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Kriminalroman
In einem...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Tom Wittgen Intimsphäre
Kriminalroman
In einem abgelegenen Nest des Bayrischen Waldes wird ein junges Mädchen vermißt. Einem Passauer Detektiv gelingt es, die Verschwundene, von der man glaubt, sie sei mit einem Liebhaber auf und davon gegangen, ausfindig zu machen. Er entdeckt, daß sie ermordet worden ist. Tote reden nicht, doch die Umgebung, in der Gerda Drawert lebte, macht transparent, was zum gewaltsamen Tod des Mädchens führte: In der dörflichen Abgeschiedenheit des Bayrischen Waldes treiben fragwürdige Moralzwänge und geistige Intoleranz ihre Blüten. Gerda Drawert glaubte sich stark genug, diesen Zwängen begegnen zu können, und sie war überzeugt, daß andere ähnlich empfanden. Ihre Hoffnung erwies sich als ein Trugschluß, als ein Irrtum, den sie mit dem Tod bezahlen mußte.
Tom Wittgen
Intimsphäre
Verlag Das Neue Berlin
1 Die Anhöhe hinter Bischofsmais, mitten im Bayrischen Wald, wo nur Pfade zu den verkehrsreichen Autostraßen führen, wird von einer Kapelle mit dem Standbild des heiligen Hermann gekrönt. Ich hatte einen meiner Klienten besucht, der in dieser abgeschiedenen Gegend wohnt, und stieg nun den Weg zur Hermannshöhe hinauf. Von der Kapelle hallte mir Lachen entgegen, manchmal anerkennend, manchmal boshaft, und es kam aus jungen Kehlen. Wer Bischofsmais kennt und die zählebigen Bräuche der „Waldler“, wie sich die Bewohner des Bayrischen Waldes voller Stolz nennen, der weiß auch, daß an bestimmten Tagen junge Menschen aus den entlegensten Winkeln des Waldes nach Bischofsmais kommen, um die hölzerne Figur in der Kapelle zu fassen und hochzuheben. Wenn dann der heilige Hermann nickt, glauben sie, daß sie innerhalb eines Jahres heiraten werden. Dieser Brauch des „Hopsens“, des Hochhebens der Figur, ist wohl dem uralten Wunsch der Menschen entsprungen, in die Zukunft zu blicken, und er geht auf eine heidnische Überlieferung aus keltischen Zeiten zurück. 6
Daß diese heidnische Sitte sich ausgerechnet des heiligen Hermanns bedient, eines Einsiedlers, der im Walde das Christentum verbreitet hatte, gehört für mich zu den kuriosen Widersprüchen, denen man überall dort begegnet, wo die Menschen dem Glauben und dem Aberglauben gleichermaßen verhaftet sind. Als ich die Kapelle erreicht hatte, griff eben ein großes, dürres Mädchen nach dem hölzernen Leib des Heiligen. Sie sah mutlos aus, so, als habe sie schon oft die Hand nach einem Manne ausgestreckt und als sei das immer ein Fehlgriff gewesen. Sie packte den Hölzernen um die Hüfte und hob ihn hoch. Gespannt blickten die jungen Leute, die um sie herumstanden, zum Kopf der Figur. Der blieb so unbeweglich wie der Kopf einer Stecknadel. „Nix is!“ riefen einige, und es klang schadenfroh. Unter dem Gelächter der Zuschauer stellte das dürre Mädchen die Figur zurück. Mit verlegenem Lächeln und tiefer Enttäuschung in den Augen trat sie beiseite. Als nächste drängte sich ein Mädchen von zierlicher Gestalt vor die Statue. Es tat mir leid, daß ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Ihre Bewegungen waren langsam und von feierlichem Ernst, und es schien, als hinge vom Verhalten des heiligen Hermann sehr viel für sie ab, viel zuviel, als daß die Sache hätte ergebnislos ausgehen dürfen. Ich beschloß, ein wenig Schicksal zu spielen. Ich trat ganz dicht hinter sie und sagte so leise, daß es außer ihr niemand hören konnte: „Sie müssen ihn um die Haxen fassen, das hat er gern.“ Dieser Rat entsprang meinem Wissen vom Bau der Figuren: ihr Kopf hat Übergewicht und beugt sich nach vorn, wenn man den Körper weit genug unten anhebt. Das Mädchen wandte sich um, und ich sah in ein fein7
geschnittenes Gesicht mit Augen von einem seltenen tiefen Blau. Die Brauen waren leicht gewölbt, und um den Mund lag ein trotziger Ausdruck. Aus dem schwarzen, hochgesteckten Haar hatten sich einige Löckchen gelöst und hingen spielerisch über Stirn und Ohren. Das Mädchen war eine Schönheit. Ich nickte ihr freundlich zu und ernsthaft genug, um ihr ein wenig Vertrauen einzuflößen. Da drehte sie sich um, umklammerte die Knöchel des hölzernen Heiligen und hob ihn hoch. Langsam senkte die Figur den Kopf und blickte mit leeren, toten Augen auf das Mädchen. Die Umstehenden klatschten in die Hände, lachten und riefen: „Der Hirmon hat g’nackt!“, was auf gut deutsch heißen sollte, der Hermann habe genickt. Das Mädchen setzte die Figur ab. Sie wandte sich nach mir um und sah mich an, als habe sie soeben einen Wettkampf zu ihren Gunsten entschieden. „Er wird mich heiraten“, sagte sie aufatmend, „der Hermann lügt nicht.“ „Der Hermann ist ein Esel“, sagte ich. „Wenn Sie mich so hübsch um die Haxen gefaßt hätten, wäre ich noch auf ganz andere Ideen gekommen, als Ihnen zuzunicken!“ Dann ging ich schnell davon, ohne mich weiter um die Bestürzung zu kümmern, die sich auf dem Gesicht des Mädchens breitmachte. Ich war enttäuscht, daß die Kleine den Trick nicht durchschaut hatte. Ich bin immer von neuem enttäuscht, wenn ich erlebe, daß die Menschen ihren Verstand nicht gebrauchen. Leider habe ich das schon so oft erlebt, daß mir manchmal der Verdacht kommt, der Verstand sei den Menschen so unerträglich, daß sie erpicht darauf sind, ihn auszurotten. Der Pfad, auf dem ich entlangschritt, mündete so unversehens auf eine sonnenüberflutete Straße, daß mir die 8
Augen schmerzten. Ich suchte blinzelnd nach meinem Fiat, den ich hier irgendwo geparkt hatte, und gewöhnte mich dabei allmählich wieder an das grelle Tageslicht. Als ich den Wagen gefunden hatte, setzte ich mich hinter das Lenkrad, gab Gas und fuhr in raschem Tempo nach Passau.
2 Es ist von klein auf mein Wunsch gewesen, Detektiv zu werden, und mein Vater, selbst Kriminalist, hätte mich nach dem Abitur in diesem Beruf ausbilden lassen oder mich auf eine Offiziersschule schicken können. Doch ich war überzeugt, daß Reglements und launenhafte Vorgesetzte meinen detektivischen Fähigkeiten nicht förderlich wären, und zog es vor, Privatdetektiv zu werden. Ich hatte mir vorgenommen, mich bei einer angesehenen Agentur in den USA zu bewerben, um eine gediegene Ausbildung zu erhalten. Aber diesen Plan konnte ich erst dann ausführen, nachdem mein Vater überraschend an einer heimtückischen Krankheit gestorben war und ich außer einem Onkel keinen Menschen mehr in meiner Heimat hatte, auf den ich Rücksicht nehmen mußte. Diesen Onkel sah ich zur Beerdigung meines Vaters zum ersten Mal, und wir merkten beide sehr schnell, daß wir nicht viel Wert auf eine gepflegte Onkel-NeffeBeziehung legten. Ich flog in die Staaten und arbeitete dort zehn Jahre lang als zugelassener Detektiv einer Agentur. Dann erreichte mich eines Tages die Nachricht, daß auch mein 9
Onkel verstorben und ich sein Erbe sei. In dem amtlichen Schreiben hieß es, ich möge nach Hacklberg bei Passau kommen, um ebendieses Erbe anzutreten. Ich kam. Das Erbe bestand aus einem baufälligen, hypothekenbelasteten Mietshaus, und ich war froh, als ich es abgestoßen hatte – wenn auch mit ziemlichem Verlust. Nun stand ich vor der Wahl, einen Teil meines zusammengeschrumpften Vermögens für eine Flugkarte nach Übersee auszugeben oder mir hierzulande eine neue Existenz zu gründen. Ich sagte mir, daß ich zehn Jahre zuvor schließlich nicht in die Staaten geflogen sei, um Amerikaner zu werden, sondern um mir das Rüstzeug für eine erfolgreiche Detektivarbeit zu holen; ich wollte einfach mehr können, als Scheidungsangelegenheiten entweder zu beschleunigen oder zu verzögern. Dieses Rüstzeug besaß ich nun, und ich blieb. Seitdem wohne ich in Passau, auf der Innseite, fahre jeden Morgen mit meinem Fiat über die Innbrücke, durch die engen Gassen des Neumarktes, biege in die Altstadt ein und vollbringe täglich von neuem das Kunststück, in der Donaugasse den Fiat durch das schmale Tor jenes Hauses zu lancieren, in dem ich mir in der ersten Etage zwei Zimmerchen gemietet und als Büro ausgebaut habe. Damit die Leute von der Existenz dieses Minibüros auch Kenntnis erhalten, hat Grit, meine Sekretärin, ein gelbes Schild an der Haustür anbringen lassen, auf dem mit schwarzen Buchstaben geschrieben steht: ‚Detektei Georg Eiserbeck – Auskünfte, Ermittlungen‘. Das Schild ist für meinen Geschmack zu auffällig, aber Grit fand es wirkungsvoll, und wenn es um solche Kleinigkeiten wie ein Türschild geht, darf sie ihren bayrischen Dickschädel durchsetzen. 10
Da unser Büro nicht den Komfort eines Korridors besitzt, gelangt man sofort in ein kleines Vorzimmer, wenn man vom Hausflur aus die Tür aufgedrückt hat. Hier thront Grit hinter einem pompösen Schreibtisch. Wir haben ihn auf einer Auktion unter großem Gelächter erstanden, denn der Auktionär hatte sich schon damit abgefunden, ihn unters Beil statt unter den Hammer zu bringen. Wir waren die einzigen, die für das Monstrum etwas boten. Grit ist stolz auf den Schreibtisch und auf das Zimmer, das sie Sekretariat nennt. Ich finde den Schreibtisch zumindest praktisch, denn man kann die eine Hälfte als Arbeitsplatz und die andere als Eßtisch benutzen. Räumt man alles ab und spannt ein flaches Netz darüber, kann man sogar den beliebten Bürosport Tischtennis betreiben. Außerhalb der Saison, wenn in Passau der Touristenansturm abebbt und damit die Anzahl der Diebstähle, Betrügereien, Verführungen und Vergewaltigungen nachläßt, kann ich mit Grit manchmal stundenlang Pingpong spielen, und wir stören dabei nur die Holzwürmer in der Platte. Es war an einem Morgen, ungefähr drei Wochen nach meinem Besuch in Bischofsmais, als Grit ihrem Domizil wieder einmal den Anstrich solider Geschäftlichkeit gegeben hatte: Der Schreibtisch war von ihr mit Zeitungen, Schreibpapier, Aktenordnern und Karteikarten gleichsam dekoriert worden. Diese Schau veranstaltet sie immer, wenn in dem Sessel hinter der Tür des Vorzimmers Kundschaft sitzt. Besucher, die schon am frühen Morgen zu uns kommen, sind zumeist schwerreiche Leute, die sich auch im Urlaub mehr um ihren Besitz als um ihre Töchter und Ehefrauen kümmern. Eines Nachts kommt ihnen dann zu 11
Ohren, daß sie außer Geld und Aktien auch noch ein prächtiges Geweih besitzen. Oder daß die Tochter flügge geworden und durchgebrannt ist. Gegen Morgen sind die meisten schließlich soweit, daß sie einen Privatdetektiv aufsuchen, der ihnen möglichst unauffällig ihren verlorengegangenen Besitz zurückbringen soll. Manchmal lehnt zu früher Morgenstunde auch eine übermüdete Ehefrau im Besuchersessel, die in einer benachbarten Stadt wohnt und mit dem Morgenzug ihrem Mann nachgefahren ist, weil sie in einer schlaflosen Nacht zu der Erkenntnis gelangt ist, ihr Mann weilt hier nicht auf einer Dienst-, sondern auf einer Vergnügungsreise. Solchen Männern sollen wir dann, im Austausch gegen Geld und gute Worte, das Vergnügen vereiteln. Die Frau, die ich an jenem Morgen in unserem Besuchersessel erblickte, sah nicht aus, als jage sie einem ungetreuen Ehemann hinterher. Sie hatte eine wetterbraune Stirn, und ihr Haar schrie gleichsam nach Kamm und Schere. Ich schätzte sie auf fünfzig Jahre. Die Hände hielt sie im Schoß gefaltet, den Kopf gesenkt, und sie sah verweint aus. Sie ähnelte einer alten, in die Falle gegangenen Wildkatze, und ich vermutete, daß sie aus irgendeinem gottvergessenen Waldwinkel in die Stadt gekommen sei, weil man sie bei einem Geschäft, vielleicht beim Verkauf von holzgeschnitzten Waren, betrogen oder bestohlen hatte. Ich wünschte ihr einen guten Morgen. Sie dankte und fragte mit hoher, etwas schleppender Stimme, ob ich Herr Eiserbeck, der Detektiv, sei. „Der bin ich“, gab ich zur Antwort. „Wollen Sie meine Zulassung sehen?“ Sie schüttelte den Kopf und warf mir einen scheuen, mißtrauischen Blick zu. 12
Grit trat zu ihr, faßte sie am Unterarm, bis sie sich erhob, und schob sie sanft, aber energisch durch die Tür, die in mein Arbeitszimmer führte. Bevor ich folgte, sah ich Grit fragend an, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Das hieß, sie wußte auch nicht, was sie von der Klientin zu halten hatte und weshalb sie gekommen war. Als ich das Arbeitszimmer betrat, hatte die Frau schon auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch Platz genommen. Die Morgensonne, die durch das breite Fenster strahlte, fiel auf ihr faltiges Gesicht. Es war das kummervolle Gesicht eines gutmütigen Menschen, der eine große Dummheit begangen hat. „Ich weiß nicht mehr ein noch aus“, sagte sie leise, nachdem ich mich auf den Stuhl gesetzt hatte, der zwischen Fenster und Schreibtisch stand. „Das glaube ich auch“, entgegnete ich, „sonst wären Sie wohl nicht hierhergekommen.“ Sie nickte und schwieg. Es gibt Klienten, die verbrauchen ihre ganze Energie für den Entschluß, mit ihren Sorgen zur Polizei oder zu einem Privatdetektiv zu gehen. Wenn sie dann endlich vor uns sitzen, finden sie keine Kraft mehr, über den Grund ihrer Verzweiflung zu sprechen. Solchen Menschen ist schwer zu helfen. „Vielleicht nennen Sie mir erst einmal Ihren Namen“, munterte ich sie auf, „und erzählen mir, woher Sie kommen.“ „Marie Drawert“, sagte sie, betonte das „i“ und „e“ in Marie und sprach es getrennt. „Ich wohne in Steinried, Am Hang Nummer elf.“ Im Bayrischen Wald gibt es trotz der neugebauten Autostraßen noch viele einsame Dörfer, kilometerweit von13
einander entfernt, weitab von der Straße und umgeben von urwaldähnlichem Dickicht. Steinried war ein solches Dorf. Der Boden, den die Waldler dort bestellen müssen, ist karg, die Äcker sind oftmals mit Granitblöcken übersät, und Armut und ewige Plackerei haben in diesem Landstrich einen zähen, unfrohen und schwerfälligen Menschenschlag geformt. Frau Drawert schien zu diesem Schlage zu gehören. „Was haben Sie auf dem Herzen, Frau Drawert?“ fragte ich. Sie sah mich an, ohne mich wahrzunehmen, und ich wurde an die Hermannsfigur in Bischofsmais erinnert, die mit den gleichen ausdruckslosen Augen jenem Mädchen zugenickt hatte, das einen Blick in die Zukunft riskieren wollte. Plötzlich sagte die Frau: „Meine Tochter ist verschwunden. Ich will wissen, wo meine Tochter ist!“ Ein Zittern überlief ihren Körper, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte hemmungslos. Ich wandte mich so weit um, daß ich zum Fenster hinausblicken konnte. Ich bin weder herzlos, noch stimmt mich der Anblick weinender Frauen sonderlich weich, ich mag nur Leute, die meine Klienten werden wollen, in keiner Weise beeinflussen. Auch nicht, indem ich sie tröste. Später, wenn sie dann meine Klienten geworden sind und ich weiß, was ich von ihnen zu halten habe, ist es etwas anders. Dann versuche ich auch, ihre Stimmungen zu lenken und ihre Gedanken in bestimmte Richtungen zu leiten. Je nachdem, wie es mir sinnvoll erscheint. Vom Wasser drang Lachen und Rufen herauf. Die Passagiere an Deck eines Donaudampfers winkten zur 14
Stadt hinüber. Von meinem Fenster aus kann ich beobachten, wie die dunkle Donau, der milchiggraue Inn und der schwarze Waldfluß Ilz sich miteinander vereinigen. Es ist so deutlich zu sehen, daß man die Grenzen mit dem Finger nachzeichnen könnte. Im Grunde genommen habe ich die beiden Zimmer nur wegen dieses Ausblickes gemietet. Frau Drawerts Schluchzen wurde leiser. Ich wandte mich ihr zu und sagte: „Ich werde Ihre Tochter suchen. Wie alt ist sie denn?“ „Zweiundzwanzig.“ „Wohnt sie bei Ihnen?“ „Ja. Ich bin Witwe, meine Tochter und ein kleines Häuschen, das ist alles, was ich noch habe.“ „Seit wann ist sie verschwunden?“ „Seit Freitag.“ Jener Tag, an dem Frau Drawert mich aufsuchte, war Mittwoch, der 16. Juni 1968. „Geht sie einer Arbeit nach?“ „Ja. In Passau. Im Reisebüro Bruckmann am Neumarkt. Dort schreibt sie Maschine. Vier Stunden am Tag.“ „Haben Sie bei Bruckmann schon nach ihr gefragt?“ „Nein.“ „Gut. Dann werde ich mich zuerst dort nach ihr erkundigen. Wie heißt Ihre Tochter mit Vornamen?“ „Gerda.“ „Ist sie ledig?“ „Ja.“ „Verlobt?“ Die Frau schüttelte den Kopf, langsam, aber so beharrlich, daß ich schon fürchtete, sie würde damit nicht mehr aufhören. 15
„Aber sie wird doch einen Burschen haben, aus dem sie sich etwas macht!“ „Nein!“ Das klang böse, knurrig. Sie saß wieder in gekrümmter Haltung vor mir, ganz die kranke Wildkatze, die möchte, daß man ihr hilft, aber keinem traut, der sich ihr nähert. Das ungepflegte Haar hing ihr in die Stirn. „Na, hören Sie mal!“ sagte ich. „Zweiundzwanzig Jahre alt und keinen Freund?“ Die Frau warf mir einen ihrer mißtrauischen Blicke zu und schwieg. „Wenn ich Ihre Tochter suchen soll, muß ich wissen, wie sie aussieht. Haben Sie ein Foto von ihr bei sich?“ Sie öffnete die Handtasche und schob mir schweigend ein postkartengroßes Farbfoto über den Schreibtisch. Ich nahm es in beide Hände und stützte die Ellenbogen auf die Schreibtischkante, bis ich das Bild genau in Augenhöhe vor mir hatte. Aus einem feingeschnittenen Gesicht sahen mich Augen von einem seltenen tiefen Blau an. Um den Mund lag ein trotziger Ausdruck. Sie trug auch auf dem Foto das schwarze Haar hochgesteckt. Es war das Mädchen, dem der heilige Hermann in Bischofsmais noch in diesem Jahr eine Heirat prophezeit hatte.
3 Nachdenklich betrachtete ich das Foto und sagte mehr zu mir selbst als zu meiner Besucherin: „Das müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich die Kleine nicht finde!“ Frau Drawert zuckte zusammen und bekreuzigte sich erschrocken. „Reden Sie nicht so!“ sagte sie mit einem 16
strengen Unterton in der Stimme. „Ich bin hierhergekommen, damit Sie mir helfen, und nicht, daß Sie einen Fluch auf unser Haus laden.“ „Hm, nichts für ungut, passiert nicht wieder. Ich war nur so überrascht, weil ich das Mädchen schon einmal gesehen habe.“ Frau Drawert machte große Augen und blickte mich erwartungsvoll an. „Sie kennen meine Tochter?“ „Kennen ist übertrieben.“ Ich erklärte ihr, wo und bei welcher Gelegenheit ich dem Mädchen begegnet sei, und in den Blick der alten Frau kam etwas Lauerndes, während ich sprach. „Ihre Tochter hat wortwörtlich gesagt: ‚Er wird mich heiraten!‘ Demnach hatte sie nicht irgendwen, sondern einen ganz bestimmten Mann im Sinn, und ich denke, daß der Weg zu Ihrer Tochter über diesen Mann führt.“ Frau Drawert schüttelte wieder mit langsamen, mechanisch wirkenden Bewegungen den Kopf. Ich fragte: „Glauben Sie daran, daß die Prophezeiungen des heiligen Hermann in Erfüllung gehen?“ Sie hörte auf, den Kopf hin und her zu bewegen, blickte geradeaus und sagte mit hoher, singender Stimme: „Sie werden in Erfüllung gehen. Alles wird sich erfüllen.“ Ihre Augen glänzten, als habe sie an meiner Zimmerwand ein Wunder entdeckt. Es schien ein übles Wunder zu sein, denn es klang recht verzweifelt, als sie nun ausrief: „Mein Gott, mein Gott! Die Gerda wird heiraten!“ „Alle Mütter verlieren früher oder später ihre Kinder auf diese Weise, Frau Drawert. Vielleicht können Sie zur Familie Ihrer Tochter ziehen, damit Sie nicht so allein zurückbleiben. Aber zunächst müssen wir das Mädchen wiederfinden, nicht wahr? Und nun erzählen Sie mir al17
les, was Sie über den Auserwählten Ihrer Tochter wissen: Name, Beruf, Wohnort, Aussehen, Eigenschaften …“ Sie sah mich an, als hätte ich ein Referat über Atomkernspaltung von ihr verlangt! „Aber wen … wen wird sie denn heiraten?“ stammelte sie. „Das möchte ich jetzt endlich von Ihnen wissen!“ „Ich weiß nicht … nein … jetzt weiß ich gar nichts mehr.“ „Na, wundervoll!“ sagte ich. „Da passen wir ja zusammen: Ich weiß noch nichts, und Sie wissen nichts mehr!“ Da ich ziemlich sicher war, daß ich von dieser unzugänglichen und, wie mir schien, verängstigten Frau vorerst wenig Brauchbares erfahren würde, wollte ich mich erst einmal im Reisebüro Bruckmann nach dem verschwundenen Mädchen erkundigen. Zumindest mußte man dort bemerkt haben, daß sie seit Tagen nicht zur Arbeit erschienen war, und möglicherweise hatte man bereits irgend etwas unternommen. Vielleicht löste sich auch Frau Drawerts Zunge, wenn ich erst mit einigen Fakten aufwarten konnte. Daß mir die Frau manches verheimlichte, was sie mir besser erzählt hätte, stand für mich fest. Ich ging ins Vorzimmer und bat Grit, unserer Besucherin eine Tasse Kaffee zu kochen. „In zwei, drei Stunden bin ich sicherlich zurück. Sorgen Sie dafür, daß sich Frau Drawert inzwischen wohl fühlt.“ Grit nickte. Ich steckte meine Pfeife und ein Beutelchen Tabak ein und drückte die Tür von außen ins Schloß. Den Fiat ließ ich im Hof stehen. In den winkligen Gassen, die zwischen meiner Detektei und Bruck18
manns Reisebüro lagen, kam ich ohne Fahrzeug schneller voran. Nach wenigen Minuten stand ich auf dem Neumarkt und bog in die Große Klingergasse ein, in der sich schon um das Jahr eintausend Passaus berühmte Klingenschmiede niedergelassen hatten. An der Vorderfront des zweiten Hauses kündete ein grellfarbiges Plakat von Bruckmanns Reisebüro, das Stadtbesichtigungen, einund mehrtägige Dampferfahrten und Auslandsreisen vermittelte. Ich betrat den von Neonlicht erhellten weiten Raum. Reisen Sie in eine neue Welt – riet ein überdimensionales Plakat gegenüber dem Eingang. Besuchen Sie die USA. Und in etwas kleineren Buchstaben: Wie Sie die wirklichen USA entdecken können! Damit man nicht auf den Gedanken kam, sich verlesen zu haben, war das Wort „wirklichen“ dick unterstrichen, und auf einem Farbfoto, das einen kleinen Jungen beim Angeln zeigte, stand: Dieser friedliche Bach ist in Ohio, dem Staat, in dem sieben amerikanische Präsidenten geboren wurden. Von Präsidentenmorden stand nichts geschrieben und auch nichts darüber, ob außer den Bächen noch etwas anderes friedlich war. Ich hatte wohl während der zehn Jahre, die ich drüben verbrachte, zuviel mit Überfällen, Morden und Rauschgifthandel zu tun, als daß ich die wirklichen USA hätte kennenlernen können! Dieses Erlebnis blieb denjenigen vorbehalten, die Amerika drei Wochen lang mit den Augen der Bruckmannschen Reisegesellschaften betrachteten. Wie schön! Über einen dicken, geräuscheschluckenden Teppich ging ich weiter in den verheißungsvollen Raum hinein. Hinter einem der Schalter, die sich an drei Wänden entlangzogen, entdeckte ich ein gut zurechtgemachtes Mäd19
chen, das im Augenblick niemanden abzufertigen hatte. Schnell trat ich auf sie zu und fragte höflich, ob es möglich sei, Fräulein Drawert zu sprechen. „Ach, wie schade!“ entgegnete sie mit jenem einstudierten Ton des Bedauerns, mit dem sie wohl sonst den Kunden mitteilte, daß die von ihnen gewünschte Dampferfahrt seit Tagen ausverkauft sei. „Fräulein Drawert hat nämlich Urlaub.“ „Vielleicht können Sie mir einen Tip geben, wo ich sie antreffen kann?“ fragte ich und zwinkerte ihr zu. „Es handelt sich um eine private Angelegenheit.“ „Leider nein“, sagte sie. „Ich habe wirklich keine Ahnung, wo sie steckt. Vielleicht weiß Frau Hofers etwas, die arbeitet drüben am Schalter für Auslandsreisen. Das ist auch Fräulein Drawerts Bereich, und die beiden sind, glaube ich, ein bißchen miteinander befreundet.“ Ich bedankte mich, ging zu Frau Hofers hinüber, einer kleinen korpulenten Frau Mitte Dreißig, und wartete, bis sie die Kunden an ihrem Schalter bedient hatte. Dann wünschte ich ihr einen guten Tag und brachte wieder mein Sprüchlein von der privaten Angelegenheit vor, die ich mit Fräulein Drawert gern besprochen hätte; allerdings wüßte ich nicht, wo sie ihren Urlaub verbringe. Frau Hofers beugte sich über den Schaltertisch und fragte leise: „Wie ist Ihr Name?“ Ich nannte ihn ihr. „Ich weiß nicht“, sagte sie zögernd, „von Ihnen hat Gerda eigentlich nie gesprochen.“ Es blieb mir nichts anderes übrig, als der Frau meinen Ausweis über den Schaltertisch zu schieben. „Ich bin Detektiv“, sagte ich, „und ich bitte Sie, mir ein paar Fragen zu beantworten, die Fräulein Drawert betreffen.“ 20
Sie war ehrlich bestürzt und fragte vorsichtig: „Ist denn die … die Angelegenheit so schlimm ausgegangen?“ „Am besten, wir unterhalten uns irgendwo in aller Ruhe darüber“, schlug ich vor. Sie blickte zur Uhr. „In zehn Minuten habe ich Frühstückspause“, sagte sie, „wir können uns dann in der Frühstücksstube am Bratfischwinkel treffen.“ Ich ging schon los und war voller Hoffnung, von Frau Hofers einen brauchbaren Hinweis zu erhalten, der Gerda Drawerts Verschwinden etwas erklärlicher machte. Zumindest wußte die Frau von einer Angelegenheit, die für das Mädchen gut oder schlimm hätte ausgehen können. Frau Hofers betrat das kleine Restaurant eine Viertelstunde nach mir, kaufte sich eine Portion Steckerlfisch und kam damit in die Ecke, in der ich für uns einen Tisch ausgesucht hatte. „Was ist denn mit der Gerda los?“ fragte sie. „Das verrate ich Ihnen später“, entgegnete ich lächelnd. „Zuerst möchte ich einiges von Ihnen wissen. Sind Sie eng befreundet mit Fräulein Drawert?“ Sie wiegte den Kopf hin und her, schluckte einen Bissen Fisch hinunter und sagte: „Befreundet … ach nein, der Altersunterschied ist einfach zu groß. Aber sie hat keine gleichaltrige Freundin, und ich bin wohl die einzige, der sie ab und zu etwas anvertraut. Ich kann Gerda gut leiden, auch wenn ich sie manchmal nicht ganz verstehe …“ Ich bat sie, mir das näher zu erklären. „Sie hat mal Pech gehabt mit einem Mann, mit dem sie verlobt war. Seitdem scheint sie vom Pech verfolgt zu sein. Ich meine aber, es liegt auch an einem selber, ob man immer nur an solche Kerle gerät … aber die Gerda 21
ist zu leichtgläubig, die fällt auf jeden ’rein, der ihr ein paar gute Worte gibt.“ Ich ließ mir meine Überraschung darüber, daß Gerda Drawert schon verlobt gewesen war, nicht anmerken und fragte: „Auf wen ist sie denn reingefallen?“ Frau Hofers kaute wieder an ihrem Fisch und ließ sich Zeit mit der Antwort. Schließlich sagte sie: „Nein, ich werde nicht darüber sprechen, denn ich weiß ja gar nicht, wozu Sie das, was ich Ihnen über Gerda erzähle, brauchen oder – mißbrauchen werden.“ „In Ordnung“, sagte ich, „sprechen wir erst einmal über die Angelegenheit, von der Sie befürchten, daß sie für Fräulein Drawert schlimm ausgegangen sei. Würden Sie ihr beistehen, wenn sie Ihre Hilfe in dieser Geschichte brauchte?“ Frau Hofers sagte sehr energisch: „Hören Sie auf, Katz und Maus mit mir zu spielen, und erzählen Sie mir endlich, was mit dem Mädel los ist! Ich habe keine Ahnung, was ich tun könnte, denn sie hat mir nur angedeutet, daß da eine gewisse Angelegenheit entschieden werden soll; aber wenn Sie es wissen, dann rücken Sie doch endlich heraus mit der Sprache!“ Mir schien, Frau Hofers wollte wirklich nichts weiter als dem Mädchen nach besten Kräften helfen. Sicherlich würde sie weder eine Sensation aus dem machen, was ich ihr anzuvertrauen hatte, noch Anlaß zu Klatschereien geben. „Gerda Drawert ist verschwunden“, sagte ich. „Seit Freitag abend fehlt jede Spur von ihr. Selbst ihre Mutter hat keine Ahnung, wo sie sich aufhalten könnte. Ich glaube, sie weiß nicht einmal, daß ihre Tochter Urlaub genommen hat. Aber da bin ich mir nicht ganz sicher. Wenn Sie Fräulein Drawert helfen wollen, erzählen Sie 22
keinem Menschen von unserem Gespräch, und sagen sie mir alles, was Sie über das Mädchen wissen. Die alte Frau Drawert hat mich gebeten, ihre Tochter zu suchen.“ Sie war so bestürzt, daß sie keinen weiteren Bissen hinunterbekam. Sie schob den Rest Fisch beiseite und rührte nichts mehr davon an. „Wenn das so ist, dann fragen Sie nur. Ich habe keinen Grund, etwas zu verheimlichen.“ „Was hat es mit der Angelegenheit auf sich, die Sie andeuteten?“ Sie zuckte mit den Schultern und sah mich nachdenklich an. „Genaues weiß ich nicht. Gerda war in den letzten Wochen noch verschlossener als sonst und irgendwie bedrückt. Am Mittwoch, also genau vor einer Woche, bat sie plötzlich, ab Montag vierzehn Tage Urlaub nehmen zu dürfen. Und das mitten in der Saison! Vielleicht hatte der Chef ihr gegenüber so eine Art schlechtes Gewissen, jedenfalls hat er den Urlaub bewilligt. Am Freitag, ihrem letzten Arbeitstag, war Gerda völlig durcheinander. Manchmal starrte sie minutenlang trübsinnig vor sich hin, dann wieder lachte sie plötzlich ohne Grund und war übertrieben fröhlich. Bevor sie ging, umarmte sie mich und sagte: ‚Drück mir die Daumen. Heute abend wird sich alles entscheiden.‘ Das war das letzte, was ich von ihr gehört und gesehen habe.“ „Was kann denn das für. eine Entscheidung gewesen sein?“ fragte ich, und sie antwortete sofort voller Überzeugung: „Auf jeden Fall steckt ein Mann dahinter, aber welcher …“ Frau Hofers überlegte ein Weilchen und fuhr dann fort: „Wenn Gerda mir die Wahrheit gesagt hat, dann gibt es drei Männer, die in ihrem Leben von Bedeutung waren.“ Da sie schwieg, bat ich sie, mir die Namen dieser Männer zu nennen. 23
Sie schüttelte den Kopf. „Das wäre Gerda gewiß nicht recht.“ „Eben haben Sie mir versprochen, nichts zu verheimlichen, Frau Hofers. Ich will Fräulein Drawert genauso helfen, wie Sie das tun wollen. Nur – Sie wissen über das Mädchen mehr als ich, aber ich bin erfahren im Aufspüren verschwundener Personen, die sich möglicherweise in Gefahr befinden.“ „Das stimmt schon. Trotzdem – Intimsphäre bleibt Intimsphäre, da rühre ich nicht gern dran.“ „Aber aus diesem Bereich“, entgegnete ich, „erwachsen die meisten Verbrechen. Ich könnte Ihnen stundenlang von Menschen erzählen, die aus Eifersucht oder aus einem fehlgeleiteten Triebleben zu Verbrechern geworden sind – oder zu Opfern.“ „Das glaube ich schon, aber … man kann über diese Dinge eben nicht einfach so sprechen, wie … sagen wir, wie über das Wetter.“ „Nein, so nicht, sondern ernster. Viel ernster. Ich will die privateste Sphäre der Menschen doch nicht zerstören, ich will nur prüfen, ob sie intakt ist. In meinem Beruf habe ich die Erfahrung gemacht, daß immer dann, wenn die sogenannte Intimsphäre nicht in Ordnung ist, die Betreffenden seelisch darunter leiden und … daß sie dann auch Gefahren ausgesetzt sind.“ Sie seufzte und versprach, mir die Namen zu nennen. „Hoffentlich kann ich Gerda damit wirklich helfen. Der erste ist Joseph Huslinger. Mit ihm war Gerda Drawert verlobt. Warum die Verlobung in die Brüche gegangen ist, weiß ich nicht, aber eines ist sicher: Gerda hat darunter sehr gelitten. Vor einem halben Jahr ungefähr hat sie sich wieder mit ihm getroffen. Anfangs dachte ich, aus den beiden würde doch noch ein Paar werden, 24
aber dann verlief alles im Sand. ‚Der weiß nicht, was er will‘, hat Gerda von Huslinger gesagt, und sie war sehr verbittert über die Männer, denn zuvor, also zwischen dem Bruch und dem Wiedersehen mit Sepp Huslinger, hat sie noch eine Enttäuschung erlebt. Sie hatte ein Verhältnis mit unserem Chef.“ „Mit dem alten Bruckmann?“ fragte ich erstaunt. Frau Hofers schüttelte den Kopf. „Nein, mit unserem Abteilungsleiter. Er heißt Anton Haidgruber. Das ging so sechs bis acht Wochen gut, dann hat er sie sitzenlassen. Gerda war damals so verzweifelt, daß ich Angst hatte, sie würde sich etwas antun. ‚Warum bin ich denn nicht als Hund auf die Welt gekommen‘, hat sie einmal gesagt, ‚wenn man mich doch nur wie einen Hund behandelt!‘ “ „Und wer war der dritte Mann?“ fragte ich. Wieder hob sie zweiflerisch die Schultern. „Über ihn hat sie am wenigsten gesprochen. Ich kenne nicht einmal seinen Namen, nur daß er aus ihrem Dorf stammt, aus Steinried, das weiß ich. Wahrscheinlich arbeitet er auch dort. Ich glaube, mit dem hat sie sich eingelassen, nachdem sie von Haidgruber sitzengelassen worden war und vergebens versucht hatte, ihren ehemaligen Verlobten zurückzugewinnen. Sicherlich hängt die Entscheidung, die am Freitagabend fallen sollte, mit einem dieser drei Männer zusammen.“ Das schien mir auch ziemlich sicher zu sein. Ich dankte Frau Hofers, gab ihr meine Telefonnummer und bat sie, mich zu benachrichtigen, falls sie etwas über Gerda erfahren oder sich noch an Wichtiges erinnern würde. Dann ging ich mit ihr zum Reisebüro zurück. Frau Hofers war es sichtlich unangenehm, daß ich den Abteilungsleiter Haidgruber auf suchen wollte. Ich mußte ihr mehrmals versprechen, mir nicht anmerken zu lassen, 25
von wem ich über sein ehemaliges Verhältnis zu Fräulein Drawert erfahren hatte. Wir trennten uns schon vor der Großen Klingergasse, und ich setzte mich zwanzig Minuten lang in ein Bräustübl. Dann betrat ich wiederum Bruckmanns Reisebüro und ließ mich durch eine der Angestellten beim Abteilungsleiter Haidgruber anmelden. Nach einer angemessenen Wartezeit wurde ich einem kleinen korpulenten Mann vorgestellt. Er hatte mausgraue, flinke Augen, denen nichts zu entgehen schien, und er gab sich sehr schneidig. Ich zeigte ihm meinen Ausweis, er nickte, als habe er meinen Besuch schon erwartet; dann bat er mich, Platz zu nehmen. „Was kann ich für Sie tun?“ fragte er höflich. „Ich bitte Sie, mir ein Gespräch mit einer Ihrer Angestellten zu vermitteln – mit Fräulein Gerda Drawert.“ Er fuhr sich mit zwei Fingern zwischen Hals und Hemdkragen, wie einer, der plötzlich unter Atemnot leidet. „Das … das ist im Augenblick leider unmöglich. Fräulein Drawert hat Urlaub. Vielleicht kann ich Ihnen …“ „Wo verbringt sie denn ihren Urlaub?“ „Oh, da bin ich überfragt.“ „So?“ sagte ich mit einem zynischen Unterton und zog das Wort in die Länge, als ob man es mit drei „o“ schreiben würde. Er schien mich verstanden zu haben. „Wenn Sie meinen … vielleicht sollten wir ganz offen miteinander sprechen, sozusagen Gentlemen unter sich …“ Er schien die Angewohnheit zu haben, mindestens jeden zweiten Satz unbeendet zu lassen. „Gut, ich werde offen mit Ihnen sprechen, sehr offen sogar, aber erst, wenn ich an der Reihe bin. Machen wir 26
es kurz: Sie haben ein Verhältnis mit Fräulein Drawert, nicht wahr?“ Er schüttelte heftig den Kopf und gab sich große Mühe, immer an mir vorbeizusehen. „Vor vier, fünf Monaten etwa ist das gewesen. Das Mädel ist sehr hübsch, und schwer macht sie es einem wahrlich nicht. Aber nach acht Wochen habe ich einen Schlußpunkt gesetzt. Schließlich hat man Verpflichtungen …“ „Verheiratet?“ Er stieß die Frage gleichsam mit beiden Händen von sich. „Das nicht“, sagte er, „aber ich habe einen Ruf und eine Stellung zu verteidigen. Und Fräulein Drawert, na ja, sie ist eben ein kleines Mädel aus einem bayrischen Walddorf … Ich bitte Sie, das geht doch wirklich nicht!“ „Acht Wochen lang ist es aber ganz gut gegangen.“ „Ja, schon. Aber sie wollte mehr. Sie wollte, daß wir uns in der Öffentlichkeit zeigen, daß wir uns später verloben.“ „Und dann war sie plötzlich mit der Trennung von Ihnen einverstanden?“ „Im Gegenteil, sie hat sich direkt hysterisch aufgeführt …“ Er blickte zu Boden, als müßte er sich schämen für dieses Mädchen, das, wie ich von Frau Hofers wußte, sehr verzweifelt gewesen war. „Als ob die nicht noch einen Burschen kriegen könnte, der zu ihr paßt!“ sagte er. „Ich habe auch …“, er senkte die Stimme und sah mir zum ersten Mal in die Augen, „ich habe ihr eine kleine Gehaltserhöhung bewilligt, als wir uns trennten …“ Wahrscheinlich hatte er mit einem verständnisvollen Lächeln meinerseits gerechnet, sozusagen einem kumpanenhaften Lächeln unter Männern, aber ich entgegnete: „Es hat eben jeder seine eigene Art, andere zu erniedrigen.“ 27
„Was … was wollen Sie eigentlich?“ fragte er und fuhr sich wieder mit zwei Fingern zwischen Hals und Kragen entlang. „Ich denke, Sie wollen etwas über Fräulein Drawert wissen, aber Sie tun, als ob …“ Er ließ den Satz wieder unvollendet, doch plötzlich fragte er voller Mißtrauen: „Will sie mich erpressen?“ „Ich weiß nicht. Wenn sie es versuchen sollte, können Sie es mich wissen lassen. Hat sie denn diese ‚Gehaltserhöhung‘ schon ausgezahlt bekommen?“ „Ja, gewiß. Wieso? Hat unsere Buchhaltung nicht exakt …?“ „Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß unter Ihrer Anleitung etwas nicht exakt geregelt wird“, sagte ich, als er den Satz abbrach. „Aber vielleicht glaubte Fräulein Drawert, mit Ihrer freundlichen Zuwendung ihren Urlaub noch nicht ganz bestreiten zu können, und wollte mehr haben?“ „Mehr habe ich ihr nicht versprochen.“ „Wollten Sie nicht ursprünglich mit ihr zusammen wegfahren?“ „Sie wollte es“, sagte er. „Und wohin?“ „An den Königssee. Auf der Rückreise wollte sie einige Tage Station in Salzburg machen.“ „Ist sie nun allein gefahren, oder hat sie einen anderen Begleiter gefunden?“ „Von unserem Büro hat sich Fräulein Drawert keine Reise vermitteln lassen. Ich nehme an, sie ist überhaupt nicht weggefahren, sondern sitzt zu Hause in diesem Steinried. Warum erkundigen Sie sich dort nicht nach ihr?“ Diese Frage ließ ich unbeantwortet. Haidgruber achtete nicht weiter darauf. Er versuchte erneut herauszukriegen, weshalb ich Fräulein Drawert überhaupt zu sprechen wünschte. 28
„Das ist ausschließlich meine Angelegenheit“, erklärte ich ihm lächelnd, „und die meines Auftraggebers.“ „Selbstverständlich“, entgegnete er im Tone falscher Höflichkeit, „ich will ja gar nicht indiskret sein. Nur bitte ich Sie herzlich, machen Sie kein Aufhebens um diese längst begrabene Geschichte zwischen Fräulein Drawert und mir. Als Fräulein Drawerts Chef dagegen stehe ich Ihnen für irgendwelche Auskünfte jederzeit zur Verfügung. Die Intimsphäre und das Geschäft, das sind zwei Lebensbereiche, die einander nichts angehen. So haben wir es allezeit in der Familie gehalten, und so haben wir es auch zu etwas gebracht, verstehen Sie?“ Und ob ich verstand! Ich haßte diesen Typ, dem ich immer wieder begegnet war, ganz gleich, ob ich mich in New York, in Philadelphia oder in Passau befand. „Als Fräulein Drawerts Chef“, fuhr Haidgruber fort, „hoffe ich selbstverständlich sehr, daß sie nicht in eine Angelegenheit verwickelt ist, die dem Ansehen unseres Büros schaden könnte …“ Ich zuckte nur mit den Schultern und fragte ihn, wo er am Freitag, an Gerda Drawerts letztem Arbeitstag, nach Feierabend gewesen sei. „Gehen Sie jetzt nicht zu weit?“ Haidgruber sagte es abweisend und gekränkt zugleich. Langsam schüttelte ich den Kopf und blickte den kleinen Mann mit den unruhigen Augen unverwandt an. Da spielte er den Empörten: „Sie halten mich hier unter dem Vorwand, etwas über eine Angestellte erfahren zu müssen, von der Arbeit ab, und dann stellen Sie Fragen, als ob ich …“ „Waren Sie am Freitagabend mit Fräulein Drawert verabredet?“ „Nein.“ 29
„Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?“ „Freitag nachmittag. Drüben an ihrem Schalter. Aber … ist denn irgend etwas passiert mit ihr?“ „Das weiß ich erst, wenn ich sie gefunden habe. Sie ist seit Freitag verschwunden. Aber das behalten Sie gefälligst für sich“, sagte ich mit Nachdruck. Er nickte heftig und rief: „Mein Gott! Sie ist einfach verschwunden?“ Er war ein schlechter Schauspieler; ich merkte ihm an, daß er sich durch meine Mitteilung aus irgendeinem Grunde erleichtert fühlte. Als ich von Bruckmanns Reisebüro zurückkam, saß sie noch immer wie eine kranke Wildkatze in meinem Büro, scheu, ein wenig geduckt, mit lebhaften Augen, die jede meiner Bewegungen verfolgten. Auf der Schreibtischkante stand eine Tasse Kaffee, erst zur Hälfte geleert. „Haben Sie eine Spur von Gerda?“ fragte sie, als ich mich zu ihr setzte. „Drei Spuren habe ich gefunden“, antwortete ich, „drei Männer und drei Spuren.“ Sie duckte sich, als ob sie einem Schlag ausweichen wollte, aber sie sagte kein Wort. „Im Reisebüro habe ich nichts erfahren, daß Sie mir nicht auch hätten berichten können“, fuhr ich fort, „und für Klienten, die mich für dumm verkaufen wollen, arbeite ich nicht.“ Die Frau schreckte hoch und griff nach meinem Unterarm. Sie schien sich dort festkrallen zu wollen, bis sie ihre Tochter wiederhatte. „Es war doch bloß … ich dachte, sie hätte sich heimlich eine Reise verschafft … und ich kann mir nicht vorstellen, daß solche längst vergessenen Freundschaften etwas mit ihrem Verschwinden zu tun haben.“ 30
„Längst vergessen?“ fragte ich. „Von wem vergessen? Vielleicht von Haidgruber und Huslinger, aber nicht von Ihrer Tochter! Übrigens, wie heißt der Mann, mit dem sie zuletzt ein Verhältnis hatte? Sie kennen ihn, er wohnt in Steinried.“ „Verhältnis“, wiederholte sie entsetzt, als hätte ich ein unanständiges Wort ausgesprochen. „Wie sich das anhört! Und wenn sich so was im Dorf ’rumspricht …“ „Wenn sich herumspricht, daß Ihnen Ihre Tochter durchgebrannt ist, werden die Steinrieder Ihnen auch nicht gerade eine Ehrenurkunde überreichen.“ Sie ließ meinen Arm los, verkrampfte ihre Finger ineinander, bis sie weiß wurden. „Sie wissen von Herrn Haidgruber und von Herrn Huslinger“, krächzte sie. „Von wem haben Sie die Namen?“ „Von Ihnen leider nicht“, sagte ich barsch, „aber dafür erfahre ich jetzt sofort den Namen dieses Mannes aus Steinried.“ „Willi Schembor“, flüsterte sie. „Er ist bei Herrn von Thyrnau als Förster angestellt. Thyrnaus gehört das große Steinrieder Gut, sehr viel Wald und ein Steinbruch bei Büchlberg.“ „Wie alt ist dieser Willi Schembor?“ „Um die Dreißig. Ganz genau weiß ich es nicht.“ „Und warum dürfen die Leute im Dorf nichts von dem Verhältnis Ihrer Tochter zu Willi Schembor wissen?“ Statt mir zu antworten, blickte sie mich an mit einem Ausdruck von Scham und Qual und schlechtem Gewissen. „Das Mädel ist zweiundzwanzig Jahre alt und … und …“ „ … und sie ist eine ganz natürliche Frau“, beendete ich den Satz, „nicht wahr?“ Frau Drawert nickte. 31
„Sehen Sie, deshalb sollten wir über diese Dinge auch wie über etwas ganz Natürliches sprechen. Ist dieser Herr Schembor vielleicht verheiratet?“ Sie nickte wieder. „Aber bitte, bitte“, lamentierte sie, „darüber darf nichts herauskommen. Die Schande, wissen Sie? Ach, diese Schande!“ Für die Waldler ist die Familienehre ebenso unantastbar wie für einen preußischen Leutnant das Offiziersreglement. Ein Verstoß dagegen bedeutete Gefahr für die eigene Existenz. Da ich um diese krankhaften Auffassungen von Ehre wußte, konnte ich mir vorstellen, wie Frau Drawert zumute war. Ich behandelte sie aus diesem Grunde freundlicher und geduldiger, als ich das mit einem anderen Klienten getan hätte, der meine Hilfe beanspruchte, aber mit der Wahrheit hinter dem Berg hielt. „Ich nehme an“, sagte ich, „daß Sie monatlang von dieser ‚Schande‘ gewußt, aber nichts dagegen unternommen haben.“ „Was hätt’ ich denn tun sollen?“ jammerte die Frau. „Das Mädel ist seine eigenen Wege gegangen und hat sich von mir nicht reinreden lassen. Und nach der Enttäuschung mit den beiden Mannsbildern wollt’ ich ihr die Freude nicht vergällen.“ „Wußten Sie, daß Ihre Tochter kurzfristig Urlaub genommen hat?“ „Urlaub?“ fragte sie zurück, und das Wort hing wie eine Gewitterwolke in der Luft. „Sie hat vorige Woche um Urlaub ab Montag gebeten, deshalb ist sie im Reisebüro von niemandem vermißt worden. Vielleicht wollte sie ein paar freie Tage verbringen, ohne daß Sie davon wußten. Das wäre nichts Ungewöhnliches für eine Zweiundzwanzigjährige.“ 32
„Urlaub“, wiederholte Frau Drawert noch immer fassungslos. „Und ich habe keine Ahnung davon.“ Plötzlich trat ein verzweifelter Ausdruck in ihre Augen. „Dem Mädel muß etwas zugestoßen sein!“ rief sie. „Irgend etwas ganz Gräßliches!“ Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. „Wie kommen Sie denn darauf?“ „Weil sie gestern nicht gekommen ist“, klagte Frau Drawert, und ihre Worte wurden von heftigem Weinen unterbrochen. „Sie wäre gekommen, wenn sie gekonnt hätte. Gestern habe ich doch Geburtstag gehabt!“ Das stimmte mich nachdenklich. Unter anderen Umständen hätte es nicht viel bedeutet, wenn ein Mädchen über Nacht mit ihrem Liebsten davonging und den Geburtstag ihrer Mutter einfach vergaß. Aber die Waldler liefen nicht so schnell davon! Und da sie kaum mehr als sich selbst hatten, vergaßen sie auch die Geburtstage ihrer Angehörigen nicht. Ich glaubte nicht, daß Gerda Drawert mit einem vierten Mann, mit einem, von dessen Existenz ich noch nichts wußte, weggegangen war. Mit ihrem Verschwinden mußten Huslinger, Haidgruber oder Schembor zu tun haben. Es mußte derjenige sein, von dem sie vor dem Standbild des heiligen Hermann behauptet hatte, er würde sie doch heiraten. Aber wer hielt das Mädchen zurück, daß es nicht zum Geburtstag seiner Mutter nach Hause gehen konnte? Und warum wurde es zurückgehalten? Ich bat Frau Drawert, mir genau zu erzählen, was an jenem Abend geschehen war, an dem sie die Tochter zum letzten Mal gesehen hatte. „Nichts Besonderes“, sagte sie, „außer daß die Gerda mit einem späteren Bus als sonst gefahren ist. Sie war um sieben Uhr abends zu Hause, hat gegessen und wollte 33
noch ein bissel Luft schnappen gehen. Und dann ist sie nicht wiedergekommen.“ „Und das haben Sie so hingenommen, daß sie die ganze Nacht wegblieb?“ „Ich hab’s doch erst am Morgen gemerkt“, lamentierte sie, „weil ich zeitig zu Bett gegangen und gleich eingeschlafen bin. Am Sonnabend habe ich dem Willi Schembor aufgelauert und ihn gefragt, ob er was weiß. Aber dem hat’s auch erst einmal die Red’ verschlagen. Dann hat er mir eingestanden, daß sie für den kommenden Montag verabredet seien. Den ganzen Sonnabend und Sonntag habe ich gewartet, ob das Mädel zurückkommt. Ich hab’ gedacht, sie verbringt das Wochenende entweder bei Haidgruber in Passau oder bei Huslinger in Grünhübl. Zwar war’s aus mit den beiden, aber bei jungen Leuten weiß man nie, was denen in den Sinn kommt. Und am Huslinger hat die Gerda doch immer noch gehangen. Ich hab’ auch den Dienstag abgewartet, meinen Geburtstag. Als sie dann nicht gekommen ist, bin ich zu Ihnen gefahren. Sie müssen sie finden!“ flehte sie und hob die Hände zu mir auf wie zu einem Heiligenbild. „Und die Polizei muß draußen bleiben aus der Sach’! Sonst wird’s eine zu große Schande für uns.“ „Die Polizei wird draußen bleiben“, versprach ich, „solange es nur möglich ist. Wie war Ihre Tochter denn bekleidet, als sie am Freitagabend wegging?“ „Ihr buntes Sommerkleid hat sie angehabt, weiß mit roten Tupfen und so kurz, wie’s jetzt die Mod’ ist.“ „Keinen Mantel?“ „Nein.“ „Und kein Geld?“ „Wozu braucht sie denn Geld, wenn sie Luft schnappen will?“ 34
Die Sache sah böse aus. Meine Theorie, sie könnte ohne Aufsicht der Mutter irgendwo heimlich ihren Urlaub verbringen, war mit dieser Antwort hinfällig geworden. Ohne Mantel und Geld fährt kein zweiundzwanzigjähriges Mädchen in den Urlaub, wenn es nicht gerade mit einem reichen Liebhaber durchgebrannt ist, der alles besorgen kann, was es nötig hat, Mir blieb nichts anderes übrig, als zu versuchen, über einen der drei Männer, die in Gerda Drawerts Leben eine Rolle gespielt hatten, eine Spur zu finden. Ich ließ mir genau beschreiben, wo der Gutsförster Willi Schembor wohnte. Ihn wollte ich als ersten aufsuchen. Dann fragte ich Frau Drawert, weshalb die Verlobung ihrer Tochter mit Joseph Huslinger in die Brüche gegangen sei. „Es war … weil Gerda keine Kinder bekommt“, sagte sie leise und hielt den Kopf gesenkt. „Als der Sepp das erfuhr, hat er Schluß gemacht mit ihr. Er will eine richtige Frau haben, hat er gesagt, mit der er eine Familie gründen kann.“ „Haben Sie gewußt, daß sich Ihre Tochter vor ungefähr einem halben Jahr wieder mit ihm getroffen hat?“ „Anfangs nicht. Sie kam manchmal erst mit dem letzten Bus nach Hause, und ich habe geglaubt, sie hätte in Passau einen Freund gefunden. Es hatte keinen Sinn, das Mädel etwas zu fragen, worüber es nicht sprechen wollte. Erst als ich ihr wegen Willi Schembor Vorhaltungen gemacht habe, hat sie es erzählt und gesagt, der Sepp, der wisse nicht, was er wolle, und der Toni, sie meinte Herrn Haidgruber, der denke nur an seine Karriere. Aber der Willi habe Charakter, hat sie gesagt, mit dem könne sie ruhig Freundschaft halten.“ „Hat Ihre Tochter in der vorigen Woche etwas von ei35
ner Entscheidung angedeutet, die am Freitag fallen würde?“ „Nein, nix hat sie gesagt, nur daß sie ein bissel Luft schnappen möcht’.“ Ich fragte Frau Drawert noch, ob ihr in den Tagen vor dem Verschwinden ihrer Tochter irgend etwas aufgefallen sei, und bekam heraus, daß sich vor zwei Wochen eine junge Dame nach Gerda Drawert erkundigt hatte. Nach Frau Drawerts Schätzung war sie nicht älter als zwanzig Jahre gewesen, sie hatte ihren Namen nicht genannt und über eine Stunde vor der Haustür auf Gerda Drawert gewartet. Was die beiden dann besprochen hatten, wußte die Mutter nicht. Ihre Tochter habe auf ihre Fragen hin erzählt, die Dame sei eine Kundin vom Reisebüro gewesen, die sich bei der Vermittlung einer Reise übervorteilt gefühlt habe. Aber das Mädchen sei an jenem Abend von einer inneren Unruhe getrieben gewesen. Später war über diesen Besuch kein Wort mehr gefallen. Die Dame war nach Frau Drawerts Angaben sehr schlank, groß und rotblond gewesen.
