Bassam Tibi
Im Schatten Allahs Der Islam und die Menschenrechte
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Bassam Tibi
Im Schatten Allahs Der Islam und die Menschenrechte
scanned by unknown corrected by nw Der Anschlag islamischer Terroristen am 11. September 2001, aber auch die weltweite bedrohliche Präsenz fundamentalistischer Moslems werfen die Frage auf: Lassen sich der Islam und die Grundwerte der westlichen Zivilisation vereinbaren? Bassam Tibi, Experte für internationale Politik, sieht durchaus die Möglichkeit für ein friedliches Nebeneinander von Orient und Okzident unter der Voraussetzung, dass sich die Muslime in die demokratische Weltgemeinschaft aller Zivilisationen integrieren und die säkularen Menschenrechte respektieren. Islamisch-fundamentalistischen Umtrieben jedoch muss man mit einer offensiven Verteidigung demokratischer und menschenrechtlicher Prinzipien begegnen, anstatt sie zu tolerieren. ISBN 3-548-36388-1 1.Auflage Januar 2003 Ullstein Verlag Titelabbildung: dpa
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Das Buch Islam und Menschenrechte - grundsätzlich ein Antagonismus? Bassam Tibi, der renommierte Islamspezialist, spricht Klartext: Ein autoritärer, fundamentalistischer Islam ist mit der säkularen Demokratie westlicher Prägung ebenso wenig vereinbar wie die Scha-ri'a mit europäischen Verfassungen und den individuellen Menschenrechten. Nur ein toleranter Euro-Islam, der die Prinzipien von Demokratie und individuellen Menschenrechten ohne Wenn und Aber anerkennt, bietet die Möglichkeit, auch in westlichen Gesellschaften ein Verständnis für den Islam zu fördern. Die in Europa lebenden Muslime müssen sich zu diesem Zweck in die europäischen Gesellschaften integrieren, anstatt sich in Parallelgesellschaften zu separieren. Nur ein Euro-Islam ermöglicht es ihnen, als Mittler zwischen Orient und Okzident und als Vorreiter für Demokratie und Menschenrechte in den muslimischen Ländern zu wirken.
Der Autor Bassam Tibi, geboren 1944 in Damaskus, studierte Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften in Frankfurt/Main. Seit 1973 ist er Professor für Internationale Beziehungen in Göttingen. 1988 bis 1993 war er Research Associate am Center for International Affairs in Harvard, seit 1998 ist er dort Bosch Fellow. Zusätzlich hatte er Gastprofessuren in Asien und Afrika inne. Er hat zahlreiche Artikel für den Spiegel und die FAZ verfasst, schreibt zurzeit für Die Welt und ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum politischen Islam und zur Krise der islamischen Gesellschaft. Er ist Mitbegründer der Arabischen Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte und gehört zu den Mitträgern des islamischjüdischen Dialogs. 1995 verlieh ihm Roman Herzog das Bundesverdienstkreuz für seine Vermittlung zwischen den Zivilisationen.
Inhalt Vorrede ............................................................................................................6 Einleitung Allah: al-Khaliq (Schöpfer) - Mensch: al-Makhluq (Geschöpf)....................21 Menschenrechte zwischen kultureller Moderne und islamischer Tradition ...................................................................................................................22 Erster Teil Universalität des Islam versus Universalität der säkular-individuellen Menschenrechte: ein weltanschaulicher Konflikt ..........................................71 Einführung .................................................................................................73 Kapitel 1 Der Islam und seine universellen Ansprüche -Einführung in den Islam....80 Zwischen religiös-kultureller Vielfalt und zivilisatorisch einheitlicher Weltanschauung.....................................................................................80 Kapitel 2 Die Idee der individuellen Menschenrechte, ihre europäische Herkunft und die Verhinderung ihrer universellen Geltung durch die Neubelebung von Kollektiven ..............................................................................................107 Kapitel 3 Universalität der Menschenrechte und Partikularität der Kulturen..........127 Der weltanschauliche Konflikt zwischen dem Islam und dem europäischen Konzept individueller Menschenrechte als Zivilisationskonflikt..............................................................................127 Zweiter Teil Der weltanschauliche Konflikt über die Universalität der individuellen Menschenrechte als ein Zivilisationskonflikt - die Rushdie-Affäre.............153 Einführung ...............................................................................................155 Kapitel 4 Die Rushdie-Affäre und die iranisch-schi'itische Khomeini-Fetwa.........163 Die internationalen Folgen für die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen ...................................................................................163 Kapitel 5 Der grundlegende weltanschauliche Konflikt..........................................185 Zwischen islamischer Kollektivvorstellung und der Individuation der kulturellen Moderne.............................................................................185 Kapitel 6 Andere Kulturen, andere Sitten?..............................................................213 Kulturrelativismus, Multikulturalität und individuelle Menschenrechte
.............................................................................................................213 Dritter Teil Schari'a als islamisches Recht - Verneinung von Menschenrechten oder spezifische Ausprägung islamischer Menschenrechte? ...............................252 Einführung ...............................................................................................254 Kapitel 7 Schari'a - was ist das? ..............................................................................267 Ist die Schari'a mit einer kulturpluralistischen Welt der Toleranz und Menschenrechte harmonisierbar? .......................................................267 Kapitel 8 Der Kontrast zwischen Schari'a und individuellen Menschenrechten .....305 Die islamische Weltanschauung im Konflikt mit der europäischen Moderne...............................................................................................305 Kapitel 9 Gibt es islamische Menschenrechte? .......................................................348 Die Islamische Deklaration der Menschenrechte und ihr Stellenwert dargestellt am Fall Taslima Nasrin .....................................................348 Kapitel 10 Politischer Islam und Menschenrechte ....................................................384 Der fundamentalistische Aufruf zur Anwendung der Schari'a.............384 Vierter Teil Islam und individuelle Menschenrechte in Europa: Islamische Zuwanderung und Euro-Islam als europäische Identität islamischer Migranten ................405 Einführung ...............................................................................................407 Kapitel 11 Der Islam in Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.................414 Ethnisch-religiöse Konflikte als Zivilisationskonflikte im Zeitalter der globalen Migration und die Zukunft der individuellen Menschenrechte in Europa .............................................................................................414 Kapitel 12 Nur ein europäisierter Islam ist mit der zivilisatorischen Identität Europas in Einklang zu bringen.............................................................................437 Entwurf eines Euro-Islam ....................................................................437 Anmerkungen ..............................................................................................472 Literatur .......................................................................................................549 1. Monographien und Aufsätze in Sammelbänden/Europäische Sprachen .................................................................................................................550 2. Wichtige Zeitschriftenaufsätze ............................................................563 3. Auswahl zitierter arabischer Quellen...................................................565
Vorrede »Der Sultan ist der Zhul Allah (Schatten Allahs) auf Erden.« Ibn Taimiyya, führender islamischer Rechtsgelehrter des Mittelalters (1263-1328), in seiner Schrift al-Siyasa alschar'iyya (»Die an der Schari'a orientierte Politik«) »Der islamische Weltkongress hat auf seiner Arbeitstagung in Kairo eine neue Strategie gefordert für die Da'wa (Aufruf zum Islam)... Hierzu gehört der Aufbau islamischer Zentren in Europa..., um die dort lebenden Muslime auf ihre Rolle in der Zukunft vorzubereiten... Die Anwendung der Schari'a als Richtschnur im Leben der Muslime ist zu fordern.« Aus dem Dokument der Kairoer Beschlüsse des Weltkongresses der islamischen Weltliga, veröffentlicht in: alScharq al-Ausat vom 28. 7. 1993 Das Zitat von Ibn Taimiyya vermittelt ein Weltbild, das auf der »mittelalterlichen« orthodoxen Schari'a (nach dem Koran »Moralität«; postkoranisch als islamisches Rechtssystem konstruiert) basiert. Zugleich bringt es den heute in der Welt des Islam verbreiteten Glauben an die Einheit von göttlicher und weltlicher Herrschaft zum Ausdruck; hierfür hatte Ibn Taimiyya den Begriff »Zhul Allah« (»Schatten Allahs«) geprägt. Ich habe diesen Begriff als Titel dieses Buches herangezogen, um die säkulare Weltsicht des Westens, zu dessen Errungenschaften die individuellen Menschenrechte gehören, und die orthodoxislamische Weltanschauung einander gegenüberzustellen. Die -6-
islamische Sicht der Welt ist nicht nur theozentrisch, das heißt gottzentriert; auch hebt sie die Faraid (Pflichten) gegenüber der Umma (Gemeinschaft aller Muslime) hervor und enthält kein Konzept individueller Rechte. Ibn Taimiyyas Schriften gehören zu den zentralen islamischen Quellen, die deutsche Orientalisten/Islamkundler kennen müssten, denn die islamische Orthodoxie hat mit Taimiyyas Begriff des Zhul Allah jahrhundertelang hantiert. Kurz: Der Begriff stammt nicht von mir und ist auch nicht geeignet, aus Gründen der Werbewirksamkeit benutzt zu werden. Ich verwende ihn im Buchtitel, weil er die islamische Weltanschauung zum Ausdruck bringt, die zentral für meine Thematik ist. Ich schreibe das unter anderem deswegen, weil ein deutscher Orientalist in seiner Rezension in der Zeit behauptete, Bücher über den Islam mit »Allah« im Titel versprächen besseren Absatz; dies gelte auch für den Titel Im Schatten Allahs. Es lohnt sich nicht, auf solch billige (und inkompetente) Vorwürfe einzugehen. Schon bei der Lektüre der ersten Seite meines Buches hätte jener Rezensent auf das Ibn-Taimiyya-Motto stoßen müssen - es ist fraglich, ob er das Buch überhaupt gelesen hat. Der Titel des Buches ist also ein Zitat einer Autorität der islamischen Orthodoxie und steht mit einer der zentralen Thesen dieses Buches in engem Zusammenhang; sie lautet, dass sich der orthodoxe Islam sowie der Islamismus nicht mit säkularen individuellen Menschenrechten im Sinne von entitlements (Berechtigungen) gegenüber dem Staat und der Gesellschaft vertragen. Eine weitere These weist auf eine Gefahr hin, die im zweiten Motto des Buches zum Ausdruck kommt. Damit meine ich den Import eines »mittelalterlichen« wahhabitischorthodoxen Islam aus Saudi-Arabien nach Europa und somit die Zulassung der Schari'a auf der Basis einer indifferenten »MultiKulti-Toleranz«. Dies muss verhindert werden. Weiterhin möchte ich in diesem Vorwort noch auf einen -7-
inhaltlichen Schwerpunkt vorgreifen, der in dem folgenden Zitat des geistigen Vaters des islamischen Fundamentalismus umrissen wird. Sayyid Qutb (geboren 1906, gehenkt 1966 in Kairo) proklamierte: »Die Menschheit steht am Rande des Abgrunds... Der Bankrott der Demokratie führt diese zu ihrem Ende... Die Menschheit benötigt eine neue Führung... Die Führungsrolle des Islam in dieser Umbruchsituation steht bevor...« Diese Worte von Qutb aus seinem Katechismus Ma'alim fi altariq (»Wegzeichen«) verkünden eine Herausforderung an den Westen mit dem Anspruch auf eine Pax Islamica für die ganze Welt. Im Kontext meiner zweiten, oben erwähnten These spricht Klaus Natorp in einem Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2l. 7. 1993) den seit längerem diskutierten Zusammenhang zwischen Weltbevölkerungswachstum und Migration an: »Wanderungsbewegungen bisher ungekannten Ausmaßes werden... klar machen, dass sich... rapides Bevölkerungswachstum auch bei uns auswirkt... Mit Migration versuchen die Betroffenen ihrem Elend zu entkommen... Ein neues Zeitalter der Völkerwanderung hat begonnen.« Die Migranten bringen in das Aufnahmeland nicht nur sich und ihre Arbeitskraft mit - wie die Industrie zu glauben scheint , sondern auch die Weltanschauungen derjenigen Zivilisation, aus der sie stammen. Zivilisationen sind in Lokalkulturen untergliedert. Im Fall der islamischen Migranten beansprucht eine kleine Minderheit, die aus Islamisten und orthodoxen Muslimen besteht, als Vertretung des Islam innerhalb der IslamDiaspora auftreten zu können, und zwar mit der Zielsetzung, die Geltung der islamischen Weltanschauung in Europa -8-
durchzusetzen. Islamisten und orthodoxe Muslime sind weder Freunde der individuellen Menschenrechte noch des postmodernen Multikulturalismus, dem ein Kulturrelativismus immanent ist, aber sie instrumentalisieren beide für ihren Absolutismus und Universalismus. Eines ihrer Ziele ist ein islamisiertes Europa, ihr Fernziel die Herrschaft des »Schatten Allahs auf Erden«. In der praktischen Umsetzung bedeutet das die Geltung der Schari'a innerhalb einer ghettoisierten IslamDiaspora. Minderheitenrechte werden damit zu Kollektivrechten für eine parallelgesellschaftliche Islam-Diaspora pervertiert. Aus den angeführten Gründen handelt das vorliegende Buch nicht nur von Demokratie und Menschenrechten in der Welt des Islam, sondern auch in Europa, einem Kontinent, auf dem etwa 25 Millionen Muslime leben, davon etwa 15 Millionen Migranten in Westeuropa und 10 Millionen auf dem Balkan, die jedoch keine Migranten sind. Diese Zahl wird sich bis Mitte dieses Jahrhunderts verdoppeln oder gar verdreifachen. In unserer Epoche neuer weltpolitischer Konflikte, in der die Bildung von »Frontlinien des Konflikts zwischen den Zivilisationen« (Samuel P. Huntington) im Mittelpunkt steht, plädiere ich dafür, Brücken zwischen den Zivilisationen zu schlagen. Die Menschheit ist nämlich nach der Zugehörigkeit zu einer Zivilisation unterteilbar und damit in Bezug auf Werteorientierungen fragmentiert. Nur solche Brücken, die für alle akzeptabel sind, können daher für einen Weltfrieden zwischen den miteinander wetteifernden Zivilisationen sorgen. Es wäre jedoch verfehlt, wollte man unter diesem Bau von Brücken eine zivilisatorische Selbstaufgabe der einen Zivilisation gegenüber der anderen verstehen. Die auf einer kulturübergreifenden Grundlage zu vollziehende Universalisierung der individuellen Menschenrechte gehört zuvorderst zu diesem Brückenbau zwischen den weltanschaulich rivalisierenden Zivilisationen unserer globalisierten Welt. Nicht die Bestimmung der politischen Herrschaft als -9-
»Schatten Allahs auf Erden«, sondern Demokratie und säkulare Menschenrechte scheinen mir als Bindeglieder zwischen den Zivilisationen geeignet, welche die Menschheit in unserer Krisensituation benötigt. Vor diesem Hintergrund habe ich den Titel dieses Buches gewählt. Die Schrift von Ibn Taimiyya, der das obige Zitat entnommen ist, gilt für heutige islamische Fundamentalisten als außerordentlich autoritativ. Der mittelalterliche islamische Rechtsgelehrte beziehungsweise Sakraljurist Ibn Taimiyya tritt für eine an der Schari'a orientierte Politik ein. Mit dem Begriff al-Siyasa al-schar'iyya schafft er in der islamischen Geschichte erstmals eine Koppelung der Siyasa (Politik) an die Schari'a. Dieses Junktim habe ich im Sinn, wenn ich meine zentrale These vortrage, dass nur die europäische Tradition der Menschenrechte, nicht aber die Schari'a den Muslimen helfen kann, sich in eine universell ausgerichtete demokratische Wertegemeinschaft aller Zivilisationen zu integrieren. Die in Europa lebenden Muslime könnten selbst zu einer Brücke für den Frieden zwischen Orient und Okzident werden, vorausgesetzt, sie würden in diesem Sinne in der europäischen Diaspora und von hier aus als Vorreiter für Demokratie und Menschenrechte in ihren Herkunftsländern wirken. Diese Option steht in deutlichem Widerspruch zu der als Motto zitierten Strategie der saudisch dominierten Islamischen Weltliga, welche die in Europa lebenden Muslime für ihre eigene, an der Schari'a orientierten Politik instrumentalisieren will. Für den Vorwurf an die selbst ernannte Vertretung der Islam-Diaspora, Geltung für das »Schatten-Allah-Weltbild« in Europa zu fordern, kann ich beispielhaft einen Vorfall in Frankreich anführen: Im November 1993 hat der Imam (religiöser Führer) von Nantua für die in Frankreich lebenden Muslime mit seinem Ausspruch »Allahs Gesetz steht vor dem französischen Recht« die Schari'a gefordert und somit zum Ungehorsam aufgerufen. Die französische Regierung antwortete kompromisslos mit der Ausweisung des Imam und schuf damit -10-
ein Musterbeispiel für andere westeuropäische Länder im Zeitalter islamischer Zuwanderung. Wie andere meiner Bücher ist auch das vorliegende Buch, das für diese Ausgabe weitgehend neu geschrieben und aktualisiert wurde, für allgemein politisch interessierte Leser und nicht für Experten mit Scheuklappen geschrieben. Deshalb habe ich auf Fachjargon, auf komplizierte Ausführungen sowie auf das, was man unverständliches »Experten-Chinesisch« nennt, völlig verzichtet. Den Hintergrund der Thematik dieses Buches bilden die Prozesse der Globalisierung. Hierzu gehört die bereits angesprochene globale Migration. Diese Problematik möchte ich anhand einer ein Jahrzehnt zurückliegenden Spiegel-Serie veranschaulichen, die wichtige Themen der damaligen Zeit ansprach und »Trend 2000« hieß. Inhalt dieser Serie war »das vernichtende Wachstum der Weltbevölkerung« und sie bezog sich insbesondere auf den Mittelmeerraum. Historisch bildete das Mittelmeer die Grenze zwischen Europa und dem Dar allslam (Haus des Islam). Die unmittelbare Folge der weltweiten demographischen Entwicklung - verbunden mit der Zunahme der Armut - ist die bereits angesprochene Wanderung aus der islamischen Zivilisation des mediterranen Südens nach dem reichen, zur westlichen Zivilisation gehörenden Norden des Mittelmeeres. In der Spiegel-Serie wurden namhafte Bevölkerungswissenschaftler zitiert, die bevorstehende »Wanderungen größeren Umfanges« voraussagten. Statistische Prognosen stützten diesen signifikanten Trend. Die angesprochene Migration ruft nicht nur ökonomische und soziale Probleme hervor; sie stellt auch das Weiterbestehen der politischen Kultur in den Ländern in Frage, die massenhaft Zuwanderer aus anderen Zivilisationen mit unterschiedlichen politischen Norm- und Wertvorstellungen aufnehmen. In einem Artikel der besagten Spiegel-Serie schrieb Joachim Schöps klar und deutlich, dass die Zuwanderung erzwinge, »Verständigung« -11-
darüber zu erzielen, welche Formen des Zusammenlebens zwischen den ursprünglichen Bewohnern und den Zuwanderern auf dem europäischen Kontinent bestehen sollen: »Integration und weitgehende Einordnung in das vorgegebene Normengeflecht oder... eine strikt kulturelle Eigenständigkeit mit all ihren Reibungsflächen?« Mit diesen Worten rief Schöps dazu auf, tabuisierte Themen anzusprechen, ein Aufruf, dem ich gerne nachkomme. So habe ich bereits in meinem Buch Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration das Scheitern der bisherigen Integrationsbemühungen festgestellt. In der vorliegenden Arbeit zeige ich nun, dass weltanschauliche Konflikte in Bezug auf Menschenrechte die von Schöps beschriebenen »Reibungsflächen« bilden. Die globale Migration entspringt der Globalisierung der Strukturen, welche aber nicht mit einer entsprechenden Universalisierung der Werte einhergeht; daher rühren die weltanschaulichen Wertekonflikte. Die politische Kultur Europas ist seit Renaissance, Aufklärung und Französischer Revolution eine der Demokratie und der individuellen Menschenrechte. Es liegt auf der Hand, dass diese nicht weltweit gelten. Wir aber müssen fragen: Werden sie ihre Geltung für Europa im Zeitalter globaler Migration behalten? Die Zusammensetzung der Bevölkerung Europas verändert sich. Die Werteorientierung der Menschen wird hiervon betroffen. Nicht nur islamische Fundamentalisten wie der ausgewiesene Imam der Moschee von Nantua -, sondern auch orthodoxe Muslime fordern für die islamischen Migranten unter dem Deckmantel der »kulturellen Eigenständigkeit« (Schöps) die Geltung der Schari'a in den Aufnahmegesellschaften. Wer gegen diese Forderung eintritt, wird von manchen des »Euro-Rassismus« sowie der »Diskriminierung einer religiösen Minderheit« und Ähnlichem mehr bezichtigt. Fundamentalisten und orthodoxe Imame führen Tabus in Europa ein, um eine offene Kontroverse zu verhindern; darüber hinaus präsentieren sie sich als Sprachrohr des Islam. Es liegt im -12-
Interesse des inneren Friedens zwischen Europäern und der Islam-Diaspora, sich nicht auf dieses Spiel einzulassen; die Probleme und die weltanschaulichen Konflikte müssen offen angesprochen werden, um diese friedlich lösen zu können. Im Zusammenhang mit der Thematik dieses Buches ist die Unterscheidung zwischen Fundamentalismus, Orthodoxie und Islam von zentraler Bedeutung. Im Gegensatz zu den totalitären Äußerungen der Fundamentalisten kann der Islam in einem reformerischen Geist als tolerante Religion interpretiert werden; er ist zudem ein Gottesglaube und keine politische Ideologie. Im Koran steht: »La ikraha fi al-din« (»Kein Zwang in der Religion«). Fundamentalisten gehen vom Gegenteil aus und zitieren hierfür selektiv andere Koranverse, die in ihrem Sinne interpretierbar sind. Entgegen der fundamentalistischen sowie orthodoxen Forderung nach einer Geltung der Schari'a für die in Europa lebenden Muslime und im Widerspruch zu der Weltsicht vormoderner Einwandererkulturen formuliere ich im vierten Teil dieses - im Lichte des 11. Septembers neu geschriebenen Buches das Konzept des Euro-Islam, welches mit den Grundsätzen der Demokratie und mit den Menschenrechten als politischer Kultur Europas vereinbar ist. Lange vor dem 11. September bin ich bereits als Kritiker der Zauberformel der »multikulturellen Gesellschaft« aufgetreten, weil sie mit ihrer Wertebeliebigkeit eine offene Kontroverse über die von Joachim Schöps im Spiegel angesprochenen »Reibungsflächen« zwischen der kulturellen Moderne und den vormodernen Kulturen verhindert und alles tabuisiert. Vormoderne Kulturen lassen weder säkulare Demokratie noch individuelle Menschenrechte zu. Vor diesem Hintergrund trete ich im vorliegenden Buch für eine kulturübergreifende Universalität der Demokratie und der Menschenrechte ein, das heißt für deren Geltung auch innerhalb kulturell reformierter islamischer Gesellschaften. Für die in Europa lebenden Muslime muss die -13-
uneingeschränkte Akzeptanz dieser politischen Kultur als eine Voraussetzung gelten. Es darf nicht verschwiegen werden, dass weder der Islamismus noch ein orthodoxer Islam mit den individuellen Menschenrechten vereinbar sind. Dies begründe ich in diesem Buch, in dem ich Partei für die kulturelle Moderne gegen die Einstellungen vormoderner Kulturen zur Demokratie und zu den Menschenrechten ergreife. Nach den - meiner Ansicht nach abgenutzten – gesinnungsethischen Kategorien könnte meine Kritik an dieser Weltsicht von manchen als »Kultur-Rassismus« gegenüber vormodernen Kulturen inkriminiert werden. Fundamentalisten berufen sich mit Vorliebe auf diese und ähnliche Polemiken gegen ihre Kritiker. Mein Argument lautet jedoch, dass der Begriff »Rasse« in diesem Zusammenhang völlig unangebracht ist. Vielmehr geht es darum, ob Menschen modernen Kulturen des Individuums oder vormodernen Kulturen des Kollektivs angehören. Es gibt ethnische und kulturelle Gruppenzugehörigkeiten, auf denen das Bewusstsein von »WirGruppen« basiert; diese glauben, »von Natur aus« zueinander zu gehören. In der Fachdiskussion bezeichnen kompetente Wissenschaftler wie Benedict Anderson solche »Wir-Gruppen« als imagined communities (imaginäre Gemeinschaften). Wir können Ethnizität nicht abschaffen, aber wir dürfen nicht übersehen, dass sich die Einbindung des Menschen in ein Kollektiv gegen die individuelle Freiheit richtet. Ich beispielsweise bin ein Muslim, möchte aber als ein Individuum leben und lehne es deshalb ab, in die Zwangsjacke eines UmmaKollektivs gesteckt zu werden. Die islamische Gemeinde in Europa soll aus Bürgern bestehen, weil diese demokratische Kultur den Menschen als Individuen Freiheit gewährt. Jeder Mensch, gleich ob »weiß«, »schwarz« oder »gelb«, kann ohne Rücksicht auf religiöse oder ethnische Herkunft ein Mitstreiter für Demokratie und Menschenrechte werden, wenn eine Bürgeridentität als Rahmen anerkannt wird. Ich sage es offen: -14-
Jeder Mensch, der sich gegen Demokratie und individuelle Menschenrechte wendet, ist für mich ein Feind. Bei der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten darf es keine halbherzigen Lösungen geben. Hier scheint ein Widerspruch vorzuliegen, der nach meinem Dafürhalten jedoch keiner ist. In meinem Bekenntnis zu der Kultur der Demokratie und Menschenrechte bin ich ein europäischer citoyen (Bürger), das heißt, ich lasse mich von Vorstellungen leiten, die in ihrem Ursprung europäisch waren, heute jedoch universellen Charakter haben - wenngleich dies nicht mit deren realer universeller Geltung einhergeht. Doch in meiner Art, Menschenrechte und Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen, kommt meine Sozialisation in der islamischen Zivilisation zum Ausdruck. Dies bedeutet eine Werteorientierung, die mich davor schützt, einer multikulturellen Pseudotoleranz nach dem Muster anything goes (alles ist erlaubt, im Sinne von Wertebeliebigkeit) zu verfallen. Im Einklang mit den individuellen Menschenrechten kann es Toleranz nur auf der Basis von Gegenseitigkeit geben. Fundamentalisten aus der Migrantenkultur beschränken Toleranz darauf, dass ihre Normen und Sitten von den anderen anzuerkennen sind; sie aber bringen keinerlei Verständnis für die Gegenseite auf. Wenn diese Ungleichheit weiter zugelassen wird, könnte die Schari'a unter dem Deckmantel der multikulturellen Toleranz tatsächlich in Europa eingeführt werden. Im dritten Teil dieses Buches führe ich als Motto ein Fetwa-Urteil von Scheich Mohammed al-Ghazali an; dieser predigt Intoleranz durch seinen Einsatz für eine »straffreie Tötung des Apostaten«. Im islamischen Orient habe ich gelernt, niemandem, der nach meinem Leben trachtet, Toleranz zu gewähren. Ich denke, dass Europa hinsichtlich Selbstbewusstsein und Selbsterhaltung vom Islam ebenso wie vom Judentum viel lernen kann. Umgekehrt können Muslime von Europa im -15-
Bereich der Demokratie und Menschenrechte profitieren. In der Verbindung von europäischer Toleranz und semitischem Selbstbewusstsein in meiner Person sehe ich keinen Widerspruch. Diese Neuausgabe erscheint ein knappes Jahrzehnt nach der Erstfassung. Die Geschichte dieses Buches ist lang: Sie begann im November 1983, als ich in Limassol mit einer Gruppe arabischer Intellektueller und Publizisten die Arabische Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte mitbegründete. Meine systematische Beschäftigung mit dieser Thematik folgte, als mich mein sudanesischer Freund und muslimischer Mitstreiter, der Reformer Abdullahi An-Na'im, 1988 einlud, an der von ihm und dem Dinka-Sudanesen Francis Deng geleiteten Studiengruppe über Human Rights in Africa. Cross-Cul-tural Perspectives (Menschenrechte in kulturübergreifender Perspektive) am Wilson Center in Washington, D.C. mitzuwirken. Unser Produkt ist 1990 in Washington, D.C. bei dem größten US-Think-Tank, der Brookings Institution, als Buch erschienen. Zwei Jahre später habe ich dann am Norwegian Institute for Human Rights in Oslo wieder mit AnNa'im an einer (allerdings auf den Islam zugeschnittenen) Studie gearbeitet, die unser Gastgeber, Tore Lindholm, 1993 als Buch herausgab. Der Kern der vorliegenden Arbeit basiert auf meinen im Rahmen der beiden angeführten Projekte in englischer Sprache angefertigten Papers. Meine Beschäftigung mit der Menschenrechtsproblematik ist jedoch nicht nur wissenschaftlicher, sondern ebenso praktischer und politischer Natur. Bei der Arbeit mit Abdullahi An-Na'im ging es um die konzeptuelle Aufarbeitung meiner politischen Aktivität bei der Arabischen Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte, die parallel zum Kongress Azmat aldemoqra-tiyya fi al-watan al-Arabi (Krise der Demokratie in der arabischen Welt) gegründet wurde. Die Ergebnisse dieses Kongresses, der im November 1983 in Limassol stattfand -16-
nachdem uns die Genehmigung für Kairo entzogen worden war -, erschienen 1984 in Beirut auf Arabisch. In dem 928 Seiten umfassenden Buch ist meine Position als Kapitel 2 enthalten. Der Preis hierfür war sehr hoch; seitdem gelte ich in Syrien als Persona non grata, stehe auf der Liste des Mukhabarat (Geheimdienstes) und kann mein Geburtsland nicht mehr besuchen. Zum Abschluss dieses Vorworts möchte ich anmerken, dass ich in den USA gelernt habe, dass ein Wissenschaftler beziehungsweise ein Publizist kein Solotänzer ist, wie deutsche Professoren bisweilen zu glauben scheinen. Ohne institutionelle sowie persönliche Förderung und Hilfe kann niemand ein bedeutendes Werk vorlegen. Die Liste der Freunde, Kollegen und Institutionen, die dieses Buch ermöglicht haben, ist sehr lang. Deshalb beschränke ich mich auf die Nennung der wichtigsten Personen und Institutionen. Ganz besonders bedanke ich mich bei Abdullahi An-Na'im, der mich in das Human Rights Project des Wilson Center in Washington, D. C. einführte. Diesem Center sowie der Brookings Institution, die das Buch Human Rights in Africa. Cross-Cultu-ral Perspectives veröffentlichte, gebührt großer Dank. Auch Tore Lindholm vom Norwegian Institute for Human Rights sowie meine arabischen Freunde in der Arabischen Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte sind hier zu nennen. Einer dieser Freunde, Professor Saad Eddin Ibrahim, verbüßt zurzeit als bittere Konsequenz dieser Arbeit eine Gefängnisstrafe in Kairo. Große Teile der Erstfassung dieses Buches sind am Center for International Affairs der Harvard University im Zeitraum von 1988 bis 1993 in englischer Sprache entstanden. Bei der vorliegenden Fassung standen mir meine Göttinger Mitarbeiter zur Seite. An der alten Version - vom Redigieren der einzelnen Fassungen bis zur Übersetzung aus dem Englischen - wirkte meine damalige Assistentin Dr. Daniela Heuer-Vogel mit. Den größten Dank für die Neuausgabe schulde ich meiner -17-
Mitarbeiterin Elisabeth Luft, die nicht nur alle Fassungen dieses Buches in den Computer eingegeben hat, sondern dabei auch stilistisch bessere Formulierungen anregte. Auch meiner Mitarbeiterin Vera Weidemann bin ich in vielfacher Hinsicht zu Dank verpflichtet. Zum Team zählten außerdem Neele Kämpf, Jan Kotowski sowie (beim Abschluss) Roland Hiemann. Dem Wiener Wochenmagazin Profil bin ich für die Akkreditierung als »Journalist« für die UN-Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien, 14.-26. Juni 1993, dankbar. Meine Beobachtungen auf jener UN-Konferenz waren für die Schlussfassung der Erstausgabe im Jahre 1994 von entscheidender Bedeutung. Als Wissenschaftler hätte ich auf formalem Wege kaum Zugang zu den Konferenzsälen erhalten. Profil veröffentlichte im Vorfeld dieser UN-Konferenz in seiner Ausgabe vom 7. Juni 1993 meinen Artikel »Der Schatten Allahs«. Mit den Restmitteln meines von der VolkswagenStiftung geförderten Harvard-Projekts über den Fundamentalismus reiste ich nach Kairo, um dort zu recherchieren. Die Erstfassung von Im Schatten Allahs wurde 1994 (und nachfolgend in weiteren Ausgaben) bei Piper veröffentlicht. Mein damaliger Verleger Ernst Reinhard Piper und mein Lektor Ulrich Wank haben meine Arbeit gefördert. Bei der vorliegenden Neuausgabe war mir mein Ullstein-Lektor Dr. Christoph Steskal eine große Hilfe und mir ebenso wertvoll wie seinerzeit Ulrich Wank. Von ganzem Herzen hoffe ich, dass meine europäischen Leser meine interkulturelle Perspektive für die Untermauerung der Universalität der Demokratie und der Menschenrechte jenseits der multikulturellen Indifferenz teilen und dass meine islamischen Glaubensbrüder und -Schwestern meine Argumente mit der Toleranz eines aufgeklärten Euro-Islam akzeptieren und mir das Recht der Freiheit des Andersdenkenden auch dort einräumen, wo sie nicht mit mir übereinstimmen. Für die -18-
Islamisten und orthodoxen Muslime, die mich anfeinden und mir sogar nach dem Leben trachten, bitte ich Allah um bessere Hidaya (Anleitung, göttliche Führung), auf dass sie den Koranvers »Kein Zwang in der Religion« richtig verstehen mögen. Viele Muslime, die in Europa leben, verstehen nicht, dass die individuellen Menschenrechte zur zivilisatorischen Identität Europas gehören! Europa und der Islam, die im 21. Jahrhundert zusammen leben müssen, brauchen die Freiheit der Vielfalt, nicht aber die Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) von Scheich Mohammed al-Ghazali, der die »straffreie Ermordung« eines jeden vorschreibt, der von der Schari'a abweicht oder sie gar kritisiert. Auch ich fühle mich angesichts des Inhalts von Kapitel 7 über die Schari'a von der al-Ghazali-Fetwa bedroht. Daher war meine Empörung groß, als Hans Küng diesen Fundamentalisten als Mitautor seines Buches Ja zum Weltethos aufnahm, nicht aber einen muslimischen Vertreter des EuroIslam. Die Abteilung für Internationale Beziehungen an der Universität zu Göttingen ist meine deutsche »Basisinstitution«, wenngleich ich meine Bücher in den vergangenen 20 Jahren in Cambridge, Massachusetts, schrieb, wodurch die Harvard University zu meiner geistigen Heimat wurde. Die Erstfassung entstand daher in Harvard 1988-1993. Das Buch beendete ich jedoch 1994 an der University of California, Berkeley, wo ich die ihm zugrunde liegende These für eine internationale Öffentlichkeit in englischer Sprache verfasste; sie erschien als Abhandlung in der Zeitschrift Human Rights Quarterly (2/1994). Die vorliegende, in weiten Teilen völlig neu geschriebene deutsche Ausgabe entstand in Göttingen von Frühjahr bis Herbst 2002. Ein gesinnungsethischer Rezensent der 1994er-Ausgabe schrieb in der Zeitschrift Der Staat, dass ich meinen Anspruch, Vermittler zwischen den Zivilisationen zu sein, verspiele, wenn -19-
ich Differenzen in den Mittelpunkt meines Denkens stelle. Meine Antwort heißt: Ich, der dem islamischen Orient nach Europa entfloh, um hier das Recht auf freie Meinungsäußerung zu genießen, werde niemandem erlauben, mir Denkverbote zu erteilen. Ich bin überzeugt, dass sich Konflikte nur dann lösen lassen, wenn man über diese frei sprechen darf. Göttingen, Herbst 2002 Bassam Tibi
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Einleitung Allah: al-Khaliq (Schöpfer) Mensch: al-Makhluq (Geschöpf)
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Menschenrechte zwischen kultureller Moderne und islamischer Tradition »Der Autor... Soziologe auf dem Gebiet der Islamwissenschaft, will... den Intellektuellen jener Länder dienen, die sich zur Religion des Islam bekennen oder der mohammedanischen Kultur angehören. Er will ihnen helfen, ihre eigene Bestimmung zu erkennen... Es gibt soziale Hemmnisse, die ein Verständnis der eigenen Probleme unmöglich machen..., ich bin frei von diesen Hindernissen... und ich habe versucht, mich von den Mythen frei zu machen... Nur eine aufgeklärte Politik hat Interesse daran,... dass die Forscher so unabhängig wie möglich arbeiten... Insbesondere habe ich Mythen attackiert, die in der mohammedanischen Weltöffentlichkeit kursieren.« Maxime Rodinson, Islam und Kapitalismus, Vorwort Die erste Frage, die sich bei einer Beschäftigung mit der Thematik dieses Buches stellt, lautet: Sind Islam und individuelle Menschenrechte miteinander vereinbar? Die Antwort ist ja und nein. »Ja« würde die Antwort heißen, wenn Muslime für einen Reform-Islam offen wären, »Nein« aber, wenn Orthodoxie und Islamismus weiterhin fortbestehen. Dieselbe Antwort gilt für jede Religion. Trotz anders lautender Versicherungen der Angehörigen gleich welcher Religion haben Menschenrechte keine Verankerung in irgendeiner religiösen Tradition; sie sind ein Produkt der kulturellen Moderne1 und der bürgerlichen Zivilgesellschaft und stehen in der Tradition von John Locke und des von ihm begründeten »possessiven Individualismus«2. Menschenrechte - in Kapitel 2 werden sie -22-
näher erläutert - definieren den Menschen kraft seiner Natur, unabhängig von ethnischer oder religiöser oder geschlechtsspezifischer Herkunft, als Individuum und statten ihn mit Rechten aus, die als Berechtigungen gegenüber Staat und Gesellschaft gelten. Eine solche Tradition existiert im Islam schlichtweg nicht; im Gegenteil: Die Schari'a (nach dem Koran »Moralität«; postkoranisch als islamisches Rechtssystem konstruiert) steht in krassem Widerspruch zu diesem Menschenrechtsverständnis.3 Nun könnte man erwidern, dass diese Bestimmung der Menschenrechte eurozentrisch sei. Ähnliches könnte man natürlich von der Demokratie sagen und dabei Diktaturen in anderen Kulturen ungewollt rechtfertigen. Alle Pamphlete und Machwerke der Islamisten über Menschenrechte,4 die Letztere durch den Begriff »islamische Menschenrechte« islamisieren, zeigen, dass sie unter diesem Deckmantel nichts anderes tun, als Menschenrechte im Sinne individueller Berechtigungen zu negieren. Das werde ich in Kapitel 9 über die Islamische Deklaration der Menschenrechte näher erläutern. In dieser Einleitung will ich mich mit dem theozentrischen Weltbild des Islam befassen und zeigen, dass die Weltanschauung, die damit korrespondiert, mit Menschenrechten nicht vereinbar ist. Der Streit um die Herkunft der Menschenrechte Muslime teilen mit den Angehörigen anderer Religionen den Glauben, dass Gott den Menschen erschaffen hat. Allah ist der Schöpfer. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch5 sowie zwischen göttlicher Offenbarung und menschlicher Vernunft. Im Hochislam, der Glanzperiode des islamischen Mittelalters zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert, haben sowohl SufiMuslime6 (Anhänger des mystischen Islam) als auch islamische, -23-
vom hellenistischen Erbe beeinflusste Rationalisten7 keinen Widerspruch darin gesehen, an Allah zu glauben und zugleich dem Menschen eine Subjektivität, das heißt auch einen eigenen Willen, zuzuschreiben. Der bedeutende islamische Mystiker alHalladj (857-922) führte Dialoge mit Gott; er wurde eben deshalb am Galgen hingerichtet. Islamische Philosophen wie Avicenna (980-1037) oder Averroès (1126-1198) und vor ihnen al-Farabi8 (870-950) erkannten den Menschen als ein denkendes Wesen an. Sie wurden jedoch des Kufr (Unglaubens) angeklagt, ihre Bücher wurden verbrannt. Ist es nun wirklich Häresie, zu behaupten, der Mensch als ein Subjekt habe individuelle Rechte? Ohne ein solches Menschenbild können keine Menschenrechte begründet werden. Die islamische Orthodoxie hat eine Institutionalisierung des islamischen Rationalismus im Mittelalter verhindert, so wie das heute die Islamisten tun, die Fundamentalisten sind. Der geistige Vater des islamischen Fundamentalismus, Sayyid Qutb (hingerichtet 1966), schreibt in seinem Pamphlet Ma'alim fi altariq (»Wegzeichen«), dem Katechismus für junge Fundamentalisten, Muslime seien heute in das Zeitalter der Djahiliyya, das heißt in die vorislamische Zeit des Unglaubens, zurückgefallen. Dies begründet er damit, dass sie der neuen »Djahiliyya der Kreuzzügler« folgten, die auf der Infragestellung der Herrschaft Gottes basiere. Damit meint er insbesondere die Idee der Volkssouveränität. Mit Sayyid Qutbs Ideen greifen Fundamentalisten unserer Zeit jeden Muslim als Ungläubigen an, der, wie Qutb schreibt, »anstelle der Hakimiyyat Allah (Gottesherrschaft) die Herrschaft dem Menschen zuordnet und ihn somit gottgleich macht«9. Ist ein Muslim, der für Demokratie und Menschenrechte eintritt, also für die Herrschaft des Volkes über sich selbst, ein Ungläubiger? Der algerische Fundamentalist Ali Benhadj antwortet: »alDemoqratiyya kufr« (»Demokratie ist Unglaube«),10 denn der Mensch ist nach seiner Auffassung nur ein Makhluq (Geschöpf), -24-
Allah aber der Khaliq (Schöpfer), der uneingeschränkt über den Kosmos herrscht. Müssen wir aus diesen Äußerungen schlussfolgern, dass der Islam und die Menschenrechte - als Rechte des Individuums - unvereinbar sind? Wenn Islam mit Orthodoxie und Islamismus gleichgesetzt wird, muss die Antwort »Ja« lauten. Seit ihrer Konfrontation mit der kulturellen Moderne ist die oben gestellte Frage ein Streitpunkt unter den Muslimen. Sie schließt die Frage ein, ob die Menschenrechte erst eine Errungenschaft der kulturellen Moderne sind oder nicht schon zuvor in der islamischen Tradition vorhanden waren. Muslime, die Menschenrechte allerdings nur nach ihrem Verständnis gelten lassen, bestreiten die europäische Herkunft derselben. Sie behaupten sogar, der Islam habe zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Menschenrechte verkündet. Im Verlauf einer Debatte am Center for Middle East Studies der Harvard University bezog sich einmal der ehemalige Dekan der Damaszener Rechtsfakultät, Professor Mohammed Schukri, auf das dem Kalifen Omar (634-644) zugeschriebene Zitat: »Wie könnt Ihr Menschen versklaven, wo sie von ihren Müttern frei geboren werden?« Damit untermauerte der muslimische Gelehrte seine Behauptung, dass die Menschenrechte integraler Bestandteil des Islam seien. Seine Toleranz zeigte er dann, als er den daraufhin erfolgten Widerspruch als Verrat am Islam verfemte. Auch der ägyptische Scheich Mohammed al-Ghazali gehört zu jenen, die dem Islam die erste Verkündung von Menschenrechten zuschreiben. Nach der UN-Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien im Juni 1993 hat indes eben dieser Scheich im Zusammenhang mit der Ermordung des ägyptischen Schriftstellers Faradj Fuda im Juni 1992 seine Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) vor dem höchsten ägyptischen Gericht für Staatssicherheit vorgetragen. Darin verkündet er: »Im Islam gibt es für niemanden eine Strafe, der einen -25-
Apostaten tötet.«11 Apostat ist jeder, der vom Glauben abgefallen ist. Aber: Gehört Religionsfreiheit nicht zu den Menschenrechten? Und wer definiert den richtigen Glauben? Es mag für die Leser dieses Buches über Menschenrechte interessant sein, zu erfahren, dass dieser fundamentalistische Scheich der Dialogpartner von Hans Küng bei dessen Projekt über den Weltethos war.12 Scheich al-Ghazali äußerte vor dem höchsten ägyptischen Gericht: »Jeder, der offen gegen die Anwendung der Schari'a eintritt, fällt vom Glauben ab und muss getötet werden...; wer einen solchen Apostaten tötet, darf straffrei ausgehen!« Es war also ganz im Sinne dieser Fetwa, als algerische Fundamentalisten den Soziologen Mohammed Boukhobza im Juni 1993 vor den Augen seiner Familie ermordeten, indem sie ihm die Pulsadern öffneten und ihn verbluten ließen13 - er galt ja als ein Apostat. Zwei Wochen später, am 2. Juli 1993, verbrannten türkische Fundamentalisten 36 Dichter und Schriftsteller an ihrem Tagungsort bei lebendigem Leibe,14 weil sie sich für Säkularisierung, das heißt für die Trennung von Religion und Politik, also nach der Fetwa von Scheich alGhazali für die »Suspendierung der Schari'a«, einsetzten und sich somit der »Apostasie« schuldig gemacht hatten. Was für ein Rechtssystem ist aber die Schari'a, in deren Namen ungestraft gemordet werden darf? Diese Frage wird ausführlich in Kapitel 7 beantwortet. Ähnlich wie al-Ghazali, der die Ermordung von Dissidenten befürwortet, behauptet der islamische Fundamentalist Mohammed Imara in seinem Buch über Menschenrechte,15 die Sahifa (Gründungsdokument des islamischen Stadtstaates von Medina aus dem Jahre 622) und nicht die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte im Jahr 1789 sei als Ursprung der Menschenrechte anzusehen. Ist das Selbstgewissheit oder islamistische Propaganda? Menschenrechte als »gottgegebene Rechte«? -26-
Da die Diskussion in diesem Punkt polemisch geführt wird, erscheint es mir dringend geboten, die Begriffe zu präzisieren und sie in ihren historischen Kontext einzuordnen. Erst dann können wir fragen, in welcher Weise Menschenrechte Universalität beanspruchen und ob diese Rechte mit den einzelnen Kulturen dieser kulturell pluralistischen Welt in Einklang gebracht werden können. Wenn also im Folgenden von Menschenrechten die Rede ist, dann meine ich damit stets individuelle Menschenrechte. Vor der kulturellen Moderne haben solche Rechte, die ja Produkt der Individuation und des Subjektivitätsprinzips sind, nicht existiert. Deshalb kann es sie weder im Islam noch in irgendeiner anderen Religion gegeben haben. Wenn muslimische Autoren wie alGhazali oder Imara in apologetischer Absicht von Menschenrechten sprechen, dann haben sie einen anderen Inhalt im Sinn. In der Regel meinen sie Pflichten. In der wissenschaftlichen Literatur über Menschenrechte herrscht Einigkeit darüber, dass dieser Begriff ein sehr modernes Konzept von individuellen Rechten des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft bezeichnet.16 Menschenrechte sind einklagbare Rechte, nicht etwa Faraid (Pflichten) gegenüber der Umma (Gemeinschaft aller Muslime), so wie dies im Islam der Fall ist. Das moderne Konzept der Menschenrechte basiert vielmehr auf dem Ideal der europäischen Aufklärung, dass der Mensch ein autonomes Subjekt und deshalb Herr seines Schicksals sei. Das ist der Inhalt des bereits angeführten Subjektivitätsprinzips und die tragende Säule der von der französischen Nationalversammlung am 26. August 1789 angenommenen Erklärung der Rechte des Menschen und der Bürger.17 In dieser Erklärung werden Menschenrechte als die natürlichen Rechte jedes Menschen definiert. Sie sind nicht auf die Franzosen begrenzt, sondern gelten für die gesamte Menschheit. Wie ich später zeigen werde, sprechen viele -27-
Muslime heutzutage von islamischen Menschenrechten, das heißt von »Rechten«, die nur für die Muslime gelten. Die Wortführer der Revolution von 1789 dagegen sprachen von der Menschheit, unabhängig von Religion, Kultur und Rasse. In dieser Tradition säkularer Universalität steht das von den Vereinten Nationen als Universelle Deklaration der Menschenrechte verkündete Dokument von 1948 als das völkerrechtliche Konzept der Menschenrechte.18 Das Missverständnis der Islamisten liegt darin, dass die islamische Umma mit der gesamten Menschheit gleichgesetzt wird. Ein an der Sorbonne lehrender prominenter muslimischer Gelehrter, Mohammed Arkoun, ist ehrlicher als der zitierte Damaszener Jurist, denn er konzediert offen, dass das völkerrechtliche Konzept der Menschenrechte westlich und deshalb dem Islam fremd sei. In einem in Le Monde veröffentlichten Interview anlässlich der Rushdie-Affäre lehnt er die universelle Gültigkeit dieses Menschenrechtskonzepts, welches das Recht des Schriftstellers Salman Rushdie auf freie Meinungsäußerung schützt, freimütig ab. Aus der Sicht von Arkoun »verstärkt die Wahrnehmung der Menschenrechte nach der westlichen Denkweise das Missverständnis hinsichtlich des Islam, der Menschenrechte immer als von Gott gegebene Rechte interpretiert hat«19. Der in Paris lebende Mohammed Arkoun gilt als ein islamischer Aufklärer und - wie auch ich - als Mittler zwischen Orient und Okzident. Warum sprach Arkoun dann so verharmlosend? War es auf persönliche Bedrohung durch islamische Fundamentalisten im Umfeld der Rushdie-Affäre zurückzuführen - auf Opportunität? Und weiter: Bedeutet dies, dass man heute, angesichts der Tatsache, dass es in Europa eine durch Migration entstandene islamische Gemeinde gibt, auch auf dem Kontinent der Menschenrechte nicht mehr frei über die islamische Schari'a nachdenken kann? In der Tat fand die französische Polizei bei einer Razzia bei islamischen -28-
Fundamentalisten in Paris laut einem FAZ-Bericht vom 13. November 1993 eine Mordliste mit Namen führender islamischer Intellektueller. Es ist nicht bekannt, ob Arkoun darunter war. Wenn islamische Fundamentalisten als Migranten in Europa von der Schari'a als einem Bestandteil ihrer kulturellen Identität sprechen, antworten die Franzosen darauf offensiv und mutig, dass die Ideen der Französischen Revolution die kulturelle Identität Europas bilden. Muslime, die in Europa leben wollten, müssten dies respektieren und nicht umgekehrt: Europa habe keine Verpflichtung gegenüber der Schari'a! Ich habe Arkoun im März 1992 auf einem Symposium des Norwegian Institute for Human Rights in Oslo20 mit einer entsprechenden Frage konfrontiert, doch er entzog sich, indem er Ausflüchte machte. Da nun die Menschenrechte auf dem säkularen Konzept naturgegebener Rechte mit universellem Anspruch beruhen, müssen wir weiter fragen, ob dieses Menschenrechtskonzept im Sinne natürlicher, eben nicht von Gott gegebener Rechte des Menschen mit dem Islam oder einer anderen Religion vereinbar ist. Dazu gehören auch die Fragen, auf die diese Einleitung eine vorläufige Antwort zu geben sucht: Können Muslime die Belange der individuellen Menschenrechte in ihrer eigenen Sprache zum Ausdruck bringen? Und können sie nach diesem Konzept leben, das ihnen gleichwohl nicht oktroyiert werden darf? Ich möchte bereits an dieser Stelle deutlich machen, dass mir trotz meiner Betonung des kulturellen Aspekts in diesem Buch bewusst ist, dass das Thema Menschenrechte im Wesentlichen eine politische und institutionelle Dimension hat. Menschenrechte lassen sich nicht auf ethische Normen und geistige Werte oder auf eine kulturell fundierte Weltsicht reduzieren. Menschenrechte, das bedeutet vor allem eine Praxis, welche einen institutionell abgesicherten Vollzug als zentrales Element ihrer Existenz erfordert. Ohne eine solche Praxis -29-
können diese Rechte lediglich als verbal erhobener Anspruch, das heißt als Rhetorik bestehen. In einer Gesellschaft, die die Ausübung dieser Rechte praktisch verhindert, kann es keine materiellen Menschenrechte geben. Und dennoch ist es wichtig, sich mit Menschenrechten als einem kulturellen Konzept in kulturellen Begriffen zu beschäftigen,21 denn die diese Rechte begründenden Normen und Werte tragen erheblich dazu bei, sie kulturell und somit gesellschaftlich zu verankern. Ohne einen in der Kultur etablierten Begriff von Menschenrechten können diese nicht verwirklicht werden. Historisch betrachtet, sind sie europäischen Ursprungs, unauflöslich mit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft verbunden, die John Lockes Raum und Zeit übergreifendes principium indi-viduationis hervorgebracht hat. In unserem Zusammenhang ist es von zentraler Bedeutung, ob diese individuellen Menschenrechte universell, also auch im Kulturkreis des Islam akzeptiert und praktiziert werden können. Im 21. Jahrhundert sind Menschenrechte ein Gegenstand der Weltpolitik.22 Halten wir die islamische Weltanschauung in Bezug auf die Menschenrechte fest: Im Islam rangiert die Gemeinschaft der Gläubigen, die islamische Umma, vor dem Individuum und nimmt somit den höchsten Platz ein. Der Einzelne ist an die Umma im Rahmen der Doktrin religiöser Faraid (Pflichten) gebunden. Das islamische kulturelle Erbe kennt keine Tradition, welche der westlichen Naturrechtstheorie vergleichbar wäre, die dem Individuum Rechte gegenüber der Gesellschaft und deren institutionelle Durchsetzung zugesteht.23 Wenn nun auch dieses moderne Konzept von Menschenrechten sich in Europa zuerst entfaltete, begründet sein Bezug auf die gesamte Menschheit doch seine Universalität. Diese Universalität der Menschenrechte basiert wiederum auf der Vorstellung von der Menschheit als einer Einheit. Solch ein Anspruch ist nicht etwa gleichbedeutend mit der eurozentrischen Übertragung eines europäischen Geschichtsverständnisses auf den Islam oder andere -30-
nichtwestliche Kulturen. Vielmehr stelle ich damit den Islam in Bezug zur gesamten Menschheit in einer kulturell und religiös vielfältigen Welt, in welcher jede Variante des Fundamentalismus bekämpft werden sollte. Trotz des Absolutheitsanspruchs des Fundamentalismus fordert dieser gleichzeitig Exklusivität. Hier liegen die Schwierigkeiten in der Überbetonung der Eigenart, die die Einbeziehung des Islam in die universelle Welt der Menschenrechte erschwert. Auch Muslime haben einen Begriff von »Menschheit«. Viele wollen jedoch nur unter der Voraussetzung der Vorherrschaft des Islam - also eben nicht im Sinne der Vielfalt, in der die Muslime nur eine von vielen Gemeinschaften dieser Welt bilden, die sich gegenseitig als gleichberechtigt anerkennen müssen - in Frieden mit anderen leben. Meine These lautet, dass die Etablierung der universellen Menschenrechtstradition sowohl einen interkulturellen und kulturübergreifenden Konsens über anerkannte Werte als auch institutionelle Vorkehrungen zum Schutz dieser Rechte erfordert. Ich möchte in dieser Einleitung ausloten, ob eine Synthese von einem reformierten Islam und individuellen Menschenrechten möglich ist und wo hierbei die Schwierigkeiten liegen. Diesem Thema vollständig auf den Grund zu gehen bleibt dann den einzelnen Kapiteln dieses Buches vorbehalten. Vorab stelle ich fest, dass der Islam ohne Reform nicht auf seinen Absolutheitsanspruch verzichten kann. Die größte Herausforderung an den Islam - zum Beispiel in der Islam-Diaspora - wird darin bestehen, einen Pluralismus der Religionen zu akzeptieren.24 Der Islam als ein System kultureller Sinnproduktion Der Islam ist so vielfältig, dass wir zunächst fragen müssen, von welchem Islam wir denn eigentlich sprechen. Dabei sind -31-
zwei methodisch verschiedene Herangehensweisen möglich: Man kann sich dem Islam entweder durch das Studium der Texte des Koran und des Hadith (Überlieferung des Propheten) oder durch eine Analyse der Realitäten der jeweiligen islamischen Gesellschaften nähern. Sozialwissenschaftler studieren den Islam, wie jede andere Religion auch, in der Tradition des französischen Religionssoziologen Emile Durkheim nicht anhand der Texte, sondern als ein fait social, das heißt als einen sozialen Tatbestand. Der Islam ist ein kulturelles System. Kulturelle Systeme basieren auf einer jeweils in einer Tradition verankerten Weltsicht und bestehen aus Symbolen und einer auf diese Symbolik bezogenen Denkweise. Die Muslime orientieren sich in ihren Handlungen an solch einem kulturellen System, das der Islam als Religion auch repräsentiert. Jedoch ist ihr kulturell bedingtes Verhalten sozial bestimmt, das heißt in bestehenden Sozialstrukturen verankert. Mit anderen Worten: Religiöser Glaube, hier verstanden als ein kulturelles System, und politisch-soziale sowie wirtschaftliche Realitäten bedingen einander, wenngleich sie sich auf keinen Fall gegenseitig verursachen. Die mit den Mitteln einer philologischen Textanalyse arbeitenden traditionellen Islamkundler konzentrieren sich bei ihrer Beschäftigung mit dem Islam auf die religiösen Texte und versuchen, das Verhalten der Muslime aus den darin enthaltenen religiösen Vorschriften abzulesen. Diesem Verfahren liegt die Annahme zugrunde, dass der geoffenbarte Text ahistorisch, also überzeitlich und überräumlich gültig ist, sich also in seiner Bedeutung nicht mit den jeweiligen sozial und historisch bedingten Tatbeständen verändert. Wer den Islam auf diese Weise allein am Text studiert, übersieht das Problem des Sinns, das sich aus der jeweiligen sozialen Situation ergibt. Durch dieses Verfahren konstruieren westliche Islamwissenschaftler einen homo islamicus25, für den es in der Realität keine -32-
Entsprechung gibt. Der »islamische Mensch« ist ein Produkt westlicher Islamgelehrter. Sozialwissenschaftler, die über das rein empirisch-deskriptive Studium von Religion hinausgehen und sich in einer interpretativen Vorgehensweise mit dem Sinnproblem beschäftigen, erkennen dagegen aus einer historischen Perspektive, dass Gläubige jeweils verschiedene Sinngehalte sozial produzieren. Diese Sinngehalte schreiben Letztere - oft ohne sich dessen bewusst zu sein - den in den Texten enthaltenen Symbolen überzeitlich zu. Mit anderen Worten: Historischer Wandel des Symbolinhalts, also des historisch bedingten Sinns, findet tatsächlich statt, obwohl er von den Muslimen nicht zugelassen wird. An drei zentralen symbolischen Begriffen des Islam möchte ich diesen Wandel beispielhaft darstellen: 1. Umma bedeutet im klassischen Islam die Weltgemeinschaft aller Muslime. Eine solche globale Umma gibt es heute jedoch nicht mehr, da Muslime inzwischen in vielen verschiedenen Nationalstaaten leben. Arabische Nationalisten haben auf dem Höhepunkt der Säkularisierung (Trennung von Religion und Politik, wobei ich bewusst nicht von Kirche und Staat spreche im Islam gibt es keine Kirche), also während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den Begriff Umma an die Realität angepasst und beispielsweise von arabischer Umma, persischer Umma, türkischer Umma gesprochen. Doch Fundamentalisten unserer Zeit kehren zum Glauben an den Text zurück und deuten Umma im klassischen, das heißt universellen Sinne, ohne dem durch die Nationalstaatlichkeit eingetretenen Wandel Rechnung zu tragen. Das Symbol Umma steht dann historisch kontextfrei. 2. Das zweite Beispiel betrifft den Inhalt dieses Buches: Der Begriff Haq (Recht) ist eines der zahlreichen Attribute und Namen, mit denen Muslime Gott ausstatten. Allah al-haq, das bedeutet: Allah ist die Quelle allen Rechts. Von dieser Bestimmung her kommen auch die Formel Haq Allah -33-
(Gottesrecht) und damit umgekehrt die Pflichten des Menschen gegenüber Allah. Orthodoxe und fundamentalistische Muslime behaupten, dass die Huquq (Rechte) die modernen Menschenrechte beinhalten würden, obwohl das Konzept eine Lehre der Faraid (Pflichten) und nicht eines von menschlichen Rechten im Sinne von Berechtigungen ist. Damit erklärt sich, dass viele Muslime göttliche Pflichten meinen, wenn sie von Huquq als Menschenrechten sprechen. 3. Exegetisch bedeutet der Begriff Djihad26 Anstrengung, historisch aber fand der Djihad als Eroberungskrieg statt; heute nimmt er als Djihadismus die Gestalt des Terrorismus an. Nur auf der Basis der historischen und soziologischen Analyse kann man den Glauben und die religiöse Weltsicht der Muslime verstehen und beurteilen. Hier bietet die historischsozialwissenschaftliche Islamologie eine Alternative zur philologischen Islamkunde.27 Auf die Menschenrechte bezogen bedeutet dies, dass mit der vorliegenden Problematik eine neue Bedeutung in den Islam eingeführt wird. Der soziale Kontext des entsprechenden Prozesses ist die Weltzeit, die unser Zeitalter kennzeichnet. Unter Weltzeit verstehe ich die Rahmenbedingungen, die die Prozesse der Globalisierung begleiten, deren Ausgangspunkt die europäische Expansion bildet. Alle Probleme des zeitgenössischen Islam können nur in diesem historischen Kontext der Globalisierung angemessen verstanden werden. Der ständige Rückgriff der Muslime auf den religiösen Text (Koran) erfolgt nach ihrem Bewusstsein kontextfrei; in der Realität steht er jedoch immer in diesem Kontext. Wie bereits erwähnt, behaupten islamische Autoren, es habe Menschenrechte im Islam schon immer gegeben. Der schriftgläubige Verweis auf den Koran und die überlieferten Äußerungen des Propheten dienen ihnen dafür als Beweise. Doch werden die islamischen Quellen keineswegs kontextfrei -34-
herangezogen. Wie bereits ausgeführt und erläutert, ist der Kontext unser Zeitalter und die Weltzeit, die dem modernen Islam ihren Stempel aufdrückt. Alte Begriffe und Symbole werden mit einem neuen Sinn versehen. Die beiden Herangehensweisen - des schriftgläubigen Verständnisses des Islam oder der sozialwissenschaftlichen, an der Realität orientierten Analyse - lassen sich auch auf die Diskussion über das islamische Recht und seine Vereinbarkeit mit den Menschenrechten (vgl. Kapitel 7) anwenden. Somit umfasst die Debatte über Menschenrechte im Islam die Interpretation islamischer Werte genauso wie die kritische Untersuchung der Rechtstradition in der islamischen Geschichte. Die den Menschenrechten zugrunde liegenden Werte erfordern zu ihrer Aufrechterhaltung und Durchsetzung eine institutionelle Basis. Aus der Soziologie Max Webers kennen wir drei Idealtypen legitimer Herrschaft: die traditionelle, die charismatische und die legale Herrschaft. Die letztgenannte Herrschaftsform basiert auf einem institutionalisierten System von Gesetzen, das die Geltung der Menschenrechte garantiert. Ohne diesen modernen Zusammenhang von Norm und Institution zur Kenntnis zu nehmen, fassen einige muslimische Autoren die islamische Schari'a als Basis der politischen Herrschaft im Islam auf. Somit projizieren sie ein modernes Verständnis in das islamische Recht: neuer Wein in alten Schläuchen. Ähnlich verfahren sie mit der Demokratie, indem sie das islamische Prinzip der Schura, welches »Beratung« bedeutet, als demokratisches System interpretieren. Im Koran (3/159) befiehlt Allah seinem Propheten: »Wa schaivirahum bi al-amr« (»Und ziehe sie zu Rate in den Angelegenheiten«). Es fällt mir schwer, in diesem Koranvers die erste Verkündung der Demokratie in der Geschichte der Menschheit zu sehen. Besagte muslimische Autoren führen das zitierte SchuraKonzept an, das im Koran nur an zwei Stellen vorkommt, und reinterpretieren es als ein rechtliches Konzept für politische -35-
Beteiligung in einem islamisch definierten Herrschaftssystem. Sie sprechen dann von islamischer Schura-Demokratie. Es ist nicht meine Absicht, an dieser Stelle die gegenwärtige muslimische Debatte über das Nizam Islami (islamische System) erneut aufzunehmen. Ich möchte lediglich die Relevanz dieser Diskussion für das Thema dieses Buches hervorheben. Im dritten Teil werde ich die damit im Zusammenhang stehende Schari'a-Problematik eingehend erläutern. Hier geht es mir darum, einen möglichen Beitrag zur Entwicklung eines islamischen Konzepts von Menschenrechten aufzuspüren, das mit deren universeller Tradition in Einklang steht.28 Die Schwierigkeiten dieses Unterfangens sind mir angesichts der Tatsache, dass eine Bestimmung des Menschen als Individuum in der islamischen Tradition fehlt, voll bewusst. Ein von Muslimen akzeptierbares Konzept von Menschenrechten ist dringend notwendig. Es darf aber eben nicht im Dienst bloßer Apologie stehen, etwa im Sinne der selbstgefälligen Behauptung: »Wir Muslime verfügten über die endgültige Offenbarung und somit bereits über alles, einschließlich einer Menschenrechtstradition, bevor die Europäer überhaupt irgendetwas besaßen.« So lautet nämlich die islamische Standardargumentation, die auf der Ausschließlichkeit der islamischen Offenbarung basiert und nach Belieben herangezogen wird. Menschenrechte sind jedoch, wie ich schon zeigte, ein universelles Konzept, das sich nicht mit solch kulturell exklusiven Haltungen verträgt. Muslime müssen nicht nur erkennen, dass sie trotz ihres Glaubens an ihre einzig wahre Offenbarung von anderen Kulturen lernen können; sie müssen darüber hinaus den Pluralismus der Kulturen und Religionen in unserer Welt akzeptieren, in der sie nur einen Kreis unter vielen anderen bilden. Einer solchen Überwindung des religiösen Absolutismus im Islam stehen heute Orthodoxie und Islamismus gleichermaßen im Wege.
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Universalisierung der Ethik der Menschenrechte, aber keine Weltkultur Lokalkulturelle sowie zivilisatorische Vielfalt ist ein Merkmal der Geschichte der Menschheit. Die gegenseitige Beeinflussung der Kulturen können wir in den meisten Perioden der Menschheitsgeschichte beobachten. Eine reine, insulare Kultur zu finden, die nicht von anderen Kulturen beeinflusst worden wäre, ist kaum möglich. In früheren Zeiten waren die Prozesse der wechselseitigen Beeinflussung von Kulturen jedoch lokal oder regional begrenzt. Einige wenige Kulturen haben Verbreitungsprozesse weit über ihre ursprünglichen Grenzen hinaus hervorgebracht. Der Islam gehört vorrangig zu diesen seltenen Ausnahmen, weil er den ersten Globalisierungsversuch darstellt. Doch trotz seiner großen Ausbreitung - und trotz seines Anspruchs - hat der Islam niemals einen globalen, das heißt die gesamte Welt umfassenden Rahmen für eine universelle Kultur schaffen können. Das Dar al-Islam (Haus des Islam) hat niemals die gesamte Welt umfasst. Die westliche Zivilisation hingegen hat einen globalen Rahmen verwirklicht, ihre Werte jedoch konnten nie universelle Geltung erlangen. Universalisierung der Werte und Normen ist nicht zu verwechseln mit der Globalisierung zivilisatorischer Errungenschaften und Strukturen. Die techno-wissenschaftliche Zivilisation des Westens wurde im Zuge des »Aufstiegs des Westens« globalisiert und schaffte somit einen bis dahin nicht existierenden Rahmen für eine Verwestlichung der Welt.29 Dennoch ist diese Globalisierung erfolgt, ohne dass die kulturelle Moderne universalisiert worden ist. Wahrscheinlich wird solch eine kulturelle Universalisierung auch in Zukunft nicht realisierbar sein. Die Erklärung für die hier vertretene Ansicht, dass eine Weltkultur nicht in Aussicht stehen kann, ist in meiner Argumentation darin begründet, dass der Begriff von Kultur im -37-
Sinne von Sinnproduktion sich stets - etwa im Gegensatz zum kulturübergreifenden Begriff von Zivilisation - auf lokale Gegebenheiten bezieht.30 Trotz ihres stets lokalen Charakters können bestimmte Kulturen jedoch eine globale Bedeutung erlangen in dem Sinne, dass ihre kulturübergreifende Verbreitung sich in jeweils lokal begrenzte Prozesse sozialer Sinnproduktion einfügt. Ein Beispiel hierfür sind die Erscheinungsformen des Islam in Marokko und Indonesien; sie stellen zwei kulturelle Varianten derselben Religion auf kulturell sehr unterschiedlichem Boden dar. Der Vergleich von Ähnlichkeiten und Unterschieden beider, den der Anthropologe Clifford Geertz angestellt hat, kann als Illustration für meine Aussage dienen.31 Ich muss mich hier auf diesen Hinweis beschränken. Auf der Basis des von Norbert Elias entfalteten Konzepts des Zivilisationsprozesses32 vertrete ich die These, dass die westliche, mehr vom britischen und französischen Entwicklungsmodell33 geprägte Variante der europäischen Zivilisation infolge von europäischen Eroberungen in der ganzen Welt - die erste in der Weltgeschichte war, welche einen globalen Bezugsrahmen schaffen konnte. Der bereits angeführte Begriff »Weltzeit« bezieht sich eben darauf. Natürlich ist ein globaler Bezugsrahmen weder eine Weltkultur noch eine Weltzivilisation; beide sind westliches Wunschdenken. Bezogen auf unser Thema heißt dies, dass unser Verständnis von Menschenrechten unauflösbar mit den durch die Französische Revolution erworbenen Rechten und mit der ihr vorhergehenden Philosophie der europäischen Aufklärung verbunden ist. Die Werte der Menschenrechte, wie ich sie in meinen einleitenden Bemerkungen skizziert habe und in Kapitel 2 näher bestimmen werde, haben ihre Wurzeln in der europäischen Tradition, die kulturell allerdings nicht mehr auf den Westen beschränkt ist. Wie der Begriff »Menschenrechte« nahe legt, ist diese Tradition Teil des gemeinsamen, die -38-
Menschheit verbindenden Erbes geworden.34 Bei der Menschenrechtsdebatte in der arabo-islamischen Welt bestehen große Schwierigkeiten, sich diese Erkenntnisse zu Eigen zu machen.35 Im 21. Jahrhundert können die liberalen Werte nicht länger allein der politischen Tradition des westlichen Liberalismus zugeschrieben werden. Ein abstrakter Liberalismus, rein formale politische Rechte und Partizipationsmöglichkeiten ohne soziale Gerechtigkeit sind Defizite der klassischen liberalen Theorie, die von zahlreichen Wissenschaftlern im Zuge der Neubewertung des Liberalismus in unserer Zeit problematisiert wurden. Heute benötigen wir einen kulturübergreifenden Rahmen. Unser modernes Verständnis von Menschenrechten basiert auf der versuchten Universalisierung des europäischen Demokratiemodells. Zu den Ablenkungsmanövern gegen die Durchsetzung der individuellen Menschenrechte gehört die Parole »Recht auf eigene Entwicklung«, die afrikanische und asiatische Politiker bemühen. Ich räume ein, dass Rechte in unterschiedliche Kategorien, das heißt in zivile und politische, in ökonomische und soziale sowie in kollektive Rechte36 unterteilt werden können. Es darf jedoch eine Kategorie der Rechte nicht gegen die anderen ausgespielt werden. Unser Augenmerk richtet sich hier auf die individuellen Menschenrechte im Sinne von universellen bürgerlichen, das heißt zivilen und politischen Rechten, natürliche Rechte, die nicht bloß normative Forderungen sind - wie das Recht auf Entwicklung -, sondern Berechtigungen des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft. Als solche stehen sie nicht in Widerspruch zum »Recht auf Entwicklung«, sondern sind dessen Voraussetzung: Denn welche Möglichkeit zur Entwicklung haben Menschen, die - wie in der islamischen Welt - von Despoten und Folterern unterdrückt werden? Die Kultur der Aufklärung und die Französische Revolution, -39-
die Erstere erfolgreich politisch materialisierte, haben einen internationalen Bezugsrahmen gebildet, der unsere Weltzeit charakterisiert. Das Problem besteht nun darin, dass zur Französischen Revolution »Ursprünge und Voraussetzungen« gehörten - vorrangig die Aufklärung, eine entsakralisierte Herrschaft, Säkularität, die Kultur des geschriebenen Wortes und eine Öffentlichkeit, die diese Errungenschaften mit Leben erfüllte. Dies alles fehlt in außereuropäischen Kulturen, die gleichwohl mit den Ideen dieser Revolution konfrontiert wurden. Den Nichteuropäern, die dieses französische Erbe übernehmen, fehlen in ihren Gesellschaften also die entsprechenden Grundlagen. Die Einwirkung der europäischen Zivilisation auf die Welt des Islam - wie übrigens auch auf andere nichtwestliche Zivilisationen - hat zur Folge, dass nichtwestliche Intellektuelle ihr eigenes kulturelles Erbe im Licht dieser Weltzeit einerseits neu beleben, andererseits aber auch neu bewerten. Hierfür wurde in der Diskussion der Begriff invention of tradition (Erfindung von Tradition)37 geprägt; nichtwestliche Intellektuelle aus imagined communities (imaginären Gemeinschaften)38 projizieren einen neuen Inhalt in die aus einem anderen sozialen und historischen Kontext stammenden Normen und Werte. So entsteht unter dem modernen Begriff der Tradition die Konstruktion einer Kulturgemeinschaft, die deshalb alles andere als authentisch ist, weil es sie in der Geschichte nie gegeben hat. Selbstverständlich haben europäische Kolonisatoren Asien und Afrika nicht erobert, um ihr humanitäres Erbe zu hinterlassen oder um den Menschenrechten einen weiteren Geltungsbereich zu verschaffen. Sie waren eher auf der Suche nach Rohstoffen, als dass sie die Werte menschlicher Würde universalisieren wollten. Es war gewissermaßen ein Nebenprodukt der europäischen Eroberung der Welt - im Sinne der Hegeischen »List der Vernunft« -, das europäische kulturelle -40-
Erbe zu verbreiten, zu dessen zentralen Komponenten die Menschenrechte gehören. Kein vernunftbegabter Mensch würde die Menschenrechte pauschal, wie dies einmal Khomeini tat, als »Werk des Satans« zurückweisen, nur weil sie europäischen Ursprungs sind. Dabei müssen wir uns vergegenwärtigen, dass im Zeitalter der Dekolonisation nichtwestliche Intellektuelle ohne Vorbehalte auf europäische Ideen zurückgegriffen haben, um sie im Sinne der Freiheit gegen das europäische Kolonialsystem zu wenden. In jener Zeit bestand ein Konsens über Normen und Werte in der internationalen Politik. Bei der Entkolonisierung haben nichtwestliche Intellektuelle und Politiker dem Westen damals vorgeworfen, dass er für seine Errungenschaften - Demokratie, Souveränität und Menschenrechte - universelle Geltung beanspruche, diese in der Realpolitik aber auf den Westen beschränke; sie forderten wirkliche Universalität. Heute wird in Asien und Afrika, vor allem in der Welt des Islam, eine Entwestlichung gefordert. Diese bezieht sich auch auf die Menschenrechte.39 Gleichzeitigkeit von struktureller kultureller Fragmentation
Globalisierung
und
Auch im 21. Jahrhundert wird das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begonnene Zeitalter des Fundamentalismus fortdauern, weil die Probleme, die diesen hervorrufen, weiterhin bestehen. Vom »Niedergang des Islamismus« (Gilles Kepel) kann daher keine Rede sein. Zwar wächst die Welt durch die Globalisierung strukturell zusammen; dies führt aber nicht zu einer internationalen Gemeinschaft. Weltökonomie, Staatensystem und die Dichte der Kommunikations- und Transportmittel existieren parallel zu einer besorgniserregenden kulturellen Fragmentation, die im Fehlen eines internationalen -41-
Konsenses zum Ausdruck kommt. Wie Hedley Bull beobachtet, wird deutlich, »dass das Zusammenschrumpfen der Welt Gesellschaften zu einem vorher nicht gekannten Ausmaß gegenseitiger Wahrnehmung und Interaktion gebracht hat, aber nicht per se eine einheitliche Weltsicht schafft und in der Realität auch nicht geschaffen hat... Die Menschheit wird gleichzeitig einheitlicher und fragmentierter...«40 Damit meint Bull, dass die durch die Globalisierung forcierte Nähe die in ihren Normen und Werten zivilisatorisch unterschiedlichen Menschen nicht dazu bringt, sich einander kulturell näher zu kommen. Ganz im Gegenteil: Die durch die Medientechnologie erfolgte Berührung unterschiedlicher Kulturen verdeutlicht ihnen, wie fremd sie einander sind. Diesen Sachverhalt bezeichne ich als kulturelle Fragmentation. Als Beispiel hierfür wird in diesem Buch der Bereich der Menschenrechte erläutert. Die auf der UN-Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien im Juni 1993 verkündeten weltanschaulichen Erklärungen machten diese Fragmentation sehr deutlich. Während die Menschen unterschiedlicher Lokalkulturen durch globale Strukturen in einem ungeahnten Maße einander nahe gebracht werden, entfernen sie sich in ihrer weltanschaulichen Orientierung voneinander bis hin zum tiefen Hass. Diesen Zustand bezeichne ich als Gleichzeitigkeit von struktureller Globalisierung und kultureller Fragmentation. Der religiöse Fundamentalismus bringt diese Fragmentation am nachhaltigsten zum Ausdruck und die islamische Zivilisation ist hierfür ein markantes Beispiel. Aus diesem Grund wende ich mich - mit dem bereits geschilderten Weltzeit-Kontext im Hinterkopf - der Welt des Islam zu, um die Durchdringung dieser Zivilisation von politischen, ökonomischen und kulturellen Einflüssen der westlichen Moderne festzustellen und dabei zu fragen, warum diese westlichen Einflüsse nicht auch den Bereich der Menschenrechte umfassen. Die Rückkehr zu einem politisch gedeuteten Islam umfasst, -42-
wie einleitend angemerkt, auch eine Rückkehr zur Schari'a. Dies steht in krassem Widerspruch zur Aufnahme der individuellen Menschenrechte in den Islam. In diesem Aufruf zur Schari'a beobachten wir eine islamische Revolte gegen den Westen, die durch die Globalisierung ausgelöst wurde. Doch sogar dieser Ruf ist durch den Umstand geprägt, dass er in hohem Maße von eben jener westlichen Zivilisation, gegen welche die islamischen Fundamentalisten alle Kräfte zu mobilisieren versuchen, beeinflusst ist. In meinen Büchern über den islamischen Fundamentalismus habe ich die Einflüsse der Moderne aufgezeigt und den Begriff vom »islamischfundamentalistischen Traum der halben Moderne« entwickelt. Die Islamische Deklaration der Menschenrechte vom September 1981 ist in beispielhafter Weise ein Produkt dieser historischen Situation, die in Kapitel 9 näher erläutert wird. Die bisherige Diskussion zwingt uns, die Globalisierungsthese zu modifizieren, denn die zunehmende strukturelle Vereinheitlichung unserer gegenwärtigen Welt geht einher mit der Intensivierung der beschriebenen kulturellen Fragmentation. Die Einbeziehung lokaler, vormoderner Kulturen in globale Entwicklungen trägt nicht zu deren Anpassung an die Moderne, sondern sogar vielmehr zu deren defensiv-kultureller Mobilisierung gegen sie bei, also zu mehr Fragmentation. Aus dieser Beobachtung folgere ich die Notwendigkeit, die vorhandene Pluralität der Kulturen zu akzeptieren, jedoch ohne der Illusion eines Kulturrelativismus41 zu erliegen. Letztlich bedeutet Kulturrelativismus nichts anderes als die Anerkennung der traditionellen Weisheit »andere Kulturen - andere Sitten« mit dem Zusatz, dass man bereit ist, diesen Zustand hinzunehmen. In Kapitel 6 stelle ich diese falsche Toleranz in Frage. Wenn zum Beispiel Frauen im Sudan beschnitten werden, dann sollte das nicht allein Sache der Sudanesen sein, da dies auch den Rest der Menschheit betrifft. Jede andere Haltung steht im Widerspruch zu der hier vertretenen sittlichen -43-
Position einer universellen Ethik der Menschenrechte. Für jene, welche um die Menschenrechte als universelle Rechte besorgt sind, kann die Anerkennung der kulturellen Vielfalt in unserer Welt nicht bis zu dem Punkt ausgedehnt werden, an dem sie in einen Kulturrelativismus, das heißt in moralische Gleichgültigkeit umschlägt. Aus der Perspektive einer international verbindlichen Moralität darf die Hinnahme menschenrechtsverletzender Praktiken (zum Beispiel Folter zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit sowie Verhaltensweisen religiöser Intoleranz) als Ausdruck einer anderen Kultur nicht toleriert werden. Diktaturen der nichtwestlichen Zivilisationen formieren sich in einer »geeinten Südfront«; die Thematisierung solcher Menschenrechtsverletzungen verhindern sie, indem sie diese mit dem Deckmantel ihrer eigenen »Kultur« belegen. Auf der Wiener UN-Konferenz für Menschenrechte von 1993 war es daher höchst befriedigend, dass nongovernmentale Organisationen aus Asien und Afrika ihren Herrschern Steine in den Weg legten; sie sprachen ihren Diktaturen das Recht ab, im Namen jener nichtwestlichen Kulturen zu sprechen. Die Pluralität der Kulturen ist eine wertfreie Feststellung der Vielfalt. Diese Pluralität zu konstatieren bedeutet nicht, sie mit kultureller Fragmentation (Konsensverlust innerhalb der Menschheit) gleichzusetzen; vielmehr gilt es, für einen Pluralismus auf einem Basiskonsens über internationale Moralität42 einzutreten. Insbesondere in Bezug auf die Geltung der Menschenrechte darf es keinen Kompromiss geben. Ich vertrete die Auffassung, dass die Universalität der Menschenrechte bei der Entfaltung dieser Rechte auf kulturell verschiedenen Grundlagen mit der kulturellen Vielfalt koexistieren kann. Ich gehe jedoch noch einen Schritt weiter und argumentiere, dass Kulturpluralismus im Bereich der Menschenrechte nicht mehr bedeuten darf als die kulturelle »Heimischmachung« (Indigenisierung) der grundlegenden Menschen-44-
rechte, so wie sie in den entwickelteren Gesellschaften des Westens seit der Französischen Revolution etabliert wurden. Konkret bedeutet dies, dass Muslime, Hindus, Buddhisten und andere lernen sollten, die Sprache der Menschenrechte in ihrer Kultur zu verankern. Die Zurückweisung dieser Ansicht durch viele asiatische und afrikanische Herrscher - so geschehen in Wien im Juni 1993 - ist stets eine ideologische Rechtfertigung für Willkür gewesen und dafür, den ihnen unterworfenen Völkern gerade die zentralen Menschenrechte vorzuenthalten. Universelle Werte werden mit der Begründung inkriminiert, sie würden von verwestlichten Intellektuellen vertreten, somit als westliche Werte stigmatisiert und daher abgelehnt. Deutsche Gutmenschen, die in diesem Zusammenhang vom Kulturimperialismus des Westens sprechen, machen sich - auch wenn sie dies nicht beabsichtigen - zu Mitstreitern der antiwestlichen Fundamentalisten und Ethno-Nationalisten. Ein islamischer Menschenrechtstradition?
Beitrag
zur
universellen
Mit Bezug auf den Islam kann die in Paris und London verkündete und veröffentlichte Islamische Deklaration der Menschenrechte zunächst oberflächlich (vgl. Kapitel 9) als ein Fortschritt angesehen werden, insofern sie allen wichtigen Menschenrechten eine islamische Ausdrucksweise verleiht. Die emphatische Betonung des authentisch islamischen Charakters dieser Rechte, das heißt die gleichzeitige Verleugnung ihrer eigentlichen kulturellen Herkunft und ihrer Universalität (sie gelten für alle Menschen, nicht nur für die Muslime), ist jedoch in höchstem Maße augenfällig. Ähnlich oberflächlich betrachtet, lässt sich die bis heute anhaltende islamische Debatte über die Schari'a43 als ein legales System, welches das Verhalten der politischen Herrscher an verrechtlichte Normen bindet, im Prinzip - jedoch mit den nötigen Differenzierungen - als ein -45-
islamischer Beitrag zur Errichtung einer legalen Herrschaft einstufen. Denn ohne ein System legaler Herrschaft, das wiederum ein System institutionalisierter Kontrollen einschließt, kann es keine Garantie für die praktische Umsetzung der Menschenrechte geben. Ganz zu Beginn jedoch habe ich darauf hingewiesen, dass die lediglich proklamative Existenz von Menschenrechtsnormen, die auf die korrespondierende praktische Institutionalisierung verzichtet, so beschaffen ist, als ob jemand auf dem Papier ein Recht hätte, von dem er faktisch keinen Gebrauch machen kann. Es genügt nicht, dass der Koran höchst ehrenwerte, mit den Menschenrechten harmonisierende Normen wie »Es gibt keinen Zwang in der Religion« (2/256) und »Ihr habt eure Religion, ich die meinige« (109/6) aufstellt, wenn in der Realität bei vielen Muslimen leider keine Spur dieser Toleranz zu finden ist. Dies gilt auch für die europäische Islam-Diaspora. Wie verhält es sich nun mit den zeitgenössischen Strömungen des islamischen Wiedererwachens - leisten sie einen Beitrag zur Realisierung der angesprochenen Ziele? Vertreter des politischen Islam argumentieren, dass das islamische Regierungssystem mit der Schari'a als rechtlicher Basis dafür eine Garantie biete. Der Begriff Schari'a bezeichnet nun aber wie ich in Kapitel 7 zeigen werde - eine heterogene islamische Rechtstradition, welche nicht zur Fundierung eines institutionellen Rahmens systematisiert werden kann. Vertreter des politischen Islam gehen ja auch kaum über normative Versicherungen hinaus und vermögen keinen Weg zur Etablierung einer politischen Herrschaft aufzuzeigen, welche die Einhaltung der Menschenrechte garantieren könnte. Ich habe eingangs die Fetwa von Scheich al-Ghazali vom Juni 1993 erwähnt, wonach jeder Muslim, der für die Trennung von Politik und Schari'a eintritt, als Murtad (Apostat) inkriminiert und somit zur Ermordung freigegeben werden kann. Wie kann diese Schari'a dann Menschenrechte garantieren? Und können wir -46-
solche Ansichten in Europa im Namen multikultureller Toleranz zulassen? Der Mechanismus der fundamentalistischen Argumentation sieht folgendermaßen aus: Islamische Fundamentalisten wiederholen nur wohl bekannte Beteuerungen, die schon im frühen sakral-juristischen Schrifttum des Islam artikuliert worden sind, das seiner gegenwärtigen politischen Neubelebung zeitlich weit vorhergeht. In den alten Text projizieren sie allerdings neue Inhalte, die sich auf unsere Zeit beziehen. Außer totalitären Morddrohungen gegenüber ihren Gegnern haben sie nichts anzubieten, sie bleiben apologetisch und erschöpfen sich im Repertoire der orthodox-islamischen Doktrin der Taghallub, nach welcher der Islam allen nichtislamischen Kulturen, Religionen und Herrschaftsformen überlegen sei. Darin kommt eine kulturell-defensive und innovationsfeindliche Einstellung in einer Krisensituation zum Ausdruck, welche ich vor zwei Jahrzehnten in meinem Buch Krise des modernen Islam näher beschrieben habe. Die Frage, die mich auch nach wiederholter Lektüre der Elaborate der Vertreter des politischen Islam nicht loslässt, bezieht sich auf den behaupteten ahistorischen Charakter des Islam. Aufgrund der Annahme, der Islam sei durch keinen historischen Wandel berührt, beschäftigen sich die meisten islamischen Autoren nicht ernsthaft mit der geschichtlichen Dimension der Religion, mit der Religion als einem kulturellen System. Daher verstehen sie auch die schon angeführte Weltzeit nicht, in die heute der Islam eingebettet ist. Für die große Mehrheit islamischer Fundamentalisten liegt der Islam außerhalb der Geschichte und wartet nur darauf, von den wahren Gläubigen verwirklicht zu werden. Gegen den Einwand, dass in der islamischen Geschichte despotische Herrscher die Religion stets benutzt haben, um ihre Gewaltherrschaft zu legitimieren, können sie nichts Überzeugendes vortragen. Die bisherige islamische Debatte über Menschenrechte war und ist rein -47-
weltanschaulich geprägt, so dass kaum ein seriöser islamischer Beitrag zu den Menschenrechten entstanden ist. Ich möchte im Folgenden den Stand der islamischen Diskussion über Menschenrechte im Lichte der UNMenschenrechtskonferenz in Wien (Juni 1993) darstellen. Diese konnte ich nach der Akkreditierung als Journalist durch das österreichische Magazin Profil vor Ort - sowohl im Vorfeld (Mai) als auch während der Konferenzverhandlungen beobachten. Einen Monat vor dem Beginn der Weltkonferenz für Menschenrechte wurden die Gründungsmitglieder des saudiarabischen Komitees für Menschenrechte, Professoren an der Ibn-Saud-Universität zu Riad und frei praktizierende Rechtsanwälte, verhaftet. Anschließend wurden die betroffenen Professoren aus dem Staatsdienst entlassen, die Kanzleien der Anwälte geschlossen. An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass Saudi-Arabien eine traditionelle islamische Monarchie, also kein fundamentalistisch regiertes Land ist. Es hat die Deklaration der Menschenrechte der UNO von 1948, in der solche Rechte als universell proklamiert wurden - das heißt unabhängig von Kultur, Religion und Rasse -, konsequenterweise nicht unterzeichnet, weil sie der wahhabitischen, auf der islamischen Schari'a basierenden Legitimation der Monarchie widersprechen. Saudi-Arabien ist zugleich die Hochburg des sunnitischen Islam.44 Aus dieser Perspektive hat der dortige Rat der muslimischen Geistlichen, der so genannte Oberste Rat der muslimischen Ulema (islamischen Schriftgelehrte), die oben angeführten Verhaftungen und Berufsverbote mit dem ausdrücklichen Hinweis abgesegnet, dass Recht im Lande der göttlichen Offenbarung göttliches Recht, also Schari'a sei. Rechte der Menschen würden dann nur im Sinne der Schari'a gelten, nicht jedoch im Sinne von Normen und Werten, die - wie zum Beispiel die Menschenrechte - von Menschen hervorgebracht würden. Dieselbe Monarchie darf in -48-
Bonn übrigens eine Fahd-Akademie zur Verbreitung des orthodox-wahhabitischen Islam unterhalten. Der Iran ist ein weiteres Land, in dem die Menschenrechte nicht gelten. Im Gegensatz zum sunnitisch-wahhabitischen Saudi-Arabien ist der Iran Hochburg des oppositionellen schi'itischen Islam. Als der damalige - wortgewandte und listige - iranische Außenminister Wilayati bei seinem Besuch in Bonn im Juni 1992 von Journalisten mit der Frage nach den Menschenrechten bedrängt wurde, wollte er die deutschen Fernsehzuschauer - und Politiker - natürlich nicht vor den Kopf stoßen; schließlich war er nach Bonn gekommen, um die »Kreuzzügler« um Kredite zu bitten. Er hütete sich zuzugeben, dass der Iran die Menschenrechte nicht anerkennt. Im Gegenteil, er hob hervor, dass der schi'itische Iran diese Rechte respektiere, aber eben im islamischen, sprich schi'itischen Sinne. Der unvorbelastete und unwissende Beobachter mochte sich daraufhin fragen, ob die Muslime ihre eigenen Menschenrechte hätten. Ja, in der Tat sieht es so aus. Denn lange vor Wilayati, nämlich im September 1981 in London, haben die muslimischen Sunniten ihre eigene, schon oben erwähnte Islamische Deklaration der Menschenrechte proklamiert, die in Kapitel 9 näher erläutert wird. Diese Deklaration sorgt nur für zusätzliche Verwirrung: Man fragt sich wiederum nicht nur, ob die Muslime besondere Menschen seien, die ihre eigenen, sich von den anderen unterscheidenden Rechte hätten, sondern darüber hinaus, warum sie zur Unterstreichung ihrer Eigenart ausgerechnet nach London gehen, in eine christliche Stadt also, um dort der Welt ihre islamischen Menschenrechte zu verkünden. Auch in Paris, das bekanntlich als Hauptstadt Frankreichs keine islamische Metropole ist, wurde diese Deklaration verkündet. Dabei wird Frankreich im Buch des alAzhar-Scheichs Mohammed Abdulla al-Samman ohne Umschweife so beschrieben: »Seit der Zeit der Kreuzzüge verhält sich Frankreich, als wäre es ununterbrochen auf einem -49-
Kreuzzug.«45 Die Antwort auf die eben gestellte Frage muss lauten: Die frommen Muslime, die sich in ihrer Islamischen Deklaration der Menschenrechte von der Universellen Deklaration der Menschenrechte durch ihren Rückgriff auf die islamische Schari'a abgrenzen wollten, durften eine solche Verkündung in keinem der islamischen Länder vornehmen. Sie mussten in den Westen ausweichen, weil die Ulema im Dienst der heute in den meisten islamischen Ländern herrschenden »Neo-Sultane« - ob sie sich nun Präsident oder König nennen Menschenrechte als eine europäische Erfindung ausgeben, für die es im Islam keinen Platz gebe. Deshalb setzen sie Menschenrechte-Befürworter auf ihren Index, selbst wenn diese fromme Muslime sind. Der Ayatollah Khomeini war in seiner »Antimenschenrechts«-Rhetorik noch weiter gegangen und hatte verkündet, Menschenrechte seien »korrupte Regeln, von Zionisten ausgearbeitet, um die wahre Religion zu zerstören«. Der Nachfolger Khomeinis im Amt des höchsten Geistlichen, Ali Khamenei, beschimpfte die UN-Deklaration der Menschenrechte von 1948 gar als »Hokuspokus des Satans«.46 Doch in der Islam-Diaspora treten Islamisten für Menschenrechte ein und meinen damit ihre spezifisch islamischen Rechte, um in Europa eine Ruhezone für ihre Aktivitäten zu errichten. Drei Richtungen Die innerislamischen Debatten und Polemiken können westliche Beobachter nur verwirren. Um meine Leser aus dieser Verwirrung zu befreien, ist es wichtig, sie darüber aufzuklären, dass in den 56 islamischen Mitgliedsstaaten der Organization of the Islamic Conference, von denen viele ihre Vertreter zur Weltkonferenz für Menschenrechte nach Wien entsandt hatten, heute drei Strömungen vorherrschen, die im Folgenden -50-
vorgestellt werden: 1. Die Richtung der traditionellen, konservativen Ulema, die keine Menschenrechte zulassen. Die Ulema sind Schriftgelehrte, also islamische Geistliche; sie sind keine Fundamentalisten, sondern Traditionalisten und orthodoxe Muslime. Obwohl es nach der Doktrin der islamischen Theologie keine Geistlichen geben darf, haben sich die Ulema im Verlauf der islamischen Geschichte zu »Geistlichen« entwickelt; sie legitimieren in unserer Zeit die Herrschaft der »Neo-Sultane« mit Behauptungen wie der, nur die Schari'a, das göttliche Gesetz, habe Geltung. Die Schari'a schreibt Faraid (Pflichten) vor. Der Muslim hat als Gläubiger (»Islam« bedeutet »Hingabe/Unterwerfung gegenüber dem göttlichen Gesetz«) Pflichten gegenüber Allah und der islamischen Umma. Individuelle Rechte als Berechtigungen gegenüber Staat und Gesellschaft gibt es im Islam nicht; zur Umma, dem islamischen Kollektiv, gehören die Menschen als organische Glieder, nicht als freie Individuen. Die Gesamtheit der heute 1,5 Milliarden Menschen umfassenden islamischen Weltgemeinde bildet die islamische Umma als Gemeinschaft der Gläubigen. Bei den Ulema ist sowohl zwischen Schi'iten und Sunniten als auch zwischen den Ulema moderner sunnitischer Staaten (zum Beispiel Ägypten) und denen traditioneller Monarchien (zum Beispiel Saudi-Arabien) zu unterscheiden. Nicht alle verleugnen die Menschenrechte, wie die saudischen und iranischen Ulema dies tun. 2. Die Richtung der islamischen Menschenrechte: Die Anhänger dieser Richtung sind in der Regel Fundamentalisten und stehen hinter der eben erwähnten Islamischen Deklaration der Menschenrechte (vgl. Kapitel 9). Sie unterscheiden sich von den konservativen Ulema in ihrer formalen und zugleich instrumenteilen Bejahung der Menschenrechte. Wie erwähnt, behauptet auch eine ihrer Autoritäten, der ägyptische Scheich -51-
Mohammed al-Ghazali, die Menschenrechte seien keine Errungenschaft der Französischen Revolution, sondern des Islam, und zudem stelle der Koran die erste universelle Verkündung der Menschenrechte dar. Er schreibt: »Die Franzosen behaupten, die Menschenrechte seien eine Errungenschaft ihrer Revolution... In Wirklichkeit war es der Islam, der als Erster die Menschenrechte in ihrer umfassendsten und weitestgehenden Form verkündet hat. Die Muslime waren die Pioniere der Menschenrechte, und das bereits zur Zeit des Propheten (622-632 in Medina) und seiner rechtgeleiteten Kalifen (632-661).«47 Es illustriert jedoch die Qualität dieser an der Schari'a orientierten islamischen Menschenrechte, dass derselbe Scheich für die straffreie Tötung jedes muslimischen Apostaten eintritt. Eine genaue Lektüre der von den Anhängern der islamischen Menschenrechte vorgelegten Schriften zeigt, dass sie, wenn sie von Menschenrechten sprechen, die islamische Lehre der Faraid (Pflichten) im Mantel der Rechte präsentieren. Die amerikanische Juristin und Islamexpertin Ann E. Mayer kommt in ihrem desillusionierenden Buch Islam and Human Rights zu dem Ergebnis, dass die Autoren dieser spezifisch islamischen Menschenrechtsdeklarationen »davor zurückschrecken, offen zuzugeben, dass die Befolgung islamischer Regeln zwangsläufig zu Abweichungen von den völkerrechtlich verankerten Bestimmungen der Menschenrechte führt«.48 Oppositionelle Fundamentalisten berufen sich auf Menschenrechte aus Gründen der Opportunität. Kommen sie selbst an die Macht, wie beispielsweise im Sudan, dann sagt ihr Führer - in diesem Fall Hasan al-Turabi -: »Menschenrechte brauchen wir nicht.«49 Angesichts dieser Umstände stellt sich die Frage, wieso die -52-
Vertreter solcher islamischer Menschenrechte auf die schwarze Liste der islamischen »Neo-Sultane« unserer Zeit geraten sind. Die Antwort ist einfach: Die islamischen Menschenrechtsvertreter sind der Auffassung, dass ihre islamischen Herrscher nicht nach den Prinzipien der Schari'a herrschen und deshalb gestürzt werden müssten. Ich habe bereits die mit Berufsverbot und Verhaftung verfolgten saudi-arabischen Menschenrechtler angeführt; sie sind einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zufolge »nicht Liberale im westlichen Sinne. In Riad erscheinen sie eher als religiöse Eiferer und ehrgeizige Kleriker mit extrem orthodoxen Auffassungen, denen demokratische Vorstellungen fern liegen. Die Gründer der [Menschenrechts-, B. T.] Gruppe sollen über die Versuche der Regierung verärgert gewesen sein, radikale Prediger in den Moscheen zum Schweigen zu bringen.«50 Islamische Fundamentalisten, die im Untergrund gegen die undemokratische Herrschaft der »Neo-Sultane« wirken, lassen sich im Ausland gern als Vertreter der Menschenrechte präsentieren, sprechen jedoch mit doppelter Zunge. Der tunesische, in London agierende Fundamentalistenführer Raschid al-Ghannuschi etwa gibt sich aufgrund seines Eintretens für die Menschenrechte als Asylsuchender aus politischen Motiven aus. Sein Fundamentalistenfreund und Förderer Dr. Hasan al-Turabi aber, der, als er im Sudan politische Macht innehatte, nach der seit 1983 gültigen Schari'a schalten und walten konnte, verkündete nach der Machtergreifung im Juni 1989 in Khartoum offen: »Diejenigen, die für Menschenrechte eintreten, übersehen, dass dies ein fremder Import ist, der uneingeschränkte Libertinage bedeutet.« Seine schon zitierte Schlussfolgerung: »Wir brauchen keine -53-
Menschenrechte.« Die menschenverachtende Praxis des sudanesischen Fundamentalistenstaates gegen Andersdenkende verlieh diesem Satz hinreichend Realitätsgehalt. 3. Die Arabische Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte: Im November 1983 wurde diese Organisation in Limassol auf Zypern im Anschluss an einen gesamtarabischen Kongress über die Krise der Demokratie in der arabischen Welt gegründet.51 Diese Organisation, der ich als Mitbegründer angehöre, orientiert sich an ihrem Vorbild Amnesty International. Sie nennt sich »arabisch«, weil sich ihr Wirkungsbereich auf das Herz der islamischen Welt, den arabischen Nahen Osten, beschränkt und nicht etwa, weil ihre Initiatoren glauben, Araber wie Muslime seien als Menschen anders als der Rest der Menschheit. Nur ganz wenige arabische Länder (wie Ägypten und Marokko) dulden die politisch bewusst nicht festgelegte, sondern allein auf die Verteidigung der Rechte der Verfolgten (unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung) zielende Organisation auf ihrem Gebiet. In einer Region, in der die individuellen Menschenrechte täglich mit Füßen getreten werden, müssen Menschenrechtler jedoch meist ins Ausland fliehen, gleich ob diese Islamisten oder liberale Muslime sind. Das Hauptbüro der Arabischen Organisation für Menschenrechte wurde schließlich in Genf eröffnet; leider wurde es inzwischen wieder aufgelöst. Entsprechend der vorgestellten Dreiteilung variiert die Haltung zu den Menschenrechten. Die Vertreter des konservativen Islam, die auf Seiten des politischen Establishment stehen und es religiös legitimieren, sehen den Menschen als Makhluq, mit Faraid versehen, nicht mit Rechten. Fundamentalisten, als Vertreter des oppositionellen politischen Islam, die den Anspruch ihrer »NeoSultane«, sie herrschten im Einklang mit den islamischen Vorschriften, nicht anerkennen, streben die Hakimiyyat Allah und die »wahre Schari'a« an; sie -54-
sprechen sich selbst ein Recht auf Widerstand zu, obwohl es ein solches Recht in der islamischen Lehre nicht gibt. Im Koran (4/59) steht eindeutig: »Ihr Gläubigen, gehorcht Allah und dem Gesandten und denen unter Euch, die zu befehlen haben.« Orthodoxe islamische Fiqh-Juristen berufen sich auf den autoritativen mittelalterlichen Faqih (Sakraljuristen) Ibn Taimiyya (1263-1328). Unter Berufung auf den zitierten Koranvers und auf Ibn Taimiyya (siehe Motto zum Vorwort) ist jedes Widerstandsrecht verboten. Wenn islamische Fundamentalisten und Vertreter des politischen Islam ein Widerstandsrecht für sich in Anspruch nehmen und sich dabei, wenngleich nur aus Opportunität, auf die Menschenrechte berufen, um ihre umstürzlerischen Pläne zu rechtfertigen, unterstellen sie, dass die von ihnen instrumentalisierten Rechte spezifisch islamische Rechte seien. Widerstand ist aber nach der Doktrin nur gegen Ungläubige, niemals jedoch gegen eine islamische - wenn auch despotische Herrschaft zulässig. Es gibt Verteidiger der Menschenrechte in den islamischen Ländern, die wirklich die allgemeinen Menschenrechte in der Welt des Islam meinen, also die Universalität dieser Rechte anerkennen. Auf die Frage, warum diese Rechte dennoch keinen Zugang zu den Völkern des Islam fänden, antworten sie mit dem Hinweis auf die herrschenden orientalischen Despoten, die solche Rechte unterbinden. Aus taktischen (zum Beispiel, um keinen religiösen Skandal auszulösen) oder anderen Gründen - dies sei dahingestellt unterlassen sie es, das Fehlen der kulturellen Grundlagen von Menschenrechten im Islam anzusprechen. Dies ist allerdings ein heißes Eisen. Bei der Gründungssitzung der Arabischen Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte in Limassol 1983 wurde die Frage gestellt, ob das islamische Turath (Erbe) Ansätze für Demokratie und Menschenrechte enthalte; eine Diskussion dieses zentralen Themas fand jedoch nicht statt. Es blieb beim -55-
Hinweis auf die despotische Herrschaft als Erklärungsmuster. Wir müssen uns aber die Frage stellen: Warum folgt nach dem Sturz von despotischen islamischen Herrschern stets ein neuer Despot? Islamisten stellen sich selbst als Opfer ihrer Herrscher dar; sie übernehmen jedoch deren despotische Herrschaftsweise, wenn sie selbst an die Macht kommen. So systematisch Despoten einander ablösen und die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat nicht anerkannt sind, müssen wir davon ausgehen, dass die politische Kultur in der islamischen Welt anderes bis jetzt nicht zulässt. Den Schlüsselbegriff zum Verständnis dafür finden wir in der islamischen Lehre der Faraid. Das bedeutet, dass es ohne eine radikale Religions- und Rechtsreform im Islam, für die aufgeklärte Muslime wie etwa der sudanesische Jurist Abdullahi An-Na'im eintreten, keine Synthese von Islam und Menschenrechten geben wird. In Europa hieße eine solche Synthese Euro-Islam. In Kapitel 12 erläutere ich meine Vision von einem europäischen Islam. Die Partikularitäten der islamischen politischen Kultur Bei der Diskussion dieser Problematik in einem globalen politischen Rahmen gilt es zunächst festzuhalten, dass Menschenrechte überall in der Welt des Islam verletzt werden. Dennoch nehmen die islamischen Länder insofern einen Sonderstatus ein, als sie sich erst gar nicht - wie etwa die Staaten Lateinamerikas - verbal zur westlichen Konzeption der Menschenrechte bekennen. Von daher stellt sich zunächst die Frage, ob es überhaupt möglich ist, verbürgte Menschenrechte in die islamische Welt einzuführen. Wir leben nach dem Ende des Kalten Krieges in einem Zeitalter, in dem ethnische und religiöse Bindungen neu belebt werden und scheinbar als Ersatz für politische Blockbildungen -56-
in der Weltpolitik dienen.52 Auf der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 konnte man beobachten, wie weit die Aufteilung der Welt in religiöse und ethnische Kollektive bereits fortgeschritten ist. Diese Kollektive haben ihren eigenen kulturellen Charakter und weisen dementsprechend universelle Normen - etwa Menschenrechte in der Regel zurück. In Lateinamerika bekennen sich die Machthaber immerhin zu den Menschenrechten, wenngleich sie sich in der Praxis nicht daran halten. Dort handelt es sich um latinisierte Kulturen. In der islamischen Welt dagegen gehen heutige Machthaber so weit, diese Rechte explizit abzulehnen. So müssen sie sich erst gar nicht auf eine Diskussion darüber einlassen, ob sie Menschenrechte verletzen. Diese Despoten verstecken sich hinter der »Souveränität« des Staates - obwohl die Souveränitätsidee dem Islam ebenso fremd ist wie die Idee der Menschenrechte. Hinzu kommt die instrumentelle Einsetzung einseitig gedeuteter Konzepte wie etwa »kulturelle Identität«, die zu einem Grundrecht erhoben wird, das besonders der Diaspora-Islam für sich beansprucht.53 In Unkenntnis der islamischen Zivilisation und ihrer politischen Kultur lassen sich viele westliche Beobachter täuschen; andere üben Zurückhaltung. Das Fehlen jeglicher den Menschenrechten vergleichbarer Tradition in diesen Ländern lässt sich auf folgende zwei Faktoren zurückführen: Erstens: In den orientalischen Ländern der Welt des Islam gibt es eine jahrhundertelange Tradition personaler Herrschaft, die orientalische Despotie, was bedeutet, dass sich die jeweiligen Machthaber keinerlei institutionelle Machtbeschränkungen auferlegen lassen. Weder gibt es in der islamischen Zivilisation eine institutionalisierte Rechtskultur noch eine entsprechende Kontrolle über die Herrscher noch eine Trennung von Zivilgesellschaft und staatlicher Gewalt. Angesichts fehlender zivilgesellschaftlicher Strukturen sind -57-
Staat und Gesellschaft eins. Wer die staatliche Gewalt innehat, verfügt auch über die Ressourcen und somit über alle Herrschaftsbereiche. Es gibt also keine Freiheitsräume. Die islamische Umma und die Herrscher sind im Sinne von Ibn Taimiyya zu einer Einheit verschmolzen: Etatismus kann zu einer totalitären Herrschaft führen. Die Herrscher dieser orientalischen Despotien sind »Putschoffizier-Präsidenten« und Emire auf Lebenszeit. Sie haben entweder eine panarabische Legitimation (zum Beispiel in Syrien, Irak und Libyen) oder sie berufen sich als Imame54 (religiöse Führer) der Muslime auf den Islam (zum Beispiel die islamisch legitimierten Monarchien in Marokko und Saudi-Arabien). Wie schon ausgeführt, lassen einige arabische Länder Menschenrechtsgruppen auf ihrem Gebiet wirken, so beispielsweise Ägypten, das zwar keine Demokratie ist, aber doch einige westliche Standards des Respekts vor der Menschenwürde erfüllt. Anderswo reicht dagegen schon die Berufung auf die Menschenrechte aus, um mit Berufsverbot, mit Gefängnis, ja sogar mit dem Tode bestraft zu werden, wie dies in Syrien und im Irak unter der Baath-Partei der Fall ist.55 Zweitens: Die politische Kultur der islamischen Zivilisation kennt in ihrer Geschichte das demokratische Prinzip der Freiheit des Andersdenkenden nicht; eine Opposition gibt es nur im Bereich des Sektenwesens.56 Aus diesem Grund werden Oppositionelle oft als Khawaridj (die Sekte der Khawaridj) inkriminiert, das heißt als Leute, die die islamische Umma als ein Kollektiv verlassen haben.57 Und sogar islamische Fundamentalisten, die selbst Opfer orientalischer Despoten sind, verwerfen diese demokratische Norm der individuellen Menschenrechte. Zusammenfassend: Das Fehlen der Menschenrechte in der Welt des Islam liegt einerseits aktuell an den verschiedenen bestehenden Herrschaftsformen orientalischer Despotien und andererseits historisch-kulturell am Fehlen einer Tradition von -58-
Pluralismus und eines Begriffs individueller Menschenrechte. Beide Eigenschaften charakterisieren die dominierende politische Kultur in der islamischen Geschichte. Gerechterweise muss angeführt werden: Im Islam gibt es ein vormodernes Verständnis von Menschenwürde. Doch spreche ich hier von individuellen, institutionell abgesicherten Menschenrechten im Sinne von Berechtigungen des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft. Dieses Verständnis ist westlich und existiert bisher nicht in der islamischen Zivilisation. Hier kann nun die Frage gestellt werden, ob innerhalb des Islam eine Idee oder Philosophie von Rechten existiert, die sich auch nur annähernd mit dem modernen Begriff der Menschenrechte vergleichen lässt. Zunächst möchte ich festhalten: Im islamischen Mittelalter haben die von der griechischen Philosophie beeinflussten islamischen Philosophen, welche die Tradition des islamischen Rationalismus begründet haben, einen Begriff vom denkenden Subjekt entwickelt und somit Anfänge einer später von der Orthodoxie erstickten islamischen Aufklärung geschaffen. Das ist die Grundvoraussetzung für die Bestimmung des Menschen als Individuum und von dieser Basis aus können individuelle Rechte abgeleitet werden. Diese Tradition des offenen Islam konnte nicht weiter entfaltet werden, weil die islamische Orthodoxie die Bildungsinstitutionen kontrollierte und das Eindringen des islamischen Rationalismus in die Lernprozesse der Muslime unterbunden hat. Mit dem Untergang der rationalistischen Philosophie in der islamischen Zivilisation sind auch die geistigen Grundvoraussetzungen für eine islamische Tradition von Menschenrechten verschwunden.58 Im Islam als einem kulturellen System werden in der heutigen Gegenwart religiös-kulturelle Reformen benötigt, um zwei zentrale Hindernisse bei der Durchsetzung eines Konzepts der Menschenrechte aus dem Wege zu räumen: -59-
Erstens: die Zwangsjacke der islamischen Umma. Alle Muslime bilden eine einheitliche Gemeinschaft (ohne Opposition), die ein Kollektiv darstellt. Muslime benötigen daher einen Begriff vom Individuum. Zweitens haben die Muslime gegenüber der Umma Pflichten, jedoch keine Rechte. Aus diesem Grund ist das Konzept der Faraid, und nicht jenes der individuellen Rechte, im Islam von zentraler Bedeutung. Also benötigen die Muslime einen Begriff von Rechten im Sinne von individuellen Berechtigungen. Angesichts der Dominanz vormoderner Werte und Normen in der politischen Kultur des Islam ergibt sich der Gegensatz zwischen dem Islam und dem modernen Konzept der Menschenrechte und damit ein weltanschaulicher Konflikt zwischen islamischer und westlicher Zivilisation. Der Konflikt zwischen Moderne und Vormoderne im islamischen Orient ist keine akademisch-theoretische Frage, sondern eine Realität. Ich charakterisiere die politische Kultur des Islam deshalb als vormodern, weil sie weder vom Menschen als Individuum noch vom damit korrespondierenden Prinzip der Rationalität einen Begriff hat. Der Philosoph Jürgen Habermas nennt die Etablierung des »Subjektivitätsprinzips« die größte Leistung der kulturellen Moderne. Dieses Prinzip beinhaltet, dass der Mensch ein Subjekt ist, das heißt ein freies Individuum, das die Welt mittels eigener Fähigkeiten erkennen und verändern kann. Die gesamte Konzeption der Menschenrechte basiert auf diesem Prinzip, sie ist ohne diese Grundlage unvorstellbar. In der politischen Kultur des Islam jedoch hat es eine Individuation nie gegeben, weder begrifflich noch in der geschichtlichen Realität. Ein historischer Prozess, der dieses Ergebnis zur Folge hätte, steht bis heute aus. In den Augen der Muslime besteht die Menschheit aus Kollektiven (das - nur im Ideal einheitliche - Kollektiv der Muslime und die Kollektive der anderen als Feinde). Nur in dieser Kategorie denken zu -60-
können ist ein Zeichen einer vormodernen Kultur; hier liegen die politisch-kulturellen Hürden auf dem Wege zu einem Konzept von Menschenrechten, das die Menschen als Individuen bestimmt und mit individuellen, institutionell abgesicherten Rechten gegenüber Staat und Gesellschaft ausstattet. Die Hindernisse bei der Etablierung der Menschenrechte sind im Islam nicht nur politischer Natur. Ohne Reform und Aufklärung keine Menschenrechte In der Welt des Islam gibt es heute moderne Eliten, die mit der europäischen Tradition der Menschenrechte in Berührung gekommen sind. Sie treten für Reformen ein, die die Übernahme dieser Rechte ermöglichen sollen. Für diese Menschen stellen die Handlungen der sie beherrschenden orientalischen Despoten (von der willkürlichen Verhaftung bis hin zur Folter und brutalen Hinrichtung ohne Rechtsbasis) Verletzungen von Menschenrechten dar, die sie mit europäischen Begriffen verurteilen. Parallel zu diesen Eliten gibt es heute jedoch die »Gegeneliten« der Islamisten. Diesen Begriff habe ich in einem Projekt an der Harvard Academy for International Studies unter der Leitung von Samuel P. Huntington geprägt. Eliten und Gegeneliten stehen im historischen Kontext der islamischen Zivilisation und ihrer Menschen- und Weltbilder. Schon in vorislamischer Zeit hat es den Begriff der Menschenwürde gegeben. Er wurde von den damaligen Kollektiven (Stämmen, Clans, Sekten, Großfamilien und anderen) geschützt. In der Regel haben unterdrückte Menschen in der islamischen Zivilisation keine andere Möglichkeit, als zu diesen eigenen Kollektiven zu flüchten, wenn ihre Menschenwürde verletzt wird. Der Islam predigt das ideale Kollektiv der islamischen Umma. Allerdings hat er es nicht geschafft, die Stämme abzuschaffen. Diese Stämme als -61-
Subkollektive der Umma sind real, also nicht nur kulturellreligiöse Illusionen. Stämme oder Sekten sind reale Kollektive; sie helfen in konkreten Situationen - etwa durch Patronage und Klientelismus in den der Staatskontrolle relativ entzogenen Bereichen -, sich vor dem jeweiligen orientalischen Despoten (zum Beispiel Saddam Hussein) und dessen eigenem Kollektiv (zum Beispiel der Takrit-Klientel) zu schützen.59 Dieser politisch-kulturelle Hintergrund lässt jeden Machtkampf im islamischen Orient als einen, zwischen Kollektiven erscheinen. Im Irak etwa herrscht das sunnitische Takrit-Kollektiv in Bagdad über die verschiedenen Kollektive der Kurden im Norden und der Schi'iten im Süden. In einer solchen Situation müssen Menschenrechte als Rechte von Individuen auf der Strecke bleiben; es gibt nur Kollektivrechte.60 Tatsächlich geht jede Toleranz gegenüber Diktatoren der islamischen Welt - und deren Hochstilisierung der Kollektivrechte - auf Kosten der Individualrechte. Aus der Perspektive der kulturellen Moderne wirken sich bei der Diskussion über Menschenrechtsverletzungen in den Ländern der islamischen Zivilisation drei Faktoren besonders störend aus: 1. das Fehlen von Religionsfreiheit und somit der Toleranz im Allgemeinen, 2. die Hilflosigkeit des einzelnen Individuums gegenüber dem von Kollektiven getragenen Staat und 3. die fehlende Gleichstellung von Mann und Frau in allen Bereichen des Lebens. Die Unterdrückung von Minderheiten, seien sie ethnischer (zum Beispiel Kurden und Berber) oder religiöser Art (die Menschenrechtsverletzungen im Südsudan gegenüber Nichtmuslimen), kommt hinzu und bildet eine Quelle von -62-
innerstaatlichen Konflikten. Mit dem Berberproblem in Nordafrika verhält es sich wie mit den Kurdenproblemen im Irak und in der Türkei. Ein Reform-Islam ist vonnöten, um die Kluft zwischen dem Umma-Ideal und den Realitäten der Subkollektive zu überbrücken. Ohne kulturelle Aufklärung, die die Gleichstellung von ethnischen und religiösen Gruppen (Minderheiten) und den mehrheitsbildenden Kollektiven ermöglicht, sind bestehende Missstände nicht zu überwinden. Ohne Aufklärung können diese Konflikte zwischen den Kollektiven kein Ende finden. Da ich als ein Mensch aus dem islamischen Orient weiß, was es heißt, keine Aufklärung zu haben und welche Folgen dies hat, reagiere ich völlig verständnislos auf »modisch« denkende Europäer, die die Aufklärung als überholt ad acta legen und an deren Stelle eine verschwommene, also undefinierbare Postmoderne61 setzen wollen. Postmoderne im Islam - das ist eine leere Hülse, die von halb modernisierten DiasporaMuslimen mit beliebigen Inhalten gefüllt wird. Wir müssen im Hinblick auf die Durchsetzung von Menschenrechten zwischen den einzelnen islamischen Ländern unterscheiden. Die Welt des Islam ist sehr groß und entsprechend vielfältig. Den Islam als einen monolithischen Block gibt es nicht, wenngleich wir diese Fehleinschätzung sowohl bei den islamischen Fundamentalisten als auch bei den linken europäischen Warnern vor einem »Feindbild Islam« und in den Darstellungen der simplifizierenden Populärskribenten finden. Tatsächlich aber bestehen in allen Bereichen sehr große Unterschiede. Während ein Land wie Ägypten großen Wert darauf legt, vom Westen akzeptiert zu werden, kann es den Saudis als ölreichen Beduinen gleichgültig sein, was die Amerikaner von ihnen denken. Die Vereinigten Staaten sind schließlich abhängig von dieser »Tankstelle des Westens« und übersehen deshalb dort stattfindende Menschenrechtsverletzungen. -63-
Die Saudis machen keinen Hehl aus ihrer Ablehnung der Menschenrechte und werden von westlichen Politikern dennoch nicht angeklagt. Dagegen bekunden die politischen Führer Ägyptens und Marokkos ihren Respekt vor den Menschenrechten, wenn auch nur rhetorisch, denn sie halten sich keineswegs daran. Der marokkanische König Hassan II. hatte vor seinem Tod mit dem französischen Journalisten Eric Laurent seine Memoiren in Interviewform festgehalten und unzweideutig sowie offen unterstrichen: »Ich habe immer gesagt, dass die Menschenrechte dort aufhören, wo es um die Zugehörigkeit der [ehemals spanischen, B. T] Sahara zu Marokko geht.«62 Ist eine Reform also ausgeschlossen? Die Gründung eines saudi-arabischen Menschenrechtskomitees, dessen Träger keine Aufklärer oder Reformer, sondern Fundamentalisten sind, konnte - unterstützt durch einige deutsche Orientalisten - den Eindruck erwecken, dass Reformen aus diesem Kreis kommen könnten. Dies halte ich für abwegig, weil islamische Fundamentalisten sich nur aus Opportunität auf die Menschenrechte berufen. Bekanntlich bildet der islamische Fundamentalismus zurzeit die wichtigste Opposition in allen islamischen Ländern. In den derzeit bestehenden islamischen Staaten haben es die Fundamentalisten im Iran - und zeitweise im Sudan sowie in Afghanistan - geschafft, an die Macht zu kommen. In allen anderen islamischen Ländern streben die Fundamentalisten auch durch Terroraktionen danach, an die Macht zu gelangen. Sie selbst scheuen Brutalität und Mord an ihren Gegnern nicht und werden dabei umgekehrt auch mit aller Brutalität von den bestehenden Regimen bekämpft. Es ist mir völlig klar, dass auch die Fundamentalisten, sollten sie an die Macht gelangen, mit ihren Gegnern nicht anders verfahren werden als ihre jetzigen Unterdrücker. Sie tun dies schon als Oppositionelle, indem sie Andersdenkende ermorden (wie zum Beispiel den algerischen Soziologen Mohammed Boukhobza im -64-
Juni 1993). Als im Sudan die islamisch-nationale Front Turabis herrschte, gingen die Islamisten gegen die Opposition undemokratisch, bisweilen sogar brutal vor. In Algerien töten Islamisten bereits als Oppositionelle ihre Gegner. Aus dem Kreis der Ulema, der Schriftgelehrten, als Legitimatoren der Herrscher kann auch keine Reform kommen. In SaudiArabien argumentieren sie, im Islam gäbe es keine Menschenrechte, sondern Pflichten der Gläubigen gegenüber Allah und gegenüber der Umma. Nach dem heute immer noch führenden mittelalterlichen islamischen Rechtsgelehrten Ibn Taimiyya ist der »Sultan« schließlich der »Zhul Allah« (»Schatten Allahs«); Widerstand gegen ihn wäre Ausdruck des Unglaubens. Die Ulema treten hierbei als autoritative Interpreten der islamischen Doktrin auf. Angesichts der Tatsache, dass es sich beim Islam um ein spezifisch kulturelles und religiöses System handelt, in dem das Kollektiv im Mittelpunkt der Weltbetrachtung steht, ergibt sich die dringende Notwendigkeit, aufklärerische, religiös-kulturelle Reformen einzuführen. In einer gemeinsam mit meinem islamischen Kollegen aus dem Sudan, dem Juristen Abdullahi An-Na'im, und dem christlichen Dinka-Sudanesen Francis Deng veröffentlichten Studie über Menschenrechte kommen wir zu dem Schluss, dass nur radikale kulturelle Reformen, die eine Religionsreform im Islam einschließen, das Konzept der individuellen Menschenrechte sozusagen islamisch »einbürgern« können. Denn wie schon mehrfach betont, können Menschenrechte der Welt des Islam nicht von außen aufgezwungen werden. Zu den Zielen der notwendigen Reformen muss es gehören, dass die Andersgläubigen einen Muslimen gleichberechtigten Status bekommen und auch nicht mehr als Dhimmi (Schutzbefohlene; gemeint sind Juden und Christen) gelten; Frauen muss ebenfalls ein den Männern gleichberechtigter Status eingeräumt werden, ethnische und -65-
religiöse Minderheiten dürften nicht mehr als andersartige Kollektive diskriminiert werden.63 Eine kulturelle Basis für diese Reformen ist die Neubestimmung des Menschen im Islam als ein Individuum, als ein freies Subjekt. Nach der klassischen, bis heute noch gültigen Schari'aorientierten Lehre des bereits zitierten mittelalterlichen Sakraljuristen Ibn Taimiyya gilt der Herrscher als Ra'i (Hirte) und seine Beherrschten gelten als Ra'iyya (Herde); so lautet auch der Titel seiner berühmten Schrift.64 Dieses Menschenbild steht in diametralem Gegensatz zu dem vom Menschen als freiem Individuum beziehungsweise als autonomen Subjekt, das mit Rechten ausgestattet ist. Vom islamischen Mittelalter bis in unsere heutige Zeit liegt dieses islamische Menschenbild dem vorherrschenden Politikverständnis zugrunde. Solange eine radikale Religionsreform, die nur die Muslime selbst durchführen können, ausbleibt, kann dieser Zustand nicht geändert werden. Im Jahr 1993 erschien ein arabisches Buch des tunesischen Schriftstellers Mohammed al-Djueili über den »Zaim (politischen Führer) in der islamischen Vorstellungswelt«65. Darin bedauert jener Autor, dass der islamische Führer unverändert als Ra'i dargestellt wird, der mit seiner Ra'iyya entweder freundlich mittels Mizmar (Hirtenflöte, hier als Symbol für Täuschung durch Rhetorik zu verstehen) oder aber streng wie mit Kindern in einer orientalischen Familie mittels einer Asa (Peitsche, hier als Symbol für Unterdrückung zu verstehen) umgeht. Dieses Bild spiegelt einprägsam die Realität der dominierenden politischen Kultur in allen Ländern der arabo-islamischen Zivilisation wider. Zu den Reformen, die erforderlich sind, um den universellen, sprich westlichen Menschenrechten in der islamischen Welt Geltung zu verschaffen, gehört die Veränderung des kosmologischen Weltbilds im Islam. Solange nämlich die Welt als einheitlicher, von Gott beherrschter Kosmos aufgefasst wird, in den das Individuum ohne eigenen Willen, also nicht als -66-
Subjekt eingebettet ist, sind Reformen im Sinne einer Aufklärung unmöglich durchzuführen. Auf welche Weise könnte diese Veränderung in Gang kommen und wer oder was könnte sie bewirken? Da Muslime sich - laut Koran (3/110) - als »Khair Umma« (»die beste Gemeinschaft auf Erden«) betrachten, haben sie große innere Barrieren zu überwinden, wenn sie von Nichtmuslimen lernen sollen. Die Muslime könnten aber bei der Bemühung, ihr kosmologisches Weltbild zu überwinden, mit ihrem eigenen kulturellen Erbe beginnen. In der Philosophie des islamischen Rationalismus des frühen Mittelalters gibt es zahlreiche Anhaltspunkte für eine Bestimmung des Menschen als Subjekt mit eigenem Willen, das auf Gesellschaft und Natur verändernd einwirken kann. Wenn Muslime heute bereit wären, diesen klassischen Rationalismus im Islam neu zu beleben, anstatt weiterhin der mittelalterlichen Fiqh (Sakraljurisprudenz) des zitierten Ibn Taimiyya zu folgen, dann hätten sie im eigenen kulturellen Erbe erste Anhaltspunkte für die Realisierung der angesprochenen Voraussetzungen. Reinhard Bendix spricht in einer seiner Heidelberger Vorlesungen von geistiger Mobilisierung als Voraussetzung für Entwicklung.66 Dies gilt auch für die Menschenrechte im Sinne der kulturellen Moderne - also der Bestimmung des Menschen als Individuum. In einer demokratisch verfassten Gesellschaft, die den Muslimen zu wünschen ist, ist dies eine weitere zentrale Bedingung. In einer orientalischen Despotie neueren Stils wird keine selbständige, kritische Öffentlichkeit zugelassen. Die fehlende Trennung von Staat und Gesellschaft in der islamischen Zivilisation, so wie diese in jeder zivilen Gesellschaft besteht, lässt die Entfaltung einer solchen Öffentlichkeit nicht zu. Demokratisierung in der Welt des Islam ist der wichtigste Beitrag zur Gewinnung von Freiheitsräumen, in denen die Menschenrechte greifen könnten. Diese Problematik nimmt -67-
deshalb einen zentralen Platz in meiner Arbeit ein. Auf die oft gestellte Frage: »Können Demokratie und Freiheit des Individuums in den islamischen Ländern gedeihen?«, antworte ich, dass kulturell-religiöse Reformen erforderlich sind, um die dortigen Menschen von ihren ethnischen und religiösen Kollektiven zu befreien. Ohne dies kann es keine Demokratie geben. Meine Sorge ist indes, dass diese Kollektive heutzutage im Zuge der Entstehung von Parallelgesellschaften der Migranten nach Europa eingeführt werden. Religiös-ethnische vormoderne Doppelmoral des Westens
Blöcke
gegen
die
Wie verhält sich nun der Westen gegenüber der islamischen Welt in der Menschenrechtsfrage? Offen gesagt: Der Westen legt uns - das heißt den Arabern und Muslimen, die für Menschenrechte kämpfen - große Hindernisse in den Weg. Ohnehin haben wir mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass das von uns vertretene Konzept nicht auf islamischem Boden gewachsen ist und somit für Vorwürfe von Islamisten, wie dem, es gehöre zu den »Hulul mustawrada« (»importierten Lösungen«)67, prädestiniert ist. Es fällt häufig auf, dass westliche Staaten in islamischen Ländern ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen, nicht jedoch die Belange der Menschenrechte vertreten. Menschenrechtsverletzungen werden sehr selektiv nach interessenpolitischen Gesichtspunkten vom Westen beanstandet. Die Tatsache, dass in Saudi-Arabien und Kuwait Menschenrechte nicht gelten, stört westliche Politiker scheinbar kaum. Diese Staaten dürfen sogar in Deutschland - zum Beispiel in der FahdAkademie - wirken. Im Irak hingegen beanstandet man Menschenrechtsverletzungen, aber nicht etwa, weil diese besonders brutal sind, sondern weil Saddam Hussein für den -68-
Westen der Feind schlechthin ist. Nicht anders verhielten sich westliche Politiker im Fall Bosnien. Während des BalkanKrieges 1992-1995 habe ich mich wiederholt in einem halben Dutzend islamischer Länder im Nahen Osten, in Nordafrika und in Zentralasien aufgehalten und dort eine massive Empörung über den Westen beobachten können. Dieser predige überall Menschenrechte, habe aber in Bosnien keinen Finger gegen die brutalsten Verletzungen aller Menschenrechte (Folter, Vergewaltigung und Ermordung in Massenlagern) gerührt.68 Unabhängig von der antiwestlichen Agitation der Islamisten69 entstand in Bosnien bei vielen Muslimen der Eindruck, dass das westliche Menschenrechtskonzept nur ein Instrument gegen den Islam sei, das ausschließlich dann zur Sprache komme, wenn westliche Interessen verletzt werden. Kurzum: Die Mehrheit der Muslime betrachtete damals die Tatenlosigkeit, ja das Schweigen des Westens angesichts der Menschenrechtsverletzungen an Muslimen in Bosnien als Beweis dafür, dass die Menschenrechte nur ein außenpolitisches Druckmittel des Westens gegen Muslime sind. Sie glauben: Würden Muslime ähnliche Gräueltaten wie die Serben und Kroaten begehen, würde der Westen aufschreien und seine Armeen mobilisieren! Dieses Buch über Islam und Menschenrechte wird daher in seinem vierten Teil diese Problematik aufnehmen. Auch in Wien 1993 nahm der weltanschauliche Konflikt zwischen vormodernen Kulturen und dem Westen die Anklageform an. Doch geht es in der Substanz um die kulturelle Moderne. Ich teile die Auffassung des amerikanischen Sozialwissenschaftlers Mark Juergensmeyer70, dass diese Konfrontation zwischen dem säkular-demokratischen und dem religiös legitimierten Staat unsere Welt im 21. Jahrhundert in allen Bereichen betreffen wird. Anders als Neo-Marxisten glauben, ist der Wettbewerb zwischen diesen beiden Staatsmodellen nicht rein ökonomischer Natur, sondern nimmt vor allem eine weltanschauliche Form an und ist somit -69-
Ausdruck eines Zivilisationskonflikts.71 Hierzu gehört auch die Frage der Menschenrechte. Als aufgeklärter Muslim kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Europäer ihrer Zivilisation schon müde und nicht bereit sind, für die Menschenrechte einzustehen. Als akademischer Lehrer und deutscher Ausländer musste ich im Sommersemester 1993 die Menschenrechte gegen meine deutschen Studenten verteidigen, die hinter deren universellem Anspruch bloßen Kulturimperialismus vermuteten. Wer so argumentiert, hat nie für Menschenrechte gekämpft und kann nicht ermessen, wie viel Freiheiten er in seiner Zivilgesellschaft genießt. Mit einer so müden Generation kann man weder Menschenrechte noch Demokratie verteidigen. Ich schaue nicht mit Optimismus in die Zukunft, weder hier im Westen noch in der Welt des Islam. Im Westen bedeutet multikulturelle Toleranz nichts anderes als Gleichgültigkeit gegenüber der undemokratischen und menschenverachtenden Einstellung vormoderner Kulturen, die sich in einem Konflikt mit den Werten der kulturellen Moderne befinden. In der Welt des Islam ist der Rückgriff auf Menschenrechte nur ein taktisches Instrument islamischer Fundamentalisten auf dem Wege zur Eroberung der Macht. Im Lichte dieser Beobachtung schien mir die mehrwöchige Wiener UN-Menschenrechtskonferenz vom Juni 1993 den Beginn einer globalen Konfrontation ethnisch-religiöser Blöcke der Vormoderne mit der kulturellen Moderne zu markieren. Nicht ein globaler Friede, sondern ethnisch-religiöse Kriege, nicht die Geltung von Menschenrechten, sondern die Bildung neuer Despotien steht im bereits begonnenen 21. Jahrhundert im Mittelpunkt. Wir scheinen in einem apokalyptischen Zeitalter zu leben; dennoch sollten wir die Hoffnung auf eine kulturübergreifende Moralität, zu der vorrangig säkulare Demokratie und Menschenrechte gehören, nicht aufgeben.72
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Erster Teil Universalität des Islam versus Universalität der säkularindividuellen Menschenrechte: ein weltanschaulicher Konflikt »Islamische Menschenrechte sind nicht für eine bestimmte Gemeinschaft, sie sind universell... ihre Quelle ist die Schari'a, die als eine allgemeine und umfassende Methode die Pflichten und die Aufgaben des Menschen festlegt... Die Quelle der islamischen Menschenrechte ist der Khaliq (Schöpfer)... diese göttliche Quelle ist der Garant der Menschenrechte, indem sie sie heiligt und sie obligatorisch macht...« Der saudische Außenminister Prinz Saud al-Faisal im Vorfeld der UN-Menschenrechtskonferenz, nach al-Scharq al-Ausat vom 17. Juni 1993 Auf den Vorwurf: »Sie sind von orthodoxen Juden in den USA oft wegen ihres Liberalismus scharf angegriffen worden... Es wird Ihnen vorgeworfen, dass Sie vom wahren Glauben abgefallen seien...« erwiderte der an der Harvard Law School lehrende jüdisch-amerikanische Professor Alan Dershowitz: »Das ist kompletter Schwachsinn. Die größten Antisemiten sind oft die Juden selber. Ich bin in einer orthodoxen Familie aufgewachsen und bin immer noch ein überzeugter Jude. Ich kann aber nicht nach den Regeln des orthodoxen Judaismus -71-
leben, der Frauen nur einen Status zweiter Klasse zubilligt. Es wäre für mich viel leichter für die Karriere gewesen, ein orthodoxer Jude zu sein. Erst dann kommt man weit nach vorne, siehe Senator Joseph Liebermann. Ich muss aber nach meinen Prinzipien leben und kann nicht einer Gemeinschaft zugehören, die so von meiner Moral abweicht.« Aus dem Interview mit Alan Dershowitz, in: Die Welt, Beilage »Die literarische Welt«, vom 15. Juni 2002, S. 3
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Einführung Mit den beiden vorangestellten Mottos - von einem orthodoxen saudischen Muslim und einem liberalen KulturJuden - will ich das Problem veranschaulichen, das auch für meine Person als Kultur-Muslim und für meine Arbeit als Islamologe gilt. Dershowitz will Jude bleiben, ohne jedoch beispielsweise die Zweitrangigkeit der Frau in der Halacha zu akzeptieren. Gleiches gilt für mich als Muslim, der für die Frau den Status zweiter Klasse in der Schari'a ablehnt. Orthodoxe Juden verfemen den liberalen Juden Dershowitz, so wie mir dies fortwährend sowohl durch orthodoxe Muslime als auch durch Islamisten widerfährt. Die Grenze zwischen Orthodoxie und Fundamentalimus ist nicht nur in Bezug auf die Menschenrechte schwer zu ziehen, da sich beide zu sehr ähneln. Sie unterscheiden sich nur hinsichtlich der Frage der Politisierung der Religion. Die nicht aufgeklärten Vertreter der Religion berufen sich auf ihre spezifische Eigenart im Denken und nennen diese Kollektividentität. Dies veranlasst zu folgender Frage: Hat jede Kultur ihre eigene Denkweise oder gibt es eine für alle Menschen gültige, also universelle Rationalität? Die Frage, ob der rationale Diskurs eine kulturübergreifende Geltung hat, ist menschheitsgeschichtlich gesehen von universeller Bedeutung. Der islamische Rationalismus, der seine Blütezeit zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert hatte, griff auf das griechische Erbe zurück und bereicherte es mit dem Licht des Morgenlandes, gleichzeitig aber hellenisierte er den Islam. Das war einst die Art, in der die gestellte Frage von Muslimen positiv beantwortet wurde. Ehe Kant laut Habermas die »Vernunft als obersten Gerichtshof« einsetzte, vor dem sich alles »rechtfertigen muss, -73-
was überhaupt auf Gültigkeit Anspruch erhebt«, fand im islamischen Kulturkreis ein Streit über die Geltung der Vernunft als Quelle des Denkens und Urteilens statt. Der bedeutende islamische Philosoph al-Farabi (Alfarabius, 870-950) setzte sie als höchste Instanz ein; in dieser Tradition folgten ihm alle hellenisierten islamischen Philosophen des frühen islamischen Mittelalters (9. bis 12. Jahrhundert). Die Lehre vom Primat der Vernunft gab es also bereits im islamischen Rationalismus, doch sie wurde von der Orthodoxie erstickt. Vernunftdenken, das auf das griechische Erbe zurückgeht und auch im Islam - allerdings zeitlich begrenzt - eine Heimat fand, ist also nicht das Produkt einer partikularen Kultur; es sprengt die Grenzen lokaler Kulturen und sogar die der diese jeweils vereinigenden Zivilisationen, indem es genuine Universalität beansprucht. Ich möchte hier die Behauptung, es gehe um spezifisch »islamische Menschenrechte«, in Frage stellen und dies im Folgenden begründen. Ebenso wie es keine spezifisch islamische Rationalität gibt - die islamischen Rationalisten al-Farabi, Ibn Sina (Avicenna), Ibn Ruschd (Averroès) und andere folgten ihren Vorbildern Plato oder Aristoteles in Anerkennung des Primates der Vernunft -, kann und darf keine andere Bestimmung der Menschenrechte gelten als jene, die in der Universellen Deklaration der Menschenrechte der UN steht. Mit dieser Aussage will ich keineswegs die Bedeutung der Kultur herunterspielen - ganz im Gegenteil. Die orthodox-wahhabitisch legitimierte Ölmonarchie SaudiArabiens, die weltweit mit den Petro-Dollars der saudischen Despoten einen »mittelalterlichen« Islam - auch in Deutschland, zum Beispiel durch die Bonner Fahd-Akademie - fördert, instrumentalisiert religiöse Kultur und hat jene UN-Deklaration nicht unterschrieben, mit der Begründung, sie widerspreche dem Islam. Der als Motto zitierte saudische Außenminister ist im Denken offenbar nicht philosophisch geschult und widerspricht sich, wenn er feststellt, »die spezifisch islamischen -74-
Menschenrechte« seien anders als die universellen Menschenrechte, und für Erstere dennoch den Anspruch erhebt, dass sie für die gesamte Menschheit, also »universell«, gelten sollen. Damit wird eine islamische Bestimmung für die gesamte Menschheit konstruiert. Wie soll das geschehen - durch den »friedlichen« saudischen Djihad mit Petro-Dollars oder mit dem Djihadismus (Terrorismus) des Saudis Osama Bin Laden? Ein anderer Widerspruch, in den sich al-Faisal verstrickt, äußert sich darin, dass er Menschenrechte als Pflichten definiert. Das ist die wahhabitische Weltanschauung! Sie darf auf keinen Fall im Namen der Toleranz in Europa Fuß fassen. Der bereits erwähnte islamische Philosoph und Rationalist alFarabi war ein besserer Muslim als der wahhabitische Außenminister Saudi-Arabiens; es ist eine Tragödie für die islamische Zivilisation, dass die Verbreitung des Rationalismus im Hochislam von den Ulema (islamischen Schriftgelehrten) behindert wurde, ebenso wie eine solche Denkweise heute von den orthodoxen Wahhabiten und Islamisten eingeschränkt wird. Die islamische Orthodoxie hat unter Universalität etwas anderes verstanden als al-Farabi. Die spezifische Natur der islamischen Weltanschauung, das heißt ihr Fußen auf einer Offenbarungsreligion, die für alle Ewigkeit schriftlich fixiert ist, gilt bis heute für diese Schriftgelehrten als einzig gültige Wahrheit. Die Schriftgläubigkeit ist auch in Artikel 3 der IslamCharta des in Deutschland beheimateten Zentralrates der Muslime manifestiert. Die islamischen Rationalisten haben den Primat der menschlichen Vernunft gelehrt, während die orthodoxen islamischen Ulema seinerzeit - wie heute beispielsweise die Saudis - offen ihre Säbel gegen die islamische Vernunfttradition, das heißt gegen den islamischen, vom griechischen Erbe geprägten Rationalismus, gezogen haben. Wenn ich al-Farabi gegenüber dem saudisch-wahhabitischen Außenminister als einen Lichtblick aus dem islamischen Mittelalter anführe, dann muss ich den historischen Wurzeln -75-
nachgehen, um den Gegenwartsbezug besser beleuchten zu können. Zu den geistigen Quellen der Orthodoxie im Islam gehören das Werk von al-Mawardi (974-1058) und das des zwei Jahrhunderte später lebenden, noch dogmatischeren Ibn Taimiyya (1263-1328). Beide stellen die dunkelsten Punkte ihres Zeitalters sowie der islamischen Geschichte überhaupt dar und stehen für die Abkehr vom Rationalismus. In seiner auch heute weit verbreiteten Schrift al-Ahkam al-Sultaniyya (»Die sultanischen Herrschaftsregeln«) schreibt al-Mawardi im Vorwort, es gebe zwei Methoden des Nachdenkens über Politik: Man könne über Streitpunkte »Bi al-aql au bi al-schar« (»mittels der Vernunft oder des göttlichen Gesetzes«) entscheiden. Im Gegensatz zu den islamischen Rationalisten von al-Farabi bis hin zu Avicenna (Ibn Sina) und Averroès (Ibn Ruschd) ist für al-Mawardi klar, dass ein guter Muslim nur auf der Basis der Offenbarung, das heißt des Korantextes, zu entscheiden hat. Deshalb gilt für ihn der Grundsatz »Bi al-schar' bidun al-aql« (»auf der Basis des göttlichen Gesetzes, nicht der Vernunft«). al-Mawardi versäumt es auch nicht, den Koranvers (4/59) zu zitieren, der absoluten Gehorsam fordert: »Ihr Gläubigen, gehorcht Allah und dem Propheten und denen unter Euch, die zu befehlen haben.« Durch dieses Verfahren schickte sich al-Mawardi an, den Text zur Basis des Denkens zu erheben, um politische Herrschaft religiös zu legitimieren. Diese Schriftgläubigkeit spiegelt den Geist der islamischen Orthodoxie wider. Aus der Perspektive der universellen Geltung der Vernunft scheint mir die Kritik an der Formel der islamischen Orthodoxie »geoffenbartes göttliches Gesetz (Schari'a) versus Vernunft« (die Spannung zwischen Schari'a und Vernunft wird in Kapitel 7 erläutert) eher eine Parteinahme für den Rationalismus als Ausdruck religiösen Unglaubens zu sein. Dies jedoch, wie auch ein Einsatz für Menschenrechte und das Infragestellen der -76-
politischen Legitimität orientalischer Despoten, wird als Kufr (Unglaube) verfemt. Sich dabei auf die Vernunft zu berufen ist wohl in den Augen der religiösen Orthodoxie nur Häresie. Nach diesem geistesgeschichtlichen Exkurs möchte ich noch einmal auf die zitierten Sätze des saudischen Prinzen, die im Vorfeld der Wiener Menschenrechtskonferenz geäußert wurden, zurückkommen; sie sind nichts anderes als der Versuch der ideologischen Legitimierung der Despotie Saudi-Arabiens als islamisches Modell mit universellem Anspruch. Wenn die Menschenrechte im Islam nur im Kontext der Schari'a zu gelten haben, dann wird die Vernunft als kritische Instanz ausgeklammert. Zudem wird im Zitat hervorgehoben, dass die Schari'a eine Pflichtenlehre sei. Der saudische Minister münzt also die Rechte in Pflichten um, um sie dann als ein islamisches Konzept der Menschenrechte zu verkaufen und dafür Geltung zu beanspruchen. Da dasselbe Land sich weigert, die Universelle Deklaration der Menschenrechte zu unterschreiben, haben die Saudis keine Hemmungen, das von saudischen Staatsangehörigen getragene Komitee für Menschenrechte in ihrem Land zu verbieten, weil dieses Rechte beansprucht. Zudem wird weltweit - auch in Deutschland - die Weltsicht der Saudis in Bezug auf islamische Menschenrechte mit Hilfe von Petrodollar-Zugaben propagiert. In diesem ersten Teil lege ich die Grundlagen der Problematik dar: Die zentrale Frage nach dem Spannungsfeld zwischen Islam und Moderne steht hier im Mittelpunkt. Auch meine persönliche Existenz als arabischer Muslim, der zugleich als deutscheuropäischer Bürger (im Sinne von citoyen) in Europa lebt und sich in diesem Bewusstsein zur kulturellen Moderne bekennt, wird von diesem Spannungsfeld geprägt. Als muslimischer Exilaraber bediene ich mich anderer Sprachen als der arabischen, das heißt meiner Muttersprache, mit der ich aufgewachsen bin, um diese Belange zum Ausdruck zu bringen. Besonders meine deutschen Leser tun sich schwer damit, den -77-
stark persönlichen Bezug meiner Bücher zu verstehen. Statt einen anderen kulturellen Diskurs nachzuvollziehen, erheben manche Deutsche den persönlich kränkenden Vorwurf der »Selbstdarstellung«. Ich lebe zwischen zwei Zivilisationen und alles, was ich schreibe, speist sich aus dieser interkulturellen Lebenserfahrung, die voller Leiden, ja sogar Weltschmerz ist. Mit Selbstdarstellung hat das nichts zu tun. Beide Kulturen, die islamische Offenbarungskultur und jene der kulturellen Moderne, beanspruchen für sich jeweils Universalität und müssen so zwangsläufig weltanschaulich miteinander kollidieren. Da die kulturelle Moderne auf der menschlichen Vernunft aufbaut, scheint mir ihr Universalitätsanspruch indes größere Geltungschancen zu haben als derjenige einer Offenbarungskultur, die auf Textgläubigkeit basiert und nur für einen begrenzten Kreis gelten kann. Am besten kann dieser weltanschauliche Wertekonflikt anhand persönlicher Erfahrungen vermittelt werden. Auch in diesem Buch kann ich meine persönliche Lebenserfahrung in Bezug auf diesen Gegenstand nicht unterdrücken und möchte dies auch nicht tun. Zum Schluss dieser einleitenden Ausführungen über die grundsätzliche Problematik dieses Buches möchte ich die Brisanz des Problems der Universalität aus der Perspektive der Menschenrechte unterstreichen. Die Antworten auf die anstehenden Fragen findet der Leser in den folgenden drei Kapiteln. Die Qual des Unterfangens besteht in der Suche nach kulturübergreifenden Antworten, ohne die Authentizität einer Zivilisation und ihrer vielen Lokalkulturen zu missachten. Wenn ich spezifische Rechte oder Rationalität für jede Kultur bestreite und für Universalität eintrete, übersehe ich also keineswegs die Eigenarten und die Lokalität der Kulturen. Im ersten Kapitel stelle ich den Islam in seiner Vielfalt vor, sozusagen als »Islam für Anfänger«. Ähnlich verfahre ich im zweiten Kapitel bei der Vorstellung der Idee der -78-
Menschenrechte, ihrer Entwicklung und ihrer Erhebung zu einem universellen Rahmen durch die Vereinten Nationen. Diese Vorarbeit ermöglicht es dann, im dritten Kapitel über westliche und islamische Universalitätsansprüche unter den gegenwärtigen Bedingungen der Globalisierung zu diskutieren. Auf dieser Grundlage kann ich nachfolgend den aus der Kollision der beiden hervortretenden weltanschaulichen Konflikt vermitteln. Können die Menschenrechte bei der Entfaltung einer culture of rights (Rechte-Kultur) - etwa im Gegensatz zum FaraidIslam (Pflichten-Islam; hier: Kultur der Pflichten) - Rechte für die gesamte Menschheit, das heißt universelle Rechte werden? Meine Überzeugung, die sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht, ist, dass nur eine universelle, kulturübergreifende Ethik der Menschenrechte als eine internationale Moralität die Menschheit vor gewaltförmigen Konflikten schützen kann. Eine kulturübergreifende Begründung der Universalität der Menschenrechte ist besser als jeder ideologische Universalismus. Die »-ismen« haben der Menschheit immer nur Unheil gebracht, auch wenn sie gut gemeint waren. Der Zusammenprall der Zivilisationen ist vermeidbar. Die Entschärfung des Zivilisationskonflikts, der die internationale Politik auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts dominiert, kann am besten mittels globaler Demokratisierung und universeller Anerkennung der Menschenrechte erfolgen. Weltfriede kann daher nur im Sinne von Kant als »demokratischer Friede« verwirklicht werden. Demokratie und Säkularität verbinden, Gottesstaaten hingegen trennen die Menschheit.
