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Wurdack Verlag
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In der eBook-Reihe sind bereits erschienen: Pandaimonion ‚e‘ Compositum Deus ex Machina 4 nominierte Erzählungen Stefan Wogawa Die nominierten Erzählungen Andrea Tillmanns Phantastische Erzählungen Vera Klee & Andrea Tillmanns Der kleine Igel Muki Heidrun Jänchen 3 Fantasy-Erzählungen Weitere eBooks sind in Vorbereitung
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Herausgebers oder der Autoren reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Das Copyright der Geschichten liegt bei der Autorin. Originalausgabe (c) 2006 WurdackVerlag, Nittendorf Covergrafik: Ernst Wurdack www.wurdackverlag.de
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Impact Antje Ippensen
Alles wandelt sich Überschuss, 2005
Heidrun Jänchen
Fallstudie: Terroristin Jenny S. Überschuss 2005
Stefan Wogawa
Golem & Goethe Golem & Goethe, 2005
Bernhard Schneider
Interferenz Golem & Goethe, 2005
Herausgegeben von Armin Rößler Wurdack Verlag
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Antje Ippensen
Alles wandelt sich Riesenhaft – doch zugleich unendlich zart wirkend – segelte ein transparentes Blatt durch den Weltraum. In den Blattadern fand eine erregte Diskussion statt, grün und feucht ... und auf ihrem Höhepunkt auch einmal dampfend wie ein Stück Regenwald. Ein Stückchen Regenwald im Innern eines blattförmigen Raumschiffs, unterwegs auf einer elementar wichtigen Mission. Seine drei Passagiere waren von ihrer momentanen Erscheinungsform her – um Energie zu sparen – bloße Keime mit einem winzigen Spross. Für sie stellten die Blattadern Korridore und Räume dar. Winzige, junge Pflänzchen, das schienen sie zu sein – aber sie sprachen miteinander wie gestandene Bäume mit rissiger, narbiger Rinde. Sie waren müde, sie wollten ruhen. Aber die Mission war wichtig. Die Verantwortung groß. Wandlung-im-Silber empfand den Disput beinahe wie einen körperlichen Schmerz. Und doch fühlte sie auch Verständnis für ihre Partner, Ton-aus-Licht und Klangder-Frucht; aus ihrer Sicht verdienten beide Seiten Respekt. Eine fruchtbare, grünende Einstellung. Schon als Setzling war Wandlung gern in die Rolle der Vermittlerin geschlüpft. Die Mission war lang gewesen, sehr lang, und nun standen sie vor einer irreversiblen Entscheidung. Zwar ernährte sich BLATT, ihr Raumschiff, von freier radikaler Energie im All, hatte außerdem große Speicherkapazitäten und konnte beinahe unendlich weit fliegen. Aber eben doch nur beinahe. Es war die Zeit gekommen, da BLATT zu altern begann, und nur eine sofortige Umkehr hätte das Raumschiff wieder verjüngen können. 4
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Ah, eine Umkehr zur GRASWURZELDIMENSION! Im Grunde ihrer grünen Seelen ersehnten sie dies. Alle drei. Diese letzte Entscheidung war die schwerste. Sie wog so schwer wie viele Millionen Tonnen Muttererde. Wovon es auf dem Planeten, den BLATT nun ansteuerte, nicht eben viel zu geben schien. Und das, was vorhanden war ... So etwas hatten sie noch nie gespürt. Je näher sie dem in eine trübe blaue Aura gehüllten Planeten kamen, desto stärker und unheilvoller wurde dessen giftige Ausstrahlung. DER LETZTE PLANET auf ihrer Liste. In der heimatlichen GRASWURZELDIMENSION gab es kein hierarchisches System, niemand befahl ihnen, etwas derart Gefährliches zu tun. Die Liste war nur ein Orientierungsinstrument. Sollten die drei diesen letzten Auftrag also noch annehmen oder nicht? Ton-aus-Licht war dagegen. Dieser Planet verdiene es nicht, gerettet zu werden, meinte er. Klang-der-Frucht war dafür. Jeder Planet sei es wert, gerettet zu werden, hielt er dagegen. Also oblag es Wandlung-im-Silber, die Raupe auf dem Grashalm zu sein, damit dieser sich neige. BLATT alterte schneller, je tiefer es in den Bann des Planeten geriet, und so musste sie schnell denken. »Ich verstehe Tons Bedenken und sogar sein moralisches Urteil, aber ich kann fühlen, wie sehr sich gerade dieser Planet nach Frieden sehnt. – Wir tun es.« Das war Graswurzeldemokratie. Und so sank BLATT auf den Planeten nieder und zerfiel augenblicklich in der giftgetränkten, seuchengeschwängerten Atmosphäre. Die drei Keime hatten sich mit einer doppelten NanoSchicht geschützt. Nur für die Wahrnehmungsorgane der Pflanzenwesen zu erkennen, schimmerten die Membranen silberzimtig. Wurdack Verlag
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Sie berieten sich kurz, ehe sie sich trennten. Sie waren tapfer, auch wenn sie ganz genau wussten, dass sie nun nie mehr zurückkehren würden. Niemals mehr heim in die GRASWURZELDIMENSION, es sei denn, in dieser kranken, zerstörten Welt entwickelte sich ein neues BLATT. Nicht sehr wahrscheinlich. »Die Wahrscheinlichkeit beträgt etwa eins zu sechzehn Millionen«, sagte Ton-aus-Licht bitter. Alle drei Keime wurden blass vor Seelenpein. Wie zerstörerisch, wie KRANK mussten die Bewohner dieses Planeten sein ...? Denn eins stand fest: Das DÜRREDESASTER ringsum war grob-schmutziges Fluch-derIntelligenz-Handwerk, keineswegs etwa naturgewachsen. »Was wissen wir denn über die?«, fragte Ton und meinte eben die Verursacher des DESASTERS. »Sie nennen sich selbst Menschen«, antwortete Klang. »Und was bedeutet das?«, wollte Wandlung wissen. »Die Geräuschlaut-Raschzackigen. – Die gute Nachricht dabei ist: Es gibt nur noch sehr wenige von ihnen. Sie haben es geschafft, sich beinahe vollständig selbst auszulöschen ...« * Die drei trennten sich und wanderten fort, in jene Gebiete, die sich noch am ehesten für eine Heilung eigneten. Allerdings achteten sie auch darauf, dass ihre Zielregionen wiederum nicht zu weit auseinander lagen, um einander notfalls schnell durch direkte Aktionen unterstützen zu können. Über das morphogenetische Feld konnten sie zudem Mitteilungen austauschen. Das M-Feld war die in der GRASWURZELDIMENSION am häufigsten benutzte Form der Kommunikation, und es hatte den Vorteil, dass es immer und überall funktionierte. Die farbigen Schwingungen, die klingenden Duftbilder, die gesendet und empfangen wurden, transportierten 6
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– über die eigentliche Sender-Botschaft hinausreichend – wertvolle Informationen, da stets auf ihrem Weg alles und jedes, was von den Schwingungen gestreift wurde, einer biochemischen Analyse unterzogen wurde. Manchmal verirrten sich die Impulse, vor allem dann, wenn es viele Störenergiefelder gab wie in dieser disharmonischen Umgebung; aber früher oder später wurden sie eingefangen. Der einzige Nachteil war, dass das sendende Individuum jeweils einige Minuten benötigte, um das M-Feld aufzubauen. * Der Grund der Wüstenei bestand aus grauen Schieferplatten, die so aussahen, als seien sie von brutalen Riesenhänden zusammengedrückt und ineinander verschoben worden. Keine Krume Humus. Kein Leben. Keine leichte Aufgabe für Wandlung-im-Silber. Der trüb verschleierte Himmel machte alles noch schwieriger. Wandlung-im-Silber war froh über ihre ausreichenden Energiereserven. Ein oder zwei Energiepäckchen waren zwar »eingesponnen«, aber sie hoffte, dass sie diese nicht würde verwenden müssen. In der Ferne, hinter den grauen Bergen, schien sich tatsächlich ein halbherziges Gewitter abzuspielen ... Schwache Blitze zuckten, und mehrere Wolkenschleier verdichteten sich mühsam zu einer Art Pseudo-Regenwolke. Nun ... Ton-aus-Licht und Klang-der-Frucht hatten genau das vorhergesagt: dass die Region kurz vor der Veränderung stand. Ein erstes Zeichen hierfür war die Rückkehr des Wetters ... Aber noch spielte es sich jenseits der eigentlichen Wüstenei ab. Von ein paar ALTEN PFLANZEN, seit langer Zeit verdorrend auf dieser fast Wurdack Verlag
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toten Welt, waren, begleitet von schwachen Gerüchen der Furcht, beunruhigende Warnungen gekommen. Es ging darin um die Azzan-Bulls, wie die ALTEN PFLANZEN sie nannten. Ersterbende Klänge im unaufhörlich vibrierenden Netz des morphischen Feldes – es war schwer gewesen, sie herauszufiltern. – Und die Strahlungsbelastung war immer noch beträchtlich hier. Schwere Arbeit. Mühsal. Auch etwas mehr Sonnenlicht wäre nicht schlecht, es erleichterte den Prozess der Photosynthese und somit auch den der Strahlen-Neutralisation. Das war aber nicht in Sicht. Keinerlei verheißungsvolle Botschaft über das lebenspendende Gestirn im M-Feld, von wem auch immer. Seit langer Zeit hatte niemand mehr die Gestalt der Sonne gesehen oder ihren vollen Klang gespürt. Ein paar gute Nachrichten hätten ruhig einmal erblühen können. Oder wenigstens eine einzige. Wandlung-imSilber gab einen zartgrünen Seufzer von sich. Sie überlegte und wuchs dann um zwei Zentimeter, während gleichzeitig ein junges Blatt aus dem kräftigen, rau behaarten Stängel hervorspross. Und dann, plötzlich, vibrierten die Blattsensoren – sie nahmen ein dumpfes Grunzen wahr. Azzan-Bulls! Die mutierten, entfernt an Büffel erinnernden Rüsseltiere waren beinahe ebenso resistent gegen Radioaktivität wie Kakerlaken – und sie fraßen ALLES. Wandlung-im-Silber war sofort bis in die letzte Faser hinein alarmiert, wenngleich ihr das nicht anzumerken war. Sie stand jetzt reglos, wie erstarrt. Ohnehin gab es hier ja noch keinen Wind, in dem sie sich sanft hätte wiegen können. Oder doch ...? Was war das? Etwa eine ganz leise Brise, kaum ein Hauch? Hoffnung keimte auf. Die Azzan-Bulls kamen näher getrampelt. Dennoch nahm sich Wandlung-im-Silber die Zeit, über das morpho8
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genetische Feld eine Nachricht an Ton-aus-Licht zu senden. Zerrissene, armselige Wolkenfetzen. Sie näherten sich, lieferten sich unwissentlich einen Wettlauf mit den schwarzbraunen, grunzenden Allesfressern. Schnaubende Rüssel nahmen Wandlung-im-Silbers Witterung auf, und schon klang das Schnauben triumphierend ... und sehr HUNGRIG. Wandlung hatte jedoch nicht vor, als Leckerbissen für Azzan-Bulls zu enden und ihre Mission im Magen eines solchen Rüsseltieres zu beschließen. Ihre grünen Blätter wurden blass und durchscheinend und pressten sich eng an den Stängel, aber mehr konnte sie nicht tun. Die Rüsseltiere hatten sie beinahe erreicht, als ein schwächlicher Donner grollte – und das Wunder geschah. Es konnten nicht mehr als ein Dutzend Wassertropfen gewesen sein, die aus jenem Wölkchen fielen, aber einer, ein einziger davon fiel genau in das silberne Sonnengesicht der Pflanze. Und das genügte schon. In Windeseile floss der rettende Tropfen zu seinem Bestimmungsort im Blütenkopf, setzte die eingesponnene Energie frei, und wie durch einen verblüffenden Trick schrumpfte die Pflanze ein. Die große Blüte wurde schmal und pfeilförmig, die Stängelsegmente schoben sich ineinander wie beim Schachtelhalm, Grünmasse hiervon verlagerte sich blitzartig in die Wurzeln, und diese zerrten den oberirdischen Teil mit drei, vier heftigen Rucken in jenes Loch, das Wandlung-im-Silber als kleiner Spross in mühseliger Arbeit durch den Schieferboden gebohrt hatte. Gerettet! Ein Wurzelsensor nahm noch das enttäuschte Grunzen und Scharren der Azzan-Bulls wahr, die sich um die schon sicher geglaubte Beute betrogen sahen Wurdack Verlag
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... Das Loch im Boden war zu klein für ihre groben Schnauzen. Wandlung-im-Silber war in Sicherheit, aber das Ereignis stellte eine höchst unerfreuliche Unterbrechung ihrer Arbeit dar. Nun würde es wieder eine Weile dauern, bis sie sich regeneriert und den optimalen Wachstumszustand erreicht hatte. Sie brauchte nun Beharrlichkeit und Geduld. Doch diese Spur von Regen hatte den grünen Traum belebt. Wandlung-im-Silber träumte von fruchtbarer Erde, die herbeigeweht und von Wasser getränkt wurde; ihre Wurzeln würden den kostbaren Humus festhalten, so lange, bis sie sich vermehren konnte und ihr Nachwuchs ihr dabei half ... Stark und lebendig war dieser Traum, und wer die Ausdrucksformen der Pflanzenwesen kannte, hätte festgestellt, dass Wandlung-im-Silber jetzt lächelte. * Aber nach und nach verblasste das Lächeln auf dem silbernen Sonnenblumengesicht. Es welkte dahin. Wandlung-im-Silber musste erkennen, dass ihre über das morphische Feld weitergeleitete Nachricht die Empfänger nie wirklich erreicht hatte. Ton-aus-Licht und Klang-der-Frucht antworteten nicht. Ihre Körper waren tot, ihre Seelen nicht länger an diese Erd-Aufgabe gebunden. Wandlung-im-Silber ritzte sich selbst und trauerte und produzierte dabei einen Klumpen Harz, der in vielen Jahrmillionen im geduldigen Schoß der Erde ein Bernstein werden würde. Falls der Planet hier noch so viele Jahre hatte, hieß das. Allein sein – oh, das war hart. Das war sehr bitter, und es stand außer Frage, dass es weder Ton-aus-Licht noch Klang-der-Frucht gelungen war, sich zu vermehren, denn 10
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andernfalls hätte ihre einzig überlebende Gefährtin das helle Zwitschern dieser Nachkommenschaft an den Rändern des morphogenetischen Feldes wahrnehmen können. Da war nichts. Nur totes und lastendes Schweigen ringsum. Vielleicht war ja etwas Staub von ihnen übrig geblieben. Doch was nutzte das, war er doch sicherlich in winzigen Partikelchen vom gnadenlosen Wind erfasst und zerstreut worden? Denn es gab immer mehr Wind, aber heiß, trocken, nur das Gespenst einer lebendigen, fruchtbaren Luftströmung. Zweifel. Giftgrüner, unreifer Zweifel, wie er manchmal bei jungen Pflanzenwesen aufschießt, ätzender Säure gleich. Werde ich denn das große Werk hier allein vollbringen können? Nein. Ich kann es nicht. Unmöglich ... Der Zweifel verdorrte in einer aschgrauen Depression, und diese manifestierte sich in einem von schleimigen Fäden des Trübsinns durchzogenen Alptraumlabyrinth. Es war ein leblos-starrer Irrgarten, in dem sich das Pflanzenwesen verirrte. Für lange, zähe Minuten, die sich zu Ewigkeiten dehnten. * Das Kind war in seiner Familie fremd. Nun, seine Familie bestand ohnehin nur noch aus seiner im Plastikzelt dahinsiechenden Mutter und seinem Vater, der alles und jeden in seiner näheren Umgebung für feindselig hielt. Sein Sohn jedoch blickte nachts zum stummen Himmel auf und sprach mit den fernen, blau verschleierten Sternen. Manchmal hörte er sie antworten, und der Klang der Gestirne verwandelte sich in farbige Bilder. Das Kind sah und spürte sie. Wurdack Verlag