4 Nach dem Mittagessen – ich hatte Frau Drawert und Grit in ein Bratwurststübl eingeladen – ermahnte ich Grit, ihr nachmittägliches Judotraining nicht zu versäumen, und Frau Drawert bat ich, in meinen Fiat zu steigen. Ich wollte sie nach Steinried zurückfahren, Herrn Schembor dort aufsuchen und anschließend Herrn Joseph Huslinger einen Besuch abstatten. Von Frau Drawert wußte ich, daß 36
Huslinger in Grünhübl wohnte und arbeitete, und dieses Dorf lag nur eine halbe Stunde von Steinried entfernt. Frau Drawert saß neben mir und starrte mit vorgestrecktem Hals und leicht zusammengekniffenen Augen durch das Wagenfenster. Sie beobachtete Touristen, die sich an der Donaubrücke um die Schiffsanlegestelle drängelten; offensichtlich waren sie aus einem der Stadtbesichtigungsbusse gestiegen und hatten nun laut Programm eine Dampferfahrt zu absolvieren. Die Schiffssirene heulte schon ungeduldig auf, und die Passagiere hatten es eilig, an Deck zu kommen. Plötzlich sprang Frau Drawert so ungestüm auf, daß sie sich den Kopf am Wagendach stieß. „Da!“ rief sie. „Da ist sie!“ „Ihre Tochter?“ fragte ich. Ich sah, daß einige junge Leute gerade das Schiffsdeck betraten. Es waren die letzten, die zu der Reisegruppe gehörten. „Nein!“ rief Frau Drawert. „Es ist die Dame, die vor zwei Wochen über eine Stunde auf Gerda gewartet hat! Die Rotblonde …“ Ich scherte aus der Wagenreihe aus, fuhr rechts an den Straßenrand, sprang heraus und rannte zur Anlegestelle hinunter. Ein Matrose lichtete den Anker, langsam legte der Dampfer ab, die Passagiere standen auf Deck, fotografierten, sangen und winkten. Dicht an der Reling unterhielt sich ein großes, sehr schlankes Mädchen mit einer alten Dame. Der Wind wehte ihr das schulterlange rotblonde Haar ins Gesicht. Die Dame ging weiter, und das Mädchen wandte sich dem Ufer zu. Sie lachte und winkte in meine Richtung. Da ich mir nicht vorstellen konnte, daß sie mich meinte, ging ich ein paar Schritte zur Seite und bemerkte, daß ihr Gruß dem Busfahrer galt, der hinter mir stand. 37
Ich wartete, bis sich der Dampfer so weit entfernt hatte, daß die Passagiere wie Konfetti aussahen, das man auf einem Spielzeugschiff verstreut hatte, dann ging ich auf den Mann zu und frage ihn höflich, wer die rotblonde Dame gewesen sei. „Dös geht Sie ahn Dreck an!“ gab er mir im schönsten bayrischen Dialekt Bescheid. Ich zeigte ihm meinen Ausweis und wiederholte die Frage. Er warf mir einen Blick zu, als ob ich eben seinen Bruder erschlagen hätte! Aber er erzählte mir, daß die rotblonde Dame Reiseleiterin sei und eine Gruppe Engländer durch die Stadt begleitet habe. Nun fuhr sie mit ihnen bis Vilshofen und kehrte am späten Abend zurück. Sie hieß Luisa Forkmann, war ungefähr zwanzig Jahre alt und „a sauberes Weibsbild“, wie mir der Fahrer versicherte. Seine Freundin war sie nicht, aber sie kannten sich gut, weil sie oftmals zusammen Reisegruppen durch die Stadt fuhren. Über Luisa Forkmanns persönliche Verhältnisse wußte der Mann nichts. Er kannte auch ihre Adresse nicht. „Für welches Reisebüro arbeitet sie denn?“ fragte ich. „Mir san beide bei Bruckmann angestellt.“
5 Wir fuhren durch die Ilzstadt ins Gebirge. Frau Drawert war damit beschäftigt, in Gedanken und Worten eine Theorie zusammenzubasteln, wer das rothaarige Fräulein sein und was es mit dem Verschwinden ihrer Tochter zu tun haben könnte. 38
Ich hielt es für wahrscheinlich, daß diese Luisa Forkmann, Angestellte in Bruckmanns Reisebüro, Gerda Drawerts Nachfolgerin bei Herrn Haidgruber sein könnte. Sie war eine junge, attraktive Fremdenführerin und entsprach somit Haidgrubers Vorstellungen von einer standesgemäßen Verbindung eher als das Vierstundentippmädchen aus dem Bayrischen Wald. Doch ich gab auch für diese Theorie keinen Pfennig. Es war ein sehr heißer Sommertag. Ich kurbelte das Wagenfenster herunter, und Frau Drawert sog die Fahrtluft so gierig ein, als sei sie am Ersticken gewesen. Je näher wir der Abzweigung kamen, die nach Steinried und Büchlberg führte, um so unruhiger wurde die Frau. Schließlich sagte sie: „Ich … ich möchte nicht mit Ihnen ins Dorf fahren, das gibt so ein Aufsehen. Ich hab’ noch was in Büchlberg zu schaffen, bitte, setzen Sie mich am Weg dahin ab. Die letzte Strecke möcht’ ich zu Fuß gehen.“ Mir war es recht, schließlich lag mir auch nichts daran, mehr aufzufallen, als unbedingt nötig war. Ich bog von der Hauptstraße ab und fuhr bis zur Weggabelung, von der rechts ein Feldweg nach Büchlberg abzweigte, links ein holpriger Pfad nach Steinried. Ich ließ Frau Drawert aussteigen, sie bedankte sich für alles, was ich bisher für sie getan hatte, und drückte mir einen Geldschein in die Hand. Dann lief sie in den Wald hinein. Ich quälte den Fiat noch einen Kilometer auf dem steinigen Weg vorwärts, parkte ihn schließlich unter einer Eiche und ging zu Fuß weiter. Der Wald wurde so dicht, daß er einer ängstlichen Natur Alpdrücken hätte verursachen können. Nach fünfzehn Minuten Fußmarsch stieß ich unversehens auf eine Bergwiese. Es war keine von 39
diesen saftigen, grünen, wie sie in Bilderbüchern und auf Postkarten gemalt werden. Hartes, strohiges Gras wuchs dort, wo die Steinbrocken, die überall verstreut lagen, noch Platz gelassen hatten. Steinried trug seinen Namen zu Recht. Ich stolperte zwischen den Steinen auf den Ort zu, dessen erste Gebäude, Blockhäuser und Gehöfte mit Stall und Scheune, hinter der Wiese auftauchten. Der Dorfkrug lag gleich am Ortseingang, ich ging hinein, um meine ausgedörrte Kehle anzufeuchten. In der Gaststube saßen drei Männer in Arbeitskleidung um einen Tisch, auf dem Bierkrüge standen und Tabaksbeutel herumlagen. Ich sagte „Grüß Gott“ und nickte ihnen zu. Sie murmelten einen Gruß zurück und bekamen den Blick nicht mehr von mir los. „Aus der Stadt?“ fragte einer der drei, knöpfte das Hemd auf und kratzte sich die schwarzbehaarte Brust. „Das siehst du dem doch an, daß er kein Waldler ist“, entgegnete der Jüngste, bevor ich antworten konnte. Er musterte die Bügelfalten an meinen Hosen und meine Schuhe, die zwar staubbedeckt, aber modern genug waren, um in Steinried aufzufallen. „Ich komme aus Passau“, sagte ich freundlich, „ich will mich ein paar Tage hier ausruhen.“ „Ausgeruht wird am Sonntag“, belehrte mich der dritte der Runde. „Wochentags wird gearbeitet, und der Feiertag ist heilig. So ist es Gottes Gebot.“ „Das scheint der Herr nicht so genau zu nehmen“, sagte der Jüngste, und es klang ziemlich aggressiv. Mir lag nichts an einem Streit mit diesen Leuten, ich sah mich nach einem geeigneten Sitzplatz um und entdeckte an einem Tisch in der Ecke einen Mann, den schienen die Waldpygmäen aus der Steinzeit dagelassen 40
zu haben. In seinem runzeligen Gesicht steckte eine stark gebogene Nase, die aussah, als habe sie irgendwann mit einer Boxerfaust Bekanntschaft gemacht. Im allgemeinen kann ich das Alter eines Menschen ziemlich genau schätzen, aber dieser Waldschrat konnte ebensogut fünfzig wie zweitausend Jahre alt sein. Er lachte mich an, und seine hellen Augen wurden dabei zu zwei Punkten in dem zerfältelten Gesicht. Ich ging an seinen Tisch, sagte noch einmal „Grüß Gott“ und drückte die Hand, die er mir zum Gruße hinstreckte. Sie fühlte sich hart an und schwielig. Er meinte, hier sei gut sitzen, wenn die Sonne das Wasser im Bach und das Blut in den Adern eintrocknen ließe. Ehe ich antworten konnte, sagte einer der drei Männer so laut, daß ich es hören mußte: „Im vorigen Jahr, da kam im September ein Fremder ins Dorf, der wollte den Alois besuchen, was sein Bruder war, und sich bei dem ausruhen.“ Es war der Mann mit dem aufgeknöpften Hemd, der sprach. Er fuhr sich mit den Fingern wieder durch die schwarzen Borsten auf seiner Brust, und ich kam in Versuchung, ihm meinen Kamm anzubieten. „Aber was hat er gemacht, der Fremde?“ fuhr er fort. „Er hat mit der Rosi schöngetan.“ Der Jüngste bekam einen roten Kopf und sagte: „Hör auf! Ich kann’s nicht mit anhören!“ „Deine Rosi trifft keine Schuld“, erklärte der schwarzhaarige Mann, „die ist allzeit sauber geblieben. Und der Fremde, der hat Pech gehabt. Es war Jagdzeit, und da kann schon mal ein Unglück passieren mit einem, der sich im Wald ’rumtreibt.“ „Es war Gottes gerechte Strafe“, sagte der dritte, der mir zuvor geraten hatte, daß ich den Feiertag heiligen solle. 41
Der Wirt kam und stellte ohne Aufforderung einen Krug Bier auf den Tisch. Er mußte die Begrüßung, die mir die drei Einheimischen bereitet hatten, verpaßt haben, denn er fragte mich, ob ich von weit her käme. „Ich komme aus Passau“, sagte ich noch einmal, „und Ihre Gäste erteilen mir eben eine Lektion darüber, wie sich ein Gentleman in Steinried verhält.“ Der Wirt wandte sich hastig um und flüchtete hinter die Theke. Die Waldler starrten mich feindselig an. „Das mit dem Fremden war ein Unfall“, sagte schließlich der Schwarzhaarige. Er sagte es so, daß es wie eine Drohung klang. „Herr von Thyrnau hat auch gesagt, daß es ein Unfall war“, stimmte der Jüngste ein. „Der Herr Pfarrer war ebenfalls der Meinung, daß es ein Unfall gewesen ist“, meldete sich der dritte. Ich warf einen fragenden Blick auf das Männlein neben mir. „Da hat die Polizei schließlich auch gemerkt, daß es ein Unfall war“, krächzte der und zwinkerte mir zu. „Das muß aber vor Kommissar Baierls Zeit gewesen sein“, sagte ich, doch der Alte kannte weder Baierl noch sonst einen Kommissar. Wir stießen unsere Bierkrüge aneinander. Das Bier war jenes harzbraune Gebräu, das man in Steinried und in einigen anderen Orten des Bayrischen Waldes noch mit Holzrauch schwängert. Dadurch erhält es einen besonders würzigen Geschmack, den ich mag, und mein Krug war leer, als ich ihn absetzte. Der Waldschrat hackte mit seiner krummen Nase nach mir. „Saufen kannst“, sagte er anerkennend. „Kannst sonst noch was?“ Ich erklärte ihm, daß ich hergekommen sei, um einmal alles zu vergessen, was mir den Kopf schwer machte, um 42
ein paar Tage auszuspannen und die Waldluft zu genießen. „So ist’s recht“, nickte der Alte. „Jeder Gaul muß ausspannen von Zeit zu Zeit, und a Bürohengst muß das erst recht.“ Die drei am Nachbartisch hatten ebenfalls ihre Krüge geleert. Der Haarige knöpfte jetzt seine Leinenjacke zu und rief nach dem Wirt. „Wir müssen wieder an die Arbeit. Für ehrsame Leut’ ist in der Woche keine Zeit zum Rumsitzen und Faulenzen.“ Er sagte es mit einem Seitenblick zu mir und warf das Geld für seine Zeche auf den Tisch. Die andern taten’s ihm nach, riefen dem Wirt zu, daß Gott ihn behüten möge, und gingen hinaus. „Das sind alles brave Leut’ “, sagte der Alte neben mir, als müsse er seine Landsleute verteidigen, „der Boden ist karg hier, und sie müssen schwer arbeiten. Wenn Sie bescheiden sind und die Leut’ in Ruhe lassen, läßt man auch Ihnen Ihre Ruh’.“ „Ja, ja“, erwiderte ich. „ich hab’s schon begriffen.“ Das Männlein grinste und stellte sich mit einer mißglückten Verbeugung vor, Otto Gebler heiße er, und in seinem Häuschen stehe jederzeit ein Zimmer für mich bereit. Für Leute in seinem Alter gäbe es hier nichts mehr zu schaffen und zu verdienen, und ein paar Mark Miete kämen ihm sehr gelegen. Ich nahm sein Angebot an. Bei einem zweiten Krug Bier erzählte mir das Männlein nach Art alter Leute allerhand Schnurren aus seiner Jugendzeit, wurde dann ernster und verriet mir schließlich, daß er schon in jungen Jahren Witwer geworden sei. Seine Frau sei während eines Gewitters von einem umstürzenden Baum erschlagen worden. 43
„Droben am Schwarzen Wald ist das geschehen“, sagte er. „Wir nennen den Wald so, weil’s da viel Schwarzwild gibt, so viel, daß es in manchen Jahren zur Plage wird für die Bauern. Seit dem Unfall steige ich Tag für Tag hinauf zum Wald und bete vor der Mutter Maria ein Vaterunser. Wenn Sie nach Grünhübl ’rüberlaufen, kommen Sie dran vorbei.“ Ich sagte, das träfe sich gut, denn ich wolle schon am folgenden Tag einen Spaziergang nach Grünhübl unternehmen, um mir die Glasfabrik anzusehen. Wir kamen überein, daß mich Otto Gebler bis zum Schwarzen Wald begleiten würde. Wir leerten unsere Bierkrüge, ich zahlte die Zeche, der Gebler-Waldschrat grinste und strampelte auf seinen kurzen Beinen zur Tür hinaus. Sein Haus lag am anderen Ende des Dorfes, und ich hatte auf dem Weg dahin Gelegenheit, mir jedes Gehöft in Ruhe anzusehen und die Kommentare des Alten dazu anzuhören. Er zeigte mir auch Frau Drawerts Haus und versicherte mir, daß darin zwei „brave Weibsbilder“ hausten, von denen eine bald heiraten würde. Aber nicht etwa die Junge, die Tochter, sondern deren Mutter, die bald zwei Jahrzehnte als Witwe gelebt habe. „Der Urbach-Bauer wirbt um sie“, sagte Gebler. „Dem ist vorm Jahr die Frau gestorben, und er braucht wieder eine, die ihm den Hof in Ordnung hält. Es ist ein respektabler Hof, müssen Sie wissen. Na, der Drawerten, der is die gute Partie zu gönnen!“ Ich sagte: „Wenn die Tochter auch flügge ist, könnte es doch eine Doppelhochzeit geben.“ Gebler schüttelte den Kopf. „Man sagt, sie wird keine richtige Frau werden. Sie ist unfruchtbar wie ein steinerner Baum. Aber gut ist sie und fleißig.“ 44
Ein Stückchen weiter wies er mit ausgestrecktem Arm über das Dorf hinaus und deutete damit die Lage eines Steinbruchs an, in dem einige Steinrieder und Büchlberger ihr Brot durch Granitbrechen verdienen. Kurz vor dem Dorfausgang gabelte sich der Weg; der eine führte zum Anwesen des Alten, der andere schlängelte sich durch Ginster- und Weißdornbüsche bergauf. Otto Gebler deutete mit dem Finger auf die Anhöhe. „Da oben führt das Gutsstegerl lang“, sagte er. „Wenn man immer gradaus geht, kommt man zum Thyrnauschen Gut. ’s ist ein schöner alter Waldweg, und dort, wo Schembor, der Gutsförster, und Wössenbach, der Jäger, wohnen, da gibt’s Durchblicke aufs Tal und aufs Dörfchen.“ Ich fragte ihn, was das für Leute seien, der Förster und der Jäger. Er beschrieb den Jäger als einen „heuschreckdürren Grünrock“ und erzählte, Schembor heiße im Dorf „der Italiener“, weil er so ein dunkles, südländisches Aussehen habe. „Da wird gemunkelt, daß er Oberförster wer’n soll“, erklärte er. „Da kann schon was dran sein. Der Willi, das is so eine eiserne Natur, der rennt mit dem Kopf durch Granitblöcke, wenn er ein Ziel hat.“ Das war der ganze Kommentar, den er über Schembor abgab, und ich dachte, wenn dessen Verhältnis zu Gerda Drawert in Steinried bekannt gewesen wäre, dann hätte es sicherlich auch dieser Waldschrat gewußt. Und wenn er es wüßte, hätte er es mir zum besten gegeben. Wir waren vor Geblers Haus angelangt. Es stand in einem verwilderten Garten, in dem das Unkraut ebenso üppig blühte wie ein Beet Astern. Die Fenster waren geputzt und mit Blumenkästen versehen. Der Vorraum, die Küche und das Zimmer im Erdgeschoß sahen aufgeräumt 45
und sauber aus; allerdings gab es auch nicht viel, was hätte schmutzig sein können. Gebler führte mich eine knarrende Stiege empor und öffnete die Tür zu seinem Gastzimmer. Der Raum war größer, als ich vermutet hatte. Ein runder Tisch stand darin, mit einer gehäkelten Decke darauf, zwei Holzstühle, ein breiter Ledersessel, ein Schreibsekretär, ein Schrank und ein Bett, das aussah, als käme man da so leicht nicht wieder heraus, wenn man einmal hineingesunken war. Auch hier waren die Fensterscheiben blank geputzt, und die grün- und gelbkarierten Gardinen sahen frisch gewaschen aus. „Mir gefällt’s“, sagte ich zu dem Alten, und das war die Wahrheit. „Ich bezahle Ihnen die Miete für einen Monat im voraus. Viel Scherereien werden Sie nicht haben mit mir. Ich kann nur ab und zu herauskommen.“ Der Waldschrat lachte und rieb sich die Hände, als hätte er in mir eine fündige Goldgrube entdeckt. Sobald ich eingezogen sei, bekäme ich morgens einen Kaffee, versicherte er mir, Kaffee, den keiner in Steinried so zu kochen verstünde wie er. Und Ziegenmilch gäb’s und Schmarren und Pilze und Blaubeeren, die er selbst aus dem Wald holte. Dann hüpfte er, das Mietgeld gegen die Brust gepreßt, die Stiege wieder hinunter. Ich ging zum Fenster und öffnete es. Auch der Platz hinter Geblers Haus konnte nicht verleugnen, daß er zu Steinried gehörte: Wiese, Steine, Granitbrocken, ein Felsen, an dem sich Fichtenwurzeln festkrallten, und dahinter Wald. Wald und Ruhe. Wenn man nicht gerade nach einem verschwundenen Mädchen suchen mußte, konnte es einem hier schon gefallen! Otto Gebler kam die Stiege heraufgeknarrt, trat durch die offenstehende Tür ins Zimmer, schlug die Decke, die 46
auf dem Tisch lag, zurück und stellte eine irdene Schüssel mit gezuckerten Blaubeeren darauf. Während ich aß, saß er neben mir, und erst als ich den letzten Löffel voll hintergeschluckt hatte und ihm versicherte, daß es ein Genuß gewesen sei, erhob er sich, und sein runzliges Gesicht drückte Zufriedenheit aus. Während ich Pyjama, Handtuch und Zahnbürste auspackte, gab ich ihm zu verstehen, daß ich noch einen Spaziergang machen wolle, um mir die Gegend ein wenig anzusehen. Er bedauerte, nicht mitkommen zu können, da er die Ziege melken und füttern müsse, und mir war das recht. Die Sonne stand nur noch einige Handbreit über dem Wald, als ich die Anhöhe zu Schembors Behausung hinauf keuchte. Kurz bevor der Weg auf das sogenannte Gutsstegerl stieß, entdeckte ich die beiden Blockhäuser, die dem Gutsförster und dem Jäger gehören mußten. An der Gartenpforte des ersten Hauses erblickte ich auf dem Türschild den Namen „W. Schembor“. Es waren goldene Buchstaben auf schwarzem Grund, und sie blitzten, als würden sie täglich mit Sidol geputzt. Von der Gartentür zum Haus führte ein Kiesweg, weiß, sauber, frisch geharkt. Auf den Blumenrabatten längs des Weges wäre kein Hälmchen Unkraut zu entdecken gewesen, selbst wenn man mit der Lupe danach gesucht hätte. Den Obstbäumen sah man an, daß sie in jedem Herbst sachkundig ausgeästet und beschnitten wurden. Dem Rasen, auf dem sie wuchsen, verpaßte wohl ein Friseur aller vierzehn Tage einen Messerformschnitt. Vielleicht hing irgendwo drinnen im Haus der Spruch: Mein Heim – meine Welt. Aber er war überflüssig, man sah auch ohne ihn, daß Menschen, denen die Gelegenheit fehlte, aus ihrem Waldwinkel herauszukommen, sich hier 47
eine eigene kleine Welt geschaffen hatten. Und wahrscheinlich würden sie jeden, der in sie einbrechen wollte, zum Teufel jagen. Neben der Gartentür stand ein Mann, lehnte sich auf eine schräggestellte Harke und blickte den Kiesweg entlang zum Haus. Mir fiel sein schwarzglänzendes Haar auf, das sich über dem Nacken kräuselte. Es war ein sonnengebräunter, gedrungener Nacken über einem Rücken, der sich so breit ausnahm wie der eines Kleiderschrankes. Dieser Mann mußte Willi Schembor sein. Er hatte mich noch nicht bemerkt, ich zog mich hinter das Hagebuttengestrüpp zurück, das am Wege wuchs, und es war höchste Zeit gewesen, daß ich mich verkrochen: Drüben wurde die Haustür aufgestoßen, eine Frau mit einem Wäschekorb unter dem Arm trat heraus. Sie trug das Haar hochgesteckt und wirkte dadurch größer als ihr Mann. Sie war blond und von einer statuenhaften Schönheit. Als sie über den Rasen schritt, warf sie den Kopf in den Nacken. Das ließ sie stolz aussehen und ein wenig trotzig. Sie streifte Schembor mit einem kühlen Blick und sagte: „Wenn du fertig bist, kannst du zum Essen kommen.“ Dann schwang sie das Ende der Wäscheleine um den Ast eines Baumes und befestigte das andere Ende an dem Haken, der in einem Wäschepfahl steckte. Sie wippte dabei von den Fußsohlen auf die Zehen und wieder zurück. Schembor wandte sich nach ihr um, und ich konnte sein Gesicht im Profil erkennen. Er hatte ein starkes vorspringendes Kinn, die Nase war leicht gebogen, die Stirn breit und kräftig. Er sah aus wie einer, der sich nimmt, was er braucht, ob es anderen nun paßt oder nicht. Ich konnte mir vorstellen, daß noch anderen Mädchen außer 48
Gerda Drawert beim Anblick dieses Römerprofils die Knie weich wurden. Seine Frau allerdings kam mir nicht so vor, als würde sie sich schnell von ihm erweichen lassen. Sie langte Kinderwäsche aus dem Korb und sagte: „Bitte, reich mir mal die Klammern zu.“ Dann warf sie wieder den Kopf in den Nacken. Schembor ging mit kräftigen, elastischen Schritten auf sie zu, griff eine Handvoll Klammern aus dem Korb und hielt ihr eine nach der anderen hin. Sie arbeiteten schweigend, doch Schembor beobachtete jede Bewegung seiner Frau, und in seinen Blicken lag ein Anflug von Begehrlichkeit. Schließlich sagte er mit schleppender Baßstimme: „Eigentlich wollte ich ’raus heute nacht, mit Wössenbach auf den Hochsitz, aber …“ „Geh nur“, sagte die Frau schnell, „geh nach dem Abendbrot.“ Es klang weder barsch noch freundlich, sondern höchst gleichgültig. „Verlange nur nicht von mir, daß ich mitkomme“, fuhr sie im gleichen Tone fort, „ich bin müde und will bald zu Bett.“ Sie hob den leeren Wäschekorb auf und wollte an ihrem Mann vorbei zur Haustür gehen. Er vertrat ihr den Weg und sagte mit einem leisen Zittern in der Stimme: „Ach, du bist müde, da werde ich dich nach dem Abendbrot eben ins Bett bringen. Ich kann später immer noch rausgehen.“ Er hatte ihr den Korb abgenommen, faßte sie um die Hüfte und zog sie an sich. Sie bog den Oberkörper zurück und betrachtete Schembor mit einem abweisenden Ausdruck in den Augen. „Laß das!“ sagte sie mit einer Stimme, die den Äquator hätte vereisen können. Schembor zuckte zurück. „Ich brauche keine Gouvernante, die mich ins Schlafzimmer begleitet“, sagte die Frau, „ich bin kein Kind 49
mehr.“ Sie warf den Kopf in den Nacken und lief zur Haustür. „Wenn du kein Kind mehr bist“, rief Schembor ihr wütend nach, „was bist du denn dann? He? Eine Frau bist du jedenfalls nicht, du Fisch, du! Eisklumpen …“ Sie wandte sich nach ihm um, entgegnete aufgebracht: „Schrei nicht so! Wenn dich jemand hört …“, dann verschwand sie im Hause. Schembor holte seine Harke und ging ihr nach. Ohne mich zu rühren, blieb ich noch einige Minuten lang in meinem Versteck. Dann schlenderte ich langsam auf das Gartentor zu, es war nur angelehnt, ich stieß es auf, lief auf dem frisch geharkten Weg zur Haustür hin und klingelte. Willi Schembor öffnete selbst. Ich schien ihn beim Abendbrot gestört zu haben, denn er malmte noch mit dem Unterkiefer. Dabei betrachtete er mich, als sei ich ein Ochse, den man ihm zum Kauf angeboten hatte und von dem er noch nicht wußte, wieviel er wirklich wert sei. Ich stellte mich vor und zeigte ihm meinen Ausweis. „Ein Schnüffler also“, sagte er mit vollem Munde und so beleidigend, wie er es eben fertigbrachte. „Ich habe mit Ihnen zu sprechen.“ Er schluckte hinter. „Sprechen Sie.“ „Wie Sie wollen“, entgegnete ich und blickte auffällig zu dem benachbarten Haus hin, in dem nach Otto Geblers Auskunft der Jäger Wössenbach wohnen mußte. „Wenn es morgen Dorfklatsch gibt, haben Sie sich das selbst zuzuschreiben.“ „Kommen Sie ’rein!“ Das war ein Befehl. Die Kopfbewegung, mit der er mich zur Tür eines bestimmten Zimmers wies, war auch ein Befehl. 50
Ich öffnete die Tür und betrat einen kleinen Raum, in dem die Wände mit Familienfotos dekoriert waren. Schembor deutete stumm auf einen lederbezogenen Sessel, ich nahm Platz, und der Hausherr setzte sich mir gegenüber. Um seine schmalen Lippen lag ein Anflug von Brutalität. Ich sagte: „Wenn ich Sie beim Abendbrot gestört habe, will ich gern warten, bis Sie fertig sind.“ „Warum sind Sie hergekommen?“ „Weil ich Ihre Freundin suche“, entgegnete ich, „Ihre Freundin Gerda Drawert.“ Ich dachte, bei diesem Burschen sei es das beste, nicht lange drum herumzureden. Schembor warf mir einen wütenden Blick zu, dann fragte er zynisch: „Wollen Sie mit dem Suchen im Keller anfangen oder auf dem Boden?“ „Ich hoffe, ich werde von Ihnen erfahren, wo sie ist.“ „Von mir können Sie gleich noch mal erfahren, daß Sie ein kleiner schäbiger Schnüffler sind. Vielleicht wegen Blödheit aus dem Polizeidienst geflogen, was?“ „Nein“, sagte ich, „ich war in den Staaten und habe mich als Detektiv ausbilden lassen. Aber so viel Aufwand braucht einer gar nicht zu betreiben, um mitzubekommen, daß Sie vor schlechtem Gewissen ganz bissig sind. Wo ist Gerda Drawert?“ „Fragen Sie jemanden, der das weiß, und lassen Sie mich in Ruhe.“ „Hören Sie, wenn Sie jetzt nicht endlich vernünftig werden, erfährt Ihre Frau von der Geschichte. Und zwar von mir.“ „Das Mädchen, das Sie suchen“, sagte er plötzlich einlenkend, „ist in Urlaub gefahren. Aber wohin, das hat sie mir nicht verraten.“ 51
„Fräulein Drawert hat viel auf Sie gehalten, und ich kann mir vorstellen, daß sie Ihnen gegenüber zumindest eine Andeutung gemacht hat, wo sie ihren Urlaub verbringen wollte.“ „Wenn Sie so’n Schlauer sind, daß Sie sich aus Andeutungen was zurechtbauen können … also, sie hat von einer Reise an den Königssee geschwärmt und durchblicken lassen, daß ihr Chef das schon hinkriegen würde.“ „Wußten Sie, daß Fräulein Drawert mit ihrem Chef ein Verhältnis hatte?“ „Sie hat’s mir mal gebeichtet.“ „Und?“ Er winkte ab. „Wer selbst im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen.“ „Wann haben Sie Ihre Freundin das letzte Mal gesehen?“ „Am Mittwoch, abends um neun.“ „Und wo?“ „Am Steinbruchweg, drüben auf der anderen Dorfseite.“ „Was erzählen Sie Ihrer Frau vor diesen Rendezvous?“ „Nun reicht’s aber, Schnüffler! Los, ’raus jetzt!“ Er ballte die Faust. „Wollen Sie Fräulein Drawert heiraten?“ fragte ich und blieb sitzen. Er lachte ein breites, brutales Lachen. „Bigamie ist laut Gesetz verboten“, sagte er, „ich will mich doch nicht strafbar machen.“ „Und Fräulein Drawert ist einverstanden mit diesem für sie völlig aussichtslosen Verhältnis?“ „Im Moment hat sie wohl keinen anderen, da hält sie sich eben an mich“, sagte er zynisch. „Wie lange so etwas dauert, das weiß man allerdings nie.“ „Wann sind Sie das nächste Mal mit ihr verabredet?“ 52
„Wieso? Wollen Sie dabeisein?“ „Wollen Sie, daß Ihre Frau es erfährt?“ „Fieser Erpresser“, sagte er wütend. „Also: wann und wo?“ „Am ersten Montag nach ihrem Urlaub am Steinbruchweg.“ „Wo sind Sie am Freitagabend gewesen? Sagen wir, von halb acht Uhr an?“ „Was wollen Sie?“ fragte er mit einem drohenden Unterton. „Gerda Drawerts Urlaubsort ausbaldowern? Gut, tun Sie’s. Aber hören Sie auf, mir saudumme Fragen zu stellen!“ „Saudumm ist Ihr Benehmen, Schembor“, sagte ich. „Sie können nämlich nicht unterscheiden zwischen einem Detektiv, der eine heikle Angelegenheit so delikat wie möglich klären will, und der Polizei, die sich den Teufel darum scheren wird, ob Ihre Frau oder die Nachbarn oder Ihr Gutsherr erfahren, daß Sie’s mit einem jungen Mädchen gehalten haben.“ Er schob den Unterkiefer vor und schien nachzudenken. „Was haben denn Sie davon, daß Sie mich raushalten?“ fragte er schließlich. „Wollen Sie Geld von mir?“ „Mir scheint, ich habe nichts als eine Menge Ärger davon“, entgegnete ich. „Falls wir uns wiedersehen und ich dann den Eindruck habe, daß Sie sich für mehr als Garten, Haus und ein, zwei Frauen im Bett interessieren, dann erzähle ich Ihnen mal was von Berufsethos. Nein, Herr Schembor, ich will kein Geld von Ihnen. Ich will in Ihrem Interesse eine ehrliche Antwort. So ist das nun mal, auch wenn Sie’s nicht kapieren.“ „Freitag“, sagte Schembor nach einer Weile, „da bin ich mit dem Wössenbach erst Viertel vor acht vom Gut gekommen.“ 53
„Hat Ihnen Fräulein Drawert am Mittwoch angedeutet, daß sich in ihrem Leben bald etwas entscheiden würde?“ „Ach“, sagte er, „sie hatte wohl wieder einen gefunden und ist durchgebrannt mit ihm? Und Sie müssen die beiden suchen? Na, meinetwegen!“ „Das ist keine Antwort auf meine Frage.“ „Sie hat mir nichts erzählt.“ „Hoffentlich stimmt’s. Und jetzt, Herr Schembor, möchte ich noch ein paar Worte mit Ihrer Frau wechseln. Schwindeln Sie ihr von mir aus was von einem Diebstahl vor, den ich aufklären muß.“ Schembor erhob sich. „Ich seh’ noch nicht ganz durch“, sagte er, „aber eines weiß ich genau: Sie sind grad so stur wie ich.“ Dann ging er aus dem Zimmer. Kurz darauf hörte ich Schritte im Hausflur. Die Tür wurde geöffnet, und Frau Schembor trat ein. Wenn sie tatsächlich neugierig auf das war, was ich ihr erzählen würde, dann verstand sie es meisterhaft, ihre Neugier zu unterdrücken. Sie warf mir nur einen kurzen Blick zu, ließ sich in den Ledersessel fallen, der meinem gegenüberstand, und sagte gleichgültig: „Bitte!“ Ich erhob mich ein wenig, deutete eine Verbeugung an, sagte „Guten Abend, Frau Schembor.“ und stellte mich ihr vor. Sie klappte ihre dunklen Wimpern über die Augen und gab mir somit zu verstehen, daß mein Gruß und meine Vorstellung einigermaßen gnädig aufgenommen worden waren. Dieses ganze Theater war ungefähr so schwer zu durchschauen wie ein Stück blankgeputztes Glas! Frau Schembor fühlte sich unsicher. Wahrscheinlich lag es Jahre zurück, daß sie jemandem begegnet war, der nicht zur Familie und nicht ins Dorf gehörte. Während ihr Mann auf seine primitive zupackende Art versuchte, sich 54
Fremde vom Halse zu halten, verkroch Frau Schembor sich hinter der Maske des Hochmuts und der Unnahbarkeit. Willi Schembor stand hinter seiner Frau und hatte die Hand auf ihre Schulter gelegt. Ich merkte ihr an, wie lästig ihr das war, doch in meiner Gegenwart traute sie sich offensichtlich nicht, die Hand ihres Mannes abzuschütteln. „Frau Schembor“, sagte ich, „ich habe einige Fragen an Sie, nur an Sie.“ „In meinem Hause“, entgegnete Schembor, „da bestimme ich, wer mit wem unter vier Augen spricht.“ Ich zuckte die Schultern. „Ich kann die ganze Fragerei auch sein lassen. Nur fürchte ich, wenn die Sache nicht bald von mir geklärt ist, wird es sich nicht verhindern lassen, daß die Polizei sich reinhängt. Und dann bestimmt die, wer mit wem spricht.“ Frau Schembor schlug die Beine übereinander und reagierte ihre Aufregung in einem lautlosen Marsch ab, den sie mit den Fingerspitzen auf die Armlehne ihres Sessels trommelte. Und plötzlich streifte sie mit einer schnellen Bewegung Schembors Hand von ihrer Schulter. „Geh doch endlich!“ sagte sie ungehalten. Schembor schob den Unterkiefer vor und sah mich an wie einen, dem er gern einmal im Dunkeln allein begegnen möchte. „Sieh dich vor, Therese“, sagte er, „der versteht sich drauf, die Leute auszufragen.“ Dann verließ er das Zimmer. Die Tür hatte sich längst hinter ihm geschlossen, als ich noch immer schweigend dasaß und Therese Schembor betrachtete. Ich lächelte dabei, als hätte ich soeben einen Nebenbuhler erfolgreich aus dem Feld geschlagen. Anfangs schien mein Verhalten Frau Schembor zu irritie55
ren, doch bald wagte auch sie ein kleines kokettes, wenngleich unechtes Lächeln. „Na? Jetzt können Sie doch mit mir sprechen!“ sagte sie schließlich. „Sie sind sehr schon“, sagte ich. Sie errötete, und ich nahm es als Zeichen dafür, daß sie sich geschmeichelt fühlte. „Wollten Sie mir das unter vier Augen sagen?“ „Hätte ich es Ihnen vielleicht im Beisein Ihres Mannes sagen können?“ Sie lachte. Ein bißchen verkrampft und ein bißchen schrill, aber sie lachte. „Frau Schembor“, sagte ich „wann ist Ihr Mann am vergangenen Freitagabend nach Hause gekommen?“ Das Lachen brach ab, sie mühte sich, ihre faltenlose Stirn zu runzeln und mich nachdenklich anzublicken. „Er ist doch nicht etwa in diese Diebstahlssache verwickelt?“ fragte sie. „I wo! Aber vielleicht hat er unterwegs etwas gesehen oder bemerkt, womit er vor mir nicht rausrücken will, was mir aber helfen könnte, den Fall zu klären.“ „Er kam erst Viertel vor acht“, sagte sie, „ich weiß es, weil wir halb acht zu Abend essen und ich eine Viertelstunde auf ihn warten mußte.“ „Hoffentlich läßt er Sie nicht allzuoft warten und … und so allein.“ Ich sagte es mit gespielter Empörung und einem vorwurfsvollen Lächeln. „O nein“, entgegnete sie, „er kümmert sich viel um mich.“ Es war ihr anzumerken, daß sie meinte: viel zuviel. „Ihr Mann ist zu beneiden“, sagte ich. Auf Therese Schembors Gesicht trat ein Ausdruck des Unmutes. 56
„Ist er am Freitagabend noch mal weggegangen? Nach dem Abendbrot vielleicht?“ „Nein, er war den Abend und die ganze Nacht über zu Hause.“ Ich erhob mich. „Das war alles, Frau Schembor. Das war leider schon alles, was ich zu fragen hatte.“ Sie stand ebenfalls auf, zuckte die Schultern und wußte nicht recht, ob sie mir zum Abschied die Hand geben sollte oder nicht. Ich half ihr aus der Verlegenheit, indem ich ihre Hand einfach ergriff und freundschaftlich drückte. „Auf Wiedersehen“, sagte sie verkrampft und artig wie ein Schulmädchen. „Das wird sich einrichten lassen“, entgegnete ich. „Auf Wiedersehen, Frau Schembor.“ Ich öffnete die Tür, und sie ging an mir vorbei in den Korridor hinaus. Aus dem Nebenzimmer trat Willi Schembor, begleitete mich schweigend zur Haustür, und ich sagte auch ihm auf Wiedersehen. Aber er knurrte nur, daß er darauf nicht scharf sei, und knallte die Tür hinter mir ins Schloß. Vom Haus nebenan, in dem der Jäger Wössenbach wohnte, drang fahler Lichtschein aus einem Fenster. Ich lief hinüber und klingelte. Eine Frau schob die dunkle Gardine zur Seite, öffnete das Fenster und fragte, was es gäbe. „Ist der Jäger zu sprechen?“ rief ich zum Fenster hoch. Er war nicht zu sprechen. Er streifte noch irgendwo im Wald herum. „Kommen Sie morgen zur Mittagszeit her“, rief mir die Frau zu, „da werden Sie ihn antreffen!“ Ich bedankte mich und lief rasch den Weg über den Hügel ins Dorf hinab. Die Häuser wirkten wie ausgestorben an diesem Sommerabend. Entweder sparten die Steinrieder Strom und saßen im Dunkeln, oder sie legten 57
sich zeitig schlafen. Bis auf diejenigen natürlich, die sich im „Dorfkrug“ erst die nötige Bettschwere antranken. Als ich vor Geblers Haus angelangt war, sickerte bereits das Mondlicht durch die Bäume, und der Felsbrocken mit den windschiefen Kiefern darauf warf seltsam gebildete Schatten. Ich spürte keine Lust, mich schon ins Bett zu legen, und schlenderte die Dorf Straße entlang. Als ich an Frau Drawerts Haus vorbeikam, bemerkte ich Licht im Flur und verharrte einen Augenblick, um zu sehen, ob man es ausschalten oder ob jemand das Haus verlassen würde. Nach ungefähr zwei Minuten trat eine Frau aus der Tür, und jemand schloß hinter ihr ab. Ich schlich dieser Person nach, die weder Frau Drawerts Größe noch deren Gangart hatte, und bald war ich dicht genug heran, um zu erkennen, daß sie die Dienstkleidung einer Postangestellten trug. „Schönen guten Abend“, sagte ich zu ihr, und: „Hier ist ja die Post mehr auf Draht als in der Stadt! Müssen Sie jeden Abend so spät noch austragen?“ „Nur wenn ich Eilpost hab’“, sagte sie und gähnte. „Aha, und zur guten alten Drawerten haben Sie natürlich einen ganz besonders eiligen Brief hinbringen müssen.“ Sie sagte mit müder Stimme: „War doch für die Gerda.“ Dann schienen entweder meine Person oder die eigene Schwatzhaftigkeit sie bedenklich zu stimmen, denn sie fragte schnell, wer ich sei und was ich mich um Drawerts Post zu kümmern habe. „Muttchen“, sagte ich und gab mir Mühe, niedergeschlagen zu wirken, „wissen Sie, was Eifersucht ist?“ Sie kicherte. „Kann mich noch ganz gut erinnern. Richtig krank bin ich manchmal gewesen.“ 58
„So geht’s mir jetzt.“ Ich seufzte. „Wohl wegen der Gerda, was?“ Ich fingerte einen Zehner aus der Brieftasche und drückte ihn ihr in die Hand. „Den Absender, Muttchen“, bat ich, „bitte, erinnern Sie sich an den Absender.“ Sie hielt den Geldschein dicht vor die Augen und ließ ihn dann schnell in ihre Tasche verschwinden, als fürchtete sie, ich könnte meine Großzügigkeit bereuen. „Da hat sie also doch einen Liebhaber, die Gerda!“ sagte sie und schob ihr Gesicht nahe an meines heran. „Und gar keinen schlechten Geschmack hat das Mädel. Dabei haben wir gedacht, sie macht sich nichts aus Mannsbildern, weil sie immer so brav und so allein gewesen ist. Kommen Sie aus Passau?“ Ich nickte. „Den Absender, Muttchen! Den Absender!“ „Ach, der braucht Ihnen keinen Kummer zu machen. Reisebüro Bruckmann hat draufgestanden, und das ist Gerdas Arbeitsstelle. Außerdem war es auch gar kein Brief“, fuhr sie fort, „sondern eine Geldsendung.“ „Und der Absender war bestimmt keine Privatperson, die vielleicht bei Bruckmann arbeitet?“ „Na, hören Sie mal! Wenn ich sage, daß Bruckmanns Reisebüro draufstand und kein Name, dann stimmt das. Außerdem, wer sollte denn der Gerda einen Tausender schicken! Sie wird ihr Gehalt haben anstehen lassen, oder sie hat sich eine Prämie verdient.“ Vielleicht hat sie auch ihren Chef ein bißchen erpreßt, dachte ich. Aber warum zahlt er ihr das Geld jetzt, nachdem sie verschwunden ist? „So war das also“, sagte ich, „da ist mir aber gleich viel wohler.“ – Leider war das eine glatte Lüge. 59
6 Am nächsten Morgen erwachte ich erst gegen zehn Uhr. Die Sonne brannte schon vom Himmel. Ich lief in Turnhosen zum Wassertrog hinunter und ließ mir das eiskalte Wasser über Kopf, Rücken und Arme rinnen. Da ich das Handtuch im Zimmer vergessen hatte, schlug ich die Arme vor der Brust mehrmals übereinander und rannte dabei im Kreise herum. Vom Waldrand her kam Otto Gebler auf mich zu. Er schleppte einen Handkorb voller Pilze. In seinen graubraunen Hosen, die ihm viel zu weit waren, in der geflickten Leinenjacke und mit dem breitrandigen Spitzhut sah er selbst einem wandelnden Pilz ähnlich. Er begrüßte mich so herzlich, als sei ich der verloren geglaubte und nun zurückgekehrte Sohn, und humpelte ins Haus, um uns ein Pilzfrühstück zu bereiten. Ich kleidete mich inzwischen an und ging zur Post. Sie lag dem Dorfkrug genau gegenüber und bestand aus einem einzigen Raum. Ein Mann um die Vierzig rekelte sich auf einem breiten Stuhl, der bei jeder Bewegung knarrte wie ein ungeöltes Scheunentor. Außerdem waren in dem Raum ein Tisch, auf dem Kaffeegeschirr und zwei Telefone standen, ein Schreibpult mit Aktenordnern und einem Stapel Zeitungen, ein geflochtener Weidenkorb, in dem drei Päckchen lagen, und ein Rollschrank, aber der war verschlossen. „Sind Sie schon im Dienst?“ fragte ich den Mann, der die Beine weit von sich streckte. „Wenn’s sein muß“, sagte er widerwillig und knarrte mit dem Stuhl. „Dann stellen Sie mir mal eine Verbindung nach Passau her.“ 60
Ich nannte ihm die Nummer meines Büros. Er griff träge nach dem Telefon und schrie ein paarmal meine Nummer in die Sprechmuschel. Schließlich drückte er mir den Hörer in die Hand. „Jetzt klappt’s“, sagte er. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Grit. Ich sagte: „Hallo, mein Schätzchen, ich bin’s! Bleib mal am Apparat, ich erzähle dir gleich was Hübsches!“ Ich legte den Hörer auf den Tisch und hielt dem Mann einen Fünfmarkschein unter die Nase. „Mich stört das Geknarre“, sagte ich. „Außerdem ist so schöner Sonnenschein draußen. Sagen wir, für zweieinhalb Minuten kriegen Sie pro Minute zwei Mark und den schönen Sonnenschein.“ Langsam erhob er sich und nahm mit spitzen Fingern das Geld aus meiner Hand. „Als ob ich noch keine Liebesleut’ miteinander telefonieren gehört hätt’!“ Unter der Tür tippte er auf seine Armbanduhr. „Meinetwegen“, sagte er, „aber in zweieinhalb Minuten wird’s mir zu warm draußen.“ Die Tür fiel hinter ihm ins Schloß, und ich nahm den Hörer wieder auf. „Hallo, Grit! Sind Sie noch da?“ „Ja. Mir scheint, man hält uns für ein geheimnishungriges Liebespärchen.“ „Na ja“, sagte ich, „das wäre doch nicht das erste Mal.“ „Eben. Bekommt Ihnen die Sommerfrische gut?“ „Prächtig. Deshalb möchte ich auch noch hier bleiben. Ich bin bei einem Waldschrat gut aufgehoben, habe gestern abend eine schöne blonde Frau besucht, die kalt ist wie ein Fisch und ihren Mann in die Arme eines schwarzhaarigen Mädchens getrieben hat, das nun verschwunden ist. Etwas später kam ich dazu, wie eine tausend Mark schwere Geldanweisung bei ebendiesem Mädchen abge61
laden wurde. Behalten Sie das alles in Ihrem reizenden Köpfchen, auch wenn Sie im Augenblick nichts damit anzufangen wissen. Es soll schon vorgekommen sein, daß einem so neugierigen Menschen wie mir etwas zustößt, und dann …“ „Ph“, machte es am anderen Ende der Leitung, „eher stürzt der schiefe Turm von Pisa ein, ehe Ihnen was zustößt.“ „Danke“, sagte ich, erklärte ihr die Angelegenheit mit dem Geld noch etwas genauer und bat sie, in Bruckmanns Reisebüro zu recherchieren, woher das Geld gekommen und wofür es gezahlt worden sei. Sie könne sich in meinem Namen an Frau Hofers wenden, erklärte ich ihr. Die Tür wurde aufgestoßen, und der Postangestellte trat wieder ein. Er grinste und klopfte auf seine Armbanduhr. „Schätzchen“, sagte ich, „wenn du mir was Liebes sagen willst, ruf den Postminister von Steinried an, der saust dann gleich zum Gebler-Otto – bei dem Mann wohne ich – und erzählt mir’s. Bleib mir treu und sei schön brav!“ „Muß ich doch“, sagte Grit, „ich werde ja bezahlt dafür.“ Ich legte den Hörer auf und wartete, bis der Postangestellte, der schon wieder auf seinem Stuhl knarrte, mir die Gebühren sagen konnte. Dann zahlte ich und ging. Bei Otto Gebler duftete es nach gebratenen Pilzen. Ich käme gerade recht, sagte der Alte, stellte Brot, Salz, Milch, Teller und Löffel auf den Tisch, hob die Pfanne vom Ofen und schüttelte die Pilze auf die Teller. Wir nahmen uns jeder eine dicke Scheibe Brot, löffelten die Pilze dazu und tranken Ziegenmilch, und ich konnte mich 62
nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so gut gefrühstückt hatte. Als wir fertig waren, spülten wir noch das Geschirr ab, dann steckte ich Brieftasche, Notizblock und Füller ein, Gebler drückte sich seinen Spitzhut auf den Kopf, und wir waren fertig, um zum Schwarzen Wald und von dort nach Grünhübl zu steigen. „So a gottverdammichter Brutofen da heraußen“, schimpfte der Alte, als wir vor die Tür traten. Ich sagte mit vorwurfsvollem Blick, daß ich noch nie einen Waldler so gotteslästerlich hätte fluchen gehört. Gebler wandte mir sein zerknittertes Gesicht zu und meinte: „Wann der Herrgott so ahne Sauhitz’ auf uns niederbrennt, muß er sich’s auch gefallen lassen, daß wir drauf fluchen!“ Dagegen wußte ich nichts einzuwenden. Wir wollten losgehen, aber ich packte Gebler plötzlich bei den Schultern und hielt ihn zurück. „Kennen Sie diesen Mann“, fragte ich, „der da drüben den Hang emporsteigt?“ Ich zeigte auf eine korpulente Gestalt in städtischer Kleidung. Otto Gebler blinzelte, machte große Augen und blinzelte wieder. Dann klagte er über das Alter, das ihm die Sehkraft raube. „Nur, daß es so’n feiner Pinkel aus der Stadt is, kann ich sehen, und daß er den Weg zum Büchlberger Steinbruch nimmt. Das is schon alles!“ „Es ist ein Bekannter von mir“, sagte ich, „den ich gern mal gesprochen hätte.“ Ich überredete den Alten, allein zum Schwarzen Wald hinaufzusteigen und sein Vaterunser für die verstorbene Frau zu beten. Wenn er Lust habe, könne er auf mich warten. Ich käme ganz gewiß hinauf, da ich unbedingt nach Grünhübl wolle. 63
Wir trennten uns, und ich stieg dem Mann nach, von dem ich annahm, daß es Anton Haidgruber sei. Als ich bis auf zwanzig Meter an ihn herangekommen war, sah ich, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Haidgruber schnaufte den Hang empor, ich schlich hinterher, er bemerkte mich nicht. Wir erreichten den Wald, wo es noch leichter war, mich vor ihm zu verbergen. Nach zehn Minuten kamen wir an eine Lichtung, die wohl schon vor vielen Jahren gerodet worden war, denn die Wurzelkloben sahen bereits graubraun und verwittert aus und schienen in die Welt der Steine überzugehen. Sie glichen den Granitblöcken unten auf der Wiese. Eine umgestürzte meterdicke Fichte lag zwischen den Wurzelkloben. Haidgruber ging darauf zu, sicherlich wollte er eine kurze Rast einlegen. Zum Glück setzte er sich nicht gleich mit seinem ganzen Körpergewicht auf den Stamm, sondern trat erst einmal mit dem Fuß darauf. Irgend etwas schien ihm an dieser Baumleiche nicht geheuer zu sein, und tatsächlich gab die brüchige Borke unter seinem Tritt sofort nach, und Haidgrubers Fuß versank in feuchtem, madigem Mulm. Haidgruber war so erschrocken, daß er aufschrie, sein Bein aus dem im Inneren völlig verfaulten Baumstamm zog und ein paar Schritte rückwärts taumelte. Dabei stolperte er über einen Baumstubben, stürzte, blieb liegen und wimmerte. Ich lief zu ihm hin und sagte: „Sie sollten sich einen Bürosessel hinterhertragen lassen, wenn Sie im Wald Spazierengehen und sich ausruhen wollen. Und nun gucken Sie nicht so angstvoll, ich bin Georg Eiserbeck.“ Ich half ihm beim Aufstehen. „Woher kommen Sie … nein, so was … das ist doch wohl nicht möglich …“ 64
