heraus. Als ich den Sprungdeckel aufklicken lassen wollte, wurde mir meine Unüberlegtheit bewußt, und ich schob die wunderschöne alte Uhr schnell zurück in die Tasche. Meine Hast deutete natürlich auf meine Schuldgefühle hin. Ich dachte, daß niemand etwas bemerkt hätte. Aber ein paar Minuten später, als meine Mutter sich gerade umgedreht hatte, um mit
meinem Großvater zu sprechen, flüsterte Gert: »Du hast ihn also gefunden? Das freut mich unheimlich, Peekay.« Ich ging nicht darauf ein und tat so, als ob ich nichts gehört hätte. Ich wußte, Gert würde nicht darüber sprechen. Ein Pfiff erinnerte an die bevorstehende Abfahrt, und es kam Leben in die kleine Menschengruppe auf dem Bahnsteig, wie es immer passierte, wenn ein lang herausgezögerter Abschied plötzlich beendet ist. Bei uns war es genauso, jeder von uns war heimlich froh, daß die Warterei vorbei war. »Paß auf dich auf, Sohnemann«, sagte meine Mutter und hielt mir ihre gepuderte Wange hin. »Du bist ein guter Junge«, sagte mein Großvater, paffte und schüttelte mir die Hand. Als ich ihn anschaute, sah ich, daß seine blauen Augen etwas rheumatisch glänzten und daß sich die Haut an seinen Wangen und um seinen Mund herum straff spannte, wie es vorkommt, wenn sehr dünne Menschen alt werden. Gert verabschiedete sich von mir mit dem traditionellen festen afrikanischen Handgriff. »Alles Gute, Peekay, bis zum Juli, Mann.« Er sprang in eine Boxerhaltung und versuchte dadurch, seine Verlegenheit zu verbergen. »Halt die Ohren steif, verstanden.« Er grinste, beugte sich zu mir, so daß nur ich ihn hören konnte, und sagte: »Kämpf nicht mehr gegen Kaffern, verstanden, ihre Köpfe sind einfach zu hart, Mann.« Der Pfiff der Kaffeekanne war so laut, als gehöre er zu einem viel größeren, wichtigeren Zug. Die Reisenden in dem Drittklasswaggon mit der Aufschrift Black only kreischten und schrien vor Vergnügen, fünf oder sechs Köpfe und ein Dutzend Arme ragten aus jedem Abteilfenster heraus, sie schwenkten große Taschentücher und genossen die Situation aus vollen Zügen. Ich winkte, bis man nach der langen Kurve den Bahnsteig nicht mehr sehen konnte. Ich seufzte vor Erleichterung auf und lehnte mich in den grünen Ledersitz zurück. Ich wußte, daß ich das Abteil bis Kaapmuiden für mich allein haben würde, und war sehr froh darüber. Es war erst eine Woche her, daß ich gegen Gideon Mandoma gekämpft hatte, aber es war viel passiert. Hymie sprudelte über vor Neuigkeiten, als wir in der Schule ankamen. Er hatte sich mit Mr. Nguni über die geschäftlichen Bedingungen geeinigt, und jetzt trainierten zwanzig junge schwarze Boxer in Sollys Turnhalle, und außerdem waren drei schwarze Box-
funktionäre da, die den Umgang mit Boxern lernen und irgendwann ihre Prüfung als Ringrichter ablegen sollten. Gideon Mandoma und drei weitere junge Boxer wurden von den anderen Schwarzen getrennt und trainierten Mittwoch nachmittags und sonntags vor der Kirche mit mir zusammen. Gideon wurde bald mehr für mich als nur ein guter Trainingspartner. Er lachte viel und hatte eine schnelle, witzige Art zu denken, die mir gut gefiel. Sein Englisch war nicht gut, und wir sprachen am Anfang meistens Zulu zusammen. Nach etwa drei Wochen klopfte er mir nach dem Training mit seinem Boxhandschuh auf die Schulter. »Kein Zulu mehr. Peekay, dein Zulu kommt aus der Brust meiner Mutter, jetzt soll mein Englisch aus deinen Fäusten kommen. Du mußt mir Englisch beibringen.« Er streckte sich und strich sein Haar langsam nach hinten, so wie Hymie es machte, berührte es kaum und tat so, als mache er sich vor dem Spiegel zurecht. »Ich hab ein paar gute englische Worte von Hymie aufgeschnappt.« Er verzog das Gesicht und spuckte genau wie Hymie die Worte aus: »Du unverschämter verdammter Kaffer!« Gideon warf seinen Kopf zurück und lachte. »Dieses Englisch versteh ich sehr gut!« Da hatte ich die Idee. »Wir machen eine Schule für Sollys schwarze Boxer auf«, verkündete ich, als Hymie und ich nach dem Training mit der Straßenbahn in die Schule zurückfuhren. »Großer Gott, Peekay, geht das nicht ein bißchen zu weit? Die schwarzen Bastarde erziehen, und bevor man sich versteht, übernehmen sie die Macht im Land.« »Es gehört ihnen genauso wie uns. Eigentlich mehr als uns«, sagte ich und wunderte mich über seinen Ausbruch. »Du hast vollkommen recht, aber können wir es nicht so halten, daß sie etwas länger brauchen, bis sie es rausfinden? Die Kerle so lang wie möglich im dunkeln tappen lassen?« »Hymie, was redest du denn da? Ich dachte, du seist ein liberaler Denker!« Hymie lachte. »Als erstes bin ich Pragmatiker, es muß irgendwie Geld dabei herausspringen. Ich hab aber nicht die leiseste Ahnung, wie. Wie sollen wir das anstellen, wie sollen wir die Rassenschranken in der Prince of Wales-Schule beseitigen?« »Jetzt hör auf, Hymie, nimm's ernst. Wenn wir zu Singe 'n Burn gehen und als echte Renaissance-Menschen eine volle Ladung libe-
rales Blablabla von uns geben, dann bin ich ganz sicher, daß er mitmacht. Wir könnten den Unterricht für die Schwarzen Samstag abends in einem der Klassenzimmer abhalten.« »Jetzt klingt es schon besser! Eine Unterrichtsstunde pro Woche dürfte die weiße Zivilisation hier an der Südspitze von Afrika nicht allzusehr erschrecken.« »Nun, was hältst du davon?« »Im Augenblick seh ich keine Möglichkeit, Geld damit zu verdienen, aber wie Karl Marx, oder war es Christus, sagt: >Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.< Wir machen genau das, was du vorschlägst.« »Prima! Du bringst bei Singe 'n Burn die Rede drauf, indem du sagst, daß du als Jude genau weißt, was es bedeutet, zu einem unterdrückten Volk zu gehören.« Hymie dachte einen Moment lang nach. »Gut, kein Problem, ich geh einfach hin und bitte Singe 'n Burn, in dieser Zitadelle weißer Privilegien eine Schule für Schwarze zu eröffnen, und weise darauf hin, daß ich als eine seit rund eintausendneunhundert Jahren unterdrückte Person...« »Gut, ich mach für morgen nach der Schule einen Termin mit ihm aus.« Singe 'n Burn erwies sich als schwieriger, als wir vermutet hatten. Er war sich ganz und gar nicht sicher, welche Haltung die nationalistische Regierung einer der berühmtesten englischsprechenden Privatschulen des Landes gegenüber einnehmen würde, die zur Wiege der Erwachsenenbildung für Schwarze werden würde. Es gab natürlich Schulen für Schwarze, und manche davon waren sehr gut. Aber viele Afrikaner verließen die Schule schon vor der Highschool, und noch viel mehr besuchten nur zwei oder drei Jahre lang die Grundschule. Die allermeisten gingen überhaupt nie zur Schule. Wenn sie später lesen und schreiben lernen wollten, hatten sie keine Möglichkeit dazu, weil es keine Erwachsenenbildung gab. Wir schienen in einer Sackgasse gelandet zu sein. Singe 'n Burn versprach, das Anliegen bei der Schulbehörde vorzutragen, wo es bestimmt abgelehnt werden würde. Ihre Vorstellung von christlichen Gentlemen ließ keinen Raum für den Gedanken, daß alle Menschen Brüder seien, wenn das bedeutete, daß die Rassenschranken dadurch niedriger wurden.
Unsere Argumente waren gut, unsere Politik aber naiv gewesen. In Südafrika haben Politik und soziale Gerechtigkeit sehr wenig miteinander zu tun, sobald es sich um Schwarze handelt. »Es war ziemlich blauäugig von uns, anzunehmen, daß er uns die Sache so einfach abkaufen würde, wir müssen den Kerl dazu bringen, daß er sich schuldig fühlt, das haut beim Renaissance-Menschen immer hin«, sagte Hymie. Wir saßen im Aufenthaltsraum der Präfekten, der von den anderen Präfekten nach der Schule nur selten benutzt wurde und wo man angenehm reden und arbeiten konnte. »Ich dachte, wir hätten ihm schon Schuldgefühle eingeimpft?« »Intellektuelle Schuldgefühle ja. Aber Schuld muß innerlich an einem nagen, das ist etwas ganz anderes. In dieser Hinsicht sind Juden Fachleute. Ich geb dir ein Beispiel. Bis zum Boxkampf in Sophiatown waren die einzigen Schwarzen, die ich kannte, Mary, unsere Köchin, und Jefferson, der Butler. Und natürlich die anderen namenlosen Diener, die so taten, als würden sie arbeiten. Am Nachmittag, an dem der Kampf stattfand, kam ich zum ersten Mal Afrikanern nah. Ich erlebte sie zum erstenmal als Menschen, nicht einfach als Diener oder treue Hausangestellte, sondern als Menschen, die ihre Probleme haben. Genau wie andere Leute auch. Ich hab es dir nie gesagt, aber die Wirkung war ungeheuer. Ich merkte, daß ich sie gut leiden konnte. Mehr als das, ich verstand zum erstenmal, wie sich die verfolgten Juden gefühlt haben mußten. Als sie für dich gesungen haben, nicht nur für Gideon, das war ja selbstverständlich, sondern auch für dich, da hab ich mich meiner weißen Haut geschämt. Diese Art von Schuldgefühlen meine ich.« »Mann, Hymie, davon hast du mir ja gar nichts erzählt.« »Was soll man da groß erzählen? Man kann es gar nicht erzählen, man muß es fühlen. Genau das braucht Singe 'n Burn. Er muß nicht fühlen, was er ablehnt, sondern wen er ablehnt. Wir müssen ihm Gideon vorstellen.« »Du hast es erlebt, wie zehntausend Afrikaner Sikelel i Afrika gesungen haben, glaubst du, Gideon allein kann ihn überzeugen? Er ist der einzige unmusikalische Zulu, den es gibt.« Es stimmte, Gideons Singstimme klang wie eine rostige Feile auf Hartholz. »Nein, natürlich nicht. Aber wenn wir diesen unverschämten schwarzen Bastard auf ihn loslassen, dann klingt er wie Othello.« Hymie und ich dachten uns eine großartige Rede für Gideon
Mandoma aus. Gideon sollte sie auf Zulu auswendig lernen, und ich würde sie ins Englische übersetzen, so als hörte ich sie zum ersten Mal. Singe 'n Burn würde von der Sprache, der Poesie und der Brillanz beeindruckt sein. Er würde begreifen, daß ein Schwarzer nicht nur ein Holzhacker oder ein Wasserträger ist, auch kein edler Wilder, sondern jemand, der vielleicht so ein Begabungspotential hatte, daß er sogar zu den St. Johns Leuten gehören könnte. Wir trichterten Gideon die Rede ein, dann zog er ein weißes Hemd, eine sauber gestopfte alte Anzughose und geputzte schwarze Schuhe an, und wir stellten uns ins Singe 'n Burns Arbeitszimmer ein. Der Empfang war sehr freundlich, wir ließen uns alle in seinen großen alten Ledersesseln nieder, und seine Sekretärin Mrs. Perkins brachte uns Tee und Marie Biskuits. Wir hatten mit dem Tee schon gerechnet und Gideon üben lassen, eine Tasse auf seinen Knien zu balancieren, und er wirkte höflich und durchaus Herr der Lage. Aber ich wußte, daß er innerlich zitterte und bebte. Ich erklärte Singe 'n Burn, daß Gideons Englisch nicht gut genug sei, um eine Unterhaltung zu führen, und daß ich als Dolmetscher fungieren würde. Ich glaube, die Tatsache, daß einer der St. Johns Leute aus dem Zulu übersetzen konnte, beeindruckte den Alten ungeheuer. Wie wir es eingeübt hatten, fing Gideon auf englisch an. Er lächelte breit, und seine wunderschönen weißen Zähne glänzten: »Entschuldigen Sie mein Englisch, Sir, es ist nicht so gut, für diese Sache in meinem Herzen zu sagen.« Singe 'n Burn nickte mitfühlend. Ich sah, daß der Plan funktionierte. Gideon räusperte sich und sprach dann auf Zulu weiter. Jeden der sorgsam eingeübten Sätze übersetzte ich mit tiefer dramatisch klingender Stimme. »Ich komme nicht von einem Sklavenvolk, aber ich wurde zum Sklaven gemacht. Ich komme von einem Volk tapferer Männer, aber ich wurde zum Weinen gebracht. Ich, der ein Häuptling sein werde, wurde zu etwas gemacht, was kein Mann sein sollte, zu einem Mann ohne Rechte und ohne Zukunft.« Ich machte eine dramatische Pause und fuhr dann fort: »Ich zähle siebzehn Sommer, ich habe einen Löwen getötet und mit einem großen Häuptling auf der Palavermatte gesessen, und mir wurde mein Platz angewiesen. Dieser Platz ist nicht am Tisch des weißen Mannes, dieser Platz hat
keine Stimme auf der Palavermatte des weißen Mannes.« Ich konnte sehen, daß Singe 'n Burn anfing, sich ungemütlich zu fühlen. Am Ende der Rede würde er gar nicht wissen, was mit ihm geschehen wäre. Der alte Singe hatte in seinem ganzen Leben noch keine Schuldgefühle gehabt. Zu meiner Überraschung hörte Gideon plötzlich auf, sich an die eingeübte Rede zu halten. »Meine Unfreiheit kommt nicht vom weißen Mann her. Meine Unfreiheit hat mir der weiße Mann nicht mit der Nilpferdpeitsche eingebläut. Meine Unfreiheit ist in meinem eigenen Kopf. Hier in meinem Kopf trage ich den Stolz der Zulus auf meine Vorfahren, aber ich trage auch schwer daran, daß ich nichts gelernt habe. Meine Unfreiheit ist meine Dummheit, von ihr kommt das Unglück und die Verzweiflung der Schwarzen. Wenn die Weißen mir ihre Rechte und das Mitspracherecht geben würden, könnte ich nichts damit anfangen, ich wäre immer noch unfrei. Ich wäre immer noch ein Diener, ein schwarzer Kaffer, ein unterlegenes menschliches Wesen, weil ich nicht wüßte, wie ich diese Rechte gebrauchen soll, wie meine Stimme unter den Menschen gehört werden könnte. Bitte, Sir, mein Geist sehnt sich nach Wissen. Ich möchte Wissen in meine Hände schöpfen und trinken, wie man Wasser am Flußufer trinkt. Ohne Wissen bin ich nackt, ein Nichts. Bitte, Sir, geben Sie mir dieses Wissen, geben Sie mir die Möglichkeit, etwas zu lernen, damit ich ein Mensch sein kann.« Gideon hatte so einfache Worte gewählt, daß ich keinerlei Schwierigkeiten hatte, seine Rede so zu übersetzen, daß er kaum dabei unterbrochen wurde. Die Tränen rannen ihm über die Wangen, und er versuchte gar nicht, sie wegzuwischen. Weinen war für Zulus eine große Schande, aber er konnte sich seine Tränen nicht abwischen, weil er die Tasse auf seinen Knien festhalten mußte. Ich beugte mich vor, nahm ihm die Tasse ab und schaute zu Hymie hinüber, da ich es nicht wagte, Singe`n Burn anzuschauen. Hymie war ärgerlich darüber, daß ich Gideon die Tasse abgenommen hatte, die Tränen waren das beste Argument gewesen. Othello war nichts gegen Hymies unverschämten schwarzen Bastard. »Die Tränen sind nicht für mich, sie sind für mein Volk, Inkosi«, sagte Gideon leise und wischte sie mit seinem Handrücken weg. Ich schaute Singe 'n Burn an und sah, daß seine Augen feucht geworden waren und daß auch er gegen seine Emotionen ankämpfte.
