Tamora Pierce Dhana Band 02
Im Tal des Langen Sees
Dhana ist ein außergewöhnliches junges Mädchen, das die Fähigkeit b...
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Tamora Pierce Dhana Band 02
Im Tal des Langen Sees
Dhana ist ein außergewöhnliches junges Mädchen, das die Fähigkeit besitzt, die Sprache der Tiere zu verstehen. Sie gerät in große Schwierigkeiten, als sie einem Hilferuf ihrer Freunde, der Wölfe, Folge leistet. Ein magischer Bann hält sie im Tal des Langen Sees gefangen, und dann drohen Aufrührer sogar, das Tal zu zerstören und Dhana ebenso wie die Reiter des Königreichs Tortall zu vernichten. Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Pierce, Tamora: Dhana / Tamora Pierce. – Würzburg: Arena
Der Titel der Originalausgabe lautet: »The Emperor Mage« (Volume II in the »Daine« series)
© 1993 by Tamora Pierce Originalverlag: Atheneum, New York
2. Auflage 1996 © 1993 by Arena Verlag GmbH, Würzburg ISBN 3-401-04433-8
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Für alle meine Leser in Deutschland, die, meine Bücher so begeistert aufgenommen haben. Und für Julia, Thomas und Martina, die so viel getan haben, um die Liebe dieser Schriftstellerin der Neuen Welt für die Alte Welt zu vertiefen!
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Dank Normalerweise ziehe ich es vor, Danksagungen nicht vor Beendigung einer Serie auszusprechen, aber dieses Buch beinhaltet so viel Arbeit über das Maß all dessen hinaus, woran meine Liebsten und Besten gewöhnt sind, und so viele lebensnahe Forschungen, daß ich gerne die Gelegenheit nutzen möchte, um meine Wertschätzung auszudrücken. Zuallererst danke ich meiner guten Freundin und Schreib-Gefährtin Raquel Starace. Dieses Buch wäre nie geschrieben worden, hätte sie mich nicht mit ihrem eigenen Interesse für Wölfe und ihrer Liebe zu ihnen inspiriert. Sie lieh mir Texte, Bänder und Videos. Sie begleitete mich auf Zoo-Safaris und ertrug mit Gleichmut all jene stundenlangen Telefongespräche zu den ungewöhnlichsten Zeiten mit Fragen wie: »Ist Braun die einzige Augenfarbe, die sie haben?« Muchas gracias, Rock – ich stehe in Deiner Schuld. Ich danke auch Tim, meinem Mann, der mich immer wieder aus den literarischen Sackgassen befreit, in denen ich steckenbleibe, und der mehr als ein Jahr mit Wölfen verbrachte, die von unserem Plattenspieler sangen, in unserem Fernseher jagten und ihn von meinem Schwarzen Brett aus beobachteten. Du siehst, Tim, ich hab’ Dir doch gesagt, sie würden Dich nicht fressen! Am meisten möchte ich jenen Forschern und Wolf-Experten danken, deren Arbeiten ich so freimütig nach Ideen und Fachwissen über Verhaltensweisen plünderte: L. David Mech für alle seine Werke, aber besonders für THE WOLF: The Ecology and Behavior of an Endangered Species; Farley Mowat, dessen Neuer Cry Wolf mich mit diesem besonderen Markenzeichen des wölfischen Humors bekannt machte; Martin Stouffer und seiner Fernsehsendung Wild America, besonders die Folge »Wolf and Whitetail«. Ferner der Narure Conservancy; der National Wildlife Federation; der New York Zoological Society; und dem Internationalen Wolf-Zentrum von Ely, Minnesota, das sich so sehr um die Erhaltung dieser faszinierenden, bedrohten Tierart bemüht. Mein besonderer Dank gilt auch den Mitarbeitern des Arena Verlags und der Agentur Liepman für ihre geschätzte Arbeit im Sinne von Alanna und Dhana und für ihre Geduld mit der Autorin.
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l Begegnungen Die Wölfe des Rudels vom Langen See hatten sich an einem unvorsichtigen Bergschaf gütlich getan und schliefen nun. Nur ihr Anführer Brokefang war wach und sah den Mond aufgehen. Er saß auf einem Felsvorsprung und dachte nach – eine seltsame Beschäftigung für einen Wolf. Beim letzten Vollmond des Sommers hatte er seine besten Kundschafter, Leichtfuß und Rötling, auf die Suche nach einem zweibeinigen weiblichen Wesen ausgeschickt, das einst zu seinem Rudel gehört hatte. Der Alte Weiße, der Wolfsgott, hatte ihm das geraten. Der Befehl an Leichtfuß und Rötling lautete, diese Zweibeinige zu ihm zu bringen, damit sie in seinem Sinn mit den Menschen dieser Gegend sprechen möge. Der Anblick des vollen Herbstmondes erinnerte Brokefang daran, daß die Große Kälte nahte. Was, wenn seine Botschafter Dhana nicht finden konnten? Was, wenn ihnen etwas zugestoßen war? Er mochte »Was, wenn«-Gedanken nicht. Ehe er Dhana begegnet war, hatte er sich um nichts weiter gekümmert als um sein Fressen, die Paarung, um die Herrschaft über sein Rudel und darum, seine Flohbisse zu kratzen. Jetzt bestürmten ihn ständig die schwierigsten und merkwürdigsten Gedanken, ob ihm das nun gefiel oder nicht. Leises Geplapper über ihm ließ ihn nach oben schauen. Zwei einheimische Fledermäuse hatten eine Fremde getroffen. Nun hingen die drei über seinem Kopf an einem Ast und tauschten nach Gewohnheit ihrer Art den letzten Tratsch aus. Die Neue erzählte von einer Zweibeinerin auf der anderen Seite der Berge, die ihrem Äußeren nach ein Mensch, im Innern aber eine Angehörige des Tierreiches war. Die Zweibeinerin brachte Nachricht von den Fledermäusen im Südwesten, und wenn eine Fledermaus vom Langen See verletzt war, konnte sie diese mit ihrer Magie heilen. Sie reiste in seltsamer Gesellschaft: mit zwei Pferden, einem Pony, einem besonders hochgewachsenen menschlichen Männchen, einer großen Eidechse und zwei Wölfen. Die einheimischen Fledermäuse brachen 6
ob dieser Neuigkeiten in erstaunte Rufe aus. Das mußte die Kolonie unbedingt erfahren, entschieden sie. Ob die Besucherin eventuell mit ihnen kommen und davon in der Höhle erzählen würde? Zusammen mit ihrem Gast schwangen sich die Fledermäuse in die Luft. Brokefang streckte sich. Eine dieser merkwürdigen neuen Überlegungen war gewesen, daß er viel lernen konnte, wenn er dem Gespräch von Nicht-Wölfen zuhörte. Jetzt erkannte er, daß dies eine gute Überlegung war. Die anderen waren dann vielleicht auch nicht so schlecht. Mit Interesse hatte er gehört, daß auch Dhana neue Dinge gelernt hatte, seit sie vom Rudel weggegangen war. Damals konnte sie nicht direkt mit Fledermäusen reden, und geheilt hatte sie nur mit brennenden, schmerzenden Flüssigkeiten, mit Nadeln, Faden und Schienen, nicht mit Magie. Mitten im Strecken hielt Brokefang inne, als ihm etwas einfiel. Als Leichtfuß und Rötling gegangen waren, hatte das Rudel in der Nähe des südlichen Talzuganges an einer Stelle gelagert, an der ein Fluß den See verließ. Wenn es ihnen am Ende auch gelingen mochte, das neue Lager in den Bergen westlich des Tales zu finden, konnte es doch Tage dauern, bis sie das Rudel entdeckten. Er würde seine Wölfe nach Süden führen und seine Besucher nach Hause geleiten. Zwei Tage später schaute das Mädchen namens Dhana in den Regen hinaus, der vor der Höhle niederrauschte, in der sie und ihre Freunde Zuflucht gefunden hatten. Für jemanden, den Brokefang als »Rudelmitglied« betrachtete, sah sie recht menschlich aus. Sie war mit fast einem Meter achtzig groß für ihre vierzehneinhalb Jahre, schlank, mit blaugrauen Augen in der Farbe der Wolken. Das lockige, braune Haar war zusammengebunden, und ihre Kleidung war ebenso praktisch wie ihre Frisur. Sie trug ein blaues Baumwollhemd, rehbraune Reithosen und Stiefel mit weichen Sohlen. Um ihren Hals hing an einem Lederriemen eine schwere Silberklaue. Sie spielte mit der Klaue und dachte nach. Sie war in einer Berggegend wie dieser hier geboren, in einem Ort namens Winterthal jenseits der Grenze, in Galla. Bevor sie ihre Familie verlor, hatte sie die ersten zwölf Jahre ihres Lebens dort verbracht. Sie hatte Galla verlassen, um der Königin und dem König von Tortall zu dienen, und 7
gehofft, die Berge niemals wiederzusehen. Und jetzt war sie hier, an einem Ort, der Winterthal zum Verwechseln ähnlich sah. Bald würde sie bei den Wölfen sein, die in ihrer alten Heimat gejagt hatten. Sie hatten die Gegend nicht lange nach ihr verlassen. Ihre augenblicklichen Führer, Leichtfuß und Rötling, hatten ihr erzählt, daß sie vor den menschlichen Jägern geflohen waren, um beim Langen See ein neues Zuhause zu finden. Wie würde es sein, wenn sie die Wölfe wiedersah? Wenn sie wieder mit ihnen zusammen war? »Worüber denkst du nach?« fragte eine männliche Stimme aus der Tiefe der Höhle. »Du siehst finster drein.« Dhana drehte sich um. Am Feuer saß mit überkreuzten Beinen, ein Reiseschreibpult auf den Knien, ihr Lehrer, der Zauberer Numair Salmalin. Er trug sein dichtes, schwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, so daß es ihm weder in sein dunkles Gesicht noch in seine braunen Augen fallen konnte. Seine Schreibfeder wirkte wie ein Zwergenspielzeug in der Hand, die sie hielt. Es war eine außerordentlich große Hand, die jedoch trotz ihrer Größe anmutig wirkte. »Ich hab’ mich gerade gefragt, ob Onua es schafft, ohne meine Hilfe mit den Pferden fertig zu werden. Ich weiß, der König hat ihr gesagt, daß er uns hier oben braucht, aber ich habe noch immer das Gefühl, ich sollte bei ihr sein.« Numair zog die Augenbrauen in die Höhe. »Du weißt sehr gut, daß Onua jahrelang mit den Pferden der Reiterei zurechtgekommen ist, bevor du zu ihr kamst. Also, was bedrückt dich wirklich?« Dhana verzog das Gesicht. Sie konnte ihn nie täuschen, wenn er etwas wissen wollte. »Ich hab’ Angst.« Er legte seine Schreibfeder nieder und widmete Dhana seine volle Aufmerksamkeit. »Wovor?« Sie sah auf ihre Hände hinab, die rissig waren vor Kälte. Dabei war es erst die dritte Woche im September. »Erinnerst du dich, was ich dir einmal erzählt habe? Daß ich verrückt geworden bin und mit den Wölfen gejagt habe, nachdem Banditen Ma und Großvater und unsere Tiere getötet hatten?« Er nickte. »Die Wölfe halfen dir, den Tod deiner Familie zu rächen.« 8
»Was ist, wenn es wieder passiert? Wenn ich sie sehe und vergesse, daß ich ein Mensch bin, wenn ich wieder glaube, ich sei ein Wolf? Ich sollte inzwischen die Kontrolle über meine wilde Magie gelernt haben, aber was ist, wenn das nicht genügt?« Fröstelnd rieb sie sich die Arme. »Darf ich dich daran erinnern, daß der Zauber, der deine menschliche Natur von deiner magischen Natur trennt, von mir erschaffen wurde?« neckte er sie und zeigte bei seinem breiten Grinsen blitzendweiße Zähne. »Wie kannst du auch nur andeuten, eine von deinem ergebenen Diener…«, er verbeugte sich, was bei einem sitzenden Mann eher wie eine komische Verrenkung aussah, »… geschaffene Wirkungsweise könnte etwas anderes als vollkommen sein?« Dann wurde er wieder ernst und fügte hinzu: »Dhana, der Zauber deckt all deine Kontakte ab, zu welchem Tier auch immer. Du wirst die Kontrolle nicht verlieren.« »Und was ist, wenn es nicht die Magie war? Wenn ich einfach nur verrückt geworden bin?« Kräftige Zähne packten sie fest am Ellbogen. Dhana drehte sich um und blickte in die glänzenden Augen ihres Ponys Wolke. Wenn ich dich beißen muß, damit du aufhörst, dir selbst leid zu tun, dann mach’ ich’s, teilte ihr das Pferd mit. Du bist einfach blöd. Numair, der an diese schweigenden Gespräche gewöhnt war, fragte: »Was hat sie gesagt?« »Sie sagt, ich tu’ mir selbst leid. Ich glaube nicht, daß sie mich versteht.« Ich verstehe, daß du dir über dummes Zeug Gedanken machst. Wolke ließ Dhanas Ellbogen los. Der Storchenmann wird’s dir schon sagen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte der Magier. »Erinnere dich, als du damals nach Tortall gekommen bist, hast du mir erlaubt, in deine Gedanken einzudringen. Falls da auch nur ein Körnchen echten Irrsinns vorhanden gewesen wäre, ich hätte es gefunden.« Dhana lächelte. »Es gibt Leute, die sagen würden, ausgerechnet du seist der letzte, der weiß, wer verrückt ist und wer nicht. Ich kenne einen Koch, der dich nicht in seine Küche hineinläßt. Und einen 9
Quartiermeister, der sagt, er würde dich einsperren, wenn du ihm noch einmal seine Vorräte klaust…« »Genug!« Numair hob abwehrend die Hände. »Nur, damit du’s weißt.« Dhana fühlte sich schon wieder besser und fragte: »Was schreibst du da?« Er nahm wieder seine Schreibfeder zur Hand. »Einen Bericht an König Jonathan.« »Schon wieder?« fragte sie überrascht. »Aber wir haben erst vor einer Woche einen geschickt.« »Er sagte regelmäßige Berichte, Zauberlehrling. Das bedeutet wöchentliche. Es ist ein kleiner Preis, den wir für die Erlaubnis zahlen müssen, deinen Wolf-Freunden zu Hilfe zu kommen. Ich wünschte bloß, ich hätte bessere Neuigkeiten für ihn.« »Ich glaube nicht, daß wir diese vermißten Menschen finden.« Im März war eine Gruppe der Königlichen Reiterei – sieben junge Männer und Frauen – etwa in dieser Gegend verschwunden. Seit Juli waren zwanzig Soldaten der Armee von Tortall nicht mehr auffindbar. »Sie können sich überall im Umkreis von hundert oder zweihundert Meilen von hier aufgehalten haben.« »Wir können nichts weiter tun als die Augen offenhalten«, sagte Numair, während er schrieb. »Auf jeden Fall haben wir als einfache Reisende schon viel mehr gesehen, als es Soldaten können. Es ist wirklich ein Jammer, daß die gesamte nordöstliche Grenze für magische Visionen undurchsichtig ist. Mir war nicht klar, wie gewagt eine Inspektion zu Fuß sein würde.« »Warum könnt ihr Zauberer diese Gegend nicht mit eurer Magie sehen?« wollte Dhana wissen. »Als ich den König fragte, sagte er etwas von einer Stadt der Götter und einer Aura, aber dann wurden wir unterbrochen, und er hat es mir nie erklärt.« »Das hängt damit zusammen, daß die Stadt der Götter das älteste Zentrum für das Studium der Magie ist. Über Jahrhunderte hinweg sickerte Magie bis in den letzten Stein der Stadt und breitete sich dann aus. Das Ergebnis ist eine magische Aura, die die Stadt und das Land drum herum im Umkreis von etwa fünfhundert Meilen ausblendet.« 10
Dhana pfiff anerkennend in Anbetracht dieser Fläche. »Es gibt also nur die Möglichkeit, all diese Felsen und die Bergwelt mit bloßem Auge zu durchforschen. Ein hartes Stück Arbeit.« »Genau. Sag mir, wie weit sind wir deiner Meinung nach von unserem Bestimmungsort entfernt?« Leichtfuß und Rötling hatten die Entfernung danach gemessen, wie viele Meilen ein Wolf an einem Tag zurücklegen konnte. Dhana mußte diese Angaben durch zwei teilen, um herauszubekommen, wie weit sie zu Pferd kommen würden. »Einen halben Tagesritt bis zum Südzugang des Tales, wo der Fluß Dunlath den Langen See verläßt. Von…« Sie unterbrach sich, als sie eine Art Flüstern in ihrem Kopf verspürte. Tiere näherten sich, suchten sie. Sie rannte zum Höhleneingang, als gerade ihre Pferde vorbeigaloppierten. Ihre Hufe hallten auf dem Höhlenboden, so daß sich Dhana die Ohren zuhalten mußte, als sie nach ihren Besuchern Ausschau hielt. Da kamen sie den Pfad herauf. Wölfe. Drei vorneweg und fünf als Nachhut. Zwei der Leitwölfe waren diejenigen, die sie zum Langen See geführt hatten. Das kleine, rötlichweiße Männchen namens Rötling und das braungraue Weibchen, das Leichtfuß hieß. Zwischen ihnen trottete ein riesiger, schwarzgrauer Wolf, den buschigen Schwanz kerzengerade aufgerichtet. »Brokefang!« schrie Dhana. »Numair, es ist das Rudel!« Sie rannte ihnen entgegen und verschwand in einer Menge kläffender und schwanzwedelnder Tiere. Vor Begeisterung über das Wiedersehen wuschen sie Dhana unablässig mit ihren langen Zungen. Der Mann, der im Höhleneingang stand und auf das Ende der Begrüßung wartete, merkte, daß es stärker zu regnen begann. »Warum verlegen wir die Feier nicht nach drinnen?« rief er über das Gewinsel, Gequieke und Gejaule hinweg. »Ihr werdet ja patschnaß.« Dhana richtete sich auf. »Kommt«, sagte sie zu dem Rudel. »Und meine Freunde werden nicht gegessen! Der Mann ist Numair. Er ist jetzt mein Rudel.« Zwei Wölfe – gerührt erkannte Numair in ihnen Leichtfuß und Rötling, seine Gefährten auf der Reise hierher – trennten sich von den anderen und setzten sich neben ihn. Sie grinsten und bespritzten ihn mit Tropfen aus ihrem Pelz. Da sie nun vor dem Regen in Sicherheit 11
waren, begrüßten die Neuankömmlinge Wolke und beschnüffelten sie höflich. Brokefang leckte der Stute ein paarmal übers Gesicht, was sie zärtlich erwiderte. Die Ponystute, die einzige Überlebende des Banditen-Überfalls auf Dhanas Farm, war in den Wochen, in denen das Mädchen mit dem Rudel rannte, bei ihr geblieben. In dieser Zeit war es zwischen dem Pony und den Wölfen zu einer Art Waffenstillstand gekommen. Als nächstes stellte Dhana ihr Rudel Fleckchen vor, dem übermütigen, scheckigen Wallach, der Numairs Reitpferd war. Dann kam Lümmel dran, ein sanfter, kleiner und kräftiger Brauner, der ihr Gepäck trug. Die Pferde zitterten, das Weiße zeigte sich in ihren Augen, während die Wölfe sie beschnüffelten. Sie vertrauten Dhana, daß sie die Wölfe davon abhalten würde, ihnen ein Leid anzutun, aber ihr Glaube an sie konnte die natürliche Angst nicht vollständig bannen. Nachdem die Begrüßung vorüber war, zogen sie sich in den hintersten Winkel der großen Höhle zurück und blieben dort. »Kätzchen«, rief Dhana und hielt nach ihrem Schützling Ausschau. »Komm, lern die Wölfe kennen.« Da es wußte, daß es die sterblichen Tiere oftmals erschreckte, hatte sich das Drachenkind im Schatten aufgehalten. Jetzt kam es ans Licht. Es war hellblau, beinahe sechzig Zentimeter lang von der Nase bis zum Hinterteil, der biegsame Schwanz maß noch einmal etwa dreißig Zentimeter, mit einer schmalen Schnauze und silbernen Klauen. Die Flügel, die es eines Tages in die Lüfte tragen würden, waren in diesem Stadium noch winzig und nutzlos. Seine bernsteinfarbenen Reptilienaugen verfolgten alles mit großem Interesse. Die Kleine war weitaus intelligenter als ein sterbliches Tier, aber ihre Art und Weise, Dinge zu wissen und zu tun, bildete ein Puzzle, das Dhana täglich neu zu entwirren versuchte. »Das ist Himmelslied«, erklärte Dhana ihrem Rudel. »Jedenfalls hat ihre Ma sie so genannt. Wir nennen sie aber meistens Kätzchen.« Das Drachenkind beäugte die Gäste. Die Neuankömmlinge starrten es an, Ohren schnippten unsicher vor und zurück, Schwänze verschwanden halb eingeklemmt zwischen den Beinen. Langsam erhob Kätzchen sich auf die Hinterhand, eine ihrer Lieblingsstellungen, und zirpte. 12
Als erster trat Brokefang steifbeinig vor, um sie zu beschnüffeln. Erst als sein Schwanz eine leise Andeutung eines Wedelns zeigte, kamen die anderen näher. Nachdem die Dinge zwischen den Tieren geklärt waren, sagte Dhana: »Numair, der grauschwarze Wolfsrüde ist Brokefang.« Als der Wolf kam, um an Numairs Händen zu riechen, sah der Magier, daß die Spitze seines rechten Eckzahnes abgebrochen war. »Er ist der erste Rüde des Rudels, der Boß.« Numair kauerte sich nieder, damit Brokefang sowohl sein Gesicht als auch sein Haar beschnüffeln konnte. Der Wolf deutete durch ein kurzes Schwanzwedeln an, daß ihm Numairs Geruch gefiel. »Das braungraue Männchen mit dem schwarzen Ring um die Nase ist Kurzschnauze«, sagte Dhana. »Das lohfarbene Weibchen ist Löwenherz. Sie kämpfte gegen einen Berglöwen, als sie damals in Winterthal Junge aufzog, daher hat sie ihren Namen.« Kurzschnauze berührte Numairs Hand zur Begrüßung. Löwenherz beschnüffelte den Zauberer und nieste. »Das braunrote Männchen ist Scharfnase… Das graue und lohfarbene Weibchen ist Frohsinn.« Das Mädchen setzte sich auf den Boden, und die meisten Wölfe kuschelten sich an sie. »Frostpelz, die Leitwölfin, und Langwind sind im Tal bei den Welpen geblieben.« Nachdem die allgemeine Begrüßung vorüber war, setzte Numair sich ans Feuer und legte neues Holz auf. »Hat er dir gesagt, wofür er dich braucht?« fragte er. »Sein Hilferuf war nicht sehr aufschlußreich.« Dhana nickte. »Brokefang, was ist los? Alles, was du Leichtfuß und Rötling gesagt hast, ist, daß Menschen das Tal zerstören, und ich sollte kommen und mit ihnen verhandeln.« Nachdem der Wolf geantwortet hatte, übersetzte sie: »Er sagt, diesen Frühling kamen Männer und haben angefangen, Bäume zu fällen und Löcher zu graben, ohne irgend etwas zu pflanzen. Er sagt, sie brachten Ungeheuer und noch mehr Menschen dorthin, und sie töten das Wild. Mit dem Bäumefällen und dem Löchergraben vertreiben sie die Hirsche und Elche aus dem Tal. Wenn dem nicht Einhalt geboten wird, muß das Rudel verhungern, wenn die Große Kälte kommt.« »Die Große Kälte?« fragte Numair. 13
»So nennen die Tiere den Winter.« Der Mann runzelte die Stirn. »Ich bin in bezug auf das Verhalten der Wölfe nicht so erfahren wie du, aber… hast du mir nicht gesagt, daß Wölfe aus einer Gegend fliehen, wenn es für sie dort zu lebhaft geworden ist? Haben sie nicht deshalb Winterthal verlassen, weil die Menschen dort sie gejagt haben?« Ja, sagte Brokefang. Sie wollten uns ein Leid antun, weil wir Dhana geholfen haben, die Menschen zu jagen, die ihre Mutter getötet hatten. Sie haben Rattail, Langauge und Leckermaul umgebracht und die Jungen. Dhana nickte traurig. Leichtfuß und Rötling hatten ihr von den Verlusten des Rudels erzählt. Die toten Wölfe waren Freunde von ihr gewesen. Die Welpen hatte sie nicht gekannt, aber jedes Rudel liebte seine Jungen. Sie alle zu verlieren war eine Katastrophe. Brokefang fuhr fort: Wir verließen Winterthal. Es war eine schwere Wanderschaft in den heißen Monaten, immer auf der Suche nach einem Heim. Wir fanden Plätze, aber entweder gab es nur wenig Wild, oder andere Rudel lebten dort, oder es gab zu viele Menschen. Dann fanden wir kurz vor der Großen Kälte den Langen See. Dieses Tal ist so groß, daß wir tagelang gehen können, ohne Menschen zu sehen. Es gibt eine Menge Wild, kein anderes Rudel, das darauf Anspruch erhebt, und in den Bergen Höhlen, um während des Schneefalls darin zu lagern. Brokefang kratzte einen Flohbiß und fuhr fort: Der Lange See war gut, nun machen die Menschen ihn schlecht. Sie haben uns einst aus dem Tal vertrieben, wo ich geboren wurde und mein Vater und vor ihm sein Vater. Früher war es unsere Art, vor Zweibeinern davonzulaufen. Ich laufe nicht davon, wenn ein anderes Rudel das meine, angreift, ich kämpfe, und das Rudel kämpft mit mir. Ist das Menschenrudel besser als ein anderes? Ich glaube nicht. Willst du uns helfen? Willst du den Menschen sagen, sie sollen mit dem Bäumefällen und dem Lärm machen aufhören? Falls sie nicht aufhören, wird unser Rudel der Sache ein Ende bereiten, aber es wäre mir lieber, sie würden freiwillig damit aufhören. Ich weiß nur allzu gut, wenn das Rudel eingreift, wird es ein Blutvergießen geben. Dhana sah die anderen Wölfe des Rudels an. Wie Menschen nickten sie zustimmend. Sie würden Brokefang in dem unwölfischsten Plan 14
unterstützen, von dem sie je in ihrem Leben gehört hatte. Woher hatten sie bloß solche Ideen? Wirst du uns helfen? fragte Brokefang noch einmal. Dhana holte tief Atem. »Ihr seid schließlich mein Rudel gewesen, oder? Ich werde mein Bestes tun. Ich kann nicht versprechen, daß sie mir zuhören, aber ich werde es versuchen.« Gut, sagte Brokefang. Er trottete zum Höhlenausgang und streckte seine Nase schnüffelnd in die Luft. Die Brise roch nach Rotwild, das direkt hinter dem Hügel graste. Er sah Dhana an und sagte: Wir müssen jetzt jagen. Wir werden zurückkommen, wenn wir satt sind. Noch während Dhana seine Worte übersetzte, verließen die Wölfe die Höhle. Sie folgte ihnen zum Höhlenausgang und sah ihnen nach, als sie im Regen verschwanden. Es wurde dunkel. Hinter ihr klapperte es, als Numair das Kochgeschirr auspackte. Während sie über das Rudel nachdachte und über ihre Zeit mit den Wölfen, wurde sie von ihren Erinnerungen fortgerissen. Der Nachtwind trug einst der Wölfin Dhana den Geruch eines Wachtpostens der Banditen zu: ungewaschene Männer, altes Blut, saurer Wein. Ihre Nasenflügel flatterten bei dem Gestank. Sie bedeckte sie mit ihrer freien Hand. Mit der anderen umklammerte sie einen Dolch, das letzte menschliche Werkzeug, an dessen Verwendungszweck sie sich erinnerte… Er machte irgend etwas mit seinen Händen, als er mit dem Rücken zu ihr stand. Sie schlich sich näher heran, ohne auf den Schnee unter ihren nackten Füßen und die eiskalte Luft auf ihren nackten Armen zu achten. Waldgeräusche übertönten das bißchen Lärm, das sie machte. Er war betrunken. Sie alle waren zu betrunken, um zu bemerken, daß die ersten beiden Wachablösungen nicht zurückgekehrt waren. Sie setzte zum Sprung an. Irgend etwas ließ ihn herumfahren. Jetzt sah sie, was er gemacht hatte: In der einen Hand hielt er ein Käserad, in der anderen einen Dolch, und zwischen seinen Zähnen steckte ein großes Stück Käse. Sie sah auch seine Halskette, die Bernsteinperlen, die ihre Mutter an jedem Tag ihres Lebens getragen hatte. Sie sprang – und spürte eine heiße Linie aus Schmerz entlang ihrer Rippen. Er hatte mit dem Messer auf sie eingestochen. 15
Brokefang fand sie. Sie hatte sich unter einen Busch geschleppt und versuchte, die Wunde an ihrer Seite zu lecken. Der Wolf übernahm dies für sie. Es ist die Zeit der Morgendämmerung, sagte er. Was muß jetzt getan werden? Wir machen sie fertig, sagte sie zu ihm und ballte die Hände zu Fäusten. Wir machen sie alle fertig. »Ich glaube, ich weiß, weshalb Brokefang sich so verändert hat«, sagte Dhana und riß sich aus den Erinnerungen los. »Ich meine, die Tiere lernen Dinge von mir, und möglicherweise sind deshalb die meisten aus dem Rudel so aufgeweckt, aber Brokefang ist am Schlauesten. Ich wurde verletzt, als wir hinter diesen Banditen her waren, und er hat meine Wunde sauber geleckt.« »Das klingt durchaus überzeugend«, pflichtete Numair ihr bei. »Es gibt Fälle von magisch begabten Menschen, welche die Gabe hatten, ihre Fähigkeiten auf nichtmenschliche Gefährten zu übertragen. Da ist zum Beispiel Boazan, der Sonnentänzer, dessen Adler Thati zehn Sprachen sprechen konnte, nachdem er seine Tränen getrunken hatte. Und…« »Numair«, sagte Dhana warnend. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, daß er für Stunden nicht mehr in die reale Welt zurückkehren würde, wenn sie ihn erst einmal damit beginnen ließ, Beispiele aufzuzählen. Er grinste, für alle Welt eher einer ihrer Stallburschen oder Reiterfreunde und nicht der größte Zauberer von Tortall. Er hatte damit begonnen, das Essen zu kochen. Ein Topf voller kleingeschnittener Wurzeln köchelte bereits über dem Feuer. Dhana setzte sich neben ihn und begann, Kräuter kleinzuhacken. Kätzchen kam angewatschelt, um zu helfen, oder um wenigstens zu naschen. Das ist sehr hübsch, sagte plötzlich eine Stimme sowohl in Dhanas als auch in Numairs Gedanken. Gemütlich, besonders an einem Regennachmittag. Sie drehten sich um und schauten zum Höhleneingang. Er schimmerte in einem silbrigen Licht, das von einem Tier auszugehen schien, das dort stand. Der Dachs watschelte herein, das Licht um seinen Körper verblaßte. In höflicher Entfernung vom Feuer blieb er 16
stehen und schüttelte sich. Wasser spritzte aus seinem langen, schweren Pelz. Dhana griff nach der Silberklaue, die er ihr einst gegeben hatte. Sie mochte Dachse, und ihr geheimnisvoller Ratgeber war ein sehr ansehnlicher Dachs, groß für seinesgleichen, über neunzig Zentimeter lang, mit einem etwa dreißig Zentimeter langen Schwanz. Er wog mindestens fünfzig Pfund, und es hatte den Anschein, als könne er Unmengen von Wasser in seinem Fell unterbringen. Nachdem er mit Ausschütteln fertig war, kam er ans Feuer und stellte sich zwischen Numair und das Mädchen. Da Dhana auf dem Boden saß, befanden sich ihre Köpfe nun beinahe auf gleicher Höhe. Er stand so dicht bei ihr, daß sie seinem durchdringenden Moschusgeruch nicht ausweichen konnte. »Dhana, ist das…« Numair klang etwas nervös. Aus kühlen, intelligenten Augen in einem lebhaft gezeichneten Gesicht sah der Dachs ihn an. Ich habe ihrem Vater versprochen, ich würde sie im Auge behalten. Du bist also ihr Lehrer. Sie erzählt mir immer eine Menge von dir, wenn ich sie besuche… »Darf ich dich etwas fragen?« erkundigte sich der Magier. Ich bin ein Unsterblicher, das erste männliche Wesen meiner Art. Der männliche Dachs-Gott, wenn du so willst. Das ist es doch, was du mich fragen wolltest, nicht wahr? »Ja, und ich danke dir«, antwortete Numair zögernd. »Ich dachte, ich hätte meinen Geist gegen jegliche Art von magischem Gedankenlesen abgeschirmt…« Das klappt vielleicht bei sterblichen Zauberern, sagte der Dachs. Vielleicht funktioniert es auch bei weniger Unsterblichen wie Sturmflügeln. Ich bin weder… Dhana verbarg ein Lächeln hinter ihrer Hand. Sie bezweifelte, daß jemand anders jemals so mit Numair gesprochen hatte. Sie selbst war daran gewöhnt. Der Dachs war ihr vor sechzehn Monaten während ihrer Reise nach Tortall im Traum erschienen, um ihr Ratschläge zu erteilen. Seitdem hatte sie oft von ihm geträumt. Doch der Magier war nicht so leicht einzuschüchtern. »Noch eine Frage, bitte«, sagte er. »Nachdem ich nun schon einmal die 17
Gelegenheit habe, sie zu stellen. Du könntest damit auch gleich einige wissenschaftliche Streitpunkte klären.« Stell deine Frage. Die Stimme des Dachses klang betont geduldig. »Die Bewohner der Göttlichen Reiche werden von den Menschen die ›Unsterblichen‹ genannt, aber der Begriff an sich ist sehr ungenau. Ich weiß, daß Kreaturen wie die Sturmflügel, Spinnerlinge und so weiter, ewig leben werden, wenn sie nicht durch einen Unfall oder durch einen gezielten Angriff getötet werden. Ich weiß auch, daß ihr Alterungsprozeß unvorstellbar langsam vor sich geht. Aber inwiefern genau sind sie denn ›weniger unsterblich‹ als du zum Beispiel?« Sie werden »weniger unsterblich« genannt, weil sie letztlich doch getötet werden können, war die Antwort. Ich jedoch kann genausowenig getötet werden wie Mithros, oder die Göttin, oder all die anderen Götter, die von den Zweibeinern verehrt werden. »Unsterbliche« ist dennoch das Wort, das von euch Zweibeinern noch am besten gebraucht werden kann, auch wenn es nicht völlig korrekt ist. Nachdem er Numair sprachlos gemacht hatte, fuhr der Dachs fort: Dein Unterricht ist ja recht gut, aber du hast ihr nicht gezeigt, welchen Schritt sie als nächsten machen soll. Ich bin überrascht. Für einen Sterblichen ist dein Umgang mit wilder Magie normalerweise gut… Numair sah hinunter auf den Gast, der seine Unterrichtsmethoden in Frage stellte. »Wenn du das Gefühl hast, ich hätte etwas unterlassen, dann kläre uns um Himmels willen doch auf.« Der Dachs nieste. Das schien seine Art zu lachen zu sein. Dhana, du kannst lernen, in die Gedanken eines sterblichen Tieres einzudringen, du mußt es nur versuchen. Du kannst seine Augen benützen wie deine eigenen, seine Ohren, seine Nase… Dhana runzelte die Stirn und versuchte, ihn zu verstehen. »Aber wie? Als du sagtest, ich könne Tiere hören und rufen, war das ein Teil dessen, was ich zu tun verstand. Dies hier ist etwas ganz anderes.« Mach deine Gedanken zu den Gedanken des Tieres, dem du begegnest, sagte er zu ihr. Denke, wie dieses Tier, bis du selbst dieses Tier wirst. Am Ende kanntest du sehr überrascht sein, was dabei herauskommt… 18
Das klang recht seltsam, aber sie hütete sich davor, das auszusprechen. Sie hatte ihn einmal etwas gefragt, und er hatte sie mit einem Schlag seiner Tatze platt gedrückt. »Ich versuche es.« Gib dein Bestes. Wo ist der junge Drache? Kätzchen hatte von der anderen Seite des Feuers aus zugeschaut. Jetzt setzte sie sich neben den Dachs und legte eine ihrer kleinen Klauen in sein Fell. Sie hatte mit ihrem Vokabular aus Zirpen, Pfeifen, Schnalzen und Trillern eine Menge zu sagen. Er hörte ihr zu, als bedeute das alles etwas, und als sie geendet hatte, watschelte er zu Wolke und den anderen Pferden, um mit ihnen zu reden. Schließlich kehrte er zum Feuer zurück, wo Dhana und Numair höflich gewartet hatten, bis er seine Privatunterhaltungen beendet hatte. Ich muß zu meiner Heimstatt zurückkehren, verkündete er. In den Göttlichen Reichen ist es ziemlich hektisch geworden, seit die schützende Mauer durchbrochen wurde und die weniger Unsterblichen in eure Welt entkommen sind. »Weißt du, wer es getan hat?« fragte Numair rasch. »Wir suchen jetzt schon seit zwei Jahren nach dem Schuldigen.« Warum im Namen der Herrscherin der Tiere sollte ich das wissen? lautete die mürrische Antwort. Ich habe mehr als genug in sterblichen Bereichen zu tun, schon allein damit, auf sie hier aufzupassen. »Sei nicht böse«, bat Dhana. »Er dachte, du wüßtest es vielleicht, da du ja bereits so viel weißt.« Du bist ein gutes Kind. Der Dachs rieb seinen Kopf an ihrem Knie. Gerührt von diesem Zeichen der Zuneigung, drückte Dhana ihn fest an sich und vergrub ihre Finger in seinem zottigen Pelz. An Numair gewandt, fügte er hinzu: Und ich bin dir nicht böse, Sterblicher. Ich kann nicht auf jemanden böse sein, der meine kleine Freundin so gut beschützt hat. Laß mich los, Dhana. Ich muß zurück. Dhana gehorchte, und der Dachs ging auf den Höhleneingang zu. Silbriges Licht umhüllte ihn. Als es am stärksten leuchtete, flammte es noch einmal kurz auf und erlosch. Er war fort. »Nun ja«, sagte Numair. Dhana dachte, er würde noch etwas hinzufügen, aber er beschäftigte sich nur damit, im Gemüse herumzurühren. 19
Plötzlich fiel ihr die Frage ein, die sie dem Dachs schon lange hatte stellen wollen. »Ich glaube, er hat einen Zauber über mich ausgesprochen«, klagte sie. »Wieso das?« »Jedesmal, wenn ich ihn sehe, will ich ihn fragen, wer mein Vater ist, und jedesmal vergesse ich es! Und er ist der einzige, der es mir sagen kann, verdammt noch mal!« Kätzchen stieß ein Trillern aus, und ihre Augen mit den schlitzartigen Pupillen blickten besorgt drein. »Mir fehlt nichts, Kleines«, sagte das Mädchen und seufzte. »Aber es ist trotzdem nicht fair.« Numair kicherte. »Irgendwie bezweifle ich, daß der Dachs sich viel darum kümmert, was du nun fair findest.« Auch sie mußte lächeln, obwohl ihr Lächeln etwas schief geriet. Sie wußte, er hatte recht. »Weil wir gerade von Fairneß sprechen, was hältst du von seinem Rat, eine magische Symbiose einzugehen?« Meistens war sie froh, wenn er mit ihr sprach, als sei sie ihm ebenbürtig, und nicht von oben herab. Gerade jetzt jedoch schwirrte ihr der Kopf von Brokefangs Neuigkeiten und den geheimnisvollen Ratschlägen des Dachses. »Eine magische Sym… Sym… was?« »Symbiose«, wiederholte er. »Es gibt Geschöpfe, die leben von anderen Geschöpfen, aber nicht zerstörerisch wie etwa Parasiten… Ein Beispiel könnten die Vögel sein, die auf Bisons reiten, um Insekten aus dem Fell der Tiere zu picken.« »Oh. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich hab’s noch nie versucht.« »Jetzt wäre gerade eine gute Zeit«, meinte er hilfreich. »Das Gemüse muß noch einige Zeit kochen. Warum versuchen wir es nicht mit Wolke?« Dhana sah sich um, bis sie die Stute entdeckte, die noch immer zusammen mit Lümmel und Fleckchen im Hintergrund der Höhle stand. »Wolke, kann ich?« »Wolke, darf ich«, korrigierte Numair sie. 20
Du kannst oder du darfst. Ich weiß nicht, ob es helfen wird, sagte die Stute. Das Mädchen setzte sich neben das Pony, und Lümmel und Fleckchen gingen nach draußen, um wieder zu grasen. Numair begann, die Zutaten für das Brot zusammenzusuchen, das dann über dem Lagerfeuer gebacken werden sollte. Kätzchen schaute ihm interessiert zu. »Laß ihn den Teig nicht zu lange rühren«, befahl Dhana dem Drachen. »Wenn er es vergißt, wird er zu hart.« Kätzchen zirpte, als Numair seiner jungen Schülerin quer über die Höhle einen bösen Blick zuwarf. Das Mädchen schloß die Augen. Sie atmete langsam ein und aus und tauchte tief in ihr Inneres, um die Quelle aus kupferfarbenem Licht zu finden, die ihre wilde Magie war. Sie rief einen feurigen Faden daraus zu sich empor, griff nach Wolke und versuchte, ihrer beider Gedanken aneinander zu binden. Wolke wimmerte und störte die Konzentration des Mädchens. Das tut weh, fauchte die Stute. Wenn es weh tut, mach’ ich’s nicht. Versuch es mit weniger Magie. Dhana schloß wieder die Augen und gehorchte. Diesmal verwendete sie einen Tropfen kupfernen Feuers, sie gedachte ihre Gedanken an die von Wolke anzukleben. Die Stute brach in der Sekunde den Kontakt ab, als Dhanas Feuer sie berührte. Dhana versuchte es ein zweites, dann ein drittes Mal. Ohne Erfolg. Es ist die gleiche Art von Magie, die in dir ist, sagte sie frustriert zu Wolke. Es besteht überhaupt kein Unterschied. Es tut weh, erwiderte das Pony. Wenn dieser Dachs gewußt hat, daß es weh tut, dann werde ich ihm mal ein paar Dinge erzählen, wenn er uns das nächstemal besucht. Ich mach’s nicht mit Absicht, verteidigte sich Dhana. Wie kann ich es machen, ohne dir weh zu tun? Ohne Feuer, schlug Wolke vor. Du brauchst es doch nicht, um mit uns zu reden oder uns zuzuhören. Weshalb denn jetzt? Dhana kaute auf einem Daumennagel herum. Wolke hatte recht. Sie benützte das Feuer ihrer Magie nur, wenn sie müde war oder wenn sie 21
etwas besonders Schweres tun mußte. Jetzt war sie müde, und der Duft der Suppe hatte ihre Nase erfüllt. »Versuchen wir’s morgen wieder«, sagte sie laut. »Ich hab’ Kopfschmerzen.« »Komm essen«, rief Numair. »Du hast beinahe eine Stunde damit zugebracht.« Dhana ging zum Feuer, Wolke folgte ihr. Ehe sie sich setzte, kramte Dhana in ihrer Reisetasche herum und reichte dem Pony eine Karotte. Numair gab ihr eine Schale mit mild gewürzter Gemüsesuppe. Kätzchen kletterte in den Schoß des Mädchens und zwang Dhana, ihre Arme während des Essens um den kleinen Drachen zu schlingen. Zwischen zwei Mundvoll erklärte Dhana, was sich abgespielt hatte. Wolke hörte zu, knabberte an der Karotte und ließ ihre Ohren vorund zurückschruppen. Als Dhana mit Erzählen fertig war, meinte die Stute: Vielleicht bin ich für den Versuch die Falsche. »Wer denn sonst, Wolke?« fragte Dhana. »Dich kenne ich länger als alle anderen.« Sie gähnte. Das Experiment, auch wenn es ein Fehlschlag gewesen war, hatte sie völlig ausgelaugt. Aber ich bin ein Grasfresser – du bist ein Jäger. Warum versuchst du’s nicht mit einem Jäger? Es mag vielleicht einfacher sein, wenn du es zuerst mit Wölfen probierst. Genaugenommen bist du ja praktisch selbst ein Wolf. »Und wenn ich vergesse, daß ich ein Mensch bin?« »Ich wünschte, ich könnte beide Seiten der Unterhaltung hören«, gestand Numair leise dem Drachen. »Ich fühle mich manchmal so ausgeschlossen.« Der Mann sagt, das wird nicht geschehen, erwiderte Wolke. Er sollte es wissen. Brokefang ist ja schon ein Teil von dir. Frag den Storchenmann. Er wird dir sagen, daß ich recht habe. Dhana übersetzte dies für Numair. »Sie hat vielleicht recht«, sagte er. »Versuch es doch morgen mit Brokefang.« Er sah zu, wie Dhana mit weit aufgerissenem Mund gähnte, und lächelte. »Es hat wirklich bis morgen Zeit. Kümmere dich auch nicht ums Aufräumen. Das mache ich.« »Aber ich bin dran«, protestierte sie. »Du hast gekocht, also muß ich aufräumen.« 22
»Geh zu Bett«, sagte ihr Lehrer ruhig. »Der Mond wird auf seiner allmonatlichen Reise bestimmt nicht stehenbleiben, bloß weil ich bei ein und derselben Mahlzeit gekocht und aufgeräumt habe.« Sie schlüpfte in ihre Bettrolle und war in dem Augenblick eingeschlafen, als sie die Decken hochzog. Als die Wölfe sehr viel später zurückkamen, wurde sie gerade wach genug, um zu sehen, wie sie sich um sie scharten. Auf der einen Seite das zusammengeringelte Kätzchen, den ausgestreckten Brokefang auf der anderen Seite, so setzte Dhana ihre Nachtruhe fort. Am nächsten Morgen war es feucht und kühl. Die Kälte trug bereits einen Hauch der kommenden Monate in sich. Das Frühstück wurde schweigend eingenommen, denn weder Dhana noch Numair waren Morgenmenschen. Sie räumten gemeinsam auf und machten die Pferde für die Tagesreise zurecht. Die Wölfe waren losgezogen, um die Beute der vergangenen Nacht vollends aufzufressen. Als sie zurückkehrten, reichte Numair Dhana gerade eine kleine, von einem einfachen Band zusammengehaltene Papierrolle. »Können wir das heute an den König schicken?« fragte er. Dhana nickte und sandte ihre Magie aus. Nicht weit von ihrem Lagerplatz entfernt befand sich das Nest eines Steinadlers namens Sonnenklaue. Dhana näherte sich ihm höflich und erklärte, was sie wollte. Sie hätte den Vogel zwingen können zu tun, was sie von ihm verlangte, aber das wäre nicht gerade eine freundschaftliche Handlungsweise gewesen. Der Adler hörte aufmerksam zu und war einverstanden. Als er ankam, dankte Dhana ihm und sorgte dafür, daß sich die Anweisungen für die Übergabe von Numairs Bericht in Sonnenklaues Gedanken festsetzten. Numair bedankte sich ebenfalls bei Sonnenklaue und überreichte ihm den Brief mit einer Verbeugung. Brokefang hatte all das mit großem Interesse beobachtet. Du hast dich verändert, bemerkte er, nachdem Sonnenklaue verschwunden war. Du weißt jetzt so viel mehr. Du wirst die Zweibeiner davon abhalten, das Tal zu zerstören. Dhana runzelte die Stirn. Ich weiß nicht, ob ich das kann, sagte sie zu dem Wolf. Menschen sind nicht wie Tiere. Tiere sind feinfühlig. Menschen nicht. 23
Du wirst uns helfen, wiederholte Brokefang überzeugt. Du hast gesagt, du wirst es tun. Nun, seid ihr fertig? Es ist Zeit zu gehen. Dhana setzte Kätzchen oben auf die Reisetaschen auf Lümmels Rücken. Numair bestieg Fleckchen, und das Mädchen stieg auf Wolke. »Geh voraus«, befahl der Magier Brokefang. Die Wölfe trotteten den Pfad entlang, gefolgt von den Pferden und deren Reitern. Als sie an eine Weggabelung kamen, von der ein Pfad zum nahen Fluß und der andere in die Berge führte, wählte Brokefang den letzteren. »Wenn wir dem Fluß folgen, kommen wir dann nicht in das Tal?« rief Dhana. »Das wäre für uns nicht so beschwerlich.« Brokefang blieb stehen. Es ist einfacher, pflichtete er ihr bei, und Dhana übersetzte für Numair. Menschen gehen ständig diesen Weg. Auch Soldaten und Männer mit magischen Feuern. Es ist das beste, ihnen auszuweichen. Männer töten die Wölfe, erinnerst du dich, Rudel-Schwester? »Männer mit magischem Feuer?« fragte Numair stirnrunzelnd. Männer wie du, sagte Brokefang. Männer mit dem Inneren Licht. »Wir nennen sie Magier«, erklärte Dhana ihm. »Oder Zauberer, Hexenmeister oder Seher. Das hängt davon ab, was sie tun.« Numair war einen Moment still und überlegte. »Führe uns«, sagte er schließlich. »Ich denke, ich ziehe es vor, Begegnungen mit Menschen so lange als möglich zu vermeiden. Und danke für die Warnung.« Die Menschen, Kätzchen und die Pferde folgten den Wölfen die Flanken der Berge hinauf, die das Tal des Langen Sees säumten. Gegen Mittag kamen sie an eine Stelle, die bar jeglicher Bäume war. Die Wölfe verlangsamten ihre Gangart nicht, sondern trotteten hinaus auf die Lichtung. Dhana blieb lauschend stehen. Etwas Häßliches regte sich in ihrem Hinterkopf, ein vertrautes Gefühl, das nichts mit sterblichen Tieren zu tun hatte. Sie griff nach ihrem Bogen und legte einen Pfeil an die Sehne. Numair machte einen Schritt nach vorn, und Wolke schnappte seine Tunika mit ihren Zähnen.
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»Sturmflügel«, flüsterte Dhana. Numair erblaßte und zog sich aus der Lichtung zurück. Unter dem Dach der Bäume hervor beobachteten sie den Himmel. Hoch über ihnen glitten drei Kreaturen mit menschlichen Köpfen und Oberkörpern und großen, weit ausgebreiteten Flügeln und gespreizten Klauen dahin. Dhana wußte aus bitterer Erfahrung, daß ihre vogelähnlichen Gliedmaßen aus Stahl waren, jedoch den Anschein erweckten, als seien es echte Federn und Krallen. Im Sonnenlicht konnten sie diese Federn so anwinkeln, daß sie damit ihre Feinde blendeten. Es waren Geschöpfe der Schlachtfelder, die in den Legenden der Menschen als Monster lebten, welche die Toten entehrten. Dhana zielte auf das größte der drei Ungeheuer. Numair legte eine Hand auf ihren Pfeil. »Versuche, vorurteilsfrei zu sein, Zauberlehrling«, flüsterte er. »Sie haben uns nicht angegriffen.« »Noch nicht«, zischte sie. Brokefang, der sich umdrehte, um zu sehen, was los war, las etwas hiervon in Dhanas Gedanken. Plünderer, sagte er. Sie helfen den Soldaten und den Zauberern. Dhana übersetzte das für Numair, während die Wölfe weiter liefen und unter den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung auf sie warteten. »Sturmflügel, die mit Menschen zusammenarbeiten«, bemerkte der Zauberer leise. »Das klingt nach Kaiser Ozornes Werk.« Der Kaiser des im Süden gelegenen Königreiches von Carthak war ein Magier, der eine besondere Beziehung zu den Unsterblichen und ganz besonders zu den Sturmflügeln zu haben schien. Einige Menschen, Numair eingeschlossen, glaubten, daß es in erster Linie Ozorne zuzuschreiben war, daß so viele Unsterbliche aus den Göttlichen Reichen entlassen wurden. Er hatte ein Auge auf Tortalls Wohlstand geworfen, und viele glaubten, er beabsichtige anzugreifen, wenn die Verteidiger des Landes von den Kämpfen gegen die Unsterblichen erschöpft waren. »Darf ich jetzt auf sie schießen?« wollte Dhana wissen. »Nein, das darfst du nicht. Sie haben uns noch immer nichts getan.« Die Sturmflügel flogen davon. Verärgert über ihren Freund, kochte Dhana vor Zorn und wartete, bis sie die Sturmflügel nicht mehr spüren 25
konnte, ehe sie auf die Lichtung hinausging. Sie hatten sie zur Hälfte überquert, als Numair stehenblieb und stirnrunzelnd auf einen großen, schwarzen Krater blickte, der sich unterhalb des Abhangs vor ihnen auftat. »Das ist keine natürliche Erscheinung«, bemerkte er und ging darauf zu. »Jetzt ist nicht die Zeit für Forschungen!« zischte Dhana. Falls er sie gehört hatte, ließ er sich doch nichts anmerken. Mit einem Seufzer befahl Dhana den Pferden weiterzugehen. »Die Wölfe werden euch nicht anrühren«, sagte sie, als Fleckchen zögerte. »Geht schon!« Folgt mir, sagte Wolke zu den Pferden. Sie gehorchten. Dhana folgte Numair mit Kätzchen, das mit weit geöffneten Augen über ihre Schulter spähte. Geschwärzte Erde breitete sich auf dem Grund des Kraters aus. Auch andere Dinge waren verkohlt: Knochen, runde Metallscheiben, die einstmals Schilde gewesen waren, ehe die Lederbezüge verbrannten, Bäume, Axtköpfe, Pfeilspitzen, Schwerter. Die Hitze, die dies zustande gebracht hatte, mußte enorm gewesen sein. Der Lehmboden war stellenweise glasig und bedeckte die Erde mit einer harten Schicht, die gefangenhielt, was von diesem Kampf übriggeblieben war. Numair beugte sich über einen geschwärzten Klumpen und zerteilte ihn. Dhana sah dicht vor sich eine Menge Knochen und erkannte, daß es sich um das Skelett eines Ponys handelte. Metallstücke vom Zaumzeug des toten Pferdes waren zwischen die Knochen gefallen. Als sie sich umsah, zählte sie weitere tote Reitpferde. Die kleineren Knochenhäufchen gehörten zu menschlichen Wesen. Mit grimmigem Gesichtsausdruck sah Numair zu Dhana und hielt seinen Fund empor. Geschwärzt, halb verbrannt, ein Stofffetzen mit einem roten Pferd auf goldbraunem Feld. »Jetzt wissen wir, was mit der Neunten Reitergruppe passiert ist.« Dhanas Hände zitterten vor Zorn. Vieles verband sie eng mit der Reiterei der Königin, und der Anblick dieser verkohlten Flagge genügte, um ihr das Herz zu brechen. 26
»Und du hast mich davon abgehalten, diese Sturmflügel abzuschießen!« »Sie töten nicht mit sengendem Feuer, wie das hier der Fall war«, erwiderte Numair. »Dies hier ist Schlachtfeld-Magie. Ich habe noch nie von einem Sturmflügel gehört, der über Kriegs-Magie verfügt.« »Ich wette, sie wissen auch darüber Bescheid.« Numair legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du bist zu jung, um so voller Vorurteile zu stecken«, sagte er zu ihr. »Ein wenig Toleranz würde nicht schaden.« Er faltete die Überreste der Flagge zusammen und kletterte wieder zum Pfad hinauf.