„Bei mir ist allerhand möglich. Aber warum steigen Sie denn in verfaulte Baumleichen und fallen über Wurzelstubben, statt bei Bruckmanns mit den Büromädchen zu schäkern?“ Er klopfte sich den Mulm vom Hosenbein, rieb sich den Oberschenkel und seufzte. „Das geht Sie gar nichts an“, sagte er dann, „aber schönen Dank fürs Aufheben. Bin wohl mit ein paar blauen Flecken davongekommen.“ „Mich geht es eine ganze Menge an, was Sie in dieser Gegend treiben. Und Sie wissen auch den Grund, Herr Haidgruber.“ „Ich weiß nicht, wo das Mädchen ist, das Sie suchen, Herr Eiserbeck. Das habe ich Ihnen schon gestern in meinem Büro klarzumachen versucht.“ Er war wieder ganz und gar der kleine, drahtige Abteilungsleiter, der keine Auskunft zweimal gibt. „Dann verraten Sie mir mal, wo Sie am vergangenen Freitagabend gewesen sind. In Ihrem Büro habe ich es Ihnen durchgehen lassen, daß Sie sich um die Antwort gedrückt haben. Jetzt, da ich weiß, daß Sie in Ihrer Freizeit im Steinrieder Wald ’rumkriechen, sehe ich nicht mehr d’rüberhin.“ „Das ist schon der Büchlberger Wald“, belehrte er mich. „Und wenn Sie sich noch zweihundert Meter weiter bemühen wollen, können Sie den Büchlberger Steinbruch sehen. Dort arbeitet mein Vater als Sprengmeister, und ich will ihn besuchen.“ „Warum sind Sie dann nicht an der Weggabelung abgebogen?“ „Weil ich nicht ins Dorf, sondern zum Steinbruch will. Der ist über Steinried schneller zu erreichen.“ „Waren Sie am Freitagabend auch in dieser Gegend?“ 65
Haidgruber stieg Zornesröte ins Gesicht. Er stellte sich vor mir in Positur und holte tief Luft. So ungefähr mußte er aussehen, wenn er einem seiner Angestellten eine Strafpredigt verpaßte! „Hören Sie, Herr Eiserbeck“, begann er mit dem ganzen Schneid, dessen er fähig war, „ich bin es nicht gewohnt, so behandelt zu werden, wie Sie mich zu behandeln versuchen. Sie wollen ein verschwundenes Mädchen wiederfinden. Na schön, das ist Ihre Suppe. Aber löffeln Sie sie so aus, daß Sie ehrbare Leute nicht dabei bespritzen. Mit anderen Worten: Lassen Sie mich endlich in Ruhe!“ „Gern“, entgegnete ich höflich, „ich würde Sie sogar sehr gern in Ruhe lassen, denn Sie sind wahrhaftig nicht der Typ, dem ich aus lauter Sympathie hinterherlaufe. Sie sind ein Kerl, der skrupellos alles aus dem Wege räumt, was seiner Karriere im Wege steht. Gerda Drawert war Ihre Geliebte, und nach ein paar Wochen stand sie Ihnen im Wege. Und nun ist sie verschwunden.“ Während ich sprach, hatte Haidgrubers Gesicht an Farbe verloren. Wie am Vortag in seinem Büro glitten auch jetzt seine Blicke an mir vorbei. Er sagte: „Sie sind unfähig, Mann. Sie sind als Detektiv völlig unfähig! Sie sollen ein verschwundenes Mädchen suchen und hängen sich an einen, der mal ein bißchen schöngetan hat mit ihr. Das ist …“ Er brach den Satz ab. Ich nahm es als ein Zeichen dafür, daß er nervös wurde, und beendete den Satz auf meine Art. „Das ist ganz in Ordnung so. Einer, der weniger unfähig ist als ich, würde ebenso vorgehen. Was versprechen Sie sich eigentlich davon, mich zu belügen oder mir die Wahrheit nur krümelweise hinzustreuen? Ich werde trotzdem erfahren, was ich erfahren will.“ 66
„Ich weiß nicht, wo Gerda Drawert ist“, sagte er, und seine Blicke huschten an den Bäumen auf und nieder, als beobachte er ein Eichhörnchen. „Also … ich habe vorigen Freitag meinen Vater besucht. Aber das hat nichts mit Gerda Drawerts Verschwinden zu tun. Und jetzt will ich meine Ruhe haben. Vor Ihnen, vor dem Mädchen, vor allen. Meiner Arbeit will ich nachgehen, nichts weiter. Ich bin aus diesem schrecklichen Wald gekommen und habe in Passau etwas aus mir gemacht. Und ich will nicht wieder in den Wald zurück.“ „Eben“, sagte ich, „aber Gerda Drawert hätte Die eines Tages so oder so dahin zurückgebracht. Als Frau eines Abteilungsleiters von Bruckmann besaß sie nicht die nötigen Manieren. Außerdem hätte sie Ihnen noch ihre Mutter mit aufgehalst. Der alte Bruckmann aber hätte Sie gefeuert, sobald ihm zu Öhren gekommen wäre, daß einer seiner leitenden Angestellten seine Position zu einem Techtelmechtel mit einer kleinen Tippse ausnützt. Damit war Gerda Drawerts Schicksal besiegelt. Sie mußte einfach verschwinden.“ „Das ist Ihre Theorie.“ Haidgruber strich sich nervös mit dem Zeigefinger über den sehr weißen Handrücken seiner sehr gepflegten linken Hand. „Was wollen Sie jetzt noch?“ fragte er abweisend. „Mit Ihnen zum Steinbruch gehen.“ „Glauben Sie, ich halte das Mädchen dort versteckt?“ „Ich möchte Ihren Vater sprechen, und ich glaube, es wird gut sein, wenn ich Sie in der nächsten Zeit nicht aus den Augen verliere.“ Der Sprengmeister Haidgruber war nicht größer als sein Sohn, aber weniger korpulent und beweglicher. Sein Gesicht sah grau aus, und er hustete viel. Als er von weitem 67
seinen Sohn erkannte, lächelte er wie einer, der Grund hat, stolz zu sein. „Diese Woche geht’s mir besser“, sagte er, nachdem sie sich begrüßt hatten, und er unterdrückte den Husten, der seine Kehle reizte. „Ist das ein Freund von dir?“ Er streckte mir die Hand zum Gruße hin. „ ‚Freund‘ nicht gerade. Er ist mehr dienstlich … das heißt …“ „Mein Name ist Georg Eiserbeck“, sagte ich, „ich bin Privatdetektiv.“ Ich zeigte ihm meine Lizenz. „Privatdetektiv“, wiederholte der alte Haidgruber ganz gebrochen, mit einem vorwurfsvollen Blick auf seinen Sohn. „Deine Mutter hat’s prophezeit“, sagte er müde, „sie hat gemeint, die Stadt wird dich verderben. Aber ich hab’ geglaubt, du kommst nach mir, du guckst nicht nach rechts und nicht nach links, du machst was aus dir.“ „Sie legen da viel zuviel Bedeutung ’rein, daß mal ein Detektiv bei Ihnen auftaucht“, versuchte ich ihn zu beschwichtigen, „ich will nur wissen, wann Ihr Sohn Sie in der vorigen Woche besucht hat.“ „Das wollen Sie wissen?“ Er ließ sich auf einem der stuhlgroßen Steine nieder, die überall umherlagen. „Am Freitag ist der Anton dagewesen.“ „Wann und wie lange?“ „Gegen halb acht Uhr abends ist er gekommen, und gegangen ist er noch vor zehn. Aber warum …“ „Hat er Ihnen mal was von einem Mädchen erzählt, mit dem er befreundet ist und das ihm Sorgen macht?“ „Ein Mädchen? Der Toni? Und deswegen kommen Sie hierher und jagen mir einen Schreck ein? Nichts hat er von einem Mädchen erzählt.“ Haidgruber erhob sich. Er wirkte jetzt ruhig, wie nach 68
einer siegreich überstandenen Gefahr. „Und nun will ich Ihnen mal was sagen, Herr Eiserbeck“, fuhr er fort, „wenn es einer aus dem Wald zu was bringen will, dann muß er eine ganz eiserne Natur sein. Und wir Haidgrubers sind solche Naturen. Ich hab’s bis zum Sprengmeister gebracht, und das bedeutet hier eine ganze Menge. Den Toni hab’ ich auf der Leiter noch ein paar Sprossen höher ’raufschieben können, der ist jetzt Abteilungsleiter bei einem großen Reisebüro, und der weiß das zu schätzen. Denken Sie etwa, Herr Eiserbeck, wegen eines Mädels würde der Toni eine Dummheit machen, seine Stellung riskieren! Nein, wenn der sich mit einer einläßt, dann nur, wenn Sie ihm in den Kram paßt. Und wenn sich eine an ihn hängen will, mit der er die Leiter nicht noch ein bißchen weiter hochkommen kann, dann wird der Toni alles, aber auch alles daransetzen, um sie loszuwerden.“ Eben das war es, was auch ich befürchtete.
7 Zehn Minuten nach dem Gespräch mit Haidgruber senior lief ich, so schnell ich es in der Mittagshitze vermochte, zurück nach Steinried und klomm auf der anderen Seite des Dorfes den Hang empor. Der Weg führte etwa hundert Meter an Schembors Anwesen entlang in den Wald, dann durch ein Roggenfeld, das sich bis an den Schwarzen Wald heranschob. Von dort aus würde es noch zwanzig Minuten bis nach Grünhübl sein, hatte mir Gebler versichert. Solange mich die Bäume vor der Sonne schützten, war die Hitze erträglich. Doch der Weg durch das Roggen69
feld glich einem Gang durch eine gelbe Hölle. Zuerst knöpfte ich das Hemd auf, dann zog ich es über den Kopf. Fünfzig Meter weiter riß ich mir das schweißnasse Unterhemd vom Leib und wickelte Hemd, Socken und Schuhe hinein. Wer mich sah und nicht kannte, hätte mich wohl eher für einen verirrten Bademeister als für einen Detektiv gehalten. Doch ich fühlte mich nun wenigstens so, als würde ich den Rest des Weges bis zum Wald noch schaffen. Die trockene, rissige Erde kratzte an den nackten Fußsohlen, aber das Gras, das über weite Strecken den Weg bedeckte, schmiegte sich weich und angenehm unter meinem Tritt. Die Sonnenglut ließ die Luft über den Feldern flimmern, und mir schmerzten die Augen. Deshalb konnte ich auch nicht sofort erkennen, was sich drüben am Waldrand bewegte. Es sah weder einem Menschen noch einem Tier ähnlich, sondern glich einer Kugel, die, einmal angestoßen, unweigerlich ins Rollen gerät. Wenig später sah es aus, als trüge die Kugel einen spitzen Hut und sei ein rennender Pilz. Doch das mußte wohl eine Täuschung sein, denn dem Gebler-Otto, meinem Waldschrat und Zimmervermieter, konnte ein Amoklauf in dieser Backofenhitze nichts anderes als einen Schlag einbringen. Dieser Mensch aber stürzte wie ein Irrer voran! Und sein Ziel schien ich zu sein! Ich sah, daß er strauchelte, stürzte, sich aufrappelte und weiterhastete. Da rannte ich ihm entgegen. Ich hörte sein Keuchen, sah, als er nahe genug heran war, angstgeweitete Augen und einen vor Schreck verzerrten Mund. Es war Otto Gebler. Er brach vor meinen Füßen zusammen. Ich schleifte ihn ins Roggenfeld, schob ihm mein Wä70
schebündel unter den Kopf und wischte ihm mit dem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. Der Alte versuchte zu sprechen, doch es wurde nur ein Krächzen aus einer nach Atem ringenden, ausgedörrten Kehle. Er röchelte und schnarrte immer wieder, und schließlich verstand ich das Wort „Kopf“. Ich wollte seinen Kopf bequemer betten, er winkte mit einer müden Bewegung ab, wandte seine ganze Kraft auf, um mit ausgestrecktem Arm zum Waldrand zu weisen, und wieder krächzte er: „Kopf.“ Da glaubte ich zu wissen, was er gesehen hatte. Schnell bog ich die Kornhalme mit den schweren Ähren so zurecht, daß sie ein kleines, schattenspendendes Dach über dem Kopf des alten Mannes bildeten. „Bleiben Sie ganz ruhig liegen“, sagte ich zu ihm, „gleich wird Hilfe hier sein.“ Dann rannte ich den Weg zurück, den ich soeben gekommen war. In Steinried riß ich die Tür zur Poststube auf, und ehe sich der Mann auf dem knarrenden Stuhl über mich und meinen Aufzug wundern oder etwas fragen konnte, rief ich: „Wohnt ein Arzt im Dorf? Den alten Gebler hat’s erwischt!“ „Drüben im Dorfkrug wohnt ’n Doktor“, sagte der Mann. „Danke. Und habt ihr hier so was wie ’n Sheriff? Einen von der Polizei?“ Der Mann grinste, knarrte mit dem Stuhl, erhob sich und donnerte mit der Faust gegen die Wand. „He, Hansi! Wach auf! Kriegst Kundschaft!“ „Wach du selber auf!“ rief eine junge Stimme hinter der Wand. „Wenn mich einer braucht, wird er mich schon finden.“ 71
„Haben Sie ein Glück“, sagte der Postmensch zu mir. „Der Hansi Andrak, der schaut nämlich einen Tag bei uns und einen in Büchlberg nach dem Rechten, immer abwechselnd. Und heute ist er hier.“ Ich ging aus dem Zimmer. „Der Eingang zu ihm ist hinterm Haus“, rief mir der Mann nach und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, der so sehr knarrte, daß ich es durch das Fenster bis auf die Straße hören konnte. Ich rannte zum Dorfkrug hinüber und, an der Gaststube vorbei, die Treppe hoch. Der Arzt, der hier wohnte, hieß Maxant und war längst pensioniert; doch da sich kein Nachfolger gefunden hatte, kamen die Steinrieder und sogar die Büchlberger noch immer zu ihm. Es dauerte ein Weilchen, bis er begriffen hatte, daß nicht ich, sondern Otto Gebler Hilfe brauchte. Ich bat ihn, die Arzttasche zu packen und sich bereit zu halten, bis ich ihn wieder abholen würde. Dann sauste ich zum Hintereingang des Postgebäudes und trat nach kurzem Klopfen durch die Tür. Ich stand in einem verqualmten Raum einem hageren, noch jungen Mann gegenüber, der die Uniform eines Wachtmeisters trug. Er blickte mich so triumphierend an, als hätte er in mir einen lang gesuchten Sittlichkeitsverbrecher erkannt. „In dem Aufzug“, sagte er und tippte gegen meine nackte Brust, „rennt man bei uns nicht durch die Dörfer!“ Zum Glück steckte mein Ausweis in der Hosentasche. Ich zog ihn heraus und hielt ihn dem Wachtmeister unter die Nase. „Der alte Gebler“, sagte ich, „hat im Wald einen Kopf entdeckt. Er ist darüber halb zu Tode erschrocken. Doktor Maxant weiß schon Bescheid. Und nun machen Sie mal Ihre Beine locker!“ 72
Er begriff nicht. Wenn ich zusammen mit Doktor Maxant dem alten Gebler zu Hilfe kommen wolle, wäre das ganz in Ordnung, sagte er, aber was er dabei solle … „Irgend was Fahrbares flottmachen!“ sagte ich. Wozu denn das gut sein solle, wollte er wissen. „Um den Fundort einer Leiche zu sichern“, sagte ich. „Und nun machen Sie mal ein bißchen Dampf, sonst kommt uns womöglich noch einer zuvor!“ Der Junge war sehr blaß geworden. Wahrscheinlich hatte er noch nie mit einer Leiche zu tun gehabt, und verständlicherweise trug er auch kein Verlangen danach. Er rief mir zu, ich solle mit dem Doktor vor dem Dorfkrug auf ihn warten, und stürzte aus dem Zimmer. Wenige Minuten später rumpelten wir mit einem alten Volkswagen durchs Dorf, quälten ihn die Anhöhe hinan und hopsten und holperten den Feldweg entlang, auf dem Otto Gebler mir entgegengelaufen war. Der Alte lag noch so da, wie ich ihn verlassen hatte. Sein Atem ging jetzt ruhiger, nur das Gesicht sah verquollen aus und war von einer Röte überzogen, die einem angst machen konnte. Doktor Maxant bemühte sich um den Alten und schimpfte mit mir, weil ich versuchte, seinem Patienten Fragen zu stellen. Ich ließ ihn schimpfen und beugte mich dicht über Geblers Mund. „Wo?“ fragte ich. „Wo ist es gewesen?“ Ich mußte ihm den Kraftaufwand abverlangen, den ihn eine Antwort kostete, denn ich glaubte zu wissen, was Otto Gebler im Wald gesehen hatte. Doch das nutzte mir wenig, wenn ich keinen Wink erhielt, wo ich ungefähr zu suchen hatte; dieser Wald war schließlich kein überschaubares Blumenbeet. Gebler sah mich aus kleinen fältchenumrahmten Augen 73
ängstlich an. „Eichenschonung“, sagte er, „Graben …“ Und als mich Doktor Maxant beiseite schieben wollte, flüsterte er noch: „Ulmen …“ Dann schloß er die Augen. Ich kleidete mich rasch an, Doktor Maxant und der Wachtmeister betteten Otto Gebler auf die hinteren Wagenpolster. Zum Glück konnte auch der Arzt chauffieren. Ich bat ihn, den Patienten ins Dorf zu bringen. „Sie kennen sich in dieser Gegend hier hoffentlich aus“, sagte ich zu Wachtmeister Andrak, als wir allein in dem glutheißen Kornfeld standen. „Hm. Na ja.“ „Kennen Sie drüben im Wald einen Graben und eine Eichenschonung?“ „Klar“, sagte er, „der Graben zieht sich an der Schmalseite der Schonung entlang.“ Wir liefen los. Als wir am Waldrand angelangt waren, meinte Andrak: „Wir müssen uns nördlich halten, dann kommen wir zum Graben.“ Ich ließ ihn vorangehen, und nach wenigen Minuten erreichten wir einen etwa meterbreiten Graben, der den Mischwald von der Eichenschonung trennte. „Gibt es hier irgendwo Ulmen?“ fragte ich. „Ulmen?“ wiederholte Andrak. „Die sind hier selten. Wenn wir im Büchlberger Wald wären, wüßte ich besser Bescheid, aber hierher komme ich nicht so oft. Tja, wo hier Ulmen wachsen sollen …“ Ich sagte: „Bleiben Sie mal einen Moment stehen, Andrak. Die verflixten Ulmen müssen zu finden sein, Gebler kann sie sich nicht aus der Luft gegriffen haben. Ich werde mich danach umschauen, und falls ich mich in diesem Urwald nicht mehr zurechtfinde, lotsen Sie mich durch Rufzeichen wieder hierher.“ 74
Mit dem Wort Urwald hatte ich gar nicht so unrecht. Ich drückte mich an Baumriesen vorbei, die dichter beieinander standen als Elefantenbeine, zwängte mich durch dichtes Unterholz und kletterte über eine vom Blitz gefällte Buche. In ihren Wurzeln hingen Erdklumpen, und daraus wuchsen wieder Bäume. Aber immer die, die mich nicht interessierten: Tannen, Buchen, Fichten. Ich glaubte mich schon wer weiß wie weit vorwärts gekämpft zu haben, als der Wald sich endlich zu einer Lichtung öffnete und den Blick auf eine Baumgruppe freigab, die Otto Gebler gemeint haben mußte. Eine Eiche und vier Ulmen wuchsen dicht aneinandergedrängt, als müßten sie zusammenhalten gegen die Übermacht der Buchen und Nadelbäume. Ich gab Andrak ein Rufzeichen und wunderte mich, daß seine Stimme so nahe klang, als er mir antwortete. Von den Ulmen führte ein schmaler Pfad fast geradlinig durch den Wald bis zur Eichenschonung. Und das war, wie ich verwundert feststellte, kaum weiter als siebzig Meter von der Stelle entfernt, an der ich in den Wald eingedrungen war und wo Andrak noch immer stand. In der Luft hing der üble Geruch von etwas Fauligem, Verwesendem. „Andrak!“ rief ich. „Kommen Sie hierher!“ Als der Wachtmeister neben mir stand, hob er den Kopf und schnupperte wie ein witternder Hund. „Das wird noch schlimmer“, sagte ich. „Beißen Sie die Zähne zusammen.“ Ich klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Los geht’s!“ Wir liefen durch die, in Reihen gepflanzten jungen Eichenbäumchen, die uns kaum bis zur Hüfte reichten. Der ekelerregende süßlich-faulige Geruch wurde so stark, daß ich fürchtete, der Wachtmeister würde mir umkippen. Er 75
preßte sein Taschentuch vor Mund und Nase und sah aus, als würde er zur Hinrichtung geführt. Der Kopf, der meinen Waldschrat in Todesangst versetzt hatte, ragte aus lockerer, frisch aufgeworfener Erde. Es war jener Kopf, dem der heilige Hermann zu Bischofsmais wortlos zugenickt und eine Heirat versprochen hatte. Andrak rieb sich mit dem Handrücken die Nase und sah einem Bussard zu, der über uns seine Kreise zog. Ich beugte mich zu Gerda Drawerts Leichnam hinunter, um die Spuren in der frisch aufgeworfenen Erde besser sehen zu können. „He, Wachtmeister“, sagte ich dabei, „jetzt müssen Sie aber auch mal einen Blick riskieren! Was wollen Sie denn der Mordkommission erzählen, wenn Sie weiter nichts gesehen haben als Schmeißfliegen und einen Bussard am Himmel!“ Andrak blickte unter halbgeschlossenen Lidern auf das tote Mädchen herab, stöhnte und stieß hinter dem vorgehaltenen Taschentuch hervor: „Das ist Gerda Drawert.“ Ich schickte ihn weg, denn er kam mir nicht so vor, als ob er sich hier noch lange würde aufrecht halten können. Er solle am Graben auf mich warten, rief ich ihm noch nach, dann starrte ich wieder auf den Kopf des toten Mädchens und auf die Erde, in die man sie verscharrt hatte; ich hing meinen Gedanken nach, aber es kam nicht viel heraus dabei, und so ging ich zu Andrak. Er saß am Rande der Schonung, hatte sich im Wassergraben Hände und Gesicht gekühlt und sah so aus, als könnte man wieder mit ihm sprechen. „Einer von uns muß am Fundort bleiben“, sagte ich, „der andere muß die Mordkommission verständigen.“ Er schien zu befürchten, daß ich auf die Idee kommen 76
könnte, er solle bleiben, denn er sprang auf, als habe er sich eben in einen Ameisenhaufen gesetzt. „Kommissar Baierl kenne ich persönlich!“ rief er. „Ich telefonier’ gleich mit ihm von der Amtsstuben aus.“ Und schon war von ihm nichts mehr zu sehen. Ich setzte mich am Graben ins Gras und verfiel wieder ins Grübeln. Die Idee, das Mädchen in der Schonung zu vergraben, schien mir wohldurchdacht zu sein. Der Mörder war offensichtlich davon ausgegangen, daß hier jahrelang niemand herumgraben würde, keine Bäume würden gefällt, keine Stubben gerodet werden. Wahrscheinlich hatte ihm ein Fuchs einen Strich durch die Rechnung gemacht und den Kopf der Leiche freigescharrt. Es war nicht mehr meine Sache, herauszufinden, wer Gerda Drawert umgebracht hatte. Mein Auftrag, das Mädchen zu finden, war erfüllt. Trotzdem grübelte ich darüber nach, wem Gerda Drawert so lästig geworden sein mochte, daß sie sterben mußte. Vielleicht dem verheirateten Willi Schembor, dem Förster? Natürlich hätte er sich die Sache mit der Eichenschonung am ehesten ausdenken können, aber auch jeder andere hier aus der Gegend hätte darauf verfallen können. Oder hatte Gerda Drawert ihren ehemaligen Verlobten zum Mord getrieben, weil sie ihn drängte, sich doch für sie zu entscheiden? War Haidgruber der Täter? Hatte sie ihn zu erpressen versucht, und hatte er, der Ehrgeizige, Egoistische, sich ihrer auf diese Weise entledigt? Mußte der Mörder überhaupt ein Mann gewesen sein? Kam da nicht vielleicht auch die betrogene, gekränkte Therese Schembor in Frage? Und welche Rolle spielte in diesem traurigen Kapitel die Rothaarige, die wie Haidgruber in Bruckmanns Reisebüro arbeitete und vor wenigen Tagen bei Frau Drawert aufgetaucht war? 77
Da ich mir nicht gern Fragen stelle, ohne wenigstens den Versuch zu unternehmen, sie auch zu beantworten, wünschte ich mir, Frau Drawert möge ihren Auftrag erweitern und mich bitten, den Mörder ihrer Tochter zu finden. Unweit von mir entfernt hörte ich plötzlich Zweige knacken, die von schweren Schuhen zertreten wurden. Ich verkroch mich ins Dickicht. Den Weg entlang kam ein Mann in Jägertracht, über der Schulter trug er die Doppelflinte, und dem Dackel gab er nur so viel Leine, daß der sich nicht mehr als einen Meter von ihm entfernen konnte. Der Mann war groß und hager und ungefähr vierzig Jahre alt. In seinem Blick lag etwas Erwartungsvolles, als rechne er auf Schritt und Tritt mit einer Überraschung. Ich trat auf den Weg und sagte: „Grüß Gott!“ Er zog den Dackel, der mich ankläffte, dicht zu sich heran. Er grüßte mich und fragte: „Wer sind denn Sie?“ Ich sagte ihm, daß ich Georg Eiserbeck heiße und Detektiv sei. „Detektiv?“ wiederholte er. „Eben ist der Wachtmeister, blaß wie ein Gespenst, an mir vorbeigerannt, und vorhin kam Doktor Maxant mit dem Polizeiwagen aus dem Wald geprescht. Und jetzt treffe ich einen Detektiv. Hat das alles was miteinander zu tun?“ „Ja“, sagte ich, „drüben in der Eichenschonung liegt ein totes Mädchen.“ „Ein … totes Mädchen? Und das sagen Sie so daher?“ „Soll ich heulen? Davon wird sie auch nicht wieder lebendig.“ „Ein totes Mädchen … in unserem Wald! Wissen Sie schon, wer die Tote ist?“ 78
„Eine aus Steinried, Gerda Drawert.“ „Nein“, sagte er, „die Gerda hab’ ich doch vorige Woche noch kerngesund gesehen. Die soll tot im Wald liegen?“ „Sie liegt nicht einfach so da, sie ist vergraben worden. Ermordet und vergraben.“ „Und Sie haben sie gefunden?“ fragte der Jäger entsetzt und mißtrauisch zugleich. „Wenn Sie mir verraten, ob Sie Herr Wössenbach sind, erzähle ich Ihnen ganz genau, wie es gewesen ist.“ Er zeigte mir sofort seinen Ausweis, und darin stand, daß er Alfred Wössenbach sei und in Steinried am Gutssteg wohne. „Mir ist der Schreck ordentlich in die Glieder gefahren“, sagte er, als er den Ausweis zurücksteckte. Wir setzten uns an den Wegrand, stopften unsere Pfeifen, und der Dackel rollte sich neben dem Jäger zusammen. Nach einer Weile sagte Wössenbach: „Jetzt bin ich soweit, daß ich mir’s anhören kann.“ Ich erzählte ihm, was in den letzten zwei Stunden hier geschehen war, und sagte ihm auch, daß ich am vergangenen Abend bei ihm gewesen sei, um ihn zu sprechen – wegen Willi Schembor. „Wegen Schembor?“ fragte er zurück. „Hat der was mit dem toten Mädchen zu tun?“ „Nein, das ist eine ganz andere Sache. Können Sie sich an den letzten Freitagabend erinnern? Sind Sie da allein vom Gut gekommen oder mit dem Förster, mit Herrn Schembor, zusammen?“ „Vergangenen Freitag?“ wiederholte Wössenbach bedächtig. „Das wird morgen schon eine Woche. Da muß ich erst mal in Ruhe nachdenken.“ Er paffte ein Weilchen, klopfte schließlich seine Pfeife aus und sagte: „Jetzt hab’ 79
ich’s. Freitag abend waren wir zum Rapport beim alten Thyrnau. Der hat mit Schembor und mir durchgesprochen, was in der kommenden Woche zu tun sei. Leider hat er weder vom Wald noch von der Jägerei eine Ahnung, und wenn wir uns nach ihm richten würden, gäb’s keinen Nachwuchs an Bäumen, und das Wild würde in der Schonzeit abgeschossen. Ich will damit sagen, so ein Disput beim Alten, der dauert seine Zeit, und hinterher müssen wir immer gleich zum jungen Gutsherrn, der ordnet dann das Gegenteil vom Alten an, und zu guter Letzt machen der Schembor und ich doch, was wir wollen. So geht das nun schon an die zehn Jahre.“ „Demnach ist es also spät geworden am Freitag?“ fragte ich. Wössenbach nickte. „Halb acht Uhr sind wir erst vom Gut weggekommen, und eine Viertelstunde später waren wir zu Hause. Der Schembor hat noch gesagt, er hätte die Nase voll, er wolle sich gleich ins Bett legen.“ „Sagen kann einer viel. Ich müßte wissen, ob Schembor wirklich nach Hause gegangen ist.“ „Ist er“, beharrte Wössenbach, „ich habe gesehen, wie er die Gartenpforte aufgerissen hat und ziemlich eilig zum Haus gelaufen ist. Dann hat er die Tür aufgeschlossen und ist ins Haus gegangen.“ „So genau haben Sie das beobachtet?“ Er nickte. „Meine Frau hat Johannisbeeren gepflückt“, erklärte er, „und ich habe ihr noch dabei geholfen. Die Sträucher stehen an der Grenze zwischen Schembors und unserem Grundstück. Deshalb habe ich alles so genau sehen können. Meine Frau hat gesagt: ‚Dem Willi scheinen die Überstunden auch nicht zu schmecken. Der rennt nach Hause, als ob’s brennt.‘ Fragen Sie doch ruhig meine Frau danach.“ 80
„In Ordnung“, sagte ich, „vielleicht komme ich demnächst mal vorbei.“ Er fragte noch einmal, ob mit Willi Schembor etwas nicht in Ordnung sei. „Nehmen Sie das nicht so ernst“, sagte ich. „Unsereins muß manchmal Routinefragen stellen, hinter denen ein Uneingeweihter gleich wunder was vermutet. Ich möchte nicht, daß Schembors ins Gerede kommen wegen der paar Fragen.“ „Von mir erfährt keiner was“, versicherte Wössenbach. „Meinetwegen habe ich Sie überhaupt nicht getroffen. Nur … die Stelle, wo Sie die kleine Drawert gefunden haben, die würde ich mir gern einmal nach Fährten ansehen.“ „Machen Sie das mit dem Kommissar aus“, riet ich ihm. „Falls der Wachtmeister unterwegs nicht zusammengeklappt ist, müßte er die Mordkommission längst benachrichtigt haben. Jedenfalls warte ich hier, bis Kommissar Baierl mit seinen Leuten anrückt.“ „Ich leiste Ihnen Gesellschaft, wenn’s recht ist“, sagte Wössenbach und stopfte sich noch eine Pfeife. Mit Kommissar Baierl hatte ich gleich in der ersten Woche nach meiner Rückkehr aus den USA Bekanntschaft geschlossen oder, genauer gesagt, schließen müssen. Damals hatte ich einen Mordfall zu klären und konnte dem Kommissar bereits nach drei Tagen die angeblich nicht aufzufindende Leiche präsentieren. Den Täter zu erwischen dauerte allerdings etwas länger, aber daß ich es überhaupt schaffte, diesen raffinierten Burschen zu überführen, rechnete mir der Kommissar ziemlich hoch an. Ich will damit nicht sagen, daß uns seitdem freundschaftliche Gefühle verbanden. Kommissare haben zu81
meist Vorbehalte gegen Private, und Detektive sind auf Kommissare nur selten gut zu sprechen. Weiß der Teufel, warum sich das so eingebürgert hat! Eigentlich leisten wir doch die gleiche Arbeit. Wir Privatdetektive gehen dabei vielleicht konsequenter und mit etwas mehr Ellenbogenfreiheit vor. Wir richten uns nur selten nach einem Reglement, brauchen weder auf Befehle von Vorgesetzten noch auf die Karriere zu achten, da wir uns ohnehin keine hohe Pension verderben können. Vielleicht beneiden uns die Polizisten ein wenig um die Freiheiten, die wir uns herausnehmen, aber sie bedenken meistens nicht, daß diese Freiheiten auch viel mit einem zweischneidigen Schwert gemeinsam haben. Mag es sein, wie es will – ich hatte in New York und Philadelphia mit der Polizei zeitweise wie Hund und Katz zusammen gelebt und manchmal wie der Bäcker mit dem Schlächtermeister: Wir hatten uns gegenseitig Kuchenstückchen und Fleischhäppchen zugesteckt und waren beide nicht schlecht weggekommen dabei. Zwischen Kommissar Baierl und mir hatte sich von Anfang an eine sachliche Zusammenarbeit angebahnt. Wenn ich glaubte, es meinen Klienten und mir selbst gegenüber verantworten zu können, steckte ich dem Kommissar dieses und jenes, aus dem er sich dann etwas zusammenreimen konnte. Er tat das gleiche, nannte mich obendrein niemals „Schnüffler“ und verdächtigte mich auch nicht bei jeder Leiche, neben der er mich fand, der Mörder zu sein. Und über die etwas poltrige Art, die der Kommissar an sich hatte, sah ich großzügig hinweg. Baierl war ein großer Mensch mit einem Kreuz wie ein Bär. Er kam mit zweien seiner Leute, die ich vom Ansehen kannte, drückte mir die Hand und knurrte: „Man braucht nur einen Privatdetektiv im Bezirk zu ha82
ben, und schon gibt’s überall Leichen. Wo liegt sie denn?“ Ich wies mit dem Arm zu der Stelle, an der ich Gerda Drawert gefunden hatte, und der Kommissar stapfte durch die Schonung. Ich ging ihm nach, erklärte ihm, was er unbedingt wissen mußte, aber ich wollte nicht warten, bis die Mordkommission ihre Routinearbeit erledigt hatte, und so verabschiedete ich mich kurzerhand. Dem Kommissar sagte ich, daß ich zu Frau Drawert gehen und ihr Bescheid geben würde. Baierl hielt mich noch einen Augenblick zurück. „Waren Sie hinter ihr her?“ fragte er und wies auf das tote Mädchen. „Oder war es purer Zufall, daß Ihnen der alte Gebler in die Arme gelaufen ist, der sie gefunden hat?“ „Ich war auf dem Weg nach Grünhübl“, sagte ich. „Und über das Mädchen weiß ich nur, daß sie paar Männergeschichten durchzustehen hatte. Die sind ziemlich leicht aufzudecken; ob eine davon ein Mordmotiv hergibt, das werden Sie eben herausfinden müssen. Mein Auftrag ist erledigt. Der bezog sich nämlich nicht auf die tote Gerda Drawert.“ Im Weggehen hörte ich noch Wössenbach sagen: „Ja, Herr Kommissar, es sind Fuchsfährten …“ Dann war nur die Stille des Waldes um mich, und ich überlegte, wie ich Frau Drawert die Nachricht vom Tode ihrer Tochter beibringen sollte. Dabei hätte ich mich, wie sich später herausstellte, mit dem Gedanken gar nicht herumzuquälen brauchen. Frau Drawert wußte schon Bescheid. Der Wachtmeister hatte ihr erzählt, wie und wo wir ihre Tochter gefunden hatten. Frau Drawert bat mich ins Wohnzimmer, und dann saßen wir uns ein zweites Mal gegenüber, sie mit gesenk83
tem Kopf und verweinten Augen, die Hände im Schoß gefaltet. Ich sah ihr ihre Verzweiflung an und – ihr Schuldbewußtsein. „Frau Drawert“, sagte ich, „als Sie gestern morgen zu mir kamen, haben Sie da geahnt, daß Gerda nicht mehr am Leben ist?“ „Nein, nein, das nicht, ich hatte nur Angst“, sagte sie fast tonlos. „Ich habe befürchtet, daß einer ihrer Liebhaber sie von hier weghaben wollte, weil sie so … na, so anhänglich war. Ich dachte, daß sie in einer Stadt oder irgendwo auf der anderen Seite der Donau lebt und sich … ja, sich aushalten läßt. Sie sollten sie finden und mir berichten, wie es ihr geht und was sie braucht. Dann hätte ich sie unterstützt, damit sie ein anständiges Leben führen kann.“ „Geld war wohl das letzte, was Ihre Tochter brauchte“, hielt ich Frau Drawert vor, „ich glaube, sie hat sich nach einem richtigen Zuhause, nach Verständnis gesehnt. Aber Ihnen war sie im Wege. Ihnen und Ihrer guten Partie, die Sie mit dem Urbach-Bauer machen wollen.“ Die Frau starrte mich an, als ob ich sie geohrfeigt hätte, fassungslos, den Mund ein wenig geöffnet wie ein staunendes Kind. Dann brach die Verzweiflung, die sich in den letzten Tagen in ihr gestaut hatte, mit einemmal aus ihr heraus. „Scheren Sie sich zum Teufel!“ schrie sie mich an und sprang auf. „Sie und alle hier im Dorf!“ „Das hilft Ihnen auch nichts“, sagte ich. „Wenn wir alle zum Teufel gehen, werden Sie hier sehr einsam sein.“ „Einsam, einsam“, wiederholte sie gereizt. „Wissen Sie überhaupt, was Sie da reden? Ich war vierunddreißig Jahre alt, als mein Mann starb, und seitdem bin ich einsam.“ Ich dachte, daß vierunddreißig Jahre nun wirklich noch nicht das Alter seien, um sich zurückzuziehen, und 84
ich sagte ihr, daß vieles in ihrem Leben vielleicht anders gekommen wäre, wenn sie wieder geheiratet hätte. Meine Bemerkung brachte sie aber so aus der Fassung, daß sie mir ins Gesicht schrie: „Heiraten? Sie Klugscheißer, Sie! Natürlich hätt’ ich wieder heiraten wollen, aber wen denn, frag’ ich Sie? Hier laufen die ledigen Mannsbilder doch nicht ’rum wie die Hühner im Dorf! Hier ist jahrelang überhaupt keiner rumgelaufen!“ Ich faßte sie am Arm und drückte sie in den Sessel zurück, aus dem sie vorhin aufgesprungen war. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte ich. „Ja, ja, ich entschuldige schon. Sie sind ein feiner Herr, und wenn Sie was falsch gemacht haben, sagen Sie einfach: ‚Entschuldigen Sie‘, und wenn Sie höflich sind, sagen Sie obendrein noch ‚bitte‘. Aber wenn unsereins was falsch macht, wer entschuldigt denn das, he? Ich konnte nicht zum Urbach-Bauer sagen: ‚Entschuldige, daß ich eine Tochter habe, die keine Kinder kriegt und die trotzdem gern einen Mann hätt’! Entschuldige, daß sie von einem zum anderen rennt, weil sie den Richtigen nicht finden kann.‘ Wissen Sie, was der gemacht hätt’? Mir die Hoftür vor der Nase zugeschlagen! Die Tür vom größten Hof in der ganzen Umgebung, mein Herr!“ „Haben Sie sich eigentlich mit Gerda mal über all das ausgesprochen?“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Bei uns spricht man nicht über Dinge, die man schon weiß und die man doch nicht ändern kann. Die Gerda wollt’ ihr Glück erzwingen, und ich wollte die Gelegenheit mit dem UrbachBauer nicht verpassen. Da sind wir ohne Worte übereingekommen, nach außen hin so zu leben, daß uns keiner was Übles nachreden kann. Ansonsten sollte doch die Gerda treiben, was ihr Spaß machte! Und das ist gut ge85
gangen, sag’ ich Ihnen. Bis vorige Woche. Da will sie abends noch ein bissel Luft schnappen gehen und kommt nicht wieder.“ Frau Drawert schluchzte immer heftiger, wiederholte sich, sprach bald nur noch in Wortfetzen und begann sich das Haar zu raufen. Ich befürchtete, daß sie sich in einen hysterischen Anfall hineinsteigern würde, und schleppte die Frau zum Fenster, riß es auf und befahl ihr, tief und ruhig einzuatmen. Nicht weit vom Haus entfernt lief Wachtmeister Andrak hin und her. Er sah sorgenvoll aus, besonders dann, wenn er zu den Frauen hinüberblickte, die in Grüppchen zusammenstanden und miteinander tuschelten. Die Nachricht von Gerda Drawerts Tod schien bereits die Runde gemacht zu haben. Plötzlich beugte sich Frau Drawert vor, und ich glaubte einen Augenblick lang, sie wollte sich hinausstürzen. Aber sie streckte nur den Arm zum Fenster hinaus und kreischte: „Da ist sie wieder, die rothaarige Hexe! Die hat der Gerda aufgelauert! Die wird schon wissen, wer die Gerda umgebracht hat!“ Ich schob Frau Drawert zur Seite, um aus dem Fenster sehen zu können. Vor dem Haus stand das rotblonde Mädchen, das am Vortag mit der Reisegruppe nach Vilshofen gefahren war. Sie stand wie gebannt und blickte auf die Frauen, die zusammenrückten und wie eine lebende Mauer auf sie zukamen. Ich rannte bereits die Treppe hinunter, als die ersten riefen: „Mörderin! Sie ist eine Mörderin!“ Mit Rippenstößen und Flüchen bahnte ich mir den Weg zu der Stelle, an der ich das Mädchen vermutete. Als ich es geschafft hatte, sah ich, daß jetzt Andrak zwischen ihr und den Frauen stand, die sich gegenseitig na86
hezu hysterisch aufstachelten. „Gottes Strafe wird über sie kommen!“ rief eine kleine Frau mit einem Spitzmausgesicht. „Sie hat getötet! Sie hat getötet!“ Das Mädchen umklammerte Andraks Arm. Der Wachtmeister zitterte, und Schweiß perlte ihm auf der Stirn. Aber er stand wie angewachsen. „Aus der Stadt ist sie gekommen, die Gottlose!“ „Teufelsbrut!“ „Man muß dem Bösen wehren, das sagt der Pfarrer auch.“ „Jagt sie hin, wo sie hingehört – zum Teufel!“ Die ersten bückten sich schon, suchten nach Steinen. „Zurück!“ brüllte ich, so laut ich konnte, und ich kann ziemlich laut, wenn ich wütend bin. „Das Mädchen ist ebensowenig schuld, wie Sie bei Verstand sind!“ Erschrocken bekreuzigten sich einige. Die ersten wichen zurück, aber die hinter ihnen standen, gaben nicht nach und stießen sie wieder nach vorn. Die Frau mit dem Mausgesicht wies mit ausgestrecktem Arm auf mich. „Der ist auch aus der Stadt gekommen!“ „Gebt doch Ruhe, Leute!“ schrie Andrak. „Die beiden sind Bekannte von Gerda Drawert. Sie hat doch in der Stadt gearbeitet.“ Die Frauen stutzten. Eine rief: „Das ist wahr! Ein junges Mädchen – und jeden Tag in die Stadt gefahren.“ „Und ihre Verlobung mit einem aus dem Wald hat sie aufgelöst.“ „Versündigt euch nicht! Von den Toten soll man nur Gutes reden!“ „Sie hat die Verlobung nicht gelöst. Das war der Huslinger. Das Mädel war unfruchtbar. Ich hab’s von Huslingers Mutter!“ „Eine Unfruchtbare ist sie gewesen!“ 87
„Von den Toten soll man nur Gutes reden!“ Diesen Rat gab nun auch die Frau mit dem Spitzmausgesicht. Sie wies auf mich. „Gerda Drawert ist verführt worden zum Bösen. Verführt und getötet von denen da!“ Ich trat auf die Frau zu, packte ihren ausgestreckten Arm, bog ihn ein und zog sie langsam zu mir heran. „Hören Sie gut zu“, sagte ich ruhig, aber so laut, daß es alle hören konnten. „Wenn Sie jetzt nicht sofort von hier verschwinden, bringe ich Sie wegen Ruhestörung und öffentlichen Aufruhrs hinter Schloß und Riegel! Sie und noch ein Dutzend von diesen Gottesstreitern da.“ Eine Frau schrie auf. Fast alle bekreuzigten sich, fast alle wichen zurück. Ich ließ das Spitzmausgesicht los, die Alte flüchtete sofort in die Menge. „Wir werden den Pfarrer um Rat fragen!“ rief jemand. „Ich denke, man soll nichts Schlechtes reden über eine, die der Herrgott zu sich genommen hat, aber wir werden den Pfarrer fragen. Auch wegen der Leute aus der Stadt!“ Langsam zogen sie sich zurück. Ich sah mich nach Wachtmeister Andrak und dem Mädchen um. Die Rothaarige war verschwunden. „Wo ist sie denn hin?“ fragte ich besorgt. „Zum Bus gelaufen, während Sie die Leute zurückgetrieben haben. Sie wird den nächsten Bus noch erwischen. Das Schlimmste ist jetzt überstanden, die Leute werden ihr nicht nachgehen, die lassen sich jetzt vom Pfarrer erzählen, was sie über all das zu denken haben.“ „Was war denn hier los?“ fragte jemand neben mir. Es war Doktor Maxant, und ich erzählte ihm rasch, was geschehen war. Dann sagte ich: „Kommen Sie schnell zu Frau Drawert. Ich fürchte, die braucht sie.“ Wir gingen ins Haus. Frau Drawert saß im Sessel, re88
dete wirr und kratzte sich mit den Fingernägeln das Gesicht auf. Ich packte sie und trug sie auf die Couch. „Halten Sie ihr die Hände fest“, befahl Maxant und gab ihr eine Injektion, nach der die Frau langsam ruhig wurde. „In der Küche, im zweiten Schrankfach, hat sie immer einen Kognak stehen“, sagte der Arzt leise zu mir, „kommen Sie, Sie sehen auch aus, als könnten Sie einen brauchen.“ Wir gingen in die Küche. „Wie Sie das bloß aushalten hier in dem Dorf“, sagte ich und trank den Kognak, den Maxant mir eingeschenkt hatte. „Das ist ein Dorf wie jedes andere in der Gegend auch.“ „Wenn es schlimm kommt, werden sich ein paar erhitzte Gemüter sogar gegen Frau Drawert wenden.“ Maxant lächelte. „Der liebe Gott wird die Gemüter wieder beruhigen.“ Und als er meine fragende Miene bemerkte: „Ich meine seinen Stellvertreter auf Erden, unseren Herrn Pfarrer. Es ist nicht das erste Mal, daß die Leute in eine Art religiöse Pogromstimmung geraten sind. Sobald sie ein Ereignis nicht begreifen, benehmen sie sich wie die Kinder, sie teilen die Menschen in die Guten und die Bösen ein. Und was für sie böse ist, wollen sie zunichte machen. Es kann Ihnen passieren, daß Sie als Fremder zum Bösen gestempelt werden, wenn Sie sich nur den geringsten Verstoß gegen hiesige Sitten und Gebräuche zuschulden kommen lassen. Das kann übrigens auch mir passieren, zum Beispiel wenn mir ein Unheilbarer unter der Hand stirbt, der nach ihrer Meinung nicht hätte sterben dürfen.“ „Und der Pfarrer, der kann das wieder einrenken?“ „Der kann … wenn er will. Er nimmt schließlich die Beichte ab und vergibt die Sünden … oder auch nicht. 89
Von ihm hängt es ab, ob die Waldler die ewige Seligkeit erlangen werden. Deshalb hört man auf ihn.“ Maxant trank seinen Kognak aus und stellte die Flasche in den Schrank zurück. Ich fragte: „Wie, glauben Sie, wird der Fall Drawert ausgehen?“ „Es ist keinem damit gedient, wenn die Steinrieder übereinander herfallen. Der Pfarrer wird sie wieder zu einigen versuchen und ihrer Erregung ein anderes Ventil verschaffen als Frau Drawert oder deren Tochter.“ „Einer, der nicht aus dem Dorf stammt, ist als Sündenbock gewiß am besten geeignet?“ „Natürlich.“ „Zum Beispiel das rotblonde Mädchen aus Passau.“ „Die ist wie geschaffen dafür. Kennen Sie sie?“ „Nein. Ich weiß nur, daß sie Reiseleiterin ist und Luisa Forkmann heißt. Und ich fürchte, viel mehr werde ich über sie auch nicht erfahren. Mein Auftrag dürfte mit dem heutigen Tage beendet sein. Ich kehre zurück nach Passau, aber Sie, Doktor … nein, ich verstehe Sie wirklich nicht!“ „Was wollen Sie? Die Menschen sind hier nicht schlechter als anderswo. Auch in Passau gibt es Moralapostel und religiöse Fanatiker. Hier hocken nur ein paar mehr davon auf einem Haufen. Und wenn sie etwas wissen wollen über Gott und die Welt, dann gehen sie eben zum Pfarrer oder zum Lehrer oder zu Herrn von Thyrnau. Das ist unsere Heilige Dreieinigkeit: Glaube, Bildung, Macht. Im Grunde genommen geben die drei nur eine Antwort auf alle Fragen: Seid untenan der Obrigkeit! Wohin das führt und wem das nutzt, das wissen Sie, Herr Eiserbeck, genausogut wie ich.“ „Und Sie haben resigniert.“ „Ich habe Wunden geheilt und Spritzen gegeben und 90
den Toten die Augen zugedrückt. Dabei bin ich alt geworden. Das ist alles. – Kommen Sie, wir wollen nach Frau Drawert sehen.“ Wir gingen ins Wohnzimmer zurück. Frau Drawert hatte sich aufgesetzt und blickte uns entgegen. „Entschuldigen Sie“, sagte sie mit müder Stimme zu mir, „daß ich mich so habe gehenlassen. Sie haben ja keine Schuld, daß alles so gekommen ist. Sie haben getan, was ich von Ihnen verlangte, Sie haben Gerda gefunden. Ich werde Ihnen Ihr Geld in den nächsten Tagen überweisen.“ „Lassen Sie sich Zeit damit“, sagte ich und reichte ihr die Hand zum Abschied. Die Enttäuschung darüber, daß der Fall für mich mit dem Augenblick zu Ende war, da er interessant zu werden begann, schluckte ich hinunter. Ich fragte Doktor Maxant, wie es Otto Gebler gehe, und er meinte, es stehe nicht zum besten mit ihm. Er wolle Gebler bei sich behalten, da er ohnehin allein sei und der Alte gepflegt werden müsse. „Leben Sie wohl“, sagte ich. „Gelegentlich komme ich vorbei und hole die paar Dinge ab, die ich noch in Geblers Haus liegen habe.“ Dann lief ich über die steinige Wiese zurück zum Wald. Auf dem Weg durch das Dickicht war es ungefähr so hell wie in einem unbeleuchteten Straßentunnel, und ich war froh, als ich meinen Fiat endlich gefunden hatte. Ich setzte mich hinein, ließ den Motor an und fuhr zurück nach Passau. Grit war noch im Büro und merkte sofort, in welch miesepetriger Stimmung ich mich befand. Klugerweise sagte sie nichts weiter als „Guten Abend“ zu mir. Am nächsten Morgen saß ich hinter dem Schreibtisch und tat vor Grit so, als hätte es nie einen Auftrag Drawert 91
gegeben. Ich war einfach nicht fähig, über die Angelegenheit zu sprechen. Gegen elf Uhr klingelte das Telefon. Kommissar Baierl war am Apparat. „Hallo, Eiserbeck!“ rief er. „Ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß Sie eigentlich zwei Leichen gefunden haben! Gerda Drawert war schwanger. Anfang des zweiten Monats. Vielleicht können Sie damit etwas anfangen … und sich gelegentlich bei mir revanchieren.“ Ich weiß nicht mehr, ob ich überhaupt „Danke schön“ gesagt oder den Hörer ohne ein weiteres Wort wieder aufgelegt habe. Ich kann mich nur an einen gräßlichen Fluch erinnern und daran, daß Grit ins Zimmer gestürzt kam. „Kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie. „Natürlich!“ entgegnete ich. „Setzen Sie sich hin und erzählen Sie mir, wieso eine Frau, die keine Kinder bekommt, plötzlich schwanger sein kann!“ Grit nahm Platz, schlug die Beine übereinander und lächelte mit ihren achtzehn Jahren das weise Lächeln einer lebenserfahrenen Frau. „Das ist ganz einfach“, sagte sie, „da hat sich der Doktor eben geirrt.“ „Derjenige, der die Schwangerschaft festgestellt hat, meinen Sie?“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Allein in meinem Bekanntenkreis – und der ist nicht groß – kenne ich zwei Frauen, die verzweifelt darüber waren, daß sie keine Kinder bekamen. Der Arzt hatte es ihnen bestätigt. Die eine führt jetzt ein zweijähriges Mädchen spazieren, und die andere wird im nächsten Monat entbinden. Bei einer Frau klappt das eben, wann es will“, belehrte sie mich altklug. „Hm. Eine wissenschaftlich begründete Theorie ist das 92
zwar nicht“, gab ich zu bedenken, „aber die Praxis scheint Ihnen recht zu geben.“ Dann erzählte ich Grit alles, was ich am Vortag in Steinried erlebt hatte, und zum Schluß bedauerten wir beide, daß wir den Fall nicht weiterverfolgen konnten.