»Bemerkenswert, wirklich bemerkenswert.« Dann wandte er sich an Hymie und mich und sagte: »Dieser junge Mann soll seine Schule haben, und ich erwarte von euch beiden, daß ihr euer Bestes gebt.« Wir hatten gewonnen! Singe 'n Burn, der ehemalige oberste Hausleiter in Winchester und Treuhänder der großen Privatschultraditionen in den Kolonien, Renaissance-Mensch und liberaler Denker, war dazu gebracht worden, vom Herzen und von der Seele Schwarzafrikas angerührt zu werden. Hymie faßte sich als erster. »Kann die Schule Bücher und Schreibmaterial stellen, Sir?« Singe 'n Burn nickte. »Sprich mit Mrs. Perkins darüber, Levy. Ihre Schüler müssen mit allem Nötigen ausgerüstet werden.« »Vielen Dank, Sir«, sagte ich und wandte mich an Gideon, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Gideon grinste breit. »Viele Jungen, so wie ich, wir danken Ihnen, Inkosi.« Singe 'n Burn nickte Gideon anerkennend zu. Es war offensichtlich, daß er von dem jungen Zuluhäuptling verzaubert war. Zu Beginn wurden ausschließlich Sollys schwarze Boxer unterrichtet. Innerhalb eines Monats wurden die Reihen von Chauffeuren, Köchen und Hausdienern aus dem Ort aufgefüllt, und Pissy Johnson, Cunning-Spider und Atherton sowie zwei Typen, die Sotho sprechen konnten, wurden dazu vergattert, Samstag abends zu unterrichten. Noch vor der Einwilligung des Direktors hatten wir Miss Bornstein einen langen Brief geschrieben und sie gefragt, wie wir erwachsenen Afrikanern am besten Englisch und Rechnen beibringen könnten. Sie hatte uns gute Tips gegeben und verschiedene Bücher geschickt, mit deren Hilfe Hymie und ich ein Curriculum erarbeiteten, das ich ins Sotho, ins Zulu, ins Shangaan und ins Fanagalo übersetzte. Mit Singe 'n Burns Zustimmung brachten wir das Curriculum auch den neu ausgewählten St. Johns Leuten bei, damit die Abendschule nach Hymies und meinem Schulabgang Ende des Jahres weitergeführt werden konnte. Schon nach wenigen Wochen lagen erstaunliche Resultate vor. Schüler, die nach dem vierstündigen Unterricht am Samstag abend mit sehr viel Hausaufgaben abzogen, kamen zurück, hatten alles
gemacht und wollten mehr. In der Prince of Wales-Schule wurde darüber diskutiert, und bald brachten die Schüler Kinderreime, Erstkläßlerschulbücher und alle Arten von Lehrbüchern, und es meldeten sich mehr Freiwillige, als wir gebrauchen konnten. Dann dachte sich Hymie, der die günstigen Bedingungen ausnutzen wollte, die Ein-Lehrer-ein-Schüler-Methode aus, bei der jeder schwarze Schüler seinen persönlichen weißen Tutor hatte. Alle schwarzen Schüler wurden in der ersten Stunde gemeinsam in der Schulhalle unterrichtet, und danach zogen sie sich mit ihrem persönlichen Tutor in die Ecken der verschiedenen Klassenzimmer zurück. Die Tutoren hielten sich an unsere Unterrichtsvorbereitung und Miss Bornsteins Vorgaben. Es wurden viel größere Fortschritte erzielt als in herkömmlichen Schulen. Hymie war nicht zufrieden mit unserem ersten Curriculum, bügelte die Fehler aus und überarbeitete das Ganze noch einmal. Vier Monate später wurden wir von einem Reporter und einem Fotografen der Rand Daily Mail besucht, und in der darauffolgenden Mittwochmorgen-Ausgabe hatten wir eine ganze Seite mit einem Foto von Hymie, Gideon und mir. Der Artikel brachte alles durcheinander und berichtete sehr übertrieben vom Boxkampf zwischen Gideon und mir, wie Hymie und ich später eine Abendschule für Boxer ins Leben gerufen hatten, die sich schnell vergrößerte. Es entstand der Eindruck, daß wir ein großes Bildungsinstitut für Schwarze gegründet hatten. Der Artikel wimmelte von Fehlern, erregte aber in der Schule viel Aufsehen. Singe 'n Burn rief Hymie und mich in sein Arbeitszimmer und tadelte uns, daß wir vor dem Interview mit dem Reporter nicht mit ihm gesprochen hätten. In Anbetracht der politischen Lage hielt er den Zeitungsartikel für eher ungünstig, schwarze Schulen waren in weißen Wohnvierteln schließlich verboten. Als wir aus dem Arbeitszimmer des Direktors herauskamen, zuckte Hymie mit den Schultern. »Ich glaube, jede Art von Öffentlichkeit ist gut.« »Hoffentlich hast du recht, ich glaube, wir haben Mist gebaut.« »Das fürchte ich auch«, sagte er leise. Am darauffolgenden Samstagabend machte die Polizei eine Razzia bei uns. Plötzlich standen weiße und afrikanische Polizisten in
khakifarbenen Uniformen in der Tür. Ein Polizeilieutenant, der einen Sam-Browne-Gürtel mit Revolver umgeschnallt hatte, sprang auf die Bühne und pfiff laut auf seiner Trillerpfeife. »Das ist eine Razzia, alle bleiben, wo sie sind, niemandem geschieht etwas, verstanden?« Er stand mit gespreizten Beinen auf der Bühne, seine Hand lag griffbereit auf der Revolvertasche, als rechnete er jeden Moment damit, daß jemand abhaute. »Wer ist hier der Verantwortliche?« »Ons is«, sagte ich auf afrikaans und zeigte auf Hymie und mich. Der Polizeioffizier sprach Englisch weiter. »Warum ist kein Erwachsener hier?« »Der Unterricht wird von den Jungen gegeben«, sagte ich. »Soll das heißen, daß weiße Schüler diese verdammten Kaffern unterrichten?« »Ganz genau.« Nachdem der erste Schreck vorbei war, wurde ich wieder mutiger. »Verdammt noch mal, Mann, willst du behaupten, daß ihr stinkenden Kaffern das ABC beibringt? Habt ihr samstags abends nichts Besseres zu tun?« »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?« fragte Hymie. »Wer bist du denn, Mann?« fragte der Polizist. »Beantworten Sie zuerst meine Frage«, sagte Hymie ruhig. »He, willst du frech werden?« »Er fragt nur, ob Sie einen Durchsuchungsbefehl haben, Officer«, sagte ich. Der Polizist begriff plötzlich, daß wir uns nicht einschüchtern ließen, was nicht ganz stimmte, in Wirklichkeit hatten wir einen Höllenschiß. »Und was wäre, wenn ich keinen hätte?« meinte er herausfordernd. »Dann wären Sie hier widerrechtlich eingedrungen, und ich müßte Sie bitten, sofort zu gehen«, sagte ich. »Du bist doch nur ein verdammter Bengel. Was glaubst du denn, mit wem du sprichst?« »Wenn Sie keinen Durchsuchungsbefehl für diese Schule haben, dann verpissen Sie sich!« zischte Hymie den Offizier an. Plötzlich grinste der Polizist. Dann strich er sich mit dem Zeigefinger und dem Daumen über die Nase und sagte: »Du bist der Judenbengel, was?« Er wandte sich an mich. »Und Sie sind der Boxer,
der gegen Kaffern kämpft.« Er zeigte auf die Afrikaner, die ruhig vor uns saßen. »Zeig mir den Kaffer, gegen den du gekämpft hast, Mann.« Gideon erhob sich ungefragt von seinem Stuhl. »Komm her, Joe Louis, komm her und stell dich neben den Judenbengel und den Kaffern-boetie.« Der Offizier rief einen schwarzen Polizisten, der an der Tür stand, und während er darauf wartete, daß er zu ihm hoch auf die Bühne kam, öffnete er den glänzenden Messingknopf, mit der die Brusttasche seiner khakifarbenen Uniformjacke zugeknöpft war, zog ein Stück Papier heraus und hielt es uns entgegen. »Da, Judenbengel, lies selbst.« Hymie ging zu ihm und nahm das Stück Papier, das offensichtlich ein Durchsuchungsbefehl war. Der Lieutenant wandte sich an den schwarzen Polizisten an seiner Seite. »Sagen Sie den schwarzen Bastarden, daß sie alle ihre Pässe zeigen müssen und die Erlaubnis ihres Dienstherren, daß sie nach der Sperrstunde um neun noch unterwegs sein dürfen.« Ich wandte mich an den weißen Polizisten. »Es ist noch nicht neun Uhr, Lieutenant. Niemand hat gegen die Sperrstunde verstoßen.« Er grinste. »Ja, ich weiß, Mann, aber bis ich hier fertig bin, ist es nach neun, und jeder schwarze Bastard, der keine Erlaubnis hat, wird verhaftet.« »Dieser Durchsuchungsbefehl ist für das St. Johns College ausgestellt«, sagte Hymie plötzlich. »Schauen Sie, hier steht St. Johns College, Houghton. Die Schule liegt etwa eine Meile von hier entfernt.« »Versucht nicht, mich für dumm zu verkaufen, verstanden? Oder habt ihr drei Lust, die Nacht in einer Zelle zu verbringen?« Hymie ging zu dem weißen Polizeioffizier. »Lesen Sie selbst. Hier steht St. Johns College, Houghton. Das ist nicht unsere Schule. Jetzt gehen Sie bitte!« »Ich bin hier richtig, Mann! Das ist der Ort, der in der Zeitung beschrieben wurde. Werden in der St. Johns-Schule auch Kaffern unterrichtet?« Ich merkte, daß er plötzlich verwirrt war. »Da müssen Sie in der Schule schon selbst fragen, Officer«, sagte ich und wagte es nicht, Hymie anzuschauen. Der Polizeioffizier faltete den Durchsuchungsbefehl zusammen
und steckte ihn wieder in seine Brusttasche. »Ich sollte euch verhaften, weil ihr die Polizei bei der Ausübung ihrer Pflicht behindert. Ihr wißt genau, daß es sich nur um einen Irrtum handelt, Mann. Die Schule ist verwechselt worden, sonst nichts. Das ist die richtige Schule!« »Das steht aber nicht auf dem Papier, ich muß Sie wirklich bitten, jetzt zu gehen, Officer«, sagte Hymie und kostete die Situation voll aus. »Okay, Judenbengel, aber du kannst ganz sicher sein, daß wir uns wiedersehn. Ich erkenne einen comminist auf den ersten Blick.« Er zeigte auf mich. »Du auch, du und dein Kaffernfreund. Ich rieche einen auf eine Meile.« Er verließ mit seinen Männern den Raum, und wir hörten ihre Stiefel auf dem Kopfsteinpflaster, als sie den Schulhof überquerten. »Heiliger Strohsack! Das wär fast schiefgegangen«, sagte ich. »Was jetzt?« Gideon grinste etwas jämmerlich. »Ich glaub, es ist fertig... Die Schule ist fertig.« »Niemals!« sagte Hymie. »Ich hol die Rechtsanwälte meines alten Herrn, wenn die das noch mal versuchen.« Gideon lachte traurig. »Dir passiert nichts, aber wir kommen ins Gefängnis, so ist es immer. Du bist sehr klug, und der Zauber von Onoshobishobi Ingelosi hat Änderung von Schulnamen auf dem Papier gemacht. Aber die Polizei, sie sind böse, sie geben nicht schnell auf, und ich glaub, auch der große Baas, der Direktor, er macht Ende mit dieser Schule.« »Nur über unsere Leichen«, sagte Hymie. »Ich sag dir, er wird für die Abendschule kämpfen.« Aber das tat er nicht. Am darauffolgenden Montag wurden wir ins Büro von Singe 'n Burn gerufen und einem südafrikanischen Polizeioffizier gegenübergestellt. »Das ist Captain Swanepoel von der Johannesburger Polizeibehörde, er möchte Ihnen einige Fragen stellen«, sagte Singe 'n Burn ernst. »Es scheint, daß der Bericht, den Sie mir über die Vorfälle am Wochenende erstattet haben, nicht ganz mit dem Bericht des Polizeioffiziers übereinstimmt, der am Samstagabend in den Unterricht kam. Ich bitte Sie, Captain Swanepoel die ganze Wahrheit zu erzählen.«
»Wir haben Ihnen ganz genau gesagt, was passiert ist, Sir«, sagte ich zum Direktor. »Bei allem Respekt, der diensthabende Offizier ist darin geschult, genau Bericht zu erstatten, darauf geb ich Ihnen mein Wort«, sagte der Polizeicaptain. »Nun, dann werden sich unsere Berichte ja nicht unterscheiden, Captain Swanepoel. Falls wir beide die Wahrheit sagen«, sagte Hymie leise. »Die Wahrheit? Was ist die Wahrheit? Meiner Erfahrung nach verduftet die Wahrheit, wenn Gefühle ins Spiel kommen. Gefühle verändern eine Geschichte immer, darauf geb ich Ihnen mein Wort, Direktor«, antwortete Captain Swanepoel. »Captain, diese beiden jungen Männer haben gelernt, ein Geschehen leidenschaftslos zu beurteilen, selbst wenn sie persönlich davon betroffen sind.« »Gut, ohne respektlos erscheinen zu wollen, muß ich die schriftliche Zeugenaussage eines erwachsenen Polizeioffiziers der Aussage zweier junger Männer vorziehen, die zum Zeitpunkt des Geschehens sehr erregt waren.« »Vielleicht kann uns Captain Swanepoel sagen, in welchen Punkten unsere Zeugenaussagen differieren, Sir?« fragte ich. »Nun ja, selbstverständlich.« Der Direktor räusperte sich. »Laut Captain Swanepoel waren Sie dem diensthabenden Offizier in keiner Weise behilflich, Sie sollen sogar ausfällig geworden sein.« »Wir hatten keine Gelegenheit, behilflich zu sein, Sir. Der Offizier war extrem beleidigend und nannte mich einen Kaffern-boetie, Levy einen Judenbengel und Gideon Mandoma einen verdammten stinkenden Kaffern.« Ich schaute auf und sah, daß Captain Swanepoel zu lächeln begann. »Das ist nicht möglich, ein Polizeioffizier der südafrikanischen Polizei ist angehalten, sich in der Öffentlichkeit respektvoll zu benehmen«, sagte er zu Singe 'n Burn. »Die Leute denken sich andauernd Sachen aus, die die Polizei gesagt haben soll.« »Halten Sie uns für Lügner, Captain?« sagte ich. Swanepoel ignorierte meine Frage. »Hier steht, daß Sie den Polizeibeamten beschimpft haben.« »Ja, ich habe zu ihm gesagt, er soll sich verpissen«, sagte Hymie, »aber Sie haben Peekays Frage noch nicht beantwortet, Captain.«
»Ich werde sie später beantworten, mein Sohn, machen Sie sich deshalb keine Sorgen«, meinte Swanepoel. »War das etwa keine Beschimpfung?« »Levy war extrem provoziert worden, und da der Offizier kein Recht hatte, dort zu sein, war die Bemerkung nicht ganz ungerechtfertigt, Sir«, antwortete ich. »Ich habe Sie nicht gefragt, und er hat meine Frage nicht beantwortet.« Er zeigte mit dem Finger auf Hymie. »Ich frage Sie noch einmal, ob das keine Beschimpfung war?« »So gesehen ja, aber...« »Kein Aber, Mann, Sie geben zu, daß Sie den Offizier beschimpft haben?« »Ich gebe zu, daß ich ihn aufgefordert habe, sich zu verpissen, Captain«, antwortete Hymie. »Dann stimmen wir ja völlig überein. Die erste überprüfte Tatsache stellt sich als richtig heraus, warum sollte ich daran zweifeln, daß dieser Bericht die Vorgänge korrekt darstellt?« »Ich finde diesen Gesprächsstil alles andere als fair, Captain Swanepoel«, meinte Singe 'n Burn. Captain Swanepoel wandte sich an den Direktor. »Ich bin Polizeioffizier und kein Lehrer, ich überprüfe das Beweismaterial, ich spiele keine Spiele.« »Abgesehen von unseren Mitschülern werden zweiundvierzig Afrikaner bestätigen, was wir gesagt haben«, protestierte ich. Ich hatte oft mitbekommen, wie die Wärter die Gefangenen verhört hatten, sie hatten genau die gleiche Technik benutzt, die Swanepoel jetzt bei uns anwandte. »Ach ja, zweiundvierzig feindselige Zeugen. Afrikaner haben eine andere Vorstellung von der Wahrheit als Weiße. Was die anderen weißen Schüler betrifft, wir sind sehr vorsichtig mit den Zeugenaussagen von Jugendlichen.« »Sie haben meine Frage immer noch nicht beantwortet, Captain«, sagte Hymie mit aufeinandergebissenen Zähnen. »Wissen Sie, früher oder später bekommt jemand wie Sie wieder Ärger mit der Polizei. Ich werde mich an Ihr Gesicht erinnern.« »Bitte! Beantworten Sie unsere Frage, Sir!« rief Hymie. Swanepoel lachte. »Ich beantworte sie, wenn wir uns wiedersehen, verstanden?«
»Was passiert mit diesem Bericht, Captain Swanepoel?« fragte Singe 'n Burn. Der Polizeicaptain seufzte. »Ich muß ihn wegen des technischen Irrtums im Durchsuchungsbefehl leider zurückziehen.« »Dürfte ich ihn bitte haben, Captain Swanepoel?« fragte ich. Swanepoel lachte wieder. »Die südafrikanische Polizei vergibt keine Souvenirs, wenn Sie Souvenirs haben wollen, gehen Sie auf den Weihnachtsmarkt.« »Ich freue mich, daß die Sache damit erledigt ist«, sagte Singe 'n Burn offensichtlich erleichtert. »Nein, Herr Direktor, das ist nur der Anfang, Sie können sehr glücklich sein, daß der falsche Schulname auf dem Durchsuchungsbefehl steht, deshalb bin ich heute als Freund hier erschienen. Wenn wir am nächsten Samstagabend zurückkommen und herausfinden, daß diese wunderbare Schule hier schwarze Kommunisten unterrichtet, dann werden wir uns gezwungen sehen, aus dieser Tatsache einige sehr schwerwiegende Schlußfolgerungen zu ziehen.« »Ich muß wirklich protestieren, Sir!« rief Singe 'n Burn plötzlich wütend aus. Captain Swanepoel grinste. »Heutzutage ist es nicht sehr schwer, einen schwarzen Kommunisten zu finden.« Er sah Hymie an. »Oder sogar einen weißen«, dann schaute er zu mir, »oder auch mehr als einen. Wenn Schwarze plötzlich nach Bildung verlangen, dann führen sie, das können Sie mir glauben, nichts Gutes im Schilde, irgend etwas oder irgend jemand steht dahinter.« »Wollen Sie damit andeuten, daß Sie die Abendschule schließen wollen, Captain?« »Herr Direktor, der gesetzliche Hintergrund ist in diesem Punkt noch nicht ganz geklärt, aber Schwarze in einer weißen Schule zu unterrichten wird im nächsten Group Areas Act verboten sein. Meine Position ist klar, Herr Direktor. Meine Aufgabe in dieser Angelegenheit ebenfalls. Das nächste Mal wird der Durchsuchungsbefehl keinen Fehler mehr enthalten. Und wenn wir kommen, dann finden wir auch etwas.« Er machte eine Pause und sah uns wieder an. »Wir finden immer etwas.« Er erhob sich und streckte Singe 'n Burn seine Hand entgegen. Der Direktor nahm sie nicht, hielt sich statt dessen seitlich an seinem Schreibtisch fest und beugte sich leicht vor. »Wir lassen uns
von der Polizei nicht einschüchtern, Captain Swanepoel. Wir haben kein Gesetz übertreten, und soviel ich weiß, leben wir immer noch in einem freien und demokratischen Land.« Captain Swanepoel zuckte mit den Achseln und beugte sich zu seiner Kappe hinunter, die neben dem Stuhl lag, auf dem er gesessen hatte. »Ich finde es bedauerlich, daß Sie nicht mit der Polizei zusammenarbeiten wollen, Sir.« Er setzte sich die Kappe auf, schaute dann den Direktor an und salutierte. »Auf Wiedersehen, Sir.« Ohne Hy-mie und mich eines Blickes zu würdigen, drehte er sich um, verließ den Raum und schloß die Tür leise hinter sich. »Scheiße, was jetzt?« sagte Hymie leise. »Wie bitte, Levy?« »Nichts, Sir.« Das Tageslicht fiel von hinten auf Singe 'n Burns schneeweißes Haar, und er sah hinfällig aus und hielt sich weiter an seinem Schreibtisch fest. Er schwankte leicht hin und her, als ob diese Bewegung ihn davor schützte, sich in eine Million winzige Teilchen aufzulösen, die still in dem staubigen Sonnenstrahl davonschweben würden. »Bravo, Sir«, sagte Hymie. Er schüttelte langsam den Kopf. »Wir sind geschlagen.« »Aber Sie sagten doch gerade...?« »Das war reines Auftrumpfen, mein Junge. Am Samstag werdet ihr eure Abendschule halten, Captain Swanepoel wird mit einem offiziellen Durchsuchungsbefehl in der Prince of Wales-Schule erscheinen, und das Ergebnis des darauf folgenden Gespräches in der Schulbehörde steht jetzt schon fest.« Er schaute auf. »Trotzdem findet die Abendschule am nächsten Samstag statt, wir erringen einen empirischen Sieg, es geht um ein wichtiges Prinzip.« Wir waren sehr niedergeschlagen, als wir das Büro des Direktors verließen. Als wir außer Hörweite waren, exlodierte Hymie und sagte: »Ich scheiß auf den empirischen Sieg, das Prinzip und auf den Direktor!« »Wir müssen Gideon und den anderen Bescheid sagen. Sie müssen selbst entscheiden, ob sie kommen oder nicht.« »Ja, das stimmt«, sagte Hymie mürrisch. »Und was ist mit den anderen?« »Die kannst du vergessen, die kommen sowieso nicht. Für die
war der letzte Samstag genug, für die geht es nicht um ein Prinzip, die haben nur wieder eine Möglichkeit weniger, wieder wurde ihnen eine Tür vor der Nase zugeschlagen. Sie werden ihr Leben lang immer wieder angeschmiert. Würdest du hier erscheinen, wenn du dir praktisch sicher sein kannst, daß du verhaftet wirst, ins Gefängnis kommst, deinen Job verlierst und als Kommunist gebrandmarkt wirst?« »Mir dämmert allmählich, was für ein Glück ich hab, daß ich weiß bin.« Hymie nahm die ganze Sache schwerer als ich. Ich hatte mein Leben lang diese Art von Einschüchterungen erlebt und wußte, daß Captain Swanepoel noch sehr viel mehr Schwierigkeiten hätte machen können, wenn er gewollt hätte. »Was sollen wir machen, Peekay?« Ich lachte. »Du bist so ein richtiger Großstadtpinkel, glaubst du immer noch, daß die Polizei dazu da ist, dich vor dem großen bösen Wolf zu schützen? Nach dem, was am Samstagabend passiert ist, ist doch alles klar. Glaubst du, die Nationalisten denken, wir betrieben einen Kindergarten für schwarze Erwachsene? Für die planen wir die Revolution der Schwarzen im Herzen der weißen Privilegien.« »Das kannst du doch nicht ernst meinen. Unsere blöde Schule für Boxer und Hausangestellte?« »Alles Große hat irgendwann mal klein angefangen. Die Nationalisten sind doch nicht blöd. Die Juden haben den Fehler mit den Nazis gemacht. Sie hielten sie für einen Haufen Ganoven, die sie kaufen könnten. Weißt du, was für eine Bildung das Kabinett der nationalistischen Regierung hat? Es ist wahrscheinlich das gebildetste Kabinett der Welt. Rassismus nimmt mit zunehmender Intelligenz nicht ab, Rassismus ist eine Krankheit, die sich unter Dummköpfen besonders schnell ausbreitet, aber auch kluge Köpfe sind gegen Ansteckung nicht gefeit.« »Willst du damit andeuten, daß du das Ganze schon lange hast kommen sehen?« »Nein, natürlich nicht. Ich dachte, wir hätten eine Chance. Du hattest ganz recht, als du anfangs zynisch warst, aber es war einen Versuch wert.« »Aber eben beim Direktor... Da hast du so enttäuscht ausgesehen.«