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2 Fief Dunlath Drei Tage nachdem sie von der Höhle aufgebrochen waren, führte das Rudel sie durch eine Kluft in den Bergen. An ihrer tiefsten Stelle fanden sie eine Quelle. Hier machten sie Rast. Von da an folgten sie dem Bach bergab, bis Brokefang stehenblieb. Du mußt dir etwas ansehen, sagte er zu Dhana. Laß die Pferde bei diesem Felsen da, dort werden sie in Sicherheit sein, das übrige Rudel bewacht sie. Dhana mit Kätzchen in einem Tragetuch auf dem Rücken und Numair folgten ihm über eine Geröllhalde bergauf. Oben angekommen, konnten sie meilenweit ins Land sehen. Tief unter ihnen lag der Lange See. Der Bach, dem sie gefolgt waren, hatte sich weiter unten zu einem kleinen Fluß verbreitert. Dort, wo dieser Fluß in den See mündete, befand sich eine Stadt. Nicht weit vom Ufer entfernt und durch einen Damm mit der Stadt verbunden, lag eine Insel, die von einer großen, wehrhaft gebauten Burg gekrönt war. Numair holte sein Fernrohr aus der Tasche. Er zog es bis zur vollen Länge aus, setzte es ans Auge und beobachtete aufmerksam das Tal. Was ist das? fragte der Wolf und schaute ihm zu. »Es ist ein Fernglas in einem Rohr«, erklärte Dhana. »Dadurch erscheinen weit entfernte Dinge viel näher. Wir Zweibeiner haben nicht so gute Augen wie Wölfe.« »Das ist Fief Dunlath, da gibt es keinen Zweifel.« Numair reichte Dhana das Fernrohr. »Ich kann von hier aus das Nordufer des Sees nicht sehen. Finden dort alle diese Zerstörungen statt? Die Löcher und das Bäumefällen?« Das meiste, erwiderte Brokefang. Und Lager für die Soldaten, genau wie am Südausgang des Tales. »Soldaten am Nord- und Südende des Tales?« sagte Dhana. »Und warum dann nicht hier, wenn sie schon an allen Ein- und Ausgängen Wachhunde aufstellen wollen?« Die meisten Zweibeiner folgen den Flüssen, antwortete Brokefang. 28
Nur wenige kommen auf dieselbe Weise wie wir hierher. Und wenn, dann fangen diese fliegenden Plünderer sie draußen ab, wie sie es mit jenen Reitern gemacht haben, von denen ihr mir erzählt habt. Numair hörte genau zu, als Dhana übersetzte. »Das ist nicht gut«, murmelte er, während er noch einmal einen Blick auf Burg Dunlath warf. »Für diese Lehensleute besteht kein Grund, sich so schwer zu bewaffnen. Dem Gesetz nach haben sie lediglich das Recht auf eine bewaffnete Streitmacht von fünfzig Mann. Darf ich noch mal sehen?« Er streckte die Hand aus, und Dhana reichte ihm das Fernrohr wieder. Sie beobachteten weiter das Tal, bis Brokefang sagte: Kommt. Wir müssen weiter. Suchen wir den Lagerplatz und meine Gefährtin. Dhana und Numair folgten dem Wolf zurück zu der Stelle, wo die Pferde auf sie warteten. Ein fremder Wolf hatte sich zu den anderen gesellt, ein grau-weißes Weibchen mit stark ausgeprägter Kopfzeichnung. Brokefang rannte ihr mit hoch erhobenem und fröhlich wedelndem Schwanz entgegen. »Na, der freut sich aber, sie zu sehen«, bemerkte Numair, während sie langsam folgten. »Wer ist das?« »Seine Gefährtin, Frostpelz. Das weibliche Leittier.« Wo warst du? wollte Frostpelz von Brokefang wissen. Was hat so lange gedauert? Du hast gesagt, du gehst nur auf die andere Seite der Berge, und jetzt warst du vier Nächte lang weg. Dhana seufzte. Sie hatte vergessen, wie wenig sie Frostpelz mochte. Während ihrer Zeit bei dem Rudel war Rattail Brokefangs Gefährtin gewesen. Eine sanftere Wölfin hatte Dhana nie getroffen. Nach ihrem Tod hatte Brokefang ihre Schwester gewählt. Die neue Leitwölfin war ein unfreundliches, nörgelndes Tier, das Dhana niemals akzeptiert hatte. Wir reisten mit Zweibeinern und Pferden, erklärte Brokefang seiner Gefährtin. Die können nicht so schnell laufen wie wir. Die einzige Zweibeinerin, die du brauchst, ist sie. Warum hast du die anderen nicht zurückgelassen? Wir können jagen, wenn wir was zu essen brauchen. Es muß uns nicht gebracht werden, wie den Hunden der Menschen. 29
Bei diesen Worten legte Wolke, die zwischen Frostpelz und den anderen Pferden stand, die Ohren zurück. Kätzchen bäumte sich in dem Tragetuch auf, grub ihre Vorderpfoten in Dhanas Schulter und kreischte die Wölfin an. Dhana war verblüfft, von dem Drachenkind so bösartige Töne zu hören. Frostpelz sah sie an und bleckte die Zähne. »Genug!« befahl das Mädchen. »Wir sind Freunde. Das betrifft dich, Frostpelz, und diese Pferde. Falls du dich widersetzt, wird es dir leid tun.« Frostpelz begegnete ihrem Blick, dann sah sie weg. Du bist anders, sagte die Wölfin. Du und das Pony. Vermutlich weißt du das nicht einmal. Das Rudel war nach deinem Weggang nicht mehr wie früher. Wie sehr willst du uns diesmal verändern? Brokefang schmiegte sich an seine Gefährtin. Es wird alles gut, sagte er zu Frostpelz. Du wirst schon sehen. Bring uns zu den Babys. Du wirst dich gleich besser fühlen, wenn das Rudel wieder beisammen ist. Ohne Antwort zu geben, schlug Frostpelz einen Weg ein, der nach Norden führte. Die Wölfe und ihre Gäste folgten. Der Weg führte an einem Grat entlang, der parallel zum See verlief. Für einen Wildwechsel war er ziemlich breit und wurde, wenn die Spuren und Markierungen an Bäumen und Büschen nicht täuschten, von vielen Tieren benützt, nicht nur von Wölfen. »Bergschafe«, erklärte Dhana und zeigte Numair ein Büschel weißer Wolle, das sich an einem Zweig verfangen hatte. »Das ist ein Vielfraß, vor dem man sich in acht nehmen muß. Die sind bösartig, wenn man sie ärgert.« Als sie den Pfad entlangschaute, sah sie, daß alle Wölfe bei einem Fleischberg stehenblieben und ein Bein hoben. »Was machen die da bloß?« fragte sie und lief ans Kopfende der Reihe. »Was ist los?« wollte sie wissen. »Was stimmt mit dem Fleisch nicht?« Brokefang antwortete: Einer der Zweibeiner ist ein Wolfsjäger. Er legt vergiftetes Fleisch auf unseren Weg. Wir zeigen ihm, was wir von seinem Trick halten. Wenn er kommt und das Fleisch kontrolliert, wird er schreien und fluchen und Sachen rumwerfen. Es ist lustig, ihm dabei zuzuschauen. 30
Dhana lachte und übersetzte dies für Numair. Sie hielten mehrmals an, um ihre Meinung über die Tricks des Jägers zum Ausdruck zu bringen. Zweimal bei Schlingen, einmal bei einer Falle, einmal bei einer mit Blättern und Zweigen abgedeckten Grube. Jedesmal markierten die Wölfe mit Urin und Kot und hinterließen dem Jäger eine häßliche, stinkende Schweinerei. Bei der Falle und der Grube hinterließen auch Wolke und die anderen Pferde Zeichen der Verachtung. »Das dürfte ihn wirklich verwirren«, sagte Dhana zu Numair und Kätzchen. »Er wird nie herausfinden, wieso Pferde dazu kommen, die Duftmarke eines Wolfes zu markieren.« Ein kleinerer Pfad zweigte von dem Weg ab, auf dem sie gingen. Die Wölfe folgten ihm in ein tief in den Berghang eingeschnittenes und hinter einem Gewirr von Felsen verstecktes Tal. Hier öffnete sich der Wald in eine Lichtung rund um einen Teich. Am Ufer kreuzten sich viele Fährten, und große, flache Stellen im Unterholz deuteten auf Wolfslager hin. Aus einer Schilfgruppe ertönte herausforderndes Bellen. Das Schilfrohr schwankte, und fünf halb ausgewachsene Wölfe, deren Fell zwischen Braun und Eisgrau wechselte, purzelten heraus. Sie hatten noch Reste des weichen Babyfells und waren mitten im Zahnwechsel. Als sie der Fremden ansichtig wurden, winselten und knurrten sie, bis sich das Rudel um sie scharte und sie vor dem Anblick der Neuankömmlinge schützte. Ein anderer Wolf, ein ausgewachsenes Männchen, dessen braunes Fell schwarz und grau gezeichnet war, sprang freudig auf Dhana zu. »Das ist Langwind«, erklärte Dhana Numair. »Er hat die Jungen bewacht.« Zu dem Wolf sagte sie: »Sag Hallo zu meinen Freunden. Wolke kennst du ja.« Als Langwind gehorchte, ging das Mädchen langsam auf das Rudel zu. In dem Augenblick, als die Jungen sie bemerkten, wichen sie zurück, ohne auf Brokefangs Befehl zu achten, Dhana zu beschnüffeln. Frostpelz sagte mit grimmiger Befriedigung: Ich wußte, es war ein Fehler, Fremde herzubringen. Brokefang drängte sich an seine Gefährtin und versuchte, sie zu beschwichtigen. Leichtfuß steckte ihre Schnauze unter den Bauch 31
eines der männlichen Welpen und schubste ihn an. Wir wissen, das ist etwas, woran ihr nicht gewöhnt seid, sagte sie zu ihm, und die neuen Gerüche sind furchterregend, aber je eher ihr das lernt, um so besser. Rötling packte ein weibliches Junges am Genick und schleppte es zu dem Mädchen, dabei sagte er: Dhana gehört zum Rudel, und wenn sie dazugehört, dann gehören die anderen auch dazu. Nach der Art zu urteilen, wie die Welpen zitterten, war ihnen gar nicht wohl zumute. Dhana sandte Liebe und Sicherheit aus und ließ sie über die jungen Wölfe fließen. Als Rötling und Leichtfuß ihre Opfer losließen, blieben die, wo sie waren, anstatt davonzurennen und sich zusammen mit ihren Schwestern und Brüdern zu verstecken. Dhana setzte sich auf den Boden und achtete nicht auf die feuchte Erde unter ihrem Hinterteil. »Kommt her«, schmeichelte sie. Das Weibchen wagte sich als erstes vor, noch immer tolpatschig auf seinen großen Pfoten. Ein paar Zentimeter vor Dhanas ausgestreckten Fingern blieb es stehen. »Ich weiß, es ist schwer, aber du kannst mir vertrauen«, sagte das Mädchen ernst. Das Weibchen kam noch ein bißchen näher und beschnüffelte Dhanas Handfläche. Das ist Schnäppchen, sagte Rötling. Sie hat vor einiger Zeit eine Schwanzfeder von einem Raben geschnappt. Das Männchen tapste hinzu. Er heißt Sausewind, erklärte Rötling. Daraufhin näherten sich auch die übrigen Welpen schüchtern. Einer setzte sich hin und nieste, nachdem er an Dhanas Schuhen gerochen hatte. Das ist Dummchen, sagte Brokefang. Das dunkelbraune Weibchen ist Berry. Das kleine Männchen ist Zwerg. Es sind gute Welpen. Es werden gute Wölfe werden. »Ja«, antwortete Dhana, als sich fünf kalte Nasen in ihre Kleider, ihre Hände und in ihr Haar bohrten. »Das weiß ich.« Als nächstes stellte sie die jungen Wölfe ihren Freunden vor. Sie brachte sie dazu, Numair, die Pferde und Wolke zu akzeptieren, aber nichts konnte sie dazu überreden, Kätzchen zu mögen. Als es sich ihnen näherte, rannten sie weg und versteckten sich hinter einem der großen Wölfe. Schließlich nahm Kätzchen eine graue Farbe an, was bedeutete, daß sie traurig war und schmollte. Sie watschelte zum Teich. Dort spielte sie mit Steinen und tat so, als gingen alle anderen sie nichts an. 32
Warum ist sie traurig? fragte Rötling. Es sind Welpen. Sie wissen es nicht besser. Er hatte seine eigene Reaktion beim ersten Anblick von Kätzchen vergessen. Damals hatte er sich am liebsten unter einem Tisch versteckt. »Sie ist selbst noch ein Baby«, antwortete Dhana. »Ich kann mit ihr nicht einmal so reden wie mit ihrer Ma. Sie sieht zwar groß aus, aber für einen Drachen ist sie noch klein.« Ich verstehe. Der Wolf mit dem rötlichen Fell erhob sich, trottete zu dem Drachen und begann, mit der Pfote nach seinen Steinchen zu greifen. Bald spielten sie miteinander, und Kätzchens Schuppen nahmen wieder ihre normale, goldgesprenkelte blaue Farbe an. Dhana versuchte, ein Stöckchen aus Dummchens fest zusammengebissenen Zähnen zu ziehen, als Kurzschnauze sich schwanzwedelnd an Brokefang drängte. Als nächste drängte sich Löwenherz an den Rudelführer, und bald war Brokefang von schwanzwedelnden, an ihm hochspringenden Wölfen umringt. »Was geht da vor?« Numair untersuchte Schnäppchen nach Zecken. Als er eine gefunden hatte, sprang ein Funke von seinem Finger, und das Ungeziefer verschwand. Dhana hatte ihm neidvoll zugesehen. Sie hatte kein Talent zum Feuer machen. »Sieht wie ein Ritual aus.« »Ist es auch«, sagte das Mädchen. »Sie wollen, daß er die Jagd leitet.« »Eine seltsame Art, darum zu bitten. Nun halt mal still, Schnäppchen.« »Eigentlich nicht. Wenn sie zurückkommen, werden die Welpen auf die gleiche Weise um Futter betteln.« »Sie bringen das Fleisch hierher?« Dhana senkte den Kopf, um ein Lächeln zu verbergen. »Na ja, so ähnlich. Sie schlucken ganze Brocken davon herunter. Wenn die Welpen um Futter betteln, würgen sie es heraus.« Numair wurde hellgrün. »Das muß… unbeschreiblich schmecken.« Wir gehen auf die Jagd. Brokefang war zu den beiden getreten. Da die Kleinen dich und Numair und die Pferde akzeptieren, würdet ihr auf sie aufpassen? Wir werden euch auch Fleisch mitbringen, wenn ihr wollt. 33
Grinsend übersetzte Dhana für Numair. Der Mann schauderte und lächelte schwach. »Sag ihm meinen Dank, aber wirklich, es ist nicht nötig. Ich hab’ noch etwas Schinken und getrocknete Pilze… der Göttin sei Dank.« »Wir haben zu essen, danke«, sagte das Mädchen zu dem Wolf. »Und es wird uns eine Ehre sein, eure Welpen zu bewachen.« Das Rudel zog ab. Numair begann zu kochen, während Dhana die Pferde pflegte. Nach dem Essen ging Numair schlafen. Dhana lag jedoch noch wach und lauschte dem nächtlichen Geplauder von Eulen und Fledermäusen. Ganz am äußersten Ende ihres Bewußtseins spürte sie, daß hoch in der Luft Unsterbliche vorüberzogen. Es waren weder Sturmflügel noch Greife, auch nicht irgendeines der anderen Monster, die sie bisher gespürt hatte. Sie hatte das Gespür, daß ihr diese, falls sie ihnen einmal begegnen sollte, nicht gefallen würden. Das Gespür für sie war mit einem häßlichen Beigeschmack verbunden, wie dem Gestank von altem Blut. Das Rudel kehrte zurück, kurz nachdem das Gefühl für die Anwesenheit der Geschöpfe in ihrem Geist verblaßt war. War es eine gute Jagd? fragte sie Brokefang, der sich neben sie setzte. Ein alter, zäher Elch. Trotzdem hat er uns ganz schön rennen lassen, erwiderte er. Wolke sagt, du versuchst, in ihre Haut zu schlüpfen. Klingt interessant. Ich habe es einmal versucht, sagte Dhana. Wolke meint, mit Wölfen könnte es mir besser gelingen. Ich wollte dich schon früher bitten, aber ich mußte mich erst ausruhen. Bist du jetzt ausgeruht? wollte er wissen. Ich möchte gern, daß du es mit mir versuchst. Sie lächelte und sagte: In Ordnung. Und danke. Muß ich irgend etwas Besonderes tun? Nein. Bloß warten. Sie schloß die Augen, holte tief Luft und atmete langsam aus. Geräusche stürmten auf sie ein: Numairs Schnarchen, Kurzschnauzes Stöhnen, als er von Kaninchen träumte, das Kauen und Schmatzen der 34
Welpen, Löwenherz, die sich eine Pfote leckte. Dazu vernahm sie noch die typischen Nachtgeräusche. Sie konzentrierte sich auf Brokefang, bis sie hörte, wie sich die Flöhe in seinem Pelz bewegten. Er gähnte, und dieses Gähnen war so laut, als geschähe es in ihrem Innern. Sie lauschte auf seine Gedanken und fand sie: der Geruch von Blut in Verbindung mit der Jagd. Das Tropfen von Wasser aus den Bäumen über ihm, die Freude, eins mit dem Rudel zu sein. Brokefang seufzte… Dhana war schläfrig. Ihr Bauch war übervoll und rumpelte. Von ihrem Platz aus konnte sie das kleine Dummchen sehen. Es lag schlafend auf dem Rücken, die Pfoten in der Luft. Sie kräuselte ihre Schnurrhaare in einem stillen Lachen. Die Gerüche, die Geräusche. Sie hatte diese Eindrücke in ihrem ganzen Leben noch nie so bewußt empfunden. Da war der Wind, der durch die Kiefernnadeln strich und von Felsen und vom weiten Himmel sang. Unter ihr buddelte ein Maulwurf. Ihre Nasenflügel bebten. Hier war Wolfsmoschus, der Geruch ihrer Rudelgefährten. Dort der Heu- und Fellgeruch der Pferde, die keine Beute waren – verlockend, aber unantastbar. Ein Hauch von Blumen, Tiergeruch und Baumwolle bedeutete das Mädchen, das zum Rudel gehörte. Sie betrachtete das Mädchen, und ihr wurde klar, daß sie sich selbst ansah. Es versetzte ihr einen Stoß, ihr eigenes Gesicht von außerhalb zu sehen. Einen Stoß, der sie in sich selbst zurückschickte. Dhana öffnete die Augen. »Ich hab’s geschafft!« Numair schlug die Augen auf und lächelte, als sich das Rudel bewegte. »Du hast was geschafft?« fragte er schläfrig und drehte sich zu ihr. Brokefang wusch Dhanas Ohr, während sie erklärte. »Ich war Brokefang. Ich meine, wir waren beide in Brokefangs Geist. Ich war ein Wolf. Nur für ein oder zwei Atemzüge, aber es ist passiert!« Der Zauberer setzte sich auf. »Gut. Das nächstemal kannst du’s länger machen.« Er sah Brokefang an. »Hat es dir ebenso weh getan wie Wolke?« Nein, erwiderte der Wolf. Es hat mir Spaß gemacht. Wir werden es wieder machen. Dhana gähnte. Endlich war sie schläfrig. »Morgen«, versprach sie und kuschelte sich in ihre Bettrolle. 35
Brokefang gähnte genau wie sie. Morgen, pflichtete er ihr bei, ebenso schläfrig wie sie. Als sie aufwachte, war die blasse Sonne bereits aufgegangen. Numair kauerte neben dem Teich. Kätzchen und das Wolfsrudel standen hinter ihm und beobachteten mit Interesse, was er machte. Schwaches, schwarzes Feuer, durchsetzt von weißen Funken, quoll aus seinen Händen auf die Wasseroberfläche und bildete dort einen Kreis. Schließlich seufzte er. Das Feuer verschwand. »Was war das?« fragte Dhana, als sie sich unter ihren Decken ankleidete. »Über dem Tal liegt ein geheimes Netz«, sagte er und verzog das Gesicht, als er aufstand. »Es ist äußerst fein gesponnen. Ich bezweifle, daß viele es spüren. Und es dient dazu, den Gebrauch von Magie zu verdecken. Es blockiert außerdem jegliche Art von Botschaft, die ich dem König schicken könnte. Oder sonst irgend jemandem. Und nachdem dieses Tal unter der von der Stadt der Götter ausgehenden Aura verborgen ist, kann niemand von außerhalb auch nur ahnen, daß das Netz da ist.« »Na wunderbar«, sagte Dhana trocken. »Dunlath ist also ein Geheimnis innerhalb eines Geheimnisses.« Numair strahlte sie an. »Genau. Das hätte ich nicht besser ausdrücken können.« »Und dieses Netz, hebt es jede Art von Magie auf?« fragte sie und räumte ihr Bettzeug weg. »Wissen diejenigen, die es ausgelegt haben, daß du es soeben gesehen hast?« »Nein. Mein Netz-Zauber ist passiv, nicht aktiv. Er zeigt, was da ist, ohne es zu beeinflussen.« »Was ist hier bloß so wichtig?« fragte Dhana. »SturmflügelPatrouillen, zwei Festungen, ein magisches Netz – was hat Fief Dunlath, das soviel Schutz braucht?« »Das müssen wir herausfinden«, sagte Numair. »Sobald du gefrühstückt hast, sollten wir uns meiner Meinung nach den nördlichen Teil des Tales anschauen.« Sie aß, während Numair das Lager in Ordnung brachte und Wolke und Fleckchen sattelte. Lümmel war damit einverstanden, beim Rudel zu bleiben, nachdem Dhana die Wölfe und das Pferd davon überzeugt hatte, daß es hier bleiben mußte. Das Mädchen bot Kätzchen das 36
Tragetuch an. Das junge Drachenweibchen betrachtete es, dann den noch immer nervösen Lümmel. Sie schüttelte den Kopf und watschelte zu dem Packpferd. Die Kleine hatte sich klar dafür entschieden, zu bleiben und dem Pferd Gesellschaft zu leisten. Mit Kätzchen zu Füßen entspannte sich Lümmel. Dhana, die wußte, daß Kätzchen durchaus imstande war, sich selbst zu schützen, entspannte sich ebenfalls und bestieg Wolke. Brokefang, Leichtfuß und Kurzschnauze gingen voran, Dhana und Numair folgten. Die Gruppe benützte einen Pfad hoch in den Bergen. Er war breit genug für die Pferde. Sie waren den ganzen Vormittag unterwegs, immer Richtung Norden. Dhana lauschte angestrengt auf irgendwelche Anzeichen von Unsterblichen und ließ zweimal anhalten, als Sturmflügel über ihnen vorüberflogen. Stopp, befahl Brokefang endlich. Hier müssen wir den Pfad verlassen. Wir werden uns verstecken, schlug Wolke Dhana mit Fleckchens Einverständnis vor. Mach dir keine Sorgen um uns. Zu Fuß folgten Dhana und Numair den Wölfen bergauf durch einen Einschnitt im Gebirgsmassiv und kamen zu einem Gewirr von Felsbrocken. Brokefang kroch zum Rand einer Klippe, Leichtfuß und Kurzschnauze dicht hinter ihm. Die beiden Menschen hielten sich geduckt und folgten. Auf dem Bauch neben ihren Führern liegend, spähten sie über den Rand der Klippe. Innerhalb von zehn Meilen bis zum Westufer des Sees standen kaum mehr Bäume. Zwischen der Festung und dem Fluß, der in das Nordende des Sees mündete, lag noch ein kleines Wäldchen. Die Erde zwischen dieser Festung und ihrem Aussichtspunkt war größtenteils aufgegraben und zu Bergen aus Schlamm und Felsbrocken aufgehäuft. Das einzige nennenswerte Grün bildeten Flecken mit schütterem Unkraut. Regelrechte Straßen waren in die Erde gegraben, die zu tiefen Gruben zwischen den Erdhaufen führten. Menschen und Menschenfresser schufteten hier gemeinsam, mit kaum mehr als einem Lendenschurz bekleidet. Einige zogen mit Erde gefüllte Karren aus den Gruben. Wenn sie mit leeren Karren zurückkehrten, 37
verschwanden sie erneut in schwarzen, gähnenden Löchern am Grund der Gruben. Wohin sie auch schaute, sah Dhana noch mehr Menschenfresser. Manche hatten Dhanas Größe, doch viele waren drei bis dreieinhalb Meter groß. Ihr struppiges Haar war abgeschnitten und bildete einen wirren Haarwust, der ihnen bis in den Nacken oder auf die Schultern reichte. Sie hatten spitze Ohren, die sich drehten, um jedes Geräusch aufzufangen, hervorquellende Augen und gelbliche, keilartige Zähne. Dhana war diese Art von Wesen nicht fremd, aber die meisten ihrer Begegnungen hatten sich in Kämpfen der einen oder anderen Weise abgespielt. Hier sah sie zum erstenmal, daß sie als Lasttiere oder Sklaven benützt wurden. Alle schienen auf Gedeih und Verderb den bewaffneten Menschen ausgeliefert, die in der Gegend patrouillierten und ihre Umgebung scharf im Auge behielten. Ein Menschenfresser, ein trauriges und klapperdürres Geschöpf, sank in die Knie. Drei Menschen mit erhobenen Peitschen stürzten sich auf ihn. Dhana wandte den Blick ab. Zu ihrer Rechten lag der See. Am nahen Ufer standen barackenähnliche, aus rohem Holz zusammengezimmerte Gebäude, einige davon groß genug, um Menschenfresser zu beherbergen. Zwischen ihnen spielten Mensehenund Ungeheuerkinder unter den wachsamen Augen einer Menschenfresserin. Die Festung auf der Nordseite der Stadt war gut ausgebaut und, den vielen Menschen nach zu urteilen, die ein und aus gingen, sehr belebt. Boote, die von Männern bewacht wurden, lagen zwischen der Stadt und der Festung im See vor Anker. Dhana schloß die Augen und lauschte auf die Tiere. In den Gruben hörte sie nur ein paar Ratten und Mäuse. Jedes andere Tier war der Zone der Zerstörung entflohen, an deren Randgebieten lautstarke Kämpfe um jeden Bissen Futter ausgetragen wurden. Im See hörte sie den Tod. Schmutz lag im Wasser: Abfälle aus der Stadt und der Festung, abgetragene Erde aus den Gruben. In den nördlichen Regionen des Sees japsten die Fische nach Luft. Ihre Verwandten in klarerem Wasser hungerten, da ihre Nahrungsquellen abstarben. Brokefang legte seine kalte Nase an das Ohr des Mädchens. Ich hab’s dir ja gesagt, meinte er leise. 38
»Das sind Tagebauminen«, bemerkte Numair mit gedämpfter Stimme. »Aber wofür?« Er löste sein Fernglas vom Gürtel, zog es zur vollen Länge aus und legte es ans Auge. »Die Opalminen hier in der Gegend wurden vor nahezu einem halben Jahrhundert ausgeräumt.« »Was sind Opale?« fragte Dhana. »Sie werden in der Magie verwendet, wie andere Edelsteine. Magier tun alles, um Opale zu bekommen, vor allem schwarze.« Dhana war verwirrt. Seit ihrer Ankunft in Tortall hatte sie alle möglichen Arten von kostbaren Steinen gesehen, solche jedoch noch nie. »Wie sehen sie aus?« Numair zog eine Kette hervor, die er unter dem Hemd um den Hals trug. Daran hing ein einzelner, ovaler Edelstein, der blau, grün, orange und golden schimmerte. »Opale sind Kraft-Steine, und schwarze wie der hier sind die besten. Sie speichern Magie, oder man kann den Stein verwenden, um die Kraft eines Zaubers zu verstärken. Ich habe jahrelang gespart, um mir diesen zu kaufen. Kaiser Ozorne besitzt eine Kette aus solchen Steinen, sechs Reihen an einem goldenen Draht aufgefädelt. Er hat irgendwo eine Mine, aber diesen Ort bewacht er noch sorgfältiger als seine Macht.« Stirnrunzelnd betrachtete er die Minen. »Bestimmt hätten wir es erfahren, wenn hier wieder Opalerde gefunden worden wäre. Dunlath ist schließlich ein Lehen von Tortall.« Im letzten Herbst gab es hier ein Erdbeben, sagte Brokefang. Seht ihr die bloße Erde auf den Bergen hinter der Festung? Dort sind Felsen heruntergefallen. Und dann im Frühjahr, ab die Welpen gerade geboren und noch blind waren, kam ein Magier und sprengte Löcher, wo jetzt die Gruben sind. »Laßt uns mal spekulieren«, sagte Numair, nachdem Dhana mit der Übersetzung zu Ende war. »Irgend etwas Wertvolles, zum Beispiel Opalerde oder vielleicht sogar Gold, wurde in den heruntergefallenen Felsen entdeckt. Der Herr von Dunlath fand einen Magier mit Sprengerfahrung, zweifellos einen Kriegs-Magier, in der Hoffnung mehr zutage zu fördern, was auch gelang. Es könnte derselbe Magier gewesen sehn, der die Neunte Reiterei vernichtete, denn das waren nicht die Sturmflügel allein. Aber wer kauft, was da unten gefördert wird? Der König ist es nicht, das hätte er uns gesagt.« 39
Dhana sah wieder zu den Minen hinüber. Der Menschenfresser, der hingefallen war, stand wieder auf seinen Füßen. Blaue Flüssigkeit – sein Blut – rann in Streifen über seinen Rücken hinunter. »Mir ist es egal, ob es Menschenfresser sind«, sagte sie leise. »Das dort unten ist Sklaverei, und wir sind kein Sklavenland.« »Anscheinend dehnen sie sich aus.« Numair deutete über Dhanas Schultern. Dort, in einer Richtung, in die sie bisher noch nicht geschaut hatte, waren Menschen und Ungeheuer damit beschäftigt, mit Äxten Bäume zu fällen und die Stümpfe wegzuschleppen. Jetzt verstehst du, warum wir dich brauchen, sagte Brokefang und entblößte die Zähne beim Anblick der gefällten Bäume. Das muß aufhören. Es wird aufhören. Bald wird es hier kein Wild mehr geben, und alle werden verhungern, selbst jene, die dies hier angeordnet haben. »Wir müssen mehr erfahren«, antwortete Numair. »Wir müssen mit den Verantwortlichen sprechen, mit den Leuten im Lehensort und in der Burg. Dann möchte ich König Jonathan davon unterrichten. Irgend etwas ist hier oberfaul.« Er zog sich in den Schutz der Bäume zurück. Dhana, Leichtfuß und Rötling folgten ihm. Auf dem Rückweg ins Lager ließ Dhana die anderen weitergehen. Sie nahm ihre Armbrust und ging auf die Jagd. Sie hatte Glück. Kurz nachdem sie den Pfad verlassen hatte, konnte sie zwei dicke Kaninchen zur Strecke bringen. Menschenfreunde schrien oft entsetzt auf, wenn sie sie jagen sahen. Sie schienen anzunehmen, sie müßte wegen ihrer besonderen Verbundenheit mit den Tieren fleischlos essen. »Das ist Blödsinn«, hatte sie gesagt, als Prinzessin Kalasin davon sprach. »Einige meiner besten Freunde sind Jäger. Ich selbst bin Jägerin. So sind wir eben geschaffen worden. Ich benütze nur nicht meine Macht, um mir das Wild zuzutreiben, und ich höre auf, mit meiner wilden Magie auf Tierstimmen zu lauschen. Bei der Jagd schirme ich mich ganz und gar ab.« »Das kannst du?« hatte Kally mit großen Augen nachgefragt. »Ich muß«, hatte Dhana geantwortet. »Sonst wäre meine Jagd gemein und hinterhältig. Wenn ich jage, dann tu’ ich das genau wie 40
alle anderen Zweibeiner, ich suche nach Spuren und folge ihnen. Und ich sag’ dir noch etwas. Ich töte schnell und sauber, so daß das Wild nicht leidet. Du weißt, daß ich mit meinem Bogen praktisch nie ein Ziel verfehle.« »Ich denke, wenn das so ist, dann ist es wahrscheinlich auch fair«, hatte die Prinzessin gesagt, obwohl sie immer noch ziemlich zweifelnd dreinsah. Dhana harte aufgebracht durch die Nase geschnaubt. »Jedenfalls fairer, als wenn man Tiere wegen ihrer Hörner oder ihrer Haut tötet, nur damit man sich die Dinge an die Wand nageln kann. Ich jage, um zu essen, und nur deshalb.« Als sie schließlich das Lager erreichte, war es beinahe dunkel. Das Rudel war fort und hatte Rötling, Numair und Kätzchen bei den Welpen und den Pferden zurückgelassen. Nach Dhanas Ankunft ging Rötling allein auf die Jagd. Numair, der damit begonnen hatte, einen Topf voll Reis zu kochen, lächelte, als er sie sah, aber er schien in Gedanken versunken. Aus Erfahrung wußte sie, daß es nicht gut war, mit ihm zu reden, wenn er über etwas nachdachte, deshalb ließ sie ihn in Ruhe. Nachdem ihre Kaninchen gehäutet waren und am Spieß brieten, versorgte Dhana die Pferde und Wolke, ölte ein paar rauhe Stellen auf Kätzchens Haut ein und raufte mit den Wolfsjungen. Als das Essen fertig war, aß sie rasch und räumte auf, ohne Numair damit zu belästigen. Er wanderte zur gegenüberliegenden Seite des Teiches, wo er sich lang ausgestreckt auf den Boden legte und zu den Bäumen hinaufstarrte. Rötling kam als erster von der Jagd zurück. »Würdest du mir bei etwas helfen?« fragte Dhana ihn und erklärte ihm den Rat des Dachses. »Ich hab’s schon versucht, als wir das Rudel trafen. Mit Brokefang hat es geklappt. Aber ich war zu müde, um es noch einmal zu probieren.« Es klingt interessant, antwortete der junge Wolf. Was muß ich tun? »Nichts«, sagte das Mädchen. »Ich muß in dich hineinkommen.« Sie schloß die Augen und atmete tief ein und wieder aus. Um sich herum hörte sie vertraute Geräusche. Numair war eingeschlafen. Wolke schlief im Stehen und träumte davon, über endlose Weiten zu 41
galoppieren. Kätzchen ordnete seine Steinsammlung und murmelte vor sich hin. Dhana blendete alles außer Rötlings Geräuschen aus: seine kräftigen Lungen sogen die Luft ein und stießen sie wieder aus, ein Ohr zuckte, da war der Pulsschlag seines Herzens. Sie arbeitete sich immer näher heran, bis seine Gedanken in ihr Gehirn krochen. An der Oberfläche ging es um einfache Dinge wie die Kühle des festen Erdreichs unter seinem Körper, die Freude, mit ihr zusammenzusein. Darunter lag das starke Rudelgefühl, das jeder Wolf hatte, das Gefühl, eins zu sein mit einer Gruppe, in der alles geteilt wurde. Diesmal vollzog sich der Wechsel von ihren Gedanken zu seinen langsam. Sie hatte das Gefühl, Wasser zu sein, das in die Erde sickerte, die Vereinigung mit ihm geschah in langsamen Schritten. Als er blinzelte, erschienen ihr die Bilder in den Farben Schwarz, Weiß und Grau, und sie wußte, daß sie mit seinen Augen sah. Ihre Ohren nahmen die kleinsten Bewegungen wahr, vom Kratzen von Kätzchens Krallen auf seinen Kieselsteinen bis zum Rascheln einer Maus im Schilf. Er atmete wieder ein, und ein reiches Bouquet von Düften stürmte auf sie ein: die Eigengerüche eines jeden Wesens auf der Lichtung, dazu nasse Erde, Kiefern, Feuer, Moos, gekochter Reis und Pflanzen. Wieder schnüffelte er und fing einen Hauch der Versitzgrube ein, die Dhana und Numair benützten. Dhana war verblüfft. Sie haßte diesen Geruch und hatte die Grube absichtlich weit entfernt von der Lichtung gegraben. Mit ihrer eigenen Nase konnte sie mit Sicherheit nichts davon riechen. Rötling konnte den Geruch nicht nur deutlich wahrnehmen, er fand ihn nicht einmal schlecht, nur interessant. Dummchen kam angerannt und sprang auf Rötlings Rücken, und Dhana kehrte wieder in ihre eigenen Gedanken zurück. »Danke«, flüsterte sie Rötling zu. Gern geschehen, erwiderte er und trottete davon, um mit den Welpen zu rangeln. Dhana streckte sich. Noch fühlte sie sich nicht sehr wohl in ihrer Haut. Der Wechsel zu ihren eigenen Empfindungen war eine Enttäuschung. So gut ihre Ohren auch waren, sie konnten sich nicht 42
annähernd mit dem scharfen Gehör eines Wolfes messen, und ihre Nase war ein miserabler Ersatz für die seine. »Wenigstens sehe ich Farben«, sagte sie zu Kätzchen und holte Numairs Bettrolle. »Immerhin etwas.« Sie trug die Bettrolle zu dem Zauberer und deckte ihn zu, um ihn vor der Kühle der Nacht zu schützen. Das Rudel kehrte mit vollen Bäuchen zurück, als Dhana gerade das Feuer abdeckte. Die Wölfe hatten sich an einem Schaf vollgefressen, das seiner Herde davongelaufen war, und wenig mehr davon übriggelassen als ein Häufchen abgenagter Knochen. Als Dhana dies hörte, runzelte sie die Stirn. »Aber das ist genau einer der Gründe, weshalb die Zweibeiner euch jagen. Daß ihr deren Tiere reißt.« Sie werden’s nicht herausbekommen, sagte Brokefang ruhig. Als du früher mit dem Rudel gerannt bist, hast du uns davor gewarnt, ihre Herden anzugreifen. Aber wir können nicht darauf verzichten. Außerdem sind sie langsam und verweichlicht und haben keine harten Füße oder scharfen Hörner, um sich zu verteidigen. Was wir allerdings tun können, ist, die Zeichen des Tötens zu verwischen. Wir haben das, was übrigblieb, im Sumpf versenkt, und um das Blut zu verbergen, schleppten wir belaubte Zweige zu dem Platz, wo wir töteten. Anstatt sie zu beruhigen, hatte die Antwort sie bedrückt. Das war ein ganz und gar unwölfisches Verhalten, ein Ergebnis der Verbindung des Rudels mit ihr. Wohin sollte das noch führen? Sie konnte nicht einmal sagen, daß die Veränderung nur bei Brokefang stattgefunden hatte, denn die übrigen Rudelmitglieder hatten ihm geholfen. Sie mußte über eine Möglichkeit nachdenken, sie zu schützen oder sie wieder in normale Tiere zu verwandeln, ehe die Menschen entschieden, daß das Rudel vom Langen See zu ungewöhnlich und zu gefährlich war, um am Leben gelassen zu werden. Doch das mußte noch warten. Das Hineinversetzen in Rötling hatte sie wieder ermüdet. Sie ging zu Bett und träumte von Männern, die Wölfe abschlachteten. 43
Am Morgen ritten Dhana und Numair in die Stadt Fief Dunlath. Das Rudel blieb zurück. Sie erreichten die Stadt gegen Mittag und betraten die Stallungen des kleinen, sauberen Gasthauses. Zwei Stallknechte, ein Mann und ein Junge, nahmen ihnen die Pferde ab. Dhana stieg eiligst von Wolke, zerrte Kätzchens Tragetuch von Lümmels Rücken herunter, bevor einer der Stallknechte es tat, und legte es sich über die Schulter. »Es wird nicht gebissen!« zischte sie Wolke zu. Die Stute beäugte den Jungen, der ihre Zügel nahm, und legte ein Ohr zurück. »Ich meine es ernst.« Zu dem Jungen sagte sie: »Wenn sie sich schlecht benimmt, sag es mir.« »Keine Sorge nicht«, versicherte ihr der Junge in einem kehligen Bergdialekt. »Is’ ‘n schönes kleines Vieh, echt wahr. So ‘n Bergpony is’ ‘ne prima Sache. Die rutschen nie aus, und sie fressen sich nicht dumm und dämlich, und rennen tun sie wie der Teufel.« Wenigstens jemand, der mich zu schätzen weiß, sagte Wolke zu Dhana. Vielleicht beiße ich ihn wirklich nicht. Dhana lächelte und folgte Numair ins Gasthaus. Ihre Augen mußten sich erst an den Wechsel zwischen dem hellen Sonnenlicht von draußen und der dunklen Gaststube gewöhnen. Von weiter hinten rief jemand: »Meister Parlan! Wir haben Gäste!« Der Gastwirt kam und verbeugte sich vor Numair. Wie der Stallknecht sprach er in einem rauhen Dialekt. »Guten Tag, Sir. Kann ich Euch mit was dienen?« »Ja, bitte. Ich hätte gern nebeneinanderliegende Räume für mich und meine Schülerin.« »Verzeihen Sie mir, mein Fräulein«, sagte Parlan und verneigte sich vor Dhana. »Hab’ Euch nicht gesehen.« Parlan verneigte sich noch einmal tief. »Wir haben zwei sehr hübsche Zimmer, Sir, die auf den Küchengarten hinausgehen. Sehr ruhig, aber es ist ja nicht so, daß wir hier in der Gegend viel Aufregung hätten…« »Ausgezeichnet. Wir möchten gern ein heißes Bad nehmen, sobald sich das einrichten läßt, bitte.« Eine Goldmünze erschien in Numairs Hand und verschwand in der Parlans. »Und nach dem Bad dann einen Imbiß, denke ich«, fügte der Magier hinzu. 44
»Aber gern, Sir«, sagte der Mann. »Folgt mir.« Er ging voraus, die Treppe empor. Kätzchen wurstelte im Tragetuch herum und zirpte. »Psst«, flüsterte Dhana, als Parlan die Türen zu den Zimmern öffnete. »Ich lass’ dich gleich raus.« Das Zimmer war klein, aber sauber und ordentlich, und das Bad enthielt alles, was sich Dhana nach Wochen des Badens in Flüssen und Bächen erhoffen konnte. Das Essen, das ihnen eine Magd brachte, war einfach und gut. Danach fühlte sich Dhana wie neu geboren und machte ein kleines Nickerchen. Ein Kratzgeräusch weckte sie. Als sie die Augen aufschlug, sah sie den Drachen im Schloß der Tür zwischen den beiden Zimmern herumstochern. »Laß das, Kätzchen«, befahl Dhana und gähnte. »Du hast zu Hause schon Schlösser gesehen.« Die kleine Unsterbliche setzte sich auf ihre Hinterbeine, streckte sich, bis ihr Auge auf gleicher Höhe mit dem Schlüsselloch war, und gab ein leises Trillern von sich. Die Tür flog auf und gab den Blick frei auf Numair, der ein sauberes Hemd und Kniehosen trug und ein Blatt Papier in der Hand hielt. »Wie hätte ich wissen können, daß sie das tut?« fragte er stirnrunzelnd. »Genausowenig wie ich«, erwiderte Dhana. Numair sah das Drachenkind böse an, als es sein Zimmer ganz sorglos untersuchte. »Es hatte einen Grund, weshalb diese Tür verschlossen war«, erklärte er der Kleinen streng. Zu Dhana gewandt fügte er hinzu: »Allerdings muß ich tatsächlich mit dir sprechen. Wir sind heute abend in der Burg zum Essen eingeladen.« »Warum?« fragte das Mädchen und rieb sich die Augen. »Das ist typisch für Adlige, die in abgelegenen Gegenden wohnen. Ein Neuankömmling verdient Aufmerksamkeit. Auf diese Weise erfahren sie Neuigkeiten. Ich nehme nicht an, daß du ein Kleid eingepackt hast.« Seit ihrer Ankunft in Tortall, wo ihre Reiterfreunde sie mit Kniehosen bekannt gemacht hatten, trug sie nur noch selten Röcke und immer unter Protest. Als ihr die örtliche Näherin das einzige Kleid zeigte, das rechtzeitig fertig werden würde, war Dhana entsetzt. 45
Das Kleid bestand aus rosa Musselin mit Spitzen an Kragen und Ärmelaufschlägen – das Kleid einer Lady und dazu noch in einer Farbe, die sie haßte. Sie verkündete, sie würde in Hosen gehen oder überhaupt nicht. Der für gewöhnlich lässige Numair konnte manchmal eine Hartnäckigkeit an den Tag legen, die sich durchaus mit der von Wolke messen konnte. Als schließlich ihre Eskorte kam, trug Dhana spitzenbesetzte Unterröcke, Lederschuhe und das rosa Kleid unter einem Wollmantel, der sie vor der Nachtkälte schützte. Ein Mädchen hatte ihre widerspenstigen Locken zu einem Knoten im Nacken hochgesteckt. Dhanas Laune war um nichts besser als die von Kätzchen, Nachdem man ihr gesagt hatte, daß sie nicht mitkommen könne, war sie grau geworden und hatte sich unterm Bett versteckt. Ihre Eskorte kam nach Einbruch der Dunkelheit, um sie über den Damm zur Insel und der Festung zu geleiten. Stallknechte kümmerten sich um Fleckchen und Wolke, Diener nahmen ihre Mäntel, alles in wohltrainiertem Schweigen. Ein Lakai führte sie durch die Eingangshalle zu einer halb offenstehenden Flügeltür. Hinter dieser Tür sagte soeben ein Mann: »… kenne Wölfe wie mein’ Handrücken. Ich sag’ Euch was, das müssen Werwölfe sein oder so was aus dem Göttlichen Reich. Die verhalten sich nicht so, wie sich Wölfe normalerweise verhalten müssen. Auslachen tun sie mich, machen sich über mich lustig, ja, das tun sie!« »Mylord, Myladies«, meldete der Lakai und unterbrach den Mann. »Die Gäste sind eingetroffen.« Er verneigte sich vor Numair und Dhana und bedeutete ihnen einzutreten. »Es geben sich die Ehre: Meister Numair Salmalin von Corus und seine Schülerin namens Dhana.« Sie befanden sich in einem eleganten Wohnzimmer und wurden von den Bewohnern begutachtet. Der Lakai verkündete: »Mylord Belden, Herr von Fief Dunlath. Mylady Yolane von Dunlath, Lord Beldens Gemahlin und Erbin von Dunlath. Lady Maura von Dunlath, Myladys Schwester.« Numair verbeugte sich. Dhana versuchte einen Knicks. Yolane, eine Frau in den Dreißigern, und Maura, ein zehnjähriges Mädchen, saßen am Kaminfeuer. Obwohl als Schwestern vorgestellt, ähnelten sie 46
einander kaum. Yolane war wunderschön, mit elfenbeinfarbener Haut und rosigen Wangen, großen braunen Augen und einem sanft geschwungenen Mund. Ihr karmesinrotes Seidenkleid umschmeichelte einen schlanken Körper und eine schmale Taille. Reicher Spitzenbesatz an den Handgelenken betonte die langen, eleganten Hände. Diamanten funkelten an ihrem Hals und den Ohrläppchen. Maura dagegen war äußerst unscheinbar, ein stämmiges Kind in einem blauen, schlechtsitzenden Kleid. Niemand hatte versucht, die gleiche Sorgfalt auf ihre glatten braunen Haare zu verwenden, mit der die Fülle der rotbraunen Locken der Lady zu einer schlichten Frisur hochgesteckt worden war. Lord Belden hatte etwa das gleiche Alter wie seine Frau, ein schlanker, bärtiger Mann, der seinem Weinglas mehr Interesse entgegenbrachte als seinen Gästen. Sein braunes Haar und sein Bart waren kurz geschnitten. Der Schratt seiner Kleidung war ebenso praktisch, wenn auch sein kastanienbrauner Waffenrock, sein weißes Seidenhemd und die weiße Kniehose von feinster Qualität zeugten. Vor den Herrschaften stand ein Mann in rauher Lederkleidung. Er starrte vor Waffen und hielt ein paar Wolfsfallen in der Hand. Yolane wedelte mit einem Fächer und versuchte, den Geruch zu vertreiben, der von den Fallen ausging. Maura hielt sich die Nase zu. Die Wolfshunde, die zu Füßen des Jägers saßen oder lagen, standen auf, als sie Dhana sahen. Langsam und mit aufmerksamen Gesichtern gingen sie auf sie zu. Sie bot ihnen ihre Hände zum Beschnüffeln an. »Hierher!« brüllte der Jäger. »Das sind keine Schoßhündchen! Das sind grimmige Jäger, nichts zum Verhätscheln!« Das Mädchen kicherte, als sich die grimmigen Jäger schwanzwedelnd um Dhana scharten. »Ja, ihr seid feine Hunde«, flüsterte diese und erwiderte ihren Willkommensgruß. »Ihr seid wunderschöne Hunde, auch wenn ihr Wölfe jagt.« Wir versuchen zumindest, sie zu jagen, sagte der Anführer der Wolfshunde. Der Mann will, daß es uns gelingt, aber wie sollen wir das anstellen, wenn die Wölfe so seltsame Dinge machen? »Tait, bring diese Biester weg«, kommandierte Yolane. 47
Der Jäger pfiff seinen Hunden und entfernte sich. Die Hunde gehorchten und entschuldigten sich bei Dhana. Sie rannten an einem anderen Mann vorüber, der soeben eintrat und verkniffen lächelte. Er war breitschultrig und gut aussehend, trug ein weißes Hemd, einen braunen, seidenen Waffenrock, braune Kniehosen sowie glänzende Schuhe. Sein hellbraunes Haar war kurz geschnitten. Er stand hinter Numair und sagte: »Ich hoffe, Ihr vergebt mein…« Numair drehte sich um, und dem Fremden blieb der Mund offenstehen. Seine haselnußbraunen Augen öffneten sich weit vor Schreck. »Mithros, Minoss und Shakith«, flüsterte er. Dhana runzelte die Stirn. Bis jetzt hatte sie diesen besonderen Fluch nur von Numair selbst gehört. »Arram?« fragte der Mann mit melodischer Stimme. »Ist das Arram Draper?« Numair starrte ihn an. »Tristan Staghorn? Man hat mir gesagt, du seist immer noch in Carthak bei Ozorne.«
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3 Auf der Flucht »Oh, Ozorne«, spottete der Neuankömmling. »Nein, ich fühlte mich zu… eingeschränkt in seinem Dienst. Ich bin jetzt mein eigener Herr, schon seit einem Jahr.« Er und Numair schüttelten einander die Hände. »Tristan, du kennst unseren Gast?« Die Lady erhob sich von ihrem Stuhl und ging auf Numair zu, anmutig wie eine Tänzerin. »Ob ich ihn kenne?« erwiderte Tristan. »Mylady, dies ist Meister Numair Salmalin, einst an der Universität von Carthak, jetzt am Hof von Tortall.« Yolane reichte Numair die Hand, und er deutete einen Handkuß an. »Wie wundervoll, eine derartige Schönheit an einem so abgelegenen Ort zu finden«, sagte er galant. »Weiß König Jonathan, daß das schönste Juwel in Tortall nicht seinen Hof schmückt?« Die Lady lächelte. »Nur ein Mann, der bei Hofe lebt, kann ein Kompliment so reizend anbringen, Meister Salmalin.« »Aber Tristan hat Euch nicht so genannt«, sagte Lord Belden kühl. »Er nannte Euch Arram irgendwas.« »Ich war in meiner Kindheit als Arram Draper bekannt«, erklärte Numair. Tristan grinste. »O ja, du wolltest einen majestätischen, einen Zauberernamen, nachdem du den Meistertitel erlangt hattest. Und dann warst du sowieso gezwungen, deinen Namen zu ändern, als Ozorne deine Verhaftung anordnete.« Yolane und Belden sahen Numair scharf an. »Gesucht vom Kaiser von Carthak?« fragte die Frau. »Ihr müßt etwas Schwerwiegendes angestellt haben.« Numair wurde rot. »Der Kaiser ist sehr besitzergreifend, Lady Yolane. Er glaubt, wenn ein Magier an seiner Universität studiert, gehört dieser Magier ihm.« Er sah Tristan an. »Ich bin ziemlich überrascht, dich hier zu sehen. Du warst der beste Kriegs-Magier in deiner Klasse.« 49
Kriegs-Magier, dachte Dhana erschrocken. Das muß der sein, von dem Numair glaubt, daß er die Minen gesprengt und die Reiter getötet hat. »Ich hab’ dem Kaiser den Kopf zurechtgesetzt«, antwortete Tristan und sah nun auch Dhana mit einem herablassenden Blick an. »Tut mir leid, Kleines… ich wollte nicht unhöflich sein. Wer magst du wohl sein?« »Darf ich meine Schülerin vorstellen?« fragte Numair. »Meister Tristan Staghorn, dies ist Dhana… Veralidhana Sarrasri, einst wohnhaft in Galla.« Yolanes Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Grinsen. »Sarrasri?« Dhana wurde knallrot. Die Lady wußte offensichtlich, daß das »Sarras Tochter« bedeutete und daß nur unehelich geborene Kinder den Namen der Mutter trugen. Sie hob den Kopf. Sie war stolz darauf, nach ihrer Ma genannt zu sein. »Bist du eine Zauberin?« Mauras Frage ließ Dhana zusammenzucken. Sie hatte vollkommen vergessen, daß das Mädchen im Zimmer war. »Nein«, antwortete sie. »Er lehrt mich Dinge über Pflanzen und Wurzeln und dergleichen.« Tristan schüttelte sehr belustigt den Kopf. »Ich sehe schon, du spielst noch immer mit Oma-Magie. Warum, Numair? Du trägst die schwarze Robe, du bist einer der sieben mächtigsten Magier der Welt, aber du bestehst darauf, mit Eisenkraut und Kampfer herumzupfuschen!« Ein Diener trat ein und verbeugte sich. »Myladies, Mylords, wenn es genehm ist, das Dinner wäre serviert.« Numair wirkte erleichtert. Anscheinend hatte Tristan einen alten Streit Wiederaufleben lassen. Rasch bot Numair Yolane seinen Arm an. »Würdet Ihr mir etwas erklären?« Sie nahm seinen Arm und führte ihn zu einer Tür im hinteren Teil des Raumes. »Wir hörten, Ihr wart bei dem Angriff auf Piratenbeute letztes Jahr dabei. Erfolgte dieser Angriff nicht von einer kaiserlichen Flotte aus? Ich war überrascht, daß Seine Majestät nicht daraufhin Carthak den Krieg erklärte.« 50
»Er hätte es beinahe getan«, erwiderte Numair. »Die Angreifer benützten carthakische Kriegsschiffe, aber der Kaiser behauptete, es seien von Piraten gekaufte Schiffe gewesen. Da der König nicht beweisen konnte, daß wir von jemand anderem als von Piraten angegriffen wurden, war er gezwungen, die Sache fallenzulassen.« Tristan bot Maura seinen Arm mit einer spöttischen Verbeugung an. Das junge Mädchen rümpfte die Nase und hakte sich unter. Belden, der die meisten Zeit in Gedanken versunken zu sein schien, folgte ihnen und überließ es Dhana, allein den Schluß der Prozession zu bilden. Zum erstenmal seit vielen, vielen Monaten kam sie sich wie eine totale Außenseiterin vor. Dieses Gefühl mochte sie nicht, sie hatte es nie gemocht. Das Eßzimmer war im großzügigen alten Stil eingerichtet und darauf angelegt, den gesamten Haushalt aufzunehmen. Dhana war während des vergangenen Jahres in vielen Häusern gewesen, in denen die alten Sitten herrschten und Dienerschaft und Herrschaft im gleichen Raum aßen, hier jedoch speisten Dunlaths Adlige und Gäste allein. An einem Tisch, der niedriger und im rechten Winkel zur erhöhten Haupttafel plaziert war, saßen bereits vier Gäste. Sie erhoben sich, als die Adligen eintraten, und verneigten sich. Dhana sah, wie Numair seine dunklen Augenbrauen überrascht zusammenzog. Tristan trat vor. »Numair, ich denke, du kennst zumindest Alamid Mokhlos, vielleicht sogar Gissa von Rachne?« Ein Mann in einer fließenden Robe und eine dunkle, ziemlich aufgedonnerte Frau verneigten sich vor Numair, der erst zögerte, dann die Verbeugung aber erwiderte. »Sie waren unterwegs zur Stadt der Götter und machten hier halt, um mich zu besuchen.« »Die Gastfreundschaft Mylords ist so gut, daß wir fürchten, wir müssen noch länger bleiben«, sagte die Frau mit einem deutlichen Akzent. »Es ist schön, dich wiederzusehen, Arram.« »Nicht mehr Arram«, korrigierte Tristan sie. »Numair Salmalin.« »Richtig.« Alamid hatte eine hohe, schneidende Stimme. »Wir hörten, du bist der Lieblingsmagier des Königs von Tortall.« Tristan stellte die übrigen beiden Männer in schlichten Anzügen als Hasse Redfern und Tolon Gardiner, Kaufleute, vor. Yolane und 51
Belden hatten ihre Plätze an der Haupttafel eingenommen und warteten mit höflicher Ungeduld auf die Beendigung der Vorstellung. Ein Dienstmädchen wies Dhana einen Platz neben Maura an einem Tisch auf der anderen Seite des Raumes gegenüber dem der vier weniger wichtigen Gäste an. Tristan lenkte Numair zu einem Platz neben Yolane. Mit Interesse bemerkte Dhana, daß Numairs Platz zufällig so weit von Alamid, Gissa und den anderen entfernt war, daß er während der Mahlzeit unmöglich mit ihnen sprechen konnte. Ihr eigener Platz neben Maura war vom Strom der Konversation total abgetrennt. Wenn sie sich besonders anstrengten, konnten sie gerade noch hören, was die Erwachsenen sagten. Lady Yolane beschäftigte Numair mit ihrem Gerede so sehr, daß er keine Zeit für mehr als einen gelegentlichen Blick zu Dhana fand. »Wenn du darauf wartest, daß sie mit uns reden, kannst du lange warten«, informierte Maura sie schließlich. Dhana riß sich zusammen. Ihr wurde klar, daß sie sich unhöflich benahm. »Entschuldige«, sagte sie und kostete ihre Suppe. Sie war schon kalt. Maura deutete ihren Gesichtsausdruck richtig. »Meine Schwester will nicht, daß die Dienstboten hier essen, wie es noch zu Lebzeiten meines Vaters üblich war. Sie sagt, der König ißt auch nicht mit seinen Dienstboten, also tun wir’s auch nicht. Darüber ärgern sich die Diener und lassen sich mit dem Servieren Zeit.« Eine Maus untersuchte Dhanas Schuh. Dhana brach ein Stückchen vom Brot ab und fütterte die Maus damit, als sie auf ihr Knie hochkletterte. Als die Maus aufgegessen hatte, flitzte sie davon. »Wieso ist es für euch wichtig, wie der König seine Mahlzeiten einnimmt?« »Wir sind seine nächsten Verwandten, Kusinen dritten Grades oder so was Ähnliches«, antwortete Maura und aß ihre Suppe. »Yolane sagt, wenn er nicht verheiratet wäre und Kinder hätte, wäre sie heute vielleicht Königin. Wenn du von Galla bist, warum lebst du hier? Und wie heißt du noch mal?« Dhana sah ihre Tischnachbarin zum erstenmal wirklich an und lächelte. Maura war kaum älter als ihre Freundin Kalasin und hatte die gleiche unbekümmerte Art zu plaudern. Ihre braunen Augen schauten offen unter der Ponyfrisur hervor, und Sommersprossen zierten ihre 52
Wangen und ihre Stupsnase. Lady Yolane ging vielleicht niemals in die Sonne, um sich ihre Elfenbeinhaut zu bewahren, aber ihre Schwester war eine ganz andere Art von weiblichem Wesen. »Ich heiße Dhana, das ist die Kurzform«, antwortete sie. »Und es ist eine ziemlich lange Geschichte, wieso ich nach Tortall gekommen bin.« »Es wird auch ein ziemlich langes Essen werden«, sagte Maura. »Yolane besteht darauf, alle Gänge serviert zu bekommen, genau wie bei Hof.« Die Maus war mit Freunden wiedergekommen. Als sie deren kalte Nasen an den Beinen spürte, mußte Dhana ein Kichern unterdrücken. »Ich sag’ ihr dauernd, wenn sie so versessen auf den Hof ist, warum lebt sie dann nicht das ganze Jahr über dort, wie andere Adlige? Aber sie begreift den Wink nicht. Uuh, Dhana, spring jetzt nicht auf und schrei nicht, aber da ist eine Maus in deinem Ärmel.« Dhana sah nach. Zwei schwarze Knopfaugen spähten zu ihr empor. »Das ist kein besonders sicherer Platz«, bemerkte sie. Die Maus antwortete, daß es ihr da gefiel. »Na, wenn dich eine Katze sieht, gibt’s eine Menge Wirbel.« »Im Speisesaal gibt’s keine Katzen«, mischte sich Maura ein. »Yolane haßt sie.« »Ich wußte doch, daß mir irgend etwas an ihr nicht gefällt«, murmelte Dhana. Diener nahmen die Suppenteller fort und ersetzten sie durch Platten, die mit Fleisch und Gemüse beladen waren. Dhana war froh, daß von ihren Gerichten Dampf aufstieg im Gegensatz zu denjenigen an der Haupttafel. Sie erwähnte dies Maura gegenüber, während sie ihre Mäusefreundin dazu überredete, sich neben sie statt in ihren Ärmel zu setzen. »Die Dienstboten mögen mich, deshalb versuchen sie, mein Essen warm zu halten. Nur mit der Suppe ist es schwierig, sie kühlt so rasch aus.« Sie aß mit der unbekümmerten Schnelligkeit eines Kindes. Dhana zögerte und überlegte, wie sie die nächste Frage stellen sollte. Während sie nachdachte, fütterte sie weiter die Mäuse mit Brot. »Ihr beide scheint gar keine Schwestern zu sein«, sagte sie endlich. 53
»Halbschwestern«, sagte Maura. »Ihre Mutter kam aus einer der ältesten Familien des Reiches. Sie ist vor langer Zeit gestorben, und Vater hat wieder geheiratet, als Yolane sich mit Belden verlobte. Sie sagt, meine Mutter war ein Niemand vom Land.« Dhana runzelte die Stirn. »Deine Schwester scheint nicht besonders nett zu sein.« »Ist sie auch nicht«, lautete die nüchterne Antwort. »Sie macht sich nur Gedanken darüber, wie alt unsere Familie ist und wie nahe wir dem Thron stehen, aber sie kümmert sich nicht um Dunlath oder um die Leute hier. Und Belden ist genauso schlimm wie sie. Vater sagte immer, er sei eben ein jüngerer Sohn, deshalb muß er sich eine Menge beweisen.« Nachdem die Dienstboten abgeräumt hatten, kam ein Barde und spielte auf einer Harfe. Dhana hörte kaum zu. Während sie die Adligen an der Haupttafel beobachtete, erkannte sie, daß jetzt die Gelegenheit da war, das zu tun, was Brokefang von ihr erwartete. Nämlich die Forderung nach Einstellung des Minengrabens und der Holzfällerarbeiten vorzubringen. Bei dem Gedanken, eine solche Botschaft diesen aalglatten, selbstsicheren Menschen vorzutragen, krampfte sich alles in ihr zusammen. Sie wußte aber auch, Brokefang würde es nicht verstehen, wenn sie sich zurückhielt. Als der Barde sein letztes Lied beendet hatte und den Raum verließ, zwang sie sich aufzustehen und trat vor den Tisch. Numair sah sie an. Er war deutlich verwirrt. Dann mußte er erraten haben, weshalb sie hier stand. Er schüttelte den Kopf und versuchte, ihr zu bedeuten, sie solle sich wieder auf ihren Platz setzen, aber Dhana richtete ihre Augen unverwandt auf den Lord und die Lady von Dunlath und achtete nicht auf ihn. Yolane und Belden unterhielten sich angeregt. Es war Tristan, der Dhana als erster sah. Er unterbrach seine Unterhaltung mit Alamid und Gissa, sah Dhana mit hochgezogenen Augenbrauen an und grinste dann hämisch. Sanft klopfte er Belden auf die Schulter. Numair deutete jetzt auf Dhanas Platz und erteilte ihr den klaren Befehl, aber sie schüttelte den Kopf. Numair mußte dem Rudel nicht Rede und Antwort stehen. Das mußte sie tun. Dhana räusperte sich und ballte ihre Hände in den Falten ihres Kleides zu Fäusten. 54
»Verzeiht mir, Mylord, Mylady. Ich bin gebeten worden, für die Wölfe dieses Tales zu sprechen.« »Wölfe?« fragte Belden und lachte hochmütig. »Haben die denn etwas zu sagen?« »Eine Menge«, sagte das Mädchen. »Auch sie leben hier, versteht. Sie holen sich ihre Nahrung aus den Wäldern, und sie trinken aus diesen Flüssen. Sie erzählten mir, als sie hierher kamen, war diese Gegend nahezu vollkommen.« Sie wußte, ihr Gesicht war mittlerweile hochrot. In dem riesigen Raum war es vollkommen still geworden. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so klein gefühlt. »Dann habt Ihr damit begonnen, Gruben auszuheben und Bäume zu fällen. Abfall aus den Minen vergiftet das Nordende des Langen Sees, wußtet Ihr das? Und das Graben und Fällen vertreibt das Wild aus dem Tal.« Zu ihrer Überraschung rief eine rauhe Stimme aus dem Hintergrund der Halle: »Sie hat recht, wenigstens was das Wild angeht. Ich hab’ Euch das schon vor drei Wochen zu sagen versucht.« Dhana blickte über ihre Schulter. Sie hatte nicht gesehen, daß der Jäger Tait gekommen war, um den Barden singen zu hören. Sie deutete ein Lächeln an, und der Mann winkte. Nun fühlte sie sich besser. Sie holte tief Atem und fuhr fort. »Das Rudel vom Langen See bat mich, Euch zu sagen, daß Ihr aufhören sollt. Wenn nicht, dann werden sie etwas Schlimmes machen.« »Woher weißt du das?« Tristans Stimme war zu sanft und ernsthaft. Seine Augenwinkel zogen sich amüsiert zusammen. »Sind die Wölfe vielleicht im Traum zu dir gekommen, oder…« »Sie hat wilde Magie.« Numair hatte sich neben Dhana gestellt, legte ihr eine Hand auf die Schulter und preßte sie sanft. Dankbar lächelnd sah sie zu ihm auf. »Du willst uns doch nicht etwa allen Ernstes noch immer weismachen, daß wilde Magie tatsächlich existiert«, spottete Gissa. »Du bist zu alt, um an Märchen zu glauben.« »Wilde Magie ist kein Märchen«, erwiderte Numair selbstsicher. »Ihr und die Leute von der Universität von Carthak seid wie der 55
Blinde, der behauptet, das Augenlicht existiert nicht, weil er es nicht hat.« »Wir verlieren den Faden, nämlich Fräulein Sarrasris Argument.« Yolanes Stimme klang gepreßt. »Ein Rudel vierbeiniger Biester will, daß wir mit dem Graben aufhören. Und mit dem Bäumefällen.« »Richtig«, sagte Dhana und wappnete sich für das, was nun kommen mußte. »Und… wenn wir nicht…« Yolane erstickte beinahe an dem, was sie sagen wollte. »… dann werden sie… etwas Schlimmes tun. Weißt du, was? Nein, natürlich nicht. Vielleicht… vielleicht…« Ihre Summe drohte in einem Kichern aus ihr herauszuplatzen. »… werden sie an die Palastwände… pinkeln, oder…« »Vor den Schilderhäuschen heulen«, schlug Tristan grinsend vor. »Ist sie schon lange verrückt?« fragte Yolane Numair. »Oder habt Ihr ihr solchen Unsinn beigebracht?« »Ihr lacht über Euer Unglück«, warnte Numair. »Ihr habt es hier nämlich mit einer besonderen Art von Wölfen zu tun, Lady Yolane.« Yolane begann zu lachen, und sie lachte immer mehr. Kurzzeitig kämpfte sie darum, sich wieder unter Kontrolle zu bringen. »Vielleicht werden sie ihre Knochen in meiner Garderobe vergraben!« sagte sie und begann wieder zu lachen. Tristan grinste. »Angenommen – nur einen Moment lang angenommen, du hast recht. Glaubst du, wir werden nicht mit einem Rudel Wölfe fertig? Unvernünftiges Viehzeug ist in dieser Welt dazu da, um den Menschen zu dienen, nicht umgekehrt. Dieses Tal wird von Menschen regiert.« Yolane hatte sich wieder in der Hand. »Du bist ein dummes Kind. Meister Numair hat dich zu sehr beeinflußt. Warum, in Mithros’ Namen, sollte ich mich auch nur im mindesten um die zarten Gefühle eines Packs räudiger, von Flöhen zerbissener Köter kümmern?« »Denkt doch an Eure eigenen Interessen«, sagte Dhana in dem Versuch, diesen arroganten Zweibeinern begreiflich zu machen, was sie meinte. »Ihr könnt diesen Weg nicht weitergehen. Bald werdet Ihr keine Wälder mehr haben, um daraus Holz zu schlagen oder darin zu jagen. Ihr vergiftet das Wasser, das Ihr trinkt, in dem Ihr badet und fischt. Selbst wenn Ihr die Farmen behaltet, sie werden nicht genügen, 56
um Euch zu ernähren, wenn das übrige Tal öd und leer ist. Ihr werdet verhungern. Eure Leute werden verhungern, außer Ihr kauft von draußen, und das ist ziemlich teuer. Ihr werdet Dunlath ruinieren.« Yolanes Augen glitzerten. »Wer bist du, daß du dich unterstehst, mich in meinem eigenen Schloß zu verurteilen?« »Dhana«, sagte Numair leise. Dhana sah die drei an: Yolane, Belden, Tristan. Sie starrten sie an, ihrer selbst so sicher und überzeugt von ihrem Recht, das zu tun, was sie tun wollten. »Nun, ich habe es versucht«, murmelte sie. Numair verneigte sich. »Mylord, Mylady, mit Eurer Erlaubnis werden wir uns jetzt zurückziehen.« Beim Hinausgehen warf Dhana Maura einen Blick zu. Das Mädchen harte während ihres Gesprächs mit Yolane aufmerksam zugehört und betrachtete Dhana jetzt mit einem besorgten Gesichtsausdruck. Dhana lächelte, aber ihre Lippen zitterten ein bißchen. Sie hoffte, Maura hielt sie nicht für verrückt. Vor ihnen verließen Diener das Speisezimmer, um ihnen die Mäntel und die Pferde zu bringen. Innerhalb weniger Minuten trabten sie auf dem Rücken ihrer Pferde über den Damm. Dhana mußte etwas sagen. »Es tut mir leid, daß ich nicht den Mund gehalten hab’, als du es wolltest«, bat sie Numair um Entschuldigung. »Ich mußte reden. Brokefang würde es nicht verstehen, wenn wir zurückkommen und sagen, wir hätten nichts zu denen gesagt.« Er lächelte und bückte sich etwas, um ihr auf die Schulter zu klopfen. »Ich weiß. Bitte mach dir keine Sorgen.« Als sie den Hof des Gasthauses erreicht hatten, übergaben sie ihre Pferde dem einzigen Stallknecht, der noch wach war, und gingen auf ihre Zimmer. »Gute Nacht«, sagte Numair fröhlich, als er die Tür öffnete. »Bis morgen früh.« Nachdem sich die Tür hinter Dhana geschlossen hatte, fand sie ihre Kerze – sie konnte in der Nacht sehr gut sehen – und zündete sie mit Feuerstein und Wetzstahl an, die sie ihrer Tasche entnahm. Kätzchen lag zusammengeringelt auf dem Bett und piepste schläfrig. 57
»Dir hätte es vermutlich überhaupt nicht gefallen«, sagte Dhana zu ihr und schleuderte Kleid, Schuhe und Unterröcke von sich. Dann hängte sie Kleid und Unterröcke ordentlich auf, anstatt sie auf dem Boden liegenzulassen, eine Angewohnheit, die sie gelernt hatte, während sie mehr als ein Jahr in der Reiterei gelebt hatte. Dann schlüpfte sie in ihr Nachthemd. »Das kleine Mädchen ist nett, Maura… Sie ist ungefähr so alt wie Prinzessin Kalasin. Aber Lady Yolane und ihr Mann…« Dhana schüttelte den Kopf und kroch unter die Decke. Kätzchen hörte zu und zirpte eine Frage. Obwohl sie zu jung war, um Dhanas Gedankensprache zu sprechen, wie ältere Unsterbliche das konnten, stellte eine Unterhaltung mit ihr kein Problem dar. Kätzchen verstand die normale Sprache besser als manche Menschen, denen sie begegnet waren. Dhana war darüber froh, denn aus allem, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatte, würde Kätzchen noch mindestens dreißig Jahre lang ein Kind bleiben. »Na ja, sie sehen hübsch aus, aber sie sind kalt und stolz. Und irgendwas stimmt nicht. Maura sagt, dieser Magier aus Carthak hat was mit ihrer Schwester, Lady Yolane.« Dhana gähnte. »Wenn Lord Belden es weiß, scheint es ihm egal zu sein. Mach das Licht aus, Kätzchen, sei ein liebes Mädchen.« Kätzchen pfiff, und die Kerze verlöschte. Leise murmelnd ringelte sie sich mit dem Rücken zu Dhana ein. Innerhalb weniger Sekunden waren sie eingeschlafen. Dhana träumte, daß sie mit dem Rudel rannte, als eine Stimme in ihr Unterbewußtsein eindrang. »Dhana! Dhana!« Eine sanfte Hand an ihrer Schulter richtete sie auf. Einen Moment lang sah sie mit den Augen eines Wolfs. Grau, Schwarz und Weiß waren die einzigen Farben. Die schattenhafte Gestalt über ihr wirkte verschwommen, stabilisierte sich aber sodann. Es war Numair. Er hatte keine Kerzen angezündet. Der Schimmer seiner Magie erfüllte den Raum mit schwachem Schein. Sie hatte das Gefühl, gerade erst zu Bett gegangen zu sein. »Wie spät ist es?« fragte sie gähnend.