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Und es fühlte sich dadurch getröstet. Dann geschah etwas Schreckliches. Der Junge und seine Familie waren Ausgestoßene, sie lebten weit weg von den Kugeltrümmern der nächsten Stadt. Dort, wo die letzten Überlebenden auf ihren Energievorräten hockten, von Geiz und Missgunst und Angst zerfressen. Dem Jungen war das im Grunde seines Herzens ganz recht so. In den Städten gab es ohnehin nur stillstehenden Lärm, sonst keine Bewegung, und er konnte dort die Musik der Sterne nicht hören, so laut waren die Geräusche. Das Schreckliche, was geschah, war die Zerstörung eines Wunders. Am Abend zuvor war es noch nicht da gewesen, das Wunder; am nächsten Morgen erschien es aus dem Nichts: Das war wie Zauberei, die doch angeblich nicht existierte. Das hatten jedenfalls alle gesagt, als die Familie noch in der Kugeltrümmerstadt lebte. Das Wunder war ... etwas Rötliches und Faseriges und Lebendiges. Eine NEUE PFLANZE. Dabei wuchs hier doch überhaupt nichts, und auch in der Stadt, in den Treibhäusern, gedieh kaum etwas; der Junge hatte in seinem Leben dreimal eine Pflanze gesehen. Vegetation heißt Leben. So jung der Kleine war: Diesen Gedanken kannte er – und er wusste, dass seine Welt im Sterben lag ... Doch während er freudig auf die NEUE PFLANZE zuging, schien es ihm, als ob sie möglicherweise doch weiterleben könnte, seine Welt ... Bis ein höllisches Gebrüll ihn aufschreckte. Es prallte wie eine stumpfe Axt in seinen Rücken. Sein Vater stürzte herbei, stieß seinen Sohn brutal zur Seite und schlug mit einem verbogenen Stahlrohr auf die Pflanze ein. Verzerrte Laute quollen von seinen schaumtriefenden Lippen; erst nach und nach hörte der 12
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Junge, vor Entsetzen starr, wüste, abgerissene Flüche heraus: »Pestilenz! Gift! Teufelswerk!« oder so ähnlich ... Jetzt war der Vater vollends wahnsinnig geworden, wahrscheinlich, weil die Mutter tot war. Der rasende Irre, der dem Jungen nun ganz und gar fremd war, legte Feuer an die Pflanze, bis nichts mehr von ihr übrig war als rosafarbener Rauch, der in der trägen, zähen Luft nur langsam verwehte. Der Junge hörte die letzten Seufzer der sterbenden Pflanze. Ton-aus-Licht stöhnte sogar – er hatte seinen Zielort falsch berechnet, einer der Geräuschlaut-Raschzackigen war hier, und er, der die Form eines rötlichen Bambusgewächses angenommen hatte, war nun verloren; was für ein bleichfahles Unheil! Und keine Zeit mehr, um die anderen zu warnen. Dass außerdem auch ein kleinerer Mensch ihn gesehen und sich über ihn gefreut hatte, nahm er nur noch am Rande wahr. Der kleinere Mensch steckte eine Hand voll Pflanzenasche ein, nachdem sie abgekühlt war – ohne zu wissen, weshalb er das tat –, und ging fort, wobei er sich kein einziges Mal mehr umdrehte. Seine Kehle schmerzte von nicht laut gewordenen Schreien. Er ging still. Sein Vater hielt ihn nicht auf. Immer noch fluchend ging er ins Plastikzelt zurück zu seiner zweifellos toten Frau. Sein Sohn nahm von den Eltern Abschied ohne ein Wort. Tränen brannten in ihm, doch es kam ihm so vor, als würden sie niemals fließen, so ausgetrocknet fühlte er sich. Was ihn weiter und immer weiter taumeln ließ, war der flüchtige Moment der Freude, den er beim Anblick der NEUEN PFLANZE gefühlt hatte. Und jener helle Ton, den er hatte hören dürfen. Etwas Ähnliches sollte ihm schon bald abermals begegnen … * Wurdack Verlag
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Klang-der-Frucht hatte das Erscheinungsbild eines purpurgrünen Strauches gewählt, der gerade eben ein paar beerenartige kleine Äpfel hervorbrachte. Sie waren von einem leichten Flaum bedeckt und hätten süß geschmeckt, doch im Grunde sollten sie nicht gegessen werden, sie waren für eine andere Aufgabe vorgesehen. Die aber nie erfüllt werden würde. Bleichfahles Unheil auch hier, an diesem Ort. Denn bald darauf kam ein Geräuschlaut-Raschzackiger auf einem unidentifizierbaren LÄRMDING-STINKEND-AUF-ZWEI-RÄDERN (dafür also verschwendeten diese Wahnsinnigen ihre letzte Energie!) und zermalmte den Strauch so gründlich, dass dessen Seele entfloh. Und als wäre das noch nicht genug gewesen, zerstörte der Mörder auch noch die Reste, hielt sein Benzinfeuerzeug an die Früchte, die Kinder des Strauches, und zündete sie an, so dass sie zu schwarzverkohlten kleinen Kugeln schrumpften, tot, ehe sie zu leben begonnen hatten. Wie gelähmt vor Entsetzen beobachtete der Junge dies aus einiger Entfernung. Schon wieder ein Wunder und schon wieder vernichtet. Dieses Mal hörte und spürte er etwas wie einen regenbogenfarbigen Gong, dessen voller, reifer Klang tief in sein Inneres fiel und ihn erbeben ließ: der letzte Ruf der Pflanze, die ebenso fremdartig schön gewesen sein musste wie jenes andere rötliche Gewächs. Und er hatte sie noch nicht einmal betrachten dürfen! Der Motorradfahrer, der einen schmutziggoldenen, halb zerfetzten Anzug trug, stieß ein irres, meckerndes Lachen aus – und dann erspähte er den Jungen. Einen Helm trug der Mann nicht; sein Gesicht sah wie verbrannt aus – so einer machte keine Unterschiede zwischen Mensch oder Tier, Pflanze oder Kind. Er raste mit seiner Maschine auf den Kleinen zu. Das riss diesen aus seiner Erstarrung, und er rannte, rannte um sein Leben. * 14
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In der GRASWURZELDIMENSION blühte und glühte das pflanzliche Leben, es pulsierte unaufhörlich, es war durchsichtig grün oder unglaublich bunt, es wechselte die Formen wie die Farben, es war in vielen Schichten übereinander gelagert, doch ohne sich gegenseitig zu bedrängen. Leben war graswurzelzäh. Es gab nicht auf. Und so kehrte auch Wandlung-im-Silber – nach einer Anzahl von Augenblicken, die sich zu wahren Ewigkeiten aufgebläht hatten – aus ihrem aschefarbenen Labyrinth dumpfer Schmerzen zurück in die Lebendigkeit. Gab sich einen Ruck, wuchs noch ein paar Zentimeter mehr und fuhr die morphischen Sensoren aus. Es existierte hier ein Wesen, mit dem sie Kontakt aufnehmen konnte – es musste einfach eins existieren! Und so war es auch. An den Rändern des siebenundzwanzigsten von ihr aktivierten Feldes nahm Wandlung eine Regung wahr ... etwas wie einen Hauch, fast nur wie der Flügelschlag eines farbigen Falters ... das leise Pochen, das zugleich ein schimmerndes Bild war, strahlte Angst aus. Todesangst. Wandlung-im-Silber stieß ein mammutbaumstammschweres Stöhnen aus – nicht auch noch das! Endlich eine verwandte Seele, und dann drohte ihr der Tod! Für weitere Klagen blieb jedoch keine Zeit mehr, die Nachricht war deutlich und allerhöchste Eile geboten. Wandlung handelte ohne Zögern. Jetzt war die Zeit gekommen, die hölzerne Reserve anzubrechen. Eingesponnene Energie, ein Päckchen nur, wurde abgefeuert, eine thermische Reaktion fand statt, und als feuriger Tropfen bohrte die Energie einen Tunnel durch Sand- und Schieferschichten, raste auf die Stelle zu, wo jemand in Not war. * Abermals stieß der Motorradfahrer sein hässliches Lachen hervor, und triumphierend ließ er seine schwere Wurdack Verlag
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Maschine aufheulen, denn er sah, wie der kleine Junge auf seiner wilden Flucht stolperte und zu Boden stürzte. Und in einem Loch verschwand, das sich urplötzlich unter ihm auftat und ihn in eine dunkle Spirale hineinschlang. Treibsand, verdammt!, zuckte es durch das kranke Hirn des Motorradfahrers, und er wendete mit spritzenden Sandfontänen, die ihn einhüllten, um dann in entgegengesetzter Richtung davonzujagen. Der Geräuschlaut-Raschzackige war so in Panik, dass er einen fast tödlichen Fehler beging: Er kam von der halbwegs sicheren Piste ab, streifte mit einem Rad eine gigantische im Boden lauernde Giftblase, die nur von einer dünnen Sandschicht bedeckt war, ein Riss bildete sich, und der tödliche dicke Brodem, der daraus hervorquoll, zerfraß in Sekundenschnelle das Motorrad. Mit einem verzweifelten Sprung rettete sich der Mann gerade noch – mit großen Säurelöchern in den Stiefeln. Benommen humpelte er von dannen und verschwand. * Der Junge wunderte sich, und er staunte, und das war so, als würde sich heller, weicher, köstlicher Lichtschein in ihm und um ihn herum ausbreiten, und das, obwohl er gerade durch einen dunklen Tunnel im Wüstenboden sauste, getragen von einer seltsamen, unerklärlichen Kraft. Paradoxerweise war das Ganze derart entspannend, dass der Junge sekundenlang einzuschlafen schien. Sanftfarbige Träume hüllten ihn wie Schleier ein. Als er erwachte, lag er lang ausgestreckt auf harten grauen Schieferplatten, und über ihn neigte sich eine NEUE PFLANZE. Es war eine Blume, ihr Gesicht hatte eine silberne Färbung, und das Kind fühlte sich bei ihr geborgen. Es seufzte tief auf vor Glück. Wandlung-im-Silber sprach über das M-Feld mit dem Knaben, langsam und sorgfältig, damit er auch alles gut verstand. 16
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Und der Junge begriff. »Bist du dazu bereit?«, fragte ihn das Pflanzenwesen. Die dunklen Augen des Kindes leuchteten riesengroß unter den staubigen braunen Locken, die ihm in die Stirn fielen. Es schwieg lange. »Weshalb hast du mich denn gewählt? Wieso gerade mich?« Das war nur ein Flüstern. »Du kennst die Antwort.« »Weil ich die Musik der Sterne hören kann. Ich kann sie auch fühlen. Sogar sehen.« »Ja. Unsere Musik. Das Universum ist Klang, ist Schwingung, und aus unserer GRASWURZELDIMENSION strömt jenes grüne Licht, das ...« Wandlung-imSilber brach diesen Gedankengang erst einmal ab. Das konnte der Junge – so klug er auch war – doch noch nicht verstehen. Sie war so froh, ihn gefunden zu haben, dass sie aufpassen musste, nicht geschwätzig zu werden. »Bist du dazu bereit?«, fragte sie wieder. Geduldigunerbittlich hing das silberne Blumengesicht über dem Antlitz des Knaben, ohne sich weiter zu ihm herabzubeugen. Nicht ohne seine Einwilligung. Dabei drängte die Zeit hier auf der sterbenden Welt. Eine Herde Azzan-Bulls wollte wieder angreifen, und diesmal würde ein Tropfen Wasser nicht genügen. »Ich soll mein ganzes Blut spenden ...«, murmelte der Junge. Vage erinnerte er sich, dass es so etwas auch in einer der übrig gebliebenen Städte einmal gegeben hatte, in einem schmutzigen Zelt mit einem verblichenen roten Kreuz darauf. »Außerdem habe ich auch noch das hier.« Zögernd hielt er Wandlung-im-Silber die Pflanzenasche hin und empfing strahlende Impulse von Glück und Dankbarkeit. Also war einer ihrer Gefährten nicht ganz tot und nun gar ihr besonderer Nektarfreund ... Etwas von Ton-aus-Licht hatte überlebt. Das war das beste Zeichen, das es nur geben konnte! Wurdack Verlag
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»Ich gebe mein Blut für unsere Welt.« Ein entschlossenes Bild in klaren Farben, das der Junge sendete. Und augenblicklich wurde er von Wandlung-im-Silber mit vielen grünen Faden-Tentakeln umschlungen, die sternförmige Spitzen hatten, mit denen sie schmerzlos Löcher in die Haut des Knaben stachen – und dann fand der AUSTAUSCH statt. Ganz kurz nur durchzuckte das Kind ein winziger Strahl der Angst ... Aber sein Vertrauen wog schwerer. Der AUSTAUSCH. Nicht nur nehmen wollte Wandlung, sondern auch geben. Und zwar das sinnvollste aller Geschenke in dieser kränksten aller Welten. Der Junge fiel in einen Schlummer, der grün war und nach Erde, Wald und Pilzen duftete. Als er erwachte, floss kein Blut mehr durch seine Adern, und er konnte einen Großteil seiner Nahrung direkt aus dem Sonnenlicht filtern – er beherrschte die hohe Kunst der Photosynthese, und Sauerstoff strömte aus vielen seiner Poren. Er war nicht länger ein Mensch, sondern ein Mischwesen: aus Pflanze und Mensch. Äußerlich war ihm aber nichts anzumerken, nur dass er dankbar sein Gesicht in die Sonne hielt und die Augen dabei nicht zusammenkneifen musste. Strahlend grün waren sie und weit geöffnet. Neben ihm wuchs ein riesiges Feld von silbernen Sonnenblumen, Hunderte und Aberhunderte, oder waren es sogar schon Millionen? Sie alle waren keine reinen silbernen Sonnenblumen, sondern hatten rötliche Bambusstängel, kräftig und strotzend vor Gesundheit. Über ihnen wölbte sich ein von Wolken gefleckter Himmel, denn sie zogen die Wolken an, so stark waren sie, sie lockten mehr Wetter herbei und veränderten es. Wolken, viele Wolken ballten sich und verströmten dann Wasser, auch auf die verblüfften Azzan-Bulls, die wie verlegen am Rande des Sonnenblumenfeldes standen und es nicht angreifen konnten. 18
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Sie schüttelten ihre rauen, in Falten herabhängenden Hautpelze unter dem ungewohnten Nass von oben, ohne zu begreifen. Aber die Rüsseltiere würden bald andere Nahrung finden und sich anders entwickeln. Und irgendwo auf der nun wieder zart belebten Welt gab es auch ein Menschenmädchen, das anders war. Ein Kind, fremd in seiner Familie. Die jungen Wandlungenim-Silber würden dieses Mädchen finden, und bestimmt war es ebenso mutig wie der Junge. Die beiden würden sich begegnen und ein neues Menschen-Pflanzen-Geschlecht hervorbringen, fruchtbar und lebendig und fest im Erdreich wurzelnd. Und der Planet war wieder ein klarer leuchtender Ton im Lied des Universums.