»Großer Gott, Hymie, ich sag doch nicht, daß ich mir gewünscht habe, daß es so kommt! Ich war wütend und enttäuscht. Enttäuscht, daß ich recht behalten habe.« »Du bist ganz schön kompliziert, Peekay. Sonst bin ich doch eher der Realist. Was sollen wir jetzt machen?« »Also am Samstag läuft erst mal gar nichts, es gibt keinen Grund, die Leute in Gefahr zu bringen, jedenfalls nicht für einen empirischen Sieg.« »Vielleicht können wir sie ja nach dem Boxen unterrichten.« »Keine Chance. Dieser verdammte Swanepoel wird mit Argusaugen über uns wachen.« »Ich fühl mich so verdammt hilflos.« Hymie sah mich an und zuckte mit den Achseln. »Weißt du, vor unserem Besuch in Sophiatown war mir alles ziemlich egal. Ja, natürlich, ich hätte bei der Schule sicher mitgemacht, so wie du bei meinen geschäftlichen Unternehmungen. Aber jetzt, nach dem Kampf, seh ich die Schwarzen mit ganz anderen Augen. Mir wird allmählich klar, was es bedeutet, unterdrückt zu werden, was es bedeutet haben muß, ein Jude im Hitlerdeutschland gewesen zu sein.« Es war das erste Mal, daß ich Hymie verwirrt erlebte. Er war auf etwas gestoßen, daß sich nicht mit Geld oder Einfluß regeln ließ. »Sie wollten nur so wenig, und wir konnten es ihnen nicht geben. Diese armen Kerle wollten so dringend etwas lernen, lesen und schreiben und etwas rechnen. Es war das wenigste, was wir tun konnten.« Hymie weinte fast vor Wut. »Und genau das werden wir auch weiterhin versuchen. In den vier Jahren mit Geel Piet hab ich gelernt, wie man ein System unterläuft.« »Was meinst du damit, Peekay?« »Fernlehrkurse. Miss Bornsteins Fernlehrkurse!« »Peekay! Du bist ein Genie! Wir haben den ganzen Kurs schon in drei afrikanischen Sprachen vorliegen, außerdem auf Fanagalo. Die Sache haben wir im Sack, alter Junge, der erste Kurs wird unsere Generalprobe. Die Klasse, die wir hier nicht mehr unterrichten können, bekommt ihn umsonst. Danach verkaufen wir mit Mr. Nguni's Hilfe für eine kleine Summe, die wir noch festlegen werden, einen Fernlehrkurs für Schwarze in ganz Südafrika. Wir
schicken sogar Captain Swanepoel einen und schreiben ihm, er soll ihn sich in den Arsch schieben, damit es intelligent klingt, wenn er furzt!« Miss Bornsteins Fernlehrinstitut würde eines Tages das größte in der südlichen Hemisphäre werden, und Miss Bornstein leitete es persönlich. Mr. Nguni verbreitete ganz einfach, daß der Kurs vom Kaulquappenengel stamme, der die Schwarzen auffordere, lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Die Fernlehrkurse sollten in den kommenden Jahren zu einem wichtigen Teil seines ökonomischen und politischen Machtapparates werden. 23
1951 war das Jahr, in dem ich die Federgewichtsmeisterschaft der südafrikanischen Schulen gewann, und die Prince of WalesSchule gewann zum dritten Mal in drei aufeinanderfolgenden Jahren die Boxmeisterschaft. Darby und.Sarge waren Helden, und beide waren im Lehrerzimmer jetzt gern gesehen. Erfolg gleich welcher Art schien soziale Schranken aus dem Weg zu räumen. Wir machten unsere Abschlußprüfung, obwohl von vornherein klar war, daß die St. Johns Leute sehr gut dabei abschneiden würden. Atherton sollte mit dem südafrikanischen Schulrugbyteam nach Argentinien fahren, und Cunning-Spider war in das Schulcricketteam von Transvaal aufgenommen worden. Pissy Johnson hatte von Hymie und mir viel Nachhilfeunterricht bekommen und hoffte zuversichtlich darauf, daß seine Noten ihm ein Medizinstudium ermöglichen würden. Er war mittlerweile Experte für Verletzungen im Ring, und seitdem wollte er Arzt werden. Ich hatte in jeder Hinsicht eine sehr erfolgreiche Schulkarriere hinter mir. Ich hatte beim Rugby und beim Boxen Preise gewonnen, war Hauptpräfekt und Kompanieführer im schuleigenen Kadettencorps gewesen, und obwohl ich musikalisch nicht wirklich viel vorangekommen war, gehörte ich in der Schule doch zu den besten Musikern. Nach den Maßstäben Singe 'n Burns war ich auf dem besten Weg, ein Renaissance-Mensch zu werden. Ich selbst fühlte mich aber weniger erfolgreich. Ich hatte das System überlebt, aber
gerade das war in vieler Hinsicht mein Problem. Ich schien die Kontrolle über mein eigenes Leben zu verlieren, opferte meine Individualität für glitzernde Preise und den Beifall meiner Freunde. Ich mußte um jeden Preis gewinnen, der Kopf war mir wichtiger geworden als mein Herz, ich hatte Hoppies Rat allzu gut befolgt. Während der Schulzeit hatte ich das nötige Geld durch die Bank und Hymies und meine verschiedenen geschäftlichen Unternehmungen verdient. Aber was für Hymie ein intellektuelles Spiel gewesen war, das war für mich todernst gewesen. Ich brauchte das Geld nicht nur, um zu überleben, sondern auch, um mir ein angemessenes Auftreten zu ermöglichen. Hymie und ich waren untrennbare Freunde, und nach Docs Tod war er die wichtigste Person in meinem Leben geworden. Aber in meinem tiefsten Herzensgrund wußte ich, daß ich Hymie zum Freund gewählt hatte, weil er mir half, das System zu überleben. Ich benutzte ihn. Es war zur Angewohnheit geworden. Der Sieger, der ich scheinbar war, war zu einem geistigen Parasiten geworden. Es war mir klar, welchen Preis ich dafür bezahlte. Im Gegenzug nahmen mir die Menschen, die ich benutzte, viel Kraft. Hymie, Miss Bornstein und Mrs. Boxall brauchten mich als Brennpunkt, als Dank für ihre freigiebige Hilfe und Liebe mußte ich ihnen etwas vorspielen. Ich wurde den Kaulquappen-Engel nicht los, obwohl ich es oft versucht hatte. Nach dem Kampf gegen Mandoma kamen enorm viele Schwarze zu meinen Boxkämpfen, und bei den südafrikanischen Schulmeisterschaften war die Polizei geholt worden, um die singende Menge vor der Johannesburg Drill Hall zu zerstreuen. Ich wußte, daß irgendwann mehr von mir verlangt werden würde. Mein ganzes Leben lang war ich herumgestoßen worden. Vom Richter. Vom Herrn. Von den Vorstellungen, die mit dem Kaulquappenengel verbunden waren. Ich hatte auf meine Art gekämpft und dafür Doc und Hoppie und Geel Piet als Lehrer gewonnen. Es war schwer, den Sinn hinter all dem zu verstehen. Vielleicht ist das Leben ganz einfach so. Aber ich hatte das Gefühl, daß ich etwas Unabhängiges machen müsse, um mein Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen. Es war, als ob ich verlieren müsse, aber ich hatte nicht gelernt, wie man das machte. Das war mein Problem. Ich wußte einfach nicht, wie ich es anstellen sollte. Die einzige völlig
unabhängige Sache in meinem Leben war mein Wunsch, Weltmeister im Weltergewicht zu werden. Das konnte niemand manipulieren. Ich würde es entweder schaffen oder nicht. Es war die Sache, die alle, die mich liebten, mit Ausnahme von Captain Smit und Gert, nicht verstehen konnten. Es war das einzige in meinem Leben, das mir sinnvoll erschien. Dabei gab es keine geistige Korruption. In der letzten Schulwoche begleitete mich Singe 'n Burn zu meinem Interview für das Rhodes-Stipendium. Ich hatte mich schon um zwei Stipendien bemüht, eins bei der Witwatersrand University und eins bei der University of Stellenbosch, eine Universität, an der Afrikaans gesprochen wurde und an der man hervorragend Jura studieren konnte. Aber viel lieber wollte ich nach Oxford gehen. Ich fühlte, daß ich mich von diesem Wunsch nicht abbringen lassen würde, komme, was wolle. Hymies Familie hatte sich schon bereit erklärt, mein Studium in Oxford zu bezahlen, aber selbst wenn ich das Geld nur von ihnen geliehen hätte, fand ich das unakzeptabel. Unakzeptabel für mich, für die Erinnerung an Doc, für Mrs. Boxall, Miss Bornstein, Captain Smit, Gert, Hoppie Groenewald, Big Hettie und vor allen anderen unakzeptabel für Geel Piet, der nie in seinem Leben Hilfe angeboten bekommen hatte. Selbst meine Mutter, die daran glaubte, daß die wechselnden Umstände des Lebens zweitrangig seien, und die es dem Herrn zuschrieb, daß ich eine gute Schulbildung bekommen hatte, selbst meine Mutter saß von morgens bis abends hinter ihrer Nähmaschine, um mich so gut wie möglich unterstützen zu können. Ich war jetzt ein Mann, ich wollte nichts mehr von anderen annehmen. Ich hatte das Gefühl, daß ich jetzt für mich selbst sorgen müsse. Wenn ich auch noch nicht wußte, was der nächste Schritt in meinem Leben sein würde, so glaubte ich doch, daß etwas in Bewegung geriete, wenn ich unabhängig von jenen handeln würde, die mir bisher so großzügig geholfen hatten. Hymie, der Spieler und Geschäftsmann, meinte, daß ich gute Chancen hätte, eines der drei Rhodes-Stipendien für Südafrika zu bekommen. Je näher mein Interview kam, um so unruhiger wurde er. Er ahnte, daß ich unabhängig handeln wollte und daß ein Rhodes-Stipendium das bis zu einem gewissen Grad erlauben würde. Zur gleichen Zeit wollte er mich vor der Enttäuschung bewahren, falls ich das Stipendium nicht bekommen sollte. Es war zwar schon
vorgekommen, war aber sehr ungewöhnlich, sofort im Anschluß an die Schule ein Rhodes-Stipendium zu bekommen. Rhodes-Stipendiaten wurden meistens erst nach einem Zwischenexamen an der Universität ausgewählt, wenn der Student nach einer glänzenden Schulkarriere ein ebenso glänzendes erstes Examen abgelegt hatte und sich außerdem in sportlicher und kultureller Hinsicht an der Universität hervorgetan hatte. »Großer Gott, Peekay, mein alter Herr sagt, daß Oxford nur Kleingeld kostet. Wir wären zusammen wie immer, und dann kommen wir nach Hause zurück und eröffnen gemeinsam eine Kanzlei. Du kümmerst dich um die Schwarzen, und ich verdiene massenhaft Geld. Es ist alles so einfach. Warum mußt du es so verdammt schwer machen?« »Zuerst werde ich Weltmeister im Weltergewicht. Wenn ich das Geld von deinem Vater annähme, müßte ich mich die ganze Zeit an der Universität dafür rechtfertigen.« »Du mußt überhaupt nichts rechtfertigen. Du kannst doch beides tun!« schrie Hymie. »Aber du kennst mich doch. Ich muß dir etwas Dummes sagen, Hymie. Wenn ich wählen müßte zwischen dem Weltmeister im Weltergewicht und dem Jurastudium in Oxford, dann würde ich lieber boxen.« Er sah mich überrascht an. »Aber warum denn nur? Du bist doch gar nicht der Typ, der auf diese Weise berühmt werden will. Du bist eigentlich genau das Gegenteil.« »Es hat etwas mit einem Erlebnis zu tun, das ich hatte, als ich noch sehr klein war. Ich kann es nicht erklären, es ist einfach so.« »Peekay, das Geld, das du als Professioneller machen kannst, selbst als Weltmeister, ist nichts im Vergleich zu dem Geld, das wir beide als Rechtsanwälte verdienen können.« »Ich kann es dir auch nicht erklären. Ich habe seit meinem sechsten Lebensjahr auf dieses Ziel hingearbeitet. Es hat nichts damit zu tun, ob es wichtig oder unwichtig ist, Weltmeister im Weltergewicht zu sein.« Ich mußte innerlich lachen. Wie zur Hölle konnte ich ihm erklären, daß ich es unter anderem für ein totes Huhn schaffen mußte! »Sieh mal, Peekay, du bist gerade erst ein Leichtgewicht geworden, es dauert noch zwei, vielleicht auch drei Jahre, bevor du ein
Weltergewicht wirst, du kannst dein Studium machen, oder wenigstens einen Teil davon, und dann deine Boxkarriere weiterführen. Ich werde dir dabei helfen. Wir werden sogar viel Zaster damit machen.« Das Interview mit dem Prüfungsausschuß war eine ziemlich qualvolle Angelegenheit. Die erste Stunde unterhielten sich die Prüfer mit Singe 'n Burn, während ich im Warteraum des Universitätsgebäudes auf und ab ging. Das Warten war das schlimmste. Der Prüfungsausschuß bestand aus drei ziemlich alten Männern, die ganz einfach anfingen, mit mir zu plaudern. Einer von ihnen, ein dünner Mann mit runder Stahlbrille, die ständig bis auf die Spitze seiner langen Nase rutschte, und mit in der Mitte gescheiteltem brillantineglänzendem Haar, sah aus wie Ichabod Crane. Er linste mich über seine Brille hinweg an, zitierte die jeweils erste Zeile von drei Ovid-Versen und bat mich, sie zu vervollständigen. Ich mußte lachen, ich hatte die Gedichte schon mit neun Jahren gelernt. »Nicht schlecht, gar nicht schlecht, nur ein kleiner Fehler.« »Bitte, Sir, da muß ich widersprechen«, antwortete ich, das Herz auf der Zunge. Die drei Gedichte hatten zu Docs Lieblingsversen gehört, und ich kannte sie ganz genau. Ich war sicher, daß ich keinen Fehler gemacht hatte. »Bravo, junger Mann!« sagte Ichabod. »Sie haben recht und haben auch noch den Mut, es zu sagen.« Er schob seine Brille auf die Nase zurück und schrieb etwas auf ein liniertes, leuchtendgelbes Papier. Die drei Prüfer sahen bläßlich aus, es waren ganz und gar keine Sportstypen. Aber nachdem sie sich mit mir über dies und das unterhalten hatten, kamen sie aufs Boxen zu sprechen. Sie wollten wissen, warum ich so leidenschaftlich gerne boxte. Mein Antrag wies mich als ausgezeichneten Schüler, als sehr talentierten Musiker, guten Rugbyspieler und ausgezeichneten Boxer aus. Einer von ihnen las aus meinem Antrag vor: »Hat das Ziel, professioneller Boxer und Weltmeister im Weltergewicht zu werden!« Ich sah direkt, wie er zurückzuckte. »Ein junger Mann mit Ihrer offensichtlichen Intelligenz und, laut Ihrem Direktor, ungewöhnlichen Begabungen muß doch einsehen, daß sich die Laufbahn eines professionellen Boxers nicht mit einem Jurastudium in Oxford vereinbaren läßt?«
»Lord Byron war Boxer, Sir. Niemand hat seine intellektuelle Integrität angezweifelt«, antwortete ich. Er knurrte und schrieb etwas auf das Papier, das vor ihm lag. Ichabod Crane lächelte leicht. »Ach, ich kann mich gar nicht entsinnen, ob Byron in Oxford war!« sagte er, und seine beiden Kollegen lachten. »Das war eine gute Antwort, Mr äh, Peekay, aber wenn ich mich recht erinnere, war er Amateur.« »Es ist ausreichend belegt, daß hin und wieder vor seinen Boxkämpfen Wetten abgeschlossen wurden, und das würde ihn heutzutage zu einem Professionellen machen, Sir.« »Wie dem auch sei, eine kleine Wette unter Freunden ist ja eine ganz andere Geschichte, oder?« »Sie haben völlig recht, Sir«, antwortete ich und unterdrückte die Bemerkung, daß um ziemlich große Geldsummen gewettet worden war. Am Ende des Interviews wurde ich gebeten, mit Singe 'n Burn im Wartezimmer zu warten. Er schien noch nervöser als ich zu sein und ließ mich jedes Wort wiederholen, das im Interview gesprochen worden war. Als ich zu Byron kam, war er begeistert. »Ausgezeichnet!« sagte er und klatschte in die Hände. Aber als ich ihm die etwas schroffe Antwort auf meine Auskunft wiederholte, daß vor Byrons Boxkämpfen Wetten stattgefunden hätten, zog er die Stirn kraus. »Das war Lewis von der Universität Natal, ein Mann, der keinen Widerspruch duldet.« Als ich meinen Bericht beendet hatte, sagte er: »Gut gemacht, Peekay, du hast dich gut geschlagen.« Wir wurden dann wieder hineingeführt, und Ichabod Crane verkündete, daß ich unter die ersten fünf auf der Liste der Bewerber gekommen wäre und jetzt nur noch am Aufnahmeexamen für die Universität Oxford teilnehmen müsse. »Die Prince of Wales-Schule, die Sie besuchen, hat einen sehr guten Ruf, und wenn Sie ein typisches Beispiel für diese Schule sind, dann kann ich nur sagen, daß ich und meine Kollegen sehr beeindruckt sind.« Dann erhoben sie sich und schüttelten uns beiden die Hand. Singe 'n Burn war glücklich, wir hatten die größte Hürde geschafft. Sie hatten meine Kandidatur als Schüler ernst genommen. Ein paar Tage später machte ich mit Hymie die schriftliche Aufnahmeprüfung für die Universität Oxford, und das Ergebnis
sollte veröffentlicht werden, bevor die Rhodes-Stipendien verkündet würden. Als ich in den Weihnachtsferien nach Hause kam, war ein Foto von mir auf der ersten Seite der Goldfield News abgedruckt. Mr. Hankin, der frustrierte Zeitungsmann, hatte das Bild ausgewählt, das Doc am Tag, an dem wir uns kennengelernt hatten, auf dem Felsen oben auf dem Hügel hinter dem Rosengarten von mir gemacht hatte. Obwohl mich jeder in der Stadt kannte, stand dick darüber gedruckt: DER JUNGE AUF DEM FELSEN WILL NACH OXFORD! Mit einer gewissen Bitterkeit erinnerte ich mich daran, daß der alte Idiot dieses Bild schon einmal auf der ersten Seite abgedruckt hatte, als er Doc bezichtigt hatte, ein Nazispion zu sein und mir den Kiefer gebrochen zu haben. Wieder war ich ein lokaler Held. Jeder in der Stadt glaubte fest daran, daß ich eines der drei Rhodes-Stipendien bekommen würde. Während der vier Wochen, die wir auf das Ergebnis der Aufnahmeprüfung an die Universität Oxford warten mußten, wurde Miss Bornstein ein nervöses Wrack. Im Gefängnis waren sie sehr viel stärker beeindruckt von Sollys Dreizehn-Schläge-Kombination. Wenn sie zwischen einem Stipendium für Oxford, einem Ort, von dem sie noch nie etwas gehört hatten, oder einer Dreizehn-Schläge-Kombination hätten wählen können, dann hätten sie sich bestimmt für letztere entschieden. Wieder gewann ich den Ost-Transvaal-Titel im Federgewicht. Außerdem war ich der beste Boxer der Meisterschaften. Mit diesem vierten Sieg in Folge konnte Captain Smit die Trophäe endgültig für die Barberton Blues einheimsen, und später erzählte er, daß das einer der schönsten Augenblicke in seinem Leben gewesen sei. Ende Januar kam das Ergebnis meiner Aufnahmeprüfung. Ich hatte in allen Fächern sehr gut abgeschnitten. Miss Bornstein war außer sich vor Freude, und es herrschte eine solche Aufregung, daß der alte Mr. Bornstein zum ersten und einzigen Mal eine Partie Schach gegen mich verlor. Er bestritt aber hartnäckig, daß er es absichtlich getan hätte. Vier Tage später bekam ich einen Brief vom Ausschuß der Rhodes-Stipendien.
Lieber Mr. »Peekay«, wir müssen Ihnen leider mitteilen, daß Ihre Bewerbung um ein Rhodes-Stipendium für das Jahr 1950 nicht erfolgreich war. Das Prüfungskomitee bittet mich, Sie dafür zu loben, wie Sie sich während des Interviews verhalten haben, ebenso für die Resultate der Aufnahmeprüfung. Das Prüfungskomitee ist einstimmig der Meinung, daß Sie sich nach Ablegung der Zwischenprüfung erneut um ein Stipendium bemühen sollten. Ihr ergebener L. J. Fisher Schriftführer des Prüfungskomitees Die Menschen in meiner Umgebung hatten sich daran gewöhnt, daß ich immer gewann, es war etwas Selbstverständliches für sie. Ich merkte, daß sie schockiert und tief enttäuscht darüber waren, daß ich, nachdem sie ihren Teil dazu beigetragen hatten, irgendwie versagt hatte. Miss Bornstein und Mrs. Boxall waren vollkommen verwirrt und redeten sich ein, daß es irgendwie nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Meine Mutter kam, nachdem sie ein paar Tränen vergossen hatte, zu dem Schluß, daß es nicht dem Willen des Herrn entsprochen hätte, daß er, wenn ich ihn erst in mein Herz und in mein Leben aufnähme, kundtun werde, was er mit mir vorhätte. Zwei Tage später verkündete sie beim Abendessen, daß der Herr ihr klar zu verstehen gegeben hätte, daß ich das Boxen aufgeben solle, da es ihm mißfiele. Wenn ich mich danach richten würde, würden mir seine speziellen Pläne für mich kundgetan. Als ich ihr sagte, daß das Boxen für mich wichtiger als alles andere sei, brach sie plötzlich in Tränen aus. »Das ist der Teufel, der aus dir spricht, Gott läßt sich nicht verhöhnen!« rief sie, begrub ihr Gesicht in der Serviette und verließ den Tisch. »Schon gut, schon gut. Du bist ein guter Junge«, beruhigte mich mein Großvater. Am darauffolgenden Tag bekam ich einen Brief von Singe 'n Burn. Er schrieb, daß er zuversichtlich glaube, daß ich die Enttäuschung überwinden könne und daß ich die innere Ausgeglichenheit besäße, durch die Erfahrung zu wachsen. Er fügte hinzu, daß der wahre Renaissance-Mensch eine Niederlage als eine Tatsache