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»Kurz nach Mitternacht.« Seine Stimme war leise, kaum mehr als ein Flüstern, aber sie hörte sie klar und deutlich. »Pack deine Sachen. Wir reisen ab.« Sie blinzelte und überlegte, ob sie noch träumte. »Reisen ab? Aber…« »Nicht jetzt«, befahl er. »Ich erklär’s dir unterwegs. Pack deine Sachen.« Sie taumelte aus dem Bett und gehorchte. Es dauerte nur Minuten, bis ihre Satteltaschen fertig waren und sie sich angekleidet hatte. Numair steckte seinen Kopf durch die Verbindungstür, die wieder einmal offenstand, und bedeutete ihr und Kätzchen, ihm zu folgen. Er überließ ihr das Satteln von Fleckchen, Lümmel und Wolke. Sie machte es leise und rasch, denn sie wollte die Stallknechte nicht wecken. Kätzchen hopste in ihre Tragetasche, eine offene Satteltasche auf Lümmels Rücken, die ihr erlaubte, während des Ritts alles zu sehen. In letzter Minute reichte Numair Dhana eine Handvoll Lumpen und bedeutete ihr durch Gesten, sie solle sie um die Füße der Reittiere wickeln, um das Geräusch der Hufe auf den Straßen zu dämpfen. »Hast du Geld für unseren Aufenthalt hiergelassen?« fragte sie, als sie Fleckchen hielt, damit Numair aufsteigen konnte. »Mit einem guten Trinkgeld darüber hinaus und ein paar Zeilen der Entschuldigung.« Er hievte sich in den Sattel, was sie niemals mit ansehen konnte, ohne mit den Zähnen zu knirschen, Mühelos saß sie selbst auf. Geh, sagte sie zu Fleckchen und nahm Wolkes Zügel in die Hand. Ich denke, es geht ihm mehr um die Lautlosigkeit als um die Schnelligkeit. Um so besser, antwortete der geduldige Wallach und ging durch das Tor mit Dhana auf Wolke dicht dahinter. Er ist so verkrampft, daß ich glaube, er würde runterfallen, wenn ich trabe. Was ist los? Er wird es uns bald sagen, versicherte das Mädchen. Mach, was du kannst, damit er sich nicht noch mehr verkrampft. Ich bin ein Reitpferd, kein Gott, lautete Fleckchens Antwort. Dhana grinste. 59
Lümmel und Wolke schüttelten amüsiert die Köpfe. Man möchte glauben, daß ein Mann, der so viel reitet, besser damit zurechtkommt, früher oder später, bemerkte Wolke. Vielleicht, wenn er während des Reitens über das Reiten nachdenken würde, stellte Dhana fest. Aber das tut er nicht. Er denkt über die Form des Mondes nach oder über einen Zauberspruch oder über eine halbe Million anderer Dinge. Er sieht sich dauernd um, bestätigte Fleckchen. Er muß immer alles sehen. Gerade wie eben jetzt. Er versucht, zu sehen, was hinter uns ist. Dhana drehte sich um. Da ist nichts, sagte sie zu den Pferden, um sie zu beruhigen. Alles ist in Ordnung. Als sie die Bäume erreichten, wo die Uferstraße den Fluß kreuzte, der vom westlichen Paß herunterkam, stieg Numair ab. An der Nordseite der Kreuzung auf der Straße kniend, kratzte er ein Loch in den Belag, legte etwas hinein, bedeckte es wieder und klopfte die Erde fest. Dann ging er zum südlichen Zweig der Kreuzung und machte das gleiche. »Was soll das alles?« fragte Dhana, als sie weiterritten. »Für gewöhnlich warnst du uns, wenn wir mitten in der Nacht abhauen müssen.« »Das geschah erst ein- oder zweimal, und auch damals hatten wir allen Grund dazu«, antwortete er, wobei er seine dunklen Augen unruhig umherschweifen ließ. »Wir müssen hier weg und König Jonathan warnen. Ich würde es jetzt sofort machen, aber ich bezweifle, daß ich meine Botschaft durch diesen Schild hindurchbringe. Und selbst wenn, Tristan und seine Freunde wüßten, was ich getan habe.« »Und ich schätze, du willst nicht, daß sie das herausbekommen, bevor wir Hilfe holen können.« »Genau. Was immer in Dunlath vorgeht, es ist eine große Sache. Alles, worin Tristan Staghorn seine Finger im Spiel hat, bedeutet eine Gefahr für das Königreich.« »Aber er sagte, er arbeitet nicht mehr für den Kaiser.« »Zu seinen mannigfaltigen Talenten kommt noch hinzu, daß er ein vollendeter Lügner ist.«
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»Warum hat er uns dann gehen lassen?« wollte Dhana wissen. »Als er dich gesehen hat, wußte er doch bestimmt, daß es Schwierigkeiten geben würde.« »Er ließ uns gehen, weil er genügend Nachtblütenpulver in meinen Wein getan hat, daß ich ein ganzes Jahrhundert lang schlafe. Soweit er weiß, habe ich ihn auch getrunken.« »Und, hast du?« Er lächelte vorwurfsvoll. »Natürlich nicht. Jene Jahre, in denen ich auf jedem Dorfplatz zwischen Carthak und Corus Taschenspielertricks vorgeführt habe, waren keine Zeitverschwendung. Der Wein landete unter dem Tisch.« »Er hätte wissen müssen, daß du den Trank erkennst.« »Nicht unbedingt. Als wir Studenten waren, hatte ich keine Ahnung, was das Entdecken von Drogen und Giften angeht. Ich besaß keinerlei praktische Erfahrung. Die Leute sind beeindruckt, daß ich ein Schwarz-Roben-Magier von der Kaiserlichen Universität bin, aber Schwarz-Roben-Studien decken Esoterik ab und nicht viel mehr. Ja, ich kann einen Stein in einen Laib Brot verwandeln, wenn ich unbedingt tagelang krank sein will und wenn es mir gleichgültig ist, daß irgendwo auf der Welt eine entsprechende Gegen-Umwandlung stattfindet. Viel von der praktischen Magie, die ich gelernt habe, habe ich hier in Tortall erworben. Um genau zu sein, ich habe sie vom König gelernt.« »Aber wenn nur Tristan diese Gegend abschirmt, kannst du dann nicht durchbrechen? Oh, warte, du glaubst, diese beiden anderen Zauberer helfen ihm.« Er lächelte. »In diesem Saal befanden sich fünf Zauberer. Tristan nannte die Herren Redfern und Gardiner Kaufleute, aber wenn dem so ist, ist das nur ein Deckberuf. Auch sie haben die Gabe.« Dhana vermutete: »Noch etwas, vom dem Tristan nicht weiß, daß du es erkennst?« Der Mann nickte. »Nach der Art zu urteilen, wie ergeben die anderen ihm sind, ist er für das verantwortlich, was hier ausgekocht wird. Das bedeutet, die Geschichte ist eine Sache des Kaisers. Tristan war jahrelang sein Hund, nur Ozorne kann ihm befehlen, wohin er beißen soll.« 61
»Reizend«, brummte Dhana. »Dann ist Tristan auch für die Neunte Reiterei verantwortlich?« »Ich fürchte, ja, Zauberlehrling. Es ist möglich, daß jene vermißten Soldaten das gleiche Schicksal ereilte.« »Da hat er ja ‘ne Menge Fragen zu beantworten«, fauchte sie. »Und dieser Kaiser auch. Aber warum hier? Warum hat man ausgerechnet solch großes Interesse an Dunlath?« »Das ist eine ausgezeichnete Frage. Ich hätte sehr gern eine Antwort darauf.« Ein vertrautes Flüstern veranlaßte Dhana, sich umzusehen und dann nach oben zu blicken. Plötzlich wurde ihr klar, wie exponiert sie an diesem Flußufer waren. »Wo können wir in Deckung gehen?« »Dort drüben sehe ich Bäume.« Lümmel, Fleckchen, zu den Bäumen, befahl sie schweigend. Schnell! Die Pferde machten einen Satz nach vorn. Numair wäre beinahe heruntergefallen, bevor er sich am Sattelknopf festklammern konnte. Ich dachte, wir hätten ihn davon kuriert, beim Reiten nicht die Zügel festzuhalten, meinte Dhana zu seinem Pferd, als sich die Gruppe unter den Bäumen versteckte. Hab’ ich auch gedacht, sagte Fleckchen. Nachdem sie abgestiegen waren, ging Dhana nach vorn, bis sie den Himmel sehen konnte. Zwei seltsame Schatten torkelten über ihr dahin, vom Mondlicht scharf umrissen. Ihre Gegenwart warf einen unangenehmen Schatten auf ihr Gemüt. Sie brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, was sie sah: Weit ausgebreitete Fledermausflügel, die einen Körper tragen mußten, der nicht fürs fliegen geschaffen war. Vorgestreckte Hälse, lange, keilförmige Köpfe, die den Boden unter sich absuchten. Erst als die Geschöpfe aufgaben und nach Norden flogen, konnte sie sie klar gegen den nicht mehr ganz vollen Mond sehen. Es waren Pferde, und irgend etwas stimmte nicht mit ihren Füßen. Sie war schon geflügelten Pferden begegnet. Scheuen Wesen, die danach trachteten, Menschen aus dem Weg zu gehen. Sie hatte sie genauso gespürt, wie sie andere Unsterbliche spüren konnte, und ihre Anwesenheit in ihrem Geist war niemals unangenehm gewesen. 62
Wieder bei Numair und den Pferden, fragte sie leise: »Wenn ein geflügeltes Pferd ein böser Unsterblicher ist, wenn irgend etwas mit ihm nicht stimmt, gibt es dafür einen besonderen Namen?« »Alkerts«, sagte Numair. »Der Name ist eine Verschleifung von ›Falken-Pferd‹. Sie haben Fleischfresserzähne und Klauen anstelle von Hufen. Ihre Augen sitzen ganz vorn im Schädel wie bei Raubtieren.« »Gnädige Göttin«, flüsterte sie, und ihre Haut kribbelte. »Das ist abscheulich.« »Hast du die gespürt? Alkerts?« »Ja«, sagte sie und stieg wieder auf Wolke. »Und ich hab’ sie früher schon einmal gespürt. Ich glaube, es war die erste Nacht, die wir beim Sammelplatz der Wölfe verbrachten.« Sie lauschte auf die Tierstimmen um sie herum und hörte vertraute Laute. Sie rief ihnen zu, und sie erklärten sich bereit zu kommen. »Laß uns einen Moment warten«, schlug sie vor. »Das Rudel ist in der Nähe.« »Dhana, ich will bei Anbrach der Dämmerung aus diesem Tal heraus sein.« »Keine Sorge«, sagte sie zu ihm. »Ich hab’ doch gesagt, sie sind in der Nähe, oder? Wir können noch ein bißchen weiterreiten, wenn es dich glücklich macht.« »Es… Halt!« Er hob eine Hand, als lausche er auf etwas. »Sie wissen, daß wir weg sind«, sagte er schließlich. »Sie suchen entlang des Netzes.« In ihrer Kehle schien sich ein Klumpen gebildet zu haben. »Was sollen wir tun?« Der Zauberer lächelte geheimnisvoll. »Unsere Versicherung aktivieren.« Er hob seine Hände. Schwarzes, mit weißen Funken durchsetztes Feuer quoll aus seinen Handflächen, stieg empor und bildete einen Bogen über ihm und Fleckchen, der den Kopf schüttelte. Ich wünschte, er würde das nicht machen, wenn er auf mir sitzt, sagte der Wallach nervös. Das ist wirklich sehr unangenehm. Dhana konnte seinen Standpunkt verstehen, aber sie sagte zu ihm: Als Pferd eines Zauberers solltest du eigentlich daran gewöhnt sein. Und du bist ein wundervolles Reittier für ihn. Geduldig, willig, sanft. Ich weiß, ohne dich könnte er nicht auskommen. 63
Über diese Komplimente erfreut, schnaubte Fleckchen durch die Nase. Umgeben von einer Hülle aus glitzerndem Feuer, deutete Numair nach unten auf die nach Norden führende Straße. Schwarzes Feuer schoß aus seinen Fingern wie ein Blitzstrahl und war mit einem Knistern hügelabwärts verschwunden. Dann wandte sich Numair nach Süden und schickte einen zweiten Blitzstrahl los. »Was war das?« fragte Dhana erschrocken. »Erinnerst du dich an diese Dinge, die ich an der Kreuzung vergraben habe? Einmal aktiviert, entsenden sie Abbilder eines in meine Gabe eingehüllten Mannes, der rasch auf der Straße dahinreitet. Genau danach wird Tristan suchen. Jetzt hat er drei von meiner Sorte zu verfolgen, und diejenigen, die nach Norden und Süden reiten, sind mir viel ähnlicher als ich selbst.« Aber sie werden Dhana nur mit einem von dir sehen, stellte Wolke klar. Das Mädchen übersetzte. Numairs Gesichtsausdruck zeugte von größter Selbstzufriedenheit. »Der magische Mantel um meine Ebenbilder ist sehr weit und schlottert um sie herum. Das ist haargenau die Art von Ding, die ein weltfremder Akademiker wie ich benützen würde, um sich zu verstecken, da ich ja für die praktische Arbeit auf dem Schlachtfeld ungeübt bin. Gehen wir.« Er nahm Fleckchens Zügel und schnalzte mit der Zunge. »Aber sie kennen dich doch«, argumentierte Dhana, als sie mit Lümmel im Schlepptau folgte. »Sie wissen, daß du für den König mit Unsterblichen fertig geworden bist. Müßten sie nicht eigentlich annehmen, daß du in der Zwischenzeit auch irgend etwas Praktisches gelernt hast?« »Zauberlehrling, eines der Dinge, die ich über die Menschen gelernt habe, ist die Tatsache, daß sie an ihrem ersten Eindruck von dir festhalten, besonders dann, wenn ihnen jegliche Erfahrung mit dir nach deiner Wandlung fehlt. Tristan, Alamid und Gissa kennen mich von der Universität her, wo ich ein in Bücher vergrabener Idiot war.« Dhana schüttelte den Kopf. Sie fürchtete, ihr Freund vertraute zu sehr auf die Dummheit seiner Magier-Feinde. Rechts von ihr ertönte ein Jaulen, und das Wolfsrudel brach aus dem Unterholz, allen voran 64
Brokefang. Schwanzwedelnd umringten sie die Pferde. Kätzchen streckte seinen Kopf aus der Tragetasche und zirpte Rötling etwas zu. Wohin geht ihr? fragte Brokefang. Warum sind die Füße der Pferde umwickelt? Die Zweibeiner haben nichts Gutes im Sinn, erklärte Dhana ihrem Freund. Wir müssen den König warnen und deshalb so rasch wie möglich unter dieser Magie hindurch, die sie über das Tal gelegt haben. Brokefang stellte sich auf die Hinterläufe, so daß er Dhana und Numair sehen konnte. Ihr geht weg? Um den König zu alarmieren, versicherte Dhana ihm. Er wird dem Schürfen und Bäumefällen ein Ende bereiten. Ich kenne euren König nicht. Ich kenne nur dich. Du hast gesagt, du wirst uns helfen. »Aber ich helfe ja«, protestierte Dhana. Die anderen, besorgt aussehenden Wölfe setzten sich und hörten zu. »Wir werden den König zu Hilfe rufen.« Das ist Hilfe für Zweibeiner. Du wirst hier gebraucht. »Dhana, wir müssen weiter«, sagte Numair leise. Sie zögerte. In Brokefangs Augen lag so ein seltsamer Ausdruck. Sie stieg vom Pferd, kniete vor dem Leitwolf und vergrub ihre Hände in seiner Halskrause. Mit geschlossenen Augen öffnete sie ihren Geist und konzentrierte sich auf ihn, auf ihn allein, und lauschte angestrengt auf das Durcheinander von Ideen und Bildern in seinem Kopf. Brokefang hatte Angst. Neue Gedanken stürmten von Tag zu Tag verstärkt auf ihn ein, und er verstand sie alle nicht. Das hatte begonnen, nachdem das Mädchen, das zum Rudel gehörte, von ihnen gegangen war, zu der Zeit, als die Männer sie aus ihrer Heimat vertrieben hatten. Dann hatte er niemanden, an den er sich hätte wenden können, niemanden im Rudel, der diese Gedanken verstanden und sie ihm hätte erklären können. Er hatte sie monatelang mit sich herumgeschleppt, bis sie sich in ein Prickeln im Kopf verwandelten. Dieses Prickeln konnte er ertragen. Dann war das Mädchen wiedergekommen, und neue Gedanken tobten in seinem Gehirn wie stechende Blitze. 65
»Armer Brokefang«, flüsterte sie und rieb die Ohren ihres Freundes. »Ich nehme nicht an, daß Wölfe Kopfschmerzen haben, aber wenn es so wäre, hättest du eine Menge davon.« »Dhana, diese Ebenbilder überdauern die Dämmerung nicht!« zischte Numair. Dhana sah ihn an. Er behielt ständig die Straße im Auge, die zur Stadt führte, und versuchte, Fleckchens Zügel nicht zu straff anzuziehen. Sie mußte eine Entscheidung treffen, und zwar schnell. Numair brauchte sie nicht, um zu tun, was nötig war, sie würde ihn nur ablenken. Andererseits war sie die einzige, die diesem Wolf helfen konnte. Dhana trat zu Lümmel, band Kätzchens Tragetasche los und nahm die Tasche, die ihre persönlichen Dinge enthielt. »Ich kann nicht mit dir gehen«, sagte sie währenddessen. »Brokefang braucht mich.« »Jetzt ist keine Zeit für Sentimentalitäten! Hier bist du in Gefahr, bis Hilfe kommt!« »Und sie sind es nicht?« fragte sie. »Sie haben sich verändert, durch meine Schuld, Numair, weil sie in meiner Nähe sind. Ich wußte nicht einmal, daß ich Magie hatte, als dieses Rudel mein Leben rettete, aber mein Kopf muß weit geöffnet gewesen sein, und alle Magie strömte heraus. Jetzt brauchen sie Hilfe, um mit allem fertig zu werden. Ich kann sie nicht im Stich lassen, Numair, tut mir leid.« »Also läßt du mich im Stich?« Er war so angespannt, daß Fleckchen nervös seine Stellung veränderte. »Was ist, wenn irgend etwas meine Rückkehr verzögert?« Sie lächelte ihn an. »Du weiß, ich kann in den Wäldern besser für mich selbst sorgen als die meisten. Ich habe meine Armbrust. Mir passiert schon nichts.« Er seufzte. Düster starrte er auf sie hinunter. »Deine Sturheit wird dir noch einmal schaden«, sagte er schließlich. »Ich komme mir uralt neben dir vor.« »Genau das gleiche hat Ma mir ständig gesagt.« Lächelnd fügte sie hinzu: »Du an meiner Stelle würdest genauso handeln.« Er seufzte noch einmal. »Na schön. Bleibt in den Bergen. Haltet euch ständig in Bewegung. Laßt die Festungen in Ruhe, die Burg, die Städte und Dörfer, einfach alles, verstanden?« 66
»Ja, ja«, sagte sie. »Jetzt beeil dich. Je eher du verschwindest, um so eher kannst du wieder zurück sein.« Lümmel, geh mit ihm, fügte sie hinzu. Dadurch kommst du wenigstens von den Wölfen weg. Vielen, vielen Dank, sagte das stämmige Pferd erleichtert. Es trottete davon in Richtung des westlichen Passes, und Fleckchen folgte. »Warte«, sagte Numair. »Wie soll ich dich bei meiner Rückkehr finden?« »Fleckchen wird es wissen.« Der Zauberer reichte ihr die Hand, und sie reichte ihm ihre. Er drückte sie sanft. »Sei vorsichtig. Laß dich nicht sehen.« »Es wird schon alles gutgehen«, versicherte sie ihm. Fleckchen trabte schnell hinter Lümmel her. Die umwickelten Hufe verursachten ein dumpfes Geräusch auf dem Boden. Dhana sah ihnen nach und fühlte sich ein bißchen verloren.
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4 Brokefang handelt Er muß sich keine Sorgen machen, sagte Brokefang. Das Rudel beschützt dich. »Ich weiß«, flüsterte sie. »Außerdem, wer braucht schon die Menschen?« fügte sie schon fröhlicher hinzu und sah in die Gesichter der Wölfe um sie herum. »Sie behindern mich nur und schreien, wenn sie meine Freunde sehen. Jedenfalls die meisten.« Ich mag den Storchenmann, protestierte Brokefang. Ich auch, fügte Kurzschnauze hinzu. Leichtfuß, Rötling und Löwenherz jaulten zustimmend. Er ist für dich ein guter Rudelführer, fuhr Brokefang fort. Du versuchst immer, ein einsamer Wolf zu sein, isoliert von deinesgleichen. Das ist nicht gut. Menschen sind wie Wölfe. Wir alle brauchen ein Rudel. Er sah Wolke an und fügte hinzu: Oder eine Herde. »Ich nicht«, sagte das Mädchen und befestigte ihre Sachen an Wolkes Sattel. »Ich kann für mich selbst sorgen.« Nein, sagte Brokefang. Du brauchst das Rudel nicht nur wegen des Essens. Es ist wegen der Wärme und dem Rudelgesang. Der Wolf, der allein singt, ist nicht glücklich. Wir können hier die ganze Nacht weiterquatschen, warf Wolke ungehalten ein. Oder wir können machen, daß wir von hier wegkommen. Wenn die Menschen Numair nicht finden können, werden sie als erstes die Jäger losschicken. Wir werden schneller vorankommen, wenn Dhana auf dir reitet, sagte Rötling. Kätzchen kann auf mir reiten, wenn es verspricht, nicht zu kratzen. Der junge Drache zirpte und versuchte, aus seinem Sack herauszuklettem. Dhana half ihm und setzte ihn auf Rötling. Vorsichtig packte Kätzchen sein Fell mit allen vieren und rückte sich bequem zurecht. Dhana betrachtete das komische Bild, das sie boten, schüttelte den Kopf und bestieg Wolke. Brokefang trottete ans 68
Kopfende der Reihe. Das Rudel folgte einer hinter dem anderen, Dhana und Wolke bildeten den Schluß. Kurz vor Anbruch der Morgendämmerung erreichten sie das Wolfslager. Frostpelz und die Welpen begrüßten sie. Während sich die Wölfe versammelten, um Wiedersehen zu feiern, sattelte Dhana ab und rieb Wolke trocken. Das Mädchen merkte, daß Kätzchen, immer noch auf Rötlings Rücken, zufällig an der Begrüßungszeremonie teilnahm. Zu ihrer Belustigung und zu Kätzchens Freude wedelten die Welpen diesmal vorsichtig mit den Schwänzen, allerdings trauten sie sich noch nicht in seine Nähe. Nachdem Wolke versorgt war, zog sich Dhana die Stiefel aus und kroch in ihre Bettrolle, obwohl sie noch nicht schläfrig war. Scharfnase und Frohsinn streiften mit den Welpen umher. Die meisten anderen Wölfe scharten sich um Dhana, Frostpelz legte sich in Hörweite an das Ufer des Teiches. Kätzchen streckte sich neben Dhana aus und schlief sofort ein. Nun, sagte Brokefang, hast du mit den Zweibeinern gesprochen? »Ja. Sie werden gar nichts tun. Sie haben mich ausgelacht. Das hab’ ich dir ja gleich gesagt.« Warum? wollte Langwind wissen. Was ist an dir so komisch? Sie seufzte. »Sie sehen mich nicht so, wie ihr mich seht. Für sie bin ich nur ein kleines Mädchen.« Bei der Erinnerung daran machte sie ein finsteres Gesicht. »Ein Bastard, ein Bauernkind, um genau zu sein.« Leichtfuß war verwirrt. Das ist dumm. Bei den Menschen bist du kein Welpe mehr, sondern ein Jährling. Manchmal sind auch Jährlinge klug. Ich war selbst einmal ein Jährling. Langwind fragte: Was bedeuten diese anderen Worte? »Bastard« und »Bauer«? Das Mädchen versuchte erfolglos, es ihnen zu erklären. Für einen Wolf war ein Zweibeiner, der eine Farm hatte, dasselbe wie ein Zweibeiner in einem Palast. Rötling meinte, ein Bauer würde besser riechen, denn sein Geruch schließe den Duft von Erde und Gras ein. Daß es etwas Besonderes war, den Vater nicht zu kennen, kam den Wölfen lächerlich vor. Selbst wenn die meisten ihresgleichen wußten, wer ihr Vater war oder es sein sollte – nämlich der Rudelführer-, so 69
kannten sie doch andere Tiere und Vögel, die keine Ahnung hatten, wer ihr Vater war. Löwenherz faßte zusammen: Nur ein Mensch glaubt, daß so etwas wichtig ist. »Sie glauben, sie wissen alles, was es zu wissen gibt«, sagte Dhana. »Sie glauben, sie brauchen nicht auf mich zu hören. Würdet ihr versuchen, einem Adler zu sagen, wie man jagt?« Ebensowenig wie ein Adler einem Wolf sagen würde, wie man jagt, antwortete Löwenherz. »Für die Schloßherrschaften und für Tristan bin ich ein Wolf, der einem Adler sagen will, wie man jagt.« Hast du’s denn wirklich versucht? erkundigte sich Rötling. Hast du gesagt, daß sie das Wild vertreiben und die Fische töten? »Ja. Es ist ihnen egal. Sie sagen, es ist ihr gutes Recht, mit dem Tal zu machen, was ihnen paßt.« Ich hab’ mir schon gedacht, daß du keine große Hilfe sein wirst, sagte Frostpelz bissig. Was nützt du uns, außer, daß man mit dir reden kann? Der Stachel saß. Dhana starrte Brokefangs Gefährtin böse an. »Ich möchte sehen, wie du das besser machst, Madam Allwissend.« Frostpelz zerbiß einen Floh und gab keine Antwort. »Der König wird helfen«, sagte Dhana zu Brokefang. Sie wollte, daß er ihr glaubte und auf Hilfe wartete und nicht auf eigene Faust etwas unternahm. »Die Zweibeiner haben hier etwas Schlimmes vor, und er wird es verhindern.« Ich weiß nichts von Königen, antwortete der Wolf. Für mich sind sie einfach bloß Zweibeiner. Genau, sagte Leichtfuß. Bis jetzt haben wir noch nie erlebt, daß Zweibeiner das Unheil in Ordnung brachten, das andere angerichtet haben. Zu Dhana gewandt fügte sie hinzu: Du bist für mich kein Zweibeiner, du gehörst zu uns. Brokefang nickte wie ein Mensch. Ich weiß, du glaubst, sie werden helfen, Rudel-Schwester, sagte er zu Dhana, aber Zweibeiner tun Dinge nur aus Gründen, die für sie selbst wichtig sind. Selten denken sie dabei an die folgen für die Tiere, nicht nur für Wölfe. 70
Langwind seufzte. Er war Brokefangs Onkel, der Älteste des Rudels, mit grauen Haaren im schwarzen Pelz um die Schnauze. Du hattest recht zu handeln, Brokefang. Ich zweifelte, bis ich schließlich nachgab. Zumindest haben wir jetzt einen Anfang gemacht. Dhana setzte sich ruckartig auf, plötzlich hellwach. »Was meinst du damit?« Es war ein Spaß. Das war Rötling, dessen Augen vor Freude leuchteten. Du hättest dabeisein sollen. Darf ich es ihr zeigen? fragte er Brokefang. Bitte? Kurzschnauze jaulte zustimmend. Langwind wirbelte mit seinem Schwanz den Staub auf. Frostpelz setzte sich auf und beobachtete Dhana mit einem seltsamen, selbstzufriedenen Ausdruck in ihren bernsteinfarbenen Augen. Na schön, erlaubte Brokefang. Rötling japste begeistert und trottete ins Schilf. Er kehrte zurück und schleppte etwas, das aussah wie ein großer Stock. Mach dir keine Sorgen, sagte Brokefang, als Rötling sich ihrer Bettrolle näherte. Wir haben das gleiche gemacht wie mit dem Schaf. Die Tricks, um unsere Spuren zu verwischen, du weißt schon. Rötling ließ schwanzwedelnd den »Stock« vor Dhana auf den Boden fallen. Seine Trophäe war eine Axt, eine der großen Äxte, welche die Waldarbeiter benützten, um Bäume zu fällen. Dhana berührte den Stiel, nur um sich davon zu überzeugen, daß er echt war. »Wie…«, krächzte sie mit trockener Kehle. Sie griff nach dem Wasserbehälter und trank. »Wie viele davon habt ihr? Bloß diese eine?« O nein, antwortete Löwenherz. Wir haben alle genommen, die wir im Lager der Bäumefäller finden konnten. Es war gefahrlos, versicherte Leichtfuß dem Mädchen. Durch ihre Reise mit Dhana und Numair wußte sie, daß alles im Zeichen der Gefahrlosigkeit getan werden mußte. Die Menschen lagern nicht dort, wo sie die Bäume fällen. Sie lagern mit anderen Zweibeinern am See. Nur die Waldtiere haben uns gesehen – die verraten uns nicht. Dhana kroch aus ihrer Bettrolle. »Wo sind die anderen?«
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Rötling führte sie zu dem Platz im Schilf. Das Mädchen zählte, denn es wollte seinen Augen nicht trauen. Die Wölfe hatten vierzehn große Äxte und fünf Zweimannsägen gestohlen. »Gute Göttin«, krächzte sie und setzte sich erst einmal. In all den Jahren ihrer Verbundenheit mit Tieren, bevor und nachdem sie die Kontrolle über ihre wilde Magie erlangte, hatte sie noch nie ein Tier etwas Derartiges tun sehen. Dies bedeutete Nachdenken über die Zukunft. Dies bedeutete Wissen. Die Wölfe hatten erkannt, daß Werkzeuge getrennt von den Männern, die sie bedienten, behandelt werden mußten. Wir haben dem Bäumefällen ein Ende bereitet, sagte Brokefang. Ohne diese Werkzeuge werden die Menschen keine Bäume mehr zerstören. Sie werden keinen Lärm mehr machen, der Wild und Elche verängstigt. »Ihr begreift nicht. Sie werden euch jagen, genau wie damals zu Hause.« Nur der Jäger, der mit der Hundemeute, kann Wölfe aufspüren, sagte Langwind. »Tait«, sagte Dhana. »Er heißt Tait.« Keiner der anderen kann uns verfolgen, fuhr Langwind fort. Und für Tait hat Brokefang einen Plan. Kurzschnauze grinste. Mir gefällt der Plan, sagte er. Das wird ein Spaß. Plötzlich machte sich bei Dhana die fehlende Nachtruhe bemerkbar. Die Morgendämmerung brach an, sie war erschöpft. Sie stand auf, staubte ihr Hinterteil ab und ging zu ihrer Bettrolle. »Unternehmt nichts, bis ich aufwache«, befahl sie, während sie in ihre Bettrolle kroch. »Kein einziges gottverdammtes Ding, verstanden? Wir reden später darüber.« Sei nicht böse, bat Leichtfuß und rollte sich neben Dhana zusammen. Brokefang weiß, was zu tun ist. »Genau das macht mir angst«, murmelte Dhana, dann fielen ihr die Augen zu. Sie träumte. Ma bestellte einen Garten. Sie hatte ihr goldenes Haar hochgesteckt. Ein Mann mit einem Geweih in seinem braunen Lockenhaar sah ihr dabei zu. Er lehnte an der Gartenmauer. Wenn er 72
sich bewegte, waren Spuren von Grün in seiner braunen Haut zu erkennen. Ihre Mutter sah ihn an. Dabei beschattete sie die Augen gegen die Sonne und bewegte die Lippen. Der Mann lachte lautlos, mit blitzendweißen Zähnen. Abgesehen von den fehlenden Geräuschen, hätte dies irgendein realer Ort sein können, den Dhana vom Gartentor aus beobachtete. Ein Eichelhäher schrie »Dieb, Dieb«! Der Traum endete, und Dhana schlug die Augen auf. Sie war völlig durcheinander. Vor einem Jahr hatte sie eine ähnliche Vision von ihrer Mutter und dem Fremden gehabt. Was bedeutete das? Wollte ihre Mutter ihr durch diese Träume mitteilen, sie lebe in Frieden in den Reichen der Toten? Welche Rolle spielte der gehörnte Mann? Nach allem, was Dhana gehört hatte, war das Reich des Schwarzen Gottes für Menschen reserviert, und er war ja wohl kein normaler Mensch. Ich sage, sie muß es tun, wenn sie zum Rudel gehört. Die grollende Stimme gehörte Frostpelz. Warum die Welpen verlassen, um auf die Suche zu gehen und bei vier von fünf Mal kein Wild zur Strecke zu bringen, wenn sie doch hier ist? Dhana setzte sich auf. Das Rudel stand rund um die Leitwölfe. Ruf das Wild zu uns her, befahl Frostpelz Dhana. Sie kam mit nach vorne gerichteten Ohren und hochgerecktem Schwanz auf Dhana zu, um das Mädchen zu zwingen, sich ihr zu unterwerfen, wie andere Weibchen des Rudels es taten. Bring uns einen schönen, fetten Bock. Warum sollen wir es dem Zufall überlassen, ob wir Wild erjagen können, wenn du hier bist und deinen Geruch überall in unserem Lager verbreitest? Entweder du gehörst zum Rudel, und das bedeutet, daß du mir gehorchst, oder du gehörst nicht dazu. Gehorche! »Nein«, sagte Dhana und sah der Wölfin fest in die Augen. Frostpelz sträubte die Nackenhaare. Sie zog ihre Oberlippe zurück und entblößte mächtige Zähne. Dhana duckte sich. »Sage ich dir, wie du mit den Weibchen des Rudels umgehen sollst?« fragte sie. »Ich lass’ dich auf deine Weise herrschen, und befiehl du mir ja nicht, wie ich mit anderen Tieren umgehen soll. Wenn du kein bösartiges, ekliges Zankweib wärst, hättest du so etwas überhaupt nicht gesagt.« 73
Frostpelz knurrte, ein tiefer, vibrierender Ton, der auf dem Grund ihrer Brust begann und sich seinen Weg durch ihre Kehle erkämpfte. »Zwing mich nicht, dir zu zeigen, was ich seit meiner Abwesenheit sonst noch gelernt habe«, warnte Dhana. »Es würde dir nicht gefallen.« Ihr Blick verhakte sich in dem der Wölfin und hielt ihn fest. Die Zeit dehnte sich wie eine gespannte Bogensehne. Frostpelz brach als erste die Kraftprobe ab. Sie wirbelte herum und verschwand im Schilf. Aus ihrem Versteck heraus rief sie Brokefang zu: Sie wird sich gegen uns stellen! Die Welpen winselten und blickten von Brokefang zum Schilf, in dem sich ihre Mutter versteckt hatte. Ist schon gut, sagte der Rudelführer zu ihnen. Lauft los. Wir bringen euch Fleisch. Schnäppchen, welche die jungen Wölfe anführte, jaulte zustimmend und folgte ihrer Mutter. Die anderen Welpen machten es ebenso. Leichtfuß bildete die Nachhut. Bevor sie ins Schilf eintauchte, drehte sie sich nach Dhana um und winselte. Das Mädchen lächelte. »Ist schon gut«, sagte sie. »Wir sind noch nie miteinander ausgekommen.« Leichtfuß fiepte traurig und verschwand. »Tut mir leid, Brokefang.« Er kam und leckte ihr die Wange. Willst du mit uns auf die Jagd gehen? Dhana lächelte. »Nein danke. Ich habe Vorräte dabei.« Hast du Käse? wollte Kurzschnauze wissen. Rötling sagt, er schmeckt gut. »Ich gebe dir welchen, wenn ihr zurückkommt«, versprach Dhana. »Und du wirst rund und fett wie ein Schaf.« Kurzschnauze entblößte seine Zähne in einem lautlosen Wolfslachen. Wir gehen auf die Jagd, sagte Brokefang und trabte davon, die anderen Männchen folgten ihm. Bald darauf verließen die übrigen Weibchen mit Ausnahme von Frostpelz und Löwenherz das Schilf und folgten den Männchen. Sie waren kaum einen Augenblick fort, als Frostpelz ihnen nachlief. Anscheinend konnte diese neuerlernte Fähigkeit des Schmollens den Forderungen ihres Magens nicht standhalten. 74
Kätzchen kam und zerrte an Dhanas Gürteltasche herum. Das Mädchen lächelte. In der Tasche bewahrte sie Feuerstein und Wetzstahl auf, und dies war Kätzchens Art, ihr zu sagen, es sei jetzt Zeit fürs Frühstück. »Vermutlich hast du recht«, sagte sie zu dem Drachen. »Wenn wir etwas gegessen haben, werden wir uns alle besser fühlen.« Rasch häufte sie in der Feuerstelle einen Berg von Reisig und Holz auf und zündete ihn an. Als sie wieder aufsah, kamen die Welpen, Löwenherz, Wolke und Kätzchen mit je einem ansehnlichen Ast fürs Feuer an. »Ihr lernt schnell«, sagte sie. »Danke.« Nachdem sie gegessen und Kätzchen gefüttert hatte, machte sie sich ans Aufräumen. Da Dhana nicht im Teich spülen und baden wollte, wo die Seife das Wasser verunreinigen wurde, das die Wölfe tranken, ging sie zu einem nahen Bach. Bei ihrer Rückkehr zur Lichtung fand sie die Welpen, Wolke und Kätzchen fest schlafend vor. Für Herbst war es warm. Löwenherz lag bäuchlings auf der feuchten Erde beim Teich, um sich abzukühlen. »Du weißt, was ich mit Brokefang und Rötling versucht habe?« fragte Dhana das lohfarbene Weibchen. Wie du in ihnen drin gewesen bist, antwortete Löwenherz. Rötling sagte, es war lustig. Willst du es mit mir auch versuchen? »Wenn du nichts dagegen hast«, sagte das Mädchen. Prima. Löwenherz schloß die Augen und legte ihr Kinn auf die Pfoten. Das einzige, worum ich bitte, ist, daß wir nicht herumrennen. Es ist zu heiß. Dhana grinste. »Da hast du recht.« Sie setzte sich neben Löwenherz und horchte erst in die Runde, prüfte, ob irgendwelche Laute sich nähernde Feinde anzeigten. Sie hörte nichts außer dem normalen Geplauder der Waldbewohner: Eichhörnchen, Vögel, Waschbären und dergleichen. Sie konzentrierte sich auf Löwenherz. Die Vereinigung klappte schneller als zuvor. Als sie sich in den Gedankengängen der Wölfin einnistete, hatte sie das Gefühl, dorthin zu gehören. Vielleicht hatte Wolke recht, und sie war wirklich fast eine Wölfin. 75
Löwenherz betrachtete die Welpen mit einem schläfrigen Auge. Sie waren eigentlich so gut wie keine Welpen mehr. Bald würden sie mit dem Rudel auf die Jagd gehen. Sie war traurig, daß sie so schnell herangewachsen waren. Auf sie aufzupassen machte mehr Spaß, wenn sie klein und wuschelig waren. Während Dhana die Kleinen mit den Augen der Wölfin betrachtete, merkte sie, daß ein Wolf auch bei Tageslicht keine farbigen Bilder sah. Andererseits brauchte er das kaum. Die Markierungen der Gesichter und Körper der Kleinen waren für die Augen der Wölfin klarer als für Dhanas, und sie konnte ein Wolfskind vom anderen aufgrund seines Geruches unterscheiden. Schließlich kehrte Dhana wieder in ihren eigenen Körper zurück. Mit schweren Augenlidern kroch sie auf allen vieren zu ihrer Bettrolle, drehte sich dreimal in ihren zerwühlten Decken um und schlief endlich fest zusammengerollt ein. Als sie aufwachte, schien die späte Sonne durch die Baumwipfel, deren Schatten sich auf dem Boden verdichteten. Sie hatte die Ankunft der Wölfe verschlafen. Satt und zufrieden lag Brokefang ausgestreckt neben ihr und schlief. Sie berührte ihn, um zu fragen: Darf ich in dich reinkommen? Brokefang öffnete schläfrig ein Auge. Muß ich aufwachen? Ich denke nicht. Das Auge schloß sich wieder. Dann los. Mit den Gedanken des Weibchens noch frisch im Gedächtnis, erkannte sie, wie verschieden der Rudelführer von Löwenherz war. Der Unterschied bestand nicht in der Größe des Gehirns, sondern in seinen Gedankengängen. Numair hatte ihr in einer Anatomiestunde gesagt, daß die Menschen nur wenig von ihrem Gehirn benützen. Sie hatte herausgefunden, daß es bei Tieren ähnlich war. In Brokefangs Kopf waren jedoch jede Windung und jeder Winkel vollgestopft mit Informationen und Ideen. Löwenherz und Rötling dachten jetzt auch schon in Begriffen wie »morgen« und »gestern«. Das war schlimm genug. Derartiges Wissen war nicht wölfisch, nicht einmal tiergemäß. Aber Dhana akzeptierte es als unvermeidliches Ergebnis des Zusammenlebens mit ihr. Brokefang jedoch wußte weit mehr Bescheid. Er wußte, er würde sterben, genau wie seine Rudelkameraden und die Kinder. Er sah die Menschen nicht als bloße Bedrohung, sondern als Geschöpfe mit eigenen Rechten, die 76
ebenfalls in Rudeln lebten, mit Gedanken und Gründen für das, was sie taten. Er begriff jetzt, daß die Tiere, die ihm als Beute dienten, ein eigenes Leben und eigene Gewohnheiten hatten, anders als die der Wölfe, aber mit einer Bedeutung für die betroffenen Tiere. Es war ein Ansturm von Wissen, mit dem fertig zu werden er sich in seinen wachen Stunden verzweifelt bemühte, jedoch leider nur mit mäßigem Erfolg. Dhana zog sich hastig aus seinen Gedanken zurück und merkte, daß ihre Wangen tränennaß waren. Sie setzte sich auf und wischte sich die Augen mit ihrem Ärmel ab. Was ist los? fragte Wolke. Warum heulst du? Dhana fuhr zusammen. Sie hatte nicht gewußt, daß das Pony ihr zuschaute. Ich fühle mich scheußlich, gestand sie ihrer ältesten Freundin. Ich habe das Gefühl, als hätte, ich ihm etwas weggenommen. Als hätte ich seine Unschuld zerstört, und die deine, und es sieht ganz danach aus, ab würde ich das auch beim Rest des Rudels schaffen. Vielleicht wird es bei ihnen nicht ganz so schlimm wie bei dir und Brokefang, aber keiner von euch wird je wieder normal handeln können wie andere Tiere. Also hast du schon diese blödsinnige menschliche Angewohnheit angenommen, immer sich selbst die Schuld für Dinge zu geben, die man weder ändern kann noch will, erwiderte Wolke trocken. Ich weigere mich, mit dir zu reden, bis du damit aufhörst. Du hast Brokefang in jener Nacht nicht dazu gezwungen, sich um deine Wunden zu kümmern, genausowenig wie du mich gezwungen hast, dich zu beißen und dauernd dein Blut zwischen meine Zähne zu bekommen. So, und jetzt hol diese Kletten aus meinem Schwanz. Da hast du wenigstens etwas Vernünftiges zu tun. Dhana schneuzte sich. Wolke hatte mit ihrem Pferdeverstand an ihre Vernunft appelliert wie immer. Du bist kein Gott, sagte sie zu sich selbst und rieb sich ihre juckende Nasenspitze, bis sie rosa war. Während sie für sich und Kätzchen kochte, stattete das Rudel einschließlich der Welpen dem vorher erlegten Tier noch einmal einen Besuch ab, um es vollends aufzufressen. Nach ihrer Rückkehr schliefen sie wieder. Dhana spielte ein bißchen mit Kätzchen und legte sich dann auch schlafen. 77
Es war eine schlimme Nacht. Sie warf sich unruhig herum und träumte davon, daß sie ein tiefes, häßliches Summen über sich am Himmel hörte. Als sie aufwachte und lauschte, hörte sie nichts, aber ihre Kleider waren schweißnaß. Das Summen begann wieder, als sie eingeschlafen war. Feuerbälle explodierten ohne Vorwarnung hinter ihren Augenlidern und schreckten sie aus dem Schlaf. Mit offenen Augen sah sie jedoch nichts. Falls Sturmflügel oder Alkerts in der Dunkelheit über sie hinwegflogen, so konnte sie sie jedenfalls nicht spüren. Ihr ging es nicht allein so. Kätzchen wachte mehrmals auf und piepste kläglich. Nachdem sie zum drittenmal aufgewacht war, krabbelte sie zu Dhana hinein, was sie seit Monaten nicht mehr gemacht hatte. Die Wölfe stöhnten und zuckten in unangenehmen Träumen. Zweimal weckten sie Dhana dadurch, daß sie knurrten und nach unsichtbaren Feinden schnappten. Bei Anbrach der Dämmerung hatte Dhana genug. Sie stand auf, badete und zog sich an. Bei ihrer Rückkehr hatten sich die Wölfe erneut zur Jagd versammelt. Wir brauchen niemand vom Rudel hierzulassen, sagte Brokefang zu seiner Gefährtin. Dhana kann ebenso gut auf die Welpen aufpassen. Sie ist zwar kein Wolf, aber ihre Waffen erfüllen den gleichen Zweck wie unsere Zähne und Klauen. Und ihr wißt selbst, daß Wolke kämpfen kann. Frostpelz ließ den Kopf sinken. Sie war müde und wollte nicht mit ihm streiten. Zu Dhana sagte sie: Der Alte Weiße sei dir gnädig, wenn meinen Kleinen irgendein Leid geschieht. »Der Alte Weiße?« fragte Dhana. Der Alte Weiße und Nachtschwarz sind der erste Wolf und seine Gefährtin, erklärte Brokefang. Sie führten das erste Wolfsrudel. Und es ist unklug, Dhana mit dem Alten Weißen zu drohen, sagte er zu seiner Gefährtin. Wenn er kommt, wird er dir eine Ohrfeige geben, weil du seinen Namen leichtfertig verwendet hast. Frostpelz entblößte verächtlich einen Fangzahn, und das Rudel machte sich auf den Weg. Die Welpen winselten und quengelten. Sie waren allmählich zu groß, als daß es ihnen Spaß gemacht hätte, zurückgelassen zu werden. 78
»Eure Zeit kommt schon noch«, sagte Dhana zu ihnen. »Ihr müßt erst ausdauernder werden und eure Lungen kräftigen, um mit dem Rudel mithalten zu können.« Ihre Zuhörer ließen sich dadurch nicht aufheitern. Sie blieben kratzbürstig und rauften dauernd miteinander. Sie neckten Wolke und zwickten sie in die Flanken, bis das Pferd einen sanften, aber dennoch festen Fußtritt in Dummchens Rippen landete. Sausewind biß Kätzchen ein bißchen zu fest und bekam dafür einen Kratzer an der Nase ab. »Wenn ich euch noch ein einziges Mal sagen muß, daß ihr aufhören sollt…«, warnte Dhana. Schnäppchen japste böse und raste einen Pfad entlang, der nach Osten, aus der Lichtung hinausführte. Die anderen Welpen folgten ihr. »Gütige Göttin!« Dhana setzte ihnen nach. »Ich hätte wissen müssen, daß Welpen von Frostpelz eine Plage sind«, murmelte sie, als sie auf offenes Land hinauskam. Hier endeten die Felsen, welche das Wolfslager verbargen. Zwischen den letzten Felsen und den Wäldern weiter unten lag eine Wiese. Das Gras stand hier so hoch, daß junge Wölfe mit Leichtigkeit Verstecken spielen konnten. Genau das tat Berry, die in einem Meer von Blumen in der Nähe der Felsen verborgen war. Dann sprang sie unvermittelt heraus und warf Dhana zu Boden. Kätzchen, das hinter Dhana herlief, plapperte verärgert. Dhana öffnete den Mund, um zu schreien, da wurden ihr sowohl Zähne als auch Gesicht von dem fröhlichen Welpen gewaschen. Begeistert über ihren Sieg, hüpfte die kleine Wölfin zu ihren Geschwistern. »Vielleicht möchte ich doch keine Wolfsnase haben«, murmelte Dhana. »Es geht doch nichts über den Geruch von schon einmal gegessenem, ausgespucktem Hirschfleisch!« Kätzchen pfiff zustimmend. Der Bach, in dem Dhana immer badete, lag ganz in der Nähe. Sie ging hin und wusch sich das Gesicht. Während sie noch schrubbte, hörte sie plötzlich aus all den Tierstimmen einen bitteren Klang heraus. Irgendwo in der Nähe lag jemand im Sterben. 79
Sie sah sich um und entdeckte ihren Patienten in einem hohlen Baum auf der anderen Seite der offenen Grasfläche. Er saß in einem Astloch und zitterte trotz der Sonne. Dhana lief den sanften Abhang hinunter und schickte Liebe und Beruhigung voraus. Als sie unter dem Baum ankam, streckte sie die Hand aus und rief: »Komm, BaumBruder. Laß mich dich ansehen.« Kätzchen unterstützte die Einladung mit einem ermutigenden Zirpen. Das Eichhörnchen öffnete seine trüben Augen. Es war zu krank, um zu sprechen. Der Grund für seine schlimme Lage war klar: Aus tiefen Wunden auf seinem Rücken sickerte Blut. Es hatte hohes Fieber, und sein Atem ging schwer und rasselnd. Als es seinen Sitzplatz verließ, verlor es den Halt. Dhana fing es im Fall auf. Sie setzte sich und barg das Tier an ihrer Brust. »Ihr Kleinen bleibt hier«, rief sie. »Und spielt ein oder zwei Minuten lang, ohne Krach zu machen. Armer kleiner Kerl«, flüsterte sie. »Wenn ich nicht gekommen wäre…« Sie lehnte sich an den Baum und schloß die Augen. Kraft ihrer Magie schaute sie tief in den Körper des Tieres hinein. Das kupferne Licht, die Lebenskraft des Eichhörnchens, flackerte. Göttin, gib, daß es mir gelingt, dachte sie und machte sich an die Arbeit. Zuerst die Lungen. Sie verwandelte ihre Kraft in flüssiges Feuer und ließ es einströmen, um sie auszutrocknen. Der Atem des Tieres wurde leichter. Als nächstes brannte sie die Infektion in den Wunden aus. Das Fleisch war sauber durchtrennt, die Knochen lagen offen. Sturmflügel? fragte sie das Eichhörnchen und ließ deren Bild vor dem Tier erscheinen. Ja, antwortete es. Einer von ihnen landete ohne jegliche Vorwarnung auf meinem Ast. Sie nickte. Das überraschte sie nicht. Warum sollte sich ein Wesen, das sich vom Elend der Menschen ernährte, um den Schmerz eines Tieres kümmern? Nur noch ein bißchen, sagte sie zu ihrem Patienten und konzentrierte sich darauf, die zerschnittenen Muskeln zusammenzufügen. Als nächstes kam die Fettschicht. Sie war gefährlich dünn, denn das Fieber hatte das meiste davon verbrannt. 80
Mit ihrer Macht baute sie die Fettschicht wieder auf, bis sie den frisch verheilten Muskel bedeckte. Als letztes legte sie neue Haut darüber und versiegelte die Wunden. Nachdem sie fertig war, entspannte sie sich und genoß die frische Luft und die Sonne auf ihrem Gesicht. Als sie die Augen aufschlug, war das Eichhörnchen gerade dabei, ihre Taschen nach Eßbarem zu untersuchen. Ich hab einen Mordshunger, erklärte es. In meiner Jackentasche sind Sonnenblumenkerne, sagte sie zu ihm. Das Eichhörnchen steckte seinen Kopf hinein und begann zu futtern. Dhana sah sich nach ihren Schützlingen um. Sie kauerten ganz in der Nähe und betrachteten sie und das Eichhörnchen äußerst interessiert. »Wo ist Kätzchen?« fragte sie. Die Welpen blickten an ihr vorbei. Dhana drehte sich um und sah hinter den Baum, der ihr als Rückenlehne diente. Einige Meter entfernt saß Kätzchen auf seinen Hinterbeinen und starrte den Abhang hinab. Seine Haut wechselte die Farbe von Blaßblau zu glänzendem, gleißendem Silber. Es wurde immer heller, bis es richtig zu strahlen begann. Die Kleine öffnete das Maul und kreischte in den höchsten Tönen. Entsetzt raste das Eichhörnchen in die Geborgenheit seines Baumes hinauf. Dhana rollte sich herum und sprang auf. Noch nie hatte sie Kätzchen einen derartigen Ton ausstoßen hören, und sie fürchtete, sie wußte, weshalb der Drache das tat. Während ihres konzentrierten Heilens hatte sie ein warnendes Summen ignoriert, das mit einem hohen, singenden Ton in ihrem magischen Ohr wetteiferte. »Zurück zur Wiese!« brüllte sie den Welpen zu. »Versteckt euch!« Sie rannte auf Kätzchen zu, das zu kreischen aufgehört hatte. Gerade, als sie sich bückte, um das Drachenkind aufzuheben, sah sie, was die Kleine so erschreckte, und erstarrte. Über einer Senke im Boden erschien eine Hand mit Klauen. Eine weitere Hand folgte. Die Klauen waren aus glänzendem Silber, dem Zeichen der Unsterblichen. Sie tasteten nach einem Halt, fanden ihn, krallten sich fest und bohrten sich in die Erde. Über dem Rand der Senke erschien der Kopf des Wesens. Es war der eines Reptils, spitz, mit Schlitzen anstelle der Nasenlöcher und tiefliegenden, ausdruckslosen Augen. Ganz langsam 81
schwenkte er nach rechts, dann nach links. Schließlich kehrte er zum Mittelpunkt seines Gesichtsfeldes zurück: zu Dhana und Kätzchen. Eine lange, gespaltene Zunge von blauer Farbe schoß nach vorn, um von den abgefallenen Blättern eines Baumes zu kosten, und glitt dann wieder in das Maul zurück Dhana fror plötzlich. Ihr Atem und der von Kätzchen bildeten weiße Wölkchen in der eisigen Luft. Keiner konnte sich rühren. Eis bildete sich überall zwischen ihnen und dem Fremdling, als wäre innerhalb weniger Augenblicke eine kalte Winternacht hereingebrochen. Das Monster schob seinen langen, schweren Körper über den Rand der Senke. Seine Haut war bedeckt mit farbigen Tropfen von Smaragdgrün zu feurigem Gold, über Bronze und Jadegrün. Dhana schauderte. Bei sterblichen Tieren bedeuteten derart auffallende Markierungen für gewöhnlich, daß der Träger giftig war. Langsam näherte es sich in einer Gangart aus Springen und Watscheln. Am Schwanz, den es nachzog, trug es Hornringe, die rasselten, wie diejenigen der Klapperschlangen. Als das Ungeheuer sich Kätzchen und Dhana zur Hälfte genähert hatte, öffnete es das Maul und zischte. Seine Zähne waren aus Silber, gekrümmt und scharf, Raubtierzähne. Das Furchterregendste jedoch waren die beiden Fangzähne, die es beim Zischen entblößte. An der Spitze des einen Zahnes bildete sich ein kleiner Tropfen einer silbrigen Flüssigkeit, wurde größer, fiel herab. Ein struppiges Wesen schoß aus dem Gebüsch, stürzte sich auf das Handgelenk des Unsterblichen. Doch die Zähne, die in Bälde mit den Knochen eines Elchs kurzen Prozeß machen würden, hinterließen kaum Abdrücke in seinem Fleisch. Zwerg knurrte herausfordernd, ließ sich aber nicht abschütteln. Schnäppchen packte die andere Vorderklaue des Ungeheuers. Berry und Sausewind griffen die Seiten des Unsterblichen an und kläfften wütend, während Dummchen sich auf das rasselnde Schwanzende stürzte. Dummchen flog im hohen Bogen durch die Luft. Jetzt benützte der Unsterbliche seinen Schwanz, um das Gleichgewicht zu halten, während er sich auf die Hinterbeine erhob. Aufrecht stehend war er kaum größer als Dhana, allerdings von kräftiger Statur. Mit raschen, 82
wohlgezielten Schlägen seines Kopfes stieß er die vier weg, die von vorne angriffen. Kätzchen raste auf ihn zu, nachdem es sich aus dem Blick des Untiers gelöst hatte. Als der Unsterbliche es wegschleudern wollte, packte es seine Pfote und biß kräftig zu. Die Wolfsbisse waren ohne Wirkung geblieben, doch der Biß eines anderen Unsterblichen hatte mehr Erfolg. Dunkles Blut quoll hervor und tropfte auf die Blätter. Wo es den Boden traf, gab es ein zischendes Geräusch. Mit wütendem Grollen schleuderte das Ungeheuer Kätzchen zehn Meter weit weg in einen Haufen Berglorbeer. Das verlieh Dhana die Kraft des Zorns, um sich aus dem Bann des Ungeheuers zu lösen. Sie warf sich zur Seite und wuchtete einen großen Stein empor. »Leg dich mit jemandem von deiner Größe an!« schrie sie gellend und warf. Der Stein traf die Schnauze des Ungeheuers und zerbarst. Dhana rollte sich zur Seite, griff nach einem weiteren Stein, doch der Unsterbliche war über ihr. Er packte sie von hinten am Hemd und hob sie hoch in die Luft. Sie hatte keine Möglichkeit, seinem Blick auszuweichen. Seine Macht fing sie wieder ein und lähmte sie. Dann hörte sie einen Ton, wie sie ihn noch nie zuvor in ihrem Leben gehört hatte. Ein grollendes, ohrenzerreißendes Knirschen, das sie an eine Steinlawine denken ließ. Ihr Gegner ließ sie los. Sie krachte zu Boden. Ohne auch nur das mindeste von dem zu begreifen, was mit ihr geschehen war, taumelte sie davon. Der schrille Ton des Unsterblichen war verstummt, nur noch ein hohes Singen durchzog ihr Gehirn. Keuchend drehte sie sich um auf der Suche nach dem Feind. Er hatte sich nicht von dem Platz weggerührt, wo er sie hatte fallen lassen, und er war nicht mehr grün. Er war grau und stumpf geworden und sah für alle Welt aus wie eine Statue. Er atmete nicht. »Götter der Pferde«, flüsterte Dhana entsetzt. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung und fuhr herum. Ein weiterer Unsterblicher näherte sich und ging auf die neu entstandene Statue zu. Beim Anblick dieses Neuankömmlings entschied das Mädchen, es müsse träumen. Seit ihrer Ankunft in Tortall hatte sie viele seltsame Geschöpfe gesehen – Riesen, Trolle, geflügelte Pferde, Einhörner, Greife und vieles mehr -, aber das grüne Monster von eben 83