Antje Ippensen, Jahrgang 1965, aufgewachsen im Weser-Ems-Land, lebt und schreibt seit 1985 in Mannheim. Mehrere Auszeichnungen, zum Beispiel FDA-Preis »Jugend schreibt« 1994. Ein Fantasyroman Gegenkreis erschien 1997 unter dem Pseudonym Janet E. Spinpen, zahlreiche weitere Veröffentlichungen, unter anderem in den Genres SF (Raum-ZeitSchattierungen in Deus Ex Machina), Gruselkrimi (Larry Brent), Horror (David Murphy). Demnächst erscheint ein Doppelband zur Endzeit-Serie Tiamat. Wurdack Verlag
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Heidrun Jänchen
Fallstudie: Terroristin Jenny S. Keiner wusste, dass Jennys Mutter Alkoholikerin gewesen war. Sie hatte den Namen ihrer Tante angegeben, Vater unbekannt. Das funktionierte, denn immerhin war sie mit ihrer Tante verwandt. Sie betete täglich, dass der Schwindel nicht auffliegen möge. Wer würde einer Betrügerin und Tochter einer Alkoholikerin eine Arbeit geben? Erbkrankheiten weiter rückläufig Seit Inkrafttreten des Gesetzes über genetische Gleichbehandlung und das Recht auf genetische Information vor fünf Jahren sind schwere Erbkrankheiten weiter rückläufig. Angeborene Diabetes, Bluterkrankheit, Zystische Fibrose, Phenolketonurie und Down Syndrom wurden bei Neugeborenen im letzten Jahr nicht mehr festgestellt. Das Gesundheitswesen wird dadurch bereits jetzt jährlich um zweistellige Millionenbeträge entlastet. Gesundheitsministerin Britta Walthers sagte auf der Jahrestagung des Verbandes der Krankenversicherer, dieser Erfolg sei neben verbesserten Diagnoseverfahren auch auf die 14. Novelle zum Sozialhilfegesetz zurückzuführen. Kernpunkt der Novelle war der Ausschluss der Zahlungsverpflichtung der Kranken- und Sozialversicherungen im Fall pränatal vermeidbarer Erbkrankheiten. Während der Party »Es heißt, der alte Lohmeier hat sich einen neuen Magen und ein neues Hüftgelenk einsetzen lassen.« »Ja, ja, er hatte ständig Sodbrennen die letzten Monate. Und die Arthrose wurde immer schlimmer.« »Patchwork. Ich möchte wissen, was an dem alten Lohmeier noch original ist.« »Sein Gehirn und sein – na, du weißt schon.« Sekt spritzt, als jemand vor Lachen hineinprustet. 20
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Beratung »Schlagen Sie es sich aus dem Kopf. Mit Ihren Erbanlagen bekommen Sie die Genehmigung nicht, und mit Ihrem Kontostand können Sie sich Genetic Engineering nicht leisten. Sehen Sie die positive Seite: Die Krankenkasse übernimmt in diesem Fall die Kosten für die Sterilisierung. Schauen Sie nicht so. Ich habe zwei Kinder. Denken Sie bloß nicht, dass das der Himmel auf Erden ist.« Jenny starrte die winzigen Körper in den Isolierboxen an. Maschinen bewegten die Arme und Beine der Säuglinge, täglich vier Stunden lang, in Viertelstundenzyklen. Die Körper öffneten nie die Augen. Jenny fragte sich, welche Augenfarbe der kleine Junge mit den schwarzen Haaren hatte. »Lohmeier, Thomas; 1-V« stand an seiner Box. Der Computer summte beruhigend. Mitten im Showdown BEI JUVENTO IST IHRE EWIGE JUGEND IN DEN BESTEN HÄNDEN. SPRECHEN SIE MIT UNS. Erneuter Autobomben-Anschlag Der Firmengründer und Hauptaktionär des Pharmakonzerns Animal Pharm, Hubert Fränkler (152), fiel gestern einem Autobomben-Anschlag zum Opfer. Fränkler und seine beiden Bodyguards waren sofort tot. Nach Angaben der Polizei sucht man die Täter in linksradikalen Terroristenkreisen. Die Firmenleitung der Animal Pharm AG geht auf die Fränkler-Söhne Chlodwig (118) und Magnus (103) über. Der Computer war dumm. Er hatte weder Augen noch Ohren. Er registrierte, was in den Körper hineinkam und was ihn verließ, Menge, Temperatur, Konzentrationen, mit seinen Sensoren. Sensoren konnte man betrügen. Als Jenny die Schläuche wechselte, fügte sie eine Flasche als Zwischenspeicher ein. Wurdack Verlag
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Nach einer Viertelstunde öffnete der Junge die Augen. Sie waren braun. Er begann zu strampeln. Oh Gott, dachte Jenny, oh Gott. Mit zitternden Fingern entfernte sie die illegale Flasche. Talk mit Thrakia Thrakia: »Professor Frenzel, Sie vertreten die umstrittene Theorie, dass die menschliche Person nur über das Bewusstsein, über bewusste Wahrnehmung ihrer selbst, definiert werden kann ...« Frenzel: »Wir müssen weg von einer biologistisch begründeten Rechtsprechung. Der Gesetzgeber hat da einige vernünftige Ansätze gebracht. Stellen Sie sich vor, man würde Samenspender zu Unterhaltszahlungen verurteilen, nur weil sie tatsächlich der biologische Vater eines Kindes sind. Im Falle von Genetic Engineering wäre ein Kind de facto elternlos, wenn wir auf diesen überkommenen Rechtsauffassungen beharrten.« Thrakia: »Ihre Kritiker beziehen sich vor allem auf die Verwendung von Klonmaterial bei Transplantationen, nicht auf künstliche Befruchtung.« Frenzel: »Junge Frau, ist ein ausgerissenes Haar ein menschliches Wesen? Es enthält einen vollständigen Gencode. Oder eine einzelne Niere? Man hat seit über hundert Jahren die Nieren von Unfallopfern chronisch Kranken transplantiert. Keiner hat damals das Lebensrecht der Niere geltend gemacht. Was heute getan wird, ist die konsequente Fortsetzung dieser Praxis. Wenn man der Niere kein unabhängiges Lebensrecht zubilligt, dann darf man heute nicht ‚Mörder’ schreien.« Thrakia: »Es ist aber doch so, dass geklonte Menschen zu völlig normalen Personen heranwachsen könnten?« Frenzel: »Das ist ein Fall für die Wahrscheinlichkeitstheorie. Wenn man derartige Argumente anführt, müsste man auch den Koitus interruptus verbieten, da sich aus jeder Samenzelle theoretisch ein vollwertiges mensch22
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liches Wesen entwickeln könnte. Davon abgesehen, sind Klone nur bedingt lebensfähig. In fast allen Fällen kommt es zu Kopierfehlern, die schwere Krankheiten und meist eine vorzeitige Alterung hervorrufen können. Wir sind weit davon entfernt, perfekte Kopien eines Menschen herstellen zu können.« Jenny tauschte ihre Schicht mit einer Schwester der Abteilung 2, die einen Arzttermin hatte. Die meisten Schwestern aus Abteilung 1 wollten die anderen Abteilungen gar nicht sehen. In den Lagerräumen war nie Tag und nie Nacht. Immer herrschte eine diffuse Dämmerung. Die blassen Kinderkörper in den Isolierboxen wirkten wie Kraken aus der Tiefsee. Hellblaue Schläuche führten in sie hinein und aus ihnen heraus, und blitzsaubere Maschinen bewegten ihre Glieder. Mit dem Schwammtuch in der Hand blieb Jenny stehen und starrte auf das ausdruckslose Gesicht eines fünfzehnjährigen Jungen. Es war glatt, ohne Falte, ohne Narbe, ohne Sommersprosse, makellos, leblos. »Lohmeier, Thomas, 1-IV«. Es war wie eine Zeitreise. In fünfzehn Jahren würde das winzige Bündel aus Abteilung 1 haargenau so aussehen und an genau dieser Stelle liegen. Jenny machte sich nichts vor: Was da lag, war kein schlafender Junge. Dieser Körper konnte weder laufen noch sprechen, und sein Gehirn war so leer wie ein nagelneuer Speicherchip. Er war Fleisch, nichts als Fleisch. Plötzlich ekelte sie sich vor sich selbst. Oberlandesgericht hebt Urteil im Sakowski-Fall auf Der Identitätsprozess Sakowski geht in eine neue Runde. Nachdem die Erben des umstrittenen Alfred Sakowski (108) in der ersten Instanz eine förmliche Todesfeststellung erreichten, hob jetzt das Oberlandesgericht das Urteil auf. In der Begründung heißt es, DNA mit als »Xerox-Defekt« bezeichneten Vervielfältigungsfehlern sei kein hinreichender Beweis dafür, dass die entsprechende Person ein Klon sei. Wesentlich für die FestWurdack Verlag
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stellung der Identität sei das Bewusstsein der Person. Der untergeordneten Instanz wurden Verfahrensfehler bei der Bewusstseins- und Erinnerungsprüfung vorgeworfen. Von Rechtsexperten wird der Prozess als besonders schwierig eingestuft, weil es kaum noch überlebendeAltersgenossen Sakowskis gibt, die unabhängiges Faktenmaterial beisteuern können. Bisher waren die Erben erfolgreich mit der Behauptung, alle so genannten Erinnerungen ihres angeblichen Vaters könnten mühelos aus frei zugänglichen Quellen zusammengetragen werden. Alfred Sakowski bezeichnete diese Argumentation mehrfach als »kompletten Schwachsinn, der meinem zurückgebliebenen Nachwuchs ähnlich sieht«. Während die Aliens aus dem All angreifen Eine riesige Wiese mit alten Obstbäumen darauf, grün, weiße Blumen. Dazwischen ein blondzopfiges Mädchen im roten Kleidchen. »Mama, Mama, schau!« Ein großer blauer Schmetterling torkelt über die Wiese. Eine gepflegte Frau um die dreißig hebt lachend das Mädchen hoch und drückt es an sich. ÜBERLASSEN SIE DIE WICHTIGSTE ENTSCHEIDUNG IHRES LEBENS NICHT EINER LAUNE DER NATUR. GENETIC ENGINEERING – GLÜCK IST KEIN ZUFALL. »Lohmeier, Thomas, 1-III« – Jenny zwang sich hinzusehen. Oberhalb der Beine ein formloser Haufen. Eine Narbenwulst quer über den Bauch. Eine rosa Narbe rings um den Kopf, darüber blanker Schädelknochen. Die linke Hand fehlte. Eine glänzende Maschine bewegte die restlichen Glieder, trainierte Muskeln, die niemand je brauchen würde. Hellblaue Schläuche. Der Lagerungsauftrag lief zum Ende des Quartals aus. Ein Transparent LASST DEUTSCHE FRAUEN WIEDER DEUTSCHE KINDER HABEN! STOPPT ZUWANDERUNG! 24
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»Es ist eine Schande, dass sich die Rechtsradikalen so auf der Straße breit machen können.« »Ich weiß nicht. Irgendwie haben sie doch Recht. Nicht mehr lange, und sie verweigern die Kindergenehmigung, nur weil jemand Plattfüße hat. Und der Bäcker beschriftet sein Brot neuerdings zweisprachig, deutsch und russisch.« Während der Stromausfälle verlosch die dämmerige Beleuchtung in den Lagerräumen, und grüne FluchtwegSchilder flammten auf. Jenny nahm an, dass auch die Kameras ausfielen. Das Notstromaggregat hatte mit den Lebenserhaltungssystemen genug zu tun. Es war kein Problem, Thomas Lohmeier 1-IV zu einer Ejakulation zu bringen. Der Reiz war zu neu für diesen unbenutzten Körper. Er reagierte schnell und heftig. Wie lange überlebte das Sperma außerhalb des Körpers? Jenny hatte keine Ahnung. Sie ließ das Reagenzglas in die Tasche gleiten und verschwand in der nächsten Toilette. Jetzt, wo es geschah, fühlte sich Jenny seltsam zweigeteilt. Während Jenny 1 Bauchweh hatte vor Aufregung, stand Jenny 2 ruhig daneben und beobachtete sie. Man konnte nicht mit den Beinen vom Zehnmeterbrett springen und den schwindelnden Kopf oben lassen. Mit routinierten Handgriffen klemmte sie Lohmeier, Thomas 1-V vom System ab und verband die Sensorkabel mit der Nachbarbox. Im allgemeinen Durcheinander des Stromausfalls bemerkte keiner die Veränderung. Sie hatte die Firma längst verlassen, als die gedämpfte Beleuchtung wieder aufflammte, und es dauerte noch fast vier Stunden, bis man ihre Manipulation entdeckte. Wer hat diese Frau gesehen? Jenny Seidel, 29, Krankenschwester, ist dringend verdächtig, am Diebstahl eines menschlichen Klons beteiligt zu sein. Die Frau ist wahrscheinlich mit einem sechs Monate alten Säugling unterwegs. Vorsicht! Es kann Wurdack Verlag
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nicht ausgeschlossen werden, dass sie bewaffnet ist und Kontakt zur Terroristenszene hat. Mit Hinweisen wenden Sie sich bitte an die nächste Polizeidienststelle. Jenny musste irgendwie neun Monate durchhalten. Sie schlug sich als Hilfskraft bei der Spargelernte durch. Die ungewohnte Arbeit fiel ihr schwer, und sie litt unter Übelkeit. Aber immerhin hatte keiner Fragen gestellt. Der Bauer war froh, dass die angebliche Slowakin so gut deutsch sprach und keine Ahnung von tariflichen Mindestlöhnen hatte. Sie verdiente kaum genug, um Tom am Leben zu erhalten. Erst jetzt verstand sie die Frage in der Beratungsstelle: »Können Sie sich ein Kind überhaupt leisten?« Stöhnend richtete sie den schmerzenden Rücken auf. Hatte sie das Richtige getan? Aber ihr Kind würde eine natürliche Person sein, defektfrei und nachweislich ein uneheliches Kind Lohmeiers. Lohmeier 0 hatte keine Chance – er würde für die medizinische Betreuung seines Kindes aufkommen müssen. »He, es ist noch nicht Feierabend! Ihr vögelt ohne Sinn und Verstand, und dann jammert ihr über die Schwangerschaft. Schon mal von Verhütung gehört?« Jenny wandte sich wieder dem Spargel zu, leichenblassen, abgehackten Penissen. Kurz vor dem Happy End Ein altes Paar schleppt sich mühselig über die Straße. Die Fußgängerampel springt auf Rot. Die Alten schrecken hoch, als unmittelbar vor ihnen ein Auto vorbeirast. ALTER IST KEIN UNAUSWEICHLICHES SCHICKSAL. SPRECHEN SIE MIT UNS. FOREVER YOUNG® HÄLT SIE FÜR IMMER JUNG! Sie fahndeten noch immer nach ihr. Der Hinweis auf die Terroristen beunruhigte Jenny. Er hörte sich gefährlich an. Sie kannte keine Terroristen, und die Polizei würde das längst wissen. 26