akzeptiere, die den möglichen Erfolg als etwas erscheinen ließe, für das zu kämpfen sich lohne, blablabla. Er schrieb, daß er einen Brief von Professor Stonehouse von der Witwatersrand-Universität erhalten habe, der, wie sich herausstellte, Ichabod Crane war. In dem Brief hatte Stonehouse erwähnt, daß das Komitee einen Besuch von einem Captain Swanepoel erhalten hätte, der sich nicht gerade schmeichelhaft über die Schule und einige ihrer schulischen Aktivitäten geäußert habe, und ganz besonders über meine Mitarbeit bei diesen Aktivitäten. Er wollte Singe 'n Burn versichern, daß, auch wenn er von anderer Seite anderes höre, diese Einmischung der Polizei seine Beurteilung oder die seiner Kollegen nicht beeinflußt habe. Stonehouse schrieb am Ende seines Briefes, daß mein Antrag für ein Stipendium an der Witwatersrand-Universität angenommen sei. Er hoffe, daß der Direktor mich beeinflussen würde, das Stipendium anzunehmen. In der Woche darauf bekam ich die Nachricht, daß ich auch ein Stipendium an der Stellenbosch-Universität bekommen würde, und ich erhielt die Einladung, mich an der Natal-Universität zu bewerben. Aber ich wußte, daß das für jene, die mich liebten, nichts anderes hieß, als sich mit den Krümeln vom Tisch des reichen Mannes zufrieden zu geben. Für sie kam nichts anderes als Oxford in Frage, und kein anderer Ort, ganz egal wie großartig er war, war ihnen für mich gut genug und würde sie für die Hilfe, die sie mir geleistet hatten, entschädigen. Einzig und allein mein Großvater schien sich keine Sorgen zu machen. Als der Brief des Prüfungskomitees angekommen war, hatte er nur gesagt: »Du bist ein guter Junge.« Ich fand ihn später im Garten, wo er Rosenstöcke hochband, und wir setzten uns in den Schatten einer großen alten englischen Eiche, um uns vor der stechenden Dezembersonne zu schützen. Wie immer dauerte es zehn Minuten, bis er seine Pfeife ausgeklopft, gestopft und angezündet hatte und sein Kopf in blauen Rauch eingehüllt war. Ich hatte ihm eine Büchse Erinmore mitgebracht, die ich in Johannesburg gekauft hatte, und der Rauch des mit Honig versetzten Tabaks roch köstlich, als er um seinen Kopf kräuselte. »Mein Bruder Arthur war in Oxford, er war der Klügste in unserer Familie. Er hat genau wie du zwei Stipendien gewonnen, zuerst eins fürs Gymnasium und dann eins für Oxford.« Er paffte und
schaute über das Dach, das immer noch nicht angestrichen worden war. »Zu meiner Zeit schafften es nicht viele bis zu den Gipfeln der Bildung in Oxford und Cambridge.« »Was ist aus ihm geworden, Großvater?« Der alte Mann zog an seiner Pfeife und starrte ewig in den Himmel. »Ich weiß nicht, was verkehrt gelaufen ist, mein Junge. Er stieg in kurzer Zeit zum höchsten Richter des Appellationsgerichts auf und war mit vierzig Jahren durch Arthritis völlig verkrüppelt. Er hatte ein elendes Leben, er häufte eine Menge Geld an, aber auch eine Menge Unglück für sich und andere. Meine Schwester Jessie sagte, er sei sehr reich und sehr einsam gestorben.« Er zog weiter an seiner Pfeife. »Es war komisch mit Arthur, er hat die Dinge nie gesehen, wie sie wirklich waren.« Hymie hatte jede Woche ein Telegramm geschickt, in denen er fragte, ob die Ergebnisse schon heraus seien und mich bat, sofort per R-Gespräch anzurufen. Ich rief ihn von Mrs. Boxalls Büro in der Bibliothek an. »Pech, Peekay, so knapp, so verdammt knapp!« Es gab ein Klikken in der Leitung, und dann kam eine Frauenstimme: »Hier ist die Vermittlung, bitte fluchen Sie nicht in einem öffentlichen Telefon«, dann klickte es wieder in der Leitung. »Jesus Christus, wer war denn das?« sagte Hymie am anderen Ende. Es klickte wieder, und dann war die Leitung tot. Ich wählte die Vermittlung. »Fräulein, wir sind getrennt worden.« »Peekay, hier spricht Doris Engelbrecht!« Doris war eine Frau Mitte Zwanzig, eine »Mandeloperation-Konvertitin« Maries, die jetzt in der Sonntagsschule der Apostolischen Glaubensmission unterrichtete. »Ich muß Anrufe unterbrechen, in denen obszöne Worte fallen. Ihr Gesprächspartner in Pretoria hat Kraftausdrücke benutzt und den Namen des Herrn mißbraucht. Das kann ich in einem öffentlichen Telefon nicht dulden, auch wenn er das Gespräch bezahlt.« »Es tut mir leid, Doris, er spricht einfach so, er meint es nicht böse, es ist einfach seine Art.« »Pfui, Peekay, wie können Sie so jemanden überhaupt kennen? Wo Sie so klug sind und Ihre Mutter eine so religiöse Frau ist?« »Doris, Sie dürfen nicht einfach zuhören, Telefongespräche sind privat.«
»Im Buch steht, daß ich nicht erlauben soll, wenn Leute am Telefon obszön reden. Wie kann ich es ihnen verbieten, wenn ich es nicht höre?« Das war nicht so leicht zu beantworten. »Doris, wenn Sie mich wieder mit meinem Gesprächspartner in Pretoria verbinden, sag ich ihm, daß er nicht mehr fluchen soll.« »Sagen Sie ihm auch, daß er seinen Mund mit Lifeboy-Seife auswaschen soll!« sagte Doris. Ein paar Minuten später klingelte das Telefon. Ich hob ab, und bevor Hymie sprechen konnte, sagte ich: »Halt deine Zunge im Zaum, Levy. Doris, die wiedergeborene Christin, hört mit.« Nach einer kurzen Pause fragte Hymie: »Was ist Ihre Lieblingsschokolade, Doris?« Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. »Black Magic oder eine von diesen großen Drei-Pfund-Schachteln mit dem Bild von einem englischen Landhaus drauf, mit all den Blumen im Garten, wissen Sie, die Schachtel mit dem breiten rosa Band?« Wieder herrschte Stille. »Ich möchte mich nur für meine Sprache entschuldigen, manche Leute ärgern sich über so eine Sprache.« Doris sagte scharf: »Sagen Sie Ihrem Gesprächspartner, daß ich mich nicht vom Teufel verführen lasse, Peekay!« »Aber Doris, mein Freund besitzt eine Schokoladenfabrik, es ist einfach seine Art, sich so zu entschuldigen«, redete ich ihr gut zu. »Eine Schachtel, die so groß ist, daß Sie sie nicht mit einer Hand hochheben können, Doris«, sagte Hymie. »Also dann die Schachtel mit dem Garten und dem rosa Band«, piepste Doris leise. »Okay, dann müssen Sie uns aber versprechen, daß Sie nicht mehr zuhören, Doris«, sagte ich. »Nur wenn Sie mir hoch und heilig versprechen, daß Ihr Freund nicht mehr flucht«, sagte sie mit einem immer noch leicht warnenden Tonfall in der Stimme. »Vielen Dank, Doris«, sagten wir gleichzeitig. Es klickte, und Doris war weg. »Vergiß bloß nicht, ihr die Schokolade zu schicken, Hymie. Ich muß in dieser Stadt leben.« »Können wir jetzt sprechen?« fragte Hymie. »Klar! Eine wiedergeborene Christin hat dir ihr Wort gegeben!«
»Ich werds nicht vergessen, wir haben ein ganzes Zimmer voller unanständig großer Schokoladenschachteln im Teppichladen. Mein Vater nennt sie seine >Versüßer<. Jeder Kunde kriegt eine, wenn der Verkäufer meint, der Moment sei gekommen, das Verkaufsgespräch zum Abschluß zu bringen. Mein Vater behauptet, daß sein ganzer Teppichhandel auf Schokolade aufgebaut ist.« Hymie lachte. »Er nennt die Verkäufer sogar seine Schokoladesoldaten!« Seine Stimme änderte sich plötzlich. »Das Angebot steht noch, alter Kumpel. Du brauchst dir das Geld nicht schenken lassen, es ist nur ein Darlehen. Jetzt hast du ja auch das Aufnahmeexamen für Oxford bestanden.« »Hymie, wir haben oft genug darüber geredet! Du hattest mir versprochen, das Thema nicht wieder anzuschneiden.« »Verflucht, Peekay, was hast du vor?« Ich erzählte ihm von den drei Stipendien, die mir angeboten worden waren, und von dem Brief, der mich ermutigte, mich wieder um ein Stipendium für Oxford zu bemühen, wenn ich die Zwischenprüfung an einer anderen Universität abgelegt hätte. Hymie war einen Augenblick lang still. »Ich hab's! Wir gehen zusammen auf die Universität, auf die du willst, und studieren dann die beiden letzten Jahre in Oxford. Du bist gerade siebzehn, und ich bin gerade achtzehn, wir haben viel Zeit!« Jetzt war ich still. »Du hast eines vergessen«, sagte ich schließlich. Hymie reagierte blitzschnell. »Hab ich natürlich nicht vergessen, wir studieren in Witwatersrand, dann kann Solly dich weiter trainieren, und die alte Gruppe bleibt zusammen.« »Das klingt gut, Hymie, aber du bist in Oxford angenommen. Das paßt überhaupt nicht zu deinen Plänen.« »Pläne! Pläne sind dazu da, um geändert zu werden. Das hier ist eine viel bessere Idee.« Aber ich wußte, daß es nicht stimmte. »Ich muß nachdenken, Hymie. Ich brauch ein paar Tage, um über alles genau nachzudenken.« Ich wußte plötzlich, daß ich die Kristallhöhle Afrikas besuchen mußte, daß ich mit Doc »sprechen« mußte. Doc gehörte immer noch sehr real zu meinem Leben, und ich glaubte, daß ich ihm in der Höhle am nächsten wäre. »Versprich mir, daß du mich in einer Woche per R-Gespräch wieder anrufst. Bis dann, Peekay.«
Am nächsten Morgen packte ich einen Rucksack und machte mich vor Tagesanbruch auf den Weg zur Höhle. Am späten Vormittag war ich bis zum Felsband neben der Höhle hochgeklettert, aber ich ging nicht in die Höhle hinein. Docs Geist war überall. Das Felsband wurde erst am späten Nachmittag von der Sonne beschienen, und ich saß im Schatten, und die glatte Oberfläche des Dolomits war noch kühl von der Nacht. Ich schloß meine Augen, wie es mir Inkosi-Inkosikazi vor so vielen Jahren gezeigt hatte. Jetzt erfüllte das plötzliche Rauschen des Wassers meinen Kopf, und dann sah ich die drei Wasserfälle. Ich stand wieder im Mondlicht auf einem Felsvorsprung direkt über dem Wasserfall. Weit unter mir rauschte der Fluß und verschwand schäumend in einer engen Schlucht. Kurz bevor das Wasser in die Schlucht schoß, ragten die zehn schwarzen Steine aus dem grünen Wasser auf, so weit voneinander entfernt, wie ein kleiner Junge springen kann, und ihre glatten, nassen Oberflächen ragten nur wenige Zentimeter aus der schäumenden Strömung. Ich holte tief Luft und sprang vom Felsen in die Tiefe. Die kühle Luft, vermischt mit Gischt, strömte an meinem Gesicht vorbei. Ich tauchte in das Becken unterhalb des ersten Wasserfalls ein, und es platschte so laut, daß ich das Rauschen des Wassers nicht mehr hörte. Ich tauchte auf, wurde über den zweiten Wasserfall gespült und dann über den dritten und erreichte das tiefe grüne Wasserbekken. Als ich wieder aufgetaucht war, schwamm ich zu dem ersten der schwarzen Steine. Ich zog mich hinauf, sprang schnell von einem Stein zum nächsten und landete schließlich auf dem kiesigen Ufer. Ich fühlte, wie meine Zehen und Fußballen die glatten runden Kiesel berührten, und als ich landete, war ich in der Kristallhöhle Afrikas. Die Höhle war wie von sanftem Sonnenlicht beleuchtet, und ich konnte alles um mich herum erkennen. Sie war noch herrlicher, als ich es mir vorgestellt hatte, die Stalaktiten leuchteten in jeder nur vorstellbaren Farbe, manche hingen mehr als drei Meter von der Decke herab. Ich ging auf Docs Plattform zu, kam an den spiegelglatten Teichen vorbei, die die grotesken und wunderschönen Steinformationen widerspiegelten. Ein Sonnenstrahl schien durch die kristallinen Strukturen oberhalb der Plattform auf die Stufen, die zu ihr hinaufführten. Langsam stieg ich die groben natürlichen Stufen
empor, bis ich schließlich von der obersten Stufe auf die Plattform hinunterblickte, auf der Doc zu meinen Füßen lag. Er lag genau so da, wie ich es mir vorgestellt hatte, er hatte die Arme angewinkelt, die Hände über der Brust gekreuzt, und die Füße gerade ausgestreckt. Er sah aus wie das Bildnis eines ruhenden mittelalterlichen Ritters auf einem gotischen Grabstein, in einer ruhigen Ecke einer großen Kathedrale. Er bestand aus reinem Kristall, das sanfte Sonnenlicht umtanzte ihn und zerstob in Myriaden winziger Strahlen. Ich erzählte ihm von meiner Angst, die Kontrolle über mein Geschick zu verlieren, wie ich, weil ich mich so gut getarnt hatte, zu sehr von den Bedürfnissen der anderen geformt und geleitet worden war. Wie die Kraft, die ich in mir spürte, sich verflüchtigte, obwohl sie nur in bester Absicht für mich handelten. Im Gegenteil, sie handelten aus unschuldiger Liebe heraus. Ich verlor meine Kraft, weil die Menschen um mich herum einen Geist ausplünderten, indem sie sich mir schenkten. Es war, als ob eine innere Stimme mir mein Selbst erklärte. Ich war ein Experte in Sachen Tarnung geworden. Meine Frühreife erlaubte mir, wie ein Chamäleon für jeden genau das darzustellen, was er von mir erwartete. Für Doc war ich ein Kamerad, für Mrs. Boxall eine Freude, für die Schwarzen ein Champion, für Captain Smit eine Erfüllung, für Miss Bornstein ein bunter Baumwollfaden in einem dunklen Webstoff, für Hymie ein Degen zum Fechten, für Singe 'n Burn ein Produkt und für meine Freunde ein idealisierter Schuljunge, ein Gewinner und ein prima Kerl. Ich war ein armer Junge unter reicher Leute Söhnen, und in meinem Kopf wurde mir der Status, den sie durch die schlichte Tatsache ihres Reichtums innehatten, nur dadurch erträglich, daß ich mich ihnen in allen anderen Gebieten überlegen zeigte. Ich hatte mich in dem Maße mit meiner Tarnung identifiziert, in dem die Maskerade wichtiger war als die Wahrheit. Obwohl das längst nicht mehr freiwillig passierte, war es doch aus der Notwendigkeit, mich zu verstecken, entstanden. Als kleines Kind hatte ich begriffen, daß es nur zwei Möglichkeiten für jene gibt, die unentdeckt bleiben wollen. Man kann entweder eine Null oder eine Ausnahme sein. Man kann entweder in der Masse untergehen oder sich in eine Spitzenposition hocharbeiten, wo sich die meisten anderen nicht hinwagen.
Meine Tarnung, die vor so vielen Jahren unter der Verfolgung des Richters begonnen hatte, drohte mich jetzt völlig zu durchdringen. Es war höchste Zeit, die gescheckte und geschickt ersonnene äußere Haut abzuwerfen und mein wahres Selbst zu zeigen, das Risiko einzugehen und die eigene Kraft wiederzuentdecken. Ich war an einem Punkt angelangt, wo es lebensnotwendig für mich war, mich selbst zu finden. Ich wußte nicht, wie lange ich im Schneidersitz auf dem Felsband gesessen hatte, aber langsam kehrte mein Blick zurück, und der sanfte blaue Streifen vor meinen Augen wurde wieder zu der westlich am Horizont liegenden Bergkette. Im Regenwald unter mir hörte ich einen roten louri schreien. Meine Beine waren steif, und meine Fußgelenke schmerzten. Ein überwältigendes Gefühl von Freiheit durchströmte mich... dasselbe Gefühl von Freiheit, das ich empfunden hatte, als der große schwarze Zug losgefahren war, weg von dem Internat, von Mevrou und dem Richter. Als sich Hoppie mir gegenüber hingesetzt hatte, und wir ein Abenteuer und einen grünen Lutscher geteilt hatten. Ich war aus dem Tagtraum in der Kristallhöhle Afrikas mit der Sicherheit aufgetaucht, daß ich noch einen Test zu bestehen hätte, bevor ich die Kraft, die in einem selbst liegt, wiederfinden würde. Dann erst würde mein Schicksal in meinen eigenen Händen liegen. Ich saß weiterhin so still, wie Doc es mir zum Beobachten von lebenden Wesen beigebracht hatte. »Still wie ein Fels, Peekay, länger als es juckt und kratzt und schmerzt, dann wird die Konzentration so groß, daß man alles in einem glasklaren Licht wahrnimmt.« Also saß ich reglos da und tauchte langsam aus dem Kokon der Trance auf, in dem ich gewesen war. Ich bat Doc um ein Zeichen. In diesem Augenblick, als ich reglos wie ein Stein auf dem Felsband direkt außerhalb der Kristallhöhle saß, hatte ich keinerlei Zweifel, mich störte auch nicht die intellektuelle Absurdität der Bitte um ein Zeichen, um eine sichtbare Bestätigung der Botschaft, die ich so klar in mir fühlte. Zuerst war es kaum eine Bewegung, weniger als der Schlag eines Augenlids, ein undeutlicher Glanz. Dann stieg der Kopf einer schwarzen Mamba einen halben Meter von mir entfernt über die Kante des Felsbandes auf. Der flache, anthrazitfarbene Kopf erstarrte wenige Zentimeter über dem Felsband. Die gespaltene
Zunge der Schlange zuckte zitternd hin und her, als ob sie eigenes Leben besäße. Die riesige Schlange erhob sich und glitt über das Felsband, bis ihr periskopartig gehobener Kopf nur noch zwölf Zentimeter von meinem Gesicht entfernt war. Ich konnte ihre Augen sehen, schwarze, reglose Knöpfe über giftgeimpften Kiefern, die den Tod bedeuteten. Der Kopf bewegte sich langsam hin und her, pendelte durch mein Sichtfeld. Wenn die Schlange mich beißen würde, dann hätte ich noch fünfzehn Minuten zu leben... Gerade genug Zeit, um in die Höhle zu gehen und mich neben Doc zu legen, bevor mein zentrales Nervensystem zusammenbrechen würde. Der Kopf der Mamba verschwand aus meinem Sichtfeld und legte sich kurz auf meine Stiefelspitze. Ich fühle das Gewicht ihres Körpers, als sie über den Stiefel glitt. Sie schlängelte sich das Felsband entlang und verschwand am anderen Ende. Sie konnte nur aus der Höhle gekommen sein. Doc hatte mir ein Zeichen geschickt. Ich wußte, was ich tun mußte. Langsam löste sich mein Körper aus seiner Starre, ich fühlte einen Adrenalinstoß und fing an zu zittern. Ich wartete, bis es aufhörte, ließ mich dann auf den Felsvorsprung herunter, preßte meinen Körper an den Felsen und ging Schritt für Schritt weiter, bis ich in die Höhlenöffnung sehen konnte. Der Boden des Tunnels, der in die erste Höhle führte, war mit Sand bedeckt, der durch die Winderosion von den Felsen gerieselt war. Ich konnte an den Spuren genau erkennen, wo die Schlange hineingekrochen und wo sie wieder herausgekommen war, nachdem sie ein paar unglückliche Fledermäuse gefressen hatte, die in der ersten Höhle schliefen. Doc hatte mir das Zeichen geschickt, das ich mir gewünscht hatte. Ich kletterte vorsichtig zum Felsband zurück, schulterte meinen kleinen Rucksack und machte mich an den Abstieg. Es war unwahrscheinlich, daß mir die Schlange auf meinem Abstieg begegnen würde. Sie hatte sich an Fledermäusen sattgefressen und würde einen Schlafplatz unter einem Felsvorsprung finden, wo sie nicht gestört würde. Als ich mich von meiner Angst erholt hatte, empfand ich die Schlange als sehr passendes, vielleicht sogar großartiges Symbol. Die schwarze Mamba, die giftigste Schlange der Welt, bleibt lebenslänglich mit ein und demselben Partner zusammen. Wenn er getötet wird, wartet sie oft darauf, daß der Mörder zurückkommt.
Um Rache nehmen zu können, ist sie sogar bereit zu sterben. Obwohl sie von Natur aus nicht aggressiv ist, wird die Schlange doch ihr junges Leben verteidigen, wird bis auf wenige Zentimeter ihres Schwanzes vom Boden aufsteigen und immer wieder peitschende Seitwärtsbewegungen machen. Da die meisten Menschen instinktiv die Arme heben, um ihre Augen zu schützen, beißt die Mamba meistens in den oberen Teil des Oberarms. Der Weg des Gifts bis zum Herzen ist kurz, und der Ausgang ist todsicher. Alle, die mit mir zu tun hatten, waren entsetzt, als ich verkündete, daß ich zwischen Schule und Universität ein Jahr lang nach Nordrhodesien gehen wolle, um dort in den Kupferminen zu arbeiten. Es war, als ob alle, die mich liebten, selbst die Boxer, das Gefühl hatten, daß ich mit diesem Schritt die Kontinuität in meinem Leben bräche und dadurch auch das Verhältnis, das uns miteinander verband, zerstört wurde. Gerts Bruder war an Weihnachten vom Copperbelt zu Besuch gekommen und hatte erzählt, daß es sowohl am Copperbelt als auch im Kongo zu wenig weiße Arbeitskräfte in den Minen gäbe. Der Koreakrieg hatte gerade angefangen, die Kupferpreise waren in die Höhe geschnellt. Er erzählte, daß die Männer, die die Diamantbohrer bedienten, zweihundert Pfund pro Woche machten, und daß junge Grizzly-Männer hundert Pfund hatten, wenn sie den Kupferbonus eingestrichen hatten. Nordrhodesien war eine britische Kolonie auf der anderen Seite des Sambesi, es lag weit weg von den Menschen, die mich so freundlich im Griff ihrer Ambitionen hielten. Es lag weit weg von der Legende des Kaulquappenengels. Es lag sogar weit weg vom Boxen. Ich hielt es für eine Möglichkeit, mit mir klar zu kommen und meinen Körper so zu entwickeln, daß ich zur Weltergewichtsklasse gehörte. Die harte Arbeit unter Tage würde mich stählen, und zwölf Monate Abwesenheit vom Ring würden mir nicht schaden. Ich hatte seit meinem siebten Lebensjahr geboxt und einhundertsechzehn Amateurkämpfe hinter mir. Meine Instinkte, auf die ich immer vertrauen konnte, sagten mir, daß ich eine Pause machen sollte. Gerts Bruder Danie arbeitete als Bohrmeister, das war die Elite unter den Bergleuten am Copperbelt. Die meisten Männer, die diesen Beruf ausübten, waren Buren aus Johannesburg, die von dem