und dieses neue Wesen hier waren jenseits all ihrer bisherigen Erfahrungen. Gleich ihrem Angreifer glich auch dieser Unsterbliche einer Eidechse. Auf seinen Hinterbeinen gehend, schleifte er seinen langen Schwanz nicht über den Boden, sondern hielt ihn leicht vom Boden weg und erinnerte Dhana damit an Ladies, die den kleinen Finger spreizten, wenn sie an ihrem Tee nippten. Er war größer als Dhana mit fast einem Meter achtzig, sogar größer als Numair, der immerhin zwei Meter zwanzig maß. Schlank und anmutig, mit langen, zarten Pfoten, zerbrechlich aussehenden Knochen und silbernen Krallen. Seine Haut war vom perlmutt-farbenen Dunkelgrau einer Gewitterwolke mit blaßgrauen Kopfschuppen. Der Fremdling blieb bei der Statue stehen, brach einen Finger ab, roch daran und knabberte ihn an. Der Finger knirschte wie Kies zwischen seinen Kiefern. Zu frisch. Die Stimme klang wie ein sanftes Flötenspiel. Sie müssen wirklich noch einige Jahrzehnte verwittern, ehe sie diesen säuerlichen Nachgeschmack verlieren. Kätzchen hatte sich von seinem unerwarteten Flug erholt. Aufgeregt plappernd galoppierte es auf allen vieren zu dem Neuankömmling und blieb bei seinem Knie stehen. »Kleines, nein!« schrie Dhana, aber aus ihrer Kehle drang nur ein Krächzen. Der Unsterbliche senkte den Kopf. Kleines, du bist weit von zu Hause weg. Irgendwie klang seine Stimme männlich, väterlich. Wo ist deine Mutter? Kätzchen erhob sich auf die Hinterhand, umklammerte das Bein des Fremden und spähte hinauf zu seinen Augen. Aus seiner Kehle sprudelte eine Vielfalt von Tönen, Laute, die sich hoben und senkten wie eine richtige Sprache. Der Unsterbliche sah Dhana an. Seine Augen waren von tiefem Grau mit schlitzartigen Pupillen, unmöglich zu ergründen. Genauso ausdruckslos war seine Stimme, die in ihrem Kopf sprach: Die Kleine sagt, du bist ihre Mutter. Deine Erscheinung hat keine Ähnlichkeit mit einem Drachen. Ist etwa ein Experiment schiefgegangen und hat dich in der Gestalt einer Sterblichen gefangen? 84
Dhana errötete und kniete nieder, um Berry an sich zu drücken, die mit herabhängenden Ohren und winselnd auf sie zugekrochen kam. Du bist ein tapferer Wolf, sagte sie lautlos zu ihr. Zu dem Unsterblichen sagte sie: »Ihre echte Ma wurde kurz nach ihrer Geburt getötet, als sie meine Freunde und mich verteidigte. Seitdem kümmere ich mich um Kätzchen, ich meine um Himmelslied, wie ihr richtiger Name lautet.« Der Unsterbliche blickte auf Kätzchen herab. Die übrigen Welpen versammelten sich um Dhana. Was hast du den Menschen weggenommen, Himmelslied? Oder ist es diese Sterbliche, die gestohlen hat? Kätzchen quakte entrüstet. Dhanas verblassende Röte kehrte verstärkt zurück. »Wir haben überhaupt nichts gestohlen!« Dann war es dumm von dir, dich zwischen einen Eiszahn und die Diebe zu stellen. Der Tonfall des Unsterblichen war weder ärgerlich noch vorwurfsvoll, er zeugte lediglich von kühlem Interesse. Als sie das hörte, wurde Dhana ruhiger. Sie deutete auf die Statue. »Wie hast du den noch mal genannt?« Eiszahn. Es sind Wachhunde. Sie verfolgen Diebe in allen Reichen, in den göttlichen, in denen der Sterblichen und der Toten. Und sie bewachen ein Ding bis ans Ende aller Zeiten. Männer brachten letzte Nacht diesen hier in das Lager, wo sie Bäume fällen. Ich ging ihm nach, um zu sehen, was los ist. Er verfolgte eine Spur seit der Morgendämmerung. Dhana wollte schon wegen der neuerlichen Anspielung auf einen Diebstahl protestieren, da fiel ihr ein, auf welche Weise das Rudel der Holzgewinnung ein Ende bereitet hatte. Sie holte tief Luft und sagte lediglich: »Du hast unser Leben gerettet. Danke.« Ich handelte nicht deinetwegen, sondern wegen meiner jungen Kusine. Das Geschöpf griff nach unten und kitzelte Kätzchen an der Nase. »Ihr seid verwandt?« fragte Dhana beunruhigt. Der Gedanke, Kätzchen zu verlieren, flößte ihr mehr Angst ein als der Eiszahn. Diesmal war die Antwort von einem geduldigen Seufzer untermalt. Nur in einem entfernten Sinn sind Basilisken und Drachen verwandt, doch beide erkennen eine Verbindung an. 85
Sie schluckte. Während Eiszähne neu für sie waren, hatte sie von Basilisken schon gehört, von Unsterblichen, die ihre Feinde zu Stein werden ließen. Ein Winseln veranlaßte Dhana, sich nach ihren Schutzbefohlenen umzusehen. Die Welpen hatten sich in der Nähe zusammengedrängt und beobachteten verängstigt den Basilisken. »Wirst du uns etwas tun?« Kätzchen schüttelte heftig den Kopf. Das Zucken im Gesicht des Basilisken konnte vielleicht ein Stirnrunzeln sein. Ich bin ein Wanderer und Beobachter, ich töte nicht. Dhana sah zu der Eiszahn-Statue hinüber. Die schien ihr allerdings ziemlich tot zu sein. Doch sie wußte, sie konnte Kätzchens Urteil vertrauen. Sie ging, um die Welpen zu untersuchen. Dummchen war am schwersten verletzt. Eine Kopfwunde ging bis auf den Knochen, und auf einem Auge konnte er nicht mehr richtig sehen. Zwerg humpelte mit verstauchter Pfote umher, und mehrere Backenzähne waren locker. Schnäppchen, Berry und Sausewind hatten von ihrer Rauferei mit dem Eiszahn nur Schrammen davongetragen. Dhana kniete sich vor Dummchen nieder. »Für die nächste Zeit läßt du Schwanzenden besser in Ruhe«, befahl sie und weckte ihre Magie. »Dieser Eiszahn hätte dich beinahe noch dümmer gemacht, falls das überhaupt möglich ist.« Der junge Wolf winselte und leckte ihr das Gesicht. »Genug jetzt«, sagte sie zu ihm und nahm seinen Kopf in ihre Hände. »Wir machen dich nun ganz schnell wieder gesund.« Das ging rascher als beim Eichhörnchen. Die Wunde war noch nicht infiziert. Mit der Schnelligkeit eines Wimpernschlages trocknete Dhana sie aus und eilte weiter durch das Gehirn, um die inneren Verletzungen zu heilen, die das Sehvermögen beeinträchtigt harten. Das Zusammenfügen des durchtrennten Muskels und der Haut dauerte weniger lang als ein tiefer Atemzug. Dhana berührte die frische Narbe. »Die lass’ ich dir«, neckte sie. »Die jungen Wolfsdamen werden denken, du bist ein ganz Flotter. Komm her, Zwerg.« Die verstauchte Pfote war einfach zu heilen, die lockeren Backenzähne weniger. Sie hatte noch nie zuvor Zähne wieder 86
eingewurzelt, also arbeitete sie langsam und vorsichtig, um keinen Fehler zu machen. Ist dies etwas Neues, diese Verbindung zwischen Menschen und Wölfen? erkundigte sich der Basilisk, nachdem sie fertig war. Ich hätte nicht gedacht, daß sich das Zusammenleben von Mensch und Tier so entwickelt. Dhana lächelte. In mancher Hinsicht redete er wie Numair. »Nein, Sir. Ich hatte nur eine besondere Beziehung zu Tieren, als ich selbst noch ein Junges war, und das hat sich dann in Magie verwandelt. Nun, mein Lehrer meint, es sei von Anfang an Magie gewesen, aber ich habe erst vor kurzem gelernt, sie zu gebrauchen.« Ich habe schon von wilder Magie gehört. Der Basilisk blickte auf Schnäppchen hinab, die herumgekrochen war, bis sie sich ein paar Meter gegen die Windrichtung entfernt hatte. Sie hob die Nase, ihre Nasenflügel bebten, als sie den Geruch des Basilisken einsog. Ihr Schwanz wedelte. Abgesehen von Vögeln fürchten mich die meisten Tiere. Deine WolfFreunde sind ungewöhnlich. Dhana lächelte schief. »Du solltest erst das Rudel kennenlernen.« Das würde ich sehr gerne, falls du es erlaubst, lautete seine Antwort. Es würde mich freuen, die Eltern solch tapferer Nachkommen kennenzulernen, wenn sie nicht davonrennen. »Das werden sie nicht«, versicherte ihm das Mädchen. »Sie sind selbst ziemlich ungewöhnlich.« Hast du einen Namen, Wolf-Mädchen? »Dhana. Mein voller Name lautet Veralidhana Sarrasri, aber das ist der reinste Zungenbrecher für den täglichen Gebrauch.« Der Basilisk sah sie aus großen Augen kühl und ohne zu blinzeln an. Nicht zum erstenmal und nicht zum letztenmal, dessen war sie sicher, wünschte Dhana, sie könnte die Gedanken eines Unsterblichen ebenso lesen wie die eines Tieres. Du könntest meinen vollen Namen ebenfalls nicht aussprechen. Du darfst mich Tkaa nennen. Dummchen rannte weg und der größte Teil der anderen Wolfsjungen hinterher. Schnäppchen dagegen beobachtete weiterhin den Basilisken. Bald kehrten ihre Spielgefährten zurück. Dummchen, 87
mit stolz aufgerichteten Ohren und Schwanz, trug Hornringe des Eiszahns, die abgebrochen waren, als das Monster ihn weggeschleudert hatte. Er legte sie vor Dhana nieder und bellte. »Für mich?« fragte sie und hob die Ringe auf. Sie wischte sie an ihren Reithosen ab. Sie waren silbrig und kalt. »Tkaa, du sagst, diese Wesen da jagen Diebe? Wie viele Spuren brauchen sie?« Keine. Sie wissen, wo ein Dieb vorbeigekommen ist, und folgen diesem Wissen. Dhana schauderte. »Wir kehren dann besser ins Lager zurück. Ich muß das Rudel warnen.«
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5 Die Falle Auf der Lichtung am Teich machte Dhana Tkaa mit Wolke bekannt. Während die Welpen ein Nickerchen machten, versorgte sie dann die Stute und packte. Tkaa beschäftigte sich mit Kätzchen. Er redete in der Plappersprache, mit der sie ihn ansprach, und lauschte ernsthaft auf ihre Antworten. Das Mädchen bemühte sich erfolglos zu verstehen, was gesagt wurde. Stimmt etwas nicht? wollte Tkaa wissen. Du runzelst die Stirn. »Ich begreife einfach nicht, wieso Kätzchen eine Sprache hat und tatsächlich spricht und ich sie trotzdem nicht verstehen kann. Ich habe fast nie Schwierigkeiten, mit Unsterblichen zu reden.« Deine Magie erlaubt dir, von Gedanke zu Gedanke zu sprechen. Himmelslied ist dazu noch nicht alt genug. Andererseits ist die gesprochene Drachensprache etwas, was sie von Geburt an kann. Meinesgleichen ist berühmt dafür, alle Sprachen zu kennen, die der Sterblichen und der Unsterblichen. Ehe die Menschen uns in die Göttlichen Reiche verbannten, gingen wir überall umher und redeten mit allen. Er sah sich um. Nun durchwandere ich wieder die Reiche der Sterblichen, der erste Basilisk seit vier Jahrhunderten, dank dieses gelben Magiers. »Welcher gelbe Magier?« Derjenige, der mich hierherbrachte. Natürlich wollte er mich nicht herbringen. Ich entwischte im Kielwasser der Sturmflügel, die er rief. Dhana starrte ihn an. »Wo war das?« Hier. Er lebt auf der Burginsel. Ich kann die Aura seiner Macht sehen, sie ist heller als die der anderen Magier, die innerhalb jener Mauern leben. Mehr als je zuvor wünschte Dhana, Numair wäre nicht so überstürzt abgereist. Göttin, laß ihn bald zurückkehren, dachte sie. Er muß hören, was Tkaa uns erzählen kann. Sie wünschte außerdem Brokefang würde kommen, damit sie den Teich verlassen und sich in den Bergen verstecken konnten. Der Gedanke, ein weiterer Eiszahn könnte sich 89
langsam und unbarmherzig vom Lager der Holzfäller aus auf den Weg hierherauf machen, ließ ihre Haut prickeln und einen Knoten in ihrem Magen entstehen. Beruhige dich, riet ihr Tkaa, als sie sich in die Hand schnitt, während sie Käse fürs Mittagessen zurechtmachte. Ich bezweifle, daß die Sterblichen, die den Eiszahn auf die Jagd geschickt haben, überhaupt wissen, daß einer tot ist. »Aber die Männer, die ihn geschickt haben, besitzen Wahrsagekristalle«, protestierte sie. »Sie werden darin nach ihm suchen…« Möglicherweise versuchen sie es. Das war ja sehr beruhigend. Sagte ich nicht, Eiszähne fangen Diebe? Zu viele Diebe vertrauen auf die Magie. Ein Eiszahn kann durch Magie nicht gesehen werden, genausowenig wie er dadurch aufgehalten werden kann. Sie können durch menschliche Waffen niedergestreckt werden, doch das kann, wie du weißt, sehr schwierig sein. Dhana nahm das zur Kenntnis, als sie in der Ferne die Ankunft der Wölfe spürte. »Tkaa, die Wölfe sind hier. Möglicherweise erschrecken sie bei deinem Anblick. Hab Geduld, bitte.« Kätzchen fügte ein Zirpen hinzu, und der Basilisk kitzelte es hinter den Ohren. Ich bin immer geduldig, sagte er. Die Wölfe trotteten zwischen den Felsen hervor und blieben unvermittelt stehen. Sie schauten von Dhana zu Tkaa. Ohren legten sich flach, Nackenhaare sträubten sich. »Nein!« schrie Dhana. »Er hat die Welpen gerettet! Ein Monster kam, und er hat unser aller Leben gerettet!« Rasch erklärte sie die Vorfälle des Morgens. Tkaa hielt still, als Brokefang ihn vorsichtig beschnüffelte. Das Rudel vom Langen See dankt dir, sagte der Leitwolf schließlich. Wir danken dir für das Leben unserer Jungen und für das Leben unserer Freunde Dhana und Kätzchen. Zu Dhana gewandt fügte er hinzu: Sieht ganz danach aus, als sollten wir verschwinden. »Ja, bitte«, sagte sie besorgt und dachte dabei an Unsterbliche, welche Diebe ausfindig machen konnten. »Ich würde mich wirklich sehr viel besser fühlen.« 90
Ich kenne einen Platz, an dem wir für eine Weile bleiben können, verkündete Brokefang. Beim Westlichen Paß gibt es Höhlen, dort können wir lagern. Es wird dir gefallen. Es gibt dort eine Menge Fledermäuse, mit denen du dich unterhalten kannst. Wir werden gleich aufbrechen, wenn du fertig bist. Der große Wolf zögerte, dann fügte er mit einem Blick auf Tkaa hinzu: Du bist herzlich eingeladen, auch mitzukommen. Ich freue mich darauf, eure Höhlen zu sehen. Dann los, sagte Wolke. Ich fühle mich erst besser, wenn wir hier weg sind. Wartet, befahl Brokefang. Die Werkzeuge. Die Sägen und die Äxte. Wenn wir die hierlassen und die Männer kommen, werden sie sie finden und mit dem Bäumefällen weitermachen. Also ihr seid die Diebe? Überraschung war aus Tkaas kühler Stimme herauszuhören. Ihr habt die Werkzeuge der Menschen gestohlen? Sie haben das Wild verscheucht, erwiderte Brokefang ruhig. Wir haben sie nur gezwungen, damit aufzuhören. Tkaa sah Dhana an. Sein Tonfall war kalt und streng, als er sagte: Da hast du ihnen etwas Schlimmes geraten. Dafür werden die Männer sie jagen und töten. Tief getroffen von dieser Ungerechtigkeit, schrie Dhana: »Es war nicht meine Schuld!« Es war Brokefangs Plan, erklärte Leichtfuß. Kurzschnauze kläffte zustimmend. Löwenherz sagte: Brokefang macht gute Pläne. Zeigt es mir, befahl der Unsterbliche. Rötling, dessen Freundschaft mit Kätzchen ihm zu einem unbefangeneren Umgang mit den Unsterblichen verhelfen hatte, führte ihn ins Schilf. Dhana schüttelte den Kopf, seufzte und lud ihre persönlichen Sachen auf Wolkes Rücken. Sie war gerade fertig, als sie wieder diesen Lärm hörte, ein Kreischen mit einem tieferen Unterton wie herniederstürzende Felsbrocken. Es dauerte nur einen Atemzug lang. Kurz danach trat Tkaa aus dem Schilf. Rötling tanzte um den Basilisken herum und hüpfte vor Freude wie ein Welpe. Er hat was Tolles gemacht, verkündete er. Er hat die Werkzeuge in Felsen verwandelt. Jetzt kann niemand mehr damit Bäumefällen! 91
Einen Augenblick lang gab niemand auch nur einen Ton von sich. Dann pfiff Kätzchen begeistert. Brokefang grinste ein breites, wölfisches Grinsen. Die meisten Wölfe jaulten glücklich. Langwind knurrte verhalten. Ihm gefiel diese neuerliche Veränderung seiner Welt nicht so besonders. Frostpelz nieste verärgert. Wenn jetzt alle zufrieden sind, könnten wir dann bitte aufbrechen? forderte sie. Ich möchte gern weit weg von hier sein, wenn die Männer kommen. Brokefang ging voran durch das Gewirr der Felsen. Das Rudel folgte einer hinter dem anderen, Tkaa, Dhana und Wolke bildeten den Schluß. Kätzchen betrachtete die Reihe der Marschierenden von ihrem Platz auf Wolkes Sattel aus und plauderte unaufhörlich mit Tkaa. Sie hatten etwa eine Meile zurückgelegt, als Dhana Unsterbliche spürte. Sturmflügel! rief sie dem Rudel lautlos zu, während Wolke auf die nahen Bäume zupreschte. Versteckt euch! Langwind drehte sich zu Dhana um. Wölfe haben von den Plünderern nichts zu befürchten, sagte er in seiner würdevollen Art. Sie interessieren sich nicht für Vierbeiner. Dhana rannte zu Wolke und Kätzchen unter die Bäume, wo sie in Deckung waren, griff nach ihrer Armbrust und legte einen Pfeil an die Sehne. Die beiden anderen Pfeile für die nächsten Schüsse steckte sie gleich neben sich mit der Pfeilspitze nach unten in den Boden. Die Wölfe setzten ihren gemächlichen Trab entlang des Pfades fort. Tkaa verlangsamte seine Geschwindigkeit, damit die Sturmflügel nicht denken sollten, er gehöre dazu, aber auch er blieb ungeschützt im Freien. Als die vier geflügelten Unsterblichen ihn sahen, kreisten sie über ihm. »Basilisk! Wir suchen Zweibeiner«, rief eine Brünette mit verfilztem Haar. Auf ihren nackten Brüsten waren Streifen von etwas, das aussah wie getrocknetes Blut. »Einen Mann, groß für einen Menschen, mit einer Menge Magie und eine junge Frau mit dunklem Haar. Hast du die gesehen?« Tkaa ging weiter und tat, als habe er nichts gehört. Ein Sturmflügel, dessen menschlicher Teil die mandelförmigen schwarzen Augen, das schwarze Haar und die goldbraune Haut eines Angehörigen des Stammes der K’miri hatte, ließ sich fallen, bis er nur wenige 92
Zentimeter von Tkaa entfernt in der Luft stehenblieb. Er hatte Dhana den Rücken zugekehrt, und das Mädchen hob den Bogen. Sollte er sie sehen, würde sie ihn töten, ehe er Tristan von ihr berichten konnte. Sanft schloß Wolke ihre Zähne um die Hand, die den Schaft des Pfeiles hielt. Nicht, warnte die Stute. Er hat dir nichts getan. Noch nicht, erwiderte Dhana lautlos. Sie sind böse, Wolke. Du weißt, daß sie böse sind. Das gibt es nicht, daß ein Wesen nur böse ist, meinte die Stute, genausowenig wie ein Geschöpf nur gut ist. Sie leben entsprechend ihrer Natur, ebenso wie du. Und ihre Natur ist nun mal böse, beharrte das Mädchen auf ihrer Ansicht. Nein. Ihre Natur ist der deinen entgegengesetzt, das ist alles. Die Natur eines Wolfes entspricht nicht der meinen, aber das macht aus einem Wolf noch kein böses Tier. Solange dir diese Wesen nichts Böses antun, laß sie in Ruh’. Es ist genau wie der Storchenmann dir gesagt hat – lerne, Toleranz zu üben. Der K’rriiri-Srurmflügel redete mit Tkaa, ohne zu ahnen, in welcher Gefahr er schwebte. »Du willst dieses Mädchen bewachen, KiesWampe. Sie bringt Unsterbliche um. Das macht ihr Spaß. Sie hat ein Drachenbaby gestohlen, und vorher hat sie die Drachenmutter in den Tod gejagt.« Als Dhana diese Version von Kätzchens Adoption hörte, wurde ihr eiskalt vor Wut. »Wenn du sie siehst, mach Stein aus ihr, bevor sie dir einen Pfeil in eines von deinen Schaf saugen schießt.« Flattermann, erwiderte Tkaa mit sanfter Geduld. Dein Gekrächze geht mir langsam auf die Nerven. Ich interessiere mich weder für deine Angelegenheiten noch für die der Sterblichen. »Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe.« Mit schweren Flügelschlägen gesellte sich der Sturmflügel wieder zu seinen Kameraden. Sie kreisten ein letztes Mal, kreischten höhnisch und flogen dann davon. Erst als sie weg waren, ließ Wolke Dhanas Handgelenk los. Zitternd vor Zorn, sammelte das Mädchen seine Pfeile ein und steckte sie wieder in den Köcher. Den Bogen behielt sie in der Hand, als sie und Wolke sich Tkaa wieder anschlössen. Noch zweimal mußten Dhana 93
und Wolke auf ihrem Weg zum Westlichen Paß vor den Sturmflügeln in Deckung gehen. Während sie die Monster beobachtete, bemerkte Dhana, daß irgend etwas Komisches mit dem Himmel los war. Dauernd sah sie seltsame Funken farbigen Lichtes gegen die Wolken prallen. Wenigstens bildete sie sich das nicht nur ein, auch Tkaa gab zu, sie zu sehen. Und die Wölfe, obwohl sie keine Farben erkennen konnten, sagten, auch sie würden über sich Lichtfunken sehen. Sie wollten gerade den Fluß überqueren, der aus den Bergen herunterkam, als Brokefang stehenblieb. Seine Nasenflügel bebten. Der Wind hatte ihm einen seltsamen Geruch zugetragen. Unvermittelt wandte er sich nach rechts, rannte am Flußufer entlang auf dem Pfad, den Numair am Tag zuvor genommen hatte, um aus dem Tal hinauszukommen. »Was soll das?« fragte Dhana müde, als das ganze Rudel ihm folgte. »In dieser Richtung gibt es keine Höhlen«, rief sie. Sie konnte in Gedanken die entfernte Kolonie der Fledermäuse hören. Um dorthin zu gelangen, mußte ihre Gruppe den Fluß überqueren und dem Pfad folgen, auf dem Brokefang sie und Numair neulich geführt hatte, um sich den Langen See anzusehen. Die Wölfe entschwanden ihren Blicken. »Vielleicht riechen sie Wild oder so was«, murmelte sie und setzte sich auf einen Felsbrocken, um ihre müden Füße auszuruhen. Ein Schrei, ein menschlicher Schrei, hoch und entsetzt, zerriß die Luft. Armbrust und Pfeile hochreißend, rannte Dhana hinter den Wölfen her. Ein Pferd galoppierte vorüber. Nur das Weiße in seinen Augen war zu sehen. Es raste auf den entfernten See zu. Dhana wollte es gerade durch ihre Magie aufhalten, als sie einen zweiten Schrei hörte. Sie ließ das Pferd weiterrennen und lief selbst in die Richtung, aus der es gekommen war. Dem Pferd würde schon nichts passieren. Sie wußte, es würde erst zu rennen aufhören, wenn es seinen Stall erreicht hatte. Hinter einer Wegbiegung sah sie die Wölfe, die einen Kreis gebildet hatten und auf einen kleinen Menschen in der Mitte dieses Kreises starrten. »Schon gut«, rief Dhana. »Sie werden dir nichts tun!« Der Mensch wirbelte herum. Riesige braune Augen starrten Dhana aus einem kalkweißen Gesicht an, in dem die Sommersprossen wie Tintenflecke aussahen. Der Mund stand vor Entsetzen weit offen. »Dhana?« Es war Maura von Dunlath. 94
»Pferdegötter«, entfuhr es Dhana. Maura schluckte. »Wenn sie mich auf fressen wollen, können sie es dann schnell hinter sich bringen?« Dhana seufzte. Sie spürte, daß sich Kopfschmerzen ankündigten. Wie sollte sie sich von allem fernhalten, wie Numair es ihr befohlen hatte, wenn ihr die Schwierigkeiten nur so in den Schoß fielen? »Sie werden dich nicht auffressen, Maura. Das sind nur dumme Geschichten. Glaub mir, Wölfe fressen niemals Menschen.« Sie schmecken schlecht, fügte Kurzschnauze hinzu. Das merkt man schon an ihrem Geruch. »Alle sagen, daß Wölfe Menschen fressen!« Das Mädchen wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Dhana durchbrach den Kreis der Wölfe und kraulte im Vorübergehen Leichtfuß am Hals. »Alle irren sich. Sie sagen, Wölfe töten, weil sie grausam sind, doch Wölfe töten nur, wenn sie Hunger haben.« Sie legte der Zehnjährigen eine Hand auf die Schulter. »Sehe ich deiner Meinung nach gefressen aus?« Maura starrte zu ihr empor. »Nun… nein.« »Diese Wölfe sind Freunde von mir, genauso wie die Schloßmäuse.« Maura sah das Rudel an, das Rudel sah sie an. »Sie sind aber ein ganzes Stück größer als Mäuse«, maulte Maura. Wer ist sie? fragte Brokefang. Warum ist sie hier? »Gute Frage«, antwortete Dhana. »Maura, was machst du eigentlich hier?« Jetzt sah Maura nicht mehr nur verängstigt, sondern gleichzeitig auch störrisch drein. »Das geht nur mich was an.« Dhana sah sich um. Der Boden rundherum war zertrampelt, als habe Maura ihr Pferd eine Weile grasen lassen, ehe es die Wölfe gewittert hatte und geflohen war. Unter einem nahen Baum lagen Satteltaschen und eine Bettrolle. Die Taschen zeigten alle Anzeichen hastigen Packens: sie waren an den Seiten ausgebeult, und unter einer Taschenklappe ragte der Arm einer Puppe hervor, als flehe sie, freigelassen zu werden. Mauras Augen waren rot und verschwollen. Ihre Kleider, eine schlichte weiße Bluse, ein verblichener, blauer Rock 95
und eine Anzahl von Unterröcken wirkten, als seien sie im Dunkeln angezogen worden. »Du bist ausgerissen.« Maura ballte die Fäuste. »Ich gehe nicht zurück. Du kannst mich nicht dazu zwingen.« Ein Star flog auf seinem Weg über den Paß vorüber. Er rief Dhana etwas zu, sie lächelte und winkte. Dann widmete sie ihre Aufmerksamkeit wieder Maura und fragte streng: »Wie hast du dir das denn vorgestellt, wie du hier leben willst? Wohin willst du gehen?« »Meine Tante, Lady Anys von der Minch, hat gesagt, ich kann sie jederzeit besuchen.« Dies hatte Maura offensichtlich gerade erfunden, fuhr aber fort: »Ich hab’ letzte Woche sogar einen Brief von ihr bekommen…« »Lady Maura«, begann Dhana und machte ein finsteres Gesicht. »Ich mag zwar ein Mensch sein, aber ich bin nicht blöd. Das ist das…« In der Nähe fand ein Todeskampf statt, ein Leben ging zu Ende. Es schien der Star zu sein. Stirnrunzelnd ging Dhana weg, um nachzusehen. Fünfzig Meter entfernt sah sie den zusammengekrümmten Körper des Vogels auf der Straße liegen. Sie hob das tote Tier auf und glättete seine Federn mit zitternder Hand. Der Kopf baumelte am gebrochenen Rückgrat. Als sie zum erstenmal Numairs Turm besucht hatte, sah sie, daß Vögel nicht erkennen konnten, daß die großen Fenster auf der Spitze des Turmes aus durchsichtigem Glas waren. Viele starben, indem sie mit dem Kopf voran gegen die Scheiben flogen, ehe Dhana sie vor der Gefahr warnte. Der Star sah aus, als habe ihn das gleiche Schicksal ereilt, aber hier war kein Glas. Statt dessen sah Dhana etwas anderes. Die Funken, die sie am Himmel entdeckt harte, waren hier besonders dicht. Knapp über dem Boden bildeten sie eine sichtbare Wand aus gelber Luft, durchsetzt von rosa, braunem, orangefarbenem und rotem Feuer Irgendwie glich dies den schützenden Kreisen, die ihre mit der Gabe ausgestatteten Freunde durch ihre Magie erschaffen konnten.
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Sanft legte sie den toten Vogel auf einen Stein und versuchte, nicht zu weinen. Vögel starben ständig irgendwo, aber dieser eine hätte nicht ausgerechnet hier und jetzt zu sterben brauchen. Sei vorsichtig, warnte Brokefang, als sie sich der Wand näherte. Sie streckte die Hand aus. Die gelbliche Luft war steinhart. Sie stach auch ein bißchen, ähnlich den Schlägen, die sie an kalten Wintertagen von den Wolldecken in Numairs Zimmer erhielt. Als sie ihre Hand zurückzog, war ihre Handfläche taub. Sie sah nach Norden. Die gefärbte Luft erstreckte sich, so weit sie sehen konnte, und bildete eine unnatürlich gerade Linie entlang des Gebirgsgrates. Nach Süden zu bot sich ihr das gleiche Bild. Hinter ihr schrie Maura. Dhana drehte sich um, um zu sehen, was los war. Der Rest der Gruppe war angekommen. Tkaa mit dem schläfrigen Kätzchen auf dem Arm und hinter dem Basilisken Wolke. »Hör auf«, befahl Dhana verärgert. »Das sind meine Freunde. Wenn du nicht aufhörst, jedesmal loszukreischen, wenn dich etwas aufregt, wirst du uns die Sturmflügel auf den Hals hetzen.« »Ich sehe nicht jeden Tag Rieseneidechsen«, beklagte sich Maura. Ich bin keine Eidechse. Tkaa klang frostig. »Er ist keine Eidechse«, sagte Dhana und betrachtete wieder die Barriere. »Er ist ein Basilisk. Sein Name ist Tkaa.« Da sie mit dem Rücken zu Maura stand, konnte sie nicht sehen, wie das Mädchen seinen Mut zusammenraffte und einen wackligen Knicks vor Tkaa machte. Brokefang sah es und nickte anerkennend. Die Kleine hat Mut, sagte er und zeigte Dhana ein Bild dessen, was Maura getan hatte. Du könntest netter zu ihr sein. Schließlich ist sie von deiner Art. Dhana bückte sich, hob einen Stein auf und schleuderte ihn gegen die Barriere. Er prallte daran ab, und sie mußte sich ducken, um ihm auszuweichen. Sie hob ihren Bogen und legte einen Pfeil an die Sehne. »Alle zurück«, warnte sie, zielte und ließ den Pfeil los. Er zerbrach. »Das ist sinnlos.« Die düstere Stimme gehörte Maura. »Du kommst da nicht durch. Nichts kommt durch. Ich wäre direkt dagegengeritten, aber mein Pferd hat es glücklicherweise gemerkt und gescheut.« 97
»Aber woher kommt das? Und wann ist das passiert? War die Mauer schon da, als Numair versuchte, das Tal zu verlassen, oder erschien sie erst danach?« Es ist letzte Nacht geschehen, sagte Tkaa. Du mußt doch gespürt haben, daß etwas im Gange ist. Die Kleine hat es gespürt, sie hat es mir gesagt. Kätzchen zirpte zustimmend. Brokefang trabte auf die Mauer zu, um daran zu schnuppern. Knurrend wich er zurück, als die Luft ihn in die Nase stach. »Schsch«, flüsterte Dhana und kniete sich nieder, um ihm einen Arm um die Schulter zu legen. Sie blickte zu dem Basilisken empor. »Tkaa? Kannst du hindurch?« Ja, antwortete er. Er schob eine Pfote durch die Mauer. Sie bewegte sich langsam, als durchdringe sie Sirup, aber sie kam durch. Es ist nur menschliche Magie. Er zog seine Pfote zurück. »Könntest du mich hindurchtragen?« Der Unsterbliche schüttelte den Kopf. Ich würde dir auch nicht raten, es zu versuchen. Dhana starrte das Hindernis an. Würde es Numair gelingen, bei seiner Rückkehr hindurchzukommen? Er war ein mächtiger Magier, aber selbst seine Magie hatte Grenzen. In einem nahen Busch piepste ein Spatz einen Gruß und flog davon. »Nein!« schrie Dhana sowohl mit ihrer Stimme als auch mit ihrer Magie. Ohne die Mauer berührt zu haben, fiel der Vogel zu Boden. Sie hob ihn auf und lächelte. Er war nur bewußtlos. Sie berührte ihn mit einer Spur ihres Feuers, um ihn wieder ins Bewußtsein zurückzurufen und um den Schmerz auszulöschen, der durch ihre Überreaktion verursacht worden war. »Tut mir leid«, erklärte sie ihm, als er wieder munter war. »Aber halte dich von diesem farbigen Zeug da fern, klar?« Verwirrt, aber gehorsam tschilpte der Spatz zustimmend und flog davon. Das Mädchen drehte sich um und sah ihr bunt zusammengewürfeltes Publikum an. »Eins nach dem anderen. Ich muß die Vögel warnen, bevor noch mehr getötet werden. Dann gehen wir am besten in Deckung. Maura, wir können dann später über alles 98
reden. Wolke, bist du so nett und trägst das Gepäck Ihrer Ladyschaft?« Die Stute nickte. »Pack deine Sachen hinauf«, befahl Dhana dem jüngeren Mädchen. »Dies hier dauert nur einen Moment.« Sie setzte sich und schloß die Augen. Numair hatte sie gelehrt, wie sie ihren Geist von all den Tierstimmen abschirmen konnte, um nicht ständig gestört zu werden. Jetzt ließ Dhana diesen Schutzschirm fallen. Sofort drangen die Gespräche sämtlicher Tiere in ihrer Reichweite zu ihr, mit Ausnahme von Insekten. Große Ruhe trat ein, als sie sie alle um ihre Aufmerksamkeit bat. Dhana zeigte ihnen das Bild der unsichtbaren Wand mit den vielfarbigen Lichtern darin und ihre schreckliche Härte. Dann fügte sie noch das Bild des toten Stares hinzu. Die Tiere nahmen ihre Warnung zur Kenntnis. Sie würden die Barriere erkennen und meiden. Sie würden die Warnung weitergeben an all jene, die außerhalb Dhanas Reichweite von etwa zehn Meilen waren, bis ganz Dunlath die Gefahr kannte. Nachdem sie fertig war, erhob sich Dhana. »Suchen wir jetzt die Höhlen.« Die Wölfe führten sie, bis sie schließlich bei einer Felsspalte anlangten. Sie bildete den Eingang zu einer kleinen Höhle, die sich zu einer größeren öffnete. Ein Teich im Inneren versorgte sie mit Wasser, allerdings war es bitter kalt und schmeckte stark nach Stein. Gänge im Hintergrund der Höhle führten zu anderen Höhlen. Fluchtwege für das Rudel, sollte es sie jemals benötigen. Die Gruppe machte es sich bequem. Dhana erlöste Wolke von ihrer Last und striegelte sie. Maura baute um eine Vertiefung im Steinboden eine Feuerstelle. Die älteren Rudelmitglieder gingen auf Entdeckung oder machten ein Nickerchen, die Welpen waren nirgends zu sehen. Tkaa wanderte mit Kätzchen im Schlepptau herum und brach mit seinen Krallen von verschiedenen Steinen Stücke ab. Er kostete jedes Stück sorgfältig, warf die meisten weg und verstaute den Rest neben Dhanas Gepäckstücken. »Wofür sind die?« fragte das Mädchen. Abendessen, antwortete der Basilisk. »Waffen?« vermutete Maura, die nicht hören konnte, daß Tkaa mit dem älteren Mädchen sprach. 99
»Er sagt, er ißt sie«, antwortete Dhana und dachte: Das kann ziemlich kompliziert werden, wenn ich jedesmal übersetzen muß, wenn ich Tieren zuhöre. Geflissentlich vergaß sie, daß sie derartige Übersetzungen oft für die Leute des Königs und für die Reiterei machen mußte. Ein ganzer Tag und eine schlaflose Nacht hatten das Ihre getan, um sie ärgerlich zu machen. Maura schrie. Dhana wirbelte herum und starrte sie giftig an. Das jüngere Mädchen schlug sich die Hände vor den Mund und machte ein schuldbewußtes Gesicht. Der Grund ihres Aufschreis waren die Welpen gewesen, die zur Feuerstelle gekommen waren mit je einem Riesenstück Brennholz im Maul. Sie ließen ihre Fundstücke vor Mauras Füßen fallen und rannten wieder nach draußen, um weiteres Holz zu suchen. »Ich brauche keine Hilfe«, rief Maura ihnen mit bebender Stimme nach. Sie vermied es, Dhana in die Augen zu sehen, kniete nieder und schichtete Reisig und Kleinholz in die Feuergrube. »Ich schätze, die kauen auf Holzstücken herum, weil sie mich nicht essen können.« Sie verzog das Gesicht. Eine fuchsienfarbige Funkenwolke stob aus dem Reisig empor. Innerhalb von Sekunden brannte ein kleines Feuer, das sie mit größeren Holzstücken fütterte. »Ich wußte nicht, daß du die Gabe hast«, bemerkte Dhana, während sie Vorräte und Kochtöpfe aus ihrem Gepäck holte. »Nicht der Rede wert«, erwiderte die Zehnjährige. Sie schürte das Feuer, als die Welpen mit weiterem Holz zurückkehrten. Diesmal nahm sie tatsächlich einen Zweig von Schnäppchen entgegen, obwohl ihre Hand dabei zitterte. »Ich kann Feuer anzünden und Kerzen und Fackeln, aber das ist auch schon alles. Aber selbst das ist Yolane ein Dorn im Auge. Wir haben die Gabe von den Contes bekommen, genau wie der König. Sie dagegen hat nichts. Es ist sinnlos, ihr zu erklären, daß eine Menge Leute aus Familien mit der Gabe selbst diese Gabe nicht besitzen. Ich schätze, sie glaubt, sie würde eher wie eine Königin wirken, wenn sie die Kerzen mit Magie anzünden könnte.« Dhana fand in ihrem Gepäck ein Tuchsäckchen. Es war mit einer Suppenmischung aus getrockneter Gerste, Nudeln, Pilzen, Linsen und Kräutern gefüllt. Mit Wasser und Salzfleisch ergab das eine gute Mahlzeit für zwei Menschen. Sie ging mit einem Topf zur Quelle, 100
füllte ihn mit Wasser und brachte ihn zum Feuer, um das Wasser zu erhitzen. Während sie das Säckchen aufschnitt und seinen Inhalt ins Wasser schüttete, sagte sie: »Es kommt mir verrückt vor, daß sich deine Schwester darüber Sorgen macht, wie eine Königin aussieht. Tortall hat schließlich eine Königin, eine junge, kräftige, gesunde Königin. Außer Thayet wird irgendwo von einem Pfeil getroffen oder von einem Dolch durchbohrt, wird sie noch sehr lange Zeit Königin sein.« Maura blickte zur Seite. »Das ist einfach nur etwas, worüber sich manche Leute Gedanken machen, wenn sie nichts anderes zu tun haben, auch wenn es völlig sinnlos ist. Achte nicht auf mich. Ich rede zu viel. Yolane sagt das dauernd. Erzähl mir, wie du zu deinem Drachen gekommen bist. Hast du ihn in einem Netz gefangen oder mit Magie oder wie?« Dhana war derart entrüstet über diese Vermutung, daß sie sich dazu verleiten ließ, die Geschichte vom Tod von Kätzchens Mutter bei der Verteidigung der Königin auf Piratenbeute zu erzählen. Erst beim Auftischen der Suppe wurde ihr klar, daß Maura das Thema gewechselt hatte, und zwar sehr erfolgreich. Tkaa las dies in ihren Gedanken. Sie ist kein Dummkopf, die Kleine. In ihrem Kopf geht etwas sehr Ernstes vor sich. Sie ist erst zehn, betonte das Mädchen lautlos. Wie ernst kann das schon sein? Und wie alt bist du, Großmutter? Sie errötete. Vierzehn. Ah. Das ist natürlich ein ungeheurer Unterschied an Jahren und Erfahrung. Gewiß kommt niemand auf die Idee, daß ihre Angelegenheiten auch nur halb so wichtig sind wie die deinen. »Wie schmeckt die Suppe?« fragte sie Maura, ehe der große Unsterbliche es fertigbrachte, daß sie sich noch jünger und dämlicher fühlte als ohnehin schon. »Wunderbar.« Maura schluckte einen Mundvoll Nudeln hinunter, hustete und sagte: »Sie ist wirklich gut. Und schlau von dir, daß du das meiste davon in diesem Leinensäckchen mithast.« »Die Reiter verwenden solche Säckchen als Reiseproviant«, sagte Dhana. 101
Sie hörte Stimmen, die nach ihr suchten. Sie stellte ihre Schale beiseite, stand auf und wandte sich dem hinteren Eingang der Höhle zu. Die Wölfe umdrängten sie, ihre Ohren zeigten in die gleiche Richtung. Die Fledermäuse strömten aus den niedereren Höhlen herein und umwirbelten Dhana in einem Willkommenstanz. Sie lachte, als sich die Anführer auf ihren Kleidern und in ihrem Haar niederließen und dabei mit derselben Genauigkeit landeten, die ihnen half, inmitten Hunderter von Kameraden Rastplätze zu finden. Dies waren kleine, braune Fledermäuse, etwa dreieinhalb mal fünf Zentimeter groß, mit einer Flügelspanne von siebeneinhalb auf zehn Zentimeter. Wie sie so an ihr hingen, sahen sie mit ihrem rötlichen oder braunen Pelz wie kleine, braune Samenkapseln aus. Obwohl die ganze Kolonie, nahezu dreitausend Tiere, zur Begrüßung gekommen war, hingen die meisten lieber oben an der Höhlendecke, als eine Begrüßung von Dhanas anderen Freunden zu riskieren. Nur etwa vierzig klammerten sich direkt an Dhana. Ihre weniger nervösen Kameraden, die nicht damit zufrieden waren, von der Decke herunterzubaumeln, flatterten aufgeregt um sie herum. Sie begrüßten Dhana mit ihren hohen, kindlichen Stimmen und stellten sich als die Fledermäuse der Gesangshöhlenkolonie vor. Dhana erwiderte die Grüße und fragte, ob es ihnen etwas ausmache, daß sie und ihre Freunde in ihrem Haus Unterschlupf gefunden hatten. Es mache ihnen überhaupt nichts aus, erwiderten sie. Sie baten nur darum, daß Dhanas Freunde nicht versuchen sollten, eine Mahlzeit aus ihnen zu bereiten. »Ich denke, das kann ich versprechen«, versicherte sie ihnen lächelnd. Aber was ist, wenn sie gut schmecken? fragte Kurzschnauze nachdenklich. Es stimmt, eine ist nicht mehr als ein Mundvoll, aber es gibt ja genügend von ihnen hier… »Er macht nur Spaß«, tröstete Dhana, als die Fledermäuse entsetzt aufkreischten und ihre Stimmen schmerzhafte Stiche in ihrem Kopf verursachten. Nicht übers Essen, erwiderte Kurzschnauze. Mahlzeiten sind nichts, worüber man spaßt. Dhana deutete auf den Eingang. »Hinaus!« befahl sie. 102
Ich würde ja vermutlich nicht viele essen, sagte er, als er gehorchte. Sie zu fangen würde sowieso in Arbeit ausarten. Brokefang streckte sich. Wir gehen auf die Jagd, erklärte er Dhana. Heute abend kommen auch die Welpen mit. Es ist nun an der Zeit, fügte er hinzu, als die jungen Wölfe außer sich vor Freude um ihn herumsprangen. Was immer wir sehen, wir werden dir davon berichten. »Erfolgreiche Jagd«, rief Dhana. Erfolgreiche Jagd, fügte Tkaa hinzu. Von der Bemerkung des Basilisken überrascht, fragte Brokefang: Möchtest du mitkommen? Ich danke dir, aber nein, erwiderte Tkaa. Dhana hörte bei ihm eine Spur von Belustigung über dieses Angebot heraus. Ich werde bei Himmelslied und der kleinen Zweibeinerin bleiben. Falls Tkaa willens war, ein Auge auf Maura zu haben, ließ ihr das freie Hand für einen Versuch. »Darf ich um einen Gefallen bitten?« fragte Dhana die Fledermäuse der Gesangshöhle. »Vermutlich habt ihr es durch meine Botschaft von vorhin bereits gehört, der Paß ist durch irgendeine Art von Barriere verschlossen.« Wir haben davon gehört, antwortete einer der Anführer. »Wenn ihr jagt, würdet ihr diese Barriere erforschen und ihre Grenzen feststellen? Das könnt ihr am besten. Ihr werdet nicht dagegen stoßen wie die Vögel, und wenn ihr alle fliegt, könnt ihr das ganze Ding vor Einbruch der Dämmerung vermessen haben. Und darf ich mit einer von euch mitreisen?« Nach kurzer Beratung willigten die Fledermäuse ein. Eine der Anführerinnen kletterte von ihrem Sitzplatz auf Dhanas Schuhspitze zu ihrem Kragen hinauf. Ich bin Flinkflügel, sagte sie, und ihre winzigen, schwarzen Augen glitzerten. Du darfst deine Magie mit mir ausprobieren. »Laß mir einen Moment Zeit«, sagte Dhana und kitzelte das Kinn der Fledermaus mit ihrer Fingerspitze. »Ich muß mich setzen.« Die anderen Fledermäuse, die sich auf ihr festgesetzt hatten, flogen weg. Dhana ging zu Maura, die ihren Kopf mit den Händen bedeckt hatte. 103
»Ich muß mit ihnen gehen«, erklärte sie dem jüngeren Mädchen. »Warum machst du das?« »Sie gehen in mein Haar.« Dhana stemmte die Fäuste in die Hüften. »Blödsinn«, sagte sie böse. Die braunen Augen, die sie flehentlich anschauten, füllten sich mit Tränen. »Heul nicht. Entschuldige. Aber Maura, sie sind in mein Haar gekommen, weil ich sie dazu eingeladen habe. Fledermäuse fliegen nicht ins Haar. Sie fliegen nie gegen etwas, wogegen sie nicht fliegen wollen.« »Aber alle sagen…« »Und alle irren sich. Schau, sie senden Töne aus und lauschen auf das Echo.« Sie deutete auf Flinkflügels Ohren. Die langen, empfindlichen Ohrläppchen drehten sich hin und her und nahmen jedes auch noch so kleine Geräusch auf. »Wenn das Echo ihren Ohren seltsam vorkommt, wissen sie, da ist etwas, und fliegen darum herum.« Mauras Hände lösten sich aus ihrem Haar. »Wie kannst du mit ihnen gehen? Du kannst doch nicht fliegen, oder?« Dhana schüttelte den Kopf. »Nur mit meiner Magie, im Innern dieser Dame.« Sie tätschelte Flinkflügel. »Verlaß diese Höhle nicht«, warnte sie Maura. »Und am besten gehst du bald zu Bett. Ich habe das Gefühl, morgen wird für uns alle ein langer Tag.« Sie schloß ihre Augen und setzte sich umgehend in Flinkflügel fest. Geräusche strömten in ihre Ohren, Echos von den Höhlenwänden, jedes Kratzen von Tkaas oder Kätzchens Krallen, Wolkes Kauen, der Wind, der durch die Höhlen strich. Flinkflügel erhob sich in die Luft, strebte vorwärts mit ihren lederartigen Flügeln und durchteilte die Luft mit müheloser Grazie. Sie waren unterwegs. Die Stimmen der Fledermäuse von der Gesangshöhle rieselten vor ihnen her, ein Strom von Tönen, dem Flinkflügel eiligst folgte. Kühlere Luft streifte Dhanas Gesicht. Sie waren im Freien, Sie konnte die übrigen Mitglieder der Kolonie entlang der Barriere fliegen hören, wie Wellen, die sich nach Norden, Süden und Osten ausbreiteten. Flinkflügel flog direkt geradeaus und stieg immer höher, bis sie die Unterseite der Barriere, die das Tal wie eine Glocke überspannte, an ihrem höchsten Punkt erreicht hatte. 104
Bitte versuche nicht ständig, sie zu sehen, protestierte sie. Mir tun davon die Augen weh. Ich benütze sie nicht soviel. Du mußt nur hören. Du kannst es überall hören. Sie hatte recht. Von der Barriere ging ein fortwährendes, sanftes Knistern aus, das die Stimmen der Fledermäuse reflektierte. Flinkflügel selbst ließ ständig ihre Stimme dagegen prallen, und die zurückgeworfenen Echos gaben ihr nicht nur Auskunft über die Entfernung, sondern auch darüber, daß ihre Unterseite ungewöhnlich glatt war, wie die Innenseite einer Schüssel. Dhana hatte gerade noch Zeit, ein anderes, leiseres Echo aufzunehmen, bevor Flinkflügel die Motte verschluckte, die diesen Ton verursacht hatte. Der Geschmack erinnerte Dhana an gebratene, mit Honig glasierte Ente. Das nächste Opfer der Fledermaus war eine schrille Mücke, gefolgt von einer Motte, die mehr nach Fisch schmeckte. Dhana hatte schon immer gewußt, daß Fledermäuse auf ihren Jagden Insekten pfundweise vertilgten, aber es war eine Sache, dies zu wissen, und eine andere, Geschmack um Geschmack auf der Zunge zu spüren. Wir essen, soviel wir können, erklärte Dhanas Gastgeberin. Die Große Kälte kommt bald, und wir werden das Schlimmste davon verschlafen. Zuvor müssen wir so fett wie möglich werden, oder es besteht die Möglichkeit, daß wir nicht mehr aufwachen. Weiter flogen sie, die unüberwindliche Barriere immer über ihnen. Von überall her sangen ihnen die anderen Fledermäuse Informationen zu, die Auskünfte über die magische Barriere, das Angebot von Insekten und das Wetter enthielten. Die Kühle der Luft ließ Dhana schwindlig und benommen werden. Dann hörte sie in der Ferne etwas Unerfreuliches. Die Stimmen der Fledermäuse wurden von etwas Großem, von etwas mit ledernen Flügeln und Klauen reflektiert. Dhanas Fledermaus flitzte auf den Riesen zu, sandte aus allen Richtungen Signale aus und ließ so in ihrem Kopf ein Bild des großen Geschöpfes erstehen. Kaum hatte sie etwas mehr als die riesigen Flügel und vier Paar Krallen dargestellt, erriet Dhana, was es war. Ein Alkert, sagte sie nervös. Wir brauchen nichts weiter zu hören. Bitte, laß uns verschwinden!
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Kleiner Quieker, entferne dich von mir. Die Stimme des Unsterblichen war viel tiefer als der Chor der ihn umgebenden Fledermausstimmen. Ich mag Quieker nicht. Flinkflügel setzte zum Sturzflug an und landete zwischen den Flügeln des Alkerts. Über den Widerrist des Unsterblichen, über Mähne und Ohren schlitternd, nahm sie den Ton von Metall auf. Es summte mit einem Laut, den die Fledermäuse als den menschlicher Magie erkannten. Interessiert an diesem neuen Objekt, flatterte Flinkflügel über die Brust des Unsterblichen und entdeckte ein Metallband oder einen Kragen, der den Hals des Alkerts umschloß. Ich mußte natürlich ausgerechnet eine neugierige Fledermaus erwischen, dachte Dhana, die ziemlich mit den Nerven am Ende war. Das ist ein Sklavenhalsband, sagte der Alkert. Das bedeutet, ich muß einem Menschen gehorchen, einem sterblichen Zauberer. Seine Macht ist so groß, daß es nur eines einzigen Worts bedarf, damit es sich in mein Fleisch einbrennt. Und weißt du, was dieser Schmerz und dieses Wissen und dieses Halsband mir antun? Sie geben mir das Gefühl, ich müsse jedes Lebewesen zerreißen, das ich sehe. Dhana hörte ein Grollen über sich, als etwas Großes direkt über ihrem Kopf zuschnappte. Der Alkert hatte versucht, die Fledermaus mit seinen Zähnen zu fangen. Bitte, Göttin, betete Dhana, laß mich da rauskommen, ohne mein Leben zu verlieren, und ich will gut sein für immer. Schimpfend sackte die Fledermaus nach unten und ließ den Alkert seiner Wege ziehen. Laß dich von dem nicht erschrecken, sagte sie zu Dhana. Der ist viel zu groß, um uns fangen zu können. Eine Eule, ja, eine Eule, die ist gefährlich. Von denen halte dich fern, vor allem von Nachteulen. Das werde ich mir merken, antwortete Dhana. Da tust du gut daran, sagte die Fledermaus und verschluckte eine dicke Fliege. Dhana wußte nicht, wie lange sie mit den Fledermäusen geflogen war, aber es mußten Stunden gewesen sein. Als sie ihre eigenen Menschenaugen aufschlug und zum Höhleneingang taumelte, hatte fahle Dämmerung den östlichen Horizont perlgrau gefärbt. Noch immer hörte sie die Fledermäuse der Kolonie von der Gesangshöhle, 106
die zu ihrer Heimstatt zurückkehrten und sie im Vorüberfliegen grüßten. Den Kopf noch voll von Flinkflügels Erinnerungen, konnte sie jedes Tier an seinem besonderen Quieken erkennen: Singflügel, Mottenesser, Pfeifer, Platter. Wiedervereint in der Schlafhöhle, zwitscherten sie sich die Neuigkeiten zu. Aus den vielen Stimmen setzte sich Dhana ein Süd der Barriere zusammen. Bis zur vollen Dämmerung hatten sich ihre schlimmsten Befürchtungen erfüllt. Die Barriere des Zauberers sperrte das ganze Tal ab, ohne auch nur den geringsten Sprung oder Spalt übrigzulassen, durch den sich ein zu allem entschlossenes Mädchen hätte hindurchzwängen können. Nach erfüllter Mission und mit vollen Bäuchen schliefen die Fledermäuse ein. Dhana blieb am Eingang stehen und hörte das Scharren von Hufen, als Wolke im Schlaf die Stellung wechselte, leises Schmatzen von Tkaa, der an einem Stück Felsen knabberte, geschäftiges Treiben von Wühlmäusen im Gras. Ihre Ohren waren müde und schmerzten, die Muskeln darum herum verkrampft vom vielen Gebrauch. Dhana hob eine Hand, um ein Ohr zu reiben, und berührte ein langes Ohrläppchen aus ledriger Haut, das hin und her zuckte und jeden noch so zittrigen Laut in der Luft auffing. Ihre Hand bebte. Langsam, zur Göttin, den Herrn der Pferde, zu Mithros und jeder Gottheit, die eventuell zuhören mochte, betend, befühlte sie das andere Ohr. Auch das war lang und zuckte unabhängig von seinem Kameraden hin und her, um jeden Laut auf dieser Seite des Kopfes aufzunehmen. Dhana wußte ohne hinzuschauen, daß der Stein am Höhleneingang zwanzig Zentimeter hinter ihr lag, daß Kätzchen an der Quelle Wasser trank und daß einen knappen Meter über ihr ein Waschbär auf dem Berg ein spätes Abendessen aus etwas Knusprigem, möglicherweise Eicheln, einnahm. Was ist das denn bloß? dachte sie, und ihre Haut prickelte. Warum verändert sich jetzt mein Körper? Er ist schließlich dort geblieben, wo ich ihn zurückgelassen habe. Ich selbst verändere mich doch gar nicht, wenn ich in ein Tier schlüpfe, ich schicke ja nur meinen Geist woandershin. Also weshalb habe ich dann plötzlich Fledermausohren? Aber vielleicht bilde ich mir das jetzt auch nur ein. Und wenn das so ist, dann heißt das, ich bin doch verrückt, überlegte Dhana merkwürdig ruhig. Bestimmt hätte es mir jemand gesagt, wenn ich 107
mich völlig in etwas anderes verwandeln könnte. Wenn ich diese Ohren nicht beachte, werden sie vielleicht wieder verschwinden, oder ich werde nicht mehr daran denken oder was auch immer. Wenn ich jetzt schlafe und dann aufwache, bin ich bestimmt wieder normal. Das schien ihr eine gute Idee zu sein. Sie kehrte in die große Höhle zurück und legte ihre Bettrolle zurecht. Wenn ich aufwache, werden die Ohren weg sein, sagte sie sich, als sie zwischen die Decken schlüpfte. Nur für alle Fälle zog sie die Decken über den Kopf und ließ lediglich eine kleine Öffnung für ihre Nase frei. Falls die Ohren doch noch dasein sollten, wollte sie von Maura nicht durch einen Schrei geweckt werden.