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Kapitel 1 Der Islam und seine universellen Ansprüche -Einführung in den Islam
Zwischen religiös-kultureller Vielfalt und zivilisatorisch einheitlicher Weltanschauung
Ist es zulässig, allgemein »vom Islam« zu sprechen? In diesem Buch tue ich dies gleichermaßen im Titel und in der vorangegangenen Einleitung. Gegen diese allgemeine Art, über den Islam zu sprechen, kann als Einwand erhoben werden, dass die Welt des Islam durch größte Vielfalt gekennzeichnet ist. Es ist ja auch kaum zu erwarten, dass es in einer kulturell vielfältigen Zivilisation, die ein Viertel der Menschheit und mehrere Kontinente umfasst, eine einheitliche, von allen akzeptierte Vorstellung von Religion und eine damit korrespondierende Kultur geben kann. Einwände gegen Einheit und Vielfalt in der Islambetrachtung Es sei an die Ausführungen in der Einleitung erinnert, dass die Geltung der Kultur stets lokal ist, während Zivilisationen kulturübergreifend sind. Damit will ich sagen: Es gibt viele islamische Kulturen, aber nur eine islamische Zivilisation. Entsprechend gibt es eine zivilisatorisch begründete islamische Weltanschauung. Angesichts des Nebeneinanders von religiös-kultureller -80-
Vielfalt und weltanschaulicher Einheit stellt sich die Frage, ob man der Realität gerecht wird, wenn man von einem einheitlichen Islam spricht. Gibt es »den« Islam? Die Antwort ist zugleich negativ und positiv. Ich werde diese Antwort ausführen. Der erste, bereits angesprochene, Einwand, der Islam sei durch Vielfalt gekennzeichnet, stammt von jenen westlichen Orientalisten und Kulturanthropologen, die weder allgemeine geschichtliche Strukturen noch eine einheitliche Weltanschauung zulassen. Ausnahmen gibt es, aber sie bestätigen nur die Regel. Der zweite Einwand unterstellt das Gegenteil: Es gebe nur einen Islam; nur wenn sich ein Mensch diesem einheitlichen Islam unterwerfe (sich zum Islam bekennen; sich ihm hingeben heißt Aslama), sei er ein Muslim. Ohne mir verbal zu unterstellen, ich sei kein Muslim mehr (so wie mir dies als Reform-Muslim in der Islam-Diaspora häufig geschieht), sagte mein Kairoer Streitgesprächspartner in einer öffentlichen Debatte höflich, der Islam sei kein Büffet, von dem man beliebig wählen könne; man nehme den Islam als Ganzes oder man lasse es. Nach dieser Logik ist man also kein Muslim mehr, wenn man das im Koran geforderte »Peitschen« oder »Handabhacken« sowie das »Schlagen der Frauen« ablehnt und einen Reform-Islam vertritt. Ich wiederhole die in der Einleitung formulierte Position: Schriftgläubig orthodoxer Islam und Islamismus sind mit den individuellen Menschenrechten nicht vereinbar. Nur ein Reform-Islam kann die Muslime mit der Moderne versöhnen und ihnen ermöglichen, sich ohne Apologetik und ohne Zweideutigkeiten die individuellen Menschenrechte anzueignen. Artikel 18 der Universellen Deklaration der Menschenrechte Auch in der frühen und mittelalterlichen islamischen -81-
Geschichte gab es keinen einheitlichen Islam. Bereits damals entstand der Konflikt zwischen Orthodoxie und Rationalismus.1 Die europäische Renaissance und die Aufklärung greifen wie die islamische Tradition den aus dem griechischen Erbe stammenden Rationalismus auf.2 Der »tugendhafte Staat« von al-Farabi ist ein Modell für einen Reform-Islam, der zwischen Religion und Politik trennt.3 Dagegen steht al-Mawardi für den Islamismus.4 Unter Berücksichtigung der Vielfalt im Islam ist es korrekt, von einem arabischen Islam, einem Indo-Islam, einem AfroIslam, das heißt von verschiedenen lokalen Kulturen zu sprechen, die jedoch alle zur übergeordneten islamischen Zivilisation gehören.5 Darüber hinaus sind alle Muslime ungeachtet ihrer religiösen und kulturellen Ausrichtungen durch gemeinsame Glaubenssätze ihrer Religion verbunden, die für alle gelten, und sie haben auch ein von allen geteiltes Weltbild. So glauben alle Muslime, »die einzig wahre, geoffenbarte Religion« zu haben, und sie fühlen sich eben deshalb als »Khair Um-ma« (»beste Gemeinschaft auf Erden«, Koran 3/110) allen anderen Religionsgemeinschaften der Welt überlegen. Die Autorität des Textes6 steht hier hinter dieser Schriftgläubigkeit. Die islamische Weltanschauung basiert auf der Wahrnehmung der Geschichte als einer solchen von Prophetien. Moses und Jesus waren neben weiteren Propheten, die auch göttliche Offenbarungen empfingen, ebenso wie Mohammed Gesandte Allahs. Laut Koran (33/40) wird der Prophet Mohammed jedoch ausgezeichnet, »Khatim al-nabiyyin« (»der Abschluss aller Prophetien«) zu sein. Denn er empfing die endgültige, umfassende, einzig wahre und somit vollendete Offenbarung von Allah, die die Geschichte der Offenbarungen besiegelt. Eben deshalb nennt der Koran Mohammed »Khatim« (»Siegel«) aller Propheten. Ein islamischer Herrscher legitimiert sich nun seinerseits als Kalif (Nachfolger des Propheten). Hier liegt der -82-
Konflikt zwischen »Vernunft« und »Legitimation« in der islamischen Geschichte begründet.7 Neben dem Glauben an die Exklusivität ihrer Umma (Gemeinschaft aller Muslime) und an das Wahrheitsmonopol ihrer Religion nehmen alle Muslime das Verhältnis GottMensch als ein von Gott dominiertes wahr.8 Hiernach kann allein das Haq Allah (Gottesrecht) vorherrschen, dem der Gläubige sich zu unterwerfen habe. Daneben gibt es im Islam auch das Haq adami (Menschenrecht), dessen Geltungsbereich in der Beziehung der Menschen untereinander liegt. So wird die Tat eines Menschen gegen einen anderen nach dem QisasRecht, dem vorislamischen (nach Stämmen gerichteten) Prinzip »Gleiches um Gleiches« (lex talionis) gesühnt, das heißt nach dem Koran (5/45) konkret: »Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr.« Dieses Strafrecht gilt für Mord oder Körperverletzung als eine im Bereich des Haq adami liegende Handlung. In einer von Allah dominierten Welt unterliegt alles andere dem Haq Allah - der Koran (2/229) ist hier sehr eindeutig: »Das sind die Bestimmungen Allahs, übertretet sie nicht! Diejenigen, die Gottes Schranken überschreiten, sind die Frevler.« Solche Übertretungen bezeichnet der Koran als Hudud-Delikte; die islamische Schari'a sieht hierfür die Hudud-Strafen (zum Beispiel Auspeitschen und Steinigen) vor, eben weil sie Gottesrecht verletzen. Diese Bestimmung des göttlichen Rechts zeigt, dass es im Islam keine Tradition einer culture of rights (RechteKultur) gibt.9 Im Islam gibt es keine einheitliche Schari'a, zumal diese nur interpretativ und nicht kodifiziert ist. Dennoch prägt sie die islamische Weltanschauung. Die Schari'a, zu der auch ein sehr inhumanes Strafrecht gehört, steht dabei in krassem Widerspruch zu den individuellen Menschenrechten. Im Islam wird Gottesrecht von Menschenrecht im Rahmen eines grenzenlosen Theozentrismus unterschieden. So ist zum Beispiel -83-
der Glaube Gottesrecht und kein freiwilliger menschlicher Akt; für den orthodoxen Islam ist der Glaube eine Pflicht gegenüber Gott. Aus diesem Grund kann kein islamisches Land Religionsfreiheit im Sinne des Artikels 18 der Universellen Deklaration der Menschenrechte annehmen, der freie Wahl und auch Wechsel der Religion zum Menschenrecht erklärt. Denn der Muslim, der vom Glauben abfällt, verstößt gegen Gottesrecht und darf deshalb nach der Schari'a getötet werden. Bei der Tötung des Apostaten berufen sich orthodoxe Muslime und Islamisten auf folgenden Koranvers (2/217): »Diejenigen unter Euch, die sich von ihrer Religion abwenden, sterben als Ungläubige.« Der Begriff Riddah (Apostasie) wird heute so weit ausgelegt, dass Fundamentalisten es sich anmaßen, ihre Rivalen zu ermorden. Nach meiner Deutung des Koran liegt ein Abfall vom Glauben nur bei einer Verleugnung der Tauhid (Einheit Gottes) vor; ein Hudud-Vergehen ist aber noch kein Abfall vom Glauben und noch weniger die Forderung, Iman (Glaube) und Siyasa (Politik) auseinander zu halten. Der Koran sagt über Apostaten: »Sie sterben als Ungläubige«; daraus folgt, dass sie im Jenseits bestraft werden; ich finde im Koran keine Stelle, an der von Tötung des Apostaten die Rede ist, wie der ägyptische Scheich Mohammed al-Ghazali sie 1993 in seiner Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) forderte. Der Koran spricht von »Yamut« (»stirbt«) und nicht von »Yuqtal« (»wird getötet«). Noch heute gilt indes für Islamisten die Tötung per GhazaliFetwa als legitim. Die Einführung der individuellen Menschenrechte als entitlements (Berechtigungen) in den Islam erfordert deshalb große Anstrengungen zur Uminterpretation sowie die historische Relativierung vieler Koranbestimmungen. Bei eben diesem Einsatz für einen Reform-Islam spalten sich die Muslime in viele Gruppen: in Traditionalisten, Fundamentalisten, Reformer und Säkularisten. Ich meinerseits rechne mich zur Gruppe der -84-
Reformer sowie zu der der Laizisten. In der Welt des Islam ist es heute immer noch lebensgefährlich, für eine Trennung von Religion und Politik einzutreten. Selbst in der Türkei, wo Religion und Politik per Dekret getrennt sind, erstarken die Islamisten. Der schon zitierte ägyptische Fundamentalist Scheich Mohammed al-Ghazali betrachtet eine solche liberale Position als eine »Übertretung der Bestimmungen Gottes«, das heißt als Riddah, und er zögert nicht, für diese Übertretung den Tod zu fordern. Dürfen solche Positionen in unserer globalisierten Welt politisch und ethisch Gehör finden? Gehört es zur Demokratie, dass sich islamische Fundamentalisten mit ihren »Mordlisten« in Europa frei betätigen dürfen? Ich muss als deutscher Bürger muslimischen Glaubens eingestehen, dass ich Angst davor habe, dass solche Bedingungen in absehbarer Zeit im Namen von indifferenter Toleranz und Wertebeliebigkeit auch in Europa Realität werden. Ich verliere Vertrauen, ja es schaudert mich, wenn ich vernehme, wie sich selbst mein verehrter Philosophielehrer Habermas, bei dem ich die kulturelle Moderne lernte, im Oktober 2001 bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels über die Rückkehr des Religiösen äußerte; er sprach positiv vom »postsäkularen Zeitalter« und forderte einen entsprechenden Gesinnungswandel. Ein Jahr später besuchte er den fundamentalistischen Staat Iran und gab darauf ein für mich schreckliches Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung10, aufgrund dessen meine Angst vor der blauäugigen deutschen Toleranz noch zunahm. Ich hätte nie gedacht, dass Habermas, bei dem ich philosophisches Denken gelernt habe, über ein Thema - hier den Islam - sprechen würde, von dem er absolut nichts versteht, und dass er je zur Kategorie des deutschen Gutmenschen gehören würde. Ich selbst lebe weiterhin in der Spannung zwischen der in der Frankfurter Schule während der sechziger Jahre erlernten kulturellen Moderne und dem vormodernen Islam, in dem ich in -85-
meinen ersten Lebensjahren in Damaskus sozialisiert wurde.11 Die Weltanschauung der islamischen Umma und die religiösen Voraussetzungen Auch in diesem Buch wird manchmal von der Welt des Islam als einer Einheit gesprochen. Doch meine ich dann stets die islamische Zivilisation. Denn diese »Welt des Islam« ist heute im Zeitalter der Globalisierung und der Migration - nicht mehr eine Welt für sich; auch ist sie für Europa bedeutsamer als je zuvor. Durch die wachsende Zahl muslimischer Zuwanderer erleben die Europäer diese Welt des Islam, die Europa seit den islamischen Djihad-Eroberungen vom Mittelmeer über den Balkan bis hin nach Eurasien umgibt, im eigenen europäischen Haus. Etwa 1,5 Milliarden Muslime leben gegenwärtig über die ganze Welt verstreut und 56 Staaten mit islamischer Bevölkerung sind in der Organization of the Islamic Conference organisiert. Aber auch der Islam selbst geht - wie angedeutet von der Einheit der Muslime als einer Umma aus. Weltanschaulich grenzen sich die Muslime gegenüber Europa als einheitliche Umma ab, trotz ihrer religiösen, ethnischen und kulturellen Vielfalt. Innerislamische Vielfalt, religiös-kulturelle Unterschiede, gibt es nur nach innen, nicht in Bezug auf die Außenwelt. Ein monolithischer Islam existiert eigentlich nur auf der Wahrnehmungsebene im Westen als eine Bedrohungsvorstellung und als fundamentalistisches Wunschdenken in der Welt des Islam. Diese Aussage steht dennoch nicht im Widerspruch zu der Feststellung, dass die Vielfalt islamischer Kulturen in eine islamische Zivilisation eingebettet ist und eine einheitliche - wenngleich mit Nuancen ausgestattete – weltanschauliche Selbstwahrnehmung besteht. Islamische Fundamentalisten und schlecht informierte nichtislamische »Experten« für diese Weltreligion beantworten -86-
die Frage nach der Einheit des Islam gleichermaßen positiv. Die Fundamentalisten wollen mit der Behauptung eines uniformen Islam dessen religiöse und kulturelle Vielfalt verleugnen und die angeblichen Experten argumentieren oft vor dem Hintergrund eines Feindbildes über diese als Bedrohung empfundene Religion. Europäische Linke wiederum, in der Regel Atheisten, entdecken auf ihrer Suche nach einem Ersatzverbündeten für den niedergegangenen Kommunismus den Islam als Welt des Opferkollektivs; in ihrem Hang zum Exotischen schreiben sie fragwürdige und weit verbreitete Bücher wie Feindbild Islam und Das Schwert des Experten, die intellektuell nicht höher einzustufen sind als die von ihnen verschmähten journalistischen Elaborate etwa eines Gerhard Konzelmann. Auch für diese Skribenten gilt der Islam ohne Differenzierungen als einheitliche Größe. Andere - zum Beispiel Orientalisten - tendieren zum Gegenextrem, sehen nur Vielfalt und verbieten jede Generalisierung. Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass sich die Muslime untereinander primär nur über zwei Glaubensvoraussetzungen einig sind: erstens die fünf Säulen des Islam und zweitens die Authentizität des Koran. Alle Muslime bekennen sich einheitlich zu den fünf Säulen des Islam; diese besagen, dass ein(e) Muslim/ Muslimin folgende Voraussetzungen erfüllen muss: 1. Die Schahadah, die Bezeugung, dass es keinen Gott außer Allah gibt und dass der Prophet Mohammed sein Gesandter ist, muss von allen islamischen Gläubigen geleistet werden. 2. Ein/e praktizierende/r Muslim/in muss fünfmal am Tag beten. 3. Die Zakat (Almosensteuer) ist zu entrichten. 4. Im Monat Ramadan müssen Muslime von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang fasten, das heißt, sie dürfen weder Speisen -87-
noch Getränke zu sich nehmen, und ebenso gilt es, sich während des Fastens des Geschlechtsverkehrs zu enthalten. 5. Man hat die Pflicht, einmal im Leben, wenn es die ökonomischen Verhältnisse erlauben, nach Mekka / Medina zu pilgern. Danach heißt ein Muslim Hadji (männlich) beziehungsweise eine Muslimin Hadja (weiblich). In der Ausführung der Rituale, die diese fünf Säulen ausfüllen, bestehen geringfügige Unterschiede. Die zweite Ebene der Glaubensvoraussetzung betrifft die Offenbarung und die daraus entstandene heilige Schrift der Muslime, den Koran.12 Muslime müssen diesen Text in seiner Ganzheit als authentisch von Gott geoffenbart, das heißt als Wahi, die verbal inspiriert ist, anerkennen. Der Koran sei dem Propheten Mohammed wortwörtlich durch den Erzengel Gabriel übermittelt worden. In diesem Sinne wird der Korantext als das Kalam Allah (Wort Gottes) geglaubt. Nach orthodoxer Auffassung dürfen Muslime diesen Text zwar unterschiedlich deuten, nicht aber einer kritischen Reflexion unterziehen oder historisieren, das heißt in den Rahmen seiner Entstehungsgeschichte einordnen und somit relativieren. Letzteres tun in unserer Zeit Reform-Muslime - und dies gilt als Wagnis. Im klassischen Islam gab es eine Kultur des intellektuellen Streits, die durch die Auseinandersetzung über die Korandeutung entstand. Hierauf basierten die zugelassenen, vielfältigen Koraninterpretationen. Dagegen verwandeln islamische Fundamentalisten und die Orthodoxie heute die Autorität des Textes in eine Diktatur einer einzig gültigen Gesinnung; sie ordnen sich hierbei in die Front der Gegner der klassischen islamischen Streitkultur ein, die im Hochislam gedieh. Die Unfehlbarkeit des Textes wird zur institutionalisierten Weltanschauung. -88-
Zu der angeführten zweiten Ebene der Glaubensvoraussetzung im Islam gehört die Übertragung der Autorität des Propheten Mohammed auf all seine Worte und Taten und damit auf den Hadith (Überlieferung des Propheten).13 Alles, was der Prophet gesagt oder getan hat, gilt also als ein nachzuahmendes Vorbild für alle Muslime; danach müssen sie ihr Denken und Handeln ausrichten. Im Gegensatz zum Korantext wird jedoch nicht alles als authentisch anerkannt, was dem Propheten zugeordnet wird. Nur die durch eine Isnad (überprüfte Überlieferungskette) gültigen Sprüche des Propheten werden als autoritativ akzeptiert. Über diese beiden Glaubensvoraussetzungen hinaus, die alle Muslime unabhängig von ihrer ethnisch-nationalen oder konfessionellen Zugehörigkeit akzeptieren und oft im Alltag praktizieren, kann man nicht von einem einheitlichen Islam sprechen. Die wichtigsten Differenzierungen im Islam lassen sich in drei Bereiche gliedern, die ich im Folgenden in jeweils selbständigen Abschnitten aufzeigen werde. Diese drei Bereiche eines real existierenden Islam stehen oft in Kontrast zur unterstellten weltanschaulichen Einheit. In der Realität existiert kein einheitlicher Islam. Zuerst kommt die Kultur: die Binnendifferenzierungen im Islam Unter Kultur verstehe ich stets Sinnstiftung und diese ist immer lokal.14 Kulturell war der Islam von seinem Ursprung her eine »arabische Religion für die Araber« (Rodinson)15, auch die Offenbarung erfolgte laut Koran an »die Araber« in der von Allah ausgewählten arabischen Sprache; er habe ihn »als einen arabischen Koran herabgesandt« (12/2). Der Koran wirft den Ungläubigen vor, eine nichtarabische Sprache zu sprechen; die an den Propheten Mohammed übermittelte göttliche Botschaft -89-
erfolge dagegen »in deutlicher arabischer Sprache«. Nicht nur die Sprache, das heißt das Arabische, sei von Allah als Sprache seiner Offenbarung ausgewählt worden, auch die Adressaten die Araber - seien Erwählte. Der Koran (47/38) hält das den Arabern vor und warnt jene unter ihnen, die die göttliche Botschaft nicht annehmen wollen: »Allah ist derjenige, der reich ist. Aber Ihr seid die Armen. Wenn Ihr Euch abwendet und der Heilsbotschaft kein Gehör schenkt, lässt er ein anderes Volk Eure Stellung einnehmen.« Zu dieser Bestimmung gehört die Gepflogenheit, dass ein Muslim einen arabischen Namen tragen muss. So müssen Menschen, die zum Islam konvertieren, einen arabischen Namen annehmen. Zu Zeiten der islamischen Revolution im Iran gab es westliche Beobachter, die wenig vom Islam verstanden; sie meinten damals, dass der Perser Ayatollah Khomeini die Führung der Muslime - auch die der Araber - übernehmen würde. Wer jedoch den Koran kennt, der weiß, wie stark die kulturelle Stellung der Araber in dieser Weltreligion ist. Arabozentrisch orientierte sunnitische Araber würden sich also niemals von einem schi'itischen Perser anführen lassen. Die dominierende arabozentrische Deutung des Islam wird von manchen Persern, Türken oder Pakistani murrend beanstandet, aber doch werden ihre arabokulturellen Implikationen hingenommen. Dies zeigt sich daran, dass sie, wie es der Islam vorschreibt, alle islamischen Rituale - auch das Rezitieren des Koran - ausschließlich in arabischer Sprache durchführen und arabische beziehungsweise arabisierte Namen tragen. Ohne die Fähigkeit, den Koran arabisch zu rezitieren, vermag ein nichtarabischer Muslim die Religion eigentlich gar nicht zu praktizieren. Kurzum: Arabisch ist die Sakralsprache des Islam.16 Doch wurde diese ursprünglich arabische Religion von zahlreichen nichtarabischen Kulturen übernommen, die sich trotz ihres Bekenntnisses zum Islam nicht aufgegeben haben. Die heutigen -90-
Araber (etwa 240 Millionen) machen nur eine Minderheit der Umma (1,5 Milliarden) aus. In der islamischen Zivilisation gibt es viele Traditionen vorislamischer und vorarabischer Zeit, die in zahlreichen, heute als islamisch geltenden Kulturen aufgegangen sind. Aus diesem Grund unterscheidet sich der Islam etwa in Westafrika,17 der durch viele innerafrikanische Spielarten binnendifferenziert ist, kulturell erheblich vom Islam auf dem indischen Subkontinent, den man Indo-Islam nennt. Der marokkanische Islam unterscheidet sich wiederum von dem weit flexibleren indonesischen Islam.18 Selbst der arabische Islam ist stark binnendifferenziert. Die größte islamische Nation, Indonesien (220 Millionen Einwohner, davon 88 Prozent Muslime), ist nichtarabisch, obwohl das kulturelle Kerngebiet des Islam bis heute noch im arabischen Teil des Orients beheimatet geblieben ist. Der stets wachsende Anteil der Umma an der Weltbevölkerung (zurzeit 1,5 von 6 Milliarden) wird sich in Zukunft auch weiterhin zugunsten der Muslime entwickeln, weil sie, wie der Fall Libanon beispielhaft zeigt,19 mit ihrer Geburtenrate die der Christen übertreffen. 56 Staaten sind in der Organization of the Islamic Conference (OIC) organisiert, das heißt sie bilden mehr als ein Viertel der Staatengemeinschaft (189 UNO-Mitglieder, mit Eintritt der Schweiz und Osttimor 191). Der Islam ist heute ein Weltfaktor. Obwohl also die Araber eine Minderheit in der Umma bilden, besitzen sie die religiöse und politische Hegemonie im Islam; sie beanspruchen diese Stellung für sich, weil der Islam als arabische Religion geoffenbart wurde. Der einflussreiche ägyptische Fundamentalist Mohammed Imara hebt in seinem Buch über »Islam und Arabertum« hervor, es sei »richtig, dass der Islam universell ist, also weder Grenzen noch Schranken anerkennt... Und doch finden wir in dieser Religion trotz ihrer Universalität... eine arabische Sonderstellung vor. Hierüber gibt -91-
es weder Zweifel noch eine Zweideutigkeit... «20 Im Westen wird nicht berücksichtigt, dass die arabisch-islamischen Fundamentalisten die Führung für das islamische Erwachen im 21. Jahrhundert für sich in Anspruch nehmen. Die global vernetzte Bewegung al-Qaida (Die Basis) hat Muslime aus aller Welt als Mitglieder, ihre Führung jedoch ist arabisch. In unserer Gegenwart treten zwei ebenfalls orientalische, aber nichtarabische Nationen in Konkurrenz zu den Arabern: der schi'itische Iran und die sunnitische Türkei. Der Iran bietet mit seiner islamisch legitimierten Revolution ein allerdings nicht besonders erfolgreiches Modell einer fundamentalistischen Republik für die Gesamtheit der Muslime.21 Dagegen weist die Türkei ein säkulares, an der westlichen Demokratie orientiertes Modell vor,22 das leider ebenso wenig erfolgreich ist. Im Wettbewerb mit den Arabern träumen muslimisch-panturkische Fundamentalisten von der Wiederherstellung der osmanischen Zeit, als die Türken über die Welt des Islam herrschten. Die Ablösung der Turkvölker Zentralasiens von der ehemaligen Sowjetunion verstärkt diese Bestrebungen. Neben der real existierenden unerschöpflichen kulturellen Vielfalt innerhalb der islamischen Zivilisation findet also auch ein Wettkampf der Modelle statt. Diese Zivilisation ist damit nicht nur religiös und lokal-kulturell, sondern auch politisch vielfältig. Die Sektenbildung: konfessionelle Differenzierung im Islam Innerhalb der Religion des Islam markiert das Schisma in Sunna und Schi'a nach der Ermordung des Kalifen Ali im Jahr 661 die zentrale Spaltung. Sunna bedeutet orthodoxer Islam, Schi'a dagegen sektiererischer Islam. Der Sunna-Islam ist am weitesten verbreitet und wird von mehr als 90 Prozent aller Muslime geteilt. Nur etwa 112 bis 130 Millionen Schi'iten leben in der Welt des Islam, und zwar mit Ausnahme von zwei -92-
Ländern als Minderheiten unter Sunniten. Diese beiden Länder sind der Iran (Schi'iten: etwa 90 Prozent der Bevölkerung) und der Irak23 (Schi'iten: etwa 54 Prozent der Bevölkerung). Im Irak herrscht aber seit seiner Formierung zu einem künstlichen staatlichen politischen Gebilde (1922) die arabisch-sunnitische Minderheit über die arabischen Schi'iten und die nichtarabischen, allerdings sunnitischen Kurden. Somit bleibt von den 56 Staaten der OIC nur der Iran als ein von den Schi'iten politisch und religiös dominiertes Gebilde. Die islamische Schi'a-Religion24 ist ebenso wenig einheitlich wie der Sunna-Islam und ihrerseits in zahlreiche Konfessionen und Sekten gegliedert, unter denen die Zwölfer-Schi'a (Glaube an die Reihenfolge der zwölf Imame seit Ali) als numerisch stärkste Richtung besonders hervorragt. Zu den Schi'iten gehören außerdem die Ismailiten, die Siebener-Schi'a, die Drusen sowie die Alawiten und andere. Auch die schi'itischen Konfessionen haben Rechtsschulen, das heißt, auch sie basieren auf unterschiedlichen Deutungen der islamischen Schari'a. Die Mehrheitsrichtung im Islam ist jedoch die Sunna; sie besteht aus vier Madhahib (islamischen Rechtsschulen): den Hanafiten, den Malikiten, den Schafi'iten und den Hanbaliten. Diese Rechtsschulen haben im Verlauf der historischen Entwicklung jeweils einen konfessionellen Charakter angenommen. Die Unterschiede zwischen den vier angeführten Konfessionen im sunnitischen Islam kann man am besten verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Islam nicht nur eine Religion, sondern auch ein Rechtssystem ist (vgl. Kapitel 7). Die vier Konfessionen sind also zugleich Madhahib.25 Generell beziehen sich die Unterschiede zwischen den islamischen Konfessionen (auch zwischen Sunna und Schi'a) auf die jeweilig unterschiedliche Auslegung des islamischen Rechts. Dennoch teilen alle die strenge, Allahzentrierte Weltsicht (Theozentrismus), die dem Gläubigen wenig Handlungsspielraum einräumt. -93-
Die strengste Rechtsschule im Islam ist der heute in SaudiArabien dominierende Hanbalismus. Ibn Hanbai (780-855) ging davon aus, dass allein der Koran Grundlage der Rechtsfindung im Islam sein dürfe; seine Rechtsschule ist somit die schriftgläubigste unter allen sunnitischen Konfessionen. Der Hanbalismus wurde Mitte des 18. Jahrhunderts durch ein Bündnis des Stammes der Saudis mit dem Eiferer Abdul-Wahab zum saudisch-wahhabitischen Islam. Der auf der wahhabitischen Lehre basierende saudische Staat entstand 1934 als die islamische Monarchie Saudi-Arabien. Der »Petrodollar-Islam« blühte nach der ersten Ölkrise 1973/74 auf. Seitdem haben die wahhabitisch-hanbalitischen Saudis kraft ihres PetrodollarReichtums effektiv ihre Politik der Islamisierung weltweit betrieben. Die Rechtsschule der Malikiten ist nicht weniger konservativ, wenngleich ihr Konservatismus auf Tradition und Gewohnheitsrecht, nicht - wie bei den Hanbaliten - exklusiv auf strenger Textauslegung basiert. Malik Ibn Annas (716-795) hat diese Schule begründet. Mit anderen Worten: Die malikitische Anerkennung des Gewohnheitsrechts lässt eher eine volksislamisch begründete Rechtsfindung zu, wie der nordafrikanische Islam, besonders in Marokko, exemplarisch illustriert. Die Mehrheit der Maghreb-Muslime sind Malikiten. Die hanafitische Schule wurde von Abu Hanifa (700-767) begründet, der die Freiheit des Ermessens durch Qiyas (Analogieschluss) als Mittel der Rechtsfindung zuließ; sie war die dominierende Schule im osmanischen Reich - also auch in Syrien -, ist aber auch auf dem indischen Subkontinent verbreitet. Innerhalb des sunnitischen Islam bilden die Hanafiten die Mehrheit. Die Rechtsgelehrtenfamilie Banu al-Tibi aus Damaskus, aus der ich stamme, gehört auch zu dieser Schule. alSchafi'i (767-820), der Gründer der schafi'itischen Rechtsschule, bemühte sich bei der Rechtsfindung um einen Mittelweg zwischen den traditionsstrengen Malikiten und dem -94-
Billigkeitsprinzip (gemeint ist der oben beschriebene Ermessensspielraum) der Hanafiten. Im Verlauf der islamischen Geschichte haben sich alle vier Rechtsschulen weit über die Intentionen ihrer Begründer hinaus entwickelt; sie stellen heute - wie bereits angedeutet - jeweils quasi religiös-ethnische Konfessionen innerhalb des sunnitischen Islam dar. Interessant ist, dass die Verteilung dieser Konfessionen jeweils nach geographischen Regionen erfolgt ist. Ich habe bereits angeführt, dass die nordafrikanischen Muslime im Maghreb fast ausschließlich Malikiten sind, während die Saudi-Araber wahhabitische Hanbaliten - übrigens auch Bin Laden - und die sunnitischen Syrer Hanafiten sind. Die Kurden sind mehrheitlich schafi'itische Muslime. Islamische Rechtsvorschriften sind gleichermaßen organisch (sie umfassen alle Lebensbereiche) als auch sehr streng in ihrer Bestimmung der Alltagskultur der Gläubigen, die im Einklang mit den doktrinären Vorschriften zu stehen hat. Die Auslegung ist sehr unterschiedlich und entsprechend wuchert das Sektenwesen.26 Es versteht sich von selbst, dass Muslime die schwer einzuhaltenden strengen Gesetze Allahs in ihrem Alltag nicht immer befolgen. In der islamischen Geschichte finden wir hinreichend Beispiele, wie der Volksislam Tariqa (Wege) zur Auflockerung des islamischen Theozentrismus bietet. Innerhalb des Islam existiert eine sehr große religiöse Vielfalt, die nicht nur in den oben beschriebenen Ausrichtungen, sondern auch in einem weit verbreiteten Sektenwesen zum Ausdruck kommt. Mit anderen Worten: Der real existierende Islam ist sehr vielfältig, aber auf der doktrinären Ebene fehlt eine Lebensphilosophie des Pluralismus. Die islamische Weltanschauung unterstreicht die Einheit und ist somit totalitär. Die Spannung zwischen dem Schari'a-Islam und dem Volksislam -95-
In der islamischen Welt sind die Ulema (islamischen Schriftgelehrten), die den auf dem Koran und der Überlieferung des Propheten basierenden, das heißt schriftgläubigen Schari'alslam vertreten, führend. Entsprechend gilt die auf dem Korantext fußende Schari'a als Maßstab zur Beurteilung aller weltlichen und religiösen Angelegenheiten. Diese bestimmt, was Halal (erlaubt) und was Haram (verboten) ist.27 Die Schari'a vermittelt Anweisungen für alle Bereiche des täglichen Lebens. Der Schari'a-lslam ist in den städtischen Zentren dominant, wohingegen der Volksislam in den ländlichen Gebieten und in den Bergen (zum Beispiel im Atlasgebirge in Marokko) verbreitet ist. Das hängt zum Teil damit zusammen, dass sich die dortigen, meist analphabetischen Muslime in erster Linie an der mündlichen religiösen Überlieferung und an den Volkssitten, nicht jedoch am schriftlich tradierten Islam orientieren. Als Analphabeten können sie den Koran ohnehin nicht lesen. Dass die orthodoxen Ulema vorwiegend in städtischen Zentren Einfluss haben, hängt mit den dortigen Bildungseinrichtungen, die sie dominieren, zusammen. Im Gegensatz dazu wird für den mündlich tradierten Islam der Begriff des Tariqa-lslam verwendet. Tariqa kommt sprachlich von al-Tariq (der Pfad) und heißt hier »der Weg«. Der Begriff gibt an, dass zu Allah viele Wege führen, also nicht nur das von den Ulema zum Maßstab erhobene und monopolisierte Gesetz der Schari'a. Der Tariqa-lslam, obwohl rückständig, ist somit offener gegenüber dem Geist der bestehenden Vielfalt, eben weil er - im Gegensatz zum streng textgläubigen und somit rigiden Schari'a-lslam - flexibel ist und sich an die Realitäten anpasst. Der Tariqa-lslam ist aus dem Sufi-lslam hervorgegangen; Sufi bedeutet hier Mystik. Der Begriff kommt von Suf (Wolle) und bezieht sich auf das Wollgewand der Asketen, die die islamische -96-
Mystik entwickelt haben. Der Sufi-lslam wird vorwiegend in Orden praktiziert. Im Gegensatz zum Schari'a-lslam predigten die islamischen Mystiker, die jedoch - anders als die den Volksislam praktizierenden Muslime - hochgebildet waren, dass eine unmittelbare Beziehung zwischen Gott und den Gläubigen zulässig sei, wohingegen die islamischen Ulema die GottMensch-Beziehung als Unterwerfung unter die absolute Autorität des göttlichen Gesetzes definieren. Der Sufi-Islam ist heute aus zweifacher Sicht wichtig: Zum einen ist diese islamische Mystik - etwa im Gegensatz zum untergegangenen islamischen Rationalismus - noch in den islamischen Gesellschaften präsent und bildet in unserer Gegenwart ein Gegengewicht zum rigiden Schari'a-Islam. Zum anderen bietet der Sufi-Islam viele Anhaltspunkte für die erforderliche Reform des Islam. Ich möchte nur zwei davon anführen: Erstens: Im Gegensatz zum Schari'a-lslam, der jede Subjektivität des Menschen verleugnet und ihn zum lediglich empfangenden Objekt des göttlichen Willens degradiert, predigt der Sufi-Islam die Liebe zu Allah, die auf gegenseitiger Anerkennung basiert. Ich möchte diese Leistung der islamischen Mystik anhand des von dem Mystiker al-Halladj (857-922) entwickelten Begriffs der »Gottesliebe« illustrieren, den Annemarie Schimmel so verdienstvoll gewürdigt hat: Für die islamischen Rechtsgelehrten bedeutet Liebe zu Gott »nichts anderes als Gehorsam des Menschen«, weshalb sie »eine echte Liebesbeziehung zwischen dem göttlichen Herrn und dem menschlichen Sklaven nicht zuließen«.28 Der Mensch wird im Koran zum Abd Allah (Sklaven, im Sinne von Diener Gottes) bestimmt, der sich nur den göttlichen Anweisungen zu unterwerfen habe. Gegen dieses Menschenbild rebellieren die islamischen Mystiker, indem sie »das Zusammenwirken der menschlichen und göttlichen Person« predigen. Diese -97-
Aufwertung des Menschen bei al-Halladj finden wir ebenso bei dem bedeutenden Sufi-Muslim Ibn al-Arabi (1165-1241), der eine Einigung zwischen Mensch und Gott zuließ und die Lehre vertrat, dass der Mensch, der von Gott erschaffen wurde, eben deshalb nach dem Bild Gottes erschaffen sei; er ist also nicht nur das unterwürfige Makhluq (Geschöpf) des Khaliq (Schöpfers), sondern er trägt selbst vollkommene Züge. Es wundert nicht, dass al-Halladj sein Ende am Galgen fand. Die inhaltlich wertvollen Bücher von Ibn al-Arabi, unter anderem die Liebeslieder Turdjuman al-aschaq (Deuter der Sehnsüchte), gehören ebenfalls zu den bedeutenden Werken des islamischen Erbes, auch wenn sie heute von Fundamentalisten inkriminiert und öffentlich verbrannt werden. Zweitens: Im Gegensatz zum Schari'a-lslam, der dem Glauben durch die absolute Geltung des göttlichen Gesetzes einen streng formalisierten Charakter gibt, deuten die islamischen Mystiker den Glauben als Mahabba (Liebe). Ibn alArabi kommt auf der Basis dieser Lehre von der göttlichen Liebe zu dem Ergebnis, dass alle Religionen gleich seien; er gibt somit die Vorstellung auf, dass Muslime allen anderen überlegen seien: »Mein Herz ist jeder Form offen: es ist Weide für die Gazelle, ein Kloster für die christlichen Mönche, ein Tempel für die Idole, eine Ka'ba für die Pilger [von Mekka, B.T.], eine Tafel für die Thora und für den Koran. Ich praktiziere die Religion der Liebe.«29 Ein solcher Religionspluralismus fehlt im orthodoxen Islam, der das Absolute für sich beansprucht. Hinzu kommt die Frage der Toleranz. Der Sufi-lslam lässt, im Gegensatz zum orthodoxen Islam, eine Vielfalt an Wahrheiten zu und ist somit toleranter. In unserer Zeit bedeutet das fundamentalistische Eintreten für eine auch mit Mitteln der Gewalt durchzusetzende Schari'a oft die Unterdrückung solcher mystischen Bruderschaften (zum Beispiel im Sudan unter dem gegenwärtigen fundamentalistischen Regime von al-Beshir/al-Turabi).30 Denn -98-
der Volksislam steht für jene Fundamentalisten, die sich an der Schari'a orientieren, in Opposition zu ihrem schriftgläubigen Verständnis des Islam, mit dem sie ihre fundamentalistische Diktatur legitimieren. Die Formel von al-Mawardi »Bi al-schar' au al-aql« (»Göttliches Gesetz oder Vernunft«) lebt bis zum heutigen Tag als Formel der Legitimität sultanischer Herrschaft in Allahs Namen fort. Im Gegensatz hierzu verstehen islamische Mystiker unter Religion Mahabba, also weder Herrschaft noch Unterwerfung. Schari'a-Islam wird in unserer Gegenwart gleichermaßen durch die traditionellen Ulema und die schriftgläubigen Fundamentalisten gegen den Volksislam vertreten. Dieser Konflikt findet durch den Ruf nach der Schari'a auch in der europäischen Islam-Diaspora statt. Einheit in der Vielfalt - eine islamische Zivilisation und viele Lokalkulturen Die 1,5 Milliarden Muslime haben in etwa dieselbe Weltanschauung, soweit es die Befolgung der eingangs beschriebenen zwei Glaubensvoraussetzungen betrifft, unterscheiden sich jedoch - wie eben gezeigt - auf drei Ebenen erheblich voneinander: auf der religiösen, kulturellen wie auch der kultischen (das heißt in der Religionsausübung). Muslime bilden aber eine zivilisatorische Einheit im Hinblick auf das Verhältnis des Islam zur nichtislamischen Welt. Einheitlich ist auch ihr Weltbild, das für alle Muslime gültig ist. Leider ist das islamische Weltbild manichäisch, was die Zweiteilung der Welt in Gut und Böse anbelangt. So gibt es die Bezeichnung Dar alIslam (Haus des Islam) für den islamischen Teil der Welt und Dar al-harb (Haus des Krieges) für die außerhalb des Islam liegende Welt. Die islamische Schari'a gibt strenge Anweisungen für den Umgang der Muslime mit der »Welt der Ungläubigen«, mit der sie Hudna (Frieden) nur temporär, das heißt nur dann, wenn die Muslime schwach sind, schließen -99-
dürfen.31 Dar al-ahd (Haus des Vertrages) ist eine dritte Kategorie und meint eine nichtmuslimische, durch Friedenskonventionen neutralisierte Welt. Wohlgemerkt: Diese Intoleranz ist ein Merkmal des Schari'aIslam, für den mystische Muslime wenig Sympathie empfinden. Ich habe bereits Ibn al-Arabis Bestimmung der Religion als Mahabba zitiert, nach der die Liebe unterschiedliche Formen annehmen kann. Definiert als eine Zivilisation nach den Maßstäben der Schari'a, würde sich die Welt des Islam gemäß dem eigenen Selbstbild streng exklusiv bestimmen. Schauen wir uns das islamische Schrifttum an, dann stellen wir fest, dass es bis zum heutigen Tag noch kein Muslim gewagt hat, diese Lehre der Zweiteilung der Welt des islamischen Mittelalters an die veränderte Situation anzupassen. Der muslimische Völkerrechtler Nadjib al-Armanazi kommt in einer Studie über das islamische Völkerrecht, die größte Autorität genießt, ebenfalls zu diesem Ergebnis.32 Alle islamischen Schari'a-Völkerrechtler gehen ihm zufolge davon aus, dass Wahi (islamische Offenbarung) als die Quelle des Rechts keinem Wandel unterworfen sei. Aus diesem Grund haben Muslime nie eine eigene Rechtsphilosophie entwickelt, wenngleich alle islamischen Staaten sich in ihrer Rechtspraxis an die veränderten Bedingungen realpolitisch angepasst haben; diese praktische Anpassung hat jedoch keine Revision des islamischen Rechtsdenkens zur Folge, das noch immer im Widerspruch zu den Normen und Werten des auf Nationalstaatlichkeit und Volkssouveränität aufgebauten internationalen Systems der neueren Geschichte steht. Der Islam besitzt zwar eine Rechtstradition, aber eben keine Rechtsphilosophie. Besonders im weltanschaulich-zivilisatorischen Zusammenprall von Orient und Okzident, der auf solch unterschiedlichem Rechtsdenken fußt, gilt die Einheit der islamischen Umma, wenngleich diese Umma in der Realität keine Entsprechung hat. -100-
Muslime betrachten sich in Anlehnung an die göttliche Offenbarung nicht nur als dieser einheitlichen Umma zugehörig, sondern erachten sie im Glauben an den Koran als »die beste Gemeinschaft, die Gott auf Erden erschaffen hat« (3/110). Die islamische Umma als ein einheitliches Gebilde gibt es zwar nicht, dennoch bildet sie perzeptionell die Basis einer islamischen Zivilisation. Zwar werden Christen und Juden positiv als Ahlal-kitab (nichtmuslimische Monotheisten) anerkannt, eben weil sie auch über eine göttliche Offenbarung verfügen und somit von den Muslimen als Gläubige eingestuft werden, doch wird ihnen kein eigenes selbständiges Gemeinwesen zuerkannt, so dass sie als Dhimmi (Schutzbefohlene) unter islamischer Obhut leben müssen.33 Alle anderen Religionen werden dagegen als Kufr (Unglaube) klassifiziert und entsprechend bekämpft. Somit lebt im Islam und im Selbstbild seiner Anhänger die Zweiteilung der Welt in einen islamisch-friedlichen und in einen nichtislamischfeindlichen Teil fort. Weltfrieden ist zwar das Ziel des Islam wohlgemerkt: verstanden als Scha-ri'a-lslam -, doch kann dieses Ziel nur dann erreicht werden, wenn die gesamte Welt in ein Dar al-Islam beziehungsweise Dar al-salam (Haus des Friedens) verwandelt, das heißt islamisiert wird. Muslime müssen den Mut haben, die klassische islamische Doktrin durch entsprechende Religionsreformen zu revidieren, damit die Welt des Islam - auch im Bewusstsein der Muslime als Teil einer pluralistischen Welt, in der der Islam neben gleichberechtigten anderen Kultursphären existiert, integriert werden kann. Die Muslime machen ein Viertel der Weltbevölkerung aus; die islamische Friedensutopie auf der Basis der Islamisierung der Welt wird von den anderen drei Vierteln der Menschheit kaum akzeptiert werden. Bleibt die benötigte islamische Revision aus, dann wird die konkrete Folge der Zusammenprall der Zivilisationen sein. Eine weitere zentrale Gemeinsamkeit aller Muslime ist ihr -101-
theozentrisches Weltbild. Tauhid (Theozentrismus) bedeutet die Einheit Gottes und die göttliche Herrschaft über das gesamte Universum. Somit ist alles Geschehen auf der Welt Gottzentriert. Der Mensch ist lediglich das Makhluq (Geschöpf) des Khaliq (Schöpfers), welches sich dem göttlichen Willen durch die Befolgung der verbal inspirierten Offenbarung Gottes als einem Gesetz unterwirft. Dieses Weltbild der Muslime behindert eine auf schöpferischer Tätigkeit basierende Weiterentwicklung. Der islamisch-mystische Begriff der Gottesliebe dagegen lockert diese strenge Welt auf und gibt dem Menschen Selbständigkeit. Im Gegensatz zum theozentrischen Islamverständnis lassen sich nämlich im Koran Textstellen finden, die dem Menschen durchaus eigene Verantwortung zusprechen und damit über das schriftgläubige Befolgen der Offenbarung hinausgehen. So heißt es im Koran (4/79): »Wenn dir etwas Gutes widerfährt, dann kommt dies von Allah. Wenn dir jedoch etwas Böses zustößt, dann suche die Schuld bei dir selbst.« Dieser Koranvers zeigt deutlich, dass Muslime ihre wirtschaftlichen und sozialen Probleme nicht als Ausdruck des göttlichen Willens deuten dürfen und somit solche Missstände beseitigen sollen. Nach der zitierten Stelle ruft sie der Koran geradezu zur Selbständigkeit auf. Natürlich gibt nun die Wahl der Koranzitate Auskunft darüber, ob der zitierende Muslim ein Traditionalist, Fundamentalist, Reformer oder Säkularist ist; festzuhalten bleibt aber, dass der Koran keineswegs die rigide Unterwerfung unter das Schicksal fordert, wie das von konservativen Muslimen immer behauptet wird. Der Islam heute: das islamische Dilemma mit der Moderne Seit dem Einbruch der Moderne in das »Haus des Islam« erfahren Muslime, die im Mittelalter die entwickeltste Zivilisation der Welt waren, dass sie im modernen Zeitalter -102-
nicht mehr die »Khair Umma« (»beste Gemeinschaft auf Erden«, Koran 3/110) sind. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es im Islam aber auch Bemühungen, mit dieser Situation fertig zu werden. Sie sind natürlich unterschiedlich und reichen vom islamischen Reformismus, dem Aufruf zur Rückkehr zum Urislam (militanter Traditionalismus/Wahhabismus), über den Modernismus, ja sogar den Säkularismus bis hin zum gegenwärtigen Aufblühen des Fundamentalismus. Es ist jedenfalls so gesehen nicht nachvollziehbar, wenn deutsche Orientalisten der jüngeren Generation die Islamophobie in Islamophilie verwandeln und behaupten, der Islamismus sei die islamische Moderne. Die verschiedenen Strömungen in der Welt des Islam seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart sind islamische Reaktionen auf die Konfrontation mit dem überlegenen Westen. Es besteht ein Bedarf daran, diese islamischen Strömungen in ihren historischen Kontext einzuordnen und Veränderungsmöglichkeiten aufzufinden. In meinem vor zwei Jahrzehnten geschriebenen Buch Die Krise des modernen Islam34 habe ich diese islamische Krise und ihre globale Umwelt beschrieben. In einem weiteren Buch, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie35, habe ich den Versuch der Fundamentalisten, eine Synthese von Wissen und Glauben herzustellen, als »einen islamischen Traum von der halben Moderne« charakterisiert. Die Fundamentalisten versuchen hierbei, die materiellen Leistungen der Moderne von der ihr zugrunde liegenden Logik zu trennen. Ich vertrete die Auffassung, dass die heutigen Muslime die Fähigkeit besitzen müssten, zwischen zwei Wahrheiten - der religiösen und der weltlich-philosophischen Wahrheit - zu unterscheiden, wie dies ihr Vorfahre, der mittelalterliche islamische Philosoph Ibn Ruschd (Averroès), tat. Im Mittelalter haben islamische Rationalisten im Kampf gegen die islamische Orthodoxie den Konflikt zwischen Wissen und Glauben auf diese Weise -103-
überwinden können, ein Konflikt, der heute das Leben der Muslime und ihre Probleme mit der Moderne prägt. In der Welt des Islam bildet das islamische soziokulturelle Erbe36, das als die Summe der Geschichte der islamischen Zivilisation zusammengefasst werden kann, den entscheidenden Bezugsrahmen für das Leben aller Muslime. Ohne ein Verständnis vom Islam als einem kulturellen System und einer Zivilisation kann ein Außenstehender nicht begreifen, was im islamischen Orient vor sich geht. Muslime unserer Zeit stehen vor der Herausforderung, den Islam und die kulturelle Moderne in eine Synthese zu bringen. Eine solche Synthese müsste aber über den beschriebenen Traum von der halben Moderne hinausgehen. Hierzu gehört die Integration der modernen Menschenrechte in den Islam über apologetische Textinterpretationen hinaus. Einflussreiche schriftgläubige Fundamentalisten wie Scheich Mohammed alGhazali und sein Schüler Mohammed Imara liefern Beispiele für die hier beklagte Apologetik. Bedauerlicherweise kehren die Muslime in unserer Gegenwart die Herausforderung der Moderne an sie in eine »fundamentalistische Herausforderung«37, das heißt in eine islamische Herausforderung an andere um und bleiben somit hinter der historischen Aufgabe zurück. Das ist weder für die Muslime noch für ihre Nachbarn eine tragbare Lösung! Solange Muslime diese Einstellung beibehalten, behält Christine Lienemann-Perrin Recht: »Ein gemeinsames Ethos der Weltreligionen... dürfte noch in weiter Ferne liegen.«38 Weltethos ist daher nur ein Schreibtischelaborat weltfremder christlicher Theologen. Auf lange Sicht wird die fundamentalistische Lösung für die Muslime nicht tragbar sein, weil die Trennung der Moderne - in ein kulturelles Projekt, welches die Muslime ablehnen, und eine technisch-wissenschaftliche Instrumentalität, die sie aufnehmen möchten - weder zur Demokratisierung der islamischen Welt noch zur Etablierung der Menschenrechte im Islam beiträgt. -104-
Auch wird dadurch die ersehnte Verringerung ihrer Abhängigkeit vom Westen nicht erreicht. Ohne die kulturelle Bewältigung der Moderne in einem islamischen Rahmen können Muslime keine rationale Weltsicht entwickeln. Das bedeutet nämlich nicht nur keine individuellen Menschenrechte, keine Demokratie, keine säkulare Pluralität und Toleranz, sondern auch weiterhin den Import der techno-wissenschaftlichen Produkte des industriellen Zeitalters aus dem ungeliebten Westen, und es bedeutet zudem die Unfähigkeit zur eigenen Entwicklung und Herstellung dieser Produkte. Mit einer islamischen »halben Moderne« bleiben die Abhängigkeit vom Westen und alle Probleme, die damit zusammenhängen, erhalten. Besonders seit dem 11. September ist allen bewusst geworden, dass es für die internationale Umwelt des Islam untragbar ist, mit der fundamentalistischen Herausforderung zu leben, die durch ihre Utopie der erstrebten Islamisierung eine Bedrohung für die gesamte Welt darstellt. Das friedliche Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen kann nur auf Basis der gegenseitigen gleichberechtigten Anerkennung, sowohl innerhalb der multireligiösen Staaten als auch zwischen den Staaten, erfolgen. Demokratische Muslime müssen eine überzeugende Alternative zur fundamentalistischen Utopie einer Islamisierung der Welt präsentieren, wenn sie vom toleranten Islam sprechen, der - wie der Islam von al-Farabi - die Ratio zur Basis haben müsste und - wie der Islam von Ibn al-Arabi - sich von Mahabba (Liebe), nicht von Gewalt und Fanatismus leiten lassen müsste. Individuelle Menschenrechte sind dabei die notwendige Negation des totalitären islamischen Fundamentalismus. Dabei sollte es sich im Übrigen von selbst verstehen, dass Mördern von frei denkenden Muslimen (islamischen Intellektuellen und Schriftstellern in der Türkei, Ägypten, Algerien etc.) keine Gelegenheit gegeben werden darf, -105-
im Namen des Islam aufzutreten. Denn Toleranz gegenüber Fanatikern ist nichts anderes als Gleichgültigkeit gegenüber Begriff und Praxis der individuellen Freiheit in der kulturellen Moderne. Die Liebe zur Freiheit ist universell und kennt keine kulturrelativistische Multikulturalität. Daher gilt im 21. Jahrhundert die Formel: Toleranz dem offenen Islam, Skepsis dem orthodoxen Islam und wehrhafte Demokratie, also Abwehr dem Islamismus.39 Die individuellen Menschenrechte sollten auf globaler Ebene als Maßstab für den Umgang mit dem Islam gelten. Im bisher eher verlogen geführten christlich-islamischen Dialog fehlt diese Voraussetzung allerdings noch völlig.40
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Kapitel 2 Die Idee der individuellen Menschenrechte, ihre europäische Herkunft und die Verhinderung ihrer universellen Geltung durch die Neubelebung von Kollektiven Das Ende des Ost-West-Konflikts ging einher mit der Entfesselung neuer politischer Kräfte und Ansprüche. Noch zu Zeiten des Kalten Krieges herrschte die Illusion einer universellen Geltung der Menschenrechte, deren Deklaration durch die UNO 1948 auch von den nichtwestlichen Mitgliedern - mit Ausnahme Saudi-Arabiens - unterschrieben wurde. Der Kommunismus hatte eine Neuordnung, aber nie eine Entwestlichung der Welt beansprucht; Marx und sein Denken waren schließlich in der Zivilisation des Westens verankert. Heute zwingen uns die neuen weltpolitischen Kräfte zur Diskussion über die Geltung der Menschenrechte, die ursprünglich westliches Gedankengut sind: Sie sollen nicht mehr eine »Inspiration« sein, sondern »impact« (»Wirkung«) haben.1 Die militärische Intervention in Bosnien 1995 und im Kosovo 1999 wurde mit dieser Forderung legitimiert. Doch die Gegenkräfte, vor allem der islamische Fundamentalismus (und nicht weniger die erstarkende Orthodoxie), wollen gar keine westlichen Werte haben; sie kündigen den internationalen Konsens auf und bedingen hierdurch eine neue Weltunordnung.2 Die wichtigsten Werte dieses Konsenses, die ich »internationale kulturübergreifende Moralität« nenne, sind die der Menschenrechte. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts nimmt die Migration -107-
zu und wird global. Aufnahmegesellschaften benötigen eine Leitkultur3 und hierzu gehören vorrangig die individuellen Menschenrechte. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dieser Thematik und der Sicherheitspolitik, den Myron Weiner schon lange vor dem 11. September 2001 erkannte.4 Menschen, die in den Westen migrieren, kommen größtenteils aus vormodernen Kulturen. Zu den wichtigsten Unterschieden zwischen Moderne und Vormoderne gehört, dass die kulturelle Moderne die geistigen Grundlagen für die Bestimmung des Menschen als Individuum entfaltet hat, während vormoderne Kulturen den Menschen stets als Teil eines Kollektivs einordnen. Dieser Konflikt zwischen modernen und vormodernen Weltsichten gilt auch für die Diaspora-Kulturen, die sich als Kollektive durch die Bildung von Parallelgesellschaften selbst ethnisieren. Sicherlich geht es bei der Bestimmung des Menschen als Individuum nicht allein um geistige Prozesse, denn ohne die materielle Entwicklung der industriellen Gesellschaft nach der Auflösung der traditionellen Gemeinwesen in Europa hätte diese angesprochene Individuation nicht stattgefunden. Unter Individuation verstehe ich die Befreiung des Menschen vom Kollektiv und seine Bestimmung als Individuum in der gelebten Realität. Sie ist also nicht nur eine Idee, sondern eine gesellschaftliche Entwicklung und bildet ferner den kulturellen sowie historischen Hintergrund der Entstehung der individuellen Menschenrechte. Individuelle Menschenrechte zwischen kultureller Moderne und den Kollektiven vormoderner Kulturen In einem sozialen Gebilde, in dem sich ein Markt entwickelt, zivile Gesellschaft und staatliche Autorität getrennt sind, verkehren Menschen miteinander als Individuen. Diesbezüglich besteht ein Bedarf, den Menschen als Individuum vor möglicher -108-
staatlicher Willkür zu schützen. Das ist der sozialhistorische Hintergrund für die Entstehung der modernen Menschenrechte. In vormodernen Gesellschaften genießt der Mensch, der in seiner Existenz noch kein Individuum im Sinne der kulturellen Moderne ist, den Schutz und die Sicherheit seines Kollektivs; es gibt keine soziale und regionale Mobilität und somit auch nicht die damit einhergehenden Unsicherheiten. Das Weltbild ist geschlossen und kennt weder Vermutung noch Zweifel als Kriterien für den Erwerb von Wissen. Der Horizont des Denkens und Lebens überschreitet die tradierten, also unhinterfragten Gewissheiten nicht. Erst durch die Auflösung traditioneller Gemeinwesen und die Befreiung des Menschen aus seinem Kollektiv ist er in einer Gesellschaft mit einem freien Markt auf sich selbst gestellt und damit den Unsicherheiten des Lebens ausgesetzt. Auch das bedeutet Freiheit des Menschen. In diesem Zusammenhang sind zivile Gesellschaft5 und legale staatliche Herrschaft Voraussetzungen für die Gültigkeit von Menschenrechten.6 Kurzum: Menschenrechte sind also nicht bloß eine Idee! Im Folgenden unternehme ich den Versuch, die strukturellen Grundlagen der Idee von den Menschenrechten in der westlichen bürgerlichen Gesellschaft auszumachen. Im Gegensatz zu anderen Autoren habe ich die Bedeutung kultureller Bestimmungsfaktoren immer in den Mittelpunkt gestellt. Dies ermöglicht mir zu erkennen, dass parallel zu der strukturellen Globalisierung keine kulturelle Standardisierung stattfindet. Innerhalb einer Kultur stehen geistige und materielle Faktoren in Wechselwirkung. Anders formuliert: Kulturelle und strukturelle Entwicklung bedingen einander.7 Dies gilt auch für die Entstehung der Menschenrechte, die zwar mit der Entwicklung der modernen industriellen Gesellschaft zusammenhängen, nicht jedoch der Marktökonomie allein entspringen. Die Europäer haben erstmals in der Geschichte der -109-
Menschheit im Rahmen der kulturellen Moderne die Idee des Menschen als Individuum entfaltet, aber die einst in Europa entstandenen Werte haben heute einen universellen Charakter, das heißt, auch in den zeitgenössischen asiatischen und afrikanischen Gesellschaften sind Menschenrechte von Relevanz. Allerdings fehlt es diesen Gesellschaften noch an der kulturellen Bestimmung des Menschen als ein freies Individuum, eben weil die kulturellen Grundlagen dafür nicht vorhanden sind. Der religiöse Fundamentalismus versucht indes, die Kollektive neu zu beleben und unhinterfragte Gewissheiten, die historisch überholt sind, künstlich zu erhalten. Es besteht kein Zweifel, dass die Menschenrechte europäischen Ursprungs sind, aber ebenso unbestreitbar ist, dass sie einen universellen Charakter haben. In unseren gegenwärtigen Krisenzeiten - angesichts fehlender Orientierung und Wertesicherheit - können wir besonders in islamischen Gesellschaften beobachten, wie das kulturelle Ideal des Kollektivs unerschütterlich die bisherigen strukturellen Wandlungen - so schwerwiegend sie auch gewesen sind überlebt hat; an dem Bewusstsein der Menschen, die diesem Ideal anhängen, wurde nicht gerüttelt. Es ist traurig, aber eine Tatsache, dass bislang allein die verschiedenen Kulturen der westlichen Zivilisation den Weg zum Subjektivitätsprinzip8 gefunden haben, welches die Vorstellung vom Menschen als Individuum ermöglicht. Der Streit um die Menschenrechte in unserer Zeit ist also ein solcher um die universelle Geltung dieses Prinzips. Vormoderne Kulturen artikulieren ihr Festhalten am Kollektiv mittels einer modernen Sprache, indem sie Kollektivrechte fordern, die sie höher als Individualrechte bewerten, ja sogar an deren Stelle als Menschenrechte setzen wollen. Doch ohne die Bestimmung des Menschen als Individuum sind Menschenrechte nicht denkbar, weil diese entitlements (Berechtigungen) des Einzelnen gegenüber Staat und Gesellschaft sind. Kollektividentitäten vormoderner -110-
Kulturen werden oft als Vorwand von Diktatoren angeführt, um ihren Bevölkerungen diese Individualrechte zu versagen. Individualrechte sind politische und zivile Rechte des Individuums; als Abwehrrechte gegenüber staatlicher Autorität sind sie Negativrechte. So gesehen, nehmen die Grundrechte die Form der Aussage an: »Der Staat darf nicht...« Dagegen sind soziale und ökonomische Ansprüche gegenüber dem Staat (beispielsweise das Recht auf einen Arbeitsplatz und auf soziale Sicherung) normativ und keine natürlichen Rechte. Es muss nicht unbedingt ein Widerspruch zwischen diesen beiden Gruppen von Rechten bestehen, wenngleich sie unterschiedlicher Natur sind. Problematischer sind aber die Kollektivrechte, wie sie von einigen Entwicklungsländern auf der Wiener Menschenrechtskonferenz im Juni 1993 formuliert worden sind. So hat der jemenitische Vertreter unter dem Applaus afrikanischer und asiatischer Delegationen die Forderung seines Landes nach Entwicklungshilfe als einklagbares Recht gegenüber den Industrieländern, das heißt im Sinne eines Rechtsanspruchs, als ein Menschenrecht formuliert. Das Individuum und die ihm zustehenden entitlements, so hieß es in Wien zugleich, seien westliche kulturelle Vorstellungen, die Asiaten und Afrikaner nicht beträfen. So verstanden, ergänzt das Recht auf Entwicklung nicht die individuellen Berechtigungen, sondern hebt sie auf. Von Menschenrechten als individuellen Freiheitsrechten bleibt dann nichts übrig. Im Folgenden werde ich mich auf die Menschenrechte als Berechtigungen des Individuums konzentrieren und ihre europäische Herkunft aufzeigen. Das Naturrecht - ein Widerspruch zum Islam? Die Grundidee der Menschenrechte besteht darin, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner ethnischen Herkunft, Kultur -111-
oder Religion, natürliche Rechte hat. Ohne das Konzept des Naturrechts9 wäre es kaum vorstellbar, dass die von jedweder Religion unabhängige Bestimmung des Menschen als ein mit Rechten ausgestattetes Individuum hätte entwickelt werden können. Diese besondere Hervorhebung des Naturrechts zwingt mich zu einer Klarstellung: Aus meiner Abneigung gegenüber marxistischen »Ableitungen« von kulturellen Mustern aus der Ökonomie mache ich keinen Hehl. Dies macht mich jedoch nicht blind gegenüber den strukturellen Bedingungen kultureller Wandlungen. Lediglich das Bestehen eines Mechanismus zwischen sozialökonomischer und kultureller Entwicklung streite ich vehement ab. Kulturelle Veränderungen können nämlich auch ohne ökonomische Bedingungen stattfinden, während wirtschaftliche Transformationen wiederum kein Garant für die Entstehung entsprechender Kulturmuster sind. Gerade die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem in der Welt des Islam ist dafür ein Beleg. In Zeiten der Globalisierung rücken moderne und vormoderne Traditionen räumlich und zeitlich aneinander, ohne sich gegenseitig zu bedingen. Das verstehe ich unter Gleichzeitigkeit von Moderne und Vormoderne als Ungleichzeitigem. Die Weiterentwicklung des traditionellen Naturrechts und somit die Entstehung des bürgerlichen Weltbildes10 hängen nicht zwangsläufig mit der Genese der modernen Gesellschaft zusammen. Die erste weltgeschichtlich bekannte Naturrechtsvorstellung geht auf die griechische Stoa zurück. Diese Idee lebt im Römischen Recht11 und in dessen Unterscheidung von ius naturale und ius civile fort. In der Renaissance beziehungsweise im europäischen Humanismus und auch in der christlichen Reformation können wir weitere Schritte hin zu Individuation und Entfaltung des Subjektivitätsprinzips erkennen, welche den Weg für die Bestimmung des Menschen als ein freies Individuum ebneten. -112-
Hierauf bauen die großen Leistungen auf, die den Beginn der Kultur der Moderne markieren, etwa die Arbeiten von Galilei, Newton, Hobbes, Descartes oder Francis Bacon. Die Menschenrechte sind das geistige Resultat der Weiterentwicklung des Naturrechts zur politischen Idee von Berechtigungen. Ein solches Konzept hat im Islam nie existiert, auch nicht im islamischen Rationalismus. John Locke gilt als einer der wichtigsten europäischen Denker der Menschenrechtstradition. Sein Einfluss auf die Bill of Rights von 1689, also ein Jahr nach der Glorious Revolution in England, ist unübersehbar. Die Ideen von Locke - wie natürlich auch die von Montesquieu, Voltaire und Rousseau - beeinflussten außerdem Thomas Jefferson in der von ihm verfassten Deklaration der Unabhängigkeit der ersten 13 nordamerikanischen Staaten vom 4. Juli 1776. Die Virginia Bill of Rights vorn 12. Juni 1776 wird verfassungsgeschichtlich als die eigentliche Mutter aller modernen, konstitutionell verankerten Menschenrechte und als Basis für eine culture of rights12 (Rechte-Kultur) gewürdigt. Doch diese Errungenschaft wäre ohne die kulturellen Einflüsse Europas, vor allem ohne die Werke Lockes und Montesquieus, kaum vorstellbar. Wenn ich hier vom Westen spreche, dann meine ich stets nur das okzidentale Europa, also nicht den gesamten Kontinent; die USA gelten als eine Tochtergesellschaft Europas, so dass die politische Kultur Nordamerikas als europäisch einzuordnen ist. Historisch gilt die Declaration des Droits de l'Homme et du Citoyen13 von 1789 als Markstein in der politischen Geschichte der Menschenrechte. Als ein Mensch, der aus dem Orient stammt, beeindruckt mich besonders die Präambel der Deklaration, in der als ewig gültig festgehalten ist, dass »Unkenntnis, das Vergessen und die Missachtung der Menschenrechte die alleinigen Ursachen für das öffentliche Unglück und für die Verderbtheit der Regierung« seien. Im Einklang mit dieser Feststellung bin ich davon überzeugt, dass -113-
sich die Menschen im islamischen Orient entwickeln und entfalten könnten, wenn ihre individuellen Menschenrechte nicht tagtäglich durch die sie beherrschenden orientalischen Despoten14 mit Füßen getreten würden. Bestätigt wurde ich hierin durch eine öffentliche Äußerung des Direktors eines Goethe-Institutes, der bei einem Münchner Treffen von im islamischen Orient tätigen Goethe-Mitarbeitern (Ende Juni 1993) sagte, es versetze ihn stets in Erstaunen, welch »hohe, gar neiderregende Leistungen arabische Muslime in Europa erbringen, zu denen ihre eigenen Landsleute im Orient niemals in der Lage« wären. Die Erklärung dafür ist einfach: Ohne den sicheren Rückhalt sowie den Genuss von Individualrechten können sich Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion oder Kultur, nicht entwickeln und schöpferische Leistungen erbringen. Daher bin ich immer wieder empört, wenn Diktatoren in Staaten außerhalb der westlichen Zivilisation »Entwicklung statt Menschenrechte« predigen. In Wahrheit findet dann weder Entwicklung noch die Achtung von Menschenrechten, sondern schlicht Diktatur statt. Eine im Juli 2002 veröffentlichte UN-Studie vertritt die Auffassung, dass die arabo-islamische Welt sogar hinter die bestehenden Menschenrechtsstandards zurückfällt. Als Erklärung wird das Fehlen von Menschenrechten angeführt (vgl. Kapitel 8). Nun noch einmal zurück zu den Menschenrechten und ihrer Herkunft aus dem Naturrecht in seiner modernen Gestaltung im Sinne einer Lehre von den natürlichen Berechtigungen der Menschen als Individuen gegenüber Staat und Gesellschaft. Es trifft zu, dass die Grundlagen dieses Naturrechts von der Stoa über das Römische Recht und die Reformation bis hin zur Aufklärung und der Französischen Revolution europäischen Ursprungs sind. Doch der Inhalt des Konzepts bezieht sich auf die gesamte Menschheit: Allen Menschen stehen von Natur aus solche Berechtigungen gegenüber ihren Staaten und Gesellschaften zu. Was ist »imperialistisch« an der universellen -114-
Geltung dieser Freiheitsbestimmung? Diese Frage erinnert mich wieder an die Wiener Konferenz für Menschenrechte und die dortigen diplomatischen Vertreter der Diktaturen in Asien und Afrika mit ihrer »Marotte« vom partikularen Charakter ihrer jeweiligen Kulturen zu sprechen, die angeblich mit den individuellen Menschenrechten in ihrer europäischen Fassung nicht vereinbar seien. Natürlich: Despotie ist mit Freiheit auf allen Ebenen unvereinbar! Bei dieser Diskussion über das Naturrecht stellt sich die Frage: Gehört es zur menschlichen Natur der Orientalen, dass sie ihre despotischen Herrscher als »Schatten Allahs auf Erden« ertragen müssen? Muslimische Gegner dieser naturrechtlichen Bestimmung der Menschenrechte beziehen Allah in diesen Kontext ein und sprechen davon, dass der Mensch seine Rechte, sprich Pflichten, von Gott erhalte und dass kein Muslim daran rütteln dürfe, ohne Gefahr zu laufen, als »ungläubig« zu gelten. Orientalische Despoten aber sind Menschen und keine Götter. Muslime können dieser Tatsache freilich nur durch eine Trennung von Religion und Politik gerecht werden. Erst dann könnten sie ihren »Sultanen« das Recht absprechen, die göttliche Legitimität zu vertreten. Das Naturrecht ist universelles Recht, weil Freiheit zur Natur des Menschen gehört, und so sind auch die Menschenrechte universell, das heißt, sie gelten auch für Muslime. Jede Kultur hat ihre Authentizität, aber der instrumentelle Rückgriff auf die Besonderheit der Kultur dient in Wirklichkeit nur als Ideologie für die Legitimierung bestehender Diktaturen und Despotien, die ihren Untertanen (nicht Bürgern) die Menschenrechte - sei es im Namen Allahs oder dem der Entwicklung - verweigern. Der Ägypter Khalid Mohammed Khalid prägte in den frühen sechziger Jahren für den islamischen Orient die Parole: »Muwatinun la ra'aya« (»Bürger, nicht Untertanen«15). Muslime können erst dann zu Bürgern werden, wenn auch für sie - ähnlich wie seit 1789 für die -115-
Franzosen - Menschen- und Bürgerrechte gelten. Doch orientalische Despotien lassen dies auch mehr als zwei Jahrhunderte nach der Französischen Revolution nicht zu. In einer Kontroverse anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Großen Französischen Revolution beschrieb ein araboislamischer Aufklärer, der Philosoph Mohammed Abid alDjabiri, der an der Universität in Rabat lehrt, die Beziehungen der Araber zur Französischen Revolution und zur traditionalistischen Ideologie des Wahhabismus (puristischer Islam beziehungsweise Rückkehr zum Zeitalter des Propheten) wie folgt: »Ich übertreibe nicht, sondern stelle nur Tatsachen fest, wenn ich sage, dass der Einfluss des Wahhabismus seit 1747 auf alle arabischen Länder den Einfluss der Französischen Revolution auf den europäischen Kontinent weit übertrifft... Selbst dort, wo die Aufklärung auf den islamischen Orient einwirken konnte, überschritt sie nie den Kreis der modernen Eliten, die weit schwächer als die traditionellen Eliten sind. Was die Masse der arabischen Muslime anbelangt, so weiß sie nicht, was Aufklärung und was demokratische Staatsbürgerschaft bedeuten. Diese Massen sind daran gewöhnt, als Ra'iyya (Herde) zu gelten, die von einem Ra'i (Hirten) oder Zaim (politischen Führer) beziehungsweise Batal (Helden) träumt.«16 Diese politische Kultur, die al-Djabiri in einem arabischen Buch implizit kritisch beschreibt, ist genau jene, die Vertreter islamischer Despotien auf der Wiener UN-Weltkonferenz für Menschenrechte als kulturelle Partikularität der Muslime präsentierten; dabei forderten sie die Europäer in aggressivem Ton auf, diese Besonderheit als »kulturelle Identität« zu respektieren. In Deutschland gibt es inzwischen in unserem Zeitalter der romantischen Verherrlichung anderer Kulturen -116-
angebliche Islamkenner, die Bücher wie Das Schwert des Experten und Feindbild Islam schreiben, in denen die Kritiker der hier von dem Muslim al-Djabiri beschriebenen politischen Kultur des »Rassismus« bezichtigt werden. Der Spiegel (29/1993) ist sich vielleicht nicht bewusst, dass er durch die Aufwertung dieser unqualifizierten Autoren zu »Gelehrten« vor dem 11. September 2001 zur Kommerzialisierung dieser Bücher unter Gesinnungsethikern beitrug. Muslimische Aufklärer der Diaspora müssen sich nicht nur vor islamischen Fundamentalisten, sondern auch vor diesen gesinnungsethischen Europäern und ihrer Zensur im Sinne einer political correctness fürchten. Deutsche Islamophilie hat bei einer von Schuldkomplexen geplagten Linksintelligenz wie der deutschen eine vergleichbare Qualität wie der Philosemitismus, den meine jüdischen Freunde als eine Spielart des Antisemitismus qualifizieren. Die einstigen deutschen Feinde des Islam treten heute im Gewand der Freunde des Islam auf.17 Sie unterstellen die Existenz von einem »Feindbild Islam« und führen zur Gewissensberuhigung einen Dialog mit den Islamisten. Für sie gilt der Spruch »Selig sind die Belogenen«.18 Die Menschenrechte bleiben dabei auf der Strecke. Was sind individuelle Menschenrechte? In den politischen Schriften der europäischen Aufklärer, in der britischen (1689) und der amerikanischen Virginia Bill of Rights (1776) sowie vor allem in der Deklaration der Menschenund Bürgerrechte der Französischen Revolution (1789) werden die individuellen Menschenrechte im Einzelnen näher erläutert: Sie können unter dem Begriff »Freiheit des Individuums«19 zusammengefasst werden; ihre philosophische Grundlage ist das Subjektivitätsprinzip, wie es Habermas später nannte, demzufolge der Mensch ein freies, sich selbst bestimmendes und zur Entfaltung fähiges Subjekt ist. Die europäischen -117-
Menschenrechtsdenker haben nicht an die »Europäer«, sondern an die Menschheit gedacht und damit universelle Geltung für die von ihnen entfalteten Ideen beansprucht. Erst 1948 fand dieser Anspruch auf Universalität Niederschlag in einem internationalen Dokument. Nach zwei katastrophalen Weltkriegen hat sich die Weltgemeinschaft (mit Ausnahme des islamischen SaudiArabiens und der damals noch kommunistischen Länder) bei der Gründung der Vereinten Nationen konsensuell darauf geeinigt, die Menschenrechte zur Sache der gesamten Menschheit zu erheben. Damit wurde der Universalitätsanspruch des europäischen Menschenrechtsdenkens anerkannt, was sich in der 1948 verabschiedeten Universellen Deklaration der Menschenrechte durch die UNO manifestierte.20 Nach der Unterzeichnung der Helsinki-Akte zur Gründung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (1975) haben die damals noch kommunistischen Länder ihre Vorbehalte wenngleich stufenweise und nur verbal - gegenüber den Menschenrechten aufgegeben. Uneingeschränkt ablehnend bleibt heute nur noch Saudi-Arabien, die »Mutter« der 56 Staaten umfassenden Organization of the Islamic Conference (OIC). Doch diese Haltung zieht ihre Kreise: Auf der Weltkonferenz für Menschenrechte von 1993 bildete sich eine unheilige Allianz vormoderner Kulturen. Staaten wie SaudiArabien, Iran, Sudan und Syrien schlossen mit dem atheistischkommunistischen China sowie mit hinduistischen und buddhistischen Staaten in Asien ein Bündnis gegen die Menschenrechte, mit dem Ziel der Entwestlichung der Welt im Sinne eines Krieges der Zivilisationen21 gegen die individuellen Menschenrechte. Doch noch gelten die Charta der Vereinten Nationen von 1945 und die Universelle Deklaration der Menschenrechte von 1948. In letzterem Dokument finden wir die genaueste Bestimmung der individuellen Menschenrechte in den Artikeln -118-
2 bis 21. Sie betreffen unter anderem: • das Recht auf Freiheit, unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache und Religion; • das Recht auf Leben, Bewegungsfreiheit und Sicherheit; • das Recht, nicht gefoltert oder unmenschlich behandelt beziehungsweise bestraft zu werden; • das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz; • das Recht gegen willkürliche Verhaftung, Abschiebung oder Exilierung; • das Recht auf Freiheit des Gedankens, des Gewissens und der Religion. In der Deklaration steht (Artikel 18): »Dies umfasst die Freiheit, die Religion oder den Glauben zu wechseln« (nach der Schari'a hingegen gilt ein Muslim, der seinen Glauben ändert oder aufgibt, als Murtad [Apostat]; die Strafe hierfür ist der Tod); • das Recht der freien, friedlichen Versammlung und der Bildung von Vereinigungen; • das Recht, die eigene Regierung zu bestimmen und an der Regierungsarbeit mitzuwirken. Nach den Jahresberichten der Menschenrechtsorganisation Amnesty International haben diese Menschenrechte in mehr als hundert Staaten der Welt keine Geltung und keinem einzigen der 56 Mitgliedsstaaten der OIC wird bescheinigt, die in der Deklaration der Menschenrechte von 1948 angeführten Rechte zu respektieren. Zwar hat Saudi-Arabien dieses Dokument nicht unterschrieben, wohl aber leisteten eine Reihe anderer islamischer Staaten nach 1948 ihre Unterschrift - doch offenbar ohne darin eine Verbindlichkeit zu sehen. Entsprechend hält der kurdische Schriftsteller Namo Aziz die Beteuerungen nahöstlicher Staaten gegenüber seinem der Menschenrechte -119-
beraubten Volk für unglaubwürdig. Er begründet dies mit der Bemerkung, man könne »auf einmal gemachten Abmachungen vertrauen«, wenn sie von einem »Rechtsstaat« kämen. »Doch danach muss man im Nahen Osten lange suchen.«22 Wer schützt die Menschenrechte vor Rechtsbrechern? Die Vereinten Nationen? Die UN-Charta von 1945 schreibt die Verbindlichkeit der Menschenrechte (in der Präambel und besonders in den Artikeln 13, 55, 56 und 76) - neben der Arbeit für den Weltfrieden - als ein Hauptanliegen der in dieser internationalen Organisation versammelten Weltgemeinschaft fest. Die Universelle Deklaration der Menschenrechte war, ebenso wie die Charta selbst, nur eine Bekundung des guten Willens der unterzeichnenden UNO-Mitglieder, nicht aber international bindendes Völkerrecht. Mit den beiden Menschenrechtspakten über zivile und politische sowie über ökonomische, soziale und kulturelle Rechte von 1966 hat sich die Situation etwas geändert, denn nach der Ratifizierung durch die Mehrheit der Unterzeichnerstaaten (eine Reihe von islamischen Staaten haben die beiden Pakte noch immer nicht ratifiziert) sind die in den beiden Dokumenten angegebenen Menschenrechte seit März 1976 gültiges internationales Recht.23 Darüber hinaus gibt es weitere Konventionen: gegen rassische Diskriminierung, gegen die Diskriminierung der Frau (von nur fünf arabischen Staaten unterzeichnet) und gegen Folter (unterzeichnet von nur sieben arabischen Staaten). Selbst die islamischen Staaten, die diese Konventionen unterzeichnet haben, haben diese noch nicht ratifiziert. Das gilt auch für die beiden Menschenrechtspakte von 1966, obwohl sie seit 1976 Völkerrecht sind. Üblicherweise wird ein Rechtsbrecher in einem Staat von der Polizei gesucht, verhaftet und vor Gericht gestellt; auf der Basis -120-
der vorliegenden Beweise kann er dann verurteilt werden. Wer aber setzt die Menschenrechte gegen internationale Rechtsbrecher durch? In Bosnien haben serbische Tschetniks während des Krieges 1992-1995 als Ethno-Fundamentalisten gewütet;24 sie vergewaltigten muslimische Frauen, verletzten und folterten männliche Muslime und brachen dabei alle in den Dokumenten verankerten Menschenrechte, die als Völkerrecht gelten.25 Es ist ein großer Fortschritt, dass sich Europa entschlossen hat, diese begangenen Gräueltaten - ähnlich wie beim Nürnberger Tribunal - in Den Haag zu ahnden, wo serbische Kriegsverbrecher bis heute vor Gericht stehen. In dieser Angelegenheit bedienten sich die islamischen Staaten einer lautstarken Rhetorik. Besitzen die zeitgenössischen islamischen »Neo-Sultane« aber überhaupt die Legitimität, Menschenrechtsverletzungen in Bosnien zu verurteilen, wenn man bedenkt, dass die meisten von ihnen mit ihren Untertanen ebenso verfahren? Die UNO bietet in ihrer gegenwärtigen Verfassung einige Instrumente zur Feststellung der Verletzung von Menschenrechten, konnte aber bislang wenig gegen die Missachtung des Völkerrechts unternehmen. Die UN-Charta hebt zwar die Bedeutung der Menschenrechte hervor, heiligt aber gleichzeitig das Souveränitätsrecht der Nationalstaaten.26 Hinter diesem Recht verstecken sich die Menschenrechtsverletzer in der Welt des Islam und anderswo. Während der UN-Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien konnte der syrische Vertreter, ohne zu erröten und ohne sichtbare Empörung bei seinen Zuhörern hervorzurufen, verlangen, dass der im Schlussdokument enthaltene Paragraph über Folter mit der Begründung gestrichen werden solle, dies betreffe die Souveränität seines Landes, die ja von der UN-Charta geschützt werde. Das von der Baath-Partei dominierte Syrien gehört zu jenen Ländern, in denen in Konzentrationslagern massiv gefoltert und die Menschenwürde mit Füßen getreten wird.27 Die -121-
islamische Schari'a schreibt körperliche Strafen vor, die Folter, Auspeitschen und Handabhacken einschließen. Ist das die islamische Identität? Die wichtigsten Instrumente der UNO zur Feststellung der Menschenrechtsverletzungen sind die Prozeduren gemäß der UN-Resolutionen 1235 und 1503.28 Sie erschöpfen sich in der Erstellung von Rapporten über mögliche Verletzungen. Dieses Verfahren ist nicht nur institutionell schwerfällig, es kann auch sehr leicht von den rechtsverletzenden Staaten mit allen möglichen Mitteln unterlaufen werden. Die Rechtsbrecherstaaten der ehemaligen Dritten Welt verhindern durch entsprechende Koalitionen, dass sie wegen Folter und anderer Missachtungen der Menschenrechte politisch verurteilt werden. Die Neue Zürcher Zeitung hat exemplarisch die 46. Sitzung der UNO-Menschenrechtskommission in Genf (Februar/März 1990) so beschrieben: »Bisher bestand vor allem eine regionale Solidarität: Die Staaten jedes Erdteils versuchten, sich gegenseitig vor Verurteilungen abzuschirmen... Wegen dieser gegenseitigen diplomatischen Unterstützung wird es immer schwerer, Menschenrechtsverletzungen in der Dritten Welt bloßzustellen... Die öffentliche Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen ist das einzige Druckmittel dieser Kommission.«29 Der UN-Experte Tom J. Farer hat nach einer näheren Untersuchung der UN-Reaktionen auf Menschenrechtsverletzungen festgestellt, die Weltorganisation erschöpfe sich darin, »wenig mehr als ein Wimmern«30 zu äußern. Könnte die UNO die Rechtsbrecher belangen? Die bedrückende Antwort ist, dass die UNO seinerzeit über keinerlei Sanktionsmöglichkeiten bei Menschenrechtsverletzungen verfügte, so dass die Täter in der Regel ungestraft davonkamen. Inzwischen -122-
existiert die Institution des Internationalen Strafgerichtshofes und zudem gilt Intervention - trotz der Verletzung staatlicher Souveränität - seit Bosnien und Kosovo als legitimes Mittel zur Unterbindung von Gräueltaten gegen die Menschlichkeit. In einem Spiegel-Essay hat Dieter Wild in einer Mischung aus Ironie und Skepsis hervorgehoben, dass jene Staaten, die 1948 aus religiösen oder ideologischen Gründen die Universelle Deklaration der Menschenrechte boykottierten, ruhig hätten unterzeichnen können: »Saudi-Arabien hätte... getrost zustimmen können... so imposant die Zahl der seit 1948 verabschiedeten Menschenrechtsdeklarationen, so jammervoll ist ihr Vollzug.«31 Angesichts der ethnisch-religiösen Blockbildungen in der Weltpolitik und der unheiligen Allianzen zwischen kommunistischen (China), religiös-fundamentalistischen (Sudan, Iran) und schlicht totalitär regierten Staaten, das heißt solchen ohne religiöse Legitimierung (beispielsweise Syrien), wird es auch in Zukunft um die Menschenrechte nicht gut bestellt sein. Nach dem 11. September 2001 wurde der Krieg gegen den Terrorismus vom Westen sogar mit Hilfe islamischer Diktatoren geführt; damit vernachlässigte der Westen selbst die Menschenrechte. Viele asiatische und afrikanische Regierungen der blockierenden Staaten versuchen mit ihrer Taktik der Hervorhebung der »dritten Generation« von Menschenrechten, eben dem »Recht auf Entwicklung«, von den Menschenrechtsverletzungen in ihren Ländern abzulenken. Was hat es mit dieser Generation auf sich und welche Rolle übernimmt die UNO? In der Fachliteratur32 über die UNO und die Menschenrechte wird zwischen drei Kategorien beziehungsweise »Generationen« (Übersetzung des englischen Ausdrucks) der Menschenrechte unterschieden: 1. die zivilen und politischen Abwehrrechte (der Staat darf nicht...) gegenüber staatlicher Gewalt als Berechtigungen des -123-
Individuums zum Schutz vor Verletzung oder Einschränkung seiner individuellen Rechte; 2. die sozialen und ökonomischen Rechte (zum Beispiel das Recht auf einen Arbeitsplatz oder auf soziale Absicherung), die je individuell oder kollektiv gedeutet werden können, obwohl sie grundsätzlich auf das Individuum zugeschnitten sind. Im Gegensatz zu den zivilen und politischen Menschenrechten, die Abwehrrechte sind, stellen diese ökonomischen und sozialen Rechte Ansprüche an den Staat dar, das heißt, in ihnen kommt Anspruchsdenken, nicht ein Schutzbedürfnis gegenüber staatlicher Gewalt zum Ausdruck; 3. Solidaritätsrechte, die früher den »Dritte-WeltNationalismus«, heute den Antiamerikanismus der nichtwestlichen Zivilisationen gegenüber dem Westen als Ideologie der Kollektivrechte zum Ausdruck bringen. Die schon längst in zahlreichen Arbeiten sozialhistorisch widerlegte These, der Reichtum des Westens resultiere aus der »Plünderung der Dritten Welt«, dient vielen nichtwestlichen Politikern als Grundlage dafür, Ansprüche gegenüber westlichen Staaten zu erheben, wie etwa das einklagbare Recht auf eine vom Westen zu finanzierende Entwicklung. Der Einsatz für Menschenrechte in diesen Ländern oder die Koppelung der Entwicklungshilfe an Demokratisierungsprozesse wird dabei als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurückgewiesen. Kollektivrechte anstelle individueller Menschenrechte? Die Forderung nach Kollektivrechten als Ersatz für individuelle Menschenrechte wird mit der Begründung vorgetragen, individuelle Rechte seien westlich geprägt und deshalb abzulehnen. Die zahlreichen Reden von Vertretern afrikanischer und asiatischer Diktaturen auf der Wiener Menschenrechtskonferenz im Juni 1993 hatten allesamt diesen -124-
Tenor. Ohne zu berücksichtigen, wie Reichtümer sozial- und wirtschaftsgeschichtlich entstanden sind, wird von diesen Politikern im Sinne einer Cargo-Mentalität gefordert, alle Reichtümer der Welt unter allen Menschen gerecht zu verteilen. Das verstehen sie unter Kollektivrechten. Der Begriff der CargoMentalität stammt aus einem Heilskult in Melanesien, der die Aneignung von Gütern europäischer Herkunft predigt, die ohne eigenes Zutun als Schiffsladung (Cargo) kommen und den Kultangehörigen ohne eigene Anstrengung zu deren Produktion gleichsam in den Schoß fallen.33 Der marxistische Wirtschaftshistoriker Maurice Dobb hat die koloniale Erschließung außereuropäischer Gebiete im Rahmen der Expansion Europas bei seiner Analyse von Entwicklungsprozessen der industriell-kapitalistischen Gesellschaft berücksichtigt und erkannt, dass sie diese ein wenig beschleunigt, aber nicht verursacht hat.34 Die ursprüngliche Akkumulation und die damit verbundenen Reichtümer sind in erster Linie Produkte der eigendynamischen Entwicklung moderner Gesellschaften des Westens und nicht einer so genannten »Ausbeutung« der Dritten Welt. Realgeschichte und das Spiel von wechselseitigen Selbstanklagen und Schuldzuweisungen müssen hier also streng auseinander gehalten werden. Ich führe diese Tatsachen nicht an, um die Politiker aus Asien und Afrika zu denunzieren, sondern allein, um den Verlauf historischer Prozesse richtig darzustellen. Bezogen auf die Gegenwart und unseren Gegenstand bedeutet das: Die Berufung auf die koloniale Vergangenheit kann niemals eine Legitimation für die Praktiken orientalischer Despoten, »Neo-Sultane« oder anderer Diktatoren der ehemaligen Dritten Welt bieten. Der Rückgriff auf die hier diskutierte »dritte Generation« von Menschenrechten, also »Entwicklung statt Menschenrechte«, hinkt angesichts der Tatsache, dass die angesprochenen »NeoSultane« und Diktatoren in Feldmarschallsuniformen für die -125-
Unterentwicklung ihrer Länder selbst anzuklagen sind. Aus der aktuellen Forschung wissen wir, dass die neuen Eliten in Asien und Afrika als »Staatsklassen« fungieren und oft die größten Barrieren gegen Entwicklung in ihren Ländern darstellen. Für die Urheber dieser »dritten Generation von Rechten« bietet sich die UNO lediglich als ein theatralisches Forum für die Inszenierung von Anklagen dar, die Menschenrechtsverletzungen verdecken sollen. In unserer Welt ist es also schlecht bestellt um die Menschenrechte. Dennoch darf man den hartnäckigen Kampf für ihren Vollzug nicht aufgeben. Zu den Menschenrechten gehört das Recht auf ein Leben in Würde. Gäbe man dieses Recht auf, dann lohnte sich eine Existenz in dieser Welt nicht mehr, es sei denn, man gehört zu einer Kultur, in der die Menschen ihre Unterjochung als Ra'iyya (Herde) verinnerlicht haben und sie deshalb akzeptieren. Menschen, die einmal den Hauch der Freiheit in sich aufgenommen haben, können im Staat nur einen zu zähmenden Leviathan sehen, der kein Behemoth werden darf und deshalb durch Rechtsstrukturen gebändigt werden muss. Ein Muslim, der diesen Hauch einmal verspürt hat, würde nie mehr unter der Herrschaft eines »Sultans« leben wollen, der als »Schatten Allahs« und im Namen des Kollektivs nach Belieben schaltet und waltet. Die Idee der Kollektivrechte ist oft nur eine Legitimationsideologie zur Unterdrückung individueller Rechte; hierzu zählt in der Welt des Islam auch das Kollektivrecht der Schari'a. Wie bereits erwähnt, ist der Preis für den Widerstand gegen dieses Recht islamischer »Sultane«, als ein Murtad verfolgt zu werden. Wo liegen die Spannungen zwischen dem Islam und den individuellen Menschenrechten? Im folgenden Kapitel werde ich versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben und zeigen, wie daraus in unserer Zeit ein Zivilisationskonflikt entsteht, bei dem es um Weltanschauungen35 geht. -126-
Kapitel 3 Universalität der Menschenrechte und Partikularität der Kulturen
Der weltanschauliche Konflikt zwischen dem Islam und dem europäischen Konzept individueller Menschenrechte als Zivilisationskonflikt
Dieses den ersten Teil abschließende Kapitel beginnt mit einer Rekapitulation. Von Rezensenten wird mir häufig die zugegebenermaßen orientalische Eigenart der Wiederholung vorgeworfen, obwohl einige von ihnen einräumen, dass dieser repetitive Stil hilft, besser zu verstehen und keine zentrale Idee zu übersehen. Von denselben Rezensenten werden mir jedoch auch immer wieder Dinge unterstellt, die einfach nicht zutreffen. Das gibt mir Anlass zu der Vermutung, dass ich eher noch nicht oft genug wiederholt habe. Wenn ich von einem weltanschaulichen Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen in Bezug auf ihr Verständnis von Rechten spreche, dann ist mir stets die Tatsache gegenwärtig, dass Menschenrechte Individualrechte sind und sich auf entitlements (Berechtigungen) des Individuums - nicht von Kollektiven - gegenüber Staat und Gesellschaft beziehen. Obwohl in der IslamCharta des in Deutschland agierenden Zentralrates der Muslime in Artikel 13 die Rede von »im Koran verankerten, von Gott gewährten Individualrechten« ist und -127-
ferner behauptet wird, dass zwischen diesen und »dem Kernbestand der westlichen Menschenrechte kein Widerspruch besteht«, vertrete ich genau das Gegenteil. Meiner Ansicht nach kann nur ein Reform-Islam diesen Widerspruch beheben und einen solchen sehe ich in der Islam-Charta einfach nicht. Ein bloßes Lippenbekenntnis zum Grundgesetz steht neben dem Bekenntnis zur Schari'a (nach dem Koran »Moralität«; postkoranisch als islamisches Rechtssystem konstruiert). Im Spiegel (37/1994) ist mein Essay über die Schari'a anlässlich der Verletzung der Menschenrechte der Muslimin Taslima Nasrin mit der Überschrift »Wie Feuer und Wasser« versehen, denn so verhalten sich die islamische Schari'a-Orthodoxie und die Menschenrechte in Wahrheit zueinander. In unserem Zeitalter ist Toleranz nur auf der Basis unzweideutiger Anerkennung der Menschenrechte möglich.1 Während der Entstehung dieser Neuausgabe setzten mich österreichische Sozialdemokraten in Graz der dortigen Islamgemeinde aus, von der ich als Reform-Muslim beschimpft und verfemt wurde, weil ich derartige Ideen vertrat. »Menschenrechte« für Muslime bedeutet für diese Menschen beispielsweise islamische Kleidung für muslimische Frauen, bei der nur die Augen zu sehen sind. Zur Krönung des Ganzen stellten sie den Terrorismus Bin Ladens der Außenpolitik der USA, die sie als Staatsterrorismus bezeichnen, gleich. Die Diaspora-Islamisten formieren sich im Zeitalter des Fundamentalismus als eine ethnische Gemeinde und verwandeln den Islam in einen ethnischen Nationalismus. Nach dieser Veranstaltung war mir klar, dass zwischen diesen beiden unterschiedlichen Auffassungen vom Konzept der Menschenrechte ein Konflikt entsteht, der ein Zivilisationskonflikt ist. Verschärft wurde dieser dadurch, dass meine Diskussionspartner in Graz ihr Verständnis vom Islam als Orthodoxie oder Islamismus verleugneten. Der angesprochene Dissens ist auch von globaler Bedeutung, -128-
denn die Grundidee einer nationalstaatlichen Weltordnung basiert auf der Voraussetzung, dass zwischen den beteiligten Staaten ein Konsens bezüglich der Normen und Werte sowie der Umgangsformen miteinander besteht. Daher frage ich zunächst, ob es einen solchen Konsens zwischen dem Dar al-Islam (Haus des Islam) und dem Westen gibt. Bisher hatte man geglaubt, diesen Konsens in der heute umstrittenen Universellen Deklaration der Menschenrechte von 1948 gefunden zu haben; jedoch erwies sich diese Annahme als Trugschluss. Im Zeitalter globaler Migration wird der oben beschriebene Konflikt in das Haus des Westens selbst hineingetragen. Menschenrechte und der weltanschauliche Konflikt Frieden zwischen den Staaten und die universelle Geltung der Menschenrechte - das sind die beiden Grundgedanken der Vereinten Nationen. Selbst in den Tagen des Kalten Krieges, insbesondere nach der Gründung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), war unter den Mitgliedern der Weltgemeinschaft formal anerkannt, dass es universelle Werte vor allem in den Bereichen Weltfrieden und Menschenrechte gibt. Nach dem Ende des Kalten Krieges herrschte zunächst die Illusion, dass nun ein Zeitalter des Friedens und der Menschenrechte anbrechen würde, nachdem der Störfaktor Kommunismus beseitigt war. Stattdessen leben wir heute in einer der kritischsten Perioden der gesamten neueren Geschichte, in einem Zeitalter des globalen Fundamentalismus und des ethnischen Nationalismus. Beide Ideologien bestreiten die bisher gültige Universalität der Menschenrechte, vertiefen bestehende religiöse und ethnische Gräben und dienen als Ideologien des Zusammenpralls der Zivilisationen. Diese rufen entsprechende weltanschauliche Konflikte hervor, von denen einer am 11. September 2001 militarisiert wurde. -129-
Religiöser Fundamentalismus heißt Desäkularisierung der Politik und somit die Einführung eines religiös gefärbten neuen Totalitarismus. Ethnischer Nationalismus bedeutet die Auflösung der auf citoyenneté (Bürgerschaft) basierenden Nation als einer politischen Gemeinschaft freier Individuen zugunsten des Erstarkens ethnisch-religiöser Wir-Gruppen.2 Beide neuen Strömungen sind trennende Kräfte in einer strukturell einheitlichen Welt; sie verbinden sich miteinander in der Diaspora-Kultur und bilden eine Gegenkraft zur Integration - zum Beispiel jener der Muslime -, das heißt zur Einbindung der Migranten als Bürger europäischer Gesellschaften.3 Europa befindet sich in einer Sinnkrise und der Westen zeigt sich ohnmächtig in seiner Reaktion auf diese veränderten Herausforderungen. Nach meiner Auffassung ist der beschriebene Konflikt zwischen dem Islam und den individuellen Menschenrechten ein solcher zwischen zwei Ansprüchen auf Universalität und somit weltanschaulichen Charakters. Parallel zur Globalisierung lässt sich eine kulturelle Fragmentation beobachten,4 die in einer Erosion des Wertekonsenses zum Ausdruck kommt. Die Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien vom 14. bis 25. Juni 1993 war eine globale Illustration für den angesprochenen Konsensverlust in der internationalen Politik. Während in früheren Phasen asiatische und afrikanische Diktaturen defensiv die Normen der Menschenrechte anerkannten und stets bemüht waren, ihre Verletzungen dieser universellen Rechte mit allerlei zynischen Ausflüchten zu verleugnen, gehen sie heute zum Angriff über und stellen die Menschenrechte als einen kulturellen Imperialismus des Westens dar. Dabei wurde die Tatenlosigkeit des Westens gegenüber den Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan von den asiatischen Staaten als Vorwand genommen, das westliche Konzept von Menschenrechten generell zurückzuweisen.5 Das ist keine Nord-Süd-Auseinandersetzung -130-
zwischen Armen und Reichen, sondern ein weltanschaulicher Konflikt zwischen der Zivilisation der kulturellen Moderne und ihrer Manifestationen (Säkularität, Demokratie und individuelle Menschenrechte) einerseits und den undemokratischen vormodernen Zivilisationen andererseits. Als Ideologien dieses Konflikts treten Fundamentalismen und die Spielarten des ethnischen Nationalismus gegen den säkularen Staat in der internationalen Politik auf.6 Die Tatsache, dass westliche Staaten die wichtigste Errungenschaft ihrer Zivilisation auf dem Balkan auf übelste Weise verrieten und dies auch andernorts tun, kann als ein Argument gegen diese Staaten, nicht aber gegen Demokratie und Menschenrechte vorgetragen werden. Ethnische und religiöse Gesichtspunkte als Partikularität der Kulturen werden gegen die Universalität der Menschenrechte geltend gemacht. In der linken gesinnungsethischen Publizistik ist eine dem früheren Antikommunismusverdacht vergleichbare neue Waffe entwickelt worden, die gegen all jene eingesetzt wird, die den Westen verteidigen. Die neue Waffe heißt Kulturrassismus oder Euro-Rassismus.7 Die europäischen Kritiker von Folter und Misshandlung der Menschen in außerwestlichen Staaten erscheinen nun als Euro-Rassisten, weil sie es - die Regeln der political correctness missachtend wagen, vormoderne Kulturen zu kritisieren. In Bezug auf den Islam ist in jenen gesinnungsethischen Kreisen als neues Konstrukt der Begriff vom »Feindbild Islam«8 als Ersatz für das »Feindbild Kommunismus« fabriziert worden. Selbst die Kritik am islamischen Djihad-Terrorismus wird als Beitrag zum »Feindbild Islam« verfemt. Den Islamisten in der Diaspora ist dies willkommen, weil sich damit jede Kritik an ihnen verbietet. Ich bin gewiss kein Anhänger von Oswald Spengler, kann jedoch nicht umhin zu beobachten, dass sich die westliche Zivilisation in einer Sinnkrise befindet, welche zu ihrem Niedergang führen kann. Dies begründe ich damit, dass westliche Werte und Normen, wie zum Beispiel Demokratie und -131-
Menschenrechte, im Westen heute offenbar nicht mehr ungestraft verteidigt werden dürfen. Der islamische Philosoph Ibn Khaldun9 sieht den Verlust an normativer Verbindlichkeit, also an Asabiyya (esprit de corps), in einer Gesellschaft als Zeichen für den Untergang einer Kultur. Die Schwäche der europäischen Asabiyya bestärkt die vormodernen Kulturen in ihrem Wechsel von einer defensiv-kulturellen zu einer offensiven Position. Viele westliche Konfliktexperten im Bereich der internationalen Politik haben keine Ahnung von derlei Erscheinungen, weil sie ihre Analysen zumeist auf sicherheitspolitische oder weltwirtschaftliche Fragestellungen beschränken. Diejenigen aber, die sich mit der Schaffung kulturübergreifender Grundlagen der Menschenrechte befassen, sind sich der Tatsache bewusst, dass das gegenwärtige internationale System Menschen der unterschiedlichsten kulturellen Prägungen miteinander konfrontiert und somit Konfliktpotentiale entstehen. Sie erkennen die Notwendigkeit einer Analyse der kulturellen Dimension in den internationalen Beziehungen an. Inzwischen haben in den USA einige Sozialwissenschaftler begonnen, Begleiterscheinungen dieser Entwicklungen zu begreifen und hierfür den Begriff cultural turn geprägt. Der neue postbipolare weltanschauliche Konflikt in unserem Zeitalter des globalen Fundamentalismus und des ethnischen Nationalismus gedeiht bei der Bildung kultureller Gruppenidentitäten, die als Bezugsrahmen für religiös-ethnische Kollektive dienen. Dies betrifft, exemplarisch für einen solchen globalen Konfliktstoff, auch die Frage nach der Universalität der Menschenrechte. Wenngleich eine Einheitlichkeit von Menschenrechtsstandards auf der internationalen Ebene unabdingbar ist, vollzieht sich die Umsetzung dieser Rechte in einer Vielzahl verschiedener kultureller Kontexte, die berücksichtigt werden müssen. Zu fragen ist, wie der Anspruch auf eine konstruierte »islamische Kollektividentität« mit einem -132-
vollherzigen Bekenntnis zu den internationalen Menschenrechtsstandards im Sinne von Individualrechten harmonisiert werden kann, so dass die Wechselwirkungen der kulturellen Eigenschaften des Islam mit der Globalisierung dieser Standards konfliktfrei verlaufen. Die Alternative dazu wäre ein unkontrolliertes Konfliktpotential, auch in der Diaspora! Als Muslim aus einem nichtwestlichen Land bin ich mir des europäischen Ursprungs des modernen Konzepts individueller Menschenrechte bewusst und weiß von der Diskrepanz zwischen der Forderung nach Umsetzung der islamischen Schari'a als einer Pflichtenlehre und den internationalen Menschenrechtsstandards. Unter Hinweis auf die kulturelle Fragmentation in unserer Welt betrachtet der aufgeklärte islamische Rechtsgelehrte und Reform-Muslim An-Na'im die Durchsetzung der Menschenrechte in der islamischen Welt als ein »legitimes Anliegen der gesamten Menschheit«, also nicht als Aufgabe der Muslime allein. Diese weisen die westliche Entrüstung über Menschenrechtsverletzungen in islamischen Ländern häufig als Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zurück. Nur die Muslime selbst können die notwendige historische Aufgabe erfüllen, welche An-Na'im als »drastische Reform des islamischen Rechts« bezeichnet. Dies zu erkennen heißt freilich nicht, dass Menschenrechtsverletzungen in der islamischen Welt international nicht thematisiert und verurteilt werden sollten, denn »die Menschheit kann sich ihrer Verantwortung für das Schicksal der Menschen in anderen Teilen der Welt nicht länger entziehen«10. In unserer heutigen Zeit, in der orthodoxe Muslime und islamische Fundamentalisten die Anwendung der Schari'a auch in der europäischen Diaspora fordern und zu ihrem politischen Programm erheben, entsteht ein weltanschaulicher Konflikt, da dieses Rechtsverständnis in offenem Widerspruch zum -133-
internationalen Völkerrecht und zur europäischen Tradition steht. Es ist deshalb verständlich, dass dabei die universelle Gültigkeit der Menschenrechte westlicher Prägung gefährdet wird; anstelle dieser fordern Islamisten Universalität für ihr Verständnis von der Schari'a und begründen dies mit dem Verweis auf »Toleranz«. Bei dieser handelt es sich allerdings um eine »Einbahnstraßentoleranz«. Universalisierung der Menschenrechte - oder hat die Partikularität der lokalen Kulturen Vorrang? Diejenigen, welche richtigerweise von einer umfassenden und fortschreitenden strukturellen Globalisierung sprechen, übersehen oftmals, dass diese nicht die kulturelle Sphäre umfasst. Die Globalisierung findet im Bereich der Ökonomie, der Politik sowie des Transport- und Kommunikationswesens statt; sie führt jedoch nicht zu einer entsprechenden normativen Vereinheitlichung. Eine gewisse Standardisierung in Form eines gemeinsamen rechtlichen Rahmens als Konsens über Werte und Normen - und sei er noch so minimal - ist aber, wie bereits ausgeführt, die notwendige Voraussetzung für eine funktionierende Weltordnung. Rechtssysteme basieren schließlich auf kulturellen Normen und Werten.11 Daher wird die universelle Geltung von Rechtssystemen in unserer Gegenwart durch die Gleichzeitigkeit von struktureller Globalisierung und kultureller Fragmentation beeinträchtigt. Vor dem Hintergrund dieser Gleichzeitigkeit ist ein weltweit akzeptierter rechtlicher Rahmen auf kulturübergreifender Grundlage umso nötiger. Wie kann dieses Ziel angesichts der bestehenden kulturellen Unterschiede - also der Tatsache, dass parallel zum internationalen System keine »Weltkultur« existiert - verwirklicht werden? Vor allem im Bereich der Menschenrechte wird es immer dringlicher, sich mit diesem -134-
fortdauernden Problem eingehend zu befassen. Dabei ist es unabdingbar, über die wohl bekannten ehrwürdigen, wenn auch bloß rhetorischen Verurteilungen von Menschenrechtsverletzungen in außerwestlichen Gesellschaften hinauszugehen und die Substanz jener kulturellen Muster - auch im Islam anzusprechen, die solche Rechtsverletzungen begünstigen. Bei der Beantwortung der Frage, ob und inwieweit das in seinem Ursprung westliche Konzept der Menschenrechte auf kulturübergreifenden Fundamenten aufgebaut werden kann, stehen wir zunächst vor der Schwierigkeit, dass nichtwestliche Kulturen dem Westen aufgrund seiner ökonomischen Prosperität und militärischen Überlegenheit feindselig gegenüberstehen. In einer defensivkulturellen Haltung werden Ansprüche nichtwestlicher Zivilisationen auf Authentizität geltend gemacht. Der daraus resultierende weltanschauliche Zivilisationskonflikt ist dann nicht mehr ökonomisch bedingt. Das angestrebte Ziel außerwestlicher Zivilisationen ist die Entwestlichung der Welt, die unter anderem darauf abzielt, individuelle Menschenrechte durch Rechte des Kollektivs zu ersetzen. In der Tat werden heute nirgendwo in der nichtwestlichen Welt die Menschenrechtsbelange erörtert, ohne dass die Frage der Authentizität auftaucht und die Debatte bestimmt. Ähnlich verlief die Diskussion während der UNMenschenrechtskonferenz 1993 in Wien. Diese immer wieder vorgebrachte Frage ist dann besonders heikel, wenn sie auf die wohl bedeutendste außerwestliche Zivilisation unserer Welt bezogen wird: auf den Islam mitsamt seinen rechtlichen Konzepten, die Universalität für sich beanspruchen. Dies betrifft nicht nur die Ebene der internationalen Politik, sondern auch die islamischen Diaspora-Kulturen in Europa. Neben einer Minderheit aufgeklärter Muslime, welche die individuellen Menschenrechte in ihrem gesamten Umfang akzeptieren, ist die Mehrheit der heutigen Muslime in zwei Lager gespalten - in eines, das die Konzeption der -135-
Menschenrechte offen als rein westliche, dem Islam fremde Idee ablehnt, und ein anderes, das Menschenrechte prinzipiell bejaht, jedoch ein spezifisch islamisches Konzept derselben innerhalb des vorgegebenen ideologischen Rahmens beansprucht. Die Idee spezifisch islamischer Menschenrechte verliert an Glaubwürdigkeit, wenn ihre Anhänger ihren Verzicht auf eine Reform des islamischen Rechts, das heißt der Schari'a, hervorheben. Anders als einige westliche Autoren, die sich jede Kritik am zeitgenössischen Islam aus Furcht vor dem Vorwurf der Überheblichkeit gegenüber anderen Kulturen beziehungsweise des so genannten »Euro-Rassismus« oder gar des »Feindbildes« versagen, muss der ehrliche Experte die Grenzen der Reformierbarkeit des Islam benennen. Die bisherigen Versuche, eine islamische Menschenrechtskonzeption zu etablieren, sind nicht einmal in Ansätzen reformerisch; sie zielen meistens darauf, Ungleichheiten zwischen dem islamischen Rechtssystem und den internationalen Menschenrechten festzustellen, um die Zurückweisung der inhaltlichen Substanz der individuellen Menschenrechte zu rechtfertigen. Der Unterschied zwischen jenen Muslimen, welche die Normen der Menschenrechte als westlich ablehnen, und solchen, die den Versuch unternehmen, ein spezifisch islamisches, das heißt nur für Muslime gültiges Konzept von Menschenrechten zu etablieren, ist nicht etwa der zwischen einer menschenrechtsfeindlichen und einer sich den Menschenrechten verpflichtenden Partei. Ganz im Gegenteil! Mein Argument lautet, dass in der Weltgemeinschaft kein Konsens über die Gültigkeit individueller Menschenrechte mehr besteht. Dennoch kann man heute in unserer globalisierten Welt nicht länger gegen die Menschenrechte argumentieren, ohne selbst dabei Schaden zu nehmen. Eben aus diesem Grund versuchen nichtwestliche Herrscher, ihre Diktaturen mit dem Hinweis auf ein eigenes, der lokalen Kultur entsprechendes -136-
Menschenrechtsverständnis zu legitimieren. In ihrem Buch über Islam und Menschenrechte zeigt die Menschenrechtsexpertin Ann E. Mayer, dass islamische »Autoren davor zurückscheuen, offen zu sagen, dass das Befolgen islamischer Menschenrechtskriterien Abweichungen von den Normen des internationalen Rechts bedeutet«12. Wie in anderen nichtwestlichen Zivilisationen und ihren Lokalkulturen, die zum einen mit den universellen Werten und Normen der kulturellen Moderne, zum anderen mit der globalen politischen und ökonomischen Dominanz des Westens konfrontiert sind, gewinnt auch im zeitgenössischen Islam eine antiwestliche, die individuellen Menschenrechte ausschließende Einstellung an Boden. In diesem Kontext habe ich den Begriff der »Defensivkultur«13 im Hinblick auf den Islam geprägt. Politisch bleiben vormoderne Kulturen ihrer fehlenden Ressourcen und ungenügenden strukturellen Fähigkeiten wegen schwach und somit auf der rhetorischen Ebene defensivkulturell. Wie jedoch auf der Wiener Weltkonferenz für Menschenrechte und besonders während ihrer dreiwöchigen Vorbereitungsphase zu beobachten war, gehen nichtwestliche Zivilisationen heute in ihrer Ablehnung der westlichen Werte zur Offensive über, so dass sich in Wien in Bezug auf die Zurückweisung individueller Menschenrechte eine merkwürdige islamisch-hinduistisch-buddhistische Front gegen den Westen gebildet hat. Mangels eines europäischen esprit de corps oder dessen, was der islamische Philosoph Ibn Khaldun Asabiyya nannte, wagen europäische Politiker ihre Zivilisation leider nur hinter vorgehaltener Hand zu verteidigen. Nach der bedrückenden Erfahrung von Wien kann man sagen: Für die universelle Geltung der individuellen Menschenrechte sieht es in unserer heutigen Welt nicht gut aus. Ein angemessenes Verständnis des umfassenden Trends in nichtwestlichen Zivilisationen - vor allem der islamischen -, sich -137-
auf die dortigen lokalen Kulturen zu berufen, ist dringend erforderlich. Das betrifft das internationale Recht und die internationalen Beziehungen gleichermaßen, denn Menschenrechtskonzepte sind sowohl rechtliche als auch kulturelle Entwürfe. Der Anspruch auf die universelle Gültigkeit der Menschenrechtsstandards in den internationalen Beziehungen basiert auf den Prinzipien einer kosmopolitischen Rechtlichkeit. Diese ist »zumeist in Form der Idee international geschützter Menschenrechte ausgedrückt worden... Die Idee der Menschenrechte folgt direkt aus dem Ideal einer universellen menschlichen Gemeinschaft«,14 schreibt der amerikanische Völkerrechtler Terry Nardin. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, müssen wir aber die rigiden, legalistischen Konzeptionen des Völkerrechts (Rechtsformalismus) ebenso wie die nahezu obsessive ausschließliche Beschäftigung mit politökonomischen und sicherheitspolitischen Fragen in der Wissenschaft der internationalen Beziehungen überwinden. Nur unter angemessener Berücksichtigung der kulturell-weltanschaulichen Dimension können wir die konfliktträchtige Gleichzeitigkeit von struktureller Globalisierung und kultureller Fragmentation in unserer modernen Welt verstehen und ihr entgegensteuern. Die Beziehungen zwischen dem Dar al-Islam und dem Westen sind darin eingebettet. Der Auseinandersetzung um universelle, mit der Globalisierung korrespondierende Ansprüche rechtlicher Normen und Werte liegt ein Prozess zugrunde, den der OxfordGelehrte für internationale Beziehungen, Hedley Bull, in einem Aufsatz als »Die Revolte gegen den Westen« beschrieb. Diese richtet sich nicht primär gegen die ökonomische Unterprivilegierung außereuropäischer Kulturen - was berechtigt wäre -, sondern vor allem gegen die Universalisierung europäischer Normen wie die der individuellen Menschenrechte. Es geht also um die Entwestlichung der Welt. Bull führt weiter -138-
aus, dass der Aufstand der traditionellen Kulturen in Asien und Afrika gegen die ursprünglich westlichen, heute aber formal universellen Normen und Werte »durch den islamischen Fundamentalismus exemplifiziert wird«15. Wer heutzutage unter den Bedingungen dieser Revolte zur kulturellen Moderne steht, dem bleibt keine andere Wahl, als die Normen und Werte des Westens zu verteidigen. Der Vorwurf des Kulturrassismus wird in diesem Zusammenhang propagandistisch verzerrend eingesetzt und hat keinerlei Berechtigung, wenn es darum geht, die individuellen Menschenrechte gegen vormoderne Kulturen zu verteidigen, die diese verleugnen. Die Zurückweisung der Werte und Rechtsnormen der kulturellen Moderne kann nicht nur auf die Ablehnung der politischen Vorherrschaft des Westens zurückgeführt werden; sie resultiert zugleich aus den substantiellen Unterschieden zwischen modernen industriellen Kulturen und den vormodernen Werten und Normen nichtwestlicher Gesellschaften, seien sie islamisch, hinduistisch oder buddhistisch. In der islamischen Zivilisation hat eine Individuation nie stattgefunden. Somit ist die Spannung zwischen dem Verständnis der Umma als einem Kollektiv und den individuellen Menschenrechten ein kulturhistorischer Gegenstand. Begriffe wie Kolonialismus, Imperialismus oder Rassismus sind hier fehl am Platz. Heute geht es zunächst um die Frage, welche Veränderungen die Muslime in Gang setzen müssten, um die geltenden internationalen Menschenrechtsstandards annehmen zu können. Darauf zielten auch die Bemühungen des islamischen Reformers An-Na'im, der den individuellen Menschenrechten verbunden ist. Neben der Durchsetzung dringlicher Rechtsreformen sind die Muslime grundsätzlich gefordert, zwischen der politischen und ökonomischen Dominanz des Westens und der Universalität legaler und sittlicher internationaler Menschenrechtsstandards zu unterscheiden. Es ist durchaus möglich, die westliche Politik -139-
zu kritisieren, dabei aber die angeführten Standards zu akzeptieren, weil sie in universellen rechtlichen Normen und ethischen Werten begründet sind, die nicht mit politischer Macht verwechselt werden dürfen. Diese Aussage verliert selbst angesichts der wohl bekannten Doppelmoral westlicher Regierungen und des oftmals politisch-taktischen »Einsatzes« der Menschenrechte als Instrument der Außenpolitik westlicher Staaten nicht an Gültigkeit. Dies gilt vor allem für die »Rhetorik und Realität«16 der US-Außenpolitik in Bezug auf die Menschenrechte. Die islamische Aneignung der Menschenrechte erfordert Reformdenken im Islam Für Muslime ist der Islam direkt von Allah verbal inspiriert. Für die orthodoxen unter ihnen ist er somit perfekt und benötigt keinerlei Reform. Und doch ist es ohne radikale kulturellreligiöse Reformen im islamischen kulturellen System nicht möglich, anstelle des Kollektivs das Individuum in den Mittelpunkt zu stellen. Ändert sich das orthodoxe Weltbild nicht, dann können keine individuellen Menschenrechte etabliert werden. Das Konzept der Menschenrechte ist, wie Ann E. Mayer zutreffend betont, »individualistisch« in dem Sinne, »dass es generell Ansprüche eines Teils gegen das Ganze formuliert«.17 »Teil« meint hier das Individuum, das in einer Gesellschaft von Bürgern lebt, das »Ganze« den Staat. Im Islam, in dem das Individuum stets als Bestandteil eines Kollektivs begriffen wird, gibt es ein solches Menschenrechtsverständnis nicht. Darüber hinaus begründen Rechte nach westlichem Verständnis Ansprüche und unterscheiden sich von Pflichten. Im Islam haben die Muslime als Gläubige Faraid (Pflichten) gegenüber der Umma (Gemeinschaft aller Muslime), aber keine individuellen Berechtigungen. Nur Allah hat Rechte, -140-
nämlich das Haq Allah (Gottesrecht).18 Die von Allah für die Menschen vorgesehenen Rechte verwandeln sich für jene in Pflichten gegenüber der göttlichen Übermacht; Allah erteilt im offenbarten Koran die entsprechenden Anweisungen. Menschenrechte als individuelle Rechte im Islam zu etablieren, erfordert daher, zunächst ein Konzept von Rechten einzuführen und eine Entwicklung zu initiieren, die wegführt vom Konzept der Pflichten gegenüber der Gemeinschaft. Um dies zu erreichen, bedarf es einer Auflösung des Kollektivs im Rahmen einer tiefgreifenden religiös-kulturellen Reform, die eine historisierende Neuinterpretation des Koran einschließt. Bereits in Kapitel l habe ich gezeigt, dass der Sufi-Islam (mystische Islam) und der islamische Rationalismus gleichermaßen zur Aufwertung des Menschen in der Gott-Mensch-Beziehung beigetragen haben. Muslime können also bei ihren Reformen aus ihrer eigenen Geschichte lernen. Diese bietet eine Alternative zum Fundamentalismus und schließt Veränderungen nicht aus. Doch eine Rückbesinnung auf die positiven Elemente islamischer Geschichte allein wird für die Öffnung der Muslime gegenüber der kulturellen Moderne nicht ausreichen; sie sind zur Kreativität aufgefordert. Die von führenden islamischen Autoritäten (wie zum Beispiel Scheich al-Ghazali), Institutionen (etwa die al-Azhar-Universität in Kairo) und Bewegungen (wie dem in London ansässigen Islamischen Rat, der für die Universal Islamic Declaration of Human Rights verantwortlich zeichnet) unternommenen Anstrengungen werden als der gegenwärtige islamische Beitrag zur Etablierung von Menschenrechtsnormen im Islam gewertet (vgl. Kapitel 8 und 9). Analysiert man sie genauer, dann wird schnell klar, dass diese Versuche ebenso kläglich wie desillusionierend sind. Die von diesen selbst ernannten Vertretern spezifisch islamischer Menschenrechtskonzepte angestrebten Islamisierungsprogramme verletzen faktisch die internationalen Menschenrechtsstandards eher, als dass sie ihnen zur Geltung in -141-
islamischen Gesellschaften verhelfen könnten. In der bereits zitierten Untersuchung Ann E. Mayers kommt die Juristin und Islamexpertin zu dem Schluss, dass »die islamischen Konzeptionen keinerlei Schutz für das bieten, was das Völkerrecht als fundamentale Rechte betrachtet«. Hinzu komme, so Mayer, dass die muslimischen Autoritäten »keinen Begriff von dem Anliegen der Menschenrechte haben«.19 So verstehen diese Autoritäten nicht, dass Menschenrechte unter anderem Religions- und Glaubensfreiheit, die Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen sowie von Mann und Frau bedeuten. Die von Ann E. Mayer untersuchten islamischen Menschenrechtsdokumente lassen keinen Raum für die beispielhaft angeführten Belange. Der islamische Begriff der Menschenrechte führt im gesellschaftlichen Alltag zur Missachtung sämtlicher Menschenrechte. Eine umfassende Islamreform wäre die friedliche Art, diesen Konflikt zwischen internationalen Menschenrechtsstandards und der so genannten islamischen Menschenrechtskonzeption zu lösen. Von europäischer Seite hören wir indes den Aufruf zur »Toleranz«, was in diesem Fall einem Verzicht auf individuelle Menschenrechte gleichkommt. Ich nenne diese »Toleranz« Selbstverleugnung.20 Die geforderte Reform des Islam betrifft die Einschränkungen des Individuums in der orthodoxen Doktrin. Islamische Autoren betrachten die Beziehung zwischen Gläubigen und Staat nicht als ein Spannungsverhältnis; sie begreifen das Individuum weiterhin als Bestandteil eines organischen Kollektivs. Somit verleugnen sie jede individuelle Freiheit und befinden sich in Konflikt mit internationalen Standards der Menschenrechte. Hierfür darf es keine Toleranz geben. Zu den Konfliktfeldern gehört die fehlende Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen, unabhängig davon, ob Letztere Ungläubige oder Dhimmi (Schutzbefohlene, also Juden und Christen) sind, sowie die Einschränkung der Rechte und -142-
Freiheiten der Frau gegenüber dem Mann; diese Schari'aBestimmungen sind mit den allgemeinen internationalen Menschenrechtsstandards in höchstem Maße unvereinbar.21 Darüber hinaus weisen die Islamisierungsprogramme religiösen Minderheiten einen Status zweiter Klasse zu, denn die Dhimmi werden in der Schari'a den Muslimen nicht gleichgestellt. Die islamischen Menschenrechtskonzeptionen weichen der Frage nach dem Schutz der Religionsfreiheit aus und berufen sich stattdessen auf die Tradition mittelalterlicher islamischer Toleranz; diese weist einen generellen Mangel an Sympathie für die Idee der umfassenden Religionsfreiheit auf, welche die Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen, unabhängig von der Religionszugehörigkeit Letzterer gewährleisten würde. In der Schari'a gilt Toleranz nur gegenüber den Ahl al-kitab (nichtmuslimischen Monotheisten), die jedoch nur Dhimmi sind. Gegenüber anderen religiösen Gruppen gibt es keine Toleranz. Es ist alarmierend, dass alle diese Probleme aus dem christlichislamischen Dialog ausgeklammert werden.22 Die islamischen Menschenrechtskonzeptionen meinen wohl kaum individuelle Menschenrechte, sondern Rechte von Muslimen im Sinne von Pflichten der Gläubigen. Islamische Vertreter dieser Auffassung zeigen sich den individuellen Menschenrechten gegenüber ambivalent und werden apologetisch, wenn sie entgegen jeder historischen Evidenz polemisch behaupten, dass der Islam Menschenrechte und Toleranz zuerst und lange vor dem Westen verkündet habe. Die Konfliktpunkte zwischen Schari'a und den individuellen Menschenrechten bleiben aber ein Tabu. Nur wenn man dieses bricht, leistet man der Geltung der Menschenrechte in der Welt des Islam den benötigten Dienst. Islamische und westliche Menschenrechtsmaßstäbe
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In der Diskussion über unseren Gegenstand wird oft die Frage gestellt, ob es gerechtfertigt sei, das nichtwestliche kulturelle System des Islam an Standards zu messen, die, wie im Falle der internationalen Menschenrechte, ihren Ursprung in der westlichen Zivilisation haben. Den Vorwurf des »Kulturimperialismus« habe ich bereits entkräftet. Ist eine weltweite Etablierung der internationalen Menschenrechtsstandards das Ziel, dann folgt als Konsequenz, dass Bedingungsfaktoren und Hindernisse, die ihrer Anwendung im Wege stehen, angesprochen werden müssen. Es ist eine verbreitete Einschätzung, Menschenrechtsverletzungen als das Ergebnis repressiver Regime - also als primär politischer Natur - zu betrachten. Kulturelle Faktoren werden dann entweder übersehen oder ihnen wird in der Analyse nicht die gebührende Bedeutung beigemessen. Geht man nun davon aus, dass Demokratie eine politische Kultur ist, die sich im Rahmen der kulturellen Moderne im Westen entfaltete, so muss man feststellen, dass sich diese Kultur - trotz der strukturellen Globalisierung - bis heute nicht universalisiert hat. So weit man in Asien und Afrika von demokratischen Regierungsformen entfernt ist, so sehr fehlt auch eine entsprechende politische Kultur als »culture of rights« (»Rechte-Kultur«)23, wie sie in den USA bezeichnet wird. In der Welt des Islam, vor allem in ihrem arabischen Zentrum, bleibt die »third wave« (»dritte Welle«)24 der Demokratisierung fern, denn Demokratie wird als westliches Kulturgut verworfen. Vom Westen aber ist zu berücksichtigen, dass das Denken in ausschließlich westlichen Kategorien dem Verständnis anderer kultureller Standards hinderlich ist. Wie gelingt es uns, diese Barriere zu durchbrechen? Und wie können die individuellen Menschenrechte in den Islam integriert werden, damit sich Muslime - auf ihre Weise und aus vollem Herzen - zu ihnen bekennen? Einer Zivilisation kann man von außen eine neue politische -144-
Kultur auferlegen, jedoch schlägt sie auf diese Weise innerhalb der Bevölkerung keine Wurzeln. Im Folgenden möchte ich darüber nachdenken, wie die gestellten Fragen zu beantworten sind, und Möglichkeiten zur Überwindung der Schwierigkeiten des Islam mit den Menschenrechtsstandards westlicher Prägung im zeitgenössischen internationalen System diskutieren. Gehen lokale Kulturen in einer »globalen Zivilisation« auf? Angesichts der gegenwärtigen Globalisierung und des Andauerns jener Entwicklung, für die Norbert Elias den Begriff »Prozess der Zivilisation«25 (als Titel seines Hauptwerkes) geprägt hat, stellt sich längst nicht mehr die Frage, ob lokale vormoderne Kulturen als Inseln in unserer Welt betrachtet werden können, die isoliert von ihrer globalen technowissenschaftlichen Umwelt bestehen. Trotz des unterschiedlichen Charakters der vielen lokalen vormodernen Kulturen muss es eine Vergleichsgrundlage geben, die generelle Schlussfolgerungen mit Gültigkeit für die gesamte Menschheit erlaubt. Lokale Kulturen gruppieren sich auch im 21. Jahrhundert zu Zivilisationen, die jeweils ihren eigenen kulturell bedingten Bezugsrahmen und ihre eigenen Weltanschauungen haben. Es wird behauptet, es gäbe in unserem Zeitalter eine globale Zivilisation, die technowissenschaftlich geprägt ist und im Westen ihren Ursprung hat. Muslime wollen zwar die moderne westliche Wissenschaft und Technologie, nicht aber die kulturelle Moderne übernehmen.26 Allein dies widerlegt die Existenz einer globalen Zivilisation. Menschen verinnerlichen im Rahmen ihrer Sozialisation lokale, kulturell spezifische Bezugssysteme. In unserem Zeitalter der Massenzuwanderung aus vormodernen Kulturen in Industriegesellschaften erwachsen deshalb weltanschauliche Konflikte, so dass ein Bedarf nach Brücken zwischen den -145-
Zivilisationen entsteht; diese Brücken sind jedoch nicht nur für zwischenstaatliche Beziehungen, sondern auch innerhalb von Staaten nötig. In diesem Buch frage ich wiederholt, ob Angehörige vormoderner Kulturen mit dem Hinweis auf Multikulturalität (vgl. Kapitel 6) diesen Bedarf ignorieren dürfen. Wird der Trend zur Entwestlichung der Welt auch auf Europa selbst übergreifen? Ist es Toleranz oder Gleichgültigkeit, solche vormodernen Kulturmuster auch im Westen hinzunehmen? Oder können Lokalkulturen in einer »globalen Zivilisation« aufgehen? Auf dem Gebiet der Menschenrechte darf die Geltung akzeptabler universeller Standards von Recht und Moralität nicht aufgegeben werden. Ein friedliches Zusammenleben der Völker ist nicht durch multikulturelle Kompromisse zwischen kultureller Moderne und vormodernen Kulturen möglich. Anthropologen und Regionalspezialisten, die sich vor allem auf die kulturellen Eigenschaften ihres Untersuchungsgegenstandes konzentrieren und deshalb einen kulturellen Relativismus fordern, scheinen kein angemessenes Verständnis der hier angesprochenen Problematik entwickelt zu haben. Dieses Verständnis ist jedoch unsere conditio humana! Insbesondere in den Nahost-Studien ist der Vorwurf des Orientalismus, der zunächst berechtigt zu sein schien, zu einem obskuren Konstrukt geworden. Durch die Brille dieses Konstrukts gesehen, ist eine Kritik - sei es an den im Nahen Osten herrschenden despotischen Regimen oder an der vormodernen islamischen Weltsicht - nicht möglich, ohne dem Vorwurf des Orientalismus ausgesetzt zu sein. Den Begriff des Orientalismus hat der an der Columbia University in New York lehrende Amerikaner palästinensischer Herkunft Edward Said geprägt, um die »Orientalisierung des Orients« durch die westliche Sichtweise zu kritisieren.27 Die Umkehrung des Klischees »Der Orient ist hässlich« in sein Gegenteil »Der Orient ist perfekt und schön« nennt der arabische Aufklärer -146-
Sadik J. al-Azm wiederum die »Umkehrung des Orientalismus«.28 Das Ergebnis ist die Selbstverherrlichung der Orientalen, die mit groben Schuldzuweisungen an den Westen zur Selbstentlastung einhergeht. Der Bereich der Menschenrechte wird von der OrientalismusPolemik leider nicht ausgenommen. Diejenigen, welche als Anhänger der Kritik, die der Orientalismus-Begriff impliziert, gelten, vertreten die Auffassung, dass sich der »Orient« in jeder Hinsicht vorn Westen unterscheide. Ihre Schlussfolgerung lautet, dass man den Orient nur mit den Begriffen seiner eigenen Kulturen untersuchen könne. Ann E. Mayer macht jedoch deutlich, dass auch diese Kritik in der Konsequenz mit demselben Schema arbeitet, indem sie nämlich die »in der Quintessenz orientalistische Position« akzeptiert, »dass die im Westen für das Verstehen von Gesellschaften und Kulturen angewandten Konzepte und Kategorien im Nahen Osten irrelevant und nicht anwendbar sind«.29 Auch die im Nahen Osten lebenden Menschen lehnen solche kritischen Vergleiche ab und meinen, in ihnen eine »finstere politische Verschwörung«30 zu erkennen. Im Westen verbieten Sittenwächter über die political correctness Vergleiche und Kontrastierungen wie beispielsweise »Menschenrechte und Islam« nicht etwa aus Angst um die Ersteren, sondern aus Angst vor Vorurteilen in Bezug auf die fremde Kultur. Meiner Auffassung nach muss man den zitierten Denkrichtungen ebenso wie der kulturanthropologischen Schule des Kulturrelativismus (vgl. Kapitel 6) Versäumnisse vorhalten. Mit anderen Worten: Vergleiche der Kulturen auf universeller Grundlage - wie im Falle der internationalen Menschenrechte sind trotz aller kulturellen Unterschiede sachlich zulässig und politisch wie ethisch eine Pflicht. Die strukturelle Globalisierung in den internationalen Beziehungen liefert aufgrund formal allgemein akzeptierter Standards trotz der kulturellen Fragmentation auf der Ebene der Werte die Basis für -147-
Vergleiche dieser Art. Das Denkverbot in Bezug auf vormoderne Kulturen, das heute mit dem Verweis auf den EuroRassismus verordnet wird, ist gleichermaßen besorgniserregend und in gefährlicher Weise folgenreich. Die Verurteilung beispielsweise der Beschneidung von Frauen im Sudan als eurorassistische Einstellung zu charakterisieren - und nicht als Anprangerung der Verletzung von Menschenrechten -, ist eine Folge dieses beängstigenden Denkverbots. Mir als Muslim wurde von atheistisch orientierten »Christen« mehrfach zu verstehen gegeben, meine Kritik an der Intoleranz des islamischen Fundamentalismus könnte als »Diskriminierung einer religiösen Minderheit« gedeutet werden. Auf diese Weise wird der ethische Toleranzbegriff der Aufklärung zur unethischen Gleichgültigkeit der Postmoderne degradiert. Eingangs erwähnte ich eine Horrordebatte in Graz, bei der Islamisten den österreichischen PC-Wächtern und Kulturrelativisten applaudierten, während sie mich als ReformMuslim der Nähe zum Westen bezichtigten. Eine verkehrte Welt. Wir müssen uns allerdings vor Augen halten, dass es tatsächlich keinen monolithischen kulturellen Standard in der Welt des Islam gibt. Auch die Orientalismus-Kritik hebt diese Tatsache hervor, indem sie behauptet, die unterstellte Einheit des Orients sei ein Produkt westlicher Betrachtungsweise. Ein Überstrapazieren dieser für sich genommen richtigen Beobachtung von der Vielfalt des Orients führt jedoch dazu, die Gemeinsamkeiten unter den Muslimen zu übersehen oder sie schlicht zu verleugnen. Trotz ihrer kulturellen Unterschiede sind die Muslime durch eine gemeinsame Weltsicht und Normativität verbunden; das Vorhandensein einer islamischen Weltanschauung ist also ein Faktum. Meiner Meinung nach erkennen Orientalisten, die ausschließlich die Unterschiedlichkeit innerhalb des Islam betonen, nicht, dass Muslime - sei es im Nahen Osten, in Südostasien oder in Schwarzafrika - eben diese -148-
vormoderne Sicht der Welt teilen. Die Hindernisse, die der Einführung des westlichen Menschenrechtskonzepts in islamische Gesellschaften im Wege stehen, sind ohne eine Einbeziehung dieser Weltsicht nicht zu verstehen. Wer die Weltanschauung der Muslime nicht versteht, kann auch diese selbst nicht verstehen. Bezogen auf den Gegenstand der Menschenrechte lautet meine Schlussfolgerung aus der vorangegangenen Diskussion: Wir können die Betonung der Pflichten und die Zurückweisung uneingeschränkter Rechte des Individuums nicht nur undemokratischen Regimen zuschreiben, die totalitäre Islamisierungsprogramme durchführen. Vielmehr handelt es sich hierbei um die Rechtsauffassung gemäß der religiösen Doktrin im Islam. Der islamischwestliche Disput um die Geltung der Menschenrechte ist also ein weltanschaulicher Konflikt zwischen den Werten und Normen lokaler vormoderner Kulturen der islamischen Zivilisation und einem Verständnis von Menschenrechten, das im Ursprung westlich ist, aber heute universelle Geltung beansprucht. Es ist wahr, dass die diktatorischen Regime sich des Konzepts der Faraid bedienen, erfunden haben sie es jedoch nicht. Als islamisches Konzept ist es ebenso alt wie der Islam selbst und hat in der islamischen kosmologischen Weltsicht, wie sie von der überwiegenden Mehrheit der Muslime geteilt wird, einen festen Platz. Diese vormoderne Weltanschauung steht im Widerspruch zu der westlichen Bestimmung des Menschen als einem Individuum und somit zu dem formal universell anerkannten Menschenrechtskonzept. Gerade die Ablehnung der Individuation macht es den Muslimen schwer, die mit den individuellen Menschenrechten verbundenen Normen und Werte zu akzeptieren. Die bloße Bezugnahme auf repressive Regime und ihre Islamisierungsprogramme, welche auf eine Analyse des gesamten kulturellen Systems des Islam verzichtet, trägt nicht zur Erhellung der angesprochenen Probleme bei. Im -149-
Wesentlichen ist es die im Islam vorherrschende kosmologische vormoderne Weltsicht (quasi-organische Einbettung des Menschen in das von Allah erschaffene Universum; vgl. Einleitung), die verändert werden muss. Es handelt sich nicht um ein Problem der Relativität lokaler Kulturen, sondern um ein solches der Vorherrschaft vormoderner Werte und ihrer Bestimmung des Menschen, nach der das Kollektiv - nicht das Individuum - und die Pflichten statt der Rechte den höchsten Rang einnehmen. Damit habe ich den Inhalt des weltanschaulichen Konflikts zwischen lokalen vormodernen Kulturen und der westlichen Zivilisation im Bereich der Menschenrechte, der in den bisherigen Ausführungen dieses Kapitels im Mittelpunkt gestanden hat, dargelegt. Lokale Kulturen können sich zu einer Zivilisation gruppieren, nicht aber in einer globalen Zivilisation aufgehen. Zusammenfassend möchte ich festhalten: Im Kontext struktureller Globalisierung und kultureller Fragmentation sollte eine Diskussion über den Islam und den kulturell begründeten Widerstand gegen die Menschenrechte den Rahmen bilden für die Etablierung kulturübergreifender Grundlagen der Menschenrechte auf rechtlich und politisch universeller Basis. Ändern die Muslime ihre vormoderne Weltsicht und die sich daraus ergebenden kulturellen Verhaltensmuster nicht, wird der globale Zivilisationskonflikt um die internationalen Menschenrechtsstandards fortbestehen. Ohne die Berücksichtigung der weltanschaulichen Ebene dieses Konflikts können wir diesen selbst nicht verstehen.31 Anders formuliert: Globalisierung schafft keine globale Zivilisation und Zivilisationskonflikte dauern an, aber sie sind friedlich lösbar. Konzepte von spezifisch islamischen Menschenrechten tragen allerdings weder zu einer Klarstellung der Konfliktlage noch zu deren Behebung bei. Stattdessen verdecken sie die Unvereinbarkeit von individual- und kollektivzentrierten Ansätzen in der Konzeption der -150-
Menschenrechte (vgl. Kapitel 9), so wie sie die Grenzen zwischen Huquq (Rechten) und Faraid (Pflichten) verwischen. Die heute in der islamischen Zivilisation vorherrschende Weltsicht liefert den entscheidenden kulturellen Unterbau für die Schwierigkeiten des Islam mit dem modernen Konzept der Menschenrechte. Der Pakt zwischen islamischen Herrschern und anderen nichtwestlichen Diktatoren der als Entwicklungsländer klassifizierten Staaten dieser Welt gegen die universelle Anerkennung der individuellen Menschenrechte, wie er auf der Weltkonferenz in Wien im Juni 1993 deutlich wurde, war kein Dienst an der Versöhnung des Islam mit der Moderne, sondern ein Beitrag zur Verewigung der Finsternis orientalischer Despotie. Die Kündigung des internationalen Konsenses über Menschenrechte ist eine Verleugnung allgemeiner, alle Menschen verbindender Sittlichkeit und zugleich die Ankündigung eines Zeitalters der Verwilderung und der Verrohung! Neu seit der Erstausgabe dieses Buches 1994 ist, dass dieser Weltanschauungskonflikt nunmehr auch in Teilen der IslamDiaspora ausgetragen wird, die partiell menschenrechtsfeindlich und antiwestlich ist. Zur Illustration schließe ich mit dem Horrorerlebnis in Graz, von dem ich bereits zu Beginn dieses Kapitels berichtete: Dort wurde, im Gegensatz zu meinem westlichen Menschenrechtsverständnis, von Islamisten, orthodoxen Muslimen und Konvertiten zum Islam eine gänzlich andere Anschauung vorgetragen. Diese beinhaltete, Menschenrechte seien beispielsweise die »Freiheit« muslimischer Frauen zur Verschleierung oder die Wahl des Dfihad-Selbstmords von Muslimen mit dem Ziel, die Feinde des Islam zu bekämpfen. Letztere hätten nämlich - in der Wahrnehmung der Suizidenten Staatsterrorismus in Afghanistan gegen die Taliban und Bin Laden betrieben. Im Gegensatz zu »müden« Europäern, die ihre Zivilisation und sich selbst bezichtigen und dafür von Islamisten, -151-
orthodoxen Muslimen und Konvertiten zum Islam Applaus erhalten, verteidige ich als Reform-Muslim die westlichen Menschenrechte. Als ich 1995 den Fragebogen der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausfüllen durfte, schrieb die Redaktion bei der Vorstellung meiner Person: »Der Islam muss sich nach Tibis Überzeugung aus sich heraus reformieren, wenn er Anschluss an die Moderne finden will. Damit hat sich Bassam Tibi vor allem den Zorn muslimischer Eiferer zugezogen.« Ferner hieß es dort: »Als muslimischer Aufklärer muss Tibi jedoch heute, was ihn erstaunt, vor allem seine deutschen Landsleute aufklären: nicht alleine über den Islam, auch über die Grundlagen und Vorzüge der eigenen, westlichsäkularen Zivilisation.«32 Quod erat demonstrandum!