8 Am Montag der darauffolgenden Woche traf ich erst gegen elf Uhr im Büro ein, da ich morgens den Fiat zur Durchsicht in die Werkstatt gebracht hatte. Grit war nicht in ihrem Zimmer, aber auf meinem Schreibtisch lag ein Zettel, auf dem sie mir in allen Einzelheiten mitteilte, in welcher „dienstlichen Angelegenheit“ sie unterwegs sei und wo ich sie notfalls finden könnte. Ich stopfte mir eine Pfeife, setzte mich hinter den Schreibtisch, schaute zum Fenster hinaus auf den Fluß und dachte wieder an das tote Mädchen im Schwarzen Wald. Wenige Minuten nach halb zwölf hörte ich, daß jemand an der Außentür zu Grits Sekretariat klopfte. Es war ein leises, zaghaftes Klopfen, und ich dachte: Da ist sich wieder mal jemand nicht schlüssig, ob er sich mir anvertrauen soll oder nicht. Die Tür wurde aufgeklinkt, und mit leichten Schritten ging jemand durchs Zimmer. Dann ein zaghaftes Klopfen an meine Bürotür. „Bitte“, sagte ich, „kommen Sie nur herein.“ Der Besucher folgte meiner Aufforderung, betrat das Zimmer – und sah mich ebenso verdutzt an wie ich ihn. Es war eine Besucherin, sie kam bis zu meinem Schreib93
tisch und fuhr sich verlegen durch das rotblonde Haar. Sie war groß und sehr schlank. Ich konnte nur mit Mühe verbergen, daß mich ihr Besuch außerordentlich überraschte. „Guten Tag, Herr Eiserbeck“, sagte sie. Ich erwiderte ihren Gruß und fügte hinzu: „Bitte, nehmen Sie Platz, Fräulein Forkmann.“ „Dieser Wachtmeister aus Steinried hat Ihnen meinen Namen verraten, nicht wahr?“ Sie setzte sich auf den Besucherstuhl. „Nein“, sagte ich lächelnd, „Sie sind eine berühmte Reiseleiterin, die man eben kennt.“ „Danke für die Blumen. Übrigens, als Sie mich in Steinried vor diesen wild gewordenen Kräuterhexen bewahrten, da wußte ich nicht, daß Sie der Detektiv Eiserbeck sind. Deshalb war ich vorhin so verdutzt.“ „Aber die Existenz eines Detektivs Eiserbeck war Ihnen bekannt?“ „Und wie! Immer wenn ich Gruppen durch die Stadt führe und an Ihrem Haus vorbeikomme, mache ich darauf aufmerksam, daß hier ein Privatdetektiv wohnt, der in den Staaten ausgebildet wurde und dort etliche Jahre gearbeitet hat.“ „So genau wissen Sie Bescheid?“ „Dafür werde ich bezahlt.“ Ich erhob mich ein wenig und deutete eine Verbeugung an. „Dann danke ich Ihnen für die Kundenwerbung … Und was führt Sie heute zu mir?“ Sie spitzte die Lippen, als wollte sie pfeifen, sah mich aber nur nachdenklich an. „Wollen Sie die Erlaubnis einholen, künftig Ihre Gruppen durch mein Büro zu schleusen? Oder genügt Ihnen ein Autogramm von mir?“ 94
„Ich … möchte Ihre Dienste in Anspruch nehmen“, sagte sie und schlug die Augen nieder, als hätte sie etwas Unanständiges ausgesprochen. „O bitte. Was kann ich für Sie tun?“ Um ihre Mundwinkel zuckte es nervös. Als sie es merkte, spitzte sie wieder die Lippen. „Hoffentlich soll ich Ihnen keinen davongelaufenen Liebhaber zurückbringen. Das wäre mir in Ihrem Falle kein bißchen angenehm.“ Sie schüttelte stumm den Kopf. Die Lippen hielt sie noch immer gespitzt. „Sie gucken so pfiffig“, sagte ich, „als ob Sie sich was ganz Schlaues ausdenken würden.“ „Wenn ich mir was ganz Schlaues ausdenken könnte, wäre ich nicht zu Ihnen gekommen.“ „Na, dann reden Sie mal. Mir fällt ohnehin nichts mehr ein.“ „Ich habe Angst.“ „Vor wem? Vor den Steinriedern?“ „Ja.“ „Dazu haben Sie keinen Grund. Sie lassen sich in diesem Nest nicht mehr sehen, und der Fall ist erledigt. Bis nach Passau verfolgt Sie keiner von denen.“ „Es könnte sein, daß ich dienstlich hin muß. Ab und zu wollen Leute zum Thyrnauschen Gut. Aber das allein ist es nicht. Es geht mir auch um … um meinen Verlobten.“ „Und wer ist Ihr Verlobter?“ fragte ich ahnungsvoll. Im Geiste sah ich Abteilungsleiter Haidgruber vor ihr knien und ihr einen Ring an den Finger stecken. „Ich bin mit Joseph Huslinger verlobt.“ Langsam erhob ich mich, ging auf meine Besucherin zu, blieb, mit dem Rücken an den Schreibtisch gelehnt, 95
vor ihr stehen. Ich kreuzte die Arme und beugte mich ein wenig zu ihr hinab. „Noch mal“, sagte ich leise, aber mit Nachdruck. „Nennen Sie mir den Namen gleich noch einmal.“ Sie sah zu mir auf, hielt meinem Blick stand und wiederholte: „Joseph Huslinger. Er ist Glasbläsermeister in Grünhübl.“ „Und war vor Ihnen mit Gerda Drawert verlobt.“ „Eben. Und jetzt sieht die Sache so aus: Im Wald zwischen Steinried und Grünhübl wurde Gerda Drawert ermordet. Sie stammte aus Steinried; ihr ehemaliger Verlobter, der jetzt mit mir verlobt ist, wohnt in Grünhübl. Gerda Drawert hatte versucht, unsere Verbindung zu zerstören und Herrn Huslinger zurückzugewinnen. Wenn die Steinrieder das herausfinden, bin ich für sie die Mörderin. Wenn sie dann noch erfahren, daß Gerda schwanger war, vielleicht von Huslinger, dann lynchen sie mich oder ihn … oder uns beide.“ „So weit würde ich nicht gleich gehen“, sagte ich, trat hinter den Schreibtisch zurück und setzte mich wieder. „Wenn die Steinrieder den Zusammenhang spitzkriegen, ist für Ihren Verlobten allerdings kein Bleiben mehr in Grünhübl. Er müßte seinen Kram packen und aus dem Wald verschwinden.“ Sie wickelte eine ihrer rotblonden Locken um den Zeigefinger und saugte an der Oberlippe. Ihre Augen glänzten, aber sie hielt die Tränen zurück. Nach einer Weile sagte sie mit spröder Stimme: „Wenn er fort muß aus Grünhübl …“, dann brach ihre Stimme ab. Mir schien, ich könnte erraten, was sie mir andeuten wollte. „Es ist wegen der Glasbläserei, nicht wahr?“ fragte ich. „Früher gab es viele kleine private Bläsereien im Wald, die eingegangen sind, seitdem sich alles auf Grün96
hübl konzentriert hat. Sie, Fräulein Forkmann, hätten einen Mann ohne Arbeit, ohne Beruf zur Seite, wenn er fort müßte.“ Ihre Stimme klang noch immer kehlig, als sie sagte: „Er ist Glasbläser mit Leib und Seele, und er ist ein Künstler in seinem Fach. Der geht mir ein, wenn er sich von seinem Glas trennen muß.“ „Dann kann ich Ihnen nur eines raten: Falls Sie oder Herr Huslinger über den Tod des Mädchens etwas wissen, gehen Sie zur Polizei. Das ist besser, als abzuwarten, bis Gerüchte aufkommen.“ Sie ließ ihre Locke los und schüttelte heftig den Kopf. „Wissen Sie etwas Besseres?“ fragte ich. Ihr Blick war fest, beinahe hart, als sie mich ansah. Sie hielt den Mund leicht geöffnet und atmete in kleinen, hastigen Stößen, wie ein Mensch, der seine Erregung niederzukämpfen versucht. „Finden Sie Gerda Drawerts Mörder“, sagte sie plötzlich, „finden Sie ihn schnell und ohne Aufsehen. Nur so werde ich meine Ruhe haben vor Verdächtigungen, Gerüchten und vor der Polizei. Außerdem habe ich ein ganz privates Interesse daran, zu erfahren, wer das Mädchen umgebracht hat.“ „Wegen Huslinger, nicht wahr? War er es, von dem das Mädchen das Kind bekam?“ Sie stemmte sich mit den Unterarmen gegen die Sessellehne, um nicht zusammenzusinken. „Ich weiß es nicht“, sagte sie leise. „Sie lieben ihn sehr, nicht wahr?“ Sie nickte. „Trotzdem habe ich ihm das Leben manchmal zur Hölle gemacht. Und immer wegen dieser Gerda Drawert.“ Sie ließ den Kopf auf die Brust sinken und stöhnte. „Ich werde noch verrückt vor lauter Ungewißheit.“ 97
„Woher wissen Sie eigentlich, daß Fräulein Drawert schwanger war?“ fragte ich nach einer Weile. „Weil sie mit Sepp darüber ge …“ Sie brach mitten im Wort ab und lauschte auf die Schritte im Vorzimmer. „Das ist meine Sekretärin“, gab ich ihr Bescheid und rief Grit herein, die eben gekommen war. „Brauen Sie uns mal einen feinen Kaffee“, sagte ich zu ihr. „Serviert wird auf Ihrem Mehrzwecktisch. Dort haben wir alle Platz und können schön gemütlich plaudern.“ Grit verschwand. Meine Besucherin sah aus, als habe sie eine Ruhepause nötig, und ich schlug ihr vor, sich alles, was sie über Gerda Drawert und Sepp Huslinger wußte, noch einmal zu überlegen und es mir bei einer Tasse Kaffee der Wahrheit gemäß zu berichten. Sie war einverstanden, nahm die Zigarette, die ich ihr anbot, und ich stopfte mir eine Pfeife. Schweigend rauchten wir, bis Grit hereinkam, das Fenster aufriß und sagte: „Darf ich zur Abwechslung das nächste Gift anbieten? Koffein nach Nikotin soll ganz hervorragend wirken.“ „Eben“, entgegnete ich, „Sie sollten das auch mal probieren.“ Grit verabscheute nicht nur das Rauchen, sie trank auch keinen Kaffee. Sie hatte sich wie immer, wenn ich sie einlud, mit mir zusammenzusitzen, eine Tasse Tee aufgebrüht. „Vor Grit können Sie ruhig sprechen“, munterte ich meine Klientin auf, „die hält’s mit den heiligen drei Affen.“ Während wir die erste Tasse Kaffee tranken, unterhielten wir uns über Belanglosigkeiten, dann lenkte ich das Gespräch wieder auf Gerda Drawert. „Waren Sie dabei“, fragte ich Fräulein Forkmann, „als Gerda Drawert mit Ihrem Verlobten über die Schwangerschaft sprach?“ 98
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist so“, erklärte sie, „in der Glashütte arbeiten sie auch sonntags. Wenn Herr Huslinger sonntags Dienst hat, erhält er dafür einen freien Wochentag. Dann kommt er entweder am Abend vorher zu mir und begleitet mich am nächsten Tag, wenn ich eine Gruppe führen muß, oder er fährt am Vorabend schon dahin, wo ich am nächsten Tag mit meiner Gruppe eintreffen werde. Einmal hatte sich mein Dienstplan geändert, und ich bin abends nach Grünhübl gefahren, um Herrn Huslinger von der neuen Reiseroute zu unterrichten. Vor der Tür hörte ich, daß drinnen jemand schluchzte. Es war eine Frau. Mein Verlobter sprach auf sie ein, wahrscheinlich, um sie zu beruhigen. Was er sagte, konnte ich nicht verstehen. Ich hielt mich versteckt, bis die Frau herauskam. Sie war ungefähr so alt wie ich, etwas kleiner und sehr hübsch. Ich hatte sie noch nie gesehen, ahnte aber, daß es Gerda Drawert war. Ich habe meinen Verlobten sofort zur Rede gestellt. Er war ganz verstört und sagte, Fräulein Drawert sei so verzweifelt, weil sie ein Kind erwarte, jetzt, da sie es nicht brauchen könne. Vor zwei, drei Jahren, als sie noch mit Herrn Huslinger verlobt war, hätte sie nämlich ganz gern eines gehabt, aber damals hat ihr der Arzt gesagt, sie werde nie ein Kind bekommen. Deshalb hatte sich Herr Huslinger doch auch von ihr getrennt …“ „Haben Sie ihm eine Szene gemacht an jenem Abend, als Fräulein Drawert bei ihm war?“ „Nein“, sagte sie, „ich habe ihn nur gefragt, ob das Kind von ihm sei.“ „Und?“ „Er hat es abgestritten. Fräulein Drawert sei nur zu ihm gekommen, weil sie nicht wisse, wem sie sich sonst anvertrauen solle.“ 99
„Na, dem Vater ihres Kindes zum Beispiel.“ „Das habe ich ihm auch vorgehalten, aber er hat mich angefahren, ich solle ihn in Ruhe lassen, denn er habe sich nichts vorzuwerfen. Wenn Fräulein Drawert aus alter Freundschaft zu ihm komme, um ihm ihr Herz auszuschütten, dann sehe er keinen Grund, sie hinauszuwerfen.“ „Spätestens da sind Sie wütend geworden, nicht wahr?“ „Unsinn“, sagte sie und sah mich über den Rand der Kaffeetasse hinweg lauernd an. Sie schien auf meinen Widerspruch gefaßt zu sein. „Das wäre immerhin eine verständliche Reaktion gewesen“, entgegnete ich. „Außerdem haben Sie vorhin erklärt, Sie hatten in letzter Zeit Herrn Huslinger das Leben zur Hölle gemacht – wegen Gerda Drawert.“ „Vorhin war ich so schrecklich durcheinander“, sagte sie, aber es war ein unechter Ton in ihrer Stimme. „Warum haben Sie Fräulein Drawert kürzlich in Steinried aufgesucht? Ich meine … damals, als sie noch lebte.“ Sie stellte die Tasse auf den Tisch zurück, und ihr Blick drückte jetzt Unwillen aus. „Sie haben mit dem Fall Drawert schon zu tun gehabt“, stellte sie fest, „sonst könnten Sie nicht so auf den Busch klopfen.“ „Das ist meine Sache“, entgegnete ich, „und die Ihre ist es, mir die Wahrheit zu sagen, wenn ich für Sie arbeiten soll.“ Grit schenkte uns noch eine Tasse Kaffee ein, Fräulein Forkmann dankte ihr mit einem Kopfnicken und erklärte dann: „Ich wollte das Mädchen selbst zur Rede stellen. Sie sollte mir klipp und klar sagen, ob das Kind von Herrn Huslinger ist oder nicht. Wenn es nicht sein Kind 100
gewesen wäre, wollte ich ihr zu verstehen geben, daß sie bei ihm nichts mehr zu suchen habe, auch keinen Trost. Fräulein Drawert war nicht zu Hause. Ihre Mutter sagte mir, sie sei spazierengegangen. Über eine Stunde habe ich gewartet, dann sah ich sie hinter dem Haus den Feldweg entlangkommen. Ich habe mich ihr vorgestellt und ihr erzählt, weshalb ich hier sei. Sie wirkte sehr gereizt und niedergeschlagen. ‚Diese Dreckskerle‘, hat sie gesagt. ‚Wenn sie mit mir zusammen sind, vergessen sie ihre Frauen, aber wenn sie mich los sein wollen, sind sie zu feige, mir das selbst zu sagen, und hetzen mir ihre Weiber auf den Hals.‘ “ „Sie hat immer in der Mehrzahl gesprochen?“ fragte ich. „Ja. Ich habe ihr klarzumachen versucht, daß Herr Huslinger keine Ahnung davon habe, wohin ich gegangen sei. Ich würde sofort auf Nimmerwiedersehen verschwinden, wenn sie mir sagte, ob das Kind von Herrn Huslinger sei oder nicht!“ „Und?“ „ ‚Was geht dich das an!‘ hat sie mich angeschrien. ‚Ob von dem, von Schembor oder von …‘ Und dann ist sie still geworden und hat ganz erschrocken geguckt. Den Namen Schembor hatte sie mir bestimmt nicht nennen wollen, aber nun war er ihr in der Aufregung herausgerutscht. Ich kenne Willi Schembor vom Ansehen. Manchmal begleitete ich Interessenten aufs Thyrnausche Gut. Sie lassen sich dort etwas über den Wald- und Wildbestand erzählen.“ „Und was tat nun Gerda Drawert, nachdem sie den Namen Schembor genannt hatte?“ „Sie hat mich zum Teufel gewünscht und ist ins Haus gelaufen, und ich war so klug wie vorher – bis auf die 101
Geschichte mit Schembor. Und ich habe mir eingeredet, ein Mann wie der könnte der Gerda gut und gern ein Kind angehängt haben.“ „Und damit haben Sie’s bewenden lassen?“ „Ein Weilchen, ja. Aber dann kamen mir doch wieder Zweifel, und ich wollte der Sache auf den Grund gehen. Im Reisebüro erfuhr ich, daß Gerda Drawert Urlaub genommen hatte, und ich bin nach Steinried gefahren, weil ich dachte, ich könnte sie dort antreffen. Aber es ist alles anders gekommen. Sie haben Gerda Drawerts Leiche im Wald entdeckt, und Frau Drawert hat beinahe irre reagiert, als sie mich sah. Dann wollten sie alle über mich herfallen. Na, Sie wissen schon Bescheid, Sie haben mich ja gerettet.“ „Der Wachtmeister war schneller bei Ihnen als ich. Ohne ihn hätte die Geschichte dumm ausgehen können. Sind Sie von der Polizei vernommen worden?“ „Ja. Von Kommissar Baierl. Der Wachtmeister hatte ihm natürlich von dem Zwischenfall in Steinried berichtet.“ „Natürlich. Und was hat der Kommissar aus Ihnen herausgekriegt?“ „Kein Wort über Herrn Huslinger!“ sagte sie spontan. „Von dienstlichen Angelegenheiten habe ich ihm was erzählt, die ich angeblich mit Fräulein Drawert besprechen wollte.“ „Das wird den Kommissar aber beeindruckt haben!“ sagte ich. „Wie ich Baierl kenne, hat der diesen Unsinn längst durchschaut und ist bereits auf dem Wege zu Ihrem Verlobten. Und daß der früher mit Fräulein Drawert verlobt war, wird Baierl auch schon rausgekriegt haben.“ „Das fürchte ich auch“, sagte meine Klientin. „Sie müssen sofort etwas unternehmen, schneller sein als dieser 102
Kommissar, vor allem der richtigen Spur nachgehen … Mir kommt es in diesem Fall auf einen Tausender nicht an. Ich verdiene gut, aber mich zermürbt die Ungewißheit, ob Herr Huslinger mit dieser schrecklichen Geschichte zu tun hat oder nicht …“ Während sie sprach, stutzte ich über einen Satz von ihr. „Wir wollen mal rein theoretisch eine andere Variante Ihres Gesprächs mit Fräulein Drawert durchnehmen“, schlug ich vor. „Wie hätten Sie denn auf die Antwort reagiert, daß sie doch von Herrn Huslinger schwanger sei?“ „Das hat sie nicht gesagt“, stieß Fräulein Forkmann erregt hervor, zog gleich darauf die Lippen wieder zusammen und starrte auf ihre Kaffeetasse. „Da es Ihnen auf einen Tausender nicht ankommt, hätten Sie Fräulein Drawert vielleicht einen geschickt und ihr noch einen oder zwei versprochen, für den Fall, daß sie den Mund hält und von Huslinger läßt.“ „Das hätte ich niemals getan!“ versicherte sie mit Nachdruck. „Vielleicht wäre ich von Passau weggezogen, damit ich die beiden nicht so schnell wieder zu Gesicht bekomme, aber ihr noch Geld nachwerfen? Nein!“ Ihre Empörung klang echt, und ich hatte entweder falsch getippt, oder sie war eine großartige Schauspielerin. „Hören Sie“, sagte ich, „haben Sie aus irgendeinem Grund Fräulein Drawert in der vorigen Woche vom Reisebüro aus einen Tausender geschickt?“ Sie schüttelte den Kopf und entgegnete energisch: „Nein, das habe ich nicht.“ „Sagen Sie mir die Wahrheit“, forderte ich, „Sie werden es sonst bereuen, und zwar in dem Augenblick, wenn ich mit Kommissar Baierl telefonier – und das wird gleich sein, Fräulein Forkmann.“ 103
Sie rief: „Ich schwöre Ihnen, daß ich dem Mädchen nie Geld geschickt habe! Aber warum …“ Ich legte den Finger auf die Lippen, um ihr zu bedeuten, daß sie still sein möchte, und griff zum Telefon. Als ich den Kommissar am Apparat hatte und ihm meinen Namen nannte, brummte er sofort: „Ach, der Eiserbeck? Und ich dachte schon, daß Sie der ominöse Kindesvater von der Drawertschen sind, weil Ihnen bei meiner Nachricht vor Schreck bald der Hörer aus der Hand gefallen ist.“ „Treiben Sie nicht solche Scherze mit mir“, entgegnete ich. „Haben Sie außer mir noch jemanden in Verdacht?“ „Wenn Sie mein Vorgesetzter wären“, knurrte der Kommissar, „würde ich’s Ihnen vielleicht verraten.“ „Nein, danke. Unter dieser Bedingung behalten Sie es lieber für sich. Und damit ich nicht länger von der Vorstellung gepeinigt werde, Ihnen was schuldig zu sein, verrate ich Ihnen gleich noch, daß vorige Woche eintausend Mark an Fräulein Drawert geschickt worden sind. Absender: Reisebüro Bruckmann. Aber Fräulein Drawert hatte weder Lohn noch Prämie ausstehen.“ „Soso“, knurrte Baierl. Die Angelegenheit schien ihn zu interessieren. „Vorige Woche, sagen Sie? Da hat es ihr aber verdammt wenig genützt, denn da war sie schon ein paar Tage lang tot.“ „Ist sie denn am Freitag vor einer Woche umgebracht worden? An jenem Abend, an dem sie verschwunden ist?“ Da Baierl mit der Antwort zögerte, sagte ich: „Wenn Sie auch das nur Ihrem Vorgesetzten erzählen wollen, habe ich nichts dagegen. So etwas erfahre ich ganz offiziell vom Mediziner.“ 104
„Scheren Sie sich zum Teufel mit Ihrem großen Maul“, schimpfte Baierl. „Ja, sie ist wahrscheinlich schon an jenem Freitagabend erschlagen worden. Erschlagen! Haben Sie verstanden? Und nun lassen Sie mich in Ruhe, ich habe zu tun!“ Er legte auf, und ich dachte: Hoffentlich tut er nun das, worauf ich spekuliere, nämlich seine Ermittlungen im Reisebüro verschärfen. Ich blickte Fräulein Forkmann an. Sie schlug die Augen nieder und flüsterte: „Wenn bloß schon alles vorbei wäre!“ „Haben Sie gewußt, daß Fräulein Drawert auch in Bruckmanns Reisebüro eine intime Bekanntschaft hatte?“ „Nein“, sagte sie leichthin, als sei das für sie ohne Interesse. Aber plötzlich stutzte sie und sog hastig an der Zigarette, die Grit ihr angeboten hatte. „Bei Bruckmann?“ fragte sie ungläubig. „Dann könnte doch auch derjenige der Vater sein!“ Ihre Augen blitzten, als sie fortfuhr: „Jetzt haben Sie die Polizei auf die richtige Fährte gelenkt, ja?“ „Das hoffe ich eigentlich nicht“, entgegnete ich, „denn Sie haben mich doch beauftragt, den Mörder zu finden. Oder soll ich Ihnen nur den Mann bringen, von dem Fräulein Drawert ein Kind erwartet hat?“ „Das ist ein und derselbe!“ „Abwarten! Manchmal dreht einer ein krummes Ding und versucht es einem anderen in die Schuhe zu schieben, weil es da gerade so schön hineinpaßt.“ Sie erhob sich, und ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie mich fragte, was ich denn nun zu tun gedenke. „Ich werde Ihren Auftrag nicht nur schlechthin annehmen“, entgegnete ich, „sondern werde ihn auch aus105
führen – bis zum bitteren Ende, wie man sagt. Und ich nehme keine Rücksicht darauf, für wen das Ende bitter wird.“
9 Nach dem Essen kurvte ich den Fiat aus dem Hof und fuhr den gleichen Weg wie in der vorigen Woche: durch die Ilzstadt ins Gebirge bis zur Weggabelung nach Büchlberg und Steinried. Ich parkte den Fiat auch an der gleichen Stelle und lief dann durch den grünen Tunnel und über die Wiese zu Otto Geblers Haus. Die Tür war unverschlossen, aber es sah aus, als habe die Räume tagelang niemand bewohnt. In der Küche schimmelten Blaubeeren in einer Schüssel, die Möbel waren mit Staub bedeckt. Ich ging in das Zimmer, das ich eine Nacht lang bewohnt hatte. Alles war noch so, wie ich es verlassen hatte. Ich packte mein bißchen Kram in die Aktentasche, die am Tischbein lehnte, schloß das Fenster und ging wieder in die Küche zurück. Die verdorbenen Blaubeeren schüttete ich in die Abfallgrube hinter dem Haus, spülte die Schüssel und stellte sie auf den Tisch zurück. Dann nahm ich meine Aktentasche und ging hinaus. Ich drehte den Schlüssel zweimal im Schloß herum, zog ihn ab und steckte ihn ein. Ich ging zum Dorfkrug. Doktor Maxant gähnte, als er mir die Tür öffnete; sicherlich hatte ich ihn aus dem Mittagsschlaf aufgescheucht. Er führte mich zu Otto Geblers Bett, der Mann auf dem weißen Laken sah einer ausgedörrten Wurzel ähnlich. Er schlief. „Sein Herz“, sagte der Doktor, „sein Herz macht nicht 106
mehr mit. Ich behalte ihn hier, bis er sich wieder allein versorgen kann oder … bis wir ihn zu Grabe tragen.“ „Haben sich die Steinrieder beruhigt?“ fragte ich. „Sie haben. Das ganze Dorf trauert jetzt um das Mädchen und bedauert die Mutter.“ „Und wer ist der Buhmann?“ „Die gotteslästerlichen Leute aus der Stadt. Nur von dort kann der Mörder gekommen sein.“ „Aha“, sagte ich, „und nun seien Sie mal so nett, und beschreiben Sie mir den Weg zum Gotteshaus.“ „Gern. Aber sehen Sie sich vor. Sie sind auch aus der Stadt!“ Er erklärte mir den Weg. Ich legte Geblers Schlüssel auf den Nachttisch, sagte, daß ich im Haus gewesen sei und meine Sachen geholt hätte, dann verabschiedete ich mich und stieg den Weg hangaufwärts. An jenem Tag war es angenehm zu laufen, die Luft war auch am Nachmittag noch klar und ohne Schwüle. Den Friedhof ließ ich rechter Hand liegen, ein Feldweg, ein Hang, darauf das Gotteshaus. Der Geistliche saß vor seinem Haus auf einer Bank, von der aus er alle überschauen konnte, die zu seiner Gemeinde gehörten: die toten Steinrieder, die drüben auf dem Friedhof ruhten, und die lebenden, die sich im Talkessel ihre Blockhäuser und Gehöfte gebaut hatten. Ich grüßte und setzte mich neben ihn. Er hatte einen fülligen Körper, sein Gesicht wirkte gutmütig, war breit, leicht aufgeschwemmt. Er hielt die Lider halb über die Augen gesenkt, und das gab ihm einen nachdenklichen, beinahe weltfremden Ausdruck. Nach einer Weile sagte er: „Ich habe dich erwartet, mein Sohn.“ Ich warf ihm einen erstaunten Blick zu. Nein, er konn107
te keine drei Jahre älter sein als ich. „So“, entgegnete ich, „und woher kennen Sie mich?“ Er wandte sich nach mir um, hob die Lider und sah mich mit kalten Augen an, die gewohnt schienen, daß man ihnen auf ein Wimpernzucken hin gehorchte. Augen, die nicht in dieses gutmütig-feiste Gesicht paßten. „Wenn ein Fremder ins Dorf kommt“, sagte er, „dann erfahre ich das. Wenn ein Fremder kommt, der Detektiv ist und ein totes Mädchen findet, das zu meiner Gemeinde gehört hat, dann erfahre ich das sehr schnell.“ Er lächelte, während er sprach, und dieses Lächeln paßte ebensowenig zu seinen Worten wie die Augen zu seinem Gesicht. „Ich könnte von der Polizei sein“, sagte ich, nur um das Gespräch in Gang zu halten. Mein Schwarzkittel lächelte noch immer, falsch und väterlich, er meinte, Kommissar Baierl kenne er, und einen anderen würden sie ihm nicht schicken. „Also gut!“ Ich zeigte ihm meinen Ausweis. „Ich heiße Georg Eiserbeck und bin Detektiv. Sie haben mich erwartet, ich glaube, wir können zur Sache kommen.“ Er warf einen flüchtigen Blick auf meine Legitimation, wandte sich ab und schwieg. Ich sagte: „Sie kennen die Menschen hier im Dorf wie keiner sonst. Sie haben auch Gerda Drawert gekannt und deren Sorgen. Das Mädchen war schwanger. Ich vermute, daß derjenige, der sie geschwängert hat, auch ihr Mörder ist. Wissen Sie, zu wem sie hier im Dorf Beziehungen hatte?“ Ohne mich anzusehen, wiederholte er väterlich zurechtweisend: „Beziehungen … mein Sohn, ich achte nur auf die Beziehungen der Menschen zu Gott. Gerda Drawerts Beziehung zu Gott war gestört. Das Mädchen ist 108
ein Opfer des Bösen geworden, des Bösen, Gottvergessenen, das in den Städten wuchert.“ „Hat sie Ihnen das gebeichtet?“ Der Blick, mit dem er mich für diese Frage strafte, wäre eines Inquisitors würdig gewesen. Aber er entgegnete freundlich: „Die Beichte, mein Sohn, ist ein gottgewolltes Geheimnis.“ „Wenn ich einen Mord aufzuklären habe, kenne ich keine Geheimnisse.“ Er entgegnete nichts, und ich wußte, daß es sinnlos war, ihm Fragen zu stellen, die er nicht beantworten wollte. Also versuchte ich es anders. „Kennen Sie Joseph Huslinger?“ fragte ich. „Er ist ein Mitglied der Nachbargemeinde.“ „Einer der berühmtesten Glasbläser dieser Gegend, wie ich gehört habe.“ „Ein gottbegnadeter Mensch.“ „Vor Jahren hat er seine Verlobung mit Gerda Drawert gelöst. Ist das nicht eine Handlung, die Sie mißbilligen?“ „Der Mensch tut manches, was zu mißbilligen wäre“, erklärte er, „aber Gottes Gnade ist groß, wenn wir bereuen. Der Glasbläser wollte eine Frau, mit der er Kinder zeugen konnte. Gott wird ihm verzeihen, daß er sich von Gerda Drawert abgewandt hat.“ „Aber … wenn Gerda Drawert ihm nicht verziehen hätte? Wenn sie versucht hätte, ihn wiederzugewinnen, und wenn er nun schwach geworden wäre?“ Erneut traf mich ein Blick, der den gütigen Ton seiner Worte Lügen strafte, als er sagte: „Wer kann schon wissen, was da geschehen ist? Das sind Gottes Fügungen, mein Sohn. Fügen wir uns darein, daß wir nicht wie er allwissend sind.“ Mir schien, dieser Schwarzkittel hätte im diplomati109
schen Dienst Karriere machen können. Er speiste mich mit freundlichen, leeren Worten ab, wenn er irgend etwas nicht beantworten wollte, und ich war noch nicht dahintergekommen, ob der inquisitorische Blick oder das gütige Gehabe eines Landpfarrers zu der wahren Seite seines Wesens gehörte. Aber ich wollte dahinterkommen, wollte diesen Menschen kennenlernen, der die geistige Sphäre des Dorfes prägte und von dem die Steinrieder ihre Lebensweisheiten bezogen. „Man braucht nicht allwissend zu sein, Hochwürden“, sagte ich, „um sich ausrechnen zu können, daß das Ansehen des Glasbläsers Huslinger in einem solchen Fall ruiniert gewesen wäre. Er hätte seinen Kram packen und aus dem Wald verschwinden müssen, und kein Geistlicher hätte ein gutes Wort für ihn eingelegt – weder bei Gott noch bei den Menschen.“ Das war genug, um ihn zu provozieren. In Hochwürdens Augen glommen böse kleine Funken, und seine weichen Gesichtszüge strafften sich. Abweisend und ohne jeden freundlichen Unterton sagte er: „Das ist Ihre Sprache.“ „Hm, und wie nennen Sie das“, fuhr ich fort, „wenn sich ein verheirateter Mann mit einem Mädchen einläßt, sagen wir, weil seine Frau ziemlich kühl veranlagt ist?“ „Du theoretisierst, mein Sohn“, belehrte er mich. Er hatte schon wieder zu seiner gütig herablassenden Art zurückgefunden, als er fortfuhr: „Deine Gedanken bewegen sich in Bahnen, die der Böse vorschreibt. Kehre in Gottes Welt zurück! Freue dich der Gräser und Kräuter, der Bäume und Blumen, die Gott am dritten Schöpfungstag erstehen ließ. Und freue dich auch über den sechsten Schöpfungstag, an dem Gott den Menschen schuf …“ 110
„Das kann ich nicht“, unterbrach ich ihn, „solange sich die Menschen gegenseitig totschlagen, nur weil man sie nicht so leben läßt, wie Gott sie geschaffen hat.“ „Was soll das heißen?“ „Daß ich nicht theoretisiert habe, Hochwürden. In Ihrer Gemeinde gibt es wie überall Männer, die das von Ihnen verkündete Sakrament der Ehe brechen und fremdgehen. Sie wissen das genausogut wie ich. Deshalb sollten Sie mir meine Frage ruhig beantworten. Die Antwort bleibt unter uns. Aber für mich ist sie wichtig.“ „Was verlangst du von mir, mein Sohn?“ fragte er mit einer Schärfe, die mich erkennen ließ, daß ich ihn endlich aus der Reserve gelockt hatte. „Soll ich tatenlos zusehen, wenn Gottes Gebot gebrochen wird, das da lautet: ‚Du sollst nicht ehebrechen‘? Mir wurde diese Gemeinde vor Jahren anvertraut“, fuhr er fort, „und ich habe es verstanden, sie zu einer ruhigen, gottgläubigen Gemeinde zu erziehen. Muß nicht auch ich Rechenschaft vor Gott und …“ „… und Ihren Vorgesetzten ablegen“, vollendete ich den Satz, als er stockte. Und jetzt war ich es, der verzeihend lächelte. „Wir haben alle irgendwelche irdischen Vorgesetzte, Hochwürden, deren Brot wir essen und deren Lied wir singen. Sie sind von den Ihrigen als Gottes Stellvertreter über das Paradies Steinried eingesetzt, um unter anderem diejenigen, die die Ehe brechen, aus diesem Paradies zu vertreiben.“ „Ein solcher Mensch müßte vertrieben werden, mein Sohn“, sagte Hochwürden, aber jetzt mit einem Lächeln, das mir zeigte, daß wir uns gegenseitig durchschaut hatten. „Einen, der derart gegen Gottes Gebote verstößt, darf ich in meiner Gemeinde nicht dulden. Keiner meiner Schutzbefohlenen dürfte ihn mehr dulden!“ 111
Ich dachte an die Szene vor Frau Drawerts Haus und konnte mir vorstellen, wie dieses Nichtdulden aussehen würde. „Nur in einem irrst du“, fuhr der Geistliche, noch immer lächelnd, fort, „es gibt keinen solchen Menschen in unserer Gemeinde. Der Mann, der Gerda Drawert verführt und getötet hat, stammt aus der Stadt.“ „Na, dann ist ja alles in Ordnung für Sie und die Steinrieder“, entgegnete ich sarkastisch und stand auf. „Halten Sie weiterhin Ihr Paradies so rein, und Sie werden es zu etwas bringen, Hochwürden. Vor Gott … und vor Ihren Vorgesetzten.“ Er erhob sich ebenfalls und zwang sich ein letztes Mal zu einem gütigen Lächeln. „Sie suchen den Mörder am falschen Ort“, sagte er, „aber gleichviel, ob Sie ihn finden oder nicht, Gottes Strafe wird er nicht entgehen.“ Dann nickte er mir zu und wandte sich von mir ab. Ich lief zum Friedhof hinunter und bog von dort in einen Weg ein, der zum Schwarzen Wald führte. Ich kam an dem Roggenfeld vorbei, in dem Otto Gebler gelegen hatte, und umging die Eichenschonung, in der irgend jemand Gerda Drawerts Leichnam verscharrt hatte. Zwanzig Minuten später hatte ich Grünhübl erreicht. Die Glasfabrik ragte wie ein Felsbrocken unter Kieselsteinen über die Häuser des Dorfes und war auch für einen Ortsfremden nicht zu verfehlen. Beim Pförtner gab ich mich als Angestellter von Bruckmanns Reisebüro aus, der Herrn Huslinger etwas von seiner Braut auszurichten habe. Der Pförtner sagte, Meister Huslinger habe in einer Viertelstunde Feierabend, und er betonte das Wort „Meister“, das ich weggelassen hatte. Auf meine Bitte führte er mich aber in die Halle der Glasbläser. Ich hatte oft von dem Wunder der Glaserzeugung ge112
hört, von dem geheimnisvollen Hantieren der Glasbläser, und ich brannte nun darauf, das alles einmal aus nächster Nähe zu betrachten. In der Halle stand ein Ungeheuer von einem runden Ofen, um den eine erhöhte Bühne lief. Auf dieser Bühne arbeiteten die Glasbläser vor geöffneten Ofenluken, sie ließen ein Eisenrohr von Hand zu Hand wandern, an dessen Ende ein glühender Glasklumpen wie ein Honigtropfen hing. Der eine blähte den Tropfen zu einer Seifenblase auf, der nächste preßte ihn in eine Form. Und immer mußte das Rohr mit gleichmäßigen Bewegungen gedreht werden. Diese Männer waren keine Zauberer. Sie waren Akrobaten der Technik, die ihr Handwerk bis in die Fingerspitzen hinein beherrschten und es inmitten der Höllenhitze mit Ruhe und Sicherheit ausübten. Ich verließ die Halle und ging wieder ins Pförtnerhäuschen zurück. „Wohl ein bißchen warm da drinnen?“ fragte der Pförtner. „Das kann man sagen! Zu beneiden sind die Glasbläser nicht.“ „Da irren Sie sich. Hier wird jeder beneidet, der Arbeit hat – und noch dazu in dem Dorf, wo er wohnt. Und sie verdienen nicht schlecht, die Glasbläser. Aber es sind alles hagere, ausgedörrte Gestalten.“ Die ersten Arbeiter kamen von der Halle her durchs Tor. Der Pförtner stieß mich in die Seite. „Der da in dem kurzärmligen weißen Hemd und der hellgrauen Hose, das ist der Sepp, der Huslinger.“ Ich bedankte mich und ging auf den Mann zu. Er war groß und dürr und hatte wahrlich keine gute Körperhaltung. Trotzdem sah er nicht übel aus. Sein kantiges Gesicht, das wellige Haar, die braunen Augen mit dem melancholischen Blick mochten einem Mädchen wie Luisa Forkmann schon gefallen. Als er sah, daß ich auf ihn zu113
steuerte, verabschiedete er sich von seinen Kollegen und wartete, bis ich herangekommen war. Der Pförtner rief mir einen Abschiedsgruß zu, sagte, er müsse jetzt seinen Rundgang machen, und verschwand im Fabrikgebäude. Als ich mit Huslinger allein vor dem Pförtnerhaus stand, nannte ich ihm meinen Namen und meinen Beruf und zeigte ihm die Legitimation. „Kommen Sie wegen Gerda Drawert?“ fragte er, und seine Lippen zitterten. „Allerdings.“ „Bitte, wir wollen in meiner Wohnung darüber sprechen.“ „In Ordnung.“ Der Wohnraum, in den Huslinger mich führte, als wir bei ihm zu Hause angelangt waren, fiel weder durch Prunk noch durch besondere Einfachheit auf. Außer dem Farbfoto von Luisa Forkmann, das auf einer Anrichte prangte, war in dem Raum nur eine Vitrine sehenswert: In ihr standen neben landläufigem gläsernem Andenkenkram gravierte Vasen, farbige Schnupftabakdosen in Form von Taschenbocksbeuteln, zwei dunkelgrüne Krüge und sechs klar geformte, hauchdünne Weingläser, die Geschmack und meisterliches Können verrieten. Huslinger schloß die Vitrine auf und nahm eines der Weingläser in die Hand. „Ich bin mit Glas aufgewachsen“, sagte er träumerisch. „Mein Vater besaß noch eine eigene Glashütte. Als die Fabrik gebaut wurde, hat er wie alle anderen Glashütter im Wald Bankrott gemacht.“ Ich fürchtete, daß er mir jetzt seine Familiengeschichte erzählen würde, und unterbrach ihn: „Ich habe Sie aufgesucht, um über Gerda Drawert mit Ihnen zu sprechen, das Mädchen, mit dem Sie verlobt waren und das ermordet worden ist.“ 114
„Wer nichts von Glas versteht“, sagte er, und es klang, als sei er beleidigt, „der versteht auch nichts von Menschen.“ Er brachte das Glas in die Vitrine zurück, holte aus einem Schrank eine Kognakflasche, zwei gewöhnliche Gläser und stellte beides auf den Tisch. Er forderte mich auf, Platz zu nehmen, und schenkte die Gläser voll. „War die Polizei schon hier?“ fragte ich. „Nein. Aber ich rechne damit, daß sie kommen wird.“ „Das wird sie auch. Beeilen wir uns also ein bißchen, damit sie uns nicht dazwischenfunkt.“ „Beeilen? Womit?“ fragte er. „Was soll ich denn tun?“ „Meine Fragen beantworten, und zwar der Wahrheit entsprechend. Das ist das beste für Sie. Also: Warum haben Sie Fräulein Drawert nicht geheiratet? Sie waren doch mit ihr verlobt.“ „Sie bekam keine Kinder“, sagte er abweisend. „Wissen Sie eigentlich, wie sehr das Mädchen unter Ihrem Entschluß gelitten hat?“ „Ich habe auch gelitten!“ sagte er und schlug zur Bekräftigung mit der Faust auf den Tisch. „Ich habe gelitten, daß mir wochenlang kein Stück Glas so geraten ist wie sonst. Aber ich kann doch nichts dafür, daß sie … daß sie so war!“ „Sie fürchteten um Ihr Ansehen?“ „Wer fürchtet das nicht?“ Er trank sein Glas leer. „Und was war später, als Gerda Drawert wieder zu Ihnen kam?“ „Sie wissen doch, was dann geschah. Sie wissen es, sonst würden Sie gar nicht erst danach fragen. Ich hatte das Mädel eben noch gern.“ Den letzten Satz sagte er sehr leise, und er hatte dabei den gleichen schwärmerischen Ausdruck in den Augen wie zu Anfang des Ge115
sprächs, als er das kunstvoll geschliffene Weinglas in der Hand hielt. „Aber Fräulein Forkmann hatten Sie auch schon gern.“ „Fräulein Forkmann wird aus dem Spiel gelassen“, sagte er, und das klang gar nicht mehr schwärmerisch. „Ich lasse keinen aus, der an dem Spiel beteiligt ist.“ „Sie lassen sie in Ruhe, zum Teufel!“ Huslinger sprang empor und stürzte auf mich zu. Ich rechnete mir aus, was für Chancen dieser Mann, der zerbrechlich wirkte wie die Gläser in seiner Vitrine, hätte, wenn er mich angreifen würde, und ich schätzte sie auf Null. Aber da hatte Huslinger sich auch schon wieder in der Gewalt. Er blieb vor mir stehen und redete zu mir herunter: „Auf Fräulein Forkmann lasse ich nichts kommen. Sie ist eine Frau, die einem ein Halt sein …“ „… oder mit ihrer Eifersucht zur Verzweiflung treiben kann“, fiel ich ihm ins Wort, „das kommt ganz auf die Situation an.“ „Sie wissen ebensogut wie ich, daß sie Grund zur Eifersucht hatte.“ „Setzen Sie sich wieder“, sagte ich beruhigend, „und trinken Sie noch einen Schluck. Das ist besser, als gleich in Rage zu kommen. Sie geraten überhaupt viel zu schnell in Zorn.“ Er warf mir einen mißtrauischen Blick zu, setzte sich und drehte das leere Kognakglas zwischen den Fingern. „Wußten Sie, daß sich Gerda Drawert einen Mann aus Bruckmanns Reisebüro angelacht hatte?“ fragte ich. „Nein.“ Er schien erstaunt. „Sie hat nie mit mir über Freunde gesprochen, immer nur über uns beide.“ „Auch als sie Ihnen gestanden hat, daß sie schwanger sei?“ 116
„Ja, auch da. Ich weiß bis heute nicht, von wem sie das Kind hat.“ „Wollte sie Ihnen einreden, daß Sie der Vater seien?“ „Nein, das nicht …“ „Erzählen Sie mal genau, was sich hier abgespielt hat, als Gerda Drawert das letzte Mal bei Ihnen gewesen ist.“ „Geweint hat sie“, sagte Huslinger, „und mir Vorwürfe gemacht, daß ich sie zweimal habe sitzenlassen. Wenn ich zu ihr gehalten hätte, sagte sie, dann könnte ich jetzt der Vater ihres Kindes sein, und wir hätten unsere Familie. Schließlich schlug sie mir vor, trotzdem mit ihr zusammenzubleiben. Außer ihr wisse kein Mensch, von wem das Kind sei, und ich könnte es gut und gern als meines ausgeben. In diesem Augenblick kam Luisa dazwischen …“ „Was?“ rief ich. „An jenem Abend, als Fräulein Drawert noch einmal bei Ihnen gewesen ist, kam Luisa Forkmann herein?“ „Ja, leider. Sie muß gehört haben, daß eine Frau in meinem Zimmer weinte. Sie kam hereingestürzt, hat geschimpft und getobt, und wenn Fräulein Drawert nicht sofort gegangen wäre, hätte Luisa sich gewiß auf sie gestürzt. Dabei wußte sie noch gar nicht, worum es ging, das konnte ich ihr erst später klarmachen, nachdem sie sich beruhigt hatte.“ Ich dachte daran, daß mir Fräulein Forkmann eine andere Version vom Verlauf jenes Abends gegeben hatte, und fragte: „Das stimmt so? Stimmt haargenau so, wie Sie es mir eben erzählt haben?“ Er nickte. „Luisa meint das nicht böse“, sagte er, „sie hat mich auf ihre Art sehr gern.“ Aber es ist ihre Art, eifersüchtig zu sein, dachte ich, krankhaft eifersüchtig. „Ist Fräulein Drawert später irgendwann noch einmal hierhergekommen?“ 117
„Nein.“ „Gut. Dann überlegen Sie jetzt, wo Sie am Freitag vor einer Woche, sagen wir, ab siebzehn Uhr gewesen sind.“ Mit einem Seitenblick auf die Flasche fügte ich hinzu: „Wenn Ihnen ein Schluck daraus beim Nachdenken hilft, dann gießen Sie sich ruhig noch einen ein.“ Huslinger blickte mich unsicher an, legte dann aber meine Worte als Aufforderung aus. Nachdem er das Glas geleert hatte, sagte er: „Ich erinnere mich, das war der Freitag, an dem ich Frühschicht hatte und nachmittags mit Luisa an der Donaubrücke verabredet war. Falls sie bis siebzehn Uhr nicht kommen würde, sei sie dienstlich verhindert, hatte sie mir gesagt, und ich sollte wieder nach Hause fahren. Sie würde mich dann entweder am gleichen Abend oder am nächsten Tag, am Samstag, aufsuchen. Sie kam nicht bis siebzehn Uhr. Ich wartete noch zehn Minuten länger, da stand plötzlich Gerda Drawert vor mir. Sie wirkte unruhig und bat mich, ich möchte sie zur Bushaltestelle begleiten. Unterwegs sprach sie auf mich ein, daß es heute meine letzte Chance sei, mich für oder gegen sie zu entscheiden, und wenn sie mich hier nicht getroffen hätte, wäre sie mit dem Bus nach Grünhübl gefahren, um mit mir zu sprechen. Ich erklärte ihr, daß ich an der Brücke auf Luisa gewartet hätte, aber sie tat, als sei Luisa kein Problem. Sie sprach nur von uns, wollte wieder, daß ich das Kind als meines ausgäbe, machte auch den Vorschlag, zusammen wegzuziehen und irgendwo gemeinsam neu anzufangen. Sie sprach davon, daß sie über ein bißchen Geld verfüge und daß uns der Neuanfang sicherlich gar nicht so schwerfallen würde. Ihr Bus war inzwischen längst abgefahren, und wir 118