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6 Rebellion Sie erwachte langsam, ließ die Träume an der Höhlendecke zurück, wo sie sich mit den anderen Fledermäusen festgeklammert hatte, wurde wieder sie selbst in der Grotte, die sie mit ihrer bunt zusammengewürfelten Schar von Freunden teilte. Einen Moment lang glaubte sie, taub zu sein, alle Geräusche waren weit entfernt und gedämpft. Sie schlug sich mit einer Hand aufs Ohr und berührte eine kleine, gebogene Ohrmuschel, wo der lange, gerippte Lappen gewesen war. Erleichterung mischte sich mit Traurigkeit, sie wußte, sie war nicht taub. Ihre Ohren waren wieder Menschenohren. »Jetzt bist du ja wach«, sagte Maura. »Ich wollte dich zum Frühstück aufwecken, ich fürchtete schon, du würdest den ganzen Tag schlafen, aber Tkaa hat gesagt, ich soll dich in Ruhe lassen.« Sie brachte Dhana eine dampfende Schale und stellte sie neben das Mädchen auf den Boden. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen, daß Kätzchen und ich an deine Sachen gegangen sind. Ich habe überhaupt nichts zu essen mitgebracht, und wir waren am Verhungern. Ich habe deinen Tee gefunden, und die Wölfe entdeckten einen Bienenstock, da hatten ich und Kätzchen Honig für unseren Haferbrei, und dir habe ich Tee mit Honig gemacht.« »Danke.« Noch halb schlafend, stellte Dhana die erste Frage, die ihr in den Sinn kam und die sie bereits am Tag zuvor sehr viel bestimmter hätte stellen sollen. »Warum bist du weggelaufen?« Das jüngere Mädchen senkte den Blick. »Kann ich nicht sagen.« Dhana roch an ihrem Tee. Er duftete wundervoll. »Du mußt. Wenn du Streit mit Yolane gehabt hast oder wenn du glaubst, es macht wahnsinnigen Spaß, wie ich draußen im Wald zu leben, das ist dummes Zeug. Du mußt wieder nach Hause zurück.« »Was ist, wenn sie mich in die Schule schicken will, damit ich eine Lady werde, und ich lieber an den Hof will, um eine Ritterin zu werden?« 109
Unter Dhanas scharfem Blick errötete das Mädchen. »Du hast zu viele Geschichten über den Kämpen des Königs gehört. Ich bin nicht zum Spaß hier, Maura, und es ist falsch, nur so zum Spaß wegzurennen. Sein Zuhause zu verlassen, das ist etwas Ernstes.« In Erinnerung an die Zerstörung ihres eigenen Zuhauses fügte sie hinzu: »Du kannst dich glücklich schätzen, einen Platz zu haben, der dir gehört. So etwas wirft man nicht einfach weg.« Sie grinste. »Ich bezweifle, ob du als Ritterin sehr viel Glück hättest. Du kreischst jedesmal, wenn du etwas Ungewöhnliches siehst.« Maura lächelte und blickte auf ihre Hände hinab. »Ich muß den König sehen. Ich kann nicht sagen, warum. Ich weiß, Mädchen in meinem Alter wissen angeblich nichts Wichtiges, aber ich schon, und er muß es erfahren.« »Wenn es darum geht, daß Tristan Tortall Schwierigkeiten macht, bist du hintennach«, sagte Dhana. »Wir wissen, daß er in den Diensten des Kaisers von Carthak steht. Numair hat das Tal verlassen, um dem König zu berichten und Hilfe zu holen. Sobald das geschehen ist, kommt er zurück.« Maura sah Dhana stirnrunzelnd an. »Ist das alles, was du weißt? Über Tristan?« »Ich weiß mit Sicherheit, daß er Tkaa hierhergebracht hat.« »Wofür ich dankbar bin«, sagte eine Flüsterstimme vom Eingang her. Dhana schrie auf und langte nach ihrem Bogen. Maura brachte gerade noch die Teetasse in Sicherheit. Als Dhana mit gespanntem Bogen zum Eingang lief, sah sie dort nur Tkaa und Kätzchen. »Wer hat da gerade gesprochen?« fragte sie. Der Basilisk starrte sie an. »Ich hab’ dir doch gesagt, mein Volk spricht alle Sprachen der Welt.« Die Flüsterstimme kam aus seinem Mund. »Der einzige Grund, weshalb ich Lady Maura nicht sogleich auf diese Weise angesprochen habe, ist der, daß meine Fähigkeiten etwas eingerostet waren. In den Göttlichen Reichen und mit dir ist es einfacher, von Gedanken zu Gedanken zu sprechen.« »Mithros, Minoss und Shakith«, stöhnte Dhana. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« 110
»Dann sag nichts«, riet Tkaa ihr und setzte Kätzchen zu Boden. »Das ist das beste.« Noch immer durcheinander von der Tatsache, Tkaa mit menschlicher Stimme sprechen zu hören, holte sich Dhana Kleidungsstücke aus ihrem Gepäck und trug sie zur Bettrolle, um sich dort anzuziehen. Während sie unter ihren Decken herumhantierte, hörte sie Maura zu dem Basilisken sagen: »Wir müssen uns überlegen, wie wir Wäsche waschen und Vorräte besorgen können. Ich kann Dhana nicht alles wegessen.« Falls Tkaa antwortete, hörte sie ihn nicht, denn seine Stimme wurde von einem Riesenkrach übertönt. Einmal hatte Dhana eine große Glocke gehört, deren Mantel so dick war wie ihre Hand und die mit einem Schlegel geschlagen wurde. Dieser Lärm hier war so ähnlich, aber so laut, daß ihr davon die Zähne und die Ohren schmerzten. Hunderte von Metern entfernt und durch Tonnen von Fels von der Außenluft abgeschirmt, hörten die Fledermäuse der Gesangshöhle den Ton und flatterten erschreckt umher. Wolke wieherte draußen ungehalten. Kätzchen stürzte sich in Dhanas Decken und zog sie sich über die zarten Ohren. Tkaa schlug seine Vorderpfote auf die Ohrlöcher und schloß schmerzerfüllt die Augen. »Was was das?« schrie Maura. Es kam wieder, so laut, daß es beinahe Dhanas Trommelfell zerriß. Woher? fragte sie die Fledermäuse, denn sie wußte, sie konnten es punktgenau feststellen. Verwirrt und verängstigt schickten diese ein Bild des westlichen Passes, wie er sich ihnen darstellte. Dhana griff nach Bogen und Köcher. Barfuß, das Hemd nur halb in ihre Reithose gesteckt, rannte sie nach draußen. Wolke folgte ihr im Galopp. Als sie neben ihr herlief, packte Dhana mit ihrer freien Hand die Mähne der Stute und sprang auf ihren Rücken. Dies war ein Trick, den sie von den Reitern gelernt hatte. Während die Stute auf die Barriere zuraste, zählte Dhana die Pfeile in ihrem Köcher. Zehn. Sie hoffte, die genügten, falls Sturmflügel sie im Freien angreifen sollten. Als sie die Barriere erreicht hatten, sahen sie niemanden. Dhana konnte auf der anderen Seite der Wand ein Murmeltier schimpfen hören. 111
»Wenn du irgendeine Gefahr siehst, zwick mich oder so ähnlich«, befahl sie ihrer Stute und setzte sich auf den Boden. Mit geschlossenen Augen lauschte sie auf das Murmeltier. Sie fand ihr Ziel sofort. Das Murmeltier, ein Weibchen, hockte auf dem Abhang, der den südlichen Wall des Passes bildete, und bewachte den Eingang zu dem Bau, den sie mit ihrer großen Familie teilte. Entsetzt, verängstigt und durcheinander rief sie einem Mann weiter unten Namen zu, von denen Dhana niemals geahnt hätte, daß Murmeltiere sie kannten. »Du mußt das von den Eichhörnchen gelernt haben.« sagte sie. »Keines der Murmeltiere, die ich kenne, hat jemals solche Dinge gesagt.« Die waren auch nicht vor Angst wie von Sinnen, erwiderte das pausbäckige Nagetier. Ich hab’ mich hier ganz friedlich um meine eigenen Angelegenheiten gekümmert und hob’ Wache gestanden, da kommt dieser Zweibeiner daher und macht solchen Lärm. Vor Schreck ist mir das Fett von ‘nem ganzen Monat abhanden gekommen, jetzt muß ich zweimal soviel essen, um für die Große Kälte bereit zu sein, und – schau dir das an! Er ist drauf und dran, es schon wieder zu machen! Wenn du’s tust, dann beiß’ ich dich! schrie es den Mann an. Ist mir egal, ob du mich tötest, aber bevor ich tot bin, reiß’ ich noch ‘n schönes Stück aus dir raus! »Darf ich?« fragte Dhana und schlüpfte in das Murmeltier, so daß sie mit den Augen ihrer Gastgeberin sehen konnte. An der Stelle, wo die Barriere den Weg zum Paß versperrte, standen zwei Pferde und ein großer, dünner Mann. Er hob erneut die Hände. Schweiß tropfte ihm übers Gesicht, als schwarzes Feuer rund um seine Handflächen entstand. Er rief etwas und schleuderte das Feuer gegen die magische Wand. Der Lärm war so gewaltig, daß Dhana in ihren eigenen Körper zurückgestoßen wurde. »Tkaa!« rief sie. Ich bin hier. Während Dhana mit dem Murmeltier gesprochen hatte, war der Basilisk zu ihr getreten. Er sah ein bißchen komisch aus. Jemand, vermutlich Maura, hatte ein Tuch um seinen Kopf gewickelt, um seine Ohrlöcher zu schützen. 112
»Es ist Numair, mein Lehrer.« Ein Sterblicher macht diesen Lärm? »Würdest du so nett sein und hinübergehen und ihm sagen, daß er aufhören soll? Oh, warte, vielleicht macht er das, um die Barriere niederzureißen. Wenn ja, würdest du ihn fragen, wie lange es noch dauert, damit ich meine Freunde warnen kann? Ich nehme an, es wird ihn interessieren, von dem Eiszahn zu hören, und du kannst ihm auch sagen, daß Maura mittlerweile bei uns ist.« Dann gehe ich jetzt lieber, sagte Tkaa, und seine Stimme klang etwas belustigt. Wenn ich weg bin, fallen dir vielleicht noch andere Dinge ein, die ich ihm erzählen könnte. Er ging zur Wand und war bereits halb durch, als Dhana prompt noch etwas in den Sinn kam. »Tkaa, warte!« Er sah sie an. Schnell, wenn ich bitten darf. Es ist nicht sehr bequem hier. »Wenn du durchkommst, kommen auch Sturmflügel durch. Warne ihn, bitte. Sie sind jetzt vielleicht schon unterwegs, wenn Tristan all dieses Getöse gehört hat.« Der Basilisk ging durch die Barriere. Dhana sah Wolke an. »Ich brauche mein Schreibzeug. Tkaa weiß nicht alles, was ich erfahren habe, und Numair muß gewarnt werden.« Sie hielt inne. In ihrem Kopf hörte sie sich nähernde Sturmflügel. »Wir bekommen Schwierigkeiten«, sagte sie und bestieg ihr Pony. »Wie hat Tkaa sie genannt? Flattermänner?« Genau, was wir brauchen, sagte Wolke. In der Ferne hörte Dhana, wie Maura flehend sagte: »Geht weg! Bitte!!« Wolke beschleunigte ihr Tempo, und sie galoppierten um eine Wegbiegung. Maura stand dort, wo der Pfad, der von den Höhlen kam, auf die Paßstraße traf. Über ihr schwebte eine Schar Sturmflügel. »Maura, runter!« schrie Dhana. Wolke blieb stehen, als Dhana den Langbogen auf eines der Ungeheuer anlegte. »Nein!« Maura stürzte sich auf Dhana und packte den Bogen. Ihr Gewicht zog Dhanas Arm herunter. Einen gefährlichen Moment lang war der Pfeil direkt auf die Brust der Zehnjährigen gerichtet. Wolke 113
wieherte. Maura ließ los, und Dhana drehte die Waffe von dem Mädchen weg. Sie zitterte vor Angst und Zorn. »Mach das ja nicht noch einmal!« schrie sie. »Ich hätte dich töten können!« »Tut mir leid«, sagte Maura und senkte den Blick. »Aber ich konnte nicht zulassen, daß du ihnen etwas antust.« Sturmflügel landeten vor ihnen auf dem Boden. Drei entfernten sich. Als Dhana sich umdrehte, sah sie, daß sie sich hinter ihr auf der Straße niederließen und jeden Fluchtweg abschnitten. Eiskalt richtete sie ihre Waffe auf den zunächst stehenden Sturmflügel, ein Männchen, das eine Anzahl von Knochen in sein langes, blondes Haar geflochten hatte. Er starrte sie an, Verachtung im Blick. Dann sah er zu dem jüngeren Mädchen. »Sag ihr, wir wollen euch kein Leid antun, Lady Maura.« »Du unterhältst dich mit denen?« fragte Dhana. Maura hob die Schultern. »Sie besuchen Yolane und Belden oft. Das hier ist Lord Rikash.« »Und die dort ist eine Sturmflügel-Mörderin«, bellte ein Weibchen, die Brünette mit den verfilzten Haaren. »Sie hat letztes Jahr eine unserer Königinnen ermordet.« »Sie hat versucht, mich umzubringen«, fauchte Dhana. »Es war ein fairer Kampf, sehr viel fairer, als sie es verdient hatte.« Rikash hopste um Maura herum und blieb in der Nähe von Wolke stehen. Aus kalten, grünen Augen betrachtete er die Stute und ihre Reiterin. Die Stute hatte seinesgleichen schon früher gesehen. Wenn auch der Gestank nach verfaultem Fleisch und Tod ihre empfindliche Nase verletzte, hatte sie gelernt, ruhig stehenzubleiben, solange die Monster in ihrer Nähe waren. Sie beäugte Rikash, die kleinen Ohren flach an den Kopf gelegt. Dhana wußte, was im Kopf des Ponys vor sich ging: noch ein weiterer Hopser, und er war in Reichweite eines Bisses. Nimm dich vor diesen Federn in acht, warnte Dhana lautlos. Sie werden dein Maul in Stücke schneiden. So schlau bin ich selber, erwiderte Wolke. »Du bist schnell zu einem Urteil über uns bereit, SturmflügelMörderin«, knurrte Rikash. »Zu schnell für einen Menschen. Du gehörst einer Rasse an, die mehr Zeit damit verbringt, ihresgleichen zu 114
ermorden, als es alle Unsterblichen zusammengenommen tun, dennoch bestehst du darauf, besser zu sein als wir.« Er spuckte auf den Boden und sah Maura an. »Du kannst Dunlath nicht verlassen, und du darfst nicht hierbleiben. Komm nach Hause. Yolane braucht nicht zu erfahren, daß du weg bist.« »Du meinst, sie hat noch nicht bemerkt, daß ich fort bin«, sagte Maura bitter. »Hat es überhaupt jemand bemerkt?« »Das ist ungerecht«, erwiderte der Sturmflügel ernst und sanft. »Du weißt sehr gut, daß die Köchin und dein Kindermädchen außer sich sind, daß du verschwunden bist.« »Ich habe ihnen eine Nachricht hinterlassen, darin steht, daß sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.« Dhana erkannte, daß zwischen den beiden etwas Seltsames bestand. Der Unsterbliche sprach zu Maura mit Zuneigung. Das war unmöglich. Sturmflügel waren grausam, herzlos. Sie hatte genügend Erfahrung mit ihnen, um das zu wissen. Noch schlimmer, Maura ging mit Rikash um wie mit einem älteren Bruder oder mit einem Onkel. Während sie die Sturmflügel im Auge behielt, kam Dhana zu der Erkenntnis, daß sie Hilfe brauchte. Mit Anbruch des Herbstes kamen die Stare, um miteinander zu plaudern und um sich zu versammeln. Ganz in der Nähe fand sie drei solcher Scharen, jede mit über fünfzig Vögeln. Sie rief sie zu den Bäumen und Felsen in der Umgebung, ehe sie sich wieder Maura und Rikash zuwandte. »Weißt du, was sie tun?« fragte sie das jüngere Mädchen, »sie besudeln die Toten, die in der Schlacht fallen. Sie leben von menschlicher Angst und Wut. Es sind Monster!« Maura hob ihre schmalen Schultern. »Sie können nichts dafür, daß sie so gemacht wurden, Dhana.« »Maura…« Rikash schüttelte den Kopf. »Du kannst nicht einfach von zu Hause weglaufen. Und du solltest sie nicht noch dazu ermutigen«, sagte er zu Dhana. »Du bist alt genug, um es besser zu wissen.« »Ich weiß es bereits besser«, gab Maura zurück. Dhana funkelte den Sturmflügel böse an. »Ich hab’ sie nicht ermutigt. Ich hab’ versucht, sie zur Rückkehr zu überreden. Du bist derjenige mit Flügeln, bring du sie doch zurück!« 115
Maura setzte sich auf den Boden und streckte ihr Kinn trotzig vor. »Ich werde nicht zurückgehen, und ihr könnt mich nicht dazu zwingen. Sie sind Verräter. Ich will nicht unter dem gleichen Dach wie sie leben. Der Geist meines Vaters würde mich mein ganzes Leben lang verfolgen, wenn ich es täte.« »Laß uns darüber anderswo sprechen, wo uns keine neugierigen Ohren zuhören«, sagte Rikash, mit einem vielsagenden Blick auf Dhana. »Wir können jetzt darüber sprechen. Dhana kann niemandem davon berichten. Sie sitzt hier auch fest.« »Still!« befahl der Sturmflügel. »Du bist noch ein Kind. Du verstehst nicht, was vor sich geht, und du sollst nicht über Dinge reden, die du nicht begreifst.« Dhanas Sinn für Humor siegte über ihren Haß auf die Sturmflügel. Sie blickte zu Boden, damit Lord Rikash nicht sehen konnte, daß sie lächelte. Offensichtlich mochte er Maura, sonst hätte er sie angeschnauzt und nicht mit ihr debattiert. Dhana konnte aber auch erkennen, daß alles Debattieren nichts nützte. Maura war störrisch und wollte nicht gehorchen. »Nur zu«, stachelte Dhana den Unsterblichen an. »Stopf ihr den Mund. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal mit ansehen dürfte, wie ihr Stinker vor jemandem klein beigebt, geschweige denn vor einer Zehnjährigen.« Rikash errötete unter dem Schmutz, und ein paar seiner Gefährten gackerten erbost. »Es ist schwer für uns, Junge zu gebären«, sagte er, und seine Stimme klang, als würde er mit den Zähnen knirschen. »Das ist der Grund, weshalb wir die Jungen von anderen achten, besonders, wenn diese unvorsichtig sind. Aus Zuneigung habe ich mich dazu verleiten lassen, Lady Maura gegenüber nachsichtiger zu sein, als gut ist.« Maura seufzte. »Also schön, Lord Rikash. Ich bin ja schon ruhig. Nur, ich komme nicht mit dir zurück. Du brauchst ihnen ja nicht zu sagen, daß du mich gesehen hast.« Rikash schüttelte den Kopf. »Wenn du mein Kind wärst, würde ich dich verhauen«, sagte er mit grimmiger Resignation. Er blickte zu Dhana auf und fixierte sie scharf. »Und was dich anbelangt…« 116
Dhana grinste und richtete eine lautlose Bitte an die Stare. Sie veranstalteten einen Mordslärm, schlugen mit den Flügeln und stießen schmerzlich schrille, überlaute Pfiffe aus. »Nur zu«, sagte Dhana zu Rikash und hob ihre Stimme, damit sie auch gut zu hören war. »Stürz dich auf mich. Du bist keine zwei Minuten in der Luft, und meine Freunde gehen dir an die Augen.« Erschrocken sahen die Sturmflügel zu den Vögeln hin. Stare – Feiglinge oder Clowns, wenn sie allein oder in kleinen Gruppen auftraten – waren im großen Verband richtige Radaubrüder. Allein ihre Pfiffe erweckten in den Unsterblichen den Wunsch, ihre Ohren zu bedecken, doch mit Federn aus Metall war das nutzlos. »Die Götter mögen dir helfen, wenn ich dich im Freien erwische«, knurrte Rikash und schlug mit den Flügeln. »Maura, du solltest die Wahl deiner Freunde lieber überdenken!« Die Sturmflügel erhoben sich in die Luft, und die Stare verhöhnten und beleidigten sie. Die Unsterblichen flogen direkt auf die Barriere zu und durch sie hindurch. »Aber was ist mit deinem Freund?« schrie Maura und packte Dhanas Arm. »Er war es doch, der den Lärm gemacht hat, oder? Sie könnten ihn verletzen!« »Das glaube ich nicht«, sagte Dhana und beobachtete die Barriere. Ein Krach wie von einem Donnerschlag ertönte. Die Sturmflügel kehrten zurück, von den Klauen bis zu den Köpfen mit Ruß bedeckt und nach Zwiebeln stinkend. »Sie hassen Zwiebeln«, erklärte Dhana Maura, als sie vorüberflogen. Die Tränen liefen den Sturmflügeln über die Gesichter, und sie niesten heftig. »Wir haben das im vergangenen Herbst herausgefunden, als wir nach einem Piratenüberfall auf Legannhafen beim Aufräumen geholfen haben.« »Du meine Güte«, japste das jüngere Mädchen und sah den Sturmflügeln nach, bis sie außer Sichtweite waren. Dhana stieg von Wolke herunter und ließ das Pony auf dem Pfad zu den Höhlen vorausgehen. »Ich kann nicht glauben, daß du sie wirklich magst«, murmelte sie. Maura starrte sie böse an. »Nun, und ich kann nicht verstehen, daß du Wölfe magst.« 117
Dhana antwortete darauf nichts. Sie wußte, Maura würde ihr widersprechen, egal was sie sagte. Als sie bei den Höhlen ankamen, begrüßte Kätzchen sie mit freudigem Gezirpe und Pfiffen. Lächelnd nahm Dhana sie hoch und tätschelte sie. »Tut mir leid, Kleines«, sagte sie dann und setzte das Drachenkind wieder ab. »Ich muß noch einiges erledigen.« Sie verstaute ihre Schreibsachen in einem Beutel. »Du gehst wieder dahin zurück?« fragte Maura. »Ich muß. Es gibt einige Dinge, die Numair unbedingt erfahren muß.« Das jüngere Mädchen holte tief Atem. »Dann solltest du ihm lieber auch mitteilen, daß Yolane und Belden gegen den König rebellieren werden, und zwar bald.« Entsetzt ließ Dhana ihren Beutel zu Boden fallen. »Eine Rebellion?« Maura wurde rot vor Scham. Kätzchen zirpte bekümmert und rieb seinen Kopf an Dhanas Knie. »Ich wußte bis zum Tag nach eurer Abreise nichts Bestimmtes«, erklärte Maura. »Es war irgendwann nach dem Mittagessen. Mein Kindermädchen wollte mich ans Rückenbrett schnallen, und ich wollte mich nicht von ihr fangen lassen.« »Ein Rückenbrett?« fragte Dhana. »Es ist so altmodisch. Niemand benützt mehr so etwas. Du bist stundenlang mit den Schultern dran festgeschnallt. Es soll Mädchen dazu bringen, sich gerade zu halten. Mein Kindermädchen sagt, ich hätte einen runden Rücken, und sie macht mich dran fest, wann immer sie kann.« Dhana schauderte. »Das klingt gräßlich. Ich habe nie gehört, daß Kally – Prinzessin Kalasin – ein solches Ding erwähnt hätte.« »Gut. Wenn wir das hier alles hinter uns haben, erzähl bitte meiner Kinderschwester, daß die Prinzessin keins hat. Jedenfalls bin ich durch den Geheimgang im Familienflügel entwischt. Ich war hinter Yolanes Arbeitszimmer, als ich Belden brüllen hörte: ›Was meinst du damit, er ist weg?‹. Ich hörte, daß Tristan und Yolane sagten, er soll ruhig sein, und da bin ich stehengeblieben. In den meisten Zimmern sind Gucklöcher, so konnte ich alles hören und sehen. Sie waren alle 118
da, Alamid und Gissa und Redfern und Gardiner. Tristan hat gelogen, weißt du. Sie waren nicht unterwegs zur Stadt der Götter. Er hat ihnen geschrieben und sie eingeladen.« Dhanas Magen knurrte. Sie holte Wurst und Käse heraus und schnitt für sich und Maura Stücke ab. »Und was hast du gehört?« »Tristan sagte zu Belden, es sei alles unter Kontrolle, Und Belden sagte, Tristan hätte ihm gesagt, Meister Numair würde von dem Nachtblütenpulver in seinem Wein bewußtlos werden und wenn das nicht funktionieren sollte, gäbe es für Meister Numair trotzdem keine Möglichkeit, das Tal zu verlassen. Yolane sagte, sie bekämen Schwierigkeiten, wenn Numair den König warnen könnte, und Tristan sagte, Numair wüßte nur, daß er, Tristan, und Alamid und Gissa hier sind. Er sagte, sie würden die anderen Kon… Konspiratoren warnen und sich mit der Rebellion beeilen. Sie wollen beim nächsten Vollmond losschlagen und nicht erst im Mittwinter, wie ursprünglich geplant.« Dhana holte ihre Feder, Papier und Tinte aus dem Beutel. »Warte, laß mich das aufschreiben.« Sie schüttelte die Flasche mit der gebrauchsfähigen Tinte, entstöpselte sie und befeuchtete ihre Feder. Rasch und unter Verwendung von Symbolen der Reiter schrieb sie auf, was Maura bis jetzt erzählt hatte. »Weiter.« Maura trank etwas Wasser. »Belden sagte, es gefiele ihm nicht, wie das alles abläuft, und Tristan befahl den Magiern, Belden zu zeigen, wie sie das Tal abriegeln wollten, und dann sind sie weggegangen. Danach sagte Yolane, sie hoffte, daß das alles klappt. Tristan sagte, wenn sie nur ihre Aufgabe erfüllte, würde sie bis zum ersten Schnee Königin sein. Und Yolane sagte, wie sollte sie ihren Vertrag einhalten, wenn die nächste Schiffsladung hier bei uns festsitzt? Tristan sagte, darum würde man sich kümmern, wenn die Ladung bereit sei. Und dann hat er angefangen, sie zu küssen und ihr zu sagen, was sie für eine tolle Königin werden würde, da bin ich gegangen. Ich habe mich in jener Nacht aus dem Schloß gestohlen. Ich hoffte, ich könnte aus Dunlath raus, ehe sie es abriegeln.« »Kannst du dich an sonst noch etwas erinnern?«
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Maura schüttelte den Kopf. »Ich hab’ dir alles gesagt. Ich habe es mir im Kopf immer wieder zurechtgelegt, damit ich dem König davon berichten könnte, ohne etwas Wichtiges auszulassen.« »Was ist das für eine Schiffsladung, von der sie gesprochen haben?« »Das, was sie im nördlichen Teil des Tales fördern. Sie schicken das schon den ganzen Sommer über aus Dunlath hinaus.« Dhana räumte ihre Sachen weg und steckte die Notizen in den Bund ihrer Hose. »Numair muß das alles erfahren. Er kann den König warnen.« »Er kann mit seiner Gabe über Entfernungen hinweg sprechen?« Das jüngere Mädchen seufzte. »Ich wünschte, ich könnte das auch. Das würde die Dinge viel einfacher machen.« »Gibt es im Tal irgend jemanden, der das kann?« Maura schüttelte den Kopf. »Bloß Tristan und seine Freunde. Manche Dorfbewohner haben die Gabe, aber die ist genau wie meine. Bloß gut für ein paar Dinge, und niemand kann Weitsprechen. Jeder, der eine starke Gabe hat, geht hier weg, um sich besser ausbilden zu lassen.« Dhana seufzte. »Das ist typisch. Noch ein Letztes: Hast du Rikash nicht so was Ähnliches wie versprochen, daß du mir nichts von alledem sagen würdest?« »Ich weiß, er glaubt das möglicherweise, aber ich hab’s nicht versprochen. Yolane hat vielleicht ihre Pflicht gegenüber der Krone vergessen, aber ich nicht.« Sie rieb sich mit dem Ärmel über die Augen. Gerührt drückte Dhana ihre Freundin kurz an sich. »In Ordnung. Ich muß dies hier zu Numair bringen. Kümmere dich um Kätzchen, solange ich weg bin, ja?« Auch Wolke blieb zurück, als Dhana zur Barriere zurückkehrte. An einem Abhang in der Nähe kam sie zu herumliegenden Felsbrocken, inmitten derer eine riesige Platte schräg gegen andere Steine gelehnt einen guten Sitzplatz bildete. Dort versteckte sie sich und begann zu schreiben, wobei sie die Aufzeichnungen benützte, die sie nach Mauras Angaben gemacht hatte. Sie fügte noch die Nachricht hinzu, daß die Barriere das ganze Tal umschloß. Sie war gerade fertig, als sie 120
den hohen, singenden Ton hörte, der Tkaa ankündigte. Unter ihrem schützenden Felsen hervorspähend, sah sie den Basilisken aus der magischen Wand hervortreten. Sie winkte ihn zu ihrem Versteck heran. Er sagt, er kann diesen Zauber nicht brechen, berichtete der Unsterbliche ihr. Er sagt, er muß mehr Hilfe herbeirufen. Dhana befeuchtete nochmals ihre Feder und fügte ihrem Brief eine weitere Bemerkung hinzu: »Kannst du nicht eines jener Machtworte anwenden?« Er ist ungewöhnlich, sagte Tkaa, während sie darauf wartete, daß die Tinte trocknete. Als ich durch die Barriere kam, dachte er, ich wollte ihn angreifen. Er hat Feuer gegen mich geschleudert. Ohne nachzudenken, habe ich den Stein-Zauber ausgesprochen. Ich bin nicht in Hochform, wenn man mich hetzt. Ein Ton, der so etwas wie Belustigung sein konnte, schlich sich in seine Gedankenstimme. Natürlich wurde er zu Stein. Der Zauber versagt niemals. Es dauerte einen Atemzug lang, und dann hat er ihn auseinandergesprengt, gerade so, als hätte ich ihn nur mit Lehm übergössen und gebacken. Und daraufhin hat er mich gebeten, das noch mal zu machen, um zu sehen, ob er den Zauber ein zweites Mal brechen könnte. Dhana rieb ihren schmerzenden Kopf. »Das sieht ihm ähnlich«, sagte sie trocken. »Und? Hast du?« Ich machte ihm klar, daß die Zeit für Experimente günstiger wäre, wenn wir alle die Muße haben, sie auch ordentlich durchzuführen. Wenn du Drachen begegnest, wirst du feststellen, daß bei ihnen das gleiche Argument gilt. Mehr als alles andere lieben es Drachen und Magier, sich für ihre Studien Zeit zu lassen. »Nun, Mithros sei Dank dafür«, sagte das Mädchen. »Könntest du ihm dies hier noch bringen? Es ist wichtig.« Ein Bote zu werden, in meinem Alter, murmelte Tkaa und schüttelte den Kopf. Dhana sah lächelnd zu ihm auf. »Danke. Ich bin dir wirklich dankbar für deine Hilfe.« Zuneigung war aus seiner Stimme herauszuhören, als er sagte: Ich bin es, der dir danken muß. Während vierhundert Jahren in den 121
Göttlichen Reichen habe ich mich nicht soviel amüsiert wie hier innerhalb von zwei Tagen. Das Leben hier ist lebhafter, turbulenter. Mit der Botschaft in der Hand kehrte er zur schimmernden Barriere zurück und ging hindurch. Dhana wartete einen Moment, entschied dann aber, daß sie Numairs Kommentar beim Lesen ihrer Nachricht hören wollte. Sie fragte erneut das Murmeltier um Erlaubnis, ein Teil von ihm zu werden. Das pausbäckige Geschöpf namens Dickbäckchen war einverstanden. Dhana hatte inzwischen den Dreh so gut heraus, daß sie nur einen Lidschlag lang brauchte, um in das Murmeltier zu gelangen. Ein bißchen länger brauchte sie, um Dickbäckchen dazu zu überreden, den Schutz ihres Baus und ihre Familie zu verlassen und sich Numair und Tkaa zu nähern, damit Dhana sie hören konnte. Wenn er diesen Krach noch mal macht, beiße ich ihn mit Sicherheit, sagte Dickbäckchen, als sie vorsichtig den Abhang hinunterlief und sich öfter vergewisserte, daß keine Adler über ihr schwebten. Menschen denken nie an die Tiere, wenn sie ihre Tricks machen. Er will nicht grob sein, sagte Dhana, als sie auf die Straße hinaustraten. Von hier aus sahen Fleckchen und Lümmel so groß wie Häuser aus. Dickbäckchen wollte auf der Stelle wegrennen. Dhana überzeugte sie davon, daß die Pferde friedlich waren, aber Dickbäckchen umrundete sie doch lieber in weitem Bogen. Als sie Tkaa bei Numair sah, bellte sie entsetzt. Als sich der Unsterbliche niederbeugte, um das Nagetier besser sehen zu können, blickte Numair von Dhanas Botschaft auf und sah, was Tkaa machte. »Dhana? Bist du das?« Nicke mit dem Kopf, befahl Dhana dem Murmeltier, und Dickbäckchen nickte steif. Das bedeutet für ihn was? fragte sie Dhana. Es bedeutet »Ja«, antwortete das Mädchen. Es bedeutet auch, daß wir die menschliche Sprache verstehen. Jetzt laß mich hören, was er zu sagen hat. Numair hielt Dhanas Brief hoch. »Das sind ernste Neuigkeiten. Natürlich nicht überraschend. Dunlath ist für ein Landstädtchen zu sorgfältig bewacht. Wenn wir mit unserer Unterhaltung fertig sind, werde ich in Deckung gehen und noch einmal mit dem König 122
sprechen.« Er schüttelte den Kopf. »Und die Barriere – ist dir die Farbenzusammenstellung aufgefallen? Es ist schwierig, einen Zauber zu brechen, an dem mehrere Magier beteiligt sind.« Er schüttelte nochmals den Kopf. »Dazu kommt noch etwas anderes. Die Magier, die Tristan geschult hat, Alamid und Gissa, sind beide Meister. Möglicherweise gilt das auch für Redfern. Nun, jedenfalls hätte ich von der Macht, die ich an die Barriere verwendete, eine Rückkoppelung gleich welcher Art erhalten müssen.« Ein leichtes Rot färbte seine dunklen Wangen. »Wobei ich das natürlich nicht hätte tun dürfen. Ich fürchte, ich bin etwas in Wut geraten. Wie auch immer, die Barriere hat meine Macht aufgesogen und nicht zurückgeworfen. Das bedeutet, sie ist jetzt mit noch mehr Magie ausgestattet, als die gesammelte Macht von Tristans Leuten ergeben würde. Sie müssen Edelsteine als Machtquellen benutzen, um sie dort so zu verankern. Wenn das der Fall ist, muß ich auf die Magier warten, die aus der Stadt der Götter und von der Königlichen Universität kommen, um diese Kräfte zu brechen.« Sie deutete auf das Papier in seiner Hand. »Erinnere dich daran, was ich dir über die Worte der Macht gesagt habe.« Numair rieb sein Gesicht. »Für jedes fachgerecht angewendete gibt es irgendwo eine Reaktion gleicher Stärke. Das Wort, das diesen Zauber eventuell brechen könnte, wird anderswo ein Erdbeben auslösen. Ich werde nicht unzählige Menschen töten, um durch dieses Ding da hindurchzukommen. Nicht, wenn eine Wartezeit von nur einigen Tagen andere Magier hierherbringen wird, die mir helfen. Aber ich habe auch ein paar gute Nachrichten. König Jonathan sagte, daß zwei Reitergruppen und eine Kompanie des Königlichen Heeres in der Nähe sind, auf Grenzpatrouille. Sie werden hierhergeschickt. Die Sechste Reitergruppe wird in zwei Tagen ankommen, die Zwölfte in vier und die Männer des Königlichen Heeres in drei Tagen. Die Magier werden wohl eine Woche brauchen, um uns zu erreichen, aber das läßt sich nicht ändern.« Dhana schauderte. Ihr gefiel der Gedanken gar nicht, daß noch Tage vergehen würden, ehe Numair Hilfe bekam. Sicher, er konnte sich selbst verteidigen, aber es war unmöglich zu sagen, welche 123
unangenehmen Überraschungen Tristan noch in seinem Ärmel versteckt hielt. »Du sagtest, jedes ›fachgerecht‹ angewandte Wort der Macht«, bemerkte Tkaa. Er hatte aufmerksam zugehört. »Was, wenn ein solches Wort nicht fachgerecht verwendet wird?« Numair verzog das Gesicht. »Die magischen Fehlzündungen. Dies ist ein Grund dafür, daß es so wenige meines Ranges gibt. Die anderen, die versucht haben, ihn zu erreichen, sind tot.« Er sah Dhana an. »Ist es bequem, so im Geist deiner Freundin? Ist es schwierig?« Das Murmeltier nickte zu der ersten Frage und schüttelte zu der zweiten den Kopf. Numair zupfte an seiner Nase herum und dachte angestrengt nach. Dann sagte er: »Dhana, ich möchte dich um einen großen Gefallen bitten. Ich kann jetzt sehen, daß wir mehr Informationen brauchen. Gibt es eine Möglichkeit, und zwar ohne dich in Gefahr zu bringen, daß du die Festungen im Norden und Süden betrittst und die dort postierten Männer zählst?« Dhana nickte. Das war wirklich der nächste logische Schritt. »Du kannst das aus einem Tier heraus tun, und dein menschliches Selbst befindet sich in sicherer Entfernung?« Sie nickte. »Und du bist fähig, ohne Panne in deinen eigenen Körper zurückzukehren?« Sie nickte. Numair seufzte, sein dunkles Gesicht drückte Besorgnis aus. »Ich sehe keinen anderen Ausweg. Ich hätte nicht einmal auf den Forts spionieren können, ehe dies hier passierte.« Er deutete auf die Barriere und machte ein finsteres Gesicht. »Ich denke, wir brauchen diese Zählung.« Dickbäckchen nickte. »Je eher du das tun kannst, um so besser. Und sei bloß vorsichtig. Wie steht’s denn mit deinen Vorräten?« Er warf einen Blick auf die Tragetaschen der Pferde. »Ich kann das, was ich habe, mit dir teilen, besonders, da du auch noch Maura durchfüttern mußt.« Dickbäckchen schüttelte den Kopf und begann, wieder zu ihrem Bau zu klettern. 124
Er ist ein Dummkopf, sagte Dhana zu ihr. Ich bin sehr viel besser imstande, mich zu versorgen als er. Ich weiß, wo es gute Wurzeln gibt, wenn du sie ausgraben willst, bot ihr das Murmeltier an. Sie sind wirklich sehr nahrhaft. Das ist süß, erwiderte Dhana. Aber ich kann genügend zu essen finden. Iß du sie nur. Schließlich kannst du nichts riskieren, wenn die Große Kälte unterwegs ist. Jetzt redest du wie eines von unseresgleichen, sagte Dickbäckchen. Wiedersehen, und wenn du das noch mal machen willst, laß es mich bitte wissen. Es war interessant. Lächelnd kehrte Dhana in sich selbst zurück. Die Öffnung zwischen den Steinen, wo sie sich versteckt hielt, war durch einen großen, dunklen Schatten blockiert. Sie geriet beinahe in Panik, ehe sie sah, daß es Maura und Kätzchen waren, die sie mit dem seltsamsten Gesichtsausdruck betrachteten. »Was ist los?!« fragte sie und runzelte die Stirn. Lange Haare standen zu beiden Seiten ihrer Nase ab, und ihre Vorderzähne fühlten sich komisch an. »Und was macht ihr hier?« »Warum hast du das mit deinem Gesicht gemacht?« fragte die Zehnjährige. »Du siehst aus, als hättest du dich fürs Mittwinterfest maskiert…« »Was gemacht?« Nein, sie irrte sich nicht. Irgend etwas stimmte mit ihren Vorderzähnen ganz und gar nicht. »Was meinst du mit ›maskiert‹?« »Du weißt schon, sie spielen die Rollen der Tiere und bitten Mithros, die Sonne zurückzubringen, deshalb kleben sie sich Schnurrhaare und pelzige Nasen in ihre Gesichter.« Dhana untersuchte ihr Gesicht mit den Händen. Ihre Nase war flach geworden und pelzig, und sie hatte lange Schnurrhaare, die sich an jeder Seite ihres Mundes kräuselten. Ihre oberen und unteren Schneidezähne waren extrem scharf, scharf genug, um in ihre Haut zu schneiden. »Du kannst das alles sehen?« Es war schwierig, an Nagezähnen vorbei zu sprechen. Kätzchen eilte herbei und berührte die neuen Gesichtsteile mit sanften Pfoten. »Natürlich«, erwiderte Maura vorwurfsvoll. »Es ist alles völlig platt.« 125
Dhana jubelte und sprang auf, wobei sie sich beinahe an dem Felsen über ihr den Kopf angestoßen hätte. Sie ging nach draußen, faßte Maura an den Händen und tanzte lachend mit ihr herum. »Ich bin nicht verrückt!« schrie sie. »Ich bin nicht übergeschnappt! Die Veränderungen sind Wirklichkeit!« Sie rutschte aus und blieb stehen, als ihr etwas einfiel. »Ich denke, der Dachs wußte, daß das geschehen würde. Er hat gesagt, ich würde überrascht sein.« Sie berührte ihr Gesicht, aber es war wieder menschlich. »Donnerwetter! Kann ich eine ganze Veränderung vornehmen? Mich ganz in ein Tier verwandeln? Das wäre wunderbar!« »Frag mich nicht«, antwortete Maura. »Weißt du, wie es passiert ist?« »Nein, aber ich krieg’s raus.« Über ihr ertönte ein Schrei. Dhana blickte erschrocken hoch, aber der Rufer war nur ein Falke. »Und wir tanzen hier im Freien herum wie die Idioten. Gehen wir in Deckung und überlegen wir, wie wir heute abend speisen wollen.« »Ich hätte was zu essen und solche Sachen mitbringen sollen«, klagte Maura keuchend, während sie rannten. »Ich hab’ mir darüber überhaupt keine Gedanken gemacht. Ich wollte nichts wie weg von dort und dem König Bescheid sagen.« »Bist du sicher, daß du jetzt nicht nach Hause zurück willst?« fragte Dhana. »Du weißt, Hilfe ist unterwegs, und du würdest was Anständiges zu essen bekommen.« Sie warf ihrer Freundin einen Blick von der Seite zu. Mauras Gesicht wirkte verschlossen. »Ich kann mich nicht um dich kümmern, weißt du. Numair will, daß ich die Soldaten in den Forts zähle – außer du weißt bereits, wie viele dort sind.« Maura schüttelte den Kopf. »Über derartige Sachen haben sie in meiner Gegenwart niemals gesprochen. Sonst hätte ich schon vor langer Zeit Hilfe geholt.« »Aber würdest du nicht Lieber in einem weichen Bett unter warmen Decken schlafen? Ganz zu schweigen von deinen Dienstboten, die sich um dich Sorgen machen.« Sie hatten die Eingangshöhle erreicht und gingen langsamer. »Du verstehst nicht«, sagte Maura und rang nach Atem. »Wenn du adlig bist und entdeckst Verrat, und du lebst weiter mit den 126
Verschwörern unter einem Dach oder gehst auf ihre Feste oder heiratest in ihre Familie oder sonst irgend etwas, dann bist du ebenso schuldig wie sie.« »Du bist erst zehn«, argumentierte Dhana und holte all ihre restlichen Vorräte aus ihren Taschen. »Sicherlich wird niemand ein Kind vor den Richter schleppen.« Maura sah noch verstockter drein als vorher. »Für Adlige ist das ganz anders. Wenn wir Lesen und Schreiben lernen, lehrt man uns gleichzeitig unsere Verpflichtungen dem Gesetz gegenüber. A steht für Autorität, mit der du über andere herrschst «, rezitierte sie. »B steht für Bildung, die dich von anderen unterscheidet – C steht für Charakter, der dich befähigt, Gesetze zu erlassen und auszuführen, nach bestem Wissen und Gewissen. – D steht für…« »Schon gut«, unterbrach Dhana sie hastig. »Ich verstehe, was du meinst. So bringt man euch die Buchstaben bei?« Sie war nie bei den Lektionen ihrer jungen, adligen Freunde zugegen gewesen. Wenn sie in der Schule waren, hielt sie sich für gewöhnlich mit Numair, den Reitern oder dem Königskämpen draußen auf und half ihnen, mit Unsterblichen fertig zu werden. Maura nickte. »Und es wird von uns erwartet, daß wir unser ganzes Leben danach leben. Ob Kind oder Großmutter, wenn du von Adel bist, erwartet man von dir, daß du auch wie ein Adliger handelst.« Dhana schüttelte den Kopf. »Klingt nicht besonders fair.« Maura setzte sich zur Feuerstelle. »Mein Vater sagte, die Gesetze sind vor langer Zeit geschrieben worden, als die Zeiten einfacher waren. Man pflegte früher Kinder wegen des Diebstahls von Brot aufzuhängen, hast du das gewußt? Die Dinge haben sich etwas geändert, aber nicht der Ehrenkodex und die Pflichten der Adligen. Das ist es, was mich echt verrückt macht. Yolane wurde genauso erzogen wie ich. Sie weiß, was richtig und was falsch ist aber sie kümmert sich nicht darum. Fief Dunlath kann umgepflügt und in eine Salzwüste verwandelt werden, und alle unsere Leute könnten gezwungen werden, das Land zu verlassen, aber kümmert sie sich darum? Nein. Sie riskiert lieber jedermanns Leben, nur damit sie eine Krone tragen und Leute herumkommandieren kann.« 127
Dhana tätschelte den Arm ihrer Freundin. »Die Gelegenheit wird sie nicht bekommen, und nichts wird Dunlath passieren. Vertrau auf Meister Numair. Er wird alles in Ordnung bringen.« Maura lächelte schief. »Den kenne ich nicht, aber dich. Du bist diejenige, der ich vertraue.« Dhana jagte und fischte bis zum Einbruch der Dunkelheit und erbeutete genügend Nahrung, um sicherzustellen, daß Maura ordentlich essen konnte. Fisch genügte für diesen Abend, zusammen mit Reis aus den Vorräten. Die Wildvögel konnten in Lehm gebacken werden, damit Maura für später etwas hatte. Kätzchen fand Pilze und Blaubeeren, was angenehme Beilagen ergab. Als sie in die Höhle zurückkehrten, war Tkaa da. »Er ist für die Nacht in Deckung gegangen, sowohl natürlich als auch magisch«, berichtete der Basilisk, als die Mädchen zu kochen begannen. »Ich versprach ihm, daß ich bei Lady Maura bleiben würde.« Die Zehnjährige grinste. »Das freut mich.« Angesichts der Freude auf ihrem Gesicht war es schwer zu glauben, daß sie noch am Tag zuvor bei seinem Anblick geschrien hatte. »Die Wölfe machen mich noch immer nervös.« Als Dhana ihr einen Seitenblick zuwarf, zuckte sie mit den Schultern. »Tut mir leid, es ist nun mal so. Übrigens, weil wir gerade von ihnen sprechen, wo sind sie den ganzen Tag?« »Vermutlich jagen sie«, antwortete Dhana. »Ich schätze, das Jagdglück hat sie verlassen. Bis jetzt war ihre Beute ziemlich gering.« Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann sie das Rudel zum letztenmal gesehen hatte, und ihr fiel ein, daß es am vergangenen Abend gewesen war, als die Fledermäuse kamen. »Sie werden zurückkommen, wenn sie satt sind.« Sie tischte gerade Reis und Fisch auf, als sie sah, wie Tkaa in eine Tasche in seiner Bauchhaut griff. »Ich hab’ gar nicht gewußt, daß du so was hast«, sagte sie neugierig. »Man erwartet von den sehr Jungen nicht, daß sie sehr viel wissen«, erwiderte er. Er zog verschiedene Steinbrocken aus der Tasche und legte sie neben den kleinen Steinhaufen, der sein Abendessen darstellte. »Nachtisch«, erklärte er mit seiner sanften Stimme, als er 128
bemerkte, daß ihm die Mädchen, Kätzchen und Wolke aufmerksam zuschauten. »Die Vögel und der Reis und der Rest meiner Vorräte werden dich über Wasser halten, solange ich weg bin«, sagte Dhana während des Essens zu Maura und zuckte jedesmal zusammen, wenn Tkaa sein Essen zermalmte. »Du bist hier bestens aufgehoben. Wolke und Kätzchen werden bei dir sein.« Der kleine Drache knabberte genüßlich an einer Forelle und rümpfte über Tkaas Vorstellung einer Mahlzeit die Nase. »Die Wölfe…?« fragte Maura mit zitternder Stimme. »Es tut mir leid. Ich will nicht jammern. Es ist einfach so, wenn dir dein ganzes Leben lang gesagt wird, daß Wölfe dich fressen, ist das schwer zu vergessen.« »Aber Sturmflügel hältst du für gut.« Dhana wußte, sie kam immer wieder auf diesen Punkt zurück, doch sie konnte nichts dafür. Sie bekämpfte sie nun schon so lange, daß es ihr rein unmöglich war, sie als etwas anderes als widerwärtige Monster anzusehen. »Nicht alle. Die eine, die dich eine Sturmflügel-Mörderin genannt hat, und ein paar von den anderen können ekelhaft sein. Aber Lord Rikash nimmt mich zum Fliegen mit, wenn sie hier sind.« Dhana schnappte nach Luft. »Zum Fliegen?« »Ja. Sie haben eine Seilschlinge für mich gemacht und mich so in ihren Klauen getragen. Das macht Spaß! Sie sind sehr viel kräftiger, als du denkst.« »Der Gestank?« Dhanas Stimme klang wie ein ersticktes Krächzen. »Oh, ich tupfe mir Parfüm unter die Nase und atme durch den Mund. Einmal war ich erkältet und konnte überhaupt nichts riechen. Das war natürlich das beste. Und wenn du oben in der Luft bist, über allem, wer kümmert sich da noch um irgendwelchen Gestank?« Nachdem Tkaa den Rest seiner Mahlzeit verspeist hatte, steckte er sich einen seiner Dessertsteine in den Mund und summte zufrieden. Dhana wollte das Thema wechseln und fragte: »Schmeckt’s denn?« Tkaa nickte. »Das Beste, was ich jemals hatte. Die Steine sind gut gealtert, und für diese schwarze Variante habe ich eine besondere Vorliebe.« 129
Maura schüttelte den Kopf. »Möchtest du nicht lieber ein echtes Bonbon? Ich habe Kräuterbonbons, fällt mir gerade ein.« Sie fischte ein zerknittertes Papier aus ihrer Tasche und bot seinen Inhalt Dhana und Kätzchen an, die mit Vergnügen annahmen, und dann Tkaa. Der Basilisk dankte ihr höflich, aber es war gut zu erkennen, daß er nicht geneigt war, sein »Bonbon« gegen das ihre einzutauschen. »Was ist das für ein Stein, den du da ißt?« fragte Dhana. Der Basilisk wählte ein Stück aus. Er hielt es empor und gab einen merkwürdigen Ton von sich, eine Mischung aus Pfeifen und Krächzen. Der Stein flammte auf und versprühte eine Vielzahl von blau, violett und grün gefärbten Lichtern mit winzigen Funken in Rot und Bernsteingelb. Langsam verblaßten die Lichter. »Schwarze Opale«, verkündete der Unsterbliche, und seiner Flüsterstimme war die Freude anzumerken. »Die schönsten, die ich jemals sah.« Kätzchen setzte sich auf und stieß selbst ein Krächz-Pfeifen aus. Der Steinhaufen leuchtete hell in den gleichen Regenbogenfarben und wurde wieder dunkel. »Sehr gut, Himmelslied«, lobte Tkaa. »Dein Akzent war nahezu perfekt.« Er sah Dhana an. »Das muß dein Einfluß sein. Für gewöhnlich haben Drachen keine Begabung für andere Sprachen.« Dhana nickte abwesend. Hier lag die Antwort auf die Gruben und das Interesse des Kaisers! »Yolane verschifft Opale nach Carthak«, sagte sie. »Und Ozorne gibt ihr Magier, Gold, vielleicht sogar Soldaten für ihre Rebellion gegen König Jon.« »Das wird ja immer schlimmer.« Mauras Stimme klang gepreßt. »Es ist illegal, kostbare Metalle und Steine zu fördern, ohne die Krone davon zu unterrichten.« »Wahrscheinlich genau aus diesem Grund«, stellte Dhana fest. »Damit die Leute sie nicht verkaufen und das Geld oder die Magie dazu verwenden, um Schwierigkeiten zu machen.« Sie legte eine Hand auf Mauras Schulter. »Wir werden dem Einhalt gebieten, Maura. Du wirst sehen.«
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7 In der Höhle des Löwen Tkaa versprach, Numair am Morgen von den Opalen zu berichten. Dann unterhielt er Kätzchen und Maura mit Geschichten aus den Göttlichen Reichen. Dhana holte die Essensvorräte hervor und sorgte dafür, daß Maura wußte, wie man sie kochte. Sie war beeindruckt von der Lagerkunde der jungen Adligen. Wenige Zehnjährige konnten eine Feuerstelle bauen, geschweige denn, darauf kochen. Maura sagte, dies sei das Verdienst ihres Lehrers, des Jägers Tait. »Du hast Glück mit deinen Freunden, Maura«, sagte Dhana, während sie ihr half, in die Bettrolle zu kriechen. »Abgesehen von meiner Familie«, pflichtete ihr Maura bei und gähnte. »Die Wölfe werden mich wirklich nicht fressen?« Dhana holte tief Luft und zählte bis zehn, um keine verärgerte Antwort zu geben. Es funktionierte, und zwar einfach deshalb, weil Maura bereits eingeschlafen war, bis Dhana zu Ende gezählt hatte. »Ich werde mich bei Tagesanbruch auf den Weg zum südlichen Fort machen«, sagte sie später zu Kätzchen, Tkaa und Wolke. Tkaa schaltete auf Gedankensprache um und gestand, daß ihm von soviel gesprochener Rede an diesem Tag die Kiefermuskeln weh taten. Hast du schon entschieden, wie du da hineinkommen willst? »Ich werde sehen, wer in der Nähe ist«, antwortete Dhana. »Oh, horcht… das Rudel kommt.« Da müssen wir ganz auf dich vertrauen, bemerkte der Basilisk belustigt. Darin ist deine Magie stärker als die unsere. Kätzchen nickte. Dhana ging zum Höhleneingang, um die Wölfe zu begrüßen. In dem Augenblick, da sie ihrer ansichtig wurde, wünschte sie, sie wäre sitzen geblieben. Der Leitwolf Brokefang trag einen Räucherschinken zwischen den Fängen. Frostpelz kam als nächste, einen Kranz Würstchen im Maul. Jeder Wolf hatte seine Beute: einen kleinen Beutel Getreide, Fleisch, einen Sack Zwiebeln oder Kartoffeln. Jedes der Welpen trug stolz und vorsichtig ein Ei im Maul. Und das war 131
nicht die einzige Überraschung. Über die zu schnelle Gangart des Wolfes quengelnd, thronte auf Scharfnases Rücken das Eichhörnchen, das sie vor zwei Tagen geheilt hatte. Brokefang legte Dhana den Schinken zu Füßen, als der Rest des Rudels seine Beute in die Höhle schleppte. Das Eichhörnchen wollte mitkommen, berichtete er Dhana zufrieden. Es will helfen. »Wobei helfen!« krächzte Dhana heiser. Tkaa, Kätzchen und Wolke kamen heraus, um nachzuschauen, warum sie so aufgeregt war. »Seid ihr denn verrückt? Warum habt ihr all diese Essenssachen gestohlen? Und wo habt ihr sie gestohlen? Mithros über uns, wie habt ihr sie gestohlen?« War ganz leicht, antwortete Löwenherz. Wir haben das Lager der Bäumeabschneider besucht. Sie hatten mehr zu essen, als sie verbrauchen können. Ein bißchen haben wir selbst gegessen und den Rest kaputtgemacht. Wir wußten, du und das Menschenjunge, ihr würdet bald alle eure Vorräte aufgegessen haben. Das war Frohsinn. Außerdem, wenn die Männer nichts mehr zu essen haben, sind sie nicht stark genug, um Bäume zu fällen. »Ich habe euch doch gesagt, der Eiszahn ist auf eure Fährte gesetzt worden, weil ihr die Äxte gestohlen habt! Es wird noch viel einfacher sein, euch aufzuspüren, wenn ihr Schinken und Zwiebeln gestohlen habt! Sie riechen!« Wenn sie uns folgen, sind wir bereit, sagte Brokefang kalt. Am Beginn des Abhangs ist ein Felssturz. Wenn wir die Steine hinunterstoßen, werden sie den Eiszahn unter sich begraben, und wir können andere Auswege aus der Höhle benützen. Es bringt nichts, zu stöhnen »Was habe ich bloß getan?«, wie du das machst. (Soviel Liebenswürdigkeit konnte nur von Frostpelz kommen, dachte Dhana. Sie hatte recht.) Es ist Zeit für uns, nachzudenken. Die Menschen schikanieren uns unser ganzes Leben lang. Jetzt ist die Zeit für Rache gekommen. Nur ein bißchen, beruhigte Brokefang seine Gefährtin. Zweibeiner zu meiden, ist noch immer am besten. 132
»Was ist mit dir?« fragte Dhana das Eichhörnchen, denn sie wußte, es gab nichts, was sie sagen konnte, um die Ansicht der Wölfe zu ändern. »Wie bist du in diesen Irrsinn hineingezogen worden?« Du hast mich gelehrt, auf Nichtwölfe zu hören, erinnerte Brokefang sie. »Hören« bedeutet doch sicher auch »Reden«. Der große Bursche da hat mir gesagt, sie kämpfen gegen Baumabschneider und Erdgräber, sagte das kleine Nagetier und deutete auf Brokefang. Wenn jeder gegen sie kämpft, will ich helfen. Weißt du, wie viele meiner Verwandten dieses Jahr ihr Heim und ihre Futtergründe verloren haben? Die gesamte Hochastfamilie ist verhungert, mitten in der Jahreszeit, in der alles heranwächst, weil ihre Nistplätze abgeschnitten wurden! Und der große Bursche… Mein Name ist Brokefang, sagte der Wolf und sah sich zu dem Eichhörnchen um. Ich bin Hüpfer, sagte das Eichhörnchen. Aus der Familie Runde Wiese. Es ist nutzlos, sich aufzuregen, sagte Tkaa nicht unfreundlich zu Dhana. Wie du mir sagtest, hast du sie nicht darum gebeten, dies zu tun. Sie sind selbst auf die Idee gekommen, und vielleicht ist diese Idee gar nicht so schlecht. Dhana seufzte. Tkaa hatte recht. Es gab nichts, was sie nicht schon zu dem Rudel gesagt hätte, offensichtlich mit wenig Erfolg. Statt dessen betrachtete sie Hüpfer. Eichhörnchen hatten geschickte Vorderpfoten, in ihrer Art ebenso gut wie Hände, und schnelle Reflexe. Sie hatten scharfe Augen und Ohren und verfügten über eine gehörige Portion Neugier. Hüpfer war genau das, was sie brauchte. »Hättest du Lust, am Morgen einen Spaziergang zu machen?« fragte sie ihn. Während ihres Ritts nach Süden verwünschte Dhana immer wieder die Notwendigkeit, sich verstecken und deshalb im Gebirge bleiben zu müssen. Auf der Straße am Flußufer entlang wären sie viel schneller vorangekommen. Sie blieb oft stehen, um Wolke rasten zu lassen, obwohl die Stute maulte, sie sei kein verweichlichtes Talpony, das bei jedem Schritt verhätschelt werden mußte. Am späten Nachmittag erreichten sie die Wälder in der Nähe des südlichen Forts. 133
Dhana versorgte erst noch Wolke, bevor sie sich unter eine alte Weide setzte. Die langen Zweige des mächtigen Baumes streiften die Erde und schirmten Dhana und ihre Freunde damit vor unerwünschten Blicken ab. Dhana lehnte sich bequem an den Baumstamm und fragte Hüpfer: »Bist du jetzt bereit, mein Freund?« Das Eichhörnchen aß rasch seine Nüsse auf und schwang sich in die Zweige der Weide. Bereit, antwortete es. Dhana schloß die Augen. Noch ehe sie richtig Atem holen konnte, war sie in Hüpfers Geist. Schnell kletterten sie am Stamm hinauf und sprangen zum nächsten Baum. Hüpfer griff nach etwas, das in etwa wie ein Klumpen Blätter aussah, und fiel. Dhana öffnete die Augen. Sie war wieder in ihrem eigenen Körper und zitterte wie ein Blatt im Wind. Hüpfer ließ sich auf den nächstunteren Ast fallen und schimpfte: Wie sollen wir irgend etwas erreichen, wenn du schon beim leichtesten Sprung abhaust? Komm sofort zurück und benimm dich nicht wie ein Baby. Ich dachte, du bist neulich nachts mit einer Fledermaus herumgeflogen? Die Fledermaus ist eben geflogen, nicht gefallen! erwiderte sie lautlos. Ich bin nicht gefallen. Das war ein kontrollierter Sprung. Kommst du jetzt endlich? Es dauert nicht mehr lange, und dann ist es dunkel. Nur einen Augenblick, antwortete Dhana. Nachdem sie ihre Wasserflasche gefunden hatte, nahm sie einen Schluck. So bald schon zurück, fragte Wolke spöttisch. »Sehr komisch. Ich würde dich gerne mal durch Bäume springen sehen.« Ich versuch’s erst gar nicht. Das kommt daher, daß meine Art Pferdeverstand hat, und deine nicht. Dhana schnitt eine Grimasse und lehnte sich wieder an die Weide. Diesmal brauchte sie bloß die Augen zu schließen, und schon war sie in Hüpfers Geist. Vertrau mir, sagte er, als er erneut zum Sprung ansetzte. Ich mache das schon mein ganzes Leben lang. Den Rest des Ausflugs bekam Dhana nur verschwommen mit. Hüpfer sprang ebenso unbekümmert von Ast zu Ast, wie sie über Pfützen. Zwischen seinen Sprüngen schlug er immer wieder mit dem 134
Schwanz, um das Gleichgewicht zu halten. Die Bäume waren im Umkreis von hundert Metern um die Festung herum gefällt, aber das Gras stand hoch genug, um ein graues Eichhörnchen zu verbergen. Die Palisadenwand des Forts war leicht zu erklettern. Oben angelangt, ließ Dhana Hüpfer nach den Wachen Ausschau halten. Sie erblickten in einiger Entfernung nur zwei, die außerdem nicht in ihre Richtung schauten. Hüpfer kletterte kopfüber die Mauer hinunter, und Dhana krümmte sich zusammen. Du würdest kein besonders gutes Eichhörnchen abgeben, meinte er, als sie sicher den Boden erreicht hatten. Sie überprüften die innere Einfriedung, sie war so gut wie leer. Nur vor einem niederen Holzgebäude, von dem Dhana annahm daß es das Büro des Kommandanten war, standen Pferde angepflockt. Ein Pferdejunge döste in der Nähe seiner Schutzbefohlenen unter dem einzigen Baum, dem man hier noch zu wachsen erlaubte. Alles war ziemlich neu, aus rohem Holz gezimmert. Außer dem Hauptquartier und der Messe sah Dhana die Stallungen, die Mannschaftsbaracken und den Abort. Daneben befand sich ein Gebäude, das diesen Namen nur bedingt verdiente: ein Dach, drei Wände und ein langes, niederes Geländer. Auf dem Boden lag Stroh ausgebreitet. Auf dem Geländer waren Einkerbungen zu sehen wie von Messerschnitten. Was ist denn das? fragte Hüpfer. Das sieht seltsam aus. Meiner Meinung nach ist das ein Schlafplatz für Sturmflügel. Sie sind als einzige Geschöpfe so groß, daß sie ein derart langes Geländer zum Draufsitzen brauchen. Hüpfer klapperte verärgert mit den Zähnen. Wenn sie ihre eigenen Sitzstangen haben, hätten sie nicht unbedingt auf meinem Ast landen und mich beinahe umbringen müssen! Da hast du nur allzu recht. So, jetzt versuchen wir’s einmal im Hauptquartier. Das Eichhörnchen raste zum nächststehenden Gebäude, dem Stall, und rannte an der Seite hoch. Ein Sprung, und sie waren auf dem Dach der Sturmflügelbehausung. Selbst das Holz unter ihnen konnte den Gestank nicht von Hüpfers empfindlicher Nase fernhalten. Er nieste und sprang dann auf das Dach des Hauptquartiers. Er rannte 135
zum Rand, schwang sich unter den Dachvorsprung und sah ein breites Fenster. Es war so breit wie der Raum dahinter, davor ein langes, zerkratztes Geländer. Sie kletterten hinein und sahen sich um. An der Wand bei der Tür war eine große Schiefertafel montiert. Mit weißer Kreide stand darauf geschrieben: »Diensteinteilung – Truppe«. Dhana prüfte sie. Dreißig gemeine Soldaten waren aufgeführt, sowie drei Sergeanten, drei Korporale und ein Hauptmann. Das machte insgesamt siebenunddreißig. Sie zählte zweimal, um sicherzugehen, dann bemerkte sie auf dem Schreibtisch einen Stoß Papiere. Schauen wir uns die einmal an, schlug sie dem Eichhörnchen vor. Hüpfer sprang auf den Schreibtisch und hob ein Dokument nach dem anderen hoch, damit Dhana es lesen konnte. Die ersten beiden enthielten Anordnungen für Kriegsvorräte, das dritte nicht. An seinem unteren Ende befand sich ein schweres Siegel aus Wachs, das ein Schwert und einen Kommandostab zeigte, die sich kreuzten, darüber eine Krone, alles eingefaßt von einem Zackenkreis. Es war das Siegel des Kaisers von Carthak. Die Schrift war leicht zu lesen. »Der Verbrecher Arram Draper, auch bekannt als Numair Salmalin, ist lebend zu fangen und von Sturmflügeln nach Carthak zu bringen. Versucht auch, den jungen Drachen zu erbeuten. Für die lebendige Ergreifung dieses Unsterblichen zwecks Einverleibung in Unsere Menagerie setzen Wir eine Belohnung von 500 Thakaten in Gold aus. Was die Betreuerin des Drachen angeht, auf diese wird kein Wert gelegt. Tötet sie.« Dhana war derart in die Lektüre versunken, daß sie nicht bemerkte, daß etwas das Fenster verdunkelt hatte. Als eine Welle von Gestank Hüpfers Nase erreichte, nieste er und drehte sich um. Rikash war draußen auf dem Geländer gelandet und schaute ins Zimmer. »Ach, eine Baumratte. Ich finde es ziemlich eigenartig, daß eine Baumratte Papiere durchsieht. Das ist doch nicht das, was ihr kleinen Kriecher normalerweise macht, oder?« Hüpfers Schwanz wippte vor Angst und Zorn wild auf und ab. Komm her, schrie et. Dann werd’ ich dir zeigen, was ein Kriecher kann! Rikash rutschte auf dem Geländer herum, bis er das Fenster blockieren konnte, wenn er seine Schwingen hob. »Ich rieche keine 136