großen Kupferbonus angezogen wurden, der weißen Bergleuten gezahlt wurde. Man nannte sie »Diamantbohrer«, und zwar deshalb, weil die Bohrer mit Industriediamanten besetzt waren, damit sie hart genug waren, um durch den Fels bohren zu können. Danie arbeitete in einer Mine in der Nähe von Ndola, der Hauptstadt von Nordrhodesien. Er sagte, er würde mir einen Job als Grizzly-Mann bei der Rhone Antelope Mine in der kleinen Bergarbeiterstadt Luanshya beschaffen, die Anglo American gehörte. Ein GrizzlyMann arbeitete mit Sprengstoff, und das war der am zweitbesten bezahlte Job im Bergwerk. Die Reise dauerte vier Tage. Der Zug verließ Südafrika in Beitbridge, fuhr durch Südrhodesien zu den Victoriafällen und über den Sambesi nach Nordrhodesien. Südrhodesien ähnelt dem östlichen und nördlichen Transvaal, aber auf der anderen Seite des Sambesi wechseln sich flaches Grasland und Äquatorialwälder ab. Die Bäume, die in großen Teilen des Landes wuchsen, waren ganz anders als alle Bäume, die ich vorher gesehen hatte, denn sie waren schon den ganzen Sommer über herbstlich verfärbt. Die Blätter waren leuchtend rot, gelb, sogar zartlila und purpurrot, hatten all die Farben, die man im Herbst in der nördlichen Hemisphäre erwartet. Ein Mitreisender, der neben mir saß, erzählte mir von riesigen eßbaren Pilzen, die über Nacht in den Wäldern wuchsen, einen halben Meter hoch wurden und einen Schirm hatten, der fast einen Meter Durchmesser hatte. Ein Pilz kann dreißig Pfund wiegen. Ich war alt genug, um nicht alles, was ich hörte, für das Evangelium zu halten, aber in den kommenden Monaten sah ich Schwarze, die am Straßenrand diese riesigen Pilze verkauften und einfach so viel davon abschnitten, wie der Käufer haben wollte. Im feuchten dichten Unterholz der Wälder lebten auch leuchtendbunte Motten, die eine Flügelspannweite von mehr als fünfundzwanzig Zentimetern hatten. Nordrhodesien war ganz anders, und die Schwarzen waren wie in großen Teilen Zentralfrikas wirklich schwarz, ihre Gesichter waren flacher, und sie waren kleiner als die milchschokoladebraunen Zulus oder Shangaan. Sie sprachen Suaheli, und ich stellte mit Bestürzung fest, daß ich diese Sprache nicht beherrschte und zum ersten Mal in meinem Leben von den Schwarzen abgeschnitten war. In den Bergwerken wurde eine Sprache namens Kisuaheli gesprochen, die dem Fanagalo ähnelte, aber sie war wie jede für einen
bestimmten Beruf entwickelte Sprache sehr begrenzt. Schwarze kamen direkt aus ihren Dörfern im Busch in die Bergwerke und lernten dort diese Bergwerkssprache, damit sie die Befehle ihrer weißen Bosse ausführen, und häufig auch, damit sie sich überhaupt miteinander unterhalten konnten. Ein Arbeitstrupp bestand oft aus schwarzen Bergleuten, die aus einem halben Dutzend verschiedener Stämme stammten, die jeder eine andere Sprache sprachen. Am vierten Tag der Reise fuhr der Zug um vier Uhr nachmittags endlich in die verschlafene Stadt Ndola ein. Ndola war eine kleine Gemeinde, die aus den Familien der Bergleute und Händler bestand, die alle von den riesigen Kupferminen lebten. Der Rest der Einwohner waren britische Kolonialbeamte und ihre Familien. Die beiden weißen Gruppen führten ein ganz getrenntes Leben. Die Familien der Bergleute trafen sich nur selten mit den Beamtenfamilien, die in einem anderen Stadtteil lebten. Ndola lag etwa dreißig Meilen von Luanshya entfernt, aber für Personenzüge war hier die Endstation. Gerts Bruder holte mich am Bahnhof ab, wo das Geplapper von verwirrten und verängstigten Schwarzen die Luft erfüllte. Die weißen Bergbaubeamten mimten Gleichgültigkeit, und schwarze Bergbaupolizisten in blauen Uniformen strotzten vor Einbildung und scheuchten Hunderte von Schwarzen aus dem Zug. Für sie war es jetzt zu spät zur Umkehr. Sie waren wie wilde Zama-Melonen aus dem Busch geholt worden. Während der vergangenen zwei Tage und Nächte hatte der Zug immer wieder an winzigen Bahnhöfen gehalten, die aus nichts als einer Blechhütte auf einer kleinen Rodung bestanden. Dort wurden immer etwa ein Dutzend in Decken eingehüllte Afrikaner von einem schwarzen Rekrutierungsoffizier in den Zug gescheucht. Am Weiß ihrer weit aufgerissenen Augen konnte man ihre Angst und Verwirrung erkennen, als sie in das zischende, Dampf speiende Monster geschoben wurden. Die, denen es etwas früher genauso ergangen war, begrüßten sie johlend. Ihre Arme ruhten jetzt bequem auf den Fensterbrettern, sie hatten sich an das ständige Klackern gewöhnt und an das Wunder einer Schlange, die sich auf einer eisernen Straße vorwärtsbewegt. Jetzt waren sie fast am Ende ihrer Reise angelangt. Ich schaute zu, wie die Bergwerkspolizei versuchte, sie einigermaßen unter
Kontrolle zu bekommen. Sie waren nur deshalb gekommen, weil eine Dürre und eine Heuschreckenplage ihre Ernte und das Weideland für ihr Vieh zerstört hatten. Sie wurden als angeforderte Bergleute aus den Dörfern geholt und arbeiteten ein Jahr lang im Bergwerk, um ihre hungernden Frauen und Kinder am Leben erhalten zu können. Die Angst, die diese armen Kreaturen fühlten, als sie zum ersten Mal senkrecht in die Schächte hinuntergelassen wurden, war für die eingeweihten schwarzen Bergleute und für viele Weiße immer wieder eine Quelle großer Heiterkeit. Gerts Bruder bemerkte, daß ich die armen Burschen anschaute. »Mann, sie sind am Anfang hier wie Affen. Sie können nicht mal 'ne Leiter hochklettern, und wenn man ihnen einen Spiegel gibt, dann werden sie schneeweiß im Gesicht vor lauter Angst, wenn sie den großen Affen sehen, der sie anschaut. Das ist sehr komisch, Mann.« Er nahm meinen Koffer, und ich folgte ihm zu einem grünen Bedford-Laster. »Meine Schicht ist grad zu Ende, ich fahr dich nach Luanshya. Ich hab gestern dort im Kasino angerufen, sie wissen, daß du kommst. Morgen mußt du dich im Bergwerkrekrutierungsbüro für eine medizinische Untersuchung melden, und dann schreibst du dich für drei Monate in der Bergwerksschule ein. Ich muß dich warnen, Mann, da gibt's einen walisischen Bastard namens Thomas, nimm dich vor dem in acht. Nach der Schule bekommst du deine Sprenglizenz und kannst sechs Monate lang sprengen, oder drei Monate, wenn du Glück hast. Aber der Job wird gut bezahlt.« »Warum nur sechs Monate oder sogar nur drei?« fragte ich ihn, als wir losfuhren. »Ich wollte es dir nicht vorher sagen, aber wenn du länger sprengst, dann werden die Chancen immer schlechter.« »Die Chancen?« »Ja, Mann, es wird immer wahrscheinlicher, daß du verletzt oder getötet wirst.« Gerts Bruder lachte. »So viel Geld wird schließlich nicht umsonst bezahlt.« »Müssen alle auf die Grizzlys?« »Ja, die ganzen jungen Typen. Wenn du älter als zweiundzwanzig bist, sind die Reaktionen schon zu langsam. Nur die Jungen sind schnell genug oder... verrückt genug für den Job«, sagte er grinsend. »Sieht nicht so aus, als ob ich die Wahl hätte.«
Gerts Bruder lachte wieder. »Absolut nicht. Alle Neuen müssen eine Zeitlang auf den Grizzly, kein Mensch macht das freiwillig. Das Erz durch den Grizzly rauszuholen ist die beste Methode, aber auch die gefährlichste. Die Bergarbeitergewerkschaft im Rand erlaubt nicht mal eine Stange. In ganz Südafrika sind die Grizzlys verboten, aber hier in Nordrhodesien ist es ihnen egal. Solange der Schutt rauskommt, ist alles in Butter.« Er schwieg einen Moment, als er auf eine Waschbrettspiste abbog, die aus der Stadt herausführte. »Aber du machst verdammt gutes Geld, und wenn du aufpaßt, geht schon alles klar.« Ich lachte. »Keine Angst, Danie, ich werd verdammt gut aufpassen!« Er sah mich an, und seine Hände vibrierten am Steuer, als wir über ein besonders schlechtes Stück Straße fuhren. »Das Verdammte ist, der Grizzly-Mann kommt in der Nachtschicht, von elf bis sieben. Er holt das Erz aus der Abraumkammer. Ich als Bohrmeister bohr tagsüber das Erz, und du bringst den Schutt nachts durch den Grizzly raus. Wenn du zu vorsichtig bist und nicht genug Schutt durch den Grizzly kriegst und ich hab morgens keine leere Abraumkammer, dann gibt's Ärger.« Er grinste mich wissend an. »Das machst du dreimal, dann kannst du dir die Papiere holen. Der Bohrmeister ist der King. Wenn du in seiner Abraumkammer Scheiße baust, hast du die längste Zeit in den Minen gearbeitet, Mann.« Ich schwieg. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach, aber mir dämmerte, daß ein Grizzly-Mann großem Streß ausgesetzt war. Und unter Streß passieren Unfälle. »Das ist das einzig Gute an Thomas in der Bergwerksschule, der Unterricht bei ihm ist so knallhart, daß du eine ganz gute Chance hast, am Leben zu bleiben, wenn du deine Sprenglizenz hast und als Grizzly-Mann arbeitest.« Danie setzte mich im Kasino der Bergleute ab, wo ich für einen Monat lang einen Raum gemietet hatte, bevor ich in eine Hütte in einem der Lager für die alleinstehenden Männer umziehen würde, die um das Kasino herumlagen. »Ich werd versuchen, mal vorbeizuschauen. Aber es ist nicht so einfach, die Bergwerkstädte liegen alle für sich, du machst immer Nachtschicht, und ich arbeite immer am Tag, also gibt's kaum 'ne Möglichkeit, daß ich komme. Wenn's ganz schlimm wird, ruf mich
an.« Er kritzelte den Namen seines Bergwerks und eine Telefonnummer auf ein Stück Papier. »Hinterlaß eine Nachricht im Bergwerksbüro. Ich komme so bald wie möglich.« Er streckte seine Hand aus. Er war ein Riesenkerl, an die ein Meter neunzig, und beim Händeschütteln hatte er den üblichen Gorillagriff, wie die meisten Buren. Ich dankte ihm für seine Hilfe. »Ach was, Peekay, jeder Freund von meinem kleinen boetie ist auch mein Freund. Gert sagt, daß du ein echter Mann bist und eines Tages Weltmeister wirst. Ich hab dir gern geholfen.« Er machte eine Pause. »Hier wird auch geboxt, aber niemand ist so gut wie du. Ein paar Kaffern sind okay, die Köpfe von diesen verdammten Affen sind so hart, daß ein Diamantbohrer dran stumpf werden würde. Bis bald, Pekay, alles Gute.« Ich schaute zu, wie der Laster mit durchdrehenden Rädern beschleunigte, bevor er in einer Staubwolke verschwand. Neben der Schmelze und den Verwaltungsgebäuden des Bergwerks bestand die kleine Stadt Luanshya aus zwei Teilen. Der Stadt selbst, in der die verheirateten Angestellten des Bergwerks und ihre Familien wohnten, außerdem Lehrer, Ladenbesitzer und die Kolonialbehörde, die hauptsächlich aus Polizisten bestand, und einem davon ziemlich getrennten Gebiet, auf dem mehrere hundert schmale rundgebaute Hütten für alleinstehende Männer standen, die man in Südafrika rondavels nannte. Jedes dieser rondavels hatte ein Wellblechdach, die Wände und der Boden waren aus Zement. An jeder Hütte war eine rechteckige ein Meter achtzig breite und vier Meter fünfzig lange, mit Fliegengitter geschützte Veranda angebaut. Diese stoep war eine wackelige Angelegenheit, die die Fliegen abwehren und den Wind hereinlassen sollte, die Tür der Hütte war aus Eisen und ein Einbruch fast unmöglich, wenn von innen abgeschlossen war. Die zwei kleinen Fenster waren vergittert. An diesen Hütten wirkte nichts freundlich oder heimelig, höchstens vielleicht der große Ventilator an der Decke, der manchmal, an einem glühendheißen Tag nach einer Nachtschicht, so viel Kühlung brachte, daß ich einigermaßen schlafen konnte. Im rondavel standen ein Bett mit Matratze, ein Kleiderschrank, ein Tisch und zwei Stühle. Im Zentrum dieser unordentlichen Ansammlung von Hütten stand das Kasino, wo man für ein paar Pfund
im Monat essen konnte. Um mich herum lebten Männer aus zweiundvierzig Ländern, von denen viele eine zweifelhafte Vergangenheit und eine unsichere Zukunft in ihrer Heimat hatten. Es gab ein paar Grizzly-Männer wie mich, junge Typen, die schnell und fit genug waren, um auf dem Grizzly-Stangenrost aus Wolframstahl zu arbeiten, ohne sich umzubringen, aber die meisten Bergleute waren in den Dreißigern, manche sogar älter. Es waren ausnahmslos zähe, harte Männer, die wegen des Geldes hergekommen waren. Nur Wenige waren richtige Bergleute, viele waren Säufer und Kriminelle, einige von ihnen Exnazis auf der Flucht. Ein paar Söldner waren dabei, die nach Kriegsende einfach weitergezogen waren und auf den nächsten Krieg warteten, obwohl sie nicht bereit waren, eine Uniform anzuziehen, um im Koreakrieg mitzukämpfen. Es gab Falschspieler, Schwindler und Diebe, die, obwohl sie in den Bergwerken arbeiteten, um in der Stadt bleiben zu können, eigentlich wegen der Arbeit nach Feierabend hergekommen waren. Ich lernte, daß normale Höflichkeit fehl am Platz war, daß man niemanden fragte, wo er herkam, und sich auch nicht für seine Vergangenheit interessierte. Er erzählte es einem vielleicht, wenn er sentimental wurde oder zuviel trank, aber die meisten aus der Meute, wie die zusammengewürfelten Männer von den Leuten aus der Stadt genannt wurden, hatten gelernt, den Mund zu halten, ob betrunken oder nüchtern. Ich lernte genauso schnell, meine Hütte verschlossen zu halten. Eines Samstag abends, eine Woche nachdem ich eine Hütte zugeteilt bekommen hatte, wäre ich um ein Haar von einem Haufen Männer vergewaltigt worden. In einer Stadt, in der es außer einer Handvoll Ehefrauen keine Frauen gab, war ein siebzehnjähriger Junge ein verlockendes Sexualobjekt für eine Bande betrunkener Deutscher, Russen, Algerier und Slawen. Hätte mich Rasputin, ein riesiger Georgier, der fast nie ein Wort sprach, nicht beschützt, dann wäre ich bestimmt vernascht worden. In der Stadt gab es Polizei, die aber nur dann in das Lager kam, wenn es eine Messerstecherei gegeben hatte oder eine Horde Betrunkener außer Kontrolle geriet. Alle sechs Wochen landete eine belgische DC-3 auf der kleinen Rollbahn eine Meile außerhalb der Stadt in der Nähe von Schacht Nummer neun. Unter dem Jubel der wartenden Meute entstiegen ihr fünfundzwanzig Prostituierte aus Brüssel via Belgisch-Kongo, wo
sie in den Kupferminen von Katanga schon eine lukrative Woche verbracht hatten. Ein paar Wochen auf dem Rücken, und sie hatten soviel Geld verdient, daß sie zu Hause ein Jahr davon leben konnten. Viele von ihnen waren junge Ehefrauen, die sich die Anzahlung für ein Haus, oder Verkäuferinnen, die sich eine Aussteuer verdienten. In Europa gab es nicht viele Männer, und ein Mädchen mußte etwas mehr als nur eine respektable Herkunft bieten, wenn sie heiraten wollte. Eine gute Ausrede für zwei Ferienwochen und zwei ständig gespreizte Beine waren alles, was nötig war, um einen Heiratsantrag mit der angeblich von den Eltern der Braut geschenkten Anzahlung auf ein schönes kleines Häuschen in einem Vorort von Antwerpen zu besiegeln. Einige der Damen waren professionelle Huren, also genau das, was manche Männer wollten. Eine gute Hure weiß, wie man sich mit einem Mann betrinkt, wie man ihm das gibt, was er haben will, und ihm seinen Wochenlohn klaut, ohne seine Anonymität zu verletzen oder sein Herz zu berühren. Ein Mann auf der Flucht findet nichts gefährlicher als Leidenschaft oder Liebe oder vorgetäuschte Unschuld. An dem Tag, an dem das Flugzeug mit den Huren ankommen sollte, wartete die Meute vom frühen Morgen an. Sie feilschten um das frische Fleisch und die hübschesten Frauen und verfluchten die verdammten Frösche drüben im Kongo, weil sie zuerst dran gewesen waren. Sie erzählten sich gegenseitig, was für winzige Schwänze bekanntermaßen Frösche haben, und daß die Frauen deshalb zuerst dahin gingen. Denn wenn sie es andersherum machen würden - sie blinzelten sich zu und lachten wiehernd -, würden die verdammten Frösche es am Schluß noch umsonst bekommen, weil die Nutten gar nicht gemerkt hätten, daß sie gearbeitet hatten. Die Huren wurden »Französische Briefe« genannt, weil die Frösche ihre Stifte zuerst reingetunkt und sie dann per Luftpost weitergeschickt hatten. Die Kongo-Bergleute waren genau so ein gemischter Haufen wie die im Copperbelt, obwohl die meisten Belgier waren und französisch sprachen. Aber so spitzfindige Unterscheidungen machten die meisten nicht. »Wenn einer französisch spricht, ist er ein Frosch. Jemand anderer Meinung?« Mein neues Leben begann in der Bergbauschule, einer Schule, die hauptsächlich tagsüber in Schacht Nummer neun am Rand der Stadt stattfand. Sie wurde von zwei riesigen Walisern betrieben. Dai Tho-
mas und Gareth Jones waren ein bemerkenswertes Duo. Thomas unterrichtete die Klasse unter Tage, und Jones, ein ehemaliger Lehrer und Bergwerksingenieur, unterrichtete uns zwei Stunden lang theoretisch, bevor unsere achtstündige Schicht unter Tage begann. Die Kombination war ausgearbeitet worden, um während der drei Monate, die wir in ihrer Obhut waren, das Äußerste aus uns rauszuholen. Jones steckte Thomas die Schwäche eines jeden Schülers, und Thomas nützte diese Information erbarmungslos aus, sobald wir unter Tage ankamen. Sie verstanden ihren Job als praktischen Unterricht im Überleben unter Tage, und dabei brachten sie uns fast um. Mit siebzehn war ich der Jüngste und auch der Kleinste in dem wüstesten Haufen von unwilligen Schülern, den es jemals gegeben hat. Wir alle waren wegen des Geldes hergekommen und nicht wegen einer Karriere, aber die nordrhodesische Bergwerksbehörde forderte, daß alle Bergleute ihre Sprenglizenz machten, und dafür mußten wir nicht nur den Umgang mit Dynamit lernen, sondern wurden auch zu Hauern, Stempelsetzern, Bohrern und Klempnern ausgebildet. Die ersten beiden Monate waren körperlich gesehen die härtesten meines ganzen Lebens. Mit meinen hundertfünfundzwanzig Pfund war ich der geforderten Arbeit eigentlich nicht gewachsen. Aber wir waren nicht in Südafrika, und Thomas verlangte, daß alle seine Leute die Arbeiten machten, die gewöhnlich von afrikanischen Bergleuten erwartet würden. Die knochenbrecherische Arbeit, frisch gesprengten Abraum wegzuräumen und größere Brocken mit der Hand und kleinere mit der Schaufel auf Loren zu laden, konnte ausgewachsene Männer fix und fertig machen und häufig genug an den Rand der Meuterei treiben. Thomas war gnadenlos. Wir schafften den Abraum sechs Stunden pro Tag weg, im ersten Monat jeden Tag, oft in engen Flözen in dreihundert Meter Tiefe, in denen es an die hundert Grad Fahrenheit heiß war. Während der achtstündigen Schicht gab es eine halbe Stunde Mittagspause und jede Stunde fünf Minuten zum Wassertrinken. Durch das jahrelange Boxen waren meine Arme und mein Oberkörper gestählt, und ich lernte schnell, die stumpfe, langstielige Bergmannsschaufel zu benutzen. Aber am Ende der Schicht brach ich fast zusammen und sabberte vor Erschöpfung. Thomas reizte und beschimpfte die Männer und versuchte ständig, einen Kampf zu pro-
vozieren, legte es darauf an, daß jemand den Kopf verlor und auf ihn losging. Einige versuchten es, aber außer einer Tracht Prügel wurden sie von der Schule geschmissen, und die Chance, ans große Geld zu kommen, war für immer passe. Ich sehnte mich danach, mir Thomas vorzuknöpfen. Niemand wußte, daß ich Boxer war, und wenn ich nicht allzu erschöpft war und noch die Kraft hatte, ein wenig zu träumen, phantasierte ich, wie er auf mich losging, hoffnungslos danebenschlug und schließlich erschöpft zu Boden ging, nachdem er sich vor den anderen lächerlich gemacht hatte. In meinem Tagtraum ließ ich ihn auf dem Boden kriechen, während ich seelenruhig meine langstielige Schaufel aufnahm und den Rest auflud, ohne ein Wort zu sagen. Das Wissen, daß ich das vielleicht tatsächlich schaffen könnte, ließ mich durchhalten, wenn er mich manchmal pausenlos eine Stunde lang quälte. »Okay, Mr. Scheiße-im-Hirn, du bist ja so verdammt schlau, wieviel Gelatinesprengstoff braucht man für zwölf Löcher vor Ort?« In der ersten Woche hatte ich die Lehrbücher, die uns Gareth Jones ausgeteilt hatte, von der ersten bis zur letzten Seite gelesen, und Thomas merkte bald, daß ich die Antworten auf die einfachen Fragen wußte, die er uns stellte, während wir einfuhren. Er wollte keinen Klugscheißer in seiner Klasse haben und schien es darauf anzulegen, mich fertigzumachen. Er stellte mir Fragen aus Gebieten, die wir erst in den kommenden Wochen durchnehmen würden, aber meistens wußte ich die Antwort. Die anderen waren nicht gerade besonders helle, und Lesen war nicht ihre starke Seite. Ich konnte die Antwort nicht einfach verpatzen, nur um Thomas' Bedürfnis zu befriedigen, mich runterzumachen. Die Leute freuten sich riesig, wenn ich richtige Antworten gab und Thomas ihrer Meinung nach dann überlegen war. »Für zwölf ein Meter achtzig oder zwölf vier Meter fünfzig tiefe Bohrlöcher, Sir?« fragte ich. »Willste wieder 'n Klugscheißer sein?« »Nein, Sir, aber das wäre doch ein Unterschied, oder?« »Natürlich, du Trottel, natürlich war das 'n Unterschied!« »Deshalb hab ich gefragt, Mr. Thomas.« Jetzt hatte ich ihn in seiner eigenen Falle. Thomas antwortete wütend: »Wir benutzen ja nicht grad viele vier Meter fünfzig lange Bohrer, oder?«