spazierten an der Ilz entlang in den Wald hinein. Gerda redete und redete, sie merkte nicht, was um sie herum vorging, aber mir war, als würden wir beobachtet. Als ich mich plötzlich umdrehte, sah ich, daß es Luisa war, die sich hinter einem Busch verbarg. Ich habe mich augenblicklich von Gerda Drawert verabschiedet und bin den Weg zurückgelaufen. Gerda muß ganz fassungslos über mein Verhalten gewesen sein, sie hat noch lange meinen Namen gerufen.“ „Und Fräulein Forkmann?“ fragte ich. „Die … die ist gleich hinter mir hergekommen …“ Ich lächelte ihn spöttisch an. „Sie haben gar keinen Grund zum Lügen, Herr Huslinger. Fräulein Drawert ist nicht im Wald an der Ilz, sondern bei Steinried gefunden worden.“ Er rieb sich die Schläfen wie einer, dem der Kopf vor Überanstrengung schmerzt. „Ich bin zur Donaubrücke zurückgegangen“, erklärte er. „Dorthin, wo ich mit Luisa verabredet war. Sie kam ungefähr eine Viertelstunde später.“ „Und dann war der Teufel los, nicht wahr?“ „So ungefähr“, sagte er gequält. „Wann sind Sie nach Grünhübl zurückgekehrt?“ „Mit dem nächsten Bus, der fuhr.“ „Gerda Drawert mußte die gleiche Strecke fahren. Haben Sie das Mädchen an diesem Abend noch einmal gesehen oder … ihr aufgelauert?“ „Den Teufel hab’ ich!“ schrie er mich an. Ich sagte: „Sie sind derart leicht aus der Fassung zu bringen, Herr Huslinger, daß man sich vorstellen kann, Sie seien an jenem Abend vor Wut auf Gerda Drawert auch aus der Fassung geraten. Schließlich konnte durch Fräulein Drawerts dauerndes Dazwischenkommen Ihr Verhältnis mit Fräulein Forkmann in die Brüche gehen.“ 119
„An jenem Abend sind mir beide auf die Nerven gefallen.“ Durch das Fenster, das den Blick auf die Dorfstraße freigab, sah ich, wie ein alter Opel über das Kopfsteinpflaster geholpert kam. „Sie kriegen Besuch“, sagte ich zu Huslinger. „Kommissar Baierl beehrt Sie persönlich.“ Er fuhr so heftig herum, daß er sein Kognakglas auf den Boden warf und zerbrach. „Lassen Sie es liegen“, sagte ich, „das sieht so schön echt aus, als habe es einer im Suff runtergefegt.“ „Und was raten Sie mir … Was soll ich jetzt tun?“ jammerte er. „Saufen Sie weiter“, sagte ich und stellte ihm mein Glas vor die Nase. „Oder tun Sie wenigstens so, als ob Sie über dem Eichstrich voll seien und nicht mehr vernünftig sprechen könnten. Erzählen Sie nur kein Wort davon, was Sie mir eben gebeichtet haben, ich meine, die Szenen mit Ihrer Verlobten. Fräulein Forkmann hat sich nämlich zweimal in Steinried nach Gerda Drawert erkundigt, und das war zweimal ein Fehler. Wenn der Kommissar noch erfährt, daß Ihre Verlobte Sie und Gerda Drawert an jenem Abend, als das Mädchen ermordet wurde, zusammen gesehen hat, dann geht es ihr womöglich an den Kragen.“ Huslinger nickte. „Und ich gebe Ihnen Bescheid, wann Gerda Drawert beerdigt wird. Sie erscheinen zur Trauerfeier, klar?“ Ich blickte mich im Zimmer um. „Wie komme ich denn hier ’raus, ohne dem Kommissar guten Tag wünschen zu müssen?“ Huslinger zeigte auf eine Tür. „Durchs Schlafzimmerfenster.“ 120
Ich verschwand und verbarg mich ein Weilchen hinter dem Haus, bis ich einen Weg entdeckte, der in weitem Bogen um den Polizeiwagen herum wieder zur Straße führte. Ich wollte nicht durch den Wald zurück nach Steinried laufen, sondern mit dem Bus ein Stück in Richtung Passau fahren. Der Bus kam nach zehn Minuten, er hielt das nächste Mal kurz vor der Weggabelung Steinried – Büchlberg. Ich stieg aus, ging zu meinem Fiat, der nicht weit von hier parkte, und fuhr nach Passau zurück. Im Büro des Passauer Busbahnhofs erkundigte ich mich, welcher Fahrer am vergangenen Freitag den Bus um neunzehn Uhr in Richtung Grünhübl gefahren habe. Sie kriegten das ziemlich schnell heraus und sagten mir, daß der Fahrer im Einsatz sei und am folgenden Tag frei habe. Einen Tag darauf würde ich ihn gewiß antreffen. Kurze Zeit später traf ich in meinem Büro ein. „Gibt’s was Neues?“ fragte ich Grit. „Ein Doktor Maxant hat angerufen“, teilte sie mir mit. „Er läßt Ihnen ausrichten, daß die Beerdigung von Fräulein Drawert am Mittwoch, also übermorgen, um sechzehn Uhr in Steinried stattfinden wird.“ „Aha“, sagte ich, „da laufen Sie mal schnell zur Post und schicken ein Telegramm an Herrn Joseph Huslinger in Grünhübl, damit der nachher nicht behaupten kann, er hätte den Beerdigungstermin nicht gewußt.“ „Wird gemacht“, sagte Grit. „Der Huslinger, was ist denn das für einer? Sie haben ihn doch nun kennengelernt.“ Ich erzählte ihr, was ich bei Huslinger erlebt und erfahren hatte. „Als Glasbläser genießt er ziemliches Ansehen“, sagte ich, „ansonsten ist er sensibel, kommt ziemlich schnell auf Touren und kann sich dann nicht beherrschen.“ 121
„In solch einem Zustand“, meinte Grit, „hat schon manch einer getan, was er später gern ungeschehen gemacht hätte.“
10 Am folgenden Tag, es war ein Dienstag, fuhr ich morgens zum Gerichtsmediziner, der Gerda Drawerts Leichnam obduziert hatte. Er bestätigte mir, was ich schon von Kommissar Baierl wußte: Die Leiche hatte ungefähr eine Woche in der Eichenschonung unter der Erde gelegen. Mit großer Wahrscheinlichkeit war das Mädchen an jenem Abend getötet worden, an dem es ohne Mantel und Geld das Haus verlassen hatte. „Man hat sie mit einem schweren, schmalen Gegenstand erschlagen“, erklärte mir der Pathologe, „dieses Tatwerkzeug kann ein Stock gewesen sein, eine Stange oder ein Stück Rohr. Der Täter hat ihr vier Schläge auf den Hinterkopf versetzt, sie muß schon nach dem ersten bewußtlos gewesen sein. Sie wäre auch an diesem Schlag gestorben, aber ihrem Mörder dauerte das wohl zu lange, und er beschleunigte ihren Tod, indem er noch dreimal zuschlug.“ „Sie hatte demnach gar keine Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen?“ „Nein. Es gibt auch keine Anzeichen dafür, daß ein Kampf stattgefunden hat.“ Die Obduktion hatte erbracht, daß Gerda Drawert ein kerngesundes Mädchen gewesen war. Spuren von Gift oder Betäubungsmitteln, mit denen der Täter sie willenlos gemacht haben konnte, waren nicht entdeckt worden. Und daß sie schwanger gewesen war, bedeutete für mich 122
keine Neuigkeit mehr. Ich bedankte mich bei dem Mediziner und verabschiedete mich von ihm. Von Luisa Forkmann hatte ich erfahren, daß ich sie gegen elf Uhr mit einer Reisegruppe am Domplatz finden konnte. Also lenkte ich meinen Wagen dorthin und sah die Touristen tatsächlich in der Nähe des Domchores stehen. Ein Student war eben dabei, die Stilzeichen der späten Gotik zu erklären. Es gelang mir, Luisa Forkmann, von den Reisenden unbemerkt, beiseite zu nehmen. „Ich war bei Ihrem Verlobten“, flüsterte ich, „jetzt verstehe ich, daß Sie sich seinetwegen Sorgen machen.“ Sie nickte bekümmert. „Aber die werden nicht dadurch aus der Welt geschafft, daß Sie mir keinen reinen Wein darüber einschenken, was es für Reibereien zwischen Ihnen gegeben hat. Zum Beispiel an dem Tag, als Sie Gerda Drawert bei Herrn Huslinger trafen, oder am Freitagabend.“ „Wie … meinen Sie das?“ fragte sie unsicher und nicht sehr freundlich. „Ich meine, daß Sie in Ihrer krankhaften Eifersucht ein bißchen zu weit gegangen sind mit ihm. Man beweist einem Mann seine Liebe nicht, indem man ihm hysterische Szenen macht. Auf die Dauer wird das jedem zuviel, ganz besonders aber so einer reizbaren Natur wie Herrn Huslinger.“ Luisa Forkmann zog wieder einmal die Lippen zusammen, während ich mit ihr sprach, und fixierte mich mit Blicken, die nur allzu deutlich ausdrückten, was sie über mich dachte. Doch sie ließ es sich nicht nehmen, ihre Gedanken auch noch in Worte zu kleiden. „Ich bezahle Sie, damit Sie einen Mörder finden“, fuhr sie mich an, „und nicht, damit Sie in meinem und Herrn Huslingers Privatleben herumschnüffeln!“ 123
„Hm“, sagte ich, „so was Ähnliches habe ich schon mal zu hören gekriegt. Aber bedenken Sie, daß irgend jemand gefürchtet hat, Gerda Drawert könnte sein nach außen sehr geordnet erscheinendes Privatleben durcheinanderbringen; dieser Jemand hat sich schließlich herausgenommen, das Mädchen einfach zu beseitigen. Was bleibt mir also anderes übrig, als mich um das Privatleben, um die Intimsphäre einiger Personen zu kümmern und herauszufinden, wer einen Grund hatte, Gerda Drawert auf diese Weise auszuschalten!“ „Sie meinen doch nicht etwa …“ Ich schnitt ihr das Wort ab. „Nein“, sagte ich, „noch bin ich am Untersuchen. Doch der Kreis derjenigen, die als Täter in Frage kommen, engt sich bereits ein. Übrigens – um gleich den nächsten Eingriff in Ihr Privatleben vorzunehmen: Ich muß Sie bitten, sich erstens von Herrn Huslinger bis auf weiteres fernzuhalten. Zweitens dürfen Sie in Ihrer Freizeit Passau nicht verlassen; Sie rufen mindestens dreimal täglich in meinem Büro an, bei meiner Sekretärin oder bei mir, das ist gleich. Sagen Sie uns immer Bescheid, wo Sie sich aufhalten und ob Sie in unserer Angelegenheit irgend etwas Neues erfahren haben.“ Der Student schien seinen Vortrag beendet zu haben, denn die Reisenden sahen sich nach Fräulein Forkmann um. Die warf den Kopf in den Nacken und sagte: „Das hört sich an, als ob ich Ihren Schutz brauchte.“ Sicherlich sollte es hochmütig oder spöttisch klingen, aber ich merkte ihr an, daß sie beunruhigt und ein wenig ratlos war. „Wenn Sie alles so machen, wie wir es verabredet haben“, sagte ich, „dann brauchen Sie nichts zu befürchten.“ „Ich wüßte auch gar nicht, wer mir etwas Böses zufügen sollte!“ 124
„Das hat Fräulein Drawert auch gedacht“, sagte ich und verabschiedete mich von ihr.
11 Vor Bruckmanns Reisebüro parkte Kommissar Baierls Opel. Ich stellte meinen Wagen in einer Seitenstraße ab, schlenderte zum Büro und wartete, bis der Kommissar herauskam. „Na“, sagte ich, „Sie schlachten wohl fleißig meinen Tip aus?“ „Das Geld hat Haidgruber geschickt“, brummte Baierl. Ich tat erstaunt. „Übrigens – Sie waren doch in Steinried. Kennen Sie da einen gewissen Willi Schembor?“ „Schembor?“ wiederholte ich. „Warten Sie mal, den Namen hat der alte Gebler erwähnt. Richtig, das ist der Gutsförster in Steinried.“ Der Kommissar winkte ab, als sei das ein alter Hut, was ich ihm da erzählte. Er nickte zum Reisebüro hin und sagte: „Wenn Sie ein bißchen Nachlese halten wollen, dann gehen Sie nur hinein.“ In seiner Stimme lag Spott. „Aus welchem Grunde hat denn der Haidgruber tausend Mark an Fräulein Drawert geschickt?“ fragte ich. „Weil er ein feiner Mann ist!“ Baierl sagte es so vorwurfsvoll, als habe er mich schon jahrelang vergebens ermahnt, diesem feinen Mann nachzueifern. „Weil die Drawertsche mal seine Geliebte war“, fuhr er fort, als er meinen zweifelnden Blick bemerkte, „und weil er sie nicht ohne großzügiges Abschiedsgeschenk 125
gehen lassen wollte. Aber das würde ich Ihnen nicht erzählen“, fügte er hinzu, „wenn ich nicht von Haidgruber erfahren hätte, daß Sie das alles schon wissen!“ „Nichts für ungut! Nun sind Sie ja wieder im Vorteil, und mir bleibt bloß noch die ‚Nachlese‘! Mich wundert nur, daß ich überhaupt noch Gelegenheit erhalte, Haidgruber zu besuchen. Er war Gerda Drawerts Geliebter, er hat sie mit Geld abgefunden – reichen die Verdachtsmomente nicht aus, um ihn festzunehmen? Daß er für den bewußten Freitag kein Alibi hat, werden Sie sicherlich auch schon aus ihm herausgefragt haben.“ „Mit seinem Geld kann jeder machen, was er will“, entgegnete der Kommissar. „Warum soll einer sein Geld nicht der Drawertschen schicken? Ich sage mir, wenn man ein Mädchen totgeschlagen hat, wird man ihr doch hinterher nicht noch tausend Mark überweisen. Und daß er kein zeitliches Alibi hat, weil er am Freitag seinen Vater besucht hat, muß bei einem ledigen Mann gar nichts bedeuten.“ Baierl stapfte zu seinem Auto. Ich betrat das Reisebüro und ließ mich bei Abteilungsleiter Haidgruber anmelden. „Na“, sagte ich, als er vor mir stand, „ist der Oberschenkel wieder in Ordnung? Und sind Sie gestern noch heil durch den Steinrieder Wald gekommen?“ Er sagte, es sei alles in Ordnung, aber in seinen mausgrauen Augen war ein unruhiges Flackern. „Warum haben Sie denn Ihr Wort nicht gehalten?“ fragte ich. „Sie sollten über unser Gespräch doch schweigen.“ „Ich habe geschwiegen“, entgegnete er in einem abweisenden Ton, „aber der Polizei gegenüber bin ich verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.“ Er blickte an mir vorbei. 126
„Allerdings sind Sie das. Nur, wenn Sie Ihre Verpflichtungen so ernst nehmen, dann hätten Sie dem Kommissar auch die wahren Gründe Ihrer Handlungsweise nennen müssen.“ „Welcher Handlungsweise? Welche Gründe?“ „Was wollten Sie verdecken, als Sie Gerda Drawert tausend Mark schickten?“ „Nichts. Ich wollte mich ihr gegenüber einfach großzügig zeigen. Daß ich ihr auch eine kleine Gehaltsaufbesserung verschafft hatte, habe ich Ihnen bereits erzählt. Das Mädchen hat mir einfach leid getan.“ Du bist nicht der Kerl, dem etwas leid tut, dachte ich, es sei denn, dir wird deine Karriere verdorben. „Das Märchen von Ihrer Großzügigkeit, das können Sie nur dem Kommissar auftischen“, sagte ich. „Nicht, daß der dümmer ist als ich, aber Sie haben ihm verschwiegen, daß Sie durch mich von Gerda Drawerts Verschwinden wußten und ihr trotzdem einen Tag später das Geld schickten. Oder … wußten Sie damals sogar schon, daß sie tot war?“ Ich hatte diese Frage in einem scharfen, fordernden Ton gestellt. Haidgruber saß wie eine Statue auf dem Stuhl, nur seine Augen schienen zu leben. Ich ließ nicht locker. „Was haben Sie mit dieser Geldsendung bezweckt?“ fragte ich wieder. „Wovon wollten Sie ablenken, oder auf wen wollten Sie hinlenken, denn Sie setzten ihren Namen ja wohlweislich nicht darunter?“ Haidgruber blieb steif aufgerichtet sitzen und schwieg. „Wie Sie wollen“, sagte ich. „Ich nehme an, daß Sie eines Tages noch froh sein werden, wenn Sie mir erzählen dürfen, was Sie sich dabei gedacht haben. Übrigens, morgen wird Fräulein Drawert beerdigt. Nehmen Sie an der Trauerfeier teil?“ 127
Er nickte. „Schließlich war ich ihr Chef“, sagte er, „außerdem hat es der Kommissar angeordnet.“ „Wenn er es nicht getan hätte, dann hätte ich Ihnen dringend empfohlen, morgen nach Steinried zu fahren. Auf Wiedersehen.“
12 Der Tag, an dem Gerda Drawert beerdigt werden sollte, begann mit einem Gewitter, das sich schnell wieder verzog und nur für zwei, drei Stunden ein wenig Abkühlung brachte. Als ich nach Steinried fuhr, stach die Sonne schon wieder und schien alles Leben verbrennen zu wollen. Ich war nach dem Mittagessen losgefahren, obwohl die Beerdigung erst um sechzehn Uhr stattfinden sollte. An der Weggabelung parkte ich den Fiat an der gleichen Stelle, an der er schon zweimal auf mich gewartet hatte. Dann lief ich auf dem Weg entlang, der durch den grünen Tunnel und über die Wiese mit den Granitblöcken nach Steinried führte und der mir nun schon so vertraut vorkam wie der Weg zu meinem Büro. Ich dachte, inzwischen wird der Kommissar alle Spuren aufgenommen haben, die auch ich verfolgt habe: Haidgruber, Huslinger und Schembor. Durch wen mag er wohl auf Willi Schembor gestoßen sein? Von dessen Verhältnis zu der Ermordeten wußten nur Frau Drawert und Luisa Forkmann. Ich nahm an, daß Kommissar Baierl diese drei Verdächtigen anders bewertete als ich. Er ging sicherlich mehr von Indizien und äußeren, sichtbaren Spuren aus – als Polizist mußte er davon ausgehen –, 128
während ich dem Verhalten, der Lebensweise dieser drei nachspürte, um bei einem von ihnen ein zwingendes Motiv für den Mord herauszufinden. Ich kam an Doktor Maxants Haus vorbei und zögerte einen Augenblick: Sollte ich hinaufgehen und mich nach Otto Geblers Gesundheit erkundigen? Ich verwarf den Gedanken, denn ich wollte nicht gefragt werden, weshalb ich so früh gekommen sei und wohin ich noch zu gehen gedenke. Wenn ich geahnt hätte, was wenige Stunden später geschah, hätte ich wahrscheinlich nichts Eiligeres zu tun gehabt, als Otto Gebler aufzusuchen! So aber stieg ich schwitzend den schattenlosen Weg am Hügel hinan. Willi Schembors Haus lag still und wie verlassen in dem gleißenden Sonnenschein. An den Fenstern waren die Läden zugeklappt. Auf der Rabatte, die sich längs des Kiesweges bis zum Haus hinzog, hingen die Blumen matt an den Stengeln. Sie schienen am Morgen kein Wasser bekommen zu haben. Ich drückte die Klinke an der Gartentür herunter, es war nicht abgeschlossen. Der Kies knirschte unter meinen Füßen, als ich über den Gartenweg lief, und die Luft war erfüllt vom Summen der Bienen; beides Geräusche, die mir die Stille ringsum nur noch deutlicher zum Bewußtsein brachten. Es war eine lauernde Stille, und ich hätte schwören mögen, daß mich von irgendwoher jemand beobachtete. Ich klopfte an die Haustür, rief nach Schembor – ohne Erfolg. Doch die Türklinke gab unter meinem Druck nach, unaufgefordert betrat ich das Haus. In dem schmalen Flur war es angenehm kühl. Rechts neben der Tür führte eine Holztreppe in das erste und einzige Stockwerk des Hauses. „Frau Schembor!“ rief ich. „Sind Sie da oben?“ 129
Als Antwort erhielt ich das ärgerliche Miauen einer tigerfarbenen Katze, die ich wohl in ihrem Mittagsschlaf gestört hatte. Sie glitt zwei Treppenstufen herab, blieb stehen, beäugte mich, streckte die Vorderpfoten weit von sich, legte den Kopf darauf und zeigte mir, was ein richtiger Katzenbuckel ist. Dann gähnte sie, schüttelte sich und stieg die Treppe wieder empor. „Soso“, sagte ich zu ihr hin, „es ist also niemand zu Hause.“ Ich sah mich ein wenig im Hausflur um. Rechts, gleich hinter der Treppe, lag der Raum, in den mich Willi Schembor bei meinem ersten Besuch geführt hatte. Ihm gegenüber befand sich wohl das größte Zimmer des Hauses. Am meisten jedoch interessierte mich die Tür am Ende des Flurs. Sie stand einen Spalt breit offen, und durch diesen Spalt fiel Sonnenlicht in den düsteren, fensterlosen Hausflur. Ich ging auf die Tür zu und stieß sie weit auf. Sie drehte sich so leicht und lautlos in den Angeln, als sei sie erst vor kurzem geölt worden, und sie gab mir den Blick auf jenen Teil des Gartens frei, der vom Weg aus nicht einzusehen war. Ungefähr zwei Meter vom Haus entfernt stand ein steinerner Wassertrog, halb gefüllt und mit einem Zuflußrohr versehen, aus dem das Wasser wie ein dünner Faden floß. Rechts an der Hauswand waren ein Holzschuppen und ein Kaninchenstall angebaut. Die Tiere hatten sich in eine Ecke verkrochen, schliefen oder dösten vor sich hin. Hinter dem Wassertrog erstreckte sich eine Wiese, die viel weniger gepflegt war als die vor dem Haus. Sie zog sich bis zu dem Walddickicht hin, das sich hügelan dehnte. Ich wußte, daß sich weiter oben in eine breite Schnei130
se jenes Kornfeld hineindrückte, in das ich damals Otto Gebler gebettet hatte. Ich ließ mir das schwach fließende, aber eiskalte Wasser über die Arme laufen, kühlte mir die Stirn und trank ein paar Hände voll; es war prickelig vor Kälte, Bergwasser, ohne Chlor und andere Zusätze. Dann ging ich an dem Kaninchenstall vorbei auf die Wiese zu. Ich hatte sie noch nicht bis zur Hälfte überquert, als jemand sagte: „Hallo! Was suchen Sie denn hier?“ Es war Therese Schembor. Sie stand wie aus dem Erdboden gewachsen vor mir. „Ich suche Sie“, antwortete ich lächelnd und verbeugte mich ein wenig. Um zu sehen, woher sie gekommen war, lief ich ein paar Schritte an den Kaninchenställen vorbei, rechts in den Garten hinein. Frau Schembor folgte mir, griff nach meinem Arm und versuchte mich zurückzuziehen. „Kommen Sie ins Haus“, sagte sie. „Sofort!“ Ich streifte ihre Hand von meinem Arm und lief zu einer Laube, die ich soeben entdeckt hatte. Sie war von Hagebuttensträuchern und Heckenrosen umwachsen. „Das ist ja märchenhaft!“ rief ich und dachte: Zwischen den Sträuchern hindurch kann man das Gartentor beobachten; sie hat also gewußt, daß ich hier bin. „Ja, es ist märchenhaft“, sagte Frau Schembor ungeduldig. „Trotzdem wird es im Haus jetzt kühler sein.“ „Also gehen wir.“ Ich lächelte ihr zu und machte kein Hehl daraus, daß ich sie von Kopf bis Fuß aufmerksam betrachtete. Sie war bereits für die Trauerfeier gekleidet, trug ein ärmelloses, eng anliegendes schwarzes Kleid, an dem mich nur die vielen Rüschen am Oberteil störten. Doch sie betonten ihre Figur und ließen sie schlank und fraulich zugleich erscheinen. Um das blonde, hoch131
gesteckte Haar hatte sie ein schwarzes Band geschlungen. Frau Schembor mühte sich um eine sehr gerade, stolze Haltung und forderte mich jetzt nur noch mit gebieterischen Blicken auf, den Garten zu verlassen. Allerdings waren ihre Blicke an jenem Tag nicht wirkungsvoll, denn sie kamen aus rotgeränderten, verweinten Augen. Ich tat, als sähe ich das nicht. Frau Schembor betrat vor mir das Haus und führte mich wieder in das kleine Zimmer hinter der Treppe. Sie schlug die Fensterläden zurück und ließ die Jalousie so herunter, daß sie das Tageslicht in Streifen schnitt und das Zimmer in angenehmes Halbdunkel hüllte. „Weshalb sind Sie gekommen?“ fragte die Frau, als wir uns in den breiten Ledersesseln niedergelassen hatten. Sie wirkte unruhig und leicht gereizt. „Ich hatte es Ihnen doch versprochen“, entgegnete ich, „und heute ließ es sich einrichten, da ich wegen Gerda Drawerts Beerdigung ohnehin nach Steinried fahren mußte.“ Sie nickte, aber plötzlich tat sie erstaunt und wollte etwas fragen, doch ich kam ihr zuvor: „Sie nehmen auch an der Trauerfeier teil, nicht wahr?“ „Bei solchen Ereignissen ist das ganze Dorf anwesend“, sagte sie. „Man würde unangenehm auffallen, wenn man nicht hinginge.“ Sie sah nicht so aus, als ob sie schon einmal unangenehm aufgefallen wäre! „Und Ihr Gatte?“ fragte ich. „Er ist noch bei Herrn von Thyrnau. Wir treffen uns auf dem Friedhof. Aber … weshalb sind Sie zur Beerdigung gekommen? Was haben Sie mit Fräulein Drawert zu tun?“ 132
„Eine ganze Menge, Frau Schembor. Ich suche den Mörder des Mädchens.“ Therese Schembors Erstaunen war schlecht gespielt, und ich mußte lachen, als sie mit falscher Empörung fragte: „Dann waren Sie vorige Woche also nicht hier, um einen Diebstahl zu klären, wie Sie mir erzählt haben, sondern wegen Gerda Drawert?“ „Sie sind eine schlechte Lügnerin, Frau Schembor!“ sagte ich lachend. „Wollen wir nicht lieber ehrlich zueinander sein?“ „Ja“, entgegnete sie leise, und ihre Stimme zitterte dabei. Ich suchte ihren Blick und sah: Therese Schembor hatte Angst! „Vorige Woche“, sagte ich langsam und blickte die Frau unverwandt an, „da war ich hier, um die vermißte Gerda Drawert zu suchen. Und das, Frau Schembor, haben Sie gewußt! Mindestens das!“ Ich blickte auf ihre Hände, mit denen sie an der Außenseite des Sessels unruhig hin und her strich. „Sie sind nervös“, sagte ich besorgt. „Während meines ersten Besuches haben Sie weitaus liebenswürdiger mit mir geplaudert. Dabei haben Sie auch damals schon fürchten müssen, daß ich nach der toten Gerda Drawert suche.“ „Nein“, sagte sie fest, während ihre Lippen vor Angst bebten, und ich bewunderte sie, weil sie sich so zusammennehmen konnte. „Nein! Ich habe weder das eine noch das andere gewußt!“ „Auch nicht, daß Ihr Mann Sie mit Fräulein Drawert betrogen hat?“ Jetzt ließ sie die Arme bewegungslos über die Sessellehnen hängen, hielt meinem Blick stand und war ganz blaß vor Angst. „Frau Schembor!“ Ich beugte mich zu ihr hin. „Von 133
mir erfährt kein Mensch etwas über diese Angelegenheit – außer denen, die es ohnehin schon wissen.“ „Es weiß niemand“, sagte sie leise und schlug die Augen nieder. „Außer meinem Mann, Gerdas Mutter und mir weiß es kein Mensch. Wie haben Sie es herausbekommen?“ „Über Frau Drawert. Sie hatte mich beauftragt, ihre Tochter zu suchen. Sie nahm an, daß derjenige, der Gerda ein Kind angehängt hatte, sie auch veranlaßt hätte, aus dem Dorf zu verschwinden.“ „Das Kind ist nicht von meinem Mann“, rief Frau Schembor aufgebracht, und es klang, als glaube sie an das, was sie da sagte. „Warum treten Sie so für Willi Schembor ein?“ fragte ich, nicht ohne Spott in der Stimme. „So viel ist er Ihnen doch gar nicht wert!“ Sie richtete sich auf und blickte mich an wie einen, vor dem man sich in acht nehmen muß. Die Angst schien sie fürs erste überwunden zu haben. „Bilden Sie sich bloß nichts ein, nur weil ich letztens etwas freundlich, zu freundlich vielleicht, zu Ihnen gewesen bin. Ich liebe meinen Mann!“ „Schon gut, Frau Schembor, ich glaube Ihnen ja – allerdings nur, weil man Liebe so und so auffassen kann. Und die Variante, die Sie meinen, liegt für mich ganz am Rande des Begriffs Liebe.“ „Würden Sie jetzt vielleicht aufhören, mich zu beleidigen?“ Sie war so wütend, daß sie mich wohl am liebsten geohrfeigt hätte, aber sie nahm sich auch jetzt zusammen. „Vielleicht mache ich Ihnen ein wenig angst, Frau Schembor, weil ich Sie durchschaue, aber beleidigen … nein! Vor meinem ersten Besuch habe ich Ihnen und Ih134
rem Mann beim Wäscheaufhängen zugesehen. Als Schembor zärtlich werden wollte und von der kommenden Nacht sprach, damals, Frau Schembor, da waren Sie beleidigt!“ „Sie … Sie benehmen sich unmöglich!“ rief sie, und Tränen traten in ihre Augen. „Warum schnüffeln Sie in unseren intimsten Angelegenheiten herum?“ „Weil ich Gerda Drawerts Mörder finden muß! Oder … ihre Mörderin!“ „Aber doch nicht hier!“ rief sie, und es war ihr deutlich anzumerken, daß sie mit der Empörung, die sie zeigte, die Angst zu überspielen versuchte, die in ihr saß. „Lassen Sie mich endlich in Ruhe! Ich habe Gerda Drawert nicht umgebracht.“ „Das vielleicht nicht. Aber Sie haben das Mädchen gehaßt. Nicht, weil es Ihnen den geliebten Mann streitig zu machen drohte, sondern weil es jene Leidenschaft besaß, deren Sie Ihrem Mann gegenüber nicht mehr fähig sind, mit der sie Schembor aber früher verrückt gemacht haben.“ Therese Schembor öffnete den Mund, doch sie sagte nichts, schaute mich nur an wie ein Kind, das man ganz überraschend geohrfeigt hat. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie bemerkte es nicht. Ich griff nach ihrer Hand. Sie zog sie rasch zurück. „Seit wann ist das so mit Ihnen?“ Sie schüttelte den Kopf, beugte sich ein wenig vor, und die Tränen tropften auf ihren Handrücken. „Manchmal passiert das einer Frau nach einer schweren Entbindung“, sagte ich, „vielleicht war es bei Ihnen so?“ Sie nickte. „Willi Schembor ist sicherlich nicht das, was man unter einem zartfühlenden Mann versteht“, sprach ich wei135
ter auf sie ein, „er kommt von sich aus nicht darauf, daß seine derbe, vielleicht egoistische Art Sie jetzt abstößt. Sie sollten sich mit ihm darüber aussprechen.“ Frau Schembor wandte das Gesicht ab und sagte leise in eine Ecke des Zimmers hinein: „Über diese Dinge haben wir uns nie unterhalten, zu Hause bei meinen Eltern nicht, und mit meinem Mann kann ich auch nicht darüber sprechen. Verstehen Sie, selbst wenn ich es wollte, ich bringe es einfach nicht fertig.“ „Wenn Sie Ihre falsche Scham überwunden und sich mit ihm ausgesprochen oder einen Facharzt aufgesucht hätten, dann wäre Ihr Mann nicht zu Gerda Drawert gegangen, Frau Schembor!“ Sie schwieg und weinte lautlos. „Therese“, sagte ich leise, „es wird alles gut werden. Haben Sie nur Vertrauen zu mir.“ Als ihr Weinen endlich nachließ und sie wieder sprechen konnte, sagte sie leise: „Seit ich weiß, daß man das Mädchen umgebracht hat, denke ich manchmal, ich muß vor Angst sterben. Aber ich bin es nicht gewesen. Hören Sie, ich habe das Mädchen nicht getötet! Sie glauben mir doch, nicht wahr?“ „Ja, Therese, ich glaube Ihnen! Aber die Polizei ist schon dahintergekommen, daß Ihr Mann ein Verhältnis mit Gerda Drawert hatte, und wenn sie noch rauskriegt, daß Sie dem Mädchen eines Tages aufgelauert haben, dann steht es schlecht um Sie.“ „Woher wissen Sie das?“ fragte sie. „Woher wissen Sie, daß ich mit ihr gesprochen habe?“ Ich hatte es nicht gewußt, sondern mir einfach zusammengereimt, denn Gerda Drawert hatte zu Fräulein Forkmann gesagt: „Wenn die Männer mich los sein wollen, sind sie zu feige, es mir selbst zu sagen, dann schi136
cken sie ihre Weiber!“ Sie hatte in der Mehrzahl gesprochen, sie war also nicht nur von Luisa Forkmann aufgesucht worden. Haidgruber besaß jedoch weder Frau noch Verlobte. So war nur Therese Schembor übriggeblieben. „Das gehört zu meinem Beruf, daß ich gelegentlich etwas weiß, was anderen entgeht“, sagte ich, „aber damit ich Ihnen helfen kann, müssen Sie mir jetzt verraten, was damals vorgefallen ist.“ „Ich habe meinem Mann Vorhaltungen gemacht wegen dieses Flittchens …“ Sie betonte das Wort „Flittchen“, als spräche sie von einem bazillenverseuchten, räudigen Hund. Ich beließ es dabei, obwohl ich Gerda Drawert ganz anders einschätzte. „… er sagte mir, daß er sowieso vorhabe, sich von ihr zu trennen, aber sie wolle nichts davon wissen. Da bin ich eines Tages an seiner Stelle zu dem Treff mit ihr gegangen.“ Sie schluckte und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Sprechen Sie weiter, Frau Schembor! Ich weiß, wie schwer Ihnen das fällt, aber versuchen Sie es trotzdem!“ „Das Mädchen … hat mich einfach nicht für voll genommen“, erzählte sie, „sie hat mir ins Gesicht gesagt, daß sie und Willi zusammengehörten und daß ich daran nichts mehr ändern könnte. Ich solle meinem Mann ausrichten, sie wünsche ihn zu sehen und zu sprechen, und wenn er nicht käme, würde sie ihn aufsuchen. Dann hat sie mich stehengelassen und ist davongegangen. Ich frage mich heute noch, woher sie die Kraft für so viel Frechheit genommen hat!“ „Das Mädchen hat von Schembor ein Kind erwartet, deshalb war sie fest entschlossen, um ihn zu kämpfen.“ „Das ist nicht wahr!“ rief Frau Schembor. „Das Kind ist nicht von meinem Mann. Ich werde es Ihnen beweisen, daß Sie sich irren.“ Sie erhob sich, ging zu einem 137
Schrank, zog eine Schublade auf, kramte darin herum und kam schließlich mit einem Zettel in der Hand zurück. „Hier!“ rief sie und hielt mir das Schreiben entgegen. „Lesen Sie nur!“ Auf dem Zettel stand: „Herr Willi Schembor ist nicht der Vater des Kindes, das ich erwarte. Ich will nicht, daß man Gerüchte über Herrn Schembor verbreitet. Ich weiß, wer der Vater des Kindes ist, will aber aus Gründen, die niemanden etwas angehen, darüber schweigen. Gerda Drawert.“ Die Worte waren mit grüner Kugelschreibermine in zierlicher, gut leserlicher Schrift zu Papier gebracht worden. „Sind Sie sicher, daß es Gerda Drawerts Handschrift ist?“ Sie stutzte und sagte: „Ich bin nur sicher, daß es nicht die Handschrift meines Mannes ist. Und wer sollte es wohl sonst geschrieben haben?“ „Wenn es nicht von Ihrem Mann stammt, dann geht es in Ordnung“, sagte ich, und ich zweifelte auch gar nicht daran, daß Gerda Drawert diese Zeilen geschrieben hatte. Ich fragte Therese, wann Schembor ihr den Zettel gegeben habe. Sie lächelte verlegen, und ich sah, daß die Angst wieder in ihr hoch kroch. „Ich … kann mich so genau nicht daran erinnern. Aber es ist noch nicht lange her …“ „Wovor fürchten Sie sich, Frau Schembor?“ fragte ich. „Sie haben doch diesem Mädchen nichts angetan. Aber Sie verschweigen mir etwas, irgend etwas, womit Sie selbst noch nichts Rechtes anzufangen wissen, aber es quält Sie. Was ist das, Frau Schembor? So sprechen Sie doch!“ Die Frau zitterte wieder, aber sie schwieg. Sie tat mir leid, sehr leid sogar, doch ich konnte darauf keine Rück138
sicht nehmen. „Wo war Ihr Mann am jenem Freitagabend, als Gerda Drawert umgebracht wurde? Sagen Sie die Wahrheit!“ „Er war zu Hause“, sagte sie mit rauher Stimme, „Sie können sich bei unserem Nachbar erkundigen. Er ist mit meinem Mann zusammen nach Hause gekommen.“ Bevor ich etwas erwidern konnte, richtete sich Therese auf und horchte. „Die Kleine ist wach“, sagte sie, „entschuldigen Sie bitte, ich muß mich um sie kümmern.“ Jetzt hörte ich auch das Stimmchen, das aus dem gegenüberliegenden Zimmer drang. Eigentlich habe ich kleine Kinder gern, doch jetzt war ich ziemlich wütend über diese Störung, denn ich war sicher, nichts würde die Frau davon abhalten, sich ihrem Kind zu widmen, und ich konnte mich verabschieden. Frau Schembor erhob sich rasch. Von der Angst und der Verzweiflung, die sie eben noch gepeinigt hatten, war ihr nichts mehr anzumerken. „Überlegen Sie selbst“, sagte sie im Weggehen, „warum sollte mein Mann oder ich das Mädchen getötet haben? Innerlich hatte er sich längst von ihr gelöst, und das Kind war auch nicht von ihm. Nun entschuldigen Sie mich bitte.“ Sie war schon zur Tür hinaus, bevor ich mich erhoben hatte. Mit dem Baby auf dem Arm kam sie mir im Flur entgegen. „Mein Mann erfährt natürlich nichts von dieser Unterredung“, sagte sie, als ich ihr zum Abschied die Hand drückte. „Fein“, entgegnete ich, „und wenn Sie wieder einmal vor Angst weinen müssen, dann erzählen Sie sich einfach all das, was Sie mir soeben einreden wollten. Auf Wiedersehen.“
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13 Der Friedhof von Steinried liegt auf einer kleinen Anhöhe unterhalb des Pfarrhauses. Vor Tagen, als ich den Pfarrer aufgesucht hatte, war ich daran vorbeigegangen. Jetzt drückte ich das schwere Tor auf und betrat den Weg, der zu einer hölzernen Kirche führte. Ich spazierte zwischen den Gräbern hindurch, von denen jedes einem Beet glich, das man für eine Blumenausstellung hergerichtet hatte. Gerda Drawerts letzte Ruhestätte lag am Ende der fünften Gräberreihe unter einem Kastanienbaum. Genaugenommen wölbte sich hier über jedem Grab irgendein Baum, denn der Friedhof lag unter einem Dach von Zweigen. An den dicksten Stämmen der Eichen, Lärchen und Kastanienbäume hatte man Holzbretter befestigt, die zum Sitzen einluden; den Baumstamm konnte man dabei als Lehne benutzen. An Sommertagen wie diesem saß es sich hier weit angenehmer als in einem der Stadtcafés. Neben dem frisch aufgeworfenen Erdhügel hinter der Grabstelle standen zwei Männer in Arbeitskleidung. Der eine war lang und dürr, und als er einmal ein paar Schritte uni das Grab herumging, sah ich, daß er hinkte. Der andere fiel durch sein brandrotes Haar auf, das von weißen Fäden durchzogen war. Er hatte rote, buschige Augenbrauen, und um das Kinn wuchsen ihm rote Borsten. Die beiden begutachteten ihr Tagewerk. „Wir sind prima hingekommen“, sagte der Dürre, „aber wir hätten keinen halben Meter weiter drüben anfangen dürfen“, er nickte zu dem Kastanienbaum hin, „sonst wären seine Wurzeln beschädigt worden.“ Der Rothaarige, der, auf einen Spaten gestützt, in die Graböffnung starrte, entgegnete: „Oder wir hätten nicht 140
so tief graben können. Aber du hast recht, wir sind prima hingekommen.“ Ich wünschte den beiden einen guten Tag, wies auf die Grabstelle und fragte: „Für Fräulein Drawert, nicht wahr?“ Die Totengräber grüßten mich in einer langsamen, bedächtigen Art, aber statt mir eine Antwort zu geben, stellte der Rothaarige fest: „Sie sind nicht aus der Gegend hier!“ „Heute werden etliche Leute zur Beerdigung kommen, die nicht aus Steinried stammen“, entgegnete ich, „schließlich hat Fräulein Drawert in der Stadt gearbeitet.“ Sie nickten beide. Der Rothaarige, der noch immer auf dem Spaten lehnte, sagte: „So ein Glück hatte das Mädel! So ein Glück, daß sie in der Stadt arbeiten konnte! Hier gibt es für die Frauen keine Arbeit, und die meisten Mädchen sehen zu, daß sie so schnell wie möglich unter die Haube kommen. Die Gerda hätte auch heiraten sollen.“ Ich dachte daran, daß sich das Mädchen nichts sehnlicher gewünscht hatte als eine Heirat. „Sie haben Fräulein Drawert wohl ganz gut gekannt?“ fragte ich. „Hier kennt jeder jeden“, erwiderte der Totengräber, „und die Gerda war ein hübsches, stilles und gutherziges Ding. Jeder im Dorf hat sie gemocht. Aber da muß so ein Lauser aus der Stadt kommen und sie umbringen!“ „Ach“, sagte ich, „aus der Stadt war’s einer?“ „Woher denn sonst?“ fragte er aufgebracht. „Ich sagte Ihnen doch, hier kennt jeder jeden! Wir haben unseren Dorftrottel, ein paar ewig besoffene alte Knaben und etliche späte Mädchen. So was gehört zu jedem Dorf. Aber einen Mörder, nein, so einen gibt es bei uns nicht! Der Herr Pfarrer hat das auch gesagt.“ 141
„Schon gut, Sie müssen Ihr Dorf ja kennen.“ „Ich kenn’ mein Dorf“, bestätigte er und nickte bedeutungsvoll. „Heute zum Beispiel, da würde ich spüren, daß etwas geschehen ist, wenn ich fortgewesen wäre und ins Dorf zurückkäme. Heute tragen die Leut’ Sonntagskleider und sprechen leiser als sonst miteinander, aber sie sind aufgeregt.“ Und mit einem Seufzer schloß er: „Na ja, morgen ist dann alles wieder vorbei.“ Ich begann zu begreifen, daß der heutige Tag für die Steinrieder ein beachtliches Ereignis darstellte, und ich fragte den Totengräber, ob Fräulein Drawert ein einfaches Begräbnis bekäme oder so ein erstklassiges mit Musik und Chor und zusätzlichem Glockengeläut. „Das wird Sonderklasse“, versicherte mir der Rothaarige, als spräche er von einem Gartenfest oder der Kirmes, „der Urbach-Bauer hat’s doch finanziert, der Frau Drawert heiraten wollte. Die hätten gut zusammengepaßt.“ „Wollte?“ fragte ich. „Hätten? Was bedeutet denn das?“ „Daß er seinen Schwager hat aufs Gut kommen lassen und für ein paar Tage verreist ist. Und was das wiederum bedeutet, können Sie sich eigentlich selbst denken.“ Ich dachte es mir, und ich dachte auch noch, daß sich Herr Urbach da ein ziemlich makabres Abschiedsgeschenk hatte einfallen lassen, doch ich behielt meine Gedanken für mich. „Von dieser Trauerfeier“, fuhr der geschwätzige Totengräber fort, „da wird man noch nach Jahren reden.“ Damit mochte er recht haben. Offensichtlich waren der Mord an Gerda Drawert und die Beerdigung für die Steinrieder Höhepunkte innerhalb eines langweiligen Jahrzehntes! 142
„Wenn Sie den Trauerzug nicht verpassen wollen“, sagte der Totengräber und riß mich damit aus meinen Grübeleien, „dann müssen Sie sich jetzt sputen.“ Ich erklärte ihm, daß ich hier auf dem Friedhof warten wolle, bis man den Sarg mit dem toten Mädchen brachte, aber er schüttelte energisch den Kopf. „Auch wenn Sie aus der Stadt sind, müssen Sie sich an unsere Gepflogenheiten halten“, sagte er. „Und die schreiben nun mal vor, daß sich alle in oder vor dem Haus der Verstorbenen treffen, den Angehörigen ihr Beileid aussprechen und sich dann zum Trauerzug aufstellen. Nach der Feier in der Kirche, nach der Grabrede und der eigentlichen Beerdigung ziehen dann alle zur Drawertschen zurück und nehmen am Leichenschmaus teil. Wenn Sie dem Fräulein Gerda tatsächlich die letzte Ehre erweisen wollen, dann machen Sie es so, wie ich es Ihnen eben erzählt habe.“ Er versetzte seinem Kollegen einen Rippenstoß. „Komm! Für uns ist es auch Zeit geworden.“ Sie verabschiedeten sich mit einem „Grüß Gott“ und gingen in Richtung der Leichenhalle davon. Ich stieg ins Dorf hinunter und dachte, daß es wirklich nicht schaden könnte, die Trauergäste schon im Drawertschen Hause ein wenig unter die Lupe zu nehmen. Doch vor den kirchlichen Zeremonien wollte ich mich drücken, und ich hoffte, daß mir wenigstens Kommissar Baierl dabei Gesellschaft leisten würde.