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Zweiter Teil Der weltanschauliche Konflikt über die Universalität der individuellen Menschenrechte als ein Zivilisationskonflikt - die RushdieAffäre »Hiermit informiere ich alle furchtlosen Muslime der Welt, dass der Autor der Satanischen Verse, eines Buches, das sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet, sowie alle, die an seiner Veröffentlichung beteiligt waren und den Inhalt kannten, zum Tode verurteilt sind. Ich rufe alle eifrigen Muslime dazu auf, dieses Urteil gegen die Verurteilten bald zu vollstrecken, wo immer sie sich auch befinden mögen, so dass es keiner mehr wagt, den Islam zu beleidigen. Jeder Muslim, der bei der Ausführung dieses Urteils getötet wird, gilt, beim Willen Allahs, als ein Märtyrer. « Fetwa des Ayatollah Khomeini über Salman Rushdie, verkündet durch Radio Teheran am 14. Februar 1989 »Die Tragödie des Rushdie-Buches liegt darin, dass es die betroffenen zwei Welten auseinander treibt, nicht einander näher bringt... Das Problem ist nicht so sehr, dass Rushdie seinen Zweifel am Glauben äußert, als vielmehr die literarische Technik, die er zu diesem Zweck eingesetzt hat... Die beleidigende Schilderung des Propheten empört selbst die -153-
gebildeten, ja sogar die verwestlichten Muslime... Rushdie kann nicht Unwissenheit über die Welt des Islam, die er auf diese Weise beleidigt, für sich beanspruchen.« Christopher S. Taylor in: Christian Science Monitor vom 3. März 1989
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Einführung Die Menschheit ist unterteilt in Zivilisationen, die sich wiederum aus einer Fülle von Lokalkulturen zusammensetzen. Es ist normal, dass jede Zivilisation ihre eigene Weltanschauung hat, die jeweils auf spezifischen Werten, Normen, Welt- und Menschenbildern beruht. Die Anschauung vom Menschen als Subjekt/Individuum, das mit natürlichen Rechten als entitlements (Berechtigungen) gegenüber Staat und Gesellschaft ausgestattet ist (dazu gehört die Glaubensfreiheit), stammt aus der westlich-europäischen, säkular ausgerichteten kulturellen Moderne. Dieses Menschenbild existiert weder im vormodernen Christentum noch im Judentum oder im Islam. Diese Aussage gilt auch für alle anderen Religionen beziehungsweise religiös definierten Zivilisationen. Allerdings hat diese spezifisch europäische Tradition - und hier trenne ich mich von Huntington - einen Inhalt, der universell ist, also für alle Menschen in allen Zivilisationen gelten kann und somit nicht mehr spezifisch westlich ist. Dennoch ist die faktische Geltung der Menschenrechte heute vorwiegend auf westliche Demokratien beschränkt. Im Westen der kulturellen Moderne würde niemand auf die Idee kommen, einen Schriftsteller zu verfolgen, der gleich ob zu Recht oder zu Unrecht - Jesus Christus kritisiert hat. Dies aber ist in der islamischen Zivilisation durch die Fetwa des Ayatollah Khomeini geschehen. Ich möchte eine zentrale These, nämlich, dass die Universalisierung der Menschenrechte zu weltanschaulichen Wertekonflikten zwischen den Zivilisationen führt, am konkreten Fall der Rushdie-Affäre illustrieren und näher untersuchen. Gleich zu Beginn will ich die folgende Differenzierung deutlich machen: Ich setze mich -155-
uneingeschränkt für die Universalität der Menschenrechte einschließlich der Glaubensfreiheit - ein, nicht aber für die Person Rushdies. Schließlich steht bei dieser Affäre jeder Muslim, so aufgeklärt er auch sein mag, vor einem großen Dilemma. Man muss nicht unbedingt ein engstirniger Muslim oder sehr religiös sein, um Die Satanischen Verse von Salman Rushdie als ethisch problematisch einzustufen. Es geht jedoch bei der Rushdie-Affäre nicht mehr um die Person Rushdie oder gar um seinen nicht nur religiöskulturell, sondern auch literarisch umstrittenen Roman; Vielmehr geht es hier zum einen um die universelle Gültigkeit der Menschenrechte im europäisch-westlichen Verständnis und zum anderen um eine durch einen weltanschaulichen Konflikt entstandene Kraftprobe zwischen dem Westen und der Welt des Islam als zwei historisch verfeindeten Zivilisationen. Das Dilemma besteht also darin, sich sowohl für die Meinungsfreiheit als einem Menschenrecht als auch für die Respektierung religiöser Überzeugungen von Menschen anderer Kulturen einzusetzen und die ethischen Schranken hervorzuheben, vor denen jede literarische Bearbeitung Halt machen sollte. Dieser Gegenstand ist weder tagespolitisch noch vergänglich, sondern von anhaltender Bedeutung für das gesamte 21. Jahrhundert als einem Zeitalter des weltanschaulichen Zivilisationskonflikts. Als Muslim, für den Toleranz und individuelle Menschenrechte zur zivilgesellschaftlichen Bindung geworden sind, ist mein Verhältnis zur Rushdie-Affäre und dem angegebenen Dilemma entsprechend komplex. Religio bedeutet Bindung, und diese muss nicht auf einem Glauben beruhen, sie kann auch ziviler Natur sein und sich auf die Freiheit beziehen. Nach der Lektüre langer Passagen der Satanischen Verse, der Beobachtung einiger Medienauftritte von Rushdie und dem Vernehmen seiner selbstherrlichen Interviews kann ich persönlich keine besondere Sympathie für diesen Autor entwickeln. Seine parodistische Darstellung des Lebens des von -156-
allen Muslimen als Vorbild geachteten Propheten erscheint mir als Muslim nicht nur moralisch inakzeptabel, sondern auch als Objekt literarischer Verfremdung geschmacklos und abstoßend. Dennoch darf man sich mit solchen Produkten ausschließlich diskursiv und nicht per religiösem Dekret - in diesem Fall einer Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) mit Todesurteil für den betreffenden Autor - auseinander setzen. Ich stimme daher - bei allem Abstand zu Rushdie - mit dem ägyptisch-muslimischen Schriftsteller und Nobelpreisträger Nagib Mahfuz überein, wenn dieser Khomeinis Fetwa mit vollem Recht als einen Akt des Terrorismus bezeichnet. Den Dolch des Assassinen als Machtmittel einem geistigen Produkt entgegenzusetzen ist nicht bloß ein Rückfall in das dunkle europäische Mittelalter, sondern in die Steinzeit. Ich schreibe »europäisches Mittelalter«, weil das islamische Mittelalter, im Gegensatz zur islamischen Gegenwart, nicht dunkel war; damals florierte im hellenisierten Hochislam ein islamischer Rationalismus. Auch wenn ich also weder von der Person Rushdie noch von seinem Roman viel halte, trete ich in Voltaire'scher Manier für seine Meinungsfreiheit als unveräußerliches Grundrecht ein. Ich bedauere es sehr, dass Rushdie engstirnig an seiner Auffassung festhält: »Das Buch ist nicht beleidigend. Ich glaube nicht, dass etwas... wie ein Roman... als Beleidigung gelten kann.« Trotzdem ist es nicht möglich, sich über diese Scheinnaivität hinwegzusetzen, eben weil der Fall Rushdie längst kein individuelles Schicksal mehr, sondern Weltpolitik geworden ist. Wenn sich ein fundamentalistischer islamischer Staat wie der Iran anmaßt, den europäischen Staaten seine als islamisch deklarierten Spielregeln - in Form der »eigenen« Schari'a vorzuschreiben und von ihnen sogar erwartet, sie zu befolgen, dann müssen Europäer die Souveränität besitzen, »Nein, danke!« zu sagen. Bei diesem Verhalten des fundamentalistischen Staates Iran stoßen wir auf eine Schari'a-Norm, die für sich Universalität -157-
beansprucht. Ähnlich verfährt die von Fundamentalisten geführte islamische Gemeinde in England, die der britischen Gesellschaft Normen oktroyieren will, die nicht europäisch sind. Salman Rushdie ist ein britischer und kein iranischer Bürger, aber der Iran maßt sich für seine Schari'a, die weder Glaubensfreiheit noch Staatsgrenzen und Souveränität kennt, eine grenzenlose Geltung, also Universalität an. Das führt zu einem Zusammenprall zwischen zwei diametral entgegengesetzten zivilisatorischen Anschauungen. Der Konflikt findet sowohl auf zwischenstaatlicher Ebene (Verletzung der Souveränität Großbritanniens) als auch auf der Ebene der säkularen Zivilgesellschaft Europas statt. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebt in Westeuropa eine 15 Millionen Menschen umfassende und stetig wachsende islamische Gemeinde im Rahmen eines Diaspora-Islam, weshalb dieser Konflikt mitten in Europa ausgetragen wird. Selbst Richard Webster, der in seinem Buch Erben des Hasses Salman Rushdie vorwirft, sich vom Westen als Instrument des »westlichen Antiislamismus« missbrauchen zu lassen, hat erkannt, dass Rushdies »individuelles Schicksal inzwischen mit der Beziehung zwischen dem Islam und dem Westen verflochten ist«. Das ist der Grund, weshalb diese Affäre nicht tagespolitischer Natur ist. So dominant der Westen wirtschaftlich, militärisch und politisch auch ist, er befindet sich in einer Sinnkrise, die sich zu einem auf die eigene Identität bezogenen Selbstzerfleischungsprozess steigert. Die Krise des Westens nährt die Hoffnung der islamischen Fundamentalisten, die bestehende säkulare Ordnung der Welt könne zerfallen und dann durch eine islamische Weltordnung abgelöst werden. Die Vision hierfür hatte bereits Sayyid Qutb, der intellektuelle Vater des zeitgenössischen islamischen Fundamentalismus, kultiviert, als er Jahrzehnte vor der Rushdie-Affäre und vor dem Auftreten Bin Ladens verkündete:
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»Die Führung der Menschheit durch den Westen nähert sich ihrem Ende... Die Führungsrolle des westlichen Systems ist vorüber... Nur der Islam - und allein er - bietet die notwendige normative Basis für die Übernahme der Führung... Die Zeit für den Islam ist in den schlimmsten Stunden der Krise gekommen.« Wir können diesen Satz in dem Pamphlet Ma'alim fi al-tariq (»Wegzeichen«) nachlesen, das heute in der Welt des Islam eine ähnliche Bedeutung hat wie einst das Kommunistische Manifest in Europa. In dieser Schrift erklärt Sayyid Qutb seinen islamischfundamentalistischen Anhängern den Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen als einen zwischen zwei inkompatiblen Zivilisationen: »Die Schlacht ist eine zwischen Gläubigen und Ungläubigen, sie ist in ihrem Wesen ein Kampf um den Glauben und nichts anderes... Die Auseinandersetzung basiert weder auf einem politischen noch auf einem wirtschaftlichen oder gar rassischen Konflikt... es handelt sich um eine Schlacht um den Glauben: entweder Iman (Glaube) oder Kufr (Unglaube), entweder Djahiliyya (Ignoranz, Unwissenheit; Bezeichnung für die vorislamische Zeit) oder Islam... Die Feinde des Islam versuchen den wirklichen Charakter der anstehenden Schlacht zu verwischen... das ist ein Versuch der Kreuzzügler.« Wer diese Sätze von Sayyid Qutb mit der »Djihad-Rede« Osama Bin Ladens vom 7. Oktober 2001 vergleicht, wird staunen, wie deckungsgleich die Formulierungen sind, und auch verstehen, dass weltanschauliche Kollisionen und nicht die wirtschaftliche Globalisierung die Ursache des Konflikts sind. Mag Salman Rushdie von Qutbs Ideen auch nie gehört haben und nicht wissen, dass sich die Ideologie des zeitgenössischen -159-
Fundamentalismus aus Qutbs Schriften speist: der international gewordene Konflikt um Rushdie gehört in den von Qutb oben beschriebenen Rahmen. Entsprechend wurde die Rushdie-Affäre in diese Auseinandersetzung eingebaut, die heute im Krieg gegen den Terrorismus fortdauert. Vermutlich haben die wenigsten Muslime, die gegen Rushdie vorgehen, seinen Roman gelesen; dennoch sind sie überzeugt, dass sein Elaborat Ausdruck eines neokolonialistischen Angriffs der »christlichen Kreuzzügler« auf den Islam ist. Die Fetwa von Khomeini, welche in einer innenpolitisch angespannten Situation die unzufriedene Bevölkerung ablenken sollte, ist in der Welt des Islam, in der europäischen Islam-Diaspora und im gesamten Westen auf fruchtbaren Boden im Rahmen der Auseinandersetzung zwischen zwei Zivilisationen gefallen. Weltanschauliche Konflikte können durch Entpolitisierung entschärft, nicht aber gelöst werden. Die Entschärfung des Konflikts muss auf der Basis eines Dialogs - der nicht auf Kosten der Menschenrechte gehen darf - erfolgen. Dieser ist jedoch nur mit dialogfähigen, das heißt geistesoffenen und kompromissfähigen Partnern, keinesfalls aber mit Fundamentalisten möglich. In einem Brief an Rushdie drückt die südafrikanische Schriftstellerin Nadine Gordimer ihre Verwunderung darüber aus, dass sie im Oxford Dictionary of New Words auf den Begriff Fetwa gestoßen sei, dass also »das Wort Fetwa inzwischen in die englische Sprache Eingang gefunden hat. Da steht es, als allgemein gebräuchlich anerkannt neben ›fast food‹... Dies kann nur eines bedeuten: Die Fetwa ist tatsächlich akzeptiert als Faktum des Lebens.« Ich füge zu dieser klugen Formulierung hinzu: Dieses gilt auch für die deutsche Sprache und die Erscheinung gehört zu den Auswüchsen der multikulturellen Gesellschaft, die keinen Grundkonsens über Normen und Werte kennt. Gordimer fährt fort: »Menschen müssen nicht Schriftsteller sein, um in ihrem eigenen Leben -160-
oder dem zukünftigen Leben ihrer Kinder den Drohungen von Fanatikern ausgesetzt zu sein - religiösen, rassistischen, sexistischen.« Damit ordnet Gordimer die Weltanschauung der Islamisten, die Rushdie verfolgen, in den Rechtsradikalismus ein, der sowohl sexistische als auch religiöse Fanatiker als Rechtsradikale umfasst. Wie angekündigt, geht es in diesem Teil um eine Konkretisierung der anstehenden - im vorangegangenen Teil allgemein erörterten - Problematik. In Kapitel 4 erläutere ich den Gegenstand der Rushdie-Affäre und diskutiere ihre Reichweite. Und in Kapitel 5 gehe ich auf den grundsätzlichen Konflikt zwischen islamischem Fundamentalismus und kultureller Moderne ein. Die Idee der Meinungs- und Religionsfreiheit gehört zu den Elementen der Menschenrechte der kulturellen Moderne. Wie hier bereits angeklungen, bin ich kein Freund der multikulturellen Gesellschaft, die wertebeliebig der Illusion über ein konfliktfreies Zusammenleben moderner und vormoderner Kulturen verfällt. Als Nichteuropäer bin ich für diese Form der Euro-Romantik beziehungsweise für das Exotische nicht empfänglich. Für manchen Europäer, der sein Heil im Fremden sucht, bin ich selbst exotisch, weil ich Denk- und Verhaltensweisen demonstriere, die manchem Deutschen nicht geheuer und somit fremd sind. Jenseits von protestantischen Schuldgefühlen, weltfrommer Gesinnungsethik und der Romantisierung exotischer Kulturen denke ich emotionsfrei über die multikulturelle Gesellschaft im Kontext der individuellen Menschenrechte, die universell und nicht multikulturell sind. Viele Europäer können das Fehlen dieser Rechte in anderen Kulturen als ein Problem noch nicht einmal gedanklich nachvollziehen, weil ihnen hierfür die entsprechende Lebenserfahrung fehlt, sie also nie in einer despotischen Gesellschaft gelebt haben. Auch kann ein Mensch keine richtige Lebensfreude in einem Gemeinwesen empfinden, -161-
in dem diese Rechte gelten, wenn er nicht das Gegenteil davon erlebt hat. Ich sage es offen, dass Menschen, die in einer Demokratie leben, ohne für ihr Zustandekommen gekämpft zu haben, nicht in gleichem Maße wie andere Menschen, die das Gegenteil von Demokratie erlebt haben (zum Beispiel Opfer der Nazi-Terrorherrschaft), ihre Freiheit schätzen können. Wohlstandskinder wissen aus ihrem Leben nicht nur nicht, was Hunger ist, sondern noch weniger, was individuelle Freiheit bedeutet. Ich habe leider entsprechende Erfahrungen mit deutschen Studenten bei Lehrveranstaltungen über die Universalität von Menschenrechten an der Göttinger Universität machen müssen. Im Kontrast dazu stehen meine Gespräche mit meinen deutschjüdischen Freunden, zum Beispiel dem verstorbenen Reinhard Bendix (Berkeley) oder Herbert Kelman (Harvard), die wegen ihrer Lebenserfahrungen im Dritten Reich meine Euphorie für individuelle Menschenrechte wie nur wenige verstehen konnten. Die jungen Generationen im Westen scheinen kollektive Rechte höher zu schätzen als die individuellen Menschenrechte, die sie alltäglich genießen. Es erscheint deshalb seltsam, wenn ein nichteuropäischer Migrant gegen die Indifferenz und falsche Toleranz der Deutschen - gegenüber freiheitsfeindlichen vormodernen Traditionen und deren Import nach Europa eintritt. Als Reform-Muslim ist die Liebe zur Freiheit meine religio, meine Bindung. Menschen, die Unfreiheit in ihrer Lebensgeschichte nicht kennen gelernt haben und zudem wertebeliebig sind, können diese Verbindlichkeit nicht verstehen!
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Kapitel 4 Die Rushdie-Affäre und die iranischschi'itische Khomeini-Fetwa
Die internationalen Folgen für die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen
Die Rushdie-Affäre gehört inzwischen zur neueren westlichislamischen Zivilisationsgeschichte und ist entsprechend dokumentiert worden.1 Nur Polemiker bestreiten die Bedeutung der Zivilisationen, die zu einem zentralen und viel debattierten Thema unserer Gegenwart geworden sind.2 Rushdie hat durch seinen Roman Die Satanischen Verse einen bestehenden Zivilisationskonflikt aktualisiert, jedoch nicht geschaffen. Aus Angst vor Ermordung hat er - wie in der Einführung zitiert seine Unschuld beteuert.3 Ihm wurde dennoch - zum Beispiel von Richard Webster4 - der schwere Vorwurf der »Brunnenvergiftung« gemacht. Die in der Einführung zitierten Passagen aus Qutbs Werk5 zeigen hingegen, dass dieser den Zivilisationskonflikt bereits deutlich früher in agitatorischer Manier entfacht hat. Integere westliche Schriftsteller haben daher die Redefreiheit von Rushdie als Bestandteil der Menschenrechte verteidigt.6 Glaubensfreiheit und die Menschenrechte
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Der Sufi-Islam (mystische Islam) steht im Widerstreit mit dem strengen Schari'a-Islam. Erst nach der islamischen Religionsstiftung und nach dem Tod des Propheten haben islamische Gelehrte die Konstruktion der Schari'a entwickelt, die zu einem »göttlichen Gesetz« erhoben wurde. Auf dieser Deutung basiert der durch Zwang gekennzeichnete Schari'aIslam, der gegen Rushdie angewendet worden ist. Im Koran (10/99) heißt es jedoch unzweideutig: »Wenn dein Herr es wollte, würden die, die auf der Erde sind, alle zusammen gläubig werden. Bist du es etwa, der die Menschen zwingt, dass sie glauben?« Diese Frage kann man heute Khomeinis Erben stellen, die Salman Rushdie und andere nicht wie sie denkende Muslime zum Glauben zwingen wollen. Das Koranzitat öffnet den Weg für einen Reform-Islam, der den Zivilisationskonflikt entschärfen und der Glaubensfreiheit Geltung verschaffen kann. Der ägyptische Reform-Muslim und Rechtsgelehrte Mohammed Said al-Aschmawi hat in einem bemerkenswerten Buch7 über die Schari'a einerseits am Korantext und andererseits an der islamischen Geschichte desillusionierend gezeigt, dass die Schari'a eine postkoranische Konstruktion ist, das heißt eine im Koran gar nicht enthaltene lex divina (göttliches Gesetz). Ohne so prominent wie Rushdie zu sein, steht nun auch al-Aschmawi auf der Liste islamischfundamentalistischer Todesschwadronen. Ich habe ihn in Kairo besucht und sein Leid mit eigenen Augen gesehen. Durch derartige Fälle wird der Zivilisationskonflikt weltanschaulich seit Bin Laden auch militärisch - von besagten Islamisten geschürt. Im Mittelpunkt steht dabei der Ruf nach der Schari'a. Dies ist ein Schlag ins Gesicht für jeden Befürworter der Freiheit. -164-
Im Namen dieser postkoranischen Schari'a, die ich im dritten Teil dieses Buches im Einzelnen vorstellen werde, wurde nun ein Todesurteil über den Schriftsteller Salman Rushdie gefällt. Das Verdikt lautet: Riddah, was im Islam Abfall vom Glauben bedeutet. Der Koran (2/217) sagt nun allerdings: »Diejenigen unter Euch, die sich von ihrer Religion abwenden, sterben als Ungläubige.« Der Korantext spricht also vom »Sterben«, nicht vom Töten, wie es die Schari'a vorsieht. Die Schari'a-Strafe für einen Apostaten ist meiner Auffassung nach also postkoranisch. Mancher Schriftgelehrte führt sie auf den Propheten zurück, doch im Koran gibt es sie nicht. Dort heißt es: »Kein Zwang in der Religion« (2/256). Leider lässt sich die aus diesem Koranvers zu schlussfolgernde Religionsfreiheit in der islamischen Weltanschauung nicht finden. Ist Salman Rushdie ein Ungläubiger? Seine Abkehr vom Islam hat dieser Schriftsteller zu keinem Zeitpunkt öffentlich bekundet, wenngleich er sich ganz offensichtlich nicht als Muslim fühlt. Hierzu hat er gemäß den Menschenrechten auch die Freiheit. In seinem Buch Die Satanischen Verse, die im Fiktionsstil geschrieben sind, wird der Islam - wenn auch verfremdet - dermaßen parodiert und lächerlich gemacht, dass man wohl kaum noch behaupten kann, Rushdie sei ein Muslim. Religionsfreiheit gehört nun aber zu den individuellen Menschenrechten und diese gelten auch für Salman Rushdie. Ein der kulturellen Moderne verbundener, toleranter und liberaler Muslim kann also sehr wohl die Meinungs- und Religionsfreiheit von Rushdie verteidigen. Unvorstellbar scheint mir allerdings ein Muslim, der Die Satanischen Verse in Schutz nehmen würde. In vorliegendem Buch geht es mir um die Menschenrechte; Literaturkritik ist nicht mein Thema. Dennoch ist es angebracht, einige Stellen des Romans anzuführen, welche die Muslime - und nicht nur die Fundamentalisten unter ihnen empören und den hier angesprochenen weltanschaulichen Konflikt aktiviert haben. -165-
Der Islam versteht seine Offenbarung als eine universelle Botschaft des Wissens - also als an die gesamte Menschheit gerichtet -, durch welche die früheren Phasen der Djahiliyya (Ignoranz, Unwissenheit; Bezeichnung für die vorislamische Zeit) beendet wurden. Die islamische Offenbarung begann im Jahre 610 in Mekka, als Allah seine Offenbarung über den Erzengel Gabriel an den auserwählten Gesandten, den arabischen Propheten Mohammed, weitergab. In Rushdies Satanischen Versen wird der Prophet Mohammed durch den Namen Mahound, was auch »falscher Prophet« bedeutet, verfremdet. Die islamische Offenbarung erfolgt bei Rushdie in der Stadt Jahilia (dies bedeutet offensichtlich Djahiliyya), welche für die den Muslimen heilige Stadt Mekka steht. Mahound ist bei Rushdie nicht nur ein falscher, sondern auch ein skrupelloser und lächerlicher Prophet, der mit seinen Anhängern lediglich ein Spiel treibt und sie unterdrückt. In der Stadt Jahilia, sprich Mekka, gibt es ein populäres Bordell, in dem alle Freudenmädchen die Namen der zwölf Frauen Mahounds, sprich Mohammeds, tragen - natürlich handelt es sich in den Satanischen Versen dabei nur »zufällig« um die Namen der Frauen des Propheten. In islamisch-arabischer Sprache bedeutet Hidjab »Schleier der Frau«, ebenso zufällig lautet der Name des angeführten Bordells »Hidjab«. Wie soll man da der Mär Glauben schenken, dass es sich bei all dem nur um Zufälligkeiten handelt? Die heftige Reaktion der Muslime hat Rushdie vor Augen geführt, dass er zu weit ging. Anlässlich des ersten Jahrestages der Khomeini-Fetwa veröffentlichte Rushdie im Independent on Sunday seinen Essay »In Good Faith« (für ein Honorar von 150 000 britischen Pfund), mit dem er die Muslime besänftigen wollte. Dies hat jedoch nicht gewirkt. Wenn sich Rushdie nach den heftigen Reaktionen auf seinen Roman damit entschuldigt, er habe niemanden verletzen wollen, dann fragt sich der Islamkenner und Leser der Satanischen Verse, der darin die -166-
Frühgeschichte des Islam verfremdet dargestellt findet, ob Rushdie wirklich so naiv ist oder lediglich vorgibt, nicht intelligent genug zu sein, um diese Zusammenhänge zu verstehen? Ein Absatz auf Seite 374 des englischen Originals verrät, dass Rushdie die islamische Reaktion auf seinen Roman durchaus in vollem Bewusstsein antizipiert hat. In einem Gespräch Mahounds mit seinem Schüler Salman wirft der Prophet diesem Blasphemie vor: »Your blasphemy, Salman, can't be forgiven. Did you think I wouldn't work it out? To set your words against the words of God.«8 Diese Textstelle gibt Anlass zu der Frage, ob Rushdie lediglich eine Inszenierung geplant hatte, um internationale Reputation zu erlangen. Das mag ihm zwar gelungen sein; der Preis hierfür war allerdings zu hoch. Die kalkulierte Blasphemie Alles deutet darauf hin, dass sich Rushdie seiner Blasphemie vollends bewusst war; er ging sogar noch weiter, indem er den als Mahound verfremdeten islamischen Propheten Gottes Worte gegen die von Salman (Rushdie) setzen ließ; welch eine kolossale Megalomanie! Salman Rushdie scheint ein Schriftsteller zu sein, der nicht nur seine Honorare, sondern auch seine Profilierung kalkuliert und sich seinen Ruhm gewiss teuer erkauft hat. Trotz der Abschwächung der Fetwa durch die Reformregierung Khatamis hat sie noch immer Bestand und es ist nicht ausgeschlossen, dass Rushdies Leben durch Mord endet. Sogar unter Khatamis Präsidentschaft hat die iranische Khordad-15-Foundation die Belohnung für den potentiellen Rushdie-Mörder im Jahr 1999 demonstrativ um 300 000 US-167-
Dollar auf nunmehr 2,8 Millionen US-Dollar erhöht.9 Obwohl ich unverändert die Redefreiheit Rushdies gegen die islamische Orthodoxie und die Islamisten verteidige, kann ich den Respekt vor Salman Rushdie, den ihm die Autoren von Briefen an ihn zuteil werden lassen, nicht nachvollziehen. Ich halte die Fetwa des Ayatollah Khomeini ungeachtet dessen für einen Aufruf zu Mord und Terrorismus. Nur in einer vormodernen Kultur kann Tötung die Waffe der literarischen Kritik ersetzen - und dies darf nicht toleriert werden. Gegen das Parodieren des Gesandten Allahs durch Rushdie kann man - wie auch der Scheich der Universität al-Azhar gegen Khomeini argumentierte - wohl mit Kritik, nicht aber mit einem Todesurteil vorgehen. Dieses Urteil entbehrt jeder rechtlichen Grundlage, es sei denn, man versteht unter Recht die Schari'a als ein universell gültiges Völkerrecht, so wie es islamische Fundamentalisten tun. Bekanntlich ist Rushdie kein iranischer, sondern britischer Staatsbürger, der zudem nie im Iran gelebt, geschweige denn dort etwas verbrochen hat. Mit welchem Recht kann ein schi'itischer Geistlicher aus dem Iran - und sei er vom Rang eines Ayatollah Khomeini - ein Todesurteil über einen Briten aussprechen? Außerdem besitzt Rushdie, wie der ägyptische, ebenfalls muslimische Nobelpreisträger Nagib Mahfuz - sich selbst der Gefahr aussetzend - hervorgehoben hat, das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung als individuelle Berechtigung. Der aufgeklärte Muslim Mahfuz nahm sich das Recht heraus, Khomeini als einen »Terroristen..., der wie kein anderer unserer Religion des Islam Schaden zugefügt hat«10, zu bezeichnen. Daraufhin hat ein Islamist versucht, Mafuz mit einem Messer zu töten; dieser überlebte die Verletzung wie durch ein Wunder. Das Bedeutsame an der Rushdie-Affäre ist weder die Person des betroffenen Autors noch sein Werk, sondern der weltanschauliche Konflikt zwischen zwei Zivilisationen, der durch Die Satanischen Verse und die durch sie provozierten -168-
Reaktionen aktualisiert worden ist. Unsere heutige Welt ist in Nationalstaaten im Sinne von völkerrechtlich souveränen Gebilden unterteilt, so dass der angeführte Konflikt zwischen der Welt des Islam und dem Westen als Zivilisationen, die weltanschaulich weit voneinander entfernt sind, zunächst auf staatlicher Ebene ausgetragen worden ist. Die Anstiftung zum Mord an dem britischen Bürger Rushdie durch einen iranischen Geistlichen hat konsequenterweise einen staatlichen Konflikt zwischen dem Iran und den Staaten der Europäischen Gemeinschaft hervorgerufen, denn der Sachverhalt betrifft sowohl die Gültigkeit des Völkerrechts (Staatssouveränität) als auch, auf der Ebene der internationalen Beziehungen, die Universelle Deklaration der Menschenrechte durch die UNO.11 Gilt diese UN-Deklaration im Zeitalter der Zivilisationskonflikte ebenso in der Welt des Islam und in der Islam-Diaspora im Westen? Islamische Migrantenkultur als Maßstab für Europa? Bei der retrospektiven Betrachtung der Rushdie-Affäre geht es um die Gültigkeit der Menschenrechte, auch in jenem Zivilisationskreis, in dem sie sich entfaltet haben, das heißt in Europa. Dieses Buch ist für deutsche und andere europäische Leser geschrieben, weshalb dieser Schwerpunkt von großer Bedeutung ist. Wie bereits im Vorwort angeführt, leben wir in einem Zeitalter globaler Migration, von der Europa entscheidend betroffen ist. Zu den Migranten nach Europa gehören vorrangig Muslime aus dem Mittelmeerraum, aus Afrika sowie vom indischen Subkontinent (Pakistan und Bangladesch). Wie ich in diesem Buch noch deutlich zeigen werde, kann ich mich weder der romantisierenden Sicht auf die multikulturelle Gesellschaft anschließen, noch habe ich Verständnis für jene Kulturrelativisten, die aus purer Gleichgültigkeit gegenüber Sitten und Gebräuchen fremder -169-
Kulturen der Maxime »andere Völker, andere Sitten« anhängen (vgl. Kapitel 6).12 Doch schon bevor ich die Diskussion hierüber aufnehme, könnte mir jeder Gesinnungsethiker vorhalten, dass die Muslime, wie jede andere Gemeinschaft in Europa auch, das Recht hätten, nach ihrem eigenen Gusto zu leben. In einem Wahlaufruf einer deutschen Partei hieß es: »Emanzipation statt Integration«. Bei dieser Lektüre fragte ich mich: »Emanzipation« von Europa - oder wovon sonst? Bei solchen Debatten erkennen Europäer das eigentliche Problem nicht und bleiben in ihrer Selbstverleugnung verhaftet.13 Christopher Taylor, den ich im Motto der Einführung zu diesem zweiten Teil zitiere, schreibt mit Recht, dass die meisten Europäer und Amerikaner die kulturellen Implikationen der Rushdie-Affäre nicht angemessen verstehen: »... das Parodieren des Lebens des Propheten durch Rushdie erscheint ihnen obskur und unvertraut, so dass die meisten von ihnen nicht begreifen, was er überhaupt getan hat.« Des Weiteren unterschätzen die Europäer auch die mögliche Reichweite der Proteste islamischer Migranten in Europa. In aller Offenheit: Es geht jenen letztlich darum, die Geltung der Schari'a durchzusetzen. Da muss man die Zivilcourage haben, »Nein, danke!« zu sagen. Taylor schreibt, für Muslime »ist das Verständnis der Rechte fundamental anders als unseres.... sie erkennen kein Recht an, das nicht in der göttlichen Offenbarung enthalten ist«.14 Zwischen der Welt der schriftgläubigen Offenbarung, das heißt der Welt des Islam, und der Welt des Primates der menschlichen Vernunft, das heißt dem aufgeklärten Westen, kann es auf dieser Ebene weder Dialog noch Annäherung geben. Man kann sich weiterhin beruhigend sagen, jeder solle nach seiner Fasson selig werden; dazu gehöre einfach eine wertebeliebige, also indifferente Toleranz. Möglich ist dies, solange sich keine Konflikt hervorrufenden Berührungsflächen im Zusammenleben von weltanschaulich getrennten, aber geographisch benachbarten Zivilisationen ergeben. Doch der Konflikt lauert -170-
und im Interesse des Friedens muss er tabufrei angesprochen werden. Das Problem ist nun, dass wir nicht nur in einer globalisierten Welt leben, in der kein Staat isoliert existiert; unsere Gegenwart ist auch und vor allem durch Völkerwanderungen aufgrund globaler Migration gekennzeichnet. Die Nachbarn leben nicht nur jenseits der Grenze des eigenen Staates; sie leben nunmehr auch als Migranten in Europa, also im eigenen Haus. Der Wohlstand des Westens zieht Millionen Migranten an, die ihrer Armut entfliehen wollen. Sollen sie die Freizügigkeit genießen, in Europa nach ihrem Gusto, also nach ihren vormodernen Werten zu leben? Mehr noch: Sind die Europäer bereit, die Gebote der Schari'a in ihren eigenen Gesellschaften - im Rahmen der als Toleranz ausgegebenen Gleichgültigkeit gegenüber vormodernen Kulturen - zuzulassen? Es galt als Vorwarnung, als der islamische Imam (religiöse Führer) der Moschee im französischen Nantua auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen der französischen Regierung und dortigen islamischen Fundamentalisten im November 1993 sagte: »Allahs Recht rangiert vor den französischen Gesetzen.« Die Franzosen haben richtig gehandelt und ihn konsequenterweise mit der Begründung, in Frankreich gelte die französische Verfassung, des Landes verwiesen. Die Frage lautet: Wie steht es um die Werte und Normen der europäischen Zivilisation, wenn diese vormodernen Kulturen ihren religiösen Universalismus expansiv vertreten? In der Spannung zwischen Integration der Migranten und Bewahrung der zivilisatorischen Identität der Aufnahmegesellschaften liegt die besondere Bedeutung der Rushdie-Affäre. In einem Essay im Tagesspiegel habe ich argumentiert, dass nur identitätsstarke Gesellschaften Fremde integrieren können. Die USA sind identitätsstark und können den Migranten eine amerikanische Identität bieten, sie also integrieren; Deutschland ist dazu hingegen nur sehr begrenzt in der Lage.15 Wird sich dies -171-
ändern? Aus der Rushdie-Affäre können diesbezüglich Lehren gezogen werden. Bleiben wir also bei Rushdie, dem man mangelnde Sensibilität und bestürzende Naivität vorwerfen kann, ja man ist sogar berechtigt, ihn moralisch heftig anzugreifen, weil er islamische Heiligtümer rücksichtslos angetastet hat. Dennoch darf man den Islamisten nicht nachgeben. Rushdie balanciert zwischen zwei weltanschaulich rivalisierenden Zivilisationen; deshalb ist »Rushdie viel mehr als Die Satanischen Verse«,16 wie einer seiner Interpreten schreibt. Die Anwendung eines literarischen Stilprinzips, das er der westlichen Kultur, der dies und auch sonst nichts mehr heilig ist, entnimmt und es auf eine andere Kultur, die ihre Tradition noch extrem heiligt, überträgt, muss konsequenterweise interkulturelle Konflikte hervorrufen. Und das ist auch geschehen. Eben diese Dimension macht die Relevanz der RushdieAffäre aus und sie zeigt in aller Deutlichkeit, dass ein Mensch im europäischen Haus nicht mehr unbekümmert nach europäischen Maßstäben leben kann. Die französische Polizei fand während der angeführten Auseinandersetzung in Pariser Wohnungen islamischer Fundamentalisten eine Mordliste mit Namen algerischer, in Paris lebender Intellektueller (FAZ vom 13. 11. 1993 und mein Leserbrief in der FAZ vom 23. 11. 1993). Ähnliches kenne auch ich; nicht nur muss ich es ertragen, von deutschen Rechtsradikalen angepöbelt zu werden, sondern zusätzlich trachten Islamisten sogar nach meinem Leben; sie verkünden in aller Öffentlichkeit - so in Leserbriefen, die deutsche Zeitungen veröffentlichen -, dass mein Euro-Islam ein Heidentum sei, und bezichtigen mich des Unglaubens! Rushdie stammt aus Indien und lebt seit seinem 14. Lebensjahr in England; er ist sowohl von seiner Weltsicht als auch von seiner Erziehung her mehr Engländer als Indo-Muslim. Das ist auch sein gutes Recht, schließlich ist er ein britischer citizen, das heißt Mitglied eines westlich-säkularen -172-
Gemeinwesens. Über seine Identität entscheidet hier jedoch offenbar nicht Rushdie selbst, sondern - quasi als Vormund - ein iranischer Geistlicher. Wagt also ein in Europa lebender Muslim, diese Wahl für sich allein zu treffen, so wie Rushdie dies getan hat, dann muss er nach den Regeln der Schari'a getötet werden. Hierin liegt die - weit über die Person des umstrittenen Autors hinausgehende - Bedeutung dieses Falls und seiner Konsequenzen für Europa im Zeitalter der Migration aus der Welt des Islam. Auch fast eineinhalb Jahrzehnte nach dem Vorfall muss ich heute die Bedeutung der Rushdie-Affäre und ihre Symbolik hervorheben und die Europäer auffordern, sich dies zu vergegenwärtigen - andernfalls können sie ihrer Zivilisation schon heute zu ihrem bevorstehenden Tod kondolieren! Dies hatte schon Sayyid Qutb, den ich in der Einführung zu diesem Teil zitierte, als düstere Prognose für die Zukunft Europas geschrieben. Wird er Recht behalten? Ist Europa als westliche Zivilisation - nicht als Wirtschaftsmacht nur noch ein Konkursunternehmen, das vor seiner Insolvenz steht? In meinem Buch Europa ohne Identität versuche ich, die Europäer im Hinblick auf die Bewahrung der individuellen Menschenrechte als wichtige europäische Errungenschaft wachzurütteln; und das tue ich auch hier. Darüber hinaus frage ich: Ist das, was Rushdie sich selbst wünscht, nämlich als säkularer Muslim in Europa zu leben, eben dort möglich? Rushdie will das, was die europäischen Juden vor dem Holocaust waren, nämlich kulturell in der eigenen Religion verhaftet, aber als Bürger im Sinne von citoyen Europäer sein. Er fragt, ob ein in Europa lebender Muslim das »Konzept des westlichen Muslims weiterentwickeln [kann, B. T.], der sich zwar, genau wie die westlichen Juden, zu seiner Kultur bekennt, von der Theologie jedoch distanziert«. Seine kulturelle Zugehörigkeit zum Islam, »von dem ich träume« (Rushdie), will er als Zugehörigkeit zu einer »fortschrittlichen, respektlosen, skeptischen, streitlustigen, spielfreudigen und furchtlosen -173-
Kultur«17 verstanden wissen. Doch die muslimische Gemeinde in England verweigert es ihm, ungestraft seine Vision einer islamischen Kultur zu entfalten. Einer der Wortführer der britischen Islam-Diaspora, der Fundamentalist Kalim Siddiqi, ist sogar zur Beerdigung von Khomeini in den Iran gereist, um auf den Fortbestand der Mord-Fetwa auch nach dem Tod des Ayatollahs zu drängen.18 Ich werde später darauf eingehen, dass derselbe Siddiqi in London ungestraft ein islamisches Gegenparlament gegründet hat. Wie sollen islamische Fundamentalisten die Europäer ernst nehmen, wenn sich diese nicht gegen solche Anmaßungen wehren? Alle bisherigen mir bekannten Formen des Dialogs erschöpften sich im Ausdruck europäischer Schuldkomplexe sowie Selbstbezichtigungen und islamischer Schuldzuweisungen. Dieser »verlogene Dialog«19 ist weder ein geeigneter Beitrag zum inneren Frieden noch zum Frieden zwischen den Zivilisationen. Rushdie weiß, dass er auf die Loyalität der Europäer zu ihrer eigenen Tradition der Menschenrechte nicht viel geben kann. Er schreibt - ebenso vorwurfsvoll wie weinerlich -, den eigenen Tod genau vor Augen: »Ich bin ein Mensch, zu Unrecht verurteilt, zu Unrecht in dieser Luftblase eingeschlossen... ich bin noch hier eingeschlossen, Leute! Könnte mich bitte jemand rausholen? Ihr draußen... im reichen Westen - es ist schon so lange her, seit bei Euch Menschen aus religiösen Gründen verfolgt, als Ketzer verbrannt, als Hexen ertränkt wurden, so lange, dass Ihr es nicht mehr erkennt...?«20 Jahre später veröffentlichte Rushdie in der FAZ unter dem provokativen Titel »Europa ohne Gott« seine Anklage: »Das neue Europa ist mir dabei nicht wie eine Zivilisation vorgekommen. Es ist ein viel zynischeres Unternehmen. Die -174-
Führer der Europäischen Union legen zwar Lippenbekenntnisse zu den großen europäischen Idealen ab - freie Rede, Menschenrechte, Aufklärung, das Recht auf abweichende Meinung, die Trennung von Kirche und Staat. Aber wenn diesen Idealen machtvolle Banalitäten der so genannten Wirklichkeit entgegenstehen - Handel, Geld, Waffen, Macht -, dann muss die Freiheit kuschen.«21 Rushdie ist sich bewusst, dass die Geltung von Normen und Werten nicht nur eine kulturelle, sondern vor allem eine politische Frage ist. Er stellt also fest: »Die Fetwa... bleibt ein Bruch des internationalen Rechts und dieses Problem kann nur auf politischer Ebene gelöst werden.«22 Die Forderung Rushdies nach dem Recht liberaler Muslime, in Europa als citoyen zu leben - ähnlich wie die Juden vor dem Holocaust -, ist vergleichbar mit dem Eintreten für einen westlich interpretierten Islam in den heute demokratischen europäischen Staaten. Vertreter des Konzepts eines westlichen Islam in Europa - ein Islam, den ich Euro-Islam23 nenne - sind unter den in Europa lebenden Muslimen eine absolute Minderheit und bedürfen demokratisch-europäischer Unterstützung. Mein Konzept von diesem europäischen Islam bietet eine Strategie für die Integration islamischer Migranten in Europa. Spätestens seit dem 11. September wissen wir, dass die bisherigen Versuche zur Integration muslimischer Migranten gescheitert sind.24 Während der Rushdie-Affäre zeigte das Verhalten vieler deutscher Moscheevereine Ähnlichkeiten mit dem der britischen IslamDiaspora. Doch damals wollte Europa dies nicht zur Kenntnis nehmen. Selbst nach den Vorfällen des 11. Septembers wollen sich manche noch immer nicht ändern. Zu den Lehren der Rushdie-Affäre gehört die Erkenntnis, dass Europa die Verletzung des internationalen - und das heißt des eigenen - Rechts im eigenen Hause, sei es durch die Schari'a oder die Bestimmungen anderer vormoderner Kulturen, zum -175-
Beispiel der Sikh-Kultur, im Namen der multikulturellen Toleranz nicht hinnehmen darf. Der ARD-Journalist Martin Lüdke hat ein langes Interview mit Salman Rushdie veröffentlicht und dazu bemerkt, nach deutschem Strafrecht sei die Khomeini-Fetwa rein juristisch und wertfrei nichts anderes als »Anstiftung zu einem Verbrechen«, das heißt zum Mord; er fügte hinzu: »Der Iran greift, mit Duldung der Bundesregierung, auch in unser Rechtssystem ein.«25 Dennoch spricht manch naiv-einfältiger Europäer auch in diesem Zusammenhang von Toleranz gegenüber anderen Kulturen! Welch monströse Selbstverleugnung! Trägt diese als Toleranz verkleidete Indifferenz zum »Ende der Toleranz«26 bei? Vormoderne und postmoderne Tabu-Kulturen: Dhihniyyat altahrim (Mentalität des Tabus) Die Fähigkeit zu Reflexion und Kritik gehört zum philosophischen Diskurs der kulturellen Moderne. Im Gegensatz dazu verbieten es vormoderne Kulturen, kritisches Denken auf die eigene Tradition anzuwenden. Die Denkweise dieser Kulturen, welche die Dhihniyyat al-tahrim (Mentalität des Tabus)27 predigten - um mit den Worten des muslimischen, jedoch säkular orientierten Damaszener Philosophen Sadik J. alAzm aus seinem Essay über Salman Rushdie zu sprechen -, steht im Widerspruch zur Freiheit. Der zitierte Philosoph weiß, wovon er spricht: al-Azm hat 1969 das bedeutendste religionskritische Buch im Islam des 20. Jahrhunderts unter dem Titel Kritik des religiösen Denkens28 in arabischer Sprache veröffentlicht. Er wurde daraufhin verhaftet und von der American University of Beirut (AUB), an der er damals lehrte, entlassen. Im Berliner Wissenschaftskolleg fand er 1990/91 begrenzte Zuflucht und schrieb dort auf Arabisch sein hier zitiertes Buch Die Mentalität des Tabus, dessen gekürzte deutsche Version unter dem Titel Unbehagen in der Moderne29 -176-
erschienen ist. Für den Damaszener Philosophen al-Azm ging es hier um die arabische Spielart vormoderner Kulturen. In der westlichen Zivilisation beansprucht die Postmoderne, die kulturelle Moderne abzulösen beziehungsweise die Entzauberung der Welt umzukehren, und verfällt so in Zustände der Prämoderne zurück, zu denen die Tabumentalität gehört. Ernest Gellner hat vor seinem Tod den Kulturrelativisten und Postmodernisten vorgeworfen, die Aufklärung aufzugeben und in ein Bündnis mit Fundamentalisten zu verfallen.30 Die von Gellner Kritisierten vergessen, dass Europa sich mit Hilfe der Aufklärung von religiösem Fanatismus und Intoleranz befreit und Religionskritik als Bestandteil der kulturellen Moderne zugelassen hat. Heute treten Fundamentalisten unter den muslimischen Migranten in Europa als Sprecher der islamischen Gemeinde auf und fordern im Namen der Toleranz die Einführung der »Mentalität des Tabus«, die jedwede Religionskritik ausschließt. Ist das der Inhalt des Toleranzbegriffs? Vormoderne und Postmoderne, obwohl völlig verschieden (Absolutismus und Kulturrelativismus), arbeiten einander in die Hände, wie Gellner richtigerweise feststellt.31 Es muss jeden, der zu den Menschenrechten steht, erschüttern, zu erfahren, dass eine für das britische Fernsehen (BBC) durchgeführte Umfrage ergeben hat, dass vier von fünf in Großbritannien lebenden Muslimen ein; Vorgehen gegen Rushdie befürworten!32 Obwohl ich -wie mehrfach betont meine Missachtung gegenüber Rushdie als Autor des Romans Die Satanischen Verse ungeschminkt äußere, verteidige ich seine geistige Freiheit im Rahmen der Menschenrechte und teile seine folgende Hoffnung: »Ich glaube, dass die Muslime sich eines Tages für die Taten der heutigen Muslime schämen werden... Eines Tages sind sie vielleicht auch der Meinung, dass.... Aufklärung... eben auch Freiheit, Freiheit von religiöser Kontrolle... ist.«33 -177-
Einer der intolerantesten Befürworter der Khomeini-Fetwa ist ein islamischer Migrant. Der durch einen britischen Pass geschützte Muslim pakistanischer Herkunft Dr. Kalim Siddiqi wirkt als Direktor des Muslimischen Instituts in London. In den britischen Medien trat er während der Rushdie-Affäre wiederholt für die Ausführung der Fetwa, das heißt für den Mord an Rushdie ein. Er verteidigte die Fetwa mit den Worten, sie sei »lediglich ein Todesurteil nach göttlichem Recht«34. Derselbe Siddiqi ist Begründer des islamischen Parlaments in London, das sich - als ein »Parlament« der in England lebenden Muslime - seit seiner Gründung am 4. Januar 1992 als Alternativ-Institution zu Westminster begreift.35 Anstatt Integration zu betreiben, führen diese Separatisten Parallelgesellschaften in Europa als Vorstufe der Islami-sierung ein.36 Mein Konzept »Euro-Islam versus Ghetto-Islam« versteht sich als Alternative zu diesem »islamischen Separatismus« (Aziz al-Azmeh) der Diaspora-Muslime. An dieser Stelle möchte ich noch einmal die Bedeutung der Rushdie-Affäre für die erforderliche offensive Verteidigung der individuellen Menschenrechte - zumindest in Europa, als institutionellem Ort dieser Rechte - diskutieren. Die Außenminister der Europäischen Gemeinschaft hatten am 20. Februar 1989 zunächst eine Erklärung zu den iranischen Drohungen gegen Rushdie und seinen Verleger veröffentlicht, in der sie - allerdings nur rhetorisch - eine resolute Position dagegen bezogen. Mich als nichteuropäischen, jedoch in Europa lebenden Muslim schmerzt es, zu beobachten, dass die europäischen Staaten, vor allem Deutschland, kaum für ihre europäischen Werte eintreten: Während die iranische Führung auch nach dem Ableben des Ayatollah Khomeini die Gültigkeit seiner Fetwa unterstrich, kehrten die europäischen Staaten nach dem Prinzip »business as usual« zum Alltag zurück. Die Islamische Republik Iran gehörte damals zu den wichtigsten Handelspartnern der Bundesrepublik Deutschland. Das -178-
entsprechende Handelsvolumen von 1992 betrug etwa neun Milliarden Mark (es ist heute allerdings stark rückläufig). Als der damalige iranische Botschafter nach dem Besuch seines Außenministers in Bonn gegenüber der Presse abfällig und sehr wirklichkeitsnah davon sprach, dass westliche Staaten sich mehr für ihre Geschäfte als für »ihre westlichen Menschenrechte« interessierten, wurde er zu einem Tadel in das Auswärtige Amt vorgeladen. Dabei handelte es sich jedoch nur um eine Protokollsache. Der iranische Botschafter hatte keinen Anlass, dies ernst zu nehmen. Im Oktober 1993 wurde der iranische Minister für den Geheimdienst Ali Falla-hian in Bonn empfangen. Erst als die Verwicklung dieses Islamisten in den »Mykonos-Mord« offenkundig wurde, begann man in Deutschland, die Augen zu öffnen. Unter dem heutigen Reformpräsidenten Khatami ändert sich die iranische Rhetorik, nicht aber die Politik. Bereits 1999 bezeichnete ich im Stern Khatami als einen »gefesselten Präsidenten«, der von dem fundamentalistischen Staat Iran als Feigenblatt benutzt wird. Im Jahr 2002 gilt dies nun als eine gesicherte Erkenntnis. Die Europäer waren damals nicht ernst zu nehmen, weil sie ihre Zivilisation gegen Angriffe nicht verteidigten. Seinerzeit beschrieb Der Spiegel die Lage unter dem ehemaligen FDPAußenminister Klaus Kinkel folgendermaßen: »Die moralischen Prinzipien, die der ›Anwalt der Menschenrechte‹ (Kinkel über Kinkel) vor der WeltÖffentlichkeit zu Protokoll gab, stehen im krassen Gegensatz zur Realpolitik der... Regierung... Selten zuvor haben Bonner Kabinettsmitglieder so zynisch klar gemacht, dass vor der Moral das Geschäft rangiert.«37 Ein anderer »Liberaler«, Jürgen Möllemann, war noch klarer -179-
in Bezug auf den Primat der Geschäfte. Er forderte anlässlich einer Geschäftsreise in den Iran im Februar 1997 von seinem Parteikollegen Kinkel, die Beziehungen zu der Islamischen Republik zu verbessern und, wie er sagte, zu »intensivieren«. Seine Begründung hierfür lautete: »Es geht immerhin um dreistellige Millionenbeträge.«38 Die Überlegung, dass solche Handelsaktivitäten mit der Verurteilung der dortigen Menschenrechtsverletzungen in Konflikt stehen, lehnte Möllemann mit folgendem Statement ab: »Wir haben unsere Standpunkte und Interessen zu vertreten, auch wenn es schwierig ist.« (ebd.) Kritik an seiner Haltung wies er mit der Bemerkung zurück: »Der Zeigefinger beeindruckt mich nicht.« (ebd.) Ich denke, dass diese Äußerungen keines Kommentars bedürfen! Menschenrechte in Europa gegen vormoderne Kulturen zu verteidigen steht nicht im Widerspruch zu kultureller Öffnung Zusammenfassend stelle ich fest, dass auch heute im Jahr 2002, also etwa eineinhalb Jahrzehnte nach ihrem Höhepunkt, die Rushdie-Affäre ihre symbolische Bedeutung für die Europäer behält. Ihre Folgen für die kulturelle Gültigkeit der Menschenrechte in Europa selbst bleiben im Zeitalter der Migration aus vormodernen Kulturen und des Fundamentalismus weiterhin bestehen und nach dem 11. September sind sie bedeutsamer denn je. Der Herausgeber der Briefe an Salman Rushdie, Thierry Chervel, hat die europäische Indifferenz kritisiert, als er schrieb, zu viele meinten »eher nebenbei, bei einem Glas Soave oder in gut geheizten Verlagsetagen: Rushdie möge nicht so ein Theater machen, er sei schließlich nicht der einzige bedrohte Schriftsteller auf der Welt«39. Bei ihrer Gleichgültigkeit und Wertebeliebigkeit -180-
scheinen die Europäer viele - für ihre eigene Entwicklung konstitu-tive - Errungenschaften im Namen der Toleranz gegenüber anderen Kulturen praktisch aufzugeben. Ob die Europäer zu ihrer kulturellen Moderne stehen und wie sie dies tun, ist eine Frage, die ich als Nichteuropäer nicht für sie beantworten kann, ebenso wenig wie sie meine Probleme als Reform-Muslim mit dem orthodoxen Islam beziehungsweise Islamismus nicht klären können. Doch als ein - eben gerade wegen der institutionellen Gültigkeit der Menschenrechte - in Europa lebender Muslim, der europäischer citoyen ist, beanspruche ich Rechte. In Deutschland kennt weder das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht als Reichsrecht von 1913 noch das neue Gesetz von 2000 den Begriff des citoyen. Im Zusammenhang mit der Rushdie-Affäre und ihren Folgen gibt es für mich als Muslim eine Frage, die mich existentiell betrifft: Kann ich als Muslim die Religionsund Denkfreiheit als Menschenrecht im multikulturellen - im Sinne von wertebeliebigen, also nicht kulturplura-listischen - Europa ungestraft für mich in Anspruch nehmen? Um den Sachverhalt zu entpersonalisieren, zitiere ich dabei die Position eines syrisch-islamischen Gelehrten, der sich in einer ähnlichen Lage wie ich befindet, jedoch nicht an einer deutschen, sondern an einer britischen Universität (Exeter) unter anderem Philosophie lehrt. Aziz al-Azmeh, der aus meiner Heimatstadt Damaskus stammt, empörte sich in dem Magazin New Statesman and Society auf dem Höhepunkt der Rushdie-Affäre über das Verhalten der politischen Aktivisten der islamischen Gemeinde in England, die er »Separatisten« nennt. Jene Fundamentalisten hatten die Bücher von Rushdie öffentlich verbrannt. al-Azmeh führt aus: »Die islamischen Organisationen in Großbritannien maßen sich offenbar mit Erfolg das Recht an, Ideen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, die nicht mit ihren eigenen -181-
Anschauungen übereinstimmen. Diese muslimischen Organisationen wollen nur die von ihnen autorisierte Denkweise zulassen, über bestimmte Themen zu sprechen, über die sie für sich ein Monopol beanspruchen.«40 Das ist genau die »Mentalität des Tabus« (al-Azm), deren Einführung in Europa eine der Konsequenzen der multikulturellen, das heißt wertebeliebigen Gesellschaft sein kann. al-Azmeh führt zum Vergleich zionistische Juden an, die jede Kritik am Zionismus als Antisemitismus inkriminieren, und zieht eine Parallele zu den islamischen Fundamentalisten, die jede Kritik am politischen Islam als antiislamisch verfemen. Somit verbieten sich beide im Namen der Toleranz gegenüber anderen Kulturen die ihnen gegenüber geäußerte Kritik. Diese Erscheinung kann man auch bei uns in der Bundesrepublik beobachten, und zwar nicht nur bei islamischen Fundamentalisten, sondern ebenso bei den deutschen Liebhabern des Exotischen. Aus diesem Kreis wurden während der letzten Jahre diffamierende Bücher unter Titeln wie Das Schwert des Experten oder Feindbild Islam veröffentlicht. Die aus demokratischer Perspektive formulierte, den Menschenrechten verbundene Kritik am islamischen Fundamentalismus wird von Vertretern dieser Richtung als »Ausländerfeindlichkeit« inkriminiert. Zwar gibt es Ausländerfeindlichkeit in Deutschland, sie ist aber nicht rechtsradikaler als der Islamismus.41 Die Kritik an Letzterem, auch wenn sie von einem muslimischen deutschen Autor kommt, wird jedoch diffamiert. Es mutet höchst seltsam an, wenn europäische Atheisten islamischen Reformern und Religionskritikern vorwerfen, ein »Feindbild Islam« aufzubauen. Camus' absurde Welt wird hier Realität. Die Öffnung für andere Kulturen ist für Europa ein »Muss«; es ist aber der falsche Weg, wenn ein europäischer Muslim wie Salman Rushdie von totalitären PC-Sittenwächtern im Namen -182-
dieser Öffnung in seiner Meinungsfreiheit beschnitten wird. Denkverbote durch islamische Fundamentalisten und durch Europäer mit einer Leidenschaft für exotische Kulturen haben mit Toleranz gegenüber Andersdenkenden nichts zu tun; vielmehr gefährden derartige Haltungen die Substanz der Menschenrechte. Europas Öffnung gegenüber nichteuropäischen Kulturen steht in Kontrast dazu, die eigenen Werte - vor allem die der individuellen Menschenrechte - zu bewahren. In meinem Buch Europa ohne Identität? gehe ich ein Stück weiter und behaupte, dass Europäer zwischen den Extremen pendeln. Während des Zenits ihrer Zivilisation sahen sie sich im Zentrum der Welt. Dies ist die Position des arroganten Eurozentrismus. Während ihrer aktuellen Sinnkrise bewegen sich die Europäer nun von dieser eurozentrischen Haltung hin zum Gegenextrem der Selbstverleugnung. Anstelle der kulturellen Moderne tritt die Postmoderne mit ihrem Relativismus und ihrer Wertebeliebigkeit. Ob Europa eine Zukunft hat, ist eine Frage, die ich nicht zu beantworten vermag. Doch eines weiß ich als Muslim, welcher der kulturellen Moderne anhängt und in Deutschland als Wahleuropäer lebt, ganz genau: Es lohnt sich, Europäer zu sein und Europa zu verteidigen. Dies hatte schon mein akademischer Lehrer Max Horkheimer insbesondere nach dem NS-Terror erkannt. Obwohl die USA ihm Schutz vor Hitler boten und er dafür sehr dankbar war, kam er 1950 nach Deutschland zurück - auch wenn zu jener Zeit die Wunden der Nazi-Verbrechen für einen Juden noch offen lagen. In Frankfurt habe ich nach 1965 bei Horkheimer und Adorno studiert und Jahrzehnte später widmete ich ersterem mein Buch über Europa mit folgenden Worten: Zum Andenken an meinen verehrten jüdischen Lehrer Max Horkheimer, in dessen philosophischen Seminaren und durch dessen Schriften ich als arabischer Muslim gelernt habe, mich gegenüber Europa - wie er es lehrte - »kritisch zu verhalten und -183-
es dennoch zu bewundern, zu seinen Ideen zu stehen, sie gegen den Faschismus Hitlerscher, Stalinscher oder anderer Varianz« also auch gegen den Fundamentalismus, wie ich hinzufüge -»zu verteidigen«. Von Max Horkheimer habe ich gelernt, keiner europäischen Rhetorik Glauben zu schenken, vielmehr die Ideen Europas an »ihrem eigenen Begriff zu messen«42, nicht aber an den Beteuerungen europäischer Politiker und Ideologen. Zu den Lehren der Rushdie-Affäre gehört es, die in der Widmung wiedergegebenen Gedanken Horkheimers in ein politisches Programm zu verwandeln.
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Kapitel 5 Der grundlegende weltanschauliche Konflikt Zwischen islamischer Kollektivvorstellung und der Individuation der kulturellen Moderne
Der Ausgangspunkt dieses Buches ist, dass jede Zivilisation ihre eigene Weltanschauung hat und somit entsprechend unterschiedliche Rechtsverständnisse nebeneinander existieren, die miteinander kollidieren.1 Dabei stelle ich fest, dass Multikulturalisten geflissentlich diesen interzivilisatorischen Konflikt übersehen oder verleugnen. Hierdurch wird jede Klärung, ja Aufklärung und folgerichtig jede Vermittlung zwischen rivalisierenden Zivilisationen praktisch blockiert. Salman Rushdie wegen seiner fehlenden kulturellen Sensibilität zu kritisieren und ihn dennoch gegen die Menschenrechtsverletzungen der iranischen Ayatollahs zu verteidigen ist ein Anliegen, das, wie ich hoffe, im vorangegangenen Kapitel deutlich genug zum Ausdruck gekommen ist. Wer differenziert und in einer Atmosphäre der Polarisierung nicht nur Schwarz und Weiß sieht, gerät zwangsläufig zwischen die Fronten. Das ist mein Schicksal, das ich als Grenzgänger zwischen zwei Zivilisationen jedoch bewusst gesucht habe, weil ich die kulturelle Differenz, die ich im Alltag erlebe, nicht verleugnen kann. Rushdies Meinungsfreiheit verteidigen heißt, weder für den profilierungssüchtigen Autor der Satanischen Verse noch für seinen gegenüber religiösen Heiligtümern geschmacklosen Roman, -185-
wohl aber für seine individuellen Menschenrechte einzutreten. Diese existieren im orthodoxen Islam aber nicht. Und trotz meiner Distanz zu Rushdie trete ich - neben der Verteidigung seiner Menschenrechte - auch für seinen Einsatz für einen westlichen Islam ein. Weltanschauliche Zivilisationskonflikte Im Zentrum meines Interesses steht der Zivilisationskonflikt, den die Rushdie-Affäre als Nebeneffekt zur Schau gestellt hat. Es ist jetzt wichtig, Farbe zu bekennen gegen die anmaßenden politischen Ansprüche sowohl der islamischen Orthodoxie als auch des Islamismus und zugleich vor der »Anfeindung« des Islam zu warnen. Als Intellektueller, der zwischen den Zivilisationen lebt, erhebe ich den Anspruch, bestehende Kluften zwischen lokalen Kulturen und ihren Zivilisationen2 besser erkennen und verstehen zu können als monokulturell aufgewachsene und in ihrem Denken entsprechend ausgerichtete Menschen. Als Wissenschaftler, der in Europa, den USA und vielen nichtwestlichen Ländern mehr als zwei Jahrzehnte lang internationale Politik gelehrt hat, habe ich immer eine gewisse Distanz gegenüber linken wie konservativen Kollegen in Deutschland gewahrt, die trotz ihrer politischen Unterschiede unübersehbar eines gemeinsam haben: Beide Seiten berücksichtigen nach meinem Dafürhalten nicht die Bedeutung von Kultur und Zivilisation für die internationale Politik. Sie haben bisher - damit meine ich bis zum Ende des Kalten Krieges - die Beschäftigung damit auch gar nicht als fachlich legitim zugelassen. Die deutschen »Linken« glauben an den »Weltmarkt« und an die »Bewegung des Kapitals«, während die »Rechten« bis zum Ende des Kalten Krieges von der vorwiegend militärisch verstandenen, oft paranoiden Sicherheitspolitik gegenüber »dem Kommunismus« besessen -186-
waren. Heute sind wir aufgefordert, »jenseits von links und rechts«3 über die Probleme nachzudenken und die Gesinnung beiseite zu lassen. Um die besonders nach dem Ende des Kalten Krieges stattfindende Politisierung der Religion - aus der der religiöse Fundamentalismus hervorgeht - zu verstehen, muss eine Veränderung in der westlichen Wahrnehmung stattfinden. Seit mehr als zwanzig Jahren schreibe ich über Zivilisationskonflikte.4 Es blieb jedoch Samuel P. H. Huntington aus Harvard vorbehalten, eine internationale Debatte über diesen Gegenstand auszulösen. Noch im Frühjahr 1991 bei einer Harvard-Diskussion über Hun-tingtons Buch The Third Wave, das weltweite Demokratisierung thematisiert und von der ich in meinem Buch Die Verschwörung ausführlich berichte, wollte er sich nicht für meine Aufforderung öffnen, kulturelle und zivilisationsbezogene Dimensionen internationaler Politik mit in Betracht zu ziehen. An dieser Haltung änderte zu jener Zeit auch die Tatsache nichts, dass die Rushdie-Affäre, die die Bedeutung eben dieses Gegenstandes massiv illustriert, sich gerade auf ihrem Höhepunkt befand. Für mich war es gleichermaßen eine große und erfreuliche Überraschung zwei Jahre später, im Sommer-Heft 1993 der einflussreichen Zeitschrift Foreign Affairs den Aufsatz »Clash of Civilizations?« (»Der Zusammenprall der Zivilisationen?«) zu entdecken, in dem folgende, sehr richtige Erkenntnis zu lesen war: »Die Unterschiede zwischen den Zivilisationen sind grundsätzlicher Natur; sie betreffen Geschichte, Sprache, Kultur, Tradition und an vorderster Stelle die Religion... Unsere Welt wird [durch Globalisierungsprozesse, B.T.] immer kleiner und das Bewusstsein von den Unterschieden zwischen den Zivilisationen stets größer... In den nördlichen Grenzen des -187-
Islam ist der Konflikt zwischen Muslimen und orthodoxen Christen ausgebrochen... In den kommenden Jahren werden die meisten lokalen Konflikte nach dem Muster von Bosnien und dem Kaukasus eskalieren - als solche zwischen unterschiedlichen Zivilisationen. Der nächste Weltkrieg, wenn ein solcher stattfinden sollte, wird ein Weltkrieg zwischen Zivilisationen sein...«5 Als ein Mensch, der zwischen den rivalisierenden Zivilisationen des Westens und des Islam lebt und beiden angehört, war es stets mein Erkenntnisinteresse, nicht nur den Konflikt zwischen beiden angemessen zu verstehen, sondern auch zwischen ihnen zu vermitteln. Dieses Interesse leitet meine Arbeit als Schriftsteller und Wissenschaftler und steht im Mittelpunkt meines Denkens und Handelns. Um dabei dem Anspruch der Redlichkeit gerecht zu werden, muss man die grundlegenden Konflikte aufzeigen und nicht mit leeren Höflichkeitsfloskeln vertuschen oder gar durch Denkverbote Debatten darüber verhindern. Ich habe wiederholt die Erfahrung gemacht, dass diese Redlichkeit von offizieller islamischer Seite unerwünscht ist. Nach der Veröffentlichung meines Essays »Selig sind die Belogenen« in der Wochenzeitung Die Zeit vom 29. Mai 2001 war ich massiven Angriffen ausgesetzt. Als Motto zur Einleitung dieses Buches zitiere ich mein Vorbild, den Islamologen Maxime Rodin-son, der in einem ähnlichen Kontext die unaufrichtige, ja heuchlerische Höflichkeit europäischer Islamwissenschaftler beim Umgang mit dem Islam offen kritisiert. Ich denke, dass die auf die Erkenntnis bezogene Aufrichtigkeit die Integrität des Gelehrten ausmacht. Der Fall Rushdie illustriert, dass Doppeldeutigkeit zu Missverständnissen oder gar zur Verschleierung der Unterschiede zwischen den Zivilisationen führt. Der grundlegende weltanschauliche Konflikt besteht darin, dass Muslime von der Zugehörigkeit des Menschen zum -188-
Kollektiv, zur Umma (Gemeinschaft aller Muslime) ausgehen, während die westliche Zivilisation den Menschen als Individuum bestimmt und mit einklagbaren entitlements (Berechtigungen) gegenüber Staat und Gesellschaft ausstattet. Das islamische Kollektiv will den Islam auf die gesamte Menschheit ausdehnen. Menschen als Gläubige, nicht als Bürger, haben diesem Kollektiv gegenüber Faraid (Pflichten), nicht aber individuelle Rechte als Berechtigungen. Dagegen begreifen Europäer, deren Zivilisation Reformation, Aufklärung und die Große Französische Revolution als historische Prozesse durchgangen ist, den Menschen als Individuum. Eine Gesellschaft, die nicht mit dem Staat identisch ist (Etatismus), ist eine zivile Gesellschaft. Eine solche Trennung zwischen Staat und Gesellschaft hat im Islam nie existiert. Die Voraussetzung für die Umsetzung des Subjektivitätsprinzips waren in Europa die Prozesse der Individuation, ohne die die Zivilgesellschaften undenkbar wären. Individuation heißt, dass der Mensch als ein!• freies Subjekt gedacht wird und in der Realität auch als Individuum existiert. Dergleichen gibt es im Islam nicht. Die Begegnung zwischen islamischer und westlicher Zivilisation zeigt, dass die beschriebenen Menschenbilder extrem weit auseinander klaffen. Die Rushdie-Affäre hat diesen bestehenden Konflikt aktualisiert und veranschaulicht, jedoch nicht erst geschaffen. Ich weiß nicht, wie Moralisten einen Dialog führen wollen, wenn sie zugleich verbieten, über diesen weltanschaulichen Konflikt zu sprechen. Der in der Rushdie-Affäre offenbar gewordene Konflikt zwischen islamischer Kollektivvorstellung und den individuellen Rechten des Menschen muss auf zwei Ebenen bewältigt werden: auf der zwischenstaatlichen und auf der binnengesellschaftlichen Ebene. Auf der zwischenstaatlichen Ebene müssen durch einen echten, nicht verlogenen Dialog Verkehrsformen zwischen dem Westen und der Welt des Islam -189-
gefunden werden, die diesen interzivilisatorischen Konflikt in friedliche Bahnen lenken können. Die verbindliche Anerkennung eines Minimums von Individualrechten als Menschenrechte durch Staaten beider Zivilisationen könnte ein erster Schritt in diese Richtung sein. Der islamische Fundamentalismus steht einem solchen Konsens allerdings im Wege. Auf der binnengesellschaftlichen Ebene dürfen Europäer im Hinblick auf die individuellen Menschenrechte keinesfalls im Namen des Multikulturalismus Konzessionen gegenüber den Diaspora-Muslimen machen, wollen sie das kulturelle Projekt der Moderne als Substanz der zivilisatorischen Identität Europas nicht aufgeben. Ich halte das Pharisäertum manch europäischer Intellektueller, wie Richard Webster6, für gefährlich, die die Relativierung des Freiheitsbegriffs der kulturellen Moderne als Errichtung von »Brücken des Verständnisses« zwischen Europäern und der in sich vielfältigen muslimischen DiasporaGemeinde in Europa verstehen. Webster deutet das Ablehnen islamischer Politikvorstellungen für Europa als »antiislamischen Rassismus«. Dagegen kann man anführen: Der Islam ist eine Religion, die grundsätzlich zu respektieren ist. Respekt vor dem Islam darf aber nicht zu einer Selbstverleugnung Europas führen, etwa indem die Vorstellungen anderer über die Gestaltung des Gemeinwesens akzeptiert und die Übertragung ihrer zivilisatorischen Lebenswelt auf den europäischen Kontinent hingenommen wird. Muslime sind keine »Rasse«, sondern bilden eine Religionsgemeinschaft. Daher ist die polemische Übertragung des europäischen Begriffs der »Rasse«7 auf den Islam nicht nur falsch, sondern auch im höchsten Maße gefährlich; jede Religionskritik wird dadurch verhindert. Der Multikulturalismus ist wertebeliebig und verleugnet den Zivilisationskonflikt, wohingegen der kulturelle Pluralismus werteorientiert ist und deshalb auf einen Minimalkonsens mit den Einwandererkulturen, die keine Individuation kennen, insistiert. Dabei dürfen die kulturellen und politischen -190-
Grundlagen der individuellen Menschenrechte - vor allem im eigenen Haus - nicht über Bord geworfen werden. Besonders aus dieser Perspektive gewinnt die Rushdie-Affäre klare Konturen. Es geht nicht um Verletzungen der Menschenrechte im fernen Iran, sondern um die Rechte eines britischen, in Europa wirkenden Autors. Darf man in Europa Verständnis für die symbolische Verbrennung von Büchern durch Mitglieder der islamischen Gemeinde im britischen Bradford zeigen und darüber den Mantel des kulturellen Verständnisses breiten, wie zum Beispiel Webster und andere dies tun? Die Antwort auf diese existentielle Frage betrifft die Zukunft Europas. Die Deutschen insbesondere und generell europäische Christen dürfen ihre Geschichte der Bücherverbrennung in diesem Zusammenhang nicht verdrängen. Wer Bücher verbrennt, hat keine Hemmungen, auch Menschen zu verbrennen. Globale Strukturen, aber kein Konsens über Normen und Werte Die Stellungnahme der Außenminister der Europäischen Gemeinschaft, in der sie im Februar 1989 in Brüssel auf dem Höhepunkt der Rushdie-Affäre ihre ablehnende Haltung gegenüber der von Khomeini erlassenen Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) deutlich bekundeten, hatte heftige islamischfundamentalistische Reaktionen gegen den Westen hervorgerufen. Doch das europäische Bekenntnis zu den individuellen Menschenrechten blieb bedauerlicherweise reine Rhetorik. Die sunnitische Bewegung der Muslimbruderschaft in Ägypten nahm damals den persisch-schi'itischen Führer gegen den Westen resolut in Schutz und verkündete: »Die Position der westlichen Länder stellt erneut einen Angriff der Kreuz-zügler gegen den Islam dar.«8 Wenn es also um die Frontstellung gegen -191-
Europa geht, tritt die traditionelle Feindschaft zwischen Sunna und Schi'a sowie zwischen Arabern und Persern völlig in den Hintergrund. Die Globalisierung kann die kulturelle Differenz und den weltanschaulichen Dissenz zwischen Islam und Abendland nicht »übertünchen«. Die parallel zur Globalisierung bestehende kulturelle Fragmentation kann nicht verdecken, dass Khomeinis Fetwa gegen zwei im Ursprung westliche, inzwischen aber universelle Prinzipien verstößt: zum einen gegen die individuellen Menschenrechte, zu denen das Recht des Individuums auf freie Meinungsäußerung gehört, und zum anderen gegen das Prinzip der Souveränität von Staaten. Die Verfolgung eines britischen Staatsbürgers durch den iranischen Staat unter Aussetzung eines Kopfgeldes in Millionenhöhe und seine Freigabe zur Ermordung per »Rechtsgutachten« sind Eingriffe in die Souveränität des britischen Staates sowie in die Rechte seiner Bürger und somit unzulässig. Auch wenn Rushdie mit seinem Roman einen religiösen Glauben anstößig verletzt hat, darf er nicht der Strafverfolgung der Schari'a ausgesetzt werden; diese gilt in Europa nicht und darf hier auch nicht gelten. Nun sind Menschenrechte als Abwehrrechte - das heißt als Berechtigungen des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft - ebenso wie das Souveränitätsprinzip den Normen der islamischen Zivilisation fremd. Die Rushdie-Affäre zeigt die Wirkung normativ-kultureller Positionsdifferenzen auf die internationale Politik und wirbelt einen alten historischen Konflikt zwischen zwei rivalisierenden Zivilisationen auf. Djihad (Anstrengung; in der historischen Realität jedoch Krieg zur Verbreitung des Islam) und Kreuzzug9 sind die zwei Schlüsselbegriffe für das Verständnis der Geschichte westlichislamischer Beziehungen. Unter Positionsdifferenz verstehe ich hier fundamentale Unterschiede in Bezug auf Normen und Werte, die den jeweiligen Weltanschauungen zugrunde liegen. Diese -192-
erschweren Kompromisse. So ist der Unterschied zwischen auf Individuation basierenden Menschenrechten und islamischen Kollektivvorstellungen beziehungsweise der Lehre der Faraid eine schwer überbrückbare Positionsdifferenz normativkultureller Art. Dies hat weder mit Ökonomie noch mit Globalisierung zu tun. Weltanschauliche Unterschiede bereiten dem friedlichen Umgang der westlichen mit der islamischen Zivilisation und umgekehrt große Probleme. Nur ein liberaler Reform-Islam kann diese Positionsdifferenz beheben, indem er islamische Anschauungen mit den Menschenrechten versöhnt.10 Selbst der als liberal geltende, in Paris lehrende Muslim Mohammed Arkoun hat in Le Monde unverblümt die Meinung geäußert, dass »die einseitige Aufnahme der Frage der Menschenrechte aus einer okzidentalen Perspektive... einen Konflikt mit dem Islam hervorruft, der die Menschenrechte im Rahmen der Rechte Gottes definiert«.11 Arkoun spricht hier die bereits angedeuteten weltanschaulichen Positionsdifferenzen an, aus denen Wertekonflikte erwachsen. Dazu gehört auch der Konflikt zwischen säkularem Gemeinwesen und exklusivreligiöser Gemeinschaft der Gläubigen, bei dem es kaum Kompromisse geben kann. Eine multikulturelle Gesellschaft, die beides friedlich in Einklang bringen will, verfällt einem selbstgerechten Wunschtraum. Das Resultat wäre ein »balkanisiertes« Gemeinwesen mit entsprechenden Konfliktpotentialen. In Frankreich verteidigen Aufklärer die eigene politische Kultur der säkularen Demokratie gegen die vormodernen Migrantenkulturen.12 Den »Rassismus«-Vorwurf in diesem Kontext zu erheben ist eine absolute Fehlleistung und eine sprachliche Verzerrung bei der Beschreibung politischsozialer Realitäten! Rassismus ist Ausdruck der Barbarei. Die Aufklärung gegen vormoderne Unaufgeklärtheit zu verteidigen ist kein Rassismus. Leider machen sich Multikulturalisten ungewollt zu Handlangern der Islamisten, wenn sie politisch korrekt -193-
kontroverse und offene Debatten verhindern. Orthodoxe Muslime und Islamisten bleiben dagegen offensiv und machen geltend, dass sie europäische Normen, auch wenn sie universell geworden sind, nicht anerkennen. An deren Stelle setzen sie ihre eigenen Normen und fordern für diese Universalität. Ihrer Ansicht nach gehe es bei der Rushdie-Affäre weniger um die Person Salman Rushdie als um »den historischen Kampf zwischen dem Islam und dem Westen«, wobei sie Letzteren fälschlich mit dem Christentum gleichsetzen. Diese Formel wurde übrigens lange vor Huntington von Islamisten selbst geprägt, wie ich noch in diesem Kapitel zeigen werde. Bei dem Begriff der normativen Positionsdifferenzen, welcher der Skizzierung des Konflikts zwischen dem Islam und der kulturellen Moderne dient, geht es keineswegs um etwas rein Akademisches. Die Politisierung dieser normativen Positionsdifferenzen durch zeitgenössische islamische Fundamentalisten macht das deutlich und hat zur Konsequenz, dass selbst der minimal vorhandene kulturübergreifende Konsens schwindet. Das gilt umso mehr angesichts der Tatsache, dass die Aufkündigung des bestehenden Konsenses nicht ausschließlich von Islamisten unternommen wird. Der Islamismus der Gegenwart bietet nur eine der vielen Spielarten antiwestlicher Ideologien, von denen heute einige in fundamentalistischem Gewand global als neuer Totalitarismus auftreten und alte Konflikte zwischen den Zivilisationen aufheizen. Der französische Schriftsteller Alain Finkielkraut hat in einer weit verbreiteten und auch in deutscher Übersetzung zugänglichen Schrift vor einer »Niederlage des Denkens«13 in der Auseinandersetzung mit den vormodernen Kulturen der Migranten gewarnt. Finkielkrauts Sorge gilt dem Prinzip der subjektiven Freiheit - das heißt der Idee vom Individuum als einem autonomen, vernunftbegabten Subjekt - als einem in der neueren europäischen Geschichte -194-
materialisierten Konzept der Individuation; dieses ist ein Bestandteil der europäischen Aufklärung. Ich habe bereits mehrfach auf den philosophischen Diskurs der Moderne von Habermas als Denkweise der Aufklärung zurückgegriffen, der gegen den ebenso vagen wie modischen Anspruch der Postmoderne gerichtet ist.14 Leider hat Habermas in seinen Reden von 2001 und 2002 die Geltung dieses Diskurses im Namen der »Toleranz« abgeschwächt. Die kulturelle Moderne galt früher auch für außereuropäische - einschließlich muslimische - Antikolonia-listen, die während des Prozesses der Dekolonisation15 auf europäische Werte zurückgriffen, vor allem auf das Konzept der Volkssouveränität als säkularer Legitimation der Herrschaftsausübung in der Nation. Zu den übernommenen Rechten gehört allerdings auch das von ihnen bevorzugte, weil auf Kollektive zugeschnittene Selbstbestimmungsrecht der Völker. Nach der Gründung der Vereinten Nationen und der Verkündung der in diesem Kontext stehenden Universellen Deklaration der Menschenrechte im Jahr 1948 schien die Welt für einen globalen Normenkonsens reif geworden zu sein; damalige Dritte-Welt-Staaten agierten gemäß dem normativen Konsens des Völkerrechts und haben ihn nur manchmal partiell zurückgewiesen.16 Hedley Bull, der bereits zitierte Oxford-Gelehrte, hat auf den wichtigen Unterschied und die damit verbundenen Spannungen zwischen dem »internationalen System« und der »internationalen Gesellschaft« (Weltgesellschaft) hingewiesen.17 Der erste Begriff bezeichnet lediglich die Existenz einer durch Interaktion miteinander in Beziehung stehenden Staatenwelt. Dagegen basiert eine Weltgesellschaft auf einem Normenkonsens - das heißt auf einer Übereinstimmung bezüglich Grundnormen und Werte - als einer Voraussetzung für ein geregeltes, friedliches Zusammenleben dieser Staaten. Bull argumentiert, dass beide Begriffe einst identisch waren, als die moderne internationale Gesellschaft nach dem Westfälischen -195-
Frieden von 1648 auf Europa beschränkt war. Mit der kolonialen Eroberung und der damit verbundenen europäischen Expansion hat der »Europäismus die Welt erobert«18 und zur selben Zeit begann die Entstehung des Westens. Diese Expansion wurde begleitet von der parallelen Globalisierung des europäischen Staatensystems (woraus das internationale System von Nationalstaaten hervorging). Sie löste die nach dem Tod des islamischen Propheten Mohammed im Jahr 632 begonnene und bis zum 17. Jahrhundert fortgesetzte islamische Expansion, die den Versuch einer islamischen Globalisierung ein-schloss, ab. So weit reicht der Konflikt historisch zurück; er basiert auf dem Wettbewerb und der Rivalität zweier Globalisierungsprojekte.19 Mit dieser kollektiven Erinnerung an die Verhinderung einer islamischen Globalisierung findet heute die Erhebung der Welt des Islam gegen den Westen statt. Hierbei wird ein einheitliches Völkerrecht mit dem entsprechenden Konsens über seine Werte und Normen, also auch über die Menschenrechte, in Frage gestellt. Kann es in einer multikulturellen Welt ein für alle Zivilisationen gültiges Recht geben?20 Die Problematik der Zivilisationskonflikte bildet den Hintergrund für den Aufstieg des religiösen Fundamentalismus, von dem der gegenwärtige politische Islam nur eine Spielart darstellt.21 Letztendlich wird der leider nur formal bestehende internationale Konsens gefährdet. Die Rushdie-Affäre hat deshalb eine weltweite Bedeutung gewonnen, weil sie diese Zusammenhänge von Multikul-turalität und interzivilisatorischem Konflikt an einem konkreten Fall an das Tageslicht brachte. Das »Feindbild Westen« der islamischen Fundamentalisten Die Rushdie-Affäre hat bereits vor dem Golfkrieg Salz in die Wunden der historisch stark vorbelasteten muslimisch-196-
westlichen beziehungsweise muslimisch-christlichen 22 Beziehungen gestreut, die auf jahrhundertealten Selbst- und Fremdbildern basieren. Hierbei wurde Rushdie nicht nur von islamischen Fundamentalisten, sondern auch von westlichen Autoren wie Webster der Vorwurf des Antiislamismus gemacht. Nun gibt es nicht nur das »Feindbild Islam« im Westen, sondern auch ein »Feindbild Westen« in der Welt des Islam. Letzteres bekommt durch den schon bestehenden islamischen Fundamentalismus Nährstoff. Das globale Erstarken des Fundamentalismus hat seine Anfänge in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Auf die arabo-islamischen Länder - den Kern der Welt des Islam - bezogen, hängt diese Erscheinung sehr eng mit der vernichtenden und deshalb sehr demütigenden arabischen Niederlage im Sechs-Tage-Krieg von 1967 zusammen.23 Unmittelbar nach dieser Niederlage traten Vertreter des politischen Islam mit ihrer Formel »al-Hall alIslami« (»die islamische Lösung«)24 auf die politische Bühne. Es handelt sich dabei um eine Alternative zur Taghrib (Verwestlichung). Unter dem Schlagwort Taghrib25 fassen islamische Fundamentalisten alle säkularen Ideologien zusammen, einschließlich jener, die säkular sind, aber an der Oberfläche eine Legitimation suchen, die islamisch gefärbt ist - wie etwa der Nasserismus. Die Formel »al-Hall alIslami« ist nicht neu; sie wurde bereits in den zwanziger Jahren von dem Begründer der Muslimbruderschaft26, Hasan al-Banna, geprägt, der übrigens als Erster den Djihad als Terrorismus neu deutete.27 Die Anklage gegen die Verwestlichung ist das aktuellste Phänomen des islamischen »Feindbildes« vom Westen. Als die wichtigsten Ideologen des zeitgenössischen politischen Islam gelten der verstorbene Pakistani Abul A'la alMaududi und der auf Veranlassung von Präsident Nasser 1966, zwei Jahre nach seiner Entlassung aus einer zehnjährigen Internierung, öffentlich hingerichtete Sayyid Qutb. Dieser war -197-
zuvor in einen Mordversuch an Nasser involviert. Durch meine regelmäßigen Aufenthalte in der Region des Nahen Ostens ist mir bekannt, dass die Schriften der beiden angeführten Ideologen von zeitgenössischen islamischen Fundamentalisten in einem Ausmaß rezipiert werden, das fast mit dem des Koran vergleichbar ist; ihr ideologischer Einfluss ist kaum zu überschätzen. Vor allem Qutb gehört zu den geistigen Quellen Osama Bin Ladens und der führenden al-Qaida-Djihadisten. Zum besseren Verständnis des Konflikts zwischen den zwei miteinander wetteifernden Zivilisationen des Westens und des Islam sind vier Gedankenkomplexe von großer Bedeutung, die gleichermaßen bei al-Maududi und Qutb als zentrale Inhalte zu finden sind:28 1. An erster Stelle steht die durchaus berechtigte Kritik am westlichen Kolonialismus; dieser Kritik ist allerdings an jenem Punkt nicht mehr zu folgen, an dem Qutb und al-Maududi ihn nicht als ein sozial-ökonomisch bedingtes Phänomen im Visier haben. Für sie ist der westliche Kolonialismus nämlich vorrangig eine speziell gegen den Islam gerichtete Mu'amarah (Verschwörung), die an die christlichen Kreuzzüge gegen den Islam anknüpft.29 Im Gefolge von al-Maududi und Qutb sprechen zeitgenössische Fundamentalisten von »al-Salibiyya al-djadida« (»dem neuen Kreuzzüglertum«)30 und verwenden diesen Begriff ahistorisch synonym zu »Kolonialismus« und »Neokolonialismus«. 2. Der zweite Gedankenkomplex bezieht sich auf die theozentrische (gottzentrierte) islamische Weltsicht, die Gott in den Mittelpunkt stellt. Als Konsequenz daraus stellt die moderne westliche Wissenschaft, die von der Idee des vernunftbegabten Menschen als freiem Subjekt ausgeht, eine Bedrohung für den Islam dar. al-Maududi und Qutb unterstreichen dagegen die in der Einleitung erläuterte Bestimmung des Menschen im Islam als Makhluq (Geschöpf), das dem Willen Gottes als einzigem Souverän untergeordnet ist. Zu behaupten, dass der Mensch als -198-
Subjekt einen eigenen Willen, ja sogar individuelle Rechte habe, sei Kufr (Unglaube). Diese »Häresie« sei die Weltsicht der Moderne. Die zeitgenössischen islamischen Fundamentalisten verkünden demgegenüber die Befreiung der Welt des Islam von dieser in sie eingedrungenen rationalen Weltsicht. Sie greifen deshalb den Kartesianismus als einen westlichen »epistemologischen Imperialismus« an und streben stattdessen nach einer »Entwestlichung des Wissens« durch Neubelebung eines auf der theozentrischen Weltsicht des Islam basierenden Konzepts von Wissen.31 Nach diesem Konzept gebe es »kein anderes Wissen außer jenem, das auf dem Koran aufbaut«, welcher »die vollständige und letztliche Offenbarung darstellt«.32 Islamische Fundamentalisten weisen damit das rationale Welt- und Menschenbild der kulturellen Moderne, das den Menschenrechten zugrunde liegt, vehement zurück.33 3. Der Sachverhalt, dass sich die europäische Moderne in einer Krise befindet, liefert den Islamisten viele Argumente, denn diese sind oft Muslime mit westlicher Bildung, die mit den im Westen geführten Debatten bestens vertraut sind. Aus der Krise der Moderne im Westen versuchen sie Kapital zu schlagen, indem sie das westliche Modell diskreditieren und auf dieser Grundlage den Islam als Alternative präsentieren. Diese Krise resultiert vor allem daraus, wie einst Horkheimer anmerkte, dass ihre Rationalität auf technische Rationalität und ihre Vernunft auf instrumentelle Vernunft reduziert werden.34 Sayyid Qutb etwa hat während seines USA-Aufenthaltes (19481950) die Arbeit von Alexis Carrel, L'bomme c'est l'inconnu, gelesen, in der Carrel die Krise.. der Moderne als eine Sinnkrise beschreibt und sie durch eine ganzheitliche Anthropologie zu überwinden sucht. Qutb verfasste über dieses Buch einen Essay, den heute nahezu jeder alphabetisierte islamische Fundamentalist kennt. Dabei sei hier daran erinnert, dass die Mehrheit der heutigen Muslime Analphabeten sind; islamische Fundamentalisten hingegen sind in der Regel -199-
Hochschulabsolventen, denen die Lektüre von Qutb und alMaududi keine Probleme bereitet. Die Deutung des Islam als »das Absolute« scheint ihnen einen Weg aus der westlichen Sinnkrise zu weisen. Das »Feindbild Westen« basiert somit auf der Darstellung der westlichen Zivilisation als korrupt, dekadent und sich im Niedergang befindend. Im Übrigen gibt es auch Europäer, wie etwa den AltKommunisten Roger Garaudy oder den ehemaligen deutschen Botschafter in Marokko Murad Hofmann, die ihre Sehnsucht nach dem Absoluten als Heilsideologie in einer Konversion zum Islam meinen erfüllen zu können. Islamische Fundamentalisten weisen auf diese Islam-Konvertiten als »Opfer« der Moderne hin; von Letzterer würden sie sich durch Konversion heilen und so zeigen, dass der Islam die Alternative zur Moderne sei. Der Islam als Alternative35 lautet denn auch der Titel des von dem konvertierten Botschafter Hofmann verfassten Buches. Ich wage es, politisch unkorrekt, folgende Fragen zu stellen: Alternative zu was? Zur westlichen Zivilisation und ihren Werten? Auch eine Alternative zu den individuellen Menschenrechten? 4. Der vierte Ideenkomplex, der in den Vorstellungen der heutigen islamischen Fundamentalisten dominiert, bezieht sich ebenfalls auf ein Thema aus dem Werk von Qutb, nämlich auf die islamische Hegemonie in der Welt. In seinem weit verbreiteten Pamphlet Ma'alim fi al-tariq (»Wegzeichen«) prophezeit Sayyid Qutb - wie ich als Motto zu diesem zweiten Teil ausführlich zitiert habe -den Untergang des Westens, dessen hegemoniale Position »nur der Islam« übernehmen könne. Denselben Gedanken finden wir bei al-Maududi, der ihn mit der Formel »Die Fähigkeit des Islam zur Führung des modernen Zeitalters« umschreibt (vgl. Anmerkung 28). Europäische Vertreter der Postmoderne beanstanden den Universalitätsanspruch des kulturellen Projekts der Moderne, nicht aber die absoluten Universalitätsansprüche der anderen, -200-
wie Ernest Gellner vor seinem Tod 1995 kritisch anmerkte. Als eine weitere Alternative zur kulturellen Moderne wird der kulturelle Relativismus angepriesen. Mit einer solchermaßen konzipierten Postmoderne haben Muslime - auch wenn sie den Begriff »Postmoderne« übernehmen36 - nichts im Sinn. Unter Postmoderne verstehen sie Post-Westen, also eine Ablösung des Westens. Westliche Postmodernisten deuten das »religiöse Erwachen« als eine postmoderne Hoffnung, die einen Ausweg aus der »sinnentleerten säkularen Welt« biete und diese postkolonial mystifiziere. Auf falscher Romantisierung beruht etwa auch die Kritik des Princeton-Professors Richard Falk: »Der Säkularismus der modernistischen Zivilisation erzeugt kein Vertrauen mehr in die Kapazität dieser Zivilisation bei der Suche nach einer Antwort auf die fundamentalen Herausforderungen der gegenwärtigen Welt.«37 Das »religiöse Erwachen« sei die postmoderne Alternative zu diesem Säkularismus. Gegen eine solche postmoderne Hoffnung müssen wir jedoch die Tatsache anführen, dass auch der islamische Fundamentalismus ein Zeichen dieses religiösen Erwachens ist. Auch er will den Säkularismus überwinden, ist aber nichts anderes als ein Totalitarismus -und kann daher keine Alternative zur westlichen Demokratie sein. Mir scheint, dass Habermas dieses Phänomen nicht versteht, wenn er in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels positiv von »postsäkularer« Entwicklung spricht. Im kulturellen Einflussbereich des Islam hat das »religiöse Erwachen« die Form des religiösen Fundamentalismus angenommen, dessen Zeitgenossen wir sind. Diese antiwestliche Ideologie konstruiert eine Alternative zu der »westlich beherrschten Welt«, sie bietet also eine andere Welt, in der der Islam den Westen in der Führung ablöst und in der es keine individuellen Menschenrechte mehr gibt. Westliche Universalität, zu der die Universalität der Menschenrechte -201-
gehört, soll durch die islamische Universalität der Schari'a abgelöst werden. Alles, was westlich ist, wird mit Kreuzzug, Kolonialismus, Pro-miskuität, Drogensucht (um nur einige Begriffe der langen Liste zu nennen) gleichgesetzt - und das ist der Inhalt des islamischen »Feindbildes« vom Westen. Islamisches Erwachen und die Debatte über Menschenrechte Bei der Debatte über Menschenrechte wird im Zusammenhang mit dem »islamischen Erwachen« in zweifacher Hinsicht auf die Rushdie-Affäre zurückgegriffen, wobei zwei konträre Positionen vertreten werden. In der Tradition der individuellen Menschenrechte wird im Westen das Recht von Salman Rushdie auf Glaubensund Meinungsfreiheit unterstrichen. Gegen dieses Verständnis der individuellen Menschenrechte berufen sich orthodoxe Muslime und Islamisten auf die bekannte Position, dass der Mensch im Islam ein Makhluq sei, das nur Faraid gegenüber der Umma, aber keine individuellen Rechte habe. Diese Position wird im Namen der islamischen Identität als islamisches Menschenrecht des UmmaKollektivs verteidigt. Für Fundamentalisten ist die Individuation als ein Import aus dem Westen abzulehnen. Diese Position teilen auch orthodoxe Salafi-Muslime. Mit Salaf ist die Urzeit des Islam (Prophet Mohammed) gemeint, die als Modell gilt, von dem nicht abgewichen werden darf. Wenn die militanten, im Untergrund tätigen Fundamentalisten in der Welt des Islam politisch verfolgt werden, flüchten sie in den Westen und stellen sich als Opfer der Missachtung von Menschenrechten durch orientalische Despoten in islamischen Ländern dar, um politisches Asyl zu erhalten und in der europäischen Islam-Diaspora als Sprecher des Islam für den Islamismus zu wirken. Trotz dieser opportunen Berufung auf individuelle Menschenrechte würden viele von ihnen Rushdie -202-
am liebsten eigenhändig töten. Obwohl diese Fundamentalisten damit Gebrauch von den Menschenrechten machen, bestreiten sie, dass diese Rechte in der europäischen Moderne ihren Ursprung haben (vgl. Kapitel 2). Die Auffassungen dieser Leute können als Apologetik und zugleich als Heuchelei bezeichnet werden. Indem die Apologeten den Ursprung der Menschenrechte in den Islam verlegen, versuchen sie, die diesem Konzept zugrunde liegenden Rechte von ihrem eigentlichen Begriff und Inhalt zu lösen. Dennoch sehen sie kein Problem darin, sich auf das europäische Asylrecht als individuellem Recht zu berufen. Das ist ihre Doppelstrategie. Die Begegnung des Islam mit dem Westen hat zwar eine orthodoxe Apologetik, jedoch nicht immer einen Fundamentalismus hervorgerufen. Muslime des liberalen Zeitalters haben Europa und seine Freiheitstradition sogar bewundert. Der liberale Muslim Rifa'a Rafi' al-Tahtawi, der in den Jahren 1826-1831 als Imam die erste Gruppe islamischer Studenten nach Paris begleitete und selbst dort studierte, wurde 1830 Zeuge der Juli-Revolution in Frankreich. In seinem, auch in einer deutschen Übersetzung zugänglichen Pariser Tagebuch bewundert er die Respektierung der Menschenrechte in Frankreich während der von ihm beobachteten Revolution: »Die drei anderen Minister [wurden, B.T.] gefasst und zusammen eingesperrt, ohne dass auch nur einem von ihnen während seiner Haftzeit irgendwelche Misshandlungen widerfuhren... Ihr Prozess gehört zum Eindrucksvollsten, das man je zu hören bekommen wird, und stellt einen der großartigsten Beweise für die Zivilisiertheit der Franzosen und die Gerechtigkeit ihres Staates dar.«38 Solche Bewunderung, die aus dem Jahre 1830 stammt, darf über die tiefer liegenden, kulturellen und wertebezogenen -203-
Unterschiede zwischen Muslimen und Europäern nicht hinwegtäuschen. Es handelt sich um weltanschauliche Differenzen zwischen Menschen, die in der europäischen kulturellen Moderne sozialisiert worden sind, und solchen, die in einem Kulturbereich mit den völlig anderen Normen und Werten eines Kollektivs aufgewachsen sind. Der schweizer Journalist und Orient-Experte Erich Gys-ling hat in seiner Diskussion der Satanischen Verse einige dieser Unterschiede richtig hervorgehoben: »Im westlichen Denken hat die Freiheit Vorrang vor der mit ihr verbundenen Unsicherheit. Im islamischen Denken ist die Sicherheit das oberste Prinzip, Freiheit besitzt dagegen einen nur geringen Stellenwert... Sal-man Rushdie hat mit seinen Trauminterpretationen in den Satanischen Versen gegen das innere Sicherheitsbedürfnis der islamischen Welt verstoßen.«39 Es scheint also kein Zufall zu sein, dass Menschenrechte als verbriefte Rechte des Individuums nur in der kulturellen Sphäre des europäischen »Projekts der kulturellen Moderne« (Habermas) zu finden sind. Denn die gesellschaftlichen und weltanschaulichen Voraussetzungen hierfür haben sich nur im Westen materialisiert. Max Horkheimer hat im Vorwort zu seinen unter dem Titel Kritische Theorie in zwei Bänden gesammelten Schriften einige Jahre vor seinem Tod offensiv gefordert, die westliche Zivilisation »an ihrem eigenen Begriff zu messen, kritisch zu ihr sich zu verhalten und dennoch zu ihren Ideen zu stehen, sie gegen Faschismus Hitlerscher, Stalinscher oder anderer Varianz zu verteidigen«.40 Auf der Basis meiner Kenntnis des Islamismus und einem -204-
Vergleich mit den westlichen Totalitarismen (Faschismus und Kommunismus) bin ich geneigt, die religiösen Fundamentalismen aller Spielarten in unserer Zeit unter die Kategorie »andere Varianz« einzuordnen. Horkheimer fügt seinen zitierten Worten emphatisch hinzu, Europa zu verteidigen »ist Recht und Pflicht jedes Denkenden«, eben weil diese Zivilisation »im Augenblick noch eine Insel [bildet, B.T.], deren Ende im Ozean der Gewaltherrschaft auch das Ende der Kultur bezeichnen würde, der die kritische Theorie noch zugehört« (ebd.). Verteidi-genswert sind vor allem das Subjektivitätsprinzip und die individuellen Menschenrechte, die auf diesem Prinzip basieren. Subjektive Freiheit ist ein Begriff, der im nichtrefor-mierten Islam nicht existiert. Ich habe bereits den marokkanischen Philosophen Abid al-Djabiri anlässlich der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution zitiert, der mit Recht hervorgehoben hat, dass muslimische Araber mehr für das archaische Denken des millenari-schen (das heißt: zurück zum Zeitalter des Propheten, also zum Urislam) Wahhabismus als für die Ideen der Französischen Revolution empfänglich sind. Die Wah-habiten41 sind islamische orthodoxe Salafi, Glaubenseiferer, die im Bündnis mit den Saudis die Gründung der Wüstenmonarchie Saudi-Arabien ermöglicht haben; es gibt sie auch in der deutschen Islam-Diaspora, die saudisch finanzierte Einrichtungen umfasst, welche im Namen der Toleranz für sich Geltung beanspruchen. Solche Toleranz allerdings gibt es in Saudi-Arabien nicht. Der zitierte muslimische Pariser Student aus dem 19. Jahrhundert, Imam al-Tahtawi, bringt in seiner Beobachtung der Ereignisse der Juli-Revolution 1830 in Paris seine aufrichtige Bewunderung für die »zivilisierten« Franzosen zum Ausdruck, die sogar ihren Gegnern das Recht auf einen fairen Prozesses gewähren und sie nicht misshandeln, also auch deren Grundrecht auf »körperliche Unversehrtheit« achten. Der -205-
damalige Landesherr al-Tahtawis, Mohammed Ali, der ihn zum Studium moderner, also westlicher Wissenschaft nach Paris schickte, hat dagegen seine Gegner, die Mamluken (militärische Herrscher in Ägypten, von Napoleon 1798 entmachtet), in den Blutbädern von 1811-1814 grausam liquidiert, als diese versuchten, an die Macht zurückzukehren. Dies gehört zur Geschichte der orientalischen Despotie. Eine Bewunderung der europäischen Menschenrechte, die der al-Tahtawis ähnelt, findet man unter den Muslimen unserer Gegenwart kaum mehr. Von den Ländern, die heute international für Verletzungen der Menschenrechte moralisch verurteilt werden, stehen viele islamische Staaten an vorderster Stelle. Dem Islamwissenschaftler Watt zufolge hat dieser Sachverhalt dazu beigetragen, »dass Muslime sensibel in Bezug auf die Frage der Menschenrechte geworden sind und übertriebene, ja sogar unhistorische Ansprüche geltend machten«42. Analog nämlich zum islamischen Anspruch, dass »der Koran die Quelle aller Wissenschaft«43 sei, stößt man auf die islamische Behauptung, dass die Geburt der Menschenrechte im Islam stattfand. Der als »großer Denker« geachtete und schon mehrfach zitierte Mohammed al-Ghazali widmet der Frage der Menschenrechte ein ganzes Buch, in dem er einleitend schreibt: »Die Franzosen behaupten, dass die Menschenrechte eine Errungenschaft ihrer Revolution seien... In Wirklichkeit war es der Islam, der als Erster die Menschenrechte in ihrer umfassendsten und weitesten Form verkündet hat. Die Muslime waren bereits zur Zeit des Propheten und seiner rechtgeleiteten Kalifen [im 7. Jährt hundert, B.T.] die Pioniere der Menschenrechte.«44 Zwei Seiten später fügt er hinzu: -206-
»Mein Leser wird anhand der angeführten Textbeweise sehen..., dass die Universelle Deklaration der UNO über Menschenrechte nichts anderes als eine Wiederholung der Empfehlungen ist, die die Muslime von jenem großen Mann, dem über allen Propheten stehenden Gesandten Gottes, Mohammed, erhalten haben.« (ebd.) Derselbe »islamische Menschenrechtler« al-Ghazali hat in einer an anderen Stellen zitierten Fetwa verkündet, dass jeder Muslim, der für die Suspendierung der Schari'a eintritt, ungestraft ermordet werden kann. Ich argumentiere, dass die Schari'a so lange nicht für die Islam-Diaspora gelten darf, wie individuelle Menschenrechte in Europa Geltung besitzen. Die Schari'a-››Men-schenrechte« sind eine absolute Negation der in Kapitel 2 skizzierten individuellen Menschenrechte. Die Rushdie-Affäre: eine Verschwörung im »christlichen Glaubenskrieg gegen den Islam« oder ein Zivilisationskonflikt? Wenn Scheich al-Ghazali Recht hätte und die Geburt der Menschenrechte wirklich auf die islamische Zivilisation zurückginge, so fragen wir uns, warum muslimische Länder dann an der Spitze der Liste jener Staaten stehen, die die Menschenrechte nicht nur regelmäßig, sondern auch grob verletzen. Wenn der Westen so dekadent ist, warum flüchten dann Islamisten als Asylanten nach Europa? Es sind außerdem nicht nur die »kreuzzüglerischen Gegner des Islam«, die die islamischen Länder wegen Verletzungen der Menschenrechte anklagen; auch Muslime selbst erheben derartige Vorwürfe. Die Jahresberichte der Arabischen Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte sprechen Bände über solche Verletzungen.45 Bei der Lektüre der apologetischen islamischen -207-
Texte findet man keine überzeugende Antwort auf die offen gestellten Fragen. Zudem bleibt unklar, ob es sich bei den gepriesenen islamischen Menschenrechten der Schari'a ausschließlich um die Rechte der Muslime oder um die der Menschheit im Allgemeinen handelt. Mit Bezug auf die anstehende Problematik: Wenn diese Rechte Geltung haben, warum wird dann der unglückselige Schriftsteller Salman Rushdie mit einer Fetwa zur Ermordung freigegeben? Ist seine geplante Ermordung eine Abwehr gegen eine westliche Verschwörung? Der Autor des arabischsprachigen, weitverbreiteten Buches über die Rushdie-Affäre, der Fundamentalist Rifaat Sayyid Ahmad, gibt uns eine Antwort auf diese Frage: Es gehe nicht so sehr um die Person Rushdies als vielmehr um eine »westliche Verschwörung gegen den Islam«. Er führt aus: »Ein adäquates Verständnis der Affäre der satanischen Verse erfordert, dass sie... in den Kontext des historischen Kampfes zwischen dem Islam und dem Westen eingeordnet wird. Dadurch können wir besser verstehen, dass Salman Rushdie nur ein Glied in der Kette der westlichen Versuche zur Fälschung des Islam bildet... Diesen Kampf, der bis zum heutigen Tage anhält, müssen die Muslime zur Abwehr der Kampagnen der kulturellen Missionierung und der Verwestlichungseinflüsse schon seit den Kreuzzügen gegen den Westen führen.«46 Diese Passage, die vom »Kampf zwischen dem Islam und dem Westen« spricht, stammt nicht aus Huntingtons Buch, sondern aus der Feder eines Islamisten und aus dem Jahr 1989. Der Islamist Ahmad ruft dazu auf, Widerstand gegen den Westen zu leisten, der Rushdie schützt. Der Westen soll eine Verschwörung zur Beschmutzung des Islam ausgeheckt haben. Auch der Kulturrelativist Richard Webster, mit dem ich mich -208-
noch im folgenden Kapitel über den Kulturrelativismus näher auseinander setzen werde, argumentiert in die Richtung der westlichen Verschwörung gegen den Islam. Webster, der kein Muslim ist, sieht im Fall Rushdie eine säkularisierte Form des alten »christlichen Glaubenskrieges gegen den Islam« (vgl. Anmerkung 6). Es ist erstaunlich, wie manch europäischer Selbsthasser den aggressiven islamischen Fundamentalisten Argumente liefert und Islamisten in die Hände spielt. Ich frage mich als Muslim, ob das eine Form selbstloser »christlicher Nächstenliebe« in säkularisierter Gestalt ist. Der bereits zitierte Ernest Gellner hat so gesehen in seiner Vermutung Recht, dass westlicher Relativismus und islamischer Fundamentalismus sich decken.47 Der sunnitisch-ägyptische Fundamentalist Rifaat Sayyid Ahmad zitiert den schi'itisch-iranischen Ayatollah Khomeini zustimmend, wenn er - entgegen allen historischen Tatsachen den Westen auch für die mit dem islamischen Schisma in Sunna und Schi'a zusammenhängende innerislamische Spannung verantwortlich macht und darüber hinaus dessen Fetwa mit starken Worten bejaht. Er stimmt gleichermaßen der Auffassung der sunnitisch-ägyptischen Muslimbruderschaft und der schi'itisch-libanesischen Hisbollah (Partei Gottes) zu, dass die »Rechtsbasis« für diesen befürworteten Mord darin bestehe, dass Rushdie durch die in den Satanischen Versen begangene Blasphemie praktisch aus dem Islam ausgetreten sei und deshalb als Murtad (Apostat) den Tod verdiene. Denn nach der Schari'a gilt ein Muslim, der den Islam verlässt, als Apostat. Hierfür sieht die Hudud (Teil des islamischen Strafrechts) die Todesstrafe vor, wobei eine Unterscheidung zwischen Mann und Frau gemacht wird.48 Der männliche Apostat ist zu töten, wenngleich empfohlen wird, ihm eine dreitägige Bedenkzeit zur Tauba (Reue), das heißt zur Rückkehr zum Islam, zu geben. Dagegen darf eine Muslimin, die der Apostasie verfällt, am Leben bleiben, muss jedoch als Gefangene gehalten werden und alle -209-
drei Tage Schläge bekommen, bis sie durch ein Reuebekenntnis zum Islam zurückkehrt. Als Khomeini seine Fetwa ausstellte, hielt er sich nicht an das islamische Recht; er hat Salman Rushdie keine dreitägige Bedenkzeit gewährt. Auch nachdem Rushdie am 24. Dezember 1990, um dem Tod zu entkommen, formal seine Tauba vor sechs Zeugen bekundete, wurde die mörderische KhomeiniFetwa nicht rückgängig gemacht. Nach islamischem Recht aber darf der Apostat im Fall der Bekundung der Tauba nicht mehr getötet werden. Doch nicht einmal die Schari'a scheint für die iranischen Geistlichen verbindlich zu sein; ihr »Recht« ist die reine Willkür! Es ist eine Willkür von menschlichen Despoten, die sich anmaßen, »Gottesgesetze« zu erlassen. Ganz gleich, wie Muslime die Bestrafung des Apostaten deuten, illustriert ihr Rechtsverständnis die einleitend angesprochenen normativen Positionsdifferenzen zwischen der islamischen und der westlichen Zivilisation. Diese weltanschaulichen Differenzen sind sehr tief greifend und bilden eine Konfliktquelle, die die internationale Zusammenarbeit immer schwieriger macht. Wir haben es also nicht mit einer westlichen Verschwörung gegen den Islam, sondern mit einer hochpolitischen Form eines weltanschaulichen Zivilisationskonflikts zu tun. Zusammenfassend möchte ich feststellen, dass die rechtliche Basis dafür, Rushdie als »vogelfrei« zu erklären, das Verbot der Apostasie im Islam ist. Hier gibt es einen einzigen Unterschied zwischen dem verstorbenen Khomeini beziehungsweise seinen Nachfolgern, die das Todesurteil in abgeschwächter Form aufrechterhalten, und den gemäßigten sunnitischen al-AzharGelehrten. Khomeini autorisierte in seiner Fetwa jeden Muslim dazu, Rushdie zu ermorden. Derjenige Muslim, der bei einem solchen Mordversuch umkommt, gilt nach Kho-meinis Fetwa als Schahid (Märtyrer), dem ein Platz im Paradies sicher ist. Dagegen besteht man unter al-Azhar-210-
Gelehrten auf einem Prozess, in dessen Verlauf Rushdie die Möglichkeit zur Tauba und zur Rücknahme seiner Apostasie eingeräumt werden kann. Ich habe schon angeführt, dass selbst das Ablegen dieser Tauba im Sinne der Schari'a die Kleriker aus Teheran nicht bewegen konnte, das Todesurteil zurückzunehmen. Nach westlichen, auf den Maßstäben der Moderne fußenden Rechtsvorstellungen ist die islamische Auffassung von Apostasie eine eklatante Verletzung der individuellen Menschenrechte; sie ist auch eine Verletzung der UN-Deklaration der Menschenrechte, welche die Religionsfreiheit verkündet. Die Rushdie-Affäre und das islamische Erwachen haben die Welt mit der Tatsache konfrontiert, dass es »in dieser Welt andere politische und kulturelle Überzeugungen gibt als jene des demokratischen Westens..... Buddhismus, Hinduismus, Taoismus, Konfu-zianismus und vor allem der Islam beinhalten solche Perspektiven.«49 Mit dieser Feststellung spricht der einst an der Yale University lehrende Rechtswissenschaftler Northrop die normativen Positionsdifferenzen zwischen den Zivilisationen in unserer Welt an, die weltanschaulichen Zivilisationskonflikten zugrunde liegen. Dies habe ich auch in diesem Kapitel gezeigt, nämlich dass diese Differenzen als eine zentrale Quelle des grundlegenden Konflikts unserer Zeit dienen. Die punktuelle Überbrückung dieser Differenzen zwischen den Zivilisationen nenne ich die Vision »einer Universalität der Menschenrechte«. Diese Universalität muss kulturübergreifend begründet werden.50 Heute plädieren viele Schriftsteller und Journalisten in modischer Manier für kulturellen Relativismus, das heißt für eine Relativierung der Werte aller Kulturen. Zu ihnen gehört -211-
Richard Webster, der im Fall Rushdies das Insistieren auf der europäischen Freiheitsidee als Ausdruck des »Rassismus« und des »Antiislamismus« inkri-miniert. Dies veranlasst zu der Frage: Was wird aus der angestrebten Universalität der individuellen Menschenrechte, wenn in unserer Zeit der religiöse Absolutismus vormoderner Kulturen mit dem Kulturrelativismus der westlichen Moderne einhergeht? Meine Antwort lautet: eine neue Weltunordnung.