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Das Leben wäre billiger gewesen, hätte sie in den Großmärkten einkaufen können, aber die großen Handelsketten waren längst an das biometrische Erkennungssystem angeschlossen. Neun Monate waren unglaublich lang. Irgendwie schien ihr ganzer Plan nicht aufzugehen. Sie hatte geglaubt, Lohmeier 1-IV sei eine Art Lebensversicherung. Man würde ihr nichts antun, solange sie den wertvollen Klon bei sich hatte. Hatte sie das wirklich? Oder hatte sie nur nicht gewollt, dass auch aus ihm ein hirnloser Haufen Ersatzteile wurde? »Ma ma ma ma ma ...« »Was ist denn, mein Kleiner?« Tom hielt ihr einen großen Baustein aus Schaumstoff entgegen. Jetzt war er ein Mensch, nach jeder gültigen Definition, nicht mehr 1-IV, sondern Tom. Jeder hätte ihn für ein völlig normales Kind gehalten. »Rot«, sagte Jenny und stellte das Ding auf den Boden. »Gelb« – ein zweiter obendrauf. »Elb«, plapperte Tom. Warum wird eine Frau Kinderkrankenschwester? Klage gegen Juvento beigelegt Die Klage des Industriellen Thomas Lohmeier gegen den Klonkonzern Juvento wurde nach einer außergerichtlichen Einigung beigelegt. Lohmeier hatte den Konzern nach dem Diebstahl seines sechs Monate alten Klons wegen Verletzung der vertraglich zugesicherten Sicherheitsverwahrung auf Schadenersatz in Höhe von 40 Millionen Dollar verklagt. Er führte an, dass durch eine genetisch identische Kopie seiner Person in den Händen von Terroristen sein Vermögen und die Sicherheit seiner Unternehmen außerordentlich gefährdet seien. Da Juvento auch in den USA tätig ist, hatte er die Klage bei einem amerikanischen Gericht eingereicht, wo erfahrungsgemäß wesentlich höhere Schadenersatzsummen verhängt werden als in Deutschland. Wurdack Verlag
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Von Lohmeiers Klon und seiner mutmaßlichen Diebin, der Terroristin Jenny Seidel, fehlt nach wie vor jede Spur. Hitze, unglaubliche Hitze. Und Durst. Dann der Schwindel beim Aufstehen. Ich darf jetzt nicht krank sein, denkt es in Jenny. Sie schlurft ins Bad, holt das Thermometer. Tom schreit. Sie streicht ihm beruhigend über den Kopf und erschrickt. Ihr Körper glüht, aber Toms Stirn ist noch heißer. Es hieß, eine Typhus-Epidemie ginge um. Hatte man sie nicht gegen Typhus geimpft? 40,3 Grad. Sie trinken zusammen eine Flasche Saft leer. Ich darf nicht krank sein, denkt Jenny, noch nicht. Aber Tom, was soll sie mit Tom tun? Sie zieht sich an, zieht Tom an, schwitzt vor Anstrengung. Die Straße schwankt. Die Leute scheinen Jenny anzustarren. Helft mir, denkt sie, glotzt nicht, helft mir. Sie stützt sich auf den Griff des Kinderwagens. Vor der Ambulanz bleibt sie stehen. Du darfst nicht da hinein, sagt eine Stimme in ihrem Kopf. Aber was soll aus Tom werden? Sein Kopf hängt zur Seite, kraftlos. Er wird sterben. Und Jenny stößt die Tür auf. Es gibt Probleme mit ihrer Codekarte. Die Schwestern streiten. »Helft uns«, stöhnt Jenny, »helft Tom.« Sie nehmen eine Speichelprobe. Jenny lässt alles über sich ergehen. Hauptsache, dem Jungen und dem Baby passiert nichts. Ein Arzt untersucht sie, schreibt irgendetwas auf. Dann gibt er ihnen beiden eine Spritze. Nach einiger Zeit hören die Gegenstände auf zu leuchten. Die Hitze lässt nach, und Jenny kann wieder denken. Sie liegt auf einer Pritsche in einem hellgelb gestrichenen Raum, über ihr an der Wand das Schnittbild einer Lunge. Wo ist Tom? Sie fährt hoch, der Raum dreht sich, und sie fällt wieder um. Schließlich kehrt der Arzt zurück. »Was ist mit dem Kind?« »Beide wohlauf«, sagt der Arzt und tippt vorsichtig auf ihren dicken Bauch. »Kein Problem, nur eine Angina. Stehen Sie auf, wenn Sie sich so fühlen, aber machen 28
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Sie langsam. Wegen des Jungen schicken wir Ihnen dann eine Rechnung.« Richtig, denkt Jenny, Tom ist nicht versichert. Aber woher soll sie das Geld nehmen? Tom schläft, als sie ihn im Wagen verstaut. Der Arzt hat die Antibiotika für den Jungen auf ihr Rezept geschrieben, so dass sie wenigstens dafür nicht den vollen Preis bezahlen muss. Sie tritt hinaus auf die Straße. Es ist angenehm kühl. »Frau Seidel?«, ruft eine blecherne Stimme. Sie fährt herum und starrt in ein glänzendes Visier aus schussfester Plastik. Unwillkürlich greift ihre Hand nach Toms Schulter, stellt sich ihr Körper vor ihn. Aber wo ist vorn? Terroristin aufgespürt Durch den automatischen Datenabgleich mit dem Patientenerfassungssystem gelang es der Polizei am Montag, die seit langem gesuchte Terroristin Jenny Seidel aufzuspüren. Die Sondereinsatzkräfte konnten durch ihren entschlossenen Einsatz ein Blutbad verhindern. Die Seidel kam bei der Schießerei mit der Polizei um. Durch den Diebstahl des Lohmeier-Klons war die Polizei auf den terroristischen Hintergrund der angeblichen Krankenschwester aufmerksam geworden. Nach Informationen der Polizei war der Klon bereits unmittelbar nach der Straftat gestorben. Seine Überreste wurden vergraben in einem Garten gefunden. Heidrun Jänchen, Jahrgang 1965, ist Physiker und lebt als Optikentwickler in Jena. Ihr erster Roman Der eiserne Thron wurde 2004 für den Deutschen Phantastik Preis nominiert, ihre erste veröffentlichte SF-Story Vor dem Sturm für den Deutschen Science Fiction Preis. Weitere Veröffentlichungen: ein Theaterstück, ein KrimiDrehbuch Wilsberg - Bei Anruf: Mord, ZDF, sowie phantastische Kurzgeschichten in Anthologien. Ihr zweiter Fantasy-Roman Nach Norden! ist soeben im Wurdack Verlag erschienen. Wurdack Verlag
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Stefan Wogawa
Golem & Goethe »Die ganze Literatur ist eine Fußnote zum Faust. Ich habe keine Ahnung, was ich damit meine.« (Woody Allen: Gespräche mit Helmholtz)
Die schrille Stimme hallte durch alle Räume: »Hören Sie sich das einmal an, Steve! Ich habe ein Gedicht geschrieben. Ein Ausdruck liegt für Sie bereit.« Eine der Öffnungen des riesigen Computerterminals spuckte summend ein bedrucktes Blatt Papier aus. Der Mann, der im blauen, ausgewaschenen Overall in der Steuerkabine saß, zuckte zusammen und wandte sich dann unwillig um: »Was? Ein Gedicht?« »Ja. Also dann: Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du ...« »Hey, warte einen Moment!« Steve schob die Tastatur von sich. »Unterbrechen Sie mich nicht, Sie Kunstbanause! ... kaum einen Hauch. Die Vöglein schweigen ...« »Jetzt schweigst du erst einmal! Dieses Gedicht kommt mir nämlich sehr bekannt vor, Golem.« Er kratzte sich kurz am Kinn, strich über die Bartstoppeln, die er seit vier Tagen nicht abrasiert hatte, und überlegte. »Ich habe es schon einmal gelesen, allerdings wurde da ein Herr Goethe als Verfasser angegeben«, sagte er schließlich. »Dann haben Sie ein Plagiat gelesen. Ich werde diesen Goethe wegen geistigen Diebstahls verklagen!« Die Stimme klang entrüstet. »Na gut. Seltsam ist nur, dass er vor ungefähr dreihundert Jahren lebte. Wie soll er sich da deine geistigen Produkte angeeignet haben?« Der Mann schüttelte den Kopf. 30
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»Das ist doch klar! Er muss eine Zeitmaschine besitzen. Mit der ist er in die Zukunft gereist und hat irgendwie meinen Hauptspeicher angezapft.« »Sicher. Vielleicht hört er uns ja jetzt gerade zu?« »Sie wissen genau, dass ich Ihre Ironie nicht mag, Steve!« »Dann erzähle hier nicht solchen Unsinn, Golem. Als Hauptcomputer eines Raumschiffs der Delta-Klasse solltest du eigentlich wissen, dass Reisen in der Zeit überhaupt nicht möglich sind. Relativitätstheorie – vielleicht erinnerst du dich? Alles mathematisch belegt.« Durch eines der kleinen, runden Fenster warf er einen kurzen Blick in die undurchdringliche Schwärze. »Wollen Sie mich etwa belehren? Mich, das Gehirn dieses Raumschiffs?« Die Stimme hatte das Wort »Gehirn« besonders betont. Der Mann ging nicht darauf ein: »Hör auf zu palavern und fang endlich an, die Bodenproben von Phobos 5 zu untersuchen!« Er wandte den Blick zu einigen glitzernden Steinbrocken, die hinter einer dicken Wand aus Sicherheitsglas auf einem hell beleuchteten Tisch lagen. »Nein, das werde ich nicht tun!«, ertönte es entschieden. »Darf man auch erfahren, warum nicht?« Der Mann blickte neugierig auf, lehnte sich für einen Augenblick in seinem Drehsessel zurück und streckte die Beine von sich. »Selbstverständlich. Diese Aufgabe ist deutlich unter meinem intellektuellen Niveau. Ich empfinde sie als Diskriminierung.« Das klang endgültig. »Dann bitte ich natürlich um Verzeihung. Wie konnte ich es auch nur wagen, Eurer Herrlichkeit solch eine Aufgabe zuzumuten. Ich werde mich selbstverständlich sofort an ein Bordterminal setzen und die Proben selbst analysieren.« Er deutete eine Verbeugung an. »Ich nehme Ihre Entschuldigung an, Steve.« Wurdack Verlag
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»Strapaziere meine Geduld nicht zu sehr, Golem! So eine Show wie auf Station Jupiter 3 mache ich nicht wieder mit!« Der Mann warf seine Bordmütze in die Ecke der schmalen Steuerkabine. Wütend schnappte er sich dann das Blatt mit dem Gedicht, zerknüllte es und schleuderte es der Mütze hinterher. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.« »Ach nein? Dann werde ich dich daran erinnern. Dort durfte ich deine sämtlichen Arbeiten erledigen, weil der Herr Computer ja mit dem Hauptrechner der Hermes anbandeln musste.« Anklagend stieß er seinen Zeigefinger in Richtung eines hektisch pulsierenden Monitors. »Eine böswillige Verleumdung, die Folgen haben wird!« »Die einzige Folge ist, dass du dir sofort die Bodenproben vornimmst!« Der Finger zeigte jetzt zum Tisch. »Auch wir Computer haben das Recht auf ein Privatleben ...« »Mir reicht es! Noch ein Widerwort und ich schalte dich ab. Wenn ich sowieso die meiste Arbeit hier alleine machen muss, dann werde ich den Rest wohl auch noch hinbekommen. Wir fliegen schon seit einer Woche und ich habe wirklich jede Kurskorrektur selbst berechnet. Beim letzten Meteoritenschwarm war es übrigens knapp. Aber jetzt ist Schluss!« Er drehte sich demonstrativ in Richtung der Energieversorgungskonsole, über die hunderte farbige Lichter huschten. Toller Job, schoss es ihm durch den Kopf. Kommandant eines Raumschiffes, klang das nicht gut, nach einer wichtigen und abwechslungsreichen Arbeit, nach Herausforderung und Abenteuer? Aber er war Kommandant eines kleinen, lahmen Transporters, der immer wieder zwischen Erde und Jupiter hin und her pendelte. Verpflegung, frische Wäsche und ein paar Kisten Hochprozentigen zu den Stationen auf den Jupitermonden, mit Bodenproben und sentimentaler Post zurück. Und während der mehrwöchi32
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gen Flüge war er der einzige Mensch an Bord, musste sich noch dazu mit einem Haufen stinkfauler Roboter und einem völlig überdrehten Computer herumärgern. »So geht denn Macht vor Recht. Nur unter Protest beuge ich mich der Gewalt.« Die schrille Stimme verstummte abrupt. Hinter der Sicherheitsscheibe bewegten sich stählerne Arme auf die Steinbrocken zu, ein Bohrer begann zu summen. Erschöpft schloss der Mann den Kommunikationskanal des Bordrechners. Versöhnlich hob er die Schultern: »Warum rege ich mich eigentlich so auf? Computer sind eben auch nur Menschen!« * In der Nacht wachte Steve mehrmals auf. Mit dem synthetischen Abendessen hatte wohl erneut etwas nicht gestimmt. »Verdammter Raumschiffsfraß«, gurgelte er vor sich hin, als er sich im Sanitärtrakt übergab. Das war garantiert das letzte Mal, dass er an Bord Huhn mit Curryreis gegessen hatte! Aus der kleinen Apotheke nahm er eine Tablette, um den Magen zu beruhigen. Golem, der Bordcomputer, hatte sich nach Abschluss der Materialanalyse nicht wieder gemeldet. »Im Standby-Modus«, stellte Steve nach einem Blick auf die Statusanzeige verblüfft fest. »Computer müsste man sein!«, schimpfte er dann. Er schlurfte zurück in die Kabine. In seinem Bauch gluckerte es immer noch geheimnisvoll. Leise stöhnend zog er die Decke über sich. Als er gerade wieder eingeschlafen war, weckte ihn ein lautes Poltern. Er fuhr aus der Koje hoch und stieß mit dem Kopf an die Leselampe. Fluchend stand er auf, um die Ursache des Lärms zu finden. Er hatte einen der Roboter im Verdacht. Als er den Aufenthaltsraum des Schiffes erreichte, schrak er zusammen. Die Tür stand weit offen. In einem der bequemen Polstersessel saß ein Fremder, ein ernst und würdevoll aussehender Mann von vielleicht vierzig Wurdack Verlag