Magie, aber sie muß hier sein. Nur durch Magie kann eine Baumratte lesen.« Er brüllte: »Menschen, zum Kommandoposten! Jetzt, Bodentrampler, jetzt!« Er hob eine Klaue und deutete auf Hüpfer. Auf den Boden! befahl Dhana. Hüpfer sprang genau in dem Augenblick, als goldenes Feuer den Fleck traf, auf dem sie soeben gestanden waren. Was war das denn? fragte das Eichhörnchen schwer atmend. Magie. Sie verwenden sie nicht oft, aber wenn… Spring! Hüpfer schnellte sich auf einen kleinen Schrank, als ein weiterer Feuerstoß seinen letzten Standort traf. Du gehst mir langsam auf den Geist, Stinker, beschimpfte er den Sturrnflügel. Wie würde es dir gefallen, wenn ich dir die Nase abbeiße? Das ist jetzt nicht die richtige Zeit, um ihn zu beleidigen, warnte Dhana und sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Sie hörte polternde Schritte. Menschen folgten der Aufforderung des Sturmflügels. Bei ihrer jetzigen Position war der Sturmflügel ihnen gegenüber im Nachteil, seine Federn störten ihn, als er zu zielen versuchte. Was ist los? stichelte Hüpfer. Kannst du deinen steifen Hals nicht rumdrehen, um zu zielen, was? Aber einer von euch war biegsam genug, um auf mir zu landen! Jemand hämmerte gegen die Tür. »Hallo? Ist da jemand?« »Ja, ihr Trottel!« knurrte Rikash. »Macht, daß ihr hier reinkommt!« »Es ist abgeschlossen!« schrie der Mann von draußen. »Aus dem Weg!« rief der Sturmflügel. Auf die Tür konnte er zielen, und das tat er auch und schickte einen Feuerstoß gegen das Türschloß. Hüpfer sprang auf den Boden und rannte zur Tür, gerade als sie aufsprang. Drei Männer, zwei davon Köche, ihren Schürzen nach zu urteilen, stürzten herein. »Schnappt dieses Eichhörnchen!« kreischte Rikash, als Hüpfer vorbeiraste. Die Köche starrten ihn an. »Was sollen wir schnappen?« Der Ausgang war offen. Hüpfer raste hindurch und rannte, so schnell er konnte, auf die Palisadenwand zu. 137
»Streitet euch nicht mit mir rum! Er entkommt!« Rikashs Stimme war noch durch die Wände deutlich zu hören. Hüpfer hielt nicht inne. Bis eine Suchmannschaft das Fort verlassen haben konnte, hatte er bereits den Wald erreicht und kletterte durch die Bäume. Dhana kehrte in sich selbst zurück. Sie versuchte aufzustehen, aber irgend etwas stimmte mit ihren Füßen und Händen nicht. Es waren Eichhörnchenpfoten. »O nein«, flüsterte sie. »Nicht jetzt.« Sie sah nach oben und fragte: »Hüpfer, ist mit dir alles in Ordnung?« Das Eichhörnchen kletterte an der Weide herab. Du hättest mich den großen Stinker beißen lassen sollen, fauchte es. Dann hätte er gewußt, wie das ist! Indem er Dhana eingehend betrachtete, meinte er dann: Weißt du, ein paar Teile von dir sehen fast normal aus. »Sehr komisch«, murmelte Dhana. »Wolke, wir müssen weg. Ich denke, Rikash wird nach uns suchen. Aber…« Sie blickte auf ihre Hände und Füße. »Bitte, verwandelt euch zurück«, sagte sie sehnsüchtig. Warum? fragte das Eichhörnchen. Du hast doch keine eigenen Pfoten, behalt diese. Wenn sie dich jagen, wäre es vielleicht klug, die örtlichen Eichhörnchen zu warnen, meinte Wolke. Sie werden einfach jedes töten in der Hoffnung, daß du es bist. Dhana zuckte zusammen. »Ich glaube, du hast recht.« Sie rief die Warnung dem Volk der Bäume zu, ob es nun rot, grau oder von der scheuen schwarzen Art war. Auf Pfotenfüßen in menschlicher Größe, gestützt durch ihre Stiefel, wankte Dhana zu Wolke, sattelte sie und stieg auf, Hüpfer vor sich auf dem Schoß. Sie machten einige Stunden südlich des westlichen Passes halt, als die Sonne untergegangen war. Unterwegs hatten Sturmflügel sie mehrere Male gezwungen, Schutz zu suchen, deshalb wagte Dhana nicht, ein Feuer anzuzünden. So nagte sie an eßbaren Pflanzen und gedörrtem Rindfleisch herum und versuchte, einen pochenden Kopfschmerz zu ignorieren. Um ihr Glück voll zu machen, stieg vom See Nebel auf und umhüllte das Tal wie mit einem klammen Tuch. Hüpfer machte sich über die Reste ihrer Vorräte an Sonnenblumenkernen her, grub alle Nüsse aus, die andere 138
Eichhörnchen im Umkreis ihres Lagers in unterirdischen Verstecken vergraben hatten, und fraß sie auf. Dann ringelte er sich in einem von Dhanas Packsäcken zum Schlafen ein. Dhana kroch unter einen Felsvorsprung, um aus dem feuchten Nebel herauszukommen, und zog vorsichtig ihre Schuhe aus. Ihre Knöcheln sahen wie Menschenknöchel aus, aber alles übrige war eichhörnchenartig. »Wann werde ich meine Zehen wiederbekommen?« fragte sie Wolke. Die Stute mochte Nebel ebensowenig wie ihre Reiterin. Ich bin ein Pony, antwortete sie bissig. Die Frage mußt du schon jemandem stellen, der etwas von Magie versteht. Ich tu’s nicht. So. Dhana fuhr hoch und stieß sich den Kopf am Felsen über ihr. Sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wo der Dachs so plötzlich herkam. Ich sehe, du hast die weiteren Anwendungsmöglichkeiten der Lektion gelernt, die ich dir erteilte. »Du hättest mich warnen können«, fauchte sie und rieb sich den Kopf. »Ich dachte, ich würde den Verstand verlieren.« Nachdem der Mann sagte, es sei keine Spur von Irrsinn in dir? Wenn du schon deinen eigenen Instinkten nicht trauen kannst, könntest du wenigstens den seinen vertrauen. »Er hat keine Instinkte, er weiß nur Dinge, die er aus Büchern gelernt hat«, murrte sie. Warum sagst du das? Die Frage brachte das Faß zum Überlaufen. »Er hat uns mitten in einen Haufen Verräter hineingeführt.« Sie wußte, sie war unfair, konnte aber nicht aufhören. »Dazu kommen noch jede Menge bösartiger Magier. Und er steckt auf der einen Seite einer magischen Wand fest und ich auf der anderen. Er will kein Machtwort sprechen, weil das Wort vielleicht anderswo Unheil anrichten könnte, was ich nicht glaube. Ich muß jetzt Soldaten in entgegengesetzten Teilen des Tales zählen. Er denkt, mir kann nichts passieren, weil ich im Innern von Hüpfer bin. Er dachte nicht an Leute, die wissen, daß etwas nicht stimmt, wenn sie ein Eichhörnchen sehen, das lesen kann!« 139
Ihre Zehen schmerzten und schickten glühende Pfeile ihre Beine hinauf, was ihr Denkvermögen auch nicht gerade unterstützte. Sie rieb sie. »Ich habe eine Zweibeinerin am Hals, die nicht nach Hause gehen will, obwohl sie nur im Weg ist. Ich renne vor Sturmflügeln, Alkerts, Eiszähnen, und die Pferdegötter mögen wissen, vor was noch allem, davon. Ich friere, ich bin hungrig und müde, und ich habe Eichhörnchenfüße!« Der Dachs blies auf die in Mitleidenschaft gezogenen Stellen. Sein Atem war warm und beruhigend. Fell und Krallen schmolzen dahin, wurden blaß und weich, Dhanas Zehen waren wieder da. Sie bekam einen Krampf und wimmerte. Der Dachs blies sie erneut an. Der Krampf ließ nach und hörte schließlich ganz auf. Ebenso ihre Kopfschmerzen. Du warst ein dummes Ding, teilte er ihr mit. Um in deinen Originalzustand zurückzukehren, mußt du das gleiche tun wie zu Beginn deiner Verwandlung, nur in umgekehrter Reihenfolge. Du mußt dich in deine Zweibeinergestalt zurückdenken. »Oh.« Sie zog Socken und Stiefel an und kam sich ein bißchen lächerlich vor. Der Dachs seufzte und legte sich neben sie. Das Gewicht und die Wärme seines pelzigen Körpers waren angenehm, und der schwere Dachsgeruch wirkte beruhigend. »Gleichgültig, was ich sage, die Wölfe machen schreckliche Sachen. Wenn man sie erwischt, wird es ihnen übel ergehen. Wie kann ich ihnen helfen, wenn sie nicht auf mich hören wollen?« Du begreifst nicht, warum du hierhergebracht worden bist. Hast du auf deinen Reisen gemerkt, daß allein du zu allen drei Arten, zu Menschen, Unsterblichen und Tieren, sprichst? »Nein. Ist das wichtig?« An anderen Orten vielleicht nicht. Aber hier… Was hältst du von diesem Tal? fragte er in der offensichtlichen Absicht, das Thema zu wechseln. Sie blinzelte. »Dunlath?« Er nickte würdevoll. »Nun, es ist… nett. Eine Menge Bauernland, der See zum Fischen, gute Wälder… zumindest wäre es so, wenn Yolane und Belden die 140
Erde nicht aufgerissen hätten, um herauszuholen, was nur möglich ist. Abgesehen von den Bergwintern ist Dunlath ziemlich perfekt, nicht nur für die Tiere, auch für Zweibeiner.« Jetzt erkennst du die Umrisse unseres Planes. Du wurdest hierhergebracht, um allen zu helfen, nicht nur den Wölfen. »Du sagst es jetzt schon zum zweitenmal, daß ich gebracht wurde, wie eine Katze in einem Sack. Die Wölfe haben mich um Hilfe gebeten, aber ich kam auf meinen eigenen zwei Füßen und auf Wolkes vier.« Warst du nicht überrascht, von Brokefang eine Bitte um Hilfe zu erhalten? Liegt es in der Natur der Wölfe, um Hilfe zu bitten? »Nun, nein… Vielleicht…« Sie bitten ihre Verwandten nicht. Rudelgefährten wissen, was gebraucht wird. Und jene Wesen, die nicht zum Rudel gehören, sind unwichtig, außer sie dienen als Nahrung. »Aber er hat sich verändert, weil er meine Wunden geleckt hat…« So sehr hat er sich nicht verändert, nicht zu Anfang. »Nun, und warum hat er dann daran gedacht, mich um Hilfe zu bitten?« Der Alte Weiße hat es vorgeschlagen. Wir dachten, wenn du der Wölfe wegen kämst, würdest du ohne weiteres den wirklichen Grund erkennen, das Problem von ganz Dunlath. Ich hatte gehofft, du würdest inzwischen selbst erkennen, was notwendig ist. Dhana errötete und kam sich lächerlicherweise schuldig und dumm vor. »Ich bin weder eine Seherin noch eine Wahrsagerin«, protestierte sie. »Bei mir müssen die Dinge schon ausgesprochen werden. Das ist schließlich kein Verbrechen.« Der Dachs grollte. Dann spreche ist es hiermit aus: Fisch, Federvieh, Vierbeiner, Zweibeiner, Kein-Beiner, du mußt dieses ganze Tal wieder in Ordnung bringen. Sie hörte ihm entrüstet zu. »Aber wie?« jammerte sie. »Ich bin vierzehn! Erst vierzehn! Wie soll ich irgend etwas in Ordnung bringen? Hol dir jemand Größeren. Hol dir jemand Älteren!« Jemand Größerer und Älterer nützt nichts. Seine Stimme klang ein wenig ungeduldig. Du bist die einzige für diese Aufgabe. Wärst du nicht müde und naß und verängstigt, würdest du das selbst erkennen. 141
»Nein, würde ich nicht«, maulte sie aufgebracht. »Ich…« Schlage eine Brücke zwischen den Arten. Er preßte seinen plumpen Kopf in ihre Handfläche. Finde Verbündete, mein Kleines, nicht nur unter den Tieren, sondern unter den Menschen, und den Unsterblichen. Wie nebenbei fügte er hinzu: Wie kommst du mit den Sturmflügeln aus, wenn ich fragen darf? Sie verzog das Gesicht. »Wir hatten unsere Auseinandersetzungen. Du weißt ja, wie sie sind. Sie sind hier bei der Truppe, und es sieht ganz danach aus, als würden sie wieder einmal dem Kaiser von Carthak dienen.« Es könnte sein, daß sie keine andere Wahl haben. Wenn Alkerts in die Dienste der Menschen gezwungen werden, kann das bei Sturmflügeln genauso sein. »Warum verteidigt sie plötzlich jeder, den ich treffe? Du redest wie Maura.« Bei der Erinnerung an das Benehmen ihrer Freundin den Unsterblichen gegenüber schnaubte Dhana. »Allerdings muß ich dir gestehen, gestern haben mir Rikash und seine Bande fast leid getan. Er wollte ebensosehr wie ich, daß Maura wieder nach Hause geht, aber sie sagte nein und er könne sie nicht zwingen. Es war komisch.« Sie reden beinahe wie wirkliche Menschen, nicht wie Ungeheuer. Die Stimme des Dachses klang so sanft, so bar aller Gefühlsregung, daß Dhana ihn mißtrauisch ansah. »Was soll das nun wieder heißen?« Nichts, Kleines. Er erhob sich und versetzte ihr einen unsanften Rippenstoß. Ruh dich etwas aus, dann mach dich an die Arbeit. Außer, du willst bis zur Großen Kälte hierbleiben? »Göttin, nein!« Lächelnd fügte sie hinzu: »Danke, Dachs.« Hör auf, dich selbst zu bemitleiden, klar? Meine Geduld hat ihre Grenzen. Er wartete keine Antwort ab. Silbernes Feuer flammte um ihn herum auf, und weg war er. Dachse, bemerkte Hüpfer. Sie müssen immer klüger und brummiger sein als andere. Der nächste Tag dämmerte grau und naß herauf, was bei Dhana gemischte Gefühle auslöste. Es bedeutete einerseits, daß sie sich um Sturmflügel oder Alkerts keine großen Sorgen zu machen brauchten. 142
Die hatten Schwierigkeiten, mit feuchten Flügeln in der Luft zu bleiben. Andererseits wurden Dhana und ihre Freunde ebenfalls naß, was ihre Laune nicht besserte. Darüber hinaus waren sie sich der bevorstehenden Anstrengung des langen Marsches zum nördlichen Fort bewußt. »Wenigstens können wir uns hier trocknen und warmes Essen bekommen«, sagte Dhana zu den anderen, als sie die Höhle erreichten. »Allerdings können wir nicht lange bleiben.« Als sie die große Höhle betraten, schrie Maura auf und rannte Dhana entgegen, um sie zu umarmen. »Ich bin ja so froh, daß du wieder zurück bist!« flüsterte sie. »Bist du mit deiner Zählerei fertig?« Überrascht von der liebevollen Begrüßung, verspürte Dhana eine Spur von Schuldbewußtsein. Sie hatte das Gefühl, als sei ihr die Bemerkung zu dem Dachs über eine gewisse Zweibeinerin auf die Stirn gebrannt. »Ich muß noch das nördliche Fort machen«, sagte sie. »Wie geht’s hier?« Maura wich zurück. »Könnte nicht besser sein«, sagte sie verdächtig strahlend. »Tkaa hat mir und Kätzchen beigebracht…« »Kätzchen und mir«, korrigierte Dhana automatisch. »… beigebracht, wie man Steine unterscheiden kann. Er hat Kätzchen beigebracht, wie man sie verwandeln kann, aber ich kann diesen Lärm nicht machen.« Einige der Wölfe haben ihr Angst eingejagt, sagte Tkaa, aus einer der hinteren Höhlen kommend. Dhana sah sich nach dem Rudel um. Die Welpen, die neben den Packtaschen schliefen, wedelten ein bißchen mit den Schwänzen und dösten dann wieder. Das grauweiße Weibchen, Frostpelz. Das ältere Männchen, Langwind. Sie tun ihr nichts, aber sie beobachten sie, und das weiß sie. Das Weibchen knurrt, wenn Maura ihr zu nahe kommt. »Oje«, sagte Dhana. Sie sah das Mädchen an. »Tkaa sagt, Frostpelz und Langwind ärgern dich.« »O nein«, leugnete Maura, aber sie vermied es, Dhana in die Augen zu schauen. »Ich bemerke sie kaum. Leichtfuß und Rötling sind wirklich nett, und manchmal spielen die Welpen mit mir. Möchtest du 143
Haferkekse? Ich hab’ noch Teig. Ich hab’ ihn aus den Sachen gemacht, die das Rudel gebracht hat.« Dhana versorgte Wolke und fütterte die Stute mit dem letzten Hafer und der letzten Gerste. Für gewöhnlich war die Haferration des Ponys klein, denn es wurde dadurch noch ekelhafter als sonst. Heute war das anders. Es würde länger dauern, das nördliche Fort zu erreichen, und Hafer erzeugte Wärme gegen die Kälte des Tages. Nachdem sie ihr Pony versorgt hatte, versuchte sie die Kekse und lobte sie. Auch Hüpfer mochte sie, besonders die mit Honig, und er versorgte sich selbst auch noch mit anderen Dingen. Es wird wohl ein Jammer werden, wenn ich wieder in die Bäume zurück muß, gestand er Dhana. Mir gefällt die Vielfalt eures Essens. »Du würdest fett wie ein Murmeltier werden.« sagte Dhana zu ihm und ölte die rauhen Stellen auf Kätzchens Haut ein. »Dhana?« fragte Maura. »Ich hab’ mir überlegt, ob du bei deiner Zählerei keine Hilfe brauchst? Ich könnte für dich Zahlen aufschreiben. Ich würde dir nicht im Weg sein.« Dhana war bestürzt, verspürte jedoch gleichzeitig Mitleid. »Das geht nicht«, sagte sie so sanft, wie sie nur konnte. »Wir haben nur ein Pferd, und ich muß schnell vorankommen. Du könntest nur mitkommen, wenn wir für uns beide ein Reitpferd hätten. Dein Pferd kann ich nicht rufen, nachdem ich es neulich an mir habe vorbeipreschen lassen. Es ist jetzt in seinem eigenen Stall. Und es gibt nichts sonst, auf dem du reiten könntest.« »Vielleicht ein Hirsch oder ein Elch? Nein. Ich schätze, das ist eine blöde Idee. Entschuldige, ich wollte dich nicht belästigen. Ich weiß, dir war’ es lieber, ich würde nach Hause gehen.« Dhana zuckte zusammen. Es war genau das, was sie dachte, es aber in dieser höflichen, wohlerzogenen Art ausgesprochen zu hören, erzeugte in ihr das Gefühl, ein noch schlimmeres Monster als ein Sturmflügel zu sein. »Wenn die Art der Fortbewegung das einzige Problem ist, kann ich vielleicht helfen«, meinte Tkaa. »Ich werde Lady Maura auf meinem Rücken tragen.« Kätzchen pfiff ärgerlich, und der Basilisk nickte. »Schon gut, Himmelslied. Du darfst in meiner Tasche mitreiten.« 144
Sprachlos starrte Dhana den Unsterblichen an. Er sah nicht kräftiger aus als ein als Birkenschößling. »Unmöglich.« »Gerade du solltest dieses Wort nicht benützen«, tadelte Tkaa. »Selbst wenn du beide tragen könntest, was ich bezweifle, kannst du doch nicht mit uns Schritt halten.« »Ich begreife nicht, wie eine so junge Sterbliche dazu kommt zu glauben, sie wüßte alles, was es über Unsterbliche zu wissen gibt. Ich würde es nicht anbieten, wenn ich das Gefühl hätte, es nicht schaffen zu können.« Dhana war ein Mädchen mit guten Manieren, aber sie haßte es wie jeder Teenager, zurechtgewiesen zu werden. »Na schön«, sagte sie und stand auf. »Wenn du Kätzchen in deiner Tasche unterbringen, Maura Huckepack nehmen und obendrein mit mir und Wolke Schritt halten kannst…« »Mit Wolke und mir«, unterbrach Maura sie. Sie wurde rot und bedeckte den Mund mit der Hand, als ihr Dhana ein Gesicht schnitt. »… dann bist du herzlich eingeladen«, beendete das ältere Mädchen den Satz und fühlte sich von allen Seiten bedrängt. »Aber solltest du zurückfallen, werde ich deinetwegen ganz gewiß nicht trödeln.« Sie waren noch keine Stunde unterwegs, da hatte Tkaa Dhana, Hüpfer und Wolke eingeholt. Maura hing tief schlafend über einer seiner Schultern. Sie waren den ganzen Tag unterwegs, sie froren und wurden naß, als sich der Morgennebel in einen feinen, durchdringenden Regen verwandelte. Am Nachmittag kamen sie an dem Felshang vorüber, der zu den Klippen führte und von wo aus Dhana zum erstenmal die Gruben gesehen hatte. Sie seufzte. Von diesem Platz aus hätte sie gut arbeiten können, müßte sie nur auf die Tiere des Forts lauschen, aber sie wollte näher herankommen, ehe sich Hüpfer mit ihr in seinem Geist dorthin begab. Sie war nicht sicher, wie weit ihre neue Magie reichte. Statt dessen gingen sie weiter über die Berge in nördlicher Richtung, um Felder mit aufgewühlter, unfruchtbarer Erde herum. Tkaa fand einen bewaldeten Bergrücken, von wo aus man das Fort, die Bäume zwischen seinen Wällen und den nördlichen Paß sowie die Gruben überblicken konnte. Er war ideal. Die großen Bäume würden 145
sie vor den Alkerts schützen, die Dhanas Meinung nach bestimmt in dem nördlichen Fort lebten. Sie konnte auch einen Pfad sehen, eine Steinader, die vom Fuß ihres Bergrückens bis kurz vor die Palisaden führte. Hüpfer war einverstanden. So einfach wie Getreide fressen, erklärte er. Indem sie Zweige über ein Loch im Boden und einen umgestürzten Baumstamm legten, bauten Dhana und Maura einen notdürftigen Unterstand, wo Tkaa, Kätzchen und das Mädchen vor der Nässe geschützt sitzen konnten. Dhana sattelte Wolke ab. Währenddessen kehrten Maura, Kätzchen und Tkaa zum Bergrücken zurück, betrachteten aber nicht das Fort, sondern die Gruben. Mochte das Wetter auch naß und abscheulich sein, die Arbeiten dort unten waren in vollem Gang. Die Arbeiter, Menschen und Menschenfresser, schufteten nebeneinander im dicken Schlamm, während Aufseher fluchend auf diejenigen einschlugen, die hinfielen. Als Dhana zu ihnen kam, sagte Maura leise: »Diese armen Ungeheuer sind so scheußlich.« Sie bot dem älteren Mädchen ein Kräuterbonbon an. Es schmolz langsam auf Dhanas Zunge und gab Süße und Zimtgeschmack frei. »Ich weiß nicht«, erwiderte Dhana. »Sie denken möglicherweise auch, wir sehen ziemlich komisch aus, rosa und unbehaart.« »Du haßt sie nicht? Aber ich höre immer so viele Geschichten. Außerhalb des Tales kämpfen sie dauernd mit den Menschen. Es heißt, der Kämpe des Königs, Lady Alanna, lebt nur noch im Sattel, wegen der ständigen Kämpfe mit ihnen.« Dhana zuckte mit den Schultern. »So schlimm ist es nicht. Lady Alanna kämpft nicht dauernd nur gegen sie. Menschenfresser sind lediglich schwer von Begriff. Sie kapieren nicht, daß sie nicht einfach immer Dinge wegnehmen dürfen, die anderen gehören.« Seit ihrer Unterhaltung mit dem Dachs hatte sie eine Menge nachgedacht. »Ich frage mich… wenn die Menschen nicht immer sofort angreifen würden, wenn wir versuchen würden, nett zu sein, dann wären sie vielleicht gar nicht so böse.« Sie deutete auf die Gruben »Und eines weiß ich genau. Das da ist einfach nicht richtig. Schau dir ihre Rippen 146
an, du kannst sie zählen. Wann meinst du, hatten sie wohl ihre letzte Mahlzeit? Und was immer es gewesen sein mag, viel war es ganz bestimmt nicht.« Maura starrte mit undurchdringlichem Gesicht auf das, was sich dort unten abspielte. Komm schon, sagte Hüpfer. Wir müssen einiges im Dunkeln machen, und ich hasse die Dunkelheit. Können wir nicht Losgehen, damit wir zumindest nicht alles im Dunkeln machen müssen? »Ich muß gehen«, sagte Dhana zu den anderen. »Haltet eure Köpfe unten, solange ihr hier seid, und geht bald in Deckung. Kein Feuer, denkt dran, und redet leise.« Tkaa sah sie an. »Wir kommen schon zurecht. Ich werde die Kleinen beschützen.« Dhana lächelte. »Das weiß ich.« In einer Ecke des Unterstandes sitzend, schloß Dhana die Augen und trat in Hüpfers Gedanken ein. Die Haut des Eichhörnchens juckte vor Angst über die hereinbrechende Nacht. Es kratzte sich, dann kletterte es über den Bergrücken hinunter zu dem Felsband. Die Grubenarbeiter trotteten nach Hause, als Hüpfer das Fort erreichte. Dhana war froh, eine Spalte zu entdecken, wo eine Palisade nicht ganz den Boden erreichte. Der Gedanke, hinaufzuklettern, wenn sie von all denen gesehen werden konnte, die vorbeigetrieben wurden, hatte ihr überhaupt nicht gefallen. Einmal innerhalb des Walls, erklomm Hüpfer einen der Wachtürme. Was ist das für ein Gebäude dort drüben, das neu aussehende? wollte er wissen. Es stinkt abscheulich. Dhana spähte zu dem Gebäude, das er meinte. Es lag abseits der übrigen Häuser innerhalb der Einfriedung. Gebaut wie ein Stall, mit Türen, die vom Erdboden bis zum Dach reichten. Wenn der Wind aus dieser Richtung wehte, erfüllte ein Geruch von Heu, totem Fleisch und Wut die Luft. Ein Geruch, den sie zum erstenmal als Fledermaus wahrgenommen hatte. Alkert-Stallungen, erklärte sie Hüpfer. Sie kontrollieren diesen Teil des Tales. Sie sind scheußlich. Zum Glück für uns, glaube ich, können sie bei diesem Wetter nicht fliegen. Sie untersuchten den Rest des Forts. Es war um einiges größer als das im Süden und älter. Zweifellos war es schon hier gewesen, ehe die 147
Bergwerksarbeiten begannen. Die bemalten Läden der Fenster standen offen. Die Männer trugen die Uniform von Mauras Haus, eine graue Tunika über einem grauen Hemd und Reithosen. Auf ihren Schulterklappen war das Wappen von Dunlath zu erkennen: ein grüner, doppelköpfiger Greif auf grauem Feld. Aus gutem Grund ist es luxuriöser, sagte sie zu Hüpfer. Die meisten Besucher müssen aus dem Norden kommen, aus der Stadt der Götter, oder aus Fief Aili. Nur Kaufleute kommen aus dem Süden. Die Sonne verschwindet, jammerte das Eichhörnchen. Ich fürchte, wir müssen sie gehen lassen, sagte Dhana so liebenswürdig wie möglich. Dieser Raum, in dem Licht brennt, sieht aus, als wäre er das Büro des Kommandanten, wie das, was wir im Süden aufgesucht haben. Wir müssen warten, bis er es verläßt, und das wird möglicherweise nicht vor der Essenszeit sein. Betrachte es mal von dieser Seite – wenigstens sind wir aus dem Regen heraus. Wir gehen im Dunkeln zurück? fragte Hüpfer. Wir müssen. Er seufzte. Ich weiß, du würdest das nicht von mir verlangen, wenn es nicht wichtig wäre. Ich hasse nur einfach die Dunkelheit. Das spärliche Tageslicht war schon seit einiger Zeit vergangen, und die Fackeln brannten, als der Ruf zur Kantine erklang. Die Lampe im Büro des Kommandanten brannte weiter, aber der Kommandant selbst kam heraus, um sich der Menschenmenge anzuschließen, die zum Essen ging. Dhana und Hüpfer warteten, bis alle außer den Wachposten auf den Türmen den Hof verlassen hatten. Dann rasten sie zum Hauptquartier. Rasch kletterten sie durch ein offenstehendes Fenster ins Zimmer. Wie bei seinem Gegenstück war auch in diesem Fort die Diensteinteilung hübsch ordentlich mit weißer Kreide auf einer Schiefertafel verzeichnet. Ich liebe Soldaten, gestand Dhana. Sie versuchen immer, genau die gleichen Dinge zu tun wie alle anderen Soldaten. Sie las, was auf der Tafel stand, und zählte vierzig Soldaten, vier Korporale, vier Sergeanten, einen Hauptmann. Mehr Soldaten, weil die Zweibeiner von dieser Seite hereinkommen? fragte Hüpfer. Scheint so, antwortete sie. Komm, machen wir, daß wir hier rauskommen. 148
Für die Rückkehr brauchten sie länger als für den Hinweg. Hüpfer war in der Dunkelheit beinahe ebenso blind wie ein Mensch und nervöser, als Dhana ihn jemals erlebt hatte. Jedes Rascheln und Quieken hielt er entweder für eine Eule, einen Bären, einen Buschhund oder noch Schlimmeres, das gekommen war, um ihn zu fressen. Dhana beruhigte ihn, so gut sie es vermochte. Hüpfer hatte Großes für sie geleistet, Dinge, die einem anderen Eichhörnchen nicht im Traum einfallen würden. Dieses Wissen veranlaßte sie, nicht aufzubrausen, wenn er immer wieder haltmachte, um sich zu verstecken. Sie blieb bei ihm auf dem Weg den Bergrücken hinauf und über den Kamm hinüber, auch wenn sie ihn lieber verlassen hätte, um alleine weiterzugehen. Er wäre beinahe gestorben, als sich ein riesiger Schatten bewegte und schnaubte. Hallo, Eichhörnchen, sagte Wolke. Schlimme Nacht? Hüpfer lehnte sich bebend an einen Baumstamm. Es war einfach entsetzlich, sagte er zu dem Pony. Wie kannst du es nur ertragen, im Dunkeln herumzulaufen? Dhana wußte, Wolke würde die zerrütteten Nerven des Eichhörnchens wieder zur Ruhe bringen, wenn die Stute sah, daß sie, Dhana, nicht mehr im Geist des Eichhörnchens weilte und nicht Zeugin eines Aktes der Liebenswürdigkeit sein konnte. Sie bedankte sich nochmals bei Hüpfer und verließ ihn, um ihre Augen im Unterstand zu öffnen. Nirgends war Licht, nur Krach, Geräusche von großen Körpern, die sich in der Nähe bewegten. Nervös sah sie sich um, ihre Ohren zuckten. Jetzt konnte sie ein wenig besser sehen, doch was sie sah, war alles andere als beruhigend. Zwei riesenhafte Gestalten bewegten sich direkt vor dem Eingang zum Unterstand. Die eine war groß und dünn, die andere breit in den Schultern und unten herum unförmig. Zwischen ihnen war ein kleinerer, doch noch immer sehr großer Schatten. Ein Pfiff dicht an einem ihrer Ohren machte sie beinahe taub, und ein Gesicht tauchte neben dem ihren auf. Es war lang und hatte am Ende scharfe Zähne. Große, schwach glühende Augen mit 149
Katzenpupillen sahen sie an. Sie quiekte und versuchte zurückzuweichen. Der kleine große Schatten drehte sich um und zeigte ein Gesicht wie ein blasser, verschwommener Fleck in der Dunkelheit. Der Mensch, der zu diesem Gesicht gehörte, kroch auf Händen und Knien zu Dhana. Es war sehr seltsam, Maura soviel größer zu sehen, als sie selbst war. »Oje«, sagte das Mädchen. »Ah… Dhana, du… du bist geschrumpft!« Da erzählst du mir ja was ganz Neues, sagte Dhana. Es kam als ärgerliches Eichhörnchengeplapper heraus. Sie sah auf ihre Hände und Füße. Sie waren zwar menschlich, aber ein feiner, grauer Flaum bedeckte sie, und ihre Fingernägel waren schwarze Krallen. Sie schloß die Augen und versuchte, sich zu erinnern, wer der Mensch Dhana war. Es war einfacher, sich an ihr Wolf-Selbst zu erinnern oder an ihr Fledermaus-Selbst. Wer war sie denn nun? Ein Bild erschien vor ihren Augen, ein Teich aus kupferfarbenem Feuer mit einem Kern aus weißem Licht. Zwischen Kern und Teich lag eine Mauer aus reiner Macht, wie Glas, durchsetzt von glitzernden Funken aus weißem und schwarzem Feuer. Der weiße Kern war ihr inneres Ich, die glitzernde Wand die Barriere, die Numair einst zwischen Dhana und ihrer Magie errichtet hatte, um sie daran zu hindern, ihre Menschennatur zu vergessen. Beginne dort, dachte sie. Sie fand Erinnerungen an Ma, an Großvater, an das Haus, in dem sie aufgewachsen war. Das nächste waren die Menschen von Winterthal, die sie zu töten versuchten, weil sie mit den Wölfen gegangen war. Sie sah Onua, die ihr Arbeit in Galla und ein Heim in Tortall gegeben hatte. Hier waren andere, die wichtige Plätze in ihrem Leben einnahmen, eine bunt zusammengewürfelte Schar von Adligen, einfachen Menschen, Kriegern und Tieren. Das also bin ich, dachte sie und freute sich, so vieles zu haben, was in ihrem Menschenleben gut war. Sie öffnete die Augen.
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8 Freunde Maura saß mit dem Rücken zu Dhana, das Gesicht auf den hochgezogenen Knien. »Ich kann nicht mehr hinschauen«, sagte sie. »Gebt mir Bescheid, wenn sie fertig ist.« Dhana stellte fest, daß Maura nicht mehr so groß war wie zuvor, was ihre Stimmung wesentlich besserte. Das schlitzäugige Wesen in ihrer Nähe war Kätzchen, das einen fragenden Ton von sich gab. Dhana nahm den kleinen Drachen auf den Schoß und betrachtete dann die größeren Gestalten in der Öffnung des Unterstandes. Eine war unzweifelhaft Tkaa. Die andere war ihr fremd. »Ich bin fertig«, verkündete sie. Maura drehte sich um und stöhnte erleichtert. »Du bist wieder du! Ich meine, du warst immer du, aber du fingst an, ein bißchen… eichhörnchenhaft auszusehen.« Schade, daß ich das versäumt hab’, bemerkte Hüpfer von außerhalb des Unterstandes. Tkaa sagte: »Es ist gut, daß du zurückgekehrt bist. Wir haben einen Gast. Iakoju, das ist Dhana, der Mensch, von dem Maura dir erzählt hat.« Die Fremde nickte. Sie war eine Menschenfresserin. Trotz der kühlen Feuchtigkeit war sie nur mit einer kurzen, zerlumpten Tunika bekleidet. »Ist dir kalt?« fragte Dhana. »Wir haben irgendwo eine Pferdedecke.« Sie fand eine und bot sie der Unsterblichen an. »Ich hab’ dir ja gesagt, Dhana würde sie willkommen heißen«, sagte Maura zu Tkaa. Zu Dhana gewendet fügte sie hinzu: »Iakoju ist unsere Freundin. Sie will uns helfen, Yolane und Tristan loszuwerden.« Iakoju starrte die Decke an, ihre spitzen Ohren zuckten hin und her. Schließlich nahm sie sie. »Danke«, sagte sie leise und verbeugte sich steif. 151
Maura half ihr mit einer mütterlichen Geste, die Decke um die Schultern zu legen. »Sie ist weggelaufen«, erklärte die Zehnjährige. Lautlos sprach Dhana mit einer in der Nähe befindlichen Eule und trat in deren Gedanken ein. Nun konnte sie Iakoju trotz der Dunkelheit deutlich sehen. Sanfte Augen begegneten den ihren, ohne zublinzeln. Obwohl mager und schlecht gekleidet, war die Unsterbliche sauber und roch nach Seife, Erde und etwas undefinierbar Würzigem. Dhana schnüffelte und versuchte, den Geruch zu identifizieren. »Ißt du irgend etwas?« Iakoju lächelte. »Maura hat mir ein Bonbon gegeben.« Dhana sah das jüngere Mädchen an. »Ein Bonbon?« Mit ihren Eulenaugen sah sie, wie Maura errötete. »Nun, sie hat so verängstigt ausgesehen, als ich sie fand, und da ist mir eingefallen, was du gesagt hast. Daß die Leute böse zu ihnen sind, und wenn man vielleicht nett wäre…« Eins zu null für dich, Dachs, dachte Dhana. »Hattest du bei deiner Mission Erfolg?« erkundigte sich Tkaa. Dhana nickte und griff zu ihrer Wasserflasche. Höflich bot sie diese zuerst Iakoju an, die schüttelte jedoch den Kopf und hielt eine eigene, aus einem Kürbis gemachte Wasserflasche hoch. Als Dhana trank, sagte Maura: »Iakoju meint, einige der Menschenfresser werden uns helfen.« »Warum?« Dhana setzte sich neben Tkaa, von wo aus sie ihren Gast besser sehen konnte. Kätzchen und Hüpfer gesellten sich zu ihr. Hüpfer ringelte sich auf ihrer Schulter zusammen, Kätzchen in ihrem Schoß. »Sturmflügel und Tristan lügen«, sagte Iakoju tonlos. »Sie sagen, kommt durchs Tor, wir geben euch Farmen zum Behalten, so wir kommen. Aber Farmen hier sind Felsenfarmen, unter der Erde Wir sagen, wir wollen keine Gruben, wo sind Farmen? Tristan sagt, ihr arbeitet, wo wir sagen, ihr müßt arbeiten.« Sie runzelte die Stirn. »Menschenfresser sind ärgerlich. Sie haben mich aus dem Tal fortgeschickt, um Verwandte zu suchen, Verwandte kommen helfen, hauen Lügenmänner auf den Kopf.«
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Hüpfer gähnte und wäre beinahe von Dhanas Schulter gefallen. Sie schob ihn in ihre Armbeuge und fragte: »Hattet ihr in den Göttlichen Reichen denn keine Farmen?« Iakoju schüttelte den Kopf. »Zu viele Menschenfresser. Kein Platz. Wir sind wegen Farmen hierhergekommen.« Maura runzelte die Stirn. »Ich verstehe das irgendwie nicht. Wenn ihr friedlich seid – wenn ihr wirklich nur Farmen haben wollt -, wie kommt es, daß ihr dann ›Menschenfresser‹ genannt werdet? Menschenfresser sind doch Ungeheuer, oder nicht? Und warum kämpfen eure Leute immer mit unseren?« »Wir groß«, erwiderte Iakoju leise. »Für euch wir sehen häßlich aus. Unsere Farbe anders als die von Menschen. Und nicht alle Menschenfresser gleich. Manche nehmen, was sie wollen. Manche kämpfen mit Menschen. Meine Leute, wir nur wollen Farmen, nicht kämpfen. Manche Menschenfresser nur wollen kämpfen. Sind eure Menschen alle gleich?« »Nein«, antwortete Dhana nachdenklich. »Natürlich nicht.« Maura stocherte mit einem Stock im Staub herum. »Es ist zu blöd, daß das Ostufer des Sees nicht umgepflügt werden kann. Es ist zu steil.« Dhana ahnte, welche Gedanken ihrer jungen Freundin im Kopf herumgingen. »Das Lehen gehört Yolane. Ich glaube nicht, daß sie mit Menschenfresserfarmen am Ostufer einverstanden wäre.« »Durch den Verrat hat sie dem Gesetz nach ihre Ländereien verwirkt«, argumentierte die Zehnjährige. »Und das Lehen gehört nicht ihr allein. Die Hälfte gehört mir, Papa hat sie mir vermacht, und vielleicht läßt der König sie mich behalten. Ursprünglich sollte es so sein, daß Yolane meine Hälfte kauft, wenn für mich die Zeit zum Heiraten gekommen ist. Es wäre meine Mitgift. Deshalb bekam ich die östliche Hälfte. Allerdings besteht sie zum größten Teil aus Hügelland«, sagte sie mit einem Seufzer. Iakojus Augen leuchteten. »Wir machen Farmen. Finden flache Stellen, graben Gruben, schütten Erde zum Wachsen rein. Machen kleine Täler rauf und runter, bauen Getreide an, Bohnen, Blumen. Erbsen, Kräuter… wir mögen Pflanzen mächtig gern. Wenn Menschenfresser euch helfen, wirst du uns Farmen geben?« 153
»Maura kann das nicht versprechen«, erinnerte Tkaa sie. »Es könnte sein, daß sie das Land verliert. Ihre Schwester, deren Pachtgut das ist, putscht gegen die Krone.« »Tkaa hat recht«, erklärte Maura Iakoju und ließ den Kopf hängen. »Ich schätze, ich kann’s nicht versprechen.« Die Menschenfresserin sah sie an, dann den Basilisken, dann Dhana. Ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Vielleicht ich verlasse Dunlath nicht. Ich komme mit euch. Wir reden.« Dhana wollte schon protestieren, änderte dann aber ihre Meinung. Die Worte des Dachses waren ihr noch frisch im Gedächtnis. Es konnte jedenfalls nicht schaden. Bevor sie schlafen ging, schrieb sie einen Bericht für Numair. Als Beleuchtung benützte sie einen Glühstein aus ihrer Gürteltasche. Nachdem sie den Bericht geschrieben hatte, schlief sie unruhig und träumte von Alkerts. Die ganze Gesellschaft erwachte bei Tagesanbruch. Die Wolken waren verschwunden, und der Tag versprach wunderschön zu werden. Dhanas Freude wurde allerdings durch das Wissen getrübt, daß heute geflügelte Patrouillen unterwegs sein würden. Wolke sagte zu ihr: Wir sollten lieber eine andere Route zum Paß wählen, eine mit einer Menge Bäume. Iakoju fällt sonst zu sehr auf. Ein Hirsch, der gerade in der Nähe war, berichtete Dhana von Pfaden, die weiter unten am Hang entlang um die Minen herumführten und fast ganz unter Bäumen verliefen. Sie bedankte sich lautlos bei dem Hirschen und führte ihre Gefährten dort hinab. Der Tip war gut gewesen. Der Pfad war breit und ausgetreten und nahm jede Deckung wahr, die der Wald bot. Ein idealer Weg für vielgejagtes Wild. Im Laufe des Vormittags führte der Pfad sie zu der runden Wiese, an Hüpfers Baum und der Eiszahnstatue vorbei. Dhana überlief ein Schauder. Seit der Begegnung mit diesem Geschöpf war sie zweimal mit wild klopfendem Herzen, schweißnassem Haar und dem Gefühl aufgewacht, daß sich ihr irgend etwas Eisiges näherte, langsam und unaufhaltsam. Hoffentlich mußte sie niemals mehr einen anderen lebenden Eiszahn sehen. Dhanas Befürchtung, daß Hüpfer vielleicht lieber hierbleiben würde, erfüllte sich glücklicherweise nicht. Hüpfer machte keinerlei Anstalten, in sein Heim zurückzukehren. 154
Eine Stunde später hörte sie den Hilferuf eines Tieres und gab den anderen das Zeichen haltzumachen. Wo bist du? fragte sie. Was willst du? Aus den Fichten hundert Meter vor ihnen brach ein Hund hervor und rannte auf sie zu. Es war der Leithund des Jägers, einer der Schäferhunde, die Dhana im Schloß getroffen hatte. Sie stieg vom Pferd und sagte: »Entschuldige, ich habe damals deinen Namen nicht verstanden.« Ich bin Schönfuß, antwortete der Hund. Dhana verbarg ein Lächeln hinter ihrer Hand. Es ist der Name, den der Mann mir gegeben hat, betonte der Schäferhund. Es ist ein guter Name. »Es ist ein wunderhübscher Name«, antwortete Dhana beruhigend. »Wie kann ich dir helfen?« Bitte, komm, bat der Hund. Der Mann ist verletzt. Die Wölfe haben es gemacht. Dhana sah ihre Freunde an. »Irgendwas ist los. Ich muß mit diesem Hund gehen.« Zu Schönfuß sagte sie: Ist es schwierig? Werde ich lange brauchen, um zu helfen? Ich weiß nicht, ob du überhaupt helfen kannst, sagte Schönfuß. Seine dunklen Augen blickten traurig unter buschigen Brauen hervor. Unser Rudel konnte nichts tun. »Tkaa, würdest du das bitte Numair bringen?« fragte Dhana und zog den Brief, den sie geschrieben hatte, aus ihrem Hemd. »Ich denke, je eher er ihn bekommt, um so besser.« »Sehr klug«, sagte der Basilisk und holte Kätzchen aus seiner Tasche. »Wenn ich ihn abgeliefert habe, werde ich auf diesem Weg zurückkehren, um euch wiederzufinden.« Er nahm den Brief und machte sich auf den Weg, seine langen Beine trugen ihn rasch außer Sichtweite. »Wir gehen jetzt mit Hund?« fragte Iakoju. Dhana nickte. »Er sagt, sein Herr ist in Schwierigkeiten.« »Tait?« rief Maura erschrocken aus. »Worauf warten wir dann noch?« Schönfuß führte sie einen anderen Pfad entlang und erklärte, daß sein Rudel einen Tag und eine Nacht lang um Hilfe gerufen habe. Gleichgültig, was sie oder der Mann auch machten, es gab keine 155
Möglichkeit, ihn aus dem Loch herauszubringen. Auf einer kleinen Lichtung, die der Pfad kreuzte, fanden sie den Rest von Taits Hunden neben einer Grube. Bellend kamen sie angerannt, um Dhana und Maura zu begrüßen. Dhana ging zum Rand der Grube und spähte hinein. Auf dem Grund saß Tait, mit Schlamm, Blättern und Schmutz bedeckt. Plötzlich wußte sie, welchen Plan die Wölfe für Tait ausgeheckt hatten. »Jäger«, sagte sie. »Du sitzt in der Klemme.« »Lach mich ruhig aus, Mädchen«, sagte er müde, »aber schaff mich hier raus.« »Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd. »Darf ich dich zuerst einmal fragen, ob das hier eine Wolfsgrube ist?« »Die war viel kleiner!« schimpfte er. »Und die Markierungen, die ich angebracht hab’, damit ich weiß, wo das verdammte Ding ist, sind weg! Wenn das dein Werk war…« »Ich war nicht einmal in der Nähe«, antwortete sie, »also brüll mich nicht an!« Sie hätte gute Lust gehabt, ihn zu lassen, wo er war. Maura hatte ihr während des morgendlichen Ritts erzählt, daß Tait das letzte Wolfsrudel getötet hatte, das in Dunlath lebte. Sei nicht ärgerlich, bat Schönfuß. Ihm ist kalt, er ist naß und hungrig. Und dann stinkt er auch noch. Dhana wandte sich an Iakoju. »Ich habe ein Seil. Kannst du ihn herausziehen?« Die Menschenfresserin ging zum Rand der Grube und beugte sich darüber. Ein Aufschrei drang aus der Grube empor. »Es ist alles in Ordnung, Tait«, rief Maura und lief zu der blauhäutigen Unsterblichen. »Sie ist bei mir.« »Lady Maura?« sagte der Gefangene. »In welcher Art von Gesellschaft befindest du dich denn hier?« Maura runzelte die Stirn. »Jedenfalls in einer besseren als zu Hause«, fuhr sie ihn an. »Und was soll das bedeuten, Miss?« »Egal. Ich erzähl’s dir später.« Iakoju sah Dhana an und nickte. »Mann nicht zu dick. Ich bring’ ihn rauf.« 156
Mit einem Seufzer holte Dhana das Seil und gab es Iakoju. »Ich tu’ das nicht für dich, Tait«, sagte sie. »Ich tu’ es deiner Hunde wegen.« »Ist mir egal, für wen du’s tust, wenn du’s nur tust, bevor ich alt und grau werd’.« Iakoju schlang sich das Seil mehrere Male um die Hüften und ließ das freie Ende in die Grube fallen. Tait wickelte es sich auf die gleiche Art um den Leib und packte das Seil, das sich zwischen ihm und Iakoju spannte, fest mit beiden Händen. »Zieh hoch!« schrie er. Iakoju richtete sich auf. Unter einigem Fluchen von Taits Seite zerrte sie den Jäger aus seinem Gefängnis. In dem Augenblick, da er festen Boden unter den Füßen hatte, umringten ihn die Schäferhunde und gaben winselnd und bellend ihrer Freude Ausdruck. Als Dhana ihn aus der Nähe sah, wich sie zurück. Die Grube schien nicht der sauberste Platz im Wald zu sein. Tait stank erbärmlich nach Wolfsurin und Kot. »Habt ihr Wasser?« fragte er und tätschelte seine Hunde. »Und was zu essen wäre auch nicht schlecht.« Maura gab ihm Dhanas Flasche. Der erste Schluck diente ihm dazu, den Mund auszuspülen, der Rest wanderte in seinen Magen. »Donnerwetter«, keuchte er. »Das hab’ ich gebraucht!« Maura bot ihm Schinkenscheiben und Käse an. Er schob sich den Käse in den Mund, während ihm die Hunde zuschauten und sich die Mäuler leckten. »Du solltest nicht hier sein«, sagte er zu ihr, nachdem sein Mund leer war. Er sah Dhana und Iakoju an. »Ist nicht gegen euch gerichtet.« »Bearbeite sie, soviel du willst«, antwortete Dhana. »Wenn du sie dazu bringst, daß sie wieder heimgeht, ist es mehr, als ich oder dieser Sturmflügel-Lord fertiggebracht haben.« »Die Dinge hier sind verrückt«, brummte der Mann. »Die Herrschaften kümmern sich nicht um ihr Land und die Menschen, sie bringen Monster her, um die Dienerschaft zu erschrecken…« Kopfschüttelnd teilte er den Schinken und gab ihn seinen Hunden. Als er sah, daß Dhana ihn beobachtete, senkte er den Blick »Hab’ jetzt gerade nur auf Käse Appetit«, knurrte er. »Meine Kehle ist vom Schreien noch ganz wund.« 157
Was du nicht sagst, dachte das Mädchen. Sie holte noch etwas Käse und zwei Äpfel und gab sie ihm. Für die Hunde schnitt sie den Rest des Schinkens auf. »Na, du bist mir vielleicht eine«, murmelte der Jäger. »Es sind gute Hunde«, antwortete sie zurückhaltend. »Sie lieben dich wirklich, weißt du.« »Ich weiß. Sie hätten mich verlassen können, aber sie haben’s nicht getan. Sie haben letzte Nacht einen Bären verjagt, der auf unser Rufen hin gekommen ist.« Er sah Iakoju an. »Hilfst du ‘nem Mann mal auf?« fragte er. »Meine Beine sind eingeschlafen, waren da unten völlig zusammengekrümmt.« Die Menschenfresserin hielt Tait an den Ellbogen und hob ihn hoch, bis er auf eigenen Füßen stand. Er zuckte zusammen und schüttelte erst das eine, dann das andere Bein aus. »Ich muß so schnell wie möglich diesen Gestank loswerden.« Er sah von Maura zu Dhana. »Werdet ihr warten, damit ich mich waschen kann? Ich hab’ Kleider und all so was in der Nähe bei einem Bach versteckt.« Dhana lächelte. »Geh schon. Wir warten auf dich.« Mit Iakojus Hilfe, die ihn seiner noch immer wackligen Beine wegen stützte, humpelte Tait zu seinem Bad. Die Hunde sprangen um ihn herum. Als sie außer Sichtweite waren, hörte Dhana ihn zu der Menschenfresserin sagen: »Und kein Gucken, wenn ich aus meinen Kleidern raus bin, kapiert?« »Ich möchte was überprüfen«, sagte Dhana zu Maura. »Lauf nicht von hier weg.« Sie lehnte sich an einen Baum und schloß die Augen. Sie fand einen Adler und erhielt die Erlaubnis, in seine Gedanken einzutreten. Aus der Höhe, in der er in der warmen Luft dahinglitt, konnte sie Tkaa erspähen. Der Basilisk galoppierte auf allen vieren, seine langen, zarten Glieder trugen ihn schneller, als Dhana für möglich gehalten hatte. Er war bereits dicht vor dem westlichen Paß. Da sie nun wußte, daß der Brief Numair bald erreichen würde, ließ sie sich von dem Adler hintragen, wohin er wollte. Er flog niedrig, um der Barriere über sich zu entgehen, aber er flog noch immer hoch genug, um einen guten Blick auf das Herz des Tales zu haben. Nicht 158
weit von Taits Grube entfernt erblickte Dhana das Holzfällerlager. Es schien, als hätten die Wölfe ihr Ziel erreicht. Alle Arbeit stand still. Das Lager war nahezu leer. Die wenigen Menschen, die sich dort aufhielten, lagen faul herum oder schlenderten umher. Dann flog der Adler nach Süden. Unter ihnen lagen das Dorf und das Schloß, wie Spielzeug. Aus einem Turmfenster des Schlosses quoll Rauch von häßlicher, grünbrauner Farbe. Jedes fliegende Geschöpf machte einen weiten Bogen um die sonderbar aussehende Rauchfahne. Warum? fragte Dhana den Adler. Ich brauche nicht durch den Tod zu fliegen, um zu wissen, wie er aussieht, antwortete ihr Gastgeber. Ich muß nicht in der Gefahr baden, wenn ich weiß, wie sie riecht. In diesem Turm geht immer etwas Schlimmes vor sich. Wir werden dem bald ein Ende bereiten, versicherte Dhana ihm. Es ist beinahe vorbei. Gut, sagte der Adler. Sag mir, wenn du Hilfe brauchst, und ich werde dasein. Als der Vogel nach Norden abdrehte, sah Dhana Schwierigkeiten heraufziehen. Drei Geschöpfe flogen im Zickzack an den Hängen entlang, wo sie in der Nacht zuvor gerastet hatte. Der Adler sah genauer hin, und die Gestalten wurden deutlicher: Körper und Köpfe von Pferden, Fledermausflügel so groß wie Segel, statt Hufen besaßen sie silberne Krallen. Die Alkerts arbeiteten sich nach Süden weiter und streiften fast die Wipfel der Bäume. Sie waren auf der Jagd, und Dhana hatte das unangenehme Gefühl zu wissen, wonach sie jagten. Ich muß gehen, teilte sie hastig dem Adler mit. Danke! Sie öffnete ihre Menschenaugen. Etwas Riesiges und Braunes erfüllte ihr Gesichtsfeld. Ihr erstaunter Aufschrei kam als scharfer Pfiff heraus. Ich wünschte, das würde geschehen, wenn ich es brauche und nicht, wenn ich in Eile bin, dachte sie verdrießlich und blinzelte. Das braune Ding bewegte sich und zeigte ein Stück behaarter Haut. Es funktionierte nicht, wenn sie versuchte, sich mit der Rückwandlung zu beeilen. Mit einem Seufzer begann sie, sich an den Menschen Dhana zu erinnern. Sie spürte, wie aus Krallen Füße und 159
aus Flügeln Arme wurden. Als sie diesmal die Augen öffnete, saß Tait neben ihr, eine goldbraune Feder in der Hand. Es waren sein rauher Mantel und seine Haut gewesen, was sie vorhin gesehen hatte. »Entschuldigung. Wollte dich nicht erschrecken, Mädchen.« Er bot ihr die Feder an. »Hast eine verloren. Um genau zu sein, du hast mehrere verloren. Maura hat eine.« Dhana sah sich um und entdeckte nur Kätzchen und Schönfuß. »Wo ist sie?« »Iakoju hat sie zum Fischen mitgenommen.« Mit etwas erhobener Stimme sagte Dhana: »Kätzchen, hol Maura und Iakoju. Alkerts durchsuchen das Tal, sie kommen hierher.« Zu dem Mann sagte sie: »Kann man sich hier irgendwo verstecken?« »Die Lorbeerbüsche dort drüben können Maura und den Drachen verbergen.« Tait stand auf. »Beim Bach ist eine große Trauerweide für Iakoju und das Pony. Die Hunde können gehen, wohin sie wollen. Ich glaube nicht, daß die Jäger sich um sie kümmern.« Die Menschenfresserin und Maura kamen angerannt. Alle hörten zu, als Dhana erklärte, wo sie sich verstecken sollten. Sie versteckten auch ihre Sachen. Dhana behielt ihre Armbrust und den Köcher bei sich. Tait hatte einen eigenen Bogen, eine schöne Waffe, poliert und geschmeidig vom vielen Gebrauch. Er spannte ihn rasch. »Sie jagen mich.« Iakojus Augen, dunkelgrün wie Eichenblätter, blickten traurig. »Sie zählen uns morgens, vor Arbeit. Mein Bruder sollte sagen, ich krank.« »Schätze, sie haben ihm nicht geglaubt, Mädchen«, sagte Tait und tätschelte den Arm der Menschenfresserin. »Kannst nichts dafür. Geht in Deckung. Wir geben Laut, wenn die Luft rein ist.« Iakoju marschierte auf den Fluß zu, Wolke und Taits Hunde hinter ihr her. Dhana deutete auf eine Stelle, wo ein umgestürzter Baum an einer Eiche lehnte. Wo die beiden Bäume aufeinandertrafen, hatte sich ein Hohlraum gebildet. Von dort aus war es ihnen möglich, die Lorbeerbüsche und den Fluß zu sehen. Tait nickte und folgte Dhana. Hüpfer war bereits dort und sonnte sich auf dem Stamm.
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Dhana setzte sich neben Tait, die Armbrust schußbereit – für alle Fälle. Am äußersten Ende ihrer Empfindung regte sich ein feines Gespür für die Nähe der Alkerts. Tait hatte sich die Adlerfeder hinters Ohr gesteckt. Jetzt zog er sie gedankenverloren durch seine Finger. »Kannst du dich vollkommen verwandeln?« »Nein«, antwortete das Mädchen und griff nach der Dachsklaue, die an ihrem Hals hing. »Ich kann nicht einmal kontrollieren, welche Teile von mir sich verwandeln. Erst vorletzte Nacht habe ich gelernt, mich wieder ganz in einen Menschen zu verwandeln.« »Alles klar. Maura sagte, sie hat dich zuerst für verrückt gehalten.« Taits braune Augen sahen sie jetzt an. »Sie hat mir erzählt, warum sie von zu Hause weggelaufen ist. Glaubst du mir, wenn ich dir sag’, daß ich keine Ahnung hatte, daß Verrat im Gange war?« Dhana sah ihn aufmerksam an. Sein Gesicht, sauber gewaschen, war kantig und entschlossen. Er wirkte, als sei er ein ebenso schlechter Lügner wie sie selbst. »Ja«, sagte sie und lächelte. Er erwiderte ihr Lächeln. »Ehrlich, ich bin genauso froh wie du, daß sie hier ist und nicht zu Hause. Ich glaube nicht, daß Tristan die Sache so im Griff hat, wie er meint.« »Was willst du damit sagen?« Der Mann neckte Hüpfer mit seiner Feder, als das Eichhörnchen versuchte, sie zu packen. »Vor zwei Tagen war ich im Burghof, als die weibliche Magierin, Gissa, schreiend herauskam. Sie hat ihre Hand am Gelenk festgehalten, und die Hand hatte sich in eine Schlange verwandelt. Die Frau schrie wie am Spieß, jemand sollte kommen und sie wegnehmen. Ich sah ‘n winzigen Blutstropfen auf der Hand. Die Haut hat Blasen geworfen! Und schwarze Streifen bildeten sich, wie wenn eine Wunde brandig wird. Tristan und Meister Gardiner waren auf der Treppe, und sie haben sie bloß angestarrt.« Schweißtropfen standen auf Taits Stirn. »Also ist sie zum Holzstoß gerannt, hat die Axt genommen und die Hand abgehackt.« Dhana starrte ihn an. »Sie hat sich ihre eigene Hand abgeschlagen?« »Weiryn soll mich verhungern lassen, wenn ich lüge.« Er wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel trocken. »Dank sei der Göttin, daß 161
die Kleine nicht da war. Sie hätte monatelang Alpträume gehabt von all dem Blut, und daß Tristan sich nicht um Gissa gekümmert hat, sondern bloß brüllte, daß sie alle tot wären, wenn sie ›es‹ überkochen lassen würde. Er rannte nach drinnen und hat nicht mal versucht, Gardiner zu helfen, die Blutung am Handgelenk zu stoppen. Er…« Dhana legte einen Finger an die Lippen und deutete nach oben. Ein großer, geflügelter Schatten strich über ihnen vorbei. Sie spürte die Nähe der anderen Alkerts, deren Gegenwart die Atmosphäre vergiftete. Eine Zeitlang verhielten sie direkt über ihnen, ehe sie weiter den Berg hinaufflogen. »Ich denke, wenn wir still sind, werden sie uns nicht hören«, flüsterte sie. »Sie haben sich ein Stück entfernt, aber sie kommen vielleicht zurück.« »Du kannst sagen, wo sie sind?« »Wenn sie in Reichweite sind.« »Also noch mehr Hexerei?« »Ja«, erwiderte sie, und er schüttelte den Kopf. Sie kannte diese Bewegung nur allzu gut. Manche Menschen fühlten sich bei Magie unbehaglich. Je mehr ihrer Fähigkeiten sie kennenlernten, um so unbehaglicher wurde ihnen zumute. Anstatt Erklärungen abzugeben, wechselte sie lieber das Thema. »Wer ist dieser ›Weiryn‹?« flüsterte sie. »Du erwähnst ihn dauernd, und ich glaube nicht, daß ich schon einmal von ihm gehört habe.« »Ein Berggott der Jagd. Er hat seine Wurzeln im Wald und im Gestein, er ist verwandt mit allem, was läuft oder schwimmt oder fliegt. An Beltane kann man ihn durch die Wälder streifen sehen, zusammen mit seinen Hunden. Er hat ‘n Geweih wie ein Hirsch. Wir Jäger schwören alle bei seinem Namen.« Irgend etwas an dieser Beschreibung kam ihr vertraut vor, aber sie kam jetzt nicht drauf. »Zu Hause hatte ich nie viel mit Jägern zu tun. Nun, sie wollten auch nicht viel mit mir zu tun haben. Hast du je von meinem Dorf in Galla gehört? Von Winterthal?« Der Blick, den er ihr zuwarf, war nachdenklich und sehr fest. »Die bist du also?« Dhana spürte, wie sie errötete. »Ich weiß nicht, was du gehört hast, aber es ist möglicherweise aufgebauscht worden.« 162
»Nicht nach dem, was ich heute gesehen habe«, sagte der Mann und grinste. Sie warteten lange Zeit. Gerade, als sie dachte, die Alkerts würden verschwinden, spürte sie Neuankömmlinge. Sturmflügel. Immer in Deckung bleibend, warnte sie die anderen, daß die Gefahr noch nicht vorüber sei. Als sie wieder zu Tait zurückkehrte, waren über ihr Schreie und Knurren zu hören. Anscheinend kamen die Alkerts und die Sturmflügel nicht besonders gut miteinander aus. »Wir können hier alt und grau werden«, flüsterte sie Tait zu. »Nach was suchen die?« »Vielleicht nach dem Drachen.« Während des Wartens hatte sie ihm erzählt, was sie wußte, einschließlich der Anordnungen aus Carthak Sie zuckte zusammen. »Kätzchen. Aber natürlich.« Sie wußte, daß sie dringend etwas Ruhe brauchte, und so nutzte sie die Zeit und machte ein kleines Nickerchen. Als sie aufwachte, waren die Sturmflügel und die Alkerts fort, und Tkaa war zurückgekehrt. Alle verließen ihre Verstecke, hungrig und steif. Während Maura Tkaa dem Jäger vorstellte, dachte Dhana nach. Die Geschichte von Gissas Hand gefiel ihr gar nicht. Vor allem nicht, nachdem sie diesen seltsam gefärbten Rauch über dem Schloß gesehen hatte. Was brauten die Magier dort zusammen? Noch weitere Gemeinheiten wie die Barriere? Jemand berührte ihren Arm. Es war der Basilisk. Ich soll dir ausrichten, daß mittlerweile Soldaten am Südeingang des Tales eingetroffen sind. Auch der Königskämpe und der Befehlshaber des Königlichen Heeres sind dort. Meister Numair meinte, das würde dich aufheitern. Hoffnung erfüllte sie, und sie fragte: Kann er mit Lady Alannas Hilfe die Barriere niederreißen? Sie ist eine recht mächtige Magierin. Er hat gesagt, du würdest das fragen. Er und die Löwin können dieses Werk nicht niederreißen. Es saugt noch immer alle Macht auf, die sie dagegen schleudern, und wirft sie nicht zurück. Aus der Stadt der Götter können keine Magier entbehrt werden. Einige kommen aus dem Süden hierher geritten und werden in vier Tagen dasein. 163
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Nach allem, was sie noch gehört hatte, war sie nicht sicher, ob ihnen diese vier Tage Zeit blieben. Sie mußte mehr wissen, und das bedeutete, sie mußte sich Zugang zum Schloß verschaffen. Es dauerte eine Weile, bis sie die anderen überzeugt hatte, ohne sie weiterzureisen. Endlich waren sie einverstanden, bis zum Einbruch der Dunkelheit in Richtung des westlichen Passes zu gehen und dort zu lagern, während sie und Wolke zum Dorf ritten. Niemand gefiel diese Entscheidung, aber Dhanas wachsende Angst, daß irgend etwas Schlimmes am Kochen war, verlieh ihr besondere Überzeugungskraft. Wenn Tkaa, Iakoju und Tait Maura und Kätzchen nicht beschützen konnten, konnte es niemand. Und nur sie selbst konnte im Schloß umhergehen, ohne daß jemand es merkte. Wolke strengte sich sehr an, das Dorf vor Sonnenuntergang zu erreichen. Es herrschte bereits Zwielicht, als sie unter den Bäumen am Rande des Dorfes hielten. Während Dhana ihre Freundin trockenrieb, lobte sie sie. Hör auf damit, sagte Wolke, nachdem sie trocken und sauber war. Geh und tu, was du tun mußt. Dhana öffnete die Bettrolle und legte sich unter die Bäume. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, warnte sie ihre Freundin. Wolke knabberte an dem Gras, das in der Nähe wuchs, und gab keine Antwort. Dhanas Magie strömte hinaus und erreichte das Schloß, noch ehe sie zwei tiefe Atemzüge gemacht hatte. Innerhalb der Mauern fand sie Pferde, Ziegen, Hühner, Gänse und Schweine, auf ihre Weise lauter nette Tiere (obwohl sie Hühner nicht so mochte), aber schlecht geeignet für eine Durchsuchung menschlicher Behausung. Sie war schon nahe daran, die Mäuse um Hilfe zu bitten. Da entdeckte sie im Küchengarten zwei Katzen. Sie ging auf die ältere zu, einen dicken, würdevollen Kater, der emsig das tintenschwarze Fell einer Katze wusch, die noch nicht lange dem Babyalter entwachsen war. Da sich der Teenager gegen die energische Behandlung durch den Kater wehrte, hielt er sie mit einer kräftigen Pfote fest, während er ihr weißes Lätzchen säuberte. Als Dhana ihn unterbrach, hörte er mit dem 164
Waschen auf, hielt die jüngere Katze aber weiterhin fest, während Dhana ihm ihren Wunsch erklärte. Der Kater – von den Menschen der Blaue genannt – hörte mit Interesse zu. Nachdem sie geendet hatte, untersuchte er seine Pfoten. Ich bin nicht sicher, ob ich die Katze bin, die du brauchst, sagte er zu ihr. Es gibt Ecken und Ritzen, in die ein Geschöpf meines edlen Umfangs nicht hineinkommt. Er sah den Teenager an. Nimm das Bißchen da. Selbst für ein Kätzchen ist sie ungewöhnlich neugierig, und sie kommt überall hinein. Sag ja, flehte Bißchen. Bitte!
Dhana mußte lächeln. Danke, Blauer.