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Kapitel 6 Andere Kulturen, andere Sitten?
Kulturrelativismus, Multikulturalität und individuelle Menschenrechte
Die kulturelle Moderne bestimmt den Menschen als Individuum. Jeder Mensch, unabhängig von Religion, Hautfarbe, Kultur, Geschlecht und Ethnizität, ist individuell, hat also eine eigene Bestimmung. Eine Welt, in der allein die Werte der kulturellen Moderne vorherrschten, wäre eine multiindividuelle Welt der Freiheit und Gleichheit. In einem postmodernen Westen würden solche liberalen Werte durch die der Kollektive ausgetauscht. Migranten aus vormodernen Kulturen treten in Europa nicht als Individuen auf, sondern als Angehörige von Kollektiven, die anstelle von Individualrechten multikulturelle Kollektivrechte beanspruchen. Gegenüber den Minderheitskollektiven übt das Mehrheitskollektiv eine multikulturelle anstatt einer aufklärerischen Toleranz aus. Angesichts der durch Migration entstandenen gesellschaftlichen Realität »andere Kulturen, andere Sitten« stellt sich die Frage: Ist alles Fremde zu tolerieren? Ein Beispiel: Muslime in Großbritannien nehmen nur Nahrung zu sich, die Halal, das heißt, die nach der Schari'a erlaubt ist; in den Schulen passt sich die Mehrheit der Schüler nun der Minderheit an und verzehrt auch nur Speisen, die Halal sind. Aus Praktikabilitätsgründen wird daher auf alle Speisen verzichtet, die nach der Schari'a als Haram, das heißt als -213-
verboten gelten. Auf diese Weise unterwirft sich die Mehrheit den Bestimmungen der Schari'a. Muslime kamen zweimal mit Djihad-Gewalt als Eroberer nach Europa: Zum ersten Mal, als sie im Jahr 711 Spanien eroberten und islamisierten, dann erneut im 14. Jahrhundert, als die türkischen Osmanen begannen, Südosteuropa einzunehmen und ebenfalls zu islamisieren.1 Heute wird die Islamisierung mittels Zuwanderung friedlich betrieben. Es muss möglich sein, offen darüber zu sprechen, wenn Europa seine zivilisatorische Identität bewahren will.2 Kulturpluralismus als demokratische kulturelle Vielfalt versus Neoabsolutismus im Gewand des Kulturrelativismus Den bedeutenden jüdischen Kulturanthropologen Ernest Gellner störte es, dass europäische Kulturrelativisten ihre mit wissenschaftlichem Anspruch garnierte Ideologie nur auf Europa, nicht aber auf nichtwestliche Kulturen anwandten, die heute oft neoabsolutistische Züge tragen.3 Ein Beispiel ist die neoabsolutistische Deutung des Djihad als Islamisierung. Heutzutage ist es möglich, mit den friedlichen Mitteln des Multikulturalismus in Europa eine Politik der Islamisierung zu betreiben. Ziel der Islamisten ist es, den Westen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen - hier mit dem Kulturrelativismus, der dem Neoabsolutismus vormoderner Kulturen Rückendeckung bietet. Die postmodernen Ideen im Westen, welche die eigene zivilisatorische Identität und jede Objektivität verleugnen, aber die Identität der anderen schützen, sind die Camouflage des Islamismus. Mit Hilfe des Kulturrelativismus setzt sich also der Absolutismus durch. Frühe islamische Revivalisten, die noch keine Fundamentalisten waren, wollten Anleihen beim Westen machen, zum Beispiel die moderne Armee übernehmen,4 um den Westen zu -214-
bekämpfen. Die im Westen verbreiteten postmodernen multikulturellen Ideen machen dies nun überflüssig. Das meine ich, wenn ich argumentiere, dass der Kulturrelativismus dem Absolutismus vormoderner Kulturen im Westen Geltung verschafft. Der Tag des Djihadismus als Terrorismus vom 11. September war also zur Realisierung islamistischer Ziele geradezu überflüssig. Mit dieser beängstigenden Perspektive von der Islamisierung Europas möchte ich die größeren Zusammenhänge vergegenwärtigen. Langfristig gesehen werden westliche Gesellschaften durch die Migration aus einer Vielfalt von Minderheiten bestehen. Kann vor diesem Hintergrund die islamische Minorität einen Wertekonsens abweisen, der die Minderheiten im Rahmen eines Gemeinwesens zusammenhält? In dieser Situation betrifft die Frage der Universalität der individuellen Menschenrechte nicht nur ferne Länder wie den Iran, Syrien und den Sudan, sondern auch das eigene Haus - sprich Europa -, in dem immer mehr religiös und ethnisch anders geprägte Migranten leben, die oft aus vormodernen Kulturen stammen. Wie kein anderes Ereignis der neueren Zeit hat uns die Rushdie-Affäre die Problematik und die schwerwiegenden Konsequenzen dieses Sachverhalts vor Augen geführt. Wenn diese größeren Zusammenhänge erkannt werden sollen, dann dürfen wir uns nicht wie die Medien auf Tagesaktualitäten fixieren. Die Rushdie-Affäre hat gezeigt, dass eine wachsende Minderheit von Migranten im Namen der Toleranz5 der Mehrheitsbevölkerung ihre Weltanschauung aufzwingt; sie ist deshalb von bleibender Bedeutung. Als Motto dieses Buches habe ich die orthodoxe Lehrmeinung des islamischen mittelalterlichen Sakraljuristen Ibn Taimiyya (»Der Sultan ist der Schatten Allahs auf Erden«) angeführt und diese verbinde ich mit der Beobachtung, dass wir im Zeitalter globaler Migration leben. Dieser Sachverhalt bildet einen Schwerpunkt der Argumentation meines Buches, dass nämlich -215-
Migranten die Staats- und Gesellschaftsauffassungen aus ihrer jeweiligen - häufig vormodernen - Kultur mitbringen und deren Beachtung von den Aufnahmegesellschaften verlangen. Gehört es zur Toleranz und zur Anerkennung der Rechte von Minderheiten,6 dieser Forderung nachzukommen? Das ist eine meiner zentralen Fragen, wenn ich über den Sachverhalt »andere Kulturen, andere Sitten« spreche. In England lebende Muslime bestehen zum Beispiel auf dem Verbot des Romans von Salman Rushdie, der, so , religiös anstößig sein Werk auch sein mag, dennoch die Meinungsfreiheit als Grundrecht genießt. Mehr als ein Jahrzehnt nach der Rushdie-Affäre fordert Habermas uneingeschränkte Toleranz für solche Minderheiten7 wie die in Großbritannien lebenden Muslime. Diese fordern die Einführung einer Zensur, welche die Religions- und Meinungsfreiheit verleugnet. Doch die britische Regierung wehrt sich dagegen, weil ihre Rechtskultur ihr verbietet, auf entsprechende Forderungen der Migranten einzugehen. Die eigene europäische politische Kultur der Moderne wiegt in Großbritannien mehr und ist dort verbindlicher als die Rücksicht auf die vormodernen Kulturen der Migranten. Ist das nun Rassismus? Ich möchte daran erinnern, dass es der philosophische Diskurs der Moderne war, wie ihn Habermas in einem bedeutenden Werk8 1986 rekonstruierte, der mich beim Schreiben dieses Buches begleitete - dies gilt es auch bei den folgenden Ausführungen zu bedenken. Auf dem 10. Jahreskolloquium der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft im Juni 2002 in Berlin berichtete der sozialdemokratische, inzwischen abgewählte niederländische Minister für Integration, Roger van Boxtel, von vier islamischen Imamen, die live im holländischen Fernsehen die Errichtung von Schutzzonen für die Absonderung muslimischer Frauen und außerdem Spenden zur Finanzierung der Selbstmordanschläge in Palästina forderten. So etwas war nicht zum ersten Mal in den Niederlanden geschehen. Als -216-
Rotterdam im Jahr 2000 die Kulturhauptstadt Europas war, sprach ich dort als Festredner und musste zu meinem Schrecken ähnliche Auftritte solcher Imame beobachten. Derartige Ereignisse waren es, die den damals als marxistischer Soziologie-Professor wirkenden Pim Fortuyn veranlassten, sein Buch Gegen die Islamisierung unserer Kultur zu schreiben und in die Politik zu gehen. Mich als einen in Europa lebenden liberalen Muslim empört es, wenn die Abwehr der Islamisierung Europas durch islamistische und orthodoxe Imame als Ausländerfeindlichkeit verfemt wird. Sowohl die Wochenzeitung Die Zeit als auch die Tageszeitung Die Welt boten mir Foren, um darüber aufzuklären, dass Europa eine Islamisierung droht und der christlich-islamische Dialog auf Verlogenheiten beruht.9 Die zitierten Imame vertreten den Geist der Intoleranz, für den es keine Toleranz geben darf. Dies gilt auch für die orthodoxen Muslime und Islamisten, die symbolisch gegen Rushdie agitierten, als sie in Bradford dessen Bücher verbrannten, und damit auch gegen die rechtsstaatlich-demokratische Kultur. Ich habe bereits deutlich gemacht, dass ich nicht für Rushdie als Person eintrete, wohl aber für seine Religions- und Meinungsfreiheit. Wenn nun seine Bücher stellvertretend für seine Person verbrannt werden, dann scheint mir die Toleranzgrenze weit überschritten. In meinem Vorwort zum Ausstellungskatalog des Künstlers Botond, der durch verschweißte Bücher als Buchskulpturen die verbrannte klassische Bibliothek von Alexandrien symbolisch rekonstruieren will, habe ich ausgeführt: »Das Buch ist ein Symbol des menschlichen Geistes und es verkörpert somit die Bedeutung der Menschenwürde als Ausdruck des Gedankens. Barbaren haben -in der Vergangenheit ebenso wie in der Gegenwart - ihre Missachtung der Menschenwürde stets durch die Art ihres Umgangs mit dem Buch verraten. Die Verbrennung der Bibliothek von -217-
Alexandrien steht urgeschichtlich symbolisch hierfür... Die Verachtung des menschlichen Geistes, dessen Produkte sich in einem Buch niederschlagen, ist stets mit der Verneinung der; Menschenwürde gleichzusetzen.«10 In der islamischen Geschichte hat es - im Gegensatz zur christlichen, in der Menschen wie Giordano Bruno bei lebendigem Leib verbrannt wurden - zwar keine Verbrennungen von Muslimen, wohl aber von Büchern gegeben: Die Werke der bedeutenden islamischen Rationalisten, Averroes (Ibn Rushd) und Avicenna (Ibn Sina), aber auch die der toleranten islamischen Mystiker wie Ibn al-Arabi,11 der Glaube als Mahabba (Liebe) aller Religionen gedeutet hat (vgl. Kapitel 1), wurden verbrannt. Ernst Bloch schrieb in seinem Buch über den islamischen Philosophen Avicenna, dass »die islamische Orthodoxie Avicenna und Averroes verfluchte und beide in effigie, nämlich in ihren Werken verbrannt hat«12. Bloch ist sich jedoch der Tatsache bewusst, dass diese Orthodoxie die islamischen Denker nicht »wie die christliche Inquisition den Giordano Bruno nachher leibhaftig verbrannte« (ebd.). Es blieb seinerzeit bei der symbolischen Verbrennung des Buches. Heute holen Islamisten das nach, was die islamische Orthodoxie des Mittelalters unterlassen hat: Sie verbrennen ihre Gegner. Dies veranlasste mich, Ernst Bloch zu zitieren, um zu zeigen, dass zwischen Menschen- und Bücherverbrennungen ein Zusammenhang besteht. Im Schatten des Fundamentalismus wird die Vernunft Opfer einer Umnachtung. In der türkischen Stadt Sivas wurden am 2. Juli 1993 dort tagende türkische Schriftsteller und Dichter bei lebendigem Leibe verbrannt.13 In der Islam-Diaspora wagen die Fundamentalisten so etwas noch nicht, daher begnügen sie sich zunächst, wie im Fall Rushdie, mit der Verbrennung von Büchern. Darf man solch ein Verhalten aus Respekt vor anderen Kulturen tolerieren? Können -218-
sich Europäer die »fremde Wahrheit« dieser Islamisten und orthodoxen Muslime als Glaubensfreiheit einer Minderheit zumuten? Hier verweise ich noch einmal auf Habermas, der in seinem Referat anlässlich des Leibnitz-Tages die Akzeptanz »fremder Wahrheiten« predigte und somit seinen philosophischen Diskurs der Moderne selbst unterminierte. Die universelle Gültigkeit der Menschenrechte sowie die diesen zugrunde liegenden Normen und Werte der kulturellen Moderne werden von Kulturrelativisten in Frage gestellt. Wie sie trete auch ich für kulturelle Vielfalt ein, allerdings verbinde ich diese mit einer Werteorientierung, die keinen religiösen Neoabsolutismus zulässt. Der Begriff Kulturrelativismus scheint mir hingegen nichts anderes als eine akademischhochgestochene Umschreibung für die Binsenweisheit »andere Länder, andere Sitten« zu sein. Einige deutsche Orientalisten, welche die sprachlich komplizierten Werke kulturanthropologischer Theoretiker entweder nicht kennen oder nicht verstehen, machen die Common Sense-Auffassung geltend, dass die Universalität der Menschenrechte, die eine Einschränkung jedweder Staatsgewalt erfordert, im Islam nicht möglich sei; ihr Verständnis von Toleranz kommt in folgender Aussage zum Ausdruck: »[Wenn, B.T] das Recht säkularisiert werden soll... um die Etablierung der Menschenrechte im islamischen Orient zu erreichen, dann bin ich dagegen... Um es drastisch zu sagen: Wenn es den Muslimen gefällt, den Dieben die Hand abzuschneiden - sollen sie es tun.«14 Wenn in Europa lebende Muslime im Namen der Toleranz Geltung für ihre Sitten und Bräuche fordern, die; nicht im Einklang mit Demokratie und individuellen Menschenrechten stehen, wird man dann sagen können, dass beispielsweise die Schari'a-Normen auch in Europa gelten sollten? Müssen wir diese »fremde Wahrheit« als »Zumutung« hinnehmen, um zu -219-
beweisen, dass wir tolerant sind? Dies würde bedeuten, dass es fortan Muslimen in der europäischen Diaspora erlaubt wäre, Dieben die rechte Hand abzuhacken und Ehebrecherinnen zu steinigen. Zur Beantwortung der aufgeworfenen Frage erweist sich noch einmal ein Blick auf die Rushdie-Affäre als sinnvoll. Ein britischer Autor trat auf dem Höhepunkt der RushdieAffäre für die Rechte der Migranten in Europa ein, zu denen er anscheinend auch das Verbrennen von Büchern als Ausdruck des Protestes zählt. In seinem Buch Erben des Hasses15 greift der Autor, Richard Webster, historisch weit zurück. Ähnlich wie islamische Fundamentalisten zeichnet er die Linien des Hasses zwischen islamischer und westlicher Zivilisation von der Zeit der Kreuzzüge bis in die Gegenwart nach, wobei - seiner Auffassung nach - der europäische Einsatz für die Universalität der Menschenrechte in der Tradition der Anfeindung des Islam steht. In diesem Kontext stellt sich die von Habermas angeschnittene Toleranzproblematik auf brisante Art und Weise dar. An dieser Stelle ist Websters Auffassung von Multikulturalität als Ausdruck relativierter Werte und Normen von Interesse. Die Rushdie-Affäre sei - so schreibt er - ein Beispiel für die »Probleme, die in jeder multikulturellen Gesellschaft auftauchen können, wenn das Pulverfass Religion... angezündet wird«.16 Nun gehört Religionskritik im Rahmen der kulturellen Moderne, die jede überlieferte Tradition reflexiv macht, das heißt, dem menschlichen Denken unterwirft, zu den in Europa erkämpften Rechten. Die islamischen Fundamentalisten, die beispielsweise unter den Migranten in England leben, versuchten während der Rushdie-Affäre, sowohl mittels Bombendrohung als auch Bücherverbrennungen ihre Kultur von diesem Recht auszunehmen - wohlgemerkt: in England und nicht in einem islamischen Land. Der Kulturrelativist Webster, der mit seinem Relativismus eines banalen Multi-Kultur-Verständnisses das Recht auf -220-
Meinungsfreiheit als einen europäischen Fetisch in Frage stellt, verhöhnt die europäischen Intellektuellen, die gegen die genannten Versuche islamischer Migranten eintraten. Über sie schreibt er spöttisch, dass sie »glauben, ihr eigenes ›heiliges‹ Recht auf freie Meinungsäußerung würde angetastet oder zunichte gemacht«17. Den Kampf für Grundrechte nennt Webster »den heiligen Krieg« der liberalen Intellektuellen und setzt ihn kulturrelativistisch auf eine Ebene mit dem Djihad (nach dem Koran »Anstrengung«; in der historischen Realität jedoch Krieg zur Verbreitung des Islam) eifriger Muslime - nach dem Prinzip: Meinung gegen Meinung! Das ist grotesk! Für die Europäer ist die Wahrheit des Djihad eine »Zumutung«. Der Kulturpluralismus erkennt hingegen Vielfalt ohne Relativismus an, weil er verbindliche Werteorientierungen als Konsens voraussetzt. Im Gegensatz zu Habermas halte ich die Ablehnung von Djihad und Djihadismus15, die hier als Zumutung »fremder Wahrheiten« gelten, nicht für intolerant, sondern schlicht für die Ablehnung eines religiösen Neoabsolutismus. Ist die Verteidigung der Menschenrechte »Rassismus«? Ist es die Ablehnung »fremder Wahrheiten«? Viele Autoren vergleichen die verschiedenen ethnischen Zweige der Islam-Diaspora in Bezug auf ihren Standort innerhalb Europas. Dabei wird die Frage gestellt, warum die Islam-Diaspora in Deutschland während der Rushdie-Affäre keine ähnlichen Reaktionen gezeigt hat wie jene in Großbritannien. Webster hat sogleich eine Antwort darauf: Die aus Pakistan kommenden, in England lebenden Muslime sind britische Staatsbürger und befinden sich somit »in einer ungleich gesicherteren Lage... als die meisten in Deutschland lebenden türkischen Muslime, sie haben mehr Selbstbewusstsein -221-
entwickelt und stellen größere politische Ansprüche«19. Zu diesen Forderungen gehört auch jene nach dem Erscheinen von Websters Buch erfolgte Gründung eines islamischen Parlaments in London, von dem bereits die Rede war. Der für die Tötung Salman Rushdies eintretende Sprecher der muslimischen Gemeinde in London, der aus Pakistan stammende britische Bürger Kalim Siddiqi, hat bei der ersten Sitzung dieses islamischen, alternativ zu Westminster gegründeten Parlaments bekundet: »Die muslimische Gemeinschaft/Umma Großbritanniens bildet ein eigenes politisches System, welches Anrecht auf einen Platz unter den wichtigsten Institutionen des Landes hat.«20 Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte, dass Siddiqi »den nicht anders als totalitär zu nennenden Anspruch [erhebt, B.T.], wonach hier [in dem neu gegründeten Parlament, B.T.] künftig sämtliche Entscheidungen über die islamische Gemeinschaft getroffen werden sollen« (ebd.). Natürlich gehöre zu dieser Art der Selbstbestimmung auch der Beschluss zur Hinrichtung Salman Rushdies, denn die Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) des Ayatollah Khomeini sei bindend für alle Muslime. Siddiqi formuliert es folgendermaßen: »Die Fetwa ist lediglich ein Todesurteil nach göttlichem Recht... wir schlagen zurück, manchmal schlagen wir als Erste zurück.«21 In einem offenen Brief an die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher schrieb der sich als britischer Staatsbürger »gesichert« fühlende und »mit Selbstbewusstsein« auftretende pakistanische Fundamentalist Kalim Siddiqi, er habe »zur Verteidigung des Islam in Großbritannien zu kämpfen«.22 Auch dieser Separatismus ist ein Produkt der multikulturellen Gesellschaft! -222-
Der Multiindividualismus ist die Perspektive der Aufklärung, die mir als einem für einen Reform-Islam eintretenden EuroMuslim eine Orientierung gegen jene europäischen, zivilisationsüberdrüssigen Kulturrelativisten beziehungsweise Multikulturalisten bietet, für die ich hier stellvertretend Richard Webster zitiere. Dieser romantisiert nicht nur die Bücherverbrennungen in Bradford als »Sitte« einer anderen Kultur, er meint außerdem, in diesen Verbrennungen den Versuch der Muslime von Bradford zu erkennen, »auch Liebe zum Ausdruck zu bringen... Liebe zum Islam und zum Propheten«.23 Daher müsse man Verständnis für diese Handlung aufbringen; man dürfe sie nicht mit Bücherverbrennungen der Nazis vergleichen, weil »dieser Vergleich ungerecht ist« (ebd.). Hier handle es sich - so Webster - um »Opfer des Rassismus«, die ihre »Wut über ihre eigene Frustration... zum Ausdruck bringen« (ebd., S. 164f.). Für den Kulturrelativisten Webster gilt es als Rassismus, wenn das Recht auf Meinungsfreiheit höher gewichtet wird als das Recht der Migranten auf eigene kulturelle Sitten und Bräuche, die den Rahmen für ihre Kollektividentität bilden. Mit der Instrumentalisierung des »Rassismus«-Vorwurfs erhalten die Migranten aber einen Freibrief, der ihnen alles ermöglicht. Schließlich kann auf diese Weise jede Kritik an ihnen als »Rassismus« verfemt werden. Doch »Rassismus« als Ausdruck der Barbarei hat die Menschen dehumanisiert - eine Bedeutung,24 die hier verloren geht. Die Ablehnung der Schari'a in Europa bedeutet jedenfalls keine Dehumanisierung der Muslime. Nach Meinung von Kulturrelativisten dürfen in einer multikulturellen Gesellschaft Werte und Normen keinen verbindlichen Charakter haben - auch nicht die kulturübergreifenden Menschenrechte. Webster nennt die Verteidiger einer säkularen Demokratie »Fundamentalisten ohne Glauben« und meint: »Diese Form des Fundamentalismus - ohne Glauben - ist letztlich gefährlicher als irgendeine Form des religiösen -223-
Fundamentalismus«.25 Das aber ist nach meinem Dafürhalten ein politischer Glaube und kein Wissen, denn dies hieße, die Europäer müssten, um nicht als »Rassisten« oder »Fundamentalisten ohne Gott« zu gelten, Kulturrelativisten werden. Ebenso wie der Rassismusbegriff wird so auch der des Fundamentalismus bis zur Bedeutungslosigkeit verwässert. Dabei bedeutet der religiöse Fundamentalismus26 nichts anderes als eine Gefahr für den Weltfrieden. Kulturrelativist zu sein und gleichzeitig inkonsistent für den Respekt vor dem »religiösen Absolutheitsanspruch« der Fundamentalisten als kultureller Norm der anderen einzutreten diesen gar mit der »Unnachgiebigkeit und... dem Eifer« der Verteidiger der Meinungsfreiheit auf die gleiche Stufe zu stellen - heißt nichts anderes, als die undemokratischen vormodernen Sitten und Bräuche einer anderen Kultur aufzuwerten.27 Es ist kein Rassismus, freiheitsfeindliche »fremde Wahrheiten« abzuweisen. Toleranz bedeutet keine Selbstaufgabe.28 Die europäischen Gesellschaften haben im Zeitalter der Völkerwanderungen nach Europa das Recht, ihre zivile Identität zu bewahren. In meinem Europa-Buch argumentiere ich zugunsten der Verbindung von dieser Art der Bewahrung mit der Öffnung für Fremde. Wie die Migranten als religiöse Minderheiten, hat auch Europa ein Recht auf seine eigene kulturelle Identität. Die Toleranz im Sinne von Respekt gegenüber fremden Kulturen, in diesem Fall der Weltanschauung des orthodoxen Islam, seinen Weltbildern sowie Sitten und Bräuchen, führt zur Akzeptanz des Anspruchs auf Geltung des »Schatten Allahs« in Europa, also zu einer Islamisierung. Für das Verständnis des europäischen Lesers sei hier angemerkt, dass ein zentrales Merkmal der islamischen Zivilisation seit ihrer Entstehung die Tatsache ist, dass Personen, nicht Institutionen im Mittelpunkt stehen - gemäß dem Vorbild des Propheten. Auch nach dessen Tod wird der als -224-
ideal geltende Zustand bis heute nicht etwa von Institutionen, sondern von Personen bewahrt. Daher lässt sich die islamische Geschichte als Suche nach dem wahren Imam charakterisieren. Bezogen auf unser Thema heißt das, der »Schatten Allahs« wird, wie Ibn Taimiyya es pointiert beschreibt, durch einen Sultan beziehungsweise Imam verkörpert. Diese Tatsache steht in Beziehung zur Schari'a, denn ihre Geltung wird ebenso nicht durch eine Institution, sondern durch die Person des Sultans als »Schatten Allahs« garantiert. Die schleichende Islamisierung ist die praktische Folge des Kulturrelativismus und seines Fetischs, der multikulturellen Gesellschaft. Er fordert Toleranz gegenüber Intoleranz, verklärt die Sicht und macht sich somit ungewollt zum nützlichen Handlanger der Fanatiker unter den Migranten aus vormodernen Kulturen. Diese erheben sich gegen ihre beabsichtigte Integration in die von der kulturellen Moderne bedingten europäischen Gesellschaften. Doch nur diese demokratische Integration der Migranten bietet eine Alternative zu deren Ghettobildung.29 Wer aber dafür eintritt, dass die Migranten die Kultur des Gastkontinents - wenn ich Europa noch so umschreiben darf respektieren müssen, setzt sich dem Vorwurf des Rassismus aus. »Euro-Rassismus« ist das neue Etikett und der Kampfbegriff für die Inkriminierung all derer, welche die Gleichsetzung der politischen Kultur der Moderne mit der vormoderner Kulturen in Europa ablehnen. Werner Fuld hat in seiner geistreichen Rezension der Schrift von Richard Webster ausgeführt, dass er selbst sich durchaus für einen kulturellen Pluralismus einsetze. Er hebt jedoch Folgendes differenzierend hervor: »... solcher Pluralismus hat freilich nichts gemein mit dem Relativismus eines banalen Multi-Kultur-Verständnisses, das jede fremde Kultur aus ihren Ursprüngen und Bedingungen akzeptieren will. Dies führt nämlich sehr rasch zu der Paradoxie, -225-
dass im Namen der eigenen Scheintoleranz jede andere Intoleranz für legitim erklärt wird. So überlässt man einen inkriminierten Autor wie Rushdie mit gutem multikulturellen Gewissen seinen mörderischen Verfolgern... Ebenso grotesk und gefährlich [ist, B.T.] das Buch des Briten Richard Webster, der den Vorwurf des intoleranten Kulturimperialismus erhoben hat.«30 Die multikulturelle Argumentation von Webster wird noch absurder, wenn die Verteidiger der Menschenrechte auf dieselbe moralische Ebene gestellt werden wie die religiösen Fundamentalisten und sogar als noch »gefährlicher« klassifiziert werden. Ebenso abstrus mutet seine Überzeugung an, »dass wir nicht in einer freien Gesellschaft leben und nicht generell das Recht auf freie Meinungsäußerung haben... Es wäre völlig falsch... einen absoluten Unterschied zwischen einer totalitären Gesellschaft und einer Demokratie zu sehen«31. Sind diese multikulturellen Grotesken ein Ausdruck der Krise der Moderne? Nichteuropäer sind der Auffassung, der Westen befinde sich kulturell in einem Prozess des Niedergangs, und führen erwähnte und ähnliche Selbstverleugnungen der Europäer als Beleg dafür an. Wenn aber die Europäer selbst diese Verfallserscheinungen ansprechen, werden sie von Sittenwächtern der political correctness inkriminiert. Derartige Äußerungen werden von ihnen mit Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes in Zusammenhang gebracht und dadurch diskreditiert. Jenseits billiger Polemik lässt sich feststellen: Die Krise der Moderne ist eine Sinnkrise, die eng damit zusammenhängt, dass die Moderne als »unvollständiges Projekt« (Habermas) einzuordnen ist. Damit meint Habermas, dass die Moderne, so emanzipatorisch sie auch sein mag, ihren Ansprüchen nicht -226-
vollständig nachgekommen ist. Man kann allerdings auch anders verfahren und den Hinweis auf die Mängel der Moderne als Legitimation anführen, sich von ihr abzuwenden und ihren Werten in einer in Mode gekommenen postmodernen Manier abzuschwören. So weit geht Habermas zwar heute nicht, jedoch tritt er in seinen späteren Lebensjahren nicht mehr kompromisslos für die uneingeschränkte Geltung der Normen und Werte der kulturellen Moderne ein, was sehr bedauerlich ist. Man spricht von der Postmoderne, ich dagegen nenne sie Rückfall hinter die Errungenschaften der Moderne, also Prämoderne. Zu einer solchen Rückwärtsentwicklung gehört meiner Ansicht nach - der Kulturrelativismus, den ich mit der Formel »andere Kulturen, andere Sitten« umschreibe. Wenn im islamischen Sudan Frauen durch Beschneidung ihrer Klitoris in ihrer Sexualität entmündigt werden, dann ist das für Kulturrelativisten keine Verletzung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit, sondern schlicht ein Ausdruck anderer Sitten. Ähnlich ist ihre Einstellung zur - für mich inhumanen Verschleierung der Frau. Um nicht als »Rassist« zu gelten, schweigt mancher über derartige Verletzungen von Menschenrechten. In Wirklichkeit bedeutet Kulturrelativismus nicht etwa Toleranz gegenüber anderen Kulturen, sondern moralische Trägheit und Entlastung von jeglicher Verantwortung, beispielsweise für die Verletzung individueller Menschenrechte. Die multikulturelle, kulturrelativistische Toleranz mündet konsequenterweise darin, die vormoderne Intoleranz hoffähig zu machen. Multikulturalität ist daher in meinen Augen ein anderer Ausdruck für kulturelle Selbstverleugnung und ethische Gleichgültigkeit. In Bezug auf unsere Thematik stellen sich zunächst zwei zentrale Fragen: Erstens: Sollten die Europäer im Fall Rushdie die Normen und Werte der islamischen Weltanschauung dulden, gemäß -227-
derer über denjenigen, der sich vom Glauben abwendet, die Todesstrafe per Lynchjustiz als göttliches Urteil verhängt wird? MUSS ein Europäer dies als Ausdruck anderer Sitten im Rahmen der Relativierung sämtlicher Werte respektieren? Zweitens ist zu fragen, ob auch die andere Seite so denkt, ob also die Vertreter des politischen Islam, das heißt die islamischen Fundamentalisten, eine solche kulturrelativistische Denkweise teilen. Bevor ich Antworten auf diese Fragen suche, ist zunächst festzuhalten: Der Kulturrelativismus westlicher Intellektueller und der religiöse Neoabsolutismus der islamischen Fundamentalisten prallen aufeinander; der Relativist ist dabei stets der Verlierer, der Absolutist der Gewinner, weil er im Gegensatz zu Ersterem nicht nachgibt. Im Umgang westlicher Intellektueller mit islamischen Fundamentalisten verstehen Erstere nicht, dass sie als Kulturrelativisten das Nachsehen haben. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass der Kulturrelativismus eine europäische Idee der Postmoderne ist. Islamische Fundamentalisten sind weder Kulturrelativisten noch Postmodernisten; sie kritisieren nicht das Prinzip der Universalität als solches, sondern nur, dass dieses europäisch geprägt ist. Als Alternative bieten sie ihre eigene Vorstellung von Universalität an: die Pax Islamica als Weltbeglückung! Mit ihren Predigten gibt es für die Kulturrelativisten bei den islamischen Fundamentalisten also nicht viel zu gewinnen »andere Leute, andere Sitten«! Abschließend sei angemerkt, dass es sich bei dem Streit um »fremde Wahrheiten« nicht um eine intellektuelle Debatte handelt. Vielmehr geht es klar darum, wer die künftige Weltordnung bestimmt.32 Westlicher Orientalismus Kulturrelativismus -228-
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eine
Spielart
des
Kulturrelativisten lehnen mit Recht jeden Essentialismus und ideologischen Universalismus ab. Essentialismus im Bereich der Kultur bedeutet die Unterstellung fest verankerter, also nicht wandelbarer Eigenschaften, wie zum Beispiel die, dass alle Orientalen »emotional-feurig« und alle Deutschen »autoritätsfixiert und militaristisch« seien. Allerdings verlieren die Kulturrelativisten ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie zum einen kulturrelativistische Argumente anführen, welche die vormodernen Kulturen essentialisieren, und zum anderen ihre kulturrelativistische Weltsicht universalisieren, das heißt, sie als absolut erklären, was genau das Gegenteil von Relativismus bedeutet. Diese Denkweise nimmt bei manchen deutschen Islamkundlern die Form einer »orientalistischen Fetwa« an, weil auch sie beansprucht, absolute Geltung zu haben. Dieser westliche Orientalismus unterstellt den Menschen aus der Welt des Islam bestimmte Grundeigenschaften, wodurch die Kultur dieser Menschen essentialisiert und jeder Muslim zum homo islamicus wird. Die Relativierung erfolgt dadurch, dass diese Charakteristika allein den »Orientalen« zugeschrieben werden. Der Palästinenser Edward Said hat den Begriff »Orientalismus« eingeführt, mit dem er die arrogante und zugleich beschränkte Sicht westlicher Orientalisten und Islamwissenschaftler anspricht, die über den Orient für ein westliches Publikum schreiben. Bei den Älteren unter ihnen stellen wir eine Abneigung (Phobie) gegen den Islam, bei den Jüngeren genau das andere Extrem, nämlich eine verordnete Fremdenliebe33 (Xenophilie) fest. Dabei handelt es sich jedoch um zwei Seiten derselben Medaille. Die offene Islamophobie früherer deutscher Islamwissenschaftler ist heute von der romantisierenden Islamophilie jüngerer Arabisten abgelöst worden, die - wie Bernard Lewis es einmal treffend ausdrückte - bestenfalls die »restaurant and hotel requirements« bei der Benutzung der arabischen -229-
Sprache, der lingua franca des Islam, beherrschen. Angesichts dieser beiden Extreme spricht Siegfried Kohlhammer zu Recht von Feinden und Freunden des Islam.34 In diesem Buch gilt der Kulturpluralismus als Alternative zu allen Schattierungen des Kulturrelativismus. Mit dem erstgenannten Begriff wird die Feststellung einer Vielfalt von Kulturen an einen kulturübergreifenden Wertekonsens gebunden. Mit anderen Worten: Der Kulturpluralismus beschränkt sich nicht auf die Beobachtung kultureller Mannigfaltigkeit, vielmehr setzt er sich für ein Miteinander in Frieden - statt eines Nebeneinanders - dieser vielfältigen Kulturen auf der Basis eines Wertekonsenses ein. Der Kulturrelativismus führt also zu einem Nebeneinander, der Kulturpluralismus hingegen zu einem Miteinander der Kulturen. Herder, der trotz seiner scharfzüngigen Polemik gegen die Franzosen ein Kind der Aufklärung war, hat nie bestritten, dass zum friedlichen Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen die gemeinsame Anerkennung der Normen und Werte gerade dieser Aufklärung als Basiskonsens gehört. Hierzu zählt vor allem der hohe Stellenwert, welcher der Vernunft einzuräumen ist. Das ist der Humanismus der Aufklärung, den Postmodernisten und Kulturrelativisten mit ihrer absoluten Relativierung jeglicher Werte einschließlich der Menschenrechte praktisch aufgeben. Ganz gleich, mit welcher Motivation sie dies tun, ihre Aufgabe der Objektivität und ihre Reduktion der sozialen Wirklichkeit auf »Konstruktionen« führen zur Aufgabe des Primates der Vernunft. Kulturrelativisten predigen Toleranz gegenüber fremden Kulturen, dennoch ist das Endprodukt ihres Denkens stets ein westlicher Orientalismus. Dies gilt zum Beispiel für die heute vorherrschende islamophile Ausrichtung der deutschen Orientalistik, aber auch für die Schrift von Richard Webster, die zwar in wohlmeinender Absicht gegen die verdammenswerten tradierten Islam-Vorurteile in Europa vorgeht, jedoch zu -230-
verheerenden Denkresultaten führt. Bei Webster wird Bücherverbrennung, wie zitiert, als »Ausdruck der Liebe« verharmlost. Über diese »Toleranz« kann man nur staunen! Wenn ich den Kulturrelativismus kritisiere, ist meine Überzeugung hervorzuheben, dass ein Plädoyer für den Kulturpluralismus bei gleichzeitiger kompromissloser Abweisung jeder Indifferenz gegenüber fremden Kulturen möglich ist. Das ist kein Widerspruch: Die Anerkennung der Vielfalt von Kulturen steht einem Wertekonsens zwischen ihnen, zu dem vorrangig eine universelle, im Sinne einer kulturübergreifenden Ethik der Menschenrechte35 gehört, nicht im Wege. Die Rushdie-Affäre ist nicht allein die Angelegenheit eines Autors. Sie aktualisiert vor allem die grundsätzliche Frage der Universalität der Menschenrechte - und zwar nicht nur im Islam selbst, sondern auf globaler Ebene. Angesichts der islamischen Migration in westeuropäische Länder werden nun auch in Europa selbst die individuellen Menschenrechte in Frage gestellt. In Großbritannien fand ein islamisch-fundamentalistischer »Sturm auf die englischen Bürgerrechte«36 statt. In Frankreich dienten verschleierte muslimische Schülerinnen als Symbol im Rahmen eines gegen den Westen und seine Werte geführten »Tschador-Krieges«37. Die Franzosen empfanden diesen islamischen Angriff als einen auf die in der Französischen Revolution errungene Säkularität. Deutschland steht mit seiner 3,5 Millionen Menschen umfassenden islamischen Minderheit nicht außerhalb dieses Prozesses.38 Durch die Existenz des Diaspora-Islam in Europa lassen sich die Auswüchse des »islamischen Fundamentalismus zwischen halber Moderne und politischem Aktionismus«39 auch auf europäischem Boden in allen Einzelheiten verfolgen. Es gehört in den Kontext der Rushdie-Affäre, auf diese Problematik hinzuweisen. Vor diesem Hintergrund ist eine Kombination von Toleranz gegenüber sowie Dialog mit dem Islam und Abwehr -231-
gegen den Islamismus sowie die islamische Orthodoxie vonnöten. Allein über Anerkennungskonflikte und religiöse Toleranz zu sprechen ist unzureichend. Sowohl Anerkennung als auch Toleranz gelten nicht uneingeschränkt; sie dürfen in einer Zivilgesellschaft nur im Rahmen eines religiösen Pluralismus zugelassen werden. Muslime in Europa - eine Brücke? Bei der Beschäftigung mit den in Westeuropa lebenden islamischen Minoritäten40 wird, wie Fred Halliday hervorhebt, eine Unterscheidung immer wichtiger, die »nämlich zwischen einer Religion, die bestimmte allgemeine Prinzipien des gegenwärtigen demokratischen Lebens einschließlich einer öffentlichen Säkularität und der hierzu gehörigen Auffassung von Toleranz respektiert, und einer, die das nicht tut«41. Die Ideologie des Multikulturalismus kann Moderne und Vormoderne nicht miteinander versöhnen. Wenn man diese Beobachtung mit der kulturanthropologischen Erkenntnis verbindet, dass Religionen kulturelle Systeme darstellen,42 und in diesem Zusammenhang die Frage nach der Relativität von Werten und Normen erneut stellt, geraten einige Kulturrelativisten in erhebliche Verlegenheit. Können diese mit dem Hinweis auf ihren relativierten Kulturbegriff einer Urteilsbildung mit entsprechender Verantwortung ausweichen und, wie der bereits zitierte Orientalist Murany, sagen: »Wenn es den Muslimen gefällt, den Dieben die Hand abzuschneiden sollen sie es tun« (vgl. Anm. 14)? Das ist Orientalismus! Anders als die Orientalisten gesteht ein intelligenter, dem Kulturrelativismus durchaus nahe stehender Anthropologe und Philosoph, I.C. Jarvie, redlich zu: »Der erste Fehler des Relativismus besteht darin, dass wir -232-
glauben, uns der mit dem Urteilen und dem Einschätzen verbundenen Verantwortung entziehen zu können, indem wir alles als Manifestationen einer Kultur bezeichnen. Dieser Verantwortung können wir uns aber überhaupt nicht entziehen... Denn für den muslimischen Gläubigen, genau wie für den Katholiken, ist die eigene Sittlichkeit nicht kulturell relativ. Für ihn hat sie einen universellen Anspruch und ist auch absolut... So prallt der Kulturrelativismus, der sich als kulturell neutraler Schiedsrichter wähnt, mit denjenigen zusammen, die keine neutralen Schiedsrichter zulassen.«43 Islamische und andere Fundamentalisten (zum Beispiel Hindu-, Sikh- und jüdische Fundamentalisten), welche die Toleranz des Kulturrelativismus genießen, sind selbst beileibe keine Relativisten; sie geben den eigenen religiösen Absolutheitsanspruch nicht auf. Die Verteufelung der Werte der anderen gehört geradezu zum fundamentalistischen Repertoire, gleich ob dieses islamisch, jüdisch, christlich oder hinduistisch geprägt ist. Allein die kulturpluralistische Säkularität - und nicht der Kulturrelativismus - macht das Zusammenleben von Angehörigen unterschiedlicher Religionen möglich. Das Thema dieses Buches ist ja, ob es universell gültige Werte als internationale Moralität geben kann oder ob sämtliche Werte, einschließlich der Menschenrechte,44 einem wie immer gearteten Kulturrelativismus geopfert werden müssen. Die RushdieAffäre, bei der sich die muslimischen Migranten in Europa nicht gerade als eine Brücke des Verständnisses zwischen Orient und Okzident erwiesen haben, diente hier lediglich als Beispiel! Wir haben im Verlauf dieser Diskussion festgestellt, dass es dem islamischen Fundamentalismus in Form des Neoabsolutismus ganz und gar nicht um die Relativierung kultureller Werte, sondern um die Ablösung der westlichen Hegemonie durch islamische Ordnungsvorstellungen geht. Bezieht man in diesem Kontext die fragwürdige, unter anderem -233-
von Wolf Lepenies vertretene wissensanthropologische Position ein, der zufolge jedes Wissen den Ausdruck eines »Glaubenssystems«45 darstellt, dann steht folglich immer eine normative Position einer anderen gegenüber - Glaube gegen Glaube; die einen glauben an die Menschenrechte, die anderen eben nicht. Die Konsequenz ist eine unüberwindbare normative Positionsdifferenz, das heißt ein Wettkampf der Glaubensrichtungen untereinander. Fehlt ein gemeinsamer werteorientierter rationaler Diskurs - und ein solcher kann mit Fundamentalisten nicht geführt werden -, dann ist ein Wertekonsens nicht möglich. Bei einem Sieg des Fundamentalismus sind als Folge die von Huntington hervorgehobenen »Frontlinien zwischen den Zivilisationen«46 auch im Herzen der westlichen Zivilisation selbst zu beklagen. Wenn muslimische Migranten im Westen nicht integriert werden, dann werden sie zwischen diese »Frontlinien« der gegenseitigen Ablehnung geraten. Unter diesen Bedingungen kann sich niemals eine Brücke des Verständnisses bilden. Die schrecklichen Ereignisse vom 11. September 2001 sind für mich ein erstes Anzeichen dieses besorgniserregenden Trends, wie ich ihn in meinem Buch Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration47 aufgezeigt habe. Soweit es die Menschenrechte betrifft, kann ich mit dem Menschenrechtsforscher Kühnhardt hervorheben, dass es weder im klassischen Islam noch im zeitgenössischen islamischen Denken gelungen ist, »zur Idee unveräußerlicher Menschenrechte aufgrund immanenter Prämissen und Prädispositionen vorzudringen«.48 Die Analyse der Gleichzeitigkeit vom universellen Anspruch der Menschenrechte einerseits und deren fehlender Verankerung in außereuropäischen Kulturen andererseits zeigt, dass die hier am Beispiel des Islam illustrierten Positionsdifferenzen (»andere Kulturen, andere Sitten«) die internationale Kooperation nachhaltig erschweren. Positionsdifferenzen dieser Art warfen -234-
ihre Schatten beispielsweise auf die Arbeit der UNOKommission für Menschenrechte während ihrer 46. Sitzung 1990 in Genf. Dort hat die ehemals Dritte Welt, der auch die Welt des Islam angehörte, nicht zum ersten Mal ein solidarisches Bündnis gegen die von westlichen Staaten geäußerte Verurteilung von Menschenrechtsverletzungen geschlossen.49 Islamische Länder standen bei diesem AntiMenschenrechtspakt an vorderster Front. Kann die UNO solche normativen und zugleich praktisch-politischen Gräben überbrücken? Die UN-Weltkonferenz in Wien im Juni 1993 machte die weltanschaulichen Spannungen zwischen den Zivilisationen im Bereich der Menschenrechte erneut offensichtlich.50 Die islamischen Staaten verbündeten sich dort in einer unheiligen Allianz mit anderen vormodernen Kulturen gegen die individuellen Menschenrechte. Unabhängig vom Zustandekommen des Abschlussdokuments war diese Konferenz letztlich eine globale Kundgebung gegen die individuellen Menschenrechte. Vor allem zeigte die Wiener Konferenz jedoch, dass es im Bereich der Menschenrechte keine Multikulturalität geben kann; entweder man lässt diese Rechte uneingeschränkt zu und institutionalisiert sie als individuelle Berechtigungen gegenüber Staat und Gesellschaft oder man lehnt sie im Namen der Religion und der kulturellen Eigenart gänzlich ab.51 Die Trennungslinien zwischen den Zivilisationen bestehen im geographischen Sinne. Aber durch Zuwanderung entstehen Parallelgesellschaften im Westen, die nicht mehr eindeutig nach der Geographie der Zivilisationen zu verorten sind, weil nun Angehörige verschiedener Zivilisationen unter einem gemeinsamen gesellschaftlichen Dach leben. Eine Multiindividualität verspricht unter diesen Bedingungen eine bessere Perspektive als die Multikulturalität, die im Fall der Vereinigten Staaten The Disuniting of America52 bedeuten -235-
würde. An dieser Stelle der Argumentation wird der Leser mich vermutlich mit der Frage konfrontieren: Warum über die Wiener UN-Konferenz für Menschenrechte in einem Kapitel über Kulturrelativismus und Multikulturalität reden? In Wien waren 183 Staaten vertreten; heute, im Jahr 2002, hat die UNO 189 Mitglieder (mit Eintritt der Schweiz und Osttimor 191). Vor neun Jahren in Wien konnten sich die Delegationen der Staaten noch nicht einmal »über etablierte Prinzipien der Menschenrechte in einer unmissverständlichen Sprache«53 einigen. Der Grund hierfür war, dass die Hauptgegner der Menschenrechte, vor allem die Delegationen aus China, Syrien, dem Iran, dem Sudan, Vietnam und Kuba, die in Wien die nichtwestliche unheilige Allianz gegen die Menschenrechte anführten, nationale, regionale und kulturelle Partikularitäten als Alternative zur beanspruchten Universalität der individuellen Menschenrechte in den Vordergrund stellten. Charles Krauthammer prägte die Formel, dass der Kulturrelativismus »die Zuflucht für die Rechtfertigung der politischen Repression geworden ist«54. Außerdem stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage nach dem Weltfrieden. Dieser ist im internationalen Staatensystem nur dann möglich, wenn ein Minimalkonsens über Regeln, Werte und Normen existiert, der kulturell unterschiedliche, sowohl in verschiedenen Nationalstaaten als auch innerhalb eines einzelnen Staates lebende Gemeinschaften miteinander verbindet. Ich stimme Ellen Goodman zu, wenn sie hervorhebt, dass die Menschenrechte die Menschheit quasi als »Ökumene einer säkularen Religion« verbinden, wohingegen die Wiener UN-Konferenz »die dunklen Seiten der Multikulturalität offen gelegt hat«.55 Die Unverbindlichkeit der Multikulturalität und des Kulturrelativismus trennt, die Universalität der Menschenrechte als kulturübergreifende Ethik vereinigt dagegen die kulturell fragmentierte Menschheit. Ohne jene »säkulare Ökumene« ist -236-
das internationale Staatensystem, wie 1993 in Wien, nichts anderes als die Summe der damals 183 gehissten Nationalflaggen vor dem Austria Center, dem Tagungsort der Konferenz. Vielleicht ist es eine Utopie, sich eine intakte internationale Gesellschaft auf der Basis geteilter Werte und Normen zu wünschen, die keine bloße Flaggengemeinschaft wäre. Wenn es jedoch gelänge, die individuellen Menschenrechte zu universalisieren, dann wären wir dieser Utopie ein gutes Stück näher gekommen! Die Schari'a und die Menschenrechte - Sitten einer anderen Kultur oder eine fremde »Zumutung«? Trotz meiner Verehrung für meinen Lehrer Jürgen Habermas stört mich die heutige Abschwächung seines früheren Einsatzes für die kulturelle Moderne und ihre Säkularität. Sein Problem ist, dass er »ganz auf dem Feld der Theorie« bleibt und die Realität islamischer Gesellschaften gar nicht kennt. Entgegen dieser Habermas'schen Sicht will ich durch Konkretisierung am Beispiel der Schari'a der Frage nachgehen, wo die Grenzen des Respekts gegenüber anderen Kulturen und ihren »Wahrheiten« gezogen werden müssen. Erfordert es die »Toleranz« gegenüber anderen Kulturen, sich ihre »fremden Wahrheiten« zuzumuten? Diese Frage ist in unserer Zeit besonders wichtig, weil gegenwärtig in zahlreichen Veröffentlichungen die aggressiven Auswüchse des politischen Islam - ungeachtet der Vorfälle des 11. Septembers - verharmlost werden und die Kritik daran als Versuch gedeutet wird, den Islam als das neue »Feindbild«, das der Westen angeblich benötige, zu instrumentalisieren. Islamisten greifen darauf zurück, um jede Kritik an sich sittenpolizeilich, das heißt nach den Regeln der political correctness, zu verbreiten. Sie handeln nach dem Grundsatz »Angriff ist die beste Verteidigung«. Nach dem 11. September -237-
wurden Islamisten allerdings in aller Welt zu Angeklagten, in Deutschland indessen zu Anklägern gegen den Westen! Um darauf hinzuweisen, schrieb ich am 12. August 2002 in der Tageszeitung Die Welt einen Artikel mit der provokanten Überschrift »Der Rechtsstaat schützt die Islamisten«. Jeder Kenner des Islam und des Westens weiß, dass die Feindschaft zwischen beiden Zivilisationen als Realität gilt und eine sehr lange Geschichte hat. Vorurteile und Feindbilder auf beiden Seiten können nur durch beiderseitige Aufklärung, nicht aber durch Predigten oder PC-Zensur abgebaut werden. Eine Revision der Selbst- und Fremdbilder56 der Muslime und der Europäer gleichermaßen ist also dringend nötig. In den gesinnungsethischen Publikationen, in denen Selbsthass mit der Liebe zu allem Exotischen kompensiert wird, findet man die altbekannten protestantischen Schuldkomplexe: Anstatt die Situation durch Reflexion besser zu verstehen, werden die Bilder umgekehrt, das heißt, die Islamophobie wird in eine Islamophilie, die Ausländerfeindlichkeit in eine verordnete Fremdenliebe verwandelt. Dies ähnelt dem Versuch von ehemaligen Antisemiten, ihren einstigen Judenhass ohne psychische Aufarbeitung durch zur Schau gestellten Philosemitismus zu kompensieren. Wie wachsame Juden vor diesen Philosemiten kaum weniger Angst haben als vor den Antiseliten, so habe ich als Muslim ähnliche Gefühle gegenüber den islamophilen Deutschen,57 von denen manche gar - so im Schwert des Experten - glauben, sie müssten den Islam gegen mich als Muslim und gegen meine aufgeklärte Religionskritik verteidigen. Selbst der Kulturrelativist Richard Webster warnt davor, »die irrationale Intoleranz des Westens gegenüber dem Islam... durch eine ebenso irrationale und kritiklose Liebe zum Islam zu ersetzen«.58 Solche Versuche endeten nämlich darin, »das Vorurteil gegen den Islam ebenso umzukehren« (ebd.). Diese Grenze zwischen Phobie und Philie entspricht der zwischen den Feinden und Freunden des Islam. -238-
Webster warnt, weil er weiß, »dass es in Europa und auf der ganzen Welt eine beträchtliche Anzahl von Muslimen gibt, die eine extreme, intolerante und selbstherrliche Version ihres Glaubens predigen«.59 Genau diese als Islamisten zu bezeichnenden Muslime habe ich bei meinen Ausführungen im Blick. Wer vom Islam und von den Realitäten, in die er eingebettet ist, weder viel versteht noch verstehen will, der wird auch meine Kritik am politischen Islam nicht begreifen können. Mir geht es darum, vor der falschen und einfältigen Toleranz gegenüber der Intoleranz solcher Kreise zu warnen, die ich anhand ihres fundamentalistischen Anspruchs vorstellen werde: Wer den politischen Islam, also den Islamismus, anerkennt, akzeptiert auch die Geltung der Schari'a - so ihre Auffassung! Doch die Schari'a der Islamisten und die Menschenrechte des Westens verhalten sich zueinander wie »Feuer und Wasser«.60 Diejenigen Experten, welche die Welt des Islam aus eigener Erfahrung kennen, wissen jedoch zwischen dem Islamismus beziehungsweise Fundamentalismus als totalitärer Ideologie unserer Gegenwart und dem Islam als Weltreligion und Zivilisation zu unterscheiden. Außerdem sind sie sich bewusst, wie ernst die Lage in der islamischen Zivilisation insofern ist, als gerade Reform-Muslime und aufklärerisch denkende OrientIntellektuelle die bevorzugten Zielscheiben islamischer Fundamentalisten sind. Durch die Präsenz des Diaspora-Islam in Europa wird diese Konfrontation auch hierzulande ausgetragen. Der algerische Soziologe Mohammed Boukhobza war zu Beginn des Jahres 1993 bereits das sechste Mordopfer der algerischen FIS-Fundamentalisten. In den darauf folgenden Monaten wurden allein in Algerien weitere sechs führende islamische Schriftsteller ermordet. Zu den Opfern gehörte auch der bekannte Dichter Taher Dja-out. Mord ist die Sprache der algerischen und anderer Fundamentalisten gegenüber säkular orientierten islamischen Intellektuellen.61 Der am 3. Juni 1993 ermordete Taher Djaout war der Herausgeber der Wochen-239-
zeitschrift Rupture, deren säkulare und kritische Einstellung gegenüber den totalitären Fundamentalisten bekannt ist. Im islamischen Orient müssen aufgeklärte Muslime also nicht nur ihre orientalischen Despoten, sondern auch die fundamentalistische Opposition fürchten, deren Schwadrone die Todesurteile gemäß der Schari'a per Lynchjustiz ausführen. Somit erfolgt die Ablehnung der Menschenrechte gleichermaßen durch die Machthaber wie durch ihre Opponenten. Noch besorgniserregender ist, dass selbst nahöstliche Regierungen, die grundsätzlich für eine Trennung von Religion und Politik eintreten, und sogar säkulare Staaten wie die Türkei unter den Druck der Islamisten geraten und zu Konzessionen bereit sind. Selbst die USA verfolgten vor dem 11. September einen pragmatisch-realpolitischen Kurs gegenüber islamischfundamentalistischen Kräften.62 Zu den Konzessionen, die nahöstliche Regierungen an Fundamentalisten machten, gehörte zum Beispiel der Auftritt des ägyptischen Scheichs Mohammed al-Ghazali vor dem höchsten ägyptischen Gericht für Staatssicherheit mit einer Fetwa, die mit Argumenten der islamischen Schari'a die straffreie Tötung jedes Muslims legitimiert, der öffentlich für die Trennung von Religion und Politik eintritt. Dazu, dass dieser Scheich ein Mitautor von Hans Küngs Ja zum Weltethos63 ist, erübrigt sich jeder Kommentar. Diese Fetwa al-Ghazalis muss im Lichte der Tatsache gesehen werden, dass sich Mordanschläge auf muslimischarabische Intellektuelle häufen: Seitdem im Juni 1992 der ägyptische Schriftsteller Faradj Fuda in Kairo wegen seiner säkularen Orientierung von islamischen Fundamentalisten am helllichten Tag erschossen wurde, gehören solche Morde zum Alltag nahöstlicher Gesellschaften. Ein Jahr später wurde dann der algerische Soziologe Mohammed Boukhobza in seiner Wohnung vor den Augen seiner Kinder ermordet. Die westliche Presse berichtete nüchtern von der »Ermordung durch mutmaßliche Fundamentalisten«. Arabische überregionale -240-
Zeitungen wie al-Scharq al-ausat oder al-Hayat haben dagegen die Tat in ihren Schlagzeilen offen beschrieben: »Dhubiha Boukhobza«64 - das heißt, er wurde mit dem Messer geschlachtet. Tatsächlich wurden Mohammed Boukhobza die Pulsadern mit dem Messer aufgeschnitten, so dass er verblutete. Eine in Algier lehrende Soziologin erklärte mir damals, dass die Fundamentalisten mit dieser Ermordung ein Zeichen gegen den Westen setzen wollten. Gilt gegenüber solchen »fremden Wahrheiten« weiterhin uneingeschränkte »Toleranz«? Wohlgemerkt: Fundamentalistische Wahrheiten stehen nicht im Einklang mit dem Geist des Koran. Derart bestialische Morde, seien sie verübt mit dem Messer oder durch Verbrennen bei lebendigem Leib (Sivas, Türkei, 2. Juli 1993), lassen sich nicht mit dem Koran rechtfertigen. Im Koran steht: »Und greift nicht an, denn Allah liebt die Aggressoren nicht« (2/190). Obwohl der Koran Religionsfreiheit predigt (»Kein Zwang in der Religion«, 2/256), hat in der islamischen Geschichte das umstrittene Recht auf Tötung des Apostaten immer bestanden, obwohl es durch den Koran nicht legitimiert werden kann. Islamische Fundamentalisten unserer Gegenwart deuten den Abfall vom Glauben höchst flexibel und pragmatisch, das heißt, sie erklären jeden, der ihr fundamentalistisches Verständnis vom Islam nicht teilt, zum Apostaten und geben ihn damit zur Ermordung frei. Selbst die al-Azhar-Universität, die autoritative religiöse Instanz des sunnitischen Islam, distanziert sich von dem Mord an dem Schriftsteller Faradj Fuda, obwohl die alAzhar-Gelehrten seine säkulare Auffassung eindeutig verurteilten. Im Gegensatz dazu verkündet die angeführte Fetwa des prominenten islamischen Scheichs Mohammed al-Gha-zali laut Gerichtsakten - Folgendes: »Im Islam gibt es keine Strafe für den, der einen Apostaten tötet.«65 Folgt man dem Gerichtsprotokoll, das die überregionale, unter anderem in London und Frankfurt gedruckte, auflagenstarke arabische Zeitung al-Hayat veröffentlicht hat, dann soll al-241-
Ghazali während jener Gerichtssitzung jeden Muslim, der sich »öffentlich gegen die Anwendung der Schari'a ausspricht, zum Apostaten« (ebd.) erklärt haben. al-Hayat zitiert al-Ghazali weiter: »Der Murtad (Apostat) muss von Muslimen getötet werden, sollte die Staatsgewalt selbst dies nicht tun; für den, der tötet, darf es keine Strafe geben.« (ebd.) Die Fragen, die ich im Zusammenhang mit der Multikulturalität stellen möchte, lauten: In Europa leben 25 Millionen Muslime, davon 15 Millionen in Westeuropa und 10 Millionen auf dem Balkan, deren Zahl sich in den kommenden drei Jahrzehnten etwa verdreifachen wird. Sind diese Muslime verpflichtet, in Europa nach der Schari'a zu leben? Und müssen die nichtmuslimischen Europäer dies aus »Toleranz« hinnehmen? Sind Muslime, die sich in Deutschland als säkulare Verfassungspatrioten zum Grundgesetz und nicht zur Schari'a bekennen, Apostaten? Wird dann die Lynchjustiz islamischer Fundamentalisten als »Sitte einer anderen Kultur« die politische Kultur der Islam-Diaspora in Europa bestimmen? Es hängt nicht von mir ab, wie diese Fragen beantwortet werden. Das überlasse ich - jedoch mit Sorge - der Zukunft Europas. Das Einzige, was ich tun kann, ist, diese Fragen tabufrei zu stellen. Wer sie verschweigt, dient allem, nur nicht dem inneren Frieden. Für al-Ghazali ist die Aussetzung der Schari'a eine Schandtat des »kolonialistischen Weltkreuzzüglertums«, das die islamische Zivilisation erobert und hierbei »die Herrschaft Allahs suspendiert hat« (ebd.). Jeder säkular orientierte Muslim, der für diese »Ta'til ahkam Allah« (»Suspendierung der Gottesherrschaft«) - das ist ein Begriff des mittelalterlichen islamischen Rechtsgelehrten Ibn Taimiyya - eintrete, müsse getötet werden, es sei denn - so al-Ghazali -, er mache von dem -242-
Recht auf Tauba (Reue) Gebrauch. Mit dieser Fetwa von alGhazali wird in letzter Konsequenz jeder Mord an Muslimen durch Fundamentalisten mit Rückgriff auf die Schari'a legitimiert. Nun leben Muslime nicht nur im Dar al-Islam (Haus des Islam), sondern auch als Migranten in Europa - wie der Autor dieses Buches, der nicht unter der Herrschaft der Schari'a leben möchte. Gilt besagte Fetwa auch für diese Muslime? Jeder, der den Korantext kennt, weiß, dass das Wort Schari'a in unterschiedlichen sprachlichen Variationen nur viermal im Koran vorkommt, unter anderem als Schar' (wörtlich: Weg). Wie ich in Kapitel 7 noch zeigen werde, ist die Schari'a als ein Rechtssystem eindeutig eine postkoranische Konstruktion, die erst ein Jahrhundert nach dem Tod des Propheten und damit nach Abschluss der islamischen Offenbarung zustande kam. Die willkürliche Neukonstruktion der Schari'a von heute ist eine Waffe der Fundamentalisten gegen jeden anders denkenden Muslim. Im Rahmen der Multikulturalität, auf die sich islamische Migranten-Fundamentalisten aus Opportunität berufen, beanspruchen sie, dass die Befolgung der Schari'a zur »kulturellen Identität« der Muslime gehöre, welche die Europäer anerkennen müssten. Es ist allgemein bekannt, dass Führer islamischfundamentalistischer Bewegungen angesichts ihrer Verfolgung in der Welt des Islam nach Europa flüchten und von dem ihnen fremden demokratischen Asylrecht Gebrauch machen, um hier Zentren für ihre Logistik zu errichten. Als ein laizistisch orientierter Reform-Muslim befürchte ich, dass eben diese Schari'a in Zukunft zum Damoklesschwert für jene frei denkenden Muslime wird, die der orientalischen Despotie entflohen sind und im europäischen Exil leben. Die Morde an muslimischen, der Aufklärung verpflichteten Intellektuellen bleiben heutzutage nicht auf Algerien, die Türkei und Ägypten beschränkt. Die Fetwa des Scheichs al-Ghazali darf daher auch nicht unter dem Etikett der multikulturellen Gesellschaft Zugang -243-
zum derzeit noch aufgeklärten Europa finden. Toleranz gegenüber anderen Religionen darf nicht in Gleichgültigkeit gegenüber der Freiheit umschlagen. Hier setze ich mich von Habermas' Aufruf anlässlich des Leibnitz-Tages in Berlin mit aller Vehemenz ab. Entgegen der Orthodoxie und dem Islamismus trete ich für eine Versöhnung der kulturellen Moderne als Identität Europas mit einem offenen Islam ein, der einen Ausweg bietet; es muss ein reformfreudiger Islam europäischer Prägung sein, der sich die kulturelle Moderne aneignet und den ich seit der Begriffsschöpfung in Paris 1992 Euro-Islam66 nenne. Die Stellung der Frau im Islam ist ihre Unterordnung als »Sitte einer anderen Kultur« im Rahmen von Multikulturalität zu tolerieren? Zu Beginn dieses Kapitels berichtete ich über einen Fernsehauftritt von vier Imamen in den Niederlanden, die aggressiv und offensiv eine Schutzzone für die Segregation muslimischer Migrantinnen zu deren Schutz vor »europäischer Unmoral« forderten. Die Geschichte der Unterdrückung der Frau hat auch ein europäisches Kapitel, denn in Europa war sie ebenfalls nicht gleichberechtigt, bevor die säkulare Idee der Menschenrechte auch die Idee der Gleichstellung der Geschlechter mit sich brachte. In den patriarchalischen vormodernen Kulturen, so zum Beispiel im arabischen Islam (der indonesische Islam - obwohl vormodern - unterscheidet sich hiervon), fehlt diese zivilisatorische Errungenschaft bis heute. In diesen Kulturen gehört es zu den entsprechenden Sitten und Bräuchen, dass ein Mann Vormund der weiblichen Angehörigen seiner Familie ist; den Frauen wird ihre Subjektivität abgesprochen.67 Können nun in einer multikulturellen Gesellschaft die Migrantinnen aus jenen vormodernen Kulturen, gleich den männlichen Migranten, die -244-
individuellen Menschenrechte für sich beanspruchen? Der angeführte Bericht aus den Niederlanden lässt keine positive Antwort vermuten. Während meines Aufenthalts in Ägypten im Juni 1993 - nach dem islamischen Aid-al-adha (Opferfest) - erfuhr ich vor Ort folgende Geschichte. In Kairo waren zu diesem Zeitpunkt die Ägypter geteilter Meinung über den Mord an einer Mutter und ihrem Baby, deren Leichen die Polizei nach den Festtagen des Aid-al-adha im Nilwasser fand. Eine Minderheit von – vorwiegend »verwestlichten« Intellektuellen - empörte sich, die meisten anderen zeigten aber Verständnis für die Tat, für die sie den Begriff »Qatl« (»Tötung«), nicht jedoch »Djarima« (»Mord«) verwendeten. Auch die Presse berichtete von einer Qatl, nicht von einem Djarima, da die Tat nicht von einem fremden Mörder, sondern von den drei Brüdern jener Frau verübt wurde. Nach den vorherrschenden ägyptischen Sitten und Bräuchen handelten die Brüder nicht aus »niederen Beweggründen«. Die Frau war, obwohl sie bereits lange geschieden war, also nicht in ehelichen Verhältnissen lebte, schwanger. Nach arabischislamischer Sitte, die man auch in anderen Mittelmeerländern antrifft, ist das für die Familie eine Aar (Schande), von der sie sich nur durch das Auslöschen ihrer Trägerin, das heißt durch deren Tötung, sei sie nun Mutter, Schwester, Tochter oder die eigene Frau, »reinwaschen« kann. Dies zu tun gilt in arabischen Ländern nicht als eine Tat aus »niederen Motiven«. »Andere Kulturen, andere Sitten!« Wie weit kann in unserem Zeitalter der Migration und der so genannten Multikulturalität die Toleranz gegenüber anderen Kulturen in solch einem Fall gehen? Konkret: Kann man einen brutalen Mord als eine »Tötung aus edlen Motiven« akzeptieren, eben weil diese Tat den Sitten und Bräuchen einer fremden Kultur entspricht? Die Verteidigung der sexuellen Reinheit der weiblichen Familienangehörigen, das heißt der Scharaf (Ehre), notfalls durch Tötung, gilt als ein »edles Motiv«. Wagt man es, -245-
an diesen vormodernen Sitten und Gebräuchen Kritik zu üben, dann fällt in Deutschland sofort das Wort »Rassismus«, mit dem eine diskriminierende Einstellung gegenüber anderen »Rassen« assoziiert wird und das daher in diesem Kontext inhaltlich falsch verwendet wird. Bevor ich diesen Vorwurf kommentiere, möchte ich einen authentischen Bericht zu der angeführten Geschichte wiedergeben, den die auflagenstarke Kairoer Tageszeitung al-Akhbar veröffentlicht hat: »Die Polizei fand die Leiche eines Babys, angebunden an die Leiche der Mutter, auf dem Wasser des Nils schwimmend... Drei Brüder - darunter zwei Polizeibeamte - hatten beschlossen, das Leben ihrer Schwester auszulöschen. Sie haben so lange mit Gewalt auf ihren Bauch gedrückt, bis das Baby tot heraustrat. Daraufhin haben sie sie erdrosselt, beide Leichen aneinander gebunden und dann in den Nil geworfen.«68 Warum töten drei Brüder - darunter sogar zwei Ordnungshüter von Beruf - ihre Schwester? Und was soll an dieser Tötung »edel« sein? Warum ist dies kein Mord? Die drei Brüder haben die Tat gleich nach ihrer Verhaftung mit Stolz gestanden. In dem zitierten al-Akhbar-Zeitungsartikel heißt es weiter: »Die Mutter lebte nicht in ehelichen Verhältnissen, sie ist eine geschiedene Frau. Ihre drei Brüder bemerkten, dass ihr Bauch überdimensional an Umfang zugenommen hatte, und stellten auf diese Weise die Schwangerschaft fest; sie war bereits im neunten Monat.« (ebd.) Die getötete Frau war vierzig Jahre alt, also eine erwachsene Frau, die nach den europäischen Maßstäben der kulturellen Moderne als ein Subjekt für ihr Sexualverhalten selbst verantwortlich war. In unserem Zusammenhang heißt das: -246-
Dieser Frau hätte das Recht auf »körperliche Unversehrtheit« als Grundrecht zugestanden. Welches Recht hatten die Brüder, sie zu töten? Oblag es nicht der Entscheidungsfreiheit und Verantwortung der Frau, nichtehelichen Verkehr zu haben, selbst wenn ein solcher eine Schwangerschaft zur Folge hatte? Nach arabo-islamischen, eigentlich aus der vorislamischen Stammestradition herrührenden Sitten und Gebräuchen ist eine nicht aus einem ehelichen Verhältnis entstandene Schwangerschaft eine Aar (Schande) für die ganze Familie, die allein durch Tötung gesühnt werden kann. In Ägypten wurden die drei Schwestermörder wegen »Tötung« (nicht wegen Mordes) angeklagt. Die Täter, die in meinen Augen Mörder sind, bekamen milde Strafen auf Bewährung, weil ihr Motiv nicht »niedere Beweggründe« waren, sondern allein das »Reinwaschen« der Familie »von der Schande«. Diese traurige Geschichte aus Ägypten betrifft die Thematik dieses Kapitels, weil viele Zuwanderer nach Europa strömen und ihre jeweiligen Sitten und Bräuche mitbringen. Die Befürworter der »multikulturellen Gesellschaft« inkriminieren die Forderung, die Migranten müssten sich verbindlich an die in der deutschen Gesellschaft gültigen Sitten und Bräuche anpassen, als »Germanisierung«, ja sogar als »Rassismus«. Heißt das nun, dass die Europäer auch solche Morde als »Tötung aus edlen Motiven« im Rahmen der »multikulturellen Toleranz« dulden müssen? Wo liegen die Grenzen der Toleranz gegenüber vormodernen Kulturen? Müssten nicht die Menschenrechte die Grenze bilden? Sind »fremde Wahrheiten«, auch wenn man sie als »Zumutung« empfindet, einfach hinzunehmen? Man muss sich die deutsche »Euro-Rassismus«-Diskussion im Lichte der Geschichte, die sich in Ägypten zutrug, vergegenwärtigen. Dabei ergeben sich die folgenden Fragen: Müssen die Europäer ihre kulturelle Moderne aufgeben, um nicht als »Rassisten« gegenüber Angehörigen vormoderner -247-
Kulturen zu gelten? Hat die Ablehnung von fremden Sitten und Bräuchen, zu denen zum Beispiel die Billigung der »Tötung aus edlen Motiven« gehört, etwas mit »Rassismus« zu tun - oder liegt hier nicht doch eine Begriffsverwirrung vor? Deutsche Gutmenschen als Befürworter der verordneten Fremdenliebe erlauben es in der deutschen Öffentlichkeit nicht, über besagte Problematik nüchtern zu diskutieren. Das Festhalten an einer Sittlichkeit, die an der kulturellen Moderne orientiert ist - und das heißt hier konkret: die Ablehnung der vormodernen Sitte der Billigung einer »Tötung aus edlen Motiven«, wie etwa des Mordes an der schwangeren unverheirateten Frau in Ägypten -, ist weder Rassismus noch Eurozentrismus, sondern Humanität. Es muss möglich sein zu sagen: Derartige vormoderne Sitten und Gebräuche dürfen in Europa nicht toleriert werden. Die angeführte Geschichte sowie meine daraus gezogenen Schlussfolgerungen habe ich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht, woraufhin mir ein arabischer Palästinenser von der Deutsch-Arabischen Gesellschaft Jürgen Möllemanns in einem Leserbrief vorwarf, »den Begriff der multikulturellen Gesellschaft gerade in Deutschland zu diskreditieren« und somit »dem Treiben rechtsextremistischer Täter Auftrieb zu geben«69. Während der deutschen Antisemitismusdebatte im Sommer und Herbst 2002 geriet jene Gesellschaft unter Beschuss, wodurch klar wurde: Niemand aus diesem Kreis hat das Recht, moralisch zu belehren. Als eine andere Reaktion auf meinen FAZ-Artikel gab eine Frau - gleichfalls in einem Leserbrief - ihrer Überzeugung Ausdruck, die von mir erzählte Geschichte werde »von den Vertretern einer schrankenlosen multikulturellen Gesellschaft sicher als Ausnahme von der Regel abgetan«, und sie fügte hinzu: »Ihnen allen empfehle ich die Lektüre des Buches Le Voile du Silence von Djura... eine junge Algerierin, die in den Augen ihrer Familie das ›unverzeihliche Verbrechen‹ begangen -248-
hat, auf französischem Boden... wie eine Französin zu leben, und nun der grausamen Verfolgung durch ihre Brüder... ausgesetzt wird.«70 Ich möchte es bei den Worten dieser Leserbriefschreiberin belassen und mit einem Hinweis auf meine Vorlesung über die beiden Rechtsradikalismen - die deutsche Ausländerfeindlichkeit und den ethnisch-religiösen Nationalismus von Ausländern aus vormodernen Kulturen - abschließen, die ich im Rahmen der Piper-Ringvorlesung »Der neue und der alte Rechtsradikalismus« gehalten habe.70b Auch in einem in der DGBZeitschrift Gewerkschaftliche Monatshefte veröffentlichten Artikel zu der Thematik »Deutschland nach Solingen«, der auf meinem Beitrag zu dieser Ringvorlesung basiert, habe ich die Demokraten unter meinen deutschen Mitbürgern auf folgende Gefahr hingewiesen: Ausländische Rechtsradikale, beispielsweise Islamisten, missbrauchen die Taten von deutschen Rechtsradikalen als einen Freibrief für sich und könnten die defensive Haltung der verunsicherten Deutschen ausnutzen, um selbst offensiv zu werden. Gelänge ihnen das, dann würde selbst die Äußerung, dass bestimmte Kulturen Menschenrechte nicht anerkennen, als »rechtsradikale Ausländerfeindlichkeit« inkriminiert werden. Ich argumentierte folgendermaßen: »Rechtsradikale sind in jedem Fall... eine Gefahr für die Demokratie, ganz gleich, ob sie Deutsche oder Ausländer sind. «71 In einem islamischen Land wie Saudi-Arabien mag man mit Hinweis auf die eigene Kultur Mitglieder des Menschenrechtskomitees verhaften und ins Gefängnis werfen; das ist die dortige politische Kultur, das heißt Ausdruck der Sitten jenes Landes. Doch in einem demokratischen Gemeinwesen als Zivilgesellschaft ist jede Frontstellung gegen die Menschenrechte als Ausdruck eines nicht zu tolerierenden Rechtsradikalismus zu deuten. In diesem Sinne war die auf Beschluss des britisch-muslimischen »Moscheenrates« von -249-
Muslimen durchgeführte Bücherverbrennung in Bradford eine rechtsradikale Aktion, die ich nicht unter dem Rückgriff auf Multikulturalität respektieren kann. Als ein junger Student, der aus Damaskus nach Frankfurt kam, lernte ich aufklärerische Orientierung - auch bei Habermas. Hierzu gehört der später - im Jahr 1986 - entstandene Philosophische Diskurs der Moderne. Vor diesem Hintergrund ist das Zurückweisen von »Zumutungen« der Islamisten und orthodoxen Muslime für mich keine Intoleranz, sondern ein Streit für die Freiheit und die säkulare Demokratie. »Andere Sitten und andere Bräuche« haben »limits«, die Limits of Pluralism, weil Relativismus und Neoabsolutismus nicht friedlich koexistieren können, wie ich zu Beginn dieses Kapitels erläutert habe. In seinem Toleranz-Referat anlässlich des Leibnitz-Tages der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften führt Habermas zu Recht Gegenseitigkeit als Voraussetzung für die Ausübung von Toleranz an, verwickelt sich jedoch in einen Widerspruch, der für die gesamte deutsche Debatte typisch ist. In dem von Michael Mayer verfassten Bericht »Vom Stachel der Intoleranz« über den Berliner Auftritt von Habermas heißt es: »Reziprozität (Gegenseitigkeit) hieß also das Zauberwort. Dabei war religiöse Toleranz das Beispiel, an dem Habermas seine Gedanken entfaltete.«72 Nur wenige Zeilen darunter konnte man lesen, dass »Toleranz im eigentlichen Wortsinne« erst recht gefordert sei »bei der Kollision unversöhnlicher Grundhaltungen - wo nicht einmal der Konflikt gemeinsam artikuliert wird, geschweige denn es Aussicht auf Schlichtungen gibt« (ebd.). In diesem Kapitel habe ich die Vielfalt der Weltanschauungen anhand der Formel »andere Kulturen, andere Sitten« erläutert -250-
und gezeigt, dass orthodoxe Muslime und Islamisten für eine Geltung der Weltanschauung vom »Schatten Allahs« (Ibn Taimiyya) auch in der Diaspora eintreten. Für sie ist dies eine kompromisslos vertretene Grundhaltung. An dieser Stelle möchte ich meinen Frankfurter Lehrer Habermas mit folgender Frage konfrontieren: Wie kann Toleranz unter diesen Voraussetzungen anders als anything goes (alles ist erlaubt, im Sinne von Wertebeliebigkeit) funktionieren? Ich selbst möchte diese Frage nicht beantworten; dies überlasse ich den Europäern; ich kann hier nur mahnend den Begriff der »byzantinischen Debatte« als historische Erinnerung an die Islamisierung Konstantinopels und dessen Umbenennung in Istanbul anführen. Während islamische Djihad-Krieger damals die Stadt belagerten, erschöpften sich die Mönche in der Diskussion bedeutungsloser Formeln. Das Ergebnis ist bekannt: Fateh Mehmed II. nahm die Stadt ein. Seinen Titel Fateh (Eroberer) tragen die Moscheen von Pforzheim und Bremen als Namen. Gilt auch bei dieser Namenswahl Toleranz? In diesem Zusammenhang weise ich auf die einleitenden Worte zu diesem Kapitel über die islamischen Djihad-Eroberungen in Europa aus der Perspektive der Gegenwart hin.
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Dritter Teil Schari'a als islamisches Recht Verneinung von Menschenrechten oder spezifische Ausprägung islamischer Menschenrechte? »Menschenrechte gelten in unserer Monarchie... im Rahmen der islamischen Schari'a. Islamische Gesellschaften halten sich in der Praxis an ihre eigenen Werte und benötigen deshalb nicht die Erfahrungen und Wertmaßstäbe der anderen... Wir fordern die anderen auf, unsere Partikularitäten anzuerkennen, die uns von allen anderen abgrenzen... Wer unsere Leistungen [im Bereich der Menschenrechte, B.T.] nicht anerkennt, ist Magharid ma'djur [bezahlter Provokateur, B.T.].« König Fahd von Saudi-Arabien in seiner Rede vor den islamischen Pilgern in Mekka, abgedruckt in: al-Hayat vom 2. Juni 1993 »Im Islam gibt es keine Strafe für den Muslim, der einen Apostaten tötet... Jeder Muslim, der sich für die Suspendierung der Schari'a einsetzt, ist ein Murtad [Apostat, B.T.]. Der Murtad muss von Muslimen getötet werden, sollte die Staatsgewalt selbst dies nicht tun; für den, der tötet, darf es keine Strafe geben... Der kreuzzüglerische Kolonialismus steht hinter der Suspendierung der Schari'a... Wer das göttliche Gesetz ablehnt, gehört nicht mehr zur islamischen Umma... ihm muss -252-
Gelegenheit zur Tauba [Reue, B.T.] gegeben werden; leistet er sie nicht, dann verdient er den Tod.« Scheich Mohammed al-Ghazali, Autor des Buches Islam und Menschenrechte, in seiner Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) vor dem Obersten Sicherheitsgericht in Kairo anlässlich der Verhandlung über die Ermordung des säkularen Schriftstellers Faradj Fuda, veröffentlicht in: al-Hayat vom 23. Juni 1993
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Einführung Unter der Überschrift »Die Schari'a ist unverzichtbar« veröffentlichte die Zeitschrift Zeitzeichen (11/2001) ein sehr ausführliches Interview mit Dr. Nadeem Elyas, dem Vorsitzenden des Zentralrates der Muslime in Deutschland. Im Gegensatz zum kritisch beäugten, der Milli Görüs nahe stehenden Islamrat wird diese Institution der Islam-Diaspora so eingestuft, dass deren Vorsitzender Elyas nach dem 11. September 2001 von Bundeskanzler Gerhard Schröder offiziell empfangen wurde. Die Geisteshaltung des besagten Vorsitzenden kommt in der Überschrift des zitierten Interviews deutlich zum Ausdruck. Wir müssen im Zusammenhang mit islamischer Zuwanderung offen die Frage nach der Gültigkeit der Schari'a in Deutschland stellen. Daher ist es notwendig, bei den Verbänden, die trotz großen Widerspruchs stets für sich beanspruchen, die Islam-Diaspora zu vertreten, anzufragen, wie sie zu der Problematik stehen. Schari'a bedeutet im Koran »Moralität« und dies akzeptiere ich. Schari'a als ein Rechtssystem allerdings ist postkoranisch; sie hat in dieser Bedeutung zwei Ausrichtungen. In der islamischen Vergangenheit galt sie als eine Art Zivil- und Strafrecht. In unserer Gegenwart wird die Schari'a als Grundlage für die politische Ordnung eines islamischen Staates gedeutet. Die erste Ausrichtung der Schari'a wird von den orthodoxen Muslimen vertreten, die zweite, neue Richtung vom Islamismus. Damit gebe ich nicht meine persönliche Meinung wieder, sondern den Stand der Forschung. In einer säkularen demokratischen Gesellschaft wie der deutschen hierüber zu schreiben, ist aufgrund der vom Grundgesetz garantierten Wissenschaftsfreiheit möglich. Wird dieses Recht auch von den -254-
Islam-Verbänden in Deutschland anerkannt? Was sagen sie zu der hier behandelten Problematik? Der Zentralrat der Muslime in Deutschland e.V. hat nach dem 11. September 2001 eine »Islamische Charta« verkündet, deren Artikel 10 wie folgt lautet: »Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora.« In dem Text selbst wird nicht von der Schari'a gesprochen, aber es liegt nahe, dass jene mit »islamischem Recht« gemeint ist. Diese Vermutung wird durch das Interview mit Nadeem Elyas, dem amtierenden Vorsitzenden des Zentralrates, bestätigt. Darin sagte er seinen Interview-Partnern laut Zeitzeichen Folgendes: »Sie sehen, da kann man auf die meisten Bereiche der Schari'a in Deutschland auch als Minderheit nicht verzichten.« Was heißt das? Elyas ist gut informiert und argumentiert in diesem Interview frappierend offen, wenn er angibt, die Schari'a habe zwei Bedeutungen beziehungsweise Bereiche: Erstens, »die Moral und Ethik der Schari'a«, also die Moralität, und zweitens, »das Straf-, das Staats- und das Wirtschaftssystem«. Letzteres fordert Elyas für Deutschland nicht, weil dies nach seiner Meinung nur dann möglich sei, »wenn ein islamischer Staat vorhanden ist«. Will Elyas dies langfristig anstreben? Er umgeht die Frage mit der Feststellung, dass ein islamischer Schari'a-Staat »nur in einer Mehrheitsgesellschaft, die sich zum Islam bekennt«, als Verpflichtung gilt. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Ist die Loyalität der muslimischen Migranten zur deutschen Verfassung auf die Zeit begrenzt, in der sie eine Minderheit sind? Wenn die Muslime die Mehrheit bildeten, würde dann das Grundgesetz durch die Schari'a ausgetauscht? Unter »Einbeziehung des Anderen« (Habermas) muss es möglich sein, Toleranz gegenüber der islamischen Moralität für Diaspora-Muslime aufzubringen, ohne das Nizam Islami (islamische System) zu akzeptieren. Es ist ein Fakt, dass dieser Begriff weder im Koran noch im Hadith (Überlieferung des Propheten) vorkommt. Für Demokraten schließt Toleranz nicht -255-
ein, die Forderung der Islamisten nach einem islamischen Staat zu akzeptieren. Es gibt Muslime in den organisierten Verbänden, welche die Wandlung der Relation Mehrheit/Minderheit hinsichtlich des islamischen Anteils der Bevölkerung als eine Frage der Zeit betrachten; ihre Vision ist ein islamisches Europa gegen Ende des 21. Jahrhunderts. Dann ist die oben angegebene Voraussetzung für die Verpflichtung, den Schari'a-Staat zu verwirklichen, erfüllt. Liegen hier die Grenzen der Toleranz? Es gibt in Bezug auf ethnische Mehrheiten Unterschiede zwischen den beiden selbst ernannten Vertretungen der deutschen Islam-Diaspora, dem Islamrat und dem Zentralrat. Als Wissenschaftler finde ich jedoch kaum weltanschauliche Unterschiede zwischen ihnen. Mit ethnischen Mehrheiten spiele ich auf die arabische beziehungsweise türkische an. Trotz der ethnischen Differenzen zwischen Arabern und Türken scheint im organisierten Islam Einigkeit hinsichtlich der Ablehnung eines europäischen Reform-Islam, wie ich ihn vertrete, zu bestehen. Obwohl der vorliegende Teil des Buches mit der deutschen Islam-Diaspora beginnt, wird diese hier nicht weiter thematisiert. Die folgenden vier Kapitel befassen sich generell mit der Frage der Vereinbarkeit der Schari'a mit den Menschenrechten. Meine Antwort hierauf ist der Titel eines Essays, den ich 1994 im Spiegel veröffentlichte: »Wie Feuer und Wasser«. Ich schlussfolgere dort, dass jeder, der sich zur Schari'a bekennt, in einen weltanschaulichen Konflikt mit den individuellen Menschenrechten gerät. Verbal Loyalität zu den Menschenrechten zu bekunden, aber stillschweigend Faraid (Pflichten) zu meinen, ist eine Täuschung, der unwissende europäische Dialogpartner zum Opfer fallen, für die ich in der Wochenzeitung Die Zeit vom 29. Mai 2002 die Formel »Selig sind die Belogenen« prägte. Islamisten der europäischen Diaspora verharmlosen die -256-
Menschenrechtsverletzungen in der Welt des Islam mit dem Pseudoargument, dort gäbe es Despoten und keinen islamischen Staat. Nun hat die »islamische Revolution« im Iran einen solchen Staat errichtet. Aber auch dort wurden von der internationalen Öffentlichkeit Menschenrechtsverletzungen festgestellt und moralisch verurteilt. Als der iranische Außenminister Wilayati die Bundesrepublik Deutschland im Juli 1992 besuchte, antwortete er auf die diesen Bereich betreffenden bohrenden Fragen in einem Fernsehinterview lapidar, der Iran respektiere die Menschenrechte, jedoch nur in einem spezifischislamischen Rahmen. Verbindet man diese zynische Aussage mit der Tatsache andauernder Menschenrechtsverletzungen im Iran, dann könnte man daraus schließen, dass Schari'a in der Interpretation als islamisches Recht, gleich wie es formuliert ist, eine Verneinung der Menschenrechte beinhaltet. In den folgenden Kapiteln wird diese These inhaltlich und empirisch untermauert. Die zitierte Behauptung des Ministers eines Landes, das sich »Islamische Republik Iran« nennt, veranlasste mich, diesen dritten Teil mit der Frage zu betiteln: Schari'a als islamisches Recht - Verneinung von Menschenrechten? Die vier Kapitel dieses Teils bilden den Kern des vorliegenden Buches. In Kapitel 7 erkläre ich in einem großen Zusammenhang die islamische Schari'a, deren Struktur uneinheitlich und nicht nur für Außenseiter schwer verständlich ist. Diese wird von Kommentatoren der westlichen Medien oftmals falsch dargestellt, denn ein Gesetzbuch, das den Namen Schari'a trägt, gibt es genauso wenig wie einen einheitlichen rechtlichen Korpus dieses Namens. Der Leser wird in Kapitel 7 erfahren, dass die Schari'a eine Vielfalt zum Teil widersprüchlicher Traditionen umfasst. Darüber hinaus ist sie als islamisches Rechtssystem ein interpretatives, also kein kodifiziertes, das heißt in Gesetzbüchern formalisiertes Recht. Generell gilt jedoch, dass der Islam ein Rechtssystem »moralischer Verpflichtungen« ist, wie der Kenner des -257-
islamischen Rechts Makdisi festhält. Entsprechend stehen Vorschriften der Pflichtenlehre und nicht Berechtigungen im Mittelpunkt. Mit der Schari'a vertraut sein, heißt zu wissen, dass der moderne Begriff der individuellen Huquq (Rechte) der traditionellen Schari'a fremd ist. Die Schari'a ist eine Pflichtenlehre. Der Versuch einer Einführung der »Rechte« - im Sinne von Berechtigungen - in das islamische Denken geht erst auf die angestrebte Aneignung der Moderne zurück und war leider bisher in der Substanz nicht sehr erfolgreich. Der westliche Medienkonsument verbindet den Begriff der Schari'a mit dem Abhacken der rechten Hand eines Diebes, mit der Steinigung der untreuen Ehefrau und mit ähnlich spektakulären Bestrafungen. Seit der Rushdie-Affäre wird die Schari'a in den westlichen Medien mit der Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) von Khomeini verbunden, welche den des Unglaubens verdächtigten Schriftsteller zur Ermordung freigegeben hat. Seitdem sind westliche Zeitungsleser mit dem Begriff Schari'a - wenngleich in der falschen Bedeutung von »Todesurteil« - vertraut. Ebenso falsch ist das Schari'a-Verständnis der islamischen Fundamentalisten, die sich die Tatbiq al-schari'a (Anwendung der Schari'a) in besonderer Weise auf ihre Fahnen geschrieben haben. Diese Islamisten sind in der Regel religiöse Laien, die nicht genau wissen, was der Begriff Schari'a beinhaltet. So wissen sie zum Beispiel nicht, dass bei Zina (unehelichem Geschlechtsverkehr) eine Verurteilung nach dem Schari'a-Recht nur auf der Basis von vier männlichen Zeugen erfolgen darf. Hier besteht keine Gleichheit zwischen Frauen und Männern; ein männlicher Zeuge kann nur durch zwei Frauen ersetzt werden. Die vier Zeugen müssen die Tat direkt gesehen haben, wie der Koran vorschreibt. Entsprechend selten lässt sich Zina vor einem Kadi (Richter) nachweisen. Trotz der Schwierigkeiten, einen Verstoß gegen die Schari'a nachzuweisen, wurden Frauen im Iran nach »islamischem Recht« verurteilt, zum -258-
Beispiel ausgepeitscht. Auch im Sudan wird seit Juni 1989, als die Islamisten an die Macht kamen, jede Opposition im Namen der Schari'a verfolgt. Die Schari'a selbst gilt im Sudan seit September 1983 und entsprechend wird ausgepeitscht und werden Hände abgehackt. Welche Menschenrechte sind dies? Sowohl von unzureichend informierten westlichen Reportern als auch von islamischen Fundamentalisten wird übersehen, dass es in der islamischen Rechtsgeschichte niemals ein kodifiziertes Recht, geschweige denn eine Bindung dieses Rechts an die Umsetzung durch den Staat gegeben hat. Da die Schari'a interpretativ ist und auf der Deutung des Korans und des Hadith (Überlieferung des Propheten) basiert, kommt es zu unterschiedlicher Rechtsprechung. Des Weiteren gibt es Unterschiede zwischen Sunniten und Schi'iten, da bei Letzteren die heiligen Imame ebenfalls eine rechtliche Autorität sind. Mit anderen Worten: Formalisiertes Recht gibt es im Islam ebenso wenig wie eine einheitliche Schari'a. Rechtsschulen haben im sunnitischen Islam den Status von Konfessionen; die Zugehörigkeit zu einer Rechtsschule entscheidet daher über die Details der Glaubensrichtung. Dies hat auch zur Folge, dass es kein einheitliches islamisches Recht geben kann. Der Sachverhalt, dass Recht auf Interpretation der göttlichen Offenbarung, also nicht auf Gesetzgebung basiert, hat zur Folge, dass die Rechtsschulen unterschiedliche Rechtsdeutungen vornehmen, deren »Recht« nur für die jeweiligen Angehörigen, also für Malikiten, Schafi'iten, Hanbaliten und Hanafiten, nicht aber für die gesamte islamische Umma (Gemeinschaft aller Muslime) gilt. Bekanntlich hat es in der islamischen Geschichte keinen Staat gegeben, der sich malikitisch, schafi'itisch, hana-fitisch oder hanbalitisch nannte. Folgerichtig gilt die Schari'a nur für den zivilen Bereich (Ehe, Scheidung, Erbe), für Strafen, beispielsweise die Hudud-Strafen, und nur für die entsprechende dazugehörige religiöse Gemeinschaft, allerdings unabhängig von der Staats-259-
zugehörigkeit. Die Interpretation der Schari'a erfolgt durch die Fuqaha, die Sakraljuristen der verschiedenen Rechtsschulen. Diese Menschen beanspruchen aber anmaßend, dass ihre Deutung göttlichen Charakter habe. Im Hochislam haben die Kalifen zwischen dem Bereich der Religion und ihrer Rechtssphäre beziehungsweise zwischen Islam und Schari'a einerseits und dem der Siyasa (im Neuarabischen »Politik«; hier jedoch Mittelarabisch »öffentliche Staatsführung«) andererseits unterschieden. Joseph Schacht stellt diese islamische Tradition dar, zeigt aber auch, dass sich islamische Herrscher durch entsprechende Fetwas der Fuqaha stets im Nachhinein haben bestätigen lassen, dass ihre Handlungen mit der Schari'a im Einklang standen. Da der Islam keine Gewaltenteilung kennt, waren diese Fuqaha - obwohl sie die Handlungen des Sultans legitimierten - ihm stets untergeordnet. Dadurch wird Siyasa aber noch längst nicht zur Schari'a. Einer der orthodoxen islamischen Fiqh-Juristen des Mittelalters, Ibn Taimiyya, hatte seinerzeit den Versuch unternommen, Siyasa und Schari'a aneinander zu koppeln; er tat dies in seinem heute in vielen Auflagen erschienenen Werk alSiyasa al-schar'iyya (was ungefähr bedeutet: die an der Schari'a orientierte Siyasa). Ibn Taimiyya war aber eine Ausnahme. Kurzum: Im Hochislam haben islamische Kalifen nicht nach den doktrinären Prinzipien der Schari'a gehandelt, sondern pragmatisch die Staatsadministration als Siyasa geführt. Die Schari'a wurde nur herangezogen, um bereits vollzogene administrative Handlungen post festum, also stets im Nachhinein zu legitimieren. Sir Hamilton Gibb spricht vom islamischen Recht als »post eventum-Recht«. Diese Tradition, Religion und Politik zu trennen, hält in einigen islamischen Ländern (zum Beispiel in Ägypten) bis heute an. Das Attribut »islamisch« dient lediglich legitimatorischen Zwecken. Die Schi'iten haben ihre eigene Rechtstradition, weil sie mit -260-
Ausnahme des iranischen Safawidenreichs (1501-1722) und der islamischen Republik Khomeinis seit 1979 - im Gegensatz zu den Sunniten - stets Vertreter einer »Untergrundreligion« waren. Der Schi'a-Islam als »Quasi-Geheimreligion« verfügt bis auf die angeführten Ausnahmen über keine Staatstradition. Die Taqiyya (Verstellung zur Verheimlichung des religiösen Glaubens) gehört zu den Grundsätzen der schi'itischen Religion, die sich in der islamischen Geschichte im Untergrund entwickelte, um sich vor der Verfolgung durch die Sunniten zu schützen. Auch die Schi'iten haben ihre eigenen Rechtsschulen. So haben beispielsweise die iranischen Zwölfer-Schi'iten, die an die zwölf Imame glauben, ihre dja'faritische Rechtsschule, wie andere Schi'iten, zum Beispiel die Ibaditen (eine Minderheit in Algerien) und die Zaiditen (im Jemen), ebenfalls ihre eigenen Schari'a-Rechtsauffassungen haben. Um das islamische Recht verstehen zu können, muss man den Unterschied zwischen Schari'a und Fiqh kennen. Schari'a bedeutet auf Arabisch (der Sprache des Koran) »die Richtung Gottes«, was ich in diesem Buch mit »Moralität« übersetze. Dagegen lässt sich Fiqh mit Sakraljurisprudenz übersetzen. Mit anderen Worten: Die Schari'a basiert auf der göttlichen Offenbarung und alles, was Menschen daraus gestaltet haben, ist Fiqh. Islamische Juristen sind daher Sakraljuristen und heißen Fuqaha. Aber sowohl die Fuqaha (also die Fiqh-Juristen) als auch die Ulema (islamischen Schriftgelehrten) stellen ihre Lehrmeinungen nicht als menschliches Ergebnis, sondern als göttliche Verordnung dar. Meine in diesem Buch vertretene Auffassung, dass die Schari'a als Rechtssystem postkoranisch ist, basiert auf der Tatsache, dass das Wort Schari'a buchstäblich nur ein einziges Mal im Koran vorkommt, und zwar in der Sure al-Djathiya (»Die auf den Knien sitzt«, 45/18), in der Allah zu den Menschen spricht:
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»Thumma dja'alnaka ala schari'a fi al amr fa itba'-uha.« (»Dann stellten wir für Dich eine Richtung fest. So folge ihr.«) An zwei anderen Stellen kommt ein von Schari'a abgeleitetes Verb vor, schara'a, das heißt »vorschreiben« (Sure al-Shura, 42/13). Noch einmal begegnet uns Schar' als Substantiv (Sure al-Ma'ida, 5/49) mit der Bedeutung »Weg«. Sonst finden wir diese Begriffe an keiner anderen Stelle des Korans. Das islamische Recht ist erst nach dem Tod des Propheten auf der Basis der Korandeutung entwickelt worden und damit postkoranisch; das ist ein historischer Sachverhalt, der selten erwähnt wird. Die zeitgenössische, von Fundamentalisten als politische Orientierung auf einen islamischen Staat zugeschnittene Parole Tatbiq al-schari'a ist eine Neuschöpfung. Islamische Fundamentalisten unserer Gegenwart erheben diese Formel zu einem Glaubenssatz; sie hat in diesem Sinne keine Wurzeln in der islamischen Geschichte. Fundamentalisten und orthodoxe Muslime interpretieren den zitierten Koranvers so, dass die Schari'a von Gott und nicht von den Menschen kommt; im Islam heißt das von Menschen entwickelte rechtliche Wissen wie wir gesehen haben - Fiqh. Würden die Fundamentalisten den Koran richtig verstehen, würden sie konsequenterweise adäquater von der Anwendung der Fiqh, nicht der Tatbiq alschari'a sprechen. Ich habe jedoch schon mehrfach in Gesprächen mit Laien-Fundamentalisten die Erfahrung gemacht, dass sie sich in den Quellen des islamischen Rechts kaum auskennen. Wie kommt es dazu, dass heute im Rahmen der Politisierung des Islam die Schari'a in den Vordergrund gestellt wird? Erinnern wir uns: bedeutet - laut Koran - schlicht »die Richtung« und Schar' kann mit »Weg« übersetzt werden. Entsprechend geht es darum herauszufinden, was auf diesem Weg richtig und was falsch ist. Richtig, Halal, heißt hier, »nach -262-
der Schari'a erlaubt« (zum Beispiel das Trinken von Obstsaft ist Halal). Falsch ist, was verboten, Haram, ist (das Trinken von Wein zum Beispiel ist Haram). Es gibt eine Zwischenstufe, die mit dem Begriff Makruh (verpönt) bezeichnet wird (so wie es zum Beispiel nicht Haram ist, auf Frauen mit Begierde zu schauen, das ist nur Makruh, aber unehelicher Geschlechtsverkehr ist eindeutig Haram). Der zentrale Inhalt der Schari'a ist es demnach zu zeigen, welches die religiösen Pflichten der Muslime sind. Pflicht heißt Fard oder Farida, im Plural Faraid. Daher steht im Islam die Pflichtenlehre und nicht ein Konzept der Rechte im Mittelpunkt. Wie der an der Columbia University lehrende Menschenrechtsexperte Louis Henkin gezeigt hat, ist die Lehre der Menschenrechte (auf dem Naturrecht basierend) für alle Religionen neu, also auch für den Islam. Nicht nur der Islam, sondern auch alle anderen Religionen richten ihren Blick stets auf Pflichten, nicht aber auf Rechte im Sinne von Berechtigungen, so wie dies in der Lehre von den Menschenrechten geschieht. Mit anderen Worten: Der Islam steht nicht allein mit seiner Betonung der Pflichten. Die Vorstellung von Rechten als Berechtigungen der Individuen ist ein Produkt der kulturellen Moderne. Wer von islamischen Menschenrechten spricht und Faraid (Pflichten) meint, betreibt Täuschung. Der einstige al-Azhar-Scheich Ali Abdelraziq hat 1925 in seinem Buch Der Islam und die Grundlagen der Herrschaft (Arabisch) erläutert - er wurde daraufhin seiner Ämter enthoben -, dass in der islamischen Geschichte das Kalifat faktisch eine säkulare Institution war. Abdelraziq hat gezeigt, dass der Koran keine Staatslehre umfasst. Ich habe schon angeführt, dass Siyasa und Schari'a zwei getrennte Bereiche waren. Diese Trennung weist auf eine grundsätzlich säkulare Tradition hin, die islamische Historiker entweder verschweigen oder tabuisieren. Die osmanischen Türken haben diese arabische Tradition des Islam in ihrem Reich fortgesetzt. Nach einer Serie militärischer Niederlagen hatten sie im 19. Jahrhundert versucht, sich die -263-
technologische Moderne anzueignen. Im Rahmen der TanzimatReformen (1839-1876) versuchten sie dann, europäisches Recht als Qanun (aus dem Griechischen: Kanon) einzuführen, ohne die islamische Ordnung anzutasten. Trotz dieser oberflächlichen Reformen zerbrach die letzte islamische Ordnung im Jahr 1924, als Atatürk das Kalifat abschaffte. Mit der Auflösung des Osmanischen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg haben sich nach einer Zwischenperiode europäischer Kolonisation - die ehemaligen osmanischen Provinzen beziehungsweise europäischen Kolonien nominell zu nahöstlichen modernen Nationalstaaten entwickelt; diese benötigten ein Rechtssystem. Zu diesem Zweck wurden damals europäische Gesetzbücher (wie zum Beispiel der Code Napoleon oder das Schweizer Zivilrechtsbuch) wortwörtlich in orientalische Sprachen übersetzt und zum eigenen Rechtssystem erhoben. Natürlich fehlte es an den hierfür benötigten Institutionen. Der Nationalstaat hat als moderner Staat keine Wurzeln in Ländern der islamischen Zivilisation und befindet sich in dieser Region heute in einer dramatischen Krise. Aus dieser Krise gehen der Islamismus und mit ihm der Ruf nach Anwendung der Schari'a hervor. In meinem 2001/2002 neu geschriebenen Buch Die fundamentalistische Herausforderung habe ich gezeigt, dass der islamische Fundamentalismus gerade aus der anhaltenden Krise des Nationalstaats hervorgegangen ist. Die Islamisten verneinen nicht nur den Nationalstaat, sondern auch all seine Institutionen und damit auch jene des Rechtswesens. Dieser Prozess der Entwestlichung, das heißt das Zurückweichen von allem, was aus dem Westen importiert worden ist, basiert auf der Rhetorik von der Rückkehr zu den eigenen Wurzeln. Die Rückkehr zur Schari'a steht in diesem Kontext und sie bedeutet Entwestlichung des Rechts. In Kapitel 7 erkläre ich die Schari'a; in den darauf folgenden Kapiteln 8 und 9 stehen der Ruf nach Anwendung der Schari'a und der Anspruch auf spezifisch -264-
islamische Menschenrechte im Mittelpunkt meiner Darstellung. Die Fundamentalisten wollen den säkularen Nationalstaat durch die islamische Hakimiyyat Allah (Gottesherrschaft) ablösen; somit streben sie an, das göttliche Recht als Alternative zum positiven Recht durchzusetzen. Hierbei vertuschen sie nicht nur den Unterschied zwischen Schari'a und Fiqh, sondern übersehen auch die richtige Bedeutung des Verbs Hakamah im Koran. Wie der ägyptische Jurist Said al-Aschmawi anhand von islamischen Quellen gezeigt hat, hatte der Prophet im koranischen Sinne gemäß der damaligen Stammestradition »gerichtet« und nicht »regiert«; Hakamah bedeutet also »richten«, nicht »regieren«. Das neuarabische beziehungsweise persische, von Fundamentalisten gebrauchte Wort Hukumat (Regierung; abgeleitet von Hakama) ist eine fundamentalistische Erweiterung des neoislamischen Vokabulars unserer Gegenwart. Im modernen Staat wird kodifiziertes Recht benötigt. Islamisches Recht ist interpretativ und an Glauben und Zugehörigkeit zu einer Rechtsschule, nicht aber an Politik gebunden. Der Aufbau moderner Staaten in der islamischen Zivilisation musste folgerichtig die Einführung kodifizierten Rechts mit sich bringen. Wie die Juristin und Islamexpertin Ann E. Mayer in ihrem Aufsatz »The Shari'a, a Methodology or Rules?« hervorgehoben hat, »war die Einführung von Gesetzesbüchern im Rahmen des kodifizierten Rechts praktisch mit einer Säkularisierung verbunden. Das islamische Recht blieb im Bereich des traditionellen Systems der islamischen Rechtsgelehrten... Mit dem Erstarken des Islam im Nahen Osten beginnt der Trend, die Einführung des westlichen Rechts als einen Ausdruck des kulturellen Imperialismus zu deuten.« Deswegen verstehen die Islamisten unter der Rückkehr zur Schari'a eine Entwestlichung. Auf den Gegenstand dieses dritten Teils bezogen, behaupte ich, dass die individuellen Menschenrechte nicht im Rahmen der -265-
Schari'a in die islamische Zivilisation eingeführt werden können. Bei den islamischen Fundamentalisten nehmen die Faraid den Platz der Rechte ein. Dieses Rechtsverständnis prägte die politische Kultur der islamischen Zivilisation in Vergangenheit als auch Gegenwart. Heute gibt es islamische Fundamentalisten, die für die Anwendung der Schari'a eintreten. Diejenigen, die die Verneinung der individuellen Menschenrechte betreiben, obwohl sie von der europäischen IslamDiaspora aus agieren, nehmen wiederum diese Rechte für sich instrumentell und einseitig in Anspruch. In Europa sind die Rechtsorgane der beste Schutz der Islamisten. Ich habe große Angst vor der schleichenden Einführung der Schari'a durch europäische Gutmenschen, die als Richter wirken. Meine Gastkommentare hierüber in der Tageszeitung Die Welt nach dem 11. September tragen unter anderem die Überschrift »Europa droht eine Islamisierung« (Die Welt vom 28. Mai 2002, S. 6) und »Der Rechtsstaat schützt Islamisten« (Die Welt vom 12. August 2002, S. 6). Auf der Website des Auswärtigen Amtes ist in einer Rezension von Martin Eberts über mein Buch Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration zu lesen: »Tibi beansprucht auch hier Lösungskompetenz, rät zu ›europäischer Leitkultur‹ und Integration für muslimische Migranten... und wie der von ihm leidenschaftlich befürwortete ›Euro-Islam‹... wird Bassam Tibi wohl die undankbare Rolle weiterspielen müssen, in der er schon Erfahrung hat: die der Kassandra unter den Islamexperten.« (www.auswaertiges-amt. de/www/de/infoservice/download/pdf/planungsstab/bbspr_zuwa nderung.pdf)
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Kapitel 7 Schari'a - was ist das? Ist die Schari'a mit einer kulturpluralistischen Welt der Toleranz und Menschenrechte harmonisierbar?