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Jahren, der durch das große Panoramafenster nachdenklich nach draußen blickte. Links, fast am Rand, war der Mars schon recht gut zu erkennen. Der Eindringling hatte seine langen schwarzen, nur von wenigen grauen Strähnen durchzogenen Haare nach hinten gekämmt. Er trug eine altertümlich wirkende dunkelblaue Jacke, die bis auf die Oberschenkel reichte, eine helle Hose, schwarze Lederstiefel mit weiten Schäften und hatte ein Halstuch umgebunden. Erst jetzt bemerkte er den Raumfahrer. »Hier ist wohl nicht Weimar?«, fragte er, sichtlich verlegen. Während Steve über den Sinn der Frage nachdachte, wurde ihm bewusst, dass er im Unterhemd dastand und seine Pistole im Safe eingeschlossen war. Er hatte sie gleich zu Beginn des Fluges hineingelegt, damit die Roboter keinen Unsinn mit ihr anstellen konnten. Ist anscheinend keine so gute Idee gewesen, ging es ihm durch den Kopf. Was sollte er jetzt tun? »Wer sind Sie und was machen Sie hier?«, fragte er den Mann, um Zeit zu gewinnen. Wie wenig originell das war, wurde ihm gleichzeitig bewusst. »Verzeihen Sie bitte meine Unhöflichkeit.« Der Fremde war aufgestanden und hob begütigend die Hände, als er sah, dass Steve sofort einen Schritt zurückwich. »Ich bin Johann Wolfgang Goethe.« Steve war perplex. Träumte er? Hatte er vorhin womöglich das falsche Medikament genommen oder versäumt, den Beipackzettel zu lesen? War das endgültig der gefürchtete Schiffskoller, von dem altgediente Weltraumfahrer nach dem fünften Bier erzählten? »Ihnen will ich vertrauen, mein Freund«, fuhr der merkwürdige Besucher fort. »Ich bin eigentlich auf der Rückreise aus der Zukunft in meine Zeit. Aber mit dem Mechanismus scheint diesmal etwas nicht zu stimmen.« Er zuckte mit den Achseln. »Hier ist nicht Weimar?«, fragte er nochmals. 34
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Der Raumfahrer antwortete trotz seiner großen Verwirrung wie selbstverständlich: »Nein. Wir befinden uns an Bord der ISS Sisyphos, auf dem Flug vom Jupiter, noch einhundert Millionen Kilometer von der Erde entfernt. In vier Tagen passieren wir den Mars.« »Einhundert Millionen Kilometer! Sie benutzen dieses neue Längenmaß der Franzosen.« Goethe schüttelte bedächtig den Kopf und setzte sich wieder. »Ein Raumschiff also, bald beim Mars. Mit Astronomie habe ich mich leider nur wenig beschäftigt.« Er dachte nach. »Ich war schon zweimal in der Zukunft, habe dabei einen Eindruck davon gewonnen, was die Menschen inzwischen alles geschaffen haben. Ihre riesigen Städte, die Fuhrwerke ohne Pferde, überall Automaten – und ich habe in meinen Geschichten von Homunkuli in Phiolen und einem durch Zauberkraft kehrenden Besen phantasiert!« Steve setzte sich auch. Enge Wohnsilos, Smog, Lärm, die vielen Staus. Und versuchen Sie einmal, am Mittag einen Parkplatz zu bekommen!, ergänzte er in Gedanken die Aufzählung seines Gastes. Aber er hatte inzwischen beschlossen, vorerst zuzuhören und nicht zu viel nachzudenken. »Die Maschine hier hat mein Freund Leonardo gebaut.« Goethe zeigte auf einen eigenartigen Apparat aus Holz und Metall, ein pyramidenförmiges Gestell mit einer komplizierten Mechanik als Unterbau und einem Sitz in der Mitte, über dem zwei goldglänzende parallele Scheiben von einem Meter Durchmesser angebracht waren. Es stand in einer Ecke des Raums und hatte einige der Topfpflanzen und das Zeitschriftenregal umgeworfen. »Leonardo? Doch nicht etwa Leonardo da Vinci?« »Doch, doch, genau der.« Der Besucher nickte mit dem Kopf. »Er ist aus seiner Zeit in die Zukunft gereist und durch einen sonderbar glücklichen Zufall bei mir in Weimar gelandet. Wir verstehen uns gut. Ich habe ihn gebeten, mir die Maschine zu leihen. Das ist schon meine vierte Reise in der Zeit.« Wurdack Verlag
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»Aber Zeitreisen sind doch unmöglich!« Steves Einwand klang ziemlich hilflos. »Das lässt sich mathematisch beweisen«, fügte er schnell hinzu. Goethe reagierte barsch: »Als ob etwas nur existiert, wenn es sich mathematisch beweisen lässt!« Dann fuhr er sanfter fort: »Fragen Sie mich nicht, wie es funktioniert! Die mechanischen Instrumente sind nicht meine Sache. Leonardo ist eben ein Genie!« Er hob entschuldigend die Hände: »Wie all dies geschieht, ist geheimnisvoll, aber ich habe darüber meine Gedanken.« Er brach ab, als habe er schon zu viel erzählt. »Wollen Sie sich die Maschine genauer anschauen?« Dazu fühlte Steve sich jetzt zu müde. Er winkte ab. Stattdessen fragte er sein Gegenüber nach dem Grund der Reisen. Goethe nickte kurz vor sich hin: »Meine Muse schweigt!« Er wirkte einen Moment resigniert. »Die viele Arbeit als Geheimer Rat am Hofe des Herzogs nimmt mir die Luft. Die Freundschaft zu Frau von Stein ist lange kalt. Doch ich bin ein Dichter, ich brauche Anregungen. Und die beste Bildung findet ein gescheiter Mensch auf Reisen. Leonardo hat mich bestärkt, dass meine Zeit für mich zu eng ist. Ich muss meinen Ansporn in der Vergangenheit und in der Zukunft suchen. Große Geheimnisse liegen noch verborgen, manches weiß ich, von vielem habe ich eine Ahnung.« Fast euphorisch schloss er an: »Mit welch’ unerwarteten Empfindungen mich das Schicksal jedes Mal belohnt.« Das fand Steve einleuchtend. Dann erinnerte er sich. »Wissen Sie eigentlich, dass ich in der Schule ganz schön mit Ihren Werken traktiert wurde?«, fragte er Goethe. »Verzeihen Sie«, entgegnete der höflich, wenn auch ein wenig reserviert. »Hat Ihnen denn überhaupt nichts davon gefallen?« »Doch, doch, der Faust war ganz gut.« »Sie kennen das Faust-Fragment?« Der Besucher 36
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wirkte einen Moment sehr erstaunt. »Die Szene auf dem Blocksberg, ich ahne es schon!« Er zwinkerte Steve zu. Der nickte grinsend. »Aber der zweite Teil war – wie drücke ich es am besten aus – doch etwas schwieriger.« »Ich habe einen zweiten Teil geschrieben?«, fragte Goethe skeptisch und schüttelte den Kopf. Steve war sein Vorwurf inzwischen peinlich: »Ich bin eben eher ein Mann der Wissenschaft, in der Literatur nicht so bewandert«, entschuldigte er sich. »Die Wissenschaften sind mir nicht fremd«, entgegnete Goethe lebhaft. »Ich habe mich mit der Optik beschäftigt, mit Mineralogie und Geologie. Und ich habe den Zwischenkieferknochen des Menschen entdeckt«, sagte er, während er sein Gegenüber genau beobachtete. »Es gereut mich keineswegs, obgleich ich viel Mühe hineingesteckt habe.« Steve wurde langsam müde. Ihm fiel ein, dass er seinem Besucher noch nichts angeboten hatte. »Wollen Sie einen Earl-Grey-Tee?«, fragte er. »Sehr gern. Wird der in Windeseile von den Automaten Ihres Schiffes zubereitet?« Der Raumschiffkommandant lachte kurz und bitter. »Nicht direkt. Schön wär’s ja, wenn die überhaupt einmal irgendetwas machen würden.« Resigniert fügte er hinzu: »Nein, den muss ich schon selbst kochen.« Er zwängte sich in die kleine Bordküche und begann, mit den Geräten zu hantieren. Schließlich kam er mit zwei dampfenden Tassen zurück. Dem Gast schmeckte der Tee. »Ich saß gelegentlich in einer Tee-stube, aber ein solch köstliches Getränk habe ich nicht bekommen.« Er nickte anerkennend. Steve musste ihm die Zutaten von der Packung vorlesen. »Aha, chinesischer Tee mit Bergamoöl!«, wiederholte Goethe begeistert. Anschließend zeigte Steve, der sich in der Zwischenzeit seinen Overall angezogen hatte, ihm das ganze Schiff. Wurdack Verlag
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Goethe gab sich höflich interessiert, auch dann noch, als der Raumfahrer ihm die Steuerkabine in all ihren Details erklärte. Doch schließlich wurde er unruhig: »Ich halte Sie auf und die Zeit vergeht ...« »Wenn man’s genau nimmt, haben Sie ja eine Zeitmaschine«, wagte Steve einen Einspruch. Aber er hatte verstanden, sein Gast wollte aufbrechen. Der verabschiedete sich herzlich. Plötzlich fiel ihm etwas ein: »Den Namen des prächtigen Tees darf ich nicht vergessen!« Steve reichte ihm einen Stift und suchte nach Papier. Da entdeckte er auf dem Boden ein zusammengeknülltes Blatt. »Geht das?«, fragte er und strich es glatt. Goethe nickte und schrieb. Er gab den Stift zurück und steckte den Zettel ein. Gemeinsam gingen sie zu der Maschine. Goethe kletterte auf den Sitz und zog am Griff eines Hebels. Zuerst vergeblich, dann, mit einem Ruck, rastete der Hebel ein. Die Mechanik setzte sich leise quietschend in Bewegung, die großen Scheiben begannen sich zu drehen, wurden schneller und schneller. Noch einmal winkte er Steve zu, dann löste sich die Maschine vor dessen Augen langsam auf, wurde durchscheinend – und war plötzlich ganz verschwunden. Als Steve am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich wie gerädert. Was für eine Geschichte!, dachte er. War es Realität oder nur ein Traum gewesen? Schnell ging er zur Steuerkabine und schaute sich um. Das Stück Papier war verschwunden. Wie wahrscheinlich ist es, dass einer der Reinigungsroboter hier aufgeräumt hat?, fragte er sich. Die Antwort kannte er genau. In der Bordküche standen zwei leere Tassen auf dem Tisch. Er trat an eines der Bordterminals und lud rasch die Große Kosmische Enzyklopädie. Als er das Suchwort Goethe eingab, erschienen ein längerer Text und ein Porträt. Das 38
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Bild zeigte einen Mann, der einige Jahre älter war als der, an den er sich erinnerte. Er hatte graues, lichteres Haar – aber es handelte sich zweifellos um seinen Besucher! Dann suchte er in Goethes Veröffentlichungen. Tatsächlich, da standen die Zeilen, die Golem ihm vorgelesen hatte. Jetzt musste er sich hinsetzen. Einen Moment starrte er in die unendliche Weite des Alls. Er selbst hatte Goethe den Zettel gegeben. Das Blatt Papier, auf dem ein Gedicht ausgedruckt war, das Golem geschrieben hatte. Und von Goethe war es dann als sein eigenes Werk ausgegeben und veröffentlicht worden! Musste die Literaturgeschichte umgeschrieben werden? Er allein hatte es in der Hand. Gedankenverloren lief er vor dem Panoramafenster auf und ab. Wenn der Computer davon erfuhr, konnte er hier als Kommandant ganz einpacken. Golem würde sich endgültig nichts mehr von ihm sagen lassen. Deshalb entschloss er sich, ihm nichts von dem nächtlichen Besucher zu erzählen. Er dachte kurz nach, dann löschte er in der Datenbank alle Aufzeichnungen des gestrigen Tages. Bis zur Rückkehr zur Erde würde ihm schon eine Erklärung dafür einfallen. »Es bleibt unser kleines Geheimnis«, sagte er leise zu dem Porträt auf dem Monitor, so, als könne es ihn verstehen. * Nach der Rückkehr in Weimar verließ Goethe die Zeitmaschine, die punktgenau im Keller seines Hauses am Frauenplan gelandet war. Es war mitten in der Nacht, auf einem Sofa lag Leonardo und schnarchte vor sich hin. Er musste wohl eingeschlafen sein, während er auf seine Rückkehr gewartet hatte. Der Dichter wollte ihn zuerst wecken, doch dann entschloss er sich, erst am kommenden Tag mit ihm gemeinsam zu überprüfen, was sie bei der Eingabe der Reiseroute falsch gemacht hatten und warum der Starthebel klemmte. Wurdack Verlag
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Er ging ins Nebenzimmer. Von seinem Diener war ihm dort ein Bett bereitet worden. Schnell nahm er noch einen Schluck Rotwein aus dem auf einem kleinen Tisch stehenden Glas. Als er seine Jacke auszog, fiel ihm das Blatt Papier in die Hand. Im Licht eines Kerzenleuchters warf er einen Blick darauf. »Earl Grey«, murmelte er genießerisch. Da merkte er, dass sich auch auf der Rückseite etwas befand. Er las die Verse und stutzte kurz. »Mein zweites Nachtlied des Wanderers, gedruckt in lateinischen Buchstaben«, sagte er überrascht zu sich. Wann hatte er das eigentlich geschrieben? Schnell fiel es ihm ein. Schon vor fünfzehn Jahren war es gewesen, in einer einsamen Septembernacht 1780 auf einem Berggipfel bei Ilmenau mit dem kuriosen Namen Gickelhahn. Gern erinnerte er sich an die schöne Reise durch Thüringen. »Man denkt in der Zukunft an mich, man kennt und schätzt mein Schaffen«, stellte er nicht ohne Stolz fest. Mit diesem Gedanken, der ihn zutiefst befriedigte, schlief er ein.
Stefan Wogawa, Jahrgang 1967, befasst sich als Soziologe und Wissenschaftshistoriker beruflich vorwiegend mit irdischen Dingen. Seit einigen Jahren schreibt er aber auch PhantastikKurzgeschichten, vor allem Science Fiction. Seine Story Ein Alien kommt selten allein aus Walfred Goreng wurde für den Deutschen Phantastik Preis nominiert, die Geschichte Die Panne aus Pandaimonion IV für den Nyctalus 2005. Er lebt mit seiner Familie in einem kleinen Ort bei Weimar.