»Bei kalkhaltigem Gestein doch, Sir«, antwortete ich. Thomas sprang wütend auf. »Es gibt so gut wie kein kalkhaltiges Gestein in einer verdammten Kupfermine!« »In diesem Fall achtzehn Pfund, Sir«, antwortete ich ruhig. Die Männer um mich herum grinsten so breit, daß sie eine Scheibe Wassermelone hätten quer essen können. »Korrekt« schrie Thomas. »Aber spiel hier nicht den Klugscheißer, Bürschchen, oder ich laß dich schaufeln, bis dir die Arme abfallen. Dann kannst du dir mit der Schulter die Nase jucken!« »Ja, Sir«, sagte ich, aber ich wußte, daß er das letzte Wort haben würde, daß er mich in einen schlecht gesprengten Schacht schicken konnte, wo das Erz in großen Brocken herumlag, zu groß für eine Schaufel, und ich müßte den ganzen Tag die Brocken zerschlagen und aufladen, bis ich vor Erschöpfung zusammenbräche. »Keine Drückebergerei, zurück an die Arbeit in fünf Minuten, oder du zahlst ein Pfund Strafe.« In der Bergbauschule bekamen wir ein symbolisches Gehalt, von dem wir, wenn wir die Miete für die Hütte und die Rechnung im Kasino bezahlt hatten, gerade ein paar Pfund für das Notwendigste übrig hätten. Wenn man am Monatsende fünf Pfund Schulden hatte, dann wurde es schwierig. Ich sagte mir, daß nichts, was Thomas sagte oder tat, mich fertigmachen könne. Ich sagte mir immer wieder, daß ich wegen der harten Arbeit hierher gekommen war, und tatsächlich war mein Körper schon nach zwei Monaten Bergbauschule so hart wie noch nie, und ich wußte, daß meine Muskeln bald zunehmen würden. Obwohl ich versteckt in meiner Hütte einen Punchingball hatte, jeden Tag in der Sporthalle des Clubs Gewichtheben machte und dreimal pro Woche fünf oder sechs Meilen lief, versuchte ich gar nicht, dem Boxclub beizutreten. Sport war das einzige, was sowohl die Bergleute und die anständigen Bürger gemeinsam hatten, und der Club, der vom Bergwerk kräftig subventioniert wurde, war das soziale Zentrum der kleinen Stadt. Der Club stand für alle Traditionen und Verhaltensweisen, die anglophile Institutionen dieser Art von ihren Mitgliedern aus der unteren Mittelschicht erwarten, die sich plötzlich in den oberen Rängen einer kolonialen Hinterwaldgesellschaft wiederfinden, und man löste das Problem, die Burschen aus aller Herren Länder bedienen zu müssen, indem man eine eigene Bar für sie gebaut hatte. Sie war in einem separaten Gebäude untergebracht,
und der Eingang lag so, daß die Männer beim Betreten der Bar nicht vom Establishment der Stadt gesehen werden konnten. Die Lagerbar, wie sie genannt wurde, hatte eine fünfzehn Meter lange Theke und einen Zementboden, und die Wände waren mannshoch mit Waschraumfliesen gekachelt, und sie hatte Schwingtüren wie ein Western-Saloon. Die Bar selbst war nicht weiter eingerichtet, man konnte dort nur stehen. Aber draußen gab es einen Biergarten mit etwa hundert Tischen. In die Mitte eines jeden Stahltisches war ein Sonnenschirm aus Blech geschweißt. Die Tische waren genauso wie die Stahlstühle auf den grün gestrichenen Zementboden geschraubt. Jeder Tisch mit seinen sechs Stühlen war in einer anderen Farbe angestrichen., und aus der Enfernung sah es. ganz fröhlich aus. Über den Tischen hingen wie an großen Wäscheleinen bunte Lichter, die nachts alles in ein merkwürdiges grünes und malvenfarbenes Licht tauchten. Drei Barmänner- alle drei waren Deutsche, alle drei hießen Fritz, und alle drei waren fett - führten die Bar wie eine Behörde. Jeder Fritz bediente an einem Drittel der Theke, hinter sich hatte er alle alkoholischen Getränke und eine Kasse. Er verließ niemals sein eigenes Gebiet, um einen Drink auszuschenken, ein Bier zu zapfen oder Geld zu wechseln. Jeder Fritz hatte eine Nummer, Fritz Eins, Fritz Zwei und Fritz Drei. Jeder Fritz hatte seine Meute, die er als seine Kundschaft betrachtete. Die drei Barmänner behaupteten, daß es keinen Drink in der Welt gäbe, den sie nicht hätten oder machen könnten. Aber meistens servierten sie Brandy, Bier, Rum und Wodka, in dieser Reihenfolge. Wenn man an der Bar trank, bekam man Schnaps und Bier im Glas. Wenn man draußen trinken wollte, bekam man das Bier in der Kanne, oder man kaufte eine ganze Flasche Schnaps, es sei denn, man wollte sich jedesmal zur Theke durchkämpfen, um sich ein einzelnes Glas zu holen. Kein Fritz war jemals vor der Theke gesehen worden. Die Lagerbar war von sieben Uhr morgens bis Mitternacht geöffnet. Dann wurde sie von einem Fritz mit einem Schlauch ausgespritzt, der damit gleichzeitig die Leute vertrieb, die zu betrunken war, um von selbst zu gehen. Bis drei Uhr, wenn die Tagschicht zu Ende war, arbeiteten die Frauen der drei Fritze in der Bar. Jede war so dick wie ihr Mann. Alle drei wurden Mrs. Fritz genannt und hatten keine Nummer. Die Männer und Frauen kamen scheinbar nie zusammen, und alle
wunderten sich immer, daß die Fritze zusammen fünfzehn fette blonde Kinder hatten. Ein Scherz machte die Runde: Wenn die Fritze hier weggingen, würden sie die ganze Reeperbahn in Hamburg kaufen. Nach drei Monaten waren von den achtzehn Männern in der Bergbauschule nur noch elf übrig. Jetzt konnten wir unsere Sprenglizenz machen, entweder die internationale oder die für Nordrhodesien. Thomas schlug in einer seltenen Anwandlung von Freundlichkeit vor, daß ich die internationale Prüfung machen solle. Seit sieben Jahren hatte keiner seiner Schüler diese Prüfung bestanden. »Wenn dus schaffst, dann bist du der Jüngste, dens je gegeben hat. Da könnt sich Mr. Jones `ne Feder an den Hut stecken, und mir klopft er vielleicht auch auf die Schulter.« Die Rugbysaison hatte begonnen, und Thomas hatte entdeckt, allerdings zu spät, als daß es mir noch etwas hätte nützen können, daß ich ganz gut war. Im Probematch schnitt ich so gut ab, daß ich in das erste Team aufgenommen wurde, das von ihm und Jones aufgestellt wurde. Die Prüfung fand im Bergbauministerium in Ndola statt. Sie bestand aus einem halbstündigen schriftlichen und einem einstündigen mündlichen Examen. Das war so geregelt, weil viele der Männer nicht richtig schreiben, aber direkt gestellte Fragen beantworten konnten. Die meisten waren fast gelähmt vor Angst. Wenn man durchfiel, mußte man noch einen Monat in die Bergbauschule, und wenn man dann noch einmal durchfiel, war nichts mehr zu machen. Ich hatte die Männer auf das Examen vorbereitet und war als Professor Peekay bekannt. Im Bus nach Ndola stellte ich ihnen ununterbrochen Fragen. Alle, außer einem riesigen Buren aus dem Oranje Freistaat, bekamen ihre Sprenglizenz. Der Bure, ein ganz netter Kerl, durfte die Prüfung nicht noch einmal wiederholen, tröstete sich aber damit, daß er bei der nordrhodesischen Eisenbahn als Heizer angenommen worden war. Thomas und Jones waren uns im Personenwagen nach Ndola gefolgt, und nach der Prüfung am Vormittag gingen wir in das einzige Hotel der Stadt, wo sich alle betranken und Thomas schließlich versicherten, was für ein guter alter Bastard er doch sei. Ich hatte die internationale Lizenz erhalten und mußte literweise Zitronensaft trinken, weil alle Professor Peekay immer wieder zuprosteten. Sie wurden immer betrunkener und immer ausgelasse-
ner, bis Thomas schließlich ein Heiliger war und sie Stein und Bein schworen, daß sie mich immer beschützen würden und mir keine Bitte abschlagen könnten. Mein Leben als Grizzly-Mann begann am nächsten Tag, als ich zum erstenmal allein zur Nachtschicht von elf bis sieben Uhr morgens antrat. Die Arbeit des Grizzly-Manns muß man kurz erklären. Von der Abbaukammer, die man sich als große, durch viele Sprengungen entstandene Höhle vorstellen muß, führt ein etwa achtzehn Meter langer Schacht senkrecht nach unten zur Hauptförderstrecke. Der Bohrmeister sprengt in der Tagschicht baggerfähigen Abraum. Die Arbeit des Grizzly-Manns in der Nachtschicht besteht darin, dafür zu sorgen, daß dieser Abraum durch den Schacht zur Hauptförderstrecke hinunterfällt, wo er auf Loren geladen und abtransportiert wird. Das klingt einfacher, als es ist, denn oft sind die Gesteinsbrokken zu groß, verklemmen sich im Schacht und müssen vom Grizzly-Mann weggesprengt werden. Auf halber Höhe des Schachtes ist ein Stangenrost aus sechs dicken Wolframstahlstangen ins Gestein eingelassen. Der Grizzly-Stangenrost und der Grizzly-Mann führen nur deshalb den kanadischen Bären in ihrem Namen, weil der Wolframstahl aus Kanada stammt. Der Stangenrost ist der Arbeitsplatz des Grizzly-Manns. Mit schweren Brecheisen befördert er verklemmte Gesteinsbrocken durch den Stangenrost, wenn sie zu groß sind, muß er sprengen. Von oben können jederzeit Felsbrok-ken von der Größe eines Kleinwagens ohne Vorwarnung auf das Gitterrost aufschlagen. Der Grizzly-Mann wechselt nie seinen Arbeitsplatz. Alles hängt von der genauen Kenntnis seines Schachtes und der darüberliegenden Abbaukammer ab. Fünf Schwarze helfen ihm, den Grizzly-Stangenrost immer wieder freizuräumen und die nötigen Sprengungen vorzubereiten. In manchen Nächten besteht der gesprengte Abraum aus so kleinen Brocken, daß der Grizzly-Mann kaum Arbeit hat. In anderen Nächten muß er bis zu fünfzig lebensgefährliche Sprengungen durchführen. Nach spätestens drei Monaten ist ein Grizzly-Mann so erschöpft, daß er zwei Monate Pause machen muß, bevor er weiterarbeiten darf. Er verdient zwar sehr gut, wechselt aber über kurz oder lang zum schlechter bezahlten, aber ungefährlicheren Beruf eines Klempners, Stempelsetzers oder Vorarbeiters über.
Wenn ich mir nicht gerade vor Angst in die Hose machte, dann war ich auf eine perverse Art stolz, ein erfolgreicher Grizzly-Mann zu sein. Obwohl ich der Jüngste war, schaffte ich doch Nacht für Nacht so viel erzhaltigen Abraum bis zur Hauptförderstrecke hinunter wie kaum einer sonst. Der Bohrmeister in der Abraumkammer über mir war ein Bure namens Botha, den ich noch nie gesehen hatte. Die Bohrmeister waren die Elite unter Tage und sprachen nie mit ihrem Grizzly-Mann. Und zwar deshalb, weil zu viele schwere Unfälle passierten und es einfacher war, denjenigen nicht zu kennen, der Nacht für Nacht den Abraum aus der Abbaukammer schaffte. Aber wenn er mit seinem Grizzly-Mann zufrieden war, schickte der Bohrmeister ihm am Ende jeden Monats einen Kasten Brandy. Eine Kiste Brandy von seinem Bohrmeister war das Ehrenabzeichen, für das jeder Grizzly-Mann arbeitete: In der verrückten Welt der zentralafrikanischen Kupferminen war diese Kiste eine wichtigere Bestätigung als Geld. Ich schenkte den Brandy Rasputin, dem riesigen Georgier, der in der Nachbarhütte lebte. Rasputin arbeitete als Stempelsetzer in derselben Nachtschicht wie ich, und wir radelten zusammen zum Schacht sieben, der etwa drei Meilen außerhalb der Stadt lag. Von der Nacht an, in der er mich vor der Vergewaltigung gerettet hatte, waren wir Freunde, allerdings drückte sich unsere Freundschaft weniger in Worten als in Taten aus. Rasputin sprach nur sehr wenig Englisch, und anstatt mehr zu lernen, sprach er einfach nicht. Er saß auf meiner Veranda oder ich auf seiner, und wir spielten Schach. Er spielte gut genug, daß ich mich nicht langweilen mußte, und wenn mich meine Konzentration verließ, gewann er auch. Oft saßen wir einfach zusammen, und ich las ein Buch, oder er spielte eine Tschaikowsky-Symphonie oder ein Klavierkonzert auf seinem neuen tragbaren Plattenspieler. Er legte nie etwas anderes als Tschai-kowsky auf. Er saß mit einem riesigen Stück afrikanischen Holzes in einer Hand da, in der anderen hielt er eine Axt und schlug, ohne das Holz jemals aus der Hand zu legen, kleine Stücke ab, bis es sich drei Stunden später in eine ebenmäßige Holzkugel verwandelt hatte. Rasputin war fast so groß wie Doc, aber doppelt so breit, er war sogar kräftiger als ein Bure, und die Axt wog über zwei Kilo. Es erforderte unendlich viel Kraft, aus einem Stück Holz eine Kugel zu
machen. Wenn Rasputin nicht gerade eine Kugel schnitzte, dann schärfte er die Axt. Er arbeitete ruhig und gleichmäßig zur Musik, bis er das gesamte Repertoire durch hatte. Manchmal rollten ihm Tränen die Wangen hinab und verschwanden in seinem struppigen Bart. Er machte sich nie die Mühe, die Tränen wegzuwischen, er schnitzte einfach an seinem Holzstück weiter. Manchmal legte er die Axt kurz beiseite, hob einen Blechbecher voll Brandy an die Lippen, leerte ihn mit einem Schluck bis zur Hälfte und füllte ihn wieder bis zum Rand. Wenn Tschaikowsky zu Ende war, das heißt, nachdem wir drei Klavierkonzerte, ein Violinkonzert und drei Symphonien gehört hatten, hauptsächlich das Konzert Nr. 1 in G-Dur, zwei Konzerte in C-Dur und zum Schluß immer die sechste Symphonie, die große, wunderbare Pathetique, war eine Flasche BothaBrandy leer und die Holzkugel fertig. Rasputin packte den Plattenspieler vorsichtig weg, staubte die Platten ab, steckte sie in ihre Hüllen und legte sie auf ein Handtuch in einen alten Koffer. Dann nahm er die Holzkugel und legte sie auf einen Kugelhaufen in seiner Hütte. Es müssen sechs- oder siebenhundert Stück etwa in Größe einer Bowlingkugel gewesen sein, die in Haufen von etwa hundert Stück aufgebaut waren, und jeden Tag kam eine Kugel dazu. Einige der älteren hatten eine schöne silbergraue Farbe angenommen, andere zeichneten sich durch eine wunderschöne Maserung aus, da er einheimisches Holz benutzt hatte. Jede Kugel war gleich groß und so perfekt rund, daß man mit dem Auge keinen Unterschied feststellen konnte, jede einzelne Kugel war ein Beweis seines großen Könnens und seiner Kraft. Seine Hütte roch nach grünem Holz, ganz ähnlich wie der Geruch in einem Wald. Rasputin trat in seine Hütte und atmete den frischen Geruch nach unbehandeltem, einheimischem Holz tief ein. »Riecht wie Roosha, Peekay.« Es ging mir oft durch den Kopf, ob er wohl in seiner russischen Heimat in den Birkenwäldern in der Taiga gelebt hatte, aber ich wußte nicht, wie ich ihn danach fragen sollte. Mich faszinierten die schön geschnitzten Kugeln, und ich stellte fest, daß ich die Axt nicht länger als drei Minuten in der Stellung halten konnte, die zum Bearbeiten des Holzes nötig war, ohne daß die Schmerzen in meinem rechten Handgelenk unerträglich wurden. Ich wußte, daß diese Arbeit meine Arme, meine Handgelenke und
sogar meine Hände für das Boxen stählen würde, deshalb kaufte ich eine kleinere und leichtere Axt, und Rasputin schärfte sie, bis sie wie eine Rasierklinge war. Es machte dem riesigen Bär von einem Mann großes Vergnügen, daß ich ihm nacheifern wollte. Wir saßen schnitzend auf seiner Veranda, lauschten Mr. Tschaikowsky, Rasputin trank Brandy und vergoß Tränen, die wie silberne Tropfen seine Wangen hinunterliefen und in seinem großen schwarzen Bart verschwanden. Irgendwann wurde mir klar, daß die Holzkugeln Rasputins Kalender waren, eine für jeden Tag, den er im Bergwerk zugebracht hatte. Meiner Schätzung nach war er seit ungefähr drei Jahren da. Wir trafen uns nach der Schicht um sieben Uhr morgens und radelten ins Kasino, um dort zu frühstücken. Rasputin war immer schon geduscht und wartete auf mich, wenn mein Förderkorb heraufkam. Irgendwie schaffte er es, seine Schicht früh zu beenden und vor den Grizzly-Männern oben zu sein. »Viel Abraum runter. Bist guter Junge«, sagte er unweigerlich, wenn ich aus dem Förderkorb trat. Dann nahm er mir meine Grubenlampe ab und brachte sie zum Aufladen, so daß ich direkt ins Büro gehen konnte, meine Schichtabrechnung prüfte und unterschrieb und schnell zum Duschen ging. Wenn ich zwanzig Minuten später aus den Umkleideräumen kam, stand er schon mit meinem Fahrrad in der Morgensonne, und wir konnten losfahren. Ich war gerade eine Woche vom Grizzly weg, nachdem ich meine drei Monate hinter mir hatte, da rief mich der Grubendirektor in sein Büro und bat mich, freiwillig weiterzuarbeiten. Zur Erholung hätte ich eigentlich einen Job auf der Hauptförderstrecke machen sollen, aber drei Grizzly-Männer hatten sich schwer verletzt, und das Bergwerk bekam aus der Bergbauschule keinen Ersatz. Als Prämie wurde mein Kupferbonus für die Zeit, die ich auf dem Grizzly arbeitete, verdoppelt. Scheinbar hatte sich Botha über den neuen Grizzly-Mann beschwert und wollte mich zurückhaben. Das Geld und das Kompliment machten mich schwach. Die Jugend hält sich für unsterblich, und darin unterschied ich mich nicht von anderen. Und so fand ich mich für weitere drei Monate auf meinem Grizzly wieder. Am Ende des Monats schickte mir Botha zwei Kisten Brandy, die Rasputin völlig unabhängig von der Lagerbar machten. Er war so stolz auf mich, daß er anfing zu weinen.
Jeder von uns knallte eine Kiste Brandy auf den Gepäckträger seines Fahrrades, und dann schoben wir sie die drei Meilen in die Stadt. Die vierundzwanzig Flaschen in jeder Kiste klirrten lustig, als wir die Fahrräder über die Waschbrettpiste lenkten. Als wir bei unseren Unterkünften ankamen, verstaute er die Kisten in seiner Hütte und kam einen Augenblick später mit einer alten Zwölferschrotflinte wieder heraus. »Heute abend ruh-ssisch Gulasch!« verkündete er. Rasputins Hasenpfeffer war das größte Kompliment, das er einem machen konnte, und ich muß sagen, er war wirklich köstlich. Eine dicke, mit selbstgesammelten Wildkräutern gewürzte Soße und köstliche Stückchen rosa Fleisch mit winzigen ganzen Zwiebeln und Kartoffeln. Ich schaute ihm nach, wie er in den Busch aufbrach, ohne in der Kantine gefrühstückt zu haben. Ich stand wie gewöhnlich um vier Uhr nachmittags auf. Aus Rasputins Hütte kam der köstliche Duft nach Hasenpfeffer. Ich wußte, daß er mich ungefähr um halb sechs zum Essen rufen würde, und deshalb ging ich noch zu den Duschen und wusch mich. Nach dem Essen würden wir einen Film im Club anschauen. Es war Mittwochabend, und mittwochs gab es immer einen Western. Rasputin schaute sich leidenschaftlich gern Western an. Wir gingen immer ganz früh hin und setzten uns in die erste Reihe, Rasputin mit einer Flasche Brandy und seinem Becher, um sich schreiend und Fäuste schwingend über die Schurken auf der Leinwand aufzuregen. Er weinte, wenn der Held fast von tapferen Indianern verbrannt oder von bösen Outlaws gefoltert wurde. Und schließlich, wenn der Film seinen Höhepunkt erreicht hatte und der Held ohne eine Schramme, aber mit seinem Mädchen davonritt, sprang er auf, schlug seinen Becher gegen die leere Brandyflasche und brüllte seine Begeisterung auf russisch hinaus. Das störte niemanden. Rasputin gehörte ganz einfach zum Mittwochswestern, und außerdem kaufte er den jüngeren Kumpels in der Pause immer Süßigkeiten und Eis. Es wurde Tradition zu schreien und zu brüllen und so zu tun, als ob man weinte, wenn Rasputin es tat, und alle hatten einen Riesenspaß. Um halb sechs hörte ich ihn brüllen: »Peekay, komm her!« Rasputin hatte zwei Schüsseln mit zwei großen Löffeln auf den Tisch gestellt. In der Mitte des Tisches stand in einer Marmeladenbüchse ein Strauß Blumen, den er beim Hasenschießen gepflückt
hatte, und neben den Blumen lag ein runder Laib frisches Brot. Die Blumen wirkten heimelig, und das Gulasch in dem großen Topf auf der elektrischen Kochplatte roch wunderbar. Rasputin goß es direkt aus dem Topf in die Schüsseln, und die Soße dampfte mir köstlich entgegen. Er stocherte mit einer Gabel im Topf herum, spießte Stücke rosa Hasenfleisch auf und streifte sie in meiner Schüssel ab. Keiner von uns sagte ein Wort, bis alles aufgegessen war und wir uns ein zweites Mal nahmen. »Russisch Gulasch sehr gut, Rasputin«, sagte ich schließlich und rieb mir den Bauch, um damit meine Zufriedenheit noch deutlicher zu zeigen. Rasputin sah zufrieden aus, vielleicht sogar etwas verlegen wegen des Kompliments. Er erhob sich vom Tisch, ging zum Schrank und holte die alte Zwölferschrotflinte heraus. Er zielte auf ein imaginäres Kaninchen und blinzelte den Lauf entlang. »Ho ho, Peekay, Kaninchen sagt miau, miau, ich sag bumm, bumm, Kaninchen kaputt!« Er lachte dröhnend und stellte die Flinte zurück in den Schrank. Ich hatte noch nie eine Katze gegessen, aber ich wußte, daß es keine Möglichkeit gab, die Einladung auszuschlagen, wenn Rasputin mir wieder einmal seine Dankbarkeit erweisen wollte und zur Hasenjagd aufbräche. Ich betete im stillen, daß ich in Zukunft nichts machen würde, was ihm zu gut gefiele. Ich fragte mich, welche Familie in der Stadt sich fragte, was mit ihrer Katze geschehen sei.