14 Im Garten hinter Drawerts Haus waren die langen, mit weißen Leinentüchern bedeckten Tafeln gerichtet. Die 143
vielen unterschiedlichen Stühle aus Holz und Korbgeflecht hatte Frau Drawert wahrscheinlich aus der Nachbarschaft zusammengeborgt. Nur wenige Trauergäste saßen auf den Stühlen, die meisten drängten sich unter die schattenspendenden Ahornbäume im Garten. Die Frauen trugen ausnahmslos schwarze, aber luftige, sommerliche Kleider, und die Männer, die in ihren dunklen Anzügen schwitzten, nestelten verstohlen an den Bindern. Die Unterhaltung, die sie mit gedämpften Stimmen in schwerem bayrischem Dialekt führten, hörte sich aus der Ferne an wie das Rauschen der Bäume. Etwas abseits von den Steinriedern entdeckte ich Joseph Huslinger; er stand da, als käme er sich überflüssig vor. Ich ging auf ihn zu, und obwohl er mich sicherlich nicht ins Herz geschlossen hatte, begrüßte er mich hier wie einen lieben Freund. Ich fragte ihn, ob er schon im Hause gewesen sei und Frau Drawert seine Kondolenz erwiesen habe. „Das hat sich noch nicht ergeben“, sagte er, „und überhaupt, ich komme mir hier reichlich unpassend vor …“ „Dann hängen Sie sich mal an meine Rockschöße“, empfahl ich ihm, „da können Sie wenigstens nicht verlorengehen.“ Vor der Haustür stieß ich ihn ein wenig an und fragte: „Sehen Sie den etwas korpulenten Herrn mit den schwarzen Handschuhen? Er kommt eben auf Drawerts Haus zu. Das ist Gerdas ehemaliger Chef.“ „Sagten Sie nicht, daß er vielleicht … daß sie auch mit ihm … ich meine …“ „Ja, ja, Sie meinen schon das Richtige!“ Im Hausflur standen Frauen in kleinen Gruppen beieinander, zogen traurige Gesichter und tupften mit 144
schneeweißen Seidentüchern an den Augen herum, die trocken waren wie Wüstensand. Frau Drawert kam eben aus dem Zimmer, als ich die Treppe hochstieg. Haidgruber und Huslinger hielten sich einige Stufen hinter mir. Ich trat auf Frau Drawert zu und sprach ihr mein Beileid aus, sie nahm es schweigend hin mit einem Gesicht wie aus Stein. In dem kleinen Wohnraum, in den wir uns anschließend begaben, roch es nach Schweiß, Parfüm und Kaffee. Auch hier standen überall Trauergäste, die darauf warteten, Frau Drawert die Hand drücken zu können. Am meisten fiel in diesem Zimmer Therese Schembor auf, denn im Gegensatz zu der neugierigen Anteilnahme, die rings auf den Gesichtern zu lesen war, sah Therese ehrlich bekümmert aus, wie jemand, der um einen nahen Verwandten trauert. Doch ich kannte Therese besser, sie trauerte um niemand anderes als um sich selbst, um ihr eigenes, ziemlich verfahrenes Leben. Ich ging auf sie und ihren Mann zu und begrüßte beide mit einer leichten Verbeugung. Dann trat Frau Drawert zu ihnen und ließ sich die dünne, welke Hand drücken. Jemand rief meinen Namen. Es war Doktor Maxant, er stand auf der Türschwelle zum Eingang der kleinen Küche, die sich an das Wohnzimmer anschloß, und hinter ihm entdeckte ich Otto Gebler. Er saß auf einem Küchenstuhl und trug auch heute seine geflickten Hosen und ein braunkariertes Hemd. „Tag, Doktor“, begrüßte ich Maxant, „wie geht’s denn Ihrem Patienten?“ Ich trat zu Gebler und drückte ihm die Hand. Er sah noch ziemlich krank aus: hohlwangig, die runzlige Haut fahl und die Augen tief in die Höhlen zurückgesunken. 145
„Es geht aufwärts mit ihm“, antwortete mir Maxant, „Frau Drawert hat ihm Kaffee und ein Stückchen Torte angeboten, und er hat es nicht abgeschlagen. Also geht’s aufwärts mit ihm.“ Gebler grinste. „Es ist bloß, weil ich noch zu schwach bin, auf den Friedhof mitzukommen“, erklärte er, „da vertreibe ich mir hier die Zeit bei einer Tasse Kaffee.“ „Recht so“, redete ich ihm zu, „machen Sie sich’s nur gemütlich. Übrigens: Sind Sie von der Polizei schon vernommen worden?“ „Bin ich“, sagte er, als sei das etwas, worauf er stolz sein müsse. „Und ich habe denen auch erzählt, daß ich glattweg draufgegangen wäre, wenn Sie mir nicht geholfen hätten. Und wie Sie das gleich kapiert haben, was mich da in der Eichenschonung beinahe zu Tode erschreckt hatte! Also wirklich, Herr Eiserbeck, ein Kriminalkommissar hätte das nicht besser machen können!“ „Ehrt mich“, sagte ich mit übertriebenem Ernst. Wie es schien, hatte Gebler keine Ahnung, wer ich war, und hielt mich noch immer für einen Bürohengst, der in Steinried ein wenig ausspannen wollte. „Wie kann ein Mensch nur so bestialisch sein“, sagte er, „man vermag sich das überhaupt nicht vorzustellen!“ „Nein“, sagte ich, „das kann man nicht, und man sollte es auch gar nicht erst versuchen.“ Ich wollte Gebler noch etwas fragen, doch da trat Kommissar Baierl ins Zimmer, entdeckte mich und winkte mir zu. „Ich schaue nach der Beerdigung noch mal herein“, sagte ich zu Gebler. Er nickte. „Also, bis dann! Und lassen Sie sich die Torte gut schmecken!“ Ich ging quer durch das Zimmer auf Kommissar Baierl zu. Er bedeutete mir, daß ich einen Moment warten möchte, sprach noch einige Worte mit Frau Drawert und 146
kam dann zu mir. „Gehen wir hinunter“, schlug er vor. „Die Leute werden ohnehin gleich abmarschieren.“ Vor dem Haus stand der Leichenwagen, und der Sarg darauf war mit Blumen bedeckt und kaum zu sehen. Hinter dem Wagen hatten sich die Trauergäste zu einer zweireihigen Schlange aufgestellt. Baierl knurrte, daß ihm solche Zeremonien verhaßt seien, daß er deshalb nicht einmal zum Begräbnis seiner eigenen Großmutter mitgegangen sei, daß die Leute in den bayrischen Dörfern aber einen Dickschädel hätten, gegen den nicht einmal die Polizei ankäme. „Ich wollt’ weiter nix, als auf dem Friedhof die Trauergäste beobachten“, knurrte er, „aber das hätt’ mehr Aufsehen gegeben, als wenn ich traditionsgemäß im Trauerzug mitmarschiere!“ „Mir geht es nicht anders“, versuchte ich Baierl zu trösten. Und ich schlug ihm vor, daß wir gemeinsam auf die Zeremonien in der Kirche verzichten sollten. „Sie scheinen manchmal doch ganz brauchbar zu sein“, brummelte er zufrieden. „Aber bilden Sie sich ja nicht ein, daß Sie mich in der Wartezeit über den Mordfall Drawert ausfragen können!“ „I wo, ich bin froh, wenn Sie mich nichts darüber fragen. Wir werden uns einfach über das Wetter unterhalten!“ „Ich überstehe es auch, wenn ich mal eine halbe Stunde lang gar nichts zu reden brauche.“
15 Wir saßen seit zwanzig Minuten schweigend unter einer Lärche, jeder mit seinen Gedanken oder mit gar nichts beschäftigt. Der leichte Wind, der am Nachmittag aufge147
kommen war, machte die Hitze erträglich. Von Zeit zu Zeit wehte er Orgelklänge und die feierlichen, klagenden Töne eines Liedes von der Kirche zu uns herüber. Kommissar Baierl saß sehr gerade, Kopf und Rücken gegen den Stamm des Lärchenbaumes gelehnt, und hielt die Augen geschlossen. Er schien auf etwas zu lauschen, das nur für ihn hörbar war. Plötzlich sagte er: „Eiserbeck, der Mörder ist jetzt mitten unter denen da, und er singt und betet für das tote Mädchen.“ „Oder er tut so“, entgegnete ich. Baierl nickte kaum merklich. Er hielt die Augen noch immer geschlossen. „Wir haben das Tatwerkzeug gefunden, einen Wurf weit von der Stelle entfernt, wo er das Mädchen verscharrt hatte. Ein schmales Eisenrohr. Unter dem Mikroskop waren Blut und Haare von Gerda Drawert festzustellen.“ . „Gratuliere“, sagte ich. Der Kommissar schien es zu überhören und sprach weiter: „Es ist eine sogenannte Pfeife, ein Eisenrohr, das die Glasbläser bei ihrer Arbeit benutzen. Gerda Drawerts ehemaliger Verlobter ist Glasbläser.“ „Ich weiß“, sagte ich, und mir lief trotz der Hitze ein Schauer über den Rücken. „Ich glaube, Sie arbeiten für ihn.“ „Nein. Ich arbeite für seine jetzige Verlobte, für Fräulein Luisa Forkmann. Sie will, daß ich den Mörder finde.“ „Nanu? Was für ein Interesse hat denn die hübsche rothaarige Hexe an der Angelegenheit?“ „Erstens hat sie Angst vor den Steinriedern, die in ihr gern die Mörderin sehen möchten, zweitens ist sie krankhaft eifersüchtig und will wissen, ob Huslinger der Vater des Kindes ist, und drittens quält sie der Gedanke, daß sie 148
selbst durch ihre ekelhaften Eifersuchtsszenen Huslinger zu einem Mord getrieben haben könnte.“ Der Kommissar wandte sich zu mir um und sagte: „Da wird es Ihnen nicht gerade Freude bereiten, daß man das Mädchen ausgerechnet mit dem Rohr eines Glasbläsers erschlagen hat.“ „Bei solchen Aufträgen gibt es selten etwas, das einem Freude macht. Huslinger hat ein Alibi, nicht wahr?“ „Ja. Eines, das ihm seine Verlobte gegeben hat. Sie sind angeblich zusammen in Passau, in der Wohnung des Mädchens, gewesen. Ein ähnliches Alibi hat Willi Schembor, allerdings erscheint mir bei ihm die Sache glaubwürdiger, weil außer seiner Frau auch noch die Nachbarn bestätigen, daß er zu Hause gewesen ist. Sie wissen das ja bereits alles.“ „Ja“, sagte ich, „ich weiß das. Aber es nützt nicht viel.“ „Da haben Sie verdammt recht.“ Der Kommissar sprach leise und monoton, als erzähle er sich selbst eine Geschichte. „Und daß wir das Glasbläserrohr gefunden haben, nützt uns auch nicht viel. Huslinger wär’ schön dämlich gewesen, wenn er es ausgerechnet mit so einem Rohr getan hätte.“ „Huslinger leistet was in seinem Fach“, sagte ich, „aber ansonsten … ich meine, wenn er in der Rage das Mädchen getötet hat, dann hätte er es wirklich so dämlich wie nur möglich angestellt.“ „Das Rohr kann auch einer gefunden, zum Zuschlagen benutzt und dann einfach wieder weggeworfen haben.“ „Natürlich“, sagte ich, „so kann es auch gewesen sein.“ „Das heißt, das Tatwerkzeug hilft uns nicht weiter, und bei keinem der Verdächtigen ist das Alibi so unsi149
cher, daß man es umstoßen könnte. Aber es ist auch bei keinem so sicher, daß es nicht ein bißchen wackelte. Wir rennen wie gegen eine Gummiwand, scheinen ein wenig voranzukommen und werden wenig später dorthin zurückgeschleudert, wo wir gestanden haben.“ „Ich glaube, mit den üblichen Routinearbeiten der Polizei läßt sich dieser Fall sowieso nicht lösen.“ „Warum, Eiserbeck?“ „Es liegt am Motiv“, erklärte ich. „Ein politischer Mord zum Beispiel, der schlägt ziemlich hohe Wellen, die können Sie zurückverfolgen bis zu ihrem Entstehungspunkt – falls Sie es dürfen. Ein Mord aus Habgier, um einer Erbschaft, um des Geldes, um eines Vermögens willen, der bietet Ihnen etwas Handgreifliches: eben das Vermögen. Das Motiv für den Mord an Gerda Drawert aber liegt in der menschlichen Intimsphäre, und die ist keiner Polizeigewalt zugänglich. Sie ist die Wand aus Gummi, die zum Schein nachgibt, wenn Außenstehende dagegenrennen, und die sie dann wieder zurückschleudert. An Gerda Drawert hat einer, der um seiner Existenz willen den biederen Bürger unter biederen Bürgern spielt, seine Leidenschaft ausgetobt. Er ist erst zur Besinnung gekommen, als er von dem Mädchen erfuhr, daß sie ein Kind von ihm erwartete. Da mußte er das Mädchen loswerden. Aber es ging nicht freiwillig, Gerda Drawert hat um ihn gekämpft. Daß es ein Kampf auf Leben und Tod werden würde, konnte sie nicht wissen.“ „Sie sind weit, Eiserbeck, sehr weit, wenn Sie das alles schon herausgefunden haben.“ „Ich vermute nur, daß es so gewesen ist“, entgegnete ich lächelnd. „Und nun, Kommissar, wissen Sie es ja auch. Fangen Sie etwas an damit, wenn Sie können!“ 150
In diesem Moment öffnete sich das Kirchenportal. Gesenkten Hauptes, den Blick auf eine große Bibel gerichtet, die er auf den flach ausgestreckten Händen trug, trat der Priester ins Freie. Ihm folgten die Chorknaben. Vier schwarzgekleidete Männer mit ernsten Gesichtern trugen den Sarg. Hinter ihnen schritten die Trauergäste. Der Kommissar hatte die Augen geöffnet und sah zu, wie sich der Zug der Schwarzgekleideten langsam zur Grabstelle bewegte. „Eiserbeck“, sagte er, ohne mich dabei anzublicken, „für einen Detektiv kann ich Sie sowieso viel zu gut leiden; aber wenn ich eines Tages dahinterkomme, daß Sie der Polizei Beweise in einer Mordsache zurückhalten, dann ist es um Sie geschehen.“ „Ich fürchte, einen für die Polizei handgreiflichen Beweis gibt es in diesem Fall überhaupt nicht“, entgegnete ich, „außer dem Geständnis des Täters natürlich.“ Wir erhoben uns und gingen langsam zu Gerda Drawerts Grabstelle hinüber. Aus der Menge der Trauernden, die sich um den Priester wie schwarze Bienen um ihre Königin drängten, löste sich eine Gestalt und kam auf uns zu. Es war Doktor Maxant. „Otto Gebler wünscht Sie zu sprechen“, sagte er zum Kommissar, „Sie oder Herrn Eiserbeck. Ich habe ihm erzählt, daß Eiserbeck Privatdetektiv ist und sich deshalb in Steinried aufhält. Und so mitten im Gespräch meinte er, es sei ihm etwas eingefallen, das vielleicht mit Gerda Drawerts Tod zusammenhängen könnte.“ „So“, sagte Baierl, „das wurde aber auch langsam Zeit. Als ich ihn vernommen habe, hat er viel wirres Zeug geredet, aber was Brauchbares war nicht dabei.“ „Vergessen Sie nicht, daß er sehr krank war.“ 151
„Schon gut. Ich werde nach der Beerdigung mit ihm sprechen.“ „Kommissar“, sagte ich, „Sie wissen, daß ich zu dem Alten ein nahezu freundschaftliches Verhältnis habe. Wir wäre es, wenn ich mich mit ihm unterhielte?“ „Es wäre für Sie von Übel, wenn Sie vergessen würden, was ich Ihnen vorhin eingetrichtert habe.“ „Keine Angst, ich bin noch lange nicht so weit, daß ich meinen Beruf an den Nagel hängen möchte.“ „Na, dann ziehen Sie meinetwegen los.“
16 Ich verließ den Friedhof, ohne mich darum zu kümmern, ob mein Verschwinden auffiel oder gar Anstoß erregte. Im Dorf war es so unnatürlich still, als sei ich zwischen die zurückgelassenen Kulissen eines längst abgedrehten Filmes geraten. Die Sonne hatte jetzt an Kraft verloren, und da ich westwärts lief, zog ich einen langen Schatten schräg hinter mir her. Als ich am Dorfkrug vorbeikam, hörte ich Stimmengewirr, das Klappern von Bestecken und Gläserklirren, und ich wunderte mich darüber, daß der Dorfkrug zur Zeit der Beerdigung einen so großen Zuspruch hatte. Doch es war jetzt keine Zeit, der Sache nachzugehen, ich bog in den Weg zu Frau Drawerts Häuschen ein. Im Garten standen die weißgedeckten Tafeln nun völlig im Schatten. Der Wind, der am Nachmittag aufgekommen war, hatte den Zipfel eines Tischtuches umgeschlagen, und am Haus spielte er mit dem Flügel des offenstehenden Küchenfensters. Ich wunderte mich, daß 152
das monotone Klappen den alten Gebler nicht störte und daß er den Fensterflügel nicht schloß. Ich ging ins Haus, die Treppen hoch, trat durch die geöffnete Wohnzimmertür in den Raum, in dem wir vor einer Stunde Frau Drawert kondoliert hatten. „Da bin ich wieder!“ rief ich. „Hallo, Herr Gebler! Wo stecken Sie denn?“ Niemand antwortete mir. Ich ging in die Küche, wo Gebler zuletzt gesessen hatte, wo er seinen Kaffee trinken und die Torte essen wollte, während die Trauergäste Gerda Drawert zu Grabe trugen. Auch hier war er nicht. Auf dem Tisch standen noch die Kaffeetasse, die Kanne und der Kuchenteller mit ein paar Krümeln darauf. Ich dachte, der Alte wird sich gestärkt haben und dann nach Hause gegangen sein, um mit dem Kommissar oder mir in Ruhe sprechen zu können. Aber ich dachte auch, daß sich mir nie wieder eine so günstige Gelegenheit bieten würde, mich in der Wohnung des ermordeten Mädchens umzusehen. Ich suchte nichts Bestimmtes, doch manchmal bringt einen ein Notizzettel, ein liegengebliebenes Taschentuch, ein Geschenk, irgend etwas, auf das man gar nicht vorbereitet ist, auf eine vernünftige Idee. Zuerst durchsuchte ich die Küche, dann das Wohnzimmer, ohne Erfolg. Ich ging über den Hausflur in ein Zimmer mit separatem Eingang, das die Drawert-Frauen als Schlafzimmer eingerichtet hatten. Hier waren noch vom vergangenen Abend her die schweren grünen Vorhänge zugezogen. Es roch muffig, nach verbrauchter Luft. In dem Zimmer standen zwei Betten, zwei Nachttischschränkchen, eine Frisiertoilette und ein Kleiderschrank. Ein Bett war unbenutzt. Hier hatte wohl Gerda Drawert 153
zu Lebzeiten geschlafen. Im Bett daneben waren auf dem Unterbett noch deutlich die Eindrücke des Körpers und des Kopfes zu sehen. Ich untersuchte zuerst Gerda Drawerts Nachtschränkchen. Neben allerlei Kram wie Creme- und Puderdosen, Bändern und Spiegel stand ein Beutel Pflanzenschädlingsbekämpfungsmittel. Ich hielt den Nachtschrank eines jungen Mädchens zwar nicht für den richtigen Ort, um ein solches Mittel darin aufzubewahren, aber in der Mordsache Drawert brachte mich diese Eigentümlichkeit zunächst auch nicht weiter. Ich verließ das Haus und lief, ohne jemandem zu begegnen, zum Dorfausgang, wo Otto Gebler wohnte. In seinem Haus herrschte die gleiche Stille wie damals, als ich meine Tasche abgeholt hatte. Vielleicht ist er nicht hierher, sondern zu Doktor Maxant gelaufen, dachte ich, aber dann sah ich, daß eine Schranktür offenstand, die ich bei meinem letzten Besuch geschlossen hatte, und auf dem Tisch lag ein Bleistift. „Herr Gebler!“ rief ich. „Was ist denn los mit Ihnen?“ Wieder erhielt ich keine Antwort. Ich trat zum Fenster – und nun konnte ich sehen, was mit ihm geschehen war: Er lag im Garten neben dem Wassertrog. Ich riß das Fenster auf und sprang hinaus. Otto Gebler stöhnte leise. Er hatte sich übergeben, nun wurde sein magerer Körper von Krämpfen zusammengezogen. Bevor die Schmerzen ihn zu Boden geworfen hatte, hatte er sich einen Litertopf mit Wasser gefüllt. Er mußte einen unstillbaren Durst verspürt haben. Jetzt brachte er nicht einmal mehr die Kraft auf, den Kopf zu heben und zu trinken. Mit trockener Zunge strich er sich über die ausgedörrten Lippen, in seinen Augen stand ein gequälter, irrer Blick. Ich beugte mich über ihn, hob seinen Kopf an und gab ihm zu trinken. Trotz des Durstes bekam Gebler kaum 154
noch einen Schluck hinunter, die Krämpfe hatten auch seinen Kehlkopf und die Speiseröhre erfaßt. Ich ließ ihn zurückgleiten, und jetzt schien er zu merken, daß jemand bei ihm war. Er wandte mir sein elendes, schmerzverzerrtes Gesicht zu, aber er erkannte mich schon nicht mehr. Ich fühlte seinen Puls: er war klein und raste. Diesmal konnte ich Otto Gebler nicht mehr helfen. Wieder zogen Krämpfe seinen Körper zusammen. Doch plötzlich richtete sich der Alte noch einmal auf und starrte mit ungläubigem Blick ins Leere. Es war ein letztes Aufbäumen gegen den Schmerz und gegen den Tod, der ihn so heimtückisch überrascht hatte; sein Körper sank in sich zusammen, Otto Gebler war tot. Ich drückte dem Alten die Augen zu, dann ging ich ins Haus, zog die Tischdecke herunter und nahm sie mit nach draußen. Als ich den Leichnam damit bedecken wollte, sah ich, daß Gebler noch im Tode ein Stück Papier umklammert hielt. Es guckte aus seiner verkrampften Faust hervor. Ich steckte es in meine Hosentasche, breitete das Tuch über Geblers Körper und ging wieder ins Haus zurück. Ich setzte mich an den Tisch, an dem ich vor Tagen gesessen hatte, als ich mir mit Otto Gebler die Pilze schmecken ließ. Ich strich den Zettel glatt und versuchte zu lesen, was der Alte da geschrieben hatte. Zwei Worte vermochte ich auf Anhieb zu entziffern. Sie lauteten: Im Wald … Dann folgten unleserliche Zeichen, Striche und Krakel ohne jeden Sinn. Wahrscheinlich war Geblers Hand während eines Krampfanfalles mit dem Bleistift über das Papier geglitten. Weiter unten auf dem Zettel buchstabierte ich mühevoll das Wort versteckt zusammen. Es folgten wieder Längs- und Querstriche, Kringel und zittrige Schlangen155
linien, und in der rechten unteren Ecke formten sich die Striche zu einem F. Das war alles. Ich vergewisserte mich, daß dieser mehr als lückenhafte Text mit jenem Bleistift geschrieben worden war, der auf dem Tisch gelegen hatte, dann steckte ich den Zettel ein und ging ins Dorf zurück.
17 Im Dorfkrug klopfte jemand gegen die Scheiben, als ich vorbeikam. Zuerst glaubte ich an einen albernen Scherz und wollte weitergehen, aber dann wurde die Gardine beiseite geschoben, und ein Mädchengesicht preßte sich gegen die Scheiben. Es war von rotblonden Locken umrahmt und gehörte Luisa Forkmann. Ich bedeutete ihr sehr energisch, sie solle herauskommen, und blickte sie dabei so wütend an, daß sie mit einemmal ganz erschrocken dreinsah. Im nächsten Moment klappte auch schon die Tür zur Gaststube. Ich empfing das Mädchen im Hausflur. „Was fällt Ihnen ein?“ fauchte ich sie an. „Habe ich Ihnen nicht verboten, nach Steinried zu kommen?“ Sie hatte es sich wahrscheinlich als einen Riesenspaß vorgestellt, mich hier mit ihrer Anwesenheit zu überraschen. Nun stand sie mit einem kläglichen Gesichtsausdruck vor mir wie ein Schulanfänger, der nur Holzwolle in der Zuckertüte findet. „Heute habe ich doch hier nichts zu befürchten“, murrte sie, „die Steinrieder sind zum Begräbnis. Außerdem haben Sie mir das nur für meine Freizeit verboten“, und sie fügte trotzig hinzu: „Was ich während der Dienst156
stunden tue und lasse, das haben Sie noch lange nicht zu bestimmen!“ „Leider!“ Ich seufzte und warf schnell einen Blick auf die Straße, um festzustellen, ob die Trauergäste schon im Anmarsch seien. „Soll das heißen, daß Sie dienstlich hier sind?“ Sie nickte. „Ich habe eine Gruppe Spezialisten zu den Hauzenberger und Büchlberger Steinbrüchen begleitet. Wir haben an kleinen und großen, an wertvollen und minderwertigen Granitblöcken herumgeschnuppert, und nun sitzen wir im Steinrieder Dorfkrug und trinken Kaffee. Das heißt, bevor wir zu den Steinbrüchen gegangen sind, haben wir dem Thyrnauschen Gut einen Besuch abgestattet. Und raten Sie mal, wen ich dort getroffen habe!“ Mir ahnte nichts Gutes. Wen sollte sie auf dem Thyrnauschen Gut schon getroffen haben! Willi Schembor natürlich. „Jetzt erzählen Sie mir aber ganz schnell, was Sie mit Herrn Schembor besprochen haben!“ sagte ich wütend. „Sonst lasse ich Sie mal raten, weshalb ich in Eile und ziemlich miserabler Laune bin!“ „Ja, es war Herr Schembor“, sagte sie, enttäuscht darüber, daß ich ihr schon wieder eine Überraschung verdorben hatte. „Er mußte der Gruppe etwas über die Forstwirtschaft im Bayrischen Wald erzählen. Zum Schluß habe ich ihm im Namen des Reisebüros gedankt und ihm zugeflüstert, daß ich ihn gern noch privat gesprochen hätte – wegen Fräulein Drawert.“ „Da war er natürlich sofort dabei!“ „Durchaus nicht. Er war abweisend. Aber ich habe nicht lockergelassen und ihm angedeutet, daß ich durch 157
ein Gespräch mit Gerda Drawert von seiner Bekanntschaft mit ihr wüßte. Daraufhin wurde er etwas zugänglicher, und in einem günstigen Augenblick haben wir uns über die Angelegenheit, um die es mir ging, unterhalten …“ „Ach“, sagte ich, „haben Sie ihn gefragt, ob er der Mörder ist?“ Sie überhörte die Ironie und den Ärger in meinen Worten. „Unsinn. Ich habe ihm erzählt, daß ich von Fräulein Drawert wissen wollte, ob sie ein Kind von meinem Verlobten erwartet; sie habe das bestritten und ihn, Schembor, als Kindesvater angegeben. Ich habe den Mann beschworen, mir die Wahrheit zu sagen, und ihm zu verstehen gegeben, daß der Vater des Kindes keineswegs der Mörder sein müsse, man es ihm aber in die Schuhe schieben könne.“ „Das wird ihn aber tief beeindruckt haben“, sagte ich, wiederum mit einem bitteren Unterton. „Der sieht nicht aus, als könne ihn schnell was beeindrucken.“ „Hat er Ihnen denn auf Ihre Predigt hin etwas gestanden?“ „Nein“, antwortete Luisa Forkmann zögernd. „Wissen Sie, das läßt sich schlecht erklären, vielleicht ist es weiblicher Instinkt, aber ich sage mir, die Frau, die Willi Schembor besitzt, läßt sich mit keinem anderen ein. Sie sollten diesen Mann nur mal sehen!“ „Ich habe ihn gesehen, und ich kann mir schon vorstellen, wie er auf Frauen wirkt.“ „Na also!“ Ich warf einen Blick auf die Straße. Weit hinten tauchten die ersten Friedhofsgänger als kleine schwarze Punkte auf. „Wann fahren Sie nach Passau zurück?“ fragte ich meine Klientin. 158
Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „In einer Viertelstunde“, sagte sie. „Mit dem Linienbus?“ „Aber nein, unser Reisebus steht hinten im Hof.“ „Gut. Wenn Sie in Passau angekommen sind, rufen Sie bitte sofort meine Sekretärin an und sagen ihr, sie möchte auf mich im Büro warten. Und Sie, Sie lassen sich ja nicht einfallen, Steinried oder gar dem so reizvollen Herrn Schembor nochmals einen Besuch abzustatten! Haben Sie mich verstanden?“ „Ja“, sagte sie. „Warum sind Sie heute bloß so gnatzköpfig?“ „Weil ich wieder eine Leiche gefunden habe“, entgegnete ich. „Die Leiche eines Mannes, der über den Fall Gerda Drawert ungefähr so viel gewußt hat wie Sie, mein Herzchen.“
18 Ich eilte dem Leichenzug entgegen und sah mich nach Kommissar Baierl um. Er schien sich irgendwo am Ende der schwarzen Schlange zu befinden, die jetzt weniger diszipliniert dahinkroch als zuvor hinter dem Leichenwagen. Da, wo die Menschen zu fünft oder sechst nebeneinanderher gingen, quoll sie in die Breite, an anderen Stellen dagegen war sie schmal und für mich angenehm übersichtlich. Ich hatte Glück: Der Kommissar hatte zusammen mit Doktor Maxant den Heimweg angetreten, und vor und hinter ihnen ließen die Steinrieder einen respektablen Abstand. Ich nutzte diese Lücke aus, um an den Kommissar heranzukommen. 159
„Kommissar“, sagte ich, „Sie müssen es jetzt irgendwie fertigbringen, zusammen mit dem Doktor unauffällig zu Otto Geblers Haus zu gelangen, um sich dort eine Leiche anzusehen.“ Der Kommissar blickte mich an, als hätte ich einen unpassenden, schlechten Scherz erzählt. Doktor Maxant war sehr blaß geworden. Er sagte: „Das verstehe ich nicht. Er hatte doch das Schlimmste überstanden. Wie konnte sein Herz so plötzlich versagen? Und warum ist er überhaupt nach Hause gelaufen?“ „Hat er mit Ihnen noch sprechen können?“ fragte Baierl. „Nein“, sagte ich, „er war vorher gestorben – aber nicht an Herzschlag.“ Der Kommissar pfiff leise durch die Zähne, und ich erzählte ihm, wie alles gekommen war. Baierl fragte Maxant: „Gibt es einen kürzeren Weg zu Geblers Haus als die Straße? Es würde auffallen und Fragen provozieren, wenn wir jetzt an dem Leichenzug vorbeihasteten.“ „Dann müssen wir ein Stück zurückgehen“, gab uns Maxant Bescheid, „wir stoßen dort auf ein Seitengäßchen, das geradewegs zu Geblers Anwesen führt.“ Der Kommissar entschied, daß wir diesen Weg nehmen sollten. Als wir das Gäßchen erreicht hatten und von der Straße aus nicht mehr gesehen werden konnten, rannten wir los. Der Kommissar erreichte mit mir zusammen das Haus, Doktor Maxant keuchte in ziemlicher Entfernung hinterdrein. Ich führte den Kommissar hinter das Haus und zog die Decke von Otto Geblers totem Körper. Baierl beugte sich über den Leichnam. „Ich sehe keine Zeichen von Gewaltanwendung“, sagte er. „Wie kommen Sie zu der Ansicht, daß Gebler keines natürlichen Todes gestorben ist?“ 160
Ich wartete mit der Antwort, bis Doktor Maxant prustend und schwitzend herangekommen war. Er setzte sich auf den steinernen Rand des Wassertroges und starrte mit ungläubigem Blick auf den Leichnam. „Das ist nicht zu fassen!“ stieß er unter heftigem Atmen hervor. „Soviel Mühe habe ich mir mit ihm gegeben, und er war auf dem besten Wege, wieder richtig gesund zu werden. Heute ging es ihm besonders gut. Er hatte sogar ein extra großes Stück Torte verlangt …“ Ich stutzte. Die Torte! Natürlich, die Torte mußte es gewesen sein. „Ich will Ihnen erklären“, sagte ich zu dem Kommissar, „weshalb Gebler keinem Herzschlag erlegen ist. Ich habe ihn sterben sehen! Und ich habe mich in den Staaten eine Zeitlang mit Giften und Vergiftungen beschäftigt. Nach den Vergiftungssymptomen zu urteilen, ist Otto Gebler an Arsenik gestorben. Der Genuß von Arsenik erzeugt quälenden Durst, Leibschmerzen, Erbrechen, Schlingbeschwerden und Krämpfe, die zu Atmungsstillstand, Bewußtlosigkeit und schließlich zum Tode führen. Ich nehme an, daß derjenige, der das Gespräch zwischen Gebler und mir verhindern wollte, dem Alten das Gift auf die Torte gestreut hat, denn Arsenik ist geruchund geschmacklos und löst sich kaum in Wasser. Durch ein Getränk kann er es also nicht zu sich genommen haben.“ „Das hört sich zwar alles ganz glaubhaft an“, sagte Baierl, „aber es sind doch nur erst Vermutungen. Ich werde den Leichnam nach Passau bringen und obduzieren lassen. Danach werden wir klüger sein. Inzwischen gehen Sie, Eiserbeck, zusammen mit dem Doktor zu Drawerts zurück und lassen kein Wort darüber verlauten, was hier geschehen ist.“ 161
Diese Anordnung kam mir sehr gelegen. Ich sagte: „Beinahe hätte ich etwas vergessen. Otto Gebler hielt im Sterben einen Zettel umklammert. Sicherlich eine Mitteilung an uns, aber ich werde nicht schlau daraus.“ Ich reichte dem Kommissar den Zettel mit der Krakelschrift, und die Art, wie er daraufstarrte, sprach dafür, daß er sich auch keinen Reim darauf machen konnte. Er knurrte, dies sei eine Angelegenheit für die Schriftsachverständigen, und schob das Papier in die Jackentasche. Ich sagte: „Auf dem Teller, von dem Gebler gegessen hat, liegen noch Reste. Ich werde sie zusammenkratzen, damit Ihre Kriminaltechniker in der Stadt sie untersuchen können.“ „Sie sind sich Ihrer Sache wohl sehr sicher“, sagte Doktor Maxant. „Ja, Doktor. Ich habe in New York eine arsenikvergiftete Frau sterben sehen, und ich habe Otto Gebler sterben sehen.“ Auf dem Nachhauseweg hielt ich am Passauer Busbahnhof an und erkundigte mich nach dem Fahrer, den ich an diesem Tag hier treffen sollte. Er saß in der Kantine und nahm einen Imbiß zu sich. Ich wünschte ihm guten Appetit, stellte mich vor und fragte ihn, ob er zufällig den Meister der Glasbläserei, Joseph Huslinger, kenne. „Den kenn’ ich nicht zufällig“, sagte er, „den kenn’ ich, weil ich ihn vor Jahren täglich nach Zwiesel zur Staatlichen Schule für Glasbläser gefahren habe.“ „Ist er kürzlich in Passau in Ihren Bus gestiegen und nach Grünhübl gefahren?“ „Vor einer Woche ungefähr, der Depp. Aber nicht bis Grünhübl.“ „Wieso ‚Depp‘?“ 162
„Ich kenne den als höflichen Menschen, wissen Sie? Bissel nervös manchmal und leicht aufgeregt. Vorige Woche aber, da knallt er doch einem Mädel, das im letzten Moment noch aufspringen will, die Tür vor der Nase zu, statt sie reinzuziehen. Und das sah nicht aus, als hätt’ er’s aus Versehen oder vor lauter Nervosität gemacht.“ „Würden Sie das Mädel wiedererkennen?“ „Ich glaub’ schon. Sie hat ihn angeguckt – wie’n geprügelter Hund. Und sie muß ihn gekannt haben, denn als die Leut’ die Tür wieder aufgezogen und das Mädel reingezerrt hatten, ist sie vor ihm stehengeblieben und hat ihn wieder angeguckt, so vorwurfsvoll, als hätt’ sie so was nicht von ihm erwartet. An der Abzweigung nach Steinried sind sie beide ausgestiegen.“ „Bei Steinried war das?“ fragte ich. „Und da täuschen Sie sich bestimmt nicht?“ Er schüttelte den Kopf. Ich holte Gerda Drawerts Foto aus der Tasche und zeigte es ihm. „War es dieses Mädchen?“ Er betrachtete das Bild und sagte: „Die war’s. Da täusche ich mich auch nicht.“
19 Es war schon sehr spät, als ich an jenem Abend im Büro eintraf. Grit saß in ihrem Sessel, den Kopf auf der Schreibtischplatte. „Hallo!“ rief ich. „Aufwachen! Der Chef ist da!“ Sie kam nur langsam zu sich, rieb sich die Augen und wünschte mir gähnend einen guten Abend. Ich zog den Besuchersessel heran, nahm Notizbuch und Druckstift 163
aus der Tasche und sagte: „Es ist im Wald versteckt und fängt mit F an. Was ist das?“ „Ein Fliegenpilz“, antwortete Grit artig wie ein Schulmädchen. Und mit dieser Antwort schien sie den letzten Rest Müdigkeit überwunden zu haben. „Ist das eine Art?“ fauchte sie los. „Die Sekretärin bis in die Nacht hinein im Büro warten zu lassen, bloß damit man mit ihr Kreuzworträtsel raten kann!“ Ich stopfte mir eine Pfeife und sagte: „Wenn das Rätsel von einem Ermordeten aufgegeben wird, sollte man auch die Nachtstunden nicht scheuen, um es zu lösen.“ Dann erzählte ich ihr, was sich in Steinried abgespielt und was Otto Gebler noch im Sterben auf den Zettel geschrieben hatte. „Mit diesem F“, sagte ich, „beginnt die letzte Spalte eines Kreuzworträtsels, das es auszufüllen gilt. Mir fällt immer nur Flinte ein, aber das ist Unsinn, denn das Mädchen ist erschlagen und nicht erschossen worden.“ Wir suchten eine Menge Wörter zusammen, die mit F begannen, die uns aber, von Falke über Fuchs, Fuß und Futter, nicht sehr sinnvoll vorkamen. „Fe – Fi – Fo“, murmelte Grit und gähnte, „ich hätte beinahe Fogel gesagt.“ „Vielleicht ist Fo gar nicht so dumm“, entgegnete ich, „Fo wie Forkmann.“ Grit bekam große runde Augen. „Aber klar!“ rief sie. „Das wird es sein! Er hat Luisa Forkmann gesehen! Nur … dann hätte sie ja Gerda Drawert …“ „Moment mal“, unterbrach ich sie, „von der Forkmann könnte es eine Verbindung zu Joseph Huslinger geben, denn der hat mich ganz gottserbärmlich belogen.“ Ich erzählte ihr, was ich eben auf dem Busbahnhof erfahren hatte. 164
„Die arme Luisa“, sagte Grit, „sie hält doch so viel auf ihn. Werden Sie morgen früh nach Grünhübl fahren und Huslinger der Polizei ausliefern?“ „Ich werde die Sache erst mal mit Baierl besprechen. Übrigens, mein Einfall, Fo könne Forkmann heißen, war noch dümmer als Ihr Fogel. Woher sollte Gebler denn Fräulein Forkmanns Namen kennen? Außerdem taucht diese Dame zwar überall dort auf, wo sie nichts zu suchen hat, aber sie ist keine Mörderin. Das verflixte F bezeichnet sicherlich einen Gegenstand, aber keinen Namen. Vielleicht kommen wir morgen dahinter.“ Ich klopfte meine Pfeife aus und erhob mich. „Jetzt machen wir hier erst einmal die Schotten dicht. Darf ich Ihnen die Treppe hinunter meinen Arm und für die Straße meinen Wagen anbieten?“ „An der Treppe ist das Geländer in Ordnung“, sagte Grit, „und in Passaus engen Straßen bin ich mit meinem Rad beweglicher als Sie mit Ihrem Fiat … Mein Gott, was starren Sie mich denn so an?“ „Sie Herzchen“, sagte ich, „konnte Ihnen das nicht gleich einfallen?“ „Was denn?“ „Das Wort Rad, mein Goldkind. F wie Fahrrad!“
20 Die ersten Stunden des folgenden Tages verbrachte ich damit, immer wieder Kommissar Baierl anzurufen, der nie zu erreichen war, das Telefon anzustarren und Pfeife zu rauchen. Es klingelten ein halbes Dutzend Leute, die nichts mit dem Fall Drawert zu tun hatten und die ich alle 165
zum Teufel wünschte. Gegen vierzehn Uhr meldete sich endlich Kommissar Baierl. „Hallo, Eiserbeck“, rief er, „wollen Sie sich in zwei Stunden an der Donaubrücke mit mir treffen?“ „Hübsch, daß Sie sich noch an mich erinnern! Ich versuche schon den ganzen Tag, Ihnen eine Neuigkeit zu servieren.“ „Fein. Ich habe auch eine Kleinigkeit für Sie, eine Bestätigung sozusagen: Gebler ist wirklich mit Arsenik vergiftet worden. Also kommen Sie in zwei Stunden, und lassen Sie Ihren Fiat zu Hause. Ich nehme Sie in meinem Wagen mit, dann können wir uns während der Fahrt unterhalten.“ „Einverstanden“, sagte ich und legte den Hörer auf. Grit empfahl ich, auf Luisa Forkmann zu achten, so gut das bei dieser eigensinnigen Dame möglich war, dann ging ich ins nächstliegende Gasthaus, um ein paar Bissen zu essen, und überließ Grit die Telefonwache. Als ich zurückkam, telefonierte sie sehr eifrig, versuchte irgend jemandem einzureden, daß er unbedingt mit mir persönlich über seine Angelegenheit sprechen müsse. „Haben Sie den Kommissar wieder am Apparat?“ fragte ich. Sie schüttelte den Kopf, deckte mit der Hand die Sprechmuschel ab und verriet mir, daß es unsere rothaarige Klientin sei, die ihr hübsches Näschen wieder in eine Sache stecken wollte, die sie nichts anginge. „Sie sagt, sie wolle zu Willi Schembor“, flüsterte Grit und hielt mir den Hörer entgegen. „Sprechen Sie doch selbst mal mit ihr.“ Ich sprach mit ihr. „Guten Tag, Fräulein Forkmann. Nett, daß Sie wieder was von sich hören lassen.“ 166
„Sie werden gleich staunen, was Sie von mir zu hören kriegen!“ Der Stimme nach zu urteilen, hatte sie einige Mühe, ihrer Erregung Herr zu werden. „Herr Schembor hat mich angerufen! Er fürchtet, daß ich über ihn Gerüchte verbreiten werde, und er will mir schwarz auf weiß beweisen, daß Gerda Drawert das Kind nicht von ihm hatte.“ „Aha. Und nun sind Sie drauf und dran, sich diesen Beweis anzusehen.“ „Natürlich. Ich bin für sechzehn Uhr mit ihm verabredet.“ „Um sechzehn Uhr haben Sie noch Bruckmanns Touristen durch die Stadt zu schleusen und ihnen das Büro des berühmten Detektivs Eiserbeck anzupreisen.“ „Eben nicht. Gestern gab’s ’ne Menge Überstunden, und heute nachmittag habe ich frei.“ „Soso. Und wo sind Sie jetzt?“ „An der Bushaltestelle Donaubrücke in der Ilzstadt. Mit dem nächsten Bus, der kommt, fahre ich los.“ Und mit einem Seufzer fügte sie hinzu: „Wissen Sie, Herr Eiserbeck, wenn dieser Schembor wirklich einen Beweis hat, dann fängt für mich die ganze Quälerei wieder von vorn an. Dann könnte es Joseph Huslinger doch gewesen sein. Oder – haben Sie schon etwas herausgefunden, das meinen Verlobten entlastet?“ „Ich werde bald etwas haben“, sagte ich, „vielleicht können Sie sich bis dahin freundlicherweise zurückhalten.“ „Ich weiß nicht recht“, entgegnete Luisa Forkmann zögernd. „Die Polizei haben Sie mir zwar vom Halse gehalten, aber ansonsten kommen Sie für meinen Geschmack zu langsam voran. Glauben Sie, daß Willi Schembor einen Beweis hat?“ 167
„Er hat einen Beweis“, sagte ich, „und was für einen! Gerda Drawert muß ein sehr weit vorausschauendes Mädchen gewesen sein. Sie hat ihm einen Brief in die Hand gedrückt, in dem sie schreibt, Schembor sei nicht der Vater ihres Kindes, und sie wolle nicht, daß er dem Gerede der Leute ausgesetzt sei. Danach ist sie gestorben.“ „Das mit dem Brief stimmt wirklich?“ fragte sie mißtrauisch. „Haargenau. Und jetzt, da Sie es wissen, gehen Sie mal schön nach Passau zurück.“ „Ich möchte diesen Brief aber selbst sehen“, beharrte sie, „und ich möchte auch noch einmal mit Herrn Schembor sprechen. Sie, Sie reden mir immer so … na, da weiß ich nie, ob Sie es überhaupt ernst meinen.“ „Ich meine es sehr ernst“, entgegnete ich. „Wo wollen Sie sich eigentlich mit Herrn Schembor treffen?“ „Auf dem Weg zum Büchlberger Steinbruch.“ „Das ist ja prächtig!“ rief ich. „Wissen Sie, wenn man aus Versehen in den Steinbruch rutscht, fällt man so schnell und so tief, daß man sich den Brief von Fräulein Drawert gar nicht mehr richtig durchlesen kann!“ „Jetzt reden Sie schon wieder dummes Zeug“, sagte Fräulein Forkmann mit weinerlicher Stimme. „Sie kriegen nichts heraus, aber mir wollen Sie Angst einjagen, wenn ich selbst etwas unternehme. Ach, da kommt ja der Bus! Adieu, Herr Eiserbeck!“ Sie hatte aufgelegt, ehe ich noch etwas erwidern konnte. „Es ist zum Haareraufen!“ sagte ich zu Grit. „Dieses Mädchen ist ein lebendiger Beweis für die Richtigkeit des Sprichwortes, daß Eifersucht blind mache. Blind und dumm, in diesem Fall! Sie hat in ihrem hübschen Köpfchen nur die Sorge, ein anderes Mädchen könne von Huslinger ein Kind bekommen; Platz für eine gesunde 168
Portion Überlegung bleibt da nicht übrig. Grit, Sie verlassen das Büro nicht, bis ich wieder hier auftauche. Und richten Sie sich auf Besuch ein.“ Ich rannte in den Hof, lancierte voller Ungeduld und mit kleinen Flüchen den Fiat durch die schmale Ausfahrt auf die Straße und fuhr zur Donaubrücke. Aber erst als ich die Ilzstadt hinter mir hatte, konnte ich den Motor auf Hochtouren bringen und losjagen wie die Feuerwehr. Den Bus überholte ich noch vor Salzweg, dem nächsten Ort, in dem er halten würde. Ich fuhr voraus, parkte den Wagen direkt an der Haltestelle, stieg aus und wartete, bis der Bus heran war. Als er stoppte, sprang ich mit einem Satz zur Fahrerkabine hoch und klopfte gegen die Glasscheibe. Unwillig schob der Fahrer das Fenster auf, und ich hielt schnell die Hand mit meinem Ausweis hoch. „Ich bin Privatdetektiv“, sagte ich, „und von der Polizei beauftragt, ein rotblondes Mädchen namens Luisa Forkmann aus diesem Bus zu holen.“ Er murrte, so etwas sei ihm noch nicht vorgekommen, und fragte, ob ich das Mädchen schon entdeckt habe. „Ja“, sagte ich, „ich schnappe sie mir jetzt, und wenn ich mit ihr draußen bin, können Sie weiterfahren.“ Er nickte. Fräulein Forkmann saß auf einem der hinteren Plätze, nicht allzuweit vom Ausgang entfernt. Sie blickte mir entgegen wie ein Tiger, auf den eine Schlange zukriecht. „Steigen Sie aus“, sagte ich zu ihr. „Für Sie ist hier Endstation.“ „Unterstehen Sie sich, mich anzufassen und hier herauszuholen!“ rief sie empört. Ich packte sie ziemlich derb am Handgelenk und zog sie vom Sitz hoch. Sie kreischte, die Leute im Bus 169
kreischten mit und schimpften mich einen Rohling. Der Fahrer schob seinen Mund dicht an eine gucklochgroße Öffnung, durch die er von seiner Kabine aus in den Fahrgastraum rufen konnte. „Lassen Sie den Mann das Mädchen rausbringen!“ brüllte er. „Sie wird von der Polizei gesucht!“ Augenblicklich wichen die Leute zur Seite. Ich zerrte Luisa Forkmann die Stufen hinunter, und der Fahrer ließ hinter uns die Tür zurasseln. Dann gab er Gas und fuhr weiter. „Was werde ich?“ schrie Luisa. „Wieso werde ich von der Polizei gesucht?“ „Beruhigen Sie sich“, sagte ich und führte sie zu meinem Wagen. „Ich mußte mir nur etwas einfallen lassen, damit ich Sie aus dem Bus rauskriegte.“ Bevor sie sich von ihrer Überraschung erholen und sich wieder empören konnte, saß sie schon neben mir im Wagen. „Nein!“ rief sie, als sie merkte, daß ich den Fiat wendete, um zur Stadt zurückzufahren. „Das können Sie mit mir nicht machen! Ich werde dafür sorgen, daß Sie die längste Zeit Detektiv gewesen sind! Ich habe Sie nicht engagiert, damit Sie mir meine Freiheit rauben!“ „Und ich bin schon von klügeren Klienten engagiert worden!“ Sie langte nach dem Türgriff. „Sie sind widerlich!“ rief sie, „Ich springe lieber hinaus, als noch eine Minute länger mit Ihnen zusammen zu sein!“ „Wenn Sie bei dem Tempo, das ich fahre, hinausspringen, werden Sie keine Gelegenheit mehr haben, die Auflösung des Falles Gerda Drawert kennenzulernen. Und Herr Huslinger muß sich dann nach einer anderen Braut umsehen. Hoffentlich erwischt er eine, die weniger verbohrt und eifersüchtig ist als Sie.“ 170
Sie zog die Hand vom Türgriff zurück. „Wenn doch endlich alles vorbei wäre“, sagte sie und weinte. Ich streichelte über ihr Haar. „Seien Sie artig, und vertrauen Sie Georg Eiserbeck. Er wird ganz bestimmt bald zum Finale blasen.“ Ich gewahrte Kommissar Baierls Volkswagen schon von weitem. Er parkte am Straßenrand, dort, wo die Waldstraße in die Ilzstadt führt. Einen Augenblick überlegte ich, ob ich einfach vorbeirasen und später so tun sollte, als hätte ich ihn nicht bemerkt, aber da stieg er schon aus und winkte; er hatte meinen Fiat erkannt. Ich bremste und kurbelte das Wagenfenster herunter. „Hallo, Kommissar!“ Er kam über die Straße gestampft und blickte mich an, als hätte ich ihm einen Jahreslohn gestohlen. „Wo kommen Sie denn her?“ schnauzte er mich an. „Sind Sie in Steinried gewesen.“ „Nicht ganz“, entgegnete ich. „Und ich habe auch unsere Verabredung um sechzehn Uhr nicht vergessen. Nur … diese Dame hier wollte in Steinried Detektiv spielen, und ich lasse mir nicht gern ins Handwerk pfuschen.“ Ich nickte zu Luisa Forkmann hin, die mit gespitzten Lippen und verweinten Augen neben mir saß und starr geradeaus blickte. „Fräulein Forkmann“, sagte Baierl, „warum haben Sie Eiserbeck eigentlich engagiert? Soll er den Mord an Gerda Drawert aufdecken oder die Polizei auf Ihren Leichnam aufmerksam machen?“ Das Mädchen schwieg, sah weiterhin geradeaus und zog die Lippen noch spitzer zusammen. „Wahrscheinlich weiß sie es selbst nicht“, entgegnete ich. „Sie weiß wenig und ahnt viel, und das bringt sie ein 171
bißchen durcheinander. Ich werde sie jetzt in mein Büro bringen und meiner Sekretärin anvertrauen.“ „Beeilen Sie sich“, sagte der Kommissar und ging zu seinem Wagen zurück. Wir fuhren los, und wenig später schob ich meine rotblonde Klientin in Grits Sekretariat. Grit berichtete mir zugleich, daß der Kommissar bereits angerufen habe und auf mich warte. „Ich habe ihm erzählt, daß Sie im Bräustübl nur noch ein paar Bissen essen.“ „Fein“, sagte ich, „aber diesmal hat Ihre Diplomatie nichts genutzt, wir sind ihm direkt in die Arme gelaufen. Und nun kümmern Sie sich um meinen Gast. Lassen Sie sich nicht erweichen, wenn Fräulein Forkmann Heimweh bekommt, und fallen Sie auf keinen Trick von ihr herein.“ „I wo“, sagte Grit. „Wir werden es uns hier gemütlich machen, bis Sie zurück sind.“ Ich streichelte Grit mit dem Handrücken über die Wange, nickte meiner Klientin zu und ging aus dem Zimmer. Wenn ich Grit streichle, dann hat das nichts mit Liebe zu tun. Es ist eine Geste der Freundschaft und des gegenseitigen Einverständnisses. Schließlich kann ich einem neunzehnjährigen Mädchen nicht mit meiner Pranke auf die Schulter hauen, wie ich das mit Ed immer getan habe, meinem besten Freund in New York. Und Grit versteht dieses Streicheln richtig. Kommissar Baierl saß im Wagen und las Zeitung. Ich klopfte gegen die Scheibe, er legte die Zeitung beiseite und öffnete die Tür neben dem Fahrersitz. „Also, was wollten Sie mir erzählen?“ fragte er. „Huslinger hat uns belogen“, sagte ich. „Ich glaube, die haben uns alle belogen: Huslinger, 172