Mach dich nicht schmutzig, warnte der Blaue das Bißchen, oder ich
wasche dich wieder. Ich kann mich selber waschen, antwortete die Katze. Nicht so gut wie ich, antwortete der Kater. Und jetzt sitz still, während Dhana das tut, was sie tun muß, um mit dir zu laufen. Dhana wandte ihre Aufmerksamkeit dem Bißchen zu, hörte das Blinzeln ihrer Augen und den sanften Schlag ihres Herzens. Bist du schon da? fragte Bißchen und störte ihre Konzentration. Nein, sagte Dhana. Beinahe. Halt still und sei ruhig. Sie lauschte. Das war das Seufzen von Bißchens Lungen und ihr Herzschlag. Ihr Magen knurrte leise, während er Milch verdaute, die ein Koch unbeaufsichtigt gelassen hatte. Bißchen gähnte. Nun? fragte sie. Bist du fertig? Jetzt weißt du, womit ich geschlagen bin, murmelte der Blaue. Dhana konzentrierte sich aufs äußerste, und Bißchen quietschte. Jetzt kratzten sie beide einen Flohbiß und sahen aus Bißchens Augen auf den Blauen. Er war der schönste Kater, den sie kannte, sein schimmerndes Fell war eine Mischung aus reinem Weiß und Pechschwarz. Sie liebte den Blauen. Sie würde ihm überallhin folgen, besonders, wenn sie seinen Schwanz attackieren konnte. Sie sprang. Mit der Gelassenheit langer Übung riß er seinen Schwanz los und versetzte ihr einen ordentlichen Puff mit seiner Vorderpfote. Komm jetzt, sagte Dhana zu der kleinen Katze und zeigte Bißchen Bilder von Tristan, Yolane, Belden und den anderen Magiern. 165
Nach denen suche ich. Die kann ich finden, aber die Frau wird kreischen und Sachen nach mir werfen, wenn sie mich sieht, sagte Bißchen. Dann sieh zu, daß sie dich nicht sieht, befahl der Blaue. Dhana, paß gut auf sie auf. Mach ich und vielen Dank, rief Dhana, als sie durch die Küche rannten. Warum heißt er der Blaue? fragte Dhana, als sie eine lange Treppe hinaufliefen. Meine Mama sagt, als er so alt war wie ich, ist er in eine Schüssel mit Farbe gefallen, und er kam ganz blau wieder heraus. Ich kann nicht glauben, daß er so tolpatschig war, aber meine Mama sagt es, und sie weiß alles. Hier sind wir. Der Mann mit der gelben Magie läßt sich hier von den anderen besuchen. »Ich kann die Hand nicht festmachen, wenn du nicht stillhältst«, sagte gerade ein Mann, als Bißchen ins Zimmer huschte. Sie verschwand rasch unter einem Tisch und spähte hervor. Der Raum war groß, mit Bücherregalen an den Wänden und Seidenteppichen. Das Bißchen kümmerte sich weder um den Wert noch die Qualität des Teppichs, der sich bis unter den Tisch erstreckte, sondern knetete ihn genüßlich und schärfte ihre Krallen. Dhana betrachtete die Menschen. Der Magier Redfern saß mit Gissa von Rachne auf einem Sofa. Er arbeitete an einer Metallhand, die am Stumpf von Gissas Handgelenk befestigt war. Gardiner lehnte am Rückenteil des Sofas und sah interessiert zu. »Wenn Gardiner und Meister Staghorn ihre fünf Sinne beisammen gehabt hätten, wäre das hier nicht nötig!« fauchte die Frau. Schmerz hatte ihr Gesicht um zehn Jahre altern lassen. »Andersherum wird auch ein Schuh draus, Gissa.« Diese glatte, ölige Stimme konnte nur die von Tristan sein, dachte Dhana, und sie hatte recht. Er saß auf einem Stuhl neben dem Tisch, unter dem sie Zuflucht gesucht hatte. »Du bist kein Grünschnabel, frisch vom Land. Beim Umrühren Blutregen zu verspritzen…« »Tristan!« schrie da eine andere weibliche Stimme. Die Tür sprang auf, und mehrere Personen traten ein. Das Bißchen lugte vorsichtig unter dem Tisch hervor, und Dhana sah Yolane, Belden und Alamid. 166
»Tristan, Alamid hat uns in seinem Kristall die Soldaten am südlichen Paß gezeigt. Da draußen stehen der Königskämpe und der Kommandant des Königlichen Heeres!« »Alamid sollte dich nicht mit Nichtigkeiten behelligen.« In Tristans Stimme lag mehr als nur eine Spur von Haß und Verachtung. »Nichtigkeiten!?« schrie Yolane. »Die Löwin und Raoul von Goldensee sind Nichtigkeiten?« Tristan seufzte. »Meine liebe Yolane, beruhige dich.« Er ging zu einem Tisch, auf dem Weinflaschen standen, füllte die Kelchgläser, brachte ihr eines davon und behielt eines selbst. »Würden mir Lady Alanna und der Kommandant des Heeres mit Waffen gegenübertreten, die sie beherrschen, würde ich möglicherweise Besorgnis empfinden. Ein solcher Idiot bin ich nicht. Aber glaube mir, wir sind vorbereitet. In drei Tagen werden sie zu nichts weiter als zu einem geringfügigen Ärgernis zusammengeschrumpft sein.« Belden ging zum Tisch mit dem Wein, trank den Inhalt eines der Gläser, die Tristan gefüllt hatte, und schenkte sich ein zweites Mal nach. »Wieso?« »Meine Kollegen und ich haben eine Kleinigkeit vorbereitet, um die Repräsentanten des Königs willkommen zu heißen. Sie nennt sich ›Blutregen‹. Man könnte sagen, Gissa hat das Gebräu bereits für uns getestet, und zwar noch ehe die Flüssigkeit ihre volle Stärke erreicht hatte.« »Sie hat sich die eigene Hand abgehackt«, sagte Belden. »Entweder meine Hand oder mein Leben«, fauchte die Magierin. »Wenn das Gift in mein Blut gekommen wäre, wäre ich von innen heraus zerfressen worden.« »Aber wie wollt ihr sie vergiften?« fragte Yolane. Sie setzte sich in den größten Sessel, der im Zimmer stand. »In ihrem Lager haben sie mit Sicherheit magischen Schutz.« Tristan setzte sich auf die Armlehne ihres Sessels und nippte an seinem Wein. »Ich habe nicht vor, mich in ihre Nähe zu begeben. Übermorgen bei Sonnenuntergang werde ich den Blutregen zum südlichen Paß bringen, wo der Fluß durch die Barriere fließt, und ihn hineinkippen.« Gardiner schauderte. »Bis zum Sonnenaufgang des 167
nächsten Tages wird es in dem Lager keine lebende Seele mehr geben.« »Noch sonstwo im Umkreis von zehn Meilen«, fügte Gardiner hinzu. Yolane sah ihn an. »Was soll das bedeuten?« »Blutregen tötet alles, was Flüssigkeit aus dem Fluß entnimmt.« Das war Alamids kalte, metallisch klingende Stimme. »Tiere, Pflanzen… es spielt keine Rolle. Die Zone der Zerstörung erstreckt sich etwa fünf Meilen zu beiden Seiten des Flusses und zehn Meilen flußabwärts.« Der Katze – Dhana – standen sämtliche Haare auf dem Rücken zu Berge. »Für wie lange?« Belden trank sein zweites Glas Wein aus und schenkte sich ein drittes ein. »Die Wirkung läßt etwa nach sieben Jahren nach«, sagte Gissa sanft. »Es ist nötig«, sagte Tristan fest. »Unsere Abreise nach der Hauptstadt ist für heute in einer Woche festgesetzt. Wir können nicht zulassen, daß etwas dazwischenkommt.« »Was ist, wenn sie gewarnt werden?« fragte Yolane. »Sie könnten sich zurückziehen.« »Dann werden sie auf die beiden Söldnerkompanien stoßen, die wir ständig an der Grenze von Galla stationiert halten. Ich habe mir die Freiheit genommen, sie in deinem Namen aufzustellen, und sie werden in drei Tagen am südlichen Tor sein. Gardiner, sag Rikash, er soll Hauptmann Schwarzdorn warnen, daß er seine eigenen Vorräte an Nahrungsmitteln und Wasser mitbringt.« »Und Numair Salmalin?« Weder Beldens Hand noch seine Stimme waren von seiner Trinkerei in Mitleidenschaft gezogen worden, er schenkte sich eben sein Glas zum wiederholtenmal voll. »Er ist doch noch immer am westlichen Paß, oder?« »Ich habe ein gewisses Netz, das werde ich dazu verwenden, ihn festzuhalten. Der Kaiser will ihn lebend haben. Und man ist immer gut beraten, Seiner Kaiserlichen Hoheit zu geben, wonach sie verlangt.« 168
»Das gefällt mir nicht.« Yolanes Gesicht war weiß unter ihrer Schminke. »Ich habe einen Eid geschworen, Dunlath zu beschützen, als mein Vater mir seinen Siegelring gab. Dieser Blutregen…« »Meine liebe, du bist allzu gewissenhaft.« Beldens Tonfall war spöttisch. »Es heißt ja nicht, daß alles in Dunlath zugrunde gehen wird, nicht wahr? Und was kümmert es dich schon, wenn du erst einmal auf Jonathans Thron sitzt? Dunlath ist sehr weit weg von Corus. Außerdem, du hast Meister Staghorn gehört. In weniger als einer Dekade wird alles wieder nachwachsen.« Tristan nahm eine von Yolanes Händen und küßte sie. »Yolane, überlaß politische Entscheidungen deinen Generälen. Als Königin mußt du dich daran gewöhnen, das Leben einzelner zum Wohle aller zu opfern. Betrachte dies als einen Geniestreich, was es auch ist. Mit einem Schlag beraubst du den König seines Kämpen und des Kommandanten seines Heeres. Dies sind Taktiken, die man anwenden muß. Du mußt nicht nur deine Feinde, sondern auch deine Verbündeten davon überzeugen, daß du sofort auf Widerstand reagierst.« »Glaube mir«, sagte Gissa trocken mit ihrem schweren Akzent, »wenn sie erst einmal sehen, was von denen übriggeblieben ist, die sich hier gegen dich stellten, werden sie sich schier umbringen, um die ersten zu sein, die dir Treue schwören.« Yolane sah stirnrunzelnd all die Magier an. »Warum muß zwei volle Tage gewartet werden? Warum könnt ihr sie nicht jetzt töten?« »Blutregen braucht Zeit«, erklärte Redfern ihr. »Einmal zusamrnengemischt, müssen die Zutaten drei volle Tage und drei volle Nächte kochen.« Tristan lächelte Yolane in einer Weise an, gegen die Belden nach Dhanas Meinung ziemlich viel hätte einwenden müssen. »Siehst du meine Majestät? Alles ist unter Kontrolle. Du hast deine Generäle gut ausgewählt.« Yolane sah aus, als wolle sie widersprechen, aber Tristan legte seinen Finger an ihre Lippen. Sie seufzte und blickte sich im Zimmer um. Ihre Augen blieben an Dhana haften, und ihr Mund wurde schmal. Sie nahm ihr Weinglas und schleuderte es nach dem Bißchen, das zur Tür hinaussauste, völlig vom Wein durchnäßt. »Wenn ich diese Katze noch einmal sehe, werde ich sie umbringen!« 169
Dhana hörte sie noch kreischen, als Bißchen die Treppe hinunterraste. Jetzt wird der Blaue mich wieder waschen, sagte die Kleine seufzend zu Dhana. Hast du gehört, was du hören wolltest? Ich habe allzu viel gehört, antwortete Dhana. Ich denke, ich muß gehen. Danke. Eine Menge Menschen werden dir ihr Leben zu verdanken haben. Sie floh zu ihrem Körper, bemühte sich, ihre Menschengestalt zurückzudenken, während sie über die Mauer, den Damm und durch die Stadt eilte. Es gelang ihr nur teilweise. An ihren Händen waren Krallen, sie konnte trotz der Wolken über dem abnehmenden Mond sehr gut sehen, und sie schien einen Schwanz zu haben. Aber wenigstens hatte sie beinahe ihre normale Größe, als sie in ihre eigene Haut schlüpfte. Sie rollte ihr Bett zusammen, stieß es unter ein paar Büsche und überlegte fieberhaft. Könnte sie sich vielleicht Flügel schaffen und zu Numair fliegen? Du wirst müde werden und runterfallen, erklärte ihr Wolke. Benütz deinen gesunden Menschenverstand. Wenn du es eilig hast, zu Numair zu kommen, dann mach das, was du am besten kannst. Aber reite nicht mich, ich bin nicht scharf auf ein Rennen zum westlichen Paß, nicht nach dem heutigen Tag. Klau dir eines der großen Pferde aus dem Dorf. Ich folge dir, so schnell ich kann. Dhana knabberte an einem Fingernagel und zuckte zusammen als sich die Krallen in ihre Lippen bohrten. Ich hasse es zu stehlen, gestand sie. Aber ich glaube, ich muß es tun. Sie schickte einen dringenden Ruf aus. Ein großes, knochiges Pferd, das in der Nähe graste, kam angerannt. Du wolltest das schnellste Pferd in diesem Tal, sagte es zu ihr. Dieses Pferd bin ich. Dhana hörte die anderen Dorfpferde zustimmen: Rebell war das beste Rennpferd. Für meine Begriffe siehst du nach nichts aus, sagte Wolke und musterte den Hengst. Rebell schnaufte. Genau das denken alle. Deshalb gewinnt mein Herr Geld, wenn er mich gegen fremde ins Rennen schickt, und deshalb werde ich jeden Tag mit Hafer gefüttert. 170
Deine Haferration beeindruckt mich überhaupt nicht, sagte Wolke. Sie sah, daß Dhana im Begriff war aufzusteigen, und sagte: Vergiß deinen Packsack nicht und deine Armbrust. Dhana schlang sich den Packsack über die eine Schulter und die Armbrust über die andere, nachdem sie einen Pfeil am Bogen befestigt hatte. Zufrieden? fragte sie das Pony. Und laß dir von diesem Wichtigtuer nichts gefallen. Ich komme bald nach. Dhana hatte im Dienste des Königs und bei den Reitern schon schnelle Pferde geritten, aber keines konnte sich mit Rebell messen. Der Ritt durch die Stadt, an den Kreuzungen vorbei und auf der Straße zum westlichen Paß machte sie atemlos. Nachdem das letzte Bauerngehöft hinter ihr lag, rief Dhana nach Tkaa, nach Taits Hunden und dem Wolfsrudel. Als sie ihre Antwort vernahm, erzählte sie ihnen, was sie erfahren hatte. Sie waren einverstanden, sie an der Barriere zu treffen. Keine Streitereien, befahl sie den Hunden und dem Rudel. Wir haben keine Zeit, und der Einsatz ist zu hoch. Sie spürte, daß einige Wölfe und einige Hunde nicht auf sie hörten. Ich meine es ernst! schrie sie. Wenn es sein muß, werde ich euch zwingen, mir zu gehorchen! Wir werden nicht kämpfen, hörte sie Brokefang sagen, und in seinen Gedanken lag die Härte von Eisen. Wir werden nicht kämpfen, sagte Schönfuß widerstrebend. Jeder Hund, der kämpfen will, kann mit mir kämpfen. Jetzt sofort! Dhana entspannte sich. Die Hunde und die Wölfe sollten sich auf den wahren Feind konzentrieren: auf jene, die in zwei Tagen Blutregen in den Fluß Dunlath kippen wollten. Auf dem Paß hielt Dhana Rebell unter den Bäumen an und stieg ab. Rasch rieb sie ihn trocken. »Du brauchst Ruhe. Dort drüben findest du Gras. Und kümmere dich nicht um all das seltsame Volk, das hierherkommen wird. Niemand tut dir etwas.« Er berührte ihr Hemd leicht mit dem Maul und ging dann fort, um zu grasen, als Dhana zur Barriere wanderte. Schatten, die im Licht des 171
Dreiviertelmondes aussahen wie Felsbrocken an den Abhängen, erhoben sich und kamen zu ihr herunter. Das Rudel vom Langen See. Dhana kniete nieder, damit ihre Augen in gleicher Höhe waren wie die der Wölfe. Erwachsene und Welpen umringten sie gleichermaßen in der Begrüßungszeremonie, leckten ihr das Gesicht und wedelten mit den Schwänzen. Brokefang ließ sich von dem Mädchen heftig umarmen und liebkoste sie als Antwort mit der Schnauze. Du willst sie aufhalten? fragte der Leitwolf. Wir werden sie aufhalten, sagte sie zu ihm. Allein, wenn es sein muß, aber ich denke nicht, daß es dazu kommen wird. Wir haben Freunde. Zweibeiner? Gott-Wesen? Das war Langwind. Früher haben sie sich nie um uns gekümmert. Früher waren sie keine Freunde, antwortete Dhana ernst. Jetzt sind sie Freunde, starke Freunde. Sie können an Orte gehen und Dinge tun, die wir nicht können, Jagd-Bruder. Die Hunde sind beinahe wie Wölfe, meinte Leichtfuß. Wenn wir singen, hören sie uns zu. Sie haben ihre eigenen Gesänge. Zweibeiner und Wolf-Töter? Langwind nieste. Ich bin zu alt für derartige Veränderungen. Brokefang wandte sich zähnefletschend an seinen Onkel. Du bist nicht zu alt für Veränderungen, bis ich sage, daß du es bist, knurrte er und näherte sich Langwind. Du wirst dich jetzt ändern, denn das Rudel hat diese Veränderung nötig. Wenn alles vorbei ist, werden wir zu den alten Gebräuchen zurückkehren. Wenn wir können. Diese ungewöhnlich leise und nachdenkliche Bemerkung kam von Frostpelz. Ich mag Veränderungen! Die hohe, dünne Stimme in ihren Gedanken gehörte Zwerg. Ich auch, fügte Dummchen hinzu. Wir sehen neue Dinge und tun neue Dinge. Das macht Spaß. »Ich kann sie hören«, flüsterte das Mädchen. »Ich kann die Welpen hören. Das kommt vielleicht von Bißchen. Das war eine junge Katze in der Burg«, erklärte sie. »Ich war in ihr, als ich vom Blutregen erfuhr.« Würde sie uns gefallen? fragte Berry neugierig. Was ist eine Katze? Wie schaut sie aus? 172
Der Gedanke an die Burg erinnerte Dhana daran, daß sie einen Brief zu schreiben hatte. Sie überließ die Erklärung, was eine Katze ist, Leichtfuß und Rötling, die Katzen getroffen hatten, als sie unterwegs waren, um Dhana zu Hilfe zu holen. Sie nahm rasch ihre Packtasche und kroch unter den schräg stehenden Stein, unter dem sie schon einmal einen Brief geschrieben hatte. Mit Hilfe ihres Glühsteins und der Katzenaugen, die sich auch während ihres Ritts nicht verändert hatten, schrieb sie alles nieder, was sie erfahren hatte. Nachdem sie die Tatsachen dargelegt hatte, fügte sie noch hinzu: »Wir müssen jetzt schnell etwas unternehmen. Ich werde nicht zulassen, daß sie Blutregen in den Fluß kippen. Ich hoffe nur, Du weißt einen klugen Weg, um gegen sie zu kämpfen. Wenn nicht, werde ich mir wohl einen dummen Weg ausdenken müssen. Ich habe mich geirrt, als ich damals die Sturmflügel Monster nannte. Das Wesen, das diesen Blutregen zusammenbrauen und verwenden kann, das ist das wahre Monster.« Sanft blies sie auf die nassen Schriftzüge, um sie zu trocknen, dann legte sie ihr Schreibzeug weg.
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9 Der Krieg ist erklärt In der Ferne spürte sie die Ankunft von Tkaa, Hüpfer, Kätzchen und Iakoju, was bedeutete, daß auch Tait, Maura und die Hunde angekommen waren. Während der größte Teil des Wolfsrudels zwischen den Felsen sitzen blieb, rannten die Welpen den Neuankömmlingen entgegen, gefolgt von Rötling und Leichtfuß. Um die Hundemeute machten sie einen großen Bogen. Die Hunde wiederum hielten sich dicht bei Tait. Tkaa brachte den Brief unverzüglich durch die Barriere, und Iakoju ging mit ihm. Hüpfer murmelte eine Begrüßung und krabbelte in Dhanas Packsack, um seinen nächtlichen Schlaf zu beenden. »Stimmt es, was der Basilisk sagt?« fragte Tait und setzte sich neben Dhana. »Sie haben ein teuflisches Gebräu zusammengerührt?« »Gissa hatte einen Tropfen davon auf ihrer Hand, deshalb mußte sie sie abhacken«, antwortete Dhana grimmig und kraulte Kätzchen am Bauch. Der Drachen, der ihre Erregung spürte, stieß eine leise Folge von Glucksern und Zirpen aus, was Dhana bisher immer aufgeheitert hatte. Das Mädchen lächelte ihre kleine Schutzbefohlene an. »Ist schon in Ordnung, Kleines«, flüsterte sie. Tait sah zu, wie sich Maura im Schutz der Felsen gähnend schlafen legte. »Wieso kannst du auf die Entfernung mit Tkaa und nicht mit Iakoju sprechen? Sie hat uns erzählt, daß sie dich nicht hören konnte, und das ist ziemlich seltsam.« Dhana schüttelte den Kopf. »Nein, ist es nicht. Es ist ganz einfach. Ich kann nicht mit Unsterblichen sprechen, die etwas von einem Zweibeiner in sich haben. Nur mit solchen, die vollkommen wie Tiere sind.« Die Hunde kamen und legten sich zu Tait, selbst als sich die Welpen, Rötling und Leichtfuß um Maura scharten. Ein paar Augenblicke lang starrten beide Gruppen einander an. Dann gähnte Schönfuß, und Dummchen gähnte ebenfalls. Dhana spürte, wie sich 174
alle entspannten, und stieß innerlich einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ich würde dich gerne um einen Gefallen bitten«, sagte Tait leise. »Wenn etwas im Schloß passiert, laß mich meinen Bruder warnen, damit er die Diener herausbringen kann. Er wird dafür sorgen, daß keiner der Adligen oder deren Gäste davon Wind bekommt.« »Du glaubst nicht, daß jemand Tristan oder Yolane warnen könnte?« fragte sie und griff ratsuchend nach der silbernen Klaue an ihrem Hals. Der Jäger schüttelte den Kopf. »Nein. Wir haben Mylady akzeptiert, in ihren Adern fließt Dunlath-Blut, und Mithros weiß, man kann sich seine Lords nicht aussuchen. Aber niemand wird bei Verrat hinter ihr stehen. Und die Ausländer, die sie uns hergebracht hat, behandeln uns wie Sklaven.« Dhana hörte von der Barriere her ein leises Pfeifen. Es war Tkaa, halb drinnen und halb draußen. Sie stand auf und rannte zu ihm, Tait folgte dicht hinter ihr. »Ihr könnt aufatmen«, informierte Tkaa sie leise. »Die Sturmflügel und Alkerts sind im Lager der Soldaten und quälen die Schlafenden. Die Löwin sagt, sie verbringen genausoviel Zeit damit, gegeneinander zu kämpfen wie gegen die Sterblichen.« »Wie kannst du wissen, was in einer Entfernung von mehr als einem Tagesritt geschieht?« fragte Tait. »Ein Sprech-Zauber?« fragte Dhana. Tkaa nickte. Dem Jäger erklärte sie: »Er hilft Magiern, mit anderen Magiern zu sprechen, gleichgültig, wie weit entfernt sie sind. Sie wissen vom Blutregen und den Söldnertruppen?« »Ja«, antwortete der Basilisk »Damit alle ohne Unterbrechung miteinander reden können, möchte Meister Numair, daß du die Barriere überschreitest. Vielleicht kann dir das Murmeltier dienen, das dir vorher schon einmal geholfen hat?« Dhana betrachtete den östlichen Himmel. »Es wird nicht vor Anbruch der Morgendämmerung aufwachen.« »Bis dahin werden die Plünderer ihren Angriff abgebrochen haben. Ich komme wieder, wenn alles sicher ist.« Tkaa ging zurück zu Numair. 175
Sie schleppten sich zu den Felsen zurück Dhana gähnte, bis ihr der Kiefer weh tat. »Schlaf«, befahl Tait. »Ich weck’ dich auf, wenn Tkaa sagt, daß sie mit dir reden wollen.« »Wir müssen einen Plan machen«, murmelte Dhana. »Und wir haben nicht viel Zeit.« »Schlafe«, wiederholte Tait. »Niemand macht einen Plan ohne dich.« Wolke war angekommen, als Tkaa Dhana bei Sonnenaufgang holte. Das Mädchen sah zu, wie ihr Pony zu Rebell trottete, dann lehnte sie sich zurück und lauschte auf Dickbäckchen. Das Murmeltier freute sich, von ihr zu hören, und brannte darauf, Dhana wieder zu helfen, mit ihren Freunden in Verbindung treten zu können. Während sie sich von Dickbäckchens Bau zu Numairs Lager auf den Weg machten, verspürte Dhana eine Aura knisternder Spannung. Numair war die Ursache. Sie hatte noch nie zuvor einen derartigen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen wie jetzt. Er sprühte vor Zorn. Iakoju betrachtete jede seiner Regungen mit aufmerksamen grünen Augen. Tkaa, wie immer unergründlich, mampfte still einen kleinen Haufen Steine in sich hinein. Als Numair Dhana sah, sagte er ein Wort. Die Luft in seiner Nähe wurde zu einem glitzernden Fleck von der Größe eines bodenlangen Spiegels, der sich zu öffnen schien und zwei Gestalten einrahmte, die Dhana wohlbekannt waren. Die kleinere war eine rothaarige Kriegerin in einem Kettenpanzer, mit Reithosen und Stiefeln – Alanna, die Löwin, der Königskämpe. Sie reinigte soeben ein Schwert. Die andere war ein Riese, nur wenige Zentimeter kleiner als Numair, aber viel breiter. Raoul von Goldensee, Kommandant des Königlichen Heeres, trug eine Rüstung über einer durchgeschwitzten, gesteppten Tunika. Er trank gerade aus einem Becher und sah das Bild von Numair und seiner Schar vor seiner Gefährtin. »Alanna«, sagte er und deutete darauf. Die Frau blickte hoch, ihre berühmten violetten Augen hatten einen grimmigen Ausdruck. »Ich hoffe, du hast einen Plan – ich habe keinen. Wir könnten uns zurückziehen, aber das ließe Dunlath 176
ungeschoren und dich in einer schlimmen Lage. Numair, du hast dem König von Dhanas Neuigkeiten berichtet?« »Ja, aber du kennst das Problem genausogut wie ich. Es wird Tage dauern, ehe uns weitere Hilfe erreicht.« »Und vielleicht kippt Tristan doch Blutregen in Fluß«, meinte Iakoju. Sir Raoul schnitt eine Grimasse. »Das paßt genau zu dem, was wir über den Mann wissen.« Alannas Augen verengten sich zu Schlitzen. »Dhana, bist das wirklich du in diesem Tier?« Dickbäckchen nickte, aber zu Dhana sagte es: Ich bin ein Murmeltier, nicht irgendein Tier. Zweibeiner, sagte Dhana und zuckte in Gedanken mit den Achseln. Sie nahm sich vor, ihrer Freundin Alanna zu sagen, daß Murmeltiere empfindliche, stolze Tiere sind. Numair seufzte. »Ich fürchte, wir müssen den Plan ausführen, über den wir früher schon gesprochen haben.« Die anderen Menschen nickten. »Er gefällt mir nicht«, bemerkte Tkaa. »Gibt es keine andere Möglichkeit?« Alanna schüttelte den Kopf. Dhana schnatterte verärgert. Würde ihr vielleicht jemand etwas sagen? Ein unglücklicher Ausdruck in Numairs Augen ließ sie verstummen. »Dhana, es gibt noch einen anderen Weg, die Barriere zu durchbrechen.« »Er ist mit großem Risiko verbunden.« Alanna legte ihr Schwert beiseite. »Und es klappt nur, wenn deine Freunde die Magier aus dem Schloß herauslocken können.« Dhana sah Numair an und überlegte: Und was soll ich nun tun? Der Magier war tief in Gedanken versunken, drückte an seiner Nase herum und starrte in die Feme. Sie wollte gerade Dickbäckchen bitten, seine Aufmerksamkeit zu erregen, als ihr der Gedanke kam, ob Tkaa sie vielleicht hören konnte. Er hörte sterbliche Tiere. Jedenfalls war es einen Versuch wert. Sie schickte ihre Magie aus und rief: Tkaa! 177
Der Basilisk sah sie aufmerksam an. »Du kannst durch diese Kreatur zu mir sprechen?« Die »Kreatur« bellte. Dhana sagte: Sie ist ein Murmeltier. Ihr Name ist Dickbäckchen. Tkaa verneigte sich. »Verzeih mir, Dickbäckchen. Ich sprach aus Unwissenheit, nicht aus Mißachtung.« Numair, Alanna und Raoul schauten von dem Murmeltier zu Tkaa. »Dhana kann mit dir sprechen, selbst wenn sie es nicht aus ihrem eigenen Körper heraus tut?« fragte Numair. Tkaa hörte Dhana zu und sagte: »Sie hat eben jetzt erfahren, daß sie diese Fähigkeit besitzt. Sie läßt dir ausrichten, wenn du ihr nicht endlich sagst, was sie tun soll, nachdem die Magier das Schloß verlassen haben, wird sie Dickbäckchen bitten, dich zu beißen.« Raoul schnaubte, die Löwin verbarg ein Lächeln. Numair seufzte. »Geduld ist eine Tugend, die du pflegen solltest. Dhana, nicht du, Dickbäckchen, ist das klar?« Das Murmeltier quiekte als Antwort. »Nun gut«, sagte Numair. »Dhana, erinnerst du dich, was ich dir über Ebenbild-Magie erzählt habe?« Ja, sagte Dhana zu dem Basilisken, der für sie übersetzte. Wenn man dem Ebenbild einer Person etwas antut, ist es dasselbe, als würde man es der Person antun. »Das bezieht sich nicht nur auf Personen«, sagte Numair. »Da es für Tristan und die anderen unmöglich ist, im Tal herumzulaufen und die Barriere zu errichten, müssen sie ein Modell des Tales eingeschlossen haben. Du mußt dieses Modell im Schloß finden. Wenn du den magischen Kreis durchbrochen hast, der es umgibt, wird sich die Barriere auflösen, und wir können das Tal betreten.« »Opale«, warf der Kämpe ein. Numair knetete seine Hände, bis die Knöchel knackten. »Alanna und ich haben die Barriere bearbeitet. Sie saugt unsere Gabe noch immer auf, anstatt sie zu reflektieren. Das beweist, daß Kraftsteine verwendet wurden, um das Werk mit Magie zu speisen. Diese Steine werden in dem Modell des Dunlath-Tales eingebettet sein. Du mußt sie herausbrechen, um den Kreis zu zerstören.« 178
Dhana sagte zu Tkaa: Ich habe verstanden. Und was ist mit dem Ablenkungsmanöver? Tkaa wiederholte diese Frage. Der Kommandant des Königlichen Heeres beugte sich nach vorn. »Wenn Schwierigkeiten in den anderen Forts entstehen, wird Tristan unserer Ansicht nach die übrigen Magier losschicken, um sich darum zu kümmern, besonders, wenn ihm diese Unruhen in irgendeiner Weise seltsam vorkommen. Falls es sich um ernsthafte Probleme handelt, geht er möglicherweise sogar selbst. Numair sagt, Tristan hält Untergebene für völlig unfähig, ohne ihn mit echten Schwierigkeiten fertig zu werden. Wenn also beide Forts angegriffen werden, besteht eine gute Chance, daß das Schloß unbewacht bleibt.« »Dadurch sind die Sturmflügel, vielleicht sogar auch die Alkerts beschäftigt«, sagte Alanna. »Sie stellen die schnellsten Transportmittel für die Magier dar. Iakoju sagt, sie glaubt, sie könne ihre Leute zusammentrommeln…« Iakoju nickte. »Wenn ich so sage, meine Leute kämpfen gegen Herren. Wir machen eine Menge Wirbel im Norden.« »Ich kann im Süden für Unruhe sorgen«, fügte Tkaa hinzu. »Aber ich brauche Hilfe.« Er kippte seinen Kopf zur Seite. »Ich gebe eine zu große Zielscheibe ab, die nicht einmal Menschen verfehlen können.« Dickbäckchen kratzte einen Flohbiß, und Dhana sagte: Tkaa, willst du mit Iakoju und mir zurückgehen, um mit all den anderen zu reden? Wir wollen sehen, was wir erreichen können. Und sag ihnen, daß Tait glaubt, er kann alle Dienstboten aus dem Schloß herausbringen. »Noch etwas«, sagte Numair, nachdem Tkaa mit der Übersetzung fertig war. »Die Zeit läuft. Um morgen bei Sonnenuntergang an der Südgrenze zu sein, muß Tristan das Schloß spätestens am Mittag verlassen, und sehr wahrscheinlich wird er früher abreisen. Was immer ihr macht, es muß morgen früh passieren.« Warte einen Augenblick! schrie Dhana erschrocken. Was ist mit den Söldnertruppen, die kommen sollen, mit diesem Hauptmann Schwarzdom und seinen Männern? Nachdem Tkaa übersetzt hatte, grinste Raoul breit. »Wir haben zwei Reitergruppen hier, sechzehn der ›Ungewöhnlichen‹ und deren Ponys, plus eine Kompanie des Königlichen Heeres, hundert Krieger. 179
Ja, Schwarzdom hat zwar hundert Mann mehr als ich, aber wenn wir in Dunlath sind, bevor er kommt, haben wir das Spiel gewonnen, nicht er. Schwarzdorn haßt es außerdem, gegen Magier zu kämpfen. Wenn er bloß davon hört, daß Alanna und Numair auf ihn warten, wird er davonrennen wie ein Hase.« »Wenn das nun alle Fragen sind, würdest du dich bitte entfernen?« Numairs Stimme triefte vor gespielter Liebenswürdigkeit und Geduld. »Es wird ein langer Tag werden.« Tristan und seine Bande sind nicht die einzigen, die sich beeilen müssen, dachte Dhana und nahm wieder ihre menschliche Gestalt an. Ich muß es auch. Die Tiere in den Forts müssen gewarnt werden, damit sie wegrennen können, wenn das Dach einstürzt. Ich muß ihr Entkommen irgendwie sicherstellen. Und ich kann die örtlichen Tiere bitten, ein bißchen Zerstörungsarbeit zu leisten, wie damals die Wölfe im Holzfällerlager. Ich hasse es, sie da hineinzuziehen, aber das ist zu wichtig, um sie nicht mit einzubeziehen. Als Dhana, Tkaa und Iakoju den Angriffsplan ihren Freunden erklärten, hatten diese eine Menge Ideen. Die Wölfe beschlossen, das nördliche Fort zu besuchen, um die Menschenfresser zu unterstützen und die verhaßten Gruben anzugreifen. Maura bot an, Feuer an das südliche Fort zu legen, wenn sie nur nahe genug herankommen könnte. Sie versprach, das Tor unbeschadet zu lassen, damit die Pferde fliehen könnten. Tait wollte mit ihr gehen, und die Hunde folgten ihm. Rebell, der darauf brannte zu helfen, war einverstanden, den Mann und das Mädchen nach Süden zu tragen. Kätzchen pfiff eine Frage. Dhana lächelte. »Du bleibst bei mir, Kätzchen. Ich brauche dich für die versperrten Türen.« Der Drache kicherte und schärfte seine Krallen an einem Stein. Hüpfer sagte, er würde mit Maura und Tait gehen. Er gab Dhana den Rat, die Eichhörnchen des Tales anzuheuern. Sie konnten die Pferde des Forts befreien. Sie konnten auch Seile durchbeißen, Bogensehnen und ähnliches, wenn erst einmal die Sonne aufgegangen war. »Du glaubst, die Eichhörnchen möchten so sehr darin verwickelt werden?« fragte das Mädchen. 180
Ja, antwortete Hüpfer. Die Wände in den Forts sind doch aus Baum-Stämmen gemacht, oder? Ich wette, eine Menge meiner Verwandten haben ihr Heim und ihr Leben verloren, als diese Gebäude errichtet wurden. Und die Südländer haben Familien am Fluß, wo der Blutregen reingeschüttet werden soll. »Dann werde ich mit ihnen reden. Was ist mit den Bediensteten des Schlosses?« fragte Dhana Tait. »Ich gebe dir eine Nachricht für meinen Bruder Parlan mit«, antwortete der Jäger. »Er ist der Betreiber des Gasthofs. Er wird dafür sorgen, daß alle sich entfernen, und zwar leise.« »Wenn wir im Morgengrauen kämpfen, muß ich jetzt gehen«, bemerkte Iakoju. »Ich muß mit Menschenfressern reden, ihnen Hoffnung auf Freiheit geben. Reden dauert vielleicht ganze Nacht.« »Laß uns ein bißchen mehr Zeit«, riet Tait. »Die Eichhörnchen brauchen ‘n wenig Zeit im Sonnenschein. Wenn der Magier fest gegen die Barriere schlägt, werden wir’s alle hören. Sagen wir um die neunte Stunde? Dann kann Maura Feuer legen, und die Menschenfresser können sich erheben.« Iakoju runzelte die Stirn. »Großer Lärm? Wie drinnen in einer Glocke?« »Es ist nur sehr schwer zu überhören«, bemerkte Tkaa trocken. »Menschenfresser hören. Menschenfresser hören gut; vier, fünf Tage zuvor. Das ist ein prima Signal.« Der Basilisk ging, um Numair von dem Plan zu berichten. Während er fort war, schrieb Tait an seinen Bruder. Dhana rief eine Krähe und fragte, ob sie die Nachricht zum Gasthaus bringen würde. Die Krähe war geschmeichelt, nahm den Brief und flog davon. Tkaa kehrte zurück. »In der neunten Stunde, drei Stunden nach Beginn der Morgendämmerung«, berichtete er. »Weiß jeder, was er zu tun hat?« fragte Maura, die Hände in die Hüften gestemmt. Die Hunde und Wölfe jaulten. Hüpfer quiekte. Die Menschen, Kätzchen, die Menschenfresserin und der Basilisk nickten. Rebell und Wolke stampften auf. »Dann mache ich mich also auf den Weg zu den Eichhörnchen des Nordens«, sagte Dhana. »Und hört alle einmal her!« Sie alle sahen sie 181
an. »Seid vorsichtig«, warnte sie, und ihre Augen brannten ein wenig. »Die Göttin möge uns alle schützen.« »Die Göttin möge uns schützen«, flüsterten Maura und Tait. Schweigend riefen die Tiere ihre Gottheiten an, und vielleicht machten die Unsterblichen das gleiche. Als die anderen gegangen waren, wandte sich Dhana an Wolke. »Wenn ich mich an dir festbinde und dafür sorge, daß Kätzchen gut aufgehoben in ihrer Packtasche sitzt, kannst du uns zu der Stelle bringen, wo wir letzte Nacht waren? Ich möchte möglichst nicht hier herumhängen, während ich mit den Tieren des Nordens und des Südens rede.« Sie betrachtete ihre Freundin aufmerksam. Wolke sah wirklich erfrischt aus. »Wenn du nicht kannst, sag mir’s. Wenn es sein muß, rufe ich noch ein Pferd aus dem Dorf.« Und riskierst, daß die Dieb-Fänger hinter dir her sind? erwiderte das Pony. Doch wohl nicht. Ich schaffe das. Du vergißt, ich habe mir auf dem Weg hierher Zeit gelassen, und ich hatte viel Ruhe und eine Menge Wasser und Gras. Wie willst du reisen? »Ich dachte, ich versuch’s wieder einmal mit diesem Adler.« Um so besser. Du wirst nicht soviel wiegen wie jetzt. Mir ist aufgefallen, als erstes verändern sich deine Knochen. Wenn du Vogelknochen hast, wirst du fast überhaupt nichts wiegen, genau wie sie. Wolke nickte Kätzchen zu, das gerade in Dhanas Packsack kroch. Und nimm bloß diese Armbrust mit! »Wolke, das ist zu schwer für dich, ich und Kätzchen und die Armbrust…« Sei nicht blöd, sagte die Stute. Du brauchst eine Waffe. Das Mädchen seufzte und holte das Seil. »Das wird lustig.« Mit Hilfe einiger Vögel und einer auf dieser Seite der Barriere lebenden Murmeltierkolonie band Dhana sich selbst, ihre Armbrust und Kätzchen auf Wolkes Rücken fest. Sie sorgte dafür, daß sich die Knoten in Reichweite befanden. Nachdem alles gut gesichert war, machte sich das Pony auf den Weg. Kätzchen zirpte beruhigend, und Dhana entspannte sich, lauschte auf Sonnenklaue, den Steinadler, der sie neulich so weit getragen hatte. Sie fand ihn fast eine Meile entfernt. Er war gerade dabei, sein Nest auf der Spitze eines Baumes zu verlassen. Als sie ihm erklärte, was sie brauchte, war er bereit, ihr 182
zu helfen. Rasch schlüpfte sie in seine Gedanken, und schon waren sie unterwegs. Die Kunde von Hüpfers Abenteuern hatte sich in den Tagen seit der Erschaffung der Eiszahnstatue von Baum zu Baum wie ein Lauffeuer verbreitet. Auch der Adler hatte sich mit anderen Vögeln darüber unterhalten, und die Fledermäuse von der Gesangshöhle hatten ihre Informationen hinzugefügt. Erschrocken stellte Dhana fest, daß die Wälder und felsigen Abhänge auf der gesamten Westseite des Langen Sees förmlich summten, nicht nur ihren Namen, sondern auch die Namen ihrer Gefährten – der Menschen, der Unsterblichen und auch der Tiere. Als sie die Eichhörnchen auf der Seite des nördlichen Forts anrief, fragten sie, was sie tun könnten, um bei der Beendigung der Zerstörung zu helfen. Waldratten, die mit angehört hatten, was sie zu den Eichhörnchen sagte, wollten ebenfalls Aufgaben übernehmen. Drei Starenschwärme erinnerten sie daran, daß sie vor kurzem auf ihren Ruf hin gekommen waren, um Srurmflügel zu verscheuchen. Hatte sie vielleicht noch mehr Spaß für sie auf Lager? Die wilden Tiere stritten sich geradezu darum, ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und die zahmen Tiere, die in den Forts lebten, brannten darauf, ihr zuzuhören. Die Hunde und Katzen verschwanden sofort, ohne auf den Sonnenaufgang zu warten. Die Pferde erklärten sich bereit, zu den Docks zu fliehen, nachdem Dhana ihnen versichert hatte, daß die Wölfe und die anderen wilden Tiere sie ungeschoren lassen würden. Als Sonnenklaue nach Süden abdrehte, sah Dhana das Wolfsrudel in einer langen Reihe die Pfade entlang rennen. Ihr steter Trott fraß Meile um Meile zwischen ihnen und dem Fort. Iakoju, deren schwere Beine in gleichermaßen ausdauerndem Tempo über den Boden stampften, bildete das Ende der Reihe. Als sich der Adler auf Augenhöhe herabfallen ließ, erkannte die Menschenfresserin, wer es sein mußte, winkte und grinste fröhlich. Auf dem Weg zum südlichen Fort begegneten sie einem Trio von Sturmflügeln, die vom Fort zum Schloß unterwegs waren. Schaudernd sah Dhana, daß Rikash einer von ihnen war. Haben sie dich jemals belästigt? fragte Dhana Sonnenklaue. Der große Vogel starrte die sich nähernden Unsterblichen an. Nicht auf die übliche Weise, erwiderte er und verkrampfte die Krallen. Wir 183
hatten ein paar Mißverständnisse, als sie zum erstenmal hier auftauchten, bis sie ihren Irrtum einsahen. Sein Zorn war immer noch spürbar, als er hinzufügte: Trotzdem, ich mache einen weiten Bogen um sie. Sie haben meine Gefährtin in Stücke geschnitten, als sie unser Nest verteidigte. Er driftete nach einer Seite ab. Zwei Srurmflügel flatterten vorüber und machten unanständige Geräusche. Nur Rikash änderte den Kurs und flog in einem weiten Bogen um Sonnenklaue herum. Die beiden anderen, ein blondes Weibchen und das K’mir-Männchen, kamen zurück und gesellten sich zu Rikash. »Die segeln doch, nicht wahr?« fragte Rikash sie. »Drehen sich ständig im Kreis, immer an der gleichen Stelle?« »Wie Spielzeugdrachen, und mit dem gleichen Holzkopf«, spottete der K’mir. »Aber da ist nun der hier, der schnurstracks geradeaus fliegt, als wolle er irgendwo hin. Wenn man zu schnell fliegt, sieht man keine Beute, habe ich recht?« Sei bereit, dich fallen zu lassen, warnte Dhana Sonnenklaue. Rikash spuckte aus, ohne darauf zu achten, ob jemand unter ihm war. »In diesem Tal herrscht eine Krankheit, die nette kleine Tiere dazu veranlaßt, sich nicht wie Tiere zu benehmen. Habe ich euch schon von dem Eichhörnchen erzählt?« »Erst eine Million Mal«, sagte der K’mir-Sturmflügel stöhnend. Dhana sah, wie sich die Muskeln in Rikashs Nacken spannten. Runter! schrie sie. Sonnenklaue warf seine Flügel nach oben und stürzte mit atemberaubender Geschwindigkeit der Erde entgegen. »Los, los, los!« kreischte Rikash. Das Weibchen stieß ein Kriegsgeschrei aus, und stahlflügelbewehrte Körper folgten Sonnenklaue. Verbissen klammerte sich Dhana fest und drängte ihn zu den Bäumen, welche die Straße nach Süden überschatteten. Der Adler schoß in den freien Raum zwischen Straße und Zweigen. Hinter ihm ein Schrei und ein Krach. Ein Sturmflügel war zu Schaden gekommen. Sonnenklaue riskierte einen Blick zurück. Das zerkratzte und blutende Weibchen versuchte, sich aus einer Kastanie zu befreien. Sekunden später kam 184
der K’mir in Sicht. Er kämpfte darum, seinen Sturz abzufangen, ehe er in den Schlamm krachte. Es gelang ihm nicht. Erleichtert sah Sonnenklaue nach vorn. Rikash erwartete sie dort, wo die Bäume unvermittelt die Straße freigaben. Lande, drängte Dhana. Ich sehe idiotisch aus, wenn ich zu Fuß gehe, beklagte sich der Adler, während er gehorchte. Wie ein Spatz zu hüpfen ist nicht die Art eines Adlers. Wenn du glaubst, du siehst dumm aus, stell dir vor, wie dumm er aussehen wird, tröstete Dhana ihn. Rikash fluchte und stürzte sich nach vorn. Er flog niedrig und versuchte, seine großen Metallschwingen davor zu bewahren, die Erde oder die Bäume zu berühren. Aus ihren Nestern gerufen, sprangen die Eichhörnchen auf ihn und bissen ihn mit sehr scharfen Zähnen. Rikash kreischte, versuchte, seine Augen mit den Flügeln zu bedecken, und krachte in eine Ulme. Jetzt schnell!, sagte Dhana zu den Eichhörnchen. Sie gehorchten. Auch Sonnenklaue gefiel dieser Rat. Er stieg hoch, flatterte aber noch gemächlich an der Stelle vorüber, wo Rikash mit den ihn umklammernden Zweigen der Ulme kämpfte. Die Luft war erfüllt von den Flüchen der Sturmflügel, als Sonnenklaue sich von den Bäumen löste und immer höher stieg. Nachdem sie bereits in die Schlacht eingegriffen hatten, bereitete es Dhana keine Mühe, die Tiere des Südens dazu zu überreden, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Tkaa, Maura, Tait und Hüpfer zu helfen. Als die Tiere des Forts erfuhren, was vor sich ging, waren sie ebenso eifrig darauf bedacht, den Einsatz von Blutregen zu verhindern, wie Dhana selbst. Ich glaube, wir sind geschafft, sagte Dhana zu Sonnenklaue. Sie war so müde wie noch nie zuvor. Laß uns nach Hause gehen. Ich würde ja selbst zurückkehren, aber ich befinde mich möglicherweise außerhalb der Reichweite meiner Magie und weiß nicht, ob ich’s schaffe. Würde es dir schrecklich viel ausmachen, wenn ich dich innerhalb deiner Reichweite entlasse und zu diesem Fort zurückkehre? 185
erkundigte sich der Adler. Ich könnte dort helfen. Es wäre mir ein Vergnügen. Dhana lächelte und antwortete: Natürlich. Niedrig über den Baumwipfeln fliegend, immer darauf bedacht, die Straße zu meiden, kamen sie an Tait, Maura, Tkaa und den anderen vorüber. Dhana zeigte dem Adler den Basilisken. Sprich mit ihm, sagte sie zu Sonnenklaue, während sie ihren Flug nach Norden fortsetzten. Er kann für die Zweibeiner übersetzen, und sie wissen sicher, was du tun kannst. In dem Augenblick, als sie die Anziehungskraft ihres eigenen Körpers verspürte, wünschte sie dem Adler viel Glück und trennte sich von ihm. Sofort wandte er sich wieder nach Süden, und sie schlüpfte in ihr menschliches Selbst. Mit Bedauern tauschte sie seine scharfen Augen gegen ihr eigenes begrenztes Sehvermögen, seine hohlen, leichten Knochen gegen die schwereren eines Menschen. Krallen wurden zu Füßen, Flügel zu Armen. Als sie die Augen aufschlug, war ihr nichts geblieben als eine Lage Daunen zwischen ihren Kleidern und der Haut. »Ich bin wieder da«, murmelte sie. »Hurra!« Wolke blieb stehen. Diese Krähe kam vorüber, sagte die Stute. Sie wollte dir sagen, daß sie die Nachricht in den Schoß des Mannes hat fallen lassen. Er las sie, und das letzte, was sie von ihm sah, war, daß er sich auf den Weg ins Schloß machte. Dhana holte tief Atem. »Ich hoffe, er ist so vertrauenswürdig, wie Tait sagt.« Das Mädchen befreite sich selbst und Kätzchen von den Seilen, die sie auf dem Rücken des Pferdes festgehalten hatten. Dhana zu Fuß und Kätzchen entweder laufend oder reitend, näherten sie sich im Verlauf des Tages immer mehr dem Dorf. Als die Schatten länger wurden, machten sie halt, damit Dhana Fische fangen und braten konnte, und um Wolke die Gelegenheit zum Grasen zu geben. Dann setzten sie ihren Weg fort. Überall redeten die Wesen miteinander. Dunlaths nichtmenschliche Bewohner hatten viel über die Ereignisse der letzten Zeit zu berichten. Sie redeten mit ihresgleichen, mit entfernten Verwandten, sogar mit Feinden (aus sicherer Entfernung). Ihre Meinungen und Fragen waren 186
so laut, daß Dhana sich fragte, ob die Zweibeiner nicht errieten, daß irgend etwas in der Luft lag. Wenn ja, so entdeckte sie jedoch davon keinerlei Anzeichen im Dorf. Verborgen unter den Bäumen an der Stelle, wo sie ihre Bettrolle und den Sattel zurückgelassen hatte, beobachtete Dhana, wie die Menschen ihren abendlichen Beschäftigungen nachgingen und dann in ihren Häusern verschwanden. Lampen flammten in den meisten Häusern für kurze Zeit auf und erloschen dann. Die Bauern erhoben sich mit der Sonne und gingen mit ihr zu Bett. Nur die Fenster des Gasthauses und des Schlosses blieben auch nach Einbruch der Dunkelheit noch für einige Zeit erleuchtet. Während der Nacht machten die Fledermäuse der Gesangshöhle Kontrollflüge und weckten Dhana, um ihr Nachrichten von ihren Freunden zu überbringen. Iakoju hatte es bis zum Einbruch der Nacht geschafft, wohlbehalten zu den Menschenfresserbehausungen zu kommen, worauf zwischen den Gebäuden große Bewegungen entstanden waren und ein ständiges Gemurmel von Menschenfresserstimmen zu hören war. Das Rudel vom Langen See machte sich zwischen den Minenwaggons zu schaffen, zog Bolzen, die Räder an Achsen festhielten, mit den Zähnen aus ihren Verankerungen und zerkaute die Riemen, bis sie nur noch aus Fetzen bestanden. Im Süden legten Waldratten trockene Zweige und Gras an die Palisadenwände aller Gebäude außer dem Tor und den Ställen. Hunde heulten unaufhörlich, so daß im Hauptquartier, in der Messe und in den Baracken Licht gemacht wurde und die Männer die ganze Nacht über wach blieben. Endlich, nur wenige Stunden vor der Morgendämmerung, endeten alle Aktivitäten. Die Tiere und Dhana nützten die Zeit für ungestörten Schlaf. Dhana erwachte bei Tagesanbruch. Ihre angespannten Muskeln schmerzten. Im Gegensatz zum Lärm des vergangenen Tages waren die Tiere ruhig. Selbst die Vögel, die normalerweise lautstark die Sonne begrüßten, waren still in Erwartung des Kommenden. Von ihrem Platz unter den Bäumen aus sah Dhana zu, wie die Dienstboten des Schlosses paarweise, in kleinen Gruppen oder allein über die Brücke gingen, um das Dorf zu betreten. Parlan wartete auf 187
der anderen Seite des Dammes und leitete sie ins Gasthaus um. Nirgends waren Soldaten zu sehen, deretwegen man sich hätte Sorgen machen müssen. Yolane vertraute auf Tristan und die Forts, die sie schützen sollten. Als der Himmel heller wurde, rief Dhana die Schloßmäuse. Bald berichteten sie ihr: Nur die Adligen und Tristan waren dort. Die Sonne ging auf. Im Norden und im Süden waren Eichhörnchen schwer an der Arbeit, um die Pferde zu befreien und soviel Zerstörung anzurichten, wie sie nur konnten. Die Soldaten entdeckten, daß ihr Frühstücksbrot, ihr Tee, der Haferbrei und der Käse ungenießbar waren. Die Menschenfresser holten ihre Waffen und brachten ihre Kinder in Sicherheit. Dhana kämmte sich das Haar und band es zusammen, dann streifte sie rasch ihre Kleider ab, schüttelte sie aus und zog sie wieder an. Sie aß Käse und gestohlene Äpfel, striegelte Wolke und fütterte Kätzchen mit dem vom vergangenen Abend übriggebliebenen Fisch. Als letztes sattelte sie die Stute und steckte Kätzchen in den Tragesack. Laß ihnen Zeit, hatte Tait gesagt, aber sie hatte nicht gewußt, daß die von ihren Verbündeten geforderten Stunden derart grausam an ihren Nerven zerren würden. Ihre Spannung wurde durch die Tatsache, daß sie im Dorf wenig Bewegung feststellte, noch erhöht. Die Kühe waren vor Sonnenaufgang gemolken worden, das Vieh gefüttert, aber abgesehen davon blieben die Bewohner unsichtbar. Das gab ihr das Gefühl, eine Geisterstadt im Rücken zu haben. Endlich hörte sie einen Ton, als würde eine Glocke angeschlagen. Darauf erfolgte aus dem Süden ein hohler Knall. Rauchwolken erschienen am Südufer des Sees. Sie würde Maura fragen müssen, was um alles in der Welt sie da in die Luft gejagt hatte! Aus den Augenwinkeln sah sie es aus dieser Richtung silbern aufblitzen. Sturmflügel flogen rasch auf das Schloß zu. Sie bemerkte, daß sie rußgeschwärzt waren wie Kaminkehrer, als sie hinter dem Wall verschwanden. Sie spürte, daß sich das Trio der Alkerts aus dem Norden näherte. Einer trug eine Schriftrolle in seiner rechten Vorderkralle, und die Edelsteine in den Halsbändern von allen brannten in einem 188
strahlenden Gelb. Diese Ungeheuer waren von Schmerzen gepeinigt und zerrten an den Bändern um ihren Hälsen. Schreiend vor Wut stürzten sich die Alkerts in den Kreis der Schloßmauern. Als Dhana zum nördlichen Horizont blickte, sah sie Rauchsäulen. Irgend etwas brannte, aber sie konnte nicht sehen, was es war. Sie wartete kurz, und die geflügelten Wesen kehrten zurück. Diesmal trugen die Alkerts Reiter, die sie mit Zügeln und Zaumzeug lenkten. Sie wehrten sich dagegen, wie sie sich gegen die Halsbänder gewehrt hatten, jedoch ohne Erfolg. Zwei flogen nach Norden. Dhana schloß die Augen und dachte an Sonnenklaue, dann öffnete sie die Augen wieder, um mit dem scharfen Blick des Adlers zu sehen. Die Magier darauf waren Redfern und Gissa. Einer der Alkerts versuchte umzukehren, aber Gissa hielt nichts davon. Ihr Mund bewegte sich. Eine Wolke orangefarbenen Feuers erschien auf dem Rumpf des Unsterblichen. Danach zu urteilen, wie er nach vorn sprang, mußte das Feuer weh tun. Sie drehte sich um und betrachtete die anderen. Die Sturmflügel trugen zwei Menschen in Seilschlingen. Tristan ritt auf dem Alkert. Auch er benützte Feuer, um sein Reittier vorwärts zu treiben. Dhana verwandelte ihre Augen wieder in Menschenaugen, dann bestieg sie Wolke. Sie hatte das Gefühl, als wolle sich ihr Herz einen Ausweg nach draußen hämmern. »Jetzt«, sagte sie zu ihrer Gefährtin. Das Pony galoppierte auf den Damm zu. Auf der ganzen Strecke, vorbei am Dock, wo die Adligen ein paar Boote vor Anker liegen hatten, und durchs Tor hindurch, krümmte sich Dhana zusammen, um ein möglichst kleines Ziel zu bieten. Sie kam sich unendlich schutzlos vor. Erst als sie im Hof anlangten, wagte sie es, sich aufzurichten. Auf den Schloßmauern standen keine Wachen, und der Hof war leer. Mach dir nicht die Mühe, mich abzusatteln, sagte Wolke zu ihr, als sie abstieg. Finde, wozu du hergekommen bist. Ich versteck’ mich in den Stätten. »Und raube jeden Futtersack aus, den du siehst, klar?« flüsterte Dhana, als sie Kätzchen aus ihrem Sack befreite und auf die Fliesen zu ihren Füßen setzte. Sie befestigte die Armbrust an ihrem Gürtel und hängte sich den Köcher um die Schulter. Dann rannte sie ins Schloß, 189
der junge Drache folgte dicht hinter ihr. Der Blaue und das Bißchen erwarteten sie in der großen Halle. Sie wirkten hier kleiner, obwohl Dhana sehen konnte, daß der Blaue wirklich ein Geschöpf von nobler Größe war, wenigstens für eine Katze. Das Bißchen war ein zartes Ding und fasziniert von Kätzchen. »Habt ihr irgend etwas Derartiges gesehen?« fragte Dhana die Katzen und ließ vor ihnen eine Ansicht des Modells erstehen, wie sie es sich vorstellte. Nein, antwortete der Blaue. Bißchen! sagte er im Befehlston, als die Kleine nicht antwortete, sondern an Kätzchens Schnauze schnüffelte. Beantworte die Frage! Die junge Katze nieste. Nein, antwortete sie. Aber ich habe noch nicht alles gesehen, was es zu sehen gibt. Wir dürfen nicht in die Arbeitszimmer der Magier hinein. »Zeigt mir, wo diese Arbeitszimmer sind«, bat Dhana. »Schnell, bitte.« Die Katzen liefen voraus, eine breite Treppe hinauf zu einer Galerie im zweiten Stock und dann einen Gang entlang. Kätzchen machte ebenso wenig Lärm wie sie. Ihre Krallen verursachten nur winzige Kratzgeräusche. Die neuen Menschen schlafen hier, sagte der Blaue und blieb am Ende eines langen Korridors stehen. In diesen beiden Doppelzimmern und in jenen beiden. Dhana versuchte, eine Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. »Kätzchen, erinnerst du dich, wie du das Schloß im Gasthaus aufgemacht hast?« Der Drache nickte. »Dann versuch’s hier, ja?« Der Drache setzte sich auf die Hinterbeine und beäugte interessiert das Schloß. Wie im Gasthaus stieß die Kleine ein leises Trillern aus. Das Schloß leuchtete für einen Augenblick golden auf, dann erlosch es wieder. Kätzchen gab ein glucksendes Geräusch von sich und trillerte wieder, wobei es den Ton in eine hohe und eine tiefere Note teilte. Die Tür sprang auf. Kann sie mir beibringen, das auch zu machen? fragte das Bißchen, als sie die Suite betraten. Das brauchst du nicht zu können, sagte der Blaue und verschwand im Schlafzimmer. Du bist schon naseweis genug. 190
Das Modell war weder dort noch in den anderen drei Suiten. Dhana runzelte die Stirn, als sie ihre Suche beendeten. Mit Sicherheit hatten sie Arbeitszimmer der Magier gesehen, aber sie enthielten keine Modelle. Auch hatte sie nichts gesehen, was wie das Zimmer aussah, in dem sie und das Bißchen von dem Blutregen erfahren hatten. »Wo ist Tristans Zimmer?« fragte sie. »Das ist derjenige mit der gelben Magie.« Er wohnt in der Nähe der Frau, die Katzen haßt, antwortete der Blaue. Da entlang. Sie kehrten zur Galerie zurück und gingen einen kurzen Gang entlang. Als sie Tristans Tür erreichten, schlug das Bißchen ärgerlich mit dem Schwanz. Sie war verschlossen. Dhana griff nach der Klinke. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie und ließ sie aufschreien. »Kätzchen? Die hier ist mit einem Zauber belegt. Kannst du irgend etwas tun?« Kätzchen stellte sich auf die Hinterbeine und spähte ins Schloß, dann stieß es zwei fröhliche Pfiffe aus. Nichts geschah. Sie machte ein finsteres Gesicht und pfiff erneut, diesmal weniger fröhlich, es war eher eine Frage. Nichts geschah. Dhana überlegte, was jetzt zu tun sei, als der Drache zurücktrat und krächzte. Das Schloß sprang aus dem Holz und landete rauchend zu Dhanas Füßen, die Tür schwang auf. Kätzchen murrte düster vor sich hin und versetzte im Vorbeigehen dem Schloß einen Fußtritt. Dhana folgte und versuchte, nicht zu lachen. Ich wünschte, ich könnte das machen, bemerkte das Bißchen neidisch, als sie und der Blaue den anderen folgten. Tristans Suite war größer als diejenigen, die man seinen Kollegen zugewiesen hatte, die Möblierung teurer. Es war der Mittelraum, in den das Bißchen Dhana das letztemal gebracht hatte. Von da aus gelangte man in ein Schlafzimmer und in eine Bibliothek. Vom Schlafzimmer aus kam man in ein Ankleidezimmer und in eine Toilette. Im Gegensatz zu den anderen Magiern hatte Tristan kein eigenes Arbeitszimmer. In seiner Bibliothek gab es nicht die Spur eines Modells. »Was machst du hier?« fragte da plötzlich eine schrille, wütende Stimme. Dhana, Kätzchen und die Katzen sahen zur unversperrten 191
Tür. Dort stand Yolane in einem dünnen Nachtgewand, über dem sie einen Seidenmantel trug. »Wo ist Tristan?« Höhnisch fügte sie hinzu: »Ich hätte mir denken können, daß du eine Diebin bist.« Dhana legte eine Hand an ihre Armbrust. Sie war schußbereit, aber sie wollte Mauras Schwester nicht töten. »Wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich mit Beschimpfungen vorsichtig sein«, erwiderte sie. Yolane wich zurück »Tirell! Oram! Jemis! Zu mir! Oram, Laufschritt, marsch!« Dhana schüttelte den Kopf. »Schreit nur, soviel Ihr wollt, sie werden nicht kommen. Sie sind weg.« »Was meinst du mit ›weg‹?« »Ich meine, es ist aus, der König weiß, was Ihr vorhabt. Die Rebellion ist aufgedeckt. Ihr werdet niemals Königin werden.« »Tristan«, schrie Yolane. »Gissa! Alamid!« »Die haben gerade jetzt Wichtigeres zu tun«, sagte Dhana zu ihr. »Das südliche Fort brennt. Die Menschenfresser im Norden kämpfen gegen die Aufseher. Die Magier sind weg, um sich um all das zu kümmern.« »Du…« Vor Wut und Haß verzerrt, war Yolanes Gesicht jetzt nicht mehr so attraktiv. Sie drehte sich um und rannte davon. Kätzchen pfiff eine Frage. »Wir können nicht«, antwortete Dhana. »Das Modell ist im Moment das Wichtigste.« Mäuse! rief sie lautlos und fügte ein Bild des Modells hinzu. Habt ihr das gesehen? Würdet ihr danach Ausschau halten? Im ganzen Schloß blieben die Mäuse stehen, um nachzudenken und zu antworten. Bald wußte Dhana, daß keine es gesehen hatte. »Das verstehe ich nicht«, murmelte sie. »Es muß irgendwo sein. Sie haben auch nichts gesehen, was diesem Blutregen gleicht, und ich weiß, der muß in irgendwas gekocht werden.« Haben sie den Turm erwähnt? fragte der Blaue. Dort versammeln sich alle Magier, um ihre Arbeit zu tun. Als er »Turm« sagte, fiel Dhana eine grünlichbraune Rauchsäule ein und dazu Sonnenklaues Bemerkung, daß er nicht durch den Tod zu fliegen brauche, um zu wissen, wie er aussehe. »Das ist eine gute Frage, Blauer. Mäuse, was ist mit dem Turm.« 192
Schweigen, das durch jede Ritze und Fuge des riesigen Gebäudes kroch, war die Antwort. Mäuse? Ihr Blick fiel auf Bißchen. Die junge Katze hatte sich mit gesträubtem Fell in eine Ecke gedrückt. Sie zitterte. »Was ist, Bißchen?« Ich weiß, was sie meinen, flüsterte sie. Im Turm ist eine Eidechse, eine kalte. Kälter als alles. Als Bißchen »Eidechse« sagte, standen Dhana die Haare im Nacken zu Berg. Das war am raffiniertesten, wenn die Magier etwas Wertvolles im Turm versteckt hielten. Tkaa hatte gesagt, daß ein Eiszahn ein Ding bis zum Ende der Zeit bewachen würde. Draußen auf der Galerie hörte sie Yolane schreien: »Belden, wach auf!« Es war keine Zeit zu verlieren. »Bißchen, wie kann ich in den Turm kommen?« Die Katzen rannten aus Tristans Zimmer hinaus. Dhana folgte, löste die Armbrust vom Gürtel und überprüfte den bereits schußbereit eingelegten Bolzen. Er war stumpf und diente mehr zur Betäubung, aber aus kurzer Entfernung hätte er Yolane sehr wohl töten können. Sie tauschte ihn gegen einen mit gehärteter Spitze aus, der nahezu alles durchbohren konnte. Sie hoffte, er konnte ein Loch in einen Eiszahn bohren, andernfalls war sie in ernsthaften Schwierigkeiten. Das Bißchen führte sie zu einer anderen Galerie und dann zu einer Wendeltreppe. Sie kletterten hoch über Tristans Suite hinaus, kamen an breiten Treppenabsätzen vorbei, die zu weiteren Stockwerken führten. Schließlich gelangten sie zu einem Fenster. Dhana blickte hindurch und konnte über die Palisadenwand hinaussehen. Hier verspürte sie den ersten Hauch von Kälte. Blauer, Bißchen, kehrt um, sagte sie lautlos zu ihnen. Es hat keinen Sinn, euer Leben zu riskieren. Aber ich will mitkommen, protestierte Bißchen. Sie hatte solch panische Angst, daß sie ihr Fell aufplusterte und die Ohren flach anlegte. Blauer, bring sie weg, befahl Dhana. Ihr könnt hier nichts tun.
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Komm, Bißchen, sagte die ältere Katze. Von der Angst, die seinen Schwanz bis zur Größe einer Flaschenbürste aufgeplustert hatte, war seiner Stimme nichts anzumerken. Wir könnten nur im Weg sein. Dhana kniete neben Kätzchen nieder. »Du brauchst nicht mitzukommen«, flüsterte sie. Kätzchen starrte sie böse an und versuchte, an ihr vorbeizukrabbeln. Dhana schüttelte den Kopf und ging voraus. Während sie höher stiegen, dachte sie an Flinkflügel und tauschte ihre Ohren gegen die einer Fledermaus ein. Sie lauschte auf jedes noch so kleine Geräusch. Die Kälte verdichtete sich. Eis glitzerte an den Wänden. Eisige Nebelschwaden zogen an den kleinen Fenstern vorüber. Dhana schauderte in ihrem dünnen Hemd, und ihre Nase lief. Die Treppe wurde schmaler, die Windungen enger. Wie sollte sie einen Schuß abfeuern, wenn sie sich dabei um eine Biegung winden mußte? Das Geräusch, das beide Ohrlappen nach vorne klappen ließ, kam von einem zehn Meter entfernten Körper. Schuppige Haut schürfte über Stein. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Als sie es nicht mehr ertragen konnte, schrie Dhana gellend auf: »Eiszahn!« Das Echo tat ihren Ohren weh, sie verwandelte sie wieder in Menschenohren. »Es wäre besser, du würdest verschwinden, du stehst zwischen mir und dem Ort, an den ich will!« Kätzchen pfiff Beschimpfungen. Dhana hörte einen leisen Plumps, dann das Klappern der Schwanzringe. Dhana biß sich so fest auf die Lippe, daß Blut kam, und hob ihre Armbrust. »Paß auf, daß du ihm nicht in die Augen siehst, Kätzchen. Auf die Weise hat uns der andere beinahe erledigt.« Er kam mit dem Schwanz voran, auf allen vieren, nicht mit dem Kopf voraus oder aufrecht gehend, wie sie erwartet hatte. Dieser Anblick verwirrte Dhana eine Sekunde zu lang. Der Unsterbliche warf sich halb gleitend, halb hochschnellend mit seinem ganzen Gewicht gegen sie. Dhana entließ den Pfeil, doch er zerbrach hoch oben an der Wand. Mit einem Aufschrei fiel das Mädchen nach hinten, die Armbrust flog ihr aus der Hand. Kätzchen quetschte sich an die Seite. Dhana rollte die steile Treppe hinab und verlor während des Falls die Pfeile aus ihrem Köcher. 194
Glücklicherweise waren die Windungen so eng, daß sie keine große Geschwindigkeit entwickelte. Trotzdem war sie davon halb betäubt. Auf dem ersten Treppenabsatz kam Dhana zum Halten. Sie packte die Klinke einer Tür in der Nähe und drückte dagegen. Die Tür öffnete sich und zeigte ein Zimmer voller Rüstungen, alter Wandbehänge und Waffen. Sie rappelte sich hoch und rannte hinein, das Geräusch von Krallen auf Stein und dieses Klappern der Schwanzringe laut und dröhnend in den Ohren.