24 Es ist eine menschliche Grunderfahrung vor allem der Jugend, daß alle Verhaltensweisen, so bizarr sie auch sein mögen, sehr schnell zur Gewohnheit werden. So wie die Überlebenden der NaziKonzentrationslager von ihren täglichen Pflichten erzählen, die ihnen auferlegt und die von ihnen befolgt wurden und den Tagen des Schreckens Rhythmus gaben, bis sie zur normalen Alltagsroutine geworden waren, so wurde die Arbeit des Grizzly-Mannes ein ganz gewöhnlicher Job wie alle anderen auch. Mut, zuerst ein Fremder, dem man mißtraut und mit dem man vorsichtig umgeht, wird bald
zum Freund, dann zum Partner, und schließlich ist er etwas ganz Selbstverständliches wie das alltägliche Leben eines Ehepaares. Irgendwann paßt sich das Nervensystem an die neue Umgebung an, was früher Angst ausgelöst hat, wird ruhig ertragen, Situationen, die früher zu einem Adrenalinausstoß führten, werden mit ruhigem Blut gemeistert. Ein guter schwarzer Arbeitstrupp erkennt einen guten GrizzlyMann sehr schnell. Schwarze, die direkt aus dem Busch kommen, spüren instinktiv, daß ein sicherer Führer der beste Schutz ist. Als im Lauf der Monate kein einziger Unfall auf meinem Grizzly passiert und auch ich unverletzt geblieben war, blieben die Schwarzen, die regelmäßig mit mir zusammen arbeiteten, nur selten wegen Krankheit der Arbeit fern und zitterten lieber bei einem Malariaanfall am Arbeitsplatz, als das Risiko einzugehen, ihn zu verlieren. So ängstlich waren sie darauf bedacht, in einer juju, einer mystisch beschützten Gang, zu arbeiten. Wenn ein Grizzly-Mann sich in die Luft sprengte, nahm er oft genug seine Nummer Eins mit ins Jenseits. Die Nummer Eins ist der erfahrenste Bergmann im Trupp, normalerweise der zweite Zeitmesser. Besser bezahlt als die anderen, ist er sowohl Chef der Gang als auch die rechte Hand des Grizzly-Manns. Er bereitet die Ladungen und die Schuttpfropfen vor, mit denen der Sprengstoff ins Sprengloch eingebettet wird. Bei einem Unfall ist er meistens ganz nah bei seinem Grizzly-Mann. Und da der das weiß, schickt er seine Nummer Eins normalerweise in den Sicherheitsschacht, damit er vor jeder Sprengung das Warnsignal auslöst, bevor er die Zündschnur anzündet, und eine gute Nummer Eins dankt seinem Grizzly-Mann, indem er vor den anderen Afrikanern seine mystischen Fähigkeiten betont. Wird eine Gang in einen Unfall am Grizzly verwickelt, dann wird sie in ihren eigenen und in den Augen der anderen schwarzen Bergleute zu einer schlechten juju. Für diese einfachen Buschneger ist es unbegreiflich, daß ein überlegener Weißer stirbt und ein beliebig ersetzbarer Schwarzer überlebt. Ganz offensichtlich hatten die Götter einen Fehler gemacht. Das »Donnerwetter« hatte ihnen gegolten, und wenn sie weiter im Bergwerk blieben, lag der Schatten des Todes auf ihnen. Schwarze Bergleute wußten nichts vom Wahrscheinlichkeits-
prinzip oder glaubten nicht daran und waren unfähig, die simple Logik zu begreifen, die besagte: Je länger ich auf dem Grizzly arbeitete, um so wahrscheinlicher wurde es, daß ich scheiterte. Die abergläubische Art, mit der sie an mir hingen, ist bei so einfachen Menschen verständlich. Die Tatsache, daß ich selbst langsam an meine Unverletzlichkeit zu glauben begann, ist es nicht. Mit Ausnahme der einwöchigen Unterbrechung nach den ersten drei Monaten auf dem Grizzly hatte ich neun Monate lang gearbeitet. Obwohl ich wußte, daß ich jederzeit Urlaub beantragen konnte, machte ich weiter. Jeden Monat schickte Botha zwei Kästen des besten südafrikanischen Brandys, und die Tatsache, daß ich fast jede Nacht mehr Erz aus dem Bergwerk holte als die anderen Grizzly-Männer, war sehr wichtig für mein Ego, obwohl ich das wahrscheinlich nicht einmal vor mir selbst zugegeben hätte. Selbst in dieser Umgebung hier mußte ich immer noch der Beste sein. Ich war fest davon überzeugt, daß mein Intellekt den Unterschied ausmachte, und daß ich nur deshalb noch am Leben war, weil ich den Job besser verstand als andere und weniger Gefahr lief, unter Druck emotionale Entscheidungen zu fällen. Was natürlich blanker Unsinn war. Es kam so weit, daß mich Fats Greer, der Fördermaschinist im Schacht sieben, der nebenbei Versicherungsagent im Bergwerk war, nicht länger versichern wollte. »Verdammt noch mal, Peekay, nur ein einziger Grizzly-Mann hat bisher den Job elf Monate lang durchgehalten. Und der Bastard schaut sich heute die Radieschen von unten an. Hör endlich auf, der Beste sein zu wollen!« Aber ich hatte keine Lust mehr, das zu tun, was andere Leute von mir erwarteten, und ich rechnete mir aus, daß ich genug Geld verdient hätte, um mein ganzes Studium in Oxford zu bezahlen, wenn ich den Job ein volles Jahr lang machte. Ich würde selbst alles bezahlen können, was ich brauchte! Mein Leben lang war ich auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen gewesen. Das hatte mich gefühlsmäßig eine Menge gekostet, und ich war nicht mehr bereit, diesen Preis zu bezahlen. Wenn das auch alles nur eine Sache des Kopfes war, jeder Mensch ist eine Insel und gleichzeitig Robinson Crusoe, jeder Mensch ist allein und muß lernen, für sich selbst zu sorgen. Das unglückliche Jahr, in dem ich als Fünfjähriger dem Richter ausgeliefert gewesen war, hatte auf alles abgefärbt, was ich
seitdem unternommen hatte. Ich hatte meine kindliche Antwort auf emotionalen Druck nie abgelegt, hatte nie aufgehört, mich zu tarnen. Ich bin sicher, daß ich es damals nicht so hätte formulieren können, aber das Bergwerk repräsentierte für mich die ganze Angst, die ich in meinem ersten Internatsjahr erlebt hatte. Aber dieses Mal würde ich derjenige sein, der gewann. Der Grizzly war der Richter, aber dieses Mal würde ich ihn besiegen. Ich war ins Bergwerk gekommen, um endlich herauszufinden, wer zum Teufel ich eigentlich war. Komischerweise erzählt man, wenn man von einem gefährlichen Ereignis berichtet, auch immer von entsprechenden Vorahnungen. In Wirklichkeit schlagen die meisten Unfälle wie ein Blitz aus scheinbar heiterem Himmel ein. Am Tag vor meinem Unfall träumte ich, daß ich mich gerade über eine Zündschnur beugte. Ich hielt das Zündlicht an die Zündschnur und wartete darauf, daß sie funkensprühend wie immer losbrennen würde. Aber die Zündschnur wurde zur schwarzen Mamba vor der Kristallhöhle Afrikas: Sie erhob sich, und ihre hin und her flitzende Zunge sprühte Funken. Ich war unfähig, mich zu bewegen, bis ich bemerkte, daß es zu spät war. Ich stieß der Schlange das Zündlicht ins Maul. Die Explosion war entsetzlich, und ich wurde in kleine Stückchen zerrissen. Ich erwachte und mein Herz schlug wie wild. Grizzly-Männer sprachen oft von Träumen: »Wenn die Träume kommen, muß man aufhören.« Ich hatte noch nie geträumt, und jetzt hatte ich Angst: Die Arbeit hatte begonnen, mein Unterbewußtsein zu unterminieren. An diesem Abend sagte ich dem Schichtsteiger, daß ich in einer Woche mit der Arbeit aufhören wollte. Er fragte nicht, warum, sondern nickte und sagte: »Du hast es verdient, Peekay, ich geb dir 'nen leichten Job in der Hauptförderstrecke.« Ich dankte ihm, aber plötzlich wirkte er beunruhigt. »Scheiße! Wer sagt es Botha, der hält dich für Jesus Christus persönlich.« Er grinste. »Jemand anderes muß es diesem Hundesohn sagen, jemand von der Tagschicht.« Die letzten fünf Monate lang hatte ich immer zwei Kästen Brandy von ihm bekommen, hatte ihn aber nie getroffen. Wie ich schon sagte, war es Tradition, daß sich ein Bohrmeister und sein Grizzly-Mann nicht kannten. Es hatte wohl etwas mit Aberglauben zu tun, und beide Männer unternahmen die merkwürdigsten Anstrengungen, um sich nie zu begegnen, obwohl sie zusammenarbeiteten.
»Rasputin wird den Brandy vermissen«, sagte ich und fühlte mich jetzt, wo die Entscheidung gefallen war, sehr erleichtert. Der Schichtsteiger lachte. »Er wird's schlucken müssen.« Rasputin war der beste Stempelsetzer im ganzen Bergwerk, duldete aber nicht, daß irgendein Schichtsteiger in seine Nähe kam, wenn er einen neuen Schacht mit Grubenholz abstützte. Aber alle akzeptierten Rasputin. Er leistete sehr gute Arbeit, ohne unnötige Risiken einzugehen. Und das war das Wichtigste im Bergbau. Im ersten Teil der Schicht nach meinem Gespräch mit dem Schichtsteiger lief alles ganz normal. Zwischen drei und vier Uhr morgens, die Zeit, die die Bergleute »Stunde des toten Mannes« nennen, ließ ich meinen Arbeitstrupp wie üblich Pause machen. Es ist die Zeit, in der oft die schlimmen Unfälle passieren. In dieser Stunde keine Pause zu machen, hieße das Schicksal herauszufordern. Um Viertel nach vier dichtete ich eine Sprengladung mit einer »Schlammpackung« ab. Wie immer, wenn ich auf dem Grizzly eine Sprengung vorbereitete, hielt ich die Zündschnur kurz, weil der Sicherheitsschacht nah war und ich Zeit sparen wollte. Elijah reichte mir das Zündlicht. Wie immer wartete er mit mir darauf, bis die Funken an der Zündschnur zu sprühen begannen. Aber dieses Mal passierte nichts. Überhaupt nichts, obwohl ich die Zündschnur angezündet hatte! Noch bevor ich mich fragen konnte, was schiefgelaufen sein konnte, sah ich die schwarze Mamba und rief: »Himmel, das kann nicht sein, ein Blindläufer!« Bei einem Blindläufer brennt die Zündschnur innen ab, und von außen ist nichts zu sehen. Die Sprengladung geht also plötzlich hoch, obwohl die Zündschnur inaktiv aussieht. So etwas passiert extrem selten, die meisten GrizzlyMänner haben nie einen Blindläufer gesehen, und wenn, dann konnten sie es nicht mehr erzählen. Ich packte Elijah am Hemd und schleuderte ihn zum Sicherheitsschacht. Ich selbst war nur den Bruchteil einer Sekunde in Sicherheit, bevor die Sprengladung losging. Wenn ich in der Nacht zuvor nicht von der schwarzen Mamba geträumt hätte, hätte ich sicher versucht, die Zündschnur noch einmal anzuzünden. Drei Sekunden später wären Elijah und ich nicht mehr am Leben gewesen. Elijah erhob sich auf die Knie, wischte sich die Hände an seiner
Hose ab und redete aufgeregt los, als der Rest des Arbeitstrupps auf uns zugelaufen kam. Er erzählte ihnen, wie eine Teufelszündschnur, die wir nicht hatten brennen sehen, die Explosion ausgelöst hatte, wie ich aber ihre Magie durchschaut und ihn und mich rechtzeitig in Sicherheit gebracht hätte. Die Männer des Arbeitstrupps hörten staunend zu. Dann kamen sie einzeln zu mir, berührten meinen Arm und schlugen die Augen nieder. Wieder einmal hatte ich meine magischen Fähigkeiten bewiesen, sie konnten sich unter meiner Führung wirklich sicher fühlen. Der Kaulquappen-Engel hatte mich eingeholt. Ich muß zugeben, daß ich mich sehr glücklich fühlte. Ich fragte mich immer wieder, ob ich ohne den Traum einen Blindläufer erkannt hätte. So etwas kam so selten im Bergbau vor, daß Thomas in der Schule nicht einmal die Möglichkeit erwähnt hatte. Anstatt die Beinahe-Katastrophe als Warnung anzusehen, entschloß ich mich, meine Kündigung zurückzunehmen. Ich war erfüllt von dem Gefühl, die Gewalt über mein Schicksal zu haben und genau das richtige zu tun. Ich würde bis zum 15. Februar auf dem alten Grizzly weiterarbeiten, auf den Tag genau elf Monate und eine Woche. Ich würde Fats Greer ausstechen und einen neuen Rekord aufstellen. Ich gebe zu, daß mein Gedankengang falsch war, aber so dumm war er nun auch wieder nicht. Für einen einfachen Job in der Hauptstreckenförderung bekam ich weniger als die Hälfte des Geldes, das ich auf dem Grizzly bekam. Um das nötige Geld zusammenzubringen, müßte ich noch drei Monate im Bergwerk arbeiten und würde dadurch nicht rechtzeitig zum Studienbeginn in Oxford sein können. Ich fühlte mich sehr gut, kletterte auf den Grizzly und schaute zu den Gesteinsbrocken hinauf, die sich oben im Ausgang der Abraumkammer verklemmt hatten. Es sah gefährlich aus. Wenn sich auch nur ein kleiner Stein löste, konnte es passieren, daß alles herunterkrachte. Ich schätzte, daß etwa fünfzig Tonnen Felsgestein über mir festhingen. Plötzlich hörte ich einen hellen Schlag, mit dem ein einzelner Stein irgendwo über mir an die Felswand aufschlug. Er würde noch ein, zwei Mal an die Wand krachen, bevor er auf dem Stangenrost aufschlüge. Nach über zweitausend Stunden Arbeit an diesem Ar-
beitsplatz hier wußte ich instinktiv, daß der Stein so groß wie eine große Grapefruit war und daß sein Herunterstürzen mit größter Wahrscheinlichkeit das Abrutschen der verklemmten Gesteinsmassen einleitete. Ich sprang so schnell wie möglich über den Stangenrost zum Sicherheitsschacht. Über mir grollte es, und eine Sekunde später brach die Lawine los. Ich war fast in Sicherheit, da schlug der erste Stein auf einer der Stahlstangen auf, prallte ab und traf mich am Bauch. Ich hörte die herunterkrachenden Felsen, bevor ich ohnmächtig wurde und durch den Grizzly achtzehn Meter tief in den fast leeren Schacht stürzte. Der Sturz hätte mich eigentlich töten müssen. Die zehn Tonnen Gestein, die mir durch den Grizzly folgten, ebenfalls. Beim Aufprall des ersten Steins war ich ohnmächtig geworden und wie ein Sack Kartoffeln durch die Gitterstäbe gefallen. Immer wieder schlug ich beim Herabstürzen an den Felswänden an. Mein Schutzhelm war wie durch ein Wunder auf meinem Kopf geblieben, ohne ihn hätte ich den Aufprall auf der ein Meter dicken Tonschieferschicht nicht überlebt. Ich landete auf diesem ziemlich weichen Tonschiefer, rollte weiter und blieb schließlich unter einem kleinen Felsüberhang liegen, der zum Glück nicht weggesprengt worden war. Die Tonschieferschicht war das Ergebnis meiner letzten Sprengung. Ich hatte besonders viel Dynamit genommen, weil der Schacht unter dem Grizzly leer war, und ein guter Grizzly-Mann achtet darauf, daß keine zu großen Brocken direkt auf die hydraulischen Stahltüren aufschlagen, die den Schacht unten verschließen. Die Steinlawine, die mich unter sich begrub, bestand zum Glück aus so großen Felsbrocken, daß ich genug Luft zum Atmen hatte. Ich lag ohnmächtig unter dem Felsüberhang. Erst später erfuhr ich von meinem Arbeitstrupp und der Rettungsmannschaft, was in den nächsten sieben Stunden passierte. Elijah hatte einen Riesenschreck bekommen. Aber trotzdem hatte er es geschafft, das Warnsignal zu blasen... Fünf lange Töne mit fünfzehn Sekunden langen Pausen dazwischen, dann eine Minute Stille, und danach das Ganze noch dreimal. Dieses Signal konnte nicht mißverstanden werden. Der Rest des Arbeitstrupps versammelte sich schwer geschockt im Sicherheitsschacht. Das
Unglück hatte sie eingeholt, ihr weißer Talisman war tot. Es war Zeit, wieder im Dschungel zu verschwinden, wo es im hellen tropischen Sonnenlicht für den Tod schwieriger war, sie zu finden. Denn der Tod sah ihrer Meinung nach in der Dunkelheit besser als im Licht. Rasputin, der eine halbe Meile entfernt in der Hauptstreckenförderung arbeitete, hörte als erster Weißer vom Unglück. Er schickte einen Arbeiter, um den Schichtsteiger zu verständigen, und rannte in Richtung meines Grizzlys los. Obwohl er krank vor Angst war, belud er vorher noch eine leere Lore mit Grubenholz und befahl einigen Männern aus seinem Arbeitstrupp, die Lore zum Unfallort zu schieben. Wenn es ein Grizzly-Unfall war, würde man die riesigen Stempel aus unbehauenem Holz für jeden Rettungsversuch unbedingt brauchen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, daß alle Grizzly-Männer an einer Rettungsaktion teilnahmen. Meistens verliefen diese Rettungsaktionen erfolglos, aber aus Respekt für den toten Kollegen wäre es ihnen nie in den Sinn gekommen, sich diesem Ritual zu entziehen. Rasputin arbeitete mit kalter, kontrollierter Wut, ohne jede unnötige Bewegung oder verschwendete Energie, und er sprach ruhig mit den Schwarzen, um sie vor einer Panik zu bewahren. Er schaffte es sogar, meinen Trupp wieder zum Arbeiten zu bewegen. Er wußte, daß Rettungsarbeiten lang dauern und durch vorschnell gefaßte Entscheidungen und Angst gefährdet werden können. Als erstes leitete er die Arbeiter an, einen großen Felsbrocken vom Grizzly zu entfernen, der dort hängengeblieben war. Als der Leiter des Rettungsdienstes an die Unglücksstelle kam, sprach Rasputin ihn gleich an: »Nix herkommen, Peekay ist meiner, ich machen!« Er starrte den Leiter des Rettungsdienstes an und öffnete und schloß dabei seine riesigen Fäuste. Die Lampe auf dem weißen Hut des Mannes leuchtete in Rasputins Augen, und er sah darin Wut und kalte Entschlossenheit. Rasputin wollte nichts riskieren. Er würde die Leitung der Rettungsaktion niemandem überlassen. »Okay, Russki, ich schick dir 'nen Bohrarbeiter und 'nen Elektriker, mach weiter.« »Schick Zoran den Kroaten«, sagte Rasputin und arbeitete weiter. Später erzählte der Leiter des Rettungsdienstes, ein erfahrener Bergmann namens McCormack, daß er gewußt hatte, als er in die
wahnsinnig flackernden Augen des Russen geblickt hatte, daß der Riese ihm wie einem Huhn den Hals umgedreht hätte, wenn er auch nur einen Schritt näher gekommen wäre, Rasputin hatte dem Bohrarbeiter, einem Jugoslawen namens Zoran, erlaubt zu kommen und hatte gefordert, daß sein eigener Arbeitstrupp, der sich vom Schleppen der schweren Hölzer wieder erholt hatte, zu ihm hochgeschickt wurde. Schnell, aber mit äußerster Sorgfalt baute er den Schacht oberhalb des Grizzlys mit Grubenholz aus, damit weitere eventuell herunterpolternde Steine kein Unheil mehr anrichten konnten. Nach drei Stunden konnte der Schacht gefahrlos betreten werden, in dem ich begraben lag. Rasputin, dessen Kleidung klatschnaß vom Schweiß war, machte nur eine kurze Pause, um Wasser zu trinken, und ließ sich dann mit dem Flaschenzug auf die Felsbrocken hinunter, die mich bedeckten. Jedesmal, wenn er einen Förderkorb gefüllt hatte, gab er einen kurzen lauten Pfiff von sich, damit der Korb hochgezogen wurde. Da sich Rasputin in sicherer Entfernung unten im Schacht aufhielt, arbeiteten McCormack, die Rettungsmannschaft und drei Grizzly-Männer jetzt auf dem Stangenrost zusammen. Damit es so schnell wie möglich ging, wurden die Steinbrocken in einer langen Menschenschlange von einem zum anderen weitergereicht. McCormack baute das Sauerstoffzelt auf, das vielleicht gebraucht werden würde. Er hätte gern alle zehn Minuten einen Schwarzen mit dem Förderkorb in den Schacht hinuntergelassen, denn so lang dauerte es, bis ein Mann vom Heben der Steine erschöpft war, immerhin wogen manche Felsbrocken an die fünfzig Pfund. Aber er wußte, daß Rasputin das nicht erlauben würde. Ein achtloser oder unerfahrener Afrikaner hätte einen Stein zum Rutschen bringen und dadurch den Druck auf mich verstärken können. Bis er meinen Körper hochheben und sein Ohr an meine Brust pressen konnte, war Rasputin nicht bereit, meinen Tod zu akzeptieren. Der Ire Mick Spilleen, der natürlich Mickey Spillane genannt wurde - er war mit mir zusammen auf die Bergbauschule gegangen und hatte vor kurzem freiwillig seinen Job als Grizzly-Mann verlängert, um seine Spielschulden bezahlen zu können - war der erste, der zu wetten anfing. »Der Russki schafft's nie im Leben, das sag ich euch!«
»Ich glaub, er schaffts, Mann«, sagte jemand, vielleicht der Bure van Wyck. Auf einmal wollten alle mitwetten. Selbst Elijah, der sich geweigert hatte, den Grizzly zu verlassen, als mein Arbeitstrupp durch einen anderen ersetzt wurde, setzte fünf Pfund, also einen ganzen Wochenlohn darauf, daß der Russe mich ausgraben würde, bevor er zusammenbräche. Nur ein kleiner Schwarzer wettete, daß ich noch am Leben sei. Es waren etwa ein Dutzend Weiße am Unfallort, und das Wettgeld stieg auf fast zweitausend Pfund an. Rasputin war am Rande seiner Kraft angelangt. Sein Atem ging schwer und keuchend. Wenn der Förderkorb gefüllt war, war er zu schwach, um zu pfeifen. Wenn Zoran, der von oben herunterschaute, den Korb hochzog, beugte sich der Riese vor und legte seine blutenden Hände auf seine Knie. Einmal erbrach er sich, und einmal zog er sein Hemd aus, riß es in Streifen und verband sich damit die Hände. Aber jedesmal, wenn der leere Korb wieder ankam, füllte er ihn aufs neue. Mehrere Männer hatten ihm angeboten, ihn abzulösen, aber er hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. »Noch nicht!« keuchte er. Die scharfen Ecken des Felsgesteins schnitten ihm in die Brust und in den Bauch. Die Männer über ihm schauten fasziniert zu und warteten auf seinen Zusammenbruch. »Er kann nicht mehr, ich sag's euch, noch eine halbe Tonne und er ist ein toter Mann«, flüsterte Mickey, obwohl der Russe ihn nicht hören konnte. Die Männer waren Zeuge einer übermenschlichen Kraftanstrengung und sagten, daß sie ihren Enkelkindern eines Tages von dieser Nacht erzählen würden. Etwa um diese Zeit muß Rasputin gehört haben, daß ich stöhnte, obwohl das ein Wunder war, da er beim Beladen des Förderkorbes laut keuchend atmete. Er schrie auf und warf sich auf den Felsen, unter dem der Laut hervorgekommen war. Er kümmerte sich nicht mehr um den Förderkorb, sondern wuchtete die Felsbrocken zur Seite und häufte sie hinter sich auf. Er arbeitete »wie vom Teufel besessen«, wie Mickey später erzählte. Als er sich schließlich zu mir durchgearbeitet hatte, sah er, daß ich wie durch ein Wunder unter einem Felsvorsprung lag. Mein ganzer Körper blutete, da ich beim Sturz große Hautabschürfungen erlitten hatte. Rasputin hob meinen ohnmächtigen Körper hoch und drückte sein Ohr auf meine Brust.