Schembor und Haidgruber. Diese drei Scheinheiligen! Was ist los mit dem Huslinger?“ Ich erzählte dem Kommissar, daß der Glasbläser kein Alibi für den Mordabend habe, und berichtete von meinem Gespräch mit dem Busfahrer. Aber ich ließ nichts davon verlauten, daß Luisa Forkmann an jenem Abend ihren Verlobten mit Gerda Drawert an der Ilz überrascht hatte. „So ist das also“, sagte Baierl grimmig, „na, da haben wir ja gleich ein Gesprächsthema, wenn wir dem Herrn Künstler auf die Bude rücken. Übrigens nehme ich an, daß das Alibi der anderen beiden auch nicht viel mehr taugt. Wenn man nur endlich dahinterkäme … Jedenfalls werde ich sie jetzt alle noch einmal ins Gebet nehmen, diese drei Ehrenmänner! Und Sie, Sie haben Ihre Nase schon so tief in der Angelegenheit drin, daß Sie ruhig mitkommen könnten.“ Ich stieg ein. „Haidgruber hat ganz plötzlich zwei Tage freigenommen. Angeblich geht es seinem Vater nicht gut. Ich schlage vor, wir fahren zuerst nach Büchlberg, um das nachzuprüfen, knöpfen uns dann Schembor vor und besuchen anschließend Huslinger. Vielleicht bringen wir am Ende unserer Reise den Mörder gleich mit, oder wir wissen zumindest, wen wir in den nächsten Tagen besonders unter die Lupe zu nehmen haben. Ich achte dabei vor allem auf Indizien, und Sie registrieren die psychologische Reaktion der Leute. Einverstanden?“ „Einverstanden“, sagte ich. „Steht eigentlich schon fest, was für ein Präparat Gebler geschluckt hat?“ „Ein arsenhaltiges Schädlingsbekämpfungsmittel war das“, sagte Baierl. „So ein Gelump, wie man es hier in jeder Drogerie zu kaufen kriegt. Auf dem Tortenrest, den 173
wir eingeschickt haben, war noch etwas davon nachzuweisen.“ Ich dachte an das Paket Pflanzenschutzmittel, das ich in Gerda Drawerts Nachttisch unter allerlei Kosmetikartikeln gefunden hatte. Aber ich behielt diesen merkwürdigen Umstand für mich, da ich ihm noch nicht den rechten Platz innerhalb der Ereignisse um den Mord an Otto Gebler zuweisen konnte. Wir hatten inzwischen die Ilzstadt hinter uns gelassen und fuhren in schnellem Tempo auf der asphaltierten Straße durch den Wald in nördlicher Richtung. Baierl sagte: „Finden Sie es nicht merkwürdig, daß die Forkmann während der Beerdigung, also in der Zeit, als Otto Gebler vergiftet wurde, in Steinried gewesen ist?“ „Daran ist nichts Merkwürdiges“, widersprach ich. „Sie arbeitet für Bruckmann und war mit einer Reisegruppe unterwegs.“ „Sie ist so verflucht hübsch und so verflucht rothaarig, daß man sie glattweg für eine Giftmischerin halten könnte!“ „Kommissar“, sagte ich entrüstet, „wo ist denn Ihre Logik geblieben?“ Der Kommissar wiegte seinen schweren Schädel hin und her. „Gerda Drawert kann auch von einer Frau hinterrücks niedergeschlagen worden sein“, sagte er. „Der Umstand, daß man ihr noch einige Schläge versetzt hat, als sie schon halb oder ganz tot war, spricht sogar sehr dafür. Wenn unliebsame Personen mit Gift ins Jenseits befördert werden, stinkt das auch nach einer Frau. Die ganze Menschheitsgeschichte ist ja mit solchem Gestank durchsetzt.“ „Die Morde an Gerda Drawert und Otto Gebler sind von jemandem ausgeklügelt worden, der mit kaltblütigem Verstand arbeitet“, entgegnete ich. 174
„Sie meinen, Frauen könnten keinen kaltblütigen Verstand haben?“ „Sie können. Aber unserer schönen Rotblonden möchte ich jede Kaltblütigkeit absprechen. Und Verstand? Mein Gott, das bißchen, das sie davon besitzt, wird zumeist von ihrer Eifersucht überschattet.“ „Das ist mir neu an Ihnen“, sagte der Kommissar, „daß Sie Eifersucht nicht als ausreichendes Motiv für ein, zwei Morde gelten lassen.“ „In diesem Falle nicht, Kommissar. Meine Auftraggeberin wäre höchstens zu einer Affekthandlung fähig, aber nicht zu zwei wohldurchdachten Morden.“ „Daß Privatdetektive doch immer so genau wissen, wozu Menschen fähig sind und wozu nicht“, knurrte Baierl. „Aber immer erst, nachdem sie ein, zwei Leichen gefunden haben. Eher scheint ihr Denkapparat einfach nicht in Schwung zu kommen.“ „Na schön“, entgegnete ich lächelnd, „da meiner aber nun gerade mal funktioniert, lassen Sie ihn doch produzieren. Also: Woher sollte Fräulein Forkmann gewußt haben, daß Otto Gebler uns etwas anvertrauen wollte? Ich denke mir die Sache so: Gerda Drawerts Mörder stand in der Nähe, als Doktor Maxant dem alten Gebler erzählte, ich sei Privatdetektiv. Er hörte auch, daß Gebler äußerte, ihm sei noch etwas eingefallen, worüber er mit Ihnen oder mit mir sprechen wollte. Aber wir hatten das Zimmer schon verlassen. Maxant hat dem Alten versprochen, uns so schnell wie möglich Bescheid zu sagen. Auf das alles muß der Mörder sich seinen Reim gemacht haben. Sicherlich ist es ihm nicht schwergefallen, in dem Trubel, der in der Drawertschen Wohnung herrschte, unbemerkt das Gift auf das Tortenstück zu streuen, das Frau Drawert für Gebler bereitgestellt hatte.“ 175
„Wer von den Verdächtigen befand sich denn im Zimmer, als der Doktor mit dem Alten gesprochen hat?“ „Alle drei“, sagte ich. „Haidgruber und Huslinger sind zusammen mit mir hinaufgegangen, und Schembor war schon oben.“ Wir hatten inzwischen die Weggabelung erreicht, und der Kommissar fluchte über den schlechten Weg, den wir entlangholperten, um nach Büchlberg zu gelangen. Der Ort unterschied sich nicht wesentlich von Steinried und den anderen Dörfern des Bayrischen Waldes. Auch hier duckten sich Blockhäuser und Gehöfte an waldreiche Hügel. Baierl parkte den Wagen am Ortseingang, wir stiegen aus und fragten den ersten Menschen, den wir trafen, einen hinkenden Alten mit einem Rechen über der Schulter, wo Haidgruber, der Sprengmeister vom Steinbruch, wohne. Der Mann beschrieb uns den Weg und hinkte dann auf eine Wiese zu, wahrscheinlich um das Heu zu wenden. Wir stiegen hügelan, vorbei an einer Mühle, deren Flügel im Winde ächzten. Von Haidgrubers Haus aus konnte man in der Ferne den Steinbruch sehen. Der Kommissar klopfte an die hölzerne Haustür, an der keine Klingel befestigt war. Eine Frau öffnete uns und fragte erschrocken, wer wir seien und zu wem wir wollten. „Zu Herrn Haidgruber“, antwortete Baierl, „zu Herrn Anton Haidgruber.“ „Das ist mein Sohn“, sagte sie, „kommen Sie nur herein.“ Im Hausflur legte sie einen Finger an die Lippen. „Bitte, seien Sie leise. Mein Mann ist gestern im Steinbruch gestürzt. Es geht ihm nicht gut.“ Sie schüttelte den Kopf und wiederholte: „Gar nicht gut geht es ihm. Aber jetzt ist er eingeschlafen.“ 176
Sie führte uns ins Wohnzimmer, einen dunklen, mit schweren Möbeln und Plüschvorhängen ausgestatteten Raum. „Ich schicke meinen Sohn gleich zu Ihnen“, sagte sie und verschwand. Anton Haidgruber trat nahezu geräuschlos ins Zimmer. Ein mokantes Lächeln hing um seine Mundwinkel. „Sie lassen aber auch keine Gelegenheit zu einem Verhör aus“, begrüßte er uns, „selbst auf die Gefahr hin, daß es pietätlos erscheinen mag. Sicherlich haben Sie schon in Passau erfahren, daß mein Vater schwer krank ist.“ „Der Mörder läßt auch keine Gelegenheit aus, Leute umzubringen“, grollte Baierl. „Können Sie sich an den alten Mann erinnern, der gestern, als Sie Frau Drawert kondolierten, in der Küche saß?“ „Ja, er war der einzige, der keine Trauerkleidung trug.“ „Er ist ermordet worden.“ „Oh“, stieß Haidgruber hervor, und das Lächeln auf seinem Gesicht wich einer tiefen Bestürzung. „Haben Sie diesen Mann vorher schon irgendwo einmal gesehen?“ „Ja, in Steinried, wenn ich über Steinried zu den Büchlberger Steinbrüchen gelaufen bin. Ich habe ihn gegrüßt und ihm guten Weg gewünscht, weiter hatte ich nichts mit ihm zu schaffen.“ „Wenn Sie Ihren Vater in Büchlberg besuchen“, warf ich ein, „benutzen Sie da manchmal ein Fahrrad?“ „Ein … Fahrrad?“ fragte Haidgruber mit einer Entrüstung zurück, als hätte ich etwas Ehrenrühriges geäußert. „Ich besitze doch kein Fahrrad! Ich werde mir innerhalb des nächsten Vierteljahres einen Wagen zulegen!“ Der Kommissar gab mir mit einem ziemlich wütenden Blick zu verstehen, daß ich mich mit meinen abwegigen 177
Fragen besser nicht in sein Verhör einmischen sollte. Dann wandte er sich wieder Haidgruber zu. „Dieser alte Mann aus Steinried hat etwas über Gerda Drawerts Mörder gewußt“, sagte Baierl, „und er wollte es uns anvertrauen, aber der Mörder ist ihm zuvorgekommen. Er hat das Gespräch zwischen Gebler und dem Doktor gehört. Er stand in der Nähe der beiden Männer. Sie, Herr Haidgruber, waren während dieser Zeit im Zimmer und konnten alles mit anhören.“ Haidgruber sprang von seinem Stuhl hoch und trat einen Schritt auf mich zu, als suche er bei mir Hilfe. „Das ist impertinent“, sagte er, und als ich nichts erwiderte, wiederholte er es gleich darauf. „Na schön“, knurrte Baierl, „Sie haben nun Ihre Meinung geäußert, und jetzt erzählen Sie uns etwas über den Fall. Sie dürfen sich dazu wieder setzen.“ Haidgruber nahm Platz, hielt den Oberkörper steif und versuchte, Würde und Empörung auszudrücken. Nur die Augen, die seine Angst nicht zu verbergen mochten, zeigten, wie unruhig er war. „Ich habe Ihnen zu diesem ‚Fall‘, wie Sie es nennen, nichts zu sagen.“ „Aller Anfang ist schwer“, sagte der Kommissar brummig, „also werde ich beginnen: Sie waren Fräulein Drawerts Chef und ihr Geliebter, Sie haben ihr ein Kind gemacht und sie dann abgeschoben, weil Sie kein kleines Mädchen aus dem Bayrischen Wald heiraten wollten …“ „Fräulein Drawert bekam kein Kind von mir!“ „Moment! Jetzt erzähle ich meine Version. Wenn ich fertig bin, dürfen Sie mich berichtigen. Sie haben dem Mädchen eine Gehaltserhöhung bewilligt und ihr einen Tausender geschickt, aber sie wollte kein Geld, sie wollte einen Vater für ihr Kind. Da haben Sie sie umgebracht. Sie haben am Mordabend Ihren Vater besucht, sind dann 178
nach Steinried rübergelaufen und haben sich im Schwarzen Wald mit dem Mädchen getroffen. Vielleicht hat der alte Gebler Sie dort beobachtet. Weil er uns das erzählen wollte, haben Sie ihn vergiftet. Das paßt doch alles wundervoll zusammen, oder nicht?“ „Wundervoll kann ich höchstens die Schnitzer finden, die in Ihrer Darstellung stecken.“ Haidgruber sprach langsam und ruhig, aber auf seiner Stirn glänzten Schweißtropfen. Ich vermutete, daß es Angstschweiß war. „Wenn Gerda Drawert von mir schwanger gewesen wäre, hätte sie das Kind längst haben müssen.“ „Das ist eine Behauptung ohne jeglichen Wert“, sagte der Kommissar. „Das Geld“, fuhr Haidgruber fort, „habe ich erst nach jenem Freitag abgeschickt. Das hätte ich nicht getan, wenn ich der Mörder gewesen wäre oder auch nur gewußt hätte, daß man sie ermordet hat …“ Jetzt war Haidgruber an dem Punkt angelangt, über den er mir noch Aufklärung schuldete, deshalb unterbrach ich ihn. „Sie haben aber gewußt, daß Gerda Drawert verschwunden ist“, warf ich ein, „Sie hatten es von mir erfahren.“ Der Kommissar blickte mich an, als wollte er mich im nächsten Augenblick in Handschellen legen. Um ihm keine Gelegenheit zu geben, seinen Unmut laut werden zu lassen, sprach ich schnell weiter. „Aus irgendeinem Grunde haben Sie geglaubt, etwas ganz Schlaues zu tun, wenn Sie dem verschwundenen Mädchen einen Tausender schickten. In Wirklichkeit war es das Dümmste, was Ihnen einfallen konnte. Es war so dumm, daß ich Sie deshalb beinahe nicht für den Mörder halten möchte. Allerdings wird das die Polizei wenig beeindrucken. Bei meinem letzten Besuch habe ich Ihnen prophezeit, daß 179
Sie noch froh sein werden, wenn Sie mir die Geschichte von dem Tausender erzählen dürfen. Jetzt stehen Sie unter dem weiß Gott nicht aus der Luft gegriffenen Verdacht, zwei Menschen getötet zu haben. Meinen Sie nicht, daß nun für Sie der Zeitpunkt gekommen ist, endlich mit der ganzen Wahrheit herauszurücken?“ Haidgruber preßte die Lippen zusammen, und seine unruhigen Blicke glitten wieder durchs Zimmer. „Ja“, sagte er endlich leise, „es steht schlecht um mich, und ich werde den Rest Wahrheit, den ich bisher verschwiegen habe, auch noch erzählen. Ich habe Gerda Drawert die Gehaltserhöhung nicht freiwillig zugebilligt, und ich habe ihr die tausend Mark auch nicht als Abschiedsgeschenk gesandt. Sie hat mich dazu gezwungen.“ Er machte eine kleine Pause, atmete tief und fuhr dann fort: „Ich habe es Ihnen deshalb nicht gesagt, weil Sie es mir sicherlich kaum geglaubt hätten. Jeder, der Fräulein Drawert kannte, hätte geschworen, daß sie ein gutmütiges, sanftes Mädchen sei, völlig unfähig, jemanden zu erpressen. Aber in den letzten Wochen war sie wie ausgewechselt. Zuerst versuchte sie mir mit Geschick und Ausdauer einzureden, daß sie von mir schwanger sei. Als sie merkte, daß ich mich darauf nicht einließ, packte sie mich bei meiner empfindlichsten Stelle – sie drohte mir mit einem öffentlichen Skandal. Sie wollte mich als Kindesvater angeben, gleichviel, ob sich später, beim Blutgruppentest zum Beispiel, herausstellen würde, daß ich als Kindesvater ausschied. Der Skandal, ein Verhältnis mit einer meiner Angestellten gehabt zu haben, wäre trotzdem groß genug gewesen.“ Er schwieg einen Augenblick und wischte sich mit einem blütenweißen Taschentuch den Schweiß von der Stirn. 180
„Wie war das nun?“ fragte ich. „Wollte Fräulein Drawert Sie auf diese Weise zur Heirat zwingen, oder wollte sie eine Gehaltserhöhung, wollte sie Geld?“ „Sie wollte Geld“, sagte Haidgruber, „und das ist es eben, was so gar nicht zu ihr paßte. Zuerst rang sie mir die Gehaltserhöhung ab, dann wollte sie einen Tausender mit der Post überwiesen haben, weil sie ja kein Konto besaß.“ „In ähnlichen Fällen“, sagte ich, „pflegt der Empfänger Wert darauf zu legen, daß das Geld ihm bar ausgezahlt wird.“ „Fräulein Drawert hielt mich aber immer dazu an, ihr das Geld zu überweisen.“ Er wollte sich noch einmal mit dem Taschentuch über die Stirn fahren, aber er hielt mitten in der Bewegung inne. „Donnerwetter! Daß diese Angelegenheit ziemlich eigenartig ist, fällt mir erst jetzt auf! Mir kommt es so vor, als wäre es für sie gar keine große Freude gewesen, wenn ich ihr das Geld bar in die Hand gedrückt hätte … Sie sagte mir, daß sie das Kind auf keinen Fall hier austragen werde; aber selbst wenn sie für kurze Zeit oder für immer von Passau wegginge, würde sie noch für einen Skandal sorgen. Doch wenn ich ihr das Geld anweisen würde, würde sie mich in Ruhe lassen und mir wahrscheinlich nie mehr zu Gesicht kommen.“ „Sie haben sich trotzdem geweigert, eine Anweisung zu schreiben?“ „Ja. Sehen Sie, diese kleine, billige Erpressung, das paßte einfach nicht zu dem Mädel! Ich dachte, sie habe Streit mit dem wirklichen Vater des Kindes gehabt und sei nun in ihrem Zustand reichlich durcheinander. Ich nahm an, daß sie im Laufe der Zeit wieder zu sich selbst finden und von der Sache ablassen würde. Aber dann 181
kamen Sie und sagten, daß sie verschwunden sei. Ich fürchtete, sie würde ihre Drohung wahrmachen und an meinen Chef schreiben oder mir auf irgendeine Weise einen Skandal einbrocken, und so schickte ich ihr das Geld. Da ich nicht wußte, wo sie sich befand und wer es ihr zuspielen würde, wollte ich meinen Namen nicht angeben und manipulierte die Überweisung als Zahlung des Reisebüros. Ich sagte mir, Fräulein Drawert würde schon wissen, von wem es käme.“ „Fräulein Drawert hatte auch kurzfristig um Urlaub gebeten, nicht wahr?“ „Gebeten?“ Haidgruber lachte, aber es klang keineswegs fröhlich. „Das war ein Teil ihres Erpressungsplanes“, sagte er. „Mitten in der Saison von heute auf morgen vierzehn Tage Urlaub für eine Angestellte herausschinden! Was glauben Sie, was mich das für Nervenkraft gekostet hat!“ „Und was schließen Sie nun aus der Tatsache, daß sich Fräulein Drawert in der letzten Zeit so sonderbar, so gar nicht ihrem Wesen entsprechend verhalten hat?“ fragte ich. Er zwang sich, seine unsteten Blicke auf mein Gesicht zu konzentrieren. „Ich schließe daraus“, sagte er langsam, „daß jemand vorhatte, Fräulein Drawert umzubringen, und den Verdacht auf mich lenken wollte.“
21 Von Büchlberg nach Steinried führte nur ein Pfad durch den Wald, jener, auf dem ich vor Tagen Haidgruber 182
nachgeschlichen war, bis er über einen Wurzelstubben stolperte und hinfiel. Mit dem Wagen konnte man diesen Pfad nicht befahren. Wir holperten also zur Weggabelung zurück, um von dort aus durch den grünen Tunnel und über die Steinwiese ins Dorf zu gelangen. „Was halten Sie von Haidgruber?“ fragte mich der Kommissar, während er konzentriert auf den Weg blickte, um den größten Steinen und Wurzeln auszuweichen. „Für mich bleibt er weiterhin verdächtig“, entgegnete ich. „Er ist ziemlich berechnend. Ihm sind nur sein Ansehen und seine Karriere heilig. Dafür würde er über Leichen gehen. Trotzdem kann man die Version, daß jemand den Verdacht auf ihn lenken wollte, nicht so leicht von der Hand weisen.“ Wir waren an der Weggabelung angelangt. Baierl schaute auf die Armbanduhr. „In Grünhübl ist jetzt Schichtwechsel in der Glasfabrik“, sagte er, „vielleicht sollten wir erst dorthin fahren. Huslinger könnte sich für den Abend etwas vorgenommen haben und nicht zu Hause sein, wenn wir später kommen. Bei Schembor dagegen besteht die Möglichkeit, daß wir ihn jetzt irgendwo im Wald aufstöbern müssen, während er heute abend sicherlich zu Hause ist.“ „Das hat was für sich“, stimmte ich zu, „also auf nach Grünhübl.“ „Dieser Huslinger müßte den alten Gebler eigentlich kennen“, sagte der Kommissar. „Er wohnt doch im Nachbardorf. Ich werde ihm einfach die Fotografie von Gebler unter die Nase halten, wie der vergiftet, mit schmerzverzerrtem Gesicht vor dem Wassertrog liegt.“ „Hoffentlich geht das gut“, sagte ich. „Warum denn nicht?“ „Huslinger ist so verdammt explosiv.“ 183
An der Glasfabrik stieg ich einen Augenblick aus, fragte den Pförtner, ob die Glasbläser der Nachmittagsschicht schon Feierabend hätten, und als er bejahte, fuhren wir sofort zu Huslingers Haus. Der junge Mann öffnete uns selbst. Er trug einen hellen Anzug und sah nahezu vornehm aus mit dem leicht nervösen Ausdruck auf dem schmalen Gesicht. Er führte uns in das Zimmer, in dem die Vitrine mit den Flaschen, Gläsern und Glasfiguren stand, und bot uns Platz an. Während wir uns setzten, blickte er abwechselnd zu Kommissar Baierl und zu mir. „Wir brauchen uns nicht miteinander bekannt zu machen“, sagte der Kommissar. „So wie wir hier im Zimmer sind, kennen wir uns bereits alle.“ Huslinger nickte. „Nur“, fuhr Baierl fort, „sind Sie heute nicht betrunken, Herr Huslinger, und haben auch keine Möglichkeit, sich betrunken zu stellen.“ Er schien unser Täuschungsmanöver an jenem Tag, als Huslinger mir gebeichtet und ich mich durchs Fenster davongemacht hatte, durchschaut zu haben. Huslinger warf mir einen fragenden Blick zu, und ich zwinkerte zurück. Er schien mich zu verstehen. Jedenfalls erwähnte er in seinen Antworten an den Kommissar mit keiner Silbe, daß er, Luisa Forkmann und Gerda Drawert am Abend, bevor das junge Mädchen ermordet wurde, zusammengetroffen waren. Nicht einmal die Eifersucht seiner Verlobten gab er zu, obwohl das nun wirklich kein Geheimnis war. Dann spielte Baierl seinen letzten Trumpf aus. „Wir haben die unangenehme Eigenschaft, Alibis zu überprüfen“, sagte er. „Ihres war auf Sand gebaut. Der Busfahrer kann sich daran erinnern, daß Sie am Mordabend Gerda Drawert die Bustür vor der Nase zugeschlagen haben. 184
Uns aber wollten Sie weismachen, Sie hätten das Mädchen an jenem Abend überhaupt nicht zu Gesicht bekommen.“ Huslinger war jetzt sehr aufgeregt und schlug mit der Faust auf den Tisch. Ein kraftloser Schlag eines aufgebrachten sensiblen Menschen. „Ja, ich habe ihr die Tür vor der Nase zugeknallt“, rief er, „woraus Sie sehen können, daß ich überhaupt nichts mit ihr zu tun haben wollte.“ „Hm“, Baierl nickte, „so kann man es auch nennen. Aber sie ist doch noch reingekommen in den Bus, und Sie sind zusammen mit ihr ausgestiegen. Und nun erzählen Sie mal weiter, Herr Huslinger: Was hat sich dann im Schwarzen Wald abgespielt?“ „Nichts. Ich hatte sie schon in Steinried abgehängt und bin allein durch den Wald nach Hause gegangen.“ „Warum haben Sie uns diese Version vorenthalten?“ „Das ist keine Version!“ rief Huslinger, und seine Stimme zitterte. „Das ist die Wahrheit! Aber wenn ich sie Ihnen auf die Nase gebunden hätte, hätten Sie mich doch gleich einkassiert und die Suche nach dem wirklichen Mörder aufgegeben.“ „Wir wären in diesen Tagen auch ohne Ihr falsches Alibi auf Sie gestoßen“, entgegnete Baierl, „das Mädchen ist nämlich mit einem Glasbläserrohr erschlagen worden.“ Die Stille, die Baierls Worten folgte, war nahezu beängstigend. Der Kommissar starrte mit kalter Ruhe auf Huslinger, der bleich und, wie es schien, ohne zu atmen in seinem Sessel saß. Plötzlich schob Baierl das Foto des ermordeten Otto Gebler über den Tisch. „Kennen Sie diesen Mann?“ Huslinger starrte entsetzt auf das schmerzverzerrte, to185
te Gesicht. „Das ist der Gebler-Otto aus Steinried“, stieß er mühsam hervor. „Das ist das zweite Opfer des Mörders“, sagte der Kommissar. „Derjenige, der Gerda Drawert mit einem Glasbläserrohr erschlagen hat, mit einem Instrument also, das Sie täglich zu Ihrer Arbeit benutzen, hat den alten Mann vergiftet, weil der etwas über den Mord wußte.“ Huslinger sagte noch immer nichts. Er konnte nichts sagen. Er wollte wieder hochfahren, griff aber ins Leere, und ich fing ihn ab, bevor er mit dem Kopf auf die Tischkante schlug. Ich hatte mir gemerkt, wo er die Kognakflasche aufbewahrte, ging zum Schrank und füllte ein Glas. Der Kommissar rüttelte Huslinger, bis er wieder zu sich kam, und wir flößten ihm den Kognak ein. Er hing auf dem Stuhl, als hätten wir ihm eben seine Hinrichtung verkündet. „Mit dem ist nichts mehr anzufangen“, sagte der Kommissar zu mir, und zu Huslinger gewandt: „Sollen wir jemand aus der Nachbarschaft zu Ihnen schicken?“ Huslinger schüttelte den Kopf. „Es geht schon wieder“, sagte er mühsam, „aber … Sie dürfen nicht denken, daß ich das Mädchen umgebracht habe oder den alten Mann. Ich habe sicherlich viel falsch gemacht in meinem Leben, ich rege mich leicht auf und gerate schnell in Wut, aber einen Menschen umbringen – nein, Herr Kommissar!“ Baierl winkte ab und ging zur Tür. „Ich habe trotzdem noch eine Frage an Sie“, sagte ich. „Besitzen Sie ein Fahrrad?“ „Ein Fahrrad?“ fragte er verwundert zurück. „Ja, aber ich benutze es kaum. Früher, als ich noch mit Gerda Drawert ging, da bin ich oft durch den Wald nach Steinried ’rübergefahren.“ 186
„Ich möchte es mir ganz gern einmal ansehen.“ Er führte mich in den Schuppen. Er schien über mein Anliegen ebenso verwundert zu sein wie der Kommissar, der uns kopfschüttelnd folgte. Das Rad lehnte an einem Holzstapel. Es war ein zweites Mal lackiert worden, aber der Lack hatte nicht gehalten, und unter der abblätternden grauen Farbe war eine rote Lackschicht zu sehen. Diese Entdeckung gab mir von allem, was wir bei Huslinger gehört und erlebt hatten, am meisten zu denken.
22 Wir fuhren zur Straße zurück, um dann nach Steinried abzubiegen. Der Kommissar sagte: „Eiserbeck, verraten Sie mir mal, weshalb Sie unsere Kandidaten alle nach einem Fahrrad fragen.“ „Ach“, sagte ich, „das ist nur so eine verrückte Idee von mir. Viel zu unbedeutend, um darüber zu sprechen.“ Baierl brummte, ich sei ein Dickschädel und er werde mir eines Tages sicherlich doch noch meine Lizenz abnehmen müssen, aber er bestand nicht weiter darauf, daß ich ihm den Grund für meine Fragerei nannte. Wir trafen fast gleichzeitig mit Willi Schembor vor dessen Haus ein. Schembor kam auf einem Rad gefahren, einem alten, klapprigen Ding, das sich in nichts von den alten, klapprigen Dingern unterschied, mit denen sich viele Waldler den Weg von Dorf zu Dorf verkürzen. Der Kommissar warf mir einen belustigten Blick zu. Ich zuckte die Schultern und sagte: „Hier habe ich keine Fragen zu stellen – falls Sie das meinen.“ 187
Therese Schembor kam durch den Garten auf uns zu. Sie war wieder tadellos frisiert und trug ein buntes, ärmelloses Hauskleid. „Wenn Sie meinen Mann sprechen wollen, dann kommen Sie nur herein“, sagte sie und Öffnete uns die Gartentür. „Der Kommissar möchte mit Ihrem Mann sprechen“, erwiderte ich, „ich würde es vorziehen, mich mit Ihnen ein wenig zu unterhalten.“ Schembor warf mir einen wütenden Blick zu, aber er führte den Kommissar ohne Widerrede ins Haus. Ich ging neben Frau Schembor langsam über die Wiese. „Haben Sie noch immer Angst, Therese?“ fragte ich. Sie warf den Kopf in den Nacken und lächelte überheblich. „Wovor sollte ich denn Angst haben?“ „Vor der Ungewißheit, die Sie quält, oder vor dem, was Sie inzwischen wissen.“ Ihr Lächeln erstarrte. Sie blickte mich aus den Augenwinkeln heraus fragend an. „Können Sie nicht ein bißchen deutlicher werden?“ „Gestern hat es hier im Dorf wieder einen Toten gegeben“, sagte ich. Der gespannte Ausdruck wich von ihrem Gesicht. „Sie meinen den alten Gebler? Ja, es ist schade um ihn. Er war manchmal ein bißchen schrullig, aber immer hilfsbereit und fröhlich. Man erzählt sich, sein Herz habe versagt.“ „So kann man es auch nennen“, entgegnete ich. „Arsenik ist nun mal ein starkes Gift, das bringt jedes Herz zum Versagen.“ Frau Schembor blieb stehen und starrte mich an. „Gift?“ fragte sie. „Gift hat der alte Mann genommen?“ „Nicht genommen, Frau Schembor, bekommen hat er es. Und zwar von demjenigen, der Gerda Drawert erschlagen hat.“ 188
„Aber … warum denn …?“ „Weil Gebler etwas gewußt hat und weil er das der Polizei oder mir mitteilen wollte.“ „Waren Sie dabei, als er starb?“ fragte Therese. „Wenn ich bis zum Ende der Beerdigung auf dem Friedhof geblieben wäre, hätte ich nicht dabeisein können. Das bedeutet, für den Mörder wäre dann alles planmäßig verlaufen. Aber ich bin früher weggegangen, und Otto Gebler ist in meinen Armen gestorben.“ „Dann – hat er Ihnen noch sagen können, was er auf dem Herzen hatte?“ Frau Schembor sprach ganz ruhig, aber in ihren Augen stand die gleiche Angst wie an jenem Nachmittag, als wir über Gerda Drawerts Mörder gesprochen hatten. „Ich weiß genug“, sagte ich, nur um zu sehen, wie sie darauf reagierte. Sie atmete tief und hastig wie jemand, der gegen ein Schwindelgefühl ankämpft. Das Blut war aus dem Gesicht gewichen, die Lippen waren fahl. „Haben Sie ihn schon verhaften lassen?“ fragte sie, und ihre Stimme war vor Angst so gepreßt, daß es klang, als habe jemand anderes gesprochen. „Nein“, entgegnete ich, „der einzige, der vor Gericht etwas Brauchbares hätte aussagen können, ist ja tot. Aber ich werde trotzdem nicht aufgeben. Ich werde ihm die Tat eines Tages nachweisen können.“ Der Kommissar trat aus dem Haus, kam den Gartenweg entlang und winkte mir, ihm zu folgen. Frau Schembor lehnte am Stamm eines Apfelbaumes. Als der Kommissar zu ihr hinblickte und ihr einen Gruß zurief, versuchte sie zu lächeln; es war ein irres Lächeln. „Was hat sie denn?“ fragte Baierl und drückte die Gartentür hinter sich ins Schloß. „Sie wirkt so verstört.“ 189
„Sie hat Angst“, sagte ich, „daß Sie ihren Mann verhaften. Seitdem sie weiß, daß Gerda Drawert’ tot ist, hat sie diese Angst.“ „So“, sagte Baierl, „und Sie wissen das, seitdem Gerda Drawert tot ist, was?“ Er war stehengeblieben und packte mich plötzlich an den Revers meines Jacketts, wollte mich schütteln, aber ich war stärker als er, und so beutelte er nur mein Jackett. „Was wissen Sie denn alles noch?“ brüllte er. „Was verheimlichen Sie mir?“ „Nehmen Sie Ihre Hände von meinem Anzug“, sagte ich. „Und veranstalten Sie hier keine Schau, besonders vor Schembors Haus nicht.“ Der Kommissar ließ mich los. Ich ging vor ihm her bis zu seinem Wagen, wartete, bis er eingestiegen war und mir die Tür öffnete. Ich setzte mich neben ihn, und während er den Wagen zur Hauptstraße zurücklenkte, sagte ich: „Daß Frau Schembor Angst hat, muß nicht bedeuten, daß sie selbst dem Mädchen etwas angetan hat oder daß sie weiß, wer es gewesen ist. Aber sie ahnt etwas und hat Angst, daß es das Richtige sein könnte. Und was mich betrifft, da gibt es wenig, was ich Ihnen verheimlicht habe. Ein paar Gedanken, zum Beispiel über den Zettel, den ich bei Otto Gebler gefunden habe. Konnten die Schriftsachverständigen etwas damit anfangen?“ Er gab zu, daß weder die noch er selbst etwas damit anzufangen gewußt hätten. „Ich wollte Ihnen gegenüber mit meinen Gedanken nicht eher herausrücken, bis ich mit allen Verdächtigen noch einmal gesprochen und sie in ihrem täglichen Umgang kennengelernt hatte. Ich habe auf ihre Aussagen und vor allem auf ihr Benehmen und ihre Lebenseinstellung geachtet, und deshalb wird die Geschichte, die ich Ihnen jetzt erzählen will, in den Grundzügen stimmen.“ 190
„Soll das heißen, Sie wissen, wer der Mörder ist?“ Ich zuckte die Schultern. „ ‚Wissen‘ würde einschließen, daß ich einen Beweis für meine Annahme hätte, aber es gibt keinen Beweis. Es gibt einige Indizien, die ich mit Ihnen zusammentragen möchte, damit Sie das Bild, das Sie sich über diese Vorfälle machen, vervollständigen können. Vielleicht helfen Ihnen auch die Vorstellungen weiter, die ich darüber habe.“ Der Kommissar kurbelte das Wagenfenster herunter. „Sprechen Sie“, sagte er. „In dieser Geschichte gibt es einen Mörder“, begann ich, „und einige Personen, die als seine Zutreiber fungieren, ohne daß sie davon die geringste Ahnung haben. Für mich beginnt diese Geschichte zweier Morde bei Gerda Drawerts Verlobung. Gerda Drawert, Tippfräulein in Bruckmanns Reisebüro, liebt den Glasbläser Joseph Huslinger und wird von ihm wiedergeliebt Man verlobt sich, will heiraten, die Zukunft sieht ganz nach dem Durchschnittsleben aus, das schon Generationen vor ihnen gelebt haben. Doch plötzlich erwächst ihnen in ihrer privaten Lebenssphäre eine Schwierigkeit, an der ihre gemeinsame Zukunft scheitert: Gerda Drawert bekommt keine Kinder! Für Tausende Frauen, Liebes- oder Ehepaare ist dies sicherlich kein Problem, sie ziehen ein fremdes, elternloses Kind als ihres auf, oder sie finden in ihrem Beruf eine sinnvolle Lebensaufgabe. Hier aber, in diesen gottverlassenen Nestern des Bayrischen Waldes, hat das Leben einer Frau keinen anderen Sinn, als ein eigenes Kind aufzuziehen, und wenn sie keine Kinder bekommen kann, dann ist sie keine ‚richtige Frau‘. Vor ein-, zweihundert Jahren sind solche unglücklichen Wesen noch als Hexen verbrannt worden! 191
In diesem Sinne läßt sich auch der leicht erregbare Joseph Huslinger beeinflussen. Außerdem genießt er als Glasbläser einen guten Ruf und kann es sich nicht leisten, dieses Ansehen aufs Spiel zu setzen. Er löst die Verlobung. Für Gerda Drawert bricht eine Welt zusammen. Doch die Zeit, die verstreicht, und die Arbeit in Bruckmanns Reisebüro mildern ihren Schmerz. Es ist ohnehin ein großes Glück für ein Mädchen aus dem Bayrischen Wald, wenn es eine solche stundenweise Arbeit in der Stadt bekommt. Eines Tages findet Gerda Drawert dann in ihrem Chef einen neuen Liebhaber. Ihr ist es auch mit dieser Liebe ernst. Zu ernst – für Herrn Haidgruber mit seinem Standesdünkel! Er hat sich nur eine Spielgefährtin leisten wollen, die er sofort in die Schranken weist, als sie das Verhältnis zu legalisieren wünscht. Wieder fühlt Gerda Drawert sich zu Unrecht zurückgestoßen. Doch der Schmerz, den sie empfindet, ist schon nicht mehr so lebenzerstörend wie der bei ihrer ersten Enttäuschung. Außerdem liebt sie eigentlich noch immer Huslinger. Eines Tages begegnen sich Gerda Drawert und ihr ehemaliger Verlobter, und sie fühlen sich beide erneut zueinander hingezogen. Doch über Huslinger hat inzwischen eine andere Frau Macht gewonnen, Luisa Forkmann. Sie ist ein eifersüchtiges, eigensinniges Mädchen, und es ist ihr sicherlich nicht schwergefallen, Gerda Drawert aus dem Felde zu schlagen. Wer kann sagen, was in Gerda Drawert vorgegangen ist, als sie den geliebten Mann zum zweiten Mal verlor! Vielleicht war es ein ehrlich gemeinter, wenn auch verzweifelter Versuch, doch noch einen Mann zu gewinnen, als sie sich mit Willi Schembor einließ. Ich glaube, es 192
war eher eine wilde Leidenschaft, die beide zusammentrieb: Gerda Drawert, jung, hübsch, temperamentvoll, verschmäht von zwei Männern, die sie geliebt hatte, warf sich dem heißblütigen Willi Schembor in die Arme. Sie, die aus der Gesellschaft der ‚normalen‘ Frauen Ausgestoßene, gab sich einem verheirateten Manne hin! Bei diesem Verhalten mögen Trotz, Verzweiflung, Aufbegehren gegen die Moralbegriffe der sturköpfigen Dörfler mitgespielt haben, deren ‚Liebe zur Familie und zur heimatlichen Scholle‘ ja schon sprichwörtlich geworden ist. Wenn auch nicht gerade im besten Sinne. Willi Schembor schließlich ist ein kaltblütiger Willensmensch, nur auf seinen Vorteil bedacht. Hierin ähnelt er dem egoistischen Haidgruber, nur ist er, seiner Umwelt entsprechend, einen Deut primitiver und brutaler. Sicherlich auch in der Liebe. Seine Frau hat nach einer schweren Entbindung eine seelisch bedingte Abneigung gegen intime Beziehungen mit ihm. Eine Konsultation beim Arzt, ein wenig Verständnis und Feinfühligkeit seinerseits – und dieses Problem ihrer Intimsphäre wäre vielleicht gelöst gewesen. Aber die junge Frau, die zeitlebens noch nicht aus Steinried herausgekommen ist, scheut nicht nur den Arztbesuch, sondern schämt sich auch vor einer Aussprache mit ihrem eigenen Mann. Sie haßt ihn schließlich, aber er ernährt sie, durch ihn ist sie in die Gemeinschaft der nach der landläufigen Norm lebenden Frauen aufgenommen. Deshalb spielt sie ihm, sich selbst, den Steinriedern und aller Welt eine intakte Ehe vor. Willi Schembor ist mit diesem Spiel einverstanden, denn es fördert sein Ansehen im Dorf, seine Karriere zum Oberförster. Es ist seine Welt, die er gegen jeden verteidigt. Auch gegen Gerda Drawert, die für ihn nur 193
Objekt seiner Lust ist, einer Lust, die zu Hause unbefriedigt bleibt. Eines Tages erzählt ihm das Mädchen, daß es ein Kind von ihm erwarte. Das bedeutet für ihn, für seine Familie, für seine Karriere eine Katastrophe. Gerda Drawert kämpft um einen Vater für ihr Kind. Zuerst versucht sie, Joseph Huslingers Mitleid zu erregen und ihn, da sich ihre angebliche Unfruchtbarkeit als medizinischer Irrtum erwiesen hat, zurückzugewinnen. Aber Luisa Forkmanns* Einfluß auf Huslinger ist stärker. Gerda Drawert bleibt nichts anderes übrig, als sich an Schembor zu halten. Vielleicht hat sie sich seit der Schwangerschaft auch wirklich zu ihm hingezogen gefühlt. Wer kann das jetzt noch gültig beantworten? Jedenfalls muß Willi Schembor schnell einen Ausweg finden. Er findet einen, der diesem rücksichtslosen Willensmenschen gemäß ist: Er tötet das Mädchen und verscharrt es im Wald. Doch nicht, ohne vorher Spuren zu legen, die zu Haidgruber und Huslinger führen und die beiden in Verdacht geraten lassen.“ „Willi Schembor“, sagte der Kommissar bedächtig, „Sie halten Willi Schembor also für den Mörder, Eiserbeck.“ Wir schwiegen ein Weilchen, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. „Seit wann existiert die Geschichte so in Ihrem Kopf?“ „Seit heute nachmittag“, gab ich zur Antwort. „Die Fahrt mit Ihnen zu den drei Verdächtigen, deren Aussagen, deren Benehmen, das hat mir die Gewißheit gegeben, daß es sich im großen und ganzen so abgespielt haben muß. Vor allem erschien mir wichtig, was Haidgruber heute erzählte. Er fand Gerda Drawert in den letzten 194
Wochen verändert. Sie tat Dinge, die ihr eigentlich wesensfremd waren. Also handelte sie unter dem Einfluß eines Menschen, der ihr nahestand und Einfluß auf sie ausübte. Dafür kamen nur Huslinger und Schembor in Frage, aber Huslinger scheidet für mich wegen seiner charakterlichen Labilität aus. Außerdem wußte er nichts von Gerda Drawerts Verhältnis zu Haidgruber. Aber Willi Schembor wußte davon! Er hat es mir bei meinem ersten Besuch selbst erzählt – sicherlich in der Annahme, das sei belanglos, oder weil er in mir einen Verdacht gegen Haidgruber wecken wollte. Nur er konnte Gerda Drawert so weit gebracht haben, daß sie Haidgruber wegen Urlaub und Geld erpreßte und ihn damit zum Verdächtigen stempelte, nachdem Schembor sie ermordet hatte.“ „Wenn man Sie so reden hört“, sagte Baierl, „klingt alles glaubhaft und auch logisch. Aber Sie ignorieren dabei Dinge, an denen ich nicht so ohne weiteres vorbei kann: Willi Schembor besitzt ein Schriftstück von Gerda Drawert, auf dem sie ihm bestätigt, daß er nicht der Vater ihres Kindes ist. Damit aber fällt für ihn der zwingende Grund weg, das Mädchen zu töten. Selbst nach Ihrer Theorie, Eiserbeck!“ „Dieser verdammte Zettel“, sagte ich ärgerlich. „Ich glaube, damit hat er auch seine Frau in Sicherheit gewiegt. Eine Zeitlang zumindest.“ Der Kommissar schüttelte den Kopf. „Nein, nein, Eiserbeck, Sie haben sich verrannt mit Ihrer Phantasie. Gerda Drawert kämpfte, wie Sie sagen, um den Vater ihres Kindes, und das ist nach Ihrer Meinung Willi Schembor. Meinetwegen. Aber gleichzeitig bestätigt dieses Mädchen Willi Schembor schriftlich, daß er der Vater nicht ist. Sehen Sie, und da steige ich aus. Weshalb sollte sie 195
die Zeilen geschrieben haben, wenn sie um Schembor kämpfte?“ „Freilich ist das ein Widerspruch“, gab ich zu, „und zwar einer, den uns nur Schembor selbst aufdecken kann. Aber das ist für mich kein Grund, in diesem Mann nicht weiterhin den Mörder zu vermuten. Auch Huslinger hatte ich stark in Verdacht, nachdem ich erfahren hatte, daß er am Mordabend mit dem Mädchen zusammen gewesen war. Er hätte sie im Affekt erschlagen haben können – dafür spräche auch, daß er nach der Tat das Rohr achtlos weggeworfen hat –, aber der wohldurchdachte Mord an Otto Gebler paßt nicht zu ihm. Zugegeben, da ist noch Haidgruber: ein Mann, aus ähnlichem Holz geschnitzt wie Schembor, er hält wie dieser auf seinen guten Ruf und will Karriere machen. Aber als Abteilungsleiter eines mittelgroßen Reisebüros ist er findiger und gewandter als Schembor. Haidgruber hätte für das Mädchen einen Arzt bezahlt, wenn das Kind von ihm gewesen wäre. Und noch etwas: Haidgruber hätte das Mädchen nicht im Wald erschlagen und verscharrt. Ich hatte kürzlich Gelegenheit, ihn im Wald zu beobachten. Er ist ziemlich hilflos, beinahe ängstlich, ganz Stadtmensch, kennt den Wald nicht mehr so, daß er sich dort sicher fühlen könnte. Nein, Haidgruber hätte das Mädchen in der Stadt umgebracht, und zwar auf irgendeine raffiniertere Art. Der Mord, so wie er geschehen ist, war kaltblütig und primitiv zugleich. Die Kaltblütigkeit spräche für Haidgruber, das Primitive daran paßt nicht zu ihm.“ Der Kommissar blickte nachdenklich vor sich hin, und ich nahm schon an, daß ich ihn von meiner Theorie überzeugt hätte, da sagte er: „Außer dem Schriftstück, das Gerda Drawert hinterlassen hat, spricht noch etwas gegen Ihre Annahme: Willi Schembors Alibi.“ 196
„Stimmt“, sagte ich, „Schembor hat außer dem stärksten Motiv und zwei Rivalen, auf die er den Verdacht lenken konnte, auch das scheinbar beste Alibi. Er war in der Mordnacht zu Hause. Der Nachbar bestätigt das und seine Frau. Der Nachbar gibt seine Aussage mit gutem Gewissen, denn er hat Schembor ein Viertel vor acht ins Haus gehen und danach das Haus nicht mehr verlassen sehen. Therese Schembor jedoch hat kein gutes Gewissen, wenn sie das Alibi ihres Mannes bestätigt. Das Haus besitzt einen Hinterausgang, der in den Garten führt; von dort kann man sehr schnell in den Wald gelangen. Die Nachbarn aber können nicht sehen, wenn Schembor auf diesem Wege das Haus verläßt, denn eine heckenumwachsene Laube nimmt ihnen die Sicht.“ Baierl horchte auf. Er sagte: „Wenn das alles gewesen ist, was Sie auf Lager hatten, wollen wir jetzt diejenigen Dinge zusammentragen, mit denen ich etwas anfangen kann. Ich schätze, das wird nicht viel sein. Fakt eins: Willi Schembor hat ein Schreiben von der Ermordeten, das ihn von der Vaterschaft freispricht. Damit fiele für ihn das Mordmotiv weg. Dagegen spricht Fakt zwei: Schembors Alibi ist gestellt. Es ist so einfach und durchtrieben zugleich ausgedacht, daß sich dahinter sicherlich mehr verbirgt als die Angst, irgend etwas mit der Polizei zu tun zu kriegen. Ich werde also morgen wieder zu Schembor fahren und so lange auf seinem Alibi herumklopfen, bis es wie ein Kartenhaus zusammenfällt.“ „Ich fürchte, Sie werden sich die Finger wundklopfen, Kommissar. Sie können sich Schembors Haus und Garten gründlich ansehen, Sie können vermuten, ja, Sie können wissen, daß Schembors Alibi faul und daß er der 197
Mörder ist, aber Sie können es ihm nicht beweisen. Der Weg zu Willi Schembor führt über dessen Frau. Nur sie kann sein Alibi zerstören.“ „Weiß Frau Schembor, daß ihr Mann Gerda Drawerts Mörder ist?“ „Da bin ich mir nicht sicher“, entgegnete ich. „Vielleicht weiß sie es, bestätigt aber aus Angst vor ihm sein Alibi – oder aus Angst vor ihrer Zukunft ohne ihn. Vielleicht ahnt sie die Zusammenhänge nur, da ihr Mann an jenem Freitagabend nicht zu Hause gewesen ist, und fürchtet sich – wiederum aus Existenzangst –, die Wahrheit zu sagen. Auf jeden Fall ist die Ahnung oder die Gewißheit, mit einem Mörder Tisch und Bett zu teilen, für sie eine seelische Belastung, der sie nicht mehr lange gewachsen sein wird – wenn man sie richtig anpackt. Nur fürchte ich, daß die üblichen polizeilichen Routinemaßnahmen ihre Zunge nicht zu lösen vermögen. Kommissar, ich bitte Sie, geben Sie mir noch den morgigen Tag. Ich will versuchen, Therese Schembor zum Sprechen zu bringen – und zwar auf meine Art. Gelingt es mir nicht, können Sie alles, was nach einem Indiz aussieht, zusammenkratzen und gegen Schembor verwenden. Denn mehr als ein paar Indizien halten Sie so und so nicht in der Hand. Außerdem kommt es auf einen Tag mehr oder weniger nicht an. Schembor reißt Ihnen nicht aus. Schließlich hat er die beiden Morde begangen, um hier in Ruhe weiterleben zu können.“ „Wer zwei Morde begeht, scheut erfahrungsgemäß vor einem dritten nicht zurück“, hielt mir Baierl vor. „Nein, Eiserbeck, ich werde so schnell wie möglich …“ „Schembor ist doch kein Massenmörder!“ fiel ich dem Kommissar ins Wort. „Sie haben mit dem Verdacht eines dritten Mordes allerdings recht, weil Schembor denjeni198
gen, der so viel wie Gebler weiß, sicherlich auch noch aus dem Wege räumen würde. Und in dieser Beziehung habe ich mich heute nachmittag bei seiner Frau ausreichend verdächtig gemacht.“ Der Kommissar sah aus, als ob er darüber nachdächte, welche Blumen er mir aufs Grab legen sollte. „Sie sind ein ziemlich verrückter Bursche“, sagte er schließlich, „aber das ist noch kein Grund dafür, daß ich Sie eines Tages auch erschlagen oder vergiftet im Wald auffinden muß. Sie hören deshalb ab sofort auf, in diesem Falle eigenmächtig zu handeln. Morgen nachmittag werden wir beide nach Steinried fahren. Ich werde versuchen, mit meinen Mitteln voranzukommen, und Sie können sich mit Frau Schembor unterhalten.“ Er ließ den Motor an, lenkte den Wagen wieder auf die Fahrbahn, und wir jagten nach Passau zurück. Unterwegs fragte mich der Kommissar nicht ohne Spott, was sich denn mein schlauer Kopf zu dem Zettel ausgedacht habe, den ich dem toten Otto Gebler aus der Hand genommen hatte. Ich erzählte ihm von dem Rätselraten, das ich am Vorabend mit Grit veranstaltet hatte, und sagte ihm, daß wir von Flinte über Forkmann schließlich auf Fahrrad gekommen waren. „Deshalb habe ich mich heute so für Fahrräder interessiert“, gestand ich ein. „Und mit welchem Ergebnis?“ fragte der Kommissar. „Das auffallendste Fahrrad besaß Huslinger! Das Rad, das Glasbläserrohr, ein wackliges Alibi – alles Dinge, die gegen Huslinger sprechen!“ „Ein Zeichen dafür, daß man sehr leicht auf eine falsche Spur geraten kann, wenn man sich auf Indizien verläßt, ohne das Motiv und die persönliche Lebenssphäre eines Verdächtigen genügend zu kennen!“ 199
Baierl winkte ab. „Wir sind uns einig: Morgen knöpfen wir uns Schembor vor, und zwar so lange, bis wir ein Ergebnis in den Händen halten. Ich werde auch herausfinden, ob Willi Schembors Fahrrad nicht doch irgendein verborgenes Zeichen hat, an dem es Gebler erkennen konnte. Immer vorausgesetzt, Sie haben richtig geraten, und das Wort sollte wirklich Fahrrad heißen.“ An der Donaubrücke bat ich den Kommissar zu halten, da ich den Rest des Weges durch die Stadt zu Fuß gehen wollte. „Warten Sie morgen auf meinen Anruf“, sagte der Kommissar. „Und … wenn ich hinter die geringste Eigenmächtigkeit von Ihnen komme, sind Sie Ihre Lizenz los!“ „Bis morgen, Kommissar.“ Auf dem Weg zu meinem Büro überlegte ich, ob ich nicht doch am gleichen Abend zu Schembor fahren sollte. Aber ich verwarf diesen Gedanken wieder. Ich wußte, daß der Kommissar mir nicht aus Spaß gedroht hatte, und ich wollte meinen Beruf noch ein Weilchen ausüben.