Mit Belustigung - aber natürlich höflich darauf reagierend vernahm ich am Telefon die Bitte eines hochrangigen deutschen Richters, ich möge ihm eine »gute Übersetzung der Schari'a« empfehlen. Der Richter war in seiner Arbeit an einem Gerichtsurteil mit dem Gegenstand konfrontiert und wollte sich informieren. Er wusste ganz eindeutig nicht, was die Schari'a ist, denn er verglich das BGB mit der Schari'a. Die Schari'a ist nach dem Koran »Moralität« und erst postkoranisch, auf der Interpretation von Koran und Hadith (Überlieferung des Propheten) basierend, als islamisches Rechtssystem konstruiert worden; sie ist also kein kodifiziertes Recht. Wir müssen also von der Schari'a als einem interpretativem Recht sprechen - im Gegensatz zum westlich legislativen Recht.1 Im Früh- und Hochislam hatten die Koraninterpretationen, aus denen die Schari'a hervorging, ein hohes intellektuelles Niveau, heute beruhen sie schlicht auf Apologetik und Willkür, wie beispielsweise die Schari'a-rechtlichen Rang beanspruchenden Fetwas (islamisches Rechtsgutachten) von Ayatollah Khomeini (1989) und dem Fundamentalisten-Scheich Mohammed al-Ghazali (1993) illustrieren. In einem Artikel in der Tageszeitung Die Welt habe ich unter dem Titel »Der Rechtsstaat schützt Islamisten«2 die fehlgeleitete, weil unauf-267-
geklärte Toleranz der deutschen Justiz in Bezug auf die Duldung alles Fremden beanstandet. Auf der Basis der »verordneten Fremdenliebe« wird im Rahmen solcher Gesinnungsethik »der Fremde« quasi mystisch glorifiziert. Jede Abweisung des anderen wird auch dann als »Fremdenfeindlichkeit« und manchmal als Rassismus verfemt, wenn solche Grässlichkeiten wirklich nicht vorliegen. Selbst mein hochverehrter Lehrer Jürgen Habermas, dessen Philosophischer Diskurs der Moderne zu meinem Kompass gehört, scheint sich von diesem Trend mitziehen zu lassen; er empfiehlt in seiner Berliner LeibnitzRede vom Juni 2002, »die fremde Wahrheit« im Rahmen der Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten zu akzeptieren. Denn, so der Bericht über das Referat von Habermas, »die fremde Wahrheit bedeute für den anderen immer eine Zumutung. Doch gerade die Zumutung mache Toleranz umso nötiger«.3 Für orthodoxe Muslime und - in einer Steigerung - für Islamisten basiert die islamische Wahrheit auf dem Koran. Ist diese »Zumutung« hinzunehmen? Ich denke nicht! Ich bin selbst ein Muslim und lehne die Schari'a in der Bedeutung von Recht ab. Ich riskiere hierfür mein Leben, da auch ich nach der alGhazali-Fetwa als Apostat gelte und als Konsequenz daraus getötet werden müsste, denn mit dem Vorwurf der Apostasie steht für Islamisten fest, dass ich kein Muslim mehr bin. Die in der Fetwa enthaltene Exkommunikation ist nicht nur ein Angriff auf die Religionsfreiheit, sondern auch eine Gefährdung des Lebens und somit eine schwer wiegende Verletzung der Menschenrechte. Mit der Duldung dieser Intoleranz beginnt die Erosion der individuellen Menschenrechte. Als Aufklärer erkläre ich zuerst, was Schari'a ist und wie sie entstand. Ich leite dies auf orientalische Art mit einer tragischen Geschichte aus Saudi-Arabien ein. Saudi-Arabien und sein Export der Schari'a
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Im hungernden Afrika haben sich die Saudis während ihrer »fetten« ölreichen Jahre als »Humanisten« präsentiert und dort großzügige Entwicklungshilfe geleistet. Bei näherer Betrachtung erweist sich der saudisch-wahhabitische »Humanismus« als eine Politik des Exports der Schari'a. Nur jene Länder Afrikas mit islamischer Bevölkerung haben saudische Entwicklungshilfe bekommen, die entsprechende Maßnahmen zur Anwendung der Schari'a ergriffen haben.4 Kurz: Nicht menschliche Not war das Vergabekriterium, sondern die Anwendung der Schari'a. So lässt sich auch erklären, warum westeuropäische Länder obwohl nicht arm - zu Empfängern saudischer Entwicklungshilfe gehören. Dies geschieht etwa im Bildungsbereich mit dem Ziel des Aufbaus von »Bildungsinstitutionen« wie der FahdAkademie in Bonn und durch Förderung zahlreicher Moscheen mit islamischen Zentren, die die Indoktrination der Migranten betreiben. Der saudisch finanzierte Islamische Weltkongress schreibt für die europäischen Diaspora-Muslime »die Anwendung der Schari'a als Richtschnur im Leben der Muslime« (vgl. Motto zur Vorrede) vor. Es ist Aufklärung und kein »Feindbild Islam«, offen über solche Dinge zu sprechen. Aus Saudi-Arabien stammten 15 der 19 Terroristen vom 11. September 2001. Es ist auch das Herkunftsland Osama Bin Ladens. In jener Öl-Monarchie befürworteten laut einer vertraulichen saudischen Studie 95 Prozent der zwischen 25 und 41 Jahre alten befragten Saudis den al-Qaida-Terroranschlag vom 11. September 2001 und heißen die antiwestliche Orientierung des Saudis Osama Bin Laden gut.5 In der wahhabitischen Monarchie gilt die Schari'a, welche die »Apartheidspolitik« (Gender-Apartheid) zwischen den Geschlechtern legitimiert, die zu folgender Tragödie geführt hat: Im Juli 2002 brach nachts Feuer in dem Mädcheninternat Nr. 31 der heiligen islamischen Stadt Mekka aus. In diesem Internat waren 750 Mädchen im Alter von 13 bis 17 Jahren buchstäblich verwahrt (nur wenig Unterricht!). Entsprechend der »Schari'a-269-
Apartheidspolitik«, die Männer und Frauen strengstens separiert, war das Internat beim Feuerausbruch wie ein Gefängnis verriegelt. Dennoch gelang es einigen Mädchen auszubrechen und sich so vor dem sich ausbreitenden Feuer zu retten. Haarsträubend ist die Tatsache, dass die für die Einhaltung der Schari'a zuständige wahhabitische Sittenpolizei Mutawa schneller als die Feuerwehr vor Ort war und mit Gewalt die Geschlechtertrennung durchsetzte; in Saudi-Arabien - wie auch anderswo - sind Feuerwehrleute Männer, aber sie dürfen keine Frauen anfassen, auch nicht, um deren Leben zu retten. Außerdem waren die mehr um deren Leben als um die Einhaltung der Schari'a-Vorschriften besorgten Mädchen bei der Flucht unverschleiert. Die Mutawin (Angehörige der Mutawa) drängten sie in das brennende Internat zurück. Das Magazin Newsweek berichtete über diesen Vorfall wie folgt: »Nach Augenzeugenberichten... hat die Mutawa..., deren Aufgabe darin besteht, die Kopfbedeckung für Frauen sowie Geschlechtertrennung zu erzwingen, gegen den Zivilschutz gekämpft und ihn daran gehindert, das Gebäude zu betreten... Die flüchtenden Mädchen wurden gezwungen, zurückzukehren, weil sie ohne Kopfbedeckung waren; sie sollten sich verschleiern.«6 Das Feuer war ebenso erbarmungslos wie die saudischwahhabitische Mutawa und hat diese Mädchen verschlungen, ehe sie ihre Hidjab (Schleier der Frau) fanden. Können wir in Europa solche Zumutungen der Schari'a hinnehmen? Die saudische Politik der Islamisierung ist ein Fakt und hierfür fließen - trotz des Rückgangs der Petro-Dollar-Einnahmen - sehr großzügig Millionen Dollars nach Europa und in andere Länder. Es ist falsch, diese Petro-Dollar-Politik als Ursache für den Islamismus anzugeben.7 Aber ohne die Finanzspritzen Saudi-270-
Arabiens und anderer Golfstaaten hätten die Islamisten in aller Welt die Anwendung der Schari'a weitaus weniger propagieren können. Trotz der Förderung des Islamismus ist Saudi-Arabien kein fundamentalistischer Staat, sondern eine Monarchie des orthodoxen Islam, deren Legitimation die hanbalitische, also strengste Rechtsschule der Schari'a ist. Nun gibt es andere Spielarten des Islam und wir sollten diese Weltreligion nicht mit dem wahhabitischen Schari'a-Islam Saudi-Arabiens gleichsetzen. Doch ist jenes Muster weltweit einflussreich und für Europa angesichts einer wachsenden islamischen Diaspora eindeutig eine Bedrohung. Wie Gilles Kepel berichtet, wurde die Verletzung der Menschenrechte während der Kampagne gegen Rushdie, die auch in der IslamDiaspora betrieben wurde, von Saudi-Arabien unterstützt.8 Unter Anspielung auf solche Fakten wurde für ein aus dem Forschungsprojekt »Islam and the Changing Identity of Europe« hervorgegangenes Buch die Alternative zur europäischen IslamDiaspora als Buchtitel formuliert: Muslim Europe or EuroIslam.9 Wird der Islam europäisiert und mit Menschenrechten kompatibel gemacht? Oder wird Europa durch die Schari'a islamisiert? Kann Europa diese »fremde Zumutung« tolerieren, ohne sich aufzugeben? Ich hoffe, dass sich meine Leser die authentische Geschichte aus Saudi-Arabien stets vergegenwärtigen, während sie meinen nun folgenden Versuch lesen, im Einzelnen zu erklären, was Schari'a bedeutet. Vorab will ich darlegen, dass es falsch ist, wenn Menschen im Westen, weil sie nicht wissen, dass jede Zivilisation ihre eigene Rechtstradition hat, glauben, es gäbe nur ein Rechtsverständnis, nämlich das ihrige.10 Aus den unterschiedlichen Rechtsverständnissen wachsen Zivilisationskonflikte. Der Grund für das Übersehen der angeführten Vielfalt ist jedoch nicht nur ein Mangel an Wissen, sondern auch die welthistorische Realität europäischer Expansion, in deren Rahmen Europäer nicht nur die Struktur ihres Modells -271-
globalisiert, sondern auch versucht haben, ihr Rechtsverständnis zu universalisieren.11 Während der »Revolte gegen den Westen«12 versuchen politische Aktivisten und Ideologen nichtwestlicher Zivilisationen - wie zum Beispiel die Islamisten oder Hindu-Fundamentalisten - ihre Welt von westlichen Einflüssen zu reinigen, also zu entwestlichen. Das ist der Hintergrund der Neubelebung der Schari'a in der Welt des Islam. Saudi-Arabien verwendet seinen, wenngleich schrumpfenden, Öl-Reichtum zur Förderung dieser Zwecke. Nun ist die Schari'a nicht mit Pluralismus, Toleranz und Menschenrechten vereinbar.13 Um dies zu begründen, werde ich westlichen Lesern die Schari'a vorstellen. Hierbei will ich sie mit der Tatsache vertraut machen, dass es im Koran kein Rechtssystem namens Schari'a gibt. Dies ist ein postkoranisches Konstrukt. Die Folge ist: Es gehört nicht zu religiöser Toleranz, die Schari'a als »fremde Zumutung« zu dulden oder gar zu respektieren. Mein Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass Menschen Rechtsstrukturen benötigen, um ihr Leben zu ordnen. Hierauf basiert das Konzept des Rechts.14 Mit der Veränderung der Lebensbedingungen wandeln sich entsprechend auch rechtliche Ordnungsvorstellungen. Kurz: Recht gehört also zu den Kulturmustern, die dem sozialen Wandel unterliegen, ja ihn selbst prägen können, obwohl sie umgekehrt auch dessen Produkt sind. Im Islam allerdings scheint der kulturelle Wandel nicht mit dem sozialen Wandel einherzugehen.15 Denn nach orthodoxislamischem Glauben ist das Recht göttlich, das heißt definitiv, und darf sich daher nicht verändern. Entsprechend sieht es in der islamischen Zivilisation so aus, als würde sich die kulturell geprägte Weltsicht der dortigen Menschen offenbar nicht parallel zu den sich wandelnden sozioökonomischen Strukturen verändern. Das bedeutet, dass soziokulturelle Systeme als Quelle der Weltanschauung sich als resistent gegenüber dem Wandel erweisen können. Westliche -272-
Sozialwissenschaftler glauben an ein Verhältnis von Sozialstruktur und Kultur, aber der Rechtsislam bietet ein unübertreffliches Paradebeispiel für die Widerlegung dieses westlichen Glaubens. Es gehört zu den Grundzügen des islamischen Religionssystems, dass es nicht dem Wandel unterliegt, eben weil Recht in der Form der Schari'a als ein Bestandteil der Offenbarung den Status einer konstanten, das heißt überzeitlichen und überräumlichen Wahrheit für die gesamte Menschheit beansprucht. Natürlich behaupte ich nicht, dass dies die gesellschaftliche Wirklichkeit ist, aber ich nehme den Anspruch ernst. Saudi-Arabien ist ein Musterbeispiel für die Resistenz gegen den Wandel:16 Seit der Gründung der wahhabitischen Öl-Monarchie sind unzählbare Milliarden USDollars - mit allen Nebenwirkungen der erfolgten Modernisierung - ins Land geflossen. An der Geltung der Schari'a vermochten sie aber nichts zu ändern! Islam, Schari'a und Recht Im Wesentlichen wird die Schari'a von den Ulema (islamischen Schriftgelehrten) als ein Rechtssystem, das für alle Lebensbereiche (einschließlich der Sexualität) strenge Vorschriften bereithält, gedeutet. Kritisch denkende westliche Juristen haben gefragt, ob die Schari'a nicht eher eine Methode zur Rechtsfindung sei.17Andere deuten sie als Ethik,18 während Reform-Muslime für eine Reformation eintreten.19 Islamisten wollen die Schari'a jedoch als islamisches Recht einer Staatsordnung deuten, das keine Trennung von »öffentlich« und »privat« zulässt. Das ist der Anspruch des politischen Islam.20 Für die Islamisten ist die Schari'a ein Ausdruck religiöser Vorschriften, die als Faraid (Pflichten) gelten; sie bestimmen sämtliche Handlungen der Menschen. Anlässlich eines internationalen christlich-islamischen Dialogs insistierte der einstige islamische Oberrichter Pakistans A. B. Brohi, der -273-
seinerzeit zugleich Rechtsberater des blutrünstigen pakistanischen Diktators Zia ul-Haq und islamischer Rechtsprofessor war, darauf, dass die Schari'a unveränderbar sei und in keiner Weise dem Wandel unterliege.21 Die Quellen der Schari'a im Verständnis eines islamischen Rechts sind der Koran und der Hadith; beide sind arabischsprachige Verkündungen. Der Islam hat von seiner geschichtlichen Ausformung her einen primär arabischen Charakter. Diese Aussage ist keineswegs arabozentrisch, da es zur theologischen Bestimmung des Islam gehört, dass seine Schrift, das heißt der Koran und seine Rituale (unter anderem das Gebet) nur in arabischer Sprache rezitiert beziehungsweise gepflegt werden dürfen. Auch hat ein guter Muslim in der Regel einen arabischen Namen, ganz gleich, ob er nun Chinese oder Schwarzafrikaner ist. Arabisch ist deshalb auch die Sprache des Islam,22 so wie Latein die Sprache der Christenheit vor der Reformation war. Die arabische Sprache war schon in vorislamischer Zeit - wie die Dichtung dies belegt - eine entwickelte Schriftsprache. Doch wird der Koran von Muslimen als der Höhepunkt der Entwicklung arabischer Sprache gedeutet; seitdem wird jedes Arabisch an der Sprache des Koran gemessen und ist generell als Sakralsprache bestimmt. Die Mehrheit der 1,5 Milliarden Muslime ist jedoch nicht arabisch. Nicht mehr als etwa 240 Millionen Muslime der Umma (Gemeinschaft aller Muslime) sind Araber. Dennoch behält der Islam, vor allem im Bereich des Rechts, hier der Schari'a, sein arabisches Gesicht als Zentralität, womit ich den Arabozentrismus meine. Islamgelehrte sind Rechtsgelehrte, die ohne Arabischkenntnisse ihr Handwerk nicht erlernen können. Im Frühjahr 1993 habe ich im fernen zentralasiatischen Buchara in der Mir-i-Arab Medrese erlebt, wie sich usbekische MullahSchüler mit der Erlernung der arabischen Sprache quälen müssen. Denn ein islamischer Mullah, der kein Arabisch kann, ist wie ein Arzt, der nie Medizin studiert hat. Selbst die -274-
schi'itisch-iranischen Mullahs, die Araber nicht mögen, müssen bei ihrer Ausbildung im islamischen Recht Arabisch lernen. Schari'a als Recht ist der Komplex der theologischweltlichen Bestimmung des Islam. Koranisches Arabisch ist die Sprache, das Ausdrucksmittel des kulturellen Systems des Islam. Islamische Erziehungsstätten sind zudem der Ort der Vermittlung dieser religio-kulturellen, in arabischer Sprache gepflegten Tradition, ganz gleich ob dies in Usbekistan, im fernen Indonesien oder auch in der türkischen Islam-Diaspora Deutschlands geschieht. Die Institution der Madrasa (Erziehung)23 ist - neben jener der Rechtsfindung - die Schlüsselinstitution im Islam. Auch sie unterliegt dem Wandel und auch in ihr gibt es Konflikte zwischen dem durch sie vermittelten islamischen Modell für die Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst. Der Einbruch der technisch-wissenschaftlichen Errungenschaften der westlichen Zivilisation in den islamischen Orient potenziert die Krise der islamischen Bildung; sie hat jedoch Vorläufer, etwa im Konflikt zwischen hellenisierter Falsafa (Philosophie), das heißt dem islamischen, vom griechischen Erbe beeinflussten Rationalismus, und der dieser Hellenisierung feindlich gesinnten Fiqh, das heißt der islamischen textgläubigen Sakraljurisprudenz.24 Kurzum: Rationale Philosophie und religiöse Orthodoxie sind traditionelle Feinde in der islamischen Geschichte, ebenso wie sich heute Reform-Islam und Islamismus zueinander verhalten. Was hat dies nun mit Recht zu tun? Als Erstes können wir festhalten: Im islamischen Orient bedeutet Recht Sakralrecht. Nach diesem Verständnis darf es keine Rechtsentwicklung geben, weil das Dogma gilt, dass das Recht geoffenbart, also göttlichen Ursprungs sei. Dennoch ist das von Menschen geschaffene moderne europäische Recht, welches überwiegend legislativ und in Gesetzbüchern kodifiziert ist, in islamische Länder eingedrungen. Sakralrecht aber ist göttlich vorgegeben. Am Beispiel seines Landes zeigt der -275-
ägyptische Islam-Reformer al-Aschmawi, wie es dann zu einem Dual-Recht kommt.25 Doch nach der Schari'a darf die Rechtsfindung nur interpretativ erfolgen. Zwischen interpretativem und legislativem Recht existieren Ähnlichkeiten in deren Anwendung: Auf der rechtspraktischen Ebene wird der Korantext wie auch deutsches Recht von Juristen rechtsdogmatisch gehandhabt, mit dem Unterschied, dass die Schari'a weder kodifiziert ist noch eine vom Herrscher autonome Rechtsinstitution hat. Mit anderen Worten: Weil die Schari'a nicht kodifiziert werden kann und interpretativ bleiben muss, ist sie für jede willkürliche Urteilsbildung, so zum Beispiel im Falle des gegen Rushdie ausgesprochenen Todesurteils, offen. Der Führer der islamischen Gemeinde in London, Kalim Siddiqi, hat seine mangelnde Bereitschaft, darüber zu diskutieren, warum Salman Rushdie getötet werden müsse, lapidar damit erklärt, dass es sich »lediglich [um, B.T.] ein Todesurteil nach göttlichem Recht«26 handele. Damit erübrigte sich jede weitere Begründung. Dieses Verständnis von Schari'a als rigidem Recht hat die Muslime in der Vergangenheit in ihrer Entwicklung behindert und heute steht es ihnen dabei im Wege, sich Toleranz, Pluralismus und Menschenrechte anzueignen. Schari'a wird als Recht tradiert und Recht gehört zur Kultur. Früher hat man diese Dimension unterschätzt und so wurden zum Beispiel bei Unterentwicklung nur politische und sozioökonomische Faktoren berücksichtigt und kulturelle Determinanten völlig außer Acht gelassen. Die Schari'a in der modernen Welt Mit der Gründung moderner Staaten in der Welt des Islam stellte sich die Frage, ob dort ein dem modernen europäischen Recht entstammender Rechtsbegriff auch auf das Sakralrecht, das heißt auf die Schari'a in diesem Verständnis, übertragbar -276-
wäre. Mit anderen Worten: Lässt sich das islamische Rechtsverständnis durch einen zeitangepassten und interkulturell bereicherten Rechtsbegriff erneuern oder muss die so verstandene Schari'a als ein Residuum vormoderner Zeiten bewertet und somit abgelegt werden? Letzterem steht jedoch die Tatsache gegenüber, dass sich heute zum einen der Rückgriff auf die Schari'a-rechtlichen Bestimmungen in den islamischen Ländern einer Neubelebung erfreut und sich zum anderen das positive Recht in der Welt des Islam auf dem Rückzug befindet! Die Neubelebung der Schari'a, ja gar der Ruf nach ihr auch im Westen durch die Islam-Diaspora ist alarmierend und muss sehr ernst genommen werden. »Fremde Wahrheiten« können fürchterliche Folgen haben! Das Wiederbeleben der Schari'a betrifft gleichermaßen die Muslime und ihre nichtmuslimischen Nachbarn. Muslime können nicht auf die Schari'a zurückgreifen und die Lebensbedingungen der modernen Welt einfach übersehen. Also ergibt sich die Frage: Kann eine Reform der Schari'a und eine wünschenswerte Flexibilisierung des islamischen Rechtsverständnisses eine Anpassung der im Islam vorherrschenden Kulturmuster an die kulturelle Moderne bewerkstelligen und somit eine Lösung des Problems bieten? Diese Frage betrifft den Weltfrieden, denn Weltfrieden setzt die Anerkennung eines Minimums an rechtlichem Konsens zwischen den Zivilisationen voraus, die alle ihre eigene Rechtstradition haben. Diese Frage nach den Möglichkeiten des Weltfriedens trotz unterschiedlicher Rechtstraditionen muss im Kontext des Bedarfs nach einer »Hausordnung« für die gesamte Welt unter den Bedingungen der Globalisierung erörtert werden. Der Islam existiert nicht allein auf dieser Welt. Bis heute ist aber die alte islamische Teilung der Welt in Dar al-Islam (Haus des Islam) als Dar alsalam (Haus des Friedens) und den Rest der Welt als Dar alharb (Haus des Krieges) nicht revidiert worden.27 Die Nichtmuslime können diese Dichotomie nicht hinnehmen; es ist -277-
keine Beruhigung, dass es eine dritte Rechtssphäre, das Dar alahd (Haus des Vertrages), als Friedenssphäre gibt. Denn diese gilt nur temporär, solange die Muslime schwach sind. Auf der Basis des islamischen »Völkerrechts« kann es keinen Weltfrieden mit Nichtmuslimen als Gleichberechtigten geben.28 Weltfrieden erfordert ein Rechtsverständnis, das von der gesamten Menschheit, unabhängig von der jeweiligen Religion, geteilt wird. Nun ist der Ausgangspunkt für diese Erörterung die Feststellung, dass kein universelles Rechtsverständnis existiert. So gibt es beispielsweise keine genügend fundierte Übereinstimmung zwischen westlichem und islamischem Rechtsverständnis. Ein interkultureller Vergleich zwischen beiden führt zu dem Ergebnis, dass eine Harmonisierung der Sichtweise des islamischen Rechts mit einer Rechtsphilosophie der Moderne kaum möglich ist, weil die beiden zugrunde liegenden Weltanschauungen sehr weit auseinander driften. So gilt das islamische Recht als eine alle Bereiche des Lebens umfassende Pflichtenlehre göttlichen Ursprungs, während die moderne Rechtsphilosophie nach allgemein gültiger Erkenntnis und nach Begründung des Wesens der Menschen strebt und am Fortschritt orientiert ist. Die vorläufige Zwischenbilanz wäre demnach, dass das Rechtsverständnis in der islamischen Zivilisation von dem in Europa erheblich abweicht. Ein Element dieses Unterschieds lässt sich am Beispiel der Rechtssprache beider Zivilisationskreise illustrieren, mit dem ich dem westlichen Leser einen Einblick in die Schari'a vermitteln möchte. Von der europäischen rechtssprachlichen Tradition ausgehend, weiß der westliche Leser, dass in der Rechtssprache die Aussageform dominiert. Im islamischen Recht dagegen herrscht die Anweisungsform vor. Wir haben hier das genaue Gegenteil des europäischen Rechtsdenkens vor uns, da die rechtssprachliche Anweisungsform, zum Beispiel bei der Unterscheidung zwischen Halal und Haram, also zwischen dem -278-
nach der Schari'a Erlaubten und Verbotenen, den absoluten Vorrang hat. Bei den Islamisten, zum Beispiel ihrem Wortführer al-Qaradawi, wird diese Unterscheidung noch potenziert.29 In unserer modernen Welt haben wir zwar ein Völkerrecht, das aber, wie schon angeführt wurde, ein europäisches Recht ist.30 Seitdem sich die Konfliktpotentiale zwischen den unterschiedlichen Zivilisationen verschärfen, gerät der internationale Konsens über Rechtsnormen und somit auch das säkulare Völkerrecht in eine Krise. Wir wissen nun hinlänglich, dass ohne gemeinsame Rechtsbasis diese Welt nicht nur im Unfrieden wäre; sie würde der Barbarei und der nackten Gewalt ausgeliefert sein. Diese Überlegung motiviert die Suche nach gemeinsamen Plattformen kulturell unterschiedlicher Rechtsverständnisse im Sinne der Etablierung eines internationalen, auch rechtlich verankerten Konsenses. Ohne einen Minimalkonsens zwischen den unterschiedlichen Kulturen unserer Welt kann es keinen Weltfrieden geben. Diese angestrebte Plattform wäre die substantielle Ausfüllung der Prinzipien, die in der in gewisser Hinsicht postulativen UNO-Charta enthalten sind. Dazu gehören die Werte, die in der Universellen Deklaration der Menschenrechte enthalten sind. Problematisch ist die Integration der neuen Staaten in eine internationale Rechtsordnung, an deren Gestaltung sie nicht mitgewirkt haben und die ohne sie zustande gekommen ist. In diesem Sinne gehört die Wiederfindung der Schari'a zu der problematischen Frage, ob die islamische Zivilisation in eine auf säkularem Völkerrecht basierende Weltgemeinschaft integriert werden kann. Juergensmeyer hat in seinem Buch über den neuen Kalten Krieg zwischen dem Westen und den religiösen Nationalismen vormoderner Kulturen gezeigt, dass der Islamismus nur eine Variante eines umfassenderen globalen Phänomens darstellt.31 Diesem neu entfachten Kalten Krieg zwischen den rivalisierenden Zivilisationen kann nur durch eine Pluralität -279-
miteinander kommunizierender Kulturen begegnet werden. Einen Dialog können diese Zivilisationen auf der Basis einer »Ethik internationaler Beziehungen«32 als Wertekonsens - ich nenne diese internationale Moralität33 - führen. Eine fundamentalistisch oder orthodox orientierte islamische Rechtslehre steht dem im Wege, weil ihre Anhänger die alte islamische Lehre der Pax Is-lamica anstreben, der zufolge die Welt, wie schon zitiert, nur aus zwei Regionen besteht - dem Dar al-Islam, also Haus des Islam (sprich des Friedens), und dem Dar al-harb, Haus des Krieges. Nach dieser Lehre ist der Krieg mit dem außerislamischen Territorium gerechtfertigt. Das ist keine Lösung der globalen Krise unserer Welt. Diese Lehre von der islamischen Dominanz ist also keine Alternative zur westlichen Hegemonie und sie erschöpft sich heute - angesichts des Fehlens realer Grundlagen - in einer antiwestlichen defensiv-kulturellen Rhetorik des Islamismus, der allerdings am 11. September 2001 zur Tat überging. Wir dürfen diese Gefahr nicht länger herunterspielen. Weltfrieden auf der Basis einer interkulturellen Pluralität erfordert die Entschärfung der Konfliktpotentiale zwischen den Zivilisationen. Diesem Ziel steht das islamische Rechtsverständnis der Scbari'a im Weg. Nur ein modernes, den heutigen Bedingungen angepasstes Verständnis des islamischen Rechts würde den Weg für eine andere Auslegung öffnen. Anders formuliert: Im Interesse des Weltfriedens und der interkulturellen Pluralität besteht Bedarf nach einem ReformIslam, der eine Bewältigung der kulturellen Moderne zulässt. Deshalb sind Anstrengungen für eine radikale Reform des islamischen Rechts, die die Muslime von der Willkür der Schari'a befreit, vonnöten.34 In diesem Kapitel über die Schari'a steht der Gegenwartsbezug im Mittelpunkt. Dennoch ist der Prozess ihrer Entstehung zentral für das Verständnis. Deshalb werde ich im Folgenden den Versuch unternehmen, die Elemente der Schari'a -280-
zusammenzustellen. Im Anschluss daran werde ich über Wege zur Flexibilisierung des islamischen Rechtsverständnisses als mögliche Zukunftsperspektive nachdenken. Der historische Hintergrund des islamischen Rechts Die Schari'a und ihre Lehren bestimmen die Weltsicht der Muslime. Um islamisches Recht als eine Pflichtenlehre besser zu verstehen, müssen wir zum Vergleich auf die Geschichte der vorislamischen Zeit zurückgreifen. Das vorislamische Arabien (die arabische Halbinsel) hatte kein Staatswesen; es bestand vielmehr aus miteinander verfeindeten arabischen Stämmen, die durch die wirtschaftliche Nutzung des Kamels, aber auch durch die Eroberung und Beraubung der Handelskarawanen (die Ghaza-Aktionen) ihr Überleben sicherten. In diesem nach Stämmen unterteilten Beduinen-Milieu konnte keine materiell entwickelte Zivilisation und folglich auch kein formales Rechtssystem entstehen. Der Beduine kennt das abstrakte Denken nicht, »er ist ein Realist und das harte Leben in der Wüste hat ihn nicht so sehr auf das Nachdenken über das Unendliche vorbereitet«,35 schreibt der bedeutende französische Islamologe Maxime Rodinson in seiner Darstellung der vorislamischen arabischen Kultur. Aber neben der nomadischen Sozialorganisation der Stämme kannte das vorislamische Arabien zwei relativ entwickelte städtische Handelszentren, Mekka und Medina, aus denen der Islam hervorging und die bis heute seine religiösen Zentren bilden. Aus diesem Grund kann die islamische Religionsstiftung, wie ich an anderer Stelle gezeigt habe,36 als Ausbreitung einer städtischen Kultur zu Ungunsten der anarchischen Stämme interpretiert werden. Dennoch muss angemerkt werden, dass es weder in der nomadischen noch in der städtischen Komponente der vorislamischen arabischen Kultur eine Tradition des geschriebenen Rechts gab. Das vorherrschende Recht war bei -281-
den damaligen Stämmen parallel zur Abwesenheit eines Staatsgebildes primär ein primitives 'Urf (Gewohnheitsrecht), zu dessen Bestandteilen die Vendetta (Rache: Auge um Auge, Zahn um Zahn) gehörte. In den beiden städtischen Zentren, Mekka und Medina, wurde das soziale Leben durch eine - allerdings entwickeltere - Form des Gewohnheitsrechts geordnet, auch wenn dort die Vendetta weiterhin galt. Die Geschichte der islamischen Religionsstiftung ist nicht bloß eine spirituelle Religionsgeschichte. Sie war - nach der mekkanischen Phase (610-622) - mit der Gründung eines islamischen, staatlich organisierten Umma-Gemeinwesens wohl nicht eines Staates - in Medina eng verbunden. Die Geburt einer neuen Rechtstradition erfolgte erst nach dem Tod des Propheten unter dem Namen Schari'a-Recht im Laufe des 8. Jahrhunderts. Das neue islamische Recht, die Schari'a, wird als ein göttliches Recht betrachtet und zur Substanz des Islam erklärt. So schreibt der herausragende Schari'a-Historiker Joseph Schacht: »Es ist nicht möglich, den Islam ohne sein Rechtssystem adäquat zu verstehen«,37 und weist sehr richtig darauf hin, dass die islamischen Theologen nie den Rang der Fiqh-Gelehrten haben erreichen können. Fiqh bedeutet Wissen; aber juristisches Wissen ist im Islam das Wissen par excellence. Die Bezeichnung 'Alim bedeutet im Arabischen Wissenschaftler (Plural Ulema). Die Ulema waren in der islamischen Geschichte stets die Träger des Schari'a-(Rechts-) Islam, der - wie ich schon in Kapitel l gezeigt habe - immer im Widerstreit mit dem sehr spirituell ausgerichteten Sufi-lslam (mystischen Islam) stand, aber stets die Oberhand behielt. Der Sufi-lslam ist in der Realität der islamischen Geschichte zum Volksislam geworden und mit in die Alltagskultur eingegangen. Islamische Rechtsgelehrte wollten das Leben aller Muslime der Anweisungsform des von ihnen interpretierten Korans als einer Lehre von Faraid (Pflichten) unterwerfen. Der Rechts-Islam dominierte in den Städten (zum Beispiel in den Königsstädten -282-
Marokkos im Küstenstreifen), während der lockere Volksislam seine Zuflucht in den Bergen (zum Beispiel im Atlas-Gebirge) suchte und primär auf dem Lande gedieh. Kurz: Ebenso wie es im Hochislam einen Konflikt zwischen islamischem Rationalismus und Schari'a-Islam gab, ist die islamische Geschichte auch gekennzeichnet von einer Spannung zwischen Schari'a-Islam und Sufi-Islam. Entwickeltes Recht benötigt eine Schriftsprache. Zwar war die vorislamische arabische Kultur nicht schriftlos, doch war der Koran das erste große schriftliche Dokument, auf dessen Basis sich seinerzeit eine arabische Hochkultur entwickeln konnte. Der Koran, der zwischen den Jahren 610 und 632 (Todesjahr Mohammeds) offenbart wurde, bildet die erste Primärquelle des islamischen Rechts. Neben dem Koran ist der zweite Pfeiler die Sunna, die auf dem schriftlichen Hadith, der zweiten Primärquelle, basiert. Als komplementäre Sekundärquellen dieser beiden Elemente werden noch zwei weitere Bestandteile des islamischen Rechts anerkannt: der Idjma' (consensus doctorum) und der Qiyas (Analogieschluss). Das islamische Recht erkennt temporär auch die selbständige Rechtsfindung als Idjtihad an, worauf ich später näher eingehen werde. Die offenbarte koranische Wahrheit wird im Islam als - über Zeit und Raum hinweg - ewig gültig und somit unveränderbar angesehen. Das aus dieser Wahrheit abgeleitete islamische Recht ist integral und beansprucht somit, sämtliche Lebensbereiche zu umfassen; es geht also von einem Verständnis des Islam als einer integralen Religion aus. Die Weltsicht der Muslime ist in diesem Sinne theozentrisch ausgerichtet, das heißt, die Offenbarung Gottes als das Gesetz des Kosmos dient dazu, die Welt zu kontrollieren, so dass den Menschen nur ein geringer Handlungsspielraum bleibt. Wie ich bereits in der Einleitung gezeigt habe, steht Allah im Islam im Zentrum der Welt und der Mensch ist nur ein Makhluq (Geschöpf), das vom göttlichen Willen gesteuert wird; -283-
entsprechend kennt es kein Bewusstsein eigener Fähigkeiten, eigenen Könnens. Ein »Könnens-Bewusstsein«38 gibt es im Islam nicht. Dies bildet die Substanz der islamischen Weltanschauung, die beim Übergang zur Moderne erschüttert wird und dennoch persistent bleibt.39 Die bisherige Geschichte des islamischen Rechts kann nach den Forschungen von Coulson in drei Phasen eingeteilt werden: Die erste umfasst die Entwicklung der islamischen Religionsstiftung vom 7. bis zum 9. Jahrhundert und kann die Gründungsphase genannt werden, in deren Verlauf sich schrittweise, jedoch erst nach dem Tod des Propheten und dem Ende der Offenbarung, ein islamisches Rechtssystem herausgebildet hat. Die zweite und längste Phase erstreckte sich vom 10. bis zum 20. Jahrhundert; sie dokumentiert die Rigidität dieses Rechts, insofern die Realität durch das Recht bestimmt und nicht umgekehrt verfahren wurde. Auch in dieser Phase der Stagnation galt das Recht als göttliche Wahrheit für alle Zeiten und für den gesamten Kosmos und durfte in keinem Bereich historisch relativiert werden. Erst im 20. Jahrhundert, als sich im Zuge der Entkolonisation islamische Nationalstaaten bildeten und als souveräne Mitglieder der internationalen Staatengemeinschaft beitraten, wird eine neue, dritte Phase in der historischen Entwicklung des islamischen Rechts eingeleitet. Diese modernen Staaten kamen nicht mehr mit dem klassischen islamischen, nichtkodifizierten Recht aus. Hinzu kommt, dass die islamische Rechtsdoktrin auf historische Bedingungen wie beispielsweise die islamische Zweiteilung der Welt zurückgreift, die in unserem modernen Zeitalter real nicht mehr existieren und dennoch die islamische Wahrnehmung der Welt als Weltanschauung bestimmen. Die Forschung von Schacht und Coulson auf den neuesten Stand bringend, würde ich von einer vierten Phase der islamischen Rechtsgeschichte sprechen. Sie ist aus der Tatsache, dass die Schari'a den neuen Rechtsbedürfnissen offenkundig -284-
nicht entsprechen konnte und parallel dazu die Institution des Nationalstaats im islamischen Orient gescheitert ist, hervorgegangen. Nun wurde wieder die Schari'a auf den Plan gerufen. Heute wird die Islamisierung des Rechts, das heißt die Ablösung des säkularen Rechts durch die Schari'a als Rechtssystem, betrieben40 und das ist das Merkmal unserer Gegenwart als vierter Phase. Nicht nur die entsprechende Rhetorik finden wir bei den Fundamentalisten, auch eine Rechtspraxis ist bereits vorhanden; sie ist ein Zeichen des neuen antiwestlichen, antisäkularen Populismus. Wir sind die Zeitgenossen der vierten Epoche in der islamischen Rechtsgeschichte: der Rückkehr der Muslime zur Schari'a unter den Bedingungen einer globalen Krise im 21. Jahrhundert. Kritische Arbeiten von Reform-Muslimen wie al-Aschmawi,41 die vor der Gefahr des politischen Islam warnen und den Usul-al-schari'a (Ursprung der Schari'a) aufdecken, helfen wenig, weil sie im Mainstream auf Ablehnung stoßen; al-Aschmawi lebt in Kairo unter strengsten Sicherheitsbedingungen, um einfach zu überleben. Wie zeitgemäß ist das islamische Recht? Die Frage, ob das islamische Recht den Erfordernissen der Zeit Rechnung trägt, stellt sich nicht erst seit dem 20. Jahrhundert. Bereits während der Blütezeit der araboislamischen Zivilisation, besonders zwischen dem 9. und dem 12. Jahrhundert, entwickelten sich neue komplexe Sozial- und Wirtschaftsstrukturen, die mit dem Schari'a-Recht nicht hätten reguliert werden können. Dieses Problem wurde durch eine für die arabisch-islamische Geschichte charakteristische Methode, durch legale Umgehung des uneingeschränkt geltenden Rechtsdogmas im Rahmen einer neuen Rechtsgattung, der so genannten Hiyal-Jurisprudenz, gelöst. -285-
Hila (Plural Hiyal) heißt auf Arabisch »Rechtskniff«; diese Praxis zeigt, wie man eine bestehende Rechtsnorm legal umgehen kann. Die islamische Schari'a verbietet zum Beispiel die Zinserhebung; die Hiyal-Jurisprudenz führt in die legalen Wege zur Umgehung dieses Verbots ein. Der Islamwissenschaftler Rodinson, der dieses Phänomen untersucht hat, nennt »die mittelalterliche mohammedanische Gesellschaft... eine ideologische Gesellschaft«42. Täuschung und Selbsttäuschung entsprechend der Hiyal-Jurisprudenz ist die Selbstvergewisserung, dass man fromm bleibt und den Anweisungen der Schari'a folgt. Nicht nur im Rechtsbereich lässt sich diese islamische Eigenart, an Normen und Werte zu glauben, ohne sich daran zu halten, beobachten. Das Verhalten der Menschen, die an ein unveränderbares religiöses Dogma glauben, muss sich im Laufe der Jahrhunderte von dem Dogma entfernen und von ihm abweichen, wenn es nicht neu formuliert und an die neuen Verhältnisse angepasst werden darf. Eine derart dogmatische Rechtsauffassung zwingt die Menschen zur Unaufrichtigkeit, weil sie ihre sich wandelnden Lebensbedingungen mit der unwandelbaren Rechtsnorm im Einklang halten müssen. Da das islamische Schari'a-Recht von seinem Anspruch her nicht historisch bedingt ist und sich selbst als ewig gültig versteht, würde jede Idee einer Rechtsreform von vornherein dem Wesen des Dogmas widersprechen. Der amerikanische OrientSozialwissenschaftler John Waterbury, der heute Präsident der American University of Beirut ist, entwickelte nach seiner langjährigen Forschungsarbeit in Marokko den Begriff des behavioral lag, der die Kluft zu verstehen helfen kann, die zwischen Denken/Glauben und Verhalten aufgrund der nicht möglichen Anpassung des religiösen Dogmas an neue Verhältnisse besteht. Waterbury schreibt nach seiner Zeit in Marokko: »In diesem Sinne ist es wichtiger zu begreifen, was Marokkaner wirklich tun und warum sie es tun, als darauf -286-
einzugehen, was sie von sich angeben und was sie von ihrer Handlung denken würden.«43 Waterbury, mit dem ich während meiner Gastprofessur in Princeton 1986/87 zusammengearbeitet habe, spricht fließend Arabisch und meistert perfekt sowohl den marokkanischen als auch den ägyptischen Dialekt. Ich habe selten einen Menschen aus dem Westen getroffen, der aufgrund seiner Sprachkompetenz so tief in die orientalisch-islamische Seele einzudringen vermag und solch wirklichkeitsnahe Beobachtungen vornehmen kann. Für Europäer ist die Tatsache schwer verständlich, dass die Schari'a gleichzeitig Rechtssystem und Kult ist. So umfasst die islamische Sakraljurisprudenz, die Fiqh, gleichermaßen den 'Ibadat (kultischen Bereich) wie die profanen Mu' amalat (Verkehrsformen); die Schari'a als deren Grundlage ist somit gleichermaßen Kultus wie Rechtssystem, das allerdings sakral ist, weil es in dieser Vorstellung von Gott stammt. Der Islam unterscheidet sich vom Christentum vor allem dadurch, dass er ein allumfassendes, organisches und kein kirchliches Religionssystem und dabei sehr stark diesseitsbezogen ist. Mit organisch meine ich, dass der Islam keine Trennung von Diesseits und Jenseits beziehungsweise zwischen Privatem und Öffentlichem kennt. Die Moschee ist ein Ort des Gebets sowie der politischen Versammlung und keine Institution wie die Kirche. Dies verstehen weder Politiker noch »Kirchenfürsten« in Deutschland, die - zusammen mit den Islamisten die Moschee in eine kirchliche Institution verwandeln wollen.44 Kurzum: Organisch meint hier alle Lebensbereiche - ob öffentlich oder privat - integral erfassend. Dadurch wird auch verständlich, weshalb die Fiqh im Zentrum des Islam steht. Das göttliche Recht beschränkt sich nicht auf die Ordnung der äußeren Dinge des Lebens; es gilt ohne Einschränkung für alle Bereiche. Die islamische Fiqh unterscheidet zwischen den Sachverhalten der Taschri' (Rechtsprechung) und der Taudjih -287-
(Anleitung). Beide Fiqh-Formen beziehen sich auf die Festlegung dessen, was Halal und was Haram sei. Aber während die Taschri', so wie sie in den vier bereits angeführten Quellen des islamischen Rechtsverständnisses unveränderbar feststeht, die äußere Kontrolle über das Einhalten dieser Gebote und Verbote zum Gegenstand hat, bezieht sich die Taudjih auf die Verinnerlichung dieser Normen mittels islamischer Erziehung, also auf das äußerlich durch das Recht nicht kontrollierbare Innere der Muslime. Der libanesische Fiqh-Gelehrte Subhi Salih betrachtet Taschri' und Taudjih als eine Einheit, die er mit rhetorischem Gestus folgendermaßen beschreibt: »Wenn die äußere Form mit der inneren Tiefe vereinigt und koordiniert wird, dann bildet diese Einheit einen Teil der göttlichen Schönheit, die nicht im Sinne von Islam-Abweichlern als Pantheismus missinterpretiert werden darf, sondern als die göttliche Schönheit zu sehen ist, von der der Prophet Allahs..... sprach, als er sagte, Gott liebe die Schönheit.«45 Die Tatsache, dass der Autor der zitierten Worte ein gottesfürchtiger muslimischer Faqih (Sakraljurist) war, den ich während eines islamisch-christlichen Dialogs mit Bewunderung beobachten konnte, bewahrte ihn nicht vor der Ermordung durch schi'itische Gotteskämpfer. Subhi Salih war der sunnitische stellvertretende Landes-Mufti vom Libanon und in Grenzen ein aufgeklärter Muslim. Die Schari'a lebt von der schon vorgestellten Unterscheidung zwischen Halal und Haram45a. Nun stellt sich in unserer Gegenwart erneut die Frage nach dem Inhalt beider Begriffe. Der tunesische Fiqh-Gelehrte Ben Aschur, der sich mit den Maqasid (Zielen) der Schari'a befasst hat, weist auf das Begriffspaar asSalah - al-Fasad, das heißt Bonum - Malum hin. Aus beiden Bestimmungen wird sprachlich al-Maslaha - al-Mafsada, das -288-
heißt wortwörtlich das Interesse und der Schaden, abgeleitet. Ben Aschur definiert nach dieser Begriffsbestimmung: »Das größte Ziel der Schari'a ist die Realisierung des Guten und die Abwehr des Übels.«46 Ersteres ist mit dem Interesse der Umma, Letzteres ist mit deren Schädigung identisch. Die Umma befindet sich im Guten, solange der Islam in den Bereichen der 'Ibadat und Mu'-amalat dominiert, das heißt solange der Kultusbereich und die Verkehrsformen von den Prinzipien der Schari'a kontrolliert werden. Diese Ausführungen zeigen, dass die Schari'a sich nicht auf die Daula (Staat), sondern auf die Umma bezieht. Das ist ein eigentümliches Rechtsverständnis, auf dessen Basis moderne Staaten nicht verwaltet werden können. Nach dem Scheitern des islamischen Modernismus ist aus dieser Spannung zwischen Islam und Moderne der islamische Fundamentalismus hervorgegangen.47 Der erneute Ruf nach der Schari'a zeigt die Grenzen des Rationalismus48 und die Krise, in der sich die islamische Zivilisation befindet. Die Schari'a zwischen den Rechtsvorstellungen Mittelalters und dem Völkerrecht der Moderne
des
Die Einordnung der Schari'a in die islamische Geschichte wirft Licht auf die angesprochenen Zusammenhänge und hilft, sie besser zu verstehen. Die Entfaltung der Schari'a zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert fand parallel zum Prozess der islamischen Eroberungen statt, in dessen Verlauf sich die Pax Islamica von einem Stadtstaat (Medina 622-632) zu einer imperialen Weltgröße ausweitete. Der Prophet Mohammed gründete 622 in Medina ein Gemeinwesen, nachdem er mit seinen Anhängern Mekka verlassen hatte. Das Jahr 622 gilt als Hidjra, also als Beginn der islamischen Zeitrechnung. Bereits zu Mohammeds Lebzeiten umfasste die Pax Islamica fast die ganze -289-
arabische Halbinsel; schon im 8. Jahrhundert verfügte der Islam mittels der durch Eroberungen betriebenen Islamisierung über ein Weltreich. Die Schari'a, die in dieser Zeit als Rechtssystem konstruiert wurde, war also nicht nur mit Problemen der Regulierung der zivilrechtlichen Angelegenheiten, sondern auch und sogar primär mit den Problemen von Krieg und Frieden zwischen dem Dar al-Islam und seiner Umwelt konfrontiert. Islamische Fiqh-Gelehrte, wie zum Beispiel Sabir Tuaima, vertreten die Auffassung, dass die Schari'a die grundlegende Formulierung des Völkerrechts schlechthin biete: »Das Grundlegende am Islam ist, dass er die Religion ist, die für die gesamte Menschheit bestimmt ist. Die Muslime haben daher die Pflicht, zum Islam aufzurufen und alle, die ihr Herz für den Islam öffnen, in seine Sphäre einzubeziehen... Während die Muslime zur Verbreitung ihrer Religion aufrufen, befindet sich der Islam entweder in einer Situation des Friedens oder des Krieges (Dar al-salam oder Dar al-harb). Bestimmungen, die dazwischen liegen, werden durch internationale Verträge geregelt ,..«49 Tuaima beruft sich auf die 9. Koransure, »Die Buße«, in der einerseits zur militärischen Verbreitung des Islam, andererseits zur Einhaltung getroffener Abmachungen (zum Beispiel Waffenstillstand) aufgefordert wird. Wie bereits angedeutet, unterteilt die Schari'a die Welt seit der Zeit islamischer Djihad-Eroberungen in eine islamische Territorialität, die als Dar al-Islam, und in eine Welt der Ungläubigen, die als Dar al-harb bezeichnet wird. Es wurde schon dargestellt, dass es bisher kein Muslim gewagt hat, die Zweiteilung der Welt zu revidieren; sie wurde allenfalls abgeschwächt und pragmatisch angepasst, aber bis heute nicht aufgegeben. Zwischen den beiden Welten kann bestenfalls -290-
durch Zeitverträge ein temporärer Frieden herbeigeführt werden; dieser Zustand wird Dar al-ahd genannt. In der autoritativen, 1930 von dem Muslim Dr. Nadjib al-Armanazi verfassten Monographie über das islamische »Völkerrecht«, die in unserer Zeit des Rufs nach der Schari'a neu gedruckt worden ist, beklagt dieser sich darüber, dass die Schari'a eine Konstruktion sei, die in der Realität keine praktische Entsprechung habe.50 Der erste islamische Schriftgelehrte, der durch Rechtskniffe die Schari'a an die nationalstaatliche Welt der Moderne angepasst hat, war der Marokkaner Ahmed Ben Khalid al-Nasiri,51 der im 19. Jahrhundert seinen Herrscher, den marokkanischen Sultan, in religiös-politischen Fragen beriet. Marokko, das nie zum islamischen Imperium der Osmanen gehörte, war im 19. Jahrhundert ein Staat, der nahe an Europa lag und sich, ohne an den islamischen Schari'a-Dogmen auch nur das Geringste zu ändern, den europäischen Realitäten anpasste. Angesichts des Dilemmas, dass die Schari'a als Rechtssystem einerseits kaum den Bedürfnissen der Muslime entspricht, ihr Leben zu ordnen, es andererseits unter Muslimen nicht machbar ist, sie völlig ad acta zu legen, plädiere ich dafür, sich auf eine Reform des islamischen Rechts als praktische Alternative zu beschränken. Diese Reform ist eine pragmatische Perspektive nur und ausschließlich für die Welt des Islam. In Europa darf man sich auf keine Schari'a einlassen, weil dies nichts anderes als eine Islamisierung Europas wäre. Europäer müssen den Mut haben, dies der Islam-Diaspora in aller Klarheit zu sagen. Für die Welt des Islam wird sich die benötigte Reform nicht in einer neuerlichen Exegese des tradierten Rechts erschöpfen können. Schon die nach dem muslimischen Schari'a-Denker Tuaima zitierte islamische Bestimmung eines Völkerrechts, das eine absolute Verbreitung des Islam über die gesamte Welt beansprucht und so dem Ideal einer pluralistischen Weltordnung eklatant widerspricht, dürfte die Notwendigkeit einer Reform des islamischen Rechts unterstreichen. Dies wird auch von -291-
kulturell aufgeschlossenen Muslimen wie dem zitierten Sudanesen An-Na'im52 eingesehen. Meine Ausführungen verdeutlichen auch den Gegensatz zwischen europäischem und außereuropäischem Recht, den ich exemplarisch am Beispiel des Islam zeige. Die Reform der islamischen Rechtstradition könnte einen wichtigen Beitrag zur Verwirklichung des Friedens zwischen den rivalisierenden Zivilisationen des Orients und des Okzidents sein. Der benötigte interkulturelle Dialog müsste auf der Suche nach einem Miminalkonsens über Normen und Werte auch den Rechtsbereich für den Versuch einer Konfliktlösung umfassen. Im Mittelpunkt dieses Konsenses müssen natürlich die individuellen Menschenrechte stehen. Für einen Menschen, der wie der Autor als ein Muslim im Spannungsverhältnis von abendländischer und morgenländischer Kultur lebt und wirkt, stellt sich die Frage, ob das islamische Recht mit den großen Fortschritten befruchtet werden kann, die Europa im Rahmen der kulturellen Moderne im Bereich des Rechts hat realisieren können. Eine sozial-kulturelle Transformation des islamischen Orients bedarf heute eines modernen Rechtsverständnisses, das den sozialen Verhältnissen angemessen ist. Denn eine Modernisierung der Sozialstrukturen in den Ländern der islamischen Zivilisation ist zum Scheitern verurteilt, solange Muslime parallel die benötigten Reformen abweisen. Nur eine Reform von innen kann Erfolg versprechen; diese müsste auch an ähnlich gelagerte islamische Traditionen anschließen. Die Lösung der Probleme des Islam im Hinblick auf die Moderne kann also nur von innen her erfolgen und nur von Muslimen getragen werden. Von der Fragestellung dieses Buches ausgehend, müssen wir uns die Frage stellen, ob die Muslime bereit sind, diese historische Aufgabe zu erfüllen, und individuelle Menschenrechte in diesem Kontext als einen Teil des islamischen Rechtsverständnisses anerkennen können. Ich halte es für eine Täuschung und für Apologetik, wenn Muslime -292-
der Diaspora diese Frage übergehen, indem sie behaupten, alles sei schon im Koran enthalten; es fehle nur die Anwendung. Damit streuen sie ihren westlichen Gesprächspartnern Sand in die Augen. Warum warten wir seit 14 Jahrhunderten auf die Anwendung? Das Problem ist die Schari'a, nicht die Muslime, die an sie glauben. Der islamische Orient: zwischen Rationalismus und Schari'aOrthodoxie Im islamischen Mittelalter, das im Gegensatz zu dem verbreiteten Verständnis jenes Zeitalters in Europa - dies sei en passant angemerkt - eine weltzivilisatorische Glanzepoche darstellte, gedieh eine islamische Philosophie des Rationalismus, in die zentrale Erkenntnisse der altgriechischen Philosophie aufgenommen wurden. Mit dem Begriff »Hellenisierung des Islam« werden diese Einflüsse in der islamischen Geschichte beschrieben.53 Ein innerislamischer Konflikt zwischen Philosophie und islamischer Rechtsorthodoxie entbrannte. Die islamischen Philosophen haben im Rahmen ihrer »Rationalisierung des Kosmos« begonnen, die hellenisierte Wissenschaftssprache neben der Sakralsprache in das Arabische einzuführen. Mit diesen islamischen Philosophen hat es Aufklärer im Islam gegeben, aber sie sind am Widerstand der Orthodoxie damit gescheitert, die Aufklärung in den Islam wirklich einzuführen. Die islamischen Orthodoxen bekämpften die islamischen Rationalisten damals mit dem Vorwurf des Kufr (Unglaubens). Es ließ nicht lange auf sich warten und die Philosophenverfolgung setzte ein, um dem durch die Hellenisierung eingeleiteten Prozess der Entsakralisierung in der araboislamischen Zivilisation ein Ende zu bereiten. Schon einmal habe ich Ernst Blochs Worte zitiert: »Kein Wunder auch hier, dass die islamische Orthodoxie Avicenna wie Averroés verfluchte und beide in effigie, nämlich in ihren Werken, -293-
verbrannt hat, wie die christliche Inquisition den Giordano Bruno nachher leibhaftig verbrannte.«54 Bloch verehrte die islamische Philosophie. Für ihn war es diese Philosophie, nicht die Schari'a-Orthodoxie, die dem Morgenland das Zeichen des Lichtes als seine kulturelle Eigenschaft verlieh. Wenn wir also von dem Einfluss des Islam auf Europa sprechen, müssen wir genau angeben, von welchem: Es war nicht Allahs Sonne oder Schatten über dem Abendland, wie S. Hunke unterstellte, es war der islamische Rationalismus. Der an der Kairoer Ain-Shams-Universität lehrende ägyptische Philosoph Mourad Wahba hat während der First Islamic Conference on Islam and Civilization in Kairo im November 1979 den Umstand, dass Averroés in Europa verehrt, im islamischen Orient dagegen bis heute von der islamischen Orthodoxie inkriminiert wird, als »das Paradoxon Averroes« bezeichnet. Auf derselben Konferenz habe ich mein Plädoyer für eine Säkularisierung des Islam vorgetragen und meinen darauf erregt reagierenden Zuhörern erklärt, dass Säkularisierung bloß Trennung von Religion und Politik bedeutet und keineswegs Abschaffung der Religion,55 womit viele Muslime heute leider den Begriff verbinden. Diese Säkularisierung ist vor allem für den Bereich des Rechts von zentraler Bedeutung. Das war 1979. Heute könnte ich ein solches Referat in keiner islamischen Stadt mehr halten, geschweige denn veröffentlichen. Faradj Fuda, der als letzter Araber für eine Säkularisierung eintrat, wurde im Juni 1992 in Kairo ermordet.56 Scheich al-Ghazali hat diesen Mord mit einer Fetwa legitimiert. Ohne Säkularisierung können die Faraid nicht durch individuelle Menschenrechte abgelöst werden. Die größte Hürde, die sich Muslime selbst errichten, ist ihr Glaube daran, dass islamisches Recht eine Lex divina (heiliges Recht) sei; es sei von Allah offenbart und dürfe deshalb weder historisch begriffen noch verändert werden; es gelte nach dem islamischen Wertverständnis für alle Zeiten und für die ganze -294-
Menschheit ewig. Wir haben jedoch gesehen, dass die Schari'a als Rechtssystem von den Menschen konstruiert ist und damit nicht von Allah stammt; sie ist eine postkoranische Konstruktion, die die Menschen kontrolliert, um sie einem angeblich göttlichen Willen unterzuordnen. Die Aufgabe der islamischen Fiqh-Gelehrten besteht demnach nur darin, diesen Willen zu interpretieren. Dass sie in Wirklichkeit menschlicher Willkür göttlichen Charakter verleihen und dabei anmaßend im Namen Allahs sprechen, wird verdrängt. Wer gegen diesen Missstand vorgeht, riskiert sein Leben. Noch einmal erinnere ich daran: Scheich al-Ghazali hat die Ermordung von Aufklärern legitimiert und in Europa wurde er beim Projekt Weltethos hofiert. Er war er der Dialog-Partner von Hans Küng im christlich-islamischen Dialog. Die Selbsttäuschung der Orthodoxie ersetzt den Rationalismus. Wie die Muslime im Mittelalter mit legalen Hiyal, also der Anwendung von Rechtsschlichen und -kniffen, das islamische Recht umgingen, um mit ihrem gesellschaftlichen Leben fertig zu werden, habe ich bereits gezeigt. Dies geschah, weil man an der Norm selbst keine Änderung vornehmen durfte und auf Umwege und Schliche angewiesen war. Das Problem besteht weiterhin, aber in der gegenwärtigen Situation ergibt sich in den islamischen Ländern eine neue Herausforderung; durch die radikale Abwendung von dem westlichen Modell auch im Bereich des Rechts und den Rückgriff auf das eigene, und damit auf die Schari'a, entstehen zusätzliche Schwierigkeiten für die benötigte radikale islamische Rechtsreform. Wenn wir aber sowohl die klassischen islamischen Rechtsmittel der Hiyal als auch die wortwörtliche schriftgläubige Handhabung dieses Rechts (zum Beispiel das Abschneiden der Hand als strafrechtliche Maßnahme und anderes) strikt ablehnen, dann stellt sich die Frage nach den praktischen Möglichkeiten einer Flexibilisierung des islamischen Rechtsverständnisses. Begrüßt man die kulturelle -295-
Rückbesinnung als Selbstfindung, ohne dabei kultureller Ghettoisierung, ja defensivkulturellem Chauvinismus das Wort zu reden, dann führt kein Weg an interkulturellen Lernprozessen vorbei. Wie früher islamische Denker offen für die Hellenisierung waren, so müssten zeitgenössische Muslime bereit sein, auch von Nichtmuslimen zu lernen, vor allem im Bereich des Rechts. Das bedeutet konkret Öffnung für den Rationalismus und Abschied von der Schari'a-Orthodoxie. Wandel - auch in der Rechtsfindung - hat in der islamischen Geschichte immer stattgefunden, obwohl das kulturelle System des Islam die Kategorie des »Wandels«57 für seine Glaubenssätze nicht zulässt. In diesem Sinne wandelte sich das islamische Rechtsverständnis stets entgegen seinem eigenen Werteverständnis. Die anzustrebende Flexibilisierung des islamischen Rechtsverständnisses müsste nun - anders als einst bei der islamischen Rechtstradition des Hiyal - ein Bewusstsein des Wandels einschließen, nicht die Umgehung der durch den Wandel hervorgerufenen Realitäten durch Selbsttäuschung. Realhistorisch hat es in der islamischen Geschichte an Offenheit nicht gefehlt. Sieht man von den historischen Phasen ab, in denen die islamischen Ulema eine ideologisch hegemoniale Stellung einnahmen, dann wird man in der islamischen Geschichte doch intellektuelle Pluralität finden; die Streitkultur zwischen den vier Rechtsschulen im sunnitischen Islam ist ein Beweis hierfür. Die angeführte Tradition des islamischen Rationalismus belegt, wie hellenisierte islamische Philosophen den Primat der Vernunft begründeten; auch die Mu'taziliten-Theologen, die als »Verteidiger der Vernunft« galten, haben dies gegen die Orthodoxie vertreten.58 Das Problem ist die Verrechtlichung des Glaubens im Islam durch die islamische Schari'a im Sinne von Recht. Die Orthodoxie hebt die Taqlid, das heißt die Unterwerfung unter die Autorität der Vorfahren qua Fiqh-Gelehrte hervor und weist die Idjtihad, das heißt die auf der Basis eigener Anstrengung betriebene -296-
schöpferische Rechtsfindung zurück. Der islamische Modernismus, der während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Ägypten entstand,59 und die Reformbestrebungen des islamischen Rechts in unserem Jahrhundert schließen an die Idjtihad-Tradition im Islam an. Diese Reformversuche, die auch Historisierung einschlössen, wurden von den Orthodoxen - den späteren Fundamentalisten - abgewiesen. Ali Abdelraziq gehört zu den prominenten verfolgten Reformern,60 er zahlte mit seiner akademischen Karriere und seiner gesamten materiellen Existenz. Für eine Reform des islamischen Rechts, um Islam und individuelle Menschenrechte kompatibel zu machen Eine zentrale Überlegung islamischer Rechtsreformer geht dahin, dass Gott als Schöpfer seinen Willen nicht in rigiden Gesetzen zum Ausdruck bringen würde und dass es ein grobes Missverständnis der koranischen Lehre sei, sie als starre Rechtsdoktrin zu deuten. Der Koran als Kitab hidayo (Buch der Anleitung) enthält allgemeine Prinzipien, die als islamische Ethik zu begreifen sind und die unterschiedliche Interpretationen im Sinne der Idjtihad-Tradition zulassen. Die Deutung des Koran als Quelle einer islamischen Rechtsethik befreit von den Fesseln der Schriftgläubigkeit und öffnet den Weg für die Einführung problemorientierten Denkens im Islam. Die islamische Ethik hat durchaus Systemcharakter, so dass selbständige Problemorientierungen möglich sind, die zum einen den Bedürfnissen islamischer Gesellschaften im Entwicklungsprozess Rechnung tragen und zum anderen auch in das System islamischer Ethik integrierbar sind, ohne dass dies dann in die versteinerten Bahnen der scholastischen Fiqh-Lehre führen müsste. -297-
Nach dem Rechtstheoretiker Theodor Viehweg,61 der die Lehre von der Topik, das heißt des problemorientierten Denkens im Bereich des Rechts, entwickelt hat, müsste das Problemdenken die Gesamtstruktur, die Bestandteile und auch die Begriffe und Sätze der Jurisprudenz umfassen. Wenn von Reform-Muslimen die Schari'a im Sinne des Koran als Moralität und auch als Werteorientierung bei der Rechtsfindung akzeptiert wird, könnte die Übernahme dieser Methode möglich sein und bedeuten, dass das Rechtsverständnis nunmehr von den Problemen der islamischen Gesellschaften und nicht primär von den Texten ausgehen müsste. Topisches, das heißt problemorientiertes Denken in den Islam einzuführen, heißt zu begreifen, dass Muslime von den realen Problemen und nicht vom überzeitlich geglaubten Text auszugehen haben. Der marokkanische, heute in Rabat lehrende Philosoph al-Djabiri hat in seinem Buch Die Beschaffenheit des arabischen Geistes62 die arabische Denkweise als »textgefesselt« bezeichnet. Auch ein anderer arabischer Denker hat kürzlich gewagt, in arabischen Ländern ein Buch über Die Herrschaft des Textes63 zu veröffentlichen. Hier zeigt sich, dass ein schweres Erbe auf den Schultern der Araber liegt, nämlich das der Schriftgläubigkeit; sie lähmt ihr Denken und Leben. Die islamischen Rationalisten des Mittelalters haben diese Last abgeschüttelt; aber ihre Wirkung in der islamischen Geschichte war nicht von Dauer. Anders formuliert: Im islamischen Mittelalter wirkten Aufklärer, scheiterten aber daran, ihre Aufklärung durchzusetzen. Die zentrale Überlegung bei der Einführung problemorientierten Denkens im Rahmen der Reform des islamischen Rechts ist, dass Probleme in eine Ordnung eingeschlossen sein müssen. Nun gibt es bereits eine in umfangreichem Schrifttum tradierte islamische Rechtsordnung, die nicht ad acta gelegt, sondern neu mit einem Problembewusstsein aufgenommen werden sollte. Die Einführung des topischen Denkens im islamischen Recht kann nicht bedeuten, vom Nullpunkt anzu-298-
fangen und bisherige Traditionen zu verleugnen. Erneuerung und historisches Erbe sind vielmehr in einem dialektischen Prozess miteinander verbunden und gerade die Interpretation ist eine Kunst, die die islamischen Fiqh-Gelehrten stets vorzüglich beherrscht haben. Heute geht es darum, diese Kunst im Sinne der Entwicklung islamischer Gesellschaften mit einer Problemorientierung zu verknüpfen, die die Fesseln der Schriftgläubigkeit abgelegt hat. Viehweg weist auf die Interpretation als Bestandteil der Topik hin und führt aus: »Bei ihr geht es dann darum, neue Verständnismöglichkeiten zu erschließen, ohne die alten zu verletzen. Das geschieht so, dass man zwar an den vollzogenen Fixierungen festhält, diese aber unter neue Gesichtspunkte rückt, die oft in ganz anderem Zusammenhange entstanden sind und nun die Möglichkeit bieten, den alten Festlegungen eine neue Wendung zu geben.«64 Die angeführte Komponente topischen Denkens könnte die Problemorientierung für muslimische Juristen, die um ihr Erbe fürchten, annehmbarer machen, zumal die Tafsir (Exegese) einen Bestandteil des islamischen Rechts bildet. Exegese leistet zwar Interpretation; aber es ist sehr wichtig darauf hinzuweisen, dass nach Viehweg nicht jede Interpretation die Voraussetzungen topischen, das heißt problemorientierten Denkens erfüllt. Auf seine oben zitierte Bestimmung zurückgreifend, hebt Viehweg hervor: »Nicht jede Interpretation (Auslegung, Exegese, Hermeneutik) tut das, aber jede kann das. Sie ist ein Stück Topik...« (ebd.) Anders formuliert: Textinterpretation muss nicht unbedingt Schriftgläubigkeit bedeuten, so wie dies bei muslimischem Rechtsdenken der Fall ist; sie ist mit einer problemorientierten Denkweise vereinbar. Doch ist diese mit der islamischen Denkweise vereinbar? Beispiele für solche Formen von topisch zu deutenden -299-
Interpretationsmustern findet der Forscher in den Schriften der islamischen Modernisten seit al-Afghani (1839-1897) und Mohammed Abduh (1849-1905), wenngleich einschränkend hervorgehoben werden muss, dass bei den meisten islamischen Modernisten die Basis der religiösen Dogmatik nicht verlassen wird. Aber in einer sehr bedeutenden islamischen Schrift aus dem Jahre 1925, deren Verfasser Fiqh-Gelehrter der islamischen al'Azhar-Universität und zugleich oberster Richter war, ist eine Interpretation des Islam, die als problemorientiert bezeichnet werden kann, enthalten. Es handelt sich um den bereits angeführten Ali Abdelraziq. Seine in Kairo 1925 erschienene Publikation al-lslam wa usul al-hukm (Der Islam und die Regierungsformen)65 enthält Gedankengänge, die durchaus als topisch zu qualifizieren sind. Er kommt zu dem Resultat, dass der Islam nur eine Religion für die Sphäre der Innerlichkeit und kein Regierungssystem sei. Im islamischen Orient war und ist dies eine revolutionäre Interpretation, die ihren Autor seinerzeit die materielle Existenz gekostet hat. Abdelraziq hat aber einen sehr wichtigen Grundstein gelegt. Bei einem meiner Besuche in Kairo (Juni 1993) stellte ich mit Freude und zugleich Überraschung fest, dass die ägyptische Regierung im Rahmen ihrer Auseinandersetzung mit den Fundamentalisten diese Schrift in einer Massenauflage zu einem symbolischen Preis unter der Rubrik al-Tanwir (die Aufklärung) verbreitete. Die Einführung des topischen Denkens in das islamische Recht ist natürlich ohne entsprechend weitgehende Reformvorstellungen undenkbar. Orthodoxe islamische FiqhGelehrte gehen fanatisch gegen jeden Reformer vor und zögern nicht, die Waffe der Takfir (Erklärung zum Ungläubigen) gegen kulturell innovatorisch orientierte Muslime politisch einzusetzen. Die mehrfach angeführte Fetwa von Scheich alGhazali im Jahr 1993 ist ein Beispiel hierfür. Dies veranlasst mich dazu, eine für den westlichen Leser exemplarische Auseinandersetzung mit einem Mann zu führen, der ein Gegner -300-
jeglicher islamischer Rechtsreform ist; sie zeigt, welche Hindernisse einer solchen Reform im Wege stehen. Es handelt sich um den pakistanischen Fundamentalisten Muslehuddin, einen Mann mit westlicher Bildung, der an der Londoner Universität promoviert hat. Im Rahmen seiner teils berechtigten Kritik an der westlichen Orientalistik66 setzt sich der Fundamentalist Mohammed Muslehuddin mit dem Versuch des kalifornischen Politikwissenschaftlers Malcolm Kerr67 auseinander, der von schi'itischen Fundamentalisten im Januar 1984 in Beirut ermordet worden ist. Kerr untersuchte in einer seiner Studien die Ansätze einer Rechtsreform im modernen Islam. Muslehuddin diskreditiert alle Reformversuche mit dem apodiktischen Satz: »Diejenigen, die daran denken, den Islam zu reformieren beziehungsweise zu modernisieren, sind irregeleitet und ihre Bemühungen sind zum Scheitern verurteilt... Denn warum sollte der Islam modernisiert werden, der schon so vollkommen rein und universell ist und für alle Zeiten gilt?«68 Rechtsgelehrte haben nach Ansicht des zitierten Fundamentalisten lediglich die Aufgabe, die islamische Schari'a zu interpretieren, »um das Recht zu verstehen und seinen Inhalt zu entdecken, nicht aber, um es hervorzubringen oder es zu schaffen« (ebd.). Bei einer solchen Fixierung der Arbeit des Rechtsgelehrten auf Schriftgläubigkeit bleibt natürlich kein Raum für problemorientiertes Denken und für entsprechend topisch orientierte Interpretationen als Vorbereitungen für die Reform des islamischen Rechts. Der Schari'a-Jurist interpretiert den Koran lediglich philologisch, und wenn dies nicht ausreicht und er darüber hinausgeht, dann bleibt ihm nur der Weg des Analogieschlusses. Fern von jedem Modernitätsglauben können wir Parallelen zwischen dem mit dem positiven Recht -301-
arbeitenden, aber nicht topisch vorgehenden Rechtsdogmatiker und dem islamischen Schari'a-Rechtler feststellen. In diesem Zusammenhang lenkt Viehweg unsere Aufmerksamkeit auf folgenden Sachverhalt: »Das häufige Auftreten von Analogieschlüssen wird gewöhnlich darauf hinweisen, dass ein perfektes logisches System fehlt.«69 Den meisten islamischen Denkern fehlt dieses logische Denken völlig. Die islamischen Schari'a-Juristen argumentieren gegen alle Reformer, dass sie rational-wissenschaftlich arbeiteten und mit menschlichen Begriffen statt mit Hilfe der Offenbarung versuchten, das islamische Recht zu verstehen, weshalb sie scheitern müssten, weil die Schari'a göttliches Recht sei: »Das Sakralrecht muss in seiner idealen, von Gott anbefohlenen Form erhalten bleiben. Geschieht dies nicht, dann kann dieses Recht nicht mehr in der Lage sein, die Gesellschaft zu kontrollieren, und verliert somit seinen Zweck. Die falsche Meinung der Orientalisten ist auf ihre Einstellung zurückzuführen, dass das wirklich Gute rational erkannt werden könnte und Recht nach sozialen Bedürfnissen gestaltet werden sollte. Sie übersehen, dass das sakrale Recht all diesen Bedürfnissen schon Rechnung trägt und nur Gott alleine wissen kann, was wirklich gut für die Menschen ist.«70 Ich zitiere diese Passage sehr ausführlich, um das stark Ideologiebeladene der islamischen Schari'a-Juristen zu demonstrieren. Damit will ich illustrieren, wie schwer es ist besonders unter den gegenwärtigen Bedingungen -, Rechtsreformen im Islam einzuführen, für die ich hier eintrete. In der heutigen Welt des Islam herrscht ein Geist, für den John Waterbury den englischen Begriff flat Earthism geprägt hat; damit ist im übertragenen Sinne gemeint, dass Menschen auch heute im 21. Jahrhundert behaupten, die Erde sei flach, und -302-
diese Denkweise auch auf andere Bereiche übertragen. Da nutzen keine rationalen Argumente. Islamische Rationalisten wie al-Farabi, Ibn Sina und Ibn Ruschd würden sich aus Scham im Grabe umdrehen. Dennoch schließe ich dieses Kapitel über die Schari'a mit einem Plädoyer für eine Aufnahme des problemorientierten Denkens in die islamische Jurisprudenz ab. Hierbei übersehe ich nicht, dass heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die Haltung des zitierten Fundamentalisten Muslehuddin die islamische Geistigkeit im Rechtsbereich eher repräsentiert als die von den angeführten Islamreformern (unter anderen An-Na'im) vertretene säkulare Position eines liberalen Islam. Die Schari'aDiskussion hat in der islamischen Vergangenheit und in unserer Gegenwart einzig und allein das Ziel verfolgt, anhand der FiqhQuellen den behaupteten Willen Gottes zu deuten, um das Recht in ein »System von gesetzlich festgelegten Rechten und Pflichten«71 zu transformieren, wie der international führende Kenner des islamischen Rechts, Coulson, hervorhebt. Wenn der Leser diese Beobachtung im Kopf behält, wird er sich bei der Diskussion in den folgenden Kapiteln nicht wundern, wenn er erfährt, dass »islamische Menschenrechte« nichts anderes als eine »Pflichtenlehre« sind. Auf dieser Basis dauert der Zivilisationskonflikt weiter fort, weil auf dieser Geschäftsgrundlage ein Wertekonsens über individuelle Menschenrechte nicht möglich ist. Wer dies nicht wahrnehmen will, dem sei die Formel »Selig sind die Belogenen«72 als Charakterisierung des unbrauchbaren Dialogmusters vorgehalten. Mir als islamischem Migranten graust es, wenn ich in der Islamischen Charta des Zentralrates der Muslime in Deutschland in Artikel 10 lese: »Das islamische Recht verpflichtet Muslime in der Diaspora.« Das Wort Schari'a wird gemieden, aber mit islamischem Recht ist eben dies gemeint. Dieses Kapitel über die Schari'a mag begründen, warum ich an Artikel 11 der zitierten Charta zweifle, die lautet, »Muslime bejahen... das Grundgesetz«. 1994 versah -303-
ich hingegen meinen Spiegel-Essay über das Verhältnis von Schari'a und Grundgesetz mit dem Titel »Wie Feuer und Wasser«.
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Kapitel 8 Der Kontrast zwischen Schari'a und individuellen Menschenrechten Die islamische Weltanschauung im Konflikt mit der europäischen Moderne
Jene orthodoxen Muslime und Islamisten, die sich in der Absicht, die anderen im Dialog zu täuschen,1 öffentlich zu den Menschenrechten bekennen, behaupten, diese seien nicht neu für den Islam: Der Ursprung der Menschenrechte sei im Koran zu finden. Dieses Dialogmuster lässt sich kritisch als »Dialog der Freiheitsverächter«2 bezeichnen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Sind die Menschenrechte eine religiöse Bestimmung und ohne säkulare Demokratie und entsprechende Menschenbilder möglich? Anders formuliert in Bezug auf den Islam: Sind die Menschenrechte mit der Schari'a vereinbar? Nach dem Koran bedeutet Schari'a »Moralität«; im vorangegangenen Kapitel haben wir jedoch gesehen, dass sie postkoranisch als islamisches Rechtssystem konstruiert wurde. Ist die Schari'a als »fremde Zumutung«3 (Habermas) in einer pluralistischen Demokratie tolerierbar? Die islamische Schari'a basiert auf einer menschlichen Interpretation der göttlichen Offenbarung, weshalb sie als göttliches Recht im Sinne einer Pflichtenlehre verstanden wird. Demnach sind die Menschen nicht befugt, sich ihr eigenes Recht zu schaffen, sondern sollen sich der - nach orthodoxer islamischer Auffassung - vorgegebenen Schari'a fügen. Wer sich weigert, dies zu tun, gilt als Kafir (Ungläubiger), weil er sich Gott nicht -305-
unterwirft. Konsequenterweise gibt es im Islam praktisch keine Menschenrechte im Sinne von Berechtigungen des Individuums gegenüber Staat und Gesellschaft. In aller Deutlichkeit formuliert: Wenn wir es offen sagen, was mit Menschenrechten gemeint ist, gelangen wir ohne Umwege zu der Erkenntnis, dass die Schari'a im Kontrast dazu steht. Mit dem Wiedererstarken des Islam - diesmal jedoch im politischen Gewand als Islamismus - werden ausdrücklich politische Forderungen nach der »Wiedereinführung« im Sinne einer invention of tradition (Hobbesbawm) und Anwendung der Schari'a bei der Errichtung eines Nizam Islami (islamischen Systems) erhoben und hierfür interkulturelle Toleranz gefordert. Die Geltung der Schari'a soll sich auch auf die Islam-Diaspora in Europa erstrecken. Wohlgemerkt: Ein islamisches System versteht sich als eine Hakimiyyat Allah (Gottesherrschaft), also als ein Staat mit der Legitimation, göttliche Herrschaft zu verkörpern. Aus diesem Grund entstehen zwangsläufig weltanschauliche Konflikte zwischen der Schari'a in der Interpretation als göttliches Recht und den grundlegenden, aus dem Naturrecht abgeleiteten Menschenrechten, die politische und sogar gewaltsame Formen annehmen können. An dieser Stelle möchte ich zunächst den Kontrast zwischen Schari'a-lslam und Menschenrechten im globalen Rahmen thematisieren; erst in Kapitel 10 gehe ich dazu über, die Folgen des Rufes nach Anwendung der Schari'a durch den politischen Islam zu problematisieren. Im christlich-westlichen Dialog mit dem Islam »bleiben die Prinzipien des Westens auf der Strecke«,4 und wir hören selbst von Denkern wie Jürgen Habermas, wir hätten Toleranz als Praxis der Akzeptanz »fremder Wahrheiten« zu akzeptieren. Zu Beginn von Kapitel 7 habe ich ein Beispiel für solche »fremden Wahrheiten« angeführt und empfohlen - obwohl ich selbst Muslim bin -, die Schari'a nicht hinzunehmen. Dem »Aufklärer« Habermas, dem es anscheinend an Wissen über andere Zivilisationen mangelt, -306-
muss man erwidern, dass nicht jede »fremde Wahrheit« »zumutbar« ist. Eine als Annahme einer »fremden Zumutung« definierte »Toleranz« nenne ich Selbstaufgabe. In diesem Sinne stellte ich bereits 1998 die Frage »Europa ohne Identität?«5 in meinem Buch gleichen Titels. Ohne Reformen, die Säkularität zur Folge haben, keine Menschenrechte im Islam Die fortschreitende Politik der Islamisierung veranlasste schon 1982 den prominenten christlich-libanesischen Anwalt und Menschenrechtler Joseph Mughaizel, auf die Feststellung zu insistieren, Demokratie sei von Säkularität nicht zu trennen. Der arabische Christ Mughaizel sieht in der Laizität eine Garantie für die Geltung der Menschenrechte, weil diese »den Anspruch jedes Menschen auf Freiheit unabhängig von der Religion oder irgendwelcher Herkunft begründen. Menschenrechte stehen somit im Widerspruch zur Bestimmung des Menschen auf der Basis von Religionszugehörigkeit und ebenso im Widerspruch zu Unterscheidungen nach Rasse und Hautfarbe.«6 Der Bezug dieser Äußerung zu Artikel 2 der Universellen Deklaration der Menschenrechte, der die Gleichheit der Menschen unabhängig von ihrer Religion und »Rasse« festschreibt, ist offensichtlich. Der zitierte arabische Christ hat als Nichtmuslim allen Grund, um seine Rechte in einem islamischen, von der Schari'a geprägten Staat besorgt zu sein. Er ist Bürger des Libanon, wo zwar nicht die Schari'a herrscht, aber die Hisbollah, die den Trend in der gesamten Region reflektiert, stark vertreten ist. Wer die Sachlage kennt, weiß, dass Mughaizels Bedenken berechtigt sind; die Sicherung der Menschenrechte in einem Staat, in dem es Bestrebungen gibt, eine Gottesherrschaft zu etablieren, ist nicht vorstellbar. Mughaizel legte auf einem panarabischen Kongress über den -307-
Islam und den arabischen Nationalismus sein zitiertes Papier vor, in welchem er die Position nichtislamischer Minderheiten vertrat. Er argumentierte, dass arabische Christen allein innerhalb einer säkularen politischen Ordnung ihre Freiheitsrechte gewahrt wissen könnten. Ein anderer an diesem Kongress teilnehmender Christ, Elias Morqus, nahm Mughaizel gegen die heftigen Angriffe der muslimischen Teilnehmer in Schutz, womit er jedoch allein stand. Morqus hob hervor: »Wir lehnen die Religion nicht ab. Ganz im Gegenteil, wir betonen, dass die Glaubensfreiheit ein grundlegendes Recht ist. Dieses Recht darf jedoch nicht auf Kosten anderer ausgeübt werden. Daher komme ich zu dem Schluss, dass die Trennung der Religion vom Staat zu Säkularität führt. Mit dieser Definition der Laizität beziehe ich mich auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, der alle islamischen und arabischen Staaten - mit Ausnahme SaudiArabiens - formal zugestimmt haben.« (ebd.) Die Unterstreichung der engen Verbindung zwischen säkularer Demokratie und individuellen Menschenrechten gehört zu den Lebensgarantien der nichtislamischen Minderheiten. Saad Eddin Ibrahim, ein arabischer Menschenrechtsaktivist, der die Arabische Gesellschaft für Menschenrechte mitbegründet hat, sitzt heute in Ägypten im Gefängnis, weil sein Ibn Khaldun Center for Civil Society sich der Sache der Minderheiten in der arabischen Welt annahm, dafür Forschungsmittel aus dem Ausland (zum Beispiel von der EU) erhielt und äußerst signifikante Veröffentlichungen7 vorlegte, die international beachtet wurden. Um die zu erörternden Zusammenhänge zu beleuchten, führe ich an, dass im späten 19. Jahrhundert - noch unter osmanischer -308-
Herrschaft - ein säkularer arabischer Nationalismus entstand, der vorwiegend von arabischen Christen vertreten wurde. Diese waren allerdings allein deswegen säkulare Nationalisten, um als gleichberechtigte Bürger einer säkularen Nation zu gelten. In der Welt des Islam bildete der Säkularismus im Allgemeinen die Alternative zum Islamismus. Erinnern wir uns: Im 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein (bis zur Gründung der Muslimbruderschaft im Jahre 1928) existierten zwar noch keine islamistischen Strömungen, aber die Grundlage dafür, der orthodoxe Islam, war stets präsent. Wird dieser politisiert, wie es nach 1967 geschehen ist, dann entsteht Islamismus. Heutzutage ist säkulares Denken bei Muslimen eine Seltenheit geworden: Entweder finden wir in der Welt des Islam - neben der orthodoxen Ausrichtung - einen antinationalen, universell orientierten religiösen Fundamentalismus oder aber eine Synthese von Nationalismus und Islamismus vor. Letztere treffen wir sowohl in einem fundamentalistischen Staat wie dem Iran an als auch in politischen Kreisen innerhalb eines säkularen Staates wie der Türkei, Ilamaniyya (Säkularismus) gilt in unserer Zeit im islamischen Orient vorwiegend als ein verpönter Begriff. Die beschriebenen Veränderungen bieten eine Erklärung dafür, warum die arabischen Christen heutzutage ihren Platz auf der politischen Bühne eingebüßt haben; viele von ihnen sind nach Europa oder Nordamerika ausgewandert. Der Irak etwa ist fast vollständig entchristianisiert (früher stellten die Christen dort etwa 5 Prozent der Bevölkerung) und auch der Libanon macht eine ähnliche Entwicklung durch, denn die Christen bilden dort nicht mehr, wie bisher, die Bevölkerungsmehrheit. Vor diesem Hintergrund erscheint es verständlich, dass die Juden Israels nicht als Minderheit unter den Muslimen leben wollen und daher nicht auf ihren eigenen Staat verzichten. Das, was die Islamisten für ein friedliches Angebot halten, nämlich dass die Israelis ihren Staat auflösen mögen, um als Minderheit -309-
friedlich in einem islamischen Staat zu leben, ist sachlich eine Augenwischerei. Wenn ich als ein Muslim, der den individuellen Menschenrechten verbunden ist, den arabischen Christen darin zustimme, dass die Verankerung von Menschenrechten eine säkulare Demokratie voraussetzt, muss ich mich fragen: Ist es möglich, zwischen individuellen Menschenrechten und dem Islam durch Demokratisierung eine Brücke zu schlagen? Nun ist der Islam eine monotheistische Religion, die abgesehen von den zwei anderen Monotheismen, also Judentum und Christentum, keine andere religiöse Gemeinschaft anerkennt. Den nichtislamischen Monotheisten wird der Status von Dhimmi gewährt; sie sind Schutzbefohlene, vom Islam geschützte Minderheiten, die jedoch nicht den gleichen Status wie die Muslime genießen; die Gleichberechtigung mit den Muslimen bleibt ihnen verwehrt. Daher kann dies kein Vorbild für das Zusammenleben unterschiedlicher Religionsgemeinschaften sein. Die Zuweisung des Dhimmi-Status an Christen und Juden, der zwar ihr Leben schützt, sie aber praktisch zu Menschen zweiter Klasse macht, interpretieren Muslime als »islamische Toleranz«.8 Ein muslimischer Jurist, Menschenrechtler und Reform-Muslim, der Sudanese An-Na'im, räumt jedoch ein, dass diese Hierarchisierung heute im Konflikt mit den individuellen Menschenrechten steht und eher eine Diskriminierung nichtislamischer Minderheiten als ein Muster von Toleranz gegenüber denselben darstellt. An-Na'im befasst sich dabei ebenso mit den Rechten der Muslime in solch einer islamischen »Toleranzgesellschaft«, weil auch ein Muslim nach der Schari'a kein Recht auf Glaubensfreiheit hat; er wird als Murtad (Apostat) verfolgt, wenn er den Islam verlässt. An-Na'im, der ohne eigenes Verschulden im sudanesisch-fundamentalistischen Gottesstaat seine Menschenrechte einbüßte, weiß, dass die Stellung der Minderheiten und der Frau im Islam sowie die Verurteilung der Apostasie (Abfall vom Glauben) durch die -310-
Schari'a zu schwerwiegenden Konflikten führen müssen.9 Ist diese islamische Praxis vereinbar mit den internationalen Menschenrechtsstandards? Bietet die Schari'a jenseits der Faraid (Pflichten) irgendwelche Rechte? Diese Fragen stehen im vorliegenden Buch über das Verhältnis von Islam und Menschenrechten im Mittelpunkt. Wenn ich sie mir stelle, verliere ich nicht aus den Augen, dass dieser Gegenstand eher politischer, kultureller und institutioneller als religiöser Natur ist. Damit widerspreche ich jedoch nicht der Tatsache, dass ohne eine Religionsreform im Islam keine Achtung der individuellen Menschenrechte möglich ist. Hier deute ich den Islam als ein kulturelles System, das heißt als ein weltanschauliches Modell für die Realität, das die Weltsicht von Muslimen auf allen Ebenen bestimmt. Darüber hinaus befasse ich mich mit dem Islamismus als einer zeitgenössischen politischen Ideologie und frage, wie im Rahmen eines Reform-Islam an einem Verständnis der individuellen Menschenrechte gearbeitet werden kann, das auch für Muslime akzeptabel ist und zugleich auf globaler Ebene für die Verteidigung von Menschenrechten Gültigkeit haben kann. Wenn ich also weltanschauliche Konfliktbereiche zwischen islamischen Bestimmungen und den individuellen Menschenrechten anspreche, dann geschieht dies nicht, um den Islam als schlechthin menschenrechtsfeindlich zu verurteilen. Es liegt mir als Reform-Muslim fern, Konflikte zu schüren. Stattdessen möchte ich diese durch den Bau von Brücken friedlich lösen. Deshalb geht es mir darum, zu prüfen, wie der Islam und die individuellen Menschenrechte harmonisiert werden können und welche Reformen dafür erforderlich sind. Kurz gefasst: Das Eintreten für säkulare Demokratie bringt mich in einen Konflikt mit dem islamischen Fundamentalismus als politisierter Religion, aber nicht mit dem Islam als Ethik und Glaube an Gott. Festzuhalten bleibt allerdings, dass Harmonisierung nicht mit der Verleugnung oder Verdrängung von realen Konflikten -311-
gleichzusetzen ist. Individuelle Menschenrechte als Bestandteil einer modernen säkularen politischen Kultur im Widerstreit mit vormodernen, religiös geprägten Kulturen Menschenrechte sind eine Errungenschaft der kulturellen Moderne. Es ist nicht eurozentrisch, wenn man feststellt, dass es eine Leistung der westlichen Zivilisation ist, eine politische Kultur entfaltet zu haben, deren integraler Bestandteil die individuellen Menschenrechte sind. Daher gilt die Aussage von Professor Jerome Shestack, dass »sich der Begriff ›Menschenrechte‹ als solcher in traditionellen Religionen nicht findet«,10 auch für den Islam. Shestack führt aus: »Die modernen säkularen Naturrechtstheorien... trennten das Naturrecht von der Religion... Die Theorie des Naturrechts führte zur Theorie von natürlichen Rechten... die eng mit den modernen Menschenrechten verbunden ist.« (ebd.) Dieser historische europäische Hintergrund bildet ohne Zweifel die Hauptquelle und den Bezugsrahmen für das moderne Verständnis von Menschenrechten als individuellen und natürlichen Rechten gleichermaßen. Die Allgemeine Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers während der Französischen Revolution ähnelt der späteren UN-Deklaration von 1948 insofern, als auch sie allen Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft diese Menschenrechte als natürliche Rechte zuschreibt. Wenn wir als Humanisten von individuellen Menschenrechten sprechen, dürfen wir weder ethnische noch religiöse Attribute (zum Beispiel »islamische« Menschenrechte) hinzufügen. Die Eigenschaft Mensch zu sein, ist die einzige, die zählt. Das internationale Dokument der Universellen Deklaration der Menschenrechte, das - mit Ausnahme der islamisch-312-
wahhabitischen Monarchie Saudi-Arabiens - seinerzeit alle bestehenden islamischen Staaten unterzeichneten, wurde leider »nicht überall als eine verbindliche Vereinbarung betrachtet«11, wie der an der Columbia University lehrende Völkerrechtler Henkin feststellt. Zwar belegt das bloße Vorhandensein dieser UN-Deklaration von 1948 zusammen mit den nachfolgenden internationalen Menschenrechtspakten von 1966 den formalen Konsens der internationalen Gemeinschaft über diesen Kernbereich von Rechten, doch in vielen nichtwestlichen Staaten fehlt die lokale kulturelle Untermauerung dieser universellen Erklärung. Die individuellen Menschenrechte besitzen in den vormodernen Kulturen der meisten Gesellschaften der nichtwestlichen Zivilisationen, zu denen auch die islamische Zivilisation gehört, keine einheimische kulturelle Legitimität. Deshalb sollte uns der bestehende formale Konsens nicht den Blick auf den zentralen Konflikt zwischen der Universalität der Menschenrechte und den verschiedenen kulturellen Kontexten für ihre Interpretation verstellen. Zudem weiß der Leser aus meiner Einleitung zu diesem Buch, dass selbst der formale Konsens von 1948 heute nicht mehr besteht wie es spätestens auf der UN-Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien (Juni 1993) offenkundig wurde. Parallel zu der fortschreitenden strukturellen Globalisierung breitet sich eine kulturelle Fragmentation in Form eines Wertedissenses aus. Diese Spannung zwischen Globalisierung und Fragmentation bestimmt heute die Weltpolitik. Der Anspruch auf universelle Gültigkeit von Menschenrechten steht oft im Konflikt mit den Besonderheiten lokaler Kulturen und den unterschiedlichen moralischen Standards verschiedener Zivilisationen. Dieser Konflikt »ist am tiefgreifendsten, wenn der in Frage stehende Partikularismus seiner Natur nach religiös ist«.12 Dies betrifft erneut den Wertekonflikt zwischen dem Islam und den Menschenrechten, der zugleich ein solcher zwischen der säkular ausgerichteten kulturellen -313-
Moderne und den zahlreichen vormodernen Kulturen der religiös orientierten islamischen Zivilisation ist, die bisher noch keinen Säkularisierungsprozess durchlaufen hat. In Bezug auf Werte gibt es weder eine Weltethik noch eine globale Zivilisation; beides ist westliches Wunschdenken. Es ist jeder Religion eigen, einen exklusiven Geltungsanspruch zu besitzen und somit im Rahmen eines religiösen Absolutismus antipluralistisch zu sein. Stets fehlt eine säkulare Tradition von Toleranz und Aufklärung. Im Gegensatz dazu bedeutet moderne Toleranz, »den Anderen« im Sinne vom droit à la différence (Recht auf Differenz) zu akzeptieren. Die Aufklärung spricht den Menschen das Recht zu, anders zu sein, aber es gibt Grenzen des Pluralismus und der Toleranz. So können wir eine kulturell verschiedenartige Auslegung der Menschenrechte, die diese beschränkt, nicht als »fremde Wahrheit« (Habermas) dulden. Die Schari'a bietet genau eine solche Beschränkung der Menschenrechte - sie stellt eine »Zumutung« dar, die es in Europa abzuweisen gilt. Wir müssen uns mit dem Menschenrechtsexperten R. J. Vincent folgenden Sachverhalt vor Augen halten: »Der Begriff [der Menschenrechte, B.T.] ist allgemein gehalten, aber die Rechte sind spezifisch... Wo es Menschenrechte gibt, sind sie Rechte bestimmter Menschen. Daraus folgt, dass die Universalität der Menschenrechte im Widerspruch zur Besonderheit von Kulturen steht, wodurch das Erfordernis eines Durchbruches augenfällig und dringlich wird.«13 Ein interkultureller Wertekonsens, der realpolitisch, das heißt begrenzt und pragmatisch ist, wäre dazu der erste Schritt. Die Frage der Menschenrechte muss im Zentrum eines solchen Konsenses stehen. Säkularität, also die Trennung von Religion -314-
und Staat, ist dafür eine unentbehrliche Vorbedingung, weil ohne sie die Etablierung eines globalen, interkulturell geteilten Verständnisses von Menschenrechten nicht möglich ist. Doch David Hollenbach lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass die Anerkennung der Menschenrechte »etwas durchaus Verschiedenes von einem intensivierten Prozess globaler Säkularisierung« ist, weil ein säkularisiertes Staatswesen nicht zwingend kulturell aufgeschlossen gegenüber seiner Umwelt sein muss. Er fügt hinzu: »Die Sprache der universellen Menschenrechte unterscheidet sich weiterhin von der Sprache des Judentums, des Christentums oder des Islam. Aber wenn Gläubige lernen können, ihre eigene Sprache in einer neuen Weise zu sprechen, werden sie auch fähig sein, die Sprache der universellen Menschenrechte fließender zu beherrschen.«14 Auf dieses Ziel hinzuarbeiten erfordert einen tief greifenden kulturellen Wandel innerhalb der Religionen als kulturellen Systemen und Quellen von Werten. Nur solche Reformen, die religiös-kulturelle Veränderungen bewirken, können vormoderne Kulturen dazu befähigen, ihre Exklusivitätsansprüche aufzugeben und sich parallel dazu für die Akzeptanz der Menschenrechte im Rahmen eines religiösen und kulturellen Pluralismus zu öffnen. Innerhalb vormoderner Kulturen müssen über die erforderlichen religiös-kulturellen Veränderungen hinaus zusätzlich institutionelle Voraussetzungen für die gesellschaftliche Verankerung der neuen Einstellungen und Weltbilder geschaffen werden. Schließlich sollten die Menschenrechte nicht einfach auf Werten oder Normen basierende Ideale sein, die beliebig missbraucht oder inhaltlich entstellt werden können, sondern vielmehr institutionell abgesicherte, materielle Rechte im Sinne von Berechtigungen, das heißt von Rechtsansprüchen. Fehlt der legal-institutionelle Rahmen für ihre Durchsetzung, dann sind diese Rechte praktisch nicht existent. »Es ist nicht Menschenrechtsrhetorik, welche die -315-
Menschen in Asien benötigen«, betont der Muslim H. Yamane, »sondern die Entwicklung von Menschenrechtstechniken, die ihnen helfen würden, ihre Rechte effektiv zu verteidigen.«15 Daher muss die Durchsetzung der Menschenrechte parallel zur kulturellen Erneuerung erfolgen. Wir haben in Kapitel 7 gesehen, dass der Islam auf eine lange Rechtstradition zurückblicken kann. Unter Berufung auf diese Tradition behaupten viele Muslime fälschlicherweise, dass die Schari'a den benötigten Rahmen für den Schutz der Menschenrechte bereithalte. Ich werde mich in Kapitel 10 in diesem Zusammenhang mit dem islamischen Ruf nach Anwendung der Schari'a auseinander setzen und argumentieren, dass es individuelle Menschenrechte unter einer Schari'a nicht geben kann. Schließlich ist die Schari'a kein Kodex, sondern stets Interpretation, die oft auch willkürlich ist. Der Leser weiß bereits, dass in diesem Buch der Fokus auf bürgerlichen und politischen Rechten liegt. Die Debatten über soziale und ökonomische Rechte, wie etwa die jüngste Diskussion über eine dritte Gruppe von Menschenrechten gemeint sind das Recht auf Frieden und das auf Entwicklung -, erwähnte ich schon zuvor.16 Diese Forderung, mit der ich durchaus sympathisiere, werde ich en passant ansprechen. In Übereinstimmung mit Jack Donnelly bin ich jedoch überzeugt, dass einer der Gründe für den »Vorzug der Sprache der Menschenrechte vor der Sprache der sozialen Gerechtigkeit genau jenes zusätzliche Gewicht des Anspruchs von natürlichen Rechten oder Menschenrechten, der wahren Rechte des Menschen«17 ist. Menschenrechte sind natürliche Rechtsansprüche, wohingegen die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit wie auch das Recht auf Entwicklung normativ begründete Ansprüche sind. Obgleich sie legitim sind, können sie die rechtsbindende Kraft der individuellen Menschenrechte nicht erlangen. Wir dürfen die Unterschiede zwischen beiden Rechtskategorien nicht verwischen, unter anderem auch deshalb -316-
nicht, weil manche im Namen von Kollektivrechten letztlich Individualrechte über Bord werfen. Die Lokalität vormoderner Kulturen und die Universalität der modernen individuellen Menschenrechte In Kapitel 2 wurde gezeigt, dass das Konzept der individuellen Menschenrechte eine kulturelle Errungenschaft Europas ist, die im Übergang vom christlichen Abendland zur Moderne der westlichen Zivilisation ihren Ursprung nahm. Die neuen Werte wurden mit Hilfe eines Systems rechtlicher Durchsetzung in die Realität eingebettet. Diese neue Tradition ist historisch gesehen parallel zur Herausbildung der modernen bürgerlichen Gesellschaft entstanden. Da der Begriff »bürgerliche Gesellschaft« im Deutschen durch dessen vom Marxismus vollzogene Bindung an den Kapitalismus vorbelastet ist, scheint mir der angelsächsische Begriff civil society (zivile Gesellschaft)18 für die Diskussion der Menschenrechte angebrachter zu sein. Ebenso wie die säkulare Demokratie ist auch die zivile Gesellschaft eine Basisvoraussetzung für die institutionelle Verankerung der Menschenrechte, denn beide verhalten sich komplementär zueinander. Im deutschen Sprachgebrauch hat sich als Äquivalent für civil society der Begriff »Zivilgesellschaft« durchgesetzt, der die institutionelle Trennung von Staat und Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Vergleichbares existiert in der Geschichte des Islam genauso wenig wie die individuellen Menschenrechte selbst. Das Konzept der individuellen Menschenrechte in einer zivilen Gesellschaft basiert auf der Annahme der Autonomie und Gleichheit aller Menschen, unabhängig von ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit, sowie auf der Trennung von staatlicher und gesellschaftlicher Sphäre. Dies beinhaltet mehr als eine rein normative Verpflichtung, weil Gleichberechtigung -317-
und Autonomie als natürliche Rechte des Menschen begriffen werden. Diese müssen von der Gesellschaft institutionell gegen den Staat als Leviathan im Hobbes'schen Sinne verteidigt werden. Folglich ist die Notwendigkeit der Eingrenzung des staatlichen Aktionsbereiches eines der zentralen zivilgesellschaftlichen Anliegen der liberalen Menschenrechtstheorie seit John Locke. Die individuellen Menschenrechte können eingefordert werden und sind dementsprechend als Rechtsansprüche gegenüber Staat und Gesellschaft zu verstehen. Da das liberale europäische Konzept von Menschenrechten der ganzen Menschheit Gleichheit und Autonomie - einschließlich des Rechtes auf deren Verteidigung - zuschreibt, haben diese einen universellen Charakter. Während der vergangenen 500 Jahre hat die westliche Zivilisation im Rahmen der europäischen Expansion die Welt dominiert. Das Modell der europäischen Gesellschaften und seine Entfaltung, die Norbert Elias mit dem Begriff des »Zivilisationsprozesses« beschrieben hat,19 wurde zum Muster für die gesamte Welt. Diese weltweite Verbreitung des europäischen Zivilisationsprozesses nenne ich in früheren Arbeiten »Verweltgesellschaftung des Zivilisationsprozesses«.20 In späteren Büchern habe ich nicht nur gelernt, stärker zu beachten, dass die Globalisierung der europäischen Strukturen nicht mit der Universalisierung der westlichen Werte einherging, sondern mich auch bemüht, genauer zwischen beiden Prozessen zu differenzieren. In neueren Veröffentlichungen spreche ich daher von der Gleichzeitigkeit von struktureller Globalisierung und kultureller Fragmentation und nicht mehr von einer Weltgesellschaft.21 Wenn ich über Globalisierung rede, übersehe ich dabei nicht, dass diese auch die Kolonisierung nichtwestlicher Regionen zwecks ökonomischer Ausbeutung mitsamt politischer Unterwerfung der dort lebenden Völker umfasst. Anders formuliert: Die europäische Expansion ist nicht mit dem Ziel der -318-
Universalisierung der kulturellen Moderne durchgeführt worden. Die Europäer konnten jedoch den ungewollten Export ihrer eigenen Ideen, die jede »bodenständige« (im Sinne von nativer Tradition) nichtwestliche Kultur umwälzten, nicht unterbinden. Genauso wenig konnten sie die Einarbeitung dieser Ideen, etwa der Volkssouveränität, in Legitimationsprinzipien für den antikolonialen Kampf nichtwestlicher Völker verhindern. So wurde beispielsweise in der Welt des Islam der vormoderne islamische Djihad (Anstrengung; in der historischen Realität jedoch Krieg zur Verbreitung des Islam) als antikolonialistischer Kampf für nationale Souveränität modern uminterpretiert. Die europäischen Kolonisten haben unbeabsichtigt ihre westlichen kulturellen Werte in einen fremden historischen Kontext exportiert,22 dem diese Werte bis heute fremd sind. Sie unterminierten damit - in welthistorischer Perspektive - indirekt ihre eigene Herrschaft. Hier liegt eine Spielart des historischen Phänomens vor, für das Hegel den Begriff »List der Vernunft« geprägt hat. Damit meint Hegel, dass historische Ereignisse oftmals andere Resultate zur Folge haben, als Menschen sie mit ihren Handlungen beabsichtigten. Ich wiederhole mit Nachdruck: Europäische Kolonialherren gingen nicht nach Asien und Afrika, um dort ihre Zivilisation der kulturellen Moderne zu verbreiten, auch wenn sie dies propagiert haben. Im Prozess der Entkolonisierung haben Asiaten und Afrikaner dann aber zur Bekämpfung ihrer Kolonisatoren auf europäische Ideen zurückgegriffen, die sie im Rahmen ihrer modernen Bildung kennen gelernt hatten. Dies ist ein Beispiel für die »List der Vernunft«, die sich im Geschichtsprozess durchsetzt. In diesem Sinne war die universelle Verbreitung der individuellen Menschenrechte, die ja für die westliche Hegemonie nicht gerade förderlich war, keine beabsichtigte Folge westlicher Politik. Die inhaltliche Bestimmung der Menschenrechte als -319-
individuelle Autonomie- und Gleichheitsrechte, die vom Einzelnen gegenüber dem Staat in Anspruch genommen werden können und von der Gesellschaft institutionell geschützt werden müssen, ist der strittige Punkt in der Diskussion um die Universalisierung dieser Rechte. Diese so verstandenen Menschenrechte stoßen in der islamischen Zivilisation auf Ablehnung. Es gibt zwei Muster von Kritik an dieser Bestimmung. Von einem marxistischen oder zumindest gesinnungsethisch sozialdemokratischen Standpunkt aus kann gegen dieses Verständnis eingewendet werden, dass es dem klassischen Liberalismus entspreche, soziale und ökonomische Rechte unberücksichtigt zu lassen. Diese Kritik übersieht die oben bereits vorgenommene Unterscheidung zwischen naturrechtlich begründeten Individual- und normativ geforderten Kollektivrechten, die für diese Diskussion über Menschenrechte zentral ist. Ich lehne soziale und wirtschaftliche Menschenrechte nicht ab, unterscheide sie jedoch systematisch von meiner Klassifikation der individuellen Menschenrechte: Beide Konzepte stehen nicht im Widerspruch zueinander, wie mancher gerne behauptet, der Kollektive statt Individuen in den Mittelpunkt stellt. Außerdem könnte man mir aus einer »Dritte Welt «Sichtweise Eurozentrismus unterstellen. »Dritte Welt‹‹-Autoren bestreiten die Auffassung, dass die hier behandelte Tradition der Menschenrechte aus der europäischen Moderne hervorgegangen ist. Im Namen der Kollektividentität ihrer jeweiligen Kultur bestreiten sie zudem die Universalität der Menschenrechte. Muslimische Apologeten predigen darüber hinaus ihre eigene Universalität. Wie ich schon in der Einleitung gezeigt habe, stellen sie die Behauptung auf, dass der Islam die allererste Zivilisation auf Erden gewesen sei, die durch göttliche Offenbarung eine vollständige Sammlung von Menschenrechtsnormen verliehen bekommen habe. Leider verwechseln nichtwestliche Autoren oft Menschen-320-
rechte, in der oben und in Kapitel 2 dargelegten Bedeutung, mit dem vormodernen Konzept der Menschenwürde.23 Es besteht kein Zweifel daran, dass viele vormoderne Kulturen Vorstellungen von Menschenwürde entwickelt haben. Diese historisch begründete Feststellung bezieht sich gleichermaßen auf den Islam, auf die meisten afrikanischen Lokalkulturen24 (wie etwa die der Dinka im Sudan) sowie auf nichtmonotheistisch religiöse Kulturen, die sich zu Zivilisationen (zum Beispiel der buddhistischen) gruppieren. Diese Aussage gilt auch für das mittelalterliche vormoderne Europa, in dem die Menschenwürde als Menschenbild, nicht aber als Menschenrechte im erläuterten Sinne vorhanden waren. Für Menschenrechte besitzen jedoch viele nichtwestliche vormoderne Kulturen, ähnlich den westlichen modernen Kulturen, moralische Äquivalente, die mit der diesen Kulturen vertrauten Menschenwürde zusammenhängen. Hier scheint mir ein möglicher Weg zur Akzeptanz der Menschenrechte (im Sinne von Berechtigungen des Individuums) auch in nichtwestlichen Kulturen zu liegen. Dafür müsste dort der Begriff der Menschenwürde mit Inhalt gefüllt werden. Er hätte Rechte zu umfassen, deren Einlösung durch Institutionen gewährleistet werden müsste. Ein ungelöstes Problem bleibt dabei jedoch die Bestimmung des Menschen als ein Individuum, die vormodernen Kulturen nach wie vor fremd ist. Dennoch insistiere ich auf dem Gebot der Universalität der Menschenrechte, ungeachtet der Tatsache, dass deren Grundlagen in den meisten nichtwestlichen Staaten noch nicht realisiert worden sind. Nicht nur die hässlichen Diktaturen tragen Schuld daran, sondern auch die Kollektivvorstellungen vormoderner Kulturen, die sich jeweils zu einer Zivilisation gruppieren, gehören zu den Hindernissen auf dem Weg zur weltweiten Verankerung der Menschenrechte. Die angestrebte Vereinbarkeit von kulturellen Normen nichtwestlicher Zivilisationen mit modernen westlichen -321-
Menschenrechtsvorstellungen stellt einen Beitrag zur Realisierung kulturübergreifender Ideale dar. In den Worten des Dinka-Sudanesen Francis Deng: »Menschenrechte sind dem Begriff von Menschlichkeit an sich inhärent; das Gegenteil zu behaupten, würde... jeglichen Fortschritt auf dem Weg zu einem universellen Menschenrechtskonsens verhindern. Die Befürwortung des Prinzips der Universalität bedeutet nicht, die Bedeutung kultureller Individualitäten bei einer näheren Bestimmung [der Menschenrechte, B.T.] in Frage zu stellen.«25 Diese Aussage zuzulassen bedeutet einzuräumen, dass in einer kulturell vielfältigen Welt jede Kultur ihre Spielart der Menschenrechte aus ihren autochthonen Quellen herleitet. Ein Kulturpluralismus - das heißt die Anerkennung der kulturellen Vielfalt, jedoch bei gleichzeitiger Ablehnung eines verantwortungslosen Kulturrelativismus (vgl. Kapitel 6) - steht nicht im Widerspruch zur Befürwortung der individuellen Menschenrechte auf einer universellen Ebene. Die verschiedenen Kulturen benötigen allerdings einen Basiskonsens, der die angestrebte Grundlage dafür bilden sollte. In mehreren Büchern26 habe ich den Kontrast zwischen einem wertebeliebigen Kulturrelativismus und einem einen Wertekonsens voraussetzenden Kulturpluralismus eingehender beleuchtet. Immer habe ich Toleranz als Anerkennung kultureller Differenz und Vielfalt befürwortet, gleichzeitig jedoch klar gemacht, dass diese Grenzen haben muss, wenn Menschenrechte universelle Geltung erlangen sollen. So können die menschenrechts-feindlichen Bestimmungen der Schari'a keinen Anspruch auf Toleranz erheben, weil sie einen Verstoß gegen die Grundlagen des Kulturpluralismus bedeuten.
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Wie die Schari'a Menschenrechte verletzt! Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass Anklagen von Menschenrechtsverletzungen vor »nichtwestlichen, kulturellautochthonen Eigenarten anderer Zivilisationskreise« Halt machen müssten. Ein solcher Kulturrelativismus ist nicht haltbar. Stattdessen sind die Konfliktfelder zwischen lokalen vormodernen Kulturen und einem anzustrebenden universellen Menschenrechtskonsens unzweideutig zu benennen. Die von einigen Zivilisationen, insbesondere von der islamischen, vorgetragene zivilisatorische Exklusivität ist mit einem genuin universellen und kulturpluralistischen Menschenrechtskonsens unvereinbar. Darüber hinaus sind die Menschenrechte individuelle und keine auf eine Gemeinschaft bezogenen Rechtsansprüche; sie dürfen nicht im Namen der religiösen Faraid (Pflichten) der Schari'a zurückgenommen werden, wie dies im Islam unserer Gegenwart der Fall ist.27 Ein kulturrelativistisches anything goes-Verständnis von Menschenrechten nach dem Motto »andere Kulturen, andere Sitten« (vgl. Kapitel 6) kann einen universellen Konsens über diese kostbarste aller menschlichen Errungenschaften verhindern, eben weil eine solche Wertebeliebigkeit keine verbindliche Werteorientierung zulässt. Ähnlich einzuschätzen ist die Zurückweisung individueller bürgerlicher und politischer Rechte zu Gunsten von einseitigen Ansprüchen auf soziale und ökonomische Kollektivrechte. Solch eine Argumentation unterminiert jegliche Versuche, gesellschaftliche Grundlagen für die gesetzlich geschützte Anwendung der Menschenrechte in der internationalen Politik zu etablieren. Bürgerliche und politische Individualrechte, verstanden als rechtliche Absicherungen einer mit ihnen korrespondierenden Praxis, stehen sozialen oder ökonomischen Rechten nicht entgegen. Es wird oft lapidar behauptet, dass die praktische Umsetzung der individuellen Rechte mit der jeweils eigenen kulturellen -323-
Tradition unvereinbar sei. Islamische Fundamentalisten lehnen zum Beispiel die Anerkennung individueller Rechte als einen »Import aus dem Westen«, der dem Islam fremd sei, ab. Dies ist aber eine ideologische und keine religiöse Argumentation, die es zudem verbietet, Menschenrechtsverletzungen, etwa Verletzungen der Glaubensfreiheit, anzuprangern. Erstaunlich ist, dass sich ebendiese Fundamentalisten bei ihrer Suche nach Asyl im Westen auf dieselben Menschenrechte berufen, die sie in ihren Ursprungsgesellschaften ablehnen. Die individuellen Menschenrechte, welche zunächst in Europa entstanden, wurzeln zwar in der westlich-liberalen Tradition,28 haben aber heute einen universellen Stellenwert. Sie können weder auf den Westen eingegrenzt noch von einer liberalen Tradition exklusiv beansprucht werden. Menschenrechte als individuelle Autonomie- und Gleichheitsrechte, die von der Gesellschaft mittels der Beschränkung des staatlichen Handlungsbereichs institutionell geschützt werden müssen, können durch nichtwestliche Auffassungen von Menschenwürde bereichert werden, die im Westen weniger ausgeprägt sind. Auch können sie um ökonomische und soziale Rechte erweitert werden. Jedoch dürfen die Bedeutung der grundlegenden individuellen Menschenrechte als natürliche Rechte einerseits und die normativen Anliegen von sozialer Gerechtigkeit andererseits, wie beispielsweise das Recht auf Entwicklung, nicht miteinander verwechselt werden. Die individuellen Menschenrechte, wie etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Individuums, sind naturrechtlich vorgegeben, auch wenn sie häufig verletzt werden. Das Recht aber, dass bestimmte Entwicklungsstandards an andere anzupassen sind, ist eine normative Forderung, die - so berechtigt sie auch sein mag - nicht wie die individuellen Menschenrechte naturrechtlich vorgegeben ist. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Frage, wie sich die Schari'a zu den Menschenrechten verhält. Mit den -324-
vorhergehenden allgemeinen Bemerkungen habe ich deshalb begonnen, weil ich mein Fallbeispiel, den Islam, in einen weltgeschichtlichen Rahmen einordnen möchte. Schon der islamische Glaube an die Überlegenheit gegenüber Nichtmuslimen ist eine Verletzung der Rechte der anderen. Im Rahmen dieses Überlegenheitsanspruches wird die Menschheit in 1. Muslime, 2. Dhimmi (Schutzbefohlene, gemeint sind Juden und Christen) und 3. Ungläubige (alle anderen) unterteilt. Wie bereits angemerkt, können nur die Dhimmi unter dem Banner des Islam als »Minderheiten« toleriert werden, wenn auch nur als Schutzbefohlene, das heißt als Menschen zweiten Ranges. Die Existenzberechtigung der dritten Gruppe wird von den Muslimen nicht anerkannt, weil für den Islam nur Monotheisten tolerabel sind. Diejenigen Muslime, die diese vorherrschende islamische Schari'a-Sicht nicht teilen, riskieren als Murtaddun (Apostaten) verfolgt und getötet zu werden. Die beschriebenen religiösen Doktrinen - sowie die ganze Schari'a - stehen dem transkulturellen Verständnis von Menschenrechten und einem damit verbundenen normativen Minimalkonsens im Wege. Dieser Erkenntnis schließt sich folgende Überlegung an: Falls die Völker des Islam beabsichtigen, einen Platz in einer pluralistischen, kulturell vielfältigen Weltgemeinschaft einzunehmen, müssen sie auf ihren Anspruch auf Überlegenheit verzichten. Bis zum Aufstieg des Westens waren die Muslime lange Zeit Herrscher über bedeutende Teile der Welt (7. bis 17. Jahrhundert); doch seit der europäischen Expansion gehören sie zu den underdogs und neigen angesichts dieser Schwäche dazu, sich in einem islamischen Weltghetto einzuigeln. Um beide Extreme - frühere Überlegenheit, heutige Unterlegenheit - zu überwinden, müssen sie religiöse Doktrinen reflexiv als tradiert betrachten, das heißt dem kritischen und revidierenden menschlichen Denken unterwerfen. Können Muslime diese Kritikfähigkeit erlernen? Ohne Kritik an der Schari'a können die Muslime die -325-
Menschenrechte der anderen, gleich ob Dinka, Juden, Christen, Buddhisten, Hindus oder auch Nichtgläubigen, deshalb nicht anerkennen, weil sie diese nicht als ebenbürtig einstufen können. Lapidar formuliert: Schari'a und Menschenrechte vertragen sich nicht, sondern verhalten sich zueinander wie Feuer und Wasser. Deshalb müssen wir fragen: Können Muslime lernen, die universell benötigte, von allen Kulturen zu teilende Sprache der Menschenrechte, des Pluralismus und der säkularen Toleranz unzweideutig und selbstverständlich zu sprechen? Ich meine, dass Muslime dies erst dann können, wenn sie Religionsreformen zur »kulturellen Bewältigung sozialen Wandels«29 in einer umfassenden Weise wagen! Offen muss ich meinen Lesern allerdings eingestehen, dass in unserer Gegenwart hierfür keinerlei ermutigende Anzeichen erkennbar sind - nicht einmal in der europäischen Islam-Diaspora. Auch die Islamische Deklaration der Menschenrechte,30 die ich in Kapitel 9 näher beleuchten werde, gibt keinen Grund zur Hoffnung. Es bietet Anlass zum Staunen, wenn in Deutschland wertebeliebige Gutmenschen nicht auf die Gefahr reagieren, die davon ausgeht, dass auch für die Islam-Diaspora die Geltung der Schari'a gefordert wird, eben weil sie - oft mangels Wissen nicht verstehen, worum es sich dabei handelt. Für eine Verankerung der individuellen Menschenrechte in der islamischen Zivilisation Bei der Erörterung des Verhältnisses von Muslimen zu den Menschenrechten kommen alternativ zwei Arten von Vorgehensweisen in Betracht: Erstens: Wir können auf der Basis der islamischen Schriften fern von der Realität argumentieren, das heißt auf der Grundlage des idealen Islam - dem Islam des Koran, an den alle Muslime als die abschließende und vollständige Verkündigung Gottes an -326-
die gesamte Menschheit glauben und dem des Hadith, die überlieferten Worte und Taten des Propheten Mohammed, zugrunde liegen. Das ist ein Skripturalismus, der aus der Verabsolutierung der Schrift hervorgeht. Deswegen nenne ich diese Betrachtungsweise schriftgläubig. Sie basiert oft auf einer selektiven Zitierung des Koran und des Propheten, was zeigt, dass diese Schriftgläubigkeit nicht mit integerer Gläubigkeit gleichzusetzen ist. Zweitens: Wir können wie westliche Religionssoziologen vom realen Islam, das heißt von der Religion als einem sozialen Tatbestand ausgehen und unser Augenmerk darauf richten, wie Muslime agieren und in welche sozialen und politischen Strukturen ihr Handeln eingebettet ist; hierbei lassen wir die religiöse Schrift außer Acht. Doch beide Herangehensweisen sind problematisch. Westliche Religionssoziologen sind mit ihrer Art des Vorgehens nicht in der Lage, den Islam zu verstehen. Und die schriftgläubigen Muslime, die sich auf die religiösen Texte und die Frage beschränken, ob Muslime im Einklang mit den islamischen Vorschriften handeln, glauben, dass der geoffenbarte Text exakte Handlungsweisheiten enthält, die zudem überhistorische, das heißt überzeitliche und überräumliche Gültigkeit haben. Auf diese Weise übersehen sie das zentrale Sinnproblem und die materiellen Realitäten. Wenn wir über das rein empirische Studium von Religionen hinausgehen und uns dem Sinnproblem zuwenden, können wir sehen, wie Gläubige historisch verschiedene Sinngehalte sozial produzieren und sie auf die in den jeweiligen Texten enthaltenen Symbole übertragen. Mit anderen Worten: Weder der schriftgläubige noch der real existierende Islam dürfen exklusiv unsere Betrachtungsweise bestimmen. Der Islam ist beides: ein Sinnproblem und soziale Wirklichkeit. Um die Handlungen von Muslimen zu verstehen, müssen wir beide Quellen von Identität aufeinander beziehen. -327-
Die Islamische Deklaration der Menschenrechte, die im Mittelpunkt des folgenden Kapitels stehen wird, ist ein kulturelles Dokument, an dem das muslimische Denken veranschaulicht werden kann. Dieses Dokument stellt einen Versuch dar, die westliche Tradition der Menschenrechte in den Islam hineinzuprojizieren. An dieser Stelle soll deutlich gemacht werden, dass dieser Versuch durch die besagte Deklaration in einer Art und Weise erfolgt, die am idealen Islam orientiert ist, das heißt von ersterer der oben vorgestellten Betrachtungsweisen, dem schriftgläubigen Islam, ausgeht. Die Verfasser der Deklaration waren bemüht, in polemischer Weise zu belegen, dass der Islam die Werte der Menschenrechte zu jeder Zeit beinhaltet hat. Somit stellt dieses Dokument ein typisches Beispiel eines skripturalistischen, das heißt auf der Schriftgläubigkeit basierenden Islamverständnisses dar. Die Beherrschung der Sprache der Menschenrechte setzt hingegen die Fähigkeit voraus, sich mit der Universalität der Menschenrechte in einer Welt auseinander zu setzen, die von einer globalen weltanschaulichen Konfrontation historisch belasteter Zivilisationen geprägt ist. Es gilt, diese einander näher zu bringen. In den islamischen Stellungnahmen zur Universalität der individuellen Menschenrechte vermisse ich eine Initiative, die sich - zumindest im normativen Bereich - um Nähe und somit um Verständnis zwischen den Zivilisationen bemüht. Wie ich bereits erwähnt habe, benötigen die Menschenrechte für ihre Verankerung und Realisierung eine institutionelle Basis, die über das Normative hinausgeht. Aus der Soziologie Max Webers wissen wir, dass es drei Idealtypen legitimer Herrschaft gibt: die traditionelle, die charismatische und die legale Herrschaft.31 Eine Herrschaft ist legal, wenn sie auf einem institutionalisierten Rechtssystem fußt. Dieses garantiert den gesetzlichen Rahmen für die Sicherung der Menschenrechte und ihrer Basisnormen. Ohne den modernen Charakter dieses Gegenstandes zur Kenntnis zu nehmen, interpretieren -328-
muslimische Autoren jedoch nun die Schari'a als die jeder politischen Herrschaft zugrunde liegende Rechtsstruktur und projizieren damit eine moderne Auffassung legaler Herrschaft in das traditionelle postkoranische Konstrukt eines islamischen Rechtssystems hinein. Diese Projektion erfolgt aber nur rhetorisch bei gleichzeitigem Fehlen der Substanz: Sie ist daher nichts anderes als neuer Wein in alten Schläuchen. Die Schari'a kann eine Willkürherrschaft, aber niemals eine legale, also rechtsstaatliche Herrschaft begründen. Die islamische Geschichte bietet dafür zahlreiche Beweise. Islamische Fundamentalisten behaupten, der Islam sei eine Demokratie, und verweisen dabei auf das Schura-Konzept, das in der Schari'a enthalten ist. Sie legen dieses Konzept als eine Rechtsvorschrift aus, die demokratische Beteiligung in einem islamischen Herrschaftssystem fordert. In einem anderen Buch habe ich die Vorstellung einer islamischen »SchuraDemokratie« näher beleuchtet und am Beispiel Saudi-Arabiens veranschaulicht, dass es einer Täuschung gleichkommt, die Schura als »islamische Form der Demokratie«32 darzustellen. Hier geht es mir zunächst darum, die Relevanz dieser Debatte für meine nachfolgende Fragestellung darzulegen. Im Mittelpunkt steht dabei die Entwicklung einer islamischen Menschenrechtstradition sowohl auf normativer Ebene als auch in der Realität. Als ein aufgeklärter Muslim reagiere ich - zum Beispiel auf die Idee der »Schura-Demokratie« - allergisch auf die altbekannte Apologie der Muslime, die in der selbstgefälligen Behauptung gipfelt: »Wir Muslime hatten bereits alles, einschließlich einer Menschenrechtstradition, bevor die Europäer es besaßen.« Aus meiner Sicht spiegeln solche apologetischen Ansprüche allerdings die Einstellung der meisten Muslime in der gegenwärtigen Situation wider. Diese ist von einer Einbettung der Zivilisationen und der ihnen zugehörigen lokalen Kulturen in eine globale Struktur gekennzeichnet, die jedoch von der westlichen Zivilisation dominiert wird. Um die -329-
Stellung des Islam in diesem zeitgenössischen globalen System zu beschreiben, habe ich den Ausdruck »Krise des modernen Islam« geprägt. In diesem Kontext habe ich die defensivkulturellen Einstellungen der Muslime, welche sie allerdings in einer aggressiv-offensiven Rhetorik artikulieren, in der gegenwärtigen Krisensituation untersucht. Ihre Antwort auf die Herausforderung, die von Demokratie und universellen Menschenrechten ausgeht, lautet: »Wir lehnen beides ab, weil wir unsere eigene Demokratie (die Schura) und unsere eigenen islamischen Menschenrechte haben!« Die Begegnung zwischen verschiedenen lokalen Kulturen ist ein altbekannter Prozess, für den wir diverse Formen in den meisten Phasen der Weltgeschichte finden können. Die hellenistischen Einflüsse auf den Islam können hierfür als ein positives Beispiel angeführt werden. Vor Beginn unseres modernen Zeitalters blieben derartige Begegnungen jedoch zumeist auf einen lokalen oder geographisch begrenzten, das heißt regionalen Rahmen beschränkt. Es gibt einige bemerkenswerte Ausnahmen, die demonstrieren, dass sich eine Zivilisation weit über ihre eigenen Grenzen hinaus ausbreiten und somit einen überregionalen Charakter gewinnen kann. Die islamische Expansion zwischen dem 7. und 17. Jahrhundert, die zugleich ein Welteroberungsprojekt war, kann beispielsweise als der erste Versuch in der Weltgeschichte dargestellt werden, eine zivilisatorische Weltanschauung zu universalisieren.33 Die 1683 gescheiterte Einnahme und Islamisierung Wiens leitete den Anfang vom Ende dieser islamischen Djihad-Expansion ein. Zu Beginn der Verkündung des Islam war dieser, in den Worten des berühmten Islamwissenschaftlers Maxime Rodinson, »eine arabische Religion für die Araber«.34 Doch bereits im Verlauf des ersten Jahrhunderts ihres Bestehens ergab es sich, dass diese sich zu einer neuen zivilisatorischen Gemeinschaft entwickelnde Religion nicht länger exklusiv arabisch war. Dies geschah ungeachtet der bekannten -330-
dauerhaften Verbindung des Arabertums, das heißt der arabischen Exklusivität, mit dem Islam. So kulturübergreifend und verbreitet er auch ist, der Islam hat niemals den Rahmen für eine globale Zivilisation gestellt. Die aus der europäischen Expansion hervorgegangene Globalisierung hat eine Verwestlichung35 mit sich gebracht, die weit effektiver war, als es die ihr mehrere Jahrhunderte vorausgegangene Islamisierung der Welt jemals gewesen ist. Wir haben es bei den Versuchen der Verwestlichung beziehungsweise Islamisierung der Welt mit zwei konkurrierenden Modellen36 zu tun, die jeweils ihre Geschichte haben: die islamische Djihad-Expansion sowie die europäische Eroberung der Welt und deren Verwestlichung. Unabhängig davon, dass jede Kultur in der Regel lokal produziert wird, kann sie durch ihre kulturübergreifende Ausbreitung über ihre lokal begrenzte Sinnproduktion und somit über ihre Grenzen hinausgehen. Das hat der Islam als ein kulturelles System im Geertz'schen Sinne in Afrika und Asien realisiert. Als Beispiele können der marokkanische und der indonesische Islam dienen. Sie sind zwei kulturell verschiedene Varianten ein und derselben Religion. Obwohl beide zur islamischen Zivilisation gehören, unterscheiden sie sich voneinander.37 Doch obgleich es eine umfassende islamische Zivilisation gibt, existiert kein weltweit einheitlicher, also monolithischer Islam; vielmehr finden wir eine Vielzahl lokaler Kulturen vor, die sich um den Islam als Zivilisation gruppieren. In diesem Sinne ist es zu verstehen, dass es eine islamische Zivilisation gibt, in die zahlreiche lokale Kulturen eingebettet sind.38 Sie alle teilen jedoch die Eigenschaft, in Bezug auf die Menschenrechte vormodern zu sein, weil keine dieser Kulturen einen Begriff vom Individuum als einem freien, mit individuellen Rechten ausgestatteten Subjekt hat. Auch beim weltanschaulichen Zusammenprall der Zivilisationen tritt die islamische Zivilisation als einigende Klammer vormoderner -331-
islamisch geprägter Kulturen gegen die global agierende westliche Zivilisation an und strebt nach einer »Entwestlichung der Welt«.39 Eine Pax Islamica ist jedoch keine Alternative zu einer modernen Welt. Dieser Konflikt zwischen der islamischen und der westlichen Zivilisation ist eine weltgeschichtliche und weltpolitische Realität; er ist friedlich lösbar, jedoch nicht durch das Wunschdenken einer globalen Zivilisation, die beide vereinigt. Von Europa lernen? Eine Kultursynthese, kein Zwang Wer Norbert Elias gelesen und verstanden hat, wird, wie ich, vor dem Hintergrund des von ihm entwickelten Entwurfs des »Zivilisationsprozesses« die Auffassung vertreten, dass die mit der Französischen Revolution einen Höhepunkt erreichende europäisch-westliche Zivilisation die erste war, die wahrlich eine Weltgeschichte begründen und ein Beispiel für die gesamte Menschheit setzen konnte. In Europa wurden Strukturen entfaltet, die - auf der Basis der europäischen Eroberung der Welt - globalisiert wurden. Somit wurde der historische Prozess der Zivilisation von Europa aus zum universellen Bezugsrahmen. Hinsichtlich des Gegenstands dieses Buches handelt es sich bei der weltweiten Verbreitung der Menschenrechte als grundlegende Rechte nicht um Globalisierung, sondern um Universalisierung. Strukturen können globalisiert werden, Werte hingegen werden universalisiert. Es macht daher keinen Sinn, von »globalen Werten« zu sprechen. Im Ursprung gehen die Menschenrechte, die universalisiert werden sollen, aus der säkular ausgerichteten Naturrechtsphilosophie hervor, die während der Französischen Revolution in der politischen Geschichte Europas verankert und zu einem Bestandteil des europäischen Zivilisationsprozesses wurde. Es ist unzweifelhaft, dass die Werte und Normen der -332-
Menschenrechte in dieser europäischen Tradition ihren historischen Ursprung haben, dass deren Wirkung jedoch nicht auf den Westen beschränkt blieb, sondern Teil des gemeinsamen Erbes der gesamten Menschheit wurde. Einige Vertreter der Ideologie des »Tiers Mondisme«, der Dritte-Welt-Romantik, sehen in der Verbreitung liberaler Menschenrechte nicht etwa eine Variante eines durch Europas Vorbild geprägten Lernprozesses, sondern schlicht einen Ausdruck des Kulturimperialismus. Die Menschenrechte auf diese Weise abzuqualifizieren muss - angesichts einer Situation, in der diese Rechte vielerorts auf der Welt verweigert werden als zynisch eingestuft werden, zumal dieser »Antiimperialismus« mancher Europäer zur Legitimation von Diktaturen in Asien und Afrika beiträgt. Wer für die Universalität der im Ursprung westlichen individuellen Menschenrechte eintritt, wird mitunter als Kulturimperialist moralisierend diffamiert. Es ist richtig, dass diese ursprünglich liberalen Werte nicht mehr länger auf die politische Tradition des europäischen Liberalismus beschränkt werden können. Außerdem existieren mit dem abstrakten Individualismus, mit rein politischen Rechten ohne soziale Gerechtigkeit und mit einem formalpartizipatorischen Politikverständnis durchaus auch Schwächen in der liberalen Theorie. In unserer Zeit werden diese liberalen Defizite im Rahmen einer Neubewertung des zeitgenössischen Liberalismus von vielen Publizisten und Wissenschaftlern diskutiert und im Zuge dessen die liberalen Werte gänzlich verleugnet. Doch wir können nicht übersehen, dass unser modernes Menschenrechtsverständnis auf der Globalisierung beziehungsweise Universalisierung europäischer Errungenschaften - vor allem der Institution der Demokratie sowie der ihr zugrunde liegenden ursprünglich liberalen Werte - basiert. Auf diese Weise zu argumentieren bedeutet weder, dass ich einem liberalen Bezugsrahmen für die Interpretation der modernen -333-
Welt zustimme, noch, dass ich den Liberalismus in die Geschichte nichtwestlicher Gesellschaften hinein interpretiere. Ich bin mir sowohl des Argumentes vom »Aufstieg und Niedergang des westlichen Liberalismus«40 als auch der (von der Kritik an der liberalen Theorie41) nachgewiesenen Mängel des liberalen Denkens bewusst und berücksichtige diese Überlegungen bei der Bestimmung meines Bezugsrahmens. Vertreter des antiwestlichen Denkens in der ehemaligen Dritten Welt, besonders die islamischen Fundamentalisten unter ihnen, missbrauchen die westliche Kritik an der liberalen Theorie, um die westliche Demokratie schlechthin abzuqualifizieren. Indem sie so verfahren, tragen sie dazu bei, die öffentliche Aufmerksamkeit von der politischen Willkürherrschaft in ihren eigenen Ländern abzulenken, in denen statt Demokratie Despotie vorherrscht. Sie kehren die liberale Argumentation um und betonen die soziale Dimension gegenüber der politischen Dimension der Menschenrechte. Manche dieser Gegner der individuellen Menschenrechte lehnen eine Debatte über diese Rechte schlichtweg mit dem Scheinargument ab, dass diese eine Domäne privilegierter bürgerlicher Eliten sei. Sie argumentieren in populistischer Manier, dass individuelle Menschenrechte nur durch die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse wie Nahrung und Behausung realisiert werden können - als ob beide Kategorien von Rechten im Widerspruch zueinander stünden. Um es noch einmal zu wiederholen: Wenn politische individuelle Menschenrechte in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt werden, wird nicht beabsichtigt, die Bedeutung materieller Bedürfnisse als Kollektivrechte herunterzuspielen. Vielmehr möchte ich das Augenmerk auf zwei miteinander verwobene Elemente richten, welche dennoch auseinander gehalten und nicht verwechselt werden sollten. Hunger und Nahrungsmittelknappheit, die auf ökonomische Rahmenbedingungen zurückzuführen sind, mögen der -334-
willkürlichen Politik undemokratischer Regime als Vorwand dienen, aber das Fehlen grundlegender Menschenrechte kann nicht allein auf solche ökonomischen Probleme zurückgeführt werden. Die notwendige Überwindung der Unterentwicklung darf nicht als Legitimation einer Diktatur dienen, auch dann nicht, wenn Diktatoren oder herrschende korrupte Eliten sich auf die Erfüllung von Entwicklungsaufgaben im Namen der Menschenwürde berufen.42 Selbst wenn das Streben entsprechender Regime nach Entwicklung aufrichtig ist, können Menschenrechtsverletzungen nicht mit dem Entwicklungsargument gerechtfertigt werden. Politische Theorie durch politische Ökonomie zu ersetzen - anstatt das eine durch das andere zu ergänzen beziehungsweise zu bereichern -, würde dazu führen, die vorhandenen Optionen auf eine Wahl zwischen zwei Übeln zu reduzieren. Die Vorbehalte gegen mein Eintreten, von Europa zu lernen, sind mir ebenso wie die Gegenargumente vertraut. Vorwürfe wie etwa der des »Orientalismus«,43 das heißt eine westliche Sichtweise des Orients, oder des Eurozentrismus bringen dies zum Ausdruck. Doch diese polemische Argumentationslinie ist es nicht wert, weiter verfolgt zu werden. Dagegen möchte ich meine Betonung der historischen Tatsache, dass unser modernes Verständnis von Menschenrechten ein Produkt des europäischen »Zivilisationsprozesses« (Norbert Elias) ist, mit meinem Plädoyer für interkulturelles kreatives Lernen verbinden. Unter Letzterem verstehe ich die innovative Einbindung der ursprünglich europäischen Tradition der Menschenrechte in nichtwestliche lokale Kulturen. Diese kulturelle Synthese beinhaltet die Artikulation der angesprochenen Rechte durch vermittelnde Elemente auf lokal-kultureller Ebene, ohne dabei das fundamentale und globale Anliegen zu vernachlässigen: Die Freiheit des Individuums als ein autonomes, sich selbst bestimmendes Subjekt. Eine kulturelle Aneignung der Menschenrechte durch Nichteuropäer aus vormodernen -335-
Kulturen bleibt fraglich, wenn dabei deren individuelle Freiheiten außen vor bleiben. Durch meine Herkunft als arabischer Muslim und durch meine islamische Erziehung in Damaskus sowie dank meiner mehrere Jahrzehnte andauernden Beschäftigung mit dem Islam im Vergleich mit anderen außereuropäischen Kulturen weiß ich, dass der Begriff der Individuellen Freiheit sowohl den islamischen wie auch vielen anderen nichtwestlichen vormodernen Kulturen fremd ist. Die Betonung der kulturellen Synthese zwischen Autochthonem und Erlerntem aus Europa erlaubt es uns, so meine ich, gleichzeitig und ohne Widerspruch von der Universalität der Menschenrechte und von Kulturpluralismus (nicht zu verwechseln mit Kulturrelativismus!) zu sprechen. Es stellt eine Bemühung um diese Universalität dar, an der Etablierung eines Mindeststandards für ein interkulturell geteiltes Menschenrechtsverständnis im Rahmen einer internationalen Moralität als kulturübergreifendem Konsens zu arbeiten. Angehörige unterschiedlicher Kulturen die Sprache der Menschenrechte in ihrer eigenen Muttersprache sprechen zu lassen, bedeutet zunächst die Anerkennung der bestehenden kulturellen Vielfalt, denn: »Es gibt keine universelle Moralität... Es gibt eine Vielzahl von Kulturen in der Welt, und diese Kulturen bringen ihre eigenen Werte hervor.«44 Und dennoch ist es möglich, auf internationaler, das heißt kulturübergreifender Ebene eine Moralität der Menschenrechte konsensuell zu begründen. Unsere Aufgabe in einer Situation, in welcher es an einer »universellen Moralität« fehlt, ist es, die entsprechenden lokalkulturellen Werte mit der Universalität der Menschenrechte zu vereinbaren. Ein globaler Wertekonsens kann dieses Fehlen kompensieren und die Grundlage für eine internationale Moralität schaffen. Auf den Islam übertragen bedeutet der skizzierte Bezugsrahmen, dass nicht ein Oktroyieren der Menschenrechte, -336-
sondern eine kulturelle Synthese anzustreben ist. Die Durchführbarkeit und Entfaltung einer auf der angestrebten Synthese basierenden islamischen Menschenrechtstradition erfordert die Einbettung des islamischen Weltbildes in einen universellen, pluralistisch-kulturellen Menschenrechtskonsens. Nur im Rahmen der Anerkennung eines religiösen Pluralismus kann es gewährleistet sein, dass der Islam sich reformiert und individuelle Menschenrechte anerkennt.45 Bevor ich dazu übergehe, die islamischen Bemühungen um die Grundlegung einer solchen Tradition zu bewerten, erscheint es mir notwendig, einige meiner Begriffe noch einmal näher zu bestimmen. Unter Menschenrechten verstehe ich nicht einfach die normative Verbundenheit mit dem Ideal der Freiheit des Individuums (vgl. Kapitel 2). Obgleich ich mir der Notwendigkeit der Etablierung kultureller, das heißt hier normativer Grundlagen für eine authentische Menschenrechtstradition in nichtwestlichen vormodernen Kulturen bewusst bin, möchte ich die Bedeutung einer institutionellen Untermauerung betonen, welche die legale Durchsetzung, das heißt den Vollzug (enforcement] dieser Rechte erst ermöglicht. Ohne diesen korrespondierenden institutionellen Rahmen innerhalb der politischen Strukturen der jeweiligen Gesellschaften bleibt jede normative Tradition von Menschenrechten bedeutungslos. In diesem Sinne wird mein Urteil über die im folgenden Kapitel 9 zu behandelnde, rein normative Islamische Deklaration der Menschenrechte negativ ausfallen, eben weil sie in die Kategorie der Menschenrechtsrhetorik, aber nicht in die der praktischen Umsetzung der Menschenrechte gehört. Ich fasse diese Deklaration als apologetisch auf, weil sie über normative, hier auf Schriftgläubigkeit basierende Versicherungen nicht hinausgeht. Mehr als die Aussage, dass der Islam sämtliche Menschenrechtsnormen bereits seit dem 7. Jahrhundert garantiert - ohne auch nur im Geringsten darauf -337-
hinzuweisen, dass diese Rechte in der islamischen Geschichte materiell jedoch zu keiner Zeit existierten -, liefert diese Deklaration nicht; sie dient eher der Täuschung als der Schaffung einer kulturübergreifenden Grundlage für die Verankerung der Menschenrechte im Islam. Im Rahmen meines Plädoyers an die Welt des Islam, von Europa zu lernen, habe ich auf die wichtige Unterscheidung zwischen einer Norm und den Institutionen, die ihre Realisierung absichern, aufmerksam gemacht. Nun scheint es mir - im Hinblick auf interkulturelle Lernprozesse – aufschlussreich zu sein, einen weiteren Blick auf die europäische Tradition zu werfen, aus der die Menschenrechte hervorgegangen sind. Lange vor der Französischen Revolution brachte der europäische Feudalismus Institutionen hervor, welche die Möglichkeit bereithielten, Demokratie als institutionelle Rahmenbedingungen für Menschenrechte zu entfalten. Der bedeutende Harvard-Gelehrte Barrington Moore lenkt in seinem großartigen komparativen, historisch-soziologischen Standardwerk Soziale Ursprünge von Demokratie und Diktatur unsere Aufmerksamkeit auf den wichtigsten Aspekt dieser Entwicklung, nämlich auf »... die Entstehung der Idee von der Immunität bestimmter Gruppen und Personen vis-à-vis der Macht des Herrschers und die Konzeption des Widerstandsrechts gegen eine ungerechte Herrschaft. Zusammen mit der Idee des Vertrages, einer von freien Partnern ungehindert eingegangenen Obligation... repräsentiert dieser Komplex von Ideen und Praktiken eine entscheidend wichtige Errungenschaft der europäischen mittelalterlichen Gesellschaft, auf der das moderne westliche Konzept einer freien Gesellschaft aufgebaut werden konnte.«46 Die
beschriebene
Verselbständigung -338-
gesellschaftlicher
Bereiche gegenüber dem Staat ist eben die Voraussetzung für die Bildung einer zivilen Gesellschaft. In einer Demokratie ist das Recht auf Opposition ein Bestandteil der politischen Kultur. Fehlt diese, dann ist Widerstand legitim, weil legale Opposition nicht möglich ist. Ist eine solche Entwicklung auch im Rahmen der Schari'a möglich? Die Frage ist rhetorisch, weil meine Leser mit den weltanschaulichen Nichtübereinstimmungen zwischen Schari'a und individuellen Menschenrechten bereits vertraut sind. Kein Widerstandsrecht in der Schari'a -Pflichten statt Rechte Obwohl nach der islamischen Doktrin der Staat der Umma (Gemeinschaft aller Muslime) untergeordnet wird, räumen muslimische Denker der Stabilität von Herrschaft oberste Priorität ein, selbst wenn diese ungerecht sein sollte. Demnach gab es in der islamischen Geschichte weder ein Widerstandsrecht in der Schari'a, noch ist nach islamischer Doktrin eine Trennung von Staat und Umma vorgesehen; Letztere wurde aber in der Realität dem islamischen Ideal des Kalifenstaates als Schatten Allahs untergeordnet. Nur bei den Sekten (so zum Beispiel den Kharidjiten) stoßen wir auf die entsprechend sektiererische, auch zum Mord bereite Haltung, wonach Muslime ungerechten Herrschern widerstehen, das heißt diese töten dürfen. Deshalb war die erste Opposition im Islam, die Kharidjiten, seit ihrer Entstehung der Gewalt verbunden. Ihr erstes Opfer war der Imam Ali. Die Assassinen, die sich später formierten und als Meuchelmörder betätigten, gehören in diese Tradition. Heute werden die im Untergrund tätigen fundamentalistischen Terroristen ebenfalls Kharidjiten genannt. Die Ulema (islamische Schriftgelehrte) lassen ein Widerstandsrecht beziehungsweise eine oppositionell-institutionelle Gegenkraft zum Herrscher nicht zu. Ibn Taimiyya (1263-1328) hat als autoritativer Faqih (Sakraljurist) des Mittelalters die islamische, -339-
bereits in der Einleitung zitierte Position der Schari'a zum Ausdruck gebracht: »Sechzig Jahre ungerechter Herrschaft sind für die islamische Gemeinschaft weniger schädlich als eine Nacht der Unordnung.«47 Dementsprechend stellte Ibn Taimiyya in der zitierten Schrift die Schari'a-Regel auf, die auch diesem Buch den Titel gab: »al-Sultan zhul Allah ala al-ard« (»Der Sultan ist der Schatten Allahs auf Erden«). Die islamischen Imame, die in dieser Tradition standen, waren stets orientalische Despoten, die gegen eine Absetzung immun waren; die einzige Möglichkeit, ihre Herrschaft zu beenden, war ihre Ermordung. Die Suche im Islam nach dem »wahren Imam«48, einem gerechten religiösen Führer, endete in der islamischen Geschichte mit Blutvergießen. Einige sektiererische Gruppen haben im Islam normativ das Recht auf Widerstand gegen eine Willkürherrschaft vertreten; doch ist diese Position niemals in eine etablierte islamische Tradition umgesetzt worden; sie blieb allein auf die Sektengeschichte beschränkt.49 Jene islamischen Sekten, die im Gegensatz zu Ibn Taimiyya Opposition zu herrschenden Regenten befürworteten (vor allem die Sekte der Khandjiten), vermochten es nicht, Institutionen für die Zähmung despotischer Herrschaft zu etablieren - eben weil sie nur Sekten waren. In der Schari'a gibt es keine Tradition des Widerstandsrechts. Hinzu kommt, dass eine Widerstandsnorm - sofern sie überhaupt existiert - bedeutungslos bleibt, solange keine dafür benötigte institutionelle Untermauerung existiert. -340-
In der neueren europäischen Geschichte von Herrschaft, Toleranz und Widerstand50 entstand durch die Trennung von Gesellschaft und Staat - unter Betonung der Immunität zahlreicher gesellschaftlicher Sphären vis-a-vis dem Staat - eine Zivilgesellschaft, welche die Basis für die Entfaltung einer Tradition von Menschenrechten bildet. Ich habe auf der panarabischen Konferenz über die »Krise der Demokratie in der arabischen Welt« (November 1983) vor Vertretern mannigfaltiger arabischer Oppositionsgruppen argumentiert, dass eine solche Trennung während aller Phasen der islamischen Geschichte bis hin zur Gegenwart stets gefehlt habe.51 Dies lässt das islamische politisch-kulturelle Erbe in einem klaren Licht erscheinen: In der islamischen Schari'a gibt es keine von der Gesellschaft geschützten individuellen Rechte »gegen« den Staat. Das Gewicht liegt in der Schari'a auf den religiösen Pflichten, den Faraid. Zudem ist der Islam, wie beinahe alle vormodernen Kulturen, im Kollektiv verankert. Auf diese Weise besteht ein Zusammenhang zwischen politischer Unterdrückung und kulturellen Einstellungen gegenüber den individuellen Menschenrechten. Mit anderen Worten: Das Fehlen individueller Menschenrechte in der Zivilisation des Islam hängt gleichermaßen mit der orientalischen Despotie, also dem Fehlen legaler Herrschaft, und der Schari'a als entsprechendem kulturellen Muster zusammen. In diesem Sinne ist es kein Zeichen von Eurozentrismus, der humanistischen Position des Vaters der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, in seiner Würdigung der europäischen Errungenschaften zuzustimmen, dass der Westen »trotz seines ominösen Potentials, trotz all seiner inneren und äußeren Ungerechtigkeiten, immer noch eine Insel in Zeit und Raum bildet, deren Untergang im Ozean der Tyrannei auch den Untergang der Kultur bedeuten würde, eine Insel, der die kritische Theorie angehört«.52 Ich habe ihn am Ende des vierten Kapitels ebenfalls angeführt, wie auch in meinem Europa-341-
Buch,53 das ich im Geiste Horkheimers gegen die Wertebeliebigkeit des Multikulturalismus geschrieben habe. Die Verteidigung der kollektivistischen Einwandererkulturen, die aus nichtwestlichen Zivilisationen stammen, stellt gegenüber der europäischen Aufklärung eine défaite de la pensée (Niederlage des Denkens) dar, wie der politisch linke Franzose Alain Finkielkraut mit Recht gegen die Akzeptanz vormoderner Kulturen argumentiert.54 Mehrmals habe ich auf das scheinbare Paradox hingewiesen, dass Fundamentalisten in Geist und Herz antiwestlich sind, aber die eifrigsten Fundamentalisten in eben diesen verhassten Westen flüchten, wenn sie ihren orientalischen Despoten entfliehen wollen. Die Zentralen der fundamentalistischen Opposition und ihre logistischen Basen befinden sich in Europa und Nordamerika, nicht in der Welt des Islam. Dieser Satz stand bereits in der Erstausgabe dieses Buches; seit dem 11. September ist sich die ganze Welt der Richtigkeit dieser Feststellung bewusst.55 In Frankreich sind sich Linke und Konservative darüber einig, dass sie gemeinsam das Erbe der Französischen Revolution gegen das Eindringen der Einwandererkulturen verteidigen müssen. Der Franzose Jean-Franςois Revel hat in seinem Buch Democracy against itself (1993) gezeigt, dass religiöse Fundamentalisten als eine der größten Gefahren für die Demokratie seit dem Ende des Kalten Krieges anzusehen sind; diese nehmen die Demokratie in Anspruch, um selbige zu bekämpfen. Mein Anliegen in diesem Buch ähnelt dem der Frankfurter Schule, welche einige Elemente der westlichen Kultur kritisierte, aber parallel dazu für die Bewahrung der bedeutendsten Errungenschaften der westlichen Zivilisation eintrat. Mein Anliegen besteht darin, ein authentisch islamisches, jedoch nicht religiös exklusives Verständnis von Menschenrechten zu entwickeln, das vom europäischen Erbe durch interkulturelle Lernprozesse profitieren kann. »Von -342-
Europa lernen« kann nicht heißen, Europa nachzuahmen. Die vorangegangenen Bemerkungen in diesem Kapitel stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen sich meiner Ansicht nach die Anstrengungen zum Erreichen dieses Zieles bewegen sollten. Mein Ziel ist es, unter Einbeziehung der spezifisch islamischen Rahmenbedingungen den muslimischen Umma-Kollektivismus und die Fixierung auf die Faraid in der Schari'a zumindest in Europa zu überwinden. Mir ist bewusst, wie lebensgefährlich es für mich ist, dieser Aufgabe nachzugehen. Nach der in diesem Buch zitierten Fetwa des Scheichs al-Ghazali gilt jeder Muslim, der für die Suspendierung der Schari'a eintritt, als Murtad (Apostat) und darf ermordet werden, ohne dass der Täter mit einer Bestrafung rechnen muss. Ich hoffe, dass die menschliche Vernunft über der Fetwa eines fundamentalistischen Scheichs steht. Über das europäische Schweigen zu den Forderungen saudischer Politiker, welche die Schari'a auch innerhalb der europäischen Islam-Diaspora mittels der Finanzierung von entsprechenden Aktivisten (unter anderem islamischer Zentren) durchsetzen wollen, kann ich nur staunen. Die instrumentelle europäische Vernunft verdrängt offenbar, dass Saudi-Arabien die Universelle Deklaration der Menschenrechte nicht unterschrieben hat. Resümee und Schlussbetrachtung Die in diesem Kapitel enthaltenen Gedankengänge zusammenfassend, halte ich zwei zentrale Punkte fest: Erstens: Die Verankerung der Menschenrechte in einem lokalkulturellen Rahmen muss mit dem Versuch einhergehen, ein universelles Interesse an diesen Rechten zu wecken. Die Betonung des kulturellen Pluralismus in unserer Welt steht nicht im Widerspruch dazu, sich die Menschenrechte anzueignen -343-
trotz der historischen Tatsache, dass sie aus der europäischen Tradition hervorgegangen sind, und nicht zuletzt deshalb, weil heute ihr Anspruch auf Geltung universell geworden ist. Zweitens: Menschenrechte sind nicht einfach ein rein normatives Anliegen. Die Verankerung von Menschenrechten in nichtwestlichen vormodernen Kulturen muss Hand in Hand gehen mit dem Aufbau eines institutionellen Rahmens, der ihre Durchsetzung absichert. In unserem Zeitalter der Vernetzung und der Globalisierung muss es auf internationaler Ebene möglich sein, Menschenrechte auch institutionell (zum Beispiel durch Interventionen) zu schützen - wie dies beispielsweise schließlich auf dem Balkan geschehen ist. Auf einer rein kulturell-normativen Ebene zu betonen, dass ein Kulturmuster, wie es die islamische Schari'a bietet, sämtliche Ziele der Menschenrechte bejaht, während in der Geschichte all diese Rechte materiell fehlen, erscheint mir, wie gesagt, zynisch. Mehr noch, von einem ethischen Standpunkt aus gesehen sind solche Behauptungen über die Schari'a skandalös. Wir können beobachten, dass die mit Nachdruck vorgetragene Aussage, der Islam als ein System von Normen statte die Muslime mit allen Menschenrechten aus, mit einem Schweigen über die tatsächlichen Verletzungen dieser Rechte in Vergangenheit und Gegenwart des Islam einhergeht. Diese Kritik gilt für die Schari'a im Allgemeinen und für die Islamische Deklaration der Menschenrechte, die uns in Kapitel 9 beschäftigen wird, im Besonderen. Auf einer nichtreligiösen Ebene organisierte das in Beirut ansässige Institute for Arab Unity Studies im November 1983 den bereits erwähnten groß angelegten arabischen Kongress über die Krise der Demokratie in der arabischen Welt. Die Kongressteilnehmer wurden auf einer strikt pluralistischen Basis ausgewählt und repräsentierten annähernd alle politischen Richtungen. Charakteristischerweise fand dieser Kongress im -344-
nichtarabischen Ausland - in Limassol/Zypern - statt. Trotz mancher Kontroversen über diverse Streitpunkte wurde eine Übereinstimmung hinsichtlich der kaum zu bezweifelnden Aussage erzielt, dass arabische Regime, ungeachtet ihrer politischen Orientierung, ihren Bürgern oder der Realität entsprechender: ihren Untertanen - alle grundlegenden Menschenrechte vorenthalten. Am Ende dieser Veranstaltung stand die Gründung der Arabischen Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte.56 Ihre Berichte aus den 1990er Jahren sind deprimierende Dokumente, welche die Einschätzung bestätigen, dass die individuellen Menschenrechte in allen arabo-islamischen Ländern mit Füßen getreten werden. Diese Organisation besteht heute, im Jahre 2002, praktisch nicht mehr. Aus Sicht der säkularorientierten Arabischen Organisation für Menschenrechte ist der Schutz der grundlegenden Rechte des Menschen mit dem Grundsatz der individuellen Freiheit verbunden. Im Gegensatz dazu steht Die Islamische Deklaration der Menschenrechte, die denselben Gegenstand auf einer religiösen Ebene, das heißt auf der Basis der Schari'a behandelt. Wenngleich ich die institutionelle Wirkung dieses Dokumentes als gering einschätze, bin ich der Ansicht, dass es einer eingehenderen Betrachtung wert ist, da es eine autoritative islamische Auffassung zu der betreffenden Frage widerspiegelt. Zuvor will ich festhalten, dass es ohne Geltung der Menschenrechte nicht nur keine Freiheit, sondern auch keine Entwicklung gibt. Diese Erkenntnis belegt nun ein Bericht der UN-Behörde für Entwicklung, der UNDP; der Bericht trägt den Titel »Arab Human Development Report« (veröffentlicht im Juni 2002). Die Neue Zürcher Zeitung fasst ihn wie folgt zusammen: »Solange dominante Gruppen, die nur nach Macht, einflussreichen Positionen und materiellem Reichtum streben, -345-
als löbliche Vorbilder gelten, werden arabische Bürger wenig dazu ermuntert, individuelle und soziale Ideale von Freiheit, solider Arbeitsethik, Wissen und Zusammenarbeit zu verfolgen. Nur eine Vertiefung echter Demokratie und die damit einhergehende Veränderung der Herrschaftsstrukturen fördern die erwünschte Veränderung. Doch aktive Veränderung gehört auch zu den wichtigsten Führungsaufgaben auf allen Ebenen der Gesellschaft; die Elite muss das erstrebenswerte Verhalten der Menschen in einem System ›guter Regierung‹ gestalten und vorleben.«57 Die NZZ kommentiert anschließend, dass der UN-Bericht zwar »...Empfehlungen für eine liberale Demokratie, die Förderung der Privatwirtschaft und eine Öffnung auf die Moderne und die Globalisierung... [enthält, B.T.]... die üblichen Einwände arabischer Machthaber über Besonderheiten ihrer Völker und Kulturen, wie etwa die Erfordernisse islamischer Herrschaft, werden [jedoch, B.T.] souverän beiseite geschoben.« (ebd.) Mein Kommentar lautet, dass nicht die Globalisierung, sondern die Unterdrückung der Menschen in der arabischen Welt - wie überall in der islamischen Zivilisation - hinter der Rückständigkeit, der Armut und dem Elend dieses Teils der Erde steht. Die politische Kultur, die diese Unterdrückung ermöglicht, wird von den Machteliten und den sie religiös legitimierenden Ulema als »islamische Besonderheit«, gar als »islamische Identität« mystifiziert. Die Islamisten befinden sich zwar in Opposition zu den Despoten, stehen aber dennoch im Schatten ihrer Macht. Heute herrscht Elend in den Staaten der islamischen Zivilisation, die von korrupten Eliten beherrscht werden. Die -346-
Islamisten erheben sich gegen die bestehenden Regime in ihren Ländern und fordern die Einführung der Schari'a. Doch wenn die Islamisten als Gegeneliten mit ihrer Schari'a an die Macht kommen, wird parallel zum Elend noch eine neue Form des orientalischen Despotismus eingeführt, die Hakimiyyat Allah (Gottesherrschaft). Auf der Strecke bleiben dabei die Menschenrechte. Auf diese Weise lässt sich die Demokratie nicht in den Islam einführen. Der Bedarf nach Demokratisierung in der islamischen Zivilisation58 erfordert politische und soziokulturelle Voraussetzungen, welche die Islamisten - vor allem in Bezug auf die individuellen Menschenrechte - nicht erfüllen. Der Islamismus ist aus dem Scheitern des säkularen Nationalismus hervorgetreten.59 Die Islamisten sind Gegeneliten;60 ihr politischer Gegenentwurf, der desäkularisiert, wird bei der Elendsbekämpfung ebenfalls versagen.