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Bernhard Schneider
Interferenz Als sich Dr. Patrick T. Robertson umdrehte, waren seine Aufzeichnungen weg. Dabei hatte er die Mappe erst vor ein paar Minuten zur Seite gelegt. Im Labor herrschte das übliche Chaos, überall standen Messinstrumente oder Bildschirme, auf den Tischen häuften sich elektronische Bauteile und verwegen konstruierte Papierstapel, aber der giftgrüne Einband hätte ihm sofort auffallen müssen. Patrick zuckte schicksalsergeben mit den Schultern und begann zu suchen. Vielleicht war die Mappe unbemerkt auf den Boden gefallen oder unter Werkzeug begraben worden. Auf den Knien rutschend entwirrte er Kabelstränge und wühlte sich durch meterlange Computerausdrucke. Doch trotz aller Phantasie blieben die Aufzeichnungen verschwunden. Wie weggezaubert. Er seufzte. Zwar konnte er das Photonenspektrometer auch ohne seine schriftlichen Anmerkungen justieren, aber es würde erheblich länger dauern. Trotzdem musste er die Einstellungsarbeiten heute noch abschließen. Der erste Schuss war für den nächsten Tag angesetzt und wenn bis dahin der Detektor nicht einsatzbereit war, konnten einige wichtige Daten verloren gehen. Patrick verfluchte den Umstand, dass er für den Spezialisten einspringen musste, den eine Grippe niedergestreckt hatte. Es war schon eine Zeit lang her, dass er so hautnah mit komplizierter Technik zu tun gehabt hatte. Und jetzt war ihm auch noch seine Erinnerungsstütze abhanden gekommen. Missmutig machte er sich an die Arbeit. Es würde eine lange Nacht werden. Kurz vor zwei Uhr morgens verließ Patrick das Labor. Bevor er das Neonlicht löschte, schaute er sich prüfend um. Alle Geräte waren ausgeschaltet, das vergitterte Fenster verschlossen. Und mitten auf dem Arbeitstisch Wurdack Verlag
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lag seine Notizmappe. Unübersehbar. Patrick runzelte die Stirn. Konnte es sein, dass Dinge urplötzlich verschwanden, nur um einige Zeit später unvermittelt wieder aufzutauchen? Oder spielte ihm nur seine Wahrnehmung einen Streich? War es nicht so, dass man nur das sah, was man auch sehen wollte? Schließlich lachte er befreit auf. Mit dem Zerstreutsein klappt es schon ganz gut, dachte er. Vielleicht wird es mit dem Professorentitel dann doch noch etwas, bei diesen Voraussetzungen. Der Large Hadron Collider, kurz LHC, war die größte Maschine, die je von Menschenhand gebaut worden war. Sie war der ganze Stolz des europäischen Kernforschungszentrums CERN in Meyrin in der Nähe von Genf. Das Kernstück des LHC bestand aus einem kreisförmigen Tunnelsystem mit einem Durchmesser von achtundzwanzig Kilometern, das sich bis weit über die französische Grenze erstreckte. Durch flüssigen Stickstoff auf wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt heruntergekühlte Magneten, mit dem Stromverbrauch einer Kleinstadt, umschlossen zwei Vakuumröhren, die tief unter der Erde einen gigantischen Ring aus Edelstahl bildeten. Die Anlage konnte Atome auf fast Lichtgeschwindigkeit beschleunigen und mit bisher nie gekannter Wucht aufeinander prallen lassen. Selbst bisher als unzerstörbar geltende Teilchen wurden unter dem Ansturm dieser titanischen Gewalten in unzählige Trümmerstücke zerlegt. Der LHC war ein übergroßer Hammer. Ein Hammer, mit dem die Menschen auf Atome einschlugen, so wie ein Kind einen Wecker zertrümmert, um herauszufinden, was im Inneren tickt. Ein paar tausend Wissenschaftler hatten eine gewisse Vorstellung davon, wie der LHC funktionierte und wofür er benutzt werden konnte. Doch nur ein knappes Dutzend Physiker wusste, wozu diese technische Meisterleistung tatsächlich fähig war. Patrick war 42
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einer von ihnen. Und er hatte Großes vor. Dr. Patrick T. Robertson war entschlossen, die Wissenschaft zu neuen Ufern zu führen. Wenn der LHC der Hammer war, dann würde er der Amboss sein. »Wie Sie bereits aus der Optik wissen, kommt es beim klassischen Doppelspaltexperiment zu Interferenzerscheinungen, die sich nur mit der Welleneigenschaft des Lichtes erklären lassen.« Ein Tastendruck, und ein Bild, bestehend aus senkrechten hellen und dunklen Linien, wurde an die Stirnseite des Hörsaals geworfen. »Das Licht einer beliebigen Quelle, einer Glühbirne zum Beispiel, trifft auf eine Blende mit zwei schmalen, eng nebeneinander stehenden Schlitzen. Beim Durchgang wird das Licht gestreut und bildet auf einer hinter der Blende stehenden Mattscheibe das charakteristische Interferenzmuster. Die Lichtwellen, die aus den beiden Schlitzen der Blende austreten, beeinflussen sich gegenseitig. Sie löschen sich aus, die dunklen Streifen des Interferenzmusters ...«, Patrick fuchtelte mit einem altmodischen Zeigestock aus Bambus in der Luft herum und versuchte, die richtige Stelle der Bildprojektion zu treffen, »... oder sie verstärken sich, die hellen Streifen.« Er hasste diese Anfängervorlesungen. Komplizierte Dinge zu verstehen war eine Sache, sie zu erklären, eine ganz andere. Aber er und Rachel brauchten das Geld, das ihm die Vorlesungen an der Universität von Genf einbrachte. Sie beide führten ein Nomadendasein, was nicht dazu verleitete, Reichtümer anzuhäufen. Noch vor fünf Jahren lebten sie in New York, als das Brookhaven National Laboratory mit seinem Relativistic Heavy Ion Collider das Mekka der Kernphysiker war. Doch kaum war der LHC in Betrieb gegangen, zog er die Wissenschaftler an wie ein Stück Zucker die Ameisen. Und so wechselten Rachel und er eben nicht nur die Stadt, sondern auch den Kontinent und zogen nach Genf. Nur um ziemlich schnell Wurdack Verlag
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feststellen zu müssen, dass das Leben in der Schweiz eine teuere Angelegenheit war, selbst wenn man seine Ansprüche zurückschraubte. Allein die Miete für ihr Haus verschlang die Hälfte dessen, was CERN ihnen für ihre Dienste bezahlte. Ein lauter werdendes Raunen riss Patrick aus seinen Gedanken. Mit einem Ruck straffte er seine dürre Gestalt. »Wenn wir nun die Intensität der Lichtquelle immer weiter verringern, so weit verringern, dass nur noch einzelne Photonen die Schlitze der Blende passieren, befinden wir uns im Bereich der Quantenphysik. Aber obwohl wir jetzt von einzelnen Lichtteilchen reden, verhalten sie sich im Doppelspaltexperiment wie eine Welle, das heißt, wir können selbst bei geringster Lichtintensität immer noch ein Interferenzmuster beobachten.« Patricks monotone Stimme erstarb erneut. Verstohlen schielte er auf seine Armbanduhr. Immer noch fünf Minuten. Wenn nichts dazwischen kam. »Was wird wohl passieren, wenn wir ein einzelnes Photon in Richtung des Doppelspaltes losschicken? Richtig. Nichts. Genauer: Das Interferenzmuster verändert sich nicht. Dem Photon gelingt es, beide Schlitze der Blende gleichzeitig zu passieren und mit sich selbst zu interferieren. Irgendwelche Fragen?« Mit etwas Glück konnte er jetzt die Veranstaltung zügig beenden. Er tat sehr beschäftigt, klappte das Notebook zu und sammelte seine Vortragsnotizen ein. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte er, dass trotz aller Drohgebärden einer der Studenten die Hand hochhielt. Patrick stöhnte innerlich auf und hob zögernd den Kopf. »Ja?«, brummelte er. Ein junger Mann, der aussah, als wäre er einer dieser kitschigen Beach- und Surferserien entsprungen, stand auf. »Verzeihen Sie, Dr. Robertson, aber Sie sagten, dass das Photon mit sich selbst interferieren würde. Aber das widerspricht doch aller Erfahrung und aller Logik. 44
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Gelten die Gesetze der Logik denn in der Quantenmechanik nicht mehr?« Auch das noch, dachte Patrick. Ein Besserwisser. Hier half nur hartes Durchgreifen. Er ließ die Leinwand hochschnellen und griff nach einem Stück Kreide. »Passen Sie auf! Nehmen wir mal im einfachsten Fall die Schrödinger-Gleichung und bemühen einen Satz hyperbolischer Kugelfunktionen als Lösungsansatz ...« Mit geübten Bewegungen warf er eine Serie von Gleichungen und mathematischen Symbolen an die Tafel. Es war klar, dass er die Studenten damit heillos überforderte, aber genau das wollte er auch. »... und wie Sie unschwer am imaginären Anteil der resultierenden Wellenfunktion erkennen können, bilden sich Wechselwirkungen heraus. Womit Ihre Frage beantwortet wäre, wie ich hoffe.« Triumphierend drehte er sich zu seinem Publikum um und blickte in betroffene und eingeschüchterte Gesichter. Gerettet. Eine weitere Frage wurde nicht gestellt. Auf der Fahrt nach Meyrin überkamen ihn Gewissensbisse. Es war unfair, neugierige Studenten auf diese Weise abzuwimmeln. Und so dumm war die Frage gar nicht. Natürlich gab die Mathematik die Lösung vor: Das Photon fliegt gleichzeitig durch beide Schlitze. Basta. Richtig vorstellen konnte sich das allerdings niemand. Selbst die größten Genies bekamen dabei Blasen an ihren Gehirnwindungen. Die Landschaft zog gleichmäßig an Patrick vorbei und das sonore Brummen des Motors ließ ihn schläfrig werden. Was wäre, wenn die Wahrheit ganz anders aussähe? Vielleicht steckte in all diesen hübschen Formeln und Gleichungen ein fundamentaler Fehler, eine falsche Grundannahme? Die schnurgerade Reihe der Alleenbäume zauberte hypnotische Muster aus Sonnenlicht auf den Asphalt. Helle Streifen, dunkle Streifen. Seine Gedanken wurden träge. Wenn das, was alle glaubten, Wurdack Verlag
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falsch war, wenn das Photon im Doppelspaltexperiment nicht mit sich selbst in Beziehung trat, mit was dann? Mit etwas, das sich nicht in Zahlen und Formeln pressen ließ? Sich nicht berechnen ließ? Patrick biss sich auf die Unterlippe. Er hasste diese Anfängervorlesungen. Das Schrillen der Türklingel ließ Dr. Rachel Robertson zusammenzucken. Sie war erst seit einer halben Stunde zu Hause und hatte einen anstrengenden Tag hinter sich. Die Informationsverarbeitung klappte immer noch nicht richtig. In der Synchronisation des Datentransfers war irgendwo der Wurm drin. Die Sensoren feuerten, was das Zeug hielt, aber die Computer konnten nur einen Bruchteil der Informationen tatsächlich empfangen und speichern. Zu allem Überfluss hatte ihr Chef, Dr. Ryan Duncan, ihr den Zugang zum Rechenzentrum verweigern wollen. Er hatte sie nicht erkannt. Derselbe Dr. Ryan Duncan, mit dem sie seit Monaten fast jeden Tag zusammenarbeitete. Es hatte sie einiges an Überredungskunst gekostet, um den völlig verwirrten Mathematiker zu überzeugen. Sie schüttelte den Kopf. Wissenschaftler waren eben manchmal etwas skurril, vor allem in ihrer männlichen Form. Es klingelte zum zweiten Mal. Rachel warf einen kurzen Blick in den Spiegel und versuchte vergeblich, ihr langes blondes Haar in eine einigermaßen herzeigbare Form zu bringen. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war unangemeldeter Besuch. Gerade jetzt, wo Patrick weg war. Schon komisch, dass er mitten im dicksten Trubel für eine Woche nach Brookhaven zurück wollte. Er musste doch wissen, dass es in den nächsten Tagen vor allem auf ihn ankam. Jetzt klingelte es nicht nur, es klopfte auch noch. Bestimmt ein Vertreter, der mir ein in Leder gebundenes Lexikon aufschwätzen will. Rachel legte ihr strenges »Vielen Dank, wir haben schon alles«-Gesicht auf und öffnete mit energischem Schwung die Haustür. »Hallo Schatz, ich habe heute Morgen meine Schlüssel liegen gelassen.« 46
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»Patrick! Aber wieso ... ich dachte ... bist du nicht ... um Himmels willen, was ist passiert?« »Was soll schon passiert sein?«, fragte Patrick verständnislos zurück und schob sich an seiner regungslos dastehenden Frau vorbei in den Hausflur. »Was ist denn los mit dir, hast du ein Gespenst gesehen, oder was?« Langsam gewann Rachel ihre Fassung wieder. »So ähnlich«, murmelte sie. »Wolltest du nicht für eine Woche nach Brookhaven? Ich meine, hast du nicht heute Morgen mit einem großen Koffer das Haus verlassen? Du hast mich doch noch vom Flughafen aus angerufen und dich darüber beschwert, wie lange das Taxi gebraucht hat.« »Wer? Ich? Nach Brookhaven? Heute?« Patrick war verblüfft. »Was soll denn das für eine Schnapsidee sein?« Aufmerksam musterte er seine Frau und verzog dann die Mundwinkel zu einem schwachen Lächeln. »Hör zu, ich weiß ja nicht, wie viele Männer du hast, aber du musst da was verwechseln. Ich wollte bestimmt nicht nach Brookhaven fliegen.« Er streckte den Arm aus, um Rachel zu beruhigen. Wütend schlug sie die Hand weg. »Verkauf mich nicht für dumm. Erst letzte Woche haben wir darüber geredet. Ich habe die Tage extra mit Filzstift auf dem Kalender markiert.« Sie deutete auf den großformatigen Kunstdruck, der eine Schwarz-Weiß-Fotografie des Seine-Ufers aus den Fünfzigern zeigte. Das dazugehörige Kalenderblatt war schneeweiß, nur der Geburtstag von Patricks Mutter war mit einem dünnen Bleistiftkreuz markiert. »Aber ...«, stammelte sie. Ihr Gesicht wurde blass. Patrick nahm seine Frau zärtlich in den Arm und küsste sie auf das linke Ohr. »Du bist etwas überarbeitet, Schatz. Das kann schon mal vorkommen. Schlaf dich aus ...« »Ja, vielleicht hast du Recht ...« Rachel schluchzte auf. »Ryan hat mich schon genug durcheinander gebracht.« »Der gute, alte Ryan«, versuchte Patrick zu scherzen. Wurdack Verlag