23 Am nächsten Tag parkte Baierls Wagen schon hinter der Donaubrücke, als ich ankam. Der Kommissar war in die Tageszeitung vertieft. Ich hupte dreimal und fuhr langsam an ihm vorbei. Er faltete die Zeitung zusammen, gab Gas und überholte mich. Während ich hinter ihm herfuhr, überlegte ich, wie ich Therese Schembor am besten zum Sprechen bringen könnte. Wenn wir beide Eheleute zu Hause antreffen würden, 200
blieb mir kaum eine Chance, auf Therese so einzuwirken, daß sie das Alibi ihres Mannes aufhob. Sie würde in uns nur die Eindringlinge sehen, die gekommen waren, ihre Ehe und damit ihre Existenz zu zerstören, und sie würde instinktiv zu ihrem Mann halten. Ich mußte es fertigbringen, mich allein mit ihr zu unterhalten, und zwar in jener Atmosphäre, wie sie bei meinem zweiten Besuch zwischen uns geherrscht hatte. Damals hätte sie mir sicherlich noch einiges anvertraut, wenn ihr Baby nicht wach geworden wäre. Und heute würde es sicherlich die Anwesenheit des Kommissars sein, die mich daran hinderte, in Therese Schembors Gedankenwelt einzudringen. Wir fuhren durch den grünen Tunnel über die Steinwiese direkt bis ins Dorf. Den Weg, der über den Hang zu Schembors Haus führte, mußten wir allerdings zu Fuß gehen. Der Kommissar stoppte vor dem Dorfkrug, stieg aus und winkte mir, ihm zu folgen. Wir liefen nebeneinanderher hangaufwärts. Baierl zeigte mit dem Daumen zum Himmel und sagte: „Das sieht nach Gewitter aus. Und zwar nach einem ganz bösen.“ Er mochte recht haben. Über uns zogen grauschwarze Wolken hin, und vom Wald her schoben sich schwefelgelbe Ballen dazwischen. Es war heiß und still, unheimlich still. Schembors Gartentür war nicht abgeschlossen. Wir traten ein und gingen auf dem Kiesweg zum Haus, dessen Läden heute geöffnet waren und den Blick auf blütenweiße Gardinen hinter blumengeschmückten Fenstern freigaben. Die Haustür schob sich lautlos nach innen auf, noch ehe wir überhaupt die Klinke berührt hatten. Ich mag Haustüren nicht, die sich auf solche Weise öffnen, und 201
ich vermutete Willi Schembor im Hinterhalt. Deshalb gab ich der Tür einen Tritt und hielt die Fäuste geballt, als ich den Hausflur betrat. Mit einem Aufschrei sprang Therese Schembor hinter der Tür hervor, taumelte und drohte hinzustürzen. Ich fing sie im letzten Augenblick auf und sagte: „Pardon! Der Kommissar ist aber auch ein rauher Bursche! Haben Sie sich weh getan?“ „Nein“, sagte sie, „ich bin nur so erschrocken.“ Sie rieb sich die Arme. Der Kommissar brummte, ich sei ein verdammt ausgekochter Bursche, dann fragte er Therese ziemlich barsch: „Wo ist Ihr Mann?“ „Auf dem Gut“, sagte sie. „Was wollen Sie von ihm?“ Baierl überhörte die Frage. Er schien mit sich zu Rate zu gehen, ob er Schembor auf dem Gut aufsuchen oder ihn hier erwarten und sich bis zu seiner Ankunft im Haus umsehen sollte. Wenn er blieb und das Haus durchsuchte, würde er Therese in eine Abwehrstellung gegen uns hineinmanövrieren, die ein Gespräch zwischen ihr und mir unmöglich machte. Zu diesem Schluß war Baierl wohl selbst gekommen, denn er sagte zu mir: „Ich lauf mal zum Gut ’rüber. Aber Sie brauche ich nicht dabei.“ Ich nickte nur und schloß die Tür hinter ihm. „So“, sagte ich zu Frau Schembor, „den sind wir vorläufig los. Aber nur vorläufig. Er wird wiederkommen. Und wenn ich Ihnen überhaupt noch helfen kann, Frau Schembor, dann in der Zeit bis zu seiner Rückkehr. Wollen wir ins Zimmer gehen?“ „Warum … ist er denn hergekommen?“ Sie sah mich nicht an, als sie fragte, sondern ging vor mir her zu jenem Zimmer, in dem ich schon zweimal mit 202
ihr gesprochen hatte. Alles war unverändert: die dunklen Möbel, der runde Tisch, die schweren Sessel. Auch die Fotografien der verstorbenen Familienangehörigen hingen noch an der Wand. Frau Schembors Frage beantwortete ich erst, als wir uns beide in den Sesseln niedergelassen hatten. Ich sagte: „Der Kommissar ist gekommen, um Ihren Mann zu verhaften.“ Sie schrie nicht auf und weinte auch nicht. Sie saß ganz still vor mir, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte mich an wie jemand, der am Ende seiner Kraft ist. „Was wissen Sie von uns?“ fragte sie leise. „Daß Ihr Mann Gerda Drawert und Otto Gebler getötet hat. Der Kommissar weiß es auch.“ „Sie wissen gar nichts“, sagte Therese müde, „Sie denken sich das nur.“ „Die Indizien, die gegen Ihren Mann sprechen, reichen für eine Verurteilung. Sie reichen sogar, um Sie ebenfalls ins Zuchthaus zu bringen – als Mitwisserin. Und das möchte ich verhindern.“ Ein trockenes Schluchzen schüttelte ihren Körper. „Ich habe es erst vor ein paar Stunden erfahren“, sagte sie mühsam. „Erzählen Sie mir alles, Therese“, sagte ich, „denken Sie immer daran, daß ich nichts weiter will als Ihnen helfen. Fangen Sie bei jenem Freitagabend an, als Ihr Mann durch die Hintertür in den Wald verschwand.“ Sie warf mir einen erstaunten Blick zu, dann begann sie zu erzählen. „Es war lange nach Mitternacht, als er zurückkam. Er war ruhig, beinahe heiter. Ich machte ihm Vorhaltungen, daß er wieder mit dem Mädchen zusammen gewesen sei und daß er ihretwegen unser Ansehen und die in Aussicht 203
stehende Stellung als Oberförster aufs Spiel setze. Schembor hat mich ausreden lassen, er brüllte mich nicht an wie sonst, wenn ich ihm etwas vorhalte. Im Gegenteil, er hat zugegeben, daß ich recht hätte. ‚Weißt du‘, sagte er, ‚eigentlich habe ich längst eingesehen, daß es so nicht weitergehen kann, aber das Mädchen ist mir immer wieder nachgelaufen. Heute nacht haben wir uns nun endlich im guten und für immer getrennt. Wir haben uns ausgesprochen und sind übereingekommen, daß sie aus dem Dorf verschwindet. Sie will mit dem Vater ihres Kindes weg.‘ ‚Was denn?‘ hab’ ich gefragt. ‚Das Kind, das sie erwartet, ist nicht von dir?‘ ‚Nein. Sie hat sich in Passau ziemlich rumgetrieben. Damit ich keine Scherereien kriegte, war sie aber so anständig und hat mir schriftlich bestätigt, daß ich nicht der Vater ihres Kindes bin.‘ Er hat mir den Zettel gezeigt, ich war beruhigt und erleichtert und habe ihm für die Nacht ein Alibi gegeben. ‚Vielleicht wirbelt es Staub auf‘, hat mein Mann gesagt, ‚wenn sie einfach aus dem Dorf weggeht. Und warum sollen wir von diesem Dreck was abkriegen, bloß weil ich mich mit ihr ausgesprochen habe?‘ Ich habe ihn noch gefragt, ob sie auch niemandem begegnet seien. ‚Nein‘, hat mein Mann geantwortet. ‚Auf dem Rückweg habe ich Otto Gebler von fern gesehen, aber er hat mich überhaupt nicht bemerkt.‘ Eines Tages erzählten dann die Leute im Dorf, man habe Gerda Drawert erschlagen im Wald aufgefunden. Von diesem Augenblick an hatte ich Angst, daß es Schembor getan haben könnte.“ 204
Sie hatte Tag und Nacht darauf gewartet, daß er ihr eine Antwort auf die Fragen geben würde, mit denen sie sich herumquälte, aber Schembor hatte geschwiegen. Dann traf die Nachricht von Otto Geblers Tod ein. Therese war das Ableben des alten Mannes zwar nahegegangen, aber aus irgendeinem Grunde hatte sie sich auch erleichtert gefühlt. „Bis gestern“, sagte sie. „Bis Sie mir gestern erzählt haben, daß Otto Gebler vergiftet worden sei und daß es der gleiche getan haben müsse, der auch Gerda Drawert getötet hat. Ich habe Schembor von unserem Gespräch erzählt und ihm gesagt, Sie wüßten, wer der Mörder sei. Schembor hat die Lippen zusammengebissen und geschwiegen. Ich glaube, er hat die ganze Nacht wach gelegen und gegrübelt. Heute morgen erst hat er zu mir gesagt: ‚Hör zu, Therese. Ich habe vielleicht einen Fehler gemacht, aber ich habe es dir zuliebe getan, damit du dich nicht mehr zu quälen brauchst …‘ “ Und er hatte ihr gebeichtet, daß er Gerda Drawert im Affekt erschlagen habe, weil sie auch in jener Nacht nicht von ihm habe lassen wollen. Nachdem er gehört hatte, daß Otto Gebler mir oder dem Kommissar etwas anvertrauen wollte, habe er den Alten vergiftet. Ich fragte Therese: „Und wer sollte der nächste sein, den er aus dem Wege räumen wollte? Etwa Luisa Forkmann?“ Frau Schembor schüttelte den Kopf. „Diese Luisa Forkmann hat etwas über ihn gewußt, und er wollte lediglich herausbekommen, was es sei. Aber sie ist zu dem vereinbarten Treff nicht gekommen.“ „Daran bin ich schuld. Fräulein Forkmann wußte von dem Verhältnis zwischen Ihrem Mann und Gerda Drawert. Schembor hätte das notfalls als üble Nachrede zu205
rückweisen können, aber wer kann schon für die Handlungsweise eines Mannes garantieren, der bereits zwei Menschen kaltblütig getötet hat? Ich wollte nicht, daß das Mädchen ein Risiko einging, und ich werde auch verhindern, daß Sie, Therese, in diese Geschichte hineingezogen werden.“ „Wenn man meinen Mann verhaftet“, sagte sie dumpf, „ist mein Leben zu Ende.“ „Ich weiß, es ist sehr schwer für Sie, sich auch nur vorzustellen, daß Sie noch einmal von vorn anfangen könnten, allein, nur auf sich selbst angewiesen. Und ich weiß auch, daß Sie das in diesem Dorf nicht können. Doch die Welt besteht nicht nur aus Steinried, Frau Schembor. Haben Sie Vertrauen zu mir, ich werde Ihnen helfen, bis Sie wieder Boden unter den Füßen fühlen, aber reden Sie sich nicht ein, daß es zu spät sei für Sie. Reden Sie sich das auch um Ihres Kindes willen nicht ein. Was soll denn aus dem Kind werden, wenn Sie jetzt aufgeben?“ Frau Schembor weinte lautlos. Ich sagte: „Sobald der Kommissar zurück ist, erzählen Sie ihm alles so, wie Sie es mir eben erzählt haben.“ Sie stand auf, aber sie schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht“, sagte sie, „ich kann ihn nicht einfach ins Zuchthaus bringen, er ist doch mein Mann.“ „Er hat das Recht verloren, Ihr Mann zu sein. Er hat Sie betrogen, und er hat getötet.“ Sie zitterte und sprach sehr leise: „Er hat es doch für mich getan, für das Kind, für unsere Ehe. Das Mädchen wollte ihn nicht lassen, da sind ihm die Nerven durchgegangen …“ „Seine Nerven sind wahrscheinlich nie so intakt gewesen wie zu dem Zeitpunkt, als er das Mädchen erschlagen 206
hat. Es war alles vorbereitet und gar nicht übel durchdacht. Und daß Sie ihm ein Alibi geben würden, dessen war er sich auch sicher.“ Der Blick, mit dem sie mich ansah, war so qualvoll, daß es einen jammern konnte. Doch plötzlich war da noch etwas anderes in ihren Augen, ein kurzes Erschrecken, das nur den Bruchteil einer Sekunde dauerte, aber genügte, um mich zu warnen. Ich warf mich zu Boden, überschlug mich dabei und bekam so den Sessel, auf dem Therese gesessen hatte, zwischen mich und Schembor. Ich hatte mich zur rechten Zeit fallen lassen, denn Schembor hielt einen dicken Knüppel in der erhobenen Hand, der ganz danach aussah, als würde mein Kopf ihm nicht standhalten können. Ich sprang auf die Beine und sagte: „Laufen Sie zum Gut, Frau Schembor, und schicken Sie den Kommissar her. Er muß Ihren Mann verfehlt haben.“ Die Frau wollte zur Tür, aber Schembor packte sie am Arm. „Du bleibst hier oder gehst ins Dorf und schlägst Krach, daß einer aus der Stadt in unser Haus gekommen ist, um mit dir schönzutun, und ich ihm in der Rage eins über den Schädel gezogen habe.“ „Nicht schlecht ausgedacht“, sagte ich. All das, was ich in diesem Nest schon erlebt hatte, sprach dafür, daß die Steinrieder Willi Schembor glauben würden, wenn er behauptete, der Fremde aus der Stadt habe sich in seine Ehe gedrängt. Selbst wenn man Schembor für kurze Zeit verurteilen sollte, würde er bei seiner Rückkehr als Held gefeiert werden. Mich schauderte, wenn ich daran dachte, mit welch primitiver Konsequenz er den einmal eingeschlagenen Weg zu Ende gehen wollte. „Wirklich nicht schlecht ausgedacht“, wiederholte ich, „aber der Kommissar kann jeden Augenblick zurück207
kommen. Kommt er nicht, wird Ihre Frau aufs Gut gehen, um ihn zu holen.“ „Den Teufel wird sie!“ Er wollte sich wieder auf mich stürzen, ich zog meine Pistole und sagte: „Sie sind wie ein wildes Tier, Schembor. Ich schieß’ weiß Gott nicht so schnell auf einen Menschen, aber bei Ihnen bin ich bald soweit.“ Blitzschnell riß er Therese an sich. „Feiger Kerl“, sagte ich, „eine Frau als Kugelfang benutzen, das ist so ungefähr das letzte, was einer tun kann.“ Ich steckte die Pistole weg. In Schembors Augen trat ein wilder, gehetzter Ausdruck. „Lassen Sie Ihre Frau hinaus, Schembor, und ich lasse die Pistole stecken. Was wir beide zu erledigen haben, ist sowieso nichts für eine Frau.“ Er gab Therese frei und sagte: „Warte draußen, bis ich ihn fertiggemacht habe!“ „Frau Schembor“, rief ich ihr nach, „Ihr Mann kommt nicht durch. Man wird ihn verurteilen, und er wird Sie ebenfalls ins Zuchthaus bringen.“ Sie zögerte, blickte angstvoll von Schembor zu mir. „Hör nicht auf ihn“, sagte Schembor wütend. „Wenn ich ihn fertiggemacht habe, ist alles ausgestanden. Keiner kann mir was beweisen.“ „Selbst wenn er recht hätte – Sie werden das nicht aushalten, ein Leben lang mit einem Mörder Tisch und Bett zu teilen!“ Schembor hob wieder den Knüppel, ich versetzte dem Sessel einen Stoß, er stürzte gegen Schembors Beine. Der Mann wankte, hielt sich aber aufrecht, nur der Knüppel war ihm aus der Hand gefallen. Er stand wie ein Golem vor mir, Haß und Mordlust in den Augen. Therese schluchzte auf und rannte aus dem Zimmer. 208
Schembor stürzte sich auf mich, schwer, kraftvoll, aber zu plump. Ich schlug ihm die Beine weg, und er riß mich im Fallen mit sich. Wir wälzten uns am Boden, kamen wieder auf die Beine, und ich versetzte ihm einen kräftigen Schlag. Ein zweiter Schlag nahm ihm die Besinnung. Er glitt zu Boden. Ich ging hinaus. Von Therese Schembor war weit und breit nichts zu sehen. Einen Augenblick lang beunruhigte mich der Gedanke, sie könnte ins Dorf gelaufen sein. Von ferne war dunkles Donnergrollen zu hören. Vereinzelt klatschten erste Regentropfen durch die Zweige. Ich dachte: Bald werden sie hier sein, Therese und der Kommissar – oder Therese und die Steinrieder. Ich ging ins Zimmer zurück. Schembor lag noch immer neben dem umgekippten Sessel. Ich hob den Sessel auf und hatte einige Mühe, Schembor hineinzusetzen. Als ich es geschafft hatte, ließ ich mich in den zweiten Sessel fallen. Die Pistole legte ich vor mir auf den Tisch. Nach einigen Minuten kam Schembor wieder zu Bewußtsein. Er sah mich haßerfüllt an und versuchte aufzustehen. Ich griff nach der Pistole. „Geben Sie sich keine Mühe“, sagte ich, „Sie haben ohnehin ausgespielt. Ihre Frau holt den Kommissar.“ Schembor tat, als höre er mir nicht zu, mit leerem Blick stierte er vor sich hin. Wahrscheinlich begann er langsam zu begreifen, daß es nun wirklich aus war mit ihm. Er schien jedoch zu jener eiskalten Sorte Menschen zu gehören, denen gut und böse gleichviel gilt und bei denen auch kein Gefühl für Strafe, Schande oder Belohnung entwickelt ist. Er sagte: „Sie haben gewonnen.“ Das klang so gleichgültig, als sei es eine Feststellung, die mit ihm nicht das geringste zu tun habe. Er warf mir 209
einen verächtlichen Blick zu, und um seinen Mund lag ein brutaler Zug. „Sie haben es verstanden, Therese weichzumachen. Wenn die besser gespurt hätte, wären Sie jetzt aus dem Weg geräumt.“ „Warum haben Sie Gerda Drawert umgebracht?“ Ich nahm an, daß er meine Fragen jetzt, nachdem er aufgegeben hatte, beantworten würde, und aus der Erfahrung im Umgang mit seinesgleichen wußte ich, daß er weder jammern noch klagen noch beschönigen, sondern in seiner gleichgültigen Art die Wahrheit sagen würde. „War mir im Wege“, sagte er. „Seit sie schwanger war, hing die wie eine Klette an mir.“ „Erzählen Sie mal der Reihe nach.“ Schembor nickte. „Nicht, daß ich von vornherein die Absicht gehabt hätte, sie umzubringen“, sagte er, „ich bin eine Zeitlang prima mit ihr ausgekommen – bis sie eben schwanger und so anhänglich wurde. Ich wollte sie überreden, wegzuziehen von hier, aber sie hatte wohl Angst, daß sie allein nicht durchkäme. Da habe ich ihr eingeredet, daß wir uns zusammen heimlich davonmachen würden. Da sie mal mit ihrem Chef, diesem Haidgruber, was hatte, habe ich sie dazu gekriegt, ihn unter Druck zu setzen wegen Urlaub und Geld. Wenn der sich weichklopfen ließ, dachte ich, dann würde das so aussehen, als habe er ein schlechtes Gewissen und auch Grund, sie loszuwerden.“ „Als Sie das austüftelten, waren Sie schon entschlossen, Gerda Drawert umzubringen?“ „Ja, da war mir klar, daß sie weg mußte. Ich hatte sie an dem Freitagabend in den Wald bestellt und ihr vorher gesagt, wir wollten uns endgültig darüber aussprechen, wann wir weggehen würden und wohin. Ich hatte mir bei einer günstigen Gelegenheit, als ich einmal in Passau zu 210
tun hatte, einen Feldspaten gekauft und ihn in der Eichenschonung vergraben. An diese Stelle führte ich Gerda Drawert. Ich wollte sie erwürgen, aber dann fand ich eine Eisenstange, so ein langes Ding, wie es die Glasbläser drüben in Grünhübl brauchen. Ich dachte, wenn ich sie damit erschlagen und das Rohr so liegenlassen würde, daß die Polizei es finden muß, dann müßte man auch Huslinger verdächtigen. Dann würde die Polizei gleich zwei Personen haben, hinter denen sie herrennen konnte. Kurz und gut, die Gerda saß auf einem Baumstamm und fragte, wann wir losfahren würden. Da schlug ich zu.“ „Sie haben viermal zugeschlagen.“ „Zuerst einmal. Sie fiel vornüber, und ich ging auf eine Zigarettenlänge weg. Als ich zurückkam, schien es mir, als ob sie noch nicht tot sei. Da habe ich noch dreimal zugeschlagen. Dann zog ich sie aus, zerrte die Leiche in die Schonung und vergrub sie dort. Die Schonung wird in den nächsten sechs bis sieben Jahren nicht durchgeforstet, deshalb glaubte ich, niemand würde von der Sache Wind bekommen.“ „Was haben Sie mit den Kleidern gemacht?“ „Die habe ich auch vergraben.“ Ich ließ mir die Stelle genau beschreiben. „Wann waren Sie wieder zu Hause?“ fragte ich. „Kurz nach Mitternacht. Therese erzählte ich, daß ich eine Aussprache mit Gerda Drawert gehabt und mich von ihr endgültig getrennt habe, weil sie von einem anderen ein Kind erwartete. Gerda hat mir gleich zu Anfang ihrer Schwangerschaft einen Zettel geschrieben, daß ich nicht der Vater ihres Kindes sei. Ich hatte das verlangt und ihr gesagt, ich würde mich wegen einer Schwangerschaft nicht unter Druck setzen lassen. Wenn sie mir so viel Vertrauen entgegenbrächte, diese Zeilen zu meinen 211
Gunsten zu schreiben, würde ich aus freiem Entschluß bei ihr bleiben. Diesen Zettel habe ich in jener Nacht Therese gezeigt.“ „Als Otto Gebler die Leiche fand“, sagte ich, „hatten Sie da schon vor, den alten Mann umzubringen?“ Er zuckte die Schultern. „Zuerst hoffte ich, er würde sich nicht wieder erholen, aber dann hörte ich bei der Beerdigung, daß er noch etwas aussagen wollte. Gebler war, neben Therese, der einzige, der mein Alibi zerstören konnte! Er muß mich in jener Nacht im Wald gesehen haben, obwohl ich glaubte, er hätte mich nicht bemerkt …“ „Sie nicht“, fiel ich ihm ins Wort, „aber Ihr Fahrrad hatte er entdeckt.“ Schembor stutzte und sagte dann: „Gebler hat mir das Rad vor kurzem billig abgetreten, weil er sich zum Fahren zu alt fühlte. Ich hatte es im Gebüsch versteckt. Wenn er es gefunden hat, mußte er auch wissen, daß ich in der Nähe gewesen bin.“ „Wann haben Sie ihn vergiftet?“ „Während der Beerdigungsfeier. Im Wohnzimmer von Frau Drawert war großes Gedränge, und ich konnte unbemerkt das Gift auf das Tortenstück streuen, das Frau Drawert für ihn zurechtgestellt hatte.“ „Und woher hatten Sie das Gift?“ „Von Gerda Drawert. Vor Wochen war sie so verzweifelt, daß sie mir vorschlug, wir sollten uns beide vergiften. Sie hätte ein giftiges Schädlingsbekämpfungsmittel, sagte sie und zeigte mir ein Beutelchen davon. Ich habe es ihr weggenommen und trage es seitdem mit mir herum.“ „Wissen Sie, ob sie noch mehr davon besaß?“ fragte ich und dachte an das Päckchen in Gerda Drawerts Nachttisch. 212
„Ich weiß nicht, ob sie noch was von dem Zeug zu Hause hatte, aber vorsichtshalber habe ich nie mehr etwas angerührt, wenn sie mir zu essen anbot.“ Von draußen klang es, als knirsche der Kies unter schweren Schritten. Ich ging hinaus und sah Kommissar Baierl durch den Vorgarten auf das Haus zustapfen. Therese Schembor war am Gartentor zurückgeblieben. Einer von beiden hatte Wachtmeister Andrak unterwegs aufgegabelt und mitgebracht. Blaß, mit einem ängstlichen Ausdruck auf dem Gesicht, lief er hinter Baierl her. Wahrscheinlich fürchtete er, sich wieder einen Toten ansehen zu müssen. „Ist Ihnen wirklich nichts passiert?“ schnaufte der Kommissar. „Nicht das geringste. Schembor erwartet Sie, er ist auch noch ganz gut beieinander.“ Wachtmeister Andrak atmete auf. „Hat Frau Schembor mit Ihnen gesprochen?“ fragte ich den Kommissar. „Natürlich. Sonst wären wir doch nicht hier. Los, Andrak, geben Sie die Acht her!“ Der Wachtmeister zog die Handfesseln aus der Tasche und reichte sie dem Kommissar. Der wollte damit ins Haus, doch ich hielt ihn am Arm zurück. „Vergessen Sie nicht, daß wir keinen Beweis gegen ihn in der Hand gehabt hätten, wenn Frau Schembor sein Alibi nicht aufgehoben und uns alles erzählt hätte.“ Der Kommissar nickte und betrat das Haus. Andrak sagte: „Sie ist sehr hübsch, diese Therese Schembor.“ „Sie ist bedauernswert“, entgegnete ich.
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24 Es war Abend geworden, ehe ich nach Passau zurückkehrte. Auch hier war ein warmer Sommerregen niedergegangen. Über dem Fluß hing noch der Dunst, der sich nur langsam zerteilte und an den Bergen emporwallte. Als ich ins Büro trat, fuhr Grit erschrocken mit dem Kopf von der Schreibtischplatte hoch. Luisa Forkmann war auch noch da. Sie saß in dem klobigen Besuchersessel und hielt eine leere Kaffeetasse im Schoß. Sie sah sehr bekümmert aus. „Vielleicht engagiere ich demnächst noch jemanden, der Sie munter hält, wenn eine Klientin zu uns kommt“, sagte ich zu Grit. „Mir sind nur für ’n Moment die Augen zugefallen. Wissen Sie, ich fände es herrlich, wenn man wenigstens zweimal in der Woche pünktlich nach Hause gehen dürfte.“ Sie hatte recht. Ich hatte ihre Freizeit in den letzten Tagen zu rücksichtslos beansprucht. Sie war neunzehn Jahre alt, sie brauchte Zeit für sich selbst, um sich auszuruhen und um sich zu vergnügen. Mir mißfiel die Vorstellung, daß Grit mit irgendeinem jungen Mann in irgendeinem dieser zwielichtigen Nachtlokale sitzen könnte, in dem schmalzige Musik den Verstand einlullt. Aber ich hatte keine Zeit, diesem Unbehagen nachzuspüren. Luisa Forkmann wollte wissen, was geschehen war. Ich holte meinen Sessel aus dem Nebenzimmer, stopfte mir eine Pfeife und erzählte den Mädchen die Geschichte des Mordes an Gerda Drawert. Ich verschonte Luisa Forkmann auch nicht mit der Tatsache, daß ihr Verlobter durch sein Verhalten moralisch mitschuldig geworden war am Tod des Mädchens, denn die Ver214
zweiflung, die Gerda Drawert empfand, als Huslinger sie verließ, hatte sie Willi Schembor in die Arme getrieben. Es war fast Mitternacht, als wir schließlich das Büro verließen und mit meinem Fiat durch die Stadt fuhren. Zuerst setzte ich Grit ab, dann Luisa Forkmann. Als ich vor, dem Haus hielt, in dem ich ein möbliertes Zimmer bewohne, war der Mond über die Stadt gestiegen. Sein Licht glitt über die Dächer und spiegelte sich im Wasser der Donau. Nur der Wald jenseits des Flusses lag noch im Dunkel.
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Gert Prokop Der Tod des Reporters Kriminalroman • DIE-Reihe 240 Seiten, Paperback, 2,50 Mark
Leseprobe 1. Lobenstein zog die Hand hinter dem Rücken hervor, präsentierte eine gelbe Rose zwischen Daumen und Zeigefinger, küßte Engelchen auf die Stirn und setzte sich auf die Schreibtischecke. Engelchen lächelte. „Wie ich sehe, hattest du einen guten Urlaub.“ Er breitete theatralisch die Arme aus. „Wie kann es ein guter Urlaub gewesen sein? Ohne dich!“ „Ach, du.“ Engelchen musterte ihn. „Du siehst ganz blaß und verhärmt aus.“ Das Mitleid in ihrer Stimme klang fast ehrlich. „Haben die Frauen dich so schlecht behandelt?“ „Blaß? Dabei habe ich alle Tage in der Sonne gelegen. Allein. Der einsamste Mann des ganzen Strandes. Ich habe in den unendlichen, wolkenlosen, azurblauen Himmel gestarrt und von dir geträumt. Du hättest mich sehen sollen, das Herz wäre dir zersprungen. Der Träumer von Teneriffa, ein rührendes Bild.“ „Ich bin gerührt. Willst du einen Kaffee? Ich habe gerade gebrüht.“ „Kaffee immer.“ Engelchen holte eine Tasse. Bevor sie den Schrank schloß, puderte sie schnell ihre Nase. Sie hatte neue Haare, aschblond mit ein paar koketten silberweißen Fäden. 217
„Du bist schon wieder hübscher“, sagte er. „Wem hast du den Skalp abgezogen?“ „Echt Menschenhaar! Aus Hongkong – und phantastisch billig. Wie sie das nur machen, so billig.“ „Hast du es nicht gelesen? Sie fangen abends die Mädchen von der Straße und scheren sie kahl. Aber nur ganz junge Mädchen, keine älter als sechzehn. Für die guten Perücken müssen es Jungfrauen sein. Und bevor man sie kahlschert, werden sie entlaust und gebadet.“ Engelchen lachte auf, sie hätte beinahe den Kaffee verschüttet. „Du bist ein Spinner.“ „Großes Ehrenwort, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Nächste Woche kannst du es in der REVUE lesen.“ „Da steht viel. Wenn ich das alles glauben würde!“ „Paß nur auf, daß Wilhelmi das nicht hört, sonst feuert er dich.“ „Sekretärinnen sind schwerer zu ersetzen als Redakteure.“ „Ganz schön eingebildet. Ist Wilhelmi da?“ „Nein“, sagte sie, „er ist beim Chef, große Konferenz.“ „Heute?“ „Gestern auch schon.“ „Was ist los?“ Lobenstein lehnte sich vor und hielt ihr sein Ohr hin. „Sag endlich, ich verspreche auch, es nicht zu veröffentlichen.“ „Wer kann den Versprechungen eines Reporters glauben!“ Engelchen lehnte sich zurück. „Die Auflage sinkt. Die ganze Redaktion sucht verzweifelt nach einem Schlager, der die Auflage wieder in die Höhe treiben kann. Gestern früh hat der Verleger den Chef zu sich zitiert.“ 218
„Nicht soviel Politik, mein Lieber“, Lobenstein ahmte Bechers kicksende, sich überschlagende Fistelstimme täuschend echt nach, „die Leser honorieren das nicht. Ich muß Sie als Leiter des Verlages darauf hinweisen, daß die Auflage das A und O unseres Unternehmens ist.“ Dann, mit normaler Stimme: „Ruf mal vorne an und frage, wann Wilhelmi wiederkommt.“ „Wozu?“ fragte Engelchen. „Denkst du, Frau Bentzig traut sich, deinetwegen die Konferenz zu stören?“ Lobenstein angelte sich das Telefon und wählte die Nummer des Chefsekretariats. „Grüß Gott, Frau Bentzig, hier spricht Lobenstein. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Was macht die Leber? – Ja, natürlich. – Ich höre, Herr Wilhelmi ist bei Doktor Naumann. Würden Sie bitte mal fragen, wie lange es dauert? – Doch, es wird ihm schon recht sein; sagen Sie ihm nur, daß ich warte. – Ja, ich bin bei Fräulein Engelmann.“ „Ganz schön eingebildet“, meinte Engelchen. „Man darf sich nicht unter Wert verkaufen.“ Es dauerte fast fünf Minuten, bis die Antwort kam. „Naumann erwartet dich um drei Uhr“, sagte Engelchen. „Na, bitte, wer sagt’s denn, sogar der Chef persönlich.“ „Hoffentlich hast du einen guten Vorschlag.“ „Der Korruptionsskandal im Beschaffungsamt, in ein paar Wochen soll der Prozeß beginnen. Ich will eine Serie über die Rüstungsskandale seit neunundvierzig machen, nur die größten, versteht sich.“ Engelchen rümpfte die Nase. „Das wird es kaum sein, was die REVUE jetzt braucht. Zuwenig Pepp und zuviel Politik. Mach doch mal was Freundliches, was fürs Herz, na, du weißt schon.“ „Unsere Zeit ist nicht freundlich, meine Liebe, ich bin Journalist und kein Schnulzenschreiber.“ 219
„Entschuldige, ich vergaß, du hast eine Berufung. Lobenstein sagt, wie’s ist. Na, dann viel Spaß heute nachmittag.“
2. Naumann bot Whisky an und eine extrafeine Brasil. „Hat Wilhelmi aus Rio mitgebracht. Ich freue mich, Sie zu sehen, Lobenstein. Wie war der Urlaub? Hübsche Eroberung gemacht?“ Er zwinkerte ihm zu. „Sie kommen wie gerufen. Ich habe da eine Bombensache für Sie. Taufrisch. Vor fünfzehn Minuten aus dem Fernschreiber gezogen.“ Er reichte ihm eine lange Telexfahne. Lobenstein las. „upi/frankfurt + + + starreporter tot aufgefunden + + + john j. joergensen (jjj), geb. 17. 2. 1922 + freischaffender reporter für presse und fernsehen wurde heute vormittag in der naehe von frankfurt tot aufgefunden + fundort der leiche ist die eilenbergbruecke an der autobahn frankfurtheidelberg + vermutliche todesursache: sturz von der bruecke + vermutliche todeszeit: mitternacht + es ist noch ungeklaert, ob es sich um unfall, mord oder Selbstmord handelt + joergensen wurde vor zehn jahren international bekannt, als er …“ Und dann folgte eine lange Aufzählung von Reportagen und Berichten, durch die JJJ berühmt geworden war, das Interview mit dem Sultan von Obidan, zwei Stunden bevor der von seinem Sohn erdrosselt worden war; Reportagen aus Algerien und dem Kongo; Jörgensen hatte als erster veröffentlicht, daß sich der Schah von Persien von Soraya scheiden lassen und Farah Diba heiraten wollte. Seine Fernsehberichte über eine Floßfahrt durch das Indische Meer waren in aller Welt gesendet worden, ebenso sein Bericht über den geheimnisvollen Romancier Milos Tem220
per. Vor wenigen Wochen erst hatte er mit einer Story über die Südtiroler Bombenleger Aufsehen erregt und im vorigen Jahr mit der über den Baulandskandal in Bayern beinahe die Regierung gestürzt, wenn es nicht in Bayern gewesen wäre, wo Regierungen nicht von Zeitungen und nicht durch Skandale gestürzt werden können. Jörgensen hatte unverschämte Honorare verlangt und bekommen, erst in diesem Jahr hatte er sich eine Farm am Kilimandscharo gekauft. Auch die REVUE hatte einige seiner Berichte gedruckt. „Wilhelmi läßt schon das Material zusammenstellen“, sagte der Chef. „Kriminalrat Maurach bearbeitet den Fall selbst. Ich habe Sie bei ihm avisiert.“ Lobenstein legte die Meldung auf den Schreibtisch. „Eigentlich wollte ich ja an das Bundeswehrbeschaffungsamt …“ „Mann, Lobenstein, wo bleibt Ihre berühmte Nase? Das hier ist doch eine Bombenstory! Der Tod des Reporters. Dazu seine Geschichte. Vom Agenturfotografen zum Starreporter – eine Märchenkarriere! Frauengeschichten, Sensationen, Expeditionen – Politik von hinten gesehen –, was der Leser sonst nie erfährt. Ich denke an eine große Serie. Acht bis zehn Fortsetzungen. Sein Leben, Leute über ihn. Seine Mutter lebt noch; ein paar Mädchen, mit denen er geschlafen hat, werden Sie schon auftreiben. Und einige prominente Ehefrauen. Aber da seien Sie lieber vorsichtig. Wir haben noch ein paar Dutzend Fotos im Archiv, die wir mal von Jörgensen angekauft haben, als er noch nicht so teuer war. Die sind jetzt Gold wert. Fliegen Sie nach Kapstadt und interviewen Sie die Frau von dem, na, Sie wissen schon, der Mann mit der Herztransplantation …“ „Blaiberg.“ 221
„Blaiberg. Jörgensen hat doch einen Monat bei ihm gelebt. Ich sage Ihnen, in der Geschichte steckt mehr drin als in sämtlichen Skandalen unseres hübschen Ländchens zusammen, mehr, als Sie sich im schönsten MarihuanaRausch träumen lassen können. Unsere Auflage ist in den letzten Wochen fast um hunderttausend gesunken. Die Geschichte kommt wie gerufen. Und Sie werden das schreiben. Die Ankündigung geht heute noch in die Druckerei. Doppeltes Honorar, wenn es ein Knüller wird, und wenn nicht, soll Sie der Teufel holen.“ Naumann trommelte mit beiden Händen einen Marschrhythmus auf die Tischplatte. „Wilhelmi leitet das Unternehmen. Sie haben alle Vollmachten. Vor allem, schalten Sie die Konkurrenz aus, soweit das nur irgend möglich ist. Schraudenbach sitzt jetzt bei der Mutter von Jörgensen, oder er ist die längste Zeit unser Korrespondent gewesen. Sie kannten Jörgensen doch?“ „Kaum. Wir sind uns ein paarmal über den Weg gelaufen.“ Lobenstein paffte an seiner Brasil und sah dem Rauch nach. „Man müßte die Story finden, wegen der Jörgensen umgebracht wurde.“ „Ja, das wäre nicht schlecht, aber verplempern Sie Ihre Zeit nicht damit. Im Augenblick sollen Sie nur die Story finden, die uns wieder auf die Beine hilft.“ Naumann legte die Hände flach auf den Schreibtisch – der dicke rötliche Flaum auf den Handrücken vibrierte leise –, lehnte sich langsam in seinem hohen Ledersessel zurück, schloß die Augen, reckte seine Schultern hoch, daß der Hals in seinen massigen Oberkörper zu kriechen schien und das Doppelkinn sich zu einer festen Wulst zusammenschob, öffnete die Lider schließlich zu einem schmalen Spalt. „Der Fall wird Schlagzeilen machen, ganz egal, ob es Unfall oder Mord war …“ 222
„Oder Selbstmord.“ „Kein Selbstmord. JJJ hätte nie Selbstmord gemacht. Er war nicht der Typ dafür. Und wenn doch, dann mit dem Wagen, mit dreihundert Sachen einen Abhang hinunter. Oder ein Fallschirmabsprung, und die Leine nicht gerissen. Er hätte auch seinen Tod noch genießen wollen. Eine Autobahnbrücke – einfach lächerlich. Sie werden sehen, er wurde ermordet.“ Naumann nahm seine Zigarre aus dem Aschenbecher, tupfte die Asche vorsichtig ab und entfachte die Glut mit ein paar kurzen Paffern neu. „Ich will mich auf kein Risiko einlassen. Bei Ihnen weiß ich, daß Sie alles herausholen. ‚Der Tod des Reporters‘ – wie finden Sie den Titel?“ Lobenstein schwieg. „Sie wissen, ich bin ein störrischer Esel. Ich liebe es gar nicht, eine Entscheidung zurücknehmen zu müssen, und ich habe Sie bereits bei Maurach avisiert. Oder trauen Sie sich die Sache etwa nicht zu?“ Naumann sah müde aus. Das Netz der feinen Linien und Falten in seinem Gesicht hatte sich in den vergangenen Wochen weiter ausgedehnt und vertieft. Das Weiß seiner Augen war von roten Adern durchzogen. Lobenstein beobachtete, wie Naumann ihn durch die halbgeöffneten Lider belauerte. Ja, er würde die Story machen. Er wußte nun genau, wie dringend die REVUE sie brauchte. Und er war der einzige, der es in der kurzen Zeit schaffen konnte und der greifbar war. Lobenstein verkniff sich ein Grinsen. „Und das Beschaffungsamt?“ fragte er. „Der Prozeß fängt in ein paar Wochen an.“ „Lassen Sie doch den alten Hut, Lobenstein. Wen interessiert das noch? Daß es Korruption gibt, weiß auch so jeder. Gut, ich lass’ die Geschichte für Sie reservieren. 223
Machen Sie erst einmal die Jörgensen-Story, dann können Sie in Gottes Namen das Beschaffungsamt anpinkeln.“ „Doppeltes Honorar, sagten Sie?“ Naumann lachte. „Wenn es ein Knüller wird, habe ich gesagt.“ „Haben Sie schon jemals etwas anderes von mir bekommen?“ Mit Wilhelmi wurde er schnell einig, obwohl sie sich nicht mochten. Einmal hatte Lobenstein ihn in der Redaktionskonferenz einen Schmierfinken genannt, Wilhelmi war blaß geworden, hatte aber nur erwidert: „Wer nimmt schon ernst, was ein Reporter sagt. Reporter werden dafür bezahlt, große Worte zu machen.“ Und Lobenstein hatte gekontert: „Mancher wird für hundert Mark zum Dichter.“ Aber wenn es um eine Story für die REVUE ging, hatten persönliche Ressentiments keine Rolle zu spielen. Wilhelmi hatte alle Mitarbeiter seiner Abteilung für die Jörgensen-Dokumentation eingesetzt, die Korrespondenten der Redaktion waren per Fernschreiben auf alle Leute gehetzt worden, die Jörgensen gekannt hatten und von denen man interessante Aussagen erwarten konnte. Einen seiner Männer hatte Wilhelmi im Polizeipräsidium postiert, der sammelte dort alle Informationen; ein Bildreporter war unterwegs, die Stelle zu fotografieren, an der Jörgensens Leiche gefunden worden war, und Schraudenbach, der Münchner Korrespondent, hatte eben angerufen, es war ihm gelungen, vor allen anderen zu Jörgensens Mutter vorzudringen und die alte Dame vor der übrigen Presse abzuschirmen. „Am besten, Sie fahren kurz bei der Polizei vorbei“, meinte Wilhelmi, „sehen zu, was sich dort tut, und dann 224
ab nach München.“ Er legte Lobenstein eine dicke Mappe hin, Material über Jörgensen; ein kurzer Lebenslauf, die wichtigsten Veröffentlichungen, Berichte über seine Berichte, Expeditionen und Fernsehsendungen, ein Stapel Notizen und Meldungen, dazu Fotos, vor allem vier Tüten mit den unveröffentlichten Aufnahmen. „Wollen Sie fliegen, oder fahren Sie mit dem Wagen?“ „Versuchen Sie doch, in der Abendmaschine für mich buchen zu lassen.“ „Ist schon erledigt, Abflug neunzehn Uhr zwanzig. Ich veranlasse, daß in München am Flughafen ein Mietwagen für Sie bereit steht.“
3. Bis zum Präsidium brauchte Lobenstein fast eine dreiviertel Stunde. Am Hauptbahnhof brach der Verkehr ganz zusammen, ein Unfall. Im Nu stauten sich die Autos, ein Hupkonzert dröhnte über den Platz. Lobenstein fluchte. Zu Fuß wäre er längst da gewesen. Er versuchte einen Haken zu schlagen und in die Kaiserstraße zu entwischen, aber auf die Idee waren andere auch gekommen, nun saß er fest. Anfahren, drei Wagenlängen vorwärts, bremsen, warten, anfahren, bremsen, anfahren – die Auspuffgase drangen trotz der geschlossenen Fenster in den Wagen und würgten in der Kehle. Jemand klopfte an sein Fenster. Ein Mädchen. Er kurbelte die Scheibe herunter. „Fahren Sie doch in einer halben Stunde weiter“, sie lachte ihn auffordernd an, „dann sind Sie ebenso schnell zu Hause. Parken Sie inzwischen bei mir. Vier Häuser weiter können Sie Ihren Wagen auf dem Hof unterstellen und Tee mit mir trinken.“ Der Trick war neu. Sie faßte sein Lachen als Zustim225
mung auf. „Hundert“, sagte sie, „ohne Extras. Aber inklusive Parkplatz und Tee. Du wirst zufrieden sein. Es gibt keinen Wunsch, den ich dir nicht erfüllen kann.“ Er winkte ab und drehte das Fenster wieder hoch. Am Theater lösten sich die Autokolonnen auf. Lobenstein fädelte sich in die rechte Fahrbahn ein und jagte zum Präsidium. Dort gab es jetzt sogar Parkplatz genug. Wilhelmis junger Mann saß mit einem Dutzend anderer Reporter in Maurachs Vorzimmer. Lobenstein winkte ihn heraus und ließ sich berichten, was es bisher an Fakten gab. „Jörgensens Leiche ist vormittags gegen elf von einem Radfahrer entdeckt worden, der den Landweg unter der Autobahnbrücke am Eilenberg benutzt hat. Die Leiche lag in einem großen Gebüsch und hätte wahrscheinlich Tage oder sogar Wochen unentdeckt liegen können; der Weg ist eigentlich nur ein Pfad durch verwahrlostes Gelände und wurde kaum noch benutzt. Von der Autobahn wäre die Leiche nur zu sehen gewesen, wenn man direkt über dem Gebüsch gestanden und hinuntergesehen hätte. Aber wer würde an dieser Stelle sein Auto parken und sich auf die Brücke stellen? Jörgensen ist offensichtlich von der Brücke herab in das Gebüsch gestürzt worden. Todesursache sind wahrscheinlich die Kopfverletzungen, aber ob die von dem Sturz herrühren oder ihm schon vorher zugefügt wurden, kann erst die Obduktion ergeben.“ Der Kollege sah auf seine Notizen. „Die Leiche war völlig ausgeraubt.“ „Wieso hat man ihn dann so schnell identifiziert?“ „Einer der Beamten hat Jörgensen erkannt. Er ist ja erst vor zwei Wochen mit seiner Südtirol-Geschichte im Fernsehen aufgetreten. Man hat ein paar Leute vom Fernsehen kommen lassen, die haben ihn identifiziert.“ 226
„Andere Hinweise?“ „Keine. Die ganze Meute ist sauer. Die Morgenzeitungen brauchen bald Material.“ „Keine Angst. Sie werden sich schon was zusammenschreiben. Ich geh’ mal zu Maurach ’rein.“ „Wenn Sie ’reinkommen. Er hat sich gut abgeschirmt.“ Lobenstein lachte. Sie warteten einen Augenblick, bis ein Beamter in das Zimmer gehen wollte. Lobenstein hielt ihn zurück. „Geben Sie Herrn Maurach meine Karte.“ Er drückte dem Beamten eine Visitenkarte in die Hand. Der wollte sie gleich zurückgeben. „Kriminalrat Maurach ist für niemanden zu sprechen.“ „Wenn er nicht in einer Minute die Karte hat, dürften Sie Schwierigkeiten mit Ihrer Karriere bekommen.“ Der Beamte sah ihn prüfend an. Lobenstein lächelte. „Geben Sie sie ihm. Es ist besser.“ Der Kriminalbeamte kam bald wieder, nickte Lobenstein zu, führte ihn den Gang hinunter und durch die Zimmer wieder zurück in Maurachs Büro. Der Kriminalrat begrüßte ihn freundlich und bat ihn, Platz zu nehmen. „Wenn der Bundeskanzler ermordet worden wäre, könnte es nicht schlimmer sein“, stöhnte er. „Womit habe ich das nur verdient. Wenn ich den Bestien in meinem Vorzimmer nicht bald was zum Fraß vorwerfen kann, zerreißen sie mich morgen in ihren Artikeln.“ „Was Neues?“
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