-347-
Kapitel 9 Gibt es islamische Menschenrechte?
Die Islamische Deklaration der Menschenrechte und ihr Stellenwert dargestellt am Fall Taslima Nasrin
Mit der in der Überschrift enthaltenen Frage problematisiere ich gleich zu Beginn, ob wir Muslime anders sind als der Rest der Menschheit und ob es deshalb spezifische Menschenrechte für uns Muslime gibt. Diese Frage würde sich jeder unbefangene Leser nach der Kenntnisnahme der Islamischen Deklaration der Menschenrechte stellen. Sie könnte auch folgendermaßen lauten: Warum gibt es überhaupt eine solche Erklärung eigens für Muslime, wenn die Muslime ebenso Menschen sind wie Nichtmuslime? Möglicherweise ist meine Kontrastierung, dass ein Europäer, nicht aber ein Untertan eines islamischen Herrschers solche Fragen angstfrei stellen kann, für meine deutschen Leser schwer verständlich oder sogar nicht nachvollziehbar. Ich äußere es offen: Muslime, die nicht als freie Bürger im Westen leben, dürfen solche Fragen nicht stellen. Auf der UN-Weltkonferenz für Menschenrechte in Wien (Juni 1993) haben Sprecher islamischer Regierungen in den höheren Etagen des Austria Center gegen die universelle Geltung der individuellen Menschenrechte - auf einem niedrigen Niveau polemisiert. Gleichzeitig tagten in den Kellerräumen desselben pompösen Gebäudes jener Mammut-Konferenz (etwa 4000 -348-
Teilnehmer) die Vertreter der NGOs (Non-Governmental Organizations). Hierzu gehörte unsere Arabische Organisation für die Verteidigung der Menschenrechte, die durch den Ägypter Dr. Mohammed Sayyid Said vertreten wurde. Vor diesem nongovernmentalen Menschenrechtler trat ein Libyer auf, zeigte die durch Folter verursachten Narben an seinen Armen und Schultern und berichtete, dass er auf einem Treffen in Tripolis gewagt hatte zu fragen, warum von »arabisch-islamischen Menschenrechten«, nicht aber von »allgemeinen Menschenrechten« geredet werde, und ob Araber und Muslime sich denn von anderen Menschen unterschieden. Dieser Libyer - ein Filmemacher - wurde daraufhin verhaftet und vom libyschen Terrorgeheimdienst wochenlang gefoltert. Gehören das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung (und sei es nur das Recht, Fragen zu stellen) nicht zu den elementaren allgemeinen Menschenrechten? Vertreter der muslimischen Menschenrechte, die in Wirklichkeit keine sind, sprechen eben von »Menschenrechten der Muslime«, wie sie in der Schari'a verankert seien. Wir haben in den beiden vorangegangenen Kapiteln jedoch erfahren, dass die Schari'a primär eine Pflichtenlehre ist. Meinen diese »Menschenrechtler« mit spezifisch »islamischen Menschenrechten« eher eine neue Version der Lehre der Faraid, das heißt der Pflichten? Freies Denken und Glaubensfreiheit sowie körperliche Unversehrtheit gehören nicht zu den Anliegen der Schari'a. Nach der Erläuterung der Islamischen Deklaration der Menschenrechte werde ich dies am Fall Taslima Nasrin konkretisieren. Kein Homo islamicus, aber ein weltanschaulicher Konflikt Wenn man den - allerdings nicht von Muslimen, sondern von westlichen Orientalisten eingeführten - Homo islamicus1 als -349-
Mythos ablehnt, muss man schlicht festhalten, dass Muslime Menschen wie alle anderen sind, deren Rechte deshalb allgemeine Menschenrechte sind und die nicht mehr Pflichten als andere Menschen haben sollten. Warum dann das Gerede von exklusiv islamischen Menschenrechten? Warum nicht »allgemeine Menschenrechte« auch für Muslime? Bei der Beantwortung dieser Frage befinde ich mich in Europa und nicht in Libyen, und hierdurch besitze ich die Freiheit, diese und andere Fragen zu stellen, ohne Folter befürchten zu müssen. Wenn sich meine Leser die eingangs erzählte Geschichte vergegenwärtigen, können sie vielleicht verstehen, warum ich als arabischer Muslim aus einem vorderasiatischen Land Europa so vehement verteidige und mich sorge, dass die europäischen Werte der Freiheit durch die im Namen der »Toleranz« stattfindende »Islamisierung Europas«2 gefährdet sind. Bekanntlich vollzieht sich das Denken immer auf einer sprachlichen Ebene. So verrät die von Islamisten verwendete Sprache - dem, der sie versteht - stets einen verdeckten Gedankengang. Er bewegt sich etwa in folgender Richtung: Muslime hätten, so wird behauptet, eine Authentizität (vgl. den Bezug auf V. S. Naipaul am Ende dieses Kapitels) - damit meinen die Islamisten eine andere Stellung als die der Nichtmuslime (gemeint sind die Ungläubigen) -, so dass Menschenrechte für Muslime demnach besondere, eben nicht allgemeine Menschenrechte sein müssten. Ist das so? Und - so fragen wir uns erneut - sind diese Rechte Berechtigungen im Sinne von entitlements oder vielmehr eine Neuauflage des islamischen Konzepts der Faraid (Pflichten) gegenüber der Umma (Gemeinschaft aller Muslime)? Werden hier also Pflichten unter dem Deckmantel von »Rechten« serviert? Die Lektüre der Islamischen Deklaration der Menschenrechte bestätigt die Vermutungen und Befürchtungen, die hinter diesen Fragen stehen. -350-
Um es vorab hervorzuheben: Es gibt keine alle Menschen verbindende Weltkultur und eine solche ist auch nicht möglich. Denn Kultur ist stets inhaltlich-substantiell eine lokale Sinnproduktion und nicht etwa oberflächlich ein »Coca-ColaTV-Hamburger-Konsum«. Daher wiederhole ich mein Eintreten für einen Kulturpluralismus einerseits, also für die Anerkennung der Vielfalt der Kulturen bei gleichzeitiger Abgrenzung von der Gleichgültigkeit des Kulturrelativismus (vgl. Kapitel 6); die allgemein verbindliche Anerkennung der Universalität - zum Beispiel der Menschenrechte - ermöglicht schließlich erst die gegenseitige Anerkennung und das friedliche Zusammenleben der Kulturen. Deshalb muss andererseits die Partikularität der Lokalkulturen in Bezug auf allgemeine Geltung begrenzt werden, um eine in Frieden lebende Weltgemeinschaft zu gewährleisten. Aus der Anerkennung der Vielfalt der Kulturen und der daraus resultierenden kulturellen Differenz3 muss nicht Chaos und Unverbindlichkeit folgen, auch wenn in diesem Zusammenhang oft die Gerechtigkeitsfrage gestellt wird. Ein Wertekonsens ist im Hinblick auf ein friedliches Zusammenleben der kulturell unterschiedlichen Völker eine Grundvoraussetzung zur Verhinderung des Zusammenpralls der Zivilisationen.4 In dem vorangegangenen Kapitel habe ich den Versuch unternommen, die Idee eines begrenzten Kulturpluralismus mit jener der Universalität der Menschenrechte zu harmonisieren und beide als Bestandteile meines Bezugsrahmens vorgestellt. In meiner Argumentation gehe ich von der faktischen - historisch erwachsenen - Situation der kulturellen Mannigfaltigkeit in unserer heutigen Welt aus, in welcher objektiv ein Bedarf besteht, universelle und zugleich verbindliche Standards für den Schutz der Menschenrechte zu etablieren. In diesem Zusammenhang ist es unbedingt erforderlich, beides zu vereinbaren: die Zulassung einer gewissen Partikularität der Lokalkulturen und zugleich die Gewährleistung einer Universalität ver-351-
bindlicher Rechte. Eine Synthese dieser Art mag zunächst irreführend oder gar unmöglich erscheinen; deswegen müssen wir vor möglichen Inkonsistenzen auf der Hut sein. Es mag als selbstverständlich angesehen werden, dass beispielsweise im Islam universelle Menschenrechte akzeptiert werden, obwohl in Wirklichkeit ausschließlich die Rechte einer besonderen Menschengruppe, das heißt der Muslime, gemeint sind. Wenn von den Menschenrechten im Islam die Rede ist, muss deutlich gemacht werden, ob wir über die Einführung dieser Rechte - im Sinne von Berechtigungen - in die islamische Zivilisation sowie ihrer kulturellen Verankerung sprechen oder ob damit exklusiv die Rechte von Muslimen und potentieller Konvertiten gemeint sind. Mit anderen Worten: Sind heutige Muslime bereit - so frage ich als einer von ihnen -, ihre traditionelle Zweiteilung der Welt in Gut und Böse, in »Gläubige« und »Ungläubige« beziehungsweise in Dar al-Islam (Haus des Islam) und Dar al-harb (Haus des Krieges) durch die Zulassung des von religiösen Inhalten freien Begriffs der Menschheit, unbeschadet der religiösen Zugehörigkeit, aufzugeben? Nur eine eindeutige Antwort auf diese Frage macht die Diskussion über Universalität im Kontext der islamischen Zivilisation sinnvoll. Im Dialog mit dem Islam sucht man diese erforderliche Eindeutigkeit allerdings bislang vergeblich.5 Im vorangegangenen Kapitel habe ich für die kulturelle Verankerung universeller Menschenrechte, das heißt für die Integration eines im Ursprung europäischen Konzepts in nichtwestliche lokale Kulturen und übergeordnete Zivilisationen, zum Beispiel die des Islam, argumentiert. Im Hinblick auf den Islam wird diese Verankerung, die mit dem Fachausdruck »Endogenisierung« umschrieben wird, als eine Islamisierung von Menschenrechten definiert. Die islamwissenschaftlich ausgebildete Juristin Ann E. Mayer weist uns auf die Option hin, dass »die gegenwärtige Phase der Islamisierung von Menschenrechten nur eine zeitlich begrenzte -352-
Übergangsphase sein dürfte, welche in der Zukunft von einer vollständigeren Assimilation der international gültigen Menschenrechtsprinzipien abgelöst wird«.6 Die Alternative zu dieser Entwicklung, die ebenfalls den Ausdruck »Islamisierung« für sich in Anspruch nimmt, ist jedoch - wie Ann E. Mayer richtig argumentiert - die umgekehrte Möglichkeit, nämlich, »dass islamische Kriterien verwendet werden könnten, um die Durchdringung der lokalen Rechtsstruktur mit einem vollen Verständnis der Bedeutung genuiner Menschenrechte zu blockieren«. Im weiteren Verlauf dieses Kapitels führe ich die Diskussion anhand der Islamischen Deklaration der Menschenrechte fort. Diese scheint zunächst ein Versuch zu sein, die erste Option zu verwirklichen. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass ihre Argumente zur zweiten Option führen, also dazu den Menschenrechten einen islamischen Charakter zu geben, statt den Islam in diese zu integrieren. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass besagte Deklaration die den Menschenrechten widersprechende Vorstellung von einer islamischen Zentralität, das heißt den Vorrang der Muslime, an keiner Stelle revidiert oder gar in Frage stellt. Die Antwort auf dieses mit Mängeln behaftete Verständnis von Menschenrechten, wie es in der Deklaration dargelegt ist, bietet bedauerlicherweise kein inhaltlich besseres Konzept. Sie ist vielmehr eine kategorische Zurückweisung dieser Rechte, wie sie in der bekannten Charakterisierung der Menschenrechte durch Khomeini zum Ausdruck kommt: »Was sie [die Europäer, B.T.] Menschenrechte nennen, ist nichts anderes als eine Sammlung korrupter Regeln, die von den Zionisten ausgearbeitet worden sind, um die wahre Religion [den Islam, B.T.] zu zerstören.«7 Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das islamische, am Kollektiv orientierte Konzept religiöser Faraid dem islamischen Denken und Kulturerbe vertrauter ist als die moderne westliche -353-
Vorstellung von individuellen Menschenrechten. Diese Einsicht fördert das Verständnis für die Schwierigkeiten, die der Einführung des Menschenrechtsgedankens in das islamische Denken im Wege stehen, und verleiht dem Begriff des an früherer Stelle diskutierten Kulturrelativismus (Kapitel 6) eine spezifische Bedeutung. Halten wir fest: Der Kulturrelativismus wird auf europäische Werte, nicht auf den Islam angewendet. Der 1995 verstorbene Ernest Gellner hat daher Recht, wenn er in seinem letzten Buch anklagend schreibt, dass Kulturrelativisten »nur ihre eigene Tradition der Aufklärung«,8 nicht aber den religiösen Fundamentalismus zur Zielscheibe der Kritik machten. Die Einstellung dieser Kulturrelativisten sei, wie Gellner weiter schreibt: »... dass der Absolutismus zu tolerieren ist, wenn er von fremden Kulturen kommt... wenn er [aber, B.T.] in der eigenen Kultur auftaucht, darf er nicht geduldet werden.« (ebd.) Die Schwierigkeiten der Muslime, Menschenrechte zu akzeptieren, sind nicht nur wertebezogener und weltanschaulicher, sondern konkreter Natur, und dies hat mit der Politik westlicher Staaten zu tun, die sich rhetorisch auf Menschenrechte beruft, praktisch jedoch oft im Widerspruch dazu handelt.9 In diesem Zusammenhang erscheint den Muslimen das westliche Eintreten für Menschenrechte als rein opportuner Rückgriff auf ein Konzept, mit dessen Hilfe die Interessen westlicher Staaten verteidigt werden sollen. Es werden in diesem Kontext durch Christen erfolgte Menschenrechtsverletzungen gegenüber Muslimen in Bosnien sowie im Kosovo mit sehr viel Polemik angeführt. Die negative Einstellung vieler Muslime zu den Menschenrechten wird durch diese weltpolitischen Zusammenhänge potenziert. Das anhaltende Engagement des Westens auf dem Balkan (Bosnien und Kosovo) hat diese antiwestliche Einstellung nicht -354-
abschwächen können. Im Folgenden möchte ich mich auf den grundsätzlichen Konflikt zwischen religiös definierten Pflichten in der islamischen Zivilisation und individueller Freiheit in der westlichen Zivilisation konzentrieren, weil dieser aufdeckt, dass die auf den Islam zentrierte Sichtweise ein sehr wesentliches Hindernis für die kulturelle Neubestimmung der islamischen Weltanschauung ist. Auch wenn es die Fehler des Westens auf dem Balkan nicht gegeben hätte, würden muslimische Gemeinschaften der Pluralität der Kulturen ablehnend gegenüberstehen, weil für sie die islamische Umma Anspruch auf Dominanz hat. Angesichts der Doktrin von der islamischen Zentralität (die Muslime halten sich gemäß dem Koran für die »beste Umma«) stellt sich die Frage, ob diese Doktrin den Sinn des Konzepts der universellen Menschenrechte, das von den Muslimen in ihr eigenes kulturelles System zu übernehmen wäre, dahingehend einschränkt, dass dann am Ende die Rechte der Muslime im Vordergrund stünden. Es geht hier darum, ob in der Welt des Islam Nichtmuslime jedweder Herkunft kulturell als Gleiche akzeptiert werden können. Ohne die Erfüllung dieser Voraussetzung kann der Konflikt zwischen Islam und individuellen Menschenrechten im Bereich der Beziehungen der Muslime zu Nichtmuslimen nicht bewältigt werden. Erfolgt diese kulturelle Bewältigung nicht, dann bleiben islamische Äußerungen über Menschenrechte lediglich Bestimmungen der Rechte der Muslime, nicht Rechte der Menschen im Allgemeinen. Der Konflikt zwischen den Zivilisationen bleibt dann als Zündstoff der Weltpolitik erhalten und wird weiterhin richtungsweisend für die Zukunft sein. Wenn ich die kulturelle Dimension des Konflikts derart in den Mittelpunkt stelle, übersehe ich dabei die sozialökonomische Asymmetrie zwischen dem Westen und der Welt des Islam nicht. Mein Argument ist jedoch, dass diese Ungleichheiten nicht die Ursache für den weltanschaulichen Konflikt sind. -355-
Solange Europäer nicht lernen, den Stellenwert der Weltanschauungen in den Beziehungen zwischen den Zivilisationen angemessen einzuschätzen, bleibt ihnen ein Verständnis dieses Konflikts verwehrt.10 Die Ansprüche der Islamischen Deklaration Einerseits vermittelt den Muslimen das Selbstverständnis des Islam - dass Muslime die endgültige und vollkommene Offenbarung Gottes an die Menschheit besitzen - einen hohen Stellenwert und somit ein außerordentlich starkes Bewusstsein, das mit dem angeführten Anspruch auf eine islamische Zentralität zusammenhängt. Andererseits behindert diese Selbstwahrnehmung und die damit korrespondierenden Selbstbilder die Muslime in ihrer Entwicklung und erschwert auch ihre Einbettung in eine pluralistische Welt. Im Wesentlichen finden wir diesen Zentralitätsglauben in allen Verlautbarungen der islamischen Orthodoxie sowie im Islamismus, also auch in der Islamischen Deklaration der Menschenrechte. Dieser religiöse Absolutismus hat zwei Quellen, die beide als Skriptur existieren: den Koran und die Überlieferung des Propheten, den Hadith (als Basis der Sunna); beide gelten als die zwei wichtigsten Primärquellen des Islam. Mit diesen einleitenden Bemerkungen bezwecke ich nicht, eine Einführung in den Islam vorzunehmen - das habe ich bereits im ersten Kapitel getan. Ich vergegenwärtige die hier angeführten Fakten allein wegen ihrer Relevanz für das zentrale Anliegen dieses Kapitels. Sie müssen zur Sprache gebracht werden, da uns die erste Passage der 1981 in Europa verkündeten und veröffentlichten Islamischen Deklaration der Menschenrechte an diese gegenüber der gesamten Menschheit beanspruchte Zentralität des Islam erinnert. Bezüglich der Frage nach dem Ursprung der Menschenrechte lesen wir bereits im -356-
ersten Paragraphen des einleitenden Abschnitts der Deklaration: »Vor 14 Jahrhunderten legte der Islam die rechtliche Basis für die Menschenrechte in ihrem vollen Umfang. Mit diesen Rechten verband der Islam alle erforderlichen Garantien zu ihrem Schutz. Der Islam schuf die Gesellschaft entsprechend diesen Rechten und bot damit die Basis für ihre Verwirklichung.«11 Die Deklaration verkündet in unzweideutiger und selbstgefälliger Weise die »Tatsache«, dass Menschenrechte für den Islam kein neues Phänomen darstellen. Nach dieser Auffassung waren diese Rechte zu allen Zeiten Bestandteil der islamischen religiösen Doktrin. Somit wird der in Kapitel 2 vorgetragene Befund, wonach die Menschenrechte als individuelle Berechtigungen gegenüber Staat und Gesellschaft eine Errungenschaft der kulturellen Moderne sind, zurückgewiesen. Liegt hier aber nicht doch ein Missverständnis vor? Verstehen die Autoren der islamischen Deklaration nicht doch etwas anderes unter Menschenrechten als die angesprochenen individuellen Berechtigungen gegenüber Staat und Gesellschaft? Es lohnt sich, in der Deklaration nachzulesen: »Diese im Namen des Islam verkündete Deklaration basiert auf der Lektüre des Koran und des authentischen Hadith des Propheten.« Weiter wird ausgeführt: »Wir gehen von der Annahme aus, dass die menschliche Vernunft ohne die göttliche Führung unfähig ist, den richtigen Weg für ein angemessenes Leben zu finden.« Dieser Glaubenssatz ist eine radikale Abweisung der Substanz der kulturellen Moderne, nämlich des Subjektivitätsprinzips, das die genaue Umkehrung dieses Zitates zum Inhalt hat. Individuelle Menschenrechte aber können kaum ohne dieses Subjektivitätsprinzip der kulturellen Moderne12 gedacht werden. -357-
Trotz ihrer obsessiven Apologetik verheimlichen die Verfasser der Deklaration nicht, dass das »Wissen über die Leiden in der gegenwärtigen Welt als auch über die Existenz repressiver Regime« den realen Hintergrund für diese Deklaration darstellt. Doch erfassen sie mit ihrem Bild vom Menschen, dem sie Autonomie und subjektive Freiheit absprechen, die Ursachen dieser »Leiden«? Eine sorgfältige Lektüre der Islamischen Deklaration der Menschenrechte zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Urheber des Textes sich nicht mit der Geschichte des Islam bezüglich der Menschenrechte befassen, sondern vielmehr ihrem Publikum einen schriftgläubigen, idealen Islam als Modell für die Realität präsentieren. Diesen aber hat es in der 14 Jahrhunderte umfassenden Geschichte des Islam niemals gegeben. Die »islamischen« Menschenrechte der Deklaration werden auf der Basis der Schriftgläubigkeit konstruiert. Dieses Modell ist jedoch nichts anderes als die ungenaue Projektion der modernen europäischen, jedoch von ihrer Substanz, das heißt von dem Subjektivitätsprinzip entleerten Menschenrechtstradition in den Islam. Gleichzeitig beansprucht es für den Islam, der Menschheit zuerst diese Rechte verkündet zu haben. Diese Projektion moderner Inhalte in den Islam geschieht nur auf den ersten Blick mit den Mitteln der Schriftgläubigkeit: Der Koran und der Hadith werden stets ausführlich zitiert, um zu beweisen, dass sie Menschenrechte als göttliche Offenbarung verkünden. In Wirklichkeit sind die vorgetragenen Ideen zum Teil beinahe wortwörtlich den internationalen Menschenrechtsdokumenten der UN entnommen. Streng genommen ist dies also keine Methode rein schriftgläubiger Argumentation, da das tatsächliche Vorbild eben die Universelle Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 ist, die zu den religiös geglaubten Grundsätzen im Widerspruch steht. Man braucht kein Muslim zu sein, um mit allen 23 in der Islamischen Deklaration aufgeführten Grundsätzen im Prinzip -358-
übereinzustimmen, da diese schlicht und einfach auf einem islamischen Verständnis der europäischen Tradition von Menschenrechten basieren, ohne dass dieser Hintergrund explizit verdeutlicht würde. Selbst wenn den 23 aufgelisteten islamischen Menschenrechtsprinzipien also zunächst nicht grundsätzlich widersprochen werden kann, werden nichtmuslimische Leser und Menschenrechtler nur schwer akzeptieren können, dass der Islam diese Rechte als Erster ausgesprochen haben soll. Studenten der islamischen Geschichte, Islamwissenschaftler und Islamologen werden im Allgemeinen der Behauptung widersprechen, dass die in jedem der 23 Paragraphen enthaltene, auf unsere Gegenwart bezogene und recht wohlmeinende Interpretation der islamischen Quellen auch in der Vergangenheit stets die vorherrschende Islaminterpretation gewesen sei. Dies trifft in der Tat nicht zu und ist historisch schlichtweg falsch. Stimmen wir dem Anspruch dieser Deklaration zu, ein Modell für die Realität zu sein, so werden wir doch über die Realität selbst im Unklaren gelassen. Die historische Tatsache, dass diese Rechte in der islamischen Geschichte materiell niemals existiert haben, bleibt dem Betrachter verborgen. Der Islam der zitierten Deklaration ist kein realer, sondern ein ideal konstruierter Islam, der auf einer projektiven Interpretation der Texte der islamischen Religion basiert. Muslime leben jedoch in den historisch bedingten Realitäten und nicht in idealen Entwürfen. Der Widerspruch zwischen dem Ideal und der Realität geht mit einem anderen einher: dem Widerspruch zwischen einer Predigt für Menschenrechte und dem Glauben, dass Muslime den Nichtmuslimen moralisch überlegen seien. Der Text der Deklaration
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Es erscheint mir sinnvoll, die 23 in der Deklaration angeführten »islamischen« Menschenrechte durchzugehen, von denen jedes mit einem Zitat aus dem Koran oder aus dem Hadith (Überlieferung des Propheten) belegt wird. Schriftgläubigkeit ist somit die Grundlage; diese steht im Widerspruch zum Räsonieren, das heißt zum Vernunftsdenken. Schauen wir uns die wichtigsten dieser Rechte der Islamischen Deklaration an: 1. »Das Recht, in Würde zu leben« 2. »Das Recht auf Freiheit« 3. »Das Recht auf Gleichheit« 4. »Gerechtigkeit« 5. »Das Recht auf gesetzliche und gerechte Behandlung vor Gericht«. Es ist verblüffend, hier in der Deklaration die Behauptung zu lesen, dass der Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung (al-Bara'a hiya al-asl) ursprünglich eine islamische Rechtsdoktrin sei, wobei der rechtsgeschichtlich moderne Charakter dieser Regel völlig übersehen wird. Dem Kenner des Arabischen bleibt die sprachlich neuarabische Formulierung nicht verborgen. Anders formuliert: Die neuen, ins Arabische eingeführten Begriffe der Sprache der Menschenrechte lassen sich weder im Koran noch im Hadith finden. 6. Zu den in der Islamischen Deklaration enthaltenen Rechten gehört der »Schutz vor der Willkür politischer Herrschaft«. Nun weiß jeder Kenner der islamischen Geschichte, dass der islamische Staat wie auch nichtislamische traditionelle Staaten keinerlei Beschränkungen unterlagen. Die Aussage, dass der Staat in der islamischen Geschichte stets eine »orientalische Despotie«13 war, sollte hier jedoch nicht als Anklage gegen den Islam verstanden werden. Erst im modernen Zeitalter, parallel zur Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft als einer civil -360-
society,14 ist der Staat als Leviathan (Hobbes) problematisiert worden. Dies geschah im Hinblick auf institutionell abgesicherte Einschränkungen und Begrenzungen seines Handlungsspielraumes durch gesellschaftsvertragliche Verrechtlichung, die sich die Verteidigung der individuellen Freiheit zum Ziel gesetzt hatte. Vor der Herausbildung des modernen säkularen Staates, der auf dem Prinzip der »legalen Herrschaft« im Sinne Max Webers basiert, gab es in keinem Zivilisationskreis einen institutionellen Schutz vor der Willkür politischer Herrschaft.15 Das vormoderne Europa wie auch die islamische Konzeption des Staates machten hierin keine Ausnahme. Auch im Islam und seiner Zivilisation ist die Zivilgesellschaft einführbar,16 aber dies erfordert Reformen und ein neues Verständnis des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft, das die islamische Orthodoxie nicht zulässt. 7. »Das Recht auf Schutz vor Folter« 8. »Das Recht des Individuums, seine Ehre und seinen Ruf zu schützen« 9. »Das Recht auf politisches Asyl«. Dieses Recht wird in der Deklaration als ein im Ursprung islamisches Menschenrecht aufgeführt, obgleich der moderne, in keiner islamischen Quelle vorhandene arabische Begriff Ludju' siyasi (politisches Asyl) den neuartigen Charakter dieses Konzeptes offenbar macht. 10. »Die Rechte der Minderheiten«. Die Deklaration verweist an dieser Stelle auf Vers 256 der Koransure al-Baraqah: »Kein Zwang in der Religion.« In Wahrheit schützt der ideale Islam nur monotheistische Minderheiten als Dhimmi (Schutzbefohlene; gemeint sind Christen und Juden), aber niemanden sonst. Der Orientkenner W. G. Lerch hat der Tragödie der rechtlosen Minderheiten im islamischen Orient ein ganzes Buch gewidmet und mit Recht gezeigt, dass es ohne politische Aufklärung keine politische Kultur geben kann, in der die Rechte der Minderheiten garantiert werden.17 In islamischen Ländern darf man indes noch nicht einmal über dieses Problem -361-
sprechen. So hat es der ägyptische Sozialwissenschaftler Saad Eddin Ibrahim gewagt, in seinem Ibn Khaldun Zentrum in Kairo, das inzwischen geschlossen wurde, Minderheitenforschung zu betreiben und bedeutsame Werke vorzulegen. Dies hat ihm nicht nur seine Karriere, sondern auch seine Freiheit gekostet: Er befindet sich heute (2002) im Gefängnis.18 11. »Das Recht auf politische Partizipation«. Das arabische Wort für diesen Begriff, al-Musharakah, ist eine neuarabische Prägung. Es führt kulturell-politisch einen neuen Sinn ein. Die Deklaration bezieht sich auf das islamische Prinzip der Schura (Beratung). Die islamische Legitimation der Herrschaft greift auf dieses Recht zurück - so wie zum Beispiel in Saudi-Arabien, um eine islamische Alternative zur Demokratie zu bieten. 12. »Die Freiheit des Gedankens, der politischen Überzeugung und der Meinungsäußerung«. Die detaillierte Beschreibung dieser Rechte in der Deklaration vermittelt die Bedeutung des Grundsatzes vom droit à la différence. Dieses Recht garantiert die uneingeschränkte Freiheit, eine Meinung zu vertreten, die von jener der Mehrheit abweicht, auch wenn diese Mehrheit Umma heißt. Es ist ein modernes Menschenrechtsprinzip, das unzweifelhaft aus der europäischen Tradition der Aufklärung hervorging und leider im Islam noch keine Wurzeln geschlagen hat. Es ist sehr verlockend, im Einklang mit diesem zentralen Menschenrecht eine neue islamische Tradition zu etablieren, aber die Behauptung, dies sei schon immer eine authentisch islamische Norm gewesen, entbehrt jeder historischen Grundlage. 13. Die Deklaration geht über die Vereinnahmung des droit à la différence weit hinaus und erklärt »das Recht auf die Freiheit des religiösen Denkens: Jede Person ist frei, eine eigene Überzeugung zu haben und sie zu vertreten, in Übereinstimmung mit der koranischen Verkündigung ›Ihr habt Eure Religion und ich habe meine‹ (›Lakum dinakum wa liya din, al-An'am‹)«. Dieses Grundrecht materiell-historisch -362-
tatsächlich im Islam zu etablieren würde eine kulturelle Umwälzung erfordern, die bisher in der islamischen Geschichte gefehlt hat. 14. »Das Recht, für seine eigenen Überzeugungen zu werben und sie zu verbreiten«. Es stellt sich die Frage: Gilt dieses Recht auch für Nichtmuslime? Die Muslime haben in Deutschland über 2400 Moscheen und dürfen Da'wa (Missionierung) betreiben, aber Christen dürfen dies in islamischen Ländern nicht. 15. »Ökonomische Rechte«. Die Darstellung dieser Rechte in der Deklaration stimmt mit der modernen Kritik des rein politischen Liberalismus überein, welche die ökonomische Dimension der menschlichen Freiheit betont. 16. »Das Eigentumsrecht« 17. »Das Recht auf Arbeit« 18. »Das Recht, grundlegende menschliche Bedürfnisse zu befriedigen« 19. »Das Recht, eine Familie zu gründen«. 20. Dieses Prinzip führt »Die Rechte der Ehefrauen« an, inklusive des Rechtes einer Frau, die Scheidung einzureichen, womit das Monopol des Ehemannes in diesem Bereich beendet wäre. Ein solches Recht hat es niemals zuvor in der islamischen Geschichte gegeben. Auch in unserer Gegenwart entbehrt dieses Recht in den meisten islamischen Ländern einer materiellen Grundlage. Im Koran steht zudem eindeutig: »Männer sind Frauen überlegen«. 21. »Das Recht auf die Erziehung der Kinder« 22. »Das Recht auf Privatsphäre beziehungsweise Intimität« 23. »Das Recht auf Reisen (Mobilität) und freie Wahl des Wohnortes«. Muslime führen dieses Recht an, um die Berechtigung für die Zuwanderung aus armen islamischen Ländern in das prosperierende Europa hervorzuheben. Mit -363-
Hidjra19 (Migration) verbindet der Islam dabei die Pflicht zur Verbreitung desselben; dies kann wohl kaum als Menschenrecht angesehen werden. Ohne erschöpfend zu sein, umfasst diese Liste doch den zentralen Kernbereich der Menschenrechte, obwohl sich auch solche darunter befinden (zum Beispiel das 23. Prinzip), die nicht dazugehören. Wenn wir darin übereinstimmten, dass die Diskussion über die Ursprünge der Menschenrechtstradition als reine Ideengeschichte unerheblich für das Ziel ihrer weltweiten materiellen Geltung ist, könnten wir die Muslime in dem guten Glauben belassen, dass ihre Religion diese Rechte als Erste verkündet habe, wie die angeführte Deklaration und einflussreiche islamische Autoren (Mohammed al-Ghazali, Mohammed Imara und andere) behaupten. Voraussetzung hierfür wäre jedoch, dass auf muslimischer Seite die Universalität der Menschenrechte akzeptiert, jene nicht auf »Rechte von Muslimen« reduziert und als Faraid gedeutet würden. An dieser Stelle müssen wir wiederum betonen, dass die bloße Verkündigung irgendwelcher Rechte wertlos bleibt, solange diese nicht durch einen handfesten institutionellen Rahmen untermauert werden, der die Ausübung dieser Rechte garantiert und ihre Verletzung durch politische Herrschaftsinstanzen des Staates verhindert. Die Zuschreibung von Menschenrechten als Werte, die ihren Ursprung im Koran haben, führt zwar eine neue kulturelle Bedeutung ein, ist aber noch kein Indiz für die materielle Existenz dieser Rechte oder ein Hinweis darauf, wie sie geschützt werden könnten. Somit bleibt die erläuterte Islamische Deklaration lediglich ein rhetorisches Dokument islamischer Apologetik, um die Welt des Islam vor dem Vorwurf tatsächlicher Menschenrechtsverletzungen zu schützen. In der Realität der islamischen Gesellschaften werden aber alltäglich Menschenrechte im Namen des Islam verletzt, wie in diesem Kapitel am Beispiel der -364-
Taslima Nasrin noch zu erläutern sein wird. Von der normativen Verkündung der Menschenrechte zu ihrer praktischen Durchsetzung im Islam In dem oben diskutierten Modell einer islamischen Deklaration der Menschenrechte können wir trotz aller Kritik feststellen, dass dort der interessante Versuch unternommen wird, dem Islam auf der Ebene kultureller Werte einen modernen Charakter zu verleihen. Dieser Versuch führt objektiv zu dem Ergebnis, dass die normativen Aspekte von Menschenrechten als durchaus vereinbar mit den Wertvorstellungen des schriftgläubigen Islam wahrgenommen werden, aber leider durch die Auffassung von der islamischen Zentralität in ihrer Geltung doch eingeschränkt sind. Wenn ich hier Abstand von Zweideutigkeiten nehme und stets die weltanschauliche Differenz zwischen westlichen Individualmenschenrechten und islamischen Faraid-Bestimmungen anführe, dann nicht, um zu verurteilen, sondern allein, um zu zeigen, wo etwas unternommen werden kann, um zwischen beiden Zivilisationen Brücken zu bauen. Hier darf keine verlogene Diskussion geführt werden.20 Der nächste Schritt wäre, die Frage nach der realen Verwirklichung dieser Ideen und dem institutionellen Rahmen für ihre Durchsetzung, der die materielle Existenz von Menschenrechten gewährleistet, zu stellen. Auf der Suche nach einer Antwort mag der Bezug auf die Lehre von Max Weber über die politische Herrschaft hilfreich sein. Ihr zufolge gibt es, wie bereits erwähnt, drei reine Typen legitimer Herrschaftsformen, nämlich die traditionale, die charismatische und die rational-legale.21 Von einem historischen Blickwinkel aus können wir dann argumentieren, dass nur die legale Herrschaft einen wirklich institutionellen Rahmen zum Schutz der -365-
Menschenrechte bietet. In einem die Bezeichnung »legal« verdienenden politischen System ist politische Herrschaft in einem zeitlich begrenzten Amt verkörpert und definiert sich - als überaus wichtiges Kriterium - durch eine rechtlich-rationale, von Institutionen kontrollierte Bindung der zeitlich limitierten Herrschaft an ebenso institutionell gültigen Normen. Ein einer Person verliehenes Amt kann ihr institutionell wieder aberkannt werden, wenn der Amtsinhaber die festgesetzten Regeln des Amtes nicht befolgt. Eine solche Amtsenthebung gibt es im Islam jedoch nicht. Der erste Herrscher im Islam, der wegen Veruntreuung abgesetzt werden sollte, der zweite Raschidun-Kalif Oth-man22 (ermordet 656), lehnte die Rücktrittsforderung mit der Begründung ab, dass der Herrscher im Islam ein von Gott eingesetzter Imam (religiöser Führer)23 sei, der nicht von Menschen abgesetzt werden dürfe. Ein ausdifferenziertes institutionelles System, in dem eine nach dem Prinzip der Gewaltenteilung unabhängige und autonome Judikative eine zentrale Rolle spielt, ist der Hüter jeder legalen Herrschaft. Ein solches hat es im Islam nie gegeben. Es reicht nicht aus, auf die Frömmigkeit der Herrscher als Imame oder auf ihr subjektives religiöses Pflichtgefühl, so wie dies im Islam der Fall ist, zu vertrauen. Vielmehr ist eine institutionell kontrollierbare Unterordnung unter das Recht das Rückgrat jeder legalen Herrschaft. Dies ist eine säkulare, das heißt weltlich zu regelnde, und keine göttliche Angelegenheit, die zwischen Herrscher und Gott unter Ausschluss des Volkes zu entscheiden wäre. Wie gehen Muslime damit um? Kann die Schari'a - mit dem Anspruch, geoffenbartes Recht zu sein, das weder in Gesetzbüchern festgehalten (also kodifiziert) noch in Institutionen verankert (also institutionalisiert) werden kann Menschenrechte schützen? Die islamische Geschichte kennt nur die Suche nach dem »wahren Imam«, nicht nach der besten -366-
Institution. Im klassischen Islam entwickelte der mittelalterliche Rechtsgelehrte Ibn Taimiyya die Vorschrift, dass der politische Herrscher als Imam - möge er auch noch so ungerecht sein - nur Gott gegenüber verantwortlich sei.24 Er sei der »Schatten Allahs« (vgl. Vorrede). Ibn Taimiyya ist heute die Autorität der Islamisten, wie er früher die der Orthodoxie war. In der Gegenwart, das heißt im modernen Islam, werden also alte Traditionen fortgeführt. In der Islamischen Deklaration der Menschenrechte lesen wir, politische Herrschaft sei ein »Amt«, das Gott - also nicht das Volk - verleihe. Vor Gott sind Herrscher und Beherrschte jedoch Gleiche. Gott habe das islamische Recht, die Schari'a, verkündet, um die Beziehungen zwischen ihnen zu regulieren: »Der Herrscher, als Amtsinhaber, ist verpflichtet, hinsichtlich der Ghayat (Ziele) und der Minhadj (Methoden) in Einklang mit der Scha-ri'a zu handeln.« Im Bewusstsein dieser Aussage projizieren die Verfasser der Islamischen Deklaration offensichtlich den Charakter einer »legalen Herrschaft« in den Islam hinein. Für sie ist die Schari'a nicht nur islamisches Recht, sondern universell, das heißt Recht im Allgemeinen, also für die gesamte Menschheit bestimmt - auch für die islamische Diaspora in Europa! Legale Herrschaft basiert auf modernem Recht, welches legislativ ist. Die Schari'a jedoch ist ein interpretatives Recht, das auf der Erforschung des göttlichen Willens, wie er im Koran geoffenbart worden ist, basiert (vgl. Kapitel 7). Es geht also um göttliche Gebote als ethisch-moralische Richtlinien für das Leben der Menschen, nicht aber um Rechte als materielle Regeln für Institutionen. Im Islam bestimmen letztlich Fuqaha (Sakraljuristen) das Recht und behaupten, es komme von Allah; wer dies nicht anerkennt, gilt als Ungläubiger. In der realen Geschichte des Islam handelten die Rechtsgelehrten im Auftrag des Herrschers, um das Recht - zur Rechtfertigung seiner willkürlichen und manchmal auch -367-
nichtwillkürlichen Handlungen - immer post festum, also im Nachhinein auszulegen.25 In seinem signifikanten Werk Studies on the Civilization of Islam hat Sir Hamilton Gibb von der Harvard University für die im Nachhinein erfolgten Schari'arechtlichen Legitimationen den Begriff post eventum geprägt. Es gibt an keiner Stelle im Koran einen Anhaltspunkt dafür, dass Ulu al-amr (die Herrscher, laut Koran) nach der Schari'a handeln müssten und dass ihnen dies durch Islamgelehrte im Nachhinein bescheinigt werden müsste. Das ist allerdings Teil der islamischen Geschichte. Die Islamische Deklaration der Menschenrechte möchte den Islam an diesem Punkt als Demokratie deuten und greift auf ein anderes islamisches Rechtsprinzip, die Schura, zurück, um es als eine islamische Vorschrift für politische Partizipation zu interpretieren.26 Der Deklaration zufolge ist die islamische Gesellschaft »eine Gesellschaft, in welcher die die öffentlichen Angelegenheiten der Umma betreffenden politischen Handlungen wie auch das Verhalten der Autoritäten, die diese politischen Aktivitäten vornehmen, in Übereinstimmung mit dem System der Schura organisiert sind«. Dieser Versicherung folgt die Anführung des Koranverses »Und sie vollziehen ihre Angelegenheiten in gegenseitigem Einverständnis« (al-Schura, 37). Diese Verweise auf die Schari'a und die von ihr abgeleitete Schura in der Islamischen Deklaration der Menschenrechte bringen allerdings nichts Neues zum Ausdruck. Die hier anstehende Problematik wird in der politischen Literatur des islamischen Fundamentalismus breit diskutiert; insbesondere steht die Anwendung der Schari'a auf dem Programm. Allerdings erfolgt diese Diskussion auf der Ebene der polemisch ausgerichteten schriftgläubigen Textbezüge. Ehe ich mich im folgenden Kapitel diesen zeitgenössischen islamischen Debatten über die Schari'a im Hinblick auf ihren Beitrag zur Menschenrechtsproblematik widme, möchte ich in den restlichen Teilen dieses Kapitels auf den Fall der -368-
islamischen Schriftstellerin Taslima Nasrin eingehen, um die gesamte Problematik zu konkretisieren. Die Rhetorik der islamischen Menschenrechte und die Praxis der Verfolgung von andersdenkenden Muslimen in unserer Gegenwart Antiwestliche Anklagen orthodoxer Muslime und Islamisten zentrieren sich um die Heuchelei des Westens in Bezug auf die Menschenrechte. Doch finden wir in diesem Kreis genau das vor, was beanstandet wird: die Rhetorik der Rechte und die Praxis der Unterdrückung und Verletzung dieser Rechte. Der Fall der Schriftstellerin Taslima Nasrin27 ist ein Beleg hierfür. Diese muslimische Frau musste 1994 von Bangladesch nach Stockholm fliehen, um ihr Leben vor religiös-politischer Verfolgung zu retten - islamische Fundamentalisten bedrohten sie mit Mord. Als sie jedoch Deutschland aufgrund einer Vortragsreise besuchen wollte, war sie auch in Berlin nicht sicher. Totalitäre Fundamentalisten gibt es nicht nur in der Welt des Islam. Diese kommen als politisch Verfolgte nach Europa, berufen sich auf die Menschenrechte und bekommen Asyl; dann treiben sie auch hier ihr Unwesen, indem sie zum Beispiel anders denkende Muslime bedrohen. Deshalb stellt sich die Frage: Kann sich eine frei denkende Muslimin wie Taslima Nasrin in Stockholm oder an irgendeinem anderen Platz in Europa sicher fühlen? Der bengalische Geistliche Said Fazlul Huq Amini hat ihr prophezeit, dass sie »der Bestrafung, die der Koran vorsieht, nicht entgehen kann«; er glaubt, die Schari'a sei universell und gelte auch für Europa. Das Oberhaupt der fundamentalistischen Jamaat-i-Islami von Bangladesch witterte gar eine »Verschwörung« hinter der Rettung der Schriftstellerin. Deshalb hatte er der Regierung seines Landes »einen empfindlichen politischen Preis« als Vergeltung geschworen. -369-
Die Ärztin und Poetin Taslima Nasrin hatte die Menschenrechte der Glaubensfreiheit und der freien Meinungsäußerung, die auch Religionskritik mit einschließen, in Anspruch genommen. Für die Befürworter der Schari'a ist dies ein kriminelles Vorgehen; es war damals Grund genug für islamische Fundamentalisten aus aller Welt, gegen Taslima Nasrin zu hetzen. In diesem Zusammenhang wurde 1994 die schon in diesem Buch gestellte Frage erhoben: Sind Islam und individuelle Menschenrechte vereinbar? Und aus der Perspektive der Sicherheit Nasrins und der Geltung der Menschenrechte wurde seinerzeit auch gefragt, ob die 15 Millionen Menschen umfassende muslimische Gemeinde in Westeuropa für die grassierende Mordhetze gegen Nasrin anfällig sei. Hat der islamische Geistliche Fazlul Huq Amini also Recht, wenn er der verfolgten Schriftstellerin klar macht, für sie werde es »in der ganzen Welt keinen sicheren Zufluchtsort geben«? Ich möchte in diesem neuen Teil zum vorliegenden Kapitel die durch den Nasrin-Fall erfolgte Neuauflage der Rushdie-Affäre näher erläutern. Religionskritik als Häresie: Dem Murtad (Apostaten) gebührt der Tod Der Begriff Islam ist identisch mit Hingabe. Sich zum Islam zu bekennen, Aslama, bedeutet, sich diesem Glauben hinzugeben. Daraus folgt, dass Muslime sich diesem Glauben ohne weiteres Hinterfragen hinzugeben haben. Das ist die vorherrschende Ansicht im orthodoxen Islam. Der Koran verwendet jedoch das Wort Aql (Vernunft) an vielen Stellen; er ermahnt die Gläubigen: »Ala ta'qalun?« (»Denkt ihr nicht vernünftig?«) Ich frage: Woher beziehen die Fundamentalisten das Verbot des Denkens, wenn dieses Verbot nicht im Koran steht? -370-
Taslima Nasrin hat in einem Spiegel-Interview emotionsgeladen die Unzeitmäßigkeit des Koran unterstrichen. Jedoch beschränkte sie sich dabei auf die koranischen Aussagen über die Stellung der Frau sowie darauf, dass deren Auslegung neu durchdacht werden sollte. Beide Meinungsäußerungen waren nichts anderes als Inanspruchnahme eines Menschenrechts. Offensichtlich verstößt dieses Menschenrecht gegen islamische Vorschriften. Dies verschweigt die bereits näher erläuterte Islamische Deklaration der Menschenrechte völlig und steht dadurch in der Tradition des »verlogenen Dialogs«. Zur Erinnerung: Nach der islamischen Doktrin wird zwischen Haq adami (Menschenrecht) und Haq Allah (Gottesrecht) unterschieden. Wenn ein Mensch einen anderen etwa körperlich verletzt, dann ist das im Islam eine Verletzung der Menschenrechte. Die rigorose Antwort ist: »Leben für Leben, Auge um Auge, Nase um Nase« (Koran 5/45). Aber Glauben ist im Islam kein Menschen-, sondern Gottesrecht. Der Koran führt eine Reihe von Verboten an, für die im islamischen Recht die Hudud-Strafen gelten (zum Beispiel Had al zina, die Strafe für den unehelichen Geschlechtsverkehr). Ein Muslim, der nicht mehr an den Islam glauben will, verstößt gegen ein Gottesrecht und wird dadurch zum Murtad, worauf die Todesstrafe steht; diese darf nur dann ausgesetzt werden, wenn der abtrünnige Muslim Tauba (Reue) bekennt und damit zu seiner Religion zurückkehrt, ohne diese in irgendeiner Art und Weise in Frage zu stellen. Die Doktrin der Apostasie im Islam versagt das Recht auf Glaubensfreiheit und steht somit im Widerspruch zu den individuellen Menschenrechten. Was versteht der Islam konkret unter Riddah (Apostasie)? Ist das, was Taslima Nasrin offen ausgesprochen hat, eine Inanspruchnahme des Menschenrechtes der freien Meinungsäußerung (nach westlichen Maßstäben) oder ein Abfall vom Glauben (nach islamischen Maßstäben)? Ein Abfall vom Glauben ist eine »Verletzung eines Rechtes Allahs« und kein -371-
Mensch ist befugt, die dafür geltende Strafe zu beanstanden. Hier steht das individuelle Recht der Glaubens- und Meinungsfreiheit in Konflikt mit dem islamischen Gottesrecht. Die Verfolger von Taslima Nasrin versichern, dass sie nicht gegen Menschenrechte sind. Nur verstehen diese Islamisten unter Menschenrechten etwas anderes als etwa die europäische Tradition der Aufklärung. In Europa ist die Freiheit der Meinungsäußerung ebenso heilig wie die Würde des Propheten in der Welt des Islam. Es liegt hier in der Tat ein weltanschaulicher Zusammenprall der Zivilisationen als eine relativ neue Konfliktform vor, die das 21. Jahrhundert entscheidend prägen wird.28 In der islamischen Zivilisation gelten die Menschenrechte nur im Rahmen der Schari'a, wie der saudische Außenminister anlässlich der Wiener UN-Menschenrechtskonferenz in aller Deutlichkeit sagte (vgl. Motto zu Teil I). Aber eben diese islamische Schari'a stuft die Mehrzahl der in der Universellen Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 verbrieften Rechte - wie zum Beispiel die Glaubensfreiheit - als Gottesrechte ein. Kein Mensch hat demnach das Recht auf Glaubensfreiheit, weil dies als Gottesrecht gilt. In apologetischer Manier wird stets der Koranvers »Kein Zwang in der Religion« (2/256) zitiert. Der zu Lebzeiten in Oxford lehrende Iraner Hamid Enayat29 hat auf die missverständliche Interpretation dieses Koranverses La ikraha fi aldin aufmerksam gemacht. Kein Muslim hat zwar das Recht, den Islam zu hinterfragen, wohl aber das Recht, über den offenbarten Korantext durch Exegese eine eigene Deutung anzustellen. Nach Enayat bezieht sich die zitierte koranische Aussage, dass es keinen Zwang in der Religion gebe, auf das Recht der Interpretation, nicht jedoch auf die Wahl des Glaubens. Diese Wahl besteht laut Enayats Exegese nicht - ich füge hinzu: bislang weder in der theologischen Praxis noch in der religiösen Alltagskultur. -372-
Taslima Nasrin stört sich an den koranischen Aussagen über die Frauen, die als zweitrangig eingestuft werden. Für eine islamische Frau, die es ablehnt, sich ihrem Mann zu unterwerfen, ist es zum Beispiel problematisch, hinzunehmen, dass Frauen im islamischen Erbrecht als zweitklassige Menschen eingestuft werden. Ein Mann erbt doppelt so viel wie eine Frau (Koran 4/11); der Koran verkündet eindeutig: »Und die Männer stehen über den Frauen, weil Allah sie (von Natur aus vor diesen) ausgezeichnet hat« (4/34); der Koran gesteht zudem auch Männern besondere Rechte gegenüber Frauen zu: »Wenn Ihr fürchtet, dass sich (irgendwelche) Frauen auflehnen, dann ermahnt sie.« Nützt dies nichts, so fährt Vers 34 der Koransure über die Frauen fort, dann wird empfohlen: »Meidet sie im Ehebett und schlagt sie.« Taslima Nasrin und andere Frauenrechtlerinnen wollen, dass diese unzeitgemäße Koransure, die unter anderem Frauen im Erbrecht benachteiligt, neu ausgelegt wird; und sie fordern generell eine Revision beziehungsweise Reform der Stellung der Frau im Islam.30 Die Forderung nach einer zeitgemäßen Neuauslegung des Koran ist nicht nur realistisch, sie bietet auch den für Muslime einzig akzeptablen und deshalb gangbaren Weg, den göttlichen Text mit den individuellen Menschenrechten zu versöhnen. Identifiziert man den Islam mit der Schari'a - und ihren körperlichen Strafen des Auspeitschens bis hin zur Tötung durch Steinigung31 -, dann ist eine positive Antwort auf die allgemein gestellte Frage nach der Vereinbarkeit mit den Inhalten individueller Menschenrechte ausgeschlossen. Zu diesen Menschenrechten gehören unter anderem die von Nasrin geforderte Gleichstellung von Mann und Frau, Glaubensfreiheit und freie Meinungsäußerung. Während des Nasrin-Falls veröffentlichte ich im Spiegel meine These, dass die Schari'a und individuelle Menschenrechte nicht vereinbar seien.32 Auch das begriffliche Jonglieren der Islamischen Deklaration der -373-
Menschenrechte von 1981 ändert nichts daran, wie ich bereits in diesem Kapitel belegt habe. Um beim Fall Taslima Nasrin zu bleiben: Die Gleichstellung von Mann und Frau als ein Menschenrecht widerspricht der Schari'a auf allen Ebenen. Auch die Gleichstellung von Nichtmuslimen mit Muslimen, gleich ob Erstere Dhimmi-Monotheisten oder Ungläubige (das heißt Angehörige von Religionen außerhalb des Juden- und Christentums) sind, lässt die Schari'a nicht zu.33 Sowohl im Fall Rushdie als auch in dem von Taslima Nasrin wurde der Konflikt zwischen Schari'a und individuellen Menschenrechten illustriert. Die Schari'a als Schlagstock gegen Intellektuelle und Schriftsteller Nasrin hatte das Glück, in einem Land zu leben, das wegen seiner unbeschreiblichen Armut auf westliche Hilfe nicht verzichten und es sich somit gar nicht leisten konnte, der bevorstehenden Ermordung einer intellektuellen, in den westlichen Medien bekannten muslimischen Frau tatenlos zuzusehen. Die einfachste Lösung für die Regierung in Bangladesch war, die Flucht der Poetin Nasrin aus dem Lande zu dulden; sie wurde deshalb nicht hingerichtet. Es gibt zahlreiche Fälle von anderen muslimischen Frauen und Männern, die von Fundamentalisten verfolgt und teilweise auch getötet wurden, ohne dass die Weltöffentlichkeit etwas davon erfahren hätte. Taslima Nasrin hatte das Privileg, ihren Fall durch ein international weit verbreitetes Interview mit dem Spiegel (24/1994) in die Weltöffentlichkeit tragen zu können. Des Weiteren hatte auch das australische Fernsehen Taslima Nasrin auf den Bildschirm vieler westlicher Länder gebracht, sie dadurch bekannt gemacht und ihr den Weg in andere TV-Stationen geebnet. Das half Nasrin, ihren Häschern zu entkommen. Die vielen algerischen Intellektuellen und Journalisten, die seit 1992 -374-
ermordet worden sind - und jene, die noch folgen werden -, aber auch die 37 türkischen Schriftsteller, die 1993 in Sivas leibhaftig verbrannt wurden, sowie viele andere überall in der Welt des Islam konnten - und können - ihrem Schicksal nicht auf diese Weise entgehen. Heute ist es ein Risiko, zugleich Muslim und Intellektueller zu sein, weil der Schlagstock der Schari'a weder Meinungs- noch Glaubensfreiheit duldet. Das einzige Verbrechen von denkenden Muslimen besteht darin, die individuellen Menschenrechte in Anspruch genommen zu haben und dadurch in Konflikt mit der Schari'a geraten zu sein. Diese auf Tatsachen basierende Feststellung weckt das Bedürfnis, zu erfahren, was genau die Schari'a ist und warum sie im Widerspruch zu individuellen Menschenrechten steht. Es wurde bereits in Kapitel 7 gezeigt, dass Islam und Schari'a nicht identisch sind. Hier begnüge ich mich damit, darzulegen, dass der Anspruch der Schari'a, ein Rechtssystem zu sein, auf einer postkoranischen Konstruktion islamischer Rechtsgelehrter basiert, die erst ein Jahrhundert nach der koranischen Offenbarung entwickelt worden ist. Im Laufe der darauf folgenden Jahrhunderte wurde diese von Menschen erdachte, aber den Muslimen als göttlich dargestellte Schari'a zu einem rigiden organischen, das heißt alle Lebensbereiche umfassenden Rechtssystem. Recht im Islam ist eine Art allgemein verbindlicher way of life, nicht ein auf öffentliche Verhaltensregeln abgestelltes System von Rechtsnormen. Bereits im islamischen Mittelalter wurde die Schari'a zum Schlagstock gegen muslimische rationalistische Philosophen. Die Übernahme des altgriechischen Erbes im mittelalterlichen Islam hatte zu einer Hellenisierung und in deren Folge zur Entstehung eines islamischen Rationalismus34 geführt. Die islamischen Rationalisten wurden von Vertretern der Schari'a der Häresie beschuldigt und ihre Bücher wurden verbrannt. Der Versuch, diesen Rationalismus im 20. Jahrhundert neu zu beleben,35 scheiterte; eine der Folgen dieses Scheiterns ist der -375-
Islamismus.36 Der bedeutende deutsche Philosoph Ernst Bloch zog, wie bereits zitiert, einen Vergleich zwischen der mittelalterlichen christlichen Kirche und dem Schari'a-Islam: »Kein Wunder auch hier, dass die islamische Orthodoxie Avicenna und Averroès verfluchte und beide in effigie, nämlich in ihren Werken, verbrannt hat, wie die christliche Inquisition den Giordano Bruno nachher leibhaftig verbrannte.«37 Die islamischen Fundamentalisten unserer Zeit holen diese im Mittelalter von Christen begangenen Gräueltaten nach, indem sie ihre Intellektuellen verbrennen, wie sie dies mit den 37 Schriftstellern in der türkischen Stadt Sivas im Juli 1993 taten. Nachdem der ägyptische Schriftsteller Faradj Fuda die Trennung der Politik von der Schari'a forderte, wurde er erschossen. Der ägyptische Fundamentalisten-Scheich Mohammed al-Ghazali sagte vor Gericht in Kairo beim Fuda-Mordprozess aus, dass jeder Muslim, der sich für die Suspendierung der Schari'a einsetze, ein Apostat sei und im Islam keine Strafe für einen Muslim vorgesehen sei, der einen Apostaten töte. Diese Aussage entwickelte sich schnell zu einer allgemeinen Mord-Fetwa, ohne dass sie - wie die berühmte Rushdie-Fetwa des Ayatollah Khomeini - in die Schlagzeilen der westlichen Presse gelangt wäre. Die in diesem Buch bereits erläuterte al-Ghazali-Fetwa ist heute der Schari'a-Schlagstock in den islamischen Ländern gegen jeden Intellektuellen und Schriftsteller, der es wie Taslima Nasrin wagt, die Lehrer der islamischen Orthodoxie als unzeitgemäß zu kritisieren. Taslima Nasrin hatte die Benachteiligung der Frau in der Schari'a angeprangert und sich auf diese Weise ihre Mordandrohung »verdient«. Schari'a und individuelle Menschenrechte vertragen sich, wie dieses Beispiel zeigt, ebenso wenig wie Feuer und Wasser. Bei dem Konflikt, der ein weltanschaulicher Zivilisationskonflikt ist, geht es um Folgendes: Menschenrechte sind Berechtigungen der Individuen, gleich ob Frau oder Mann, -376-
gegenüber Staat und Gesellschaft. Das rigide Rechtssystem, das die islamischen Rechtsgelehrten seit dem frühen islamischen Mittelalter willkürlich dem Koran zuschreiben und Schari'a nennen, ist mit den auf diese Weise definierten Menschenrechten unvereinbar. Um die große Kluft zwischen Islam und individuellen Menschenrechten zu überbrücken und beide miteinander in Einklang zu bringen, benötigen Muslime heute eine »Aufklärung«. Um diese durchzusetzen, hat es der Islam gar nicht nötig, Europa nachzuahmen: Es genügte, wenn Muslime auf ihre eigene, von der Schari'a unterdrückte Tradition des hellenisierten islamischen Rationalismus eines al-Farabi, eines Avicenna und eines Averroès zurückgriffen, um den Menschen als ein mit Rechten im Sinne von Berechtigungen ausgestattetes Individuum zu bestimmen. Erst dann könnten Muslime Islam und Menschenrechte harmonisieren. Die Schari'a trennt indes die Muslime von der westlichen Zivilisation, die sich zu den Menschenrechten bekennt. Der hier angesprochene weltanschauliche Zusammenprall der Zivilisationen fand bereits auf der Wiener Menschenrechtskonferenz statt, als zum Beispiel der sudanesische Außenminister die Kritik an den durch die Schari'a bedingten Menschenrechtsverletzungen in seinem Land als Blasphemie inkriminierte. Ich habe schon den Geistlichen der Jamaat-i-Islami von Bangladesch, Fazlul Haq Amini, zitiert, der Taslima Nasrin den Tod auch an ihrem Zufluchtsort in Europa angekündigt hat. Was meint er damit? Bestehen etwa keine Grenzen zwischen der westlichen Zivilisation, die die Menschenrechte in ihrem Rechtssystem institutionalisiert hat, und der islamischen Zivilisation, die sich die Schari'a auf ihre Fahnen geschrieben hat, eine Schari'a, die keine Menschenrechte zulässt? Der sudanesische Menschenrechtler Abdullahi An-Na'im bezeichnet sein Land, in dem er wegen seines Bekenntnisses zu -377-
den individuellen Menschenrechten verfolgt wurde, als Schari'aStaat. Dieser praktiziert das, was die anderswo nach Macht strebende Opposition islamischer Fundamentalisten zum Ziel hat. Die Islamisten töten ihre Gegner nach der Schari'a auch ohne an der Regierung zu sein. Der Sprecher der ägyptischen Organisation für Menschenrechte sagte auf der UN-Konferenz in Wien, dass die Menschenrechte in islamischen Ländern sowohl von den Regierungen als auch von der fundamentalistischen Opposition verletzt würden. Islamische Fundamentalisten ermorden Schriftsteller und Intellektuelle »authentisch«, das heißt ohne Verwendung westlicher Waffentechnologie; sie tun es auf die archaische Art mit dem Messer, indem sie die Kehle ihrer menschlichen Opfer wie bei der rituellen Schächtung eines Tieres durchschneiden. Dann fliehen sie nach Europa und beanspruchen dort für sich, wie zum Beispiel der algerische FIS-Fundamentalist Rabah Kebir, als »politisch Verfolgte« die liberalen Menschenrechte, die sie selbst ihren Gegnern absprechen und in ihren Ländern verneinen. Auf Taslima Nasrin bezogen müssen wir uns fragen: Ist sie in Europa, wo die Fundamentalisten auch ihre Hochburgen haben, sicher? Hat der bengalische Fazlul Haq Amini Recht damit, dass es für sie »in der ganzen Welt keinen sicheren Zufluchtsort gibt«? Der Gegenstand betrifft aufgrund der Migration auch Europa. Taslima Nasrin war damals vor den Fundamentalisten in Stockholm oder in Berlin nicht sicher. Und mir sagte ein westlicher Diplomat, um meine Ängste zu zerstreuen, vor einem Besuch in Algier, dass ich in Algier sicherer sei als in Deutschland. Multikulturelle Rechte Fundamentalisten in Europa
als
-378-
Waffe
islamischer
Die Gefahr, die 1994 bestand, nämlich dass Taslima Nasrin von einem islamischen Fundamentalisten in Europa ermordet werden könnte, veranlasste zu der Frage nach der Stellung des Islam im Westen.38 Der amerikanische Religionswissenschaftler John Kelsay schreibt in seinem Buch Islam and War richtig: »Die Traditionen, die wir ›islamisch‹ oder ›westlich‹ nennen, beziehen sich nicht mehr auf geographische Regionen... Die wachsende islamische Migration in den Westen zwingt uns, nicht mehr von ›Islam und‹, sondern von ›Islam in dem Westen‹ zu sprechen... Islamische Gemeinschaften bilden eine Art sektiererische Enklave... im Westen, die aber nicht zu ihm gehören.«39 Ein Beispiel hierfür: Im Londoner Wembley-Stadion trafen sich am 7. Juli 1994 mehr als zehntausend muslimische, in England lebende Fundamentalisten, um ihren antiwestlichen Hassgefühlen Luft zu machen. Die britische Öffentlichkeit war über die Wucht der antiwestlichen Rhetorik gleichermaßen befremdet und beängstigt. Der Sunday Telegraph zitierte damals den islamischen Fundamentalisten Omar Bakri Muhammad mit seiner Drohung: »I want through my thoughts to hurt you as human beings.« Bakri Muhammad ist der Emir einer der fundamentalistischen Parteien (Tahrir Party) in England, wohin er als Asylant gekommen ist. Er kündigt an: »We will conquer Britain... Islam is a universal way of life.« Der Scheich wurde nach dem 11. September international durch sein Bekenntnis zu Bin Laden und zur al-Qaida bekannt. Für Europa gibt es eine Alternative zu diesem Scheich. Der Weg hierzu ist der Dialog, aber nicht mit ihm, weil er außer Da'wa (Aufruf zum Islam) und dem Aufruf zum Djihad (Anstrengung, in der historischen Realität jedoch Krieg zur Verbreitung des Islam) keine andere -379-
Kommunikationsform kennt. Islamisten in der Diaspora wollen in der Regel nicht mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Doch es gibt Ausnahmen: Für die islamischen Fundamentalisten in England - das haben sie unter anderem 1994 auf ihrer bereits angeführten Kundgebung im Wembley-Stadion verkündet - ist die britische Gesellschaftsordnung nicht die ihre; nur der Islam gilt für sie, auch in Europa. Deswegen haben sie in London ihr eigenes - nicht gewähltes - Parlament gegründet. Bei dem Konflikt zwischen Islam und Menschenrechten entscheidet allein die Schari'a. Meine Leser erinnern sich: In Kapitel 7 empfehle ich hierzu »Nein, danke« zu sagen. Noch offensiver waren die algerischen, in Frankreich lebenden Fundamentalisten, bis die französische Regierung schließlich eine resolute Reaktion zeigte. Denn eine wehrhafte Demokratie kann solche Umtriebe nicht dulden. Die französische Polizei hat laut einem FAZ-Bericht bei einer Razzia bei Fundamentalisten »eine Todesliste künftiger Mordopfer« gefunden, auf der »algerische, in Frankreich lebende Intellektuelle als bevorzugte Opfer der radikalen Islamisten« stehen. Die Franzosen haben auf die fundamentalistische Offensive hin zurückgeschlagen und sind nicht, wie das englische Innenministerium, ruhig geblieben. Nach dem 11. September 2001 änderte sich nun auch die britische, nicht aber die deutsche Politik.40 Frankreich ist ein demokratischer Staat, in dem die republikanische Gesinnung (die nichts gemein hat mit der tendenziell rechtspopulistischen Partei der »Republikaner« in Deutschland) die Basis für eine Einheit von Linken und Konservativen zur Verteidigung der Menschenrechte und der demokratischen Grundordnung in der französischen Gesellschaft bedeutet. Auch linke Franzosen hatten nichts an der resoluten Politik des konservativen Innenministers Charles Pasqua gegen die algerischen Fundamentalisten einzuwenden. Pasqua machte seinerzeit klar, dass er es nicht zulassen werde, dass Funda-380-
mentalisten auf französischem Boden ihr Unwesen treiben. Die Briten waren vorsichtiger und hatten Angst davor, durch politische Eingriffe einen - so das Home Office - »rassischen Konflikt« zwischen Muslimen und Einheimischen auszulösen; deswegen wurde die rechtsradikale Kundgebung islamischer Fundamentalisten im Wembley-Stadion nicht verboten. Der 11. September war dann auch für die britischen Islamisten ein schwarzer Tag, weil Blairs Innenminister David Blunkett seitdem hart durchgreift. Abschließend möchte ich drei Feststellungen hervorheben: Erstens: Der Fall Taslima Nasrin ist ein Ausdruck der Spannung zwischen orthodoxem Islam und individuellen Menschenrechten - sowohl in Europa als auch weltweit. Es handelt sich hierbei also nicht um einen Einzelfall, sondern um einen weltanschaulichen Zusammenprall der Zivilisationen, der im Zeitalter der Migration nicht nur außerhalb, sondern mitten in Europa stattfindet. Die Zeiten sind vorbei, in denen ein in seinem Land verfolgter Muslim oder eine Muslimin sich in Europa vor Ermordung sicher fühlen konnte. Nasrin konnte sich damals weder in Stockholm noch in Berlin, wohl aber in Paris sicher fühlen. Die Franzosen haben die Herausforderung der Fundamentalisten angenommen und stufen diese nicht mehr als »politisch Verfolgte«, sondern als Extremisten ein. Die Menschenrechte können, so viel ist jedenfalls klar, in Europa nicht in einer multikulturellen Gesellschaft überleben, in der Migranten aus der islamischen Welt fordern, nach der Schari'a zu leben. Zweitens: Im Dialog mit dem Islam darf es seitens des Westens - gewissermaßen als Kompromiss - keinen Verzicht auf die universelle Geltung der individuellen Menschenrechte geben. Demokraten unter Europäern und den muslimischen Migranten müssen es gemeinsam offen sagen: Die Schari'a ist weder mit Demokratie noch mit Menschenrechten vereinbar. -381-
Nur wenn der Schlagstock der Schari'a zerbrochen wird, können sich muslimische Intellektuelle und Schriftsteller in ihrer Heimat und als Migranten in Europa sicher fühlen. Drittens: Die Islamische Deklaration der Menschenrechte bietet keine Lösung für Muslime in ihrem Dilemma mit der kulturellen Moderne. Heute wird bei modischen Debatten gegen den Geist der Aufklärung das multikulturelle Konzept der Authentizität fremder Kulturen hervorgehoben. In den »islamischen Menschenrechten« steht das Umma-Kollektiv in Kontrast zum Individuum im Mittelpunkt. Der nichtmuslimische Begriff der Authentizität (ins Arabische wird er mit Asalah übersetzt) wird von orthodoxen Muslimen und Islamisten41 verwendet, auch um zu begründen, warum Muslime sozusagen »authentische«, eigene Menschenrechte benötigen. Der in Indien geborene, im karibischen Trinidad aufgewachsene und als britischer Bürger zum Wahleuropäer gewordene LiteraturNobelpreisträger Sir V. S. Naipaul beispielsweise hat in Europa den höchsten Wert der individuellen Menschenrechte, nämlich die persönliche Freiheit, schätzen gelernt. Naipaul warnte in einem Interview mit der Tageszeitung Die Welt vor der Strapazierung von (kollektiver) Identität und Authentizität, weil diese instrumentalisiert würden, »um sich gegen Einflüsse von außen, gegen Reformen etwa, abzuschotten und ein imaginäres Kollektiv zu schaffen«.42 Eben dies tun die Muslime, die sich für die authentischislamische Stimme des Islam halten, in ihrer Deklaration der Menschenrechte, die sie »islamisch« nennen. Sie gilt also nicht für die ganze Menschheit. Hier wird der Kontrast zwischen partikularer Authentizität und Universalität deutlich. Weil ich mich bei meiner dritten Feststellung auf Naipaul berufen habe, möchte ich die in diesem Kapitel unter Berufung auf den verstorbenen Ernest Gellner vertretene Klage gegen -382-
europäische Intellektuelle und Modewissenschaftler abschließend wieder aufnehmen. Auch Naipaul widerstrebt diese postmoderne Denkrichtung; er beklagt »das Geschwätz an den Universitäten« und die Phänomene »des törichten Verständnisses, das dort gepredigt wird« (ebd.). Die westlichen Intellektuellen suchen die Schuld aller Welt nur bei sich und bei ihrer Zivilisation. Naipaul sagt dazu im zitierten Interview: »Die Fehler immer zuerst bei sich zu suchen... ist... viel leichter, als den irrationalen Hass der Gegenseite zu verstehen.« (ebd.) Unter Berücksichtigung von Naipauls Klage über das akademische Geschwätz möchte ich eine in dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtete Begebenheit aus einer Hochschule anführen, die als die führende der Welt gilt: Harvard. Die erste Fassung dieses Buches entstand dort. Allerdings ist selbst Harvard, wie ich schon damals beobachten konnte, nicht frei von dem, was Naipaul als »Geschwätz der Universitäten« karikiert. Laut Spiegel versucht der neue Universitätspräsident Larry Summers, es sich zur Aufgabe zu machen, mit dem »multikulturellen und feministischen Geschwätz« Schluss zu machen, das die Studenten postmoderne Mode anstatt Grundlagenwissen lehrt, »aber eben auch nicht mehr«.43 Seine Gegner nennen ihn nun laut Spiegel den »Scharon von Harvard«. Kennen wir derartige Vorwürfe nicht auch in Deutschland? Damit meine ich die hierzulande verbreitete Sitte, anders Denkende zu verfemen, indem man sie in bestimmte Schubladen einordnet.
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Kapitel 10 Politischer Islam und Menschenrechte Der fundamentalistische Aufruf zur Anwendung der Schari'a
Die Politisierung der Religion ist eine allgemeine Erscheinung unserer Zeit, für die Experten den Begriff »Religiöser Fundamentalismus« verwenden. Im Islam ist dieses Phänomen mit dem Ruf nach der Tatbiq al-schari'a (Anwendung der Schari'a) verbunden. Was hat nun die Politisierung des Islam mit Rechtsfragen zu tun, insbesondere mit solchen, die individuelle Menschenrechte betreffen? Auch würde mancher Leser bei dem Adjektiv »politisch« vor »Islam« einwenden, dass der Islam stets eine politische Religion gewesen sei. Denn parallel zur islamischen Religionsstiftung hat der Islam mit der Gründung eines politischen Gemeinwesens in Medina im Jahre 622 Gestalt angenommen. Ich möchte hier nicht auf diese Debatte eingehen, weil es in diesem Kapitel nicht um die Geschichte des Islam (vgl. Kapitel 1), sondern um die Stellung der Menschenrechte in den politischen Programmen islamischer Fundamentalisten unserer Gegenwart geht. Die Geltung der Schari'a steht hier im Mittelpunkt, Bei den Islamisten nimmt die Schari'a eine neue, politisierte Gestalt an. Sie wird von ihrer traditionellen Bedeutung als Zivil- und Strafrecht losgelöst und zur politischen Ordnungsvorstellung umfunktioniert. Das ist der zentrale Inhalt des politischen Islam:1 ein islamischer Staat, der nach den Vorschriften der neuen Interpretation der Schari'a handelt. Ist das mit individuellen Menschenrechten vereinbar? -384-
Die Entwestlichung des Rechtes und der Ruf nach der Schari'a. Aber welche Schari'a? Der Fundamentalismus als ein politisch-oppositioneller Islam bringt in der gegenwärtig verzweifelten politischen und sozialen Situation in den islamischen Ländern den Ruf nach einer Neubelebung des islamischen Rechts zum Ausdruck. Die Formel hierfür ist die ideologische Forderung nach der Anwendung der islamischen Schari'a. Dem Nichtkenner muss es merkwürdig erscheinen, dieselbe Formel von so unterschiedlichen, in Bezug auf Repression jedoch ähnlichen politischen Regimen - wie den fundamentalistischen Staaten Sudan und Iran oder der nichtfundamentalistischen Militärdiktatur Pakistan -, gebraucht zu sehen. In allen diesen gilt die Schari'a und in ihrem Namen wird jedwede politische Opposition brutal unterdrückt. Doch wird die zitierte Formel auch von jenen oppositionellen Kräften verwendet, die auf die Schari'a als ideologisches Instrument im Kampf gegen bestehende Ordnungen zurückgreifen. Der Nahost-Experte Michael Hudson hat beobachtet, dass der »Islam... genauso wirkungsvoll in der Legitimierung einer Oppositionsbewegung sein kann wie... in der Legitimierung an der Macht befindlicher Regime«.2 Diese Mehrdeutigkeit gilt auch für die Anwendung der Schari'a. Die Berufung auf die Schari'a kann gleichermaßen der Artikulation des Protestes gegen die Verletzung von Menschenrechten oder, umgekehrt, als ein Mittel zur Rechtfertigung der Unterdrückung und Vorenthaltung dieser Rechte dienen. Obwohl alle von der Schari'a reden, existiert im Dar al-Islam (Haus des Islam) nirgends eine authentische Form der Schari'aTradition. Das islamische Rechtsdenken wurde seit dem vergangenen Jahrhundert vom Einfluss des westlichen Rechtes in immer stärkerem Maße durchdrungen. Rifa'a Rafi' al-385-
Tahtawi, der erste arabisch-muslimische Gelehrte, der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Studienzwecken in Europa aufhielt, notierte in seinem Pariser Tagebuch, dass der »Orient« vom »Okzident« vieles lernen müsse, um sich weiterentwickeln zu können; er schränkte diese Aussage jedoch gleich wieder ein und versicherte sich selbst: »Natürlich kann ich nur dem zustimmen, was sich nicht im Widerspruch zu unseren islamischen Gesetzen [Schari'a, B. T.] befindet.«3 Dennoch trug Tahtawi selber dazu bei, westliche Konzepte in das islamische Denken einzuführen. Sein Denken selbst ist Ausdruck des Hin- und Hergerissenseins zwischen Tradition und Erneuerung, das viele Muslime auch in unserer Gegenwart empfinden. Der Unterschied ist jedoch, dass der islamische Denker des 19. Jahrhunderts, al-Tahtawi, dieses Dilemma im Rahmen eines genuinen islamischen Liberalismus bewältigen wollte, während die heutige Hauptströmung der Opposition vom Fundamentalismus eingenommen wird. In der westlichen Literatur zum »liberalen Islam« findet man fälschlicher- und irreführenderweise eindeutige Islamisten unter dieser Bezeichnung.4 Nun müssen wir die große Vielfalt in der islamischen Rechtstradition, die es immer gegeben hat, in Betracht ziehen, um die durch den Westen beeinflussten rechtlichen Veränderungen, die die angesprochene Situation in Gang gebracht haben, besser zu verstehen. Wir können gleichwohl mit Gewissheit sagen, dass das zentrale Ziel der Islamisierung des Rechtes in der Bestrebung eben nach der Entwestlichung des Rechts besteht.5 Wie ich bereits in Kapitel 7 gezeigt habe, ist es äußerst schwierig, eine präzise und eindeutige Definition der Schari'a zu entwickeln. Es gibt keinen einheitlichen Rechtskorpus, den wir als Schari'a bezeichnen könnten. Als ein interpretatives Recht umfasst diese islamische Rechtstradition verschiedene Schulen, die auf unterschiedlichen Auslegungen der islamischen Quellen -386-
basieren (vgl. Kapitel 1). Die Bezugnahme auf dieselbe Schari'a kann gleichermaßen modernen oder traditionellen Intentionen dienen: So erfolgt sie bei den Islamisten aus der Opposition heraus, dient aber ebenso den autokratisch-despotischen Regimen, um sich zu legitimieren. Daraus folgt, dass es keine verbindliche Position der islamischen Schari'a zu Fragen der Menschenrechte gibt. Die Juristin Ann E. Mayer diskutiert eine Vielzahl von Möglichkeiten, vom Standpunkt der Schari'a aus Fragen zu beantworten, die sich auf die der kulturellen Moderne entsprungene Menschenrechtsproblematik beziehen. Mayers unmissverständliche Schlussfolgerung lautet: »Muslime sind gegenwärtig tief gespalten über die Frage, wo der Islam hinsichtlich der Menschenrechte steht.«6 Meine Beschäftigung mit politischen Herrschaftsordnungen, die auf der Schari'a fußen, führt zur Unterscheidung zwischen Regimen, die traditionell sind, wie zum Beispiel Saudi-Arabien, und solchen, die islamistisch sind beziehungsweise waren (Iran, Sudan und Afghanistan unter den Taliban). Erstere sind »traditionelle« Despotien, die Letzteren stellen eine neue Form des Totalitarismus dar.7 Der Rückgriff auf Menschenrechte islamistischen Opposition?
als
Taktik
der
Für eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Islam und individuellen Menschenrechten ist eine tiefer gehende Diskussion der Schari'a unabdingbar, weil die Hauptströmung der politischen Opposition in den zeitgenössischen Gesellschaften des Nahen Ostens vom politischen Islam in seiner ganzen Vielfalt getragen wird, dessen zentrales Anliegen es ist, eben diese Schari'a durchzusetzen. Obwohl die islamischen Fundamentalisten unter den wiederholten, oft makabren Menschenrechtsverletzungen durch die herrschenden undemo-387-
kratischen Regime in der Welt des Islam selbst leiden, machen diese Gruppen klar, dass - sollten sie an die Macht kommen unter ihrer Herrschaft ausschließlich das Gesetz des Islam gelten wird. Die Schari'a lässt aber gar keine Opposition zu. Die Umma (Gemeinschaft aller Muslime) ist nach der Schari'a ein organisch gebildetes harmonisches Kollektiv. Weicht die islamistische Opposition von diesem traditionellen Verständnis ab? Ein genauerer Blick zeigt, dass in der Mehrzahl der Fälle das totalitäre Element in dem - von verschiedenen ideologischen Spielarten des politischen Islam - geforderten Gottesstaat sehr offensichtlich ist. Aus diesem Grunde habe ich den islamischen Fundamentalismus als eine neue Variante des Totalitarismus eingeordnet. Die Bezugnahme der Islamisten auf die Grundsätze der Menschenrechte ist schlicht taktischer Natur; sie entspringt nicht der überzeugten Befürwortung dieser Rechte in dem Sinne, dass diese auch von anderen, einschließlich ihrer eigenen Widersacher, in Anspruch genommen werden dürften. Muslimische Fundamentalisten willigen in das liberale pluralistische Prinzip vom droit à la différence, sei es in politischer, religiöser oder kultureller Hinsicht, nicht ein. Wie einst für die Kommunisten, so ist der Pluralismus auch für Fundamentalisten ein politischer Kampfbegriff, um Handlungsspielraum in der Opposition zu gewinnen. Das Verhalten der sudanesischen, seit Ende Juni 1989 an der Macht befindlichen Muslimbrüder unter der vorübergehenden geistigen Führung von Hasan al-Turabi gegenüber den im Südsudan lebenden Nichtmuslimen und Nichtarabern sowie auch gegenüber den im Norden des Landes lebenden nichtfundamentalistischen Arabern und Muslimen ist charakteristisch für die beschriebene totalitäre Einstellung und liefert für die hier vorgetragenen Argumente deutliche Beweise.8 Die Absetzung al-Turabis und die unter US-Druck erfolgten Verhandlungen des islamistischen Militärregimes mit der Southern Peoples Liberation Army (SPLA) änderte nichts daran. Und auch der -388-
Iran der »Reformer« ist keinen Deut besser. Trotz meiner Ablehnung der Schari'a bin ich mit Verallgemeinerungen vorsichtig und bleibe für die Option offen, dass die islamische Schari'a in Bezug auf Menschenrechtsanliegen akzeptable Ziele fördern könnte. Nicht alle Befürworter der Anwendung der Schari'a vertreten totalitäre Anschauungen ähnlich denen der Muslimbrüder im Sudan. Ein Blick auf die politische Literatur der Neubelebung des Islam beleuchtet die Art und Weise, in der die Debatte über die Schari'a geführt wird. Diese Debatte verläuft oft in Gestalt einer Suche nach einem islamischen Nizam siyasi Islami (islamischen Regierungssystem). Bei aller hier bekundeten Offenheit sollte dennoch nicht aus den Augen verloren werden, dass die islamische Opposition - wie angeführt - nur taktisch auf die Menschenrechte zurückgreift, so zum Beispiel die Bewegung an-Nahda in Tunesien. Der in London unter Inanspruchnahme des europäisch-demokratischen Asylrechts lebende an-NahdaFührer, Raschid al-Gannouchi, verkauft seine totalitären Anschauungen im demokratischen Gewand. An die Macht gelangt, würden diese Gruppen ein anderes Gesicht zeigen. An dieser Stelle möchte ich beanstanden, dass der Islamist alGannouchi unter dem Sammelbegriff »liberal Islam« angeführt wird. Wie wir aus der Arbeit des emeritierten Harvard-Gelehrten W. C. Smith über den Koran wissen, ist der neuarabische Begriff al-Nizam eine wörtliche Übertragung von »System«.9 Weder dieses Wort noch irgendeine sprachliche Ableitung davon finden sich im Koran. Das mit der Forderung nach Anwendung der Schari'a verknüpfte Konzept von Nizam Islami (islamisches System) ist also jüngeren Datums und außerdem inhaltlich extrem vage - ein Beispiel für das arabo-islamische Dilemma, sich im Konflikt zwischen Alt und Neu entscheiden zu müssen, das heißt im Rahmen der begleitenden Prozesse sozialer Veränderungen zwischen den historisch einander -389-
widersprechenden Optionen zu wählen. Das Fehlen einer präzisen Bestimmung von Nizam Islami bedeutet, dass man hinsichtlich der realen Aufnahme der Menschenrechte in die Welt des Islam besorgt sein muss. Bietet dieses von den Fundamentalisten präsentierte, vermeintlich authentische islamische System, welches auf der Schari'a basieren soll, eine Garantie für die Einhaltung der individuellen Menschenrechte? Oder ist der Rückgriff der Islamisten - als einer unterdrückten Opposition auf die Menschenrechte lediglich taktischer Natur auf ihrem Wege zur Machtergreifung? Im Folgenden geht es darum, herauszufinden, wie in den Schriften und politischen Programmen des politischen Islam der letzten drei Jahrzehnte die Menschenrechte betrachtet worden sind, und diese Standpunkte näher zu diskutieren. Wie lässt sich die Schari'a anwenden? Charakteristisch für den parallel zur Entstehung des Islamismus erfolgten Ruf nach Anwendung der Schari'a sind die diesbezüglichen Veränderungen in den Verfassungen nahöstlicher Staaten. Wir ziehen Ägypten als ein repräsentatives Beispiel heran. Die nach Nassers Tod verkündete Verfassung von 1971 enthielt in Artikel 2 die Bestimmung, dass »die Grundsätze der Schari'a eine der Hauptquellen der Gesetzgebung sind«. Das war von Sadat als eine Konzession an die Islamisten gedacht. In der veränderten Verfassung von 1980 wurde dann der unbestimmte Artikel durch den bestimmten ersetzt, aus »einer der Hauptquellen« wurde »die Hauptquelle«. Trotz dieser weiteren Konzession konnte Sadat die islamistische Opposition nicht zufrieden stellen. Islamische Fundamentalisten, die Sadats Zugeständnisse zurückwiesen, bestanden demgegenüber auf der vollen Anwendung der Schari'a. Verständlicherweise können sie uns keine aussagekräftige -390-
Definition der Schari'a anbieten, die nichtsdestotrotz ihrer Meinung nach ein fertiges Rechtssystem darstellt. Aus den Ausführungen in Kapitel 7 wissen wir: Weder gibt es ein Schari'a-Gesetzbuch noch eine einheitliche Deutung der islamischen Offenbarung (Koran) als Rechtsform, die als Grundlage für ein solches von allen Muslimen akzeptiertes Gesetzbuch dienen könnte. Eines der zentralen Argumente islamischer Fundamentalisten ist, dass man zur Schari'a als göttlichem Gesetz zurückkehren müsse. Wenn wir dieser politischen Anweisung Folge leisten und den Koran mit Blick auf seine Rechtsvorschriften neu lesen, werden wir überrascht feststellen, dass der Begriff Schari'a in einer rechtlichen Bedeutung, wie sie die islamischen Fundamentalisten unterstellen, im Koran nicht vorkommt.10 In der Realität bezeichnet der Begriff Schari'a vielfältige Rechtstraditionen und umfasst die zahlreichen Anstrengungen, die Offenbarung Gottes (Koran) auszulegen und den in ihr enthaltenen religiösen Vorschriften einen rechtlichen Charakter zuzuordnen. Diese Anstrengungen umfassen - wie wir in Kapitel 7 gesehen haben - die Entfaltung von zusätzlichen Rechtsquellen, wie der des Qiyas (Analogieschluss) und der des Idjma' (consensus doctorum); das heißt, sie bezwecken unter anderem die Übereinstimmung der Ulema (islamischen Schriftgelehrten) mit den Fuqaba (Sakraljuristen). Es existiert jedoch kein systematischer, von allen Muslimen akzeptierter Normenkodex, der als allgemein-islamisch bezeichnet werden könnte, weil die zentrale Quelle der islamischen Rechtsfindung die Interpretation der göttlichen Offenbarung ist. Entsprechend finden wir eine Vielfalt an Interpretationen vor. Da das islamische Recht also interpretativ und nicht legislativ ist, gibt es, wie in Kapitel 7 dargestellt, miteinander wetteifernde Rechtsschulen, aber keinen Konsens über ein einheitliches Recht. Die Schari'a soll als göttliches Recht gelten, also nicht von -391-
Menschen gemacht sein. Bei ihrem Ruf nach einem islamischen Staat, welcher die Verwirklichung des islamischen Rechtes garantiert, scheinen die Islamisten nicht zu wissen, dass es kein fertiges, auf seine Anwendung wartendes islamisches Recht gibt, das man einfach durch die Rückkehr zum Islam zum Leben erwecken könnte.11 Vor der Entstehung des politischen Islam und der sie begleitenden Forderung nach der Anwendung der Schari'a unternahmen moderne arabische und islamische Juristen den Versuch, eine Synthese zwischen verschiedenen Varianten europäischen Rechts und Interpretationen des islamischen Rechts zu etablieren.12 Der Großteil der gegenwärtig existierenden Rechtsstrukturen ist jedoch - trotz der in einigen Verfassungen enthaltenen verbalen Bekräftigung, dass das islamische Recht eine (wenn auch nicht immer die) zentrale Rechtsquelle sei praktisch in allen Formen säkularisiert worden. Vielerorts in der Welt des Islam wirken heute muslimische Juristen, die eine islamische Erziehung mit einer westlichen juristischen Fachausbildung verbinden. In diesem Kreis wurden beträchtliche Anstrengungen unternommen, um eine moderne islamische Rechtstradition zu entfalten. Diese Rechtstradition soll - bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Anspruchs auf einen politischen Islam - auf einer Neubewertung islamischer Rechtsquellen basieren. Ich möchte das erstmals 1966 veröffentlichte, 940 Seiten umfassende Werk von Abdul-hamid Mutawalli, Die Grundzüge der Herrschaft im Islam verglichen mit den Grundzügen des modernen Verfassungsrechts,13 als ein Beispiel hierfür anführen. Es handelt sich um eine der wichtigsten Publikationen in diesem Bereich, die zur Entfaltung der heutigen islamischen Rechtstradition Grundsätzliches beigetragen haben. Viele Autoren der zeitgenössischen politischen Pamphlete des islamischen Fundamentalismus beziehen sich auf dieses autoritative Buch, um mit ihm das in moderner Sprache vorgetragene Argument zu stützen, der Islam enthalte einen -392-
verfassungsmäßigen Rahmen für ein institutionelles islamisches Regierungssystem. Dieser Rahmen - so wird argumentiert – gewährleiste die Menschenrechte der Partizipation, der Gerechtigkeit, der Freiheit und der Gleichheit.14 Hier lasse ich die muslimische Debatte über das »islamische Regierungssystem«15 außer Acht, weil ich sie bereits an anderer Stelle ausgiebig behandelt habe. Das islamische Rechtssystem kann nach der Weltsicht der Islamisten jedenfalls nur in einem islamischen Staat Anwendung finden. Ein im Orient prominenter, durch ein Spiegel-Interview (22. März 1993) auch manchen deutschen Lesern bekannter ägyptischer Islamreformer und Jurist, der hohe Richterämter innehatte, Muhammad Said al-Aschmawi, hat in einem interessanten, gleichzeitig in Kairo und Beirut erschienenen arabischen Buch zu der immer noch andauernden islamischen Debatte über die Schari'a Erhellendes beigetragen. Bei der Untersuchung des Koran im Hinblick auf rechtliche Inhalte kommt al-Aschmawi zu dem Ergebnis, dass der Begriff Schari'a in der heiligen Schrift der Muslime ursprünglich keine rechtliche Bedeutung hatte: »Weder in Bezug auf den Sprachgebrauch noch in Bezug auf den Sinngehalt des Koran bedeutet Schari'a Gesetzgebung oder Gesetz.«16 Der Ägypter richtet unsere Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass im Verlauf der frühislamischen Geschichte der Begriff Schari'a eine andere Bedeutung annahm; er wurde »zu einem Begriff... welcher alle islamischen Vorschriften, die religiösen und die rechtlichen gleichermaßen, umfasste«. (ebd.) Aus der Sicht des muslimischen Juristen al-Aschmawi ist es ein besonderes Merkmal der islamischen Geschichte, dass Muslime stets ihre göttlich offenbarte Religion mit dem menschlichen religiösen Denken, also mit ihrem in vielen Interpretationen zum Ausdruck kommenden menschlichen Verständnis des Islam verwechselten. Er schreibt:
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»Unglücklicherweise ist die Unterscheidung zwischen Religion und religiösem Denken der Mehrheit der Muslime nicht immer deutlich bewusst; daher kommt die Verwechslung zwischen beidem häufig vor. Die Forderung nach der Verwirklichung der Schari'a kann sich nicht auf den Koran selbst berufen. Sie stützt sich in der Hauptsache auf die Bedeutung, die der Begriff im traditionellen religiösen Denken erworben hat... Zu guter Letzt ist die Verwirklichung der Schari'a in diesem Sinne die Verwirklichung einer politischen Tradition des islamischen Denkens.« (ebd.) Nach einer eingehenderen Erörterung des Korantextes (zum Beispiel dem graduellen Alkoholverbot) weist er nach, dass sich koranische Vorschriften, die heute als ein mit dem Namen Schari'a bezeichnetes Rechtssystem interpretiert werden, in der islamischen Vergangenheit stets auf spezifische historische Situationen bezogen. Er führt weiter aus: »In diesem Sinne wurde die Schari'a weder auf einmal geoffenbart, noch war sie eine abstrakte Erscheinung. Sie bezog sich zu jeder Zeit auf vorhandene Wirklichkeiten und befasste sich mit diesen: sie nährte sich von herrschenden Traditionen und Gebräuchen und leitete daraus ihre eigenen Regeln ab. Um mit dem Wandel Schritt zu halten, passte sie sich den Weiterentwicklungen dieser Traditionen und Gebräuche an... Wenn wir für die Anwendung der Schari'a plädieren, ohne ihre in der jeweiligen Realität wurzelnden Ursprünge in Betracht zu ziehen, laufen wir Gefahr, uns mit theoretischen und logischen Angelegenheiten zu befassen, die dem Geist des Islam widersprechen.« (ebd.) Nach meinem Dafürhalten führt solch eine aufgeklärte und dem historischen Hintergrund Rechnung tragende Schari'a-394-
Interpretation eine neue Perspektive ein. Doch im islamischen Denken wird der Korantext eben nicht historisch gedeutet und somit nicht relativiert. Eine Vorbedingung für die Anpassung des islamischen Rechts an zeitgenössische internationale Menschenrechtsstandards wäre jedoch solch eine historische Perspektive. Ein anderer aufgeklärter Muslim, der Sudanese Ab-dullahi An-Na'im, bezeichnet den fundamentalistischen Staat Sudan als einen »Schari'a-Staat«, der seine Gegner brutal unterdrückt.17 Unverhüllt benennt er Konfliktpotentiale zwischen Schari'a und Menschenrechten. An erster Stelle führt er die Tatsache an, dass das islamische Recht Frauen und Nichtmuslime nicht auf dieselbe Stufe stellt wie muslimische Männer. Damit deckt AnNa'im mutig Diskriminierungen in der Schari'a auf Grund von Geschlechts- und Religionszugehörigkeit auf. Er schlägt dann vor, muslimische Einstellungen durch radikale Rechtsreformen zu ändern: ein Ziel, das durch »eine aufgeklärte neue Konstruktion« erreicht werden soll. Die auf Geschlecht und Religion beruhenden Diskriminierungen, die von den Regeln der Schari'a vorgeschrieben werden, sind unvereinbar mit den Prinzipien der Universellen Deklaration der Menschenrechte. An-Na'im befürwortet daher die Entfaltung einer Vorgehensweise, die die islamische Schari'a mit der Universalität der Menschenrechte versöhnt, um die Konflikte und Spannungen zwischen beiden zu überwinden, und es steht fest: »Solange die Basis des modernen islamischen Rechts unverändert bleibt... wird es keine Möglichkeit geben, drastische und schwerwiegende Verletzungen universeller Menschenrechtsstandards durch die Muslime zu verhindern.«18 Die von An-Na'im beschworene Aussöhnung ist die grundlegende Bedingung, welche die Muslime erfüllen müssten, -395-
wollten sie aufrichtig lernen, die Sprache der Menschenrechte in ihrer eigenen Mundart zu sprechen. Im Hinblick auf ihre Durchführbarkeit scheint eine solche »aufgeklärte neue Konstruktion« unter den gegenwärtigen Bedingungen der »fundamentalistischen Herausforderung« (vgl. Anm. 1) allerdings in weiter Ferne zu liegen. Sie bleibt eine Hoffnung für die Zukunft, die von der Tatsache gestützt wird, dass einige wenige muslimische Juristen wie die zitierten An-Na'im und alAschmawi diese Sprache der Menschenrechte beherrschen. Gegenwärtig bleibt diese Hoffnung unerfüllt, weil ein Ende des Islamismus nicht in Sicht ist. Gilles Kepels Unterstellung vom »Niedergang des Islamismus«19 zugunsten einer Demokratisierung ist leider völlig unbegründetes Wunschdenken. Fazit und Perspektiven Die in den Kapiteln dieses dritten Teiles (7 bis 10) über die Schari'a geführte Diskussion lässt sich wie folgt zusammenfassen: Erstens: Die Europäer haben mit ihrer Eroberung der Welt ohne es zu beabsichtigen - globale Strukturen geschaffen, die den Normen und Werten der kulturellen Moderne einen universellen Anspruch verleihen, wenngleich diese nicht universalisiert werden konnten. Die politische Kultur der Aufklärung20 und die der Großen Französischen Revolution sind zur Grundlage einer internationalen Rahmenordnung für Menschenrechte als natürliche Rechte geworden. Die Schari'a steht dazu in einem weltanschaulichen Widerspruch, der sich ohne die Anerkennung eines weltanschaulichen Grundkonsenses zum Zivilisationskonflikt ausweiten wird. Zweitens: Die hier vorgetragene Diskussion belegt die fehlende Bereitschaft nichtwestlicher vormoderner Kulturen, die -396-
ihnen fremden Menschenrechte zu akzeptieren. Der historische Hintergrund dafür ist der Umstand, dass sie die Moderne unter Bedingungen der kolonialen Herrschaft kennen gelernt haben. Jegliche externen Einflüsse werden deshalb ohne nähere Differenzierung als Hegemonialbestrebungen zurückgewiesen. Die Antwort dieser Kulturen und der sie überregional vereinigenden Zivilisationen lautet: Rückkehr zum Eigenen. Die Islamisten verstehen unter dem Eigenen - als Rahmenordnung der islamischen Zivilisation - allerdings die Schari'a. Es ist überflüssig zu betonen, dass europäische Kolonialherren Asien und Afrika nicht deshalb erobert haben, um ihre humanitäre Tradition der individuellen Menschenrechte zu universalisieren; sie waren mehr an Rohstoffen interessiert. Das Nebenprodukt der kolonialen Expansion ist aber dennoch der Anspruch der individuellen Menschenrechte auf Universalität, geschehen durch, um einen Ausdruck von Hegel zu gebrauchen, die »List der Vernunft«. Der bedeutende Vertreter der Fachdisziplin der Internationalen Beziehungen, der verstorbene Oxford-Gelehrte Hedley Bull, beobachtete, dass das Zusammenschrumpfen der Welt auf ein internationales System (durch Kommunikationsmittel und Verkehrsdichte) von einer offen zu Tage tretenden kulturellen Fragmentation und einem grundlegenden Dissens über Normen und Werte begleitet wird. Wie bereits zitiert, wird deutlich, »dass das Zusammenschrumpfen der Welt, obwohl sie Gesellschaften in einem nie gekannten Ausmaß zu gegenseitiger Bewusstheit und Interaktion geführt hat, für sich genommen keine einheitliche Weltsicht hat erzeugen können... Die Menschheit wird zur gleichen Zeit einheitlicher und fragmentierter...«21 Der hier verwendete Begriff der »kulturellen Fragmentation« bezieht sich - wie angedeutet - auf den Schwund des Konsenses über gemeinsame Werte, wie etwa die Menschenrechte, inner-397-
halb der Weltgesellschaft. Wenn Muslime von Recht sprechen, dann meinen sie die Schari'a und nicht etwa das Völkerrecht. Somit steht die kulturelle Fragmentation der Durchsetzung der Menschenrechte als universelle Werte im Wege. Die formale Zustimmung sowohl zur Universellen Deklaration der Menschenrechte als auch zu den ihr folgenden Menschenrechtspakten durch alle UN-Mitglieder (bis auf Saudi-Arabien) kann nicht als ein Indiz für einen Konsens angeführt werden. Denn parallel hierzu werden die Menschenrechte von der großen Mehrheit der ihnen formell verpflichteten Staaten de facto nicht umgesetzt.22 Parallel zu der politischen, ökonomischen und auch kulturellen Einbettung der Welt des Islam in die Globalisierungsprozesse23 können wir den verstärkten Ruf nach einer Rückkehr zum »reinen Islam« und somit nach der Politisierung dieser Religion auf der Basis rückwärts gewandter Utopien beobachten. Der in sich widersprüchliche Charakter dieses Rufes ist darin begründet, dass er in hohem Maße durch eben jene westliche Kultur, gegen die er seine Kräfte zu mobilisieren sucht, geprägt ist. Meine These lautet, dass der islamische Fundamentalismus24 ohne die Moderne undenkbar wäre; er ist die Antwort auf die doppelte Krise, die aus der Konfrontation mit der Moderne hervorgegangen ist.25 Diese Einsichten zwingen uns dazu, die zu Anfang vertretene These zu modifizieren, wonach die kulturelle Moderne seit ihrer Ausbreitung und Globalisierung bis zu einem gewissen Grad der Bezugsrahmen für andere Kulturen und Zivilisationen geworden ist. Die zunehmende strukturelle Vereinheitlichung des gegenwärtigen internationalen Systems geht einher mit der Intensivierung einer kulturellen Fragmentation im bereits erläuterten Sinne des Zerfalls eines gemeinsamen Normenkonsenses. Daraus leitet sich das Erfordernis ab, einen vom Kulturrelativismus scharf abgegrenzten Kulturpluralismus zu akzeptieren. Ich habe diese Problematik bereits in den Kapiteln -398-
5 und 6 näher diskutiert und begnüge mich damit, sie hier noch einmal zu streifen. Wenn wir uns nun in diesem Kontext den Menschenrechten zuwenden, dann kann es für mich, soweit es um ihre universelle Anerkennung und Geltung geht, keinen Kompromiss im Hinblick auf ihre Gültigkeit geben. In diesem Sinne spreche ich von einer Universalität von Menschenrechten, die mit vielfältigen, auf die Entfaltung dieser Rechte in verschiedenen Kulturen gerichteten Anstrengungen einhergehen soll. Der Kompromiss liegt nur in der bedingten, also ausdrücklich nicht bedingungslosen Anerkennung der Vielfalt. Ich gehe noch weiter und behaupte, dass die Existenz der Pluralität der Kulturen und der sie umfassenden Zivilisationen nichts anderes bedeuten kann als die Notwendigkeit einer kulturübergreifenden Verankerung der individuellen Menschenrechte, die seit der Französischen Revolution in den entwickelteren westlichen Gesellschaften existieren. Diese Verankerung muss in den jeweiligen Kulturen durchgeführt werden. Die Zurückweisung dieser Forderung durch viele Herrscher in Asien und Afrika ist nichts anderes als die ideologische Rechtfertigung ihrer Willkürherrschaften und eine Verweigerung der grundlegenden Menschenrechte. Khomeini pflegte zum Beispiel Menschenrechte als satanische westliche Werte zu inkriminieren, »welche die verwestlichten Intellektuellen nachahmen«. Im Hinblick auf den Islam kann die in Kapitel 9 vorgestellte Islamische Deklaration der Menschenrechte zunächst formal als Fortschritt betrachtet werden, und zwar insoweit, als sie allen wichtigen Menschenrechten - wenngleich nur auf der Ebene der Rhetorik - einen islamischen Charakter verleiht. Die Betonung des authentisch islamischen Charakters dieser Rechte, das heißt die Leugnung ihrer kulturellen Herkunft, kann mit dem Hinweis auf die Norm des Kulturpluralismus, welche die Basis für den Aufbau verschiedener Fundamente derselben Werte bilden soll, toleriert werden. Im gleichen Sinne kann die jüngste islamische -399-
Debatte über die Schari'a als ein Rechtssystem, welches das Verhalten politischer Herrscher rechtlichen Normen unterwerfen soll, in abstrakter Weise als ein islamischer Beitrag zur Herausbildung legaler Herrschaft bewertet werden. Allerdings kann Herrschaft ohne institutionelles Kontrollsystem keine Garantie für die Verwirklichung der Menschenrechte bieten. Ich habe bereits mehrfach angedeutet, dass die rein normative Existenz von Menschenrechten als Idealen, also ohne korrespondierende institutionelle Mechanismen zu ihrer rechtlichen Durchsetzung, deren praktische Umsetzung nicht gewährleisten kann und deshalb nahezu wertlos ist. Die Vertreter des politischen Islam argumentieren, dass das islamische Regierungssystem mit der islamischen Schari'a als rechtlicher Basis eine solche Garantie biete. Ich habe in Kapitel 7 sowie auch in diesem Kapitel deutlich gemacht, dass der Begriff Schari'a im Islam eine heterogene Rechtstradition umfasst. Dieses inkohärente Rechtssystem ist keine Grundlage für eine institutionelle Rahmenordnung. Islamische Fundamentalisten übersehen die zentrale Bedeutung dieser Fakten und gehen kaum über deklamatorische Formeln - meist zu taktischen Zwecken - hinaus. Dies erklärt ihre zumeist inkonsequente, lediglich formelle Bestätigung der Menschenrechte, die sie in Wahrheit jedoch nicht gelten lassen. Auf Grund ihres Widerstrebens, radikale Veränderungen in ihren rechtlich-kulturellen Weltsichten einzuführen, sind Muslime gegenwärtig leider nicht fähig, eine mit universellen Standards vereinbare islamische Tradition von Menschenrechten zu entfalten. Aus meiner Sicht sind die Zukunftsaussichten nicht viel versprechend. Denn solange der gegenwärtige Zustand andauert, werden Muslime nicht in der Lage sein, mit internationalen Menschenrechtsstandards adäquat umzugehen und einen eigenen kulturellen Beitrag dazu zu leisten. Solange sie der Wahrheit verpflichtete, über die Schriftgläubigkeit hinausgehende Antworten unterdrücken, die beispielsweise den histo-400-
rischen Charakter der islamischen Offenbarung thematisieren, bleiben sie auch bei der Verneinung der Menschenrechte und des ihnen zugrunde liegenden Subjektivitätsprinzips. Trotz der großen Vielfalt im Islam teilen alle Muslime in der zeitgenössischen Geschichtsperiode das Schicksal, der Wahl zwischen den beiden Optionen »Traditionalismus oder Historismus«26 ausgesetzt zu sein, wie sie der bedeutende aufgeklärte, islamisch-marokkanische Historiker Abdallah Laroui beschrieben hat. Solange sie nicht bereit sind, die Methode der historischen Betrachtungsweise auf ihr Verständnis ihrer eigenen Religion anzuwenden, wird es ihnen an einer Vision von Geschichte - im Laroui'schen Sinne eines historischen Bewusstseins - fehlen. Eine Versöhnung mit der Moderne und eine kulturelle Bewältigung ihrer Auswirkungen auf die Welt des Islam bleiben dann aus. Der Anspruch der Muslime, Andersgläubigen gegenüber überlegen zu sein, wie auch die Schriftgläubigkeit ihres Denkens bilden massive Hindernisse für sie, die universelle Sprache der Menschenrechte in ihrer eigenen Mundart sprechen zu lernen. In meinem Buch Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels27 habe ich diese Thematik behandelt. Es geht mir hierbei um die kulturelle Fähigkeit oder Unfähigkeit, ein eigenes Vermögen zur Bewältigung rapiden sozialen Wandels zu entwickeln. Es wird an Normen und einer Weltsicht festgehalten, die ihre Basis in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch den erfolgten sozialen Wandel eingebüßt haben. Das benötigte Vermögen zur kulturellen Bewältigung kann ohne die Entfaltung eines adäquaten selbstreflexiven kulturellen Diskurses nicht erworben werden. Nur wenn der Islam mit einem wirklichen Bekenntnis zum Historismus interpretiert wird, kann ein solcher Diskurs stattfinden. Muslime, welche die Geschichte in diesem Sinne nicht zur Kenntnis nehmen und stattdessen ausschließlich auf die geoffenbarte Schrift ihrer Religion zurückgreifen, um daraus -401-
eine neue politische Spielart der Schari'a abzuleiten, verfallen konsequenterweise in eine apologetische Sicht des Islam. Dies macht blind für die realen Probleme. Unglücklicherweise prägt gegenwärtig eine solche Apologetik die Einstellung der meisten Muslime. Entsprechend vollzieht sich die islamische Menschenrechtsdebatte unserer Gegenwart in apologetischer beziehungsweise defensiv-kultureller Weise und ist deshalb bislang ungeeignet, einen Beitrag zu einer wahrhaftig islamischen Menschenrechtstradition zu leisten. Die islamische Schari'a bietet keinen Rahmen für individuelle Menschenrechte. Es fehlt an einem islamischen Beitrag zur kulturübergreifenden Begründung der Universalität der Menschenrechte sowie zu deren Anwendung auf die gesamte Menschheit, ohne Unterscheidung nach Geschlecht oder Religion. Die Erfüllung dieser Aufgabe der Muslime steht noch aus. Die Universalität der Menschenrechte in einem globalen, weltgesellschaftlichen Kontext anzuerkennen bedeutet, die europäische Tradition der Menschenrechte mit der Kultur des Islam zu versöhnen. Menschenrechte könnten die säkulare Ökumene werden, welche die rivalisierenden Zivilisationen des Islam und des Westens einander näher bringen würde. Die Anwendung der Schari'a dagegen kann nur die Basis der Trennung und der gegenseitigen Ablehnung sein. Muslime sind heute herausgefordert, radikale Reformen zur Erfüllung der anstehenden historischen Aufgaben durchzuführen. Diese Reformen sind gegenwärtig leider nicht in Sicht. Trotz meiner lebensfrohen Natur gelingt es mir nicht, ein Licht am Ende des Tunnels - weder im Dar al-lslam selbst noch in den Orient-Okzident-Beziehungen - zu erblicken! In dieser verfahrenen Situation müssen wir einen wichtigen Unterschied machen: Erstens: In der Welt des Islam sind die benötigten Reformen -402-
Sache der Muslime und nur sie können sie durchführen. Tun sie dies nicht, sondern sie sich vom Rest der Menschheit ab. Zweitens: In der westlichen Islam-Diaspora ist anders zu verfahren, weil hier die Europäer und Amerikaner selbst betroffen sind. Während ich mit Habermas Relativierung der Säkularität der kulturellen Moderne überhaupt nicht konform gehe, pflichte ich ihm in Bezug auf erforderliche religiöse Reformen - er nennt sie »Reflexionsschübe« - bei, denen zufolge religiöse Gemeinschaften folgende Leistungen erbringen müssen: »Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten. Es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben. Schließlich muss es sich auf Prämissen eines Verfassungsstaates einlassen, der sich aus einer profanen Moral begründet. Ohne diesen Reflexionsschub entfalten die Monotheismen in rücksichtslos modernisierten Gesellschaften ein destruktives Potential.«28 Westliche säkulare Gesellschaften würden nicht nur Selbstaufgabe, sondern auch Selbstzerstörung betreiben, wenn sie es den religiösen Gemeinschaften der Islam-Diaspora überließen, ob jene diesen Reflexionsschub alleine vornehmen wollten. Habermas stimmt diesem nicht zu; er schreibt: »Säkulare Mehrheiten dürfen in solchen Fragen keine Beschlüsse durchdrücken, bevor sie nicht den Einspruch von Opponenten, die sich dadurch in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen, Gehör geschenkt haben; sie müssen diesen Einspruch als eine Art aufschiebendes Veto betrachten, um zu prüfen, was sie daraus lernen können.« (ebd.) Ich halte dieses »Minderheitenvetorecht« für katastrophal, -403-
weil es generell - ohne Kenntnis beispielsweise über den Islamismus und seine totalitäre Struktur - eingeräumt wird. Ich war während der Habermas-Rede in der Paulskirche im Oktober 2001 nicht dabei. Nach dem Leitartikel »Habermas und die Religion« von Eckard Fuhr, der anwesend war, soll Habermas den Satz mit dem Vetorecht - wie nach der FAZ zitiert - nicht vorgelesen, also übergangen haben.29 Vielleicht hatten ihn beim Ablesen doch Hemmungen ereilt. In Artikel 10 der Islam-Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland (vgl. Kapitel 7) steht, dass das islamische Recht bindend sei. Mit dieser Begründung kann gegen vieles ein »Veto« eingelegt werden. Kennt der Demokrat und Aufklärer, der zu meinen Lehrern gehört, die islamische Schari'a nicht? Ist ihm das politische Programm der Tatbiq al-schari'a, das auch für die Diaspora gilt, nicht bekannt? Das größte Problem der deutschen Islamdiskussion ist das fehlende Wissen bei vielen Aufklärern und Demokraten.