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10 Tristans und Yolanes Fall Kätzchen raste unter einen Tisch und drückte sich gegen die Wand. Ihre Schuppen verwandelten sich in das gleiche Grauschwarz wie das der Steine. Dhana hielt verzweifelt nach irgendeiner Waffe Ausschau, als der Eiszahn hereinkam. Plötzlich erkannte sie, daß es ein Fehler gewesen war, hier hinein zu fliehen. Die schmale Treppe hatte den Eiszahn zumindest ebenso behindert wie sie selbst. Nun hatte der Unsterbliche Raum genug, um sich zu bewegen. Wie der von Tkaa erledigte Eiszahn hatte auch dieser hier Schuppen in allen Schattierungen von strahlendem Grün. Eisblumen sprühten vor ihm her. Er war schneller als der andere und verfolgte Dhana durchs Zimmer. Sie floh und prüfte die Waffen an der Wand. Es waren größtenteils Säbel, jedoch die von den Berglords bevorzugten Bihänder. So einen konnte sie niemals heben. Sie sah zwei Streitkolben, aber die hingen höher an der Wand als die Säbel. Es würde zu viel Zeit beanspruchen, sie herunterzuholen. Als sie sich zu ihrem Verfolger umdrehte, krachte sie gegen eine Rüstung. Schnell rollte sie sich zur Seite, als das Ding umkippte. Aus einem Metallhandschuh fiel eine Streitaxt mit doppelter Klinge und langem Griff. So schwer sie auch war, Dhana griff danach und stand auf. Der Eiszahn starrte sie an, seine lange Zunge schoß vor und zurück, als wolle er die Luft kosten, dann schob er sich an ihre linke Seite. Sie wich zurück und hielt die Axt zwischen sich und das Ungeheuer, wobei sie versuchte, seinen Blicken nicht zu begegnen. Ihre Arme zitterten vor Anstrengung, die Waffe hochzuhalten. Sie war wirklich nicht für die Handhabung durch ein junges Mädchen gemacht! Viel schneller, als sie es sich hätte träumen lassen, warf sich der Unsterbliche plötzlich nach vorn, den Rachen weit aufgerissen, in dem die Fangzähne wie eine Falle zuschnappten. Sie schrie auf und wich zurück. Dabei erwies sich die Axt als Verhängnis, denn Dhana stolperte über den langen Griff. Sie warf die Waffe weg, rollte sich zur 196
Seite und rappelte sich wieder auf. Als sie sich nach dem Eiszahn umschaute, fing er ihren Blick auf und hielt ihn fest. Obwohl sie dagegen ankämpfte, erstarrte sie auf der Stelle. Kätzchen, jetzt zornrot, sprang aus dem Hintergrund hervor und grub seine Zähne in das Rückgrat des Eiszahns. Der Blaue und Bißchen sprangen hinterher und griffen seine Augen an. Der Unsterbliche stieß einen Klageruf aus, richtete sich halbwegs auf die Hinterbeine auf und versuchte, mit einer Klaue die Katzen und mit der anderen den Drachen loszuwerden. Das Bißchen wurde gegen die Wand geschleudert. Vom Blick des Eiszahns befreit, griff Dhana nach der Axt und ging dicht an das Monster heran. »Laßt los!« Sie legte all ihre Macht in diesen Befehl. Der Blaue und Kätzchen sprangen davon. Mit aller Kraft schwang Dhana die Axt, um sie in den Schädel des Eiszahns zu schlagen. Er wand sich herum und entriß dadurch die Waffe ihrem Griff, aber sie steckte zu tief in seinem Schädel. Der Unsterbliche stürzte auf den Steinboden und wurde mit jeder Zuckung schwächer. Schließlich blieb er regungslos liegen. Das Mädchen sah auf die Axt, den zerschmetterten Unsterblichen, auf die dunklen Blutlachen und übergab sich. Danach wischte sie sich den Mund ab und ging zum Bißchen. Der Blaue kauerte sich neben ihr nieder, zitterte und versuchte, das stille Gesichtchen der kleinen Katze zu waschen. »Nein, Blauer«, flüsterte Dhana. »Laß mich.« Sie hob den kleinen Körper hoch. Schlaff lag er in ihren Händen, ohne jegliche Spur von Leben. Sie ist doch bloß ein kleines Kätzchen, sagte der Blaue, und seine Stimme klang verloren. Sie hat mir dauernd weismachen wollen, daß sie eine erwachsene Katze ist, aber sie ist doch bloß ein kleines Katzenbaby. Tränen strömten aus Dhanas Augen, als sie die Dachsklaue vom Hals nahm und auf den Körper des Bißchens legte. »Dachs, du schuldest mir was. Du und der Alte Weiße und all die anderen Götter der Tiere schulden mir was. Hättet ihr mich nicht hierhergelockt, wäre sie jetzt noch am Leben. Jetzt tu etwas!« 197
Kostbare Sekunden verstrichen, und keine Antwort erfolgte. Sie hatte versagt. Den weichen Körper an die Brust gedrückt, wiegte sie sich hin und her. Das ist deine Angelegenheit, Tatzenkönigin. Wer auch immer da sprach, der Dachs war es nicht. In der Stimme lag eine Spur von Rudelgesang, von kalten Nächten, die erfüllt waren vom Gesang der Wölfe. Sie gehört zu euch. Ich bin froh, daß du das so siehst, Rudelvater, schnurrte eine neue Stimme, seidig und grausam. Der Blaue sprang hoch und sah sich aufgeregt nach der Sprecherin um. Zufällig gefällt es mir, dieses Gebet zu erhören. Ein Kätzchen verdient ein weiteres Leben. Aber laß es dir nicht zur Gewohnheit werden, Dhana. Die Götter stehen dir nicht immer zu Diensten. Und vollende, wofür du hierhergekommen bist! Leben brodelte wie Feuer unter Dhanas Händen. Das Bißchen öffnete die Augen. Wo ist der Blaue? Ich hab’ geträumt, ich war im Nebel, und er war nicht bei mir. Dhana setzte die kleine Katze auf den Boden und steckte die Silberklaue in die Tasche. Der Kater begann sofort, sein Bißchen zu waschen, und schnurrte dabei so laut, daß es von den Wänden widerhallte. Die junge Katze reckte ihr Gesicht in die Höhe und ließ ihn gewähren. Dhana stand auf. Ihre Knie waren noch etwas wacklig. »Ihr bleibt hier und ruht euch aus«, sagte sie. »Ich habe noch etwas zu erledigen.« Sie nahm Kätzchen hoch, wischte die Schnauze des Drachens vom Blut des Eiszahns sauber und trug ihn zur Treppe. Unterwegs sammelte sie die nicht zerbrochenen Pfeile und ihre Armbrust wieder ein. Die Turmtür war verschlossen. »Warum haben sie sich die Mühe gemacht?« fragte sie bitter und setzte den Drachen zu Boden. »Sie hatten doch ihr Monster, um Wache zu halten, oder?« 198
Kätzchen spähte schwanzwedelnd ins Schlüsselloch. Es machte einen Schritt rückwärts und krächzte. Das Metall des Schlosses glühte in einem matten Orange. Das Holz darum herum begann zu rauchen. Dann verblaßte die Farbe, das Schloß saß nach wie vor fest an seinem Platz. Kätzchen streckte seinen Hals und krächzte wieder, dabei hielt es den Ton zweimal so lange wie vorher. Es trat beiseite, als das Schloß aus der Tür sprang. Es fiel die Treppe hinunter und fiel und fiel und war noch zu hören, als es längst außer Sichtweite war. Wortlos öffnete Dhana die Tür. Drinnen befand sich ein Tisch, auf dem das Modell des Tales mitsamt der Barriere stand. Dahinter, auf einem Dreifuß über einer niedrigen Kohlenpfanne, blubberte in einem Topf eine rötlichbraune Flüssigkeit. Schon das allein war interessant, denn das Feuer war ausgegangen. Dhana starrte den Topf an. Konnte solch eine winzige Menge Flüssigkeit, kaum zwei Tassen voll, wirklich derartige Verwüstungen anrichten? »Geh ja nicht in die Nähe«, befahl sie. Kätzchen schüttelte nachdrücklich den Kopf, und Dhana wandte sich dem Modell zu. Was wie eine solide Feuerwand am westlichen Paß aussah, erwies sich als dünne Lichtlinie, die sich über dem Miniaturtal wölbte, als habe man eine durchsichtige Schüssel darübergestülpt. Die »Schüssel« glitzerte in vielfältigen Farben, wovon das Gelb von Tristans Magie am stärksten vertreten war. In die »Flüsse«, die zum nördlichen und südlichen Paß liefen, waren zwei runde, polierte schwarze Opale eingebettet. Das Mädchen zog sein Messer aus dem Gürtel, drehte es um und umfaßte es fest an der Stelle, wo der Griff die Schneide hielt. Mit dem Knauf hieb sie auf den nördlichen Opal ein. Ein Riß kroch über die Oberfläche des Steins. Die Barriere verdunkelte sich, dannleuchtete sie wieder auf. Dhana schlug erneut auf den Opal, er zerbrach in zwei Hälften. Dunkle Linien verfolgten einander entlang der Kurve des magischen Lichtes, aber sie konnte diese Kurve immer noch sehen. »Das ist doch jedem vernünftig Denkenden klar«, erzählte sie Kätzchen, während sie um das Modell herum zum anderen Ende ging. »Wenn zwei Steine das Ding festhalten, muß man sie beide 199
zerschlagen. Aber nachdem seit meiner Ankunft in Dunlath auch schon gar nichts einfach war, warum sollte es dann diesmal so sein?« Sie ließ den Messerknauf auf den zweiten Opal niedersausen und schlug einen kleinen Splitter ab. Ein dünnes Winseln erfüllte die Luft. Sie warf einen Seitenblick auf Kätzchen, das ebenfalls nach der Ursache Ausschau hielt. Das Winseln gewann an Stärke, es war höher als irgendein Ton, den der Drache oder Dhana hätten hervorbringen können. Es ließ das Haar im Nacken des Mädchens zu Berge stehen. Zähneknirschend verstärkte sie den Griff um den zweckentfremdeten Knauf ihres Messers und schlug erneut auf den Stein. Ob der vorhergehende Schlag den Stein mehr geschwächt hatte ab angenommen oder ob der Alte Weiße dem Mädchen seine Kraft verliehen hatte, diesmal schaffte sie es. Explosionsartig zersprang er. Dhana bedeckte ihre Augen mit ihrer freien Hand, und um sie herum schien alles in die Luft zu fliegen. Ihre Rückkehr ins Bewußtsein kündigte sich durch einen abscheulichen Gestank an, der ihr in die Nase stieg. Sie würgte und wehrte sich gegen das eiserne Band, das ihre Arme an ihre Seiten preßte. Dann nieste sie mehrere Male. »Entspann dich«, sagte eine vertraute Stimme. »Es ist bloß Weckblumenextrakt.« Sie blinzelte. Der dunkle Schatten vor ihren verschleierten Augen nahm Gestalt an, wurde zu einer langen Nase, zu einem vollen Mund und schwarz bewimperten Augen. Eine geschwollene Wunde zog sich über die linke Wange ihres Gegenübers, das Hemd war zerrissen. »Keine Blume riecht jemals so«, schimpfte Dhana. Numair half ihr, sich aufzusetzen, und lockerte seinen Griff um ihre Arme und ihren Rücken. »Aber die riecht so«, antwortete er. »Sie wächst in Sümpfen, und ihr Geruch verlockt eher Fliegen als Bienen dazu, sie zu bestäuben. Botaniker bezeichnen sie dennoch als richtige Blume.« Er ließ sie los und steckte den Stöpsel in das winzige Fläschchen, das er Dhana unter die Nase gehalten hatte. Das Fläschchen selbst wanderte in seine Gürteltasche. »Fühlst du dich wohl genug, um allein sitzen zu können? Ich sollte mich um den Blutregen kümmern.« 200
»Geh schon. Bedien dich.« Dhana lehnte sich vorsichtig zurück, bis die Mauer sie stützte. Kätzchen, das in den Überbleibseln des Tisches herumgestochert hatte, kam und untersuchte Dhana und überzeugte sich davon, daß ihre Freundin noch ganz war. Numair ging zu dem kleinen, blubbernden Kessel. »Wie lang war ich weggetreten?« fragte das Mädchen. »Wenn deine Bewußtlosigkeit mit der Zerstörung der Barriere begann…« »So ist es.« »Dann sind es etwa zweieinhalb Stunden, glaube ich, gemessen an der Zeit, die ich gebraucht habe, um zu dir zu kommen. Als die Barriere verschwunden war, nahm ich Vogelgestalt an und flog hierher, aber es gab einige Verzögerungen. Außerdem sind meine Flugkünste eingerostet.« »Welche Art von Verzögerungen?« »Ich glaube, zwei der Alkerts gelang es, die magischen Bande zu zerreißen, die sie hier festgehalten haben. Sie kamen mir in die Quere und hatten aus irgendeinem Grund etwas gegen mich einzuwenden. Ich brauchte eine Stunde, um sie wieder loszuwerden.« »Was ist mit Fleckchen und Lümmel? Hast du sie allein zurückgelassen?« »Und riskiert, mir deinen Zorn zuzuziehen? Nein, ich hab’ ihnen gesagt, sie sollen dich suchen, und sorgte dafür, daß die Alkerts ihnen fernblieben. Jetzt laß mich einen Moment hier in Ruhe.« Er bewegte seine Lippen, aber sie hörte nichts. Im Raum baute sich eine Spannung auf, deren Zentrum der Topf mit der Flüssigkeit war. Kätzchen schaukelte hin und her, beobachtete Numair aufmerksam und pfiff verhalten. Numairs Hände bewegten sich, um einen Buchstaben oder eine Rune irgendwelcher Art mit schwarzem Feuer in die Luft zu schreiben. Gerade als Dhana glaubte, vor Anspannung schreien zu müssen, gab es einen Knall, und der Kessel verschwand. »Wohin hast du ihn geschickt?« fragte sie, als sie wieder atmen konnte. »Woandershin«, antwortete Numair. »Du kommst nicht drauf. Tut mir leid, daß ich nicht daran gedacht habe, dich vor der Möglichkeit eines Rückschlags bei der Zerstörung der Barriere zu warnen. Ich 201
denke, das war Tristans kleiner Scherz, eine Überraschung für denjenigen, den er bitten würde, den Zauber zu lösen. Als wir zusammen in der Schule waren, hat er oft solche Streiche gespielt.« Steif stand Dhana auf. »Nette Streiche«, murmelte sie. Ohne Vorwarnung wurde sie in einer heftigen Umarmung hochgerissen. »Du hast ja keine Ahnung, wie froh ich bin, dich zu sehen, Zauberlehrling«, sagte Numair und stellte sie wieder auf den Boden. Dhana wischte sich ihre plötzlich etwas feuchten Augen am Hemdsärmel ab. »Vielleicht ein bißchen«, antwortete sie und grinste ihn an. »Beruht auf Gegenseitigkeit, weißt du.« Sie hob ihre Armbrust auf und prüfte, ob durch das Umhergewirbelt-werden irgendwelche wichtigen Teile zerbrochen waren. Numair hob Kätzchen hoch. »Jetzt heißt es, Tristan zu finden, falls er die Aufregung überlebt hat, was ich sehr hoffe.« Ein kaltes Glitzern in seinen Augen ließ das Mädchen erschaudern. »Ich hab’ ihm einiges zu sagen, und ›Die Göttin möge dich schützen‹ ist bestimmt nicht dabei.« Sie gingen die Treppe hinunter, dann auf den Hof. Draußen spürte Dhana, daß sich Unsterbliche näherten. »Numair, schau«, sagte sie und deutete nach oben. Über ihnen kreiste ein Alkert, und auf seinem Rücken saß Tristan. Schweiß verdunkelte die Flanken des müden Geschöpfes, und Blut floß ihm wegen des zu fest angezogenen Geschirrs aus dem Maul. Krähen, angeführt von dem Vogel, der Taits Nachricht überbracht hatte, pöbelten Alkert und Reiter an und attackierten sie mit Schnäbeln und Krallen. Tristan schleuderte ihnen Pfeile aus gelbem Feuer entgegen, denen die Krähen geschickt auswichen. Verschwindet, befahl Dhana den Vögeln. Sie ließen noch einmal eine Flut von Schmähungen los, wendeten sich enttäuscht von ihrer Beute ab und flogen davon. Das Mädchen riß die Armbrust hoch, zielte und ließ einen rasiermesserscharfen Pfeil fliegen. Sie legte bereits einen weiteren in die Einkerbung, als der erste den Alkert am Hals traf. Tristan schleuderte sich in die Höhe, gelbes Feuer dampfte und verlangsamte seinen Fall zur Erde. Dhanas zweiter Pfeil traf den Alkert im Fallen direkt unter seinem linken Flügel. Heftig flatternd schrie das Geschöpf seinen Haß hinaus. Dhana 202
griff nach einem dritten Pfeil und legte ihn an, nur für alle Fälle. Der Aufschrei war jedoch ein letztes Aufbäumen gewesen. Die Schwingen des Alkerts fielen in sich zusammen, und er sank wie ein Klumpen Blei in den See. Wie ein Löwenzahnsamen segelte Tristan nach unten und landete auf den Füßen in der Nähe des Tores. Numair trat auf seinen Gegner zu, während sich schwarzes, glitzerndes Feuer um seine Hände sammelte. »Tristan, ich bin wirklich sehr enttäuscht von dir«, sagte er liebenswürdig. Tristan streckte die Hände aus. Gelbe Blitze zuckten knisternd durch die Luft zwischen ihnen und zersplitterten an einem Schild aus schwarzem Feuer, das sich um Numair legte. »Komm, Kleines«, sagte Dhana und wich rückwärts gegen eine Wand aus. »Ich glaube nicht, daß er Hilfe will.« Sie fluchte, als sie die Ankunft weiterer Unsterblicher spürte. Diesmal waren es Sturmflügel. Rikash und seine Schar näherten sich rasch. Ohne auf ihre steifen und schmerzenden Muskeln zu achten, rannte Dhana zur Treppe, die auf die Mauer hinaufführte. Auch eine Explosion im Hof ignorierte sie. Kätzchen, das für einen Tag genug geklettert war, blieb und sah den Magiern fasziniert zu. Eine neuerliche Explosion von unten ließ das Mädchen auf der offenen Treppe stolpern, beinahe fallen. Sie riß sich zusammen und zwang ihre schmerzenden Beine, dennoch weiterzulaufen. Als sie die Brüstung erreichte, waren die Sturmflügel fast direkt über ihr, doch etwa zwanzig Meter höher. Von unten ertönten ein schrilles Aufheulen und Tristans wütendes »Du kannst mich nicht besiegen, Arram! Du hattest nie den Mut zur Zweikampf-Magie!« Dhana warf einen kurzen Blick auf ihren Freund. Numair stand auf einer Felsspitze. Ansonsten war die Erde um ihn herum ein riesiger Krater. Blut sickerte ihm aus dem Mund, und er war mit Schmutz bedeckt, aber er schien wohlauf zu sein. Tristan kämpfte mit den Ranken eines Rosenbusches, die sich um ihn schlangen. Dank der Krähen und dieser Dornen waren die eleganten Kleider des Magiers zerfetzt und seine Haut zerkratzt. Sein Ausdruck amüsierter Nachsicht war verschwunden, hatte rasendem Zorn Platz gemacht, der sein hübsches Gesicht zu einer Maske verzerrte. 203
Die Sturmflügel konnten den Wettkampf zu Tristans Gunsten entscheiden, sollte sie zulassen, daß sie eingriffen. Dhana riß ihre Armbrust hoch und visierte ihren Anführer an. »Lord Rikash!« schrie sie mit ihrer lautesten Exerzierplatzstimme. Wartend schwebte er über ihr. Auch die anderen verharrten in der Luft und beobachteten ihn. Mehrere von ihnen hatten in ihrem lebenden Fleisch Pfeile stecken. Andere waren von Schwertern, Klauen und Zähnen verwundet worden. Alle hatten von Rauch und Ruß verschmierte Körper. »Ich hätte voraussehen sollen, daß es dazu kommen wird«, sagte Rikash. »Was willst du?« Sie blinzelte. Was wollte sie? Der tote Alkert lag ihr schwer auf dem Gemüt. Sie hatte niemals versucht, mit einem zu reden oder auszuprobieren, ob sie sich dazu überreden ließen, ihr zu helfen, oder sie wenigstens zu ignorieren, was ihr bei so vielen Unsterblichen gelungen war. Warum? Waren sie wirklich schlecht? Oder trübte die Art, wie Alkerts geschaffen waren, ihren Blick für das, was für ein Tier »richtig« war? Sie hatte das Gefühl, daß ihr seit ihrer Ankunft hier jemand klarmachen wollte, daß ein Geschöpf nicht unbedingt schlecht sein mußte, nur weil sie das Aussehen dieses Geschöpfes nicht mochte. Und wessen Aussehen haßte sie am meisten? Schlimmer noch, konnte sie Maura sagen, daß sie ihren Freund getötet hatte? »Ich denke, ich will, daß dieses Blutvergießen ein Ende hat«, antwortete sie. Ihre Stimme quiekte ein wenig vor Verlegenheit und Nervosität. Sie räusperte sich. »Du und ich, wir haben keinen Streit miteinander, keinen wirklichen Streit. Wir mögen einander nicht, aber man kann nicht jeden umbringen, den man nicht mag. Ist es nicht so?« »Deine hinterwäldlerische Philosophie belustigt mich«, höhnte Rikash gedehnt. »Nur weiter.« »Bring die erdstampfende Hexe um!« fauchte das brünette Weibchen, das einst zu Maura gesagt hatte, Dhana sei eine Sturmflügel-Mörderin. »Still!« zischte Rikash sie an. Dhana wartete, bis sie alle ruhig waren. »Vielleicht hast du von meiner Treffsicherheit gehört. Ich verfehle mein Ziel nicht oft. Falls 204
du es nicht gehört hast, ich habe Königin Zhaneh Bitterklaues Auge ausgeschossen. Das war, bevor sie mich dazu zwang, sie zu töten.« »Aber dieser Schuß wurde mit einem Langbogen abgegeben«, stellte der Sturmflügel-Lord klar. »Mit der Armbrust bin ich ebenso gut. Innerhalb dieser Entfernung ist es, als würde man Fische in einem Faß schießen. Ich bin jedoch bereit zu verhandeln. Da du ein Freund von Maura bist.« »Du Angeberin!« bellte ein männlicher Sturmflügel. »Eine Armbrust hat keine besondere Schußweite. Fünfzehn Meter, wenn es gut geht. Stimmt doch, oder?« fragte er Rikash. Der Sturmflügel-Lord sah Dhana an und zuckte mit den Achseln. »Er ist neu aus den Göttlichen Reichen hergekommen. Er denkt, Menschen rennen bei unserem Anblick kreischend davon.« Dhana zielte, schickte den Pfeil los und schwang die Armbrust nach unten, um die Sehne erneut zu spannen und einen Pfeil zu plazieren. Und das alles, ehe der Neuankömmling bemerkte, daß der Pfeil seinen Flügel berührte. Eine einzelne Feder fiel heraus und stürzte in den See. Noch ehe sie die Wasseroberfläche durchstoßen hatte, lag der Bogen wieder an Dhanas Schulter, und sie war bereit, erneut zu schießen. »Mit dem hier habe ich eine Schußweite von zweihundert Metern«, rief sie. »Soll ich dir’s beweisen?« Rikash betrachtete sie eine lange Zeit, seine metallenen Schwingen fächelten die Luft. Dhana wartete. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme ruhig. »Ich bin weder so alt, wie Zhaneh Bitterklaue war, noch so listig oder so mächtig. Aber ich glaube, ich bin vielleicht weiser.« Zu seinem Gefolge sagte er: »Laßt uns verschwinden, meine Freunde. Wir müssen dem Kaiser berichten, daß er keine weiteren Opale mehr erwarten kann.« Er sah Dhana an und schüttelte den Kopf. »Ich vermute, wir haben beide den Verstand verloren. Bitte sag Maura, daß ich mich verabschiedet habe und ihr viel Glück wünsche.« Bis knapp zur Oberfläche des Sees hinuntergleitend, drehte er eine Kurve und wandte sich nach Süden. »Nein!« kreischte das laute Weibchen. Es schoß nach unten, die Krallen bereit zum Angriff. Hinter ihr kam in derselben Angriffshaltung das Männchen, dessen Federn Dhana geteilt hatte. Bei 205
dem von ihnen gewählten Angriffswinkel trafen die Sonnenstrahlen auf die Federn und blendeten Dhana. Sie geriet jedoch nicht in Panik, sondern lauschte auf den Körper, der sich ihr als erster näherte, und zielte. Die Augen von Sonnengeflimmer erfüllt, schoß sie. Das Weibchen schrie auf. Herunter mit der Armbrust, Fuß gegen den Kolben gestemmt, beide Hände an der Sehne, bis zum Abzug heruntergezogen! Etwas Großes klapperte in der Nähe. Sie duckte sich, als das Männchen über ihren Kopf wirbelte. Es würde gewiß zu einer erneuten Attacke wiederkehren. Ein neuer Pfeil angelegt! Ihr Blick wurde klarer. Der Sturmflügel kam herunter, er war direkt über ihr. Sie zielte, schoß. Der Pfeil bohrte sich in sein Kinn und kam am Schädel wieder heraus. Der Schlag warf das Ungeheuer zur Seite. Es krachte gegen die Außenmauer des Turms und stürzte auf die Erde, Metall schepperte. Das Weibchen war bereits im See, es ging unter, während sein Blut das Wasser rot färbte. Der Rest der Gruppe hatte von oben zugesehen. Gerade, als Dhana nach oben blickte, um festzustellen, ob sie sich anschickten, ihre Freunde zu rächen, drehten sie alle zusammen ab und flogen nach Süden. Dhana hatte sich so sehr auf die Sturmflügel konzentriert, daß sie vorübergehend den Kampf der Magier ganz vergessen hatte. Jetzt schaute sie hinunter. Numair war umhüllt von einer durchsichtigen, geleeartigen Masse, die weißglühend brannte. Sein Mund bewegte sich im Innern dieser brennenden Hülle. Sie schmolz dahin wie Eis bei Tauwetter. Die Flammen sackten in sich zusammen, als die Masse im Boden versank Tristan zerrte an den Fäden eines riesigen Seidenkokons. »Du bringst mich nicht zu diesem idiotischen Schwächling in Corus!« schrie er. Der Kokon flammte auf, verschwand und ließ ihn mit Asche bedeckt zurück. Er sah mitleiderregend aus, schwankte beim Stehen, sein Atem kam stoßweise. Er hob die Hände und schleuderte einen Sturm gelber Pfeile Numair entgegen, der sich dagegen abschirmte. »Tristan, es ist genug«, befahl der größere Magier. »Wenn du mich hetzt, werde ich etwas tun, was wir beide bedauern. Dein Tod wäre eine unverzeihliche Verschwendung deiner Talente.« 206
Tristan stierte ihn böse an. Schweiß bildete Spuren in der Asche auf seinem Gesicht. »Du winselnder, rückgratloser Bücherwurm!« Im Schotter zu seinen Füßen – einst waren es Felsbrocken gewesen – gingen ein Gewirr von Brombeersträuchern, der alte Kokon und dürre Blätter in Flammen auf. »Du denkst, du kommst ungeschoren davon, nicht wahr?« Der feurige Staubteufel heulte auf, um ein Tornado aus Flammen zu werden. »Du und dein ›Ehrenkodex‹, dein Gelabere über das, was wir den Unbegabten schulden. Ich fand dich schon in Carthak zum Kotzen, und ich tue es noch. Nun, du wirst nicht unversehrt davonkommen!« Er deutete auf Dhana, und das Flammenmeer raste auf sie zu. Sie feuerte. Numair sprach ein Wort, das die Luft aufschreien ließ. Der Tornado verschwand. Ihr Pfeil bohrte sich in den Baum, der einst Tristan Staghorn gewesen war. Dhana schnappte nach Luft und lehnte sich Halt suchend auf ihre Armbrust, denn ihre Knie zitterten. »So«, bemerkte sie, als sie wieder atmen konnte. »Ehm… Danke. War das ein Wort der Macht?« »Ja. Welche Baumart ist das, weißt du es?« »Ich finde es ziemlich unhöflich, ihn zu einem Baum zu machen und nicht einmal zu wissen, was für ein Baum er ist.« »Dhana!« »Apfel, würde ich sagen. Vermutlich ein Baum mit sauren Äpfeln, so wie ich ihn kenne. Wird dadurch in einem anderen Teil der Welt jemand verletzt?« Numair seufzte. »Ich wiederhole, der Gebrauch dieses Wortes bedeutet, daß es irgendwo einen Baum gibt, der jetzt… ein Zweibeiner ist.« Er sah sich um. Sein Steinpodest war noch immer unbeschädigt, aber der Krater darum herum war mindestens einen Meter fünfzig tief und einen Meter breit. »Wie komme ich hier raus?« Dhana fiel ein, daß sie noch etwas Wichtiges zu erledigen hatte. »Benütze ein Machtwort oder irgendwas«, rief sie und rannte zur Treppe. »Ich muß Belden und Yolane finden!« Belden war leicht zu finden. Er lag auf seinem Bett, in schlichtes Schwarz gekleidet, das Gesicht kalkweiß. Die Ursache seines letzten Schlafes sickerte aus einer umgekippten Tasse auf seinem Nachttischchen. Es war eine dicke, helle Flüssigkeit, die Dhana aus 207
Numairs Giftsammlung kannte. Daneben lag eine Nachricht in einer gestochen scharfen, energischen Handschrift. Sie wußte, es war ungezogen, anderer Leute Briefe zu lesen, aber sie wollte sehen, warum er den ihrer Meinung nach unrühmlichen Weg eines Feiglings aus einer Misere gewählt hatte, für die er selbst mitverantwortlich war. Auf dem Papier stand: »Sie hat erfahren, daß der König von unserem Plan weiß. Nirgendwo in Tortall sind wir mehr sicher, wenn der König ein Magier ist, der weiß, nach wem er suchen soll, sagt sie. Sogar die Bäume werden ihre Zweige ausstrecken, um uns zu fangen. Sie sagt, wir müssen fort, und daß wir in Carthak willkommen sein werden. Ich weigerte mich. Wir haben gespielt und verloren. Ich will nicht noch mehr Schande auf meinen Namen laden. Ich gebe ihr nicht die Schuld, daß sie mich vom Pfad der Treue gegen den König weggelockt hat. Ich hätte mich nicht überreden zu lassen brauchen. Ich allein trage die Verantwortung für meine Missetat, und daraus ziehe ich nun auch die Konsequenzen.« Dhana verließ das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Ihr war elend, und sie war zornig. Sie konnte jetzt nicht über Belden nachdenken. Wichtiger war, daß Mauras Schwester entkommen wollte. Mäuse! rief sie. Ist Yolane hier? Die Verneinung kam sofort. Yolane war schon lange fort. Sie ist weg, sagte Wolke im Stall. Es war etwa um die gleiche Zeit wie die Explosion im Turm. Ich versuchte, sie aufzuhalten, aber sie ist zu Pferd weggeritten. Dhana rannte nach draußen zu Numair. Er hatte inzwischen die Treppe erreicht und saß, den Kopf auf den Knien, völlig erschöpft auf den Stufen. »Yolane ist weg. Wir müssen hinter ihr her.« »Dhana, ich kann nicht. Im Augenblick bin ich vollkommen ausgelaugt.« Er war grau unter seiner dunklen Gesichtsfarbe. »Was ist mit Belden?« »Er hat sich selbst getötet, dort drinnen.« Sie deutete mit einer Kopfbewegung zum Schloß. »Wenn Yolane ungeschoren davonkommen will, muß sie sich nach Westen halten. Sie konnte 208
schließlich von hier aus sehen, daß es am nördlichen und südlichen Paß gerade jetzt ziemlich heiß hergeht.« »Dhana?« rief eine Stimme. »Du da?« Iakoju, mit einem Langbogen bewaffnet, der bei ihr wie ein Kinderspielzeug aussah, kam zum Tor herein. Bei ihr war das Rudel vom Langen See. Die Tiere rannten auf Dhana zu, um sie nach Wolfsart: zu begrüßen. Auch Numair wurde in die Zeremonie mit einbezogen. Kurzschnauze, Leichtfuß und Rötling machten sich eifrig daran, sein Gesicht zu waschen. Dhana sah die Menschenfresserin an. Auf ihrer tintenblauen, rußgeschwärzten Haut zeigten sich zahlreiche Quetschungen und Schrammen, und ein Riß in ihrer Tunika entblößte einen oberflächlichen Schnitt im Bauch. »Was ist los? Seid ihr zurückgetrieben worden? Wie bist du so schnell hierhergekommen?« »Nein«, antwortete Iakoju. »Wir gewonnen. Meine Brüder haben Männer eingesperrt, die noch leben. Zwei Magier tot, einer ist von Alkert gefallen, wie ich mit dem da geschossen hab’.« Sie hielt den Bogen in die Höhe. »Einer von vielen kleinen fleckigen Vögeln totgemacht.« »Stare«, sagte Dhana. »Gefleckte Vögel«, bestätigte Iakoju. »Ich hab’ Boot genommen, um dich zu finden. Rudel ist auch gekommen.« Für uns gibt es dort nichts mehr zu tun, erklärte Brokefang. Nachdem sich die Menschenfresser entschieden hatten zu kämpfen, konnte nichts mehr sie aufhalten. Die Menschen waren nach der Arbeit, welche die Tiere geleistet hatten, ohnehin verschreckt. Vielleicht hätten sie mit Hilfe ihrer Waffen und ihrer Pferde besser kämpfen können, aber die Pferde waren fort und die Waffen vernichtet. »Du siehst schlimm aus«, sagte Iakoju zu Numair. Er sah lächelnd zu ihr auf. »Du auch.« Dhana hatte eine Idee. »Wenn ihr Yolanes Geruch aufnehmt, könntet ihr sie verfolgen? Auch wenn sie zu Pferd ist?« Sie ist eine der Zweibeiner, die dies alles über uns gebracht haben? In Frostpelz’ Augen glitzerte es böse. 209
»All das ist in ihrem Namen geschehen«, antwortete das Mädchen. Dann werden wir sie finden, sagte Brokefang. Wo ist ihr Geruch? Der Blaue und Bißchen führten Dhana zu Yolanes Zimmer. Das Mädchen kehrte mit einer Handvoll edler Kleidungsstücke zum Rudel zurück Alle sogen aufmerksam schnüffelnd den zarten Gardenienduft ein, der aus den Kleidern aufstieg. Währenddessen legte Dhana ihren Gürtel ab, ihre Tasche, den Dolch und die Stiefel. Auch ihre Armbrust legte sie ab. »Was machst du da?« fragte Numair. »Das Rudel wird sie verfolgen, und ich gehe mit ihm, gewissermaßen. Allerdings muß ich mich in den See stellen, um meine Magie zu unterstützen. Ich bin entsetzlich müde, und ich will auf keinen Fall riskieren, daß sie entwischt.« Los, Brokefang! Ich komme nach! Numair protestierte nicht, als sie zu den Stegen rannte, wo die Boote des Lehens vor Anker lagen. Er hatte sie den Trick gelehrt. Wenn sie müde war, konnte sie ihre Macht dadurch verstärken, daß sie etwas unternahm, wodurch ihr kalt wurde oder noch besser, daß sie durchfroren und triefnaß wurde. Sie wünschte nur, daß das Wasser des Langen Sees Salzwasser gewesen wäre, denn das wirkte besonders gut. Du kannst nicht alles haben, sagte sie zu sich selbst, während sie ein Seil an der Trittleiter festband, die zum Wasser hinunterführte. Als sich der Knoten als fest genug erwies, sprang sie hinein. Fast blieb ihr die Luft weg: Das Wasser war eisig, dank des Bergbaches. Sie band sich das Seil um die Taille, klammerte sich an die letzte Stufe und schickte ihre Gedanken aus, lauschte auf die Geräusche des Rudels. Es befand sich nahe dem Ende des Dammes. Ihre Gedanken wurden unscharf, als sie sich mit Brokefang vereinigte. Als sie wieder klar denken konnte, wußte sie, daß sie nicht im Wasser bleiben konnte, sonst würde sie hinter dem Rudel zurückbleiben. Sie hievte sich mühsam die Treppe hoch, scharrte mit ihren Pfoten auf den hölzernen Stufen. Die Anstrengung, ihren durchnäßten Körper auf die Leiter zu stemmen, erfüllte sie mit Schmerzen. Ihre Muskeln schrien. Endlich war sie draußen und sprang die restlichen Stufen zum Ufer empor. Als sie oben angekommen war, zerrte etwas an ihrer Körpermitte, ein viel zu locker geschlungenes 210
Seil. Das brauchte sie jetzt nicht mehr. Sich windend befreite sie sich davon, schüttelte literweise Wasser aus ihrem Fell. Dann hielt sie Ausschau nach den Wölfen. Sie erwarteten sie, und sie rannte ihnen entgegen. Gehen wir, sagte sie, als das Rudel sie noch einmal begrüßen wollte. Brokefang stellte sich vor sie hin, Ohren und Schwanz aufgerichtet, die Oberlippe ein Stück weit über die Zähne emporgezogen. Willst du denn die Jagd anführen? fragte er. Sie sah ihn an, als sei er verrückt geworden. Wie kommst du denn darauf? Du verstehst mehr von dieser Art Jagd als ich, erwiderte sie. Ich werde dir folgen. Sehr gut. Die Oberlippe ging wieder nach unten. Einen Augenblick lang drehte er sich und suchte im Staub. Sie sah ihm beeindruckt zu. Wie kann er sich in all diesen unglaublichen Gerüchen zurechtfinden, fragte sie sich. Es gibt hier Dutzende, ein verwirrendes Muster von Gerüchen. Kommt, befahl Brokefang und trabte davon. Dhana ließ Frostpelz als nächste gehen und hielt sich in einiger Entfernung für den Fall, daß die Leitwölfin sich entschließen sollte zu beißen. Dhana folgte ihr und den anderen Wölfen, die in einer Reihe hintereinander liefen. Außerhalb des Dorfes nahm sie den ersten schwachen Geruch von Gardenie und Pferd wahr. Es war der neueste Geruch auf einer Straße voller Spuren des vergangenen Tages. Zum erstenmal war sie froh, daß die Menschen es vorgezogen hatten, heute unsichtbar zu bleiben. Dadurch hob sich Yolanes Spur deutlich von den anderen ab. An der Kreuzung mit der Nordstraße trafen sie Fleckchen und Lümmel. Mit flach angelegten Ohren und rollenden Augen wichen die Pferde so weit wie möglich von der Straße ab und warteten, bis die Wölfe vorüber waren. Nur weil sie diese Wölfe kannten, blieben sie überhaupt in der Nähe der Straße. Dhana blieb stehen. Fleckchen, Lümmel, rief sie. Ich bin’s. Habt keine Angst. Dhana? Lümmel machte einen zögernden Schritt näher. Bist du das wirklich? 211
Dhana? Auch Fleckchen näherte sich einen halben Schritt, völlig verwirrt. Numair ist mit Wolke im Schloß, erzählte sie ihnen. Geht weiter. Wir sehen uns bald. Komm jetzt! befahl Brokefang. Du hältst die Jagd auf! Mit einem Seufzer folgte Dhana ihm. Dhana wußte nicht, wieviel Zeit verging, während sie dem Geruch die Straße entlang zum westlichen Paß folgten. Brokefang hielt sie zu einer strengen Folge von kurzen Galopps und längeren Perioden leichten Trabs an. Dhana frohlockte über die Kraft in diesem fremden und doch vertrauten Körper. Als sie noch in ihrer eigenen Haut steckte, war sie müde gewesen, jetzt war sie es nicht mehr. Sie konnte den ganzen Tag rennen, wenn das Wetter so blieb wie jetzt, mit einem Hauch von Kühle in der Luft. Das Rudel hatte die bewaldete Seite der Berge erreicht, als sie in ihren Pfoten einen beginnenden Schmerz verspürte. Sie sind zart, weil du neu bist. Das war Kurzschnauze. Du mußt deine Polster und deine Lungen abhärten, um mit dem Rudel mithalten zu können. Du mußt üben. Das mußten wir auch, rief Zwerg vom Ende der Reihe her. Du kannst es auch. Dhana leckte sich eine Pfote, dann hatte sie eine Idee. Sie watete in den Bach neben der Straße, ließ ihre wunden Füße vom Wasser zuerst bespülen, dann betäuben. Daran hätte ich nie gedacht, bemerkte Kurzschnauze. Dann sind Zweibeiner also wenigstens für etwas gut, sagte Dhana. Spielerisch schnappte sie nach ihm und er nach ihr. Das machte Spaß. Schluß, befahl Brokefang. Und benehmt euch. Er hatte jeden Haufen Pferdekot auf der Straße untersucht. Diesmal rief er alle Rudelmitglieder zu sich. Schwanzwedelnd versammelten sie sich um den Kot. Die Spur war erst eine Stunde alt. Das Pferd war jung, gesund, weiblich und überhitzt. Das Rudel beschleunigte seinen Trab. Dhana keuchte, der anstrengende Tag machte sich selbst in ihrer Wolfsgestalt bemerkbar. Als sie das nächstemal anhielten, um die Hinterlassenschaft der Stute zu untersuchen, wedelten die Schwänze 212
stärker als je zuvor. Dieser Haufen war weich und naß, kaum fünf Minuten alt. Ganz in der Nähe markierte ein Spritzer schweren Pferdeschweißes die Spur auf dem Boden. Die Reiterin der Stute trieb ihr Pferd ständig voran. Sie hatte ihr Pferd auf der Steigung zum Paß nicht ruhen lassen, es vielleicht zu noch größerer Eile angetrieben. Und doch hatte sie ihren Vorsprung vor den Wölfen verspielt. Sie preschten vorwärts. Jetzt fingen ihre Nasen den Geruch der Stute mit dem Wind auf, gemischt mit Sattelleder, Öl und Gardenie. Die Straße führte auf eine Bergkuppe hinauf. Oben angekommen sah das Rudel unter sich Pferd und Reiterin. Dunkel vor Schweiß, trank die Stute zu hastig aus dem Fluß. Die Wölfe schwärmten aus und bildeten nebeneinander eine geschlossene Reihe. Den Geruch ihrer Jagdbeute in der Nase, vergaß Dhana ihre schmerzenden Füße und rannte mit ihnen. Sie wußten, die Stute mußte ihren Geruch bald aufnehmen, aber dies hier war ein guter Platz, um sie einzukreisen. Sie konnte nur versuchen, nach Westen zu entkommen, und Dhana hatte bereits die Murmeltiere aufgerufen, die Straße abzusperren. Zu beiden Seiten war das Pferd von Felsen und lockerer Erde eingeschlossen. Dort Fuß zu fassen war für die Wölfe kein Problem, wogegen das Pferd zum Krüppel werden konnte. Die Stute witterte sie jetzt und wirbelte herum, das Weiße in ihren Augen war zu sehen. Yolane, die im Damensattel ritt, wäre beinahe abgeworfen worden. Sie klammerte sich fest und versuchte, ihr Reittier mit der Peitsche anzutreiben. Die Wölfe verteilten sich über die Felsen zu beiden Seiten von Pferd und Reiterin und umzingelten sie. Dhanas Blut kochte. Rennen bedeutete für ihre Wolfsnatur Jagd. Und Jagd bedeutete Töten. Am liebsten wäre sie der Stute an den Hals gesprungen, um sie niederzureißen und zu verschlingen, doch die Vorsicht hielt sie zurück, obwohl sie dagegen ankämpfte. Die Stute war mit hartem Metall beschlagen. Dagegen anzustürmen würde gebrochene Rippen oder einen zerschmetterten Kopf heraufbeschwören. Wenn nicht Yolane darauf reiten würde, hätte sich 213
das Wolfsrudel niemals an eine derart gefährliche Beute herangemacht. Die Wölfe wichen vor den Hufen zurück und warteten. Die Stute wartete ebenfalls. Yolane schrie und drosch mit der Reitgerte auf das Pferd ein, stieß es heftig mit den Fersen in die Flanken. Das Pferd scheute und kam in Reichweite von Dhana. Das Wolfs-Mädchen vergaß die Gefahr und stürzte nach vorn. Löwenherz warf sich gegen ihre Seite und stieß sie zu Boden. Dummkopf! schimpfte das Rudel wie aus einem Mund. Sie wird dir das Gehirn zerschmettern, und wir haben eine Jägerin weniger! Wie benommen legte Dhana die Ohren flach an, winselte und kehrte auf ihren Platz im Kreis zurück. Dort leckte sie sich die Rippen und dachte: Was mache ich denn da? Sie richtete sich auf und rief: Huf-Schwester! Bebend sah die Stute sie an. Du bist nicht von der Art der Hufträger, sagte sie schwer atmend. Du bist eine Jägerin. Dich will ich nicht in meiner Herde haben! Ich bin keine Jägerin, keine wirkliche Jägerin. Das Mädchen ließ ein wenig Magie frei, um sich mit dem Pferd zu verbinden. Kurz veränderte sie ihre Gestalt, sie versuchte, Hufe zu bekommen, doch sie hielt ihre Wolfsgestalt fest, damit sie ihr nicht entglitt. Huf-Schwester, sagte sie. Wirf die Frau ab. Lauf zu deinem Stall. Es wird dir nichts geschehen. Nicht dich wollen wir. Sie ist es, die wir jagen. Die Stute zögerte. Wutentbrannt schlug Yolane auf die empfindlichen Ohren ihres Reitpferdes. Das Pferd hatte genug erduldet. Es bäumte sich auf, warf die Frau ab und raste nach Hause. Diejenigen Wölfe, die zwischen ihm und dem Dorf standen, wichen zur Seite und ließen es vorbei. Blaß und still lag Yolane auf dem Boden. Dhana lief rasch zu ihr und legte ihre Nase dicht an das Gesicht der Frau. Ihre scharfen Ohren hörten die leisen Atemzüge. Die Lady von Dunlath lebte. Das Rudel entspannte sich und ließ sich im Kreis um Yolane nieder. Dhana ging zum Fluß. Dort setzte sie sich und begann, ihre wahre Gestalt wieder 214
anzunehmen. Dies war schwerer, als sie erwartet hatte. Ihrem Körper gefiel die Wolfsgestalt. Ungeachtet der Wunden und der heißen Füße fühlte sich die Wolfsgestalt gut an, beinahe natürlich. Das Mädchen mußte gegen das Gefühl ankämpfen, daß es dazu bestimmt war, ein Wolf zu bleiben. Jede kleine Ablenkung – Vogelgesang, die herumtobenden Welpen, der Klang eines entfernten Horns – bedeutete, daß sie jedesmal wieder von vorn beginnen mußte. Endlich fand sie ihr Zweibeinerselbst und schlüpfte hinein. Als sie die Augen aufschlug, machte sie eine unangenehme Entdeckung. Ihre Kleider waren weg. Sie trug nichts am Leib als die Silberklaue des Dachses an der Schnur um ihren Hals. »Und warum trage ich dich und sonst nichts?« fragte sie. Wo ist dein Fell? Badest du jetzt? fragte Zwerg neugierig. Glücklicherweise hatte Dhana den Großteil ihres Gepäcks in den nahen Höhlen zurückgelassen. »Ich bin sofort wieder zurück«, sagte sie zu den Wölfen. »Laßt sie nirgendwohin gehen.« Als sie bekleidet zurückkam, war Yolane bei Bewußtsein. Sie begrüßte Dhana mit einer Flut von Schimpfworten, die bei weitem alles übertrafen, was das Mädchen je von den Soldaten gehört hatte. Sie hörte zu, bis die Frau sich zu wiederholen begann, dann sagte sie: »Haltet endlich den Mund.« Da es ihr gegen den Strich ging, so unhöflich zu sein, selbst wenn es sich um Yolane handelte, fügte sie hinzu: »Bitte.« Zu ihrer Überraschung schluckte Yolane und schwieg dann. So ist es viel besser, sagte Brokefang. Die Wölfe hatten sich aus dem Kreis um ihre Gefangene nicht fortbewegt. Willst du sie allein mitnehmen, oder sollen wir sie treiben? Ich denke, du brauchst unsere Hilfe. »Auf die Füße, Mylady«, befahl Dhana. »Wir werden jetzt alle zusammen ins Dorf zurückgehen. Wenn Ihr Euch anständig benehmt, wird Euch nichts geschehen. Versucht nur nicht, wegzulaufen, sonst werden meine Freunde hier Euch schnell zur Strecke bringen.« Yolane stand auf. »Wenn sie vorhaben, mich zu fressen, sollen sie es schnell erledigen.« Dhana seufzte. »Wölfe fressen keine Menschen.« 215
Wir könnten es ja einmal versuchen, erbot sich Kurzschnauze. Nur um zu sehen, wie sie schmeckt. Die da ist für das Menschenrudel anscheinend sowieso wertlos. Er trat dich an die Frau heran, grinste zu ihr empor und leckte sich die Lippen. Yolane wich so schnell zurück, daß sie über ihre Röcke stolperte und hinfiel. Das war jetzt eine tolle Hilfe, schalt Dhana ihren Freund. »Los, weiter«, befahl sie, als die Adlige wieder aufstand. »Ihr geht vor mir.« Yolane klopfte sich den Staub vom Hinterteil und ging mit hoch erhobener Nase an Dhana vorbei. Die Wölfe scharten sich um die beiden. Es war klar, daß dies kein angenehmer Spaziergang für die Gefangene werden sollte. Oft schossen sie auf sie los und ließen unmittelbar neben ihren Händen ihre mächtigen Kiefer zuschnappen. Kurzschnauze hatte seinen besonderen Spaß daran, Yolane zu beschnüffeln und immer wieder an ihrem Rock herumzuknabbern. Dhana beschloß, sie nicht zur Ordnung zu rufen. Sie hatten hart gearbeitet und brauchten ein bißchen Spaß. Die Frau, die dazu beigetragen hatte, daß so viel Unheil über Dunlath hereingebrochen war, sollte ruhig auch einmal Angst haben. Auf halbem Weg zum Dorf kamen ihnen Reiter entgegen, angeführt von Numair, dem Königskämpen und Sir Raoul. Die Ritter trugen Rüstungen, die von den harten Kämpfen des Tages gezeichnet waren. Die Krieger hinter ihnen, eine zusammengewürfelte Kompanie aus der Königlichen Reiterei und dem Königlichen Heer, sahen ebenfalls sehr mitgenommen aus. Als die beiden Gruppen einander trafen, grinste Alanna Dhana an. »Ich höre, du kannst seit neuestem deine Gestalt verändern…« »Irgendwelche unangenehmen Nebenwirkungen?« fragte Numair. »Ich hatte meine Kleider nicht mehr, als ich mich zurückverwandelte. Glücklicherweise waren wir in der Nähe der Höhlen. Wie geht’s Tkaa und Maura und Tait und Hüpfer?« »Sie warten im Schloß«, sagte Numair. »Das Eichhörnchen braucht deine Hilfe.« Sir Raoul saß ab und zerzauste Dhanas Haar mit seiner behandschuhten Hand. »Gute Arbeit«, sagte er lachend. »Wir werden 216
dich zum Offizier des Königs ernennen. Weil wir gerade davon sprechen…« Er ging zu Yolane und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Mit jetzt förmlicher Stimme sagte er: »Yolane von Dunlath, hiermit verhafte ich Euch im Namen von König Jonathan und Königin Thayet von Tortall. Ihr werdet des Hochverrats angeklagt.« Das Wolfsrudel erhob seine Stimme zu einem Triumphgeheul. Yolane erschauderte. »Ich bekenne mich schuldig. Wollt Ihr mich jetzt bitte von diesen Monstern wegbringen?« »Sie sind anderer Ansicht darüber, wer hier das Monster ist«, erwiderte Dhana. »Und ich denke, sie haben recht. Läßt mich irgend jemand aufsitzen? Meine Pfoten – meine Füße – bringen mich um.«
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Epilog Dhana hielt sich im Obstgarten der Burg auf und streichelte den Blauen und Bißchen ein letztes Mal, als Maura sie fand. Die Augen der jungen Adligen waren rot und ziemlich verquollen. »Ich wünschte, du würdest nicht weggehen«, sagte sie und schniefte. Dhana lächelte. »Du wirst kaum merken, daß ich weg bin. Du warst derart beschäftigt mit Beldens Beerdigung und der Ausarbeitung eines Plans, damit die Menschenfresser ihre Farmen bekommen.« »Aber wenn der König mir einen Vormund schickt, werde ich nichts mehr zu tun haben.« »Aber natürlich. Tkaa und die Tiere sagten schon, sie möchten mit niemand anderem zu tun haben als mit dir. Du bist die einzige Adlige in Tortall mit einem Basilisken, Menschenfressern, Fledermäusen, Wölfen und Eichhörnchen als Ratgeber, wie man ein Lehen verwaltet. Ganz zu schweigen von einem Steinadler.« Sie beschattete ihre Augen und sah zum Turm. Zweige ragten aus dem Fenster von Tristans Arbeitszimmer heraus. Es war eigens erweitert worden, damit Sonnenklaue dort sein Nest einrichten konnte. »Vergiß nicht den Blauen und das Bißchen.« Maura streichelte die Katzen zärtlich. »Katzen sind keine Ratgeber für besondere Fälle. Sie geben uns die ganze Zeit Ratschläge, ob wir wollen oder nicht.« Dhana zauste sanft das Haar der Freundin. »Ich besuche dich, ich verspreche es. Allerdings nach der Großen Kälte. Ich habe zwölf Jahre lang Bergwinter durchgemacht, weil ich keine andere Wahl hatte. Das reicht.« »Aber der Winter hier ist einfach wunderschön«, betonte Maura. »Der See ist zugefroren, man kann Schlittschuh laufen, und die Bäume sehen aus, als seien sie mit Zuckerguß versehen…« Dhana schauderte. »Genug! Deine Schilderung ist zu gut!« »Wirst du schreiben? Mir erzählen, was du machst, und Kätzchen und Numair?« 218
»Ich bin nicht sehr gut im Briefe schreiben«, sagte Dhana. Der sehnsüchtige Blick des anderen Mädchens ließ sie seufzen. »Ich versuch’s. Ehrlich.« Die meisten ihrer Freunde – Iakoju, Maura, Tait, die Hunde, der Blaue und Bißchen – begleiteten Dhana, Numair, Kätzchen und ihre Pferde nur bis zum Stadtrand und blieben dort stehen. Dhana umarmte Maura und Iakoju und streichelte jeden Hund. Die Katzen verabschiedeten sich von dem kleinen Drachen, und Dhana nahm Tait beiseite. »Keine Wolfsjagd mehr?« fragte sie ihn. »Unnötig, da Brokefang versprochen hat, die Farmtiere in Ruhe zu lassen.« Der Jäger zwickte sie in die Nase. »Weiryn möge dich schützen, Mädchen.« »Paß auf die Hunde auf und auf Maura.« Tkaa, der Kätzchen trug, und Hüpfer, der bei Dhana mitritt, blieben bei der kleinen Gruppe aus Pferden und Menschen, die die Straße nach Süden einschlug. Jedesmal, wenn Dhana oder Numair zurückschauten, waren die anderen noch immer da und sahen ihnen nach, bis die Uferstraße sie ihren Blicken entführte. Kätzchen pfiff unglücklich vor sich hin. Sie und die Katzen waren in den drei Wochen seit Yolanes Gefangennahme gute Freunde geworden. Tkaa redete murmelnd in der Drachensprache auf Kätzchen ein. Das Rudel vom Langen See tauchte lautlos zwischen den Bäumen auf und schloß sich den Reisenden an. Nachdem der Königskämpe und die Krieger ihre Gefangenen nach Süden gebracht hatten, um sie vor Gericht zu stellen, hatten die Wölfe die bewohnten Gegenden verlassen. Jetzt, wo sie mit den Menschen des Tales im Einvernehmen lebten, kehrten sie zu ihren früheren Gewohnheiten zurück. Dhana stieg von Wolke ab und begab sich unter ihre Freunde, teilte ein letztes Mal ihre Gedanken, wobei sie darum kämpfen mußte, ihre eigene Gestalt zu behalten. Der Wechsel in die Wolfsgestalt hatte seinen Tribut gefordert: Sie hatte mehrere Tage im Bett gelegen und abscheulichen Kräutertee getrunken, den Numair ihr gab, um den Schmerz in all ihren Gliedern zu lindern. Es würde wohl eine lange Zeit vergehen, bis sie sich wieder vollständig verwandelte. Und dann hoffte sie, war ihr Körper an derartige Veränderungen besser gewöhnt. 219
Im Augenblick begnügte sie sich damit, in einem Universum intensiver Gerüche und Geräusche zu wandeln, welche das Rudel mit ihr teilte. Am Mittag machten sie in der Nähe des Platzes Rast, wo einst das südliche Fort gestanden hatte. Es war eine Ruine. Innerhalb der geschwärzten Überreste der Mauer waren keine Gebäude mehr zu sehen. Dhana betrachtete ehrfurchtsvoll das Werk der Zerstörung. »Fäßchen mit Mehl haben das zustande gebracht?« »Wenn Mehl erhitzt wird und unter Druck steht, explodiert es«, antwortete Numair. »Am Tag bevor die Barriere fiel, hatten sie Vorräte für das gesamte Tal bekommen. Maura hätte es nicht besser machen können, auch wenn sie Fässer mit Schwarzpulver in die Luft gejagt hätte.« Kopfschüttelnd betrachtete Dhana die leere Einfriedung, wo Schwarzdorn und seine Söldner sich aufgehalten hatten, bis sie zusammen mit Yolane nach Süden gebracht worden waren. Nachdem sie schon gewarnt waren, konnten das Königliche Heer und die Reiterei Tristans Verbündete ohne Blutvergießen festnehmen. Es bedurfte nur noch der Hilfe eines Quentchens Magie von Numair und der Löwin. Nun war nichts weiter als dieser leere, eingezäunte Hof übriggeblieben, um zu zeigen, daß einmal Söldner nach Dunlath gekommen waren. Hüpfer teilte sich das Essen mit Dhana, indem er geschickt mit seiner linken Vorderpfote Leckerbissen angelte. Beinahe wäre Hüpfer hier in diesem Fort umgekommen, als er einen Sturmflügel davon abhielt, Tait zu töten. Dhana hatte die Pfote gerettet, aber sie konnte nichts tun, um die Empfindlichkeit der Knochen zu lindern. Jetzt ließ sie das Eichhörnchen ein letztes Mal in ihren Taschen herumkramen. Nachdem es seinen Raubzug beendet hatte, preßte Hüpfer seine kalte, nasse Nase an die von Dhana. Seine Schnurrhaare kitzelten. Es war lustig, sagte er. Wir hatten viel Aufregung vor der Großen Kälte. Wir haben gegen das Böse gekämpft. Meine Kinder werden es wissen und ihre Kinder und jedes andere Eichhörnchen in ganz Dunlath bis in alle Ewigkeit. »Ich weiß. Ich nehme nicht an, daß du mit uns kommen willst?« 220
Nein, antwortete Hüpfer. Irgend jemand muß Maura sagen, wie wir Nager uns fühlen, und die Mäuse werden’s nicht tun. Sie haben zu viel Angst vor dem Blauen und Bißchen. »Paß auf dich auf«, sagte sie und wischte sich die Augen an ihrem Ärmel ab. »Du hast genauso viele Leben wie eine Katze, weißt du.« Er gab ihr einen letzten Eichhörnchenkuß und erlaubte Tkaa dann, ihn hochzuheben und in seine Tasche zu stecken. »Paß auf meine kleine Kusine auf«, sagte der Basilisk mit seiner flüsternden »menschlichen« Stimme. »Laß sie nicht so viele Kartoffeln und Kekse essen. Sie wird sonst zu dick.« Dhana lächelte ihn an, und ihre Lippen zitterten ein wenig. »Paß du auf unsere Freunde auf. Laß nicht zu, daß die Menschen die Tiere so schikanieren, wie sie es taten, bevor wir hierherkamen.« »Ich bezweifle, daß die Tiere ihnen das erlauben werden«, versicherte Tkaa ihr. Er berührte sanft ihre Wange und beugte sich zu Numair nieder. »Ich werde euch besuchen, wenn sich hier alles eingespielt hat«, versprach er. Numair lächelte den Basilisken an. »Ich werde Steine für dein Willkommensfest sammeln.« Tkaa nickte – er hatte auch nichts anderes erwartet – und entfernte sich auf der Straße in Richtung Burg. Bevor sie ihren Blicken entschwanden, sah Dhana, wie das Eichhörnchen auf den Kopf des Basilisken kletterte, von wo aus es besser sehen konnte. Kätzchen zirpte leise, als Dhanas Augen wieder einmal undicht wurden. »Abschied nehmen ist immer eine traurige Angelegenheit«, sagte Numair weich. Deshalb verabschieden Wölfe sich nicht, bemerkte Leichtfuß, und Dhana übersetzte. »Ich habe schon immer gewußt, eure Rasse ist klüger als die meine«, sagte der Mann und lächelte. Auch wir wissen das, pflichtete Kurzschnauze ihm bei und brachte Dhana zum Kichern. »Schluß mit dem Trübsalblasen«, sagte sie und stand auf. »Gehen wir weiter.« Sie harten die breite Klamm erreicht, wo Fluß und Straße Dunlath verließen – genau die Stelle, an der Tristan geplant hatte, Blutregen 221
hineinzuschütten -, als Dhana aus den Augenwinkeln auf einem nahen Felsband etwas Weißes aufblitzen sah. Ein riesiger Wolf stand dort und beobachtete sie gelassen. »Brokefang«, fragte Dhana, »hast du nicht gesagt, hier sind keine anderen Wölfe?« Das ist der Alte Weiße, antwortete Brokefang. Der Fleck hinter ihm, der aussieht wie ein Schatten, das ist seine Gefährtin, Nachtschwarz. Eine tiefere Stufe ihrer Magie anrufend, sah Dhana erneut hin. Als sie den Alten Weißen und Nachtschwarz entdeckte, waren sie in Flammen aus silbernem Feuer gehüllt, von der gleichen Art, wie sie es von ihrem Ratgeber, dem Dachs, her kannte. Sie berührte die Silberklaue an ihrem Hals. »Ich hoffe, ihr seid glücklich mit alldem hier«, rief sie. »Gib bloß nicht mir die Schuld, wenn die Tiere hier euch Göttern gegenüber nicht mehr so gehorsam sind wie zu der Zeit, bevor ihr mich hergebracht habt, um sie Dinge zu lehren.« »Mit wem sprichst du?« fragte Numair. »Mit dem Alten Weißen«, sagte sie. »Er ist dort oben, er und seine Gefährtin.« Sie deutete zum Felsband hinauf, aber die Wolf-Götter waren verschwunden. »Sie waren dort.« Als sie sich nach dem Rudel vom Langen See umsah, entdeckte sie, daß auch dieses verschwunden war, allerdings auf natürlichere Weise. Die Wölfe waren im Wald untergetaucht, der sich am Berghang erstreckte. »Gute Jagd«, rief sie ihnen nach. Aus den Schatten unter den Bäumen hörte sie ihre Freunde ihr das gleiche wünschen. Numair zauste Dhana das Haar. »Laß uns heimgehen, Zauberlehrling.«
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