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»Hat er dich wieder gnadenlos gescheucht?« »Eigentlich nicht. Er hat ... Ach, ich weiß nicht, was ich denken soll.« Rachel fühlte sich plötzlich todmüde. Der Boden begann unter ihr zu schwanken. Patrick führte sie behutsam ins Schlafzimmer. Als sie eingeschlafen war, setzte er sich in seinen Lieblingssessel und goss sich einen Cognac ein. Wie kam Rachel nur darauf, dass er das Projekt alleine lassen würde? Sie musste doch wissen, dass er zum Fanatiker wurde, wenn es um seine Arbeit ging. Er nahm sich vor, mit Ryan zu reden. Vielleicht hatten sie ihr in den letzten Wochen tatsächlich etwas zu viel zugemutet. Das Projekt verlassen. Gerade jetzt. Absurd, völlig absurd. Die Sitzung fand in einem der schmucklosen, blassgrün getünchten Besprechungsräume des CERN statt. Kurz vor Beginn der wichtigsten Phase des ALICE-Projektes war die Veranstaltung gut besucht, mehr als dreißig Mitarbeiter drängten sich in dem fensterlosen Raum. Sie hatten sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: Durch die Kollision von Goldatomen im LHC Bedingungen zu schaffen, wie sie zehn hoch minus vierzehn Sekunden nach dem Urknall, dem Big Bang, geherrscht haben mussten. Sie wollten Gott bei der Erschaffung des Universums auf die Finger schauen. Und so gut, wie das Projekt lief, hatte Gott wohl keine Chance, seine Geheimnisse für sich zu behalten. Neben Patrick saß Ryan, sein Stellvertreter. Obwohl der stämmige Ire Anfang fünfzig war, wirkte er jugendlich. Normalerweise schaffte es Ryan mühelos, durch seine schrägen Kommentare zu diesem und jenem, die er mit dröhnender Stimme und mit wilden Armbewegungen vortrug, sofort zum Mittelpunkt jeder Versammlung zu werden. Doch heute hockte er zusammengesunken auf seinem Stuhl und war stumm wie ein Fisch. Patrick beobachtete ihn sorgenvoll. Seine Frau hatte ihm davon erzählt, dass Ryan sich merkwürdig verhalten hatte. 48
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Vielleicht war er auch überarbeitet. Sie alle waren überarbeitet. Patrick erhob sich und eröffnete als Projektleiter offiziell die Besprechung. »Wie Sie alle wissen, sind die Vorexperimente äußerst erfolgreich gelaufen. Die Beschleunigungsenergien konnten gleichmäßig gesteigert werden. Morgen werden wir den ersten Versuch wagen, die kritische Grenze zu überschreiten. Die entscheidende Frage lautet jetzt: Sind wir dazu bereit?« Es fiel ihm schwer, seine Erregung zu verbergen. Für diesen Moment hatte er zwei Jahre lang hart gearbeitet. Wenn jetzt ernsthafte Einwände gegen das morgige Experiment kämen, würde sie das für Monate im Zeitplan zurückwerfen, wenn nicht sogar das Ende des Projektes bedeuten. Nicht alle Geldgeber hatten unendlich viel Geduld. Sein fragender Blick schweifte über die Runde und blieb schließlich bei einem fülligen Italiener hängen. »Federico?« Der Verantwortliche für die Detektionstechnik zupfte an seinem Vollbart, der fast das gesamte Gesicht verhüllte. »Bei uns ist alles okay, von mir bekommst du ein Go.« »Danke, Federico.« Patrick entging nicht, dass Ryan immer unruhiger wurde und auf seinem Stuhl hin und her rutschte, als würde er auf einem Wespennest sitzen. Seine Stirn war schweißnass. Wusste Ryan von schwerwiegenden Problemen und hatte bisher nur noch nicht gewagt, es ihm zu sagen? Patrick spürte seine Halsschlagader pochen. Er fürchtete, dass er eine schlechte Nachricht nicht überleben würde. Aber zuerst war Rachel an der Reihe. Sie zögerte. »Wir haben noch ein paar Probleme mit der Datenkommunikation, aber ich denke ... ja, wir werden das in den Griff kriegen. Von mir auch ein Go.« Patrick atmete auf. Jetzt konnte nur noch sein Stellvertreter die heiße Phase verhindern. Aber Ryan schwieg. Wurdack Verlag
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Er nickte nur schwach, als ihn Patrick halb fragend, halb flehend anschaute. Für einen Moment war Patrick irritiert, dann spürte er, wie eine schwere Last von ihm abfiel. Der Weg war frei. Morgen würden die aufeinander prallenden Teilchen für eine unvorstellbar kurze Zeitspanne zu einem QuarkGluon-Plasma verschmelzen, der Ursuppe des Universums. Und er würde dem Weltall die letzten Geheimnisse seiner Entstehung entreißen. Nachdem sich der Besprechungsraum geleert hatte, saß er noch am Konferenztisch und wartete auf das Glücksgefühl. Aber es blieb aus. Stattdessen spürte er einen dumpfen Druck in seiner Brust. Was wusste Ryan, was er nicht wusste? Nach dem Telefonat mit dem Dekan der Genfer Universität machte sich Patrick ernsthafte Sorgen. Brokendorf, ein gebürtiger Deutscher, hatte sich wortreich darüber beschwert, dass Patrick seine Pflichten vernachlässigte und nicht zu einer Vorlesung erschienen war. Ohne Vorankündigung. Dabei erinnerte sich Patrick noch genau, wie Brokendorf selbst ihn vor zwei Tagen angerufen und darum gebeten hatte, die Vorlesung ersatzlos zu streichen. Dringende Sanierungsarbeiten im Hörsaal. Er hatte sich darüber noch gewundert, denn üblicherweise scheute der Dekan einen Lehrausfall wie der Teufel das Weihwasser. Brokendorf war bekannt dafür, selbst bei mittelschweren Naturkatastrophen alle Hebel in Bewegung zu setzen, um den Studenten seiner Universität trotzdem Vorlesungen und Seminare anbieten zu können. Schließlich hatte er einen Ruf zu verlieren. Als Patrick sein Fehlen erklären wollte, war Brokendorf förmlich explodiert. Er stritt alles ab, erklärte Patrick kurzerhand für verrückt und fragte ihn ernsthaft, ob er betrunken wäre. Nachdem Patrick mehr verblüfft als zornig den Hörer aufgelegt hatte, dachte er nach. Weder in seinem Computer 50
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noch in seinem Tischkalender fand er einen Hinweis darauf, dass die Vorlesung ausfallen würde. Wenn der Dekan ihn aber tatsächlich angerufen hatte, hätte er sich bestimmt eine Notiz gemacht. Auch war Brokendorf nicht der Typ, der alles durcheinander brachte und eigene Fehler anderen in die Schuhe schob. Er spürte, wie sich sein Magen verknotete. Die sinnlose Suche nach einem Notizbuch, das er nie verlegt hatte. Ein Telefonanruf, der offensichtlich nicht stattgefunden hatte. Das unbestimmte Gefühl einer drohenden Gefahr kroch in ihm hoch. Was geschah mit ihm? War er krank? Er hatte von entsetzlichen Krankheiten gehört, die das Gehirn zersetzten und das Gedächtnis immer schwächer werden ließen. Aber er hatte ein gutes Gedächtnis. Er hatte noch genau im Ohr, wie Brokendorf mit leidender Stimme, als würde er körperliche Schmerzen erleiden, die Vorlesung absagte. Nein, sein Gedächtnis funktionierte einwandfrei. Nur erinnerte er sich offensichtlich manchmal an die falschen Dinge ... »Wir müssen reden.« Patrick griff nach dem buntbemalten Porzellanbecher, goss ihn bis zum Rand mit dampfendem schwarzen Kaffee voll und setzte sich an den Esstisch. »Über ALICE?«, fragte Rachel. »Nein, nein«, winkte er ab. »ALICE läuft wunderbar, ein Plasma nach dem anderen, wunderbare Daten, alle sind ganz aus dem Häuschen. Aber das kennst du alles selbst.« Sein bitteres Gesicht passte ganz und gar nicht zu dieser frohen Botschaft. »Du weißt worüber.« Rachel nickte nur stumm. Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich ihrem Mann gegenüber. Unter ihren Augen verliefen dunkle Ringe. Patrick umkrallte die Kaffeetasse, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Gestern habe ich mein Auto gesucht.« »Dein Auto?«, echote Rachel. Wurdack Verlag
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»Ja, meinen zwölf Jahre alten roten Toyota, den ich immer ...«, Patrick deutete zum Fenster hinaus, »... immer vor unserem Haus parke. Gestern Morgen war er weg.« Rachel senkte den Kopf. »Du hast keinen Toyota. Du bist ein Autonarr, Patrick. Keine zwölf Pferde würden dich in einen Toyota kriegen. Du hast voriges Jahr einen sündhaft teuren, nachtschwarzen Fünfer-BMW gekauft, obwohl das Geld knapp ist und ich strikt dagegen war. In den ersten Wochen warst du so verknallt in diese Kiste, dass du am liebsten noch darin geschlafen hättest.« Sie warf ihrem Mann einen prüfenden Blick zu. »Vermutlich hast du das sogar getan.« Er starrte aus dem Fenster. »Ich interessiere mich nicht für Autos. Es ist überhaupt kein Problem für mich, mit einem Toyota durch die Gegend zu fahren. Ich käme nie auf die Idee, mir ein deutsches Auto zu kaufen, ich weiß ja noch nicht mal, wie ein BMW aussieht.« »Schau doch einfach mal in die Garage«, empfahl Rachel trocken. Ein paar Minuten vergingen in brütendem Schweigen. Schließlich räusperte sich Rachel. »Ich hatte vorige Woche einen Anruf aus New Orleans. Meine Schwester ist gestorben.« Patrick fuhr erschrocken zusammen. »Carol? Aber sie ist ... ich meine, sie war ... aber das ist ja furchtbar! Was sollen wir ...« Rachel unterbrach ihn mit einer müden Handbewegung. »Ich habe keine Schwester.« »Aber Carol hat uns erst an Weihnachten besucht.« Patrick blickte entgeistert in das Gesicht seiner Frau. »Erinnerst du dich nicht mehr an deine Schwester? An Carol, an die spindeldürre Carol, die nie stillsitzen konnte, die immer lachte und völlig außer sich war, wenn man ihr Kekse mit Schokolade anbot? Du musst dich doch an Carol erinnern!« Rachel blieb beharrlich. »Ich habe keine Schwester.« In plötzlich aufkeimender Wut schlug sie mit geballter 52
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Faust auf den Tisch. »Verdammt Patrick, ich habe keine Geschwister, ich habe keine einzige Erinnerung an eine Carol oder sonst jemanden, außer an meine Eltern. Das ist der komplette Wahnsinn ... nur ein Phantom.« »Okay Rachel, beruhige dich.« Patrick versuchte, das Zittern seiner Stimme zu unterdrücken. »Bleibt nur eine Frage: Wer liegt falsch, du oder ich?« Rachel zog aus ihrer Hosentasche ein zerknittertes, amtlich aussehendes Schreiben. »Diese Carol hat uns 150.000 Dollar vermacht«, antwortete sie tonlos. Patrick pfiff durch die Zähne. »Eine hübsche Summe für ein Phantom.« »Irgendetwas passiert, Patrick.« »Ja. Aber was?« Mit einer fahrigen Bewegung streifte sich Rachel eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Vielleicht ... vielleicht werden wir verrückt. Wir sollten zu einem Arzt gehen.« »Zu einem Arzt?«, stieß Patrick verächtlich hervor. »Was glaubst du, was passieren wird? Was willst du einem Psychiater erzählen? Dass du dich an Dinge erinnern kannst, die niemals geschehen sind? An die falschen Dinge? Der Kerl im weißen Kittel wird verständnisvoll mit dem Kopf nicken und dann dafür sorgen, dass das nicht noch mal passiert. Er gibt dir ein paar von diesen rosaroten Pillen und anschließend kannst du dich an gar nichts mehr erinnern. Das ist keine Lösung, glaub mir.« »Sicher, sicher«, antwortete Rachel resigniert. Ihre blauen Augen weiteten sich. »Es wird immer schlimmer, Patrick. Irgendetwas müssen wir doch unternehmen, ich meine ...« Der Rest ihrer Worte ging in ein Schluchzen über. »Ich habe Angst, Patrick.« Für einen Moment starrte Patrick sie schweigend an. Dann stand er auf und rückte sorgfältig seinen Stuhl zurecht. »Ich auch.« Die Verbindung war schlecht. Es knackte und fiepte. Vielleicht lag es an den Magnetfeldern, die irgendwo Wurdack Verlag
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tief unter Patricks Bürostuhl den Teilchenstrom in seine Bahn pressten. »Hör zu Rachel, es muss irgendwie mit ALICE zusammenhängen.« »Was muss mit ALICE zusammenhängen? Drück dich bitte deutlich aus, ich habe keine Zeit für Rätselraten.« »Na ja, du weißt schon, der Brookhaven-Besuch, mein Toyota, deine Schwester ...« »Ich habe keine Schwester«, erwiderte Rachel trotzig. »Okay, schon gut, aber es liegt an ALICE.« Am anderen Ende der Leitung schnaubte Rachel unwillig in den Hörer. »Jetzt spinnst du komplett.« »Doch, glaub mir. Ich habe viel gelesen. Marcel und die anderen. Vielleicht haben sie doch Recht.« »Du liest Marcel?«, fragte Rachel spöttisch. »Schön für dich, dass du so viel Zeit hast.« »Es wäre eine Erklärung. Marcel geht davon aus, dass es beliebig viele Paralleluniversen gibt, die sich mehr oder weniger stark voneinander unterscheiden. Nach seiner Theorie tritt das einzelne Photon im Doppelspaltexperiment nicht mit sich selbst, sondern mit einem Photon aus einem Paralleluniversum in Beziehung, ein Paralleluniversum, das unserem sehr, sehr ähnlich ist. Deshalb kommt es zu Überlappungen, gegenseitigen Beeinflussungen.« »Ich kenne das krude Zeug«, konterte Rachel. »Aber selbst wenn wir mal für einen Moment annehmen, dass Marcel Recht hat ... Wir reden über Quantenmechanik, über eine Welt, die kleiner ist als ein Atom. Was kann das mit uns zu tun haben? Weißt du, was für Energien du brauchst, wenn du diese Effekte bei großen Objekten erreichen willst? Wirklich große Objekte, wie du und ich zum Beispiel? Ein Schwarzes Loch ist das Mindeste.« Patrick holte tief Luft. »Wir haben ein Schwarzes Loch. Zumindest glaubt das Ryan. Er hat die Daten der ersten Experimente ausgewertet und behauptet, dass wir bereits beim ersten Schuss so weit waren. Ich habe es nachge54