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Vierter Teil Islam und individuelle Menschenrechte in Europa: Islamische Zuwanderung und EuroIslam als europäische Identität islamischer Migranten »Der Prozess der Globalisierung ist durch die demographische Bewegung großen Ausmaßes von den früheren Kolonien in Länder der früheren Kolonisatoren geprägt worden, die manchmal zu Konfrontationen in Bezug auf Identitätsfragen führten... Viele Muslime leisten Widerstand gegen eine Assimilierung zu europäischen Bürgern... In diesem Prozess... wird die ursprüngliche Bevölkerung Europas damit konfrontiert, ihre eigene Kollektividentität zu überdenken...Es gibt signifikante Unterschiede unter den in Europa lebenden Muslimen, solche zwischen Islamisten und säkularen Muslimen... Bassam Tibi versucht, die muslimische Identität in Europa zu überdenken, indem er eine neue Deutung des Islam empfiehlt, die er EuroIslam nennt.« Nezar Al Sayyad, Director des Center for Middle Eastern Studies, Berkeley, California, in dem von ihm und Manuel Castells herausgegebenen Buch: Muslim Europe or Euro-Islam (New York und Berkeley 2002), S. 9 f. und S. 19
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»Bassam Tibi... der den Begriff Euro-Islam geprägt hat, besteht darauf, dass die Integration der in Europa lebenden Muslime von der Übernahme einer Form des Islam abhängt, welcher westliche politische Werte, wie...individuelle Menschenrechte, einschließt... Tibi sagt: Es gibt keinen Mittelweg zwischen Euro-Islam und Ghettoisierung.« Aus dem Themenheft Islam in Europa des TIME Magazine vom 24. Dezember 2001, S. 49 »Im Verfassungsbericht 2000 steht, der extrem islamistische Verein (Milli Görüs) strebe weltweite Islamisierung an und arbeite daran, dass in Deutschland ein Leben streng nach Koran und Schari'a geführt werde... ›Wir wollen nur eins‹, beteuert Erbakan, ›nach den Gesetzen des Koran in Deutschland leben‹.« Aus: Die Welt vom 2. Oktober 2001, S. 10
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Einführung Bei der weltweiten Debatte über die Universalisierung der Menschenrechte argumentieren demokratische Europäer - und dies ist auch meine Position -, Europa habe nicht nur Kreuzzüge und Kolonisation betrieben, sondern auch Gutes, wie die Menschenrechte hervorgebracht, aber durch den Krieg auf dem Balkan einen Rückschlag erlebt. Der Völkermord an Muslimen durch serbische Ethno-Fundamentalisten während des Balkankrieges 1992 - 1995 wurde endlich durch eine von den Vereinten Nationen sanktionierte Intervention gestoppt, aber zuvor versagte die Europäische Union, deren Aufgabe es ja gewesen wäre, die Menschenrechte der muslimischen Bosniaken zu schützen. Befremdend war die Aussage des SPD-Politikers Peter Glotz, der diese Tatenlosigkeit mit der Begründung rechtfertigte, dass andernfalls der Westen »sofort an mindestens 15 Stellen Krieg führen [müsste, B.T.]...mit politischer Moral hat diese Abwägung nur von fern zu tun« (Spiegel 10/1993). Und doch hat die Entrüstung über den Völkermord an Muslimen in Bosnien sehr viel mit Moral und noch mehr mit der universellen Geltung von Werten und somit auch mit der politischen Zukunft Europas zu tun. Ähnlich wie Glotz haben viele europäische Politiker dies nicht begriffen. Als ein Muslim, der durch einen freien Willensakt Wahlbürger dieses Kontinentes geworden ist, schäme ich mich auch für die Tatenlosigkeit der Europäischen Union zwischen 1992 und 1995. Dennoch will ich hier nicht moralisieren, obwohl Moralität trotz der Blauäugigkeit eines Peter Glotz der Angelpunkt des Ganzen ist. Muslime haben ein lang anhaltendes Kollektivgedächtnis, weshalb ich mit Sorge die konfliktbeladene Spannung zwischen den rivalisierenden Zivilisationen Islam und Westen beobachte. Mehrfach fragte ich in deutschen Medien während des Balkankrieges, welche universelle Moralität die -407-
Zivilisationen miteinander verbinden könnte, wenn nicht jene der Menschenrechte! Genau diese Menschenrechte aber wurden in Bosnien, also in Europa, mit Füßen getreten. Der Schaden wurde inzwischen primär durch die USA - nicht durch die Europäische Union - behoben, aber für Islamisten gehört er nicht der Vergangenheit an. Die Muslime Bosniens sind für sich allein schwach, aber als Bestandteil der Umma (Gemeinschaft), die ein Viertel der Menschheit (1,5 von 6 Milliarden) umfasst und deren Angehörige in der 56 Staaten umfassenden Organization of the Islamic Conference organisiert sind, sind diese Muslime stark und handeln nach dem koranischen Vers »Leben um Leben, Auge um Auge, Nase um Nase, Ohr um Ohr, Zahn um Zahn... und auch für die Verwundungen wird die Wiedervergeltung vorgeschrieben« (5/45). Dies könnte die Form einer »weltpolitischen Rache« in einem welthistorischen Kontext annehmen. Die Europäer müssen verstehen: Der 11. September war eine Handlung in diese Richtung und nicht eine Protesthandlung gegen die Globalisierung. Letzteres ist das westliche Wunschdenken der Antiglobalisten. Der amerikanische Sicherheitsexperte Albert Wohlstetter schrieb während des Krieges in der FAZ vom 10. August 1993, Bosnien sei nicht Geschichte, es könne Zukunft werden. Tief schlafende europäische Politiker schienen nicht aufwachen zu wollen und würden diese Dimension nicht erkennen - leider auch nach dem 11. September 2001 nicht, füge ich hinzu. Diesen europäischen Politikern sei deswegen das Buch Die Wut und der Stolz von Oriana Fallaci empfohlen. Es ist geschrieben von einer Europäerin, der durch ihr bisheriges Wirken keinesfalls Rechtspopulismus vorgeworfen werden kann und die, ziemlich undifferenziert, aber doch mit offenen Augen, »gegen Islamisten und Muslime wettert« (Stern 34/2002). In dieser kritischen Situation müssen wir uns bemühen, zwischen den rivalisierenden Zivilisationen des Westens und des -408-
Islam Brücken zu bauen. Mit den Schlafmützen der europäischen Gutmenschen lässt sich dies nicht bewerkstelligen. Die islamischen Fundamentalisten, die das europäische Versagen während des Balkankrieges nutzen, haben keine Annäherung im Sinn; sie wollen die europäische Idee der individuellen Menschenrechte diskreditieren und warnen die in Europa als Migranten lebenden Muslime davor, dass ihnen Ähnliches widerfahren könne, was den muslimischen Bosniaken geschehen sei. Die ideologische Forderung der Islamisten an Muslime lautet: Widerstand gegen die Integration in das europäische Gemeinwesen. Als Alternative bieten sie ein Leben nach den Gesetzen der Schari'a in islamischen Parallelgesellschaften. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts scheinen zwischenstaatliche Konflikte der Vergangenheit anzugehören. Heute stehen Zivilisationskonflikte - auch in einer regionalisierten Form (Balkan, Nahost, Südasien, Tschetschenien etc.) im Mittelpunkt der Weltpolitik, auch wenn europäische Politiker und Intellektuelle dies nicht wahrhaben wollen. Europa braucht entscheidungsfähige Staatsmänner, nicht eine politische Klasse, die bestenfalls rhetorisch, aber inhaltsleer vor den Fernsehkameras brillieren kann. Beim Zivilisationskonflikt steht die Geltung der Menschenrechte auf dem Spiel. Die europäischen Politiker müssen verstehen, dass die individuellen Menschenrechte die Substanz der zivilrechtlichen Identität Europas ausmachen und dass der Islamismus als Ideologie diese Menschenrechte ablehnt, hiermit den inneren Frieden gefährdet und somit eine Bedrohung für Europa ist. Auch ein knappes Jahrzehnt nach dem Ende des Balkankriegs dürfen wir nicht vergessen, dass die damals an Muslimen erfolgten Menschenrechtsverletzungen nicht im Orient, sondern auf dem europäischen Kontinent stattgefunden haben, jenem Kontinent also, dessen Wortführer die Muslime gerne über Menschenrechte belehren wollen, obwohl sie ihnen in ihrer Realpolitik kaum mehr Aufmerksamkeit schenken. Es ist mein -409-
Anliegen in diesem Buch, die - zugegebenermaßen im Ursprung europäische - Idee der Menschenrechte quasi als religion civile (religio bedeutet frei übersetzt »Bindung«) und somit als Plattform eines kulturübergreifenden Konsenses zwischen den Zivilisationen zu verankern. Dieses Bekenntnis trage ich unermüdlich meinen muslimischen Brüdern und Schwestern vor. Als Muslim verliere ich jedoch jede Glaubwürdigkeit, wenn ich nicht dasselbe Europa, von dem ich viel gelernt habe, moralisch und realpolitisch anklage: Wie Horkheimer messe ich Europa an seinen eigenen Werten und stelle fest, dass europäische Politiker den Test bislang nicht zu bestehen scheinen. In den folgenden beiden Kapiteln möchte ich unter anderem am Beispiel der europäischen Islam-Diaspora mein Augenmerk auf die Bedeutung der Menschenrechte in der Beziehung zwischen Orient und Okzident richten. Dabei stehen sowohl die islamische Migration nach Europa als auch die Geltung der Menschenrechte in Europa im Zeitalter der modernen »Völkerwanderungen« im Mittelpunkt dieses abschließenden Teiles. Das Aufeinandertreffen der Zivilisationen betrachte ich im Zusammenhang mit Menschenrechten, Demokratie und demographischen Verschiebungen durch Migration aus den muslimischen Teilen des Mittelmeerraumes in Richtung Europa. Sowohl multikulturalistische Westeuropäer als auch Muslime selbst sprechen von der islamischen Gemeinde als einer ethnischen Gruppe. Somit wird der Islam in Europa nicht nur als Religion, sondern im Rahmen von Ethnizität eingeordnet. Wer dies hinnimmt, darf von den Folgen dieser Neubestimmung auf die im westlichen Teil dieses Kontinentes lebenden zahlreichen islamischen Migranten nicht überrascht sein. Die in Europa lebenden Muslime werden sich dann auch als ethnischer GhettoIslam beziehungsweise als Nationalität definieren und die Europäer anklagend mit erhobenem Zeigefinger an die -410-
zurückliegende Balkanerfahrung erinnern. Wenn sich dann in diesem Rahmen Konflikte mitten in Europa entfachen, wird das Bedauern der Politiker zu spät kommen. Noch aber ist es nicht zu spät und meine Vision eines Euro-Islam bietet einen Ausweg aus diesem weltanschaulichen Konflikt zwischen islamischer und westlicher Zivilisation. Umso mehr empört es mich, wenn die Redaktion der Süddeutschen Zeitung in der Ausgabe vom 15. 2. 1999 einem ihrer Autoren die Belustigung erlaubt, der »Euro-Islam« sei »eine Ein Mann-Sekte«. Die zunächst zu beantwortende Frage ist die, ob der Schutz von Bevölkerungsminderheiten im Rahmen der Gewährung von Rechten der jeweiligen Kollektive erfolgt. Wie die Neue Zürcher Zeitung vom 12. 10. 1993 berichtete, haben europäische Politiker sich auf dem EG-Gipfeltreffen in Wien im Oktober 1993 »... klar von der Schaffung neuartigen kollektiven Rechts für Minderheitenbevölkerungen distanziert und sich damit gegen die Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung in Straßburg gewandt... Sonderrechte für Minoritätenkollektive widersprechen tatsächlich der klassischen demokratischen Regel.« Die NZZ fügte in dem zitierten Bericht hinzu, dass bei dieser Diskussion immer wieder der Eindruck entstehe, »...es gehe politischen Vertretern von Minoritäten nicht nur darum, endlich die Nicht-Diskriminierung durchzusetzen, sondern um einen Machtanspruch, dem kollektives Volksgruppenrecht als Vehikel dient.« Dieser Machtanspruch wird durch die Entfaltung von Parallelgesellschaften, die sich als Enklaven etablieren, deutlich. Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wissen -411-
europäische Politiker, dass dies ein Sicherheitsrisiko ist und für Europa eine existentielle Bedrohung darstellt. Wenn sich die Europäer nicht für ihre eigene Zivilisation einsetzen, ist zu befürchten, dass in einem multikulturellen und damit fragmentierten Europa in absehbarer Zeit die Geltung der demokratisch und individuell definierten Menschenrechte durch ethnische Kollektive gefährdet wird. Genau dies ist die Quelle der Wut der 72 Jahre alten europäischen Demokratin Oriana Fallaci, die sich im Jahr 2002 um Europas Zukunft sorgt. Ich wiederhole mit dem bereits zitierten Albert Wohlstetter: Bosnien ist nicht Geschichte, sondern Zukunft. Vor dem Krieg auf dem Balkan hat es in der Realität ein Muster für einen europäischen Islam gegeben. Die bosnischen Muslime waren, wie ihr Sprecher in Westeuropa, der Euro-Muslim Smail Balic, mit allem Nachdruck hervorhebt, mit ganzem Herzen europäische Muslime, die demnach europäische Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten in ihren Islam integriert hatten. Dies sieht Fallaci leider nicht, weil heute Islamisten und orthodoxe Muslime das Feld beherrschen. Westeuropa ließ die bosnischen Muslime im Stich und bot dadurch dem islamischen Fundamentalismus - ahnungslos - nicht nur in der Welt des Islam, sondern auch unter den Migranten in Europa Nahrung, die sich - nach dem bosnischen Modell - nun im Rahmen von Ethnizität definieren und Kollektivrechte für sich in Anspruch nehmen wollen. Das ist keine Geschichte, sondern Gegenwart. Vor dem Balkankrieg gab es in Bosnien weder Islamismus noch das Symbol dazu: verschleierte Frauen. Der Besucher kann dort heute das Gegenteil vorfinden. Der Islamismus gehört heute in Bosnien zur Alltagskultur. Der einstige Harvard-Professor Daniel Patrick Moynihan, der als wissenschaftlicher Experte für Ethnizität gilt, warnt in seinem Buch Pandaemenium. Ethnicity in International Relations (1993) vor den globalen Gefahren des ethnischen WirBewusstseins als einer Quelle des Unfriedens am Übergang zum -412-
21. Jahrhundert. Er führt im zitierten Buch aus: »Ethnische Konflikte erfordern nicht das Vorhandensein großer Unterschiede, kleine tun es auch.« Nun sind die Unterschiede zwischen der islamischen und der westlichen Zivilisation sehr groß und es gilt, die daraus in Europa durch Migration und in der Nachbarschaft zu islamischen Staaten im Mittelmeergebiet entstehenden Konfliktpotentiale durch Dialog zu entschärfen. Wenn aber islamische Migrantenminderheiten in Westeuropa ethnisiert werden, können wir dieses Ziel nicht erreichen. Auf dem Balkan wurde ein Konflikt entfacht, dessen Folgen in Westeuropa anhalten, nämlich Muslime im Rahmen von Ethnizität als ein Kollektiv zu definieren. Diese Entwicklung wird im 21. Jahrhundert Demonstrationseffekte haben und als Muster für den »islamischen Separatismus« (Aziz al-Azmeh) in Westeuropa dienen, wenn die Integration im Rahmen eines Euro-Islam weiterhin scheitert. Aus Liebe zu Demokratie und Menschenrechten wünsche ich mir, dass die politische Klasse in Europa und vor allem in Deutschland erkennt, welche Folgen die Ethnisierung der Diaspora durch die Bildung von Parallelgesellschaften sowohl für die Demokratie als auch für die Menschenrechte haben kann. Hierzu gehört ein Verständnis von Ethnizität als ein Gruppenbewusstsein von Kollektiven, die die Bestimmung des Menschen als ein Individuum über Bord werfen. Von dieser Perspektive ausgehend, will ich in den beiden folgenden Kapiteln auch die Entstehung eines islamischen Kollektivs in Europa und die hierzu gehörigen Optionen - Euro-Islam (Symbiose zwischen Islam und kultureller Moderne) oder Ghetto-Islam (Kollektivrechte einer ethnischen Gemeinschaft) erläutern. Die Erstausgabe dieses Buches von 1994 hat zur Entfachung einer deutschen Debatte über diesen Gegenstand beigetragen. Die hier vorliegende Neufassung fordert nun zu einer neuen Diskussion im Lichte der Ereignisse des 11. Septembers auf. -413-
Kapitel 11 Der Islam in Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts
Ethnisch-religiöse Konflikte als Zivilisationskonflikte im Zeitalter der globalen Migration und die Zukunft der individuellen Menschenrechte in Europa
Man drehe und wende es, wie man will: Die Zukunft Europas wird in einer Auseinandersetzung mit der islamischen Zivilisation und ihren Migranten entschieden. Die historisch korrekte Feststellung, »Europa und der Islam sind alte Feinde und Freunde; sie kennen sich durch Djihad und Kreuzzug ebenso wie durch gegenseitige Befruchtung«, die der schwedische Orientalist Bengt Knutsson bei der Eröffnung des westlich-islamischen Dialogs in al-Mafraq/Jordanien (Juni 1997) vornahm, veranlasste die Mehrzahl der dort anwesenden Muslime, den Raum aus Protest zu verlassen. Hätte sich Knutsson anschließend unter dem Druck seiner schwedischen Vorgesetzten für die lediglich Fakten wiedergebende und in der Fachliteratur als wissenschaftliches Forschungsergebnis1 enthaltene Aussage nicht entschuldigt, wäre jene große, mit einer Million US-Dollar vom schwedischen Außenministerium finanzierte Dialogveranstaltung geplatzt.2 Hier in diesem Kapitel geht es nicht um Dialogfragen, sondern einzig und allein darum, dass die Problematik der Universalität der individuellen Menschenrechte nicht mehr allein die Ebene der Weltpolitik anbelangt, -414-
sondern heutzutage durch die islamische Migration auch den westeuropäischen Binnenraum betrifft. Warum führe ich dann einleitend diese Geschichte aus Jordanien an? Vielleicht auch, um zu zeigen, dass ich - anders als Knutsson - die Freiheit habe, ohne Zensur über den Gegenstand zu schreiben. Zum besseren Verständnis für die anstehende Problematik muss ich weit ausholen. Ich beginne mit dem amerikanischen Islamforscher John Kelsay, der sich mit der Spannung zwischen dem partikularen islamischen Djihad (nach dem Koran »Anstrengung«; in der historischen Realität jedoch Krieg zur Verbreitung des Islam) und der universellen Ethik befasst. Einleitend zu seiner Studie, in welcher er den Rahmen dieser Spannung einordnet, schreibt er: »Unter Berücksichtigung der zunehmenden (durch Migration) entstehenden Präsenz von Muslimen in Europa und Nordamerika entsteht eine größere Interaktion zwischen beiden Zivilisationen als je zuvor. Wir müssen diese Tatsache nüchtern zur Kenntnis nehmen.«3 Gegen Ende seines zitierten Buches konstatiert er: »Was ›westlich‹ und was ›islamisch‹ ist, lässt sich heute nicht mehr strikt geographisch definieren... Die Schnelligkeit der islamischen Zuwanderung... führt zu der Annahme, dass wir bald gezwungen sein werden, nicht mehr von Islam und, sondern von Islam im Westen zu sprechen. Islamische Migrationsgemeinden bilden eine Art sektiererische Enklave... im Westen, die nicht zu seiner Zivilisation gehören.« (ebd. S. 118) Bedeutet diese Entwicklung, der wir mit Kelsay nüchtern ins -415-
Auge blicken müssen, dass westliche Normen und Werte, zu denen die individuellen Menschenrechte gehören, nicht mehr ohne Widerspruch im Westen selbst gelten dürfen? In diesen Zusammenhang gehört auch die Tatsache, dass sich der schwedische Wissenschaftler Knutsson für den von ihm in Mafraq/Jordanien angeführten historischen Vergleich von Djihad und Kreuzzug, das heißt für eine wissenschaftliche Aussage, entschuldigen musste. Bedeutet dies, dass im innereuropäischen Dialog mit der Islam-Diaspora wissenschaftliche Wahrheiten nicht mehr gelten und nur politisch zensiert, also »korrekt« wiedergegeben werden dürfen? Das ist der Grund, warum ich mit der Anekdote aus Mafraq beginne, wenn ich in diesem Kapitel über die Geltung der Menschenrechte in Europa im Zeitalter islamischer Zuwanderung schreibe und mir darüber Sorgen mache. Bei der 1993 erschienenen ersten Fassung dieses Buches war Habermas Philosophischer Diskurs der Moderne4 mein geistiger Kompass und bleibt es. In dieser Neuausgabe gehe ich allerdings streng mit meinem ehemaligen Frankfurter Lehrer ins Gericht, da dieser mit seiner Rede in der Paulskirche vom Oktober 2001 - anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels - nach dem 11. September den Begriff »postsäkulare Gesellschaft« prägte. Doch aus meiner Kritik geht auch klar hervor, dass Habermas die Ideale der Aufklärung nicht ganz verrät, denn er weist auf eine wichtige Bedingung für die öffentliche Akzeptanz der Religion in einer modernen Gesellschaft hin: »Nur die Religionsgemeinschaften verdienen das Prädikat vernünftig, die aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten Verzicht leisten... Das religiöse Bewusstsein muss sich auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Weltwissen innehaben.«5 -416-
Zusammengefasst bedeutet das: wissenschaftliche Erkenntnis statt Djihad. Doch die Islamisten unserer Gegenwart sowie orthodoxe Muslime, die den islamischen Rationalismus (und damit das Primat der Vernunft) schon im mittelalterlichen Islam bekämpften und ihn aus der islamischen Zivilisation entfernten, akzeptieren diese Bedingung nicht. Sie würden in folgender Manier ablehnend auf Habermas antworten: Im Islam dürfe es keine Trennung zwischen Glauben und Wissen geben, weil die im Koran schriftlich fixierte islamische Offenbarung die höchste Stufe des Wissens sei.6 Kurz: Der Islam sei Wissenschaft per se und nur dieser könne das gesellschaftliche Monopol auf Weltwissen beanspruchen; im Islam gebe es keine Trennung zwischen religiöser und weltlicher Wahrheit, sagen orthodoxe Muslime. Grenzen der Toleranz bei der Bewältigung der Konflikte zwischen den Ansprüchen ethnisch-religiöser Kollektive und der Geltung der individuellen Menschenrechte In Europa gilt die Toleranz der Aufklärung. Der Respekt vor »postsäkularen« Geisteshaltungen, die Europas Identität7 nicht respektieren, führt nun zu einem Konflikt. Die Fragen nach den Grenzen des Dialogs mit dem Islam und nach dem islamischen Anspruch der Gleichsetzung von islamischer und wissenschaftlicher Wahrheit betreffen das Zusammenleben mit dem Islam im Westen. Hier dürfen Respekt und Toleranz nicht zu einer Aufgabe der zivilisatorischen Identität Europas führen. Bezogen auf den Gegenstand dieses Buches, also auf die individuellen Menschenrechte, biete ich als Lösung die Vision des EuroIslam, die im abschließenden Kapitel 12 näher erläutert werden wird. Zuvor ist es sinnvoll, in diesem Kapitel eine Analyse über den Islam und Europa vorzunehmen, in deren Mittelpunkt die -417-
von Kelsay angesprochene islamische Präsenz in Europa steht. Die Problematik Islam und Menschenrechte gehört in einen weit größeren Rahmen. Mit dem allgemeinen Gegenstand habe ich mich in einer in Harvard entstandenen Trilogie befasst, in der ich die Geschichte der europäischislamischen Beziehungen sowohl im Rahmen von Kreuzzug und Djihad als auch die gegenseitigen Befruchtungen beider Zivilisationen bis in die Gegenwart hinein rekonstruiere. Ehe ich auf die Thematik islamische Zuwanderung und Menschenrechte eingehe, möchte ich die Ergebnisse dieser Trilogie zusammenfassen, damit mein Gegenstand in den allgemeinen Rahmen eingeordnet wird. Zu den deutschen Philosophen, bei denen ich das Glück hatte, ihnen persönlich zu begegnen, und die mein Leben prägend beeinflussten, gehört Ernst Bloch. Von ihm und seinem Buch8 über den islamischen Rationalismus, das er mir mit einer Widmung zum Geschenk machte, lernte ich als Zwanzigjähriger, diese Denkrichtung zu würdigen. Zu den Lehren Ernst Blochs gehört die in seinem Hegel-Buch enthaltene Maxime: »Mattes und wenig bedeutendes Denken fasst sich selten kurz. Es braucht viele Worte... je länger das Geschwätz, desto dünner der Sinn, verräterischer die Kürzung.«9 Ernüchternd und zugleich warnend fügt Bloch hinzu: »Der schlimmste Tag im Leben eines ungezielten, unnotwendigen, hin und her irrlichterierenden Denkens mag es sein, auf einer halben Seite sagen zu müssen, was er will, gar was er zustande gebracht hat.« (ebd.) In diesem Geiste Blochs fasse ich meine 935 Druckseiten umfassende Trilogie10 im Folgenden zu einer knappen -418-
Quintessenz zusammen. Die dort enthaltenen Erkenntnisse bieten eine Grundlage zu der in diesem Kapitel gebotenen Analyse über den Islam in Europa. Als Resümee dieser Trilogie lässt sich zunächst festhalten, dass der Islam im 7. Jahrhundert, weltgeschichtlich gesehen, das erste globale Eroberungsprojekt mit einem universalistischen Geltungsanspruch war. Europa hatte sich als christliches Abendland unter Karl dem Großen in der Auseinandersetzung mit der islamischen Djihad-Herausforderung als Zivilisation formiert. Karl der Große als Begründer Europas hatte zugleich kriegerische Abwehr - allerdings keine Kreuzzüge - gegen die Islamexpansion betrieben und einen Dialog mit dem Islam geführt. Drei Jahrhunderte später gingen dann die Christen zum Gegen-Djihad in Form der Kreuzzüge über, als der islamische Druck auf Europa zunahm und das Christentum - vom Islam lernend - ebenfalls einen kriegerischen Charakter annahm. Doch lassen sich parallel zu dieser Kriegsgeschichte von Djihad und Kreuzzug auch gegenseitige Befruchtungen feststellen, vor allem die Hellenisierung des Islam und der islamische Einfluss auf die europäische Renaissance. Erst im Rahmen der Entstehung des Westens, der das christliche Abendland ablöst, gelingt es den Europäern, den islamischen Globalisierungsversuch zu beenden und ihren eigenen in Gang zu setzen. Die Geschichte zwischen den beiden Welten, der christlichwestlichen und der islamischen, umfasst gleichermaßen Bedrohung und Faszination. In der neueren Geschichte wird sie im Rahmen von Verwestlichung und Entwestlichung fortgesetzt. Die heute dominierenden Selbst- und Fremdbilder beider Zivilisationen sind diesem historischen Rahmen entwachsen. Mit der globalen Migration wird diese Geschichte durch die islamische Zuwanderung nach Europa hineingetragen. Unser Thema bei der Erläuterung der Universalität der Menschenrechte ist zugleich die historische Überlieferung von Bedrohung und Faszination und deren zeitgeschichtliche -419-
Ausformungen in der Gegenwart durch die islamische Migration. Rechte ethnisch-religiöser Menschenrechte?
Kollektive
oder
individuelle
In Europa entwickelten sich nacheinander zwei Zivilisationsmuster: das christliche Abendland und der Westen. Die kulturelle Moderne, in deren Rahmen sich die Individuation entfaltet, ist die Basis der individuellen Menschenrechte; sie ist zuerst im Westen entstanden. Durch die Migration aus der Welt des Islam wird Europa mit Kollektiven aus vormodernen Kulturen konfrontiert. Europäer, die nicht zu dem Modell der kulturellen Moderne Europas stehen, besonders diejenigen unter ihnen mit »geschädigter« Identität, behaupten immer wieder, dass der Westen zur Aufrechterhaltung seiner Einheit und Homogenität ein gemeinsames »Feindbild« benötige; dies soll der Islam erfüllen. Aus dieser Perspektive scheint der Zusammenbruch des Kommunismus ein schwarzer Tag für Europa gewesen zu sein. Die darauf folgende fragwürdige Annahme lautet nur: Weil durch die veränderte politische Konstellation eben dieses Feindbild, das der Kommunismus einst geboten hatte, verloren ging, zeige der Westen zunehmendes Interesse am Islam im Rahmen des Versuches, einen Ersatzfeind für den Kommunismus zu finden. Verteidigenswert ist die politische Kultur der westlichen Zivilisation für diejenigen, die so argumentieren, nicht. Persönlich halte ich diesen Glauben an eine Feindbildfixierung »des Westens« ebenso für Unsinn wie den in der Kultur, aus der ich stamme, verbreiteten Glauben an eine »auswärtige Verschwörung«.11 Ich sehe sogar Parallelen zwischen beiden Denkweisen, die, so kulturell verschieden sie auch sein mögen, »verschwörerisch« veranlagt sind. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass westliche Intellektuelle sich selbst als -420-
»Verschwörer« der Globalisierung bezichtigen, Muslime dagegen den Westen anklagen. Am Ende dieses Kapitels komme ich auf diese Problematik zurück. Jenseits der vergleichbaren Phantasmagorien vom »Feindbild Islam« und von »der westlichen Verschwörung« kann jeder Beobachter feststellen, dass es für die zunehmende Bedeutung des Islam in Europa ausreichend sachliche Gründe gibt. Das Problem ist jedoch, dass Muslime - trotz ihrer Vielfalt - als Kollektive wahrgenommen werden und auch als solche auftreten. Der Aufstieg des politischen Islam beinhaltet den Versuch - in antiwestlicher Manier -, eine Zivilisation vor den Toren Europas, besonders im südlichen und östlichen Mittelmeerraum, politisch als Block zu mobilisieren. Ich rede hier nicht vom Islam als einer monotheistischen Weltreligion, sondern von einer durch die Krisen des späten 20. Jahrhunderts mitgeprägten Zivilisation und ihren Weltanschauungen. Durch die Migration aus dem Mittelmeerraum strömen Angehörige dieser Zivilisation auch ins europäische Haus. Die Mehrheit dieser Muslime besteht aus Individuen, die sich aufgrund der europäischen Prosperität ein besseres Leben versprechen. Die organisierten Islamisten jedoch versuchen diese Islam-Diaspora zu »hijacken« und präsentieren sich als Sprecher dieses selbstethnisierten Kollektivs. Die islamische Perspektive für die Entwicklung in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges hängt also einerseits mit der Tatsache zusammen, dass durch die Präsenz von etwa 25 Millionen Muslimen (10 Millionen auf dem Balkan, 15 Millionen Migranten in Westeuropa) auf dem europäischen Kontinent der Islam zu der Realität des europäischen Lebens dazugehört,12 andererseits mit der Frage, ob die Muslime integriert, das heißt trotz ihrer zivilisatorisch anderen Weltanschauung europäische Bürger werden können. Ob Europa den Islam auf seinem Territorium tolerieren kann, hängt vor allem -421-
auch davon ab, ob Muslime individuelle europäische Bürger werden oder ethnisch-religiöse Kollektive bilden. Der 11. September hat gezeigt, dass die Integration der Muslime in Westeuropa bisher gescheitert ist.13 Das 21. Jahrhundert wird vom demographischen Zuwanderungsdruck auf Europa aus der Welt des Islam charakterisiert sein. Die demographischen Prognosen für die Entwicklung im Mittelmeerraum zeigen, dass die islamische Bevölkerung der Anrainerstaaten bis 2015 auf 270 Millionen anwachsen wird, während man für die europäischen Mittelmeerländer nur einen Zuwachs auf 127 Millionen prognostiziert. Dies bedeutet, dass eine weitere Zuwanderung von Muslimen nach Europa und ein entsprechendes Wachstum der islamischen Bevölkerung in Europa zu erwarten ist. Der Islam ist nach dem Ende des Ost-West-Konflikts im Zeitalter der Migration fester Bestandteil Europas. In der Fachliteratur spricht man daher gleichermaßen von einer »question of numbers« und von »national identity«.14 Es besteht kein Grund zur Panikmache, aber wir müssen uns mit dieser Problematik tabufrei auseinander setzen können. Ob und welches Konfliktpotential hieraus erwachsen wird, ist eine Frage, die mit der Fähigkeit, die muslimischen Migranten zu integrieren, zusammenhängt. Als ein Muslim, der in Europa nicht nur geographisch, sondern auch kulturell seine Heimat gefunden hat, trete ich für diese Integration ein; sie erfordert eine Synthese von aufgeklärtem Islam und europäischer kultureller Moderne. Ich nenne diese Synthese, die ich im nächsten Kapitel näher beschreiben werde, Euro-Islam. Südosteuropa hat seit Jahrhunderten Erfahrung mit dem Islam. Eine Erkenntnis aus den Balkankriegen in Bosnien und im Kosovo sollte sein, dass, wenn die dortige islamische Gemeinschaft nicht als eine solche von individuellen Bürgern, sondern als ein ethnisches Kollektiv betrachtet wird, größte Gefahren für die Integration der Muslime und des Islam in -422-
Europa hervorgehen. Zusätzlich zu den abscheulichen, an Muslimen verübten Blutbädern15 steht die Einstufung der bosnischen Muslime nicht als eine religiöse, sondern als eine ethnische Gruppe im Gegensatz zum Modell des Euro-Islam und wird im 21. Jahrhundert besorgniserregende Nachahmungseffekte in ganz Europa zeitigen. Vor dem Bosnienkrieg lebten die muslimischen Bosniaken den Islam auf dessen wohl europäischste Art. Durch den Krieg wurden sie - auch durch die arabischen al-Qaida-Djihadisten, die seinerzeit aus Afghanistan als Helfer zuströmten - in das Fahrwasser des Islamismus gezogen.16 Es hat schwerwiegende Folgen, dass sich inzwischen muslimische Migranten in England, Frankreich und auch in Deutschland nach dem Vorbild des Balkans defensiv als ethnische Wir-Kollektive formieren, das heißt sich selbst ethnisieren. Das Resultat einer solchen durch den Balkankrieg initiierten Umorientierung kann dann nicht etwa die Integration der muslimischen Migranten in Europa im Rahmen eines EuroIslam, sondern nur ein potentieller Bürgerkrieg sein. Moynihan klärt uns über die Gefahren solcher Ethno-Identitäten von WirGruppen17 auf. In diesem Zusammenhang stellen sich die drei größten Gefahren, die bei der Erstellung eines ethnischreligiösen Konfliktszenarios in Europa zugrunde gelegt werden, wie folgt dar: 1. Islamische Fundamentalisten lehnen die Einstufung der Muslime als individuelle Bürger im Sinne von citoyens in Europa ab, weil sie die Islam-Diaspora lieber als verlängerten Arm der Welt des Islam sehen möchten. Auf ihrer dreitägigen Sitzung in Kairo hat die Arabische Liga die in Europa lebenden Migranten als Teil des Dar al-Islam (Haus des Islam) bezeichnet und das Ziel formuliert, sie als Instrument der islamischen Da'wa (Aufruf zum Islam) zur Verbreitung des Islam in Europa einzusetzen.18 Mein Konzept des Euro-Islam ist das genaue -423-
Gegenprogramm zu solch einer fundamentalistischen Strategie, da es Muslime als Individuen anerkennt und nicht dem religiösethnischen Kollektiv einverleibt. Der Da'wa-Islam, also der missionarische Islam, wie ihn zum Beispiel Scheich al-Ghazali19 vertritt, ist gleichermaßen aggressiv universalistisch wie neoabsolutistisch. 2. Zur islamischen Dimension des Balkankrieges gehört der Tatbestand, dass serbische Ethno-Fundamentalisten Völkermord an der einzigen säkular orientierten islamischen Gemeinde in Europa begingen; sie machten somit die Chance zunichte, aus Bosnien-Herzegowina einen weder ethnisch- noch religiösexklusiven, gleichermaßen säkularen und pluralistischen Staat20 zu bilden. Damit arbeiteten die serbischen Ethno-Fundamentalisten den islamischen Fundamentalisten in die Hände.21 Die Folge ist das feindliche Aufeinandertreffen von religiös definierten Zivilisationen, nicht aber der ersehnte Religionsfrieden. Zur Erinnerung: Bosnien ist nicht Geschichte, sondern Zukunft. Diese These habe ich in der Einführung zu diesem vierten Teil näher erläutert. 3. Der Westen, der die falsche Politik in Bosnien zugelassen und offen geduldet hat, dass die Muslime in Bosnien zu einer ethnischen Großgruppe deklariert werden, wird einen hohen Preis zahlen müssen, wenn erst die islamische Gemeinde in Westeuropa nach dem Balkan-Vorbild handelt und für sich die Anerkennung als ethnische Großgruppe verlangt. Dies ist bereits im vollen Gange und Folgekonflikte sind vorprogrammiert. Im Rahmen von globaler Migration ist die Diskussion über Minderheiten als Kollektive mit Kollektivrechten in Europa von zentraler Bedeutung. Noch wehrt man sie ab! Der ethnischreligiöse Separatismus ist langfristig die logische Konsequenz der Bildung von Parallelgesellschaften. Wir müssen offen diskutieren, wie ein wertebeliebiger Multikulturalismus, der in letzter Konsequenz eine »Balkanisierung« zur Folge hat, ein Gemeinwesen der Bürger gefährdet.22 -424-
Deutschland im Schatten des Ost-West-Konflikts Wie sieht es in dieser kritischen Situation in Deutschland aus? Viele Deutsche gehen an die Problematik mit abgenutzten moralisierenden Kategorien heran. Einwanderungspolitik bedeutet jedenfalls nicht, dass Europa, geschweige denn die Bundesrepublik allein, die Probleme des wirtschaftlichen Elends durch eine völlige Öffnung der Grenzen und somit eine uneingeschränkte Zuwanderung löst. Dasselbe gilt für die uneingeschränkte Aufnahme von politisch verfolgten Asylanten in einer weltpolitischen Situation, in der die demokratischen Länder »eine Insel im Ozean der Gewaltherrschaft« (Max Horkheimer) bilden. Um das eigene System vor dem Zusammenbruch zu bewahren, muss jedes Land gleichermaßen Zuwanderung und Asylantenaufnahme per Gesetz kontingentieren. Sowohl die alte CDU/FDP-Koalition als auch die SPD/Grünen-Regierung waren kaum in der Lage, die auf deutschem Gebiet lebenden Ausländer zu integrieren und die Zuwanderung in den Griff zu bekommen. Es wird im Rahmen der verfassungswidrigen Zensur und der political correctness verboten, darüber nachzudenken, dass die Unfähigkeit, den Zustrom weiterer Zuwanderer zu absorbieren, den bereits in die deutsche Gesellschaft integrierten Ausländern schadet, die damit den Gefahren der Ausgrenzung ausgesetzt werden.23 In meinem Buch über die islamische Zuwanderung habe ich in diesem Zusammenhang empfohlen, zwischen Zuwanderung und Einwanderung zu differenzieren und eine Steuerung der Migration anzustreben. Angesichts der Prognose einer massenhaften, in absehbarer Zukunft aus dem Mittelmeerraum erfolgenden Migration wird die angeführte Problematik dramatische Formen annehmen. Auf einem wissenschaftlich-politischen spanisch-deutschen Expertentreffen, das die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige -425-
Politik (DGAP) 1992 in Bonn durchführte, fiel es den deutschen Teilnehmern nicht leicht, das Argument der Spanier zu würdigen, dass die spanische Mittelmeergrenze die europäische Südgrenze zu einer anderen Zivilisation darstelle. Angesichts ihrer geopolitischen Lage verstehen die Spanier diese Problematik besser. Zehn Jahre später waren EU-Politiker angesichts zunehmender illegaler Migration bereit, auf ihren Treffen in Rom, Luxemburg und Sevilla über den Schutz der Grenzen Europas nachzudenken.24 Zu konkreten Maßnahmen fehlt ihnen noch der Mut, zumal die propagandistische Formel von der »Festung Europa« dem im Wege steht. Mit dem Zustrom illegaler sowie legaler Migranten und durch den Asylmissbrauch kommen muslimische Fundamentalisten nach Europa, bauen ihre logistischen Basen auf und präsentieren sich als Hüter des »wahren Islam«. Der Westen schaut zu, als begriffen seine Politiker auch nach dem 11. September die Situation nicht. Der Islam als Glaube an Gott ist eine jahrhundertealte Weltreligion und zugleich eine Zivilisation, während der Fundamentalismus eine neue totalitäre politische Ideologie ist, die weltanschaulich unterschiedliche Zivilisationen entzweit, anstatt Brücken der Verständigung zwischen ihnen zu errichten. Islam und Fundamentalismus müssen auseinander gehalten werden, weil ihre Gleichsetzung verheerende Folgen für die Orient-Okzident-Beziehungen haben würde. Wenn der Missbrauch der Menschenrechte durch Islamisten angesprochen wird, dürfen wir diesen Unterschied nicht vergessen. Unter Berücksichtigung der demographischen Explosion im Mittelmeerraum steht der Islam im Mittelpunkt der Ein- und Zuwanderungsproblematik, die aus eben jener Bevölkerungsentwicklung resultiert. Ein erheblicher Anteil der Zuwanderer nach Westeuropa kommt aus dem zur Welt des Islam gehörenden Mittelmeerraum; bald wird dies auch in Deutschland, wo der Zustrom derzeit noch hauptsächlich aus -426-
den osteuropäischen Ländern kommt, der Fall sein. Bei dem erwähnten deutschspanischen Expertentreffen gab ein spanischer Teilnehmer zu bedenken, dass all die Marokkaner, die auf irgendwelchen Notbehelfen oder sogar schwimmend die 14 Kilometer bis zur Küste Gibraltars zu überqueren vermögen, nur wenig später in Deutschland sein könnten. Diese Migranten identifizieren sich mit dem Islam sowohl politisch als auch kulturell; er bildet ihren Bezugsrahmen. Die Deutschen könnten von den Franzosen lernen, die diese Migration intensiv kennen; die Franzosen sehen die Problematik pragmatisch und suchen nach Lösungen sowohl für die Eindämmung der Zuwanderung als auch für die Integration der Migranten. In Frankreich versucht man die Frage zu beantworten, wie Europa die eingewanderten Muslime integrieren kann, was also getan werden muss, damit islamische Migranten europäische Bürger werden können, die sich die europäische Demokratie und die Menschenrechte zu Eigen machen. Mit einer solchen Politik wird alles andere als Multikulturalität angestrebt; Frankreich besteht auf seiner, der westlichen Zivilisation erwachsenen demokratischen kulturellen Identität. Im folgenden Kapitel werde ich näher auf die Erfahrungen aus Frankreich eingehen, wo auch - nicht zufällig - mein verbalisiertes Konzept vom Euro-Islam entstanden ist.
Ein Szenario des europäischen Friedens: Euro-Islam Die Akzeptanz der individuellen Menschenrechte durch die in Europa lebenden Muslime erfordert die Erfüllung der Bedingung, dass die Grundlagen der europäischen Moderne als kulturelle Identität Europas mit dem Islam vereinbar gemacht werden; nur dann könnte aus der Diaspora-Gemeinde eine integrierte, aus Individuen freier Staatsbürger (also nicht aus -427-
einem Umma-Kollektiv) bestehende Religionsgemeinschaft werden. Wenn die Muslime der europäischen Islam-Diaspora den Islam europäisieren wollten, anstatt Europa zu islamisieren, müssten sie das Konzept des Euro-Islam annehmen. Außerdem könnten Euro-Muslime über ihre Integration hinaus durch eine Aneignung der Aufklärung zu Vorposten der liberalen Reform und Demokratie in der Beziehung zwischen Orient und Okzident werden. Andernfalls könnten sie zum Katalysator des Zusammenpralls der Zivilisationen werden, wenn die Extremisten unter den Muslimen in Europa - zum Beispiel der rechtsradikale Pakistani Kalim Siddiqi in London - die Freiheiten der europäischen Demokratie ausnutzen, um islamische Zentren in Europa in Speerspitzen des Fundamentalismus gegen die westliche Zivilisation zu verwandeln. Es schmerzt zu beobachten, dass der islamische Fundamentalismus unter den islamischen Migranten in Europa zunehmend an Einfluss gewinnt und hierbei bei den Europäern bestehende Ängste vor dem Islam geschürt werden; anstatt Verständigung zu erzielen, rufen sie entsprechende Feindbilder hervor. Mit der Balkanerfahrung im Hintergrund können wir am Beispiel Deutschlands deutsche Ausländerfeindlichkeit und islamischen Fundamentalismus als zwei Spielarten des Rechtsradikalismus25 erkennen, die sich bekämpfen und zugleich gegenseitig in die Hände spielen. Oberstes Prinzip der europäischen Politik nach dem Ende der Bipolarität müsste es so gesehen jedenfalls sein, zu verhindern, dass sich das Aufeinandertreffen der Zivilisationen durch Migration zu einer Ausweitung des innenpolitischen Konfliktpotentials entwickelt. Im Hinblick auf die neue politisch-religiöse Dynamik in Europa muss das benötigte europäische Einwanderungs- und Integrationskonzept vor allem darauf ausgerichtet sein, die Entstehung ethnischer Ghettos, in denen individuelle Menschenrechte nicht anerkannt werden, zu verhindern. Hierzu gehören Bemühungen zur Stärkung des reformerischen Islam -428-
unter den in Europa lebenden Muslimen bei gleichzeitiger Sicherstellung, dass fundamentalistische Kräfte des GhettoIslam der Parallelgesellschaften demokratisch daran gehindert werden, unter Missbrauch der Demokratie ihre Vorstellungen mit Gewalt gegen den Euro-Islam durchzusetzen. Die europäischen Systeme sind auf die ethnische Gewalt der Migranten (zum Beispiel Kurden gegen Türken) allerdings gar nicht vorbereitet. Daher scheint es empfehlenswert zu sein, dass europäische Staaten auf die Zusammensetzung der Führung der islamischen Gemeinde auf ihrem Territorium Einfluss nehmen. Die französische Unterstützung des Imams der Moschee von Paris, Dalil Boubakir (ein demokratisch orientierter Arzt), der die Lai-cité, d.h. die Säkularität anerkennt, ist dafür ein gutes Beispiel. Hier möchte ich noch folgendes Erlebnis anführen: Als die Alfred-Herrhausen-Gesellschaft (AHG) im Juni 2002 ihr Buch Das Ende der Toleranz?26 in Berlin im Rahmen eines großen Events vorstellen wollte, bestand der Wunsch, einen europäisch denkenden Imam als Sprecher auf ein Panel einzuladen. Unter den Imamen der 2400 Moscheen in Deutschland ließ sich jedoch keiner mit der erwünschten Geisteshaltung finden; mir persönlich, als Laizisten, ist ein solcher auch nicht bekannt. Deshalb schaute man nach Frankreich und dort fand man einen Schüler des angeführten Imam Boubakir: den Großmufti von Paris, Scheich Bencheikh. Laut Programm der AHG fordert dieser Imam »eine radikale Reform des Islam und setzt sich für die Versöhnung zwischen Islam und Moderne ein«. Eine Dominanz des Ghetto-Islam in Europa, ob in Deutschland oder anderswo, bedeutet Eskalation des Konflikts, nicht dessen gewünschte Entschärfung durch Integration. Auch arabische und andere islamische Regierungen haben kein Interesse daran, dass die Fundamentalisten unter Missbrauch von Demokratie und Asylrecht aus den europäischen Hauptstädten heraus gegen sie agitieren und gleichzeitig die Unter-429-
grundtätigkeiten in den arabischen Mittelmeerländern steuern. Meine Kritiker mögen bedenken: Islamische Fundamentalisten sind keine Demokraten. In diesem Zusammenhang ist es müßig, wie manche westliche Islamwissenschaftler darüber zu debattieren, ob der Fundamentalismus »Mythos oder Realität«27 sei. Ethnisch-religiöse Gruppenzugehörigkeiten dürfen in einer Demokratie nicht maßgeblicher werden als die individuelle Staatsangehörigkeit - nicht nach dem legalistischen deutschen Verständnis, sondern politisch im Sinne von citoyenneté/citizenship, welche/s die individuelle Zugehörigkeit zu einem demokratischen Gemeinwesen, nicht zu einem Kollektiv bedeutet. Für einen Euro-Muslim müsste die Erlangung der Staatsangehörigkeit eines europäischen Landes mit der Identifikation und Loyalität zu dessen demokratischen Gemeinwesen verbunden sein und nicht allein als nützlich für den Erwerb von Rechten angesehen werden. Integration erfolgt auf kultureller, politischer und wirtschaftlicher Basis. Sie kann alleine durch den Verwaltungsakt der Erteilung eines Passes nicht gewährleistet werden. Muslimische Migranten können nur als demokratische Bürger in Europa heimisch werden. Europa darf nicht zu einem multikulturellen Wohngebiet herabsinken oder gar tendenziell islamisiert werden.28 Bosnien als Modell Schreckensszenario
für
die
Zukunft
Europas?
Ein
Im vorangestellten Abschnitt griff ich auf den Euro-Islam vor, um dieses Friedenskonzept dem bosnischen Modell gegenüberzustellen. Betrachtet man die islamische Dimension des Balkankrieges, so zeigt sich, dass die Ereignisse in Bosnien zwischen 1992 und 1995 - und deren politische Folgen - ein Schreckensszenario darstellen. -430-
Muslimische Fundamentalisten argumentieren, dass eine Integration der Muslime in Europa nichts anderes wäre als ein Beitrag zu einer christlichen Missionierung der islamischen Diaspora-Gemeinde. Gegen die Idee der christlichen Mission tragen sie die damit vergleichbare islamische Da'wa vor. Sie zitieren dabei den Koranvers: »Die Christen werden mit dir solange nicht zufrieden sein, bis du ihrem Bekenntnis folgst... So hast du Allah gegenüber weder Freund noch Helfer« (2/120). Diesen Koranvers findet man in einem weit verbreiteten und einflussreichen fundamentalistischen Pamphlet über den Bosnienkrieg. In jenem Pamphlet werden die Handlungen der Serben als ein erneuter »Kreuzzug der Christen gegen den Islam« dargestellt.29 Islamische Fundamentalisten unterscheiden nicht zwischen Protestanten, Katholiken und Orthodoxen; für sie sind sie alle in gleicher Weise »ungläubige Christen«. Zur Differenzierung zwischen Islam und Fundamentalismus sollte man sich vergegenwärtigen, dass die islamische Theologie die Christen als Ahl al-kitab, als Andersgläubige, nicht als »Ungläubige« einstuft, wie Fundamentalisten dies tun. Fundamentalisten, gleich ob christlich-serbisch oder islamisch, sind Verbrecher, die den Religionsfrieden zerstören. Die Bluttaten serbischer Ethno-Fundamentalisten an muslimischen Bosniaken auf dem Balkan 1992 -1995 wurden nun im Jahre 2002 umgekehrt von islamischen Fundamentalisten der al-Qaida nahe stehenden Bewegung der Laskar Jihad (Soldaten des Djihad) an Tausenden von Christen auf den indonesischen Molucken wiederholt. Die verübten Gräueltaten reichten von Zwangskonversionen - in Verbindung mit medizinisch höchst bedenklichen Beschneidungsriten - bis hin zum Meuchelmord.30 Das ist alarmierend und man darf sich von dem Vorwurf der Panikmache nicht einschüchtern lassen, wenn man auf diese Untaten auch hinsichtlich einer Gefahr für Europa hinweist. Solche Morde, die im Rahmen von Mobilisierung und -431-
Gegenmobilisierung stattfinden, tragen zur Verhärtung der Frontlinien zwischen den Zivilisationen bei. Schauen wir uns an, wie sich dies auf dem Balkan vollzog. Die Serben versuchten einerseits, die slawisch-orthodoxen Völker auf einer ethnischreligiösen Ebene für sich zu gewinnen, andererseits bemühten sie sich, die gesamte orthodoxe Christenheit, einschließlich der Griechen, zu mobilisieren. So formierte sich in Abgrenzung zum Westen eine slawisch-orthodoxe Christenheit, die primär gegen den Islam gerichtet war. Dies galt als Handlung einer Zivilisation, die aktiv an dem Konflikt beteiligt war. Es ist sehr bedauerlich, dass Teile der griechischen Orthodoxie auf diese Bemühungen eingingen. So wurde durch eine FAZ-Meldung ein Bericht des griechischen Geheimdienstes EIP bekannt, welcher der im Oktober 1993 abgewählten griechischen Regierung übergeben worden war und diese Befürchtung bestätigte. »Der Geheimdienst empfiehlt, die orthodoxe Religion als Gegengewicht zu türkisch-muslimischen Aktivitäten mehr in die griechische Außenpolitik einzubeziehen und eine Achse der Orthodoxie auf dem Balkan zu bilden.«31 Nicht nur in den orientalischen Despotien scheinen demnach die Geheimdienste die Außenpolitik zu bestimmen! Im Gegenzug haben islamische Fundamentalisten parallel zu einem Widerstand gegen den angeblichen »Kreuzzug der Christenheit« auf dem Balkan aufgerufen. Die Aufklärer sowohl auf christlicher als auch auf islamischer Seite werden jedes Argumentes gegen solche Anklagen beraubt, wenn sich Begebenheiten wie die folgende abspielen. So berichtete die Neue Zürcher Zeitung, dass der serbische Kriegsverbrecher General Ratko Mladic von dem orthodoxen Bischof Atanasije Jevic einen Orden erhielt. Die NZZ beschreibt den Vorgang so: »Während die serbischen Truppen von den Hügeln herab Sarajewo und andere Städte beschießen... hat der -432-
Oberbefehlshaber, Ratko Mladic, jener Mann, der für den Tod von Zehntausenden von Menschen die Verantwortung trägt, kürzlich aus den Händen des serbisch-orthodoxen Bischofs Atanasije Jevic... einen kirchlichen Orden erhalten, und zwar wie es in einem Bericht der Belgrader Zeitung ›Politika‹ heißt als Anerkennung für die Heldentaten und für den Sieg der serbischen Armee in diesem Kriege.«32 Solchen »postsäkularen« (Habermas) Entwicklungen, welche die Eskalation des Konflikts zwischen den Zivilisationen schüren, muss Einhalt geboten werden. Andernfalls wird die Zukunft Europas so aussehen, dass die Dynamik des religiösen Fundamentalismus der Muslime und des Ethno-Fundamentalismus der serbischorthodoxen Kirche weiter um sich greift. Vergleichbares lässt sich für die Konflikte zwischen Hindus und Muslimen in Indien und Kaschmir sowie zwischen Juden und Muslimen in Palästina festhalten. Diese Postsäkularität ist nicht tolerierbar. Vom Ende des Kalten Krieges erhoffte sich die Menschheit eine bessere Welt. Das Zeitalter der Menschenrechte sollte anbrechen, nicht aber eines, in dem die religiöse Dynamik den Gang der Ereignisse nicht nur in Europa, sondern weltweit bestimmt. Der amerikanische Politikwissenschaftler Mark Juergensmeyer spricht in seinem 1993 erschienenen Buch vom »Neuen Kalten Krieg«,33 in dem religiöser Nationalismus und säkularer Nationalstaat miteinander konfrontiert seien. Auch Huntingtons These vom Zusammenprall der Zivilisationen - in diesem Buch mehrfach zitiert - ist hier von Belang. Bosnien im Besonderen und Europa im Allgemeinen sind zwar nicht das Thema des Buches von Juergensmeyer - er befasst sich mehr mit islamischen, jüdischen und hinduistischen religiösen Nationalismen -, aber seine Analyse trifft in vollem Umfang für Bosnien zu, wo die serbischen Ethno-Fundamentalisten versuchten, den säkularen Staat aufzulösen, und somit auf -433-
europäischem Boden die Saat für kriegerische Konflikte innerhalb des christlichen Lagers (zwischen Orthodoxen und Katholiken) einerseits und zwischen Christen und Muslimen andererseits streuten. Wird dieser »neue Kalte Krieg« der europäischen Politik im Zeitalter der Migration im 21. Jahrhundert seinen Stempel aufdrücken? Von dem bedeutenden Migrationsforscher Myron Weiner wissen wir, dass Zuwanderung stets mit großen Sicherheitsrisiken verbunden ist.34 Menschenrechte haben eine säkulare Grundlage und entsprechende Legitimation; sie können nicht »postsäkular« begründet werden. Die Gefahr des sich weltweit ausbreitenden Fundamentalismus35 als neuer Totalitarismus besteht in der Frontstellung gegen die säkulare Kultur der Demokratie und der Menschenrechte. Es ist eine globale Krise, auf die der Fundamentalismus gleichfalls eine globale, allerdings nach Zivilisationen und Kulturen in sich differenzierte Antwort gibt.36 Der neue Totalitarismus ist deshalb bedrohlicher als die alten Totalitarismen (Kommunismus und Faschismus), eben weil er nicht nur eine politische Ideologie ist, sondern auch und vor allem auf die Religion zurückgreift. Weltreligionen bilden das Herzstück der Weltanschauungen von Zivilisationen. Religiöse Einstellungen und Loyalitäten sind zudem viel tiefer in den Menschen verankert als rein politische Bindungen; so können sie die mobilisierten Menschen zu unvorstellbaren Grausamkeiten verleiten. Außereuropäische, nach dem bosnischen Modell erfolgende Konflikte beispielsweise zwischen Muslimen, Hindus und Buddhisten können auch für Europa selbst zur Bedrohung werden, wenn sie auf die Migranten-Gemeinden übergreifen. Nach Bosnien gibt es heute andere gefährliche Signale, zum Beispiel in Palästina, Indien, Kaschmir und Indonesien. Nur mit einem weltanschaulichen Pluralismus lässt sich eine potentielle Eskalation des Konflikts verhindern. Europäische, säkular orientierte Bürger haben freilich allen Grund, sich Sorgen um -434-
die Zukunft der sehr erhaltenswerten europäischen Zivilisation und ihrer individuellen Menschenrechte zu machen. Dass die Parteinahme für die säkulare und demokratische Kultur der europäischen Moderne von manchen als »Rassismus« inkriminiert wird, zeugt von bedauerlicher geistiger Armut oder von völliger Unkenntnis dessen, was säkulare Demokratie und individuelle Menschenrechte bedeuten. Die bisherigen Ausführungen zusammenfassend: Von WirGruppen ethnischer Kollektive können religiösethnisch geführte Konflikte ausgehen. Eine in Europa nicht zivilgesellschaftlich integrierte Islam-Diaspora könnte sich vom Sog einer solchen postsäkularen Entwicklung erfassen lassen. Eine Perspektive für Europa Die begonnene Öffnung Ost- und Südosteuropas muss ähnlich jener Deutschlands nach 1945 erfolgen - dies ist bisher nur teilweise umgesetzt worden. Gleiches gilt für den europäischen Diaspora-Islam. Man spricht von der »Verwestlichung Deutschlands«, die nicht nur zur politischen Verankerung dieses Landes in westlichen Allianzen führen sollte, sondern vielmehr auf die Einführung der kulturellen Moderne in die deutsche politische Kultur bezogen war. Das westliche Modell des demokratischen Staates ist, wie der verstorbene Reinhard Bendix gezeigt hat, nicht auf deutschem Boden gewachsen, sondern ein Modell der Entwicklung Englands und Frankreichs.37 Auch ist die kulturelle Moderne nicht auf dem Boden des Islam entstanden. Kann der Islam ebenso wie Deutschland verwestlicht werden? Der Begriff Euro-Islam gibt eine Vision wieder, die diese Frage positiv beantwortet. Denn nur im Rahmen eines liberalen, toleranten und den säkularen Pluralismus anerkennenden Islam lässt sich diese Religion in die politische Kultur Europas integrieren. -435-
Ein europäischer Islam könnte, wenn er gefördert würde, die Verbreitung des islamischen Fundamentalismus in Europa verhindern. Wir leben im »Zeitalter der Völkerwanderungen«,38 das gleichzeitig ein Zeitalter des Zusammenpralls der Zivilisationen ist.39 Europa ist die »Hauptattraktion« und somit Zielscheibe der globalen Migration,40 bei der die Muslime aus dem Mittelmeerraum im Mittelpunkt stehen. Die Kultur der Menschenrechte muss als die Leitkultur einer Zivilgesellschaft auch von den islamischen und anderen Migranten akzeptiert werden, andernfalls kommt es zu einem weltanschaulichen »Krieg der Zivilisationen« anstatt zu einem weltanschaulichen Pluralismus. Die Verteidigung der Demokratie und der Menschenrechte als Bestandteil der politischen Kultur Europas parallel zu einer sich zur europäischen Identität der kulturellen Moderne und ihren individuellen Menschenrechten bekennenden Friedenspolitik gegenüber den Nachbarn im eigenen Haus (islamische Migranten) und im Mittelmeerraum stellt eine Herausforderung an die politische Klasse Europas dar, der sie gegenwärtig nicht gewachsen zu sein scheint. Es bleibt zu hoffen, dass europäische Bürger sich der gegenwärtigen Krise nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts bewusst werden und demokratisch handeln. Diesen Bürgern die islamische Dimension der Problematik der Menschenrechte im Kontext der globalen Migration zu vermitteln, ist nicht nur Aufklärung, sondern Friedensarbeit.
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Kapitel 12 Nur ein europäisierter Islam ist mit der zivilisatorischen Identität Europas in Einklang zu bringen Entwurf eines Euro-Islam
Nach dem 11. September 2001 und der anschließenden Verhaftung mutmaßlicher Terroristen in Deutschland erschien im Berliner Tagesspiegel ein Interview mit Nadeem Elyas, dem Vorsitzenden des Zentralrates der Muslime in Deutschland, dessen Titel wie eine Selbstviktimisierung anmutete: »Die Leute werden nachts aus den Betten geholt«. In diesem Interview antwortete Elyas auf die Frage, ob sich der islamische Fundamentalismus in Deutschland auf dem Vormarsch befinde, mit der Zusicherung: »Im Gegenteil. Es bildet sich hier eine islamische Struktur, die deutsch-europäisch orientiert ist.«1 Ist das wahr? Selbst ich als ein in Deutschland lebender und seit 30 Jahren wissenschaftlich über den Islam forschender Muslim, der sich gegen jedwede Frontlinien zwischen den Zivilisationen wendet, also vermitteln will, vermag diese behauptete »deutscheuropäisch orientierte Struktur« innerhalb der Islam-Diaspora in Deutschland noch nicht zu erkennen. Ganz im Gegenteil: In meinem nach dem 11. September abgeschlossenen Buch Islamische Zuwanderung2 stelle ich nüchtern fest, dass es eher zur Bildung einer islamischen Enklave in Form von abgeschotteten Parallelgesellschaften kommt, und diagnostiziere daher im Untertitel Die gescheiterte Integration. Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf, dass einmal ein Euro-Islam -437-
entstehen wird. Bereits vor einem Jahrzehnt habe ich damit begonnen, meine Vision von solch einem Euro-Islam3 zu entfalten und europaweit, von Paris bis Stockholm, dafür zu werben. Deswegen bin ich vor dem 11. September nicht nur von Islamisten und Islamfunktionären, sondern auch von deutschen Gutmenschen ausgegrenzt und heftig angefeindet worden. In Bezug auf den Islam in Europa werden in den Medien leider Rhetorik und Realität durcheinander gebracht. So hat das britische TIME Magazine Ende Dezember 2001 ein Heft mit dem Schwerpunkt »Islam in Europe« veröffentlicht, in dem ich zwar als derjenige angeführt werde, der den Begriff »EuroIslam«4 geprägt habe, gleichzeitig aber wird behauptet, dass ein europäischer Islam bereits Realität sei; als Beweis hierfür werden Diskothekenbesuche und modische Kleidung junger, in Europa lebender Muslime angeführt. Im Gegensatz dazu habe ich stets darauf aufmerksam gemacht, dass die westlichdemokratische Kultur auf Werten und nicht auf Konsumverhalten fußt.5 Ich bin entsprechend irritiert, wenn das TIME Magazine mein Konzept vom Euro-Islam dennoch korrekt darstellt: »Bassam Tibi... besteht darauf, dass die Integration der in Europa lebenden Muslime von der Übernahme einer Form des Islam abhängt, welche... westliche politische Werte... einschließt.«6 Eben die Annahme der politischen Kultur der Moderne verstehe ich unter einem europäisierten Islam - und dies liegt als Aufgabe noch vor den meisten in Europa lebenden Muslimen. Die westlichen Werte, die ich daher im Sinn habe und die das TIME Magazine anführt, indem es mich weiter zitiert, sind: »Werte wie Pluralismus, Toleranz, die Trennung zwischen -438-
Religion und Politik, demokratische Zivilgesellschaft sowie individuelle Menschenrechte... Die bestehenden Optionen - sagt Tibi - sind unzweideutig: Euro-Islam oder Ghettoisierung der islamischen Minderheit.« (ebd.) In meinem Buch über die islamische Zuwanderung warne ich vor der fortschreitenden Entwicklung eines Ghetto-Islam. Im dritten Teil des vorliegenden Buches, der das Verhältnis der Schari'a zu den individuellen Menschenrechten behandelt, zeige ich, dass diese nicht in Einklang zu bringen sind, weil sie einander auf ganzer Linie widersprechen. Es gibt ein anderes Interview mit Nadeem Elyas, einem Vertreter des organisierten Islam in Deutschland, das unter dem Titel »Die Schari'a ist unverzichtbar« (Zeitzeichen 1/2001) veröffentlicht wurde. Wie steht man nun zu meiner wissenschaftlich begründeten Feststellung, dass die islamische Zuwanderung in Europa, insbesondere in Deutschland, gescheitert ist? An dieser Stelle möchte ich Habermas anführen (obwohl ich seine These von der »postsäkularen Gesellschaft« ablehne). Dieser fordert richtigerweise von den Vertretern der Religionen Reflexionsschübe, zu denen die Anerkennung des Monopols der Wissenschaft auf weltliche Wahrheit gehört. Also kurz: Trotz aller »postsäkularen« Konzessionen besteht Habermas auf der Trennung zwischen »Glauben und Wissen«.7 Jeder unbefangene und das genannte Monopol anerkennende Leser, der das in die individuellen Menschenrechte einführende 2. Kapitel sowie das Kapitel 7 über die Schari'a in diesem Buch gelesen hat, wird die hier gemachte Aussage über die Inkompatibilität dieser säkularen Rechte mit der Schari'a erkennen. Damit sage ich allerdings nicht, dass der Islam mit Demokratie und Menschenrechten schlechthin unvereinbar ist. Es ist möglich, an einer islamischen Interpretation zu arbeiten, die zu einem mit den Menschenrechten zu vereinbarenden EuroIslam führt. Dies will ich hier tun. Der Euro- und der Schari'a-439-
Islam sind zwei unterschiedliche Optionen, wobei letztere zur Abschottung, die erstere zur Integration beiträgt. Noch ist der Euro-Islam eine Vision Meine Vision von einem Euro-Islam wurde in Westafrika geboren. Im Sommer 1982 reiste ich im Anschluss an das spring term (Frühjahrssemester) in Harvard nach Marokko, wo ich an mehreren Universitäten, vor allem in Rabat, Vorlesungen über den Kulturdialog zwischen Orient und Okzident hielt.8 Von Marokko flog ich nach Dakar und verbrachte einige Zeit im Senegal, um dort ebenfalls Vorlesungen zu halten. Dies war mein erster Aufenthalt in einem subsaharischen beziehungsweise schwarzafrikanischen Land. In den darauf folgenden sechs Jahren (1982-1988) gehörte Westafrika - neben Kenia und Äthiopien in Ostafrika - zu den Regionen der Welt, mit denen ich durch dortige Aufenthalte vertraut wurde. So kam es, dass ich in Afrika auf der Basis meiner Begegnung mit den dortigen Kulturen die Idee eines Euro-Islam in meiner Gedankenwelt entwickelte. Diese Entwicklung will ich im Folgenden darstellen. Bei einer Diskussion über meine in Dakar gehaltene Vorlesung L'Islam et les cultures africaines (Der Islam und die afrikanischen Kulturen), welche auf Einladung des Verbandes der senegalesischen Schriftsteller stattfand, die ihre Publikationen auf Arabisch verfassen, war ich von der Selbstgefälligkeit des saudischen Botschafters sowie des Vertreters der Arabischen Liga befremdet. Letztere wollten den muslimischen Afrikanern - sozusagen kulturimperialistisch beibringen, was »richtiger Islam« - das heißt für sie: ihr arabisch orthodoxer Islam - ist. Hiervon abweichend ist in den vergangenen Jahrhunderten jedoch ein afrikanischer Islam entstanden. Der Islam kam aus Marokko nach Westafrika.9 -440-
Dortige Afrikaner haben die für sie neue Religion angenommen und mit ihren zahlreichen Lokalkulturen synkretistisch in Einklang gebracht. Das Ergebnis ist seitdem eine spezifische, in sich vielfältige Spielart des Islam, die kulturell afrikanisiert ist und die man sowohl in Afrika selbst als auch in der Fachliteratur Afro-Islam nennt.10 Als ein in Damaskus und damit im arabischen Islam sozialisierter Muslim war ich in Dakar von dem dortigen afrikanischen Islam gleichermaßen fasziniert und befremdet. Darüber dachte ich im Sommer 1982 in Afrika nach und stellte mir - da ich selbst in Europa lebe - die Frage, warum nicht auch dort eine spezifische Variante des Islam möglich ist. In den darauf folgenden Jahren beobachtete ich in Afrika vielerorts, wie einheimisch - fachlich ausgedrückt: indigenisiert - der Islam dort ist. Dies liegt darin begründet, dass er afrikanische Züge angenommen hat und zum Bestandteil der dortigen Lokalkulturen geworden ist. So wird man in Schwarzafrika kaum eine verschleierte einheimische Frau vorfinden. Die kopftuchtragenden Frauen in den westafrikanischen Städten sind in der Regel Migrantinnen, die der schi'itisch-libanesischen Minderheit angehören. Im Gegensatz zu Afrika ist der Islam in Europa fremd, weil hier Ähnliches wie eine Indigenisierung bislang nicht geschehen ist. Daher dient in Europa der Schleier der zivilisatorischen Abgrenzung.11 In Dakar bin ich hingegen bei den Qadi-riyya- und Tijaniyya-Sufi-'Bruderschaften weltoffenen und in höchstem Maße sympathischen Muslimen begegnet, die sich sehr von den dortigen saudischen Diplomaten unterschieden. Letztere missionieren im Geiste ihres orthodoxen Wahhabismus mittels Petrodollars und glauben, mit Geld ließe sich alles kaufen - eine Einstellung, die ich als ebenso »kolonial« empfinde wie die der ehemaligen christlichen Missionare. Zehn Jahre reifte in meiner Gedankenwelt der im westafrikanischen Dakar aufgenommene Impetus. Im Jahre -441-
1992 folgte ich dann einer Einladung nach Paris, um in einem am Institute du Monde Arabe geführten Projekt über die in Frankreich lebenden Muslime mitzuarbeiten. Selbstkritisch oder besser formuliert: reflexiv - haben führende französische Intellektuelle von der früher betriebenen Politik der »Assimilation« Abstand genommen und verfolgen seit diesem Projekt stattdessen die Integration.12 Im Gegensatz zu den deutschen Intellektuellen kennen die Franzosen keinen Selbsthass; sie sind stolz auf ihre europäisch-zivilisatorische Identität und Selbstverleugnung ist ihnen daher fremd.13 Doch obwohl sie nun das Modell der vollständigen kulturellen Anpassung - die Assimilation - aufgeben, verlangen sie nach wie vor von den Menschen, die in Frankreich leben wollen, seine zivilisatorische Identität zu respektieren und sich als citoyens (Bürger) zu ihr zu bekennen. Das sind die Voraussetzungen dafür, sich in das französische Gemeinwesen einzugliedern. Auch in Frankreich gibt es große Probleme mit den muslimischen Migranten, aber dort sind die Integrationsvoraussetzungen besser als in Deutschland, weil es so etwas wie einen Pass-Franzosen, im Gegensatz zum PassDeutschen, nicht geben kann. Und noch ein Unterschied zu Deutschland: Bei der Ablehnung vormoderner Kulturen sind sich linke und konservative Franzosen als Verfassungspatrioten einig. Der linke Franzose Alain Finkielkraut nennt die grenzenlose Toleranz gegenüber vormodernen Kulturen im Titel seines Buches La défaite de la pensée14 (Niederlage des Denkens) und verteidigt Europa dagegen. Die soeben angeführte Geisteshaltung der citoyennete war Ausgangspunkt des Projektes Islams d'Europe (man beachte die Pluralform!)15 mit der Fragestellung: Integration ou insertion communitaire? (Integration oder Ghettobildung?). Diese Fragestellung schließt einen Mittelweg aus. In Paris habe ich dies während des angeführten Projektes im Jahre 1992 gelernt und das TIME Magazine, wie oben zitiert, führte im Dezember -442-
2001 die ähnlich lautende Formel an: »There is no middle way«. Anders formuliert: Meine in Afrika geborene und in Paris konkretisierte Vision von einem Euro-Islam16 gibt eine Antwort auf die oben gestellte Frage. Sie erfüllt auch die französischen Erwartungen. Der von mir entwickelte Euro-Islam ist - wie der, den ich in Afrika als Afro-Islam erlebt habe - eine alltagskulturelle Spielart des Islam, die den Muslimen die Möglichkeit bietet, Muslime zu bleiben und zudem Europäer im Sinne von citoyens zu werden. In der Realität gibt es in Europa viele integrierte muslimische Individuen, die in dem oben beschriebenen Sinne als EuroMuslime eingestuft werden können, doch für die muslimische Mehrheit trifft dies noch nicht zu. Noch ist diese Variante des Islam eine Vision, die erst durch die Politik zu einer Wirklichkeit werden kann. Ich verstehe unter Euro-Islam jedenfalls etwas anderes als Nadeem Elyas, der laut Interview mit der Zeitschrift Zeitzeichen17 nicht von der Schari'a abrücken will. Nach diesem Abriss möchte ich mich im Folgenden auf mein Konzept konzentrieren und es unterlassen, mich mit Nadeem Elyas auseinander zu setzen, der durch das angeführte Zeitzeichen-Interview Grund zu der Vermutung gibt, dass er den Schari'a-lslam meint, wenn er von einer »deutsch-europäisch orientierten Struktur« spricht (vgl. Einleitung zum 3. Teil). Auch sehe ich davon ab, auf die mir arrogant gegenübertretenden Orientalisten zu antworten. Wie jenem, der in der Süddeutschen Zeitung mein Konzept des Euro-Islam mit den Worten herabgewürdigt hat, in Deutschland gebe es eine »ominöse EinMann-Sekte namens Euro-Islam«, zu der »ein Politikprofessor übergetreten« sei, den er mit »aus der DDR-Registratur entlassenen Fußkranken« vergleicht.18 Was ist Euro-Islam? -443-
Ein Islamist schrieb in einem aggressiven Leserbrief gegen mich, der Euro-Islam sei abzulehnen, weil der Islam keine Währung ist. Wenn damit aber ein europäischer Islam gemeint sei, kritisiert dieser Islamist weiter, dann bedeute dies Heidentum. Dem halte ich entgegen: Euro-Islam ist eine Werteorientierung. Jede konsistente Gesellschaft, jedes unbeschädigte Gemeinwesen hat eine kollektive Identität, die auf einer verbindlichen Werteorientierung basiert. In traditionellen Gesellschaften wird die Werteorientierung tradiert und durch Erziehung in Familie und Gesellschaft weitervermittelt. In modernen demokratischen Gemeinwesen hingegen wird die jeweilige Werteorientierung durch Konsens gebildet und nach Bedarf erneuert. Beide Gesellschaftsformen stehen miteinander insofern in Zusammenhang, als auch moderne Nationen einen »ethnischen Ursprung«19 haben. Moderne Nationen definieren sich allerdings nicht mehr ethnisch, sondern als Wertegemeinschaft. Hierfür habe ich vor vielen Jahren den Begriff »Leitkultur« in meinem Europa-Buch geprägt. Nirgendwo auf der Welt gibt es eine Gesellschaft, die keine Leitkultur im oben beschriebenen Sinne hat. Mein EuropaBuch, welches das Konzept einer Leitkultur enthält, hat bei seinem Erscheinen niemanden empört. Erst als der CDUPolitiker Friedrich Merz in einer politischen Diskussion von Migranten forderte, sich an eine »deutsche Leitkultur« anzupassen, und seine Parteifreundin Angela Merkel mich als Quelle20 angab, erregten sich die Gemüter. Dabei wurden schwerwiegende Vorwürfe wie »Germanisierung« und »Faschismus« laut. Bundeskanzler Schröder assoziierte mit Leitkultur nichts anderes als »Leithammel« und sein Außenminister bemühte Mickymaus-Figuren zu deren Karikierung. Das war das Niveau der Diskussion. Der oft selbstherrlich auftretende Altachtundsechziger Daniel Cohn-Bendit befand im Rahmen dieser Diskussion: »Es gibt -444-
keine deutsche Identität.«21 Im Anschluss an diese Debatte haben die intellektuellen deutschen opinionleaders, ohne die Bevölkerung ihres Landes zu fragen, offenbar beschlossen, Deutschland braucht keine Leitkultur und auch keine Identität! Nun leben unter den Deutschen etwa zehn Millionen Fremde, von denen ein Drittel zur Religionsgemeinde des Islam gehört. Übernehmen diese weder die Identität22 eines Bürgers des deutsch-europäischen Gemeinwesens noch die dazugehörige Werteorientierung, dann bleiben sie den vormodernen Leitkulturen, die sie mitbringen, verhaftet. Da mein Denken nicht gesinnungsethisch getrübt ist, bin ich geistig in der Lage, zu erkennen, dass ich in einem Land lebe, das zu Westeuropa gehört und dementsprechend doch eine westlich-zivilisatorische Identität hat. Die deutsche Identität ist angesichts der NSVerbrechen »kontaminiert« und deshalb sehr gebrochen.23 Eine Aufarbeitung des Holocaust kann aber nicht durch Selbstzerfleischung oder die protestantische Pflege der Erbschuld, sondern nur in der Entfaltung eines demokratischen Bewusstseins geschehen, das Verantwortung verankert und somit eine Wiederholung dieses Verbrechens ausschließt. In Deutschland sollte die Leitkultur-Debatte, die ich mit meinen Arbeiten indirekt - allerdings ohne richtig verstanden zu werden - auslöste, in die Diskussion über deutsche Identität eingeordnet werden. Die Islamisten und orthodoxen Muslime nutzen die deutsche Schuldlage aus und begeben sich im Rahmen einer Selbstviktimisierung in die Opferrolle. Wie angestrebt, überfallen die Protestanten dabei Schuldgefühle, so dass sie gegenüber den Islamisten nachgeben. Die weinerlich vorgetragenen Klagen über die Deutschen und andere Europäer bleiben also nicht ohne Erfolg. Christen sprechen heutzutage vom »Horizont einer Verletzung und Schuldgeschichte, die das Christentum mit dem Islam verbindet... Verletzungen etwa zur Zeit der Kreuzzüge«.24 Darauf greifen die Islamisten, welche das Ziel verfolgen, die Integration zu behindern, zurück. Ihre -445-
Djihad-Kriege betrachten die gleichen Islamisten hingegen nicht als »Verletzung«, sondern als »Befreiung«. Zudem legen sie Wert darauf, dass die Islam-Diaspora parallelgesellschaftlich mit eigener Identität als Bestandteil des Dar al-Islam (Haus des Islam) fortbesteht. Derartige Enklaven bedeuten aber eine Bedrohung für Europa. Früher war es schwer, derartige Probleme anzusprechen - nach dem 11. September ist es für Menschen wie Oriana Fallaci leichter geworden, ihre Wut gegen die Islamisten loszuwerden.25 Ebenso wie eine »deutsche Leitkultur« wäre ein deutscher Islam mit allen Übeln der deutschen Sonderwege und der von ihnen verursachten Schäden belastet. Ein deutscher Islam26 ist daher genauso wenig akzeptabel wie eine deutsche Leitkultur. Es liegt mir fern zu behaupten, dass es weder eine »deutsche Identität« noch eine »deutsche Leitkultur« gäbe. Was ich anstrebe ist, die einst von Adorno gestellte Frage »Was ist deutsch?«27 in den europäischen Rahmen einzuordnen. Eine solche Lösung wäre sowohl für die Deutschen als auch für die Fremden, die hier leben, geeignet. Somit ist die Verwestlichung Deutschlands - die seit der ohne Plebiszit erfolgten Verkündung des Grundgesetzes erfolgte - vergleichbar mit der Verwestlichung des Islam in Deutschland, für die ich eintrete. Es geht gar nicht darum, die orthodoxen Muslime überhaupt zu fragen, ob sie dies wollen, sondern es reicht allein schon die Feststellung: Es geht nicht, in Europa zu leben und gleichzeitig dessen Identität zu verleugnen; beides ist unvereinbar. Also kurz: Ich rede nicht von deutscher, sondern von europäischer Leitkultur und ebenso nicht von einem deutschen, sondern von einem europäischen Islam. Im Sinne der Erkenntnis, dass Menschen stets zu Lokalkulturen gehören, die sich - sofern sie verwandt sind - auf der Basis von Weltanschauung zu Zivilisationen gruppieren, behaupte ich, dass sich die zahlreichen europäischen Lokalidentitäten zu einer zivilisatorischen Identität gruppieren. -446-
Zur Leitkultur des Westens gehören Demokratie, individuelle Menschenrechte und Freiheit des Individuums. In Gedenken an meinen jüdischen Lehrer Max Horkheimer, der aus eigener Biographie weiß, was NS-Verbrechen sind, verteidige ich Europa und seine Zivilisation, weil es die Geburtsstätte der individuellen Menschenrechte ist. Mich beschäftigt in diesem Buch der Islam und als Muslim und Migrant will ich mich mit der zivilisatorischen Identität Europas und dessen Werten arrangieren, weil sie mir als Orientierung für die Freiheit dienen. Die europäische Leitkultur - kein reines Konstrukt - ist säkular und basiert auf dem principium individuationis, aus dem die Bestimmung des Menschen als ein mit Berechtigungen gegenüber Staat und Gesellschaft ausgestattetes Wesen hervorgegangen ist. Das ist der Inhalt der individuellen Menschenrechte (vgl. Kapitel 2), den wir weder im Islam oder im Christentum noch in irgendeiner anderen Religion vorfinden. Europäische Leitkultur ist eine politische Kultur, deren integraler Bestandteil die individuellen Menschenrechte sind. Ich sage es offen: Wer sie nicht akzeptiert, hat in Europa nichts zu suchen. Entsprechend ist der Euro-Islam eine Variante des Islam, welche die individuellen Menschenrechte nicht nur anerkennt, sondern auch beherzigt und somit hilft, Muslime aus der Welt des Islam zu Europäern zu machen. Zur europäischen Leitkultur und damit zum Euro-Islam gehören außer der Substanz der individuellen Menschenrechte nachfolgende Komplexe als Werteorientierung: 1. Die Laizität beziehungsweise Säkularität, jedoch nur im beschränkten Sinne verstanden als Trennung zwischen Religion und Politik. Entsprechend darf der Schari'a-Islam als »Straf-, Staats- und Wirtschaftssystem« (vgl. Kapitel 7) nicht im Namen einer falsch verstandenen Toleranz Zugang nach Europa finden. Säkularisierung darf jedoch nicht zu einer umfassenden Profanierung führen, weil Letztere keine Heiligtümer mehr -447-
kennt. Wir finden diese wichtige Unterscheidung zwischen »institutioneller Säkularisierung« und »kultureller Profanierung« bei dem Harvard-Soziologen Daniel Bell.28 Auch in einer europäisch-säkularen Gesellschaft soll es noch immer Heiligtümer geben: zum Beispiel die individuellen Menschenrechte und die Demokratie; sie zu verletzen bedeutet, die europäischen Heiligtümer zu schänden. 2. Im Zusammenhang mit der Laizität steht die säkulare Toleranz, die sich erheblich von der islamischen unterscheidet.29 3. Außerdem gehört dazu religiöser und kultureller Pluralismus,30 der Relativismus und Neoabsolutismus gleichermaßen abweist.31 4. Dann zählt dazu die säkulare Demokratie, das heißt ein moderner Staat, der auf demokratisch-säkularen Grundlagen beruht.32 5. Als letztes Element ist eine Zivilgesellschaft zu nennen, die Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem setzt.33 Die Zivilgesellschaft erkennt Religion als Privatsache an und entfernt sie im Interesse des inneren Friedens aus dem öffentlichen Leben, so dass die öffentliche Sphäre streng säkular ist. Nachdem ich nachgezeichnet habe, wie meine Vision vom Euro-Islam entstanden ist und was ich unter dem Konzept verstehe, will ich nun mein Plädoyer für einen Euro-Islam, der den islamischen Migranten als demokratische Brücke zwischen Orient und Okzident dient, in Bezug auf die deutsche IslamDiaspora und stets aus der Perspektive der mit der Schari'a im Kontrast stehenden individuellen Menschenrechte erläutern. Muslime in Europa - europäische Bürger? Europa - ein Hinterland für Islamisten? -448-
In den meisten Ländern des Westens, in Europa34 und Nordamerika35 gleichermaßen, ist der Islam durch die Migration heute neben Christentum und Judentum die dritte große Religion. Die Islam-Diaspora geriet nach dem 11. September 2001 in Verruf und es ist an ihr, klarzustellen, dass sie für den Westen eintritt und gegen den Djihadismus orientiert ist, um so jeglichen Verdacht zu zerstreuen. Leider nimmt sie aber weiterhin die Opferrolle ein und der Hinweis auf ein »Feindbild Islam« - ohne Erwähnung des »Feindbildes Westen« - ist bei den Muslimen noch immer beliebt. Ohne Doppeldeutigkeiten und multikulturelles Zögern müssen die Werte der kulturellen Moderne wie säkulare Demokratie, Pluralismus und individuelle Menschenrechte als Identitätsbasis der Zivilisation Europas von muslimischen und auch allen anderen Migranten akzeptiert werden. Diese Leitkultur sollte als ein politisch-kultureller Anspruch gelten, der an die Migranten gestellt werden muss. Als Muslim aus dem Orient, der durch einen Wahlakt europäischer Bürger geworden ist und somit beiden Zivilisationskreisen angehört, halte ich die Erfüllung solcher Forderungen hinsichtlich der Überwindung der Spannung zwischen dem Islam und der kulturellen Moderne zunächst auf dem europäischen Kontinent selbst für zentral. Das Erbe des 11. Septembers gibt uns diesen Auftrag. Wenn wir Muslime in Europa nicht in einem islamischen Ghetto leben, sondern integrierter Bestandteil der Gesellschaft werden wollen, dann müssen wir unsere kulturellen Vorstellungen und unsere Weltsicht mit denen der Moderne versöhnen; nur so können wir uns von einem Generalverdacht befreien. Ich wiederhole meine Antwort auf die anstehende Herausforderung für uns Muslime, sie lautet: Euro-Islam. Muslime können, wie es der tolerante Sufi-Muslim Ibn al-Arabi im hochentwickelten islamischen Mittelalter getan hat, ihre Religion als Mahabba (Liebe) begreifen, die eine islamische, -449-
christliche oder jüdische Form annehmen und die jeweils anderen Formen dadurch auch als gleichberechtigt respektieren kann. Das ist der islamische Geist des zwischen 1165 und 1241 lebenden Ibn al-Arabi, wie er ihn in seinem Werk Turdjuman alaschwaq (Interpret der Sehnsüchte) entfaltet. Die Muslime können im freiheitlichen Europa ungehindert ihre Religion ausüben, Moscheen (jedoch keine Vereine und Zentren der Indoktrination) errichten und nach dem Modell des einst toleranten Islam im arabischen Spanien36 einen aufgeschlossenen demokratischen Euro-Islam entfalten, der unter den Bedingungen unseres Zeitalters mit der Moderne vereinbar ist. In einer Zivilgesellschaft ist die Moschee ein Gotteshaus zur Pflege des Glaubens und nicht, wie die Moscheevereine der Diaspora es sehen, ein Instrument zur Islamisierung mittels Indoktrination. Die Presse berichtete nach dem 11. September, wie die al-Quds-Moschee in Hamburg - die niemals als Modell dienen darf - zum Sammelort der Terroristen wurde. Zum Euro-Islam gehört die Aneignung der Erkenntnis, dass im öffentlichen Leben Europas in unserem Zeitalter religiöse Toleranz gemäß dem Verständnis der säkularen Kultur der Moderne zu verstehen ist und nicht mehr nach dem islamischen Vorbild des Mittelalters, das heißt der bloßen Duldung von Christen und Juden in ihrer Eigenschaft als Schutzbefohlene, also als Dhimmi. Das müssen Muslime aus vollem Herzen akzeptieren, wenn sie europäische Bürger und demokratische Verfassungspatrioten werden wollen. Für mich steht der EuroIslam als ein mit der kulturellen Moderne versöhnter Islam nicht im Widerspruch zu meinem Glauben an die göttliche Religion und zu meiner islamischen Identität. Und da ich ein Demokrat bin, kann der politische Glaube an einen Herrscher als Zhul Allah (Schatten Allahs) nicht zu meiner Identität eines EuroMuslim gehören. Kurz: Die Toleranz der europäischen Leitkultur ist eine andere als die des Islam.37 -450-
Ich muss offen eingestehen, dass in Europa viele meiner muslimischen Glaubensbrüder und -Schwestern sowie die beiden Islamräte38 diese Vorstellung eines Euro-Islam nicht akzeptieren. Einleitend habe ich bereits angeführt, wie ein Imam den Euro-Islam herabwürdigt, indem er ihn mit der EuroWahrung vergleicht und ihn als »Heidentum« verfemt. Jener Imam besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Muslime wie ihn möchte ich deshalb darüber aufklären, dass in Europa die Alternative zum Euro-Islam das islamische Ghetto ist. Wenn sie Letzteres wollen, bleiben sie in Europa ohnehin fremd und verwirken damit jedes Recht, sich zu beklagen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Gegner des Euro-Islam den islamischen Fundamentalisten in die Hände spielen. Daher müssen die Muslime erkennen, dass die Fundamentalisten durch ihre Ideologisierung der Religion sowohl dem Islam Schaden zufügen als auch einen Keil zwischen die Welt des Islam und Europa treiben, der bis in die großen europäischen Hauptstädte hineinreicht und die Integration der Muslime unmöglich macht. Die Erkenntnis der »gescheiterten Integration« gehört zu den Lehren des 11. Septembers. Welche Antwort bietet Europa auf diese Tatsachen? In Deutschland gibt es zwei Formen des Rechtsradikalismus: Die Ausländerfeindlichkeit mancher Deutscher hat ihre Parallele in dem ethnisch-religiösen Rechtsradikalismus der Fundamentalisten unter den Migranten. In der autoritativen deutschen Extremismusforschung wird der Islamismus seit den Terroranschlägen vom 11. September in diese Kategorie eingeordnet.39 Ausländische Rechtsradikale dürfen nicht aus der kritischen Reflexion ausgenommen werden, nur weil sie Ausländer und damit potentielle Opfer sind. Als ein zwischen den Fronten lebender Mensch bin ich mir vollauf bewusst, wie schwierig es ist, unter den Bedingungen der Polarisierung in Bezug auf diesen sensiblen Gegenstand ohne Tabus zu denken und zu schreiben. In meiner -451-
vorangegangenen Bemerkung habe ich bereits ein Tabu gebrochen, als ich anführte, dass sich unter den in Deutschland lebenden Muslimen, die hierzulande ein Drittel aller Ausländer ausmachen, Fundamentalisten befinden, die jeder informierte und urteilsfähige Beobachter der rechtsradikalen Szene zuordnen würde. Die Aufklärung, dass Fundamentalismus gleichbedeutend mit Rechtsradikalismus ist, gilt zwar inzwischen als eine wissenschaftliche Erkenntnis, ist aber noch nicht in das Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit eingegangen, die von der Geisteshaltung der »verordneten Fremdenliebe«40 dominiert wird. Eine Waffe der Islamisten ist der von europäischen Selbsthassern verbreitete Vorwurf an Islamismus-Kritiker geworden, sie schürten ein »Feindbild Islam«.41 Von einer aufgeklärten islamischen Position aus betrachtet, sind jedoch die Fundamentalisten die wahren Feinde des Islam. Der Ägypter Mohammed Said al-Aschmawi spricht daher mit Recht vom »Islamismus gegen den Islam«.42 Doch wie Naipaul und Fallaci zeigen,43 begreifen die europäischen der political correctness verfallenen Selbstverleugner dies nicht. Mit anderen Worten: Die notwendige Auseinandersetzung mit der deutschen Ausländerfeindlichkeit als einer Form des Rechtsradikalismus darf nicht von der Auseinandersetzung mit dem islamischen Fundamentalismus als einer neuen Spielart des Totalitarismus entbinden.44 Die politische Richtung des islamischen Fundamentalismus behindert die Entfaltung eines demokratischen Euro-Islam, schadet dem Ruf des Islam unter Nichtmuslimen und ebnet den Weg für neue Phantasien eines islamischen Djihad in Europa. In Berkeley haben aufgeklärte Muslime gemeinsam mit Europäern und Nordamerikanern ihre Veröffentlichung über diesen Gegenstand Islamic Europe or Euro-Islam45 betitelt. Dies ist keine Frage der Toleranz, denn entweder islamisieren die Muslime Europa oder Europa europäisiert den Islam. Ich wiederhole: Einen Zwischenweg gibt es nicht! -452-
Die Zuwanderung aus den islamischen Mittelmeerländern nach Europa stellt eine Herausforderung gleichermaßen an die Migranten wie an die sie aufnehmenden europäischen Staaten dar. Wie reagiert das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland auf diese schwierige Aufgabe unter Kenntnis der Tatsache, dass die Zuwanderer aus vormodernen Kulturen kommen, die keine Demokratie kennen? Liegt ein Integrationskonzept für die Einbindung der Migranten in die Demokratie der deutschen Gesellschaft vor? Wenn man von Integration der Ausländer spricht, muss man zwangsläufig auf das jeweilige politische System der Aufnahmestaaten eingehen. In einem Artikel in der Tageszeitung Die Welt vom 12. August 2002 befand ich in Bezug auf Deutschland: Der Rechtsstaat schützt die Islamisten. Unter den europäischen politischen Systemen ragt das bundesrepublikanische als das hinsichtlich der Anpassung an sich wandelnde politische Bedingungen schwerfälligste Regierungssystem heraus. Die europäischen Nachbarstaaten haben damit begonnen, ihre Systeme umzustellen, nachdem sie erkannten, dass Europa heute ein Ziel globaler Migration geworden ist, die als moderne »Völkerwanderung« betrachtet werden kann. Dagegen diskutieren die Deutschen bis heute über das politische Asyl entweder formal-legalistisch oder gesinnungsethisch. Als Folge kommen die Islamisten nach Europa, beantragen Asyl und man gewährt es ihnen. Einer der Kooperation mit al-Qaida verdächtigen Islamisten kann aus formalrechtlichen Gründen nicht angeklagt werden. Der deutsche Rechtsstaat schützt ihn, was ihn dazu veranlasste, dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel gegenüber offen zu sagen: »Ich habe Vertrauen in das deutsche Rechtssystem.«46 Das muss zum Nachdenken veranlassen, weil es für Deutschland alles andere als ein Lob ist! Verbunden mit der europäischen Leitkultur ist die Idee der »offenen Gesellschaft«.47 Auch nach Karl Popper darf dieses -453-
Prinzip nicht für seine Gegner gelten; das heißt also, wir müssen die nach dem Grundgesetz vorhandene wehrhafte Demokratie48 in die Praxis umsetzen. Ich möchte den formalen Legalismus der Deutschen bei der Diskussion über Zuwanderung mit der Handhabung der Schari'a (vgl. Kapitel 7) vergleichen. Dies möchte ich an einem konkreten Beispiel illustrieren: Ri-ba (Zins) ist nach der Schari'a streng verboten, dennoch hat es in der islamischen Geschichte immer Zinserhebungen gegeben.49 Muslime berufen sich auf die Norm des Zinsverbotes, um die Realität der verdeckten Zinserhebung abzustreiten. Ähnlich argumentieren deutsche Juristen, dass Deutschland rechtlich kein Einwanderungsland sei und es daher auch keine Einwanderung gebe. Doch Zuwanderung (Einwanderung ist gesetzlich geregelt, Zuwanderung hingegen ungeregelt) nach Deutschland findet jeden Tag statt; nur weil es sie juristisch nicht gibt, darf es sie nach der Logik des deutschen Legalismus auch in der Realität nicht geben. Das neue Zuwanderungsgesetz von 2002 räumt nun ein, dass Migration stattfindet. Doch da es »Zuwanderungsgesetz« und nicht »Einwanderungsgesetz« heißt, wird zwischen beiden Mustern offensichtlich nicht unterschieden; zudem fehlt noch immer ein Konzept für die Integration der Migranten. Im der Schari'a gibt es die Kategorie der Hiyal (Rechtskniffe), mit deren Hilfe Muslime die Schari'a selbst umgehen können. In Deutschland können Migranten ihre eigenen Hiyal entwickeln und sich politische Asylsuchende nennen, obwohl sie in Wirklichkeit Migranten sind. Die Berufung auf das deutsche Recht erfolgt hierbei legalistisch einwandfrei. Obgleich ich an dieser Stelle die Scheinasylbewerber in den Mittelpunkt stelle, weil sie die Mehrzahl der Asylsuchenden bilden, übersehe ich nicht diejenigen unter ihnen, die wirklich politisch verfolgt werden. Diese machen jedoch unter den Antragstellern nach offizieller Statistik weniger als zehn Prozent aus. Von ganzem Herzen -454-
befürworte ich ein Asylrecht für politisch Verfolgte, obwohl ich vorziehen würde, dieses an Kriterien demokratischen Verhaltens zu binden. Wenn zum Beispiel Algerier, die im August 1992 einen terroristischen Anschlag auf den Flughafen von Algier verübt haben, in der Bundesrepublik Deutschland politisches Asyl finden, weil sie in ihrem Land verfolgt werden, fällt es mir schwer einzusehen, dass diese Terroristen ein Recht auf Schutz vor politischer Verfolgung durch eine Demokratie genießen. Unter den muslimischen Migranten in der Bundesrepublik befinden sich zahlreiche islamische Fundamentalisten (etwa 100000 von etwa 3,5 Millionen), die keinerlei Vorliebe für Europa haben und die hiesigen demokratischen Freiheiten für die Verfolgung totalitärer Ideologien und Praktiken ausnutzen. Da ich für ein besseres Gesetz als das 2002 verabschiedete Zuwanderungsgesetz eintrete, sage ich offen: Wie die anderen europäischen Länder - vor allem Frankreich -, so kann auch die Bundesrepublik die Probleme des wirtschaftlichen Elends auf dieser Welt durch die Öffnung seiner Grenzen für die uneingeschränkte Zuwanderung nicht lösen. Und kein Land der Erde kann die Probleme der politischen Verfolgung durch uneingeschränkte Aufnahme von Asylsuchenden mildern. Zuwanderung muss geregelt sowie restriktiv behandelt werden und darf nicht, wie in Deutschland, geradezu anarchisch stattfinden. Das neue deutsche Zuwanderungsgesetz jedoch erfüllt diese Kriterien nicht. Franzosen und Amerikaner haben rechtliche Maßstäbe gesetzt. Um das eigene System vor dem Zusammenbruch zu bewahren, muss jedes Land per Gesetz gleichermaßen die Zahl von Migranten und Asylbewerbern kontingentieren. Es bestehen Prognosen, wonach in absehbarer Zukunft angesichts der demographischen Explosion in Nordafrika ein massenhafter Zustrom aus dem südlichen Mittelmeerraum stattfinden wird. Die Zuwanderung aus dem Mittelmeerraum wird sich erschwerend auf die Folgen der massenhaften Migration -455-
auswirken, weil sie aus den islamischen Ländern kommen wird, wo zurzeit der islamische Fundamentalismus als Antwort auf die dortige Krisensituation aufblüht. Fundamentalisten bemühen sich, die historischen Belastungen zwischen der islamischen und der westlichen Zivilisation im Sinne ihrer antiwestlichen Haltung zu politisieren; sie verschärfen somit das Konfliktpotential zwischen den Zivilisationen. Zu den Schwierigkeiten der wirtschaftlichen, arbeitsmarktabhängigen Integration der Migranten in Europa kommt so noch das Problem der Integration des Islam. Dieses besteht darin, dass die islamische Religionsgemeinschaft laut Koran (3/110) für ihre Angehörigen gleichermaßen Exklusivität und Überlegenheit gegenüber allen anderen beansprucht. Es ist bedauerlich, dass islamische Fundamentalisten diese auf die religiösen Bekenntnisse bezogene Lehre in unserer Krisenzeit politisieren. Oft fördert das Verhalten solcher islamischer Fundamentalisten (zum Beispiel die Bildung des islamischen Gegenparlamentes 1992 in London)50 bei den Europäern ein Feindbild vom Islam, das der Integration der Muslime im Wege steht. Andere Europäer sprechen von »Toleranz« und bieten den Muslimen damit einen Beweis für ihr Vorurteil, dass sie, wenn man sie auf die eine Wange schlägt, auch noch die andere hinhalten! Naipaul warnt dagegen vor dem religiösen Fanatismus der Islamisten und wirft den europäischen Intellektuellen vor, die Schuld »bei sich zu suchen... [weil, B.T.] dies viel leichter ist, als den Hass der Gegenseite zu verstehen«.51 Nicht die Kritiker des Islamismus tragen zu einem »Feindbild Islam« bei, sondern die in den Medien verbreiteten intoleranten und totalitären Äußerungen der Islamisten, zum Beispiel des Sprechers der britischen Muslime, Kalim Siddiqi.52 Man muss sich jedoch immer vergegenwärtigen, dass der Islam nicht mit Fundamentalismus gleichzusetzen ist. Der Islam ist eine alte Weltreligion, während der Fundamentalismus eine neue totalitäre politische Ideologie islamischer Aktivisten ist. Ich -456-
unterscheide zwischen Orthodoxie und Islamismus, aber redlicherweise muss ich einräumen, dass orthodoxe Muslime Formen des Neoabsolutismus entfalten; wird Letzterer politisiert, dann ist das Ergebnis ebenfalls religiöser Fundamentalismus. Unter den Europäern scheinen heute die Franzosen die selbstbewusstesten zu sein. Die Deutschen können viel von ihnen lernen. Im Gegensatz zur Bundesrepublik wird in Frankreich die Wirklichkeit, dass eine massenhafte Migration nach Europa stattfindet, nüchtern zur Kenntnis genommen. Auch werden die hiermit zusammenhängenden soziokulturellen, politischen und wirtschaftlichen Integrationsprobleme relativ tabufrei diskutiert. So wie die Deutschen nach 1789 Ideen von den Franzosen übernahmen, könnten sie auch heute, im Jahre 2002, im Umgang mit dem Islam und den Islamisten von ihnen lernen. Dann werden sie vermutlich erkennen, dass die Alternativen lauten: Integration ou insértion communitaire Integration oder Ghettobildung. Von Frankreich lernen? Obwohl es auch in Frankreich Rassismus gibt, gehört der Islam dort zu den akzeptierten Elementen der Gesellschaft.53 Der historische Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland ist ein solcher zwischen einem westlichen Land mit einer langen demokratischen Tradition und einem, das sich immer noch in einem Verwestlichungsprozess befindet.54 In diesem Prozess gibt es sowohl Fortschritte als auch Widerstände gegen die Entfaltung einer westlich-demokratischen politischen Kultur, die gleichermaßen von links und rechts kommen. Verglichen mit den Deutschen fällt bei den Franzosen das Fehlen gesinnungsethischer und moralisierender Töne angenehm auf. Dort geht man von der Tatsache aus, dass Prozesse -457-
der Migration stattfinden, aus denen Integrationsprobleme und Gefahren für Europa entstehen, die demokratisch zu bewältigen sind.55 Die Migration wird in Paris daher als ein Gegenstand der Europapolitik betrachtet. Auch in den USA wird diese Problematik ohne viel Lärm und schrille Gesinnungsethik öffentlich diskutiert. Einerseits wird konzediert, dass die Einwanderung zum Reichtum der amerikanischen Gesellschaft beigetragen hat und dass die Migranten in Amerika Ökonomie, Wissenschaft und andere Bereiche des Lebens mittragen. Andererseits wird fernab jeder Ausländerfeindlichkeit und jedes Rassismus auf die Gefahren hingewiesen, die - wie Arthur Schlesinger sagt - The Disuniting of America56 (Die Auflösung der Einheit Amerikas) zur Folge haben könnten. Die Bildung von ethnischen Kollektiven ist der Motor dieses Auflösungsprozesses. Wie Samuel Huntington in der Antwort auf die Kritiker seiner mehrfach in diesem Buch erwähnten und in Deutschland diskreditierten These vom Clash of Civilizations (Zusammenprall der Zivilisationen) schreibt, entwickeln sich die Frontlinien des Konflikts nicht nur in der internationalen Politik; durch die Migration aus Asien und Afrika entfaltet sich dieses Konfliktpotential auch in den nordamerikanischen und europäischen Gesellschaften selbst.57 Der in Deutschland zu Unrecht verfemte Huntington unterstreicht, dass die nordamerikanische Kultur europäisch ist und dass ihr - weder rassisch noch ethnisch, sondern vielmehr demokratisch definierter - Grundzug durch eine bedingungslose Multikulturalität gefährdet werde. Die europäisch geprägte Kultur Nordamerikas ist deshalb weder ethnisch noch rassisch, weil ihre Bestimmung exklusiv werteorientiert ist. Der American citizen (amerikanische Bürger) wird nach säkular-demokratischen - wie Huntington sagt: »farbund religionsblinden« - Kriterien bestimmt. In diesem Kontext meine ich, dass Europa nicht islamisiert werden darf, aber es sollte den Euro-Islam als eine europäische, -458-
an die kulturelle Moderne Europas angepasste Säule der Gesellschaft aufnehmen. Die Franzosen beispielsweise verlangen von den Migranten, sich zu der französischen citoyennete58 zu bekennen. Die Entwicklung des Konzeptes der citoyennete beziehungsweise des citizenship59 und der mit diesen korrespondierenden Realitäten in Europa gehört zu den Elementen der westlichen Zivilisation und ihrer kulturellen Identität. Für die Franzosen steht der Islam60 im Mittelpunkt der Einwanderungsproblematik, weil ein erheblicher Anteil der Zuwanderer aus der muslimischen Welt kommt; Letzteres ist auch in Deutschland der Fall. Die Migranten aus dem Mittelmeerraum haben überwiegend den Islam als politische und kulturelle Referenz ihrer Identität. Die Franzosen sehen die Problematik pragmatisch, das heißt, für sie sind die Migranten in Europa eine soziale Tatsache im soziologischen Sinne eines fait social. Entsprechend werden Politiker mit der Frage konfrontiert, wie Europa die eingewanderten Muslime integrieren kann. Diese Frage orientiert sich an den zwei faktisch bestehenden, jedoch einander ausschließenden alternativen Optionen für die Muslime in Europa, die ich eingangs anführte: Werden die Muslime im Sinne einer demokratischen politischen Kultur integriert, das heißt, werden sie die oben angeführten Grundlagen der europäischen Moderne, die alle westeuropäischen Gesellschaften prägen, innerhalb eines europäisierten Islam annehmen? Oder werden sie als Bestandteil des Dar al-Islam (Haus des Islam) in Europa, sozusagen als ein Ghetto, unintegriert bleiben? Ich habe bereits angemerkt, dass es gänzlich unmöglich ist, die beiden Optionen miteinander zu vereinbaren, und lehne deswegen die »Charta« des Zentralrates der Muslime in Deutschland als bloße Rhetorik eindeutig ab. Für die beschriebenen, einander ausschließenden Optionen der Muslime in Europa habe ich selbst in Paris die Formel »Euro-Islam oder Ghetto-Islam« geprägt. Die Islamische -459-
Weltliga, die von Saudi-Arabien gefördert wird, hat auf ihrer Sitzung in Kairo Ende Juli 1993 ein Arbeitspapier verabschiedet, das offen für den Ghetto-Islam eintritt.61 Deutsche demokratische Politiker müssen Saudi-Arabien in aller Klarheit verbieten, sich auf solche Weise in die Innenpolitik Deutschlands einzumischen. Wenn die in Europa lebenden Muslime die angeführten Grundlagen der europäischen Moderne annehmen, dann könnten sie eine integrierte, aus Individuen freier Staatsbürger (also nicht ein Umma-Kollektiv) bestehende Religionsgemeinschaft werden und - nebenbei und indirekt - als Vorbild für ihre Herkunftsländer dienen.62 Euro-Muslime könnten durch die Aneignung der kulturellen Moderne Vorposten der liberalen Reform und Demokratie in der islamischen Welt werden und Brücken zwischen Orient und Okzident schlagen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Extremisten den Konflikt zwischen den Zivilisationen noch weiter anheizen. Ansätze hierfür liegen bedauerlicherweise schon in einem beängstigenden Maße vor, wie es uns die Ereignisse des 11. Septembers vor Augen geführt haben. Ich wiederhole es »politisch inkorrekt«: Europa steht eine Islamisierung bevor,63 wenn kein am religiösen Pluralismus orientierter Euro-Islam entsteht. Die individuellen Menschenrechte sind dann gefährdet. Der Islamismus als Gefährdung für die Demokratie Der Islamismus unter den islamischen Migranten als »verlockender Fundamentalismus«64 in Europa ist bestens dazu geeignet, bei den Europäern Ängste vor dem Islam zu schüren und entsprechende Feindbilder hervorzurufen, die, wie erwähnt, auch die ohnehin vorbelastete Orient-Okzident-Beziehung65 strapazieren. Als Beispiel hierfür seien nur die öffentlichen Sympathiebekundungen von Teilen der islamischen Gemeinde -460-
in Frankreich zu den Terroraktionen der Islamischen Heilsfront angeführt, welche die Entführung französischer Diplomaten im November 1993 einschließen. Die französische Öffentlichkeit reagierte hierauf zu Recht verständnislos. Nach dem 11. September war diese Sympathie in der Islam-Diaspora überall in Europa beängstigend zu spüren. Viele Imame betrieben ein Doppelspiel: Verurteilung nach außen, Sympathie nach innen.66 Es ist doch merkwürdig, dass diese Problematik von manchen deutschen Gesinnungsethikern tabuisiert wird, die wenig vom Islam verstehen und diesen nicht vom Fundamentalismus unterscheiden. Bereits die Kritik am Fundamentalismus wird aus gesinnungsethischer Sicht als Teil des »Feindbildes Islam« missdeutet und inkriminiert. Der islamische Fundamentalismus ist antiwestlich, doch stößt er als eine nichtwestliche exotische Erscheinung bei deutschen Romantikern auf Gegenliebe. Ein solches Bündnis ist für die deutsche Demokratie tödlich. An anderer Stelle habe ich ausgeführt, dass diese Form der deutschen »verordneten Fremdenliebe« mich - als einen Ausländer - nicht weniger ängstigt als die deutsche Ausländerfeindlichkeit. Der Leser dieser Zeilen kann meine Freude ahnen, wenn der Stern schreibt: »... es gibt auch hierzulande... ernsthafte Mahner wie den Göttinger Islamwissenschaftler Bassam Tibi, der seit Jahren ratlos ist angesichts der ›deutschen verordneten Fremdenliebe‹, die alles Fremde heroisiert und die Gefahrenquelle des islamischen Fundamentalismus totschweigt.«67 Moralisierende Gesinnungsethik ist angesichts dieser brisanten Problematik unbrauchbar; ein realistisches politisches Konzept auf europäischer Ebene ist dringend nötig. Eingedenk der angeführten Prognosen, dass die Migration aus den -461-
islamischen Mittelmeerländern nach Europa in absehbarer Zukunft dramatische Formen annehmen wird, ist es wichtig, eine restriktive, das heißt am Arbeitsmarkt orientierte Einwanderungspolitik zu betreiben, die an ein kulturelles Integrationskonzept gekoppelt ist. Jeder muslimische arbeitslose Zuwanderer befindet sich in einer Krise, die sich nicht auf seine ökonomische Situation beschränkt und ihn folglich für den »verlockenden Fundamentalismus« anfällig macht. Es ist einem solchen Zuwanderer schwer begreiflich zu machen, dass der Arbeitsmarkt und nicht irgendeine al-Sa-libiyya (kreuzzüglerische Mentalität) seinen ökonomischen Zustand verursacht. Deshalb gehört zu dieser Politik ein nüchternes Nachdenken über die Gefahren der religiös gefärbten Politisierung der Probleme der muslimischen Zuwanderer, die gleichermaßen kulturell (Diaspora) und ökonomisch (Arbeitslosigkeit) bedingt sind. Die Diaspora-Islam-Gemeinde, die Gemeinde in den Ursprungsländern und das europäische Gastland bilden ein konfliktbeladenes Dreieck der Konfrontation unterschiedlicher Zivilisationen, das politisch entschärft werden muss. Die politischen Regime der meisten islamischen Staaten haben kein Interesse daran, dass Europa die logistische Basis für das Aufbegehren des fundamentalistischen Untergrundes bietet. Das Asylrecht wird zur Farce, wenn es Anhänger totalitärer Herrschaft in Anspruch nehmen können. Die Demokratie wird auf diese Weise - wie einst in Weimar - von ihren eigenen Feinden missbraucht. Der ägyptische Präsident Mubarak sagte dem Sender CNN nach dem 11. September, er habe vorgewarnt, aber niemand habe zugehört. Newsweek schrieb daraufhin: »Fundamentalistische Gruppen haben die liberale Gesetzgebung, die nicht zwischen Religion des Islam und fanatischen Islamisten unterscheidet, ausgenutzt, um in den Genuss europäischer Freiheiten (und auch Sozialleistungen) zu -462-
kommen und dadurch Vorteile für ihre Sache zu erlangen und diese voranzutreiben. Sie missbrauchen die Toleranz, um Intoleranz zu predigen. Sie verbreiten offen Hasspropaganda, rekrutieren Mitglieder unter jugendlichen Zuwanderern und schüchtern jene ein, die sich ihnen widersetzen.«68 Das benötigte, vom Asylrecht abgekoppelte europäische Einwanderungs- und Integrationskonzept muss vor allem darauf bedacht sein, das der angeführten Dreiecksverbindung immanente Konfliktpotential zu entschärfen. Dazu gehören Bemühungen zur Stärkung des reformerischen Islam, der bislang von wenigen in Europa lebenden Muslimen vertreten wird, und die Sorge dafür, dass Fundamentalisten mit demokratischen Mitteln daran gehindert werden, unter Missbrauch der Demokratie ihren fundamentalistischen Ghetto-Islam gegen den reformerischen Euro-Islam durchzusetzen. Es gibt bereits an den Schulen einiger deutscher Bundesländer das Fach »Werte und Normen« als Ersatz für den Religionsunterricht. Ein Religionsunterricht in den Händen der Fundamentalisten ist nämlich bestens geeignet, islamische Kinder als Opfer der Ghetto-Ideologie zu missbrauchen. Bereits 1987 sprach Gilles Kepel in diesem Kontext von Les Banlieues de l'Islam, also von »Vororten des Islam« in Paris. Diese Zeilen standen in ähnlicher Form auch in der 1993er Ausgabe dieses Buches: Anscheinend hat sie vor dem 11. September kein politischer Entscheidungsträger gelesen. Heute, vor dem Hintergrund der Erfahrung des 11. Septembers, wird kein klar denkender Mensch mehr bestreiten, dass eine Dominanz des Ghetto-Islam eine Eskalation des Konfliktpotentials bedeuten würde und nicht etwa dessen gewünschte Entschärfung. Ich muss es wiederholen: Jeder muslimische Einwanderer, der nicht kulturell und wirtschaftlich integriert ist, wird anfällig für das islamische Ghetto eines antiwestlich gesinnten Kollektivs und somit zum potentiellen -463-
Sicherheitsrisiko für Europa. Nach dem 11. September ist der Islamismus ohne Zweifel zu einer Frage der Sicherheitspolitik geworden.69 In unserer Gegenwart missbrauchen islamische Fundamentalisten die Demokratie, um von den europäischen Hauptstädten aus ihre politischen Aktivitäten in den arabischen Mittelmeerländern zu steuern. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center in New York von 1993 hat der ägyptische Präsident Mubarak - hierauf anspielend - den Westen zur Zusammenarbeit mit islamischen Staaten gegen den Fundamentalismus aufgefordert und der Islamreformer Khalid Duran hat uns vor Schlimmerem gewarnt.70 Es ist unbegreiflich, wie die USA vor dem 11. September in realpolitischer Manier Kontakte zu den islamischen Fundamentalisten (zum Beispiel in Afghanistan) als den Herrschern von morgen pflegen konnten; eine Politik, die ich »Spiel mit dem Feuer«71 genannt habe. Die Ereignisse des 11. Septembers haben nicht nur die Außenpolitik der USA verändert, sondern auch die Politiker in Deutschland, von wo aus die Bin-Laden-Connection ihren Anschlag maßgeblich vorbereitete, zum Umdenken veranlasst.72 Nur ein Euro-Islam als entpolitisierter, gleichsam toleranter und liberaler Islam ist in Europa integrationsfähig und zudem erfolgversprechender als jede Sicherheitspolitik. Diese kulturelle Integration der muslimischen Migranten in Europa muss einhergehen mit einer ökonomischen und sozialen, die jedoch nur dann möglich ist, wenn europäische Regierungen nur so viele Einwanderer zulassen, wie der europäische Arbeitsmarkt verkraftet. Das heißt in klarem Deutsch, eine quantitativ und qualitativ restriktive Einwanderungspolitik ist gefordert.73 Man muss folgerichtig auch dem Missbrauch des Asylrechtes als Hintertür für Einwanderung auf europäischer Ebene ein Ende setzen. Jede Krise in der europäischen Wirtschaft, welche die soziale Integration der muslimischen Einwanderer durch deren Arbeitslosigkeit gefährdet, beinhaltet die Gefahr, sie in die Hände der Fundamentalisten als den Vertretern des Ghetto-464-
Islam zu treiben. Migranten, die wirtschaftlich nicht integriert werden können, wird man - im Gegensatz zu denjenigen, die sozial und wirtschaftlich eingegliedert sind - auch nicht in eine demokratische politische Kultur einbinden können. Sie stellen eine Gefahr für die Demokratie dar, weil der politische Islam unter ihnen seinen Nährboden findet, insbesondere in Situationen wirtschaftlicher Not, in denen sich »ethnische Armutskulturen« (A. Giddens) bilden. Die mehrfach erwähnte Dreiecksverbindung als eine NordSüd-Konfliktformation und Zusammenprall der Zivilisationen nimmt inzwischen konkrete Formen an. Die aus dem Gedeihen des Islamismus im Inneren Europas hervortretenden Konflikte sind ein Bestandteil dieser Formation, welche die bedrohlichen Konflikte und Konfrontationen im Mittelmeerraum ausweiten könnte. Nur ein liberaler, toleranter Islam und ein dialogwilliges Europa können gemeinsam diese Konfliktpotentiale entschärfen. Auf dieser Ebene können die Ängste der Deutschen vor allem Fremden und somit auch vor den Muslimen abgebaut werden; Aufrufe islamischer Fundamentalisten zur Anwendung der Schari'a auch im säkularen Europa sind bestens dazu geeignet, die bereits vorhandene Ausländerfeindlichkeit weiter zu schüren; sie verstärken die Angst vor dem Islam und führen zu alarmierenden Rufen, wie im Buch von Oriana Fallaci, die zu einem Kreuzzug für die Freiheit gegen den Islam aufruft: Ihre Angst ist berechtigt und ihr Aufruf legitim, aber da sie nicht zwischen einem offenen und einem orthodoxen beziehungsweise fundamentalistischen Islam unterscheidet, empfiehlt sie völlig falsche Lösungen. Euro-Islam der Individuen gegen die Kollektive Einen Euro-Islam in Europa zu fördern, heißt eine dritte, liberale, tolerante und somit demokratisch integrierte -465-
Religionsgemeinschaft entfalten helfen, nicht aber einer multikulturellen Gesellschaft das Wort reden, welche nichts anderes als ein multi-ethnisches Konfliktgebilde verfeindeter Kollektive wäre. Multikulturalität würde das Nebeneinander der politischen Kultur der Moderne und der Schari'a bedeuten, die unvereinbar sind. Ich schließe mich Arthur Schlesingers bereits zitierter Warnung vor den desintegrativen Auswirkungen des Multikulturalismus in Amerika an und sehe darin eine Parallele zu Europa. In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage nach dem Charakter der Einbürgerung als Mittel der Integration. Die Europäer müssen auf der Norm der individuellen Staatsbürgerschaft im Sinne von citoyenneté bestehen. Die in Deutschland befürwortete pseudoliberale Übertragung des hierzulande bedauerlicherweise noch immer gültigen Rechtes der Staatsangehörigkeit auf der Basis von Gruppenzugehörigkeit zu einem Kollektiv, beispielsweise die Einbürgerung der Deutschstämmigen aus Zentralasien, ist fatal. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht von 1913 ist kollektiv und steht somit nicht in der westlich-demokratischen Tradition; es ist offen gesagt ein rassistisches, vormodernes, ethnisch fundiertes Recht. Schließlich kann Staatsbürgerschaft im demokratischen westlichen Sinne von citoyennete/citizensbip nur individuell sein; außerdem ist sie in anderen westlichen Ländern, zum Beispiel Frankreich, an eine Werteorientierung (Leitkultur) und Identität gebunden. Das ius soli und ius sanguinis existieren in Deutschland heute nebeneinander. Unverändert besteht das alte Gesetz aus dem Jahre 1913 neben dem neuen von 2000 fort und gewährt allen ethnisch Deutschen, das heißt auch jenen, deren Urväter einmal Deutsche waren und die nicht einmal mehr gebrochen Deutsch sprechen können, quasi automatisch die Staatsbürgerschaft. Für die in Deutschland geborenen Ausländer ist es nach dem 2000er Gesetz besser geworden, aber sie sind wie ich nach wie vor -466-
»Pass-Deutsche«, keine Deutschen. Ich musste als ein habilitierter Wissenschaftler bei meiner Einbürgerung eine Deutschprüfung bei einem Polizisten ablegen (ein Diktat aus der Bild-Zeitung in Frankfurt 1972 bestanden und dennoch erst 1976 eingebürgert), während Russland-››Deutsche«, die vor der Verschärfung der Vorschriften durch das 2000er Gesetz kein Wort Deutsch sprechen mussten, die deutsche Staatsangehörigkeit fast automatisch erhielten, eben weil sie ethnisch als Deutsche gelten. Ist das kein Rassismus oder zumindest ethnisch-vormodernes Denken? Meine erste deutsche Ehefrau (aus Pommern) musste ethnisch ihre deutsche Herkunft bis zu ihren Großvätern nachweisen, als mein damals staatenloser, später dann eingebürgerter Sohn Fabian Deutscher werden wollte. Er ist in Frankfurt am Main geboren und kennt keine andere Heimat außer Deutschland. Ethnisch-religiöse Gruppenzugehörigkeiten als Kollektivbindungen dürfen in einer Demokratie nicht maßgeblicher als die individuelle Staatsangehörigkeit werden. Um es noch einmal herauszustellen: Citoyennete ist die individuelle Zugehörigkeit zu einem demokratischen Gemeinwesen, nicht zu einem Kollektiv. Für einen Euro-Muslim müsste die Erlangung einer europäischen Staatsangehörigkeit mit der Pflicht zur Identifikation und der Loyalität zum demokratischen Gemeinwesen verbunden sein. Sie darf nicht bloß Voraussetzung zum Erwerb nützlicher Rechte sein, so wie es bei der doppelten Staatsangehörigkeit der Fall wäre. Ein Europäer ist ein an den Werten der kulturellen Moderne orientierter Mensch, unabhängig von Hautfarbe und Religion. Ein Pass-Europäer ist kein Europäer, wenn nur der Pass seine Bindung ist. Integration ist keine Einbahnstraße. Es ist nicht nur die Aufgabe europäischer Staaten, ein politisches Konzept dafür zu entwickeln. Auch die in Europa lebenden Muslime haben die Pflicht, an einem Euro-Islam zu arbeiten, der sie als demokratische Staatsbürger in Europa heimisch werden lässt. In -467-
diesem Sinne könnten, nach den Maßstäben des Grundgesetzes, integrierte, deutsche Muslime - wenn sie es wollten - zu Vorbildern eines liberalen Islam gegen den totalitären Missbrauch der Religion durch den Fundamentalismus avancieren. Fundamentalisten betrachten die muslimische Gemeinde in Deutschland beziehungsweise in Europa in einer archaischen Weise als einen Bestandteil des Dar al-Islam und sind genauso wie deutsche Rechtsextremisten - wenngleich aus anderen Motiven - gegen die Integration der in Deutschland lebenden Muslime in ein demokratisches Gemeinwesen. In einem in Kairo erschienenen Buch über die islamischen Minderheiten in der Welt heißt es auf Seite 172, dass Kommunismus, Kreuzzüglertum und Zionismus sich gegen die Muslime in Europa verschwören und durch Integration »die islamische Präsenz liquidieren wollen« (»al-Tasfiya lil-wudjud alIslami«)74. Auf Seite 176 liest man weiter: »In Frankreich ist die kreuzzüglerische Mentalität noch voll lebendig... die die Muslime christianisieren will... Zionismus... [und, B. T.] die Bahai-Religion mischen hier mit, um die islamische Präsenz in Frankreich zu liquidieren.« (ebd.) Und was antworten die deutschen Gutmenschen auf diesen Hass? Naipaul sagt, sie suchen die Ursachen allein bei sich und verstehen den »irrationalen Hass der Gegenseite« nicht (vgl. Anmerkung 25). Auf diese Weise fördern sie das »verlogene Spiel mit der Opferrolle« (vgl. Anmerkung 1), das die Islamisten betreiben. Keine Kollektive im demokratischen Europa Über die beschriebenen antidemokratischen Tendenzen, die gegen die Integrationspolitik gerichtet sind, aufzuklären, kann -468-
einhergehen mit der Warnung vor einem »Feindbild Islam«. Doch nicht der Islam ist der Feind, sondern der Fundamentalismus. Frankreich ist wie Deutschland ein säkulares Land und Integration ist daher keine »Christianisierung«, wie Islamisten und orthodoxe Muslime unterstellen; bereits vor dem 11. September 2001 habe ich die Formel geprägt: Toleranz dem Islam, Abwehr dem Islamismus. Nun können Europäer nur den Muslim integrieren, der in eine solche Einbindung einwilligt; Fundamentalisten lehnen die Integration der islamischen Gemeinde in Europa nach Maßstäben der europäischen Kultur mit Vehemenz ab. Im Zeitalter des Zusammenpralls der Zivilisationen ist eine auf christlicher Tradition basierende, säkularisierte Nächstenliebe, sprich Fremdenliebe, nicht dazu geeignet, auf Frontbildungen gegen die Demokratie zu antworten. Max Horkheimer hat vor seinem Tode die Verteidigung der westlichen Zivilisation zu »Recht und Pflicht jedes Denkenden« erklärt und, wie schon erwähnt, hinzugefügt, sie sei »im Augenblick noch eine Insel, räumlich und zeitlich, deren Ende im Ozean der Gewaltherrschaft auch das Ende der Kultur bezeichnen würde, der die kritische Theorie noch zugehört«.75 Dies ist ein eindeutiges Bekenntnis zur westlichen Zivilisation und diese Worte sind mein Kompass bei der Verteidigung Europas und seiner individuellen Menschenrechte. Die Argumente zusammenfassend, hebe ich meine bereits in der 1993er-Ausgabe dieses Buches enthaltene Warnung vor islamischen Ghettos hervor. Ich trete für eine demokratische Integration der Muslime in das europäische politische Gemeinwesen ein. Europa kann ohne die individuellen Menschenrechte seine Identität nicht bewahren. Für die Integration der Muslime habe ich den Begriff Euro-Islam als Ausdruck der Option eines Ausweges aus dem bestehenden Dilemma geprägt. Ein Euro-Islam ist die Antithese zum GhettoIslam vormoderner Kulturen, denen unter dem Deckmantel der Fremdenliebe und im Rahmen kultureller Kollektivrechte -469-
Geltung in Europa eingeräumt wird. Die meisten Zuwanderer aus dem Mittelmeerraum sind Angehörige vormoderner Kulturen, so dass ein Konflikt zwischen deren vormodernen und Europas modernen Normen, Werten und Weltsichten entsteht, der die Bewältigung des tatsächlich bestehenden Fremdenhasses erschwert. Undemokratische Sitten und Bräuche vormoderner Kulturen in einer demokratischen Gesellschaft zuzulassen, wäre nicht nur eine Unterhöhlung der Demokratie, sondern auch falsch verstandene Toleranz. Ich habe diese Problematik mit eindringlichen Beispielen in Kapitel 6 dieses Buches (»andere Kulturen - andere Sitten«) erörtert und dazu aufgefordert, den Zivilisationskonflikt ernst zu nehmen. Die Doppelstrategie des Dialoges mit dem liberalen und demokratischen Islam bei gleichzeitiger Aufklärung über den totalitären Charakter des islamischen Fundamentalismus sowie seiner Abwehr ist ein Bestandteil der Problembewältigung. Ein demokratisches Deutschland und der Euro-Islam könnten dann friedlich zusammenleben, wenn beide dem Rechtsradikalismus in der Form von Ausländerfeindlichkeit und von Fundamentalismus eine deutliche Absage erteilen. Europa könnte unter den Bedingungen der Migration den Boden bieten, auf dem sich ein mit Demokratie und individuellen Menschenrechten versöhnter Euro-Islam entfaltet. Die Alternative dazu ist das feindliche Aufeinandertreffen der Zivilisationen mitten in Europa. Muslime als freie Individuen können demokratische europäische Bürger werden, deren EuroIslam zum Mosaikstein des europäischen Pluralismus gehört, wohingegen der fundamentalistisch dominierte Ghetto-Islam nur die Bildung von Kollektiven entlang den »Frontlinien des Konflikts zwischen den Zivilisationen« (Huntington) bedeuten kann. Die Verwestlichung des Islam, dessen Resultat ein EuroIslam ist, kann in Deutschland einhergehen mit dem seit der Befreiung dieses Landes von der NS-Terrorherrschaft stattfindenden und noch lange nicht abgeschlossenen Prozess -470-
der Verwestlichung der deutschen politischen Kultur. Deutschland hat in diesem Prozess ein Grundgesetz bekommen, in dem die ersten neunzehn Artikel alle individuellen Menschenrechte garantieren; diese sollten zum Heiligtum des Landes erklärt werden. Nach vierzig Jahren Leben in Deutschland kann ich die folgende Erfahrung festhalten: Die reale politische Kultur Deutschlands befindet sich nicht auf dem hohen Niveau des Grundgesetzes. Angesichts der 3,5 Millionen in Deutschland lebenden Muslime besteht neben dem Bedarf nach einem wertemäßig europäischen Deutschland ein ähnlicher an einem europäischen Islam. Nur beides zusammen kann die individuellen Menschenrechte garantieren. Es ist kein Widerspruch, für einen europäischen Islam, der die individuellen Menschenrechte umfasst, mit allem Nachdruck einzutreten und parallel vor der Schari'a als »Schatten Allahs« auf Erden (vgl. Kapitel 7) - so wie sie der orthodoxe islamische Sakraljurist Ibn Taimiyya76 (1263-1328) nach dem Niedergang des islamischen Rationalismus als Orientierung für die Politik verkündete - zu warnen. Diesem »Schatten Allahs« soll eine klare Absage erteilt werden, auch wenn manche ihn als »Sonne über dem Abendland« sehen.