»Peekay lebt!« heulte er auf. Dann sank er langsam zu Boden, seine Beine versagten ihm den Dienst. Wir saßen in einem Felsennest wie das, was die Einsamkeitsvögel tief in mir gebaut hatten, mein Kopf ruhte auf der blutigen Hose des Riesen. Er hatte sich den Zeigefinger beim ersten Glied abgerissen, und als er mir zärtlich über die Stirn strich, rann das Blut aus dem Stummel über meine Augenbrauen und füllte die Höhlungen über meinen geschlossenen Augen. Als sie überliefen, floß das Blut meine Wangen hinab. Rasputin versuchte, das Blut wegzuwischen, und bemerkte nicht, woher es eigentlich kam. »Peekay! Rasputin findet Peekay, Rasputin macht Hasenpfeffer«, schluchzte er. Später erzählte mir Mickey Spillane, daß der Riese blutige Tränen geweint habe, als die Rettungsmannschaft bei uns ankam. Aber zu diesem Zeitpunkt war er bereits tot. Ich lag eine Woche lang im Krankenhaus, der Schock, den ich erlitten hatte, war das Schlimmste. Ich hatte zwar große Hautabschürfungen, und mein Körper war von blauen Flecken übersät, aber ich hatte mir keinen einzigen Knochen gebrochen. Als ich das Bewußtsein wiedererlangte und von Rasputins Tod erfuhr, weinte ich und bat darum, daß die Beerdigung verschoben würde, damit ich daran teilnehmen könne. Im heißen Klima der Stadt, die keine Leichenhalle hatte, war dies aber nicht möglich, und der riesige Georgier lag schon drei Tage lang unter der Erde, als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Körperlich gesehen ging es mir sehr gut, obwohl ich mit den vielen blauen Flecken und der frisch nachgewachsenen rosaroten Haut entsetzlich aussah. Als erstes fuhr ich in den Laden in Luanshya und bestellte einen Grabstein für Rasputin, eine schwarze Granitplatte, die in Bulawayo bestellt wurde und erst mehrere Wochen später geliefert werden konnte. Auf dem Grabstein sollte nur stehen: RASPUTIN, der köstlichen Hasenpfeffer kochte und sein Lehen für seinen Freund hingab. Dann ging ich auf den kleinen Friedhof, wo er unter einem roten Lehmhügel lag. Auf dem Hügel lag ein einzelner Kranz aus ziemlich mitgenommen aussehenden Gladiolen. Die Regenzeit hatte gerade angefangen, in der vergangenen Nacht hatte es geregnet, und die schweren Tropfen hatten den roten Lehm aufgeweicht. Die rosa Blüten, die in der Feuchtigkeit glänzten, waren voller schmutziger
Spritzer. Rasputin liebte wilde Blumen, ähnlich wie Doc die Aloepflanzen geliebt hatte. Warum muß die allgegenwärtige Gladiole immer alle anderen Blumen verdrängen? Ich kniete mich hin und las die schmutzbespritzte Karte, die an den Kranz geheftet war. R. I. P. Die Geschäftsführung, Rhode Antilope Bergwerk. Das war alles. Ich hatte Rasputins alte Flinte mitgenommen, erhob mich, legte die Flinte an und feuerte sie ab. Es war eine völlig sinnlose Aktion, und der Rückstoß des Kolbens an meine Schulter war so stark, daß ich vor Schmerzen herumhüpfte. Aber es war genau das, was in einem We-sternfilm passieren würde, und das hätte Rasputin bestimmt gefallen. Am darauffolgenden Tag lud ich alle hölzernen Kugeln, die Rasputin hinterlassen hatte, hinten in einen geliehenen Wagen und fuhr wieder zum Grab. Mit einer langstieligen Schaufel flachte ich den Grabhügel ab und begrub die Flinte neben ihm. Dann baute ich aus den Holzkugeln über dem Grab eine Pyramide. Sie wurde einen Meter fünfzig hoch. Ich maß sie sorgfältig aus und gab einen pyramidenförmigen Gitterrahmen in Auftrag. Nach zwei Tagen war er fertig, und Zoran half mir, ihn über die hölzernen Kugeln zu stülpen und an den Ecken einzuzementieren. Jetzt konnte jeder die Kugeln sehen, keiner konnte sie stehlen. Es sah sehr eindrucksvoll aus, und als die Grabplatte schließlich ankam, wurde Rasputins Grab das schönste auf dem kleinen Friedhof. Zusammen mit Zoran, der etwas Russisch sprach, ging ich die Papiere Rasputins durch. Wir bekamen aber nicht viel über seine Vergangenheit heraus. Er war auf einem norwegischen Schiff zur See gefahren, wir fanden einen russischen Paß und seine Entlassungspapiere aus der russischen Marine, aus denen hervorging, daß er dort als Heizer gearbeitet hatte. Schließlich fanden wir ein Stück Papier, auf dem der Name einer Frau stand, der mit dem Namen in seinem Paß übereinstimmte. Darunter stand eine Adresse in Rußland. Rasputin hatte fast siebentausend Pfund auf der Bank, und ich schickte das Geld der Frau, weil ich annahm, daß es seine nächste Verwandte sei. War es seine Frau, seine Schwester oder seine Mutter? Aber wenigstens würde jemand sich dankbar seiner erinnern. Fats Greer, der abends als Versicherungsvertreter arbeitete, hatte mich im Krankenhaus besucht. Er reichte mir ein Stück Papier.
»Unterschreib hier, Peekay«, sagte er und zeigte mit seinem kurzen Finger auf eine gepunktete Linie. Ich unterschrieb und fragte ihn, was das zu bedeuten habe. »Das sag ich Ihnen, wenn Sie sich etwas besser fühlen.« Er grinste und fügte hinzu: »Der verrückte Russki hat dir mehr gegeben als sein Leben.« Eine Woche später erfuhr ich, daß Rasputin bei Fats Greer schon vor Jahren eine Versicherung über eintausend Pfund abgeschlossen hatte. Vor ein paar Monaten hatte er bestimmt, daß im Falle seines Ablebens ich das Geld bekommen sollte. Außerdem überreichte mir Fats einen Scheck über fünfhundert Pfund. »Und wofür ist das?« fragte ich erstaunt. »Das ist von deiner Unfallversicherung«, antwortete er. Er entfernte sich zufrieden pfeifend. Mit all diesem unerwarteten Geld brauchte ich nicht mehr im Bergwerk zu arbeiten. Ich hatte genug, um drei Jahre in Oxford studieren zu können. Ich hatte sogar genug, um einmal pro Woche nach London zu fahren und bei dem berühmten Dutch Holland zu trainieren. Holland trainierte normalerweise keine Amateure, aber Hymie hatte lange auf ihn eingeredet, und er hatte zugestimmt, mich wenigstens einmal anzuschauen. Wenn ich ihm gefiele, würde er mich unter professionellen Bedingungen trainieren. Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus hatte ich noch drei Wochen Urlaub. Ich wußte, daß Training das beste für mich sein würde. Also lief ich täglich große Strecken. Ich hängte einen extra schweren Sandsack auf der Veranda meines rondavels auf. Daneben hingen der Speedball und der leichtere Punchingball, den ich aus Südafrika mitgebracht hatte und mit dem ich auch bisher jeden Tag trainiert hatte. Geschwindigkeit zu verlieren, konnte ich mir nicht leisten. Die Arbeit im Bergwerk hatte meinen Körper so gestärkt, daß ich jetzt fast ein Weltergewicht war, aber für die neu dazugekommene Kraft wollte ich nicht auf Geschwindigkeit verzichten. Es hatte mir gut getan, ein Jahr lang nicht zu boxen. Ich hatte zwar mit niemandem darüber gesprochen, aber mein Wunsch, Weltmeister im Weltergewicht zu werden, war so stark wie eh und je. Ich schwitzte die Schmerzen aus, indem ich dreimal täglich hart trainierte. Nach vierzehn Tagen begann der Schorf abzublättern, und mein ganzer Körper war mit großen hellrosa Flecken übersät. Ich sah aus wie ein Albino, der rückwärts durch den Fleischwolf
gedreht worden war. Um eine Platzwunde nähen zu können, war mein Kopf geschoren worden. In der letzten Woche meines Krankenurlaubs schrieb ich Miss Bornstein, Mrs. Boxall und natürlich Hymie, der mir jede Woche einen Brief aus Oxford geschrieben hatte. Ich schrieb auch Gert und Gideon Mandoma, der in der Zwischenzeit selbst ganz ordentlich schreiben konnte. Zuletzt schrieb ich Singe 'n Burn einen Brief, dessen Ausscheiden aus der Prince of Wales-Schule fast auf den Tag genau mit dem Ende meiner Arbeit im Bergwerk zusammenfiel. Ich hatte mit all meinen alten Freunden regelmäßig Briefe gewechselt, und zu meiner Überraschung hatte mir Singe 'n Burn ungefähr alle sechs Wochen geschrieben. Nach seiner ursprünglichen Enttäuschung, daß ich kein Stipendium an einer südafrikanischen Universität angenommen hatte, hatte er sich mit der Idee angefreundet, daß ich mir für das Studium in Oxford Geld verdienen wollte, und hatte in der Zwischenzeit arrangiert, daß ich mit Hymie am Magdalen College angenommen wurde. Ich wußte, daß dieser letzte Brief, in dem ich meinen Freunden mitteilte, daß ich es endlich geschafft hatte, ihnen viel bedeuten würde. Ich war wieder auf dem rechten Weg, und alles war vergeben und vergessen. Der verlorene Sohn war zurückgekommen. Ich überlegte sogar, ob der alte Mr. Bornstein mich noch einmal ein Schachspiel würde gewinnen lassen. In Rasputins Hütte stand noch ein fast voller Kasten Brandy, den ich am letzten Samstag vor meiner Abreise kurz nach drei Uhr nachmittags in die Lagerbar brachte, als Fritz Eins, Zwei und Drei mit ihrer Arbeit begannen. Ich hatte vor, irgendeinen der Fritze zu fragen, ob sie den Kasten Brandy verlosen könnten. Mit den Einnahmen wollte ich zum Andenken an Rasputin Eis für die Kinder in der Filmvorstellung am Mittwoch vormittag kaufen. Das Geld müßte reichen, um mehrere Wochen lang mittwochs Eis austeilen zu können. Ich war mir sicher, daß Rasputin das gefallen hätte. Die letzten beiden Mittwochsvorstellungen hatte ich dort gesessen, wo Rasputin und ich immer unsere Plätze gehabt hatten. Die Kinder waren wie immer gekommen und hatten sich um mich herumgesetzt. Ich jammerte und schrie an allen Stellen, an denen es der hünenhafte Russe getan haben würde. Zuerst hatten sie nicht mitgemacht, aber ich gab nicht nach, und bald fielen sie mit ein, und wir alle amüsierten uns sehr gut. Nur gegen Ende der ersten Mittwochs-
Vorstellung fing ich an zu weinen, und das verleidete ihnen den Film etwas. In der Pause kaufte ich Eis, und sie nahmen es dankbar an und wußten genau, was ich vorhatte. Als ich ihnen am dritten Mittwoch nach Rasputins Tod mitteilte, daß ich bald nach England gehen würde, kamen zwei kleine Jungen auf mich zu. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen Russkis Grab und den Holzkugeln und allem, wir passen schon drauf auf, Peekay«, versicherte mir der größere der beiden. »Ja, für immer und ewig!« fügte der kleinere hinzu. Rasputins Angelegenheiten waren in der Hand derer, denen er vertraut hätte. »Ihr müßt den Metallrahmen jedes Jahr streichen, sonst rostet er bald durch«, sagte ich. »Welche Farbe?« fragte der größere. »Rot, natürlich!« antwortete der kleinere. »Ja, rot würde gut passen«, sagte ich. »Siehst du, ich hab's ja gesagt! Russen mögen Rot«, sagte der kleine Junge triumphierend. Ich brachte die Kiste Brandy in die Lagerbar. Es war noch früh, und nur eine Handvoll Männer waren dort. Die wenigen Male, die ich in der Bar gewesen war, hatte ich bei Fritz Drei etwas getrunken, und jetzt ging ich zu ihm hin und erklärte ihm, was ich vorhatte. »Ja, natürlich, das läßt sich machen, aber Sie müssen die Lose schreiben«, sagte Fritz Drei und klang so begeistert, als wäre es seine Idee gewesen. Ohne mich zu fragen, schob er mir ein großes Glas frisch gepreßten Zitronensaft mit Mineralwasser hin. Nachdem ich es ausgetrunken hatte, folgte ich ihm in ein kleines Zimmer hinter der Bar. Ich war gut gelaunt und schrieb etwa eine Stunde lang ein Los nach dem anderen. An der Bar wurde es langsam immer lauter. Da die Losschreiberei aber eine ziemlich langweilige Arbeit ist, verlor ich mich bald in Tagträumereien und sah und hörte nichts mehr. Ein Pfiff holte mich auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Ich schaute auf und sah Fritz Drei in der Tür stehen. Auf einen Schlag wurde mir bewußt, daß in der Lagerbar Totenstille herrschte. Der fette Deutsche wirkte aufgeregt, sein Mund formte ein paar unhörbare Worte, und er winkte mich mit einer Hand heran. »Was ist los, Fritz?« Er zuckte zusammen, als er meine Stimme hörte.
»Schscht! Still, wir haben Ärger!« Ich stand auf und ging leise auf ihn zu. »Botha! Botha, der Bohrmeister hat zuviel Sprengschwaden eingeatmet und hat so starke Kopfschmerzen, daß er fast verrückt geworden ist.« Er deutete mit seinem Zeigefinger über die Schulter zurück. »Wenn er Sie hier findet, dann tötet er Sie!« flüsterte er mit rauher Stimme. »Scheiße, Fritz, Botha ist doch mein Sprengmeister, er würde mir kein Haar krümmen«, flüsterte ich zurück. Fritz Drei packte mich am Hemd. »Das hat er schon mal gemacht. Alle Männer müssen die Lagerbar verlassen, wenn Botha hier Brandy trinkt. Er trinkt so lange, bis er bewußtlos wird und hinfällt. Dann ruf ich im Krankenhaus an. Wenn er Sie erwischt, dann tötet er Sie, Peekay.« Er deutete auf das Fenster. »Ich fleh Sie an, haun Sie ab!« Ich ging zum Fenster und versuchte es zu öffnen, aber es war zugenagelt. Plötzlich sah ich die Schlange vor meinem geistigen Auge, ihren eckigen Kopf mit der blitzschnellen gespaltenen Zunge. Ich drehte mich um und sah, wie Fritz Drei rückwärts in die Bar zu-rückgezerrt wurde. Ein riesiger Mann, fast so groß wie Rasputin, kam heran und krachte mit der Stirn gegen den Türrahmen. Er jaulte vor Schmerzen auf, und Blut floß ihm übers Gesicht, als er sich bückte, um einzutreten. Seine Augen waren geschwollen und blutunterlaufen. »Komm hier jou fokker!« brüllte er und kam leicht gebeugt mit ausgestreckten Händen auf mich zu, als wolle er ein Kaninchen fangen. »Ich bin's, Botha! Ich bin Peekay, Ihr Grizzly-Mann!« rief ich laut. Der riesige Mann schien mich nicht zu hören. »Ich bring dich um, du Bastard!« Seine Ärmel waren fast bis zu den Schultern hochgekrempelt, wie es die Buren machen, und als er auf mich zukam, sah ich die Tätowierung. Unter normalen Umständen hätte ich seinem plumpen Griff leicht entkommen können, aber der Schock des Wiedererkennens ließ mich erstarren. Hoch oben auf Bothas linkem Arm sah ich ein schlecht gezeichnetes Hakenkreuz. Ich hatte diese Tätowierung schon einmal gesehen... am Arm des Richters. Botha, der Richter, der jetzt zu einem Riesen herangewachsen
war, packte mich mit einer Hand am Hemd, mit der anderen hinten an meinem Gürtel. Er hob mich hoch, ging mit mir durch die Tür in die Bar zurück und warf mich über die Theke. Ich landete auf allen vieren, konnte den Sturz aber mit den Händen abfangen. Eiskalte Wut stieg in mir auf. Ich konzentrierte mich so sehr, daß ich die Ekken des Raumes nicht mehr wahrnahm und den Richter, als er über die Theke kletterte, auf drei Meter Entfernung so deutlich sah, daß ich die einzelnen Haare auf seinen unrasierten Backen erkannte. »Erst mit dem Kopf und dann mit dem Herzen, so kann Klein Groß besiegen« hörte ich Hoppie sagen, und mein Entschluß wurde zu einer klaren, reinen, vom Kopf kontrollierten Kraft. »Komm, Jaapie Botha! Komm her, Mann, ich hab mein ganzes Leben lang auf dich gewartet.« Meine Stimme klang so bösartig, wie ich sie noch nie gehört hatte. Fritz Drei stand hinter der Theke und schrie mir aus sicherer Entfernung zu: »Er hat zuviel Sprengschwaden eingeatmet, er ist verrückt geworden! Hau ab, Peekay. Der Bure bringt dich um!« Der Richter stieß einen wütenden Schrei aus und kam auf mich zu. Ich wußte, daß er fähig war zu töten. Ich trat zur Seite und schlug ihm einen linken Uppercut auf die Nase, und ich wußte, wie entsetzlich weh ihm das tun würde. Ein Mann meiner Größe wäre nach so einem Schlag sofort ohnmächtig umgefallen. Der Richter jaulte wie ein verwundetes Tier auf und sah mich an. Blut und Schleim liefen ihm aus der Nase. Ich hatte lange Zeit auf diesen Augenblick gewartet. Ich wußte genau, was zu tun war. Der Richter war der Stier, und ich war der Matador, ich würde den Ablauf des Kampfes bestimmen. Ich wußte plötzlich, daß Geel Piets Fußarbeit genau zu dieser Situation paßte. Es war Zeit für den klein Baas, zu tanzen. Der Richter war ein Mann Mitte Zwanzig, aber man sah ihm an, daß er zuviel trank, und der Bauch hing ihm schon über den Gürtel. Die jahrelange Arbeit auf einer Farm und im Bergwerk hatte ihn zu einem bärenstarken Kerl gemacht, und er war vielleicht auf dem Höhepunkt seiner physischen Kraft. Aber als ich ihn anschaute, sah ich, daß er eine schlechte Kondition hatte. Ich würde ihm immer wieder auf Nase und Mund schlagen. Wenn er genug Blut schluckte und ich ihn oft genug zum Angriff reizen konnte, würde er bald ausgepowert sein. Vom Kugelschnitzen waren meine Hände sehr stark geworden. Der
Richter griff immer wieder an, und jedesmal duckte ich mich im letzten Moment und schlug ihm auf die Nase oder auf den Mund. Bald spuckte er Blut und keuchte schwer. Das salzige Blut vermischte sich jetzt in seinem Magen mit dem Brandy, den er getrunken hatte. Später würde ich ihm Geel Piets Achterkombination in den Solarplexus servieren, wo alle Nervenstränge zusammenkamen. Er wurde langsamer und versuchte mich in eine Ecke zu drängen, wo er mich fertigmachen wollte. Ich ließ es geschehen, bis er mich dort hatte, wo er mich haben wollte. Dann hob ich die Hände, als würde ich um Gnade flehen. Ich sah seinen Schlag schon zehn Meilen weit kommen, duckte mich und sprang blitzschnell aus der Ecke. Seine riesige Faust donnerte an die Wand, und Blut spritzte auf die Kacheln, als sein Handgelenk brach und die splitternden Knochen durch die Haut drangen. Die kalte Wut in mir bewirkte, daß ich mich auf nichts als auf den Richter und mich selbst konzentrierte. Ich bemerkte nicht, daß sich in der Zwischenzeit gut hundert Bergleute hinter der langen Theke versammelt hatten und dem Kampf zuschauten. Der Richter drehte sich plötzlich um und wankte auf die Theke zu. Die Bergleute wichen angstvoll zurück, das Regal schwankte, und ein paar Schnapsflaschen fielen herunter. Der Richter griff nach einer halbleeren Brandyflasche, die noch auf der Theke stand. Er schlug sie mit voller Wucht auf die Vorderkante der Theke, und der Brandy spritzte ihm ins Gesicht und in die Augen. Ich servierte dem halbblinden Mann Geel Piets Achterkombination blitzschnell in den Magen und landete noch einen Uppercut auf seiner gebrochenen Nase. Als er aufschrie und die zerbrochene Flasche in mich hineinrammen wollte, war ich schon wieder weggesprungen. Der Richter ging langsam in die Knie und erbrach sich auf den Boden. Der Kampf dauerte bereits fast zwanzig Minuten, und ich hatte kein einziges Wort gesagt. Meine ganze Wut war in meinen Fäusten. Meine Knöchel bluteten, aber ich spürte nichts. Als ich ihn dort in seinem Erbrochenen sitzen sah, schrie die Stimme eines kleinen Kindes tief aus meinem Inneren heraus: »Du hast Granpa Chook ermordet!« Der Richter kam langsam auf die Füße. Sein Gesicht war eine blutige Sauerei, Blut tropfte von seiner gebrochenen Hand, sein
Hemd war durchtränkt mit Brandy, Blut und Kotze und klebte an seiner rust und seinem Bauch. Er hob den Kopf und schaute zu mir herüber, durch seine aufgerissenen Lippen flüsterte er nur ein einziges Wort: »Pißkop.« Mit seiner ganzen verbliebenen Kraft schleuderte er die zerbrochene Flasche nach mir, die mich nur um Haaresbreite verfehlte. Seine gebrochene Hand hing nutzlos herab, und er schwankte unsicher. Ich sprang wie ein Besessener auf ihn zu und schlug ihm Solly Goldmans Dreizehnerkombination in den Magen. Der Richter brach ohnmächtig zusammen. Mein Kopf explodierte. Ich sah das Hakenkreuz auf seinem linken Oberarm. Ich wußte nicht wie, aber plötzlich hatte ich Docs Joseph-Rogers-Messer in der Hand, die Klinge war klein, aber scharf wie ein Rasiermesser. Oberhalb des Hakenkreuzes schnitt ich ein Rechteck in seinen Arm, und nachdem ich das Georgskreuz und das diagonal liegende Andreaskreuz hineingeschnitten hatte, schaute mir eine blutrote britische Nationalflagge entgegen. Über die blauen Linien des Hakenkreuzes schrieb ich P. K. Dann wischte ich mit meiner Hand auf seinem von Blut, Erbrochenem und Brandy nassen Hemd herum und rieb damit die Flagge und meine Initialen ein. Ich wußte, daß sich die Schnitte infizieren würden. Sein Leben lang würde er die britische Nationalflagge und meine Initialen nicht mehr loswerden. Ich wischte meine Hände und Docs Messer am Hemd des Richters ab und stand auf. Ich klappte das Messer zu und steckte es zurück in die Tasche meiner blutbefleckten Hose. »Rasputin dankt dir für den Brandy, Botha«, sagte ich plötzlich ganz ruhig. Dann erst sah ich die Männer hinter der Theke. Sie rührten sich nicht und sprachen kein Wort. Sie schauten hinter mir her, als ich langsam auf die Schwingtür zuging und die Lagerbar verließ. Draußen hing ein kleiner Vollmond blaß wie Magermilch am hellen Himmel. Ich fühlte mich ungeheuer erleichtert, die Einsamkeitsvögel waren für immer verbannt, ihre steinigen Nester verwandelten sich in Flußsteine. Kühles, klares Wasser floß darüber weg, Ströme in der Wüste.