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rechnet. Es könnte reichen. Rachel, es ist phantastisch. Das habe ich nie zu träumen gewagt. ALICE hat uns das Tor zu einer anderen Welt aufgestoßen.« »Okay. Heute Abend beim Italiener.« Es knackte und die Verbindung war unterbrochen. Patrick starrte den Hörer an. Er war keinesfalls so überzeugt, wie er geklungen hatte. Die Theorien Marcels, Schwarze Löcher, Paralleluniversen und Überlappungen ... Das alles war weit hergeholt, womöglich zu phantastisch, um real zu sein. Tatsächlich gab es kaum einen Wissenschaftler, der diese Ideen wirklich ernst nahm. Er ahnte, dass er sich an einen Strohhalm klammerte. Aber es musste eine Erklärung geben für das, was mit Rachel und ihm geschah. Eine vernünftige, logische, wissenschaftliche Erklärung. Irgendetwas, das man nachrechnen konnte, das beherrschbar war. Prinzipiell zumindest. Falls nicht ... Er spürte, wie eine eiskalte Woge über seinem Kopf zusammenschlug und ihm den Atem raubte. Falls er sich irrte, falls Marcel sich irrte, dann geschah hier etwas, was er mit Magnetfeldern und Strahldichten nicht in den Griff bekam. Dann hatte er die Kontrolle verloren. Mit einer wütenden Handbewegung fegte er den Telefonapparat vom Tisch. Er hasste es, die Kontrolle zu verlieren. Noch mehr als Anfängervorlesungen. Die Nachricht von Ryans Tod schlug ein wie eine Bombe. Er war in seiner Garage an einer Kohlenmonoxidvergiftung gestorben. Bemerkenswert, wenn man bedachte, dass er hierfür erst den Katalysator seines Wagens ausbauen musste und er die sprichwörtlichen linken Hände besessen hatte. »Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Rachel und stellte behutsam ihr Weinglas ab. »Oh, auf ALICE hat das keinen Einfluss«, antwortete Patrick. Das Schicksal seines Kollegen ließ ihn seltsam Wurdack Verlag
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unberührt. »Ryan hat vor allem die Vorarbeiten gemacht, die ganzen Planungen und Berechnungen. Jetzt brauchen wir ihn nicht mehr.« Patrick war völlig aufgekratzt. Während des ganzen Essens erzählte er von den hervorragenden Ergebnissen der Experimente und schwärmte von den Dutzenden von Veröffentlichungen, die er schreiben würde. Sogar das Wort »Nobelpreis« fiel. Erst als Rachel beim Espresso angelangt war, wagte sie es, ihn zu unterbrechen. »Wollten wir nicht über etwas anderes reden?« Patrick stoppte seinen Redefluss. Er hatte sichtlich Mühe, das Thema zu wechseln. »Ach so, das. Wir können Marcels Theorien über die Paralleluniversen bestätigen. Alles andere ist doch nicht so wichtig, oder?« Rachel ließ sicht nicht beirren. »Wenn du Recht hast, falls tatsächlich bei jedem Schuss von ALICE ein winzig kleines Schwarzes Loch produziert wird und wir, ich meine wir beide, etwas mit Marcels Paralleluniversen zu tun haben, dann ...« »... bin ich nicht der Mann, den du geheiratet hast«, vollendete Patrick den Satz. In einem plötzlichen Anfall von Humor sprang er auf, zog einen imaginären Hut von seinem Kopf und führte eine vollendete Verbeugung vor. »Gestatten Gnädigste, ich bin Patrick T. Robertson aus der, sagen wir mal, dreiundzwanzigsten Dimension und finde Sie recht nett. Wollen Sie mich heiraten?« »Patrick, bitte«, flüsterte Rachel. »Die Leute schauen schon rüber.« »Was interessieren mich die Leute«, erwiderte Patrick gut gelaunt und setzte sich wieder. »Morgen bin ich schon längst in einem anderen Universum.« »Aber warum nur wir, Patrick? Warum nicht noch andere?« »Ich glaube nicht, dass wir die Einzigen sind. Denk an Ryan.« 56
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»Du meinst ...?« »Hat er dich nicht für eine völlig Fremde gehalten, als du in das Rechenzentrum wolltest? Kann schon mal passieren, wenn man aus einer Parallelwelt kommt.« »Aber warum nicht alle, die ganze Welt? Das ist doch einfach verrückt.« Patrick legte die Fingerspitzen zusammen und hob den Kopf. »Ich weiß es nicht, Rachel. Ich weiß nur, dass es so ist. Aber ich kann es dir ausrechnen, es ist erklärbar, verstehst du?« Rachel zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch an die Decke. »Du musst es stoppen!«, forderte sie energisch. Patrick griff über den Tisch und zog Rachels Hände an sich. »Ich kann es nicht stoppen«, erwiderte er ruhig. »Warum nicht? Du bist der Projektleiter. Ein Wort von dir und ALICE ist mausetot.« Rachel schrie fast. Patrick blickte ihr in die Augen. »Was soll ich dem Verwaltungsrat sagen? Dass ich ein millionenschweres Projekt abbreche, weil meine Frau und ich uns nicht wohl fühlen im Kopf? Weil der stellvertretende Projektleiter bei der Reparatur seines Autos einen tragischen Unglücksfall hatte? Niemand wird uns glauben, Rachel. Wir können nichts tun.« Abrupt zog Rachel ihre Hände zurück und schlang ihren Seidenschal um den Hals. Ihr fröstelte. »Du willst es nicht stoppen, stimmt’s?« »Wir sind so dicht dran, Rachel, so dicht.« Patrick legte Zeigefinger und Daumen aufeinander und kniff ein Auge zu. »Ich kann ALICE jetzt nicht abbrechen.« »Du bist übergeschnappt!«, schleuderte ihm Rachel mit schriller Stimme entgegen. Sie sprang auf und hastete zum Ausgang. Patrick starrte ihr hinterher. »Wir haben alles unter Kontrolle«, murmelte er und trank mit einem Zug sein Glas aus. Wurdack Verlag
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Rachel kritzelte auf einem Blatt Papier. Sie tat das immer, wenn sie nachdachte, obwohl sie meist nur krumm geratene Strichmännchen produzierte. Also, noch mal von vorne: Marcel behauptet in seinen Theorien, dass es Paralleluniversen gibt, die mit unserem Universum lose verbunden sind. Stehen nun genügend große Energien zur Verfügung, wird die Kopplung stärker und die gegenseitige Beeinflussung wirkt nicht nur auf kleine Teilchen wie Photonen, sondern auch auf den Makrokosmos. Und schon schlüpft man von einer Welt ohne Schwester in eine Welt mit Schwester und der eigene Ehemann wird ausgetauscht gegen ein gleich aussehendes Exemplar, das allerdings einen Acht-zylinder nicht von einer Nähmaschine unterscheiden kann. Rachel massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. Sie war weit davon entfernt, alles zu verstehen, aber es klang plausibel. Irgendwie. Auf dem Papier entstand ein großes P mit einem schraffierten Schatten. Patrick glaubte es offensichtlich auch. Obwohl er alles glauben würde, solange es für eine Veröffentlichung reichte ... Sie drückte zu fest auf und die Bleistiftspitze brach ab. Egal, was es war und warum es geschah, es musste aufhören! Und zwar sofort! Niemand wusste, was sonst noch passieren würde. Sie zerknüllte das Blatt und warf es in die Ecke. Mit Patrick war nicht mehr zu reden, er war völlig besoffen von der Aussicht auf Erfolg und Ruhm, Paralleluniversen hin oder her. Sie war die Einzige, die ALICE noch stoppen und eine Katastrophe verhindern konnte. Und hierfür gab es nur einen Weg: Sabotage. Jetzt bedauerte sie, dass sie sich nie mit den technischen Einzelheiten des LHC beschäftigt hatte. Ein paar Kabel durchschneiden und eine Festplatte löschen, würde nicht reichen. Damit konnte sie ALICE nicht aufhalten. Sie musste den LHC schon massiv beschädigen. Vielleicht ließ sich etwas mit den Magneten machen, überkritische Felder oder Ähnliches ... Sie warf den Computer an 58
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und blätterte sich durch die Webseiten der technischen Dokumentation. Patrick traf sie im Tunnel. Das tiefe Brummen der supraleitenden Magnetspulen ließ seinen Schädel vibrieren. Irgendwie hatte er geahnt, dass die enorme Steigerung der Feldstärke keine zufällige technische Störung war. Rachel schrie auf, als sie dicht vor ihm stand. »Du hast braune Augen!« Zuerst war er verwirrt, dann durchzuckte ihn die Erkenntnis. »Du meinst ...« Rachel war einem hysterischen Anfall nahe. »Du hattest immer blaue Augen, blau, verstehst du, immer, immer ...« Seine Stirn war heiß. Vielleicht hatte er Fieber. Das Brummen nahm an Lautstärke zu und der schmale Laufsteg in der engen Betonröhre begann zu vibrieren. Rachel stolperte ein paar Schritte zurück. Sie stieß mit dem Rücken gegen einen Verteilerkasten und fiel zu Boden. Heute Morgen hatte er sein Büro gesucht. Es war jetzt im fünften Stock, nicht mehr im Erdgeschoss. Wenn man darauf vorbereitet war, konnte man damit umgehen, dachte er. Es war erträglich seit der Eingebung in der letzten Nacht. Eine Offenbarung, die ihm mit glasklarer Deutlichkeit gezeigt hatte, was mit ihm geschah. Er durfte sich nur nicht dagegen wehren. Aber Rachel wehrte sich. Das war falsch. Abgrundtief falsch. Rachels Stöhnen klang wie durch Watte an sein Ohr. »Was willst du tun?«, fragte er. Sie wischte sich mit dem Handrücken über die blutende Oberlippe. »Ich gehe weg«, schrie sie und versuchte, sich aufzurichten. Ein schrilles Pfeifen setzte ein, das wie eine Kreissäge klang. »Das wird dir nicht helfen.« Er musste jetzt schreien, um gehört zu werden. Der Laufsteg schwankte immer stärker. Vorsichtig näherte er sich seiner Frau. »Es zielt auf uns, auf einzelne Personen. Es ist völlig unabhängig davon, wo du bist.« Wurdack Verlag
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»Das ist doch Unsinn. Ein physikalischer Effekt ...«, stammelte Rachel. »Und Ryan?«, unterbrach er sie. »Warum nur wir und nicht alle anderen? Ryan war derjenige, der außer uns noch am meisten über ALICE wusste. Es trifft nur die, die alles über das Projekt wissen.« Das Brummen steigerte sich weiter und näherte sich dem Geräusch eines Düsentriebwerks. Um Patrick drehte sich alles. Er konnte Rachel nur noch schemenhaft erkennen. »Was ist denn das für ein physikalisches Prinzip, das sich am Kenntnisstand von Menschen orientiert?«, brüllte Rachel ihm entgegen. Sie rutschte am Geländer des Laufstegs entlang und fiel erneut zu Boden. Ihr Gesicht war blutverschmiert. »Es hat nichts mit Physik zu tun. Es ist etwas anderes.« Patricks Beine knickten ein. Er musste sich setzen. Es stank nach verschmorter Isolation. Fetter Qualm breitete sich aus. »Bitte?«, würgte Rachel während eines Hustenanfalls hervor. »Marcel ist ein Idiot.« Patrick schrie aus Leibeskräften. »Vergiss den Quatsch über Schwarze Löcher und Paralleluniversen. Es ist Gott. Verstehst du? Gott. Er will sein Geheimnis für sich behalten. Es ist sein letztes Geheimnis.« Ein heiseres Lachen drang durch die Rauchschwaden. »Seit wann glaubst du an höhere Mächte? Mir ist es gleichgültig, warum es geschieht. Es muss einfach nur aufhören, verstehst du?« »Unsinn, es gibt für alles eine Erklärung ... Ursache und Wirkung ... ich meine ...«, Patricks Zunge taumelte in seinem Mund, als wäre sie aus Blei, »... wenn es nicht die Physik ist ... verdammt, dann muss es eben Gott sein.« Rachel begann, auf ihn zuzukriechen. Ihr Atem ging stoßweise. »Du brauchst einen Grund. Eine verfluchte, erbärmliche Begründung. So, wie du für alles eine Ursache brauchst«, krächzte sie. Er streckte die Hand nach ihr aus. »Es wäre sonst sinn60
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los, nicht?« Der Feueralarm sprang an. Ein rotierendes Blinklicht warf rote Lichtblitze gegen die Betonschale des Tunnels. »Aber ist das nicht eine komplizierte Methode?« Rachel spuckte aus. »Könnte Gott uns nicht einfach bei einem Autounfall sterben lassen?« Patrick zog sie an sich heran und bettete ihren Kopf an seine Schulter. »Die Strafe für Erkenntnis ist nicht der Tod«, flüsterte er, »sondern die Vertreibung aus dem Paradies.« Rachels Augenlider flatterten. »Es geschieht einfach. Kein Gott, kein Marcel ... Kannst du das verstehen?«, hauchte sie. »Nein.« Schlagartig verstummte der Lärm. Die plötzliche Stille traf ihn wie ein Hammer. Hinter der Krümmung der Tunnelröhre erklangen hastige Schritte und Stimmengewirr. Dann schloss er die Augen. Ein lauer Frühlingswind wehte durch das geöffnete Schlafzimmerfenster. Rachel starrte an die Decke. »Werden wir uns morgen früh noch kennen?« »Ich hoffe doch«, antwortete Patrick mit brüchiger Stimme. »Und wenn nicht?« »Dann haben wir uns viel zu erzählen.« Er streckte den Arm aus und löschte das Licht.
Bernhard Schneider, geboren 1961, lebt mit Ehefrau und zwei Kindern in Wiesbaden. Seit Abschluss seines Physikstudiums arbeitet er bei einer großen Bundesbehörde und beschäftigt sich unter anderem mit den Auswirkungen Neuer Technologien auf Staat und Gesellschaft. Er veröffentlichte bisher mehrere Kurzgeschichten im Rahmen der Story-Olympiade und verschiedener SF-Anthologien des Wurdack Verlags. Wurdack Verlag
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www.wurdackverlag.de
Armin Rößler [Hg.] Golem & Goethe Erzählungen Taschenbuch ISBN 3-938065-13-3 Das All ist unendlich. Oder kommt uns das nur so vor? Haben wir Nachbarn? Und wenn ja – was tun wir, wenn sie auf unsere Kontakt-versuche plötzlich reagieren? Hat der Mensch eine Überlebenschance? Oder wird er wegen der ständig sinkenden Spermienqualität aussterben? Kann man mit Gentechnik das Immunsystem verbessern? Und was verbirgt sich hinter dem Pacem-Projekt? 21 Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz stellen sich den Unwägbarkeiten der Zukunft und kommen zu bedrückend spannenden und aberwitzigen Ergebnissen.
Armin Rößler [Hg.] Überschuss Erzählungen Taschenbuch ISBN 3-938065-08-7 Überschuss ist das Problem von Morgen: Zu viele Alte, Kranke und Arbeitslose belasten den Sozialstaat, aber neue Technologie ermöglicht eine billige Zwischenlagerung des Humankapitals. Die Zukunft ist gefährlich: Das Raumschiff Titan droht in die Sonne zu stürzen, eine fremde Intelligenz reagiert mit tödlichem Hass auf alle Annäherungsversuche und Robot-Engel bedrohen eine Raumstation. 19 Autoren aus Deutschland und Österreich wagen unkonventionelle Antworten nicht nur auf soziale Fragen. Je nach Temperament fallen sie fröhlich-abstrus bis bitterböse aus, auf jeden Fall aber spannend.
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