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Anmerkungen Einleitung: Allah: al-Khaliq (Schöpfer) - Mensch: al-Makhluq (Geschöpf) l Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985. Hierin folgt Habermas Max Webers Idee, dass die kulturelle Moderne zur Entzauberung der Welt beiträgt und deshalb konsequent säkular ist. Leider scheint Habermas in seiner Frankfurter Rede vom Oktober 2001 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels nicht mehr daran festzuhalten, denn er unterstellt, unsere Zeit sei eine »postsäkulare Zeit«. Er spricht von »postsäkularen Gesellschaften« (vgl. Habermas, Glauben und Wissen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Oktober 2001). Besonders nach seinem »Staatsbesuch« (Habermas ist zwar kein Repräsentant eines Staates, aber er war auf Einladung Khatamis im Iran) hat er zur Verniedlichung der dortigen fundamentalistischen Herrschaft beigetragen (vgl. Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13. Juni 2002, S. 47). Für dieses Buch bleibt Habermas' Philosophischer Diskurs der Moderne verbindlich, obwohl mich die dargestellte Entwicklung meines akademischen Lehrers befremdet. Ebenso befremdlich ist, dass Habermas nach einem einwöchigen Aufenthalt im Iran in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wie ein Fachmann über den Iran und den Schi'a-ls\a.in spricht! Zu Habermas neuer Entwicklung vgl. ferner Anm. 7 zu Kap. 6 unten. 2 Hierzu C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism. Hobbes to Locke, Oxford 1962. 3 Bassam Tibi, »Islamic Law/Schari'a, Human Rights, Universal Morality and International Relations«, in: Human Rights Quarterly, Bd. 16 (1994), H. 2, S. 277-299. -472-
4 Vgl. Mohammed al-Ghazali, Huquq al-insan bain ta'alim al-Islam wa i'lan al-umam al-muttahida (Die Menschenrechte zwischen den Lehren des Islam und der UN-Deklaration), Kairo 1984 (3. veränd. Aufl.); Mohammed Imara, al-Islam wa huquq al-insan (Der Islam und die Menschenrechte), Kairo 1989. 5 Hierzu Johan Bouman, Gott und Mensch im Koran. Eine Strukturform religiöser Anthropologie, Darmstadt 1977. 6 Zum Sufi-Islam vgl. James Fadiman/Robert Frager (Hg.), Essential Sufism, San Francisco 1997. 7 Zum islamischen Rationalismus vgl. Herbert Davidson, Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect. Their Cosmologies, Theories of Active Intellect and Theories ofthe Human Intellect, New York 1992. Zum Konflikt zwischen Orthodoxie und Rationalismus im Hochislam vgl. Kap. 3 des in Anm. 8 zitierten Buches, S. 101-122. 8 Zu al-Farabi als zentraler Figur des islamischen Rationalismus Bassam Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1996 und 2. Aufl. 1997 (SP-Ausgabe 1998, neu 2001), hier Kap. 4, S. 133-150. 9 Sayyid Qutb, Ma'alim fi al-tariq (Wegzeichen), 13. legale Aufl., Kairo 1989, S. 10. Die hiermit im Einklang stehende antidemokratische Äußerung Ali Benhadjs ist enthalten in Ahmida Ayaschi, al-Islamiyyun al-djazai'riun bain al-sulta wa al-rasas (Die algerischen Islamisten zwischen Staatsmacht und Gewehrgeschossen), Algier 1992, S. 57i. 10 Ali Benhadj, zitiert nach Ahmida Ayaschi, al-Islamiyyun (wie Anm. 9), S. 49 und 58-60. 11 Die Fetwa von Mohammed al-Ghazali ist abgedruckt in: al-Hayat vom 23. Juni 1993 (mehr hierüber in Kap. 6). Es ist merkwürdig, dass diese Fetwa (islamisches Rechtsgutachten) als Aufruf zum Mord gerade von einem islamischen Imam kommt, der ein Buch über Menschenrechte verfasst hat (vgl. Anm. 4). Sehr befremdlich ist, dass al-Ghazali als Mitautor bei Hans -473-
Küng (Hg.),Ja zum Weltethos. Perspektiven für die Suche nach Orientierung, München 1995, S. 240 ff., erscheint. Als Kenner der Arbeiten al-Ghazalis frage ich: Gehört der Aufruf zum Mord an dem Murtad (Apostaten) zum Weltethos? Die Antwort auf diese Frage ist in meinem Essay über den christlich-islamischen Dialog »Selig sind die Belogenen« in: Die Zeit vom 29. Mai 2002, S. 9 enthalten. 12 Mohammed al-Ghazali, »Streben nach einem höheren Ethos«, in: Hans Küng (Hg.), Ja zum Weltethos (wie Anm. 11). 13 Vgl. den Bericht in al-Hayat vom 23. Juni 1993. 14 Vgl. hierüber den Bericht von W.G. Lerch, »Stadt der toten Dichter«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Juli 1993. 15 Vgl. Anm. 4. 16 Jack Donnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice, Ithaca und London 1989. 17 Hierzu ausführlich Albert Soboul, Die große Französische Revolution, Darmstadt 1983, S. 121 ff. Vgl. auch Marcel Gauchet, Die Erklärung der Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, Reinbek b. Hamburg 1991; sowie Roger Chartier, The Cultural Origins of the French Revolution, Durham 1991. 18 Hierüber das Kap. »International Human Rights Law« von Richard Bilder, in: Hurst Hannum (Hg.), Guide to International Human Rights Practice, 2. Aufl., Philadelphia 1992, S. 3-18. 19 Interview mit Mohammed Arkoun, »La conception occidentale des droits de Phomme renforce le malentendu avec l'Islam«, in: Le Monde vom 15. März 1989. Vgl. ferner Mohammed Arkoun, Rethinking Islam, Boulder/Col. 1994, hier Kap. 22 über Menschenrechte, S. 106-113. 20 Die Papers von Mohammed Arkoun und Bassam Tibi zu diesem Osloer Symposium sind enthalten in: Tore Lind-474-
holm/Kari Vogt (Hg.), Islamic Lau› Reform and Human Rights, Kopenhagen und Oslo 1993 (Arkoun S. 11-24, Tibi S. 75-96). 21 Vgl. Micheline Ishay (Hg.), The Human Rights Reader, New York 1997. 22 Samantha Power/Graham Allison (Hg.), Realizing Human Rights, New York 2000, bes. die Essays in Teil I. 23 Im Woodrow Wilson Center in Washington wurde ein Projekt über Menschenrechte durchgeführt, aus dem zu dieser Thematik folgende Arbeit hervorging: Abdullahi A. AnNa'im/Francis Deng (Hg.), Human Rights in Africa. CrossCultural Perspectives, Washington, D.C., 1990 (eine Veröffentlichung der Brookings Institution); darin Bassam Tibi, »The European Tradition of Human Rights and the Culture of Islam«, S. 104-132. Alle vier Kap. des dritten Teils in dem vorliegenden Buch Im Schatten Allahs sind aus diesem Projekt hervorgegangen. 24 Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, Stuttgart und München 2002, hier Kap. 6, S. 258288. 25 Die beste Kritik an der Homo-Islamicus-ldeologie stammt von Maxime Rodinson, Islam und Kapitalismus, Frankfurt/M. 1972; eine neue Ausgabe mit einer umfangreichen Einleitung von Bassam Tibi über Rodinson und die Islamstudien erschien als stw-Band, Frankfurt/M. 1986. 26 Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (Neuausgabe 2001), Kap. I und VIII. 27 Hierzu Kap. 4 in Bassam Tibi, Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001. 28 Das ist auch das Anliegen von Ann E. Mayer, Islam and Human Rights, Boulder/Col. 1991 (Neuaufl. 1995), vgl. dazu den Besprechungsaufsatz von Bassam Tibi: »The Univer-sality of Human Rights and the Authenticity of Non-Weslern -475-
Cultures«, in: Harvard Human Rights Journal, Bd. 5(1992), S. 221-226. 29 Zur Entstehung des Westens siehe das autoritative Werk von William McNeill, The Rise of the West, Chicago 1963 (mehrfach neu aufgelegt). Zu den Prozessen der Verwestlichung vgl. Theodore H. von Laue, The World Revolution of Westernization, New York und Oxford 1987, ferner Kap. 2 in dem Buch von Rudolf Wendorff, Dritte Welt und westliche Zivilisation, Opladen 1984, neu: David Gress, From Plato to NATO. The Idea of the West and its Oppo-nents, New York 1998. 30 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1983, bietet einen Kulturbegriff, der meinen Gedanken zugrunde liegt. Kultur wird als sozialbedingte Sinnproduktion bestimmt. 31 Aufschlussreich hierzu die Studie von Clifford Geertz, Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien, mit einem Essay von Bassam Tibi, »Gespräche mit Clifford Geertz in Princeton«, Frankfurt/M. 1988, S. 185-200. 32 Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., völlig neu redigierte Neuausgabe von Heike Hammer, Frankfurt/M. 1997. 33 Die ausschlaggebende Bedeutung beider Modelle zeigt Reinhard Bendix, Könige oder Volk. Machtausübung und Herrschaftsmandat, 2 Bde., Frankfurt/M. 1980, bes. Bd. I, S. 50 ff. (zu England) und 123 ff. (zu Frankreich). Mit Bendix verband mich eine Freundschaft und lang anhaltende geistige Kommunikation, deren Spuren auch in diesem Band sichtbar sind. 34 Hierzu A. H. Robertson und J. G. Merrills, Human Rights in the World, überarbeitete Neuaufl., Manchester und New York 1989; Richard P. Claude und Burns H. Weston (Hg.), Human Rights in the World Community, Philadelphia 1989. -476-
35 Mark Krieger, Menschenrechte in arabisch-islamischen Staaten, Frankfurt/M. 1999 (eine von mir betreute Göttinger Dissertation); Kevin Dowyer, Arab Voices. The Human Rights Debate in the Middle East, Berkeley 1991. 36 Vgl. das von David Trubek verfasste Kap. über die wirtschaftlichen und sozialen Rechte in dem Band von Theodore Meron (Hg.), Human Rights in International Law, 2. Aufl., Oxford 1985. 37 Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Oxford 1996 (Neuausgabe), hier die Einleitung von Hobsbawm, S. 1-14. 38 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 3. Aufl. der revidierten und erweiterten Ausgabe, London u.a. 1993, deutsch: Die Erfindung der Nation, Frankfurt/M. 1988. Zum Ein-fluss europäischen Gedankenguts auf die Ideologien der Entkolonisierung bei der Entwicklung ähnlicher Konstrukte vgl. Bassam Tibi, »Politische Ideen in der Dritten Welt während der Dekolonisation«, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 5, München 1987, S. 361-402. 39 Hierzu Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, München 1998, Kap. 2 und 6 (erweiterte Neuausgabe mit Einleitung zum 11. September 2001, München 2001). 40 Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York 1977, S. 273. 41 R. J. Vincent, Human Rights and International Relations, Cambridge 1986, S. 37ff. 42 Hierzu vgl. Terry Nardin, Law, Morality, and the Relations of States, Princeton 1983, und auch die Beiträge in dem Band von Terry Nardin/David Mapel (Hg.), Traditions of International Ethics, Cambridge 1992. -477-
43 Vgl. Hussein A. Amin, Haul al-da'wa li-tatbiq al-schari'a al-Islamiyya (Über den Aufruf zur Anwendung der Schari'a), 2. Aufl., Kairo 1987; grundlegend ist die Arbeit des von schi'itischen Terroristen in Beirut ermordeten Scheichs Subhi alSalih, Ma'alim al-schari'a al-Islamiyya (Grundzüge der islamischen Schari'a), Beirut 1975. 44 Zu Saudi-Arabien als islamischer Monarchie vgl. das entsprechende Kap. in Bassam Tibi, Das arabische Staatensystem, Mannheim 1996, S. 83-100. 45 Muhammad A. al-Samman, Mihnat al-aqaliyyat alMuslima fi al-alam (Das Dilemma der islamischen Minderheiten in der Welt), Kairo 1987, S. 176. 46 Zitiert nach Ann E. Mayer (wie Anm. 28), S. 36. 47 Mohammed al-Ghazali, Huquq al-insan (wie Anm. 4), S. 7. 48 Ann E. Mayer (wie Anm. 28), S. 198. 49 Vgl. das Kap. über den Sudan in Bassam Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1994 (2., erw. Aufl.), S. 191 ff. 50 W. Köhler in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Mai 1993. 51 Vgl. Centre for Arab Unity Studies (Hg.), Azmat al-demoqratiyya fi al-watan al-Arabi (Krise der Demokratie in der arabischen Welt), Beirut 1984 (928 Seiten), mein Kap. S. 73-92. Vgl. meinen Bericht hierüber in der Zeitschrift Orient, Bd. 4 (1984), S. 473-483. 52 Hierzu Mark Juergensmeyer, The New Cold War? Religious Nationalism Confronts the Secular State, Berkeley 1993. 53 Hierzu Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung (wie Anm. 24). Die Berufung auf die islamische Identität dient der Verweigerung der Integration. -478-
54 Bassam Tibi, Der wahre Imam (wie Anm. 8), München 1998. 55 Vgl. die beiden Bände des Middle East Watch, Human Rights in Iraq, New Haven 1990 und Syria Unmasked. The Suppression of Human Rights by the Asad Regime, New Haven 1991. 56 Zu den Sekten im Islam vgl. Fuad Khuri, Imams and Emirs. State, Religion and Sects in Islam, London 1990. 57 Zu der Sekte des al-Khawaridj (auch al-Harigiten) vgl. autoritativ W. M. Watt/M. Marmura, Der Islam II, Stuttgart 1985, Kap. l, S. 1-31. 58 Vgl. Bassam Tibi, »Politisches Denken im klassischen und mittelalterlichen Islam zwischen Religio-Jurisprudenz (Fiqh) und hellenisierter Philosophie (Falsafa)«, in: Iring Fetscher/ Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2, München 1993, S. 87-140; Bassam Tibi, Der wahre Imam (wie Anm. 8), die Kap. in Teil II. 59 Zu den arabischen Stämmen und ihrer Einbettung in die Moderne vgl. Kap. IV in Bassam Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung: Der Islam und die Weltpolitik, neu geschriebene Neuausgabe, München 2002 (zuerst 1992 und 1993); ders., »Old Tribes and Imposed Nation-States in the Middle East«, in: Ph. Khoury/J. Kostiner (Hg.), Tribes and State Formation in the Middle East, Berkeley 1990, S. 127-152. (Dieses Buch ist aus einem MIT-Harvard Project hervorgegangen.) 60 Vgl. das Kap. über die Opposition im Irak als Blöcke tribaler und sektenbezogener Kollektive in Bassam Tibi, Die Verschwörung (wie Anm. 49), S. 253ff., sowie allgemein über Opposition in nichtwestlichen Gesellschaften Bassam Tibi, »Politische Opposition in Westasien und in Afrika«, in: Walter Euchner (Hg.), Politische Opposition, Göttingen 1993, S. 155172. -479-
61 Eine solche Argumentation findet man in der Arbeit des sich »postmodernistisch« verstehenden Anglo-Pakistanis Akbar S. Ahmed, Postmodernism and Islam, London 1992. 62 Hassan II., La Mémoire d'un Roi. Entretiens avec Eric Lau-rent, Paris 1993; und dazu die Rezension von Walter Haubrich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. April 1993. 63 Hierzu siehe Abdullahi An-Na'im, Toward an Islamic Reformation. Civil Liberties, Human Rights and International Eaw, Syracuse 1990, Kap. 3, 6 und 7. 64 al-Imam Ahmed Ibn Taimiyya, al-Siyasa al-schar'iyya fi islah al-ra'i wa al-ra'iyya (Die an der Schari'a orientierte Politik zur Formung des Hirten und seiner Schafherde), 2. Aufl., Beirut 1988. Ibn Taimiyya lebte in den Jahren 1263-1328. Diese Arbeit Ibn Taimiyyas entstand zwischen 1309 und 1314. Zur Interpretation Ibn Tamiyyas vgl. Bassam Tibi, Der wahre Imam (wie Anm. 8), hier Kap. 5. 65 Mohammed al-Djueili, al-Zaim al-siyasi fi al-mikhyal alls-lami (Der politische Führer in der islamischen Imagination), Tunis 1992, bes. S. 67ff.: »Thunaiyyat al-'asa wa al-miz-mar« (Die Dualität der Hirtenflöte und des Schlagstocks). 66 Reinhard Bendix, Freiheit und historisches Schicksal, Frankfurt/M. 1982, hier S. 120-135. 67 Yusuf al-Qaradawi, al-Hall al-hlami wa al-hulul al-mustawrada, Beirut 1980. 68 Viktor Meier, Wie Jugoslawien verspielt wurde, Frankfurt/M. 1995, bes. S. 380ff. 69 al-Da'wa-Gruppe: al-Bosneh wa al-harsak. al-Harb alsali-biyya al-djhadida did al-Muslimin (Bosnien-Herzegowina. Der neue Kreuzzug gegen die Muslime), 3. Aufl., Alexandria und Casablanca 1992. 70 Vgl. Mark Juergensmeyer, The New Cold War, (wie Anm. -480-
52). 71 Hierzu Bassam Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung (wie Anm. 59), Kap. VII, S. 215ff. 72 Vgl. hierzu meinen Beitrag »International Morality and Cross-Cultural Bridging«, in: Roman Herzog u.a., Preven-ting the Clash of Civilizations. A Peace Strategy for the Twenty-First Century, New York 1999, S. 107-126. Kapitel l Der Islam und seine universellen Ansprüche - Einführung in den Islam 1 Hierzu vgl. Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, Frankfurt/M. 1963; sowie Bassam Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1996 und 2. Aufl., München 1997 (SP-Ausgabe 1998, neu 2001), hier Teil II. 2 Zur Aufklärung als Basis der kulturellen Moderne vgl. Ulrich im Hof, Das Europa der Aufklärung, München 1993 sowie Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985. Zum islamischen Einfluss Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (Taschenbuchausgabe 2001), Kap. 5. 3 Zu al-Farabi, seinen Schriften und seiner Philosophie des islamischen Rationalismus vgl. Bassam Tibi, »Politisches Denken im klassischen und mittelalterlichen Islam zwischen Religio-Jurisprudenz (Fiqh) und hellenisierter Philosophie (Falsafa)«, in: Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2, München 1993, S. 87140, hierzu den al-Farabi-Abschnitt S. 98ff. Dort auch ausführliche Belege und eine Bibliographie; ferner Bassam Tibi, Der wahre Imam (wie Anm. l), Kap. 4. -481-
4 Abu al-Hassan al-Mawardi, Kitab al-ahkam al-sultaniyya (Das Buch der sultanischen Herrschaftsformen), Neudruck Kairo und Istana (Istanbul) 1909. Zu al-Mawardi vgl. Bassam Tibi (Anm. 3) S. 105-112ff., dort auch Belege und Bibliographie; ferner Bassam Tibi, Der wahre Imam (wie Anm. 1), Kap. 5. 5 Die umfassendste und autoritative Zivilisationsgeschichte des Islam ist: Marshall G. S. Hodgson, The Venture of Islam. Conscience and History in a World Civilization, 3 Bde., Chicago 1974. 6 Abdulhadi Abdulrahman, Sultat al-nas. Qira'at fi tauzif alnas al-dini (Die Autorität des Textes. Studien zur Instrumentalisierung des religiösen Textes), Beirut 1993. 7 Hierzu Charles Butterworth, »Prudence versus Legitimacy. The Persistent Theme in Islamic Political Thought«, in: Ali E. Hillal Dessouki (Hg.), Islamic Resurgence in the Arab World, New York 1982, S. 84-114. Vgl. auch Bassam Tibi, Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001. 8 Hierzu Johan Bouman, Gott und Mensch im Koran, Darmstadt 1977, sowie Adel al-Baradie, Gottes-Recht und Menschenrecht. Grundprobleme der islamischen Strafrechtslehre, Baden-Baden 1983. 9 Vgl. hierzu die bemerkenswerten Beiträge in dem Band von M.J. Lacy/K. Haakonssen (Hg.), A Culture ofRights. The Bill ofRights in Philosophy, Politics and Law 1791-1991, Cambridge 1992 (als Woodrow Wilson Center Book veröffentlicht). 10 Vgl. Jürgen Habermas, »Das Bild von einer verstümmelten Gesellschaft passt nicht: Reise nach Iran«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Juni 2002, Feuilleton, S. 47. Nach meiner Auffassung übersieht Habermas, dass er sich in einem totalitären Staat aufgehalten hat. 11 Vgl. meinen autobiographischen Aufsatz »Ein Muslim zwischen Islam und Modernität«, in: Schweizer Monatshefte, -482-
Bd. 66 (1986), H. 10, S. 803-809. Zur Sozialisierung in der deutschen Universität und zum Abstand zu ihr vgl. Bassam Tibi, »Nicht über Bagdad, sondern direkt. Die Schwierigkeit, an der deutschen Universität heimisch zu sein«, in: Namo Aziz (Hg.), Fremd in einem kalten Land, 2. Aufl., Freiburg/Br. 1993, S. 121-136. 12 Beim Zitieren des Korans verwende ich den arabischen Text des Korans und übersetze ihn unter Berücksichtigung der beiden autoritativen deutschen Koranübersetzungen von Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 1979, und Adel Theodor Khoury, Der Koran, Gütersloh 1987. Im Zweifelsfall der Sinnbestimmung vergleiche ich nach der Lektüre des Originals die deutsche mit der englischen Übersetzung von N. J. Dawood, The Koran, Neudruck, London 1986; Bell/Watt, Introduction to the Qur'an, Edinburgh 1970. 13 Hadith bedeutet Überlieferung des Propheten, im Arabischen immer maskulin. Vgl. Adel. Theodor Khoury (Hg.), So sprach der Prophet. Worte aus der islamischen Überlieferung, Gütersloh 1988. Im Vergleich umfassender und systematischer ist Maulana Mohammad Ali, A Manual of Hadith, New York 1977. 14 In Anlehnung an Clifford Geertz, The Interpretation of Culture, New York 1973, bes. S. 3-30, deutsch: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1983. 15 Maxime Rodinson, Mohammed, Luzern 1975. Dieses Werk ist meiner Ansicht nach die beste Biographie des Propheten. Sie steht z. B. in Ägypten auf dem Index. 16 Zur Stellung der arabischen Sprache im Islam vgl. Bassam Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, Frankfurt/M. 1985, Kap. 6, S. 99-130 (3. Aufl. 1991). 17 Zum afrikanischen Islam ausführlich Bassam Tibi, Die -483-
Krise des modernen Islam, Frankfurt/M. 1991, Kap. 5, S. 94 ff. (2. Aufl. der erweiterten Ausgabe; Neuausgabe 1992, Neudruck 2002). 18 Clifford Geertz, Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und Indonesien, mit einem Essay von Bassam Tibi, stw-Ausgabe Frankfurt/M. 1991. 19 Vgl. Joseph Chamie, Religion and Eertility. Arab Christian-Muslim Differentials, Cambridge 1981. Der Libanese Chamie ist Direktor der UN-Behörde für Demographie. 20 Mohammed Imara, al-lslam, al-uruba wa al-ilmaniyya (Der Islam, das Arabertum und Säkularismus), Beirut 1981, S. 9. 21 Zur islamischen Revolution im Iran vgl. Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, 3. Aufl., Darmstadt 2002, Iran-Kap., S. 117-132. 22 Hierzu Bassam Tibi, Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und Islamismus, München 1998 (dieses Buch erschien in türkischer Übersetzung: Bogaz'in iki Yaka-si, Istanbul 2000). 23 Zur Schi'a im Irak vgl. Y. Nakash, The Shi'is oflraq, Prince-ton/NJ. 1994. 24 Zum schi'itischen Islam vgl. die umfassende Einführung von Moojan Momen, An Introduction to Shi'i Islam, New Haven 1985. 25 Zu der Entstehung und Entwicklung der vier sunnitischen Rechtsschulen und der postkoranischen Lehre von der islamischen Schari'a vgl. die grundlegenden Arbeiten von Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Eaw, Oxford 1964, und N.J. Coulson, A History of Islamic Eaw, Edinburgh 1964. 26 Zu den Sekten des Islam vgl. Fuad Khuri, Imams and Emirs. State, Religion and Sects in Islam, London 1990. 27 Hierzu die Schrift des Islamisten Yusuf al-Qaradawi, al-484-
Ha-lal wa al-haram fi al-lslam (Das Verbotene und das Erlaubte im Islam), 20. Aufl., Kairo 1991. 28 Hierzu al-Halladj, Märtyrer der Gottesliebe, übers, und hg. von Annemarie Schimmel, Köln 1968, S. 25-29. 29 So Ibn al-Arabi nach William Stoddart, Sufism. The Mystical Doctrines and Methods of Islam, Wellingsborough 1976, S. 51; vgl. ferner William Chittick, Imaginal Worlds. Ibn al-Arabi and the Problem of Religious Diversity, Al-bany/New York 1994. 30 Ausführlich hierüber im Sudan-Kap, in: Bassam Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1994 (2. Aufl.), S. 191ff. Turabi wurde abgesetzt. 31 Abdullatif Husni, al-lslam wa al-alaqat al-duwaliyya (Islam und internationale Beziehungen), Casablanca 1991, S. 19ff., 57ff. 32 Nadjib al-Armanazi, al-Schar' al-duwali fi al-lslam (Das Völkerrecht des Islam), Damaskus 1930, Neudruck: London 1990, S. 223 ff. 33 Adel Theodor Khoury, Toleranz im Islam, München 1980, S. 138 ff. Vgl. auch meinen Beitrag in dem von der AlfredHerrhausen-Gesellschaft herausgegebenen Band: Das Ende der Toleranz? Identität und Pluralismus in der modernen Gesellschaft., München 2002, S. 133-140, in dem ich zeige, dass die klassische islamische Toleranz heute eher Diskriminierung ist und im Widerspruch zu den Menschenrechten steht. 34 Bassam Tibi, Krise des modernen Islam (wie Anm. 17). 35 Vgl. hierzu Bassam Tibi, Islamischer fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/M. 1992 (Neudruck 2002), darin bes. die Einleitung, S. 12-27. 36 al-Turath (das soziokulturelle Erbe) ist eines der großen Themen in der gegenwärtigen arabo-islamischen Debatte; vgl. stellvertretend die einflussreichen Arbeiten von Hasan -485-
Hanafi, al-Turath wa al-tadjdid (Das kulturelle Erbe und die Erneuerung), Beirut 1981, sowie die Dokumentation des großen Kongresses des Center for Arab Unity Studies (Hg.), al-Turath wa tahidiyat al-asr (Das kulturelle Erbe und die Herausforderung unseres Zeitalters), Beirut 1985 (872 Seiten). 37 Bassam Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik, München 1992 und 1993, völlig neu geschrieben und um zwei neue Kap. zum 11. September erweitert, München 2002. 38 Christine Lienemann-Perrin, »Anmerkungen zum Verständnis der Menschenrechte im Islam«, in: CIBEDO Beiträge zum Gespräch zwischen Christen und Muslimen, H. 5/6, 1991, S. 162-178. 39 Vgl. den Bericht zu der Dresdner Rede von Jörg Marschner, »Dialog und Abwehr. Toleranz dem Islam, wehrhafte Demokratie dem Islamismus: Das fordert Bassam Tibi nicht erst seit dem 11. September, gerade auch für Deutschland«, in: Sächsische Zeitung vom 4. Februar 2002, S. 3. 40 Bassam Tibi, »Selig sind die Belogenen. Der christlichislamische Dialog beruht auf Täuschungen«, in: Die Zeit vom 29. Mai 2002; und ders., »Das verlogene Spiel mit der Opferrolle«, in: Die Welt vom 17. August 2002, Feuilleton, S. 23. Kapitel 2 Die Idee der individuellen Menschenrechte, ihre europäische Herkunft und die Verhinderung ihrer universellen Geltung durch die Neubelebung von Kollektiven 1 Vgl. die Beiträge in: Samantha Power/Graham Allison (Hg.), Realizing Human Rights. Moving from Inspiration to Impact, New York 2000. -486-
2 Bassam Tibi, Die neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Fundamentalismus, Berlin 1999 (3. Aufl. der Neuausgabe mit Vorwort zum 11. September, Mai 2002; Original: The Challenge of Fundamentalism. Political Islam and the New World Disorder, Berkeley und Los Angeles 1998). 3 Hierzu Bassam Tibi, Europa ohne Identität. Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, München 1998 (Neuausgabe 2002), bes. das neue Vorwort zur deutschen Leitkulturdebatte. 4 Myron Weiner, The Global Migration Crisis. Challenge to States and to Human Rights, New York 1995, hier bes. S. 131149. 5 Zur Zivilgesellschaft vgl. Adam Seligman, The Idea of Civil Society, New York 1992, und neueren Datums: John Ehrenberg, Civil Society. The Critical History of an Idea, New York 1999. 6 Zu der Bestimmung der Menschenrechte: Alan Gewirth, Human Rights. Essays in Justification and Applications, Chicago 1982; und zu den Grundfragen einschließlich der Universalisierung der Menschenrechte: Jack Donnelly, Universal Human Rights in Theory and Practice, Ithaca 1989. In deutscher Sprache informiert umfassend Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, Bonn 1987. 7 Bassam Tibi, »The Interplay between Social and Cultural Change. The Case of Germany and the Middle East«, in: George Atiyeh/I. Oweiss (Hg.), Arab Civilization. Challen-ges and Responses, Albany/N.Y. 1988, S. 166-182. 8 Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985. Vgl. auch Anm. l zur Einleitung. 9 Zu diesem Thema unübertreffbar bleibt Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1975 (Neuaufl.). 10 Das Standardwerk hierzu ist Franz Borkenau, Der -487-
Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild, Darmstadt 1980 (Neudruck). Ich stimme mit Borkenau nicht überein, der eine solche mechanische Verbindung zwischen Ökonomie und Kultur in seiner sonst kenntnisreichen Studie unterstellt. 11 Hierüber Bloch (wie Anm. 9), zur Stoa S. 23 ff., zum römischen Recht S. 29 ff. 12 Vgl. Michael J. Lacey/Knud Haakonssen (Hg.), Culture of Rights: The Bill of Rights in Philosophy, Politics, and Law, 1791-1991, Cambridge 1992. 13 Vgl. Marcel Gauchet, Die Erklärung der Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789, Reinbek b. Hamburg 1991. Zum Kontext der Französischen Revolution vgl. Albert Soboul, Die große Französische Revolution, 4. Aufl., Darmstadt 1983, S. 121 ff. Vgl. auch Roger Chartier, The Cultural Origins of the French Revolution, Durham und London 1991. 14 Karl A. Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Köln 1962. 15 Vgl. den heute verdrängten Klassiker von Khalid Mohammed Khalid, Muwatinun la ra'aya (Bürger, nicht Untertanen), Kairo 1960. 16 Mohammed Abid al-Djabiri/Hasan Hanafi, Hiwar al-mashriq wa al-maghrib (Dialog zwischen dem arabischen Osten und dem arabischen Westen), Casablanca 1990, S. 96 f. 17 Vgl. Siegfried Kohlhammer, Die Feinde und die Freunde des Islam, Göttingen 1996. Darin bes. das Kap. l »Feindbild Islam?«. 18 Bassam Tibi, »Selig sind die Belogenen«, in: Die Zeit vom 29. Mai 2002, S. 9. 19 Richard Pierre Claude/Burns H. Weston (Hg.), Human Rights in the World Community, Philadelphia 1989, S. 12ff. 20 Eine deutsche Übersetzung der Universellen Deklaration -488-
der Menschenrechte sowie der beiden Menschenrechtspakte von 1966 sind in dem Anhang zu Kühnhardt (wie Anm. 6), S. 305ff., enthalten. 21 Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995 (erweiterte Neuausgabe München 1998, 3. Aufl. 2001), hier bes. das Kap. über Menschenrechte, S. 127-161. 22 Namo Aziz, Kurdistan, Nürnberg 1992, S. 302. 23 Hierzu ausführlich A. H. Robertson/J. G. Merrills, Human Rights in the World, Manchester 1989 (revidierte Aufl.), S. 89 ff. 24 Vgl. das Kap. 5 über den serbischen Ethno-Fundamentalismus in: Bassam Tibi, Der religiöse Fundamentalismus, Mannheim 1995, S. 77-88. 25 Hierzu Tilman Zülch (Hg.), Ethnische Säuberungen – Völkermord für Großserbien. Eine Dokumentation, Hamburg 1993. 26 Hierzu Richard Falk, Human Rights and State Sovereignty, New York 1981. 27 Hierzu Middle East Watch, Verfasser James A. Paul (Hg.), Syria Unmasked. The Suppression of Human Rights by the Asad Regime, New Haven 1991. 28 Zu der 1503-Resolution-Prozedur der UNO vgl. Robertson / Merrills (wie Anm. 23), S. 74-78. Für einen Überblick über das auf Menschenrechte bezogene Völkerrecht vgl. den Aufsatz von Richard Bilder, in: Hurst Hannum (Hg.), Guide to International Human Rights Practice, Philadelphia 1992, S. 3-18; sowie die Einführung bei Werner Levi, Contempo-rary International Law, 2. Aufl., Boulder/Col. 1991, S. 181 ff. 29 »Nord-Süd-Ringen um Menschenrechte in Genf«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2. März 1990. 30 Tom Farrer, »The UN and Human Rights. More than a -489-
Whimper«, in: Adam Roberts/Benedict Kingsbury (Hg.), United Nations, Divided World, Oxford 1989, S. 95-138. 31 Dieter Wild, in: Der Spiegel, H. 22 vom 31. Mai 1993. 32 So z.B. Robertson/Merrills (wie Anm. 23), S. 255ff.; und Claude/Weston (wie Anm. 19), S. 16 ff. 33 Peter Worsley, Die Posaune wird erschallen. Cargo-Cult in Melanesien, Frankfurt/M. 1973. 34 Maurice Dobb, Studies in the Development of Capitalism, London 1957 (Neudruck). Dobb lehrte bis zu seinem Tod Ökonomie in Cambridge. 35 Bassam Tibi, »Wider die Unterschätzung der Weltanschauung«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2./3. März 2002, S. 88. Kapitel 3 Universalität der Menschenrechte und Partikularität der Kulturen 1 Bassam Tibi, »Multikulturell oder kulturübergreifend? Vom orthodoxen Islam zur euro-islamischen Toleranz«, in: Al-fredHerrhausen-Gesellschaft (Hg.), Das Ende der Toleranz? Identität und Pluralismus in der modernen Gesellschaft, München 2002, S. 133 ff. 2 Zur Ethnizität vgl. das grundlegende Werk von Donald L. Horowitz, Ethnic Groups in Conflict, Berkeley 1985; zur Bedeutung der Ethnizität in der Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges: Daniel P. Moynihan, Pandaemonium. Ethnicity in International Politics, New York 1993, und dazu Bassam Tibi, »Gefährliches Wir-Gefühl. Ethnizität als Quelle des Unfriedens«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. August 1993, S. 29; sowie der autoritative Reader von John Hutchinson/Anthony Smith (Hg.), Ethnicity, Oxford 1996. -490-
3 Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, Stuttgart und München 2002 (2. Aufl. 2002). 4 Die These von der Gleichzeitigkeit der strukturellen Vereinheitlichung (Globalisierung) und der kulturellen Fragmentation unserer Welt (Normen- und Werte-Dissens) ist in einer ausgearbeiteten Darstellung zu finden in Kap. 3 in: Bassam Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik, 3., völlig neu geschriebene Auflage, München 2002, S. 72-115. 5 Zum Treffen der asiatischen Staatengruppe (49) im Vorfeld der Wiener UN-Konferenz in Bangkok vom 29. März bis 2. April 1993 vgl. Ernst Levy, »Vom Optimimus ist wenig geblieben. Die Wiener Menschenrechtskonferenz«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Juni 1993. Zum Nachspiel der Konferenz bei der ASEAN-Tagung in Singapur, wo sich die ASEAN-Staaten (Indonesien, Malaysia, Philippinen, Singapur, Thailand und Brunei) trafen, vgl. Michael Richardson, »Asians, Turning Tables, Denounce European Community«, in: International Herald Tribüne vom 28. Juli 1993. 6 Mark Juergensmeyer, The New Cold War? Religious Nationalism Confronts the Secular State, Berkeley 1993. 7 Vgl. z.B. die hochtrabenden Behauptungen in Ch. Butterwegge/S. Jäger (Hg.), Rassismus in Europa, Köln 1992; und die zutreffend kritische Rezension »Gesinnungsstark« von W. Kowalsky, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Mai 1993. 8 Ich denke an fragwürdige Sammelbände wie etwa Das Feindbild Islam und Das Schwert des Experten, deren Autoren sich mehr mit ihrem moralisierenden Gesinnungsnarzissmus beschäftigen, als den Leser über den Gegenstand Islam zu informieren. Selbst die Ereignisse des 11. Septembers haben an diesem gesinnungsethischen Gebäude nicht rütteln können! -491-
Dieses Genre »Literatur« nimmt eher zu. Naipaul hat dieses Denken (vgl. Anm. 25 zu Kap. 12 dieses Buches) als »Geschwätz der Universitäten« bezeichnet. 9 Zu Ibn Khaldun vgl. Kap. 6 in: Bassam Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1996. 10 Abdullahi A. An-Na'im, Toward an Islamic Reformation. Civil Liberties, Human Rights, and International Law, Syracuse 1990, S. 187. 11 H.L.A. Hart, Der Begriff des Rechts, Frankfurt/M. 1973, bes. Kap. 9 und 10, S. 255 ff. und 293 ff. 12 Ann E. Mayer, Islam and Human Rights. Tradition and Politics, Boulder/Col. 1991 (neu 1995), S. 198. Zu Mayers Buch vgl. B. Tibi, »Universality of Human Rights and Authenticity of Non-Western Cultures«, in: Harvard Human Rights Journal, Bd. 5 (1992), S. 221-226. 13 Zum Begriff »Defensivkultur« zur Charakterisierung des modernen Islam vgl. die Einleitung in: Bassam Tibi, Krise des modernen Islam, Frankfurt/M. 1991 (2. Aufl. der erweiterten Neuausgabe), S. 11-21. 14 Terry Nardin, Law, Morality and the Relations of States, Princeton/N.Y. 1983, S. 274. 15 Hedley Bull, »The Revolt against the West«, in: Hedley Bull/ Adam Watson (Hg.), The Expansion of International Society, Oxford 1984, S. 217-228, hier S. 223. 16 Vgl. das ebenso lautende Kap. im Buch von David Forsythe, Human Rights and World Politics, Lincoln 1989 (2. revidierte Aufl.), S. 102-126. 17 Ann E. Mayer (wie Anm. 12), S. 44. 18 Adel El-Baradie, Gottes-Recht und Menschen-Recht. Grundlagenprobleme der islamischen Strafrechtslehre, BadenBaden 1983, bes. S. 91 ff. -492-
19 Ann E. Mayer (wie Anm. 12), S. 71. 20 Bassam Tibi, Europa ohne Identität. Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, München 1998 (Neuausgabe 2002). 21 Die Konfliktbereiche zwischen Schari'a und Menschenrechten werden bei An-Na'im (wie Anm. 10), S. 170ff. ausführlich angegeben. 22 Bassam Tibi, »Selig sind die Belogenen. Der christlichislamische Dialog beruht auf Täuschungen«, in: Die Zeit vom 29. Mai 2002, S. 9. 23 Michael Lacey/Knud Haakonssen (Hg.), A Culture of Rights, Cambridge 1992. 24 Samuel Huntington, The Third Wave. Democratization in the Late Twentieth Century, Norman/Oklahoma und London 1991. 25 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Frankfurt/M. 1978 (neue Ausgabe 1997). Norbert Elias' Bezugsrahmen wird zur Deutung islamischer Geschichte herangezogen in: Bassam Tibi (wie Anm. 13), S. 38ff. 26 Vgl. hierzu die in Anm. 2 angegebenen Arbeiten und Bassam Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1993 (Neudruck 2001), bes. S. 49 ff. 27 Edward Said, Orientalism, New York 1979; zur Orientalismus-Debatte: Bassam Tibi, Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001, Kap. 4; sowie ders., »Edward Said und die postmoderne Gegenaufklärung«, in: Der Standard (Wien) vom 10. November 2001, Beilage Album. 28 Sadik J. al-Azm, Dhihniyat al-tahrint (Die Mentalität des Tabus), London 1993, S. 17ff.; der in diesem Band enthaltene Essay von al-Azm über »Umkehrung des Orientalismus« wurde zuvor mehrmals auf Arabisch und Englisch veröffentlicht. 29 Ann E. Mayer (wie Anm. 12), S. 9. -493-
30 Hierzu ausführlich: Bassam Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993; die darin entwickelte These wird ausführlich in dem Besprechungsaufsatz von Gernot Wießner diskutiert, »Das Verschwörungstrauma arabischer Politik«, in: Pogrom. Zeitschrift für bedrohte Völker, Bd. 24 (1993), H. 171, S. 4-5. 31 Bassam Tibi, »Wider die Unterschätzung der Weltanschauung«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2./3. März 2002, S. 88. 32 E4Z-Fragebogen vom 4. August 1995, Text der FAZRedaktion. Kapitel 4 Die Rushdie-Affäre und die iranisch-schi'itische KhomeiniFefu'iZ 1 Vgl. hierzu die wertvolle Dokumentation von Lisa Appignanesi/Sara Maitland (Hg.), The Rushdie File, Syracuse 1990. 2 Hierzu die beiden zentralen Reader über die Zivilisationsproblematik: John Rundell/Stephen Mennell (Hg.), Classi-cal Readings in Culture and Civilizations, London 1998; sowie Joseph Mitchell/Helen B. Mitchell (Hg.), Taking Sides. Clashing Views on Controversial Issues in Western Civilization, Gulliford/Connecticut 2002. 3 Siehe Salman Rushdie, in: Die Zeit vom 6. März 1992, S. 69f. 4 Vgl. Richard Webster, Erben des Hasses. Die RushdieAffäre und ihre Folgen, München 1992, S. 194. 5 Vgl. Sayyid Qutb, Ma'alim fi al-tariq (Wegzeichen), 13. »legale Aufl.« (laut Imprimatur, zahlreiche illegale Aufl.), Kairo 1989, S. 6f. und 201-202. 6 Vgl. Nadine Gordimers, »Ein Lehnwort aus dem -494-
Arabischen«, in: Thierry Chervel (Hg.), Redefreiheit ist das Leben. Briefe an Saltnan Rushdie, München 1992, S. 33 f. 7 Siehe M. S. al-Aschmawi, Usul al-schari'a (Die Ursprünge der Schari'a), 2. Aufl., Kairo und Beirut 1983. 8 Salman Rushdie, The Satanic Verses, London 1989. 9 Hierzu ausführlich: Bassam Tibi, »Der gefesselte Präsident (Khatami)«, in: Stern vom 28. Januar 1999, S. 46. 10 So der Nobelpreisträger Mahfuz in der Dokumentation von Appignanesi/Maitland (wie Anm. 1). 11 Vgl. R.J. Vincent, Human Rights and International Relations, Cambridge 1986, Kap. 6 und 7. 12 Vgl. Alison D. Renteln, International Human Rights. Universalism versus Relativism, London 1990. 13 Hierzu Bassam Tibi, Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft, München 1998 (Neuausg. mit neuer Einleitung und neuem Nachwort 2002). 14 Christopher Taylor, »Salman Rushdie's Insensitivity«, in: Christian Science Monitor vom 3. März 1989, wiederabgedruckt in: Appignanesi/Maitland (Hg.), The Rushdie File (wie Anm. 1), S. 145-148, hier S. 145. 15 Siehe Bassam Tibi, »Zwischen den Welten. Multikultureller Pathos reicht nicht aus«, in: Der Tagesspiegel vom 11. Mai 2002, Kultur S. 27. 16 Timothy Brennan, Salman Rushdie and the Third World, New York 1989, S. VIII. 17 Salman Rushdie, »1000 Tage im Ballon«, in: Thierry Chervel (Hg.), Redefreiheit ist das Leben. Briefe an Salman Rushdie, München 1992, S. l ff., hier S. 18 und 20. Unterstreichung von »furchtlos« im Original. 18 Zu dem wiederholten Engagement des britischmuslimischen Fundamentalisten pakistanischer Herkunft, Kalim Siddiqi, für die Durchführung der Ermordung Rushdies vgl. die -495-
umfassende Chronologie im Anhang zu Chervel (wie Anm. 17), S. 113 ff. Vgl. auch Anm. 26 und 27. 19 Bassam Tibi, »Selig sind die Belogenen«, in: Die Zeit vom 29. Mai 2002, S. 9. 20 Rushdie, »1000 Tage« (wie Anm. 17), S. 12. 21 Salman Rushdie, »Europa ohne Gott«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Februar 1997, S. 35. 22 Ebd., S. 16. 23 In Kap. 12 werde ich meine Vision eines Euro-Islam darstellen sowie dessen Entstehung und Entfaltung. Die erste Verwendung des Begriffes Euro-Islam in Deutschland findet sich in: Bassam Tibi, »Euro-Islam oder Ghetto-Islam. Muslimische Einwanderer und Integration in EG-Ländern«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Dezember 1992, S. 14. Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Bericht über ein Pariser Projekt, aus dem dann der folgende Band erschien: Robert Bistolfi/Franςois Zabbal (Hg.), Islams d'Eu-rope. Integration ou Insertion Communitaire?, Paris 1995, darin Bassam Tibi, »Les Conditions d'un Euro-Islam«, S. 230-234. Nach dem zitierten FAZ-Artikel habe ich in deutscher Sprache erstmals in der Erstauflage dieses Buches 1994, Kap. 12, das Konzept näher erläutert. Dieses Kap. wurde für diese Ausgabe völlig neu geschrieben und um die Geschichte der Rezeption des Konzepts erweitert. Im westlichen Ausland (Paris, Berkeley, Stockholm, Syndney) hat sich das Konzept etabliert. Als Stockholm 1995 Kulturhauptstadt Europas war, habe ich im historischen Haus Rid-der Huset die Global Village Lecture unter dem Titel »Kulturdialog im globalen Dorf. Der Islam und Europa, der Islam in Europa« gehalten (Deutsche Übersetzung: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. September 1997, S. 11). 1998 wurde in Berkeley ein Projekt durchgeführt, aus dem das folgende Buch hervorging: Nezar Alsayyad/Manuel Castells (Hg.), Muslim Europe or Euro-Islam. Politics, Culture and -496-
Citizenship in the Age of Globalization, Lankham und Oxford sowie Berkeley 2002, darin das Kap. von Bassam Tibi, »Muslim Migrants in Europe between Euro-Islam and Ghet-toization«, S. 31-52. Ähnliches geschah in Sydney, als aus einem Projekt folgendes Buch entstand: John Docker/Gerhard Fischer (Hg.), Multicultural Experiences and Perspec-tives, Tübingen 2001. Darin das Kap. von Bassam Tibi, »Between Communitarism and Euro-Islam«, S. 45-60. In TIME vom 24. Dezember 2001, Schwerpunkt »Islam in Europe«, steht in dem Artikel über den Euro-Islam: »Bassam Tibi... who coined the term Euro-Islam insists that the integration of Europe's Muslims depends on the adoption of a form of Islam that embraces the Western political values«, S. 49. Die weit verbreitete Darstellung dieses Konzepts in Deutschland war mein Essay, »Die Lösung heißt EuroIslam«, in: Spiegel Spezial: Rätsel Islam, 1/1998, S. 25f. 24 Vgl. Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, Stuttgart und München 2002, vgl. darin auch Kap. 7 über den Euro-Islam, S. 293-325. Obwohl alle auflagenstarken überregionalen Zeitungen dieses tabufreie Buch völlig verschwiegen, war es bereits im Juli nach dem Erscheinen im März desselben Jahres vergriffen. 25 Martin Lüdke, in: Die Zeit vom 6. März 1992, S. 70. 26 Vgl. die Beiträge in dem Band der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft (Hg.), Das Ende der Toleranz? Identität und Pluralismus in der modernen Gesellschaft, München 2002, darin mein Kap. über Euro-Islam, S. 133 ff. Eine britische Ausgabe von diesem Buch erschien unter dem Titel The End ofTolerance, London 2002, darin Tibi, S. 238-245. 27 Sadik J. al-Azm, Dhihniyyat al-tahrim (Die Mentalität des Tabus), London 1992, zu Rushdie S. 223-403. 28 Siehe Sadik J. al-Azm, Naqd al-fikr al-dini (Kritik des religiösen Denkens), Beirut 1969; und dazu den Artikel von St. Wild, »Gott und Mensch im Libanon. Die Affäre Sadik al-497-
Azm«, in: Der Islam, Bd. 48 (1972), S. 206-253. 29 Vgl. Sadik J. al-Azm, Unbehagen in der Moderne. Aufklärung im Islam, Frankfurt/M. 1993, darin bes. den Essay über Rushdie S. 9-53. 30 Ernest Geüner, Postmodernism, Reason and Religion, Loadon 1992, S. 2-71 und bes. S. 84f. 31 Ebd., S. 85. 32 Nach der Chronologie von Thierry Chervel (wie Anm. 17), S. 129. 33 Ebd., S. 14. 34 Der berüchtigte Fundamentalist mit britischem Pass Kalim Siddiqi; zitiert nach ebd., S. 123. 35 Vgl. den Bericht: »Ein ›muslimisches Parlament‹ in London. Ausrufung durch den radikalen Muslim-Führer Siddiqi«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 6. Januar 1992. 36 Vgl. Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung (wie Anm. 24), Teil II; und ders., »Europa droht eine Islamisierung«, in: Die Welt vom 28. Mai 2002, S. 6. 37 Der Spiegel vom 9. November 1992. 38 Jürgen Möllemann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Januar 1997, S. 6. 39 Thierry Chervel (wie Anm. 17), S. 7. 40 Aziz al-Azmeh, in: New Statesman and Society vom 20. Januar 1989, abgedruckt in: The Rushdie File (wie Anm. 1), S. 57-61, hier S. 58. 41 Vgl. Bassam Tibi, »Deutsche Ausländerfeindlichkeit ethnisch-religiöser Rechtsradikalismus der Ausländer. Zwei Gefahren für die Demokratie«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Bd. 44 (1993), August-Heft, S. 493-502. 42 Max Horkheimer, Kritische Theorie, Frankfurt/M. 1968, hier Bd. I, Vorwort S. XIII. -498-
Kapitel 5 Der grundlegende weltanschauliche Konflikt l Vgl. Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, München 1998 (revidierte und erweiterte Neuausgabe 2001 mit einem Vorwort zum 11. September 2001), hier Kap. 2, S. 127-152. 2 Wichtig ist hierbei, auf den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation hinzuweisen; dieser besteht darin, dass Kultur immer lokal ist, während Zivilisation kulturübergreifend ist. In Zivilisationen gruppieren sich weltanschaulich verwandte Lokalkulturen. Entsprechend lässt sich feststellen, dass es zahlreiche islamische Kulturen gibt, jedoch weltanschaulich nur eine islamische Zivilisation existiert. In unserer Gegenwart bezieht sich der weltpolitische und weltanschauliche Konflikt jeweils auf die islamische und die westliche Zivilisation, also nicht auf das Christentum. Es geht nicht um Religionen. Zur Abgrenzung von Kultur und Zivilisation vgl. Bassam Tibi, »The Interplay between Social and Cultural Change: The Case of Germany and the Middle East«, in: G.N. Atiyeh/I.M. Oweiss (Hg.), Arab Civilization. Challen-ges and Responses, Albany/N.Y. 1988, S. 166-182; sowie die Einleitung zu der in Anm. l zitierten Arbeit über den Krieg der Zivilisationen, hier S. 3-64. 3 Anthony Giddens, Jenseits von Links und Rechts, Frankfurt/M. 1997 (Original, Englisch 1994). 4 Bassam Tibi, Die Krise des modernen Islam, (München 1981, Neuausgabe Frankfurt/M. 1991, Neudruck 2001). 5 Samuel P. Huntington, »Clash of Civilizations«, in: Foreign Affairs, Jahrgang 1993. Das Buch mit demselben Titel erschien 1996 in New York und als deutsche Übersetzung mit dem falschen Titel: Kampf der Kulturen, Wien 1996. Dagegen richtet sich das Buch von Roman Herzog (Mitautor Bassam Tibi), Preventing the Clash of Civilizations, A Peace Strategy for the -499-
Twenty-First-Century, New York 1999. 6 Richard Webster, Erben des Hasses. Die Rushdie-Affäre und ihre Folgen, München 1992. Vgl. die vorzügliche Kritik von Werner Fuld, »Die Wahrheit in Stücken«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. November 1992. Ähnlich selbstgerechte Autoren im deutschsprachigen Raum sind Ch. Butterwegge/S. Jäger (Hg.), Rassismus in Europa, Köln 1992, dazu kritisch W. Kowalsky, »Gesinnungsstark«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Mai 1993. 7 Zum europäischen Ursprung und zur Geschichte des Rassebegriffs vgl. Ivan Hannaford, Race. The History of an Idea in the West, Baltimore 1996. 8 Zitiert nach Rifaat Sayyid Ahmad, Ayat Schaytaniyya. Dfadaliyat al-sira' bain al-Islam wa al-gharb, (›Satanische Ver-se‹. Die Dialektik des Konflikts zwischen Islam und dem Westen), 2. Aufl., Kairo 1989, S. 105. 9 Hierzu Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (neu als Taschenbuch mit einem Vorwort zum 11. September 2002). 10 Zu Islam und Liberalismus in Bezug auf Menschenrechte vgl. Katerina Dalacoura, Islam, Liberalism and Human Rights, London 1998. 11 Mohamed Arkoun, »La conception occidentale des droits de l'homme renforce le malentendu avec l'Islam«, in: Le Monde vom 15. März 1989. 12 Zum Islam und zu Migranten in Frankreich vgl. Alec G. Hargreaves, Immigration, Race and Ethnicity in Contem-porary France, London 1995, bes. S. 118 ff. 13 Alain Finkielkraut, Die Niederlage des Denkens, Reinbek b. Hamburg 1989; und dazu: Sven Papcke, »Wider den Fundamentalismus. Zu Alain Finkielkrauts These von der ›Niederla-ge des Denkens««, in: Die Zeit vom 13. Oktober 1989, S. 32. -500-
14 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985. Zu der Problematik Islam/Moderne ausführlich: Bassam Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne "Wissenschaft und Technologie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1993 (Neudruck 2001). 15 Einzelheiten hierüber bei Bassam Tibi, »Politische Ideen in der Dritten Welt während der Dekolonisation«, in: I. Fetscher/H. Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 5, München 1987, S. 361-402. 16 Michael Akehurst, A Modern Introduction to International Law, London 1987 (6. Aufl.), S. 19-22. 17 Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York 1977, S. 53 ff. 18 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, Frankfurt/M. 1974 (Neudruck), S. 33. 19 Hierzu Bassam Tibi (wie Anm. 9), darin zur islamischen Expansion Kap. l, zur westlichen Expansion Kap. 4. Ferner Hedley Bull/Adam Watson (Hg.), The Expansion of International Society, Oxford 1984; und Adam Watson, The Evolution of International Society, London 1992. 20 Adda B. Bozeman, The Future of Law in a Multicultural World, Princeton/N.J. 1971; und dazu die Gegenposition von Werner Levi, »International Law in a Multicultural World«, in: International Studies Quarterly, Bd. 18 (1974), H. 4, S. 417449. 21 Hier das Kap. 3 über Zivilisationen in: Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden, Darmstadt 2002 (3. erweiterte Aufl.), sowie die Beiträge in Martin Marty/Scott Appleby (Hg.), Fundamentalisms Observed, Chicago 1991; und dazu die Rezension von Bassam Tibi, »Moderner Totalitarismus in altem Gewand«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Oktober 1992, S. 10. 22 Hierüber meisterhaft William M. Watt, Muslim-Christian -501-
Encounters. Perceptions and Misperceptions, London 1991; vgl. auch Benjamin Z. Kedar, Crusade and Mission. Euro-pean Approaches Towards the Muslims, Princeton 1984, sowie meine in Anmerkung 9 zitierte Arbeit, Kap. 2 und 3. 23 Zu diesem Krieg im Einzelnen: Bassam Tibi, Conflict and War in the Middle East, New York 1997 (2. erweiterte Ausgabe mit dem neuen Untertitel: »From Interstate War to New Security«), Teil II. 24 Der islamistische Ägypter Yusuf al-Qaradawi hat in seiner Trilogie Hatimiyat al-hall al-Islami (Die Notwendigkeit der islamischen Lösung), Bd. l, Beirut 1971, und Bd. 2, Beirut 1974 (seitdem mehrmals in vielen islamischen Städten neu verlegt), sowie Bd. 3, Kairo 1988, das bisher einflussreichste und am weitesten verbreitete Votum einer »islamischen Alternative« des arabisch-sunnitischen islamischen Fundamentalismus formuliert. Er ist durch »Hausübersetzungen« in der deutschen Moscheevereinskultur sehr gut bekannt. 25 Vgl. beispielhaft Anwar al-Djundi, Ahdaf al-taghrib fi al'alam al-Jslami (Die Ziele der Verwestlichung in der islamischen Welt), Kairo 1987. 26 Vgl. hierzu das Werk von Richard P. Mitchell, The Society ofthe Muslim Brothers, London 1969 (es gibt eine Neuausgabe). 27 Vgl. Risalat al-Djihad in den gesammelten Schriften von Hasan al-Banna, Madjmu'at rasail al-lmam al-schahid, Kairo 1990, S. 271-292. Zur Einordnung vgl. Bassam Tibi, »Islamism, National and International Security after September 11«, in: G. Baechler/A. Wenger (Hg.), Conflict and Cooperation, Festschrift Kurt Spillmann, Zürich 2002, S. 127-152. 28 Aus den vielen, oft nur Wiederholungen enthaltenden Pamphleten beider Vordenker des Islamismus führe ich stellvertretend an: Sayyid Qutb, al-Islam wa musckilat alhadarah (Der Islam und die Probleme der Zivilisation), 8. »legale Aufl.«, Kairo 1988; sowie Qutb, Ma'alim fi al-tariq -502-
(Wegzeichen); und Abul A'la al-Maududi, Bain yadi al-schabab (In die Hände der Jugend gelegt), saudische Ausgabe Djidda 1987. 29 Hierüber im Einzelnen: Bassam Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993 (DTV-Ausgabe 1994); zu dem Andauern der Kreuzzüge gegen den Islam bis hin zum Golfkrieg, Teil VI, S. 273 ff. Vgl. auch Anm. 9 mit Hinweis auf mein Buch über Kreuzzug und Djihad, Kap. 2. 30 So beispielsweise Ali Djarischa/Mohammed Zaibaq, Asalib al-ghazu al-ßkri U al-'alam al-Islami (Die Methoden der intellektuellen Invasion der Islamischen Welt), 2. Aufl., Medi-na und Kairo 1978, S. 16ff., 25ff., 58ff. 31 Siehe hierzu Ziauddin Sardar, Islamic Futures. The Shape of Ideas to Come, London 1985, S. 85 ff. Dieser Islamist betreibt in Großbritannien heute »postcolonial studies«, in denen das »Feinbild Westen« unter postmodernem Euphemismus fortgeführt wird. Die Welt veröffentlichte ihn mehrmals irrtümlich als »kritischen Muslim« nach dem 11. September (Beilage). 32 Sayid M. N. al-Attas, Islam, Secularism and the Philosophy ofthe Future, London 1985, S. 127ff., hier S. 138. 33 Hierüber im Einzelnen die ersten beiden Kap. in: Bassam Tibi, Islamischer Fundamentalismus (wie Anm. 14); S. 28 ff., 49 ff. 34 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1967, S. 15 ff. 35 Murad Hoffmann, Der Islam als Alternative, München 1992. 36 Vgl. Akbar Ahmed, Postmodernism and Islam, London 1992. 37 Richard Falk, »Religion and Politics: Verging on the Postmodern«, in: Alternatives, Bd. 13 (1988), H. 3, S. 379-394, -503-
hier S. 391. 38 Rifa'a R. al-Tahtawi, Ein Muslim entdeckt Europa, München 1989, S. 223. Vgl. auch das Kap. über Tahtawi in: Bassam Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1996 (2. Aufl. 1997, SP-Ausgabe 1998 und 2001), Kap. 7. 39 Erich Gysling, »Die vielen Sünden der ›Satanischen Verse‹«, in: Bücherpick, 2/1989, S. 24-28, hier S. 28. 40 Max Horkheimer, Kritische Theorie, 2 Bde., Frankfurt/M. 1968, S. XIII. 41 Zu den Wahhabiten vgl. Bassam Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat, Frankfurt/M. 1991 (Neuausgabe, zuerst 1987, Neudruck 2001), S. 74ff. 42 Montgomery Watt, Islamic Fundamentalism and Modernity, London 1988, S. 111. 43 Belege bei Bassam Tibi (wie Anm. 14), S. 94ff. 44 Mohammed al-Ghazali, Huquq al-insan bain ta'alim al-lslam wa i'lan; al-umam al-muttahidah (Menschenrechte zwischen den Lehren des Islam und der UNO-Deklaration), 3. Aufl., Kairo 1984, S. 7 und 9. 45 Vgl. Huquq al-insan (Bulletin der Arabischen Organisation für Menschenrechte), H. 23/1989, und auch die Jahresberichte: Huquq al-insan fi al-watan al-'arabi 1988 und 1989; vgl. auch die Berichte von 1991 und 1992. Über diese Organisation, zu deren Gründungsmitgliedern ich gehöre, vgl. meinen Bericht in: Orient, Bd. 25 (1984), H. 4, S. 473-483. 46 Rifaat Sayid Ahmad (wie Anm. 8), S. 19. Zu diesem Verschwörungsdenken vgl. Bassam Tibi (wie Anm. 29), darin zu den Kreuzzügen bes. Teil 4, S. 273 ff. 47 Ernest Gellner, Postmodernism, Reason and Religion, London 1993, bes. S. 85. 48 Hierzu Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, -504-
Oxford 1964 (neu 1979). 49 F. S.C. Northrop, The Taming of Nations. A Study of Cultural Bases of International Policy, Woodbridge/Con. 1980 (Neudruck, zuerst 1952). 50 Bassam Tibi, in: Herzog u.a., Preventing the Clash of Civilizations. A Peace Strategy for Twenty-First-Century, New York 1999, S. 107-126. Kapitel 6 Andere Kulturen, andere Sitten? 1 Bassam Tibi, Kreuzzug und Djiahd. Der Islam und die christliche Welt, München 1999, Kap. l und 4. 2 Bassam Tibi, Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, Neuausgabe München 2002 (zuerst 1998), Teil 3. 3 Zur Kritik dieses Geistes vgl. Ernest Gellner, Postmodernism, Reason and Religion, London 1992, sowie den Beitrag von Gellner in dem Band der Erasmus Foundation (Hg.), The Limits of Pluralism, Neo-Absolutisms and Rela-tivism, Amsterdam 1994, und die Debatte mit Gellner (darin auch den Beitrag von Bassam Tibi zum politischen Islam S. 29-36). 4 David B. Ralston, Importing the European Army, Chicago 1990. 5 Zur Toleranzproblematik vgl. Alfred-Herrhausen-Gesellschaft (Hg.), Das Ende der Toleranz? Identität und Pluralismus in der modernen Gesellschaft, München 2002 (darin Bassam Tibi zum Euro-Islam, S. 133-140); sowie das Toleranz-Kap, in: Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, Stuttgart und München 2002, S. 224-257. Vgl. ferner die Beiträge in dem Sammelband von Michael Kessler (Hg.), Konfliktherd Toleranz?, Tübingen 2002 (darin Bassam Tibi, S. 173-192). -505-
6 Vgl. Teil III über Minoritäten und Kollektivrechte in dem Band von Jappke/Lukes (Hg.), Multi-Cultural Questions, Oxford 1999, S. 133 ff. 7 Nach dem Bericht von Tom Heitkoff, in: Der Tagesspiegel vom 30. Juni 2002, Sonntagsausgabe/Kultur, S. 25, soll Habermas argumentiert haben, dass jede Gruppe ihre Wahrheit habe und dass »fremde Wahrheit für den Anderen immer eine Zumutung bedeutet«. Gleich wie diese Wahrheit ist, verlangt Habermas von uns Toleranz gegenüber »fremden Wahrheiten« auszuüben, also auch dann - laut Tagesspiegel -, wenn »den Mufti die Lust überkommt« zu islamisieren. Der Berichterstatter paraphrasiert Habermas: »Aber gerade die Zumutung mache Toleranz umso nötiger«. Mein akademischer Lehrer Habermas weiß wenig über den Islam und bleibt - laut Tagesspiegel - bei seinen Ausführungen »leider ganz auf dem Feld der Theorie«. Aus diesem Dilemma befreit ihn auch seine Zusicherung nicht, dass Toleranz nicht »uneingeschränkt« sei, ebensowenig die Unterstellung, dass eine Religion sich »die normativen Grundlagen des liberalen Staates unter eigenen Prämissen aneignet«. Habermas sei gesagt: Der »orthodoxe Mufti« ist ein religiöser Absolutist und bringt die geforderte Vorleistung nicht. Ich empfinde, dass Habermas sich mit dieser Berliner Leibnitztag-Toleranzrede von seinem Buch Der philosophische Diskurs der Moderne (vgl. Anm. 8) weit entfernt hat; vgl. oben Anm. l zur Einleitung. 8 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985. 9 Bassam Tibi, »Europa droht eine Islamisierung«, in: Die Welt vom 28. Mai 2002; und ders., »Selig sind die Belogenen«, in: Die Zeit vom 29. Mai 2002, S. 9. 10 Bassam Tibi, Vorwort zu: Botond, Bibliothek. Ein Rauminstallations-Projekt 1987-1993, Galerie Schreiter, Nürnberg 1993. -506-
11 Zu den islamischen Rationalisten: Herbert Davidson, Alfarabi, Avicenna, Averroès on Intellect. Their Cosmologies, Theories of Active Intellect and Theories ofthe Human Intellect, New York 1992; zu Ibn al-Arabi: William Chittick, Imaginal Words. Ibn al-Arabi: Albany/N.Y. 1994. 12 Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, Frankfurt/M. 1963, S. 45. 13 Zur Verbrennung von Menschen in der Türkei vgl. den Bericht »Stadt der toten Dichter«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Juni 1993. 14 Mikas Murany, in: G. Schult (Hg.), Islamische Herausforderung an West und Ost, Altenbergen 1981, S. 68-98, bes. S. 73 und 75. 15 Richard Webster, Erben des Hasses. Die Rushdie-Affäre und ihre Folgen, München 1992. 16 Ebd., S. 12. 17 Ebd., S. 42. 18 Zu Djihad und Djihadismus vgl. meinen Essay in: Jahrbuch für Extremismus und Demokratie, Baden-Baden 2002 (vgl. auch Anm. 27 zu Kap. 5). 19 Webster (wie Anm. 15), S. 12. 20 Kaum Siddiqi, zitiert nach »Muslimisches Parlament in London«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 6. Januar 1992. 21 Kalim Siddiqi, zitiert nach Thierry Chervel (Hg.), Redefreiheit ist das Leben. Briefe an Salman Rushdie, München 1992, S. 125. 22 Ebd. 23 Webster (wie Anm.15). 24 Vgl. Ivan Hannaford, Race. The History of an Idea in the West, Baltimore 1996. 25 Webster (wie Anm. 15), S. 86. -507-
26 Die fünf Bände des »Fundamentalism Project«, hrsg. von Martin Marty/Scott Appleby, zwischen 1991 und 1995 bei der Chicago University Press erschienen, sind das Standardwerk über diesen Gegenstand. Die Ergebnisse sind zusam-mengefasst in: Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, 3. erweiterte Aufl., Darmstadt 2002, S. 14-30. 27 Webster (wie Anm. 15), S. 71. 28 Vgl. Werner Becker, »Toleranz. Grundwert der Demokratie«, in: Ethik der Sozialwissenschaften, H. 4/1997. 29 Siehe hierzu Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, Stuttgart und München 2002 (2. Aufl. mit Nachwort 2002). 30 Werner Fuld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. November 1992. 31 Webster (wie Anm. 15), S. 86. 32 Hierzu Bassam Tibi, Die Neue Weltunordnung. Westliche Dominanz und islamischer Fundamentalismus, Berlin 1999 (Neuausgabe 2001 mit Vorwort zum 11. September). 33 Hierzu Bassam Tibi, »Die deutsche verordnete Fremdenliebe«, in: Alice Schwarzer (Hg.), Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz, Köln 2002, S. 105-120. 34 Vgl., wenngleich mit einem anderen Impetus, Siegfried Kohlhammer, Die Feinde und die Freunde des Islam, Göttingen 1996. 35 Vgl. das Kap. über Menschenrechte, in: Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995, erweiterte Neuausgabe München 1998 (3. Aufl. 2001), S. 127-161. 36 Kim Fletcher, »The Disturbing Mood among Britain's Muslims«, in: The Sunday Telegraph vom 6. August 1989. ” Zum Tschador-Krieg vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 26. Oktober 1989; und Gilles Kepel, Allah im Westen, -508-
München 1996, S. 251 ff. 38 Hierzu Bassam Tibi, Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, München 2000 (Neuaufl. 2001). 39 Zur halben Moderne vgl. die Einleitung von Bassam Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1993 (Neudruck 2001), S. 12-27. 40 Aus islamistischer Sicht: Mohammed A. al-Samman, Mihuat al-aqaliyyat al-Muslima fi al-alam (Die Leiden der muslimischen Minderheit in der Welt), Kairo 1987, bes. S. 173 ff. 41 Fred Halliday, »The Struggle for the Migrant Soul. Islam in Western Europe«, in: Times Literary Supplement, April 1989,5.387-388. 42 Hierzu Clifford Geertz, The Interpretation of Culture, deutsch: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M. 1983, S. 44-95. 43 I.C. Jarvie, Rationality and Relativism, London 1984, S. 90f. 44 Hierzu R. J. Vincent, Human Rights and International Relations, Cambridge 1986, Kap. 3; in Bezug auf Afrika: Rhoda Howard, Human Rights in Commonwealth Africa, Totowa 1986, S. 16-36. 45 W. Lepenies in dem Band von E. Mendelsohn (Hg.), Sciences and Cultures, Boston 1981, hier S. 245-261. 46 Samuel P. Huntington, Clash of Civilizations, New York 1996 (deutsch mit dem falschen Titel: Kampf der Kulturen, Wien 1996). 47 Siehe Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung (wie Anm. 29), bes. die Einleitung zum 11. September. 48 L. Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte, Bonn 1987,5.154. -509-
49 Vgl. die Berichte in der Neuen Zürcher Zeitung vom 2. März 1990 und 16. März 1990. 50 Siehe hierzu den Bericht von Bassam Tibi, »Entwicklung statt Menschenrechte?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Juni 1993. 51 Vgl. Bassam Tibi, »Der Schatten Allahs. Die islamischen Menschenrechte«, in: Profil (Wien) vom 7. Juni 1993, S. 75 f. In der Vorrede zu dem vorliegenden Buch bedanke ich mich bei der Profil für die Akkreditierung zur UN-Konferenz in Wien. Dieser Artikel steht in dem bezeichneten Zusammenhang. 52 Arthur Schlesinger, The Disuniting of America. Reflections on a Multicultural Society. Neue erweiterte Ausgabe New York 1998 (zuerst 1991); in Bezug auf den Islam: Jane Smith, Islam in America, New York 1999. 53 Thomas Hammarberg, »Vienna will be remembered for what wasn't said«, in: International Herald Tribüne vom 29. Juni 1993. 54 Charles Krauthammer, »Human Rights. Giving after the de-bate in Wien«, in: International Herald Tribüne vom 19./20. Juni 1993. 55 Ellen Goodman, »The world bares its values in Vienna«, International Herald Tribüne vom 16. Juni 1993. 56 Vgl. das Kap. »Selbst- und Fremdbilder« in meinem Buch Der Islam und Deutschland (wie Anm. 38). 57 Vgl. mein Kap. in: U. Wank (Hg.), Der neue alte Rechtsradikalismus, München 1993 (zusammen mit Otto Schily und anderen). 58 Webster (wie Anm. 15), S. 184. 59 Webster (wie Anm. 15), S. 184. 60 Bassam Tibi, »Wie Feuer und Wasser«, in: Der Spiegel, 37/1994,5. 170-172. 61 Vgl. hierzu den Bericht der Arabischen Organisation für -510-
Menschenrechte in dem Bulletin dieser Organisation al-Naschra al-ikhbariyya, (arabische) Ausgabe 66 und 67, Juli/August 1993, S. 5 f.; und William Drozdiak, »Algerian Terrorism Takes Omnious Turn. Targeting of Big-Name Personalities«, in: International Herald Tribüne vom 28. Juni 1993, sowie den bemerkenswerten Kommentar von Flora Lewis, »In Algeria and Elsewhere«, in: International Herald Tribüne vom 20. August 1993. Diese Morde bewegten die Weltöffentlichkeit nicht; es bedurfte der Ereignisse des 11. Septembers, um dies zu erreichen. 62 Hierzu Bassam Tibi, »Ein Spiel mit dem Feuer«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. August 1993 (Seite: Zeitgeschehen). 63 al-Ghazali, in: Hans Küng (Hg.), Ja zum Weltethos, München 1995,5.240-247. 64 al-Hayat vom 23. Juni 1993. 65 al-Ghazali, »La uqabath fi al-lslam li man yaqtul murtadan (Keine Strafe im Islam für die Tötung eines Apostaten)«, in: alHayat vom 23. Juni 1993. 66 Zum Euro-Islam vgl. Anm. 23 zu Kap. 4 mit Belegen zur Entstehung und Weiterentwicklung des Konzepts. 67 Zu dieser Problematik vgl. die Beiträge in: N. Keddie/L. Beck (Hg.), Women in the Muslim World, Cambridge/MA. 1978. 68 »Qatalu schaqiqtuhum ba'd idjhaduha« (»Sie töteten ihre Schwester, nachdem sie das Baby abtrieben«), in: al-Akhbar (Kairo) vom 4. Juni 1993. 69 Bassam Tibi, »Mord an Schwestern als gerechtfertigte Tötung«, in Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juli 1993. Vgl. dazu den Leserbrief vom 31. Juli auf S. 6 der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 70 Ebd. -511-
71 Bassam Tibi, »Deutsche Ausländerfeindlichkeit und ethnisch-religiöser Rechtsradikalismus der Ausländer«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Bd. 44 (1993), August-Heft, S. 493-502; sowie Anm. 57. 72 Michael Mayer, »Vom Stachel der Intoleranz«, in: Berliner Zeitung vom 1. Juli 2002, S. 20. Kapitel 7 Schari'a - was ist das? 1 Auf internationaler Ebene sind die beiden folgenden Arbeiten auf diesem Gebiet autoritativ: Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, Oxford 1964 (mehrfach neu aufgelegt); und N.J. Coulson, A History of Islamic Law, Edinburgh 1964 (3. Aufl. 1978). Nützlich ist als Einführung der Aufsatz von Ann E. Mayer, The Shari'a (wie Anm. 17). Eine zentrale arabisch-islamische Quelle zur Schari'a ist Mohammed Schaltut, al-Islam: Aqida wa schari'a, 10. Aufl. Kairo 1980. 2 Bassam Tibi, »Der Rechtsstaat schützt Islamisten«, in: Die Welt vom 12. August 2002, S. 6. 3 Tom Heithoff, »Die fremde Zumutung. Jürgen Habermas spricht in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften«, in: Tagesspiegel vom 30. Juni 2002, Kultur, S. 25; vgl. Anm. 7 zu Kap 6. 4 Hierzu Shireen Hunter, OPEC and the Third World. The Politics of Aid, Blomington 1984, Kap. Saudi-Arabien, S. 123144; und Bassam Tibi, »Afro-Arabische Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung der Erdöl-Dimension«, in: Afrika Spektrum, Bd. 21 (1986), H. 3, S. 315-336. 5 Nach Newsweek vom 22. Juli 2002, S. 23. 6 Ch. Dickey und Rod Nordland, »The Fire that Won't die out«, in: Newsweek vom 22. Juli 2002, S. 20-33 (hier S. 20). 7 Dies tut Daniel Pipes, In the Path of God. Islam and Politi-512-
cal Power, New York 1983, Kap. 10. 8 Gilles Kepel, Allah im Westen. Die Demokratie und die islamische Herausforderung, München 1996, S. 195. 9 Nezar Alsayyad/Manuel Castells (Hg.), Muslim Europe or Euro-Islam, Berkeley und New York 2002 (siehe darin das Kap. von Bassam Tibi über Euro-Islam, S. 31-52). 10 Siehe hierzu Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995 (erweiterte Neuausgabe München 1998, Neuausgabe nach dem 11. September München 2001), hier Kap. 2. 11 Vgl. Hedley Bull und Adam Watson (Hg.), The Expansion of International Society, Oxford 1984, darin bes. Kap. 8 von Bull und Kap. 24 von Brownlie. 12 Hedley Bull, »The Revolt Against the West«, in: Bull/Watson, The Expansion (wie Anm. 11), S. 217-228. 13 Hierzu Kap. 2 in: Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen (wie Anm. 10). 14 Siehe H. L. A. Hart, Der Begriff des Rechts, Frankfurt/M. 1973. 15 Vgl. Bassam Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen "Wandels, Frankfurt/M. 1985 (Neuausgabe 1991). US-Version: Islam and the Cultural Accomodation of Social Change, Boulder/Col. 1990. 16 Bassam Tibi, Das arabische Staatensystem, Mannheim 1996, Kap. Saudi-Arabien, S. 83-100. 17 Ann E. Mayer, »The Shari'a: A Methodology or a Body of Substantive Rules?«, in: Nicholas Heer (Hg.), Islamic Law and Jurisprudence, Festschrift für Farhat Ziadeh, Seattle und London 1990, S. 177ff., hier S. 181. 18 George Makdisi, »Ethics in Islamic Traditionalist Doctrine«, in: Richard G. Hovannisian (Hg.), Ethics in Islam, -513-
Malibu/Cal. 1985, S. 47-63. 19 Abdullahi A. An-Na'im, Toward an Islamic Reformation, Syracuse 1990, sowie Bassam Tibi, »Islamic Law/Schari'a, Human Rights, Universal Morality and International Relations«, in: Human Rights Quarterly, Bd. 16 (1994), S. 277-299. 20 Hierzu kritisch Mohammed Said al-Aschmawi, al-Islam al-siyasi (Der politische Islam), 2. Aufl. Kairo 1989. Vgl. auch sein Buch über die islamische Schari'a: Usul al-schari'a (Grundlagen der Schari'a), 2. Aufl. Kairo und Beirut 1983. 21 Vgl. A.B. Brohi, »Religion et loi«, in: M.S. Abdullah u.a., La foi dans la culture, le droit et la politique, Mainz 1993, S. 38 ff. 22 Vgl. das Kap. über arabische Sprache in: Bassam Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels (wie Anm. 15), S. 99-130. 23 Hierüber das autoritative Werk von George Makdisi, The Rise of Colleges. Institutions and Learning in Islam and the West, Edinburgh 1981; vgl. auch das Kap. über die islamische Institution des Lernens in: Bassam Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels (wie Anm. 15), S. 131-151. 24 Hierzu im Hochislam: Bassam Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1998, Kap. 3. 25 Siehe Mohammed S. al-Aschmawi, al-Schari'a allslamiyya wa al-qanun al-misri (Die islamische Schari'a und das ägyptische Recht), Kairo 1996. 26 Kalim Siddiqi zitiert nach: Thierry Chervel (Hg.), Redefreiheit ist das Leben. Briefe an Salman Rushdie, München 1992, S. 123. 27 Hierzu ausführlich Nadjib al-Armanazi, al-Schar' al-duwali fi al-lslam (Das Völkerrecht des Islam), Neudruck: London -514-
1990 (zuerst Damaskus 1930), S. 83ff. 28 Siehe hierzu Bassam Tibi, »War and Peace in Islam«, in: Terry Nardin (Hg.), The Ethics of War and Peace, Princeton/N.J. 1998 (2. Aufl., zuerst 1996), S. 128-145. 29 Vgl. Yusuf al-Qaradawi, al-Halal wa-al-haram fi al-lslam (Das Verbotene und das Erlaubte im Islam), 20. Aufl. Kairo 1991. 30 Hierzu siehe Michael Akehurst, A Modern Introduction to International Law, 6. Neuausgabe London 1987; und Werner Levi, Contemporary International Law, Boulder/Col. 1991. 31 Mark Juergensmeyer, The New Cold War. Religious Nationalism Confronts the Secular State, Berkeley 1993. 32 Hierzu Gordon Graham, Ethics and International Relations, Oxford 1997; und die ältere, jedoch sehr lesenswerte Studie von Terry Nardin, Law Morality and the Relation of States, Princeton/NJ. 1983; sowie Mervyn Frost, Ethics in International Relations. A constitutive Theory, Cam-bridge/UK 1996. 33 Bassam Tibi, »International Morality and Cross-Cultural Bridging«, in: Roman Herzog u.a., Preventing the Clash of Civilizations. A Peace Strategy for the Twenty-First-Cen-tury, New York 1999, S. 107-126, die deutsche Übersetzung mit dem falschen Titel: Wider den Kampf der Kulturen, Frankfurt/M. 2000. 34 Vgl. die veröffentlichten Papers des Oslo-Symposiums über die Reformideen An-Na'ims, hg. von Tore Lindholm und Kari Vogt, hlantic Law Reform and Human Rights. Cballenges and Rejoinders, Nordic Human Rights Publica-tions, Kopenhagen und Oslo 1993. Darin unter anderem auch Bassam Tibi, »Islamic Shari'a and Human Rights«, S. 75-96 (der Band enthält auch Kap. von Arkoun, An-Na'im, Ann E. Mayer u.a.). 35 Maxime Rodinson, Mohammed, Luzern und Frankfurt/M. -515-
1975, S. 27. 36 Bassam Tibi, Die Krise des modernen Islam, (zuerst München 1981), 2. Aufl. der erweiterten Suhrkamp-Neuausgabe, Frankfurt/M. 1991, Neudruck 2000, hier S. 82 ff. 37 Schacht (wie Anm. 1), S. 1. 38 Den Begriff »Könnens-Bewusstsein« übernehme ich von Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1983, S. 435 ff. Die systematische Anwendung dieses Begriffes beim Studium der fundamentalistischen Weltsicht erfolgt in: Bassam Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, Frankfurt/M. 1992 (2. Aufl. 1993 und neu 2001). Vgl. dort Sachregister: Könnensbewusstsein. 39 Hierzu Bassam Tibi, Der wahre Imam (wie Anm. 24), S. 215 ff. 40 Zur Entwestlichung des Rechts: Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, 3. erweiterte Aufl., Darmstadt 2002, Kap. 6 und 7, dort Belege. 41 Vgl. die beiden in Anm. 20 nachgewiesenen Arbeiten von al-Aschmawi. 42 Maxime Rodinson, Islam und Kapitalismus, Frankfurt/M. 1971, S. 77. Neuausgabe mit einer langen Einleitung von Bassam Tibi, Rodinson, der Islam und die westlichen IslamStudien, Frankfurt/M. 1986. 43 John Waterbury, The Commander of the Faithful, New York 1970, S. 5. 44 Hierzu Bassam Tibi, Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, München 2000 (2. Aufl. 2001), Kap. VIII. 45 So der einstige stellvertretende sunnitische Landesmufti von Libanon, Subhi al-Salih, Ma'alim al-schari'a al-lslamiyya (Wesensmerkmale der islamischen Schari'a), Beirut 1975, S. 116. Er wurde von schi'itischen Terroristen in Beirut ermordet. -516-
46 Mohammed T. Ben-Aschur, Maqasid al-schari'a allslamiyya (Die Ziele der islamischen Schari'a), Tunis 1978, S. 64. 47 W. M. Watt, Islamic Fundamentalism and Modernity, London 1988, und das Kap. von Ann E. Mayer über die Schari'a in: M. Marty/Scott Appleby (Hg.), Islamic Fundamentalism and the State, Chicago 1993, Kap. 7. 48 Roxanne L. Euben, Islamic Fundamentalism and the Limits of Modern Rationalism, Princeton/N.J. 1999. 49 Sabir Tuaima, al-Schari'a al-lslamiyya fi asr al-'ilm (Die islamische Schari'a im Zeitalter der Wissenschaft), Beirut 1979, S. 223. 50 al-Armanazi (wie Anm. 27), S. 223 ff. 51 Über ihn vgl. Abdullatif Husni, al-Islam wa al-alaqat aldu-waliyya. Namudhadj Ahmed Ben Khalid al-Nasiri (Der Islam und die internationalen Beziehungen. Das Muster des Ahmed Ben Khalid al-Nasiri), Casablanca 1991; vgl. dazu Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen (wie Anm. 10), Kap. 4, S. 217ff. 52 Vgl. Abdullahi Ahmed An-Na'im, Toward (wie Anm. 19). 53 Hierzu Bassam Tibi, Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001; und ders., Der wahre Imam (wie Anm. 24), Teil II. 54 Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, Frankfurt/M. 1963,5.45. 55 Vgl. Bassam Tibi, »Islam and Secularization«, in: Mourad Wahba (Hg.), Proceedings ofthe First International Islamic Philosophy Conference (19.-22. November 1979), Ain-Shams University Press, Kairo 1982, S. 65-79 (arabische Fassung in Beirut in der Zeitschrift Qadaya Arabiyya, Bd. 7 (1980, H. 3, S. 12-23). Bereits damals beobachteten islamische Fundamentalisten diese Aktivität und veröffentlichten in ihrem -517-
Organ al-Da'wa vom Januar 1980 hierüber den aggressivverfemenden Artikel: »Eine islamische Konferenz gegen den Islam«. 56 Vgl. die mutige Schrift von Faradj Fuda, Hiwar haul al'ilmaniyya (Eine Debatte über den Säkularismus), 2. Aufl. Marrakesch 1992 (Fuda wurde im Juni 1992 von islamischen Fundamentalisten ermordet), und dazu Abdulghaffar Aziz, Man qatala Faradj Fuda (Wer hat Faradj Fuda ermordet?), Kairo 1992. 57 Hierzu Bassam Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels (wie Anm. 15), dort Kap. 3 und 4. 58 Siehe Richard Martin u.a., Defenders of Reason in Islam. Mu'tazilism from Medieval Schaal to Modern Symbol, Oxford 1997. Heute lebt diese Schule in Indonesien (vgl. Kap. 6 bis 9 des zweiten Teiles des zitierten Buches von Martin). Indonesien ist neben der Türkei das einzige islamische Land, wo meine Bücher in Übersetzung zur Lektüre zugelassen werden (3 Buchübersetzungen in Baka-sa Indonesia). 59 Vgl. Charles C. Adams, Islam and Modernism in Egypt, London 1968 (2. Aufl., zuerst 1933); und Norman Anderson, Law Reform in the Muslim World, London 1976. 60 Dazu Leonard Binder, hlamic Liberalism, Chicago 1988, Kap. 4, S. 128 ff. 61 Theodor Viehweg, Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, 5. Aufl., München 1974. 62 Mohammed Abed al-Djabiri, Takwin al-aql al-Arabi (Die Beschaffenheit des arabischen Geistes), Beirut 1984, S. 332 ff., sowie sein neueres Buch: al-Turath wa al-hadatha (Die Tradition und die Moderne), Beirut 1991, bes. das Kap. »Weil der Rationalismus eine Notwendigkeit ist«, S. 241 ff. In englischer Sprache liegt von al-Djabiri (al-Jabri) vor: Arab-518-
Islamic Philosophy, Austin/Texas 1999. 63 Abdulhadi Abdulrahman, Sulfat al-nas (Die Herrschaft des Textes), Beirut 1993. 64 Viehweg (Anm. 61), S. 42. 65 Ali Abdelraziq, al-Islam wa usul al-hukm (Der Islam und die Regierungsformen), Neudruck Beirut 1966; zu Abdelraziq vgl. Bassam Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat, Frankfurt/M. 1987, Neuaufl. 1991, S. 159ff. 66 Zu dieser Kritik Bassam Tibi, Einladung in die islamische Geschichte (wie Anm. 53), hier Kap. 4 über die OrientalismusDebatte. 67 Malcolm Kerr, Islamic Reform, Berkeley 1966. Kerr wurde von schi'itischen Fundamentalisten in Beirut im Januar 1984 ermordet, wo er als Präsident der American University of Beirut zuletzt wirkte. 68 Muhammad Muslehuddin, The Philosophy of Islamic Law and the Orientalists, London o.J., S. 247. 69 Viehweg (wie Anm. 61), S. 40. 70 Muslehuddin (wie Anm. 68). 71 N. J. Coulson, Tensions and Conflicts in Islamic Jurisprudence, Chicago 1969, S. 2. 72 Bassam Tibi, »Selig sind die Belogenen. Der christlichislamische Dialog beruht auf Täuschungen«, in: Die Zeit vom 29. Mai 2002, S. 9. In meinem Beitrag »Kulturarbeit als Dialog zwischen den Zivilisationen« zu der Festschrift des Goethe-Instituts: Murnau, Manila, Minsk. 50 Jahre GoetheInstitut, München 2001, S. 25-38, habe ich gezeigt, wie Dialog aufgebaut sein sollte. Hinter diesen Vorstellungen stehen 22 Jahre Tätigkeit als Dialogpartner in der Goethe-Arbeit in fünf Kontinenten zwischen Sydney und San Francisco (dazwischen liegen geographisch die Länder der islamischen Zivilisation in Asien und Afrika). -519-
Kapitel 8 Der Kontrast Menschenrechten
zwischen
Schari'a
und
individuellen
1 Bassam Tibi, »Selig sind die Belogenen. Der christlichislamische Dialog beruht auf Täuschungen«, in: Die Zeit vom 29. Mai 2002, S. 9. Vgl. auch Anm. 2. 2 So M. Kaman, »Deutsch-arabische Koalition der Freiheitsverächter«, in: Die Welt vom 24. Juni 2002, S. 27 (Feuilleton). Dieser Artikel ist über eine Dialogveranstaltung des Berliner Hauses der Kulturen geschrieben; allgemein zu diesem Muster eines verlogenen Dialogs vgl. Anm. 1. 3 Nach dem Bericht »Die fremde Zumutung«, in: Der Tagesspiegel vom 30. Juni 2002, S. 25; vgl. Anm. 7 zu Kap. 6 oben. 4 Kaman (wie Anm. 2). 5 Bassam Tibi, Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, Neuausgabe München und Berlin 2002, Kap. 6 über Toleranz. 6 Joseph Mughaizil, »Islam, Christentum, arabischer Nationalismus und Säkularismus« (auf Arabisch), abgedruckt in: Center of Arab Unity Studies (Hg.), al-Qaumiyya al-'Ara-biyya wa al-Islam (Arabischer Nationalismus und Islam), 2. Aufl. Beirut 1982, S. 361-384, hierzu S. 383f. Die unten zitierte Diskussion über Mughaizil und auch das angeführte MorqusZitat sind ebenfalls in dieser Quelle dokumentiert. 7 Vgl. die Dokumentation des Ibn Khaldun Center for Civil Society, Human al-aqaliyyat fi al-watanb al-Arabi (Die Belange der Minderheiten in der arabischen Welt), Kairo 1994. 8 Mehr hierüber bei Adel Khoury, Toleranz im Islam, München 1980, S. 43 ff. zur Toleranz; S. 138 ff. zu den Dhim-520-
mis; und über die Murtaddun (d.h. islamische Apostaten) S. 110-115. 9 Abdullahi A. An-Na'im, Toward an Islamic Reformation, Syracuse 1990, S. 161 ff. und 182 ff. 10 Jerome J. Shestack, »The Jurisprudence of Human Rights«, in: Theodor Meron (Hg.), Human Rights in International Law: Legaland Policy Issues, 2. Aufl. Oxford 1985, S. 69-113, hierzu S. 75 und 77f. 11 L. Henkin, »The International Bill of Rights: The Universal Declaration and the Covenants«, in: Rudolf Bernhardt/John Anthony Jolowics (Hg.), International Enforcement of Human Rights, Berlin/New York 1987, S. 5. (Im Anhang dieser Publikation sind diese Dokumente und andere Menschenrechte abgedruckt, S. 161-265.) 12 David Hollenbach, »Human Rights and Religious Faith in the Middle East«, in: Human Rights Quarterly, Bd. 4 (1982), H. l, S. 94-109, hier S. 95. 13 R.J. Vincent, Human Rights and International Relations, Cambridge 1986, S. 39. 14 Hollenbach (wie Anm. 12), S. 109. 15 H. Yamane, »Approaches to Human Rights in Asia«, in: Bernhardt/Jolowics (wie Anm. 11), S. 99-111, hier S. 111. 16 Vgl. David Trubek, »Economic, Social and Cultural Rights in the Third World«, in: Theodor Meron (Anm. 10), S. 205-271. Vgl. auch Bassam Tibi, »Entwicklung statt Menschenrechte?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. Juni 1993, S. 14. 17 Jack Donnelly, »Human Rights äs Natural Rights«, in: Human Rights Quarterly, Bd. 4 (1982), H. 3, S. 405. 18 Siehe hierzu Adam Seligman, The Idea of Civil Society, New York 1992; sowie die neuere Arbeit von John Ehrenburg, Civil Society. The Critical History of an Idea, New York 1999. -521-
19 Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Sozio-genetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Neuausgabe, hg. von Heike Hammer, Frankfurt/M. 1997. 20 Hierzu Bassam Tibi, Krise des modernen Islam, 2. Aufl. der erweiterten Ausgabe, Frankfurt/M. 1991, (zuerst München 1981, Neudruck 2001), S. 38 ff. Die Expansion der internationalen Gesellschaft wird in den Beiträgen zu H. Bull/ A. Watson (Hg.), The Expansion of International Society, 3. Aufl., Oxford 1988 (zuerst 1984), untersucht. 21 Bassam Tibi, The Challenge of Fundamentalism. Political Islam and the New World Disorder, Berkeley 1998 (Neuausgabe Berkeley 2002), deutsche Übersetzung: Die neue Weltunordnung, Berlin 1999 (Neuausgabe 2001), hier Kap. I und V. 22 Vgl. Peter Worsley, The Third World, 2. Aufl., Chicago 1970, darin bes. das Kap. »The European Interlude«, S. 21-49. Vgl. auch das Buch von Theodore H. von Laue, The World Revolution of Westernization. The Twentieth Century in Global Perspective, New York 1987. 23 Jack Donnelly, »Human Rights and Human Dignity: An Analytic Critique of Non-Western Conceptions of Human Rights«, in: American Political Science Review, Bd. 76 (1982), H. 2, S. 303-316. 24 Vgl. Rhoda Howards Buch Human Rights in Commonwealth Africa, Totowa/N.J. 1986. 25 Francis Deng in dem von ihm mit herausgegebenen Band: Human Rights in Africa. Cross-Cultural Perspectives, Washington/D.C. 1990, Einleitung, S. 1-11 sowie Kap. 11. Vgl. auch Francis M. Deng, Africans of Two Worlds. The Dinka in Afro-Arab Sudan, Khartoum 1978. 26 Siehe hierzu beispielsweise Bassam Tibi, Europa ohne Identität? (wie Anm. 5); und ders. jüngst: Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, Stuttgart und -522-
München 2002 (zwei Auflagen), bes. Teil IV. ,1 27 Vgl. Vincent (wie Anm. 13), S. 42-44 und 48; außerdem Ann E. Mayer, Islam and Human Rights, Boulder/Col. 1991 (drei Ausgaben). Vgl. auch Katerina Dalacoura, Islam, Liberalism and Human Rights, London 1998. 28 Vgl. z.B. Michel Lacey/Knud Haakonsson (Hg.), A Culture of Rights, Cambridge 1991. 29 In meinem früheren Buch (1985), Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1991, zeige ich, dass die kulturelle Persistenz religiöser Doktrinen im Islam sowie deren Anspruch, über der Geschichte zu stehen, die kulturelle Bewältigung erschweren. Dazu vgl. auch meine neue Arbeit Islam between Culture and Politics, London und New York 2001 (Neudruck 2002). 30 »Die Internationale Erklärung der Menschenrechte im Islam« (al-Bayan al-'alami 'an huquq al-isan fi al-lslam) ist weltweit in zahlreichen Auflagen erschienen. Ich beziehe mich auf den Appendix des fundamentalistischen Buches von Mohammed Salim al-'Awwa, Fi al-nizam al-siyasi li al-dawla al-Islamiyya (Das politische System des islamischen Staates), 6. Aufl., Kairo 1983, S. 303-333, welches den vollständigen Text dieser Deklaration enthält. 31 Siehe M. Weber, »Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft«, in: J. Winkelmann (Hg.), Soziologie, weltgeschichtliche Analysen, Politik, Gesammelte Schriften, 3. Aufl., Stuttgart 1964, S. 151-166. 32 Hierzu Bassam Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1996 (2. Aufl. 1997, SP-Ausgabe 1998, Neuausgabe 2001), Kap. 10. Vgl. auch mein Buch Das arabische Staatensystem, Mannheim 1996, Kap. 5. 33 Hierzu Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad, München 1999, Neuausgabe München 2002. Darin bes. Kap. l und 4. Vgl. auch das autoritative Werk über die islamische Zivilisation von -523-
Marshall G. S. Hodgson, The Venture of Islam, 3 Bde., Chicago 1974. Als lesbare deutsche Einführung: Gerhard Endress, Der Islam, 2. Aufl., München 1991. 34 Maxime Rodinson, Mohammed, Luzern 1975, S. 46 ff, 35 Vgl. Theodore v. Laue, The World Revolution of Westernization, New York 1987. 36 Hierzu Bassam Tibi, Die Fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik, Neuausgabe München 2002, Kap. VII. 37 Siehe hierzu Clifford Geertz, Religiöse Entwicklungen im Islam beobachtet in Marokko und Indonesien, Frankfurt/M. 1988, Taschenbuch-Ausgabe stw, darin mein Essay aufS. 185200. 38 Zu diesem Verständnis von Lokalkulturen, die sich zu Zivilisationen gruppieren, vgl. Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995 (neu erweitert und revidiert 1998,2001). 39 Vgl. ebd. Kap. 6. 40 Vgl. Anthony Arblaster, The Rise and Decline of Western Liberalism, Oxford 1984; und auch C. B. Macpherson, Democratic Theory: Essay in Retrieval, Oxford 1973. 41 Als ein Beispiel vgl. Carole Pateman, The Problem of Political Obligation. A Critique of Liberal Theory, Berkeley 1985. Vgl. auch die Beiträge in der Festschrift von [ring Fetscher: Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie, hg. von H. Münkler, München 1992. 42 Vgl. Rhoda Howard/Jack Donnelly, »Human Dignity, Human Rights, and Political Regimes«, in: American Political Science Review, Bd. 80 (1986), H. 3, S. 801-817, hierzu S. 812f. 43 Zur Orientalismus-Debatte vgl. Bassam Tibi, Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001, Kap. IV. -524-
44 Vincent (wie Anm. 13), S. 37f. Vgl. auch Bassam Tibi, »International Morality and Cross-Cultural Bridging«, in: Roman Herzog u. a., Preventing the Clash of Civilizations. A Peace Strategy for the Twenty-First-Century, New York 1999. 45 Vgl. das Kap. über den religiösen Pluralismus, in: Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung (wie Anm. 26), S. 258-288. 46 Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Demokratie und Diktatur, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1974, S. 477f. 47 Ibn Taimiyya, al-Siyasa al-shar'iyya, hg. von M. I. alBanna/ M.C. 'Ashur, Neudruck, Kairo 1971, S. 185. Es gibt eine französische Übersetzung dieses bedeutenden islamischen Werkes: Le traité de droit public d'lbn Taimiyya, Beirut 1948 (übers, v. Henri Laoust), S. 173. 48 Hierzu Bassam Tibi, Der wahre Imam (wie Anm. 32), darin zu Ibn Taimiyya Kap. 5, zur Gegenwart die Kap. des vierten Teils, S. 303 ff. 49 Siehe hierzu Fuad Khuri, Imams and Emirs. State, Religion and Sects in Islam, London 1990. 50 Vgl. Richard Saage, Herrschaft, Toleranz, Widerstand. Studien zur politischen Theorie der niederländischen und englischen Revolution, Frankfurt/M. 1981, vgl. bes. S. 254ff. 51 Bassam Tibi, »Die sozioökonomische Untermauerung von Demokratie« (auf Arabisch), in: Center for Arab Unity Stu-dies (Hg.), Azmat ad-demoqratiyya fi al-watan al-'Arabi (Die Krise der Demokratie in der arabischen Heimat), Beirut 1984, S. 7387. Dies sind die Papers des entsprechenden großen arabischen Demokratieprozesses in Limas-sol November 1983. 52 Max Horkheimer, Kritische Theorie, 2 Bde., 2. Aufl., Frankfurt/M. 1972, hier Bd. l, S. XIII. 53 Vgl. Bassam Tibi, Europa ohne Identität? (wie Anm. 5). 54 Vgl. Alain Finkielkraut, Die Niederlage des Denkens, Rein-bek b. Hamburg 1989 (Orig. Franz., Paris 1987). Mehr zu -525-
dieser Problematik in: Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung (wie Anm. 26), Einleitung. 55 Über die Planung des 11. Septembers in der europäischen Islam-Diaspora vgl. Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration (wie Anm. 26), Einleitung. 56 Vgl. meinen Bericht über die in Anm. 51 angesprochene Konferenz und über die Gründung der Arabischen Organisation für Menschenrechte in: Orient, Bd. 25 (1984), H. 4, S. 473-483. Die Arabische Organisation für Menschenrechte veröffentlicht Jahresberichte unter der Überschrift: Huquq al-insan fi al-watan al-'Arabi (Menschenrechte in der arabischen Heimat), jeweils Kairo. 57 Vgl. »Die Araber im Angesicht ihres Rückstands«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 13./14. Juli 2002, S. 5; zu dem UNDP-Bericht vgl. das Interview »Die Freiheit wird größer«, in: Profil (Wien) mit Bassam Tibi vom 15. Juli 2002, S. 74f.; der Bericht darüber ist UNDP, Arab Human Development Report 2002, New York 2002. 58 Vgl. Bassam Tibi, »Democracy and Democratization in Islam. The Quest of Islamic Enlightment«, in: Michele Schmiegelow (Hg.), Democracy in Asia, New York 1997, S. 127-146. 59 Nationalismus ist in der Regel die Ideologie dieser säkularen Eliten. Vgl. dazu im Einzelnen Bassam Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus, 2. erweiterte Aufl., Frankfurt/M. 1991 (Neudruck 2001), bes. S. 82ff. 60 Zu den Gegen-Eliten vgl. Bassam Tibi, »The Fundamentalist Challenge to the Secular Order in the Middle East«, in: The Fetcher Forum of World Affairs, Bd. 23 (1999), H. l, S. 191-210. Kapitel 9 Gibt es islamische Menschenrechte? -526-
1 Zur Anthropologisierung des »Muslims« als einem bomo islamicus durch westliche Orientalisten vgl. die Diskussion in Kap. 3 und 4 in Bassam Tibi, Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001. 2 Zur Verteidigung Europas vgl. mein Buch Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, München 2002 (Neuausgabe); und über die Bedrohung durch die Islamisierung meinen Artikel: »Europa droht eine Islamisierung«, in: Die Welt vom 28. Mai 2002, S. 6. 3 Vgl. die Debatte bei Monique Deveaux, Cultural Pluralism and Dilemmas ofjustice, Ithaca und London 2000. 4 Vgl. Roman Herzog u.a., Preventing the Clasb of Civilizations. A Peace Strategy for the Twenty-First-Century, New York 1999, darin das Kap. von Bassam Tibi, »International Morality and Cross-Cultural Bridging«, S. 107-126. 5 Hierzu Bassam Tibi, »Selig sind die Belogenen. Der christlich-islamische Dialog beruht auf Täuschungen«, in: Die Zeit vom 29. Mai 2002, S. 9. 6 Ann E. Mayer, Islam and Human Rights. Tradition and Politics, Boulder/Col. 1991 (Neuaufl. 1995), S. 312. 7 Khomeini, zit. nach Mayer (ebd.), S. 40. Ann Mayer zitiert auch die Aussage des Nachfolgers Khomeinis, also Khameneis, Menschenrechte seien ein »von Jüngern des Satans zusammengestellter Hokuspokus«. 8 Ernest Gellner, Postmodernism, Reason and Religion, London 1992, S. 85. 9 Vgl. hierzu die Aufsätze in: Harvard Human Rights Journal, Bd. 5, Spring 1992. 10 Hierzu Bassam Tibi, »Wider die Unterschätzung der Weltanschauung«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 2./3. März 2002, S. 88. -527-
11 »Die Internationale Deklaration der Menschenrechte im Islam« (al-Bayan al-'alami 'an huquq al-isan fi al-lslam) ist weltweit in zahlreichen Auflagen erschienen; ich zitiere sie im Folgenden aus dem Anhang des fundamentalistischen Buches von Mohammed Salim al-'Awwa, Fi al-nizam al-siyasi U aldawla al-hlamiyya (Das politische System des islamischen Staates), 6. Aufl., Kairo 1983, S. 303-333. Alle folgenden Zitate aus der »Islamischen Deklaration« stammen aus dieser Quelle (eigene Übers, aus dem Arabischen, B.T.). 12 Hierzu Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985, S. 9ff. Leider ist Habermas sich nicht treu geblieben. Nach seinem Besuch im fundamentalistischen Iran, wo er sozusagen auf Einladung Khatamis Staatsgast war, behauptete er: »Das Bild... einer verstummten Gesellschaft passt einfach nicht... zu den Eindrücken, die ich... gewonnen habe.« Hat der Soziologieprofessor den Unterschied zwischen Staatsbesuch und Feldforschung nach der Pensionierung vergessen? 13 Karl Wittfogel, Die orientalische Despotie. Eine vergleichende Untersuchung totaler Macht, Köln und Berlin 1962, bes. S. 137 und 201. 14 Adam Seligman, The Idea ofdi›il Society, New York 1992; und neu: John Ehrenburg, Civil Society, New York 1999. 15 Vgl. die relevanten Aufsätze in: David Held (Hg.), Political Theory Today, Stanford 1991, S. 236 ff. und 255 ff. 16 Hierzu Bassam Tibi, »The Cultural Underpinning of Civil Society in Islamic Civilization«, in: Sune Perssoon/Elisabeth Özdalga (Hg.), Civil Society, Democracy and the Muslim World, Istanbul 1997, S. 23-32. 17 Vgl. W. G. Lerch, Halbmond, Kreuz und Davidstern. Nationalitäten und Religionen im Nahen und Mittleren Osten, Frankfurt/M. 1992; und dazu meine Rezension in: Die Politische Meinung, H. 288, November 1993. -528-
18 Zu den von S.E. Ibrahim angeleiteten Arbeiten über die Minderheiten in der arabischen Welt gehören: S.E. Ibrahim, Humum al-aqaltyat (Die Belange der Minderheiten), Jahresbericht des Ibn Khaldun Zentrums, Kairo 1993, und das denselben Titel wie die Jahresberichte tragende Buch, Kairo 1994. 19 Das Kap. 7 über die Hidjra in meinem Buch Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, München 2000, wurde unter dern Titel »Hidjra nach Europa«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Dezember 2000, S. 15, meiner allerletzten Veröffentlichung in jener Zeitung, abgedruckt. In meinem darauf folgenden Buch Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, Stuttgart und München 2002, berichte ich auf S. 262-264 und 373 von der Verfemung durch einen Orientalisten. 20 Bassam Tibi (wie Anm. 5) und ders., »Das verlogene Spiel mit der Opferrolle«, in: Die Welt vom 17. August 2002, S. 23. 21 Max Weber, »Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft«, in: Max Weber, Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen -Politik, hg. v. J. Winkelmann, Stuttgart 1964, S. 151166. 22 Hicham Djiat, Le Grand Discord, Paris 1989 (arabisch: alFitna, Beirut 1992). Djiat argumentiert, dass die Ermordung des 3. Kalifen Othman im Islam die Geschichte der mörderischen Intoleranz im Islam einleitet, die bis heute anhält. 23 Hierzu Bassam Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1996 (1997 und neu 2001). 24 Das grundlegende Werk zu Ibn Taimiyya, der von 1263 bis 1328 lebte, ist: al-Siyasa al-schar'iyya, hg. von M.I. alBanna/M.C. 'Ashur, Kairo 1971 (Neudruck), S. 185 (in der franz. Übers. »Le traité de droit public d'Ibn Taimiyya«, übers, von Henri Laoust, Beirut 1948, S. 173). Zu Ibn Taimiyyas -529-
Lehren vgl. das Kap. von Bassam Tibi über politisches Denken im klassischen und mittelalterlichen Islam in: I. Fetscher/H. Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 2. Das Mittelalter, München 1993, S. 87-140, hier bes. 112ff. 25 Hierzu Joseph Schacht, An Introduction to Islamic Law, Oxford 1964 (neu 1979). 26 Zur Schura vgl. Kap. 10 in Bassam Tibi (wie Anm. 23). 27 Von Taslima Nasrin führe ich nur die folgenden beiden Schriften in deutscher Übersetzung an: Lied der traurigen Nachtigall. Frauen zwischen Religion und Emanzipation, München 1997; und Das Mädchen, das ich war, Reinbek b. Hamburg 2000. 28 Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995 (neue erweiterte und überarbeitete Neuausgaben 1998 und 2001), Kap. 2. 29 Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought, Austin/Texas 1982. 30 Leila Ahmed, Women and Gender in Islam, New Haven 1992. 31 Zu den körperlichen Strafen im orthodoxen Islam vgl. Huseini S. Djad, al-Uqubah al-badaniyya fi al-fiqh al-Islami (Die körperlichen Strafen in der islamischen Sakraljurisprudenz), Kairo 1992. 32 Bassam Tibi, »Wie Feuer und Wasser«, in: Der Spiegel 37/1994,5. 170-172. 33 Abdullahi A. An-Na'im, Toward an Islamic Reformation, Syracuse 1990, Kap. 6 und 7. 34 Hierzu Herbert Davidson, Alfarabi, Avicenna and Averroes on Intellect, New York 1992; und Bassam Tibi (wie Anm. 23), Teil 2. 35 Hierzu Anke von Kügelken, Averroes und die arabische -530-
Moderne. Ansätze zu einer Neugründung des Rationalismus im Islam, Leiden 1994. 36 Bassam Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik, München 2002 (3. Neuausgabe). 37 Ernst Bloch, Avicenna und die aristotelische Linke, Frankfurt/M. 1963, S. 45. 38 Hierzu Gilles Kepel, Allah im Westen, München 1996. 39 John Kelsay, Islam and War, Louisville/Ky. 1993, S. 118. 40 Bassam Tibi, »Der Rechtsstaat schützt Islamisten«, in: Die Welt vom 12. August 2002, S. 6. 41 So zum Beispiel der Islamist Anwar al-Djundi, Mim al-taba'iyya ila al-asala (Von der Abhängigkeit zur Authentizität), Kairo, ohne Datum. Araber spielen gerne mit der Sprache: Asala (Authentizität) wird zu Usuliyya (Fundamentalismus). al-Djundi ist ein Fundamentalist. Ich muss jedoch einräumen, dass es auch seriöse Muslime gibt, die sich mit Authentizität befassen. Vgl. dazu Robert D. Lee, Overcoming Tradition and Modernity. The Search for Islamic Authenticity, Boulder/Col. 1997. 42 »Was wissen Sie schon!«, Interview mit V.S. Naipaul in: Die Welt vom 17. August 2002 (Beilage, Die literarische Welt, S. 1). 43 Vgl. den Bericht »Aufbruch auf dem Campus. HarvardPräsident Larry Summers«, in: Der Spiegel vom 5. August 2002,5.84-85. Kapitel 10 Politischer Islam und Menschenrechte 1 Siehe hierzu Nazih Ayubi, Political Islam, London 1991; zuvor Emmanuel Sivan, Radical Islam. Medieval Theology and Modern Politics, New Haven 1985; zum militanten Islam vgl. G. H. Jansen, Militant Islam, New York 1979; zum islamischen Fundamentalismus als zeitgenössische Form des politischen -531-
Islam vgl. Bassam Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik, München 2002 (3. Neuausgabe). 2 Michael Hudson, »Islam and Political Development«, in: John Esposito (Hg.), Islam and Development, Syracuse 1980, S. 1-24, hier S. 12. 3 Rifa'a R. al-Tahtawi, Ein Muslim entdeckt Europa. Die Reise eines Ägypters im frühen 19. Jahrhundert nach Paris, übers, und hg. von Karl Stowasser, München 1989, S. 9. Mehr über al-Tahtawi ist in Bassam Tibi, Der wahre Imam. Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 1997, (Neuausgabe 2001), Kap. 7, enthalten. 4 So zum Beispiel ein Kap. über Qutb in Leonard Binder, Islamic Liberatism, Chicago 1988; oder Texte von al-Qara-dawi und Gannouchi, in: Charles Kurzman (Hg.), Liberal Warn, New York 1998. 5 Bassam Tibi, »Die Entwestlichung des Rechts«, in: Klaus Lü-dersson (Hg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse?, 5 Bde., hier Bd. 5, Baden-Baden 1998, S. 2130; sowie das Kap. über dieses Thema in Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam, 3. Aufl., Darmstadt 2002, S. 87102. 6 Ann Mayer, Islam and Human Rights, Boulder/Col. 1991 (Neuaufl. 1995), S. 36. 7 Vgl. Bassam Tibi, »Moderner Totalitarismus in altem Gewand«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Okt. 1992, S. 10. 8 Vgl. das Sudan-Kap, in: Bassam Tibi, Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993, S. 191-208. 9 Wilfred C. Smith, The Meaning and End of Religion, 2. Aufl., New York 1978, S. 117. 10 Die im Koran enthaltenen Bezüge (lediglich drei Verse) in -532-
den drei Suren: al-Schura, Vers 13, al-Ma'ida, Vers 48, und am wichtigsten al-Djathiya, Vers 18: »Und nun haben wir dich auf den rechten Weg (Schari'a) gebracht, folge ihm.« 11 Vgl. jedoch die orthodox-islamische Kritik an den Islamisten in: Salah al-Sawi, al-Muhau›ara. Musadjala firkiyya haul tatbiq al-schari'a al-lslamiyya (Die Kontroverse. Ein Gespräch über die Anwendung der islamischen Schari'a), Kairo 1992. 12 Vgl. Joseph Schacht, Introduction to Islamic Law, 5. Aufl., Oxford 1975, S. 100 f. 13 Abdulhamid Mutawalli, Mabadi' nizam al-hukm al-hlam ma'a al-muqaranah bi al-mabadi' al-destoriyya al-haditha (Die Prinzipien des Regierungssystems im Islam und ein Vergleich mit den modernen konstitutionellen Prinzipien), Alexandria 1966. Vgl. bes. das Kap. »Die Quellen der konstitutionellen Gesetzgebung in der islamischen Schari'a«, S. 17-266. Das Schura-Kap. auf S. 659-689 stellt fest, dass »Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit« schon immer authentische islamische Prinzipien waren. 14 Vgl. z.B. Mohammed Salim al-'Awwa, Fi al-nizam alsiyasi li al-dawla al-lslamiyya (Das politische System des islamischen Staates), 6. Aufl., Kairo 1983, z.B. S. 132, 138 und 161. 15 Hierüber Bassam Tibi (wie Anm. 1), Kap. 7. 16 Mohammed Said al-Aschmawi, Usul al-schari'a, 2. Aufl., Kairo 1983, S. 31. Die folgenden al-Aschmawi-Zitate sind S. 39, 53 und 89 seines Buches entnommen. 17 Vgl. das Kap. von An-Na'im in: M.W. Daly/A.A. Sikainga (Hg.), Civil War in the Sudan, London 1993, S. 97ff. Die folgenden An-Na'im-Zitate sind jedoch aus seinem in Anm. 18 angegebenen Buch entnommen. 18 Abdullahi A. An-Na'im, Toward an Islamic Reformation, -533-
Syracuse 1990, bes. das Kap. »Schari'a und zentrale Anliegen der Menschenrechte«, S. 161 ff. 19 Gilles Kepel, Jihad. Expansion et declin de l'islamisme, Paris 2000; deutsche Übersetzung mit dem falschen Titel: Das Schwarzbuch des D/ihad, München 2002. 20 Ulrich im Hof, Das Europa der Aufklärung, München 1993. Vgl. auch: Adam Watson, The Evolution of International Society, London 1992. 21 Hedley Bull, The Anarchical Society. A Study of Order in World Politics, New York 1977, S. 273. Vgl. auch die neu gedruckte Untersuchung von F. S.C. Northrop, The Taming of the Nations. A Study of the Cultural Bases of International Policy, 2. Aufl., Woodbridge/Con. 1987 (die erste Aufl. erschien 1952). Lange vor Samuel Huntington hat Northrop hervorgehoben, dass aufgrund der kulturellen Vielfalt internationale Beziehungen immer auch interkulturelle Beziehungen sind, d.h. auch solche zwischen Zivilisationen. 22 Vgl. die Übersicht in dem Jahrbuch Freedom in the World. Political Rights and Civil Liberties, hg. v. Raymond D. Gastil, Jg. 1985/86, New York 1986. Die Länderberichte sind in Teil V, S. 251-400 enthalten. 23 Barrie Axford, The Global System, New York 1995. 24 Vgl. Bassam Tibi (wie Anm. 1), Kap. 2, und auch Bassam Tibi, Islamischer Fundamentalismus, moderne Wissenschaft und Technologie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1993 (Neudruck 2001). 25 Vgl. Bassam Tibi, Die Krise des modernen Islam. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, darin bes. der Essay »Islamischer Fundamentalismus als Antwort auf die doppelte Krise«, Frankfurt/M. 1991, (2. Aufl. der erweiterten Ausgabe, Neudruck 2001). 26 Abdallah Laroui, The Crisis ofthe Arab Intellectual. Traditionalism or Historicismi, Berkeley 1976. -534-
27 Bassam Tibi, Der Islam und das Problem der kulturellen Bewältigung sozialen Wandels, Frankfurt/M. 1985 (3. Aufl. 1991). 28 Jürgen Habermas, »Glauben und Wissen. Rede des Friedenspreisträgers«, in: frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Oktober 2001, S. 9. 29 E. Fuhr, »Habermas und die Religion«, Leitartikel in: Die Welt vom 16. Oktober 2001, S. 8. Kapitel 11 Der Islam in Europa nach dem Ende des Ost-WestKonflikts 1 So z.B. im Standardwerk W.M. Watt, Muslim-Christian Encounters. Perceptions and Misperceptions, London 1991. 2 Der Leser findet diese Geschichte in der Vorrede meines Buches Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (Neuausgabe 2002). Dort schreibe ich, dass mein Privileg, im Westen zu leben, mir die Wissenschaftsfreiheit gewährt, ohne Zensur zu schreiben: Kreuzzug und Djihad gehören gleichermaßen zu dieser Kriegsgeschichte. Wie lange bleibt dieses Privileg bewahrt? Zu den Anfängen der Zensur gehört, dass alle auflagenstarken deutschen Zeitungen dieses zitierte Buch aus Gründen der political correctness total verschwiegen haben. Ist das die westliche Demokratie? Darüber regt sich auf: Oriana Fal-laci, Die Wut und der Stolz, München 2002. 3 John Kelsay, Islam and War. A Study in Comparative Ethics, Louisville/Kentucky 1992, S. 5. 4 Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985. 5 Jürgen Habermas, »Glaube und Wissen« (Rede in der Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des -535-
deutschen Buchhandels), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Oktober 2001, S. 9. 6 Hierzu folgende weit verbreitete und autoritative zeitgenössisch-islamische Präsentationen zu diesem Thema: Sabir Tuaima, al-Schari'a al-Islamiyya fi asr al-ilm (Die islamische Schari'a im Zeitalter der Wissenschaft), Beirut 1979; Yosuf al-Qaradawi, al-Rasul wa al-Ilm (Der Prophet und die Wissenschaft), 3. Aufl., Beirut 1983, Djaudah Moh. Awwad, Haul aslamat al-ulum (Über die Islamisierung der Wissenschaft), Kairo 1987; Hasan al-Scharqawi, al-Musli-mun ulema' wa hukuma' (Muslime als Wissenschaftler und Weise), Kairo 1987. Für eine umfassende Untersuchung dieser Problematik vgl. meine an der American Academy of Arts and Sciences und in Harvard entstandene Studie: Islamischer Fundamentalismus. Moderne Wissenschaft und Technologie, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1993 (Nachdruck 2001). 7 Hierzu Bassam Tibi, Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, München (neue Ausgabe 2002, zuerst 1998). 8 Ernst Bloch, Avicenna und die artistolelische Linke, Fankfurt/M. 1963; mit Widmung von Bloch gehört dieses zu den geistigen Perlen meiner Bibliothek. 9 Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Neuausgabe Frankfurt/M. 1972 (dieses Buch entstand in der USMigration und wurde in Cambridge/Ma. 1947 abgeschlossen). 10 Die drei Bände sind: Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad (wie Anm. 2), sowie ders., Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, München 2000 (2. Aufl. 2001), und ders., Einladung in die islamische Geschichte, Darmstadt 2001. Die Trilogie ist folgendermaßen aufgebaut: Band I - Geschichte, Band II - Zeitgeschichte und Gegenwart, Band III - Die Grundlagen. 11 Kritisch zur arabo-islamischen Phantasmagorie: Bassam Tibi, Die Verschwörung, Hamburg 1993. Beispiele deutscher -536-
Phantasmagorie sind die 1993-Elaborate »Feindbild Islam« und »Das Schwert des Experten« neben zahlreichen, kaum nennenswerten Pamphleten. 12 Zum Islam in Europa vgl. Thomas Gerholm/Georg Lithman (Hg.), The New Islamic Presence in 'Western Europe, London 1988; spezifisch zum Islam in Frankreich vgl. Gilles Kepel, Les Banlieues de l'Islatn, Paris 1987, und neu in deutscher Übersetzung ders., Allah im Westen. Die Demokratie und die islamische Herausforderung, München 1996. 13 Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, Stuttgart und München 2002 (zwei Auflagen in einem halben Jahr und trotzdem keine Rezension in den auflagenstarken Zeitungen; vgl. dazu Anm. 2). 14 Michael Teitelbaum/Jay Winter, A Question of Numbers. High Migration, Low Fertility and the Politics of National Identity, New York 1998. Darin befassen sich beide Autoren in Kap. 12 mit dem islamischen Fundamentalismus im Westen. 15 Smail Balic, Das unbekannte Bosnien, Köln 1992, bes. S. 349; vgl. auch ders., Bosnien und der deutschsprachige Kulturraum, Köln 1992. Vgl. ebenso Viktor Meier, Wie Jugoslawien verspielt wurde, München 1995. 16 Zum bosnischen Islam: Tone Bringa, Eeing Muslim the Bos-nian Way, Princeton/N.J. 1995; zur Fundamentalisierung des Islam auf dem Balkan vgl. Bassam Tibi, Aufbruch am Bosporus, München 1998, S. 155-186. 17 Daniel P. Moynihan, Pandaemonium. Ethnicity in International Politics, New York 1993, S. 15, und dazu Bassam Tibi, »Gefährliches Wir-Gefühl. Ethnizität als Quelle des Unfriedens«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. August 1993, S. 29. 18 Das Dokument ist im Original vollständig enthalten in: alScharq al-ausat vom 28. Juli 1993: »Waraqat 'amal min rabitat al-'alam al-Islami (Arbeitspapier der islamischen Weltliga)«. -537-
19 Mohammed al-Ghazali, al-Da'wa al-lslamiyya (Die islamische Mission), Kairo, ohne Jahr. 20 Bereits in einer sehr frühen Phase des Konflikts, als die bosnischen Muslime sich noch gegen die »ethnische Lösung« sträubten, habe ich bereits vor der Gefahr der Anerkennung der Ethnizität auf dem Balkan und auch vor deren Folgen für Europa gewarnt; vgl. dazu Bassam Tibi, »Bosniens Muslime zwischen den politischen Fronten«, in: Basler Zeitung vom 26. August 1992, S. 3 f. Vgl. auch Bassam Tibi, »Die islamische Dimension des Balkankrieges«, in: A. Volle (Hg.), Der Krieg auf dem Balkan, Bonn 1994, S. 105-114. 21 Vgl. Bassam Tibi, »Das muslimische Blut ist das billigste Blut. Islamische Fundamentalisten nutzen den Balkankrieg als Nährfutter für antiwestliche Propaganda«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. Juni 1993, S. 12. 22 Vgl. meine in Anm. 7 und 13 zitierten Arbeiten sowie Christian Joppke/Steven Lukes (Hg.), Multiculatural Questions, Oxford 1999, bes. Teil III über Kollektivrechte, S. 133 ff. 23 Vgl. Bassam Tibi, »Zum Schaden integrierter Ausländer«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Dezember 1992,5.13. 24 Bassam Tibi, »Europa muss seine Grenzen sichern«, in: Die Welt vom 9. Juli 2002, S. 8. 25 Vgl. Bassam Tibi, »Deutsche Ausländerfeindlicheit, ethnisch-religiöser Rechtsradikalismus der Ausländer. Zwei Gefahren für die Demokratie«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Bd. 44 (1993), August-Heft, S. 493-502. 26 Alfred-Herrhausen-Gesellschaft (Hg.), Ende der Toleranz? Modernität und Pluralismus in der modernen Gesellschaft, München 2002. 27 John Esposito, The Islamic Threat. Myth or Realityì, New York 1992. Vgl. dagegen den Essay von Bassam Tibi, »Bedroht uns der Islam?«, in: Der Spiegel vom 1. 2. 1993, H. 5/1993, -538-
auch abgedruckt im Spiegel-Spezial 4/93, S. 46-48. 28 Bassam Tibi, »Europa droht eine Islamisierung«, in: Die Welt vom 28. Mai 2002, S. 6. 29 Dar al-Da'wa (Hg.), al-Bosneh wa al-harsak. Al-Harb alsa-libiyya al-djadida did al-Muslimin (Bosnien und Herzegowina. Der neue Kreuzzug gegen die Muslime), 3. Aufl., Casablanca und Alexandria 1992. Vgl. dazu meinen in Anm. 21 zit. FAZ-Artikel. 30 Vgl. den Bericht: »Christen in Not«, Bayern-Kurier vom 18. August 2002, S. 9. 31 »Die orthodoxe Religion in die Außenpolitik einbeziehen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. August 1993, S. 1213. 32 Neue Zürcher Zeitung vom 9. Juli 1993. 33 Mark Juergensmeyer, The New Cold War? Religious Natio-nalism Confronts the Secular State, Berkeley 1993.Vgl. auch sein neues Buch, Terror in the Mind of God, Berkeley 2000. 34 Myron Weiner, The Global Migration Crisis, New York 1995, S. 131 ff. 35 Bassam Tibi, Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr für den Weltfrieden?, 3. erweiterte Aufl., Darmstadt 2002. 36 Vgl. die überregionale Studie der American Academy of Arts and Sciences, hg. von Martin Marty und Scott Apple-by, Fundamentalism Observed, Chicago 1991; vgl. auch Bassam Tibi, Die fundamentalistische Herausforderung. Der Islam und die Weltpolitik, München 2002 (Neuausgabe). 37 Reinhard Bendix, Könige oder Volk. Machtausübung und Herrschaftsmandat, 2 Bde., Frankfurt/M. 1980. 38 Vgl. den bemerkenswert nüchternen Leitartikel von Klaus Natorp, »Bevölkerung geht alle an«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Juli 1993. -539-
39 Bassam Tibi, Krieg der Zivilisationen. Politik und Religion zwischen Vernunft und Fundamentalismus, Hamburg 1995, Neuausgabe, München 1998 (zahlreiche Ausgaben), und Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations, New York 1996. 40 Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung (wie Anm. 13). Kapitel 12 Nur ein Europäisierter Islam ist mit der zivilisatorischen Identität Europas im Einklang zu bringen 1 Nadeem Elyas, »Die Leute werden nachts aus den Betten geholt«, in: Der Tagesspiegel vom 16. Oktober 2001. Zur Kritik an dieser Selbstviktimisierung vgl. Bassam Tibi, »Das verlogene Spiel mit der Opferrolle«, in: Die Welt vom 17. August 2002, S. 23, und schon zuvor, ders., »Selig sind die Belogenen. Der christlich-islamische Dialog beruht auf Täuschungen«, in: Die Zeit vom 29. Mai 2002, S. 9. 2 Siehe Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, 2. Aufl., Stuttgart und München 2002. 3 Zum Konzept und seiner Entfaltung vgl. oben Anm. 23 zu Kap. 4 mit Literaturangaben. 4 Hierzu der Artikel Euro-Islam in dem Themenheft »Islam in Europe«, in: TIME Magazine, Bd. 158, H. 26 vom 24. Dezember 2001, darin bes. S. 49. 5 In diesem Sinne habe ich mich mit Benjamin Barber, Jihad vs McWorld, New York 1995, auseinander gesetzt, der »US populär culture« als McCulture und somit als Inbegriff westlicher Kultur darstellt. 6 TIME Magazine (wie Anm. 4), S. 49. 7 Jürgen Habermas, »Glauben und Wissen«, Rede in der Paulskirche, abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Oktober 2001, S. 9. -540-
8 Meine Dialogarbeit betreibe ich seit 1979 in vier Kontinenten im Rahmen der Arbeit des Goethe-Instituts. Aus den Erfahrungen von mehr als zwei Jahrzehnten entstand mein Beitrag »Kulturarbeit als Dialog zwischen den Zivilisationen. Das Goethe-Institut in einer sich entwickelnden Welt« zu der Festschrift des Goethe-Instituts: Murnau, Manila, Minsk. 50 Jahre Goethe-Institut, München 2001, S. 25-28. Unter Kulturdialog verstehe ich inhaltlich den Versuch der friedlichen Konfliktlösung. Dies bedeutet, dass die Probleme und Konfliktfelder angegeben werden müssen; es scheint nicht selbstverständlich zu sein, dass diese Aufgabe erfüllt werden kann. 9 Vgl. hierzu das Kap. über den Islam in Westafrika, in: Bassam Tibi, Die Krise des modernen Islam. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, Neuausgabe Frankfurt/M. 1991 (ursprünglich München 1981), hier S. 94-112. 10 Siehe hierzu J. Spencer Trimingham, The Influence of Islam upon Africa, Neuausgabe London und Beirut 1980 (zuerst 1968). Trimingham unterteilt den Afro-Islam in unterschiedliche Kulturzonen. 11 So bei den anatolischen türkischen Frauen in Europa, hierzu Bassam Tibi, Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus, München 1998, Kap. 10 über den Schleier als zivilisatorische Abgrenzung, S. 320-338. 12 Siehe hierzu Alec G. Hargreaves, Immigration, »Race« and Ethnicity in Contemporary France, London 1995, S. 32 f. und Kap. 3. Hargreaves zieht es vor, anstatt von Assimilation oder Integration von Akkulturation zu sprechen. 13 Mehr dazu in: Bassam Tibi, Europa ohne Identität? Leitkultur oder Wertebeliebigkeit, Neuausgabe München 2002, bes. die Einleitung und Kap. 1. 14 Siehe hierzu Alain Finkielkraut, La défaite de la pensée, -541-
deutsche Übersetzung: Niederlage des Denkens, Reinbek b. Hamburg 1989, bes. S. 77, sowie Bassam Tibi, Europa ohne Identität? (wie Anm. 13), bes. S. 59-62. 15 Es dauerte drei Jahre, bis die Ergebnisse veröffentlicht wurden. Vgl. Robert Bistolfi/Franςois Zabbal (Hg.), Islams d'Europe. Integration ou insertion communitaire?, Paris 1995, darin mein Paper auf S. 230ff. Ich berichtete jedoch über dieses Projekt noch im gleichen Jahr 1992 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in meinem dort erschienenen Bericht: »Euro-Islam oder Ghetto-Islam«, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Dezember 1992, S. 14. 16 Bassam Tibi, »Les conditions d'un Euro-Islam«, in: Bistolfi/Zabbal (Hg.), Islams d'Europe (wie Anm. 15), S. 230ff. Vgl. auch dies., »Culture et politique«, in dem Islam-Heft der Pariser Zeitschrift Geopolitique (42/1993), S. 66-70. 17 »Die Schari'a ist unverzichtbar«, Interview mit Nadeen Elyas in: Zeitzeichen, 11/2001, S. 32-35, hier S. 33. 18 Klaus Kreisner, »Islamisten und Euro-Muslime«, in: Süddeutsche Zeitung vom 15. Februar 1999. 19 Vgl. Anthony D. Smith, The Ethnic Origins of Nations, Oxford 1986. 20 Siehe Angela Merkel, Interview in: Der Spiegel vom 31. Oktober 2000, 44/2000. Zuvor tat sie dies auch am 26. 10. auf einer Berliner Pressekonferenz. 21 Daniel Cohn-Bendit im Streitgespräch mit Bassam Tibi, »Es gibt keine deutsche Identität«, Die Woche vom 10. November 2000, S. 6f. Dies veranlasste mich zu dem Artikel »Die neurotische Nation«, in: Die Welt am Sonntag vom 3. Dezember 2000, Kulturseite 1. 22 Hierzu vgl. Manuel Castells, The Power ofldentity, Oxford 1997, Teil I. 23 Dazu siehe Mary Ful brock, German National Identity -542-
after the Holocaust, Cambridge/UK 1999. 24 So der protestantische Pfarrer Michael Stollwerk aus Wetz-lar in seinem Text »Wie redet man am besten mit Muslimen«, in: Idea Spektrum, H. 28 vom 10. Juli 2002, S. 25. Ich frage: Hat dieser Pfarrer seine muslimischen Gesprächspartner gefragt, ob sie die islamischen Djihad-Kriege in Europa als Verletzung der Christen deuten und deshalb Schuld empfinden? Vgl. dazu Bassam Tibi, Kreuzzug und Djihad. Der Islam und die christliche Welt, München 1999 (Taschenbuchausgabe 2001, Neuausgabe 2002, Vorrede). 25 Oriana Fallaci, Die Wut und der Stolz, München 2002; und dazu den ganzseitigen Besprechungsartikel von Alan Pose-ner, »Kreuzzug für die Freiheit«, in: Die Welt, Beilage Die Literarische Welt, Buch der Woche, vom 17. August 2002, S. 3. In derselben Beilage beschwert sich der Nobelpreisträger für Literatur, der Inder V. S. Naipaul über die multikulturelle Toleranz, die »das törichte Geschwätz an den Universitäten im Westen« gegenüber den Islamisten unter den Migranten predigt. »Diese Leute halten sich für integer, weil sie die Fehler immer zuerst bei sich suchen... Selbstkritik betreiben sie viel leichter, als den irrationalen Hass der Gegenseite zu verstehen.« Offen sagt Naipaul: Seine Ursprungsheimat »Indien wurde, bevor es die Briten eroberten, zum Opfer des islamischen Expansionsdranges«. Dort haben sie djihad-ktiegensch islamisiert; heute kommen die Islamisten friedlich nach Europa, wollen aber auch erobern. »Es gibt zu viel Immigration. Die Leute sollen dort bleiben, wo sie herkommen.« Dies sagt ein dunkelhäutiger Hindu, ein gebürtiger Inder, der in Trinidad aufwuchs und als Literaturnobelpreisträger internationale Anerkennung genießt; heftiger ist die als Antifaschistin ausgewiesene 72-jährige Feministin Oriana Fallaci in ihrem oben in dieser Anmerkung zitierten Buch. Vgl. dazu außer der Besprechung von Posener auch den Artikel von Gerda-Marie Schönfeld, »Gegen Islamisten und Muslime wettert Oriana -543-
Fallaci«, in: Stern vom 15. August 2002, S. 142. 26 Zur Begründung der Ablehnung des deutschen Kirchenmodells für den Islam vgl. Bassam Tibi, Der Islam und Deutschland. Muslime in Deutschland, München 2000 (Neuaufl. 2001), Kap. VIII und XI. 27 Hierzu Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung. Die gescheiterte Integration, München 2002, S. 328-344. 28 Daniel Bell, The Winding Passage, New York 1980, S. 332. 29 Hierzu mein Kap. »Vom orthodoxen Islam zur euroislami-schen Toleranz«, in: Alfred-Herrhausen-Gesellschaft (Hg.), Das Ende der Toleranz? Identität und Pluralismus in der modernen Gesellschaft, München 2002, S. 133-140. 30 Vgl. das Kap. über religiösen Pluralismus in: Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung (wie Anm. 27), S, 258-288. 31 Siehe hierzu Erasmus Foundation (Hg.), The Limits of Pluralism. Neoabsolutisms and Relativism, Amsterdam 1994. 32 Vgl. das dreibändige Standardwerk von S. E. Einer, The His-tory of Government, hierzu Band 3, Oxford 1997 (3. Aufl. 1999), S. 1478ff. 33 Vgl. hierzu John Ehrenberg, Civil Society. The Critical His-tory of an Idea, New York 1999. Zur Anwendung auf den Islam mein Beitrag: »The Cultural Underpinning of Civil Society in Islamic Civilization«, in: Elisabeth Özdalga/Sune Persson (Hg.), Civil Society, Democracy and the Muslim World, Istanbul 1997, S. 23-32. 34 Zu Europa die beiden Bände, die aus einem Projekt an der Universität Leiden hervorgegangen sind: W. A. R. Schadid/ P.S. van Koningsveld (Hg.), Muslims in the Margin. The Presence of Islam in Western Europe, Kämpen (Niederlande) 1996 (darin mein Kap. auf S. 130-144), sowie dies., Political Participation and Identities of Muslims in NonMuslim States, Kämpen 1996. -544-
35 Zu den USA Jane I. Smith, Islam in America, New York 1999. 36 Hierzu W. M. Watt/Pierre Cachia, A History of Islamic Spain, Edinburgh 1965 (neu 1992); sowie L. P. Harvey, Islamic Spain, Chicago 1990. 37 Hierzu Bassam Tibi, Islamische Zuwanderung (wie Anm. 27); zur Toleranz Kap. 5 und 6, vgl. auch Anm. 29 und 40. 38 Siehe Ursula Spuler-Stegeman, Muslime in Deutschland, Neuausgabe 2002 (zuerst 1998), S. 105 ff. 39 Dazu E. Jesse, »Politischer Extremismus heute«, in: APZG/Beilage zum Parlament, H. 46/2001, S. 3-5. 40 Mehr darüber findet sich bei Bassam Tibi, »Deutsche verordnete Fremdenliebe«, in: Alice Schwarzer (Hg.), Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz, Köln 2002, S. 105-120. 41 Hierzu Siegfried Kohlhammer, Die Feinde und die Freunde des Islam, Göttingen 1996, Kap. l, S. 7-82 über die »Feindbild Islam‹‹-Diskussion. 42 Mohammed Said al-Aschmawi, L'Islamism contre l'Islam, Paris und Kairo 1989. 43 Siehe hierzu die literarische Wochenendbeilage der Tageszeitung Die Welt vom 17. August 2002 (wie Anm. 25). 44 Hierzu Bassam Tibi, »Deutsche Ausländerfeindlichkeit und ethnisch-religiöser Rechtsradikalismus der Ausländer«, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Bd. 44 (1993), August-Heft, S. 493-502, sowie ders., »Moderner Totalitarismus in altem Gewand«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. Oktober 1992, S. 10. 45 Nezar Alsayyad/Manuel Castells (Hg.), Islamic Europe or Euro-Islam, New York und Berkeley 2002, darin Bassam Tibi, »Muslim Migrants in Europe: Between Euro-Islam and Ghettoization«, S. 31-52. 46 Der Spiegel, 29/2002 vom 15. Juli 2002, S. 36. -545-
47 Vgl. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 7. Aufl., 2 Bde., Tübingen 1992. 48 Vgl. Johannes Lameyer, Streitbare Demokratie. Eine verfas-sungshermeneutische Untersuchung, Berlin 1978. 49 Belege bei Maxime Rodinson, Islam und Kapitalismus, Frankfurt/M. 1972. 50 Das islamische Londoner »Parlament« wurde von Siddiqi eröffnet, siehe dazu den Bericht in: Neue Zürcher Zeitung vom 6.1.1992. 51 Naipaul, (wie Anm. 25 oben) 52 Zu den unrühmlichen Aktivitäten Siddiqis vgl. die Chronologie der Intoleranz nach der Khomeim-Fetwa, in: Thierry Chervel (Hg.), Redefreiheit ist das Leben. Briefe an Saltnan Rushdie, München 1992, bes. S. 115 ff. 53 Vgl. Gilles Kepel, Les banlieues de l'Islam. Naissance d'une religion en France, Paris 1987, sowie Gilles Kepel/Rémy Leveau (Hg.), Les musulmans dans la société francaise, Paris 1988. 54 Hierzu Reinhard Bendix, Könige oder Volk. Machtausübung und Herrschaftsmandat, 2 Bde., Frankfurt/M. 1980, zu Deutschland Kap. 5, zu Frankreich Kap. 10. 55 Vgl. Patrick Weil, La France et ses étrangers - L'aventure d'une politique de l'immigration 1938-1991, Mesnil-sur-L'Estree 1991; sowie Philip E. Odgen/Paul E. White (Hg.), Migrants in Modern France, London 1989. Vgl. ferner die Arbeit von Hargreaves (wie Anm. 12). 56 Arthur M. Schlesinger Jr., The Disuniting of America. Reflections on a Multicultural Society, New York 1992 (erweiterte Neuausgabe 1998). 57 Samuel P. Huntington antwortete seinen Kritikern in dem Aufsatz: »If not Civilizations, What?«, in: Foreign Affairs, Bd. 72(1993), H. 5, S. 186-194. -546-
58 Hierzu Cathrine Wihtol de Wenden, Citoyenneté, Nationalité et Immigration, Paris 1987. 59 Vgl. das Cifizenship-Kap. in dem autoritativen Buch von Anthony Giddens, Nation-State and Violence, Berkeley 1987, S. 198 ff. 60 Zum Islam in Frankreich vgl. das Standardwerk von Bruno Etienne, La France et l'lslam, Paris 1989. Vgl. auch Klaus Manfrass, Türken in der Bundesrepublik, Nordafrikaner in Frankreich. Ausländerproblematik im deutsch-französischen Vergleich, Bonn 1991. 61 Das Dokument ist in arabischem Original in: al-Sharq alausat vom 28. Juli 1993 publiziert worden; Sie ist zitiert als Motto zur Vorrede. Eine andere Perspektive bietet das aus dem Arabischen übersetzte Buch von Fouad Zakariya, La'i-cité ou Islamisme. Les Arabes à l'heure de choix, Paris 1991. 62 In Frankreich zirkuliert die in Anm. 61 zitierte Schrift von Zakariya, in der diese Richtung vertreten wird. Zakariya spricht von Sous-dévelopment intellectuel (geistiger Unterentwicklung) im Kontext der Schari'a, S. 47ff., 111 ff., und erörtert auf S. 8197 auch die Menschenrechte. Diese Schrift erschien in Paris in einer französisch-arabischen Produktion (La Découverte/Paris, al-Fikr/Kairo). Dort erschien auch die französische Übersetzung des mutigen, von Fundamentalisten verfolgten Schari'a-Kńúkers Mohammed Said al-Aschmawi, LTslamisme contre l'lslam (wie Anm. 42). 63 Hierzu Bassam Tibi, »Europa droht eine Islamisierung«, in: Die Welt vom 28. Mai 2002, S. 6. 64 W. Heitmeyer u.a., Verlockender Fundamentalismus, Frankfurt/M. 1997. 65 Zu dieser Beziehung Norman Daniel, Islam and the West. The Making of an Image, Neudruck Oxford 1993 (zuerst 1960). 66 Vgl. den Bericht, »Heuchelei in der Moschee«, in: Die Welt am Sonntag vom 22. September 2001, S. 13. -547-
67 Gerda-Marie Schönfeld, in: Stern (wie Anm. 25). 68 So im Artikel »Tolerating the Intolerable«, in: Newsweek vom 5. November 2001. 69 Hierzu Bassam Tibi, »Islamism, National and International Security after September 11«, in: Festschrift Kurt Spillmann, Conflict and Cooperation, hg. von G. Baechler und A. Wen-ger, Zürich 2002, S. 127-152. 70 Vgl. Khalid Duran, »Hintergründe des Anschlages auf das World Trade Center«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. April 1993. 71 Bassam Tibi, »Ein Spiel mit dem Feuer. Die ehemaligen Afghanistankämpfer in der amerikanischen Nahostpolitik«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. August 1993, S. 8. 72 Hierzu Peter Bergen, Heiliger Krieg Inc. Osama Bin Ladens Terrornetz, Berlin 2001. 73 Hierzu M. Teitelbaum/Jay Winter, A Question ofNumbers. High Migration, Low Fertility and the Politics of National Identity, New York 1998, Kap. 12 über den islamischen Fundamentalismus im Westen. 74 Mohammed Abdullah al-Salman, Mihnat al-aqaliyyat alMuslima fi al-'alam (Die Leiden der islamischen Minderheiten in der Welt), Kairo 1987, S. 172ff. 75 Max Horkheimer, Kritische Theorie, 2 Bde., Frankfurt/M., 2. Aufl. 1972 (zuerst 1968), hierzu Bd. l, S. XIII. 76 Zu Ibn Taimiyya: Bassam Tibi, Der wahre Imam, Kap. 5, bes. S. 167ff.
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